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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 05:30:58 -0700 |
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Er bewohnte einen Teil des ersten +Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur +Miete war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsgewölbe, die +Schreibstube nebst den Warenbehältern und anderen Dingen, die er zu +dem Betriebe seines Geschäftes bedurfte. In dem ersten Stockwerke +wohnte außer uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten Leuten +bestand, einem Manne und seiner Frau, welche alle Jahre ein oder zwei +Male bei uns speisten, und zu denen wir und die zu uns kamen, wenn +ein Fest oder ein Tag einfiel, an dem man sich Besuche zu machen oder +Glück zu wünschen pflegte. Mein Vater hatte zwei Kinder, mich, den +erstgeborenen Sohn, und eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als +ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir +uns unseren Geschäften, die uns schon in der Kindheit regelmäßig +aufgelegt wurden, widmen mußten, und in welchem wir schliefen. Die +Mutter sah da nach und erlaubte uns zuweilen, daß wir in ihrem +Wohnzimmer sein und uns mit Spielen ergötzen durften. + +Der Vater war die meiste Zeit in dem Verkaufsgewölbe und in der +Schreibstube. Um zwölf Uhr kam er herauf, und es wurde in dem +Speisezimmer gespeiset. Die Diener des Vaters speisten an unserem +Tische mit Vater und Mutter, die zwei Mägde und der Magazinsknecht +hatten in dem Gesindezimmer einen Tisch für sich. Wir Kinder bekamen +einfache Speisen, der Vater und die Mutter hatten zuweilen einen +Braten und jedesmal ein Glas guten Weines. Die Handelsdiener bekamen +auch von dem Braten und ein Glas desselben Weines. Anfangs hatte der +Vater nur einen Buchführer und zwei Diener, später hatte er viere. + +In der Wohnung war ein Zimmer, welches ziemlich groß war. In demselben +standen breite, flache Kästen von feinem Glanze und eingelegter +Arbeit. Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln grünen +Seidenstoff, und waren mit Büchern angefüllt. Der Vater hatte darum +die grünen Seidenvorhänge, weil er es nicht leiden konnte, daß die +Aufschriften der Bücher, die gewöhnlich mit goldenen Buchstaben auf +dem Rücken derselben standen, hinter dem Glase von allen Leuten +gelesen werden konnten, gleichsam als wolle er mit den Büchern +prahlen, die er habe. Vor diesen Kästen stand er gerne und öfter, +wenn er sich nach Tische oder zu einer andern Zeit einen Augenblick +abkargen konnte, machte die Flügel eines Kastens auf, sah die Bücher +an, nahm eines oder das andere heraus, blickte hinein, und stellte es +wieder an seinen Platz. + +An Abenden, von denen er selten einen außer Hause zubrachte, außer +wenn er in Stadtgeschäften abwesend war oder mit der Mutter ein +Schauspiel besuchte, was er zuweilen und gerne tat, saß er häufig eine +Stunde, öfter aber auch zwei oder gar darüber, an einem kunstreich +geschnitzten alten Tische, der im Bücherzimmer auf einem ebenfalls +altertümlichen Teppiche stand, und las. Da durfte man ihn nicht +stören, und niemand durfte durch das Bücherzimmer gehen. Dann kam er +heraus und sagte, jetzt könne man zum Abendessen gehen, bei dem die +Handelsdiener nicht zugegen waren, und das nur in der Mutter und in +unserer Gegenwart eingenommen wurde. Bei diesem Abendessen sprach er +sehr gerne zu uns Kindern und erzählte uns allerlei Dinge, mitunter +auch scherzhafte Geschichten und Märchen. Das Buch, in dem er gelesen +hatte, stellte er genau immer wieder in den Schrein, aus dem er es +genommen hatte, und wenn man gleich nach seinem Heraustritte in das +Bücherzimmer ging, konnte man nicht im geringsten wahrnehmen, daß eben +jemand hier gewesen sei und gelesen habe. Überhaupt durfte bei dem +Vater kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen, +sondern mußte immer aufgeräumt sein, als wäre es ein Prunkzimmer. Es +sollte dafür aber aussprechen, zu was es besonders bestimmt sei. Die +gemischten Zimmer, wie er sich ausdrückte, die mehreres zugleich sein +können, Schlafzimmer, Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht +leiden. Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, könne +nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein. Dieser Zug strenger +Genauigkeit prägte sich uns ein und ließ uns auf die Befehle der +Eltern achten, wenn wir sie auch nicht verstanden. So zum Beispiele +durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten. +Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumung desselben betraut. + +In den Zimmern hingen hie und da Bilder, und es standen in manchen +Geräte, die aus alten Zeiten stammten und an denen wunderliche +Gestalten ausgeschnitten waren, oder in welchen sich aus verschiedenen +Hölzern eingelegte Laubwerke und Kreise und Linien befanden. + +Der Vater hatte auch einen Kasten, in welchem Münzen waren, von denen +er uns zuweilen einige zeigte. Da befanden sich vorzüglich schöne +Taler, auf welchen geharnischte Männer standen oder die Angesichter +mit unendlich vielen Locken zeigten, dann waren einige aus sehr alten +Zeiten mit wunderschönen Köpfen von Jünglingen oder Frauen, und eine +mit einem Manne, der Flügel an den Füßen hatte. Er besaß auch Steine, +in welche Dinge geschnitten waren. Er hielt diese Steine sehr hoch +und sagte, sie stammen aus dem kunstgeübtesten Volke alter Zeiten, +nehmlich aus dem alten Griechenlande her. Manchmal zeigte er sie +Freunden; diese standen lange an dem Kästchen derselben, hielten den +einen oder den andern in ihren Händen und sprachen darüber. + +Zuweilen kamen Menschen zu uns, aber nicht oft. Manches Mal wurden +Kinder zu uns eingeladen, mit denen wir spielen durften, und öfter +gingen wir auch mit den Eltern zu Leuten, welche Kinder hatten, und +uns Spiele veranstalteten. Den Unterricht erhielten wir in dem Hause +von Lehrern, und dieser Unterricht und die sogenannten Arbeitsstunden, +in denen von uns Kindern das verrichtet werden mußte, was uns als +Geschäft aufgetragen war, bildeten den regelmäßigen Verlauf der Zeit, +von welchem nicht abgewichen werden durfte. + +Die Mutter war eine freundliche Frau, die uns Kinder ungemein liebte, +und die weit eher ein Abweichen von dem angegebenen Zeitenlaufe +zugunsten einer Lust gestattet hätte, wenn sie nicht von der Furcht +vor dem Vater davon abgehalten worden wäre. Sie ging in dem Hause +emsig herum, besorgte alles, ordnete alles, ließ aus der obgenannten +Furcht keine Ausnahme zu und war uns ein ebenso ehrwürdiges Bildnis +des Guten wie der Vater, von welchem Bildnisse gar nichts abgeändert +werden konnte. Zu Hause hatte sie gewöhnlich sehr einfache Kleider an. +Nur zuweilen, wenn sie mit dem Vater irgend wohin gehen mußte, tat +sie ihre stattlichen seidenen Kleider an und nahm ihren Schmuck, daß +wir meinten, sie sei wie eine Fee, welche in unsern Bilderbüchern +abgebildet war. Dabei fiel uns auf, daß sie immer ganz einfache, +obwohl sehr glänzende Steine hatte, und daß ihr der Vater nie die +geschnittenen umhing, von denen er doch sagte, daß sie so schöne +Gestalten in sich hätten. + +Da wir Kinder noch sehr jung waren, brachte die Mutter den Sommer +immer mit uns auf dem Lande zu. Der Vater konnte uns nicht +Gesellschaft leisten, weil ihn seine Geschäfte in der Stadt +festhielten; aber an jedem Sonntage und an jedem Festtage kam er, +blieb den ganzen Tag bei uns und ließ sich von uns beherbergen. Im +Laufe der Woche besuchten wir ihn einmal, bisweilen auch zweimal in +der Stadt, in welchem Falle er uns dann bewirtete und beherbergte. + +Dies hörte endlich auf, anfänglich weil der Vater älter wurde und die +Mutter, die er sehr verehrte, nicht mehr leicht entbehren konnte; +später aber aus dem Grunde, weil es ihm gelungen war, in der Vorstadt +ein Haus mit einem Garten zu erwerben, wo wir freie Luft genießen, uns +bewegen und gleichsam das ganze Jahr hindurch auf dem Lande wohnen +konnten. + + +Die Erwerbung des Vorstadthauses war eine große Freude. Es wurde nun +von dem alten, finstern Stadthause in das freundliche und geräumige +der Vorstadt gezogen. Der Vater hatte es vorher im allgemeinen +zusammen richten lassen, und selbst, da wir schon darin wohnten, +waren noch immer in verschiedenen Räumen desselben Handwerksleute +beschäftigt. Das Haus war nur für unsere Familie bestimmt. Es wohnten +nur noch unsere Handlungsdiener in demselben und gleichsam als +Pförtner und Gärtner ein ältlicher Mann mit seiner Frau und seiner +Tochter. + +In diesem Hause richtete sich der Vater ein viel größeres Zimmer +zum Bücherzimmer ein, als er in der Stadtwohnung gehabt hatte, auch +bestimmte er ein eigenes Zimmer zum Bilderzimmer; denn in der Stadt +mußten die Bilder wegen Mangels an Raum in verschiedenen Zimmern +zerstreut sein. Die Wände dieses neuen Bilderzimmers wurden mit +dunkelrotbraunen Tapeten überzogen, von denen sich die Goldrahmen +sehr schön abhoben. Der Fußboden war mit einem mattfarbigen Teppiche +belegt, damit er die Farben der Bilder nicht beirre. Der Vater hatte +sich eine Staffelei aus braunem Holze machen lassen, und diese stand +in dem Zimmer, damit man bald das eine, bald das andere Bild darauf +stellen und es genau in dem rechten Lichte betrachten konnte. + +Für die alten geschnitzten und eingelegten Geräte wurde auch ein +eigenes Zimmer hergerichtet. Der Vater hatte einmal aus dem Gebirge +eine Zimmerdecke mitgebracht, welche aus Lindenholz und aus dem Holze +der Zirbelkiefer geschnitzt war. Diese Decke ließ er zusammen legen +und ließ sie mit einigen Zutaten versehen, die man nicht merkte, so +daß sie als Decke in dieses Zimmer paßte. Das freute uns Kinder sehr, +und wir saßen nun doppelt gerne in dem alten Zimmer, wenn uns an +Abenden der Vater und die Mutter dahin führten, und arbeiteten dort +etwas, und ließen uns von den Zeiten erzählen, in denen solche Sachen +gemacht worden sind. + +Am Ende eines hölzernen Ganges, der in dem ersten Geschosse des Hauses +gegen den Garten hinaus lief, ließ er ein gläsernes Stübchen machen, +das heißt, ein Stübchen, dessen zwei Wände, die gegen den Garten +schauten, aus lauter Glastafeln bestanden; denn die Hinterwände waren +Holz. In dieses Stübchen tat er alte Waffen aus verschiedenen Zeiten +und mit verschiedenen Gestalten. Er ließ an den Stäben, in die das +Glas gefügt war, viel Efeu aus dem Garten herauswachsen, auch im +Innern ließ er Efeu an dem Gerippe ranken, daß derselbe um die alten +Waffen rauschte, wenn einzelne Glastafeln geöffnet wurden, und der +Wind durch dieselben herein zog. Eine große hölzerne Keule, welche in +dem Stübchen war und welche mit gräulichen Nägeln prangte, nannte er +Morgenstern, was uns Kindern gar nicht einleuchten wollte, da der +Morgenstern viel schöner war. + +Noch war ein Zimmerchen, das er mit kunstreich abgenähten rotseidenen +Stoffen, die er gekauft hatte, überziehen ließ. Sonst aber wußte man +noch nicht, was in das Zimmer kommen würde. + +In dem Garten war Zwergobst, es waren Gemüse- und Blumenbeete, und an +dem Ende desselben, von dem man auf die Berge sehen konnte, welche die +Stadt in einer Entfernung von einer halben Meile in einem großen Bogen +umgeben, befanden sich hohe Bäume und Grasplätze. Das alte Gewächshaus +hatte der Vater teils ausbessern, teils durch einen Zubau vergrößern +lassen. + +Sonst hatte das Haus auch noch einen großen Hof, der gegen den Garten +zu offen war, in dem wir, wenn das Gartengras naß war, spielen +durften, und gegen welchen die Fenster der Küche, in der die Mutter +sich viel befand, und der Vorratskammern herab sahen. + +Der Vater ging täglich morgens in die Stadt in sein Verkaufsgewölbe +und in seine Schreibstube. Die Handelsdiener mußten der Ordnung halber +mit ihm gehen. Um zwölf Uhr kam er zum Speisen so wie auch jene +Diener, welche nicht eben die Reihe traf, während der Speisestunde in +dem Verkaufsgewölbe zu wachen. Nachmittag ging er größtenteils auch +wieder in die Stadt. Die Sonntage und die Festtage brachte er mit uns +zu. + +Von der Stadt wurden nun viel öfter Leute mit ihren Kindern zu uns +geladen, da wir mehr Raum hatten, und wir durften im Hofe oder in dem +Garten uns ergötzen. Die Lehrer kamen zu uns jetzt in die Vorstadt, +wie sie sonst in der Stadt zu uns gekommen waren. + +Der Vater, welcher durch das viele Sitzen an dem Schreibtische sich +eine Krankheit zuzuziehen drohte, gönnte sich nur auf das Andringen +der Mutter täglich eine freie Zeit, welche er dazu verwendete, +Bewegung zu machen. In dieser Zeit ging er zuweilen in eine +Gemäldegalerie oder zu einem Freunde, bei welchem er ein Bild sehen +konnte, oder er ließ sich bei einem Fremden einführen, bei dem +Merkwürdigkeiten zu treffen waren. An schönen Sommerfesttagen fuhren +wir auch zuweilen ins Freie und brachten den Tag in einem Dorfe oder +auf einem Berge zu. + +Die Mutter, welche über die Erwerbung des Vorstadthauses +außerordentlich erfreut war, widmete sich mit gesteigerter +Tätigkeit dem Hauswesen. Alle Samstage prangte das Linnen »weiß wie +Kirschenblüte« auf dem Aufhängeplatze im Garten, und Zimmer für Zimmer +mußte unter ihrer Aufsicht gereinigt werden, außer denen, in welchen +die Kostbarkeiten des Vaters waren, deren Abstäubung und Reinigung +immer unter seinen Augen vor sich gehen mußte. Das Obst, die +Blumen und die Gemüse des Gartens besorgte sie mit dem Vater +gemeinschaftlich. Sie bekam einen Ruf in der Umgebung, daß +Nachbarinnen kamen und von ihr Dienstboten verlangten, die in unserem +Hause gelernt hätten. + +Als wir nach und nach heran wuchsen, wurden wir immer mehr in den +Umgang der Eltern gezogen; der Vater zeigte uns seine Bilder und +erklärte uns manches in denselben. Er sagte, daß er nur alte habe, +die einen gewissen Wert besitzen, den man immer haben könne, wenn man +einmal genötigt sein sollte, die Bilder zu verkaufen. Er zeigte uns, +wenn wir spazieren gingen, die Wirkungen von Licht und Schatten, er +nannte uns die Farben, welche sich an den Gegenständen befanden, und +erklärte uns die Linien, welche Bewegung verursachten, in welcher +Bewegung doch wieder eine Ruhe herrsche, und Ruhe in Bewegung sei die +Bedingung eines jeden Kunstwerkes. Er sprach mit uns auch von seinen +Büchern. Er erzählte uns, daß manche da seien, in welchen das +enthalten wäre, was sich mit dem menschlichen Geschlechte seit seinem +Beginne bis auf unsere Zeiten zugetragen habe, daß da die Geschichten +von Männern und Frauen erzählt werden, die einmal sehr berühmt gewesen +seien und vor langer Zeit, oft vor mehr als tausend Jahren gelebt +haben. Er sagte, daß in anderen das enthalten sei, was die Menschen in +vielen Jahren von der Welt und anderen Dingen, von ihrer Einrichtung +und Beschaffenheit in Erfahrung gebracht hätten. In manchen sei zwar +nicht enthalten, was geschehen sei, oder wie sich manches befinde, +sondern was die Menschen sich gedacht haben, was sich hätte zutragen +können, oder was sie für Meinungen über irdische und überirdische +Dinge hegen. + +In dieser Zeit starb ein Großoheim von der Seite der Mutter. Die +Mutter erbte den Schmuck seiner vor ihm gestorbenen Frau, wir Kinder +aber sein übriges Vermögen. Der Vater legte es als unser natürlicher +Vormund unter mündelgemäßer Sicherheit an und tat alle Jahre die +Zinsen dazu. + +Endlich waren wir so weit herangewachsen, daß der gewöhnliche +Unterricht, den wir bisher genossen hatten, nach und nach aufhören +mußte. Zuerst traten diejenigen Lehrer ab, die uns in den +Anfangsgründen der Kenntnisse unterwiesen hatten, die man heutzutage +für alle Menschen für notwendig hält, dann verminderten sich auch +die, welche uns in den Gegenständen Unterricht gegeben hatten, +die man Kindern beibringen läßt, welche zu den gebildeteren oder +ausgezeichneteren Ständen gehören sollen. Die Schwester mußte nebst +einigen Fächern, in denen sie sich noch weiter ausbilden sollte, nach +und nach in die Häuslichkeit eingeführt werden und die wichtigsten +Dinge derselben erlernen, daß sie einmal würdig in die Fußstapfen der +Mutter treten könnte. Ich trieb noch, nachdem ich die Fächer erlernt +hatte, die man in unseren Schulen als Vorkenntnisse und Vorbereitungen +zu den sogenannten Brotkenntnissen betrachtet, einzelne Zweige fort, +die schwieriger waren und in denen eine Nachhilfe nicht entbehrt +werden konnte. Endlich trat in Bezug auf mich die Frage heran, was +denn in der Zukunft mit mir zu geschehen habe, und da tat der Vater +etwas, was ihm von vielen Leuten sehr übel genommen wurde. Er +bestimmte mich nehmlich zu einem Wissenschafter im Allgemeinen. Ich +hatte bisher sehr fleißig gelernt und jeden neuen Gegenstand, der von +den Lehrern vorgenommen wurde, mit großem Eifer ergriffen, so daß, +wenn die Frage war, wie ich in einem Unterrichtszweige genügt habe, +das Urteil der Lehrer immer auf großes Lob lautete. Ich hatte den +angedeuteten Lebensberuf von dem Vater selber verlangt und er dem +Verlangten zugestimmt. Ich hatte ihn verlangt, weil mich ein gewisser +Drang meines Herzens dazu trieb. Das sah ich wohl trotz meiner Jugend +schon ein, daß ich nicht alle Wissenschaften würde erlernen können; +aber was und wie viel ich lernen würde, das war mir eben so +unbestimmt, als mein Gefühl unbestimmt war, welches mich zu diesen +Dingen trieb. Mir schwebte auch nicht ein besonderer Nutzen vor, den +ich durch mein Bestreben erreichen wollte, sondern es war mir nur, als +müßte ich so tun, als liege etwas innerlich Gültiges und Wichtiges in +der Zukunft. Was ich aber im Einzelnen beginnen und an welchem Ende +ich die Sache anfassen sollte, das wußte weder ich, noch wußten es die +Meinigen. Ich hatte nicht die geringste Vorliebe für das eine oder das +andere Fach, sondern es schienen alle anstrebenswert, und ich hatte +keinen Anhaltspunkt, aus dem ich hätte schließen können, daß ich zu +irgend einem Gegenstande eine hervorragende Fähigkeit besäße, sondern +es erschienen mir alle nicht unüberwindlich. Auch meine Angehörigen +konnten kein Merkmal finden, aus dem sie einen ausschließlichen Beruf +für eine Sache in mir hätten wahrnehmen können. + +Nicht die Ungeheuerlichkeit, welche in diesem Beginnen lag, war es, +was die Leute meinem Vater übelnahmen, sondern sie sagten, er hätte +mir einen Stand, der der bürgerlichen Gesellschaft nützlich ist, +befehlen sollen, damit ich demselben meine Zeit und mein Leben widme, +und einmal mit dem Bewußtsein scheiden könne, meine Schuldigkeit getan +zu haben. + +Gegen diesen Einwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der +menschlichen Gesellschaft wegen da, sondern seiner selbst willen. Und +wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er +es auch für die menschliche Gesellschaft. Wen Gott zum besten Maler +auf dieser Welt geschaffen hätte, der würde der Menschheit einen +schlechten Dienst tun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte: +wenn er der größte Maler wird, so tut er auch der Welt den größten +Dienst, wozu ihn Gott erschaffen hat. Dies zeige sich immer durch +einen innern Drang an, der einen zu einem Dinge führt, und dem man +folgen soll. Wie könnte man denn sonst auch wissen, wozu man auf der +Erde bestimmt ist, ob zum Künstler, zum Feldherrn, zum Richter, wenn +nicht ein Geist da wäre, der es sagt, und der zu den Dingen führt, in +denen man sein Glück und seine Befriedigung findet. + +Gott lenkt es schon so, daß die Gaben gehörig verteilt sind, so daß +jede Arbeit getan wird, die auf der Erde zu tun ist, und daß nicht +eine Zeit eintritt, in der alle Menschen Baumeister sind. In diesen +Gaben liegen dann auch schon die gesellschaftlichen, und bei großen +Künstlern, Rechtsgelehrten, Staatsmännern sei auch immer die +Billigkeit, Milde, Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe. Und aus solchen +Männern, welche ihren innern Zug am weitesten ausgebildet, seien +auch in Zeiten der Gefahr am öftesten die Helfer und Retter ihres +Vaterlandes hervorgegangen. + +Es gibt solche, die sagen, sie seien zum Wohle der Menschheit +Kaufleute, Ärzte, Staatsdiener geworden; aber in den meisten Fällen +ist es nicht wahr. Wenn nicht der innere Beruf sie dahin gezogen hat, +so verbergen sie durch ihre Aussage nur einen schlechteren Grund, +nehmlich daß sie den Stand als ein Mittel betrachteten, sich Geld und +Gut und Lebensunterhalt zu erwerben. Oft sind sie auch, ohne weiter +über eine Wahl mit sich zu Rate zu gehen, in den Stand geraten +oder durch Umstände in ihn gestoßen worden und nehmen das Wohl der +Menschheit in den Mund, das sie bezweckt hätten, um nicht ihre +Schwäche zu gestehen. Dann ist noch eine eigene Gattung, welche immer +von dem öffentlichen Wohle spricht. Das sind die, welche mit ihren +eigenen Angelegenheiten in Unordnung sind. Sie geraten stets in Nöte, +haben stets Ärger und Unannehmlichkeiten, und zwar aus ihrem eigenen +Leichtsinne; und da liegt es ihnen als Ausweg neben der Hand, den +öffentlichen Zuständen ihre Lage schuld zu geben und zu sagen, sie +wären eigentlich recht auf das Vaterland bedacht, und sie würden alles +am besten in demselben einrichten. Aber wenn wirklich die Lage kömmt, +daß das Vaterland sie beruft, so geht es dem Vaterlande, wie es früher +ihren eigenen Angelegenheiten gegangen ist. In Zeiten der Verirrung +sind diese Menschen die selbstsüchtigsten und oft auch grausamsten. +Es ist aber auch kein Zweifel. daß es solche gibt, denen Gott +den Gesellschaftstrieb und die Gesellschaftsgaben in besonderem +Maße verliehen hat. Diese widmen sich aus innerem Antriebe den +Angelegenheiten der Menschen, erlernen sie auch am sichersten, finden +Freude in den Anordnungen und opfern oft ihr Leben für ihren Beruf. +Aber in der Zeit, in der sie ihr Leben opfern, sei sie lange oder sei +sie ein Augenblick, empfinden sie Freude, und diese kömmt, weil sie +ihrem innern Andrange nachgegeben haben. + +Gott hat uns auch nicht bei unseren Handlungen den Nutzen als Zweck +vorgezeichnet, weder den Nutzen für uns noch für andere, sondern +er hat der Ausübung der Tugend einen eigenen Reiz und eine eigene +Schönheit gegeben, welchen Dingen die edlen Gemüter nachstreben. Wer +Gutes tut, weil das Gegenteil dem menschlichen Geschlechte schädlich +ist, der steht auf der Leiter der sittlichen Wesen schon ziemlich +tief. Dieser müßte zur Sünde greifen, sobald sie dem menschlichen +Geschlechte oder ihm Nutzen bringt. Solche Menschen sind es auch, +denen alle Mittel gelten, und die für das Vaterland, für ihre Familie +und für sich selber das Schlechte tun. Solche hat man zu Zeiten, +wo sie im Großen wirkten, Staatsmänner geheißen, sie sind aber nur +Afterstaatsmänner, und der augenblickliche Nutzen, den sie erzielten, +ist ein Afternutzen gewesen und hat sich in den Tagen des Gerichtes +als böses Verhängnis erwiesen. + +Daß bei dem Vater kein Eigennutz herrschte, beweist der Umstand, daß +er im Rate der Stadt ein öffentliches Amt unentgeltlich verwaltete, +daß er öfter die ganze Nacht in diesem Amte arbeitete, und daß er bei +öffentlichen Dingen immer mit bedeutenden Summen an der Spitze stand. + +Er sagte, man solle mich nur gehen lassen, es werde sich aus dem +Unbestimmten schon entwickeln, wozu ich taugen werde, und welche Rolle +ich auf der Welt einzunehmen hätte. + + +Ich mußte meine körperlichen Übungen fortsetzen. Schon als sehr kleine +Kinder mußten wir so viele körperliche Bewegungen machen, als nur +möglich war. Das war einer der Hauptgründe, weshalb wir im Sommer auf +dem Lande wohnten, und der Garten, welcher bei dem Vorstadthause war, +war einer der Hauptbeweggründe, weshalb der Vater das Haus kaufte. + +Man ließ uns als kleine Kinder gewöhnlich so viel gehen und laufen, +als wir selber wollten, und machte nur ein Ende, wenn wir selber aus +Müdigkeit ruhten. Es hatte in der Stadt sich eine Anstalt entwickelt, +in welcher nach einer gewissen Ordnung Leibesbewegungen vorgenommen +werden sollten, um alle Teile des Körpers nach Bedürfnis zu üben, und +ihrer naturgemäßen Entfaltung entgegen zu führen. Diese Anstalt durfte +ich besuchen, nachdem der Vater den Rat erfahrener Männer eingeholt +und sich selber durch den Augenschein von den Dingen überzeugt hatte, +die da vorgenommen wurden. Für Mädchen bestand damals eine solche +Anstalt nicht, daher ließ der Vater für die Schwester in einem Zimmer +unserer Wohnung so viele Vorrichtungen machen, als er und unser +Hausarzt, der ein Begünstiger dieser Dinge war, für notwendig +erachteten, und die Schwester mußte sich den Übungen unterziehen, +die durch die Vorrichtungen möglich waren. Durch die Erwerbung des +Vorstadthauses wurde die Sache noch mehr erleichtert. Nicht nur +hatten wir mehr Raum im Innern des Hauses, um alle Vorrichtungen zu +Körperübungen in besserem und ausgedehnterem Maße anlegen zu können. +sondern es war auch der Hofraum und der Garten da, in denen an sich +körperliche Übungen vorgenommen werden konnten und die auch weitere +Anlagen möglich machten. Daß wir diese Sachen sehr gerne taten, +begreift sich aus der Feurigkeit und Beweglichkeit der Jugend von +selber. Wir hatten schon in der Kindheit schwimmen gelernt und gingen +im Sommer fast täglich, selbst da wir in der Vorstadt wohnten, von +wo aus der Weg weiter war, in die Anstalt, in welcher man schwimmen +konnte. Selbst für Mädchen waren damals schon eigene Schwimmanstalten +errichtet. Auch außerdem machten wir gerne weite Wege, besonders +im Sommer. Wenn wir im Freien außer der Stadt waren, erlaubten die +Eltern, daß ich mit der Schwester einen besonderen Umgang halten +durfte. Wir übten uns da im Zurücklegen bedeutender Wege oder in +Besteigung eines Berges. Dann kamen wir wieder an den Ort zurück, an +welchem uns die Eltern erwarteten. Anfangs ging meistens ein Diener +mit uns, später aber, da wir erwachsen waren, ließ man uns allein +gehen. Um besser und mit mehr Bequemlichkeit für die Eltern an jede +beliebige Stelle des Landes außerhalb der Stadt gelangen zu können, +schaffte der Vater in der Folge zwei Pferde an, und der Knecht, der +bisher Gärtner und gelegentlich unser Aufseher gewesen war, wurde +jetzt auch Kutscher. In einer Reitschule, in welcher zu verschiedenen +Zeiten Knaben und Mädchen lernen konnten, hatten wir reiten gelernt +und hatten später unsere bestimmten Wochentage, an denen wir uns +zu gewissen Stunden im Reiten üben konnten. Im Garten hatte ich +Gelegenheit, nach einem Ziele zu springen, auf schmalen Planken zu +gehen, auf Vorrichtungen zu klettern und mit steinernen Scheiben +nach einem Ziele oder nach größtmöglicher Entfernung zu werfen. Die +Schwester, so sehr sie von der Umgebung als Fräulein behandelt wurde, +liebte es doch sehr, bei sogenannten gröberen häuslichen Arbeiten +zuzugreifen, um zu zeigen, daß sie diese Dinge nicht nur verstehe, +sondern an Kraft auch die noch übertreffe, welche von Kindheit an +bei diesen Arbeiten gewesen sind. Die Eltern legten ihr bei diesem +Beginnen nicht nur keine Hindernisse in den Weg, sondern billigten es +sogar. Außerdem trieb sie noch das Lesen ihrer Bücher, machte Musik, +besonders auf dem Klaviere und auf der Harfe, zu der sie auch sang, +und malte mit Wasserfarben. + +Als ich den letzten Lehrer verlor, der mich in Sprachen unterrichtet +hatte, als ich in denjenigen wissenschaftlichen Zweigen, in welchen +man einen längeren Unterricht für nötig gehalten hatte, weil sie +schwieriger oder wichtiger waren, solche Fortschritte gemacht hatte, +daß man einen Lehrer nicht mehr für notwendig erachtete, entstand die +Frage, wie es in Bezug auf meine erwählte wissenschaftliche Laufbahn +zu halten sei, ob man da einen gewissen Plan entwerfen und zu dessen +Ausführung Lehrer annehmen sollte. Ich bat, man möchte mir gar keinen +Lehrer mehr nehmen, ich würde die Sachen schon selber zu betreiben +suchen. Der Vater ging auf meinen Wunsch ein, und ich war nun sehr +freudig, keinen Lehrer mehr zu haben und auf mich allein angewiesen zu +sein. + +Ich fragte Männer um Rat, welche einen großen wissenschaftlichen Namen +hatten und gewöhnlich an der einen oder der andern Anstalt der Stadt +beschäftigt waren. Ich näherte mich ihnen nur, wenn es ohne Verletzung +der Bescheidenheit geschehen konnte. Da es meistens nur eine Anfrage +war, die ich in Bezug auf mein Lernen an solche Männer stellte, und da +ich mich nicht in ihren Umgang drängte, so nahmen sie meine Annäherung +nicht übel, und die Antwort war immer sehr freundlich und liebevoll. +Auch waren unter den Männern, die gelegentlich in unser Haus kamen, +manche, die in gelehrten Dingen bewandert waren. Auch an diese wandte +ich mich. Meistens betrafen die Anfragen Bücher und die Folge, in +welcher sie vorgenommen werden sollten. Ich trieb Anfangs jene Zweige +fort, in denen ich schon Unterricht erhalten hatte, weil man sie zu +jener Zeit eben als Grundlage einer allgemeinen menschlichen Bildung +betrachtete, nur suchte ich zum Teile mehr Ordnung in dieselben zu +bringen, als bisher befolgt worden war, zum Teile suchte ich mich auch +in jenem Fache auszudehnen, das mir mehr zuzusagen begann. Auf diese +Weise geschah es, daß in dem Ganzen doch noch eine ziemliche Ordnung +herrschte, da bei der Unbestimmtheit des ganzen Unternehmens die +Gefahr sehr nahe war, in die verschiedensten Dinge zersplittert und in +die kleinsten Kleinlichkeiten verschlagen zu werden. In Bezug auf die +Fächer, die ich eben angefangen hatte, besuchte ich auch Anstalten in +unserer Stadt, die ihnen förderlich werden konnten: Büchersammlungen, +Sammlungen von Werkzeugen und namentlich Orte, wo Versuche gemacht +wurden, die ich wegen meiner Unreifheit und wegen Mangels an +Gelegenheit und Werkzeugen nie hätte ausführen können. Was ich an +Büchern und überhaupt an Lehrmitteln brauchte, schaffte der Vater +bereitwillig an. + + +Ich war sehr eifrig und gab mich manchem einmal ergriffenen +Gegenstande mit all der entzündeten Lust hin, die der Jugend bei +Lieblingsdingen eigen zu sein pflegt. Obwohl ich bei meinen Besuchen +der öffentlichen Anstalten zu körperlicher oder geistiger Entwicklung, +ferner bei den Besuchen, welche Leute bei uns oder welche wir bei +ihnen machten, sehr viele junge Leute kennen gelernt hatte, so war ich +doch nie dahin gekommen, so ausschließlich auf bloße Vergnügungen und +noch dazu oft unbedeutende erpicht zu sein, wie ich es bei der größten +Zahl der jungen Leute gesehen hatte. Die Vergnügungen, die in unserem +Hause vorkamen, wenn wir Leute zum Besuche bei uns hatten, waren auch +immer ernsterer Art. + +Ich lernte auch viele ältere Menschen kennen; aber ich achtete damals +weniger darauf, weil es bei der Jugend Sitte ist, sich mit lebhafter +Beteiligung mehr an die anzuschließen, die ihnen an Jahren näher +stehen, und das, was an älteren Leuten befindlich ist, zu übersehen. + +Als ich achtzehn Jahre alt war, gab mir der Vater einen Teil meines +Eigentums aus der Erbschaft vom Großoheime zur Verwaltung. Ich hatte +bis dahin kein Geld zu regelmäßiger Gebarung gehabt, sondern wenn ich +irgend etwas brauchte, kaufte es der Vater, und zu Dingen von minderem +Belange gab mir der Vater das Geld, damit ich sie selber kaufe. Auch +zu Vergnügungen bekam ich gelegentlich kleine Beträge. Von nun an +aber, sagte der Vater, werde er mir am ersten Tage eines jeden Monats +eine bestimmte Summe auszahlen, ich solle darüber ein Buch führen, er +werde diese Auszahlungen bei der Verwaltung meines Gesammtvermögens, +welche Verwaltung ihm noch immer zustehe, in Abrechnung bringen, und +sein Buch und das meinige müßten stimmen. Er gab mir einen Zettel, auf +welchem der Kreis dessen aufgezeichnet war, was ich von nun an mit +meinen monatlichen Einkünften zu bestreiten hätte. Er werde mir +nie mehr von seinem Gelde einen Gegenstand kaufen, der in den +verzeichneten Kreis gehöre. Ich müsse pünktlich verfahren und +haushälterisch sein; denn er werde mir auch nie und nicht einmal unter +den dringendsten Bedingungen einen Vorschuß geben. Wenn ich zu seiner +Zufriedenheit eine Zeit hindurch gewirtschaftet hätte, dann werde er +meinen Kreis wieder erweitern, und er werde nach billigstem Ermessen +sehen, in welcher Zeit er mir auch vor der erreichten gesetzlichen +Mündigkeit meine Angelegenheiten ganz in die Hände werde geben können. + + + +Der Wanderer + +Ich verfuhr mit der Rente, welche mir der Vater ausgesetzt hatte, gut. +Daher wurde nach einiger Zeit mein Kreis erweitert, wie es der Vater +versprochen hatte. Ich sollte von nun an nicht bloß nur einen Teil +meiner Bedürfnisse von dem zugewiesenen Einkommen decken, sondern +alle. Deshalb wurde meine Rente vergrößert. Der Vater zahlte sie mir +von nun an auch nicht mehr monatlich, sondern vierteljährlich aus, um +mich an größere Zeitabschnitte zu gewöhnen. Sie mir halbjährlich oder +gar nach ganzen Jahren einzuhändigen wollte er nicht wagen, damit ich +doch nicht etwa in Unordnungen geriete. Er gab mir nicht die ganzen +Zinsen von der Erbschaft des Großoheims, sondern nur einen Teil, den +andern Teil legte er zu der Hauptsumme, so daß mein Eigentum wuchs, +wenn ich auch von meiner Rente nichts erübrigte. Als Beschränkung +blieb die Einrichtung, daß ich in dem Hause meiner Eltern wohnen und +an ihrem Tische speisen mußte. Es ward dafür ein Preis festgesetzt, +den ich alle Vierteljahre zu entrichten hatte. Jedes andere Bedürfnis, +Kleider, Bücher, Geräte oder was es immer war, durfte ich nach meinem +Ermessen und nach meiner Einsicht befriedigen. + +Die Schwester erhielt auch Befugnisse in Hinsicht ihres Teiles +der Erbschaft des Großoheims, in so weit sie sich für ein Mädchen +schickten. + +Wir waren über diese Einrichtung sehr erfreut und beschlossen, nach +dem Wunsche und dem Willen der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu +machen. + +Ich ging, nachdem ich in den verschiedenen Zweigen der Kenntnisse, +die ich zuletzt mit meinen Lehrern betrieben hatte und welche als +allgemein notwendige Kenntnisse für einen gebildeten Menschen gelten, +nach mehreren Richtungen gearbeitet hatte, auf die Mathematik über. +Man hatte mir immer gesagt, sie sei die schwerste und herrlichste +Wissenschaft, sie sei die Grundlage zu allen übrigen, in ihr sei alles +wahr, und was man aus ihr habe, sei ein bleibendes Besitztum für das +ganze Leben. Ich kaufte mir die Bücher, die man mir riet, um von den +Vorkenntnissen, die ich bereits hatte, ausgehen und zu dem Höheren +immer weiter streben zu können. Ich kaufte mir eine sehr große +Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausführen zu können. So saß +ich nun in manchen Stunden, die zum Erlernen von Kenntnissen bestimmt +waren, an meinem Tische und rechnete. Ich ging den Gängen der Männer +nach, welche die Gestaltungen dieser Wissenschaft nach und nach +erfunden hatten und von diesen Gestaltungen zu immer weiteren geführt +worden waren. Ich setzte mir bestimmte Zeiträume fest, in welchen ich +vom Weitergehen abließ, um das bis dahin Errungene wiederholen und +meinem Gedächtnisse einprägen zu können, ehe ich zu ferneren Teilen +vorwärts schritt. Die Bücher, welche ich nach und nach durchnehmen +wollte, hatte ich in der Ordnung auf einem Bücherbrett aufgestellt. +Ich war nach einer verhältnismäßigen Zeit in ziemlich schwierige +Abteilungen des höheren Gebietes dieser Wissenschaft vorgerückt. + + +Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im Sommer eine Zeit hindurch +entfernt von den Eltern auf irgend einem Punkte des Landes zu wohnen. +Zum ersten Aufenthalte dieser Art wurde das Landhaus eines Freundes +meines Vaters nicht gar ferne von der Stadt erwählt. Ich erhielt ein +Zimmerchen in dem obersten Teile des Hauses, dessen Fenster auf die +nahen Weinberge und zwischen ihren Senkungen durch auf die entfernten +Gebirge gingen. Die Frau des Hauses gab mir in sehr kurzen +Zwischenzeiten immer erneuerte schneeweiße Fenstervorhänge. Sehr oft +kamen die Eltern heraus, besuchten mich und brachten den Tag auf dem +Lande zu. Sehr oft ging ich auch zu ihnen in die Stadt und blieb +manchmal sogar über Nacht in ihrem Hause. + +Der zweite Aufenthalt im nächst darauf folgenden Sommer war viel +weiter von der Stadt entfernt in dem Hause eines Landmanns. Man hat +häufig in den Häusern unserer Landleute, in welchen alle Wohnstuben +und andere Räumlichkeiten ebenerdig sind, doch noch ein Geschoß über +diesen Räumlichkeiten, in welchem sich ein oder mehrere Gemächer +befinden. Unter diesen Gemächern ist auch die sogenannte obere Stube. +Häufig ist sie bloß das einzige Gemach des ersten Geschosses. Die +obere Stube ist gewissermaßen das Prunkzimmer. In ihr stehen die +schöneren Betten des Hauses, gewöhnlich zwei, in ihr stehen die +Schreine mit den schönen Kleidern, in ihr hängen die Scheiben- und +Jagdgewehre des Mannes, wenn er dergleichen hat, so wie die Preise, +die er im Schießen etwa schon gewonnen, in ihr sind die schöneren +Geschirre der Frau, besonders wenn sie Krüge aus Zinn oder etwas aus +Porzellan hat, und in ihr sind auch die besseren Bilder des Hauses und +sonstige Zierden, zum Beispiel ein schönes Jesuskindlein aus Wachs, +welches in weißem feinem Flaume liegt. In einer solchen oberen Stube +des Hauses eines Landmanns wohnte ich. Das Haus war so weit von der +Stadt entfernt, daß ich die Eltern nur ein einziges Mal mit Benutzung +des Postwagens besuchen konnte, sie aber gar nie zu mir kamen. + +Dieser Aufenthalt brachte Veränderungen in mir hervor. Weil ich mit +den Meinigen nicht zusammen kommen konnte, so lebte die Sehnsucht nach +Mitteilung viel stärker in mir, als wenn ich zu Hause gewesen wäre und +sie jeden Augenblick hätte befriedigen können. Ich schritt also zu +ausführlichen Briefen und Berichten. Ich hatte bisher immer aus +Büchern gelernt, deren ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine +Bücherkästen von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte mich nie +geübt, etwas selber in größerem Zusammenhange zusammen zu stellen. +Jetzt mußte ich es tun, ich tat es gerne, und freute mich, nach +und nach die Gabe der Darstellung und Erzählung in mir wachsen zu +fühlen. Ich schritt zu immer zusammengesetzteren und geordneteren +Schilderungen. + + +Auch eine andere Veränderung trat ein. + +Ich war schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge +gewesen, wie sie sich so in der Schöpfung oder in dem geregelten +Gange des menschlichen Lebens darstellte. Dies war oft eine große +Unannehmlichkeit für meine Umgebung gewesen. Ich fragte unaufhörlich +um die Namen der Dinge, um ihr Herkommen und ihren Gebrauch und konnte +mich nicht beruhigen, wenn die Antwort eine hinausschiebende war. Auch +konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenstand zu etwas Anderem +machte, als er war. Besonders kränkte es mich, wenn er, wie ich +meinte, durch seine Veränderung schlechter wurde. Es machte mir +Kummer, als man einmal einen alten Baum des Gartens fällte und ihn in +lauter Klötze zerlegte. Die Klötze waren nun kein Baum mehr, und da +sie morsch waren, konnte man keinen Schemel, keinen Tisch, kein Kreuz, +kein Pferd daraus schnitzen. Als ich einmal das offene Land kennen +gelernt und Fichten und Tannen auf den Bergen stehen gesehen hatte, +taten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen etwas in unserem Hause +verfertigt wurde, weil sie einmal solche Fichten und Tannen gewesen +waren. Ich fragte den Vater, wenn wir durch die Stadt gingen, wer die +große Kirche des heiligen Stephan gebaut habe, warum sie nur einen +Turm habe, warum dieser so spitzig sei, warum die Kirche so schwarz +sei, wem dieses oder jenes Haus gehöre, warum es so groß sei, weshalb +sich an einem andern Hause immer zwei Fenster neben einander befänden +und in einem weiteren Hause zwei steinerne Männer das Sims des +Haustores tragen. + +Der Vater beantwortete solche Fragen je nach seinem Wissen. Bei +einigen äußerte er nur Mutmaßungen, bei anderen sagte er, er wisse +es nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich alle Gewächse und +Steine kennen und fragte um die Namen der Landleute und der Hunde. Der +Vater pflegte zu sagen, ich müßte einmal ein Beschreiber der Dinge +werden oder ein Künstler, welcher aus Stoffen Gegenstände fertigt, +an denen er so Anteil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der die +Merkmale und Beschaffenheiten der Sachen erforscht. + +Diese Eigenschaft nun führte mich, da ich auf dem Lande wohnte, in +eine besondere Richtung. Ich legte die Mathematik weg und widmete +mich der Betrachtung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen +Vorkommnissen des Hauses, in dem ich wohnte, zuzusehen. Ich lernte +nach und nach alle Werkzeuge und ihre Bestimmungen kennen. Ich ging +mit den Arbeitern auf die Felder, auf die Wiesen und in die Wälder +und arbeitete gelegentlich selber mit. Ich lernte in kurzer Zeit auf +diese Weise die Behandlung und Gewinnung aller Bodenerzeugnisse des +Landstriches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch ihre erste ländliche +Verarbeitung zu Kunsterzeugnissen suchte ich in Erfahrung zu bringen. +Ich lernte die Bereitung des Weines aus Trauben kennen, des Garnes und +der Leinwand aus Flachs, der Butter und des Käses aus der Milch, des +Mehles und Brotes aus dem Getreide. Ich merkte mir die Namen, womit +die Landleute ihre Dinge benannten, und lernte bald die Merkmale +kennen, aus denen man die Güte oder den geringeren Wert der +Bodenerzeugnisse oder ihre nächsten Umwandlungen beurteilen konnte. +Selbst in Gespräche, wie man dieses oder jenes auf eine vielleicht +zweckmäßigere Weise hervorbringen könnte, ließ ich mich ein, fand aber +da einen hartnäckigen Widerstand. + +Als ich diese Hervorbringung der ersten Erzeugnisse in jenem Striche +des Landes, in welchem ich mich aufhielt, kennen gelernt hatte, ging +ich zu den Gegenständen des Gewerbfleißes über. Nicht weit von meiner +Wohnung war ein weites flaches Tal, das von einem Wasser durchströmt +war, welches sich durch seine gleichbleibende Reichhaltigkeit und +dadurch, daß es im Winter nicht leicht zufror, besonders zum Treiben +von Werken eignete. In dem Tale waren daher mehrere Fabriken +zerstreut. Sie gehörten meistens zu ansehnlichen Handelshäusern. Die +Eigentümer lebten in der Stadt und besuchten zuweilen ihre Werke, die +von einem Verwalter oder Geschäftsleiter versehen wurden. + +Ich besuchte nach und nach alle diese Fabriken und unterrichtete mich +über die Erzeugnisse, welche da hervorgebracht wurden. Ich suchte +den Hergang kennen zu lernen, durch welchen der Stoff in die Fabrik +geliefert wurde, durch welchen er in die erste Umwandlung, von dieser +in die zweite und so durch alle Stufen geführt wurde, bis er als +letztes Erzeugnis der Fabrik hervorging. Ich lernte hier die Güte der +einlangenden Rohstoffe kennen und wurde auf die Merkmale aufmerksam +gemacht, aus denen auf eine vorzügliche Beschaffenheit der endlich in +der Fabrik fertig gewordenen Erzeugnisse geschlossen werden konnte. +Ich lernte auch die Mittel und Wege kennen, durch welche die +Umwandlungen, die die Stoffe nach und nach zu erleiden hatten, bewirkt +wurden. + +Die Maschinen, welche hiezu größtenteils verwendet wurden, waren mir +durch meine bereits erworbenen Vorkenntnisse in ihren allgemeinen +Einrichtungen schon bekannt. Es war mir daher nicht schwer, ihre +besonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken, die hier erreicht +werden sollten, einsehen zu lernen. Ich ging durch die Gefälligkeit +der dabei Angestellten alle Teile durch, bis ich das Ganze so vor mir +hatte und zusammen begreifen konnte, als hätte ich es als Zeichnung +auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher alle Einrichtungen solcher +Art nur aus Zeichnungen kennen zu lernen Gelegenheit hatte. + +In späterer Zeit begann ich, die Naturgeschichte zu betreiben. Ich +fing bei der Pflanzenkunde an. Ich suchte zuerst zu ergründen, welche +Pflanzen sich in der Gegend befänden, in welcher ich mich aufhielt. Zu +diesem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus und bestrebte mich, +die Standorte und die Lebensweise der verschiedenen Gewächse kennen zu +lernen und alle Gattungen zu sammeln. Welche ich mit mir tragen konnte +und welche nur einiger Maßen aufzubewahren waren, nahm ich mit in +meine Wohnung. Von solchen, die ich nicht von dem Orte bringen konnte, +wozu besonders die Bäume gehörten, machte ich mir Beschreibungen, +welche ich zu der Sammlung einlegte. Bei diesen Beschreibungen, die +ich immer nach allen sich mir darbietenden Eigenschaften der Pflanzen +machte, zeigte sich mir die Erfahrung, daß nach meiner Beschreibung +andere Pflanzen in eine Gruppe zusammen gehörten, als welche von den +Pflanzenkundigen als zusammengehörig aufgeführt wurden. Ich bemerkte, +daß von den Pflanzenlehrern die Einteilungen der Pflanzen nur nach +einem oder einigen Merkmalen, zum Beispiele nach den Samenblättern +oder nach den Blütenteilen, gemacht wurden, und daß da Pflanzen in +einer Gruppe beisammen stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und +in ihren meisten Eigenschaften sehr verschieden sind. Ich behielt +die herkömmlichen Einteilungen bei und hatte aber auch meine +Beschreibungen daneben. In diesen Beschreibungen standen die Pflanzen +nach sinnfälligen Linien und, wenn ich mich so ausdrücken dürfte, nach +ihrer Bauführung beisammen. + +Bei den Mineralien, welche ich mir sammelte, geriet ich beinahe in +dieselbe Lage. Ich hatte mir schon seit meiner Kinderzeit manche +Stücke zu erwerben gesucht. Fast immer waren dieselben aus +anderen Sammlungen gekauft oder geschenkt worden. Sie waren schon +Sammlungsstücke, hatten meistens das Papierstückchen mit ihrem Namen +auf sich aufgeklebt. + +Auch waren sie womöglich immer im Kristallzustande. Das System von +Mohs hatte einmal großes Aufsehen gemacht; ich war durch meine +mathematischen Arbeiten darauf geführt worden, hatte es kennen und +lieben gelernt. Allein da ich jetzt meine Mineralien in der Gegend +meines Aufenthaltes suchte und zusammen trug, fand ich sie weit öfter +in unkristallisirtem Zustande als in kristallisirtem, und sie zeigten +da allerlei Eigenschaften für die Sinne, die sie dort nicht haben. Das +Kristallisiren der Stoffe, welches das System von Mohs voraussetzt, +kam mir wieder wie ein Blühen vor, und die Stoffe standen nach +diesen Blüten beisammen. Ich konnte nicht lassen, auch hier neben +den Einteilungen, die gebräuchlich waren, mir ebenfalls meine +Beschreibungen zu machen. + + +Ungefähr eine Meile von unserer Stadt liegt gegen Sonnenuntergang hin +eine Reihe von schönen Hügeln. Diese Hügel setzen sich in Stufenfolgen +und nur hie und da von etwas größeren Ebenen unterbrochen immer weiter +nach Sonnenuntergang fort, bis sie endlich in höher gelegenes, noch +hügligeres Land, das sogenannte Oberland, übergehen. In der Nähe der +Stadt sind die Hügel mehrfach von Landhäusern besetzt und mit Gärten +und Anlagen geschmückt, in weiterer Entfernung werden sie ländlicher. +Sie tragen Weinreben oder Felder auf ihren Seiten, auch Wiesen sind +zu treffen, und die Gipfel oder auch manche Rückenstrecken sind mit +laubigen, mehr busch- als baumartigen Wäldern besetzt. Die Bäche und +sonstigen Gewässer sind nicht gar häufig, und oft traf ich im Sommer +zwischen den Hügeln, wenn mich Durst oder Zufall hinab führte, das +ausgetrocknete, mit weißen Steinen gefüllte Bett eines Baches. In +diesem Hügellande war mein Aufenthalt, und in demselben rückte ich +immer weiter gegen Sonnenuntergang vor. Ich streifte weit und breit +herum und war oft mehrere Tage von meiner Wohnung abwesend. Ich ging +die einsamen Pfade, welche zwischen den Feldern oder Weingeländen +hinliefen und sich von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort zogen und manche +Meilen, ja Tagereisen in sich begriffen. Ich ging auf den abgelegenen +Waldpfaden, die in Stammholz oder Gebüschen verborgen waren und +nicht selten im Laubwerk, Gras oder Gestrippe spurlos endeten. +Ich durchwanderte oft auch ohne Pfad Wiesen, Wald und sonstige +Landflächen, um die Gegenstände zu finden, welche ich suchte. Daß +wenige von unseren Stadtbewohnern auf solche Wege kommen, ist +begreiflich, da sie nur kurze Zeit zu dem Genusse des Landlebens sich +gönnen können und in derselben auf den breiten herkömmlichen Straßen +des Landvergnügens bleiben und von anderen Pfaden nichts wissen. +An der Mittagseite war das ganze Hügelland viele Meilen lang von +Hochgebirge gesäumt. Auf einer Stelle der Basteien unserer Stadt kann +man zwischen Häusern und Bäumen ein Fleckchen Blau von diesem Gebirge +sehen. Ich ging oft auf jene Bastei, sah oft dieses kleine blaue +Fleckchen und dachte nichts weiter als: das ist das Gebirge. Selbst +da ich von dem Hause meines ersten Sommeraufenthaltes einen Teil des +Hochgebirges erblickte, achtete ich nicht weiter darauf. Jetzt sah +ich zuweilen mit Vergnügen von einer Anhöhe oder von dem Gipfel eines +Hügels ganze Strecken der blauen Kette, welche in immer undeutlicheren +Gliedern ferner und ferner dahin lief. Oft, wenn ich durch wildes +Gestrippe plötzlich auf einen freien Abriß kam und mir die Abendröte +entgegen schlug, weithin das Land in Duft und roten Rauch legend, so +setzte ich mich nieder, ließ das Feuerwerk vor mir verglimmen, und es +kamen allerlei Gefühle in mein Herz. + +Wenn ich wieder in das Haus der Meinigen zurückkehrte, wurde ich +recht freudig empfangen, und die Mutter gewöhnte sich an meine +Abwesenheiten, da ich stets gereifter von ihnen zurück kam. Sie und +die Schwester halfen mir nicht selten, die Sachen, die ich mitbrachte, +aus ihren Behältnissen auspacken, damit ich sie in den Räumen, die +hiezu bestimmt waren, ordnen konnte. + +So war endlich die Zeit gekommen, in welcher es der Vater für geraten +fand, mir die ganze Rente der Erbschaft des Großoheims zu freier +Verfügung zu übertragen. Er sagte, ich könne mit diesem Einkommen +verfahren, wie es mir beliebe, nur müßte ich damit ausreichen. Er +werde mir auf keine Weise aus dem Seinigen etwas beitragen, noch mir +je Vorschüsse machen, da meine Jahreseinnahme so reichlich sei, daß +sie meine jetzigen Bedürfnisse, selbst wenn sie noch um Vieles größer +würden, nicht nur hinlänglich decke, sondern daß sie selbst auch +manche Vergnügungen bestreiten könne, und daß doch noch etwas übrig +bleiben dürfte. Es liege somit in meiner Hand, für die Zukunft, die +etwa größere Ausgaben bringen könnte, mir auch eine größere Einnahme +zu sichern. Meine Wohnung und meinen Tisch dürfe ich nicht mehr, wenn +ich nicht wolle, in dem Hause der Eltern nehmen, sondern wo ich immer +wollte. Das Stammvermögen selber werde er an dem Orte, an welchem +es sich bisher befand, liegen lassen. Er fügte bei, er werde mir +dasselbe, sobald ich das vierundzwanzigste Jahr erreicht habe, +einhändigen. Dann könne ich es nach meinem eigenen Ermessen verwalten. +»Ich rate dir aber«, fuhr er fort, »dann nicht nach einer größeren +Rente zu geizen, weil eine solche meistens nur mit einer größeren +Unsicherheit des Stammvermögens zu erzielen ist. Sei immer deines +Grundvermögens sicher und mache die dadurch entstehende kleinere Rente +durch Mäßigkeit größer. Solltest du den Rat deines Vaters einholen +wollen, so wird dir derselbe nie entzogen werden. Wenn ich sterbe oder +freiwillig aus den Geschäften zurück trete, so werdet ihr beide auch +noch von mir eine Vermehrung eures Eigentums erhalten. Wie groß +dieselbe sein wird, kann ich noch nicht sagen, ich bemühe mich, durch +Vorsicht und durch gut gegründete Geschäftsführung sie so groß als +möglich und auch so sicher als möglich zu machen; aber alle stehen +wir in der Hand des Herrn, und er kann durch Ereignisse, welche kein +Menschenauge vorher sehen kann, meine Vermögensumstände bedeutend +verändern. Darum sei weise und gebare mit dem Deinigen, wie du bisher +zu meiner und zur Befriedigung deiner Mutter getan hast.« Ich war +gerührt über die Handlungsweise meines Vaters und dankte ihm von +ganzem Herzen. Ich sagte, daß ich mich stets bestreben werde, seinem +Vertrauen zu entsprechen, daß ich ihn inständig um seinen Rat bitte, +und daß ich in Vermögensangelegenheiten wie in anderen nie gegen ihn +handeln, und daß ich auch nicht den kleinsten Schritt tun wolle, +ohne nach diesem Rat zu verlangen. Eine Wohnung außer dem Hause +zu beziehen, solange ich in unserer Stadt lebe, wäre mir sehr +schmerzlich, und ich bitte, in dem Hause meiner Eltern und an ihrem +Tische bleiben zu dürfen, solange Gott nicht selber durch irgend eine +Schickung eine Änderung herbei führe. + +Der Vater und die Mutter waren über diese Worte erfreut. Die Mutter +sagte, daß sie mir zu meiner bisherigen Wohnung, die mir doch als +einem nunmehr selbständigen Manne besonders bei meinen jetzigen +Verhältnissen zu klein werden dürfte, noch einige Räumlichkeiten +zugeben wolle, ohne daß darum der Preis unverhältnismäßig wachse. Ich +war natürlicher Weise mit Allem einverstanden. Ich mußte gleich mit +der Mutter gehen und die mir zugedachte Vergrößerung der Wohnung +besehen. Ich dankte ihr für ihre Sorgfalt. Schon in den nächsten Tagen +richtete ich mich in der neuen Wohnung ein. + +Den Winter benutzte ich zum Teile mit Vorbereitungen, um im nächsten +Sommer wieder große Wanderungen machen zu können. Ich hatte mir +vorgenommen, nun endlich einmal das Hochgebirge zu besuchen, und in +ihm so weit herum zu gehen, als es mir zusagen würde. + + +Als der Sommer gekommen war, fuhr ich von der Stadt auf dem kürzesten +Wege in das Gebirge. Von dem Orte meiner Ankunft aus wollte ich dann +in ihm längs seiner Richtung von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang zu +Fuße fort wandern. Ich begab mich sofort auf meinen Weg. Ich ging den +Tälern entlang, selbst wenn sie von meiner Richtung abwichen und +allerlei Windungen verfolgten. Ich suchte nach solchen Abschweifungen +immer meinen Hauptweg wieder zu gewinnen. Ich stieg auch auf Bergjoche +und ging auf der entgegengesetzten Seite wieder in das Tal hinab. + +Ich erklomm manchen Gipfel und suchte von ihm die Gegend zu sehen und +auch schon die Richtung zu erspähen, in welcher ich in nächster Zeit +vordringen würde. Im Ganzen hielt ich mich stets, soweit es anging, +nach dem Hauptzuge des Gebirges und wich von der Wasserscheide so +wenig als möglich ab. + +In einem Tale an einem sehr klaren Wasser sah ich einmal einen toten +Hirsch. Er war gejagt worden, eine Kugel hatte seine Seite getroffen, +und er mochte das frische Wasser gesucht haben, um seinen Schmerz zu +kühlen. Er war aber an dem Wasser gestorben. Jetzt lag er an demselben +so, daß sein Haupt in den Sand gebettet war und seine Vorderfüße in +die reine Flut ragten. Ringsum war kein lebendiges Wesen zu sehen. Das +Tier gefiel mir so, daß ich seine Schönheit bewunderte und mit ihm +großes Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum gebrochen, es glänzte +noch in einem schmerzlichen Glanze, und dasselbe, so wie das Antlitz, +das mir fast sprechend erschien, war gleichsam ein Vorwurf gegen seine +Mörder. Ich griff den Hirsch an, er war noch nicht kalt. Als ich +eine Weile bei dem toten Tiere gestanden war, hörte ich Laute in den +Wäldern des Gebirges, die wie Jauchzen und wie Heulen von Hunden +klangen. Diese Laute kamen näher, waren deutlich zu erkennen, und +bald sprang ein Paar schöner Hunde über den Bach, denen noch einige +folgten. Sie näherten sich mir. Als sie aber den fremden Mann bei +dem Wilde sahen, blieben einige in der Entfernung stehen und bellten +heftig gegen mich, während andere heulend weite Kreise um mich +zogen, in ihnen dahin flogen und in Eilfertigkeit sich an Steinen +überschlugen und überstürzten. Nach geraumer Zeit kamen auch Männer +mit Schießgewehren. Als sich diese dem Hirsche genähert hatten und +neben mir standen, kamen auch die Hunde herzu, hatten vor mir keine +Scheu mehr, beschnupperten mich und bewegten sich und zitterten um das +Wild herum. Ich entfernte mich, nachdem die Jäger auf dem Schauplatze +erschienen waren, sehr bald von ihm. + +Bisher hatte ich keine Tiere zu meinen Bestrebungen in der +Naturgeschichte aufgesucht, obwohl ich die Beschreibungen derselben +eifrig gelesen und gelernt hatte. Diese Vernachlässigung der +leiblichen wirklichen Gestalt war bei mir so weit gegangen, daß ich, +selbst da ich einen Teil des Sommers schon auf dem Lande zubrachte, +noch immer die Merkmale von Ziegen, Schafen, Kühen aus meinen +Abbildungen nicht nach den Gestalten suchte, die vor mir wandelten. + +Ich schlug jetzt einen andern Weg ein. Der Hirsch, den ich gesehen +hatte, schwebte mir immer vor den Augen. Er war ein edler gefallner +Held und war ein reines Wesen. Auch die Hunde, seine Feinde, +erschienen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. Die schlanken +springenden und gleichsam geschnellten Gestalten blieben mir ebenfalls +vor den Augen. Nur die Menschen, welche das Tier geschossen hatten, +waren mir widerwärtig, da sie daraus gleichsam ein Fest gemacht +hatten. Ich fing von der Stunde an, Tiere so aufzusuchen und zu +betrachten, wie ich bisher Steine und Pflanzen aufgesucht und +betrachtet hatte. Sowohl jetzt, da ich noch in dem Gebirge war, als +auch später zu Hause und bei meinen weiteren Wanderungen betrachtete +ich Tiere und suchte ihre wesentlichen Merkmale sowohl an ihrem Leibe +als auch an ihrer Lebensart und Bestimmung zu ergründen. Ich schrieb +das, was ich gesehen hatte, auf und verglich es mit den Beschreibungen +und Einteilungen, die ich in meinen Büchern fand. Da geschah es +wieder, daß ich mit diesen Büchern in Zwiespalt geriet, weil es meinen +Augen widerstrebte, Tiere nach Zehen oder anderen Dingen in einer +Abteilung beisammen zu sehen, die in ihrem Baue nach meiner Meinung +ganz verschieden waren. Ich stellte daher nicht wissenschaftlich, aber +zu meinem Gebrauche eine andere Einteilung zusammen. + +Einen besonderen Zweck, den ich bei dem Besuche des Gebirges befolgen +wollte, hatte ich dieses erste Mal nicht, außer was sich zufällig +fand. Ich war nur im Allgemeinen in das Gebirge gegangen, um es zu +sehen. Als daher dieser erste Drang etwas gesättigt war, begab ich +mich auf dem nächsten Wege in das flache Land hinaus und fuhr auf +diesem wieder nach Hause. + +Allein der kommende Sommer lockte mich abermals in das Gebirge. Hatte +ich das erste Mal nur im Allgemeinen geschaut, und waren die Eindrücke +wirkend auf mich heran gekommen, so ging ich jetzt schon mehr in das +Einzelne, ich war meiner schon mehr Herr und richtete die Betrachtung +auf besondere Dinge. Viele von ihnen drängten sich an meine Seele. +Ich saß auf einem Steine und sah die breiten Schattenflächen und die +scharfen, oft gleichsam mit einem Messer in sie geschnittenen Lichter. +Ich dachte nach, weshalb die Schatten hier so blau seien und die +Lichter so kräftig und das Grün so feurig und die Wässer so blitzend. +Mir fielen die Bilder meines Vaters ein, auf denen Berge gemalt waren, +und mir wurde es, als hätte ich sie mitnehmen sollen, um vergleichen +zu können. Ich blieb in kleinen Ortschaften zuweilen länger und +betrachtete die Menschen, ihr tägliches Gewerbe, ihr Fühlen, ihr +Reden, Denken und Singen. Ich lernte die Zither kennen, betrachtete +sie, untersuchte sie und hörte auf ihr spielen und zu ihr singen. Sie +erschien mir als ein Gegenstand, der nur allein in die Berge gehört +und mit den Bergen Eins ist. Die Wolken, ihre Bildung, ihr Anhängen +an die Bergwände, ihr Suchen der Bergspitzen so wie die Verhältnisse +des Nebels und seine Neigung zu den Bergen waren mir wunderbare +Erscheinungen. + +Ich bestieg in diesem Sommer auch einige hohe Stellen, ich ließ mich +von den Führern nicht bloß auf das Eis der Gletscher geleiten, welches +mich sehr anregte und zur Betrachtung aufforderte, sondern bestieg +auch mit ihrer Hilfe die höchsten Zinnen der Berge. Ich sah die +Überreste einer alten, untergegangenen Welt in den Marmoren, die in +dem Gebirge vorkommen und die man in manchen Tälern zu schleifen +versteht. Ich suchte besondere Arten aufzufinden und sendete sie nach +Hause. Den schönen Enzian hatte ich im früheren Sommer schon der +Schwester in meinen Pflanzenbüchern gebracht, jetzt brachte ich ihr +auch Alpenrosen und Edelweiß. Von der Zirbelkiefer und dem Knieholze +nahm ich die zierlichen Früchte. So verging die Zeit, und so kam ich +bereichert nach Hause. + +Ich ging von nun an jeden Sommer in das Gebirge. + +Wenn ich von den Zimmern meiner Wohnung in dem Hause meiner Eltern +nach einem dort verbrachten Winter gegen den Himmel blickte und nicht +mehr so oft an demselben die grauen Wolken und den Nebel sah, sondern +öfter schon die blauen und heiteren Lüfte, wenn diese durch ihre Farbe +schon gleichsam ihre größere Weichheit ankündigten, wenn auf den +Mauern und Schornsteinen und Ziegeldächern, die ich nach vielen +Richtungen übersehen konnte, schon immer kräftigere Tafeln von +Sonnenschein lagen, kein Schnee sich mehr blicken ließ und an den +Bäumen unseres Gartens die Knospen schwollen: so mahnte es mich +bereits in das Freie. Um diesem Drange nur vorläufig zu genügen, ging +ich gerne aus der Stadt und erquickte mich an der offenen Weite der +Wiesen, der Felder, der Weinberge. Wenn aber die Bäume blühten und das +erste Laub sich entwickelte, ging ich schon dem Blau der Berge zu, +wenngleich ihre Wände noch von mannigfaltigem Schnee erglänzten. Ich +erwählte mir nach und nach verschiedene Gegenden, an denen ich mich +aufhielt, um sie genau kennen zu lernen und zu genießen. + +Mein Vater hatte gegen diese Reisen nichts, auch war er mit der +Art, wie ich mit meinem Einkommen gebarte, sehr zufrieden. Es +blieb nehmlich in jedem Jahre ein Erkleckliches über, was zu dem +Grundvermögen getan werden konnte. Ich spürte desohngeachtet in meiner +Lebensweise keinen Abgang. Ich strebte nach Dingen, die meine Freude +waren und wenig kosteten, weit weniger als die Vergnügungen, denen +meine Bekannten sich hingaben. Ich hatte in Kleidern, Speise und Trank +die größte Einfachheit, weil es meiner Natur so zusagte, weil wir +zur Mäßigkeit erzogen waren und weil diese Gegenstände, wenn ich +ihnen große Aufmerksamkeit hätte schenken sollen, mich von meinen +Lieblingsbestrebungen abgelenkt hätten. So ging alles gut, Vater und +Mutter freuten sich über meine Ordnung, und ich freute mich über ihre +Freude. + + +Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich könnte mir ja meine +Naturgegenstände, dachte ich, eben so gut zeichnen als beschreiben, +und die Zeichnung sei am Ende noch sogar besser als die Beschreibung. +Ich erstaunte, weshalb ich denn nicht sogleich auf den Gedanken +geraten sei. Ich hatte wohl früher immer gezeichnet, aber mit +mathematischen Linien, welche nach Rechnungsgesetzen entstanden, +Flächen und Körper in der Meßkunst darstellten und mit Zirkel und +Richtscheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht gut, daß man +mit Linien alle möglichen Körper darstellen könne, und hatte es an den +Bildern meines Vaters vollführt gesehen: aber ich hatte nicht weiter +darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung beschäftigt war. Es +mußte diese Vernachlässigung von einer Eigenschaft in mir herrühren, +die ich in einem hohen Grade besaß und die man mir zum Vorwurfe +machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenstande eifrig beschäftigt +war, so vergaß ich darüber manchen andern, der vielleicht größere +Bedeutung hatte. Sie sagten, das sei einseitig, ja es sei sogar Mangel +an Gefühl. + +Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit Blättern, mit Stielen, +mit Zweigen. Es war Anfangs die Ähnlichkeit nicht sehr groß, und die +Vollkommenheit der Zeichnung ließ viel zu wünschen übrig, wie ich +später erkannte. Aber es wurde immer besser, da ich eifrig war und vom +Versuchen nicht abließ. Die früher in meine Pflanzenbücher eingelegten +Pflanzen, wie sorgsam sie auch vorbereitet waren, verloren nach und +nach nicht bloß die Farbe, sondern auch die Gestalt, und erinnerten +nicht mehr entfernt an ihre ursprüngliche Beschaffenheit. + +Die gezeichneten Pflanzen dagegen bewahrten wenigstens die +Gestalt, nicht zu gedenken, daß es Pflanzen gibt, die wegen ihrer +Beschaffenheit, und selbst solche, die wegen ihrer Größe in ein +Pflanzenbuch nicht gelegt werden können, wie zum Beispiele Pilze oder +Bäume. Diese konnten in einer Zeichnung sehr wohl aufbewahrt werden. +Die bloßen Zeichnungen aber genügten mir nach und nach auch nicht +mehr, weil die Farbe fehlte, die bei den Pflanzen, besonders bei den +Blüten, eine Hauptsache ist. Ich begann daher, meine Abbildungen mit +Farben zu versehen und nicht eher zu ruhen, als bis die Ähnlichkeit +mit den Urbildern erschien und immer größer zu werden versprach. + +Nach den Pflanzen nahm ich auch andere Gegenstände vor, deren Farbe +etwas Auffallendes und Faßliches hatte. Ich geriet auf die Falter und +suchte mehrere nachzubilden. Die Farben von minder hervorragenden +Gegenständen, die zwar unscheinbar, aber doch bedeutsam sind, wie die +der Gesteine im unkristallischen Zustande, kamen später an die Reihe, +und ich lernte ihre Reize nach und nach würdigen. + +Da ich nun einmal zeichnete und die Dinge deshalb doch viel genauer +betrachten mußte, und da das Zeichnen und meine jetzige Bestrebungen +mich doch nicht ganz ausfüllten, kam ich auch noch auf eine andere, +viel weiter gehende Richtung. + +Ich habe schon gesagt, daß ich gerne auf hohe Berge stieg und von +ihnen aus die Gegenden betrachtete. Da stellten sich nun dem geübteren +Auge die bildsamen Gestalten der Erde in viel eindringlicheren +Merkmalen dar und faßten sich übersichtlicher in großen Teilen +zusammen. Da öffnete sich dem Gemüte und der Seele der Reiz des +Entstehens dieser Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen, +ihres Dahinstreichens und Abweichens von einer Richtung, ihres +Zusammenstrebens gegen einen Hauptpunkt und ihrer Zerstreuungen in die +Fläche. Es kam ein altes Bild, das ich einmal in einem Buche gelesen +und wieder vergessen hatte, in meine Erinnerung. Wenn das Wasser in +unendlich kleinen Tröpfchen, die kaum durch ein Vergrößerungsglas +ersichtlich sind, aus dem Dunste der Luft sich auf die Tafeln unserer +Fenster absetzt, und die Kälte dazu kömmt, die nötig ist, so entsteht +die Decke von Fäden, Sternen, Wedeln, Palmen und Blumen, die wir +gefrorene Fenster heißen. Alle diese Dinge stellen sich zu einem +Ganzen zusammen, und die Strahlen, die Täler, die Rücken, die +Knoten des Eises sind durch ein Vergrößerungsglas angesehen +bewunderungswürdig. Eben so stellt sich von sehr hohen Bergen aus +gesehen die niedriger liegende Gestaltung der Erde dar. Sie muß aus +einem erstarrenden Stoffe entstanden sein und streckt ihre Fächer +und Palmen in großartigem Maßstabe aus. Der Berg selber, auf dem ich +stehe, ist der weiße, helle und sehr glänzende Punkt, den wir in +der Mitte der zarten Gewebe unserer gefrorenen Fenster sehen. Die +Palmenränder der gefrorenen Fenstertafeln werden durch Abbröcklung +wegen des Luftzuges oder durch Schmelzung wegen der Wärme lückenhaft +und unterbrochen. An den Gebirgszügen geschehen Zerstörungen durch +Verwitterung in Folge des Einflusses des Wassers, der Luft, der +Wärme und der Kälte. Nur braucht die Zerstörung der Eisnadeln an den +Fenstern kürzere Zeit als der Nadeln der Gebirge. Die Betrachtung der +unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stunden widmete, erhob +mein Herz zu höherer Bewegung, und es erschien mir als ein würdiges +Bestreben, ja als ein Bestreben, zu dem alle meine bisherigen +Bemühungen nur Vorarbeiten gewesen waren, dem Entstehen dieser +Erdoberfläche nachzuspüren und durch Sammlung vieler kleiner Tatsachen +an den verschiedensten Stellen sich in das große und erhabene Ganze +auszubreiten, das sich unsern Blicken darstellt, wenn wir von +Hochpunkt zu Hochpunkt auf unserer Erde reisen und sie endlich alle +erfüllt haben und keine Bildung dem Auge mehr zu untersuchen bleibt +als die Weite und die Wölbung des Meeres. + +Ich begann, durch diese Gefühle und Betrachtungen angeregt, gleichsam +als Schlußstein oder Zusammenfassung aller meiner bisherigen Arbeiten +die Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche und dadurch vielleicht +der Bildung der Erde selber zu betreiben. Nebstdem, daß ich +gelegentlich von hohen Stellen aus die Gestaltung der Erdoberfläche +genau zeichnete, gleichsam als wäre sie durch einen Spiegel gesehen +worden, schaffte ich mir die vorzüglichsten Werke an, welche über +diese Wissenschaft handeln, machte mich mit den Vorrichtungen, die man +braucht, bekannt, so wie mit der Art ihrer Benützung. + +Ich betrieb nun diesen Gegenstand mit fortgesetztem Eifer und mit +einer strengen Ordnung. + +Dabei lernte ich auch nach und nach den Himmel kennen, die Gestaltung +seiner Erscheinungen und die Verhältnisse seines Wetters. + +Meine Besuche der Berge hatten nun fast ausschließlich diesen Zweck zu +ihrem Inhalte. + + + +Die Einkehr + +Eines Tages ging ich von dem Hochgebirge gegen das Hügelland hinaus. +Ich wollte nehmlich von einem Gebirgszuge in einen andern übersiedeln +und meinen Weg dahin durch einen Teil des offenen Landes nehmen. +Jedermann kennt die Vorberge, mit welchen das Hochgebirge gleichsam +wie mit einem Übergange gegen das flachere Land ausläuft. Mit Laub- +oder Nadelwald bedeckt ziehen sie in angenehmer Färbung dahin, lassen +hie und da das blaue Haupt eines Hochberges über sich sehen, sind hie +und da von einer leuchtenden Wiese unterbrochen, führen alle Wässer, +die das Gebirge liefert und die gegen das Land hinaus gehen, zwischen +sich, zeigen manches Gebäude und manches Kirchlein und strecken sich +nach allen Richtungen, in denen das Gebirge sich abniedert, gegen die +bebauteren und bewohnteren Teile hinaus. + +Als ich von dem Hange dieser Berge herab ging und eine freiere +Umsicht gewann, erblickte ich gegen Untergang hin die sanften Wolken +eines Gewitters, das sich sachte zu bilden begann und den Himmel +umschleierte. Ich schritt rüstig fort und beobachtete das Zunehmen und +Wachsen der Bewölkung. Als ich ziemlich weit hinaus gekommen war und +mich in einem Teile des Landes befand, wo sanfte Hügel mit mäßigen +Flächen wechseln, Meierhöfe zerstreut sind, der Obstbau gleichsam in +Wäldern sich durch das Land zieht, zwischen dem dunkeln Laube die +Kirchtürme schimmern, in den Talfurchen die Bäche rauschen und überall +wegen der größeren Weitung, die das Land gibt, das blaue, gezackte +Band der Hochgebirge zu erblicken ist, mußte ich auf eine Einkehr +denken; denn das Dorf, in welchem ich Rast halten wollte, war kaum +mehr zu erreichen. Das Gewitter war so weit gediehen, daß es in einer +Stunde und bei begünstigenden Umständen wohl noch früher ausbrechen +konnte. + +Vor mir hatte ich das Dorf Rohrberg, dessen Kirchturm von der Sonne +scharf beschienen über Kirschen- und Weidenbäumen hervor sah. Es lag +nur ganz wenig abseits von der Straße. Näher waren zwei Meierhöfe, +deren jeder in einer mäßigen Entfernung von der Straße in Wiesen und +Feldern prangte. Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder ein +Bauerhaus noch irgend ein Wirtschaftsgebäude eines Bürgers zu sein +schien, sondern eher dem Landhause eines Städters glich. Ich hatte +schon früher wiederholt, wenn ich durch die Gegend kam, das Haus +betrachtet, aber ich hatte mich nie näher um dasselbe bekümmert. Jetzt +fiel es mir um so mehr auf, weil es der nächste Unterkunftsplatz von +meinem Standorte aus war und weil es mehr Bequemlichkeit als die +Meierhöfe zu geben versprach. Dazu gesellte sich ein eigentümlicher +Reiz. Es war, da schon ein großer Teil des Landes, mit Ausnahme des +Rohrberger Kirchturmes, im Schatten lag, noch hell beleuchtet und sah +mit einladendem schimmerndem Weiß in das Grau und Blau der Landschaft +hinaus. + +Ich beschloß also, in diesem Hause eine Unterkunft zu suchen. + +Ich forschte dem zu Folge nach einem Wege, der von der Straße auf +den Hügel des Hauses hinaufführen sollte. Nach meiner Kenntnis des +Landesgebrauches war es mir nicht schwer, den mit einem Zaune und +mit Gebüsch besäumten Weg, der von der Landstraße ab hinauf ging, +zu finden. Ich schritt auf demselben empor und kam, wie ich richtig +vermutet hatte, vor das Haus. Es war noch immer von der Sonne hell +beschienen. Allein da ich näher vor dasselbe trat, hatte ich einen +bewunderungswürdigen Anblick. Das Haus war über und über mit Rosen +bedeckt, und wie es in jenem fruchtbaren hügligen Lande ist, daß, +wenn einmal etwas blüht, gleich alles mit einander blüht, so war es +auch hier: die Rosen schienen sich das Wort gegeben zu haben, alle +zur selben Zeit aufzubrechen, um das Haus in einen Überwurf der +reizendsten Farbe und in eine Wolke der süßesten Gerüche zu hüllen. + +Wenn ich sage, das Haus sei über und über mit Rosen bedeckt gewesen, +so ist das nicht so wortgetreu zu nehmen. Das Haus hatte zwei ziemlich +hohe Geschosse. + +Die Wand des Erdgeschosses war bis zu den Fenstern des oberen +Geschosses mit den Rosen bedeckt. Der übrige Teil bis zu dem Dache war +frei, und er war das leuchtende weiße Band, welches in die Landschaft +hinaus geschaut und mich gewissermaßen herauf gelockt hatte. Die Rosen +waren an einem Gitterwerke, das sich vor der Wand des Hauses befand, +befestigt. Sie bestanden aus lauter Bäumchen. Es waren winzige +darunter, deren Blätter gleich über der Erde begannen, dann höhere, +deren Stämmchen über die ersten empor ragten, und so fort, bis die +letzten mit ihren Zweigen in die Fenster des oberen Geschosses hinein +sahen. Die Pflanzen waren so verteilt und gehegt, daß nirgends eine +Lücke entstand und daß die Wand des Hauses, soweit sie reichten, +vollkommen von ihnen bedeckt war. + +Ich hatte eine Vorrichtung dieser Art in einem so großen Maßstabe noch +nie gesehen. + +Es waren zudem fast alle Rosengattungen da, die ich kannte, und +einige, die ich noch nicht kannte. Die Farben gingen von dem reinen +Weiß der weißen Rosen durch das gelbliche und rötliche Weiß der +Übergangsrosen in das zarte Rot und in den Purpur und in das bläuliche +und schwärzliche Rot der roten Rosen über. Die Gestalten und der Bau +wechselten in eben demselben Maße. Die Pflanzen waren nicht etwa nach +Farben eingeteilt, sondern die Rücksicht der Anpflanzung schien nur +die zu sein, daß in der Rosenwand keine Unterbrechung statt finden +möge. Die Farben blühten daher in einem Gemische durch einander. + +Auch das Grün der Blätter fiel mir auf. Es war sehr rein gehalten, und +kein bei Rosen öfter als bei andern Pflanzen vorkommender Übelstand +der grünen Blätter und keine der häufigen Krankheiten kam mir zu +Gesichte. Kein verdorrtes oder durch Raupen zerfressenes oder durch +ihr Spinnen verkrümmtes Blatt war zu erblicken. Selbst das bei Rosen +so gerne sich einnistende Ungeziefer fehlte. Ganz entwickelt und +in ihren verschiedenen Abstufungen des Grüns prangend standen die +Blätter hervor. Sie gaben mit den Farben der Blumen gemischt einen +wunderlichen Überzug des Hauses. Die Sonne, die noch immer gleichsam +einzig auf dieses Haus schien, gab den Rosen und den grünen Blättern +derselben gleichsam goldene und feurige Farben. + + +Nachdem ich eine Weile mein Vorhaben vergessend vor diesen Blumen +gestanden war, ermahnte ich mich und dachte an das Weitere. Ich sah +mich nach einem Eingange des Hauses um. Allein ich erblickte keinen. +Die ganze ziemlich lange Wand desselben hatte keine Tür und kein Tor. +Auch durch keinen Weg war der Eingang zu dem Hause bemerkbar gemacht; +denn der ganze Platz vor demselben war ein reiner, durch den Rechen +wohlgeordneter Sandplatz. Derselbe schnitt sich durch ein Rasenband +und eine Hecke von den angrenzenden, hinter meinem Rücken liegenden +Feldern ab. Zu beiden Seiten des Hauses in der Richtung seiner +Länge setzten sich Gärten fort, die durch ein hohes, eisernes, grün +angestrichenes Gitter von dem Sandplatze getrennt waren. In diesen +Gittern mußte also der Eingang sein. + +Und so war es auch. + +In dem Gitter, welches dem den Hügel heranführenden Wege zunächst +lag, entdeckte ich die Tür oder eigentlich zwei Flügel einer Tür, die +dem Gitter so eingefügt waren, daß sie von demselben bei dem ersten +Anblicke nicht unterschieden werden konnten. In den Türen waren die +zwei messingenen Schloßgriffe und an der Seite des einen Flügels ein +Glockengriff. + +Ich sah zuerst ein wenig durch das Gitter in den Garten. Der Sandplatz +setzte sich hinter dem Gitter fort, nur war er besäumt mit blühenden +Gebüschen und unterbrochen mit hohen Obstbäumen, welche Schatten +gaben. In dem Schatten standen Tische und Stühle; es war aber kein +Mensch bei ihnen gegenwärtig. Der Garten erstreckte sich rückwärts um +das Haus herum und schien mir bedeutend weit in die Tiefe zu gehen. + +Ich versuchte zuerst die Türgriffe, aber sie öffneten nicht. Dann nahm +ich meine Zuflucht zu dem Glockengriffe und läutete. + +Auf den Klang der Glocke kam ein Mann hinter den Gebüschen des Gartens +gegen mich hervor. Als er an der innern Seite des Gitters vor mir +stand, sah ich, daß es ein Mann mit schneeweißen Haaren war, die er +nicht bedeckt hatte. Sonst war er unscheinbar und hatte eine Art +Hausjacke an, oder wie man das Ding nennen soll, das ihm überall +enge anlag und fast bis auf die Knie herabreichte. Er sah mich einen +Augenblick an, da er zu mir herangekommen war, und sagte dann: »Was +wollt ihr, lieber Herr?« + +»Es ist ein Gewitter im Anzuge«, antwortete ich, »und es wird in +Kurzem über diese Gegend kommen. Ich bin ein Wandersmann, wie ihr an +meinem Ränzchen seht, und bitte daher, daß mir in diesem Hause so +lange ein Obdach gegeben werde, bis der Regen, oder wenigstens der +schwerere, vorüber ist.« + +»Das Gewitter wird nicht zum Ausbruche kommen«, sagte der Mann. + +»Es wird keine Stunde dauern, daß es kömmt«, entgegnete ich, »ich bin +mit diesen Gebirgen sehr wohl bekannt und verstehe mich auch auf die +Wolken und Gewitter derselben ein wenig.« + +»Ich bin aber mit dem Platze, auf welchem wir stehen, aller +Wahrscheinlichkeit nach weit länger bekannt als ihr mit dem Gebirge, +da ich viel älter bin als ihr«, antwortete er, »ich kenne auch seine +Wolken und Gewitter und weiß, daß heute auf dieses Haus, diesen Garten +und diese Gegend kein Regen niederfallen wird.« + +»Wir wollen nicht lange darüber Meinungen hegen, ob ein Gewitter +dieses Haus netzen wird oder nicht«, sagte ich; »wenn ihr Anstand +nehmet, mir dieses Gittertor zu öffnen, so habet die Güte und ruft den +Herrn des Hauses herbei.« + +»Ich bin der Herr des Hauses.« + +Auf dieses Wort sah ich mir den Mann etwas näher an. Sein Angesicht +zeigte zwar auch auf ein vorgerücktes Alter, aber es schien mir +jünger als die Haare und gehörte überhaupt zu jenen freundlichen, +wohlgefärbten, nicht durch das Fett der vorgerückten Jahre entstellten +Angesichtern, von denen man nie weiß, wie alt sie sind. Hierauf sagte +ich: »Nun muß ich wohl um Verzeihung bitten, daß ich so zudringlich +gewesen bin, ohne weiteres auf die Sitte des Landes zu bauen. Wenn +eure Behauptung, daß kein Gewitter kommen werde, einer Ablehnung +gleich sein soll, werde ich mich augenblicklich entfernen. Denkt +nicht, daß ich als junger Mann den Regen so scheue; es ist mir zwar +nicht so angenehm, durchnäßt zu werden als trocken zu bleiben, es ist +mir aber auch nicht so unangenehm, daß ich deshalb jemandem zur Last +fallen sollte. Ich bin oft von dem Regen getroffen worden, und es +liegt nichts daran, wenn ich auch heute getroffen werde.« + +»Das sind eigentlich zwei Fragen«, antwortete der Mann, »und ich muß +auf beide etwas entgegnen. Das Erste ist, daß ihr in Naturdingen eine +Unrichtigkeit gesagt habet, was vielleicht daher kömmt, daß ihr die +Verhältnisse dieser Gegend zu wenig kennt oder auf die Vorkommnisse +der Natur nicht genug achtet. Diesen Irrtum mußte ich berichtigen; +denn in Sachen der Natur muß auf Wahrheit gesehen werden. Das Zweite +ist, daß, wenn ihr mit oder ohne Gewitter in dieses Haus kommen wollt, +und wenn ihr gesonnen seid, seine Gastfreundschaft anzunehmen, ich +sehr gerne willfahren werde. Dieses Haus hat schon manchen Gast gehabt +und manchen gerne beherbergt, und wie ich an euch sehe, wird es auch +euch gerne beherbergen und so lange verpflegen, als ihr es für nötig +erachten werdet. Darum bitte ich euch, tretet ein.« + +Mit diesen Worten tat er einen Druck am Schlosse des Torflügels, +der Flügel öffnete sich, drehte sich mit einer Rolle auf einer +halbkreisartigen Eisenschiene und gab mir Raum zum Eintreten. + +Ich blieb nun einen Augenblick unentschlossen. + +»Wenn das Gewitter nicht kömmt«, sagte ich, »so habe ich im Grunde +keine Ursache, hier einzutreten; denn ich bin nur des anziehenden +Gewitters willen von der Landstraße abgewichen und zu diesem Hause +heraufgestiegen. Aber verzeiht mir, wenn ich noch einmal die Frage +anrege. Ich bin beinahe eine Art Naturforscher und habe mich mehrere +Jahre mit Naturdingen, mit Beobachtungen und namentlich mit diesem +Gebirge beschäftigt, und meine Erfahrungen sagen mir, daß heute über +diese Gegend und dieses Haus ein Gewitter kommen wird.« + +»Nun müßt ihr eigentlich vollends herein gehen«, sagte er, »jetzt +handelt es sich darum, daß wir gemeinschaftlich abwarten, wer von uns +beiden recht hat. Ich bin zwar kein Naturforscher und kann von mir +nicht sagen, daß ich mich mit Naturwissenschaften beschäftigt habe; +aber ich habe manches über diese Gegenstände gelesen, habe während +meines Lebens mich bemüht, die Dinge zu beobachten und über das +Gelesene und Gesehene nachzudenken. In Folge dieser Bestrebungen habe +ich heute die unzweideutigen Zeichen gesehen, daß die Wolken, welche +jetzt noch gegen Sonnenuntergang stehen, welche schon einmal gedonnert +haben und von denen ihr veranlaßt worden seid, zu mir herauf zu +steigen, nicht über dieses Haus und überhaupt über keine Gegend einen +Regen bringen werden. Sie werden sich vielleicht, wenn die Sonne +tiefer kömmt, verteilen und werden zerstreut am Himmel herum stehen. +Abends werden wir etwa einen Wind spüren, und morgen wird gewiß wieder +ein schöner Tag sein. Es könnte sich zwar ereignen, daß einige schwere +Tropfen fallen oder ein kleiner Sprühregen nieder geht, aber gewiß +nicht auf diesen Hügel.« + +»Da die Sache so ist«, erwiderte ich, »trete ich gerne ein und harre +mit euch gerne der Entscheidung, auf die ich begierig bin.« + +Nach diesen Worten trat ich ein, er schloß das Gitter und sagte, er +wolle mein Führer sein. + + +Er führte mich um das Haus herum; denn in der den Rosen +entgegengesetzten Seite war die Tür. Er führte mich durch dieselbe +ein, nachdem er sie mit einem Schlüssel geöffnet hatte. Hinter der Tür +erblickte ich einen Gang, welcher mit Amonitenmarmor gepflastert war. + +»Dieser Eingang«, sagte er, »ist eigentlich der Haupteingang; aber da +ich mir nicht gerne das Pflaster des Ganges verderben lasse, halte ich +ihn immer gesperrt, und die Leute gehen durch eine Tür in die Zimmer, +welche wir finden würden, wenn wir noch einmal um die Ecke des +Hauses gingen. Des Pflasters willen muß ich euch auch bitten, diese +Filzschuhe anzuziehen.« + +Es standen einige Paare gelblicher Filzschuhe gleich innerhalb der +Tür. Niemand konnte mehr als ich von der Notwendigkeit überzeugt +sein, diesen so edlen und schönen Marmor zu schonen, der an sich +so vortrefflich ist und hier ganz meisterhaft geglättet war. Ich +fuhr daher mit meinen Stiefeln in ein Paar solcher Schuhe, er tat +desgleichen, und so gingen wir über den glatten Boden. Der Gang, +welcher von oben beleuchtet war, führte zu einer braunen getäfelten +Tür. Vor derselben legte er die Filzschuhe ab, verlangte von mir, daß +ich dasselbe tue, und, nachdem wir uns auf dem hölzernen Antritte der +Tür der Filzschuhe entledigt hatten, öffnete er dieselbe und führte +mich in ein Zimmer. Dem Ansehen nach war es ein Speisezimmer; denn in +der Mitte desselben stand ein Tisch, an dessen Bauart man sah, daß er +vergrößert oder verkleinert werden könne, je nachdem eine größere oder +kleinere Anzahl von Personen um ihn sitzen sollte. Außer dem Tische +befanden sich nur Stühle in dem Zimmer und ein Schrein, in welchem die +Speisegerätschaften enthalten sein konnten. + +»Legt in diesem Zimmer«, sagte der Mann, »euern Hut, euern Stock und +euer Ränzlein ab, ich werde euch dann in ein anderes Gemach führen, in +welchem ihr ausruhen könnt.« + +Als er dies gesagt und ich ihm Folge geleistet hatte, trat er zu einer +breiten Strohmatte und zu Fußbürsten, die sich am Ausgange des Zimmers +befanden, reinigte sich an beiden sehr sorgsam seine Fußbekleidung +und lud mich ein, dasselbe zu tun. Ich tat es, und da ich fertig war, +öffnete er die Ausgangstür, die ebenfalls braun und getäfelt war, und +führte mich durch ein Vorgemach in ein Ausruhezimmer, welches an der +Seite des Vorgemaches lag. + +»Dieses Vorgemach«, sagte er, »ist der eigentliche Eingang in das +Speisezimmer, und man kömmt von der andern Tür in dasselbe.« + +Das Ausruhezimmer war ein freundliches Gemach und schien recht eigens +zum Sitzen und Ruhehalten bestimmt. Es befaßte nichts als lauter +Tische und Sitze. Auf den Tischen lagen aber nicht, wie es häufig in +unsern Besuchzimmern vorkömmt, Bücher oder Zeichnungen und dergleichen +Dinge, sondern die Tafeln derselben waren unbedeckt und waren +ausnehmend gut geglättet und gereinigt. Sie waren von dunklem +Mahagoniholze, das in der Zeit noch mehr nachgedunkelt war. Ein +einziges Geräte war da, welches kein Tisch und kein Sitz war, ein +Gestelle mit mehreren Fächern, welches Bücher enthielt. An den Wänden +hingen Kupferstiche. + +»Hier könnt ihr ausruhen, wenn ihr vom Gehen müde seid oder überhaupt +ruhen wollt«, sagte der Mann, »ich werde gehen und sorgen, daß man +euch etwas zu essen bereitet. Ihr müßt wohl eine Weile allein bleiben. +Auf dem Gestelle liegen Bücher, wenn ihr etwa ein wenig in dieselben +blicken wollet.« + +Nach diesen Worten entfernte er sich. + +Ich war in der Tat müde und setzte mich nieder. + +Als ich saß, konnte ich den Grund einsehen, weshalb der Mann vor dem +Eintritte in dieses Zimmer so sehr seine Fußbekleidung gereinigt und +mir den Wunsch zu gleicher Reinigung ausgedrückt hatte. Das Zimmer +enthielt nehmlich einen schön getäfelten Fußboden, wie ich nie einen +gleichen gesehen hatte. Es war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich +konnte das Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter Holzgattungen +in ihren natürlichen Farben zusammengesetzt und sie in ein Ganzes von +Zeichnungen gebracht. Da ich von den Geräten meines Vaters her an +solche Dinge gewohnt war und sie etwas zu beurteilen verstand, sah ich +ein, daß man alles nach einem in Farben ausgeführten Plane gemacht +haben mußte, welcher Plan mir selber wie ein Meisterstück erschien. +Ich dachte, da dürfe ich ja gar nicht aufstehen und auf der Sache +herum gehen, besonders wenn ich die Nägel in Anschlag brachte, mit +denen meine Gebirgsstiefel beschlagen waren. Auch hatte ich keine +Veranlassung zum Aufstehen, da mir die Ruhe nach einem ziemlich langen +Gange sehr angenehm war. + +Da saß ich nun in dem weißen Hause, zu welchem ich hinauf gestiegen +war, um in ihm das Gewitter abzuwarten. + +Es schien noch immer die Sonne auf das Haus, blickte durch die Fenster +dieses Zimmers schief herein und legte lichte Tafeln auf den schönen +Fußboden desselben. + +Als ich eine Weile gesessen war, bemächtigte sich meiner eine seltsame +Empfindung, welche ich mir Anfangs nicht zu erklären vermochte. Es war +mir nehmlich, als sitze ich nicht in einem Zimmer, sondern im Freien, +und zwar in einem stillen Walde. Ich blickte gegen die Fenster, um mir +das Ding zu erklären; aber die Fenster erteilten die Erklärung nicht: +ich sah durch sie ein Stück Himmel, teils rein, teils etwas bewölkt, +und unter dem Himmel sah ich ein Stück Gartengrün von emporragenden +Bäumen, ein Anblick, den ich wohl schon sehr oft gehabt hatte. Ich +spürte eine reine, freie Luft mich umgeben. Die Ursache davon war, +daß die Fenster des Zimmers in ihren oberen Teilen offen waren. +Diese oberen Teile konnten nicht nach Innen geöffnet werden, wie das +gewöhnlich der Fall ist, sondern waren nur zu verschieben, und zwar +so, daß einmal Glas in dem Rahmen vorgeschoben werden konnte, ein +anderes Mal ein zarter Flor von weißgrauer Seide. Da ich in dem Zimmer +saß, war das Letztere der Fall. Die Luft konnte frei herein strömen, +Fliegen und Staub waren aber ausgeschlossen. + +Wenn nun gleich die reine Luft eine Mahnung des Freien gab, sah ich +doch hierin nicht völlige Erklärung allein. + +Ich bemerkte noch etwas anderes. In dem Zimmer, in welchem ich mich +befand, hörte man nicht den geringsten Laut eines bewohnten Hauses, +den man doch sonst, es mag im Hause noch so ruhig sein, mehr oder +weniger in Zwischenräumen vernimmt. Diese Art Abwesenheit häuslichen +Geräusches verbarg allerdings die Nachbarschaft bewohnter Räume, +konnte aber eben so wenig als die freie Luft die Waldempfindung geben. + +Endlich glaubte ich auf den Grund gekommen zu sein. Ich hörte nehmlich +fast ununterbrochen, bald näher, bald ferner, bald leiser, bald lauter +vermischten Vogelgesang. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf diese +Wahrnehmung und erkannte bald, daß der Gesang nicht bloß von Vögeln +herrühre, die in der Nähe menschlicher Wohnungen hausen, sondern auch +von solchen, deren Stimme und Zwitschern mir nur aus den Wäldern und +abgelegenen Bebuschungen bekannt war. Dieses wenig auffallende, mir +aus meinem Gebirgsaufenthalte bekannte und von mir in der Tat nicht +gleich beachtete Getön mochte wohl die Hauptursache meiner Täuschung +gewesen sein, obwohl die Stille des Raumes und die reine Luft auch +mitgewirkt haben konnten. Da ich nun genauer auf dieses gelegentliche +Vogelzwitschern achtete, fand ich wirklich, daß Töne sehr einsamer und +immer in tiefen Wäldern wohnender Vögel vorkamen. Es nahm sich dies +wunderlich in einem bewohnten und wohleingerichteten Zimmer aus. + +Da ich aber nun den Grund meiner Empfindung aufgefunden hatte +oder aufgefunden zu haben glaubte, war auch ein großer Teil ihrer +Dunkelheit und mithin Annehmlichkeit verschwunden. + +Wie ich nun so fortwährend auf den Vogelgesang merkte, fiel mir +sogleich auch etwas anderes ein. Wenn ein Gewitter im Anzuge ist und +schwüle Lüfte in dem Himmelsraume stocken, schweigen gewöhnlich die +Waldvögel. Ich erinnerte mich, daß ich in solchen Augenblicken oft in +den schönsten, dichtesten, entlegensten Wäldern nicht den geringsten +Laut gehört habe, etwa ein einmaliges oder zweimaliges Hämmern des +Spechtes ausgenommen oder den kurzen Schrei jenes Geiers, den die +Landleute Gießvogel nennen. Aber selbst er schweigt, wenn das Gewitter +in unmittelbarer Annäherung ist. Nur bei den Menschen wohnende Vögel, +die das Gewitter fürchten wie er, oder solche, die im weiten Freien +hausen und vielleicht dessen majestätische Annäherung bewundern, +zeigen sein Bevorstehen an. So habe ich Schwalben vor den dicken +Wolken eines heraufsteigenden Gewitters mit ihrem weißen Bauchgefieder +kreuzen gesehen und selbst schreien gehört, und so habe ich Lerchen +singend gegen die dunkeln Gewitterwolken aufsteigen gesehen. Das +Singen der Waldvögel erschien mir nun als ein schlimmes Zeichen für +meine Voraussagung eines Gewitters. Auch fiel mir auf, daß sich noch +immer keine Merkmale des Ausbruches zeigten, welchen ich nicht für so +ferne gehalten hatte, als ich die Landstraße verließ. Die Sonne schien +noch immer auf das Haus, und ihre glänzenden Lichttafeln lagen noch +immer auf dem schönen Fußboden des Zimmers. + + +Mein Beherberger schien es darauf angelegt zu haben, mich lange allein +zu lassen, wahrscheinlich, um mir Raum zur Ruhe und Bequemlichkeit zu +geben; denn er kam nicht so bald zurück, als ich nach seiner Äußerung +erwartet hatte. + +Als ich eine geraume Weile gesessen war und das Sitzen anfing, mir +nicht mehr jene Annehmlichkeit zu gewähren wie Anfangs, stand ich +auf und ging auf den Fußspitzen, um den Boden zu schonen, zu dem +Büchergestelle, um die Bücher anzusehen. Es waren aber bloß beinahe +lauter Dichter. Ich fand Bände von Herder, Lessing, Goethe, Schiller, +Übersetzungen Shakespeares von Schlegel und Tieck, einen griechischen +Odysseus, dann aber auch etwas aus Ritters Erdbeschreibung, aus +Johannes Müllers Geschichte der Menschheit und aus Alexander und +Wilhelm Humboldt. Ich tat die Dichter bei Seite und nahm Alexander +Humboldts Reise in die Äquinoctialländer, die ich zwar schon kannte, +in der ich aber immer gerne las. Ich begab mich mit meinem Buche +wieder zu meinem Sitze zurück. + +Als ich nicht gar kurze Zeit gelesen hatte, trat mein Beherberger +herein. + +Ich hatte, weil er so lange abwesend war, gedacht, er werde sich etwa +auch umgekleidet haben, weil er doch nun einmal einen Gast habe und +weil sein Anzug so gar unbedeutend war. Aber er kam in den nehmlichen +Kleidern zurück, in welchen er vor mir an dem Gittertore gestanden +war. + +Er entschuldigte sein Außenbleiben nicht, sondern sagte, ich möchte, +wenn ich ausgeruht hätte und es mir genehm wäre, zu speisen, ihm in +das Speisezimmer folgen, es würde dort für mich aufgetragen werden. + +Ich sagte, ausgeruht hätte ich schon, aber ich sei nur gekommen, um +Unterstand zu bitten, nicht aber auch in anderer Weise, besonders in +Hinsicht von Speise und Trank, lästig zu fallen. + +»Ihr fallt nicht lästig«, antwortete der Mann, »ihr müßt etwas zu +essen bekommen, besonders da ihr so lange da bleiben müßt, bis sich +die Sache wegen des Gewitters entschieden hat. Da schon Mittag vorüber +ist, wir aber genau mit der Mittagstunde des Tages zu Mittag essen und +von da bis zu dem Abendessen nichts mehr aufgetragen wird, so muß für +euch, wenn ihr nicht bis Abends warten sollet, besonders aufgetragen +werden. Solltet ihr aber sollen zu Mittag gegessen haben und bis +Abends warten wollen, so fordert es doch die Ehre des Hauses, daß euch +etwas geboten werde, ihr möget es dann annehmen oder nicht. Folgt mir +daher in das Speisezimmer.« + +Ich legte das Buch neben mich auf den Sitz und schickte mich an, zu +gehen. + +Er aber nahm das Buch und legte es auf seinen Platz in dem +Büchergestelle. + +»Verzeiht«, sagte er, »es ist bei uns Sitte, daß die Bücher, die auf +dem Gestelle sind, damit jemand, der in dem Zimmer wartet oder sich +sonst aufhält, bei Gelegenheit und nach Wohlgefallen etwas lesen kann, +nach dem Gebrauche wieder auf das Gestelle gelegt werden, damit das +Zimmer die ihm zugehörige Gestalt behalte.« + +Hierauf öffnete er die Tür und lud mich ein, in das mir bekannte +Speisezimmer voraus zu gehen. + +Als wir in demselben angelangt waren, sah ich, daß in ausgezeichnet +schönen weißen Linnen gedeckt sei, und zwar nur ein Gedecke, daß sich +eingemachte Früchte, Wein, Wasser und Brot auf dem Tische befanden und +in einem Gefäße verkleinertes Eis war, es in den Wein zu tun. Mein +Ränzlein und meinen Schwarzdornstock sah ich nicht mehr, mein Hut aber +lag noch auf seinem Platze. + +Mein Begleiter tat aus einer der Taschen seines Kleides ein, wie ich +vermutete, silbernes Glöcklein hervor und läutete. Sofort erschien +eine Magd und brachte ein gebratenes Huhn und schönen rot +gesprenkelten Kopfsalat. + +Mein Gastherr lud mich ein, mich zu setzen und zu essen. + +Da es so freundlich geboten war, nahm ich es an. Obwohl ich wirklich +schon einmal gegessen hatte, so war das vor dem Mittag gewesen, und +ich war durch das Wandern wieder hungrig geworden. Ich genoß daher von +dem Aufgesetzten. + +Mein Beherberger setzte sich zu mir, leistete mir Gesellschaft, aß und +trank aber nichts. + +Da ich fertig war und die Eßgeräte hingelegt hatte, bot er mir an, +wenn ich nicht zu müde sei, mich in den Garten zu führen. + +Ich nahm es an. + +Er läutete wieder mit dem Glöcklein, um den Befehl zu geben, daß man +abräume, und führte mich nun nicht durch den Gang, durch welchen wir +herein gekommen waren, sondern durch einen mit gewöhnlichen Steinen +gepflasterten in den Garten. Er hatte jetzt ein kleines Häubchen von +durchbrochener Arbeit auf seinen weißen Haaren, wie man sie gerne +Kindern aufsetzt, um ihre Locken gleichsam wie in einem Netze +einzufangen. + +Als wir in das Freie kamen, sah ich, daß, während ich aß, die Sonne +auf das Haus zu scheinen aufgehört hatte, sie war von der Gewitterwand +überholt worden. Auf dem Garten sowie auf der Gegend lag der warme, +trockene Schatten, wie er bei solchen Gelegenheiten immer erscheint. +Aber die Gewitterwand hatte sich während meines Aufenthaltes in dem +Hause wenig verändert und gab nicht die Aussicht auf baldigen Ausbruch +des Regens. + + +Ein Umblick überzeugte mich sogleich, daß der Garten hinter dem Hause +sehr groß sei. Es war aber kein Garten, wie man sie gerne hinter +und neben den Landhäusern der Städter anlegt, nehmlich, daß man +unfruchtbare oder höchstens Zierfrüchte tragende Gebüsche und Bäume +pflegt und zwischen ihnen Rasen und Sandwege oder einige Blumenhügel +oder Blumenkreise herrichtet, sondern es war ein Garten, der mich an +den meiner Eltern bei dem Vorstadthause erinnerte. Es war da eine +weitläufige Anlage von Obstbäumen, die aber hinlänglich Raum ließen, +daß fruchtbare oder auch nur zum Blühen bestimmte Gesträuche +dazwischen stehen konnten und daß Gemüse und Blumen vollständig zu +gedeihen vermochten. Die Blumen standen teils in eigenen Beeten, teils +liefen sie als Einfriedigung hin, teils befanden sie sich auf eigenen +Plätzen, wo sie sich schön darstellten. Mich empfingen von jeher +solche Gärten mit dem Gefühle der Häuslichkeit und Nützlichkeit, +während die anderen einerseits mit keiner Frucht auf das Haus denken +und andererseits wahrhaftig auch kein Wald sind. Was zur Rosenzeit +blühen konnte, blühte und duftete, und weil eben die schweren Wolken +am Himmel standen, so war aller Duft viel eindringender und stärker. +Dies deutete doch wieder auf ein Gewitter hin. + +Nahe bei dem Hause befand sich ein Gewächshaus. Es zeigte uns aber +gegen den Weg, auf dem wir gingen, nicht seine Länge, sondern seine +Breite hin. Auch diese Breite, welche teilweise Gebüsche deckten, war +mit Rosen bekleidet und sah aus wie ein Rosenhäuschen im Kleinen. + +Wir gingen einen geräumigen Gang, der mitten durch den Garten lief, +entlang. Er war Anfangs eben, zog sich aber dann sachte aufwärts. + +Auch im Garten waren die Rosen beinahe herrschend. Entweder stand hie +und da auf einem geeigneten Platze ein einzelnes Bäumchen oder es +waren Hecken nach gewissen Richtungen angelegt, oder es zeigten sich +Abteilungen, wo sie gute Verhältnisse zum Gedeihen finden und sich dem +Auge angenehm darstellen konnten. Eine Gruppe von sehr dunkeln, fast +violetten Rosen war mit einem eigenen zierlichen Gitter umgeben, um +sie auszuzeichnen oder zu schützen. Alle Blumen waren wie die vor +dem Hause besonders rein und klar entwickelt, sogar die verblühenden +erschienen in ihren Blättern noch kraftvoll und gesund. + +Ich machte in Einsicht des letzten Umstandes eine Bemerkung. + +»Habt ihr denn nie eine jener alten Frauen gesehen«, sagte mein +Begleiter, »die in ihrer Jugend sehr schön gewesen waren und sich +lange kräftig erhalten haben? Sie gleichen diesen Rosen. Wenn sie +selbst schon unzählige kleine Falten in ihrem Angesichte haben, so +ist doch noch zwischen den Falten die Anmut herrschend und eine sehr +schöne, liebe Farbe.« + +Ich antwortete, daß ich das noch nie beobachtet hätte, und wir gingen +weiter. + +Es waren außer den Rosen noch andere Blumen im Garten. Ganze Beete von +Aurikeln standen an schattigen Orten. Sie waren wohl längst verblüht, +aber ihre starken grünen Blätter zeigten, daß sie in guter Pflege +waren. Hie und da stand eine Lilie an einer einsamen Stelle, und voll +entwickelte Nelken prangten in Töpfen auf einem eigenen Schragen, an +dem Vorrichtungen angebracht waren, die Blumen vor Sonne zu bewahren. +Sie waren noch nicht aufgeblüht, aber die Knospen waren weit +vorgerückt und ließen treffliche Blumen ahnen. Es mochten nur die +auserwählten auf dem Schragen stehen; denn ich sah die Schule dieser +Pflanzen, als wir etwas weiter kamen, in langen, weithingehenden +Beeten angelegt. Sonst waren die gewöhnlichen Gartenblumen da, teils +in Beeten, teils auf kleinen, abgesonderten Plätzen, teils als +Einfassungen. Besonders schien sich auch die Levkoje einer Vorliebe +zu erfreuen, denn sie stand in großer Anzahl und Schönheit sowie in +vielen Arten da. Ihr Duft ging wohltuend durch die Lüfte. Selbst in +Töpfen sah ich diese Blume gepflegt und an zuträgliche Orte gestellt. +Was an Zwiebelgewächsen, Hyazinthen, Tulpen und dergleichen vorhanden +gewesen sein mochte, konnte ich nicht ermessen, da die Zeit dieser +Blumen längst vorüber war. + +Auch die Zeit der Blütengesträuche war vorüber, und sie standen nur +mit ihren grünen Blättern am Wege oder an ihren Stellen. + +Die Gemüse nahmen die weiten und größeren Räume ein. Zwischen ihnen +und an ihren Seiten liefen Anpflanzungen von Erdbeeren. Sie schienen +besonders gehegt, waren häufig aufgebunden und hatten Blechtäfelchen +zwischen sich, auf denen die Namen standen. + +Die Obstbäume waren durch den ganzen Garten verteilt, wir gingen an +vielen vorüber. Auch an ihnen, besonders aber an den zahlreichen +Zwergbäumen, sah ich weiße Täfelchen mit Namen. + +An manchen Bäumen erblickte ich kleine Kästchen von Holz, bald an dem +Stamme, bald in den Zweigen. In unserem Oberlande gibt man den Staren +gerne solche Behälter, damit sie Ihr Nest in dieselben bauen. Die hier +befindlichen Behältnisse waren aber anderer Art. Ich wollte fragen, +aber in der Folge des Gespräches vergaß ich wieder darauf. + +Da wir in dem Garten so fortgingen, hörte ich besonders aus seinem +bebuschten Teile wieder die Vogelstimmen, die ich in dem Wartezimmer +gehört hatte, nur hier deutlicher und heller. + +Auch ein anderer Umstand fiel mir auf, da wir schon einen großen Teil +des Gartens durchwandert hatten; ich bemerkte nehmlich gar keinen +Raupenfraß. Während meines Ganges durch das Land hatte ich ihn aber +doch gesehen, obwohl er mir, da er nicht außerordentlich war und +keinen Obstmißwachs befürchten ließ, nicht besonders aufgefallen war. +Bei der Frische der Belaubung dieses Gartens fiel er mir wieder ein. +Ich sah das Laub deshalb näher an und glaubte zu bemerken, daß es +auch vollkommener sei als anderwärts, das grüne Blatt war größer und +dunkler, es war immer ganz, und die grünen Kirschen und die kleinen +Äpfelchen und Birnchen sahen recht gesund daraus hervor. Ich +betrachtete, durch diese Tatsache aufmerksam gemacht, nun auch den +Kohl genauer, der nicht weit von unserm Wege stand. An ihm zeigte +keine kahle Rippe, daß die Raupe des Weißlings genagt habe. Die +Blätter waren ganz und schön. Ich nahm mir vor, diese Beobachtung +gegen meinen Begleiter gelegentlich zur Sprache zu bringen. + + +Wir waren mittlerweile bis an das Ende der Pflanzungen gelangt, und +es begann Rasengrund, der steiler anstieg, Anfangs mit Bäumen besetzt +war, weiter oben aber kahl fortlief. + +Wir stiegen auf ihm empor. + +Da wir auf eine ziemliche Höhe gelangt waren und Bäume die Aussicht +nicht mehr hinderten, blieb ich ein wenig stehen, um den Himmel zu +betrachten. Mein Begleiter hielt ebenfalls an. Das Gewitter stand +nicht mehr gegen Sonnenuntergang allein, sondern jetzt überall. Wir +hörten auch entfernten Donner, der sich öfter wiederholte. Wir hörten +ihn bald gegen Sonnenuntergang, bald gegen Mittag, bald an Orten, die +wir nicht angeben konnten. Mein Mann mußte seiner Sache sehr sicher +sein; denn ich sah, daß in dem Garten Arbeiter sehr eifrig an den +mehreren Ziehbrunnen zogen, um das Wasser in die durch den Garten +laufenden Rinnen zu leiten und aus diesen in die Wasserbehälter. +Ich sah auch bereits Arbeiter gehen, ihre Gießkannen in den +Wasserbehältern füllen und ihren Inhalt auf die Pflanzenbeete +ausstreuen. Ich war sehr begierig auf den Verlauf der Dinge, sagte +aber gar nichts, und mein Begleiter schwieg auch. + +Wir gingen nach kurzem Stillstande auf dem Rasengrunde wieder weiter +aufwärts, und zuletzt ziemlich steil. + +Endlich hatten wir die höchste Stelle erreicht und mit ihr auch das +Ende des Gartens. Jenseits senkte sich der Boden wieder sanft abwärts. +Auf diesem Platze stand ein sehr großer Kirschbaum, der größte Baum +des Gartens, vielleicht der größte Obstbaum der Gegend. Um den Stamm +des Baumes lief eine Holzbank, die vier Tischchen nach den vier +Weltgegenden vor sich hatte, daß man hier ausruhen, die Gegend besehen +oder lesen und schreiben konnte. Man sah an dieser Stelle fast nach +allen Richtungen des Himmels. Ich erinnerte mich nun ganz genau, daß +ich diesen Baum wohl früher bei meinen Wanderungen von der Straße +oder von anderen Stellen aus gesehen hatte. Er war wie ein dunkler, +ausgezeichneter Punkt erschienen, der die höchste Stelle der +Gegend krönte. Man mußte an heiteren Tagen von hier aus die ganze +Gebirgskette im Süden sehen, jetzt aber war nichts davon zu erblicken; +denn alles floß in eine einzige Gewittermasse zusammen. Gegen +Mitternacht erschien ein freundlicher Höhenzug, hinter welchem nach +meiner Schätzung das Städtchen Landegg liegen mußte. + +Wir setzten uns ein wenig auf das Bänklein. Es schien, daß man an +diesem Plätzchen niemals vorüber gehen konnte, ohne sich zu setzen und +eine kleine Umschau zu halten; denn das Gras war um den Baum herum +abgetreten, daß der kahle Boden hervorsah, wie wenn ein Weg um den +Baum ginge. Man mußte sich daher gerne an diesem Platze versammeln. + +Als wir kaum ein Weilchen ausgeruht hatten, sah ich eine Gestalt aus +den nicht sehr entfernten Büschen und Bäumen hervortreten und gegen +uns empor gehen. Da sie etwas näher gekommen war, erkannte ich, daß +es ein Gemische von Knabe und Jüngling war. Zuweilen hätte man meinen +können, der Ankommende sei ganz ein Jüngling, und zuweilen, er sei +noch ganz ein Knabe. Er trug ein blau- und weißgestreiftes Leinenzeug +als Bekleidung, um den Hals hatte er nichts und auf dem Haupte auch +nichts als eine dichte Menge brauner Locken. + +Da er herzugekommen war, sagte er: »Ich sehe, daß du mit einem fremden +Manne beschäftigt bist, ich werde dich also nicht stören und wieder in +den Garten hinab gehen.« + +»Tue das«, sagte mein Begleiter. + +Der Knabe machte eine schnelle und leichte Verbeugung gegen mich, +wendete sich um und ging in derselben Richtung wieder zurück, in der +er gekommen war. + +Wir blieben noch sitzen. + +Am Himmel änderte sich indessen wenig. Dieselbe Wolkendecke stand da, +und wir hörten denselben Donner. Nur da die Decke dunkler geworden zu +sein schien, so wurde jetzt zuweilen auch ein Blitz sichtbar. + +Nach einer Zeit sagte mein Begleiter. »Eure Reise hat wohl nicht einen +Zweck, der durch den Aufenthalt von einigen Stunden oder von einem +Tage oder von einigen Tagen gestört würde.« + +»Es ist so, wie ihr gesagt habt«, antwortete ich, »mein Zweck ist, +soweit meine Kräfte reichen, wissenschaftliche Bestrebungen zu +verfolgen und nebenbei, was ich auch nicht für unwichtig halte, das +Leben in der freien Natur zu genießen.« + +»Dieses Letzte ist in der Tat auch nicht unwichtig«, versetzte mein +Nachbar, »und da ihr euren Reisezweck bezeichnet habt, so werdet ihr +gewiß einwilligen, wenn ich euch einlade, heute nicht mehr weiter zu +reisen, sondern die Nacht in meinem Hause zuzubringen. Wünschet ihr +dann am morgigen Tage und an mehreren darauf folgenden noch bei mir zu +verweilen, so steht es nur bei euch, so zu tun.« + +»Ich wollte, wenn das Gewitter auch lange angedauert hätte, doch +heute noch nach Rohrberg gehen«, sagte ich. »Da ihr aber auf eine so +freundliche Weise gegen einen unbekannten Reisenden verfahrt, so sage +ich gerne zu, die heutige Nacht in eurem Hause zuzubringen und bin +euch dafür dankbar. Was morgen sein wird, darüber kann ich noch nicht +entscheiden, weil das Morgen noch nicht da ist.« + +»So haben wir also für die kommende Nacht abgeschlossen, wie ich +gleich gedacht habe«, sagte mein Begleiter, »ihr werdet wohl bemerkt +haben, daß euer Ränzlein und euer Wanderstock nicht mehr in dem +Speisezimmer waren, als ihr zum Essen dahin kamet.« + +»Ich habe es wirklich bemerkt«, antwortete ich. + +»Ich habe beides in euer Zimmer bringen lassen«, sagte er, »weil +ich schon vermutete, daß ihr diese Nacht in unserm Hause zubringen +würdet.« + + + +Die Beherbergung + +Nach einer Weile sagte mein Gastfreund: »Da ihr nun meine +Nachtherberge angenommen habt, so könnten wir von diesem Baume auch +ein wenig in das Freie gehen, daß ihr die Gegend besser kennen +lernet. Wenn das Gewitter zum Ausbruche kommen sollte, so kennen wir +wohl beide die Anzeichen genug, daß wir rechtzeitig umkehren, um +ungefährdet das Haus zu erreichen.« + +»So kann es geschehen«, sagte ich, und wir standen von dem Bänkchen +auf. + +Einige Schritte hinter dem Kirschbaume war der Garten durch eine +starke Planke von der Umgebung getrennt. Als wir zu dieser Planke +gekommen waren, zog mein Begleiter einen Schlüssel aus der Tasche, +öffnete ein Pförtchen, wir traten hinaus und er schloß hinter uns das +Pförtchen wieder zu. + +Hinter dem Garten fingen Felder an, auf denen die verschiedensten +Getreide standen. Die Getreide, welche sonst wohl bei dem geringsten +Luftzuge zu wanken beginnen mochten, standen ganz stille und +pfeilrecht empor, das feine Haar der Ähren, über welches unsere Augen +streiften, war gleichsam in einem unbeweglichen goldgrünen Schimmer. + +Zwischen dem Getreide lief ein Fußpfad durch. Derselbe war breit und +ziemlich ausgetreten. Er ging den Hügel entlang, nicht steigend und +nicht sinkend, so daß er immer auf dem höchsten Teile der Anhöhe +blieb. Auf diesem Pfade gingen wir dahin. + +Zu beiden Seiten des Weges stand glühroter Mohn in dem Getreide, und +auch er regte die leichten Blätter nicht. + +Es war überall ein Zirpen der Grillen; aber dieses war gleichsam eine +andere Stille und erhöhte die Erwartung, die aller Orten war. Durch +die über den ganzen Himmel liegende Wolkendecke ging zuweilen ein +tiefes Donnern, und ein blasser Blitz lüftete zeitweilig ihr Dunkel. + +Mein Begleiter ging ruhig neben mir und strich manchmal sachte mit der +Hand an den grünen Ähren des Getreides hin. Er hatte sein Netz von den +weißen Haaren abgenommen, hatte es in die Tasche gesteckt und trug +sein Haupt unbedeckt in der milden Luft, + +Unser Weg führte uns zu einer Stelle, auf welcher kein Getreide stand. +Es war ein ziemlich großer Platz, der nur mit sehr kurzem Grase +bedeckt war. Auf diesem Platze befand sich wieder eine hölzerne Bank +und eine mittelgroße Esche. + +»Ich habe diesen Fleck freigelassen, wie ich ihn von meinen Vorfahren +überkommen hatte«, sagte mein Begleiter, »obwohl er, wenn man ihn +urbar machte und den Baum ausgrübe, in einer Reihe von Jahren eine +nicht unbedeutende Menge von Getreide gäbe. Die Arbeiter halten hier +ihre Mittagsruhe und verzehren hier ihr Mittagsmahl, wenn es ihnen auf +das Feld nachgebracht wird. Ich habe die Bank machen lassen, weil ich +auch gerne da sitze, wäre es auch nur, um den Schnittern zuzuschauen +und die Feierlichkeit der Feldarbeiten zu betrachten. Alte +Gewohnheiten haben etwas Beruhigendes, sei es auch nur das des +Bestehenden und immer Gesehenen. Hier dürfte es aber mehr sein, +weshalb die Stelle unbebaut blieb und der Baum auf derselben steht. +Der Schatten dieser Esche ist wohl ein sparsamer, aber da er der +einzige dieser Gegend ist, wird er gesucht, und die Leute, obwohl sie +roh sind, achten gewiß auch auf die Aussicht, die man hier genießt. +Setzt euch nur zu mir nieder und betrachtet das Wenige, was uns heute +der verschleierte Himmel gönnt.« + +Wir setzten uns auf die Bank unter der Esche, so daß wir gegen Mittag +schauten. Ich sah den Garten wie einen grünen Schoß schräg unter mir +liegen. + +An seinem Ende sah ich die weiße mitternächtliche Mauer des Hauses und +über der weißen Mauer das freundliche rote Dach. Von dem Gewächshause +war nur das Dach und der Schornstein ersichtlich. + +Weiter hin gegen Mittag war das Land und das Gebirge kaum zu erkennen +wegen des blauen Wolkenschattens und des blauen Wolkenduftes. Gegen +Morgen stand der weiße Turm von Rohrberg und gegen Abend war Getreide +an Getreide, zuerst auf unserm Hügel, dann jenseits desselben auf +dem nächsten Hügel und so fort, so weit die Hügel sichtbar waren. +Dazwischen zeigten sich weiße Meierhöfe und andere einzelne Häuser +oder Gruppen von Häusern. Nach der Sitte des Landes gingen Zeilen von +Obstbäumen zwischen den Getreidefeldern dahin, und in der Nähe von +Häusern oder Dörfern standen diese Bäume dichter, gleichsam wie in +Wäldchen, beisammen. Ich fragte meinen Nachbar teils nach den Häusern, +teils nach dein Besitzern der Felder. + +»Die Felder von dem Kirschbaume gegen Sonnenuntergang hin bis zu der +ersten Zeile von Obstbäumen sind unser«, sagte mein Begleiter. »Die +wir von dem Kirschbaum bis hieher durchwandert haben, gehören auch +uns. Sie gehen noch bis zu jenen langen Gebäuden, die ihr da unten +seht, welche unsere Wirtschaftsgebäude sind. Gegen Mitternacht +erstrecken sie sich, wenn ihr umsehen wollt, bis zu jenen Wiesen mit +den Erlenbüschen. Die Wiesen gehören auch uns und machen dort die +Grenze unserer Besitzungen. Im Mittag gehören die Felder uns bis zur +Einfriedigung von Weißdorn, wo ihr die Straße verlassen habt. Ihr +könnt also sehen, daß ein nicht ganz geringer Teil dieses Hügels von +unserm Eigentume bedeckt ist. Wir sind von diesem Eigentume umringt +wie von einem Freunde, der nie wankt und nicht die Treue bricht.« + +Mir fiel bei diesen Worten auf, daß er vom Eigentume immer die +Ausdrücke uns und unser gebrauchte. Ich dachte, er werde etwa eine +Gattin oder auch Kinder einbeziehen. Mir fiel der Knabe ein, den ich +im Heraufgehen gesehen hatte, vielleicht ist dieser ein Sohn von ihm. + +»Der Rest des Hügels ist an drei Meierhöfe verteilt«, schloß er seine +Rede, »welche unsere nächsten Nachbarn sind. Von den Niederungen +an, die um den Hügel liegen, und jenseits welcher das Land wieder +aufsteigt, beginnen unsere entfernteren Nachbarn.« + +»Es ist ein gesegnetes, ein von Gott beglücktes Land«, sagte ich. + +»Ihr habt recht gesprochen«, erwiderte er, »Land und Halm ist eine +Wohltat Gottes. Es ist unglaublich, und der Mensch bedenkt es kaum, +welch ein unermeßlicher Wert in diesen Gräsern ist. Laßt sie einmal +von unserem Erdteile verschwinden, und wir verschmachten bei allem +unserem sonstigen Reichtume vor Hunger. Wer weiß, ob die heißen Länder +nicht so dünn bevölkert sind und das Wissen und die Kunst nicht so +tragen wie die kälteren, weil sie kein Getreide haben. Wie viel selbst +dieser kleine Hügel gibt, würdet ihr kaum glauben. Ich habe mir einmal +die Mühe genommen, die Fläche dieses Hügels, soweit sie Getreideland +ist, zu messen, um auf der Grundlage der Erträgnisse unserer +Felder und der Erträgnisfähigkeit der Felder der Nachbarn, die ich +untersuchte, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung zu machen, welche +Getreidemenge im Durchschnitte jedes Jahr auf diesem Hügel wächst. + +Ihr würdet die Zahlen nicht glauben, und auch ich habe sie mir vorher +nicht so groß vorgestellt. Wenn es euch genehm ist, werde ich euch die +Arbeit in unserem Hause zeigen. Ich dachte mir damals, das Getreide +gehöre auch zu jenen unscheinbaren, nachhaltigen Dingen dieses Lebens +wie die Luft. Wir reden von dem Getreide und von der Luft nicht +weiter, weil von beiden so viel vorhanden ist und uns beide überall +umgeben. Die ruhige Verbrauchung und Erzeugung zieht eine unermeßliche +Kette durch die Menschheit in den Jahrhunderten und Jahrtausenden. +Überall, wo Völker mit bestimmten geschichtlichen Zeichnungen +auftreten und vernünftige Staatseinrichtungen haben, finden wir +sie schon zugleich mit dem Getreide, und wo der Hirte in lockeren +Gesellschaftsbanden, aber vereint mit seiner Herde lebt, da sind es +zwar nicht die Getreide, die ihn nähren, aber doch ihre geringeren +Verwandten, die Gräser, die sein ebenfalls geringeres Dasein erhalten. +- Aber verzeiht, daß ich da so von Gräsern und Getreiden rede, es ist +natürlich, da ich da mitten unter ihnen wohne und auf ihren Segen erst +in meinem Alter mehr achten lernte.« + +»Ich habe nichts zu verzeihen«, erwiderte ich; »denn ich teile eure +Ansicht über das Getreide vollkommen, wenn ich auch ein Kind der +großen Stadt bin. Ich habe diese Gewächse viel beachtet, habe darüber +gelesen, freilich mehr von dem Standpunkte der Pflanzenkunde, und +habe, seit ich einen großen Teil des Jahres in der freien Natur +zubringe, ihre Wichtigkeit immer mehr und mehr einsehen gelernt.« + +»Ihr würdet es erst recht«, sagte er, »wenn ihr Besitztümer hättet +oder auf euren Besitztümern euch mit der Pflege dieser Pflanzen +besonders abgäbet.« + +»Meine Eltern sind in der Stadt«, antwortete ich, »mein Vater treibt +die Kaufmannschaft, und außer einem Garten besitzt weder er noch ich +einen liegenden Grund.« + +»Das ist von großer Bedeutung«, erwiderte er, »den Wert dieser +Pflanzen kann keiner vollständig ermessen, als der sie pflegt.« + + +Wir schwiegen nun eine Weile. + +Ich sah an seinen Wirtschaftsgebäuden Leute beschäftigt. Einige gingen +an den Toren ab und zu, in häuslichen Arbeiten begriffen, andere +mähten in einer nahen Wiese Gras und ein Teil war bedacht, das im +Laufe des Tages getrocknete Heu in hochbeladenen Wägen durch die Tore +einzufahren. Ich konnte wegen der großen Entfernung das Einzelne der +Arbeiten nicht unterscheiden, so wie ich die eigentliche Bauart und +die nähere Einrichtung der Gebäude nicht wahrnehmen konnte. + +»Was ihr von den Häusern und den Besitzern der Felder gesagt habt, daß +ich sie euch nennen soll«, fuhr er nach einer Weile fort, »so hat dies +seine Schwierigkeit, besonders heute. Man kann zwar von diesem Platze +aus die größte Zahl der Nachbarn erblicken; aber heute, wo der Himmel +umschleiert ist, sehen wir nicht nur das Gebirge nicht, sondern es +entgeht uns auch mancher weiße Punkt des untern Landes, der Wohnungen +bezeichnet, von denen ich sprechen möchte. Anderen Teils sind euch die +Leute unbekannt. Ihr solltet eigentlich in der Gegend herumgewandert +sein, in ihr gelebt haben, daß sie zu eurem Geiste spräche und ihr die +Bewohner verstündet. Vielleicht kommt ihr wieder und bleibt länger bei +uns, vielleicht verlängert ihr euren jetzigen Aufenthalt. Indessen +will ich euch im Allgemeinen etwas sagen und von Besonderem +hinzufügen, was euch ansprechen dürfte. Ich besuche auch meiner +Nachbarn willen gerne diesen Platz; denn außerdem, daß hier auf der +Höhe selbst an den schönsten Tagen immer ein kühler Luftzug geht, +außerdem daß ich hier unter meinen Arbeitern bin, sehe ich von hier +aus alle, die mich umgeben, es fällt mir manches von ihnen ein, +und ich ermesse, wie ich ihnen nützen kann oder wie überhaupt das +Allgemeine gefördert werden möge. Sie sind im Ganzen ungebildete, aber +nicht ungelehrige Leute, wenn man sie nach ihrer Art nimmt und nicht +vorschnell in eine andere zwingen will. Sie sind dann meist auch +gutartig. Ich habe von ihnen manches für mein Inneres gewonnen und +ihnen manchen äußeren Vorteil verschafft. Sie ahmen nach, wenn sie +etwas durch längere Erfahrung billigen. Man muß nur nicht ermüden. Oft +haben sie mich zuerst verlacht und endlich dann doch nachgeahmt. In +Vielem verlachen sie mich noch, und ich ertrage es. Der Weg da durch +meine Felder ist ein kürzerer, und da geht Mancher vorbei, wenn ich +auf der Bank sitze, er bleibt stehen, er redet mit mir, ich erteile +ihm Rat, und ich lerne aus seinen Worten. Meine Felder sind bereits +ertragfähiger gemacht worden als die ihrigen, das sehen sie, und das +ist bei ihnen der haltbarste Grund zu mancher Betrachtung. Nur die +Wiese, welche sich hinter unserem Rücken befindet, tiefer als die +Felder liegt und von einem kleinen Bache bewässert wird, habe ich +nicht so verbessern können, wie ich wollte; sie ist noch durch die +Erlengesträuche und durch die Erlenstöcke verunstaltet, die sich +am Saume des Bächleins befinden und selbst hie und da Sumpfstellen +veranlassen; aber ich kann die Sache im Wesentlichen nicht abändern, +weil ich die Erlengesträuche und Erlenstöcke zu anderen Dingen +notwendig brauche.« + +Um meine Frage nach dem Einzelnen seiner Nachbarn zu unterbrechen, die +er, wie ich jetzt einsah, nicht beantworten konnte, wenigstens nicht, +wie sie gestellt war, fragte ich ihn, ob denn zu seinem Anwesen nicht +auch Waldgrund gehöre. + +»Allerdings«, antwortete er, »aber derselbe liegt nicht so nahe, als +es der Bequemlichkeit wegen wünschenswert wäre; aber er liegt auch +entfernt genug, daß die Schönheit und Anmut dieses Getreidehügels +nicht gestört wird. Wenn ihr auf dem Wege nach Rohrberg fortgegangen +wäret, statt zu unserem Hause heraufzusteigen, so würdet ihr nach +einer halben Stunde Wanderns zu eurer Rechten dicht an der Straße die +Ecke eines Buchenwaldes gefunden haben, um welche die Straße herum +geht. Diese Ecke erhebt sich rasch, erweitert sich nach rückwärts, +wohin man von der Straße nicht sehen kann, und gehört einem Walde an, +der weit in das Land hinein geht. Man kann von hier aus ein großes +Stück sehen. Dort links von dem Felde, auf welchem die junge Gerste +steht.« + +»Ich kenne den Wald recht gut«, sagte ich, »er schlingt sich um eine +Höhe und berührt die Straße nur mit einem Stücke; aber wenn man ihn +betritt, lernt man seine Größe kennen. Es ist der Alizwald. Er hat +mächtige Buchen und Ahorne, die sich unter die Tannen mischen. Die +Aliz geht von ihm in die Agger. An der Aliz stehen beiderseits hohe +Felsen mit seltenen Kräutern, und von ihnen geht gegen Mittag ein +Streifen Landes mit den allerstärksten Buchen talwärts.« + +»Ihr kennt den Wald«, sagte er. + +»Ja«, erwiderte ich, »ich bin schon in ihm gewesen. Ich habe dort die +größte Doppelbuche gezeichnet, die ich je gesehen, ich habe Pflanzen +und Steine gesammelt und die Felsenlagen betrachtet.« + +»Jener Waldstreifen, der mit den starken Buchen bestanden ist, und +noch mehreres Land jenes Waldes gehört zu diesem Anwesen«, sagte mein +Beherberger. »Es ist weiter von da gegen Mittag auch ein Bergbühel +unser, auf dem stellenweise die Birke sehr verkrüppelt vorkommt, +welche zum Brennen wenig taugt, aber Holz zu feinen Arbeiten gibt.« + +»Ich kenne den Bühel auch«, sagte ich, »dort geht der Granit zu Ende, +aus dem der ganze mitternächtliche Teil unseres Landes besteht, und +es beginnt gegen Mittag zu nach und nach der Kalk, der endlich in den +höchsten Gebirgen die Landesgrenze an der Mittagseite macht.« + +»Ja, der Bühel ist der südlichste Granitblock«, sagte mein Begleiter, +»er übersetzt sogar die Wässer. Wir können hier trotz des Duftes +der Wolken hie und da die Grenze sehen, in der sich der Granit +abschneidet.« + +»Dort ist die Klamspitze«, sagte er, »die noch Granit hat, rechts der +Gaisbühl, dann die Asser, der Losen und zuletzt die Grumhaut, die noch +zu sehen ist.« + +Ich stimmte in allem bei. + + +Der Abend kam indessen immer näher und näher, und der Nachmittag war +bedeutend vorgerückt. + +Das Gewitter an dem Himmel war mir aber endlich besonders merkwürdig +geworden. + +Ich hatte den Ausbruch desselben, als ich den Hügel zu dem weißen +Hause empor stieg, um eine Unterkunft zu suchen, in kurzer Zeit +erwartet; und nun waren Stunden vergangen und es war noch immer +nicht ausgebrochen. Über den ganzen Himmel stand es unbeweglich. Die +Wolkendecke war an manchen Stellen fast finster geworden und Blitze +zuckten aus diesen Stellen bald höher, bald tiefer hervor. Der Donner +folgte in ruhigem, schwerem Rollen auf diese Blitze; aber in der +Wolkendecke zeigte sich kein Zusammensammeln zu einem einzigen +Gewitterballen, und es war kein Anschicken zu einem Regen. + +Ich sagte endlich zu meinem Nachbar, indem ich auf die Männer +zeigte, welche weiter unten in der Niederung, in welcher die +Wirtschaftsgebäude lagen, Gras machten: »Diese scheinen auch auf kein +Gewitter und auf kein gewöhnliches Nachregnen für den morgigen Tag +zu rechnen, weil sie jetzt Gras mähen, das ihnen in der Nacht ein +tüchtiger Regen durchnässen oder morgen eine kräftige Sonne zu Heu +trocknen kann.« + +»Diese wissen gar nichts von dem Wetter«, sagte mein Begleiter, »und +sie mähen das Gras nur, weil ich es so angeordnet habe.« + +Das waren die einzigen Worte, die er über das Wetter gesprochen hatte. +Ich veranlaßte ihn auch nicht zu mehreren. + +Wir gingen von diesem Feldersitze, auf dem wir nun schon eine Weile +gesessen waren, nicht mehr weiter von dem Hause weg, sondern, nachdem +wir uns erhoben hatten, schlug mein Begleiter wieder den Rückweg ein. + +Wir gingen auf demselben Wege zurück, auf dem wir gekommen waren. + +Die Donner erschallten nun sogar lauter und verkündeten sich bald an +dieser Stelle des Himmels, bald an jener. + +Als wir wieder in den Garten eingetreten waren, als mein Begleiter das +Pförtchen hinter sich geschlossen hatte, und als wir von dem großen +Kirschbaume bereits abwärts gingen, sagte er zu mir: »Erlaubt, daß ich +nach dem Knaben rufe und ihm etwas befehle.« + +Ich stimmte sogleich zu, und er rief gegen eine Stelle des Gebüsches: +»Gustav!« + +Der Knabe, den ich im Heraufgehen gesehen hatte, kam fast an der +nehmlichen Stelle des Gartens zum Vorscheine, an welcher er früher +herausgetreten war. Da er jetzt länger vor uns stehen blieb, konnte +ich ihn genauer betrachten. Sein Angesicht erschien mir sehr rosig +und schön, und besonders einnehmend zeigten sich die großen schwarzen +Augen unter den braunen Locken, die ich schon früher beobachtet hatte. + +»Gustav«, sagte mein Begleiter, »wenn du noch an deinem Tische oder +sonst irgendwo in dem Garten bleiben willst, so erinnere dich an das, +was ich dir über Gewitter gesagt habe. Da die Wolken über den ganzen +Himmel stehen, so weiß man nicht, wann überhaupt ein Blitz auf die +Erde niederfährt und an welcher Stelle er sie treffen wird. Darum +verweile unter keinem höheren Baume. Sonst kannst du hier bleiben, +wie du willst. Dieser Herr bleibt heute bei uns, und du wirst zur +Abendspeisestunde in dem Speisezimmer eintreffen.« + +»Ja«, sagte der Knabe, verneigte sich und ging wieder auf einem +Sandwege in die Gesträuche des Gartens zurück. + +»Dieser Knabe ist mein Pflegesohn«, sagte mein Begleiter, »er ist +gewohnt, zu dieser Tageszeit einen Spaziergang mit mir zu machen, +darum kam er, da wir bei dem Kirschbaume saßen, von seinem +Arbeitstische, den er im Garten hat, zu uns empor, um mich zu suchen; +allein da er sah, daß ein Fremder da sei, ging er wieder an seine +Stelle zurück.« + +Mir, der ich mich an den einfachen, folgerichtigen Ausdruck gewöhnt +hatte, fiel es jetzt abermals auf, daß mein Begleiter, der, wenn er +von seinen Feldern redete, fast immer den Ausdruck unser gebraucht +hatte, nun, da er von seinem Pflegesohne sprach, den Ausdruck mein +wählte, da er doch, wenn er etwa seine Gattin einbezog, jetzt auch das +Wort unser gebrauchen sollte. + + +Als wir von dem Rasengrunde hinab gekommen waren und den bepflanzten +Garten betreten hatten, gingen wir in ihm auf einem anderen Wege +zurück als auf dem wir herauf gegangen waren. + +Auf diesem Wege sah ich nun, daß der Besitzer des Gartens auch +Weinreben in demselben zog, obwohl das Land der Pflege dieses +Gewächses nicht ganz günstig ist. Es waren eigene dunkle Mauern +aufgeführt, an denen die Reben mittelst Holzgittern empor geleitet +wurden. Durch andere Mauern wurden die Winde abgehalten. Gegen Mittag +allein waren die Stellen offen. So sammelte er die Hitze und gewährte +Schutz. Auch Pfirsiche zog er auf dieselbe Weise, und aus den Blättern +derselben schloß ich auf sehr edle Gattungen. + +Wir gingen hier an großen Linden vorüber, und in ihrer Nähe erblickte +ich ein Bienenhaus. + +Von dem Gewächshause sah ich auf dem Rückwege wohl die Längenseite, +konnte aber nichts Näheres erkennen, weil mein Begleiter den Weg zu +ihm nicht einschlug. Ich wollte ihn auch nicht eigens darum ersuchen: +ich vermutete, daß er mich zu seiner Familie führen würde. + +Da wir an dem Hause angekommen waren, geleitete er mich bei dem +gemeinschaftlichen Eingange desselben hinein, führte mich über eine +gewöhnliche Sandsteintreppe in das erste Stockwerk und ging dort mit +mir einen Gang entlang, in dem viele Türen waren. Eine derselben +öffnete er mit einem Schlüssel, den er schon in seiner Tasche in +Bereitschaft hatte, und sagte: »Das ist euer Zimmer, solange ihr in +diesem Hause bleibt. Ihr könnt jetzt in dasselbe eintreten oder es +verlassen, wie es euch gefällt. Nur müsset ihr um acht Uhr wieder da +sein, zu welcher Stunde ihr zum Abendessen werdet geholt werden. Ich +muß euch nun allein lassen. In dem Wartezimmer habt ihr heute in +Humboldts Reisen gelesen, ich habe das Buch in dieses Zimmer legen +lassen. Wünschet ihr für jetzt oder für den Abend noch irgend ein +Buch, so nennt es, daß ich sehe, ob es in meiner Büchersammlung +enthalten ist.« + +Ich lehnte das Anerbieten ab und sagte, daß ich mit dem Vorhandenen +schon zufrieden sei, und wenn ich mich außer Humboldt mit noch andern +Buchstaben beschäftigen wolle, so habe ich in meinem Ränzchen schon +Vorrat, um teils etwas mit Bleifeder zu schreiben, teils früher +Geschriebenes durchzulesen und zu verbessern, welche Beschäftigung ich +auf meinen Wanderungen häufig Abends vornehme. + +Er verabschiedete sich nach diesen Worten, und ich ging zur Tür +hinein. + +Ich übersah mit einem Blicke das Zimmer. Es war ein gewöhnliches +Fremdenzimmer, wie man es in jedem größeren Hause auf dem Lande hat, +wo man zuweilen in die Lage kömmt, Herberge erteilen zu müssen. Die +Geräte waren weder neu, noch nach der damals herrschenden Art gemacht, +sondern aus verschiedenen Zeiten, aber nicht unangenehm ins Auge +fallend. Die Überzüge der Sessel und des Ruhebettes waren gepreßtes +Leder, was man damals schon selten mehr fand. Eine gesellige Zugabe, +die man nicht häufig in solchen Zimmern findet, war eine altertümliche +Pendeluhr in vollem Gange. Mein Ränzlein und mein Stock lagen, wie der +Mann gesagt hatte, schon in diesem Zimmer. + +Ich setzte mich nieder, nahm nach einer Weile mein Ränzlein, öffnete +es und blätterte in den Papieren, die ich daraus hervor genommen +hatte, und schrieb gelegentlich in denselben. + +Da endlich die Dämmerung gekommen war, stand ich auf, ging gegen eines +der beiden offenstehenden Fenster, lehnte mich hinaus und sah herum. +Es war wieder Getreide, das ich vor mir auf dem sachte hinabgehenden +Hügel erblickte. Am Morgen dieses Tages, da ich von meiner +Nachtherberge aufgebrochen war, hatte ich auch Getreide rings um mich +gesehen; aber dasselbe war in einem lustigen Wogen begriffen gewesen, +während dieses reglos und unbewegt war wie ein Heer von lockeren +Lanzen. Vor dem Hause war der Sandplatz, den ich bei meiner Ankunft +schon gesehen und betreten hatte. Meine Fenster gingen also auf der +Seite der Rosenwand heraus. Von dem Garten tönte noch schwaches +Vogelgezwitscher herüber, und der Duft von den Tausenden der Rosen +stieg wie eine Opfergabe zu mir empor. + +An dem Himmel, dessen Dämmerung heute viel früher gekommen war, hatte +sich eine Veränderung eingefunden. Die Wolkendecke war geteilt, die +Wolken standen in einzelnen Stücken gleichsam wie Berge an dem Gewölbe +herum, und einzelne reine Teile blickten zwischen ihnen heraus. Die +Blitze aber waren stärker und häufiger, die Donner klangen heller und +kürzer. + + +Als ich eine Weile bei dem Fenster hinaus gesehen hatte, hörte ich ein +Pochen an meiner Tür, eine Magd trat herein und meldete, daß man mich +zum Abendessen erwarte. Ich legte meine Papiere auf das Tischchen, das +neben meinem Bette stand, legte den Humboldt darauf und folgte der +Magd, nachdem ich die Tür hinter mir gesperrt hatte. Sie führte mich +in das Speisezimmer. + +Bei dem Eintritte sah ich drei Personen: den alten Mann, der mit mir +den Spaziergang gemacht hatte, einen andern, ebenfalls ältlichen Mann, +der durch nichts besonders auffiel als durch seine Kleidung, welche +einen Priester verriet, und den Pflegesohn des Hausbesitzers in seinem +blaugestreiften Linnengewande. + +Der Herr des Hauses stellte mich dem Priester vor, indem er sagte: +»Das ist der hochwürdige Pfarrer von Rohrberg, der ein Gewitter +fürchtet und deshalb diese Nacht in unserm Hause zubringen wird«, und +dann auf mich weisend fügte er bei: »Das ist ein fremder Reisender, +der auch heute unser Dach mit uns teilen wird.« + +Nach diesen Worten und nach einem kurzen stummen Gebete setzten wir +uns zu dem Tische an unsere angewiesenen Plätze. Das Abendessen war +sehr einfach. Es bestand aus Suppe, Braten und Wein, zu welchem, wie +zu dem an meinem Mittagsmahle, verkleinertes Eis gestellt wurde. +Dieselbe Magd, welche mir mein Mittagessen gebracht hatte, bediente +uns. Ein männlicher Diener kam nicht in das Zimmer. Der Pfarrer und +mein Gastfreund sprachen öfter Dinge, die die Gegend betrafen, und ich +ward gelegentlich einbezogen, wenn es sich um Allgemeineres handelte. +Der Knabe sprach gar nicht. + +Die Dunkelheit des Abends wurde endlich so stark, daß die Kerzen, +welche früher mit der Dämmerung gekämpft hatten, nun vollkommen die +Herrschaft behaupteten, und die schwarzen Fenster nur zeitweise durch +die hereinleuchtenden Blitze erhellt wurden. + +Da das Essen beendet war und wir uns zur Trennung anschickten, sagte +der Hauswirt, daß er den Pfarrer und mich über die nähere Treppe in +unser Zimmer führen würde. Wir nahmen jeder eine Wachskerze, die +uns angezündet von der Magd gereicht wurde, während dessen sich der +Knabe Gustav empfahl und durch die gewöhnliche Tür entfernte. Der +Hauseigentümer führte uns bei der Tür hinaus, bei der ich zuerst +herein gekommen war. Wir befanden uns draußen in dem schönen +Marmorgange, von dem eine gleiche Marmortreppe emporführte. Wir +durften die Filzschuhe nicht anziehen, weil jetzt über den Gang und +die Treppe ein Tuchstreifen lag, auf dem wir gingen. In der Mitte der +Treppe, wo sie einen Absatz machte, gleichsam einen erweiterten Platz +oder eine Stiegenhalle, stand eine Gestalt aus weißem Marmor auf einem +Gestelle. Durch ein paar Blitze, die eben jetzt fielen und das Haupt +und die Schultern der Marmorgestalt noch röter beschienen, als es +unsere Kerzen konnten, ersah ich, daß der Platz und die Treppe von +oben herab durch eine Glasbedeckung ihre Beleuchtung empfangen mußten. + +Als wir an das Ende der Treppe gelangt waren, wendete sich der +Hauswirt mit uns durch eine Tür links, und wir befanden uns in jenem +Gange, in welchem mein Zimmer lag. Es war der Gang der Gastzimmer, wie +ich nun zu erkennen vermeinte. Unser Gastfreund bezeichnete eines als +das des Pfarrers und führte mich zu dem meinigen. + +Als wir in dasselbe getreten waren, fragte er mich, ob ich zu meiner +Bequemlichkeit noch etwas wünsche, besonders, ob mir Bücher aus seinem +Bücherzimmer genehm wären. + +Als ich sagte, daß ich keinen Wunsch habe und bis zum Schlafen schon +Beschäftigung finden würde, antwortete er: »Ihr seid in eurem Gemache +und in eurem Rechte. Schlummert denn recht wohl.« + +»Ich wünsche euch auch eine gute Nacht«, erwiderte ich, »und sage euch +Dank für die Mühe, die ihr heute mit mir gehabt habet.« + +»Es war keine Mühe«, antwortete er, »denn sonst hätte ich sie mir ja +ersparen können, wenn ich euch gar nicht zu Nacht geladen hätte.« + +»So ist es«, antwortete ich. + +»Erlaubt«, sagte er, indem er ein kleines Wachskerzchen hervorzog und +an meinem Lichte anzündete. + +Nachdem er dieses Geschäft vollbracht hatte, verbeugte er sich, was +ich erwiderte, und ging auf den Gang hinaus. + + +Ich schloß hinter ihm die Tür, legte meinen Rock ab und lüftete mein +Halstuch, weil, obgleich es schon spät war, die ruhige Nacht noch +immer eine große Hitze und Schwüle in sich hegte. Ich ging einige +Male in dem Zimmer hin und her, trat dann an ein Fenster, lehnte mich +hinaus und betrachtete den Himmel. So viel die Dunkelheit und die +noch immer hell leuchtenden Blitze erkennen ließen, war die Gestalt +der Dinge dieselbe, wie sie am Abend vor dem Speisen gewesen war. +Wolkentrümmer standen an dem Himmel und, wie die Sterne zeigten, waren +zwischen ihnen reine Stellen. Zu Zeiten fuhr ein Blitz aus ihnen über +den Getreidehügel und die Wipfel der unbewegten Bäume, und der Donner +rollte ihm nach. + +Als ich eine Weile die freie Luft genossen hatte, schloß ich mein +Fenster, schloß auch das andere und begab mich zur Ruhe. + +Nachdem ich noch eine Zeit lang, wie es meine Gewohnheit war, in +dem Bette gelesen und mitunter sogar mit Bleifeder etwas in meine +Schriften geschrieben hatte, löschte ich das Licht aus und richtete +mich zum Schlafen. + +Ehe der Schlummer völlig meine Sinne umfing, hörte ich noch, wie sich +draußen ein Wind erhob und die Wipfel der Bäume zu starkem Rauschen +bewegte. Ich hatte aber nicht mehr genug Kraft, mich zu ermannen, +sondern entschlief gleich darauf völlig. + +Ich schlief recht ruhig und fest. + +Als ich erwachte, war mein Erstes, zu sehen, ob es geregnet habe. Ich +sprang aus dem Bette und riß die Fenster auf. Die Sonne war bereits +aufgegangen, der ganze Himmel war heiter, kein Lüftchen rührte sich, +aus dem Garten tönte das Schmettern der Vögel, die Rosen dufteten und +die Erde zu meinen Füßen war vollkommen trocken. Nur der Sand war +ein wenig gegen das Grün des begrenzenden Rasens gefegt worden, und +ein Mann war beschäftigt, ihn wieder zu ebnen und in ein gehöriges +Gleichgewicht zu bringen. + +Also hatte mein Gegner Recht gehabt, und ich war begierig, zu +erfahren, aus welchen Gründen er seine Gewißheit, die er so sicher +gegen mich behauptet hatte, geschöpft und wie er diese Gründe entdeckt +und erforscht habe. + +Um das recht bald zu erfahren und meine Abreise nicht so lange zu +verzögern, beschloß ich, mich anzukleiden und meinen Gastherrn +ungesäumt aufzusuchen. + +Als ich mit meinem Anzuge fertig, war und mich in das Speisezimmer +hinab begeben hatte, fand ich dort eine Magd mit den Vorbereitungen zu +dem Frühmahle beschäftigt und fragte nach dem Herrn. + +»Er ist in dem Garten auf der Fütterungstenne«, sagte sie. + +»Und wo ist die Fütterungstenne, wie du es nennst?« sprach ich. + +»Gleich hinter dem Hause und nicht weit von den Glashäusern«, +erwiderte sie. + +Ich ging hinaus und schlug die Richtung gegen das Gewächshaus ein. + +Vor demselben fand ich meinen Gastfreund auf einem Sandplatze. Es war +derselbe Platz, von dem aus ich schon gestern das Gewächshaus mit +seiner schmalen Seite und dem kleinen Schornsteine gesehen hatte. +Diese Seite war mit Rosen bekleidet, daß das Haus wie ein zweites, +kleines Rosenhäuschen hervor sah. Mein Gastfreund war in einer +seltsamen Beschäftigung begriffen. Eine Unzahl Vögel befand sich vor +ihm auf dem Sande. Er hatte eine Art von länglichem geflochtenem +Korbdeckel in der Hand und streuete aus demselben Futter unter die +Vögel. Er schien sich daran zu ergötzen, wie sie pickten, sich +überkletterten, überstürzten und kollerten, wie die gesättigten davon +flogen und wieder neue herbei schwirrten. Ich erkannte es nun endlich, +daß außer den gewöhnlichen Gartenvögeln auch solche da waren, die mir +sonst nur von tiefen und weit abgelegenen Wäldern bekannt waren. Sie +erschienen gar nicht so scheu, als ich mit allem Rechte vermuten +mußte. Sie trauten ihm vollkommen. Er stand wieder barhäuptig da, so +daß es mir schien, daß er diese Sitte liebe, da er auch gestern auf +dem Spaziergange seine so leichte Kopfbedeckung eingesteckt hatte. +Seine Gestalt war vorgebeugt und die schlichten, aber vollen weißen +Haare hingen an seinen Schläfen herab. Sein Anzug war auch heute +wieder sonderbar. Er hatte wie gestern eine Art Jacke an, die fast bis +auf die Knie hinab reichte. Sie war weißlich, hatte jedoch über die +Brust und den Rücken hinab einen rötlichbraunen Streifen, der fast +einen halben Fuß breit war, als wäre die Jacke aus zwei Stoffen +verfertigt worden, einem weißen und einem roten. Beide Stoffe aber +zeigten ein hohes Alter; denn das Weiß war gelblichbraun und das +Rot zu Purpurbraun geworden. Unter der Jacke sah eine unscheinbare +Fußbekleidung hervor, die mit Schnallenschuhen endete. + +Ich blieb hinter seinem Rücken in ziemlicher Entfernung stehen, um ihn +nicht zu stören und die Vögel nicht zu verscheuchen. + +Als er aber seinen Korb geleert hatte und seine Gäste fortgeflogen +waren, trat ich näher. Er hatte sich eben umgewendet, um +zurückzugehen, und da er mich erblickte, sagte er: »Seid ihr schon +ausgegangen? Ich hoffe, daß ihr gut geschlafen habt.« + +»Ja, ich habe sehr gut geschlafen«, erwiderte ich, »ich habe noch den +Wind gehört, der sich gestern Abends erhoben hat, was weiter geschehen +ist, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß heute die Erde trocken ist +und daß ihr Recht gehabt habet.« + +»Ich glaube, daß nicht ein Tropfen auf diese Gegend vom Himmel +gefallen ist«, antwortete er. + +»Wie das Aussehen der Erde zeigt, glaube ich es auch«, erwiderte ich; +»aber nun müßt ihr mir auch wenigstens zum Teile sagen: woher ihr +dies so gewiß wissen konntet und wie ihr euch diese Kenntnis erworben +habt; denn das müßt ihr zugestehen, daß sehr viele Zeichen gegen euch +waren.« + +»Ich will euch etwas sagen«, antwortete er, »die Darlegung der Sache, +die ihr da verlangt, dürfte etwas lang werden, da ich sie euch, der +sich mit Wissenschaften beschäftigt, doch nicht oberflächlich geben +kann: verspreche mir, den heutigen Tag und die Nacht noch bei uns +zuzubringen, da kann ich euch nicht nur dieses sagen, sondern noch +vieles Andere, ihr könnt Verschiedenes anschauen, und ihr könnt mir +von eurer Wissenschaft erzählen.« + +Dieses offen und freundlich gemachte Anerbieten konnte ich nicht +ausschlagen, auch erlaubte mir meine Zeit recht gut, nicht nur einen, +sondern mehrere Tage zu einer Nebenbeschäftigung zu verwenden. Ich +gebrauchte daher die gewöhnliche Redeweise von Nichtlästigfallenwollen +und sagte unter dieser Bedingung zu. + +»Nun so geht mit mir zuerst zu einem Frühmahle, das ich mit euch +teilen will«, sagte er, »der Herr Pfarrer von Rohrberg hat uns schon +vor Tagesanbruch verlassen, um zu rechter Zeit in seiner Kirche zu +sein, und Gustav ist bereits zu seiner Arbeit gegangen.« + +Mit diesen Worten wendeten wir uns auf den Rückweg zu dem Hause. Als +wir dort angekommen waren, gab er das, was ich Anfangs für einen +Korbdeckel gehalten hatte, was aber ein eigens geflochtenes, sehr +flaches und längliches Fütterungskörbchen war, einer Magd, daß sie es +auf seinen Platz lege, und wir gingen in das Speisezimmer. + +Während des Frühmahles sagte ich: »Ihr habt selbst davon gesprochen, +daß ich hier Verschiedenes anschauen könne, wäre es denn zu +unbescheiden, wenn ich bäte, von dem Hause und dessen Umgebung Manches +näher besehen zu dürfen. Es ist eine der lieblichsten Lagen, in der +dieses Anwesen liegt, und ich habe bereits so Vieles davon gesehen, +was meine Aufmerksamkeit aufregte, daß der Wunsch natürlich ist, noch +Mehreres besehen zu dürfen.« + +»Wenn es euch Vergnügen macht, unser Haus und einiges Zubehör zu +besehen«, antwortete er, »so kann das gleich nach dem Frühmahle +geschehen, es wird nicht viele Zeit in Anspruch nehmen, da das Gebäude +nicht so groß ist. Es wird sich dann auch das, was wir noch zu reden +haben, natürlicher und verständlicher ergeben.« + +»Ja freilich«, sagte ich, »macht es mir Vergnügen.« + +Wir schritten also nach dem Frühmahle zu diesem Geschäfte. + +Er führte mich über die Treppe, auf welcher die weiße Marmorgestalt +stand, hinauf. Heute fiel statt des roten zerstreuten Lichtes der +Kerzen und der Blitze von der vergangenen Nacht das stille weiße +Tageslicht auf sie herab und machte die Schultern und das Haupt in +sanftem Glanze sich erhellen. Nicht nur die Treppe war in diesem +Stiegenhause von Marmor, sondern auch die Bekleidung der Seitenwände. +Oben schloß gewölbtes Glas, das mit feinem Drahte überspannt war, die +Räume. Als wir die Treppe erstiegen hatten, öffnete mein Gastfreund +eine Tür, die der gegenüber war, die zu dem Gange der Gastzimmer +führte. Die Tür ging in einen großen Saal. Auf der Schwelle, an der +der Tuchstreifen, welcher über die Treppe empor lag, endete, standen +wieder Filzschuhe. Da wir jeder ein Paar derselben angezogen hatten, +gingen wir in den Saal. Er war eine Sammlung von Marmor. Der Fußboden +war aus dem farbigsten Marmor zusammengestellt, der in unseren +Gebirgen zu finden ist. Die Tafeln griffen so ineinander, daß eine +Fuge kaum zu erblicken war, der Marmor war sehr fein geschliffen und +geglättet, und die Farben waren so zusammengestellt, daß der Fußboden +wie ein liebliches Bild zu betrachten war. Überdies glänzte und +schimmerte er noch in dem Lichte, das bei den Fenstern hereinströmte. +Die Seitenwände waren von einfachen, sanften Farben. Ihr Sockel war +mattgrün, die Haupttafeln hatten den lichtesten, fast weißen Marmor, +den unsere Gebirge liefern, die Flachsäulen waren schwach rot und die +Simse, womit die Wände an die Decke stießen, waren wieder aus schwach +Grünlich und Weiß zusammengestellt, durch welche ein Gelb wie schöne +Goldleisten lief. Die Decke war blaßgrau und nicht von Marmor, nur +in der Mitte derselben zeigte sich eine Zusammenstellung von roten +Amoniten, und aus derselben ging die Metallstange nieder, welche in +vier Armen die vier dunkeln, fast schwarzen Marmorlampen trug, die +bestimmt waren, in der Nacht diesen Raum beleuchten zu können. In dem +Saale war kein Bild, kein Stuhl, kein Geräte, nur in den drei Wänden +war jedesmal eine Tür aus schönem, dunklem Holze eingelegt, und in der +vierten Wand befanden sich die drei Fenster, durch welche der Saal bei +Tag beleuchtet wurde. Zwei davon standen offen, und zu dem Glanze des +Marmors war der Saal auch mit Rosenduft erfüllt. + +Ich drückte mein Wohlgefallen über die Einrichtung eines solchen +Zimmers aus; den alten Mann, der mich begleitete, schien dieses +Vergnügen zu erfreuen, er sprach aber nicht weiter darüber. + +Aus diesem Saale führte er mich durch eine der Türen in eine Stube, +deren Fenster in den Garten gingen. + +»Das ist gewissermaßen mein Arbeitszimmer«, sagte er, »es hat außer am +frühen Morgen nicht viel Sonne, ist daher im Sommer angenehm, ich lese +gerne hier oder schreibe oder beschäftige mich sonst mit Dingen, die +Anteil einflößen.« + + +Ich dachte mit Lebhaftigkeit, ich könnte sagen mit einer Art Sehnsucht +auf meinen Vater, da ich diese Stube betreten hatte. In ihr war nichts +mehr von Marmor, sie war wie unsere gewöhnlichen Stuben; aber sie war +mit altertümlichen Geräten eingerichtet, wie sie mein Vater hatte und +liebte. Allein die Geräte erschienen mir so schön, daß ich glaubte, +nie etwas ihnen Ähnliches gesehen zu haben. Ich unterrichtete meinen +Gastfreund von der Eigenschaft meines Vaters und erzählte ihm in +Kurzem von den Dingen, welche derselbe besaß. Auch bat ich, die Sachen +näher betrachten zu dürfen, um meinem Vater nach meiner Zurückkunft +von ihnen erzählen und sie ihm, wenn auch nur notdürftig, beschreiben +zu können. Mein Begleiter willigte sehr gerne in mein Begehren. Es war +vor allem ein Schreibschrein, welcher meine Aufmerksamkeit erregte, +weil er nicht nur das größte, sondern wahrscheinlich auch das schönste +Stück des Zimmers war. Vier Delphine, welche sich mit dem Unterteil +ihrer Häupter auf die Erde stützten und die Leiber in gewundener +Stellung emporstreckten, trugen den Körper des Schreines auf diesen +gewundenen Leibern. Ich glaubte Anfangs, die Delphine seien aus Metall +gearbeitet, mein Begleiter sagte mir aber, daß sie aus Lindenholz +geschnitten und nach mittelalterlicher Art zu dem gelblich grünlichen +Metalle hergerichtet waren, dessen Verfertigung man jetzt nicht mehr +zuwege bringt. Der Körper des Schreines hatte eine allseitig gerundete +Arbeit mit sechs Fächern. Über ihm befand sich das Mittelstück, das in +einer guten Schwingung flach zurückging und die Klappe enthielt, die +geöffnet zum Schreiben diente. Von dem Mittelstücke erhob sich der +Aufsatz mit zwölf geschwungenen Fächern und einer Mitteltür. An den +Kanten des Aufsatzes und zu beiden Seiten der Mitteltür befanden sich +als Säulen vergoldete Gestalten. Die beiden größten zu den Seiten der +Tür waren starke Männer, die die Hauptsimse trugen. Ein Schildchen, +das sich auf ihrer Brust öffnete, legte die Schlüsselöffnungen dar. +Die zwei Gestalten an den vorderen Seitenkanten waren Meerfräulein, +die in Übereinstimmung mit den Tragfischen jedes in zwei Fischenden +ausliefen. Die zwei letzten Gestalten an den hintern Seitenkanten +waren Mädchen in faltigen Gewändern. Alle Leiber der Fische sowohl als +der Säulen erschienen mir sehr natürlich gemacht. Die Fächer hatten +vergoldete Knöpfe, an denen sie herausgezogen werden konnten. Auf +der achteckigen Fläche dieser Knöpfe waren Brustbilder geharnischter +Männer oder geputzter Frauenzimmer eingegraben. Die Holzbelegung auf +dem ganzen Schrein war durchaus eingelegte Arbeit. Ahornlaubwerk +in dunkeln Nußholzfeldern, umgeben von geschlungenen Bändern und +geflammtem Erlenholze. + +Die Bänder waren wie geknitterte Seide, was daher kam, daß sie aus +kleinem, feingestreiftem, vielfarbigem Rosenholz senkrecht auf die +Achse eingelegt waren. Die eingelegte Arbeit befand sich nicht bloß, +wie es häufig bei derlei Geräten der Fall ist, auf der Daransicht, +sondern auch auf den Seitenteilen und den Friesen der Säulen. + +Mein Begleiter stand neben mir, als ich diesem Geräte meine +Aufmerksamkeit widmete, und zeigte mir Manches und erklärte mir auf +meine Bitte Dinge, die ich nicht verstand. + +Auch eine andere Beobachtung machte ich, da ich mich in diesem Zimmer +befand, die meine Geistestätigkeit in Anspruch nahm. Es kam mir +nehmlich vor, daß der Anzug meines Begleiters nicht mehr so seltsam +sei, als er mir gestern und als er mir heute erschienen war, da +ich ihn auf dem Fütterungsplatze gesehen hatte. Bei diesen Geräten +erschien er mir eher als zustimmend und hieher gehörig, und ich begann +die Vermutung zu hegen, daß ich vielleicht noch diesen Anzug billigen +werde und daß der alte Mann in dieser Hinsicht verständiger sein +dürfte als ich. + +Außer dem Schreibschreine erregten noch zwei Tische meine +Aufmerksamkeit, die an Größe gleich waren und auch sonst gleiche +Gestalt hatten, sich aber nur darin unterschieden, daß jeder auf +seiner Platte eine andere Gestaltung trug. Sie hatten nehmlich jeder +ein Schild auf der Platte, wie es Ritter und adeliche Geschlechter +führten, nur waren die Schilde nicht gleich. Aber auf beiden Tischen +waren sie umgeben und verschlungen mit Laubwerk, Blumen- und +Pflanzenwerk, und nie habe ich die leinen Fäden der Halme, der +Pflanzenbärte und der Getreideähren zarter gesehen als hier, und doch +waren sie von Holz in Holz eingelegt. Die übrige Gerätschaft waren +hochlehnige Sessel mit Schnitzwerk, Flechtwerk und eingelegter Arbeit, +zwei geschnitzte Sitzbänke, die man im Mittelalter Gesiedel geheißen +hatte, geschnitzte Fahnen mit Bildern und endlich zwei Schirme von +gespanntem und gepreßtem Leder, auf welchem Blumen, Früchte, Tiere, +Knaben und Engel aus gemaltem Silber angebracht waren, das wie +farbiges Gold aussah. Der Fußboden des Zimmers war gleich den Geräten +aus Flächen alter eingelegter Arbeit zusammengestellt. Wir hatten +wahrscheinlich wegen der Schönheit dieses Bodens bei dem Eintritte in +diese Stube die Filzschuhe an unsern Füßen behalten. + +Obwohl der alte Mann gesagt hatte, daß dieses Zimmer sein +Arbeitszimmer sei, so waren doch keine unmittelbaren Spuren von Arbeit +sichtbar. Alles schien in den Laden verschlossen oder auf seinen Platz +gestellt zu sein. + +Auch hier war mein Begleiter, als ich meine Freude über dieses Zimmer +aussprach, nicht sehr wortreich, genau so wie in dem Marmorsaale; +aber gleichwohl glaubte ich das Vergnügen ihm von seinem Angesicht +herablesen zu können. + +Das nächste Zimmer war wieder ein altertümliches. Es ging gleichfalls +auf den Garten. Sein Fußboden war wie in dem vorigen eingelegte +Arbeit, aber auf ihm standen drei Kleiderschreine und das Zimmer war +ein Kleiderzimmer. Die Schreine waren groß, altertümlich eingelegt und +jeder hatte zwei Flügeltüren. Sie erschienen mir zwar minder schön +als das Schreibgerüste im vorigen Zimmer, aber doch auch von großer +Schönheit, besonders der mittlere, größte, der eine vergoldete +Bekrönung trug und auf seinen Hohltüren ein sehr schönes Schild-, +Laub- und Bänderwerk zeigte. Außer den Schreinen waren nur noch Stühle +da und ein Gestelle, welches dazu bestimmt schien, gelegentlich +Kleider darauf zu hängen. Die inneren Seiten der Zimmertüren waren +ebenfalls zu den Geräten stimmend und bestanden aus Simswerk und +eingelegter Arbeit. + +Als wir dieses Zimmer verließen, legten wir die Filzschuhe ab. + +Das nächste Zimmer, gleichfalls auf den Garten gehend, war das +Schlafgemach. Es enthielt Geräte neuer Art, aber doch nicht ganz in +der Gestaltung, wie ich sie in der Stadt zu sehen gewohnt war. Man +schien hier vor Allem auf Zweckmäßigkeit gesehen zu haben. Das Bett +stand mitten im Zimmer und war mit dichten Vorhängen umgeben. Es war +sehr nieder und hatte nur ein Tischchen neben sich, auf dem Bücher +lagen, ein Leuchter und eine Glocke standen und sich Geräte befanden, +Licht zu machen. Sonst waren die Geräte eines Schlafzimmers da, +besonders solche, die zum Aus- und Ankleiden und zum Waschen +behilflich waren. Die Innenseiten der Türen waren hier wieder zu den +Geräten stimmend. + +An das Schlafgemach stieß ein Zimmer mit wissenschaftlichen +Vorrichtungen, namentlich zu Naturwissenschaften. Ich sah Werkzeuge +der Naturlehre aus der neuesten Zeit, deren Verfertiger ich entweder +persönlich aus der Stadt kannte oder deren Namen, wenn die Geräte aus +andern Ländern stammten, mir dennoch bekannt waren. Es befanden sich +Werkzeuge zu den vorzüglichsten Teilen der Naturlehre hier. + +Auch waren Sammlungen von Naturkörpern vorhanden, vorzüglich aus dem +Mineralreiche. Zwischen den Geräten und an den Wänden war Raum, mit +den vorhandenen Vorrichtungen Versuche anstellen zu können. Das Zimmer +war gleichfalls noch immer ein Gartenzimmer. + +Endlich gelangten wir in das Eckzimmer des Hauses, dessen Fenster +teils auf den Hauptkörper des Gartens gingen, teils nach Nordwesten +sahen. Ich konnte aber die Bestimmung dieses Zimmers nicht erraten, so +seltsam kam es mir vor. An den Wänden standen Schreine aus geglättetem +Eichenholze mit sehr vielen kleinen Fächern. An diesen Fächern waren +Aufschriften, wie man sie in Spezereiverkaufsbuden oder Apotheken +findet. Einige dieser Aufschriften verstand ich, sie waren Namen von +Sämereien oder Pflanzennamen. Die meisten aber verstand ich nicht. +Sonst war weder ein Stuhl noch ein anderes Geräte in dem Zimmer. Vor +den Fenstern waren wagrechte Brettchen befestigt, wie man sie hat, +um Blumentöpfe darauf zu stellen; aber ich sah keine Blumentöpfe +auf ihnen, und bei näherer Betrachtung zeigte sich auch, daß sie zu +schwach seien, um Blumentöpfe tragen zu können. Auch wären gewiß +solche auf ihnen gestanden, wenn sie dazu bestimmt gewesen wären, da +ich in allen Zimmern, mit Ausnahme des Marmorsaales, an jedem nur +einiger Maßen geeigneten Platze Blumen aufgestellt gesehen hatte. + +Ich fragte meinen Begleiter nicht um den Zweck des Zimmers, und er +äußerte sich auch nicht darüber. + + +Wir gelangten nun wieder in die Gemächer, die an der Mittagseite des +Hauses lagen und über den Sandplatz auf die Felder hinaus sahen. + +Das erste nach dem Eckzimmer war ein Bücherzimmer. Es war groß und +geräumig und stand voll von Büchern. Die Schreine derselben waren +nicht so hoch, wie man sie gewöhnlich in Bücherzimmern sieht, sondern +nur so, daß man noch mit Leichtigkeit um die höchsten Bücher langen +konnte. Sie waren auch so flach, daß nur eine Reihe Bücher stehen +konnte, keine die andere deckte und alle vorhandenen Bücher ihre +Rücken zeigten. Von Geräten befand sich in dem Zimmer gar nichts als +in der Mitte desselben ein langer Tisch, um Bücher darauf legen zu +können. In seiner Lade waren die Verzeichnisse der Sammlung. Wir +gingen bei dieser allgemeinen Beschauung des Hauses nicht näher auf +den Inhalt der vorhandenen Bücher ein. + +Neben dem Bücherzimmer war ein Lesegemach. Es war klein und hatte nur +ein Fenster, das zum Unterschiede aller anderen Fenster des Hauses mit +grünseidenen Vorhängen versehen war, während die anderen grauseidne +Rollzüge besaßen. An den Wänden standen mehrere Arten von Sitzen, +Tischen und Pulten, so daß für die größte Bequemlichkeit der Leser +gesorgt war. In der Mitte stand, wie im Bücherzimmer, ein großer Tisch +oder Schrein - denn er hatte mehrere Laden -, der dazu diente, daß man +Tafeln, Mappen, Landkarten und dergleichen auf ihm ausbreiten konnte. +In den Laden lagen Kupferstiche. Was mir in diesem Zimmer auffiel, +war, daß man nirgends Bücher oder etwas, das an den Zweck des Lesens +erinnerte, herumliegen sah. + +Nach dem Lesegemache kam wieder ein größeres Zimmer, dessen Wände mit +Bildern bedeckt waren. Die Bilder hatten lauter Goldrahmen, waren +ausschließlich Ölgemälde und reichten nicht höher, als daß man sie +noch mit Bequemlichkeit betrachten konnte. Sonst hingen sie aber +so dicht, daß man zwischen ihnen kein Stückchen Wand zu erblicken +vermochte. Von Geräten waren nur mehrere Stühle und eine Staffelei da, +um Bilder nach Gelegenheit aufstellen und besser betrachten zu können. +Diese Einrichtung erinnerte mich an das Bilderzimmer meines Vaters. + +Das Bilderzimmer führte durch die dritte Tür des Marmorsaales wieder +in denselben zurück, und so hatten wir die Runde in diesen Gemächern +vollendet. + +»Das ist nun meine Wohnung«, sagte mein Begleiter, »sie ist nicht groß +und von außerordentlicher Bedeutung, aber sie ist sehr angenehm. In +dem anderen Flügel des Hauses sind die Gastzimmer, welche beinahe alle +dem gleichen, in welchem ihr heute Nacht geschlafen habt. Auch ist +Gustavs Wohnung dort, die wir aber nicht besuchen können, weil wir +ihn sonst in seinem Lernen stören würden. Durch den Saal und über die +Treppe können wir nun wieder in das Freie gelangen.« + +Als wir den Saal durchschritten hatten, als wir über die Treppe +hinabgegangen und zu dem Ausgange des Hauses gekommen waren, legten +wir die Filzschuhe ab, und mein Begleiter sagte: »Ihr werdet euch +wundern, daß in meinem Hause Teile sind, in welchen man sich die +Unbequemlichkeit auflegen muß, solche Schuhe anzuziehen; aber es kann +mit Fug nicht anders sein, denn die Fußböden sind zu empfindlich, +als daß man mit gewöhnlichen Schuhen auf ihnen gehen könnte, und die +Abteilungen, welche solche Fußböden haben, sind ja auch eigentlich +nicht zum Bewohnen, sondern nur zum Besehen bestimmt, und endlich +gewinnt sogar das Besehen an Wert, wenn man es mit Beschwerlichkeit +erkaufen muß. Ich habe in diesen Zimmern gewöhnlich weiche Schuhe mit +Wollsohlen an. In mein Arbeitszimmer kann ich auch ohne allen Umweg +gelangen, da ich in dasselbe nicht durch den Saal gehen muß, wie wir +jetzt getan haben, sondern da von dem Erdgeschosse ein Gang in das +Zimmer hinaufführt, den ihr nicht gesehen haben werdet, weil seine +beiden Enden mit guten Tapetentüren geschlossen sind. Der Pfarrer von +Rohrberg leidet an der Gicht und verträgt heiße Füße nicht, daher +belege ich für ihn, wenn er anwesend ist, die Treppe oder die Zimmer +mit einem Streifen von Wollstoff, wie ihr es gestern gesehen habt.« + +Ich antwortete, daß die Vorrichtung sehr zweckmäßig sei und daß sie +überall angewendet werden muß, wo kunstreiche oder sonst wertvolle +Fußböden zu schonen sind. + +Da wir nun im Garten waren, sagte ich, indem ich mich umwendete und +das Haus betrachtete: »Eure Wohnung ist nicht, wie ihr sagt, von +geringer Bedeutung. Sie wird, so viel ich aus der kurzen Besichtigung +entnehmen konnte, wenige ihres Gleichen haben. Auch hatte ich nicht +gedacht, daß das Haus, wenn ich es so von der Straße aus sah, eine so +große Räumlichkeit in sich hätte.« + +»So muß ich euch nun auch noch etwas anderes zeigen«, erwiderte er, +»folgt mir ein wenig durch jenes Gebüsch.« + +Er ging nach diesen Worten voran, ich folgte ihm. Er schlug einen Weg +gegen dichtes Gebüsch ein. Als wir dort angekommen waren, ging er auf +einem schmalen Pfade durch dessen Verschlingung fort. Endlich kamen +sogar hohe Bäume, unter denen der Weg dahin lief. Nach einer Weile tat +sich ein anmutiger Rasenplatz vor uns auf, der wieder ein langes, aus +einem Erdgeschosse bestehendes Gebäude trug. Es hatte viele Fenster, +die gegen uns hersahen. Ich hatte es früher weder von der Straße aus +erblickt noch von den Stellen des Gartens, auf denen ich gewesen war. +Vermutlich waren die Bäume daran Schuld, die es umstanden. + +Da wir uns näherten, ging ein feiner Rauch aus seinem Schornsteine +empor, obwohl, da es Sommer war, keine Einheizzeit, und da es noch so +früh am Vormittage war, keine Kochzeit die Ursache davon sein konnte. +Als wir näher kamen, hörte ich in dem Hause ein Schnarren und +Schleifen, als ob in ihm gesägt und gehobelt würde. Da wir eingetreten +waren, sah ich in der Tat eine Schreinerwerkstätte vor mir, in welcher +tätig gearbeitet wurde. An den Fenstern, durch welche reichliches +Licht hereinfiel, standen die Schreinertische und an den übrigen +Wänden, welche fensterlos waren, lehnten Teile der in Arbeit +begriffenen Gegenstände. Hier fand ich wieder eine Ähnlichkeit mit +meinem Vater. So wie er sich einen jungen Mann abgerichtet hatte, der +ihm seine altertümlichen Geräte nach seiner Angabe wieder herstellte, +so sah ich hier gleich eine ganze Werkstätte dieser Art; denn ich +erkannte aus den Teilen, die herumstanden, daß hier vorzüglich an der +Wiederherstellung altertümlicher Gerätschaften gearbeitet werde. Ob +auch Neues in dem Hause verfertigt werde, konnte ich bei dem ersten +Anblicke nicht erkennen. + +Von den Arbeitern hatte jeder einen Raum an den Fenstern für sich, der +von dem Raume seines Nachbars durch gezogene Schranken abgesondert +war. Er hatte seine Geräte und seine eben notwendigen Arbeitsstücke +in diesem Raume bei sich, das Andere, was er gerade nicht brauchte, +hatte er an der Hinterwand des Hauses hinter sich, so daß eine +übersichtliche Ordnung und Einheit bestand. Es waren vier Arbeiter. In +einem großen Schreine, der einen Teil der einen Seitenwand einnahm, +befanden sich vorrätige Werkzeuge, welche für den Fall dienten, daß +irgend eines unversehens untauglich würde und zu seiner Herstellung +zu viele Zeit in Anspruch nähme. In einem andern Schreine an der +entgegengesetzten Seitenwand waren Fläschchen und Büchschen, in denen +sich die Flüssigkeiten und andere Gegenstände befanden, die zur +Erzeugung von Firnissen, Polituren oder dazu dienten, dem Holze eine +bestimmte Farbe oder das Ansehen von Alter zu geben. Abgesondert von +der Werkstube war ein Herd, auf welchem das zu Schreinerarbeiten +unentbehrliche Feuer brannte. Seine Stätte war feuerfest, um die +Werkstube und ihren Inhalt nicht zu gefährden. + +»Hier werden Dinge«, sagte mein Begleiter, »welche lange vor uns, ja +oft mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeit verfertigt worden und in +Verfall geraten sind, wieder hergestellt, wenigstens soweit es die +Zeit und die Umstände nur immer erlauben. Es wohnt in den alten +Geräten beinahe wie in den alten Bildern ein Reiz des Vergangenen +und Abgeblühten, der bei dem Menschen, wenn er in die höheren Jahre +kömmt, immer stärker wird. Darum sucht er das zu erhalten, was der +Vergangenheit angehört, wie er ja auch eine Vergangenheit hat, +die nicht mehr recht zu der frischen Gegenwart der rings um ihn +Aufwachsenden paßt. Darum haben wir hier eine Anstalt für Geräte +des Altertums gegründet, die wir dem Untergange entreißen, +zusammenstellen, reinigen, glätten und wieder in die Wohnlichkeit +einzuführen suchen.« + + +Es wurde, da ich mich in dem Schreinerhause befand, eben an der +Platte eines Tisches gearbeitet, die, wie mein Begleiter sagte, +aus dem sechzehnten Jahrhunderte stammte. Sie war in Hölzern von +verschiedener, aber natürlicher Farbe eingelegt. Bloß wo grünes Laub +vorkam, war es von grüngebeiztem Holze. Von außen war eine Verbrämung +von in einander geschlungenen und schneckenartig gewundenen Rollen, +Laubzweigen und Obst. Die innere Fläche, welche von der Verbrämung +durch ein Bänderwerk von rotem Rosenholze abgeschnitten war, trug +auf einem Grunde von braunlich weißem Ahorne eine Sammlung von +Musikgeräten. Sie waren freilich nicht in dem Verhältnisse ihrer +Größen eingelegt. Die Geige war viel kleiner als die Mandoline, die +Trommel und der Dudelsack waren gleich groß und unter beiden zog sich +die Flöte wie ein Weberbaum dahin. Aber im Einzelnen erschienen mir +die Sachen als sehr schön, und die Mandoline war so rein und lieblich, +wie ich solche Dinge nicht schöner auf den alten Gemälden meines +Vaters gesehen hatte. Einer der Arbeiter schnitt Stücke aus Ahorn, +Buchs, Sandelholz, Ebenholz, türkisch Hasel und Rosenholz zurecht, +damit sie in ihrer kleineren Gestalt gehörig austrocknen konnten. +Ein anderer löste schadhafte Teile aus der Platte und ebnete die +Grundstellen, um die neuen Bestandteile zweckmäßig einsetzen zu +können. Der dritte schnitt und hobelte die Füße aus einem Ahornbalken +und der vierte war beschäftigt, nach einer in Farben ausgeführten +Abbildung der Tischplatte, die er vor sich hatte, und aus einer Menge +von Hölzern, die neben ihm lagen, diejenigen zu bestimmen, die den +auf der Zeichnung befindlichen Farben am meisten entsprächen. Mein +Begleiter sagte mir, daß das Gerüste und die Füße des Tisches +verlorengegangen seien und neu gemacht werden mußten. + +Ich fragte, wie man das einrichte, daß das Neue zu dem Vorhandenen +passe. + +Er antwortete: »Wir haben eine Zeichnung gemacht, die ungefähr +darstellte, wie die Füße und das Gerüste ausgesehen haben mögen.« + +Auf meine neue Frage, wie man denn das wissen könne, antwortete +er: »Diese Dinge haben so gut wie bedeutendere Gegenstände ihre +Geschichte, und aus dieser Geschichte kann man das Aussehen und den +Bau derselben zusammen setzen. Im Verlaufe der Jahre haben sich die +Gestaltungen der Geräte immer neu abgelöset, und wenn man auf diese +Abfolge sein Augenmerk richtet, so kann man aus einem vorhandenen +Ganzen auf verlorengegangene Teile schließen und aus aufgefundenen +Teilen auf das Ganze gelangen. Wir haben mehrere Zeichnungen +entworfen, in deren jede immer die Tischplatte einbezogen war, und +haben uns auf diese Weise immer mehr der mutmaßlichen Beschaffenheit +der Sache genähert. Endlich sind wir bei einer Zeichnung geblieben, +die uns nicht zu widersprechend schien.« + +Auf meine Frage, ob er denn immer Arbeit für seine Anstalt habe, +antwortete er: »Sie ist nicht gleich so entstanden, wie ihr sie hier +sehet. Anfangs zeigte sich die Lust an alten und vorelterlichen +Dingen, und wie die Lust wuchs, sammelten sich nach und nach schon die +Gegenstände an, die ihrer Wiederherstellung entgegen sahen. Zuerst +wurde die Ausbesserung bald auf diesem, bald auf jenem Wege versucht +und eingeleitet. Viele Irrwege sind betreten worden. Indessen wuchs +die Zahl der gesammelten Gegenstände immer mehr und deutete schon +auf die künftige Anstalt hin. Als man in Erfahrung brachte, daß ich +altertümliche Gegenstände kaufe, brachte man mir solche oder zeigte +mir die Orte an, wo sie zu finden wären. Auch vereinigten sich mit uns +hie und da Männer, welche auf die Dinge des Altertums ihr Augenmerk +richteten, uns darüber schrieben und wohl auch Zeichnungen einsandten. +So erweiterte sich unser Kreis immer mehr. + +Ungehörige Ausbesserungen aus früheren Zeiten gaben ebenfalls Stoff +zu erneuerter Arbeit, und da wir anfangs auch an verschiedenen Orten +arbeiten ließen und häufig genötigt waren, die Orte zu wechseln, ehe +wir uns hier niederließen, so verschleppte sich manche Zeit und die +Arbeitsgegenstände mehrten sich. Endlich gerieten wir auch auf den +Gedanken, neue Gegenstände zu verfertigen. Wir gerieten auf ihn durch +die alten Dinge, die wir immer in den Händen hatten. Diese neuen +Gegenstände wurden aber nicht in der Gestalt gemacht, wie sie jetzt +gebräuchlich sind, sondern wie wir sie für schön hielten. Wir lernten +an dem Alten; aber wir ahmten es nicht nach, wie es noch zuweilen in +der Baukunst geschieht, in der man in einem Stile, zum Beispiele in +dem sogenannten gothischen, ganze Bauwerke nachbildet. Wir suchten +selbstständige Gegenstände für die jetzige Zeit zu verfertigen mit +Spuren des Lernens an vergangnen Zeiten. Haben ja selbst unsere +Vorfahrer aus ihren Vorfahrern geschöpft, diese wieder aus den ihrigen +und so fort, bis man auf unbedeutende und kindische Anfänge stößt. + +Überall aber sind die eigentlichen Lehrmeister die Werke der Natur +gewesen.« + +»Sind solche neugemachte Gegenstände in eurem Hause vorhanden?« fragte +ich. + +»Nichts von Bedeutung«, antwortete er, »einige sind an verschiedenen +Punkten der Gegend zerstreut, einige sind in einem anderen Orte als +in diesem Hause gesammelt. Wenn ihr Lust zu solchen Dingen habt oder +sie in Zukunft fassen solltet und euer Weg euch wieder einmal hieher +führt, so wird es nicht schwer sein, euch an den Ort zu geleiten, wo +ihr mehrere unserer besten Gegenstände sehen könnt.« + +»Es sind der Wege sehr verschiedene«, erwiderte ich, »die die Menschen +gehen, und wer weiß es, ob der Weg, der mich wegen eines Gewitters zu +euch heraufgeführt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist und ob +ich ihn nicht noch einmal gehe.« + +»Ihr habt da ein sehr wahres Wort gesprochen«, antwortete er, »die +Wege der Menschen sind sehr verschiedene. Ihr werdet dieses Wort erst +recht einsehen, wenn ihr älter seid.« + +»Und habt ihr dieses Haus eigens zu dem Zwecke der Schreinerei +erbaut?« fragte ich weiter. + +»Ja«, antwortete er, »wir haben es eigens zu diesem Zwecke erbaut. Es +ist aber viel später entstanden als das Wohnhaus. Da wir einmal so +weit waren, die Sachen zu Hause machen zu lassen, so war der Schritt +ein ganz leichter, uns eine eigene Werkstätte hiefür einzurichten. +Der Bau dieses Hauses war aber bei weitem nicht das Schwerste, viel +schwerer war es, die Menschen zu finden. Ich hatte mehrere Schreiner +und mußte sie entlassen. Ich lernte nach und nach selber, und da trat +mir der Starrsinn, der Eigenwille und das Herkommen entgegen. Ich nahm +endlich solche Leute, die nicht Schreiner waren und sich erst hier +unterrichten sollten. Aber auch diese hatten wie die Frühern eine +Sünde, welche in arbeitenden Ständen und auch wohl in andern sehr +häufig ist, die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit, +die stets sagt: >es ist so auch recht<, und die jede weitere Vorsicht +für unnötig erachtet. Es ist diese Sünde in den unbedeutendsten und +wichtigsten Dingen des Lebens vorhanden, und sie ist mir in meinen +früheren Jahren oft vorgekommen. Ich glaube, daß sie die größten Übel +gestiftet hat. Manche Leben sind durch sie verloren gegangen, sehr +viele andere, wenn sie auch nicht verloren waren, sind durch sie +unglücklich oder unfruchtbar geworden. Werke, die sonst entstanden +wären, hat sie vereitelt und die Kunst und was mit derselben +zusammenhängt wäre mit ihr gar nicht möglich. Nur ganz gute Menschen +in einem Fache haben sie gar nicht, und aus denen werden die Künstler, +Dichter, Gelehrten, Staatsmänner und die großen Feldherren. Aber ich +komme von meiner Sache ab. In unserer Schreinerei machte sie bloß, daß +wir zu nichts Wesentlichem gelangten. Endlich fand ich einen Mann, +der nicht gleich aus der Arbeit ging, wenn ich ihn bekämpfte; aber +innerlich mochte er recht oft erzürnt gewesen sein und über Eigensinn +geklagt haben. Nach Bemühungen von beiden Seiten gelang es. Die Werke +gewannen Einfluß, in denen das Genaue und Zweckmäßige angestrebt war, +und sie wurden zur Richtschnur genommen. Die Einsicht in die Schönheit +der Gestalten wuchs und das Leichte und Feine wurde dem Schweren +und Groben vorgezogen. Er las Gehilfen aus und erzog sie in seinem +Sinne. Die Begabten fügten sich bald. Es wurde die Chemie und andere +Naturwissenschaften hergenommen, und im Lesen schöner Bücher wurde das +Innere des Gemütes zu bilden versucht.« + + +Er ging nach diesen Worten gegen den Mann, der mit dem Aussuchen der +Hölzer nach dem vor ihm liegen den Plane der Tischplatte beschäftigt +war, und sagte: »Wollt ihr nicht die Güte haben, uns einige +Zeichnungen zu zeigen, Eustach?« + +Der junge Mann, an den diese Worte gerichtet waren, erhob sich von +seiner Arbeit und zeigte uns ein ruhiges, gefälliges Wesen. Er legte +die grüne Tuchschürze ab, welche er vorgebunden hatte, und ging aus +seiner Arbeitsstelle zu uns herüber. Es befand sich neben dieser +Stelle in der Wand eine Glastür, hinter welcher grüne Seide in Falten +gespannt war. Diese Tür öffnete er und führte uns in ein freundliches +Zimmer. Das Zimmer hatte einen künstlich eingelegten Fußboden und +enthielt mehrere breite, glatte Tische. Aus der Lade eines dieser +Tische nahm der Mann eine große Mappe mit Zeichnungen, öffnete sie +und tat sie auf der Tischplatte auseinander. Ich sah, daß diese +Zeichnungen für mich zum Ansehen heraus genommen worden waren und +legte daher die Blätter langsam um. Es waren lauter Zeichnungen +von Bauwerken, und zwar teils im Ganzen, teils von Bestandteilen +derselben. Sie waren sowohl, wie man sich ausdrückt, im Perspective +ausgeführt, als auch in Aufrissen, in Längen- und Querschnitten. Da +ich mich selber geraume Zeit mit Zeichnen beschäftigt hatte, wenn auch +mit Zeichnen anderer Gegenstände, so war ich bei diesen Blättern schon +mehr an meiner Stelle als bei den alten Geräten. Ich hatte immer bei +dem Zeichnen von Pflanzen und Steinen nach großer Genauigkeit gestrebt +und hatte mich bemüht, durch den Schwarzstift die Wesenheit derselben +so auszudrücken, daß man sie nach Art und Gattung erkennen sollte. +Freilich waren die vor mir liegenden Zeichnungen die von Bauwerken. +Ich hatte Bauwerke nie gezeichnet, ich hatte sie eigentlich nie recht +betrachtet. Aber andererseits waren die Linien, die hier vorkamen, die +von großen Körpern, von geschichteten Stoffen und von ausgedehnten +Flächen, wie sie bei mir auch an den Felsen und Bergen erschienen; +oder sie waren die leichten Wendungen von Zieraten, wie sie bei mir +die Pflanzen boten. + +Endlich waren ja alle Bauwerke aus Naturdingen entstanden, welche die +Vorbilder gaben, etwa aus Felsenkuppen oder Felsenzacken oder selbst +aus Tannen, Fichten oder anderen Bäumen. Ich betrachtete daher die +Zeichnungen recht genau und sah sie um ihre Treue und Sachgemäßheit +an. Als ich sie schon alle durchgeblättert hatte, legte ich sie wieder +um und schaute noch einmal jedes einzelne Blatt an. + +Die Zeichnungen waren sämmtlich mit dem Schwarzstifte ausgeführt. Es +war Licht und Schatten angegeben und die Linienführung war verstärkt +oder gemäßigt, um nicht bloß die Körperlichkeit der Dinge, sondern +auch das sogenannte Luftperspective darzustellen. In einigen Blättern +waren Wasserfarben angewendet, entweder, um bloß einzelne Stellen zu +bezeichnen, die eine besonders starke oder eigentümliche Farbe hatten, +wie etwa, wo das Grün der Pflanzen sich auffallend von dem Gemäuer, +aus dem es sproßte, abhob oder wo der Stoff durch Einfluß von Sonne +oder Wasser eine ungewöhnliche Farbe erhalten hatte, wie zum Beispiele +an gewissen Steinen, die durch Wasser bräunlich, ja beinahe rot +werden; oder es waren Farben angewendet, um dem Ganzen einen Ton der +Wirklichkeit und Zusammenstimmung zu geben; oder endlich es waren +einzelne sehr kleine Stellen mit Farben, gleichsam mit Farbdruckern, +wie man sich ausdrückt, bezeichnet, um Flächen oder Körper oder ganze +Abteilungen im Raume zurück zu drängen. Immer aber waren die Farben +so untergeordnet gehalten, daß die Zeichnungen nicht in Gemälde +übergingen, sondern Zeichnungen blieben, die durch die Farbe nur noch +mehr gehoben wurden. Ich kannte diese Verfahrungsweise sehr gut und +hatte sie selber oft angewendet. + +Was den Wert der Zeichnungen anbelangt, so erschien mir derselbe ein +ziemlich bedeutender. Die Hand, von der sie verfertigt worden waren, +hielt ich für eine geübte, was ich daraus schloß, daß in den vielen +Zeichnungen kein Fortschritt zu bemerken war, sondern daß dieser schon +in der Zeit vor den Zeichnungen lag und hier angewendet wurde. Die +Linien waren rein und sicher gezogen, das sogenannte Linearperspective +war, so weit meine Augen urteilen konnten - denn eine mathematische +Prüfung konnte ich nicht anlegen -, richtig, der Stoff des +Schwarzstiftes war gut beherrscht, und mit seinen geringen Mitteln war +Haushaltung getroffen, darum standen die Körper klar da und lösten +sich von der Umgebung. Wo die Farbe eine Art Wirklichkeit angenommen +hatte, war sie mit Gegenständlichkeit und Maß hingesetzt, was, wie ich +aus Erfahrung wußte, so schwer zu finden ist, daß die Dinge als Dinge, +nicht als Färbungen gelten. Dies ist besonders bei Gegenständen der +Fall, die minder entschiedene Farben haben, wie Steine, Gemäuer und +dergleichen, während Dinge von deutlichen Farben leichter zu behandeln +sind, wie Blumen, Schmetterlinge, selbst manche Vögel. + +Eine besondere Tatsache aber fiel mir bei Betrachtung dieser +Zeichnungen auf. Bei den Bauverzierungen, welche von Gegenständen +der Natur genommen waren, von Pflanzen oder selbst von Tieren, kamen +bedeutende Fehler vor, ja es kamen sogar Unmöglichkeiten vor, die kaum +ein Anfänger macht, sobald er nur die Pflanze gut betrachtet. Bei den +ganz gleichen Verzierungen an andern Bauwerken in andern Zeichnungen +waren diese Fehler nicht da, sondern die Verzierungen waren in +Hinsicht ihrer Urbilder in der Natur mit Richtigkeit angegeben. +Ich hatte, da ich einmal zeichnete, öfter die Bilder meines Vaters +betrachtet und in ihnen, selbst in solchen, die er für sehr gut hielt, +ähnliche Fehler gefunden. Da die Bilder meines Vaters aus alter Zeit +waren, diese Zeichnungen aber auch alte Bauwerke darstellten, so +schloß ich, daß sie vielleicht Abrisse von wirklichen Bauten seien +und daß die Fehler in den Zieraten der Zeichnungen Fehler in den +wirklichen Zieraten der Bauarten seien, und daß die Zieraten, deren +Zeichnungen fehlerlos waren, auch an den Bauwerken keinen Fehler +gehabt haben. + +Es gewannen durch diesen Umstand die Zeichnungen in meinen Augen noch +mehr, da er gerade ihre große Treue bewies. + +Auch ein eigentümlicher Gedanke kam mir bei der Betrachtung dieser +Zeichnungen in das Haupt. Ich hatte nie so viele Zeichnungen von +Bauwerken beisammen gesehen, so wie ich Bauwerke selber nicht zum +Gegenstande meiner Aufmerksamkeit gemacht hatte. Da ich nun alle diese +Laubwerke, diese Ranken, diese Zacken, diese Schwingungen, diese +Schnecken in großer Abfolge sah, erschienen sie mir gewissermaßen +wie Naturdinge, etwa wie eine Pflanzenwelt mit ihren zugehörigen +Tieren. Ich dachte, man könnte sie eben so zu einem Gegenstande der +Betrachtung und der Forschung machen wie die wirklichen Pflanzen +und andere Hervorbringungen der Erde, wenn sie hier auch nur eine +steinerne Welt sind. Ich hatte das nie recht beachtet, wenn ich auch +hin und wieder an einer Kirche oder an einem anderen Gebäude einen +steinernen Stengel oder eine Rose oder eine Distelspitze oder einen +Säulenschaft oder die Vergitterung einer Tür ansah. Ich nahm mir vor, +diese Gegenstände nun genauer zu beobachten. + +»Diese Zeichnungen sind lauter Abbildungen von wirklichen Bauwerken, +die in unserem Lande vorhanden sind«, sagte mein Begleiter. »Wir haben +sie nach und nach zusammen gebracht. Kein einziges Bauwerk unseres +Landes, welches entweder im Ganzen schön ist oder an dem Teile +schön sind, fehlt. Es ist nehmlich auch hier im Lande wie überall +vorgekommen, daß man zu den Teilen alter Kirchen oder anderer Werke, +die nicht fertig geworden sind, neue Zubaue in ganz anderer Art +gemacht hat, so daß Bauwerke entstanden, die in verschiedenen Stilen +ausgeführt und teils schön und teils häßlich sind. Die Landkirchen, +die auf verschiedenen Stellen in unserer Zeit entstanden sind, haben +wir nicht angenommen.« + +»Wer hat denn diese Zeichnungen verfertigt?« fragte ich. + +»Der Zeichner steht vor euch«, antwortete mein Begleiter, indem er auf +den jungen Mann wies. + +Ich sah den Mann an, und es zeigte sich ein leichtes Erröten in seinem +Angesichte. + +»Der Meister hat nach und nach die Teile des Landes besucht«, fuhr +mein Gastfreund fort, »und hat die Baugegenstände gezeichnet, die ihm +gefielen. Diese Zeichnungen hat er in seinem Buche nach Hause gebracht +und sie dann auf einzelnen Blättern im Reinen ausgeführt. Außer den +Zeichnungen von Bauwerken haben wir auch die von inneren Ausstattungen +derselben. Seid so gefällig und zeigt auch diese Mappe, Eustach.« + +Der junge Mann legte die Mappe, die wir eben betrachtet hatten, +zusammen und tat sie in ihre Lade. Dann nahm er aus einer anderen Lade +eine andere Mappe und legte sie mir mit den Worten vor: »Hier sind die +kirchlichen Gegenstände.« + +Ich sah die Zeichnungen in der Mappe, die er mir geöffnet hatte, an, +wie ich früher die der Bauwerke angesehen hatte. Es waren Zeichnungen +von Altären, Chorstühlen, Kanzeln, Sakramentshäuschen, Taufsteinen, +Chorbrüstungen, Sesseln, einzelnen Gestalten, gemalten Fenstern +und anderen Gegenständen, die in Kirchen vorkommen. Sie waren wie +die Zeichnungen der Baugegenstände entweder ganz in Schwarzstift +ausgeführt oder teils in Schwarzstift, teils in Farben. Hatte ich mich +schon früher in diese Gegenstände vertieft, so geschah es jetzt noch +mehr. Sie waren noch mannigfaltiger und für die Augen anlockender als +die Bauwerke. Ich betrachtete jedes Blatt einzeln, und manches nahm +ich noch einmal vor, nachdem ich es schon hingelegt hatte. Als ich +mit dieser Mappe fertig war, legte mir der Meister eine neue vor und +sagte: »Hier sind die weltlichen Gegenstände.« + +Die Mappe enthielt Zeichnungen von sehr verschiedenen Geräten, die in +Wohnungen, Burgen, Klöstern und dergleichen vorkommen, sie enthielt +Abbildungen von Vertäflungen, von ganzen Zimmerdecken, Fenster- und +Türeinfassungen, ja von eingelegten Fußböden. Bei den weltlichen +Geräten war viel mehr mit Farben gearbeitet als bei den kirchlichen +und bei den Bauten; denn die Wohngeräte haben sehr oft die Farbe als +einen wesentlichen Gegenstand ihrer Erscheinung, besonders wenn sie +in verschiedenfarbigen Hölzern eingelegt sind. Ich fand in dieser +Sammlung von Zeichnungen Abbildungen von Gegenständen, die ich in der +Wohnung meines Gastfreundes gesehen hatte. So war der Schreibschrein +und der große Kleiderschrein vorhanden. Auch der Tisch, an dem noch in +der Schreinerstube gearbeitet wurde, stand hier schon fertig vor uns +auf dem Papiere. Ich bemerkte hiebei, daß nur die Platte klar und +kräftig ausgeführt war, das Gerüste und die Füße minder, gleichsam +schattenhaft behandelt wurden. Ich erkannte, daß man so das Neue, was +zu Geräten hinzukommen mußte, bezeichnen wollte. Mir gefiel diese Art +sehr gut. + +»Die Kirchengeräte unseres Landes dürften in dieser Sammlung ziemlich +vollständig sein«, sagte mein Gastfreund, »wenigstens wird nichts +Wesentliches fehlen. Bei den weltlichen kann man das weniger sagen, +da man nicht wissen kann, was noch hie und da in dem Lande zerstreut +ist.« + + +Als ich diese Mappe auch angesehen hatte, sagte mein Begleiter: »Diese +Zeichnungen sind Nachbildungen von lauter wirklichen aus älterer Zeit +auf uns gekommenen Gegenständen, wir haben aber auch Zeichnungen +selbstständig entworfen, die Geräte oder andere kleinere Gegenstände +darstellen. Zeigt uns auch diese, Meister.« + +Der junge Mann legte die Mappe auf den Tisch. + +Sie war viel umfassender als jede der früheren und enthielt nicht bloß +die vollständige Darstellung der ganzen Gegenstände, sondern auch ihre +Quer- und Längenschnitte und ihre Grundrisse. Es waren Abbildungen von +verschiedenen Geräten, dann von Verkleidungen, Fußböden, Zimmerdecken, +Nischen und endlich sogar von Baugegenständen, Treppenhäusern und +Seitenkapellen. Man war mit großer Zweifelsucht und Gewissenhaftigkeit +zu Werke gegangen; manche Zeichnung war vier-, ja fünfmal vorhanden +und jedes Mal verändert und verbessert. Die letzten waren stets mit +Farben angegeben und dies besonders deutlich, wenn die Gegenstände in +Holz oder Marmor auszuführen waren. Ich fragte, ob einige dieser Dinge +ausgeführt worden sind. + +»Freilich«, antwortete mein Begleiter, »wozu wären denn so viele +Zeichnungen angefertigt worden? Alle Gegenstände, die ihr öfter +gezeichnet sahet und deren letzte Zeichnung in Farben angegeben ist, +sind in Wirklichkeit ausgearbeitet worden. Diese Zeichnungen sind die +Pläne und Vorlagen zu den neuen Geräten, auf deren Verfertigung, wie +ich früher sagte, wir geraten sind. Wenn ihr einmal in den Ort, von +dem ich euch gesagt habe, daß er mehrere enthält, kommen solltet, so +würdet ihr dort nicht nur viele von denen, die hier gezeichnet sind, +sehen, sondern auch solche, die zusammen gehören und ein Ganzes +bilden.« + +»Wenn man diese Zeichnungen betrachtet«, sagte ich, »und wenn man die +anderen betrachtet, welche ich früher gesehen habe, so kömmt man auf +den Gedanken, daß die Bauwerke einer Zeit und die Geräte, welche +in diesen Bauwerken sein sollten, eine Einheit bilden, die nicht +zerrissen werden kann.« + +»Allerdings bilden sie eine«, erwiderte er, »die Geräte sind ja die +Verwandten der Baukunst, etwa ihre Enkel oder Urenkel, und sind aus +ihr hervorgegangen. Dieses ist so wahr, daß ja auch unsere heutigen +Geräte zu unserer heutigen Baukunst gehören. Unsere Zimmer sind +fast wie hohle Würfel oder wie Kisten, und in solchen stehen die +geradlinigen und geradflächigen Geräte gut. Es ist daher nicht ohne +Begründung, wenn die viel schöneren altertümlichen Geräte in unseren +Wohnungen manchen Leuten einen unheimlichen Eindruck machen, sie +widersprechen der Wohnung; aber hierin haben die Leute Unrecht, wenn +sie die Geräte nicht schön finden, die Wohnung ist es, und diese +sollte geändert werden. Darum stehen in Schlössern und altertümlichen +Bauten derlei Geräte noch am schönsten, weil sie da eine ihnen +ähnliche Umgebung finden. Wir haben aus diesem Verhältnisse Nutzen +gezogen und aus unseren Zeichnungen der Bauwerke viel für die +Zusammenstellung unserer Geräte gelernt, die wir eben nach ihnen +eingerichtet haben.« + +»Wenn man so viele dieser Dinge in so vielen Abbildungen vor sich +sieht, wie wir jetzt getan haben«, sagte ich, »so kann man nicht +umhin, einen großen Eindruck zu empfinden, den sie machen.« + +»Es haben sehr tiefsinnige Menschen vor uns gelebt«, erwiderte er, +»man hat es nicht immer erkannt und fängt erst jetzt an, es wieder ein +wenig einzusehen. Ich weiß nicht, ob ich es Rührung oder Schwermut +nennen soll, was ich empfinde, wenn ich daran denke, daß unsere +Voreltern ihre größten und umfassendsten Werke nicht vollendet haben. +Sie mußten auf eine solche Ewigkeit des Schönheitsgefühles gerechnet +haben, daß sie überzeugt waren, die Nachwelt werde an dem weiter +bauen, was sie angefangen haben. Ihre unfertigen Kirchen stehen wie +Fremdlinge in unserer Zeit. Wir haben sie nicht mehr empfunden oder +haben sie durch häßliche Aftergebilde verunstaltet. Ich möchte +jung sein, wenn eine Zeit kömmt, in welcher in unserem Vaterlande +das Gefühl für diese Anfänge so groß wird, daß es die Mittel +zusammenbringt, diese Anfänge weiter zu führen. Die Mittel sind +vorhanden, nur werden sie auf etwas anderes angewendet, so wie man +diese Bauwerke nicht aus Mangel der Mittel unvollendet ließ, sondern +aus anderen Gründen.« + +Ich sagte nach diesen Worten, daß ich in dem berührten Punkte weniger +unterrichtet sei; aber in einem anderen Punkte könnte ich vielleicht +etwas sagen, nehmlich in Hinsicht der Zeichnungen. »Ich habe durch +längere Zeit her Pflanzen, Steine, Tiere und andere Dinge gezeichnet, +habe mich sehr geübt und dürfte daher etwa ein Urteil wagen können. +Diese Zeichnungen erscheinen mir in Reinheit der Linien, in +Richtigkeit des Perspectives, in kluger Hinstellung jedes Körperteiles +und in passender Anwendung der Farben als ganz vortrefflich, und ich +fühle mich gedrungen, dieses zu sagen.« + +Der Meister sagte zu diesem Lobe nichts, sondern er senkte den Blick +zu Boden, meinen Gastfreund aber schien mein Urteil zu freuen. + +Er bedeutete den Meister, die Mappe zusammen zu binden und in die Lade +zu legen, was auch geschah. + + +Wir gingen von diesem Zimmer in die weiteren Räume des +Schreinerhauses. Als wir über die Schwelle schritten, dachte ich, +daß ich von altertümlichen Gegenständen trotz der Sammlungen meines +Vaters, von denen ich doch lebenslänglich umgeben gewesen war, +eigentlich bisher nicht viel verstanden habe und erst lernen müsse. + +Von dem Zimmer der Zeichnungen gingen wir in das Wohnzimmer des +Meisters, welches neben den gewöhnlichen Gerätstücken ebenfalls +Zeichnungstische und Staffeleien enthielt. Es war ebenso freundlich +eingerichtet wie das Zimmer der Zeichnungen. + +Auch die Zimmer der Gehilfen besuchten wir und betraten dann die +Nebenräume. Es waren dies Räume, die zu verschiedenen Gegenständen, +die eine solche Anstalt fordert, notwendig sind. Der vorzüglichste war +das Trockenhaus, welches hinter der Schreinerei angebracht war, aus +der man in die untere und obere Abteilung desselben gelangen konnte. +Es hatte den Zweck, daß in ihm alle Gattungen von Holz, die man hier +verarbeitete, jenen Zustand der Trockenheit erreichen konnten, der +in Geräten notwendig ist, daß nicht später wieder Beschädigungen +eintreten. In dem unteren Raume wurden die größeren Holzkörper +aufbewahrt, in dem oberen die kleineren und feineren. Ich konnte +sehen, wie sehr es Ernst mit der Anlegung dieses Werkhauses war; +denn ich fand in dem Trockenhause nicht nur einen sehr großen +Vorrat von Holz, sondern auch fast alle Gattungen der inländischen +und ausländischen Hölzer. Ich hatte hierin von der Zeit meiner +naturwissenschaftlichen Bestrebungen her einige Kenntnis. Außerdem +war das Holz beinahe durchgängig schon in die vorläufigen Gestalten +geschnitten, in die es verarbeitet werden sollte, damit es auf diese +Weise zu hinreichender Beruhigung austrocknen konnte. Mein Begleiter +zeigte mir die verschiedenen Behältnisse und erklärte mir im +Allgemeinen ihren Inhalt. + +In dem unteren Raume sah ich Lärchenholz zu sehr großen seltsamen +Gestalten verbunden, gleichsam zu schlanken Gerüsten, Rahmen und +dergleichen, und fragte, da ich mir die Sache nicht erklären konnte, +um ihre Bedeutung. + +»In unserem Lande«, antwortete mein Begleiter, »sind mehrere +geschnitzte Altäre. Sie sind alle aus Lindenholz verfertigt und einige +von bedeutender Schönheit. Sie stammen aus sehr früher Zeit, etwa +zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert, und sind +Flügelaltäre, welche mit geöffneten Flügeln die Gestalt einer +Monstranze haben. Sie sind zum Teile schon sehr beschädigt und drohen, +in kürzerer oder längerer Zeit zu Grunde zu gehen. Da haben wir nun +einen auf meine Kosten wiederhergestellt und arbeiten jetzt an einem +zweiten. Die Holzgerüste, um die ihr fragtet, sind Grundlagen, auf +denen Verzierungen befestigt werden müssen. Die Verzierungen sind noch +ziemlich erhalten, ihre Grundlagen aber sind sehr morsch geworden, +weshalb wir neue anfertigen müssen, wozu ihr hier die Entwürfe sehet.« + +»Hat man euch denn erlaubt, in einer Kirche einen Altar +umzugestalten?« fragte ich. + +»Man hat es uns erst nach vielen Schwierigkeiten erlaubt«, antwortete +er, »wir haben aber die Schwierigkeiten besiegt. Besonders kam uns das +Mißtrauen in unsere Kenntnisse und Fähigkeiten entgegen, und hierin +hatte man Recht. Wohin käme man denn, wenn man an vorhandenen Werken +vorschnell Veränderungen anbringen ließe? Es könnten ja da Dinge von +der größten Wichtigkeit verunstaltet oder zerstört werden. Wir mußten +angeben, was wir verändern oder hinzufügen wollten und wie die Sache +nach der Umarbeitung aussehen würde. Erst da wir dargelegt hatten, daß +wir an den bestehenden Zusammenstellungen nichts ändern würden, daß +keine Verzierung an einen andern Platz komme, daß kein Standbild an +seinem Angesichte, seinen Händen oder den Faltungen seines Gewandes +umgestaltet werde, sondern daß wir nur das Vorhandene in seiner +jetzigen Gestalt erhalten wollen, damit es nicht weiter zerfallen +könne, daß wir den Stoff, wo er gelitten hat, mit Stoff erfüllen +wollen, damit die Ganzheit desselben vorhanden sei, daß wir an Zutaten +nur die kleinsten Dinge anbringen würden, deren Gestalt vollkommen +durch die gleichartigen Stücke bekannt wäre und in gleichmäßiger +Vollkommenheit wie die alten verfertigt werden könnte, ferner als wir +eine Zeichnung in Farben angefertigt hatten, die darstellte, wie der +gereinigte und wieder hergestellte Altar aussehen würde, und endlich +als wir Schnitzereien von geringem Umfange, einzelne Standbilder und +dergleichen in unserem Sinne wieder hergestellt und zur Anschauung +gebracht hatten, ließ man uns gewähren. Von Hindernissen, die nicht +von der Obrigkeit ausgingen, von Verdächtigungen und ähnlichen +Vorkommnissen rede ich nicht, sie sind auch wenig zu meiner Kenntnis +gekommen.« + +»Da habt ihr ein langwieriges und, wie ich glaube, wichtiges Werk +unternommen«, sagte ich. + +»Die Arbeit hat mehrere Jahre gedauert«, erwiderte er, »und was die +Wichtigkeit anbelangt, so hat sich wohl niemand mehr den Zweifeln +hingegeben, ob wir die nötige Sachkenntnis besäßen, als wir selber. +Darum haben wir auch gar keine Veränderung in der Wesenheit der Sache +vorgenommen. Selbst dort, wo es deutlich erwiesen war, daß Teile des +Altars in der Zeit in eine andere Gruppe gestellt worden waren, als +sie ursprünglich gewesen sein konnten, ließen wir das Vorgefundene +bestehen. Wir befreiten nur die Gebilde von Schmutz und Übertünchung, +befestigten das Zerblätterte und Lediggewordene, ergänzten das +Mangelnde, wo, wie ich gesagt habe, dessen Gestalt vollkommen bekannt +war, füllten alles, was durch Holzwürmer zerstört war, mit Holz aus, +beugten durch ein erprobtes Mittel den künftigen Zerstörungen dieser +Tiere vor und überzogen endlich den ganzen Altar, da er fertig war, +mit einem sehr matten Firnisse. Es wird einmal eine Zeit kommen, in +welcher vom Staate aus vollkommen sachverständige Männer in ein Amt +werden vereinigt werden, das die Wiederherstellung alter Kunstwerke +einleiten, ihre Aufstellung in dem ursprünglichen Sinne bewirken +und ihre Verunstaltung für kommende Zeiten verhindern wird; denn so +gut man uns gewähren ließ, die ja auch eine Verunstaltung hätten +hervorbringen können, so gut wird man in Zukunft auch andere gewähren +lassen, die minder zweifelsüchtig sind oder im Eifer für das Schöne +nach ihrer Art verfahren und das Wesen des Überkommenen zerstören.« + +»Und glaubt ihr, daß ein Gesetz, welches verbietet, an dem Wesen +eines vorgefundenen Kunstwerkes etwas zu ändern, dem Verfalle und der +Zerstörung desselben für alle Zeiten vorbeugen würde?« fragte ich. + +»Das glaube ich nicht«, erwiderte er; »denn es können Zeiten so +geringen Kunstsinnes kommen, daß sie das Gesetz selber aufheben; aber +auf eine längere Dauer und auf eine bessere Weise wäre doch durch ein +solches Gesetz gesorgt, als wenn gar keines wäre. Den besten Schutz +für Kunstwerke der Vorzeit würde freilich eine fortschreitende und +nicht mehr erlahmende Kunstempfindung gewähren. Aber alle Mittel, +auch in ihrer größten Vollkommenheit angewendet, würden den endlichen +Untergang eines Kunstwerkes nicht aufhatten können; dies liegt in der +immerwährenden Tätigkeit und in dem Umwandlungstriebe der Menschen und +in der Vergänglichkeit des Stoffes. Alles, was ist, wie groß und gut +es sei, besteht eine Zeit, erfüllt einen Zweck und geht vorüber. Und +so wird auch einmal über alle Kunstwerke, die jetzt noch sind, ein +ewiger Schleier der Vergessenheit liegen, wie er jetzt über denen +liegt, die vor ihnen waren.« + +»Ihr arbeitet an der Herstellung eines zweiten Altares«, sagte ich, +»da ihr einen schon vollendet habt; würdet ihr auch noch andere +herstellen, da ihr sagt, daß es mehrere in dem Lande gibt?« + +»Wenn ich die Mittel dazu hätte, würde ich es tun«, erwiderte er, »ich +würde sogar, wenn ich reich genug wäre, angefangene mittelalterliche +Bauwerke vollenden lassen. Da steht in Grünau hart an der Grenze +unseres Landes an der Stadtpfarrkirche ein Turm, welcher der schönste +unseres Landes ist und der höchste wäre, wenn er vollendet wäre; +aber er ist nur ungefähr bis zu zwei Drittteilen seiner Höhe fertig +geworden. Dieser altdeutsche Turm wäre das Erste, welches ich +vollenden ließe. Wenn ihr wieder kommt, so führe ich euch in eine +Kirche, in welcher auf Landeskosten ein geschnitzter Flügelaltar +wieder hergestellt worden ist, der zu den bedeutendsten Kunstwerken +gehört, welche in dieser Art vorhanden sind.« + + +Wir traten bei diesen Worten den Rückweg aus dem Trockenhause in die +Arbeitstube an. Mein Begleiter sagte auf diesem Wege: »Da Eustach +jetzt vorzugsweise damit beschäftigt ist, die im Laufe befindlichen +Werke auszufertigen, so hat er seinen Bruder, der herangewachsen ist, +unterrichtet, und dieser versieht jetzt hauptsächlich das Geschäft des +Zeichnens. Er ist eben daran, die Verzierungen, die in unserem Lande +an Bauwerken, Holzarbeiten oder sonstwo vorkommen und die wir in +unseren Blättern von größeren Werken noch nicht haben, zu zeichnen. +Wir erwarten ihn in kurzer Zeit auf einige Tage zurück. An diesen +Dingen könnte auch die Gegenwart lernen, falls sie lernen will. Nicht +bloß aus dem Großen, wenn wir das Große betrachteten, was unsere +Voreltern gemacht haben und was die kunstsinnigsten vorchristlichen +Völker gemacht haben, könnten wir lernen, wieder in edlen Gebäuden +wohnen oder von edlen Geräten umringt sein, wenigstens wie die +Griechen in schönen Tempeln beten; sondern wir könnten uns auch im +Kleinen vervollkommnen, die Überzüge unserer Zimmer könnten schöner +sein, die gewöhnlichen Geräte, Krüge, Schalen, Lampen, Leuchter, Äxte +würden schöner werden, selbst die Zeichnungen auf den Stoffen zu +Kleidern und endlich auch der Schmuck der Frauen in schönen Steinen; +er würde die leichten Bildungen der Vergangenheit annehmen, statt daß +jetzt oft eine Barbarei von Steinen in einer Barbarei von Gold liegt. +Ihr werdet mir Recht geben, wenn ihr an die vielen Zeichnungen +von Kreuzen, Rosen, Sternen denkt, die ihr in unseren Blättern +mittelalterlicher Bauwerke gesehen habt.« + +Ich bewunderte den Mann, der, da er so redete, in einem sonderbaren, +ja abgeschmackten Kleide neben mir ging. + +»Wenigstens Achtung vor Leuten, die vor uns gelebt haben, könnte +man aus solchen Bestrebungen lernen«, fuhr er fort, »statt daß wir +jetzt gewohnt sind, immer von unseren Fortschritten gegenüber der +Unwissenheit unserer Voreltern reden zu hören. Das große Preisen von +Dingen erinnert zu oft an Armut von Erfahrungen.« + + +Wir waren bei diesen Worten wieder in die Werkstube gekommen und +verabschiedeten uns von dem Meister. Ich reichte ihm die Hand, die +er annahm, und schüttelte die seinige herzlich. Da wir aus dem Hause +getreten waren und ich umschaute, sah ich durch das Fenster, wie er +eben seine grüne Schürze herab nahm und wieder umband. Auch hörten wir +das Hobeln und Sägen wieder, das bei unserem Besuche des Werkhauses +ein wenig verstummt war. + +Wir betraten den Gebüschpfad und kamen wieder in die Nähe des +Wohnhauses. + +»Ihr habt nun meine ganze Behausung gesehen«, sagte mein Gastfreund. + +»Ich habe ja Küche und Keller und Gesindestuben nicht gesehen«, +erwiderte ich. + +»Ihr sollt sie sehen, wenn ihr wollt«, sagte er. + +Ich nahm mein mehr im Scherze gesprochenes Wort nicht zurück, und wir +gingen wieder in das Haus. + +Ich sah hier eine große gewölbte Küche, eine große Speisekammer, drei +Stuben für Dienstleute, eine für eine Art Hausaufseher, dann die +Waschstube, den Backofen, den Keller und die Obstkammer. Wie ich +vermutet hatte, war dies alles reinlich und zweckmäßig eingerichtet. +Ich sah Mägde beschäftigt, und wir trafen auch den Hausaufseher in +seinem Tagewerke begriffen. Das flache feine Körbchen, aus welchem +mein Beherberger die Vögel gefüttert hatte, lehnte in einer eigenen +Mauernische neben der Tür, welche sein bestimmter Platz zu sein +schien. + +Wir gingen von diesen Räumen in das Gewächshaus. Es enthielt sehr +viele Pflanzen, meistens solche, welche zur Zeit gebräuchlich waren. +Auf den Gestellen standen Camellien mit gut gepflegten grünen +Blättern, Rhododendren, darunter, wie mir die Aufschrift sagte, gelbe, +die ich nie gesehen hatte, Azaleen in sehr mannigfaltigen Arten und +besonders viele neuholländische Gewächse. Von Rosen war die Teerose +in hervorragender Anzahl da, und ihre Blumen blühten eben. An das +Gewächshaus stieß ein kleines Glashaus mit Ananas. Auf dem Sandwege +vor beiden Häusern standen Citronen- und Orangenbäume in Kübeln. Der +alte Gärtner hatte noch weißere Haare als sein Herr. Er war ebenfalls +ungewöhnlich gekleidet, nur konnte ich bei ihm das Ungewöhnliche nicht +finden. Das fiel mir auf, daß er viel reines Weiß an sich hatte, +welches im Vereine mit seiner weißen Schürze mich eher an einen Koch +als an einen Gärtner erinnerte. + +Daß die schmale Seite des Gewächshauses von Außen mit Rosen bekleidet +sei, wie die Südseite des Wohnhauses, fiel mir wieder auf, aber es +berührte mich nicht unangenehm. + +Die alte Gattin des Gärtners, die wir in der Wohnung desselben fanden, +war ebenso weiß gekleidet wie ihr Mann. An die Gärtnerswohnung stießen +die Kammern der Gehilfen. + +»Ihr habt ihr jetzt alles gesehen«, sagte mein Gastfreund, da wir aus +diesen Kammern traten, »außer den Gastzimmern, die ich euch zeigen +werde, wenn ihr es verlangt, und der Wohnung meines Ziehsohnes, die +wir aber jetzt nicht betreten können, weil wir ihn in seinem Lernen +stören würden.« + +»Wir wollen das auf eine spätere Stunde lassen, in der ich euch daran +erinnern werde«, sagte ich, »jetzt habe ich aber ein anderes Anliegen +an eure Güte, das mir näher am Herzen ist.« + +»Und dieses nähere Anliegen?« fragte er. + +»Daß ihr mir endlich sagt«, antwortete ich, »wie ihr zu einer so +entschiedenen Gewißheit in Hinsicht des Wetters gekommen seid.« + +»Der Wunsch ist ein sehr gerechter«, entgegnete er, »und um so +gerechter, als eure Meinung über das Gewitter der Grund gewesen ist, +weshalb ihr zu unserem Hause herauf gegangen seid, und als unser +Streit über das Gewitter der Grund gewesen ist, daß ihr länger da +geblieben seid. Gehen wir aber gegen das Bienenhaus, und setzen wir +uns auf eine Bank unter eine Linde. Ich werde euch auf dem Wege und +auf der Bank meine Sache erzählen.« + + +Wir schlugen einen breiten Sandpfad ein, der Anfangs von größeren +Obstbäumen und später von hohen, schattenden Linden begrenzt war. +Zwischen den Stämmen standen Ruhebänke, auf dem Sande liefen pickende +Vögel und in den Zweigen wurde heute wieder das Singen vollbracht, +welches ich gestern schon wahrgenommen hatte. + +»Ihr habt die Sammlung von Werkzeugen der Naturlehre in meiner Wohnung +gesehen«, fing mein Begleiter an, als wir auf dem Sandwege dahin +gingen, »sie erklären schon einen Teil unserer Sache.« + +»Ich habe sie gesehen«, antwortete ich, »besonders habe ich das +Barometer, Thermometer sowie einen Luftblau- und Feuchtigkeitsmesser +bemerkt; aber diese Dinge habe ich auch, und sie haben eher, da ich +sie vor meiner Wanderung beobachtete, auf einen Niederschlag als auf +sein Gegenteil gedeutet.« + +»Das Barometer ist gefallen«, erwiderte er, »und wies auf geringeren +Luftdruck hin, mit welchem sehr oft der Eintritt von Regen verbunden +ist.« + +»Wohl«, sagte ich. + +»Der Zeiger des Feuchtigkeitsmessers«, fuhr er fort, »rückte mehr +gegen den Punkt der größten Feuchtigkeit.« + +»Ja, so ist es gewesen«, antwortete ich. + +»Aber der Electricitätsmesser«, sagte er, »verkündigte wenig +Luftelectricität, daß also eine Entladung derselben, womit in unseren +Gegenden gerne Regen verbunden ist, nicht erwartet werden konnte.« + +»Ich habe wohl auch die nehmliche Beobachtung gemacht«, entgegnete +ich, »aber die electrische Spannung steht nicht so sehr im +Zusammenhange mit Wetterveränderungen und ist meistens nur ihre Folge. +Zudem hat sich gestern gegen Abend Electricität genug entwickelt, und +alle Anzeichen, von denen ihr redet, verkündeten einen Niederschlag.« + +»Ja, sie verkündeten ihn und er ist erfolgt«, sagte mein Begleiter; +»denn es bildeten sich aus den unsichtbaren Wasserdünsten sichtbare +Wolken, die ja wohl sehr fein zerteiltes Wasser sind. Da ist der +Niederschlag. Auf die geringe electrische Spannung legte ich kein +Gewicht; ich wußte, daß, wenn einmal Wolken entständen, sich auch +hinlängliche Electricität einstellen würde. Die Anzeichen, von denen +wir geredet haben, beziehen sich aber nur auf den kleinen Raum, in dem +man sich eben befindet, man muß auch einen weiteren betrachten, die +Bläue der Luft und die Gestaltung der Wolken.« + +»Die Luft hatte schon gestern Vormittags die tiefe und finstere +Bläue«, erwiderte ich, »welche dem Regen vorangeht, und die +Wolkenbildung begann bereits am Mittage und schritt sehr rasch +vorwärts.« + +»Bis hieher habt ihr Recht«, sagte mein Begleiter, »und die Natur hat +euch auch Recht gegeben, indem sie eine ungewöhnliche Menge von Wolken +erzeugte. Aber es gibt auch noch andere Merkmale als die wir bisher +besprochen haben, welche euch entgangen sind. + +Ihr werdet wissen, daß Anzeichen bestehen, welche nur einer gewissen +Gegend eigen sind und von den Eingeborenen verstanden werden, denen +sie von Geschlecht zu Geschlecht überliefert worden sind. Oft vermag +die Wissenschaft recht wohl den Grund der langen Erfahrung anzugeben. +Ihr wißt, daß in Gegenden ein kleines Wölklein, an einer bestimmten +Stelle des Himmels, der sonst rein ist, erscheinend und dort schweben +bleibend, ein sicherer Gewitteranzeiger für diese Gegend ist, daß ein +trüberer Ton an einer gewissen Stelle des Himmels, ein Windstoß aus +einer gewissen Gegend her Vorboten eines Landregens sind und daß der +Regen immer kömmt. Solche Anzeichen hat auch diese Gegend, und es sind +gestern keine eingetreten, die auf Regen wiesen.« + +»Merkmale, die nur dieser Gegend angehören«, erwiderte ich, »konnte +ich nicht beobachten; aber ich glaube, daß diese Merkmale allein euch +doch nicht bestimmen konnten, einen so entscheidenden Ausspruch zu +tun, wie ihr getan habt.« + +»Sie bestimmten mich auch nicht«, antwortete er, »ich hatte auch noch +andere Gründe.« + +»Nun?« + +»Alle die Vorzeichen, von denen wir bisher geredet haben, sind sehr +grobe«, sagte er, »und werden meistens von uns nur mittelst räumlicher +Veränderungen erkannt, die, wenn sie nicht eine gewisse Größe +erreichen, von uns gar nicht mehr beobachtet werden können. Der +Schauplatz, auf welchem sich die Witterungsverhältnisse gestalten, ist +sehr groß; dort, wohin wir nicht sehen und woher die Wirkungen auf +unsere wissenschaftlichen Werkzeuge nicht reichen können, mögen +vielleicht Ursachen und Gegenanzeigen sein, die, wenn sie uns bekannt +wären, unsere Vorhersage in ihr Gegenteil umstimmen würden. Die +Anzeichen können daher auch täuschen. Es sind aber noch viel feinere +Vorrichtungen vorhanden, deren Beschaffenheit uns ein Geheimnis ist, +die von Ursachen, die wir sonst gar nicht mehr messen können, noch +betroffen werden und deren Wirkung eine ganz gewisse ist.« + +»Und diese Werkzeuge?« + +»Sind die Nerven.« + +»Also empfindet ihr durch eure Nerven, wenn Regen kommen wird?« + +»Durch meine Nerven empfinde ich das nicht«, antwortete er. »Der +Mensch stört leider durch zu starke Einwirkungen, die er auf die +Nerven macht, das feine Leben derselben, und sie sprechen zu ihm nicht +mehr so deutlich, als sie sonst wohl könnten. Auch hat ihm die Natur +etwas viel Höheres zum Ersatze gegeben, den Verstand und die Vernunft, +wodurch er sich zu helfen und sich seine Stellung zu geben vermag. Ich +meine die Nerven der Tiere.« + +»Es wird wohl wahr sein, was ihr sagt«, antwortete ich. »Die Tiere +hängen mit der tiefer stehenden Natur noch viel unmittelbarer zusammen +als wir. Es wird nur darauf ankommen, daß diese Beziehungen ergründet +werden und dafür ein Ausdruck gefunden wird, besonders, was das +kommende Wetter betrifft.« + +»Ich habe diesen Zusammenhang nicht ergründet«, entgegnete er, +»noch weniger den Ausdruck dafür gefunden; beides dürfte in dieser +Allgemeinheit wohl sehr schwer sein; aber ich habe zufällig einige +Beobachtungen gemacht, habe sie dann absichtlich wiederholt und daraus +Erfahrungen gesammelt und Ergebnisse zusammen gestellt, die eine +Voraussage mit fast völliger Gewißheit möglich machen. Viele Tiere +sind von Regen und Sonnenschein so abhängig, ja bei einigen handelt es +sich geradezu um das Leben selber, je nachdem Sonne oder Regen ist, +daß ihnen Gott notwendig hat Werkzeuge geben müssen, diese Dinge +vorhinein empfinden zu können. Diese Empfindung als Empfindung kann +aber der Mensch nicht erkennen, er kann sie nicht betrachten, weil +sie sich den Sinnen entzieht; allein die Tiere machen in Folge dieser +Vorempfindung Anstalten für ihre Zukunft, und diese Anstalten kann der +Mensch betrachten und daraus Schlüsse ziehen. Es gibt einige, die ihre +Nahrung finden, wenn es feucht ist, andere verlieren sie in diesem +Falle. Manche müssen ihren Leib vor Regen bergen, manche ihre +Brut in Sicherheit bringen. Viele müssen ihre für den Augenblick +aufgeschlagene Wohnung verlassen oder eine andere Arbeit suchen. +Da nun die Vorempfindung gewiß sein muß, wenn die daraus folgende +Handlung zur Sicherung führen soll, da die Nerven schon berührt +werden, wenn noch alle menschlichen wissenschaftlichen Werkzeuge +schweigen, so kann eine Voraussage über das Wetter, die auf eine +genaue Betrachtung der Handlungen der Tiere gegründet ist, mehr Anhalt +gewähren als die aus allen wissenschaftlichen Werkzeugen zusammen +genommen.« + +»Ihr eröffnet da eine neue Richtung.« + +»Die Menschen haben darin schon Vieles erfahren. Die besten +Wetterkenner sind die Insekten und überhaupt die kleinen Tiere. Sie +sind aber viel schwerer zu beobachten, da sie, wenn man dies tun will, +nicht leicht zu finden sind und da man ihre Handlungen auch nicht +immer leicht versteht. Aber von kleineren Tieren hängen oft größere +ab, deren Speise jene sind, und die Handlungen kleinerer Tiere haben +Handlungen größerer zur Folge, welche der Mensch leichter überblickt. +Freilich steht da ein Schluß in der Mitte, der die Gefahr zu irren +größer macht, als sie bei der unmittelbaren Betrachtung und der +gleichsam redenden Tatsache ist. Warum, damit ich ein Beispiel +anführe, steigt der Laubfrosch tiefer, wenn Regen folgen soll, warum +fliegt die Schwalbe niedriger und springt der Fisch aus dem Wasser? +Die Gefahr, zu irren, wird wohl bei oftmaliger Wiederholung der +Beobachtung und bei sorglicher Vergleichung geringer; aber das +Sicherste bleiben immer die Herden der kleinen Tiere. Das habt ihr +gewiß schon gehört, daß die Spinnen Wetterverkündiger sind und daß die +Ameisen den Regen vorhersagen. Man muß das Leben dieser kleinen Dinge +betrachten, ihre häuslichen Einrichtungen anschauen, oft zu ihnen +kommen, sehen, wie sie ihre Zeit hinbringen, erforschen, welche +Grenzen ihre Gebiete haben, welche die Bedingungen ihres Glückes sind +und wie sie denselben nachkommen. Darum wissen Jäger, Holzhauer und +Menschen, welche einsam sind und zur Betrachtung dieses abgesonderten +Lebens aufgefordert werden, das Meiste von diesen Dingen und wie aus +dem Benehmen von Tieren das Wetter vorherzusagen ist. Es gehört aber +wie zu allem auch Liebe dazu.« + +»Hier ist der Sitz«, unterbrach er sich, »von welchem ich früher +gesprochen habe. Hier ist die schönste Linde meines Gartens, ich habe +einen bessern Ruheplatz unter ihr anbringen lassen und gehe selten +vorüber, ohne mich eine Weile nieder zu setzen, um mich an dem Summen +in ihren Ästen zu ergötzen. Wollen wir uns setzen?« + +Ich willigte ein, wir setzten uns, das Summen war wirklich über unsern +Häuptern zu hören, und ich fragte, »Habt ihr nun diese Beobachtungen +an den Tieren, wie ihr sagtet, gemacht?« + +»Auf Beobachtungen bin ich eigentlich nicht ausgegangen«, antwortete +er; »aber da ich lange in diesem Hause und in diesem Garten gelebt +habe, hat sich Manches zusammengefunden; aus dem Zusammengefundenen +haben sich Schlüsse gebaut, und ich bin durch diese Schlüsse umgekehrt +wieder zu Betrachtungen veranlaßt worden. Viele Menschen, welche +gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Welt +zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es +nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern Maßstab +umlegen können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab +mehr haben. Das sehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt +behandelt. Oft habe ich gedacht, daß die Erforschung des Menschen und +seines Treibens, ja sogar seiner Geschichte, nur ein anderer Zweig der +Naturwissenschaft sei, wenn er auch für uns Menschen wichtiger ist, +als er für Tiere wäre. Ich habe zu einer Zeit Gelegenheit gehabt, in +diesem Zweige Manches zu erfahren und mir Einiges zu merken. Doch ich +will zu meinem Gegenstande zurückkehren. Von dem, was die kleinen +Tiere tun, wenn Regen oder Sonnenschein kommen soll, oder wie ich +überhaupt aus ihren Handlungen Schlüsse ziehe, kann ich jetzt nicht +reden, weil es zu umständlich sein würde, obwohl es merkwürdig ist; +aber das kann ich sagen, daß nach meinen bisherigen Erfahrungen +gestern keines der Tierchen in meinem Garten ein Zeichen von Regen +gegeben hat. + +Wir mögen von den Bienen anfangen, welche in diesen Zweigen summen, +und bis zu den Ameisen gelangen, die ihre Puppen an der Planke meines +Gartens in die Sonne legen, oder zu dem Springkäfer, der sich seine +Speise trocknet. Weil mich nun diese Tiere, wenn ich zu ihnen kam, nie +getäuscht haben, so folgerte ich, daß die Wasserbildung, welche unsere +gröberen wissenschaftlichen Werkzeuge voraussagten, nicht über die +Entstehung von Wolken hinausgehen würde, da es sonst die Tiere gewußt +hätten. Was aber mit den Wolken geschehen würde, erkannte ich nicht +genau, ich schloß nur, daß durch die Abkühlung, die ihr Schatten +erzeugen müßte, und durch die Luftströmungen, denen sie selber ihr +Dasein verdankten, ein Wind entstehen könnte, der in der Nacht den +Himmel wieder rein fegen würde.« + +»Und so geschah es auch«, sagte ich. + +»Ich konnte es um so sicherer voraussehen«, erwiderte er, »weil es +an unserem Himmel und in unserem Garten oft schon so gewesen ist wie +gestern und stets so geworden ist wie heute in der Nacht.« + +»Das ist ein weites Feld, von dem ihr da redet«, sagte ich, »und da +steht der menschlichen Erkenntnis ein nicht unwichtiger Gegenstand +gegenüber. Er beweist wieder, daß jedes Wissen Ausläufe hat, die man +oft nicht ahnt, und wie man die kleinsten Dinge nicht vernachlässigen +soll, wenn man auch noch nicht weiß, wie sie mit den größeren +zusammenhängen. So kamen wohl auch die größten Männer zu den Werken, +die wir bewundern, und so kann mit Hereinbeziehung dessen, von dem ihr +redet, die Witterungskunde einer großen Erweiterung fähig sein.« + +»Diesen Glauben hege ich auch«, erwiderte er. »Euch Jüngeren wird es +in den Naturwissenschaften überhaupt leichter, als es den Älteren +geworden ist. Man schlägt jetzt mehr die Wege des Beobachtens +und der Versuche ein, statt daß man früher mehr den Vermutungen, +Lehrmeinungen, ja Einbildungen hingegeben war. Diese Wege wurden lange +nicht klar, obgleich sie Einzelne wohl zu allen Zeiten gegangen sind. +Je mehr Boden man auf die neue Weise gewinnt, desto mehr Stoff hat man +als Hilfe zu fernern Erringungen. + +Man wendet sich jetzt auch mit Ernst der Pflege der einzelnen Zweige +zu, statt wie früher immer auf das Allgemeine zu gehen; und es +wird daher auch eine Zeit kommen, in der man dem Gegenstande eine +Aufmerksamkeit schenken wird, von dem wir jetzt gesprochen haben. Wenn +die Fruchtbarkeit, wie sie durch Jahrzehnte in der Naturwissenschaft +gewesen ist, durch Jahrhunderte anhält, so können wir gar nicht ahnen, +wie weit es kommen wird. Nur das eine wissen wir jetzt, daß das noch +unbebaute Feld unendlich größer ist als das bebaute.« + +»Ich habe gestern einige Arbeiter bemerkt«, sagte ich, »welche, obwohl +der Himmel voll Wolken war, doch Wasser pumpten, ihre Gießkannen +füllten und die Gewächse begossen. Haben diese vielleicht auch +gewußt, daß kein Regen kommen werde, oder haben sie bloß eure Befehle +vollzogen, wie die Mäher, die an dem Meierhofe Gras abmähten?« + +»Das Letztere ist der Fall«, erwiderte er. »Diese Arbeiter glauben +jedes Mal, daß ich mich irre, wenn der äußere Anschein gegen mich ist, +wie oft sie auch durch den Erfolg belehrt worden sein mögen. Und so +werden sie gewiß auch gestern geglaubt haben, daß Regen komme. Sie +begossen die Gewächse, weil ich es angeordnet habe und weil es bei +uns eingeführt ist, daß der, welcher wiederholt den Anordnungen nicht +nachkömmt, des Dienstes entlassen wird. Es sind aber endlich auch noch +andere Dinge außer den Tieren, welche das Wetter vorhersagen, nehmlich +die Pflanzen.« + +»Von den Pflanzen wußte ich es schon, und zwar besser, als von den +Tieren«, erwiderte ich. + +»In meinem Garten und in meinem Gewächshause sind Pflanzen«, sagte er, +»welche einen auffallenden Zusammenhang mit dem Luftkreise zeigen, +besonders gegen das Nahen der Sonne, wenn sie lange in Wolken gewesen +war. Aus dem Geruche der Blumen kann man dem kommenden Regen entgegen +sehen, ja sogar aus dem Grase riecht man ihn beinahe. Mir kommen diese +Dinge so zufällig in den Garten und in das Haus; ihr aber werdet sie +weit besser und weit gründlicher kennen lernen, wenn ihr die Wege der +neuen Wissenschaftlichkeit wandelt und die Hilfsmittel benützt, die es +jetzt gibt, besonders die Rechnung. Wenn ihr namentlich eine einzelne +Richtung einschlage, so werdet ihr in derselben ungewöhnlich große +Fortschritte machen.« + +»Woher schließt ihr denn das?« fragte ich. + +»Aus eurem Aussehen«, erwiderte er, »und schon aus der sehr bestimmten +Aussage, die ihr gestern in Hinsicht des Wetters gemacht habt.« + +»Diese Aussage war aber falsch«, antwortete ich, »und aus ihr hättet +ihr gerade das Gegenteil schließen können.« + +»Nein, das nicht«, sagte er, »eure Äußerung zeigte, weil sie so +bestimmt war, daß ihr den Gegenstand genau beobachtet habt, und weil +sie so warm war, daß ihr ihn mit Liebe und mit Eifer umfaßt; daß +eure Meinung deßohngeachtet irrig war, kam nur daher, weil ihr einen +Umstand, der auf sie Einfluß hatte, nicht kanntet und ihn auch nicht +leicht kennen konntet; sonst würdet ihr anders geurteilt haben.« + +»Ja, ihr redet wahr, ich würde anders geurteilt haben«, antwortete +ich, »und ich werde nicht wieder so voreilig urteilen.« + + +»Ihr habt gestern gesagt, daß ihr euch mit Naturdingen beschäftiget«, +fuhr er fort, »darf ich wohl fragen, ob ihr eine bestimmte Richtung +gewählt habt und welche.« + +Ich war durch die Frage ein wenig in Verwirrung gebracht und +antwortete: »Ich bin doch im Grunde nur ein gewöhnlicher Fußreisender. +Ich besitze gerade so viel Vermögen, um unabhängig leben zu können, +und gehe in der Welt herum, um sie anzusehen. Ich habe wohl vor Kurzem +alle Wissenschaften angefangen; aber davon bin ich zurückgekommen und +habe mir nur hauptsächlich die einzelne Wissenschaft der Erdbildung +zur Aufgabe gemacht. Um die Werke, welche ich hierin lese, zu +ergänzen, suche ich auf den Reisen, die ich in verschiedene +Landesteile mache, zu beobachten, schreibe meine Erfahrungen auf und +verfertige Zeichnungen. Da die Werke vorzüglich von Gebirgen handeln, +so suche ich auch vorzüglich die Gebirge auf. Sie enthalten sonst auch +Vieles, das mir lieb ist.« + +»Diese Wissenschaft ist eine sehr weite«, entgegnete mein Gastfreund, +»wenn sie in der Bedeutung der Erdgeschichte genommen wird. Sie +schließt manche Wissenschaften ein und setzt manche voraus. Die Berge +sind wohl jetzt, wo diese Wissenschaft noch jung ist und wo man ihre +ersten und greifbarsten Züge sammelt, von der größten Bedeutung; aber +es wird auch die Ebene an die Reihe kommen, und ihre einfache und +schwerer zu entziffernde Frage wird gewiß nicht von geringerer +Wichtigkeit sein.« + +»Sie wird gewiß wichtig sein«, antwortete ich. »Ich habe die Ebene und +ihre Sprache, die sie damals zu mir sprach, schon geliebt, ehe ich +meine jetzige Aufgabe betrieb und ehe ich die Gebirge kannte.« + +»Ich glaube«, entgegnete mein Begleiter, »daß in der gegenwärtigen +Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der +des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, +das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer +voraus; das ist nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der +Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß der Drang des Sammelns +in die Geister kömmt, wenn eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie +auch noch nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird. Es geht +gleichsam der Reiz der Ahnung in die Herzen, wozu etwas da sein könne +und wozu es Gott bestellt haben möge. Aber selbst ohne diesen Reiz +hat das Sammeln etwas sehr Einnehmendes. Ich habe meine Marmore alle +selber in den Gebirgen gesammelt und habe ihren Bruch aus den Felsen, +ihr Absägen, ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die Arbeit +hat mir manche Freude gebracht, und ich glaube, daß mir nur darum +diese Steine so lieb sind, weil ich sie selber gesucht habe.« + +»Habt ihr alle Arten unsers Gebirges?« fragte ich. + +»Ich habe nicht alle«, antwortete er, »ich hätte sie vielleicht +nach und nach erhalten können, wenn ich meine Besuche stetig hätte +fortsetzen können. Aber seit ich alt werde, wird es mir immer +schwieriger. Wenn ich jetzt zu seltnen Zeiten einmal an den Rand des +Simmeises hinaufkomme, empfinde ich, daß es nicht mehr ist wie in der +Jugend, wo man keine Grenze kennt als das Ende des Tages oder die bare +Unmöglichkeit. Weil ich nun nicht mehr so große Strecken durchreisen +kann, um etwa Marmor, der mir noch fehlt, in Blöcken aufzusuchen, +so wird die Ausbeute immer geringer; sie wird auch aus dem Grunde +geringer, weil ich bereits so viel habe und die Stellen also seltener +sind, wo ich ein noch Fehlendes finde. Da ich allen Marmor selber +gesammelt habe, so kann ich wohl auch kein Stück an meinem Hause +anbringen, das mir von fremder Hand käme.« + +»Ihr habt also wahrscheinlich das Haus selber gebaut oder es sehr +umgestaltet?« fragte ich. + +»Ich habe es selber gebaut«, antwortete er. »Das Wohnhaus, welches zu +den umliegenden Gründen gehört, war früher der Meierhof, an dem ihr +gestern, da wir auf dem Bänkchen der Felderrast saßen, Leute Gras +mähen gesehen habt. Ich habe ihn von dem früheren Besitzer sammt allen +Ländereien, die dazu gehören, gekauft, habe das Haus auf dem Hügel +gebaut und habe den Meierhof zum Wirtschaftsgebäude bestimmt.« + +»Aber den Garten könnt ihr doch unmöglich neu angelegt haben?« + +»Das ist eine eigene Entstehungsgeschichte«, erwiderte er. »Ich muß +sagen: ich habe ihn neu angelegt, und ich muß sagen: ich habe ihn +nicht neu angelegt. + +Ich habe mir mein Wohnhaus für den Rest meiner Tage auf einen Platz +gebaut, der mir entsprechend schien. Der Meierhof stand in dem Tale, +wie meistens die Gebäude dieser Art, damit sie das fette Gras, das man +häufig in den Wirtschaften braucht, um das Gehöfte herum haben; ich +wollte aber mit meiner Wohnung auf die Anhöhe. Da sie nun fertig war, +sollte der Garten, der an dem Meierhofe stand und nur mit vereinzelten +Bäumen oder mit Gruppen von ihnen zu mir langte, heraufgezogen werden. +Die Linde, unter welcher wir jetzt sitzen, sowie ihre Kameraden, die +um sie herum stehen oder einen Gartenweg bilden, stehen da, wo sie +gestanden sind. Der große alte Kirschbaum auf der Anhöhe stand mitten +im Getreide. Ich zog die Anhöhe zu meinem Garten, legte einen Weg zu +dem Kirschbaume hinauf an und baute um ihn ein Bänklein herum. Und +so ging es mit vielen andern Bäumen. Manche, und darunter sehr +bedeutende, daß man es nicht glauben sollte, haben wir übersetzt. Wir +haben sie im Winter mit einem großen Erdballen ausgegraben, sie mit +Anwendung von Seilen umgelegt, hierher geführt und mit Hilfe von +Hebeln und Balken in die vorgerichteten, gut zubereiteten Gruben +gesenkt. Waren die Zweige und Äste gehörig gekürzt, so schlugen sie im +Frühlinge desto kräftiger an, gleichsam als wären die Bäume zu neuem +Leben erwacht. Die Gesträuche und das Zwergobst ist alles neu gesetzt +worden. In kürzerer Zeit, als man glauben sollte, hatten wir die +Freude, zu sehen, daß der Garten so zusammengewachsen erschien, als +wäre er nie an einem andern Platze gewesen. In der Nähe des Meierhofes +habe ich manchen Rest von Bäumen fällen lassen, wenn er dem +Getreidebau hinderlich war; denn ich legte dort Felder an, wo ich die +Bäume genommen hatte, um an Boden auf jener Seite zu gewinnen, was ich +auf dieser durch Anlegung des Gartens verloren hatte.« + +»Ihr habt da einen reizenden Sitz«, bemerkte ich. + +»Nicht der Sitz allein, das ganze Land ist reizend«, erwiderte er, +»und es ist gut da wohnen, wenn man von den Menschen kömmt, wo sie ein +wenig zu dicht an einander sind, und wenn man für die Kräfte seines +Wesens Tätigkeit mitbringt. Zuweilen muß man auch einen Blick in sich +selbst tun. Doch soll man nicht stetig mit sich allein auch in dem +schönsten Lande sein; man muß zu Zeiten wieder zu seiner Gesellschaft +zurückkehren, wäre es auch nur, um sich an manche glänzende +Menschentrümmer, die aus unsrer Jugend noch übrig sind, zu erquicken, +oder an manchem festen Turm von einem Menschen empor zu schauen, der +sich gerettet hat. Nach solchen Zeiten geht das Landleben wieder wie +lindes Öl in das geöffnete Gemüt. Man muß aber weit von der Stadt weg +und von ihr unberührt sein. In der Stadt kommen die Veränderungen, +welche die Künste und die Gewerbe bewirkt haben, zur Erscheinung: +auf dem Lande die, welche naheliegendes Bedürfnis oder Einwirken der +Naturgegenstände auf einander hervorgebracht haben. Beide vertragen +sich nicht, und hat man das Erste hinter sich, so erscheint das Zweite +fast wie ein Bleibendes, und dann ruht vor dem Sinne ein schönes +Bestehendes und zeigt sich dem Nachdenken ein schönes Vergangenes, das +sich in menschlichen Wandlungen und in Wandlungen von Naturdingen in +eine Unendlichkeit zurückzieht.« + +Ich antwortete nichts auf diese Rede, und wir schwiegen eine Weile. + +Endlich sagte er wieder: »Ihr bleibt noch heute nachmittag und in der +Nacht bei uns?« + +»Nach dem, wie ich hier aufgenommen worden bin«, antwortete ich, »ist +es ein angenehmes Gefühl, noch den Tag und die Nacht hier zubringen zu +dürfen.« + +»So ist es gut«, erwiderte er, »ihr müßt aber auch erlauben, daß ich +euch einen Teil des Vormittags allein lasse, weil die Stunde naht, in +der ich zu Gustav gehen und ihm in seinem Lernen beistehen muß.« + +»Tut euch nur keinen Zwang an«, entgegnete ich. + +»So werde ich euch verlassen«, antwortete er, »geht indessen ein wenig +in dem Garten herum, oder seht das Feld an, oder besucht das Haus.« + +»Ich wünsche für den Augenblick noch eine Weile unter diesem Baume +sitzen bleiben zu dürfen«, erwiderte ich. + +»Tut, wie es euch gefällt«, antwortete er, »nur erinnert euch, daß +ich gestern gesagt habe, daß in diesem Hause um zwölf Uhr zu Mittag +gegessen wird.« + +»Ich erinnere mich«, sagte ich, »und werde keine Unordnung machen.« + +Eine kleine Weile nach diesen Worten stand er auf, strich sich mit +seiner Hand die Tierchen und sonstigen Körperchen, die von dem Baume +auf ihn herabgefallen waren, aus den Haaren, empfahl sich und ging in +der Richtung gegen das Haus zu. + + + +Der Abschied + +Ich saß noch eine geraume Zeit unter dem Baume und legte mir zurecht, +was ich gesehen und vernommen. Die Bienen summten in dem Baume, und +die Vögel sangen in dem Garten. Das Haus, in welches der alte Mann +gegangen war, blickte mit einzelnen Teilen, sei es von der weißen +Wand, sei es von dem Ziegeldache durch das Grün der Bäume herüber, +und zu meiner Rechten ging jenseits der Gebüsche, in der Gegend, in +welcher ich das Schreinerhaus vermutete, ein dünner Rauch in die +Luft empor. Das Singen der Vögel und das Summen der Bienen war mir +beinahe eine Stille, da ich durch meine Gebirgswanderungen an solche +andauernde Laute gewohnt war. Die Stille wurde unterbrochen durch +einzelne Laute, welche von den Arbeitern im Garten herrührten, +entweder daß man das Quieken einer Pumpe hörte, mit der man Wasser +pumpte, und mittelst Rinnen in eine Tonne leitete, um es abends zum +Begießen zu verwenden, oder daß eine menschliche Rede ferner oder +näher erscholl, die einen Befehl oder eine Auskunft enthielt. Die +verschiedenen Flecke des Himmels, welche durch das Grün der Bäume +hereinsahen, waren ganz blau und zeigten, wie sehr mein Gastfreund mit +seiner Voraussage des schönen Wetters Recht gehabt hatte. + +Ich riß mich endlich aus meinen Gedanken und ging in dem Garten empor. + +Ich ging zu dem großen Kirschbaume. Ich suchte das Freie, weil ich in +dem Garten wegen der beschränkten Aussicht doch nicht einen genauen +Überblick in Hinsicht der Witterungsverhältnisse machen konnte. Hier +oben stand der Himmel als eine große, ausgedehnte Glocke über mir, +und in der ganzen Glocke war kein einziges Wölklein. Das Hochgebirge, +welches wir gestern nicht hatten sehen können, stand heute in seiner +ganzen Klarheit an der Länge des südlichen Himmels dahin. Vor ihm +waren die Vorlande mit manchen weißen Punkten von Kirchen und Dörfern, +näher zu mir zeigte sich mancher Turm von einer Ortschaft, die ich +kannte, und unter meinen Füßen ruhten der Garten und das Haus, +in welchem ich gestern so freundlich aufgenommen worden war. Die +Getreide, welche nicht weit von mir hinter der Planke des Gartens +standen, und die gestern ganz ruhig gewesen waren, befanden sich heute +in einem zwar schwachen, aber fröhlichen Wogen. Ich mußte denken, daß +das Wetter nicht nur jetzt so schön sei, sondern daß es noch lange so +schön bleiben werde. + +Von dem großen Kirschbaume ging ich wieder in den Garten zurück und +betrachtete verschiedene Gegenstände. + +Ich ging auch noch einmal in das Gewächshaus. Ich konnte nun manches +genauer ansehen, als es mir früher möglich gewesen war, da ich mit +meinem Begleiter das Haus gleichsam nur durchschritten hatte. Der +weiße Gärtner gesellte sich zu mir, erläuterte mir manches, gab mir +über Verschiedenes Auskunft und beantwortete bereitwillig alle meine +Fragen, wie weit seine Kenntnisse und seine Übersicht es zuließen. +Als ich das Gebäude verlassen wollte, sagte er mir, er wolle mir noch +etwas zeigen, was der Herr mir zu zeigen vergessen habe. Er führte +mich auf einen Platz, der mit Sand bedeckt war, der von allen Seiten +der Sonne zugänglich und doch durch Bäume und Gebüsche, die ihn in +einer gewissen Entfernung umgaben, vor heftigen Winden geschützt war. +Mitten auf dem Platze stand ein kleines gläsernes Haus, welches zum +Teile in der Erde steckte. Dieser Umstand und dann der, daß es von +Bäumen umringt war, machten, daß ich es früher nicht wahrgenommen +hatte. Als wir näher kamen, sah ich, daß es ganz von Glas sei und nur +so viel Gerippe habe, als sich zur Festigkeit der Tafeln notwendig +zeige. Es war auch mit einem starken eisernen Gitter, wahrscheinlich +des Hagels wegen, umspannt. Als wir die einigen Stufen von der Fläche +des Gartens in das Innere hinabgestiegen waren, sah ich, daß sich +Pflanzen in dem Hause befanden, und zwar nur eine einzige Gattung, +nehmlich lauter Cactus. Mehr als hundert Arten standen in Tausenden +von kleinen Töpfen da. Die niederen und runden standen frei, die +langen, welche Luftwurzeln treiben, hatten Wände von Baumrinden +neben sich, die mit Erde eingerieben waren, damit die Pflanzen die +Luftwurzeln in sie schlagen konnten. Alle Glastafeln über unseren +Häuptern waren geöffnet, daß die freie Luft den ganzen Raum +durchdringen konnte und doch die Wirkung der Sonnenstrahlen nicht +beirrt war. Die Töpfe standen in Reihen auf hölzernen Gestellen, +die Gestelle aber waren wieder unterbrochen, so daß man in allen +Richtungen herum gehen und alles betrachten konnte. Der Gärtner führte +mich herum und zeigte mir die Abteilungen und Unterabteilungen, in +welchen die Gewächse beisammenstanden. + +Ich sagte, daß ich mich freue, daß mein Gastfreund auf die Familie +dieser Pflanzen eine solche Sorgfalt wende, da sie gewiß besonders und +merkwürdig wären. + +»Wenn man sie länger betrachtet und länger mit ihnen umgeht, werden +sie immer merkwürdiger«, antwortete mein Nachbar. »Die Stellung +ihrer Bildungen ist so mannigfaltig, die Stacheln können zu einer +wahren Zierde und zu einer Bewaffnung dienen, und die Blüten sind +verwunderlich wie Märchen. In einem Monate würdet ihr sehr schöne +sehen, jetzt sind sie noch zu wenig entwickelt.« + +Ich sagte ihm, daß ich schon Blüten gesehen habe, nicht bloß solche, +die, wie schön sie seien, doch überall wachsen, sondern auch andere, +die selten sind, und solche, die mit der Schönheit den lieblichen Duft +vereinen. Ich sagte ihm, daß ich in früheren Zeiten Pflanzenkunde +getrieben habe, zwar nicht in Bezug auf Gartenpflege, sondern zu +meiner Belehrung und Erheiterung, und daß die Cactus nicht das Letzte +gewesen wären, dem ich eine Aufmerksamkeit geschenkt habe. + +»Wenn der Herr alte Sachen sammelt«, sagte er, »so wäre es wohl auch +recht, wenn er dies auch mit alten Pflanzen täte. Im Inghofe ist in +dem Gewächshause ein Cereus, der stärker als ein Mannesarm sammt +seiner Bekleidung ist. Er geht an der Wand empor, biegt sich um +und wächst an der Decke des Hauses hin, an welcher er mit Bändern +befestigt ist. Der untere Teil ist schon Holz geworden, daß man Namen +eingeschnitten hat. Ich glaube, es ist ein Cereus peruvianus. Sie +schätzen ihn nicht so hoch, und der Herr sollte den Cereus kaufen, +wenn man auch wegen seiner Länge drei Wägen aneinander binden müßte, +um ihn herüber bringen zu können. Er ist gewiß schon zweihundert Jahre +alt.« + +Ich antwortete auf diese Rede nicht, um ihm seine Zeitrechnung in +Hinsicht der Cactuspflege in Europa nicht zu stören. + +Ich dankte ihm, da ich endlich alles gesehen hatte, für seine Mühe und +verließ das kleine Haus. Er verabschiedete sieh sehr freundlich und +mit vielen Verbeugungen. + +Ich ging nun zu dem Eingangsgitter, durch welches mein Gastfreund mich +gestern hereingelassen hatte, weil ich auch außerhalb des Gartens ein +wenig herumsehen wollte. Ein Arbeiter, welcher in der Nähe beschäftigt +war, öffnete mir die Tür, weil ich die Einrichtung des Schlosses nicht +kannte, und ich trat in das Freie. Ich ging auf der Seite des Hügels, +auf welcher ich gestern heraufgekommen war, in mehreren Richtungen +herum. Wenn ich auch die Gegend des Landes, in der ich mich befand, im +Allgemeinen sehr wohl kannte, so hatte ich mich doch nie so lange in +ihr aufgehalten, um in das Einzelne eindringen zu können. Ich sah +jetzt, daß es ein sehr fruchtbarer, schöner Teil sei, der mich +aufgenommen hatte, daß sich anmutige Stellen zwischen die Krümmungen +der Hügel hineinziehen und daß ein dichtes Bewohntsein der Gegend +etwas sehr Heiteres erteile. Der Tag wurde nach und nach immer wärmer, +ohne heiß zu sein, und es war jene Stille, die zur Zeit der Rosenblüte +weit mehr als zu einer anderen auf den Feldern ist. In dieser Zeit +sind alle Feldgewächse grün, sie sind im Wachsen begriffen, und wenn +nicht viele Wiesen in der Gegend sind, auf welchen zu jener Zeit die +Heuernte vorkömmt, so haben die Leute keine Arbeit auf den Feldern und +lassen sie allein unter der befruchtenden Sonne. + +Die Stille war wie in dem Hochgebirge; aber sie war nicht so einsam, +weil man überall von der Geselligkeit der Nährpflanzen umgeben war. + + + +Der Klang einer fernen Dorfglocke und meine Uhr, die ich herauszog, +erinnerte mich daran, daß es Mittag sei. + +Ich ging dem Hause zu, das Gitter wurde mir auf einen Zug an der +Glockenstange geöffnet, und ich ging in das Speisezimmer. Dort fand +ich meinen Gastfreund und Gustav, und wir setzten uns zu Tische. Wir +drei waren allein bei dem Mahle. + +Während des Essens sagte mein Gastfreund: »Ihr werdet euch wundern, +daß wir so allein unsere Speisen verzehren. Es ist in der Tat sehr zu +bedauern, daß die alte Sitte abgekommen ist, daß der Herr des Hauses +zugleich mit den Seinigen und seinem Gesinde beim Mahle sitzt. Die +Dienstleute gehören auf diese Weise zu der Familie, sie dienen oft +lebenslang in demselben Hause, der Herr lebt mit ihnen ein angenehmes +gemeinschaftliches Leben, und weil alles, was im Staate und in der +Menschlichkeit gut ist, von der Familie kömmt, so werden sie nicht +bloß gute Dienstleute, die den Dienst lieben, sondern leicht auch +gute Menschen, die in einfacher Frömmigkeit an dem Hause wie an einer +unverrückbaren Kirche hängen und denen der Herr ein zuverlässiger +Freund ist. Seit sie aber von ihm getrennt sind, für die Arbeit +bezahlt werden und abgesondert ihre Nahrung erhalten, gehören sie +nicht zu ihm, nicht zu seinem Kinde, haben andere Zwecke, widerstreben +ihm, verlassen ihn leicht und fallen, da sie familienlos und ohne +Bildung sind, leicht dem Laster anheim. Die Kluft zwischen den +sogenannten Gebildeten und Ungebildeten wird immer größer; wenn noch +erst auch der Landmann seine Speisen in seinem abgesonderten Stübchen +verzehrt, wird dort eine unnatürliche Unterscheidung, wo eine +natürliche nicht vorhanden gewesen wäre.« + +»Ich habe«, fuhr er nach einer Weile fort, »diese Sitte in unserem +hiesigen Hause einführen wollen; allein die Leute waren auf eine +andere Weise herangewachsen, waren in sich selber hineingewachsen, +konnten sich an ein Fremdes nicht anschließen und hätten nur die +Freiheit ihres Wesens verloren. Es ist kein Zweifel, daß sie sich +nach und nach in das Verhältnis würden eingelebt haben, besonders die +Jüngeren, bei denen die Erziehung noch wirkt; allein ich bin so alt, +daß das Unternehmen weit über den Rest meiner Jahre hinausgeht. +Ich befreite daher meine Dienstleute von dem Zwange, und jüngere +Nachfolger mögen den Versuch wieder erneuern, wenn sie meine Meinung +teilen.« + +Mir fiel bei dieser Rede mein Elternhaus ein, in welchem es wohltuend +ist, daß wenigstens die Handlungsdiener meines Vaters mit uns an dem +Mittagstische essen. + +Die Zeit nach dem Mittagsessen ward dazu bestimmt, den Meierhof zu +besuchen, und Gustav durfte uns begleiten. + +Wir gingen nicht den Weg, der an dem großen Kirschbaume vorüber +und auf der Höhe der Felder dahin führt. Dieser Weg, sagte mein +Gastfreund, sei mir schon bekannt; sondern wir gingen in der Nähe der +Bienenhütte durch ein Pförtchen in das Freie und gingen auf einem +Pfade über den sanften Abhang hinab, der noch mit hohen Obstbäumen, +die die besseren Arten des Landes trugen und von dem Meierhofgarten +übrig geblieben waren, bedeckt war. Die Wiesen, über die wir +wandelten, waren so gut, wie ich sie selten angetroffen habe. + +Da wir zu dem Gebäude gekommen waren, sah ich, daß es ein weitläufiges +Viereck war wie die größeren Landhöfe der Gegend, daß man aber hie und +da daran gebessert und daß man es durch Zubauten erweitert hatte. Der +Hofraum war an den Gebäuden herum mit breiten Steinen gepflastert, der +übrige Teil desselben war mit grobem Quarzsande bedeckt, der öfter +umgearbeitet wurde. Die Gebäude, welche diesen Raum umgaben, +enthielten die Ställe, Scheunen, Wagengewölbe und Wohnungen. Das +Vorratshaus stand weiter entfernt in dem Garten. Wir besahen die +Tiere, welche eben zu Hause waren, von den Pferden und Rindern +angefangen bis zu den Schweinen und dem Federvieh hinunter. Für die +Rinder war hinter dem Hause ein schöner Platz eingefangen, auf welchem +sie in freie Luft gelassen werden konnten. Es strömte frisches Wasser +in einer tiefen Steinrinne durch den Platz, von welchem sie trinken +konnten. Ich hatte diese Einrichtung nie gesehen, und sie gefiel mir +sehr. + +Ein ähnlicher Platz war für das Federvieh eingefangen, und nicht weit +davon war ein Anger, auf welchem sich die Füllen tummeln konnten. Wir +besuchten auch die Wohnungen der Leute. Hier fielen mir die großen, +schönen Steinrahmen auf, die an den Fenstern gesetzt waren, auch +konnte man leicht die bedeutende Vergrößerung der Fenster sehen. In +der Wagenhalle waren nicht bloß die Wägen und anderen Fahrzeuge, +sondern auch die übrigen Landwirtschaftsgeräte in Vorrate +vorhanden. Die Düngerstätte, welche auch hier wie in den meisten +Wirtschaftshäusern unseres Landes in dem Hofe gewesen war, ist auf +einen Platz hinter dem Hause verwiesen worden, den ringsum hohe +Gebüsche umfingen. + +»Es ist hier noch Vieles im Entstehen und Werden begriffen«, sagte +mein Gastfreund, »aber es geht langsam vorwärts. Man muß die +Vorurteile der Leute schonen, die unter anderen Umgebungen +herangewachsen und sie gewohnt sind, damit sie nicht durch das Neue +beirrt werden und ihre Liebe zur Arbeit verlieren. Wir müssen uns +beruhigen, daß schon so Vieles geschehen ist, und auf das Weitere +hoffen.« + +Die Leute, welche dieses Haus bewohnten, waren damit beschäftigt, das +Heu, welches gestern gemäht worden war, einzubringen oder, wo es not +tat, vollkommen zu trocknen. Mein Gastfreund redete mit Manchem und +fragte um Verschiedenes, das sich auf die täglichen Geschäfte bezog. + +Als wir von der entgegengesetzten Seite des Hauses fortgingen, sahen +wir auch den Garten, in welchem die Gemüse und andere Dinge für den +Gebrauch des Hofes gezogen wurden. + +Auf dem Rückwege schlugen wir eine andere Richtung ein, als auf +der wir gekommen waren. Hatten wir auf unserem Herwege den großen +Kirschbaum nördlich gelassen, so ließen wir ihn jetzt südlich, so daß +es schien, daß wir den ganzen Garten des Hauses umgehen würden. Wir +stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern +gesagt hatte, daß sie die nördliche Grenze seines Besitztums sei und +daß er sie nicht nach seinem Willen habe verbessern können. Der Weg +führte sachte aufwärts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen +Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefaßt war, +entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter: +»Das ist die Wiese, die ich euch gestern von dem Hügel herab gezeigt +habe und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigentum gehe +und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte. +Ihr seht, daß die Stellen an dem Bache versumpft sind und saures Gras +tragen. Dem wäre leicht abzuhelfen und das mildeste Gras zu erzielen, +wenn man dem Bache einen geraden Lauf gäbe, daß er schneller abflösse, +die Wände hie und da mit Steinen ausmauerte und die Niederungen +mit trockener Erde anfüllte. Ich kann euch jetzt den Grund zeigen, +weshalb dieses nicht geschieht. Ihr seht an beiden Seiten des Baches +Erlenschößlinge wachsen. Wenn ihr näher herzutretet, so werdet ihr +sehen, daß diese Schößlinge aus dicken Blöcken, gleichsam aus Knollen +und Höckern von Holz hervorwachsen, welches Holz teils über der Erde +ist, teils in dem feuchten Boden derselben steckt.« + +Wir waren bei diesen Worten zu dem Bache hinzugegangen, und ich sah, +daß es so war. + +»Diese ungestalteten Anhäufungen von Holz«, fuhr er fort, »aus denen +die dünnen Ruten oder krüppelhafte Äste hervorragen, bilden sich hier +in sumpfigem Boden, sie entstehen aber auch im Sande oder in Steinen +und sind ein Aftererzeugnis des sonst recht schön emporwachsenden +Erlenbaumes. In dem vielteiligen Streben des Holzes, eine Menge +Ruten oder zwieträchtige Äste anzusetzen und sich selber dabei zu +vergrößern, entsteht ein solches Verwinden und Drehen der Fasern und +Rinden, daß, wenn man einen solchen Block auseinandersägt und die +Sägefläche glättet, sich die schönste Gestaltung von Farbe und +Zeichnung in Ringen, Flammen und allerlei Schlangenzügen darstellt, +so daß diese Gattung Erlenholz sehr gesucht für Schreinerarbeiten und +sehr kostbar ist. Als ich das Anwesen hier gekauft, die Wiese besehen +und die Erlenblöcke entdeckt hatte, ließ ich einen ausgraben, +auseinandersägen und untersuchte ihn dann. Da fand ich, der ich damals +im Erkennen des Holzes schon mehrere Übung hatte, daß diese Blöcke zu +den schönsten gehören, die bestehen, und daß die feurige Farbe und der +weiche, seidenartige Glanz des Holzes, auf welche Dinge man besonders +das Augenmerk richtet, kaum ihresgleichen haben dürften. Ich ließ +mehrere Blöcke ausgraben und Blätter aus ihnen schneiden. Ihr werdet +die Verwendung derselben in unserer Nachbarschaft sehen, wenn ihr uns +wieder besuchen wollt und uns Zeit gebt, euch dorthin zu führen, wo +sie sind. Die übrigen Blöcke ließ ich in dem Boden als einen Schatz, +der da bleiben und sich vermehren sollte. Nur wenn einer derselben +nicht mehr zu treiben, sondern vielmehr abzusterben beginnt, wird er +herausgenommen und wird zu Blättern geschnitten, welche ich dann zu +künftigen Arbeiten aufbewahre oder verkaufe. An seiner Stelle bildet +sich dann leicht ein anderer. Zu dem Entschlusse, diesen Anwuchs zu +pflegen, kam ich, nachdem ich einerseits vorher nach und nach die +Gegend um unser Haus immer näher kennen gelernt, alle Talmulden und +Bachrinnen erforscht und nirgends auch nur annähernd so brauchbares +Erlenholz gefunden hatte, und nachdem anderseits auch das, was mir auf +mein Verlangen aus mehreren Orten eingesendet worden war, sich dem +unseren als nicht gleichkommend gezeigt hatte. Ich ließ oberhalb +des Erlenwuchses einen Wasserbau aufführen, um die Pflanzung +vor Überschwemmung und Überkiesung zu sichern und das zu sehr +anschwellende Wasser in ein anderes Rinnsal zu leiten. + +Meine Nachbarn sahen das Zweckdienliche der Sache ein, und zwei +derselben legten sogar in öden Gründen, die nicht zu entwässern waren, +solche Erlenpflanzungen an. Mit welchem Erfolge dies geschah, läßt +sich noch nicht ermitteln, da die Pflanzen noch zu jung sind.« + +Wir betrachteten die Reihen dieser Gewächse und gingen dann weiter. + +Wir gingen die Wiese entlang, streiften an einem Gehölze hin, +überschritten den Wasserbau, von dem mein Gastfreund gesprochen hatte, +und begannen nicht nur den Garten, sondern den ganzen Getreidehügel, +auf dem das Haus steht, zu umgehen. + +Da die Sonne immer wärmer, wenn auch nicht gar heiß schien, wunderte +ich mich, daß keiner von meinen zwei Begleitern eine Bedeckung auf dem +Haupte trug. Sie waren ohne einer solchen von dem Hause fortgegangen. +Der alte Mann breitete dem Glanz der Sonne die Fülle seiner weißen +Haare unter, und der Zögling trug auf seinem Scheitel die dichten, +glänzenden braunen Locken. Ich wußte nicht, kamen mir die beiden ohne +Kopfbedeckung sonderbar vor oder ich neben ihnen mit meinem Reisehute +auf dem Haupte. Der Jüngling hatte wenigstens den Vorteil, daß ihm die +Sonne die Wangen noch mehr rötete und noch schöner färbte, als sie +sonst waren. + +Ich betrachtete ihn überhaupt gerne. Sein leichter Gang war ein +heiterer Frühlingstag gegen den zwar auch noch kräftigen, aber +bestimmten und abgemessenen Schritt seines Begleiters, seine schlanke +Gestalt war der fröhliche Anfang, die seines Erziehers das Hinneigen +zum Ende. Was sein Benehmen anbelangt, so war er zurückgezogen und +bescheiden und mischte sich nicht in die Gespräche, außer wenn er +gefragt wurde. Ich wendete mich häufig an ihn und fragte ihn um +verschiedene Dinge, besonders um solche, die die Gegend umher betrafen +und deren Kenntnis ich bei ihm voraussetzen mußte. Er antwortete +sicher und mit einer gewissen Ehrerbietung gegen mich, obwohl ich ihm +an Jahren nicht so ferne stand als sein Erzieher. Er ging meistens, +auch wenn der Weg breit genug gewesen wäre, hinter uns. + + +Als wir den Hügel vollends umgangen hatten und an mehreren ländlichen +Wohnungen vorbeigekommen waren, stiegen wir auf der nehmlichen Seite +und auf dem nehmlichen Wege gegen das Haus empor, auf welchem ich +gestern gegen dasselbe hinangekommen war. Da wir es erreicht hatten, +traten uns die Rosen entgegen, wie sie mir gestern entgegengetreten +waren. Ich nahm von diesem Anblicke Gelegenheit, meinen Gastfreund der +Rosen wegen zu fragen, da ich überhaupt gesonnen war, dieser Blumen +willen einmal eine Frage zu tun. Ich bat ihn, ob wir denn zu besserer +Betrachtung nicht näher auf den großen Sandplatz treten wollten. Wir +taten es und standen vor der ganzen Wand von Blumen, die den unteren +Teil des weißen Hauses deckte. + +Ich sagte, er müsse ein besonderer Freund dieser Blumen sein, da er so +viele Arten hege, und da die Pflanzen hier in einer Vollkommenheit zu +sehen seien wie sonst nirgends. + +»Ich liebe diese Blume allerdings sehr«, antwortete er, »halte sie +auch für die schönste und weiß wirklich nicht mehr, welche von diesen +beiden Empfindungen aus der andern hervorgegangen ist.« + +»Ich wäre auch geneigt«, sagte ich, »die Rose für die schönste Blume +zu halten. Die Camellia steht ihr nahe, dieselbe ist zart, klar und +rein, oft ist sie voll von Pracht; aber sie hat immer für uns etwas +Fremdes, sie steht immer mit einem gewissen vornehmen Anstande da: das +Weiche, ich möchte den Ausdruck gebrauchen, das Süße der Rose hat sie +nicht. Wir wollen von dem Geruche gar nicht einmal reden; denn der +gehört nicht hieher.« + +»Nein«, sagte er, »der gehört nicht hieher, wenn wir von der Schönheit +sprechen; aber gehen wir über die Schönheit hinaus und sprechen wir +von dem Geruche, so dürfte keiner sein, der dem Rosengeruche an +Lieblichkeit gleichkommt.« + +»Darüber könnte nach einzelner Vorliebe gestritten werden«, antwortete +ich, »aber gewiß wird die Rose weit mehr Freunde als Gegner haben. Sie +wird sowohl jetzt geehrt, als sie in der Vergangenheit geehrt wurde. +Ihr Bild ist zu Vergleichen das gebräuchlichste, mit ihrer Farbe wird +die Jugend und Schönheit geschmückt, man umringt Wohnungen mit ihr, +ihr Geruch wird für ein Kleinod gehalten und als etwas Köstliches +versendet, und es hat Völker gegeben, die die Rosenpflege besonders +schätzten, wie ja die waffenkundigen Römer sich mit Rosen kränzten. +Besonders liebenswert ist sie, wenn sie so zur Anschauung gebracht +wird wie hier, wenn sie durch eigentümliche Mannigfaltigkeit und +Zusammenstellung erhöht und ihr gleichsam geschmeichelt wird. Erstens +ist hier eine wahre Gewalt von Rosen, dann sind sie an der großen +weißen Fläche des Hauses verteilt, von der sie sich abheben; vor ihnen +ist die weiße Fläche des Sandes, und diese wird wieder durch das grüne +Rasenband und die Hecke, wie durch ein grünes Samtband und eine grüne +Verzierung, von dem Getreidefelde getrennt.« + +»Ich habe auf diesen Umstand nicht eigens gedacht«, sagte er, »als ich +sie pflanzte, obwohl ich darauf sah, daß sie sich auch so schön als +möglich darstellten.« + +»Aber ich begreife nicht, wie sie hier so gut gedeihen können«, +entgegnete ich. »Sie haben hier eigentlich die ungünstigsten +Bedingungen. Da ist das hölzerne Gitter, an das sie mit Zwang gebunden +sind, die weiße Wand, an der sich die brennenden Sonnenstrahlen +fangen, das Überdach, welches dem Regen, Taue und dem Einwirken des +Himmelsgewölbes hinderlich ist, und endlich hält das Haus ja selber +den freien Luftzug ab.« + +»Wir haben dieses Gedeihen nur nach und nach hervorrufen können«, +antwortete er, »und es sind viele Fehlgriffe getan worden. Wir lernten +aber und griffen die Sache dann der Ordnung nach an. Es wurde die +Erde, welche die Rosen vorzüglich lieben, teils von anderen Orten +verschrieben, teils nach Angabe von Büchern, die ich hiezu anschaffte, +im Garten bereitet. + +Ich bin wohl nicht ganz unerfahren hieher gekommen, ich hatte auch +vorher schon Rosen gezogen und habe hier meine Erfahrungen angewendet. +Als die Erde bereit war, wurde ein tiefer, breiter Graben vor dem +Hause gemacht und mit der Erde gefüllt. Hierauf wurde das hölzerne +Gitter, welches reichlich mit Ölfarbe bestrichen war, daß es von +Wasser nicht in Fäulnis gesetzt werden konnte, aufgerichtet, und eines +Frühlings wurden die Rosenpflanzen, die ich entweder selbst gezogen +oder von Blumenzüchtern eingesendet erhalten hatte, in die lockere +Erde gesetzt. Da sie wuchsen, wurden sie angebunden, im Laufe der +Jahre versetzt, verwechselt, beschnitten und dergleichen, bis sich die +Wand allgemach erfüllte. In dem Garten sind die Vorratsbeete angelegt +worden, gleichsam die Schule, in welcher die gezogen werden, die +einmal hieher kommen sollen. Wir haben gegen die Sonne eine Rolle +Leinwand unter dem Dache anbringen lassen, die durch einige leichte +Züge mit Schnüren in ein Dach über die Rosen verwandelt werden kann, +das nur gedämpfte Strahlen durchläßt. So werden die Pflanzen vor der +zu heißen Sommersonne und die Blumen vor derjenigen Sonne geschützt, +die ihnen schaden könnte. Die heutige ist ihnen nicht zu heiß, ihr +seht, daß sie sie fröhlich aushalten. Was ihr von Tau und Regen sagt, +so steht das Gitter nicht so nahe an dem Hause, daß die Einflüsse des +freien Himmels ganz abgehalten werden. Tau sammelt sich auf den Rosen +und selbst Regen träufelt auf sie herunter. Damit wir aber doch +nachhelfen und zu jener Zeit Wasser geben können, wo es der Himmel +versagt, haben wir eine hohle Walze unter der Dachrinne, die mit +äußerst feinen Löchern versehen ist und aus Tonnen, die unter dem +Dache stehen, mit Wasser gefüllt werden kann. Durch einen leichten +Druck werden die Löcher geöffnet, und das Wasser fällt wie Tau auf die +Rosen nieder. Es ist wirklich ein angenehmer Anblick, zu sehen, wie +in Zeiten hoher Not das Wasser von Blättern und Zweigen rieselt und +dieselben sich daran erfrischen. Und damit es endlich nicht an Luft +gebricht, wie ihr fürchtet, gibt es ein leichtes Mittel. Zuerst ist +auf diesem Hügel ein schwacher Luftzug ohnehin immer vorhanden und +streicht an der Wand des Hauses. Sollten aber die Blumen an ganz +stillen Tagen doch einer Luft bedürfen, so werden alle Fenster des +Erdgeschosses geöffnet, und zwar sowohl an dieser Wand als auch an der +entgegengesetzten. Da nun die entgegengesetzte Seite die nördliche ist +und dort die Luft durch den Schatten abgekühlt wird, so strömt sie bei +jenen Fenstern herein und bei denen der Rosen heraus. Ihr könnt da an +den windstillsten Tagen ein sanftes Fächeln der Blätter sehen.« + +»Das sind bedeutende Anstalten«, erwiderte ich, »und beweisen eure +Liebe zu diesen Blumen; aber aus ihnen allein erklärt sich doch noch +nicht die besondere Vollkommenheit dieser Gewächse, die ich nirgends +gesehen habe, so daß keine unvollkommene Blume, kein dürrer Zweig, +kein unregelmäßiges Blatt vorkommt.« + +»Zum Teile erklärt sich die Tatsache doch wohl aus diesen Anstalten«, +sagte er. »Luft, Sonne und Regen sind durch die südliche Lage des +Standortes und die Vorrichtungen so weit verbessert, als sie hier +verbessert werden können. Noch mehr ist an der Erde getan worden. +Da wir nicht wissen, welches denn der letzte Grund des Gedeihens +lebendiger Wesen überhaupt ist, so schloß ich, daß den Rosen am +meisten gut tun müsse, was von Rosen kömmt. Wir ließen daher seit +jeher alle Rosenabfälle sammeln, besonders die Blätter und selbst die +Zweige der wilden Rosen, welche sich in der ganzen Gegend befinden. +Diese Abfälle werden zu Hügeln in einem abgelegenen Teile unseres +Gartens zusammengetan, den Einflüssen von Luft und Regen ausgesetzt, +und so bereitet sich die Rosenerde. Wenn in einem Hügel sich keine +Spur mehr von Pflanzentum zeigt und nichts als milde Erde vor die +Augen tritt, so wird diese den Rosen gegeben. Die Pflanzen, welche +neu gesetzt werden, erhalten in ihrem Graben gleich so viel Erde, daß +sie auf mehrere Jahre versorgt sind. Ältere Rosen, welche von ihrem +Standboden längere Zeit gezehrt haben, werden mit einer Erneuerung +beteilt. Entweder wird die Erde oberhalb ihrer Wurzeln weggetan und +ihnen neue gegeben, oder sie werden ganz ausgehoben und ihr Standpunkt +durchaus mit frischer Erde erfüllt. Es ist auffällig sichtbar, wie +sich Blatt und Blume an dieser Gabe erfreuen. Aber trotz der Erde und +der Luft und der Sonne und der Feuchtigkeit würdet ihr die Rosen hier +nicht so schön sehen, als ihr sie seht, wenn nicht noch andre Sorgfalt +angewendet würde; denn immer entstehen manche Übel aus Ursachen, die +wir nicht ergründen können oder die, wenn sie auch ergründet sind, +wir nicht zu vereiteln vermögen. Endlich trifft ja die Gewächse wie +alles Lebende der natürliche Tod. Kranke Pflanzen werden nun bei uns +sogleich ausgehoben, in den Garten, gleichsam in das Rosenhospital +getan und durch andere aus der Schule ersetzt. Abgestorbene Bäumchen +kommen hier nicht leicht vor, weil sie schon in der Zeit des +Absterbens weggetan werden. Tötet aber eine Ursache eines schnell, +so wird es ohne Verzug entfernt. Eben so werden Teile, die erkranken +oder zu Grunde gehen, von dem Gitter getrennt. Die beste Zeit ist der +Frühling, wo die Zweige bloß liegen. Da werden Winkelleitern, die uns +den Zugang zu allen Teilen gestatten, angelegt, und es wird das ganze +Gitter untersucht. + +Man reinigt die Rinde, pflegt sie, verbindet ihre Wunden, knüpft die +Zweige an und schneidet das Untaugliche weg. Aber auch im Sommer +entfernen wir gleich jedes fehlerhafte Blatt und jede unvollständige +Blume. Es haben nach und nach alle im Hause eine Neigung zu den Rosen +bekommen, sehen gerne nach und zeigen es sogleich an, wenn sich etwas +Unrechtes bemerken läßt. Auch in der Umgegend hat man Wohlgefallen an +diesen Blumen gefunden, man setzt sie in Gärten und pflegt sie, ich +schenke den Leuten die Pflanzen aus meinen Vermehrungsbeeten und +unterrichte sie in der Behandlung. Zwei Wegestunden von hier ist ein +Bauer, der wie ich eine ganze Wand seines Hauses mit Rosen bepflanzt +hat.« + +»Je mehr es mir wichtig erscheint, wie ihr mit euren Rosen umgeht«, +antwortete ich, »und für je wichtiger ihr sie selbst betrachtet, desto +mehr muß ich doch die Frage tun, warum ihr denn gerade vorzugsweise an +dieser Wand eures Hauses die Rosen zieht, wo ihr Standort doch nicht +so ersprießlich ist, und wo man solche Anstalten machen muß, um ihr +völliges Gedeihen zu sichern. Es ist zwar sehr schön, wie sie sich +hier ausbreiten und darstellen; aber sollte man sie denn im Garten +nicht auch in Stellungen und Gruppen bringen können, die eben so schön +oder schöner wären als diese hier, und noch den Vorteil hätten, daß +ihre Pflege viel leichter wäre?« + +»Ich habe die Rosen an die Wand des Hauses gesetzt«, erwiderte er, +»weil sich eine Jugenderinnerung an diese Blume knüpft und mir die +Art, sie so zu ziehen, lieb macht. Ich glaube, daß mir einzig darum +die Rose so schön erscheint und daß ich darum die große Mühe für diese +Art ihrer Pflege verwende.« + +»Ihr habt nichts von Ungeziefer gesagt«, entgegnete ich. »Nun weiß ich +aber aus Erfahrung, daß kaum eine Pflanzengattung, etwa die Pappel +ausgenommen, so gerne von Ungeziefer heimgesucht wird als die Rose, +die in verschiedenen Arten und Geschlechtern von demselben bewohnt und +entstellt wird. Hier sehe ich von dieser Plage gar nichts, als wäre +sie nicht vorhanden oder als würde die Rose von ihr durch irgendein +künstliches Mittel befreit. Ihr werdet doch nicht so wie jedes kranke +Blatt auch jeden Blattwickler, jede Spinne, jede Blattlaus abnehmen +lassen? + +Dieses bringt mich sogar noch auf einen weiteren Umstand, über den ich +mir eine Frage an euch zu tun vorgenommen habe, welche ich gewiß noch +vor meiner Abreise bei einer schicklichen Gelegenheit getan hätte, +welche ich mir aber jetzt erlaube, da ihr mit solcher Güte und +Bereitwilligkeit mir die Einsicht in die Dinge dieses Landsitzes +gestattet habt. Bei meiner Wanderung durch das flache Land hatte ich +mehrfach Gelegenheit zu bemerken, daß Obstbäume häufig kahle Äste +haben oder daß überhaupt das Laub zerstört oder verunstaltet war, was +von Raupenfraß herrührte. Mir fiel die Sache nicht weiter auf, da ich +sie von Jugend an zu sehen gewohnt war und da sie sich nicht in einem +ungewöhnlichen Grade zeigte; aber das fiel mir auf, daß so wie an +diesen Rosen auch in eurem ganzen Garten nichts von dem Übel zu sehen +ist, kein dürres Reis, kein kahles Zweiglein, kein Stengel eines +abgefressenen Blattes, ja nicht einmal ein verletztes Blatt des +Kohles, dem doch sonst der Weißling so gerne Schaden tut. Im +Angesichte dieses Wohlbefindens kamen mir die Zerstörungen wieder zu +Sinne, die ich in dem Lande gesehen hatte, und ich beschloß, in dieser +Hinsicht eine Frage an euch zu tun, ob ihr denn da eigentümliche +Vorkehrungen habt; denn das Ablesen der Raupen und Insekten hat sich +ja überall als unzulänglich gezeigt.« + +»Wir würden allerdings durch Ablesen des Ungeziefers weder unsere +Rosen noch die Bäume und Gesträuche im Garten vor Verunglimpfung +frei halten können«, antwortete er. »Wir haben nun in der Tat andere +Einrichtungen dagegen. Ich muß euch sagen, daß es mich freut, daß ihr +in meinem Garten die Abwesenheit des Raupenfraßes bemerkt habt, und +ich werde euch recht gerne darüber Aufklärung geben, und besonders +darum, daß es sich auch ausbreiten könne. Die Beantwortung eurer +Frage kann aber am besten in dem Garten geschehen, weil ich euch zur +Bekräftigung gleich manche Vorrichtungen zeigen und die Beweise dartun +kann. Wenn es euch genehm ist, so gehen wir in den Garten, in welchem +auch eine kleine Ruhe auf irgend einem Bänkchen nach dem Gange von dem +Meierhofe herauf nicht unangenehm sein wird.« + +»Einen Augenblick laßt mich noch diese Rosen betrachten«, sagte ich. + +»Tut nach eurem Gefallen«, antwortete er. + +Ich trat zuerst näher an das Gitter, um Einzelnes zu betrachten. Ich +sah nun wirklich die reinliche Erde, in welcher die Stämmchen standen +und die nicht von einem einzigen Gräschen bewachsen war. Ich sah das +gutbestrichene Holzgitter, an welchem die Bäumchen angebunden und an +welchem ihre Zweige ausgebreitet waren, daß sich keine leere Stelle an +der Wand des Hauses zeigte. An jedem Stämmchen hing der Name der Blume +auf Papier geschrieben und in einer gläsernen Hülse hernieder. Diese +gläsernen Hülsen waren gegen den Regen geschützt, indem sie oben +geschlossen, unten umgestülpt und mit einer kleinen Abflußrinne +versehen waren. Nach dieser Betrachtung in der Nähe trat ich wieder +zurück und besah noch einmal die ganze Wand der Blumen durch mehrere +Augenblicke. Nachdem ich dieses getan hatte, sagte ich, daß wir jetzt +in den Garten gehen könnten. + +Wir näherten uns dem Torgitter, der alte Mann tat einen Druck wie +gestern, da er mich eingelassen hatte, das Tor öffnete sich und wir +gingen in den Garten. + +Dort näherten wir uns einer Bank, die in angenehmem nachmittägigem +Schatten stand. Als wir uns auf ihr niedergesetzt hatten, sagte mein +Gastfreund: »Unsere Mittel, die Bäume, Gesträuche und kleineren +Pflanzen vor Kahlheit zu bewahren, sind so einfach und in der Natur +gegründet, daß es eine Schande wäre, sie aufzuzählen, wenn es +andererseits nicht auch wahr wäre, daß sie nicht überall angewendet +werden, besonders das letzte. Was nun das Kahlwerden von Bäumen und +Ästen anlangt, so entsteht es nicht immer durch Raupen, sondern oft +auch auf andern Wegen nach und nach. Gegen ein endliches Sterben und +also Entlaubtwerden des ganzen Baumes gibt es so wenig ein Mittel als +gegen den Tod des Menschen; aber so weit darf man es bei einem Baume +im Garten nicht kommen lassen, daß er tot in demselben dasteht, +sondern wenn man ihm durch Zurückschneiden seiner Äste öfter +Verjüngungskräfte gegeben hat; wenn aber nach und nach dieses Mittel +anfängt, seine Wirkung nicht mehr zu bewähren, so tut man dem Baume +und dem Garten eine Wohltat, wenn man beide trennt. Ein solcher Baum +steht also in einem nur einiger Maßen gut besorgten Garten oder auf +anderem Grunde gar nicht. Damit aber auch nicht Teile eines Baumes +kahl dastehen, haben wir mehrere Mittel. Sie bestehen aber darin, dem +Baume zu geben, was ihm not tut, und ihm zu nehmen, was ihm schadet. +Darum gilt als Oberstes, daß man nie einen Baum an eine Stelle setze, +auf der er nicht leben kann. Auf Stellen, die Bäumen überhaupt das +Leben versagen, setzt wohl kein vernünftiger Mensch einen. Aber +es gibt auch Stellen, die nur darum nicht taugen, weil sie nicht +bearbeitet sind, oder weil ihnen etwas mangelt, was einem bestimmten +Gewächse notwendig ist. Um nun die Stelle gut zu bearbeiten, haben +wir, ehe wir einen Baum setzten, eine so tiefe Grube gegraben und mit +gelockerter Erde gefüllt, daß der Baum bedeutend alt werden konnte, +ehe er genötigt war, seine Wurzeln in unbearbeiteten Boden zu treiben. +Selbst alte Stämme, die ich hier gefunden hatte und deren Zustand mir +nicht gefiel, habe ich durch Herausnehmen, Lockern ihres Standortes +und Wiedereinsetzen zu vortrefflichem Gedeihen gebracht. Aber ehe wir +die Grube gegraben haben, ehe wir den Baum in dieselbe gesetzt haben, +haben wir auch durch Erfahrung oder Bücher herauszubringen gesucht, +was ihm auch nebst der Erde noch not tue und welchen Platz er haben +müsse. Für welchen Baum ein geeigneter Platz im Garten nicht ist, der +soll auch im Garten gar nicht sein. Welche Bäume viele Luft brauchen, +setzten wir in die Luft, die das Licht lieben, in das Licht, die +den Schatten, in den Schatten. In den Schutz der größeren oder +windwiderstandsfähigeren setzten wir diejenigen, welche des Schutzes +bedurften. Die Frost und Reif scheuen, stehen an Wänden oder warmen +Orten. Und auf diese Weise gedeihen nun alle durch ihre Lebenskraft +und natürliche Nahrung. Im Frühlinge wird jeder Stamm und seine +stärkeren Äste durch eine Bürste und gutes Seifenwasser gewaschen und +gereinigt. Durch die Bürste werden die fremden Stoffe, die dem Baume +schaden könnten, entfernt, und das Waschen ist ein nützliches Bad für +die Rinde, die wie die Haut der Tiere von dem höchsten Belange für das +Leben ist, und endlich werden die Stämme dadurch auch schön. Unsere +Bäume haben kein Moos, die Rinde ist klar und bei den Kirschbäumen +fast so fein wie graue Seide.« + + +Ich hatte wohl gesehen, daß alle Bäume eine sehr gesunde Rinde haben; +aber ich hatte dieses mit ihren schönen Blättern und mit ihrem guten +Gedeihen überhaupt als eine notwendige Folge in Zusammenhang gebracht. + +»Wenn nun trotz aller Vorsichten doch einzelne Teile der Bäume durch +Winde, Kälte oder dergleichen kahl werden«, fuhr mein Gastfreund +fort, »so werden dieselben bei dem Beschneiden der Bäume im Frühlinge +entfernt. Der Schnitt wird mit gutem Kitte verstrichen, daß keine +Nässe in das Holz dringen und in dem noch gesunden Teile eine +Krankheit erzeugen kann. Und so würde in einem Garten nie eine +Kahlheit zu erblicken sein, wenn nicht äußere Feinde kämen, die eine +solche zu bewirken trachteten. Derlei Feinde sind Hagel, Wolkenbrüche +und ähnliche Naturerscheinungen, gegen die es keine Mittel gibt. Sie +schaden aber auch nicht so sehr. In unseren Gegenden sind sie selten, +und ihre Wirkungen können auch leicht durch schnelles Beseitigen des +Zerstörten, durch Nachwuchs und Nachpflanzungen unbemerkbar gemacht +werden. Aber gefährlichere Gegner sind die Insekten, diese können die +Güte eines Gartens zerstören, können seine Schönheit entstellen und +ihm in manchen Jahren einen wahrhaft traurigen Anblick geben. Dies ist +der Umstand, von dem ich sagte, daß ich seiner zuletzt Erwähnung tun +werde. Ihr seht, daß unser Garten von der Insektenplage, die ihr, +wie ihr sagt, auf eurer Wanderung an anderen Bäumen bemerkt habt, in +diesem Jahre frei ist.« + +»Ich habe Äpfelbäume an warmen und stillen Orten fast ganz entlaubt +gesehen«, antwortete ich. »Es sind mir mehrere Fälle dieser Art +vorgekommen. Aber daß einzelne Äste entlaubt waren, daß das Laub von +ganzen Bäumen entstellt war, habe ich oft gesehen. Allein ich habe +es für kein großes Übel gehalten, und habe auf kein schlechtes Jahr +geschlossen, weil ich wußte, daß diese Zerstörungen immer vorkommen +und daß ihr Schaden, wenn sie nicht im Übermaße auftreten, nicht +erheblich ist. Ich betrachtete die Erscheinung als ein Ding, das so +sein muß.« + +»Daran möchtet ihr Unrecht getan haben«, sagte mein Gastfreund, »einen +Schaden bringt diese Erscheinung immer, und wenn man ihn nach ganzen +Länderstrichen berechnete, so könnte er ein sehr beträchtlicher sein, +zu dem noch der andere kömmt, daß man den entlaubten Baum anschauen +muß. Auch ist das Ding keine Erscheinung, die so sein muß. Es gibt ein +Mittel dagegen, und zwar ein Mittel, das außer seiner Wirksamkeit auch +noch sehr schön ist und also zum Nutzen einen Genuß beschert, durch +den uns die Natur gleichsam zu seiner Anwendung leiten will. Aber +dennoch, wie ich früher sagte, wird dieses Mittel unter allen am +wenigsten gebraucht, ja man beeifert sich sogar an vielen Orten, es zu +zerstören. Ihr solltet das Mittel schon wahrgenommen haben.« + +Ich sah ihn fragend an. + +»Habt ihr nicht etwas in unserem Garten gehört, das euch besonders +auffallend war?« fragte er. + +»Den Vogelsang«, sagte ich plötzlich. + +»Ihr habt richtig bemerkt«, erwiderte er. »Die Vögel sind in diesem +Garten unser Mittel gegen Raupen und schädliches Ungeziefer. Diese +sind es, welche die Bäume, Gesträuche, die kleinen Pflanzen und +natürlich auch die Rosen weit besser reinigen, als es Menschenhände +oder was immer für Mittel zu bewerkstelligen im Stande wären. Seit +diese angenehmen Arbeiter uns Hilfe leisten, hat sich in unserm +Garten so wie im heurigen Jahre auch sonst nie mehr ein Raupenfraß +eingefunden, der nur im Geringsten bemerkbar gewesen wäre.« + +»Aber Vögel sind ja an allen Orten«, entgegnete ich. »Sollten sie in +eurem Garten mehr sein, um ihn mehr schützen zu können?« + +»Sie sind auch mehr in unserem Garten«, erwiderte er, »weit mehr als +an jeder Stelle dieses Landes und vielleicht auch anderer Länder.« + +»Und wie ist denn diese Mehrheit hieher gebracht worden?« fragte ich. + +»Es ist so, wie ich früher von den Bäumen gesagt habe, man muß ihnen +die Bedingungen ihres Gedeihens geben, wenn man sie an einem Orte +haben will; nur daß man die Tiere nicht erst an den Ort setzen muß +wie die Bäume, sie kommen selber, besonders die Vögel, denen das +Übersiedeln so leicht ist.« + +»Und welche sind denn die Bedingungen ihres Gedeihens?« fragte ich. + +»Hauptsächlich Schutz und Nahrung«, erwiderte er. + +»Wie kann man denn einen Vogel schützen?« fragte ich. + +»Ihn kann man nicht schützen«, sagte mein Gastfreund, »er schützt +sich selber; aber die Gelegenheit zum Schutze kann man ihm geben. Die +Singvögel, welche sich nicht mit Waffen verteidigen können, suchen +gegen Feinde und Wetter Höhlungen in Bäumen, Felsen, Mauern oder +dergleichen auf, die so enge sind, daß ihnen ihr meistens größerer +Feind in dieselben nicht folgen kann, und so tief, daß er auch nicht +mit einem Schnabel oder einer Tatze bis auf den Grund zu langen vermag +- einige, wie die Spechte, machen sich selber die Höhlungen in die +Bäume -, oder sie gehen in solche Dickichte, daß Raubvögel, Wiesel und +ähnliche Verfolger nicht durchzudringen vermögen. Hiebei ist es ihnen +noch mehr um den Schutz ihrer Jungen, die sie in solchen Orten haben, +als um ihren eigenen zu tun. Erst, wenn so gesicherte Stellen nicht zu +finden sind und die Zeit drängt, begnügt sich der Singvogel zum Wohnen +und Brüten mit schlechteren Plätzen. Hat eine Gegend häufige solche +Zufluchtsorte, so darf man sicher schließen, daß sie auch, wenn die +andern Bedingungen nicht fehlen, viele Vögel hat. Denkt nur an ein +altes löcheriges Turmdach, wie ist es von Dohlen und Mauerschwalben +umschwärmt. Will man Vögel in eine Gegend ziehen, so muß man solche +Zufluchtsorte schaffen, und zwar so gut als möglich. Wir können, +wie ihr seht, nicht Felsen und Baumstämme aushöhlen, aber aus Holz +gemachte Höhlungen können wir überall auf die Bäume aufhängen. Und +dies tun wir auch. Wir machen diese Höhlungen tief genug, richten das +Schlupfloch von der Wetterseite weg meistens gegen Mittag und machen +es gerade so weit, daß der Vogel, für den es bestimmt ist, ein und aus +kann. + +Ihr müßt ja derlei in den Bäumen unseres Gartens gesehen haben?« + +»Ich habe sie gesehen«, erwiderte ich, »habe dunkel vermutet, wozu sie +dienen könnten, habe aber die Vorstellung in Folge anderer Eindrücke +wieder aus dem Haupte verloren.« + +»Wenn wir etwa noch einmal ein wenig in dem Garten herumgehn«, sagte +mein Gastfreund, »so werden wir mehrere solche Vogelbehälter sehen. +Den Heckennistern bauen wir ein so dichtes Geflechte von Dornzweigen +und Dornästen in unsere Büsche, daß man meinen sollte, es könne kaum +eine Hummel ein- und ausschlüpfen; aber der Vogel findet doch einen +Eingang und baut sich sein Nest. Solcher Nester könnt ihr mehrere +sehen, wenn ihr wollt. Sie haben das Angenehme, daß man diese +Federfamilien in ihrem Haushalte sieht, was bei den Höhlennistern +nicht angeht. Auf diese Weise schützen wir die kleineren Vögel, die +wir in unserem Garten brauchen. Die großen, welche sich mit Schnabel, +Krallen und Flügeln verteidigen können, sind bei uns eher Feinde als +Freunde und werden nicht geduldet.« + +»Außer dem Schutze«, fuhr er nach einer Weile fort, »brauchen +die Vögel auch Nahrung. Sie meiden die nahrungsarmen Orte und +unterscheiden sich hierdurch von den Menschen, welche zuweilen große +Strecken weit gerade dahin wandern, wo sie ihren Unterhalt nicht +finden. Die Vögel, die für unseren Garten passen, ernähren sich +meistens von Gewürmen und Insekten; aber wenn an einem Platze, der zum +Nisten geeignet ist, die Zahl der Vögel so groß wird, daß sie ihre +Nahrung nicht mehr finden, so wandert ein Teil aus und sucht den +Unterhalt des Lebens anderswo. Will man daher an einem Orte eine so +große Zahl von Vögeln zurückhalten, daß man vollkommen sicher ist, +daß sie auch in den ungezieferreichsten Jahren hinlänglich sind, +um Schaden zu verhüten, so muß man ihnen außer ihrer von der Natur +gegebenen Nahrung auch künstliche mit den eigenen Händen spenden. Tut +man das, so kann man so viele Vögel an einem Platze erziehen, als man +will. Es kömmt nur darauf an, daß man, um seinen Zweck nicht aus den +Augen zu verlieren, nur so viel Almosen gibt, als notwendig ist, +einen Nahrungsmangel zu verhindern. Es ist wohl in dieser Hinsicht im +allgemeinen nicht zu befürchten, daß in der künstlichen Nahrung ein +Übermaß eintrete, da den Tieren ohnehin die Insekten am liebsten sind. +Nur wenn diese Nahrung gar zu reizend für sie gemacht würde, könnte +ein solches Übermaß erfolgen, was leicht an der Vermehrung des +Ungeziefers erkannt werden würde. Einige Erfahrung läßt einen schon +den rechten Weg einhalten. Im Winter, in welchem einige Arten +dableiben, und in Zeiten, wo ihre natürliche Kost ganz mangelt, muß +man sie vollständig ernähren, um sie an den Platz zu fesseln. Durch +unsere Anstalten sind Vögel, die im Frühlinge nach Plätzen suchten, +wo sie sich anbauen könnten, in unserem Garten geblieben, sie sind, +da sie die Bequemlichkeit sahen und Nahrung wußten, im nächsten +Jahre wieder gekommen oder, wenn sie Wintervögel waren, gar nicht +fortgegangen. Weil aber auch die Jungen ein Heimatsgefühl haben und +gerne an Stellen bleiben, wo sie zuerst die Welt erblickten, so +erkoren sich auch diese den Garten zu ihrem künftigen Aufenthaltsorte. +Zu den vorhandenen kamen von Zeit zu Zeit auch neue Einwanderer, und +so vermehrt sich die Zahl der Vögel in dem Garten und sogar in der +nächsten Umgebung von Jahr zu Jahr. Selbst solche Vögel, die sonst +nicht gewöhnlich in Gärten sind, sondern mehr in Wäldern und +abgelegenen Gebüschen, sind gelegentlich gekommen, und da es ihnen +gefiel, dageblieben, wenn ihnen auch manche Dinge, die sonst der Wald +und die Einsamkeit gewähren, hier abgehen mochten. Zur Nahrung rechnen +wir auch Licht, Luft und Wärme. Diese Dinge geben wir nach Bedarf +dadurch, daß wir die Bauplätze zu den Nestern an den verschiedensten +Stellen des Gartens anbringen, damit sich die Paare die wärmeren oder +kühleren, luftigeren oder sonnigeren aussuchen können. Für welche +keine taugliche Stelle möglich ist, die sind nicht hier. Es sind das +nur solche Vögel, für welche die hiesigen Landstriche überhaupt nicht +passen, und diese Vögel sind dann auch für unsere Landstriche nicht +nötig. Zu den geeigneten Zeiten besuchen uns auch Wanderer und +Durchzügler, die auf der Jahresreise begriffen sind. + +Sie hätten eigentlich keinen Anspruch auf eine Gabe, allein da sie +sich unter die Einwohner mischen, so essen sie auch an ihrer Schüssel +und gehen dann weiter.« + +»Auf welche Weise gebt ihr denn den Tieren die nötige Nahrung?« fragte +ich. + +»Dazu haben wir verschiedene Einrichtungen«, sagte er. »Manche von den +Vögeln haben bei ihrem Speisen festen Boden unter den Füßen, wie die +Spechte, die an den Bäumen hacken, und solche, die ihre Nahrung auf +der platten Erde suchen; andere, besonders die Waldvögel, lieben das +Schwanken der Zweige, wenn sie essen, da sie ihr Mahl in eben diesen +Zweigen suchen. Für die ersten streut man das Futter auf was immer für +Plätze, sie wissen dieselben schon zu finden. Den anderen gibt man +Gitter, die an Schnüren hängen, und in denen, in kleine Tröge gefüllt +oder auf Stifte gesteckt, die Speise ist. Sie fliegen herzu und +wiegen sich essend in dem Gitter. Die Vögel werden auch nach und nach +zutraulich, nehmen es endlich nicht mehr so genau mit dem Tische, und +es tummeln sich Festfüßler und Schaukler auf der Fütterungstenne, die +neben dem Gewächshause ist, wo ihr mich heute morgen gesehen habt.« + +»Ich habe das von heute morgen mehr für zufällig als absichtlich +gehalten«, sagte ich. + +»Ich tue es gerne, wenn ich anwesend bin«, erwiderte er, »obwohl es +auch andere tun können. Für die ganz schüchternen, wie meistens die +neuen Ankömmlinge und die ganz und gar eingefleischten Waldvögel sind, +haben wir abgelegene Plätze, an die wir ihnen die Nahrung tun. Für die +vertraulicheren und umgänglicheren bin ich sogar auf eine sehr bequeme +und annehmliche Verfahrungsweise gekommen. Ich habe in dem Hause ein +Zimmer, vor dessen Fenster Brettchen befestigt sind, auf welche ich +das Futter gebe. Die Federgäste kommen schon herzu und speisen vor +meinen Augen. Ich habe dann auch das Zimmer gleich zur Speisekammer +eingerichtet und bewahre dort in Kästen, deren kleine Fächer mit +Aufschriften versehen sind, dasjenige Futter, das entweder in +Sämereien besteht oder dem schnellen Verderben nicht ausgesetzt ist.« + +»Das ist das Eckzimmer«, sagte ich, »das ich nicht begriff, und dessen +Brettchen ich für Blumenbrettchen ansah und doch für solche nicht +zweckmäßig fand.« + +»Warum habt ihr denn nicht gefragt?« erwiderte er. + +»Ich nahm es mir vor und habe wieder darauf vergessen«, antwortete +ich. + +»Da die meisten Sänger von lebendigen Tierchen leben«, setzte er seine +Erzählung fort, »so ist es nicht ganz leicht, die Nahrung für alle +zu bereiten. Da aber doch ein großer Teil nebst dem Ungeziefer +auch Sämereien nicht verschmäht, so sind in der Speisekammer alle +Sämereien, welche auf unseren Fluren und in unseren Wäldern reifen und +werden, wenn sie ausgehen oder veralten, durch frische ersetzt. Für +solche, welche die Körner nicht lieben, wird der Abgang durch Teile +unseres Mahles, zartes Fleisch, Obst, Eierstückchen, Gemüse und +dergleichen, ersetzt, was unter die Körner gemischt wird. Die +Kohlmeise erhält sehr gerne, wenn sie tätig ist, und besonders, +wenn sie um ihre Jungen sich gut annimmt, ein Stückchen Speck zur +Belohnung, den sie außerordentlich liebt. Auch Zucker wird zuweilen +gestreut. Für den Trank ist im Garten reichlich gesorgt. In jede +Wassertonne geht schief ein befestigter Holzsteg, an welchem sie zu +dem Wasser hinabklettern können. In den Gebüschen sind Steinnäpfe, in +die Wasser gegossen wird, und in dem Dickichte an der Abendseite des +Gartens ist ein kleines Quellchen, das wir mit steinernen Rändern +eingefaßt haben.« + +»Da habt ihr ja Arbeit und Sorge in Fülle mit diesen Gartenbewohnern«. +sagte ich. + +»Es übt sich leicht ein«, antwortete er, »und der Lohn dafür ist sehr +groß. Es ist kaum glaublich, zu welchen Erfahrungen man gelangt, wenn +man durch mehrere Jahre diese gefiederten Tiere hegt und gelegentlich +die Augen auf ihre Geschäftigkeit richtet. Alle Mittel, welche die +Menschen ersonnen haben, um die Gewächse vor Ungeziefer zu bewahren, +so trefflich sie auch sein mögen, so fleißig sie auch angewendet +werden, reichen nicht aus, wie es ja in der Lage der Sache gegründet +ist. Wie viele Hände von Menschen müßten tätig sein, um die +unzählbaren Stellen, an deren sich Ungeziefer erzeugt, zu entdecken +und die Mittel auf sie anzuwenden. Ja, die ganz gereinigten Stellen +geben auf die Dauer keine Sicherheit und müssen stets von neuem +untersucht worden. In den verschiedensten Zeiten und unbeachtet +entwickeln sich die Insekten auf Stengeln, Blättern, Blüten, unter der +Rinde und breiten sich unversehens und schnell aus. Wie könnte man da +die Keime entdecken und vor ihrer Entwicklung vernichten? Oft sind die +schädlichen Tierchen so klein, daß wir sie mit unseren Augen kaum zu +entdecken vermögen, oft sind sie an Orten, die uns schwer zugänglich +sind, zum Beispiele in den äußersten Spitzen der feinsten Zweige der +Bäume. Oft ist der Schaden in größter Schnelligkeit entstanden, wenn +man auch glaubt, daß man seine Augen an allen Stellen des Gartens +gehabt, daß man keine unbeachtet gelassen und daß man seine Leute +zur genauesten Untersuchung angeeifert hat. Zu dieser Arbeit ist von +Gott das Vogelgeschlecht bestimmt worden und insbesondere das der +kleinen und singenden, und zu dieser Arbeit reicht auch nur das +Vogelgeschlecht vollkommen aus. Alle Eigenschaften der Insekten, +von denen ich gesprochen habe, ihre Menge, ihre Kleinheit, ihre +Verborgenheit und endlich ihre schnelle und plötzliche Entwicklung +schützen sie gegen die Vögel nicht. Sprechen wir von der Menge. Alle +Singvögel, wenn sie auch später Sämereien fressen, nähren doch ihre +Jungen von Raupen, Insekten, Würmern, und da diese Jungen so schnell +wachsen und so zu sagen unaufhörlich essen, so bringt ein einziges +Paar in einem einzigen Tage eine erkleckliche Menge von solchen +Tierchen in das Nest, was erst hundert Paare in zehn, vierzehn, +zwanzig Tagen! So lange brauchen ungefähr die Jungen zum Flüggewerden. +Und alle Stellen, wie zahlreich sie auch sein können, werden von den +geschäftigen Eltern durchsucht. Sprechen wir von der Kleinheit der +Tierchen. Sie oder ihre Larven und Eier mögen noch so klein sein, von +den scharfen, spähenden Augen eines Vogels werden sie entdeckt. Ja +manche Vögel, wie das Goldhähnchen, der Zaunkönig, dürfen ihren Jungen +nur die kleinsten Nahrungsstückchen bringen, weil dieselben, wenn sie +dem Ei entschlüpft sind, selber kaum so groß wie eine Fliege oder +eine kleine Spinne sind. Gehen wir endlich auf die Abgelegenheit und +Unerreichbarkeit der Aufenthaltsorte der Insekten über, so sind sie +dadurch nicht vor dem Schnabel der Vögel geschützt, wenn sie für +ihre Jungen oder sich Nahrung brauchen. Was wäre einem Vogel leicht +unzugänglich? In die höchsten Zweige schwingt er sich empor, an der +Rinde hält er sich und bohrt in sie, durch die dichtesten Hecken +dringt er, auf der Erde läuft er, und selbst unter Blöcke und +Steingerölle dringt er. Ja, einmal sah ich einen Buntspecht im Winter, +da die Äste zu Stein gefroren schienen, auf einen solchen mit Gewalt +loshämmeren und sich aus dessen Innern die Nahrung holen. Die Spechte +zeigen auf diese Weise - ich sage es hier nebenbei - auch die Äste +an, die morsch und vom Gewürme ergriffen sind, und daher weggeschafft +werden müssen. + +Was zuletzt den unvorhergesehenen und plötzlichen Raupenfraß anlangt, +den der Mensch zu spät entdeckt, so kann er sich nicht einstellen, da +die Vögel überall nachsehen und bei Zeiten abhelfen.« + +»Wie sehr diese Tiere für das Ungeziefer geschaffen sind«, sagte er +nach einer Weile, »zeigt sich aus der Beobachtung, daß sie die Arbeit +unter sich teilen. Die Blaumeise und die Tannenmeise entdeckt die Brut +der Ringelraupe und anderer Raupengattungen an den äußersten Spitzen +der Zweige, wo sie unter der Rinde verborgen ist, indem sie, sich +an die Zweige hängend, dieselben absucht, die Kohlmeise durchsucht +fleißig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeise klettert Stamm auf +Stamm ab und holt die versteckten Eier hervor, der Finke, der gerne in +den Nadelbäumen nistet, weshalb auch solche Bäume in dem Garten sind, +geht gleichwohl gerne von ihnen herab und läuft den Gängen der Käfer +und der gleichen nach, und ihn unterstützen oder übertreffen vielmehr +die Ammerlinge, die Grasmücken, die Rotkehlchen, die auf der Erde +unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nahrung suchen und finden. Sie +beirren sich wechselseitig nicht und lassen in ihrer unglaublichen +Tätigkeit nicht nach, ja sie scheinen sich eher darin einander +anzueifern. Ich habe nicht eigens Beobachtungen angestellt; aber wenn +man mehrere Jahre unter den Tieren lebt, so gibt sich die Betrachtung +von selber.« + +»Auch einen eigentümlichen Gedanken«, fuhr er fort, »hat das Walten +dieser Tiere in mir erweckt oder vielmehr bestärkt; denn ich hatte +ihn schon längst. Allen Tatsachen, die wichtig sind, hat Gott +außer unserem Bewußtsein ihres Wertes auch noch einen Reiz für uns +beigesellt, der sie annehmlich in unser Wesen gehen läßt. + +Diesen Tierchen nun, die so nützlich sind, hat er, ich möchte sagen, +die goldene Stimme mitgegeben, gegen die der verhärtetste Mensch nicht +verhärtet genug ist. Ich habe in unserem Garten mehr Vergnügen gehabt +als manchmal in Sälen, in denen die kunstreichste Musik aufgeführt +wurde, die selten zu hören ist. Zwar singt ein Vogel in einem Käfige +auch; denn der Vogel ist leichtsinnig, er erschrickt zwar heftig, er +fürchtet sich; aber bald ist der Schrecken und die Furcht vergessen, +er hüpft auf einen Halt für seine Füße und trällert dort das Lied, das +er gelernt hat und das er immer wiederholt. Wenn er jung und sogar +auch alt gefangen wird, vergißt er sich und sein Leid, wird ein Hin- +und Widerhüpfer in kleinem Raume, da er sonst einen großen brauchte, +und singt seine Weise; aber dieser Gesang ist ein Gesang der +Gewohnheit, nicht der Lust. Wir haben an unserm Garten einen +ungeheueren Käfig ohne Draht, Stangen und Vogeltürchen, in welchem der +Vogel vor außerordentlicher Freude, der er sich so leicht hingibt, +singt, in welchem wir das Zusammentönen vieler Stimmen hören können, +das in einem Zimmer beisammen nur ein Geschrei wäre, und in welchem +wir endlich die häusliche Wirtschaft der Vögel und ihre Gebärden +sehen können, die so verschieden sind und oft dem tiefsten Ernste ein +Lächeln abgewinnen können. Man hat uns in diesem Hegen von Vögeln in +einem Garten nicht nachgeahmt. Die Leute sind nicht verhärtet gegen +die Schönheit des Vogels und gegen seinen Gesang, ja diese beiden +Eigenschaften sind das Unglück des Vogels. Sie wollen dieselben +genießen, sie wollen sie recht nahe genießen, und da sie keinen Käfig +mit unsichtbaren Drähten und Stangen machen können wie wir, in dem sie +das eigentliche Wesen des Vogels wahrnehmen könnten, so machen sie +einen mit sichtbaren, in welchem der Vogel eingesperrt ist und +seinem zu frühen Tode entgegen singt. Sie sind auf diese Weise nicht +unfühlsam für die Stimme des Vogels, aber sie sind unfühlsam für +sein Leiden. Dazu kommt noch, daß es der Schwäche und Eitelkeit des +Menschen, besonders der Kinder, angenehm ist, eines Vogels, der durch +seine Schwingen und seine Schnelligkeit gleichsam aus dem Bereiche +menschlicher Kraft gezogen ist, Herr zu werden und ihn durch Witz und +Geschicklichkeit in seine Gewalt zu bringen. Darum ist seit alten +Zeiten der Vogelfang ein Vergnügen gewesen, besonders für junge Leute; +aber wir müssen sagen, daß es ein sehr rohes Vergnügen ist, das man +eigentlich verachten sollte. Freilich ist es noch schlechter und +muß ohne weiteres verabscheut werden, wenn man Singvögel nicht des +Gesanges wegen fängt, sondern sie fängt und tötet, um sie zu essen. +Die unschuldigsten und mitunter schönsten Tiere, die durch ihren +einschmeichelnden Gesang und ihr liebliches Benehmen ohnehin unser +Vergnügen sind, die uns nichts anders tun als lauter Wohltaten, werden +wie Verbrecher verfolgt, werden meistens, wenn sie ihrem Triebe +der Geselligkeit folgen, erschossen, oder, wenn sie ihren nagenden +Hunger stillen wollen, erhängt. Und dies geschieht nicht, um ein +unabweisliches Bedürfnis zu erfüllen, sondern einer Lust und Laune +willen. Es wäre unglaublich, wenn man nicht wüßte, daß es aus Mangel +an Nachdenken oder aus Gewohnheit so geschieht. Aber das zeigt eben, +wie weit wir noch von wahrer Gesittung entfernt sind. Darum haben +weise Menschen bei wilden Völkern und bei solchen, die ihre Gierde +nicht zu zähmen wußten oder einen höheren Gebrauch von ihren Kräften +noch nicht machen konnten, den Aberglauben aufgeregt, um einen Vogel +seiner Schönheit oder Nützlichkeit willen zu retten. So ist die +Schwalbe ein heiliger Vogel geworden, der dem Hause Segen bringt, +das er besucht, und den zu töten Sünde ist. Und selten dürfte es ein +Vogel mehr verdienen als die Schwalbe, die so wunderschön ist und so +unberechenbaren Nutzen bringt. So ist der Storch unter göttlichen +Schutz gestellt, und den Staren hängen wir hölzerne Häuser in unsere +Bäume. Ich hoffe, daß, wenn unseren Nachbarn die Augen über den Erfolg +und den Nutzen des Hegens von Singvögeln aufgehen, sie vielleicht auch +dazu schreiten werden, uns nachzuahmen; denn für Erfolg und Nutzen +sind sie am empfänglichsten. Ich glaube aber auch, daß unsere +Obrigkeiten das Ding nicht gering achten sollten, daß ein strenges +Gesetz gegen das Fangen und Töten der Singvögel zu geben wäre und +daß das Gesetz auch mit Umsicht und Strenge aufrecht erhalten werden +sollte. Dann würde dem menschlichen Geschlechte ein heiligendes +Vergnügen aufbewahrt bleiben, wir würden durch die Länder wie durch +schöne Gärten gehen, und die wirklichen Gärten würden erquickend +dastehen, in keinem Jahre leiden und in besonders unglücklichen nicht +den Anblick der gänzlichen Kahlheit und der traurigen Verödung zeigen. +Wollt ihr nicht auch ein wenig unsere gefiederten Freunde ansehen?« + +»Sehr gerne«, sagte ich. + + +Wir standen von dem Sitze auf und gingen mehr in die Tiefe den Gartens +zurück. + +Das vielstimmige Vogelgezwitscher durch den Garten und das helle +Singen in unserer Nähe, welches mir gestern nachmittags da ich es in +das Zimmer hinein gehört hatte, seltsam gewesen war, erschien mir nun +sehr lieblich, ja ehrwürdig, und wenn ich einen Vogel durch einen Baum +huschen sah oder über einen Sandweg laufen, so erfüllte es mich mit +einer Gattung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer Hecke, wies +mit dem Finger hinein und sagte: »Seht!« + +Ich antwortete, daß ich nichts sähe. + +»Schaut nur genauer«, sagte er, indem er mit dem Finger neuerdings die +Richtung wies. + +Ich sah nun unter einem äußerst dichten Dornengeflechte, welches +in die Hecke gemacht worden war, ein Nest. In dem Neste saß ein +Rotkehlchen, wenigstens dem Rücken nach zu urteilen. Es flog nicht +auf, sondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen uns und sah mit +den schwarzen, glänzenden Augen unerschrocken und vertraulich zu uns +herauf. + +»Dieses Rotkehlchen sitzt auf seinen Eiern«, sagte mein Begleiter, +»es ist eine Spätehe, wie sie öfter vorkommen. Ich besuche es schon +mehrere Tage und lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das +weiß der Schelm, darum frägt er mich schon darnach und fürchtet den +Fremden nicht, der bei mir ist.« + +In der Tat, das Tierchen blieb ruhig in seinem Neste und ließ sich +durch unser Reden und durch unsere Augen nicht beirren. + +»Man muß eigentlich ehrlich gegen sie sein«, sagte mein Gastfreund; +»aber ich habe keine Larve in der Hand, darum bitte ich dich, Gustav, +gehe in das Haus und hole mir eine.« + +Der Jüngling wendete sich schnell um und eilte in das Haus. + +Indessen führte mich mein Begleiter eine Strecke vorwärts und zeigte +mir neuerdings in einer Hecke unter Dornen ein Nest, in welchem eine +Ammer saß. + +»Diese sitzt auf ihren Jungen, die noch kaum die ersten Härchen haben, +und erwärmt sie«, sagte mein Begleiter. »Sie kann nicht viel von ihnen +weg, darum bringt den meisten Teil der Nahrung der Vater herbei. Nach +einigen Tagen aber werden sie schon so stark, daß sie der Mutter +überall hervor sehen, wenn sie sich auch zeitweilig auf sie setzt.« + +Auch die Ammer flog bei unserer Annäherung nicht auf, sondern sah uns +ruhig an. + +So zeigte mir mein Begleiter noch ein paar Nester, in denen Junge +waren, die, wenn sie sich allein befanden, auf das Geräusch unserer +Annäherung die gelben Schnäbel aufsperrten und Nahrung erwarteten. In +zwei anderen waren Mütter, die bei unserem Herannahen nicht aufflogen. +Da wir im Vorbeigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern ätzten, +ließen sich diese nicht von ihrem Geschäfte abhalten, flogen herzu und +nährten in unserer Gegenwart die Kinder. + +»Ich habe euch jetzt Nester gezeigt, die noch bevölkert sind«, sagte +mein Gastfreund, »die meisten sind schon leer, die Jugend flattert +bereits in dem Garten herum und übt sich zur Herbstreise. Die Nester +sind zahlreicher als man vermutet, wir besuchen nur die, die uns bei +der Hand sind.« + +Indessen war Gustav mit der verlangten Larve gekommen und gab sie dem +alten Manne in die Hand. Dieser ging zu der Hecke, in welcher das Nest +des Rotkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg daneben. Kaum +hatte er sich entfernt und war zu uns getreten, die wir in der Nähe +standen, so schlüpfte das Rotkehlchen unter den untersten Ästen der +Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm sie und lief wieder in die +Hecke zurück. + +Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei diesem Vorfalle überkam. +Mein Gastfreund erschien mir wie ein weiser Mann, der sich zu einem +niedreren Geschöpfe herabläßt. + +Auch der Jüngling Gustav war sehr heiter und zeigte Freude, wenn er +in die Büsche blickte, in denen eine Wohnung war. Es war mir dies ein +Beweis, daß das Zerstören der Vogelnester durch Wegnahme der Eier +oder der Jungen und das Fangen der Vögel überhaupt den Kindern nicht +angeboren ist, sondern daß dieser Zerstörungstrieb, wenn er da ist, +von Eltern oder Erziehern hervorgerufen und in diese Bahn geleitet +wurde, und daß er durch eine bessere Erziehung sein Gegenteil wird. + +Wir schritten weiter. In einer kleinen Fichte, die am Rande des +Gartens stand, zeigten sie mir noch eine Finkenwohnung, die an dem +Stamme in das Geflechte teils hervorgewachsener, teils künstlich +eingefugter Äste und Zweige gebaut war. An anderen Bäumen sahen wir +auch in die aufgehängten Behälter Vögel aus- und einschlüpfen. Mein +Begleiter sagte, daß, wenn ich nur länger hier wäre, mir selbst die +Sitten der Vögel verständlicher werden würden. + +Ich erwiderte, daß ich schon Mehreres aus meinen Reisen im Gebirge und +aus meinen früheren Beschäftigungen in den Naturwissenschaften kenne. + +»Das ist doch immer weniger«, sagte mein Gastfreund, »als was man +durch das lebendige Beisammenleben inne wird.« + +Es wurden einige Behälter, die mit aus Ruten geflochtenen Seilen an +Bäumen befestigt waren und von denen man wußte, daß sie nicht mehr +bewohnt seien, herabgenommen und auseinander gelegt, damit ich ihre +Einrichtung sähe. Es war nur eine einfache Höhlung, die aus zwei +halbhohlen Stücken bestand, die man mittelst Ringen, die enger zu +schrauben waren, aneinanderpressen konnte. + +»Kein Singvogel«, sagte mein Begleiter, »geht in ein fertiges Nest, +es mag nun dasselbe in einer früheren Zeit von ihm selber oder einem +anderen Vogel gebaut worden sein, sondern er verfertigt sich sein +Nest in jedem Frühlinge neu. Deshalb haben wir die Behälter aus zwei +Teilen machen lassen, daß wir sie leicht auseinander nehmen und die +veralteten Nester heraustun können. Auch zum Reinigen der Behälter ist +diese Einrichtung sehr tauglich; denn wenn sie unbewohnt sind, nimmt +allerlei Ungeziefer seine Zuflucht zu diesen Höhlungen, und der Vogel +scheut Unrat und verdorbene Luft und würde eine unreine Höhlung nicht +besuchen. Im letzten Teile des Winters, wenn der Frühling schon in +Aussicht steht, werden alle diese Behälter herabgenommen, auf das +Sorgfältigste gescheuert und in Stand gesetzt. Im Winter sind sie +darum auf den Bäumen, weil doch mancher Vogel, der nicht abreist, +Schutz in ihnen sucht. Die alten Nester werden zerfasert und gegen +den Frühling ihre Bestandteile mit neuen vermehrt in dem Garten +ausgestreut, damit die Familien Stoff für ihre Häuser finden.« + +Ich sah im Vorübergehen auch die Kletterstäbchen in den Wassertonnen, +und im Gebüsche fanden wir das kleine rieselnde Wässerlein. + + +Als wir uns auf dem Rückwege zum Hause befanden, sagte mein Begleiter: +»Ich habe noch eine Art Gäste, die ich füttere, nicht daß sie mir +nützen, sondern daß sie mir nicht schaden. Gleich in der ersten Zeit +meines Hierseins, da ich eine sogenannte Baumschule anlegte, nehmlich +ein Gärtchen, in welchem die zur Veredlung tauglichen Stämmchen +gezogen wurden, habe ich die Bemerkung gemacht, daß mir im Winter +die Rinde an Stämmchen abgefressen wurde, und gerade die beste und +zarteste Rinde an den besten Stämmchen. Die Übeltäter wiesen sich +teils durch ihre Spuren im Schnee, teils, weil sie auch auf frischer +Tat ertappt wurden, als Hasen aus. Das Verjagen half nicht, weil sie +wieder kamen und doch nicht Tag und Nacht jemand in der Baumschule +Wache stehen konnte. Da dachte ich: die armen Diebe fressen die Rinde +nur, weil sie nichts Besseres haben, hätten sie es, so ließen sie die +Rinde stehen. Ich sammelte nun alle Abfälle von Kohl und ähnlichen +Pflanzen, die im Garten und auf den Feldern übrig blieben, bewahrte +sie im Keller auf und legte sie bei Frost und hohem Schnee teilweise +auf die Felder außerhalb des Gartens. Meine Absicht wurde belohnt: +die Hasen fraßen von den Dingen und ließen unsere Baumschule in +Ruhe. Endlich wurde die Zahl der Gäste immer mehr, da sie die +wohleingerichtete Tafel entdeckten; aber weil sie mit dem +Schlechtesten, selbst mit den dicken Strünken des Kohles, zufrieden +waren und ich mir solche von unseren Feldern und von Nachbarn leicht +erwerben konnte, so fragte ich nichts darnach und fütterte. Ich +sah ihnen oft aus dem Dachfenster mit dem Fernrohre zu. Es ist +possierlich, wenn sie von der Ferne herzulaufen, dem bequem +daliegenden Fraße mißtrauen, Männchen machen, hüpfen, dann aber sich +doch nicht helfen können, herzustürzen und von dem Zeuge hastig +fressen, das sie im Sommer nicht anschauen würden. Manche Leute legten +Schlingen, da sie wußten, daß hier Hasen zusammenkamen. Aber da wir +sehr sorgfältig nachspürten und die Schlingen wegnehmen ließen, da +ich auch verbot, über unsere Felder zu gehen, und die Betroffenen +zur Verantwortung zog, verlor sich die Sache wieder. Auch den Vögeln +legten Buben in unserer Nähe Schlingen; aber das half sehr wenig, da +die Vögel in unserem Garten sehr gute Kost hatten und nach der fremden +Lockspeise nicht ausgingen. Die Beute an Vögeln war daher nie groß, +und mit einiger Aufsicht und Wachsamkeit, die wir in den ersten Jahren +einleiteten, geschah es, daß dieser Unfug auch bald wieder aufhörte.« + +Der alte Mann lud mich ein, in das Haus zu gehen und die +Fütterungskammer anzusehen. + +Auf dem Wege dahin sagte er: »Unter die Feinde der Sänger gehören auch +die Katzen, Hunde, Iltisse, Wiesel, Raubvögel. Gegen letzte schützen +die Dornen und die Nestbehälter, und Hunde und Katzen werden in unserm +Hause so erzogen, daß sie nicht in den Garten gehen, oder sie werden +ganz von dem Hause entfernt.« + + +Wir waren indessen in das Haus gekommen und gingen in das Eckzimmer, +in welchem ich die vielen Fächer gesehen hatte. Mein Begleiter zeigte +mir die Vorräte, indem er die Fächer herauszog und mir die Sämereien +wies. Die Speisen, welche eben nicht in Sämereien bestehen, wie Eier, +Brot, Speck, werden beim Bedarfe aus der Speisekammer des Hauses +genommen. + +»Meine Nachbaren äußerten schon«, sagte mein Begleiter, »daß außer der +Mühe, die das Erhalten der Singvögel macht, auch die Kosten zu ihrer +Ernährung in keinem Verhältnisse zu ihrem Nutzen stehen. Aber das ist +unrichtig. Die Mühe ist ein Vergnügen, das wird der, welcher einmal +anfängt, bald inne werden; so wie der Blumenfreund keine Mühe, sondern +nur Pflege kennt, welche zudem bei den Blumen viel mehr Tätigkeit in +Anspruch nimmt als das Ziehen der Gesangvögel im Freien; die Kosten +aber sind in der Tat nicht ganz unbedeutend; allein wenn ich die +edlen Früchte eines einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen +der Vögel wegen nicht abgefressen haben, verkaufe, so deckt der +Kaufschilling die Nahrungskosten der Sänger ganz und gar. Freilich ist +der Nutzen desto größer, je edler das Obst ist, welches in dem Garten +gezogen wird, und dazu, daß sie edles Obst in dieser Gegend ziehen, +sind sie schwer zu bewegen, weil sie meinen, es gehe nicht. Wir müssen +ihnen aber zeigen, daß es geht, indem wir ihnen die Früchte weisen und +zu kosten geben, und wir müssen ihnen zeigen, daß es nützt, indem wir +ihnen Briefe unserer Handelsfreunde weisen, die uns das Obst abgekauft +haben. Von den Stämmchen, die in unserer Obstschule wachsen, geben wir +ihnen ab und unterrichten sie, wie und auf welchen Platz sie gesetzt +werden sollen.« + +»Wenn wieder einmal ein Jahr kommen sollte wie das, welches wir vor +fünf Jahren hatten«, fuhr er fort, »es war ein schlimmes Jahr, heiß +mit wenig Regen und ungeheurem Raupenfraß. Die Bäume in Rohrberg, in +Regau, in Landegg und Pludern standen wie Fegebesen in die Höhe, und +die grauen Fahnen der Raupennester hingen von den entwürdigten Ästen +herab. Unser Garten war unverletzt und dunkelgrün, sogar jedes Blatt +hatte seine natürliche Ränderung und Ausspitzung. Wenn noch einmal +ein solches Jahr käme, was Gott verhüte, so würden sie wieder ein +Stückchen Erfahrung machen, das sie das erste Mal nicht gemacht +haben.« + +Ich sah unterdessen die Sämereien und die Anstalten an, fragte manches +und ließ mir manches erklären. + +Wir verließen hierauf das Zimmer, und da wir auf dem Gange waren und +gegen Gustavs Zimmer gingen, sagte er: »Daß auch unnütze Glieder +herbeikommen, Müßiggänger, Störefriede, das begreift sich. Ein großer +Händelmacher ist der Sperling. Er geht in fremde Wohnungen, balgt +sich mit Freund und Feind, ist zudringlich zu unsern Sämereien und +Kirschen. Wenn die Gesellschaft nicht groß ist, lasse ich sie gelten +und streue ihnen sogar Getreide. Sollten sie hier aber doch zu viel +werden, so hilft die Windbüchse, und sie werden in den Meierhof +hinabgescheucht. Als einen bösen Feind zeigte sich der Rotschwanz. +Er flog zu dem Bienenhause und schnappte die Tierchen weg. Da half +nichts, als ihn ohne Gnade mit der Windbüchse zu töten. Wir ließen +beinahe in Ordnung Wache halten und die Verfolgung fortsetzen, bis +dieses Geschlecht ausblieb. Sie waren so klug, zu wissen, wo Gefahr +ist, und gingen in die Scheunen, in die Holzhütte des Meierhofes und +die Ziegelhütte, wo die großen Wespennester unter dem Dache sind. Wir +lassen auch darum im Meierhofe und anderen entfernteren Orten die +grauen Kugeln solcher Nester, die sich unter den Latten und Sparren +der Dächer oder Dachvorsprünge ansiedeln, nicht zerstören, damit sie +diese Vögel hinziehen.« + + +Während dieses Gespräches waren wir in dem Gange der Gastzimmer zu der +Tür gekommen, die in Gustavs Wohnung führte. Mein Gastfreund fragte, +ob ich diese Wohnung nicht jetzt besehen wollte, und wir traten ein, + +Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Arbeitszimmer und einem +Schlafzimmer. Beide waren, wie es bei solchen Zimmern selten der Fall +ist, sehr in Ordnung. Sonst war ihr Geräte sehr einfach. Bücherkästen, +Schreib- und Zeichnungsgeräte, ein Tisch, Schreine für die Kleider, +Stühle und das Bett. Der Jüngling stand fast errötend da, da ein +Fremder in seiner Wohnung war. Wir entfernten uns bald, und der +Bewohner machte uns die leichte, feine Verbeugung, die ich gestern +schon an ihm bemerkt hatte, weil er uns nicht mehr begleiten, sondern +in den Zimmern zurückbleiben wollte, in welchen er noch Arbeit zu +verrichten hatte. + +»Ihr könnt nun auch die Gastzimmer besuchen«, sagte mein Begleiter, +»dann habt ihr alle Räume unseres Hauses gesehen.« + +Ich willigte ein. Er nahm ein kleines silbernes Glöcklein aus seiner +Tasche und läutete. + +Es erschien in kurzem eine Magd, von welcher er die Schlüssel der +Zimmer verlangte. Sie holte dieselben und brachte sie an einem Ringe, +von welchem einzelne los zu lösen waren. Jeder trug die Zahl seines +Zimmers auf sich eingegraben. Nachdem mein Beherberger die Magd +verabschiedet hatte, schloß er mir die einzelnen Zimmer auf. Sie waren +einander vollkommen gleich. Sie waren gleich groß, jedes hatte zwei +Fenster, und jedes hatte ähnliche Geräte wie das meine. + +»Ihr seht«, sagte er, »daß wir in unserem Hause nicht so ungesellig +sind und bei dessen Anlegung schon auf Gäste gerechnet haben. Es +können im äußersten Notfalle noch mehr untergebracht werden als die +Zimmer anzeigen, wenn wir zwei in ein Gemach tun und noch andere +Zimmer, namentlich die im Erdgeschosse, in Anspruch nehmen. Es ist +aber in der Zeit, seit welcher dieses Haus besteht, der Notfall noch +nicht eingetreten.« + +Als wir an die östliche Seite des Hauses gekommen waren, an die Seite, +die seiner Wohnung gerade entgegengesetzt lag, öffnete er eine Tür, +und wir traten nicht in ein Zimmer wie bisher, sondern in drei, welche +sehr schön eingerichtet waren und zu lieblichem Wohnen einluden. Das +erste war ein Zimmer für einen Diener oder eigentlich eine Dienerin; +denn es sah ganz aus wie das Zimmer, in welchem die Mädchen meiner +Mutter wohnten. Es standen große Kleiderkästen da, mit grünem Zitz +verhängte Betten, und es lagen Dinge herum wie in dem Mädchenzimmer +meiner Mutter. Die zwei anderen Gemächer zeigten zwar nicht solche +Dinge, im Gegenteile, sie waren in der musterhaftesten Ordnung; aber +sie wiesen doch eine solche Gestalt, daß man schließen mußte, daß sie +zu Wohnungen für Frauen bestimmt sind. Die Geräte des ersten waren +von Mahagoniholz, die des zweiten von Cedern. Überall standen +weichgepolsterte Sitze und schöne Tische herum. Auf dem Fußboden lagen +weiche Teppiche, die Pfeiler hatten hohe Spiegel, außerdem stand in +jedem Zimmer noch ein beweglicher Ankleidespiegel, an den Fenstern +waren Arbeitstischchen, und in der Ecke jedes Zimmers stand, von +weißen Vorhängen dicht und undurchdringlich umgeben, ein Bett. Jedes +Gemach hatte ein Blumentischchen, und an den Wänden hingen einige +Gemälde. + +Als ich diese Zimmer eine Weile betrachtet hatte, öffnete mein +Begleiter im dritten Zimmer mittelst eines Drückers eine Tapetentür, +die sich den Blicken nicht gezeigt hatte, und führte mich noch in ein +viertes, kleines Zimmer mit einem einzigen Fenster. Das Zimmerchen war +sehr schön. Es war ganz in sanft rosenfarbener Seide ausgeschlagen, +welche Zeichnungen in derselben, nur etwas dunkleren Farbe hatte. An +dieser schwach rosenroten Seide lief eine Polsterbank von lichtgrauer +Seide hin, die mit mattgrünen Bändern gerändert war. Sessel von +gleicher Art standen herum. Die Seide, grau in Grau gezeichnet, hob +sich licht und lieblich von dem Rot der Wände ab, es machte fast einen +Eindruck, wie wenn weiße Rosen neben roten sind. Die grünen Streifen +erinnerten an das grüne Laubblatt der Rosen. In einer der hinteren +Ecken des Zimmers war ein Kamin von ebenfalls grauer, nur dunklerer +Farbe mit grünen Streifen in den Simsen und sehr schmalen Goldleisten. +Vor der Polsterbank und den Sesseln stand ein Tisch, dessen Platte +grauer Marmor von derselben Farbe wie der Kamin war. Die Füße des +Tisches und der Sessel so wie die Fassungen an der Polsterbank und den +anderen Dingen waren von dem schönen veilchenblauen Amarantholze; aber +so leicht gearbeitet, daß dieses Holz nirgends herrschte. An dem mit +grauen Seidenvorhängen gesäumten Fenster, welches zwischen grünen +Baumwölbungen auf die Landschaft und das Gebirge hinaussah, stand ein +Tischchen von demselben Holze und ein reichgepolsterter Sessel und +Schemel, wie wenn hier der Platz für eine Frau zum Ruhen wäre. An +den Wänden hingen nur vier kleine, an Größe und Rahmen vollkommen +gleiche Ölgemälde. Der Fußboden war mit einem feinen grünen Teppiche +überspannt, dessen einfache Farbe sich nur ein wenig von dem Grün der +Bänder abhob. Es war gleichsam der Rasenteppich, über dem die Farben +der Rosen schwebten. Die Schürzange und die anderen Geräte an dem +Kamine hatten vergoldete Griffe, auf dem Tische stand ein goldenes +Glöcklein. + +Kein Merkmal in dem Gemache zeigte an, daß es bewohnt sei. Kein Geräte +war verrückt, an dem Teppiche zeigte sich keine Falte und an den +Fenstervorhängen keine Verknitterung. + +Als ich eine Zeit diese Dinge mit Staunen betrachtet hatte, öffnete +mein Begleiter wieder die Tapetentür, die man auch im Innern dieses +Zimmers nicht sehen konnte, und führte mich hinaus. Er hatte in dem +Rosenzimmerchen nicht ein Wort gesprochen, und ich auch nicht. Als +wir durch die anderen Zimmer gegangen waren und er sie hinter uns +zugeschlossen hatte, sagte er mir ebenfalls über den Zweck dieser +Wohnung nichts, und ich konnte natürlich nicht darum fragen. + +Als wir auf den Gang hinausgekommen waren, sagte er: »Nun habt ihr +mein ganzes Haus gesehen; wenn ihr wieder einmal in der Zukunft +vorüberkommt oder euch gar in der Ferne desselben erinnert, so könnt +ihr euch gleich vorstellen, wie es im Inneren aussieht.« + +Bei diesen Worten nestelte er den Ring mit den Schlüsseln in irgend +eine Tasche seines seltsamen Obergewandes. + +»Es ist ein Bild«, erwiderte ich auf seine Rede, »das sich mir tief +eingeprägt hat und das ich nicht so bald vergessen werde.« + +»Ich habe mir das beinahe gedacht«, antwortete er. + +Da wir in die Nähe meines Zimmers gekommen waren, verabschiedete er +sich, indem er sagte, daß er nun einen großen Teil meiner Zeit in +Anspruch genommen habe und daß er, um mich nicht noch mehr einzuengen, +mir nichts weiter davon entziehen wolle. + +Ich dankte ihm für seine Gefälligkeit und Freundlichkeit, mit welcher +er mir einen Teil des Tages gewidmet und mir seine Häuslichkeit +gezeigt habe, und wir trennten uns. Ich nahm den Schlüssel aus meiner +Tasche und öffnete mein Zimmer, um einzutreten; ihn aber hörte ich die +Treppe hinabgehen. + +Ich blieb nun bis gegen Abend in meinem Gastgemache, teils weil ich +ermüdet war und wirklich einige Ruhe nötig hatte, teils weil ich +meinem Gastfreunde nicht weiter lästig sein wollte. + +Am Abende ging ich wieder ein wenig auf die Felder außerhalb des +Gartens hinaus und kam erst zur Speisestunde zurück. Ich hatte bei +dieser Gelegenheit gelernt, mir selber das Gitter zu öffnen und zu +schließen. + +Es war kein Gast da, und beim Abendessen wie beim Mittagessen waren +nur mein Gastfreund, Gustav und ich. Die Gespräche waren über +verschiedene gleichgültige Dinge, wir trennten uns bald, ich verfügte +mich auf mein Zimmer, las noch, schrieb, entkleidete mich endlich, +löschte das Licht und begab mich zur Ruhe. + + +Der nächste Morgen war wieder herrlich und heiter. Ich öffnete +die Fenster, ließ Duft und Luft hereinströmen, kleidete mich an, +erfrischte mich mit reichlichem Wasser zum Waschen, und ehe die Sonne +nur einen einzigen Tautropfen hatte aufsaugen können, stand ich +schon mit meinem Ränzlein auf dem Rücken und mit meinem Hute und dem +Schwarzdornstocke in der Hand im Speisezimmer. Der alte Mann und +Gustav warteten meiner bereits. + +Nachdem das Frühmahl verzehrt worden war, wobei ich trotz der +Forderung mein Ränzlein nicht abgelegt hatte, dankte ich noch einmal +für die große Freundlichkeit und Offenheit, mit welcher ich hier +aufgenommen worden war, verabschiedete mich und begab mich auf meinen +Weg. + + +Der alte Mann und Gustav begleiteten mich bis zum Gittertore des +Gartens. Der Alte öffnete, um mich hinauszulassen, so wie er +vorgestern geöffnet hatte, um mir den Eingang zu gestatten. Beide +gingen mit mir durch das geöffnete Tor hinaus. Als wir auf dem +Sandplatze vor dem Hause, angeweht von dem Dufte der Rosen, standen, +sagte mein Beherberger: »Nun lebt wohl und geht glücklich eures Weges. +Wir kehren durch unser Gitter wieder in unseren Landaufenthalt und zu +unseren Beschäftigungen zurück. Wenn ihr in einer anderen Zeit wieder +in die Nähe kommt und es euch gefällt, uns zu besuchen, so werdet ihr +mit Freundlichkeit aufgenommen werden. Wenn ihr aber gar, ohne daß +euch euer Weg hier vorüberführt, freiwillig zu uns kommt, um uns zu +besuchen, so wird es uns besonders freuen. Es ist keine Redensart, +wenn ich sage, daß es uns freuen würde, ich gebrauche diese +Redensarten nicht, sondern es ist wirklich so. Wenn ihr das einmal +wollt, so lebt in diesem Hause, so lange es euch zusagt, und lebt so +ungebunden als ihr wollt, so wie auch wir so ungebunden leben werden +als wir wollen. Wenn ihr uns die Zeit vorher etwa durch einen Boten +wissen machen könntet, wäre es gut, weil wir, wenn auch nicht oft, +doch manchmal abwesend sind.« + +»Ich glaube, daß ihr mich freundlich aufnehmen werdet, wenn ich wieder +komme«, antwortete ich, »weil ihr es sagt und euer Wesen mir so +erscheint, daß ihr nicht eine unwahre Höflichkeit aussprechen würdet. +Ich begreife zwar den Grund nicht, weshalb ihr mich einladet, aber da +ihr es tut, nehme ich es mit vieler Freude an und sage euch, daß ich +im nächsten Sommer, wenn mich auch mein gewöhnlicher Weg nicht hieher +führt, freiwillig in diese Gegend und in dieses Haus kommen werde, um +eine kleine Zeit da zu bleiben.« + +»Tut es, und ihr werdet sehen, daß ihr nicht unwillkommen seid«, sagte +er, »wenn ihr auch die Zeit ausdehnt.« + +»Ich werde vielleicht das Letztere tun«, antwortete ich, »und so lebet +wohl.« + +»Lebt wohl.« + +Bei diesen Worten reichte er mir die Hand und drückte sie. + +Ich reichte meine Hand, da er sie losgelassen hatte, auch an den +Knaben Gustav, welcher sie annahm, aber nichts sprach, sondern mich +bloß mit seinen Augen freundlich ansah. + +Hierauf schieden wir, indem sie durch das Gitter zurückgingen, ich +aber den Hut auf dem Haupte den Weg hinabwandelte, den ich vor zwei +Tagen heraufgegangen war. + +Ich fragte mich nun, bei wem ich denn diesen Tag und die zwei Nächte +zugebracht habe. Er hat um meinen Namen nicht gefragt und hat mir den +seinigen nicht genannt. Ich konnte mir auf meine Frage keine Antwort +geben. + + +Und so ging ich denn nun weiter. Die grünen Ähren gaben jetzt in der +Morgensonne feurige Strahlen, während sie bei meinem Heraufgehen im +Schatten des herandrohenden Gewitters gestanden waren. + +Ich sah mich noch einmal um, da ich zwischen den Feldern hinabging, +und sah das weiße Haus im Sonnenscheine stehen, wie ich es schon öfter +hatte stehen gesehen, ich konnte noch den Rosenschimmer unterscheiden +und glaubte, noch das Singen der zahlreichen Vögel im Garten vernehmen +zu können. + +Hierauf wendete ich mich wieder um und ging abwärts, bis ich zu der +Hecke und der Einfriedigung der Felder kam, bei der ich vorgestern +von der Straße abgebogen hatte. Ich konnte mich nicht enthalten, noch +einmal umzusehen. Das Haus stand jetzt nur mehr weiß da, wie ich es +öfter bei meinen Wanderungen gesehen hatte. + +Ich ging nun auf der Landstraße in meiner Richtung vorwärts. + +Den ersten Mann, welcher mir begegnete, fragte ich, wem das weiße Haus +auf dem Hügel gehöre und wie es hieße. + +»Es ist der Aspermeier, dem es gehört«, antwortete der Mann, »ihr seid +ja gestern selber in dem Asperhofe gewesen und seid mit dem Aspermeier +herumgegangen.« + +»Aber der Besitzer jenes Hauses ist doch unmöglich ein Meier?« fragte +ich; denn mir war wohlbekannt, daß man in der Gegend jeden größeren +Bauern einen Meier nannte. + +»Er ist anfangs nicht der Aspermeier gewesen«, antwortete der Mann, +»aber er hat von dem alten Aspermeier den Asperhof gekauft, und das +Haus hat er gebaut, welches in dem Garten steht und zu dem Asperhof +gehört, und jetzt ist er der Aspermeier; denn der alte ist längst +gestorben.« + +»Hat er denn nicht auch einen andern Namen?« fragte ich. + +»Nein, wir heißen ihn den Aspermeier«, antwortete er. + +Ich sah, daß der Mann nichts Weiteres von meinem Gastfreunde wisse und +sich nicht um denselben gekümmert habe, ich gab daher bei ihm jedes +weitere Forschen auf. + +Es begegneten mir noch mehrere Menschen, von denen ich dieselbe +Antwort erhielt. Alle kehrten das Verhältnis um und sagten, das Haus +im Garten gehöre zu dem Asperhofe. Ich beschloß daher, vorläufig jedes +Forschen zu unterlassen, bis ich zu einem Menschen gekommen sein +würde, von dem ich berechtigt war, eine bessere Auskunft zu erwarten. + +Da mir aber der Name Aspermeier und Asperhof nicht gefiel, nannte +ich das Haus, in welchem ein solcher Rosendienst getrieben wurde, in +meinem Haupte vorläufig daß Rosenhaus. + +Es begegnete mir aber niemand, den ich noch einmal hätte fragen +können. + +Ich ließ, da ich so meines Weges weiter wandelte, die Dinge des +letzten Tages in mir vorübergehen. Mich freute es, daß ich in dem +Hause eine so große Reinlichkeit und Ordnung getroffen hatte, wie +ich sie bisher nur in dem Hause meiner Eltern gesehen hatte. Ich +wiederholte, was der alte Mann mir gezeigt und gesagt hatte, und es +fiel mir ein, wie ich mich viel besser hätte benehmen können, wie ich +auf manche Reden bessere Antworten geben und überhaupt viel bessere +Dinge hätte sagen können. + + +In diesen Betrachtungen wurde ich unterbrochen. Als ich ungefähr +eine Stunde auf dem Wege gewandert war, kam ich an die Ecke des +Buchenwaldes, von dem wir vorgestern abends gesprochen hatten, der zu +den Besitzungen meines Gastfreundes gehört und in welchem ich einmal +eine Gabelbuche gezeichnet hatte. Der Weg geht an dem Walde etwas +steiler hinan und biegt um die Ecke desselben herum. Da ich bis zu +der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen entgegen, welcher mit +eingelegtem Radschuhe langsam die Straße herabfuhr. Er mochte darum +langsamer als gewöhnlich fahren, weil sich diejenigen, welche in ihm +saßen, Vorsicht zum Gesetze gemacht haben konnten. Es saßen nehmlich +in dem offenen und des schönen Wetters willen ganz zurückgelegten +Wagen zwei Frauengestalten, eine ältere und eine jüngere. Beide hatten +Schleier, welche von den Hüten über die Schultern niedergingen. Die +ältere hatte den Schleier über das Angesicht gezogen, welches aber +doch, da der Schleier weiß war, ein wenig gesehen werden konnte. Die +jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des Angesichts zurückgetan +und zeigte dieses Angesicht der Luft. Ich sah sie beide an und +zog endlich zu einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten +freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte mir, da der Wagen +immer tiefer über den Berg hinabging, ob denn nicht eigentlich das +menschliche Angesicht der schönste Gegenstand zum Zeichnen wäre. + +Ich sah dem Wagen noch nach, bis er durch die Biegung des Weges +unsichtbar geworden war. Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und +aufwärts. + +Nach drei Stunden kam ich auf einen Hügel, von welchem ich in die +Gegend zurücksehen konnte, aus der ich gekommen war. Ich sah mit +meinem Fernrohre, das ich aus dem Ränzlein genommen hatte, deutlich +den weißen Punkt des Hauses, in welchem ich die letzten zwei Nächte +zugebracht hatte, und hinter dem Hause sah ich die duftigen Berge. Wie +war nun der Punkt so klein in der großen Welt. + +Ich kam bald in den Ort, in welchem ich, da ich bisher nirgends +angehalten hatte, mein Mittagsmahl einzunehmen gesonnen war, obwohl +die Sonne bis zum Scheitel noch einen kleinen Bogen zurückzulegen +hatte. + +Ich fragte in dem Orte wieder um den Besitzer des weißen Hauses und +beschrieb dasselbe und seine Lage, so gut ich konnte. Man nannte mir +einen Mann, der einmal in hohen Staatsämtern gestanden war; man nannte +mir aber zwei Namen, den Freiherrn von Risach und einen Herrn Morgan. +Ich war nun wieder ungewiß wie vorher. + +Am andern Tage morgens kam ich in den Gebirgszug, welcher das Ziel +meiner Wanderung war und in welchen ich von dem anderen Gebirgszuge +durch einen Teil des flachen Landes überzusiedeln beschlossen hatte. +Am Mittage kam ich in dem Gasthofe an, den ich mir zur Wohnung +ausgewählt hatte. Mein Koffer war bereits da, und man sagte mir, +daß man mich früher erwartet habe. Ich erzählte die Ursache meiner +verspäteten Ankunft, richtete mich in dem Zimmer, das ich mir +bestellt hatte, ein und begab mich an die Geschäfte, welche in diesem +Gebirgsteile zu betreiben ich mir vorgesetzt hatte. + + + +Der Besuch + +Ich blieb ziemlich lange in meinem neuen Aufenthaltsorte. Es +entwickelte sich aus den Arbeiten ein Weiteres und Neues und hielt +mich fest. Ich drang später noch tiefer in das Gebirgstal ein +und begann Dinge, die ich mir für diesen Sommer gar nicht einmal +vorgenommen hatte. + +Im späten Herbste kehrte ich zu den Meinigen zurück. Es erging mir auf +dieser Reise, wie es mir auf jeder Heimreise ergangen war. Als ich das +Gebirge verließ, waren die Bergahornblätter und die der Birken und +Eschen nicht nur schon längst abgefallen, sondern sie hatten auch +bereits ihre schöne gelbe Farbe verloren und waren schmutzig schwarz +geworden, was nicht mehr auf die Kinder der Zweige erinnerte, die sie +im Sommer gewesen waren, sondern auf die befruchtende Erde, die sie +im Winter für den neuen Nachwuchs werden sollten; die Bewohner der +Bergtäler und der Halden, die wohl gelegentlich in jeder Jahreszeit +Feuer machen, unterhielten es schon den ganzen Tag in ihrem Ofen, +um sich zu wärmen, und an heiteren Morgen glänzte der Reif auf den +Bergwiesen und hatte bereits das Grün der Farrenkräuter in ein dürres +Rostbraun verwandelt: da ich aber in die Ebene gelangt war und die +Berge mir am Rande derselben nur mehr wie ein blauer Saum erschienen, +und da ich endlich gar auf dem breiten Strome zu unserer Hauptstadt +hinabfuhr, umfächelten mich so weiche und warme Lüfte, daß ich meinte, +ich hätte die Berge zu früh verlassen. Es war aber nur der Unterschied +der Himmelsbeschaffenheit in dem Gebirge und in den entfernten +Niederungen. Als ich das Schiff verlassen hatte und an den Toren +meiner Heimatstadt angekommen war, trugen die Akazien noch ihr Laub, +warmer Sonnenschein legte sich auf die Umfassungsmauern und auf die +Häuser, und schöngekleidete Menschen lustwandelten in den Stunden +des Nachmittages. Die liebliche rötliche und dunkelblaue Farbe +der Weintrauben, die man an dem Tore und auf dem Platze innerhalb +desselben feil bot, brachte mir manchen freundlichen und fröhlichen +Herbsttag meiner Kindheit in Erinnerung. + +Ich ging die gerade Gasse entlang, ich bog in ein paar Nebenstraßen +und stand endlich vor dem wohlbekannten Vorstadthause mit dem Garten. + +Da ich die Treppe hinangegangen war, da ich die Mutter und die +Schwester gefunden hatte, war die erste Frage nach Gesundheit und +Wohlbefinden aller Angehörigen. Es war alles im besten Stande, die +Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen lassen, alles war abgestaubt, +gereinigt und an seinem Platze, als hätte man mich gerade an diesem +Tage erwartet. + +Nach einem kurzen Gespräche mit der Mutter und der Schwester kleidete +ich mich, ohne meinen Koffer zu erwarten, von meinen zurückgelassenen +Kleidern auf städtische Weise an, um in die Stadt zu gehen und den +Vater zu begrüßen, der noch auf seiner Handelsstube war. Das Gewimmel +der Leute in den Gassen, das Herumgehen geputzter Menschen in den +Baumgängen des grünen Platzes zwischen der Stadt und den Vorstädten, +das Fahren der Wägen und ihr Rollen auf den mit Steinwürfeln +gepflasterten Straßen und endlich, als ich in die Stadt kam, die +schönen Warenauslagen und das Ansehnliche der Gebäude befremdeten und +beengten mich beinahe als ein Gegensatz zu meinem Landaufenthalte; +aber ich fand mich nach und nach wieder hinein, und es stellte sich +als das Langgewohnte und Allbekannte wieder dar. Ich ging nicht zu +meinen Freunden, an deren Wohnung ich vorüberkam, ich ging nicht in +die Buchhandlung, in der ich manche Stunde des Abends zuzubringen +gewohnt war und die an meinem Wege lag, sondern ich eilte zu meinem +Vater. Ich fand ihn an dem Schreibtische und grüßte ihn ehrerbietig +und wurde auch von ihm auf das Herzlichste empfangen. Nach kurzer +Unterredung über Wohlbefinden und andere allgemeine Dinge sagte er, +daß ich nach Hause gehen möchte, er habe noch Einiges zu tun, werde +aber bald nachkommen, um mit der Mutter, der Schwester und mir den +Abend zuzubringen. + +Ich ging wieder gerades Weges nach Hause. Dort machte ich einen Gang +durch den Garten, sprach einige liebkosende Worte zu dem Hofhunde, der +mich mit Heulen und Freudensprüngen begrüßte, und brachte dann noch +eine Weile bei der Mutter und der Schwester zu. Hierauf ging ich in +alle Zimmer unserer Wohnung, besonders in die mit den alten Geräten, +den Büchern und Bildern. Sie kamen mir beinahe unscheinbar vor. + + +Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war heute in dem Stübchen, in +welchem die alten Waffen hingen und um welches der Epheu rankte, zum +Abendessen aufgedeckt worden. Man hatte sogar bis gegen Abend die +Fenster offen lassen können. Da während meines Ganges in die Stadt +mein Koffer und meine Kisten von dem Schiffe gekommen waren, konnte +ich die Geschenke, welche ich von der Reise mitgebracht hatte, in das +Stübchen schaffen lassen: für die Mutter einige seltsame Töpfe und +Geschirre, für den Vater ein Amonshorn von besonderer Größe und +Schönheit, andere Marmorstücke und eine Uhr aus dem siebenzehnten +Jahrhunderte, und für die Schwester das gewöhnliche Edelweiß, +getrockneten Enzian, ein seidenes Bauertüchlein und silberne +Brustkettlein, wie man sie in einigen Teilen des Gebirges trägt. Auch +was man mir als Geschenke vorbereitet hatte, kam in das Stüblein: +von der Mutter und Schwester verfertigte Arbeiten, darunter eine +Reisetasche von besonderer Schönheit, dann sämtliche Arten guter +Bleifedern, nach den Abstufungen der Härte in einem Fache geordnet, +besonders treffliche Federkiele, glattes Papier, und von dem Vater ein +Gebirgsatlas, dessen ich schon einige Male Erwähnung getan und den +er für mich gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben und +empfangen worden war, setzte man sich zu dem Tische, an dem wir +heute Abend nur allein waren, wie es nach und nach bei jeder meiner +Zurückkünfte nach einer längeren Abwesenheit der Gebrauch geworden +war. Es wurden die Speisen aufgetragen, von denen die Mutter +vermutete, daß sie mir die liebsten sein könnten. Die Vertraulichkeit +und die Liebe ohne Falsch, wie man sie in jeder wohlgeordneten Familie +findet, tat mir nach der längeren Vereinsamung außerordentlich wohl. + + +Als die ersten Besprechungen über alles, was zunächst die Angehörigen +betraf und was man in der jüngsten Zeit erlebt hatte, vorüber waren, +als man mir den ganzen Gang des Hauswesens während meiner Abwesenheit +auseinandergesetzt hatte, mußte ich auch von meiner Reise erzählen. +Ich erklärte ihren Zweck und sagte, wo ich gewesen sei und was ich +getan habe, ihn zu erreichen. Ich erwähnte auch des alten Mannes und +erzählte, wie ich zu ihm gekommen sei, wie gut ich von ihm aufgenommen +worden sei und was ich dort gesehen habe. Ich sprach die Vermutung +aus, daß er, seiner Sprache nach zu urteilen, aus unserer Stadt sein +könnte. Mein Vater ging seine Erinnerungen durch, konnte aber auf +keinen Mann kommen, der dem von mir beschriebenen ähnlich wäre. Die +Stadt ist groß, meinte er, es könnten da viele Leute gelebt haben, +ohne daß er sie hätte kennen lernen können. Die Schwester meinte, +vielleicht hätte ich ihn auch der Umgebung zufolge, in welcher ich ihn +gefunden habe, schon in einem anderen und besonderen Lichte gesehen +und in solchem dargestellt, woraus er schwerer zu erkennen sei. Ich +entgegnete, daß ich gar nichts gesagt habe, als was ich gesehen hätte +und was so deutlich sei, daß ich es, wenn ich mit Farben besser +umzugehen wüßte, sogar malen könnte. Man meinte, die Zeit werde die +Sache wohl aufklären, da er mich auf einen zweiten Besuch eingeladen +habe und ich gewiß nicht anstehen werde, denselben abzustatten. Daß +ich ihn nicht geradezu um seinen Namen gefragt habe, billigten alle +meine Angehörigen, da er weit mehr getan, nehmlich mich aufgenommen +und beherbergt habe, ohne um meinen Namen oder um meine Herkunft zu +forschen. + +Der Vater erkundigte sich im Laufe des Gespräches genauer nach manchen +Gegenständen in dem Hause des alten Mannes, deren ich Erwähnung getan +hatte, besonders fragte er nach den Marmoren, nach den alten Geräten, +nach den Schnitzarbeiten, nach den Bildsäulen, nach den Gemälden und +den Büchern. + +Die Marmore konnte ich ihm fast ganz genau beschreiben, die alten +Geräte beinahe auch. Der Vater geriet über die Beschreibung in +Bewunderung und sagte, es würde für ihn eine große Freude sein, einmal +solche Dinge mit eigenen Augen sehen zu können. Über Schnitzarbeiten +konnte ich schon weniger sagen, über die Bücher auch nicht viel, und +das wenigste, beinahe gar nichts, über Bildsäulen und Gemälde. Der +Vater drang auch nicht darauf und verweilte nicht lange bei diesen +letzteren Gegenständen - die Mutter meinte, es wäre recht schön, wenn +er sich einmal aufmachte, eine Reise in das Oberland unternähme und +die Sachen bei dem alten Manne selber ansähe. Er sitze jetzt immer +wieder zu viel in seiner Schreibstube, er gehe in letzter Zeit auch +alle Nachmittage dahin und bleibe oft bis in die Nacht dort. Eine +Reise würde sein Leben recht erfrischen, und der alte Mann, der +den Sohn so freundlich aufgenommen habe, würde ihn gewiß herzlich +empfangen und ihm als einem Kenner seine Sammlungen noch viel lieber +zeigen als einem andern. Wer weiß, ob er nicht gar auf dieser Reise +das eine oder andere Stück für seine Altertumszimmer erwerben könnte. +Wenn er immer warte, bis die dringendsten Geschäfte vorüber wären +und bis er sich mehr auf die jüngeren Leute in seiner Arbeitsstube +verlassen könne, so werde er gar nie reisen; denn die Geschäfte seien +immer dringend, und sein Mißtrauen in die Kräfte der jüngeren Leute +wachse immer mehr, je älter er werde und je mehr er selber alle Sachen +allein verrichten wolle. + +Der Vater antwortete, er werde nicht nur schon einmal reisen, +sondern sogar eines Tages sich in den Ruhestand setzen und keine +Handelsgeschäfte weiter vornehmen. + +Die Mutter erwiderte, daß dies sehr gut sein und daß ihr dieser Tag +wie ein zweiter Brauttag erscheinen werde. + +Ich mußte dem Vater nun auch die einzelnen Holzgattungen angeben, aus +denen die verschiedenen Geräte in dem Rosenhause eingelegt seien, +aus denen die Fußböden bestanden, und endlich aus welchen geschnitzt +würde. Ich tat es so ziemlich gut, denn ich hatte bei der Betrachtung +dieser Dinge an meinen Vater gedacht und hatte, mir mehr gemerkt, als +sonst der Fall gewesen sein würde. Ich mußte ihm auch beschreiben, in +welcher Ordnung diese Hölzer zusammengestellt seien, welche Gestalten +sie bildeten und ob in der Zusammenstellung der Linien und Farben +ein schöner Reiz liege. Ebenso mußte ich ihm auch noch mehr von den +Marmorarten erzählen, die in dem Gange und in dem Saale wären, und +mußte darstellen, wie sie verbunden wären, welche Gattungen an +einander grenzten und wie sie sich dadurch abhöben. Ich nahm häufig +ein Stück Papier und die Bleifeder zur Hand, um zu versinnlichen, +was ich gesehen hätte. Er tat auch weitere Fragen, und durch ihre +zweckmäßige Aufeinanderfolge konnte ich mehr beantworten, als ich mir +gemerkt zu haben glaubte. + +Als es schon spät geworden war, mahnte die Mutter zur Ruhe, wir +trennten uns von dem Waffenhäuschen und begaben uns zu Bette. + +Am anderen Tage begann ich meine Wohnung für den Winter einzurichten. +Ich packte nach und nach die Sachen, welche ich von meiner Reise +mitgebracht hatte, aus, stellte sie nach gewohnter Art und Weise auf +und suchte sie in die vorhandenen einzureihen. Diese Beschäftigung +nahm mehrere Tage in Anspruch. + + +Am ersten Sonntage nach meiner Ankunft war ein Bewillkommungsmahl. +Alle Leute von dem Handelsgeschäfte meines Vaters waren besonders +eingeladen worden, und es wurden bessere Speisen und besserer Wein +auf den Tisch gesetzt. Auch die zwei alten Leute, die in dem dunkeln +Stadthause unsere Wohnungsnachbarn gewesen waren, sind zu diesem Mahle +geladen worden, weil sie mich sehr lieb hatten und weil die Frau +gesagt hatte, daß aus mir einmal große Dinge werden würden. Diese +Mahle waren schon seit ein paar Jahren Sitte, und die alten Leute +waren jedesmal Gäste dabei. + +Als ich mit dem Hauptsächlichsten in der Anordnung meiner Zimmer +fertig war, besuchte ich auch meine Freunde in der Stadt und brachte +wieder manche Abenddämmerung in der Buchhandlung zu, welche mir ein +lieber Aufenthalt geworden war. Wenn ich durch die Gassen der Stadt +ging, war es mir, als hätte ich das, was ich von dem alten Manne +wußte, in einem Märchenbuche gelesen; wenn ich aber wieder nach Hause +kam und in die Zimmer mit den altertümlichen Gegenständen und mit +den Bildern ging, so war er wieder wirklich und paßte hieher als +Vergleichsgegenstand. + +Die Spuren, welche mit einer Ankunft nach einer längeren Reise in +einer Wohnung immer unzertrennlich verbunden sind, namentlich wenn man +von dieser Reise viele Gegenstände mitgebracht hat, welche geordnet +werden müssen, waren endlich aus meinem Zimmer gewichen, meine Bücher +standen und lagen zum Gebrauche bereit, und meine Werkzeuge und +Zeichnungsgerätschaften waren in der Ordnung, wie ich sie für den +Winter bedurfte. Dieser Winter war aber auch schon ziemlich nahe. Die +letzten schönen Spätherbsttage, die unserer Stadt so gerne zu Teil +werden, waren vorüber, und die neblige, nasse und kalte Zeit hatte +sich eingestellt. + +In unserem Hause war während meiner Abwesenheit eine Veränderung +eingetreten. Meine Schwester Klotilde, welche bisher immer ein Kind +gewesen war, war in diesem Sommer plötzlich ein erwachsenes Mädchen +geworden. Ich selber hatte mich bei meiner Rückkehr sehr darüber +verwundert, und sie kam mir beinahe ein wenig fremd vor. + +Diese Veränderung brachte für den kommenden Winter auch eine +Veränderung in unser Haus. Unser Leben war für die Hauptstadt eines +großen Reiches bisher ein sehr einfaches und beinah ländliches +gewesen. Der Kreis der Familien, mit denen wir verkehrten, hatte keine +große Ausdehnung gehabt, und auch da hatten sich die Zusammenkünfte +mehr auf gelegentliche Besuche oder auf Spiele der Kinder im Garten +beschränkt. Jetzt wurde es anders. Zu Klotilden kamen Freundinnen, +mit deren Eltern wir in Verbindung gewesen waren, diese hatten wieder +Verwandte und Bekannte, mit denen wir nach und nach in Beziehungen +gerieten. Es kamen Leute zu uns, es wurde Musik gemacht, vorgelesen, +wir kamen auch zu anderen Leuten, wo man sich ebenfalls mit Musik und +ähnlichen Dingen unterhielt. Diese Verhältnisse übten aber auf unser +Haus keinen so wesentlichen Einfluß aus, daß sie dasselbe umgestaltet +hätten. Ich lernte außer den Freunden, die ich schon hatte und an +deren Art und Weise ich gewöhnt war, noch neue kennen. Sie hatten +meistens ganz andere Bestrebungen als ich und schienen mir in den +meisten Dingen überlegen zu sein. Sie hielten mich auch für besonders, +und zwar zuerst darum, weil die Art der Erziehung in unserem Hause +eine andere gewesen war als in anderen Häusern, und dann, weil ich +mich mit anderen Dingen beschäftigte als auf die sie ihre Wünsche +und Begierden richteten. Ich vermutete, daß sie mich wegen meiner +Sonderlichkeit geringer achteten als sich unter einander selbst. + +Sie erwiesen meiner Schwester große Aufmerksamkeiten und suchten ihr +zu gefallen. Die jungen Leute, welche in unser Haus kommen durften, +waren nur lauter solche, deren Eltern zu uns eingeladen waren, die wir +auch besuchten und an deren Sitten sich kein Bedenken erhob. Meine +Schwester wußte nicht, daß ihr die Männer gefallen sollten, und sie +achtete nicht darauf. Ich aber kam in jenen Tagen, wenn mir einfiel, +daß meine Schwester einmal einen Gatten haben werde, immer auf den +nehmlichen Gedanken, daß dies kein anderer Mann sein könne als der so +wäre wie der Vater. + +Auch mich zogen diese jungen Männer und andere, die nicht eben der +Schwester willen in das Haus kamen, öfter in ihre Gespräche; sie +erzählten mir von ihren Ansichten, Bestrebungen, Unterhaltungen und +manche vertrauten mir Dinge, welche sie in ihrem geheimen Inneren +dachten. So sagte mir einmal einer namens Preborn, welcher der Sohn +eines alten Mannes war, der ein hohes Amt am Hofe bekleidete und öfter +in unser Haus kam, die junge Tarona sei die größte Schönheit der +Stadt, sie habe einen Wuchs, wie ihn niemand von der halben Million +der Einwohner der Stadt habe, wie ihn nie irgend jemand gehabt habe, +und wie ihn keine Künstler alter und neuer Zeit darstellen könnten. +Augen habe sie, welche Kiesel in Wachs verwandeln und Diamanten +schmelzen könnten. Er liebe sie mit solcher Heftigkeit, daß er manche +Nacht ohne Schlaf auf seinem Lager liege oder in seiner Stube herum +wandle. Sie lebe nicht hier, komme aber öfter in die Stadt, er werde +sie mir zeigen, und ich müsse ihm als Freund in seiner Lage beistehen. + +Ich dachte, daß vieles in diesen Worten nicht Ernst sein könne. Wenn +er das Mädchen so sehr liebe, so hätte er es mir oder einem andern gar +nicht sagen sollen, auch wenn wir Freunde gewesen wären. Freunde waren +wir aber nicht, wenn man das Wort in der eigentlichen Bedeutung nimmt, +wir waren es nur, wie man es in der Stadt mit einer Redeweise von +Leuten nennt, die einander sehr bekannt sind und mit einander öfter +umgehen. Und endlich konnte er ja keinen Beistand von mir erwarten, +der ich in der Art mit Menschen umzugehen nicht sehr bewandert war und +in dieser Hinsicht weit unter ihm selber stand. + +Ich besuchte zuweilen auch den einen oder den anderen dieser jungen +Leute außer der Zeit, in der wir in Begleitung unserer Eltern +zusammenkamen, und da war ebenfalls öfter von Mädchen die Rede. Sie +sagten, wie sie diese oder jene lieben, sich vergeblich nach ihr +sehnen oder von ihr Zeichen der Gegenneigung erhalten hätten. Ich +dachte, das sollten sie nicht sagen; und wenn sie eine mutwillige +Bemerkung über die Gestalt oder das Benehmen eines Mädchens +ausdrückten, so errötete ich, und es war mir, als wäre meine Schwester +beleidigt worden. + +Ich ging nun öfter in die Stadt und betrachtete aufmerksamer den alten +Bau unseres Erzdomes. Seit ich die Zeichnungen von Bauwerken in dem +Rosenhause so genau und in solcher Menge angesehen hatte, waren mir +die Bauwerke nicht mehr so fremd wie früher. Ich sah sie gerne an, ob +sie irgend etwas Ähnliches mit den Gegenständen hätten, die ich in den +Zeichnungen gesehen hatte. Auf meiner Reise von dem Rosenhause in das +Gebirgstal, in welchem ich mich später aufgehalten hatte, und von +diesem Gebirgstale bis zu dem Schiffe, das mich zur Heimreise +aufnehmen sollte, war mir nichts besonders Betrachtenswertes +vorgekommen. Nur einige Wegsäulen sehr alter Art erinnerten an die +reinen und anspruchlosen Gestalten, wie ich sie bei dem Meister auf +dem reinen Papier mit reinen Linien gesehen hatte. Aber in der Nische +der einen Wegsäule war statt des Standbildes, das einst darinnen +gewesen war und auf welches der Sockel noch hinwies, ein neues Gemälde +mit bunten Farben getan worden, in der anderen fehlte jede Gestalt. +Auf meiner Stromesfahrt kam ich wohl an Kirchen und Burgen vorüber, +die der Beachtung wert sein mochten, aber mein Zweck führte mich in +dem Schiffe weiter. An dem Erzdome sah ich beinahe alle Gestalten von +Verzierungen, Simsen, Bögen, Säulen und größeren Teilwerken, wie ich +sie auf dem Papier im Rosenhause gesehen hatte. Es ergötzte mich, in +meiner Erinnerung diese Gestalten mit den gesehenen zu vergleichen und +sie gegenseitig abzuschätzen. + + +Auch in Beziehung der Edelsteine fiel mir das ein, was der alte Mann +in dem Rosenhause über die Fassung derselben gesagt hatte. Es gab +Gelegenheit genug, gefaßte Edelsteine zu sehen. In unzähligen +Schaufenstern der Stadt liegen Schmuckwerke zur Ansicht und zur +Verlockung zum Kaufe aus. Ich betrachtete sie überall, wo sie mir auf +meinem Wege aufstießen, und ich mußte denken, daß der alte Mann recht +habe. Wenn ich mir die Zeichnungen von Kreuzen, Rosen, Sternen, +Nischen und dergleichen Dingen an mittelalterlichen Baugegenständen, +wie ich sie im Rosenhause gesehen hatte, vergegenwärtigte, so waren +sie viel leichter, zarter und, ich möchte den Ausdruck gebrauchen, +inniger als diese Sachen hier, und waren doch nur Teile von Bauwerken, +während diese Schmuck sein sollten. Mir kam wirklich vor, daß sie, wie +er gesagt hatte, unbeholfen in Gold und unbeholfen in den Edelsteinen +seien. Nur bei einigen Vorkaufsorten, die als die vorzüglichsten +galten, fand ich eine Ausnahme. Ich sah, daß dort die Fassungen sehr +einfach waren, ja daß man, wenn die Edelsteine einmal eine größere +Gestalt und einen höheren Wert annahmen, schier gar keine Fassung +mehr machte, sondern nur so viel von Gold oder kleinen Diamanten +anwendete, als unumgänglich nötig schien, die Dinge nehmen und an dem +menschlichen Körper befestigen zu können. Mir schien dieses schon +besser, weil hier die Edelsteine allein den Wert und die Schönheit +darstellen sollten. Ich dachte aber in meinem Herzen, daß die +Edelsteine, wie schön sie auch seien, doch nur Stoffe wären, und daß +es viel vorzüglicher sein müßte, wenn man sie, ohne daß ihre Schönheit +einen Eintrag erhielte, doch auch mit einer Gestalt umgäbe, welche +außer der Lieblichkeit des Stoffes auch den Geist des Menschen sehen +ließe, der hier tätig war und an dem man Freude haben könnte. Ich nahm +mir vor, wenn ich wieder zu meinem alten Gastfreunde käme, mit ihm +über die Sache zu reden. Ich sah, daß ich in dem Rosenhause etwas +Ersprießliches gelernt hatte. + +Ich wurde bei jener Gelegenheit zufällig mit dem Sohne eines +Schmuckhändlers bekannt, welcher als der vorzüglichste in der Stadt +galt. Er zeigte mir öfter die wertvolleren Gegenstände, die sie in dem +Verkaufsgewölbe hatten, die aber nie in einem Schaufenster lagen, er +erklärte mir dieselben und machte mich auf die Merkmale aufmerksam, an +denen man die Schönheit der Edelsteine erkennen könne. Ich getraute +mir nie, meine Ansichten über die Fassung derselben darzulegen. Er +versprach mir, mich näher in die Kenntnis der Edelsteine einführen, +und ich nahm es recht gerne an. + +Weil ich durch meine Gebirgswanderungen an viele Bewegung gewöhnt war, +so ging ich alle Tage entweder durch Teile der Stadt herum, oder ich +machte einen Weg in den Umgebungen derselben. Das Zuträgliche der +starken Gebirgsluft ersetzte nur hier die Herbstluft, die immer rauher +wurde, und ich ging ihr sehr gerne entgegen, wenn sie mit Nebeln +gefüllt oder hart von den Bergen her wehte, die gegen Westen die +Umgebungen unserer Stadt säumten. + +Ich fing auch in jener Zeit an, das Theater zuweilen zu besuchen. +Der Vater hatte, so lange wir Kinder waren, nie erlaubt, daß wir +ein Schauspiel zu sehen bekämen. Er sagte, es würde dadurch die +Einbildungskraft der Kinder überreizt und überstürzt, sie behingen +sich mit allerlei willkürlichen Gefühlen und gerieten dann in +Begierden oder gar Leidenschaften. Da wir mehr herangewachsen waren, +was bei mir schon seit längerer Zeit, bei der Schwester aber kaum +seit einem Jahre der Fall war, durften wir zu seltenen Zeiten das +Hoftheater besuchen. Der Vater wählte zu diesen Besuchen jene Stücke +aus, von denen er glaubte, daß sie uns angemessen wären und unser +Wesen förderten. In die Oper oder gar in das Ballet durften wir +nie gehen, eben so wenig durften wir ein Vorstadttheater besuchen. +Wir sahen auch die Aufführung eines Schauspiels nie anders als in +Gesellschaft unserer Eltern. Seit ich selbstständig gestellt war, +hatte ich auch die Freiheit, nach eigener Wahl die Schauspielhäuser +zu besuchen. Da ich mich aber mit wissenschaftlichen Arbeiten +beschäftigte, hatte ich nach dieser Richtung hin keinen mächtigen Zug. +Aus Gewohnheit ging ich manchmal in eines von den nehmlichen Stücken, +die ich schon mit den Eltern gesehen hatte. In diesem Herbste wurde es +anders. Ich wählte zuweilen selber ein Stück aus, dessen Aufführung im +Hoftheater ich sehen wollte. + +Es lebte damals an der Hofbühne ein Künstler, von dem der Ruf sagte, +daß er in der Darstellung des Königs Lear von Shakespeare das Höchste +leiste, was ein Mensch in diesem Kunstzweige zu leisten im Stande +sei. Die Hofbühne stand auch in dem Rufe der Musteranstalt für ganz +Deutschland. Es wurde daher behauptet, daß es in deutscher Sprache auf +keiner deutschen Bühne etwas gäbe, was jener Darstellung gleich käme, +und ein großer Kenner von Schauspieldarstellungen sagte in seinem +Buche über diese Dinge von dem Darsteller des Königs Lear auf unserer +Hofbühne, daß es unmöglich wäre, daß er diese Handlung so darstellen +könnte, wie er sie darstellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren +Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk erschaffen und mit +unübertrefflicher Weisheit ausgestattet worden ist. + +Ich beschloß daher, da ich diese Umstände erfahren hatte, der nächsten +Vorstellung des König Lear auf unserer Hofbühne beizuwohnen. + + +Eines Tages war in den Zeitungen, die täglich zu dem Frühmahle +des Vaters kamen, für die Hofbühne die Aufführung des König Lear +angekündigt und als Darsteller des Lear der Mann genannt, von dem ich +gesprochen habe und der jetzt schon dem Greisenalter entgegen geht. +Die Jahreszeit war bereits in den Winter hinein vorgerückt. Ich +richtete meine Geschäfte so ein, daß ich in der Abendzeit den Weg +zu dem Hoftheater einschlagen konnte. Da ich gerne das Treiben der +Stadt ansehen wollte, wie ich auf meinen Reisen die Dinge im Gebirge +untersuchte, ging ich früher fort, um langsam den Weg zwischen der +Vorstadt und der Stadt zurück zu legen. Ich hatte einen einfachen +Anzug angelegt, wie ich ihn gerne auf Spaziergängen hatte, und eine +Kappe genommen, die ich bei meinen Reisen trug. Es fiel ein feiner +Regen nieder, obwohl es in der unteren Luft ziemlich kalt war. Der +Regen war mir nicht unangenehm, sondern eher willkommen, wenn er mir +auch auf meinen Anzug fiel, an dem nicht viel zu verderben war. Ich +schritt seinem Rieseln mit Gemessenheit entgegen. Der Weg zwischen den +Bäumen auf dem freien Raume vor der Stadt war durch das Eis, welches +sich bildete, gleichsam mit Glas überzogen, und die Leute, welche vor +und neben mir gingen, glitten häufig aus. Ich war an schwierige Wege +gewöhnt und ging auf der Mitte der Eisbahn ohne Beschwerde fort. +Die Zweige der Bäume glänzten in der Nachbarschaft der brennenden +Laternen, sonst war es überall finstere Nacht, und der ganze Raum und +die Mauern der Stadt waren in ihrer Dunkelheit verborgen. Als ich von +dem Gehwege in die Fahrstraße einbog, rasselten viele Wägen an mir +vorüber, und die Pferde zerstampften und die Räder zerschnitten die +sich bildende Eisdecke. Die meisten von ihnen, wenn auch nicht alle, +fuhren in das Theater. Mir kam es beinahe sonderbar vor, daß sie und +ich selber in diesem unfreundlichen Wetter einem Raume zustrebten, in +welchem eine erlogene Geschichte vorgespiegelt wird. So kam ich in die +erleuchtete Überwölbung, in der die Wägen hielten, ich wendete mich +von ihr in den Eingang, kaufte meine Karte, steckte meine Kappe in die +Tasche meines Überrocks, gab diesen in das Kleiderzimmer und trat in +den hellen ebenerdigen Raum des Darstellungssaales. - Ich hatte von +meinem Vater die Gewohnheit angenommen, nie von oben herab oder +von großer Entfernung die Darstellung eines Schauspieles zu sehen, +weil man den Menschen, welche die Handlung darstellen, in ihrer +gewöhnlichen Stellung nicht auf die obere Fläche ihres Kopfes oder +ihrer Schultern sehen soll und weil man ihre Mienen und Geberden +soll betrachten können. Ich blieb daher ungefähr am Ende des ersten +Drittteiles der Länge des Raumes stehen und wartete, bis sich der Saal +füllen würde und die Glocke zum Beginne des Stückes tönte. + +Sowohl die gewöhnlichen Sitze als auch die Logen füllten sich sehr +stark mit geputzten Leuten, wie es Sitte war, und wahrscheinlich von +dem Rufe des Stückes und des Schauspielers angezogen strömte heute +eine weit größere und gemischtere Menge, wie man bei dem ersten Blicke +erkennen konnte, in diese Räume. Männer, die neben mir standen, +sprachen dieses aus, und in der Tat war in der Versammlung manche +Gestalt zu sehen, die von den entferntesten Teilen der Vorstädte +gekommen sein mußte. Die meisten, da endlich gleichsam Haupt an Haupt +war, blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne. + +Es war damals nicht meine Gewohnheit, und ist es jetzt auch noch +nicht, in überfüllten Räumen die Menge der Menschen, die Kleider, den +Putz, die Lichter, die Angesichter und dergleichen zu betrachten. +Ich stand also ruhig, bis die Musik begann und endete, bis sich der +Vorhang hob und das Stück den Anfang nahm. + +Der König trat ein und war, wie er später von sich sagte, jeder Zoll +ein König. Aber er war auch ein übereilender und bedaurungswürdiger +Tor. Regan, Goneril und Cordelia redeten, wie sie nach ihrem Gemüte +reden mußten, auch Kent redete so, wie er nicht anders konnte. Der +König empfing die Reden, wie er nach seinem heftigen, leichtsinnigen +und doch liebenswürdigen Gemüte ebenfalls mußte. Er verbannte die +einfache Cordelia, die ihre Antwort nicht schmücken konnte, der er +desto heftiger zürnte, da sie früher sein Liebling gewesen war, und +gab sein Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Goneril, die +ihm auf seine Frage, wer ihn am meisten liebe, mit übertriebenen +Ausdrücken schmeichelten und ihm dadurch, wenn er der Betrachtung +fähig gewesen wäre, schon die Unechtheit ihrer Liebe dartaten, was +auch die edle Cordelia mit solchem Abscheu erfüllte, daß sie auf die +Frage, wie _sie_ den Vater liebe, weniger zu antworten wußte, als sie +vielleicht zu einer anderen Zeit, wo das Herz sich freiwillig öffnete, +gesagt hätte. Gegen Kent, der Cordelia verteidigen wollte, wütete er +und verbannte ihn ebenfalls, und so sieht man bei dieser heftigen und +kindischen Gemütsart des Königs üblen Dingen entgegen. + +Ich kannte dieses Schauspiel nicht und war bald von dem Gange der +Handlung eingenommen. + +Der König wohnt nun mit seinen hundert Rittern im ersten Monate bei +der einen Tochter, um im zweiten dann bei der anderen zu sein und +so abwechselnd fortzufahren, wie es bedungen war. Die Folgen dieser +schwachen Maßregel zeigten sich auch im Lande. In dem hohen Hause +Glosters empört sich ein unehelicher Sohn gegen den Vater und den +rechtmäßigen Bruder und ruft unnatürliche Dinge in die Welt, da auch +in des Königs Hause unnatürliche und unzweckmäßige Dinge geschahen. In +dem Hofhalte der Tochter und in der in diesen Hofhalt eingepflanzten +zweiten Hofhaltung des Königs und seiner hundert Ritter entstehen +Anstände und Widrigkeiten, und die Entgegnungen der Tochter gegen das +Tun des Königs und seines Gefolges sind sehr begreiflich, aber fast +unheimlich. Beinahe herzzerreißend ist nun die treuherzige, fast blöde +Zuversicht des Königs, womit er die eine Tochter, die mit schnöden +Worten seinen Handlungen entgegen getreten war, verläßt, um zu der +anderen, sanfteren zu gehen, die ihn mit noch härterem Urteile +abweist. Sein Diener ist hier in den Stock geschlagen, er selber +findet keine Aufnahme, weil man nicht vorbereitet ist, weil man die +andere Schwester erwartet, die man aufnehmen muß, man rät dem König, +zu der verlassenen Tochter zurückzukehren und sich ihren Maßregeln zu +fügen. Bei dem Könige war vorher blindes Vertrauen in die Töchter, +Übereilung im Urteile gegen Cordelia, Leichtsinn in Vergebung der +Würden: jetzt entsteht Reue, Scham, Wut und Raserei. Er will nicht +zu der Tochter zurückkehren, eher geht er in den Sturm und in das +Ungewitter auf die Haide hinaus, die gegen ihn wüten dürfen, denen er +ja nichts geschenkt hat. Er tritt in die Wüste bei Nacht, Sturm und +Ungewitter, der Greis gibt die weißen Haare den Winden preis, da +er auf der Haide vorschreitet, von niemandem begleitet als von dem +Narren, er wirft den Mantel in die Luft, und da er sich in Ausdrücken +erschöpft hat, weiß er nichts mehr als die Worte - Lear! Lear! Lear! +aber in diesem einzigen Worte liegt seine ganze vergangene Geschichte +und liegen seine ganzen gegenwärtigen Gefühle. Er wirft sich später +dem Narren an die Brust und ruft mit Angst: Narr, Narr! ich werde +rasend - ich möchte nicht rasend werden - nur nicht toll! Da er die +drei letzten Worte milder sagte, gleichsam bittend, so flossen mir +die Tränen über die Wangen herab, ich vergaß die Menschen herum und +glaubte die Handlung als eben geschehend. Ich stand und sah unverwandt +auf die Bühne. Der König wird nun wirklich toll, er kränzt sich in den +Tagen nach jener Sturmnacht mit Blumen, schwärmt auf den Hügeln und +Haiden und hält mit Bettlern einen hohen Gerichtshof. Es ist indessen +schon Botschaft an seine Tochter Cordelia getan worden, daß Regan +und Goneril den Vater schnöd behandeln. Diese war mit Heeresmacht +gekommen, um ihn zu retten. Man hatte ihn auf der Haide gefunden, und +er liegt nun im Zelte Cordelias und schläft. Während der letzten Zeit +ist er in sich zusammengesunken, er ist, während wir ihn so vor uns +sahen, immer älter, ja gleichsam kleiner geworden. Er hatte lange +geschlafen, der Arzt glaubt, daß der Zustand der Geisteszerrüttung nur +in der übermannenden Heftigkeit der Gefühle gelegen war und daß sich +sein Geist durch die lange Ruhe und den erquickenden Schlaf wieder +stimmen werde. Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat +nicht den Mut, die vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen, +und sagt im Mißtrauen auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte +diese fremde Frau für sein Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der +Wahrheit seiner Vorstellung überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem +Bette herab und bittet knieend und händefaltend sein eigenes Kind +stumm um Vergebung. Mein Herz war in dem Augenblicke gleichsam +zermalmt, ich wußte mich vor Schmerz kaum mehr zu fassen. Das hatte +ich nicht geahnt, von einem Schauspiele war schon längst keine Rede +mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir. Der günstige +Ausgang, welchen man den Aufführungen dieses Stückes in jener Zeit +gab, um die fürchterlichen Gefühle, die diese Begebenheit erregt, zu +mildern, tat auf mich keine Wirkung mehr, mein Herz sagte, daß das +nicht möglich sei, und ich wußte beinahe nicht mehr, was vor mir und +um mich vorging. Als ich mich ein wenig erholt hatte, tat ich fast +scheu einen Blick auf meine Umgebung, gleichsam um mich zu überzeugen, +ob man mich beobachtet habe. Ich sah, daß alle Angesichter auf die +Bühne blickten und daß sie in starker Erregung gleichsam auf den +Schauplatz hingeheftet seien. Nur in einer ebenerdigen Loge sehr nahe +bei mir saß ein Mädchen, welches nicht auf die Darstellung merkte, +sie war schneebleich, und die Ihrigen waren um sie beschäftigt. Sie +kam mir unbeschreiblich schön vor. Das Angesicht war von Tränen +übergossen, und ich richtete meinen Blick unverwandt auf sie. Da die +bei ihr Anwesenden sich um und vor sie stellten, gleichsam um sie vor +der Betrachtung zu decken, empfand ich mein Unrecht und wendete die +Augen weg. + +Das Stück war indessen aus geworden, und um mich entstand die Unruhe, +die immer mit dem Fortgehen aus einem Schauspielhause verbunden ist. +Ich nahm mein Taschentuch heraus, wischte mir die Stirne und die Augen +ab und richtete mich zum Fortgehen. Ich ging in das Kleiderzimmer, +holte mir meinen Überrock und zog ihn an. Als ich in den Vorsaal kam, +war dort ein sehr starres Gedränge, und da er mehrere Ausgänge hatte, +wogten die Menschen vielfach hin und her. Ich gab mich einem größeren +Zuge hin, der langsam bei dem Hauptausgange ausmündete. Plötzlich war +es mir, als ob sich meinen Blicken, die auf den Ausgang gerichtet +waren, ganz nahe etwas zur Betrachtung aufdrängte. Ich zog sie zurück, +und in der Tat hatte ich zwei große, schöne Augen den meinigen +gegenüber, und das Angesicht des Mädchens aus der ebenerdigen Loge war +ganz nahe an dem meinigen. Ich blickte sie fest an, und es war mir, +als ob sie mich freundlich ansähe und mir lieblich zulächelte. Aber in +dem Augenblicke war sie vorüber. Sie war mit einem Menschenstrome aus +dem Logengange gekommen, dieser Strom hatte unseren Zug gekreuzt und +strebte bei einem Seitenausgange hinaus. Ich sah sie nur noch von +rückwärts und sah, daß sie in einen schwarzseidenen Mantel gehüllt +war. Ich war endlich auch bei dem Hauptausgange hinaus, kommen. Dort +zog ich erst meine Kappe aus der Tasche des Überrockes, setzte sie auf +und blieb noch einen Augenblick stehen und sah den abfahrenden Wägen +nach, die ihre roten Laternenlichter in die trübe Nacht hinaustrugen. +Es regnete noch viel dichter als bei meinem Hereingehen. Ich schlug +den Weg nach Hause ein. Ich gelangte aus den fahrenden Wägen, +ich gelangte aus dem größeren Strome der Menschen und bog in den +vereinsamteren Weg ein, der im Freien durch die Reihen der Bäume der +Vorstadt zuführte. Ich schritt neben den düsteren Laternen vorbei, kam +wieder in die Gassen der Vorstadt, durchging sie und war endlich in +dem Hause meiner Eltern. + +Es war beinahe Mitternacht geworden. Die Mutter, welche es sich bei +solchen Gelegenheiten nicht nehmen läßt, besonders auf die Gesundheit +der Ihrigen bedacht zu sein, war noch angekleidet und wartete meiner +im Speisezimmer. Die Magd, welche mir die Wohnung geöffnet hatte, +sagte mir dieses und wies mich dahin. Die Mutter hatte noch ein +Abendessen für mich in Bereitschaft und wollte, daß ich es einnehme. +Ich sagte ihr aber, daß ich noch zu sehr mit dem Schauspiele +beschäftigt sei und nichts essen könne. Sie wurde besorgt und sprach +von Arznei. Ich erwiderte ihr, daß ich sehr wohl sei und daß mir gar +nichts als Ruhe not tue. + +»Nun, wenn dir Ruhe not tut, so ruhe«, sagte sie, »ich will dich nicht +zwingen, ich habe es gut gemeint.« + +»Gut gemeint wie immer, teure Mutter«, antwortete ich, »darum danke +ich auch.« + +Ich ergriff ihre Hand und küßte sie. Wir wünschten uns gegenseitig +eine gute Nacht, nahmen Lichter und begaben uns auf unsere Zimmer. + +Ich entkleidete mich, legte mich auf mein Bett, löschte die Lichter +aus und ließ mein heftiges Herz nach und nach in Ruhe kommen. Es war +schon beinahe gegen Morgen, als ich einschlief. + +Das erste, was ich am andern Tage tat, war, daß ich den Vater um die +Werke Shakespeares aus seiner Büchersammlung bat und sie, da ich sie +hatte, in meinem Zimmer zur Lesung für diesen Winter zurecht legte. +Ich übte mich wieder im Englischen, damit ich sie nicht in einer +Übersetzung lesen müsse. + +Als ich im vergangenen Sommer von meinem alten Gastfreunde Abschied +genommen hatte und an dem Saume seines Waldes auf der Landstraße dahin +ging, waren mir zwei in einem Wagen fahrende Frauen begegnet. Damals +hatte ich gedacht, daß das menschliche Angesicht der beste Gegenstand +für das Zeichnen sein dürfte. Dieser Gedanke fiel mir wieder ein, und +ich suchte mir Kenntnisse über das menschliche Antlitz zu verschaffen. +Ich ging in die kaiserliche Bildersammlung und betrachtete dort alle +schönen Mädchenköpfe, welche ich abgemalt fand. Ich ging öfter hin und +betrachtete die Köpfe. Aber auch von lebenden Mädchen, mit denen ich +zusammentraf, sah ich die Angesichter an, ja ich ging an trockenen +Wintertagen auf öffentliche Spaziergänge und sah die Angesichter der +Mädchen an, die ich traf. Aber unter allen Köpfen, sowohl den gemalten +als auch den wirklichen, war kein einziger, der ein Angesicht +gehabt hätte, welches sich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte +vergleichen können, welches ich an dem Mädchen in der Loge gesehen +hatte. Dieses eine wußte ich, obwohl ich mir das Angesicht eigentlich +gar nicht mehr vorstellen konnte und obwohl ich es, wenn ich es +wieder gesehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer +Ausnahmsstellung gesehen, und im ruhigen Leben mußte es gewiß ganz +anders sein. + +Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein lesendes Kind gemalt war. +Es hatte eine so einfache Miene, nichts war in derselben als die +Aufmerksamkeit des Lesens, man sah auch nur die eine Seite des +Angesichtes, und doch war alles so hold. Ich versuchte das Angesicht +zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge, +von denen noch dazu das Auge nicht zu sehen war, sondern durch das Lid +beschattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich +durfte mir das Bild herabnehmen, ich durfte ihm eine Stellung geben, +wie ich wollte, um die Nachahmung zu versuchen; sie gelang nicht, +wenn ich auch alle meine Fertigkeit, die ich im Zeichnen anderer +Gegenstände bereits hatte, darauf anwendete. + +Der Vater sagte mir endlich, daß die Wirkung dieses Bildes vorzüglich +in der Zartheit der Farbe liege, und daß es daher nicht möglich sei, +dieselbe in schwarzen Linien nachzuahmen. Er machte mich überhaupt, +da er meine Bestrebungen sah, mehr mit den Eigenschaften der Farben +bekannt, und ich suchte mich auch in diesen Dingen zu unterrichten und +zu üben. + +Sonderbar war es, daß ich nie auf den Gedanken kam, meine Schwester +zu betrachten, ob ihre Züge zum Nachzeichnen geeignet wären, oder den +Wunsch hegte, ihr Angesicht zu zeichnen, obgleich es in meinen Augen +nach dem des Mädchens in der Loge das schönste auf der Welt war. Ich +hatte nie den Mut dazu. Oft kam mir auch jetzt noch der Gedanke, so +schön und rein wie Klotilde könne doch nichts mehr auf der Erde sein; +aber da fielen mir die Züge des weinenden Mädchens ein, das die +Ihrigen zu beruhigen gestrebt hatten und von dem ich mir einbildete, +daß es mich im Vorsaale des Theaters freundlich angeblickt habe, und +ich mußte sie vorziehen. Ich konnte sie mir zwar nicht vorstellen; +aber es schwebte mir ein unbestimmtes, dunkles Bild von Schönheit vor +der Seele. Die Freundinnen meiner Schwester oder andere Mädchen, mit +denen ich gelegentlich zusammen kam, hatten manche liebe, angenehme +Eigenschaften in ihrem Angesichte, ich betrachtete sie und dachte mir, +wie dieses oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich mochte sie ebenfalls +nie ersuchen, und so kam ich nicht dazu, ein lebendes, vor mir +befindliches Angesicht zu zeichnen. Ich wiederholte also die Züge in +der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man machte mich endlich +auch darauf aufmerksam, daß ich immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war +beschämt und begann später Männer, Greise, Frauen, ja auch andere +Teile des Körpers zu zeichnen, so weit ich sie in Vorlagen oder +Gipsabgüssen bekommen konnte. + +Trotz dieser Bestrebungen, welchen nach dem Grundsatze unseres Hauses +kein Hindernis in den Weg gelegt wurde, vernachlässigte ich meine +Hauptbeschäftigung doch nicht. Es tat mir sehr wohl, zu Hause unter +meinen Sammlungen herum zu gehen, ich dachte oft an die Worte des +alten Mannes in dem Rosenhause, und im Gegensatze zu den Festen, +zu denen ich geladen war, oder selbst zu Spaziergängen und +Geschäftsbesuchen war mir meine Wohnung wie eine holde, +bedeutungsvolle Einsamkeit, die mir noch lieber wurde, weil ihre +Fenster auf Gärten und wenig geräuschvolle Gegenden hinausgingen. + + +Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer größer, je näher der Winter +seinem Ende zuging, und ich hatte in dieser Hinsicht und oft auch in +anderer mehr Ursache und Pflicht, zu dieser oder jener Familie einen +Gang zu tun. + +Bei einer solchen Gelegenheit ereignete sich mit mir ein Vorfall, der +mich nach dem Beiwohnen bei der Aufführung des Lear in jenem Winter am +meisten beschäftigte. + +Wir waren seit Jahren mit einer Familie sehr befreundet, welche in +der Hofburg wohnte. Es war die Wittwe und Tochter eines berühmten +Mannes, der einmal in großem Ansehen gestanden war. Da der Vater ein +bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach seinem +Tode auch ein Hoffräulein, weshalb sie mit der Mutter in der Burg +wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee, der andere bei einer +Gesandtschaft. Wenn das Fräulein nicht eben im Dienste war, wurde +zuweilen abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in welchem etwas +vorgelesen, gesprochen oder Musik gemacht wurde. Da die Mutter etwas +älter wurde, spielte man sogar zuweilen Karten. Wir waren öfter an +solchen Abenden bei dieser Familie. In jenem Winter hatte ich ein +Buch, welches mir von der Mutter des Hoffräuleins war geliehen worden, +länger behalten, als es eigentlich die Höflichkeit erlaubte. Deshalb +ging ich eines Mittags hin, um das Buch persönlich zu überbringen und +mich zu entschuldigen. Als ich von dem äußeren Burgplatze durch das +hohe Gewölbe des Gehweges in den inneren gekommen war, fuhren eben +aus dem Hofe zu meiner Rechten mehrere Wägen heraus, die meinen Weg +kreuzten und mich zwangen, eine Weile stehen zu bleiben. Es standen +noch mehrere Menschen neben mir, und ich fragte, was diese Wägen +bedeuteten. + +»Es sind Glückwünsche, welche dem Kaiser nach seiner Wiedergenesung +von großen Herren abgestattet worden sind und welche er eben +angenommen hatte«, sagte ein Mann neben mir. + +Der letzte der Wägen war mit zwei Rappen bespannt, und in ihm saß ein +einzelner Mann. Er hatte den Hut neben sich liegen und trug die weißen +Haare frei in der winterlichen Luft. Der Überrock war ein wenig offen, +und unter ihm waren Ordenssterne sichtbar. Als der Wagen bei mir +vorüberfuhr, sah ich deutlich, daß mein alter Gastfreund, der mich in +dem Rosenhause so wohlwollend aufgenommen hatte, in demselben sitze. +Er fuhr schnell vorbei, wie es bei Wägen dieser Art Sitte ist, und +schlug die Richtung nach der Stadt ein. Er fuhr bei dem Tore aus der +Burg, an welchem die zwei Riesen als Simsträger angebracht sind. Ich +wollte jemand von meinen Nachbaren fragen, wer der Mann sei; aber da +von den Wägen, welche die Fußgänger aufgehalten hatten, der seinige +der letzte gewesen und der Weg sodann frei war, so waren alle +Nachbaren bereits ihrer Wege gegangen, und diejenigen, welche jetzt +neben mir waren, hatten die Wägen nicht in der Nähe gesehen. + +Ich ging daher über den Hof und stieg, über die sogenannte +Reichskanzleitreppe empor. + +Ich traf die alte Frau allein, übergab ihr das Buch und sagte meine +Entschuldigungen. + +Im Verlaufe des Gespräches erwähnte ich des Mannes, den ich in dem +Wagen gesehen hatte und fragte, ob sie nicht wisse, wer er sei. Sie +wußte von gar nichts. + +»Ich habe nicht bei den Fenstern hinabgeschaut«, sagte sie, »es geht +Vieles auf dem großen Hofe vor, ich achte nicht darauf. Ich habe gar +nicht gewußt, daß bei dem Kaiser eine Vorfahrt gewesen ist, er war +vorgestern noch nicht ganz gesund. Da mein Mann noch lebte, haben wir +immer die Aussicht auf den großen Platz der Hofburg gehabt, und wie +bedeutende Dinge da auch vorgehen, so wiederholen sich doch immer die +nehmlichen, wenn man viele Jahre zuschaut; und endlich schaut man gar +nicht mehr zu und hat herinnen ein Buch oder sein Strickzeug, wenn +draußen in das Gewehr gerufen wird, oder Reiter zu hören sind, oder +Wagen rollen.« + +»Wer ist denn von denen, die in der Aufwartung bei dem Kaiser +wegfuhren, in dem letzten Wagen gesessen, Henriette?« fragte sie ihre +eben eintretende Tochter, das Hoffräulein. + +»Das ist der alte Risach gewesen«, antwortete diese, »er ist eigens +hereingekommen, um sich Seiner Majestät vorzustellen und seine Freude +über dessen Wiedergenesung auszudrücken.« + + +Ich hatte in meiner Jugend öfter den Namen Risach nennen gehört, +allein ich hatte damals so wenig darauf geachtet, was ein Mann, dessen +Namen ich hörte, tue, daß ich jetzt gar nicht wußte, wer dieser Risach +sei, Ich fragte daher mit jener Rücksicht, die man bei solchen Fragen +immer beobachtet, und erfuhr, daß der Freiherr von Risach zwar nicht +die höchsten Staatswürden bekleidet habe, daß er aber in der wichtigen +und schmerzlichen Zeit des nunmehr auch alternden Kaisers in den +belangreichsten Dingen tätig gewesen sei, daß er mit den Männern, +welche die Angelegenheiten Europas leiteten, an der Schlichtung +dieser Angelegenheiten gearbeitet habe, daß er von fremden Herrschern +geschätzt worden sei, daß man gemeint habe, er werde einmal an die +Spitze gelangen, daß er aber dann ausgetreten sei. Er lebe meistens +auf dem Lande, komme aber öfter herein und besuche diesen oder jenen +seiner Freunde. Der Kaiser achte ihn sehr, und es dürfte noch jetzt +vorkommen, daß hie und da nach seinem Rate gefragt werde. Er soll +reich geheiratet, aber seine Frau wieder verloren haben. Überhaupt +wisse man diese Verhältnisse nicht genau. + +Alles dieses hatte mir das Hoffräulein gesagt. + +»Siehst du, meine liebe Henriette«, sprach die alte Frau, »wie sich +die Dinge in der Welt verändern. Du weißt es noch nicht, weil du noch +jung bist und weil du nichts erfahren hast. Das Niedrige wird hoch, +das Hohe wird niedrig, Eines wird so, das Andere wird anders, und ein +Drittes bleibt bestehen. Dieser Risach ist sehr oft in unser Haus +gekommen. Da uns der Vater noch zuweilen in dem alten Doktorwagen, den +er hatte, und der dunkelgrün und schwarz angestrichen war, spazieren +fahren ließ, ist er nicht einmal, sondern oft auf dem Kutschbocke +gesessen, oder er ist gar, wenn wir im Freien fuhren und uns die Leute +nicht sehen konnten, hinten aufgestanden wie ein Leibdiener, denn der +Wagen des Vaters hat ein Dienerbrett gehabt. Wir waren kaum anders +als Kinder, er war ein junger Student, der wenig Bekanntschaft hatte, +dessen Herkunft man nicht wußte und um den man auch nicht fragte. Wenn +wir in dem Garten auf dem Landhause waren, sprang er mit den Brüdern +auf den hölzernen Esel, oder sie jagten die Runde in das Wasser oder +setzten unsere Schaukel in Bewegung. Er brachte deinen Vater zu meinen +Brüdern als Kameraden in das Haus. Man wußte damals kaum, wer schöner +gewesen sei, Risach oder dein Vater. Aber nach einer Zeit wurde Risach +weniger gesehen, ich weiß nicht warum, es vergingen manche Jahre, und +ich trat mit deinem Vater in den heiligen Stand der Ehe. Die Brüder +waren als Staatsdiener zerstreut, die Eltern waren endlich tot, von +Risach wurde oft gesprochen, aber wir kamen wenig zusammen. Der Vater +begann seine Tätigkeit hauptsächlich erst dann, als Risach schon +ausgetreten war. Da sitze ich jetzt nun wieder, aber in einem anderen +Teile der Burg, dein Vater hat die Erde verlassen müssen, du bist +nicht einmal mehr ein Kind, dienst deiner hohen, gütigen Herrin, und +da von Risach die Rede war, meinte ich, es seien kaum einige Jahre +vergangen, seit er die Schaukel in unserem Garten bewegt hat.« + +Ich fragte, ob nicht Risach eine Besitzung im Oberlande habe. + +Man sagte mir, daß er dort eine habe. + +Ich wollte nicht weiter fragen, um nicht die ganze Darlegung meiner +Einkehr in diesem Sommer machen zu müssen. + +Als ich aber nach Hause gekommen war, erzählte ich die heutige +Begegnung meinen Angehörigen bei dem Mittagessen. Der Vater kannte den +Freiherrn von Risach sehr gut. Er war in früherer Zeit mehrere Male +mit ihm zusammengekommen, hatte ihn aber jetzt schon lange nicht +gesehen. Als Anhaltspunkte, daß mein Beherberger in dem Rosenhause der +Freiherr von Risach gewesen sei, dienten, daß ich ihn, wenn mich nicht +in der Schnelligkeit des Fahrens eine Ähnlichkeit getäuscht hat, +selber gesehen habe, daß er im Oberlande eine Besitzung hat, daß er +wohlhabend sei, was mein Beherberger sein müsse, und daß er hohe +Geistesgaben besitze, die mein Beherberger auch zu haben scheine. +Man beschloß, in dieser Sache nicht weiter zu forschen, da mein +Beherberger mir seinen Namen nicht freiwillig genannt habe, und die +Dinge so zu belassen, wie sie seien. + +Außer diesen zwei Begebenheiten, die wenigstens für mich von Bedeutung +waren, ereignete sich nichts in jenem Winter, was meine Aufmerksamkeit +besonders in Anspruch genommen hätte. Ich war viel beschäftigt, mußte +oft Stunden der Nacht zu Hilfe nehmen, und so ging mir der Winter weit +schneller vorüber, als es in früheren Jahren der Fall gewesen war. Im +allgemeinen aber befriedigten mich besonders die Hilfsmittel, die eine +große Stadt zur Ausbildung gibt und die man sonst nicht leicht findet. + +Als die Tage schon länger wurden, als die eigentliche Stadtlust schon +aufgehört hatte und die stillen Wochen der Fastenzeit liefen, fragte +ich eines Tages Preborn, weshalb er mir denn die Gräfin Tarona nicht +gezeigt habe, die er so liebe, die so schön sein soll, und zu deren +Gewinnung er meinen Beistand angerufen habe. + +»Erstens ist sie keine Gräfin«, antwortete er mir, »ich weiß nicht +genau ihren Stand, ihr Vater ist tot, und sie lebt in der Gesellschaft +einer reichen Mutter; aber das weiß ich, daß sie nicht von Adel ist, +was mir sehr zusagt, da ich es auch nicht bin - und zweitens ist sie +und ihre Mutter in diesem Winter nicht in die Stadt gekommen. Das +ist die Ursache, daß ich sie dir nicht zeigen konnte und daß du +Gelegenheit fandest, einen Spott gegen mich zu richten. Du mußt sie +aber vorerst sehen. Alle, denen heuer Schönheiten gesagt worden sind, +alle, die man gerühmt hat, alle, die geblendet haben, sind nichts, ja +sie sind noch weniger als nichts gegen sie.« + +Ich antwortete ihm, daß ich nicht spotten, sondern die Sache einfach +habe sagen wollen. + + +Wie sich der Frühling immer mehr näherte, rüstete ich mich zu meiner +Reise. Ich wollte heuer früher reisen, weil ich mir vorgenommen hatte, +ehe ich in die Berge ginge, einen Besuch in dem Rosenhause zu machen. +Mit jedem Jahre wurden meine Zurüstungen weitläufiger, weil ich +in jedem Jahre mehr Erfahrungen hatte und meine Entwürfe weiter +hinaus gingen. Heuer hatte ich auch beschlossen, umfassendere +Zeichnungswerkzeuge und sogar Farben mitzunehmen. Wie es mit jeder +Gewohnheit ist, war es auch bei mir. Wenn ich mich in jedem Herbste +nach der Häuslichkeit zurück sehnte, war es mir in jedem Frühlinge wie +einem Zugvogel, der in jene Gegenden zurückkehren muß, die er in dem +Herbste verlassen hatte. + +Als sich im März in der Stadt schon recht liebliche Tage einstellten, +welche die Menschen in das Freie und auf die Wälle lockten, war ich +mit meinen Vorbereitungen fertig, und nachdem ich von den Meinigen den +gewöhnlichen herzlichen Abschied genommen hatte, reisete ich eines +Morgens ab. + +Mir war damals, so wie jetzt noch, jedes Fortfahren von den +Angehörigen in der Nacht sowie das Antreten irgend einer Reise in der +Nacht sehr zuwider. Die Post ging aber damals in das Oberland erst +abends ab, darum fuhr ich lieber in einem Mietwagen. Die Landhäuser +außer der Stadt, welche reichen Bewohnern derselben gehörten, waren +noch im Winterschlafe. Sie waren teilweise in ihren Umhüllungen mit +Stroh oder mit Brettern befangen, was einen großen Gegensatz zu dem +heiteren Himmel und zu den Lerchen machte, welche schon überall +sangen. Ich fuhr nur durch die Ebene. Da ich in den Bereich der Hügel +gelangte, verließ ich den Wagen und setzte meinen Weg nach meiner +gewöhnlichen Art in kurzen Fußreisen fort. + +Ich betrachtete wieder überall die Bauwerke, wo sie mir als +betrachtenswert aufstießen. Ich habe einmal irgendwo gelesen, daß der +Mensch leichter und klarer zur Kenntnis und zur Liebe der Gegenstände +gelangt, wenn er Zeichnungen und Gemälde von ihnen sieht, als wenn er +sie selber betrachtet, weil ihm die Beschränktheit der Zeichnung alles +kleiner und vereinzelter zusammen faßt, was er in der Wirklichkeit +groß und mit Genossen vereint erblickt. Bei mir schien sich dieser +Ausspruch zu bestätigen. Seit ich die Bauzeichnungen in dem Rosenhause +gesehen hatte, faßte ich Bauwerke leichter auf, beurteilte sie +leichter, und ich begriff nicht, warum ich früher auf sie nicht so +aufmerksam gewesen war. + +Im Oberlande war es noch viel rauher, als ich es in der Stadt +verlassen hatte. Als ich eines Morgens an der Ecke des Buchenwaldes +meines Gastfreundes ankam, in welchem der Alizbach in die Agger fällt, +war noch manches Wässerchen mit einer Eisrinde bedeckt. Da ich das +Rosenhaus erblickte, machte es einen ganz anderen Eindruck als damals, +da ich es als weiße Stelle in dem gesättigten und dunkeln Grün der +Felder und Bäume unter einem schwülen und heißen Himmel gesehen +hatte. Die Felder hatten noch, mit Ausnahme der grünen Streifen der +Wintersaat, die braunen Schollen der nackten Erde, die Bäume hatten +noch kein Knöspchen, und das Weiß des Hauses sah zu mir herüber, als +sähe ich es auf einem schwach veilchenblauen Grunde. + +Ich ging auf der Straße in der Nähe von Rohrberg vorüber und kam +endlich zu der Stelle, wo der Feldweg von ihr über den Hügel zu dem +Rosenhause hinaufführt. Ich ging zwischen den Zäunen und nackten +Hecken dahin, ich ging auf der Höhe zwischen den Feldern und stand +dann vor dem Gitter des Hauses. Wie anders war es jetzt. Die Bäume +ragten mit dem schwarzen oder braunlichen Gezweige nackt in die +dunkelblaue Luft. Das einzige Grün waren die Gartengitter. Über die +Rosenbäumchen an dem Hause war eine schöngearbeitete Decke von Stroh +herabgelassen. Ich zog den Glockengriff, ein Mann erschien, der mich +kannte und einließ, und ich wurde zu dem Herrn geführt, der sich eben +in dem Garten befand. + +Ich traf ihn in einer Kleidung wie im Sommer, nur daß sie von wärmerem +Stoffe gemacht war. Die weißen Haare hatte er wieder wie gewöhnlich +unbedeckt. + +Er schien mir wieder so sehr ein Ganzes mit seiner Umgebung, wie er es +mir im vorigen Sommer geschienen hatte. + +Man war damit beschäftigt, die Stämme der Obstbäume mit Wasser und +Seife zu reinigen. Auch sah ich, wie hie und da Arbeiter auf Leitern +neben den Bäumen waren, um die abgestorbenen und überflüssigen Äste +abzuschneiden. Als ich im vorigen Sommer fort gegangen war, hatte +mein Gastfreund gesagt, daß ich meine Wiederkunft vorher durch eine +Botschaft anzeigen möge, damit ich ihn zu Hause treffe. Er hatte +aber wahrscheinlich nicht bedacht, daß dieses Schwierigkeiten habe, +indem ich in der Regel selber nicht wissen kann, wie sich durch +Witterungsverhältnisse oder andere Umstände meine Vorhaben zu ändern +gezwungen sein dürften. Ich habe ihm also eine Botschaft nicht +geschickt und ihn auf meine Gefahr hin überrascht. Er aber nahm mich +so freundlich auf, da er mich auf sich zuschreiten sah, wie er mich +bei dem vorigjährigen Aufenthalte in seinem Hause freundlich behandelt +hat. + +Ich sagte, er möge es sich selber zuschreiben, daß ich ihn schon so +früh im Jahre in seinem Hause überfalle; er habe mich so wohlwollend +eingeladen, und ich habe mir es nicht versagen können, hieher zu +kommen, ehe die Täler und die Fußwege in dem Gebirge so frei wären, +daß ich meine Beschäftigungen in ihnen anfangen könnte. + +»Wir haben eine ganze Reihe von Gastzimmern, wie ihr wißt«, sagte er, +»wir sehen Gäste sehr gerne, und ihr seid gewiß kein unlieber unter +ihnen, wie ich euch schon im vergangenen Sommer gesagt habe.« + +Er wollte mich in das Haus geleiten, ich sagte aber, daß ich heute +erst drei Stunden gegangen sei, daß meine Kräfte sich noch in sehr +gutem Zustande befänden und daß er erlauben möge, daß ich hier bei ihm +in dem Garten bleibe. Ich bitte ihn nur um das einzige, daß er mein +Ränzlein und meinen Stock in mein Zimmer tragen lasse. + +Er nahm das silberne Glöcklein, das er bei sich trug, aus der Tasche +und läutete. Der Klang war selbst im Freien sehr durchdringend, und +es erschien auf ihn eine Magd aus dem Hause, welcher er auftrug, mein +Ränzlein, das ich mittlerweile abgenommen hatte, und meinen Stock, den +ich ihr darreichte, in mein Zimmer zu tragen. Er gab ihr noch ferner +einige Weisungen, was in dem Zimmer zu geschehen habe. + + +Ich fragte nach Gustav, ich fragte nach dem Zeichner in dem +Schreinerhause, und ich fragte sogar nach dem weißen alten Gärtner +und seiner Frau. Gustav sei gesund, erhielt ich zur Antwort, er +vervollkommne sich an Geist und Körper. Er sei eben in seiner +Arbeitsstube beschäftigt, er werde sich gewiß sehr freuen, mich zu +sehen. Der Zeichner lebe fort wie früher und sei sehr eifrig, und +was die Gärtnersleute anbelange, so verändern sich diese schon seit +mehreren Jahren gar nicht mehr und seien heuer wie ich sie im vorigen +Sommer gesehen habe. Ich fragte endlich auch noch nach dem Gesinde, +den Gartenarbeitern und den Meierhofleuten. Sie seien alle ganz +wohl, wurde geantwortet, es sei seit meinem vorjährigen Besuche kein +Krankheitsfall vorgekommen, und es habe auch keines der Leute eine +gründliche Ursache zur Unzufriedenheit gegeben. + +Nach mehreren gleichgültigen Gesprächen namentlich über die +Beschaffenheit der Wege, auf denen ich hieher gekommen war, und über +das Vorrücken der Wintersaaten auf den Feldern wendete er sich wieder +mehr der Arbeit, die vor ihm geschah, zu, und auch ich richtete meine +Aufmerksamkeit auf dieselbe. Ich hatte mir einmal, da er mir erzählte, +daß er die Baumstämme waschen lasse, die Sache sehr umständlich +gedacht. Ich sah aber jetzt, daß sie mittelst Doppelleitern und +Brettern sehr einfach vor sich gehe. Mit den langstieligen Bürsten +konnte man in die höchsten Zweige emporfahren, und da die Leute +von der Zweckmäßigkeit der Maßregel fest überzeugt waren und emsig +arbeiteten, so schritt das Werk mit einer von mir nicht geahnten +Schnelligkeit vor. In der Tat, wenn man einen gewaschenen und +gebürsteten Stamm ansah, wie er rein und glatt in der Luft stand, +während sein Nachbar noch rauh und schmutzig war, so meinte man, daß +dem einen sehr wohl sein müsse und daß der andere verdrossen aussehe. +Mir fiel die stolze Äußerung ein, die mein Gastfreund im vergangenen +Sommer zu mir getan hatte, daß ich mir den Stamm jenes Kirschbaumes +ansehen solle, ob seine Rinde nicht aussähe wie feine graue Seide. Sie +war wirklich wie Seide und mußte es gerade immer mehr werden, da sie +in jedem Jahre aufs Neue gepflegt wurde. + +Als wir nach einer Weile weiter in den Garten zurückgingen, sah ich +auch noch andere Arbeiten. Die Hecken wurden gebunden und geordnet, +das Dornenreisig zu den Nestern der Vögel unter ihnen hergerichtet, +die Wege von den Schäden des Winters ausgebessert, unter den +Zwergbäumen, die schon beschnitten waren, die Erde gelockert und +bei den schwächeren, welche Stäbe hatten, nachgesehen, ob diese +festhielten und nicht etwa in der Erde abgefault wären. Es wurden +losgegangene Bänder wieder geknüpft, im Gemüsegarten umgegraben, +Fenster an Winterbeeten gelüftet oder zugedeckt, die Pumpen +ausgebessert, mancher Nagel eingeschlagen und endlich hie und da ein +Behältnis für die Vögel gereinigt und befestigt. + +Ich verabschiedete mich von meinem Gastfreunde, da er sehr mit der +Leitung der Arbeiten beschäftigt war, und ging allein in dem Garten +herum, in Teilen, in die ich wollte. Die Vögel waren schon zahlreich +da, sie schlüpften durch die laublosen Zweige der Bäume, und es begann +schon hie und da ein Laut oder ein Zwitschern. Besonders lieblich und +hell schallte der Gesang der aufsteigenden Lerchen von den den Garten +umgebenden Feldern herein. Die Vorrichtungen zur Ernährung und +Tränkung der Vögel waren wegen der Blattlosigkeit der Bäume und +Gesträuche mehr sichtbar, auch schaute ich mehr nach ihnen aus als bei +meiner ersten Ankunft, da ich jetzt bereits von ihnen wußte. Ich sah +mehrere zum Aufstecken von Kernen dienende Gitter, von denen mir mein +Gastfreund erzählt hatte. + +Ich betrachtete auch die Zweige. Die Knospen der Blätter und der +Blüten waren schon sehr geschwollen und harrten der Zeit, in welcher +sie aufbrechen würden. + +Ich stieg bis zu dem großen Kirschbaume empor und sah über den Garten, +über das Haus und auf die Berge. Eine ganz heitere dunkelblaue Luft +war über alles ausgegossen. Dieser schöne Tag, deren es in der +frühen Jahreszeit noch ziemlich wenige gibt, war es auch, der meinen +Gastfreund bewog, so viele Arbeiten in dem Garten zu veranlassen. +Unter der heiteren Luft lag die Erde noch in bedeutender Öde. +Ich wollte auch zu der Felderrast hinüber gehen; allein der Weg, +der am Morgen gefroren gewesen sein mochte, war jetzt weich und +tief durchfeuchtet, daß das Gehen auf ihm sehr unangenehm und +verunreinigend gewesen wäre. Ich sah die dunkeln Wintersaaten und die +nackten Schollen der neben ihnen liegenden Felder eine Weile an und +ging dann wieder hinab. + +Ich ging zu den Gärtnerleuten. Mir kam es nicht vor, wie mein +Gastfreund gesagt hatte, daß sie sich nicht verändert hätten. Der Mann +schien mir noch weißer geworden zu sein. Seine Haare unterschieden +sich nicht mehr von der Leinwand. Die Frau aber war unverändert. Sie +mußte von einer sehr reinlichkeitliebenden Familie stammen, weil sie +das Häuschen so nett hielt und den alten Mann so fleckenlos und knapp +heraus kleidete. Er machte mir ganz genau wieder den nehmlichen +Eindruck wie im vergangenen Jahre, als ob er einer ganz anderen +Beschäftigung angehörte. + +Da ich von dem Gewächshause gegen die Fütterungstenne ging, begegnete +mir Gustav. Er lief mit einem Rufe auf mich zu und grüßte mich. + +Der Knabe hatte sich in kurzer Zeit sehr geändert. Er stand sehr schön +neben mir da, und gegen die rauhe Art der Natur, die noch kein Laub, +kein Gras, keinen Stengel, keine Blume getrieben hatte, sondern der +Jahreszeit gemäß nur die braunen Schollen, die braunen Stämme und die +nackten Zweige zeigte, war er noch schöner; wie ich oft beim Zeichnen +bemerkt hatte, daß zum Beispiele Augen der Tiere in struppigen Köpfen +noch glänzender erschienen und daß feine Kinderangesichtchen, wenn sie +von Pelzwerk umgeben sind, noch feiner aussehen. Ein sanftes Rot war +auf seinen Wangen, braune Haarfülle um die Stirne, und die großen +schwarzen Augen waren wie bei einem Mädchen. Es war, obwohl er sehr +heiter war, fast etwas Trauerndes in ihnen. + +Wir gingen dem Platze zu, auf welchem sein Ziehvater beschäftigt war. +Ich erzählte ihm auf dem Wege von meinen Angehörigen; von meiner +Mutter, von meinem Vater und von meiner lieblichen Schwester. Auch +erzählte ich ihm von der Stadt, wie man dort lebe, was sie für +Vergnügungen biete, was sie für Unannehmlichkeiten habe und wie ich in +ihr meine Zeit hinbringe. + +Er sagte mir, daß er jetzt schon in die Naturlehre eingerückt sei, daß +ihm der Vater Versuche zeige und daß ihn die Sache sehr freue. + +Wir blieben eine Weile bei dem Ziehvater. Gustav zeigte mir allerlei +und machte mich bald auf diese, bald auf jene Veränderung aufmerksam, +welche sich seit meiner früheren Anwesenheit ergeben habe. + +Der Mittag vereinigte uns in dem Hause. + +Da ich so, da die Speisen erschienen, meinem alten Gastfreunde +gegenüber saß, fiel mir plötzlich auf, was der Mann für schöne Zähne +habe. Sehr dicht, weiß, klein und mit einem feinen Schmelze überzogen +saßen sie in dem Munde, und kein einziger fehlte. Seine Wangen hatten +durch den vielen Aufenthalt in der freien Luft ein gutes und gesundes +Rot, nur seine Haare schienen mir wie bei dem Gärtner noch weißer +geworden zu sein. + +Nach dem Essen begab ich mich ein wenig in mein Zimmer. Es war +sehr freundlich hergerichtet worden, und in dem Ofen brannte ein +erwärmendes Feuer. + +Nachmittags gingen wir in das Schreinerhaus. Eustach begrüßte mich aus +seiner Stelle tretend sehr heiter, und ich erwiderte seinen Gruß auf +das herzlichste. Auch die andern Arbeiter gaben zu erkennen, daß sie +mich noch kannten. Ich besah zuerst die Dinge nur flüchtig und im +allgemeinen. Der schöne Tisch war sehr weit vorgerückt; aber er war +noch lange nicht fertig. Es waren wieder ein paar neue Erwerbungen +gemacht worden. Man zeigte sie mir und machte mich darauf aufmerksam, +was aus ihnen werden könne. Auch Plane zu selbstständigen Arbeiten +waren wieder gemacht worden, und man legte mir in kurzem die +Grundansichten auseinander. Ich bat Eustach, daß er erlaube, daß ich +ihn während meiner Anwesenheit ein paar Male besuche. Er gestand es +sehr gerne zu. + +Nach diesem Besuche machten wir trotz der sehr schlechten Wege einen +weiten Spaziergang. Da ich davon sprach, daß ich schon die Vögel in +dem Garten bemerkt habe, sagte mein Gastfreund: »Wenn ihr länger bei +uns wäret, so würdet ihr jetzt eine ganze Lebensgeschichte dieser +Tiere erfahren. Die Zurückgebliebenen fangen schon an, sich zu +erheitern, die fortgezogen sind, treffen bereits allmählich ein und +werden mit Geschrei empfangen. Sie drängen sich sehr an die Tafel und +sputen sich, bis die in der Fremde erfahrnen Nahrungssorgen verwunden +sind; denn dort werden sie schwerlich einen Brotvater finden, der +ihnen gibt. Von da an werden sie immer inniger und singen täglich +schöner. Dann wird ein Gekose in den Zweigen, und sie jagen sich. +Hieran schließt sich die Häuslichkeit. Sie sorgen für die Zukunft und +schleppen sich mit närrischen Lappen zu dem Nesterbau. Ich lasse ihnen +dann allerlei Fäden zupfen, sie nehmen sie aber nicht immer, sondern +ich sehe manchmal einen, wie er an einem kotigen Halme zerrt. Nun +kömmt die Zeit der Arbeit wie bei uns in den Männerjahren. Da werden +die leichtsinnigen Vögel ernsthaft, sie sind rastlos beschäftigt, +ihre Nachkommen zu füttern, sie zu erziehen und zu unterrichten, daß +sie zu etwas Tüchtigem tauglich werden, namentlich zu der großen +bevorstehenden Reise. Gegen den Herbst kömmt wieder eine freiere Zeit. +Da haben sie gleichsam einen Nachsommer und spielen eine Weile, ehe +sie fort gehen.« + +Als wir von dem Spaziergange zurückgekehrt waren und es Abend wurde, +versammelten wir uns an dem Kamine des Speisezimmers, in welchem ein +lustiges Feuer brannte. Auch Eustach wurde herüber geholt, und der +weiße Gärtner mußte kommen und sagen, welche Fortschritte die Pflanzen +in den Winterbeeten und in den Gewächshäusern gemacht hatten. Die +Haushälterin Katharina setzte hie und da ein warmes Getränke auf ein +Tischchen. + + +Am andern Tage morgens ging ich zu meinem Gastfreunde in das +Fütterungszimmer, um zuzusehen. Er suchte sich alle Gattungen Nahrung +aus den Fächern zurecht, öffnete dann die Fenster und tat das Futter +auf die Brettchen. Er blieb an dem Fenster stehen und ich bei ihm. +Trotzdem kamen die Vögel in Bögen oder geraden Linien herbei geflogen. +Ihn fürchteten sie nicht, weil sie ihn als den Nährvater kannten, +und mich nicht, weil ich bei ihm stand. Sie drängten sich, pickten, +zwitscherten und balgten sich sogar mitunter. + +»Ich gebe im späteren Frühlinge und Sommer den Weibchen sehr gerne +noch eine leckere Draufgabe«, sagte er, »weil manches Mal eine +bedrängte Mutter unter ihnen sein kann. Die so hastig und zugleich so +erschreckt fressen, sind Fremde. Sie würden um keinen Preis zu einem +Menschen herzu gehen, wenn sie nicht der bitterste Hunger nötigte. Ich +habe in harten Wintern schon die seltensten Vögel auf diesen Brettern +gesehen.« + +Als alles vorüber war und sich keine Gäste mehr einfanden, schloß er +die Fenster. + +Ich stieg von da auf den Dachboden des Hauses empor, weil er gesagt +hatte, daß jetzt auch den Hasen außerhalb des Gartens Futter gestreut +würde und daß man sie von da sehen könnte. Sie haben noch nichts als +die karge Wintersaat und Nadelreiser, weshalb man noch nachhelfen +müsse. Da die Magd die Blätter ausgestreut und sich entfernt hatte, +kamen schon Hasen herzu. Ich schraubte ein Fernrohr an einen Balken, +und es war lächerlich anzusehen, worauf mich Gustav aufmerksam machte, +wenn ein riesiger Hase in dem Fernrohre saß, mit schreckhaften Augen +auf das verdächtige Mahl sah und schnell die Lippen bewegte, als fräße +er schon. Da ich auch dies gesehen hatte, stieg ich wieder herunter +und ging mit Gustav in das Zimmer, in welchem die Geräte zur +Naturlehre standen. + +Es sollte nun erst das Frühmahl eingenommen werden. Dasselbe wurde +zur Winterszeit immer in dem Zimmer der naturwissenschaftlichen +Gerätschaften genommen, weil man, da man einen Teil des Vormittages +in seinen Zimmern zubrachte, nicht eigens dazu in das Speisezimmer +hinabsteigen wollte und weil in derselben Zeit in den andern +Wohngemächern des alten Mannes, im Arbeitszimmer und Schlafzimmer, +eben aufgeräumt und gelüftet wurde. + +Mein Gastfreund erwartete mich und Gustav schon, denn er war nicht mit +uns auf den Dachboden hinauf gestiegen. Das Gemach war sanft erwärmt, +und in der Nähe des Ofens stand ein Tisch, der gedeckt und mit +allen Geräten versehen war, ein angenehmes Frühmahl zu bereiten. Er +stand auf einem freien Raume, um den herum sich die Werkzeuge der +Wissenschaft befanden. + +Da wir nach dem Frühmahle nun so saßen, da eine anmutige Wärme das +Zimmer erfüllte, da von dem Widerscheine der ganz schief die Fenster +treffenden Morgensonne das Messing, das Glas und das Holz der +verschiedenartigen Werkzeuge erglänzte, sagte ich zu meinem alten +Gastfreunde: »Es ist seltsam, da ich von eurer Besitzung in die Stadt +und ihre Bestrebungen kam, lag mir euer Wesen hier wie ein Märchen in +der Erinnerung, und nun, da ich hier bin und das Ruhige vor mir sehe, +ist mir dieses Wesen wieder wirklich und das Stadtleben ein Märchen. +Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß.« + +»Es gehört wohl Beides und Alles zu dem Ganzen, daß sich das Leben +erfülle und beglücke«, antwortete er. »Weil die Menschen nur ein +Einziges wollen und preisen, weil sie, um sich zu sättigen, sich in +das Einseitige stürzen, machen sie sich unglücklich. Wenn wir nur in +uns selber in Ordnung wären, dann würden wir viel mehr Freude an den +Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünschen und +Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese immer an und vermögen +nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. Leider heißen wir +sie wichtig, wenn sie Gegenstände unserer Leidenschaften sind, und +unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, während es +doch oft umgekehrt sein kann.« + +Ich verstand dieses Wort damals noch nicht so ganz genau, ich war noch +zu jung und hörte selber oft nur mein eigenes Innere reden, nicht die +Dinge um mich. + + +Gegen Mittag kam derjenige meiner Koffer, den ich in das Rosenhaus +bestellt hatte. Ich packte ihn aus und zeigte Gustav, der mich +besuchte, manche Bücher, Zeichnungen und andere Dinge, die er +enthielt, und richtete mich in meinem Zimmer häuslich ein. + +So gingen nun mehrere Tage dahin. + +In diesem Hause war jeder unabhängig und konnte seinem Ziele +zustreben. Nur durch die gemeinsame Hausordnung war man gewissermaßen +zu einem Bande verbunden. Selbst Gustav erschien völlig frei. Das +Gesetz, welches seine Arbeiten regelte, war nur einmal gegeben, es +war sehr einfach, der Jüngling hatte es zu dem seinigen gemacht, er +hatte es dazu machen müssen, weil er verständig war, und so lebte er +darnach. + +Gustav bat mich sehr, ich möchte einmal seinem Unterrichte in der +Naturlehre beiwohnen. Ich sagte es meinem Gastfreunde, und dieser +hatte nichts dawider. So war ich dann nicht einmal, sondern mehrere +Male bei diesem Unterrichte zugegen. Mein alter Gastfreund saß in +einem Lehnsessel und erzählte. Er beschrieb eine Erscheinung, er +machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es möglich +war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung oder, wo dies nicht +möglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung +darzustellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menschen zur +Kenntnis dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses vollendet +hatte, tat er das gleiche mit einer zweiten, verwandten Erscheinung. +Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehörigen Erscheinungen, der +ihm hinlänglich schien, ausgeführt hatte, dann hob er dasjenige, +was allen Erscheinungen gleichartig ist, hervor und stellte die +Grunderscheinung oder das Gesetz dar. + +Bei diesem Unterrichte, wurde nicht ein gewisses Buch zu Grunde +gelegt, sondern Gustav schrieb später das, was ihm erzählt worden war, +aus dem Gedächtnisse auf, der alte Mann besserte es dann in seiner +Gegenwart aus, und so erhielt der Knabe nicht nur ein Handbuch der +Naturwissenschaft, sondern lernte den Stoff selber schon durch das +Aufschreiben und Ausbessern. Was sich Gustav angeeignet hatte, wurde +zu Zeiten gleichsam in freundlichen Gesprächen durchgenommen. Die +Sprache des Unterrichtes war stets so einfach und klar, daß ich +meinte, ein Kind müsse diese Dinge verstehen können. Mir fiel es +jetzt erst recht auf, wie ungehörig manche Lehrer in der Stadt in +dieser Wissenschaft verfahren, welche sie gewissermaßen in eine +wissenschaftliche Necksprache kleiden, die ein Schüler nicht versteht +und mit welcher sie die Mathematik so in eins verflechten, daß beide +beides nicht sind und ein Ganzes auch nicht darstellen. Ich sah, daß +Gustav auch die Rechnung auf die Naturlehre anwandte, aber wo er es +tat, erkannte ich, daß er es stets mit Sachkenntnis und Klarheit tat, +und daß er immer die Rechnung nicht als Hauptsache, sondern hier +als Dienerin der Natur betrachtete. Ich urteilte aus meinen eigenen +früheren Arbeiten, daß er auch in diesem Fache einen gründlichen +Unterricht erhalten haben mußte. Ich fragte ihn einmal darnach und +erfuhr, daß auch hierin sein Ziehvater sein Lehrer gewesen sei. + +Ich besuchte später auch den Unterricht in der Länderkunde. Hier fiel +mir auf, daß gezeichnete Karten gebraucht wurden, welche alle den +nehmlichen Maßstab hatten, so daß Rußland in einer außerordentlich +großen, die Schweiz in einer sehr kleinen Karte dargestellt war. +Mir leuchtete der Zweck dieser Maßregel ein, damit nehmlich +bei der lebhaften jugendlichen Einbildungskraft ein Bild der +Größenverhältnisse dauernd eingeprägt werde. Ich erinnerte mich bei +dieser Gelegenheit einer Wette, die wir Kinder um eine Kleinigkeit +über die Frage abgeschlossen hatten, ob Philadelphia nicht beinahe so +südlich wie Rom liege, was die meisten mit Lachen verneinten. Eine +herbeigebrachte Karte zeigte, daß es südlicher als Neapel liege. + +Allgemein sagten damals auch die großen Leute, die zugegen waren, +daß bei Kindern dieser Irrtum, durch die Raumverhältnisse, in denen +unsere gewöhnlichen Karten gezeichnet seien, veranlaßt werden mußte. +Die Karten, welche Gustav gebrauchte, waren von dem Zeichner im +Schreinerhause nach Karten unserer sogenannten Atlasse verfertigt +worden. + +Ich fragte meinen Gastfreund, ob Gustav auch Geschichte lerne, worauf +er erwiderte: »Man nimmt sehr häufig mit jungen Schülern gleich +zur Erdbeschreibung auch Geschichte vor; ich glaube aber, daß man +hierin Unrecht tut. Wenn man in der Erdbeschreibung nicht bloß die +geschichtliche Einteilung der Erde und Länder vor Augen hat, was ich +auch für einen Fehler halte, sondern wenn man auf die bleibenden +Gestaltungen der Erde sieht, auf denen sich eben durch ihren Einfluß +verschiedenartige Völker gebildet haben, so ist die Erde ein +Naturgegenstand und Erdbeschreibung zum großen Teile ein Bestandteil +der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaften sind uns aber viel +greifbarer als die Wissenschaften der Menschen, wenn ich ja Natur und +Menschen gegenüber stellen soll, weil man die Gegenstände der Natur +außer sich hinstellen und betrachten kann, die Gegenstände der +Menschheit aber uns durch uns selber verhüllt sind. + +Man sollte meinen, daß das Gegenteil statthaben solle, daß man sich +selber besser als Fremdes kennen solle, viele glauben es auch; aber +es ist nicht so. Tatsachen der Menschheit, ja Tatsachen unseres +eigenen Innern werden uns, wie ich schon einmal gesagt habe, durch +Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten oder mindestens +getrübt. Glaubt nicht der größte Teil, daß der Mensch die Krone der +Schöpfung, daß er besser als Alles, selbst das Unerforschte sei? Und +meinen die, welche aus ihrem Ich nicht heraus zu schreiten vermögen, +nicht, daß das All nur der Schauplatz dieses Ichs sei, selbst die +unzähligen Welten des ewigen Raumes dazu gerechnet? Und dennoch dürfte +es ganz anders sein. Ich glaube daher, daß Gustav erst nach Erlernung +der Naturwissenschaften zu den Wissenschaften des Menschen übergehen +soll und daß er da ungefähr die Reihe beobachten soll: Körperlehre, +Seelenlehre, Denklehre, Sittenlehre, Rechtslehre, Geschichte. Hierauf +mag er etwas von den Büchern der sogenannten Weltweisheit lesen, dann +aber muß er in das Leben selber hinaus kommen.« + +Zum Unterrichte für Gustav waren gewisse Stunden festgesetzt, welche +der alte Mann nie versäumte, andere Stunden waren für die Selbstarbeit +bestimmt, welche Gustav wieder gewissenhaft hielt. Die übrige Zeit war +zu freier Beschäftigung überlassen. + +In solchen Zeiten waren wir manches Mal in dem Lesezimmer. Mein +Gastfreund kam auch öfter und gelegentlich auch Eustach oder der eine +und der andere Arbeiter. Für Gustav waren nach der Wahl seines Lehrers +die Bücher, die er lesen durfte, bestimmt. Er benutzte sie fleißig, +ich sah aber nie, daß er nach einem anderen langte. Eustach und die +anderen Leute hatten freie Auswahl, und natürlich ich auch. Da ich +das erste Mal in diesem Hause war, hatte ich es getadelt, daß das +Bücherzimmer von dem Lesezimmer abgesondert sei, es erschien mir +dieses als ein Umweg und eine Weitschweifigkeit. Da ich aber jetzt +länger bei meinem Gastfreunde war, erkannte ich meine Meinung als +einen Irrtum. Dadurch, daß in dem Bücherzimmer nichts geschah, als +daß dort nur die Bücher waren, wurde es gewissermaßen eingeweiht; die +Bücher bekamen eine Wichtigkeit und Würde, das Zimmer ist ihr Tempel, +und in einem Tempel wird nicht gearbeitet. Diese Einrichtung ist auch +eine Huldigung für den Geist, der so mannigfaltig in diesen gedruckten +und beschriebenen Papieren und Pergamentblättern enthalten ist. In dem +Lesezimmer aber wird dann der wirkliche und der freundliche Gebrauch +dieses Geistes vermittelt, und seine Erhabenheit wird in unser +unmittelbares und irdisches Bedürfnis gezogen. Das Zimmer ist auch +recht lieblich zum Lesen. Da scheint die freundliche Sonne herein, +da sind die grünen Vorhänge, da sind die einladenden Sitze und +Vorrichtungen zum Lesen und Schreiben. Selbst daß man jedes Buch nach +dem zeitlichen Gebrauche wieder in das Bücherzimmer an seinem Platz +tragen muß, erschien mir jetzt gut; es vermittelt den Geist der +Ordnung und Reinheit und ist gerade bei Büchern wie der Körper +der Wissenschaft das System. Wenn ich mich jetzt an Bücherzimmer +erinnerte, die ich schon sah, in welchen Leitern, Tische, Sessel, +Bänke waren, auf denen allen etwas lag, seien es Bücher, Papiere, +Schreibzeuge oder gar Geräte zum Abfegen, so erschienen mir solche +Büchersäle wie Kirchen, in denen man mit Trödel wirtschaftet. + +Ich ging auch öfter zu Eustach in das Schreinerhaus. An einem der +ersten sehr heiteren Tage nahm ich alle Zeichnungen mit seiner +Erlaubnis heraus und sah sie noch einmal mit großer Muße und +Genauigkeit an. Ich konnte es fast kaum glauben, wie sehr mich meine +Zeichnungsübungen während des vergangenen Winters gefördert hatten. +Ich verstand jetzt Vieles, was ich da vorfand, besser als im Sommer, +und es gefielen mir die meisten Dinge auch mehr. Ich teilte ihm +manches von meinen Zeichnungen mit, namentlich von Zeichnungen von +Pflanzen, deren ich dieses Mal eine größere Anzahl in meinem Koffer +mitgebracht hatte. + +Bei meiner ersten Anwesenheit hatte ich in dem Ränzchen nur einige +Schriften, ein Fernrohr und andere Sachen getragen, die in ein so +kleines Behältnis gehen, Zeichnungen aber nicht. Er hatte eine +Freude an diesen Dingen; aber sonderbar war es anzusehen, wie er die +Pflanzenzeichnungen nicht als Pflanzenfreund und Kenner anblickte, +sondern als Baumeister, der ihre Gestalt verwenden kann. Er versuchte +später selber auch Zeichnungen nach lebenden Pflanzen; aber hier trat +der Unterschied von einem Pflanzenfreunde noch mehr hervor: die Bilder +wurden ihm allgemach durch unmerkliche Zusätze aus Gewächsen schöne +Verzierungen. Er suchte sich auch in der Regel solche Vorbilder aus, +die zu seinem Berufe in näherer Beziehung standen oder in eine solche +gebracht werden konnten. In Bezug auf die anderen Dinge, die in dem +Schreinerhause gearbeitet wurden, zeigte er mir Alles und erklärte mir +Manches, wenn ich nach Erklärung verlangte. Auch hierin glaubte ich +seit dem vorigen Sommer Fortschritte gemacht zu haben, namentlich da +ich die Gegenstände, die mein Vater besaß, wohl genau betrachtet und +mir eingeprägt hatte, um ihre Bilder hieher übertragen und mit dem, +was sich hier befand, vergleichen zu können. + +Die Gestalten gingen jetzt leichter in mein Wesen ein, mir gefiel +Vieles mehr als im vorigen Sommer, und ich wurde auf Manches +aufmerksam, was ich damals nicht beachtet hatte. Wir saßen zuweilen in +dem freundlichen Zimmer Eustachs, wenn die Vormittagssonne durch die +geschlossenen Vorhänge sanft hereinblickte, und redeten von allerlei +Dingen. + +An Nachmittagen, besonders wenn trübes Wetter war und die Geschäfte im +Freien nicht eine große Ausdehnung hatten, versammelte man sich in dem +Arbeitszimmer meines Gastfreundes. Dieses Zimmer war an Nachmittagen, +wo es sehr zusammengeräumt und wo mehr Muße war, der Vereinigungspunkt +der kleinen Gesellschaft, wenn sie sich überhaupt vereinigte. Mein +alter Gastfreund hatte sich dieses Gemach sehr wohnlich, wenn auch +für Einsamkeit geeignet, herrichten lassen, wie er überhaupt, wenn er +nicht eigens Menschen um sich versammelte, die Einsamkeit liebte. Er +hatte neben seinem Sessel einen Glockenzug, der durch den Fußboden in +die Gesindezimmer hinab ging, um schnell einen Diener rufen zu können. +In dem Schlafzimmer war etwas Ähnliches. Dort befanden sich außer +dem gewöhnlichen Glockenzuge an den Seitenbrettern des Bettes zwei +Platten, die durch das leiseste Auflegen einer Hand eine laut und +lange tönende Glocke in Bewegung setzten, damit man, wenn dem alten +Manne etwas zustieße, schnell zu Hilfe eilen könnte. Zwei Diener +hatten immer die Schlüssel zu seinen Gemächern, um auch in der Nacht +von außen aufsperren zu können. Diese Vorrichtungen waren eine +Erfindung Eustachs, weil der alte Mann jede Einschränkung durch +Dienerschaft, ja die Nähe derselben nicht wollte, um nicht gestört zu +werden. Er ließ auch nicht zu, daß Gustav in einem Zimmer neben ihm +schlafe, um sich nicht an ihn zu gewöhnen und ihn dann zu vermissen, +da der Jüngling doch einmal fort müsse. Wenn man in dem Arbeitszimmer +meines Gastfreundes versammelt war, besprach man gewöhnlich +Angelegenheiten des Besitztums, Veränderungen, die notwendig sind, +Arbeiten, die man vornehmen müsse, und Gegenstände der Kunst. Hieher +wurden die Pläne und Entwürfe von Dingen gebracht, die man entweder in +Holz ausführen wollte oder die Anlagen in dem Garten oder Umänderungen +an Gebäuden betrafen. Es war gut, diese Entwürfe gerade in dieses +Zimmer zu bringen, weil sie da eine sehr schöne und ausgezeichnete +Umgebung antrafen, und sich daher jeder Fehler und jede +Unzulänglichkeit, wenn derlei in dem Entwurfe waren, sogleich +aufzeigte und verbessert werden konnte. An dem Tage, wo mehrere +Menschen in das Arbeitszimmer des alten Mannes kamen, war immer ein +Teppich über den auserlesenen Fußboden desselben gebreitet, damit er +keine Beschädigung erleide. + + +Wenn trockene Wege waren, gingen wir öfter in den Meierhof. Dort +wurden die Arbeiten, welche der erste Frühling bringt, rüstig +betrieben. Das Ganze war seit meiner vorjährigen Anwesenheit in +Ordnung und Fülle sehr vorgeschritten. Man mußte bis spät in den +Herbst hinein und selbst im Winter, soweit es tunlich war, fleißig +gearbeitet haben. Im Innern des Hofes war nicht mehr bloß die schöne +Pflasterung an den Gebäuden herum und der reinliche Sand über den +ganzen Hofraum, sondern es war in der Mitte desselben ein kleiner +Springquell, der mit drei Strahlen in ein Becken fiel und eine +Blumenanlage um sich hatte. + +Auf das alles sahen die hellen Fenster des Hofes ringsum heraus. So +sah dieser Teil des Gebäudes, obwohl zwei Seiten des Hofes Ställe und +Scheunen waren, wie ein Edelsitz aus. Ich fragte meinen Gastfreund, +ob er neues Mauerwerk habe aufführen lassen, da ich den Meierhof viel +vollkommener sehe als im vergangenen Jahre, und da er auch schöner +sei, als sie hier im Lande gebaut würden. + +»Ich habe keine Mauern aufführen lassen«, antwortete er, »nur die +letzten äußeren Verschönerungen habe ich angebracht, und die Fenster +habe ich vergrößert, der Grund war schon da. Die Meierhöfe und +größeren Bauerhöfe unserer Gegend sind nicht so häßlich gebaut, als +ihr meint. Nur sind sie stets bis auf ein gewisses Maß fertig, weiter +nicht; die letzte Vollendung, gleichsam die Feile, fehlt, weil sie in +dem Herzen der Bewohner fehlt. Ich habe bloß dieses Letzte gegeben. +Wenn man mehrere Beispiele aufstellte, so würden sich im Lande die +Ansichten über das notwendige Aussehen und die Wohnbarkeit der Häuser +ändern. Dieses Haus soll so ein Beispiel sein.« + +Die Wege um den Hof und dessen Wiesen und Felder waren auch nicht mehr +so, wie sie größtenteils in dem vorigen Sommer gewesen waren. Sie +waren fest, mit weißem Quarze belegt und scharf und wohl abgegrenzt. + +An schönen Mittagen, die bereits auch immer wärmer wurden, saß ich +gerne auf dem Bänkchen, das um den großen Kirschbaum lief, und sah auf +die unbelaubten Bäume, auf die frisch geeggten Felder, auf die grünen +Tafeln der Wintersaat, die schon sprossenden Wiesen und durch den +Duft, der in dem ersten Frühlinge gerne aus Gründen quillt, auf die +Hochgebirge, die mit dem Glanze des noch in ungeheurer Menge auf +ihnen liegenden Schnees spielten. Gustav schloß sich an mich viel an, +wahrscheinlich weil ich unter allen Bewohnern des Hauses ihm an Alter +am nächsten war. Er saß deshalb gerne bei mir auf dem Bänkchen. Wir +gingen manches Mal auf die Felderrast hinüber, und er zeigte mir einen +Strauch, auf dem bald Blüten hervor kommen würden, oder eine sonnige +Stelle, auf der das erste Grün erschien, oder Steine, um die schon +verfrühte Tierchen spielten. + +Eines Tages entdeckte ich in den Schreinen der Natursammlung eine +Zusammenstellung aller inländischen Hölzer. Sie waren in lauter +Würfeln aufgestellt, von denen zwei Flächen quer gegen die Fasern, +die übrigen vier nach den Fasern geschnitten waren. Von diesen vier +Flächen war eine rauh, die zweite glatt, die dritte poliert und die +vierte hatte die Rinde. Im Innern der Würfel, welche hohl waren und +geöffnet werden konnten, befanden sich die getrockneten Blüten, die +Fruchtteile, die Blätter und andere merkwürdige Zugehöre der Pflanze, +zum Beispiel gar die Moose, die auf gewissen Orten gewöhnlich wachsen. +Eustach sagte mir, der alte Herr - so nannten alle Bewohner des Hauses +meinen Gastfreund, nur Gustav nannte ihn Ziehvater - habe diese +Sammlung angelegt und die Anordnung so ausgedacht. Sie soll nach dem +Willen des alten Herrn noch einmal gemacht und der Gewerbschule zum +Geschenke gegeben werden. + +Seine seltsame Kleidung und seine Gewohnheit, immer barhäuptig zu +gehen, welch beides mir Anfangs sehr aufgefallen war, beirrte mich +endlich gar nicht mehr, ja es stimmte eigentlich zu der Umgebung +sowohl seiner Zimmer als der um ihn herum wohnenden Bevölkerung, von +der er sich nicht als etwas Vornehmes abhob, der er vielmehr gleich +war und von der er sich doch wieder als etwas Selbstständiges +unterschied. Mir fiel im Gegenteile ein, daß manches nicht +geschmackvoll sei, was wir so heißen, am wenigstens der Stadtrock und +der Stadthut der Männer. + +In die Zimmer, welche nach Frauenart eingerichtet waren, wurde +ich einmal auf meine Bitte geführt. Sie gefielen mir wieder sehr, +besonders das letzte, kleine, welchem ich jetzt den Namen »die Rose« +gab. Man konnte in ihm sitzen, sinnen und durch das liebliche Fenster +auf die Landschaft blicken. Daß ich nicht um den Gebrauch dieser +Zimmer fragte, begreift sich. + +Ich erzählte meinem Gastfreunde oft von meinem Vater, von der Mutter +und von der Schwester. Ich erzählte ihm von allen unsern häuslichen +Verhältnissen und beschrieb ihm mehrfach, so genau ich es konnte, die +Dinge, die mein Vater in seinen Zimmern hatte und auf welche er einen +Wert legte. Meinen Namen nannte ich hiebei nicht, und er fragte auch +nicht darnach. + +Ebenso wußte ich, obwohl ich nun länger in seinem Hause gewesen war, +noch immer seinen Namen nicht. Zufällig ist er nicht genannt worden, +und da er ihn nicht selber sagte, so wollte ich aus Grundsatz +niemanden darum fragen. Von Gustav oder Eustach wäre er am leichtesten +zu erfahren gewesen; aber diese zwei mochte ich am wenigsten fragen, +am allerwenigsten Gustav, wenn er unzählige Male unbefangen den +Namen Ziehvater aussprach. Der Mann war sehr gut, sehr lieb und sehr +freundlich gegen mich, er nannte seinen Namen nicht, ich konnte auch +nicht mit Gewißheit voraussetzen, daß er meine, ich kenne denselben; +daher beschloß ich, gar nicht, selbst nicht in der größten Entfernung +von diesem Orte, um den Namen des Besitzers des Rosenhauses zu fragen. + + +Nach und nach änderte sich die Zeit immer mehr und immer gewaltiger. +Die Tage waren viel länger geworden, die Sonne schien schon sehr warm, +die Fristen, in denen der Himmel sich klar und wolkenlos zeigte, +wurden bereits länger als die, in denen er umwölkt oder neblich war; +die Erde sproßte, die Bäume knospten, an den Rosenbäumchen vor dem +Hause wurde sehr fleißig gearbeitet, alles war heiter, und der +Frühling war in seine ganze Fülle eingetreten. Diese Zeit war schon +lange als diejenige bestimmt gewesen, in welcher ich abreisen würde. +Ich sagte dieses noch einmal meinem Gastfreunde, und da ich Anstalten +getroffen hatte, meinen Koffer fort zu senden, wurde der Tag der +Abreise festgesetzt. + +Wir hatten früher noch die Verabredung getroffen, daß ich meine +Arbeiten so einrichten wolle, daß ich zur Zeit der Rosenblüte +wiederkommen und wieder längere Zeit in dem Hause verbleiben könne. Da +ich sah, daß ich gerne aufgenommen werde und daß ich in Hinsicht der +äußeren Mittel keine Last in dem Hause sei, und da mein Gemüt sich +auch diesem Orte zugeneigt fühlte, so war mir diese Verabredung ganz +nach meinem Sinne. Nur, meinte mein Gastfreund, müßte ich dann in den +Gebirgstälern schon zur Herreise aufbrechen, wenn dort kaum die Rosen +völlige Knospen hätten, weil sie hier der bessern Erde und der bessern +Pflege willen früher blühten als an allen Teilen des Landes. Ich sagte +es zu, und so war alles in Ordnung. + +Am Tage vor meiner Abreise kam Eustachs Bruder zurück. Er mochte +zwanzig und einige Jahre alt sein, war schön gewachsen, hatte braune +Wangen und dunkle Locken und ein klein wenig aufgeworfene Lippen. +Mir war, als wäre ich dem Manne schon einige Male auf meinen Reisen +begegnet. Er brachte in seinem Buche viele und darunter schöne +Zeichnungen mit, welche mit Anteil betrachtet wurden. Sie sollten nun +auf größerem Papiere und in künstlerischer Richtung ausgeführt werden. + +Als ich am Abende vor der Abreise noch im Meierhofe gewesen war, als +ich am Morgen derselben zu Eustach und den Gärtnersleuten gegangen +war, als ich den Hausbewohnern Lebewohl gesagt und von meinem +Gastfreunde und von Gustav vor dem Hause Abschied genommen hatte, ging +ich den Hügel hinunter, und ich hörte schon von dem Garten und von den +Hecken und aus den Saaten den kräftigen Frühlingsgesang der Vögel. + + + +Die Begegnung + +Auf der Reise nach dem Orte meiner Bestimmung zeichnete ich ein +schönes Standbild, welches ich in der Nische einer Mauertrümmer fand. +Ich hatte dazu mein Zeichnungsbuch aus dem Ränzlein genommen, in +welchem ich es jetzt immer trug. Dies war die einzige Unterbrechung +und der einzige Aufenthalt auf dieser Reise gewesen. + +Als ich an meinem Bestimmungsorte angelangt war, war das erste, was +ich tat, daß ich meine Zeit besser zu Rate hielt als früher. Ich +mußte mir bekennen, daß die Art, wie in dem Rosenhause das Tagewerk +betrieben wurde, auf mich von großem Einflusse sein solle. Da dort der +Wert der Zeit sehr hoch angeschlagen und dieses Gut sehr sorgfältig +angewendet wurde, so fing ich, wenn ich mir auch bisher einen großen +Vorwurf nicht hatte machen können, dennoch an, mit viel mehr Ordnung +als bisher nach einem einzigen Ziele während einer bestimmten Zeit +hinzuarbeiten, während ich früher, durch augenblickliche Eindrücke +bestimmt, mit den Zielen öfter wechselte und, obwohl ich eifrig +strebte, doch eine dem Streben entsprechende Wirkung nicht jederzeit +erreichte. Ich machte mir nun zur Aufgabe, eine bestimmte Strecke zu +durchforschen und im Verlaufe überhaupt nichts liegen zu lassen, was +von Wesenheit wäre, aber auch nichts auf eine gelegenere Zukunft zu +verschieben, so daß, sollte ich bis zur Rosenzeit mit der vorgesetzten +Strecke nicht fertig werden, wenigstens der Teil, den ich vollendete, +wirklich fertig wäre und ich auf genau umschriebene Ergebnisse zu +deuten im Stande wäre. Das sah ich nach dem Beginne der Arbeiten sehr +bald, daß ich mir den Raum zu groß ausgesteckt hatte; aber auch das +sah ich sehr bald, daß der kleinere Raum, den ich überwinden würde, +mir mehr an Erfolg sicherte, als wenn ich wie in meiner Vergangenheit +durch geraume Zeit den Blick so ziemlich auf Alles gespannt hätte. +Hiezu kam auch eine gewisse Zufriedenheit, die ich fühlte, wenn ich +sah, daß sich Glied an Glied zu einer Ordnung aneinander reihte, +während früher mehr ein ansprechender Stoff durcheinander lag, als daß +eine aus dem Stoffe hervorgehende Gestaltung sich entwickelt hätte. + +Meine Kisten füllten sich und stellten sich an einander. + +Meine Führer und meine Träger gewannen auch einen Halt in der neuen +Ordnung und es wuchs ihnen ein Zutrauen zu mir. Ich bekam eine Neigung +zu ihnen, die sie erwiderten, so daß sich ein fröhliches Zusammenleben +immer mehr gestaltete und die Arbeit heiter und darum auch zweckmäßig +wurde. Oft, wenn wir abends in der Wirtsstube um den großen +viereckigen Ahorntisch oder, da die Tage endlich heißer wurden, statt +an den toten Brettern des Tisches draußen unter den lebenden und +rauschenden Ahornen saßen, um welche ein fichtener Tisch zusammen +gezimmert war und auf welche das vielfenstrige Gasthaus heraus sah, +rechneten sie sich vor, was heute, was seit vierzehn Tagen geschehen +sei, wie viel wir, wie sie sich ausdrückten, abgetan haben, und wie +viel Gebirge zusammen gestellt worden sei. Sie fingen auch bald an, +die Sache nach ihrer Art zu begreifen, über Vorkommnisse in den +Gebirgszügen zu reden und zu streiten und mir zuzumuten, daß, wenn ich +mir merken könnte, woher alle die gesammelten Stücke seien, und wenn +ich die Höhe und die Mächtigkeit der Gebirge zu messen im Stande +wäre, ich das Gebirge im Kleinen auf einer Wiese oder auf einem Felde +aufstellen könnte. Ich sagte ihnen, daß das ein Teil meines Zweckes +sei, und wenn gleich das Gebirge nicht auf einer Wiese oder auf +einem Felde zusammengestellt werde, so werde es doch auf dem Papiere +gezeichnet und werde mit solchen Farben bemalt, daß jeder, der sich +auf diese Dinge verstände, das Gebirge mit allem, woraus es bestehe, +vor Augen habe. Deshalb merke ich mir nicht nur, woher die Stücke +seien und unter welchen Verhältnissen sie in den Bergen bestehen, +sondern schreibe es auch auf, damit es nicht vergessen werde, und +beklebe auch die Stücke mit Zetteln, auf denen alles Notwendige stehe. +Diese Stücke, in ihrer Ordnung aufgestellt, seien dann der Beweis +dessen, was auf dem Papiere oder der Karte, wie man das Ding nenne, +aufgemalt sei. Sie meinten, daß dieses sehr klug getan sei, um, wenn +einer einen Stein oder sonst etwas zu einem Baue oder dergleichen +bedürfe, gleich aus der Karte heraus lesen zu können, wo er zu finden +sei. Ich sagte ihnen, daß ein anderer Zweck auch darin bestehe, aus +dem, was man in den Gebirgen finde, schließen zu können, wie sie +entstanden seien. + +Die Gebirge seien gar nicht entstanden, meinte einer, sondern seien +seit Erschaffung der Welt schon dagewesen. + +»Sie wachsen auch«, sagte ein anderer, »jeder Stein wächst, jeder +Berg wächst wie die anderen Geschöpfe. Nur«, setzte er hinzu, weil er +gerne ein wenig schalkhaft war, »wachsen sie nicht so schnell wie die +Schwämme.« + +So stritten sie länger und öfter über diesen Gegenstand, und so +besprachen wir uns über unsere Arbeiten. Sie lernten durch den bloßen +Umgang mit den Dingen des Gebirges und durch das öftere Anschauen +derselben nach und nach ein Weiteres und Richtigeres, und lächelten +oft über eine irrige Ansicht und Meinung, die sie früher gehabt +hatten. + +Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Festhaltung der Ordnung dehnte +sich aus, die Blätter mehrten sich und gaben Aussicht zu einer +umfassenden und regelmäßigen Zusammenstellung des Stoffes, wenn die +Wintertage oder sonst Tage der Muße gekommen sein würden. + +An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die Arbeit minder drängte, gab +es noch Gelegenheit zu manchen angenehmen Freuden und zu stärkender +Erholung. + +Eines Tages fanden wir ein Stück Marmor, von dem ich dachte, daß ihn +mein Gastfreund in seinem Rosenhause noch gar nicht habe. Er war von +dem reinsten Weiß, Rosenrot und Strohgelb in kleiner und lieblicher +Mischung. Seine Art ist eine der seltensten, und hier war sie in einem +so großen Stücke vorhanden, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich +beschloß, diesen Marmor meinem Gastfreunde zum Geschenke zu machen. +Ich versuchte, mir ein Eigentumsrecht darüber zu erwerben, und als +mir dieses gelungen war, ging ich daran, das Stück, soweit seine +Festigkeit ununterbrochen war, heraus nehmen und in eine Gestalt +schneiden zu lassen, deren es fähig war. Es zeigte sich, daß eine +schöne Tischplatte aus diesem Stoffe zu verfertigen wäre. Von den +losen Schuttstücken nahm ich mehrere der besseren mit, um allerlei +Dinge der Erinnerung daraus machen zu lassen. Eines ließ ich zu +einer Tafel schleifen und dieselbe glätten, daß mein Gastfreund die +Zeichnung und die Farbe des Marmors auf das beste sehen könne. + + +So war eine Strecke abgetan, als in den Tälern sich die kleinen +Knospen der Rosen zu zeigen anfingen und selbst an dem Hagedorn, der +in Feldgehegen oder an Gebirgssteinen wuchs, die Bällchen zu der +schönen, aber einfachen Blume sich entwickelten, die die Ahnfrau +unserer Rosen ist. Ich beschloß daher, meine Reise in das Rosenhaus +anzutreten. Ich habe mich kaum mit größerem Vergnügen nach einem +langen Sommer zur Heimreise vorbereitet, als ich mich jetzt nach einer +wohlgeordneten Arbeit zu dem Besuche im Rosenhause anschickte, um dort +eine Weile einen angenehmen Landaufenthalt zu genießen. + +Eines Nachmittages stieg ich zu dem Hause empor und fand die Rosen +zwar nicht blühend, aber so überfüllt mit Knospen, daß in nicht mehr +fernen Tagen eine reiche Blüte zu erwarten war. + +»Wie hat sich alles verändert«, sagte ich zu dem Besitzer, nachdem ich +ihn begrüßt hatte, »da ich im Frühlinge von hier fortging, war noch +alles öde, und nun blättert, blüht und duftet alles hier beinahe in +solcher Fülle wie im vorigen Jahre zu der Zeit, da ich zum ersten Male +in dieses Haus heraufkam.« + +»Ja«, erwiderte er, »wir sind wie der reiche Mann, der seine Schätze +nicht zählen kann. Im Frühlinge kennt man jedes Gräschen persönlich, +das sich unter den ersten aus dem Boden hervor wagt, und beachtet +sorgsam sein Gedeihen, bis ihrer so viele sind, daß man nicht mehr +nach ihnen sieht, daß man nicht mehr daran denkt, wie mühevoll sie +hervor gekommen sind, ja daß man Heu aus ihnen macht und gar nicht +darauf achtet, daß sie in diesem Jahre erst geworden sind, sondern +tut, als ständen sie von jeher auf dem Platze.« + +Man hatte mir eine eigene Wohnung machen lassen und führte mich +in dieselbe ein. Es waren zwei Zimmer am Anfange des Ganges der +Gastzimmer, welche man durch eine neugebrochene Tür zu einer einzigen +Wohnung gemacht hatte. Das eine war bedeutend groß und hatte +ursprünglich die Bestimmung gehabt, mehrere Personen zugleich zu +beherbergen. Es war jetzt ausgeleert, an seinen Wänden standen Tische +und Gestelle herum, sowie in seiner Mitte ein langer Tisch angebracht +war, damit ich meine Sachen, die ich etwa von dem Gebirge brächte, +ausbreiten könnte. Das zweite Zimmer war kleiner und war zu meinem +Schlaf- und Wohngemache hergerichtet. Der alte Mann reichte mir die +Schlüssel zu dieser Wohnung. Auch zeigte man mir in der leichten +gemauerten Hütte, die nicht weit hinter der Schreinerei an der +westlichen Grenze des Gartens lag und in früheren Zeiten zu den +Steinarbeiten benutzt worden war, einen Raum, den man ausgeleert hatte +und in welchen ich Gegenstände, die ich gesammelt hätte, bis auf +weitere Verfügung niederlegen könnte. Sollte ich mehr brauchen, so +könne noch mehr geräumt werden, da jetzt die Arbeiten mit den Steinen +fast beendigt seien und selten etwas gesägt, geschliffen oder +geglättet werde. Ich war über diese Aufmerksamkeiten so gerührt, daß +ich fast keinen Dank dafür zu sagen vermochte. Ich begriff nicht, was +ich mir denn für Verdienste um den Mann oder seine Umgebung erworben +habe, daß man solche Anstalten mache. Das Eine gereichte zu meiner +Beruhigung, daß ich aus diesen Vorrichtungen sah, daß ich in dem Hause +nicht unwillkommen sei, denn sonst wäre man nicht auf den Gedanken +derselben geraten. Dieses Bewußtsein versprach meinen Bewegungen in +den hiesigen Verhältnissen viel mehr Freiheit zu geben. Ich stattete +endlich doch meinen Dank ab und man nahm ihn mit Vergnügen auf. + + +Da ich in meiner Wohnung meine Wandersachen abgelegt hatte und +die ersten allgemeinen Gespräche vorüber waren, wollte ich einen +übersichtlichen Gang durch den Garten machen. Ich ging bei der +Seitentür des Hauses hinaus, und da ich auf den kleinen Raum kam, der +hier eingefaßt ist, kam der große Hofhund auf mich zu und wedelte. +Als ich sah, daß der alte Hilan mich erkenne und begrüße, war ich so +kindisch, mich darüber zu freuen, weil es mir war, als sei ich kein +Fremder, sondern gehöre gewissermaßen zur Familie. + +Am nächsten Tage nach meiner Ankunft erschien der Wagen mit meinem +Gepäcke und mit der Marmorplatte. Ich ließ abladen und übergab die +Platte meinem Gastfreunde mit dem Bedeuten, daß ich ihm in derselben +eine Erinnerung aus dem Gebirge bringe. Zugleich händigte ich ihm +das kleinere geschliffene Stück zur genaueren Einsicht in die Natur +des Marmors ein. Er besah das Stück und dann auch die Platte sehr +sorgfältig. Hierauf sagte er: »Dieser Marmor ist außerordentlich +schön, ich habe ihn noch gar nicht in meiner Sammlung, auch scheint +die Platte dicht und ohne Unterbrechung zu sein, so daß ein reiner +Schliff auf ihr möglich sein wird, ich bin sehr erfreut, in dem +Besitze dieses Stückes zu sein und danke euch sehr dafür. Allein in +meinem Hause kann er als Bestandteil desselben nicht verwendet werden, +weil dort nur solche Stücke angebracht sind, welche ich selber +gesammelt habe, und weil ich an dieser Art der Sammlung und an der +Verbuchung darüber eine solche Freude habe, daß ich auch in der +Zukunft nicht von diesem Grundsatze abgehe. Es wird aber ganz gewiß +aus diesem Marmor etwas gemacht werden, das seiner nicht unwert ist, +ich hege die Hoffnung, daß es euch gefallen wird, und ich wünsche, daß +die Gelegenheit seiner Verwendung euch und mir zur Freude gereiche.« + +Ich hatte ohnehin ungefähr so etwas erwartet und war beruhigt. + +Der Marmor wurde in die Steinhütte gebracht, um dort zu liegen, bis +man über ihn verfügen würde. Meine übrigen Dinge aber ließ ich in +meine Wohnung bringen. + +Ich ging im Sommer immer sehr leicht gekleidet, entweder in +ungebleichtem oder gestreiftem Linnen. Den Kopf bedeckte meistens ein +leichter Strohhut. Um nun hier nicht aufzufallen und um weniger von +der einfachen Kleidung der Hausbewohner abzustechen, nahm ich ein paar +solcher Anzüge sammt einem Strohhute aus dem Koffer, kleidete mich in +einen und legte dafür meinen Reiseanzug für eine künftige Wanderung +zurück, + +Mein Gastfreund hatte auf seiner Besitzung eine etwas eigentümliche +Tracht teils eingeführt, teils nahmen sie die Leute selber an. Die +Dienerinnen des Hauses waren in die Landestracht gekleidet, nur dort, +wo diese, wie namentlich in unserem Gebirge, ungefällig war oder in +das Häßliche ging, wurde sie durch den Einfluß des Hausbesitzers +gemildert und mit kleinen Zutaten versehen, die mir schön erschienen. +Diese Zutaten fanden im Anfange Widerstand, aber da sie von dem alten +Herrn geschenkt wurden und man ihn nicht kränken wollte, wurden sie +angenommen und später von den Umwohnerinnen nicht nur beneidet, +sondern auch nachgeahmt. Die Männer, welche in dem Hause dienten oder +in dem Meierhofe arbeiteten oder in dem Garten beschäftigt waren, +trugen gefärbtes Linnen, nur war dasselbe nicht so dunkel, als es +bei uns im Gebirge gebräuchlich ist. Eine Jacke oder eine andere Art +Überrock hatten sie im Sommer nicht, sondern sie gingen in lediglichen +Hemdärmeln, und um den Hals hatten sie ein loses Tuch geschlungen. Auf +dem Haupte trugen einige wie der Hausherr nichts, andere hatten den +gewöhnlichen Strohhut. Eustach schien in seiner Kleidung niemanden +nachzuahmen, sondern sie selbst zu wählen. Er ging auch in gestreiftem +Linnen, meistens rostbraun mit grau oder weiß; aber die Streifen waren +fast handbreit, oder es hatte der ganze Stoff nur zwei Farben, die +Hälfte des Längenblattes braun, die Hälfte weiß. Oft hatte er einen +Strohhut, oft gar nichts auf dem Haupte. Seine Arbeiter hatten +ähnliche Anzüge, auf denen selten ein Schmutzfleck zu sehen war; denn +bei der Arbeit hatten sie große grüne Schürzen um. Unter allen diesen +Leuten hoben sich der Gärtner und die Gärtnerin heraus, welche bloß +schneeweiß gingen. + +Ich zeigte meinem Gastfreunde und Eustach die Zeichnung, welche ich +von dem Standbilde in der Mauernische gemacht hatte. Sie freuten sich, +daß ich auf derlei Dinge aufmerksam sei, und sagten, daß sie dasselbe +Bild auch unter ihren Zeichnungen hätten, nur daß es jetzt mit +mehreren anderen Blättern außer Hause sei. + +Ich betrachtete nun alles, was mir in dem Garten und auf dem Felde +im vorigen Jahre in derselben Jahreszeit merkwürdig gewesen war. +Die Blätter der Bäume, die Blätter des Kohles und die von anderen +Gewächsen waren vom Raupenfraße frei, und nicht nur die im Garten, +sondern auch die in der nächsten und in der in ziemliche Ferne +reichenden Umgebung. Ich hatte bei meiner Herreise eigens auf diesen +Umstand mein Augenmerk gerichtet. Dennoch entbehrte der Garten nicht +des schönen Schmuckes der Faltern; denn einerseits konnten die Vögel +doch nicht alle und jede Raupen verzehren und andererseits wehte +der Wind diese schönen lebendigen Blumen in unsern Garten oder sie +kamen auf ihren Wanderungen, die sie manchmal in große Entfernungen +antreten, selber hieher. Der Gesang der Vögel war mir wieder wie im +vorigen Jahre eigentümlich, und er war mir wieder ganz besonders +schmelzend. + +Dadurch, daß sie in verschiedenen Fernen sind, die Laute also +mit ungleicher Stärke an das Ohr schlagen, dadurch, daß sie sich +gelegenheitlich unterbrechen, da sie inzwischen allerlei zu tun haben, +eine Speise zu haschen, auf ein Junges zu merken, wird ein reizender +Schmelz veranlaßt wie in einem Walde, während die besten Singvögel in +vielen Käfigen nahe bei einander nur ein Geschrei machen, und dadurch, +daß sie in dem Garten sich doch wieder näher sind als im Walde, wird +der Schmelz kräftiger, während er im Walde zuweilen dünn und einsam +ist. Ich sah die Nester, besuchte sie und lernte die Gebräuche dieser +Tiere kennen. + +In meinen Zimmern richtete ich mich ein, ich tat die Bücher und +Papiere, die ich mitgebracht hatte, heraus, um zu lesen, einzuzeichnen +und zu ordnen. Ich legte auch auf den großen Tisch und auf die +Gestelle an den Wänden kleinere Gegenstände, die ich mitgebracht +hatte, besonders Versteinerungen oder andere deutlichere Überreste, um +sie zu benutzen. + +Gustav kam häufig zu mir, er nahm Anteil an diesen Dingen, ich +erklärte ihm manches, und mein Gastfreund sah es nicht ungern, wenn +ich mit ihm, entweder ein Buch in der Hand unter den schattigen Linden +des Gartens oder ohne Buch auf großen Spaziergängen - denn der alte +Mann liebte die Bewegung noch sehr - von meiner Wissenschaft sprach. +Er erzählte mir dagegen von der seinigen, und ich hörte ihm freundlich +zu, wenn er auch Dinge brachte, die mir schon besser bekannt waren. +Zeiten, in denen ich ohne Beschäftigung und allein war, brachte ich +auf Gängen in den Feldern oder auf einem Besuche in dem Schreinerhause +oder in dem Gewächshause oder bei den Cactus zu. + +Die wogenden Felder, die ich im vorigen Jahre um dieses Anwesen +getroffen hatte, waren auch heuer wogende und wurden mit jedem Tage +schöner, dichter und segensreicher, der Garten hüllte sich in die +Menge seiner Blätter und der nach und nach schwellenden Früchte, der +Gesang der Vögel wurde mir immer noch lieblicher und schien die Zweige +immer mehr zu erfüllen, die scheuen Tiere lernten mich kennen, nahmen +von mir Futter und fürchteten mich nicht mehr. Ich lernte nach und +nach alle Dienstleute kennen und nennen, sie waren freundlich mit +mir, und ich glaube, sie wurden mir gut, weil sie den Herrn mich mit +Wohlwollen behandeln sahen. Die Rosen gediehen sehr, Tausende harrten +des Augenblicks, in dem sie aufbrechen würden. Ich half oft an den +Beschäftigungen, die diesen Blumen gewidmet wurden, und war dabei, +wenn die Rosenarbeiten besichtigt wurden und ausgemittelt ward, ob +alles an ihnen in gutem Stande sei. Ebenso ging ich gerne zum Besehen +anderer Dinge mit, wenn auf Wiesen oder im Walde gearbeitet wurde, in +welch letzterem man jetzt daran war, das im Winter geschlagene Holz zu +verkleinern oder zum Baue oder zu Schreinerarbeiten herzurichten. Ich +trug oft meinen Strohhut, wenn der alte Mann und Gustav neben mir +barhäuptig gingen, in der Hand, und ich mußte bekennen, daß die Luft +viel angenehmer durch die Haare strich, als wenn sie durch einen Hut +auf dem Haupte zurück gehalten wurde, und daß die Hitze durch die +Locken so gut wie durch einen Hut von dem bloßen Haupte abgehalten +wurde. + + +Eines Tages, da ich in meinem Zimmer saß, hörte ich einen Wagen zu dem +Hause herzufahren. Ich weiß nicht, weshalb ich hinabging, den Wagen +ankommen zu sehen. Da ich an das Gitter gelangte, stand er schon +außerhalb desselben. Er war von zwei braunen Pferden herbeigezogen +worden, der Kutscher saß noch auf dem Bocke und mußte eben angehalten +haben. Vor der Wagentür, mit dem Rücken gegen mich gekehrt, stand +mein Gastfreund, neben ihm Gustav und neben diesem Katharina und zwei +Mägde. Der Wagen war noch gar nicht geöffnet, er war ein geschlossener +Gläserwagen und hatte an der innern Seite seiner Fenster grüne +zugezogene Seidenvorhänge. Einen Augenblick nach meiner Ankunft +öffnete mein Gastfreund die Wagentür. Er geleitete an seiner Hand eine +Frauengestalt aus dem Wagen. Sie hatte einen Schleier auf dem Hute, +hatte aber den Schleier zurückgeschlagen und zeigte uns ihr Angesicht. +Sie war eine alte Frau. + +Augenblicklich, da ich sie sah, fiel mir das Bild ein, welches mein +Gastfreund einmal über manche alternde Frauen von verblühenden Rosen +hergenommen hatte. »Sie gleichen diesen verwelkenden Rosen. Wenn sie +schon Falten in ihrem Angesichte haben, so ist doch noch zwischen den +Falten eine sehr schöne, liebe Farbe«, hatte er gesagt, und so war es +bei dieser Frau. Über die vielen feinen Fältchen war ein so sanftes +und zartes Rot, daß man sie lieben mußte und daß sie wie eine Rose +dieses Hauses war, die im Verblühen noch schöner sind als andere Rosen +in ihrer vollen Blüte. Sie hatte unter der Stirne zwei sehr große +schwarze Augen, unter dem Hute sahen zwei sehr schmale Silberstreifen +des Haares hervor, und der Mund war sehr lieb und schön. Sie stieg von +dem Wagentritte herab und sagte die Worte: »Gott grüße dich, Gustav!« + +Hiebei neigte sich der alte Mann gegen sie, sie neigte ihr +Angesicht gegen ihn und die beiderseitigen Lippen küßten sich zum +Willkommensgruße. + +Nach dieser Frau kam eine zweite Frauengestalt aus dem Wagen. +Sie hatte auch einen Schleier um den Hut und hatte ihn auch +zurückgeschlagen. Unter dem Hute sahen braune Locken hervor, das +Antlitz war glatt und fein, sie war noch ein Mädchen. Unter der +Stirne waren gleichfalls große schwarze Augen, der Mund war hold und +unsäglich gütig, sie schien mir unermeßlich schön. Mehr konnte ich +nicht denken; denn mir fiel plötzlich ein, daß es gegen die Sitte +sei, daß ich hinter dem Gitter stehe und die Aussteigenden anschaue, +während die, die sie empfangen, mir den Rücken zuwenden und von meiner +Anwesenheit nichts wissen. Ich ging um die Ecke des Hauses zurück und +begab mich wieder in mein Wohnzimmer. + +Dort hörte ich nach einiger Zeit an Tritten und Gesprächen, daß die +ganze Gesellschaft an meinem Zimmer vorbei den ganzen Gang entlang +wahrscheinlich in die schönen Gemächer an der östlichen Seite des +Hauses gehe. + +Was weiter an dem Wagen geschehen sei, ob noch eine oder zwei Personen +aus demselben gestiegen seien, konnte ich nicht wissen; denn auch +nicht einmal beim Fenster wollte ich nun hinabsehen. Daß aber +Gegenstände von demselben abgepackt und in das Haus gebracht wurden, +konnte ich an dem Reden und Rufen der Leute erkennen. Auch den Wagen +hörte ich endlich fortfahren, wahrscheinlich wurde er in den Meierhof +gebracht. + +Ich blieb immer in der Tiefe des Zimmers sitzen. Ich ging weder zu dem +Fenster, noch ging ich in den Garten, noch verließ ich überhaupt das +Zimmer, obwohl eine ziemlich lange Zeit ruhig und still verfloß. Ich +wollte lesen oder schreiben und tat es dann doch wieder nicht. + + +Endlich, da vielleicht ein paar Stunden vergangen waren, kam Katharina +und sagte, der alte Herr lasse mich recht schön bitten, daß ich in das +Speisezimmer kommen möge, man erwarte mich dort. + +Ich ging hinab. + +Als ich eingetreten war, sah ich, daß mein Gastfreund in einem +Lehnsessel an dem Tische saß, neben ihm saß Gustav. An der +entgegengesetzten Seite saß die Frau. Ihr Sessel war aber ein wenig +von dem Tische abgewendet und der Tür, durch welche ich eintrat, +zugekehrt. Hinter ihr und um eine Sesselhälfte seitwärts saß das +Mädchen. + +Sie waren nun ganz anders gekleidet, als da ich sie aus dem Wagen +steigen gesehen hatte. Statt des städtischen Hutes, den sie da +getragen hatten, deckte jetzt ein Strohhut mit nicht gar breiten +Flügeln, so daß sie eben genug Schatten gaben, das Haupt, die übrigen +Kleider bestanden aus einem einfachen, lichten, mattfärbigen Stoffe +und waren ohne alle besonderen Verzierungen verfertigt, so wie der +Schnitt nichts Auffälliges hatte, weder eine zur Schau getragene +Ländlichkeit noch ein zu strenge festgehaltenes städtisches Wesen. + +Es standen mehrere Diener herum, so wie Katharina, die mich geholt +hatte, auch wieder hinter mir in das Zimmer gegangen war und sich zu +den dastehenden Mägden gesellt hatte. Selbst der Gärtner Simon war +zugegen. + +Als ich in die Nähe des Tisches gekommen war, stand mein Gastfreund +auf, umging den Tisch, führte mich vor die Frau und sagte: »Erlaube, +daß ich dir den jungen Mann vorstelle, von dem ich dir erzählt habe.« +Hierauf wandte er sich gegen mich und sagte: »Diese Frau ist Gustavs +Mutter, Mathildis.« + +Die Frau sagte in dem ersten Augenblicke nichts, sondern richtete ein +Weilchen die dunkeln Augen auf mich. + +Dann wies er mit der Hand auf das Mädchen und sagte: »Diese ist +Gustavs Schwester Natalie.« + +Ich wußte nicht, waren die Wangen des Mädchens überhaupt so rot oder +war es errötet. Ich war sehr befangen und konnte kein Wort hervor +bringen. Es war mir äußerst auffallend, daß er jetzt, wo er den Namen +beinahe mit Notwendigkeit brauchte, weder um den meinigen gefragt noch +den der Frauen genannt hatte. Ehe ich recht mit mir zu Rate gehen +konnte, ob zu der Verbeugung, welche ich gemacht hatte, etwas gesagt +werden solle oder nicht, fuhr er in seiner Rede fort und sagte: »Er +ist ein freundlicher Hausgenosse von uns geworden und schenkt uns +einige Zeit in unserer ländlichen Einsamkeit. Er strebt die Berge +und das Land zu erforschen und zur Kenntnis des Bestehenden und zur +Herstellung der Geschichte des Gewordenen etwas beizutragen. Wenn auch +die Taten und die Förderung der Welt mehr das Geschäft des Mannes +und des Greises sind, so ziert ein ernstes Wollen auch den Jüngling, +selbst wo es nicht so klar und so bestimmt ist wie hier.« + +»Mein Freund hat mir von euch erzählt«, sagte die Frau zu mir, indem +sie mich wieder mit den dunkeln glänzenden Augen ansah, »er hat mir +gesagt, daß ihr im vergangenen Jahre bei ihm waret, daß ihr ihn im +Frühlinge besucht habt und daß ihr versprochen habt, zur Zeit der +Rosenblüte wieder eine Weile in diesem Hause zuzubringen. Mein Sohn +hat auch sehr oft von euch gesprochen.« + +»Er scheint nicht ganz ungerne hier zu sein«, sagte mein Gastfreund; +»denn sein Angesicht wenigstens hat noch nicht, bei dem früheren so +wie bei deinem jetzigen Besuche, die Heiterkeit verloren.« + +Ich hatte mich während dieser Reden gesammelt und sagte: »Wenn ich +auch aus der großen Stadt komme, so bin ich doch wenig mit fremden +Menschen in Verkehr getreten und weiß daher nicht, wie mit ihnen um +zugehen ist. In diesem Hause bin ich, da ich irrtümlich ein Gewitter +fürchtete und um einen Unterstand herauf ging, sehr freundlich +aufgenommen worden, ich bin wohlwollend eingeladen worden, wieder zu +kommen und habe es getan. Es ist mir hier in Kurzem so lieb geworden +wie bei meinen teuren Eltern, bei welchen auch eine Regelmäßigkeit +und Ordnung herrscht wie hier. Wenn ich nicht ungelegen bin und die +Umgebung mir nicht abgeneigt ist, so sage ich gerne, wenn ich auch +nicht weiß, ob man es sagen darf, daß ich immer mit Freuden kommen +werde, wenn man mich einladet.« + +»Ihr seid eingeladen«, erwiderte mein Gastfreund, »und ihr müßt aus +unsern Handlungen erkennen, daß ihr uns sehr willkommen seid. Nun +werden auch Gustavs Mutter und Schwester eine Weile in diesem Hause +zubringen, und wir werden erwarten, wie sich unser Leben entwickeln +wird. Wollt ihr euch nicht ein wenig zu mir setzen und abwarten, bis +der Willkommensgruß von allen, die da stehen, vorüber ist?« + +Er ging wieder um den Tisch herum zurück, und ich folgte ihm. Gustav +machte mir Platz neben seinem Ziehvater und sah mich mit der Freude +an, welche ein Sohn empfindet, der in der Fremde den Besuch der Mutter +empfängt. + +Natalie hatte kein Wort gesprochen. + +Ich konnte jetzt, da ich ein wenig gegen die Frauen hin zu blicken +vermochte, recht deutlich sehen, daß hier Gustavs Mutter und Schwester +zugegen seien; denn beide hatten dieselben großen schwarzen Augen wie +Gustav, beide dieselben Züge des Angesichtes, und Natalie hatte auch +die braunen Locken Gustavs, während die der Mutter die Silberfarbe des +Alters trugen. Sie gingen nun, recht schön geordnet, in einem viel +breiteren Bande an beiden Seiten der Stirne herab, als sie es unter +dem Reisestrohhute getan hatten. + +Vor Mathilde war, während wir unsere Sitze eingenommen hatten, die +Haushälterin Katharina getreten. + +Die Frau sagte: »Sei mir vielmal gegrüßt, Katharina, ich danke dir, du +hast deinen Herrn und meinen Sohn in deiner besonderen Obhut und übst +viele Sorgfalt an ihnen aus. Ich danke dir sehr. Ich habe dir etwas +gebracht, nur als eine kleine Erinnerung, ich werde es dir schon +geben.« + +Als Katharina zurück getreten war, als sich die anderen insgesammt +näherten, sich verbeugten und mehrere Mädchen der Frau die Hand +küßten, sägte sie: »Seid mir alle von Herzen gegrüßt, ihr sorgt alle +für den Herrn und seinen Ziehsohn. Sei gegrüßt, Simon, sei gegrüßt, +Klara, ich danke euch allen und habe allen etwas gebracht, damit ihr +seht, daß ich keines in meiner Zuneigung vergessen habe; denn sonst +ist es freilich nur eine Kleinigkeit.« + +Die Leute wiederholten ihre Verbeugung, manche auch den Handkuß, und +entfernten sich. Sie hatten sich auch vor Natalie geneigt, welche den +Gruß recht freundlich erwiderte. + +Als alle fort waren, sagte die Frau zu Gustav: »Ich habe auch dir +etwas gebracht, das dir Freude machen soll, ich sage noch nicht was; +allein ich habe es nur vorläufig gebracht, und wir müssen erst den +Ziehvater fragen, ob du es schon ganz oder nur teilweise oder noch gar +nicht gebrauchen darfst.« + +»Ich danke dir, Mutter«, erwiderte der Sohn, »du bist recht gut, +liebe Mutter, ich weiß jetzt schon, was es ist, und wie der Ziehvater +ausspricht, werde ich genau tun.« + +»So wird es gut sein«, antwortete sie. + +Nach dieser Rede waren alle aufgestanden. + +»Du bist heuer zu sehr guter Zeit gekommen, Mathilde«, sagte mein +Gastfreund, »keine einzige der Rosen ist noch aufgebrochen; aber alle +sind bereit dazu.« + +Wir hatten uns während dieser Rede der Tür genähert, und mein +Gastfreund hatte mich gebeten, bei der Gesellschaft zu bleiben. + +Wir gingen bei dem grünen Gitter hinaus und gingen auf den Sandplatz +vor dem Hause. Die Leute mußten von diesem Vorgange schon unterrichtet +sein; denn ihrer zwei brachten einen geräumigen Lehnsessel und +stellten ihn in einer gewissen Entfernung mit seiner Vorderseite gegen +die Rosen. + +Die Frau setzte sich in den Sessel, legte die Hände in den Schoß und +betrachtete die Rosen. + +Wir standen um sie. Natalie stand zu ihrer Linken, neben dieser +Gustav, mein Gastfreund stand hinter dem Stuhle und ich stellte mich, +um nicht zu nahe an Natalie zu sein, an die rechte Seite und etwas +weiter zurück. + +Nachdem die Frau eine ziemliche Zeit gesessen war, stand sie +schweigend auf, und wir verließen den Platz. Wir gingen nun in das +Schreinerhaus. Eustach war nicht bei der allgemeinen Bewillkommnung im +Speisezimmer gewesen. Er mußte wohl als Künstler betrachtet worden, +dem man einen Besuch zudenke. Ich erkannte aus dem ganzen Benehmen, +daß das Verhältnis in der Tat so sei und als das richtigste empfunden +werde. Eustach mußte das gewußt haben; denn er stand mit seinen Leuten +ohne die grünen Schürzen vor der Tür, um die Angekommenen zu begrüßen. +Die Frau dankte freundlich für den Gruß aller, redete Eustach herzlich +an, fragte ihn um sein und seiner Leute Wohlbefinden, um ihre Arbeiten +und Bestrebungen, und sprach von vergangenen Leistungen, was ich, da +mir diese fremd waren, nicht ganz verstand. Hierauf gingen wir in die +Werkstätte, wo die Frau jede der einzelnen Arbeiterstellen besah. In +dem Zimmer Eustachs sprach sie die Bitte aus, daß er ihr bei ihrem +längeren Aufenthalte manches Einzelne zeigen und näher erklären möge. + +Von dem Schreinerhause gingen wir in die Gärtnerwohnung, wo die Frau +ein Weilchen mit den alten Gärtnerleuten sprach. + +Hierauf begaben wir uns in das Gewächshaus, zu den Ananas, zu den +Cacteen und in den Garten. + +Die Frau schien alle Stellen genau zu kennen; sie blickte mit +Neugierde auf die Plätze, auf denen sie gewisse Blumen zu finden +hoffte, sie suchte bekannte Vorrichtungen auf und blickte sogar in +Büsche, in denen etwa noch das Nest eines Vogels zu erwarten war. Wo +sich etwas seit früher verändert hatte, bemerkte sie es und fragte um +die Ursache. So waren wir durch den ganzen Garten bis zu dem großen +Kirschbaume und zu der Felderrast gekommen. Dort sprach sie noch etwas +mit meinem Gastfreunde über die Ernte und über die Verhältnisse der +Nachbarn. + +Natalie sprach äußerst wenig. + +Als wir in das Haus zurück gekommen waren, begaben wir uns, da das +Mittagsmahl nahe war, auf unsere Zimmer. Mein Gastfreund sagte mir +noch vorher, ich möge mich zum Mittagessen nicht umkleiden; es sei +dieses in seinem Hause selbst bei Besuchen von Fremden nicht Sitte, +und ich würde nur auffallen. + +Ich dankte ihm für die Erinnerung. + +Als ich, da die Hausglocke zwölf Uhr geschlagen hatte, in das +Speisezimmer hinunter gegangen war, fand ich in der Tat die +Gesellschaft nicht umgekleidet. Mein Gastfreund war in den Kleidern, +wie er sie alle Tage hatte, und die Frauen trugen die nehmlichen +Gewänder, in denen sie den Spaziergang gemacht hatten. Gustav und ich +waren wie gewöhnlich. + +Am oberen Ende des Tisches stand ein etwas größerer Stuhl und vor ihm +auf dem Tische ein Stoß von Tellern. Mein Gastfreund führte, da ein +stummes Gebet verrichtet worden war, die Frau zu diesem Stuhle, den +sie sofort einnahm. Links von ihr saß mein Gastfreund, rechts ich, +neben meinem Gastfreunde Natalie und neben ihr Gustav. Mir fiel es +auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern +geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm und +von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn +wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu +füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug. + +Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das +immer bisher gefehlt hätte. Es war nun etwas wie eine Familie in +dieses Haus gekommen, welcher Umstand mir die Wohnung meiner Eltern +immer so lieb und angenehm gemacht hatte. + +Das Essen war so einfach, wie es in allen Tagen gewesen war, die ich +in dem Rosenhause zugebracht hatte. + +Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit +einer offenen Heiterkeit und Ruhe. + +Nach dem Essen kam ein großer Korb, welchen Arabella, das +Dienstmädchen Mathildens, welches mit den Frauen gekommen war, welches +ich aber nicht mehr hatte aussteigen gesehen, herein gebracht hatte. +Außer dem Korbe wurde auch ein Pack in grauem Papiere und mit schönen +Schnüren zugeschnürt gebracht und auf zwei Sessel gelegt, die an +der Wand standen. In dem Korbe befanden sich die Geschenke, welche +Mathilde den Leuten mitgebracht hatte und welche jetzt ausgepackt +waren. Ich sah, daß diese Geschenkausteilung gebräuchlich war und +öfter vorkommen mußte. Das Gesinde kam herein, und jede der Personen +erhielt etwas Geeignetes, sei es ein schwarzes seidnes Tuch für ein +Mädchen oder eine Schürze oder ein Stoff auf ein Kleid, oder sei +es für einen Mann eine Reihe Silberknöpfe auf eine Weste oder eine +glänzende Schnalle auf das Hutband oder eine zierliche Geldtasche. Der +Gärtner empfing etwas, das in sehr feine Metallblätter gewickelt war. +Ich vermutete, daß es eine besondere Art von Schnupftabak sein müsse. + + +Als schon alles ausgeteilt war, als sich schon alle auf das beste +bedankt und aus dem Zimmer entfernt hatten, wies Mathilde auf den +Pack, der noch immer auf den Sesseln lag, und sagte: »Gustav, komme +her zu mir.« + +Der Jüngling stand auf und ging um den Tisch herum zu ihr. Sie nahm +ihn freundlich bei der Hand und sagte: »Was noch da liegt, gehört dir. +Du hast mich schon lange darum gebeten, und ich habe es dir lange +versagen müssen, weil es noch nicht für dich war. Es sind Goethes +Werke. Sie sind dein Eigentum. Vieles ist für das reifere Alter, ja +für das reifste. Du kannst die Wahl nicht treffen, nach welcher du +diese Bücher zur Hand nehmen oder auf spätere Tage aufsparen sollst. +Dein Ziehvater wird zu den vielen Wohltaten, die er dir erwies, auch +noch die fügen, daß er für dich wählt, und du wirst ihm in diesen +Dingen ebenso folgen, wie du ihm bisher gefolgt hast.« + +»Gewiß, liebe Mutter, werde ich es tun, gewiß«, sagte Gustav. + +»Die Bücher sind nicht neue und schön eingebundene, wie du vielleicht +erwartest«, fuhr sie fort. »Es sind dieselben Bücher Goethes, in +welchen ich in so mancher Nachtstunde und in so mancher Tagesstunde +mit Freude und mit Schmerzen gelesen habe und die mir oft Trost und +Ruhe zuzuführen geeignet waren. Es sind meine Bücher Goethes, die ich +dir gebe. Ich dachte, sie könnten dir lieber sein, wenn du außer dem +Inhalte die Hand deiner Mutter daran fändest, als etwa nur die des +Buchbinders und Druckers.« + +»O lieber, viel lieber, teure Mutter, sind sie mir«, antwortete +Gustav, »ich kenne ja die Bücher, die mit dem feinen braunen Leder +gebunden sind, die feine Goldverzierung auf dem Rücken haben und in +der Goldverzierung die niedlichen Buchstaben tragen, die Bücher, in +denen ich dich so oft habe lesen gesehen, weshalb es auch kam, daß ich +dich schon wiederholt um solche Bücher gebeten habe.« + +»Ich dachte es, daß sie dir lieber sind«, sagte die Frau, »und darum +habe ich sie dir gegeben. Da ich aber auch wohl noch gerne für +den Überrest meines Lebens ein Wort von diesem merkwürdigen Manne +vernehmen möchte, werde ich mir die Bücher neu kaufen, für mich haben +die neuen die Bedeutung wie die alten. Du aber nimm die deinigen in +Empfang und bringe sie an den Ort, der dir dafür eingeräumt ist.« + +Gustav küßte ihr die Hand und legte seinen Arm wie in unbeholfener +Zärtlichkeit auf die Schulter ihres Gewandes. Er sprach aber kein +Wort, sondern ging zu den Büchern und begann, ihre Schnur zu lösen. + +Als ihm dies gelungen war, als er die Bücher aus den Umschlagpapieren +gelöst und in mehreren geblättert hatte, kam er plötzlich mit einem +in der Hand zu uns und sagte: »Aber siehst du, Mutter, da sind manche +Zeilen mit einem feinen Bleistifte unterstrichen und mit demselben +feingespitzten Stifte sind Worte an den Rand geschrieben, die von +deiner Hand sind. Diese Dinge sind dein Eigentum, sie sind in den +neugekauften Büchern nicht enthalten, und ich darf dir dein Eigentum +nicht entziehen.« + +»Ich gebe es dir aber«, antwortete sie, »ich gebe es dir am liebsten, +der du jetzt schon von mir entfernt bist und in Zukunft wahrscheinlich +noch viel weiter von mir entfernt leben wirst. Wenn du in den Büchern +liesest, so liesest du das Herz des Dichters und das Herz deiner +Mutter, welches, wenn es auch an Werte tief unter dem des Dichters +steht, für dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein +Mutterherz ist. Wenn ich an Stellen lesen werde, die ich unterstrichen +habe, werde ich denken, hier erinnert er sich an seine Mutter, +und wenn meine Augen über Blätter gehen werden, auf welche ich +Randbemerkungen niedergeschrieben habe, wird mir dein Auge +vorschweben, welches hier von dem Gedruckten zu dem Geschriebenen +sehen und die Schriftzüge von Einer vor sich haben wird, die deine +beste Freundin auf der Erde ist. So werden die Bücher immer ein Band +zwischen uns sein, wo wir uns auch befinden. Deine Schwester Natalie +ist bei mir, sie hört öfter als du meine Worte, und ich höre auch oft +ihre liebe Stimme und sehe ihr freundliches Angesicht.« + +»Nein, nein, Mutter«, sagte Gustav, »ich kann die Bücher nicht nehmen, +ich beraube dich und Natalie.« + +»Natalie wird schon etwas anderes bekommen«, antwortete die Mutter. +»Daß du mich nicht beraubst, habe ich dir schon erklärt, und es war +seit längerer Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir diese +Bücher geben werde.« + +Gustav machte keine Einwendungen mehr. Er nahm ihre Rechte in seine +beiden Hände, drückte sie, küßte sie und ging dann wieder zu den +Büchern. + +Als er alle ausgepackt hatte, holte er einen Diener und ließ sie durch +ihn in seine Wohnung tragen. + + +Nach dem Essen war es im Plane, daß wir uns zerstreuen sollten und +jeder sich nach seinem Sinne beschäftige. + +Ich hatte es während des Vorganges mit den Büchern nicht vermocht, auf +das Angesicht Nataliens zu schauen, was etwa in ihr vorgehen möge und +was sich in den Zügen spiegle. Ich mußte mir nur denken, sie werde +von dem höchsten Beifalle über die Handlung ihrer Mutter durchdrungen +sein. Als wir uns aber von dem Tische erhoben, als wir das stumme +Gebet gesprochen und uns wechselweise verneigt hatten, wobei ich meine +Augen immer nur auf meinen alten Gastfreund und auf die Frau gerichtet +hatte, und als wir uns jetzt anschickten, das Zimmer zu verlassen, und +Natalie den Arm Gustavs nahm und beide Geschwister sich umkehrten, um +der Tür zuzugehen, wagte ich es, den Blick zu dem Spiegel zu erheben, +in dem ich sie sehen mußte. Ich sah aber fast nichts mehr als die vier +ganz gleichen schwarzen Augen sich in dem Spiegel umwenden. + +Wir traten alle in das Freie. + +Mein Gastfreund und die Frau begaben sich in eine Wirtschaftstube. + +Natalie und Gustav gingen in den Garten, er zeigte ihr Verschiedenes, +das ihm etwa an dem Herzen lag oder worüber er sich freute, und sie +nahm gewiß den Anteil, den die Schwester an den Bestrebungen des +Bruders hat, den sie liebt, auch wenn sie die Bestrebungen nicht ganz +verstehen sollte und sie, wenn es auf sie allein ankäme, nicht zu den +ihrigen machen würde. So tut es ja auch Klotilde mit mir in meiner +Eltern Hause. + +Ich stand an dem Eingange des Hauses und sah den beiden Geschwistern +nach, so lange ich sie sehen konnte. Einmal erblickte ich sie, wie sie +vorsichtig in ein Gebüsch schauten. Ich dachte mir, er werde ihr ein +Vogelnest gezeigt haben und sie sehe mit Teilnahme auf die winzige +befiederte Familie. Ein anderes Mal standen sie bei Blumen und +schauten sie an. Endlich sah ich nichts mehr. Das lichte Gewand der +Schwester war unter den Bäumen und Gesträuchen verschwunden, manche +schimmernde Stellen wurden zuweilen noch sichtbar und dann nichts +mehr. Ich ging hierauf in meine Zimmer. + +Mir war, als müsse ich dieses Mädchen schon irgendwo gesehen haben; +aber da ich mich bisher viel mehr mit leblosen Gegenständen oder +mit Pflanzen beschäftigt hatte als mit Menschen, so hatte ich +keine Geschicklichkeit, Menschen zu beurteilen, ich konnte mir die +Gesichtszüge derselben nicht zurecht legen, sie mir nicht einprägen +und sie nicht vergleichen; daher konnte ich auch nicht ergründen, wo +ich Natalie schon einmal gesehen haben könnte. + +Ich blieb den ganzen Nachmittag in meiner Wohnung. + +Als die Hitze des Tages, welcher ganz heiter war, sich ein wenig +gemildert hatte, wurde ich aufgefordert, einen Spaziergang mit zu +machen. An demselben nahmen mein Gastfreund, Mathilde, Natalie, +Gustav und ich Teil. Wir gingen durch eine Strecke des Gartens. Mein +Gastfreund, Mathilde und ich bildeten eine Gruppe, da sie mich in +ihr Gespräch gezogen hatten, und wir gingen, wo es die Breite des +Sandweges zuließ, neben einander. Die andere Gruppe bildeten Natalie +und Gustav, und sie gingen eine ziemliche Anzahl Schritte vor uns. +Unser Gespräch betraf den Garten und seine verschiedenen Bestandteile, +die sich zu einem angenehmen Aufenthalte wohltuend ablösten, es betraf +das Haus und manche Verzierungen darin, es erweiterte sich auf die +Fluren, auf denen wieder der Segen stand, der den Menschen abermals +um ein Jahr weiter helfen sollte, und es ging auf das Land über, +auf manche gute Verhältnisse desselben und auf anderes, was der +Verbesserung bedürfte. Ich sah den zwei holen Gestalten nach, die +vor uns gingen. Gustav ist mir heute plötzlich als völlig erwachsen +erschienen. Ich sah ihn neben der Schwester gehen und sah, daß er +größer sei als sie. Dieser Gedanke drängte sich mir mehrere Male auf. +War er aber auch größer, so war ihre Gestalt feiner und ihre Haltung +anmutiger. Gustav hatte wie sein Ziehvater nichts auf dem Haupte als +die Fülle seiner dichten braunen Locken, und als Natalie den sanft +schattenden Strohhut, den sie wie ihre Mutter auf hatte, abgenommen +und an den Arm gehängt hatte, so zeigten ihre Locken genau die Farbe +wie die Gustavs, und wenn die Geschwister, die sich sehr zu lieben +schienen, sehr nahe an einander gingen, so war es von ferne, als sähe +man eine einzige braune, glänzende Haarfülle und als teilen sich nur +unten die Gestalten. + +Wir gingen bei der Pforte hinaus, die gegen den Meierhof führt, gingen +aber nicht in den Meierhof, sondern machten einen großen Bogen durch +die Felder und kamen dann schief über den südlichen Abhang des Hügels +wieder zu dem Hause hinauf. + +Da die Tage sehr lang waren, so leuchtete noch die Abendröte, wenn +wir von unserem Abendessen, das pünktlich immer zur gleichen Zeit +sein mußte, aufstanden. Wir gingen daher heute auch noch nach dem +Abendessen in den Garten. Wir gingen zu dem großen Kirschbaume empor. +Dort setzten wir uns auf das Bänklein. Mein Gastfreund und Mathilde +saßen in der Mitte, so daß ihre Angesichter gegen den Garten hinab +gerichtet waren. Links von meinem Gastfreunde saß ich, rechts von der +Mutter saßen Natalie und Gustav. Die Lüfte dunkelten immer mehr, ein +blasser Schein war über die Wipfel des Gartens, der jetzt schwieg, und +über das Dach des Hauses gebreitet. Das Gespräch war heiter und ruhig, +und die Kinder wendeten oft ihr Angesicht herüber, um an dem Gespräche +Anteil zu nehmen und gelegentlich selber ein Wort zu reden. + +Da sich der eine und der andere Stern an dem Himmel entzündete und +in den Tiefen der Gartengesträuche schon die völlige Dunkelheit +herrschte, gingen wir in das Haus und in unsere Zimmer. + +Ich war sehr traurig. Ich legte meinen Strohhut auf den Tisch, legte +meinen Rock ab und sah bei einem der offenen Fenster hinaus. Es war +heute nicht wie damals, da ich zum ersten Male in diesem Hause über +dem Rosengitter aus dem offenen Fenster in die Nacht hinausgeschaut +hatte. Es standen nicht die Wolken am Himmel, die ihn nach Richtungen +durchzogen und ihm Gestaltung gaben, sondern es brannte bereits über +dem ganzen Gewölbe der einfache und ruhige Sternenhimmel. Es ging kein +Duft der Rosen zu meiner Nachtherberge herauf, da sie noch in den +Knospen waren, sondern es zog die einsame Luft kaum fühlbar durch die +Fenster herein, ich war nicht von dem Verlangen belebt wie damals, das +Wesen und die Art meines Gastfreundes zu erforschen, dies lag entweder +aufgelöst vor mir oder war nicht zu lösen. Das einzige war, daß wieder +Getreide außerhalb des Sandplatzes vor den Rosen ruhig und unbewegt +stand; aber es war eine andere Gattung und es war nicht zu erwarten, +daß es in der Nacht im Winde sich bewegen und am Morgen, wenn ich die +geklärten Augen über die Gegend wendete, vor mir wogen würde. + +Als die Nacht schon sehr weit vorgerückt war, ging ich von dem Fenster +und obwohl ich jeden Abend gewohnt war, ehe ich mich zur Ruhe begab, +zu meinem Schöpfer zu beten, so kniete ich doch jetzt vor dem +einfachen Tischlein hin und tat ein heißes, inbrünstiges Gebet zu +Gott, dem ich alles und jedes, besonders mein Sein und mein Schicksal +und das Schicksal der Meinigen, anheim stellte. + +Dann entkleidete ich mich, schloß die Schlösser meiner Zimmer ab und +begab mich zur Ruhe. + +Als ich schon zum Entschlummern war, kam mir der Gedanke, ich wolle +nach Mathilden und ihren Verhältnissen eben so wenig eine Frage tun, +als ich sie nach meinem Gastfreunde getan habe. + +Ich erwachte sehr zeitig; aber nach der Natur jener Jahreszeit war es +schon ganz licht, ein blauer, wolkenloser Himmel wölbte sich über die +Hügel, das Getreide unter meinen Füßen wogte wirklich nicht, sondern +es stand unbewegt, mit starkem Taue wie mit feurigen Funken angetan, +in der aufgehenden Sonne da. + +Ich kleidete mich an, richtete meine Gedanken zu Gott und setzte mich +zu meiner Arbeit. + +Nach geraumer Zeit hörte ich durch meine Fenster, welche ich bei +weiter fortschreitendem Morgen geöffnet hatte, daß auch am äußersten +Ende des Hauses gegen Osten Fenster erklangen, welche geöffnet wurden. +In jener Gegend wohnten die Frauen in den schönen, nach weiblicher Art +eingerichteten Gemächern. Ich ging zu meinem Fenster, schaute hinaus +und sah wirklich, daß alle Fensterflügel an jenem Teile des Hauses +offen standen. Nach einer Zeit, da es bereits zur Stunde des +Frühmahles ging, hörte ich weibliche Schritte an meiner Tür vorüber +der Marmortreppe zugehen, welche mit einem weichen Teppiche belegt +war. Ich hatte auch, obwohl sie gedämpft war, wahrscheinlich, um mich +nicht zu stören, Gustavs Stimme erkannt. + +Ich ging nach einer kleinen Weile auch über die Marmortreppe an dem +Marmorbilde der Muse vorüber in das Speisezimmer hinunter. + +Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und so verflossen nach und +nach mehrere. + +Die Ordnung des Hauses war durch die Ankunft der Frauen fast gar +nicht gestört worden, nur daß solche Vorrichtungen vorgenommen werden +mußten, welche die Aufmerksamkeit für die Frauen verlangte. Die +Unterrichts- und Lernstunden Gustavs wurden eingehalten wie früher, +und ebenso ging die Beschäftigung meines Gastfreundes ihren Gang. +Mathilde beteiligte sich nach Frauenart an dem Hauswesen. Sie sah auf +das, was ihren Sohn betraf, und auf alles, was das häusliche Wohl des +alten Mannes anging. Sie wurde gar nicht selten in der Küche gesehen, +wie sie mitten unter den Mägden stand und an den Arbeiten Teil nahm, +die da vorfielen. Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer, in +den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren. Sie sorgte für die +Dinge, welche den Dienstleuten gehörten, insoferne sie sich auf ihre +Nahrung bezogen oder auf ihre Wohnung oder auf ihre Kleider und +Schlafstellen. Sie legte das Linnen, die Kleider und anderes Eigentum +des alten Herrn und ihres Sohnes zurecht und bewirkte, daß, wo +Verbesserungen notwendig waren, dieselben eintreten könnten. Unter +diesen Dingen ging sie manches Mal des Tages auf den Sandplatz vor dem +Hause und betrachtete gleichsam wehmütig die Rosen, die an der Wand +des Hauses empor wuchsen. Natalie brachte viele Zeit mit Gustav zu. +Die Geschwister mußten sich außerordentlich lieben. Er zeigte ihr alle +seine Bücher, namentlich die neu zu den alten hinzu gekommen waren, +er erklärte ihr, was er jetzt lerne, und suchte sie in dasselbe +einzuweihen, wenn sie es auch schon wußte und früher die nehmlichen +Weg gegangen war. Wenn es die Umstände mit sich brachten, schweiften +sie in deinem Garten herum und freuten sich all des Lebens, was in +demselben war, und freuten sich des gegenseitigen Lebens, das sich +an einander schmiegte und dessen sie sich kaum als eines gesonderten +bewußt wurden. Die Zeit, welche alle frei hatten, brachten wir häufig +gemeinschaftlich mit einander zu. Wir gingen in den Garten oder saßen +unter einem schattigen Baume oder machten einen Spaziergang oder waren +in dem Meierhofe. Ich vermochte nicht in die Gespräche so einzugehen, +wie ich es mit meinem Gastfreunde allein tat, und wenn auch Mathilde +recht freundlich mit mir sprach, so wurde ich fast immer noch stummer. + + +Die Rosen fingen an, sich stets mehr zu entwickeln, sehr viele waren +bereits aufgeblüht und stündlich öffneten andere den sanften Kelch. +Wir gingen sehr oft hinaus und betrachteten die Zierde, und es +mußte manchmal eine Leiter herbei, um irgend etwas Störendes oder +Unvollkommenes zu entfernen. + +Die Mittage waren lieb und angenehm. Auch das, daß Mathilde und +Natalie so fein und passend, wenn auch einfach angezogen waren, wie +ich es von meiner Mutter und Schwester gewohnt war, gab dem Mahle +einen gewissen Glanz, den ich früher vermißt hatte. Die Vorhänge waren +gegen die unmittelbare Sonne jederzeit zu, und es war eine gebrochene +und sanfte Helle in dem Zimmer. + +Die Abende nach dem Abendessen brachten wir immer im Freien zu, da +noch lauter schöne Tage gewesen waren. Meistens saßen wir bei dem +großen Kirschbaume oben, welches bei weitem der schönste Platz zu +einem Abendsitze war, obgleich er auch zu jeder andern Zeit, wenn die +Hitze nicht zu groß war, mit der größten Annehmlichkeit erfüllte. +Mein Gastfreund führte die Gespräche klar und warm, und Mathilde +konnte ihm entsprechend antworten. Sie wurden mit einer Milde und +Einsicht geführt, daß sie immer an sich zogen, daß ich gerne meine +Aufmerksamkeit hin richtete und, wenn sie auch Gewöhnliches betrafen, +etwas Neues und Eindringendes zu hören glaubte. Der alte Mann führte +dann die Frau im Sternenscheine oder bei dem schwachen Lichte der +schmalen Mondessichel, die jetzt immer deutlicher in dem Abendrote +schwamm, über den Hügel in das Haus hinab, und die schlanken Gestalten +der Kinder gingen an den dunkeln Büschen dahin. + +Das war alles so einfach, klar und natürlich, daß es mir immer war, +die zwei Leute seien Eheleute und Besitzer dieses Anwesens, Gustav +und Natalie seien ihre Kinder, und ich sei ein Freund, der sie hier +in diesem abgeschiedenen Winkel der Welt besucht habe, wo sie den +stilleren Rest ihres Daseins in Unscheinbarkeit und Ruhe hinbringen +wollten. + +Eines Tages wurde eine feierliche Mahlzeit in dem Speisezimmer +gehalten. Es war Eustach, dann der Hausaufseher, der alte Gärtner +mit seiner Frau, der Verwalter des Meierhofes und die Haushälterin +Katharina geladen worden. Statt Katharinen mußte ein anderes die +Herrschaft in der Küche führen. Es mußte, wie ich aus allem entnahm, +jedes Mal bei der Anwesenheit Mathildens die Sitte sein, ein solches +Gastmahl abzuhalten; die Leute fanden sich auf eine natürliche Art +in die Sache, und die Gespräche gingen mit einer Gemäßheit vor sich, +welche auf Übung deutete. Mathilde konnte sie veranlassen, etwas zu +sagen, was paßte und was daher dem Sprechenden ein Selbstgefühl gab, +das ihm den Aufenthalt in der Umgebung angenehm machte. Eustach +allein erhielt die Auszeichnung, daß man das bei ihm nicht für nötig +erachtete, er sprach daher auch weniger und nur in allgemeinen +Ausdrücken über allgemeine Dinge. Er empfand, daß er der höheren +Gesellschaft zugezählt werde, wie ich es auch, da ich ihn näher kennen +gelernt hatte, ganz natürlich fand, während die anderen nicht merkten, +daß man sie empor hebe. Der Gärtner und seine Frau waren in ihrem +weißen, reinlichen Anzuge ein sehr liebes greises Paar, welches auch +die anderen mit einer gewissen Auszeichnung behandelten. An Speisen +war eine etwas reichlichere Auswahl als gewöhnlich, die Männer bekamen +einen guten Gebirgswein zum Getränke, für die Frauen wurde ein süßer +neben die Backwerke gestellt. + +Da die Rosen immer mehr der Entfaltung entgegen gingen, wurden einmal +Sessel und Stühle in einem Halbkreise auf dem Sandplatze vor dem Hause +aufgestellt, so daß die Öffnung des Kreises gegen das Haus sah, und +ein langer Tisch wurde in die Mitte gestellt. Wir setzten uns auf die +Sessel, der Gärtner Simon war gerufen worden, Eustach kam, und von den +Leuten und Gartenarbeitern konnte kommen, wer da wollte. Sie machten +auch Gebrauch davon. + +Die Rosen wurden einer sehr genauen Beurteilung unterzogen. Man fragte +sich, welche die schönsten seien oder welche dem einen oder dem +anderen mehr gefielen. Die Aussprüche erfolgten verschieden und jedes +suchte seine Meinung zu begründen. Es lagen Druckwerke und Abbildungen +auf dem Tische, zu denen man dann seine Zuflucht nahm, ohne eben jedes +Mal ihrem Ausspruche beizupflichten. Man tat die Frage, ob man nicht +Bäumchen versetzen solle, um eine schönere Mischung der Farben zu +erzielen. Der allgemeine Ausspruch ging dahin, daß man es nicht tun +solle, es täte den Bäumchen wehe, und wenn sie groß wären, könnten sie +sogar eingehen; eine zu ängstliche Zusammenstellung der Farben verrate +die Absicht und störe die Wirkung; eine reizende Zufälligkeit sei +doch das Angenehmste. Es wurde also beschlossen, die Bäume stehen zu +lassen, wie sie standen. Man sprach sich nun über die Eigenschaften +der verschiedenen Bäumchen aus, man beurteilte ihre Trefflichkeit +an sich, ohne auf die Blumen Rücksicht zu nehmen, und oft wurde der +Gärtner um Auskunft angerufen. Über die Gesundheit der Pflanzen und +ihre Pflege konnte kein Tadel ausgesprochen werden, sie waren heuer so +vortrefflich, wie sie alle Jahre vortrefflich gewesen waren. Auf den +Tisch wurden nun Erfrischungen gestellt und alle jene Vorrichtungen +ausgebreitet, die zu einem Vesperbrote notwendig sind. Aus den Reden +Mathildens sah ich, daß sie mit allen hier befindlichen Rosenpflanzen +sehr vertraut sei und daß sie selbst kleine Veränderungen bemerkte, +welche seit einem Jahre vorgegangen sind. Sie mußte wohl Lieblinge +unter den Blumen haben, aber man erkannte, daß sie allen ihre Neigung +in einem hohen Maße zugewendet habe. Ich schloß aus diesem Vorgange +wieder, welche Wichtigkeit diese Blumen für dieses Haus haben. + + +Gegen Abend desselben Tages kam ein Besuch in das Rosenhaus. Es war +ein Mann, welcher in der Nähe eine bedeutende Besitzung hatte, die er +selber bewirtschaftete, obwohl er sich im Winter eine geraume Zeit +in der Stadt aufhielt. Er war von seiner Gattin und zwei Töchtern +begleitet, Sie waren auf der Rückfahrt von einem Besuche begriffen, +den sie in einem entfernteren Teile der Gegend gemacht hatten, und +waren wie sie sagten, zu dem Hause herauf gefahren, um zu sehen, ob +die Rosen schon blühten und um die gewöhnliche Pracht zu bewundern. +Sie hatten im Sinne, am Abende wieder fort zu fahren, allein da die +Zeit schon so weit vorgerückt war, drang mein Gastfreund in sie, +die Nacht in seinem Hause zuzubringen, in welches Begehren sie +auch einwilligten. Die Pferde und der Wagen wurden in den Meierhof +gebracht, den Reisenden wurden Zimmer angewiesen. + +Sie gingen aus denselben aber wieder sehr bald hervor, man begab sich +auf den Sandplatz vor dem Hause, und die Rosenschau wurde aufs neue +vorgenommen. Es waren zum Teile noch die Stühle vorhanden, die man +heute herausgetragen hatte, obwohl der Tisch schon weggeräumt war. Die +Mutter setzte sich auf einen derselben und nötigte Mathilden, neben +ihr Platz zu nehmen. Die Mädchen gingen neben den Rosen hin, und man +redete viel von den Blumen und bewunderte sie. + +Vor dem Abendessen wurde noch ein Gang durch den Garten und einen Teil +der Felder gemacht, dann begab sich alles auf seine Zimmer. + +Da die Stunde zu dem Abendmahle geschlagen hatte, versammelte man sich +wieder in dem Speisesaale. Der Fremde und seine Begleiterinnen hatten +sich umgekleidet, der Mann erschien sogar im schwarzen Fracke, +die Frauen hatten einen Anzug, wie man ihn in der Stadt bei nicht +festlichen, aber freundschaftlichen Besuchen hat. Wir waren in unseren +gewöhnlichen Kleidern. Aber gerade durch den Anzug der Fremden, an dem +sachgemäß nichts zu tadeln war, was ich recht gut beurteilen konnte, +weil ich solche Gewänder an meiner Mutter und Schwester oft sah +und auch oft Urteile darüber hörte, wurden unsere Kleider nicht in +den Schatten gestellt, sondern sie taten eher denen der Fremden, +wenigstens in meinen Augen, Abbruch. Der geputzte Anzug erschien mir +auffallend und unnatürlich, während der andere einfach und zweckmäßig +war. Es gewann den Anschein, als ob Mathilde, Natalie, mein alter +Gastfreund und selbst Gustav bedeutende Menschen wären, indes jene +einige aus der großen Menge darstellten, wie sie sich überall +befinden. + +Ich betrachtete während der Zeit des Essens und nachher, da wir +uns noch eine Weile in dem Speisezimmer aufhielten, sogar auch die +Schönheit der Mädchen. Die ältere von den beiden Töchtern der Fremden +- wenigstens mir erschien sie als die ältere - hieß Julie. Sie hatte +braune Haare wie Natalie. Dieselben waren reich und waren schön um die +Stirne geordnet. Die Augen waren braun, groß und blickten mild. Die +Wangen waren fein und ebenmäßig, und der Mund war äußerst sanft und +wohlwollend. Ihre Gestalt hatte sich neben den Rosen und auf dem +Spaziergange als schlank und edel, und ihre Bewegungen hatten sich als +natürliche und würdevolle gezeigt. Es lag ein großer hinziehender Reiz +in ihrem Wesen. Die jüngere, welche Appolonia hieß, hatte gleichfalls +braune, aber lichtere Haare als die Schwester. Sie waren ebenso +reich und wo möglich noch schöner geordnet. Die Stirne trat klar und +deutlich von ihnen ab, und unter derselben blickten zwei blaue Augen +nicht so groß wie die braunen der Schwester, aber noch einfacher, +gütevoller und treuer hervor. Diese Augen schienen von dem Vater zu +kommen, der sie auch blau hatte, während die der Mutter braun waren. +Die Wangen und der Mund erschienen noch feiner als bei der Schwester +und die Gestalt fast unmerkbar kleiner. War ihr Benehmen minder +anmutig als das der Schwester, so war es treuherziger und lieblicher. +Meine Freunde in der Stadt würden gesagt haben, es seien zwei +hinreißende Wesen, und sie waren es auch. Natalie - ich weiß nicht, +war ihre Schönheit unendlich größer oder war es ein anderes Wesen +in ihr, welches wirkte -, ich hatte aber dieses Wesen noch in einem +geringen Maße zu ergründen vermocht, da sie sehr wenig zu mir +gesprochen hatte, ich hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht +beurteilen können, da ich mir nicht den Mut nahm, sie zu beobachten, +wie man eine Zeichnung beobachtet - aber sie war neben diesen zwei +Mädchen weit höher, wahr, klar und schön, daß jeder Vergleich +aufhörte. Wenn es wahr ist, daß Mädchen bezaubernd wirken können, so +konnten die zwei Schwestern bezaubern; aber um Natalie war etwas wie +ein tiefes Glück verbreitet. + +Mathilde und mein Gastfreund schienen diese Familie sehr zu lieben und +zu achten, das zeigte das Benehmen gegen sie. + +Die Mutter der zwei Mädchen schien ungefähr vierzig Jahre alt zu sein. +Sie hatte noch alle Frische und Gesundheit einer schönen Frau, deren +Gestalt nur etwas zu voll war, als daß sie zu einem Gegenstande der +Zeichnung hätte dienen können, wie man wenigstens in Zeichnungen gerne +schöne Frauen vorstellt. Ihr Gespräch und ihr Benehmen zeigte, daß sie +in der Welt zu dem sogenannten vorzüglicheren Umgang gehöre. Der Vater +schien ein kenntnisvoller Mann zu sein, der mit dem Benehmen der +feineren Stände der Stadt die Einfachheit der Erfahrung und die Güte +eines Landwirtes verband, auf den die Natur einen sanften Einfluß +übte. Ich hörte seiner Rede gerne zu. Mathilde erschien bedeutend +älter als die Mutter der zwei Mädchen, sie schien einstens wie Natalie +gewesen zu sein, war aber jetzt ein Bild der Ruhe und, ich möchte +sagen, der Vergebung. Ich weiß nicht, warum mir in den Tagen dieser +Ausdruck schon mehrere Male einfiel. Sie sprach von den Gegenständen, +welche von den Besuchenden vorgebracht wurden, brachte aber nie ihre +eigenen Gegenstände zum Gespräche. Sie sprach mit Einfachheit, ohne +von den Gegenständen beherrscht zu werden und ohne die Gegenstände +ausschließlich beherrschen zu wollen. Mein Gastfreund ging in die +Ansichten seines Gutsnachbars ein und redete in der ihm eigentümlichen +klaren Weise, wobei er aber auch die Höflichkeit beging, den Gast die +Gegenstände des Gespräches wählen zu lassen. + +So saßen diese zwei Abteilungen von Menschen an demselben Tische und +bewegten sich in demselben Zimmer, wirklich zwei Abteilungen von +Menschen. + +Daraus, daß sie gerade zur Rosenblüte herauf gefahren waren, erkannte +ich, daß die Nachbarn meines Gastfreundes nicht bloß um seine Vorliebe +für diese Blumen wußten, sondern daß sie etwa auch Anteil daran +nahmen. + +Es wurde nach dem Essen nicht mehr ein Spaziergang gemacht, wie in +diesen Tagen, sondern man blieb in Gesprächen bei einander und ging +später, als es sonst in diesem Hause gebräuchlich war, zur Ruhe. + +Am anderen Morgen wurde das Frühmahl in dem Garten eingenommen, und +nachdem man sich noch eine Weile in dem Gewächshause aufgehalten +hatte, fuhren die Gäste mit der wiederholt vorgebrachten Bitte fort, +sie doch auch recht bald auf ihrem Gute zu besuchen, was zugesagt +wurde. + +Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin, +wie sie seit der Ankunft der Frauen dahin gegangen waren. Die Zeit, +welche jedes frei hatte, brachten wir wieder öfter gemeinschaftlich +zu. Ich wurde nicht selten in diesen Zeiten ausdrücklich zur +Gesellschaft geladen. Natalie hatte auch ihre Lernstunden, welche sie +gewissenhaft hielt. Gustav sagte mir, daß sie jetzt Spanisch lerne und +spanische Bücher mit hieher gebracht habe. Ich hatte doch den Raum, +welchen man mir in dem sogenannten Steinhause eingeräumt hatte, +benutzt und hatte mehrere meiner Gegenstände dort hingebracht. Gustav +las bereits in den Büchern von Goethe. Sein Ziehvater hatte ihm +Hermann und Dorothea ausgewählt und ihm gesagt, er solle das Werk so +genau und sorgfältig lesen, daß er jeden Vers völlig verstehe, und wo +ihm etwas dunkel sei, dort solle er fragen. Mir war es rührend, daß +die Bücher alle in Gustavs Zimmer aufgestellt waren und daß man das +Zutrauen hatte, daß er kein anderes lesen werde, als welches ihm von +dem Ziehvater bezeichnet worden sei. Ich kam oft zu ihm, und wenn ich +nach der Kenntnis, die ich bereits von seinem Wesen gewonnen hatte, +nicht gewußt hätte, daß er sein Versprechen halten werde, so hätte ich +mich durch meine Besuche von dieser Tatsache überzeugt. Mathilde und +Natalie standen oft dabei, wenn mein Gastfreund für seine gefiederten +Gäste auf der Fütterungstenne Körner streute, und nicht selten, wenn +ich des Morgens von einem Gange durch den Garten zurückkam, sah +ich, daß bei der Fütterung in dem Eckzimmer, an dessen Fenstern die +Fütterungsbrettchen angebracht waren, eine schöne Hand tätig sei, die +ich für Nataliens erkannte. Wir besuchten manchmal die Nester, in +welchen noch gebrütet wurde oder sich Junge befanden. Die meisten +aber waren schon leer, und die Nachkommenschaft wohnte bereits in +den Zweigen der Bäume. Oft befanden wir uns in dem Schreinerhause, +sprachen mit den Leuten, betrachteten die Fortschritte der Arbeit und +redeten darüber. + +Wir besuchten sogar auch Nachbarn und sahen uns in ihrer +Wirtschaftlichkeit um. Wenn wir in dem Hause waren, befanden wir uns +in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes, es wurde etwas gelesen, oder +es wurde ein geistansprechender Versuch in dem Zimmer der Naturlehre +gemacht, oder wir waren in dem Bilderzimmer oder in dem Marmorsaale. +Mein Gastfreund mußte oft seine Kunst ausüben und das Wetter +voraussagen. Immer, wenn er eine bestimmte Aussage machte, traf sie +ein. Oft verweigerte er aber diese Aussage, weil, wie er erklärte, die +Anzeigen nicht deutlich und verständlich genug für ihn seien. + +Zuweilen waren wir auch in den Zimmern der Frauen. Wir kamen dahin, +wenn wir dazu geladen waren. Das kleine letzte Zimmerchen mit der +Tapetentür gehörte insbesondere Mathilden. Ich hatte es Rosenzimmer +genannt, und es wurde scherzweise der Name beibehalten. Mir war es +ein anmutiger Eindruck, daß ich sah, wie liebend und wie hold dieses +Zimmer für die alte Frau eingerichtet worden war. Es herrschte eine +zusammenstimmende Ruhe in diesem Zimmer mit den sanften Farben +Blaßrot, Weißgrau, Grün, Mattveilchenblau und Gold. In all das sah die +Landschaft mit den lieblichen Gestalten der Hochgebirge herein. + +Mathilde saß gerne auf dem eigentümlichen Sessel am Fenster und sah +mit ihrem schönen Angesichte hinaus, dessen Art mein Gastfreund einmal +mit einer welkenden Rose verglichen hatte. + +In den Zimmern las zuweilen Natalie etwas vor, wenn mein Gastfreund es +verlangte. Sonst wurde gesprochen. Ich sah auf ihrem Tische Papiere in +schöner Ordnung und neben ihnen Bücher liegen. Ich konnte es nie über +mich bringen, auch nur auf die Aufschrift dieser Bücher zu sehen, viel +weniger gar eines zu nehmen und hinein zu schauen. Es taten dies auch +andere nie. An dem Fenster stand ein verhüllter Rahmen, an dem sie +vielleicht etwas arbeitete; aber sie zeigte nichts davon. Gustav, +wahrscheinlich aus Neigung zu mir, um mich mit den schönen Dingen zu +erfreuen, die seine Schwester verfertigte, ging sie wiederholt darum +an. Sie lehnte es aber jedes Mal auf eine einfache Art ab. Ich hatte +einmal in einer Nacht, da meine Fenster offen waren, Zithertöne +vernommen. Ich kannte dieses Musikgerät des Gebirges sehr gut, ich +hatte es bei meinen Wanderungen sehr oft und von den verschiedensten +Händen spielen gehört, und hatte mein Ohr für seine Klänge und +Unterschiede zu bilden gesucht. Ich ging an das Fenster und hörte zu. +Es waren zwei Zithern, die im östlichen Flügel des Hauses abwechselnd +gegen einander und mit einander spielten. Wer Übung im Hören dieser +Klänge hat, merkt es gleich, ob auf derselben Zither oder auf +verschiedenen, und von denselben Händen oder verschiedenen gespielt +wird. In den Gemächern der Frauen sah ich später die zwei Zithern +liegen. Es wurde aber in unserer Gegenwart nie darauf gespielt. Mein +Gastfreund verlangte es nicht, ich ohnehin nicht, und in dieser +Angelegenheit beobachtete auch Gustav eine feste Enthaltung. + + +Indessen war nach und nach die Zeit herangerückt, in welcher die Rosen +in der allerschönsten Blüte standen. Das Wetter war sehr günstig +gewesen. Einige leichte Regen, welche mein Gastfreund vorausgesagt +hatte, waren dem Gedeihen bei weitem förderlicher gewesen, als es +fortdauernd schönes Wetter hätte tun können. Sie kühlten die Luft von +zu großer Hitze zu angenehmer Milde herab und wuschen Blatt, Blume und +Stengel viel reiner von dem Staube, der selbst in weit von der Straße +entfernten und mitten in Feldern gelegenen Orten doch nach lange +andauerndem schönem Wetter sich auf Dächern, Mauern, Zäunen, Blättern +und Halmen sammelt, als es die Sprühregen, die mein Gastfreund ein +paar Male durch seine Vorrichtung unter dem Dache auf die Rosen hatte +ergehen lassen, zu tun im Stande gewesen waren. Unter dem klarsten, +schönsten und tiefsten Blau des Himmels standen nun eines Tages +Tausende von den Blumen offen, es schien, daß keine einzige Knospe im +Rückstande geblieben und nicht aufgegangen ist. In ihrer Farbe von dem +reinsten Weiß in gelbliches Weiß, in Gelb, in blasses Rot, in feuriges +Rosenrot, in Purpur, in Veilchenrot, in Schwarzrot zogen sie an der +Fläche dahin, daß man bei lebendiger Anschauung versucht wurde, jenen +alten Völkern Recht zu geben, die die Rosen fast göttlich verehrten +und bei ihren Freuden und Festen sich mit diesen Blumen bekränzten. +Man war täglich, teils einzeln, teils zusammen, zu dem Rosengitter +gekommen, um die Fortschritte zu betrachten, man hatte gelegentlich +auch andere Rosenteile und Rosenanlagen in dem Garten besucht; +allein an diesem Tage erklärte man einmütig, jetzt sei die Blüte am +schönsten, schöner vermöge sie nicht mehr zu werden und von jetzt an +müsse sie abzunehmen beginnen. Dies hatte man zwar auch schon einige +Tage früher gesagt; jetzt aber glaubte man sich nicht mehr zu irren, +jetzt glaubte man auf dem Gipfel angelangt zu sein. + +So weit ich mich auf das vergangene Jahr zu erinnern vermochte, in +welchem ich auch diese Blumen in ihrer Blüte angetroffen hatte, waren +sie jetzt schöner als damals. + +Es kamen wiederholt Besuche an, die Rosen zu sehen. Die Liebe zu +diesen Blumen, welche in dem Rosenhause herrschte, und die zweckmäßige +Pflege, welche sie da erhielten, war in der Nachbarschaft bekannt +geworden, und da kamen manche, welche sich wirklich an dem +ungewöhnlichen Ergebnisse dieser Zucht ergötzen wollten, und andere, +die dem Besitzer etwas Angenehmes erzeigen wollten, und wieder +andere, die nichts Besseres zu tun wußten, als nachzuahmen, was +ihre Umgebung tat. Alle diese Arten waren nicht schwer von einander +zu unterscheiden. Die Behandlung derselben war von Seite meines +Gastfreundes so fein, daß ich es nicht von ihm vermutet hatte und daß +ich diese Eigenschaft an ihm erst jetzt, wo ich ihn unter Menschen +beobachten konnte, entdeckte. + +Auch Bauern kamen zu verschiedenen Zeiten und baten, daß sie die Rosen +anschauen dürfen. Nicht nur die Rosen wurden ihnen gezeigt, sondern +auch alles andere im Hause und Garten, was sie zu sehen wünschten, +besonders aber der Meierhof, insoferne sie ihn nicht kannten oder +ihnen die letzten Veränderungen in demselben neu waren. + +Eines Tages kam auch der Pfarrer von Rohrberg, den ich bei meinem +vorjährigen Besuche in dem Rosenhause getroffen hatte. Er zeichnete +sich einige Rosen in ein Buch, das er mitgebracht hatte, und wendete +sogar Wasserfarben an, um die Farben der Blumen so getreu, als nur +immer möglich ist, nachzuahmen. Die Zeichnung aber sollte keine +Kunstabbildung von Blumen sein, sondern er wollte sich nur solche +Blumen anmerken und von ihnen den Eindruck aufbewahren, deren Art er +in seinen Garten zu verpflanzen wünschte. Es bestand nehmlich schon +seit lange her zwischen meinem Gastfreunde und dem Pfarrer das +Verhältnis, daß mein Gastfreund dem Pfarrer Pflanzen gab, womit +dieser seinen Garten zieren wollte, den er teils neu um das Pfarrhaus +angelegt, teils erweitert hatte. + +Unter allen aber schien Mathilde die Rosen am meisten zu lieben. Sie +mußte überhaupt die Blumen sehr lieben; denn auf den Blumentischen in +ihren Zimmern standen stets die schönsten und frischesten des Gartens, +auch wurde gerne auf dem Tische, an welchem wir speisten, eine Gruppe +von Gartentöpfen mit ihren Blumen zusammengestellt. Abgebrochen oder +abgeschnitten und in Gläser mit Wasser gestellt durften in diesem +Hause keine Blumen werden, außer sie waren welk, so daß man sie +entfernen mußte. Den Rosen aber wendete sie ihr meistes Augenmerk zu. +Nicht nur ging sie zu denen, welche im Garten in Sträuchen, Bäumchen +und Gruppen standen, und bekümmerte sich um ihre Hegung und Pflege, +sondern sie besuchte auch ganz allein, wie ich schon früher bemerkt +hatte, die, welche an der Wand des Hauses blühten. Oft stand sie lange +davor und betrachtete sie. Zuweilen holte sie sich einen Schemel, +stieg auf ihn und ordnete in den Zweigen. Sie nahm entweder ein welkes +Laubblatt ab, das den Blicken der andern entgangen war, oder bog eine +Blume heraus, die am vollkommenen Aufblühen gehindert war, oder las +ein Käferchen ab oder lüftete die Zweige, wo sie sich zu dicht und zu +buschig gedrängt hatten. Zuweilen blieb sie auf dem Schemel stehen, +ließ die Hand sinken und betrachtete wie im Sinnen die vor ihr +ausgebreiteten Gewächse. + +Wirklich war der Tag, den man als den schönsten der Rosenblüte +bezeichnet hatte, auch der schönste gewesen. Von ihm an begann sie +abzunehmen, und die Blumen fingen an zu welken, so daß man öfter die +Leiter und die Schere zur Hand nehmen mußte, um Verunzierungen zu +beseitigen. + +Auch zwei fremde Reisende waren in das Rosenhaus gekommen, welche +sich eine Nacht und einen Teil des darauf folgenden Vormittages in +demselben aufgehalten hatten. Sie hatten den Garten, die Felder und +den Meierhof besehen. In seine Zimmer und in die Schreinerei hatte sie +mein Gastfreund nicht geführt, woraus ich die mir angenehme Bemerkung +zog, daß er mir bei meiner ersten Ankunft in seinem Hause eine +Bevorzugung gab, die nicht jedem zu Teil wurde, daß ich also eine Art +Zuneigung bei ihm gefunden haben mußte. + +Gegen das Ende der Rosenblüte kam Eustachs Bruder Roland in das Haus. +Da er sich mehrere Tage in demselben aufhielt, fand ich Gelegenheit, +ihn genauer zu beobachten. Er hatte noch nicht die Bildung seines +Bruders, auch nicht dessen Biegsamkeit; aber er schien mehr Kraft zu +besitzen, die seinen Beschäftigungen einen wirksamen Erfolg versprach. +Was mir auffiel, war, daß er mehrere Male seine dunkeln Augen länger +auf Natalien heftete, als mir schicklich erscheinen wollte. Er hatte +eine Reihe von Zeichnungen gebracht und wollte noch einen entfernteren +Teil des Landes besuchen, ehe er wiederkehrte, um den Stoff vollkommen +zu ordnen. + + +Ehe Mathilde und Natalie das Rosenhaus verließen, mußte noch der +versprochene Besuch auf dem Gute des Nachbars, welches Ingheim hieß +und von dem Volke nicht selten der Inghof genannt wurde, gemacht +werden. Es wurde hingeschickt und ein Tag genannt, an dem man kommen +wollte, welcher auch angenommen wurde. Am Morgen dieses Tages wurden +die braunen Pferde, mit denen Mathilde gekommen war und die sie die +Zeit über in dem Meierhofe gelassen hatte, vor den Wagen gespannt, +der die Frauen gebracht hatte, und Mathilde und Natalie setzten sich +hinein. Mein Gastfreund, Gustav und ich, der ich eigens in die Bitte +des Gegenbesuchs eingeschlossen worden war, stiegen in einen anderen +Wagen, der mit zwei sehr schönen Grauschimmeln meines Gastfreundes +bespannt war. Eine rasche Fahrt von einer Stunde brachte uns an den +Ort unserer Bestimmung. Ingheim ist ein Schloß, oder eigentlich sind +zwei Schlösser da, welche noch von mehreren anderen Gebäuden umgeben +sind. Das alte Schloß war einmal befestigt. Die grauen, aus großen +viereckigen Steinen erbauten runden Türme stehen noch, ebenso die +graue aus gleichen Steinen erbaute Mauer zwischen den Türmen. +Beide Teile beginnen aber oben zu verfallen. Hinter den Türmen und +Mauern steht das alte, unbewohnte, ebenfalls graue Haus, scheinbar +unversehrt; aber von den mit Brettern verschlagenen Fenstern schaut +die Unbewohntheit und Ungastlichkeit herab. Vor diesen Werken des +Altertums steht das neue weiße Haus, welches mit seinen grünen +Fensterläden und dem roten Ziegeldache sehr einladend aussieht. Wenn +man von der Ferne kömmt, meint man, es sei unmittelbar an das alte +Schloß angebaut, welches hinter ihm emporragt. Wenn man aber in dem +Hause selber ist und hinter dasselbe geht, so sieht man, daß das alte +Gemäuer noch ziemlich weit zurück ist, daß es auf einem Felsen steht +und daß es durch einen breiten, mit einem Obstbaumwald bedeckten +Graben von dem neuen Hause getrennt ist. Auch kann man in der Ferne +wegen der ungewöhnlichen Größe des alten Schlosses die Geräumigkeit +des neuen Hauses nicht ermessen. Sobald man sich aber in demselben +befindet, so erkennt man, daß es eine bedeutende Räumlichkeit habe und +nicht bloß für das Unterkommen der Familie gesorgt ist, sondern auch +eine ziemliche Zahl von Gästen noch keine Ungelegenheit bereitet. Ich +hatte wohl den Namen des Schlosses öfter gehört, dasselbe aber nie +gesehen. Es liegt so abseits von den gewöhnlichen Wegen und ist durch +einen großen Hügel so gedeckt, daß es von Reisenden, welche durch +diese Gegend gewöhnlich den Gebirgen zugehen, nicht gesehen werden +kann. Als wir uns näherten, entwickelten sich die mehreren Bauwerke. +Zuerst kamen wir zu den Wirtschaftsgebäuden oder der sogenannten +Meierei. Dieselben standen, wie es bei vielen Besitzungen in unserem +Lande der Brauch ist, ziemlich weit entfernt von dem Wohnhause und +bildeten eine eigene Abteilung. Von da führte der Weg durch eine Allee +uralter großer Linden eine Strecke gegen das neue Haus. Die Allee ist +ein Bruchstück von derjenigen, die einmal gegen die Zugbrücke des +alten Schlosses hinauf geführt hatte; sie brach daher ab, und wir +fuhren die übrige Strecke durch schönen grünen Rasen, der mit +einzelnen Blumenhügeln geschmückt war, dem Hause zu. Dasselbe war von +weißlich grauer Farbe und hatte säulenartige Streifen und Friese. Alle +Fenster, soweit die geöffneten Läden eine Einsicht zuließen, zeigten +von Innen schwere Vorhänge. Als der Wagen der Frauen unter dem +Überdache der Vorfahrt hielt, stand schon der Herr von Ingheim +sammt seiner Gattin und seinen Töchtern am Ende der Treppe zur +Bewillkommnung. Sie waren alle mit Geschmack gekleidet, sowie die +Dienerschaft, die hinter ihnen stand, in Festkleidern war. Der +Herr half den Frauen aus dem Wagen, und da wir mittlerweile auch +ausgestiegen und herzugekommen waren, wurden wir von der ganzen +Familie begrüßt und die Treppe hinauf geleitet. + +Man führte uns in ein großes Empfangszimmer und wies uns Plätze an. +Mathilde und Natalie hatten zwar festlichere Kleider an, als sie im +Rosenhause trugen, aber dieselben, so edel der Stoff war, zeigten doch +keine übermäßige Verzierung oder gar Überladung. Mein Gastfreund, +Gustav und ich waren gekleidet, wie man es zu ländlichen Besuchen zu +sein pflegt. So ließen wir uns in die prachtvollen Polster, die hier +überall ausgelegt waren, nieder. Auf einem Tische, über den ein +schöner Teppich gebreitet war, standen Erfrischungen verschiedener +Art. Andere Tische, die noch in dem Zimmer standen, waren unbedeckt. +Die Geräte waren von Mahagoniholz und schienen aus der ersten +Werkstätte der Stadt zu stammen. Ebenso waren die Spiegel, die +Kronleuchter und andere Dinge des Zimmers. Eine Ecke an einem Fenster +nahm ein sehr schönes Clavier ein. Die ersten Gespräche betrafen die +gewöhnlichen Dinge über Wohlbefinden, über Wetter, über Gedeihen +der Feld- und Gartengewächse. Die Männer nannten sich wechselweise +Nachbar, die Frauen benannten sich gar nicht. + +Als man etwas Weniges von den dastehenden Speisen genommen hatte, +erhob man sich, und wir gingen durch die Zimmer. Es war eine Reihe, +deren Fenster größtenteils gegen Mittag auf die Landschaft hinaus +gingen. Alle waren sehr schön nach neuer Art eingerichtet, besonders +reich waren die Palisandergeräte im Empfangszimmer der Frau, in +welchem, so wie in dem Arbeitszimmer der Mädchen, wieder Claviere +standen. Der Herr des Hauses führte besonders mich in den Räumen +herum, dem sie noch fremd waren. Die übrige Gesellschaft folgte uns +gelegentlich in das eine oder andere Gemach. + +Aus den Zimmern ging man in den Garten. Derselbe war wie viele +wohlgehaltene und schöne Gärten in der Nähe der Stadt. Schöne +Sandgänge, grüne ausgeschnittene Rasenplätze mit Blumenstücken, +Gruppen von Zier- und Waldgebüschen, ein Gewächshaus mit +Camellien, Rhododendren, Azaleen, Eriken, Calceolarien und vielen +neuholländischen Pflanzen, endlich Ruhebänke und Tische an geeigneten +schattigen Stellen. Der Obstgarten als Nützlichkeitsstück war nicht +bei dem Wohnhause, sondern hinter dem Meierhofe. + +Von dem Garten gingen wir, wie es bei ländlichen Besuchen zu geschehen +pflegt, in die Meierei. Wir gingen durch die Reihen der glatten +Rinder, die meistens weiß gestirnt waren, wir besahen die Schafe, die +Pferde, das Geflügel, die Milchkammer, die Käsebereitung, die Brauerei +und ähnliche Dinge. Hinter den Scheuern trafen wir den Gemüsegarten +und den sehr weitläufigen Obstgarten an. Von diesen gingen wir in die +wohlbestellten Felder und in die Wiesen. Der Wald, welcher zu der +Besitzung gehört, wurde mir in der Ferne gezeigt. + +Nachdem wir unsern ziemlich bedeutenden Spaziergang beendigt hatten, +wurden wir in eine ebenerdige große Speisehalle geführt, in welcher +der Mittagtisch gedeckt war. Ein einfaches, aber ausgesuchtes Mahl +wurde aufgetragen, wobei die Dienerschaft hinter unseren Stühlen +stehend bediente. Hatte sich die Familie Ingheim schon bei dem Besuche +auf dem Rosenhause als unter die gebildeten gehörig gezeigt, so war +dies bei unserem Empfange in ihrem eigenen Hause wieder der Fall. +Sowohl bei Vater und Mutter als auch bei den Mädchen war Einfachheit, +Ruhe und Bescheidenheit. Die Gespräche bewegten sich um mehrere +Gegenstände, sie rissen sich nicht einseitig nach einer gewissen +Richtung hin, sondern schmiegten sich mit Maß der Gesellschaft an. +Einen Teil der Zeit nach dem Mittagessen brachten wir in den Zimmern +des ersten Stockwerkes zu. Es wurde Musik gemacht, und zwar Clavier +und Gesang. Zuerst spielte die Mutter etwas, dann beide Mädchen +allein, dann zusammen. Jedes der Mädchen sang auch ein Lied. Natalie +saß in den seidenen Polstern und hörte aufmerksam zu. Als man sie aber +aufforderte, auch zu spielen, verweigerte sie es. + +Gegen Abend fuhren wir wieder in das Rosenhaus zurück. + +Als Gustav aus unserem Wagen gesprungen war, als mein Gastfreund und +ich denselben verlassen hatten, und ich die edle, schlanke Gestalt +Nataliens gegen die Marmortreppe hinzu gehen sah, blieb ich ein +Weilchen stehen und begab mich dann auch in meine Zimmer, wo ich bis +zum Abendessen blieb. + +Dieses war wie gewöhnlich, man machte aber nach demselben an diesem +Tage keinen Spaziergang mehr. + +Ich ging in mein Schlafzimmer, öffnete die Fenster, die man trotz des +warmen Tages, weil ich abwesend gewesen war, geschlossen gehalten +hatte, und lehnte mich hinaus. Die Sterne begannen sachte zu glänzen, +die Luft war mild und ruhig und die Rosendüfte zogen zu mir herauf. +Ich geriet in tiefes Sinnen. Es war mir wie im Traume, die Stille der +Nacht und die Düfte der Rosen mahnten an Vergangenes; aber es war doch +heute ganz anders. + +Nach diesem Besuche auf dem Inghofe folgten mehrere Regentage, und +als diese beendigt waren und wieder dem Sonnenscheine Platz machten, +war auch die Zeit heran genaht, in welcher Mathilde und Natalie das +Rosenhaus verlassen sollten. Es war schon Mehreres gepackt worden, und +darunter sah ich auch die beiden Zithern, die man in sammtene Fächer +tat, welche ihrerseits wieder in lederne Behältnisse gesteckt wurden. + +Endlich war der Tag der Abreise festgesetzt worden. + +Am Abende vorher war schon das Hauptsächlichste, was mitgenommen +werden sollte, in den Wagen geschafft, und die Frauen hatten +am Nachmittage in mehreren Stellen Abschied genommen: bei den +Gärtnerleuten, in der Schreinerei und im Meierhofe. + +Am andern Morgen erschienen sie bei dem Frühmahle in Reisekleidern, +während noch Arabella, das Dienstmädchen Mathildens, diejenigen +Sachen, die bis zu dem letzten Augenblicke im Gebrauch gewesen waren, +in den Wagen packte. + +Nach dem Frühmahle, als die Frauen schon die Reisehüte aufhatten, +sagte Mathilde zu meinem Gastfreunde: + +»Ich danke dir, Gustav, lebe wohl, und komme bald in den Sternenhof.« + +»Lebe wohl, Mathilde«, sagte mein Gastfreund. + +Die zwei alten Leute küßten sich wieder auf die Lippen, wie sie es bei +der Ankunft Mathildens getan hatten. + +»Lebe wohl, Natalie«, sagte er dann zu dem Mädchen. + +Dasselbe erwiderte nur leise die Worte: »Dank für alle Güte.« + +Mathilde sagte zu dem Knaben: »Sei folgsam und nimm dir deinen +Ziehvater zum Vorbilde.« + +Der Knabe küßte ihr die Hand. + +Dann, zu mir gewendet, sprach sie: »Habet Dank für die freundlichen +Stunden, die ihr uns in diesem Hause gewidmet habt. Der Besitzer wird +euch für euren Besuch wohl schon danken. Bleibt meinem Knaben gut, wie +ihr es bisher gewesen seid, und laßt euch seine Anhänglichkeit nicht +leid tun. Wenn es eure schöne Wissenschaft zuläßt, so seid unter +denen, die von diesem Hause aus den Sternenhof besuchen werden. Eure +Ankunft wird dort sehr willkommen sein.« + +»Den Dank muß wohl ich zurückgeben für alle die Güte, welche mir +von euch und von dem Besitzer dieses Hauses zu Teil geworden ist«, +erwiderte ich. »Wenn Gustav einige Zuneigung zu mir hat, so ist +wohl die Güte seines Herzens die Ursache, und wenn ihr mich von +dem Sternenhofe nicht zurück weiset, so werde ich gewiß unter den +Besuchenden sein.« + +Ich empfand, daß ich mich auch von Natalien verabschieden sollte; ich +vermochte aber nicht, etwas zu sagen, und verbeugte mich nur stumm. +Sie erwiderte diese Verbeugung ebenfalls stumm. + +Hierauf verließ man das Haus und ging auf den Sandplatz hinaus. +Die braunen Pferde standen mit dem Wagen schon vor dem Gitter. Die +Hausdienerschaft war herbei gekommen, Eustach mit seinen Arbeitern +stand da, der Gärtner mit seinen Leuten und seiner Frau und der Meier +mit dem Großknechte aus dem Meierhofe waren ebenfalls gekommen. + +»Ich danke euch recht schön, liebe Leute«, sagte Mathilde, »ich danke +euch für eure Freundschaft und Güte, seid für euren Herrn treu und +gut. Du, Katharina, sehe auf ihn und Gustav, daß keinem ein Ungemach +zustößt.« + +»Ich weiß, ich weiß« fuhr sie fort, als sie sah, daß Katharina reden +wollte, »du tust Alles, was in deinen Kräften ist, und noch mehr, als +in deinen Kräften ist; aber es liegt schon so in dem Menschen, daß er +um Erfüllung seiner Herzenswünsche bittet, wenn er auch weiß, daß sie +ohnehin erfüllt werden, ja daß sie schon erfüllt worden sind.« + +»Kommt recht gut nach Hause«, sagte Katharina, indem sie Mathilden die +Hand küßte und sich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Augen trocknete. + +Alle drängten sich herzu und nahmen Abschied. Mathilde hatte für +ein jedes liebe Worte. Auch von Natalien beurlaubte man sich, die +gleichfalls freundlich dankte. + +»Eustach, vergeßt den Sternenhof nicht ganz«, sagte Mathilde zu diesem +gewendet, »besucht uns mit den anderen. Ich will nicht sagen, daß euch +auch die Dinge dort notwendig haben könnten, ihr sollt unsertwegen +kommen.« + +»Ich werde kommen, hochverehrte Frau«, erwiderte Eustach. + +Nun sprach sie noch einige Worte zu dem Gärtner und seiner Frau und zu +dem Meier, worauf die Leute ein wenig zurück traten. + +»Sei gut, mein Kind«, sagte sie zu Gustav, indem sie ihm ein Kreuz +mit Daumen und Zeigefinger auf die Stirne machte und ihn auf dieselbe +küßte. Der Knabe hielt ihre Hand fest umschlungen und küßte sie. Ich +sah in seinen großen schwarzen Augen, die in Tränen schwammen, daß er +sich gerne an ihren Hals würfe; aber die Scham, die einen Bestandteil +seines Wesens machte, mochte ihn zurück halten. + +»Bleibe lieb, Natalie«, sagte mein Gastfreund. + +Das Mädchen hätte bald die dargereichte Hand geküßt, wenn er es +zugelassen hätte. + +»Teurer Gustav, habe noch einmal Dank«, sagte Mathilde zu meinem +Gastfreunde. Sie hatte noch mehr sagen wollen; aber es brachen Tränen +aus ihren Augen. Sie nahm ein feines, weißes Tuch und drückte es fest +gegen diese Augen, aus denen sie heftig weinte. + +Mein Gastfreund stand da und hielt die Augen ruhig; aber es fielen +Tränen aus denselben herab. + +»Reise recht glücklich, Mathilde«, sagte er endlich, »und wenn bei +deinem Aufenthalte bei uns etwas gefehlt hat, so rechne es nicht +unserer Schuld an.« + +Sie tat das Tuch von den Augen, die noch fortweinten, deutete auf +Gustav und sagte: »Meine größte Schuld steht da, eine Schuld, welche +ich wohl nie werde tilgen können.« + +»Sie ist nicht auf Tilgung entstanden«, erwiderte mein Gastfreund. +»Rede nicht davon, Mathilde, wenn etwas Gutes geschieht, so geschieht +es recht gerne.« + +Sie hielten sich noch einen Augenblick bei den Händen, während ein +leichtes Morgenlüftchen einige Blätter der abgeblühten Rosen zu ihren +Füßen wehte. + +Dann führte er sie zu dem Wagen, sie stieg ein, und Natalie folgte +ihr. + +Es war nach den mehreren Regentagen ein sehr klarer, nicht zu warmer +Tag gefolgt. Der Wagen war offen und zurück gelegt. Mathilde ließ den +Schleier von dem nehmlichen Hute, den sie bei ihrer Herfahrt gehabt +hatte, über ihr Angesicht herabfallen; Natalie aber legte den ihrigen +zurück und gab ihre Augen den Morgenlüften. Nachdem auch noch Arabella +in den Wagen gestiegen war, zogen die Pferde an, die Räder furchten +den Sand und der Wagen ging auf dem Wege hinab der Hauptstraße zu. + +Wir begaben uns wieder in das Haus zurück. + +Jeder ging in sein Zimmer und zu seinen Geschäften. + + +Nachdem ich eine Weile in meiner Wohnung gewesen war, suchte ich den +Garten auf. Ich ging zu mehreren Blumen, die in einer für Blumen schon +so weit vorgerückten Jahreszeit noch blühten, ich ging zu den Gemüsen, +zu dem Zwergobste und endlich zu dem großen Kirschbaume hinauf. Von +demselben ging ich in das Gewächshaus. Ich traf dort den Gärtner, +welcher an seinen Pflanzen arbeitete. Als er mich eintreten sah, +kam er mir entgegen und sagte: »Es ist gut, daß ich allein mit euch +sprechen kann, habt ihr ihn gesehen?« + +»Wen?« fragte ich. + +»Nun, ihr waret ja auf dem Inghofe«, antwortete er, »da werdet ihr +wohl den Cereus peruvianus angeschaut haben.« + +»Nein, den habe ich nicht angeschaut«, erwiderte ich, indem ich mich +wohl des Gespräches erinnerte, in welchem er mir erzählt hatte, daß +sich eine so große Pflanze dieser Art in dem Inghofe finde, »ich habe +auf ihn vergessen.« + +»Nun, wenn ihr ihn vergessen habt, so wird ihn wohl der Herr +angeschaut haben«, sagte er. + +»Ich glaube, daß uns niemand auf diese Pflanze aufmerksam gemacht hat, +als wir in dem Gewächshause waren«, erwiderte ich; »denn wenn jemand +anderer sich eigens zu dieser Pflanze gestellt hätte, so hätte ich es +gewiß bemerkt und hätte sie auch angesehen.« + +»Das ist sehr sonderbar und sehr merkwürdig«, sagte er; »nun, wenn ihr +vergessen habt, den Cereus peruvianus anzusehen, so müßt ihr einmal +mit mir hinübergehen; wir brauchen nicht zwei Stunden, und es ist ein +angenehmer Weg. So etwas seht ihr nicht leicht anders wo. Sie bringen +ihn nie zur Blüte. Wenn ich ihn hier hätte, so würde er bald so weiß +wie meine Haare blühen, natürlich viel weißer. Die unseren sind noch +viel zu klein zum Blühen.« + +Ich sagte ihm zu, daß ich einmal mit ihm in den Inghof hinübergehen +werde, ja sogar, wenn es nicht eine Unschicklichkeit sei und nicht zu +große Hindernisse im Wege stehen, daß ich auch versuchen werde, dahin +zu wirken, daß diese Pflanze zu ihm herüberkomme. + +Er war sehr erfreut darüber und sagte, die Hindernisse seien gar +nicht groß, sie achten den Cereus nicht, sonst hätten sie ja die +Gesellschaft zu ihm hingeführt, und der Herr wolle sich vielleicht +keine Verbindlichkeit gegen den Nachbar auflegen. Wenn ich aber eine +Fürsprache mache, so würde der Cereus gewiß herüber kommen. + +Wie doch der Mensch überall seine eigenen Angelegenheiten mit sich +herum führt, dachte ich, und wie er sie in die ganze übrige Welt +hineinträgt. Dieser Mann beschäftigt sich mit seinen Pflanzen und +meint, alle Leute müßten ihnen ihre Aufmerksamkeit schenken, während +ich doch ganz andere Gedanken in dem Haupte habe, während mein +Gastfreund seine eigenen Bestrebungen hat und Gustav seiner Ausbildung +obliegt. Das eine Gute hatte aber die Ansprache des Gärtners für mich, +daß sie mich von meinen wehmütigen und schmerzlichen Gefühlen ein +wenig abzog und mir die Überzeugung brachte, wie wenig Berechtigung +sie haben und wie wenig sie sich für das Einzige und Wichtigste in der +Welt halten dürfen. + +Ich blieb noch länger in dem Gewächshause und ließ mir Mehreres von +dem Gärtner zeigen und erklären. Dann ging ich wieder in meine Wohnung +und setzte mich zu meiner Arbeit. + +Wir kamen bei dem Mittagessen zusammen, wir machten am Nachmittage +einen Spaziergang, und die Gespräche waren wie gewöhnlich. + + +Die Zeit auf dem Rosenhause floß nach dem Besuche der Frauen wieder so +hin, wie sie vor demselben hingeflossen war. + +Ich hatte die Muße, welche ich mir von meinen Arbeiten im Gebirge +zu einem Aufenthalte bei meinem Gastfreunde abgedungen hatte, +beinahe schon erschöpft. Das, was ich mir in dem Rosenhause als +Ergänzungsarbeit zu tun auferlegt hatte, rückte auch seiner Vollendung +entgegen. Ich ließ mir aber deßohngeachtet einen Aufschub gefallen, +weil man verabredet hatte, einen Besuch auf dem Sternenhofe zu machen, +was, wie ich einsah, Mathildens Wohnsitz war, und weil ich bei diesem +Besuche zugegen sein wollte. Auch war es im Plane, daß wir eine Kirche +besuchen wollten, die in dem Hochlande lag und in welcher sich ein +sehr schöner Altar aus dem Mittelalter befand. Ich nahm mir vor, +das, was mir an Zeit entginge, durch ein länger in den Herbst hinein +fortgesetztes Verweilen im Gebirge wieder einzubringen. + +Mein Gastfreund hatte in dem Meierhofe wieder Bauarbeiten beginnen +lassen und beschäftigte dort mehrere Leute. Er ging alle Tage hin, um +bei den Arbeiten nachzusehen. Wir begleiteten ihn sehr oft. Es war +eben die letzte Einfuhr des Heues aus den höheren, in dem Alizwalde +gelegenen Wiesen, deren Ertrag später als in der Ebene gemäht wurde, +im Gange. Wir erfreuten uns an dieser duftenden, würzigen Nahrung der +Tiere, welche aus den Waldwiesen viel besser war als aus den fetten +Wiesen der Täler; denn auf den Bergwiesen wachsen sehr mannigfaltige +Kräuter, die aus den sehr verschiedenartigen Gesteingrundlagen die +Stoffe ihres Gedeihens ziehen, während die gleichartigere Gartenerde +der tiefen Gründe wenigere, wenngleich wasserreichere Arten hervor +bringt. Mein Gastfreund widmete diesem Zweige eine sehr große +Aufmerksamkeit, weil er die erste Bedingung des Gedeihens der +Haustiere, dieser geselligen Mitarbeiter der Menschen ist. Alles, +was die Würze, den Wohlgeruch und, wie er sich ausdrückte, die +Nahrungslieblichkeit beeinträchtigen konnte, mußte strenge +hintan gehalten werden, und wo durch Versehen oder Ungunst der +Zeitverhältnisse doch dergleichen eintrat, mußte das minder Taugliche +ganz beseitigt oder zu andern Wirtschaftszwecken verwendet werden. +Darum konnte man aber auch keine schöneres, glatteren, glänzenderen +und fröhlicheren Tiere sehen als auf dem Asperhofe. Der +Wirtschaftsvorteil lag außerdem noch als Zugabe bei; denn da das +Schlechtere gar nicht verwendet werden durfte, wurde bei der +Behandlung und Einbringung die größte Sorgfalt von den Leuten +beobachtet, abgesehen davon, daß mein Gastfreund bei seiner Kenntnis +der Witterungsverhältnisse weniger Schaden durch Regen oder +dergleichen erlitt als die meisten Landwirte, die sich um diese +Kenntnis gar nicht bekümmerten. Und der Nachteil der Nichtanwendung +des Schlechteren wurde weit durch den Vorteil des besseren Gedeihens +der Tiere aufgewogen. In dem Asperhofe konnte man immer mit einer +geringeren Anzahl Tiere größere Arbeiten ausführen als in anderen +Gehöften. Hiezu kam noch eine gewisse Fröhlichkeit und Heiterkeit +der untergeordneten Leute, die bei jeder sachgemäßen Führung eines +Geschäftes, bei dem sie beteiligt sind, und bei einer wenn auch +strengen, doch stets freundlichen Behandlung nicht ausbleibt. Ich +hörte bei meiner jetzigen Anwesenheit öfter von benachbarten Leuten +die Äußerung, das hätte man dem alten Asperhofe nicht angesehen, daß +das noch heraus kommen könnte. + +Es wurde, da wieder mehrere Gewitter niedergegangen waren, die Luft +sich gereinigt hatte und einige schöne Tage erwartet werden konnten, +die Reise zu der Kirche mit dem sehenswürdigen Altare festgesetzt. + +Im Norden unseres herrlichen Stromes, welcher das Land in einen +nördlichen und südlichen Teil teilt, erhebt sich ein Hochland, welches +viele Meilen die nördlichen Ufer des Stromes begleitet. In seinem +Süden ist eine acht bis zehn Meilen breite, verhältnismäßig ebene +Gegend von großer Fruchtbarkeit, die endlich von dem Zuge der Alpen +begrenzt ist. Ich war bisher nur vorzugsweise in die Alpen gegangen, +die nördlichen Hochlande hatte ich bloß ein einziges Mal betreten und +nur eine kleine Ecke derselben durchwandert. Jetzt sollte ich mit +meinem Gastfreunde eine Fahrt in das Innere derselben machen; denn die +Kirche, welche das Ziel unserer Reise war, steht weit näher an der +nördlichen als an der südlichen Grenze des Hochlandes. Wir fuhren +in der Begleitung Eustachs von dem Stromesufer die staffelartigen +Erhebungen empor und fuhren dann in dem hohen vielgehügelten Lande +dahin. Wir fuhren oft mit unseren Gespann langsam bis auf die höchste +Spitze eines Berges empor, dann auf der Höhe fort, oder wir senkten +uns wieder in ein Tal, umfuhren oft in Windungen abwärts die Dachung +des Berges, legten eine enge Schlucht zurück, stiegen wieder empor, +veränderten recht oft unsere Richtung und sahen die Hügel, die Gehöfte +und andere Bildungen von verschiedenen Seiten. Wir erblickten oft von +einer Spitze das ganze flache gegen Mittag gelegene Land mit seiner +erhabenen Hochgebirgskette, und waren dann wieder in einem Talkessel, +in welchem wir keine Gegenstände neben unserem Wagen hatten als eine +dunkle, weitästige Fichte und eine Mühle. Oft, wenn wir uns einem +Gegenstande gleichsam auf einer Ebene nähern zu können schienen, war +plötzlich eine tiefe Schlucht in die Ebene geschnitten, und wir mußten +dieselbe in Schlangenwindungen umfahren. + +Ich hatte bei meinem ersten Besuche dieses Hochlandes die Bemerkung +gemacht, daß es mir da stiller und schweigsamer vorkomme, als wenn ich +durch andere, ebenfalls stille und schweigende Landschaften zog. Ich +dachte nicht weiter darüber nach. Jetzt kam mir dieselbe Empfindung +wieder. In diesem Lande liegen die wenigen größeren Ortschaften sehr +weit von einander entfernt, die Gehöfte der Bauern stehen einzeln auf +Hügeln oder in einer tiefen Schlucht oder an einem nicht geahnten +Abhange. Herum sind Wiesen, Felder, Wäldchen und Gestein. Die Bäche +gehen still in den Schluchten, und wo sie rauschen, hört man ihr +Rauschen nicht, weil die Wege sehr oft auf den Höhen dahin führen. +Einen großen Fluß hat das Land nicht, und wenn man die ausgedehnte +südliche Ebene und das Hochgebirge sieht, so ist es nur ein sehr +großer, aber stiller Gesichtseindruck. In den Alpen geht der +Straßenzug meistens nur in den Talrinnen, an den Flüssen oder +Wildbächen dahin, er kann sich wenig verzweigen, der Verkehr ist auf +ihn zusammengedrängt, und es regt sich auf ihm, und es wehet und +rauscht an ihm. + +In diesem Lande sind noch viele wertvolle Altertümer zerstreut und +aufbewahrt, es haben einmal reiche Geschlechter in ihm gewohnt, und +die Krieges- und Völkerstürme sind nicht durch das Land gegangen. + +Wir kamen in den kleinen Ort Kerberg. Er liegt in einem sehr +abgeschiedenen Winkel und ist von keinerlei Bedeutung. Nicht einmal +eine Straße von nur etwas lebhaftem Verkehre führt durch, sondern +nur einer jener Landwege, wie sie zum Austausche der Erzeugnisse der +Bevölkerung dienen und von dem guten Sand- und Steinstoffe des Landes +sehr gut gebaut sind. Nur die Lage ist schön, da hier die Bildungen +etwas größer sind und, mit dämmerigem Walde teilweise bekleidet, +anmutig zusammentreten. Und doch steht in diesem Orte die Kirche, +zu welcher wir auf der Reise waren. Hinter dem Orte, ungefähr nach +Mitternacht, liegt ein weitläufiges Schloß auf einem Berge, welches +große Garten- und Waldanlagen um sich hat. Auf diesem Schlosse hat +einmal ein reiches und mächtiges Geschlecht gewohnt. Einer von ihnen +hatte in dem kleinen Orte die Kirche bauen und auszieren lassen. Er +hat die Kirche im altdeutschen Stile gebaut, Spitzbogen schließen +sie, schlanke Säulen aus Stein teilen sie in drei Schiffe, und hohe +Fenster mit Steinrosen in ihren Bögen und mit den kleinen vieleckigen +Täfelchen geben ihr Licht. Der Hochaltar ist aus Lindenholz +geschnitzt, steht wie eine Monstranze auf dem Priesterplatze und ist +von fünf Fenstern umgeben. Viele Zeiten sind vorübergegangen. Der +Gründer ist gestorben, man zeigt sein Bild aus rotem Marmor in +Halbarbeit auf einer Platte in der Kirche. Andere Menschen sind +gekommen, man machte Zutaten in der Kirche, man bemalte und bestrich +die steinernen Säulen und die aus gehauenen Steinen gebauten Wände, +man ersetzte die zwei Seitenaltäre, von deren Gestalt man jetzt nichts +mehr weiß, durch neue, und es geht die Sage, daß schöne Glasgemälde +die Monstranze umstanden haben, daß sie fortgekommen seien und daß +gemeine viereckige Tafeln in die fünf Fenster gesetzt wurden. Sie +verunzieren in der Tat noch jetzt die Kirche. Die neuen Besitzer des +Schlosses waren nicht mehr so reich und mächtig, andere Zeiten hatten +andere Gedanken bekommen, und so war der geschnitzte Hochaltar von +Vögeln, Fliegen und Ungeziefer beschmutzt worden, die Sonne, die +ungehindert durch die viereckigen Tafeln hereinschien, hatte ihn +ausgedörrt, Teile fielen herab und wurden willkürlich wieder hinauf +getan und durcheinander gestellt, und in Arme, Angesichter und +Gewänder bohrte sich der Wurm. + +Darum haben die Behörden des Landes den Altar wieder hergestellt, und +zu diesem gingen wir. + + +Eustach geleitete uns in die Kirche, es war ein sonniger Vormittag, +kein Mensch war zugegen, und wir traten vor das Schnitzwerk. Eustach +konnte vieles aus den Regeln der alten Kunst und aus der Geschichte +derselben erklären. Er sprach über das Mittelfeld, in welchem drei +ganze, überlebensgroße Gestalten auf reich verzierten Gestellen unter +reichen Überdächern standen. Es waren die Gestalten des heiligen +Petrus, des heiligen Wolfgang - beide in Bischofsgewändern - und des +heiligen Christophorus, wie er das Jesuskindlein auf der Schulter +trägt, und wie dasselbe nach der Legende dem riesenhaft starken Manne +schwer wie ein Weltball wird und seine Kräfte erschöpft, welche +Erschöpfung in der Gestalt ausgedrückt ist. Sehr viele kleine +Gestalten waren noch nach der Sitte unserer Vorältern in dem Raume +zerstreut. An dem Mittelfelde waren in gezierten Rahmen zwei Flügel, +auf welchen Bilder in halberhabener Arbeit sich befanden: die +Verkündigung des Engels, die Geburt des Heilandes, die Opferung der +drei Könige und der Tod Marias. Oberhalb des Mittelstückes war ein +Giebel mit der emporstrebenden durchbrochenen Arbeit, die man, wie +Eustach meint, fälschlich die gothische nennt, da sie vielmehr +mittelalterlich deutsch sei. In diese durchbrochene Arbeit waren +mehrere Gestalten eingestreut. Zu beiden Seiten hinter den Flügeln +standen die Gestalten des heiligen Florian und des heiligen Georg in +mittelalterlicher Ritterrüstung empor. + +Der heilige Florian hatte das Sinnbild des brennenden Hauses und der +heilige Georg das des Drachen zu seinen Füßen. Eustach behauptete, +daß sich nur aus der Ansicht eines Sinnbildes die Kleinheit solcher +Beigaben zu altertümlichen Gestalten erkläre, da unsere kunstsinnigen +Altvordern gewiß nicht den großen Fehler der Unverhältnismäßigkeit der +Körper der Gegenstände gemacht haben würden. Mein Gastfreund sagte, +ohne die Meinung Eustachs verwerfen zu wollen, daß man die Sache auch +etwa so auslegen könne, daß man durch die über alles Maß hinausgehende +Größe der Gestalten, gegen welche ein Haus oder ein Drache klein sei, +ihre Übernatürlichkeit habe ausdrücken wollen. + +Mein Gastfreund sagte, es müßten einmal nicht nur viel kunstsinnigere +Zeiten gewesen sein als heute, sondern es müßte die Kunst auch ein +allgemeineres Verständnis bis in das unterste Volk hinab gefunden +haben; denn wie wären sonst Kunstwerke in so abgelegene Orte wie +Kerberg gekommen, oder wie befänden sich solche in noch kleineren +Kirchen und Kapellen des Hochlandes, die oft einsam auf einem Hügel +stehen oder mit ihren Mauern aus einem Waldberge hervor ragen, oder +wie wären kleine Kirchlein, Feldkapellen, Wegsäulen, Denksteine +alter Zeit mit solcher Kunst gearbeitet: so wie heut zu Tage der +Kunstverfall bis in die höheren Stände hinauf rage, weil man nicht nur +in die Kirchen, Gräber und heiligen Orte abscheuliche Gestalten, die +eher die Andacht zerstören als befördern, von dem Volke stellen läßt, +sondern auch bis zu sich hinauf in das herrschaftliche Schloß so oft +die leeren und geistesarmen Arbeiten einer ohnmächtigen Zeit zieht. +Meines Gastfreundes und Eustachs bemächtigte sich bei diesen +Betrachtungen eine Traurigkeit, welche ich nicht ganz begriff. + +Wir betrachteten nach dem Altare auch noch die Kirche, betrachteten +das Steinbild des Mannes, der sie hatte erbauen lassen. und +betrachteten noch andere alte Grabdenkmale und Inschriften. Es zeigte +sich hier, daß die fünf Fenster des Priesterplatzes nicht wie die +Fenster des Kirchenschiffes in ihren Spitzbogen Steinrosen hatten, was +als neuer Beweis galt, daß das Glas aus diesen Fenstern einmal heraus +genommen worden war, und daß man zu besserer Gewinnung der Gemälde +in den Spitzbogen oder gar zu bequemerer Einsetzung der viereckigen +Tafeln die steinernen Fassungen weggeräumt habe. + +Ich ging mit manchem Gedanken bereichert neben meinen zwei Begleitern +aus der Kirche. + +Auf der Rückfahrt schlugen wir einen anderen Weg ein, damit ich auch +noch andere Teile des Landes zu sehen bekäme. Wir besuchten noch ein +paar Kirchen und kleinere Bauwerke, und Eustach versprach mir, daß +er mir, wenn wir nach Hause gekommen wären, die Zeichnungen von den +Dingen zeigen würde, welche wir gesehen hatten. Die Männer sprachen +auf der Rückreise auch von der mutmaßlichen Zeit, in welcher die +Kirche, die das Ziel unserer Reise gewesen war, entstanden sein +könnte. Sie schlossen auf diese Zeit aus der Art und Weise des Baues +und aus manchen Verzierungen. Sie bedauerten nur, daß man Näheres +darüber aus Urkunden nicht erfahren könne, da das Schriftgewölbe des +alten Schlosses unzugänglich gehalten werde. + +Wir fuhren am Mittage des nächsten Tages wieder die staffelartigen +Erhebungen hinab und gelangten in später Nacht in das Rosenhaus. + +Ich mahnte in ein paar Tagen darauf den Gärtner an unsern verabredeten +Gang nach Ingheim. Er freute sich über meine Achtsamkeit, wie er es +nannte, und an einem freundlichen Nachmittage gingen wir in das Schloß +hinüber. Wir sagten die Ursache unseres Besuches und wurden mit +Zuvorkommenheit empfangen. + +Wir gingen sogleich in das Gewächshaus, und es war in Wirklichkeit +eine sehr schöne und zu ansehnlicher Größe ausgebildete Pflanze, zu +der mich der Gärtner Simon geführt hatte. Ich kannte nicht genau, wie +weit sich diese Pflanzen überhaupt entwickeln und welche Größe sie zu +erreichen vermögen; aber eine größere habe ich nirgends gesehen. Daß +man sie in Ingheim nicht viel achte, erkannte ich ebenfalls; denn der +Winkel des Gewächshauses, in welchem sie in freiem Boden stand, war +der vernachlässigteste, es lagen Blumenstäbe, Bastbänder, welke +Blätter und dergleichen dort, und man hatte ihn mit Gestellen, auf +welchen andere Pflanzen standen, verstellt, daß sein Anblick den Augen +entzogen werde. Man konnte den grünen Arm dieser Pflanze wohl an der +Decke des Hauses hingehen sehen, ich hatte aber dort hinauf bei meiner +ersten Anwesenheit nicht geschaut. Mein Begleiter erkannte jetzt, daß +es ein Cereus peruvianus sei und erklärte mir seine Merkmale. Sonst +aber konnten wir keine Cactus in Ingheim entdecken. Nach mancher +Aufmerksamkeit, die uns in dem Schlosse noch zu Teil wurde, begaben +wir uns gegen Abend wieder auf den Rückweg, und ich tröstete meinen +alten Begleiter mit den Worten, daß ich glaube, daß es nicht schwer +sein werde, diese Pflanze in das Rosenhaus zu bringen. Dort würde sie +die Sammlung ergänzen und zieren, während sie in Ingheim allein ist. +Auch wird man wohl einem Wunsche meines Gastfreundes willfährig sein, +und ich werde die Sache schon zu fördern trachten. + + +Nach kurzer Zeit traten wir unsere Weg zum Besuche in dem Sternenhofe +an. Dieses Mal fuhr außer Eustach auch Gustav mit. Die Grauschimmel +wurden vor einen größeren Wagen gespannt, als wir in den Hochlanden +gehabt hatten, und wir fuhren mit ihnen über den Hügel hinab. Es war +sehr früh am Morgen, noch lange vor Sonnenaufgang. Wir fuhren auf der +Hauptstraße gegen Rohrberg zu und fuhren endlich auf der Anhöhe an dem +Alizwalde empor. Da die Pferde langsam den Weg hinan gingen, sagte +mein Gastfreund: »Es ist möglich, daß ihr im vorigen Jahre an dieser +Stelle Mathilden und Natalien gesehen habt. Sie erzählten mir, als sie +zu Besuche der Rosenblüte zu mir kamen, und ich ihnen von euch, von +eurer Anwesenheit bei mir und von eurer an dem Morgen ihrer Ankunft +erfolgten Abreise sagte, daß sie einem Fußreisenden auf der Alizhöhe +begegnet seien, der dem ungefähr gleich gesehen habe, den ich ihnen +beschrieben.« + +Plötzlich war es mir ganz klar, daß wirklich Mathilde und Natalie +die zwei Frauen gewesen waren, welchen ich an jenem Morgen an dieser +Stelle begegnet bin. Mir waren jetzt deutlich dieselben Reisehüte vor +Augen, die sie auch dieses Mal aufgehabt hatten, ich sah die Züge +Nataliens wieder, und auch der Wagen und die braunen Pferde kamen +mir in die Erinnerung. Darum also war mir Natalie immer als schon +einmal gesehen vorgeschwebt. Ich hatte ja sogar damals gedacht, +daß das menschliche Angesicht etwa der edelste Gegenstand für die +Zeichnungskunst sein dürfte, und hatte sie als unbeholfener Mensch, +der im Zurechtlegen aller Eindrücke geschickter ist als in dem der +menschlichen, doch wieder aus meiner Vorstellungskraft verloren. Ich +sagte zu meinem Gastfreunde, daß er durch seine Bemerkung meinem +Gedächtnisse zu Hilfe gekommen sei, daß ich jetzt alles klar wisse und +daß mir auf dieser Anhöhe Mathilde und Natalie begegnet seien, und daß +ich ihnen, da der Wagen langsam den Berg hinab fuhr, nachgesehen habe. + +»Ich habe mir es gleich so gedacht«, erwiderte er. + +Aber auch etwas anderes fiel mir ein und machte, daß mein Angesicht +errötete. Also hatte mein Gastfreund von mir mit den Frauen +gesprochen, und mich sogar beschrieben. Er hatte also einen Anteil an +mir genommen. Das freute mich von diesem Manne sehr. + +Als wir auf der Höhe des Berges angekommen waren, ließ mein Gastfreund +an einer Stelle, wo das Seitengebüsch des Weges eine Durchsicht +erlaubte, halten, stand im Wagen auf und bat mich, das gleiche zu tun. +Er sagte, daß man an dieser Stelle das Stück des Alizwaldes, das zu +dem Asperhofe gehöre, übersehen könne. Er wies mir mit dem Zeigefinger +an den Farbunterschieden des Waldes, die durch die Mischung der +Buchen und Tannen, durch Licht und Schatten und durch andere Merkmale +hervorgebracht wurden, die Grenzen dieses Besitztumes nach. Als ich +dies genugsam verstanden und ihm auch mit dem Finger ungefähr die +Stellen des Waldes gezeigt hatte, an denen ich schon gewesen war, +setzten wir uns wieder nieder und fuhren weiter. + +Es war bei dieser Gelegenheit das erste Mal gewesen, daß ich aus +seinem Munde den Namen Asperhof gehört habe, mit dem er sein Besitztum +bezeichnete. + +Nach kurzer Fahrt trennten wir uns von der nach Osten gehenden +Hauptstraße und schlugen einen gewöhnlichen Verbindungsweg nach Süden +ein. Wir fuhren also dem Hochgebirge näher. Am Mittage blieben wir +eine ziemlich lange Zeit zur Erquickung und zum Ausruhen der Pferde, +auf deren Pflege mein Gastfreund sehr sah, in einem einzeln stehenden +Gasthofe, und es war schon am Abende in tiefer Dämmerung, als mir mein +Gastfreund die Umrisse des Sternenhofes zeigte. Ich war schon zweimal +in der Gegend gewesen, erinnerte mich sogar im allgemeinen auf das +Gebäude und wußte genau, daß am Fuße des Hügels, auf welchem es stand, +sehr schöne Ahorne wuchsen. Ich hatte aber nie Ursache gehabt, mich +weiter um diese Gegenstände zu kümmern. + +Wir kamen bei Sternenscheine zu den mir bekannten Ahornen, fuhren +einen Hügel empor, legten einen Torweg zurück und hielten in einem +Hofe. In demselben standen vier große Bäume, an deren eigentümlichen, +gegen den dunkeln Nachthimmel gehaltenen Bildungen ich erkannte, daß +es Ahorne seien. In ihrer Mitte plätscherte ein Brunnen. Auf das +Rollen des Wagens unter dem hallenden Torwege kamen Diener mit +Lichtern herbei, uns aus dem Wagen zu helfen. Gleich darauf erschien +auch Mathilde und Natalie in dem Hofe, um uns zu begrüßen. Sie +geleiteten uns die Treppe hinan in einen Vorsaal, in welchem die +Begrüßungen im allgemeinen wiederholt wurden und von wo aus man uns +unsere Zimmer anwies. + +Das meinige war ein großes freundliches Gemach, in welchem bereits +auf dem Tische zwei Kerzen brannten. Ich legte, da der Diener die +Tür hinter sich geschlossen hatte, meinen Hut auf den Tisch, und das +Nächste, was ich tat, war, daß ich mehrere Male schnell in dem Zimmer +auf und nieder ging, um die durch das Fahren ersteiften Glieder wieder +ein wenig einzurichten. Als dieses ziemlich gelungen war, trat ich an +eines der offenen Fenster, um herum zu schauen. Es war aber nicht viel +zu sehen. Die Nacht war schon zu weit vorgerückt und die Lichter im +Zimmer machten die Luft draußen noch finsterer. Ich sah nur so viel, +daß meine Fenster ins Freie gingen. Nach und nach begrenzten sich +vor meinen Augen die dunkeln Gestalten der am Fuße des Hügels +stehenden Ahorne, dann kamen Flecken von dunkler und fahler Farbe, +wahrscheinlich Abwechslung von Feld und Wald, weiter war nichts zu +unterscheiden als der glänzende Himmel darüber, der von unzähligen +Sternen, aber nicht von dem geringsten Stückchen Mond beleuchtet war. + +Nach einer Zeit kam Gustav und holte mich zu dem Abendessen ab. Er +hatte eine große Freude, daß ich in dem Sternenhofe sei. Ich ordnete +aus meinem Reisesacke, der heraufgeschafft worden war, ein wenig meine +Kleider und folgte dann Gustav in das Speisezimmer. Dasselbe war fast +wie das in dem Rosenhause. Mathilde saß wie dort in einem Ehrenstuhle +oben an, ihr zur Rechten mein Gastfreund und Natalie, ihr zur Linken +ich, Eustach und Gustav. Auch hier besorgte eine Haushälterin und eine +Magd den Tisch. Der Hergang bei dem Speisen war der nehmliche wie an +jenen Abenden bei meinem Gastfreunde, an denen wir alle beisammen +gewesen waren. + +Um von der Reise ausruhen zu können, trennte man sich bald und suchte +seine Zimmer. + +Ich entschlief unter Unruhe, sank aber nach und nach in festeren +Schlummer und erwachte, da die Sonne schon aufgegangen war. + +Jetzt war es Zeit, herum zu schauen. + +Ich kleidete mich so schnell und so sorgfältig an, als ich konnte, +ging an ein Fenster, öffnete es und sah hinaus. Ein ganz gleicher, +sehr schön grüner Rasen, der durch keine Blumengebüsche oder +dergleichen unterbrochen war, sondern nur den weißen Sandweg enthielt, +breitete sich über die gedehnte Dachung des Hügels, auf der das +Gebäude stand, hinab. Auf dem Sandwege aber gingen Natalie und Gustav +herauf. Ich sah in die schönen jugendlichen Angesichter, sie aber +konnten mich nicht sehen, weil sie ihre Augen nicht erhoben. Sie +schienen in traulichem Gespräche begriffen zu sein, und bei ihrer +Annäherung - an dem Gange, an der Haltung, an den großen dunklen +Augen, an den Zügen der Angesichter - sah ich wieder recht deutlich, +daß sie Geschwister seien. Ich sah auf sie, so lange ich sie erblicken +konnte, bis sie endlich der dunkle Torweg aufgenommen hatte. + +Jetzt war die Gegend sehr leer. + +Ich blickte kaum auf sie. + +Allgemach entwickelten sich aber wieder freundlich Felder, Wäldchen +und Wiesen im Gemisch, ich erblickte Meierhöfe rings herumgestreut, +hie und da erglänzte ein weißer Kirchturm in der Ferne und die Straße +zog einen lichten Streifen durch das Grün. Den Schluß machte das +Hochgebirge, so klar, daß man an dem untern Teile seiner Wand die +Talwindungen, an dem obern die Gestaltung der Kanten und Flächen und +die Schneetafeln wahrnehmen konnte. + +Sehr groß und schön waren die Ahorne, die unten am Hügel standen, +deshalb mochten sie schon früher bei meinen Reisen durch diese Gegend +meine Aufmerksamkeit erregt haben. Von ihnen zogen sich Erlenreihen +fort, die den Lauf der Bäche anzeigten. + +Das Haus mußte weitläufig sein; denn die Wand, in der sich meine +Fenster befanden und die ich, hinausgebeugt, übersehen konnte, war +sehr groß. Sie war glatt mit vorspringenden steinernen Fenstersimsen +und hatte eine grauweißliche Farbe, mit der sie offenbar erst in +neuerer Zeit übertüncht worden war. + +Hinter dem Hause mußte vielleicht ein Garten oder ein Wäldchen sein, +weil ich Vogelgesang herüber hörte. Auch war es mir zuweilen, als +vernähme ich das Rauschen des Hofbrunnens. + +Der Tag war heiter. + +Ich harrte nun der Dinge, die kommen sollten. + + +Ein Diener rief mich zu dem Frühmahle. Es war zu derselben Zeit wie +im Rosenhause. Als ich in das Speisezimmer getreten war, sagte mir +Mathilde, daß es sehr lieb von mir sei, daß ich ihre Freunde und ihren +Sohn in den Sternenhof begleitet habe, sie werde sich bemühen, daß es +mir in demselben gefalle, wozu ihr ihr Freund, der mir den Asperhof +anziehend mache, beistehen müsse. + +Ich antwortete, daß ich mich auf die Reise in den Sternenhof sehr +gefreut habe und daß ich mich freue, in demselben zu sein. Von einer +Bedeutung sei es nicht, daß mir eine Rücksicht zu Teil werde, ich +bitte nur, daß man, wenn ich etwas fehle, es nachsehe. + +Nach mir trat Eustach ein. Mathilde begrüßte auch ihn noch einmal. + +Gustav, der schon zugegen war, gesellte sich zu mir. + +Die Frauen waren häuslich und schön, aber minder einfach als in dem +Rosenhause gekleidet. Meinen Gastfreund sah ich zum ersten Male in +ganz anderen Kleidern als auf seiner Besitzung und auf dem Besuche zu +Ingheim. Er war schwarz, mit einem Fracke, der einen etwas weiteren +und bequemeren Schnitt hatte als gewöhnlich, und sogar einen leichten +Biberhut trug er in der Hand. + +Nach dem Frühmahle sagte Mathilde, sie wolle mir ihre Wohnung zeigen. +Die andern gingen mit. Wir traten aus dem Speisezimmer in einen +Vorsaal. Am Ende desselben wurden zwei Flügeltüren aufgetan, und ich +sah in eine Reihe von Zimmern, welche nach der ganzen Länge des Hauses +hinlaufen mußte. Als wir eingetreten waren, sah ich, daß in den +Zimmern alles mit der größten Reinheit, Schönheit und Zusammenstimmung +geordnet war. Die Türen standen offen, so daß man durch alle +Zimmer sehen konnte. Die Geräte waren passend, die Wände waren mit +zahlreichen Gemälden geziert, es standen Glaskästen mit Büchern, es +waren musikalische Geräte da, und auf Gestellen, die an den rechten +Orten angebracht waren, befanden sich Blumen. Durch die Fenster sah +die nähere Landschaft und die ferneren Gebirge herein. + +Es zeigte sich, daß diese Zimmer ein schöner Spaziergang seien, der +unter dem Dache und zwischen den Wänden hinführte. Man konnte sie +entlang schreiten, von angenehmen Gegenständen umgeben sein und die +Kälte oder das Ungestüm des Wetters oder Winters nicht empfinden, +während man doch Feld und Wald und Berg erblickte. Selbst im Sommer +konnte es Vergnügen gewähren, hier bei offenen Fenstern gleichsam halb +im Freien und halb in der Kunst zu wandeln. Da ich meinen Blick mehr +auf das Einzelne richtete, fielen mir die Geräte besonders auf. Die +waren neu und nach sehr schönen Gedanken gebildet. Sie schickten sich +so in ihre Plätze, daß sie gewissermaßen nicht von Außen gekommen, +sondern zugleich mit diesen Räumen entstanden zu sein schienen. Es +waren an ihnen sehr viele Holzarten vermischt, das erkannte ich sehr +bald, es waren Holzarten, die man sonst nicht gerne zu Geräten nimmt, +aber sie schienen mir so zu stimmen, wie in der Natur die sehr +verschiedenen Geschöpfe stimmen. + +Ich machte in dieser Hinsicht eine Bemerkung gegen meinen Gastfreund, +und er antwortete: »Ihr habt einmal gefragt, ob Gegenstände, die wir +in unserem Schreinerhause neu gemacht haben, in meinem Hause vorhanden +seien, worauf ich geantwortet habe, daß nichts von Bedeutung in +demselben sei, daß sich aber einige gesammelt in einem anderen Orte +befinden, in den ich euch, wenn ihr Lust zu solchen Dingen hättet, +geleiten würde. Diese Zimmer hier sind der andere Ort, und ihr seht +die neuen Geräte, die in unserem Schreinerhause verfertigt worden +sind.« + +»Es ist aber zu bewundern, wie sehr sie in ihren Abwechslungen und +Gestalten hieher passen«, sagte ich. + +»Als wir einmal den Plan gefaßt hatten, die Zimmer Mathildens nach +und nach mit neuen Geräten zu bestellen«, erwiderte er, »so wurde die +ganze Reihe dieser Zimmer im Grund- und Aufrisse aufgenommen, die +Farben bestimmt, welche die Wände der einzelnen Zimmer haben sollten, +und diese Farben gleich in die Zeichnungen getragen. Hierauf wurde zur +Bestimmung der Größe, der Gestalt und der Farbe, mithin der Hölzer der +einzelnen Geräte geschritten. Die Farbezeichnungen derselben wurden +verfertigt und mit den Zeichnungen der Zimmer verglichen. Die +Gestalten der Geräte sind nach der Art entworfen worden, die wir vom +Altertume lernten, wie ich euch einmal sagte, aber so, daß wir nicht +das Altertum geradezu nachahmten, sondern selbstständige Gegenstände +für die jetzige Zeit verfertigten mit Spuren des Lernens an +vergangenen Zeiten. Wir sind nach und nach zu dieser Ansicht gekommen, +da wir sahen, daß die neuen Geräte nicht schön sind und daß die alten +in neue Räume zu wohnlicher Zusammenstimmung nicht paßten. Wir haben +uns selber gewundert, als die Sachen nach vielerlei Versuchen, +Zeichnungen und Entwürfen fertig waren, wie schön sie seien. In der +Kunst, wenn man bei so kleinen Dingen von Kunst reden kann, ist eben +so wenig ein Sprung möglich als in der Natur. Wer plötzlich etwas so +Neues erfinden wollte, daß weder den Teilen noch der Gestaltung nach +ein Ähnliches da gewesen ist, der würde so töricht sein wie der, +der fordern würde, daß aus den vorhandenen Tieren und Pflanzen sich +plötzlich neue, nicht dagewesene entwickeln. Nur daß in der Schöpfung +die Allmählichkeit immer rein und weise ist; in der Kunst aber, die +der Freiheit des Menschen anheim gegeben ist, oft Zerrissenheit, oft +Stillstand, oft Rückschritt erscheint. Was die Hölzer anbelangt, so +sind da fast alle und die schönsten Blätter verwendet worden, die wir +aus den Knollen der Erlen geschnitten haben, die in unserer Sumpfwiese +gewachsen sind. Ihr könnt sie dann betrachten. Wir haben uns aber auch +bemüht, Hölzer aus unserer ganzen Gegend zu sammeln, die uns schön +schienen, und haben nach und nach mehr zusammengebracht, als wir +anfänglich glaubten. Da ist der schneeige, glatte Bergahorn, der +Ringelahorn, die Blätter der Knollen von dunkelm Ahorn - alles aus den +Alizgründen -, dann die Birke von den Wänden und Klippen der Aliz, +der Wachholder von der dürren, schiefen Haidefläche, die Esche, die +Eberesche, die Eibe, die Ulme, selbst Knorren von der Tanne, der +Haselstrauch, der Kreuzdorn, die Schlehe und viele andere Gesträuche, +die an Festigkeit und Zartheit wetteifern, dann aus unseren Gärten +der Wallnußbaum, die Pflaume, der Pfirsich, der Birnbaum, die Rose. +Eustach hat die Blätter der Hölzer alle gemalt und zur Vorgleichung +zusammengestellt, er kann euch die Zeichnung einmal im Asperhofe +zeigen und die vielen Arten noch angeben, die ich hier nicht genannt +habe. In der Holzsammlung müssen sie ja auch vorhanden sein.« + +Ich betrachtete die Sachen genauer. Die Erlenblätter, von denen mir +mein Gastfreund im vorigen Jahre gesagt hatte, daß sie an einem +anderen Orte verwendet worden seien, waren in der Tat außerordentlich, +so feurig und fast erhaben, auch ungemein groß; alles andere Holz, +wie zart, wie schön in der Zusammenstellung, daß man gar nicht ahnen +sollte, daß dies in unseren Wäldern ist. Und die Gestalten der Geräte, +wie leicht, wie fein, wie anschmiegend, sie waren ganz anders als +die jetzt verfertigt werden, und waren doch neu und für unsere Zeit +passend. Ich erkannte, welch ein Wert in den Zeichnungen liege, die +Eustach habe. Ich dachte an meinen Vater, der solche Dinge so liebt. +Ach, wenn er nur hier wäre, daß er sie sehen könnte! Mir war, als +gingen mir neue Kenntnisse auf. Ich wagte einen Blick auf Natalie, ich +wendete ihn aber schnell wieder weg; sie stand so in Gedanken, daß ich +glaube, daß sie errötete, als ich sie anblickte. + +Mathilde sagte zu Eustach: »Es ist im Verlaufe der Zeit, ohne daß eine +absichtliche Störung vorgekommen wäre, manches hier anders geworden +und nicht mehr so schön als anfangs. Wir werden es einmal, wenn ihr +Zeit habt und herüber kommen wollt, ansehen, ihr könnt die Fehler +erkennen und Mittel zur Abhilfe an die Hand geben.« + +Wir gingen nun weiter. Durch eine geöffnete Tür gelangten wir in +Zimmer, welche in einer anderen Richtung des Hauses lagen. Die +durchwanderten hatten nach Süd gesehen, diese sahen nach West. Es +waren ein großer Saal und zwei Seitengemächer. Waren die früheren +Zimmer lieb und wohnlich gewesen, so waren diese wahrhaft prachtvoll. +Der Saal war mit Marmor gepflastert, die Zimmer hatten altertümliche +Wandbekleidung, altertümliche Fenstervorhänge und altertümliche +Geräte, der Fußboden des Saales enthielt die schönsten, seltensten und +zahlreichsten Gattungen unsers Marmors, nach einer Zeichnung eingelegt +und so geglättet, daß er alle Dinge spiegelte. Es war der ernsteste +und feurigste Teppich. Wir mußten hier auch Filzschuhe anlegen. Auf +diesem Spiegelboden standen die schönsten und wohlerhaltensten alten +Schreine und andere Einrichtungsstücke. Es waren hier die größten +versammelt. In den zwei anstoßenden Gemächern standen auf feurig +farbigen Holzteppichen die kleineren, zarteren und feineren. Waren +gleich die altertümlichen Geräte nicht schöner als die bei meinem +Gastfreunde - ich glaube, schönere wird es kaum geben -, so zeigte +sich hier eine Zusammenstimmung, als müßten die, welche diese Dinge +ursprünglich hatten herrichten lassen, in ihren einstigen Trachten +bei den Türen hereingehen. Es ergriff einen ein Gefühl eines +Bedeutungsvollen. + +»Die Marmore«, sagte mein Gastfreund, »sind aller Orten erworben, +geschliffen, geglättet und nach einer altertümlichen Zeichnung vieler +Kirchenfenster eingesetzt worden.« + +»Aber daß ihr die Geräte so zusammen gefunden habt, daß sie wie ein +Einziges stimmen, ist zu verwundern«, sagte ich. + +»Also empfindet ihr, daß sie stimmen?« erwiderte er. »Seht, das ist +mir lieb, daß ihr das sagt. Ihr seid ein Beobachter, der nicht von der +Sucht nach Altem befangen ist, wie uns unsere Gegner vorwerfen. Ihr +empfangt also das Gefühl von den Gegenständen und tragt es nicht in +dieselben hinein, wie auch unsere Gegner von uns sagen. Die Sache aber +ist nur so: als man die Nichtigkeit und Leere der letztvergangenen +Zeiten erkannte und wieder auf das Alte zurück wies und es nicht +mehr als Plunder und Trödel ansah, sondern Schönes darin suchte: da +geschahen freilich törichte Dinge. Man sammelte wieder Altes und nur +Altes. Statt der neuen Mode mit neuen Gegenständen kam die neueste +mit alten Gegenständen. Man raffte Schreine, Betschemel, Tische und +dergleichen zusammen, weil sie alt waren, nicht weil sie schön waren, +und stellte sie auf. Da standen nun Dinge beisammen, die in ihren +Zeiten weit von einander ablagen, es konnte nicht fehlen, daß ein +Widerwärtiges herauskam und daß die Feinde des Alten, wenn sie Gefühl +hatten, sich abwenden mußten. Nichts aber kann so wenig passen, als +alte Dinge von sehr verschiedenen Zeiten. Die Vorältern legten so sehr +einen eigentümlichen Geist in ihre Dinge - es war der Geist ihres +Gemütes und ihres allgemeinen Gefühlslebens -, daß sie diesem Geiste +sogar den Zweck opferten. Man bringt Linnen, Kleider und dergleichen +in neue Geräte zweckmäßiger unter als in alte. Man kann daher alte +Geräte von ziemlich gleicher Zeit, aber verschiedenem Zwecke ohne +große Störung des Geistes der Traulichkeit und Innigkeit, der in ihnen +wohnt, zusammenstellen, während von unseren Geräten, die keinen Geist, +aber einen Zweck haben, sogleich ein Widersinniges ausgeht, wenn man +Dinge verschiedenen Gebrauches in dasselbe Zimmer tut, wie etwa den +Schreibtisch, den Waschtisch, den Bücherschrein und das Bett. Die +größte Wirkung erzielt man freilich, wenn man alte Geräte aus +derselben und guten Zeit, die also denselben Geist haben, und auch +Geräte des nehmlichen Zweckes, in ein Zimmer bringt. Da spricht nun in +der Wirklichkeit etwas ganz anderes als bei unseren neuen Dingen.« + +»Und das scheint mir hier der Fall zu sein«, sagte ich. + +»Es ist nicht Alles alt«, erwiderte er. »Viele Dinge sind so +unwiederbringlich verloren gegangen, daß es fast unmöglich ist, eine +ganze Wohnung mit Gegenständen aus der selben Zeit einzurichten, daß +kein notwendiges Stück fehlt. Wir haben daher lieber solche Stücke im +alten Sinn neu gemacht, als alte Stücke von einer ganz anderen Zeit +zugemischt. Damit aber Niemand irre geführt werde, ist an jedem +solchen altneuen Stücke ein Silberplättchen eingefügt, auf welchem die +Tatsache in Buchstaben eingegraben ist.« + +Er zeigte mir nun jene Gegenstände, welche in dem Schreinerhause als +Ergänzung hinzugemacht worden sind. + +Trotzdem war bei mir der Eindruck immer derselbe, und ich hatte +beständig und beständig den Gedanken an meinen Vater in dem Haupte. +Man führte mich auch zu den alten, schweren, mit Gold und Silber +durchwirkten Fenstervorhängen und zeigte mir dieselben als echt, so +auch die ledernen, mit Farben und Metallverzierungen versehenen Belege +der Zimmerwände. Nur hat man da in dem Leder nachhelfen und ihm +Nahrung geben müssen. + +Als ich diese ernsten und feierlichen Gemächer genugsam betrachtet +hatte, öffnete Mathilde das schwere Schloß der Ausgangstür, und wir +kamen in mehrere unbedeutende Räume, die nach Norden sahen, worunter +auch der allgemeine Eintrittssaal und das Speisezimmer waren. Von da +gelangten wir in den Flügel, dessen Fenster die Morgensonne hatten. +Hier waren die Wohnzimmer Mathildens und Nataliens. Jede hatte ein +größeres und ein kleineres Gemach. Sie waren einfach mit neuen Geräten +eingerichtet und drückten durch Dinge unmittelbaren Gebrauches die +Bewohntheit aus, ohne daß ich die vielen Spielereien sah, mit denen +gerne, zwar nicht bei meinen Eltern, aber an anderen Orten unserer +Stadt, die Zimmer der Frauen angefüllt sind. In jeder der zwei +Wohnungen sah ich eine der Zithern, die in dem Rosenhause gewesen +waren. Bei Natalien herrschten besonders Blumen vor. Es standen +Gestelle herum, auf welche sie von dem Garten herauf gebracht worden +waren, um hier zu verblühen. Auch standen größere Pflanzen, namentlich +solche, welche schöne Blätter oder einen schönen Bau hatten, in einem +Halbkreise und in Gruppen auf dem Fußboden. + +In einem Vorsaale, der den Eintritt zu diesen Wohnungen bildete, +befand sich ein Clavier. + +Die Zimmer im zweiten Stockwerke des Hauses waren geblieben, wie sie +früher gewesen waren. Sie sahen so aus, wie sie gerne in weitläufigen +alten Schlössern auszusehen pflegen. Sie waren mit Geräten vieler +Zeiten, die meistens ohne Geschmack waren, mit Spielereien vergangener +Geschlechter, mit einigen Waffen und mit Bildern, namentlich +Bildnissen, die nach der Laune des Tages gemacht waren, angefüllt. +Namentlich waren an den Wänden der Gänge Abbildungen aufgehängt +von großen Fischen, die man einmal gefangen, nebst beigefügter +Beschreibung, von Hirschen, die man geschossen, von Federwild, von +Wildschweinen und dergleichen. Auch Lieblingshunde fehlten nicht. In +diesem Stockwerke waren nach Süden die Gastzimmer, und der Flügel +derselben war geordnet worden. Hier befand sich auch mein Zimmer nebst +dem Gustavs. + +Nach der Besichtigung der Zimmer gingen wir in das Freie. Die breite +Haupttreppe aus rotem Marmor führte in den Hof hinab. Derselbe zeigte, +wie groß das Gebäude sei. Er war von vier ganz gleichen, langen +Flügeln umschlossen. In seiner Mitte war ein Becken von grauem Marmor, +in welches sich aus einer Verschlingung von Wassergöttinnen vier +Strahlen ergossen. Um das Becken standen vier Ahorne, welche gewiß +nicht kleiner waren als die, welche den Schloßhügel säumten. Auf +dem Sandplatze unter den Ahornen waren Ruhebänke, ebenfalls aus +grauem Marmor. Von diesem Sandplatze liefen Sandwege wie Strahlen +auseinander. Der übrige Raum war gleichförmiges Rasen, nur daß an den +Mauern des Hauses eine Pflasterung von glatten Steinen herum führte. + +Von dem Hofe gingen wir bei dem großen Tore hinaus. Ich wendete mich, +da wir draußen waren, unwillkürlich um, um das Gebäude zu betrachten. +Über dem Tore war ein ziemlich umfangreiches steinernes Schild +mit sieben Sternen. Sonst sah ich nichts, als was ich bei meinem +Morgenausblicke aus dem Fenster schon gesehen hatte. Wir gingen auf +einem Sandwege des grünen Rasens, wir umgingen das Haus und gelangten +hinter demselben in den Garten. Hier sah ich, was ich mir schon +früher gedacht hatte, daß das Gebäude, welches man wohl ein Schloß +nennen mußte, nur aus den vier großen Flügeln bestehe, welche ein +vollkommenes Viereck bildeten. Die Wirtschaftsgebäude standen ziemlich +weit entfernt in dem Tale. + +Der Garten begann mit Blumen, Obst und Gemüse, zeigte aber, daß er in +der Entfernung mit etwas endigen müsse, das wie ein Laubwald aussah. +Alles war rein und schön gehalten. Der Garten war auch hier mit +gefiederten Bewohnern bevölkert, und man hatte ähnliche Vorrichtungen +wie im Asperhofe. Die Bäume standen daher auch vortrefflich und +gesund. Rosen zeigten sich ebenfalls viele, nur nicht in so besonderen +Gruppierungen wie bei meinem Gastfreunde. Die Gewächshäuser des +Gartens waren ausgedehnt und weit größer und sorgfältiger gepflegt +als auf dem Asperhofe. Der Gärtner, ein junger und, wie es schien, +unterrichteter Mann, empfing uns mit Höflichkeit und Ehrfurcht am +Eingange derselben. Er zeigte mir mit mehr Genauigkeit seine Schätze, +als ich mit der Rücksicht auf meine Begleiter, denen nichts neu +war, für vereinbarlich hielt. Es waren viele Pflanzen aus fremden +Weltteilen da, sowohl im warmen als im kalten Hause. Besonders erfreut +war er über seine reiche Sammlung von Ananas, die einen eigenen Platz +in einem Gewächshause einnahmen. + +Nicht weit hinter dem Gewächshause stand eine Gruppe von Linden, +welche beinahe so schön und so groß waren wie die in dem Garten des +Asperhofes. Auch war der Sand unter ihrem Schattendache so rein +gefegt, und um die Ähnlichkeit zu vollenden, liefen auf demselben +Finken, Ammern, Schwarzkehlchen und andere Vögel so traulich hin, wie +auf dem Sande des Rosenhauses. Daß Bänke unter den Linden standen, ist +natürlich. Die Linde ist der Baum der Wohnlichkeit. Wo wäre eine Linde +in deutschen Landen - und gewiß ist es in andern auch so - unter der +nicht eine Bank stände oder auf der nicht ein Bild hinge oder neben +welcher sich nicht eine Kapelle befände. Die Schönheit ihres Baues, +das Überdach ihres Schattens und das gesellige Summen des Lebens in +ihren Zweigen ladet dazu ein. Wir gingen in den Schatten der Linden. + +»Das ist eigentlich der schönste Platz in dem Sternenhofe«, sagte +Mathilde, »und jeder, der den Garten besucht, muß hier ein wenig +ruhen, daher sollt ihr auch so tun.« + +Mit diesen Worten wies sie auf die Bänke, die fast in einem Bogen +unter den Stämmen der Linden standen und hinter denen sich eine Wand +grünen Gebüsches aufbaute. Wir setzten uns nieder. Das Summen, wie es +jedes Mal in diesen Bäumen ist, war gleichmäßig über unserm Haupte, +das stumme Laufen der Vögel über den reinen Sand war vor unsern Augen +und ihr gelegentlicher Aufflug in die Bäume tönte leicht in unsere +Ohren. + +Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß auch mit Unterbrechungen ein +leises Rauschen hörbar sei, gleichsam als würde es jetzt von einem +leichten Lüftchen hergetragen, jetzt nicht. Ich äußerte mich darüber. + +»Ihr habt recht gehört«, sagte Mathilde, »wir werden die Sache gleich +sehen.« + +Wir erhoben uns und gingen auf einem schmalen Sandpfade durch die +Gebüsche, die sich in geringer Entfernung hinter den Linden befanden. +Als wir etwa vierzig oder fünfzig Schritte gegangen waren, öffnete +sich das Dickicht und ein freier Platz empfing uns, der rückwärts mit +dichtem Grün geschlossen war. Das Grün bestand aus Epheu, welcher +eine Mauer von großen Steinen bekleidete, die an ihren beiden Enden +riesenhafte Eichen hatte. In der Mitte der Mauer war eine große +Öffnung, oben mit einem Bogen begrenzt, gleichsam wie eine große +Nische oder wie eine Tempelwölbung. Im Innern dieser Wölbung, +die gleichfalls mit Eppich überzogen war, ruhte eine Gestalt von +schneeweißem Marmor - ich habe nie ein so schimmerndes und fast +durchsichtiges Weiß des Marmors gesehen, das noch besonders merkwürdig +wurde durch das umgebende Grün. Die Gestalt war die eines Mädchens, +aber weit über die gewöhnliche Lebensgröße, was aber in der Epheuwand +und neben den großen Eichen nicht auffiel. Sie stützte das Haupt mit +der einen Hand, den anderen Arm hatte sie um ein Gefäß geschlungen, +aus welchem Wasser in ein vor ihr befindliches Becken rann. Aus dem +Becken fiel das Wasser in eine in den Sand gemauerte Vertiefung, von +welcher es als kleines Bächlein in das Gebüsch lief. + +Wir standen eine Weile, betrachteten die Gestalt und redeten über sie. +Eustach und ich kosteten auch mittelst einer alabasternen Schale, die +in einer Vertiefung des Epheus stand, von dem frischen Wasser, welches +sich aus dem Gefäße ergoß. + + +Hierauf gingen wir hinter der Eppichwand über eine Steintreppe empor +und erstiegen einen kleinen Hügel, auf welchem sich wieder Sitze +befanden, die von verschiedenen Gebüschen beschattet waren. Gegen das +Haus zu aber gewährten sie die Aussicht. Wir mußten uns hier wieder +ein wenig setzen. Zwischen den Eichen, gleichsam wie in einem grünen, +knorrigen Rahmen erschien das Haus. Mit seinem hohen, steilen Dache +von altertümlichen Ziegeln und mit seinen breiten und hochgeführten +Rauchfängen glich es einer Burg, zwar nicht einer Burg aus den +Ritterzeiten, aber doch aus den Jahren, in denen man noch den Harnisch +trug, aber schon die weichen Locken der Perücke auf ihn herabfallen +ließ. Die Schwere einer solchen Erscheinung sprach sich auch in dem +ganzen Bauwerke aus. Zu beiden Seiten des Schlosses sah man die +Landschaft und hinten das liebliche Blau der Gebirge. Die dunkeln +Gestalten der Linden, unter denen wir gesessen waren, befanden sich +weiter links und störten die Aussicht nicht. + +»Man hat sehr mit Unrecht in neuerer Zeit die Mauern dieses Schlosses +mit der weißgrauen Tünche überzogen«, sagte mein Gastfreund, +»wahrscheinlich um es freundlicher zu machen, welche Absicht man sehr +gerne zu Ende des vorigen Jahrhunderts an den Tag legte. Wenn man +die großen Steine, aus denen die Hauptmauern errichtet sind, nicht +bestrichen hätte, so würde das natürliche Grau derselben mit +dem Rostbraun des Daches und dem Grün der Bäume einen sehr +zusammenstimmenden Eindruck gemacht haben. Jetzt aber steht das Schloß +da wie eine alte Frau, die weiß gekleidet ist. Ich würde den Versuch +machen, wenn das Schloß mein Eigentum wäre, ob man nicht mit Wasser +und Bürsten und zuletzt auf trockenem Wege mit einem feinen Meißel +die Tünche beseitigen könnte. Alle Jahre eine mäßige Summe darauf +verwendet, würde jährlich die Aussicht, des widrigen Anblickes +erledigt zu werden, angenehm vermehren.« + +»Wir können ja den Versuch nahe an der Erde machen und aus der Arbeit +einen ungefähren Kostenanschlag verfertigen«, sagte Mathilde; »denn +ich gestehe gerne zu, daß mich auch der Anblick dieser Farbe nicht +erfreut, besonders, da die Außenseite der Mauern ganz von Steinen ist, +die mit feinen Fugen an einander stoßen, und man also bei Erbauung des +Hauses auf keine andere Farbe als die der Steine gerechnet hat. Jetzt +ist das Schloß von Innen viel natürlicher und, wenn auch nicht an eine +Kunstzeit erinnernd, doch in seiner Art zusammenstimmender als von +Außen.« + +»Das Grau der Mauer mit den grauen Steinsimsen der Fenster, die nicht +ungeschickt gegliedert sind, mit der Höhe und Breite der Fenster, +deren Verhältnis zu den festen Zwischenräumen ein richtiges ist, +würde, glaube ich, dem Hause ein schöneres Ansehen geben, als man +jetzt ahnt«, sagte Eustach. + +Mir fielen bei dieser Äußerung die Worte ein, welche mein Gastfreund +einmal zu mir gesagt hatte, daß alte Geräte in neuen Häusern nicht +gut stehen. Ich erinnerte mich, daß in dem Saale und in den alt +eingerichteten Gemächern dieses Schlosses die hohen Fenster, die +breiten Räume zwischen ihnen und die eigentümlich gestalteten +Zimmerdecken den Geräten sehr zum Vorteile gereichten, was in Zimmern +der neuen Art gewiß nicht der Fall gewesen wäre. + + +Als wir so sprachen, kamen Natalie und Gustav, die bei der Nymphe des +Brunnens zurückgeblieben waren, die Steintreppe zu uns empor. Die +Angesichter waren sanft gerötet, die dunkeln Augen blickten heiter in +das Freie, und die beiden jugendlichen Gestalten stellten sich mit +einer anmutigen Bewegung hinter uns. + +Von diesem Hügel der Eichenaussicht gingen wir weiter in den Garten +zurück und gelangten endlich in das Gemisch von Ahornen, Buchen, +Eichen, Tannen und anderen Bäumen, welches wie ein Wäldchen den Garten +schloß. Wir gingen in den Schatten ein, und die Freudenäußerungen +und das Geschmetter der Vögel war kaum irgendwo größer als hier. Wir +besuchten Stellen, wo man der Natur nachgeholfen hatte, um diese +Abteilung noch angenehmer zu machen, und Gustav zeigte mir Bänke, +Tischchen und andere Plätze, wo er mit Natalien gesessen war, wo +sie gelernt, wo sie als Kinder gespielt hatten. Wir gingen an den +wunderbar von Licht und Schatten gesprenkelten Stämmen dahin, wir +gingen über die dunkeln und die leuchtenden Stellen der Sandwege, wir +gingen an reichen grünenden Büschen, an Ruhebänken und sogar an einer +Quelle vorbei und kamen durch Wendungen, die ich nicht bemerkt hatte, +an einer Stelle wieder in den freien Garten zurück, die an der +entgegengesetzten Seite von der lag, bei welcher wir das Wäldchen +betreten hatten. + +Wir ließen jetzt die zwei großen Eichen links, ebenso die Linden und +gingen auf einem anderen Wege in das Schloß zurück. + +Das Mittagessen wurde an dem äußerst schönen Grün des Hügels +unmittelbar vor dem Hause unter einem Dache von Linnen eingenommen. + +Am Nachmittage besprachen sich Mathilde und Eustach vorläufig über +das, was in Hinsicht der Beschädigungen geschehen könnte, welche die +neuen Geräte in den Südzimmern sowie die Fußböden und zum Teile auch +die alten Geräte in den Westzimmern in der Zeit erlitten hatten. Gegen +Abend wurden der Meierhof und die Wirtschaftsgebäude besucht. + +So wie Mathilde in dem Rosenhause um den weiblichen Anteil des +Hauswesens sich bekümmert, alles, was dahin einschlug, besehen und +Anleitungen zu Verbesserungen gegeben hatte: so tat es mein Gastfreund +in dem Sternenhofe mit allem, was auf die äußere Verwaltung des +Besitzes Bezug hatte, worin er mehr Erfahrung zu haben schien als +Mathilde. Er ging in alle Räume, besah die Tiere und ihre Verpflegung +und besah die Anstalten zur Bewahrung oder Umgestaltung der +Wirtschaftserzeugnisse. War mir dieses Verhältnis schon in dem +Rosenhause ersichtlich gewesen, so war es hier noch mehr der Fall. In +den Handlungen meines Gastfreundes und in dem kleinen Teile, den ich +von seinen Gesprächen mit Mathilde über häusliche Dinge hörte, zeigte +er sich als ein Mann, der mit der Bewirtschaftung eines großen +Besitzes vertraut ist und die Pflichten, die ihm in dieser Hinsicht +zufallen, mit Eifer, mit Umsicht und mit einem Blicke über das Ganze +erfüllt, ohne eben deshalb die Grenzen zu berühren, innerhalb welcher +die Geschäfte einer Frau liegen. Das geschah so natürlich, als müßte +es so sein und als wäre es nicht anders möglich. + +Von dem Meierhofe gingen wir in die Wiesen und auf die Felder, welche +zu der Besitzung gehörten. Wir gingen endlich über die Grenzen des +Besitztumes hinaus, gingen über den Boden anderer Menschen, die wir +zum Teile arbeitend auf den Feldern trafen und mit denen wir redeten. +Wir gelangten endlich auf eine Anhöhe, die eine große Umsicht +gewährte. Wir blieben hier stehen. Das erste, auf das wir blickten, +war das Schloß mit seinem grünen Hügel und im Schoße seiner +umgürtenden Ahorne und des begrenzenden Gartenwaldes. Dann gingen wir +auf andere Punkte über. + +Man zeigte und nannte mir die einzelnen Häuser, die zerstreut in der +Landschaft lagen und durch die Linien von Obstbäumen, die hier überall +durch das Land gingen, wie durch grüne Ketten zusammenhingen. Dann kam +man auf die entfernteren Ortschaften, deren Türme hier zu erblicken +waren. In diesem Stoffe konnte ich schon mehr mitreden, da mir die +meisten Orte bekannt waren. Als wir aber mit unsern Augen in die +Gebirge gelangten, war ich fast der Bewandertste. Ich geriet nach und +nach in das Reden, da man mich um verschiedene Punkte fragte, und sah, +daß ich Antwort zu geben wußte. Ich nannte die Berge, deren Spitzen +erkennbar hervortraten, ich nannte auch Teile von ihnen, ich +bezeichnete die Täler, deren Windungen zu verfolgen waren, zeigte die +Schneefelder, bemerkte die Einsattlungen, durch welche Berge oder +ganze Gebirgszüge zusammenhingen oder getrennt waren, und suchte die +Richtungen zu verdeutlichen, in denen bekannte Gebirgsortschaften +lagen oder bekannte Menschenstämme wohnten. Natalie stand neben mir, +hörte sehr aufmerksam zu und fragte sogar um Einiges. + +Als die Sonne untergegangen war und die sanfte Glut von den Gipfeln +der Hochgebirge sich verlor, gingen wir in das Schloß zurück. + +Das Abendessen wurde in dem Speisezimmer eingenommen. + +So brachten wir mehrere Tage in freundlichem Umgange und in heiteren, +mitunter belehrenden Gesprächen hin. + +Endlich rüsteten wir uns zur Abreise. Am frühesten Morgen war der +Wagen bespannt. Mathilde und Natalie waren aufgestanden, um uns +Lebewohl zu sagen. Mein Gastfreund nahm Abschied von Mathilde und +Natalie, Eustach und Gustav verabschiedeten sich, und ich glaubte auch +einige Worte des Dankes für die gütige Aufnahme an Mathilde richten zu +müssen. Sie gab eine freundliche Antwort und lud mich ein, bald wieder +zu kommen. Selbst zu Natalie sagte ich ein Wort des Abschiedes, das +sie leise erwiderte. + +Wie sie so vor mir stand, begriff ich wieder, wie ich bei ihrem ersten +Anblicke auf den Gedanken gekommen war, daß der Mensch doch der +höchste Gegenstand für die Zeichnungskunst sei, so süß gehen ihre +reinen Augen und so lieb und hold gehen ihre Züge in die Seele des +Betrachters. + +Wir stiegen in den Wagen, fuhren den grünen Rasenhügel hinab, wendeten +unsern Weg gegen Norden und kamen spät in der Nacht im Rosenhause an. + +Mein Bleiben war nun in diesem Hause nicht mehr lange; denn ich hatte +keine Zeit mehr zu verlieren. Ich packte meine Sachen ein, bezeichnete +die Kisten und Koffer, welchen Weg sie zu nehmen hätten, besuchte +alle, von denen ich glaubte, Abschied nehmen zu müssen, dankte +meinem Gastfreunde für alle Güte und Freundlichkeit, leistete das +Versprechen, wieder zu kommen, und wanderte eines Tages über den +Rosenhügel hinunter. Da es zu einer Zeit geschah, in welcher Gustav +frei war, begleiteten er und Eustach mich eine Stunde Weges. + + + +Die Erweiterung + +Ich ging an den Ort, wo ich meine Arbeiten abgebrochen hatte. Die +Leute, welche von meiner Absicht, wieder zu kommen, unterrichtet +waren, hatten mich schon lange erwartet. Der alte Kaspar, welcher mein +treuester Begleiter auf meinen Gebirgswanderungen war und meistens in +einem Ledersacke die wenigen Lebensmittel trug, welche wir für einen +Tag brauchten, hatte schon mehrere Male in dem Ahornwirtshause um mich +gefragt und war gewöhnlich, wie mir die Wirtin sagte, ehe er eintrat, +ein wenig auf der Gasse stehen geblieben und hatte auf die vielen +Fenster, welche von der hölzernen Zimmerung des Hauses auf die Ahorne +hinausschauten, empor geblickt, um zu sehen, ob nicht aus einem +derselben mein Haupt hervorrage. Jetzt saß er wieder bei mir an dem +langen Eichtentische unter den grünen Bäumen, und die andern, denen er +Botschaft getan hatte, fanden sich ein. Ich war sehr erfreut und es +rührte mein Herz, als ich sah, daß diese Leute mit Vergnügen mein +Wiederkommen ansahen und sich schon auf die Fortsetzung der Arbeit +freuten. + +Ich ging sehr rüstig daran, gleichsam als ob mich mein Gewissen +drängte, das, was ich durch die längere Abwesenheit versäumt hatte, +einzubringen. Ich arbeitete fleißiger und tätiger als in allen +früheren Zeiten, wir durchforschten die Bergwände längs ihrer +Einlagerungen in die Talsohlen und in ihren verschiedenen Höhepunkten, +die uns zugänglich waren oder die wir uns durch unsere Hämmer und +Meißel zugänglich machten. Wir gingen die Täler entlang und spähten +nach Spuren ihrer Zusammensetzungen, und wir begleiteten die Wasser, +die in den Tiefen gingen, und untersuchten die Gebilde, welche von +ihnen aus entlegenen Stellen hergetragen und immer weiter und weiter +geschoben wurden. Der Hauptsammelplatz für uns blieb das Ahornhaus, +und wenn wir auch oft länger von demselben abwesend waren und in +anderen Gebirgswirtshäusern oder bei Holzknechten oder auf einer Alpe +oder gar im Freien übernachteten, so kamen wir in Zwischenräumen +doch immer wieder in das Ahornhaus zurück, wir wurden dort als +Eingebürgerte betrachtet, meine Leute fanden ihre Schlafstellen im +Heu, ich hatte mein beständiges wohleingerichtetes Zimmer und hatte +ein Gelaß, in welches ich meine gesammelten Gegenstände konnte bringen +lassen. + +Oft, wenn ich von dem Arbeiten ermüdet war oder wenn ich glaubte, +in dem Einsammeln meiner Gegenstände genug getan zu haben, saß +ich auf der Spitze eines Felsens und schaute sehnsüchtig in die +Landschaftsgebilde, welche mich umgaben, oder blickte in einen der +Seen nieder, wie sie unser Gebirge mehrere hat, oder betrachtete die +dunkle Tiefe einer Schlucht, oder suchte mir in den Moränen eines +Gletschers einen Steinblock aus und saß in der Einsamkeit und schaute +auf die blau oder grüne oder schillernde Farbe des Eises. Wenn +ich wieder talwärts kam und unter meinen Leuten war, die sich +zusammenfanden, war es mir, als sei mir alles wieder klarer und +natürlicher. + +Von einem Jägersmanne, welcher aber mehr ein Herumstreicher war, als +daß er an einem Platze durch lange Zeit als ein mit dem Bezirke und +mit dem Wildstande vertrauter Jäger gedient hätte, ließ ich mir eine +Zither über die Gebirge herüber bringen. Er kannte, eben weil er +nirgends lange blieb und an allen Orten schon gedient hatte, das ganze +Gebirge genau und wußte, wo die besten und schönsten Zithern gemacht +würden. Er konnte dies darum auch am besten beurteilen, weil er +der fertigste und berühmteste Zitherspieler war, den es im Gebirge +gab. Er brachte mir eine sehr schöne Zither, deren Griffbrett von +rabenschwarzem Holze war, in welchem sich aus Perlenmutter und +Elfenbein eingelegte Verzierungen befanden, und auf welchem die Stege +von reinem glänzenden Silber gemacht waren. Die Bretter, sagte mein +Bote, könnten von keiner singreicheren Tanne sein; sie ist von dem +Meister gesucht und in guten Zeichen und Jahren eingebracht worden. +Die Füßlein der Zither waren elfenbeinerne Kugeln. Und in der Tat, +wenn der Jägersmann auf ihr spielte, so meinte ich, nie einen süßeren +Ton auf einem menschlichen Geräte gehört zu haben. Selbst was Mathilde +und Natalie in dem Rosenhause gespielt hatten, war nicht so gewesen; +ich hatte weit und breit nichts gehört, was an die Handhabung der +Zither durch diesen Jägersmann erinnerte. Ich ließ ihn gerne in meiner +Gegenwart auf meiner Zither spielen, weil ihm keine so klang wie diese +und weil er sagte, sie müsse eingespielt werden. + +Er wurde mein Lehrer im Zitherspiele, und ich nahm mir vor, da ich +sah, daß er meine Zither allen anderen vorzog, ihm, wenn ich Ursache +hätte, mit unseren Lehrstunden zufrieden zu sein, eine gleiche zu +kaufen. + +Er hatte nehmlich erzählt, daß der Meister mehrere aus dem gleichen +Holze wie die meinige und in gleicher Art gefertigt habe. Da sie +nun ziemlich teuer gewesen war, so schloß ich, daß der Meister die +gleichen nicht so schnell werde verkaufen können und daß noch eine +werde übrig sein, wenn ich meinem Lehrer zu dem gewöhnlichen Lohne, +den ich ihm in Geld zugedacht habe, noch dieses Geschenk würde +hinzufügen wollen. + + +Ich begann in demselben Sommer auch, mir eine Sammlung von Marmoren +anzulegen. Die Stücke, die ich gelegentlich fand oder die ich mir +erwarb, wurden zu kleinen Körpern geschliffen, gleichsam dicken +Tafeln, die auf ihren Flächen die Art des Marmors zeigten. Wenn ich +größere Stücke fand, so bestimmte ich sie außer dem, daß ich die +gleiche Art in Tafeln in die Sammlung tat, zu allerlei Gegenständen, +zu kleinen Dingen des Gebrauches auf Schreibtischen, Schreinen, +Waschtischen oder zu Teilen von Geräten oder zu Geräten selbst. Ich +hoffte, meinem Vater und meiner Mutter eine große Freude zu machen, +wenn ich nach und nach als Nebengewinn meiner Arbeiten eine Zierde in +ihr Haus oder gar in den Garten brächte; denn ich sann auch darauf, +aus einem Blocke, wenn ich einen fände, der groß genug wäre, ein +Wasserbecken machen zu lassen. + +Im Lauterthale fand ich einmal Roland, den Bruder Eustachs. Er hatte +in einer alten Kirche gezeichnet und war jetzt damit beschäftigt, im +Gasthause des Lauterthales diese Zeichnungen und einige andere, welche +er in der Nähe entworfen hatte, mehr in das Reine zu bringen. Es +befand sich nehmlich nicht weit von Lauterthal ein einsamer Hof +oder eigentlich mehr ein festes, steinernes, schloßartiges Haus, +welches einmal einer Familie gehört hatte, die durch Handel mit +Gebirgserzeugnissen und durch immer ausgedehnteren Verkehr in viele +Gegenden der Erde wohlhabend und durch Entartung ihrer Nachkommen, +durch den Leichtsinn derselben und durch Verschwendung wieder arm +geworden war. Einer dieses Geschlechtes hatte das große steinerne Haus +gebaut. Es gehörte jetzt einem fremden Herrn aus der Stadt, welcher +es seiner Lage und seiner Seltenheiten willen gekauft hatte und +es zuweilen besuchte. In dem Hause waren schöne Bauwerke, schöne +Steinarbeiten und schöne Arbeiten aus Holz, teils in Zimmerdecken, +Türen und Fußböden, teils in Geräten. Die Holzarbeit mußte einmal im +Gebirge viel blühender gewesen sein als jetzt. Von diesen Gegenständen +durfte nichts aus dem Hause gebracht werden, auch wurde von ihnen +nichts verkauft. Roland hatte die Erlaubnis erhalten, zu zeichnen, was +ihm als zeichnungswürdig erscheinen würde. Dieses Zweckes halber hielt +er sich im Lanterthalwirtshause auf. Ich besuchte mit ihm öfter das +Haus, und wir gerieten in mannigfache Gespräche, namentlich, wenn +wir abends, nachdem wir beide unser Tagewerk getan hatten, an dem +Wirtstische in der großen Stube zusammen kamen. Ich fand in ihm einen +sehr feurigen Mann von starken Entschlüssen und von heftigem Begehren, +sei es, daß ein Gegenstand der Kunst sein Herz erfüllte oder daß er +sonst etwas in den Bereich seines Wesens zu ziehen strebte. Er verließ +diese Stätte früher als ich. + +Ehe mich meine Geschäfte aus der Gegend führten, fand ich noch etwas, +das mich meines Vaters willen sehr freute. Kaspar hatte öfters meinen +und Rolands Gesprächen zugehört und mitunter sogar in die Zeichnungen +geblickt. Einmal sagte er mir, daß, wenn ich an alten Dingen so ein +Vergnügen hätte, er mir etwas zeigen könne, das sehr alt und sehr +merkwürdig wäre. + +Es gehöre einem Holzknechte, der ein Haus, einen Garten und +ein kleines Feldwesen habe, das von seinem Weibe und seinen +heranwachsenden Kindern besorgt werde. Wir gingen einmal auf meine +Anregung in das Haus hinauf, das jenseits eines Waldarmes mitten in +einer trockenen Wiese nicht weit von kleinen Feldern und hart an einem +großen, vereinzelten Steinblocke lag, wie sie sich losgerissen oft im +Innern von fruchtbaren Gründen befinden. Das alte Werk, welches ich +hier traf, war die Vertäfelung von zwei Fensterpfeilern, ungefähr +halbmanneshoch. Es war offenbar der Rest einer viel größeren +Vertäfelung, welche in der angegebenen Höhe auf dem Fußboden längs der +ganzen Wände eines Zimmers herum gelaufen war. Hier bestanden nur mehr +die Verkleidungen von zwei Fensterpfeilern; aber sie waren vollkommen +ganz. Halberhabne Gestalten von Engeln und Knaben, mit Laubwerk +umgeben, standen auf einem Sockel und trugen zarte Simse. Der Besitzer +des Häuschens hatte die zwei Verkleidungen in seiner Prunkstube so +aufgestellt, daß sie mit der unverzierten Höhlung gegen die Stube +schauten. In diese Höhlung hatte er geschnitzte und bemalte +Heiligenbilder aus neuerer Zeit gestellt. Vermutlich war das Werk +einmal in dem steinernen Hause gewesen und war dort weggekommen, da +etwa Nachfolger Veränderungen machten und Gegenstände verschleuderten. +Der Besitzer des Wiesenhauses sagte uns, daß sein Großvater die +Dinge in einer Versteigerung der Hagermühle gekauft habe, die wegen +Verschwendung des Müllers war eingeleitet worden. Meine Nachfragen um +die Ergänzungen zu diesen Verkleidungen waren vergeblich, und durch +Vermittlung Kaspars erkaufte ich von dem Besitzer die übergebliebenen +Reste. Ich ließ Kisten machen, legte die gefugten Teile auseinander, +packte sie selber ein und sendete sie unterdessen in das Ahornhaus zu +meinen anderen Dingen. + + +Ich blieb wirklich in jenem Herbste sehr lange im Gebirge. Es lag +nicht nur der Schnee schon auf den Bergen, sondern er deckte auch +bereits das ganze Land, und man fuhr schon in Schlitten statt in +Wägen, als ich von dem Ahornhause Abschied nahm. Ich hatte alle meine +Sachen gepackt und hatte sie voraus gesendet, weil ich im künftigen +Jahre nicht mehr in diesem freundlichen Hause, sondern irgend wo +anders meinen Aufenthalt würde aufschlagen müssen. Ich sagte allen +meinen Leuten Lebewohl und ging auf der glattgefrorenen Bahn neben dem +rauschenden Flusse, der schon Stücke Ufereis ansetzte, in die ebneren +Länder hinaus. Mein Weg führte mich in seinem Verlaufe auf Anhöhen +dahin, von welchen ich im Norden die Gegend des Rosenhauses und im +Süden die des Sternenhofes erblicken konnte. In dem weißen Gewande, +welches sich über die Gefilde breitete und welches von den +dunkeln Bändern der Wälder geschnitten war, konnte ich kaum die +Hügelgestaltungen erkennen, innerhalb welcher das Haus meines Freundes +liegen mußte, noch weniger konnte ich die Umgebungen des Sternenhofes +unterscheiden, da ich nie im Winter in dieser Gegend gewesen war. Das +aber wußte ich mit Gewißheit, in welcher Richtung das Haus liegen +müsse, an dem im vergangenen Sommer so viele Rosen geblüht haben und +in welcher das Schloß, hinter dem die alten Linden standen und die +Quelle floß, an der die weibliche Gestalt aus weißem Marmor Wache +hielt. Die wohltuenden Fäden, die mich nach beiden Richtungen zogen, +wurden von dem stärkeren Bande aufgehoben, das mich zu den lieben, +teuren Meinigen führte. + +Als ich das flache Land erreicht hatte und an dem Orte eingetroffen +war, in welchem mich meine Kisten erwarten sollten, übergab ich +dieselben, die ich unverletzt vorfand, meinem Frächter zur Beförderung +an den Strom und empfahl sie ihm, besonders die mit den Altertümern, +auf das Angelegentlichste. Am anderen Tage reiste ich in einem Wagen +nach. Am Strome ließ ich die Kisten sorgfältig in ein Schiff bringen +und fuhr am nächsten Morgen mit dem nehmlichen Schiffe meiner +Vaterstadt zu. + +Ich langte glücklich dort an, ließ meine Habseligkeiten in unser Haus +schaffen, packte zuerst die Kiste mit den Altertümern aus und war +beruhigt, als die Holzschnitzereien unversehrt daraus hervor gingen. +Die Freude meines Vaters war außerordentlich, die Mutter freute sich +des Vaters willen, und die Schwester, deren glänzende Augen bald auf +mich, bald auf den Vater schauten, zeigte, daß sie mit mir zufrieden +sei. Dieses ließ mir manches vergessen, das beinahe wie eine Sorge in +meinem Herzen war. Ich befand mich wieder bei meinen Angehörigen, die +mit allen Kräften ihrer Seele an meinem Wohle Anteil nahmen, und dies +erfüllte mich mit Ruhe und einer süßen Empfindung, die mir in der +letzten Zeit beinahe fremd geworden war. + +Ich sah am anderen Tage, als ich in das Speisezimmer ging, den Vater, +wie er vor den Verkleidungen stand und sie betrachtete. Bald neigte er +sich näher zu ihnen, bald kniete er nieder und befühlte manches mit +der Hand oder untersuchte es genauer mit den Augen. + +Mir klopfte das Herz vor Freude, und die weißen Haare, welche unter +den dunkeln immer häufiger auf seinem Haupte zum Vorschein kamen, +erschienen mir doppelt ehrwürdig, und die leichte Falte der Sorge +auf seiner Stirne, die in der Arbeit für uns auf diesem Sitze seiner +Gedanken entstanden war, während ich meiner Freude nachgehen und die +Welt und die Menschen genießen konnte, und während meine Schwester wie +eine prachtvolle Rose erblühen durfte, erfüllte mich beinahe mit einer +Andacht. Die Mutter kam dazu, er zeigte ihr manches, er erklärte ihr +die Stellungen der Gestalten, die Führung und die Schwingung der +Stengel und der Blätter und die Einteilung des Ganzen. Die Mutter +verstand diese Dinge durch die langjährige Übung viel besser als ich, +und ich sah jetzt, daß ich dem Vater etwas weit Schöneres gebracht +habe, als ich wußte. Ich nahm mir vor, im nächsten Frühlinge viel +genauer nach den zu diesen Verkleidungen noch gehörenden Teilen zu +forschen; ich hatte früher nur im allgemeinen gefragt, jetzt wollte +ich aber auf das Sorgfältigste in der ganzen Gegend suchen. Nachdem +wir noch eine Weile über das Werk geredet hatten, führte mich die +Mutter durch alle meine Zimmer und zeigte mir, was man während meiner +Abwesenheit getan habe, um mir den Winteraufenthalt recht angenehm zu +machen. Die Schwester kam dazu, und da die Mutter fortgegangen war, +schlang sie beide Arme um meinen Hals, küßte mich und sagte, daß ich +so gut sei und daß sie mich nach Vater und Mutter unter allen Dingen, +die auf der Welt sein können, am meisten und am außerordentlichsten +liebe. Mir wären bei dieser Rede bald die Tränen in die Augen +getreten. + +Als ich später in meinem Zimmer allein auf und ab ging, wollte mir +mein Herz immer sagen: »Jetzt ist alles gut, jetzt ist alles gut.« + +Ich kaufte mir am andern Tage eine spanische Sprachlehre, welche mir +ein Freund, der sich seit mehreren Jahren mit diesen Dingen abgegeben +hatte, anriet. Ich begann neben meinen anderen Arbeiten vorerst für +mich in diesem Buche zu lernen, mir vorbehaltend, später, wenn ich es +für nötig halten sollte, auch einen Lehrer im Spanischen zu nehmen. +Auch fuhr ich nicht nur fort, in den Schauspielen Shakespeares zu +lesen, sondern ich wendete die Zeit, die mir von meinen Arbeiten übrig +blieb, auch der Lesung anderer dichterischer Werke zu. Ich suchte die +Schriften der alten Griechen und Römer wieder hervor, von denen ich +schon Bruchstücke während meiner Studienjahre als Pflichterfüllung +hatte lesen müssen. Damals waren mir die Gestaltungen dieser Völker, +die ich mit ruhigen und kühlen Kräften hatte erfassen können, sehr +angenehm gewesen, deshalb nahm ich jetzt die Bücher dieser Art wieder +vor. + +Meine Zither gereichte der Schwester zur Freude. Ich spielte ihr die +Dinge vor, die ich bereits auf diesen Saiten hervorzubringen im Stande +war, ich zeigte ihr die Anfangsgründe, und als für uns beide in dieser +Übung auch ein Meister aus der Stadt in das Haus kam, lieh ich ihr die +Zither und versprach ihr, eine eben so schöne und gute oder eine noch +schönere und bessere für sie aus dem Gebirge zu schicken, wenn sie zu +bekommen wäre. Ich erzählte ihr, daß der Mann, der mir in dem Gebirge +Unterricht im Zitherspiele gebe, bei weitem schöner, wenn auch nicht +so gekünstelt spiele als der Meister in der Stadt. Ich sagte, ich +wolle in dem Gebirge sehr fleißig lernen und ihr, wenn ich wieder +komme, Unterricht in dem erteilen, was ich unterdessen in mein +Eigentum verwandelt hätte. + +Unter diesen Beschäftigungen und unter andern Dingen, welche schon +frühere Winter eingeleitet hatten, ging die kältere Jahreszeit dahin. +Als die Frühlingslüfte wehten und die Erde abzutrocknen begann, trat +ich meine Sommerwanderung wieder an. Ich wählte doch abermals das +Ahornhaus zu meinem Aufenthalte, wenn ich auch wußte, daß ich oft weit +von ihm weggehen und lange von ihm würde entfernt bleiben müssen. +Es war nur schon zur Gewohnheit geworden, und es war mir lieb und +angenehm in ihm. + +Das erste, was ich vernahm, war, daß ich Botschaft nach meinem +Zitherspieljägersmanne aussandte. Da er überall zu finden ist, +kam er sehr bald, und wir verabredeten, wie wir unsere Übungen +im Zitherspiele fortsetzen würden. Gleichzeitig begann ich die +Forschungen nach jenen Teilen der Wandverkleidungen, welche zu den +meinem Vater überbrachten Pfeilerverkleidungen als Ergänzung gehörten. +Ich forschte in dem Hause nach, in welchem Roland im vergangenen +Sommer gezeichnet hatte, ich forschte bei dem Holzknechte, von welchem +mir die Pfeilerverkleidungen waren verkauft worden, ich dehnte meine +Forschungen in alle Teile der umliegenden Gegend aus, gab besonders +Männern Aufträge, welche oft in die abgelegensten Winkel von Häusern +und anderen Gebäuden kommen, wie zum Beispiele Zimmerleuten, Maurern, +daß sie mir sogleich Nachricht gäben, wenn sie etwas aus Holz +Geschnitztes entdeckten, ich reiste selber an manche Stellen, um +nachzusehen: allein es fand sich nichts mehr vor. Als beinahe +nicht zu bezweifeln stellte sich heraus, daß die von mir gekauften +Verkleidungen einmal zu dem steinernen Hause der ausgestorbenen +Gebirgskaufherren gehört haben, in welchem sie die Unterwand eines +ganzen Saales umgeben haben mochten. Bei einer einmal vorgenommenen +sogenannten Verschönerung späterer, verschwenderisch gewordener +Nachkommen hat man sie wahrscheinlich weg getan und sie fremden Händen +überlassen, die sie in abwechselnden Besitz brachten. + +Die Pfeilerverkleidungen, welche gleichsam Nischen bildeten, in die +man Heiligenbilder tun konnte, sind übrig geblieben, die anderen +geraden Teile sind verkommen oder sogar mutwillig zerschlagen oder +verbrannt worden. + +Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes ging ich auch mit +meinem Jägersmanne von dem Ahornhause über das Echergebirge in das +Echertal, wo der Meister wohnte, von dem der Jäger die Zither für mich +gekauft hatte und von dem ich auch eine für meine Schwester kaufen +wollte. Dieser Mann verfertigte Zithern für das ganze umliegende +Gebirge und zur Versendung. Er hatte noch zwei mit der meinigen ganz +gleiche. Ich wählte eine davon, da in der Arbeit und in dem Tone gar +keine Verschiedenheit wahrgenommen werden konnte. Der Meister sagte, +er habe lange keine so guten Zithern gemacht und werde lange keine +solchen mehr machen. Sie seien alle drei von gleichem Holze, er habe +es mit vieler Mühe gesucht und mit vielen Schwierigkeiten gefunden. Er +werde vielleicht auch nie mehr ein solches finden. Auch werde er kaum +mehr so kostbare Zithern machen, da seine entfernten Abnehmer nur +oberflächliche Ware verlangten und auch die Gebirgsleute, die wohl die +Güte verstehen, doch nicht gerne teure Zithern kauften. + +Von dem Zitherspiele, welches mein Jäger mit mir übte, schrieb ich mir +so viel auf, als ich konnte, um es der Schwester zum Einlernen und zum +Spielen zu bringen. + + +Gegen die Zeit der Rosenblüte ging ich in den Asperhof und fand die +zwei Zimmer schon für mich hergerichtet, welche ich im vorigen Sommer +bewohnt hatte. + +Am ersten Tage erzählte mir schon der Gärtner Simon, der von seinem +Gewächshause zu mir herüber gekommen war, daß der Cereus peruvianus in +dem Asperhofe sei. Der Herr habe ihn von dem Inghofe gekauft, und da +ich gewiß Ursache dieser Erwerbung sei, so müsse er mir seinen Dank +dafür abstatten. Ich hatte allerdings mit meinem Gastfreunde über den +Cereus geredet, wie ich es dem Gärtner versprochen hatte; aber ich +wußte nicht, wie viel Anteil ich an dem Kaufe hätte, und sagte daher, +daß ich den Dank nur mit Zurückhaltung annehmen könne. Ich mußte dem +Gärtner in das Cactushaus folgen, um den Cereus anzusehen. Die Pflanze +war in freien Grund gestellt, man hatte für sie einen eigenen Aufbau, +gleichsam ein Türmchen von doppeltem Glas, auf dem Cactushause +errichtet und hatte durch Stützen oder durch Lenkung der +Sonnenstrahlen auf gewisse Stellen des Gewächses Anstalten getroffen, +daß der Cereus, der sich an der Decke des Gewächshauses im Inghofe +hatte krümmen müssen, wieder gerade wachsen könne. Ich hätte nicht +gedacht, daß diese Pflanze so groß sei und daß sie sich so schön +darstellen würde. + +Weil mein Vater an altertümlichen Dingen eine so große Freude hatte, +weil ihn die Verkleidungen so sehr erfreut hatten, welche ich ihm im +vergangenen Herbste gebracht hatte, so tat ich an meinen Gastfreund, +da ich eine Weile in seinem Hause gewesen war, eine Bitte. Ich hatte +die Bitte schon länger auf dem Herzen gehabt, tat sie aber erst jetzt, +da man gar so gut und freundlich mit mir in dem Rosenhause war. Ich +ersuchte nehmlich meinen Gastfreund, daß er erlaube, daß ich einige +seiner alten Geräte zeichnen und malen dürfe, um meinem Vater die +Abbilder zu bringen, die ihm eine deutlichere Vorstellung geben +würden, als es meine Beschreibungen zu tun im Stande wären. + +Er gab die Einwilligung sehr gerne und sagte: »Wenn ihr eurem Vater +ein Vergnügen bereiten wollet, so zeichnet und malet, wie ihr wollt, +ich habe nicht nur nichts dagegen, sondern werde auch Sorge tragen, +daß in den Zimmern, die ihr benützen wollt, gleich alles zu eurer +Bequemlichkeit hergerichtet werde. Sollte euch Eustach an die Hand +gehen können, so wird er es gewiß sehr gerne tun.« + +Am folgenden Tage war in dem Zimmer, in welchem sich der große +Kleiderschrein befand. mit dem ich anfangen wollte, eine Staffelei +aufgestellt und neben ihr ein Zeichnungstisch, ob ich mich des einen +oder des andern bedienen wollte. Der Schrein war von seiner Stelle weg +in ein besseres Licht gerückt, und alle Fenster bis auf eines waren +mit ihren Vorhängen bedeckt, damit eine einheitliche Beleuchtung auf +den Gegenstand geleitet wurde, der gezeichnet werden sollte. Eustach +hatte alle seine Farbstoffe zu meiner Verfügung gestellt, wenn etwa +die von mir mitgebrachten irgendwo eine Lücke haben sollten. Das +zeigte sich sogleich klar, daß die Zeichnungen jedenfalls mit Farben +gemacht werden müßten, weil sonst gar keine Vorstellung von den +Gegenständen hätte erzeugt werden können, die aus verschiedenfarbigem +Holze zusammengestellt waren. + +Ich ging sogleich an die Arbeit. Mein Gastfreund hatte auch für meine +Ruhe gesorgt. So oft ich zeichnete, durfte niemand in das Zimmer +kommen, in dem ich war, und so lange sich überhaupt meine +Gerätschaften in demselben befanden, durfte es zu keinem andern +Gebrauche verwendet werden. Um desto mehr glaubte ich meine Arbeit +beschleunigen zu müssen. + + +Es waren indessen Mathilde und Natalie in dem Asperhofe angekommen, +und sie lebten dort, wie sie im vorigen Jahre gelebt hatten. + +Ich zeichnete fleißig fort. Niemand stellte das Verlangen, meine +Arbeit zu sehen. Eustach hatte ich gebeten, daß ich ihn zuweilen um +Rat fragen dürfe, was er bereitwillig zugestanden hatte. Ich führte +ihn daher zu Zeiten in das Zimmer, und er gab mir mit vieler +Sachkenntnis an, was hie und da zu verbessern wäre. Nur Gustav ließ +Neugierde nach der Zeichnung blicken; nicht daß ihm geradezu eine +Äußerung in dieser Hinsicht entfallen wäre; aber da er sich so an mich +angeschlossen hatte und da sein Wesen sehr offen und klar war, so +erschien es nicht schwer, den Wunsch, den er hegte, zu erkennen. Ich +lud ihn daher ein, mich in dem Zimmer zu besuchen, wenn ich zeichnete, +und ich richtete es so ein, daß meine Zeichnungszeit in seine freien +Stunden fiel. Er kam fleißig, sah mir zu, fragte um allerlei und +geriet endlich darauf, auch ein solches Gemälde versuchen zu wollen. +Da mein Gastfreund nichts dawider hatte, so überließ ich ihm meine +Farben zur Benützung, und er begann auf einem Tische neben mir sein +Geschäft, indem er den nehmlichen Schrein abbildete wie ich. Im +Zeichnen war er sehr unterrichtet, Eustach war sein Lehrmeister; +dieser hatte aber bisher noch immer nicht zugegeben, daß sein Zögling +den Gebrauch der Farben anfange, weil er von dem Grundsatze ausging, +daß zuvor eine sehr sichere und behende Zeichnung vorhanden sein +müsse. Die Spielerei aber mit dem Schreine - denn es war nichts weiter +als eine Spielerei - ließ er als eine Ausnahme geschehen. + +Ich wurde in Kurzem mit der ersten Arbeit fertig. Das Bild sah in den +genau und gewissenhaft nachgeahmten Farben fast noch lieblicher und +reizender aus als der Gegenstand selber, da alles ins Kleinere und +Feinere zusammengerückt war. + +Da ich die Zeichnung vollendet hatte, legte ich sie meinem Gastfreunde +und Mathilde vor. Sie billigten dieselbe und schlugen einige kleine +Änderungen vor. Da ich die Notwendigkeit derselben einsah, nahm ich +sie sogleich vor. Hierauf wurde von ihnen so wie von Eustach die +Abbildung für fertig erklärt. + +Nach dem Kleiderschreine nahm ich den Schreibtisch mit den Delphinen +vor. + +Weil ich durch die erste Zeichnung schon einige Fertigkeit erlangt +hatte, so ging es bei der zweiten schneller, und alles geriet mit mehr +Leichtigkeit und Schwung. Ich war fertig geworden und legte auch diese +Abbildung Mathilden, meinem Gastfreunde und Eustach vor. Gustav hatte +in der Zeit auch seine Zeichnung des großen Schreines vollendet und +brachte sie herbei. Er wurde ein wenig ausgelacht, und andererseits +wurden ihm auch Dinge angegeben, die er noch zu verändern und hinein +zu machen hätte. Auch bei mir wurden Verbesserungen vorgeschlagen. Als +wir beide mit unsern Ausfeilungen fertig waren, wurden in dem Zimmer, +in welchem wir gezeichnet hatten, die Geräte wieder an den Platz +gerückt, und die Staffelei und unsere Malergerätschaften wurden daraus +entfernt. Ich hatte mir in diesem Zimmer nur die zwei Gegenstände +abzubilden vorgenommen. + +Hierauf versuchte ich noch einige kleinere Gegenstände. + +Unterdessen waren manche Leute zum Besuche in das Rosenhaus gekommen, +wir selber hatten auch einige Nachbarn aufgesucht, hatten Spaziergänge +gemacht, und an mehreren Abenden saßen wir im Garten oder vor den +Rosen oder unter dem großen Kirschbaume und es wurde von verschiedenen +Dingen gesprochen. + + +Eustach sagte mir einmal, da ich von den Geräten in dem Sternenhofe +redete und die Äußerung machte, daß meinen Vater Abbildungen von ihnen +sehr freuen würden, es könne keinen Schwierigkeiten unterliegen, daß +ich in dem Sternenhofe ebenso zeichnen dürfe wie in dem Asperhause. +Ich ging auf die Sache nicht ein, da ich nicht den Mut hatte, mit +Mathilde darüber zu sprechen. Am andern Tage zeigte mir Eustach die +Einwilligung an, und Mathilde lud mich auf das Freundlichste ein und +sagte, daß mir in ihrem Hause jede Bequemlichkeit zu Gebote stehen +würde. Ich dankte sehr freundlich für die Güte, und nach mehreren +Tagen fuhr ich mit den Pferden meines Gastfreundes in den Sternenhof, +während Mathilde und Natalie noch in dem Rosenhause blieben. + +Im Sternenhofe fand ich zu meiner Überraschung schon alles zu meinem +Empfange vorbereitet. Da Bilder in dem Schlosse waren, hatte man auch +mehrere Staffeleien, welche man mir zur Auswahl in das große Zimmer +gestellt hatte, in welchem die altertümlichen Geräte standen. Auch ein +Zeichnungstisch mit allem Erforderlichen war in das Zimmer geschafft +worden. Ich wählte unter den Staffeleien eine und ließ die übrigen +wieder an ihre gewöhnlichen Orte bringen. Den Zeichnungstisch behielt +ich zur Bequemlichkeit neben der Staffelei bei mir. Es war nun zum +Malen beinahe alles so eingerichtet wie im Asperhofe. Auch durfte ich +mir die Geräte, die ich zu zeichnen vorhatte, in das Licht rücken +lassen wie ich wollte. Zum Wohnen und Schlafen hatte man mir das +nehmliche Zimmer hergerichtet, in welchem ich bei meinem ersten +Besuche gewesen war. Zum Speisen wurde mir der Saal, in dem ich +arbeitete, oder mein Wohnzimmer frei gestellt. Ich wählte das Letzte. + +Ich betrachtete mir vorerst die Geräte und wählte diejenigen aus, die +ich abbilden wollte. Hierauf ging ich an die Arbeit. Ich malte sehr +fleißig, um die Unordnung, welche meine Arbeiten notwendig in dem +Hause machen mußten, so kurz als möglich dauern zu lassen. Ich blieb +daher den ganzen Tag in dem Saale, nur des Abends, wenn es dämmerte, +oder Morgens, ehe die Sonne aufging, begab ich mich in das Freie oder +in den Garten, um einen Gang in der erquickenden Luft zu machen oder +gelegentlich auch, stille stehend oder auf einer Ruhebank sitzend, die +weite Gegend um mich herum zu betrachten. Oft, wenn ich die Pinsel +gereinigt und all das unter Tags gebrauchte Malergeräte geordnet und +an seinen Platz gelegt hatte, saß ich unter den alten hohen Linden +im Garten und dachte nach, bis das späte Abendrot durch die Blätter +derselben herein fiel und die Schatten auf dem Sandboden so tief +geworden waren, daß man die kleinen Gegenstände, die auf diesem Boden +lagen, nicht mehr sehen konnte. Noch öfter aber war ich auf dem Platze +hinter der Epheuwand, von welchem aus das Schloß in die großen Eichen +eingerahmt zu erblicken war und neben und hinter dem Schlosse sich die +Gegend und die Berge zeigten. Es war die Stille des Landes, wenn der +heitere Späthimmel sich über das Schloß hinzog, wenn die Spitzen von +dessen Dachfähnchen glänzten, sich in Ruhe das Grün herum lagerte und +das Blau der Berge immer sanfter wurde. + +Zuweilen, in besonders heißen Tagen, ging ich auch in die Grotte, in +welcher die Marmornymphe war, freute mich der Kühle, die da herrschte, +sah das gleiche Rinnen des Wassers und sah den gleichen Marmor, auf +dem nur zuweilen ein Lichtchen zuckte, wenn sich ein später Strahl in +dem Wasser fing und auf die Gestalt geworfen wurde. + +In dem Schlosse war es sehr einsam, die Diener waren in ihren +abgelegenen Zimmern, ganze Reihen von Fenstern waren durch +herabgelassene Vorhänge bedeckt, und zu dem Hofbrunnen ging selten +eine Gestalt, um Wasser zu holen, daher er zwischen den großen Ahornen +eintönig fortrauschte. Diese Stille machte, daß ich desto mehr der +Bewohnerinnen dachte, die jetzt abwesend waren, daß ich meinte, ihre +Spuren entdecken zu können, und daß ich dachte, ihren Gestalten +irgendwo begegnen zu müssen. Besser war es, wenn ich in die Landschaft +hinausging. Dort lebten die Klänge der Arbeit, dort sah ich heitere +Menschen, die sich beschäftigten, und regsame Tiere, die ihnen halfen. + +Es war eine Art von Verwalter in dem Schlosse, der den Auftrag haben +mußte, für mich zu sorgen, wenigstens tat er alles, was er zu meiner +Bequemlichkeit für nötig erachtete. Er fragte oft nach meinen +Wünschen, ließ mehr Speisen und Getränke auf meinen Tisch stellen als +nötig war, sorgte stets für frisches Wasser, Kerzen und andere Dinge, +ließ eine Menge Bücher, die er aus der Büchersammlung des Schlosses +genommen haben mochte, in mein Zimmer bringen und meinte zuweilen, daß +es die Höflichkeit erfordere, daß er mehrere Minuten mit mir spreche. +Ich machte so wenig als möglich Gebrauch von allen für mich in diesem +Schlosse eingeleiteten Anstalten und ging nicht einmal in die Meierei, +in welcher es sehr lebhaft war, um durch meine Gegenwart oder durch +mein Zuschauen nicht jemanden in seiner Arbeit zu beirren. + +Als ich mit den ausgewählten Gegenständen fertig war, hörte ich nicht +auf; denn aus ihnen entwickelten sich wieder andere Arbeiten, was +seinen Grund darin hatte, daß ein Gegenstand den andern verlangte, +was wieder daher rührte, daß die Geräte dieses Zimmers und der +Nebengemächer ein Ganzes bildeten, welches man nicht zerstückt denken +konnte. Was mir aber zu statten kam, war die große Übung, die ich nach +und nach erlangte, so daß ich endlich in einem Tage mehr vor mich +brachte als sonst in dreien. + +Eustach kam einmal herüber, mich zu besuchen. Ich sah darin ein +Zeichen, daß man mir Gelegenheit geben wollte, mich seines Rates zu +bedienen. Ich tat dieses auch, freute mich der Worte, die er sprach, +und folgte den Ansichten, die er entwickelte. Er erzählte mir auch, +daß Mathilde und Natalie noch lange in dem Asperhofe zu bleiben +gedächten. Da, wie ich wußte, ihr Besuch in dem vorigen Sommer im +Rosenhause viel kürzer gewesen war, so verfiel ich auf den Gedanken, +ob sie nicht etwa gerade darum heuer länger in demselben verweilten, +um mir Muße zu meinen Arbeiten in dem Sternenhofe zu geben. Ob es nun +so sei oder nicht, wußte ich nicht, es konnte aber so sein, und darum +beschloß ich, mein Malen abzukürzen. Endlich mußte ich doch einmal +schließen, da ich doch nicht alle Gegenstände abbilden konnte. Ich +sagte Eustach die Zeit, in der ich fertig sein würde. Er blieb zwei +Tage in dem Schlosse, vermaß Manches, untersuchte Einiges in manchen +Zimmern und kehrte dann wieder in das Rosenhaus zurück. + +Ehe ich ganz fertig war, kamen alle vom Asperhofe herüber und blieben +einige Tage. Auch Eustach kam wieder mit. Ich legte vor, was ich +gemacht hatte, und es geschah das Nehmliche, was in dem Rosenhause +geschehen war. Man billigte im Allgemeinen die Arbeit und stellte +hie und da etwas aus, was zu verbessern wäre. Ich hatte schon zu der +Abbildung der Geräte im Asperhofe Ölfarben angewendet, weil ich in +Behandlung derselben nach und nach eine größere Fertigkeit erlangt +hatte als in der der Wasserfarben und weil die Wirkung eine viel +größere war. Die Geräte des Sternenhofes hatte ich nun auch mit +Ölfarben abgebildet, und diese Abbildungen waren viel gelungener als +die im Rosenhause. Ich erkannte die Vorschläge, welche mir gemacht +worden waren, an und bemerkte mir sie zur Ausführung. + +Eustach ging von dem Sternenhofe wieder in das Rosenhaus zurück; mein +Gastfreund, Mathilde, Natalie und Gustav machten eine kleine Reise. + +Auch mein Bleiben war nicht mehr lange in dem Schlosse. Ich machte +noch fertig, was fertig zu machen war, ich verbesserte, was zu +verbessern vorgeschlagen worden war und was mir selber noch in der +Zeit als verbeßrungswürdig einfiel und wartete dann ab, bis alles gut +getrocknet wäre, um es einpacken und für den Vater in Bereitschaft +halten zu können. Da dies geschehen war, dankte ich dem Verwalter sehr +verbindlich für alle seine Aufmerksamkeit, gab den Mädchen, die für +mich zu tun gehabt hatten, Geschenke, welche ich mir zu diesem Zwecke +schon früher angeschafft hatte, und bestieg den Wagen, den mir der +Verwalter zu meiner Zurückfahrt in das Rosenhaus zur Verfügung +gestellt hatte. + +Als ich in dem Rosenhause ankam, traf ich meinen Gastfreund und seine +Gesellschaft von der Reise schon zurückgekehrt an. Ich blieb noch +mehrere Tage bei ihnen, nahm dann Abschied und begab mich in das +Ahornhaus zu meinen Arbeiten zurück. + + +Ich suchte diese Arbeiten rasch zu betreiben; aber alles war jetzt +anders und nahm eine andere Färbung in meinem Herzen an. + +Als ich in dem Frühling die Hauptstadt verlassen hatte und dem langsam +über einen Berg empor fahrenden Wagen folgte, war ich einmal bei einem +Haufen von Geschiebe stehen geblieben, das man aus einem Flußbette +genommen und an der Straße aufgeschüttet hatte, und hatte das Ding +gleichsam mit Ehrfurcht betrachtet. Ich erkannte in den roten, weißen, +grauen, schwarzgelben und gesprenkelten Steinen, welche lauter +plattgerundete Gestalten hatten, die Boten von unserem Gebirge, ich +erkannte jeden aus seiner Felsenstadt, von der er sich losgetrennt +hatte und von der er ausgesendet worden war. Hier lag er unter +Kameraden, deren Geburtsstätte oft viele Meilen von der seinigen +entfernt ist, alle waren sie an Gestalt gleich geworden, und alle +harrten, daß sie zerschlagen und zu der Straße verwendet würden. + +Besonders kamen mir die Gedanken, wozu dann alles da sei, wie es +entstanden sei, wie es zusammenhänge, und wie es zu unserem Herzen +spreche. + +Einmal gelangte ich zu dem See hinunter und betrachtete an dem +sonnigen Nachmittage die Tatsache, daß die Schönheit der absteigenden +Berge meistens gegen einen Seespiegel am größten ist. Kömmt das aus +Zufall, haben die abstürzenden, dem See zueilenden Wässer die Berge +so schön gefurcht, gehöhlt, geschnitten, geklüftet, oder entspringt +unsere Empfindung von dem Gegensatze des Wassers und der Berge, wie +nehmlich das erste eine weiche, glatte, feine Fläche bildet, die durch +die rauhen absteigenden Riffe, Rinnen und Streifen geschnitten wird, +während unterhalb nichts zu sehen ist und so das Rätsel vermehrt wird? +Ich dachte bei dieser Gelegenheit: wenn das Wasser durchsichtiger +wäre, zwar nicht so durchsichtig wie die Luft, doch beinahe so, dann +müßte man das ganze innere Becken sehen, nicht so klar wie in der +Luft, sondern in einem grünlichen, feuchten Schleier. Das müßte sehr +schön sein. Ich blieb in Folge dieses Gedankens länger an dem See, +mietete mich in einem Gasthofe ein und machte mehrere Messungen der +Tiefe des Wassers an verschiedenen Stellen, deren Entfernung vom Ufer +ich mittelst einer Meßschnur bezeichnete. Ich dachte, auf diese Weise +könnte man annähernd die Gestalt des Seebeckens ergründen, könnte +es zeichnen und könnte das innere Becken von dem äußeren durch eine +sanftere, grünlichere Farbe unterscheiden. Ich beschloß, bei einer +ferneren Gelegenheit die Messungen fortzusetzen. + +Diese Bestrebungen brachten mich auf die Betrachtung der Seltsamkeiten +unserer Erdgestaltungen. In dem Seegrunde sah ich ein Tal, in +dessen Sohle, die sich bei andern Tälern mit dem vieltausendfachen +Pflanzenreichtume und den niedergestürzten Gebirgsteilen füllt und +so einen schönen Wechsel von Pflanzen und Gestein darstellt, kein +Pflanzengrund sich entwickelt, sondern das Gerölle sich sachte mehrt, +der Boden sich hebt und die ursprünglichen Klüftungen ausfüllt. +Dazu kommen die Stücke, die unmittelbar von den Wänden in den See +stürzen, dazu kommen die Hügel, die außer der gewöhnlichen Ordnung +von bedeutenden Hochwassern in den See geschoben und von dem +nachträglichen Wellenschlage wieder abgeflacht werden. In +Jahrtausenden und Jahrtausenden füllt sich das Becken immer mehr, bis +einmal, mögen hundert oder noch mehr Jahrtausende vergangen sein, +kein See mehr ist, auf der ungeheuren Dicke der Geröllschichten der +menschliche Fuß wandelt, Pflanzen grünen und selbst Bäume stehen. So +kannte ich manche Stellen, die einst Seegrund gewesen waren. + +Der Fluß, der Vater des Sees, hatte sich in seinem Weiterlaufe tiefer +gewühlt, er hatte den Seespiegel niederer gelegt, der Seegrund hatte +sich gehoben, bis nichts mehr war als ein Tal, an dem jetzt die Ufer +als grüne Wälle in langen Strecken stehen, mit kräftigen Kräutern, +blühenden Büschen und mancher lachenden Wohnung von Menschen prangen, +während das, was einmal ein mächtiges Wasser gebildet hatte, jetzt +als ein schmales Bändlein in glänzenden Schlangenlinien durch die +Landschaft geht. + +Ich betrachtete vom See aus die Schichtungen der Felsen. Was bei +Kristallen der Blätterdurchgang ist, das zeigt sich hier in großen +Zügen. An manchen Stellen ist die Neigung diese, an manchen ist sie +eine andere. Sind diese ungeheuren Blätter einst gestürzt worden, +sind sie erhoben worden, werden sie noch immer erhoben? Ich zeichnete +manche Lagerungen in ihren schönen Verhältnissen und in ihren +Neigungen gegen die wagrechte Fläche. Wenn ich so die Blätter +durchging und die Gestaltungen ansah, war es mir wie eine unbekannte +Geschichte, die ich nicht enträtseln konnte und zu der es doch +Anhaltspunkte geben mußte, um die Ahnungen in Nahrung zu setzen. + +Wenn ich die Stücke unbelebter Körper, die ich für meine Schreine +sammelte, ansah, so fiel mir auf, daß hier diese Körper liegen, dort +andere, daß ungeheure Mengen desselben Stoffes zu großen Gebirgen +aufgetürmt sind und daß wieder in kleinen Abständen kleine Lagerungen +mit einander wechseln. Woher sind sie gekommen, wie haben sie sich +gehäuft? Liegen sie nach einem Gesetze, und wie ist dieses geworden? +Oft sind Teile eines größeren Körpers in Menge oder einzeln an +Stellen, wo der Körper selber nicht ist, wo sie nicht sein sollen, +wo sie Fremdlinge sind. Wie sind sie an den Platz gekommen? Wie ist +überhaupt an einer Stelle gerade dieser Stoff entstanden und nicht ein +anderer? Woher ist die Berggestalt im Großen gekommen? Ist sie noch in +ihrer Reinheit da oder hat sie Veränderungen erlitten, und erleidet +sie dieselben noch immer? Wie ist die Gestalt der Erde selber +geworden, wie hat sich ihr Antlitz gefurcht, sind die Lücken groß, +sind sie klein? + +Wenn ich auf meinen Marmor kam - wie bewunderungswürdig ist der +Marmor! Wo sind denn die Tiere hin, deren Spuren wir ahnungsvoll in +diesen Gebilden sehen? Seit welcher Zeit sind die Riesenschnecken +verschwunden, deren Andenken uns hier überliefert wird? Ein Andenken, +das in ferne Zeiten zurück geht, die niemand gemessen hat, die +vielleicht niemand gesehen hat und die länger gedauert haben als der +Ruhm irgend eines Sterblichen. + + +Eine Tatsache fiel mir auf. Ich fand tote Wälder, gleichsam +Gebeinhäuser von Wäldern, nur daß die Gebeine hier nicht in eine Halle +gesammelt waren, sondern noch aufrecht auf ihrem Boden standen. Weiße, +abgeschälte, tote Bäume in großer Zahl, so daß vermutet werden mußte, +daß an dieser Stelle ein Wald gestanden sei. Die Bäume waren Fichten +oder Lärchen oder Tannen. Jetzt konnte an der Stelle ein Baum gar +nicht mehr wachsen, es sind nur Kriechhölzer um die abgestorbenen +Stämme, und auch diese selten. Meistens bedeckt Gerölle den Boden oder +größere, mit gelbem Moose überdeckte Steine. Ist diese Tatsache eine +vereinzelte, nur durch vereinzelte Ortsursachen hervorgebracht? Hängt +sie mit der großen Weltbildung zusammen? Sind die Berge gestiegen, und +haben sie ihren Wälderschmuck in höhere, todbringende Lüfte gehoben? +Oder hat sich der Boden geändert, oder waren die Gletscherverhältnisse +andere? Das Eis aber reichte einst tiefer: wie ist das alles geworden? + +Wird sich vieles, wird sich alles noch einmal ganz ändern? In welch +schneller Folge geht es? Wenn durch das Wirken des Himmels und seiner +Gewässer das Gebirge beständig zerbröckelt wird, wenn die Trümmer +herabfallen, wenn sie weiter zerklüftet werden und der Strom sie +endlich als Sand und Geschiebe in die Niederungen hinausführt, wie +weit wird das kommen? Hat es schon lange gedauert? Unermeßliche +Schichten von Geschieben in ebenen Ländern bejahen es. Wird es noch +lange dauern? So lange Luft, Licht, Wärme und Wasser dieselben +bleiben, so lange es Höhen gibt, so lange wird es dauern. Werden +die Gebirge also einstens verschwunden sein? Werden nur flache, +unbedeutende Höhen und Hügel die Ebenen unterbrechen, und werden +spelbst diese auseinander gewaschen werden? Wird dann die Wärme in den +feuchten Niederungen oder in tiefen, heißen Schluchten verschwinden, +so wie die kalte Luft in Höhen auf die Erde ohne Einfluß sein wird, +so daß alle Glieder in unsern Ländern von demselben lauen Stoffe +umflossen sind und sich die Verhältnisse aller Gewächse ändern? Oder +dauert die Tätigkeit, durch welche die Berge gehoben wurden, noch +heute fort, daß sie durch innere Kraft an Höhe ersetzen oder +übertreffen, was sie von Außen her verlieren? Hört die Hebungskraft +einmal auf? Ist nach Jahrmillionen die Erde weiter abgekühlt, ist ihre +Rinde dicker, so daß der heiße Fluß in ihrem Innern seine Kristalle +nicht mehr durch sie empor zu treiben vermag? Oder legt er langsam und +unmerklich stets die Ränder dieser Rinde auseinander, wenn er durch +sie seine Geschiebe hinan hebt? Wenn die Erde Wärme ausstrahlt +und immer mehr erkaltet, wird sie nicht kleiner? Sind dann die +Umdrehungsgeschwindigkeiten ihrer Kreise nicht geringer? Ändert das +nicht die Passate? Werden Winde, Wolken, Regen nicht anders? Wie viele +Millionen Jahre müssen verfließen, bis ein menschliches Werkzeug die +Änderung messen kann? + +Solche Fragen stimmten mich ernst und feierlich, und es war, als wäre +in mein Wesen ein inhaltreicheres Leben gekommen. Wenn ich gleich +weniger sammelte und zusammentrug als früher, so war es doch, +als würde ich in meinem Innern bei weitem mehr gefördert als in +vergangenen Zeiten. + +Wenn eine Geschichte des Nachdenkens und Forschens wert ist, so ist +es die Geschichte der Erde, die ahnungsreichste, die reizendste, +die es gibt, eine Geschichte, in welcher die der Menschen nur ein +Einschiebsel ist und wer weiß es, welch ein kleines, da sie von +anderen Geschichten vielleicht höherer Wesen abgelöset werden kann. +Die Quellen zu der Geschichte der Erde bewahrt sie selber wie in einem +Schriftengewölbe in ihrem Inneren auf, Quellen, die vielleicht in +Millionen Urkunden niedergelegt sind und bei denen es nur darauf +ankömmt, daß wir sie lesen lernen und sie durch Eifer und Rechthaberei +nicht verfälschen. Wer wird diese Geschichte einmal klar vor Augen +haben? Wird eine solche Zeit kommen oder wird sie nur der immer ganz +wissen, der sie von Ewigkeit her gewußt hat? + + +Von solchen Fragen flüchtete ich zu den Dichtern. Wenn ich von langen +Wanderungen in das Ahornhaus zurück kam oder wenn ich ferne von dem +Ahornhause in irgend einem Stübchen eines Alpengebäudes wohnte, so +las ich in den Werken eines Mannes, der nicht Fragen löste, sondern +Gedanken und Gefühle gab, die wie eine Lösung in holder Umhüllung +waren und wie ein Glück aussahen. Ich hatte mannigfaltige solcher +Männer. Unter den Büchern waren auch solche, in denen Schwulst +enthalten war. Sie gaben die Natur in und außer dem Menschen nicht so +wie sie ist, sondern sie suchten sie schöner zu machen und suchten +besondere Wirkungen hervorzubringen. Ich wendete mich von ihnen ab. +Wem das nicht heilig ist was ist, wie wird der Besseres erschaffen +können als was Gott erschaffen hat? In der Naturwissenschaft war ich +gewohnt geworden, auf die Merkmale der Dinge zu achten, diese Merkmale +zu lieben und die Wesenheit der Dinge zu verehren. Bei den Dichtern +des Schwulstes fand ich gar keine Merkmale, und es erschien mir +endlich lächerlich, wenn einer schaffen wollte, der nichts gelernt +hat. + +Die Männer gefielen mir, welche die Dinge und die Begebenheiten mit +klaren Augen angeschaut hatten und sie in einem sicheren Maße in dem +Rahmen ihrer eigenen inneren Größe vorführten. Andere gaben Gefühle in +schöner Sittenkraft, die tief auf mich wirkten. Es ist unglaublich, +welche Gewalt Worte üben können; ich liebte die Worte und liebte +die Männer und sehnte mich oft nach einer unbestimmten, unbekannten +glücklichen Zukunft hinaus. + +Die Alten, die ich einst zu verstehen geglaubt hatte, kamen mir doch +jetzt anders vor als früher. Es schien mir, als wären sie natürlicher, +wahrer, einfacher und größer als die Männer der neuen Zeit und als +lasse sie der Ernst ihres Wesens und die Achtung vor sich selbst nicht +zu den Überschreitungen gelangen, welche spätere Zeiten für schön +hielten. Ich trug Homeros, Äschylos, Sophokles, Thukydides fast +auf allen Wanderungen mit mir. Um sie zu verstehen, nahm ich alle +griechischen Sprachwerke, die mir empfohlen waren, vor und lernte +in ihnen. Am förderlichsten im Verstehen war aber das Lesen selber. +Bei den Alten nahm ich Geschichtschreiber gerne unter Dichter, sie +schienen mir dort einander näher zu stehen als bei den Neuen. + +Da geriet auch ich auf das Malen. Die Gebirge standen im Reize und im +Ganzen vor mir, wie ich sie früher nie gesehen hatte. Sie waren meinen +Forschungen stets Teile gewesen. Sie waren jetzt Bilder, so wie früher +bloß Gegenstände. In die Bilder konnte man sich versenken, weil sie +eine Tiefe hatten, die Gegenstände lagen stets ausgebreitet zur +Betrachtung da. So wie ich früher Gegenstände der Natur für +wissenschaftliche Zwecke gezeichnet hatte, wie ich bei diesen +Zeichnungen zur Anwendung von Farben gekommen war, wie ich ja vor +Kurzem erst Geräte gezeichnet und gemalt hatte: so versuchte ich jetzt +auch, den ganzen Blick, in dem ein Hintereinanderstehendes, im Dufte +Schwebendes, vom Himmel sich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder +Leinwand zu zeichnen und mit Ölfarben zu malen. Das sah ich sogleich, +daß es weit schwerer war als meine früheren Bestrebungen, weil es +sich hier darum handelte, ein Räumliches, das sich nicht in gegebenen +Abmessungen und mit seinen Naturfarben, sondern gleichsam als die +Seele eines Ganzen darstellte, zu erfassen, während ich früher nur +einen Gegenstand mit bekannten Linienverhältnissen und seiner ihm +eigentümlichen Farbe in die Mappe zu übertragen hatte. Die ersten +Versuche mißlangen gänzlich. Dieses schreckte mich aber nicht ab, +sondern eiferte mich vielmehr noch immer stärker an. Ich versuchte +wieder und immer wieder. Endlich vertilgte ich die Versuche +nicht mehr, wie ich früher getan hatte, sondern bewahrte sie zur +Vergleichung auf. Diese Vergleichung zeigte mir nach und nach, daß +sich die Versuche besserten und die Zeichnung leichter und natürlicher +wurde. Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was +in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr ich nach dem +Ergreifen strebte, desto schöner wurde auch dieses Unnennbare vor mir +selbst. + +Ich blieb so lange in dem Gebirge, als es nur möglich wurde und als +die zunehmende Kälte einen Aufenthalt im Freien nicht ganz und gar +verbot. + +Im spätesten Herbste ging ich noch einmal zu meinem Gastfreunde in +das Rosenhaus. Es war zur Zeit, da in dem Gebirge schon mannigfaltige +Schneelasten auf den Höhen lagen und das flache Land sich schon jedes +Schmuckes entäußert hatte. Der Garten meines Freundes war kahl, +die Bienenhütte war in Stroh eingehüllt, in den laublosen Zweigen +schrillte mir noch manche vereinzelte Kohlmeise oder ein Wintervogel, +und über ihnen zogen in dem grauen Himmel die grauen Dreiecke der +Gänse nach dem Süden. Wir saßen in den langen Abenden bei dem Feuer +des Kamins, arbeiteten unter Tags an der Einhüllung und Einwinterung +der Gegenstände, die es bedurften, oder machten an manchem Nachmittage +einen Spaziergang, wenn der regsame Nebel die Hügel und die Täler und +die Ebenen umwandelte. + +Ich zeigte meinem Gastfreunde meine Versuche im landschaftlichen +Malen, weil ich es gewissermaßen für eine Falschheit gehalten hätte, +ihm nichts von der Veränderung zu sagen, die in mir vorgegangen war. +Ich scheute mich sehr, die Versuche vorzulegen, ich tat es aber doch, +und zwar zu einer Zeit, da auch Eustach zugegen war. Als Einleitung +erklärte ich, wie ich nach und nach dazu gekommen wäre, diese Dinge zu +machen. + +»Es geht allen so, welche die Gebirge öfter besuchen und welche +Einbildungskraft und einiges Geschick in den Händen haben«, sagte mein +Gastfreund, »ihr braucht euch deshalb nicht beinahe zu entschuldigen, +es war zu erwarten, daß ihr nicht bloß bei eurem Sammeln von Steinen +und Versteinerungen bleiben werdet, es ist so in der Natur, und es ist +so gut.« + +Die Entwürfe wurden mit viel mehr Ernst und Genauigkeit durchgenommen, +als sie verdienten. Da sowohl mein Gastfreund als auch Eustach +jedes Blatt öfter betrachtet hatten, sprachen sie mit mir +darüber. Ihr Urteil ging einstimmig darauf hinaus, daß mir das +Naturwissenschaftliche viel besser gelungen sei als das Künstlerische. +Die Steine, die sich in den Vordergründen befänden, die Pflanzen, die +um sie herum wuchsen, ein Stück alten Holzes, das da läge, Teile von +Gerölle, die gegen vorwärts säßen, selbst die Gewässer, die sich +unmittelbar unter dem Blicke befänden, hätte ich mit Treue und mit den +ihnen eigentümlichen Merkmalen ausgedrückt. Die Fernen, die großen +Flächen der Schatten und der Lichter an ganzen Bergkörpern und das +Zurückgehen und Hinausweichen des Himmelsgewölbes seien mir nicht +gelungen. Man zeigte mir, daß ich nicht nur in den Farben viel zu +bestimmt gewesen wäre, daß ich gemalt hätte, was nur mein Bewußtsein +an entfernten Stellen gesagt, nicht mein Auge, sondern daß ich auch +die Hintergründe zu groß gezeichnet hätte, sie wären meinen Augen +groß erschienen, und das hätte ich durch das Hinaufrücken der Linien +angeben wollen. Aber durch Beides, durch Deutlichkeit der Malerei +und durch die Vergrößerung der Fernen hätte ich die letzteren näher +gerückt und ihnen das Großartige benommen, das sie in der Wirklichkeit +besäßen. Eustach riet mir, eine Glastafel mit Canadabalsam zu +überziehen, wodurch sie etwas rauher würde, so daß Farben auf ihr +haften, ohne daß sie die Durchsichtigkeit verlöre und durch diese +Tafel Fernen mit den an sie grenzenden näheren Gegenständen mittelst +eines Pinsels zu zeichnen, und ich würde sehen, wie klein sich die +größten und ausgedehntesten entfernten Berge darstellen und wie groß +das zunächstliegende Kleine würde. Dieses Verfahren aber empfehle +er nur, damit man zur Überzeugung der Verhältnisse komme und einen +Maßstab gewinne, nicht aber, daß man dadurch künstlerische Aufnahmen +von Landschaften mache, weil durch einen solchen Vorgang die +künstlerische Freiheit und Leichtigkeit verloren würde, welche in +Bezug auf Darstellung das Wesen und das Herz der Kunst sei. Das Auge +soll nur geübt und unterrichtet werden, die Seele müsse schaffen, das +Auge soll ihr dienen. In Hinsicht der Farbgebung der Fernen riet er +mir, dort, wo ich einen Zweifel hätte, ob ich etwas sähe oder nur +wisse, es lieber nicht anzugeben und überhaupt in der Farbe lieber +unbestimmter als bestimmter zu sein, weil dadurch die Gegenstände an +Großartigkeit gewinnen. Sie werden durch die Unbestimmtheit ferner +und durch dieses allein größer. Durch Linien des Zeichnenstiftes auf +dem kleinen Papiere oder der kleinen Leinwand könne man nichts groß +machen. Durch Verdeutlichung werden die Körper näher gerückt und +verkleinert. Wenn überhaupt ein Fehler gegen die Genauigkeit gemacht +werden müsse - und kein Mensch könne Dinge, namentlich Landschaften, +in ihrer völligen Wesenheit geben -, so sei es besser, die Gegenstände +großartiger und übersichtlicher zu geben als in zu viele einzelne +Merkmale zerstreut. Das erste sei das Künstlerischere und Wirksamere. + +Ich sah sehr gut ein, was sie sagten, und wußte auch, woher die Fehler +kämen, von denen sie redeten. Ich hatte bisher alle Gegenstände in +Hinblick auf meine Wissenschaft gezeichnet, und in dieser waren +Merkmale die Hauptsache. Diese mußten in der Zeichnung ausgedrückt +sein und gerade die am schärfsten, durch welche sich die Gegenstände +von verwandten unterschieden. Selbst bei meinem Zeichnen von +Angesichtern hatte ich deren Linien, ihr Körperliches, ihre Licht- und +Schattenverteilung unmittelbar vor mir. + +Daher war mein Auge geübt, selbst bei fernen Gegenständen das, was sie +wirklich an sich hatten, zu sehen, wenn es auch noch so undeutlich +war, und dafür auf das, was ihnen durch Luft, Licht und Dünste +gegeben wurde, weniger zu achten, ja diese Dinge als Hindernisse der +Beobachtung eher weg zu denken als zum Gegenstande der Aufmerksamkeit +zu machen. Durch das Urteil meiner Freunde wurde mir der Verstand +plötzlich geöffnet, daß ich das, was mir bisher immer als wesenlos +erschienen war, betrachten und kennen lernen müsse. Durch Luft, +Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die +Gegenstände ein anderes Aussehen, dieses müsse ich ergründen, und die +veranlassenden Dinge müsse ich, wenn es mir möglich wäre, so sehr zum +Gegenstande meiner Wissenschaft machen, wie ich früher die unmittelbar +in die Augen springenden Merkmale gemacht hatte. Auf diese Weise +dürfte es zu erreichen sein, daß die Darstellung von Körpern gelänge, +die in einem Mittel und in einer Umgebung von anderen Körpern +schwimmen. Ich sagte das meinen Freunden, und sie billigten meinen +Entschluß. Wenn der Nebel oder überhaupt die trübe Jahreszeit einen +Blick in die Ferne gestattete, wurde das, was mit Worten gesagt wurde, +auch an wirklichen Beispielen erörtert, und wir sprachen über die Art +und Weise, wie sich die entfernten Gebirge oder Teile von ihnen oder +näher gehende von der Hauptkette sich ablösende Gründe darstellten. +Es ist unglaublich, wie sehr ich in jenem kurzen Herbstaufenthalte +unterrichtet wurde. + + +Ich sprach mit meinem Gastfreunde auch von den Dichtern, welche ich +las, und erzählte ihm von dem großen Eindrucke, welchen ihre Worte auf +mich machten. Wir gingen bei Gelegenheit einmal in sein Bücherzimmer, +er führte mich vor die Schreine, in welchen die Dichter standen, und +zeigte mir, was er in dieser Hinsicht besaß. Er sagte auch, ich möchte +während des Aufenthaltes in seinem Hause von den Büchern Gebrauch +machen, wie ich wollte; ich könnte sie im Lesezimmer benützen oder +auch in meine Wohnung mit hinübernehmen. Es waren Werke in den +ältesten Sprachen da, von Indien bis nach Griechenland und Italien, +es waren Werke der neueren Zeiten da und auch der neuesten. Am +zahlreichsten waren natürlich die der Deutschen. + +»Ich habe diese Bücher gesammelt«, sagte er, »nicht als ob ich sie +alle verstände; denn von manchen ist mir die Sprache vollkommen fremd; +aber ich habe im Verlaufe meines Lebens gelernt, daß die Dichter, wenn +sie es im rechten Sinne sind, zu den größten Wohltätern der Menschheit +zu rechnen sind. Sie sind die Priester des Schönen und vermitteln +als solche bei dem steten Wechsel der Ansichten über Welt, über +Menschenbestimmung, über Menschenschicksal und selbst über göttliche +Dinge das ewig Dauernde in uns und das allzeit Beglückende. Sie geben +es uns im Gewande des Reizes, der nicht altert, der sich einfach +hinstellt und nicht richten und verurteilen will. Und wenn auch alle +Künste dieses Göttliche in der holden Gestalt bringen, so sind sie +an einen Stoff gebunden, der diese Gestalt vermitteln muß: die Musik +an den Ton und Klang, die Malerei an die Linien und die Farbe, die +Bildnerkunst an den Stein, das Metall und dergleichen, die Baukunst an +die großen Massen irdischer Bestandteile, sie müssen mehr oder minder +mit diesem Stoffe ringen; nur die Dichtkunst hat beinahe gar keinen +Stoff mehr, ihr Stoff ist der Gedanke in seiner weitesten Bedeutung, +das Wort ist nicht der Stoff, es ist nur der Träger des Gedankens, wie +etwa die Luft den Klang an unser Ohr führt. Die Dichtkunst ist daher +die reinste und höchste unter den Künsten. Da ich nun meine, daß +es so ist, wie ich sage, so habe ich die Männer, welche die Stimme +der Zeiten als große in der Kunst des Dichtens bezeichnete, hier +zusammengestellt. Ich habe Dichter in fremden Sprachen, die ich nicht +verstand, dazu getan, wenn ich nur wußte, daß sie in der Geschichte +ihres Volkes vorzüglich genannt werden, und wenn ich von einem +Fachmanne das Zeugnis hatte, daß ich in dem Buche den Dichter besitze, +den ich meine. Sie mögen unverstanden hier stehen oder es mag wohl +einer oder der andere in diesen Saal kommen, der manchen versteht +und liest. Ich habe wohl auch solche Bücher hieher gestellt, die +mir gefallen, das Urteil der Zeit mag anders lauten oder erst +festzustellen sein. In diesen Büchern habe ich viel Glück gefunden und +in dem Alter fast noch mehr als in der Jugend. Wenn auch die Jugend +die Worte aus einem goldenen Munde mit einem Sturme und mit Entzücken +aufnimmt, wenn sie auch dieselben mit einer Art Schwärmerei und mit +Sehnsucht in dem Busen trägt, so ist es doch fast stets mehr die +Wärme des eigenen Gefühles, die sie empfindet, als daß sie die fremde +Weisheit und Größe in ein besonnenes, betrachtendes, abwägendes Herz +aufnehmen könnte. Ihr seid selber jung, und die Tiefe und Innigkeit +der Dichtung mag euch fördern und euer Herz jedem künftigen Großen +öffnen, wie die reine Dichtkunst das immer an der Jugend tut; aber +ihr werdet selber einmal sehen, um wie viel milder und klarer die +verglühende Sonne des Alters in die Größe eines fremden Geistes +leuchtet als die feurige Morgensonne der Jugend, die alles mit ihrem +Glanze färbt, so wie es eine Tatsache ist, daß die innige, wahre und +treue Liebe der alternden Gattin fester und dauernder beglückt als +die lodernde Leidenschaft der jungen, schönen, schimmernden Braut. +Die Jugend sieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und +Unendlichkeit der Zukunft, diese verhüllt die Mängel und ersetzt das +Abgängige. Sie dichtet in das Kunstwerk, was im eignen Herzen lebt. +Daher kömmt die Erscheinung, daß Werke von bedeutend verschiedener +Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können, und daß +Erzeugnisse höchster Größe, wenn sie keine Wiederspieglung der +Jugendblüte sind, nicht erfaßt werden können. In dem Alter werden +selbst solche Glanzstellen der Jugend, die schon sehr ferne liegen, +wie etwa die Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und +Grenzenlosigkeit, oder wie die holde und berauschende Seligkeit der +Gegenliebe, oder die Träume künftiger Taten und künftiger Größe, der +Blick in ein unendliches, erst kommendes Leben, oder wie das erste +Stammeln in irgend einer Kunst, von dem Greise in dem sanften Spiegel +seiner Erinnerung beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der +sie in dem Brausen seines Lebens überhört, und an der grauen Wimper +mag manche beseligendere und mitunter schmerzlichere Träne hängen als +der feurige Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem Auge des +Jünglings springt und keine Spur hinterläßt. Ich lese jetzt selten +mehr die größten Geister im Zusammenhange - mit kleineren tue ich es +wohl, weil sie in einzelnen Stellen minder bedeutend sind -, aber +ich lese immer in ihnen und werde wohl bis zu meinem Lebensende in +ihnen lesen. Sie begleiten mich mit ihren Gedanken wie mit großen +Erquickungen durch den Rest meines Lebens und werden mir wohl, wie ich +ahne, an der dunkeln Pforte Kränze aufhängen, als wären sie von meinen +eigenen Rosen geflochten. Deshalb gebe ich auch kein Buch aus dem +Hause, weil ich nicht weiß, ob ich es nicht in nächster Zeit selber +brauchen werde. Im Hause stehen sie jedem, der davon Gebrauch machen +will, zu Gebote. Nur für Gustav wird eine Auswahl getroffen, weil er +noch zu jung ist und nicht alles sondern kann. Er würde hier zwar +nichts gänzlich Schlechtes finden; aber nicht alles Gute würde er +verstehen, und dann wäre die daran gewendete Zeit verloren; oder er +könnte es mißverstehen, und dann wäre der Erfolg ein unrichtiger. Das +Schlechte, das sich Dichtkunst nennt, ist der Jugend sehr gefährlich. +In der Wissenschaft zeigt es sich viel leichter auf. In der Mathematik +liegt es in der Darstellung, da solche Werke wohl kaum vorkommen +dürften, in denen sogar der Stoff fehlerhaft wäre, in der +Naturwissenschaft liegt es in der Darstellung wie im Stoffe, in welch +letzterem es sich in der Gestalt gewagter Behauptungen ausspricht; nur +in der sogenannten Weisheitslehre kann es verborgener sein gleichwie +in der Dichtkunst, weil manche Weisheitslehre wie Dichtkunst zusammen +gestellt ist und wirkt: aber in den Werken der eigentlichen Dichtkunst +versteckt es sich vor dem blühenden Gemüte des Jünglings, dieser +breitet seine Blüten und seine Begierden darüber und saugt das Gift in +sich. Ein klarer Verstand, der sich von Kindheit an eben zur Klarheit +hingeübt hat, und ein gutes, reines Herz sind Schutzwehren vor +Schlechtigkeit und Sittenlosigkeit von Dichtungen, weil der klare +Verstand den hohlen Schwulst von sich abweist und das reine Herz +die Unsittlichkeit ablehnt. Aber Beides geschieht nur gegen die +Entschiedenheit des Schlechten. Wo es in Reize verhüllt ist und mit +Reinem gemischt, dort ist es am bedenklichsten, und da müssen Ratgeber +und väterliche Freunde zu Hilfe stehen, daß sie teils aufklären, +teils von vornherein die Annäherung des Übels aufhatten. Gegen die +Schlechtigkeit in der Darstellung oder gegen die lange Weile braucht +man kein Mittel als sie selber. Ihr seid zwar noch jung; aber ihr +seid nicht so jung zu dem Lesen von Dichtern gekommen wie die meisten +unserer Jünglinge, und ihr habt so viel in Wissenschaften gelernt, daß +ich glaube, daß man euch alle Dichter in die Hände geben kann, ohne +Gefahr zu befürchten, selbst bei solchen, die in ihrem Amte sehr +zweifelhaft sind. Euer Geist wird sich wohl heraus finden und gerade +dadurch noch mehr klären. Da ich von der Weisheitslehre sprach, welche +man in unserem deutschen Lande noch immer als Weisheitsliebe mit dem +griechischen Worte Philosophie bezeichnet, muß ich euch sagen, was ihr +wohl vielleicht schon aus anderen Reden von mir gemerkt haben mögt, +daß ich nicht gar sehr viel auf sie halte, wenn sie in ihrem eigenen +und eigentümlichen Gewande auftritt. Ich habe alte und neue Werke +derselben mit gutem Willen durchgenommen; aber ich habe mich zu viel +mit der Natur abgegeben, als daß ich auf ledigliche Abhandlungen ohne +gegebener Grundlage viel Gewicht legen könnte, ja sie sind mir sogar +widerwärtig. Vielleicht reden wir noch ein anderes Mal von dem +Gegenstande. Wenn ich je einige Weisheit gelernt habe, so habe ich sie +nicht aus den eigentlichsten Weisheitsbüchern, am wenigsten aus den +neuen - jetzt lese ich gar keine mehr - gelernt, sondern ich habe sie +aus Dichtern genommen oder aus der Geschichte, die mir am Ende wie die +gegenständlichste Dichtung vorkömmt.« + + +Als ich meinen Gastfreund so reden hörte, erinnerte ich mich, daß ich +ihn in der Tat viel lesen gesehen habe. Oft war er mit einem Buche +unter einem schattigen Baume gesessen oder in rauherer Jahreszeit auf +einer sonnigen Bank, oft hatte er sich mit einem auf einen Spaziergang +begeben, er ist sehr häufig in dem Lesezimmer gewesen, und er trug +Bücher in seine Arbeitsstube. Als wir die letzte Fahrt in den +Sternenhof gemacht hatten, hatte er Bücher mitgenommen, und ich glaube +von Gustav gehört zu haben, daß er auf jede Reise Bücher einpacke. + +Ich ging bei meinem jetzigen Aufenthalte in dem Rosenhause sehr oft in +das Bücherzimmer, und wie ich früher vor den Schränken gestanden war, +die die Werke der Naturwissenschaften enthielten, und wie ich damals +manches Buch in das Lesezimmer mitgenommen hatte, so stand ich jetzt +vor den Schreinen mit den Dichtern, sah viele einzelne der vorhandenen +Bücher an, trug manches in das Lesezimmer oder mit Bewilligung meines +Gastfreundes in meine Stube und schrieb mir die Aufschrift von manchem +in mein Gedenkbuch, um es mir, wenn ich nach Hause gekommen wäre, zu +kaufen. + +Gegen das Ende meines Aufenthaltes, da noch einige sonnige Tage kamen, +zeichnete und malte ich auch mehrere Stücke der schönen getäfelten +Fußböden, die in diesem Hause anzutreffen waren. Ich tat dies, um +dem Vater von allen Dingen, welche ich gesehen hatte, einiger Maßen +Abbildungen bringen zu können. + +Als es schon bald zu meiner Abreise kam, sagte mein Gastfreund, er +hätte noch etwas mit mir zu reden, und er sprach: »Weil euch euere +Natur selber zum Teile aus dem Kreise herausgezogen hat, den ihr um +euch gesteckt habt, weil ihr zu euren früheren Bestrebungen noch +den Einblick in die Dichtungen gesellt habt, so wie ja schon das +Landschaftsmalen als ein Übergang in das Kunstfach ein Schritt aus +eurem Kreise war, so erlaubet mir, daß ich als Freund, der euch wohl +will, ein Wort zu euch rede. Ihr solltet zu eurem Wesen eine breitere +Grundlage legen. Wenn die Kräfte des allgemeinen Lebens zugleich in +allen oder vielen Richtungen tätig sind, so wird der Mensch, eben weil +alle Kräfte wirksam sind, weit eher befriedigt und erfüllt, als wenn +eine Kraft nach einer einzigen Richtung hinzielt. Das Wesen wird +dann im Ganzen leichter gerundet und gefestet. Das Streben in +einer Richtung legt dem Geiste eine Binde an, verhindert ihn, das +Nebenliegende zu sehen und führt ihn in das Abenteuerliche. Später, +wenn der Grund gelegt ist, muß der Mann sich wieder dem Einzigen +zuwenden, wenn er irgendwie etwas Bedeutendes leisten soll. Er wird +dann nicht mehr in das Einseitige verfallen. In der Jugend muß man +sich allseitig üben, um als Mann gerade dann für das Einzelne tauglich +zu sein. Ich sage nicht, daß man sich in das Tiefste des Lebens +in allen Richtungen versenken müsse, wie zum Beispiele in allen +Wissenschaften, wie ihr ja selber einmal angefangen habt, das wäre +überwältigend oder tötend, ohne dabei möglich zu sein; sondern daß +man das Leben, wie es uns überall umgibt, aufsuche, daß man seine +Erscheinungen auf sich wirken lasse, damit sie Spuren einprägen, +unmerklich und unbewußt, ohne daß man diese Erscheinungen der +Wissenschaft unterwerfe. Darin, meine ich, besteht das natürliche +Wissen des Geistes, zum Unterschiede von der absichtlichen Pflege +desselben. Er wird nach und nach gerecht für die Vorkommnisse des +Lebens. Ihr habt, scheint es mir, zu jung einen einzelnen Zug erfaßt, +unterbrecht ihn ein wenig, ihr werdet ihn dann freier und großartiger +wieder aufnehmen. Schaut auch die unbedeutenden, ja nichtigen +Erscheinungen des Lebens an. Geht in die Stadt, sucht euch deren +Vorkommnisse zurecht zu legen, kommt dann zu uns auf das Land, +lebt einmal eine Weile müßig bei uns, das heißt tut, was euch der +Augenblick und die Neigung eingibt, wir wollen dieses Haus und den +Garten genießen, wollen den Nachbar Ingheim besuchen, wollen auch +zu anderen entfernteren Nachbarn gehen und die Dinge an uns vorüber +fließen lassen, wie sie fließen.« + +Ich dankte ihm für seine Bemerkungen, sagte, daß ich selber so etwas +Ähnliches in mir empfinde, daß ich wohl etwas unbeholfen gegen das +Leben sei, daß meine Eltern und wohlmeinenden Freunde wohl Nachsicht +mit mir haben müssen und daß ich für jeden Wink dankbar sei. Besonders +freue mich die Einladung in sein Haus, und ich werde ihr mit vieler +Freude Folge leisten. + +Als die Zeit meiner Abreise herangekommen war, packte ich die +Zeichnungen und alles, was ich in dem Rosenhause hatte, ein, nahm den +herzlichsten Abschied von dem alten Manne, Gustav, Eustach, Roland, +der gekommen war, verabschiedete mich von allen Bewohnern des Hauses, +Gartens und Meierhofes und reisete zu meinen Angehörigen in die +Hauptstadt zurück. + +Das Erste, was ich dort nach dem innigsten und aufrichtigsten +Bewillkommen sah, war, daß mein Vater das teils gläserne, teils +hölzerne Häuschen, in welchem die alten Waffen hingen, um welches +sich der Epheu rankte und welches im Grunde den äußersten Ansatz oder +gleichsam einen Erker des rechten Flügels des Hauses gegen den Garten +bildete, in dem vergangenen Sommer hatte umbauen lassen. Er hatte es +bedeutend vergrößert, aber die Leisten, Spangen und Rahmen, in denen +das Glas befestigt war, hatte er in der früheren Art gelassen, nur +waren sie dem Stoffe nach neu gemacht und mit schönen Verzierungen +und Schnitzereien versehen. Die Simse des Daches waren nach +mittelalterlicher Weise verfertigt, schön geschnitzt und verziert. +Der Epheu war wieder an Leisten empor geleitet worden und blickte an +manchen Stellen durch das Glas herein. Die Fenster waren nicht mehr +nach Außen und Innen zu öffnen wie früher, sondern zum Verschieben. +Die größte Veränderung aber war die, daß der Vater zwei Säulen hatte +aufführen lassen, während früher die beiden Wände, welche nach Außen +geschaut hatten, aus Glas verfertigt gewesen waren. Diese zwei Pfeiler +hatten genau die Abmessungen, daß die zwei Verkleidungen, welche ich +ihm in dem vorigen Herbste gebracht hatte, auf dieselben paßten. Die +Verkleidungen waren aber noch nicht auf ihnen, weil das Mauerwerk +zuerst austrocknen mußte, daß das Holz an demselben keinen Schaden +nehmen konnte. Der Vater hatte mir nur den ganzen Plan und die +Vorrichtungen zu seiner Ausführung gesagt. So wie es mich einerseits +freute, daß der Vater das Holzkunstwerk so schätzte, daß er eigens zu +dem Zwecke, es anbringen zu können, das Häuschen hatte umbauen lassen, +so war es mir andererseits erst recht schmerzlich, daß ich die +Ergänzungen zu den Verkleidungen nicht aufzufinden im Stande gewesen +war. Ich sagte dem Vater von meinen Bemühungen und von meinem +Leidwesen wegen des schlechten Erfolges. Er und die Mutter trösteten +mich und sagten, es sei alles auch in der vorhandenen Gestalt recht +schön, was verschwunden ist und nicht mehr erlangt werden kann, +müsse man nicht eigensinnig anstreben, sondern sich an dem, was eine +gute Gunst uns noch erhalten habe, freuen. Das Häuschen werde eine +Erinnerung sein, und so oft man sich in demselben, wenn es vollkommen +in den Stand gesetzt sein werde, befinden werde, werde einem die Zeit +vorschweben, in welcher das Holzwerk gemacht worden sei, und die, +in welcher ein lieber Sohn es zur Freude des Vaters ans dem Gebirge +gebracht habe. + +Ich mußte mich wohl, obgleich ungern, beruhigen. Es erschien mir +jetzt erst recht schön, wenn die Verkleidungen am ganzen Innern des +Häuschens herum liefen und über ihnen einerseits die Pfeiler und +andererseits die Fenster schimmerten. + +Nach einigen Tagen, in welchen die ersten Besprechungen geführt +wurden, die nach einer Reise eines Familiengliedes im Schoße +einer Familie immer vorfallen, wenn auch die Reise eine jährlich +wiederkommende ist, legte ich dem Vater, da unterdessen auch meine +Koffer und Kisten angekommen waren, die Abbildungen vor, welche ich +von den Geräten und Fußböden im Rosenhause und im Sternenhofe gemacht +hatte. Ich war auf die Wirkung sehr neugierig. Ich hatte einen Sonntag +abgewartet, an welchem er Zeit hatte und an welchem er gerne nach dem +Mittagessen eine geraume Weile in dem Kreise seiner Familie zubrachte. +Ich legte die Blätter vor ihm auf einem Tische auseinander. Er schien +mir bei ihrem Anblick - ich kann sagen - betroffen. Er sah die Blätter +genau an, nahm jedes mehrere Male in die Hand und sagte längere Zeit +kein Wort. Endlich ging seine Empfindung in eine unverhohlene Freude +über. Er sagte, ich wisse gar nicht, was ich gemacht hätte, ich wisse +gar nicht, welchen Wert diese Dinge hätten, ich hätte in früherer Zeit +die Schönheit und Zusammenstimmigkeit dieser Dinge mit Worten gar +nicht so in das rechte Licht gestellt, wie es sich jetzt in Farbe und +Zeichnung, wenn auch beides mangelhaft wäre, beurkunde. Im ersten +Augenblicke hielt der Vater die Geräte, welche ich in dem Sternenhofe +abgebildet hatte, für wirklich alte; als ich ihn aber auf die +tatsächlichen Verhältnisse derselben aufmerksam machte, sagte er, das +müsse ein außerordentlicher Mensch sein, der diese Entwürfe gemacht +habe, er müsse nicht nur mit der alten Bauart und Zusammenstellung der +Geräte sehr vertraut sein, sondern er müsse auch ein ungewöhnliches +Schönheitsgefühl haben, um aus der Menge der überlieferten Gestalten +das zu wählen, was er gewählt habe. Und die Zusammenreihung der Geräte +sei so aus einem Gusse, als wären sie einstens zu einem Zweck und +in einer Zeit verfertigt worden. Auch die wirklich alten Geräte im +Rosenhause seien von einer Schönheit, wie er sie nie gesehen habe, +obgleich ihm die vorzüglichsten und berühmtesten Sammlungen der Stadt +und mancher Schlösser bekannt wären. Zwei so auserlesene Stücke wie +den großen Kleiderschrein und den Schreibschrein mit den Delphinen +dürfte man kaum irgendwo finden. Sie wären wert, in einem kaiserlichen +Gemache zu stehen. + + +Ich erzählte ihm, um den Mann, der die Entwürfe für den Sternenhof +gemacht hatte, näher zu bezeichnen, daß ich viele Bauzeichnungen und +Zeichnungen von anderen Dingen in dem Rosenhause gesehen habe, welche +weit höhere Gegenstände darstellen und auch mit einer ungleich +größeren Vollendung ausgeführt seien, als ich bei meinen Abbildungen +anzubringen im Stande gewesen wäre. Diese Arbeiten seien bei dem Manne +Vorbildungen gewesen, damit er die Entwürfe hätte machen können, die +er gemacht habe. + +Er schien auf meine Worte nicht zu achten, sondern legte irgend ein +Blatt hin, nahm ein anderes auf und betrachtete es. + +»So weit ich aus den Abbildungen urteilen kann«, sagte er, »sind die +altertümlichen Gegenstände, welche du mir da veranschaulicht hast, +nicht nur an sich sehr vortrefflich, sondern sie sind auch höchst +wahrscheinlich, wie Farbe und Zeichnung dartut, sehr zweckmäßig wieder +hergestellt. Meine Habseligkeiten sinken dagegen zu Unbedeutenheiten +herab, und ich sehe aus diesen Blättern, wie man die Sache anfassen +muß, wenn man die Zeit, die Kenntnisse und die Mittel dazu hat.« + +Mich freute es jetzt recht sehr, daß ich auf den Gedanken gekommen +war, dem Vater diese Dinge nachzubilden, um ihm eine Vorstellung von +ihnen zu geben; mich freute sein Anteil, den er an ihnen nahm, und die +Freude, die er darüber hatte. + +»Es sind nun zwei Wege, die zu gehen sind«, meinte die Mutter, +»entweder kannst du dir nach diesen Gemälden die Dinge, die sie +darstellen, machen lassen, um dich immerwährend daran zu ergötzen, +oder du kannst in den Asperhof und Sternenhof reisen und sie in +Wirklichkeit sehen, um eine Freude zu haben, so lange du sie siehst, +und in der Erinnerung dich zu laben, wenn du wieder weggereist bist.« + +Der Vater antwortete: »Die Geräte, die hier gezeichnet sind, +nachmachen zu lassen, ist eine Unzukömmlichkeit; denn erstens müßte +hiezu die Einwilligung des Eigentümers erlangt werden, und wenn sie +auch erlangt worden wäre, so hätten zweitens die nachgebildeten +Gegenstände in meinen Augen nicht den Wert, den sie haben sollten, +weil sie doch nur, wie die Maler sagen, Copien wären. Es böte sich +auch noch der Gedanke, mit Einwilligung des Eigentümers nach diesen +Abbildungen neue Zusammenstellungen entwerfen und in Wirklichkeit +ausführen zu lassen; allein das verlangt eine so große +Geschicklichkeit, welche ich nicht nur mir nicht zutraue, sondern +welche ich auch an den Arbeitern in ähnlichen Dingen, die ich in +unserer Stadt kenne, nicht aufzufinden hoffe. Und zuletzt wären die +verfertigten Gegenstände doch noch immer nichts mehr als halbe Copien. +Das Verfertigen geht also nicht. Was deinen zweiten Weg anbelangt, +Mutter, so werde ich ihn gewiß gehen. Ich habe mir schon früher bei +den Erzählungen von diesen Dingen vorgenommen, die Reise zu ihnen zu +machen; jetzt aber, da ich die Abbildungen sehe, werde ich die Reise +nicht nur um so gewisser, sondern auch in viel näherer Zeit machen, +als es wohl sonst hätte geschehen können.« + +»Das wird recht schön sein«, riefen wir fast alle aus einem Munde. + +Die Mutter sagte: »Du solltest gleich die Zeit bestimmen und solltest +gleich mit deinem Sohne verabreden, daß er dich in derselben zu dem +alten Manne in das Rosenhaus führe, welcher dich schon auch in den +Sternenhof geleiten würde.« + +»Nun, so dränget nur nicht«, erwiderte er, »es wird geschehen, das +ist genug; binden, wißt ihr, kann sich ein Mann nicht, der von seinem +Geschäfte abhängt und nicht wissen kann, welche Umstände einzutreten +vermögen, die von ihm Zeit und Handlungen fordern.« + +Die Mutter kannte ihn zu gut, um weiter in ihn zu dringen, er würde +bei seinem ausgesprochenen Satze geblieben sein. Sie beruhigte sich +mit dem Erlangten. + +Sowohl sie als die Schwester dankten mir, daß ich dem Vater die Bilder +gebracht hatte, die ihm ein solches Vergnügen bereiteten. + +»Die Fußböden müssen auch vortrefflich sein«, rief er aus. + +»Sie sind viel schöner als die ungefähre Malerei andeuten kann«, +erwiderte ich, »mein Pinsel kann noch immer nicht den Glanz und die +Zartheit und das Seidenartige der Holzfasern ausdrücken, was man alles +dort so liebt, daß nur mit Filzschuhen auf diesen Böden gegangen +werden darf.« + +»Das kann ich mir denken«, antwortete er, »das kann ich mir denken.« + +Hierauf mußte ich ihm alle Hölzer nennen, die hier mit Farben +angegeben waren und aus denen die abgebildeten Gegenstände bestanden. +Die meisten kannte er ohnehin, was mich freute, weil es der Beweis +war, daß ich die Farben nicht unsachgemäß angewendet habe. Die er +nicht kannte, nannte ich ihm. Ich wußte sie fast alle ganz genau +anzugeben. + +Er verwunderte sich wieder und immer aufs Neue und suchte sich die +Gegenstände recht lebhaft vorzustellen. + +Die Mutter und Schwester fragten mich, ob ich recht lange zu dieser +Arbeit gebraucht hätte und ob ich nicht dabei beklommen gewesen wäre. + +Ich antwortete, daß ich des Zweckes willen sehr fleißig gewesen sei, +daß es anfänglich langsam gegangen sei, daß ich aber nach und nach +Übung erlangt hätte und daß ich dann weit schneller vorwärtsgekommen +sei, als ich selber geahnt habe. Und was die Beklemmung anbelangt, so +hätte ich sie freilich im Anfange gehabt; aber da die Dinge einmal auf +mich gewirkt hätten, da ich in Eifer geraten wäre, da sich hie und +da ein Gelingen eingestellt hätte, namentlich da mir durch die +Entschiedenheit der Erscheinung mancher Holzgattung die Farbe +gleichsam von selber in die Hand gegeben worden wäre, so hätte sich +bald die Unbefangenheit eingefunden und nach und nach sich die Lust +hinzu gesellt. + +Nach diesen Worten zeigte mir der Vater auch manchen Fehler, den ich +in den Arbeiten gemacht hätte, und setzte mir auseinander, wie ich +selbe, falls ich wieder ähnliche Dinge entwerfen sollte, vermeiden +könnte. Da er Gemälde hatte, da er sich seit Jahren mit denselben +beschäftigt hatte, so durfte ihm wohl ein Urteil in dieser Hinsicht +zugewachsen sein, und ich erkannte das, was er sagte, als vollkommen +richtig an und glaubte mich aber auch befähigt zu fühlen, es in +Zukunft besser zu machen. + +Nach den Fehlern ging der Vater auch auf die Vorzüge der Arbeit über +und sagte, daß er nach den Zeichnungen von Köpfen, die ich vor einiger +Zeit gemacht hätte, zu schließen, von mir nicht erwartet hätte, daß +ich etwas so Sachgemäßes in Ölfarben würde ausführen können. + +Dieser Sonntagsnachmittag war eine sehr liebe, angenehme Zeit. + +Die Freundlichkeit der Schwester, die sie besonders an diesem +Nachmittage an den Tag legte, war mir ein schönerer Lohn, als wenn ein +Kenner gesagt hätte, daß meine Blätter ausgezeichnet seien, das Lob +der Mutter, daß ich auf den Vater und das väterliche Haus gedacht habe +und aus Liebe zu beiden, um Freude zu bereiten, eine beschwerliche +Arbeit unternommen habe, erregte mir die angenehmsten Gefühle, und da +auch der Vater mit einigen gewählten Worten seinen Dank aussprach und +sagte, daß er dieses Zartgefühl nicht vergessen werde, konnte ich nur +mit großer Gewalt die Tränen bemeistern. + +Ich gab ihm alle Blätter als Eigentum, und er reihte sie seiner +Sammlung von Merkwürdigkeiten ein. + +Am nächsten Tage packte ich die Zithern aus, legte beide der Schwester +vor und ließ ihr die Wahl, ob sie die meinige oder die neuangekaufte +als für sie gehörig annehmen wolle. Sie wählte die neue und freute +sich darüber sehr. Ich zeigte ihr auch die Stücke, welche ich mir nach +dem Spiele meines Gebirgslehrmeisters geschrieben hatte, und ließ sie +ihr in ihrem Zimmer, daß sie sie abschreiben lassen könne und daß sie +ihre Übungen darnach begönne. Ich versprach ihr, in diesem Winter ihr +Lehrer in dieser Kunst zu sein. + +Nach einiger Zeit brachte ich auch meine Malereien von +Gebirgslandschaften zum Vorscheine. Ich hatte bis dahin immer nicht +den Mut dazu gehabt; aber endlich machte mir mein Gewissen zu bittere +Vorwürfe, daß ich gegen meine Angehörigen Heimlichkeiten habe. Ich +zeigte meinem Vater die Blätter auch an einem Sonntagsnachmittage. Ich +blickte ihm erstaunt in das Angesicht, als er dieselben gesehen hatte +und das Nehmliche sagte, was mein Gastfreund im Rosenhause und was +Eustach gesagt hatten. Bei diesen letzten beiden hatte es mich nicht +gewundert, da ich sie für Kenner hielt und da sie Gebirgsbewohner +waren. Der Vater aber, der zwar Bilder besaß, war ein Kaufherr und +war nie lange in dem Gebirge gewesen. Es erhöhte dies meine Ehrfurcht +gegen ihn noch mehr. Er zeigte mir, wo ich unwahr gewesen war, +und setzte mir auseinander, wie es hätte sein sollen, was ich +augenblicklich begriff. Das was er lobte und richtig fand, gefiel mir +selber nachher doppelt so wohl. + +Klotilden mußte ich die Blätter noch einmal und allein in ihrem Zimmer +zeigen. Sie verlangte, daß ich ihr beinahe alles erkläre. Sie war nie +in höherem oder im Urgebirge gewesen, sie wollte sehen, wie diese +Dinge beschaffen seien, und sie reizten ihre Aufmerksamkeit sehr. +Obgleich meine Malereien keine Kunstwerke waren, wie ich jetzt immer +mehr einsah, so hatten sie doch einen Vorzug, den ich erst später +recht erkannte und der darin bestand, daß ich nicht wie ein Künstler +nach Abrundung noch zusammenstimmender Wirkung oder Anwendung von +Schulregeln rang, sondern mich ohne vorgefaßter Einübung den Dingen +hingab und sie so darzustellen suchte, wie ich sie sah. Dadurch +gewannen sie, was sie auch an Schmelz und Einheit verloren, an +Naturwahrheit in einzelnen Stücken und gaben dem Nichtkenner und dem, +der nie die Gebirge gesehen hatte, eine bessere Vorstellung als schöne +und künstlerisch vollendete Gemälde, wenn sie nicht die vollendetsten +waren, die dann freilich auch die Wahrheit im höchsten Maße trugen. +Aus diesem Grunde sagte mir Klotilde durch eine Art unbewußter Ahnung, +sie wisse jetzt, wie die Berge aussehen, was sie aus vielen und guten +Bildern nicht gewußt hätte. Sie äußerte auch den Wunsch, einmal die +hohen Berge selber sehen zu können, und meinte, wenn der Vater die +Reise in das Rosenhaus und in den Sternenhof mache und bei dieser +Gelegenheit auch die Gebirge besuche, werde sie ihn bitten, sie +mitreisen zu lassen. Ich erzählte ihr nun recht viel von den Bergen, +beschrieb ihr ihre Herrlichkeit und Größe, machte sie mit manchen +Eigentümlichkeiten derselben bekannt und setzte ihr meine +verschiedenen Reisen in denselben und meine Bestrebungen ausführlicher +als sonst auseinander. Ich hatte nie so viel von den Gebirgen mit +ihr geredet. Nach diesen Worten verlangte sie auch, daß ich sie +unterrichte, ebensolche Abbildungen verfertigen zu können, wie sie +hier vor ihr liegen. Sie wolle sich Farben und alle andere dazu +notwendigen Gerätschaften verschaffen. Da sie ohnehin ziemlich gut +zeichnen konnte, so war die Sache nicht so schwierig als sie beim +ersten Anscheine ausgesehen hatte. Ich versprach ihr meinen Beistand, +wenn die Eltern einwilligen würden. + +Wir fragten nach einiger Zeit die Eltern. Sie hatten im Ganzen +nichts dagegen, nur die Mutter verlangte ausdrücklich, daß diese +Arbeiten nur Nebendinge sein sollen, Dinge zum Vergnügen, nicht +Hauptbeschäftigungen; denn die Hauptpflicht des Weibes sei ihr Haus, +diese Dinge können zwar auch recht wohl in das Haus gehören; aber +einseitig oder gar mit Leidenschaft betrieben, untergraben sie eher +das Haus, als sie es bauen helfen. Klotilde aber sei schon so alt, daß +sie sich ihrem künftigen Berufe zuwenden müsse. + +Wir begriffen das alles und versprachen, nichts ins Übermaß gehen +lassen zu wollen. + +Es wurden alle Erfordernisse angeschafft, und wir begannen in +gegönnten Zeiten die Arbeit. + +Auch spanisch wollte die Schwester von mir lernen. Ich betrieb es +fort, und da ich ihr voraus war, wurde ich auch hierin ihr Lehrer, +was die Mutter mit derselben Einschränkung wie das Landschaftsmalen +gelten ließ. Es waren also in unserem Hause für dieses Jahr mehr +Beschäftigungen für mich vorhanden als in anderen Zeiten. + +Es war mir in jenem Herbste besonders wunderbar, daß weder Vater noch +Mutter genauer nach meinem Gastfreunde fragten. Sie mußten entweder +nach meinen Erzählungen ein entschiedenes Vertrauen in ihn setzen +oder sie wollten durch zu vieles Einmischen die Unbefangenheit meiner +Handlungen nicht stören. + + +Bei allen häuslichen Bestrebungen fing ich bei dem herannahenden +Winter doch ein etwas anderes Leben an, als ich es bisher geführt +hatte, und zwar ein etwas mannigfaltigeres. Ich hatte in vergangener +Zeit nur solche Stadtkreise besucht, in welche meine Eltern geladen +worden waren oder in welche ich durch Freunde, die ich gewann, gezogen +wurde. Diese Kreise bestanden größtenteils aus Leuten von ähnlichem +Stande mit dem meines Vaters. Ich spürte Neigung in mir, nun auch +Sitten und Gebräuche so wie Ansichten und Meinungen solcher Menschen +kennen zu lernen, die sich auf glänzenderen Lebenswegen befanden. Der +Zufall gab bald hier, bald da Gelegenheit dazu, und teils suchte ich +auch Gelegenheiten. Es geschah, daß ich Bekanntschaften machte und +mitunter auch fortsetzen konnte. Ich lernte Leute von höherem Adel +kennen, lernte sehen, wie sie sich bewegen, wie sie sich gegenseitig +behandeln und wie sie sich gegen solche, die nicht ihres Standes sind, +benehmen. + +Es lebte eine alte, edle, verwittwete Fürstin in unserer Stadt, deren +zu früh verstorbener Gemahl den Oberbefehl in den letzten großen +Kriegen geführt hatte. Sie war häufig mit ihm im Felde gewesen und +hatte da die Verhältnisse von Kriegsheeren und ihren Bewegungen kennen +gelernt, sie war in den größten Städten Europas gewesen und hatte +die Bekanntschaft von Menschen gemacht, in deren Händen die ganzen +Zustände des Weltteiles lagen, sie hatte das gelesen, was die +hervorragendsten Männer und Frauen in Dichtungen, in betrachtenden +Werken und zum Teile in Wissenschaften, die ihr zugänglich waren, +geschrieben haben, und sie hatte alles Schöne genossen, was die Künste +hervorbringen. Einstens war sie in den höheren Kreisen eine der +außerordentlichsten Schönheiten gewesen, und noch jetzt konnte man +sich kaum etwas Lieblicheres denken als die freundlichen, klugen und +innigen Züge dieses Angesichtes. Ein Mann, der sich viel mit Gemälden +und ihrer Beurteilung abgab und oft in die Nähe der Fürstin kam, sagte +einmal, daß nur Rembrandt im Stande gewesen wäre, die feinen Töne und +die kunstgemäßen Übergänge ihres Angesichtes zu malen. Sie hatte jetzt +eine Wohnung an der Ostgrenze der innern Stadt, damit die Morgensonne +ihre Zimmer füllte und damit sie den freien Blick über das frische +Grün und auf die entfernten Vorstädte hätte. Blühende Söhne in hohen +kriegerischen Würden besuchten die alte, ehrwürdige Mutter hier, so +oft ihr Dienst ihre Anwesenheit in der Stadt gestattete und so oft +während dieser Anwesenheit ein Augenblick es erlaubte. Schöne Enkel +und Enkelinnen gingen bei ihr aus und ein, und eine zahlreiche +Verwandtschaft wurde bald in diesen, bald in jenen Mitgliedern in +ihren Zimmern gesehen. Aber geistige Erholung oder Anstrengung - +wie man den Ausdruck nehmen will - war ihr ein Bedürfnis geblieben. +Sie wollte nicht bloß das wissen, was jetzt noch auf den geistigen +Gebieten hervor gebracht wurde, und in dieser Beziehung, wenn irgend +ein Werk Ruhm erlangte und Aufsehen machte, suchte sie auch an dessen +Pforte zu klopfen und zu sehen, ob sie eintreten könnte; sondern sie +nahm oft auch ein Buch von solchen Personen in die Hand, die in ihre +Jugendzeit gefallen und dort bedeutsam gewesen waren, sie ging das +Werk durch und forschte, ob sie auch jetzt noch die zahlreichen, mit +Rotstift gemachten Zeichen und Anmerkungen wieder in derselben Art +machen oder ob sie andere an ihre Stelle setzen würde; ja sie nahm +Werke der ältesten Vergangenheit vor, die jetzt die Leute, außer sie +wären Gelehrte, nur in dem Munde führen, nicht lesen; sie wollte doch +sehen, was sie enthielten, und wenn sie ihr gefielen, wurden sie +nach manchen Zwischenzeiten wieder hervorgeholt. Von dem, was in den +Verhältnissen der Staaten und Völker vorging, wollte sie beständig +unterrichtet sein. Sie empfing daher von manchen ihrer Verwandten und +Bekannten Briefe, und die vorzüglichsten Zeitungsblätter mußten auf +ihren Tisch kommen. Weil aber, obwohl ihre Augen noch nicht so schwach +waren, das viele Lesen, das sie sich hatte auflegen müssen, bei +ihrem Alter doch hätte beschwerlich werden können, hatte sie eine +Vorleserin, welche einen Teil, und zwar den größten, des Lesestoffes +auf sich nahm und ihr vortrug. Diese Vorleserin war aber keine bloße +Vorleserin, sondern vielmehr eine Gesellschafterin der Fürstin, die +mit ihr über das Gelesene sprach und die eine solche Bildung besaß, +daß sie dem Geiste der alten Frau Nahrung zu geben vermochte, so +wie sie von diesem Geiste auch Nahrung empfing. Nach dem Urteile +von Männern, die über solche Dinge sprechen können, war die +Gesellschafterin von außerordentlicher Begabung, sie war im Stande, +jedes Große in sich aufzunehmen und wiederzugeben, so wie ihre eigenen +Hervorbringungen, zu denen sie sich zuweilen verleiten ließ, zu den +beachtenswertesten der Zeit gehörten. Sie blieb immer um die Fürstin, +auch wenn diese im Sommer auf ein Landgut, das in einem entfernten +Teile des Reiches lag und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging, oder wenn +sie sich auf Reisen befand oder eine Zeit an einer schönen Stelle +unsers Gebirges weilte, wie sie gerne tat. An manchen Abenden zu der +Zeit, da sie in der Stadt war, sammelte die Fürstin einen kleinen +Kreis um sich, in welchem entweder etwas vorgelesen wurde oder in +welchem man über wissenschaftliche oder gesellige oder Staatsdinge +oder Dinge der Kunst sprach. Die Kreise waren regelmäßig an gleichen +Tagen der Woche, sie waren in der Stadt bekannt, wurden sehr hoch +geachtet oder verspottet, wie eben der Beurteilende war, wurden +gesucht und bestanden zuweilen aus sehr bedeutenden Personen. In diese +Kreise hatte ich Zutritt erlangt. Die Fürstin hatte mich einige Male +getroffen, es war einmal von meiner Wissenschaft die Rede gewesen, sie +war sehr neugierig, was man denn von der Geschichte der Erdbildung +wisse und aus welchen Umständen man seine Schlüsse ziehe, und sie +hatte mich in ihre Nähe gezogen. Ich hörte aufmerksam zu, wenn ich an +den bestimmten Abenden in ihrem Gesellschaftszimmer war, sprach selber +wenig und meistens nur, wenn ich dazu aufgefordert wurde. Die Fürstin +saß in schwarzem oder aschgrauem Seidenkleide - lichtere trug sie nie +- in ihrem Polsterstuhle und hatte einen Schemel unter ihren Füßen. +Die Lampe trug gegen ihre Seite hin einen grünen Schirm und goß ihr +Licht in die Gegend der Vorleserin oder des Vorlesers, wenn eben +gelesen wurde. Die Andern saßen nach ihrer Bequemlichkeit herum. +Meistens bildete sich von selber eine Art Kreis. Man hörte in tiefer +Stille dem Vorlesen zu und nahm an den Gesprächen, die nach dem Lesen +folgten oder die, wenn gar keine Vorlesung war, den ganzen Abend +erfüllten, den eifrigsten Anteil. Die Fürstin konnte ihnen den +lebhaftesten und tiefsten Fortgang geben. Es schien, daß das, was die +vorzüglichsten Männer in ihrer Gegenwart sprachen, von ihr angeregt +wurde und daß ihre größte Gabe darin bestand, das, was in Anderen war, +hervor zu rufen. Sie saß dabei mit ihrer äußerst zierlichen Gestalt +auf die anmutigste Weise in ihrem Stuhle und bewegte noch als +hochbetagte Frau die Gesellschaft mit ihrer herrlichen Schönheit. +Zuweilen, wenn sich ihr Inneres erregte, stand sie auf, hielt sich +an ihrem Stuhle und erklärte und sprach zu den Anwesenden mit ihrer +klaren, zarten, wohllautenden Stimme. + +Ich lernte verschiedene Menschen in den Zimmern der Fürstin +kennen. Zuweilen war es ein hervorragender Künstler, den man dort +sprechen hörte, zuweilen ein Staatsmann, der mit den wichtigsten +Angelegenheiten unseres Landes betraut war, oder es war sonst eine +bedeutende Persönlichkeit der Gesellschaft, oder es waren die Säulen +und die Führer unseres tapferen Heeres. Ich hörte bei der Fürstin +Aussprüche, die ich mir merken wollte, die ich mir aufschrieb und die +mir ein unveräußerliches Eigentum bleiben sollten. Ich gestehe es, +daß ich nie ohne eine gewisse Beklemmung in das Zimmer mit den +blaubemalten Wänden und den dunkelblauen Geräten und den einigen +Bildern, worunter mich besonders das anzog, welches ihren Landsitz +darstellte, trat, und ich gestehe es, daß ich nie das Zimmer ohne Ruhe +und Befriedigung verließ. Ich empfand, daß jene Abende für mich von +großer Bedeutung, daß sie eine Zukunft seien. + +Außer den besonders hervorragenden Menschen lernte ich bei der Fürstin +auch noch andere Personen, des höheren Adels unseres Reiches, kennen, +kam manches Mal mit den Kreisen desselben in Berührung und sah seine +Art, seine Lebensweise und seine Sitten. + + +Neben diesen Abteilungen der menschlichen Gesellschaft kam ich auch +mit anderen zusammen. Es war in der Stadt ein öffentlicher Ort, +welcher hauptsächlich von Künstlern aller Art besucht wurde, welche +sich dort besprachen, Erfrischungen zu sich nahmen, Zeitungen lasen +oder sich mit körperlichen Spielen ergötzten. Diesen Ort besuchte ich +gerne. Da war der eine oder der andere Schauspieler von der Hofbühne +oder von der Oper, da war ein Maler, dessen Namen damals hoch +gepriesen wurde, da waren Tonkünstler, sowohl ausübende als dichtende, +da waren Bildhauer und Baumeister, vorzüglich aber waren es +Schriftsteller und Dichter, und es befanden sich darunter auch +Vorstände und Mitarbeiter an Zeitungsanstalten. + +Von anderen Personen waren höhere Staatsdiener, Bürger, Kaufleute und +überhaupt solche vorhanden, die einen Anteil an Kunst und Wissenschaft +und an einem dahin abzielenden Umgange nahmen. Wenn auch eigentlich +nur eine ungezwungene Heiterkeit herrschte, wenn auch nur Spiele zu +körperlicher Bewegung und daneben das Schachspiel vorzuherrschen +schienen, so waren doch auch Gespräche und, wie es bei solchen Männern +zu erwarten war, Gespräche sehr lebhafter Natur im Gange, und waren +doch im Grunde die Hauptsache. Da konnte man in leichten Worten den +tiefen Geist des Einen sehen oder den ruhigen, der alles zersetzt +und in seine Bestandteile auflöst, oder den lebhaften, der darüber +weggeht, oder den leichtfertigen, der alles verlacht, oder den, dessen +Sitten selbst ein wenig bedenklich waren. Oft war es nur ein Wort, ein +Witz, der den Grund geben konnte, um Schlüsse zu bauen. Trotz meiner +Schüchternheit, die mich ferne hielt, geriet ich doch in Gespräche +und lernte den einen und andern Mann von denen kennen, die sich hier +einfanden. Selbst das äußere Benehmen und Gebaren von Männern, die +sonst solche Geltung haben, schien mir nicht gleichgiltig. + +Ich besuchte in jenem Winter auch gerne Orte, an welchen sich +viele Menschen zu ihren Vergnügungen versammeln, um die Art ihrer +Erscheinung, ihr Wesen und ihr Verhalten als eines Ganzen sehen zu +können. Vorzüglich ging ich dahin, wo das eigentliche Volk, wie man es +jetzt häufig zum Gegensatze der sogenannten Gebildeten nennt, zusammen +kömmt. Die man gebildet nennt, sind fast überall gleich; das Volk +aber ist ursprünglich, wie ich es bei meinen Wanderungen schon kennen +lernte, und hat seine zugearteten Bräuche und Sitten. + +Ich ging in die guten Darstellungen von Musikstücken, ich fuhr im +Besuche des Hoftheaters fort, ging jetzt auch in die Oper und besuchte +manche öffentliche wissenschaftliche Vorträge, dann Kunst- und +Büchersammlungen, hauptsächlich aber zur Vervollkommnung meiner +eigenen künftigen Arbeiten die Sammlungen von Gemälden. + +Den Umgang mit meinem neuen Freunde, dem Sohne des Juwelenhändlers, +setzte ich fort. Wir begannen endlich in der Tat einen eigenen +Unterrichtsgang über Edelsteine und Perlen. Zwei Tage in der Woche +waren festgesetzt, an denen ich zu einer bestimmten, für ihn +verfügbaren Stunde kam und so lange blieb, als es eben seine Zeit +gestattete. Er führte mich zuerst in die Kenntnis aller jener +Mineralien ein, welche man Edelsteine nennt und vorzüglich zu Schmuck +benützt. Ebenso zeigte er mir alle Gattungen von Perlen. Hierauf +unterrichtete er mich in dem Verfahren, die Juwelen zu erkennen und +von falschen zu unterscheiden. Später erst ging er auf die Merkmale +der schönen und der minder schönen über. Bei diesem Unterrichte kamen +mir meine Kenntnisse in den Naturwissenschaften sehr zu statten, ja +ich war sogar im Stande, durch Angaben aus meinem Fache die Kenntnisse +meines Freundes zu erweitern, besonders was das Verhalten der +Edelsteine zum Lichtdurchgang, zur doppelten Brechung und zu der +sogenannten Polarisation des Lichtes anbelangt. Ich hatte aber noch +immer nicht den Mut, über die gebräuchliche Fassung der Edelsteine mit +ihm zu sprechen und meine Gedanken hierüber ihm mitzuteilen. + +Unter diesen Dingen ging neben meinen eigentlichen Arbeiten der +Unterricht, den ich meiner Schwester gab, regelmäßig fort. In der +Malerei hatte sie noch viel größere Schwierigkeiten als ich, weil sie +einesteils weniger geübt war und weil sie andernteils die Urbilder +nicht gesehen, sondern nur fehlerhafte Abbilder vor sich hatte. Im +Zitherspiel ging es weit besser. Ich wurde heuer ein wirksamerer +Lehrer, als ich es in dem vergangenen Jahre gewesen war, und konnte +nach dem, was ich gelernt hatte, überhaupt ein besserer Lehrer für +sie sein, als einer in der Stadt zu finden gewesen wäre, obwohl diese +Schwierigkeiten überwanden, deren Besiegung mir und Klotilden eine +Unmöglichkeit gewesen wäre. Nach meinen Ansichten, die ich in den +Bergen gelernt hatte, kam es aber darauf nicht an. Wir lernten +endlich wechselweise von einander und brachten manche freudige und +empfindungsreiche Stunde an der Zither zu. + +Ich mußte zuletzt Klotilden auch im Spanischen unterrichten. Da ich +immer einige Schritte von ihr voraus war, so konnte ich allerdings +einen Lehrer für sie wenigstens in den Anfangsgründen vorstellen. Wie +es im weiteren Verlaufe zu machen wäre, würde sich zeigen. Wir lebten +uns in ein wechselseitiges Tätigkeitsleben hinein. + +So verging der Winter, und ich blieb damals bis ziemlich tief in das +Frühjahr hinein bei den Meinigen in der Stadt. + + + +Die Annäherung + +Obwohl fast den ganzen Winter hindurch davon die Rede gewesen war, +daß mich der Vater in dem nächsten Frühlinge in das Gebirge begleiten +werde und daß er bei dieser Gelegenheit den Mann im Rosenhause +besuchen wolle, um dessen Seltenheiten und Kostbarkeiten zu sehen, so +hatte er doch, als der Frühling gekommen war, nicht Zeit, sich von +seinen Geschäften zu trennen, und ich mußte wie in allen früheren +Jahren meine Reise allein antreten. + +Als ich zu meinem Gastfreunde gekommen war, war das Erste, daß ich +ihm von den Wandverkleidungen erzählte. Ich hatte früher ihrer nicht +erwähnt, weil ich sie doch nicht für so wichtig gehalten hatte. Ich +erzählte ihm, daß ich sie in dem Lauterthale gefunden und gekauft +habe und daß sie aus Schnitzarbeit von Gestalten und Verzierungen +bestanden. Der Vater, dem ich sie gebracht, habe eine große Freude +darüber gehabt, habe sie nicht nur mit großem Vergnügen empfangen, +sondern habe auch einen Teil eines Nebenbaues unseres Hauses umgebaut, +um die Verkleidungen geschickt anbringen zu können. Dieses letztere +habe mir erst gezeigt, wie wert der Vater diese Dinge halte, und +dies habe mich bestimmt, noch genauer nachzuforschen, ob ich denn +die Ergänzungen zu dem Getäfel nicht aufzufinden vermöge; denn +das, was der Vater habe, seien nur Bruchstücke, und zwar zwei +Pfeilerverkleidungen, das übrige fehle. Ich habe wohl schon +Nachforschungen in der besten Art, wie ich glaube, angestellt; aber +ich wolle sie doch noch fortsetzen und versuchen, ob ich nicht noch +neue Mittel und Wege auffinden könne, zu meinem Ziele, wenn es noch +vorhanden sei, zu gelangen oder die größtmögliche Gewißheit zu +erhalten, daß das Gesuchte nicht mehr bestehe. + +Ich beschrieb meinem Gastfreunde, so gut ich es aus der Erinnerung +konnte, die Vertäflungen und machte ihn mit dem Fundorte und den +Nebenumständen bekannt. Ich verhehlte ihm nicht, daß ich das darum +tue, daß er mir einen Rat geben möge, wie ich etwa weiter vorzugehen +habe. Es handle sich um einen Gegenstand, der meinem Vater nahe gehe. +Nicht vorzüglich, weil diese Dinge schön seien, obwohl dies auch ein +Antrieb für sich sein könnte, sondern hauptsächlich darum suche ich +darnach zu forschen, weil sie dem Vater Freude machen. Je älter er +werde, desto mehr schließe er sich in einem engen Raume ab, sein +Geschäftszimmer und sein Haus werden nach und nach seine ganze Welt, +und da seien es vorzüglich Werke der bildenden Kunst und die Bücher, +mit denen er sich beschäftige und die Wirkung, welche diese Dinge auf +ihn machen, wachse mit den Jahren. Er habe sich von dem Schnitzwerke +in den ersten Tagen kaum trennen können, er habe es in allen Teilen +genau betrachtet und sei zuletzt so mit demselben bekannt geworden, +als wäre er bei dessen Verfertigung zugegen gewesen. Darum wolle ich +so vorgehen, daß ich mich nicht in die Lage setze, mir einen Vorwurf +machen zu müssen, daß ich in meinen Nachforschungen etwas versäumt +habe. Bisher seien sie freilich fruchtlos gewesen. + +Mein Gastfreund fragte mich noch um einige Teile des Werkes und seines +Auffindens, die ich ihm nicht dargestellt hatte oder die ihm dunkel +geblieben waren, und ließ sich die Örtlichkeiten des Auffindens noch +einmal auf das Umständlichste beschreiben. Hierauf sagte er mir, ich +möge an meinen Vater ungesäumt einen Brief senden und ihn bitten, die +genauen Ausmaße des Schnitzwerkes nach Außen und nach Innen zu nehmen +und mir zu schicken. Ich begriff augenblicklich die Zweckmäßigkeit der +Maßregel und schämte mich, daß sie mir selber nicht früher eingefallen +war. Er selber wolle vorläufig an Roland schreiben und ihm dann, +wenn sie eingelangt wären, die Ausmaße schicken. Auch wolle er seine +Geschäftsführer in jener Gegend beauftragen, sich um die Sache zu +bemühen. Wenn das Gesuchte zu finden ist, so dürfte Roland der +geeignetste Mithelfer sein, und die anderen Männer, die er noch +auffordern werde, hätten sich schon in den verschiedensten +Gelegenheiten sehr erprobt. + +Ich dankte meinem Gastfreunde auf das Verbindlichste für seine +Gefälligkeit und versprach, in nichts säumig zu sein. + +Am nächsten Morgen trug ein Bote meinen Brief an den Vater und die +Briefe meines Gastfreundes an Roland und andere Männer auf die nächste +Post. Mein Gastfreund mußte bis in die tiefe Nacht geschrieben haben, +denn es war ein ganzes Päckchen von Briefen. Mich rührte diese Güte +außerordentlich, denn ich wußte nicht, wie ich sie verdient hatte. + + +Daß ich in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in dem Rosenhause +gleich an alle Orte ging, die mir lieb waren, begreift sich. + +In dem Zeichnungszimmer Eustachs fand ich den Musiktisch fertig. Es +war seit seiner Vollendung erst eine kurze Zeit verflossen, deshalb +stand er noch an dieser Stelle. Ich hatte nicht geahnt, daß das Werk, +das ich bei Beginn seiner Wiederherstellung gesehen hatte, sich so +darstellen würde, wenn es fertig wäre. Ich hatte Bilder, Bauwerke, +Zeichnungen und dergleichen in jüngster Zeit in großer Menge gesehen +und selber ähnliche Dinge verfertigt, ich konnte mir daher in solchen +Sachen ein kleines Urteil zutrauen; aber, wenn ich nicht gewußt hätte, +daß der Rahmen und das Gestelle des Tisches neu gemacht worden sei, so +hätte ich es nie erkannt, so sehr paßte beides im Baue, in der ganzen +Art und selbst in der Farbe des Holzes zu der Platte. Das ganze +Werk stand rein, glänzend und klar vor den Augen. Die Farbe der +verschiedenen Hölzer an den Verzierungen, am Laubwerke, am Obste und +an den Geräten trat unter der Macht des Harzes kräftig und scharf +hervor. Selbst die Mißverhältnisse der Größen in den verschiedenen +eingelegten Geräten, zum Beispiele zwischen der Flöte, der Geige, der +Trommel, welche mir bei meinem ersten Besuche in dem Schreinerhause +Anstoß gegeben hatten, erschienen mir jetzt als naiv und hatten etwas +Anziehendes für mich, welches mir die Tischplatte lieber machte als +wenn sie ganz fehlerfrei oder etwa nach neuen Kunstbegriffen gemacht +gewesen wäre. Ich fragte Eustach, wohin der Tisch zu stehen kommen +würde. Er konnte es mir nicht sagen. Es sei darüber nichts eröffnet +worden, ob er in dem Hause bleiben oder ob er irgend wohin versendet +werden würde. Jetzt bleibe er hier stehen, damit alle Nachtrocknungen +in jener allmählichen Stufenfolge vor sich gehen können, wie sie bei +jedem neuverfertigten Geräte eintreten müssen, daß es nicht Schaden +leide. Die meisten der neuverfertigten oder wiederhergestellten Werke +seien zu diesem Zwecke in dem Zeichnungszimmer stehen geblieben, wenn +sie anders dort Platz hatten. Ich betrachtete den Tisch noch eine +Weile und ging dann zu andern Gegenständen über. + +Auch die Gärtnerleute besuchte ich, die Leute des Meierhofes, die +Gartenarbeiter, die Dienstleute des Hauses und einige Nachbaren, zu +denen wir früher öfter gekommen waren und die ich näher kennen gelernt +hatte. + +Obwohl ich nach dem Rate und der Einladung meines Gastfreundes +entschlossen war heuer meine Berufsarbeit, wenigstens jenes Berufes, +den ich mir selber aufgelegt hatte, ruhen zu lassen, sondern einen +Teil des Sommers in dem Rosenhause zu verleben und mich meiner Laune +und dem Augenblicke hinzugeben: hatte ich doch nicht den Willen, gar +nichts zu tun, was mir die größte Qual gewesen wäre, sondern mich bei +meinen Handlungen von meinem Vergnügen und der Gelegenheit leiten +zu lassen. Mein Gastfreund hatte mir die nehmlichen zwei Zimmer +eingeräumt, welche ich bisher stets inne gehabt hatte, und freute +sich, daß ich seinen Rat befolgen und einmal auch anderswohin sehen +wolle als immer einseitig auf meine Arbeiten, und daß ich einmal +zu einem allgemeineren Bewußtsein kommen wolle, als zu dem ich +mich bisher gebannt hätte. Ich hatte viele Bücher und Schriften +mitgebracht, hatte alle Werkzeuge zur Ölmalerei bei mir und hatte doch +aus Vorsicht auch einige Vorrichtungen zu Vermessungen und dergleichen +eingepackt. + +Wenn man von dem Rosenhause über den Hügel, auf dem der große +Kirschbaum steht, nordwärts geht, so kömmt man in die Wiese, durch +welche der Bach fließt, an dem mein Gastfreund jene Erlengewächse +zieht, welche ihm das schöne Holz liefern, das er neben anderen +Hölzern zu seinen Schreinerarbeiten verwendet. Wir waren öfter zu +diesem Bache gekommen und seinen Ufern entlang gegangen. Er floß aus +einem Gehölze hervor, in welchem mein Gastfreund einige Wasserwerke +hatte aufführen lassen, um die Wiese vor Überschwemmungen zu sichern +und die Verwilderung des Baches zu verhindern. Im Innern des Gehölzes +befindet sich ein ziemlich großer Teich, eigentlich ein kleiner See, +da er nicht mit Kunst angelegt, sondern größtenteils von selber +entstanden war. Nur Geringes hatte man hinzu gefügt, um nicht +Versumpfungen an seinen Rändern und Überflutungen bei seinem Ausflusse +entstehen zu lassen. Das Wasser dieses Waldbeckens ist so klar, daß +man in ziemlicher Tiefe noch alle die bunten Steine sehen kann, welche +auf dem Grunde liegen. Nur schienen sie grünlich blau gefärbt, wie es +bei allen Wässern der Fall ist, die aus unsern Kalkalpen oder in deren +Nähe fließen. Rings um dieses Wasser ist das Gezweige so dicht, daß +man keinen Stein und kaum einen Uferrand sehen kann, sondern die +Zweige aus dem Wasser zu ragen scheinen. Die Bäume, die da stehen, +sind eines Teils Nadelholz, das mit seinem Ernste sich in die +Heiterkeit mischt, die auf den Ästen, Blättern und Wipfeln der +Laubbäume ruht, die den vorherrschenden Teil bilden. Vorzugsweise ist +die Erle, der Ahorn, die Buche, die Birke und die Esche vorhanden. +Zwischen den Stämmen ist reichliches Wuchergestrippe. Der Bach in der +Erlenwiese meines Gastfreundes verdankt dem See sein Dasein; aber +da dieser aus Quellzuflüssen lebt, so ist der ausfließende Bach +oft so trocken, daß man, ohne sich die Sohle zu netzen, über seine +hervorragenden Steine gehen kann. Wo er aus dem See geht, ist eine +kleine Hütte erbaut, die den Hauptzweck hat, daß die, welche in dem +See sich baden wollen, in ihr sich entkleiden können. Der Seegrund +geht mit seinen schönen Kieseln so sachte in die Tiefe, daß man +ziemlich weit vorwärts gehen und das wallende Wasser genießen kann +ohne den Grund zu verlieren. Auch zum Lernen des Schwimmens ist dieser +Teil sehr geeignet, weil man an allen Stellen Grund findet und sich +unbefangener den Übungen hingeben kann. Weiter draußen beginnt das +Gebiet derer, die ihrer Arme und ihrer Bewegungen schon vollständig +Herr sind. Gustav ging an Sommertagen fast jeden zweiten Tag mit +Eustach oder mit jemand anderm oder zuweilen auch mit meinem +Gastfreunde zu dem See hinaus, um in demselben zu schwimmen. Diese +Tätigkeit, so wie die andern Körperbewegungen und Übungen, die für +ihn in dem Rosenhause angeordnet waren, schienen ihm viele Freude zu +machen. Mein Gastfreund hielt auf körperliche Übungen sehr viel, da +sie zur Entwicklung und Gesundheit unumgänglich notwendig seien. Er +lobte diese Übungen sehr an den Griechen und Römern, welche beiden +Völker er auf eine hervorragende Weise ehrte. Das liege auf der Hand, +pflegte er zu sagen, daß, so wie die Krankheit des Körpers den Geist +zu etwas anderem mache, als er in der Gesundheit des Körpers ist, ein +kräftiger und in hohem Maße entwickelter Körper die Grundlage zu allem +dem abgebe, was tüchtig und herzhaft heißt. Bei den alten Römern ist +ein großer Teil ihrer Erfolge in der Geschichte und ihres früheren +Glückes in der Pflege und Entwicklung ihres Körpers zu suchen. Ihr +Glück dauerte auch nur so lange, als die vernünftige Pflege ihrer +Leibesübungen dauerte. In neuen Schulen vernachlässige man diese +Pflege zu sehr, die bei uns um so notwendiger wäre, als sich durch +das Zusammengehäuftsein in dunstigen und heißen Stuben ohnehin Übel +erzeugen, die dem Aufenthalte in freier Luft fremd sind. Darum werden +auch die Geisteskräfte von Schülern der neuen Zeit nicht entwickelt +wie sie sollten und wie sie es bei Kindern, die in Wald und Feldern +schweifen, freilich auf Kosten ihres höheren Wesens, wirklich sind. +Daher stamme ein Teil der Schalheit und Trägheit unserer Zeiten. Ich +ging mit Gustav jetzt, da ich viele Muße hatte, sehr fleißig zu dem +Wäldchen, und da ich in der Kunst des Schwimmens eine große Fertigkeit +hatte, so sah er an mir ein Vorbild, dem er nachstreben konnte, und +lernte Gelenkigkeit und Ausdauer mehr, als er es ohne mich gekonnt +hätte. + +Überhaupt gewann Gustav eine immer größere Neigung zu mir. Es mochte, +wie ich mir schon früher gedacht hatte, zuerst der Umstand eingewirkt +haben, daß ich ihm an Alter nicht so sehr ferne stand. Dazu mochte +sich gesellt haben, daß ich, der ich eigentlich sehr einsam und +abgeschlossen erzogen worden war, viel tiefer in spätere Jahre hinein +die Merkmale der Kindheit bewahrt haben mochte als andere Leute, +die gleichen Alters mit mir waren, und zuletzt konnte jetzt +auch das wirken, daß ich bei meiner Geschäftlosigkeit viel +mehr Berührungspunkte mit ihm fand, als es bei meinen früheren +Anwesenheiten in dem Rosenhause der Fall gewesen war. + +Ich schrieb nun auf dem Asperhofe mehr Briefe als sonst, ich las in +Dichtern, betrachtete alles um mich herum, schweifte oft weit in die +Gegend hinaus; aber diese Lebensweise wurde mir bald beschwerlich, und +ich suchte etwas hervor, was mich tiefer beschäftigte. Die Dichter als +das Edelste, was mir jetzt begegnete, riefen wieder das Malen hervor. +Ich richtete meine Zeichnungsgeräte und meine Vorrichtungen zur +Malerei in den Stand und begann wieder meine Übungen im Malen der +Landschaft. Ich malte je nach der Laune bald ein Stück Himmel, bald +eine Wolke, bald einen Baum oder Gruppen von Bäumen, entfernte Berge, +Getreidehügel und dergleichen. Auch schloß ich menschliche Gestalten +nicht aus und versuchte Teile derselben. Ich versuchte das Antlitz +des Gärtners Simon und das seiner Gattin auf die Leinwand zu bringen. +Die beiden Leute hatten eine große Freude über das Ding, und ich gab +ihnen die Bilder in ihre Stube, nachdem ich vorher nette Rahmen dazu +bestellt und in der Zeit, bis sie eintrafen, mir Abbilder von den +Köpfen für meine eigene Mappe gemacht hatte. Ich malte die Hände oder +Büsten verschiedener Leute, die sich in dem Rosenhause oder in dem +Meierhofe befanden. Meinen Gastfreund oder Eustach oder Gustav zu +bitten, daß sie mir als Gegenstand meiner Kunstbestrebungen dienen +sollten, hatte ich nicht den Mut, weil die Erfolge noch gar zu +unbedeutend waren. + + +Gustav nahm unter allen den größten Anteil an diesen Dingen. So wie er +im vorigen Jahre Geräte mit mir gemalt hatte, versuchte er es heuer +auch mit den Landschaften. Sein Ziehvater und sein Zeichnungslehrer +hatten nichts dagegen, da nur freie Stunden zu diesen Beschäftigungen +verwendet wurden, da seine Körperübungen nicht darunter zu leiden +hatten und da sich dadurch das Band zwischen mir und ihm noch mehr +befestigte, was mein Gastfreund nicht ungern zu sehen schien, da +doch zuletzt der Jüngling niemanden hatte, an wen er das Gefühl der +Freundschaft leiten sollte, das in seinen Jahren so gerne erwacht und +das sich in sanftem Zuge an einen Gegenstand richtet. Da unter seiner +Hand ein Baum, ein Stein, ein Berg, ein Wässerchen in lieblichen +Farben hervorging, hatte er eine unaussprechliche Freude. Bei Eustach +hatte er nur größtenteils Bau- und Gerätezeichnungen gesehen, und +Roland hatte auch nur Ähnliches von seinen Reisen zurück gebracht. Was +von Landschaften in der Gemäldesammlung seines Ziehvaters hing, auf +denen er wohl grüne Bäume, weiße Wolken, blaue Berge beobachten +konnte, hatte er nie um seine Entstehung angeschaut, sondern die Dinge +waren da, wie auch andere Dinge da sind, das Haus, der Getreidehügel, +der Berg, der ferne Kirchturm, und er hatte nicht daran gedacht, daß +auch er solche Gegenstände hervorzubringen vermochte. Er redete auf +Spaziergängen davon, wie dieser Baum sich baue, wie jener Berg sich +runde, und er erzählte mir, daß ihm oft von dem Zeichnen lebhaft +träume. + +Man ließ den Jüngling auch auf größere Entfernungen von dem Rosenhause +mit mir gehen. Seine Arbeiten wurden dabei so eingerichtet, daß, +wenn sie auch unterbrochen werden mußten, ein wesentlicher Schaden +sich nicht einstellen konnte. Dafür gewann er an Gesundheit und +körperlicher Abhärtung bedeutend. Wir waren nicht selten mehrere Tage +abwesend, und Gustav vergnügte es sehr, wenn wir Abends nach unserem +leichten Mahle in einem Gasthause in unser Zimmer gingen, wenn er +durch die Fenster auf eine fremde Landschaft hinausschauen konnte, +wenn er sein Ränzlein und seine Reisesachen auf dem Tische zurecht +richten und dann die ermüdeten Glieder auf dem Gastbette ausstrecken +durfte. Wir bestiegen hohe Berge, wir gingen an Felswänden hin, wir +begleiteten den Lauf rauschender Bäche und schifften über Seen. + +Er wurde stark, und das zeigte sich sichtbar, wenn wir von einer +Gebirgswanderung - denn fast immer gingen wir in das Gebirge - +zurückkehrten, wenn seine Wangen gebräunt waren, als wollten +sie beinahe schwarz werden, wenn seine Locken die dunkle Stirne +beschatteten und die großen Augen lebhaft aus dem Angesichte hervor +leuchteten. Ich weiß nicht, welcher innere Zug von Neigung mich zu dem +Jünglinge hinwendete, der in seinem Geiste zuletzt doch nur ein Knabe +war, den ich über die einfachsten Dinge täglicher Erfahrung belehren +mußte, namentlich, wenn es Wanderungsangelegenheiten waren, und der +mir in seiner Seele nichts bieten konnte, wodurch ich erweitert und +gehoben werden mußte, es müßte nur das Bild der vollkommensten Güte +und Reinheit gewesen sein, das ich täglich mehr an ihm sehen, lieben +und verehren konnte. + +Ich ging auch einige Male zu dem Lautersee. Ich hatte im vorigen Jahre +angefangen, seine Tiefe an verschiedenen Stellen zu messen, um ein +Bild darzustellen, in welchem sich die Berge, die den See umstanden, +sichtbar auch unter der Wasserfläche fortsetzten und nur durch einen +tieferen Ton gedämpft waren. Der Reiz, den diese Aufnahme herbei +geführt hatte, stellte sich wieder ein, und ich setzte die Messungen +nach einem Plane fort, um die Talsohle des Sees immer richtiger zu +ergründen und das Bild einer größeren Sicherstellung entgegen zu +führen. Gustav begleitete mich mehrere Male und arbeitete mit den +Männern, die ich gedungen hatte, das Schiff zu lenken, die Schnüre +auszuwerfen, die Kloben zu richten, an denen sich die Senkgewichte +abwickelten, oder andere Dinge zu tun, die sich als notwendig +erwiesen. + +Besondere Freude machte es mir, daß ich nach und nach die Feinheiten +des menschlichen Angesichtes immer besser behandeln lernte, besonders, +was mir früher so schwer war, wenn der leichte Duft der Farbe über die +Wangen schöner Mädchen ging, die sich sanft rundeten, schier keine +Abwechslung zeigten und doch so mannigfaltig waren. Mir waren die +Versuche am angenehmsten, das Liebliche, Sittige, Schelmische, das +sich an manchen jungen Land- oder Gebirgsmädchen darstellte, auf der +Leinwand nachzuahmen. + + +Eines Abends, da Blitze fast um den ganzen Gesichtskreis leuchteten +und ich von dem Garten gegen das Haus ging, fand ich die Tür, welche +zu dem Gange des Amonitenmarmors, zu der breiten Marmortreppe und zu +dem Marmorsaale führte, offen stehen. Ein Arbeiter, der in der Nähe +war, sagte mir, daß wahrscheinlich der Herr durch die Tür hinein +gegangen sei, daß er sich vermutlich in dem steinernen Saale befinden +werde, in welchen er gerne gehe, wenn Gewitter am Himmel ständen, und +daß die Tür vielleicht offen geblieben sei, damit Gustav, wenn er +käme, auch hinaufgehen könnte. Ich blickte in den Marmorgang, sah +hinter der Schwelle mehrere Paare von Filzschuhen stehen und beschloß, +auch in den steinernen Saal hinauf zu gehen, um meinen Gastfreund +aufzusuchen. Ich legte ein Paar von passenden Filzschuhen an und ging +den Gang des Amonitenmarmors entlang. Ich kam zu der Marmortreppe +und stieg langsam auf ihr empor. Es war heute kein Tuchstreifen über +sie gelegt, sie stand in ihrem ganzen feinen Glanze da und erhellte +sich noch mehr, wenn ein Blitz durch den Himmel ging und von der +Glasbedachung, die über der Treppe war, hereingeleitet wurde. So +gelangte ich bis in die Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung +und Erweiterung, gleichsam wie in einer Halle, nicht weit von der +Wand die Bildsäule von weißem Marmor steht. Es war noch so licht, daß +man alle Gegenstände in klaren Linien und deutlichen Schatten sehen +konnte. Ich blickte auf die Bildsäule, und sie kam mir heute ganz +anders vor. Die Mädchengestalt stand in so schöner Bildung, wie sie +ein Künstler ersinnen, wie sie sich eine Einbildungskraft vorstellen +oder wie sie ein sehr tiefes Herz ahnen kann, auf dem niedern Sockel +vor mir, welcher eher eine Stufe schien, auf die sie gestiegen war, um +herumblicken zu können. ich vermochte nun nicht weiter zu gehen und +richtete meine Augen genauer auf die Gestalt. Sie schien mir von +heidnischer Bildung zu sein. Das Haupt stand auf dem Nacken, als +blühete es auf demselben. Dieser war ein wenig, aber kaum merklich +vorwärts gebogen, und auf ihm lag das eigentümliche Licht, das nur der +Marmor hat und das das dicke Glas des Treppendaches hereinsendete. Der +Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den Nacken niederging, +schnitt diesen mit einem flüchtigen Schatten, der das Licht noch +lieblicher machte. Die Stirne war rein, und es ist begreiflich, daß +man nur aus Marmor so etwas machen kann. Ich habe nicht gewußt, daß +eine menschliche Stirne so schön ist. Sie schien mir unschuldvoll zu +sein und doch der Sitz von erhabenen Gedanken. Unter diesem Throne war +die klare Wange ruhig und ernst, dann der Mund, so feingebildet, als +sollte er verständige Worte sagen oder schöne Lieder singen, und +als sollte er doch so gütig sein. Das Ganze schloß das Kinn wie ein +ruhiges Maß. Daß sich die Gestalt nicht regte, schien bloß in dem +strengen, bedeutungsvollen Himmel zu liegen, der mit den fernen +stehenden Gewittern über das Glasdach gespannt war und zur Betrachtung +einlud. Edle Schatten wie schöne Hauche hoben den sanften Glanz der +Brust, und dann waren Gewänder bis an die Knöchel hinunter. Ich dachte +es sei Nausikae, wie sie an der Pforte des goldenen Saales stand und +zu Odysseus die Worte sagte: »Fremdling, wenn du in dein Land kömmst, +so gedenke meiner.« Der eine Arm war gesenkt und hielt in den Fingern +ein kleines Stäbchen, der andere war in der Gewandung zum Teile +verhüllt, die er ein wenig emporhob. Das Kleid war eher eine schön +geschlungene Hülle als ein nach einem gebräuchlichen Schnitte +verfertigtes. Es erzählte von der reinen, geschlossenen Gestalt und +war so stofflich treu, daß man meinte, man könne es falten und in +einen Schrein verpacken. Die einfache Wand des grauen Amonitenmarmors +hob die weiße Gestalt noch schärfer ab und stellte sie freier. Wenn +ein Blitz geschah, floß ein rosenrotes Licht an ihr hernieder, und +dann war wieder die frühere Farbe da. Mir dünkte es gut, daß man diese +Gestalt nicht in ein Zimmer gestellt hatte, in welchem Fenster sind, +durch die alltägliche Gegenstände herein schauen und durch die +verworrene Lichter einströmen, sondern daß man sie in einen Raum getan +hat, der ihr allein gehört, der sein Licht von oben bekömmt und sie +mit einer dämmerigen Halle wie mit einem Tempel umfängt. Auch durfte +der Raum nicht einer des täglichen Gebrauchs sein, und es war sehr +geeignet, daß die Wände rings herum mit einem kostbaren Steine +bekleidet sind. Ich hatte eine Empfindung, als ob ich bei einem +lebenden schweigenden Wesen stände, und hatte fast einen Schauer, als +ob sich das Mädchen in jedem Augenblicke regen würde. Ich blickte die +Gestalt an und sah mehrere Male die rötlichen Blitze und die graulich +weiße Farbe auf ihr wechseln. Da ich lange geschaut hatte, ging +ich weiter. Wenn es möglich wäre, mit Filzschuhen noch leichter +aufzutreten als es ohnehin stets geschehen muß, so hätte ich es getan. +Ich ging mit dem lautlosen Tritte langsam über die glänzenden Stufen +des Marmors bis zu dem steinernen Saale hinan. Seine Tür war halb +geöffnet. Ich trat hinein. + +Mein Gastfreund war wirklich in demselben. Er ging in leichten Schuhen +mit Sohlen, die noch weicher als Filz waren, auf dem geglätteten +Pflaster auf und nieder. + +Da er mich kommen sah, ging er auf mich zu und blieb vor mir stehen. + +»Ich habe die Tür zu dem Marmorgange offen gesehen«, sagte ich, »man +hat mir berichtet, daß ihr hier oben sein könntet, und da bin ich +herauf gegangen, euch zu suchen.« + +»Daran habt ihr recht getan«, erwiderte er. + +»Warum habt ihr mir denn nicht gesagt«, sprach ich weiter, »daß die +Bildsäule, welche auf eurer Marmortreppe steht, so schön ist?« + +»Wer hat es euch denn jetzt gesagt?« fragte er. + +»Ich habe es selber gesehen«, antwortete ich. + +»Nun dann werdet ihr es um so sicherer wissen und mit desto größerer +Festigkeit glauben«, erwiderte er, »als wenn euch jemand eine +Behauptung darüber gesagt hätte.« + +»Ich habe nehmlich den Glauben, daß das Bildwerk sehr schön sei«, +antwortete ich, mich verbessernd. + +»Ich teile mit euch den Glauben, daß das Werk von großer Bedeutung +sei«, sagte er. + +»Und warum habt ihr denn nie zu mir darüber gesprochen?« fragte ich. + +»Weil ich dachte, daß ihr es nach einer bestimmten Zeit selber +betrachten und für schön erachten werdet«, antwortete er. + +»Wenn ihr mir es früher gesagt hättet, so hätte ich es früher gewußt«, +erwiderte ich. + +»Jemandem sagen, daß etwas schön sei«, antwortete er, »heißt nicht +immer, jemandem den Besitz der Schönheit geben. Er kann in vielen +Fällen bloß glauben. Gewiß aber verkümmert man dadurch demjenigen das +Besitzen des Schönen, der ohnehin aus eigenem Antriebe darauf gekommen +wäre. Dies setzte ich bei euch voraus, und darum wartete ich sehr +gerne auf euch.« + +»Aber was müßt ihr denn die Zeit her über mich gedacht haben, daß ich +diese Bildsäule sehen konnte und über sie geschwiegen habe?« fragte +ich. + +»Ich habe gedacht, daß ihr wahrhaftig seid«, sagte er, »und ich habe +euch höher geachtet als die, welche ohne Überzeugung von dem Werke +reden, oder als die, welche es darum loben, weil sie hören, daß es von +Andern gelobt wird.« + +»Und wo habt ihr denn das herrliche Bildwerk hergenommen?« fragte ich. + +»Es stammt aus dem alten Griechenlande«, antwortete er, »und seine +Geschichte ist sonderbar. Es stand viele Jahre in einer Bretterbude +bei Cumä in Italien. Sein unterer Teil war mit Holz verbaut, weil man +den Platz, an dem es stand, und der teils offen, teils gedeckt war, zu +häufigem Ballschlagen verwendete, und die Bälle nicht selten in die +Bude der Gestalt flogen. Deshalb legte man von der Brust abwärts einen +dachartigen Schutz an, der die Bälle geschickt herab rollen machte und +über den sich die Gestalt wie eine Büste darstellte. Es waren in dem +Raume, teils an den Bretterbuden, teils an Mauerstücken, aus denen +er bestand, noch andere Gestalten angebracht, ein kleiner Herkules, +mehrere Köpfe und ein altertümlicher Stier von etwa drei Fuß Höhe; +denn der Platz wurde auch zu Tänzen benutzt und war an den Stellen, +die keine Wand hatten, mit Schlinggewächsen und Trauben begrenzt, an +andern war er offen und blickte über Myrten, Lorbeer, Eichen auf die +blauen Berge und den heiteren Himmel dieses Landes hinaus. Gedeckt +waren nur Teile des Raumes, besonders dort, wo die Gestalten standen. +Diese hatten Dächer über sich wie die niedlichen Täfelchen, welche +italienische Mädchen auf dem Kopfe tragen. Im Übrigen war die +Bedeckung das Gezelt des Himmels. Mich brachte ein günstiger Zufall +nach Cumä, und zu diesem Ballplatze, auf dem sich eben junges Volk +belustigte. Gegen Abend, da sie nach Hause gegangen waren, besichtigte +ich das Mauerwerk, welches aus Resten alter Kunstbauten bestand, und +die Gestalten, welche sämmtlich aus Gips waren, wie sie in Italien +so häufig alten edlen Kunstwerken nachgebildet werden. Den Herkules +kannte ich insbesondere sehr gut, nur war er hier viel kleiner +gebildet. Die Büste des Mädchens - für eine solche hielt ich die +Gestalt - war mir unbekannt; allein sie gefiel mir sehr. Da ich +mich über die reizende Lage dieses Plätzchens aussprach, sagte die +Besitzerin, eine wahrhaftige altrömische Sibylle, es werde hier in +Kurzem noch viel schöner werden. Ihr Sohn, der sich durch Handel Geld +erworben, werde den Platz in einen Saal mit Säulen verwandeln, es +werden Tische herum stehen, und es werden vornehme Fremde kommen, sich +hier zu ergötzen. Die Gestalten müssen weg, weil sie ungleich seien +und weil Menschen und Tiere unter einander stehen, ihr Sohn habe schon +die schönsten Gipsarbeiten bestellt, die alle gleich groß wären. +Sie führte mich zu dem Mädchen und zeigte mir durch eine Spalte der +Bretter, daß dasselbe in ganzer Gestalt da stehe und also die andern +Dinge weit überrage. Man habe darum an dem oberen Rande der Balken, +mit denen die Gestalt umbaut ist, einen hölzernen, bemalten Sockel +angebracht, von dem der Oberleib wie eine Büste herab schaue. Dadurch +sei die Sache wieder zu den anderen gestimmt worden. Ich fragte, wann +ihr Sohn hieherkomme und wann das Umbauen beginnen würde. Da sie mir +das gesagt hatte, entfernte ich mich. Zur Zeit des mir von der Alten +angegebenen Beginnes des Umbaues fand ich mich auf dem Platze wieder +ein. Ich traf den Sohn der Wittwe - eine solche war sie - hier an, und +der Bau hatte schon begonnen. Die alten reizenden Mauerstücke waren +zum Teile abgetragen, und ihre Stoffe waren geschichtet, um zu dem +neuen Baue verwendet zu werden. Die Schlinggewächse und Reben waren +ausgerottet, die Gesträuche vor dem Platze vernichtet, und man ebnete +ihre Stelle, um dort Rosen anzulegen. Auf der Südseite baute man schon +die Sockelmauern, auf welche die Säulen von Ziegeln zu stehen kommen +sollten. Die Gestalt des Mädchens, von der man die Balkenverhüllung +weggenommen hatte, lag in einer Hütte, welche größtenteils Baugeräte +enthielt. Neben ihr lagen der Herkules, der Stier und die Köpfe, +die, wie ich jetzt sah, alte Römer darstellten. Mir gefiel nun auch +die früher nicht gesehene übrige Gestalt des Mädchens, die nicht +wesentlich verletzt war, außerordentlich, und ich erhandelte sie, da +die Dinge zum Zwecke des Verkaufes in der Bretterhütte lagen. Aber +der Verkäufer sagte, er gebe von der Sammlung nichts einzeln weg, +und ich mußte den Stier, den Herkules und die Köpfe mit kaufen. Der +Kaufschilling war nicht geringe, da mein Gegenmann die Schönheit der +Gestalt recht gut kannte und sie geltend machte; aber ich fügte mich. +Ich ließ Kisten machen, um die Dinge fortzuschaffen. Den Stier, den +Herkules und die Köpfe verkaufte ich in Italien um ein Geringes, die +Mädchengestalt sendete ich wohlverpackt, daß der Gips nicht leide, an +meinen damaligen Aufenthaltsort; ich kann euch den Namen jetzt nicht +nennen, es war ein kleines Städtchen an dem Gebirge. Mir fiel schon +damals auf, daß das Fahrgeld für die Gestalt sehr hoch sei und daß +man sich über ihr Gewicht beklagt habe; allein ich hielt es für +italienische List, um von mir, dem Fremden, etwas mehr heraus zu +pressen. Als ich aber nach Deutschland zurückgekehrt war und als eines +Tages die Gipsgestalt, für deren gute Verpackung und Überbringung ich +durch mir wohlbekannte Versendungsvermittler gesorgt hatte, in dem +Asperhofe ankam, überzeugte ich mich selber von dem ungemeinen +Gewichte der Last. Da der Bretterverschlag, in welchem sich die +Gestalt befand, nicht so schwer sein konnte, so entstand in mir und +Eustach, der damals schon in dem Asperhofe war, der Gedanke, die +Gestalt möchte etwa naß geworden sein und durch die Nässe gelitten +haben. Wir ließen das Standbild in die hölzerne Hütte schaffen, welche +ich teils zu seinem Empfange, teils zur Reinigung von den vielen +Schmutzflecken, die es an seinem früheren Standorte erhalten hatte, +vor dem Eingange in den Garten hatte aufbauen lassen. Da es dort von +den Brettern und von allen seinen andern Hüllen befreit worden war, +sahen wir, daß sich unsere Furcht nicht bestätigte. Die Gestalt war so +trocken, wie Gips nur überhaupt zu sein vermag. Wir setzten nach und +nach die Vorrichtungen in Gebrauch, durch die wir die Gestalt in die +Nähe der Glaswand der Hütte auf eine drehbare Scheibe stellen konnten, +um sie nach Bequemlichkeit betrachten und reinigen zu können. Da sie +auf der Scheibe stand und wir uns von der Sicherheit ihres Standes +überzeugt hatten, gingen wir zu ihrer Betrachtung über. Eustach war +über ihre Schönheit entzückt und machte mich auf Manches aufmerksam, +was mir auf dem Tanz- und Ballplatze bei Cumä und später in der +Bauhütte entgangen war. Freilich stand die Gestalt jetzt viel +vorteilhafter, da durch die reinen Scheiben der Glaswand das klare +Licht auf sie fiel und alle Schwingungen und Schwellungen der +Gestaltung deutlich machte. Da wir die Überzeugung gewonnen hatten, +daß ein edles Werk in das Haus gekommen sei, beschlossen wir, sofort +zu dessen Reinigung zu schreiten. Wir nahmen uns vor, dort, wo der +Schmutz nur locker auf der Oberfläche liege und dem reinen Wasser und +dem Pinsel weiche, auch nur Wasser und den Pinsel anzuwenden. Leichtes +Übertünchen und sanftes Glätten würde die letzte Nachhülfe geben. Für +tiefer gehende Verunreinigung wurde die Anwendung des Messers und der +Feile beschlossen; nur sollte die äußerste Vorsicht beobachtet und +lieber eine kleine Verunreinigung gelassen werden, als daß eine +sichtbare Umgestaltung des Stoffes vorgenommen würde. Eustach machte +in meiner Gegenwart Versuche, und ich billigte sein Verfahren. Es +wurde nun sogleich ans Werk geschritten und die Arbeit in der nächsten +Zeit fortgesetzt. Eines Tages kam Eustach zu mir herauf und sagte, er +müsse mich auf einen sonderbaren Umstand aufmerksam machen. Er sei auf +dem Schulterblatte mit dem feinen Messer auf einen Stoff gestoßen, der +nicht das Taube des Gipses habe, sondern das Messer gleiten mache und +etwas wie die Ahnung eines Klanges merken lasse. Wenn die Sache nicht +so unwahrscheinlich wäre, würde er sagen, daß der Stoff Marmor sei. +Ich ging mit ihm in die Bretterhütte hinab. Er zeigte mir die Stelle. +Es war ein Platz, mit dem die Gestalt häufig, wenn sie gelegt wurde, +auf den Boden kam und der daher durch diesen Umstand und zum Teile +durch Versendungen, denen die Gestalt ausgesetzt gewesen sein mochte, +mehr abgenutzt war als andere. Ich ließ das Messer auf dieser Stelle +gleiten, ich ließ es an ihr erklingen, und auch ich hatte das Gefühl, +daß es Marmor sei, was ich eben behandle. Weil der Platz, an dem die +Versuche gemacht wurden, doch zu augenfällig war, um weiter gehen +zu können und ihn etwa zu verunstalten, so beschlossen wir an einem +unscheinbareren einen neuen Versuch zu machen. In der Ferse des +linken Fußes fehlte ein kleines Stückchen, dort mußte jedenfalls Gips +eingesetzt werden, dort beschlossen wir zu forschen. Wir drehten die +Gestalt mit ihrer Scheibe in eine Lage, in welcher das helle Licht auf +die Lücke an der Ferse fiel. Es zeigte sich, daß neben der kleinen +Vertiefung noch ein Stückchen Gips ledig sei und bei der leisesten +Berührung herab fallen müsse. Wir setzten das Messer an, das Stück +sprang weg, und es zeigte sich auf dem Grunde, der bloß wurde, ein +Stoff, der nicht Gips war. Das Auge sagte, es sei Marmor. Ich holte +ein Vergrößerungsglas, wir leiteten durch Spiegel ein schimmerndes +Licht auf die Stelle, ich schaute durch das Glas auf sie, und mir +funkelten die feinen Kristalle des weißen Marmors entgegen. Eustach +sah ebenfalls durch die Linse, wir versuchten an dem Platze noch +andere Mittel, und es stellte sich fest, daß die untersuchte +Fläche Marmor sei. Nun begannen wir, um das Unglaubliche völlig zu +beweisen oder unsere Meinung zu widerlegen, auch an andern Stellen +Untersuchungen. Wir fingen an Stellen an, welche ohnehin ein wenig +schadhaft waren und gingen nach und nach zu anderen über. Wir +beobachteten zuletzt gar nicht mehr so genau die Vorsichten, die wir +uns am Anfange auferlegt hatten, und kamen zu dem Ergebnisse, daß an +zahlreichen Stellen unter dem Gipse der Gestalt weißer Marmor sei. +Der Schluß war nun erklärlich, daß an allen Stellen, auch den nicht +untersuchten, der Gips über Marmor liege. Das große Gewicht der +Gestalt war nicht der letzte Grund unserer Vermutung. Durch welchen +Zufall oder durch welch seltsames Beginnen die Marmorgestalt +mit Gips könne überzogen worden sein, war uns unerklärlich. Am +wahrscheinlichsten däuchte uns, daß es einmal irgend ein Besitzer +getan habe, damit ein fremder Feind, der etwa seine Wohnstadt und ihre +Kunstwerke bedrohte, die Gestalt, als aus wertlosem Stoffe bestehend, +nicht mit sich fort nehme. Weil nun doch der Feind die Gestalt +genommen habe oder weil ein anderer hindernder Umstand eingetreten +sei, habe die Decke nicht mehr weggenommen werden können, und der +edle Kern habe undenkbar lange Jahre in der schlechten Hülle stecken +müssen. Wir fingen nun auf dem Wirbel des Hauptes an, den Gips nach +und nach zu beseitigen. Teils, und zwar im Roheren, geschah es mit +dem Messer, teils, und zwar gegen das Ende, wurden Pinsel und das +auflösende Mittel des Wassers angewendet. Wir rückten so von dem +Haupte über die Gestalt hinunter, und alles und jedes war Marmor. +Durch den Gips war der Marmor vor den Unbilden folgender Zeiten +geschützt worden, daß er nicht das trübe Wasser der Erde oder sonstige +Unreinigkeiten einsaugen mußte, und er war reiner als ich je Marmor +aus der alten Zeit gesehen habe, ja er war so weiß, als sei die +Gestalt vor nicht gar langer Zeit erst gemacht worden. Da aller Gips +beseitigt war, wurde die Oberfläche, welche doch durch die feinsten +zurückgebliebenen Teile des Überzuges rauh war, durch weiche, wollene +Tücher so lange geglättet, bis sich der glänzende Marmor zeigte und +durch Licht und Schatten die feinste und zartest empfundene Schwingung +sichtbar wurde. Jetzt war die Gestalt erst noch viel schöner als +sie sich in Gips dargestellt hatte, und Eustach und ich waren von +Bewunderung ergriffen. Daß sie nicht aus neuer Zeit stamme, sondern +dem alten Volke der Griechen angehöre, erkannten wir bald. Ich hatte +so viele und darunter die als die schönsten gepriesenen Bildwerke der +alten Heidenzeit gesehen und vermochte daher zwischen ihren und den +Arbeiten des Mittelalters oder der neuen Zeit zu vergleichen. Ich +hatte alle Abbildungen, welche von den Bildwerken der alten Zeit +zu bekommen waren, in den Asperhof gebracht, so daß ich neuerdings +Vergleichungen anstellen konnte, und daß auch Eustach, welcher +nicht so viel in Wirklichkeit gesehen hatte, ein Urteil zu gewinnen +vermochte. Nur nach sehr langen und sehr genauen Untersuchungen gaben +wir uns mit Festigkeit dem Gedanken hin, daß das Standbild aus der +alten Griechenzeit herrühre. Wir lernten bei diesen Untersuchungen, +zu deren größerer Sicherstellung wir sogar Reisen unternahmen, die +Merkmale der alten und neuen Bildwerke so weit kennen, daß wir die +Überzeugung gewannen, die besten Werke beider Zeiten gleich bei der +ersten Betrachtung von einander unterscheiden zu können. Das Schlechte +ist freilich schwerer in Hinsicht seiner Zeit zu ermitteln. Merkwürdig +ist es, daß völlig Wertloses aus der alten Zeit gar nicht auf +uns gekommen ist. Entweder ist es nicht entstanden oder eine +kunstbegeisterte Zeit hat es sogleich beseitigt. Wir haben in jener +Untersuchungszeit viel über alte Kunst gelernt. Von wem und aus +welchem Zeitabschnitte aber unser Standbild herrühre, konnten wir +nicht ermitteln. Das war jedoch gewiß, daß es nicht der strengen Zeit +angehöre und von der späteren, weicheren stamme. Ehe ich aber das +Bild aus der Hütte, in welcher es stand, entfernte, ja ehe ich an den +Platz dachte, auf welchen ich es stellen wollte, mußte etwas anderes +geschehen. Ich reiste nach Italien und suchte bei Cumä den Verkäufer +meines Standbildes auf. Er war mit den Umänderungen seines Platzes +beinahe fertig. Dieser war jetzt eine Halle neuer Art, in welcher +einige Menschen süßen roten Wein tranken, in welcher neue Gipsbilder +standen, um welche grüner Rasen war und aus welcher man eine schöne +Aussicht hatte. Ich erzählte ihm von der Entdeckung, welche ich +gemacht hatte und sagte, er möge nun nach derselben den Preis des +Bildes bestimmen. Er könnte es zu diesem Zwecke selber in Deutschland +besehen oder es besehen lassen. Er fand Beides nicht für nötig, +sondern forderte sogleich eine ansehnliche Summe, die den Wert eines +solchen Gegenstandes, deren Preise in den verschiedenen Zeiten sehr +wechseln, darstellen mochte. Ich war damals schon in den Besitz meiner +größeren Habe gekommen, die mir durch eine Erbschaft zugefallen war, +und zeigte mich bereit, die Summe zu erlegen, nur möchte ich mich über +das Herkommen des Standbildes noch näher unterrichten und mir die +Gewißheit über das Recht verschaffen, das mein Vormann bei so +veränderter Sachlage über das Bild habe. Meine Forschungen führten zu +nichts weiter, als daß das Bild seit vielen Menschenaltern schon in +dem Besitze der Familie sei, von welcher ich es habe, daß einmal +Überreste eines alten Gebäudes hier gewesen wären, daß man das Gebäude +nach und nach abgebrochen habe, daß man aus Wasserbecken, niederen +Säulengittern und andern Dingen von weißem Steine Kalk gebrannt, und +daß man aus den Resten des Gebäudes und mit dem Kalke Häuser in den +Umgebungen gebaut habe. Es seien mehrere Standbilder bei den Trümmern +gewesen und seien verkauft worden. Für das weiße Mädchen mit dem Stabe +in der Hand habe man einmal einen Mantel aus Holz gemacht, darüber ist +ein Streit in Hinsicht der Zahlung entstanden, und die Schrift, welche +den Großvater des jetzigen Besitzers zur Zahlung verurteilte, ist mir +in dem Amte zur Einsicht und beglaubigten Abschrift gewiesen worden. +Nachdem ich mir noch einen Kaufvertrag über das Marmorbild von einem +Notar hatte verfassen lassen und mich mit einer gefertigten Abschrift +versehen hatte, erlegte ich die geforderte Summe und reiste wieder +nach Hause. Hier wurde beraten, wohin das nun mit allem Rechte mein +genannte Standbild kommen sollte. Es war nicht schwer, die Stelle +auszufinden. Ich hatte auf der Marmortreppe schon einen Absatz +errichtet, der einerseits die Treppe unterbrechen und ihr dadurch +Zierlichkeit verleihen und andrerseits dazu dienen sollte, daß einmal +ein Standbild auf ihm stehe und der Treppe den größten Schmuck +verleihe. Nachdem wir uns durch Messungen überzeugt hatten, daß die +Gestalt für den Platz nicht zu hoch sei, wurde der kleine Sockel +verfertigt, auf dem sie jetzt steht, es wurde eine Vorrichtung gebaut. +sie auf den Platz zu bringen, und sie wurde auf ihn gebracht. Wir +standen nun oft vor der Gestalt und betrachteten sie. Die Wirkung +wurde statt schwächer immer größer und nachhaltiger, und unter allen +Kunstgegenständen, die ich habe, ist mir dieser der liebste. Das ist +der hohe Wert der Kunstdenkmale der alten, heitern Griechenwelt, nicht +bloß der Denkmale der bildenden Kunst, die wir noch haben, sondern +auch der der Dichtung, daß sie in ihrer Einfachheit und Reinheit das +Gemüt erfüllen und es, wenn die Lebensjahre des Menschen nach und nach +fließen, nicht verlassen, sondern es mit Ruhe und Größe noch mehr +erweitern und mit Unscheinbarkeit und Gesetzmäßigkeit zu immer +größerer Bewunderung hinreißen. Dagegen ist in der Neuzeit oft ein +unruhiges Ringen nach Wirkung, das die Seele nicht gefangen nimmt, +sondern als ein Unwahres von sich stößt. Es sind manche Männer +gekommen, das Standbild zu betrachten, manche Freunde und Kenner der +alten Kunst, und der Erfolg ist fast immer derselbe gewesen, ein +Ernst der Anerkennung und der Würdigung. Wir, Eustach und ich, sind +in den Dingen der alten Kunst sehr hiedurch vorgeschritten, und +beide sind wir von der alten Kunst erst recht zur Erkenntnis der +mittelalterlichen gekommen. Wenn wir die unnachahmliche Reinheit, +Klarheit, Mannigfaltigkeit und Durchbildung der alten Gestaltungen +betrachtet hatten und zu denen des Mittelalters gingen, bei welchen +große Fehler in diesen Beziehungen walten, so sahen wir hier ein +Inneres, ein Gemüt voll Ungeziertheit, voll Glauben und voll +Innigkeit, das uns fast im Stammeln so rührt wie uns jenes dort im +vollendeten Ausdrucke erhobt. Über die Zeit der Entstehung unseres +Standbildes können wir auch jetzt noch nichts Festes behaupten, auch +nicht, ob es mit anderen aus dem Volke von Standbildern, das in Hellas +stand, nach Rom gekommen ist, oder ob es unter den Römern von einem +Griechen gefertigt worden ist, wie man es in jener Römerzeit, da +griechische Kunst mit nicht hinlänglichem Verständnisse über Italien +ausgebreitet wurde, in den Sitz eines Römers gebracht hat und wie es +auf ein ganz anderes, entferntes Geschlecht übergegangen ist.« + +Er schwieg nach diesen Worten, und ich sah den Mann an. Wir waren, +während er sprach, in dem Saale auf und nieder gegangen. Ich begriff, +warum er diesen Saal bei Abendgewittern aufsucht. Durch die hellen +Fenster schaut der ganze südliche Himmel herein, und auch Teile des +westlichen und des östlichen sind zu erblicken. Die ganze Kette der +hiesigen Alpen kann am Rande des Gesichtskreises gesehen werden. Wenn +nun ein Gewitter in jenem Raume entsteht - und am schönsten sind +Gewitterwände oder Gewitterberge, wenn sie sich über fernhinziehende +Gebirge lagern oder längs des Kammes derselben dahin gehen -, so kann +er dasselbe frei betrachten, und es breitet sich vor ihm aus. Zu dem +Ernste der Wolkenwände gesellt sich der Ernst der Wände von Marmor, +und daß in dem Saale gar keine Geräte sind, vermehrt noch die +Einsamkeit und Größe. Wenn nun vollends schon eine schwache +Abenddämmerung eingetreten ist, so zeigt die Oberfläche des Marmors +den Widerschein der Blitze, und während wir so auf und nieder gingen, +war einige Male der reine, kalte Marmor wie in eine Glut getaucht, und +nur die hölzernen Türen standen dunkel in dem Feuer oder zeigten ihre +düstere Fügung. + +Ich fragte meinen Gastfreund, ob er das Marmorstandbild schon lange +besitze. + +»Die Zahl der Jahre ist nicht sehr groß«, antwortete er, »ich kann +sie euch aber nicht genau angeben, weil ich sie nicht in meinem +Gedächtnisse behalten habe. Ich werde in meinen Büchern nachsehen und +werde euch morgen sagen, wie lange das Bild in meinem Hause steht.« + +»Ihr werdet wohl erlauben«, sagte ich, »daß ich die Gestalt öfter +ansehen darf und daß ich mir nach und nach einpräge und immer klarer +mache, warum sie denn so schön ist und welches die Merkmale sind, die +auf uns eine solche Wirkung machen.« + + +»Ihr dürft sie besehen, so oft ihr wollt«, antwortete er, »den +Schlüssel zu der Tür des Marmorganges gebe ich euch sehr gerne, oder +ihr könnt auch von dem Gange der Gastzimmer über die Marmortreppe +hinabgehen, nur müßt ihr sorgen, daß ihr immer Filzschuhe in +Bereitschaft habt, sie anzuziehen. Ich freue mich jetzt, daß ich den +Marmorgang und die Treppe so habe machen lassen, wie sie gemacht sind. +Ich habe damals schon immer daran gedacht, daß auf die Treppe ein Bild +von weißem Marmor wird gestellt werden, daß dann am besten das Licht +von oben darauf herabfällt und daß die umgebenden Wände so wie der +Boden eine dunklere, sanfte Farbe haben müssen. Das reine Weiß - in +der lichten Dämmerung der Treppe erscheint es fast als ganz rein - +steht sehr deutlich von der umgebenden tieferen Farbe ab. Was aber +die Merkmale anbelangt, an denen ihr die Schönheit erkennen wollt, so +werdet ihr keine finden. Das ist eben das Wesen der besten Werke der +alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der höchsten Kunst +überhaupt, daß man keine einzelnen Teile oder einzelne Absichten +findet, von denen man sagen kann, das ist das Schönste, sondern das +Ganze ist schön, von dem Ganzen möchte man sagen, es ist das Schönste; +die Teile sind bloß natürlich. Darin liegt auch die große Gewalt, die +solche Kunstwerke auf den ebenmäßig gebildeten Geist ausüben, eine +Gewalt, die in ihrer Wirkung bei einem Menschen, wenn er altert, +nicht abnimmt, sondern wächst, und darum ist es für den in der Kunst +Gebildeten so wie für den völlig Unbefangenen, wenn sein Gemüt nur +überhaupt dem Reize zugänglich ist, so leicht, solche Kunstwerke +zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beispieles für diese meine +Behauptung, welches sehr merkwürdig ist. Ich war einmal in einem +Saale von alten Standbildern, in welchem sich ein aus weißem Marmor +verfertigter, auf seinem Sitze zurückgesunkener und schlafender +Jüngling befand. Es kamen Landleute in den Saal, deren Tracht +schließen ließ, daß sie in einem sehr entfernten Teile des Landes +wohnten. Sie hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenschuhen lag +der Staub einer vielleicht erst heute Morgen vollbrachten Wanderung. +Als sie in die Nähe des Jünglings kamen, gingen sie behutsam auf den +Spitzen ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine so unmittelbare und tiefe +Anerkennung ist wohl selten einem Meister zu Teil geworden. Wer aber +in einer bestimmten Richtung befangen ist und nur die Schönheit, die +in ihr liegt, zu fassen und zu genießen versteht, oder wer sich in +einzelne Reize, die die neuen Werke bringen, hineingelebt hat, für +den ist es sehr schwer, solche Werke des Altertums zu verstehen, sie +erscheinen ihm meistens leer und langweilig. Ihr waret eigentlich auch +in diesem Falle. Wenngleich nicht von der neuen, nur bestimmte Seiten +gebenden Kunst gefangen, habt ihr doch Abbildungen von gewissen +Gegenständen, besonders denen eurer wissenschaftlichen Bestrebungen, +zu sehr und zu lange in einer Richtung gemacht, als daß euer Auge sich +nicht daran gewöhnt, euer Gemüt sich nicht dazu hingeneigt hätte und +ungefüger geworden wäre, etwas anderes mit gleicher Liebe aufzunehmen, +das in einer anderen Richtung lag, oder vielmehr, das sich in keiner +oder in allen Richtungen befand. Ich habe gar nie gezweifelt, daß ihr +zu dieser Allgemeinheit gelangen werdet, weil schöne Kräfte in euch +sind, die noch auf keinen Afterweg geleitet sind und nach Erfüllung +streben; aber ich habe nicht gedacht, daß dies so bald geschehen +werde, da ihr noch zu kraftvoll in dem auf seiner Stufe höchst +lobenswerten Streben nach dem Einzelnen begriffen waret. Ich habe +geglaubt, irgend ein großes, allgemeines menschliches Gefühl, das euch +ergreifen würde, würde euch auf den Standpunkt führen, auf dem ich +euch jetzt sehe.« + +Ich konnte eine geraume Zeit auf diese letzte Rede meines Gastfreundes +nichts antworten. Wir gingen schweigend in dem Saale auf und nieder, +und es war um so stiller, als unsere mit weichen Sohlen bekleideten +Füße nicht das geringste Geräusch auf dem glänzenden Fußboden machten. +Blitze zuckten zuweilen in den Spiegelflächen um und unter uns, der +Donner rollte gleichsam bei den offenen Fenstern herein und die +Wolken bauten sich in Gebirgen oder in Trümmern oder in luftigen +Länderstrecken durch den weiten Raum auf, den die Fenster des Saales +beherrschten. + +Ich sagte endlich, daß ich mich jetzt erinnere, wie mein Vater oft +geäußert habe, daß in schönen Kunstwerken Ruhe in Bewegung sein müsse. + +»Es ist ein gewöhnlicher Kunstausdruck«, entgegnete mein Gastfreund, +»allein es täte es auch ohne ihn. Man versteht gewöhnlich unter +Bewegung Bewegbarkeit. Bewegung kann die bildende Kunst, von der wir +hier eigentlich reden, gar nicht darstellen. Da die Kunst in der Regel +lebende Wesen, Menschen, Tiere, Pflanzen - und selbst die Landschaft +trotz der starrenden Berge ist mit ihren beweglichen Wolken und ihrem +Pflanzenschmucke dem Künstler ein Atmendes; denn sonst wird sie +ihm ein Erstarrendes - darstellt, so muß sie diese Gegenstände so +darstellen, daß es dem Beschauer erscheint, sie könnten sich im +nächsten Augenblicke bewegen. Ich will hier wieder aus dem Altertume +ein Beispiel anführen. Alle Stoffe, mit welchen Menschen sich +bekleiden, nehmen nach der Art der Bewegungen, denen sich verschiedene +Menschen gerne hingeben, verschiedene Gestaltungen an. Ein Freund von +mir erkannte einen alten wohlbekannten und trefflichen Schauspieler +einmal bei einer Gelegenheit, bei welcher er nur ein Stück des Rockes +des Schauspielers sehen konnte. Wenn nun die Gestaltungen der Stoffe, +die sich meistens in Falten kund geben, nach der Wirklichkeit +nachgebildet werden, nicht nach willkürlichen Zurechtlegungen, die man +nach herkömmlichen Schönheitsgesetzen an der Gliederpuppe macht, so +liegt in diesen nachgebildeten Gestaltungen zuerst eine bestimmte +Eigentümlichkeit und Einzelheit, die den Gegenstand sinnlich +hinstellt, und dann drückt die Gestaltung nicht bloß den Zustand aus, +in dem sie gegenwärtig ist, sondern sie weist auch auf den zurück, +der unmittelbar vorher war und von dem sich die Gebilde noch leise +vorfinden, und sie läßt zugleich den nächstkünftigen ahnen, zu dem die +Bildungen neigen. Dies ist es, was bei Gewandungen ganz vorzüglich +für das beschauende Auge den Begriff der Bewegung gibt und mithin +der Lebendigkeit. Dies ist es, da die Alten so gerne nach der Natur +arbeiteten, was sie dort, wo sie Gewänder anbringen, so meisterhaft +handhaben, daß der Spruch entstanden ist, sie stellten nicht nur dar, +was ist, sondern auch, was zunächst war und sein wird. Darum bilden +sie in der Gewandung nicht bloß die Hauptteile, sondern auch die +entsprechenden Unterabteilungen, und dies mit einer solchen Zartheit +und Genauigkeit, daß man auf den Stoff des Werkes vergißt und nur den +Stoff der Gewandung sieht und ihn zusammenlegen und in der Hand ballen +zu können vermeint. Solcher Bildung gegenüber legen manche Neuen +sogenannte edle Falten zurecht, bilden sie im Erze oder Marmor nach, +vermeiden hiebei in sorglichem Maße zu große Einzelheiten, um nicht +unruhig zu werden, und erzielen hiebei, daß man allerdings große, +edle Massen von Faltungen sieht, daß aber in der Falte der Stoff des +Werkes, nicht des Gewandes herrscht, daß man die marmorne, die erzene +Falte sieht, daß das Gemüt erkältet wird und daß man meint, der Mann, +der damit angetan ist, könne nicht gehen, weil ihn die erzene Falte +hindere. Wie es mit dem Gewande ist, ist es auch mit dem Leibe, +der das Gewand der Seele ist, und die Seele allein kann ja nur der +Gegenstand sein, welchen der Künstler durch das Bild und Gleichnis +des Leibes darstellt. Hier auch ließen sich die Alten von der +Natur leiten, und wenn sie Sünden begingen, die das Auge des +naturforschenden Zergliederers, strenge genommen, tadeln müßte, so +begingen sie keine, die das nicht so stofflich blickende Auge der +Kunst zu verdammen gezwungen wäre. Dafür zeigt die Schwingung der +Gliederflächen in ihren Teilen und Unterabteilungen eine solche +Ausbildung und Durchführung, daß die Zustände von jetzt und von +unmittelbar vorher und nachher sichtbar werden, daß die Glieder, wie +ich vorher von der Gewandung sagte, die Vorstellung der Beweglichkeit +geben und daß sie leben. Wie bei den Gewändern bilden manche Neue auch +die Glieder ins Größere, Allgemeinere, weniger Ausgeführte, um nicht +krampfig zu werden, und dann geraten die Muskeln gerne wie glatte, +spröde, unbiegsame Glaskörper, und die Gestalt kann sich nicht rühren. +Das Gesagte mag ungefähr den Begriff von dem geben, was man in der +Kunst unter Bewegung versteht. Was man unter Ruhe begreift, das mag +wohl zuerst darin bestehen, daß jeder Gegenstand, den die bildende +Kunst darstellt, genau betrachtet, in Ruhe ist. Der laufende Wagen, +das rennende Pferd, der stürzende Wasserfall, die jagende Wolke, +selbst der zuckende Blitz sind in der Abbildung ein Starres, +Bleibendes, und der Künstler kann nur durch die früher von mir +angedeuteten Mittel die Bewegung als Bewegbarkeit, als Täuschung des +Auges darstellen, wodurch er zugleich seinen Gegenstand über die +Grenzen des unmittelbar Dargestellten hinaushebt und ihm eine ungleich +größere Bedeutung gibt. Aber die dargestellte Bewegung darf nicht zu +gewaltsam sein, sonst helfen die Mittel nicht, der Künstler scheitert +und wird lächerlich. Zum Beispiele Pferde, die von einem Felsen durch +die Luft hinabstürzen, dürfen nicht in der Luft fallend gemalt werden +- wenigstens dürfte dies leichter eine den Verstand befriedigende +Zeichnung als ein das ganze Kunstvermögen entzückendes Bild werden. +Darum darf der in seinen Gestalten sich stets erneuende Wasserfall mit +weit geringerer Gefahr dargestellt werden als eine Flüssigkeit, die +aus einem Gefäße gegossen wird, wobei die Einbildungskraft sich mit +dem Gedanken quält, daß das Gefäß nicht leer wird. Der in hohen Lüften +auf seinen Schwingen ruhende Geier ist im Bilde erhaben, der dicht +vor unsern Augen auf seine Beute stürzende kann sehr mißlich werden. +Der an Bergen emporsteigende Nebel ist lieblich, der von einer +abgefeuerten Kanone aufsteigende Rauch verletzt uns durch sein +immerwährendes Bleiben. Es ist begreiflich, daß die Grenzen zwischen +dem Darstellbaren in der Bewegung nicht fest zu bestimmen sind und +daß größere Begabungen viel weiter hierin gehen dürfen als kleinere. +So sah ich schon sehr oft gemalte fahrende Wägen. Die Pferde sind +gewöhnlich ihrer Fußstellung nach im schönsten Laufe begriffen, +während die Speichen der Wagenräder klar und sichtbar in völliger +Ruhe starren. Der größere Künstler wird uns den Nebel der sausenden +Speichen darstellen und manches Andere zutun und zusammenstellen, daß +wir den Wagen wirklich fahren sehen. Außer dem hier gegebenen Begriffe +von stofflicher Ruhe mag wohl unter Ruhe weit öfter die künstlerische +zu verstehen sein, die ein Kunstwerk, sei es Bild, Dichtung oder +Musik, nie entbehren kann, ohne aufzuhören, ein Kunstwerk zu sein. +Es ist diese Ruhe jene allseitige Übereinstimmung aller Teile zu +einem Ganzen, erzeugt durch jene Besonnenheit, die in höchster +kunstliebender Begeisterung nie fehlen darf, durch jenes Schweben +über dem Kunstwerke und das ordnende Überschauen desselben, wie stark +auch Empfindungen oder Taten in demselben stürmen mögen, die das +Kunstschaffen des Menschen dem Schaffen Gottes ähnlich macht und Maß +und Ordnung blicken läßt, die uns so entzücken. Bewegung regt an, +Ruhe erfüllt, und so entsteht jener Abschluß in der Seele, den wir +Schönheit nennen. Es ist nicht zu zweifeln, daß sich Andere vielleicht +Anderes bei diesen Worten denken, daß dieses Andere gut oder besser +als das Meinige sein kann - gewöhnlich geht es mit solchen Gangwörtern +so, daß jeder seinen eigenen Sinn hinein legt. Das Beste ist, daß die +schaffende Kraft in der Regel nicht nach solchen aufgestellten Sätzen +wirkt, sondern das Rechte trifft, weil sie die Kraft ist, und es +desto sicherer trifft, je mehr sie sich auf ihrem eigentümlichen Wege +naturgemäß ausbildet. Für das Verständnis der Kunst, für solche, +welche ihre Werke beschauen und sich darüber besprechen, sind +Auslegungen derselben Einkleidung ihres Wesens in Worte eine sehr +nützliche Sache, nur muß man die Worte nicht zum Hauptgegenstande +machen und auf einen Sinn, den man ihnen beilegt, nicht so bestehen, +daß man alles verdammt, was nicht nach diesem Sinne ist. Sonst müßte +man ja den größten und einzigen Künstler am meisten tadeln, Gott, der +so unzählige Gestaltungen erschaffen hat und dessen Werke ja wirklich +von Menschen untergeordneten Geistes getadelt werden, die meinen, sie +hätten es anders gemacht.« + + +Bei diesen Worten kam Gustav in den Saal. Die Dämmerung hatte schon +stark zugenommen, es regnete aber noch immer nicht. + +»Dieser steht noch auf demselben Stande, auf welchem ihr früher +gestanden seid«, sagte mein Gastfreund auf Gustav weisend, der auf ihn +zuging. + +»Wie meinst du das, Vater?« fragte der Knabe. + +»Wir redeten von Kunst«, antwortete mein Gastfreund, »und da behaupte +ich, daß du noch nicht in der Lage bist, Kunstwerke so erkennen und +beurteilen zu können wie unser Gast hier.« + +»Wohl, das behaupte ich selber«, sagte Gustav, »er ist darum auch +teilweise mein Lehrer, und wenn er in der Erkenntnis der Kunst dir +und Eustach und der Mutter nachstrebt, so werde ich meines Teils ihm +wieder nachstreben.« + +»Das ist gut«, sagte mein Gastfreund, »aber das ist es nicht so ganz, +wovon wir sprachen, allein es tut nichts zur Sache und gehört auch +nicht zur Wesenheit.« + +Mit diesen Worten, gleichsam um ferneren Fragen vorzubeugen, trat er +an ein Fenster und wir mit ihm. + +Wir betrachteten eine Weile die Erscheinung vor uns, die über dem +immer dunkler werdenden Gefilde immer großartiger wurde, und gingen +dann, da der Abend beinahe in Finsternis übergehen wollte und die +Stunde des Abendessens gekommen war, über die Marmortreppe in das +Speisezimmer hinunter. + +Das Gewitter war in der Nacht ausgebrochen, hatte einen Teil derselben +mit Donnern und einen Teil mit bloßem Regen erfüllt und machte dann +einem sehr schönen und heiteren Morgen Platz. + +Das Erste, was ich an diesem Tage tat, war, daß ich zu dem marmornen +Standbilde ging. Ich hatte es gestern, da wir über die Treppe +hinabstiegen, nicht mehr deutlich und nur von einem Blitze +oberflächlich beleuchtet gesehen. Die Finsternis war auf der Treppe +schon zu groß gewesen. Heute stand es in der ruhigen und klaren Helle +des Tages, welche das Glasdach auf die Treppe sendete, schmucklos und +einfach da. Ich hatte nicht gedacht, daß das Bild so groß sei. Ich +stellte mich ihm gegenüber und betrachtete es lange. + +Mein Gastfreund hatte Recht, ich konnte keine eigentliche einzelne +Schönheit entdecken, was wir im neuen Sinne Schönheit heißen, und ich +erinnerte mich auf der Treppe sogar, daß ich oft von einem Buche oder +von einem Schauspiele, ja von einem Bilde sagen gehört hatte, es sei +voller Schönheiten, und dem Standbilde gegenüber fiel mir ein, wie +unrecht entweder ein solcher Spruch sei oder, wenn er berechtigt ist, +wie arm ein Werk sei, das nur Schönheiten hat, selbst dann, wenn es +voll von ihnen ist und das nicht selber eine Schönheit ist; denn ein +großes Werk, das sah ich jetzt ein, hat keine Schönheiten und um so +weniger, je einheitlicher und einziger es ist. Ich geriet sogar auf +den Gedanken und auf die Erfahrung, die ich mir nie klar gemacht +hatte, daß, wenn man sagt, dieser Mann, diese Frau habe eine schöne +Stimme, schöne Augen, einen schönen Mund, eben damit zuleich gesagt +ist, das andere sei nicht so schön; denn sonst würde man nicht +Einzelnes herausheben. Was bei einem lebenden Menschen gilt, dachte +ich, gilt bei einem Kunstwerke nicht, bei welchem alle Teile gleich +schön sein müssen, so daß keiner auffällt, sonst ist es eben als +Kunstwerk nicht rein und ist im strengsten Sinne genommen keines. +Dessenohngeachtet, daß ich, oder vielmehr eben darum, weil ich keine +einzelnen Schönheiten an dem Standbilde zu entdecken vermochte, +machte es, wie ich mir jetzt ganz klar bewußt war, wieder einen +außerordentlichen Eindruck auf mich. Der Eindruck war aber nicht +einer, wie ich ihn öfter vor schönen Sachen hatte, ja selbst vor +Dichtungen, sondern er war, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, +allgemeiner, geheimer, unenträtselbarer, er wirkte eindringlicher und +gewaltiger; aber seine Ursache lag auch in höheren Fernen, und mir +wurde begreiflich, ein welch hohes Ding die Schönheit sei, wie +schwerer sie zu erfassen und zu bringen sei als einzelne Dinge, die +die Menschen erfreuen und wie sie in dem großen Gemüte liege und +von da auf die Mitmenschen hinausgehe, um Großes zu stiften und zu +erzeugen. Ich empfand, daß ich in diesen Tagen in mir um Vieles weiter +gerückt werde. + +In der nächsten Zeit sprach ich auch mit Eustach über das Standbild. +Er war sehr erfreut darüber, daß ich es als so schön erkannte, und +sagte, daß er sich schon lange darnach gesehnt habe, mit mir über +dieses Werk zu sprechen; allein es sei unmöglich gewesen, da +ich selber nie davon geredet habe und eine Zwiesprache nur dann +ersprießlich werde, wenn man beiderseitig von einem Gegenstande +durchdrungen sei. Wir betrachteten nun miteinander das Bildwerk und +machten uns wechselseitig auf Dinge aufmerksam, die wir an demselben +zu erkennen glaubten. Besonders war es Eustach, der über das +Marmorbild, so sehr es sich in seiner Einfachheit und seiner täglich +sich vor mir immer staunenswerter entwickelnden Natürlichkeit jeder +Einzelverhandlung zu entziehen schien, doch über sein Entstehen, über +die Art seiner Verhältnisse, über seine Gesetzmäßigkeit und über das +Geheimnis seiner Wirkung sachkundig zu sprechen wußte. Ich hörte +begierig zu und empfand, daß es wahr sei, was er sprach, obgleich ich +ihn nicht immer so genau verstand wie meinen Gastfreund, da er nicht +so klar und einfach zu sprechen wußte wie dieser. Ich schritt in der +Erkenntnis des Bildes vor, und es war mir, als ob es nach seinen +Worten immer näher an mich heran gerückt würde. + +Er suchte viele Zeichnungen hervor, auf denen sich Abbildungen +von Standbildern oder andern geschnitzten oder auf anderem Wege +hervorgebrachten Gestalten des Mittelalters befanden. Wir verglichen +diese Gestalten mit der aus dem Griechentume stammenden. + +Auch wirkliche Gestaltungen von kleinen Engeln, Heiligen oder anderen +Personen, die sich in dem Rosenhause oder in der Nähe befanden, suchte +er zur Vergleichung herbei zu bringen. Es zeigte sich hier für meine +Augen, daß das wahr sei, was mein Gastfreund über griechische und +mittelalterliche Kunst gesagt hatte. Es war mir wie ein jugendlicher +und doch männlich gereifter Sinn voll Maß und Besonnenheit sowie voll +herrlicher Sinnfälligkeit, der aus dem Griechenwerke sprach. In den +mittelalterlichen Gebilden war es mir ein liebes, einfaches, argloses +Gemüt, das gläubig und innig nach Mitteln griff, sich auszusprechen, +der Mittel nicht völlig Herr wurde, dies nicht wußte und doch +Wirkungen hervorbrachte, die noch jetzt ihre Macht auf uns äußern und +uns mit Staunen erfüllen. Es ist die Seele, die da spricht und in +ihrer Reinheit und in ihrem Ernste uns mit Bewunderung erfüllt, +während spätere Zeiten, von denen Eustach zahlreiche Abbildungen von +Bildwerken vorlegte, trotz ihrer Einsicht, ihrer Aufgeklärtheit und +ihrer Kenntnis der Kunstmittel nur frostige Gestalten in unwahren +Flattergewändern und übertriebenen Gebärden hervorbrachten, die keine +Glut und keine Innigkeit haben, weil sie der Künstler nicht hatte, und +die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil der Künstler nicht mit +der Seele arbeitete, sondern mit irgend einer Überlegung nach eben +herrschenden Gestaltungsansichten, weshalb er das, was ihm an Gefühl +abging, durch Unruhe und Heftigkeit des Werkes zu ersetzen suchte. Was +die Sinnfälligkeit anlangt, so schien mir das Mittelalter nicht nach +Vollendung in derselben gestrebt zu haben. Neben einem Haupte, das in +seiner Einfachheit und Gegenständlichkeit trefflich und tadellos war, +befinden sich wieder Bildungen und Gliederungen, die beinahe unmöglich +sind. Der Künstler sah dies nicht; denn er fand den Zustand seines +Gemütes in dem Ausdrucke seines Werkes, mehr hatte er nicht +beabsichtigt, und nach Verschmelzung des Sinnentumes strebte er nicht, +weil es ihm, wenigstens in seiner Kunsttätigkeit ferne lag und er +einen Mangel nicht empfand. Darum stellt sich auch bei uns die Wirkung +der Innerlichkeit ein, obgleich wir, unähnlich dem schaffenden +Künstler des Mittelalters, die sinnlichen Mängel des Werkes empfinden. +Dies spricht um so mehr für die Trefflichkeit der damaligen Arbeiten. + +Es waren recht schöne Tage, die ich mit Eustach in diesen +Vergleichungen und diesen Bestrebungen hinbrachte. + +Ich wurde auch wieder auf die Gemälde alter und längstvergangener +Zeiten zurückgeführt. Ich hatte in meiner frühesten Jugend eine +Abneigung vor alten Gemälden gehabt. Ich glaubte, daß in ihnen eine +Dunkelheit und Düsterheit herrsche, die dem fröhlichen Reize der +Farben, wie er in den neuen Bildern sich vorstellt und wie ich ihn +auch in der Natur zu sehen meinte, entgegen und weit untergeordnet +sei. Diese Meinung hatte ich zwar fahren gelassen, als ich selber zu +malen begonnen und nach und nach gesehen hatte, daß die Dinge der +Natur und selber das menschliche Angesicht die heftigen Farben nicht +haben, die sich in dem Farbekasten befinden, daß aber dafür die Natur +eine Kraft des Lichtes und des Schattens besitze, die wenigstens ich +durch alle meine Farben nicht darzustellen vermochte. Deßohngeachtet +war mir die Erkenntnis dessen, was die Malerkunst in früheren Zeiten +hervorgebracht hatte, nicht in dem Maße aufgegangen, als es der +Sache nach notwendig gewesen wäre. Wenn ich gleich im Einzelnen +vorgesehritten war und Manches in alten Bildern als sehr schön erkannt +hatte, so war ich doch fort und fort zu sehr in meinen Bestrebungen +auf dem Gebiete der Natur befangen, als daß ich auf andere Gebilde +als die der Natur mit kräftiger Innerlichkeit geachtet hätte. Darum +erschienen mir Pflanzen, Faltern, Bäume, Steine, Wässer, selbst das +menschliche Angesicht als Gegenstände, die würdig wären, von der +Malerkunst nachgebildet zu werden; aber alte Bilder erschienen +mir nicht als Nachbildungen, sondern gewissermaßen als kostbare +Gegenstände, die da sind und auf denen sich Dinge befinden, die man +gewohnt ist als auf Gemälden befindliche zu sehen. Diese Richtung +hatte für mich den Nutzen, daß ich bei meinen Versuchen, Gegenstände +der Natur zu malen, nicht in die Nachahmung irgend eines Meisters +verfiel, sondern daß meine Arbeiten mit all ihrer Fehlerhaftigkeit +etwas sehr Gegenständliches und Naturwahres hatten; aber es erwuchs +mir auch der Nachteil daraus, daß ich nie aus alten Meistern lernte, +wie dieser oder jener die Farben und Linien behandelt habe und daß +ich mir alles selber mühevoll erfinden mußte und in Vielem gar +zu einem Ziele nicht gelangte. Obwohl ich später der Betrachtung +mittelalterlicher Gemälde mich mehr zuwandte und sogar im Winter viele +Zeit in Gemäldesammlungen unserer Stadt zubrachte, so war doch ein +früherer Zustand noch mehr oder weniger unbewußt vorherrschend und die +Kunst des Pinsels fand von mir nicht die Hingabe, die sie verdient +hätte. Als ich jetzt mit Eustach die Zeichnungen mittelalterlicher +bildender Kunst durchging, als ich mit ihm ein mir wie ein neues +Wunder aufgegangenes Werk des alten Griechentums betrachtete, als ich +dieses Werk mit den minder alten unserer Vorfahren verglich und die +Unterschiede und Beziehungen einsehen lernte: da fing ich auch an, die +Gemälde meines Gastfreundes anders zu betrachten, als ich bisher sie +und andere Gemälde betrachtet hatte. Ich ging nicht nur oft in sein +Bilderzimmer und verweilte lange Zeit in demselben, sondern ich ließ +mir auch das Verzeichnis der Bilder geben, um nach und nach die +Meister kennen zu lernen, die er versammelt hatte, ich bat, daß +mir erlaubt werde, mir das eine oder andere Bild, wie ich es eben +wünschte, auf die Staffelei stellen zu dürfen, um es so kennen zu +lernen, wie mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft mehrere +Tage in Untersuchung eines einzigen Bildes zu. Welch ein neues Reich +öffnete sich vor meinen Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der +Seele aufschlossen, so lag hier wieder eine Welt, es war wieder eine +Welt der Seele, wieder dieselbe Welt der hochgehenden Seele der +Dichtkunst; aber mit wie ganz anderen Mitteln war sie hier erstrebt +und erreicht. Welche Kraft, welche Anmut, welche Fülle, welche +Zartheit, und wie war dem Schöpfer eine ähnliche, eine gleiche, aber +menschliche Schöpfung nachgeschaffen. Ich lernte die Beziehungen der +alten Malerei - mein Freund hatte fast lauter alte Bilder - zu der +Natur kennen. Ich lernte einsehen, daß die alten Meister die Natur +getreuer und liebevoller nachahmten als die neuen, ja daß sie im +Erlernen der Züge der Natur eine unsägliche Ausdauer und Geduld +hatten, vielleicht mehr, als ich empfand, daß ich selber hätte, und +vielleicht mehr, als mancher Kunstjünger der Gegenwart haben mag. Ich +konnte nicht aburteilen, da ich zu wenige Werke der Gegenwart kannte +und so betrachtet hatte, als ich jetzt ältere Bilder betrachtete; +aber es schien mir ein größeres Eingehen in das Wesen der Natur kaum +möglich. Ich begriff nicht, wie ich das so lange nicht in dem Maße +hatte sehen können, als ich es hätte sehen sollen. Wenn aber auch +die Alten, wie ich hier mit ihnen umging, sich der Wirklichkeit sehr +beflissen und sich ihr sehr hingaben, so ging das doch nicht so weit, +als ich bei der Abbildung meiner naturwissenschaftlichen Gegenstände +geschritten war, von denen ich alle Einzelheiten, so weit es nur +immer möglich gewesen war, zu geben gesucht hatte. Dies wäre, wie +ich einsah, der Kunst hinderlich gewesen, und statt einen ruhigen +Gesammteindruck zu erzielen, wäre sie in lauter Einzelheiten +zerfallen. Die Meister, welche mein Gastfreund in seiner Sammlung +besaß, verstanden es, das Einzelne der Natur in großen Zügen zu fassen +und mit einfachen Mitteln - oft mit einem einzigen Pinselstriche - +darzustellen, so daß man die kleinsten Merkmale zu erblicken wähnte, +bei näherer Betrachtung aber sah, daß sie nur der Erfolg einer großen +und allgemeinen Behandlung waren. Diese große Behandlung sicherte +ihnen aber auch Wirkungen im Großen, die dem entgehen, welcher die +kleinsten Gliederungen in ihren kleinsten Teilen bildet. Ich sah erst +jetzt, welche schöne Gestalten aus dem menschlichen Geschlechte auf +der Malerleinwand lebten, wie edel ihre Glieder sind, wie mannigfaltig +- strahlend, kräftig, geistvoll, milde - ihr Antlitz, wie adelig +ihre Gewänder, und wäre es eine Bettlerjacke, und wie treffend die +Umgebung. Ich sah, daß die Farbe der Angesichter und anderer Teile das +leuchtende Licht menschlicher Gestaltungen ist, nicht der Farbestoff, +mit dem der Unkundige seinen Gebilden ein widriges Rot und Weiß gibt, +daß die Schatten so tief gehen, wie sie die Natur zeigt, und daß die +Umgebung eine noch größere Tiefe hat, wodurch jene Kraft erzielt +wird, die sich der nähert, welche die Schöpfung durch wirklichen +Sonnenschein gibt, den niemand malen kann, weil man den Pinsel nicht +in Licht zu tauchen vermag, eine Kraft, die ich jetzt an den alten +Bildern so bewunderte. Von der außermenschlichen Natur sah ich +leuchtende Wolken, klare Himmelsgebilde, ragende, reiche Bäume, +gedehnte Ebenen, starrende Felsen, ferne Berge, helle, dahinfließende +Bäche, spiegelnde Seen und grüne Weiden, ich sah ernste Bauwerke und +ich sah das sogenannte stille Leben in Pflanzen, Blumen, Früchten, in +Tieren und Tierchen. Ich bewunderte das Geschick und den Geist, womit +alles zurechtgelegt und hervorgebracht ist. Ich erkannte, wie unsere +Vorfahren Landschaften und Tiere malten. Ich erstaunte über den +zarten Schmelz, womit einer mittelst Überfarben seinen Gebilden +eine Durchsichtigkeit gab, oder über die Stärke, womit ein anderer +undurchsichtige Farben hinstellte, daß sie einen Berg bildeten, der +das Licht fängt und spiegelt und es so zwingt, das Bild mit zu malen, +zu dem ein Licht in dem Farbenkasten nicht war. Ich erkannte, wie der +eine in durchsichtigen Farben untermalte und auf diese seine festen, +körperigen Farben aufsetzte, oder wie ein anderer Farbe auf Farbe mit +breitem Pinsel hinstellt und mit ihm die Übergänge vermittelt und mit +ihm die Zeichnung umreißt. Daß alte Bilder düsterer sind, erschien mir +einleuchtend, da das Öl die Farben nachdunkeln macht und der Firniß +eine dunkle bräunliche Farbe erhält. Beides haben umsichtige Meister +mehr als voreilige zu vermeiden gewußt, und mein Gastfreund hatte +Bilder, die in schöner Pracht und Farbenherrlichkeit leuchteten, +obwohl auch bei ihnen die Würde bewahrt blieb, daß sie mehr die Kraft +des Tones als auffallende oder etwa gar unwahre Farben brachten. Da +ich schon viel mit Farben beschäftigt gewesen war, so verweilte ich +oft lange bei einem Bilde, um zu ergründen, wie es gemalt ist und auf +welche Weise die Stoffe behandelt worden sind. In dem Rosenzimmerchen +Mathildens, wohin mich mein Gastfreund führte, um auch dort die Bilder +zu sehen, hingen vier kleine Gemälde, davon zwei von Tizian waren, +eines von Dominichino und eines von Guido Reni. Sie waren an Größe +fast gleich und hatten gleiche Rahmen. Sie waren die schönsten, +die mein Gastfreund besaß. Je mehr man sie betrachtete, desto +mehr fesselten sie die Seele. Ich bat ihn fast zu oft, mir diese +vier Bildchen zu zeigen, und er ermüdete nicht, mir immer die +Frauengemächer aufzuschließen, mich in das Zimmerchen zu führen, mich +die Bilder betrachten zu lassen und mit mir darüber zu sprechen. Er +nahm sie öfter herab und stellte sie auf dem Tische oder auf einem +Sessel so auf, daß sie in dem besten Lichte standen. Ich brachte +merkwürdige Tage in jener Zeit in dem Rosenhause meines Freundes +zu. Mein Wesen war in einer hohen, in einer edlen und veredelnden +Stimmung. + +Ich fragte ihn einmal, woher er denn die Bilder erhalten habe. + +»Sie sind recht nach und nach in das Haus gekommen, wie es der +Sammelfleiß und mitunter auch der Zufall gefügt hat«, antwortete er. +»Ich habe von einem Oheime mehrere geerbt; sie waren aber nicht die +besten, wie ich sie jetzt habe, ich verkaufte einen Teil davon, um +mir andere, wenn auch wenigere, aber bessere zu kaufen. Ich habe euch +schon einmal gesagt, daß ich in Italien gewesen bin. Ich habe drei +Reisen in dieses Land gemacht. Da hat sich Manches gefunden. Ich habe +stets nach Bildern gesucht, habe Manches gekauft, Manches wieder +verkauft, Neues gekauft, und so war ein fortlaufender Wechsel, bis +es so wurde, wie es jetzt ist. Nun aber verkaufe oder vertausche ich +nichts mehr, selbst wenn mir etwas Außerordentliches vorkäme, das ich +nicht ohne Weggabe eines Früheren erkaufen könnte. Mit dem Alter wird +man so anhänglich an das Gewohnte, daß man es nicht missen kann, wenn +es auch verbraucht zu werden beginnt und verschossen und verschollen +ist. Ich lege alte Kleider nicht gerne ab, und wenn ich eines der +Bilder, die mich nun so lange umgeben, aus dem Hause lassen müßte, so +würde ich einem großen Schmerze nicht entgehen. Sie mögen nun bleiben, +wie sie sind und wo sie sind, bis ich scheide. Selbst der Gedanke, daß +ein Nachfolger die Bilder so lasse und sie ehre, wie sie hier sind, +hat für mich etwas sehr Angenehmes, obwohl er töricht ist und ich ihm +aus dem Wege gehe; denn darin besteht das Leben der Welt, daß ein +Streben und Erringen und darum ein Wandel ist, welcher Wandel auch +hier eintreten wird. Ich habe auch längere Zeit schon nichts mehr +gekauft, außer einer recht lieben kleinen Landschaft von Ruysdael, die +neben der Tür im Bilderzimmer hängt und die ihr so gerne anschaut. Ich +würde nur etwas sehr Wertvolles kaufen, in so ferne es meine Kräfte +zuließen. Ich habe oft Jahre lang auf ein Bild warten müssen, das mir +sehr gefiel und das ich zu haben wünschte, entweder, weil der Besitzer +eigensinnig war und, obwohl er das Bild weggeben wollte, doch +Bedingungen an die Hingabe knüpfte, die nicht zu erfüllen waren, +oder weil er sich von dem Bilde nicht trennen wollte, obgleich er es +mißhandelte und zu Grunde gehen ließ. Zuweilen mußte ich schlechtere +Bilder kaufen, die durch Farbenreiz oder andere Eigenschaften das Auge +ansprachen, um einen Vorrat zum Tausche zu haben. Es gibt nehmlich +Leute, welche Freude an Bildern haben, welche ältere bedeutende Bilder +nicht weggeben, wenn sie solche besitzen, sie aber doch nicht erkennen +und sie durch schlechte Behandlung Schaden leiden lassen. Sie ziehen +ein Gemälde vor, welches sie besser verstehen, welches ihnen mehr +gefällt, wenn es auch im Werte minder ist, und sind zu einem Tausche +bereit. Dieser macht ihnen Freude, und wenn ich ihnen darlegte, daß +ihr Gemälde einen höheren Wert habe als das meinige, und wenn ich +diesen Wert nach genauer Schätzung durch Geld ausglich, so war das +Vergnügen noch größer; denn sie zweifelten doch immer, ob ich Recht +habe und das alte Bild nicht aus Vorliebe überschätze, da ihnen ja +ihre Augen sagten, daß der Unterschied nicht so groß sei. Auf diese +Weise bekam ich manches Angenehme, ohne meinem Billigkeitsgefühle nahe +treten zu müssen, was bei Bildergeschäften so leicht der Fall wird. +Die heilige Maria mit dem Kinde, welche euch so wohl gefällt und +welche ich beinahe eine Zierde meiner Sammlung nennen möchte, hat +mir Roland auf dem Dachboden eines Hauses gefunden. Er war dorthin +mit dem Eigentümer gestiegen, um altes Eisenwerk, darunter sich +mittelalterliche Sporen und eine Klinge befanden, zu kaufen. Das Bild +war ohne Blindrahmen und war nicht etwa zusammengerollt, sondern wie +ein Tuch zusammengelegt und lag im Staube. Roland konnte nicht genau +erkennen, ob es einen Wert habe, und kaufte es dem Manne um ein +Geringes ab. Ein Soldat hatte es einmal aus Italien geschickt. Er +hatte es als bloße Packleinwand benützt und hatte Wäsche und alte +Kleider in dasselbe getan, die ihm zu Hause ausgebessert werden +sollten. Darum hatte das Bild Brüche, wo nehmlich die Leinwand +zusammengelegt gewesen war, an welchen Brüchen sich keine Farbe +zeigte, da sie durch die Gewalt des Umbiegens weggesprungen war. Auch +hatte man, da wahrscheinlich die Fläche zum Zwecke einer Umhüllung +zu groß gewesen war, Streifen von ihr weggeschnitten. Man sah die +Schnitte noch ganz deutlich, während die anderen Ränder sehr alt waren +und noch die Spuren von den Nägeln zeigten, mit denen sie einst an den +Blindrahmen befestigt gewesen waren. Auch war, durch die Mißhandlungen +der Zeiten herbeigeführt, an andern Stellen als an denen der Brüche +die Farbe verschwunden, so daß man nicht nur den Grund des Gemäldes, +sondern hie und da auch die lediglichen nackten Faden der alten +Leinwand sehen konnte. So kam das Bild auf dem Asperhofe an. Wir +breiteten es zuerst auseinander, wuschen es mit reinem Wasser und +mußten dann, um es als Fläche zu erhalten und es betrachten zu können, +Gewichte auf seine vier Ecken legen. So lag es auf dem Fußboden des +Zimmers vor uns. Wir erkannten, daß es das Werk eines italienischen +Malers sei, wir erkannten auch, daß es aus älterer Zeit stamme; aber +von welchem Künstler es herrühre oder auch nur aus welcher Zeit es +sei, war nach dem Zustande, in welchem die Malerei sich befand, +durchaus nicht zu bestimmen. Teile, welche ganz waren, ließen indessen +ahnen, daß das Gemälde einen nicht zu geringen Wert haben dürfte. +Wir gingen nun daran, ein Brett zu verfertigen, auf welches das Bild +geklebt werden könnte. Wir bereiten solche Bretter gewöhnlich aus +Eichenholz, das aus zwei übereinander liegenden Stücken, deren Fasern +auf einander senkrecht sind, und einem Roste besteht, damit dem +sogenannten Werfen oder Verbiegen des Holzes vorgebeugt werde. Als das +Brett fertig und die Verkittung an demselben vollkommen ausgetrocknet +war, wurde das Gemälde auf dasselbe aufgezogen. Wir hatten dort, wo +die Ränder des Bildes weggeschnitten waren, die Holzfläche größer +gemacht und die neu entstandenen Stellen mit passender Leinwand gut +ausgeklebt, um dem Gemälde annähernd wieder eine Gestalt geben zu +können, die es ursprünglich gehabt haben mochte und in der es sich +den Augen wohlgefällig zeigte. Hierauf wurde daran gegangen, das Bild +von dem alten, hie und da noch vorfindlichen Firnisse und von dem +Schmutze, den es hatte, zu reinigen. Der Firniß war durch die +gewöhnlichen Mittel leicht wegzubringen, nicht so leicht aber der +durch Jahrhunderte veraltete Schmutz, ohne daß man in Gefahr kam, auch +die Farben zu beschädigen. Das gereinigte, auf der Staffelei stehende +Gemälde wies uns nun eine viel größere Schönheit, als es uns nach der +ersten oberflächlichen Waschung gezeigt hatte; aber es war durch die +vielen Sprünge, Risse und nackten Stellen noch so verunstaltet, daß +eine genaue Würdigung auch jetzt nicht möglich war, selbst wenn wir +bedeutend größere Erfahrungen gehabt hätten als wir hatten. Roland und +Eustach schritten zur Ausbesserung. Kein Ding kann schwieriger sein, +und durch keins sind Gemälde so sehr entstellt und entwertet worden. +Ich glaube, wir haben einen nicht unrichtigen Weg eingeschlagen. +Eine ursprüngliche Farbe durfte gar nicht bedeckt werden. Zum Glücke +hatte das Bild gar nie eine Ausbesserung oder sogenannte Übermalung +erhalten, so daß entweder nur die ursprüngliche Farbe vorhanden war +oder gar keine. In die farbentblößten Stellen wurde die Farbe, welche +die umgrenzenden Ränder zeigten, gleichsam wie ein Stift eingesetzt, +bis die Grube erfüllt war. Wir nahmen die Farben so trocken als +möglich und so dicht gerieben, als es der Laufer auf dem Steine, ohne +stecken zu bleiben zuwege bringen konnte. Wenn sich aber doch wieder +nach dem Trocknen eine Vertiefung zeigte, wurde dieselbe neuerdings +mit der nehmlichen Farbe ausgefüllt und so fortgefahren, bis eine +Höhlung nicht mehr entstand. Erhöhungen, die blieben, wurden mit einem +feinen Messer gleichgeschliffen. Auch über unausrottbaren Schmutz +wurde die Farbe seiner Umgebung gelegt. Wenn die Farbe nach längerer +Zeit durch das Öl, das sie enthielt, und durch andere Ursachen, die +vielleicht noch mitwirken, nachgedunkelt war und sich in dem Gemälde +als Fleck zeigte, wurde mit äußerst trockener Farbe und mit der Spitze +eines feinen Pinsels die Stelle so lange gleichsam ausgepunktet, bis +sie sich von der Umgebung durchaus nicht mehr unterschied. Dieses +Verfahren wurde zuweilen mehrere Male wiederholt. Zuletzt konnte man +mit freien Augen die Plätze, an welchen sich neue Farben befanden, +gar nicht mehr erkennen. Nur das Vergrößerungsglas zeigte noch die +Ausbesserungen. Wir brachten Jahre mit diesem Verfahren zu, besonders +da Zwischenzeiten waren, die mit andern Arbeiten ausgefüllt werden +mußten und da unser Vorgehen selber Zwischenzeiten bedingte, in denen +die Farben auszutrocknen hatten oder in denen man ihnen Zeit geben +mußte, die Veränderungen zu zeigen, die notwendig bei ihnen eintreten +müssen. Dafür aber war an dem vollendeten Gemälde nicht zu merken, daß +es nicht in allen Teilen ein altes sei, es hatte die feinen Sprünge +alter Bilder und hatte alle die Reinheit und Klarheit des Pinsels, +der es ursprünglich geschaffen hatte. Wenn man alte Bilder bei +Ausbesserungen übermalt und dadurch stimmt, so ist nicht selten +ein Überzug über die feinen Linien, welche die Zeit in alte Bilder +sprengt, und dieser Überzug zeigt nicht nur, daß das Bild ausgebessert +worden ist, sondern er stellt auch einen feinen Schleier dar, der über +die Farben gebreitet ist und sie trüb und undurchsichtig macht. Solche +Bilder geben oft einen düstern, unerfreulichen und schwerlastenden +Eindruck. Es werden Viele unser Tun in Herstellung alter Bilder +unbedeutend und unerheblich nennen, besonders da es so viele Zeit und +so viele Anstalten erforderte; uns aber machte es eine große und eine +innige Freude. Ihr werdet es gewiß nicht tadeln, da ihr einen so +großen Anteil an den Hervorbringungen der Kunst zu nehmen beginnt. +Wenn nach und nach die Gestalt eines alten Meisters vor uns aufstand, +so war es nicht bloß das Gefühl eines Erschaffens, das uns beseelte, +sondern das noch viel höhere eines Wiederbelebens eines Dinges, das +sonst verloren gewesen wäre und das wir selber nicht hätten erschaffen +können. Als schon bereits einige Teile des Bildes fertig waren, zeigte +es sich, daß die Farben reiner und glänzender seien, als wir gedacht +hatten, und daß das Bild einen vorzüglicheren Wert habe, als Anfangs +unsere Vermutung war. So lange die vielen Sprünge und farblosen +Stellen und so lange die unreinen Flecke, die wir nicht hatten +beseitigen können, auf dem Gemälde waren, übten sie auch auf das +Nichtzerstörte und sogar auf das sehr wohl Erhaltene einen Einfluß aus +und ließen es im Ganzen mißfärbiger erscheinen, als es war. Nachdem +aber in einer ziemlich großen Fläche die widerstreitenden Stellen mit +den entsprechenden Farben zugedeckt waren und die neue Farbe die alte, +statt ihr zu widersprechen, unterstützte, so kam eine Reinheit, ein +Schmelz, eine Durchsichtigkeit und sogar ein Feuer zu Stande, daß wir +in Erstaunen gerieten; denn bei starkbeschädigten Bildern kann man die +Folgerichtigkeit der Übergänge nicht beurteilen, bis man sie nicht +vollendet vor sich hat. Freilich mochte der besondere Farbenfluß sich +noch höher darstellen, da er von den unverbesserten und widerwärtigen +Stellen umgeben und gehoben wurde; aber das war schon vorauszusehen, +daß, wenn das ganze Bild fertig sein würde, seine Stimmung einen +entschieden künstlerischen Eindruck machen müsse. Ich hatte während +der Arbeit viele Mühe darauf verwendet, die ganze Geschichte und +die Herkunft des Bildes zu erforschen; allein ich kam zu keinem +Ergebnisse. Der Soldat, der die Leinwand aus Italien geschickt hatte, +war längst gestorben, und es lebte überhaupt niemand mehr, der in +näherer Beziehung zu dem Ereignisse gestanden wäre; denn dasselbe +hatte sich weit früher zugetragen, als ich gedacht hatte. Der +Großvater des letzten Besitzers des Bildes hatte öfter erzählt, daß +er sagen gehört habe, daß ein aus dem Hause gebürtiger Soldat einmal +seine Strümpfe und Hemden in ein Muttergottesbild eingewickelt aus +Welschland nach Hause geschickt habe. Die Wahrheit der Erzählung +bestätigte sich dadurch, daß man noch das alte zerstörte Marienbild +auf dem Dachboden des Hauses fand. Ich konnte auch nicht ergründen, +welche Gelegenheit es gewesen sei, die jenen deutschen Soldaten nach +Welschland geführt hatte. Von dem, herauszufinden, aus welcher Gegend +Italiens das Bild gekommen sei, konnte nun vollends gar keine Rede +mehr sein. Als nach langer Zeit, nach vieler Mühe und mancher +Unterbrechung das Gemälde in einem schönen, altertümlich gearbeiteten +Goldrahmen fertig vor uns stand, war es eine Art Fest für uns. Roland +war herbei gerufen worden, da er gegen den Schluß des Werkes eine +Reise angetreten und die Vollendung seinem Bruder überlassen hatte. +Mehrere Nachbaren waren geladen worden, ja ein Freund und Kenner alter +Kunst, dem ich die Sache gemeldet hatte, war sogar von ziemlich weiter +Entfernung herzugekommen, um die Wiederherstellung zu sehen, und +Andere, wenn sie auch nicht geladen waren, hatten sich eingefunden, +da sie durch Zufall Kenntnis von der Begebenheit erhalten hatten, und +wußten, daß sie auf dem Asperhofe nicht unwillkommen sein würden. Es +ist nicht wahr, was man öfter sagt, daß eine schöne Frau ohne Schmuck +schöner sei als in demselben; und eben so ist es nicht wahr, daß +ein Gemälde zu seiner Geltung nicht des Rahmens bedürfe. Ich +hatte zu unserem Marienbilde einen Rahmen nach Zeichnungen aus +mittelalterlichen Gegenständen bestellt und hatte dessen Ausführung +gelegentlich, wenn mich ein Geschäft oder mein Wille in die Stadt +brachte, überwacht. Er war weit eher auf dem Asperhofe angekommen, als +das Bild fertig war, und mußte die Zeit über in seiner Kiste verpackt +harren. Wir versuchten auch nicht ein einziges Mal das Bild in ihn +zu fügen, ehe es fertig war, um den Eindruck nicht zu schwächen. +Bei neuen Bildern zeigt freilich der Rahmen erst, daß noch Manches +hinzuzufügen und zu ändern ist, und Vieles muß an solchen Bildern erst +gemacht werden, wenn man sie bereits in einem Rahmen gesehen hat. +Bei alten Bildern, die wiederhergestellt werden, ist das anders, +besonders, wenn sie auf unsere Weise hergestellt worden. Da gibt das +Vorhandene den Weg der Herstellung an, man kann nicht anders malen, +als man malt, und die Tiefe, das Feuer und der Glanz der Farben ist +daher durch das bereits auf der Leinwand Befindliche bedingt. Wie dann +das Bild in einem Rahmen aussehen werde, liegt nicht in der Willkür +des Wiederherstellers, und wenn es in dem Rahmen trefflich oder minder +gut steht, so ist das Sache des ursprünglichen Meisters, dessen Werk +man nicht ändern darf. Als unsere Maria, welche noch nicht einmal +einen Firniß erhalten hatte, aus den altertümlichen Gestalten des +Rahmens, die sehr paßten, heraussah, so war es ein wunderbarer +Anblick, und erst jetzt sahen wir, welche Lieblichkeit und Kraft +der alte Meister in seinem Bilde dargelegt hatte. Obwohl der Rahmen +erhabene Arbeit in Blumen, Verzierungen und sogar in Teilen der +menschlichen Gestalt enthielt und auf demselben Glanzlichter von +starker Wirkung angebracht waren, so erschien das Bild doch nicht +unruhig, ja es beherrschte den Rahmen und machte seinen Reichtum zu +einer anmutigen Mannigfaltigkeit, während es selber durch seine Gewalt +sich geltend machte und in den erhebenden Farben von würdigem Schmucke +umgeben thronte. Ein leiser Ruf entschlüpfte den Lippen aller +Anwesenden, und ich freute mich, daß ich mich nicht getäuscht hatte, +als ich auf die Macht des Bildes rechnend einen so reichen Rahmen für +dasselbe bestellt hatte. Wir standen lange davor und betrachteten die +Schönheit der Farbengebung an den entblößten Teilen so wie die der +Gewandung und der Gründe, was im Vereine mit der Einfachheit und +Hoheit der Linienführung und mit der maßvollen Anordnung der Flächen +ein so würdevolles und heiliges Ganzes bildete, daß man sich eines +tiefen Ernstes nicht erwehren konnte, der wie wahrhaftige Andacht war. +Erst später fingen wir zu sprechen an, beredeten dieses und jenes und +kamen, wie es natürlich war, dahin, Vermutungen über den Meister zu +wagen. Es wurde Guido Reni genannt, es wurde Tizian genannt, es wurde +die Rafaelische Schule genannt. Für alles hatte man Gründe, und der +Schluß war, wie er es auch noch heute ist, daß man nicht wußte, von +wem das Bild sei. Roland war außerordentlich vergnügt, daß er die +Sache in ihrer Entstehung schon geahnt und durch den Kauf eine +so zweckmäßige Handlung ausgeführt habe. Damals war er noch +außerordentlich jung, er war bei Weitem nicht so eingeübt wie jetzt +und war daher seiner Handlung nicht ganz sicher. Eustach sah man es +an, daß ihm, wie der Volksausdruck sagt, das Herz vor Freude lache. +Eine freundliche Bewirtung meiner Gäste war damals das Ende des Tages. +Wir suchten in der folgenden Zeit eine Stelle, an welcher das Bild +am vorteilhaftesten aufgehängt werden könnte. Roland erhielt eine +Belohnung in einem Werke, das er sich schon lange gewünscht hatte, und +Eustach, das sah ich wohl, fand seine schönste Befriedigung darin, daß +er näher in unsere Kunstkreise gezogen wurde. Dem Manne, von welchem +das Bild in seinem verstümmelten Zustande gekauft worden war, gab ich +noch eine Summe, mit welcher er weit über seine Erwartung abgefunden +war; denn das Bild hätte er doch nie herstellen lassen können, er +wäre auch auf den Gedanken nicht gekommen, und ohne Roland wäre das +Bild nicht verkauft worden, bis es immer mehr verfallen und einmal +vernichtet worden wäre. Oft stand ich in späteren Zeiten noch davor +und hatte manche Freude in Betrachtung des Werkes. Ich sah das +Angesicht und die Hände der Mutter an und sah das teils nackte, teils +durch schöne Tücher schicklich verhüllte Kind. Ein dem Lande Italien +so häufig zukommendes Zeichen ist es, daß das Kind nicht in den Armen +der Mutter gehalten wird, sondern daß es mit schönem Hinneigen zu +derselben und von ihr leicht und sanft umfaßt auf einem erhöhten +Gegenstande vor ihr steht. Der Künstler hat dadurch nicht nur +Gelegenheit gefunden, den Körper des Kindes in einer weit schöneren +Stellung zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Busen gehalten +gewesen wäre, sondern er hat noch den weit höheren Vorteil erreicht, +das göttliche Kind in seiner Kraft und in seiner Freiheit zu zeigen, +was die Wirkung hat, als ehrten wir gleichsam schon die Macht, mit +welcher es einstens handeln wird. Daß südliche Völker den Heiland als +Kind in so großer sinnlicher Schönheit malen, hat mich immer entzückt, +und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher wie ein kräftiger, +wunderschöner Leib des Südens aussieht, so beirrt mich das nicht, +sehen doch die Jesuskinder und die Johanneskinder des herrlichen +Rafael auch so aus, und die Wirkung ist doch eine so gewaltige. Daß +die Mutter, deren Mund so schön ist, die Augen gegen Himmel wendet, +sagt mir nicht ganz zu. Die Wirkung, scheint mir, ist hierin ein +wenig überboten, und der Künstler legt in eine Handlung, die er seine +Gestalt vor uns vornehmen läßt, eine Bedeutung, von der er nicht +machen kann, daß wir sie in der bloßen Gestalt sehen. Wer durch +einfachere Mittel wirkt, wirkt besser. Wenn er die Heiligkeit und +Hoheit statt in die erhobenen Augen in die bloße Gestalt hätte legen +können, wobei die Augen einfach vor sich hinblickten, so hätte er +besser getan. Rafael läßt seine Madonnen ruhig und ernst blicken, und +sie werden Himmelsköniginnen, während so manche andere nur betende +Mädchen sind. Aus diesem möchte ich auch schließen, daß das Bild nicht +aus der Rafaelschen Schule ist, so sehr die herrliche Gestalt des +Kindes daran erinnert. Das Bild hängt nicht mehr dort, wo es Anfangs +war. Wir haben alle Bilder mehrere Male umgehängt, und es gewährt eine +eigene Freude, zu versuchen, ob in einer andern Anordnung die Wirkung +des Ganzen nicht eine bessere sei. Auch darüber haben wir ernste +Beratungen und vielerlei Versuche angestellt, welche Farbe wir den +Wänden geben sollen, daß sich die Bilder am besten von ihnen abheben. +Wir blieben dann bei dem rötlichen Braun stehen, das ihr jetzt noch +in dem Gemäldezimmer findet. Ich lasse nun nichts mehr ändern. Die +jetzige Lage der Bilder ist mir zu einer Gewohnheit und ist mir lieb +geworden, und ich möchte ohne übeln Eindruck die Sache nicht anders +sehen. Sie ist mir eine Freude und eine Blume meines Alters geworden. +Die Erwerbung der Bilder, die, wie ihr schon aus meinen früheren +Worten schließen könnt, nicht immer so leicht war wie die der heiligen +Maria, stellt eine eigene Linie in dem Gange meines Lebens dar, und +diese Linie ist mit Vielem versehen, was mir teils einen freudigen, +teils einen trüben Rückblick gewährt. Wir sind in manche Verhältnisse +geraten, haben manche Menschen kennen gelernt und haben manche Zeit +mit Wiederherstellung der Bilder, mit Verwindung von Täuschungen, +mit Hineinleben in Schönheiten zugebracht, wir haben auch manche zu +Zeichnungen und Entwürfen von Rahmen verwendet; denn alle Gemälde +haben wir nach und nach in neue, von uns entworfene Rahmen getan, +und so stehen nun die Werke um mich wie alte, hochverehrungswürdige +Freunde, die es täglich mehr werden und die eine Annehmlichkeit und +eine Wonne für meine noch übrigen Tage sind.« + +Daß ich durch die Erzählung meines Gastfreundes der Sammlung seiner +Bilder noch mehr zugewendet wurde, begreift sich. + +Ich lenkte meine Aufmerksamkeit nun auch auf die Kupferstiche meines +Gastfreundes. Da dieselben nicht unter Glas und Rahmen waren, sondern +sich in großen Laden des Tisches im Lesezimmer befanden, so konnte man +sie weit bequemer betrachten als die Gemälde. Ich nahm mir zuerst die +Mappen nach einander heraus und sah alle Kupferstiche der Reihe nach +an. Dann aber ging ich an eine mehr geordnete Betrachtung. So wie mein +Gastfreund nicht Bücher aus dem Hause gab, wohl aber einem Gaste in +sein Zimmer die verlangten bringen ließ, so tat er es auch mit den +Kupferstichen, nur gab er immer gleich eine ganze Mappe in ein Zimmer, +nicht aber leicht einzelne Blätter. Er tat dies der Erhaltung und +Schonung willen. Weil ich nun nicht viele Stunden im Lesezimmer +ununterbrochen mit Ansehen von Kupferstichen zubringen mochte, so +ließ mir mein Gastfreund die einzelnen Mappen nach und nach in meine +Wohnung bringen, und ich konnte die in ihnen enthaltenen Werke mit +Muße betrachten, konnte diese Beschäftigung auch durch Anderes +unterbrechen und konnte, wenn ich die Mappe durch eine beliebige Zeit +in meiner Wohnung gehabt hatte, dieselbe durch eine andere ersetzen. +Später, da ich alle Mappen genau durchsucht hatte, wobei ich mir +diejenigen Werke aufzeichnete, die mir ganz besonders gefielen oder +die von meinem Gastfreunde und Eustach als vorzüglich bezeichnet +waren, schlug ich mir bei Gelegenheit nur die eine oder andere auf, um +das eine oder andere mir sehr liebe Werk des Grabstichels zu besehen. +Ich merkte mir in meinem Gedenkbuche auch diejenigen an, welche ich +mir gleichfalls kaufen wollte, wenn es solche waren, die man noch im +Handel bekommen konnte. Ich lernte bei diesen Untersuchungen die Art +und Weise des Vortrags verschiedener Meister und verschiedener Zeiten +kennen und endlich auch würdigen, und ich fand wieder, wie es bei den +Gemälden der Fall ist, daß mit geringen Ausnahmen auch diese Kunst +eine schönere Vergangenheit gehabt habe, als sie eine Gegenwart habe, +ja bei den Kupferstichen konnte ich dies noch genauer kennen lernen +als bei Gemälden, da mein Freund alte und neue Kupferstiche hatte, +während in seinem Bilderzimmer nur sehr wenige neue Bilder hingen, die +Vergleichung also schwieriger war, und ich mich auf die neuen Bilder +weniger erinnerte, welche ich in der Stadt gesehen hatte und welche +ich auch mit anderen Augen mochte angeschaut haben. Ich lernte +die Feinheiten, die Großartigkeit, die Schönheit, die Ruhe in der +Behandlung immer mehr kennen und würdigen und beschloß, da mir +Kupferstiche weit leichter zu erwerben waren als Gemälde, vorläufig +damit zu beginnen, mir Blätter, die ich für trefflich hielt, zu kaufen +und eine Sammlung anzubahnen. Es war eine ziemliche Zeit hingegangen, +die ich mit Betrachtung und Einprägung der Kupferstiche und Gemälde +verbrachte. Eustach war häufig bei mir, wir sprachen über die Dinge, +und ich lernte täglich höher von diesem Manne denken. + +Ich kam während dieser Zeit auch öfter in das Schreinerhaus und andere +Werkstätten und sah zu, was da verfertiget werde. + +Bei diesen Veranlassungen fiel es mir auf, daß mein Gastfreund noch +nicht begonnen hatte, aus dem in Wahrheit gewiß außerordentlich +schönen Marmor, den ich ihm gebracht hatte, dessen Schönheit ich ganz +gewiß zu beurteilen verstand und der ihm selber viele Freude gemacht +zu haben schien, etwas verfertigen zu lassen. Ich konnte auch +den Marmor in dem Rosenhause gar nicht auffinden. Er war in dem +Vorratshause gelegen, wo sich auch öfter Steine von mir befunden +hatten. Jetzt war er nicht mehr dort. War er, um nicht Verletzungen zu +erfahren, in einen anderen, sichereren Ort gebracht worden oder hatte +man ihn doch irgendwohin gesendet, wo an ihm gearbeitet wurde? Das +Letzte war nicht denkbar, da mein Gastfreund alle Dinge aus Holz +und Stein in seinem Hause arbeiten ließ, wozu auch nicht nur die +Vorrichtungen und Werkzeuge vorhanden waren, sondern wohin auch zu +jeder Zeit die etwa noch mangelnden Arbeitskräfte gezogen werden +können. + + +Ich machte eines Tages eine Reise in das Lauterthal und hielt mich +einige Zeit in demselben auf. Es war nicht, um meine gewöhnliche +Beschäftigung dort vorzunehmen, sondern um nach den Arbeiten mit +meinem Marmor zu sehen. In der Nähe des Ahorngasthauses - etwa zwei +Wegestunden von demselben entfernt - befand sich die Anstalt, in +welcher Marmor gesägt und geschliffen wurde und in welcher man +verschiedene Dinge aus Marmor verfertigte. Der Ort hieß das Rothmoor, +weshalb, konnte ich nicht ergründen; denn es war überall Gestein und +rauschendes Wasser, und von einem Moore war auf Meilen in der Länge +und Breite nichts zu finden; aber der Ort hieß so. Es befanden sich +dort mehrere Stücke Marmor von mir, damit aus denselben etwas für den +Vater gemacht würde. Das größte Stück war fast rosenrot, und es sollte +daraus ein Wasserbecken für den Garten werden. Das Becken aber hatte +ich selber entworfen. Aus großer Vorliebe für Gewächse hatte ich seine +Gestalt aus dem Gewächsreiche genommen. Es war ein Blatt, welches dem +der Einbeere sehr ähnlich war, in welchem die glänzende dunkelschwarze +Kugel liegt. Ich hatte das Blatt nach einem wirklichen aus Wachs +gebildet, nur die Auszackung machte ich geringer und die Tiefe größer. +Das Wachsblatt wurde von einem Arbeiter, der des Gestaltens sehr +kundig war, in Gips bedeutend größer nachgebildet, und nach dem +Gipsblatte sollte das Marmorbecken gearbeitet werden. In der Tiefe +desselben sollte wie bei dem Einbeerenblatte die Kugel liegen, und aus +einem Stiele, der sich über das Blatt erhebt, soll das Wasser in einem +feinen Strahle in das Blatt springen. Das Blatt selber sollte von +Rosenmarmor, der Stamm und Stengel von einem anderen, dunkleren +sein. Ich bestrebte mich in dem Rothmoore nachzusehen, wie weit die +Arbeit gediehen sei, und versuchte durch Besprechungen für größere +Leichtigkeit und Reinheit einzuwirken. Aus anderem Marmor sollten +andere Dinge verfertigt werden. Zuerst das Pflaster um die Einbeere +herum. Das Blatt sollte sein Wasser auf dieses Pflaster hinabgießen, +dasselbe sollte auf seiner Ebene eine sanfte Rinne bilden, um +das Wasser weiter zu leiten. Die Farbe des Pflasters sollte blaß +gelblich sein. Ich hatte eine erkleckliche Anzahl Stücke hiezu +zusammengebracht. Für eine Laube in dem Garten hatte ich die Platte +eines Tischchens beabsichtigt. Sonst waren noch kleine Tragsteine, ein +paar Simse und Briefbeschwerer im Werke. Die Sachen waren in Arbeit. +Als Daraufgabe war ein Nest, in welchem zwei Eier lagen, deren Marmor +fast täuschend die Farbe von Kibitzeiern hatte. + +Ich war mit den Arbeiten, so weit sie jetzt gediehen waren, sehr +zufrieden. Der Stein zu dem Becken war nicht nur in seine allgemeine +Gestalt geschnitten worden, sondern das Blatt war in rohen Umrissen +fertig, so daß zur feineren Ausfeilung und zur Glättung geschritten +werden konnte. Es arbeiteten zwei Menschen ausschließlich an diesem +Gegenstande. Mit dem Gipsvorbilde ließ ich noch einige Veränderungen +vornehmen. Es war mir nicht leicht genug und zeigte mir nicht +hinlänglich das Weiche des Pflanzenlebens. + +Ich ging in die Berge, suchte Pflanzen der Einbeere und brachte sie +sammt ihrer Erde in Töpfen zurück, damit sie nicht zu schnell welkten +und uns länger als Muster dienen könnten. An diesen Pflanzen suchte +ich zu zeigen, was an dem Vorbilde noch fehle. Ich erklärte, wo ein +Blatteil sich sanfter legen, ein Rand sich weicher krümmen müsse, +damit endlich das Steinbild, wenn es fertig wäre, nicht den Eindruck +hervorbringe, als ob es gemacht worden, sondern den, als ob es +gewachsen wäre. Da ich mich bemühte, die Sache ohne Verletzung des +Mannes, welcher das Gipsvorbild verfertiget hatte, darzulegen und sie +eher in das Gewand einer Beratung einzukleiden, so ging man auf meine +Ansichten sehr gerne ein, und da die ersten Versuche gelangen und das +Becken durch die größere Ähnlichkeit, die es mit dem Blatte erlangte, +auch sichtbar an Schönheit gewann, so ging man mit Eifer an die +Fortsetzung, suchte sich den Pflanzenmerkmalen immer mehr zu nähern +und erlebte die Freude, daß endlich das Werk in ungemein edlerer +Vollendung dastand als früher. Selbst für künftige Arbeiten hatte man +durch dieses Verfahren einen Anhaltspunkt gewonnen, und Hoffnungen +geschöpft, sich in schönere und heiterere Kreise zu schwingen. +Der Werkmeister sprach unverhohlen mit mir über die Sache. Früher +hatte man nach hergebrachten Gestalten und Zeichnungen Gegenstände +verfertigt, dieselben versandt und Preise dafür erhalten, die solchen +Waren gewöhnlich zukommen, so daß die Anstalt bestehen konnte, aber +einer gehäbigen und wohlhabenden Blüte doch nicht teilhaftig war. +Daß man sich an Pflanzen als Vorbilder wenden könne, war ihnen nicht +eingefallen. + +Jetzt richtete man den Blick auf sie und fand, daß alle Berge voll +von Dingen ständen, die ihnen Fingerzeige geben könnten, wie sie ihre +Werke zu verfertigen und zu veredeln hätten. + +Ich blieb so lange da, bis das Gipsblatt vollkommen fertig war, und +bis ich mich darüber beruhigt hatte, welche Werkzeuge zum Messen +angewendet würden, damit die Gestalt des Vorbildes mit allen ihren +Verhältnissen in die Nachbildung übergehen könnte. + +Nachdem ich noch die Bitte um Beschleunigung der Arbeit angebracht +hatte, damit ich sie so bald als möglich in den Garten des Vaters +bringen könnte, und nachdem ich versprochen hatte, in diesem Sommer +noch einen Besuch in der Anstalt zu machen, trat ich den Rückweg in +das Rosenhaus wieder an. + +Ich bestieg auf meiner Wanderung, die ich in den Bergen zu Fuße +machte, das Eiskar, setzte mich auf einen Steinblock und sah beinahe +den ganzen Nachmittag in tiefem Sinnen auf die Landschaften, die vor +mir ausgebreitet waren, hinaus. + + +In dem Rosenhause beschäftigte ich mich wieder mit Betrachtung der +Bilder. Ich nahm sogar ein Vergrößerungsglas und sah die Gemälde an, +wie denn die verschiedenen alten Meister gemalt haben, ob der eine +einen stumpfen, starren Pinsel genommen habe, der andere einen langen, +weichen, ob sie mit breitem oder spitzigem gearbeitet, ob sie viel +untermalt haben oder gleich mit den schweren, undurchsichtigen Farben +darauf gegangen seien, ob sie in kleinen Flächen fertig gemacht oder +das Große vorerst angelegt und es in allen Teilen nach und nach der +Vollendung zugeführt hätten. + +Mein Gastfreund war in diesen Dingen sehr erfahren und stand mir bei. + +Von den Dichtern nahm ich jetzt Calderon vor. Ich konnte ihn bereits +in dem Spanischen lesen und vertiefte mich mit großem Eifer in seinen +Geist. + +Wir besuchten mehrere Male den Inghof. Es wurde dort Musik gemacht, es +wurde gespielt, wir besuchten die schönsten Teile der Umgebung oder +besahen, was der Garten oder der Meierhof oder das Haus Vorzügliches +aufzuweisen hatte. + +Zur Zeit der Rosenblüte kamen Mathilde und Natalie auf den Asperhof. +Wir wußten den Tag der Ankunft und erwarteten sie. Als sie +ausgestiegen waren, als Mathilde und mein Gastfreund sich begrüßt +hatten, als einige Worte von den Lippen der Mutter zu Gustav +gesprochen worden waren, wendete sie sich zu mir und sprach mit den +freundlichsten Mienen und mit dem liebevollsten Blick ihrer Augen +die Freude aus, mich hier zu finden, zu wissen, daß ich mich schon +ziemlich lange bei ihrem Freunde und ihrem Sohne aufgehalten habe, +und zu hoffen, daß ich die ganze schöne Jahreszeit auf dem Asperhofe +zubringen werde. + +Ich erwiderte, daß ich heuer beschlossen habe, den ganzen Sommer über +bloß für mein Vergnügen zu leben und daß ich es mit großem Danke +anerkennen müsse, daß mir erlaubt sei, auf diesem Sitze verweilen zu +dürfen, der das Herz, den Verstand und das ganze Wesen eines jungen +Mannes so zu bilden geeignet sei. + +Natalie stand vor mir, da dieses gesprochen worden war. Sie erschien +mir in diesem Jahre vollkommener geworden und war so außerordentlich +schön, wie ich nie in meinem ganzen Leben ein weibliches Wesen gesehen +habe. + +Sie sagte kein Wort zu mir, sondern sah mich nur an. Ich war nicht +im Stande, etwas aufzufinden, was ich zur Bewillkommnung hätte sagen +können. Ich verbeugte mich stumm, und sie erwiderte diese Verbeugung +durch eine gleiche. + +Hierauf gingen wir in das Haus. + +Die Tage verflossen wie die in den vergangenen Jahren. Nur eine +einzige Ausnahme trat ein. Man begann nach und nach von den Bildern +zu sprechen, man sprach von der Marmorgestalt, welche auf der schönen +Treppe des Hauses stand, man ging öfter in das Bilderzimmer und besah +Verschiedenes, und man verweilte manche Augenblicke in der dämmerigen +Helle der Treppe, auf welche von oben die sanfte Flut des Lichtes +hernieder sank, und vergnügte sich an der Herrlichkeit der dort +befindlichen Gestalt und der Pracht ihrer Gliederung. Ich erkannte, +daß Mathilde in der Beurteilung der Kunst erfahren sei und daß sie +dieselbe mit warmem Herzen liebe. Auch an Natalien sah ich, daß sie in +Kunstdingen nicht fremd sei und daß sie in ihrer Neigung etwas gelten. +Ich machte also jetzt die Erfahrung, daß man in früherer Zeit, da +ich mein Augenmerk noch weniger auf Gemälde und ähnliche Kunstwerke +gerichtet hatte und dieselben einen tiefen Platz in meinem Innern noch +nicht einnahmen, mich geschont habe, daß man nicht eingegangen sei, +in meiner Gegenwart von den in dem Hause befindlichen Kunstwerken +zu sprechen, um mich nicht in einen Kreis zu nötigen, der in jenem +Augenblicke noch beinahe außerhalb meiner Seelenkräfte lag. Mir kam +jetzt auch zu Sinne, daß in gleicher Weise mein Vater nie zu mir auf +eigenen Antrieb von seinen Bildern gesprochen habe und daß er sich nur +insoweit über dieselben eingelassen, als ich selber darauf zu sprechen +kam und um dieses oder jenes fragte. Sie haben also sämmtlich einen +Gegenstand vermieden, der in mir noch nicht geläufig war und von dem +sie erwarteten, daß ich vielleicht mein Gemüt zu ihm hinwenden würde. +Mich erfüllte diese Betrachtung einigermaßen mit Scham, und ich +erschien mir gegenüber all den Personen, die nun durch meine +Vorstellung gingen, als ungefüg und unbehilflich; aber da sie immer so +gut und liebreich gegen mich gewesen waren, so schloß ich aus diesem +Umstande, daß sie nicht nachteilig über mich geurteilt und daß +sie meinen Anteil an dem, was ihnen bereits teuer war, als sicher +bevorstehend betrachtet haben. Dieser Gedanke beruhigte mich eines +Teiles wieder. Besonders aber gereichte es mir zur Genugtuung, daß sie +mit einer Art von Freude in die Gespräche eingingen, die sich jetzt +über bildende Kunst entspannen, daß also das nicht unsachgemäß sein +mußte, was ich in dieser Richtung jetzt äußerte, und daß es ihnen +angenehm war, mit mir auf einer Lebensrichtung zusammen zu treffen, +welche für sie Wichtigkeit hatte. + +Eines Tages, da die Blüte der Rosen schon beinahe zu Ende war, wurde +ich unfreiwillig der Zeuge einiger Worte, welche Mathilde an meinen +Gastfreund richtete und welche offenbar nur für diesen allein +bestimmt waren. Ich zeichnete in einer Stube des Erdgeschosses +ein Fenstergitter. Das Erdgeschoß des Hauses hatte lauter eiserne +Fenstergitter. Diese waren aber nicht jene großstäbigen Gitter, wie +man sie an vielen Häusern und auch an Gefängnissen anbringt, sondern +sie waren sanft geschweift und hatten oben und unten eine flache +Wölbung, die mitten, gleichsam wie in einen Schlußstein, in eine +schöne Rose zusammenlief. Diese Rose war von vorzüglich leichter +Arbeit und war ihrem Vorbilde treuer, als ich irgendwo in Eisen +gesehen hatte. Außerdem war das ganze Gitter in zierlicher Art +zusammengestellt, und die Stäbe hatten nebst der Schlußrose noch +manche andere bedeutsame Verzierungen. Es war fast gegen Abend, als ich +mich in einer Stube des Erdgeschosses, deren Fenster auf die Rosen +hinausgingen, befand, um mir vorläufig die ganze Gestalt des Gitters, +die außen zu sehr von den Rosen verdeckt war, zu entwerfen. Die +einzelnen Verzierungen, deren Hauptentwicklung nach außen ging, wollte +ich mir später einmal von dorther zeichnen. Da ich in meine Arbeit +vertieft war, dunkelte es vor dem Fenster, wie wenn die Laubblätter +vor demselben von einem Schatten bedeckt würden. Da ich genauer +hinsah, erkannte ich, daß jemand vor dem Fenster stehe, den ich aber +der dichten Ranken willen nicht erkennen konnte. In diesem Augenblicke +ertönte durch das geöffnete Fenster klar und deutlich Mathildens +Stimme, die sagte: »Wie diese Rosen abgeblüht sind, so ist unser Glück +abgeblüht.« + +Ihr antwortete die Stimme meines Gastfreundes, welcher sagte: »Es ist +nicht abgeblüht, es hat nur eine andere Gestalt.« + +Ich stand auf, entfernte mich von dem Fenster und ging in die Mitte +des Zimmers, um von dem weiteren Verlaufe des Gespräches nicht mehr zu +vernehmen. Da ich ferner überlegt hatte, daß es nicht geziemend sei, +wenn mein Gastfreund und Mathilde später erführen, daß ich zu der +Zeit, als sie ein Gespräch vor dem Fenster geführt hatten, in der +Stube gewesen sei, der jenes Fenster angehörte, so entfernte ich mich +auch aus derselben und ging in den Garten. Da ich nach einer Zeit +meinen Gastfreund, Mathilden, Natalie und Gustav gegen den großen +Kirschbaum zugehen sah, begab ich mich wieder in die Stube und holte +mir meine Zeichnungsgeräte, die ich dort liegen gelassen hatte; +denn der Abend war mittlerweile so dunkel geworden, daß ich zum +Weiterzeichnen nicht mehr sehen konnte. + +Als die Rosenblüte gänzlich vorüber war, beschlossen wir, uns auch +eine Zeit in dem Sternenhofe aufzuhalten. Da wir den Hügel zu ihm +hinan fuhren, sah ich, daß Gerüste an dem Mauerwerke aufgeschlagen +waren, und als wir uns genähert hatten, erkannte ich, daß die +Arbeiter, die sich auf den Gerüsten befanden, damit beschäftigt waren, +die Tünche von den breiten Steinen, welche an die Oberfläche der +Mauern gingen, abzunehmen und die Steine zu reinigen. Man hatte vorher +an einem abgelegenen Teile des Hauses einen Versuch gemacht, welcher +sich bewährte und welcher dartat, daß das Haus ohne Tünche viel +schöner aussehen werde. + +In dem Sternenhofe wurde ich so freundlich behandelt, wie in der +früheren Zeit, ja wenn ich meinem Gefühle trauen durfte und wenn man +so feine Unterscheidungen machen darf, noch freundlicher als früher. +Mathilde zeigte mir selber alles, von dem sie glaubte, daß es mir von +einigem Werte sein könnte, und erklärte mir bei diesem Vorgange alles, +von dem sie glaubte, daß es einer Erklärung bedürfen könnte. Während +dieses meines Aufenthaltes erfuhr ich auch, daß Mathilde das Schloß +von einem vornehmen Manne gekauft hatte, der selten auf demselben +gewesen war und es ziemlich vernachlässigt hatte. Vor ihm war es im +Besitze einer Verwandten gewesen, deren Großvater es gekauft hatte. In +der Zeit vorher war ein häufiger Wechsel der Eigentümer gewesen, und +das Gut war sehr herab gekommen. Mathilde fing damit an, daß sie die +zum Schlosse gehörigen Untertanen, welche Zehnte und Gaben in dasselbe +zu entrichten hatten, gegen ein vereinbartes Entgelt für alle Zeiten +von ihren Pflichten entband und sie zu unbeschränkten Eigentümern auf +ihrem Grunde machte. Das zweite, was sie tat, bestand darin, daß sie +die Liegenschaften des Schlosses selber zu bewirtschaften begann, +daß sie einen geschlossenen Hausstand von Gesinde und ihrer eigenen +Familie begründete und mit diesem Hausstande lebte. Sie richtete den +Meierhof zurecht und brachte mit Hilfe tätiger Leute, die sie aufnahm, +die Felder, die Wiesen und Wälder in einen besseren Stand. + +Die schönen Zeilen von Obstbäumen, welche durch die Fluren liefen und +die mir bei meinem ersten Aufenthalte schon so sehr gefallen hatten, +waren von ihr selber gepflanzt, und wenn sie gute, selbst ziemlich +erwachsene Obstbäume irgendwo erhalten konnte, so scheute sie nicht +die Zeit und den Aufwand, sie bringen und auf ihren Grund setzen zu +lassen. Da die Nachbarn dieses Verfahren allmählich nachahmten, so +erhielt die Gegend das eigentümliche und wohlgefällige Ansehen, das +sie von den umliegenden Ländereien unterschied. + +Die Gemälde, welche sich in den Wohnzimmern Mathildens und Nataliens +befanden, hatten nach meiner Meinung im Ganzen genommen zwar nicht den +Wert wie die im Asperhofe, aber es waren manche darunter, welche mir +nach meinen jetzigen Ansichten mit der größten Meisterschaft gemacht +schienen. Ich sagte die Sache meinem Gastfreunde, er bestätigte sie +und zeigte mir Gemälde von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese, Van Dyck +und Holbein. Unbedeutende oder gar schlechte Bilder, wie ich sie, so +weit mir jetzt dieses meine Rückerinnerung plötzlich und wiederholt +vor Augen brachte, in manchen Sammlungen, die mir in früheren Jahren +zugänglich gewesen waren, gesehen hatte, befanden sich weder in der +Wohnung Mathildens noch in dem Asperhofe. Wir sprachen auch hier +so wie in dem Rosenhause von den Gemälden, und es gehörte zu den +schönsten Augenblicken, wenn ein Bild auf die Staffelei getan worden +war, wenn man die Fenster, die ein störendes Licht hätten senden +können, verhüllt hatte, wenn das Bild in die rechte Helle gerückt +worden war, und wenn wir uns nun davor befanden. Mathilde und +mein Gastfreund saßen gewöhnlich, Eustach und ich standen, neben +uns Natalie und nicht selten auch Gustav, welcher bei solchen +Gelegenheiten sehr bescheiden und aufmerksam war. Öfter sprach +hauptsächlich mein Gastfreund von dem Bilde, öfter aber auch Eustach, +wozu Mathilde ihre Worte oder einfachen Meinungen gesellte. Man +wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte sich Manches, das +man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die +man ohnehin kannte. So wiederholte man den Genuß und verlebte sich in +das Kunstwerk. Ich sprach sehr selten mit, höchstens fragte ich und +ließ mir etwas erklären. Natalie stand daneben und redete niemals ein +Wort. + + +Zur Nymphe des Brunnens, die unter der Eppichwand im Garten war, ging +ich auch öfter. Früher hatte ich den wunderschönen Marmor bewundert, +desgleichen mir nicht vorgekommen war; jetzt erschien mir auch die +Gestalt als ein sehr schönes Gebilde. Ich verglich sie mit der auf +der Treppe im Hause meines Gastfreundes stehenden. Wenn auch jenes an +Hoheit, Würde und Ernst weit den Vorzug in meinen Augen hatte, so war +dieses doch auch für mich sehr anmutig, weich und klar, es hatte eine +beschwichtigende Ruhe, wie die Göttin eines Quells sollte, und hatte +doch wieder jenes Reine und, ich möchte sagen, Fremde, das ein Gemälde +nicht hat, das aber der Marmor so gerne zeigt. Ich wurde mir dieser +Empfindung des Fremden jetzt klarer bewußt, und ich erfuhr auch, +daß sie mich schon in früherer Zeit ergriffen hatte, wenn ich mich +Marmorbildwerken gegenüber befand. Es wirkte bei dieser Gestalt noch +ein Besonderes mit, was in meiner Beschäftigung der Erdforschung +seinen Grund hat, nehmlich, daß der Marmor gar so schön und fast +fleckenlos war. Er gehörte zu jener Gattung, die an den Rändern +durchscheinend ist, deren Weiße beinahe funkelt und uns verleitet, +zu meinen, man sähe die zarten Kristalle wie Eisnadeln oder wie +Zuckerkörner schimmern. Diese Reinheit hatte für mich an der Gestalt +etwas Erhabenes. Nur dort, wo das Wasser aus dem Kruge floß, den die +Gestalt umschlungen hielt, war ein grünlicher Schein in dem Marmor, +und der Staffel, auf dem der am tiefsten herabgehende Fuß ruhte, war +ebenfalls grün und von unten durch die herauf dringende Feuchtigkeit +ein wenig verunreinigt. Der Marmor an dem Bilde meines Freundes war +wohl trefflich, es mochte wahrscheinlich parischer sein; aber er hatte +schon einigermaßen die Farbe alten Marmors, während die Nymphe wie neu +war, als wäre der Marmor aus Carrara. Ich dachte mir wohl auch, und +meine Freunde bestätigten es, daß das Bildwerk neueren Ursprunges sei; +aber wie bei dem meines Gastfreundes wußte man auch hier den Meister +nicht. Ich saß sehr gerne in der Grotte bei dem Bildwerke. Es war da +ein Sitz von weißem Marmor in einer Vertiefung, die sich seitwärts von +der Nymphe in das Bauwerk zurück zog und von der aus man die Gestalt +sehr gut betrachten konnte. Es war ein sanftes Dämmern auf dem Marmor, +und im Dämmern war es wieder, als leuchtete der Marmor. Man konnte +hier auch das leise Rinnen des Wassers aus dem Kruge, das Kräuseln +desselben in dem Becken, das Hinabträufeln auf den Boden und das +gelegentliche Blitzen auf demselben sehen. + +Zur Wohnung hatte man mir dieselbe Räumlichkeit gegeben, die ich in +den ersten zwei Malen inne hatte, da ich in diesem Schlosse war. Man +hatte sie mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet, auf die man nur +immer denken konnte und deren ich zum größten Teile nicht bedurfte; +denn ich war in meinem Reiseleben gewohnt geworden, in den äußeren +Dingen auf das Einfachste vorzugehen. + +Da wir von dem Sternenhofe Abschied nahmen, sagte mir Mathilde auf die +liebe, freundliche Weise Lebewohl, mit der sie mich empfangen hatte. + +Wir besuchten auf unserer Rückreise mehrere Landwirte, welche in der +Gegend einen großen Ruf genossen, und besahen, was sie auf ihren +Gütern eingeführt hatten und was sie zum Wohle des Landes auszubreiten +wünschten. Mein Gastfreund nahm Rebstecklinge, Abteilungen von Samen +und Abbildungen von neuen Vorrichtungen mit nach Hause. + +Ehe ich die Rückreise zu den Meinigen antrat, ging ich noch einmal in +das Rothmoor, um zu sehen, wie weit die Arbeiten aus meinem Marmor +gediehen wären. Von den kleineren Dingen waren manche fertig. Das +Wasserbecken und die größeren Arbeiten mußten in das nächste Jahr +hinüber genommen werden. Ich billigte diese Anordnung; denn es war mir +lieber, daß die Sache gut gemacht würde, als daß sie bald fertig wäre. + +Das Vollendete packte ich ein, um es mit nach Hause zu nehmen. + +In dem Rosenhause fand ich bei meiner Zurückkunft einen Brief +von Roland, der über die Ergebnisse der Nachforschungen nach den +Ergänzungen zu den Pfeilerverkleidungen meines Vaters sprach. Es war +keine Hoffnung vorhanden, die Ergänzungen zu finden. Im ganzen Gebirge +war nichts, was mit den beschriebenen Verkleidungen Ähnlichkeit hatte, +überhaupt sind da keine Verkleidungen und Vertäflungen vorhanden +gewesen, wohin Roland seit Jahren seine Wanderungen angestellt hatte, +sie müßten denn sehr verborgen sein, wornach man ein Auffinden so dem +Zufalle anheim geben müsse, wie das durch Zufall entdeckt worden sei, +was ich meinem Vater gebracht hätte. In Hinsicht der Vertäflungen +aber, um welche es sich hier handle, sei beinahe Gewiß vorhanden, daß +sie zerstört worden seien. Die Ausmaße, welche ihm über die in den +Händen meines Vaters befindlichen Werke zugesendet worden seien, +passen genau auf ein Gemach im Steinhause des Lauterthales, woher +gleich Anfangs der Ursprung der Dinge vermutet worden sei und welches +Gemach jetzt öde steht. Es habe zwei Pfeiler, an denen die noch +vorhandenen Verkleidungen gewesen sein müssen. Die Zwischenarbeiten +sind eben so zerstört worden wie Vieles, was sich in jenem steinernen +Schlößchen befunden habe; denn sonst mußten sie sich entweder in +dem Gebäude oder in der Gegend vorfinden, was beides nicht der Fall +ist, oder sie müßten sehr im Verborgenen sein, da doch sonst die +Nachforschungen, welche nun schon durch zwei Jahre angestellt und +bekannt geworden seien, die Leute veranlaßt haben dürften, die Sachen +zum Verkaufe um einen guten Kaufschilling zu bringen. Man müsse also +seine Gedanken dahin richten, daß nichts zu finden sei, und wenn doch +noch etwas gefunden würde, so müsse man es als eine unverhoffte Gunst +ansehen. Mein Gastfreund und ich sagten, daß wir ungefähr auf dieses +Ergebnis gefaßt gewesen seien. + + +Als der Herbst ziemlich vorgesehritten war, begab ich mich auf die +Rückreise in meine Heimat. Es war ein sehr heiterer Sonntagsmorgen, +den ich zu meiner Ankunft auserwählt hatte, weil ich wußte, daß an +diesem Tage der Vater zu Hause sein würde und ich daher den Nachmittag +in dem vollen Kreise der Meinigen zubringen konnte. Ich war nicht +wie gewöhnlich auf einem Schiffe gekommen, sondern ich hatte meine +Wanderung längs des ganzen Gebirges gegen Sonnenaufgang unternommen +und war dann mitternachtwärts mit einem Wagen in unsere Stadt +gefahren. Den Vater traf ich sehr heiter an, er schien gleichsam um +mehrere Jahre jünger geworden zu sein. Die Augen glänzten in seinem +Angesichte, als wäre ihm eine sehr große Freude widerfahren. Auch die +anderen sahen sehr vergnügt und fröhlich aus. + +Nach dem Mittagessen führte er mich in das gläserne Häuschen und +zeigte mir, daß sich die Verkleidungen bereits auf den Pfeilern +befänden. Es war ein bewunderungswürdiger Anblick, ich hätte nie +gedacht, daß sich die Schnitzerei so gut darstellen würde. Sie war +vollkommen gereinigt und schwach mit Firniß überzogen worden. + +»Siehst du«, sagte der Vater, »wie sich alles schön gestaltet hat. +Die Holzverkleidung fügt sich, als wäre sie für diese Pfeiler gemacht +worden. Es ist fast auch so der Fall; wenn nicht die Holzverkleidung +für die Pfeiler gemacht worden ist, so sind doch die Pfeiler für die +Holzverkleidung gemacht worden. Was aber von weit größerer Bedeutung +ist, besteht darin, daß das Holzkunstwerk in das ganze Häuschen so +paßt, als wäre sie ursprünglich für dasselbe bestimmt gewesen - und +dies freut mich am meisten. Ich kann mich daher auch nicht so betrüben +wie du, daß die anderen Teile der Verkleidungen nicht aufzufinden +gewesen sind. Ich müßte das ganze Häuschen wieder umbauen, wenn die +Ergänzungen zum Vorscheine gekommen wären; denn schwerlich würden sie +hieher passen, und zu verstümmeln oder zu vergrößern würden sie ihrer +Natur nach nicht sein. Wir wollen daher das Vorhandene genießen, und +kömmt durch ein Wunder die Ergänzung zum Vorscheine, so wird sich +schon zeigen, was zu tun sei. Du siehst, wir haben uns viele Mühe +gegeben, die Lücken auszufüllen und alles in einen natürlichen +Zusammenhang zu bringen.« + +So war es auch. Über den Verkleidungen befanden sich an den Pfeilern +Spiegel eingesetzt, deren Rahmen die Verzierungen der Verkleidung +fortsetzten und zu den Verzierungen der Fensterstäbe und Fensterkreuze +hinüber leiteten. Unter den Fenstern waren Simse und Vertäflungen so +angebracht, daß sie eine ruhigere Fläche zwischen den Schnitzwerken +abgaben. Ich sprach gegen meinen Vater meine Bewunderung aus, daß man +der Sache eine solche Gestalt zu geben gewußt habe. + +»Es ist uns aber auch ein sehr tüchtiger Lehrmeister beigestanden«, +erwiderte er, »und wir waren in der Lage, nach seinem Rate noch +Manches in unserem begonnenen Werke abzuändern; denn sonst wäre es +nicht so geworden, wie es geworden ist. Setze dich zu uns, daß ich es +dir erzähle.« + +Er saß mit der Mutter auf einer Bank, die aus feinen Rohrstäben +geflochten war, die Schwester und ich nahmen ihnen gegenüber auf +Sesseln Platz. + +»Dein Gastfreund«, fing er an, »hat uns ausgefunden und hat, als du +zwei Wochen fort warest, seine Bauzeichnungen und die Zeichnungen +vieler anderer Gegenstände hieher gesendet, daß ich sie ansehe. Er +hat mir auch den Antrag gemacht, daß ich manche, die mir besonders +gefielen, zu meinem Gebrauche nachzeichnen lassen dürfe, nur möchte +ich ihm die Blätter vorher alle senden und die bezeichnen, deren +Nachbildung ich wünschte, er würde sie mir dann gelegentlich zu diesem +Gebrauche zustellen. Ich lehnte diese Erlaubnis ab, nur Einzelnes von +Verzierungen oder Stäben ließ ich flüchtig heraus zeichnen, in so +fern ich erkannte, daß es mir bei meinen nächsten Anordnungen würde +dienlich sein. Den größten Nutzen aber schöpften wir - mein Arbeiter +und ich - aus der Anschauung des Ganzen überhaupt. Wir lernten hier +neue Dinge kennen, wir sahen, daß es Schöneres gibt, als wir selber +haben, so daß wir den Plan und die Ausführung zu den Arbeiten in dem +Häuschen hier viel besser machten, als wir sonst beides gemacht haben +würden. + +Die Zeichnungen von den Bauwerken, Geräten und anderen Dingen, welche +mir dein Gastfreund gesandt hat, sind so schön, daß es vielleicht +wenige gleiche gibt. Ich habe wohl in jüngeren Jahren bei meinen +Reisen und Wanderungen sehr schöne und hie und da schönere Bauwerke +gesehen; aber Zeichnungen von Bauwerken habe ich nie so vollendet klar +und rein gesehen. Ich hatte eine große Freude bei dem Anschauen dieser +Dinge, und wer in dem Besitze einer so trefflichen Sammlung der +schönsten, zahlreichen und dabei so mannigfaltigen Gegenstände ist, +der kann niemals mehr bei seinen Anordnungen in das Unbedeutende, +Leere und Nichtige verfallen, ja er muß bei gehöriger Benützung, und +wenn sein Geist die Dinge in sich aufzunehmen versteht, nur das Hohe +und Reine hervorbringen. Das ist eine seltne Gunst des Schicksales, +wenn ein Mann die Muße, Mittel und Mitarbeiter hat, solche Werke +anlegen zu können. Es gehörte zu meinen schönsten Augenblicken, in +diesen Sammlungen blättern zu dürfen und mich in die Anschauung +dessen, was mich besonders ansprach, zu vertiefen. Vielleicht gönnt es +doch noch einmal eine spätere Gunst, von dem Anerbieten dieses Mannes +Gebrauch machen zu können und hie und da etwas zu Stande zu bringen, +was nicht ganz ein unwerter Zuwachs zu meinen letzten Tagen ist. + +Also gefällt dir das, was wir zu unseren Verkleidungen hatten hinzu +machen lassen?« + +»Vater, sehr«, erwiderte ich; »aber ich habe jetzt andere Dinge zu +reden; ich kann mich von meinem Erstaunen nicht erholen, daß mein +Gastfreund seine Zeichnungen hieher gesendet hat, die er so liebt, +die er gewiß nicht weniger liebt als seine Bücher, von denen er doch +keines aus seinem Hause gibt. Ich habe eine so große Freude über +dieses Ereignis, daß ich nicht Worte finde, sie nur halb auszudrücken. +Vater, mein Gefühl hat in jüngster Zeit einen solchen Aufschwung +genommen, daß ich die Sache selber nicht begreife, ich muß mit dir +darüber reden, ich habe sehr viele Dinge mit dir zu reden. + +Meinem Gastfreunde muß ich auf das Wärmste und Heißeste danken, sobald +ich ihn sehe, er hat mir durch die Sendung der Zeichnungen an dich die +höchste Gunst erzeigt, die er mir nur zu erzeigen im Stande war.« + +»Dann muß ich dich bitten, mit mir zu gehen und noch etwas +anzuschauen«, sagte mein Vater. + +Er führte mich in sein Altertumszimmer. Die Mutter und die Schwester +gingen mit. + + +An einem Pfeiler, der mit einem langen, altertümlich gefaßten Spiegel +geschmückt war, stand der Tisch mit den Musikgeräten, den ich im +Rosenhause in der Wiederherstellung befindlich und zu Anfang dieses +Sommers bereits vollendet gesehen hatte. + +Ich konnte vor Verwunderung kein Wort sagen. + +Der Vater, der mein Gefühl verstand, sagte. »Der Tisch ist mein +Eigentum. Er ist mir in diesem Sommer gesendet worden, und es war +die Bitte beigefügt, ich möge ihn unter meinen andern Dingen als +Erinnerung an einen Mann aufstellen, dessen größte Freude es wäre, +einem Andern, der seine Neigung gleichen Dingen zuwende wie er, ein +Vergnügen zu machen.« + +»Da muß ich nun augenblicklich zu meinem Freunde reisen«, rief ich. + +»Den Dank habe ich ihm wohl schon ausgedrückt«, sagte der Vater; »aber +wenn du hingehen und es mit dem eigenen Munde tun willst, so freut es +mich um desto mehr.« + +Die Schwester hüpfte oder sprang beinahe in dem Zimmer herum und rief: +»Ich habe es mir gedacht, daß er so handeln wird, ich habe es mir +gedacht. O der Freude, o der Freude! Wirst du bald abreisen?« + +»Morgen mit dem frühesten Tagesanbruch«, erwiderte ich, »heute müssen +noch Pferde bestellt werden.« + +»Es ist eine späte Jahreszeit und du bist kaum gekommen, mein Sohn«, +sagte die Mutter; »aber ich halte dich nicht ab. Der Tisch und noch +mehr die Gesinnung des Mannes, der ihn sendete, haben auf deinen Vater +wie ein Glück gewirkt. Das müssen vortreffliche Menschen sein.« + +»Sie haben ihres Gleichen nicht auf Erden«, rief ich. Ohne zu säumen +schickte ich den Knecht auf die Post, um mir auf den nächsten Morgen +um vier Uhr zwei Pferde zu bestellen. Dann sprachen wir noch von dem +Tische. Der Vater breitete sich über seine Eigenschaften aus, er +erklärte uns dieses und jenes und setzte mir dann in einer längeren +Beweisführung auseinander, warum er gerade auf diesem Platze stehen +müsse, auf dem er stehe. Ohne von den Gemälden des Vaters etwas zu +sagen, auf welche ich mich sehr gefreut hatte und von denen ich +mit dem Vater hatte reden wollen, und ohne auf meinen diesjährigen +Sommeraufenthalt näher einzugehen, ließ ich den Rest des Tages +verfließen und erwartete mit Ungeduld den Morgen. Nur gelegentliche +Fragen des Vaters beantwortete ich und hörte zu, wenn er wieder von +dem sprach, was in diesem Sommer ein Ereignis für ihn gewesen war. Vor +dem Schlafengehen nahmen wir Abschied, und ich begab mich auf meine +Zimmer. + +Um drei Uhr des Morgens war ein leichter Lederkoffer gepackt, und +eine halbe Stunde später stand ich in guten Reisekleidern da. In dem +Speisezimmer, in welchem noch ein Frühstück für mich bereit stand, +erwarteten mich die Mutter und die Schwester. Der Vater, sagten sie, +schlummre noch sehr sanft. Das Frühmahl war eingenommen, die Pferde +standen vor dem Haustore, die Mutter verabschiedete sich von mir, +die Schwester begleitete mich zu dem Wagen, küßte mich dort auf das +Innigste und Freudigste, ich stieg ein und der Wagen fuhr in der noch +überall dicht herrschenden Finsternis davon. + +Ich war nie mit eigenen Postpferden gefahren, weil ich die Auslage für +Verschwendung hielt. Jetzt tat ich es, mir ging die Reise noch immer +nicht schnell genug, und auf jeder Post, wo ich neue Pferde und einen +neuen Wagen erhielt, däuchte mir der Aufenthalt zu lange. + +Ich hatte den Vater um den Brief nicht gefragt, der mit den +Zeichnungen oder mit dem Tische gekommen war, auch hatte ich mich +nicht um die Art erkundigt, wie diese Dinge eingelangt seien. Der +Vater hatte ebenfalls nichts davon erwähnt. Ich beschloß, meinem +Vorhaben treu zu bleiben und hierüber eine Frage nicht zu stellen. + + +Nach einer nur durch das notwendige Essen von mir unterbrochenen Fahrt +bei Tag und Nacht kam ich gegen den Mittag des zweiten Tages in dem +Rosenhause an. Ich hielt vor dem Gitter, gab einem Knechte, der gar +nicht erstaunt war, weil er an mein Gehen und Kommen in diesem Hause +gewohnt sein mochte, meinen Koffer, sendete Wagen und Pferde auf die +letzte Post, in die sie gehörten, zurück, ging in das Haus und fragte +nach meinem Freunde. + +Er sei in seinem Arbeitszimmer, sagte man mir. + +Ich ließ mich melden und wurde hinaufgewiesen. + +Er kam mir lächelnd entgegen, als ich eintrat. Ich sagte, er scheine +zu wissen, weshalb ich komme. + +»Ich glaube es mir denken zu können«, antwortete er. + +»Dann werdet ihr euch nicht wundern«, sagte ich, »daß ich in diesem +Jahre, für welches ich schon Abschied genommen habe, mittelst einer +sehr eiligen Reise noch einmal in euer Haus komme. Ihr habt meinem +Vater eine doppelte Freude erwiesen, ihr habt zu mir nichts gesagt, +mein Vater hat mir auch nichts geschrieben, wahrscheinlich, um den +Eindruck, wenn ich die Sache selber sähe, größer zu machen: ich müßte +ein sehr unrechtlicher Mensch sein, wenn ich nicht käme und für den +Jubel, der in mein Herz kam, nicht dankte. Ich weiß nicht, wodurch ich +es denn verdient habe, daß ihr das getan habt, was ihr tatet; ich weiß +nicht, wie ihr denn mit meinem Vater zusammenhänget, daß ihr ihm ein +so kostbares Geschenk macht und daß ihr mit den Zeichnungen so in +Liebe an ihn dachtet. + +Ich danke euch tausendmal und auf das herzlichste dafür. Ich habe euch +für alles Freundliche, was mir in eurem Hause zu Teil geworden ist, in +meinem Herzen gedankt, ich habe euch auch mit Worten gedankt. Dieses +aber ist das Liebste, was mir von euch gekommen ist, und ich biete +euch den heißesten Dank dafür an, der sich am besten aussprechen +würde, wenn es mir nur auch einmal gegönnt wäre, für euch etwas tun zu +können.« + +»Das dürfte sich vielleicht auch einmal fügen«, antwortete er, »das +Beste aber, was der Mensch für einen andern tun kann, ist doch immer +das, was er für ihn ist. Das Angenehmste an der Sache ist mir, daß ich +mich nicht getäuscht habe und daß euer Vater an den Sendungen Freude +hatte und daß die Freude des Vaters auch euch Freude machte. Im +übrigen ist ja alles sehr einfach und natürlich. Ihr habt mir von den +altertümlichen Dingen erzählt, welche euer Vater besitzt und welche +ihm Vergnügen machen, ihr habt von seinen Bildern gesprochen, ihr habt +ihm Schnitzwerke gebracht, für welche er eigens einen kleinen Erker +seines Hauses umbauen ließ, ihr habt euch große Mühe gegeben, die +Ergänzungen zu den Schnitzereien zu finden, habt sogar meinen Rat +hiebei eingeholt, und es war euch unangenehm, befürchten zu müssen, +daß ihr das Gesuchte trotz alles Strebens nicht finden würdet. Da +dachte ich, daß ich vielleicht mit einem meiner Gegenstände eurem +Vater ein Vergnügen machen könnte, besprach mich mit Eustach und +sandte den Tisch. Das Übersenden der Zeichnungen war auch ganz +folgerichtig. Ihr habt im vorigen Jahre mit vieler Mühe hier und im +Sternenhofe Abbildungen von Geräten gemacht, um eurem Vater nur im +Allgemeinen eine Vorstellung von dem zu geben, was hier ist. Wie nahe +lag es also, ihm Zeichnungen zu schicken, in denen noch weit mehr, +weit Umfassenderes und weit Edleres enthalten ist, obgleich sie +nur die Sammlung eines einzelnen Menschen sind und weit hinter dem +zurückstehen, was an Prachtwerken hie und da besteht. Wir haben +vielerlei an alten Geräten hier, wir können etwas entbehren, haben +schon Manches weggegeben, und geben gerne etwas einem Manne, der damit +Freude hat und der es zu pflegen und zu achten versteht.« + +»Es wurde mir sehr viel Schmerz machen«, sagte ich, »wenn ihr nur im +Entferntesten denken könntet, daß ich mit meinen Handlungen auf ein +solches Ergebnis habe hinzielen können.« + +»Das habe ich nie geglaubt, mein junger Freund«, antwortete er, »sonst +hätte ich die Sachen gar nicht geschickt. Aber es ist die zwölfte +Stunde nahe. Gehet mit mir in das Speisezimmer. Wir wußten zwar von +eurer Ankunft nichts; aber es wird sich schon etwas vorfinden, daß +ihr nicht Hunger leiden müsset und daß auch wir nicht einen Abbruch +leiden.« + +Mit diesen Worten gingen wir in das Speisezimmer. + +Nach dem Essen wurde ich von Gustav in meine Wohnung geleitet, die +immer in reinlichem Stande gehalten wurde und die jetzt von einem +schwachen Feuer wohltätig erwärmt war. Mir tat eine Ruhe etwas not, +und die mäßige Wärme erquickte meine Glieder. + +Im Laufe des Nachmittages sagte mein Gastfreund zu mir. »Es ist nie +ein so schöner Spätherbst gewesen als heuer, meine Witterungsbücher +weisen keinen solchen seit meinem Hiersein aus, und es sind alle +Anzeichen vorhanden, daß dieser Zustand noch mehrere Tage dauern wird. +Nirgends aber sind solche klare Spätherbsttage schöner als in unseren +nördlichen Hochlanden. Während nicht selten in der Tiefe Morgennebel +liegen, ja der Strom täglich in seinem Tale Morgens den Nebelstreifen +führt, schaut auf die Häupter des Hochlandes der wolkenlose Himmel +herab und geht über sie eine reine Sonne auf, die sie auch den ganzen +Tag hindurch nicht verläßt. Darum ist es auch in dieser Jahreszeit in +dem Hochlande verhältnismäßig warm, und während die rauhen Nebel in +der Tiefgegend schon die Blätter von den Obstbäumen gestreift haben, +prangt oben noch mancher Birkenwald, mancher Schlehenstrauch, manches +Buchengehege mit seinem goldenen und roten Schmucke. Nachmittags ist +dann gewöhnlich auch die Aussicht über das ganze Tiefland deutlicher +als je zu irgend einer Zeit im Sommer. Wir haben daher beschlossen, +heuer noch eine Reise in das Hochland zu machen, wie ich es in +früherer Zeit schon in manchen Jahren getan habe. Die Entfernungen +sind dort nicht so groß, und sollten sich die Vorboten melden, daß +das Wetter sich zur Änderung anschicken so können wir jederzeit den +Heimweg antreten und ohne viel Ungemach den Asperhof wieder erreichen. +Morgen wird Mathilde und Natalie eintreffen, sie fahren mit uns, auch +Eustach begleitet uns. Wolltet ihr nicht auch den Weg mit uns machen +und einige Tage der lieblichen Spätzeit mit uns genießen? Kömmt dann +Schnee oder Regen, wenn wir wieder in meinem Hause angelangt sind, so +werdet ihr wohl auf dem Postwagen eure Heimreise machen können und das +Wetter wird euch nicht viel anhaben.« + +»Es kann mir nie viel anhaben«, entgegnete ich, »weil ich gegen seine +Einflüsse abgehärtet bin, auch könnte mir in dem Gefühle, welches ich +gegen euch habe, keine größere Annehmlichkeit begegnen, als einige +Zeit in eurer Gesellschaft zu reisen; aber zu Hause wissen sie nichts +davon und erwarten mich wahrscheinlich schon bald.« + +»Ihr könntet sie ja in einem Briefe verständigen«, sagte er. + +»Das kann ich tun«, erwiderte ich. »Wenn ich auch gleich nach +meiner Ankunft nach einer viele Monate dauernden Abwesenheit wieder +fortgereist bin, wenn sie mich auch schon in den nächsten Tagen +erwarten, so werden sie doch einsehen, daß ein längerer Aufenthalt in +der Gesellschaft eines Mannes, zu welchem ich in einer Angelegenheit +wie die zwischen uns vorgefallene gereist bin, nur in der Natur der +Sache gegründet ist. Sie würden es weit übler nehmen, wenn ich unter +den bestehenden Verhältnissen nach Hause käme, als wenn ich noch eine +Weile bei euch bleibe.« + +»Ich habe euch meine Frage und mein Anerbieten gestellt«, antwortete +mein Gastfreund, »handelt nach eurem besten Ermessen. Was ihr tut, +wird wohl das Rechte sein.« + +»Ich schreibe sogleich den Brief.« + +»Gut, und ich werde ihn sofort auf die Post senden.« + + +Ich ging in meine Zimmer und schrieb einen Brief an den Vater. Es war +wohl das Rechte, was ich tat. Wie schwer würden es mir Vater, Mutter +und Schwester verziehen haben, wenn ich mich nicht mit Freude an einen +Mann zu einer kurzen Reise angeschlossen hätte, der so an unserm Hause +gehandelt hat. + +Als ich mit dem Briefe fertig war, trug ich ihn hinab, und der Knecht, +der gewöhnlich zu allen Botengängen verwendet wurde, wartete schon auf +ihn, um nebst anderen Aufträgen ihn an den Ort zu bringen, in welchem +er auf die Post kommen sollte. + + +Am anderen Tage, schon im Verlaufe des Vormittages, kamen Mathilde und +Natalie. Es schien, daß allen die Ursache, weshalb ich, nachdem ich +schon Abschied genommen hatte, wieder in das Rosenhaus gekommen war, +Freude machte. Sie sahen mich freundlicher an. Selbst Natalie, die +mich so gemieden hatte, war anders. Ich glaubte einige Male, wenn ich +abgewendet war, ihren Blick auf mich gerichtet zu wissen, den sie aber +sogleich, wenn ich hinsah, weg wendete. Gustav schloß sich mit ganzem +Herzen an mich an und hatte darüber kein Hehl. Ich wußte schon, daß +er mir immer seine Neigung in großem Maße zugewendet habe, und ich +erwiderte sie aus dem Grunde meiner Seele. + +Nachmittags wurden die Vorbereitungen zur Reise gemacht, und am +anderen Morgen noch vor Aufgang der Sonne fuhren wir ab. Mit Mathilde +fuhren Natalie und ein Dienstmädchen, mit meinem Gastfreunde fuhren +Eustach, Gustav und ich. Mit Roland sollten wir irgend wo im Lande +zusammen treffen, er sollte eine Strecke mit uns reisen, und für +diesen Fall war es dann bestimmt, daß Gustav in dem Wagen der Mutter +untergebracht werden mußte. Die eigentümliche Art des Hochlandes +erzeugte einen eigentümlichen Plan des Reisens. Wir hatten nehmlich +beschlossen, über manchen steilen und länger dauernden Berg hinan zu +gehen, ebenso über manchen hinab. Dies sollte die ganze Gesellschaft +zuweilen zusammen bringen, zuweilen trennen. Man konnte auf diese Art +Manches gemeinschaftlich genießen, Manches vereinzelt, sich aber in +Kürze davon Mitteilungen machen. + +Ehe noch die Sonne den höchsten Punkt ihres Bogens erklommen hatte, +waren wir bereits die Dachung empor gekommen, welche das niedrere +Land von dem Hochlande trennt, und fuhren nun in das eigentliche Ziel +unserer Reise hinein. + +Mein Gastfreund hatte Recht. In dem milden, sanften Schimmer der +Nachmittagsonne, die hier fast wärmer schien als in den Ebenen und +Tälern des Tieflandes, fuhren wir einem lieblichen Schauplatze +entgegen. Selbst untergeordnete Umstände vereinigten sich, die Reise +angenehm zu machen. Die sandigen Straßen des Oberlandes, welche auch +sehr gut gebaut waren, zeigten sich, ohne staubig zu sein, sehr +trocken, was von den Wegen in der Tiefe nicht gesagt werden konnte, +die teils durch die täglichen Morgennebel getränkt, teils ihres +schweren Bodens halber schon in langen Strecken feucht, kühl und +schmutzig waren. So rollten wir bequem dahin, alles war klar, +durchsichtig und ruhig. Nataliens gelber Reisestrohhut tauchte vor uns +auf oder verschwand, so wie ihr Wagen einen leichten Wall hinan ging +oder jenseits desselben hinab fuhr. + +Die Sonne stand an dem wolkenlosen Himmel, aber schon tief gegen +Süden, gleichsam als wollte sie für dieses Jahr Abschied nehmen. Die +letzte Kraft ihrer Strahlen glänzte noch um manches Gestein und um +die bunten Farben des Gestrippes an dem Gesteine. Die Felder waren +abgeerntet und umgepflügt, sie lagen kahl den Hügeln und Hängen +entlang, nur die grünen Tafeln der Wintersaaten leuchteten hervor. +Die Haustiere, des Sommerzwanges entledigt, der sie auf einen kleinen +Weidefleck gebannt hatte, gingen auf den Wiesen, um das nachsprossende +Gras zu genießen, oder gar auf den Saatfeldern umher. Die Wäldchen, +die die unzähligen Hügel krönten, glänzten noch in dieser späten Zeit +des Jahres entweder goldgelb in dem unverlorenen Schmuck des Laubes +oder rötlich oder es zogen sich bunte Streifen durch das dunkle, +bergan klimmende Grün der Föhren empor. Und über allem dem war doch +ein blasser, sanfter Hauch, der es milderte und ihm einen lieben +Reiz gab. Besonders gegen die Talrinnen oder Tiefen zu war die blaue +Farbe zart und schön. Aus diesem Dufte heraus leuchteten hie und +da entfernte Kirchtürme oder schimmerten einzelne weiße Punkte von +Häusern. Das Tiefland war von den Morgennebeln befreit, es lag sammt +dem Hochgebirge, das es gegen Süden begrenzte, überall sichtbar da +und säumte weithinstreichend das abgeschlossene Hügelgelände, auf +dem wir fuhren, wie eine entfernte, duftige, schweigende Fabel. Von +Menschentreiben darin war kaum etwas zu sehen, nicht die Begrenzungen +der Felder, geschweige eine Wohnung, nur das blitzende Band des +Stromes war hie und da durch das Blau gezogen. Es war unsäglich, wie +mir alles gefiel, es gefiel mir bei weitem mehr als früher, da ich +das erste Mal dieses Land mit meinem Gastfreunde genauer besah. +Ich tauchte meine ganze Seele in den holden Spätduft, der alles +umschleierte, ich senkte sie in die tiefen Einschnitte, an denen +wir gelegentlich hin fuhren, und übergab sie mit tiefem, innerem +Abschlusse der Ruhe und Stille, die um uns wartete. + +Als wir einmal einen langen Berg empor klommen, dessen Weg einerseits +an kleinen Felsstücken, Gestrippe und Wiesen dahinging, andererseits +aber den Blick in eine Schlucht und jenseits derselben auf Berge, +Wiesen, Felder und entfernte Waldbänder gewährte, als die Wägen voran +gingen und die ganze Gesellschaft langsam folgte, vielfach stehen +bleibend und sich besprechend, geriet ich neben Natalien, die mich, +nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, fragte, ob ich noch das +Spanische betreibe. + +Ich antwortete ihr, daß ich es erst seit Kurzem zu lernen begonnen +habe, daß ich aber seit der Zeit immer darin fortgefahren sei und daß +ich zuletzt mich an Calderon gewagt habe. + +Sie sagte, von ihrer Mutter sei ihr das Spanische empfohlen worden. +Es gefalle ihr, sie werde nicht davon ablassen, so weit nehmlich ihre +Kräfte darin ausreichen, und sie finde in dem Inhalte der spanischen +Schriften, besonders in der Einsamkeit der Romanzen, in den Pfaden der +Maultiertreiber und in den Schluchten und Bergen eine Ähnlichkeit mit +dem Lande, in dem wir reisen. Darum gefalle ihr das Spanische, weil +ihr dieses Land hier so gefalle. Sie würde am liebsten, wenn es auf +sie ankäme, in diesen Bergen wohnen. + +»Mir gefällt auch dieses Land«, erwiderte ich, »es gefällt mir mehr, +als ich je gedacht hätte. Da ich zum ersten Male hier war, übte es auf +mich schier keinen Reiz aus, ja mit seinem raschen Wechsel und doch +mit der großen Ähnlichkeit aller Gründe stieß es mich eher ab, als +es mich anzog. Da ich mit unserem Gastfreunde später einmal einen +größeren Teil bereiste, war es ganz anders, ich fand mich zu dieser +Weitsicht und Beschränktheit, zu dieser Enge und Großartigkeit, zu +dieser Einfachheit und Mannigfaltigkeit hingeneigt. Ich fühlte mich +bewegt, obwohl ich an ganz andere Gestalten gewohnt war und sie +liebte, nehmlich an die des Hochgebirges. Heute aber gefällt mir +alles, was uns umgibt, es gefällt mir so, daß ich es kaum zu sagen im +Stande bin.« + +»Seht, das geht immer so«, erwiderte sie. »Als ich mit meinem Vater +zum ersten Male hier war, freilich befand ich mich noch in den +Kinderjahren, war mir das unaufhörliche Auf- und Abfahren so +unangenehm, daß ich mich auf das Äußerste wieder in unsere Stadt und +in deren Ebenen zurück sehnte. Nach langer Zeit fuhr ich mit der +Mutter durch diese Gegenden und später wiederholt in derselben +Gesellschaft wie heute, außer euch, und jedes Mal wurde mir das Land +und seine Gestaltungen, ja selbst seine Bewohner lieber. Auch das ist +eigentümlich und angenehm, daß man Wagenreisen und Fußreisen verbinden +kann. Wenn man, wie wir jetzt tun, die Wägen verläßt und einen langen +Berg hinan geht oder ihn hinab geht, wird einem das Land bekannter, +als wenn man immer in dem Wagen bleibt. Es tritt näher an uns. Die +Gesträuche an dem Wege, die Steinmauern, die sie hier so gerne um die +Felder legen, ein Birkenwäldchen mit den kleinsten Dingen, die unter +seinen Stämmen wachsen, die Wiesen, die sich in eine Schlucht hinab +ziehen, und die Baumwipfel, welche aus der Schlucht herauf sehen, hat +man unmittelbar vor Augen. In Ebenen eilt man schnell vorbei. Hier ist +gerade so eine Schlucht, wie ich sprach.« + +Wir blieben ein Weilchen stehen und sahen in die Schlucht hinab. Beide +sprachen wir gar nichts. Endlich fragte ich sie, woher sie denn wisse, +daß ich die spanische Sprache lerne. + +»Unser Gastfreund hat es uns gesagt«, erwiderte sie, »er hat uns auch +gesagt, daß ihr Calderon leset.« + +Nach diesen Worten gingen wir weiter. Die andere Gesellschaft, welche +vor uns gewesen war, blieb im Gespräche stehen, und wir erreichten +sie. Die Gespräche wurden allgemeiner und betrafen meistens die +Gegenstände, welche man eben, entweder in nächster Nähe oder in großer +Entfernung, sah. + +Weil nach Untergang der Sonne gleich große Kühle eintrat und unsere +Reise nicht den Zweck hatte, große Strecken zurück zu legen, sondern +das zu genießen, was die Zeit und der Weg boten, so wurde, als +die Sonne hinter den Waldsäumen hinab sank, Halt gemacht und die +Nachtherberge bezogen. Die Einteilung war schon so gemacht worden, daß +wir zu dieser Zeit in einem größeren Orte eintrafen. Wir gingen noch +ins Freie. Wie schnell war in Kurzem der Schauplatz geändert! Die +belebende und färbende Sonne war verschwunden, alles stand einfarbiger +da, die Kühle der Luft ließ sich empfinden, in der Tiefe der +Wiesengründe zogen sich sehr bald Nebelfäden hin, das ferne +Hochgebirge stand scharf in der klaren Luft, während das Tiefland +verschwamm und Schleier wurde. Der Westhimmel war über den dunkeln +Wäldern hellgelb, manche Rauchsäule stieg aus einer Wohnung gegen +ihn auf, und bald auch glänzte hie und da ein Stern, die feine +Mondessichel wurde über den Zacken des westlichen Waldes sichtbar, um +in sie zu sinken. + +Wir gingen nun in ein Zimmer, das für uns geheizt worden war, +verzehrten dort unser Abendessen, blieben noch eine Zeit in Gesprächen +sitzen und begaben uns dann in unsere Schlafgemächer. + +Am andere Tage war ein klarer Reif über Wiesen und Felder. Die +Nebelfäden unserer Umgebung waren verschwunden, alles lag scharf +und funkelnd da, nur das Tiefland war ein einziger wogender Nebel, +jenseits dessen das Hochgebirge deutlich mit seinen frischen und +sonnigen Schneefeldern dastand. + +Kurz nach Aufgang der Sonne fuhren wir fort, und bald waren ihre +milden Strahlen zu spüren. Wir empfanden sie, der Reif schmolz weg und +in Kurzem zeigte sich uns die Gegend wieder wie gestern. + +Wir besuchten eine Kirche, in welcher mein Gastfreund Ausbesserungen +an alten Schnitzereien machen ließ. Es war aber gerade jetzt nicht +viel zu sehen. Ein Teil der Gegenstände war in das Rosenhaus +abgegangen, ein anderer war abgebrochen und lag zum Einpacken bereit. +Die Kirche war klein und sehr alt. Sie war in den ersten Anfängen +der gothischen Kunst gebaut. Ihre Abbildung befand sich unter den +Bauzeichnungen Eustachs. Als wir alles besehen hatten, fuhren wir +wieder weiter. + +Nachmittags gesellte sich Roland zu uns. Er hatte uns in einem +Gasthause erwartet, in welchem unsere Pferde Futter bekamen. + +Ich konnte, da wir uns eine Weile in dem Hause aufhielten, und später +bei einer andern Gelegenheit, da wir eine Strecke zu Fuß gingen, +wieder bemerken, daß seine Blicke zuweilen auf Natalien hafteten. + +Er hatte Zeichnungen in einem Buche, das er bei sich trug, und er +hatte Bemerkungen und Vorschläge in sein Gedenkbuch geschrieben. Er +teilte von beiden Einiges mit, soweit es die Reise gestattete, und +versprach, Abends, wenn wir in der Herberge angelangt sein würden, +noch Mehreres vorzulegen. + +Am nächsten Tage Nachmittags kamen wir nach Kerberg und besahen die +Kirche und den schönen geschnitzten Hochaltar. Mir gefiel er jetzt +viel besser, als da ich ihn in Gesellschaft meines Gastfreundes und +Eustachs zum ersten Male gesehen hatte. Ich begriff nicht, wie ich +damals mit so wenig Anteil vor diesem außerordentlichen Werke hatte +stehen können; denn außerordentlich erschien es mir trotz seiner +Fehler, die, wie ich wohl sah, in jedem Werke altdeutscher Kunst zu +finden sein würden, die ich aber in dem Bildnerwerke, das auf der +Treppe meines Freundes stand, nicht fand. Wir blieben lange in der +Kirche, und ich wäre gerne noch länger geblieben. Vor der Ruhe, +dem Ernste, der Würde und der Kindlichkeit dieses Werkes kam eine +Ehrfurcht, ja fast ein Schauer in mein Herz, und die Einfachheit der +Anlage bei dem großen Reichtume des Einzelnen beruhigte das Auge und +das Gemüt. Wir sprachen über das Werk, und aus dem Gespräche erkannte +ich jetzt recht deutlich, daß früher auch vor diesem Werke die zwei +Männer auf meine Unkenntnis Rücksicht genommen hatten, und ich dankte +es ihnen in meinem Herzen. Ich nahm mir vor, einmal von dieser +Schnitzarbeit ein genaues Abbild zu machen und es meinem Vater zu +bringen. + +Ich äußerte mich, wie schön, wie groß einmal die Kunst gewirkt habe +und wie dies jetzt anders geworden scheine. + +»Es sind in der Kunst viele Anfänge gemacht worden«, sagte mein +Gastfreund. »Wenn man die Werke betrachtet, die uns aus sehr alten +Zeiten überliefert worden sind, aus den Zeiten der ägyptischen +Reiche, des assyrischen, medischen, persischen, der Reiche Indiens, +Kleinasiens, Griechenlands, Roms - Vieles wird noch erst in unsern +Zeiten aus der Erde zu Tage gefördert, Vieles harrt noch der +zukünftigen Enthüllung, wer weiß, ob nicht sogar auch Amerika +Schätzenswertes verbirgt -, wenn man diese Werke betrachtet und wenn +man die besten Schriften liest, die über die Entwicklung der Kunst +geschrieben worden sind: so sieht man, daß die Menschen in der +Erschaffung einer Schöpfung, die der des göttlichen Schöpfers ähnlich +sein soll - und das ist ja die Kunst, sie nimmt Teile, größere oder +kleinere, der Schöpfung und ahmt sie nach -, immer in Anfängen +geblieben sind, sie sind gewissermaßen Kinder, die nachäffen. Wer hat +noch erst nur einen Grashalm so treu gemacht, wie sie auf der Wiese +zu Millionen wachsen, wer hat einen Stein, eine Wolke, ein Wasser, +ein Gebirge, die gelenkige Schönheit der Tiere, die Pracht der +menschlichen Glieder nachgebildet, daß sie nicht hinter den Urbildern +wie schattenhafte Wesen stehen, und wer hat erst die Unendlichkeit des +Geistes darzustellen gewußt, die schon in der Endlichkeit einzelner +Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der Fruchtbarkeit der +Erde mit ihren Winden, Wolkenzügen, in dem Erdballe selber und dann in +der Unendlichkeit des Alls? Oder wer hat nur diesen Geist zu fassen +gewußt? Einige Völker sind sinniger und inniger geworden, andere haben +ins Größere und Weitere gearbeitet, wieder andere haben den Umriß mit +keuscher und reiner Seele aufgenommen und andere sind schlicht und +einfältig gewesen. Nicht ein Einzelnes von diesen ist die Kunst, alles +zusammen ist die Kunst, was da gewesen ist und was noch kommen wird. +Wir gleichen den Kindern auch darin, daß, wenn sie ein Haus, eine +Kirche, einen Berg aus Erde nur entfernt ähnlich ausgeführt haben, +sie eine größere Freude darüber empfinden, als wenn sie das um +Unvergleichliches schönere Haus, die schönere Kirche oder den +schöneren Berg selbst ansehen. Wir haben ein innigeres und süßeres +Gefühl in unserem Wesen, wenn wir eine durch Kunst gebildete +Landschaft, Blumen oder einen Menschen sehen, als wenn diese +Gegenstände in Wirklichkeit vor uns sind. Was die Kinder bewundern, +ist der Geist eines Kindes, der doch so viel in der Nachahmung +hervorgebracht hat, und was wir in der Kunst bewundern, ist, daß der +Geist eines Menschen, uns gleichsam sinnlich greifbar, ein Gegenstand +unserer Liebe und Verehrung, wenn auch fehlerhaft, doch dem etwas +nachgeschaffen hat, den wir in unserer Vernunft zu fassen streben, den +wir nicht in den beschränkten Kreis unserer Liebe ziehen können und +vor dem die Schauer der Anbetung und Demütigung in Anbetracht seiner +Majestät immer größer werden, je näher wir ihn erkennen. Darum ist die +Kunst ein Zweig der Religion, und darum hat sie ihre schönsten Tage +bei allen Völkern im Dienste der Religion zugebracht. Wie weit sie +es in dem Nachschaffen bringen kann, vermag niemand zu wissen. Wenn +schöne Anfänge da gewesen sind, wie zum Beispiele im Griechentume, +wenn sie wieder zurück gesunken sind, so kann man nicht sagen, die +Kunst sei zu Grunde gegangen; andere Anfänge werden wieder kommen, sie +werden ganz Anderes bilden, wenn ihnen gleich allen das Nehmliche zu +Grunde liegt und liegen wird, das Göttliche; und niemand kann sagen, +was in zehntausend, in hunderttausend Jahren, in Millionen von Jahren +oder in Hunderten von Billionen von Jahren sein wird, da niemand den +Plan des Schöpfers mit dem menschlichen Geschlechte auf der Erde +kennt. Darum ist auch in der Kunst nichts ganz unschön, so lange es +noch ein Kunstwerk ist, das heißt, so lange es das Göttliche nicht +verneint, sondern es auszudrücken strebt, und darum ist auch nichts in +ihr ohne Möglichkeit der Übertreffung schön, weil es dann schon das +Göttliche selber wäre, nicht ein Versuch des menschlichen Ausdruckes +desselben. Aus dem nehmlichen Grunde sind nicht alle Werke aus den +schönsten Zeiten gleich schön und nicht alle aus den verkommensten +oder rohesten gleich häßlich. Was wäre denn die Kunst, wenn die +Erhebung zu dem Göttlichen so leicht wäre, wie groß oder klein auch +die Stufe der Erhebung sei, daß sie Vielen, ohne innere Größe und +ohne Sammlung dieser Größe bis zum sichtlichen Zeichen, gelänge? Das +Göttliche mußte nicht so groß sein, und die Kunst würde uns nicht so +entzücken. Darum ist auch die Kunst so groß, weil es noch unzählige +Erhebungen zum Göttlichen gibt, ohne daß sie den Kunstausdruck finden, +Ergebung, Pflichttreue, das Gebet, Reinheit des Wandels, woran wir uns +auch erfreuen, ja woran die Freude den höchsten Gipfel erreichen kann, +ohne daß sie doch Kunstgefühl wird. Sie kann etwas Höheres sein, sie +wird als Höchstes dem Unendlichen gegenüber sogar Anbetung und ist +daher ernster und strenger als das Kunstgefühl, hat aber nicht das +Holde des Reizes desselben. Daher ist die Kunst nur möglich in einer +gewissen Beschränkung, in der die Annäherung zu dem Göttlichen von dem +Banne der Sinne umringt ist und gerade ihren Ausdruck in den Sinnen +findet. Darum hat nur der Mensch allein die Kunst, und wird sie haben, +so lange er ist, wie sehr die Äußerungen derselben auch wechseln +mögen. Es wäre des höchsten Wunsches würdig, wenn nach Abschluß +des Menschlichen ein Geist die gesammte Kunst des menschlichen +Geschlechtes von ihrem Entstehen bis zu ihrem Vergehen zusammenfassen +und überschauen dürfte.« + +Mathilde antwortete hierauf mit Lächeln: »Das wäre ja im Großen, was +du jetzt im Kleinen tust, und es dürfte hiezu eine ewige Zeit und ein +unendlicher Raum nötig sein.« + +»Wer weiß, wie es mit diesen Dingen ist«, erwiderte mein Gastfreund, +»und es wird hier wie überall gut sein: Ergebung, Vertrauen, Warten.« + + +Eustach öffnete die Mappe, in welcher er die Zeichnung des Altares und +die Zeichnungen von Teilen der Kirche, von der Kirche selber und von +Gegenständen hatte, die sich in der Kirche befanden. + +Wir verglichen die Zeichnung mit dem Altare, es wurde Manches bemerkt, +Manches gelobt, Manches zur Verbesserung der Zeichnung vorgeschlagen. + +Wir betrachteten auch die Kirche, wir betrachteten Teile derselben, +wir besahen Grabmäler und unter ihnen auch den großen roten Stein, auf +welchem der Mann mit der hohen, schönen Stirne abgebildet ist, der die +Kirche und den Altar gegründet hatte. + +Wie blieben an diesem Tage in Kerberg. Wir stiegen auf den Berg, auf +welchem das alte Schloß lag, und sahen das Schloß und den in dem +tiefsten herbstlichen Zustande stehenden Garten an. Wir gingen auf den +Stellen, auf welchen die alten mächtigen und reichen Leute gegangen +waren, die einst hier gewohnt hatten, und auch der Mann, als dessen +Tat die Kirche in dem Tale steht. + +»Was alle diese Menschen getan haben«, sagte mein Gastfreund, »wäre +zum Teile in den Papieren und Pergamenten enthalten, die in den +Schlössern und Häusern dieses Landes und mitunter auch in entfernten +Städten liegen. Einige wissen einen Teil dieser Taten, die meisten +sind damit völlig unbekannt, und diejenigen, welche auf den Spuren +herum gehen, die ihre Vorfahren getreten haben, wissen oft nicht, wer +diese gewesen sind. Es wäre nicht unziemlich, wenn durch Öffnung der +Briefgewölbe in allen Ländern auch Einzelgeschichten von Familien und +Gegenden verfaßt würden, die unser Herz oft näher berühren und uns +greiflicher sind als die großen Geschichten der großen Reiche. Man +betritt wohl diesen Weg, aber vielleicht nicht ausreichend und nicht +in der rechten Art.« + +Von Kerberg aus wendeten wir uns am folgenden Tage den höher gelegenen +Teilen des Landes zu, das dichter und ausgebreiteter bewaldet war +als die bisher befahrenen Gegenden und von dem uns durch das Dämmer +des Vormittages die breiten und weithinziehenden Bergesrücken mit +Nadeldunkel und Buchenrot entgegen sahen. + +Mein Gastfreund hatte Recht gehabt. Ein Tag wurde immer schöner als +der andere. Nicht der geringste Nebel war auf der Erde, auf welcher +wir reiseten, nicht das geringste Wölkchen am Himmel, der sich über +uns spannte. Die Sonne begleitete uns freundlich an jedem Tage, +und wenn sie schied, schien sie zu versprechen, morgen wieder so +freundlich zu erscheinen. + +Roland blieb drei Tage bei uns, dann verließ er uns, nachdem er vorher +noch Zeichnungen und andere Papiere in den Wagen meines Gastfreundes +gepackt hatte. Er wollte noch bis zum Eintritte des schlechten Wetters +in dem Lande bleiben und dann in das Rosenhaus zurückkehren. + +Alles war recht lieb und freundlich auf dieser Reise, die Gespräche +waren traulich und angenehm, und jedes Ding, eine kleine alte Kirche, +in der einst Gläubige gebetet, eine Mauertrümmer auf einem Berge, wo +einst mächtige und gebietende Menschen gehaust hatten, ein Baum auf +einer Anhöhe, der allein stand, ein Häuschen an dem Wege, auf das die +Sonne schien, alles gewann einen eigentümlichen sanften Reiz und eine +Bedeutung. + +Am achten Tage wandten wir unsere Wägen wieder gegen Süden, und am +neunten Abend trafen wir in dem Asperhofe ein. + +Ehe ich mich zu meiner Heimreise rüstete, sah ich noch einmal +Manches der herrlichen Bilder meines Gastfreundes, drückte manches +Außerordentliche der Bücher in meine Seele, sah die geliebten +Angesichter der Menschen, die mich umgaben, und sah manchen Blick der +Landschaft, die sich zu tiefem Ersterben rüstete. + +Mein Herz war gehoben und geschwellt, und es war, als breitete sich +in meinem Geiste die Frage aus, ob nun ein solches Vorgehen, ob +die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das Leben umschreibe und +vollende, oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das es umschließe und es +mit weit größerem Glück erfülle. + + + +Der Einblick + +Ich fuhr bei sehr schlechtem Wetter, welches mit Wind, Regen und +Schnee nach den hellen und sonnigen Tagen, die wir in dem Hochlande +zugebracht hatten, gefolgt war, von dem Rosenhause ab. Die Pferde +meines Gastfreundes brachten mich auf die erste Post, wo schon ein +Platz für mich in dem in der Richtung nach meiner Heimat gehenden +Postwagen bestellt war. Mathilde und Natalie waren zwei Tage vor mir +abgereist, da sich schon die Zeichen an dem Himmel zeigten, daß die +milden Tage für dieses Jahr zu Ende gehen würden. Roland war von +seiner Wanderung in dem Asperhofe eingetroffen. Alles hatte auf +stürmische Änderung in dem Luftraume hingedeutet. Ich weiß nicht, +warum ich so lange geblieben war. Es erschien mir auch einerlei, ob +das Wetter übel sei oder nicht. Ich war von meinen Wanderungen her +an jedes Wetter gewohnt, um so mehr konnte mir dasselbe gleichgültig +sein, wenn ich in einem vollkommen geschützten Wagen saß und auf einer +wohlgebauten Hauptstraße dahin rollte. + +Am dritten Tage Mittags nach meiner Abreise von dem Rosenhause traf +ich bei den Meinigen ein. Die zweite Ankunft in diesem Jahre. + +Sie hatten aus meinem Briefe die Verspätung meiner Ankunft entnommen, +den Grund vollständig gebilligt und wären, wie ich ganz richtig +vorausgesehen hatte, unwillig auf mich geworden, wenn ich anders +gehandelt hätte. Ich erzählte nun alles, was sich nach meiner +schnellen Abreise von Hause begeben hatte. Da bei meiner ersten +Ankunft gleich die eine Ursache zur Wiederabreise vorgekommen war, +so konnte ich auch jetzt erst nach und nach erzählen, was sich im +vergangenen Sommer mit mir zugetragen habe. Der Vater kam sehr +häufig auf die Zeichnungen zurück, die ihm mein Gastfreund gesendet +hatte, und aus seinen Reden war zu entnehmen, wie sehr er die +Geschicklichkeit des Mannes anerkannte, der die Zeichnungen gemacht +hatte, und wie hoch in seiner Achtung der stehe, auf dessen +Veranlassung sie entstanden waren. Er führte mich neuerdings zu dem +Musikgerättische, zeigte mir noch einmal, warum er ihn gerade an +diesen Platz gestellt habe, und fragte mich wieder, ob ich mit der +Wahl des Ortes einverstanden sei. Mich wunderte Anfangs die Frage, da +er sonst nicht gewohnt war, mich in solchen Dingen zu Rate zu ziehen. +Nach meiner Ansicht war der Tisch in dem Altertumszimmer an dem +Fensterpfeiler in passender Umgebung sehr gut gestellt und zeigte +seine Eigenschaften in dem besten Lichte. Ich wiederholte daher meine +vollkommene Billigung des Platzes, die ich schon vor meiner Abreise +ausgesprochen hatte. Später aber sah ich wohl recht deutlich, daß es +nur die Freude an diesem Stücke war, was den Vater zur Wiederholung +der Frage über die Zweckmäßigkeit des Platzes und zum wiederholten +Zurückkommen zu dem Tische veranlaßt hatte. Das freudige Wesen, +welches ich bei meiner ersten Ankunft in seiner ganzen Gestalt +ausgedrückt gesehen zu haben glaubte, erschien mir jetzt auch noch +über ihn verbreitet. Selbst die Mutter und die Schwester schienen mir +vergnügter zu sein als in andern Zeiten - ja mir war es, als liebten +mich alle mehr als sonst, so gut, so freundlich, so hingebend waren +sie. Wie sehr dieses Gefühl, von den Seinen geliebt zu sein, das Herz +beseligt, ist mit Worten nicht auszusprechen. + +Ich erzählte meinem Vater von dem Marmorbilde, welches auf der Treppe +im Hause meines Gastfreundes steht, und suchte ihm eine Beschreibung +von diesem Kunstwerke zu machen. Er sah mich sehr aufmerksam an, ja +mir war es einige Male, als sähe er mich gewissermaßen betroffen +an. Er fragte um Manches und veranlaßte mich neuerdings von dem +Bilderwerke zu sprechen. Es schien ihn sehr angelegentlich zu +berühren. + +Ich erzählte ihm dann auch von der Brunnengestalt in dem Sternenhofe, +verglich sie mit der Treppengestalt im Rosenhause, suchte den +Unterschied hervorzuheben, und suchte für die Treppengestalt weit den +Vorzug zu gewinnen, obgleich sie der älteren Zeit angehöre und die +andere etwa erst im vergangenen Jahrhunderte verfertigt worden sei, +und obgleich diese fast blendend reinen Marmor habe, die andere aber +einen, dem man das hohe Alter schon ansehe. Er fragte auch hier noch +um Vergleichungspunkte, und ich sah, daß er die Sache ergriff und +Einsicht von ihr hatte. Ich erzählte ihm dann auch von den Gemälden +meines Gastfreundes, ich nannte ihm die Meister, von denen Werke +vorhanden wären, und bemühte mich, Beschreibungen von den Bildern zu +geben, welche mich am meisten in Anspruch genommen hätten. Er tat auch +in dieser Hinsicht zahlreiche Fragen und machte, daß ich mich über +den Gegenstand weiter ausbreitete, als ich wohl ursprünglich im Sinne +hatte. + +Am zweiten Tage nach meiner Ankunft, da wir wieder von diesen Dingen +gesprochen hatten, nahm er mich bei der Hand und führte mich in +sein Bilderzimmer. Ich war absichtlich seit meiner Ankunft nicht in +demselben gewesen und hatte mir dessen Besuch auf eine ruhigere Zeit +aufgehoben. Ich hatte die zwei Tage in Gesprächen mit meinen Eltern +hingebracht, zum Teile hatte ich sie auch benützt, die Dinge, welche +ich ihnen und der Schwester gebracht hatte, zu übergeben. Darunter +waren auch die kleineren Marmorgegenstände, welche im Rothmoore fertig +geworden waren. Der Rest der Zeit war mit Auspacken, Einräumen und +mit einigen Ankunftsbesuchen ausgefüllt worden. Da wir in das Zimmer +getreten waren und die Mitte desselben erreicht hatten, ließ er meine +Hand fahren, sagte aber nichts. Ich war im größten Erstaunen. Die +Bilder, welche vorhanden waren und deren Zahl geringe war, weit +geringer als bei meinem Gastfreunde, ja selbst im Sternenhofe, +erschienen mir als außerordentlich schön, als ganz vollendete, +zusammenstimmende Meisterwerke, wie sie, wenn ich dem ersten Eindrucke +trauen durfte, bei meinem Gastfreunde in dieser gleich hohen und +zusammengehörigen Schönheit nicht vorhanden waren. Es befand sich, wie +ich bald entdeckte, kein Bild der neueren oder neusten Zeit darunter, +sämmtlich gehörten sie der älteren Zeit an, wenigstens, wie ich +wahrzunehmen glaubte, dem sechzehnten Jahrhunderte. Ein ganz tiefes, +eigentümliches Gefühl kam in meine Seele. Das ist die große und nicht +zu beschreibende Liebe des Vaters. Diese kostbaren Dinge besaß er, an +diesen Dingen hing sein Herz, sein Sohn war vorüber gegangen, ohne sie +zu beachten, und der Vater entzog dem Sohne doch kein Teilchen der +Zuneigung, er opferte sich ihm, er opferte ihm fast sein Leben, er +sorgte für ihn und suchte ihm nicht einmal zu beweisen, wie schön die +Sachen wären. Ich erfuhr, wie sehr ich auch hier geschont worden war. + +»Das sind ja herrliche Bilder«, rief ich in Rührung aus. + +»Ich glaube, daß sie nicht unbedeutend sind«, erwiderte er mit einer +durch Bewegung ergriffenen Stimme. + +Dann gingen wir näher, um sie zu betrachten. Es waren in der Tat +lauter alte Gemälde, keines von besonders großen Abmessungen, keines +von kunstwidriger Kleinheit. Ich tat die Bemerkung, daß er keine neuen +Bilder habe. + +»Es hat sich so gefügt«, sagte er, »ich habe schon einige der hier +befindlichen Stücke von deinem Großvater, der auch ein Freund von +solchen Dingen war, geerbt, und anderes habe ich gelegentlich +erworben. + +Die mittelalterliche Kunst steht wohl höher als die neue. In ihr ist +ein größerer Reichtum schöner Werke vorhanden als in der neuen, es ist +daher leichter möglich, ein fehlerfreies altes Bild zu erwerben als +ein neues. Wer Bilder unserer Zeiten liebt, gibt solche, die an +Schönheit keinen Tadel verdienen, nicht zum Kaufe, sie sind daher +nicht leicht zu erhalten. Bilder, die von Anfängern oder von solchen +herrühren, die schwach in der Kunst sind, stehen leicht und an vielen +Orten, teils von den Künstlern, teils von Händlern, wie es auch in +früheren Zeiten gewesen sein wird, zum Kaufen. Zu diesen konnte ich +nie eine Neigung fassen, daher ist es gekommen, daß ich lauter alte +Bilder besitze. Es war ein kräftiges und gewaltiges Geschlecht, das +damals wirkte. Dann kam eine schwächliche und entartetere Zeit. +Sie meinte es besser zu machen, wenn sie die Gestalten reicher und +verblasener bildete, wenn sie heftiger in der Farbe und weniger tief +im Schatten würde. Sie lernte das Alte nach und nach mißachten, daher +ließ sie dasselbe verfallen, ja die mit der Unkenntnis eintretende +Rohheit zerstörte Manches, besonders wenn wilde und verworrene +Zeitläufe eintraten. Man wendete dann wieder um und achtete +allgemeiner wieder das Alte - von allen Seiten mißachtet war es +niemals. - Man suchte sogar nachzuahmen, nicht bloß in der Malerkunst, +sondern auch, und zwar noch mehr in der Baukunst; man konnte aber das +Vorbild weder in der Grundeinheit noch in der Ausführung erreichen, so +gut und treu die neuen Einzelnheiten auch gewesen sein mochten. Es ist +langsam besser geworden, was sich eben in dem Zeichen kund tat, daß +man alte Bauwerke wieder schätzte - ich selber weiß noch eine Zeit, +in welcher Reisende und Schriftsteller, die man für gelehrt und +spruchberechtigt achtete, die gothische Bauweise für barbarisch und +veraltet erklärten -, daß man alte Bilder hervor zog, ja alte Geräte +sammelte und in dem Schnitte der Kleider alte Gebilde und Wendungen +teilweise einführte. Möge man auf diesem Wege zum Besseren fortfahren +und nicht bloß das Alte wieder zu einer Mode machen, die den Geist +nicht kennt, sondern nur die Veränderung liebt. Du kannst es noch +erleben, wenn wieder eine Höhe eintritt; denn ein Schwellen von Tiefe +in Höhe und ein Sinken aus der Höhe in die Tiefe war immer vorhanden. +Wenn die Erkenntnis des Altertums, nicht bloß des unsern, sondern +des noch schönern des Griechentums, wie es sich jetzt auszusprechen +scheint, immer fortschreitet und nicht ermattet, so werden wir auch +dahin kommen, daß wir eigene Werke werden ersinnen können, in denen +die ernste Schönheitsmuse steht, nicht Leidenschaft oder Absicht oder +ein äußerlicher Reiz oder ledigliche planlose Heftigkeit, Werke, die +nicht nachgeahmt sind oder in denen nur ein älterer Stil ausgedrückt +ist. Wenn wir dahin gekommen sind, dann dürften wir wohl auch +gesellschaftlich auf einer Stufe stehen, daß nicht bloß Teile unseres +Volkes nach Außen mächtig sind, sondern das ganze Volk, und daß es +dann mit seinem Leben gelassen kräftig auf das Leben anderer Völker +wirkt. Ich denke immer, die sind glücklich, die die Lerchen dieses +Frühlings singen hören; aber diese werden den Zustand nicht so +empfinden wie der, der andere gesehen hat, so wie der Unschuldige +seine Unschuld nicht empfindet, der rechtliche Mann seine +Rechtschaffenheit nicht hoch anschlägt und verdorbene Zeiten ihre +Verdorbenheit nicht kennen.« + +Ich dachte, da mein Vater so sprach, an meinen Gastfreund, der ähnlich +fühlt und sich ähnlich ausspricht. Aber es ist ja kein Wunder, daß +Männer, die ein ähnliches Streben haben, also auch ähnlichen Geist +besitzen, auf ähnliche Gedanken kommen, besonders, wenn sie an Alter +nicht zu verschieden sind. + +Wie betrachteten nun das Einzelne. + +Mein Vater hatte Bilder von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese, +Annibale Carracci, Dominichino, Salvator Rosa, Nikolaus Poussin, +Claude Lorrain, Albrecht Dürer, den beiden Holbein, Lucas Cranach, Van +Dyck, Rembrandt, Ostade, Potter, van der Neer, Wouvermann und Jakob +Ruisdael. Wir gingen von dem einen zu dem andern, betrachteten ein +jedes, taten manches Bild auf die Staffelei und redeten über ein +jedes. Mein Herz war voll Freude. Es erschien mir jetzt immer +deutlicher, was ich beim ersten Anblicke nur vermutet hatte, daß die +Bilder in dem Gemäldezimmer meines Vaters lauter vorzügliche seien, +und daß sie noch dazu an Wert so sehr zusammen stimmten, daß das Ganze +eben den Eindruck eines Außerordentlichen machte. Ich hatte schon so +viel Urteil gewonnen, daß ich dachte, nicht gar zu weit mehr in die +Irre geraten zu können. Ich äußerte mich in dieser Beziehung gegen +meinen Vater, und er versicherte in der Tat, daß er glaube, daß er +nicht nur gute Meister besitze, sondern auch von diesen Meistern +nach seiner Erfahrung, die er sich in vielen Jahren, in vielen +Gemäldesammlungen und im Lesen vieler Werke über Kunst erworben habe, +bessere von ihren Arbeiten. Ich gab mich den Bildern immer inniger +hin und konnte mich von manchem kaum trennen. Das Köpfchen von einem +jungen Mädchen, das ich mir einmal zu einem Zeichnungsmuster genommen +hatte, stammte von Hans Holbein dem Jüngern her. Es war so zart, so +lieb, daß es jetzt auch wieder einen Zauber auf mich ausübte, wie es +wohl auch damals ausgeübt haben mußte; denn sonst hätte ich es ja +nicht zum Vorbilde genommen. Kaum waren hier Mittel zu entdecken, mit +denen der Künstler gewirkt hatte. Eine so einfache, so natürliche +Färbung mit wenig Glanz und Vortreten der Farben, so gering scheinende +harmlose Linien und doch eine solche Lieblichkeit, Reinheit, +Bescheidenheit, daß man kaum weggehen konnte. Die blonden Haare, die +sich von der Stirn gegen hinten zogen, waren fast mit keinem Aufwande +gemacht, und doch konnte es kaum etwas Schöneres geben als diese +blonden Locken. Der Vater erlaubte, daß ich mir das Bild zweimal auf +die Staffelei stellen durfte. + +Als wir mit dem Anschauen der Bilder fertig waren, zog der Vater eine +flache Lade aus einem Kasten in dem Altertumszimmer, stellte die Lade +auf einen Tisch in der Nähe des Fensters und lud mich ein, hinzu zu +gehen und seine geschnittenen Steine anzusehen. + +Ich tat es. + +Hier war meine Verwunderung fast noch größer als bei den Bildern. Ich +fand auf den Steinen die Gestalten wieder, wie die eine war, welche +auf der Treppe des Hauses meines Gastfreundes stand. + +»Das sind lauter antike Bildungen«, sagte mein Vater. + +Es waren verschiedene Steine von verschiedenem Werte und verschiedener +Größe. Edelsteine, die durch ihren Stoff einen hohen Wert nach unsern +heutigen Begriffen haben, wie Saphire, Rubine, waren nicht dabei; +doch aber mindere, die wohl als Schmuck getragen werden können, und, +wie ich mich jetzt deutlich erinnerte, von unserer Mutter auch bei +Gelegenheiten getragen wurden. Es war ein Onyx da, auf welchem eine +Gruppe in der gewöhnlichen halb erhabenen Arbeit geschnitten war. +Ein Mann saß in einem altertümlichen Stuhle. Er hatte nur geringe +Bekleidung. Seine Arme ruhten sehr schlicht an seiner Seite und sein +feines Angesicht war nur ein wenig gehoben. Er war noch ein sehr +junger Mann. Frauen, Mädchen, Jünglinge standen seitwärts in +leichterer Arbeit und weniger kräftig hervorgehoben, eine Göttin hielt +einen Kranz oberhalb des Hauptes des sitzenden Mannes. Mein Vater +sagte, das sei sein bester wie größter Stein und der sitzende Mann +dürfte Augustus sein. Wenigstens stimme sein Halbangesicht, wie es auf +dem Steine sei, mit jenen Halbangesichtern Augustus' zusammen, die man +auf den gut erhaltenen Münzen dieses Mannes sehe. Die Gestalt, die +Gliederung, die Haltung dieses Mannes, die Gestalten der Mädchen, +Frauen und Jünglinge, ihre Bekleidung, ihre Stellungen in Ruhe und +Einfachheit, die deutliche und naturgemäße Ausführung der kleinen +Teile in den Gliedern und Gewändern machten auf mich wieder jene +ernste, tiefe, fremde, zauberartige Wirkung, welche die Gestalt auf +der Treppe in dem Hause meines Gastfreundes in mir hervorgebracht +hatte, da ich im vergangenen Sommer während des Gewitters zu ihr empor +gestiegen war. Auf den andern Steinen befanden sich Männer in Helmen, +entweder schöne junge Angesichter oder alte mit ehrwürdigen Bärten. +Solche, die in mittleren Mannesjahren standen, waren gar nicht +vorhanden. Auch Frauenköpfe waren auf einigen Steinen zu sehen. Auf +mehreren zeigten sich ganze Gestalten, ein Hermes mit den Flügeln an +den Füßen, ein schreitender Jüngling oder einer, der mit dem Arme zum +Wurfe mit einem Steine ausholt. Diese Gestalten waren so genau und +richtig, daß sie das Vergrößerungsglas ertrugen. Steine mit andern +Dingen als menschliche Gestalten hatte mein Vater gar nicht. Ich +erinnerte mich, daß ich irgendwo - des Ortes, konnte ich mich nicht +mehr entsinnen - Käfer auf Steine geschnitten gesehen hatte. + +»Ich habe die Steine mit menschlichen Gestalten vorgezogen«, sagte +mein Vater, als ich in dieser Hinsicht eine Bemerkung machte, »weil +sie mir doch dasjenige schienen, was zu dem Menschen in der nächsten +Beziehung steht. Ich bin nicht reich genug, eine große Sammlung von +geschnittenen Steinen anlegen zu können, in welcher alle Gattungen +enthalten sind, so fern man überhaupt Gelegenheit hat, sie zu kaufen, +und weil ich das nicht konnte, so habe ich mich lediglich auf +menschliche Gestalten beschränkt und unter diesen wieder auf jene, +deren Erwerb mir ohne Einfluß auf mein Hauswesen möglich war; denn +es gibt da Kunstwerke in diesem Fache, welche ein ganzes Vermögen +in Anspruch nehmen, von dessen Rente manche kleine Familie, deren +Ansprüche nicht zu bedeutend sind, leben könnte.« + +Die Männer in den Helmen trugen diese Kopfbedeckung in der +gewöhnlichen Art, wie man sie auf den alten Münzen sieht und wie ich +sie schon auf Abbildungen von Kunstwerken in halberhabener Arbeit +gesehen habe, die sich auf griechischen oder römischen Bauten +befanden. Die einfache Art, den Helm zu tragen, wenn er auch eine noch +so kostbare Arbeit ist, habe ich an Abbildungen aus späteren Zeiten, +namentlich aus dem Mittelalter, nicht mehr gefunden. Die Angesichter +hatten Züge, die etwas Fremdes wiesen, das jetzt nicht mehr vorkömmt +und auf eine entlegene Zeit zurückdeutet. Die Züge waren meistens +einfach, ja sogar oft unbegreiflich einfach, und doch waren sie schön, +schöner und menschlich richtiger - so schien es mir wenigstens - +als sie jetzt vorkommen. Die Stirnen, die Nasen, die Lippen waren +strenger, ungekünstelter und schienen der Ursprünglichkeit der +menschlichen Gestalt näher. Dies war selbst bei den Abbildungen der +Greise der Fall und sogar da, wo man vermuten durfte, das abgebildete +Haupt sei das Bildnis eines Menschen, der wirklich gelebt hat. Es +konnte diese Gestaltung nicht Eingebung des Künstlers sein, da +offenbar die Steine verschiedenen Zeiten und verschiedenen Meistern +angehörten; sie mußte also Eigentum jener Vergangenheit gewesen sein. +Die Köpfe der Frauen waren auch schön, oft überraschend schön; sie +hatten aber auch etwas Eigentümliches, das sich von unsern gewohnten +Vorstellungen entfernte, sei es in der Art, das Haupthaar aufzustecken +und es zu tragen, sei es, wie sich Stirne und Nase zeigten, sei es im +Nacken, im Halse, im Beginne der Brust oder der Arme, wenn diese Teile +noch auf dem Bilde waren, sei es in dem uns fernliegenden Ganzen. +Allgemein aber waren diese Köpfe kräftiger und erinnerten mehr an die +Männlichkeit als die unserer heutigen Frauen. Sie erschienen dadurch +reizender und ehrfurchterweckender. Die Ausführung dieser Abbildungen +zeigte sich so rein, so entwickelt und folgerichtig, daß man nirgends, +auch nicht im Kleinsten, versucht wurde, zu denken, daß etwas fehle, +ja daß man im Gegenteile die Gebilde wie Naturnotwendigkeiten ansah +und daß einem in der Erinnerung an spätere Werke war, diese seien +kindliche Anfänge und Versuche. Die Künstler haben also große und +einfache Schönheitsbegriffe gehabt, sie haben sich diese aus der +Schönheit ihrer Umgebung genommen und diese Schönheit der Umgebung +durch ihre Schönheitsbegriffe wieder verschönert. So sehr mir die +Bilder des Vaters gefielen, so sehr mir die Bilder meines Gastfreundes +gefallen hatten, so sehr wurde ich, wie ich durch die Marmorgestalt +meines Gastfreundes ernster und höher gestimmt worden war als durch +seine Bilder, auch durch die geschnittenen Steine meines Vaters +ernster und höher gestimmt als durch seine Bilder. Er mußte das +fühlen. Er sagte nach einer Weile, da wir die Steine angeschaut +hatten, da ich mich in dieselben vertieft und manchen mehrere Male in +meine Hände genommen hatte: »Das, was die Griechen in der Bildnerei +geschaffen haben, ist das Schönste, welches auf der Welt besteht, +nichts kann ihm in andern Künsten und in späteren Zeiten an +Einfachheit, Größe und Richtigkeit an die Seite gesetzt werden, es +wäre denn in der Musik, in der wir in der Tat einzelne Satzstücke und +vielleicht ganze Werke haben, die der antiken Schlichtheit und Größe +verglichen werden können. Das haben aber Menschen hervorgebracht, +deren Lebensbildung auch einfach und antik gewesen ist, ich will nur +Bach, Händel, Haydn, Mozart nennen. Es ist sehr schade, daß von der +griechischen Malerei nichts übrig geblieben ist als Teile von dem, was +in dieser Kunst immer als ein untergeordneter Zweig betrachtet worden +ist, von der Wandmalerei und Gebäudeverzierung. Da die griechische +Dichtkunst das Höchste ist, was in dieser Kunstabteilung besteht, +da ihre Baukunst als Muster einfacher Schönheit, besonders für die +Gestaltung ihres Landes, gilt, da ihre Geschichtschreiber und Redner +kaum ihresgleichen haben, so ist anzunehmen, daß ihre Malerei auch +diesen Dingen gleichgeartet gewesen sein müsse. Sie sprechen in +Schriften, die bis auf unsere Tage gekommen sind, von ihren Bauwerken, +von ihrer Weltweisheit, Geschichtschreibung, Dichtkunst und +Bildnerkunst nicht höher als von ihrer Malerei, ja nicht selten +scheint es, als zögen sie diese noch vor, also muß auch sie vom +höchsten Belange gewesen sein; denn es ist nicht anzunehmen, daß +Schriftsteller, die doch endlich der Ausdruck, wenn auch der gehobenen +ihrer Zeit und ihres Volkes sind, so feine Kenntnisse und so feines +Gefühl in andern Künsten gehabt haben und für Fehler der Malerei blind +gewesen wären. Wahrscheinlich würden wir uns an Strenge und Rundung +in ihrer Malerei ergötzen und sie bewundern, wie wir es mit ihren +Bildsäulen tun. Ob wir an ihnen für unsere Malerei etwas lernen +könnten, weiß ich nicht, so wie ich nicht weiß, wie viel es ist, was +wir an ihrer Bildhauerei gelernt haben. + +Diese Steine sind durch viele Jahre mein Vergnügen gewesen. Oft in +trüben Stunden, wenn Sorgen und Zweifel das Leben seines Duftes +beraubten und es dürr vor mich hinzubreiten schienen, bin ich zu +dieser Sammlung gegangen, habe diese Gestalten angeschaut, bin in +eine andere Zeit und in eine andere Welt versetzt worden und bin ein +anderer Mensch geworden.« + + +Ich sah meinen Vater an. Hatte ich früher schon oft Gelegenheit +gehabt, ihn hoch zu achten, und hatte ich zu verschiedenen Zeiten +entdeckt, daß er bedeutendere Eigenschaften besitze, als ich geahnt +hatte, so war ich doch nie in der Lage, ihn beurteilen zu können, wie +ich ihn jetzt beurteilte. In Geschäfte der eintönigsten Art gezwungen +oder vielleicht selber und freiwillig in diese Geschäfte gegangen - +denn er führte sie mit einer Ordnung, mit einer Rechtlichkeit, mit +einer Ausdauer, mit einer Anhänglichkeit an sie, daß man staunen +mußte -, hatte er, der unscheinbar seinen bürgerlichen Obliegenheiten +nachkam und von dem Viele nur glauben mochten, daß er in seinem Hause +einige Spielereien von alten Geräten, Bildern und Büchern habe, +vielleicht einen tieferen und einsameren Kreis um sich gezogen, als +ich jetzt noch erkennen konnte, und hatte ohne Anspruch an diesem +Kreise fort gebaut. Ich empfand Ehrfurcht vor ihm und fragte ihn, ob +er die Schriftsteller, von denen er spreche, griechisch gelesen habe. + +»Wie könnte ich sie denn anders gelesen haben und noch lesen, wenn ich +sie lieben soll«, antwortete er, »die alte vorchristliche Welt hat so +ganz andere Vorstellungen als die unsere, die Völkerwanderung hat so +sehr einen Abschnitt in der Geschichte gemacht, daß die Werke der +vorher gewesenen Völker gar nicht übersetzt werden können, weil +unsere Sprachen in ihrem Körper und in ihrem Geiste auf die alten +Vorstellungen nicht passen. Im Lesen in ihrer Sprache und in ihren +Dichtungen und Geschichten wird man nach und nach einer von ihnen und +lernt ihre Art beurteilen, was man sonst nie mehr kann. In unsern +Schulen lernen wir ja römisch und griechisch, und wenn man in der +Zeit nach der Schule noch etwas nachhilft und fleißig in den alten +Schriften liest, so fügt sich die Sache ohne Mühe und gelingt +leichter, als man etwa das Französische, Italienische oder Englische +lernt, wie es ja jetzt die meisten Leute tun.« + +»Du hast ja aber auch diese Sprachen gelernt«, sagte ich. + +»Wie sie auch andere lernen«, antwortete er, »und wie es mein Stand +forderte.« + +»Ich habe es bis heute nicht gewußt, daß du in den alten Sprachen +Bücher liesest«, sagte ich, »und was noch mehr ist, daß du dich in +die Dichtkunst, in die Geschichte und Weltweisheit der Völker, deren +Schriften du liesest, vertiefest. Du weißt, daß wir uns nie anmaßten, +die Bücher zu untersuchen, in denen du liesest.« + +»Es war keine Ursache vorhanden, dir zu erzählen, was ich lese«, +antwortete er, »ich dachte, es wird sich schon geben. Deine Mutter +wußte es wohl.« + +Die Hochachtung für den Vater, der ohne Aufheben mehr war, als der +Sohn geahnt hatte, und der geduldig auf den Sohn gewartet hatte, ob +er auf dem Wege zu ihm stoßen werde, war nicht die einzige Frucht +dieses Tages. Ich empfand recht wohl, daß der Vater auch mich höher +achtete und daß er eine große Freude habe, daß der Sohn nun auch in +Kunstdingen sich ihm nähere. Daß wir in einigen wissenschaftlichen +Sachen zusammen trafen, wußte ich wohl, da wir über Gegenstände der +Geschichte, der Dichtungen und über andere in jüngster Zeit manchmal +gesprochen hatten. + +Ich wußte aber nie, in wie ferne und auf welchen Wegen der Vater zu +diesen Dingen gekommen war. Heute hatte ich einen großem Einblick +getan, und ich wußte nun auch gar nicht, welch eine geregelte +wissenschaftliche Bildung der Vater aus seinen früheren Jahren hinter +sich habe und ob es nicht etwa gar aus dieser wissenschaftlichen +Bildung herzuschreiben sei, daß er mich gerade meinen Weg habe gehen +lassen, der mir selber zuweilen abenteuerlich vorgekommen war. Ich +mußte jetzt doppelt wünschen, daß mein Vater einmal mit meinem +Gastfreunde zusammen käme, um mit ihm über ähnliche Gegenstände zu +sprechen, wie er heute zu mir gesprochen hatte. Ich konnte doch nicht +hinreichend eingehen und wußte auch nicht, in wie ferne er in seinen +Urteilen über altgriechische Bildnerkunst, Dichtkunst, Malerei und +über die neuere Musik Recht habe. Allein der Vater arbeitete so +ruhig in seinem Berufsgeschäfte weiter, er war in alle Einzelheiten +desselben so vertieft und sorgte für den regelmäßigen Fortgang +desselben, daß es nicht leicht zu erwarten war, daß er sich zu einer +Reise entschließen würde. + +Gegen das Ende unseres Gespräches kam auch die Mutter und Klotilde +herein. Das Angesicht der Mutter wurde sehr heiter, als sie uns bei +den Steinen stehen sah, als sie sah, daß der Vater sie mir zeigte +und erklärte, und als sie auch erkennen mochte, daß in dem Wesen des +Vaters eine Freude sei, und daß die Annäherung, die sie geahnt habe, +wirklich eingetreten sei. + +Wir gingen noch einige Male bald in das Bilderzimmer, bald in das +Altertumszimmer, in welchem noch immer die Lade mit den Steinen auf +dem Tische stand, und redeten über Verschiedenes. + +»Diese Kunstwerke«, sagte der Vater, da er die Steine wieder +verschlossen hatte und da wir uns aus diesem Zimmer entfernten, +»könnt ihr in euren Besitz bringen. Wenn ihr Sinn und tiefe Liebe für +dieselben habet, so werdet ihr sie nach unserem Tode in einer von mir +gemachten und, wie ich glaube, gerechten Teilung empfangen. Sterbe +ich vor eurer Mutter, so bleiben sie als Denkmal unseres friedlichen +Hauses in der Lage, in der sie jetzt sind, und sie werden euch erst +eingehändigt, wenn mir auch die Mutter gefolgt ist. Will Klotilde dir +ihren Anteil abtreten, so ist die Summe schon bestimmt, welche du ihr +dafür geben mußt, und so auch umgekehrt. Ist bei beiden nach unserm +Absterben eine solche Liebe zu diesen Bildern und Steinen nicht +vorhanden, daß ihr sie unzersplittert bewahret, so ist schon bestimmt, +daß auf eure hierin eingeholte Erklärung dieselben gegen ein Entgelt, +das nicht unbillig ist, an einen Ort übergehen, an welchem sie +beisammen bleiben. Ich glaube aber wohl, daß diese Neigung in unserm +Hause fortdauern werde.« + +Wir antworteten auf diese Rede nichts, weil sie einen Gegenstand +berührte, der, wie entfernt wir ihn uns auch denken mußten, doch +schmerzlich auf uns einwirkte. + +Ich verlegte mich nach dieser gemachten Erfahrung mit noch größerem +Eifer auf die Kenntnis der Werke der bildenden Kunst. Ich lernte mich +in die Bilder des Vaters bis in die kleinsten Einzelheiten hinein und +war zu diesem Zwecke sehr oft und zuweilen lange in dem Bilderzimmer, +ich besuchte alle größeren zugänglichen Sammlungen und suchte deren +Bilder zu ergründen, ich besah alle Bildnerwerke, die in unserer +Stadt einen Ruf hatten, und strebte nach einer genauen Kenntnis ihrer +Beschaffenheiten, ich las endlich namhafte Werke über die Kunst und +verglich meine Gedanken und Gefühle mit den in den Büchern gefundenen. +Ich sprach viel mit meinem Vater über diese Gegenstände, wir näherten +uns immer mehr, meine Empfindungen wurden stets inniger, und ich +versenkte meine Seele in sie. Unsern Erzdom bewunderte ich jetzt in +einem höheren Maße als in allen früheren Zeiten, und ich stand manche +Stunde vor seinem ungeheuren Baue. Selbst die Gebilde der Mathematik, +wenn ich wieder zu Zeiten etwas in ihr zu tun hatte, erschienen +mir zuweilen schön und zierlich, was mir namentlich bei einigen +französischen Mathematikern geschah. Das Malen schöner Köpfe setzte +ich fort und eben so wurde das Zeichnen und Malen von Landschaften, +welches ich im vorigen Jahre mit der Schwester begonnen hatte, nicht +bei Seite gesetzt. Ich nahm mit ihr die Zeichnungen vor, welche sie im +vergangenen Sommer während meiner Abwesenheit gemacht hatte, und so +wie ich von meinem Gastfreunde, von Eustach und von dem Vater über die +Fehler belehrt worden war, die sich in meinen Landschaftsversuchen +befanden, so belehrte ich Klotilden wieder über die ihrigen. + +Seit ich Mathilden kannte, besonders aber jetzt, nachdem ich öfter in +ihrer Gesellschaft gewesen war und im Spätherbste die Reise mir ihr +und den andern in das Hochland gemacht hatte, war ich auch auf die +Angesichter ältlicher und alter Frauen aufmerksam geworden. Man tut +sehr Unrecht, und ich bin mir bewußt, daß ich es auch getan habe, und +gewiß handeln andere Leute in ihrer Jugend ebenfalls so, wenn man die +Angesichter von Frauen und Mädchen, sobald sie ein gewisses Alter +erreicht haben, sofort beseitigt und sie für etwas hält, das die +Betrachtung nicht mehr lohnt. Ich fing jetzt zu denken an, daß es +anders sei. Die große Schönheit und Jugend reißt unsere Aufmerksamkeit +hin und erregt ein tiefstes Gefallen; warum sollten wir aber mit +dem Geiste nicht auch ein Angesicht betrachten, über welches Jahre +hingegangen sind? Liegt nicht eine Geschichte darin, oft eine +unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die ihren Widerschein auf +die Züge gießt, daß wir sie mit Rührung lesen oder ahnen? Die Jugend +weist auf die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergangenheit. +Hat diese kein Recht auf unsern Anteil? Als ich Mathilden das erste +Mal sah, fiel mir das Bild der verblühenden Rose ein, welches mein +Gastfreund von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es +so treffend fand; und später oft, wenn ich Mathilden betrachtete, +gesellte sich das Bild wieder zu meinen Gedanken, es erregten sich +neue und es erzeugte sich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal +gedacht, daß Mathilde aussehe wie ein Bild der Vergebung, und später +dachte ich es mir öfter. Ihr Angesicht mußte sehr schön gewesen sein, +vielleicht gar so schön wie jetzt Nataliens, nun ist es ganz anders; +aber es spricht leise von einer Vergangenheit, daß wir meinen, wir +müßten sie vernehmen können, und wir vernähmen sie auch gerne, weil +sie uns so anziehend scheint. Sie muß manche Neigungen gehabt haben, +sie muß manche Freuden erlebt und manches Gut verloren haben, sie hat +Schmerzen und Kummer ertragen; aber sie hat alles Gott geopfert und +hat gesucht, mit sich in das Gleiche zu kommen, sie ist mit den +Menschen gut gewesen, und jetzt ist sie in tiefem Glücke, mit manchem +unerfüllten Wunsche und mit mancher kleinern und größern Sorge, die +sie sinnen macht. Als ich einen Mann sagen gehört hatte, daß die +Fürstin, in deren Abendgesellschaften ich zuweilen sein durfte, so +schöne Töne in dem Angesichte habe, daß sie nur Rembrandt zu malen +im Stande wäre, wurde ich nicht bloß auf die Fürstin noch mehr +aufmerksam, die in ihrem hohen Alter noch so schön war, sondern ich +betrachtete auch Mathilden wieder genauer und lernte die Schönheit, +wenn schon manche Jahre über sie gegangen sind, besser kennen. +Ich fing nun an, Männer und Frauen, die in höherem Alter sind, zu +betrachten und sie um die Bedeutung ihrer Züge zu erforschen. Dabei +fielen mir die Greisenköpfe auf den Steinen meines Vaters ein. Ich +betrachtete die Steine öfter, da mir der Zugang zu denselben erlaubt +war, und verglich die Köpfe, die sich auf ihnen befanden, mit +denjenigen, die mir in dem jetzt lebenden Geschlechte aufstießen. +Beide Arten waren wirklich nicht mit einander vergleichbar und es +zeigten sich in ihnen die Verschiedenheiten menschlicher Geschlechter. +Das Antlitz der Fürstin erschien mir nun um vieles schöner als in der +früheren Zeit, daß ich aber nicht auf den Wunsch geriet, es malen zu +wollen, also noch weniger dem Wunsche einen Ausdruck gab, begreift +sich. In den Angesichtern der Manchen, welche ich jetzt eifriger +betrachtete, fand ich freilich oft etwas, das mir nicht gefiel, sei +es Neid, sei es irgend eine Begierlichkeit, sei es bloße Abgelebtheit +oder Geistlosigkeit, sei es etwas Anderes, ich stellte bei solchen +Gelegenheiten meine Betrachtung bald ein und hegte nicht den Wunsch, +das Gesehene zu malen. Seit ich Gustav besser kennen gelernt hatte und +näher mit ihm befreundet worden war, betrachtete ich auch gerne Köpfe +von Jünglingen, ob sie nicht Gegenstände zum Malen abgäben. Wenn +gleich sein Angesicht ebenfalls nicht jenen schönen und einfachen +Angesichtern auf den Steinen meines Vaters glich, die besonders edel +und merkwürdig aus den Helmen heraus sahen, so war es ihnen doch näher +als alle andern, welche ich jetzt zu erblicken Gelegenheit hatte, und +war überhaupt so schön, wie es selten einen Kopf eines Knaben geben +wird, der eben in das Jünglingsalter übertritt. + +Wenn der Ausdruck der Mienen der Jünglinge unserer Stadt oft darauf +hinwies, daß ihr Geist verzogen worden sein mag, wenn sie etwas +Weichliches oder etwas zu sehr Herausforderndes oder etwas hatten, das +schon über ihre Jahre hinausging, ohne doch Kraft zu zeigen, so war +Gustavs Antlitz so kräftig, daß es vor Gesundheit zu schwellen schien, +es war so einfach, daß es gleichsam keinen Wunsch, keine Sorge, kein +Leiden, keine Bewegung aussprach, und doch war es wieder so weich und +gütig, daß man, wenn der feurige Blick nicht gewesen wäre, in das +Angesicht eines Mädchens zu blicken geglaubt haben würde. + +Ich zeichnete und malte meine Köpfe jetzt anders als noch kurz vorher. +Wenn ich früher, vorzüglich bei Beginne dieser meiner Beschäftigung, +nur auf Richtigkeit der äußeren Linien sah, so weit ich dieselbe +darzustellen vermochte, und wenn ich nur die Farben annäherungsweise +zu erringen im Stande war, so glaubte ich, mein Ziel erreicht zu +haben: jetzt sah ich aber auf den Ausdruck, gleichsam, wenn ich das +Wort gebrauchen darf, auf die Seele, welche durch die Linien und die +Farben dargestellt wird. Seit ich die Marmorgestalt in dem Hause +meines Gastfreundes so lieben gelernt hatte und in die Bilder mich +vertiefte, welche ich in dem Rosenhause getroffen hatte und in dem +Hause meines Vaters vorfand, war alles anders als früher, ich suchte +und haschte nach irgend einem Innern, nach irgend etwas, das weit +außer dem Bereiche von Linien und Farben lag, das größer war als diese +Dinge und doch durch sie darzustellen sein mußte. Einen Kopf so zu +zeichnen oder gar zu malen, wie ich jetzt wollte, war viel schwerer +als wie ich früher anstrebte, es war, ohne einen Vergleich zuzulassen, +schwerer; aber es war nicht zu umgehen, wenn man überhaupt die Sache +machen wollte, es war dichten, wenn ein Dichtungswerk geliefert sein +sollte. Ich stellte meine Aufgabe kleiner, ich suchte die Züge auf +einem bescheidenen Raume zu entwerfen und begnügte mich mit den +Andeutungen in Zeichnung und Farben, wenn nur ein Inneres zu sprechen +begann, ohne daß ich darauf beharrte, daß aus dem Begonnenen ein +ausgeführtes Bild werden sollte, was nicht selten, wenn ich es +versuchte, das Innere wieder vertilgte und das Gemälde seelenlos +machte. Mein Vater wurde der Richter und war jetzt ein strenger, +während er früher alles einfach hatte gelten lassen, was ich +unternahm. Er pflegte zu sagen, das, was ich jetzt vor Augen habe, sei +das Künstlerische, mein Früheres sei ein Vergnügen gewesen. Ich nahm +häufig, wenn ich nicht in das Reine kommen konnte, zu den Bildern +meine Zuflucht und suchte zu ergründen, wie es dieser und jener +gemacht habe, um zu dem Ausdrucke zu gelangen, den er darstellte. Mein +Vater sagte, das sei der geschichtliche Weg der Kunst, man könne ihn +verfolgen, wenn man große Bildersammlungen besuche und wenn die Werke +ohne große Lücken da sind, um sie vergleichen zu können. Das sei auch +außer der genauesten Betrachtung der Natur und der Liebe zu ihr der +Weg, auf dem die Kunst wachse und auf dem sie bei den verschiedenen +Anfängen, die sie in verschiedenen Zeiten und Räumen gehabt habe, +gewachsen ist, bis sie wieder versank oder zerstört wurde, um wieder +zu beginnen und zu versuchen, ob sie steigen könne. Wo der bare +Hochmut auftritt, der alles Gewesene verwirft und aus sich schaffen +will, dort ist es mit der Kunst wie auch mit andern Dingen in dieser +Welt aus, und man wirft sich in das bloße Leere. + +Außer dem Zeichnungsunterrichte setzte ich mit der Schwester auch die +Übungen in der spanischen Sprache und im Zitherspiele fort. Sie war +ohnehin von Kindheit an geneigt gewesen, alles, was ich tat, ein +wenig nachzuahmen, und ich hatte immer die Lust gehabt, ihr Führer zu +werden. Dies blieb jetzt zum Teile auch so fort. + + +Der Unterricht, welchen mir mein Freund, der Sohn des Juwelenhändlers, +in der Edelsteinkunde gegeben hatte, wurde wieder aufgenommen +und fortgesetzt. Da wir auch außerdem in manchen Stunden einen +freundlichen Umgang mit einander pflegten, so nahm ich mir eines +Tages, obwohl es mir stets schwer wird, jemandem über seinen ihm +eigentümlichen Beruf etwas zu sagen, doch den Mut, ihn meine Gedanken +über die Fassung der Edelsteine wissen zu lassen, wie ich nehmlich +glaube, daß es nicht richtig sei, wenn die Edelsteine von der Fassung +erdrückt würden; daß ich es aber auch für nicht richtig halte, wenn +sie keine andere Fassung hätten, als die sie brauchten, um an dem +Kleidungsstücke mit dem Halt, den sie benötigen, befestigt worden zu +können; und daß daher der Mittelweg sich darbiete, daß die Schönheit +des Steines durch die Schönheit der Gestaltgebung vergrößert werde, +wodurch es sich möglich mache, daß der an sich so kostbare Stoff das +Kostbarste würde, nehmlich ein Kunstwerk. Ich wies hiebei auf die +Gestaltungen hin, welche die Kunst des Mittelalters hege und aus denen +geschöpft und weiter fortgeschritten werden könne. »Du hast im Grunde +vollkommen Recht«, erwiderte mein Freund, »wir fühlen das alle +mehr oder minder klar, außer denen, welchen alles gleichgültig und +unwesentlich ist, was nicht unmittelbar zum Erwerbe führt; darum sind +auch allerlei Versuche gemacht worden und werden noch gemacht, die +Fassung zu vergeistigen. Sie gelingen insoferne mehr oder weniger, je +nachdem es größere oder kleinere Künstler sind, welche die Entwürfe +machen. Hierin liegt aber eine mehrfache Schwierigkeit. Zuerst sind +die, welche in Juwelen und Perlen arbeiten, sehr selten Künstler, sie +können es nicht leicht werden, weil die Vorbereitung dazu zu viel Zeit +und Kräfte in Anspruch nehmen würde; werden sie es aber, so bleiben +sie gleich Künstler, verfertigen Kunstwerke und arbeiten nicht in +Edelsteinen, was ihrem Geiste und ihrem Einkommen abträglich wäre. +Müssen nun Künstler um Entwürfe angegangen werden, so bietet sich +zweitens der Übelstand, daß der Künstler die Juwelen zu wenig kennt +und die Fassung daher zu wenig auf ihre Natur berechnen kann, wozu +sich noch gesellt, daß die großen Künstler schwer zugänglich sind, +Entwürfe für Edelsteinfassungen auszuarbeiten, es müßte denn dies eine +besondere Liebhaberei sein; und wenn sie es tun, so kömmt die Fassung +sehr teuer. Deshalb muß man zu geringeren Künstlern seine Zuflucht +nehmen, welche dann auch wieder geringere Entwürfe liefern. Wir haben +die Sache in unserer Handelsstube ganz im Klaren. Wir versuchen auch +von Zeit zu Zeit ein wirkliches Kunstwerk in Perlen und edlen Steinen +darzustellen und warten, ob ein Kenner komme und es übernehme; denn +der Leute, welche Edelsteine brauchen, sind viel mehr als welche +Kunstdinge suchen. Solche Werke in großer Zahl ausführen zu lassen, +hindert uns der Mangel an zahlreichen trefflichen Entwürfen und der +Mangel an Käufern, da der Juwelenverkauf doch endlich unser Erwerb +ist. Da unsere gewöhnlichen Kunden aber doch so viel Geschmack haben, +daß sie eine unedle Fassung beleidigen würde, so wählen wir den +natürlichsten Weg, die Fassung im Stoffe edel und in der Gestalt auf +das Einfachste zu machen, so daß die Schönheit der Steine oder der +Perlen allein es ist, was herrscht, und der Anker, an dem es haftet, +sich verbirgt. Was deinen Gedanken von mittelalterlichen Gestaltungen +anbelangt, so ist er nicht neu; man hat schon solche versucht, und der +Freiherr von Risach hat bei uns nach beigebrachten Zeichnungen Dinge +ähnlicher Art verfertigen lassen.« Mir leuchtete die Sache sehr ein, +und ich konnte sie nicht weiter bereden. Ich betrachtete von nun an +mit noch größerer Sorgfalt und Genauigkeit die Arbeiten, welche mein +Freund in den verschiedenen Werkstätten der Stadt machen ließ. Sie +waren meistens sehr schön, ja ich glaube, schöner, als man sie +irgendwo zu sehen gewohnt ist. Desungeachtet mußte ich behaupten, daß +wenn nur überhaupt ein edlerer und höherer Sinn für Kunst vorhanden +wäre, diejenigen Leute, welche große Summen für Schmuck ausgeben, +dieselben Summen oder vielleicht noch größere dahin verwenden würden, +daß sie gleich wirkliche Kunstwerke in Juwelen bestellten. Dagegen +erwiderte mein Freund, daß, wie hoch der Kunstsinn auch stehe und +wie weit er sich verbreite, doch die Zahl derer immer größer bleiben +würde, welche bloß Schmuck als Schmucksachen kaufe, als derer, welche +Kunstwerke in Kleinodien entwerfen und ausführen lassen, was er +allerdings als die höchste Spitze seines Berufes ansehen würde. Dazu +komme noch, daß mancher, der Kunstsinn habe, von der Schönheit der +Steine sich gefangen nehmen lasse und zuletzt nichts begehre als +diese einzige Schönheit. In dem letzten Grunde hatte mein Freund ganz +besonders Recht; denn je mehr ich selber die Steine betrachtete, je +mehr ich mit ihnen umging, eine desto größere Macht übten sie auf +mich, daß ich begriff, daß es Menschen gibt, welche bloß eine +Edelsteinsammlung ohne Fassung anlegen und sich daran ergötzen. Es +liegt etwas Zauberhaftes in dem feinen sammtartigen Glanze der Farbe +der Edelsteine. Ich zog die farbigen vor, und so sehr die Diamanten +funkelten, so ergriff mich doch mehr das einfache, reiche, tiefe +Glühen der farbigen. + +Meinen Beruf, den ich im Sommer bei Seite gesetzt hatte, nahm ich +wieder auf. Ich machte mir gleichsam Vorwürfe, daß ich ihn so +verlassen und mich einem planlosen Leben hatte hingeben können. Ich +tat das, wozu der Winter gewöhnlich ausersehen war, und setzte die +Arbeiten der vorigen Zeiten fort. Das Regelmäßige der Beschäftigung +übte bald seine sanfte Wirkung auf mich; denn was ich trotz der +freudigen Stimmung, in welcher ich aus meinen Erringungen in der Kunst +und in der Wissenschaft war, doch Schmerzliches in mir hatte, das +wich zurück und mußte erblassen vor der festen, ernsten, strengen +Beschäftigung, die der Tag forderte und die ihn in seine Zeiten +zerlegte. + +Ich besuchte auch, wie im vergangenen Winter, meine Kreise, dann +Musik- und Kunstanstalten. + +Daß das alles vereinigt werden konnte, mußte eine genaue +Zeiteinteilung gemacht werden, und ich mußte die Zeit richtig +verwenden. Dazu war ich wohl von Kindheit an gewöhnt worden, ich stand +sehr früh auf und hatte Manches für den Tag schon an der Lampe fertig +gemacht, wenn die allgemeine Frühstunde in unserm Hause heran rückte +und man sich zu dem Frühmahle versammelte. Dazu brauchte ich nicht +viel Schlaf und konnte manche Stunde von der beginnenden Nacht nehmen. +Die Tätigkeit stärkte, und wenn ein Schwung und eine Erhebung in +meinem Wesen war, so wurde der Schwung und die Erhebung durch die +Tätigkeit noch klarer und fester. + +Einer meiner ersten Gänge war nach meiner Zurückkunft zu der Fürstin, +um mich ihr vorzustellen. + +Sie war selber erst vor wenigen Tagen von ihrem Lieblingslandsitze +in die Stadt zurückgekehrt und noch nicht recht heimisch. Sie +empfing mich sehr freundlich wie immer und fragte mich um meine +Beschäftigungen während des Sommers. Ich konnte ihr nicht viel sagen +und erzählte ihr außer den Messungen, die ich am Lautersee vorgenommen +hatte, von meinen Kunstbestrebungen, meiner Kunstneigung und meiner +Liebe zu den Dichtungen. Von den besonderen Verhältnissen zu meinem +Gastfreunde erwähnte ich nur das Allgemeine, weil ich es für anmaßend +gehalten hätte, einer alten, würdigen Frau, deren Beziehungen +ausgebreitet und inhaltsreich waren, unaufgefordert Einzelheiten von +meinem Leben mitzuteilen. Sie ging auch nicht näher darauf ein, dafür +verweilte sie desto eifriger bei der Kunst und bei den Dichtern. Sie +fragte mich, was ich gelesen hätte, wie ich es aufgefaßt hätte und +was ich darüber dächte. Sie zeigte sich hierbei mit allen den Werken +bekannt, welche ich ihr nannte, nur hatte sie das Griechische, von +dem ich ihr erzählte, bloß in der Übersetzung gelesen. Sie ging +im Allgemeinen auf die Gegenstände ein und verweilte bei manchem +Einzelnen ganz besonders. Unsere Ansichten trafen oft zusammen, oft +gingen sie auch auseinander, und sie suchte ihre Meinung zu begründen, +was mir zum mindesten immer manche neue Gesichtspunkte gab. In Bezug +auf die Kunst verlangte sie, daß ich ihr einige Zeichnungen und +Malereien zeigen möchte, deren Wahl ich selber vornehmen könne, wenn +ich schon nicht alle vor ihre Augen bringen wollte. + +Ich sagte, daß alle wohl zu viel wären, namentlich, da ich in erster +Zeit so viele bloß naturwissenschaftliche Zeichnungen gemacht +habe, und daß ich selber die Grenze nicht angeben könne, wo die +naturwissenschaftlichen Zeichnungen in die künstlerisch angelegten +übergingen. Ich würde aus allen Zeitabschnitten etwas auswählen und es +ihr bringen. Es wurde ein Tag bestimmt, an welchem ich zur Mittagszeit +zu ihr kommen sollte. + +Ich kam an dem Tage, es war niemand als die Vorleserin zugegen, und es +wurde der Befehl gegeben, niemanden vorzulassen; denn ihr allein hätte +ich ja die Zeichnungen gebracht, nicht jedem fremden Auge, das dazu +käme. Sie sah alle Blätter an und billigte alle, besonders erregten +naturwissenschaftliche Pflanzenzeichnungen ihre Aufmerksamkeit, +weil sie sich viel mit Pflanzenkunde beschäftigt hatte, noch jetzt +Anteil an dieser Wissenschaft nahm und sie besonders bei ihren +Landaufenthalten pflegte. Sie freute sich an der Genauigkeit der +Abbildungen und sagte mir ganz richtig, welche den Urbildern am +meisten entsprächen. Nach diesen Pflanzenzeichnungen sagten ihr am +meisten die der Köpfe zu. An den landschaftlichen Versuchen mochte +ihr die Einseitigkeit aufgefallen sein, da sie gewiß eine Kennerin +landschaftlicher Bildungen war, weil sie sehr gerne im Sommer einige +Wochen an irgend einer der schönsten Stellen unseres Landes verweilte. +Sie äußerte sich aber in dieser Richtung nicht. Von den Köpfen sagte +sie, daß man auf diese Weise eine ganze Sammlung merkwürdiger Menschen +anlegen könnte. Ich erwiderte, darauf sei ich nicht ausgegangen, ich +könnte auch nicht so leicht beurteilen, wer ein merkwürdiger Mensch +sei. Es habe mir nur, da ich lange Zeit Gegenstände der Natur +gezeichnet hatte, eingeleuchtet, daß das menschliche Antlitz der +würdigste Gegenstand für Zeichnungen sei, und da habe ich die Versuche +begonnen, es in solchen auszudrücken. Ich habe anfangs dabei unwissend +fast immer die Richtung von Naturzeichnungen verfolgt, bis sich mir +etwas Höheres zeigte, dessen Darstellung darüber hinausgeht, das +uns erst die Züge und Mienen recht menschlich macht und dessen +Vergegenwärtigung ich nun anstrebe, in Ungewißheit, ob es gelingen +werde oder nicht. + +Sie fragte auch nach denjenigen von meinen wissenschaftlichen +Bestrebungen, die ich im Zusammenhange aufgeschrieben habe, und +ließ den Wunsch blicken, etwas Zusammengehöriges zu erfahren. Die +Geschichte, wie unsere Erde entstanden sei und wie sie sich bis auf +die heutigen Tage entwickelt habe, mußte den größten Anteil erwecken. +Ich entgegnete, daß wir nicht so weit seien und daß ich am wenigsten +zu denen gehöre, welche einen ergiebigen Stoff zu neuen Schlüssen +geliefert haben, so sehr ich mich auch bestrebe, für mich, und wenn +es angeht, auch für Andere so viel zu fördern, als mir nur immer +möglich ist. Wenn sie davon und auch von dem, was Andere getan haben, +Mitteilungen zu empfangen wünsche, ohne sich eben in die vorhandenen +wissenschaftlichen Werke vertiefen und den Gegenstand als eigenen +Zweck vornehmen zu wollen, so werde sich wohl Zeit und Gelegenheit +finden. Sie zeigte sich zufrieden und entließ mich mit jener Güte und +Anmut, die ihr so eigen war. + +Seit dieser Zeit verwandelte sich mein Verhältnis zu ihr in ein +anderes. Da ich nun einmal unter Tags in ihrer Wohnung gewesen +war, geschah dies öfter, entweder, wenn wir Werke oder Abbildungen +anzuschauen hatten, wozu das Licht der abendlichen Lampen nicht +ausreichend gewesen wäre, oder wenn sie mich zu Gesprächen einladen +ließ, die dann gewöhnlich zwischen ihr, ihrer Gesellschafterin und +mir vorfielen - selten geschah es, daß einer ihrer Söhne gelegentlich +anwesend war oder eine Enkelin oder jemand von ihren näheren +Anverwandten - und bei denen meistens die Geschichte der Erde oder +etwas in die Naturlehre Einschlägiges der Gegenstand war. Öfter machte +ich auch selber einen kurzen Besuch, um mich um den Zustand ihrer +Gesundheit zu erkundigen. Auch die Abende kamen in Bezug auf mich in +eine andere Gestalt. Da wir einmal von Dichtungen geredet hatten, mit +denen ich mich in der letzten Zeit beschäftigte und da gerade diese +Dichtungen aus einer vergangenen Zeit stammten, die nichts mit den +Tageserzeugnissen gemein hatte, da die Fürstin sich in ihren jetzigen +Jahren mit diesen Dingen nicht beschäftigte und die Zeit schon +ziemlich weit hinter ihr lag, in der sie Kenntnis von solchen Werken +genommen hatte, so wurde beschlossen, wieder das eine oder das andere +vorzunehmen und es gemeinschaftlich zu genießen. Das geschah an +Abenden, und ich mußte oft die Pflicht des Vorlesers übernehmen, +besonders wenn die Gesellschaft nicht zahlreich war, was sich gerne an +Abenden ereignete, in denen Dichtungen vorgenommen wurden. In diese +Pflicht geriet ich bei Gelegenheit der Vornahme einiger spanischen +Romanzen. Die Fürstin, die Gesellschafterin, ich und noch ein +Mann, welcher zugegen war, verstanden schlecht spanisch; doch war +beschlossen worden, die Romanzen in spanischer Sprache zu lesen. Das +Vorlesen wurde mir aufgetragen, und wie schlecht oder gut es ging, wir +verstanden doch mit eingemischten Erklärungen und mit gelegentlichen +Gesprächen in unserer Muttersprache zuletzt die Romanzen. Nach diesem +Vorgange mußte ich nun auch öfter in deutscher Sprache vorlesen, und +es geschah nicht selten, daß ich um meine Meinung über Teile des +Gelesenen befragt wurde und daß man eine Erklärung verlangte. Dies +wurde um so mehr der Fall, als wir uns auch über Abteilungen aus +Cervantes und Calderon wagten. In andern Sprachen, besonders im +Italienischen des Dante und Tasso, las sehr gerne die Gesellschafterin +der Fürstin. Das Alte aus dem Griechischen - es wurde nur die Ilias +und Odysseus, dann einiges aus Äschylos vorgenommen - mußte ich ganz +allein in deutscher Übersetzung vorlesen. Es wurde da auch sehr viel +über das uralte gesellschaftliche Leben der Griechen, über ihre +häuslichen Einrichtungen, über ihren Staat, ihre Kunst und über die +Gestalt und Beschaffenheit ihres Landes und ihrer Meere gesprochen. +Ich wurde zu diesen Beschäftigungen in diesem Winter weit öfter zu der +Fürstin eingeladen, als es früher der Fall gewesen war. Der Frühling +und die Zeit, in welcher man wieder den Landaufenthalt zu suchen +pflegt, kam uns zu früh, wir verabredeten noch, was wir in dem +nächsten Winter vorzunehmen gedächten, und die Fürstin beurlaubte mich +mit vieler und sehr gewinnender Freundlichkeit. + + +Die Beschäftigungen im Kreise unserer Familie bestanden jetzt in sehr +häufigen Gesprächen zwischen dem Vater und mir über die Kunst und über +Bücher. Er erzählte mir, wie er dazu gekommen wäre, Bilder lieb zu +gewinnen und sich Bilder zu sammeln. Er kam hiebei auf seine Jugend, +und da er in einer freudigeren und erregteren Stimmung war, als sonst, +so erzählte er mir ausführlich, wie er dieselbe verlebt habe. Er +stellte mir dar, wie er sich die Mittel, um etwas lernen zu können, +selber habe verschaffen müssen, und wie ihm sein älterer Bruder, der +ein sehr begabter Mensch gewesen wäre, hierin zwar ein wenig, aber in +der Tat sehr wenig habe beistehen können, weil er sich selbst alles +habe herbei schaffen müssen und nur um wenige Jahre älter gewesen sei. +Nach Anweisung vernünftiger Menschen habe er zu lesen begonnen, und +manchen freien Tag in seiner Lehrzeit habe er in seiner Kammer bei den +Büchern zugebracht. Er habe, da er frei wurde und teils in unserer +Stadt, teils in den ersten Handelsplätzen Europas Dienste tat, die +Bekanntschaft von Künstlern gemacht, habe sie in ihren Arbeitsstuben +besucht, habe über die Art zu malen sich Kenntnisse gesammelt und +sei mit diesen Kenntnissen in die berühmtesten Bildersammlungen der +größten Städte gegangen. Hiebei sei es ihm widerfahren, daß er zweimal +im Lernen habe von vorne anfangen müssen. So sei es ihm in Rom, wohin +er sich von Triest aus begeben hatte, um dort ein halbes Jahr für +sich selber zu leben, klar geworden, daß er gar nichts wisse. Er habe +wieder unverdrossen angefangen, und von Rom schreibe sich seine Liebe +für alte Bilder her. Sein Bruder habe den Weg durch die Staatsschulen +gemacht, und da er ihn sehr liebte, habe er von ihm auch die Liebe zu +den alten Sprachen angenommen. In seinen Diensten habe er mehr freie +Zeit gehabt als da er noch lernte, und diese Zeit habe er zu seinen +Lieblingsneigungen angewendet. Mit einem alten Abte, der die +Verwaltung seines Klosters abgegeben hatte und seine würdevolle Muße, +wie er sich ausdrückte, im Winter in unserer Stadt genoß, habe er alte +Dichter und Geschichtschreiber gelesen. Der Abt sei ein großer Freund +der alten Schriften gewesen, habe bei ihm Neigung zu diesen Dingen +entdeckt und sei ihm mit seinen Kenntnissen beigestanden. Er habe sehr +oft im Zimmer des Abtes laut aus den sogenannten Classikern lesen +müssen. Die Bekanntschaft desselben habe er bei seinem Dienstherrn +in unserer Stadt gemacht, in dessen Hause dem Abte, der einst Lehrer +dieses Dienstherrn gewesen sei, jährlich ein oder zwei Male ein Fest +gegeben wurde. Der Dienstherr, der letzte, bei dem sich mein Vater +befunden, sei ein Ehrenmann gewesen, der seinen Leuten nicht nur +Gelegenheit verschafft habe, etwas lernen zu können, indem er sie zu +den vorkommenden Reisen benützte, auf denen sie Geschäftsfreunde, +Handelsverbindungen, Verkehrswege und dergleichen kennen lernten, +sondern der ihnen auch Zeit gönnte, selber, wenn sie nicht die Mittel +zu großen Geschäftsanlagen besaßen, mit kleinen Anfängen zu größeren +Unternehmungen und zu endlicher Selbstständigkeit schreiten zu können. +So habe auch der Vater mit kleinen Ersparnissen begonnen, habe sich +ausgedehnt und sei endlich, da die Anfänge unter den Flügeln seines +Herrn geschehen seien, mit dessen Unterstützung ein selbstständiger +Kaufmann geworden. Was er zu Vergnügungen hätte verwenden können, habe +er bei Seite gelegt und habe sich entweder ein Buch oder ein Kunstwerk +gekauft oder habe eine Reise zu seiner Belehrung gemacht. Da sich +seine Verbindungen mehrten und stets ergiebiger zu werden versprachen, +habe er meine Mutter kennen gelernt und ihre Hand gewonnen. Sie habe +eine nicht unbeträchtliche Mitgift in das Haus gebracht, und so sei +gemeinschaftlich der Grund gelegt worden, daß wir Kinder nun nicht nur +frei und unabhängig bei unsern Eltern in ihrem eigenen Hause leben +können, sondern auch für die Zukunft einen Notpfennig zu erwarten +hätten, und daß er selber sich mit Manchem habe umringen können, was +ihm die sanfte Neigung seines Herzens geboten habe und was ihm als +Erheiterung und nach der Liebe seiner Gattin und der Wohlgeratenheit +seiner Kinder auch als Lohn seines Alters dienen werde. Der betagte +Abt habe ihn als seinen letzten Schüler noch getraut und sei bald +darauf gestorben. Mit der jungen Frau habe er dreimal seine alten +Eltern, welche ferne in einem waldigen Lande von einer wenig +ergiebigen Feldwirtschaft lebten, besucht, sie seien dann kurz darauf +eins nach dem andern gestorben. + +Sein Dienstherr habe uns noch aus der Taufe gehoben, sei dann von den +Geschäften zurück getreten, habe bei seinem einzigen Kinde, einer +Tochter, die an einen angesehenen Güterbesitzer verheiratet war, +gelebt und sei bei ihr auch endlich gestorben. So haben sich alle +Verhältnisse geändert. Das heimatliche Waldhaus mit der geringen +Feldwirtschaft haben er und sein Bruder einer Schwester geschenkt, +diese sei ohne Kinder gestorben, und da weder er noch der Bruder das +Haus bewirtschaften konnten, so haben sie eingewilligt, daß es an +einen entfernten Verwandten falle. Der Bruder sei während unserer +Unmündigkeit gestorben, eben so die Großeltern von mütterlicher Seite +und endlich ein Großoheim von eben dieser Seite, der uns Kinder zu +Erben eingesetzt, und da die Mutter keine Geschwister gehabt habe, +so seien wir nun allein und so sei keine Verwandtschaft weder von +väterlicher noch von mütterlicher Seite übrig. Er habe die Liebe, +welche ihm durch den Tod seiner Angehörigen, denen er, besonders dem +Bruder, eine treue Erinnerung weihe, anheimgefallen sei, an die Mutter +und uns übertragen, sein Haus sei nun sein Alles, und wir zwei, die +Schwester und ich, sollten verbunden bleiben und sollten in Neigung +nicht von einander lassen, besonders wenn auch wir allein sein und er +und die Mutter im Kirchhofe schlummern würden. + +Diese Ermahnung zur Liebe war nicht nötig; denn daß wir, die Schwester +und ich, uns mehr lieben könnten, als wir taten, schien uns nicht +möglich, nur die Eltern liebten wir beide noch mehr, und wenn eine +Anspielung darauf gemacht wurde, daß sie uns einst verlassen sollten, +so betrübte uns das außerordentlich, und wohin wir die Liebe, die uns +dann zurückfallen sollte, wenden würden, wußten wir sehr wohl, wir +würden sie an gar nichts wenden, sie würde von selber über die +Grabhügel hinaus gegen die verstorbenen Eltern bis an unser Lebensende +fortdauern. + + +Die andern Vorkommnisse, die zwar auch in unserer Familie, aber nicht +in ihr allein, sondern zugleich in Gesellschaft von geladenen Menschen +vorfielen, waren mir nicht so angenehm als in früheren Zeiten, ja sie +waren mir eher widerwärtig und dünkten mir Zeitverlust. Sie bestanden +beinahe gleichmäßig wie in früheren Jahren aus abendlichen Kreisen, in +denen gesprochen wurde, oder aus Gesellschaften, in denen etwas Musik +oder gar Tanz vorkam. An dem letzteren nahm ich gar keinen Teil, und +die Schwester, welche, wie ich schon seit länger wahrnahm, schier alle +meine Neigungen teilte, tat es sehr wenig und flüchtete an solchen +Abenden sehr gerne zu mir. Ich hatte die Leute, darunter aber +vorzüglich die jungen, welche bei solchen Gelegenheiten zu uns kamen, +schon genau kennen gelernt, und wenn ich in früherer Zeit eine Scheu, +ja sogar eine gewisse Gattung von Ehrfurcht vor ihnen gehabt hatte, +so war dies jetzt nicht mehr der Fall; ich hatte durch Nachdenken und +durch Erfahrungen im Umgange mit andern Menschen einsehen gelernt, daß +das, wovor ich besonders eine Scheu hatte, nehmlich ihre Sicherheit +und Vornehmheit, nur ein Ding ist welches man lernt, wenn man sehr +viel in solchen Gesellschaften ist, wie sie bei uns waren, und wenn +man in diesen Gesellschaften viel spricht und in den Vordergrund +tritt. Und daß dieses Ding nicht schwer zu erlernen ist, sah ich +daraus, daß es solche inne hatten, deren Geisteskräfte hoch zu achten +ich nicht veranlaßt war. Meine Erfahrungen an Menschen hatte ich aber +nicht bloß in hohen Ständen gemacht, sondern auch in niedern, und +in diesen zwar nicht in der Stadt, sondern bei Gebirgsbewohnern und +Landbebauern. In hohen Ständen sah ich junge Leute, namentlich bei +der Fürstin war das der Fall, welche jenes Benehmen, das mir sonst so +hoch über mir schien, nicht hatten, sondern sich einfach und wenig +vortretend gaben, höflich und nicht linkisch waren, und an das Wort, +das ich öfter in meiner Jugend gehört, aber falsch verstanden hatte, +»ein junger Mann von guter Erziehung« erinnerten. In den untern +Ständen habe ich manchen Mann kennen gelernt, der, wenn er vor solchen +stand, die er für höher erachtete als sich selbst, nicht die Mühe +übernahm, auch höher in seinem Benehmen sein zu wollen, sondern +der ruhig so sprach, wie er die Sache verstand, und ruhig die Rede +anhörte, die ihm ein Anderer erwiderte. Dieser Mann schien mir auch +von höherer Erziehung als die, welche viele Arten des Benehmens wissen +und ersichtlich machen. Ein gültiges Beispiel gab mein Gastfreund, der +noch einfacher war als jene Männer, von denen ich sagte, daß ich sie +bei der Fürstin gesehen habe, und dessen Rede und Tun so klare Achtung +erzeugten. Selbst sein Anzug, der Anfangs auffiel, stimmte zu Allem. +Auch Eustach, Gustav aber ganz gewiß, standen im entschiedenen Vorzuge +vor meinen Gesellschaftsleuten. Weil ich nun diese Menschen sehr gut +kannte und weil sie mir keine hohe Rücksichtnahme mehr einflößten, war +es mir unersprießlich, mit ihnen zu sein, und es erschien mir, daß ich +die Zeit besser würde benützen können. Aber auch die Erfahrungen in +dieser Hinsicht mochte mein Vater für nützlich gehalten haben. Ich +machte sie nur an jungen Männern. Über Mädchen konnte ich ein Urteil +gar nicht sagen, weil ich sehr wenig mit ihnen sprach und weil mich +natürlich keine in meiner Zurückgezogenheit aufsuchen konnte. Wie +älteren Leuten, Männern wie Frauen, kam mir oft jemand entgegen, dem +ich Achtung zollen mußte; aber auch zu alten Leuten wie zu Mädchen +konnte ich mich nicht drängen. Unter denen, welchen ich mehr zugetan +war, stand der Sohn des Juwelenhändlers oben an, ich war ihm wirklich +in der eigentlichen Bedeutung ein Freund. Wir brachten außer unseren +Kleinodienlehrstunden manche Zeit mit einander zu, wir besprachen +verschiedene Dinge und lasen auch mitunter kleine Abschnitte von +Schriften mit einander, die wir gemeinschaftlich achteten. Seine +Eltern waren sehr liebenswürdig und fein. Der junge Preborn war mir +auch nicht unangenehm. Er sprach noch öfter von der schönen Tarona +und bedauerte sehr, daß sie auf weite Reisen gegangen und daher gar +nicht in die Stadt gekommen sei, weswegen er mir sie nie habe zeigen +können. An den eigentlichen Vergnügungen, die junge Männer unter sich +anstellten, nahm ich nur ungemein selten Teil. Daß ich aber auch +überhaupt viel weniger mit Männern meines Alters umging und nicht, wie +es bei vielen jungen Leuten in unserer Stadt der Gebrauch ist, Tage +mit ihnen zubrachte und dies öfter wiederholte, rührte daher, daß ich +viele Beschäftigungen hatte und daß mir daher zu wenig Zeit übrig +blieb, sie auf Anderes zu verwenden. Am liebsten war es mir, wenn ich +mit meinen Angehörigen allein war. + + +Ich ging nach dem Winter ziemlich spät im Frühlinge auf das Land. So +erfreulich der letzte Sommer für mich gewesen war, so sehr er mein +Herz gehoben hatte, so war doch etwas Unliebes in dem Grunde meines +Innern zurück geblieben, was nichts anders schien als das Bewußtsein, +daß ich in meinem Berufe nicht weiter gearbeitet habe und einer +planlosen Beschäftigung anheim gegeben gewesen sei. Ich wollte das +nun einbringen und den größten Teil des Sommers einer festen und +angestrengten Tätigkeit weihen. Ich nahm alle Geräte und Werke mit, +welche ich zur Fortsetzung meiner Arbeiten brauchte. Freie Stunden, +die nach genauer Zeiteinteilung übrig blieben, wollte ich dann meinen +Lieblingsdingen widmen. + +Ich kam in das Ahornwirtshaus und bestellte mir da hin auch die Leute, +die ich verwenden wollte, wenn sie sich nehmlich bereit erklärten, mir +in entferntere Teile der Gebirge zu folgen, wohin mich heuer meine +Arbeiten führen würden. Der alte Kaspar wollte mitgehen, zwei andere +auch, und so hatte ich genug. Ich erkundigte mich nach meinem +Zitherspiellehrer, er war fort und so gut wie verschollen. Kein Mensch +wußte etwas von ihm. Ich ging in das Rothmoor, um nachzusehen, wie +weit die Marmorarbeiten gediehen waren. Sie wurden heuer fertig, und +ich konnte sie im Herbste nach Hause bringen lassen. Da das geschehen +war, verließ ich für diesen Sommer das Ahornwirtshaus, in welchem ich +nun so lange gewohnt hatte, um mich in die Bergabteilung zu begeben, +die ich durchforschen wollte. Ich ging mit einem wehmütigen Gefühle +von dem Hause fort. + +An einer Stelle, wo das Gebirge weit verzweigt und wild verflochten, +aber deßohngeachtet bei Weitem nicht so schön war wie das, welches +ich verlassen hatte, setzte ich mich wie in einem Mittelpunkte meiner +Bestrebungen fest. Ich vermißte das heitere, fensterschimmernde +Ahornhaus, ich vermißte das ganze Tal, in dem ich beinahe heimisch +geworden war. In einem Hause, das an der Öffnung dreier Täler lag +und mir daher den geeignetsten Platz abgab, mietete ich mich ein. +Schwarzer Tannenwald sah auf meine Fenster, schritt an den Bächen, +welche aus den drei Tälern kamen, neben feuchten Wiesen und andern +offenen Stellen in die Talgründe hinein und zog sich auf die Berge. +Die höheren Kuppen oder gar die Schneeberge konnte man wegen der +Enge des Tales über den finstern Tannen nicht sehen. Das mochte auch +die Ursache sein, daß das Haus und die mehreren in den Waldlehnen +zerstreuten und an den Bächen hingehenden Hütten die Tann hießen. +Mauern, mit grünem Moose bewachsen, bildeten mein Haus und grenzten +an ein zerfallenes Gärtchen, in welchem wenig mehr als Schnittlauch +wuchs. Auf der Gasse war der Boden schwarz, und dieselbe Schwärze zog +sich in das Gras hinein; denn das Einzige, welches häufig an diesem +Wirtshause ankam und da hielt, damit sich Menschen und Tiere +erquickten, waren Kohlenfuhren. In dem ganzen, bei näherer +Besichtigung sich als ungeheuer zeigenden Waldgebiete waren die +Kohlenbrennereien zerstreut, und ganze Züge von den schwarzen +Fuhrwerken und den schwarzen Fuhrmännern zogen die düstere Straße +hinaus, um die Kohlen gegen die Ebenen zu bringen, von wo sie sogar +bis in unsere Stadt befördert wurden. Nur ein einziges Zimmer mit +kleinen Fenstern und eisernen Kreuzen daran konnte ich haben. In +demselben war ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett und eine bemalte Truhe, +in die ich Kleider und andere Dinge legen konnte. Für meine größeren +Kisten wurde mir ein Verschlag in einem Schuppen eingeräumt. Kaspar +und die andern schliefen, wenn wir uns in dem Hause befanden, in der +Scheuer im Heu. Ich ließ mein Gepäcke größtenteils in meinen Koffern, +hing nur das Nötige an Nägel, die in dem Zimmer waren, legte meine +Schreibgeräte, meine wissenschaftlichen Bücher und meine Dichter auf +den Tisch, füllte das Bettgestelle mit meinen von Hause mitgebrachten +Bettstücken, stellte meine Bergstöcke in eine Ecke und war +eingerichtet. Die Sonne, welche am späten Vormittage bei einem Fenster +meines Zimmers hereinkam, streifte am Nachmittage das andere, um bald +die Spitzen der Tannen zu vergolden und zu verschwinden. Ich war in +manchen ähnlichen Herbergen schon gewesen, war daran gewöhnt, fügte +mich und wurde mit dem Wirte, der Wirtin und einer rührigen Tochter, +einfachen, gutmütigen Leuten, die einen kleinen Gedankenkreis hatten, +bald bekannt. Sonst kam noch manches Mal ein Gebirgsjäger, ein +seltener Wandersmann oder ein Hausierer in das Tannwirtshaus. Die +größte Zahl der Gäste bestand außer den Kohlenführern in Holzknechten, +welche in den großen Wäldern zerstreut waren und welche gerne an +Samstagen oder an Tagen vor großen Festen heraus kamen, um zu den +Ihrigen zu gehen. Da verweilten sie denn nun nicht selten gerne +ein wenig in dem Tannwirtshause, um sich ein Gutes zu tun. Die +Hauptbeschäftigung aller Bewohner der Tann war die Holzarbeit und ihr +Hauptreichtum waren Kühe und Ziegen, welche täglich in die Wälder +gingen und von welchen die jüngeren den ganzen Sommer hindurch auf der +Höhe der Waldungen und der Holzschläge blieben. + +Von diesem Hause aus fingen wir nun an, unsere Beschäftigungen zu +betreiben. Durch die langen und weithingestreckten Waldungen ging +unser Hammer, und die Leute trugen die Zeugen der verschiedenen +Bodenbeschaffenheiten, auf denen die ausgedehnten Waldbestände +wuchsen, in der Gestalt der mannigfaltigen Gesteine in die Tann. Wenn +auch von unserem Gasthause aus die Felsenberge oder gar das Eis nicht +zu erblicken waren, so waren sie darum nicht weniger vorhanden. Weil +hier Alles großartiger war. + +Da wir uns tiefer im Gebirge und näher seinem Urstocke befanden, so +dehnten sich auch die Wälder in mächtigeren Anschwellungen aus, und +wenn man durch eine Reihe von Stunden in dem dunkeln Schatten der +feuchten Tannen und Fichten gegangen war, so wurden endlich ihre +Reihen lichter, ihr Bestand minderte sich, erstorbene Stämme oder +solche, die durch Unfälle zerstört worden waren, wurden häufiger, das +trockene Gestein mehrte sich, und wenn nun freie Plätze mit kurzem +Grase oder Sandgrieß oder Knieholz folgten, so sah man dämmerige +Wände in riesigen Abmessungen vor den Augen stehen, und blitzende +Schneefelder waren in ihnen, oder zwischen auseinanderschreitenden +Felsen schaute ein ganz in Weiß gehüllter Berg hervor. Die Gesteinwelt +folgte nun in noch größeren Ausdehnungen auf die Waldwelt. Uns führte +unsere Absicht oft aus der Umschließung der Wälder in das Freie +der Berge hinaus. Wenn die Bestandteile eines ganzen Gesteinzuges +ergründet waren, wenn alle Wässer, die der Gesteinzug in die Täler +sendet, untersucht waren, um jedes Geschiebe, das der Bach führt, zu +betrachten und zu verzeichnen, wenn nun nichts Neues nach mehrfacher +und genauer Untersuchung sich mehr ergab, so wurde versucht, sich des +Zuges selbst zu bemächtigen und seine Glieder, so weit es die Macht +und Gewalt der Natur zuließ, zu begehen. In die wildesten und +abgelegensten Gründe führte uns so unser Plan, auf die schroffsten +Grate kamen wir, wo ein scheuer Geier oder irgend ein unbekanntes +Ding vor uns aufflog und ein einsamer Holzarm hervor wuchs, den in +Jahrhunderten kein menschliches Auge gesehen hatte; auf lichte Höhen +gelangten wir, welche die ungeheure Wucht der Wälder, in denen unser +Wirtshaus lag, und die angebauteren Gefilde draußen, in denen die +Menschen wohnten, wie ein kleines Bild zu unsern Füßen legten. Meine +Leute wurden immer eifriger. Wie überhaupt der Mensch einen Trieb hat, +die Natur zu besiegen und sich zu ihrem Herrn zu machen, was schon die +Kinder durch kleines Bauen und Zusammenfügen, noch mehr aber durch +Zerstören zeigen und was die Erwachsenen dadurch dartun, daß sie die +Erde nicht nur zur nahrungsprossenden machen, wie der Dichter des +Achilleus so oft sagt, sondern sie auch vielfach zu ihrem Vergnügen +umgestalten, so sucht auch der Bergbewohner seine Berge, die er lieb +hat, zu zähmen, er sucht sie zu besteigen, zu überwinden und sucht +selbst dort hinan zu klettern, wohin ihn ein weiterer, wichtigerer +Zweck gar nicht treibt. Die Erzählung solcher bestandener Züge bildet +einen Teil der Würze des Lebens der Bergbewohner. Meine Leute waren +in einer gesteigerten Freude und Empfindung, wenn wir mit dem Hammer +und Meißel teils Stufen in die glatten Wände schlugen, teils Löcher +machten, unsere vorrätigen Eisen eintrieben, auf solche Weise Leitern +verfertigten und auf einen Standort gelangten, auf den zu gelangen +eine Unmöglichkeit schien. + +Wir kamen oft eine Reihe von Tagen nicht in unser Tannwirtshaus hinab. + +Ich suchte auch gerne auf die Gipfel hoher Berge zu gelangen, wenn +mich selbst eben meine Beschäftigung nicht dahin führte. Ich stand auf +dem Felsen, der das Eis und den Schnee überragte, an dessen Fuß sich +der Firnschrund befand, den man hatte überspringen müssen oder zu +dessen Überwindung wir nicht selten Leitern verfertigten und über das +Eis trugen, ich stand auf der zuweilen ganz kleinen Fläche des letzten +Steines, oberhalb dessen keiner mehr war, und sah auf das Gewimmel der +Berge um mich und unter mir, die entweder noch höher mit den weißen +Hörnern in den Himmel ragten und mich besiegten oder die meinen Stand +in anderen Luftebenen fortsetzten oder die einschrumpften und hinab +sanken und kleine Zeichnungen zeigten, ich sah die Täler wie rauchige +Falten durch die Gebilde ziehen und manchen See wie ein kleines +Täfelchen unten stehen, ich sah die Länder wie eine schwache Mappe vor +mir liegen, ich sah in die Gegend, wo gleichsam wie in einen staubigen +Nebel getaucht die Stadt sein mußte, in der alle lebten, die mir +teuer waren, Vater, Mutter und Schwester, ich sah nach den Höhen, die +von hier aus wie blauliche Lämmerwolken erschienen, auf denen das +Asperhaus sein mußte und der Sternenhof, wo mein lieber Gastfreund +hauste, wo die gute, klare Mathilde wohnte, wo Eustach war, wo der +fröhliche, feurige Gustav sich befand und wo Nataliens Augen blickten. + +Alles schwieg unter mir, als wäre die Welt ausgestorben, als wäre das, +daß sich Alles von Leben rege und rühre, ein Traum gewesen. Nicht +einmal ein Rauch war auf die Höhe hinauf zu sehen, und da wir zu +solchen Besteigungen stets schöne Tage wählten, so war auch meistens +der Himmel heiter und in der dunkelblauen Finsternis hin eine +endlosere Wüste, als er in der Tiefe und in den mit kleinen +Gegenständen angefüllten Ländern erscheint. Wenn wir hinab stiegen, +wenn Kaspar hinter uns die Eisen aus den Steinen zog und in den Sack +tat, den er an einem Stricke um die Schultern hängen hatte, wenn wir +nun die Leiter über den Firnschrund zurückzogen oder im Falle, daß +wir keine Leiter gebraucht hatten, über den Spalt gesprungen waren, +so zeigte sich in dem Ernste von Kaspars harten Zügen oder in +den Angesichtern der Andern, die uns begleiteten, eine gewisse +Veränderung, so daß ich schloß, daß der Stand, auf dem wir gestanden +waren, einen Eindruck auf sie gemacht haben mußte. + +Die Stunden oder Tage, die ich mir von meiner Arbeit abdingen konnte, +weil ich Ruhe brauchte oder das Wetter mich hinderte, wendete ich zur +Entwerfung leichter Landschaftsgebilde an, und die Tiefe der Nacht +wurde, ehe sich die Augen schlossen, durch die großen Worte eines, der +schon längst gestorben war und der sie uns in einem Buche hinterlassen +hatte, erhellt, und wenn die Kerze ausgelöscht war, wurden die Worte +in jenes Reich mit hinüber genommen, das uns so rätselhaft ist und das +einen Zustand vorbildet, der uns noch unergründlicher erscheint. + +Wie in der jüngstvergangenen Zeit konnte ich auch jetzt nicht mehr mit +der bloßen Sammlung des Stoffes meiner Wissenschaft mich begnügen, +ich konnte nicht mehr das Vorgefundene bloß einzeichnen, daß ein Bild +entstehe, wie Alles über einander und neben einander gelagert ist - +ich tat dieses zwar jetzt auch sehr genau -, sondern ich mußte mich +stets um die Ursache fragen, warum etwas sei, um die Art, wie es +seinen Anfang genommen habe. Ich baute in diesen Gedanken fort und +schrieb, was durch meine Seele ging, auf. Vielleicht wird einmal in +irgend einer Zukunft etwas daraus. + + +Zur Zeit der Rosenblüte machte ich einen Abschnitt in meinem Beginnen, +ich wollte mir eine Unterbrechung gönnen und den Asperhof besuchen. + +Ich lohnte meine Leute ab, gab ihnen das Versprechen, daß ich sie in +Zukunft wieder verwenden werde, legte zu ihrem Lohne noch ein kleines +Heimreisegeld und entließ sie. In dem Tannhause verpackte ich Alles +wohl, was mein Eigentum war, berichtigte das, was ich schuldig +geworden, sagte, daß ich wiederkommen werde, daß man mir das +Dagelassene unterdessen gut bewahren möge und fuhr in einem +einspännigen Gebirgswäglein durch den tiefen Weg, der von dem +rauschenden Bache des Tannwirtshauses waldaufwärts führt, davon. Als +ich die Heerstraße erreicht hatte, sendete ich meinen Fuhrmann zurück +und wählte für die weitere Fahrt einen Platz im Postwagen. Die Strecke +von der letzten Post zu meinem Freunde legte ich zu Fuße zurück. Für +Nachsendung meines Gepäckes trug ich Sorge. + +Ich war später gekommen, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. In der +tiefen Abgeschiedenheit und in der hohen kühlen Lage der Tann hatte +ich mich über das, was draußen geschah, getäuscht. In dem freieren +Lande war ein warmer Frühling und ein sehr warmer Frühsommer gewesen, +was ich in den Bergen nicht so genau hatte ermessen können. Darum +blühten schon die Rosen mit freudiger Fülle in allen Gärten, an denen +ich vorüber kam. In schöner Vollkommenheit schauten die untadeligen +Laubkronen meines Gastfreundes über das dunkle Dach des Hauses und +standen an den beiden Flügeln des Gartengitters, als ich den Hügel +hinan stieg. Die Fenstervorhänge, welche teils ein wenig geöffnet, +teils der Hitze willen geschlossen waren, luden mich gastlich ein, und +der Schmelz des Gesanges der Vögel und mancher lautere vereinzelte Ruf +grüßte mich wie einen, der hier schon lange bekannt ist. + +Da ich die Einrichtung des Gittertores kannte, drückte ich an der +Vorrichtung, der Flügel öffnete sich und ich trat in den Garten. + +Mein Gastfreund war bei den Bienen. Ich erfuhr das von dem Gärtner, +welcher der erste war, den ich zu sehen bekam. Er ordnete etwas an +einem Geranienbeete in der Nähe des Einganges. Ich schlug den Weg zu +den Bienen ein. Mein Gastfreund stand vor der Hütte und erwartete das +Erscheinen einer jungen Familie, die schwärmen wollte. Er sagte mir +dieses, als ich hinzutrat, ihn zu begrüßen. Der Empfang war beinahe +bewegt, wie zwischen einem Vater und einem Sohne, so sehr war meine +Liebe zu ihm schon gewachsen, und eben so mochte auch er schon eine +Zuneigung zu mir gewonnen haben. + +Da er doch wohl von seinem Vorhaben nicht weggehen konnte, sagte ich, +ich wolle die andern auch begrüßen, und er billigte es. Er hatte mir +erzählt, daß Mathilde und Natalie in dem Asperhofe seien. + +Ich ging gegen das Haus. Gustav hatte es schon erfahren, daß ich da +sei, er flog die Treppe herunter und auf mich zu. Gruß, Gegengruß, +Fragen, Antworten, Vorwürfe, daß ich so spät gekommen sei und daß +ich in dem Frühlinge doch nicht einige Tage benützt habe, um in den +Asperhof zu gehen. Er sagte, daß er mir sehr viel zu erzählen habe, +daß er mir alles erzählen wolle und daß ich recht lange, lange da +bleiben müsse. + +Er führte mich nun zu seiner Mutter. Diese saß an einem Tische im +Gebüsche und las. Sie stand auf, da sie mich nahen sah, und ging mir +entgegen. Sie reichte mir die Hand, die ich, wie es in unserer Stadt +Sitte war, küssen wollte. Sie ließ es nicht zu. Ich hatte wohl schon +früher bemerkt, daß sie nicht zugab, daß ihr die Hand geküßt werde; +aber ich hatte in dem Augenblicke nicht daran gedacht. Sie sagte, daß +ich ihr sehr willkommen sei, daß sie mich schon früher erwartet habe +und daß ich nun eine nicht zu kurze Zeit meinen hiesigen Freunden +schenken müsse. Wir gingen unter diesen Worten wieder zu dem Tische +zurück, auf den sie ihr Buch gelegt hatte, und sie hieß mich an ihm +Platz nehmen. Ich setzte mich auf einen der dastehenden Stühle. Gustav +blieb neben uns stehen. Ihr Angesicht war so heiter und freundlich, +daß ich meinte, es nie so gesehen zu haben. Oder es war wohl immer so, +nur in meiner Erinnerung war es ein wenig zurück getreten. Wirklich, +so oft ich Mathilden nach längerer Trennung sah, erschien sie mir, +obwohl sie eine alternde Frau war, immer lieblicher und immer +anmutiger. Zwischen den Fältchen des Alters und auf den Zügen, welche +auf eine Reihe von Jahren wiesen, wohnte eine Schönheit, welche rührte +und Zutrauen erweckte. Und mehr als diese Schönheit war es, wie ich +wohl jetzt erkannte, da ich so viele Angesichter so genau betrachtet +hatte, um sie nachzubilden, die Seele, welche gütig und abgeschlossen +sich darstellte und auf die Menschen, die ihr naheten, wirkte. Um die +reine Stirne zog sich das Weiß der Haubenkrause, und ähnliche weiße +Streifen waren um die feinen Hände. + +Auf dem Tische stand ein Blumentopf mit einer dunkeln, fast +veilchenblauen Rose. Sie lehnte sich in dem Rohrstuhle, auf dem sie +saß, zurück, faltete die Hände auf ihrem Schooße und sagte: »Wir +werden in dem Sternenhofe ein kleines Fest feiern. Ihr wißt, daß wir +begonnen haben, die Tünche, womit die großen Steinflächen, die die +Mauern unsers Hauses bekleiden, in früheren Jahren überstrichen worden +sind, wegzunehmen, weil unser Freund meinte, daß dieselbe das Haus +entstelle und daß es sich weit schöner zeigen würde, wenn sie +weggenommen und der bloße Stein sichtbar wäre. Heuer ist nun die ganze +vordere Fläche des Hauses fertig geworden, die Gerüste werden eben +abgebrochen, und da werden, wenn die Spuren auch auf dem Boden vor +dem Hause vertilgt sind, wenn der Sand geebnet ist, wenn der Rasen +gereinigt und gewaschen ist, daß er keine Kalkflecke, sondern das +reine Grün zeigt, wir alle hinausfahren, um die Sache zu betrachten +und ein Urteil abzugeben, ob das Haus den Gewinn gemacht habe, der +sich uns versprochen hat. + +Es werden auch andere Menschen kommen, es werden wahrscheinlich sich +einige Nachbarn einfinden, und da ihr zu unsern Freunden aus dem +Asperhofe gehört, und da wir alle euer Urteil in Anschlag bringen +möchten, so seid ihr gebeten, auch dabei zu sein und die Gesellschaft +zu vermehren.« + +»Mein Urteil ist wohl sehr geringe«, antwortete ich, »und wenn es +nicht ganz verwerflich ist, und wenn ich mir einige Kenntnisse und +eine bestimmte Empfindung des Schönen erworben habe, so danke ich +Alles dem Besitzer dieses Hauses, der mich so gütig aufgenommen und +Manches in mir hervor gezogen hat, das wohl sonst nie zu irgend einer +Bedeutung gekommen wäre. Ich werde also kaum zur Feststellung der +Sache auf dem Sternenhofe etwas beitragen können, und meine Ansicht +wird gewiß die meines Gastfreundes und Eustachs sein; aber da ihr mich +so freundlich einladet und da es mir eine Freude macht, in eurem Hause +sein zu können, so nehme ich die Einladung gerne an, vorausgesetzt, +daß die Zeit nicht zu spät bestimmt ist, da ich doch wohl noch in +diesem Sommer in den Ort meiner jetzigen Tätigkeit zurückkehren und +Einiges vor mich bringen möchte.« + +»Die Zeit ist sehr nahe«, erwiderte sie, »es ist ohnehin schon seit +länger her gebräuchlich, daß nach der Rosenblüte, zu welcher ich immer +in diesem Hause eingeladen bin, unsere hiesigen Freunde auf eine Weile +in den Sternenhof hinüber fahren. Das wird auch heuer so sein. + +Während hier die feinen Blätter dieser Blumen sich vollkommen +entwickeln und endlich welken und abfallen, wird unser Hausverwalter +in dem Sternenhofe Alles in Ordnung bringen, daß keine Verwirrung mehr +zu sehr sichtbar ist, er wird uns hierüber einen Brief schreiben und +wir werden den Tag der Zusammenkunft bestimmen. Von dem Urteile, wenn +irgend eines mit einem überwiegenden Gewichte zu Stande kömmt, wird +es abhängen, ob auch die Kosten zu der Reinigung der andern Teile des +Hauses verwendet werden oder ob der jetzige Zustand, daß eine Seite +von der Tünche befreit ist, die übrigen aber damit behaftet sind, der +gewiß weniger schön ist, als wenn Alles übertüncht geblieben wäre, +fortbestehen oder ob gar das Befreite wieder übertüncht werden solle. +Daß ihr übrigens eure Ansichten geringe achtet, daran tut ihr Unrecht. +Wenn in der Nähe unsers Freundes Einiges an euch früher zur Blüte kam, +so ist dies wohl sehr natürlich; es ist ja Alles an uns Menschen so, +daß es wieder von andern Menschen groß gezogen wird, und es ist das +glückliche Vorrecht bedeutender Menschen, daß sie in andern auch das +Bedeutende, das wohl sonst später zum Vorscheine gekommen wäre, früher +entwickeln. Wie sicher in euch die Anlage zu dem Höheren und Größeren +vorhanden war, zeigt schon die Wahl, mit der ihr aus eigenem Antriebe +auf eine wissenschaftliche Beschäftigung gekommen seid, die sonst +unsere jungen Leute in den Jahren, in denen ihr euch entschieden habt, +nicht zu ergreifen pflegen, und daß euer Herz dem Schönen zugewendet +war, geht daraus hervor, daß ihr schon bald begannet, die Gegenstände +eurer Wissenschaft abzubilden, worauf der, dem der bildende Sinn +mangelt, nicht so leicht verfällt, er macht sich eher schriftliche +Verzeichnisse, und endlich habt ihr ja in Kurzem die Abbildung anderer +Dinge, menschlicher Köpfe, Landschaften, versucht und habt euch auf +die Dichter gewendet. Daß es aber auch nicht ein unglücklicher Tag +war, an welchem ihr über diesen Hügel herauf ginget, zeigt sich in +einer Tatsache: ihr liebt den Besitzer dieses Hauses, und einen +Menschen lieben können ist für den, der das Gefühl hat, ein großer +Gewinn.« + +Gustav hatte während dieser Rede die Mutter stets freundlich +angesehen. + +Ich aber sagte: »Er ist ein ungewöhnlicher, ein ganz außerordentlicher +Mensch.« + +Sie erwiderte auf diese Worte nichts, sondern schwieg eine Weile. +Später fing sie wieder an: »Ich habe mir diese Rosenpflanze auf den +Tisch gestellt, gewissermaßen als die Gesellschafterin meines Lesens - +gefällt euch die Blume?« + +»Sie gefällt mir sehr«, antwortete ich, »wie mir überhaupt alle Rosen +gefallen, die in diesem Hause gezogen werden.« + +»Sie ist eine neue Art«, sagte sie, »ich habe aus England einen Brief +bekommen, in welchem eine Freundin mit Auszeichnung von einer Rose +sprach, die sie in Kew gesehen habe und deren Namen sie hinzu fügte. +Da ich in dem Verzeichnisse unserer Rosen den Namen nicht fand, dachte +ich, daß dies eine Art sein dürfte, welche unser Freund nicht hat. +Ich schrieb an die Freundin, ob sie mir eine solche Rosenpflanze +verschaffen könne. Mit Hilfe eines Mannes, der uns beide kennt, +erhielt sie die Pflanze, und in diesem Frühlinge wurde sie mir in +einem Topfe, sehr wohl und sinnreich verpackt, aus England geschickt. +Ich pflegte sie, und da die Blumen sich entwickeln wollten, brachte +ich sie unserm Freunde. Die Rosen öffneten sich hier vollends, und +wir sahen - besonders er, der alle Merkmale genau kennt -, daß diese +Blume sich in der Sammlung dieses Hauses noch nicht befindet. Eustach +bildete sie ab, daß wir sie festhalten und ob die, welche in Zukunft +kommen werden, ihr gleichen. Mein Freund schrieb nach England um +Pfropfreiser für den nächsten Frühling, diese Pflanze bleibt indessen +in dem Topfe und wird hier besorgt werden.« + +Während sie so sprach, regten sich die Zweige neben einem schmalen +Pfade, der aus dem Gebüsche auf den Platz führte, und Natalie trat auf +dem Pfade hervor. Sie war erhitzt und trug einen Strauß von Feldblumen +in der Hand. Sie mußte nicht gewußt haben, daß ein Fremder bei der +Mutter sei; denn sie erschrak sehr, und mir schien, als ginge durch +das Rot des erwärmten Angesichtes eine Blässe, die wieder mit einem +noch stärkeren Rot wechselte. Ich war ebenfalls beinahe erschrocken +und stand auf. + +Sie war an der Ecke des Gebüsches stehen geblieben, und ich sagte die +Worte: »Mich freut es sehr, mein Fräulein, euch so wohl zu sehen.« + +»Mich freut es auch, daß ihr wohl seid«, erwiderte sie. + +»Mein Kind, du bist sehr erhitzt«, sagte die Mutter, »du mußt weit +gewesen sein, es kömmt schon die Mittagsstunde, und in derselben +solltest du nicht so weit gehen. Setze dich ein wenig auf einen dieser +Sessel, aber setze dich in die Sonne, damit du nicht zu schnell +abkühlest.« + +Natalie blieb noch ein ganz kleines Weilchen stehen, dann rückte sie +folgsam einen von den herumstehenden Sesseln so, daß er ganz von der +Sonne beschienen wurde, und setzte sich auf ihn. Sie hatte den runden +Hut mit dem nicht gar großen Schirme, wie ihn Mathilde und sie +sehr gerne auf Spaziergängen in der Nähe des Rosenhauses und des +Sternenhofes trugen, als sie aus dem Gebüsche getreten war, in der +Hand gehabt, jetzt, da die Sonne auf ihren Scheitel schien, setzte sie +ihn auf. Sie legte den Strauß von Feldblumen, den sie gebracht hatte, +auf den Tisch und fing an, die einzelnen Gewächse heraus zu suchen und +gleichsam zu einem neuen Strauße zu ordnen. + +»Wo bist du denn gewesen?« fragte die Mutter. + +»Ich bin zu mehreren Rosenstellen in dem Garten gegangen«, antwortete +Natalie, »ich bin zwischen den Gebüschen neben den Zwergobstbäumen und +unter den großen Bäumen, dann zu dem Kirschbaume empor und von da in +das Freie hinaus gegangen. Dort standen die Saaten und es blühten +Blumen zwischen den Halmen und in dem Grase. Ich ging auf dem schmalen +Wege zwischen den Getreiden fort, ich kam zur Felderrast, saß dort ein +wenig, ging dann auf dem Getreidehügel auf mehreren Rainen ohne Weg +zwischen den Feldern herum, pflückte diese Blumen und ging dann wieder +in den Garten zurück.« + +»Und hast du dich denn lange auf dem Berge aufgehalten, und hast du +alle Zeit zu dem Aufsuchen und Pflücken dieser Blumen verwendet?« +fragte Mathilde. + +»Ich weiß nicht, wie lange ich mich auf dem Berge aufgehalten habe; +aber ich meine, es wird nicht lange gewesen sein«, antwortete Natalie, +»ich habe nicht bloß diese Blumen gepflückt, sondern auch auf die +Gebirge geschaut, ich habe auf den Himmel gesehen und auf die Gegend, +auf diesen Garten und auf dieses Haus geblickt.« + +»Mein Kind«, sagte Mathilde, »es ist kein Übel, wenn du in den +Umgebungen dieses Hauses herum gehst; aber es ist nicht gut, wenn du +in der heißen Sonne, die gegen Mittag zwar nicht am heißesten ist, +aber immerhin schon heiß genug, auf dem Hügel herum gehst, welcher ihr +ganz ausgesetzt ist, welcher keinen Baum - außer bei der Felderrast - +und keinen Strauch hat, der Schatten bieten könnte. Und du weißt auch +nicht, wie lange du in der Hitze verweilest, wenn du dich in das +Herumsehen vertiefest oder wenn du Blumen pflückest und in dieser +Beschäftigung die Zeit nicht beachtest.« + +»Ich habe mich in das Blumenpflücken nicht vertieft«, erwiderte +Natalie, »ich habe die Blumen nur so gelegentlich gelesen, wie sie mir +in meinem Dahingehen aufstießen. Die Sonne tut mir nicht so weh, liebe +Mutter, wie du meinst, ich empfinde mich in ihr sehr wohl und sehr +frei, ich werde nicht müde, und die Wärme des Körpers stärkt mich +eher, als daß sie mich drückt.« + +»Du hast auch dein Hut an dem Arme getragen«, sagte die Mutter. + +»Ja, das habe ich getan«, antwortete Natalie, »aber du weißt, daß ich +dichte Haare habe, auf dieselben legt sich die Sonnenwärme wohltätig, +wohltätiger als wenn ich den Hut auf dem Haupte trage, der so heiß +macht, und die freie Luft geht angenehm, wenn man das Haupt entblößt +hat, an der Stirne und an den Haaren dahin.« + +Ich betrachtete Natalie, da sie so sprach. Ich erkannte erst jetzt, +warum sie mir immer so merkwürdig gewesen ist, ich erkannte es, seit +ich die geschnittenen Steine meines Vaters gesehen hatte. Mir erschien +es, Natalie sehe einem der Angesichter ähnlich, welche ich auf +den Steinen erblickt hatte, oder vielmehr in ihren Zügen war das +Nehmliche, was in den Zügen auf den Angesichtern der geschnittenen +Steine ist. Die Stirne, die Nase, der Mund, die Augen, die Wangen +hatten genau etwas, was die Frauen dieser Steine hatten, das Freie, +das Hohe, das Einfache, das Zarte und doch das Kräftige, welches auf +einen vollständig gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen +eigentümlichen Willen und eine eigentümliche Seele. Ich blickte auf +Gustav, der noch immer neben dem Tische stand, ob ich auch an ihm +etwas Ähnliches entdecken könnte. Er war noch nicht so entwickelt, daß +sich an ihm schon das Wesen der Gestalt aussprechen konnte, die Züge +waren noch zu rund und zu weich; aber es däuchte mir, daß er in +wenigen Jahren so aussehen würde, wie die Jünglingsangesichter unter +den Helmen auf den Steinen aussehen, und daß er dann Natalien noch +mehr gleichen würde. Ich blickte auch Mathilden an; aber ihre Züge +waren wieder in das Sanftere des Alters übergegangen; ich glaubte +deßohngeachtet, vor nicht langer Zeit müßte auch sie ausgesehen haben, +wie die älteren Frauen auf den Steinen aussehen. Natalie stammte also +gleichsam aus einem Geschlechte, das vergangen war und das anders und +selbständiger war als das jetzige. Ich sah lange auf die Gestalt, +welche beim Sprechen bald die Augen zu uns aufschlug, bald sie wieder +auf ihre Blumen nieder senkte. Daß ihr Haupt so antik erschien, +wie der Vater mit einem altrömischen Beiworte von seinen Steinen +sagte, mochte zum Teile auch daher kommen - wenigstens gewann ihre +Erscheinung dadurch -, daß es mit einem richtig gebildeten Halse +aus einem ganz einfachen, schmucklosen Kleide hervor sah. Keine +überflüssige Zutat von Stoffen und keine Kette oder sonst ein Schmuck +umgab den Hals - dieses macht nur die bloß anmutigen Angesichter noch +anmutiger -, sondern das Kleid mit einer nicht auffallenden Farbe und +mit einem nicht auffallenden Schnitte schloß den reinen Hals und ging +an der übrigen Gestalt hernieder. + +Die Mutter sah Natalien freundlich an, da sie sprach, und sagte dann: +»Der Jugend ist alles gut, der Jugend schlägt alles zum Gedeihen +aus, sie wird wohl auch empfinden, was ihr not tut, wie das Alter +empfindet, was es bedarf - Ruhe und Stille -, und unser Freund sagt ja +auch, man soll der Natur ihr Wort reden lassen; darum magst du gehen, +wie du fühlest, daß du es bedarfst, Natalie, du wirst kein Unrecht +begehen, wie du es ja nie tust, du wirst keine Maßregel außer Acht +lassen, die wir dir gesagt haben, und du wirst dich in deine Gedanken +nicht so vertiefen, daß du deinen Körper vergäßest.« + +»Das werde ich nicht tun, Mutter«, entgegnete Natalie, »aber lasse +mich gehen, es ist ein Wunsch in mir, so zu verfahren. Ich werde ihn +mäßigen, wie ich kann; ich tue es um deinetwillen, Mutter, daß du dich +nicht beunruhigest. Ich möchte auf dem Felderhügel herum gehen, dann +auch in dem Tale und in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen +und Alles darin beschauen und betrachten. Und die Ruhe schließt dann +so schön das Gemüt und den Willen ab.« + +Daß Natalie doch durch das Wandeln in der heißen Sonne unmittelbar +vor der Mittagszeit sich erhitzt habe, zeigte ihr Angesicht. Dasselbe +behielt die Röte, welche es nach dem ersten Erblassen erhalten hatte, +und verlor sie nur in geringem Maße, während sie an dem Tische saß, +was doch eine geraume Zeit dauerte. Es blühte dieses Rot wie ein +sanftes Licht auf ihren Wangen und verschönerte sie gleichsam wie ein +klarer Schimmer. + +Sie fuhr in ihrem Geschäfte mit den Blumen fort, sie legte eine nach +der andern von dem größeren Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere +Strauß der größere wurde, der größere aber sich immer verkleinerte. +Sie schied keine einzige Blume aus, sie warf nicht einmal einen +Grashalm weg, der sich eingefunden hatte; es erschien also, daß sie +weniger eine Auslese der Blumen machen, als dem alten Strauße eine +neue, schönere Gestalt geben wollte. So war es auch, denn der alte +Strauß war endlich verschwunden und der neue lag allein auf dem +Tische. + +Mathilde hatte ihr Buch immer vor sich auf dem Tische liegen und sah +nicht wieder hinein. Sie frug mich um meinen letzten Aufenthalt und um +meine letzten Arbeiten. Ich setzte ihr beides auseinander. + +Gustav hatte sich indessen auch auf einen Sessel, ganz nahe an mir, +gesetzt, und hörte aufmerksam zu. + +Als die Sonne im Mittage angekommen war und nachgerade unsern ganzen +Tisch erfüllt hatte, erschien Arabella, um uns zum Mittagessen zu +rufen. + +Ein Mann, der in dem Garten arbeitete, mußte den Blumentopf in das +Haus tragen. Mathilde nahm das Buch und ein Arbeitskörbchen, das neben +ihr auf dem Tische gestanden war, Natalie nahm ihren Blumenstrauß, +hing ihren Hut wieder an ihren Arm, und so gingen wir in das Haus. Die +Frauen wandelten vor uns, Gustav und ich gingen hinter ihnen. + + +Daß ich mich gegen meinen Gastfreund, gegen Eustach, gegen Gustav und +selbst gegen die Leute des Hauses verteidigen mußte, weil ich heuer so +spät gekommen sei, nahm mich nicht Wunder, da ich immer so freundlich +hier aufgenommen worden war, und da man sich beinahe daran gewöhnt +hatte, daß ich alle Sommer in das Rosenhaus komme, wie ja auch mir +diese Besuche zur Gewohnheit geworden waren. + +Mein Gastfreund und ich sprachen von den Dingen, welche ich im Laufe +des heurigen Sommers unternommen hatte, so wie er mir auch in den +ersten Tagen alles zeigte, was in dem Rosenhause geschah und was sich +in meiner Abwesenheit verändert hatte. + +Ich sah, daß die Zeit der Rosenblüte nicht so lange dauern werde, +weil ich ja auch nicht zu ihrem ersten Anfange, sondern etwas später +gekommen war. + +Die Bilder gaben mir wieder eine süße Empfindung, und die hohe Gestalt +auf der Treppe trat mir immer näher, seit ich die geschnittenen Steine +gesehen hatte und seit ich wußte, daß etwas unter den Lebenden wandle, +das ähnlich sei. Ich ging mit Gustav oder allein öfter in der Gegend +herum. + +Eines Nachmittages waren wir in dem Rosenzimmer. Mathilde sprach +recht freundlich von verschiedenen Gegenständen des Lebens, von den +Erscheinungen desselben, wie man sie aufnehmen müsse und wie sie in +dem Laufe der Jahre sich ablösen. Mein Gastfreund antwortete ihr. Bei +dieser Gelegenheit sah ich erst, wie zart und schön für das Zimmer +gesorgt worden war; denn die vier an Größe wie an Rahmen gleichen +Gemälde, die in demselben hingen, waren trotz ihrer Kleinheit bei +Weitem das Herrlichste und Außerordentlichste, was es an Gemälden im +Rosenhause gab. Ich hatte mein Urteil doch schon so weit gebildet, um +bei dem großen Unterschiede, der da waltete, das einsehen zu können. +Doch leitete ich auch meinen Gastfreund auf den Gegenstand, und er +gab meine Wahrnehmung, freilich in sehr bescheidenen Ausdrücken, weil +Mathilde zugegen war, zu. Wir besahen, nachdem das Gespräch eine +Wendung genommen hatte, die Bilder und machten uns auf das Zarte, +Liebliche und Hohe derselben aufmerksam. + +Besuche, wie gewöhnlich zur Rosenzeit, kamen auch heuer; aber ich +mischte mich weniger als etwa in früheren Jahren unter die Leute. + +Natalie ging wirklich, wie ich jetzt selber wahrnahm, in diesem Sommer +mehr als in vergangenen im Garten und in der Gegend herum, sie ging +viel weiter und ging auch öfter allein. Sie ging nicht bloß bei dem +großen Kirschbaume öfter in das Freie und ging dort zwischen den +Saaten herum, sondern sie ging auch geradewegs über den Hügel hinab zu +der Straße, oder sie ging in den Meierhof oder längs der Hügel dahin, +oder sie ging ein Stück auf dem Wege nach dem Inghofe. Wenn sie +zurückgekehrt war, saß sie in ihrem Lehnstuhle und blickte auf das, +was vor ihr oder in ihrer Umgebung geschah. + +Eines Tages, da ich selber einen weiten Weg gemacht hatte und gegen +Abend in das Rosenhaus zurück kehrte, sah ich, da ich von dem +Erlenbache hinauf eine kürzere Richtung eingeschlagen hatte, auf +bloßem Rasen zwischen den Feldern gegangen, auf der Höhe angekommen +war und nun gegen die Felderrast zuging, auf dem Bänklein, das unter +der Esche derselben steht, eine Gestalt sitzen. Ich kümmerte mich +nicht viel um sie und ging meines Weges, welcher gerade auf den Baum +zuführte, weiter. Ich konnte, wie nahe ich auch kam, die Gestalt nicht +erkennen; denn sie hatte nicht nur den Rücken gegen mich gekehrt, +sondern war auch durch den größten Teil des Baumstammes gedeckt. Ihr +Angesicht blickte nach Süden. Sie regte sich nicht und wendete sich +nicht. So kam ich fast dicht gegen sie heran. Sie mußte nun meinen +Tritt im Grase oder mein Anstreifen an das Getreide gehört haben; denn +sie erhob sich plötzlich, wendete sich um, damit sie mich sähe, und +ich stand vor Natalien. Kaum zwei Schritte waren wir von einander +entfernt. Das Bänklein stand zwischen uns. Der Baumstamm war jetzt +etwas seitwärts. Wir erschraken beide. Ich hatte nehmlich nicht - auch +nicht im Entferntesten - daran gedacht, daß Natalie auf dem Bänklein +sitzen könne, und sie mußte erschrocken sein, weil sie plötzlich +Schritte hinter sich gehört hatte, wo doch kein Weg ging, und weil +sie, da sie sich umwendete, einen Mann vor sich stehen gesehen hatte. +Ich mußte annehmen, daß sie nicht gleich erkannt habe, daß ich es sei. + +Ein Weilchen standen wir stumm gegenüber, dann sagte ich: »Seid +ihr es, Fräulein, ich hatte nicht gedacht, daß ich euch unter dem +Eschenbaume sitzend finden würde.« + +»Ich war ermüdet«, antwortete sie, »und setzte mich auf die Bank, um +zu ruhen. Auch dürfte es wohl an der Zeit später geworden sein, als +man gewohnt ist, mich nach Hause kommen zu sehen.« + +»Wenn ihr ermüdet seid«, sagte ich, »so will ich nicht Ursache sein, +daß ihr steht, ich bitte, setzet euch, ich will, so schnell ich kann, +durch die Felder und den Garten eilen und euch Gustav herauf senden, +daß er euch nach Hause begleite.« + +»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte sie, »es ist ja noch nicht +Abend, und selbst wenn es Abend wäre, so droht wohl nirgends +ringsherum eine Gefahr. Ich bin schon viel weiter allein gegangen, ich +bin allein nach Hause zurückgekehrt, meine Mutter und unser Gastfreund +haben deshalb keine Besorgnisse gehabt. Heute bin ich bis auf dem +Raitbühel bei dem roten Kreuze gewesen und bin von dort zu der Bank +hieher zurück gegangen.« + +»Das ist ja fast über eine Stunde Weges«, sagte ich. + +»Ich weiß nicht, wie lange ich gegangen bin«, antwortete sie, »ich +ging zwischen den Feldern hin, auf denen die ungeheure Menge des +Getreides steht, ich ging an manchem Strauche hin, den der Rain +enthält, ich ging an manchem Baume vorbei, der in dem Getreide steht, +und kam zu dem roten Kreuze, das aus den Saaten empor ragt.« + +»Wenn ich sehr gut gehe«, sagte ich, »so brauche ich von hier bis zu +dem roten Kreuze eine Stunde.« + +»Ich habe, wie ich sagte, die Zeit nicht gezählt«, entgegnete sie, +»ich bin von hier zu dem Kreuze gegangen, und bin von dem Kreuze +wieder hieher zurück gekehrt.« + +Während dieser Worte war ich aus der ungefügen Stellung im Grase +hinter dem Bänklein auf den freien Raum herüber getreten, der sich vor +dem Baume ausbreitet, Natalie hatte eine leichte Bewegung gemacht und +sich wieder auf das Bänkchen gesetzt. + +»Nach einem solchen Gange bedürft ihr freilich der Ruhe«, sprach ich. + +»Es ist auch nicht gerade deswillen«, antwortete sie, »weshalb ich +diese Bank suchte. So ermüdet ich bin, so könnte ich wohl noch recht +gut den Weg durch die Felder und den Garten nach Hause, ja noch einen +viel weiteren machen; aber es gesellte sich zu dem körperlichen +Wunsche noch ein anderer.« + +»Nun?« + +»Auf diesem Platze ist es schön, das Auge kann sich ergehen, ich bin +bei meinen Gedanken, ich brauche diese Gedanken nicht zu unterbrechen, +was ich doch tun muß, wenn ich zu den Meinigen zurück kehre.« + +»Und darum ruhet ihr hier?« + +»Darum ruhe ich hier.« + +»Seid ihr von eurer Kindheit an gerne allein in den Feldern gegangen?« + +»Ich erinnere mich des Wunsches nicht«, antwortete sie, »wie es denn +überhaupt einige Zeitabschnitte in meiner Kindheit gibt, an welche +ich mich nicht genau erinnern kann, und da der Wunsch in meinem +Gedächtnisse nicht gegenwärtig ist, so wird auch die Tatsache nicht +gewesen sein, obwohl es wahr ist, daß ich als Kind lebhafte Bewegungen +sehr geliebt habe.« + +»Und jetzt führt euch eure Neigung öfter in das Freie?« fragte ich. + +»Ich gehe gerne herum, wo ich nicht beengt bin«, antwortete sie, »ich +gehe zwischen den Feldern und den wallenden Saaten, ich steige auf die +sanften Hügel empor, ich wandere an den blätterreichen Bäumen vorüber +und gehe so fort, bis mich eine fremde Gegend ansieht, der Himmel über +derselben gleichsam ein anderer ist und andere Wolken hegt. Im Gehen +sinne und denke ich dann. Der Himmel, die Wolken darin, das Getreide, +die Bäume, die Gesträuche, das Gras, die Blumen stören mich nicht. +Wenn ich recht ermüdet bin und auf einem Bänklein wie hier oder auf +einem Sessel in unserem Garten oder selbst auf einem Sitze in unserem +Zimmer ausruhen kann, so denke ich, ich werde nun nicht wieder so weit +gehen. - Und wo seid denn ihr gewesen?« fragte sie, nachdem sie sich +unterbrochen und ein Weilchen geschwiegen hatte. + +»Ich bin nach dem Essen von dem Erlenbache zu dem Teiche hinauf +gegangen«, antwortete ich, »dann durch das Gehölze auf den Balkhügel +empor, von dem man die Gegend von Landegg sieht und den Turm seiner +Pfarrkirche erblicken kann. Von dem Balkhügel bin ich dann noch auf +den Höhen fortgegangen, bis ich zu den Rohrhäusern gekommen bin. Da +ich dort schon zwei starke Wegstunden von dem Asperhofe entfernt +war, schlug ich den Rückweg ein. Ich hatte im Hingehen viele Zeit +verbraucht, weil ich häufig stehen geblieben war und verschiedene +Dinge angesehen hatte, deshalb wählte ich nun einen kürzeren Rückgang. +Ich ging auf Feldpfaden und mannigfaltigen Kirchenwegen durch die +Felder, bis ich zwischen Dernhof und Ambach wieder zu dem Seewalde und +zu dem Erlenbache herabkam. Von dort aus waren mir Raine bekannt, die +am kürzesten auf die Felderrast herüber führten. Obwohl auf ihnen kein +Weg führt, ging ich doch auf ihrem Grase fort und kam so gegen euch +herzu.« + +»Da müßt ihr ja recht müde sein«, sagte sie und machte eine Bewegung +auf dem Bänklein, um mir Platz neben sich zu verschaffen. + +Ich wußte nicht recht, wie ich tun sollte, setzte mich aber doch an +ihrer Seite nieder. + +»Habt ihr etwa ein Buch mit euch genommen, um auf dieser Bank zu +lesen«, fragte ich, »oder habt ihr nicht Blumen gepflückt?« + +»Ich habe kein Buch mitgenommen und habe keine Blumen gepflückt«, +antwortete sie, »ich kann nicht lesen, wenn ich gehe, und kann auch +nicht lesen, wenn ich im freien Felde auf einer Bank oder auf einem +Steine sitze.« + +Wirklich sah ich auch gar nichts neben ihr, sie hatte kein Körbchen +oder sonst irgend etwas, das Frauen gerne mit sich zu tragen pflegen, +um Gegenstände hinein legen zu können; sie saß müßig auf dem Bänklein, +und ihr Strohhut, den sie von dem Haupte genommen hatte, lag neben ihr +in dem Grase. + +»Die Blumen pflücke ich«, fuhr sie nach einem Weilchen fort, »wenn sie +bei Gelegenheit an dem Wege stehen. Hier herum ist meistens der Mohn, +der aber wenig zu Sträußen paßt, weil er gerne die Blätter fallen +läßt, dann sind die Kornblumen, die Wegnelken, die Glocken und andere. +Oft pflücke ich auch keine Blumen, wenn sie noch so reichlich vor mir +stehen.« + +Mir war es seltsam, daß ich mit Natalien allein unter der Esche der +Felderrast sitze. Ihre Fußspitzen ragten in den Staub der vor uns +befindlichen offenen Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider +berührte denselben Staub. In der Krone der Esche rührte sich kein +Blättchen; denn die Luft war still. Weit vor uns hinabgehend und weit +zu unserer Rechten und Linken hin sowie rückwärts war das grüne, der +Reife entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume desselben, der uns am +nächsten war, sahen uns der rote Mohn und die blauen Kornblumen an. +Die Sonne ging dem Untergange zu und der Himmel glänzte an der Stelle, +gegen die sie ging, fast weißglühend über die Saatfelder herüber, +keine Wolke war und das Hochgebirge stand rein und scharf geschnitten +an dem südlichen Himmel. + +»Und habt ihr bei dem roten Kreuze auch ein wenig geruht?« fragte ich +nach einer Weile. + +»Bei dem roten Kreuze habe ich nicht geruht«, antwortete sie, +»man kann dort nicht ruhen, es steht fast unter lauter Halmen des +Getreides, ich lehnte mich mit einem Arme an seinen Stamm und sah +auf die Gegend hinaus, auf die Felder, auf die Obstbäume und auf die +Häuser der Menschen, dann wendete ich mich wieder um und schlug den +Rückweg zu diesem Bänklein ein.« + +»Wenn heiterer Himmel ist und die Sonne scheint, dann ist es in der +Weite schön«, sagte ich. + +»Es ist wohl schön«, erwiderte sie, »die Berge gehen wie eine Kette +mit silbernen Spitzen dahin, die Wälder sind ausgebreitet, die Felder +tragen den Segen für die Menschen, und unter all den Dingen liegt das +Haus, in welchem die Mutter und der Bruder und der väterliche Freund +sind; aber ich gehe auch an bewölkten Tagen auf den Hügel oder an +solchen, an denen man nichts deutlich sehen kann. Als Bestes bringt +der Gang, daß man allein ist, ganz allein, sich selber hingegeben. Tut +ihr bei euren Wanderungen nicht auch so, und wie erscheint denn euch +die Welt, die ihr zu erforschen trachtet?« + +»Es war zu verschiedenen Zeiten verschieden«, antwortete ich; »einmal +war die Welt so klar als schön, ich suchte Manches zu erkennen, +zeichnete Manches und schrieb mir Manches auf. Dann wurden alle Dinge +schwieriger, die wissenschaftlichen Aufgaben waren nicht so leicht zu +lösen, sie verwickelten sich und wiesen immer wieder auf neue Fragen +ein. Dann kam eine andre Zeit; es war mir, als sei die Wissenschaft +nicht mehr das Letzte, es liege nichts daran, ob man ein Einzelnes +wisse oder nicht, die Welt erglänzte wie von einer innern Schönheit, +die man auf ein Mal fassen soll, nicht zerstückt, ich bewunderte sie, +ich liebte sie, ich suchte sie an mich zu ziehen und sehnte mich nach +etwas Unbekanntem und Großem, das da sein müsse.« + + +Sie sagte nach diesen Worten eine Zeit hindurch nichts; dann aber +fragte sie: »Und ihr werdet in diesem Sommer noch einmal in euren +Aufenthaltsort zurück kehren, den ihr euch jetzt zu eurer Arbeit +auserkoren habt?« + +»Ich werde in denselben zurück kehren«, antwortete ich. + +»Und den Winter bringt ihr bei euren lieben Angehörigen zu?« fragte +sie weiter. + +»Ich werde ihn wie alle bisherigen in dem Hause meiner Eltern +verleben«, sagte ich. + +»Und seid ihr in dem Winter im Sternenhofe?« fragte ich nach einiger +Zeit. + +»Wir haben ihn früher zuweilen in der Stadt zugebracht«, antwortete +sie, »jetzt sind wir schon einige Male in dem Sternenhofe geblieben, +und zwei Mal haben wir eine Reise gemacht.« + +»Habt ihr außer Klotilden keine andere Schwester?« fragte sie, nachdem +wir wieder ein Weilchen geschwiegen hatten. + +»Ich habe keine andere«, erwiderte ich, »wir sind nur zwei Kinder, und +das Glück, einen Bruder zu besitzen, habe ich gar nie kennen gelernt.« + +»Und mir ist wieder das Glück, eine Schwester zu haben, nie zu Teil +geworden«, antwortete sie. + +Die Sonne war schon untergegangen, die Dämmerung trat ein, und wir +waren immer sitzen geblieben. Endlich stand sie auf und langte nach +ihrem Hute, der in dem Grase lag. Ich hob denselben auf und reichte +ihn ihr dar. Sie setzte ihn auf und schickte sich zum Fortgehen an. +Ich bot ihr meinen Arm. Sie legte ihren Arm in den meinigen, aber +so leicht, daß ich ihn kaum empfand. Wir schlugen nicht den Weg auf +den Anhöhen hin zu dem Gartenpförtchen ein, das in der Nähe des +Kirschbaumes ist, sondern wir gingen auf dem Pfade, der von der +Felderrast zwischen dem Getreide abwärts läuft, gegen den Meierhof +hinab. Wir sprachen nun gar nicht mehr. Ihr Kleid fühlte ich sich +neben mir regen, ihren Tritt fühlte ich im Gehen. Ein Wässerlein, +das unter Tags nicht zu vernehmen war, hörte man rauschen, und der +Abendhimmel, der immer goldener wurde, flammte über uns und über den +Hügeln der Getreide und um manchen Baum, der beinahe schwarz da stand. +Wir gingen bis zu dem Meierhofe. Von demselben gingen wir über die +Wiese, die zu dem Hause meines Gastfreundes führt, und schlugen den +Pfad zu dem Gartenpförtchen ein, das in jener Richtung in der Gegend +der Bienenhütte angebracht ist. Wir gingen durch das Pförtchen in den +Garten, gingen an der Bienenhütte hin, gingen zwischen Blumen, die da +standen, zwischen Gesträuch, das den Weg säumte, und endlich unter +Bäumen dahin und kamen in das Haus. Wir gingen in den Speisesaal, in +welchem die Andern schon versammelt waren. Natalie zog hier ihren Arm +aus dem meinigen. Man fragte uns nicht, woher wir gekommen wären und +wie wir uns getroffen hätten. Man ging bald zu dem Abendessen, da die +Zeit desselben schon heran gekommen war. + +Während des Essens sprachen Natalie und ich fast nichts. + +Als wir uns im Speisesaale getrennt hatten und als jedes in sein +Zimmer gegangen war, löschte ich die Lichter in dem meinigen sogleich +aus, setzte mich in einen der gepolsterten Lehnstühle und sah auf +die Lichttafeln, welche der inzwischen heraufgekommene Mond auf die +Fußböden meiner Zimmer legte. Ich ging sehr spät schlafen, las aber +nicht mehr, wie ich es sonst in jeder Nacht gewohnt war, sondern blieb +auf meinem Lager liegen und konnte sehr lange den Schlummer nicht +finden. + +In den Tagen, die auf jenen Abend folgten, schien es mir, als weiche +mir Natalie aus. Die Zithern hörte ich wieder in ein paar Nächten, sie +wurden sehr gut gespielt, was ich jetzt mehr empfinden und beurteilen +konnte als früher. Ich sprach aber nichts darüber, und noch weniger +sagte ich etwas davon, daß ich selber in diesem Spiele nicht mehr +so unerfahren sei. Meine Zither hatte ich nie in das Rosenhaus +mitgenommen. + +Endlich nahte die Zeit, in welcher man in den Sternenhof gehen sollte. +Mathilde und Natalie reisten in Begleitung ihrer Dienerin früher +dahin, um Vorkehrungen zu treffen und die Gäste zu empfangen. Wir +sollten später folgen. + +In der Zeit zwischen der Abreise Mathildens und der unsrigen tat mein +Gastfreund eine Bitte an mich. Sie bestand darin, daß ich ihm in dem +kommenden Winter eine genaue Zeichnung von den Vertäflungen anfertigen +möchte, welche ich meinem Vater aus dem Lauterthale gebracht hatte +und welche von ihm in die Pfeiler des Glashäuschens eingesetzt +worden waren. Die Zeichnung möchte ich ihm dann im nächsten Sommer +mitbringen. Ich fühlte mich sehr vergnügt darüber, daß ich dem Manne, +zu welchem mich eine solche Neigung zog und dem ich so viel verdankte, +einen Dienst erweisen konnte und versprach, daß ich die Zeichnung so +genau und so gut machen werde, als es meine Kräfte gestatten. + +An einem der folgenden Tage fuhren mein Gastfreund, Eustach, Roland, +Gustav und ich in den Sternenhof ab. + + + +Das Fest + +Ein Fest in dem Sinne, wie man das Wort gewöhnlich nimmt, war es +nicht, was in dem Sternenhofe vorkommen sollte, sondern es waren +mehrere Menschen zu einem gemeinschaftlichen Besuche eingeladen +worden, und diese Einladungen hatte man auch nicht eigens und +feierlich, sondern nur gelegentlich gemacht. Übrigens stand es in +Hinsicht des Sternenhofes so wie des Asperhofes jedem Freunde und +jedem Bekannten frei, zu was immer für einer Zeit einen Besuch machen +und eine Weile zu bleiben. + +Als wir am zweiten Tage nach unserer Abreise von dem Asperhofe - wir +hatten einen kleinen Umweg gemacht - in dem Sternenhofe eintrafen, +waren schon mehrere Menschen versammelt. Fremde Diener, zuweilen +seltsam gekleidet, gingen, wie sich das allemal findet, wenn mehrere +Familien zusammen kommen, in der Nähe des Schlosses herum oder auf dem +Wege zwischen dem Meierhofe und dem Schlosse hin und her. Man hatte +einen Teil der Wägen und Pferde in dem Meierhofe untergebracht. Wir +fuhren bei dem Tore hinein, und unser Wagen hielt im Hofe. Ich hatte +schon, da wir den Hügel hinan fuhren und uns dem Schlosse näherten, +einen Blick auf dessen vorderste Mauer geworfen, an der jetzt die +bloßen Steine ohne Tünche sichtbar waren, und hatte mein Urteil +schnell gefaßt. Mir gefiel die neue Gestalt um Außerordentliches +besser als die frühere, an welche ich jetzt kaum zurück denken mochte. +Meine Begleiter äußerten sich während des Hinzufahrens nicht, ich +sagte natürlich auch nichts. Im Hofe näherten sich Diener, welche +unser Gepäcke in Empfang nehmen und Wagen und Pferde unterbringen +sollten. Der Hausverwalter führte uns die große Treppe hinan und +geleitete uns in das Gesellschaftszimmer. Dasselbe war eines von jenen +Zimmern, die in einer Reihe fortlaufen und mit den neuen, im Asperhofe +verfertigten Geräten versehen sind. Die Türen aller dieser Zimmer +standen offen. Mathilde saß an einem Tische und eine ältliche Frau +neben ihr. Mehrere andere Frauen und Mädchen so wie ältere und jüngere +Männer saßen an verschiedenen Stellen umher. Auf dem unscheinbarsten +Platze saß Natalie. Mathilde so wie Natalie waren gekleidet, wie +die Frauen und Mädchen von den besseren Ständen gekleidet zu sein +pflegten; aber ich konnte doch nicht umhin, zu bemerken, daß ihre +Kleider weit einfacher gemacht und verziert waren als die der anderen +Frauen, daß sie aber viel besser zusammen stimmten und ein edleres +Gepräge trugen, als man dies sonst findet. Mir war, als sähe ich den +Geist meines Gastfreundes daraus hervorblicken, und wenn ich an höhere +Kreise unserer Stadt, zu denen ich Zutritt hatte, dachte, so schien es +mir auch, daß gerade dieser Anzug derjenige vornehme sei, nach welchem +die Andern strebten. Mathilde stand auf und verbeugte sich freundlich +gegen uns. Das taten die Andern auch, und wir taten es gegen Mathilde +und gegen die Andern. Hierauf setzte man sich wieder, und der +Hausverwalter und zwei Diener sorgten, daß wir Sitze bekamen. Ich +setzte mich an eine Stelle, welche sehr wenig auffällig war. Die Sitte +des gegenseitigen Vorstellens der Personen, wie sie fast überall +vorkömmt, scheint in dem Rosenhause und in dem Sternenhofe nicht +strenge gebräuchlich sein; denn ich wußte schon mehrere Fälle, in +denen es unterblieben war; besonders wenn sich mehrere Menschen +zusammen gefunden hatten. Bei der gegenwärtigen Gelegenheit unterblieb +es auch. Man überließ es eher den Bemühungen des Einzelnen, sich die +Kenntnis über eine Person zu verschaffen, an der ihm gelegen war, oder +man überließ es eher dem Zufalle, miteinander bekannt zu werden, als +daß man bei jedem neuen Ankömmlinge das Verzeichnis der Anwesenden +gegen ihn wiederholt hätte. Zudem schienen sich hier die meisten +Personen zu kennen. Mich wollte man wahrscheinlich aus dem Spiele +lassen, weil ich nie, wenn fremde Menschen in den Asperhof gekommen +waren, gefragt hatte, wer sie seien. Gustav benahm sich hier auch +beinahe wie ein Fremder. Nachdem er sich gegen seine Mutter sehr artig +verbeugt, in die allgemeine Verbeugung gegen die Andern eingestimmt +und Natalien zugelächelt hatte, setzte er sich bescheiden auf einen +abgelegenen Platz und hörte aufmerksam zu. Mein Gastfreund und Eustach +so wie auch Roland waren in den gebräuchlichen Besuchkleidern, ich +ebenfalls. Mir kamen diese Männer in ihren schwarzen Kleidern fremder +und fast geringer vor als in ihrem gewöhnlichen Hausanzuge. + +Mein Gastfreund war bald mit verschiedenen Anwesenden im Gespräche. +Allgemein wurde von allgemeinen und gewöhnlichen Dingen geredet, und +das Gespräch ging bald zwischen einzelnen, bald zwischen mehreren +Personen hin und wider. Ich sprach wenig und fast ausschließlich nur, +wenn ich angeredet und gefragt wurde. Ich sah auf die Versammlung vor +mir oder auf manchen Einzelnen oder auf Natalien. Roland rückte einmal +seinen Stuhl zu mir und knüpfte ein Gespräch über Dinge an, die uns +beiden nahe lagen. Wahrscheinlich tat er es, weil er sich ebenso +vereinsamt unter den Menschen empfand wie ich. + +Nachdem man den Nachmittagstee, bei dem man eigentlich versammelt war, +verzehrt und sich schon zum größten Teile erhoben hatte und in Gruppen +zusammen getreten war, wurde der Vorschlag gemacht, sich in den Garten +zu begeben und dort einen Spaziergang zu machen. Der Vorschlag fand +Beifall. Mathilde erhob sich und mit ihr die älteren Frauen. Die +jüngeren waren ohnehin schon gestanden. Ein schöner alter Herr, +wahrscheinlich der Gatte der ältlichen Frau, welche neben Mathilden +gesessen war, bot der Hausfrau den Arm, um sie über die Treppe hinab +zu geleiten, dasselbe tat mein Gastfreund mit der ältlichen Frau. +Einige Paare entstanden noch auf diese Weise, das Andere ging +gemischt. Ich blieb stehen und ließ die Leute an mir vorüber gehen, um +mich nicht vorzudrängen. Natalie ging mit einem schönen Mädchen an mir +vorüber und sprach mit demselben, als sie an mir vorbei ging. Ich war, +mit Roland und Gustav, der letzte, welcher über die Treppe hinab ging. +Im Garten war es so, wie es bei einer größeren Anzahl von Gästen +in ähnlichen Fällen immer zu sein pflegt. Man bewegte sich langsam +vorwärts, man blieb bald hier, bald da stehen, betrachtete dieses oder +jenes, besprach sich, ging wieder weiter, löste sich in Teile und +vereinigte sich wieder. Ich achtete auf alles, was gesprochen wurde, +gar nicht. Natalie sah ich mit demselben Mädchen gehen, mit dem sie an +mir in dem Gesellschaftszimmer vorüber gegangen war, dann gesellten +sich noch ein paar hinzu. Ich sah sie mit ihrem lichtbraunen +Seidenkleide zwischen andere hervorschimmern, dann sah ich sie wieder +nicht, dann sah ich sie abermals wieder. Gebüsche deckten sie dann +ganz. Die jungen Männer, welche ich in der Gesellschaft getroffen +hatte, gingen bald mit dem älteren Teile, bald mit dem jüngeren. +Roland und Gustav gesellten sich zu mir, und wenn Gustav fragte, wie +es dort aussehe, wo ich jetzt gearbeitet habe, ob hohe Berge sind, +weite Täler, und ob es so freundlich ist wie am Lautersee, und ob ich +noch weiter vordringen wolle, und in welche Berge ich dann komme: so +sprach Roland wieder von den Anwesenden und nannte mir manchen und +erzählte mir von ihren Verhältnissen. Durch seine Reisen in dem Lande, +durch seinen Aufenthalt in Kirchen, Kapellen, verfallenen Schlössern +und allen bedeutenderen Orten erfuhr er mehr, als irgend ein Anderer +erfahren konnte, und durch sein lebhaftes Wesen und sein gutes +Gedächtnis wurde er zur Erforschung angeleitet und war im Stande, das +Erforschte zu bewahren. Die ältliche Frau, welche wir bei unserem +Eintritte in das Gesellschaftszimmer neben Mathilden sitzen gesehen +hatten, war die Besitzerin eines großen Anwesens, etwa eine halbe +Tagereise von dem Sternenhofe entfernt. Ihr Name war Tillburg, wie +auch ihr Schloß hieß. Sie hatte sich mit allen Annehmlichkeiten und +mit allem, was prächtig war, umringt. Ihre Gewächshäuser waren die +schönsten im Lande, ihr Garten enthielt alles, was in der Zeit +als vorzüglich auftauchte und wurde von zwei Gärtnern und einem +Obergärtner nebst vielen Gehilfen besorgt, ihre Zimmer wiesen Geräte +und Stoffe von allen Hauptstädten der Welt auf, und ihre Wägen waren +das Bequemste und Zierlichste, was man in dieser Art hatte. Gemälde, +Bücher, Zeitschriften, kleine Spielereien waren in ihren Wohnzimmern +zerstreut. Sie machte Besuche in der Umgegend und empfing auch solche +gerne. Im Winter ist sie selten in ihrem Schlosse und immer nur auf +kurze Zeit, sie macht gerne Reisen und hält sich besonders oft in +südlichen Gegenden auf, von denen sie Merkwürdigkeiten zurückbringt. +Sie war die einzige Tochter und Erbin ihrer Eltern, ein Bruder, den +sie hatte, war in der zartesten Jugend gestorben. Der Mann mit dem +freundlichen Angesichte, welcher Mathilden aus dem Saale geführt +hatte, war ihr Gatte. Er war ebenfalls das einzige Kind reicher +Eltern, die Verbindung hatte sich ergeben, und so waren zwei große +Vermögen in eins zusammen gekommen. Er teilte nicht gerade die +Liebhabereien seiner Gattin, war ihnen aber auch nicht entgegen. Er +hatte keine Leidenschaften, war einfach, machte seiner Gattin, die er +sehr liebte, gerne eine Freude und fand in den Reisen derselben, auf +denen er sie begleitete, halb sein eigenes Vergnügen, halb eines, weil +er das ihrige teilte. Er verwaltete aber von jeher die Besitzungen +sehr einsichtig. Die Tillburg stammt von ihm. Einer von den jungen +Männern, die im Gesellschaftszimmer waren, der schlanke Mann mit den +lebhaften dunkeln Augen ist der Sohn, und zwar das einzige Kind dieser +Eheleute, er ist gut erzogen worden, und man kann nicht wissen, ob von +Tillburg her nicht zartere Beziehungen zu dem Sternenhofe gewünscht +werden. + +Gustav machte bei diesen Worten eine leichte Seitenbewegung gegen +Roland, sah ihn an, sagte aber nichts. + +Ich erinnerte mich der Tillburg, die ich sehr gut kannte, aber nie +betreten hatte. Ich war öfter in ihrer Nähe vorüber gekommen und hatte +die vier runden Türme an ihren vier Ecken, denen man in der neueren +Zeit eine lichte Farbe gegeben hatte, eine Tünche, wie man sie gerade +jetzt von dem Sternenhofe wieder weg haben will, nicht angenehm +empfunden, wie sie sich so scharf von dem Grün der nahen Bäume und dem +Blau der fernen Berge und des Himmels abhoben, welchen letzteren sie +beinahe finster machten. + +»Der kleinere Mann mit den weißen Haaren, der in der Nähe des +mittleren Fensters gesessen und öfter aufgestanden war«, fuhr Roland +fort, »ist der Besitzer von Haßberg. Sein Vater hatte die Besitzung +erst gekauft und sie ursprünglich für einen jüngeren Sohn bestimmt, da +der ältere das Stammgut Weißbach erben sollte; allein der jüngere Sohn +und der Vater starben, und so hatte der ältere Weißbach und Haßberg. +Er übergab nach einiger Zeit seinem Sohne das Stammgut und zog sich +nach Haßberg zurück. Er ist einer jener Männer, die immer erfinden und +bauen müssen. In Weißbach hat er schon mehrere Bauten aufgeführt. + +In Haßberg richtete er eine Musterwirtschaft ein, er verbesserte +die Felder und Wiesen und friedigte sie mit schönen Hecken ein, er +errichtete einen auserlesenen Viehstand und führte in geschützten +Lagen den Hopfenbau ein, der sich unter seine Nachbarn verbreitete +und eine Quelle des Wohlstandes eröffnete. Er dämmte dem Ritflusse +Wiesen ab, er mauerte die Ufer des Mühlbaches heraus, er baute eine +Flachsröstanstalt, baute neue Ställe, Scheuern. Trockenhäuser, +Brücken, Stege, Gartenhäuser, und ändert im Innern des Schlosses +beständig um. Er ist im Laufe des ganzen Tages mit Nachschauen und +Anordnen beschäftigt, zeichnet und entwirft in der Nacht, und wenn +irgendwo im Lande über Führung einer Straße oder Anlegung eines +Bewirtschaftungsplanes oder Errichtung eines Gebäudes Rat gepflogen +wird, so wird er gerufen, und er macht bereitwillig die Reisen auf +seine eigenen Kosten. Selbst bei der Regierung des Landes ist sein +Wort nicht ohne Bedeutung. Die Frau mit dem aschgrauen Kleide ist +seine Gattin, und die zwei Mädchen, welche vor Kurzem mit Natalie +gegen die Eichen zugingen, sind seine Töchter. Frau und Töchter reden +ihm zu, er solle sich mehr Ruhe gönnen, da er schon alt wird, er sagt +immer: >Das ist das Letzte, was ich baue<; allein ich glaube, den +letzten Plan zu einem Baue wird er auf seinem Totenbette machen. Unser +Freund hält in diesen Dingen große Stücke auf ihn.« + +Da wir um die Ecke eines Gebüsches bogen und gegen die Eichen, +welche an der Eppichwand stehen, zugingen, sahen wir wieder eine +Menschengruppe vor uns. Roland, der einmal im Zuge war, sagte: »Der +Mann in dem feinen schwarzen Anzuge, vor dem seine Gattin in dem +nelkenbraunen Seidenkleide geht, ist der Freiherr von Wachten, dessen +Sohn hier ebenfalls zugegen ist, ein Mann von mittelgroßer Gestalt, +der im Gesellschaftszimmer so lange am Eckfenster gestanden war, ein +junger Mann von vielen angenehmen Eigenschaften, der aber zu oft in +den Sternenhof kömmt, als daß es sich durch bloßen Zufall erklären +ließe. + +Der Freiherr verwaltet seine Besitzungen gut, er hat keine besondere +Vorliebe, hält alles und jedes in der ihm zugehörigen Ordnung und wird +immer reicher. Da er nur den einzigen Sohn und keine Tochter hat, so +wird die künftige Gattin seines Sohnes eine sehr ansehnliche und sehr +reiche Frau. Die Familie lebt im Winter häufig in der Stadt. Die Güter +liegen etwas zerstreut. Thondorf mit den schönen Wiesen und dem großen +Waldgarten müßt ihr ja kennen.« + +»Ich kenne es«, antwortete ich. + +»Auf dem Randek hat er ein zerfallendes Schloß«, fuhr Roland fort, +»in welchem wunderschöne Türen sind, die aus dem sechzehnten +Jahrhunderte stammen dürften. Der Verwalter rät ihm, die Türen nicht +herzugeben, und so zerfallen sie nach und nach. Sie sind in unsern +Zeichnungsbüchern enthalten und würden Gemächer, im Stile jener Zeit +gebaut und eingerichtet, sehr zieren. Sogar zu Tischen oder anderen +Dingen, falls man sie als Türen nicht verwenden könnte, würden sie +sehr brauchbar sein. Ich habe auch in der sehr zerfallenen Kapelle von +Randek außerordentlich schöne Tragsteine gezeichnet. Meistens wohnt +der Freiherr im Sommer in Wahlstein, schon ziemlich tief in den +Bergen, wo die Elm hervorströmt.« + +»Ich kenne den Sitz«, antwortete ich, »und kenne auch die Familie im +Allgemeinen.« + +»Der Mann mit den schneeweißen Haaren«, sprach Roland weiter, »heißt +Sandung, er veredelt die Schafzucht, und der eine von den zwei neben +ihm gehenden Männern ist der Besitzer des sogenannten Berghofes, ein +allgemein geachteter Mann, und der andere ist der Oberamtmann von +Landegg. Es fehlen noch die vom Inghof, dann sind mehrere Vertreter +der hier herum wohnenden Leute vorhanden. Ich teile sie, wenn ich in +meiner Liebhaberei im Lande herum reise, nach ihren Liebhabereien +in Gruppen ein, und man könnte eine Landmappe so nach diesen +Liebhabereien mit Farben zeichnen, wie ihr die Gebirge mit Farben +zeichnet, um das Vorkommen der verschiedenen Gesteine anzuzeigen.« + +Da wir wieder eine Wendung machten, ganz nahe an der rechten Seite +der Eppichwand, ging Mathilde mit der Frau von Tillburg auf einem +Nebenwege gegen uns hervor. Sie blieb vor uns stehen und sagte zu mir: +»Ihr habt meiner Brunnennymphe nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt +als ihr solltet; ihr zieht die Gestalt auf der Treppe unsers Freundes +zu sehr vor. Sie verdient es wohl; allein ihr müßt doch die hiesige +auch ein wenig genauer ansehen und sie mir ein wenig schön heißen.« + +»Ich habe sie schön geheißen«, erwiderte ich, »und wenn meine ganz +unbedeutende Meinung etwas gilt, so soll ihr die Anerkennung gewiß +nicht entgehen.« + +»Wir besuchen nun ohnehin alle die Grotte«, entgegnete sie. + +Nach diesen Worten ging sie mit ihrer Begleiterin auf dem Hauptwege +gegen die Eppichwand vor, wir folgten. Die Anderen kamen in +verschiedenen Richtungen herzu, und man ging zu der Marmorgestalt in +der Brunnenhalle. + +Einige gingen hinein, Andere blieben mehr am Eingange stehen, und man +redete über die Gestalt. Diese ruhte indessen in ihrer Lage, und die +Quelle rann sanft und stetig fort. Es waren nur allgemeine Dinge, +welche über das Bildwerk gesprochen wurden. Mir kam es fremd vor, die +geputzten Menschen in den verschiedenfarbigen Kleidern vor dem reinen, +weißen, weichen Marmor stehen zu sehen. Roland und ich sprachen +nichts. + +Man entfernte sich wieder von dem Marmor, ging langsam an der +Eppichwand hin und stieg die Stufen zu der Aussicht empor. Auf dieser +verteilte man eine Zeit und ging dann gegen die Linden zurück. Nach +Betrachtung der Linden und des schönen Platzes unter ihnen begab +sich der Zug wieder auf den Rückweg in das Schloß. Eustach hatte ich +beinahe die ganze Zeit nicht gesehen. + +Zugleich mit uns kamen im Schlosse Wägen an, in denen die von Ingheim +und noch einige Gäste saßen. Nachdem man sich bewillkommt hatte und +nachdem die Angekommenen sich von den überflüssigen Reisekleidern +befreit hatten, teilte sich, wie es bei ähnlichen Gelegenheiten stets +vorkömmt, die Gesellschaft in Gruppen, von denen einige vor dem Hause +standen und plauderten, andere auf den Sandwegen im Rasen herumgingen, +wieder andere gegen den Meierhof wandelten. Als die Abendröte hinter +den Bäumen erschien, die in schönen Zeilen im Westen des Schlosses die +Felder säumten, und als ihr Glühen immer blässer wurde und dem Gelb +des Spätabends Platz machte, sammelten sich die Leute wieder. Die +einen kehrten von ihrem Spaziergange, die anderen von ihrem Gespräche, +die dritten von ihrer Betrachtung verschiedener Gegenstände zurück, +und man begab sich in das Speisezimmer. In demselben begann nun +ein Abend, wie sie auf dem Lande, wo man von dem Umgange mit +Seinesgleichen viel ausgeschlossener ist, zu den vergnügtesten +gehören. Ich habe diese Betrachtung, da ich im Sommer immer ferne von +der Stadt war, öfter machen können. Da man Menschen, mit denen man +gleiche Gesinnungen und gleiche Meinungen hat, auf dem Lande viel +seltener sieht als in der Stadt, da man mit dem Raume nicht so kargen +muß wie in der Stadt, wo jede Familie nur das mit vielen Kosten +erschwingt, was sie für sich und nächste Angehörige braucht, da die +Lebensmittel auf dem Lande gewöhnlich aus der ersten und unmittelbaren +Quelle bei der Hand sind, auch strenge Anforderungen hierin nicht +gemacht werden: so ist man auf dem Lande viel gastfreundlicher als in +der Stadt, und Gelegenheiten, wo man sich in einem Zimmer und um einen +Tisch versammelt, werden da viel fröhlicher, ungezwungener und auch +herzliches begangen, weil man sich freut, sich wieder zu sehen, weil +man um alles fragen will, was sich an den verschiedenen Stellen, woher +die Ankömmlinge gekommen sind, zugetragen hat, weil man die eigenen +Erlebnisse mitteilen und weil man seine Ansichten austauschen will. + +Der Tisch war schon gedeckt, der Hausverwalter wies allen ihre Plätze +an, die zur Vermeidung von dennoch möglichen Verwirrungen noch +überdies durch von seiner Hand geschriebene Zettel bezeichnet waren, +und man setzte sich. Der Mann hatte gesorgt, daß solche, die sich gut +kannten, nahe zusammen kamen. + +Deßohngeachtet schritt man mit der Freimütigkeit des Landes und alter +Bekannter dazu, die Zettel noch zu verwechseln und sich gegen die +Anordnungen des Mannes zusammen zu setzen. Von der Decke des Zimmers +hing eine sanft brennende Lampe hernieder, und außer ihr wurde die +Tafel noch durch verteilte strahlende Kerzen erhellt. Mathilde nahm +den Mittelsitz ein und richtete ihre Freundlichkeit und ihr ruhiges +Wesen gegen alle, die in ihrem Bereiche waren, und selbst gegen die +entferntesten Plätze suchte sie ihre Aufmerksamkeit zu erstrecken. +Die bekannteren und älteren Gäste saßen ihr zunächst, die jüngeren +entfernter. Julie, die Tochter Ingheims mit den heiteren braunen +Augen, saß mir fast gegenüber, ihre Schwester, die blauäugige +Apollonia, etwas weiter unten. Sie hatten sehr geschmackvolle Kleider +an, das Geschmeide, das sie trugen, hätte, wie ich meinte, etwas +weniger sein sollen. Neben beiden saßen die jungen Männer Tillburg und +Wachten. Natalie saß zwischen Eustach und Roland. Ob es so angeordnet, +ob es ihre eigene Wahl war, wußte ich nicht. Man trug ein einfaches +Mahl auf, und fröhliche Gespräche belebten es. Man sprach von den +Begebnissen der Gegend, man neckte sich mit kleinen Erlebnissen, man +teilte sich Erfahrungen mit, die man in seinem Kreise gemacht hatte, +man sprach von Büchern, die in der Gegend neu waren, und beurteilte +sie, man erzählte, was man im Bereiche seiner Liebhaberei Neues +erworben, was man für Reisen gemacht und was man für fernere vorhabe. +Auch auf die Geschichte des Landes kam es, auf seine Verwaltung, +auf Verbesserungen, die zu machen wären, und auf Schätze, die +noch ungehoben liegen. Selbst Wissenschaft und Kunst war nicht +ausgeschlossen. Mancher Scherz erheiterte die Anwesenden, und man +schien sehr vergnügt, sich so in einen Kreis versammelt zu haben, wo +sich Neues ergab und wo man Altes wieder beleben konnte. + +Nach ein paar schnell vergangenen Stunden stand man auf, die Lichter +zu dem Gange in die verschiedenen Schlafgemächer wurden angezündet, +und man begab sich allmählich zur Ruhe. + + +Am andern Morgen nach dem Frühmahle, da die höher gestiegene Sonne die +Gräser bereits getrocknet hatte, begab man sich in das Freie, um das +Urteil über die Arbeiten an der Vorderseite des Hauses zu fällen. Alle +gingen mit. Selbst Dienerschaft stand seitwärts in der Nähe, als ob +sie wüßte, was geschehe - und sie wußte es wohl auch - und als ob sie +sich dabei beteiligen sollte. Man ging einige hundert Schritte von +der Vorderseite des Hauses weg, wendete sich dann um, blieb im Grase +stehen und betrachtete die von der Tünche befreite Wand. Hierauf +umging man in einem weiten Bogen eine Ecke des Hauses, um auch eine +Wand zu sehen, auf welcher sich noch die Tünche befand. Nachdem man +Beides wohl angeschaut hatte, nahm man einen Stand ein, der beide +Ansichten gestattete. + +Nach und nach wurden Meinungen laut. Man fragte zuerst die älteren und +ansehnlicheren Gäste. Diese gaben fast alle ihr Urteil unbestimmt und +mit Vorsicht ab. Beide Einrichtungen hätten ihr Gutes, an beiden wird +etwas auszustellen sein, und es komme auf Geschmack und Vorliebe an. +Da das Gespräch allgemeiner wurde, traten schon manche Meinungen +abgeschlossener hervor. Einige sagten, es sei etwas Besonderes und +nicht überall Vorkommendes, die nackten Steine aus einer Wand stehen +zu lassen. Wenn die Kosten nicht zu scheuen sind, möge man es an dem +ganzen Schlosse so machen, und man habe dann etwas sehr Eigenes. +Andere meinten, es sei doch überall Sitte, die Wände selbst gegen +Außen mit einer Tünche zu bekleiden, ein licht getünchtes Haus sei +sehr freundlich, darum hätten auch die Vorbesitzer des Hauses so +getan, um sein Ansehen dem neuen Geschmacke näher zu bringen. Darauf +sagten wieder Andere, die Gedanken der Menschen seien wechselvoll, +einmal habe man die großen viereckigen Steine, aus denen das Äußere +dieser Wände bestehe, nackt hervor sehen lassen, später habe man sie +überstrichen, jetzt sei eine Zeit gekommen, wo man wieder auf das +Alte zurück gehe und es verehre, man könne also die Steine wieder +nacktlegen. + +Mein Gastfreund vernahm die Meinungen, und antwortete in unbestimmten +und nicht auf eine einzelne Ansicht gestellten Worten, da alles, was +gesagt wurde, sich ungefähr in demselben Kreise bewegte. Mathilde +sprach nur Unbedeutendes, und Eustach und Roland schwiegen ganz. Von +der feurigen Natur des letzten wunderte es mich am meisten. Ich schloß +aus dieser Tatsache, daß meine Freunde ihre Meinung entweder schon +gefaßt hatten oder daß sie dieselbe erst für sich fassen wollten. +Diese eben abgehaltene Beschau erschien mir also etwas Allgemeines, +Unwesentliches, als eine nachbarliche Artigkeit, als eine Gelegenheit, +zusammen zu kommen, um sich gemeinschaftlich zu sehen und zu sprechen, +wie man es bei andern Anlässen auch tut. + +Mir erschien die Bloßlegung der Steine unbedingt als das Natürlichste. +Wie ich wohl schon erkennen gelernt hatte, ist bei Denkmälern - und je +größer und würdiger sie sein sollen, um desto mehr ist dies der Fall +- der Stoff nicht gleichgültig, und dann darf er aber nicht mit +Fremdartigem vermengt werden. Ein Siegesbogen, selbst wenn er unter +Dach steht, darf von Marmor sein, weniger schon von Ziegeln oder Holz, +ganz und gar nicht von gegossenem Eisen oder festgeklebtem Papier. +Eine Bildsäule kann von Marmor, Metall oder Holz sein, weniger von +groben Steinen, ganz und gar nicht von allerlei zusammengefügten +Bestandteilen. Unsere neuen Häuser, die nur bestimmt sind, Menschen +aufzunehmen, um ihnen Obdach zu geben, haben nichts Denkmalartiges, +sei es ein Denkmal für den Glanz einer Familie, sei es ein Denkmal +der abgeschlossenen und wohlgenossenen Wohnlichkeit für irgend ein +Geschlecht. Darum werden sie fachartig aus Ziegeln gebaut und mit +einer Schicht überstrichen, wie man auch lackiertes Geräte macht oder +künstliches Gestein malt. Schon die aus bloßem Holze zur Wohnung eines +Geschlechtes in unseren Gebirgsländern (nicht zur Spielerei in Gärten) +erbauten Häuser haben Denkmalartiges, noch mehr die Schlösser, die aus +festen Steinen gefügt sind, die Torbogen, die Pfeiler, die Brücken +und noch mehr die aus Stein gebauten Kirchen. Daraus ergab sich mir +von selber, daß diejenigen, die dieses Schloß so bauten, daß die +Außenseiten der Wände fest gefügte viereckige, unbestrichene Steine +sind, Recht gehabt haben, und daß die, welche die Steine bestrichen, +im Unrechte waren, und daß die, welche sie wieder bloß legen, abermals +im Rechte sind. Ich sah, daß man an sämtlichen Steinen, weil sonst +die Kalktünche nicht zu vertilgen gewesen wäre, die Oberfläche mit +scharfen Hämmern erneuert hatte. Dies gab wohl den Steinen etwas, das +ein lichteres Grau ist, als die alten Simse und Tragsteine hatten, die +nicht getüncht waren; allein durch Zeit und Wetter werden sich auch +die erneuerten Steinoberflächen wieder dunkler färben. + + +Man ging, da man eine Weile gesprochen hatte, obwohl ein eigentliches +Urteil nicht gefällt worden war, wieder in das Haus zurück, und auch +die Dienerschaft, welche zugeschaut hatte, ging auseinander, gleichsam +als ob die Sache jetzt aus wäre. + +In dem Hause zerstreuten sich die Gäste, manche begaben sich in +Zimmer, manche gingen in das Freie. Ich nahm in meinem Schlafgemache, +wozu mir das nehmliche Zimmer, welches ich früher bewohnt hatte, +angewiesen worden war, einen leichteren Hut und einen bequemeren +Rock und ging dann auch in den Garten. Ich ging ganz allein in einem +dunkeln Gange zwischen Gebüschen hin, und es war mir wohl, daß ich +allein war. Ich schlug die abgelegenen, wenig gangbaren und auch +weniger im Stande gehaltenen Wege ein, damit ich niemanden begegne und +damit sich niemand zu mir geselle. Es war auch wirklich kein Mensch in +den Gängen, und ich sah nur kleine Vögel, welche ungescheut in ihnen +liefen und Futter von der Erde pickten. Ich umging den Lindenplatz +und kam hinter ihm aus dem Gebüsche heraus. Von da ging ich in einem +großen Umwege der Eppichwand zu und hatte vor, in die Nymphengrotte zu +treten, wenn niemand in ihr wäre. Als ich schon nahe an der Grotte war +und schief in dieselbe blicken konnte, sah ich, daß Natalie auf dem +Marmorbänklein sitze, welches sich seitwärts von der Nymphengestalt +befand. Sie saß an dem innersten Ende des Bänkleins. Ihr blaßgraues +Seidenkleid schimmerte aus der dunkeln Höhlung heraus. Einen Arm ließ +sie an ihrer Gestalt ruhen, den andern hatte sie auf die Lehne des +Bänkleins gestützt und barg die Stirn in ihrer Hand. Ich blieb stehen +und wußte nicht, was ich tun sollte. Daß ich nicht in die Grotte gehen +wolle, war mir klar; allein die kleinste Wendung, die ich machte, +konnte ein Geräusch erregen und sie stören. Aber ohne daß ich ein +Geräusch machte, sah sie auf und sah mich stehen. Sie erhob sich, ging +aus der Grotte, ging mit beeilten Schritten an der Eppichwand hin und +entfernte sich in das Gebüsch. In Kurzem sah ich den Schimmer ihres +Kleides verschwinden. Eine ganz kleine Zeit blieb ich stehen, +dann ging ich in die Grotte hinein. Ich setzte mich auf dieselbe +Marmorbank, auf der sie gesessen war und sah in das Rinnen des +Wassers, sah auf die einsame Alabasterschale, die neben dem Becken +stand, und sah auf den ruhigen, glänzenden Marmor. Ich saß sehr lange. +Da sich Stimmen näherten und da ich vermuten mußte, daß man die +Brunnengestalt besuchen würde, stand ich auf, ging aus der Grotte, +ging in das Gebüsch und begab mich auf denselben Wegen, auf denen ich +gekommen war, in das Schloß zurück. + +Der Mittag vereinigte noch einmal alle Gäste bei dem Mahle. Mehrere +von ihnen hatten beschlossen, gleich nach demselben fort zu fahren, +um noch vor der Nacht ihre Heimat zu erreichen. Man brachte einen +fröhlichen Trinkspruch aus auf die schöne Gestaltung des Schlosses und +einen Dank für die herzliche Bewirtung. Der Spruch wurde mit einem +Wunsche für das Wohl der Gesellschaft und für baldiges Wiedersehen +erwidert. Die heitere Sommersonne verklärte das Zimmer, und die Blumen +des Gartens schmückten es. + +Nach dem Mahle fuhren mehrere der Gäste fort, und im Laufe des +Nachmittages entfernten sich alle. + +Wir, die nach dem Asperhofe mußten, hatten beschlossen, morgen früh +abzufahren. + +Bei dem Abendessen kam das Gespräch auf das Unternehmen an dem Hause. +Ich sah, daß die Übriggebliebenen schon einig waren. Es sprach nun +mein Gastfreund, es sprachen Eustach und Roland. Sie hatten alle meine +Ansicht. Ich wurde aufgefordert, auch meine Meinung zu sagen. Ich +sprach sie nach meiner innern Empfindung aus. Alle mochten sie wohl +so erwartet haben. Über den Aufwand zur Deckung der künftigen Kosten +sprach mein Gastfreund mit Mathilden besonders. Durch das Abschlagen +der Steine mit scharfen Hämmern hatten sich die Auslagen größer +gezeigt, als man Anfangs vermuten konnte. Mein Gastfreund riet daher, +daß man die Arbeit auf längere Fristen ausdehnen solle, wodurch die +Kosten weniger empfindlich würden und, da doch das Schaffen des +Schönen das Vergnügen bilde, dieses Vergnügen sich verlängere. Man +billigte den Vorschlag und freute sich auf das Wachsen des Edleren +und freute sich auf den Augenblick, wenn das Haus in einem würdigen +Gewande da stehen würde und man die Beruhigung hätte, es so dem +künftigen Besitzer übergeben zu können. + +Mit dem Anbruche des nächsten Tages fuhren mein Gastfreund, Eustach, +Roland, Gustav und ich auf dem Wege nach dem Rosenhause dahin. + +Als ich in Hinsicht der eben zugebrachten Tage etwas über das +Landleben sagte und die Annehmlichkeiten desselben berührte, und als +wir eine Zeit über diesen Gegenstand gesprochen hatten, sagte mein +Gastfreund: »Das gesellschaftliche Leben in den Städten, wenn man es +in dem Sinne nimmt, daß man immer mit fremden Personen zusammen ist, +bei denen man entweder mit andern zum Besuche ist, oder die mit andern +bei uns sind, ist nicht ersprießlich. Es ist das nehmliche Einerlei +wie das Leben in Orten, die den großen Städten nahe sind. Man sehnt +sich, ein anderes Einerlei aufzusuchen; denn wohl ist jedes Leben +und jede Äußerung einer Gegend ein Einerlei, und es gewährt einen +Abschluß, von dem einen Einerlei in ein anderes über zu gehen. Aber es +gibt auch ein Einerlei, welches so erhaben ist, daß es als Fülle die +ganze Seele ergreift und als Einfachheit das All umschließt. Es sind +erwählte Menschen, die zu diesem kommen und es zur Fassung ihres +Lebens machen können.« + +»In der Weltgeschichte kömmt wohl Ähnliches vor«, sagte ich. + +»In der Weltgeschichte kömmt es vor«, antwortete er, »wo ein Mensch +durch eine große Tat, die sein Leben erfüllt, diesem Leben eine +einfache Gestalt geben kann, abgelöst von allem Kleinlichen - in der +Wissenschaft, wo ein großartiges Feld höchsten Erringens vor dem +Menschen liegt - oder in der Klarheit und Ruhe der Lebensanschauungen, +die endlich Alles auf einige ausgedehnte, aber einfältige Grundlinien +zurück führt. Jedoch sind auch hier Maße und Abstufungen wie in allen +andern Dingen des Lebens.« + +»Von den zwei Hauptzeiträumen, welche das menschliche Geschlecht +betroffen haben«, erwiderte ich, »von dem sogenannten antiken und +dem heutigen, dürfte wohl der griechisch-römische das Meiste von dem +Gesagten aufzuweisen haben.« + +»Wir wissen zuletzt gar nicht, welche Zeiträume es in der Geschichte +gegeben hat«, antwortete er. »Die Griechen und Römer sind unserer Zeit +am nächsten, wir sind aus ihnen hervor gegangen und wissen von ihnen +auch das Meiste. Wer weiß, wie viele Völkerabschnitte es gegeben hat +und wie viele unbekannte Geschichtsquellen noch verborgen sind. Wenn +einmal ganze Reihen solcher Völkerzustände wie Griechen- und Römertum +vorliegen, dann läßt sich eher über unsere Frage etwas sagen. Oder +sind etwa solche Reihen nur dagewesen und vergessen worden, und werden +überhaupt die hintersten Stücke der Weltgeschichte vergessen, wenn +sich vorne neue ansetzen und ihrer Entwicklung entgegen eilen? Wer +wird dann nach zehntausend Jahren noch von Hellenen oder von uns +reden? Ganz andere Vorstellungen werden kommen, die Menschen werden +ganz andere Worte haben, mit ihnen in ganz anderen Sätzen reden, und +wir würden sie gar nicht verstehen, wie wir nicht verstehen würden, +wenn etwas zehntausend Jahre vor uns gesagt worden wäre und uns +vorläge, selbst wenn wir der Sprache mächtig wären. Was ist dann jeder +Ruhm? Aber kehren wir zu unserem Gegenstande zurück und sehen wir von +Ägyptern, Assyrern, Indern, Medern, Hebräern, Persern, von denen Kunde +zu uns herüber gekommen ist, ab und vergleichen wir uns nur allein mit +der griechisch-römischen Welt, so dürfte in ihr wirklich mehr einfache +Lebensgröße gelegen sein als in der unsern liegt. Ich verwundere mich +oft, wenn ich in der Lage bin, zu entscheiden, welchen von beiden ich +den Preis geben soll, Cäsars Taten oder Cäsars Schriften, wie sehr ich +im Schwanken begriffen bin und wie wenig ich es weiß. Beides ist so +klar, so stark, so unbeirrt, daß wir wenig desgleichen haben dürften.« + +»Jene alten Verhältnisse des Handelns und Denkens waren aber, wie ich +glaube, auch weniger verwickelt als die unsrigen«, sagte ich. + +»Sie hatten einen nicht so ausgedehnten Schauplatz wie wir«, erwiderte +er, »obwohl auch der Platz der Taten zu Cäsars Zeit - Britannien, +Gallien, Italien, Asien, Afrika -, oder zu Alexanders Zeit - +Griechenland und Orient - nicht ganz klein war. Ihre Verhältnisse nach +Außen gestalteten sich daher leichter; aber im Innern dürften sie bei +der großen Zahl der mithandelnden Personen, von denen die meisten +Stimme und Gewalt in Staatsdingen hatten, nicht so leicht gewesen +sein, und die Macht, diese Gemüter durch Wort, Erscheinung und +Handlung zu gewinnen und zu leiten, dürfte schwierig zu erwerben +gewesen sein und dürfte eben dem Wesen eines Mannes die feste Gestalt +aufgedrückt haben, die wir so oft an ihm bewundern. Unsere Zeit ist +eine ganz verschiedene. Sie ist auf den Zusammensturz jener gefolgt +und erscheint mir als eine Übergangszeit, nach welcher eine kommen +wird, von der das griechische und römische Altertum weit wird +übertroffen werden. Wir arbeiten an einem besondern Gewichte der +Weltuhr, das den Alten, deren Sinn vorzüglich auf Staatsdinge, auf das +Recht und mitunter auf die Kunst ging, noch ziemlich unbekannt war, +an den Naturwissenschaften. Wir können jetzt noch nicht ahnen, was +die Pflege dieses Gewichtes für einen Einfluß haben wird auf die +Umgestaltung der Welt und des Lebens. Wir haben zum Teile die Sätze +dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder +Lehrzimmern, zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den +Handel, auf den Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir +stehen noch zu sehr in dem Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse +beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges. +Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes +Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn +wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die +verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit +gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden +die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten +Austauschens gemeinsam werden, daß Allen Alles zugänglich ist? Jetzt +kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie +hat, was sie ist und was sie weiß, absperren: bald wird es aber nicht +mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden. +Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der +Geringste wissen und können muß, um Vieles größer sein als jetzt. Die +Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich +dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz +vorausschreiten und die andern sogar in Frage stellen können. Welche +Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen +erlangen? Diese Wirkung ist bei Weitem die wichtigste. Der Kampf in +dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist entstanden, weil neue +menschliche Verhältnisse eintraten, das Brausen, von welchem ich +sprach, wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche +Übel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine +Abklärung folgen, die Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der +endlich doch siegen wird, eine bloße Macht werden, die er gebraucht, +und weil er einen neuen menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine +Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen +ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen +werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden wird, vermag +ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir sicher, +andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr +auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund +inne wohnt, beharren mag.« + +Wir gingen nun in manches Einzelne dieses Stoffes ein, behandelten +es im Fahren und suchten die möglichen Folgen anzugeben. Besonders +wurden Zweige der Naturwissenschaften genannt, welche vorzugsweise +vorgeschritten waren und Einfluß zu gewinnen schienen, wie die Chemie +und andere. Roland war entschieden für Neuerung, wenn sie auch Alles +umstürzte, mein Gastfreund und Eustach hegten den Wunsch, daß jenes +Neue, welches bleiben soll, weil es gut ist - denn wie vieles Neue ist +nicht gut -, nur allgemach Platz finden und ohne zu große Störung sich +einbürgern möchte. So ist der Übergang ein längerer, aber er ist ein +ruhigerer und seine Folgen sind dauernder. + +Nach dem Mittagsessen kam das Gespräch auf die Brunnennymphe im +Sternenhofe, und mein Gastfreund erzählte mir, wie sie erworben worden +war. Ein Mann, der entfernt mit Mathilden verwandt war, hatte zu +seinem großen Vermögen noch Erbschaften gemacht. Er verlegte sich +auf Sammlungen. Er hatte Münzen, er hatte Siegel, er hatte keltische +und römische Altertümer, Musikgeräte, Tulpen und Georginen, Bücher, +Gemälde und Bildsäulen. Er baute in seinem Garten an sein Haus, +welches etwas erhöht stand, eine große Fläche, die er mit Steinen +pflasterte und von welcher künstliche steinerne Stufen in mehreren +Richtungen nach dem Garten hinab gingen. Auf die Brüstungen dieser +Fläche und auf die Einfassungen der Treppen wurden Bildsäulen gesetzt. +Es gehörte zu den größten Vergnügungen des Mannes, auf der Fläche hin +und her zu gehen. Das tat er auch oft, wenn die heißeste Sonne am +Himmel stand und das Pflaster in die Sohlen brannte. Außerdem hatte er +auch noch Bildsäulen auf den Treppen des Hauses und in den Zimmern. +Die Nymphe, welche jetzt Mathilde besitzt, hatte er in einem +Brunnentempel im Garten. Er hatte sie von seinem Großoheime geerbt. +Sie soll zu den Jugendzeiten desselben von einem italienischen +Bildhauer für einen Fürsten verfertigt worden sein, dessen schneller +Todfall das Übergehen an ihre Bestimmung vereitelte. So kam sie +nach mehreren Zufällen an den Großoheim, der Verbindungen mit dem +Künstler hatte. Man sagt, diese Bildsäule sei der Anfang zu der +Bildsäulenliebhaberei des Vetters Mathildens gewesen. Als dieser +Mann starb, fand sich ein letzter Wille geschrieben vor, daß alle +Kunstwerke an Kunstkenner oder Kunstliebhaber, nicht aber an Händler +verkauft werden und daß das Geld dafür und die anderen Dinge, die er +hinterlassen, und zwar letztere nach einem Schätzungswerte, unter +seine entfernten Verwandten verteilt werden sollten; denn Kinder +oder nähere Verwandte hatte er nicht. Da nun die Nymphe weitaus +das schönste Kunstwerk war, welches er besaß, da Mathilde es immer +bewundert hatte, da sie schon im Besitze des Sternenhofes war und in +demselben schon schöne Gemälde untergebracht hatte: so war es ihr +nicht schwer, sich als eine Kunstliebhaberin auszuweisen und das +Bildwerk anzukaufen. Man gönnte es ihr mehr als einem Fremden, weil +auf diese Weise das Kunstwerk gewissermaßen in der Familie blieb und +sie überdies auch mehr in die gemeinschaftliche Erbschaft zahlte, als +ein Fremder getan haben würde. + +Sie brachte das ihr so liebe Werk in den Sternenhof und stellte es +dort in einem Saale auf. Erst lange darnach wurde durch Eustachs und +meines Gastfreundes Bemühungen zwischen den Eichen, die schon standen, +die Eppichwand und die Quellengrotte gebaut und so der Gestalt ein +würdiger und wirkungsvollerer Aufenthaltsort gegeben, da sie für den +Saal doch immer zu groß und ihre Stellung und ihre Beschäftigung +unpassend gewesen war. Den Krug, aus welchem das Wasser rann, hatte +sie schon, das Becken und die Bank sind neu gemacht worden, die +Alabasterschale hat Mathilde aus ihrem Besitztume dazu gegeben. + +Wir kamen am Abende im Rosenhause an. Am andern Tage bat ich meinen +Gastfreund, er möge erlauben, daß ich eine Nachzeichnung von der +Zeichnung des Kerberger Altares, die er besitze, mache, und diese +Zeichnung meinem Vater zum Geschenke bringe. Er erlaubte es sehr +gerne. Die Zeichnung war nach dem Vorschlage, welcher auf der Reise in +das Hochland gemacht worden war, von Roland verbessert worden, und so +wurde sie mir übergeben. + +Ich schloß mich in mein Zimmer ein und arbeitete mehrere Tage fleißig +von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bis ich mit der Zeichnung +fertig war. Ich verpackte sie nun sehr wohl und gab meinem Gastfreunde +die Urzeichnung zurück. + + +Nun hielt ich mich nicht mehr länger in dem Asperhofe auf und eilte in +die Tann. + +Ich stieg dort auf Berge, ich arbeitete sehr angestrengt, ich spielte +sehr viel auf meiner Zither und las in meinen Büchern. + +Eines Tages gegen den Spätsommer hin hörte ich mit Allem auf. Ich +packte meine Kisten, tat die Werkzeuge und die Schriften, die sich auf +meine Arbeiten bezogen, in ihre Fächer und Koffer, entließ fast alle +Leute, versah die Kisten mit Aufschriften, verordnete ihre Versendung +und ging dann in das Lauterthal. Dort nahm ich nur den alten Kaspar +und von den jungen Männern einen, der mir besonders lieb geworden war, +und beschloß, die Messung des Lautersees zu Ende zu bringen. + +Ich mietete mich in dem Seewirtshause ein, richtete alle Geräte, +welche mir zu meinem Vorhaben nötig waren, zurecht, ließ diejenigen +neu verfertigen, welche ich nicht hatte, und ging ans Werk. Ich +arbeitete recht fleißig. So lange das Licht des Tages leuchtete, waren +wir auf dem Wasser. Nachts - außer einigen Stunden Schlafes - war ich +an dem Papiere teils mit Rechnungen, teils mit Schreiben, teils sogar +mit Zeichnen beschäftigt. Ich wiederholte einige Messungen, welche ich +in früheren Zeiten vorgenommen hatte, um mich von der Beständigkeit +oder Wandelbarkeit des Wasserstandes oder des Seegrundes zu +überzeugen. Da ein durchaus gleicher Wasserstand nicht zu denken ist, +so bezog ich meine Messungen auf einen mittleren Stand und stellte +immer die Frage, wie tief unter diesem Stande die bestimmten Stellen +des Seegrundes liegen. Dieser mittlere Stand, der nach demjenigen +genommen wurde, welcher in der meisten Zeit des Jahres herrscht, war +in meiner Abbildung auch der Wasserspiegel. Ihn nahm ich bei den +Nachmessungen zur Richtschnur. In größeren Entfernungen von dem Ufer +hatte sich der Seegrund seit dem Beginne meiner Messungen nicht +geändert, oder wenn er sich geändert hatte, war es so wenig, daß es +durch unsere Meßwerkzeuge nicht wahrzunehmen war. An jenen Ufern oder +in der Nähe derselben, wo große Tiefen herrschten und steile, ruhige +Wände standen, an denen bei Regengüssen höchstens schmale Bänder oder +seichte Wasserflächen niederrieseln, war ebenfalls keine Veränderung. +Aber an seichten Stellen bei flacheren Ufern, wo der Regen Gerölle und +andere Dinge einführt, fanden sich schon Veränderungen vor. Am meisten +aber waren die Wandlungen und am größten, wo eine Schlucht sich gegen +das Wasser öffnete, aus welcher ein Bergbach hervorströmte, der, je +nachdem er weiter her floß oder bei Güssen heftiger anschwoll, auch +größere Berge von Gerölle in den See schob und dort liegen ließ. + +Nach der Wiederholung dieser alten Messungen wurde zu neuen +geschritten, die zur Vollendung der mir zum Ziele gesetzten Kenntnisse +notwendig waren. Ebenso wurden die Zeichnungen der Gebilde, welche +sich außerhalb des Wassers als Ufer befanden, fleißig fortgesetzt. + +Zweimal wurde die Arbeit unterbrochen. Ich ging in das Rothmoor, um +nachzusehen, wie weit die Dinge, die aus meinen Marmoren verfertigt +werden sollten, gediehen wären und wie gut sie ausgeführt würden. +Die Fortschritte waren zu loben. Man sagte - und ich selber sah die +Möglichkeit ein -, daß in diesem Sommer noch alles fertig werden +würde. Aber in Hinsicht der Güte hatte ich Ausstellungen zu machen. +Ich ordnete mit Bitten, Vorstellungen und Versprechen an, daß man das, +was ich angab, so genau und so rein mache, wie ich es wollte. + +Wenn Regenzeit war, so daß die Wolken an den Bergen herum hingen und +weder diese noch die Gestalt des Sees richtig zu überblicken waren, +so blieb ich zu Hause und zeichnete und malte dasjenige in mein +Hauptblatt, was ich im Freien auf viele Nebenblätter aufgenommen +hatte. So rückte das Unternehmen der Vollendung immer näher. + +Endlich waren die Arbeiten im Freien beendigt, und es erübrigte nur +noch, die vielen Angaben, welche in meinen Papieren zerstreut waren +und welche ich bisher nicht hatte bewältigen können, in die Zeichnung +einzutragen und die Gestalten, welche ich auf einzelnen Blättern +hatte, teils mit der Hauptzeichnung wegen der Richtigkeit zu +vergleichen, teils diese, wo es nottat, zu ergänzen. Auch Farben +mußten auf verschiedene Stellen aufgetragen werden. + +Nach langer Arbeit und nach vielen Schwierigkeiten, die ich zur +Erzielung einer großen Genauigkeit zu überwinden hatte, war das +Werk eines Tages fertig, und der ganze Entwurf lag in schwermütiger +Düsterheit und in einer Schönheit vor meinen Augen, die ich selber +nicht erwartet hatte. Ich betrachtete allein die Abbildung eine Weile, +da niemand war, der das Anschauen mit mir geteilt hätte, rollte dann +das Blatt auf eine Walze, verpackte es sehr gut in einen Koffer, nahm +von dem See und von allen Bewohnern des Seewirtshauses Abschied und +begab mich auf den Weg in das Ahornhaus des Lauterthales. + +Dort siedelte ich mich an. Ich ging nun täglich in das Rothmoor, +blieb den ganzen Tag dort und kehrte Abends zurück, so daß ich in der +Dämmerung im Ahornhause ankam. Ich sah im Rothmoore den Arbeiten an +meinen Marmoren zu, dem Schneiden, Feilen, Reiben, Schleifen und +Glätten. Ich gab auch an, wie Manches zu behandeln sei und wie es +einer größeren Vollendung, namentlich aber einer größern Genauigkeit +entgegen geführt werden könnte. + + +Das Wasserbecken meines Vaters wurde nach und nach fertig und die +kleineren Dinge, welche gemacht werden sollten, waren ebenfalls +vollendet. Die Sonne schien in die Bauhütte, und das Becken erglänzte +recht rein und schön in derselben. Ich ließ von starken Balken +Behältnisse zimmern. In diese wurden die Teile des Beckens mit Winden, +Hebeln und Stricken gepackt und zur Versendung bereitet. Die Wägen +mußten eigens vorgerichtet werden, damit die Behältnisse an den Strom +gebracht werden könnten. Diese Vorrichtung war endlich fertig. Das +Aufladen wurde bewerkstelligt, und die Wägen gingen ab. Ich ging +mit ihnen bis an den Strom und verließ sie keinen Augenblick, um wo +möglich jeden Unfall zu verhüten. Am Strome wurden die Behältnisse auf +ein Schiff verladen und weiter befördert. Von dem Landungsplatze vor +unserer Stadt wurden sie endlich wieder durch starke Wägen in unsern +Garten gebracht. + +Es wurde nun daran geschritten, das Wasserwerk in diesem Herbste noch +fertig zu machen. Der Vater hatte auf Briefe von mir und auf gesendete +Maße den Dingen bereits vorarbeiten lassen. Es wurden nun noch mehrere +Arbeiter gedungen und ein Wasserbaukundiger genommen, welcher die +Arbeiten zu leiten hatte. Ich war den ganzen Tag bei dem Werke zugegen +und half mit. Der Vater kargte sich ebenfalls alle mögliche Zeit ab, +um zugegen sein und zuschauen zu können. Die Röhren wurden gelegt, +die Steigröhre verzapft, der Stengel über sie gebaut, mit den nötigen +Eisen gestärkt und verlötet, und an demselben wurde das Blatt +befestigt. Der Pfropfen, welcher den in das Blatt mündenden Stengel +geschlossen gehalten hatte, wurde gelüftet, und der reine Strahl +fiel auf die im Blatte liegende Einbeere hinunter, füllte das Becken +und glitt von demselben, als es gefüllt war, auf den sanften gelb +marmornen Fußboden nieder und rieselte in dessen Rinne weiter. Die +Farben stimmten sehr gut zusammen, das Dunkel des Stengels hob sich +von dem Rosenrot des Blattes ab, und das Gelb des Fußbodens gab dem +Rosenrot eine schönere Farbe und einen feineren Glanz. Es waren +mehrere Gäste zur Eröffnung des Werkes geladen worden, und diese sowie +Vater, Mutter und Schwester freuten sich des Gelingens. + +Der Vater reichte mir als Gegengeschenk, sehr schön gebunden und auf +den Deckeln mit halberhabener Arbeit versehen, das Nibelungenlied. Ich +dankte ihm sehr dafür. + +Es wurde beschlossen, für den Winter ein Bretterhäuschen über das +Wasserwerk machen zu lassen und dasselbe gut zu verwahren, daß keine +Kälte eindringen könne. Für den Frühling wurden Pläne entworfen, wie +man die Gartenumgebungen des Beckens einrichten solle, daß der ganze +Anblick ein desto würdigerer und schönerer sei. Man hoffte, bis zum +Eintritte der besseren Jahreszeit mit den Entwürfen im Reinen zu sein +und beginnen zu können. + +Ich übergab außer dem Becken auch die andern Marmorgegenstände, welche +in dem Rothmoore waren verfertiget worden. Darunter befanden sich +Säulen und Simse, welche an einer Stelle verwendet werden sollten, +die am Ende des Gartens lag, eine Aussicht auf die Berge und auf die +Umgebung bot und auf welcher der Vater etwas zu errichten vorhatte, +das der Aussicht würdig wäre und sie besser genießen lasse. Ich +meinte, es dürfte eine schöne Fassung anzulegen sein, die den Platz +begrenzt, die breite Flächen hat, daß man sich auf dieselben lehnen +und Dinge auf sie legen könne und an der sich Sitze befänden, auf +welchen man ausruhen könne. Wenn in der Nähe dieser Fassung ein +Tisch wäre, würde es noch besser sein. Außerdem hatte ich Schalen +zu beliebigem Gebrauche gebracht, Ringe, die einen Vorhang fassen, +Tischplatten, Pfeilerverzierungen, Steine von verschiedener Farbe, die +im Vierecke geschliffen waren und die man der Reihe nach auf Papier +oder Ähnliches legen konnte, und noch mehrere Dinge dieser Art. Dem +Vater zeigte ich die Zeichnung von dem Kerberger Altare und sagte, daß +ich sie eigens für ihn gemacht habe und sie ihm hiemit übergebe. Er +war sehr erfreut darüber und dankte mir dafür. Der Altar war ihm zwar +nicht neu, er hatte ihn in früherer Zeit, ehe er wieder hergestellt +worden war, gesehen, und die Zeichnung des wiederhergestellten Altares +war unter den von meinem Gastfreunde dem Vater im vorigen Jahre +gesendeten Zeichnungen gewesen. Deßohngeachtet war es ihm sehr +angenehm, die Zeichnung zu besitzen und sie öfter und nach Muße +betrachten zu können. Er machte mich auf mehrere Dinge aufmerksam, die +er nach wiederholter Betrachtung entdeckt hatte. Zuerst sah er, daß +der Altar viel reicher und mannigfaltiger sei, als da er ihn in noch +unverbessertem Zustande vor vielen Jahren in Wirklichkeit gesehen +hatte; dann machte er mich darauf aufmerksam, daß dieses Werk schon +die Rundlinie habe, daß die Türmchen durch gewundene Stäbe in +Gestalten von Pyramiden gebildet und daß die menschlichen Gestalten +schon sehr durchgearbeitet seien, was alles darauf hindeuten daß das +Werk nicht mehr der Zeit der strengen gothischen Bauart angehöre, +sondern derjenigen, wo diese Art sich schon zu verwandeln begonnen +hatte. Auch zeigte er mir, daß Teile der Verzierungen im Laufe der +Zeiten an andere Orte gestellt worden seien als an die sie gehören, +daß die Büsten sich nicht an dem rechten Platze befinden und daß +menschliche Gestalten verloren gegangen sein müssen. Er holte Bücher +aus seinem Bücherschreine herbei, in denen Abbildungen waren und aus +denen er mir die Wahrheit dessen bewies, was er behauptete. Ich sagte +ihm, daß mein Gastfreund und Eustach der nehmlichen Meinung sind, daß +aber die Wiederherstellungen, welche man an dem Altare gemacht hat, +im strengen Wortverstande nicht Wiederherstellungen gewesen seien, +sondern daß man sich zuerst nur zum Zwecke gesetzt habe, den Stoff +zu erhalten und weitere Umänderungen oder größere Ergänzungen einer +ferneren Zeit aufzubewahren, wenn sich überhaupt die Mittel und Wege +dazu fänden. Nur solche Ergänzungen sind gemacht worden, bei denen die +Gestalt des Gegenstandes unzweifelhaft gegeben war. + +Die Bücher des Vaters machten mich auf die Sache, die sie behandelten, +mehr aufmerksam, ich bat ihn, daß er sie mir in meine Wohnung leihe, +und begann sie durchzugehen. Sie führten mich dahin, daß ich die +Baukunst und ihre Geschichte vom Anfange an genauer kennen zu lernen +wünschte und mir alle Bücher, die hiezu nötig wagen, nach dem Rate +meines Vaters und Anderer ankaufte. + + + +Der Bund + +Der Winter verging wie gewöhnlich. Ich richtete meine mitgebrachten +Dinge in Ordnung und holte an Schreibgeschäften nach, was im Sommer +wegen der Tätigkeit im Freien und der anderweitig verlorenen Zeit im +Rückstande geblieben war. Der Umgang mit den Meinigen in dem engsten +Kreise des Hauses war mir das Liebste, er war mein größtes Vergnügen, +er war meine höchste Freude. Der Vater bezeigte mir von Tag zu Tag +mehr Achtung. Liebe konnte er mir nicht in größerem Maße bezeigen, +denn diese hatte er mir immer höchstmöglich bewiesen; aber so wie +er früher bei der zärtlichsten Sorgfalt für mein Wohl und bei der +Herbeischaffung alles dessen, was zu meinem Unterhalte und meiner +Ausbildung notwendig gewesen ist, mich meine Wege gehen ließ, immer +freundlich und liebevoll war und nicht begehrte, daß ich mich in +andere Richtungen begebe, die ihm etwa bequemer sein mochten: so war +er zwar dies jetzt alles auch; aber er fragte mich doch häufiger +um meine Bestrebungen und ließ sich die Dinge, welche darauf Bezug +hatten, auseinandersetzen, er holte meinen Rat und meine Meinung +in Angelegenheiten seiner Sammlungen oder in denen des Hauses +ein und handelte darnach, er sprach über Werke der Dichter, der +Geschichtschreiber, der Kunst mit mir, und tat dies öfter, als +es in früheren Zeiten der Fall gewesen war. Er brachte in meiner +Gesellschaft manche Zeit bei seinen Bildern, bei seinen Büchern +und bei seinen andern Dingen zu und versammelte uns gerne in dem +Glashäuschen, das eine erwärmte Luft durchwehte, die sich traulich um +die alten Waffen, die alten Schnitzwerke und die Pfeilerverkleidungen +ergoß. Er sprach von verschiedenen Dingen und schien sich wohl zu +fühlen, den Abend in dem engsten Kreise seiner Familie zubringen zu +können. Mir schien es, daß er zu der jetzigen Zeit nicht nur früher +aus seiner Schreibstube nach Hause komme als sonst, sondern daß er +sich auch mehr innerhalb der Mauern desselben aufhalte als in früheren +Jahren. Die Mutter war sehr freudig über die Heiterkeit dem Vaters, +sie ging gerne in seine Pläne ein und beförderte alles, was sie in +ihrem Kreise zu der Erfüllung derselben tun konnte. Sie schien uns +Kinder mehr zu lieben als in jeder vergangenen Zeit. Klotilde wendete +sich immer mehr und mehr zu mir, sie war gleichsam mein Bruder, ich +war ihr Freund, ihr Ratgeber, ihr Gesellschafter. Sie schien gar keine +andere Empfindung als für unser Haus zu haben. Wir setzten unsere +Übungen im Spanischen, im Zitherspielen, im Zeichnen und Malen fort. + +Trotz dieser Dinge war sie auch im Hauswesen eifrig, um der Mutter +Folge zu leisten und ihren Beifall zu gewinnen. Wenn etwas in dieser +Art, das eine größere Sorgfalt und Geschicklichkeit erheischte, +besonders gelang und dies erkannt wurde, so war ihre Befriedigung +größer, als wenn sie bei einer ernsten und wichtigen Bewerbung vor +einer ansehnlichen Versammlung den Preis davon getragen hätte. + +In den Gesellschaften, die in kleineren oder größeren Kreisen, nur +seltener als in früheren Jahren, in unserem Hause statt fanden, wurden +jetzt auch mehr Gespräche geführt als da wir auch jünger waren. Es +wurden ernsthafte Dinge in Untersuchung gezogen, Angelegenheiten des +Staates, allgemeine öffentliche Unternehmungen oder Erscheinungen, die +von sich reden machten. Man sprach auch von seinen Beschäftigungen, +von seinen Liebhabereien oder von dem gewöhnlichen Tagesstoffe, wie +etwa das Theater ist oder wie Begebenheiten sind, die sich in den +nächsten Umgebungen zutragen. Im Übrigen wurde auch zu den bekannten +Vergnügungen gegriffen, Musik, Tanz, Liedersingen. Manche jüngere +Leute lernten sich da neu kennen, ältere setzten die früher bestandene +Bekanntschaft fort. + +Ich besuchte meine Freunde, besprach mich mit ihnen und erzählte ihnen +im Allgemeinen, womit ich mich eben beschäftige. Sie teilten mir +aus dem Kreise ihrer Erlebnisse mit und machten mich auf manche +Persönlichkeiten aufmerksam. + +Ich setzte meine Malerei fort, ich betrieb die Edelsteinkunde und +besuchte manches Theater. Das Lesen der Bücher über Baukunst vergnügte +mich sehr, und es eröffnete sich mir da ein neues Feld, das manches +Ersprießliche und manche Förderung versprach. + +Die Abende bei der Fürstin erschienen mir immer wichtiger. Es hatte +sich nach und nach eine Gesellschaft zusammen gefunden, deren +Mitglieder sich häufig und gerne in dem Zimmer der Fürstin +versammelten. Es wurden die anziehendsten Stoffe verhandelt, und +man schrak nicht zurück, wenn jemand die Fragen der allerneuesten +Weltweisheit auf die Bahn brachte. Man legte sich die Dinge zurecht, +wie man konnte, man kleidete die eigentümliche Redeweise der +sogenannten Fachmänner in die gewöhnliche Sprache und wendete den +gewöhnlichen Verstand darauf an. Was durch diese Mittel und durch die +der Gesellschaft herausgebracht werden konnte, das besaß man, und wenn +es von der Gesellschaft als ein Gewinn betrachtet wurde, so behielt +man es als einen Gewinn. Wenn aber nur Worte da zu sein schienen, von +denen man eine greifbare Bedeutung nicht ermitteln konnte, so ließ man +die Sache dahin gestellt sein, ohne ihr eine Folge zu geben und ohne +über sie aburteilen zu wollen. Die Dichter und das Spanische wurden +lebhaft fortgesetzt. + +Wenn sehr klare Tage waren und eine heitere Sonne ein erhellendes +Licht in den Zimmern vermittelte, so war ich in dem Glashäuschen und +arbeitete an den Abbildungen der Pfeilerverkleidungen für meinen +Gastfreund. Ich wollte sie so gut machen, als es mir nur möglich wäre, +um dem Manne, dem ich so viel verdankte und den ich so hoch achtete, +Zufriedenheit abzugewinnen oder ihm gar etwa ein Vergnügen zu +bereiten. Ich wollte zuerst Zeichnungen von den Verkleidungen +entwerfen und nach ihnen Bilder in Ölfarben ausführen. Ich machte die +Zeichnungen auf lichtbraunes Papier, tiefte die Schatten in Schwarz +ab, erhöhte die Lichter in einem helleren Braun und setzte die +höchsten Glanzstellen mit Weiß auf. Als ich die Zeichnungen in dieser +Art fertig hatte und durch vielfache Vergleichungen und Abmessungen +überzeugt war, daß sie in allen Verhältnissen richtig seien, setzte +ich noch den Maßstab hinzu, nach dem sie ausgeführt waren. Ich schritt +nun zur Verfertigung der Bilder. + +Sie wurden etwas kleiner als die Entwürfe gemacht, aber im genauen +Verhältnisse zu denselben. Ich benutzte zum Malen immer die nehmlichen +Vormittagsstunden, um die Glanzpunkte, die Lichter und die Schatten in +ihrer vollen Richtigkeit zu erfassen und auch der Farbe im Allgemeinen +ihre Treue geben zu können. Es zeigte sich mir da eine Erfahrung in +den Farben wieder bestätigt, die ich schon früher gemacht hatte. Auf +die mit schwachem Firnisse überzogenen Holzschnitzwerke nahmen die +umgebenden Gegenstände einen solchen Einfluß, daß sich Schwerter, +Morgensterne, dunkelrotes Faltenwerk, die Führung der Wände, des +Fußbodens, die Fenstervorhänge und die Zimmerdecke in unbestimmten +Ausdehnungen und unklaren Umrissen in ihnen spiegelten. Ich merkte +bald, daß, wenn alle diese Dinge in die Farbe der Abbildungen +aufgenommen werden sollten, die dargestellten Gegenstände wohl an +Reichtum und Reiz gewinnen, aber an Verständlichkeit verlieren würden, +so lange man nicht das Zimmer mit allem, was es enthält, mit malt, und +dadurch die Begründung aufzeigt. Da ich dies nicht konnte und mein +Zweck es auch nicht erheischte, so entfernte ich alles Zufällige und +stark Einwirkende aus dem Zimmer und malte dann die Schnitzereien, +wie sie sich sammt den übergebliebenen Einwirkungen mir zeigten, um +einerseits wahr zu sein und um andererseits, wenn ich jede Einwirkung +der Umgebung weg ließe, nicht etwas geradezu Unmögliches an ihre +Stelle zu setzen und den Gegenstand seines Lebens zu berauben, weil er +dadurch aus jeder Umgebung gerückt würde, keinen Platz seines Daseins +und also überhaupt kein Dasein hätte. Was die wirkliche Ortsfarbe der +Schnitzereien sei, würde sich aus dem Ganzen schon ergeben und müßte +aus ihm erkannt worden. Ich wendete bei der Arbeit sehr viele Mühe auf +und suchte sie so genau, als es meiner Kraft und meinen Kenntnissen +möglich war, zu verrichten. Ich erhöhte und vertiefte die Farben so +lange und suchte nach dem richtigen Tone und dem erforderlichen Feuer +so lange, bis das Bild, neben die Gegenstände gestellt, aus der Ferne +von ihnen nicht zu unterscheiden war. Die Zeichnung des Bildes mußte +richtig sein, weil sie vollkommen genau nach dem ursprünglichen +Entwurfe gemacht worden war, den ich nach mathematischen Weisungen +zusammen gestellt hatte. Als die Sache nach meiner Meinung fertig war, +zeigte ich sie dem Vater, welcher sie auch mit Ausnahme von kleinen +Anständen, die er erhob, billigte. Die Anstände beseitigte ich zu +seiner Zufriedenheit. Hierauf wurde alles in taugliche Fächer gebracht +und zur Vorführung bereit gehalten. + + +Es waren fast die Tage des Vorfrühlings herangekommen, ehe ich mit +diesem Werke fertig war. Dies hatte seinen Grund auch vorzüglich +darin, daß ich die späteren hellen Wintertage mehr als die früheren +trüben hatte benützen können. + +Im Frühlinge trat ich meine Reise wieder an. + +Ich machte zuerst einen Besuch bei meinem Gastfreunde, brachte ihm die +Fächer, in denen die Abbildungen der Pfeilerverkleidungen enthalten +waren, und händigte ihm sowohl den Entwurf als auch das Farbenbild der +Schnitzereien ein. Er berief Eustach in seine Stube, in welcher die +Dinge ausgepackt wurden, herüber. Beide sprachen sich sehr günstig +über die Arbeit aus, und zwar günstiger als über jede frühere, die ich +ihnen vorgelegt hatte. Ich war darüber sehr erfreut. Eustach sagte, +daß man sehr gut die Ortsfarben und die, welche durch fremde +Einwirkungen entstanden waren, unterscheiden könne, und daß man aus +den letzten die Beschaffenheit der Umgebungen zu ahnen vermöge. Sie +stellten das Bild in die nötige Entfernung und betrachteten es mit +Gefallen. Besonders anerkennend sprach Eustach über die Richtigkeit +und Brauchbarkeit des unfarbigen Entwurfes. + +Ich reiste nach dem kurzen Besuche in dem Rosenhause in die Gegend der +Tann, blieb auch dort nur kurz und drang tiefer in das Gebirge ein, +um eine Mittelstelle zu finden, von der aus ich meine neuen Arbeiten +unternehmen könnte. Als ich eine solche gefunden hatte, ging ich in +das Lauterthal und dort in das Ahornwirtshaus, um meinen Kaspar und +die Andern, welche mir im vorigen Jahre geholfen hatten, auch für +das heutige zu dingen. Als dies, wie ich glaube zu gegenseitiger +Zufriedenheit, abgetan war, blieb ich noch einige Tage in dem +Ahornhause, teils damit sich meine Leute zu der Abreise rüsten +konnten, teils um das mir liebgewordene Haus, das liebgewordene Tal +und die Umgebung wieder ein wenig zu genießen. Ich ging bei dieser +Gelegenheit mehrere Male in das Rothmoor, um dort nachzusehen, was man +eben für Gegenstände aus Marmor mache. Mir schien es, als wäre die +Anstalt seit einem Jahre sehr gediehen. Ich besprach mich auch dort +über Arbeiten, die für mich auszuführen wären, falls ich den hiezu +nötigen Marmor fände. Erkundigungen, um auf Spuren der Ergänzungen der +Pfeilerverkleidungen meines Vaters, die ich in dieser Gegend gekauft +hatte, zu kommen, waren auch heuer wie in früherer Zeit fruchtlos. + +Ein Ereignis trat in dem Lauterthale ein, das mich sehr erheiterte. +Mein Zitherspiellehrer, der einige Zeit gleichsam verschollen war, war +wieder da. Er zeigte viele Freude, mich zu sehen, und sagte, er wolle +mir in das Kargrat folgen, welches jetzt der Mittelpunkt meiner +Arbeiten war, ein Dörfchen auf grasigen, baum- und buschlosen Anhöhen, +ganz nahe dem ewigen Eise, mit armen Bewohnern und einem vielleicht +noch ärmeren, genügsamen Pfarrer. Er sagte, er wolle diejenigen +Arbeiten, die ich ihm auftragen werde, gegen Lohn verrichten, und in +freier Zeit wollen wir auf der Zither spielen. Er habe noch keinen +Schüler gehabt, mit dem ihm die Übungen auf der Zither so viele Freude +gemacht hätten. Ich beschloß, einen Versuch zu wagen, und wir wurden +über die gegenseitigem Bedingungen einig. + +Als alles in Bereitschaft war, gingen wir aus dem Ahornhause in das +Kargrat ab. Ich ging mit den Leuten auf abgelegenen und schneller zum +Ziele führenden Gebirgspfaden. Nur einmal hatten wir eine Strecke +gebahnter Straße, auf welcher ich zwei leichte Wägen mietete. Im +Kargrat fand ich ein kleines Zimmerchen. Für meine Leute wurde eine +Scheune zurecht gerichtet, und zur Aufbewahrung meiner Gegenstände +wurde aus Brettern ein ganz kleines Häuschen eigens erbaut. Wir waren +nun in der Nähe der höchsten Höhen. In mein winziges Fenster sahen die +drei Schneehäupter der Leiterköpfe, hinter denen die steile, ziemlich +schlanke, blendend weiße Nadel der Karspitze hervorragte, und neben +denen die edelsteinglänzenden Bänke der Stimmen oder des Simmieises +sich dehnten. Um den sehr spitzen Kirchturm des Dörfchens wehte die +scharfe, fast harte Gebirgsluft und senkte sich auf unsere Häupter und +Angesichter nieder. Weit ab gegen die Tiefe zu lagen die anderen Berge +und die dichter bewohnten und bevölkerten Länder. + +Über das Zitherspiel meines wiedergefundenen Lehrers war ich wirklich +sehr erfreut. Ich hatte in der Zeit, während welcher ich ihn nicht +gesehen hatte, schon beinahe vergessen, wie vortrefflich er spiele. +Alles, was ich seit dem gehört hatte, erblaßte zur Unbedeutenheit +gegen sein Spiel, von dem ich den Ausdruck »höchste Herrlichkeit« +gebrauchen muß. Er scheint von diesem seinem Musikgeräte auch +ergriffen und beherrscht zu sein; wenn er spielt, ist er ein anderer +Mensch und greift in seine und in die Tiefen anderer Menschen, und +zwar in gute. Auf diesen Berghöhen war das schöne Spiel fast noch +schöner, noch rührender und einsamer. + +Wie uns im vorigen Jahre Wälder und Wände eingeschlossen hatten und +nur wenige Stellen uns freien Umblick verschafften, so waren wir heuer +fast immer auf freien Höhen, und nur ausnahmsweise umschlossen uns +Wände oder Wälder. Der häufigste Begleiter unserer Bestrebungen war +das Eis. + +Als die Kalendertage sagten, daß die Rosenblüte schon beinahe vorüber +sein müsse, beschloß ich, meine Freunde zu besuchen. Ich ordnete im +Kargrat alles für meine Abwesenheit und Wiederkunft an und begab mich +auf den Weg. + +Als ich in dem Asperhofe ankam, sagten mir der Gärtner und die +Dienstleute, daß Mathilde, Natalie, mein Gastfreund, Eustach, Roland +und Gustav in den Sternenhof fort seien. Die Rosen waren schon +verblüht, und man hatte mich nicht mehr erwartet. Mein Gastfreund +hatte gesagt, daß ich, weil ich ihm im Frühlinge mitgeteilt hatte, daß +ich heuer ganz nahe an dem Simmieise wohnen werde, wahrscheinlich im +Sommer von dorther den weiten Weg nicht werde haben machen wollen, und +daß zu vermuten sei, daß ich im Herbst meine Arbeit abkürzen und auf +eine Zeit bei meinen Freunden einsprechen werde. Sollte ich aber +dennoch kommen, so hatten die Leute den Auftrag, zu sagen, daß man +mich bitte, in den Sternenhof nachzukommen. + +Ich mietete also des andern Tages auf der Post einen leichten Wagen +und schlug die Richtung nach dem Sternenhofe ein. + +Als ich in der Umgebung desselben angekommen war, sah ich an Zäunen +und in Gärten noch manche Rose frisch blühen, obwohl im Asperhofe +weder auf dem Gitter noch im Garten eine zu erblicken gewesen war, +außer mancher welken und gerunzelten Blume, die man abzunehmen +vergessen hatte. Auch auf der Anhöhe, die zu dem Schlosse empor +leitete, waren an Rosenbüschen, die gelegentlich den Rasen säumten, +weil man im Sternenhofe die Rosen nicht eigens pflegte, sondern sie +nur wie gewöhnlich als schönen Gartenschmuck zog, noch Knospen, die +ihres Aufbrechens harrten. Diese Tatsache mag daher kommen, weil der +Sternenhof näher an den Gebirgen und höher liegt als das Rosenhaus +meines Freundes. + +In dem Hofe des Hauses nahmen die Leute mein Gepäck und die Pferde in +Empfang und wiesen mich die große Treppe hinan. Da ich gemeldet worden +war, wurde ich in Mathildens Zimmer geführt und fand sie in demselben +allein. Sie ging mir fast bis zu der Tür entgegen und empfing mich +mit derselben offenen Herzlichkeit und Freundlichkeit, die ihr immer +eigen war. Sie führte mich zu dem Tische, der an einem mit Blumen +geschmückten Fenster stand, wo sie gerne saß, und wies mir ihr +gegenüber einen Stuhl an dem Tische an. Als wir uns gesetzt hatten, +sagte sie: »Es freut mich sehr, daß ihr noch gekommen seid, wir haben +geglaubt, daß ihr heuer den weiten Weg nicht machen würdet.« + +»Wo man mich so freundlich aufnimmt«, antwortete ich, »und wo man +mich so gütig behandelt, dahin mache ich gerne einen Weg, ich mache +ihn jedes Jahr, wenn er auch weit ist, und wenn ich auch meine +Beschäftigung unterbrechen muß.« + +»Und jetzt findet ihr mich und Natalien nur allein in diesem Hause«, +erwiderte sie, »die Männer, da sie sahen, daß ihr nach dem Abblühen +der Rosen noch nicht gekommen waret, meinten, ihr würdet im Sommer nun +gar nicht mehr kommen, und haben eine kleine Reise angetreten, die +auch Gustav mitmacht, weil er das Reisen so liebt. Sie besuchen eine +kleine Kirche in einem abgelegenen Gebirgstale, deren Zeichnung Roland +gebracht hat. Die Kirche wurde in der Zeichnung sehr schön befunden, +und zu ihr sind sie nun unter Rolands Führung auf dem Wege. Wo sie +nach der Besichtigung derselben hinfahren werden, weiß ich nicht; aber +das weiß ich, daß sie nur einige Tage ausbleiben und in den Sternenhof +zurückkehren werden. Ihr müßt sie hier erwarten, sie werden eine +Freude haben, euch zu sehen, und ich werde mich bemühen, alles +Erforderliche einzuleiten, daß ihr indessen hier die beste +Bequemlichkeit haben könnet.« + +»Der Bequemlichkeit«, erwiderte ich, »bin ich weder gewohnt, noch +schlage ich sie hoch an. Ich möchte nur nicht eine Störung in euer +jetziges einsames Hauswesen bringen. Das Höchste, was mir zu Teil +werden kann, habe ich empfangen, eine freundliche Aufnahme.« + +»Wenn auch gewiß eine freundliche Aufnahme das Höchste ist, und wenn +ihr auch eine Bequemlichkeit nicht begehret«, antwortete sie, »so ist +die Freundlichkeit in den Mienen bei der Aufnahme eines Gastes nicht +das Einzige, so schätzenswert sie dort ist, sondern sie muß sich auch +in der Tat äußern, und es muß uns erlaubt sein, unsere Pflicht, die +uns lieb ist, zu erfüllen, und dem Gaste eine so gute Wohnlichkeit zu +bereiten, als es die Umstände erlauben, er mag sie nun benutzen oder +nicht.« + +»Was ihr für eine Pflicht haltet, will ich nicht bestreiten«, +antwortete ich, »ich will es nicht beirren, nur wünschen muß ich, daß +es mit so wenig eigener Aufopferung als möglich verbunden ist.« + +»Diese wird nicht groß sein«, sagte sie, »auf einige Aufmerksamkeit +in Hinsicht der Genauigkeit und Willigkeit der Leute kömmt es an, und +diese müsset ihr mir schon erlauben.« + +Sie zog mit diesen Worten an einer Glockenschnur und bedeutete den +hereinkommenden Diener, daß er ihr den Hausverwalter rufe. + +Da dieser erschienen war, sagte sie ihm mit sehr einfachen und kurzen +Worten, daß für einen längeren Aufenthalt für mich in dem Hause auf +das Beste gesorgt werden möge. Als er sich entfernen wollte, trug sie +ihm noch auf, vorerst dem Fräulein zu sagen, wer gekommen sei, sie +würde es später auch selber melden, und zum Abendessen würden wir in +dem Speisezimmer zusammen kommen. + +Der Hausverwalter entfernte sich, und Mathilde sagte, jetzt wäre das +Hauptsächlichste getan, und es erübrige später nur noch, sich einen +Bericht über die Mittel und die Art der Ausführung geben zu lassen. + +Wir gingen nun auf andere Gespräche über. Mathilde fragte mich um mein +Befinden und um das Allgemeine meiner Beschäftigungen, denen ich mich +in diesem Sommer hingegeben habe. + +Ich antwortete ihr, daß mein körperliches Befinden immer gleich wohl +geblieben sei. Man habe mich von Kindheit an zu einem einfachen Leben +angeleitet, und dieses, verbunden mit viel Aufenthalt im Freien, habe +mir eine dauernde und heitere Gesundheit gegeben. Mein geistiges +Befinden hänge von meinen Beschäftigungen ab. Ich suche dieselben +nach meiner Einsicht zu regeln, und wenn sie geordnet und nach meiner +Meinung mit Aussicht auf einen Erfolg vor sich gehen, so geben sie +mir Ruhe und Haltung. Sie sind aber in den letzten Jahren, was meine +Hauptrichtung anbelangt, fast immer dieselben geblieben, nur der +Schauplatz habe sich geändert. Die Nebenrichtungen sind freilich +andere geworden, und dies werde wohl fortdauern, so lange das Leben +daure. + +Hierauf fragte ich nach dem Wohlbefinden aller unserer Freunde. + +Mathilde antwortete, man könne hierüber sehr befriedigt sein. Mein +Gastfreund fahre in seinem einfachen Leben fort, er bestrebe sich, daß +sein kleiner Fleck Landes seine Schuldigkeit, die jedem Landbesitze +zum Zwecke des Bestehenden obliege, bestmöglich erfülle, er tue seinen +Nachbarn und andern Leuten viel Gutes, er tue es ohne Gepränge und +suche hauptsächlich, daß es in ganzer Stille geschehe, er schmücke +sich sein Leben mit der Kunst, mit der Wissenschaft und mit +andern Dingen, die halb in dieses Gebiet, halb beinahe in das der +Liebhabereien schlagen, und er suche endlich sein Dasein mit jener +Ruhe der Anbetung der höchsten Macht zu erfüllen, die alles Bestehende +ordnet. Was zuletzt auch noch zum Glücke gehört, das Wohlwollen der +Menschen, komme ihm von selber entgegen. Eustach und der ziemlich +selbständige Roland haben sich zum Teile an dieses Gewebe von +Tätigkeiten angeschlossen, zum Teile folgen sie eigenen Antrieben und +Verhältnissen. Gustav strebe erst auf der Leiter seiner Jugend empor, +und sie glaube, er strebe nicht unrichtig. Wenn dieses sei, so werde +dann die letzte Sprosse an jede Höhe dieses Lebens anzulegen sein, auf +der ihm einmal zu wandeln bestimmt sein dürfte. Was endlich sie selber +und Natalie betreffe, so sei das Leben der Frauen immer ein abhängiges +und ergänzendes, und darin fühle es sich beruhigt und befestigt. Sie +beide hätten den Halt von Verwandten und nahen Angehörigen, dem sie +zur Festigung von Natur aus zugewiesen wären, verloren, sie leben +unsicher auf ihrem Besitztume, sie müßten Manches aus sich schöpfen +wie ein Mann und genießen der weiblichen Rechte nur in dem +Widerscheine des Lebens ihrer Freunde, mit dem der Lauf der Jahre sie +verbunden habe. Das sei die Lage, sie daure ihrer Natur nach so fort +und gehe ihrer Entwicklung entgegen. Mich hatte diese Darstellung +Mathildens beinahe ernst gemacht. Die Stimmung milderte sich wieder, +da wir auf die Erzählung von Dingen kamen, die sich in diesem Sommer +zugetragen hatten. Mathilde berichtete mir über die Rosenblüte, über +die Besuche in derselben, über ihr Leben auf dem Sternenhofe und über +das Gedeihen alles dessen, was der Jahresernte entgegen sehe. Ich +beschrieb ihr ein wenig meinen jetzigen Aufenthaltsort, erklärte ihr, +was ich anstrebe, und erzählte ihr, auf welchen Wegen und mit welchen +Mitteln wir es auszuführen versuchen. + +Nachdem das Gespräch auf diese Art eine Zeit gedauert hatte, empfahl +ich mich und begab mich in mein Zimmer. + +Es war mir dieselbe Wohnung eingeräumt und hergerichtet worden, welche +ich jedes Mal, so oft ich in dem Sternenhofe gewesen war, inne gehabt +hatte. Ein Diener hatte mich von dem Vorzimmer Mathildens in dieselbe +geführt. Sie hatte beinahe genau dasselbe Ansehen wie früher, wenn ich +ein Bewohner dieses Hauses gewesen war. Sogar die Bücher, welche der +Hausverwalter jedes Mal zu meiner Beschäftigung herbeigeschafft hatte, +waren nicht vergessen worden. Nachdem ich mich eine Weile allein +befunden hatte, trat dieser Hausverwalter herein und fragte mich, ob +alles in der Wohnung in gehöriger Ordnung sei oder ob ich einen Wunsch +habe. Als ich ihm die Versicherung gegeben hatte, daß alles über meine +Bedürfnisse trefflich sei, und nachdem ich ihm für seine Mühe und +Sorgfalt gedankt hatte, entfernte er sich wieder. + +Ich überließ mich eine Zeit der Ruhe, dann ging ich in den Räumen +herum, sah bald bei dem einen, bald bei dem andern Fenster auf die +bekannten Gegenstände, auf die nahen Felder und auf die entfernten +Gebirge hinaus und kleidete mich dann zu dem Abendessen anders an. + +Zu diesem Abendessen wurde ich bald, da ich spät am Tage in dem +Schlosse angekommen war, gerufen. + +Ich begab mich in den Speisesaal und fand dort bereits Mathilden und +Natalien. Mathilde hatte sich anders angekleidet, als ich sie bei +meiner Ankunft in ihrem Zimmer getroffen hatte. Von Natalien wußte ich +dies nicht; aber da sie ein ähnliches Kleid anhatte wie Mathilde, so +vermutete ich es und mußte überzeugt sein, daß man ihr meine Ankunft +gemeldet habe. Wir begrüßten uns sehr einfach und setzten uns zu dem +Tische. + +Mir war es äußerst seltsam und befremdend, daß ich mit Mathilden und +Natalien allein in ihrem Hause bei dem Abendtische sitze. + +Die Gespräche bewegten sich um gewöhnliche Dinge. + +Nach dem Speisen entfernte ich mich bald, um die Frauen nicht zu +belästigen, und zog mich in meine Wohnung zurück. + +Dort beschäftigte ich mich eine Zeit mit Papieren und Büchern, die +ich aus meinem Koffer hervorgesucht hatte, geriet dann in Sinnen und +Denken und begab mich endlich zur Ruhe. + + +Der folgende Tag wurde zu einem einsamen Morgenspaziergange benützt, +dann frühstückten wir mit einander, dann gingen wir in den Garten, +dann beschäftigte ich mich bei den Bildern in den Zimmern. Der +Nachmittag wurde zu einem Gange in Teile des Meierhofes und auf die +Felder verwendet, und der Abend war wie der vorhergegangene. + +Mit Natalien war ich, da sie jetzt mit ihrer Mutter allein in dem +Schlosse wohnte, beinahe fremder als ich es sonst unter vielen Leuten +gewesen war. + +Wir hatten an diesem Tage nicht viel mit einander gesprochen und nur +die allergewöhnlichsten Dinge. + +Der zweite Tag verging wie der erste. Ich hatte die Bilder wieder +angesehen, ich war in den Zimmern mit den altertümlichen Geräten +gewesen und hatte den Gängen, Gemächern und Abbildungen des oberen +Stockwerkes einen Besuch gemacht. + +Am dritten Tage meines Aufenthaltes in dem Sternenhofe, nachmittags, +da ich eine Weile in die Zeilen des alten Homer geblickt hatte, wollte +ich meine Wohnung, in der ich mich befand, verlassen und in den Garten +gehen. Ich legte die Worte Homers auf den Tisch, begab mich in das +Vorzimmer, schloß die Tür meiner Wohnung hinter mir ab und ging über +die kleinere Treppe im hinteren Teile des Hauses in den Garten. + +Es war ein sehr schöner Tag, keine einzige Wolke stand an dem Himmel, +die Sonne schien warm auf die Blumen, daher es stille von Arbeiten +und selbst vom Gesange der Vögel war. Nur das einfache Scharren und +leise Hämmern der Arbeiter hörte ich, welche mit der Hinwegschaffung +der Tünche des Hauses in der Nähe meines Ausganges auf Gerüsten +beschäftigt waren. Ich ging neben Gebüschen und verspäteten Blumen +einem Schatten zu, welcher sich mir auf einem Sandwege bot, der mit +ziemlich hohen Hecken gesäumt war. Der Sandweg führte mich zu den +Linden, und von diesen ging ich durch eine Überlaubung der Eppichwand +zu. Ich ging an ihr entlang und trat in die Grotte des Brunnens. Ich +war von der linken Seite der Wand gekommen, von welcher man beim +Herannahen den schöneren Anblick der Quellennymphe hat, dafür aber das +Bänkchen nicht gewahr wird, welches in der Grotte der Nymphe gegenüber +angebracht ist. Als ich eingetreten war, sah ich Natalien auf dem +Bänklein sitzen. Sie war sehr erschrocken und stand auf. Ich war +auch erschrocken; dennoch sah ich in ihr Angesicht. In demselben war +ein Schwanken zwischen Rot und Blaß, und ihre Augen waren auf mich +gerichtet. + +Ich sagte: »Mein Fräulein, ihr werdet mir es glauben, wenn ich euch +sage, daß ich von dem Laubgange an der linken Seite dieser Wand gegen +die Grotte gekommen bin und euch habe nicht sehen können, sonst wäre +ich nicht eingetreten und hätte euch nicht gestört.« + +Sie antwortete nichts und sah mich noch immer an. + +Ich sagte wieder: »Da ich euch nun einmal beunruhigt habe, wenn auch +gegen meinen Willen, so werdet ihr mir es wohl gütig verzeihen, und +ich werde mich sogleich entfernen.« + +»Ach nein, nein«, sagte sie. + +Da ich schwankte und die Bedeutung der Worte nicht erkannte, fragte +ich: »Zürnet ihr mir, Natalie?« + +»Nein, ich zürne euch nicht«, antwortete sie, und richtete die Augen, +die sie eben niedergeschlagen hatte, wieder auf mich. + +»Ihr seid auf diesen Platz gegangen, um allein zu sein«, sagte ich, +»also muß ich euch verlassen.« + +»Wenn ihr mich nicht aus Absicht meidet, so ist es nicht ein Müssen, +daß ihr mich verlasset«, antwortete sie. + +»Wenn es nicht eine Pflicht ist, euch zu verlassen«, erwiderte +ich, »so müßt ihr euren Platz wieder einnehmen, von dem ich euch +verscheucht habe. Tut es, Natalie, setzt euch auf eure frühere Stelle +nieder.« + +Sie ließ sich auf das Bänkchen nieder, ganz vorn gegen den Ausgang, +und stützte sich auf die Marmorlehne. + +Ich kam nun auf diese Weise zwischen sie und die Gestalt zu stehen. +Da ich dieses für unschicklich hielt, so trat ich ein wenig gegen den +Hintergrund. Allein jetzt stand ich wieder aufrecht vor dem leeren +Teile der Bank in der nicht sehr hohen Halle, und da mir auch dieses +eher unziemend als ziemend erschien, so setzte ich mich auf den +andern Teil der Bank und sagte: »Liebt ihr wohl diesen Platz mehr als +andere?« + +»Ich liebe ihn«, antwortete sie, »weil er abgeschlossen ist und weil +die Gestalt schön ist. Liebt ihr ihn nicht auch?« + +»Ich habe die Gestalt immer mehr lieben gelernt, je länger ich sie +kannte«, antwortete ich. + +»Ihr ginget früher öfter her?« fragte sie. + +»Als ich durch die Güte eurer Mutter manche Geräte in dem Sternenhofe +zeichnete und fast allein in demselben wohnte, habe ich oft diese +Halle besucht«, erwiderte ich. »Und später auch, wenn ich durch +freundliche Einladung hieher kam, habe ich nie versäumt, an diese +Stelle zu gehen.« + +»Ich habe euch hier gesehen«, sagte sie. + +»Die Anlage ist gemacht, daß sie das Gemüt und den Verstand erfüllet«, +antwortete ich, »die grüne Wand des Eppichs schließt ruhig ab, die +zwei Eichen stehen wie Wächter und das Weiß des Steins geht sanft von +dem Dunkel der Blätter und des Gartens weg.« + +»Es ist alles nach und nach entstanden, wie die Mutter erzählt«, +erwiderte sie, »der Eppich ist erzogen worden, die Wand vergrößert, +erweitert und bis an die Eichen geführt. Selbst in der Halle war +es einmal anders. Die Bank war nicht da. Aber da der Marmor so oft +betrachtet wurde, da die Menschen vor ihm standen oder selbst in der +Halle neben ihm, da die Mutter ebenfalls die Gestalt gerne betrachtete +und lange betrachtete: so ließ sie aus dem gleichen Stoffe, aus dem +die Nymphe gearbeitet ist, diese Bank machen, und ließ dieselbe mit +der kunstreichen, vorchristlich ausgeführten Lehne versehen, damit sie +einerseits zu dem vorhandenen Werke stimme und damit andererseits das +Werk mit Ruhe und Erquickung angesehen werden könne. Mit der Zeit ist +auch die Alabasterschale hieher gekommen.« + +»Die Menschen werden von solchen Werken gezogen«, antwortete ich, »und +die Lust des Schauens findet sich.« + +»Ich habe diese Gestalt von meiner Kindheit an gesehen und habe mich +an sie gewöhnt«, sagte sie, »haltet ihr nicht auch den bloßen Stein +schon für sehr schön?« + +»Ich halte ihn für ganz besonders schön«, erwiderte ich. + +»Mir ist immer, wenn ich ihn lange betrachte«, sagte sie, »als hätte +er eine sehr große Tiefe, als sollte man in ihn eindringen können und +als wäre er durchsichtig, was er nicht ist. Er hält eine reine Fläche +den Augen entgegen, die so zart ist, daß sie kaum Widerstand leistet +und in der man als Anhaltspunkte nur die vielen feinen Splitter +funkeln sieht.« + +»Der Stein ist auch durchsichtig«, antwortete ich, »nur muß man eine +dünne Schichte haben, durch die man sehen will. Dann scheint die Welt +fast goldartig, wenn man sie durch ihn ansieht. Wenn mehrere Schichten +übereinander liegen, so werden sie in ihrem Anblicke von Außen weiß, +wie der Schnee, der auch aus lauter durchsichtigen kleinen Eisnadeln +besteht, weiß wird, wenn Millionen solcher Nadeln auf einander +liegen.« + +»So habe ich nicht unrecht empfunden«, sagte sie. + +»Nein«, erwiderte ich, »ihr habt recht geahnt.« + +»Wenn die Edelsteine nicht nach dem geachtet werden, was sie kosten«, +sagte sie, »sondern nach dem, wie sie edel sind, so gehört der Marmor +gewiß unter die Edelsteine.« + +»Er gehört unter dieselben, er gehört gewißlich unter dieselben«, +erwiderte ich. »Wenn er auch als bloßer Stoff nicht so hoch im Preise +steht wie die gesuchten Steine, die nur in kleinen Stücken vorkommen, +so ist er doch so auserlesen und so wunderbar, daß er nicht bloß in +der weißen, sondern auch in jeder andern Farbe begehrt wird, daß man +die verschiedensten Dinge aus ihm macht, und daß das Höchste, was +menschliche bildende Kunst darzustellen vermag, in der Reinheit des +weißen Marmors ausgeführt wird.« + +»Das ist es, was mich auch immer sehr ergriff, wenn ich hier saß und +betrachtete«, sagte sie, »daß in dem harten Steine das Weiche und +Runde der Gestaltung ausgedrückt ist, und daß man zu der Darstellung +des Schönsten in der Welt den Stoff nimmt, der keine Makel hat. Dies +sehe ich sogar immer an der Gestalt auf der Treppe unsers Freundes, +welche noch schöner und ehrfurchterweckender als dieses Bildwerk +hier ist, wenngleich ihr Stoff in der Länge der vielen Jahre, die er +gedauert hat, verunreinigt worden war.« + +»Es ist gewiß nicht ohne Bedeutung«, entgegnete ich, »daß die Menschen +in den edelsten und selbst hie und da ältesten Völkern zu diesem +Stoffe griffen, wenn sie hohes Göttliches oder Menschliches bilden +wollten, während sie Ausschmückungen in Laubwerk, Simsen, Säulen, +Tiergestalten und selbst untergeordnete Menschen- und Götterbilder +aus farbigem Marmor, aus Sandstein, aus Holz, Ton, Gold oder Silber +verfertigten. Es wäre zugänglicherer, behandelbarerer Stoff gewesen: +Holz, Erde, weicher Stein, manche Metalle; sie aber gruben weißen +Marmor aus der Erde und bildeten aus ihm. Aber auch die andern +Edelsteine, aus denen man verschiedene Dinge macht, geschnittene +Steine, allerlei Gestalten, Blumen- und Zierwerk, so wie endlich +diejenigen, die man besonders Edelsteine nennt und zum Schmucke der +menschlichen Gestalt und hoher Dinge anwendet, haben in ihrem Stoffe +etwas, das anzieht und den menschlichen Geist zu sich leitet, es ist +nicht bloß die Seltenheit oder das Schimmern, das sie wertvoll macht.« + +»Habt ihr auch die Edelsteine kennen zu lernen gesucht?« fragte sie. + +»Ein Freund hat mir Vieles von ihnen gezeigt und erklärt«, antwortete +ich. + +»Sie sind freilich für die Menschen sehr merkwürdig«, sagte sie. + +»Es ist etwas Tiefes und Ergreifendes in ihnen«, antwortete ich, +»gleichsam ein Geist in ihrem Wesen, der zu uns spricht, wie zum +Beispiele in der Ruhe des Smaragdes, dessen Schimmerpunkten kein +Grün der Natur gleicht, es müßte nur auf Vogelgefiedern, wie das des +Colibri, oder auf den Flügeldecken von Käfern sein - wie in der Fülle +des Rubins, der mit dem rosensammtnen Lichtblicke gleichsam als der +vornehmste unter den gefärbten Steinen zu uns aufsieht - wie in dem +Rätsel des Opals, der unergründlich ist - und wie in der Kraft des +Diamantes, der wegen seines großen Lichtbrechungsvermögens in einer +Schnelligkeit wie der Blitz den Wechsel des Feuers und der Farben +gibt, den kaum die Schneesterne noch der Sprühregen des Wasserfalles +haben. Alles, was den edlen Steinen nachgemacht wird, ist der Körper +ohne diesen Geist, es ist der inhaltleere, spröde, harte Glanz statt +der reichen Tiefe und Milde.« + +»Ihr habt von der Perle nicht gesprochen.« + +»Sie ist kein Edelstein, gesellt sich aber im Gebrauche gerne zu ihm. +In ihrem äußern Ansehen ist sie wohl das Bescheidenste; aber nichts +schmückt mit dem so sanft umflorten Seidenglanze die menschliche +Schönheit schöner als die Perle. Selbst an dem Kleide eines Mannes, wo +sie etwas hält, wie die Schleife des Halstuches oder wie die Falte des +Brustlinnens, dünkt sie mich das Würdigste und Ernsteste.« + +»Und liebt ihr die Edelsteine als Schmuck?« fragte sie. + +»Wenn die schönsten Steine ihrer Art ausgewählt werden«, antwortete +ich, »wenn sie in einer Fassung sind, welche richtigen Kunstgesetzen +entspricht, und wenn diese Fassung an der Stelle, wo sie ist, einen +Zweck erfüllt, also notwendig erscheint: dann ist wohl kein Schmuck +des menschlichen Körpers feierlicher als der der Edelsteine.« + +Wir schwiegen nach diesen Worten, und ich konnte Natalien jetzt erst +ein wenig betrachten. Sie hatte ein mattes hellgraues Seidenkleid an, +wie sie es überhaupt gerne trug. Das Kleid reichte, wie es bei ihr +immer der Fall war, bis zum Halse und bis zu den Knöcheln der Hand. +Von Schmuck hatte sie gar nichts an sich, nicht das Geringste, während +ihr Körper doch so stimmend zu Edelsteinen gewesen wäre. Ohrgehänge, +welche damals alle Frauen und Mädchen trugen, hatte weder Mathilde je, +seit ich sie kannte, getragen, noch trug sie Natalie. + +In unserem Schweigen sahen wir gleichsam wie durch Verabredung gegen +das rieselnde Wasser. + +Endlich sagte sie: »Wir haben von dem Angenehmen dieses Ortes +gesprochen und sind von dem edlen Steine des Marmors auf die +Edelsteine gekommen; aber eines Dinges wäre noch Erwähnung zu tun, das +diesen Ort ganz besonders auszeichnet.« + +»Welches Dinges?« + +»Des Wassers. Nicht bloß, daß dieses Wasser vor vielen, die ich kenne, +gut zur Erquickung gegen den Durst ist, so hat sein Spielen und sein +Fließen gerade an dieser Stelle und durch diese Vorrichtungen etwas +Besänftigendes und etwas Beachtungswertes.« + +»Ich fühle wie ihr«, antwortete ich, »und wie oft habe ich dem schönen +Glänzen und dem schattenden Dunkel dieses lebendigen flüchtigen +Körpers an dieser Stelle zugesehen, eines Körpers, der wie die Luft +wohl viel bewunderungswürdiger wäre als es die Menschen zu erkennen +scheinen.« + +»Ich halte auch das Wasser und die Luft für bewunderungswürdig«, +entgegnete sie, »die Menschen achten nur so wenig auf Beides, weil +sie überall von ihnen umgeben sind. Das Wasser erscheint mir als das +bewegte Leben des Erdkörpers, wie die Luft sein ungeheurer Odem ist.« + +»Wie richtig sprecht ihr«, sagte ich, »und es sind auch Menschen +gewesen, die das Wasser sehr geachtet haben; wie hoch haben die +Griechen ihr Meer gehalten, und wie riesenhafte Werke haben die Römer +aufgeführt, um sich das Labsal eines guten Wassers zuzuleiten. Sie +haben freilich nur auf den Körper Rücksicht genommen und haben +nicht, wie die Griechen die Schönheit ihres Meeres betrachteten, die +Schönheit des Wassers vor Augen gehabt; sondern sie haben sich nur +dieses Kleinod der Gesundheit in bester Art verschaffen wollen. Und +ist wohl etwas außer der Luft, das mit größerem Adel in unser Wesen +eingeht als das Wasser? Soll nicht nur das reinste und edelste +sich mit uns vereinigen? Sollte dies nicht gerade in den +gesundheitverderbenden Städten sein, wo sie aber nur Vertiefungen +machen und das Wasser trinken, das aus ihnen kömmt? Ich bin in den +Bergen gewesen, in Tälern, in Ebenen, in der großen Stadt und habe +in der Hitze, im Durste, in der Bewegung den kostbaren Kristall des +Wassers und seine Unterschiede kennen gelernt. Wie erquickt der Quell +in den Bergen und selbst in den Hügeln, vorzüglich wenn er am reinsten +aus dem reinen Granit fließt, und, Natalie, wie schön ist außerdem der +Quell!« + +Hatte nun Natalie schon früher einen Durst empfunden und hatte +derselbe ihr Gespräch auf das Wasser gelenkt, oder war durch das +Gespräch ein leichter Durst in ihr hervorgerufen worden: sie stand +nun auf, nahm die Alabasterschale in die Hand, ließ sie sich in dem +sanften Strahle füllen, setzte sie an ihre schönen Lippen, trank einen +Teil des Wassers, ließ das übrige in das tiefere Becken fließen, +stellte die leere Schale an ihren Platz und setzte sich wieder zu mir +auf die Bank. + +Mir war das Herz ein wenig gedrückt, und ich sagte: »Wenn wir beide +das Schöne dieses Ortes betrachtet und wenn wir von ihm und von andern +Dingen, auf die er uns führte, gerne gesprochen haben, so ist doch +etwas in ihm, was mir Schmerz erregt.« + +»Was kann euch denn an diesem Orte Schmerz erregen?« fragte sie. + +»Natalie«, antwortete ich, »es ist jetzt ein Jahr, daß ihr mich an +dieser Halle absichtlich gemieden habt. Ihr saßet auf derselben Bank, +auf welcher ihr jetzt sitzet, ich stand im Garten, ihr tratet heraus +und ginget von mir mit beeiligten Schritten in das Gebüsch.« + +Sie wendete ihr Angesicht gegen mich, sah mich mit den dunklen Augen +an und sagte: »Dessen erinnert euch, und das macht euch Schmerz?« + +»Es macht mir jetzt im Rückblicke Schmerz und hat ihn mir damals +gemacht«, antwortete ich. + +»Ihr habt mich ja aber auch gemieden«, sagte sie. + +»Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu haben, als dränge ich +mich zu euch«, entgegnete ich. + +»War ich euch denn von einer Bedeutung?« fragte sie. + +»Natalie«, antwortete ich, »ich habe eine Schwester, die ich im +höchsten Maße liebe, ich habe viele Mädchen in unserer Stadt und in +dem Lande kennen gelernt; aber keines, selbst nicht meine Schwester, +achte ich so hoch wie euch, keines ist mir stets so gegenwärtig und +erfüllt mein ganzes Wesen wie ihr.« + +Bei diesen Worten traten die Tränen aus ihren Augen und flossen über +ihre Wangen herab. + +Ich erstaunte, ich blickte sie an und sagte: »Wenn diese schönen +Tropfen sprechen, Natalie, sagen sie, daß ihr mir auch ein wenig gut +seid?« + +»Wie meinem Leben«, antwortete sie. + +Ich erstaunte noch mehr und sprach: »Wie kann es denn sein, ich habe +es nicht geglaubt.« + +»Ich habe es auch von euch nicht geglaubt«, erwiderte sie. + +»Ihr konntet es leicht wissen«, sagte ich. »Ihr seid so gut, so rein, +so einfach. So seid ihr vor mir gewandelt, ihr waret mir begreiflich +wie das Blau des Himmels, und eure Seele erschien mir so tief wie das +Blau des Himmels tief ist. Ich habe euch mehrere Jahre gekannt, ihr +waret stets bedeutend vor der herrlichen Gestalt eurer Mutter und der +eures ehrwürdigen Freundes, ihr waret heute, wie ihr gestern gewesen +waret und morgen wie heute, und so habe ich euch in meine Seele +genommen zu denen, die ich dort liebe, zu Vater, Mutter, Schwester - +nein, Natalie, noch tiefer, tiefer -« + +Sie sah mich bei diesen Worten sehr freundlich an, ihre Tränen flossen +noch häufiger, und sie reichte mir ihre Hand herüber. + +Ich faßte ihre Hand, ich konnte nichts sagen und blickte sie nur an. + +Nach mehreren Augenblicken ließ ich ihre Hand los und sagte: »Natalie, +es ist mir nicht begreiflich, wie ist es denn möglich, daß ihr mir gut +seid, mir, der gar nichts ist und nichts bedeutet?« + +»Ihr wißt nicht, wer ihr seid«, antwortete sie. »Es ist gekommen, wie +es kommen mußte. Wir haben viele Zeit in der Stadt zugebracht, wir +sind oft den ganzen Winter in derselben gewesen, wir haben Reisen +gemacht, haben verschiedene Länder und Städte gesehen, wir sind in +London, Paris und Rom gewesen. Ich habe viele junge Männer kennen +gelernt. Darunter sind wichtige und bedeutende gewesen. Ich +habe gesehen, daß mancher Anteil an mir nahm; aber es hat mich +eingeschüchtert, und wenn einer durch sprechende Blicke oder durch +andere Merkmale es mir näher legte, so entstand eine Angst in mir, und +ich mußte mich nur noch ferner halten. Wir gingen wieder in die Heimat +zurück. Da kamet ihr eines Sommers in den Asperhof, und ich sah euch. +Ihr kamet im nächsten Sommer wieder. Ihr waret ohne Anspruch, ich sah, +wie ihr die Dinge dieser Erde liebtet, wie ihr ihnen nach ginget und +wie ihr sie in eurer Wissenschaft hegtet - ich sah, wie ihr meine +Mutter verehrtet, unsern Freund hochachtetet, den Knaben Gustav +beinahe liebtet, von eurem Vater, eurer Mutter und eurer Schwester nur +mit Ehrerbietung sprachet, und da - - da -« + +»Da, Natalie?« + +»Da liebte ich euch, weil ihr so einfach, so gut und doch so ernst +seid.« + +»Und ich liebte euch mehr, als ich je irgend ein Ding dieser Erde zu +lieben vermochte.« + +»Ich habe manchen Schmerz um euch empfunden, wenn ich in den Feldern +herumging.« + +»Ich habe es ja nicht gewußt, Natalie, und weil ich es nicht wußte, so +mußte ich mein Inneres verbergen und gegen jedermann schweigen, gegen +den Vater, gegen die Mutter, gegen die Schwester und sogar gegen mich. +Ich bin fortgefahren, das zu tun, was ich für meine Pflicht erachtete, +ich bin in die Berge gegangen, habe mir ihre Zusammensetzung +aufgeschrieben, habe Gesteine gesammelt und Seen gemessen, ich bin auf +den Rat eures Freundes einen Sommer beschäftigungslos in dem Asperhofe +gewesen, bin dann wieder in die Wildnis gegangen und zu der Grenze des +Eises emporgestiegen. Ich konnte nur eure Mutter, euren Freund und +euren Bruder immer wärmer lieben: aber, Natalie, wenn ich auf den +Höhen der Berge war, habe ich euer Bild in dem heitern Himmel gesehen, +der über mir ausgespannt war, wenn ich auf die festen, starren Felsen +blickte, so erblickte ich es auch in dem Dufte, der vor denselben +webte, wenn ich auf die Länder der Menschen hinausschaute, so war es +in der Stille, die über der Welt gelagert war, und wenn ich zu Hause +in die Züge der Meinigen blickte, so schwebte es auch in denen.« + +»Und nun hat sich alles recht gelöset.« + +»Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie.« + +»Mein teurer Freund!« + +Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen +schweigend da. + + +Wie hatte seit einigen Augenblicken alles sich um mich verändert, und +wie hatten die Dinge eine Gestalt gewonnen, die ihnen sonst nicht +eigen war. Nataliens Augen, in welche ich schauen konnte, standen in +einem Schimmer, wie ich sie nie, seit ich sie kenne, gesehen hatte. +Das unermüdlich fließende Wasser, die Alabasterschale, der Marmor +waren verjüngt; die weißen Flimmer auf der Gestalt und die wunderbar +im Schatten blühenden Lichter waren anders; die Flüssigkeit rann, +plätscherte oder pippte oder tönte im einzelnen Falle anders; das +sonnenglänzende Grün von draußen sah als ein neues freundlich herein, +und selbst das Hämmern, mit welchem man die Tünche von den Mauern des +Hauses herabschlug, tönte jetzt als ein ganz verschiedenes in die +Grotte von dem, das ich gehört hatte, als ich aus dem Hause gegangen +war. + +Nach einer geraumen Weile sagte Natalie: »Und von dem Abende im +Hoftheater habt ihr auch nie etwas gesprochen.« + +»Von welchem Abende, Natalie?« + +»Als König Lear aufgeführt wurde.« + +»Ihr seid doch nicht das Mädchen in der Loge gewesen?« + +»Ich bin es gewesen.« + +»Nein, ihr seid so blühend wie eine Rose, und jenes Mädchen war blaß +wie eine weiße Lilie.« + +»Es mußte mich der Schmerz entfärbt haben. Ich war kindisch, und es +hat mir damals wohlgetan, in euren Augen allein unter allen denen, die +die Loge umgaben, ein Mitgefühl mit meiner Empfindung zu lesen. Diese +Empfindung wurde durch euer Mitgefühl zwar noch stärker, so daß +sie beinahe zu mächtig wurde; aber es war gut. Ich habe nie einer +Vorstellung beigewohnt, die so ergreifend gewesen wäre. Ich sah es +als einen günstigen Zufall an, daß mir eure Augen, die bei dem Leiden +des alten Königs übergeflossen waren, bei dem Fortgehen aus dem +Schauspielhause so nahe kamen. Ich glaubte ihnen mit meinen Blicken +dafür danken zu müssen, daß sie mir beigestimmt hatten, wo ich sonst +vereinsamt gewesen wäre. Habt ihr das nicht erkannt?« + +»Ich habe es erkannt und habe gedacht, daß der Blick des Mädchens +wohlwollend sei, und daß er ein Einverständnis über unsere +gemeinschaftliche Empfindung bei der Vorstellung bedeuten könne.« + +»Und ihr habt mich also nicht wieder erkannt?« + +»Nein, Natalie.« + +»Ich habe euch gleich erkannt, als ich euch in dem Asperhofe sah.« + +»Es ist mir lieb, daß es eure Augen gewesen sind, die mir den Dank +gesagt haben; der Dank ist tief in mein Gemüt gedrungen. Aber wie +konnte es auch anders sein, da eure Augen das Liebste und Holdeste +sind, was für mich die Erde hat.« + +»Ich habe euch schon damals in meinem Herzen höher gestellt als die +andern, obwohl ihr ein Fremder waret und obwohl ich denken konnte, daß +ihr mir in meinem ganzen Leben fremd bleiben werdet.« + +»Natalie, was mir heute begegnet ist, bildet eine Wendung in meinem +Leben, und ein so tiefes Ereignis, daß ich es kaum denken kann. Ich +muß suchen, alles zurecht zu legen und mich an den Gedanken der +Zukunft zu gewöhnen.« + +»Es ist ein Glück, das uns ohne Verdienst vom Himmel gefallen, weil es +größer ist als jedes Verdienst.« + +»Drum lasset uns es dankbar aufnehmen.« + +»Und ewig bewahren.« + +»Wie war es gut, Natalie, daß ich die Worte Homers, die ich heute +nachmittag las, nicht in mein Herz aufnehmen konnte, daß ich das Buch +weglegte, in den Garten ging und daß das Schicksal meine Schritte zu +dem Marmor des Brunnens lenkte.« + +»Wenn unsere Wesen zu einander neigten, obgleich wir es nicht +gegenseitig wußten, so würden sie sich doch zugeführt worden sein, +wann und wo es immer geschehen wäre, das weiß ich nun mit Sicherheit.« + +»Aber sagt, warum habt ihr mich denn gemieden, Natalie?« + +»Ich habe euch nicht gemieden, ich konnte mit euch nicht sprechen, wie +es mir in meinem Innern war, und ich konnte auch nicht so sein, als +ob ihr ein Fremder wäret. Doch war mir eure Gegenwart sehr lieb. Aber +warum habt denn auch ihr euch ferne von mir gehalten?« + +»Mir war wie euch. Da ihr so weit von mir waret, konnte ich mich nicht +nahen. Eure Gegenwart verherrlichte mir Alles, was uns umgab, aber das +dunkle künftige Glück schien mir unerreichbar.« + +»Nun ist doch erfüllet, was sich vorbereitete.« + +»Ja, es ist erfüllt.« + +Nach einem kleinen Schweigen fuhr ich fort: »Ihr habt gesagt, Natalie, +daß wir das Glück, das uns vom Himmel gefallen ist, ewig aufbewahren +sollen. Wir sollen es auch ewig aufbewahren. Schließen wir den Bund, +daß wir uns lieben wollen, so lange das Leben währt, und daß wir treu +sein wollen, was auch immer komme und was die Zukunft bringe, ob es +uns aufbewahrt ist, daß wir in Vereinigung die Sonne und den Himmel +genießen, oder ob jedes allein zu beiden emporblickt und nur des +andern mit Schmerzen gedenken kann.« + +»Ja, mein Freund, Liebe, unveränderliche Liebe, so lange das Leben +währt, und Treue, was auch die Zukunft von Gunst oder Ungunst bringen +mag.« + +»O Natalie, wie wallt mein Herz in Freude! Ich habe es nicht geahnt, +daß es so entzückend ist, euch zu besitzen,- die mir unerreichbar +schien.« + +»Ich habe auch nicht gedacht, daß ihr euer Herz von den großen Dingen, +denen ihr ergeben waret, wegkehren und mir zuwenden werdet.« + +»O meine geliebte, meine teure, ewig mir gehörende Natalie!« + +»Mein einziger, mein unvergeßlicher Freund!« + +Ich war von Empfindung überwältigt, ich zog sie näher an mich und +neigte mein Angesicht zu ihrem. Sie wendete ihr Haupt herüber und gab +mit Güte ihre schönen Lippen meinem Munde, um den Kuß zu empfangen, +den ich bot. + +»Ewig für dich allein«, sagte ich. + +»Ewig für dich allein«, sagte sie leise. + +Schon als ich die süßen Lippen an meinen fühlte, war mir, als sei ein +Zittern in ihr und als fließen ihre Tränen wieder. + +Da ich mein Haupt wegwendete und in ihr Angesicht schaute, sah ich die +Tränen in ihren Augen. + +Ich fühlte die Tropfen auch in den meinen hervorquellen, die ich nicht +mehr zurückhalten konnte. Ich zog Natalien wieder näher an mich, legte +ihr Angesicht an meine Brust, neigte meine Wange auf ihre schönen +Haare, legte die eine Hand auf ihr Haupt und hielt sie so sanft umfaßt +und an mein Herz gedrückt. Sie regte sich nicht, und ich fühlte +ihr Weinen. Da diese Stellung sich wieder löste, da sie mir in das +Angesicht schaute, drückte ich noch einmal einen heißen Kuß auf ihre +Lippen zum Zeichen der ewigen Vereinigung und der unbegrenzten Liebe. +Sie schlang auch ihre Arme um meinen Hals und erwiderte den Kuß +zu gleichem Zeichen der Einheit und der Liebe. Mir war in diesem +Augenblicke, daß Natalie nun meiner Treue und Güte hingegeben, daß sie +ein Leben eins mit meinem Leben sei. Ich schwor mir, mit allem, was +groß, gut, schön und stark in mir ist, zu streben, ihre Zukunft zu +schmücken und sie so glücklich zu machen, als es nur in meiner Macht +ist und erreicht werden kann. + + +Wir saßen nun schweigend neben einander, wir konnten nicht sprechen +und drückten uns nur die Hände als Bestätigung des geschloßnen Bundes +und des innigsten Verständnisses. + +Da eine Zeit vergangen war, sagte endlich Natalie: »Mein Freund, wir +haben uns der Fortdauer und der Unaufhörlichkeit unserer Neigung +versichert, und diese Neigung wird auch dauern; aber was nun geschehen +und wie sich alles Andere gestalten wird, das hängt von unsern +Angehörigen ab, von meiner Mutter, und von euren Eltern.« + +»Sie werden unser Glück mit Wohlwollen ansehen.« + +»Ich hoffe es auch; aber wenn ich das vollste Recht hätte, meine +Handlungen selber zu bestimmen, so wurde ich nie auch nicht ein +Teilchen meines Lebens so einrichten, daß es meiner Mutter nicht +gefiele; es wäre kein Glück für mich. Ich werde so handeln, so lange +wir beisammen auf der Erde sind. Ihr tut wohl auch so?« + +»Ich tue es; weil ich meine Eltern liebe und weil mir eine Freude nur +als solche gilt, wenn sie auch die ihre ist.« + +»Und noch jemand muß gefragt werden.« + +»Wer?« + +»Unser edler Freund. Er ist so gut, so weise, so uneigennützig. Er +hat unserm Leben einen Halt gegeben, als wir ratlos waren, er ist uns +beigestanden, als wir es bedurften, und jetzt ist er der zweite Vater +Gustavs geworden.« + +»Ja, Natalie, er soll und muß gefragt werden; aber sprecht, wenn eins +von diesen nein sagt?« + +»Wenn eines nein sagt, und wir es nicht überzeugen können, so wird es +Recht haben, und wir werden uns dann lieben, so lange wir leben, wir +werden einander treu sein in dieser und jener Welt; aber wir dürften +uns dann nicht mehr sehen.« + +»Wenn wir ihnen die Entscheidung über uns anheim gegeben haben, +so mußte es wohl so sein; aber es wird gewiß nicht, gewiß nicht +geschehen.« + +»Ich glaube mit Zuversicht, daß es nicht geschehen wird.« + +»Mein Vater wird sich freuen, wenn ich ihm sage, wie ihr seid, er wird +euch lieben, wenn er euch sieht, die Mutter wird euch eine zweite +Mutter sein und Klotilde wird sich euch mit ganzer Seele zuwenden.« + +»Ich verehre eure Eltern und liebe Klotilde schon so lange, als ich +euch von ihnen reden und erzählen hörte. Mit meiner Mutter werde ich +noch heute sprechen, ich könnte die Nacht nicht über das Geheimnis +herauf gehen lassen. Wenn ihr zu euren Eltern reiset, sagt ihnen, was +geschehen ist, und sendet bald Nachricht hieher.« + +»Ja, Natalie.« + +»Geht ihr von hier wieder in die Berge?« + +»Ich wollte es; nun aber hat sich Wichtigeres ereignet, und ich muß +gleich zu meinen Eltern. Nur auf Kurzes will ich, so schnell es geht, +in meinen jetzigen Standort reisen, um die Arbeiten abzubestellen, die +Leute zu entlassen und Alles in Ordnung zu bringen.« + +»Das muß wohl so sein.« + +»Die Antwort meiner Eltern bringt dann nicht eine Nachricht, sondern +ich selber.« + +»Das ist noch erfreulicher. Mit unserm Freunde wird wohl hier geredet +werden.« + +»Natalie, dann habt ihr eine Schwester an Klotilden und ich einen +Bruder an Gustav.« + +»Ihr habt ihn ja immer sehr geliebt. Alles ist so schön daß es fast zu +schön ist.« + +Dann sprachen wir von der Zurückkunft der Männer, was sie sagen würden +und wie unser Gastfreund die schnelle Wendung der Dinge aufnehmen +werde. + +Zuletzt, als die Gemüter zu einer sanfteren Ruhe zurückgekehrt waren, +erhoben wir uns, um in das Haus zu gehen. Ich bot Natalien meinen Arm, +den sie annahm. Ich führte sie der Eppichwand entlang, ich führte +sie durch einen schönen Gang des Gartens, und wir gelangten dann in +offnere, freie Stellen, in denen wir eine Umsicht hatten. + +Als wir da eine Strecke vorwärts gekommen waren, sahen wir Mathilden +außerhalb des Gartens gegen den Meierhof gehen. Das Pförtchen, welches +von dem Garten gegen den Meierhof führt, war in der Nähe und stand +offen. + +»Ich werde meiner Mutter folgen und werde gleich jetzt mit ihr +sprechen«, sagte Natalie. + +»Wenn ihr es für gut haltet, so tut es«, erwiderte ich. + +»Ja, ich tue es, mein Freund. Lebt wohl.« + +»Lebt wohl.« + +Sie zog ihren Arm aus dem meinigen, wir reichten uns die Hände, +drückten sie uns, und Natalie schlug den Weg zu dem Pförtchen ein. + +Ich sah ihr nach, sie blickte noch einmal gegen mich um, ging dann +durch das Pförtchen, und das graue Seidenkleid verschwand unter den +grünen Hecken des Grundes. + +Ich ging in das Haus und begab mich in meine Wohnung. + +Da lag das Buch, in welchem die Worte Homers waren, die heute die +Gewalt über mein Herz verloren hatten - es lag, wie ich es auf den +Tisch gelegt hatte. Was war indessen geschehen! Die schönste Jungfrau +dieser Erde hatte ich an mein Herz gedrückt. Aber was will das sagen? +Das edelste, wärmste, herrlichste Gemüt ist mein, es ist mir in Liebe +und Neigung zugetan. Wie habe ich das verdient, wie kann ich es +verdienen?! + +Ich setzte mich nieder und sah gegen die Ruhe der heitern Luft hinaus. + +Ich verließ an diesem Tage gar nicht mehr das Haus. Gegen Abend ging +ich in den Gang, der im Norden des Hauses hinläuft, und sah auf den +Garten hinaus. Auf einer freien Stelle, in welcher ein weißer Pfad +durch Wiesengrün hingeht, sah ich Mathilden mit Natalien wandeln. + +Ich ging wieder in mein Zimmer zurück. + +Als es dunkelte, wurde ich zu dem Abendessen gerufen. + +Da Mathilde und Natalie in den Speisesaal getreten waren, lud mich +Mathilde mit einem sanften Lächeln und mit der Freundlichkeit, die ihr +immer eigen war, ein, an ihrer Seite Platz zu nehmen. + + + +Die Entfaltung + +Wir waren in dem nehmlichen Zimmer zum Speisen zusammen gekommen, in +dem wir die Zeit her, die ich im Schlosse gewesen war, unser Mahl am +Morgen, Mittag und Abend, wie es die Tageszeit brachte, eingenommen +hatten, der Tisch war mit dem klaren, weißen, feinen Linnen gedeckt, +in das schönere und altertümlichere Blumen als jetzt gebräuchlich +sind, gleichsam wie Silber in Silber eingewebt waren, der Diener stand +mit den weißen Handschuhen hinter uns, der Hausverwalter ging in +dem Zimmer hin und her, und es war an der Wand der Schrein mit den +Fächerabteilungen, in denen die mannigfaltigen Dinge sich befanden, +die in einem Speisezimmer stets nötig sind: aber heute war mir alles +wie feenhaft, Mathilde hatte ein veilchenblaues Seidenkleid mit +dunkleren Streifen an, und um die Schultern war ein Gewebe von +schwarzen Spitzen. Sie kleidete sich jedes Mal, wenn ein Gast da war, +zum Speisen neu an, hatte es bisher meinetwillen auch getan und hatte +es an diesem Abende nicht unterlassen. Mit dem feinen, lieben und +freundlichen Angesichte, das durch die dunkle Seide fast noch feiner +und schöner wurde, ließ sie sich in ihren Armstuhl zwischen uns +nieder. Natalie war rechts und ich links. Natalie hatte nicht Zeit +gefunden, ihr Kleid zu wechseln, sie hatte dasselbe lichtgraue +Seidenkleid an, das sie am Nachmittage getragen hatte und das mir so +lieb geworden war. Ich getraute mir fast nicht, sie anzusehen, und +auch sie hatte die großen, schönen, unbeschreiblich edlen Augen +größtenteils auf die Mutter gerichtet. So vergingen einige +Augenblicke. Es wurde das Gebet gesprochen, das Mathilde immer in +ihrem Armstuhle sitzend stille mit gefalteten Händen verrichtete und +das daher die Anderen ebenfalls sitzend und stille vollbrachten. Als +dieses geschehen war, wurden, wie es der Gebrauch in diesem Hause +eingeführt hatte, die Flügeltüren geöffnet, ein Diener trat mit einem +Topfe herein, setzte ihn auf den Tisch, der Hausverwalter nahm den +Deckel desselben ab und sagte, wie er immer tat: »Ich wünsche sehr +wohl zu speisen.« + +Mathilde streckte den Arm mit dem dunkeln Seidenkleide aus, nahm den +großen silbernen Löffel und schöpfte, wie sie es sich nie nehmen ließ +zu tun, Suppe für uns auf die Teller, welche der Diener darreichte. +Der Hausverwalter hatte, da er alles in Ordnung sah, das Zimmer nach +seiner Gepflogenheit verlassen. Das Abendessen war nun wie alle Tage. +Mathilde sprach freundlich und heiter von verschiedenen Gegenständen, +die sich eben darboten, und vergaß nicht, der abwesenden Freunde +zu erwähnen und des Vergnügens zu gedenken, das ihre Rückkunft +veranlassen werde. Sie sprach von der Ernte, von dem Segen, der heuer +überall so reichlich verbreitet sei, und wie sich alles, was sich auf +der Erde befinde, doch zuletzt immer wieder in das Rechte wende. Als +die Zeit des Abendessens vorüber war, erhob sie sich, und es wurden +die Anstalten gemacht, daß sich jedes in seine Wohnung begebe. Mit +derselben sanften Güte, mit der sie mich vor dem Abendessen begrüßt +hatte, verabschiedete sie sich nun, wir wünschten uns wechselseitig +eine glückliche Ruhe und trennten uns. + +Als ich in meinem Zimmer angekommen war, trat ich in der Nacht dieses +Tages, der für mich in meinem bisherigen Leben am merkwürdigsten +geworden war, an das Fenster und blickte gegen den Himmel. Es stand +kein Mond an demselben und keine Wolke, aber in der milden Nacht +brannten so viele Sterne, als wäre der Himmel mit ihnen angefüllt und +als berührten sie sich gleichsam mit ihren Spitzen. Die Feierlichkeit +traf mich erhebender, und die Pracht des Himmels war mir eindringender +als sonst, wenn ich sie auch mit großer Aufmerksamkeit betrachtet +hatte. Ich mußte mich in der neuen Welt erst zurecht finden. Ich sah +lange mit einem sehr tiefen Gefühle zu dem sternbedeckten Gewölbe +hinauf. Mein Gemüt war so ernst, wie es nie in meinem ganzen Leben +gewesen war. Es lag ein fernes, unbekanntes Land vor mir. Ich ging +zu dem Lichte, das auf meinem Tische brannte und stellte meinen +undurchsichtigen Schirm vor dasselbe, daß seine Helle nur in die +hinteren Teile des Zimmers falle und mir den Schein des Sternenhimmels +nicht beirre. Dann ging ich wieder zu dem Fenster und blieb vor +demselben. Die Zeit verfloß, und die Nachtfeier ging indessen fort. +Wie es sonderbar ist, dachte ich, daß in der Zeit, in der die kleinen, +wenn auch vieltausendfältigen Schönheiten der Erde verschwinden und +sich erst die unermeßliche Schönheit des Weltraums in der fernen, +stillen Lichtpracht auftut, der Mensch und die größte Zahl der andern +Geschöpfe zum Schlummer bestimmt ist! Rührt es daher, daß wir nur auf +kurze Augenblicke und nur in der rätselhaften Zeit der Traumwelt zu +jenen Größen hinan sehen dürfen, von denen wir eine Ahnung haben, und +die wir vielleicht einmal immer näher und näher werden schauen dürfen? +Sollen wir hienieden nie mehr als eine Ahnung haben? Oder ist es der +großen Zahl der Menschen nur darum bloß in kurzen schlummerlosen +Augenblicken gestattet, zu dem Sternenhimmel zu schauen, damit die +Herrlichkeit desselben uns nicht gewöhnlich werde und die Größe sich +nicht dadurch verliere? Aber ich bin ja wiederholt in ganzen Nächten +allein gefahren, die Sternbilder haben sich an dem Himmel sachte +bewegt, ich habe meine Augen auf sie gerichtet gehalten, sie sind +dunkelschwarzen, gestaltlosen Wäldern oder Erdrändern zugesunken, +andere sind im Osten aufgestiegen, so hat es fortgedauert, +die Stellungen haben sich sanft geändert und das Leuchten hat +fortgelächelt, bis der Himmel von der nahenden Sonne lichter wurde, +das Morgenrot im Osten erschien und die Sterne wie ein ausgebranntes +Feuerwerksgerüste erloschen waren. Haben da meine vom Nachtwachen +brennenden Augen die verschwundene stille Größe nicht für höher +erkannt als den klaren Tag, der alles deutlich macht? Wer kann wissen, +wie dies ist. Wie wird es jenen Geschöpfen sein, denen nur die Nacht +zugewiesen ist, die den Tag nicht kennen? Jenen großen, wunderbaren +Blumen ferner Länder, die ihr Auge öffnen, wenn die Sonne +untergegangen ist, und die ihr meistens weißes Kleid schlaff und +verblüht herabhängen lassen, wenn die Sonne wieder aufgeht? Oder +den Tieren, denen die Nacht ihr Tag ist? Es war eine Weihe und eine +Verehrung des Unendlichen in mir. + +Träumend, ehe ich entschlief, begab ich mich auf mein Lager, nachdem +ich vorher das Licht ausgelöscht und die Vorhänge der Fenster +absichtlich nicht zugezogen hatte, damit ich die Sterne hereinscheinen +sähe. + + +Des anderen Morgens sammelte ich mich, um mir bewußt zu werden, was +geschehen ist und welche tiefe Pflichten ich eingegangen war. Ich +kleidete mich an, um in das Freie zu gehen und mein Angesicht und +meinen Körper der kühlen Morgenluft zu geben. + +Als ich mein Zimmer verlassen hatte, suchte ich einen Gang zu +gewinnen, der im südlichen Teile des Schlosses in der Länge desselben +dahin läuft. Seine Fenster münden in den Hof und von ihm gehen Türen +in die, gegen Mittag liegenden Zimmer Mathildens und Nataliens. Diese +Türen, einst vielleicht zum Gebrauche für Gäste bestimmt, waren +jetzt meistens geschlossen, weil die Verbindung im Innern der Zimmer +hergestellt war. Ich hatte den Gang darum aufgesucht, weil er an der +Westseite des Schlosses zu einer kleinen Treppe führt, die abwärts +geht und in ein Pförtchen endet, das gewöhnlich des Morgens geöffnet +wurde und durch das man unmittelbar in die Felder auf breite, trockene +Wege gelangen konnte, die den Wanderer unbemerkter ins Weite führen, +als es durch den Hauptausgang des Schlosses möglich gewesen wäre. Die +Bewohnerinnen der Zimmer, die an den Gang stießen, glaubte ich darum +nicht stören zu können, weil das Steinpflaster des Ganges seiner +ganzen Länge nach mit einem weichen Teppiche belegt war, der keine +Tritte hören ließ. + +Außerdem hatte die Sonne auch bereits einen so hohen Morgenbogen +zurückgelegt, daß zu vermuten war, daß alle im Schlosse schon längst +aufgestanden sein würden. + +Da ich gegen das Ende des Ganges und in die Nähe der Treppe gekommen +war, sah ich eine Tür offen stehen, von der ich vermutete, daß sie +zu den Zimmern der Frauen führen müsse. War die Tür offen, weil man +fortgehen wollte oder weil man eben gekommen war? Oder hatte eine +Dienerin in der Eile offen gelassen, oder war irgend ein anderer +Grund? Ich zauderte, ob ich vorbeigehen sollte; allein, da ich wußte, +daß die Tür doch nur in einen Vorsaal ging und da die Treppe schon so +nahe war, die mich ins Freie führen sollte, so beschloß ich, vorbei +zu gehen und meine Schritte zu beschleunigen. Ich schritt auf dem +weichen Teppiche fort und trat nur behutsamer auf. Da ich an der Tür +angekommen war, sah ich hinein. Was ich vermutet hatte, bestätigte +sich, die Tür ging in einen Vorsaal. Derselbe war nur klein und mit +gewöhnlichen Geräten versehen. Aber nicht bloß in den Vorsaal konnte +ich blicken, sondern auch in ein weiteres Zimmer, das mit einer großen +Glastür an den Vorsaal stieß, welche Glastür noch überdies halb +geöffnet war. In diesem Zimmer aber stand Natalie. An den Wänden +hinter ihr erhoben sich edle mittelalterliche Schreine. Sie stand fast +mitten in dem Gemache vor einem Tische, auf welchem zwei Zithern lagen +und von welchem ein sehr reicher altertümlicher Teppich nieder hing. +Sie war vollständig, gleichsam wie zum Ausgehen gekleidet, nur hatte +sie keinen Hut auf dem Haupte. Ihre schönen Locken waren auf dem +Hinterhaupte geordnet und wurden von einem Bande oder etwas Ähnlichem +getragen. Das Kleid reichte wie gewöhnlich bis zu dem Halse und schloß +dort ohne irgend einer fremden Zutat. Es war wieder von lichtem, +grauem Seidenstoffe, hatte aber sehr feine, stark rote Streifen. Es +schloß die Hüften sehr genau und ging dann in reichen Falten bis +auf den Fußboden nieder. Die Ärmel waren enge, reichten bis zum +Handgelenke und hatten an diesem wie am Oberarme dunkle Querstreifen, +die wie ein Armband schlossen. Natalie stand ganz aufrecht, ja der +Oberkörper war sogar ein wenig zurückgebogen. Der linke Arm war +ausgestreckt und stützte sich mittelst eines aufrecht stehenden +Buches, auf das sie die Hand legte, auf das Tischchen. Die rechte +Hand lag leicht auf dem linken Unterarm. Das unbeschreiblich schöne +Angesicht war in Ruhe, als hätten die Augen, die jetzt von den Lidern +bedeckt waren, sich gesenkt und sie dächte nach. Eine solche reine, +feine Geistigkeit war in ihren Zügen, wie ich sie an ihr, die immer +die tiefste Seele aussprach, doch nie gesehen hatte. Ich verstand +auch, was die Gestalt sprach, ich hörte gleichsam ihre inneren Worte: +»Es ist nun eingetreten!« Sie hatte mich nicht kommen gehört, weil der +Teppich den Fußboden des Ganges bedeckte und sie konnte mich nicht +sehen, weil ihr Angesicht gegen Süden gerichtet war. Ich beobachtete +nur zwei Augenblicke ihre sinnende Stellung und ging dann leise +vorüber und die Treppe hinunter. Es erfüllte mich gleichsam mit einem +Meere von Wonne, Natalien von der nehmlichen Empfindung beseelt zu +sehen, die ich hatte, von der Empfindung, sich das errungene, kaum +gehoffte und so hoch gehaltene Gut geistig zu sichern, sich klar zu +machen, was man erhalten hat und in welche neue, unermeßlich wichtige +Wendung des Lebens man eingetreten sei. Ich konnte es kaum fassen, daß +ich es sei, um den eine Gestalt, die das Schönste ausdrückt, was mir +bis jetzt bekannt geworden ist, eine Gestalt, die man wohl auch stolz +geheißen, die sich bisher von jeder Neigung abgewendet hatte, in diese +tiefe sinnende Empfindung gesunken sei. Ich dachte mir, daß ich, so +lange ich lebe, und sollte mein Leben bis an die äußerste Grenze des +menschlichen Alters oder darüber hinaus gehen, mit jedem Tropfen +meines Blutes, mit jeder Faser meines Herzens sie lieben werde, sie +möge leben oder tot sein, und daß ich sie fort und fort durch alle +Zeiten in der tiefsten Seele meiner Seele tragen werde. Es erschien +mir als das süßeste Gefühl, sie nicht nur in diesem Leben, sondern in +tausend Leben, die nach tausend Toden folgen mögen, immer lieben zu +können. Wie viel hatte ich in der Welt gesehen, wie viel hatte mich +erfreut, an wie Vielem hatte ich Wohlgefallen gehabt: und wie ist +jetzt alles nichts, und wie ist es das höchste Glück, eine reine, +tiefe, schöne menschliche Seele ganz sein eigen nennen zu können, ganz +sein eigen! + + +Ich ging durch das Pförtchen hinaus, das ich nur angelehnt fand, und +ging auf dem Wege fort, der an dieser Seite vor dem Schlosse vorbei +führt und dann in die Felder hinaus geht. Er ist breit, mit feinem +Sande belegt und eignet sich daher seiner Trockenheit willen ganz +besonders zu Morgenspaziergängen. Er ist von dem vorigen Besitzer des +Schlosses angelegt und von Mathilden verbessert worden. Er geht von +dem Pförtchen nach beiden Richtungen, nach Norden und nach Süden, +ziemlich weit fort und bildet auf diese Weise zu dem Schlosse eine +Berührungslinie. Roland hatte ihn scherzweise auch immer den Berührweg +genannt. Die Obstbäume, die ihn jetzt häufig säumen, hat Mathilde +meistens schon erwachsen an ihn versetzt. Früher war der ganze Weg +eine Allee von Pappeln gewesen; allein, da er ganz gerade durch die +Gegend geht und mit den geraden Bäumen bepflanzt war, so erschien +er sehr unschön und für einen Lustweg, was er sein sollte, wenig +geeignet. Nach Beratungen mit ihren Freunden hatte Mathilde die +Pappeln, welche außerdem auch den Feldern sehr schädlich waren, nach +und nach beseitigt. Sie waren gefällt und ihre Wurzeln ausgegraben +worden. Da man die Obstbäume an ihre Stelle setzte, vermied man es +absichtlich, an allen Plätzen, an welchen Pappeln gestanden waren, +Obstbäume zu pflanzen, damit nicht wieder statt der Pappelallee eine +Obstbaumallee würde, was zwar minder unschön als früher gewesen wäre, +aber doch immer noch nicht schön. Durch diese Unterbrechung der +Baumpflanzung erhielt der Weg, dessen gerade Richtung schwer zu +beseitigen gewesen wäre und die doch sonst zu eigentümlich war, +als daß man sie hätte abändern sollen, wenn man nicht Alles nach +ganz neuen Gedanken einrichten wollte, die nötige Abwechslung. +Mitternachtwärts von dem Schlosse führt er durch Wiesen und Felder an +Gebüschen hin, steigt dann zu einem Walde hinan, in welchen er eine +Strecke eindringt. Südwärts geht er durch Felder, hat dort besonders +schöne Apfelbäume an seinen Seiten, wölbt sich sanft über einen +Ackerrücken und gewährt von ihm eine schöne Aussicht in die Gebirge. + +Ich schlug die Richtung nach Süden ein, wie ich überhaupt sehr gerne +bei dem Beginne eines Spazierganges so gehe, daß ich leicht nach +Mittag sehe, das Licht vor mir habe und in den schöneren Glanz und +die lieblichere Färbung der Wolken blicken kann. Der Himmel war wie +gestern ganz heiter, die Sonne stand in seinem östlichen Teile und +begann die Tropfen, welche an allen Gräsern und an dem Laube der Bäume +hingen, aufzusaugen. Die Morgenkühle war noch nicht vergangen, obwohl +der Einfluß der Sonne immer mehr und mehr bemerkbar wurde. Ich sah mit +neuen Augen auf alle Dinge um mich, es schien, als hätten sie sich +verjüngt und als müßte ich mich wieder allmählich an ihren Anblick +gewöhnen. Ich kam auf die Anhöhe und sah auf den langen Zug der +Gebirge. Die blauen Spitzen blickten auf mich herüber, und die +vielen Schneefelder zeigten mir ihren feinen Glanz. Ich sah auch die +Berghäupter an dem Kargrat, wo ich zuletzt gearbeitet hatte. Mir +war, als wäre es schon viele Jahre, seit ich in jenen Eisfeldern und +Schneegründen gewesen war. Ich ließ, während ich so dastand, die milde +Luft, den Glanz der Sonne und das Prangen der Dinge auf mich wirken. +Sonst hatte ich immer irgend ein Buch in meine Tasche gesteckt, wenn +ich in der Gegend herum gehen wollte; heute hatte ich es nicht getan. + +Mir war jetzt nicht, als sollte ich irgend ein Buch lesen. Ich ging +nach einer Weile wieder an den Bäumen dahin, an denen schon die +mannigfaltigen Äpfel hingen, die jeder nach seiner Art brachte und die +schon hie und da ihre eigentümliche Farbe zu erhalten begannen. Ich +ging so lange auf der Anhöhe des Felderrückens fort, bis sie sich +leicht zu senken anfing, über welche Senkung der Weg noch hinabgeht, +um in dem Tale an der Grenze eines fremden Gutes zu enden oder +vielmehr in einen anderen Weg überzugehen, der die Eigenschaften +aller jener Fußwege hat, die in unzähligen Richtungen unser Land +durchziehen und auf deren taugliche Beschaffenheit, Verbesserung oder +Verschönerung niemand denkt. Ich ging auf der Senkung des Weges nicht +mehr hinunter, weil ich nicht talwärts kommen wollte, wo die Blicke +beengt sind. + +Ich wendete mich um und hatte den Anblick des Schlosses vor mir, +welches jetzt von solcher Bedeutung für mich geworden war. Die Fenster +schimmerten in dem Glanze der Sonne, das Grau der von der Tünche +befreiten südlichen Mauer schaute sanft zu mir herüber, das dunkle +Dach hob sich von der Bläue der nördlichen Luft ab, und ein leichter +Rauch stieg von einigen seiner Schornsteine auf. + +Ich ging langsam auf dem Rücken des Feldes an den Obstbäumen vorüber +meines Weges zurück, bis er sachte gegen das Schloß abwärts zu gehen +begann. + +An dieser Stelle sah ich jetzt, daß mir eine Gestalt, welche mir +früher durch Baumkronen verdeckt gewesen sein mochte, entgegen kam, +welche die Gestalt Nataliens war. Wir gingen beide schneller, als +wir uns erblickten, um uns früher zu erreichen. Da wir nun zusammen +trafen, blickte mich Natalie mit ihren großen dunkeln Augen freundlich +an und reichte mir die Hand. Ich empfing sie, drückte sie herzlich und +sagte einen innigen Gruß. + +»Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg +gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt +wirklich gehe.« + +»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich. + +»Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie, +»dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte +bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen +und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid +angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war. +Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die +Morgenluft zu genießen.« + +Ich sah wirklich, daß sie das lichte graue Kleid mit den feinen +tiefroten Streifen nicht mehr an habe, sondern ein einfacheres, +kürzeres, mattbraunes trage. Jenes Kleid wäre freilich zu einem +Morgenspaziergange nicht tauglich gewesen, weil es in reichen Falten +fast bis auf den Fußboden nieder ging. Sie hatte jetzt einen leichten +Strohhut auf dem Haupte, welchen sie immer bei ihren Wanderungen durch +die Felder trug. Ich fragte sie, ob sie glaube, daß noch so viel Zeit +vor dem Frühmahle sei, daß sie über die Felderanhöhe hinaus und wieder +in das Schloß zurückkommen könne. + +»Wohl ist noch so viel Zeit«, erwiderte sie, »ich wäre ja sonst +nicht fortgegangen, weil ich eine Störung in der Hausordnung nicht +verursachen möchte.« + +»Dann erlaubt ihr wohl, daß ich euch begleite?« sagte ich. + +»Es wird mir sehr lieb sein«, antwortete sie. + +Ich begab mich an ihre Seite, und wir wandelten den Weg, den ich +gekommen war, zurück. + +Ich hätte ihr sehr gerne meinen Arm angeboten; aber ich hatte nicht +den Mut dazu. + +Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme +nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den +Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen +hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte +Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?« + +»Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht +unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung, +welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in +das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich +habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf, +und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde, +ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.« + +»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren +Sommers zu atmen«, erwiderte sie. + +»Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«, +antwortete ich. »Das weiß ich, wenn ich auf einem hohen Berge stehe +und die Luft in ihrer Weite wie ein unausmeßbares Meer um mich herum +ist. Aber nicht bloß die Luft des Sommers ist erquickend, auch die des +Winters ist es, jede ist es, welche rein ist und in welcher sich nicht +Teile finden, die unserm Wesen widerstreben.« + +»Ich gehe oft mit der Mutter an stillen Wintertagen gerade diesen Weg, +auf dem wir jetzt wandeln. Er ist wohl und breit ausgefahren, weil die +Bewohner von Erltal und die der umliegenden Häuser im Winter von ihrem +tief gelegenen Fahrwege eine kleine Abbeugung über die Felder machen +und dann unseren Spazierweg seiner ganzen Länge nach befahren. Da ist +es oft recht schön, wenn die Zweige der Bäume voll von Kristallen +hängen oder wenn sie bereift sind und ein feines Gitterwerk über ihren +Stämmen und Ästen tragen. + +Oft ist es sogar, als wenn sich der Reif in der Luft befände und sie +mit ihm erfüllt wäre. Ein feiner Duft schwebt in ihr, daß man die +nächsten Dinge nur wie in einen Rauch gehüllt sehen kann. Ein anderes +Mal ist der Himmel wieder so klar, daß man alles deutlich erblickt. Er +spannt sich dunkelblau über die Gefilde, die in der Sonne glänzen, und +wenn wir auf die Höhe der Felder kommen, können wir von ihr den ganzen +Zug der Gebirge sehen. Im Winter ist die Landschaft sehr still, weil +die Menschen sich in ihren Häusern halten, so viel sie können, weil +die Singvögel Abschied genommen haben, weil das Wild in die tieferen +Wälder zurück gegangen ist, und weil selbst ein Gespann nicht den +tönenden Hufschlag und das Rollen der Räder hören läßt, sondern nur +der einfache Klang der Pferdeglocke, die man hier hat, anzeigt, daß +irgend wo jemand durch die Stille des Winters fährt. Wir gehen auf der +klaren Bahn dahin, die Mutter leitet die Gespräche auf verschiedene +Dinge, und das Ziel unserer Wanderung ist gewöhnlich die Stelle, wo +der Weg in das Tal hinabzugehen anfängt. In der Stadt habt ihr die +schönen Winterspaziergänge nicht, welche uns das Land gewährt.« + +»Nein, Natalie, die haben wir nicht. Wir haben von der dem Winter als +Winter eigentümlichen Wesenheit nichts als die Kälte; denn der Schnee +wird auch aus der Stadt fortgeschafft«, erwiderte ich, »und nicht bloß +im Winter, auch im Sommer hat die Stadt nichts, was sich nur entfernt +mit der Freiheit und Weite des offenen Landes vergleichen ließe. +Eine erweiterte Pflege der Kunst und der Wissenschaft, eine erhöhte +Geselligkeit und die Regierung des menschlichen Geschlechts sind in +der Stadt, und diese Dinge begreifen auch das, was man in der Stadt +sucht. Einen Teil von Wissenschaft und Kunst aber kann man wohl auch +auf dem Lande hegen, und ob größere Zweige der allgemeinen Leitung der +Menschen auch auf das Land gelegt werden könnten, als jetzt geschieht, +weiß ich nicht, da ich hierin zu wenig Kenntnisse habe. Ich trage +schon lange den Gedanken in mir, einmal auch im Winter in das +Hochgebirge zu gehen und dort eine Zeit zuzubringen, um Erfahrungen zu +sammeln. Es ist seltsam und reizt zur Nachahmung, was uns die Bücher +melden, die von Leuten verfaßt wurden, welche im Winter hochgelegene +Gegenden besucht oder gar die Spitzen bedeutender Berge erstiegen +haben.« + +»Wenn es für Leben und Gesundheit keine Gefahr hat, solltet ihr es +tun«, antwortete sie. »Es ist wohl ein Vorrecht der Männer, das +Größere wagen und erfahren zu können. Wenn wir zuweilen im Winter +in großen Städten gewesen sind und dort das Leben der verschiedenen +Menschen gesehen haben, dann sind wir gerne in den Sternenhof +zurückgegangen. Wir haben hier in manchen größeren Zeiträumen alle +Jahreszeiten genossen und haben jeden Wechsel derselben im Freien +kennen gelernt. Wir sind mit Freunden verbunden, deren Umgang uns +veredelt, erhebt, und zu denen wir kleine Reisen machen. Wir haben +einige Ergebnisse der Kunst und in einem gewissen Maße auch der +Wissenschaft, so weit es sich für Frauen ziemt, in unsere Einsamkeit +gezogen.« + +»Der Sternenhof ist ein edler und ein würdevoller Sitz«, entgegnete +ich, »er hat sich ein schönes Teil des Menschlichen gesammelt und muß +nicht das Widerwärtige desselben hinnehmen. Aber es mußten auch viele +Umstände zusammentreffen, da es somit werden konnte, wie es ward.« + +»Das sagt die Mutter auch«, erwiderte sie, »und sie sagt, sie müsse +der Vorsehung sehr danken, daß sie ihre Bestrebungen so unterstützt +und geleitet habe, weil wohl sonst das Wenigste zu Stande gekommen +wäre.« + +Wir hatten in der Zeit dieses Gespräches nach und nach die höchste +Stelle des Weges erreicht. Vor uns ging es wieder abwärts. Wir blieben +eine Weile stehen. + +»Sagt mir doch«, begann Natalie wieder, »wo liegt denn das Kargrat, in +welchem ihr euch in diesem Teile des Sommers aufgehalten habt? Man muß +es ja von hier aus sehen können.« + +»Freilich kann man es sehen«, antwortete ich, »es liegt fast im +äußersten Westen des Teiles der Kette, der von hier aus sichtbar ist. +Wenn ihr von jenen Schneefeldern, die rechts von der sanftblauen +Kuppe, welche gerade über der Grenzeiche eures Weizenfeldes sichtbar +ist, liegen, und die fast wie zwei gleiche, mit der Spitze nach +aufwärts gerichtete Dreiecke aussehen, wieder nach rechts geht, so +werdet ihr lichte, fast wagrecht gehende Stellen in dem greulichen +Dämmer des Gebirges sehen, das sind die Eisfelder des Kargrats.« + +»Ich sehe sie sehr deutlich«, erwiderte sie, »ich sehe auch die +Spitzen, die über das Eis empor ragen. Und auf diesem Eise seid ihr +gewesen?« + +»An seinen Grenzen, die es in allen Richtungen umgeben«, antwortete +ich, »und auf ihm selber«. + +»Da müßt ihr ja auch deutlich hieher gesehen haben«, sagte sie. + +»Die Berggestaltungen des Kargrates, die wir hier sehen«, erwiderte +ich, »sind so groß, daß wir seine Teile wohl von hier aus +unterscheiden können; aber die Abteilungen der hiesigen Gegend sind +so klein, daß ihre Gliederungen von dort aus nicht erblickt werden +können. Das Land liegt wie eine mit Duft überschwebte einfache Fläche +unten. Mit dem Fernrohre konnte ich mir einzelne bekannte Stellen +suchen, und ich habe mir die Bildungen der Hügel und Wälder des +Sternenhofes gesucht.« + +»Ach nennt mir doch einige von den Spitzen, die wir von hier aus sehen +können«, sagte sie. + +»Das ist die Kargratspitze, die ihr über dem Eise als höchste seht«, +erwiderte ich, »und rechts ist die Glommspitze und dann der Ethern und +das Krummhorn. Links sind nur zwei, der Aschkogel und die Sente.« + +»Ich sehe sie«, sagte sie, »ich sehe sie.« + +»Und dann sind noch geringere Erhöhungen«, fuhr ich fort, »die sich +gegen die weiteren Berghänge senken, die keinen Namen haben und die +man hier nicht sieht.« + +Da wir noch eine Weile gestanden waren, die Berge betrachtet und +gesprochen hatten, wendeten wir uns um und wandelten dem Schlosse zu. + +»Es ist doch sonderbar«, sagte Natalie, »daß diese Berge keinen weißen +Marmor hervorbringen, da sie doch so viel verschiedenfarbigen haben.« + +»Da tut ihr unseren Bergen ein kleines Unrecht«, antwortete ich, »sie +haben schon Lager von weißem Marmor, aus denen man bereits Stücke +zu mannigfaltigen Zwecken bricht, und gewiß werden sie in ihren +Verzweigungen noch Stellen bergen, wo vielleicht der feinste und +ungetrübteste weiße Marmor ist.« + +»Ich würde es lieben, mir Dinge aus solchem Marmor machen zu lassen«, +sagte sie. + +»Das könnt ihr ja tun«, erwiderte ich, »kein Stoff ist geeigneter +dazu.« + +»Ich könnte aber nach meinen Kräften nur kleine Gegenstände anfertigen +lassen, Verzierungen und dergleichen«, sagte sie, »wenn ich die +rechten Stücke bekommen könnte, und wenn meine Freunde mir mit ihrem +Rate beistanden.« + +»Ihr könnt sie bekommen«, antwortete ich, »und ich selber könnte euch +hierin helfen, wenn ihr es wünscht.« + +»Es wird mir sehr lieb sein«, erwiderte sie, »unser Freund hat edle +Werke aus farbigem Marmor in seinem Hause ausführen lassen, und ihr +habt ja auch schöne Dinge aus solchem für eure Eltern veranlaßt.« + +»Ja, und ich suche noch immer schöne Stücke Marmor zu erwerben, um sie +gelegentlich zu künftigen Werken zu verwenden«, antwortete ich. + +»Meine Vorliebe für den weißen Marmor habe ich wohl aus den reichen, +schönen und großartigen Dingen gezogen«, entgegnete sie, »die ich in +Italien aus ihm ausgeführt gesehen habe. Besonders wird mir Florenz +und Rom unvergeßlich sein. Das sind Dinge, die unsere höchste +Bewunderung erregen, und doch, habe ich immer gedacht, ist es +menschlicher Sinn und menschlicher Geist, der sie entworfen und +ausgeführt hat. Euch werden auch Gegenstände bei eurem Aufenthalte im +Freien erschienen sein, die das Gemüt mächtig in Anspruch nehmen.« + +»Die Kunstgebilde leiten die Augen auf sich, und mit Recht«, +antwortete ich, »sie erfüllen mit Bewunderung und Liebe. Die +natürlichen Dinge sind das Werk einer anderen Hand, und wenn sie +auf dem rechten Wege betrachtet werden, regen sie auch das höchste +Erstaunen an.« + +»So habe ich wohl immer gefühlt«, sagte sie. + +»Ich habe auf meinem Lebenswege durch viele Jahre Werke der Schöpfung +betrachtet«, erwiderte ich, »und dann auch, so weit es mir möglich +war, Werke der Kunst kennen gelernt, und beide entzückten meine +Seele.« + +Mit diesen Gesprächen waren wir allmählich dem Schlosse näher gekommen +und waren jetzt bei dem Pförtchen. + +An demselben blieb Natalie stehen und sagte die Worte: »Ich habe +gestern sehr lange mit der Mutter gesprochen, sie hat von ihrer Seite +eine Einwendung gegen unseren Bund nicht zu machen.« + +Ihre feinen Züge überzog ein sanftes Rot, als sie diese Worte zu mir +sprach. Sie wollte nun sogleich durch das Pförtchen hinein gehen, ich +hielt sie aber zurück und sagte: »Fräulein, ich hielte es nicht für +Recht, wenn ich euch etwas verhehlte. Ich habe euch heute schon einmal +gesehen, ehe wir zusammentrafen. Als ich am Morgen über den Gang +hinter euren Zimmern ins Freie gehen wollte, standen die Türen in +einen Vorsaal und in ein Zimmer offen, und ich sah euch in diesem +letztern an einem mit einem altertümlichen Teppiche behängten +Tischchen, die Hand auf ein Buch gestützt, stehen.« + +»Ich dachte an mein neues Schicksal«, sagte sie. + +»Ich wußte es, ich wußte es«, antwortete ich, »und mögen die +himmlischen Mächte es so günstig gestalten, als es der Wille derer +ist, die euch wohlwollen.« + +Ich reichte ihr beide Hände, sie faßte sie, und wir drückten uns +dieselben. + +Darauf ging sie in das Pförtchen ein und über die Treppe empor. + +Ich wartete noch ein wenig. + +Da sie oben war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, stieg ich +auch die Treppe empor. + + +Das ganze Wesen Nataliens schien mir an diesem Morgen glänzender, als +es die ganze Zeit her gewesen war, und ich ging mit einem tief, tief +geschwellten Herzen in mein Zimmer. + +Dort kleidete ich mich insoweit um, als es nötig war, die Spuren des +Morgenspazierganges zu beseitigen und anständig zu erscheinen, dann +ging ich, da die Stunde des Frühmahles schon heran nahte, in das +Speisezimmer. + +Ich war in demselben allein. Der Tisch war schon gedeckt und Alles zum +Morgenmahle in Bereitschaft gesetzt. Nachdem ich eine Weile gewartet +hatte, kam Mathilde mit Natalie zugleich in das Zimmer. Natalie hatte +sich umgekleidet, sie hatte jetzt ein festlicheres Kleid an als sie +beim Morgenspaziergange getragen hatte, weil sie gleich Mathilden bei +Tische einen Gast durch ein besseres Kleid ehrte. Mit der gewöhnlichen +Ruhe und Heiterkeit, aber mit einer fast noch größeren Freundlichkeit +als sonst begrüßte mich Mathilde und wies mir meinen Platz an. Wir +setzten uns. Wir waren nun bei dem Frühmahle, wie wir es die mehreren +Tage her gewohnt waren. Dieselben Gegenstände befanden sich auf dem +Tische und derselbe Vorgang wurde befolgt wie immer. Obgleich nur ein +Dienstmädchen ab und zu ging und wir in den Zwischenzeiten allein +waren, indem Mathilde nach ihrer Gepflogenheit manche Handlungen, +die bei einem solchen Frühmahle nötig sind, an dem Tische selbst +verrichtete, so wurde doch über unsere besonderen Angelegenheiten +auch jetzt nicht gesprochen. Gewöhnliche Dinge, wie sie sich an +gewöhnlichen Tagen darbieten, bildeten den Inhalt der Gespräche. Teils +Kunst, teils die schönen Tage der Jahreszeit, die eben war, und teils +ein Abschnitt des Aufenthaltes während der Rosenzeit im Asperhofe +wurden abgehandelt. Dann standen wir auf und trennten uns. + +Und so wurde auch am ganzen Tage von dem Verhältnisse, in welches ich +zu Natalien getreten war, nichts gesprochen. + +Wir fanden uns noch im Laufe des Vormittags im Garten zusammen. +Mathilde zeigte mir einige Veränderungen, welche sie vorgenommen +hatte. Mehrere zu sehr in geraden Linien gezogene geschorne Hecken, +die sich noch in einem abgelegenen Teile des Gartens befunden hatten, +waren beseitigt worden und hatten einer leichteren und gefälligeren +Anlage Platz gemacht. Blumenbeete waren gezogen worden und mehrere +Pflanzen, welche man erst kennen gelernt hatte, welche mein Gastfreund +sehr liebte und unter denen sich außerordentlich schöne befanden, +waren in eine Gruppe gestellt worden. Mathilde nannte ihre Namen, +Natalie hörte aufmerksam zu. Am Nachmittage wurde ein Spaziergang +gemacht. Zuerst besuchten wir die Arbeiter, welche mit der +Hinwegschaffung der Tünche von der Steinbekleidung des Hauses +beschäftigt waren, und sahen eine Zeit hindurch zu. Mathilde tat +mehrere Fragen und ließ sich in Erörterungen über Dinge ein, die diese +Angelegenheit betrafen. Dann gingen wir in einem großen Bogen längs +des Rückens der Anhöhen herum, die zu einem Teile das Tal beherrschen, +in dem das Schloß liegt. Wir kamen an dem Saume eines Wäldchens +vorüber, von dem man das Schloß, den Garten und die Wirtschaftsgebäude +sehen konnte, und gingen endlich durch den nördlichen Arm desselben +Spazierweges in das Schloß zurück, in dessen südlichem Teile ich heute +Morgens mit Natalien gewandelt war. + +Gegen Abend kam der Wagen mit den Wanderern an. + +Mein Gastfreund stieg zuerst heraus, dann folgten fast gleichzeitig +die übrigen, jüngeren Männer. Ich wurde von allen gegrüßt und von +allen getadelt, daß ich so spät gekommen sei. Man begab sich in das +gemeinschaftliche Gesellschaftszimmer und besprach sich dort eine +Weile, ehe man sich in die Gemächer verfügen wollte, die für einen +jeden bestimmt waren. + +Mein Gastfreund fragte mich, wo ich mich heuer aufgehalten und welche +Teile des Gebirges ich durchstreift habe. Ich antwortete ihm, daß ich +ihm schon im Allgemeinen gesagt habe, daß ich an den Simmigletscher +gehen werde, daß ich aber meinen besonderen Wohnort im Kargrat +aufgeschlagen habe, in dem mit dem Gebirgsstocke gleichnamigen kleinen +Dörflein. Von da aus habe ich meine Streifereien gemacht. Ich nannte +ihm die einzelnen Richtungen, weil er besonders in der Gegend der +Simmen sehr bekannt war. Eustach sprach über die schönen Naturbilder, +die in jenen Gestaltungen vorkommen. Roland sagte, ich möchte doch +auch einmal die Klamkirche, in der sie gewesen seien, besuchen; +die Zeichnungen werde mir Eustach schon zeigen, damit ich einen +vorläufigen Überblick davon zu erlangen vermöge. Gustav grüßte mich +einfach mit seiner Liebe und Freundschaft, wie er es immer getan +hatte. Auf die gelegentliche Frage meines Gastfreundes, ob ich nun +lange in der Gesellschaft meiner Freunde zu bleiben gesonnen sei, +antwortete ich, daß mich eine wichtige Angelegenheit vielleicht schon +in sehr kurzer Zeit fortführen könnte. + +Nach diesen allgemeinen Gesprächen begaben sich die Reisenden in +ihre Zimmer, um die Spuren der Reise zu beseitigen, staubige Kleider +abzulegen, sich sonst zu erfrischen oder Mitgebrachtes in eine Ordnung +zu richten. + +Wir sahen uns erst bei dem Abendessen wieder. + +Dasselbe war so heiter und freundlich, wie es immer gewesen war. + +Am anderen Morgen nach dem Frühmahle ging mein Gastfreund eine Zeit +mit Mathilden im Garten spazieren, dann kam er in mein Zimmer und +sagte zu mir: »Ihr habt Recht, und es ist sehr gut von euch, daß ihr +das, was euren hiesigen Freunden lieb und angenehm ist, euren Eltern +und euren Angehörigen sagen wollt.« + +Ich erwiderte nichts, errötete und verneigte mich sehr ehrerbietig. + +Ich erklärte im Laufe des Vormittages, daß ich, sobald es nur immer +möglich wäre, abreisen müßte. Man stellte mir Pferde bis zur nächsten +Post zur Verfügung, und nachdem ich mein kleines Gepäck geordnet +hatte, beschloß ich, noch vor dem Mittage die Reise anzutreten. Man +ließ es zu. Ich nahm Abschied. Die klaren, heiteren Augen meines +Gastfreundes begleiteten mich, als ich von ihm hinwegging. Mathilde +war sanft und gütig, Natalie stand in der Vertiefung eines Fensters, +ich ging zu ihr hin und sagte leise: »Liebe, liebe Natalie, lebet +wohl.« + +»Mein lieber, teurer Freund, lebet wohl«, antwortete sie ebenfalls +leise, und wir reichten uns die Hände. + +Nach einem Augenblicke verabschiedete ich mich auch von den anderen, +die, da sie wußten, daß ich abreisen werde, in das Gesellschaftszimmer +gekommen waren. Ich schüttelte Eustach und Roland die Hände und +empfing Gustavs Kuß, welche innigere Art des Bewillkommens und +Scheidens schon seit längerer Zeit zwischen uns üblich geworden war +und welche mir heute so besonders wichtig wurde. + +Hierauf ging ich die Treppe hinab und bestieg den Wagen. + +Mathildens Pferde brachten mich auf die nächste Post. Dort sendete +ich sie zurück und nahm andere in der Richtung nach dem Kargrat. Ich +gönnte mir wenig Ruhe. Als ich dort angekommen war, erklärte ich +meinen Leuten, daß Umstände eingetreten wären, welche die Fortsetzung +der heurigen Arbeiten nicht erlaubten. Ich entließ sie also, händigte +ihnen aber den Lohn ein, den sie bekommen hätten, wenn sie mir in +der ganzen vertragsmäßigen Zeit gedient hätten. Sie waren hierüber +zufrieden. Der Jäger und Zitherspieler war früher, ehe ich gekommen +war, fortgegangen. Wohin er sich begeben habe, wußten die Leute +selber nicht. Das Verhältnis mit meinen Arbeitern zu ordnen, war mir +das Wichtigste auf meinem Arbeitsplatze gewesen; deshalb war ich +hingereist. Ich hatte ihnen vor meinem Besuche im Asperhofe gesagt, +daß ich bald wieder kommen werde, hatte ihnen während meiner +Abwesenheit Arbeit aufgetragen und hatte ihnen Arbeit nach meiner +Wiederkunft in Aussicht gestellt. Dieses mußte nun umgeändert werden. +Da es geschehen war, gab ich meine Sachen im Kargrat so in Verwahrung, +daß sie gesichert waren, und reiste sogleich wieder ab. Ich hatte +die Pferde, die ich von dem letzten größeren Orte in das Kargrat +mitgenommen hatte, bei mir behalten und fuhr jetzt mit ihnen wieder +fort. Auf dem ersten Postamte verlangte ich eigene Postpferde und +schlug die Richtung zu meinen Eltern ein. + +Als ich dort angekommen war, machte mein unvermutetes Erscheinen +beinahe den Eindruck des Erstaunens. Alle Ereignisse waren so schnell +gekommen, daß, da einmal meine Abreise zu meinen Eltern festgesetzt +war, ein Brief, der sie von meiner Ankunft benachrichtigt hätte, +wahrscheinlich nicht früher zu ihnen gekommen wäre als ich selbst. +Sie konnten sich daher nicht erklären, warum ich ohne vorhergegangene +Benachrichtigung nun im Sommer statt im Herbste komme. Ich sagte ihnen +auf ihre Frage, daß allerdings ein Grund zu meiner jetzigen Heimreise +vorhanden sei, aber keineswegs ein unangenehmer, daß ich in Ungeduld +so schnell abgereist sei und daß ich ihnen eine frühere Nachricht von +meiner Ankunft nicht habe zugeben lassen können. Hierauf waren sie +beruhigt und, wie es ihre Art war, fragten sie mich nun nicht nach +meinem Grunde. + + +Am andern Morgen, ehe der Vater in die Stadt ging, begab ich mich +zu ihm in das Bücherzimmer und sagte ihm, daß ich zu Natalien, der +Tochter der Freundin meines Gastfreundes, schon seit langer Zeit +her eine Zuneigung gefaßt habe, daß diese Neigung in mir verborgen +geblieben und daß es mein Vorsatz gewesen sei, sie, wenn sie ohne +Aussicht wäre, zu unterdrücken, ohne daß ich je zu irgend jemandem +ein Wort darüber sagte. Nun habe aber Natalie auch mich ihres Anteils +nicht für unwert gehalten, ich habe davon nichts gewußt, bis ein +Zufall, da wir von anderen, weit entlegenen Dingen sprachen, die +gegenseitig unbekannte Stimmung zu Tage brachte. Da haben wir nun +einen Bund geschlossen, daß wir uns unsere Neigung bewahren wollen, so +lange wir leben, und daß wir sie in dieser Art nie einem anderen Wesen +schenken würden. Natalie habe verlangt, und mein Sinn stimmte diesem +Verlangen vollkommen bei, daß wir unseren Angehörigen diese Tatsache +mitteilen sollten, damit wir uns unseres Gutes durch ihre Zustimmung +erfreuen oder, wenn von einem Teile die Billigung versagt würde, +die Neigung zwar unverändert erhalten, aber den persönlichen Umgang +aufheben. Da nun Nataliens Angehörige nichts eingewendet haben, so sei +ich hier, um die Sache meinen Eltern zu sagen, und ihm sage ich sie +zuerst, der Mutter würde ich sie später mitteilen. + +»Mein Sohn«, antwortete er, »du bist mündig, du hast das Recht, +Verträge abzuschließen und hast einen sehr wichtigen abgeschlossen. Da +ich dich genau kenne, da ich dich seit einiger Zeit noch viel genauer +kennen zu lernen Gelegenheit hatte als ich dich früher kannte, so weiß +ich, daß deine Wahl einen Gegenstand getroffen hat, der, wenn ihm +auch gewiß wie allen Menschen Fehler eigen sind, an Wert und Güte +entsprechen wird. Wahrscheinlich hat er beide Dinge in einem höheren +Maße als die Menschen, wie sie in größerer Menge jetzt überall sind. +In dieser Meinung bestärken mich noch mehrere Umstände. Eure Neigung +ist nicht schnell entstanden, sondern hat sich vorbereitet, du hast +sie überwinden wollen, du hast nichts gesagt, du hast uns von Natalien +wenig erzählt, also ist es kein hastiges, fortreißendes Verlangen, +welches dich erfaßt hat, sondern eine auf dem Grunde der Hochachtung +beruhende Zuneigung. Bei Natalien ist es wahrscheinlich auch so, +weil, wie du gesagt hast, ihre Gegenneigung vorhanden war, ehe du sie +erkennen konntest. Ferner hat bei deinem Gastfreunde die Gesammtheit +deines Wesens eine so entschiedene Förderung erhalten, du hast +nach manchem Besuche bei ihm auch so hervorragende Einzelheiten +zurückgebracht, daß ihm eine große Güte und Bildung eigen sein muß, +die auf seine Umgebung übergeht. Ich habe nichts einzuwenden.« + +Obgleich ich mir vorgestellt hatte, daß mein Vater dem geschlossenen +Bunde kein Hindernis entgegenstellen werde, so war ich doch bei dieser +Unterredung beklommen und ernst gewesen, so wie in der Haltung meines +Vaters eine tiefe Ergriffenheit nicht zu verkennen gewesen war. Jetzt, +da er geredet hatte, kam in mein Herz eine Freudigkeit, die sich auch +in meinen Augen und in meinen Mienen ausgedrückt haben mußte. Mein +Vater blickte mich gütig und freundlich an und sagte: »Du wirst mit +der Mutter von diesem Gegenstande nicht so leicht sprechen, ich werde +deine Stelle vertreten und ihr von dem geschlossenen Bunde erzählen, +daß du schneller über die Mitteilung hinwegkömmst. Lasse den Vormittag +vergehen, nach dem Mittagessen werde ich die Mutter in dieses Zimmer +bitten. Klotilde wird dann gelegentlich auch Kenntnis von deinem +Schritte erhalten.« + +Wir verließen nun das Bücherzimmer. Mein Vater rüstete sich, in +seine Geschäftsstube in die Stadt zu gehen, wie er sich jeden Morgen +gerüstet hatte. Als er fertig war, nahm er von der Mutter Abschied und +ging fort. Der Vormittag verfloß, wie gewöhnlich die Zeit nach meiner +Ankunft verflossen war. Die Mutter und Klotilde fragten nicht nach dem +Grunde meines ungewöhnlichen Zurückkommens und gingen ihren Geschäften +nach. Als das Mittagmahl vorüber war, nahm der Vater die Mutter in das +Bücherzimmer und blieb eine Weile mit ihr dort. Als sie wieder zu mir +und Klotilden herauskamen, blickte sie mich freundlich an, sagte aber +nichts. + +Sie setzten sich wieder zu uns, und wir blieben noch eine Zeit an dem +Tische sitzen. + +Als wir aufgestanden waren, gingen wir in den Garten, welchen ich +jetzt durch eine Reihe von Jahren nicht im Sommer gesehen hatte. Die +Rosen, welche hie und da zerstreut waren, glichen nicht denen meines +Gastfreundes, waren aber auch nicht schlechter als die, welche sich in +dem Sternenhofe befanden. Der Garten, welcher mir in meiner Kindheit +immer so lieb und traulich gewesen war, erschien mir jetzt klein und +unbedeutend, obwohl seine Blumen, die gerade in dieser Sommerzeit noch +blühten, seine Obstbäume, seine Gemüse, Weinreben und Pfirsichgitter +nicht zu den geringsten der Stadt gehörten. Es zeigte sich nur eben +der Unterschied eines Stadtgartens und des Gartens eines reichen +Landbesitzers. Man wies mir alles, was man für wichtig erachtete, +und machte mich auf alle Veränderungen aufmerksam. Man schien sich +gleichsam zu freuen, daß man mich doch einmal zu Anfang der heißeren +Jahreszeit hier habe, während ich sonst nur immer am Beginne der +kälteren gekommen war, wenn die Blätter abfielen und der Garten sich +seines Schmuckes entäußerte. Gegen den Abend ging der Vater wieder in +die Stadt. Wir blieben in dem Garten. Da sich in einem Augenblicke die +Schwester mit dem Aufbinden eines Rebenzweiges beschäftigte und ich +mit der Mutter allein an dem Marmorbrunnen der Einbeere stand, in +welchen das köstliche helle Wasser nieder rieselte, sagte sie zu mir: +»Ich wünsche, daß jedes Glück und jeder Segen vom Himmel dich auf dem +sehr wichtigen Schritte begleiten möge, den du getan hast, mein Sohn. +Wenn du auch sorgsam gewählt hast, und wenn auch alle Bedingungen zum +Gedeihen vorhanden sind, so bleibt der Schritt doch ein schwerer und +wichtiger, noch steht das Zusammenfinden und das Einleben in einander +bevor.« + +»Möge es uns Gott so gewähren, wie wir glauben, es erwarten zu +dürfen«, antwortete ich, »ich wollte auch kein Glück gründen, ohne daß +ich meine Eltern darum fragte und ohne daß ihr Wille mit dem meinigen +übereinstimmte. Zuerst mußte wohl Gewißheit gesucht werden, ob sich +die Neigungen zusammen gefunden hätten. Als dieses erkannt war, mußte +der Sinn und die Zustimmung der Angehörigen erforscht werden, und +deshalb bin ich hier.« + +»Der Vater sagt«, erwiderte sie, »daß alles recht ist, daß der Weg +sich ebnen wird und daß jene Dinge, die in jeder Verbindung und also +auch in dieser im Anfange ungefügig sind, hier eher ihre Gleichung +finden werden als irgendwo. Wenn er es aber auch nicht gesagt hätte, +so wüßte ich es doch. Du bist unter so vortrefflichen Leuten gewesen, +du würdest auch ohne dem nicht unwürdig gewählt haben, und hast du +gewählt, so ist dein Herz gut und wird sich in Kürze in ein Frauenherz +finden, wie auch sie ihr Leben in dem deinigen finden wird. Es sind +nicht alle, es sind nicht viele Verbindungen dieser Art glücklich; ich +kenne einen großen Teil der Stadt und habe auch einen nicht zu kleinen +Teil des Lebens beobachtet. Du hast im Grunde nur unsere Ehe gesehen: +möge die deinige so glücklich sein, als es die meine mit deinem +ehrwürdigen Vater ist.« + +Ich antwortete nicht, es wurden mir die Augen naß. + +»Klotilde wird jetzt einsam sein«, fuhr die Mutter fort, »sie hat +keine andere Neigung als unser Haus, als Vater und Mutter und als +dich.« + +»Mutter«, antwortete ich, »wenn du Natalien sehen wirst, wenn du +erfahren wirst, wie sie einfach und gerecht ist, wie ihr Sinn nach dem +Gültigen und Hohen strebt, wie sie schlicht vor uns allen wandelt und +wie sie viel, viel besser ist als ich, so wirst du nicht mehr von +einer Vereinsamung sprechen, sondern von einer Verbindung, Klotilde +wird um eines mehr haben als jetzt, und du und der Vater werdet um +eines mehr haben. Aber auch Mathilde, mein Gastfreund und der Kreis +jener trefflichen Menschen wird in eure Verbindung gezogen werden, ihr +werdet zu ihnen hingezogen werden, und was bis jetzt getrennt war, +wird Einigung sein.« + +»Ich habe mir es so gedacht, mein Sohn«, antwortete die Mutter, »und +ich glaube wohl, daß es so kommen wird; aber Klotilde wird die Art +ihrer Neigung zu dir umwandeln müssen, und möge das alles mit gelindem +Kelche vorübergehen.« + + +Zu dem Ende dieser Worte war auch Klotilde herzu gekommen. Sie brachte +mir eine Rose und sagte mit heiteren Mienen, daß sie mir dieselbe bloß +darum gebe, um mir einen kleinen Ersatz für alle die Rosen zu bieten, +welche ich heuer im Asperhofe durch meine Hieherreise versäumt habe. + +Mir fiel es bei diesen Worten erst auf, daß im väterlichen Garten +die Rosen blühten, während sie doch in dem höher gelegenen und einer +rauheren Luft ausgesetzten Asperhofe schon verblüht waren. Ich sprach +davon. Man fand den Grund bald heraus. Die Asperhofrosen waren den +ganzen Tag der Sonne ausgesetzt, mochten auch besser gepflegt werden +und einen besseren Boden haben, während hier teils durch Bäume, die +man des kleineren Raumes wegen enger setzen mußte, teils durch die +Mauern näherer und entfernterer Häuser vielfältig Schatten entstand. + +Ich nahm die Rose und sagte, Klotilde würde meinem Gastfreunde einen +schlechten Dienst tun, wenn sie in seinem Garten eine Rose pflückte. + +»Dort würde ich nicht den Mut dazu haben«, antwortete sie. + +Wir blieben nun eine Weile bei dem Marmorwasserwerke stehen. Klotilde +zeigte mir, was der Vater im Frühlinge habe machen lassen, zum Teile, +um den Wasserzug noch mehr zu sichern, zum Teile, um Verschönerungen +anzubringen. Ich sah, wie trefflich und zweckmäßig er die Dinge hatte +zubereiten lassen und wie sehr ich von ihm lernen könne. Ich freute +mich schon auf die Zeit, die nicht mehr ferne sein konnte, in welcher +der Vater mit meinem Gastfreunde zusammen kommen würde. + +Als wir von dem Wasserwerke weg gingen, führte mich Klotilde nun +zu dem Platze, von welchem eine Aussicht in die Gegend geboten ist +und den man mit einer Brustwehr zu versehen beschlossen hatte. Die +Brustwehr war schon zum Teile fertig. Sie war aufgemauert, war mit den +von mir gebrachten Marmorplatten belegt und war seitwärts mit Marmor +bekleidet, den sich der Vater verschafft hatte. Auch meine Simse und +Tragsteine waren verwendet. Ich sah aber, daß noch Vieles an Marmor +fehlte und versprach, daß ich suchen werde, zu Stande zu bringen, daß +die ganze Brustwehr aus gleichartigen Stücken und in gleicher Weise +könne hergestellt werden. + +»Du siehst, daß wir auch in der Ferne deiner denken und dir etwas +Angenehmes zu bereiten streben«, sagte Klotilde. + +»Ich habe ja nie daran gezweifelt«, antwortete ich, »und denke auch +eurer, wie meine Briefe beweisen.« + +»Du solltest doch wieder einmal einen ganzen Sommer hier bleiben«, +sagte sie. + +»Wer weiß, was geschieht«, erwiderte ich. + +Als die Dunkelheit bereits mit ihrer vollen Macht hereinzubrechen +anfing, kam der Vater wieder aus der Stadt, und wir nahmen unser +Abendessen in dem Waffenhäuschen. Da sehr lange Tage waren und da es +nach dem Eintreten der völligen Finsternis schon ziemlich spät war, +so konnten wir nach dem Speisen nicht mehr so lange in dem Häuschen +mit den gläsernen Wänden beim Brennen der traulichen Lichter sitzen +bleiben, wie in dem Herbste, wenn ich nach einer langen Sommerarbeit +wieder zu den Meinigen zurückgekehrt war. Auch hatte man heute in +dem lauen Abende mehrere der Glasabteilungen geöffnet, der Eppich +flüsterte in einem gelegentlichen Luftzuge, und die Flamme im Innern +der Lampe wankte unerfreulich. Wir trennten uns und suchten unsere +Ruhe. + +Am anderen Tage am frühesten Morgen kam Klotilde zu mir. Als ich auf +ihr Pochen geöffnet hatte und sie eingetreten war, verkündigte ihr +Angesicht, daß die Mutter über meine Angelegenheit mit ihr gesprochen +habe. Sie sah mich an, ging näher, fiel mir um den Hals und brach in +einen Strom von Tränen aus. Ich ließ ihr ein Weilchen freien Lauf und +sagte dann sanft: »Klotilde, wie ist dir denn?« + +»Wohl und wehe«, antwortete sie, indem sie sich von mir zu einem Sitze +führen ließ, auf den ich mich neben ihr niederließ. + +»Du weißt nun also alles?« + +»Ich weiß alles. Warum hast du mir es denn nicht früher gesagt?« + +»Ich mußte doch vorher mit den Eltern sprechen, und dann, Klotilde, +hatte ich gegen dich gerade den wenigsten Mut.« + +»Und warum hast du nicht in früheren Sommern etwas gesagt?« + +»Weil nichts zu sagen war. Es ist erst jetzt zu gegenseitiger Kenntnis +gekommen, und da bin ich hergeeilt, mich den Meinigen zu offenbaren. +Als das Gefühl nur das meine war und die Zukunft sich noch verhüllte, +durfte ich nicht reden, weil es mir nicht männlich schien und weil die +Empfindung, die vielleicht in Kurzem gänzlich weggetan werden mußte, +durch Worte nicht gesteigert werden durfte.« + +»Ich habe es immer geahnt«, sagte Klotilde, »und habe dir immer das +höchste und größte Glück gewünscht. Sie muß sehr gut, sehr lieb, sehr +treu sein. Ich habe nur das Verlangen, daß sie dich so liebt wie ich.« + +»Klotilde«, antwortete ich, »du wirst sie sehen, du wirst sie kennen +lernen, du wirst sie lieben; und wenn sie mich dann auch nicht mit der +in der Geburt gegründeten schwesterlichen Liebe liebt, so liebt sie +mich mit einer anderen, die auch mein Glück, dein Glück, das Glück der +Eltern vermehren wird.« + +»Ich habe oft gedacht, wenn du von ihr erzähltest, wie wenig du auch +sagtest, und gerade, weil du wenig sagtest«, fuhr sie fort, »daß sich +etwa da ein Band entwickeln könnte, daß es sehr zu wünschen wäre, +daß du ihre Neigung gewännest und daß daraus eine bessere Einigung +entstehen könnte als durch die Verbindung mit einem Mädchen unserer +Stadt oder mit einem anderen.« + +»Und nun ist es so«, erwiderte ich. + +»Warum hast du denn nie ein Bild von ihr gemalt?« fragte sie. + +»Weil ich sie eben so wenig oder noch weniger darum bitten konnte als +dich oder die Mutter oder den Vater. Ich hatte nicht das Herz dazu«, +antwortete ich. + +»Nun sei recht glücklich, sei zufrieden bis in dein höchstes Alter, +und bereue nie, auch nicht im geringsten den Schritt, den du getan +hast«, sagte sie. + +»Ich glaube, daß ich ihn nie bereuen werde, und ich danke dir innig +für deine Wünsche, meine teure, meine geliebte Klotilde«, erwiderte +ich. + +Sie trocknete ihre Tränen mit dem Tuche, ordnete gleichsam ihr ganzes +Wesen und sah mich freundlich an. + +»Wer wird jetzt mit mir zeichnen, spanische Bücher lesen, Zither +spielen, wem werde ich alles sagen, was mir in das Herz kömmt?« sprach +sie nach einer Weile. + +»Mir, Klotilde«, erwiderte ich, »alles, was ich früher war, werde ich +dir bleiben. Lesen, Zeichnen, Zitherspielen wirst du mit Natalien; +auch mitteilen wirst du dich ihr, und mit ihr wirst du das alles +vollführen, was du bisher mit mir vollführt hast. Lerne sie nur erst +kennen, und du wirst begreifen, daß es wahr ist, was ich sage.« + +»Ich möchte sie gerne sehr bald sehen«, sagte sie. + +»Du wirst sie bald sehen«, antwortete ich, »es muß sich jetzt eine +Verbindung unserer Familie mit jenen Menschen, bei denen ich bisher so +häufig gewesen bin, anknüpfen; ich wünsche selber, daß du sie bald, +sehr bald sehest.« + +»Bis dahin aber mußt du mir sehr viel von ihr erzählen, und wenn es +möglich ist, mußt du mir ein Bild von ihr bringen«, sagte sie. + +»Ich werde dir erzählen«, antwortete ich, »jetzt, da wir einmal von +der Sache gesprochen haben, werde ich dir sehr gerne erzählen, ich +werde mit dir leichter von dem Bunde reden als mit ihr selber. Ob +ich dir ein Bild werde bringen oder schicken können, weiß ich nicht; +wenn es möglich ist, werde ich es tun. Aber es wird nur in dem Falle +sein können, wenn ein Bild von ihr da ist und man es mir, oder eine +Abbildung davon überläßt. Behalte es dann, bis du mit ihr selber +zusammen kömmst und wir in freundlicher Verbindung mit einander leben. +Endlich aber, Klotilde...« + +»Endlich?« + +»Endlich wird doch auch die Zeit kommen, in welcher du von uns +ausscheiden wirst, zwar nicht mit deinem Geiste, wohl aber mit +einem Teile deiner Beziehungen, wenn nehmlich auch du eine tiefere +Verbindung eingehst.« + +»Nie, nie werde ich das tun«, rief sie beinahe heftig, »nein, ich +könnte ihm zürnen, ihm, der mein Herz hier wegführen würde. Ich liebe +nur den Vater, die Mutter und dich. Ich liebe dieses stille Haus und +alle, die berechtigt in demselben aus und ein gehen, ich liebe das, +was es enthält, und die Dinge, die sich in ihm allmählich gestalten, +ich werde Natalien und ihre Angehörigen lieben, aber nie einen +Fremden, der mich von euch ziehen wollte.« + +»Er wird dich aber von uns ziehen, Klotilde«, sagte ich, »und du wirst +doch da bleiben, er wird berechtigt sein, hier aus und ein zu gehen, +er wird ein Ding sein, das sich in dem Hause allmählich gestaltet, und +du wirst vielleicht nicht von Vater und Mutter gehen dürfen, gewiß +aber wird kein Zwang sein, daß du sie oder mich weniger lieben +müssest.« + +»Nein, nein, rede mir nicht von diesen Dingen«, erwiderte sie, »es +peinigt mich und zerstört mir das Herz, das ich dir mit großer +Teilnahme in der Morgenstunde habe bringen wollen.« + +»Nun, so reden wir nicht mehr davon, Klotilde«, sagte ich, »sei nur +beruhigt und bleibe bei mir.« + +»Ich bleibe ja bei dir«, antwortete sie, »und sprich freundlich zu +mir.« + +Sie hatte die letzte Spur der Tränen von ihrem Angesichte vertilgt, +sie setzte sich auf dem Sitze neben mir noch mehr zurecht, und ich +mußte mit ihr sprechen. Sie fragte mich von neuem um Natalien, wie sie +aussehe, was sie tue, wie sie sich zu ihrer Mutter, ihrem Bruder und +zu meinem Gastfreunde verhalte. Ich mußte ihr erzählen, wann ich sie +zum ersten Male gesehen habe, wann ich in dem Sternenhofe gewesen sei, +wann sie den Asperhof besucht habe, wann ein Ahnungsgefühl in mein +Herz gekommen, wie es dort gewachsen sei, wie ich mit mir gekämpft +habe, was dann gekommen sei und wie es sich gefügt habe, daß wir +endlich die Worte zu einander gefunden haben. + +Ich erzählte ihr gerne, ich erzählte ihr immer leichter, und je mehr +sich die Worte von dem Herzen löseten, desto süßer wurde mein Gefühl. +Ich hatte nicht geglaubt, daß ich von diesem meinem innersten Wesen zu +irgend jemandem sprechen könnte; aber Klotildens Seele war der einzige +liebe Schrein, in welchem ich das Teure niederlegen konnte. + +Wir blieben sehr lange sitzen, immer fragte mich Klotilde wieder um +Neues und wieder um Altes. Da kam die Mutter in meine Stube. Da sie +uns in vertraulichem Gespräche sitzen fand, setzte sie sich auch zu +dem Tische, der vor mir und Klotilden stand, und sagte nach einer +kurzen Weile, daß sie gekommen sei, uns zum Frühmahle zu holen. Sie +hätte Klotilden nirgends gesehen und hätte gemeint, daß sie an diesem +Morgen bei mir sein müsse. + +»Meine geliebten Kinder«, fuhr sie fort, »bewahrt euch eure Liebe, +entfremdet euch nie eure Herzen und bleibt euch in allen Lagen +zugewandt, wie ihr euch jetzt und wie ihr den Eltern zugewandt seid; +dann werdet ihr einen Schatz haben, der einer der schönsten im Leben +ist, und der so oft verkannt wird. Ihr werdet in eurer Vereinigung +sittlich stark sein, ihr werdet die Freude eures Vaters bilden, und +mir werdet ihr das Glück meines Alters sein.« + +Wir antworteten nichts auf diese Rede, weil uns ihr Inhalt so +natürlich war, und folgten der Mutter aus dem Zimmer. + + +Der Vater harrte schon unser in dem Speisegemache, und da jetzt die +Ursache meiner unvermuteten Nachhausekunft allen bekannt war und +keines sich dagegen erklärte, so sprachen wir nun unverhohlen +gemeinschaftlich von der Angelegenheit. Die Eltern hegten die besten +Erwartungen von dem neuen Bunde und freuten sich der Übereinstimmung +zwischen mir und der Schwester. Ich mußte ihnen nun, wie ich es schon +gegen Klotilde getan hatte, noch Mehreres von Natalien erzählen, wie +sie sei, was sie tue, wohin sich ihre Bildung neige und wie sie ihre +Jugend könne zugebracht haben. Auch von Mathilden und dem Sternenhofe +so wie von dem Asperhofe und meinem Gastfreunde mußte ich noch Manches +nachholen, was das Bild ergänzen sollte, welches sich die Meinigen +von den dortigen Verhältnissen machten. Ich sagte ihnen auch, daß ein +günstiges Geschick hier walte, da gerade Natalie jenes Mädchen gewesen +sei, welches einmal bei der Aufführung des König Lear in einer +Loge neben mir so ergriffen gewesen sei, welches mir großen Anteil +eingeflößt, und mich, der ich den Schmerz im Trauerspiele geteilt +hätte, im Herausgehen gleichsam zum Danke freundlich angeblickt habe. +Erst in letzter Zeit sei das aufgeklärt worden. + +Der Vater sagte, daß die Familien, die durch längere Zeit gleichsam +durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen waren, durch das Band +der geistigen Entwicklung seines Sohnes und des Verkehrs desselben +mit beiden Teilen, auch in der Wirklichkeit sich nähern, sich kennen +lernen und in eine Verbindung treten werden. + +Die Mutter entgegnete, das sei jetzt die dringendste Veranlassung, +ja es sei nicht nur eine gesellschaftliche, sondern sogar eine +Familienpflicht, daß der Vater, welcher, je älter er werde, mit einer +desto wärmeren Ausdauer, welche unbegreiflich ist, sich an seine +Arbeitsstube kette, nun endlich einmal sich den Geschäften entreiße, +eine Reise mache und sich in derselben nur mit heiteren und schönen +Dingen beschäftige. + +»Nicht nur ich werde eine Reise machen«, antwortete er, »sondern auch +du und Klotilde. Wir werden die Menschen dort, welche meinen Sohn so +freundlich aufgenommen haben, besuchen. Aber auch sie werden eine +Reise machen; denn auch sie werden zu uns in die Stadt kommen und in +diesen Zimmern verweilen. Wann aber diese Reisen stattfinden werden, +läßt sich jetzt noch gar nicht beurteilen. Jedenfalls muß unser Sohn +zuerst allein wieder hinreisen und muß die Einwilligung seiner Familie +überbringen. Seinem Ermessen und hauptsächlich den Ratschlägen seines +älteren Freundes wird es dann anheimgegeben sein, wie die Sachen im +weiteren Verlaufe sich entwickeln sollen. Die Reise unseres Sohnes muß +aber sogleich geschehen; denn so fordert es die neue Pflicht, die er +eingegangen ist. Wir werden abwarten, welche Nachrichten er uns von +seiner Ankunft im Sternenhofe zusenden oder welche Meinung er uns +selber überbringen wird.« + +»Die Reise, mein Vater«, entgegnete ich, »wünsche ich, so bald es nur +möglich ist, anzutreten, am liebsten sogleich morgen oder wenn ein +Aufschub sein muß, doch übermorgen.« + +»Es wird nicht verspätet sein, wenn du übermorgen reisest, da sich +noch Einiges zum Besprechen ergeben kann«, antwortete er. + +Klotilde äußerte ihre Freude, daß einmal alle eine Reise antreten +würden. + +»Und für den guten Vater könnte nun öfter der Anlaß gegeben sein«, +sagte die Mutter, »daß er in das Freiere und Weitere komme, daß er +reine Luft atme und Berg und Wald und Feld betrachte.« + +»Ich werde doch einmal, meine liebe Therese, mein Buch abschließen«, +erwiderte der Vater, »und es wird für mich der Stillstand der +Geschäfte eintreten. Sie mögen in andere Hände übergehen oder sich +ganz auflösen. Dann wird es Zeit sein, im Anblicke von Berg, Wald und +Feld ein Haus zu mieten oder zu bauen, daß wir im Sommer dort und im +Winter hier wohnen, wenn wir nicht gar lieber auch manchen Winter +draußen bleiben wollen.« + +»So hast du oft gesagt«, antwortete die Mutter, »aber es ist nicht +geschehen.« + +»Wenn Zeit und Ort darnach angetan sind, wird es geschehen«, erwiderte +er. + +»Wenn dann noch deine Gesundheit und dein geistiges Wesen davon den +gewünschten Nutzen ziehen«, sagte die Mutter, »werde ich jeden Winter +preisen, welchen wir mitten in irgend einem Lande zubringen.« + +»Es wird sich Vieles ereignen, woran wir jetzt nicht denken«, +antwortete der Vater. + +Wir standen von dem Frühmahle auf, und jedes ging an seine Geschäfte. + +Im Laufe des Vormittages ließ mich die Mutter wieder zu sich bitten +und fragte mich, wie ich es denn zu halten gedenke, wo ich mit +Natalien wohnen wolle. Es sei in dem Hause Platz genug, nur müßte +alles gerichtet werden. Auch seien viele andere Dinge zu ordnen, +besonders meine Kleider, in denen ich doch nun anders sein müsse. Sie +wünsche meine Meinung zu hören, damit man zu rechter Zeit beginnen +könne, um noch fertig zu werden. + +Ich sagte, daß ich in der Tat auf diese Angelegenheit nicht gedacht +habe, daß ihre Erwägung wohl noch Zeit habe, und daß wir vor Allem den +Vater um Rat fragen sollten. + +Sie war damit einverstanden. + +Als wir nach dem Mittagsessen den Vater fragten, war er meiner +Meinung, daß es noch zu frühe sei, an diese Dinge zu denken. Es würde +schon zu rechter Zeit geschehen, daß alles, was not tue, in Ordnung +gesetzt werden könne. Jetzt seien andere Dinge zu besprechen und zu +bedenken. Wenn es an der Zeit sei, werde es die Mutter erfahren, daß +sie alle ihre Maßregeln ausreichend treffen könne. + +Sie war damit zufrieden. + + +Nachmittags fragte ich in der Stadt im Hause der Fürstin an und +erfuhr, daß dieselbe zufällig auf mehrere Tage anwesend sei. Sie +habe die Absicht, nach Riva zu gehen, um dort einige Wochen an den +Ufern des blauen Gardasees zu verleben. Sie sei jetzt eben damit +beschäftigt, die Vorbereitungen zu dieser Reise zu machen. Ich ließ +anfragen, wann ich sie sprechen könnte, und wurde auf den nächsten Tag +um zwölf Uhr bestellt. + +Ich nahm zu dieser Zeit eine Mappe mit einigen meiner Arbeiten +zu mir und verfügte mich in ihre Wohnung. Nach den freundlichen +Empfangsworten drückte sie ihre Verwunderung aus, mich jetzt hier zu +finden. Ich gab die Verwunderung für ihre Person zurück. Sie führte +mir als Grund ihre beabsichtigte Reise an, und ich sagte, daß +plötzlich gekommene Angelegenheiten meinen Sommeraufenthalt +unterbrochen und mich in die Stadt geleitet hätten. + +Sie fragte mich um meine Arbeiten während der Zeit meiner Abwesenheit. + +Ich erklärte ihr dieselben. Als ich von dem Simmigletscher sprach, +nahm sie besonderen Anteil, weil ihr dieses Gebirge aus früherer Zeit +her bekannt war. Ich mußte ihr genau beschreiben und zeigen, wo wir +gewesen und was wir getan haben. Ich zog die Zeichnungen, die ich in +Farben von den Eisfeldern, ihren Einränderungen, ihrer Einbuchtung, +ihrer Abgleitung und ihrem oberen Ursprunge gemacht hatte und in +meiner Mappe mit mir trug, hervor und breitete sie vor ihr aus. Sie +ließ sich jedes, auch das Kleinste an diesen Zeichnungen beschreiben +und erklären. Ich mußte ihr auch versprechen, bei nächster günstiger +Gelegenheit meine Zeichnung von dem Grunde des Lautersees ihr +vorzulegen und auf das Genaueste zu erörtern. Es sei ihr dies +doppelt wünschenswert, weil sie jetzt selber zu einem See reise, der +einer der merkwürdigsten des südlichen Alpenabhanges sei. Hierauf +befragte sie mich um meine anderen Bestrebungen auf dem Gebiete +der bildenden Kunst, worauf ich erwiderte, daß ich heuer außer den +Gletscherzeichnungen, die doch wieder fast nur wissenschaftlicher +Natur seien, nichts hatte machen können, weder in Landschaften noch in +Abbildung menschlicher Köpfe. + +»Wenn ihr ein sehr schönes jugendliches Angesicht abbilden wollt«, +sagte sie, »so müsset ihr suchen, das Angesicht der jenen Tarona +abbilden zu dürfen. Ich bin alt, habe viel erfahren, habe sehr viele +Menschen gesehen und betrachtet, aber es ist mir wenig vorgekommen, +das edler, einnehmender und liebenswürdiger gewesen wäre als die Züge +der Tarona.« + +Ich errötete sehr tief bei diesen Worten. + +Sie richtete die klaren, lieben Augen auf mich, lächelte sehr fein und +sagte: »Haltet ihr etwa schon Jemanden für das Schönste?« + +Ich antwortete nicht, und sie schien auch eine Antwort nicht zu +erwarten. Von Natalien konnte ich ihr nichts sagen, da die Sache nicht +so weit gediehen war, um sie Andern verkündigen zu können. + +Wir brachen ab, ich verabschiedete mich bald, sie reichte mir gütig +die Hand, welche ich küßte, und lud mich ein, ja im künftigen Winter +sehr bald von dem Gebirge zurück zu kommen, da auch sie sehr bald in +der Stadt einzutreffen gedenke. + +Ich antwortete, daß ich über jenen Zeitpunkt jetzt durchaus nicht zu +verfügen im Stande sei. + +Am zweiten Tage Morgens stand ich reisefertig in meinem Zimmer. +Der Wagen war vor das Haus bestellt worden. Ich hatte mir es nicht +versagen können, in einem besonderen Wagen so schnell als möglich in +den Sternenhof zu fahren. Vater, Mutter und Schwester waren in dem +Speisezimmer, um von mir Abschied zu nehmen. Ich begab mich auch in +dasselbe, und wir nahmen ein kleines Frühmahl ein. Nach demselben +sagte ich Lebewohl. + +»Gott segne dich, mein Sohn«, sprach die Mutter, »Gott segne dich auf +deinem Wege, er ist der entscheidende, du bist nie einen so wichtigen +gegangen. Wenn mein Gebet und meine Wünsche etwas vermögen, wirst du +ihn nicht bereuen.« + +Sie küßte mich auf den Mund und machte mir das Zeichen des Kreuzes auf +die Stirn. + +Der Vater sagte: »Du hast von deiner frühen Jugend an erfahren, daß +ich mich nicht in deine Angelegenheiten menge; handle selbstständig +und trage die Folgen. Wenn du mich frägst, wie du jetzt getan hast, so +werde ich dir immer beistehen, in so weit es meine größere Erfahrung +vermag. Aber einen Rat möchte ich dir doch in dieser wichtigen +Angelegenheit geben oder vielmehr nicht einen Rat geben, sondern +deine Aufmerksamkeit möchte ich auf einen Umstand leiten, auf den du +vielleicht in der Befangenheit dieser Tage nicht gedacht hast. Ehe +du das ernste Band schließest, ist noch Manches für dich notwendig, +deinen Geist und dein Gemüt zu stärken und zu festigen. Eine Reise in +die wichtigsten Städte Europas und zu den bedeutendsten Völkern ist +ein sehr gutes Mittel dazu. Du kannst es, deine Vermögenslage hat sich +sehr gebessert, und ich lege wohl auch etwas dazu, wie ich überhaupt +mit dir Abrechnung halten muß.« + +Ich war sehr bewegt und konnte nicht sprechen. Ich nahm den Vater nur +bei der Hand und dankte ihm stumm. + +Klotilde nahm mit Tränen Abschied und sagte leise, als ich sie an mich +drückte: »Gehe mit Gott, es wird Alles recht sein, was du tust, weil +du gut bist und weil du auch klug bist.« + +Ich sprach die Hoffnung aus, daß ich bald wieder kommen werde, und +ging die Treppe hinab. + +Meine Reise war sehr schnell, weil überall die Pferde schon bestellt +waren, weil ich nirgends schlief und zum Essen nur die kürzeste Zeit +verwendete. + +Als ich im Sternenhofe in das Zimmer Mathildens trat, kam sie mir +entgegen und sagte: »Seid willkommen, es ist Alles, wie ich gedacht +habe; denn sonst wäret ihr nicht zu mir, sondern zu unserem Freunde +gekommen.« + +»Meine Angehörigen ehren euch, ehren unseren Freund und glauben an +unser Glück und an unsere Zukunft«, erwiderte ich. + +»Seid willkommen, Natalie«, sagte ich, als diese gerufen worden und +in das Zimmer getreten war, »ich bringe freundliche Grüße von den +Meinigen.« + +»Seid willkommen«, antwortete sie, »ich habe immer gehofft, daß es so +geschehen und daß eure Abwesenheit so kurz sein wird.« + +»Meine Hoffnung war wohl auch dieselbe«, erwiderte ich, »aber jetzt +ist alles klar, und jetzt ist völlige Beruhigung vorhanden.« + +Wir blieben bei Mathilden und sprachen einige Zeit miteinander. + +Am zweiten Tage nach meiner Ankunft reiste ich zu meinem Gastfreunde. +Mathilde hatte mir einen Wagen und Pferde mit gegeben. + +Als ich in das Schreinerhaus gekommen war, in welchem sich mein +Gastfreund bei meiner Ankunft befand, reichte er mir die Hand und +sagte: »Ich bin von eurer Rückkunft bereits benachrichtigt; man hat +mir von dem Sternenhofe gleich nach eurem Eintreffen in demselben +geschrieben.« + +Eustach sah mich seltsam an, so daß ich vermutete, er wisse auch +bereits von der Sache. + +Wir gingen nun in das Haus, und man öffnete mir meine gewöhnliche +Wohnung. Gustav kam nach einer Weile zu mir herauf und konnte seiner +Freude beinahe kein Ende machen, daß alles sei, wie es ist. Mein +Gastfreund hatte ihm die Tatsache erst heute eröffnet. Er sprach ohne +Rückhalt aus, daß ihm die Sache so weit, weit lieber sei, als wenn +Tillburg seine Schwester aus dem Hause geführt hätte, dessen Wille +wohl immer dahin gerichtet gewesen wäre. + + + +Das Vertrauen + +Ich blieb einige Zeit bei meinem Gastfreunde, teils, weil er es selber +verlangte, teils, um jene Ruhe zu gewinnen, die ich sonst immer hatte +und die ich brauchte, um in meinen Bestrebungen klar zu sehen und sie +nach gemachter Einsicht zu ordnen. + +Die Leute blickten mich fragend oder verwundert an. Vermutlich hatte +es sich ausgebreitet, in welche Beziehung ich zu Personen getreten +bin, welche Freunde des Hauses sind und welche oft in dasselbe als +Besuchende kommen. Nirgends aber trat mir der Anschein entgegen, als +ob man mir das Verhältnis mißgönnte oder es mit ungünstigen Augen +ansähe. Im Gegenteile, die Leute waren fast freundlicher und +dienstwilliger als vorher. Ich kam in das Gartenhaus. Der Gärtner +Simon trat mir mit einer Art Ehrerbietung entgegen und rief seine +Gattin Clara herbei, um ihr zu sagen, daß ich da sei, und um sie zu +veranlassen, daß sie mir ihre Verbeugung mache. Er hatte dies sonst +nie getan. Als diese Art von Vorstellung vorüber war, führte er +mich erst in den Garten, wie er mit kurzem Ausdrucke bloß seine +Gewächshäuser nannte. Er zeigte mir wieder seine Pflanzen, erklärte +mir, was neu erworben worden war, was sich besonders schön entwickelt +habe und was in gutem Stande geblieben sei; er erzählte mir auch, +welche Verluste man erlitten habe, wie die Pflanzen im schönsten +Gedeihen gewesen seien, die man verloren habe und welchen besonderen +Ursachen man ihren Verlust zuschreiben müsse. Er bedachte hiebei +nicht, daß etwa meine Gedanken anderswo sein könnten, wie er bei einer +früheren Gelegenheit auch nicht geahnt hatte, daß mein Gemüt abwesend +sei, da er mir ebenfalls mit vieler Lust und großer Umsicht seine +Gewächse erklärt hatte. Besonders eifrig war er in der Darlegung der +Vorzüge und Schönheiten der Rose, welche die Frau des Sternenhofes für +den Herrn des Hauses aus England verschrieben habe. Er führte mich zu +ihr und zeigte mir alle Vortrefflichkeiten derselben. Dann mußte ich +auch mit ihm in das Cactushaus gehen, wo er mir sogleich den Cereus +Peruvianus wies, der durch meine Güte, wie er sich ausdrückte, in +den Asperhof gekommen sei. Er wachse bereits steilrecht in seinem +Glasfache empor, was durch viele Mühe und Kunst bewirkt worden sei. +Die gelbliche Farbe vom Inghofe sei in die dunkelblau-grüne, gleichsam +mit einem Dufte überflogene übergegangen, welche die völlige +Gesundheit der Pflanze beweise. Wenn es so fortgehe, so könne auch +noch die Freude der fabelhaften weißen Blumen der lebendigen Säule in +dieses Haus kommen. Er führte mich dann zu einigen Cactusgestalten, +die eben im Blühen begriffen waren. Es lag eine ziemlich große +Sammellinse in der Nähe, um die Blumen und nebstbei auch die Waffen +und die Gestaltungen der Pflanzenkörper unter dem Einflusse des +vollen Sonnenlichtes betrachten zu können. Er bat mich, die Linse +zu gebrauchen. Es war eine farblos zeigende und zugleich eine, bei +welcher die Abweichung wegen der Kugelgestalt auf ein Kleinstes +gebracht war. Überhaupt wies sie sich als vortrefflich aus. Er +erzählte mir, daß der Herr das Vergrößerungsglas eigens zum Betrachten +der Cacteen habe machen, es in das schöne Elfenbein fassen und in das +reine Sammetfach habe legen lassen. Heute erst sei er noch in dem +Cactushause gewesen und habe mit dem Glase die Blüten und viele +Stacheln angeschaut. Ich bediente mich des Glases und sah in den von +den seidenartigen Blumenblättern umstandenen gelben, weißen oder +rosenfarbigen Kelch hinein, wie sie eben vorhanden waren. Daß der +Glanz dieser Blumenfarben besonders schön, weit schöner als die +feinste Seide und als der der meisten Blumen sei, wußte ich ohnehin, +mußte es mir aber doch von dem Gärtner Simon zeigen lassen, so wie er +auch der schönen, grün oder rosig oder dunkelrotbraun dämmernden Tiefe +des Kelches erwähnte, aus der die Wucht der schlanken Staubfäden +aufsteige, die keine Blüte so zierlich habe. Überhaupt seien die +Cactusblumen die schönsten auf der Welt, wenn man etwa einige +Schmarotzergewächse und ganz wenige andere, vereinzelte Blumen +ausnehme. Er machte mich auch auf einen Umstand aufmerksam, den ich +nicht wußte, oder den ich nicht beobachtet hatte, daß nehmlich bei +einigen Kugelcactus sich die Blumen stets aus neuen Stachelaugen, +meistens mit ganz kurzem Stengel, entwickeln, während sie bei andern +auf einem mehr oder minder hohen Stiele aus vorjährigen oder noch +älteren Stachelaugen sich erheben. Er sagte, das werde gewiß einmal +einen Grund zu einer neuen Einteilung dieser Cactusgestalt geben. Er +zeigte mir an vorhandenen Gewächsen den Unterschied, und ich mußte +ihn erkennen. Er sagte, daß dies nicht zufällig sei und daß er die +Tatsache schon dreißig Jahre beobachte. Damals, als er jung gewesen, +seien kaum einige dieser Gestaltungen bekannt gewesen, jetzt vermehre +sich die Kenntnis derselben bedeutend, seit die Menschen zur Einsicht +ihrer Schönheit gekommen sind und Reisende Pflanzen aus Amerika +senden, wie jener Reisende, der von deutschen Landen aus fast +in der ganzen Welt gewesen sei. Es könne nur Unverstand oder +Oberflächlichkeit oder Kurzsichtigkeit diese Pflanzengattung +ungestaltig nennen, da doch nichts regelmäßiger und mannigfaltiger und +dabei reizender sei als eben sie. Nur eine erste genaue Betrachtung +und Vergleichung derselben sei nötig, und nur ein sehr kurzes +Fortsetzen dieser Betrachtung, damit die Gegner dieser Pflanzen in +warme Verehrer derselben übergehen - es müßte nur ein Mensch überhaupt +kein Freund der Pflanzen sein, welche Gattung es vielleicht in der +Welt nicht gibt. Als ich das Pflanzenhaus verließ, begleitete er mich +bis an die Grenze der Gewächshäuser, und auch seine Gattin trat aus +der Tür ihrer Wohnung, um sich von mir zu verabschieden. + +In dem Blumengarten und in der Abteilung der Gemüse blieben die +Arbeitsleute vor mir stehen, nahmen den Hut ab und grüßten mich artig. + +Eustach war mild und freundlich wie gewöhnlich; aber er war noch weit +inniger, als er es in früheren Zeiten gewesen war. Mich freute die +Billigung gerade von diesem Menschen ungemein. Er zeigte mir alles, +was in der Arbeit war und was sich an wirklichen Dingen, was an +Zeichnungen, was an Nachrichten in der jüngsten Zeit zu dem bereits +Vorhandenen hinzugefunden hatte. Er sagte, daß mein Gastfreund in +Kurzem eine ziemlich weit entfernte Kirche besuchen werde, in welcher +man auf seine Kosten Wiederherstellungen mache, und daß er mich zu +dieser Reise einladen wolle. Ich sah unter allen vorhandenen Dingen +und Stoffen den sehr schönen Marmor nicht, den ich meinem Gastfreunde +zum Geschenke gemacht hatte, und war auch nie in Kenntnis gekommen, +daß daraus etwas verfertigt worden sei. Es sprach niemand davon, und +ich fragte auch nicht. In mancher Stunde sah ich den Arbeiten zu, +welche in dem Schreinerhause ausgeführt wurden. + +Roland war wie gewöhnlich im Sommer nicht in dem Asperhofe anwesend. + +Mit Eustach besuchte ich auch die Bilder meines Gastfreundes, seine +Kupferstiche, seine Schnitzereien und seine Geräte. Wir sprachen über +die Dinge, und ich suchte mir ihren Wert und ihre Bedeutung immer mehr +eigen zu machen. Auch in das Bücherzimmer, den Marmorsaal und das +Treppenhaus meines Gastfreundes ging ich. Wie war die Gestalt auf +der Treppe erhaben, edel und rein gegen die Nymphe in der Grotte des +Gartens im Sternenhofe, die mir in der letzten Zeit so lieb geworden +war. Durch meine Bitte ließ sich mein Freund bewegen, mir die +Zimmer aufzuschließen, in denen Mathilde und Natalie während ihres +Aufenthaltes in dem Asperhofe wohnen. Ich blieb länger als in den +anderen in dem letzten kleinen Gemache mit der Tapetentür, welches ich +die Rose genannt hatte. Mich umwehte die Ruhe und Klarheit, die in +dem ganzen Wesen Mathildens ausgeprägt ist, die in den Farben und +Gestalten des Zimmers sich zeigte und die in den unvergleichlichen +Bildern lag, die hier aufgehängt waren. + +Wir gingen auch in den Meierhof. Die Leute begegneten mir +achtungsvoll, sie zeigten mir alle Räume und wiesen, was sich in ihnen +befinde, was dort gearbeitet werde, wozu sie dienen und was sich in +neuerer Zeit geändert habe. Der Meier hatte seine besondere Freude an +der neuen, von ihm selbst verbesserten Zucht der Füllen und an dem +Volke aller von meinem Gastfreunde eingeführten Gattungen von Hühnern. +Als wir uns von dem Meierhofe entfernten und uns der vielstimmige +Gesang der Vögel aus dem Garten des Hauses entgegen schallte, sah ich +im Rückblicke, daß sich unter dem Torwege eine Gruppe von Mägden mit +ihren blauen Schürzen und weißen Hemdärmeln gesammelt habe und uns +nachschaue. + +Wenn ich auch erkannte, daß ich der Gegenstand der Aufmerksamkeit +geworden war, so entschlüpfte doch Niemandem ein Wort, welches einen +Grund dieser Aufmerksamkeit angedeutet hätte. + +Gustav, welcher wohl Anfangs seine Freude gegen mich ausgesprochen +hatte, daß es sei, wie es ist, und daß keiner von denen, die es +gewollt hatten, seine Schwester fortgeführt, sprach nun von dem +Gegenstande nicht mehr und schloß sich nur noch herzlicher, wenn +dieses möglich war, an mich an. + +Mein Gastfreund sagte mir endlich auch von der Reise nach der Kirche, +von welcher Eustach gesprochen hatte, und lud mich zu derselben ein. +Ich nahm die Einladung an. + + +Wir fuhren eines Morgens von dem Asperhofe fort, mein Gastfreund, +Eustach, Gustav und ich. Gustav wird, wie mir mein Gastfreund +sagte, auf jede kleinere Reise von ihm mitgenommen. Wenn dies bei +ausgedehnteren Reisen nicht der Fall sein kann, so wird er zu seiner +Mutter in den Sternenhof gebracht. Wir kamen erst am zweiten Tage +bei der Kirche an. Roland, welcher von unserer Ankunft unterrichtet +gewesen war, erwartete uns dort. Die Kirche war ein Gebäude im +altdeutschen Sinn. Sie stammte, wie meine Freunde versicherten, aus +dem vierzehnten Jahrhunderte her. Die Gemeinde war nicht groß und +nicht besonders wohlhabend. Die letztvergangenen Jahrhunderte hatten +an dieser Kirche viel verschuldet. Man hatte Fenster zumauern lassen, +entweder ganz oder zum Teile, man hatte aus den Nischen der Säulen +die Steinbilder entfernt und hatte hölzerne, die vergoldet und gemalt +waren, an ihre Stelle gebracht. Weil aber diese größer waren als ihre +Vorgänger, so hat man die Stellen, an die sie kommen sollten, häufig +ausgebrochen, und die früheren Überdächer mit ihren Verzierungen +weggeschlagen. Auch ist das Innere der ganzen Kirche mit bunten Farben +bemalt worden. Als dieses in dem Laufe der Jahre auch wieder schadhaft +wurde und sich Ausbesserungsarbeiten an der Kirche als dringlich +notwendig erwiesen, gab sich auch kund, daß die Mittel dazu schwer +aufzubringen sein würden. Die Gemeinde geriet beinahe über den Umfang +der Arbeiten, die vorzunehmen wären, in großen Hader. Offenbar waren +in früheren Zeiten reiche und mächtige Wohltäter gewesen, welche die +Kirche hervorgerufen und erhalten hatten. In der Nähe stehen noch die +Trümmer der Schlösser, in denen jene wohlhabenden Geschlechter gehaust +hatten. Jetzt steht die Kirche allein als erhaltenes Denkmal jener +Zeit auf dem Hügel, einige in neuerer Zeit erbaute Häuser stehen um +sie herum, und rings liegt die Gemeinde in den in dem Hügellande +zerstreuten Gehöften. Die Besitzer der Schloßrainen wohnen in weit +entfernten Gegenden und haben, da sie ganz anderen Geschlechtern +angehören, entweder nie eine Liebe zu der einsamen Kirche gehabt oder +haben sie verloren. Der Pfarrer, ein schlichter, frommer Mann, der +zwar keine tiefen Kenntnisse der Kunst hatte, aber seit Jahren an den +Anblick seiner Kirche gewöhnt war und sie, da sie zu verfallen begann, +wieder gerne in einem so guten Zustande gesehen hätte, als nur möglich +ist, schlug alle Wege ein, zu seinem Ziele zu gelangen, die ihm nur +immer in den Sinn kamen. Er sammelte auch Gaben. Auf letztem Wege kam +er zu meinem Gastfreunde. Dieser nahm Anteil an der Kirche, die er +unter seinen Zeichnungen hatte, reiste selber hin und besah sie. Er +versprach, daß er, wenn man seinen Plan zur Wiederherstellung der +Kirche billige und annehme, alle Kosten der Arbeit, die über den +bereits vorhandenen Vorrat hinausreichen, tragen und die Arbeit +in einer gewissen Zahl von Jahren beendigen werde. Der Plan wurde +ausgearbeitet und von allen, welche in der Angelegenheit etwas zu +sprechen hatten, genehmigt, nachdem der Pfarrer schon vorher, ohne +ihn gesehen zu haben, sehr für ihn gedankt und sich überall eifrig +für seine Annahme verwendet hatte. Es wurde dann zur Ausführung +geschritten, und in dieser Ausführung war mein Gastfreund begriffen. +Die Füllmauern in den Fenstern wurden vorsichtig weggebrochen, daß +man keine der Verzierungen, welche in Mörtel und Ziegeln begraben +waren, beschädige, und dann wurden Glasscheiben in der Art der noch +erhaltenen in die ausgebrochenen Fenster eingesetzt. Die hölzernen +Bilder von Heiligen wurden aus der Kirche entfernt, die Nischen wurden +in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder hergestellt. Wo man unter dem +Dache der Kirche oder in anderen Räumen die alten schlanken Gestalten +der Heiligenbilder wieder finden konnte, wurden sie, wenn sie +beschädigt waren, ergänzt, und an ihre mutmaßlichen Stellen gesetzt. +Für welche Nischen man keine Standbilder auffinden konnte, die wurden +leer gelassen. Man hielt es für besser, daß sie in diesem Zustande +verharren, als daß man eins der hölzernen Bilder, welche zu der Bauart +der Kirche nicht paßten, in ihnen zurückgelassen hätte. Freilich wäre +die Verfertigung von neuen Standbildern das Zweckmäßigste gewesen; +allein das war nicht in den Plan der Wiederherstellung aufgenommen +worden, weil es über die zu diesem Werke verfügbaren Kräfte meines +Gastfreundes ging. Alle Nischen aber, auch die leeren, wurden, +wenn Beschädigungen an ihnen vorkamen, in guten Stand gesetzt. +Die Überdächer über ihnen wurden mit ihren Verzierungen wieder +hergestellt. Zu der Übertünchung des Innern der Kirche war ein Plan +entworfen worden, nach welchem die Farbe jener Teile, die nicht Stein +waren, so unbestimmt gehalten werden sollte, daß ihr Anblick dem eines +bloßen Stoffes am ähnlichsten wäre. Die Gewölberippen, deren Stein +nicht mit Farbe bestrichen war, so wie alles Andere von Stein wurde +unberührt gelassen, und sollte mit seiner bloß stofflichen Oberfläche +wirken. Die Gerüste zu der Übertünchung waren bereits dort geschlagen, +wo man mit Leitern nicht auslangen konnte. Freilich wäre in der Kirche +noch vieles Andere zu verbessern gewesen. Man hatte den alten Chor +verkleidet und ganz neue Mauern zu einer Emporkirche aufgeführt, man +hatte ein Seitenkapellchen im neuesten Sinne hinzugefügt, und es +war ein Teil der Wand des Nebenschiffes ausgenommen worden, um eine +Vertiefung zu mauern, in welche ein neuer Seitenaltar zu stehen kam. +Alle diese Fehler konnten wegen Unzulänglichkeit der Mittel nicht +verbessert werden. Der Hauptaltar in altdeutscher Art war geblieben. +Roland sagte, es sei ein Glück gewesen, daß man im vorigen +Jahrhunderte nicht mehr so viel Geld gehabt habe als zur Zeit der +Erbauung der Kirche, denn sonst hätte man gewiß den ursprünglichen +Altar weggenommen und hätte einen in dem abscheulichen Sinne des +vergangenen Jahrhunderts an seine Stelle gesetzt. Mein Gastfreund +besah alles, was da gearbeitet wurde, und es ward ein Rat mit Eustach +und Roland gehalten, dem auch ich beigezogen wurde, um zu erörtern, +ob alles dem gefaßten Plane getreu gehalten werde, und ob man nicht +Manches mit Aufwendung einer mäßigen Summe noch zu dem ursprünglich +Beabsichtigten hinzu tun könnte, was der Kirche not täte und was ihr +zur Zierde gereichte. Die Ansichten vereinigten sich sehr bald, da die +Männer nach der nehmlichen Richtung hin strebten und da ihre Bildungen +in dieser Hinsicht sich wechselweise zu dem gleichen Ergebnisse +durchdrungen hatten. Ich konnte sehr wenig mitreden, obgleich ich +gefragt wurde, weil ich einerseits zu wenig mit den vorhandenen +Grundlagen vertraut war und weil andererseits meine Kenntnisse in dem +Einzelnen der Kunst, um welche es sich hier handelte, mit denen meiner +Freunde nicht Schritt halten konnten. Der Pfarrer hatte uns sehr +freundlich aufgenommen und wollte uns sämmtlich in seinem kleinen +Hause beherbergen. Mein Gastfreund lehnte es ab, und wir richteten +uns, so gut es ging, in dem Gasthofe ein. Der Ehrerbietung und des +Dankes aber konnte der bescheidene Pfarrer gegen meinen Gastfreund +kein Ende finden. Auch kam eine Abordnung mehrerer Gemeindeglieder, +um, wie sie sagten, ihre Aufwartung zu machen und ihren Dank +darzubringen. Wirklich, wenn man die schlanken, edlen Gestaltungen der +Kirche ansah, welche da einsam auf ihrem Hügel in einem abgelegenen +Teile des Landes stand, in dem man sie gar nicht gesucht hätte, und +die schon geschehenen Verbesserungen betrachtete, welche ihre feinen +Glieder wieder zu Ansehen und Geltung brachten, so konnte man nicht +umhin, sich zu freuen, daß die reinen blauen Lüfte wieder den reinen, +einfachen Bau umfächelten, wie sie ihn umfächelt hatten, als er +nach dem Haupte des längst verstorbenen Meisters aus den Händen der +Arbeitsleute hervor gegangen war. Und wirklich mußte man sich auch zum +Danke verpflichtet fühlen, daß es einen Mann gab, wie mein Gastfreund +war, der aus Liebe zu schönen Dingen, und ich muß wohl auch +hinzufügen, aus Liebe zur Menschheit, einen Teil seines Einkommens, +seiner Zeit und seiner Einsicht opferte, um manch Edles dem Verfalle +zu entreißen und vor die Augen der Menschen wohlgebildete und hohe +Gestaltungen zu bringen, daß sie sich daran, wenn sie dessen fähig +sind und den Willen haben, erheben und erbauen können. + +Das alles wußten aber die Gemeindeglieder nicht, sie dankten nur, weil +sie meinten, daß es ihre Schuldigkeit sei. + +Nachdem mein Gastfreund den Bau gut befunden und mit Eustach, dem +eigentlichen Werkmeister, das Nähere angeordnet hatte, und nachdem +auch Roland die Zusicherung gegeben hatte, daß er dem Wunsche meines +Gastfreundes gemäß öfter nachsehen und Bericht erstatten werde, +rüsteten wir uns, unsere verschiedenen Wege zu gehen. Roland wollte +wieder in das nahe liegende Gebirge zurückkehren, von dem er zu der +Kirche heraus gekommen war, und wir wollten den Weg nach dem Asperhofe +antreten. Roland entfernte sich zuerst. Wir besuchten noch den Inhaber +eines Glaswerkes in der Nähe, der von großem Einflusse war, und +begaben uns dann auf den Weg nach dem Hause meines Freundes. + +Auf dem Rückwege kamen wir über die Bildung des Schönen zu sprechen, +wie es gut sei, daß Menschen aufstehen, die es darstellen, daß über +ihre Mitbrüder auch dieses sanfte Licht sich verbreite und sie immer +zu hellerer Klarheit fort führe; daß es aber auch gut sei, daß +Menschen bestehen, welche geeignet sind, das Schöne in sich +aufzunehmen und es durch Umgang auf Andere zu übertragen, besonders, +wenn sie noch, wie mein Gastfreund, das Schöne überall aufsuchen, es +erhalten und es durch Mühe und Kraft wieder herzustellen suchen, wo es +Schaden gelitten hatte. Es sei ein ganz eigenes Ding um die Befähigung +und den Drang hiezu. + +»Wir haben schon einmal über Ähnliches gesprochen«, sagte mein +Gastfreund, »meine Erfahrungen in der Zeit meines Lebens haben mich +gelehrt, daß es ganz bestimmte Anlagen zu ganz bestimmten Dingen gibt, +mit denen die Menschen geboren werden. Nur in der Größe unterscheiden +sich diese Anlagen, in der Möglichkeit, sich auszusprechen, und in der +Gelegenheit, kräftig zur Wirksamkeit kommen zu können. Dadurch scheint +Gott die Mannigfaltigkeit der Taten mit ihrem nachdrücklichsten +Erfolge, wie es auf der Erde notwendig ist, vermitteln zu wollen. +Es erschien mir immer merkwürdig, wo ich Gelegenheit hatte, es zu +beobachten, wie bei Menschen, die bestimmt sind, ganz Ungewöhnliches +in einer Richtung zu leisten, sich ihre Anlage bis in die feinsten +Fäden ihres Gegenstandes ausspricht und zu ihm hindrängt, während sie +in Anderm bis zum Kindlichen unwissend bleiben können. Einer, der +über Kunstdinge trotz aller Belehrung, trotz alles Umganges, trotz +langjähriger täglicher Berührung mit auserlesenen Kunstwerken nie +Anderes als Ungereimtes sagen konnte, war ein Staatsmann, der die +feinsten Abschattungen seines Gegenstandes durchdrang, der die +Gedanken der Völker und die Absichten der Menschen und Regierungen, +mit denen er verkehrte, erriet und es verstand, alle Dinge seinen +Zwecken dienstbar machen zu können, so daß das Anderen wie ein +Zauberwerk eines Geistes erschien, was gleichsam ein Naturgesetz war. +In meiner Jugend kannte ich einen Mann, der mit einem Verstande, über +den wir uns vor Bewunderung kaum zu fassen wußten, in die Tiefen eines +Kunstwesens, das er besprechen wollte, einging, und Gedanken zu Tage +brachte, von denen wir nicht begriffen, wie sie in das Herz eines +Menschen haben kommen können; während er die Meinungen und Absichten +ganz gewöhnlicher Menschen und gerade solcher, die tief unter ihm +standen, nicht durchschaute und den notwendigen Gang der Staaten nicht +sah, weil ihm das Auge dafür versagt war oder weil er im Drange seiner +Gegenstände darauf nicht achtete. Ich könnte noch mehrere Beispiele +anführen: den zum Feldherrn Geborenen im Richtersaale um Mein und +Dein, oder den, der wissenschaftliche Stoffe fördert, in der Bildung +eines Heeres. So hat Gott es auch Manchen gegeben, daß sie dem Schönen +nachgehen müssen und sich zu ihm wie zu einer Sonne wenden, von der +sie nicht lassen können. Es ist aber immer nur eine bestimmte Zahl von +solchen, deren einzelne Anlage zu einer besonderen großen Wirksamkeit +ausgeprägt ist. Ihrer können nicht viele sein, und neben ihnen werden +die geboren, bei denen sich eine gewisse Richtung nicht ausspricht, +die das Alltägliche tun und deren eigentümliche Anlage darin besteht, +daß sie gerade keine hervorragende Anlage zu einem hervorragenden +Gegenstande haben. Sie müssen in großer Menge sein, daß die Welt in +ihren Angeln bleibt, daß das Stoffliche gefördert werde und alle Wege +im Betriebe sind. Sehr häufig aber kömmt es nun leider auf den Umstand +an, daß der rechten Anlage der rechte Gegenstand zugeführt wird, was +so oft nicht der Fall ist.« + +»Könnte denn nicht die Anlage den Gegenstand suchen, und sucht sie ihn +nicht auch oft?« fragte Eustach. + +»Wenn sie in großer Macht und Fülle vorhanden ist, sucht sie ihn«, +entgegnete mein Gastfreund, »zuweilen aber geht sie in dem Suchen zu +Grunde.« + +»Das ist ja traurig, und dann wird ihr Zweck verfehlt«, antwortete +Eustach. + +»Ich glaube nicht, daß ihr Zweck deshalb ganz verfehlt wird«, sagte +mein Gastfreund, »das Suchen und das, was sie in diesem Suchen fördert +und in sich und Anderen erzeugt, war ihr Zweck. Es müssen eben +verschiedene, und zwar verschieden hohe und verschieden geartete +Stufen erstiegen werden. Wenn jede Anlage mit völliger Blindheit ihrem +Gegenstande zugeführt würde und ihn ergreifen und erschöpfen müßte, +so wäre eine viel schönere und reichere Blume dahin, die Freiheit der +Seele, die ihre Anlage einem Gegenstande zuwenden kann oder sich von +ihm fern halten, die ihr Paradies sehen, sich von ihm abwenden und +dann trauern kann, daß sie sich von ihm abgewendet hat, oder die +endlich in das Paradies eingeht und sich glücklich fühlt, daß sie +eingegangen ist.« + +»Oft habe ich schon gedacht«, sagte ich, »da die Kunst so sehr auf die +Menschen wirkt, wie ich an mir selber, wenn auch nur erst kurze Zeit, +zu beobachten Gelegenheit hatte, ob denn der Künstler bei der Anlage +seines Werkes seine Mitmenschen vor Augen habe und dahin rechne, wie +er es einrichten müsse, daß auf sie die Wirkung gemacht werde, die er +beabsichtiget.« + +»Ich hege keine Zweifel, daß es nicht so ist«, erwiderte mein +Gastfreund, »wenn der Mensch überhaupt seine ihm angeborne Anlage +nicht kennt, selbst wenn sie eine sehr bedeutende sein sollte und wenn +er mannigfaltige Handlungen vornehmen muß, ehe seine Umgebung ihn oder +er sich selber inne wird, ja wenn er zuletzt sich seiner Freiheit +gemäß seiner Anlage hingeben oder sich von ihr abwenden kann: so wird +er wohl im Wirken dieser Anlage nicht so zu rechnen im Stande sein, +daß sie an einem gewissen Punkte anlanden müsse; sondern je größer +die Kraft ist, um so mehr, glaube ich, wirkt sie nach den ihr +eigentümlichen Gesetzen, und das dem Menschen inwohnende Große strebt, +unbewußt der Äußerlichkeiten, seinem Ziele zu und erreicht desto +Wirkungsvolleres, je tiefer und unbeirrter es strebt. Das Göttliche +scheint immer nur von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menschen +gegeben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugnis auf die Mitmenschen +wirken soll, die Wirkung ist auch gekommen, sie ist oft eine große +gewesen, aber keine künstlerische und keine tiefe; sie haben etwas +Anderes erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das die, welche +nach ihnen kamen, nicht teilten und von dem sie nicht begriffen, +wie es auf die Vorgänger hatte wirken können. Diese Menschen bauten +vergängliche Werke und waren nicht Künstler, während das durch die +wirkliche Macht der Kunst Geschaffene, weil es die reine Blüte der +Menschheit ist, nach allen Zeiten wirkt und entzückt, so lange die +Menschen nicht ihr Köstlichstes, die Menschheit, weggeworfen haben.« + +»Es ist einmal in der Stadt die Frage gestellt worden«, sagte ich, »ob +ein Künstler, wenn er wüßte, daß sein Werk, das er beabsichtigt, zwar +ein unübertroffenes Meisterwerk sein wird, daß es aber die Mitwelt +nicht versteht und daß es auch keine Nachwelt verstehen wird, es doch +schaffen müsse oder nicht. Einige meinten, es sei groß, wenn er es +täte, er tue es für sich, er sei seine Mit- und Nachwelt. Andere +sagten, wenn er etwas schaffe, von dem er wisse, daß es die Mitwelt +nicht verstehe, so sei er schon töricht und vollends, wenn er es +schaffe und weiß, daß auch keine Nachwelt es begreifen wird.« + +»Dieser Fall wird wohl kaum sein«, antwortete mein Gastfreund, »der +Künstler macht sein Werk, wie die Blume blüht, sie blüht, wenn sie +auch in der Wüste ist und nie ein Auge auf sie fällt. Der wahre +Künstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden +werden wird oder nicht. Ihm ist klar und schön vor Augen, was er +bildet, wie sollte er meinen, daß reine, unbeschädigte Augen es nicht +sehen? Was rot ist, ist es nicht allen rot? Was selbst der gemeine +Mann für schön hält, glaubt er das nicht für alle schön? Und sollte +der Künstler das wirklich Schöne nicht für die Geweihten schön halten? +Woher käme denn sonst die Erscheinung, daß einer ein herrliches Werk +macht, das seine Mitwelt nicht ergreift? Er wundert sich, weil er +eines andern Glaubens war. Es sind dies die Größten, welche ihrem +Volke voran gehen und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken stehen, +zu der sie ihre Welt erst durch ihre Werke führen müssen. Nach +Jahrzehnten denkt und fühlt man wie jene Künstler, und man begreift +nicht, wie sie konnten mißverstanden werden. Aber man hat durch diese +Künstler erst so denken und fühlen gelernt. Daher die Erscheinung, daß +gerade die größten Menschen die naivsten sind. + +Wenn nun der früher angegebene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren +Künstler gäbe, der zugleich wüßte, daß sein beabsichtigtes Werk nie +verstanden werden würde, so würde er es doch machen, und wenn er es +unterläßt, so ist er schon gar kein Künstler mehr, sondern ein Mensch, +der an Dingen hängt, die außer der Kunst liegen. Hieher gehört auch +jene rührende Erscheinung, die von manchen Menschen so bitter getadelt +wird, daß einer, dem recht leicht gangbare Wege zur Verfügung ständen, +sich reichlich und angenehm zu nähren, ja zu Wohlstand zu gelangen, +lieber in Armut, Not, Entbehrung, Hunger und Elend lebt und immer +Kunstbestrebungen macht, die ihm keinen äußeren Erfolg bringen und +oft auch wirklich kein Erzeugnis von nur einigem Kunstwerte sind. Er +stirbt dann im Armenhause oder als Bettler oder in einem Hause, wo er +aus Gnaden gehalten wurde.« + + +Wir waren unseres Freundes Meinung. Eustach ohnehin schon, weil er +die Kunstdinge als das Höchste des irdischen Lebens ansah und ein +Kunststreben als bloßes Bestreben schon für hoch hielt, wie er auch +zu sagen pflegte, das Gute sei gut, weil es gut sei. Ich stimmte bei, +weil mich das, was mein Gastfreund sagte, überzeugte, und Gustav +mochte es geglaubt haben - Erfahrungen hatte er nicht -, weil ihm +alles Wahrheit war, was sein Pflegevater sagte. + +Von einem Streben, das gewissermaßen sein eigener Zweck sei, vom +Vertiefen der Menschen in einen Gegenstand, dem scheinbar kein äußerer +Erfolg entspricht und dem der damit Behaftete doch alles Andere +opfert, kamen wir überhaupt auf Verschiedenes, an das der Mensch sein +Herz hängt, das ihn erfüllt und das sein Dasein oder Teile seines +Daseins umschreibt. Nachdem wir wirklich eine größere Zahl von Dingen +durchsprochen hatten, die zu dem Menschen in das von uns angeführte +Verhältnis treten können, als ich je vermutet hätte, machte mein +Gastfreund folgenden Ausspruch: »Wenn wir hier alle die Dinge +ausschließen, die nur den Körper oder das Tierische des Menschen +betreffen und befriedigen und deren andauerndes Begehren mit +Hinwegsetzung alles Andern wir mit dem Namen Leidenschaft bezeichnen, +weshalb es denn nichts Falscheres geben kann, als wenn man von edlen +Leidenschaften spricht, und wenn wir als Gegenstände höchsten Strebens +nur das Edelste des Menschen nennen: so dürfte alles Drängen nach +solchen Gegenständen vielleicht nicht mit Unrecht nur mit einem Namen +zu benennen sein, mit Liebe. Lieben als unbedingte Werthaltung mit +unbedingter Hinneigung kann man nur das Göttliche oder eigentlich nur +Gott; aber da uns Gott für irdisches Fühlen zu unerreichbar ist, kann +Liebe zu ihm nur Anbetung sein, und er gab uns für die Liebe auf +Erden Teile des Göttlichen in verschiedenen Gestalten, denen wir uns +zuneigen können: so ist die Liebe der Eltern zu den Kindern, die +Liebe des Vaters zur Mutter, der Mutter zum Vater, die Liebe der +Geschwister, die Liebe des Bräutigams zur Braut, der Braut zum +Bräutigam, die Liebe des Freundes zum Freunde, die Liebe zum +Vaterlande, zur Kunst, zur Wissenschaft, zur Natur, und endlich +gleichsam kleine Rinnsale, die sich von dem großen Strome abzweigen, +Beschäftigungen mit einzelnen, gleichsam kleinlichen Gegenständen, +denen sich oft der Mensch am Abende seines Lebens wie kindlichen +Notbehelfen hingibt, Blumenpflege, Zucht einer einzigen Gewächsart, +einer Tierart und so weiter, was wir mit dem Namen Liebhaberei +belegen. Wen die größeren Gegenstände der Liebe verlassen haben, oder +wer sie nie gehabt hat, und wer endlich auch gar keine Liebhaberei +besitzt, der lebt kaum und betet auch kaum Gott an, er ist nur da. + +So faßt es sich, glaube ich, zusammen, was wir mit der Richtung +großer Kräfte nach großen Zielen bezeichnen, und so findet es seine +Berechtigung.« + +»Jene Zeit«, sagte er nach einer Weile, »in welcher die Kirchen gebaut +worden sind, wie wir eben eine besucht haben, war in dieser Hinsicht +weit größer als die unsrige, ihr Streben war ein höheres, es war +die Verherrlichung Gottes in seinen Tempeln, während wir jetzt +hauptsächlich auf den stofflichen Verkehr sehen, auf die +Hervorbringung des Stoffes und auf die Verwendung des Stoffes, +was nicht einmal ein an sich gültiges Streben ist, sondern nur +beziehungsweise, in so fern ihm ein höherer Gedanke zu Grunde +gelegt werden kann. Das Streben unserer älteren Vorgänger war auch +insbesondere darum ein höheres, weil ihm immer Erfolge zur Seite +standen, die Hervorbringung eines wahrhaft Schönen. Jene Tempel waren +die Bewunderung ihrer Zeit, Jahrhunderte bauten daran, sie liebten sie +also, und jene Tempel sind auch jetzt in ihrer Unvollendung oder in +ihren Trümmern die Bewunderung einer wieder erwachenden Zeit, die ihre +Verdüsterung abgeschüttelt hat, aber zum allseitigen Handeln noch +nicht durchgedrungen ist. Sogar das Streben unserer unmittelbaren +Vorgänger, welche sehr viele Kirchen nach ihrer Schönheitsvorstellung +gebaut, noch mehr Kirchen aber durch zahllose Zubauten, durch +Aufstellung von Altären, durch Umänderungen entstellt und uns eine +sehr große Zahl solcher Denkmale hinterlassen haben, ist in so +ferne noch höher als das unsere, indem es auch auf Erbauung von +Gotteshäusern ausging, auf Darstellung eines Schönen und Kirchlichen, +wenn es sich auch in dem Wesen des Schönen von den Vorbildern +der früheren Jahrhunderte entfernt hat. Wenn unsere Zeit von dem +Stofflichen wieder in das Höhere übergeht, wie es den Anschein +hat, werden wir in Baugegenständen nicht auch gleich das Schöne +verwirklichen können. Wir werden Anfangs in der bloßen Nachahmung +des als schön Erkannten aus älteren Zeiten befangen sein, dann wird +durch den Eigenwillen der unmittelbar Betrauten manches Ungereimte +entstehen, bis nach und nach die Zahl der heller Blickenden größer +wird, bis man nach einer allgemeineren und begründeteren Einsicht +vorgeht und aus den alten Bauarten neue, der Zeit eigentümlich +zugehörige, entsprießen.« + +»In der Kirche, welche wir eben gesehen haben«, sagte ich, »liegt nach +meiner Meinung eine eigentümliche Schönheit, daß es nicht begreiflich +ist, wie eine Zeit gekommen ist, in welcher man es verkennen und so +Manches hinzufügen konnte, was vielleicht schon an sich unschön ist, +gewiß aber nicht paßt.« + +»Es waren rauhe Zeiten über unser Vaterland gekommen«, erwiderte er, +»welche nur in Streit und Verwüstung die Kräfte übten und die tieferen +Richtungen der menschlichen Seele ausrotteten. Als diese Zeiten +vorüber waren, hatte man die Vorstellung des Schönen verloren, an +seine Stelle trat die bloße Zeitrichtung, die nichts als schön +erkannte als sich selber und daher auch sich selber überall +hinstellte, es mochte passen oder nicht. So kam es, daß römische oder +korinthische Simse zwischen altdeutsche Säulen gefügt wurden.« + +»Aber auch unter den altdeutschen Kirchen ist diese, welche wir +verlassen haben, wenn ich nach den Kirchen, die ich gesehen habe, +urteilen darf, eine der schönsten und edelsten«, sagte ich. + +»Sie ist klein«, erwiderte mein Gastfreund, »aber sie übertrifft +manche große. Sie strebt schlank empor wie Halme, die sich wiegen, und +gleicht auch den Halmen darin, daß ihre Bögen so natürlich und leicht +aufspringen wie Halme, die da nicken. Die Rosen in den Fensterbögen, +die Verzierungen an den Säulenknäufen, an den Bogenrippen, so wie die +Rose der Turmspitze sind so leicht wie die verschiedenen Gewächse, die +in dem Halmenfelde sich entwickeln.« + +»Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke«, antwortete ich, »den ich +schon öfter hatte, daß man nehmlich die Fassung von Edelsteinen im +Sinne altdeutscher Baudenkmale einrichten sollte, und daß man dadurch +zu schöneren Gestaltungen käme.« + +»Wenn ihr den Gedanken so nehmet«, erwiderte er, »daß sich die, welche +Edelsteine fassen, im Sinne der alten Baumeister bilden sollen, welche +Würdiges und Schönes auf einfache und erhebende Art darstellten, +so dürftet ihr, glaube ich, recht haben. Wenn ihr aber meint, daß +Gestaltungen, welche an mittelalterlichen Gebäuden vorkommen, im +verkleinerten Maßstabe sofort als Schmuckdinge zu gebrauchen seien, so +dürftet ihr euch irren.« + +»So habe ich es gemeint«, sagte ich. + +»Wir haben schon einmal über diesen Gegenstand gesprochen«, erwiderte +er, »und ich habe damals selber auf die altertümliche Kunst als die +Grundlage von Schmuck hingewiesen; aber ich habe damit nicht bloß +die Baukunst gemeint, sondern jede Kunst, auch die der Geräte, +der Kirchenstoffe, der weltlichen Stoffe, die Malerkunst, die +Bildhauerkunst, die Holzschneidekunst und Ähnliches. Auch habe ich +nicht die unmittelbare Nachahmung der Gestaltungen gemeint, sondern +die Erkennung des Geistes, der in diesen Gestaltungen wohnt, das +Erfüllen des Gemütes mit diesem Geiste, und dann das Schaffen in +dieser Erkenntnis und in diesem Erfülltsein. Es steht der Übertragung +der baulichen Gestaltungen auf Schmuck auch ein stoffliches Hindernis +entgegen. Die Gebäude, an denen der Schönheitssinn besonders zur +Ausprägung kam, waren immer mehr oder weniger ernste Gegenstände: +Kirchen, Paläste, Brücken und im Altertume Säulen und Bögen. Im +Mittelalter sind die Kirchen weit das Überwiegende; bleiben wir also +bei ihnen. Um den Ernst und die Würde der Kirche darzustellen, ist der +Stoff nicht gleichgültig, aus dem man sie verfertiget. Man wählte den +Stein als den Stoff, aus dem das Großartigste und Gewaltigste von dem, +was sich erhebt, besteht, die Gebirge. Er leiht ihnen dort, wo er +nicht von Wald oder Rasen überkleidet ist, sondern nackt zu Tage +steht, das erhabenste Ansehen. Daher gibt er auch der Kirche die +Gewalt ihres Eindruckes. Er muß dabei mit seiner einfachen Oberfläche +wirken und darf nicht bemalt oder getüncht sein. Das Nächste unter dem +Emporstrebenden, was sich an das Gebirge anschließt, ist der Wald. Ein +Baum übt nach dem Felsen die größte Macht. Daher ist die Kirche in +Würde und künstlerischem Ansehen auch noch von Holz denkbar, sobald es +nicht bemalt und nicht bestrichen ist. Eine eiserne Kirche oder gar +eine von Silber könnte nicht anders als widrig wirken, sie würde nur +wie roher Prunk aussehen, und von einer Kirche aus Papier, gesetzt, +man könnte den Wänden auf die Dauer Widerstand gegen Wetter und den +Verzierungen durch Pressen oder dergleichen die schönsten Gestalten +geben, wendet sich das Herz mit Widerwillen und Verachtung ab. Mit dem +Stoffe hängt die Gestaltung zusammen. Der Stein ist ernst, er strebt +auf und läßt sich nicht in die weichsten, feinsten und gewundensten +Erscheinungen biegen. Ich rede von dem Bausteine, nicht von dem +Marmor. Daher hat man die Gestalten der Kirche aus ihm emporstrebend, +einfach und stark gemacht, und wo Biegungen vorkommen, sind sie mit +Maß und mit einem gewissen Adel ausgeführt und überladen nicht die +Wände und die andern Bildungen. In der Zeit, als sie das Übergewicht +zu bekommen anfingen, hörte auch die strenge Schönheit der Kirchen auf +und die Niedlichkeit begann. Zu den Fassungen unseres Schmuckes nehmen +wir Metall, und zwar meistens Gold. Das Metall aber hat wesentlich +andere Merkmale als der Stein. Es ist schwerer; darf also, ohne uns zu +drücken, nicht in größeren Stücken angewendet worden, sondern muß in +zarte Gestaltungen auseinander laufen. + +Dabei hat es unter allen Stoffen die größte Biegsamkeit und +Dehnbarkeit, wir glauben ihm daher die kühnsten Windungen und +Verschlingungen und fordern sie von ihm. Die Bildungen, besonders +Zieraten aus Gold, können daher nicht genau dieselben sein wie die aus +Stein, wenn beide schön sein sollen. Aber aus dem inneren Geiste des +einen, glaube ich, kann man recht gut und soll man den innern Geist +des andern kennen, und es dürfte Treffliches heraus kommen.« + +Ich vermochte gegen diese Ansicht nichts Wesentliches einzuwenden. +Eustach führte sie noch genauer durch Beispiele aus, die er von +bekannten Steingestaltungen an Kirchen hernahm. Er zeigte, wie eine +geläufige, leichte, kirchliche Steinbildung, wenn man sie etwa aus +Gold machen lasse, sogleich schwer, träg und unbeholfen werde, und +er zeigte auch, wie man nach und nach die Steingestaltung umwandeln +müsse, daß sie zu einer für Gold tauge, und da lebendig und +eigentümlich werde. Er versprach mir, daß er mir über diese +Angelegenheit, wenn wir nach Hause gekommen sein würden, Zeichnungen +zeigen würde. Ich sah hieraus, wie sehr meine Freunde über diesen +Gegenstand nachgedacht haben und wie sie tatsächlich in ihn +eingegangen seien. + +»Es sind aber nicht bloß die Äußerlichkeiten an unserer Kirche sehr +schön«, fuhr mein Gastfreund fort, »sondern die Gestalten der Heiligen +auf dem Altare und in den Nischen sind schöner, als man sie sonst +meistens aus dem Zeitalter, aus welchem die Kirche stammt, zu sehen +gewohnt ist. Wenn ich sagte, daß die griechischen Bildergestalten eine +größere sinnliche Schönheit haben als die aus dem Mittelalter, so ist +dieses nicht ausnahmslos so. Es gibt auch höchst liebliche Gestalten +aus dem Mittelalter, und wo keine Verzeichnung ist und wo sich +Sinnlichkeit zeigt, sind sie meistens wärmer als die griechischen. In +der kleinen Kirche ist Ähnliches vorhanden, deshalb habe ich so gerne +ihre Wiederherstellung übernommen, deshalb bedaure ich, daß meine +Mittel nicht so groß sind, die gänzliche Vollendung herbeiführen zu +können, und deshalb habe ich so sehr nach den Gestalten, die in den +Nischen fehlen, suchen lassen, um so viel als möglich die Kirche zu +bevölkern, wenn auch der Gedanke Raum hatte, daß vielleicht nicht +einmal alle Gestalten fertig geworden und alle Plätze besetzt gewesen +seien. Vielleicht steht einmal eine höhere und allgemeinere Kraft +auf, die diese und noch wichtigere Kirchen wieder in ihrer Reinheit +darstellt.« + +Wir kamen am zweiten Tage in dem Asperhofe an, und ich sagte, daß ich +nun nicht mehr lange da verweilen könne. Mein Gastfreund erwiderte, +daß er in einigen Tagen in den Sternenhof fahren werde, daß er mich +einlade, ihn zu begleiten und daß ich bis dahin noch bei ihm bleiben +möge. + +Ich erklärte, daß bei mir wohl einige Tage keinen wesentlichen +Unterschied machten, daß ich aber doch wünsche, bald zu meinen Eltern +zurückkehren zu können. + +So war der Abend vor der Abreise in den Sternenhof gekommen, und +mein Gastfreund sagte an demselben in einem gelegenen Augenblicke zu +mir: »Ihr tretet nun zu jemandem, der mir nahe ist, in ein inniges +Verhältnis; es ist billig, daß ihr alles wisset, wie es in dem +Sternenhofe ist und in welchen Beziehungen ich zu demselben stehe. Ich +werde euch alles darlegen. Damit ihr aber in noch viel größerer Ruhe +seid und mit Klarheit das Mitgeteilte aufnehmen könnet, so werde ich +es euch erzählen, wenn ihr wieder in den Asperhof kommt. Ihr werdet +jetzt zu euren Eltern gehen, wie ihr sagt, um ihnen zu berichten, wie +ihr aufgenommen worden seid und wie die Angelegenheit steht. Wenn ihr +dann nach eurem beliebigen Willen wieder zu mir kommt, sei es zu was +immer für einer Zeit, so werdet ihr willkommen sein und bereitwilligen +Empfang finden.« + + +Am anderen Morgen saß ich nebst Gustav mit ihm in dem Wagen, und wir +fuhren dem Sternenhofe zu. + +Wir wurden dort so freundlich und heiter aufgenommen wie immer, ja +noch freundlicher und heiterer als sonst. Die Zimmer, welche wir immer +bewohnt hatten, standen für uns, wie für Personen, welche zu der +Familie gehörten, in Bereitschaft. Natalie stand mit lieblichen Mienen +neben ihrer Mutter und sah ihren älteren Freund und mich an. Ich +grüßte mit Ehrerbietung die Mutter und fast mit gleicher Ehrerbietung +die Tochter. Gustav war etwas schüchterner als sonst und blickte +bald mich, bald Natalien an. Wir sprachen die gewöhnlichen +Bewillkommungsworte und andere unbedeutende Dinge. Dann verfügten wir +uns in unsere Zimmer. + +Noch an demselben Tage und am nächsten besah mein Gastfreund +verschiedene Dinge, welche zur Bewirtschaftung des Gutes gehörten, +besprach sich mit Mathilden darüber, besuchte selbst ziemlich +entfernte Stellen und ordnete im Namen Mathildens an. Auch die +Arbeiten in der Hinwegschaffung der Tünche von der Außenseite des +Schlosses besah er. Er stieg selber auf die Gerüste, untersuchte die +Genauigkeit der Hinwegschaffung der aufgetragenen Kruste und die +Reinheit der Steine. Er prüfte die Größe der in einer gewöhnlichen +Zeit vollbrachten Arbeit und gab Aufträge für die Zukunft. Wir waren +bei den meisten dieser Beschäftigungen gemeinschaftlich zugegen. + +Man behandelte mich auf eine ausgezeichnete Art. Mathilde war so +sanft, so gelassen und milde wie immer. Wer nicht genauer geblickt +hätte, würde keinen Unterschied zwischen sonst und jetzt gewahr +geworden sein. Sie war immer gütig und konnte daher nicht gütiger +sein. Ich empfand aber doch einen Unterschied. Sie richtete das Wort +so offen an mich wie früher; aber es war doch jetzt anders. Sie fragte +mich oft, wenn es sich um Dinge des Schlosses, des Gartens, der +Felder, der Wirtschaft handelte, um meine Meinung, wie einen, der +ein Recht habe und der fast wie ein Eigentümer sei. Sie fragte gewiß +nicht, um meine Meinung so gründlich zu wissen; denn mein Gastfreund +gab die besten Urteile über alle diese Gegenstände ab, sondern sie +fragte so, weil ich einer der ihrigen war. Sie hob aber diese Fragen +nicht hervor und betonte sie nicht, wie jemand getan hätte, bei dem +sie Absicht gewesen wären, sondern sie empfand das Zusammengehörige +unseres Wesens und gab es so. Mir ging diese Behandlung ungemein lieb +in die Seele. Mein Gastfreund war wohl beinahe gar nicht anders; denn +sein Wesen war immer ein ganzes und geschlossenes; aber auch er schien +herzlicher als sonst. + +Gustav verlor sein anfängliches schüchternes Wesen. Obwohl er auch +jetzt noch kein Wort sagte, welches auf unser Verhältnis anspielte - +das taten auch die anderen nicht, und er hatte eine zu gute Erziehung +erhalten, um, obgleich er noch so jung war, hierin eine Ausnahme zu +machen -, so ging er doch zuweilen plötzlich an meine Seite, nahm mich +bei einem Arme, drückte ihn oder nahm mich bei der Hand und drückte +sie mit der seinen. Nur mit Natalie war es ganz anders. Wir waren +beinahe scheuer und fremder, als wir es vor jenem Hervorleuchten des +Gefühles in der Grotte der Brunnennymphe gewesen waren. Ich durfte +sie am Arme führen, wir durften mit einander sprechen; aber wenn +dies geschah, so redeten wir von gleichgültigen Dingen, welche weit +entfernt von unseren jetzigen Beziehungen lagen. Und dennoch fühlte +ich ein Glück, wenn ich an ihrer Seite ging, daß ich es kaum mit +Worten hätte sagen können. Alles, die Wolken, die Sterne, die Bäume, +die Felder schwebten in einem Glanze, und selbst die Personen ihrer +Mutter und ihres alten Freundes waren verklärter. Daß in Natalien +Ähnliches war, wußte ich, ohne daß sie es sagte. + +Wenn wir an dem Scheunentore des Meierhofes vorbeigingen oder an +einer anderen Tür oder an einem Felde oder sonst an einem Platze, auf +welchem gearbeitet wurde, so traten die Menschen zusammen, blickten +uns nach und sahen uns mit denselben bedeutungsvollen Augen an, mit +denen man mich in dem Asperhofe angeschaut hatte. Es war mir also +klar, daß man auch hier wußte, in welchen Beziehungen ich zu der +Tochter des Hauses stehe. Ich hätte es auch aus der größeren +Ehrerbietung der Diener heraus lesen können, wenn es mir nicht schon +sonst deutlich gewesen wäre. Aber auch hier wie in dem Asperhofe +bemerkte ich, daß es etwas Freundliches war, etwas, das wie Freude +aussah, was sich in den Mienen der Leute spiegelte. Sie mußten also +auch hier mit dem, was sich vorbereitete, zufrieden sein. Ich war +darüber tief vergnügt; denn auf welchem Stande der Entwickelung die +Leute immer stehen mögen, so ist es doch gewiß, wie ich aus dem +Umgange mit vielen Menschen reichlich erfahren habe, daß Geringere die +Höheren oft sehr richtig beurteilen und namentlich, wenn Verbindungen +geschlossen werden, seien es Freundschaften, seien es Ehen, mit +richtiger Kraft erkennen, was zusammen gehört und was nicht. Daß sie +mich also zu Natalien gehörig ansahen, erfüllte mich mit nachhaltender +inniger Freude. + +Wie Natalie über diese Kundgebungen der Leute dachte, konnte ich nicht +erkennen. + +Nachdem so drei Tage vergangen waren, nachdem wir die verschiedensten +Stellen des Schlosses, des Gartens, der Felder und der Wälder +gemeinschaftlich besucht hatten, nachdem wir auch manchen Augenblick +in den Gemäldezimmern und in denen mit den altertümlichen Geräten +zugebracht und an Verschiedenem uns erfreut hatten, nachdem endlich +auch alles, was in Angelegenheiten des Gutes zu besprechen und zu +ordnen war, zwischen Mathilden und meinem Gastfreunde besprochen +und geordnet worden war, wurde auf den nächsten Tag die Abreise +beschlossen. Wir verabschiedeten uns auf eine ähnliche Weise, wie wir +uns bewillkommt hatten, der Wagen war vorgefahren, und wir schlugen +die Richtung zurück ein, in der wir vor vier Tagen gekommen waren. + + +Ich fuhr mit meinem Gastfreunde nur bis an die Poststraße und auf +derselben bis zur ersten Post. Dort trennten wir uns. Er fuhr auf +Nebenwegen dem Asperhofe zu, weil er mir zu lieb einen Umweg gemacht +hatte, ich aber schlug mit Postpferden die Richtung gegen das Kargrat +ein. Ich war entschlossen, im Kargrat für jetzt ganz abzubrechen und +also die Gegenstände, die ich noch dort hatte, fortschaffen zu lassen. +Als ich in dem kleinen Orte eingetroffen war, richtete ich meine +Verhältnisse zurecht, ließ meine Dinge einpacken und schickte sie +fort. Ich nahm von dem Pfarrer, welchen ich kennen gelernt hatte, +Abschied, verabschiedete mich auch von meinen Wirtsleuten und von den +anderen Menschen, die mir bekannt geworden waren, sagte, daß ich nicht +weiß, wann ich in das Kargrat zurückkehren werde, um meine Arbeiten, +welche ich wegen eines schnell eingetretenen Umstandes hatte abbrechen +müssen, fortzusetzen, und reiste wieder ab. + +Ich ging jetzt in das Lauterthal, um es zu besuchen. Es war in der +Richtung nach meiner Heimat ein geringer Umweg, und ich wollte das +Tal, das mir lieb geworden war, wieder sehen. Besonders aber führte +mich ein Zweck dahin. Obwohl ich wenig Hoffnung hatte, daß mein +Auftrag, den ich in dem Tale gegeben hatte, zu forschen, ob sich nicht +doch noch die Ergänzungen zu den Vertäflungen meines Vaters fänden, +einen Erfolg haben werde, so wollte ich doch nicht nach Hause reisen, +ohne in dieser Hinsicht Nachfrage gehalten zu haben. Die gewünschten +Ergänzungen hatten sie zwar nicht gefunden, auch keine Spur zu +denselben war entdeckt worden; aber manche Leute hatte ich gesehen, +denen ich in früheren Tagen geneigt worden war, Gegenstände hatte ich +erblickt, von denen ich in vergangenen Jahren zu meinem Vergnügen +umringt gewesen war. + +Ich ging auch in das Rothmoor. Dort fand ich die Arbeiten noch in +einem höheren Maße entwickelt und im Gange, als sie es bei meiner +letzten Anwesenheit gewesen waren. Von mehreren Orten hatte man +Bestellungen eingesendet, selbst von unserer Stadt, wo das Becken der +Einbeere bekannt geworden war und manchen Beifall gefunden hatte, +waren Briefe geschickt worden. Fremde kamen zu Zeiten in diese +abgelegene Gegend, machten Käufe und hinterließen Aufträge. Ich sah +also, daß sich Manches hier gebessert habe, betrachtete die Arbeiten +und bestellte auch wieder einige neue, weil ich teils noch Stücke +schönen Marmors hatte, aus denen irgend etwas gemacht werden konnte +und weil anderen Teils in dem Garten des Vaters zur Brüstung oder zu +anderen Stellen noch Gegenstände fehlten. Die Leute hatten mich recht +freundlich und zuvorkommend empfangen, sie zeigten mir, was im Gange +war, welche Verbesserungen sie eingeführt hatten und welche sie noch +beabsichtigen. Sie ließen hiebei nicht unerwähnt, daß ich der kleinen +Anstalt immer zugetan gewesen sei und daß ich zu den Verbesserungen +manchen Anlaß und manchen Fingerzeig gegeben habe. Ich drückte meine +Freude über alles das aus und versprach, daß ich, wenn ich in die Nähe +käme, jederzeit recht gerne einen kurzen Besuch in dem Rothmoor machen +würde. + +Nach diesem unbedeutenden Aufenthalte im Lauterthale und im Rothmoor +setzte ich meine Reise zu meinen Eltern ohne weitere Verzögerung fort. + + + +Die Mitteilung + +Zu Hause hatten sie mich noch nicht erwartet, weil ich ihnen durch +meinen Brief angezeigt hatte, daß ich mit meinem Gastfreunde eine +kleine Reise zu einer altertümlichen Kirche machen würde. Auch hatten +sie sich vorgestellt, daß ich noch einmal in meinen Aufenthaltsort +in das Hochgebirge gehen und mich auf der Rückreise eine Zeit in dem +Sternenhofe aufhatten werde. Sie irrten aber; denn obwohl ich in +beiden Orten war, war ich doch nicht lange dort, und es drängte mein +Herz, den Meinigen zu eröffnen, wie meine Angelegenheiten stehen. Als +ich dieses getan hatte, waren sie bei Weitem weniger ergriffen, als +ich erwartet hatte. Sie freuten sich, aber sie sagten, sie hätten +gewußt, daß es so sein werde, ja sie hätten seit Jahren die jetzige +Entwicklung schon geahnt. Im Rosenhause und im Sternenhofe, meinten +sie, würde man mich nicht so freundschaftlich und gütig behandelt +haben, wenn man mich nicht lieb gehabt und wenn man nicht selbst das, +was sich jetzt ereignet hat, als etwas Angenehmes betrachtet hätte, +dessen Spuren man ja doch habe entstehen sehen müssen. So lieb mir +diese Ansicht war, weil sie die Gesinnungen meiner Angehörigen gegen +mich ausdrückte, so konnte ich doch nicht umhin, zu denken, daß nur +die Meinigen die Sache so betrachten, weil sie eben die Meinigen sind, +und daß sie mich auch darum des Empfangenen für würdig erachteten. Ich +aber wußte es anders, weil ich Natalien und ihre Umgebung kannte und +ihren Wert zu ahnen vermochte. Ich konnte das, was mir begegnete, nur +als ein Glück ansehen, welches mir ein günstiges Schicksal entgegen +geführt hatte und dessen immer würdiger zu werden ich mich bestreben +müsse. + +Mein Vater sagte, es sei alles gut, die Mutter ließ in wehmütiger und +freudiger Stimmung immer wieder die Worte fallen, daß denn so gar +nichts für ein so wichtiges Verhältnis vorbereitet sei; die Schwester +sah mich öfter sinnend und betrachtend an. + +Ich sprach die Bitte aus, daß die Eltern mir nun beistehen müßten, +das, was in den gegenwärtigen Verhältnissen zu tun sei, auf das +Schicklichste zu tun, und ich legte auch den Wunsch dar, daß ich nach +des Vaters Ansicht eine größere Reise unternehmen möchte. + +»Es sind mehrere Dinge nötig«, sagte der Vater. »Zuerst, glaube ich, +erwartet man von deinen Eltern eine Annäherung an sie; denn die +Angehörigen der Braut können sich nicht schicklich zuerst den +Angehörigen des Bräutigams vorstellen. Außerdem hat mir dein +Gastfreund Liebes erwiesen, was ich ihm noch nicht habe vergelten +können. Ferner hat dir dein Gastfreund Mitteilungen zu machen, die +er für notwendig hält; und endlich solltest du wirklich, wie du +auch selber wünschest, eine größere Reise machen, um wenigstens im +Allgemeinen Menschen und Welt näher kennen zu lernen. Was deine +Gegenleute tun werden, ist ihre Sache, und wir müssen es erwarten. +Unsere Angelegenheit ist jetzt, das, was uns obliegt, auf solche Weise +zu tun, daß wir uns weder vordrängen noch daß etwas geschehe, was +wie geringere Achtung dessen aussähe, was uns durch diese Verbindung +geboten wird. Ich glaube, die natürlichste Ordnung wäre folgende. Du +mußt zuerst die Mitteilungen deines Freundes anhören, weil sie dir +zuerst ohne Bedingung angetragen worden sind. Dann werde ich mit +deiner Mutter eine Reise zur Mutter deiner Braut machen und bei dieser +Gelegenheit deinen Gastfreund besuchen. Endlich magst du den Vorschlag +tun, daß du eine Reise zu höherer Ausbildung zu unternehmen wünschest. +Weil aber dein Gastfreund selber gesagt hat, daß du, ehe er dir seine +Mitteilungen macht, zu größerer Ruhe kommen sollst, und weil es +andererseits unziemend wäre, zu sehr zu drängen, so kannst du nicht +jetzt sogleich zu ihm gehen und ihn um seine Eröffnungen bitten, +sondern du mußt eine Zeit verfließen lassen und ihn später, vielleicht +im Winter, besuchen. Dadurch sieht er auch, daß du einerseits nicht +zudringlich bist und daß du andererseits, da du in ungewohnter +Jahreszeit zu ihm kömmst, doch die Sehnsucht zu erkennen gibst, deine +Sache zu fördern. Und damit du gewisser zu der erforderlichen Ruhe +gelangest, schlage ich dir vor, mich auf einer kleinen Reise in meine +Geburtsgegend zu begleiten, die wir in Kürze antreten können. + +Wenn du dann im Winter zu deinem Gastfreunde kömmst, so kannst du ihm +unsere Grüße bringen und ihm sagen, daß wir mit Beginn der schöneren +Jahreszeit kommen und für dich um die Hand der Tochter seiner Freundin +werben werden.« + +Alle waren mit diesem Vorschlage vollkommen einverstanden. Besonders +freute sich die Mutter, als sie hörte, daß der Vater von freien +Stücken auf einen Reiseplan gekommen sei, dessen Richtung sie gar +nicht erraten hätte. + +»Ich muß mich ja üben«, erwiderte er, »wenn ich im Frühlinge eine +Reise in das Oberland bis in die Nähe der Gebirge antreten soll, die +uns auch in den Rosenhof bringt und weiß Gott wie weit noch führen +kann; denn wenn Leute, die immer zu Hause sind, einmal von der +Wanderungslust ergriffen werden, dann können sie auch ihres Reisens +kein Ende finden und besuchen Gegend um Gegend.« + +Ich aber sagte hierauf: »Weil Klotilde nie die Gebirge gesehen hat, +weil sie in dieser ganzen Angelegenheit am weitesten zurückgesetzt +ist, weil ich ihr immer versprochen habe, sie in die Berge zu führen, +und weil die Erfüllung dieses Versprechens durch meine größere +Reise wieder hinaus geschoben werden könnte: so mache ich ihr den +Vorschlag, mit mir, wenn ich mit dem Vater von unserer kleinen Reise +zurückgekommen bin, einen Teil des Herbstes in dem Hochgebirge +zuzubringen. Die Tage des Herbstes, selbst die des Spätherbstes, +sind in den Gebirgen meistens sehr schön, und wir können in den +klaren Lüften weiter herum sehen, als es oft in dem schwülen und +gewitterreichen Dunstkreise der Monate Juni oder Juli möglich ist.« + +Klotilde nahm diesen Vorschlag mit Freude an, und ich versprach ihr, +in den Tagen, die noch bis zu meiner Abreise mit dem Vater verfließen +werden, alles anzugeben, was sie an Kleidern und sonstigen Dingen zu +der Gebirgsreise bedürfe, welche Gegenstände sie dann während meiner +Abreise vorrichten lassen könne. + +»Wenn ich zu den Mitteilungen meines Freundes an Ruhe gewinnen muß«, +setzte ich hinzu, »so könnten diese Reisen das beste Mittel dazu +abgeben.« + +Der Vater und die Mutter waren mit meinem Vorschlage sehr zufrieden. +Die Mutter sagte nur, sie werde an den Vorbereitungen Klotildens +mitarbeiten und besonders darauf sehen, daß alles vorhanden sei, was +zu dem Schutze der Gesundheit gehöre. + +Ich erwiderte, daß das sehr gut sei und daß ich auch bei der Reise +selber alle Maßregeln ergreifen werde, daß Klotildens Gesundheit +keinen Schaden leide. + +Wir fingen wirklich am andern Tage an, die Dinge zu bereden, welche +Klotilde zur Reise brauche. Sie ging rüstig an die Anschaffung. Ich +entwarf ein Verzeichnis der Notwendigkeiten, welches ich nach und +nach ergänzte. Als einige Zeit verflossen war, glaubte ich es so +vervollständigt zu haben, daß nun nicht leicht mehr etwas Wesentliches +vergessen werden konnte. + + +Indessen rückte auch der Tag heran, an welchem ich mit dem Vater +abreisen sollte. + +Am frühen Morgen desselben setzten wir uns in den leichten Reisewagen, +dessen sich der Vater immer bedient hatte, wenn er größere +Entfernungen zurücklegen mußte. Jetzt war er lange nicht mehr aus dem +Wagenbehältnis gekommen. Auf Anordnung der Mutter wurde er einige +Tage vorher von Sachkundigen genau untersucht, ob er nicht heimliche +Gebrechen habe, welche uns in Schaden bringen könnten. Als dies +einstimmig verneint worden war, gab sie sich zufrieden. Wir hatten +Postpferde, wechselten dieselben an gehörigen Orten und hielten uns in +ihnen so lange auf, als es uns beliebte. Gegen jeden Abend ließ der +Vater noch bei Tageslicht halten, es wurde das Nachtlager bestellt und +wir machten vor dem Abendessen einen Spaziergang. In diesen Tagen, an +denen ich mehr Stunden hintereinander ununterbrochen mit dem Vater +zubrachte, als dies je vorher der Fall gewesen war, sprach ich +auch mehr mit ihm als je zu einer anderen Zeit. Wir sprachen von +Kunstdingen: er erzählte mir von seinen Bildern, sagte mir Manches +über ihre Erwerbung, was ich noch nicht wußte, und verbreitete sich in +guter Rede über ihren Kunstwert, er kam auf seine Steine und erklärte +mir Manches; wir ergingen uns in Büchern, die uns beiden geläufig +waren, setzten ihren Wert, wenn er dichterisch oder wissenschaftlich +war, auseinander und erinnerten uns gegenseitig an Teile des Inhaltes; +wir sprachen auch von Zeitereignissen und von der Lage unsers Staates. + +Er erzählte mir endlich von seinem kaufmännischen Geschäfte und machte +mich mit dessen Grundlagen und Stellungen bekannt. Er zeigte mir Teile +der Gegend, durch die wir fuhren, und unterrichtete mich von dem +Schicksale mancher Familie, die in diesem oder jenem Abschnitte der +Landschaft wohnte. Unter diesen Verhältnissen kamen wir am vierten +Tage an dem Orte unserer Bestimmung an. Die Gegend war mir völlig +unbekannt, weil mich meine Wanderungen nie hieher getragen hatten. + +Am Saume des Waldes, der den Norden unseres Landes begrenzt, ging ein +Tal hin, das einst Wald gewesen war und das jetzt zerstreute Häuser, +einzelne Felder, Wiesen, Felsen, Schluchten und rinnende Wasser in +seinem Bereiche hegte. Eines der Häuser, halb aus Holz gezimmert und +halb gemauert, war das Geburtshaus meines Vaters. Es stand am Rande +eines Wäldchens, das von dem großen Walde herstammte, der einst diese +ganzen Gegenden bedeckt hatte. Es war gegen West durch eine Gruppe +sehr großer und dicht stehender Buchen gedeckt. daß ihm die Winde +von dorther wenig anhaben konnten, hatte gegen Ost den Schutz eines +Felsens, im Norden den des großen Waldbandes und schaute gegen Süden +auf seine nicht unbeträchtlichen Wiesen und Felder, deren Ergiebigkeit +in Getreide gering, in Futterkräutern außerordentlich war, weshalb der +größere Reichtum auch in Herden bestand. Wir fuhren in das Gasthaus +des Tales, ließen unsere Reisedinge abpacken, bestellten uns auf +einige Tage Wohnung und besuchten dann die sehr entfernten Verwandten, +welche jetzt des Vaters Stammhaus bewohnten. Es war gegen Mittag. +Sie nahmen uns, da wir uns entdeckt hatten, sehr freundlich auf und +verlangten, daß wir unser Gepäcke holen lassen und bei ihnen wohnen +sollten. Nur auf die dringenden Vorstellungen des Vaters, daß wir +ihnen die Bequemlichkeit nähmen und selber keine gewännen, gaben sie +nach und verlangten nur noch, daß wir zum bevorstehenden Mittagessen +bei ihnen bleiben sollten, was wir annahmen. + +Da wir nun in der großen Wohnstube saßen, zeigte mir der Vater den +geräumigen Ahorntisch, bei dem er und seine Geschwister ihre Nahrung +eingenommen hatten. Der Tisch war alt geworden, aber der Vater sagte, +daß er noch in derselben Ecke stehe, von den zwei Fenstern beglänzt +und von der hereinscheinenden Sonne beleuchtet wie einst. Er zeigte +mir seine gewesene, neben der Stube befindliche Schlafkammer. + +Dann gingen wir hinaus, er wies mir die Treppe, die auf den hölzernen +Gang führte, welcher rings um den Hof lief, und den Quell, der sich +noch immer mit hellem Wasser in den Granittrog ergoß, welchen schon +sein Urgroßvater hatte hauen lassen, er wies mir den Stall, die +Scheune und hinter ihr den Waldweg, auf dem er, noch ein halbes Kind, +mit einem Stabe in der Hand die Heimat verlassen habe, um in der +Fremde sein Glück zu suchen. Wir gingen sogar in das Freie und dort +herum. Der Vater blieb häufig stehen und erinnerte sich noch der +Fruchtgattungen, welche auf verschiedenen Stellen gestanden waren, +als er mit einem Täfelchen, darauf sich rote und schwarze Buchstaben +befanden, in das eine Viertelstunde entlegene hölzerne Haus ging, das +an der Straße stand, von Buchen umgeben war und die Schule für alle +Kinder des Tales vorstellte. Er sagte, es sei alles noch wie zur Zeit +seiner Kindheit, die nehmlichen Begrenzungen, die nehmlichen kleinen +Feldwege und dieselben Wassergräben und Quellrinnsale. Er sagte, es +sei ihm, als ständen sogar dieselben Arnicablumen auf der Wiese, die +er als Knabe angeschaut habe, und da er mich zu dem Steinbühl geführt +hatte, der am Rande der Felder lag, so ragten die Himbeerzweige +empor, rankten sich die dornenreichen Brombeerreben um die Steine und +wucherten die Erdbeerblätter, gerade wie die, von denen er als Knabe +gepflückt hatte. Vom Steinbühl gingen wir zu dem einfachen Essen, das +wir mit unsern Verwandten verzehrten. Nach demselben besuchten wir mit +dem jetzigen Eigentümer alle Besitzungen. Der Vater sagte, dort habe +sein Vater gepflügt, geeggt, gegraben, hier habe seine Mutter mit der +Schwester, der Magd und den Tagelöhnern Heu gemacht, dort seien die +Kühe und Ziegen gegen den Wald hinan gegangen wie sie jetzt gehen, und +die Seinigen haben ausgesehen wie die Leute jetzt aussehen. + +Als wir zurückgekehrt waren, verabschiedeten wir uns, der Vater dankte +für die Bewirtung und sagte, daß er gegen den Abend noch einmal in das +Haus kommen werde. + +Da wir uns in dem Zimmer unseres Gasthofes befanden, öffnete der Vater +seinen Koffer und nahm allerlei Dinge aus demselben hervor, welche +zu Geschenken für die Bewohner des Hauses bestimmt waren, in dem wir +gespeist hatten. Ich war von ihm nie in die Kenntnis gesetzt worden, +welche Bewohner wir in seinem Vaterhause treffen würden, er mußte sie +wohl auch selber nicht genau gekannt haben. Ich war also nicht mit +Geschenken versehen. Der Vater hatte aber auch für diesen Fall +gesorgt, er gab mir mehrere Dinge, besonders Stoffe, kleine +Schmucksachen und Ähnliches, um es bei unserem Abendbesuche in dem +Hause auszuteilen. Er hatte nicht gleich bei seiner Ankunft die +Geschenke mitnehmen wollen, weil er es, obwohl die Leute nur die +gewöhnlichen Talbewohner dieser Gegend waren, für unschicklich hielt, +mit Gaben belastet das Haus zu betreten und ihnen gleichsam sagen zu +wollen: >Ich glaube, daß ihr das für das Wichtigste haltet.< Jetzt +aber war er ihnen etwas schuldig geworden und konnte den Dank für die +gute Aufnahme abstatten. + +Als wir die Geschenke in dem Hause verteilt und dafür die Freude +und den Dank der Empfänger geerntet hatten, die in zwei Eheleuten +mittlerer Jahre, in deren zwei Söhnen, einer Tochter und in einer +alten Großmutter bestanden - den Knecht und die zwei Mägde nicht +gerechnet -, war es mittlerweile Nacht geworden, und wir kehrten +wieder in unsere Herberge zurück. + +Wir blieben noch vier Tage in der Gegend. Der Vater besuchte in meiner +Begleitung viele Stellen, die ihm einst lieb gewesen waren, einen +kleinen See, einen Felsblock, von dem eine schöne Aussicht war, eine +Gartenanlage in einem nicht sehr entfernten schloßähnlichen Gebäude, +die hölzerne Schule und vor allem die eine und eine halbe Wegestunde +entfernte Kirche, welche das Gotteshaus des Tales war und um welche +der Kirchhof bog, in welchem sein Vater und seine Mutter ruhten. Eine +weiße Marmortafel, die er und sein Bruder hatten setzen lassen, ehrte +ihr Angedenken. Sonst ging der Vater auch fast in allen Zeiten des +Tages auf den Wegen der Felder und des Waldes herum. + +Am fünften Tage traten wir die Rückreise zu den Unsrigen an. + +Wir waren am frühen Morgen noch zu unsern Verwandten gegangen. Sie +waren, wie es bei Landleuten in solchen Fällen gebräuchlich ist, +schöner angekleidet als sonst und erwarteten uns. Wir nahmen in +herzlicher Weise Abschied. Ich versprach, da ich ohnehin das Wandern +gewohnt sei und viele Gegenden besuche, auch hieher wieder zu kommen +und noch öfter in dem kleinen Hause vorzusprechen. Der Vater sagte, +es könne sein, daß er wieder komme oder auch nicht, wie es sich eben +beim Alter füge. Man müsse erwarten, was Gott gewähre. Die Leute +begleiteten uns in das Gasthaus und blieben da, bis wir den Wagen +bestiegen hatten. Aus den Worten ihres Abschiedes und ihrer +Danksagungen erkannte ich, daß der Vater ihnen auch eine Summe Geldes +gegeben haben müsse. Sie sahen uns sehr lange nach. + +Im Fortfahren war der Vater anfangs ernst und wortkarg, es mochte ihm +das Herz schwer gewesen sein. Später entwickelte sich bei uns wieder +ein Verkehr der Rede, wie er auf der Herreise gewesen war. + +Am Abende des dritten Tages nach unserer Abfahrt waren wir wieder in +dem Hause in der Vaterstadt. + +Die Mutter war sehr erfreut, daß der Aufenthalt von elf Tagen in der +freien Luft für den Vater von so wohltätigen Folgen gewesen sei. Seine +Wangen haben sich nicht nur schön rot gefärbt, sie seien auch voller +geworden, und das Auge sei weit klarer, als wenn es immer auf das +Papier seiner Schreibstube geblickt hätte. + +»Das ist nur die Wirkung des Anfangs und eine Folge des Reizes des +Wechsels auf die körperlichen Gebilde«, sagte der Vater, »im Verlaufe +der Zeit gewöhnt sich Blut, Muskel und Nerv an die freie Luft und +Bewegung und das erste rötet sich nicht mehr so, und die letzten +schwellen. Allerdings aber wirkt viel Aufenthalt in freier Luft und +gehörige Bewegung, in welche sich keine Sorgen mischen, weit günstiger +auf die Gesundheit, als ein stetiges Sitzen in Stuben und ein Hingeben +an Gedanken für die Zukunft. Wir werden schon einmal, und wer weiß wie +nahe die Zeit ist, auch dieses Glück genießen und uns recht darüber +freuen.« + +»Wir werden uns freuen, wenn du es genießest«, erwiderte die Mutter, +»du entbehrst es am meisten und dir ist es am nötigsten. Wir Andern +können in unsern Garten und in die Umgebung der Stadt gehen, du suchst +immer die düstere Stube. Weil du es aber schon so oft gesagt hast, so +wird es doch einmal wahr werden.« + +»Es wird wahr werden, Mutter«, antwortete der Vater, »es wird wahr +werden.« + +Sie wendete sich an uns, wir sollen bestätigen, daß der Vater nie so +gesund und so heiter ausgesehen habe als nach dieser kurzen Reise. + +Wir gaben es zu. + +Nun mußte aber auch noch auf eine andere Reise gedacht werden, weil +heuer einmal der Sommer der Reisen war, und wir mußten dieselbe ins +Werk setzen, meine und Klotildens Fahrt ins Gebirge. Der Herbst war +schon da, wie ich an den Buchenblättern um das Geburtshaus meines +Vaters hatte wahrnehmen können, die bereits im Begriffe waren, die +rote Farbe vor ihrem Abfallen zu gewinnen. Es war keine Zeit mehr zu +verlieren. + +Für Klotilden waren die Vorbereitungen fertig, ich brauchte keine, +weil ich immer in Bereitschaft war, und so konnten wir ungesäumt +unsere verabredete Fahrt beginnen. + +Die Mutter legte mir das Wohl der Schwester sehr an das Herz, der +Vater sagte, wir sollen die Muße nach unserer besten Einsicht +genießen, und so fuhren wir bei dem Aufgange einer klaren Herbstsonne +aus dem Tore unseres Hauses. + +Ich wollte die Schwester, welche ihre erste größere Reise machte, +nicht der Berührung mit anderen Menschen in einem gemeinschaftlichen +Wagen aussetzen, da man deren Wesen und Benehmen nicht voraus wissen +konnte; deshalb zog ich es vor, mit Postpferden so lange zu fahren, +als es mir gut erscheinen werde, und dann die Art unsers Weiterkommens +im Gebirge je nach der Sachlage zu bestimmen. Es hatte diese Art zu +reisen noch den Vorteil, daß ich anhalten konnte, wo ich wollte, und +daß ich der Schwester Manches erklären durfte, ohne dabei auf jemand +Rücksicht nehmen zu müssen, der als Zeuge gegenwärtig wäre. Auch +konnten wir uns in unseren geschwisterlichen Gesprächen über unsere +Angehörigen, unser Haus und andere Dinge nach der freien Stimmung +unserer Seele bewegen. Auf diese Art fuhren wir zwei Tage. Ich gönnte +ihr öfter Ruhe, da sie ein fortwährendes Fahren nicht gewohnt war, und +endete immer noch lange vor Abend unsere Tagreise. Wir sahen die Berge +schon immer in der Nähe von einigen Meilen mit unserem Wege gleich +laufen; aber ihre Teile waren hier weniger wichtig. Es war mir äußerst +lieblich, die Gestalt der Schwester neben mir in dem Wagen zu wissen, +ihr schönes Angesicht zu sehen und ihren Atem zu empfinden. Ihre +schwesterliche Rede und die frische Weise, alles, was ihr neu war, +in die vollkommen klare Seele aufzunehmen, war mir unaussprechlich +wohltätig. + +Am Vormittage des dritten Tages ließ ich sie ruhen. Für den Nachmittag +mietete ich einen Wagen, und wir fuhren von der Poststraße weg gerade +dem Gebirge zu. Unsere Fahrt war von angenehmer und heiterer Stimmung +begleitet, und wir ergingen uns in mannigfaltigen Gesprächen. Als die +blauen Berge in der klaren Luft, die einen milchig grünlichen Schimmer +hatte, uns entgegen traten, leuchtete ihr Auge immer freundlicher +und ihre Mienen waren teilnehmend der Gegend, in die wir fuhren, +zugekehrt. Gleich wie bei dem Vater röteten sich nach dieser +dreitägigen Reise auch ihre zarten Wangen, und ihre Augen wurden +glänzender. So kamen wir endlich an dem Orte an, den ich für unsere +Nachtruhe bestimmt hatte. An demselben rauschte die grüne Afel mit +ihren Gebirgswässern vorüber, welches Rauschen durch ein schief über +das Flußbett gezogenes Wehr noch vermehrt wurde. Waldhänge in langen +Rücken begannen schon sich zu erheben, und oberhalb des dunkeln Randes +eines bedeutend hohen Buchenwaldes blickte bereits das rote Haupt +eines im Abende glühenden Berges herein, auf welchem schon einzelne +Strecken von Schnee lagen. + +Des andern Tages mietete ich ein Gebirgswägelchen, wie sie zum +Fortkommen auf Wegen, die nicht Poststraßen sind, in den Gebirgen am +besten dienen und deren Pferde an die Gegenstände des Gebirges und an +die Beschaffenheit seiner Wege gewöhnt und daher am zuverlässigsten +sind. Wir brachten unsere Sachen in demselben, so gut es ging, unter +und fuhren der glänzenden Afel entgegen, immer tiefer in die Berge +hinein. Ich nannte jeden Namen eines vorzüglichen Berges, machte auf +die Bildungen aufmerksam und suchte die Farben, die Lichter und die +Schatten zu erörtern. Überall begannen schon die Laubwälder die +rötliche und gelbliche Färbung anzunehmen, was den Hauch über all den +Gestaltungen noch lieblicher machte. + +Da ich in eine gewisse Tiefe des Gebirges gekommen war, änderte ich +die Richtung und fuhr nun nach der Länge desselben hin. Als zwei Tage +vergangen waren und der dritte auch schon dem Nachmittag zuneigte, +blickte uns aus der Tiefe des Tales das Gewässer des Lautersees +entgegen. Wir kamen um den Rücken eines breiten Waldberges herum, und +die Glanzstellen entwickelten sich immer mehr. Endlich lag der größte +Teil des Spiegels unter dem Gezweige der Tannen, der Buchen und +der Ahorne zu unsern Füßen. Wir sanken mit unserem Wäglein auf dem +schmalen Wege immer tiefer und tiefer, bis wir nach etwa zwei Stunden +an dem Ufer des Sees anlangten und die Steinchen in seinen seichten +Buchten hätten zählen können. Wir fuhren an dem Ufer dahin, umfuhren +eine kleine Strecke des Sees und kamen in dem Seewirtshause an. Dort +lohnte ich unsern Fuhrmann ab und mietete uns für mehrere Tage ein. +Klotilde mußte dasselbe Zimmer bekommen, welches ich während der +Zeiten meiner Vermessungen des Lautersees innegehabt hatte. Ich +begnügte mich mit einem kleineren Stübchen in ihrer Nähe. Man staunte +das schöne, und wie man sich ausdrückte, vornehme Mädchen an, und ich +gewann sichtbar an Ansehen, da ich eine solche Schwester hatte. + +Alle, die ein Ruder führen konnten oder die geübt waren, Steigeisen +anzulegen und einen Alpenstock zu gebrauchen, kamen herzu und boten +ihre Dienste an. Ich sagte, daß ich sie rufen werde, wenn wir sie +bedürfen und daß wir uns dann ihrer Gesellschaft sehr erfreuen würden. + +Zuerst machte ich Klotilden ein wenig in ihrem Zimmerchen wohnhaft. +Ich zeigte ihr bedeutsam Stellen, die sie aus ihren Fenstern sehen +konnte, und nannte ihr dieselben. Ich zeigte ihr, wie ich in +verschiedenen Richtungen auf dem See gefahren war, um seine Tiefe +zu messen, und wie wir uns bald auf dieser, bald auf jener Stelle +des Wassers festsetzen mußten. Sie richtete sich Farben und +Zeichnungsgeräte zurechte, um zu versuchen, ob sie nicht auch nach der +unmittelbaren Anschauung von den Räumen ihres Zimmerchens aus etwas +von den Gestaltungen, die sie hier sehen konnte, auf das Papier zu +übertragen vermöchte. + +Die folgenden Tage brachten wir damit zu, in den Umgebungen des +Seehauses Spaziergänge zu machen, damit Klotilde sich ein wenig +in diese Bildungen einlebe. Das vorausgesagte schöne Wetter war +eingetroffen, es dauerte fort, und so konnten wir uns der Freude und +dem Vergnügen, welche diese Gänge uns gewährten, um so ungestörter +hingeben, als auch der Stand unserer Gesundheit ein vortrefflicher war +und die Befürchtungen, welche die Mutter und zum Teile auch ich in +Hinsicht Klotildens gehegt hatten, nicht in Erfüllung gingen. Wir +schickten von hier aus Briefe nach Hause. + +In der Folge der Tage führte ich sie auf den See hinaus. Ich führte +sie auf die verschiedenen Teile, die entweder an sich schön und +bedeutend waren oder von denen man schöne und merkwürdige Anblicke +gewinnen konnte. Ich unterstützte sie mit allen meinen Erfahrungen, +die ich mir durch meine mehrfältigen Aufenthalte in dem Gebirge +gesammelt hatte. Sie nahm alles mit einer tiefen Seele auf, und durch +meine Hilfe waren ihr manche Umwege erspart, welche diejenigen, die +zum ersten Male die Berge besuchen, machen müssen, ehe es ihnen +gelingt, sich die Größe und Erhabenheit der Gebirge aufschließen zu +können. Auf den Seefahrten unterstützten uns zwei junge Schiffer, die +meine steten Begleiter bei meinen Messungen gewesen waren. Wir gingen +auch bergan. Ich hatte Klotilden Fußbekleidungen machen lassen, +welche nach Innen weich, nach Außen aber hart und dem rauhen Gerölle +Widerstand leistend waren. Auf dem Haupte trug sie einen bequemen +Schirmhut und in der Hand einen eigens für sie gemachten Alpenstock. +Wenn wir auf die Höhen kamen, wurde mit Freude die Aussicht genossen. +Klotilde versuchte auch nach der Anschauung etwas zu zeichnen und zu +malen; aber die Ergebnisse waren noch weit mangelhafter als bei mir, +da sie einen geringeren Vorrat von Erfahrung zu dem Versuche brachte. + +Nachdem über eine Woche vergangen war, führte ich Klotilden mittelst +eines gleichen Fuhrwerkes, wie wir sie bisher im Gebirge gehabt +hatten, in das Lauterthal und in das Ahornhaus. Dort fanden wir ein +besseres Unterkommen als in dem Seehause, und wir erhielten zwei +nebeneinander befindliche geräumige und freundliche Zimmer, deren +Fenster auf die Ahorne vor dem Hause hinausgingen und durch die gelben +Blätter derselben auf die blauduftigen Höhen sahen, die vom Hause +gegen den Süden standen. Ich zeigte meine Schwester der Wirtin, ich +zeigte sie dem alten Kaspar, der auf die Kunde meiner Ankunft sogleich +herbei gekommen war, und ich zeigte sie den andern, welche sich +gleichfalls reichlich eingefunden hatten. Es war hier ein noch +größerer Jubel als in dem Seehause, es freute sie, daß eine solche +Jungfrau in die Berge gekommen und daß sie meine Schwester sei. Sie +boten ihre Dienste an und näherten sich mit einiger Scheu. + +Klotilde betrachtete alle diese Menschen, die ich ihr als meine +Begleiter und Gehilfen bei meinen Arbeiten vorstellte, mit Vergnügen, +sie sprach mit ihnen und ließ sich wieder erzählen. Sie lernte +sich immer mehr in die Art dieser Leute ein. Ich fragte um meinen +Zitherspiellehrer, weil ich Klotilden diesen Mann zeigen wollte und +weil ich auch wünschte, daß sie sein außerordentliches Spiel mit +eigenen Ohren hören möchte. Wir hatten zu diesem Zwecke unsere beiden +Zithern in unserm Gepäcke mitgenommen. Man sagte mir aber, daß seit +der Zeit, als ich ihnen erzählt habe, daß er von meinen Arbeiten +fortgegangen sei, kein Mensch, weder in den nähern noch in den +ferneren Tälern, etwas von ihm gehört habe. Ich sagte also Klotilden, +daß sie keinen andern als die gewöhnlichen einheimischen Zitherspieler +werde hören können, wie sie dieselben auch bereits gehört habe und +wie sie ihr anziehender erschienen seien als die Kunstspieler in der +Stadt und als ich, der ich wahrscheinlich ein Zwitter zwischen einem +Kunstspieler und einem Spieler des Gebirges sei. Wir richteten uns in +unserem Zimmer ein und begannen ungefähr so zu leben, wie wir in der +Umgebung des Seehauses gelebt hatten. Ich führte Klotilden in das +Echertal zu dem Meister, welcher unsere Zithern verfertiget hatte. Er +besaß noch immer die dritte Zither, welche mit meiner und Klotildens +ganz gleich war. Er sagte, es seien zwar Käufer von Zithern gekommen, +die diese gepriesen hätten; aber das seien Gebirgsleute gewesen, die +nicht so viel Geld haben, sich eine solche Zither kaufen zu können. +Die Andern, welche die Mittel besäßen, vorzüglich Reisende, ziehen +Zithern vor, welche eine schöne Ausschmückung haben, wenn sie auch +teurer sind, und lassen die stehen, deren Tugenden sie nicht zu +schätzen wissen. Er spielte ein wenig auf ihr, er spielte mit einer +großen Fertigkeit; aber in jener wilden und weichen Weise, mit +welcher mein schweifender Jägersmann spielte und welche gerade diesem +Musikgeräte so zusagte, vermochte weder er zu spielen noch hatte ich +jemanden so spielen gehört. Ich sagte dem alten Manne, daß das Mädchen +meine Schwester sei und daß sie auch eine von den drei Zithern +besitze, von denen er sage, daß sie die besten seien, die er in seinem +Leben gemacht habe. Er hatte seine Freude darüber, gab Klotilden ein +Bündel Saiten und sagte: »Es sind meine besten Zithern und werden wohl +auch meine besten bleiben.« + +Wir besuchten die Täler und einige Berge um das Ahornhaus, und Kaspar +oder ein Anderer waren zuweilen unsere Begleiter und Träger. + +Ich führte Klotilden auch in das Häuschen, in welchem ich die +Pfeilerverkleidungen für den Vater gekauft hatte, ich führte sie +in das steinerne Schloß, in welchen sie ursprünglich gewesen sein +mochten, und ich führte sie auch in das Rothmoor, wo sie das Arbeiten +in Marmor betrachten konnte. + +Wir blieben länger in dem Ahornhause, als wir im Seehause +gewesen waren, und alle Menschen waren hier noch freundlicher, +zutraulicher und hilfreicher als dort. Die Wirtin war unermüdet +in Dienstanerbietungen gegen meine Schwester. Zu Ende unseres +Aufenthaltes traten hier kühle und regnerische Tage ein. Wir +verbrachten sie still in der heitern Wohnlichkeit des Hauses. Aber +aus der Beschaffenheit des Laubes an den Bäumen und dem Aussehen der +Herbstpflanzen auf den Matten, aus dem Verhalten der Tiere und aus der +Beschaffenheit des Pelzes derselben erkannte ich, daß die dauernde +kalte und unfreundliche Zeit noch nicht gekommen sei und daß noch +warme und klare Tage eintreten müssen. Als daher das Wetter sich +wieder aufheiterte, verließ ich mit Klotilden das Ahornhaus und schlug +den Weg in das Kargrat ein. + + +Ich hatte mich in meinen Voraussetzungen nicht getäuscht. Nachdem +zwei halb heitere und kühle Tage gewesen waren, die wir mit Fahren +zugebracht hatten, zog wieder ein ganz heiterer, zwar am Morgen +kalter, in seinem Verlaufe aber sich schnell erwärmender Tag über die +beschneiten Gipfel herauf, dem eine Reihe schöner und warmer Tage +folgte, die den Schnee auf den Höhen und den, welcher das Eis der +Gletscher bedeckt hatte, wieder weg nahmen und das letztere so weit +sichtbar machten, als es in diesem Sommer überhaupt sichtbar gewesen +war. Wir hatten am zweiten dieser schönen Tage das Kargrat erreicht. +Die Reise war darum von so langer Dauer gewesen, weil wir kleine +Tagefahrten gemacht hatten und weil wir die Berge hinan und hinab +recht langsam gefahren waren. Wir zogen in die Ärmlichkeit unserer +Wohnung, die durch die Größe und Öde der Gegend, von welcher sie +umgeben war, noch mehr herabgedrückt wurde, ein. Am zweiten Tage nach +unserer Ankunft, da alles vorbereitet worden war, folgte mir Klotilde +auf das Simmieis. Es waren Führer, Träger von Lebensmitteln und von +Allem, was auf einer solchen Wanderung notwendig oder nützlich sein +konnte, und endlich auch solche, die eine Sänfte hatten, mitgegangen. +Wir waren am ersten Tage bis zur Karzuflucht gekommen. Dort waren wir +in dem aus Holzblöcken für die Besteiger der Karspitze gezimmerten +Häuschen über Nacht geblieben, hatten aus mitgebrachtem Holze Feuer +gemacht und uns unser Abendessen bereitet. + +Mit Anbruch des nächsten Tages gingen wir weiter und kamen im Glanze +des Vormittages auf die Wölbung des Gletschers. Daß an eine Besteigung +der Karspitze nicht gedacht werden konnte, war natürlich. + +Wir betrachteten hier nun, was zu betrachten war, und als sich Kälte +in den Gliedern einstellen wollte, traten wir den Rückweg an. In der +Zuflucht wurden wieder Speisen bereitet, und dann gingen wir vollends +hinab. Als wir zurückgekehrt waren, sank mir Klotilde fast erschöpft +an das Herz. + +Ich legte am andern Tage Klotilden mehrere Zeichnungen, die +ich von Gletschern, ihren Einfassungen, Wölbungen, Spaltungen, +Zusammenschiebungen und dergleichen gemacht hatte, vor, damit sie in +der frischen Erinnerung das Gesehene mit dem Abgebildeten vergleichen +konnte. Ich machte auf Vieles aufmerksam, führte Manches in ihr +Gedächtnis zurück und erwähnte hier auch als an der geeignetsten +Stelle, wie sehr die Abbildung hinter der Wirklichkeit zurück bleibe. +In den nächsten zwei Tagen besuchten wir noch verschiedene Stellen, +von denen wir das Eis und die Schneegestaltungen dieser Berge +betrachten konnten. Auch einen Wassersturz von einer steilrechten Wand +zeigte ich Klotilden. Hierauf aber begann ich auf unsere Rückreise zu +den Eltern zu denken. Die Zeit war nach und nach so vorgerückt, daß +ein Aufenthalt in diesen hochgelegenen Räumen, besonders für ein der +Stadt gewohntes Mädchen, nicht mehr ersprießlich war. Ich schlug daher +Klotilden vor, nun auf dem nächsten Wege durch das ebenere Land unsere +Heimat zu gewinnen zu suchen. Sie war damit einverstanden. Von dem +nächsten größeren Orte her wurde ein Fuhrwerk bestellt, welches uns +auf die erste Post bringen sollte. Wir nahmen von unserer Wirtin +und ihrem Manne so wie von unsern Trägern und Führern, die noch zum +Empfange eines kleinen Geschenkes herbei gekommen waren, Abschied; wir +verabschiedeten uns von dem Pfarrer, der uns zuweilen besucht und uns +auf Schönheiten, von seinem kleinen Gesichtskreise aus, aufmerksam +gemacht hatte, und fuhren auf unserem Karren, der nur mit einem Pferde +bespannt war, auf dem schmalen Wege von dem Kargrat hinab. Das Letzte, +was wir von dem kleinen Örtchen sahen, war die mit Schindeln bedeckte +Wand des Pfarrhofes und die gleichfalls mit Schindeln bedeckte +Wand der schmalen Seite der Kirche. Ich sagte Klotilden, daß diese +Bedeckungen notwendig seien, um die in diesen Höhen stark wirkende +Gewalt des Regens und des Schnees von dem Mauerwerke abzuhalten. Wir +konnten nur noch einen Blick auf die zwei Gebäude tun, dann trat eine +Höhe zwischen unsere Augen und sie. Wir glitten mit unserem Fuhrwerke +sehr schnell abwärts, wilde Gründe umgaben uns, und endlich empfing +uns der Wald, der die Niederungen suchte, in ihnen dahin zog und schon +wohnlicher und wärmer war. Wir kamen unter Wiegen und Ächzen unseres +Wägleins immer tiefer und tiefer, Fahrgeleise von Holzwegen, die den +Wald durchstrichen, mündeten in unsere Straße, diese wurde fester und +breiter, und wir fuhren zuweilen schon eben und behaglich dahin. + +Als wir den Ort erreicht hatten, an welchem sich die nächste Post +befand, lohnte ich den Führer meines Wägleins ab, sendete ihn zurück +und nahm Postpferde. Wir fuhren in gerader Richtung auf dem kürzesten +Wege aus dem Gebirge gegen das flachere Land, um die Heerstraße zu +gewinnen, die nach unserer Heimat führte. Immer mehr und mehr sanken +die Berge hinter uns zurück, die milde Herbstsonne, die sie beschien, +färbte sie immer blauer und blauer, die Höhen, die uns jetzt +begegneten, wurden stets kleiner und kleiner, bis wir in das Land +hinaus kamen, dessen Gefilde mit lauter dem Menschen nutzbarem Grunde +bedeckt waren. Dort trafen wir auf die große Straße. Bisher waren wir +gegen Norden gefahren, jetzt änderten wir die Richtung und fuhren dem +Osten zu. Wir hatten auch bessere Wägen. + +Da wir einen Tag auf dieser Straße gefahren waren, ließ ich an einem +Orte halten und beschloß, einen Tag an demselben zu bleiben; den Abend +und die Nacht brachten wir in Ruhe zu. Am andern Tage gegen Mittag +führte ich die Schwester auf einen mäßig hoben Hügel. Der Tag war ein +sehr schöner Herbsttag, der Schleier, welcher im Vormittage so Hügel +als Gründe zart umwebt hatte, war einer völligen Klarheit gewichen. +Ich befestigte mittelst Schrauben mein Fernrohr an dem Stamme einer +Eiche und richtete es. Dann hieß ich Klotilden durchsehen und fragte +sie, was sie sähe. + +»Ein hohes, dunkles Dach«, sagte sie, »aus welchem mehrere breite +und mächtige Rauchfänge empor ragen. Unter dem Dache ist ein Gemäuer +von ebenfalls dunkler Farbe, in welchem große Fenster in gemäßen +Entfernungen stehen. Das Gebäude scheint ein Viereck zu sein.« + +»Und was siehst du weiter, Klotilde, wenn du das Rohr in die +Umgebungen des Gebäudes richtest?« fragte ich. + +»Bäume, die hinter dem Hause stehen, gleichsam wie ein Garten«, +antwortete sie. »Die Mauern des Gebäudes sind dort licht wie die +unserer Häuser. Dann sehe ich Felder, in ihnen wieder Bäume, hie und +da ein Haus und endlich wolkenartige Spitzen, die wie das Hochgebirge +sind, das wir verlassen haben.« + +»Es ist das Hochgebirge«, antwortete ich. + +»Ist das etwa - -?« fragte sie, den Kopf von dem Fernrohre wegwendend +und mich ansehend. + +»Ja, Klotilde, das Gebäude ist der Sternenhof«, antwortete ich. + +»Wo Natalie wohnt?« fragte sie. + +»Wo Natalie wohnt, wo die edle Mathilde verweilt, wo so treffliche +Menschen ein und aus gehen, wohin meine Gedanken sich mit Empfindung +wenden, wo sanfte Gegenstände der Kunst thronen und wo ein liebes Land +um all die Mauern herum liegt«, antwortete ich. + +»Das ist der Sternenhof!« sagte Klotilde, blickte wieder in das +Fernrohr und sah lange durch dasselbe. + +»Ich habe dich mit Freude auf diesen Hügel geführt, Klotilde«, sagte +ich, »um dir diesen Ort zu zeigen, in dem mein warmes Herz schlägt und +ein tiefer Teil von meinem Wesen wohnt.« + +»Ach lieber, teurer Bruder«, antwortete sie, »wie oft gehen meine +Gedanken an den Ort und wie oft weilt mein Gemüt in seinen mir noch +unbekannten Mauern!« + +»Du begreifst aber«, sagte ich, »daß wir jetzt nicht hingehen können +und daß die Angelegenheit ihre naturgemäße Entwickelung haben muß.« + +»Ich begreife es«, antwortete sie. + +»Du wirst sie sehen, an deinem Herzen halten und sie lieben«, sagte +ich. + +Klotilde sah wieder in das Rohr, sie sah sehr lange in dasselbe und +betrachtete alles genau. Ich lenkte ihren Blick auf die Teile, die mir +wichtig schienen, erklärte ihr alles und erzählte von dem Schlosse und +von denen, die in demselben sind. + +Es war indessen der Mittag gekommen, wir lösten das Fernrohr ab und +gingen langsam unserer Wohnung zu. + +»Kann man hier nicht auch das Rosenhaus deines Freundes sehen?« fragte +sie im Heimgehen. + +»Hier nicht«, erwiderte ich, »hier ist nicht einmal der höchste Teil +der Rosenhausgegend zu erblicken, weil der Kronwald, den du gegen +Norden siehst, sie deckt. Im Weiterfahren werden wir auf einen Hügel +kommen, von dem aus ich dir die Anhöhe zeigen kann, auf welcher +das Haus liegt und von dem aus du mit dem Fernrohre das Haus sehen +kannst.« + +Wir gingen in unsere Wohnung, und am nächsten Tage fuhren wir weiter. +Als wir an die Stelle gekommen waren, von welcher man die Höhe des +Asperhofes sehen konnte, ließ ich halten, wir stiegen aus, ich zeigte +Klotilden den Hügel, auf welchem das Haus meines Gastfreundes liegt, +richtete das Fernrohr und ließ sie durch dasselbe das Haus erblicken. +Wir waren aber hier so weit von dem Asperhofe entfernt, daß man selbst +durch das Fernrohr das Haus nur als ein weißes Sternchen sehen konnte. +Nach dessen Betrachtung fuhren wir wieder weiter. + +Als nach diesem Tage der dritte vergangen war, fuhren wir gegen Abend +durch den Torweg des Vorstadthauses unserer Eltern ein. + +»Mutter«, rief ich, da uns diese und der Vater, der unsere Ankunft +gewußt hatte und daher zu Hause geblieben war, entgegen kamen, »ich +bringe sie dir gesund und blühend zurück.« + +Wirklich war Klotilde, wie es dem Vater auf seiner kleinen Reise +ergangen war, durch die Luft und die Bewegung kräftiger, heiterer und +in ihrem Angesichte reicher an Farbe geworden, als sie es je in der +Stadt gewesen war. + +Sie sprang von dem Wagen in die Arme der Mutter und begrüßte diese und +dann auch den Vater freudenvoll; denn es war das erste Mal gewesen, +daß sie die Eltern verlassen hatte und auf längere Zeit in ziemlicher +Entfernung von ihnen gewesen war. Man führte sie die Treppe hinan +und dann in ihr Zimmer. Dort mußte sie erzählen, erzählte gerne und +unterbrach sich öfter, indem sie das inzwischen heraufgebrachte Gepäck +aufschloß und die mannigfaltigen Dinge heraus nahm, die sie in den +verschiedenen Ortschaften zu Geschenken und Erinnerungen gekauft oder +an mancherlei Wanderstellen gesammelt hatte. Ich war ebenfalls mit in +ihr Zimmer gegangen, und als wir geraume Weile bei ihr gewesen waren, +entfernten wir uns und überließen sie einer notwendigen Ruhe. + +Nun folgte für Klotilden fast eine Zeit der Betäubung, sie beschrieb, +sie erzählte wieder, sie setzte sich vor Zeichnungen hin, blätterte +in ihnen oder zeichnete selber und suchte in der Erinnerung Gesehenes +nachzubilden. + +Aber auch für mich war diese Reise nicht ohne Erfolg gewesen. Was ich +halb im Scherze, halb im Ernste gesagt hatte, daß ich durch diese +Reise zu einer größeren Ruhe kommen werde, ist in Wirklichkeit +eingetroffen. Klotilde, welche alle die Gegenstände, die mir längst +bekannt waren, mit neuen Augen angeschaut, welche alles so frisch, so +klar und so tief in ihr Gemüt aufgenommen hatte, hatte meine Gedanken +auf sich gelenkt, hatte mir selber etwas Frisches und Ursprüngliches +gegeben und mir Freude über ihre Freude mitgeteilt, so daß ich +gleichsam gestärkter und befestigter über meine Beziehungen nachdenken +und sie mir gewissermaßen vor mir selber zurecht legen konnte. + +Ich hatte mit Natalien keinen Briefwechsel verabredet, ich hatte +nicht daran gedacht, sie wahrscheinlich auch nicht. Unser Verhältnis +erschien mir so hoch, daß es mir kleiner vorgekommen wäre, wenn wir +uns gegenseitig Briefe geschickt hätten. Wir mußten in der Festigkeit +der Überzeugung der Liebe des Andern ruhen, durften uns nicht durch +Ungeduld vermindern und mußten warten, wie sich alles entwickeln +werde. So konnte ich mit dem Gefühle von Seligkeit von Natalien fern +sein, konnte mich freuen, daß alles so ist, wie es ist, und konnte +dessen harren, was meine Eltern und Nataliens Angehörige beginnen +werden. + +Klotilden, welche ihren Bergen, Lüften, Seen und Wäldern die Farbe +geben wollte, die sie gesehen hatte, suchte ich beizustehen und zeigte +ihr, worin sie fehle und wie sie es immer besser machen könne. Wir +wußten es jetzt, daß man die zarte Kraft, wie sie uns in der Wesenheit +der Hochgebirge entgegen tritt, nicht darstellen könne und die Kunst +des großen Meisters nur in der besten Annäherung bestehe. Auch in +ihrem Bestreben, die Art, wie sie im Gebirge die Zither spielen gehört +hatte und die eigentümlichen Töne, die ihr dort vorgekommen waren, +nachzuahmen, suchte ich ihr zu helfen. Wir konnten wohl beide unsere +Vorbilder nicht völlig erreichen, freuten uns aber doch unserer +Versuche. + +Bei einigen Freunden machte ich gelegentlich zwei oder drei Besuche. + +So war der Winter gekommen. Ich faßte, weil ich schon nach dem Rate +des Vaters beschlossen hatte, im Winter meinen Gastfreund zu besuchen, +zugleich auch den Entschluß, einmal im Winter in das Hochgebirge +zu gehen und, wenn dies möglich sein sollte, einen hohen Berg zu +besteigen und auf dem Eise eines Gletschers zu verweilen. Ich +bestimmte hierzu den Januar als den beständigsten und meistens auch +klarsten Monat des Winters. Gleich nach seinem Beginne fuhr ich von +dem Hause meiner Eltern ab und fuhr in dem flimmernden Schnee und in +der blendenden Hülle, die alle Fluren deckte, im Schlitten der Gegend +zu, in welcher meine Freunde lebten. Das Wetter war schon durch zehn +Tage beständig und mäßig kalt gewesen, der Schnee war reichlich, und +auf der Bahn glitten die Fahrzeuge wie in den Lüften dahin. Wie ich +sonst nie anders als im offenen Wagen fuhr, so fuhr ich auch jetzt, +mit guten Pelzen versehen, im offenen Schlitten und freute mich der +weichen Hülle, die um meinen Körper war, und auch der, die überall und +allüberall lag, freute mich der schweigenden bereiften Wälder, der +ruhenden Obstbäume, die ihre weißen Gitter ausstreckten, der Häuser, +von denen der wohnliche Rauch aufstieg, und der Unzahl der Sterne, die +Nachts in dem kalten und finsteren Himmel feuriger funkelten als je +sonst im Sommer. Ich hatte vor, zuerst die Gebirge und dann meinen +Gastfreund zu besuchen. + + +Ich fuhr bis in die Nähe des Lauterthales. Da ich die Straße verlassen +sollte, mietete ich einen einspännigen Schlitten, weil in den +Seitenwegen, auf denen man immer im Winter nur mit einem Pferde fährt, +die Bahn zu enge ist, als daß zwei Pferde sicher neben einander gehen +könnten, und fuhr in das Tal und in das Ahornwirtshaus. Die Ahorne +streckten ungeheure, abenteuerlich gestaltete, entblätterte und mit +feinen Zweigen wie mit Bärten versehene Arme der winterlichen Luft +entgegen, das fensterreiche Wirtshaus war in seiner braunen Farbe +gegen die Schneedecke auf seinem Dache und gegen den Schnee, der +überall ringsum lag, noch brauner als sonst, und die Fichtentische +vor dem Hause waren abgebrochen und in Aufbewahrung getan worden. Die +Wirtin empfing mich mit Erstaunen und mit Freude, daß ich in einer +solchen Jahreszeit komme, und gab mir das beste Versprechen, daß meine +Stube so warm und heimlich sein solle, als wehe kein einziges Lüftchen +hinein, und so licht, als schiene die Sonne, wenn sie überhaupt +scheint, sonst nirgends hin als auf meine Fenster. Ich ließ meine +Gerätschaften in die Stube bringen, und bald loderte auch ein lustiges +Feuer in dem Ofen derselben, der ausnahmsweise, wie es sonst in den +Gebirgen fast gar nicht vorkömmt, von Innen zu heizen war. Die Wirtin +hatte es so einrichten lassen, weil von Außen der Zugang zu dem Ofen +so schwer gewesen war. Als ich mich ein wenig erwärmt und meine +Hauptsachen in Ordnung gebracht hatte, ging ich in die allgemeine +Gaststube hinunter. In ihr waren verschiedene Leute anwesend, die der +Weg vorbei führte oder die eine kleine Erquickung und ein Gespräch +suchten. Bei den vielen und sehr nahe stehenden Fenstern drang ein +reichliches Licht herein, so daß die Sonnenstrahlen des Wintertages +um die Tische spielten, was um so wohltätiger war, da auch eine +behagliche Wärme von den in dem großen Ofen brennenden Klötzen das +Zimmer erfüllte. Ich fragte wieder um meinen Zitherspiellehrer, es +hatte niemand etwas von ihm gehört. Ich fragte um den alten Kaspar, er +war gesund, und es wurde auf meine Bitte um ihn gesendet. Ich sagte, +daß ich im Sinne hätte, von dem Lautersee in die Eisfelder der Echern +hinaufzusteigen. Ich hätte Anfangs Lust gehabt, das Simmieis an der +Karspitze zu besuchen; aber der Zugang ins Kargrat sei mir im Winter +sehr unangenehm, und wenn die Echern auch etwas tiefer liegen als +die Simmen, so seien sie doch schöner und von unvergleichlich +wohlgebildeten Felsen eingefaßt. Alle rieten mir von meinem +Unternehmen ab, es sei im Winter nicht durchzudringen, und die Kälte +sei auf den Bergen so groß, daß sie kein Mensch zu ertragen vermöge. +Ich widerlegte die Einwürfe vorerst dadurch, daß ich sagte, es +sei eben im Winter niemand auf den Echern gewesen, wie sie selber +berichten, und daß man daher nichts Sicheres wissen könne. + +»Aber man kann es sich denken«, erwiderten viele. + +»Erfahrung ist noch besser«, sagte ich. + +Indessen kam der alte Kaspar. Die Sache wurde ihm gleich von den +Anwesenden erzählt, und er riet auch entschieden von dem Unternehmen +ab. Ich sagte, daß viele Forscher in Naturdingen im Winter schon auf +hohen Bergen gewesen seien, auf höheren als den Echern, daß sie dort +Nächte und zuweilen auch eine Reihe von Tagen und Nächten zugebracht +haben. Man wendete immer ein, das seien andere Berge gewesen, und in +den hiesigen gehe es durchaus nicht. Der alte Kaspar verstand sich +endlich ganz allein dazu, mich, wenn ich durchaus wolle, zu begleiten. +Aber das Wetter, meinte er, müßten wir uns sorgsam dazu auslesen. Ich +erwiderte ihm, daß ich Geräte bei mir hätte, die mir anzeigen, wenn +eine schöne Zeit bevorstehe, daß ich mich auch ein wenig auf die +Zeichen an dem Himmel verstehe und daß ich selber auf den Höhen nicht +gar gerne in einen Schneesturm oder in einen langedauernden Nebel +geraten möchte. Alle andern Leute, welche mir sonst gerne bei meinen +Bergarbeiten geholfen hatten und welche ich ebenfalls ins Wirtshaus +hatte rufen lassen, lehnten es durchaus ab, mich im Winter in die +Echern zu begleiten. Dem Kaspar sagte ich, er müsse sich vorbereiten. +Ich hätte selber verschiedene Dinge bei mir, von denen er sich die +aussuchen könne, von welchen er glaube, daß er sie auf unserer +Wanderung mitnehmen möge. Den Tag, an welchem wir zum See hinunter +gehen werden, würde ich ihm dann schon sagen. Ich ging unter den +lebhaftesten Gesprächen der Anwesenden über diesen Gegenstand in meine +Stube zurück und brachte den Abend in derselben zu. Ich wußte, daß sie +nun tief in die Nacht hinein über die Sache sprechen würden und daß in +den nächsten Tagen für das ganze Tal diese Unternehmung den Stoff der +Unterredungen bilden wurde. + +Es meldete sich nun auch wirklich keiner mehr, um mich und Kaspar zu +begleiten. + +Die Zeit bis zum Beginne unsers Unternehmens brachte ich damit zu, daß +ich Wanderungen in der Umgegend machte. Ich betrachtete die Wälder, +die in Ruhe und Pracht dastanden, ich betrachtete die Höhen, auf +welchen die unermeßlichen Schneemengen lagen, ich betrachtete die +Echernwand, von der eine Last von Eiszapfen niederhing, deren manche +die Dicke von Bäumen hatten, zuweilen losbrachen und mit Krachen und +Klingen in den Schnee niederstürzten, ich ging auf Berge und schaute +in die stille, gleichsam verdichtete Winterluft und auf alle die +weißen Gebilde, die durch dunkle Wälder, durch Felsen und durch das +sanfte Blau der fernen Bergzüge geschnitten waren. + +Gegen die Mitte des Januars, zu welcher Zeit gewöhnlich das Wetter +am ausdauerndsten zu sein pflegt, stellten sich die Zeichen ein, daß +längere Zeit schöne Tage sein werden. Ein etwas weicher Luftzug der +vorigen Tage hatte sich verloren, die graue Decke am Himmel war +verschwunden und den verwaschenen Federwolken war eine tiefe Bläue +gefolgt. Die Luft zog aus Osten, die Kälte mehrte sich, der Schnee +flimmerte und Abends zeigte sich der feine blauliche Duft in den +Gründen, der heitere Morgen und immer größere Kälte versprach. Meine +Werkzeuge gaben starken Luftdruck und große Trockenheit an. + +Ich sagte dem alten Kaspar, daß wir nunmehr aufbrechen würden. Wir +nahmen an Alpenstöcken, Steigeisen, Stricken, Schneereifen, Decken, +Kleidern, was wir nötig erachteten, eine Schaufel, eine Axt, +Kochgeschirr und Lebensmittel auf mehrere Tage. So bepackt gingen wir +zu dem See. Dort teilten wir unsere Dinge in zwei bequeme Lasten, +daß jeder mit der seinigen so leicht als möglich gehen könne, und +erwarteten den nächsten Morgen. + +Beim Grauen des Lichtes machten wir uns auf den Weg und stiegen mit +unseren sehr hohen Stiefeln, die ich eigens zu diesem Zwecke hatte +machen lassen, in den tiefen Schnee der Wege, die zu den Höhen, auf +die wir wollten, führten, die aber nur im Sommer betreten wurden, die +jetzt keine Spur zeigten und die wir nur fanden, weil wir der Gegend +sehr kundig waren. Wir gingen mehrere Stunden in diesem tiefen Schnee, +dann kamen Wälder, in denen er niederer lag und durch welche das +Fortkommen leichter war. Viele Gerölle und schiefliegende Wände, die +nun folgten, zeigten ebenfalls weniger Schnee als die Tiefe, und +es war über sie im Winter leichter zu gehen, als ich es im Sommer +gefunden hatte, da die Unebenheiten und die kleinen scharfen Riffe +und Steine mit einer Schneedecke überhüllt waren. Als wir die ersten +Vorberge überwunden hatten und auf die Hochebene der Echern gekommen +waren, von der man wieder den blauen See recht tief und dunkel in der +weißen Umgebung unten liegen sah, machten wir ein wenig Halt. Die +Oberfläche der Echern oder die Hochebene, wie man sie auch gerne +nennt, ist aber nichts weniger als eine Ebene, sie ist es nur im +Vergleiche mit den steilen Abhängen, welche ihre Seitenwände gegen +den See bilden. Sie besteht aus einer großen Anzahl von Gipfeln, die +hinter und neben einander stehen, verschieden an Größe und Gestalt +sind, tiefe Rinnen zwischen sich haben und bald in einer Spitze sich +erheben, bald breitgedehnte Flächen darstellen. Diese sind mit kurzem +Grase und hie und da mit Knieföhren bedeckt, und unzählige Felsblöcke +ragen aus ihnen empor. Es ist hier am schwersten durchzukommen. Selbst +im Sommer ist es schwierig, die rechte Richtung zu behalten, weil +die Gestaltungen einander so ähnlich sind und ein ausgetretener Pfad +begreiflicher Weise nicht da ist: wie viel mehr im Winter, in welchem +die Gestalten durch Schneeverhüllungen überdeckt und entstellt sind, +und selbst da, wo sie hervorragen, ein ungewohntes und fremdartiges +Ansehen haben. Es sind mehrere Alpenhütten in diesem Gebiete +zerstreut, und es befinden sich im Sommer Herden hier oben, die aber, +wie zahlreich sie auch sind, in der großen Ausdehnung verschwinden und +sich gegenseitig oft Monate lang nicht sehen. Wir wünschten noch beim +Lichte des Tages über diese Erdbildungen hinüber zu kommen und hatten +vor, zur Einhaltung der Richtung uns gegenseitig in unserer Kenntnis +der Riffe und der Hügelgestaltungen zu unterstützen und uns die +entscheidenden Bildungen wechselseitig zu nennen und zu beschreiben. +Am oberen Ende der Hochebene, wo wieder die größeren Felsenbildungen +beginnen und das Verirren weit weniger möglich ist, steht im Bereiche +großer Kalksteinblöcke eine Sennhütte, die Ziegenalpe genannt, welche +das Ziel unserer heutigen Wanderung war. Am Rande der Bergansteigung +und dem Anfange der Hochebene, wo wir jetzt waren, setzten wir uns +nieder. Es liegt da ein großer Stein, der beinahe ganz schwarz ist. +Er ist nicht nur dieser Farbe willen an sich merkwürdig, sondern +besonders darum, weil er durch eben diese Farbe, dann durch seine +Größe und seine seltsame Gestalt von Weitem gesehen werden kann und +denen, die von der Ziegenalpe durch die Hochebene abwärts kommen, +zum Zeichen, und wenn sie bei ihm angelangt sind, zur Beruhigung des +richtig zurückgelegten Weges dient. Weil Vielen, die auf der Hochebene +sind, Sennen, Alpenwanderern, Jägern, der Stein ein Versammlungsort +ist, so findet sich von ihm ab schon ein merkbar ausgetretener +Pfad und man kann die Richtung zu dem See hinab nicht mehr leicht +verfehlen. Auch ist die gegen Sonnenaufgang überhängende Gestalt des +Felsens geeignet, vor Regen und heftigen Westwinden zu schützen. Als +wir bei ihm angelangt waren, sahen wir freilich keine Spur eines +Menschen rings um ihn; denn unberührter Schnee lag bis zu seinen +Wänden hinzu, und er stand noch einmal so schwarz aus dieser Umgebung +hervor. Wir fanden aber auf kleineren Steinen, die unter seinem +Überdache lagen, und auf die der Schnee nicht hereingefallen war, Raum +zum Sitzen und folgten dieser Einladung willig, da sich schon Ermüdung +eingestellt hatte. Kaspar schnallte die Umhüllungen der Decken +auseinander und holte zwei leichte, aber wärmende Pelze und andere +Pelzsachen hervor, die ich dazu bestimmt hatte, unsere Körper und +Füße, die im Wandern sich sehr erwärmt hatten, in der Ruhe vor +Verkühlung zu schützen. Als wir diese Pelzdinge umgetan hatten, +schritten wir dazu, uns durch Speise und Trank zu erquicken. Etwas +Wein und Brod reichte zu dem Zwecke hin. Ich betrachtete, nachdem +unser Mahl vollendet war, den Wärmemesser, welchen ich gleich +nach unserer Ankunft an einer freien Stelle auf meinen Alpenstock +aufgehängt hatte, und zeigte meinem Begleiter Kaspar, daß die Wärme +hier oben größer sei, als wir sie gestern zu gleicher Tageszeit unten +in der Ebene des Sees gehabt hatten. Die Sonne schien sehr kräftig auf +den Schnee, es wehte kein Lüftchen, an dem grünlich blaulichen Himmel +lagerten nur ein paar sehr dünne weißliche Streifen. Auch konnte man +von dem Steinvorsprunge, von dem aus der See zu erblicken war, fast +deutlich wahrnehmen, daß unten nicht nur die dichtere, sondern auch +kältere Luft liege. Denn so deutlich und klar der See zu erblicken +war, so zog sich doch an den weißen oder weißgesprenkelten Wänden +desselben ein feiner blaulich schillernder Dunst hin zum Zeichen, daß +dort unsere obere, wärmere Luft mit der unteren, schon seit längerer +Zeit über dem See stehenden kälteren zusammengrenze und sich +da ein sanfter Beschlag bilde. Ich schaute nur noch auf den +Feuchtigkeitsmesser und den des Luftdruckes, dann packte Kaspar unsere +Decken und Pelze, ich meine Geräte ein, und wir gingen unsers Weges +weiter. + +Mit großer Vorsicht suchten wir die Richtung, die uns nottat, zu +bestimmen. Auf jeder Stelle, die eine größere Umsicht gewährte, +hielten wir etwas an und suchten uns die Gestalt der Umgebung +zu vergegenwärtigen und uns des Raumes, auf dem wir standen, zu +vergewissern. Ich zog zum Überflusse auch noch die Magnetnadel zu +Rate. In den Niederungen und Mulden zwischen einzelnen Höhen mußten +wir uns der Schneereife bedienen. Gegen den späten Nachmittag stiegen +uns die höheren und dunkleren Zacken der Echern aus dem Schnee +entgegen. Als die Sonne fast nur mehr um ihre eigene Breite von dem +Rande des Gesichtskreises entfernt war, kamen wir in der Ziegenalpe +an. Hier hatten wir einen eigentümlichen Anblick. Es ist da eine +Stelle, von welcher aus man nicht mehr zu dem See oder zu seiner +Umgebung zurücksehen kann, dafür öffnet sich gegen Sonnenuntergang ein +weiter Blick in die Lichtung des Lauterthales, besonders aber in das +Echertal, in welchem der Mann wohnt, welcher meine und Klotildens +Zither gemacht hatte. In diese Ferne wollte ich noch einen Blick tun, +ehe wir in die Hütte gingen. Aber ich konnte die Täler nicht sehen. +Die Wirkung, welche sich aus dem Aneinandergrenzen der oberen, +wärmeren Luft und der unteren, kälteren, wie ich schon am schwarzen +Steine bemerkt hatte, ergab, war noch stärker geworden, und ein +einfaches, wagrechtes, weißlichgraues Nebelmeer war zu meinen Füßen +ausgespannt. Es schien riesig groß zu sein und ich über ihm in der +Luft zu schweben. + +Einzelne schwarze Knollen von Felsen ragten über dasselbe empor, dann +dehnte es sich weithin, ein trübblauer Strich entfernter Gebirge zog +an seinem Rande, und dann war der gesättigte, goldgelbe, ganz reine +Himmel, an dem eine grelle, fast strahlenlose Sonne stand, zu ihrem +Untergange bereitet. Das Bild war von unbeschreiblicher Größe. Kaspar, +welcher neben mir stand, sagte: »Verehrter Herr, der Winter ist doch +auch recht schön.« + +»Ja, Kaspar«, sagte ich, »er ist schön, er ist sehr schön.« + +Wir blieben stehen, bis die Sonne untergegangen war. Die Farbe des +Himmels wurde für einen Augenblick noch höher und flammender, dann +begann alles nach und nach zu erbleichen und schmolz zuletzt in ein +farbloses Ganzes zusammen. Nur die gewaltigen Erhebungen, die gegen +Süden standen und die das Eis, das wir besuchen wollten, enthielten, +glommen noch von einem unsichern Lichte, während mancher Stern über +ihnen erschien. Wir gingen nun in dem beinahe finster gewordenen +und ziemlich unwegsamen Raume zur Hütte, um in derselben unsere +Vorbereitungen zum Übernachten zu treffen. Die Hütte war, wie es im +Winter immer ist, wo sie leer steht, nicht gesperrt. Ein Holzriegel, +der sehr leicht zu beseitigen war, schloß die Tür. Wir traten ein, +steckten eine Kerze in unsern Handleuchter und machten Licht. Wir +suchten das Gemach der Sennerinnen und ließen uns dort nieder. In den +Schlafstellen war etwas Heu, ein grober Brettertisch stand in der +Mitte des Gemaches, eine Bank lief an der Wand hin und eine bewegliche +stand an dem Tische. Wir hatten vor, hier erst unser eigentliches +warmes Tagesmahl zu bereiten. Aber, worauf wir kaum gefaßt waren, es +zeigte sich nirgends auch nicht der geringste Vorrat von Holz. Ich +hatte für den Fall Weingeist bei mir, um einige Schnitten Braten in +einer flachen Pfanne rösten zu können; aber wir zogen es vorzüglich +wegen der Erwärmung des Körpers vor, ein Stück Bank zu verbrennen und +dem Eigentümer Ersatz zu leisten. Kaspar machte sich mit der Axt an +die Arbeit, und bald loderte ein lustiges Feuer auf dem Herde. Ein +Abendessen wurde bereitet, wie wir es oft bei unsern Gebirgsarbeiten +bereitet hatten, aus dem Heu der Schlafstellen, den Decken und den +Pelzen wurden Betten zurecht gemacht, und nachdem ich noch meine +Meßwerkzeuge, die im Freien vor der Hütte aufgehängt waren, betrachtet +hatte, begaben wir uns zur Ruhe. Auch jetzt am späten Abende war bei +ganz heiterem, sternenvollem Himmel eine viel mindere Kälte in dieser +Höhe als ich vermutet hatte. + + +Ehe der Tag graute, standen wir auf, machten Licht, kleideten uns +vollständig an, richteten all unsere Dinge zurecht, bereiteten ein +Frühmahl, verzehrten es und traten unsern Weg an. Die Echernspitze +stand fast schwarz im Süden, wir konnten sie deutlich in die blasse +Luft über dem Haustein, der uns noch unsere Eisfelder deckte, empor +ragen sehen. Der Tag war wieder ganz heiter. Obgleich es noch nicht +licht war, durften wir eine Verirrung nicht fürchten, denn wir mußten +geraume Zeit zwischen Felsen empor gehen, die unsere Richtung von +beiden Seiten begrenzten und uns nicht abweichen ließen. Wir legten, +weil der Schnee in diesen Rinnen sich angehäuft hatte, unsere +Schneereife an und gingen in der ungewissen Dämmerung vorwärts. Nach +etwas mehr als einer Stunde Wanderung kamen wir auf die Höhe hinaus, +wo die Gegend sich wieder öffnet und gegen Osten weite Felder +hinziehen. Diese biegen, nachdem sie sich ziemlich hoch erhoben, gegen +Süden um einen Fels herum und lassen dann den Eisstock erblicken, zu +dem wir wollten. Dieser drückt mit großer Macht von Süden gegen Norden +herab und hat zu seiner südlichen Begrenzung die Echernspitze. Auf den +erklommenen Feldern war es schon ganz licht; allein die Berge, welche +wir am östlichen Rande derselben unter uns und weit draußen erblicken +sollten, waren nicht zu sehen, sondern am Rande der mit Schnee +bedeckten Felder setzte sich eine Farbe, die nur ein klein wenig von +der Schneefarbe verschieden war, fast ins Unermeßliche fort, die +des Nebels. Er hatte seit gestern noch mehr überhand genommen und +begrenzte unsere Höhe als Insel. Kaspar wollte erschrecken. Ich aber +machte ihn aufmerksam, daß der Himmel über uns ganz heiter sei, daß +dieser Nebel von jenem sehr verschieden sei, der bei dem Beginne des +Regen- oder Schneewetters zuerst die Spitzen der Berge in Gestalt von +Wolken einhüllt, sich dann immer tiefer, oft bis zur Hälfte der Berge, +hinabzieht und den Wanderern so fürchterlich ist; unser Nebel sei kein +Hochnebel, sondern ein Tiefnebel, der die Bergspitzen, auf denen das +Verirren so schrecklich sei, freilasse und der beim Höhersteigen der +Sonne verschwinden werde. Im schlimmsten Falle, wenn er auch bliebe, +sei er nur eine wagrechte Schichte, die nicht höher stehe, als wo +der schwarze Stein liegt. Von dort hinab aber ist uns der Weg sehr +bekannt, wir müssen unsere eigenen Fußstapfen finden und können an +ihnen abwärts gehen. + +Kaspar, welcher mit dem Gebirgsleben sehr vertraut war, sah meine +Gründe ein und war beruhigt. + +Während wir standen und sprachen, fing sich an einer Stelle der Nebel +im Osten zu lichten an, die Schneefelder verfärbten sich zu einer +schöneren und anmutigeren Farbe, als das Bleigrau war, mit dem sie +bisher bedeckt gewesen waren, und in der lichten Stelle des Nebels +begann ein Punkt zu glühen, der immer größer wurde und endlich in +der Größe eines Tellers schweben blieb, zwar trübrot, aber so innig +glimmend wie der feurigste Rubin. Die Sonne war es, die die niederen +Berge überwunden hatte und den Nebel durchbrannte. Immer rötlicher +wurde der Schnee, immer deutlicher, fast grünlich seine Schatten, die +hohen Felsen zu unserer Rechten, die im Westen standen, spürten auch +die sich nähernde Leuchte und röteten sich. Sonst war nichts zu sehen +als der ungeheure, dunkle, ganz heitere Himmel über uns, und in der +einfachen großen Fläche, die die Natur hieher gelegt hatte, standen +nur die zwei Menschen, die da winzig genug sein mußten. Der Nebel fing +endlich an seiner äußersten Grenze zu leuchten an wie geschmolzenes +Metall, der Himmel lichtete sich und die Sonne quoll wie blitzendes +Erz aus ihrer Umhüllung empor. Die Lichter schossen plötzlich über den +Schnee zu unsern Füßen und fingen sich an den Felsen. Der freudige Tag +war da. + +Wir banden uns die Stricke um den Leib und ließen ein ziemlich langes +Stück von der Leibbinde des einen zu der des andern gehen, damit, wenn +einer, da wir jetzt über eine sehr schiefe Fläche zu gehen hatten, +gleiten sollte, er durch den andern gehalten würde. Im Sommer war +diese Fläche mit vielen kleinen und scharfen Steinen bedeckt, daher +der Übergang über sie viel leichter. Im Winter kannte man den Boden +nicht, und der Schnee konnte ins Gleiten geraten. Ohne Hilfe der +Schneereife, die hier, weil sie unbehilflich machten, nur gefährlich +werden konnten, gelangten wir mit angewandter Vorsicht glücklich +hinüber, lösten die Stricke, bogen nach einer darauf erfolgten +mehrstündigen Wanderung um die Felsen und standen an dem Gletscher und +auf dem ewigen Schnee. + +Auf dem Eise, da wir nach uns sehr bekannten Richtungen auf demselben +vorschritten, zeigte sich beinahe mit Rücksicht auf den Sommer gar +keine Veränderung. Da auch im Sommer fast jeder Regen des Tales die +Höhen entweder gar nicht trifft oder auf ihnen Schnee ist, so war es +jetzt auf dem Gletscher wie im Sommer, und wir schritten auf bekannten +Gebieten vorwärts. Wo die Eismengen geborsten und zertrümmert +waren, hatte sie an ihren Oberflächen der Schnee bedeckt, mit den +Seitenflächen sahen sie grünlich oder blaulich schillernd aus dem +allgemeinen Weiß hervor, weiter aufwärts, wo die Gletscherwölbung rein +dalag, war sie mit Schnee bedeckt. Der einzige Unterschied bestand, +daß jetzt keine einzige breite oder lange Eisstelle bloßgelegt +in ihrer grünlichen Farbe da stand, was doch zuweilen im Sommer +geschieht. Wir verweilten einige Zeit auf dem Eise und nahmen auf +demselben auch unser Mittagmahl, in Wein und Brod bestehend, ein. + +Unter uns hatte sich aber indessen eine Veränderung vorbereitet. Der +Nebel war nach und nach geschwunden, ein Teil der fernen oder der +näheren Berge war nach dem andern sichtbar geworden, verschwunden, +wieder sichtbar geworden, und endlich stand Alles im Sonnenglanze ohne +ein Flöckchen Nebel, der wie ausgetilgt war, in sanfter Bläue oder +wie in goldigem Schimmer oder wie im fernen, matten Silberglanze, in +tiefem Schweigen und unbeweglich da. Die Sonne strahlte einsam ohne +einer geselligen Wolke an dem Himmel. Die Kälte war auch hier nicht +groß, geringer als ich sie im Tale beobachtet hatte, und nicht viel +größer als sie auch zu Sommerszeiten auf diesen Höhen ist. + +Nachdem wir uns eine geraume Weile auf dem Eise aufgehalten hatten, +traten wir den Rückweg an. Wir gelangten leicht an den gewöhnlichen +Ausgang des Gletschers, von wo aus man das Hinabgehen über die Berge +einleitet. Wir fanden unsere Fußstapfen, die in der ungetrübten +Oberfläche des Schnees, da hierauf selten auch Tiere kommen, sehr +deutlich erkennbar waren, und gingen nach ihnen fort. Wir kamen +glücklich über die schiefe Fläche und langten gegen Abend in der +Ziegenalpe an. Es war hier schon zu dunkel, um noch etwas von der +Umgebung sehen zu können. Wir hielten in der Hütte wieder unser warm +zubereitetes Abendmahl, wärmten uns am Reste der Bank und erquickten +uns durch Schlaf. Der nächste Morgen war abermals klar, in den Tälern +lag wieder der Nebel. Da auch die Nacht vollkommen windstill gewesen +war, so hatten wir uns jetzt in Hinsicht unsers Rückweges über die +Hochebene nicht zu sorgen. Unsere Fußstapfen standen vollkommen +unverwischt da, und ihnen konnten wir uns anvertrauen. Selbst da, wo +wir ratend gestanden waren und etwa den Alpenstock seitwärts unseres +Standortes in den Schnee gestoßen hatten, war die Spur noch völlig +sichtbar. Wir kamen früher als wir gedacht hatten an dem schwarzen +Steine an. Dort hielten wir wieder unser Mittagmahl und gingen dann +unter dem sich immer mehr und mehr lichtenden Nebel, der uns aber hier +kein wesentliches Hindernis mehr machte, die steile Senkung der Berge +hinunter. Der an ihrem Fuße beobachtete Wärmemesser zeigte wirklich +eine größere Kälte, als wir auf den Bergen gehabt hatten. + +Am Nachmittage waren wir wieder in dem Seewirtshause. + +Am andern Tage gingen wir in das Ahornhaus im Lauterthale. Alles +umringte uns und wollte unsere Erlebnisse wissen. Sie wunderten sich, +daß die Unternehmung so einfach gewesen sei, besonders aber, daß die +Kälte, die schon im Sommer gegen die Wärme der Täler so abstehe, im +Winter nicht ganz fürchterlich soll gewesen sein. Kaspar war ein +wichtiger Mann geworden. + +Ich aber war von dem, was ich oben gesehen und gefunden hatte, +vollkommen erfüllt. Die tiefe Empfindung, welche jetzt immer in meinem +Herzen war und welche mich angetrieben hatte, im Winter die Höhen der +Berge zu suchen, hatte mich nicht getäuscht. Ein erhabenes Gefühl war +in meine Seele gekommen, fast so erhaben wie meine Liebe zu Natalien. +Ja, diese Liebe wurde durch das Gefühl noch gehoben und veredelt, und +mit Andacht gegen Gott, den Herrn, der so viel Schönes geschaffen +und uns so glücklich gemacht hat, entschlief ich, als ich wieder zum +ersten Male in meinem Bette in der wohnlichen Stube des Ahornhauses +ruhte. + +Es hat mich nicht gereut, daß ich noch die Weihe dieser Unternehmung +auf mich genommen hatte, ehe ich zu meinem Gastfreunde ging, um ihm +meinen Winterbesuch zu machen. + +Ich hielt mich nur noch so lange in dem Lauterthale auf, um noch die +bedeutendsten Stellen desselben im Winterschmucke zu sehen und um die +Einleitung zu treffen, daß dem Eigentümer der Ziegenalpe die Bank, die +wir verbrannt hatten, ersetzt würde. Dann fuhr ich in einem Schlitten +in der Richtung nach dem Asperhofe hinaus. Kaspar hatte recht herzlich +von mir Abschied genommen, er war mir durch diese Unternehmung noch +mehr befreundet geworden, als er es früher gewesen war. + +Die größere Wärme in den oberen Teilen der Luft, welche nur ein +Vorbote des beginnenden Südwindes gewesen war, hatte sich nun völlig +geltend gemacht, der Südwind war in den Höhen eingetreten, obwohl es +in der Tiefe noch kalt war, Wolken hatten die Berge umhüllt, zogen +über die Länder hinaus und schüttelten Regen herab, der in Gestalt von +Eiskörnern unten ankam und mir um das Haupt und die Wangen prasselte, +als ich in dem Asperhofe eintraf. + +Die Pferde und der Schlitten wurden in den Meierhof gebracht, ich ging +zu meinem Gastfreunde. Er saß in seinem Arbeitszimmer und ordnete +Pergamentblätter, von denen er einen großen Stoß vor sich hatte. Ich +begrüßte ihn, und er empfing mich wie immer gleich freundlich. + +Ich sagte ihm, daß ich seit meiner letzten Anwesenheit im Asperhofe +fast immer gereist sei. Erst hätte ich noch das Kargrat besucht, +weil ich dort zu ordnen gehabt hätte, dann sei ich zu meinen Eltern +gegangen, hierauf habe ich mit meinem Vater einen Besuch in seiner +Heimat gemacht, dann sei ich mit meiner Schwester auf eine Zeit, +um ihr ein Vergnügen zu bereiten, in das Hochgebirge gefahren, als +hierauf der Winter gekommen sei, habe ich die Echerngletscher besucht, +und nun sei ich hier. + +»Ihr seid wie immer herzlich willkommen«, sagte er, »bleibt bei uns, +so lange es euch gefällt, und seht unser Haus wie das eurer Eltern +an.« + +»Ich danke euch, ich danke euch sehr«, erwiderte ich. + +Er zog an der Klingel zu seinen Füßen, und die alte Katharina kam +herauf. Er befahl ihr, meine Zimmer zu heizen, daß ich sie sehr bald +benutzen könne. + +»Es ist schon geschehen«, antwortete sie. »Als wir den jungen Herrn +hereinfahren sahen, ließ ich durch Ludmilla gleich heizen, es brennt +schon; aber ein wenig gelüftet muß noch werden, neue Überzüge müssen +kommen, der Staub muß abgewischt werden, ihr müßt euch schon ein wenig +gedulden.« + +»Es ist gut und recht«, sagte mein Gastfreund, »sorge nur, daß alles +wohnlich sei.« + +»Es wird schon werden«, antwortete Katharina und verließ das Zimmer. + +»Ihr könnt, wenn ihr wollt«, sagte er dann zu mir, »indessen, bis eure +Wohnung in Ordnung ist, mit mir zu Eustach hinüber gehen und sehen, +was eben gearbeitet wird. Wir können hiebei auch bei Gustav anklopfen +und ihm sagen, daß ihr gekommen seid.« + + +Ich nahm den Vorschlag an. Er zog eine Art Überrock über seine +Kleider, die beinahe wie im Sommer waren, an, und wir gingen aus dem +Zimmer. Wir begaben uns zuerst zu Gustav, und ich begrüßte ihn. Er +flog an mein Herz, und sein Ziehvater sagte ihm, er dürfe uns in +das Schreinerhaus begleiten. Er nahm gar kein Überkleid, sondern +verwechselte nur seinen Zimmerrock mit einem etwas wärmeren und war +bereit, uns zu folgen. Wir gingen über die gemeinschaftliche Treppe +hinab, und als wir unten angekommen waren, sah ich, daß mein +Gastfreund auch heute an dem unfreundlichen Wintertage barhäuptig +ging. Gustav hatte eine ganz leichte Kappe auf dem Haupte. Wir gingen +über den Sandplatz dem Gebüsche zu. Die Eiskörner, welche eine +bereifte, weiße und rauhe Gestalt hatten, mischten sich mit den weißen +Haaren meines Freundes und sprangen auf seinem zwar nicht leichten, +aber noch nicht für eine strenge Winterkälte eingerichteten Überrocke. +Die Bäume des Gartens, die uns nahe standen, seufzten in dem Winde, +der von den Höhen immer mehr gegen die Niederungen herab kam und +an Heftigkeit mit jeder Stunde wuchs. So gelangten wir gegen das +Schreinerhaus. Wie bei meiner ersten Annäherung stieg auch heute ein +leichter Rauch aus demselben empor, aber er ging nicht wie damals in +einer geraden luftigen Säule in die Höhe, sondern wie er die Mauern +des Schornsteins verließ, wurde er von dem Winde genommen, in +Flatterzeug verwandelt und nach verschiedenen Richtungen gerissen. +Auch waren nicht die grünen Wipfel da, an denen er damals empor +gestiegen war, sondern die nackten Äste mit den feinen Ruten der +Zweige standen empor und neigten sich im Winde über das Haus herüber. +Auf dem Dache desselben lag der Schnee. Von Tönen konnten wir bei +dieser Annäherung aus dem Innern nichts hören, weil außen das Sausen +des Windes um uns war. + +Da wir eingetreten waren, kam uns Eustach entgegen, und er grüßte mich +noch freundlicher und herzlicher, als er es sonst immer getan hatte. +Ich bemerkte, daß um zwei Arbeiter mehr als gewöhnlich in dem Hause +beschäftigt waren. Es mußte also viele oder dringende Arbeit geben. +Die Wärme gegen den Wind draußen empfing uns angenehm und wohnlich +im Hause. Eustach geleitete uns durch die Werkstube in sein Gemach. +Ich sagte ihm, daß ich gekommen sei, um auch einen kleinen Teil des +Winters in dem Asperhofe zu bleiben, den ich in demselben nie gesehen +und den ich nur meistens in der Stadt verlebt habe, wo seine Wesenheit +durch die vielen Häuser und durch die vielen Anstalten gegen ihn +gebrochen werde. + +»Bei uns könnt ihr ihn in seiner völligen Gestalt sehen«, sagte +Eustach, »und er ist immer schön, selbst dann noch, wann er seine Art +so weit verleugnet, daß er mit warmen Winden, blaugeballten Wolken und +Regengüssen über die schneelose Gegend daher fährt. So weit vergißt er +sich bei uns nie, daß er in ein Afterbild des Sommers, wie zuweilen in +südlichen Ländern, verfällt und warme Sommertage und allerlei Grün zum +Vorschein bringt. Dann wäre er freilich nicht auszuhalten.« + +Ich erzählte ihm von meinem Besuche auf dem Echerngletscher und sagte, +daß ich doch auch schon manchen schönen und stürmischen Wintertag im +Freien und ferne von der großen Stadt zugebracht habe. + +Hierauf zeigte er mir Zeichnungen, welche zu den früheren neu hinzu +gekommen waren, und zeigte mir Grund- und Aufrisse und andere Pläne +zu den Werken, an denen eben gearbeitet werde. Unter den Zeichnungen +befanden sich schon einige, die nach Gegenständen in der Kirche von +Klam genommen worden waren, und unter den Plänen befanden sich viele, +die zu den Ausbesserungen gehörten, die mein Gastfreund in der Kirche +vornehmen ließ, welche ich mit ihm besucht hatte. + +Nach einer Weile gingen wir auch in die Arbeitsstube und besahen die +Dinge, die da gemacht wurden. Meistens betrafen sie Gegenstände, +welche für die Kirche, für die eben gearbeitet wurde, gehörten. Dann +sah ich ein Zimmerungswerk aus feinen Eichen- und Lärchenbohlen, +welches wie der Hintergrund zu Schnitzwerken von Vertäflungen aussah, +auch erblickte ich Simse, wie zu Vertäflungen gehörend. Von Geräten +war ein Schrein in Arbeit, der aus den verschiedensten Hölzern, ja +mitunter aus seltsamen, die man sonst gar nicht zu Schreinerarbeiten +nimmt, bestehen sollte. Er schien mir sehr groß werden zu wollen; aber +seinen Zweck und seine Gestalt konnte ich aus den Anfängen, die zu +erblicken waren, nicht erraten. Ich fragte auch nicht darnach, und man +berichtete mir nichts darüber. + +Als wir uns eine Zeit in dem Schreinerhause aufgehalten und auch über +andere Gegenstände gesprochen hatten, als sich in demselben befanden +oder mit demselben in Beziehung standen, entfernten wir uns wieder, +und mein Freund und Gustav geleiteten mich in das Wohnhaus zurück und +dort in meine Zimmer. In ihnen war es bereits warm, ein lebhaftes +Feuer mußte den Tönen nach, die zu hören waren, in dem Ofen brennen, +alles war gefegt und gereinigt, weiße Fenstervorhänge und weiße +Überzüge glänzten an dem Bette und an jenen Geräten, für die sie +gehörten, und alle meine Reisesachen, welche ich in dem Schlitten +geführt hatte, waren bereits in meiner Wohnung vorhanden. Mein +Gastfreund sagte, ich möge mich hier nun zurecht finden und +einrichten, und er verließ mich dann mit Gustav. + +Ich packte nun die Gegenstände, welche ich in meinen Reisebehältnissen +hatte, aus und verteilte sie so, daß die beiden Gemächer, welche mir +zur Verfügung standen, recht winterlich behaglich, wozu die Wärme, die +in den Zimmern herrschte, einlud, ausgestattet waren. Ich wollte es so +tun, ich mochte mich nun lange oder kurz in diesen Räumen aufzuhalten +haben, was von den Umständen abhing, die nicht in meiner Berechnung +lagen. Besonders richtete ich mir meine Bücher, meine Schreibdinge +und auch Vorbereitungen zu gelegentlichem Zeichnen so her, daß alles +dies meinen Wünschen, so weit ich das jetzt einsah, auf das Beste +entsprach. Nachdem ich mit allem fertig war, kleidete ich mich auch +um, damit die Reisekleider mit bequemeren und häuslichen vertauscht +wären. + +Hierauf machte ich einen Spaziergang. Ich ging in dem Garten meinen +gewöhnlichen Weg zu dem großen Kirschbaume hinauf. Aus dem in dem +Schnee wohl ausgetretenen Pfade sah ich, daß hier häufig gegangen +werde und daß der Garten im Winter nicht verwaist ist, wie es bei so +vielen Gärten geschieht und wie es aber auch bei meinen Eltern nicht +geduldet wird, denen der Garten auch im Winter ein Freund ist. Selbst +die Nebenpfade waren gut ausgetreten, und an manchen Stellen sah ich, +daß man nach dauerndem Schneefalle auch die Schaufel angewendet habe. +Die zarteren Bäumchen und Gewächse waren mit Stroh verwahrt, alles, +was hinter Glas stehen sollte, war wohl geschlossen und durch +Verdämmungen geschützt, und alle Beete und alle Räume, die in ihrer +Schneehülle dalagen, waren durch die um sie geführten Wege gleichsam +eingerahmt und geordnet. Die Zweige der Bäume waren von ihrem Reife +befreit, der Schnee, der in kleinen Kügelchen daher jagte, konnte auf +ihnen nicht haften, und sie standen desto dunkler und beinahe schwarz +von dem umgebenden Schnee ab. Sie beugten sich im Winde und sausten +dort, wo sie in mächtigen Abteilungen einem großen Baume angehörten +und in ihrer Dichtheit gleichsam eine Menge darstellten. In den +entlaubten Ästen konnte ich desto deutlicher und häufiger die +Nestbehälter sehen, welche auf den Bäumen angebracht waren. Von den +gefiederten Bewohnern des Gartens war aber nichts zu sehen und zu +hören. Waren wenige oder keine da, konnte man sie in dem Sturme nicht +bemerken oder haben sie sich in Schlupfwinkel, namentlich in ihre +Häuschen, zurückgezogen? In den Zweigen des großen Kirschbaumes +herrschte der Wind ganz besonders. Ich stellte mich unter den Baum +neben die an seinem Stamme befindliche Bank und sah gegen Süden. Das +dunkle Baumgitter lag unter mir, wie schwarze, regellose Gewebe auf +den Schnee gezeichnet, weiter war das Haus mit seinem weißen Dache, +und weiter war nichts; denn die fernere Gegend war kaum zu erblicken. +Bleiche Stellen oder dunklere Ballen schimmerten durch, je nachdem +das Auge sich auf Schneeflächen oder Wälder richtete, aber nichts war +deutlich zu erkennen, und in langen Streifen, gleichsam in nebligen +Fäden, aus denen ein Gewebe zu verfertigen ist, hing der fallende +Schnee von dem Himmel herunter. Von dem Kirschbaume konnte ich nicht +in das Freie hinausgehen; denn das Pförtchen war geschlossen. Ich +wendete mich daher um und ging auf einem anderen Wege wieder in das +Haus zurück. + +An demselben Tage erfuhr ich auch, daß Roland anwesend sei. Mein +Gastfreund holte mich ab, mich zu ihm zu begleiten. Man hatte ihm in +dem Wohnhause ein großes Zimmer zurecht gerichtet. In demselben malte +er eben eine Landschaft in Ölfarben. Als wir eintraten, sahen wir ihn +vor seiner Staffelei stehen, die zwar nicht mitten in dem Zimmer, doch +weiter von dem Fenster entfernt war, als dies sonst gewöhnlich der +Fall zu sein pflegt. Das zweite der Fenster war mit einem Vorhange +bedeckt. Er hatte ein leinenes Überkleid an seinem Oberkörper an und +hielt gerade das Malerbrett und den Stab in der Hand. Er legte beides +auf den nahestehenden Tisch, da er uns kommen sah, und ging uns +entgegen. Mein Gastfreund sagte, daß er mich zu dem Besuche bei ihm +aufgefordert habe und daß Roland wohl nichts dagegen haben werde. + +»Der Besuch ist mir sehr erfreulich«, sagte er, »aber gegen mein Bild +wird wohl viel einzuwenden sein.« + +»Wer weiß das?« sagte mein Gastfreund. + +»Ich wende viel ein«, antwortete Roland, »und Andere, die sich des +Gegenstandes bemächtigen, werden auch wohl viel einzuwenden haben.« + +Wir waren während dieser Worte vor das Bild getreten. + +Ich hatte nie etwas Ähnliches gesehen. Nicht, daß ich gemeint +hätte, daß das Bild so vortrefflich sei, das konnte man noch nicht +beurteilen, da sich Vieles in den ersten Anfängen befand, auch glaubte +ich zu bemerken, daß Manches wohl kaum würde gemeistert werden +können. Aber in der Anlage und in dem Gedanken erschien mir das +Bild merkwürdig. Es war sehr groß, es war größer als man gewöhnlich +landschaftliche Gegenstände behandelt sieht, und wenn es nicht gerollt +wird, so kann es aus dem Zimmer, in welchem es entsteht, gar nicht +gebracht werden. Auf diesem wüsten Raume waren nicht Berge oder +Wasserfluten oder Ebenen oder Wälder oder die glatte See mit schönen +Schiffen dargestellt, sondern es waren starre Felsen da, die nicht als +geordnete Gebilde empor standen, sondern, wie zufällig, als Blöcke und +selbst hie und da schief in der Erde staken, gleichsam als Fremdlinge, +die wie jene Normannen auf dem Boden der Insel, die ihnen nicht +gehörte, sich seßhaft gemacht hatten. Aber der Boden war nicht wie der +jener Insel oder vielmehr, er war so, wo er nicht von den im Altertume +berühmten Kornfeldern bekleidet oder von den dunkeln, fruchtbringenden +Bäumen bedeckt ist, sondern wo er zerrissen und vielgestaltig ohne +Baum und Strauch mit den dürren Gräsern, den weiß leuchtenden Furchen, +in denen ein aus unzähligen Steinen bestehender Quarz angehäuft ist +und mit dem Gerölle und mit dem Trümmerwerke, das überall ausgesät +ist, der dörrenden Sonne entgegenschaut. So war Rolands Boden, so +bedeckte er die ungeheure Fläche, und so war er in sehr großen und +einfachen Abteilungen gehalten, und über ihm waren Wolken, welche +einzeln und vielzählig schimmernd und Schatten werfend in einem Himmel +standen, welcher tief und heiß und südlich war. + +Wir standen eine Weile vor dem Bilde und betrachteten es. Roland +stand hinter uns, und da ich mich einmal wendete, sah ich, daß er die +Leinwand mit glänzenden Augen betrachtete. Wir sprachen wenig oder +beinahe nichts. + +»Er hat sich die Aufgabe eines Gegenstandes gestellt, den er noch +nicht gesehen hat«, sagte mein Gastfreund, »er hält sich ihn nur in +seiner Einbildungskraft vor Augen. Wir werden sehen, wie weit er +gelingt. Ich habe wohl solche Dinge oder vielmehr ihnen Ähnliches weit +unten im Süden gesehen.« + +»Ich bin nicht auf irgend etwas Besonderes ausgegangen«, antwortete +Roland, »sondern habe nur so Gestaltungen, wie sie sich in dem Gemüte +finden, entfaltet. Ich will auch Versuche in Ölfarben machen, welche +mich immer mehr gereizt haben als meine Wasserfarben und in denen sich +Gewaltiges und Feuriges darstellen lassen muß.« + +Ich bemerkte, als ich seine Geräte näher betrachtete, daß er Pinsel +mit ungewöhnlich langen Stielen habe, daß er also sehr aus der Ferne +arbeiten müsse, was bei einer so großen Leinwandfläche wohl auch nicht +anders sein kann und was ich auch aus der Behandlung ersah. Seine +Pinsel waren ziemlich groß, und ich sah auch lange, feine Stäbe, +an deren Spitzen Zeichnungskohlen angebunden waren, mit welchen er +entworfen haben mußte. Die Farben waren in starken Mengen auf der +Palette vorhanden. + +»Der Herr dieses Hauses ist so gütig«, sagte Roland, »und läßt mich +hier wirtschaften, während ich verbunden wäre, Zeichnungen zu machen, +welche wir eben brauchen, und während ich an Entwürfen arbeiten +sollte, die zu den Dingen notwendig sind, die eben ausgeführt werden.« + +»Das wird sich alles finden«, antwortete mein Gastfreund, »ihr habt +mir schon Entwürfe gemacht, die mir gefallen. Arbeitet und wählt nach +eurem Gutdünken, euer Geist wird euch schon leiten.« + +Um Roland, der hier vor seinem Werke stand und dessen ganze Umgebung, +wie sie in dem Zimmer ausgebreitet war, auf Ausführung dieses Werkes +hinzielte, nicht länger zu stören, da die Wintertage ohnehin so kurz +waren, entfernten wir uns. + +Da wir den Gang entlang gingen, sagte mein Gastfreund: »Er sollte +reisen.« + +Als es dunkel geworden war, versammelten wir uns in dem Arbeitszimmer +meines Gastfreundes bei dem wohlgeheizten Ofen. Es war Eustach, +Roland, Gustav und ich zugegen. Es wurde von den verschiedensten +Dingen gesprochen, am meisten aber von der Kunst und von den +Gegenständen, welche eben in der Ausführung begriffen waren. Es mochte +wohl Vieles vorkommen, was Gustav nicht verstand, er sprach auch sehr +wenig mit; aber es mochte doch das Gespräch ihn mannigfaltig fördern, +und selbst das Unverstandene mochte Ahnungen erregen, die weiter +führen oder die aufbewahrt werden und in Zukunft geeignet sind, feste +Gestaltungen, die sich fügen wollen, einleiten zu helfen. Ich wußte +das sehr wohl aus meiner eigenen Jugend und selbst auch aus der +jetzigen Zeit. + +Da ich in mein Schlafgemach zurückgekehrt war, fühlte ich es recht +angenehm, daß die Scheite aus dem Buchenwalde meines Gastfreundes, der +ein Teil des Alizwaldes war, in dem Ofen brennen. Ich beschäftigte +mich noch eine Zeit mit Lesen und teilweise auch mit Schreiben. + + +Am anderen Morgen war Regen. Er fiel in Strömen aus blaulich +gefärbten, gleichartigen, über den Himmel dahin jagenden Wolken herab. +Der Wind hatte zu solcher Heftigkeit zugenommen, daß er um das ganze +Haus heulte. Da er aus Südwesten kam, schlug der Regen an meine +Fenster und rann an dem Glase in wässerigen Flächen nieder. Aber da +das Haus sehr gut gebaut war, so hatte Regen und Wind keine anderen +Folgen als daß man sich recht geborgen in dem schützenden Zimmer fand. +Auch ist es nicht zu leugnen, daß der Sturm, wenn er eine gewisse +Größe erreicht, etwas Erhabenes hat und das Gemüt zu stärken im Stande +ist. Ich hatte die ersten Morgenstunden bei Licht in Wärme damit +hingebracht, dem Vater und der Mutter einen Brief zu schreiben, worin +ich ihnen anzeigte, daß ich auf dem Echerneise gewesen sei, daß ich +alle Vorsicht beim Hinaufsteigen und Heruntergehen angewendet habe, +daß uns nicht der geringste Unfall zugestoßen sei und daß ich mich +seit gestern bei meinem Freunde im Rosenhause befinde. An Klotilden +legte ich ein besonderes Blatt bei, worin ich, auf ihre teilweise +Kenntnis des Gebirges, die sie sich auf der mit mir gemachten Reise +erworben hatte, bauend, eine kleine Beschreibung des winterlichen +Hochgebirgbesuches gab. Als es dann heller geworden und die Stunde zum +Frühmahle gekommen war, ging ich in das Speisezimmer hinunter. Ich +erfuhr nun hier, daß es im Winter der Gebrauch sei, daß Eustach und +Roland, deren gestrige Anwesenheit bei dem Abendessen ich für zufällig +gehalten hatte, mit meinem Gastfreunde und Gustav an einem Tische +speisen. Es sollte auch im Sommer so sein; allein da oft in dieser +Jahreszeit in dem Schreinerhause lange vor Sonnenaufgang aufgestanden +und zu einer Arbeit geschritten wird, so verändern sich die Stunden, +an denen eine Erquickung des Körpers notwendig wird, und Eustach +hat selber gebeten, daß ihm dann die Zeit und Art seines Essens zu +eigener Wahl überlassen werde. Roland ist ohnehin zu jener Jahreszeit +meistens von dem Hause abwesend. Ich war nie so spät im Winter in dem +Rosenhause gewesen, daß ich diese Einrichtung hätte kennen lernen +können. Mein Gastfreund, Eustach, Roland, Gustav und ich saßen also +beim Frühmahltische. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um das +Wetter, welches so stürmisch herein gebrochen war, und es wurde +erläutert, wie es hatte kommen müssen, wie es sich erklären lasse, wie +es ganz natürlich sei, wie jedes Hauswesen sich auf solche Wintertage +in der Verfassung halten müsse und wie, wenn das der Fall sei, man +dann derlei Ereignisse mit Geduld ertragen, ja darin eine nicht +unangenehme Abwechslung finden könne. Nach dem Frühmahle begab sich +jedes an seine Arbeit. Mein Gastfreund ging in sein Zimmer, um dort im +Ordnen der Pergamente, das er angefangen hatte, fortzufahren, Eustach +ging in die Schreinerei, Roland, für den die Zeit trotz des trüben +Tages doch endlich auch hell genug zum Malen geworden war, begab sich +zu seinem Bilde, Gustav setzte sein Lernen fort und ich ging wieder in +meine Zimmer. Da ich dort eine Zeit mit Lesen und Schreiben zugebracht +hatte und da der Sturm, statt sich zu mildern, in den Vormittagstunden +nur noch heftiger geworden war, beschloß ich doch, wie es meine +Gewohnheit war, auf eine Zeit in das Freie zu gehen. Ich wählte +eine zweckmäßige Fußbekleidung, nahm meinen Wachsmantel, der eine +Wachshaube hatte, die man über den Kopf ziehen konnte, und ging über +die gemeinschaftliche Treppe hinab. Ich schlug den Weg durch das +Gittertor auf den Sandplatz vor dem Hause ein. Dort konnte der +Südwestwind recht an meine Person fallen, und er trieb mir die +Tropfen, welche für einen Winterregen bedeutend groß waren, mit +Prasseln auf meinen Überwurf, in das Angesicht, in die Augen und auf +die Hände. Ich blieb auf dem Platze ein wenig stehen und betrachtete +die Rosen, welche an der Wand des Hauses gezogen wurden. Manche +Stämmchen waren durch Stroh geschützt, bei manchen war stellenweise +die Erde über den Wurzeln mit einer schützenden Decke bekleidet, +andere waren bloß fest gebunden, bei allen aber sah ich, daß man +außerordentliche Schutzmittel nicht angewendet habe und daß alle nur +gegen Verletzungen von äußerlicher Gewalt gesichert waren. + +Der Schnee konnte sie überhüllen, wie ich noch die Spuren sah, der +Regen konnte sie begießen, wie ich heute erfuhr, aber nirgends konnte +der Wind ein Stämmchen oder einen Zweig lostrennen und mit ihm spielen +oder ihn zerren. Die ganze Wand des Hauses war auch im Übrigen +unversehrt, und der Regen, der gegen dieselbe anschlug, konnte ihr +nichts anhaben. Ich ging von dem Sandplatze über den Hügel hinunter. +Der Schnee hatte schon die Gewalt des Regens verspürt, welcher +ziemlich warm war. Die weiche, sanfte und flaumige Gestalt war +verloren gegangen, etwas Glattes und Eisiges hatte sich eingestellt, +und hie und da standen gezackte Eistrümmer gleichsam wie zerfressen +da. Das Wasser rann in Schneefurchen, die es gewählt hatte, nieder, +und an offenen Stellen, wo es durch die löcherichte Beschaffenheit des +Schnees nicht verschluckt wurde, rieselte es über die Gräser hinab. +Ich ging, ohne auf einen Weg zu achten, durch den wässerigen Schnee +fort. In der Tiefe des Tales lenkte ich gegen Osten. Ich ging eine +Strecke fort, ging dort über die Wiesen und ließ das Schauspiel auf +mich wirken. Es war fast herrlich, wie der Wind, welcher den Schnee +nicht mehr heben konnte, den Regen auf ihn nieder jagte, wie schon +Stellen bloß lagen, wie die grauen Schleier gleichsam bänderweise +nieder rollten und wie die trüben Wolken über dem bleichen Gefilde +unbekümmert um Menschentun und Menschenwerke dahin zogen. + +Ich richtete endlich in der Tiefe der Wiesen meinen Weg nordwärts +gegen den Meierhof hinauf. Als ich dort anbelangt war, erfuhr ich, daß +der Herr, wie man hier meinen Gastfreund kurzweg nannte, heute auch +schon da gewesen, aber bereits wieder fortgegangen sei. Er hatte +Mehreres besichtigt und Mehreres angeordnet. Ich fragte, ob er heute +auch barhäuptig gewesen sei, und es wurde bejaht. Da ich den Meierhof +besehen hatte und in verschiedenen Räumen desselben herum gegangen +war, sah ich erst recht, was ein wohleingerichtetes Haus sei. Der +Regen fiel auf dasselbe nieder wie auf einen Stein, in den er nicht +eindringen und von dem er äußerlich nur in Jahrhunderten etwas herab +waschen könne. Keine Ritze zeigte sich für das Einlassen des Wassers +bereit, und kein Teilchen der Bekleidung schickte sich zur Loslösung +an. Im Innern wurden die Arbeiten getan wie an jedem Tage. Die Knechte +reinigten Getreide mit der sogenannten Getreideputzmühle, schaufelten +es seitwärts und maßen es in Säcke, damit es auf den Schüttboden +gebracht werde. Der Meier war dabei beschäftigt, ordnete an und prüfte +die Reinheit. Ein Teil der Mägde war in den Ställen beschäftigt, ein +Teil richtete auf der Futtertenne das Futter zurecht, ein Teil spann, +und die Frau des Meiers ordnete in der Milchkammer. Ich sprach mit +allen, und sie zeigten Freude, daß ich sogar in dieser Jahreszeit +einmal gekommen sei. + +Von dem Meierhofe ging ich über den mit Obstbäumen bepflanzten Raum +gegen den Garten hinüber. Das Pförtchen an dieser Seite war unter Tags +selbst im Winter nicht gesperrt. Ich ging durch dasselbe ein und begab +mich in die Wohnung des Gärtners. Dort legte ich meinen Wachsmantel, +durch dessen Falten das Wasser rann, ab und setzte mich auf die reine, +weiße Bank vor dem Ofen. Der alte Mann und seine Frau empfingen mich +recht freundlich. In ihrem ganzen Wesen war etwas sehr Aufrichtiges. +Seit geraumer Zeit war bei diesen alten Leuten beinahe etwas +Elternhaftes gegen mich gewesen. Die Gärtnersfrau Clara sah mich immer +wieder gleichsam verstohlen von der Seite an. Wahrscheinlich dachte +sie an Natalien. Der alte Simon fragte mich, ob ich denn nicht in die +Gewächshäuser gehen und die Pflanzen auch im Winter besehen wolle. + +Das sei außer dem Besuche, den ich ihm und seiner Gattin machen +wollte, meine Nebenabsicht gewesen, erwiderte ich. + +Er nahm einen anderen Rock um und geleitete mich in die Gewächshäuser, +welche an seine Wohnung stießen. Ich nahm wirklich großen Anteil an +den Pflanzen selber, da ich mich ja in früherer Zeit viel mit Pflanzen +beschäftigt hatte, und nahm Anteil an dem Zustande derselben. Wir +gingen in alle Räume des nicht unbeträchtlich großen Kalthauses und +begaben uns dann in das Warmhaus. Nicht bloß, daß ich die Pflanzen +nach meiner Absicht betrachtete, nahm ich mir auch die Zeit, +freundlich anzuhören, was mein Begleiter über die einzelnen sagte, und +hörte zu, wie er sich über Lieblinge ziemlich weit verbreitete. Diese +Hingabe an seine Rede und die Teilnahme an seinen Pfleglingen, die ich +ihm stets bewiesen hatte, mochten nebst dem Anteile, den er mir an der +Erwerbung des Cereus peruvianus zuschrieb, Ursache sein, daß er eine +gewisse Anhänglichkeit gegen mich hegte. Als wir an dem Ausgange der +Gewächshäuser waren, welcher seiner Wohnung entgegengesetzt lag, +fragte er mich, ob ich auch in das Cactushaus gehen wolle, er werde +zu diesem Behufe, da wir einen freien Raum zu überschreiten hätten, +meinen Wachsmantel holen. Ich sagte ihm aber, daß dies nicht nötig +sei, da er ja auch ohne Schutz herüber gehe, daß mein Gastfreund heute +schon barhäuptig in dem Meierhofe gewesen sei, und daß es mir nicht +schaden werde, wenn ich auch einmal eine kurze Strecke im Regen ohne +Kopfbedeckung gehe. + +»Ja der Herr, der ist Alles gewohnt«, antwortete er. + +»Ich bin zwar nicht Alles, aber Vieles gewohnt«, erwiderte ich, »und +wir gehen schon so hinüber.« + +Er ließ sich von seinem Vorhaben endlich abbringen, und wir gingen in +das Cactushaus. Er zeigte mir alle Gewächse dieser Art, besonders den +Peruvianus, welcher wirklich eine prachtvolle Pflanze geworden war, +er verbreitete sich über die Behandlung dieser Gewächse während des +Winters, sagte, daß mancher schon im Hornung blüht, daß nicht alle +eine gewisse Kälte vertragen, sondern in der wärmeren Abteilung des +Hauses stehen müssen, besonders verlangen dieses viele Cereusarten, +und er ging dann auf die Einrichtung des Hauses selbst über und hob +es als eine Vorzüglichkeit heraus, daß der Herr für jene Stellen, an +denen die Gläser über einander liegen, ein so treffliches Bindemittel +gefunden habe, durch welches das Hereinziehen des Wassers an den +übereinandergelegten Stellen des Glases unmöglich sei und das diesen +Pflanzen so nachteilige Herabfallen von Wassertropfen vermieden werde. +Dadurch kann es auch allein geschehen, daß an Regentagen und an Tagen, +an welchen Schnee schmilzt, das Haus nicht mit Brettern gedeckt werden +müsse, was finster macht und den Pflanzen schädlich ist. Ich könne +das ja heute sehen, wie bei einem Regen so heftiger Art nicht ein +Tröpflein herein dringen kann oder vom Winde hereingeschlagen wird. +Bretter würden überhaupt über dieses Haus nicht gelegt. Gegen den +Hagel sei es durch dickes Glas und den Panzer geschützt, und wenn +kalte Nächte zu erwarten sind, werde eine Strohdecke angewendet, und +der Schnee werde durch Besen entfernt. Mir war wirklich der Umstand +merkwürdig und wichtig, daß hier kein Herabtropfen von dem Glasdache +statt finde, was meinem Vater so unangenehm ist. Ich nahm mir vor, +meinen Gastfreund um Eröffnung des Verfahrens zu ersuchen, um dasselbe +dem Vater mitzuteilen. Als wir auf dem Rückwege durch die anderen +Gewächshäuser gingen, sah ich, daß auch hier kein Herabtropfen +vorhanden sei, und mein Begleiter bestätigte es. + +Da ich noch ein Weilchen in der Wohnung der Gärtnerleute geblieben +war und mit der Gärtnerfrau gesprochen hatte, machte ich Anstalt zum +Heimwege. Die Gärtnerfrau hatte meinen Wachsmantel in der Zeit, in +der ich mit ihrem Manne in den Gewächshäusern gewesen war, an seiner +Außenfläche von allem Wasser befreit und ihn überhaupt handlich +und angenehm hergerichtet. Ich dankte ihr, sagte, daß er wohl bald +wieder verknittert sein würde, empfahl mich freundlich, nahm die +anderseitigen freundlichen Empfehlungen in Empfang und ging dann in +meine Zimmer. + +Dort kleidete ich mich sorgfältig um und ging dann zu meinem +Gastfreunde. Er war eben mit Gustav beschäftigt, der ihm Rechenschaft +von seinen Morgenarbeiten ablegte. Ich fragte, ob es mir erlaubt wäre, +in das Bildergemach oder in ähnliche zu gehen. + +»Das Lesezimmer und das Bilderzimmer so wie das mit den Kupferstichen +sind ordnungsgemäß geheizt«, antwortete mein Gastfreund, »der +Büchersaal, der Marmorsaal und die Marmortreppe werden leidlich warm +sein. Verschlossen ist keiner der Räume. Bedient euch derselben, wie +ihr es zu Hause tun würdet.« + + +Ich dankte und entfernte mich. Nach meiner Kenntnis der Tageinteilung +wußte ich, daß er seine Beschäftigung mit Gustav fortsetzte. + +Ich ging zuerst auf die Marmortreppe. Ich suchte sie von oben zu +gewinnen. Als ich von dem gemeinschaftlichen Gange in den oberen Teil +des Marmorganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorgeschrieben +war, Filzschuhe, welche immer in Bereitschaft standen, an und ging die +glatte, schöne Treppe hinunter. + +Als ich in die Mitte derselben gekommen war, wo sich der breite +Absatz befindet, hielt ich an; denn das war das Ziel meiner Wanderung +gewesen. Ich wollte die altertümliche Marmorgestalt betrachten. Selbst +heute in dem bleiernen Lichte, das durch die Glaswölbung, welche noch +dazu durch das auf ihr rinnende Wasser getrübt war, gleichsam träge +nieder fiel, war die Erscheinung eine gewaltige und erhebende. Die +hehre Jungfrau, sonst immer sanft und hoch, stand heute in den +flüssigen Schleiern des dumpferen Lichtes zwar trüb, aber mild da, und +der Ernst des Tages legte sich auch als Ernst auf ihre unaussprechlich +anmutigen Glieder. Ich sah die Gestalt lange an, sie war mir, wie bei +jedem erneuerten Anblicke, wieder neu. Wie sehr mir auch die blendend +weiße Gestalt der Brunnennymphe im Sternenhofe nach der jüngsten +Vergangenheit als liebes Bild in die Seele geprägt worden war, so war +sie doch ein Bild aus unserer Zeit und war mit unseren Kräften zu +fassen: hier stand das Altertum in seiner Größe und Herrlichkeit. Was +ist der Mensch, und wie hoch wird er, wenn er in solcher Umgebung, und +zwar in solcher Umgebung von größerer Fülle weilen darf! + +Ich ging langsam die Treppe wieder hinan und ging in den Marmorsaal. +Seine Größe, seine Leerheit, der, wenn ein solches Wort erlaubt ist, +dunkle Glanz, der von dem dunkeln und mit ungewissen und zweideutigen +Lichtern wechselnden Tage auf seinen Wänden lag und wechselte, ließ +sich nach dem Anblicke der Gestalt des Altertums tragen und ertragen. +Ja, der Saal erschien mir in dem finstern Tage noch größer und ernster +als sonst, und ich weilte gerne in ihm, fast so gerne wie an jenem +Abende, an welchem ich mit meinem Gastfreunde unter dem sanften +Blitzen eines Gewitterhimmels in ihm auf und ab gegangen war. + +Ich ging auch jetzt wieder in demselben hin und wider und ließ den +Sturm draußen mit seinen trüben Lichtern, die Wände hier innen mit +ihrem matten Glanze und die Erinnerung der eben gesehenen Gestalt in +mir wirken. + +Nach einer Zeit trat ich durch die Tür, welche in das Bilderzimmer +führt. Die Bilder hingen in dem düsteren Glanze des Tages da und +konnten selbst dort, wo der Künstler die kraftvollsten Mittel des +Lichtes und Schattens angewendet hatte, nicht zur vollen Wirksamkeit +gelangen, weil das, was die Bilder erst recht malen hilft, fehlte, die +Macht eines sonnigen und heiteren Tages. Selbst als ich zu einigen, +die ich besonders liebte, näher getreten war, selbst als ich vor einem +Guido, der auf der Staffelei stand, die nahe an das Fenster und in +das beste Licht gerückt worden war, niedersaß, um ihn zu betrachten, +konnte die Empfindung, die sonst diese Werke in mir erregten, nicht +emporkeimen. Ich erkannte bald die Ursache, welche darin bestand, daß +ohnehin eine viel höhere in meinem Gemüte wartete, welche durch die +Gestalt des Altertums in mir hervorgerufen worden war. Die Gemälde +erschienen mir beinahe klein. Ich ging in das Bücherzimmer, nahm mir +Odysseus aus seinem Schreine, begab mich in das Lesezimmer, in welchem +die gesellige Flamme, die Freundin des Menschen, die ihm in der +Finsternis Licht und im Winter des Nordens Wärme gibt, hinter dem +feinen Gitter eines Kamines freundlich loderte, und in welchem alles +auf das Reinlichste geordnet war, setzte mich in einiger Entfernung +von dem Fenster in einen weichen Sitz und begann unter dem Prasseln +des Regens an den Fenstern von der ersten Zeile an zu lesen. Die +fremden Worte, die als lebendig gesprochen einer fernen Zeit +angehörten, die Gestalten, welche durch diese Worte in unsere Zeit mit +all ihrer ihnen einstens angehörigen Eigentümlichkeit heraufgeführt +wurden, schlossen sich an die Jungfrau an, welche ich auf der Treppe +hatte stehen gesehen. Als Nausikae kam, war es mir wieder, wie es mir +bei der ersten richtigen Betrachtung der Marmorgestalt gewesen war, +die Gewänder des harten Stoffes löseten sich zu leichter Milde, die +Glieder bewegten sich, das Angesicht erhielt wandelbares Leben, und +die Gestalt trat als Nausikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes +Abends gewesen, die heute meine Hand, als ich von der Treppe in den +Marmorsaal und in das Bilderzimmer herauf gekommen war und in diesen +keine Befriedigung gefunden hatte, zu den Worten Homers im Odysseus +greifen ließ. Als die Helden das Mahl in dem Saale genossen hatten, +als der Sänger gerufen worden war, als die Worte jenes Liedes +vernommen worden waren, dessen Ruhm damals bis zu dem Himmel reichte, +als Odysseus das Haupt verhüllt hatte, damit man die Tränen nicht +sähe, welche ihm aus den Augen flossen, als endlich Nausikae schlicht +und mit tiefem Gefühle an den Säulen der Pforte des Saales stand: da +gesellte sich auch lächelnd das schöne Bild Nataliens zu mir; sie war +die Nausikae von jetzt, so wahr, so einfach, nicht prunkend mit ihrem +Gefühle und es nicht verhehlend. Beide Gestalten verschmolzen in +einander, und ich las und dachte zugleich, und bald las ich und bald +dachte ich, und als ich endlich sehr lange bloß allein gedacht hatte, +nahm ich das Buch, das vor mir auf dem Tische lag, wieder auf, trug es +in das Bücherzimmer auf seinen Platz und ging durch den Marmorsaal und +den Gang der Gastzimmer in meine Wohnung zurück. + +Das Werk des Vormittages war abgetan. + + +Am Mittagtische fanden sich wieder dieselben Personen ein, welche +bei dem Frühmahle versammelt gewesen waren. Nach dem Genusse eines +einfachen, aber für Gedeihen und Gesundheit sehr wohl zubereiteten +Mahles, wie es immer in dem Rosenhause sein mußte, nach manchem +freundlichen und erheiternden Gespräche stand man auf, um wieder zu +seinen Geschäften zu gehen, die jedem ernst und wichtig genug waren, +mochten sie nun im Erwerben von Kenntnissen bestehen, wie fast +ausschließlich bei Gustav, oder mochten sie im Vorwärtsdringen in der +Kunst oder auf wissenschaftlichem Felde oder in einer richtigeren +Gestaltung der eigenen Lebenslage enthalten sein. + +Für den heutigen Nachmittag war ein besonderes Geschäft vorbehalten +worden, zu welchem auch Roland kommen und deshalb seine heutige +Arbeit an seinem Bilde abbrechen mußte. Es war eine Sammlung von +Kupferstichen eingelangt, welche zum Kaufe angeboten waren, und deren +Besichtigung man auf den heutigen Nachmittag anberaumt hatte. Mein +Gastfreund lud mich zu der Sache ein. Die Kupferstiche lagen in zwei +Mappen in dem Zimmer meines Gastfreundes. Wir gingen über die Treppe, +die für die Dienerschaft bestimmt war, in sein Zimmer empor und +rückten den Tisch, auf welchem die Mappen lagen, näher an ein Fenster, +damit wir die Blätter besser betrachten konnten. Die Mappen wurden +geöffnet, und bald sah man, daß der Sammler der in denselben +enthaltenen Stücke kein Mann gewesen sei, der von der Tiefe der Kunst, +von ihrem Ernste und von ihrer Bedeutung für das menschliche Leben +eine Vorstellung gehabt habe. Er war eben ein Sammler gewöhnlicher Art +gewesen, der die Menge und die Mannigfaltigkeit der Stücke vor Augen +gehabt hatte. Jetzt lag er im Grabe, und seine Erben mußten weder für +die Verhältnisse der Kunst zum menschlichen Leben noch für Sammeln +von was immer für einer Art einen Sinn gehabt haben, daher sie alle +Hefte meinem Gastfreunde, von dem sie gehört hatten, daß er solche +Merkwürdigkeiten suche, zum Verkaufe anboten. Neben ganz wertlosen +Erzeugnissen des Grabstichels nach heutiger unbedeutender Weise, wie +sie in Büchern und Bilderwerken zum Behufe des Gelderwerbes vorkommen, +neben Steinzeichnungen mit der Feder und der Kreide befanden sich auch +bessere Werke von jetzt und besonders einige Stücke aus älterer Zeit +von großem Werte. Mein Gastfreund und seine zwei Gehilfen sprachen +bei dieser Gelegenheit Manches über Kupferstiche, was mir neu war und +woran ich die Bedeutung dieses Kunstzweiges mehr kennen lernte, als +ich sie früher kannte. Da er die Übersetzung der Werke der großen +Meister aller Zeiten vermitteln kann, da er ein Bild, das nur einmal +da ist, das für viele Menschen an fernen und ihnen nie erreichbaren +Orten sich befindet, oder das als Eigentum eines einzelnen Mannes +nicht einmal allen denen, die denselben Ort mit ihm bewohnen, +zugänglich ist, vervielfältiget und zur Anschauung in viele Orte +und in ferne Zeiten bringen kann, so sollte man ihm wohl die größte +Aufmerksamkeit schenken. Wenn er nicht einer gewissen, zu bestimmten +Zeiten in Schwung kommenden Art huldigt, sondern strebt, die Seele des +Meisters, wie sie sich in dem Bilde darstellt, wieder zu geben, wenn +er nicht bloß die Stoffe, wie sie sich in dem Bilde befinden, von +der Zartheit des menschlichen Angesichtes und der menschlichen Hände +angefangen durch den Glanz der Seide und die Glätte des Metalles bis +zu der Rauhigkeit der Felsen und Teppiche herab, sondern auch sogar +die Farben, die der Maler angewendet hat, durch verschiedene, aber +immer klare, leicht geführte und schöngeschwungene Linien, die niemals +unbedeutend, niemals durch Absonderlichkeit auffallend sein, niemals +einen bloßen Fleck bilden dürfen und die er zur Bemeisterung jedes +neuen Gegenstandes neu erfinden kann, darstellt: dann kann er zwar +nicht der Malerei in ihren Wirkungen an die Seite gesetzt werden, +die sie auf ihre Beschauer geradehin ausübt, aber er kann ihr an +Kunstwirkung überhaupt als ebenbürtig erkannt werden, weil er auf eine +größere Zahl von Menschen wirkt und bei denen, welche die nachgeahmten +Gemälde nicht sehen können, eine desto tiefere und vollere +Kunstwirkung hervorbringt, je tiefer und edler er selber ist. Dies +habe ich bei meinem Gastfreunde in der Zeit, als ich mit ihm in +Verbindung war, immer mehr kennen gelernt, und dies ist mir wieder +besonders klar geworden, als die Kupferstiche durchgesehen wurden +und als man über ihren Wert und über Mittel, Wege und Wirkung der +Kupferstecherkunst überhaupt sprach. Es wurde, da man die Einzelheiten +der guten Blätter genau untersucht und ihre Vorzüge und ihre Mängel +sorglich besprochen hatte, festgesetzt, daß man der guten Stücke +willen die ganze Sammlung kaufen wolle, wenn ihr Preis einen gewissen +Betrag, den man anbot und den man gerechter und billiger Weise geben +konnte, nicht überstiege. Die schlechten Blätter wollte man dann +vernichten, weil sie durch ihr Dasein eine gute Wirkung nicht nur +nicht hervorbringen, sondern das Gefühl dessen, der nichts Besseres +sieht, statt es zu heben, in eine rohere und verbildetere Richtung +lenken, als es nähme, wenn ihm nichts als die Gegenstände der +Natur geboten würden. Den Geist des Menschen, sagten die Männer, +verunreinigte falsche Kunst mehr als die Unberührtheit von jeder +Kunst. Da es dämmerte, wurden die Kupferstiche in ihre Behältnisse +getan, der Tisch wurde wieder an seine Stelle gerückt, und wir +trennten uns. + +Der Sturm hatte eher zu als ab genommen, und der Regen schlug in +Strömen an die Fenster. + +Abends waren wir wieder in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes +vereinigt, nur Gustav fehlte, weil er sich in seinem Zimmer noch mit +seiner Tagesaufgabe beschäftigte. Ehe wir zu dem Abendessen gingen, +zeichnete mein Gastfreund noch den Stand der naturwissenschaftlichen +Geräte, welche sich auf Luftdruck, Feuchtigkeit, Wärme, Electricität +und dergleichen bezogen, in seine Bücher, und dann ging er durch +das ganze Haus und besah den Verhalt der Dinge in demselben, die +geförderten Arbeiten der Hausleute, ihr jetziges Tun und den +allfälligen Einfluß des heutigen stürmischen Wetters. + +Bei dem Abendessen wurde, nachdem man die Nahrungsbedürfnisse in +kurzer Zeit gestillt und heitere Gespräche geführt hatte, noch aus +einem Buche vorgelesen, das damal neu war. Es betraf größtenteils +die Geschichte des Seidenbaues und der Seidenweberei, und besonders +wurde der Abschnitt behandelt, wie dieses Gewerbe aus dem fernsten +Morgenlande nach Syrien, nach Arabien, Egypten, Byzanz, dem +Peloponnes, nach Sicilien, Spanien, Italien und Frankreich gekommen +sei. Mein Gastfreund behauptete, daß in der Anfertigung von jenen +Prachtstoffen, die aus Seide und Gold oder Silber bestanden, was die +Feinheit und Zartheit des Gewebes, was dessen Weichheit, verbunden +mit mildem Glanze, gegen den die heutigen Stoffe dieser Art, in ihrer +Steifheit und in ihrem harten Schimmer stark abstehen, und was endlich +den Schwung, die feine Zierlichkeit und die reiche Einbildungskraft +in den Zeichnungen betrifft, die Zeit des dreizehnten und vierzehnten +Jahrhunderts den späteren Zeiten und besonders der unsrigen weit +vorzuziehen sei. Er habe zu spät angefangen, diesem Zweige des +Altertumes, der beinahe ein Zweig der Kunst sei, seine Aufmerksamkeit +zu widmen. Eine Sammlung solcher Stoffe müßte merkwürdig sein, er +könne aber keine mehr anlegen, da sie Reisen durch ganz Europa, ja +durch nicht unbedeutende Teile von Asien und Afrika voraussetze +und wahrscheinlich die Kräfte eines einzelnen Mannes überschreite. +Gesellschaften oder der Staat könnten solche Sammlungen zur +Vergleichung, zur Belehrung, ja zur Bereicherung der Geschichte +selber zu Stande bringen. In reichen Abteien, in den Kleiderschreinen +alter berühmter Kirchen, in Schatzkammern und andern Behältnissen +königlicher Burgen und größerer Schlösser dürfte sich Vieles finden, +was dort zu entbehren wäre und in einer Sammlung Sprache und Bedeutung +gewänne. Wie viel müßte nach den Kreuzzügen aus dem Morgenlande nach +Europa gekommen sein, da selbst einfache Ritter mit dort gewonnener +Beute an Gold und kostbaren Stoffen in die Heimat zurückgekehrt seien +und sich Prunk außer bei kirchlichen Feierlichkeiten, Krönungen, +Aufzügen, Kampfspielen auch im gewöhnlichen Verkehre mehr eingefunden +hatte, als er früher gewesen war. Wie müßte dieser Zweig auch ein +Licht auf die mit seinem Blühen ganz gleich laufende Zeit werfen, +in welcher jene merkwürdigen Kirchen gebaut wurden, deren erhabene +Überbleibsel noch heute unsere Bewunderung erregen, wie müßte er +auch eine Beziehung eröffnen zur Verzierungskunst jener Zeit in +Steinmetzarbeit, in Elfenbein- und Holzschnitzerei, ja zum Beginne der +später blühenden großen Malerschulen in dem Norden und Süden Europas, +und wie müßte er sogar auf Gedanken über Anschauungsweise der Völker, +ihre Verbindungen und ihre Handelswege leiten. Tun das ja auch Münzen, +tun es Siegel und andere, diesen untergeordnete Dinge. Roland sagte, +er wolle nun solche Stoffe zu sammeln suchen. + +Wir gingen an jenem Abende später auseinander als gewöhnlich. + +Am anderen Morgen, als ich aufgestanden war und das beginnende Licht +einen Ausblick durch die Fenster gestattete, sah ich frischen Schnee +über alle Gefilde ausgebreitet, und in dichten Flocken, die um das +Glas der Fenster spielten, fiel er noch immer von dem Himmel herunter. +Der Wind hatte etwas nachgelassen, die Kälte mußte gestiegen sein. + +Wir machten an diesem Tage alle zusammen einen ziemlich großen +Spaziergang. Im Garten wurde herumgegangen, ob etwas zu richten sei, +die Gewächshäuser wurden besucht, in dem Meierhofe wurde nachgesehen +und Abends wurde in dem Buche, welches von der Seidenweberei handelte, +weiter gelesen. Der Schneefall hatte bis in die Dämmerung gedauert, +dann kamen heitere Stellen an dem Himmel zum Vorscheine. + +Wie diese zwei Tage vergangen waren, so vergingen nun mehrere, +und mein Gastfreund begann nicht, seine Mitteilungen, welche er +versprochen hatte, zu machen. Wir hatten außer der Zeit, die jeder in +seiner Wohnung bei seinen Arbeiten zubrachte, manche Gänge durch die +Gegend gemacht, was um so angenehmer war, als nach den stürmischen +Tagen bei meiner Ankunft sich heiteres, stilles und kaltes Wetter +eingestellt hatte. Ich war zu mancher Zeit in der Gesellschaft meines +Gastfreundes, ich sah ihm zu, wenn er seine Vögel vor dem Fenster +fütterte oder wenn er für Ernährung der Hasen außerhalb der Grenze +seines Gartens sorgte, was des tiefen Schnees willen, der gefallen +war, doppelt notwendig wurde, wir hatten weitere Fahrten in dem +Schlitten gemacht, um Nachbarn zu besuchen, Manches zu besprechen oder +die freie Luft und die Bewegung zu genießen, einmal war ich mit meinem +Gastfreunde zu einer Brücke gefahren, die er mit mehreren Männern +beschauen sollte, weil man vorhatte, sie im Frühlinge neu zu bauen - +man hatte meinen Gastfreund nicht verschont und ihn mit Gemeindeämtern +betraut -, mehrere Male waren wir in verschiedenen Teilen der Wälder +gewesen, um bei dem Fällen der Hölzer nachzusehen, welche zum Bauen +und zur Verarbeitung in dem Schreinerhause verwendet werden sollten, +welche Fällung in dieser Jahreszeit vor sich gehen mußte; wir waren +auch einmal im Inghofe gewesen und hatten die dortigen Gewächshäuser +besehen. Der Hausverwalter und der Gärtner hatten uns bereitwillig +und freundlich herum geführt. Der Herr des Besitztums war mit seiner +Familie in der Stadt. + +Eines Tages kam mein Gastfreund in meine Wohnung, was er öfter tat, +teils um mich zu besuchen, teils um nach zu sehen, ob es mir nicht an +etwas Notwendigem gebreche. Nachdem das Gespräch über verschiedene +Dinge eine Weile gedauert hatte, sagte er: »Ihr werdet wohl wissen, +daß ich der Freiherr von Risach bin.« + +»Lange wußte ich es nicht«, antwortete ich, »jetzt weiß ich es schon +eine geraume Zeit.« + +»Habt ihr nie gefragt?« + +»Ich habe nach der ersten Nacht, die ich in eurem Hause zugebracht +habe, einen Bauersmann gefragt, welcher mir die Antwort gab, ihr +seiet der Aspermeier. An demselben Tage forschte ich auch in weiterer +Entfernung, ohne etwas Genaues zu erfahren. Später habe ich nie mehr +gefragt.« + +»Und warum habt ihr denn nie gefragt?« + +»Ihr habt euch mir nicht genannt; daraus schloß ich, daß ihr nicht für +nötig hieltet, mir euren Namen zu sagen, und daraus zog ich für mich +die Maßregel, daß ich euch nicht fragen dürfe, und wenn ich euch nicht +fragen durfte, durfte ich es auch einen andern nicht.« + +»Man nennt mich hier in der ganzen Gegend den Asperherrn«, antwortete +er, »weil es bei uns gebräuchlich ist, den Besitzer eines Gutes nach +dem Gute, nicht nach seiner Familie zu benennen. Jener Name erbt in +Hinsicht aller Besitzer bei dem Volke fort, dieser ändert sich bei +einer Änderung des Besitzstandes, und da mußte das Volk stets wieder +einen neuen Namen erlernen, wozu es viel zu beharrend ist. Einige +Landleute nennen mich auch den Aspermeier, wie mein Vorgänger geheißen +hat.« + +»Ich habe einmal zufällig euren richtigen Namen nennen gehört«, sagte +ich. + +»Ihr werdet dann auch wissen, daß ich in Staatsdiensten gestanden +bin«, erwiderte er. + +»Ich weiß es«, sagte ich. + +»Ich war für dieselben nicht geeignet«, antwortete er. + +»Dann sagt ihr etwas, dem alle Leute, die ich bisher über euch gehört +habe, widersprechen. Sie loben eure Staatslaufbahn insgesammt«, +erwiderte ich. + +»Sie sehen vielleicht auf einige einzelne Ergebnisse«, antwortete er, +»aber sie wissen nicht, mit welchem Ungemache des Entstehens diese aus +meinem Herzen gekommen sind. Sie können auch nicht wissen, wie die +Ergebnisse geworden wären, wenn ein Anderer von gleicher Begabung, +aber von größerer Gemütseignung für den Staatsdienst, oder wenn gar +einer von auch noch größerer Begabung sie gefördert hätte.« + +»Das kann man von jedem Dinge sagen«, erwiderte ich. + +»Man kann es«, antwortete er, »dann soll man aber das, was nicht +gerade mißlungen ist, auch nicht sogleich loben. Hört mich an. Der +Staatsdienst oder der Dienst des allgemeinen Wesens überhaupt, wie er +sich bis heute entwickelt hat, umfaßt eine große Zahl von Personen. Zu +diesem Dienste wird auch von den Gesetzen eine gewisse Ausbildung und +ein gewisser Stufengang in Erlangung dieser Ausbildung gefordert und +muß gefordert werden. Je nachdem nun die Hoffnung vorhanden ist, +daß einer nach Vollendung der geforderten Ausbildung und ihres +Stufenganges sogleich im Staatsdienste Beschäftigung finden und daß +er in einer entsprechenden Zeit in jene höheren Stellen empor rücken +werde, welche einer Familie einen anständigen Unterhalt gewähren, +widmen sich mehr oder wenigere Jünglinge der Staatslaufbahn. Aus der +Zahl derer, welche mit gutem Erfolge den vorgeschriebenen Bildungsweg +zurückgelegt haben, wählt der Staat seine Diener und muß sie im Ganzen +daraus wählen. Es ist wohl kein Zweifel, daß auch außerhalb dieses +Kreises Männer von Begabung für den Staatsdienst sind, von großer +Begabung, ja von außerordentlicher Begabung; aber der Staat kann +sie, jene ungewöhnlichen Fälle abgerechnet, wo ihre Begabung durch +besondere Zufälle zur Erscheinung gelangt und mit dem Staate in +Wechselwirkung gerät, nicht wählen, weil er sie nicht kennt und weil +das Wählen ohne nähere Kenntnis und ohne die vorliegende Gewähr der +erlangten vorgeschriebenen Ausbildung Gefahr drohte und Verwirrung und +Mißleitung in die Geschäfte bringen könnte. + +Wie nun diejenigen, welche die Vorbereitungsjahre zurückgelegt haben, +beschaffen sind, so muß sie der Staat nehmen. Oft sind selbst große +Begabungen in größerer Zahl darunter, oft sind sie in geringerer, +oft ist im Durchschnitte nur Gewöhnlichkeit vorhanden. Auf diese +Beschaffenheit seines Personenstoffes mußte nun der Staat die +Einrichtung seines Dienstes gründen. Der Sachstoff dieses Dienstes +mußte eine Fassung bekommen, die es möglich macht, daß die zur +Erreichung des Staatszweckes nötigen Geschäfte fortgehen und keinen +Abbruch und keine wesentliche Schwächung erleiden, wenn bessere oder +geringere einzelne Kräfte abwechselnd auf die einzelnen Stellen +gelangen, in denen sie tätig sind. Ich könnte ein Beispiel gebrauchen +und sagen, jene Uhr wäre die vortrefflichste, welche so gebaut +wäre, daß sie richtig ginge, wenn auch ihre Teile verändert würden, +schlechtere an die Stelle besserer, bessere an die Stelle schlechterer +kämen. Aber eine solche Uhr dürfte kaum möglich sein. Der Staatsdienst +mußte sich aber so möglich machen oder sich nach der Entwicklung, +die er heute erlangt hat, aufgeben. Es ist nun einleuchtend, daß die +Fassung des Dienstes eine strenge sein muß, daß es nicht erlaubt sein +könne, daß ein Einzelner den Dienstesinhalt in einer andern Fassung +als in der vorgeschriebenen anstrebe, ja daß sogar mit Rücksicht auf +die Zusammenhaltung des Ganzen ein Einzelnes minder gut verrichtet +werden muß, als man es, von seinem Standpunkte allein betrachtet, tun +könnte. Die Eignung zum Staatsdienste von Seite des Gemütes, abgesehen +von den andern Fähigkeiten, besteht nun auch in wesentlichen Teilen +darin, daß man entweder das Einzelne mit Eifer zu tun im Stande ist, +ohne dessen Zusammenhang mit dem großen Ganzen zu kennen, oder daß man +Scharfsinn genug hat, den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen +zum Wohle und Zwecke des Allgemeinen einzusehen und daß man dann +dieses Einzelne mit Lust und Begeisterung vollführt. Das letztere +tut der eigentliche Staatsmann, das erste der sogenannte gute +Staatsdiener. Ich war keins von beiden. Ich hatte von Kindheit an, +freilich ohne es damals oder in den Jugendjahren zu wissen, zwei +Eigenschaften, die dem Gesagten geradezu entgegen standen. Ich war +erstens gerne der Herr meiner Handlungen. Ich entwarf gerne das Bild +dessen, was ich tun sollte, selbst und vollführte es auch gerne mit +meiner alleinigen Kraft. Daraus folgte, daß ich schon als Kind, wie +meine Mutter erzählte, eine Speise, ein Spielzeug und dergleichen +lieber nahm als mir geben ließ, daß ich gegen Hilfe widerspenstig +war, daß man mich als Knaben und Jüngling ungehorsam und eigensinnig +nannte, und daß man in meinen Männerjahren mir Starrsinn vorwarf. Das +hinderte aber nicht, daß ich dort, wo mir ein Fremdes durch Gründe und +hohe Triebfedern unterstützt gegeben wurde, dasselbe als mein Eigenes +aufnahm und mit der tiefsten Begeisterung durchführte. Das habe ich +einmal in meinem Leben gegen meine stärkste Neigung, die ich hatte, +getan, um der Ehre und der Pflicht zu genügen. Ich werde es euch +später erzählen. Daraus folgt, daß ich eigensinnig in der Bedeutung +des Wortes, wie man es gewöhnlich nimmt, nicht gewesen bin und es auch +im Alter, in dem man überhaupt immer milder wird, gewiß nicht bin. +Eine zweite Eigenschaft von mir war, daß ich sehr gerne die Erfolge +meiner Handlungen abgesondert von jedem Fremdartigen vor mir haben +wollte, um klar den Zusammenhang des Gewollten und Gewirkten +überschauen und mein Tun für die Zukunft regeln zu können. Eine +Handlung, die nur gesetzt wird, um einer Vorschrift zu genügen oder +eine Fassung zu vollenden, konnte mir Pein erregen. Daraus folgte, daß +ich Taten, deren letzter Zweck ferne lag oder mir nicht deutlich war, +nur lässig zu vollführen geneigt war, während ich Handlungen, wenn ihr +Ziel auch sehr schwer und nur durch viele Mittelglieder zu erreichen +war, mit Eifer und Lust zu Ende führte, sobald ich mir nur den +Hauptzweck und die Mittelzwecke deutlich machen und mir aneignen +konnte. Im ersten Falle vermochte ich es mir nur durch die +Vorstellung, daß der Zweck wenn auch dunkel, doch ein hoher sei, +abzuringen, daß ich mit aller Kraft an das Werk ging, wobei ich aber +immer zum Eilen geneigt war, weshalb man mich auch ungeduldig schalt: +im zweiten Falle gingen die Kräfte von selber an das Werk, und es +wurde mit der größten Ausdauer und mit Verwendung aller gegebenen Zeit +zu Stande gebracht, weshalb man mich auch wieder hartnäckig nannte. +Ihr werdet in diesem Hause Dinge gesehen haben, aus denen euch klar +geworden ist, daß ich Zwecke auch mit großer Geduld verfolgen kann. +Sonderbar ist es überhaupt und dürfte von größerer Bedeutung sein, als +man ahnt, daß mit dem zunehmenden Alter die Weitaussichtigkeit der +Pläne wächst, man denkt an Dinge, die unabsehliche Strecken jenseits +alles Lebenszieles liegen, was man in der Jugend nicht tut, und das +Alter setzt mehr Bäume und baut mehr Häuser als die Jugend. Ihr seht, +daß mir zwei Hauptdinge zum Staatsdiener fehlen, das Geschick zum +Gehorchen, was eine Grundbedingung jeder Gliederung von Personen und +Sachen ist, und das Geschick zu einer tätigen Einreihung in ein Ganzes +und kräftiger Arbeit für Zwecke, die außer dem Gesichtskreise liegen, +was nicht minder eine Grundbedingung für jede Gliederung ist. Ich +wollte immer am Grundsätzlichen ändern und die Pfeiler verbessern, +statt in einem Gegebenen nach Kräften vorzugehen, ich wollte die +Zwecke allein entwerfen und wollte jede Sache so tun, wie sie für sich +am besten ist, ohne auf das Ganze zu sehen und ohne zu beachten, ob +nicht durch mein Vorgehen anderswo eine Lücke gerissen werde, die mehr +schadet als mein Erfolg nützt. Ich wurde, da ich noch kaum mehr als +ein Knabe war, in meine Laufbahn geführt, ohne daß ich sie und mich +kannte, und ich ging in derselben fort, so weit ich konnte, weil ich +einmal in ihr war und mich schämte, meine Pflicht nicht zu tun. Wenn +einiges Gute durch mich zu Stande kam, so rührt es daher, daß ich +einerseits in Betrachtung meines Amtes und seiner Gebote meinen +Kräften eine mögliche Tätigkeit abrang und daß andererseits die +Zeitereignisse solche Aufgaben herbei führten, bei denen ich die Pläne +des Handelns entwerfen und selber durchführen konnte. Wie tief aber +mein Wesen litt, wenn ich in Arten des Handelns, die seiner Natur +entgegengesetzt sind, begriffen war, das kann ich euch jetzt kaum +ausdrücken, noch wäre ich damals im Stande gewesen, es auszudrücken. +Mir fiel in jener Zeit immer und unabweislich die Vergleichung ein, +wenn etwas, das Flossen hat, fliegen, und etwas, das Flügel hat, +schwimmen muß. Ich legte deshalb in einem gewissen Lebensalter meine +Ämter nieder. Wenn ihr fragt, ob es denn notwendig sei, daß sich in +der Gliederung des Staatsdienstes eine so große Anzahl von Personen +befinde, und ob man nicht einen Teil der allgemeinen Geschäfte, wie +sie jetzt sind, zu besonderen Geschäften machen und sie besonderen +Körperschaften oder Personen, die sie hauptsächlich angehen, +überlassen könnte, wodurch eine größere Übersicht in den Staatsdienst +käme und wodurch es möglich würde, daß sich hervorragende Begabungen +mehr im Entwerfen und Vollführen von Plänen zu allgemeinem Besten +geltend machen könnten: so antworte ich: diese Frage ist allerdings +eine wichtige und ihre richtige Beantwortung von der größten +Bedeutung; aber eben die richtige Beantwortung in allen ihren +Einzelnheiten dürfte eine der schwersten Aufgaben sein, und ich +getraue mir nicht, von mir zu behaupten, daß ich diese richtige +Beantwortung zu geben im Stande wäre. Auch liegt dieser Gegenstand +unserem heutigen Gespräche zu ferne, und wir können ein anderes Mal +von ihm reden, so weit wir im Urteile über ihn zu kommen vermögen. +Das ist gewiß: wenn auch im gegenwärtigen Staatsdienste Veränderungen +notwendig sein sollten, und wenn die Veränderungen in dem früher +angeführten Sinne vor sich gehen werden, so hat der gegenwärtige +Zustand doch in den allgemeinen Umwandlungen, denen der Staat so wie +jedes menschliche Ding und die Erde selbst unterworfen ist, sein +Recht, er ist ein Glied der Kette und wird seinem Nachfolger so +weichen, wie er selber aus seinem Vorläufer hervor gegangen ist. Wir +haben schon vielmal über Lebensberuf gesprochen, und daß es so schwer +ist, seine Kräfte zu einer Zeit zu kennen, in welcher man ihnen ihre +Richtung vorzeichnen, das heißt, einen Lebensweg wählen muß. Wir +hatten bei unsern Gesprächen hauptsächlich die Kunst im Auge, aber +auch von jeder andern Lebensbeschäftigung gilt dasselbe. Selten sind +die Kräfte so groß, daß sie sich der Betrachtung aufdrängen und +die Angehörigen eines jungen Menschen zur Ergreifung des rechten +Gegenstandes für ihn führen, oder daß sie selber mit großer Gewalt +ihren Gegenstand ergreifen. Ich hatte außer den Eigenschaften meines +Geistes, die ich euch eben darlegte, noch eine besondere, deren +Wesenheit ich erst sehr spät erkannte. Von Kindheit an hatte ich einen +Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind. +Bloße Beziehungen und Verhältnisse sowie die Abziehung von Begriffen +hatten für mich wenig Wert, ich konnte sie in die Versammlung der +Wesen meines Hauptes nicht einreihen. Da ich noch klein war, legte ich +allerlei Dinge aneinander und gab dem so Entstandenen den Namen einer +Ortschaft, den ich etwa zufällig öfter gehört hatte, oder ich bog eine +Gerte, einen Blumenstengel und dergleichen zu einer Gestalt und gab +ihr einen Namen, oder ich machte aus einem Fleckchen Tuch den Vetter, +die Muhme; ja sogar jenen abgezogenen Begriffen und Verhältnissen, +von denen ich sprach, gab ich Gestalten und konnte sie mir merken. +So erinnere ich mich noch jetzt, daß ich als Kind öfter das Wort +Kriegswerbung hörte. Wir bekamen damals einen neuen Ahorntisch, dessen +Plattenteile durch dunkelfarbige Holzkeile an einander gehalten +wurden. Der Querschnitt dieser Keile kam als eine dunkle Gestalt an +der Dicke der Platte quer über die Fuge zum Vorscheine, und diese +Gestalt hieß ich die Kriegswerbung. Diese sinnliche Regung, die wohl +alle Kinder haben, wurde bei mir, da ich heran wuchs, immer deutlicher +und stärker. Ich hatte Freude an allem, was als Wahrnehmbares +hervorgebracht wurde, an dem Keimen des ersten Gräsleins, an dem +Knospen der Gesträuche, an dem Blühen der Gewächse, an dem ersten +Reife, der ersten Schneeflocke, an dem Sausen des Windes, dem Rauschen +des Regens, ja an dem Blitze und Donner, obwohl ich beide fürchtete. +Ich ging zusehen, wenn die Zimmerleute Holz aushauten, wenn eine +Hütte gezimmert, ein Brett angenagelt wurde. Ja, die Worte, die einen +Gegenstand sinnlich vorstellbar bezeichneten, waren mir weit lieber +als die, welche ihn nur allgemein angaben. So zum Beispiele traf +es mich viel mächtiger, wenn jemand sagte: der Graf reitet auf dem +Schecken, als: er reitet auf einem Pferde. Ich zeichnete mit einem +Rotstifte Hirsche, Reiter, Hunde, Blumen, mit Vorliebe aber Städte, +von denen ich ganz wunderbare Gestalten zusammensetzte. Ich machte aus +feuchtem Lehm Palläste, aus Holzrinde Altäre und Kirchen. Ich nenne +diesen Trieb Schaffungslust. Er ist bei vielen Menschen mehr oder +minder vorhanden. Eine noch größere Zahl aber hat die Bewahrungslust, +von der der Geiz eine häßliche Abart ist. Selbst in späteren Jahren +trat diese Lust nicht zurück. Da ich einmal an unserem schönen Strome +zu wohnen kam und im ersten Winter zum ersten Male das Treibeis sah, +konnte ich mich nicht satt sehen an dem Entstehen desselben und +an dem gegenseitigen Anstoßen und Abreiben der mehr oder minder +runden Kuchen. Selbst in den nächstfolgenden Wintern stand ich oft +stundenlange an dem Ufer und sah den Eisbildungen zu, besonders der +Entstehung des Standeises. Das, was Vielen so unangenehm ist, das +Verlassen einer Wohnung und das Beziehen einer andern, machte mir +Lust. Mich freute das Einpacken, das Auspacken und die Instandsetzung +der neuen Räume. In den Jünglingsjahren trat eine weitere Seite dieses +Triebes hervor. Ich liebte nicht bloß Gestalten, sondern ich liebte +schöne Gestalten. Dies war wohl auch schon in dem Kindertriebe +vorhanden. Rote Farben, sternartige oder vielverschlungene Dinge +sprachen mich mehr an als andere. Es kam aber diese Eigenschaft damals +weniger zum Bewußtsein. Als Jüngling begehrte ich die Gestalten wie +sie als Körper aus der Bildhauerei und Baukunst hervor gehen, als +Flächen, Linien und Farben aus der Malerei, als Folge der Gefühle in +der Musik, der menschlich sittlichen und der irdisch merkwürdigen +Zustände in der Dichtkunst. Ich gab mich diesen Gestalten mit +Wärme hin und verlangte Gebilde, die ihnen ähnlich sind im Leben. +Felsen, Berge, Wolken, Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die +entgegengesetzten verachtete ich. Menschen, menschliche Handlungen und +Verhältnisse, die ihnen entsprachen, zogen mich an, die andern stießen +mich ab. Es war, ich erkannte es spät, im Grunde die Wesenheit eines +Künstlers, die sich in mir offenbarte und ihre Erfüllung heischte. Ob +ich ein guter oder ein mittelmäßiger Künstler geworden wäre, weiß ich +nicht. Ein großer aber wahrscheinlich nicht, weil dann nach allem +Vermuten doch die Begabung durchgebrochen wäre und ihren Gegenstand +ergriffen hätte. Vielleicht irre ich mich auch darin, und es war mehr +bloß die Anlage des Kunstverständnisses, was sich offenbarte, als die +der Kunstgestaltung. Wie das aber auch ist: in jedem Falle waren die +Kräfte, die sich in mir regten, dem Wirken eines Staatsdieners eher +hinderlich als förderlich. Sie verlangten Gestalten und bewegten +sich um Gestalten. So wie aber der Staat selber die Ordnung der +gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ist, also nicht eine +Gestalt, sondern eine Fassung: so beziehen sich die Ergebnisse der +Arbeiten der Staatsmänner meist auf Beziehungen und Verhältnisse der +Staatsglieder oder der Staaten, sie liefern daher Fassungen, nicht +Gestalten. So wie ich in der Kindheit oft den abgezogenen Begriffen +eine Gestalt leihen mußte, um sie halten zu können, so habe ich oft in +gereiften Jahren im Staatsdienste, wenn es sich um Staatsbeziehungen, +um Forderungen anderer Staaten an uns oder unseres Staates an andere +handelte, mir die Staaten als einen Körper und eine Gestalt gedacht +und ihre Beziehungen dann an ihre Gestalten angeknüpft. Auch habe ich +nie vermocht, die bloßen eigenen Beziehungen oder den Nutzen unseres +Staates allein als das höchste Gesetz und die Richtschnur meiner +Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an +sich sind, war bei mir so groß, daß ich bei Verwicklungen, streitigen +Ansprüchen und bei der Notwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht +auf unsern Nutzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur für sich +forderten und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder +werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten, +ohne welchem sie nicht sein können, was sie sind. Diese meine +Eigenschaft hat mir manchen Kummer bereitet, sie hat mir hohen Tadel +zugezogen; aber sie hat mir auch Achtung und Anerkennung eingebracht. +Wenn meine Meinung angenommen und ins Werk gesetzt worden war, so +hatte die neue Ordnung der Dinge, weil sie auf das Wesentliche ihrer +Natur gegründet war, Bestand, sie brachte in so ferne, weil wir +vor erneuerten Unordnungen, also vor wiederholter Kraftanstrengung +geschützt waren, unserem Staate einen größeren Nutzen, als wenn +wir früher den einseitigen angestrebt hätten, und ich erhielt +Ehrenzeichen, Lob und Beförderung. Wenn ich in jenen Tagen der +schweren Arbeit eine Ruhezeit hatte und auf einer kleinen Reise die +erhabene Gestalt eines Berges sah oder eine Hügelreihe sich türmender +Wolken oder die blauen Augen eines freundlichen Landmädchens oder den +schlanken Körper eines Jünglings auf einem schönen Pferde - oder wenn +ich auch nur in meinem Zimmer vor meinen Gemälden stand, deren ich +damals schon manche sammelte, oder vor einer kleinen Bildsäule, so +verbreitete sich eine Ruhe und ein Wohlbehagen über mein Inneres, +als wäre es in seine Ordnung gerückt worden. Wenn ein künstlerisches +Gestaltungsvermögen in mir war, so war es das eines Baumeisters oder +eines Bildhauers oder auch noch das eines Malers, gewiß aber nicht das +eines Dichters oder gar eines Tonsetzers. Die ersteren Gegenstände +zogen mich immer mehr an, die letzteren standen mir ferner. Wenn es +aber mehr eine Kunstliebe war, was sich in mir äußerte, nicht eine +Schöpfungskraft, so war es immerhin auch ein Vermögen der Gestalten, +aber nur eines, die Gestalten aufzunehmen. Wenn diese Art von +Eigentümlichkeit den Besitzer zunächst beglückt, wie ja jede Kraft, +selbst die Schaffungskraft, zuerst ihres Besitzers willen da ist, +so bezieht sie sich doch auch auf andere Menschen, wie in zweiter +Hinsicht jede Kraft, selbst die eigenste eines Menschen, nicht in ihm +verschlossen bleiben kann, sondern auf andere übergeht. Es ist eine +sehr falsche Behauptung, die man aber oft hört, daß jedes große +Kunstwerk auf seine Zeit eine große Wirkung hervorbringen müsse, daß +ferner das Werk, welches eine große Wirkung hervor bringt, auch ein +großes Kunstwerk sei, und daß dort, wo bei einem Werke die Wirkung +ausbleibt, von einer Kunst nicht geredet werden kann. Wenn irgend ein +Teil der Menschheit, ein Volk, rein und gesund am Leibe und an der +Seele ist, wenn seine Kräfte gleichmäßig entwickelt, nicht aber nach +einer Seite unverhältnismäßig angespannt und tätig sind, so nimmt +dieses Volk ein reines und wahres Kunstwerk treu und warm in sein +Herz auf, wozu es keiner Gelehrsamkeit, sondern nur seiner schlichten +Kräfte bedarf, die das Werk als ein ihnen Gleichartiges aufnehmen und +hegen. Wenn aber die Begabungen eines Volkes, und seien sie noch so +hoch, nach einer Richtung hin in weiten Räumen voraus eilen, wenn sie +gar auf bloße Sinneslust oder auf Laster gerichtet sind, so müssen +die Werke, welche eine große Wirkung hervor bringen sollen, auf jene +Richtung, in der die Kräfte vorzugsweise tätig sind, hinzielen, oder +sie müssen Sinneslust und Laster darstellen. Reine Werke sind einem +solchen Volke ein Fremdes, es wendet sich von ihnen. Daher rührt +die Erscheinung, daß edle Werke der Kunst ein Zeitalter rühren und +begeistern können, und daß dann ein Volk kömmt, dem sie nicht mehr +sprechen. Sie verhüllen ihr Haupt und harren bis andere Geschlechter +an ihnen vorüber wandeln, die wieder reines Sinnes sind und zu ihnen +empor blicken. Diesen lächeln sie und von diesen werden sie wieder wie +herübergerettete Heiligtümer in Tempel gebracht. In entarteten Völkern +blüht zuweilen, aber sehr selten, ein reines Werk wie ein vereinsamter +Strahl hervor, es wird nicht beachtet und wird später von einem +Menschenforscher entdeckt, wie jener Gerechte in Sodoma. Damit aber +der Dienst der Kunst leichter werde, sind in jedem Zeitalter solche, +denen ein tieferer Sinn für Kunstwerke gegeben ward, sie sehen mit +klarerem Auge in ihre Teile, nehmen sie mit Wärme und Freude in +ihr Herz und übergeben sie so ihren Mitmenschen. Wenn man die +Erschaffenden Götter nennt, so sind jene die Priester dieser Götter. +Sie verzögern den Schritt des Unheiles, wenn der Kunstdienst zu +verfallen beginnt, und sie tragen, wenn es nach der Finsternis wieder +hell werden soll, die Leuchte voran. Wenn ich nun ein solcher war, +wenn ich bestimmt war, durch Anschauung hoher Gestalten der Kunst +und der Schöpfung, die mir ja immer mit freundlichen Augen zugewinkt +haben, Freude in mein Herz zu sammeln, und Freude, Erkenntnis und +Verehrung der Gestalten auf meine Mitmenschen zu übertragen, so war +mir meine Staatslaufbahn in diesem Berufe wieder sehr hinderlich, und +dürftige Spätblüten können den Sommer, dessen kräftige Lüfte und warme +Sonne unbenutzt vorüber gingen, nicht ersetzen. Es ist traurig, daß +man sich nicht so leicht den Weg, der der vorzüglichste in jedem Leben +sein soll, wählen kann. Ich wiederhole, was wir oft gesagt haben und +womit euer ehrwürdiger Vater auch übereinstimmt, daß der Mensch seinen +Lebensweg seiner selbst willen zur vollständigen Erfüllung seiner +Kräfte wählen soll. Dadurch dient er auch dem Ganzen am Besten, wie +er nur immer dienen kann. Es wäre die schwerste Sünde, seinen Weg nur +ausschließlich dazu zu wählen, wie man sich so oft ausdrückt, der +Menschheit nützlich zu werden. Man gäbe sich selber auf und müßte in +den meisten Fällen im eigentlichen Sinne sein Pfund vergraben. Aber +was ist es mit der Wahl? Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse sind +so geworden, daß zur Befriedigung unserer stofflichen Bedürfnise ein +sehr großer Aufwand gehört. Daher werden junge Leute, ehe sie sich +selber bewußt werden, in Laufbahnen gebracht, die ihnen den Erwerb +dessen, was sie zur Befriedigung der angeführten Bedürfnisse brauchen, +sichern. Von einem Berufe ist da nicht die Rede. Das ist schlimm, +sehr schlimm, und die Menschheit wird dadurch immer mehr eine Herde. +Wo noch eine Wahl möglich ist, weil man nicht nach sogenanntem +Broderwerbe auszugehen braucht, dort sollte man sich seiner Kräfte +sehr klar bewußt werden, ehe man ihnen den Wirkungskreis zuteilt. Aber +muß man nicht in der Jugend wählen, weil es sonst zu spät ist? Und +kann man sich in der Jugend immer seiner Kraft bewußt werden? Es ist +schwierig, und mögen, die beteiligt sind, darüber wachen, daß weniger +leichtsinnig verfahren werde. Lasset uns über diesen Gegenstand +abbrechen. Ich wollte euch das, was ich gesagt habe, sagen, ehe ich +euch erzähle, wie ich mit den Angehörigen eurer künftigen Braut +zusammenhänge. Ich sagte es euch, damit ihr ungefähr den Stand +beurteilen könnt, auf dem ich nun stehe. Wir wollen zur Fortsetzung +eine andere Zeit bestimmen.« + +Nach diesen Worten ging das Gespräch auf andere Gegenstände über, wir +machten dann auch einen Spaziergang, dem sich auch Gustav zugesellte. + + + +Der Rückblick + +Ohne daß ich eine nähere oder entferntere Aufforderung oder Bitte +gemacht hätte, fuhr mein Gastfreund nach Verlauf eines Tages in seinen +Mitteilungen fort. Er hatte gefragt, ob er eine Zeit in meinem Zimmer +zubringen dürfe, und ich hatte es begreiflicher Weise bejaht. Wir +saßen an einem angenehmen und stillen Feuer, das von sehr großen und +dichten Buchenklötzen unterhalten wurde, er lehnte sich in seinem +Polsterstuhle zurück und sagte: »Ich möchte, wenn es euch genehm ist, +heute meine Mitteilungen an euch vollenden. Ich habe Sorge getragen, +daß wir nicht gestört werden, ihr dürft nur sagen, ob ihr mich hören +wollt.« + +»Ihr wißt, daß es mir nicht nur angenehm, sondern auch meine Pflicht +ist«, antwortete ich. + +»Zuerst muß ich von mir erzählen«, begann er, »es dürfte so notwendig +sein. Ich bin im Dorfe Dallkreuz in dem sogenannten Hinterwalde +geboren worden. Ihr wißt, daß der Name Hinterwald nicht mehr so viel +zu bedeuten hat, als er sagt. Einmal war er wie über die ganze Gegend, +welche von unserem Strome als ein Gebilde von Hügeln nordwärts geht, +auch über die Gründe von Dallkreuz verbreitet. Dallkreuz war damals +nicht, und sein Entstehen mochte mit dem Aufschlagen von einigen +Holzarbeiterhütten begonnen haben. Jetzt sind Felder, Wiesen und +Weiden über das ganze Hügelland gebreitet, und einige Reste der alten +Waldungen schauen ernst auf diese Gründe herab. Das Haus meines Vaters +stand außerhalb des Ortes in der Nähe einiger anderer, war aber doch +frei genug, um auf Wiesen, Felder, Gärten und im Süden auf ein sehr +schönes blaues Waldband zu sehen. Als ich ein Knabe von zehn Jahren +war, kannte ich alle Bäume und Gesträuche der Gegend und konnte +sie nennen, ich kannte die vorzüglichsten Pflanzen und Gesteine, +ich kannte alle Wege, wußte, wohin sie führten und war in allen +benachbarten Orten schon gewesen, die sie berühren. Ich kannte +alle Hunde von Dallkreuz, wußte, welche Farben sie hatten, wie sie +hießen und wem sie gehörten. Ich liebte die Wiesen, die Felder, die +Gesträuche, unser Haus außerordentlich, und unsere Kirchenglocken +däuchten mir das Lieblichste und Anmutigste, was es nur auf Erden +geben kann. Meine Eltern lebten in Frieden und Eintracht, ich hatte +noch eine Schwester, welche meine Knabenfahrten mit mir machen +mußte. Zu unserem Hause, das nur ein Erdgeschoß hatte, welches aber +schneeweiß war und weithin in dem Grün leuchtete, gehörten Wiesen, +Felder und Wäldchen. Der Vater ließ aber das durch Knechte verwalten, +er selber trieb einen Handel mit Flachs und Linnen, der ihn auf +vielfache Reisen führte. Ich wurde, da ich noch ein Kind war, zu dem +Erben dieser Dinge bestimmt, sollte aber vorher auf einer Lehranstalt +die notwendige Ausbildung bekommen. Der Vater hatte, als dessen +Eltern, die ich nur wenig gekannt hatte, gestorben waren, keine +Verwandten mehr. Meine Mutter, die der Vater von ferne her geholt +hatte, hatte noch einen Bruder, der aber mit ihr, weil sie als von +einem wohlhabenden Hause stammend eine Verbindung unter ihrem Stande, +wie er sich ausdrückte, geschlossen hatte, zerfallen war und durch +nichts versöhnt werden konnte. Wir wußten nichts von ihm, man vermied +es, seiner Erwähnung zu tun, und oft in einem ganzen Jahre wurde sein +Name nicht genannt. Die Zustände meines Vaters aber blühten empor, +und er war fast der Angesehenste in der Gegend. In dem Jahre, nach +dessen Ende ich in die Lehranstalt abgehen sollte, trafen mehrere +Unglücksfälle ein. Hagelschaden verwüstete die Felder, ein Teil des +Gebäudes brannte ab, und als das alles wieder hergestellt und in +das Geleise gebracht worden war, starb der Vater eines plötzlichen, +unvorhergesehenen Todes. Ein lässiger Vormund, hinterlistige +Handelsfreunde, welche zweifelhafte Forderungen stellten, und ein +unglücklicher Prozeß, der daraus entsprang, brachten für die Mutter +eine Lage herbei, in welcher sie mit Sorgen für unsere Zukunft zu +kämpfen hatte. Sie war, da man endlich alles zur Ruhe gebracht hatte, +auf das Notdürftigste beschränkt. Ich mußte im Herbste das geliebte +Haus, das geliebte Tal und die geliebten Angehörigen verlassen. Mit +ärmlicher Ausstattung ging ich an der Hand eines größeren Schülers zu +Fuß den ziemlich weiten Weg in die Lehranstalt. Dort gehörte ich zu +den Dürftigsten. Aber die Mutter sandte das, was sie senden konnte, +so genau und zu rechter Zeit, daß ich nie viel, aber doch das zum +Bestehen Nötige hatte. Es war an der Anstalt Sitte, daß die Knaben +in den höheren Abteilungen denen in den niedreren außerordentlichen +Unterricht erteilten und dafür ein Entgelt bekamen. Da ich einer der +besten Schüler war, so wurden mir in meinem vierten Lehrjahre schon +einige Knaben zum Unterrichten zugeteilt, und ich konnte der Mutter +die Auslagen für mich erleichtern. Nach zwei Jahren erwarb ich mir +bereits so viel, daß ich meinen ganzen Unterhalt selbst bestreiten +konnte. Jede Jahresferien brachte ich bei der Mutter und Schwester in +dem weißen Hause zu. Von dem Antreten des Hauses als Erbschaft war +nun keine Rede mehr. Ich dachte, ich werde mir durch meine Kenntnisse +eine Stellung verschaffen und das Haus und den Grundbesitz einmal als +Notpfennig der Schwester überlassen. So war die Zeit heran gekommen, +in welcher ich mich für einen Lebensberuf entscheiden mußte. Die +damals übliche Vorbereitungsschule, die ich eben zurückgelegt hatte, +führte nur zu einigen Lebensstellungen und machte zu andern eher +untauglich als tauglich. Ich entschloß mich für den Staatsdienst, weil +mir die andern Stufen, zu denen ich von meinen jetzigen Kenntnissen +emporsteigen konnte, noch weniger zusagten. Meine Mutter konnte mir +mit keinem Rate beistehen. Ich hatte mir ein kleines Sümmchen durch +außerordentliche Sparsamkeit zusammengelegt. Mit diesem und tausend +Segenswünschen der Mutter versehen und mit den Abschiedstränen der +geliebten Schwester benetzt begab ich mich auf die Reise in die Stadt. +Zu Fuße wanderte ich durch unser Tal hinaus, und suchte durch allerlei +Betrachtungen die Tränen zu ersticken, welche mir immer in die Augen +steigen wollten. Als unsere Wäldergestalten hinter mir lagen, als +die Herbstsonne schon auf ganz andere Felder schien, als ich durch +meine Jugend hindurch gesehen hatte, wurde mein Gemüt nach und nach +leichter, und ich durfte nicht mehr fürchten, daß mir jeder, der +mir begegnete, ansehen könne, daß mir das Weinen so nahe sei. Die +Entschlossenheit, welche mir eingegeben hatte, in die große Stadt zu +gehen und dort mein Heil in dem Berufe eines Staatsdieners zu suchen, +ließ mich immer fester und rascher meinen Weg verfolgen und tausend +glänzende Schlösser in die Luft bauen. Als ich an jenem Rande +angekommen war, wo unser höheres Land in großen Absätzen gegen den +Strom hinabgeht und ganz andere Gestaltungen anfangen, sah ich +noch einmal um, segnete das Mutterherz, das nun beinahe schon eine +Tagereise weit hinter mir lag, streichelte gleichsam mit den Fingern +die schönen, langwimperigen Augenlider der Schwester, die immer etwas +blaß aussah, segnete unser weißes Haus mit dem roten Dache, segnete +all die Felder und Wäldchen, die hinter mir lagen und die ich +durchwandelt hatte, und stieg, nun wirklich schwere Tränen in den +Augen tragend, in den tiefen Weg hinunter, welcher damals unter +hohem Laubdache hingehend einen der Pässe ausmachte, die das rauhere +Oberland mit dem tiefen Stromlande verbinden. Ich konnte nun, nachdem +ich drei Schritte gemacht hatte, die Gestaltungen meines Geburtslandes +nicht mehr sehen, nur sein Rand war alles, was meine Augen erreichen +konnten und was mich noch lange begleiten würde. Ganz andere Bildungen +lagen vor mir. Es war mir, ich müsse umkehren, um nur noch einmal +zurück schauen zu können. Ich tat es aber nicht, weil ich mich vor mir +selber schämte, und ich ging beeiligten Schrittes den Weg hinunter +und immer tiefer hinunter. Ich durfte auch nichts verzögern, wenn ich +vor Einbruch der Nacht noch zu dem Strome hinunter gelangen wollte, +auf dem mich am andern Morgen ein Schiff weiter tragen sollte. Die +herbstliche Abendsonne spielte durch die Zweige, manche Kohlmeise ließ +einen Ruf erschallen, wie ihn die hatten erschallen lassen, welche +jetzt noch in meinen heimatlichen Bergwäldchen verweilten, mancher +Fuhrmann, mancher Wanderer begegnete mir, ich ging mit ernstem Herzen +weiter, und als die Sonne untergegangen war, hörte ich das Rauschen +des Stromes, der mir nun so wichtig geworden war, und sah sein +goldenes abendliches Glänzen.« + +»Ich vergesse mich«, unterbrach sich hier mein Gastfreund, »und +erzähle euch Dinge, die nicht wichtig sind; aber es gibt Erinnerungen, +die, wie unbedeutende Gegenstände sie auch für Andere betreffen, doch +für den Eigentümer im höchsten Alter so kräftig dastehen, als ob sie +die größte Schönheit der Vergangenheit enthielten.« + +»Ich bitte euch«, entgegnete ich, »fahret so fort und entzieht mir +nicht die Bilder, die euch aus früheren Zeiten übrig sind, sie gehen +schöner in das Gemüt und verbinden leichter, was verbunden werden +soll, als wenn von dem lebendigen Leben ein flacher Schatten gegeben +werden sollte. Auch ist meine Zeit, wenn anders die eurige nicht +strenger zugemessen ist, kein Hindernis, daß ihr mir irgend etwas +vorenthalten solltet.« + +»Meine Zeit«, antwortete er, »ist entweder so gemessen, daß ich nichts +Anderes tun sollte, als auf mein Ende sehen, oder daß ich über sie +verfügen kann, wie ich will; denn was sollte ein so alter Mann noch +Ausschließliches zu tun haben? Er mag für die paar Stunden, die +ihm übrig sind, noch Blumen zurecht legen, wie er will. Ich tue ja +eigentlich hier auf dieser Besitzung nichts anders. Auch dürfte das, +was ich euch sagen will, für euch nicht ganz unwichtig sein, wie sich +wohl in der Folge zeigen wird. Ich fahre daher fort, wie sich oben +unter den Worten die Erzählung gibt.« + +»Die Nacht verbrachte ich in gutem Schlummer, und der erste Morgen +sah mich auf einem jener rohen, kleinen Schiffe, wie sie damals mit +verschiedenen Gütern beladen unsern Strom abwärts befuhren, und auch +Menschen mit sich nahmen. Mehrere junge Leute, die entweder ganz +gleichen oder ähnlichen Beruf mit mir verfolgten, standen auf dem +Verdecke und legten sogar manches Mal Hand an die Ruder, da unser +Schiff auf dem breiten, rauschenden Strome sich abwärts bewegte und +die kleine Stadt, die uns Nachtherberge gegeben hatte, sich aus den +Morgennebeln ringend unsern Augen immer weiter und weiter zurück trat. +Manches Lied, mancher Spruch, der aus der Schar meiner Begleiter +hervortrat, machte seine Wirkung auf mich, und ich wurde stärker und +entschlossener.« + +»Als am Abende des zweiten Tages unserer Wasserfahrt der hohe schlanke +Turm der Stadt, deren Miteinwohner ich nun werden sollte, gleichsam +luftig blau unter den Gebüschen der Ufer sichtbar wurde, als man sich +rief und das Zeichen sich zeigte, das man nun nach Verlauf von etwas +mehr als einer Stunde erreichen werde, wollte mir das Herz im Busen +wieder unruhiger pochen. Dieses Merkmal vergangener Menschenalter, +dachte ich, welches so viele große und gewaltige Schicksale gesehen +hatte, wird nun auch auf dein kleines Geschick herabsehen, es mag sich +nun gut oder übel abspinnen, und wird, wenn es längstens abgelaufen +ist, wieder auf Andere schauen. Wir fuhren rascher zu, weil alles +hoffnungsvoll die Ruder führte, die Entschloßneren sangen ein Lied, +und ehe noch die Stunde um war, legte unser Schiff an der steinernen +Einfassung des Flusses im Angesichte sehr großer Häuser an. Ein +älterer Schüler, der schon zwei Jahre in der Stadt zugebracht hatte +und jetzt von den bei seinen Eltern verlebten Ferien zurückkehrte, +erbot sich, mir einen Gasthof zur Unterkunft zu zeigen und mir morgen +zur Auffindung eines Wohnzimmerchens für mich behilflich zu sein. Ich +nahm es dankbar an. Unter dem Torwege des Gasthofes, in den er mich +geführt hatte, nahm er Abschied von mir und versprach, mich morgen +mit Tagesanbruch zu besuchen. Er hielt Wort, ehe ich angekleidet +war, stand er schon in meinem Zimmer, und ehe die Sonne den Mittag +erreichte, waren meine Sachen schon in einem Mietzimmerchen, das wir +für mich gefunden hatten, untergebracht. Er verabschiedete sich und +suchte seine wohlbekannten Kreise auf. Ich habe ihn später selten +mehr gesehen, da uns nur die Schiffahrt zusammengebracht hatte und da +seine Laufbahn eine ganz andere war als die meine. Als ich von meinem +Stübchen ausging, die Stadt zu betrachten, befiel mich wieder eine +sehr große Bangigkeit. Diese ungeheure Wildnis von Mauern und Dächern, +dieses unermeßliche Gewimmel von Menschen, die sich alle fremd sind +und an einander vorübereilen, die Unmöglichkeit, wenn ich einige +Gassen weit gegangen war, mich zurecht zu finden, und die +Notwendigkeit, wenn ich nach Hause wollte, mich Schritt für Schritt +durchfragen zu müssen, wirkte sehr niederdrückend auf mich, der ich +bisher immer in einer Familie gelebt hatte und stets an Orten gewesen +war, in denen ich alle Häuser und Menschen kannte. Ich ging zu dem +Vorstande der Rechtsschule, um mich für die Vorbereitungsjahre zum +Staatsdienste einschreiben zu lassen. Er nahm mich meiner trefflichen +Zeugnisse willen sehr gut auf und ermahnte mich, durch die große Stadt +mich von meinem Fleiße nicht abbringen zu lassen. Ach Gott, die große +Stadt war für mich bei meinen so kargen Mitteln nichts als ein Wald, +dessen Bäume auf mich keine Beziehung haben, und sie trieb mich durch +ihre Fremdartigkeit eher zum Fleiße an, als daß sie mich abgehalten +hätte. Am Tage der Eröffnung des Unterrichtes ging ich, der ich nun +doch schon einige auf mich bezügliche Wege wußte, in die hohe Schule. +Dort wogte ein großes Gewimmel durch einander. Alle Fächer wurden hier +gelehrt, und für alle Fächer fanden sich Schüler. Die meisten sahen +sehr begabt, gebildet und behende aus, so daß ich wieder im Glauben +an meine nur geringen Kräfte zu zagen anfing, hier gleichen Schritt +halten zu können. Ich begab mich in den Lehrsaal, in den ich gehörte, +und setzte mich auf einen der mittleren Plätze. Die Lehrstunde begann +und ging vorüber, so wie nun viele nach und nach begannen und vorüber +gingen. Sie und die ganze Stadt hatten noch immer etwas Ungewöhnliches +für mich. Das Liebste war mir, in meinem Stübchen zu sitzen, an meine +Vergangenheit zu denken und sehr lange Briefe an meine Mutter zu +schreiben.« + +»Als einige Zeit verflossen war, wuchs mir Mut und Kraft im Herzen. +Unser Lehrer, ein würdiger Rat in der Rechtsversammlung der Schule, +lehrte fragend. Ich schrieb getreulich seine Lehren in meine Hefte. +Als schon eine große Zahl meiner Mitschüler gefragt worden war, als +endlich die Reihe auch mich getroffen hatte, erkannte ich, daß ich +Vielen, die mich an Kleidern und äußerem Benehmen übertrafen, in +unserem Lehrfache nicht nachstehe, sondern einer großen Zahl vor +sei. Dies lehrte mich nach und nach die mir bisher fremd gebliebenen +Verhältnisse der Stadt würdigen, und sie wurden mir immer mehr und +mehr vertraut. Einige Schüler hatte ich schon früher gekannt, da sie +vor mir von der nehmlichen Lehranstalt, in der ich bisher gewesen war, +hieher übergetreten waren; andere lernte ich noch kennen. Als meine +Barschaft, mit der ich sehr strenge Haus hielt, sich schon sichtlich +zu verringern begann, wurde ich von einem meiner Mitschüler, der mein +Nachbar auf der Schulbank war und aus meinem Munde gehört hatte, daß +ich früher Unterricht gegeben habe, aufgefordert, seine zwei kleinen +Schwestern zu unterrichten. Wir hatten durch die tägliche Berührung +eine Art Freundschaft geschlossen und waren einander geneigt. Als er +daher zu Hause gehört hatte, daß man für die zwei kleinen Mädchen +einen Lehrer suche, schlug er mich vor und erzählte mir auch von der +Sache. Die Eltern wollten mich sehen, er führte mich zu ihnen und ich +wurde angenommen. Auch hatten die Schritte, welche ich selber nach +meiner Berechnung der Dinge getan hatte, um durch Erteilung von +Unterricht einen Erwerb zu bekommen, Erfolg. Sie hatten zwar keinen +bedeutenden, auf einen solchen hatte ich nicht gerechnet, aber sie +hatten doch einen. So war das in Erfüllung gegangen, was ich durch +meine Umsiedlung in die große Stadt angestrebt hatte. Ich lebte jetzt +sorgenfrei, hatte in dem Hause meines Freundes, in welches ich öfter +geladen wurde, eine Gattung Familienumgang und konnte mit allem Eifer +der Erlernung meines Faches mich widmen.« + +»In den ersten Ferien besuchte ich die Mutter und Schwester. Ich hatte +die besten Zeugnisse in meinem Koffer und konnte ihnen von meinen +sehr guten anderweitigen Erfolgen erzählen; denn gegen das Ende +des Schuljahres hatten sich diese sehr gebessert. Mit ganz anderem +Herzen als vor einem Jahre konnte ich nach dem Ende der Ferien das +mütterliche Haus verlassen, und die Reise in die Stadt antreten.« + +»Nach dem zweiten Jahre konnte ich die Meinigen nicht mehr besuchen. +Ich war in der Stadt bekannt geworden, die Art, wie ich Kinder +unterrichtete, sagte vielen Familien zu, man suchte mich und gab mir +auch einen größeren Lohn. Ich konnte mir dadurch mehr erwerben, legte +mir stets etwas als Sparpfennig zurück und hatte bei der Freudigkeit +meines Gemütes über diesen Fortgang Kraft genug, neben meinem Fache +auch noch meine Lieblingswissenschaften Mathematik und Naturlehre zu +betreiben. Nur das Einzige war störend, daß die Familien, bei denen +ich Unterricht gab, nicht gerne sahen, daß ich durch eine Reise den +Unterricht unterbreche. Es war diese Forderung eine begreifliche, ich +blieb mit den Meinigen in einem lebhafteren Briefwechsel als früher +und verabredete mit ihnen, daß ich nicht eher als nach Beendigung +meines Lehrganges sie wieder besuchen, dann aber einige Monate bei +ihnen bleiben wolle. Hiemit waren auch die, in deren Dienste ich +stand, zufrieden.« + + +»Die Stadt, welche mir Anfangs so unheimlich gewesen war, wurde mir +immer lieber. Ich gewöhnte mich daran, immer fremde Menschen in den +Gassen und auf den Plätzen zu sehen und darunter nur selten einem +Bekannten zu begegnen; es erschien mir dieses so weltbürgerlich, +und wie es früher mein Gemüt niedergedrückt hatte, so stählte es +jetzt dasselbe. Einen schönen Einfluß übten auf mich die großen +wissenschaftlichen und Kunsthilfsmittel, welche die Stadt besitzt. + +Ich besuchte die Büchersammlungen, die der Gemälde, ich ging gerne in +das Schauspiel und hörte gute Musik. Es lebte von jeher ein großer +Eifer für wissenschaftliche Bestrebungen in mir, und ich konnte +demselben jetzt bei der Heiterkeit meiner Lage Nahrung geben. Was ich +bedurfte und was ich durch meine Mittel mir nicht hätte anschaffen +können, fand ich in den Sammlungen. Da ich den sogenannten +Vergnügungen nicht nachging, sondern in meinen Bestrebungen mein +Vergnügen fand, so hatte ich Zeit genug, und weil ich gesund und stark +war, reichte auch meine Kraft aus. In hohem Maße befriedigten mich +einige schöne Gebäude, besonders Kirchen, dann Bildsäulen und Gemälde. +Ich brachte manchen Tag damit zu, mich in die Betrachtung der +kleinsten Teile dieser Dinge zu vertiefen. Auch hatte ich manche +Familien kennen gelernt, wurde bei ihnen aufgenommen und bildete nach +und nach meinen Umgang mit Menschen etwas mehr heraus.« + +»Da ich in dem zweiten Jahre meiner Lernzeit war, vermählte sich meine +Schwester. Ich hatte ihren jetzigen Gatten schon früher gekannt. Er +war ein sehr guter Mann, hatte keine Leidenschaften, keine übeln +Gewohnheiten, war häuslich sogar auch tätig, hatte eine angenehme +Körpererscheinung, war aber sonst nichts mehr. Diese Vermählung hatte +mir keine Freude und kein Leid gemacht. Da ich meine Schwester so +liebte, so war mir stets, daß sie nie einen andern Mann als den +allerherrlichsten bekommen solle. Dies war nun wohl nicht der Fall. +Die Mutter schrieb mir, daß mein Schwager seine Gattin sehr verehre, +daß er lange und treu um sie geworben und endlich ihr Herz gewonnen +habe. Sie wohnen in unserem Hause, und von da aus treibe er still und +emsig sein kleines Handelsgeschäft, das sie nähre. Ich schrieb einen +Brief entgegen, worin ich den Vermählten Glück und Segen wünschte +und den Schwager bat, seine Gattin sehr zu lieben, zu schonen und zu +ehren; denn ich glaube, daß sie es verdiene. Die Antworten versprachen +alles, so wie die folgenden Briefe immer den Stempel eines stillen +häuslichen Friedens trugen.« + +»In diesen Verhältnissen kam die Zeit heran, da ich mit den letzten +Prüfungen meine Vorbereitungsjahre beendigt hatte. Ich richtete eben +mein Reisegepäcke zusammen, um der Verabredung gemäß nach langer +Trennung die Meinigen wieder zu sehen, als ein Brief von der Hand der +Schwester kam, dessen Inneres häufige Tränenspuren zeigte und der mir +sagte, daß unsere Mutter gestorben sei. Sie war vor einiger Zeit krank +geworden, man hielt das Übel nicht für gefährlich, und da man mich in +der Vorbereitung zu meinen letzten Prüfungen wußte, so wollte man mir, +um mich nicht zu stören, keine Meldung von der Krankheit zukommen +lassen. So zog es sich durch zehn Tage hin, von wo es sich rasch +verschlimmerte, und ehe man es sich versah, mit dem Tode endigte. Man +konnte mir nur mehr diesen melden. Ich raffte sofort alles zusammen, +was zu einer Reise nötig schien, schrieb zwei Zeilen an einen +Freund, worin ich ihn bat, die Sache meinen Bekannten, die ich ihm +bezeichnete, zu melden und mich zu entschuldigen, daß ich ohne +Abschied abreise. + +Hierauf ging ich auf die Post und ließ mich einschreiben. Zwei Stunden +darnach saß ich schon in dem Wagen, und obwohl wir in der Nacht wie am +Tage fuhren, obwohl ich von der letzten Post aus, an der der Weg nach +meiner Heimat ablenkte, eigene Pferde nahm und mittelst Wechsels +derselben unaufhörlich fortfuhr, so kam ich doch zu spät, um die +irdische Hülle meiner Mutter noch einmal sehen zu können. Sie ruhte +bereits im Grabe. Nur in ihren Kleidern, in Geräten, im Arbeitszeuge, +das auf ihrem Tischchen lag, sah ich die Spuren ihres Daseins. Ich +warf mich in eine Lehnbank und wollte in Tränen vergehen. Es war der +erste große Verlust, den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des +Vaters war ich zu jung gewesen, um ihn recht empfinden zu können. +Obwohl der erste Schmerz unsäglich heiß gewesen war und ich geglaubt +hatte, ihn nicht überleben zu können, so verminderte er sich wider +meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem Schatten +wurde und ich mir nach Verlauf von einigen Jahren keine Vorstellung +mehr von dem Vater machen konnte. Jetzt war es anders. Ich hatte mich +daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten häuslichen Reinheit +zu betrachten, als das Bild des Duldens, der Sanftmut, des Ordnens und +des Bestehens. So war sie ein Mittelpunkt für unser Denken geworden, +und mir kam fast nicht zu Sinne, daß das je einmal anders werden +könne. Jetzt wußte ich erst, wie sehr wir sie liebten. Sie, die nie +gefordert hatte, die nie auf sich irgend eine Beziehung gemacht hatte, +die geräuschlos immer gegeben hatte, die jedes Schicksal als eine +Fügung des Himmels empfangen hatte und die in ruhigem Glauben ihre +Kinder der Zukunft anvertraut hatte, war nicht mehr. Unter der +Decke der Schollen schlummerte ihr Herz, das dort vielleicht so +ergebungsvoll schlummerte, wie es sonst in der Kammer unter der Hülle +seiner weißen Decke geschlummert hatte. Die Schwester war wie ein +Schatten, sie wollte mich trösten, und ich wußte nicht, ob sie +des Trostes nicht noch bedürftiger wäre als ich. Der Gatte meiner +Schwester war in einer gewissen Ergebung, er war stille und ging an +die Beschäftigungen seines Berufes. Ich ließ mir nach einer Zeit das +frische Grab der Mutter zeigen, weinte dort meine Seele aus und betete +für sie zu dem Herrn des Himmels. Da ich in das Haus zurückgekehrt +war, besuchte ich alle Räume, in denen sie zuletzt geweilt hatte, +besonders ihr eigenes Stübchen, in welchem man alles gelassen hatte, +wie es bei ihrer Erkrankung gewesen war. Der Schwager und die +Schwester boten mir an und baten mich, eine Zeit bei ihnen zu +verweilen. Ich nahm es an. In dem hinteren Teile des Hauses, den +ich immer am meisten geliebt hatte, war schon vor der Erkrankung +der Mutter ein Zimmer für mich, größtenteils durch ihre Hände, +hergerichtet worden. Dieses Zimmer bezog ich und packte darin meinen +Koffer aus. Seine zwei Fenster gingen in den Garten, die weißen +Fenstervorhänge hatte noch die Mutter geordnet, und das Linnen des +Bettes war durch ihre vorsorglichen Finger gleichgestrichen worden. +Ich getraute mir kaum, etwas zu berühren, um es nicht zu zerstören. +Ich blieb sehr lange unbeweglich in dem Zimmer sitzen. Dann ging ich +wieder durch das ganze Haus. Es schien mir gar nicht, als ob es das +wäre, in welchem ich die Tage meiner Kindheit verlebt hatte. Es +erschien mir so groß und fremd. Die Wohnung, welche sich meine +Schwester und ihr Gatte darin eingerichtet hatten, war früher nicht da +gewesen, dafür war das Gemach für Vater und Mutter, das immer, auch +nach seinem Tode, noch bestanden war, verschwunden, ebenso fand ich +das Zimmer für uns Kinder nicht mehr, welches ich in allen Ferien, +die ich zu Hause zugebracht hatte, noch in dem Zustande aus unserer +früheren Zeit her gesehen hatte. Es war eben eine neue Haushaltung in +dem Gebäude eingerichtet worden. Unter dem Dache angekommen, sah ich, +daß man schadhafte Stellen des Daches ausgebessert hatte, daß man +neue Ziegel genommen hatte und daß an den Kanten, wo sich früher die +Rundziegel befunden hatten, die neue Art der Verklebung durch Mörtel +angewendet worden war. Dies alles tat mir wehe, obwohl es natürlich +war, und obwohl ich es zu einer andern Zeit kaum beachtet haben würde. +Jetzt aber war mein Gemüt durch den Schmerz erregt, und jetzt schien +es mir, als ob man alles Alte, auch die Mutter, aus dem Hause hinaus +gedrängt hätte.« + +»Ich lebte von jetzt an still in dem Zimmer, las, schrieb, ging +täglich auf das Grab der Mutter, besuchte die Felder und manches +Wäldchen, hielt mich aber von den Menschen ferne, weil sie immer von +meinem Verluste redeten und mit den Worten in ihm stets wühlten. Das +Haus war auch sehr stille. Die Vermählten hatten noch keine Kinder, +mein Schwager, dessen Wesen friedlich und einfach war, befand sich +größten teils außer Hause, die Schwester besorgte mit der einzigen +Magd, die sie hatte, die häuslichen Geschäfte, und wenn die +Abenddämmerung kam, wurde die Tür, die gegen die Straße ging, mit +den eisernen Stangen von Innen verriegelt, und nur die in den Garten +führende blieb offen, bis die Stunde zum Schlafen kam, wo sie dann +auch die Schwester mit eigenen Händen schloß. Das häusliche Glück der +zwei Ehegatten schien fest gegründet zu sein, das war eine Linderung +für meine Wunde, und ich verzieh dem Schwager, daß er nicht ein +Mann war, der durch hohe Begabung und den Schwung seiner Seele die +Schwester zu einem himmlischen Glücke emporgeführt hatte.« + +»So vergingen mehrere Wochen. Vor meiner Abreise ging ich noch in +unser Gerichtsamt, verzichtete dort für meine Schwester auf jeden +Erbanspruch des von unsern Eltern hinterlassenen Besitztumes und ließ +meine Rechte auf die Schwester überschreiben. So war den beiden Gatten +das Dasein, so lange es ihnen der Himmel verlieh, gesichert; ich hatte +als Erbteil den Unterricht bekommen und hoffte durch das, was er mir +an Kenntnissen eingebracht hatte und was ich mir noch erwerben wollte, +den Unterhalt meines Lebens schon zu decken. Hierauf reiste ich, +von dem Danke und von den wärmsten Wünschen für mein Wohl von der +Schwester und dem Schwager begleitet, wieder in die Stadt ab.« + +»In derselben begann ich jetzt ein sehr zurückgezogenes Leben zu +führen. Ich hatte mir so viel erspart, daß ich nur einen kleinen Teil +meiner Zeit zum Unterrichtgeben verwenden mußte. Die übrige wendete +ich für mich an und verlegte mich auf Naturwissenschaften, auf +Geschichte und Staatswissenschaften. Meinen eigentlichen Beruf +ließ ich etwas außer Acht. Die Wissenschaften und die Kunst, deren +Vergnügen ich nie entsagte, füllten mein Herz aus. Ich suchte jetzt +weniger als je die Gesellschaft von Menschen auf. Die Notwendigkeit, +die Zeit der Vorbereitung zu meinem Berufe recht zu benutzen und mir +außerdem noch meinen Lebensunterhalt zu erwerben, hatte mich schon +in früheren Jahren fast nur auf mich allein zurückgewiesen, und ich +setzte jetzt dies Leben fort.« + +»Allein es dauerte nicht lange in dieser Art. Schon nach einem halben +Jahre, als ich das Grab der Mutter verlassen hatte kam mir von meinem +Schwager die Nachricht zu, daß zu den zwei Gräbern des Vaters und der +Mutter auf unserer Familienbegräbnisstätte ein drittes Grab gekommen +sei, das meiner Schwester. Sie hatte sich seit dem Tode der Mutter +nicht recht erholt, und eine unversehene Verkühlung raffte sie dahin. +Der Schwager schrieb mir, und wie ich sah, in aufrichtigem Kummer, +daß er nun ganz verlassen sei, daß er keine Freude mehr habe, daß er +einsam sein Leben zubringen wolle, daß er wohl von der Verewigten zum +Erben eingesetzt worden sei, daß er aber gerne mit mir teilen wolle, +er habe kein Kind, seine einzige Freude liege im Grabe, er achte nicht +mehr viel auf Besitzungen, sein Stückchen Brod, welches für sein +einfaches Leben recht klein sein dürfe, werde er für die Zeit schon +finden, die er noch zubringen müsse, ehe er zu Kornelien gehen könne. +Da der Mann meine Schwester sehr geliebt hatte, da ihre Briefe an mich +immer von ihrem Glücke erzählten, gönnte ich ihm das kleine Besitztum +und schrieb ihm zurück, daß ich keine Ansprüche erhebe und daß er das +Hinterlassene ungeteilt genießen möge. Er dankte mir, ich sah aber aus +seinem Briefe, daß er über das Geschenk eben keine sonderliche Freude +habe.« + +»Ich zog mich nun noch mehr zurück, und mein Leben war sehr trübe. +Ich zeichnete viel, ich bildete zuweilen auch etwas in Ton und suchte +sogar manches in Farben darzustellen. Nach einiger Zeit kam mir +von befreundeter Hand der Antrag, daß ich bei einer gebildeten +und wohlhabenden Familie wohnen möchte, daß ich einen Teil des +Unterrichtes eines Knaben, der in der Familie sei, gegen vorteilhafte +Bedingungen übernehmen möchte, worunter auch die war, daß ich nicht +gebunden sei, daß ich öfter abwesend sein und zum Teile sogar kleine +Reisen machen könne. In der Verödung, in der ich mich befand, hatte +die Aussicht auf ein Familienleben eine Art Anziehung für mich, und +ich nahm den Antrag unter der Bedingung an, daß ich die Freiheit haben +müsse, in jedem Augenblicke das Verhältnis wieder auflösen zu können. +Die Bedingung wurde zugestanden, ich packte meine Sachen, und nach +drei Tagen fuhr ich in der Richtung nach dem Landsitze der Familie +ab. Dieser Sitz war ein angenehmes Haus in der Nähe großer Meiereien, +die einem Grafen gehörten. Das Haus war beinahe zwei Tagereisen von +der Stadt entfernt. Es war sehr geräumig, hatte eine sonnige Lage, +liebliche Rasenplätze um sich und hing mit einem großen Garten +zusammen, in dem teils Gemüse, teils Obst, teils Blumen gezogen +wurden. Der Besitzer des Hauses war ein Mann, der von reichlichen +Renten lebte, sonst aber kein Amt noch irgend eine andere +Beschäftigung zum Gelderwerb hatte. So war er mir geschildert worden, +mit dem Beifügen, daß er ein sehr guter Mann sei, mit dem sich +jedermann vertrage, daß er eine treffliche, sorgsame Frau habe und daß +außer dem Knaben nur noch ein halberwachsenes Mädchen da sei. Diese +Dinge waren es auch vorzüglich, welche mich zur Annahme bestimmt +hatten. Mein Name sei der Familie in einem Hause genannt worden, mit +dem sie in sehr inniger Beziehung stand, und ich sei sehr empfohlen +worden. Man hatte mir auf die letzte Post einen Wagen entgegen +gesandt. Es war ein schöner Nachmittag, als ich in Heinbach, das war +der Name des Hauses, einfuhr. Wir hielten unter einem hohen Torwege, +zwei Diener kamen die Treppe herab, um meine Sachen in Empfang zu +nehmen und mir mein Zimmer zu zeigen. Als ich noch im Wagen mit +Herausnehmen von ein paar Büchern und andern Kleinigkeiten beschäftigt +war, kam auch der Herr des Hauses herunter, begrüßte mich artig und +führte mich selber in meine Wohnung, die aus zwei freundlichen Zimmern +bestand. Er sagte, ich möge mich hier zurecht richten, möge hiebei nur +meine Bequemlichkeit vor Augen haben, ein Diener sei angewiesen, meine +Befehle zu vollziehen, und wenn ich fertig sei und etwa heute noch +wünsche, mit seiner Gattin zu sprechen, so möge ich klingeln, der +Diener werde mich zu ihr führen. Hierauf verließ er mich unter +höflichem Abschiede. Der Mann gefiel mir sehr wohl. Ich entledigte +mich meiner staubigen Kleider, reinigte mich, legte nur das +Notwendigste in meinem Zimmer in Ordnung, kleidete mich dann +besuchsgemäß an und ließ die Frau des Hauses fragen, ob ich bei ihr +erscheinen dürfe. Sie sendete eine bejahende Antwort. Ich wurde über +einen Gang geführt, in welchem allerlei Bilder hingen, wir traten in +einen Vorsaal und von dem in das Zimmer der Frau. Es war ein großes +Zimmer mit drei Fenstern, an welches ein niedliches Gemach stieß. +In diesem Zimmer waren heitere Geräte, einige Bilder, und die +Nachmittagssonne war durch sanfte Vorhänge gedämpft. Die Frau saß an +einem großen Tische, zu ihren Füßen spielte ein Knabe, und seitwärts +an einem kleinen Tischchen saß ein Mädchen und hatte ein Buch vor +sich. Es schien, es habe vorgelesen. Die Frau stand auf und ging mir +entgegen. Sie war sehr schön, noch ziemlich jung, und was mir am +meisten auffiel war, daß sie sehr schöne braune Haare, aber tief +dunkle, große schwarze Augen hatte. Ich erschrak ein wenig, wußte aber +nicht warum. Mit einer Freundlichkeit, die mein Zutrauen gewann, hieß +sie mich einen Platz nehmen, und als ich dies getan hatte, nannte sie +meinen Vor- und Familiennamen, hieß mich beinahe herzlich willkommen +und sagte, daß sie sich schon sehr gesehnt habe, mich unter ihrem +Dache zu sehen.« + +»>Alfred<, rief sie, >komm und küsse diesem Herrn die Hand!<« + +»Der Knabe, welcher bisher neben ihr gespielt hatte, stand auf, trat +vor mich, küßte mir die Hand und sagte: >Sei willkommen!<« + +»>Sei auch du willkommen<, erwiderte ich und drückte ein wenig das +Händchen des Knaben. Er hatte ein sehr rosiges Angesicht, ebenfalls +braune Haare wie die Mutter, aber dunkelblaue Augen, wie ich sie an +dem Vater gesehen zu haben glaubte.« + +»>Das ist das Kind, dessentwegen ich euch so sehr in unser Haus +gewünscht habe<, sagte sie. >Ihr sollt dasselbe weniger unterrichten, +dazu sind Lehrer da, welche das Haus besuchen, sondern wir bitten +euch, daß ihr bei uns lebet, daß ihr dem Knaben öfter eure +Gesellschaft gönnt, daß er außer dem Umgange mit seinem Vater auch den +eines jungen Mannes hat, was auf ihn Einfluß nehmen möge. Erziehung +ist wohl nichts als Umgang, ein Knabe, selbst wenn er so klein ist, +muß nicht immer mit seiner Mutter oder wieder nur mit Knaben umgehen. +Der Unterricht ist viel leichter als die Erziehung. Zu ihm darf man +nur etwas wissen und es mitteilen können, zur Erziehung muß man etwas +sein. Wenn aber einmal jemand etwas ist, dann, glaube ich, erzieht er +auch leicht. Meine Freundin Adele, die Gattin des Kaufherrn, dessen +Warengewölbe dem großen Tore des Erzdomes gegenüber ist, hat mir von +euch erzählt. Wenn ihr es für gut findet, den Knaben auch in irgend +etwas zu unterrichten, so ist es eurem Ermessen überlassen, wie und +wie weit ihr es tut.<« + +»Ich konnte auf diese Worte nichts antworten; ich war sehr errötet.« + +»>Mathilde<, sagte die Frau, >begrüße auch diesen Herrn, er wird jetzt +bei uns wohnen.<« + +»Das Mädchen, welches immer bei seinem aufgeschlagenen Buche sitzen +geblieben war, stand jetzt auf und näherte sich mir. Ich erstaunte, +daß das Mädchen schon so groß sei, ich hatte es mir kleiner gedacht. +Es war auf einem etwas niederen Stuhle gesessen. Da es in meine Nähe +gekommen war, stand ich auf, wir verneigten uns gegen einander, +Mathilde ging wieder zu ihrem Sitze, und ich nahm auch den meinigen +wieder ein. Die Frau hatte wohl diese Begrüßung eingeleitet, um mein +Erröten vorüber gehen zu machen. Es war auch zum großen Teile vorüber +gegangen. Sie hatte eine Antwort auf ihre an mich gerichtete Rede +auch wahrscheinlich nicht erwartet. Sie fragte mich jetzt um mehrere +gleichgültige Dinge, die ich beantwortete. + +In meine näheren Verhältnisse oder etwa gar in die meiner Familie ging +sie nicht ein. Nachdem die Unterredung eine Weile gedauert hatte, +verabschiedete sie mich, sagte, ich möchte von der Reise etwas +ausruhen, bei dem Abendessen würden wir uns wieder sehen. Der Knabe +hatte während der ganzen Zeit meine Hand gehalten, war neben mir +stehen geblieben und hatte öfter zu meinem Angesichte heraufgeschaut. +Ich löste jetzt meine Hand aus der seinen, grüßte ihn noch, verneigte +mich vor der Mutter und verließ das Zimmer.« + +»Als ich in meiner Wohnung angekommen war, setzte ich mich auf einen +der schönen Stühle nieder. Jetzt wußte ich, weshalb man mir so gute +Bedingungen gestellt hatte und wie schwer meine Aufgabe war. Ich +zagte. Das Benehmen der Frau hatte mir sehr gefallen, darum zagte ich +noch mehr. Als ich eine Zeit auf meinem Stuhle gesessen war, erhob +ich mich wieder, und es fiel mir ein, daß ich ja dem Herrn des Hauses +auch einen Besuch zu machen habe. Ich klingelte und verlangte von +dem eintretenden Diener, daß er mich zu dem Herrn führe. Der Diener +antwortete, der Herr sei in den Wald gegangen und werde erst Abends +zurückkehren. Er hatte den Befehl hinterlassen, daß man mir sage, +ich möge nur meine Reisesachen auspacken, möge ausruhen und möge +mir seinethalben keine Pflichten auflegen, morgen könne das Weitere +besprochen werden. Ich legte daher die Kleider, welche ich zu dem +Besuche bei der Frau genommen hatte, wieder ab, zog mich anders an +und brachte meine Sachen nun in meiner Wohnung in Ordnung. Bei dieser +Beschäftigung ging mir nach und nach der ganze Rest des noch übrigen +Tages dahin. Als ich fertig war, dämmerte es bereits. Nachdem ich mich +gereinigt und zum Abendessen angekleidet hatte, sagte mir mein Diener, +daß sich der Herr, der schon nach Hause zurückgekehrt sei, zum Besuche +bei mir melde. Ich sagte zu, der Herr kam und fragte, ob man in meiner +Wohnung alles nach Gebühr vorbereitet habe und ob ich nichts vermisse. +Ich antwortete, daß alles meine Erwartung übertreffe und daher ein +weiteres Begehren die größte Unbescheidenheit wäre. Er sagte, daß er +nun wünsche, daß mein Eintritt in sein Haus gesegnet sei, daß mein +Aufenthalt darin erfreulich sein möge und daß ich es einst nicht mit +Reue und Schmerz verlasse. Hierauf lud er mich zum Abendessen ein. Wir +gingen in ein sehr heiteres Speisezimmer, in welchem ein einfaches +Abendmahl unter einfachen Gesprächen eingenommen wurde. Bei demselben +war der Herr, die Frau, die zwei Kinder und ich gegenwärtig.« + +»Am nächsten Vormittage ließ ich anfragen, ob ich den Herrn besuchen +dürfe. Ich wurde dazu eingeladen, und mein Diener führte mich zu ihm. +Ich war in denselben Besuchkleidern wie gestern bei der Frau. Der Herr +saß bei Papieren und Schriften, er erhob sich bei meinem Eintritte, +ging mir entgegen, grüßte mich auf das Ausgezeichnetste und führte +mich zu einem Tische. + +Er war schon völlig und sehr fein angekleidet. Als wir uns +niedergelassen hatten, sagte er: >Seid mir noch einmal in meinem Hause +willkommen. Ihr seid uns so empfohlen worden, daß wir uns glücklich +schätzen, daß ihr zu uns gekommen seid, daß ihr eine Zeit bei uns +wohnen wollt und daß ihr erlaubt, daß mein lieber Knabe, dem ich eine +glückselige Zukunft wünsche, eure Gesellschaft genieße. Ich glaube, +ihr werdet vielleicht in einiger Zeit sehen, daß wir eure Freunde +sind, und ihr werdet uns etwa auch eure Freundschaft schenken. Richtet +eure Beschäftigungen ein, wie ihr wollt, verlegt euch auf das, was +euer künftiger Beruf fordert und betrachtet euch in allen Stücken +wie in eurem eigenen Hause. Ihr werdet euch wohl hier an Einfachheit +gewöhnen müssen. Wir haben hier und in der Stadt wenig Besuch und +machen auch wenig. Mathilde wird von der Frau selber erzogen. Mit +Erzieherinnen hatten wir kein Glück. Wir gaben es daher auf, für +Mathilden eine Gesellschafterin zu suchen. Sie ist bei der Mutter, +zuweilen sieht sie Mädchen ihres Alters, und manches Mal wohnt sie +Gesprächen und Spaziergängen mit zwei älteren guten und lieben Mädchen +bei. Sonst ist sie in ihrer Ausbildung begriffen und bringt ihre Zeit +mit Lernen zu. Wie es mit dem Knaben ist, werdet ihr wohl sehen. Man +hat uns gesagt, daß ihr in der Stadt sehr zurückgezogen gelebt habt, +deshalb glaubten wir, daß ihr bei uns nicht gar sehr die menschliche +Gesellschaft vermissen werdet. Ich beschäftige mich mit einigen +wissenschaftlichen Dingen, und wenn euch ein Gespräch hierin, falls +wir in den Gegenständen zusammentreffen, nicht unangenehm ist, so +betrachtet mich als euren älteren Bruder, und zwar nicht bloß hierin, +sondern auch in allen anderen Dingen.<« + +»>Ich bin durch eure Güte sehr beschämt<, antwortete ich, >und sehe +jetzt erst, wie groß die Aufgabe ist, die ich in eurem Hause habe. Ich +weiß nicht, ob ich ihr auch nur in einem geringen Maße werde genügen +können.<« + +»>Es wird vielleicht nicht schwer sein, zu genügen<, erwiderte er.« + +»>Wenn es aber doch nicht geschähe?< fragte ich.« + +»>Dann wären wir so offen und sagten es euch, damit man darnach +handeln könnte<, antwortete er.« + +»>Das erleichtert mir mein Herz sehr<, erwiderte ich; >denn auf diese +Weise wird nie Mißtrauen aufkommen können. Ich habe bisher nur in zwei +Familien gelebt, in der meiner Mutter - denn mein Vater ist in meiner +frühen Jugend gestorben - und in der eines würdigen alten Amtmannes, +in dessen Hause ich während meiner lateinischen Schulen in Kost +und Wohnung war. Die erste Familie ist mir wie jedem Menschen +unvergeßlich, und die zweite ist es mir auch.<« + +»>Vielleicht wird es auch die unsere<, sagte er, >jetzt laßt euch das +Haus und sein Zugehör zeigen, daß ihr den Schauplatz kennt, auf dem +ihr ein Weilchen leben sollt. Oder wollt ihr etwas anders tun, so tut +es. Zu mir steht euch der Zutritt stets offen, laßt euch nicht ansagen +und klopft nicht an meine Tür.<« + +»Mit diesen Worten war unser Gespräch zu Ende, wir erhoben uns, +verabschiedeten uns, er reichte mir freundlich die Hand, und ich +verließ das Zimmer.« + +»Ich kleidete mich nun in meine gewöhnlichen Kleider und ließ fragen, +ob Alfred Zeit habe, mich zu begleiten und mir etwas von dem Hause und +dem Garten zu zeigen. Man antwortete, daß Alfred gleich kommen werde +und daß er hinlänglich Zeit habe. Die Mutter führte den Knaben selbst +zu mir, und sie brachte auch einen Diener mit, welcher einen Bund +Schlüssel trug und den Auftrag hatte, mir die Räume des Hauses zu +zeigen. Der Diener war ein alter Mann und schien die Aufsicht über +die andern Dienstleute zu haben. Die Mutter entfernte sich sogleich +wieder. Ich sprach einige freundliche Worte mit dem Knaben, welcher +über sieben Jahre alt schien, er erwiderte diese Worte unbefangen und, +wie ich glaubte, zutraulich. Dann gingen wir, die Räume des Hauses zu +betrachten. Das Haus war nicht alt, es war kein Schloß und mochte in +dem siebenzehnten Jahrhunderte gebaut worden sein. Es bestand aus +zwei Flügeln, die einen rechten Winkel bildeten und einen Sandplatz +einschlossen. Die Zufahrt war aber von entgegengesetzter Seite, daher +der Sandplatz, welcher Blumenbeete hatte, mehr einem Garten und einem +Spielplatze für die Kinder als einer Anfahrt glich. Es waren auf +demselben, und zwar an den Mauern des Hauses, auch Linnendächer zum +Aufspannen gegen die Sonne angebracht. Das Haus hatte ein Erdgeschoß +und ein Stockwerk. Durch beide lief der Länge nach ein breiter Gang, +von dem aus man in die Zimmer gelangen konnte. Die Mauern des Ganges +waren schneeweiß, hatten Stuckarbeit, schön vergitterte Fenster und +zeigten braune, wohlgebohnte Gemächertüren. An vielen Stellen der +Gänge hingen Gemälde. Sie waren durchaus nicht vorzüglich, aber auch +bei Weitem nicht so schlecht, als solche Gang- und Treppengemälde +gewöhnlich zu sein pflegen. Die Gegenstände, welche auf ihnen +abgebildet waren, drehten sich in einem kleinen Kreise: Landschaften +mit Ansichten der Umgebung oder merkwürdiger Gebäude, Tiere - +vorzüglich Hunde mit Jagdgerätschaften -, Küchengeschirr oder Inneres +von Zimmern und anderen Gelassen. Der alte Diener schloß manche +Gemächer auf, die im Gebrauche waren; denn das Haus hatte mehr, als +die jetzigen Bewohner benützten. Es war ein großer, mit sehr schönen +Geräten versehener Saal da, in welchem, wenn es notwendig war, +Gesellschaften aufgenommen wurden, dann waren andere Zimmer zu +verschiedenem Gebrauche, darunter ein sehr großes Bücherzimmer und +die Zimmer für Gäste. Alles war sehr schön eingerichtet und rein und +ordentlich gehalten. Als wir das Haus gesehen hatten, sagte Alfred, +Raimund, der alte Diener, sei nun nicht mehr vonnöten, den Garten +werde er mir schon allein zeigen. Ich war damit einverstanden, +verabschiedete den alten Diener und ging mit Alfred ins Freie. Das +Erdgeschoß, worin sich die Küche, die Gesindezimmer und dergleichen +befanden, hatten wir nicht besucht. Die Ställe und Wagenbehälter +waren abseits des Hauses in eigenen Gebäuden. Als wir in das Freie +gekommen waren, zeigte sich ein sehr schöner Rasenplatz, der von +mannigfaltigen, künstlich angelegten Wegen durchkreuzt war. Auf diesem +Rasenplatze standen in ziemlichen Entfernungen sehr große Bäume. Zu +jedem führte ein Weg, und fast unter jedem stand ein Bänkchen oder +ein Sitz. Alfred führte mich zu den meisten und nannte mir sie. Mich +erfreute dieses Zeichen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit. Er +erzählte mir auch, was sie bald unter diesem, bald unter jenem Baume +getan und wie sie gespielt hätten. Die Bäume waren Eichen, Linden, +Ulmen und eine Anzahl sehr großer Birnbäume. Diese Art von Wald hatte +etwas sehr Anmutiges.« + +»>Ich darf allein nicht zu dem Teiche gehen<, sagte Alfred, >weil ich +leicht hinein fallen könnte, und ich gehe auch nicht hin; aber weil du +heute bei mir bist, so dürfen wir ihn besuchen. Komme mit, ich habe +Brot bei mir, um es den Enten und den Fischen zu geben.<« + +»Er faßte mich bei der Hand, und ich ließ mich von ihm führen. Er +geleitete mich durch ein kleines Gebüsch zu einem mäßig großen Teiche, +der das Merkwürdige hatte, daß auf ihm hölzerne Hüttchen in geringen +Entfernungen angebracht waren, die die Bestimmung hatten, daß darin +Wildenten nisteten. Das geschah auch reichlich. Es war noch nicht +so weit im Sommer, und wir sahen noch manche Mutter mit ihren fast +erwachsenen, aber noch nicht flugfähigen Jungen auf dem Wasser +herumschwimmen. An den Ufern waren an verschiedenen Stellen +Futterbrettchen angebracht. Im Wasser selber bewegte sich eine große +Zahl schwerfälliger Karpfen. Alfred zog ein Weißbrot aus seiner +Tasche, zerbrach es in kleine Stückchen, warf diese einzeln in das +Wasser und hatte seine Freude daran, wenn die Enten und auch manch +ungeschickter Mund eines Karpfen darnach haschten. Es schien, daß er +mich dieses Zweckes halber zu dem Teiche geführt hatte. Als er mit +seinem Brote fertig war, gingen wir weiter. Er sagte: >Wenn du auch +den Garten sehen willst, so werde ich dich schon hinführen.<« + +»>Ja, wohl will ich ihn sehen<, antwortete ich.« + +»Er führte mich nun aus dem Gebüsche, wir begaben uns auf die +entgegengesetzte Seite des Hauses, dort war ein mit einem Gitter +umgebener großer Garten, und wir gingen durch das Tor desselben +hinein. Blumen, Gemüse, Zwerg- und Lattenobst empfingen uns. In der +Ferne sah ich die größeren und wahrscheinlich sehr edlen Obstbäume +stehen. Daß mir der Garten um viel mehr gefiel als der Teich, sagte +ich Alfred nicht, er mochte es auch nicht wissen. In sehr schöner Art +waren hier die Blumen gepflegt, die man gewöhnlich in Gärten findet. +Sie hatten nicht bloß ihre ihnen zusagenden Plätze, sondern sie waren +auch zu einem sehr schönen Ganzen zusammengestellt. An Gemüsen glaubte +ich die besten Arten zu sehen, wie man sie nur immer in den Handlungen +der Stadt finden konnte. Zwischen ihnen stand das Zwergobst. Die +Gewächshäuser enthielten Blumen, aber auch Früchte. Ein sehr langer +Gang, welcher mit Wein überwölbt war, führte uns in den Obstgarten. +Die Bäume standen in guten Entfernungen, waren gut gehalten, hatten +Grasboden unter sich, und es führten auch hier wieder Wege von einem +zum andern. An seiner rechten Seite war dieser Gartenteil von dichtem +Haselnußgebüsche begrenzt. Ein Pfad führte uns durch dasselbe +hindurch. Wir trafen jenseits einen freien Platz, auf welchem ein +ziemlich großes Gartenhaus stand. Es war gemauert, hatte hohe Fenster, +ein Ziegeldach und seine Gestalt war ein Sechseck. Die Außenseite +dieses Hauses war ganz mit Rosen überdeckt. Es waren Latten an dem +Mauerwerke angebracht und an diese Latten waren die Rosenzweige +gebunden. Sie standen in Erde vor dem Hause, hatten verschiedene Größe +und waren so gebunden, daß die ganzen Mauern überdeckt waren. Da eben +die Zeit der Rosenblüte war und diese Rosen außerordentlich reich +blühten, so war es nicht anders, als stände ein Tempel von Rosen da +und es wären Fenster in dieselben eingesetzt. Alle Farben, von dem +dunkelsten Rot, gleichsam Veilchenblau, durch das Rosenrot und Gelb +bis zu dem Weiß, waren vorhanden. Bis in eine große Entfernung +verbreitete sich der Duft. Ich stand lange vor diesem Hause, und +Alfred stand neben mir. Außer den Rosen an dem Gartenhause waren +auf dem ganzen Platze Rosengesträuche und Rosenbäumchen in Beeten +zerstreut. Sie waren nach einem sinnvollen Plane geordnet, das zeigte +sich gleich bei dem ersten Blicke. Alle Stämmchen trugen Täfelchen mit +ihrem Namen.« + +»>Das ist der Rosengarten<, sagte Alfred, >da sind viele Rosen, es +darf aber keine abgepflückt werden.<« + +»>Wer pflanzt denn diese Rosen und wer pflegt sie?< fragte ich.« + +»>Der Vater und die Mutter<, antwortete Alfred, >und der Gärtner muß +ihnen helfen.<« + +»Ich ging zu allen Rosenbeeten, und ging dann um das ganze Haus herum. +Als ich alles betrachtet hatte, gingen wir auch in das Haus hinein. +Es war mit Marmor gepflastert, auf dem feine Rohrmatten lagen. In der +Mitte stand ein Tisch und an den Wänden Bänkchen, deren Sitze von Rohr +geflochten waren. Eine angenehme Kühle wehte in dem Hause; denn die +Fenster, durch welche die Sonne herein scheinen konnte, waren durch +gegliederte Balken zu schützen. Da wir wieder aus dem Innern dieses +Gartenhauses getreten waren, besuchten wir noch einmal den Obstgarten +und gingen bis an sein Ende. Da wir an das Gartengitter gekommen +waren, sagte Alfred: >Hier ist der Garten zu Ende und wir müssen +wieder umkehren.<« + +»Das taten wir auch, wir gingen wieder zu dem Eingangstore zurück, +durchschritten es, begaben uns in das Haus, und ich führte Alfred zu +seiner Mutter.« + +»Das war das Haus und der Garten in Heinbach, der Besitzung des Herrn +und der Frau Makloden.« + +»Der erste Tag verging sehr gut, so auch ein zweiter, ein dritter und +mehrere. Ich wohnte mich in meine zwei Zimmer ein, und die Stille des +Landes tat mir in meiner jetzigen Gemütsverfassung sehr wohl. Für +den Unterricht Alfreds war in der Art gesorgt, daß der Graf, dessen +Meiereien in der Nähe von Heinbach lagen, und ein Herr von Heinbach, +wie man Makloden jetzt auch nannte, eine Summe stifteten und dem +Lehrer der Gemeinde Heinbach zulegten unter der Bedingung, daß ein +in gewissen Fächern gebildeter Mann stets diese Stelle bekleide, +welchen sie in Vorschlag zu bringen das Recht hatten und der die +Verbindlichkeit übernahm, die Kinder des Hauses Heinbach und die des +Verwalters der Meiereien in ihren Wohnungen zu unterrichten, wofür er +aber besonders bezahlt wurde. Die Schule und die Kirche Heinbach waren +eine kleine halbe Wegstunde von dem Herrenhause entfernt. Der Lehrer +kam jeden Nachmittag herüber und blieb eine Zeit bei Alfred. Mathilde +wurde nur mehr in seltenen Stunden noch von ihm unterrichtet. Für +Alfred sollte ich die Art der Lehrstunden einrichten, was ich auch +im Übereinkommen mit dem Lehrer, der ein sehr bescheidener und nicht +ungebildeter junger Mann war, tat. Den Unterricht in gewissen Dingen, +jetzt vor allem den Sprachunterricht, behielt ich mir vor. So kam die +Sache in den Gang und so ging sie fort.« + +»Das Leben in Heinbach war wirklich sehr einfach. + +Man stand mit der Morgensonne auf, versammelte sich in dem +Speisezimmer zum Frühmahle, dem einiges Gespräch folgte, und ging dann +an seine Geschäfte. Die Kinder mußten ihre Aufgaben machen, von denen +Mathilde besonders von der Mutter manche in einigen Zweigen bekam. Der +Vater ging in seine Stube, las, schrieb oder er sah in dem Garten oder +in dem kleinen Grundbesitze nach, der zu dem Hause gehörte. Ich war +teils in meiner Wohnung mit meinen Arbeiten, die ich in der Stadt +begonnen hatte und hier fortsetzte, beschäftigt, teils war ich in +Alfreds Zimmer und überwachte und leitete, was er zu tun hatte. Die +Mutter stand mir hierin bei, und sie hielt es für ihre Pflicht, noch +mehr um Alfred zu sein als ich. Der Mittag versammelte uns wieder in +dem Speisezimmer, am Nachmittage waren Lehrstunden und der Rest des +Tages wurde zu Gesprächen, zu Spaziergängen, zum Aufenthalte im Garten +oder, besonders wenn Regenwetter war, zum gemeinschaftlichen Lesen +eines Buches benutzt. Was man im Freien tun konnte, wurde lieber im +Freien als in Zimmern abgemacht. Besonders war hiezu der Aufenthalt +unter den Linnendächern am Hause geeignet, den die Mutter sehr liebte. +Stundenlang war sie mit irgend einer weiblichen Arbeit und die Kinder +mit ihrem Schreibzeuge oder mit Büchern auf diesem Platze beschäftigt. +Dies war besonders der Fall, wenn die Vormittagssonne die Luft +durchwürzte und doch noch nicht so viel Kraft hatte, die Mauern zu +erhitzen und den Aufenthalt an ihnen zu verleiden. Auch wurden die +mannigfaltigen Bänkchen auf dem Rasenplatze, vor welche man Tischchen +stellte, und das Innere des Rosenhauses benützt. Zuweilen wurden +größere Spaziergänge verabredet. An solchen Tagen waren keine +Lehrstunden, man bestimmte die Zeit, in welcher fortgegangen +werden sollte, alle mußten gerüstet sein, und mit dem betreffenden +Glockenschlage wurde aufgebrochen. Wir besuchten zuweilen einen Berg, +einen Wald oder gingen durch schöne, ansprechende Gründe. Manches Mal +war es auch eine Ortschaft, in welche wir uns begaben. Um das Haus +lagen in geringen Entfernungen Besitztümer von Familien, mit denen +die Bewohner von Heinbach Umgang pflegten. Öfter fuhr ein Wagen vor +unserem Hause vor, öfter fuhr der unsere in die Nachbarschaft. Die +Kinder mischten sich zur Geselligkeit und ältere traten zusammen. Die +Mutter Alfreds sah es gerne, wie sie mir sagte, wenn eine Freundin +Mathildens bei ihr durch längere Zeit verweilte, sie aber konnte sich +nie entschließen, ihre Tochter zu anderen Leuten auf Besuch zu geben. +Sie wollte nicht getrennt sein. Auch, meinte sie, würde sich Mathilde +fern von ihr nicht wohl fühlen. Von Künsten wurde bei wechselseitigen +Besuchen vorzüglich die Musik geübt. Es war der Gesang, der gepflegt +wurde, das Clavier, und zu vierstimmigen Darstellungen die Geigen. Der +Vater Alfreds schien mir ein Meister auf der Geige zu sein. Wir hörten +solchen Vorstellungen zu. Wir Unbeschäftigten sahen aber auch sehr +gerne zu, wenn die Kinder auf dem Rasenplatze hüpften und sich in +ihren Spielen ergötzten. Bei alle dem besorgte die Mutter Alfreds +aber auch ihr ausgedehntes Hauswesen. Sie gab den Dienern und Mägden +hervor, was das Haus brauchte, sorgte für die richtige und zweckmäßige +Verwendung, leitete die Einkäufe und ordnete die Arbeiten an. Die +Bekleidung des Herrn, der Frau und der Kinder war sehr ausgezeichnet, +aber auch sehr einfach und wohlbildend. Nach dem Abendessen saß man +oft noch eine geraume Weile in Gesprächen bei dem Tische, und dann +suchte jedes sein Zimmer.« + +»So war eine Zeit vergangen, und so kam nach und nach der Herbst. Ich +lebte mich immer mehr in das Haus ein und fühlte mich mit jedem Tage +wohler. Man behandelte mich sehr gütig. Was ich bedurfte, war immer +da, ehe das Bedürfnis sich noch klar dargestellt hatte. Aber auch +nicht bloß das wurde hergestellt, was ich bedurfte, sondern auch das, +was zum Schmucke des Lebens geeignet ist. Blumen, die ich liebte, +wurden in Töpfen in meine Zimmer gestellt, ein Buch, ein neues +Zeichnungsgeräte fand sich von Zeit zu Zeit ein, und da ich einmal auf +mehrere Tage abwesend war, sah ich bei meiner Rückkehr meine Wohnung +mit Farben bekleidet, die ich einmal bei einem Besuche in einem +Nachbarschlosse sehr gelobt hatte. + +Bei Spaziergängen gesellte sich der Vater Alfreds gerne zu mir, wir +gingen abgesondert von den Andern und führten Gespräche, die mir in +dem, was er sagte, sehr inhaltreich schienen. Ebenso war die Mutter +Alfreds nicht ungeneigt, sich mit mir zu besprechen. Wenn ich in +Alfreds Zimmer war, das an das ihrige grenzte, kam sie gerne herein +und sprach mit mir, oder sie ließ mich in ihr Zimmer treten, wies mir +einen Sitz an und redete mit mir. Ich hatte ihr nach und nach alle +meine Familienverhältnisse erzählt, sie hatte teilnehmend zugehört und +hatte manches Wort gesprochen, das höchst wohltätig in meine Seele +ging. Alfred war mir gleich in den ersten Tagen zugetan, und diese +Neigung wuchs. Sein Wesen war nicht verbildet. Er war körperlich sehr +gesund, und dies wirkte auch auf seinen Geist, der nebstdem überall +von den Seinigen mit Maß und Ruhe umgeben war. Er lernte sehr genau +und lernte leicht und gut, er war folgsam und wahrhaftig. Ich wurde +ihm bald zugeneigt. Noch ehe der Winter kam, verlangte er, daß er +nicht mehr neben der Mutter, sondern neben mir wohnen solle, er sei ja +kein so kleiner Knabe mehr, daß er die Mutter immer brauche, und er +müsse nun bald neben den Männern sein. Man willfahrte ihm auf meine +Bitte, er bekam ein Zimmer neben mir, und der Diener, der bis jetzt +nebst andern meine Aufträge zu besorgen gehabt hatte, wurde uns +gemeinschaftlich beigegeben. Sein Körper entwickelte sich auch +ziemlich regsam, er war in dem Sommer gewachsen, sein Haupt war +regelmäßiger und sein Blick war stärker geworden.« + +»So endete der Herbst, und als bereits die Reife an jedem Morgen auf +den Wiesen lagen, zogen wir in die Stadt. Hier änderte sich Manches. +Alfred und ich wohnten wohl wieder neben einander; aber statt des +Himmels und der Berge und der grünen Bäume sahen Häuser und Mauern in +unsere Fenster herein. Ich war es von früherem Stadtleben gewohnt, und +Alfred achtete wenig darauf. Es wurden mehr Lehrer in mehr Fächern +genommen, und die Lehrstunden waren gedrängter als auf dem Lande. Auch +kamen wir mit viel mehr Menschen in Berührung und die Einwirkungen +vervielfältigten sich. Aber auch hier wurde ich nicht minder gut +behandelt als auf dem Lande. Ich wurde nach und nach zur Familie +gerechnet, und alles was überhaupt der Familie gemeinschaftlich +zukam, wurde auch mir zugeteilt. Die Mutter Alfreds sorgte für meine +häuslichen Angelegenheiten, und nur die Anschaffung von Kleidern, +Büchern und dergleichen war meine Sache.« + +»Als kaum die ersten Frühlingslüfte kamen, gingen wir wieder nach +Heinbach. Mathilde, Alfred und ich saßen in einem Wagen, der Vater +und die Mutter in einem anderen. Alfred wollte nicht von mir getrennt +sein, er wollte neben mir sitzen. Man mußte es daher so einrichten, +daß Mathilde uns gegenüber saß. Sie war, als ich das Haus betreten +hatte, noch nicht völlig vierzehn Jahre alt. Jetzt ging sie gegen +fünfzehn. Sie war in dem vergangenen Jahre bedeutend gewachsen, so +daß sie wohl so groß war wie ein vollendetes Mädchen. Ihr Körper war +äußerst schlank, aber sehr gefällig gebildet. Man kleidete sie gerne +in dunkle Stoffe, die ihr wohl standen. Wenn sie in dem tiefen Blau +oder in dem Nelkenbraun oder in der Farbe des Veilchens ging und das +schöne Weiß das Kleid oben säumte, so wurde eine Anmut sichtbar, die +gleichsam sagte, daß alles sei, wie es sein muß. Ihre Wangen waren +sehr frisch, sanft rot und wurden jetzt ein wenig länglich, ihr Mund +war fast rosenrot, die großen Augen waren sehr glänzend schwarz, und +die reinen braunen Haare gingen von der sanften Stirne zurück. Die +Mutter liebte sie sehr, sie ließ sie fast gar nicht von sich, sprach +mit ihr, ging mit ihr spazieren, unterrichtete sie auf dem Lande +selber und wohnte in der Stadt jeder Unterrichtsstunde bei, die ein +fremder Lehrer erteilte. Nur mit mir und Alfred ließ sie sie im +vergangenen Sommer oft im Garten auf dem Rasenplatze, ja sogar in +der Gegend herum gehen. Da ging ich mit beiden Kindern, fragte sie, +erzählte ihnen, ließ mich selber fragen und ließ mir erzählen. Alfred +hielt mich größtenteils an der Hand oder suchte sich überhaupt +irgendwie an mich anzuhängen, sei es selbst mit einem Hakenstäbchen, +das er sich von irgend einem Busche geschnitten hatte. Mathilde +wandelte neben uns. Ich hatte nur den Auftrag, zu sorgen, daß sie +keine heftigen Bewegungen mache, welche an sich für ein Mädchen nicht +anständig sind und ihrer Gesundheit schaden könnten, und daß sie nicht +in sumpfige oder unreine Gegenden komme und sich ihre Schuhe oder ihre +Kleider beschmutze; denn man hielt sie sehr rein. Ihre Kleider mußten +immer ohne Makel sein, ihre Zähne, ihre Hände mußten sehr rein sein, +und ihr Haupt und ihre Haare wurden täglich so vortrefflich geordnet, +daß kein Tadel entstehen konnte. Ich zeigte den Kindern die Berge, +die zu sehen waren, und nannte sie, ich lehrte sie die Bäume, die +Gesträuche und selbst manche Wiesenpflanzen kennen, ich las ihnen +Steinchen, Schneckenhäuschen, Muscheln auf und erzählte ihnen von dem +Haushalte der Tiere, selbst solcher, die groß und mächtig sind und in +entfernten Wäldern oder gar in Wüsten wohnen. Alfred liebte das Walten +und das Tun der Vögel sehr, besonders ihren Gesang. Er freute sich, +aus dem Fluge einen Vogel zu erraten, und wenn die Stimmen in dem +Gebüsche oder im Walde ertönten, konnte er alle die Sänger herzählen, +von denen sie strömten. Er lehrte dies ein wenig auch Mathilden +und fragte sie bei manchem Laute, woher er rühre. Ich hatte die +Vorschriften der Mutter nie überschritten, und Mathilde gewann an +Schönheit des Aussehens und an Gesundheit durch diese Spaziergänge. +So wie die Mutter im Sommer und Herbste sie mit uns hatte herum gehen +lassen, so ließ sie sie jetzt mit uns fahren. Sie saß zwei Tage uns +gegenüber. Es war am Morgen und Abende noch ziemlich kühl. Ich hatte +einen Mantel, und Alfred war in einen warmen Überrock geknöpft. +Mathilde hatte über ihr dunkles Wollkleid, aus dem nicht einmal die +Spitzen ihrer Schuhe hervorsahen, ein Mäntelchen, das ihren ganzen +Oberkörper bis an das Kinn verhüllte, auf dem Haupte hatte sie +einen warmen, wohlgefütterten Hut, dessen weite Flügel sich wohl +anschmiegten, so daß nichts, als beinahe nur die Wangen, welche in +der Märzluft noch röter geworden waren, und die glänzenden Augen +hervorsahen. Wir beredeten, was wir in dem nächsten Sommer vornehmen +wollten. Der Hauptinhalt unserer Gespräche aber war, daß alles, was +uns auf unserem Wege oder in dessen Nähe begegnete, bemerkt wurde, daß +wir es nannten und darüber sprachen. So kamen wir endlich bei heiterem +und klarem Märzwetter in Heinbach an. Die Bäume vor den Fenstern +hatten noch kein Laub, der Garten war öde und die Felder waren noch +nicht grün, außer dort, wo sie die Wintersaaten trugen.« + +»Obwohl es draußen sehr unwirtlich war, wenn man den äußerst +freundlichen blauen Himmel abrechnet, so war es in dem Hause sehr +heimisch. Alles war auf das Reinlichste geputzt und zu dem Empfange +der Bewohner hergerichtet. Die Zimmer glänzten, die Fenster +spiegelten, durch die Vorhänge schien eine helle Märzsonne herein und +in den Kaminen brannte ein behagliches Feuer. Meine zwei Gemächer +waren um ein sehr liebliches Eckzimmerchen vermehrt worden, und man +hatte mir schönere und bequemere Geräte in meine Wohnung gestellt. +Ich traf jetzt die Veranstaltung, daß die Tür von meiner Wohnung in +Alfreds Zimmer immer offen war, daß beide Wohnungen eine bildeten und +daß ich gleichsam neben einem jüngeren Bruder lebte. Hatte ich eine +Arbeit vor, bei der eine Störung hindernd gewesen wäre, so ging ich in +mein Eckzimmer.« + +»Das Leben in dem Landhause begann jetzt wieder wie in dem vorigen +Sommer. Wenn auch noch kein Laub auf den Bäumen war, wenn sich das +Grün der Wiesen noch dürftig zeigte und auf den Feldern für die +Sommerfrucht noch die nackte Scholle lag, so gingen wir doch schon +vielfach spazieren. Alfred und ich gingen täglich, selbst wenn trübes +Wetter war, nur nicht, wenn heftiger Regen von dem Himmel strömte. +Wenn nach einem klaren Morgen, an dem wir noch die Erde und die Dächer +weiß gesehen hatten, ein heiterer Tag kam und die Wege trocken waren, +ging Mathilde mit uns, und wir führten sie auf Anhöhen oder Felder, wo +wir kurz vorher die schönsten Triller der Lerchen gehört hatten. Diese +Sänger waren die einzigen, die mit uns schon die Gegend bevölkerten.« + +»Nach und nach wurde das Weiß auf Feld und Wiesen seltener, die Sonne +schien kräftiger, das Feuer in den Kaminen war nicht mehr nötig, +die Wiesen gewannen Grün, die Bäume Knospen und an den Zweigen der +Lattenpfirsiche im Garten erschienen einzelne Blüten. Die Sänger +der Luft erschienen in verschiedenen Gestalten und Farben. Wenn ich +irgendwo Veilchen oder andere Frühlingsblumen fand, welche Mathilde +nicht mit uns hatte pflücken können, so brachte ich sie ihr in einem +Strauße für das Blumenglas ihres Tischchens nach Hause. Als Dank für +solche Aufmerksamkeiten erhielt ich zu meinem Geburtsfeste, welches in +die ersten Tage des Frühlings fiel, von ihrer Hand gestickt ein rundes +Deckchen, worauf ein silberner Handleuchter, den mir Mathildens Mutter +gab, zu stehen bestimmt war.« + +»Der Frühling war endlich mit voller Pracht gekommen. Im vergangenen +Jahre hatte ich ihn in dieser Gegend nicht gesehen, weil ich erst +später angelangt war. Überhaupt hatte ich meines längern Stadtlebens +willen schon lange nicht einen vollkommenen Frühling in der Tiefe des +Landes erblickt. Nur an der Grenze des Landes, das heißt, wo es an die +Stadt reicht, hatte ich den einen oder andere Frühlingstag zugebracht +oder irgend einen Sonnenblick erlauscht. Das teilt man aber mit +Vielen, die aus der Stadt hinaus kommen, und muß es im Gedränge und +Staube genießen. In Heinbach war Einsamkeit und Stille, die blaue Luft +schien unermeßlich, und die Blütenfülle wollte die Bäume erdrücken. +Jeden Morgen strömte neue Würze durch die geöffneten Fenster. Man +fühlte in Heinbach, wie sehr mich Ungewohnten dieser Reichtum +überrasche und freue, und man suchte mir diese Freude auf jede Weise +noch fühlbarer zu machen und sie zu erhöhen. Jeden Tag wurden die +Blumen in meiner Wohnung durch neu aufgeblühte aus den Gewächshäusern +ersetzt. Wenn in dem freien Grunde sich etwas zeigte, sei es ein +Gesträuch, sei es eine Blume, so machte man mich darauf aufmerksam, +man brachte den größten Teil der Zeit im Freien zu, und machte weit +öfter und weit längere Spaziergänge als sonst. Mathilde erzählte +mir es, wenn sie den Gesang eines Vogels gehört hatte, wenn Faltern +vorüber geflogen waren, wenn sich ein Becher in einem Gebüsche +geöffnet hatte, ja sie gab mir zuweilen Blumen, um sie in meiner +Wohnung aufzubewahren.« + +»So verging der Frühling, und der Sommer rückte vor. + +War mir das Leben im vergangenen Jahre in dieser Familie angenehm +gewesen, so war es mir in diesem noch angenehmer. Wir gewöhnten uns +immer mehr an einander, und mir war zuweilen, als hätte ich wieder +eine unzerstörbare Heimat. Der Herr des Hauses zeichnete mich aus, er +besuchte mich oft in meiner Wohnung und sprach lange mit mir, er lud +mich zu sich, zeigte mir seine Sammlungen, seine Arbeiten und sprach +über Gegenstände, die bewiesen, daß er mich auch achte. Mathildens +Mutter war sehr liebreich, freundlich und gütig. Sie sorgte wie früher +für mich; aber sie tat es einfacher und fast wie ein Ding, das sich +von selber verstehe. Wir waren oft alle in ihrem Zimmer und spielten +ein kindisches Spiel oder trieben Musik. Alfred hatte gleich Anfangs +schon viel Zutrauen zu mir gezeigt, dieses Zutrauen war immer +gewachsen und war dann unbedingt geworden. Er war ein vortrefflicher +Knabe, offen, klar, einfach, gutmütig, lebendig, ohne doch einem +heftigen Zorne anheimzufallen, heiter, unschuldig und folgsam. Er war +jetzt gegen neun Jahre alt, entwickelte sich stets fröhlicher und +gewann am Geiste sowie am Körper. Mathilde wurde immer herrlicher, +sie war zuletzt feiner als die Rosen an dem Gartenhause, zu denen wir +sehr gerne gingen. Ich liebte beide Kinder unsäglich. Wenn Alfred +Unterrichtsstunde hatte, war ich dabei und leitete und überwachte sie, +ich überwachte sein Lernen und fragte ihn immer um das Gelernte, damit +er sich bei dem Lehrer keine Blöße gebe. Die Gegenstände, die ich mit +ihm vornahm, vermehrte ich ansehnlich, ich suchte sie ihm recht gut +beizubringen, und er lernte sie auch besser als früher bei andern +Lehrern. Vater und Mutter waren oft bei dem Unterrichte zugegen und +überzeugten sich von den Fortschritten. Mathilde nahm ich nicht nur +sehr gerne, sondern viel lieber als früher zu unsern Spaziergängen +mit. Ich sprach mit ihr, ich erzählte ihr, ich zeigte ihr Gegenstände, +die an unserm Wege waren, hörte ihre Fragen, ihre Erzählungen und +beantwortete sie. Bei rauhen Wegen oder wo Nässe zu befürchten war, +zeigte ich ihr die besseren Stellen oder die Richtungen, auf denen man +trockenen Fußes gehen konnte. Zu Hause nahm ich an ihren Bestrebungen +Anteil. Ich sah öfter ihre Zeichnungen an und gab ihr einen Rat, den +sie sehr gerne verlangte und befolgte. Sie freute sich sehr, wenn das +Veränderte dann viel besser aussah. Ich war dabei, wenn sie auf dem +Claviere spielte, und hörte zu, so lange ihre Finger aus den Saiten +die Töne hervor zu locken suchten. Ich schrieb ihr in Hefte sehr +zierlich ab, wenn sie irgendwo einen Gesang hörte und sich denselben +aus dem Gedächtnisse in Musiknoten aufschrieb. Dies war besonders in +Hinsicht der Zither der Fall, die sie spielen zu lernen angefangen +hatte, die sie sehr liebte und auf der sie bedeutende Fortschritte +machte. Oft hörte die Mutter Mathildens mit Aufmerksamkeit zu, wenn +sie anmutige Weisen aus den Metallsaiten hervorbrachte, und ich und +Alfred regten uns nicht und lauschten. Ich las ihr und der Mutter aus +ihren Büchern vor und bezeichnete schöne Stellen durch eingelegte +Zeichen. Auch Blumen, Waldfrüchte und dergleichen brachte ich ihr, +wenn ich dachte, daß sie ihr Freude machen könnten.« + +»Der Sommer war beinahe vergangen und der Herbst stand bevor. Wir +hatten so viel getan, daß uns die Zeit sehr kurz schien. Wir waren uns +auch genug, um unsere Stunden zu erfüllen. Wenn fremde Kinder zugegen +waren, wenn Spiele veranstaltet waren und alle auf dem heiteren Rasen +hüpften und sprangen, stand Mathilde seitwärts und sah teilnahmslos +zu. Wir fuhren auch nicht so oft in die Nachbarschaft wie im +vergangenen Jahre, und verlangten es auch nicht.« + +»Eines Tages nachmittags standen wir drei an dem Ausgange des langen +Laubenweges, der mit Reben bekleidet ist und zu dem Obstgarten führt. +Mathilde und ich standen ganz allein an der Mündung des Laubganges, +Alfred war unter den Bäumen damit beschäftigt gewesen, einige +Täfelchen, die an den Stämmen hingen und schmutzig geworden waren, zu +reinigen, dann las er abgefallenes halbreifes Obst zusammen, legte +es in Häufchen und sonderte das bessere von dem schlechteren ab. Ich +sagte zu Mathilden, daß der Sommer nun bald zu Ende sei, daß die Tage +mit immer größerer Schnelligkeit kürzer werden, daß bald die Abende +kühl sein würden, daß dann dieses Laub sich gelb färben, daß man die +Trauben ablesen und endlich in die Stadt zurückkehren würde.« + +»Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe.« + +»Ich sagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar so schön sei und +daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden.« + +»>Es ist wirklich sehr schön<, antwortete sie, >hier sind wir alle +viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird +getrennt und es ist, als wäre man in eine andere Ortschaft gereist. Es +ist doch das größte Glück, Jemanden recht zu lieben.<« + +»>Ich habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr<, +erwiderte ich, >und ich weiß daher nicht, wie es ist.<« + +»>Man liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister<, sagte sie, >und +andere Leute.<« + +»>Mathilde, liebst du denn auch mich?< erwiderte ich.« + +»Ich hatte sie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte +in den Mund kamen, es war, als wären sie mir durch eine fremde Macht +hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: >Gustav, +Gustav, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist.<« + +»Mir brachen die heftigsten Tränen hervor.« + +»Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund +und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und +drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie +nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte.« + +»Von jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer, als dieses +süße Kind.« + +»Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend +in unsäglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des +Weinlaubes, und als sich, da sie den süßen Atem zog, ihr Busen hob und +senkte, war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir, sondern +eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fühlte +mich beklommen.« + +»Nach einer Weile sagte ich: >Teure, teure Mathilde.<« + +»>Mein teurer, teurer Gustav<, antwortete sie.« + +»Ich reichte ihr die Hand und sagte: >Auf immer, Mathilde.<« + +»>Auf ewig<, antwortete sie, indem sie meine Hand faßte.« + +»In diesem Augenblicke kam Alfred auf uns herzu. Er bemerkte nichts. +Wir gingen schweigend neben ihm in dem Gange dahin. Er erzählte uns, +daß die Namen der Bäume, die auf weiße Blechtäfelchen geschrieben +sind, welche Täfelchen an Draht von dem untersten Aste jedes Baumes +hernieder hängen, von den Leuten oft sehr verunreinigt würden, daß man +sie alle putzen solle, und daß der Vater den Befehl erlassen sollte, +daß ein jeder, der einen Baum wäscht, putzt oder dergleichen oder der +sonst eine Arbeit bei ihm verrichtet, sich sehr in Acht zu nehmen +habe, daß er das Täfelchen nicht bespritzt oder sonst eine +Unreinigkeit darauf bringt. Dann erzählte er uns, daß er schöne +Borsdorfer Äpfel gefunden habe, welche durch einen Insektenstich zu +einer früheren, beinahe vollkommenen Reife gediehen seien. Er habe sie +am Stamme des Baumes zusammengelegt und werde den Vater bitten, sie zu +untersuchen, ob man sie nicht doch brauchen könne. Dann seien viele +andere, welche vor der Zeit abfielen, weil die Bäume heuer mit zu viel +Obst beladen wären und ihre Kraft nicht genug ist, alle zur Reife zu +bringen. Diese habe er auch zusammengelegt, so viele er in der ersten +Baumreihe habe finden können. Sie werden wohl zu gar nichts tauglich +sein. Er freue sich schon sehr auf den Herbst, wo man alles das +herabnehmen werde und wo auch die schönen roten, blauen und goldgrünen +Trauben von diesem Ganggeländer heruntergelesen werden würden. Es sei +gar nicht mehr lange bis dahin.« + +»Wir sprachen nicht und gingen einige Male in dem Gange mit ihm hin +und wider.« + +»Die große Erregung hatte sich ein wenig gelegt, und wir gingen in das +Haus. Ich ging aber nicht mit Mathilden zu ihrer Mutter, wie ich sonst +immer getan hatte, sondern nachdem ich Alfred in sein Zimmer geschickt +hatte, schweifte ich durch die Büsche herum und ging immer wieder auf +den Platz, von welchem ich die Fenster sehen konnte, innerhalb welcher +die teuerste aller Gestalten verweilte. Ich meinte, ich müsse sie +durch mein Sehnen zu mir herausziehen können. Es war erst ein +Augenblick, seit wir uns getrennt hatten, und mir erschien es so +lange. Ich glaubte, ohne sie nicht bestehen zu können, ich glaubte, +jede Zeit sei ein verlornes Gut, in welcher ich das holde, schlanke +Mädchen nicht an mein Herz drückte. Ich hatte früher nie irgend +ein Mädchen bei der Hand gefaßt als meine Schwester, ich hatte nie +mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick +gewechselt. Dieses Gefühl war jetzt wie ein Sturmwind über mich +gekommen. Ich glaubte sie durch die Mauern in ihrem Zimmer gehen +sehen zu müssen mit dem langen kornblumenblauen Kleide, mit den +glanzvollen Augen und dem rosenherrlichen Munde. Es bewegte sich der +Fenstervorhang, aber sie war nicht an demselben; es schimmerte an dem +Glase wie von einem rosigen Angesichte, aber es war nur ein schiefes +Hereinleuchten der beginnenden Abendröte gewesen. Ich ging wieder +durch die Büsche, ich ging durch den Weinlaubengang in den Obstgarten, +der Weinlaubengang war mir jetzt ein fremdwichtiges Ding, wie +ein Pallast aus dem fernsten Morgenlande. Ich ging durch das +Haselnußgebüsch zu dem Rosenhause, es war, als blühten und glühten +alle Rosen um das Haus, obwohl nur die grünen Blätter und die Ranken +um dasselbe waren. Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurück und +ging auf den Platz, von dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie +beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich +erblickt hatte, fuhr sie zurück. Auch mir war es gewesen, da ich die +holde Gestalt sah, als hätte mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich +ging wieder in die Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine +Strecke Rasen säumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im +Schatten ruhen zu können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück. +Dann ging ich wieder auf ein Fleckchen Rasen und sah gegen die +Fenster. Sie beugte sich wieder heraus. Dies taten wir ungezählte +Male, bis der Flieder in dem Rot der Abendröte schwamm und die Fenster +wie Rubinen glänzten. Es war zauberhaft, ein süßes Geheimnis mit +einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein und es als Glut im +Herzen zu hegen. Ich trug es entzückt in meine Wohnung.« + +»Als wir zum Abendessen zusammen kamen, fragte mich Mathildens Mutter: +>Warum seid ihr denn heute, da ihr mit den Kindern aus dem Garten +zurückgekehrt waret, nicht mehr zu mir gegangen?<« + +»Ich vermochte auf diese Frage nicht ein Wort zu antworten; es wurde +aber nicht beachtet.« + +»Ich schlief in der ganzen Nacht kaum einige Augenblicke. Ich freute +mich schon auf den Morgen, an dem ich sie wieder sehen würde. Wir +trafen alle in dem Speisesaale zu dem Frühmahle zusammen. Ein Blick, +ein leichtes Erröten sagte alles, sie sagten, daß wir uns besaßen +und daß wir es wußten. Den ganzen Morgen brachte ich mit Alfred +im eifrigen Lernen zu. Gegen Mittag, als Gräser und Laubblätter +getrocknet waren, gingen wir in den Garten. Mathilde flog mit einem +Buche, in dem sie eben gelesen hatte, aus dem Hause, sie eilte auf uns +zu, und wir tauschten den Blick der Einigung. Sie sah mich innig an, +und ich fühlte, wie meine Empfindung aus meinen Augen strömte. Wir +gingen durch den Blumengarten und durch den Gemüsegarten auf den +Weinlaubengang zu. Es war, als hätten wir uns verabredet, dorthin +zu gehn. Mathilde und ich sprachen gewöhnliche Dinge, und in den +gewöhnlichen Dingen lag ein Sinn, den wir verstanden. Sie gab mir ein +Weinblatt, und ich verbarg das Weinblatt an meinem Herzen. Ich reichte +ihr ein Blümchen, und sie steckte das Blümchen in ihren Busen. Ich +nahm ihr das Papierstreifchen, welches als Merkmal in ihrem Buche +steckte, und behielt es bei mir. Sie wollte es wieder haben, ich +gab es nicht, und sie lächelte und ließ es mir. Wir kamen in das +Haselgebüsch, durchstreiften es und traten vor die Rosen des +Gartenhauses. Sie nahm einige welke Blätter ab und reinigte dadurch +den Zweig. Ich tat das Nehmliche mit dem Nachbarzweige. Sie gab mir +ein grünes Rosenblatt, ich knickte einen zarten Zweig, was eigentlich +nicht erlaubt war, und gab ihr den Zweig. Sie wendete sich einen +Augenblick ab, und da sie sich wieder uns zugewandt, hatte sie den +Rosenzweig bei sich verborgen. Wir gingen in das Gartenhaus, sie +stand an dem Tische und stützte sich mit ihrer Hand auf die Platte +desselben. Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach einigen +Augenblicken hatten sich unsere Finger berührt. Sie stand wie eine +feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer +hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine schwierige +Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu stützen oder sie +auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fürchteten wir, uns die Hände +zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. Es ist nicht +zu sagen, woher es kommt, daß vor einem Herzen die Erde, der Himmel, +die Sterne, die Sonne, das ganze Weltall verschwindet, und vor dem +Herzen eines Wesens, das nur ein Mädchen ist und das Andere noch ein +Kind heißen. Aber sie war wie der Stengel einer himmlischen Lilie +zaubervoll, anmutsvoll, unbegreiflich.« + +»Wir gingen wieder in das Haus, und wir gingen, ehe wir zu dem +Mittagessen gerufen wurden, zu der Mutter. Bei der Mutter waren +wir stiller und wortarmer als gewöhnlich. Mathilde suchte sich ein +Papierstreifchen und legte es wieder an jener Stelle in das Buch, wo +ich ihr das Merkzeichen herausgenommen hatte. Dann setzte sie sich zu +dem Claviere und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred erzählte, +was wir in dem Garten getan hatten und berichtete der Mutter, daß wir +verdorrte und unbrauchbare Blätter von den Rosenzweigen, die an den +Latten des Gartenhauses angebunden sind, herabgenommen hätten. + +Hierauf wurden wir zu dem Mittagessen gerufen. Nachmittag war kein +Spaziergang. Die Eltern gingen nicht, und ich schlug Alfred und +Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines Lieblingsdichters, las +sehr lange, und feurige Tränen wie heiße Tropfen kamen öfter in meine +Augen. Später saß ich auf der Bank in dem Fliedergebüsche und schaute +zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung Mathildens. Dort stand +manches Mal das Mädchen, das so schön wie ein Engel war, an dem +Fenster. Gegen den Abend spielte Mathilde in dem Zimmer der Mutter auf +dem Claviere sehr ernst, sehr schön und sehr ergreifend. Dann nahm sie +noch die Zither und spielte auf derselben ebenfalls. Die Saiten mußten +sie so ergriffen haben, daß sie nicht aufhören konnte. Sie spielte +immer fort, und die Töne wurden immer rührender und ihre Verbindung +immer natürlicher. Die Mutter lobte sie sehr. Der Vater, welcher in +einem Geschäfte in der nächsten kleinen Stadt gewesen war, kam endlich +auch zur Mutter, und wir blieben in dem Zimmer derselben, bis wir zu +dem Abendessen gerufen wurden. Der Vater nahm Mathilden an den Arm und +führte sie zärtlich in den Speisesaal.« + +»Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben +war ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß +wir unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie +geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor +Alfred und vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber +gaben und die wie von selber auf die Lippen kamen, machten sie wir uns +gegenseitig kund. Tausend Fäden fanden sich, an denen unsere Seelen zu +einander hin und her gehen konnten. + +Wenn wir in dem Besitze von diesen tausend Fäden waren, so fanden sich +wieder tausend und mehrten sich immer. Die Lüfte, die Gräser, die +späten Blumen der Herbstwiese, die Früchte, der Ruf der Vögel, die +Worte eines Buches, der Klang der Saiten, selbst das Schweigen waren +unsere Boten. Und je tiefer sich das Gefühl verbergen mußte, desto +gewaltiger war es, desto drängender loderte es in dem Innern. Auf +Spaziergänge gingen wir drei, Mathilde, Alfred und ich, jetzt weniger +als sonst, es war, als scheuten wir uns vor der Anregung. Die Mutter +reichte oft den Sommerhut und munterte auf. Das war dann ein großes, +ein namenloses Glück. Die ganze Welt schwamm vor den Blicken, wir +gingen Seite an Seite, unsere Seelen waren verbunden, der Himmel, die +Wolken, die Berge lächelten uns an, unsere Worte konnten wir hören, +und wenn wir nicht sprachen, so konnten wir unsere Tritte vernehmen, +und wenn auch das nicht war, oder wenn wir stille standen, so wußten +wir, daß wir uns besaßen, der Besitz war ein unermeßlicher, und wenn +wir nach Hause kamen, war es, als sei er noch um ein Unsägliches +vermehrt worden. Wenn wir in dem Hause waren, so wurde ein Buch +gereicht, in dem unsere Gefühle standen, und das Andere erkannte die +Gefühle, oder es wurden sprechende Musiktöne hervorgesucht, oder es +wurden Blumen in den Fenstern zusammengestellt, welche von unserer +Vergangenheit redeten, die so kurz und doch so lang war. Wenn wir +durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er +in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem +Haselgebüsche war als wir, wenn er uns in dem Innern des Gartenhauses +allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren, konnten uns +die Hand reichen oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen +Augenblick halten, die heißen Lippen an einander drücken und die Worte +stammeln: >Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und +nur dein, nur dein allein!<« + +»>O ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein und nur dein +allein.<« + +»Diese Augenblicke waren die allerglückseligsten.« + +»So war der tiefe Herbst gekommen. Wir hatten in dem Reste des Sommers +ein Äußeres nicht vermißt. Mathilde und Alfred hatten immer weniger +verlangt, in die Nachbarschaft zu fahren, und so war es gekommen, daß +auch die Eltern weniger fuhren und daß auch Fremde weniger zu uns +kamen. Wenn sie aber da waren, wenn auch Alfred an den Spielen und +Ergötzungen der Kinder Teil nahm, so war Mathilde doch teilnahmloser +als je. Sie hielt sich ferne, wie eine, die nicht hieher gehört. Auch +in ihrem körperlichen Wesen war in dieser kurzen Zeit eine große +Veränderung vorgegangen. Sie war stärker geworden, ihre Wangen waren +purpurner, ihre Augen glänzender geworden. + +Alfred liebte mich sehr. Neben seinen Eltern und seiner Schwester +liebte er vielleicht nichts so sehr als mich, und ich vergalt es ihm +mit ganzer Seele.« + +»Der späte Herbst war endlich dem Beginne des Winters gewichen. Wie +wir sehr früh von der Stadt auf das Land gingen, so blieben wir auch +sehr tief in die sinkende Jahreszeit hinein auf demselben. Alfreds +Erwartung war in Erfüllung gegangen. Das Obst und die Trauben waren +abgenommen worden. Auf den Zweigen der Bäume war kein Blatt mehr, und +der Nebel und der Frost zogen sich durch die Gründe des Tales. Da +gingen wir in die Stadt. Dort war Mathilde enger umgrenzt. Lehrer, +Erziehungsstunden, Unterricht, Arbeiten drängten sich an sie heran. +Ihr ganzes Wesen aber war begeisterter und getragener, und ich +erschien mir reich, um Vieles reicher als die Besitzer all der Häuser, +der Palläste und des Glanzes der ungeheuren Stadt. Wir konnten uns nur +seltener sprechen; aber wenn sie mir auf dem Gange begegnete, wenn sie +mir in dem Zimmer der Mutter einige Worte sagen konnte, wenn in der +Menge das Geschick uns an einander vorüberführte oder wenn uns ein +anderer geistiger Augenblick gegeben war, dann sagten mir ihre schönen +Augen, dann sagten einige Worte, wie sehr wir uns liebten, wie +unveränderlich diese Liebe sei und wie unbegrenzt unsere Seelen +einander beherrschten. Sie wurde jetzt auch von andern Leuten bemerkt, +und junge Männer richteten ihre Augen auf sie; aber wenn man ihr +entgegen kam, wenn ihr gehuldigt wurde, wenn man sie in einer Familie +feierte, so war sie ganz ruhig gegen diese Dinge, setzte ihnen gar +keine Äußerung entgegen, und ihr engelschönes Wesen sagte mir, es +sagte es nur von mir verstanden, daß sie mit ihrer wundervollen +Gestalt, mit der Wärme ihrer Seele und dem Glanz ihres Aufblühens nur +mich beglücke, und daß es ihr Wonne mache, mich beglücken zu können. +Oft, wenn ich von weiten Gängen in der Stadt zurückkehrte und zu dem +Hause kam, in welchem wir wohnten, blieb ich stehen und betrachtete +das Haus. Es war merkwürdiger, es war gefeit worden vor den Häusern +der Stadt, und mit Rührung sah ich auf die Mauern, innerhalb welcher +das Wesen wohnte, das von überirdischen Räumen gekommen war, meine +Seele zu erfüllen. Mathilde sah die Vergötterung, welche ich ihr +weihte, sie sah dieselbe genau auf den geheimen Wegen, auf denen ich +ihre Liebe erkannte, und Freude leuchtete darüber von ihrer Stirne, +welche gleichfalls nur von mir gesehen wurde. Die Eltern Mathildens +fingen auch an, sie in vorzüglichere Stoffe zu kleiden, als sie bisher +getan hatten, und wenn sie mit edlen Gewändern angetan vor mir stand, +kam sie mir ferner und näher, fremder und angehöriger vor als sonst.« + +»Eines Tages, als ich über die Treppe unsers Hauses, welches nur von +unserer Familie allein bewohnt wurde, herabging, um einen Freund zu +besuchen, begegnete mir Mathilde. Sie war mit der Mutter an das Haus +gefahren, die Mutter war in dem Wagen sitzen geblieben, sie aber +sollte hinaufgehen, um irgend etwas zu holen. Sie war in schwarze +Seide gekleidet, ein seidenes Mäntelchen war um ihre Schultern, und +aus dem Hute mit dem grünen Flore sah das blühende, durch die Kälte +erfrischte Angesicht hervor. Da wir uns hinter einer Biegung der +Treppe begegneten, wurde sie dunkelglühend. Ich erschrak und sagte +aber: >O Mathilde, Mathilde, du himmelvolles Wesen, alle streben sie +nach dir, wie wird das werden, o wie wird das werden?!<« + +»>Gustav, Gustav<, antwortete sie, >du bist der trefflichste von +allen, du bist ihr König, du bist der Einzige, alles ist gut und +herrlich, und Millionen Kräfte sollen es nicht zerreißen können.<« + +»Ich ergriff ihre Hand, ein glühender Kuß, nur einen Augenblick +gegeben, aber mit fest aneinandergedrückten Lippen, bekräftigte die +Worte. Ich hörte ihre Seide die Treppe emporrauschen, ich aber ging +die Stufen hinunter. Da ich unten die gläserne Doppeltür der Treppe +geöffnet hatte, sah ich den Wagen stehen. Hinter den Fenstern +desselben saß freundlich die Mutter Mathildens und sah mich an. Ich +grüßte sie ehrerbietig und ging vorüber. Ich ging nun nicht mehr zu +dem Freunde, den ich hatte besuchen wollen.« + +»Mit Alfred betrieb ich das, was er zu lernen hatte, immer eifriger, +ich war immer sorgsamer, daß er es gut inne habe, und legte, wo ich +konnte, wie früher und in noch größerem Maße selber Hand an. Auch auf +den Gang seiner Entwickelung im Allgemeinen suchte ich so einzuwirken, +wie es mir nur möglich war. Ich sprach sehr viel mit ihm und ging sehr +viel mit ihm um. Er schloß sich, da er es wohl wußte, daß ich ihn +liebe, immer inniger an mich an, ja er schloß sich auf das Innigste +und fast ausschließlich an mich. Er wohnte wie auf dem Lande so auch +in der Stadt neben mir.« + +»Im ersten Frühlinge fuhren wir wieder wie im vorigen Jahre nach +Heinbach. Es war wieder die Veranstaltung getroffen, daß Mathilde, +Alfred und ich in einem Wagen fuhren. Alfred saß wieder neben mir und +schmiegte sich an mich. Mathilde saß gegenüber. Und so konnten wir +uns zwei Tage mit den Augen der Liebe ungehindert ansehen und konnten +mit einander sprechen. Und wenn wir auch von gleichgültigen Dingen +redeten, so hörten wir doch unsere Stimme, und in gewöhnlichen Dingen +zitterte das tiefe Herz durch. Jene zwei Tage waren die glückseligsten +meines Lebens.« + +»Auf dem Lande begann nun wieder ein Leben, wie es im vergangenen +Jahre gewesen war. Wir waren ungebunden und konnten leichter unsere +Seelen tauschen. Wir waren freier in dem Zimmer der Mutter oder in dem +des Vaters, wir konnten den Garten besuchen, wir konnten unter den +Bäumen des Rasenplatzes wandeln und wir konnten spazieren gehen. Am +liebsten wurde uns der Weinlaubengang. Er war ein Heiligtum geworden, +seine Zweige sahen uns vertraut an, seine Blätter wurden unsere +Zeugen, und durch seine Verschlingungen bebte manches tiefe Wort und +wehte mancher Hauch der unergründlichsten Glückseligkeit. Fast ebenso +lieb war uns das Gartenhaus. Manchen Flug der Wonne deckte es mit +seinen schützenden Mauern, und es umgab uns wie ein stiller Tempel, +wenn wir alle drei eintraten und zwei Gemüter wallten. Wir gingen +oft an diese beiden Orte. Die Verbindungsfäden wuchsen tausendfach, +Mathilde wurde stets noch herrlicher, sie wurde von Andern immer +heißer begehrt, aber ihre Seele schloß sich nur fester an die +meinige.« + +»Ich machte jetzt oft sehr große Wege allein. Wenn ich so weit war, +daß ich das Haus nicht mehr sehen konnte und wenn ich so dastand und +die weißen Wolken betrachtete, die über dem Hause stehen mußten, und +wenn ich auf den Wald sah, jenseits dessen das Haus sich befand, so +kam eine tiefe Bewegung in mich. Und wenn ich dann nach Hause eilte, +ins Innere der Mauern ging, sie da sah und an ihr die Freude des +Wiedersehens erkannte, so frohlockte gleichsam springend mir das Herz +in dem Busen über meinen unendlichen Besitz.« + +»Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein Übel in mein Glück +bohrte. Es nagte der Gedanke an mir, daß wir die Eltern Mathildens +täuschen. Sie ahnten nicht, was bestand, und wir sagten es ihnen +nicht. Immer drückender wurde mir das Gefühl und immer ängstender +lastete es auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches +immer größer wird, wenn man es berührt.« + +»Eines Tages, da eben die Rosenblüte war, sagte ich zu Mathilden, ich +wolle zur Mutter gehen, ihr alles entdecken und sie um ihr gütiges +Vorwort bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut sein, +sie wünsche es, und unser Glück müsse dadurch sich erst recht klären +und befestigen.« + +»Ich ging nun zur Mutter Mathildens und sagte ihr alles mit schlichten +Worten, aber mit zagender Stimme.« + +»>Ich habe das von euch nicht erwartet und nicht geahnt<, erwiderte +sie, >ich kann euch auch einen Bescheid nicht geben. Ich muß erst mit +meinem Gatten sprechen. Kommt in einer Stunde in mein Zimmer, und ich +werde euch antworten.<« + +»Ich verbeugte mich, verließ ihr Gemach und begab mich in mein +Eckzimmer.« + +»Als die Stunde vorüber war, ging ich in das Besuchzimmer der Mutter +Mathildens. Sie erwartete mich schon. Sie saß an ihrem Tische, um den +wir uns so oft versammelt hatten. Sie bot mir auch einen Stuhl an. +Nachdem ich mich gesetzt hatte, sagte sie: >Mein Gatte ist mit mir +gleicher Ansicht. Wir haben euch ein Vertrauen geschenkt, das so groß +war, daß wir es nicht verantworten können. Ihr gabet uns Grund zu +diesem Vertrauen. Wir wollen nicht weiter darüber rechten. Aber eins +muß gesprochen werden. Die Verbindung, welche ihr beide geschlossen +habt, ist ohne Ziel, wenigstens ist jetzt ein Ziel nicht abzusehen. +Ihr mögt wohl beide einen gleichen Anteil an der Schließung dieses +Bundes haben. Aber beide durftet ihr vielleicht an seine Folgen nicht +gedacht haben, sonst könnten wir euch schwerer entschuldigen. Ihr habt +euch nur eurem Gefühle hingegeben. Ich begreife das. Ich kann mir nur +nicht erklären, daß ich es nicht schon früher begriffen habe. Ich habe +euch so - so sehr vertraut. Hört mich aber jetzt an. Mathilde ist noch +ein Kind, es muß eine Reihe von Jahren vergehen, in denen sie noch +lernen muß, was ihr für ihren einstigen Beruf not tut, es muß noch +eine Reihe von Jahren vergehen, ehe sie nur begreift, was der Bund +ist, den sie eben geschlossen hat. Sie ist lebhaft, sie hat ein Gefühl +von ihrer Seele Besitz nehmen lassen, welches ihr angenehm ist und +welches wahrscheinlich diese ihre ganze Seele erfüllt. Sollen wir sie +in diesem Gefühle befangen sein lassen in der ganzen Zeit, in der sie +erst die wichtigsten Vorbereitungen zu ihrem künftigen Leben treffen +muß, oder soll sie ruhiger sein, um diese Vorbereitungen in dem +rechten Maße treffen zu können? Soll das Gefühl nun fortdauern, immer +fort, bis wir sagen können, daß sie Braut sei? Wenn es fortdauert, +wird es nicht peinigende Stunden bringen, da es nicht so bald in +seinen natürlichen Abschluß gelangen kann und Zweifel, Ungeduld, +Vorwärtstreiben, Unmut und Schmerz in seinem Gefolge führen? Wird es +da nicht jene schönen, edlen, heitern, ruhigen Tage wegfressen, die +der aufblühenden Jungfrau bestimmt sind, ehe sie den Brautkranz +in ihre Haare flicht? Sind nicht oft frühzeitige, auf weite Ziele +gerichtete Neigungen die Zerstörerinnen des Lebensglückes geworden? +Wenn ihr Mathilden liebt, wenn ihr sie mit wahrhafter Liebe eures +Herzens liebt, könnt ihr sie einer solchen Gefahr aussetzen +wollen? Gräbt nicht tiefes Sehnen und heftiges Fühlen, durch Jahre +fortgesetzt, alle Kräfte des Menschen an? Und wie, wenn die Neigung +des einen schwindet und das andere trostlos ist? Oder wenn sie in +beiden ermattet und eine Leere hinter sich läßt? Ihr werdet beide +sagen, das sei bei euch nicht möglich. Ich weiß, daß ihr jetzt so +fühlt, ich weiß, daß es bei euch vielleicht auch nicht möglich +ist; allein ich habe oft gesehen, daß Neigungen aufhörten und sich +änderten, ja daß die stärksten Gefühle, welche allen Gewalten +trotzten, dann, da sie keinen andern Widerstand mehr hatten als +die zähe, immer dauernde, aufreibende Zeit, dieser stillen und +unscheinbaren Gewalt unterlegen sind. Soll Mathilde - ich will sagen +eure Mathilde - dieser Möglichkeit anheimgegeben werden? Ist ihr das +Leben, in das sie jetzt mit frischer Seele hinein sieht, nicht zu +gönnen? Es ist größere Liebe, auf die eigene Seligkeit nicht achten, +ja die gegenwärtige Seligkeit des geliebten Gegenstandes auch nicht +achten, aber dafür das ruhige, feste und dauernde Glück desselben +begründen. Das, glaube ich, ist eure und ist Mathildens Pflicht. Ihr +könnt nur nicht einwenden, daß dieses Glück durch eine Verbindung, +die sogleich geschlossen wird, zu begründen sei. Wenn auch Mathildens +Vermögen so groß wäre, daß daraus ein Familienbesitzstand gegründet +werden könnte, wenn ihr es auch über euch vermöchtet, von dem +Vermögen eurer Gattin wenigstens eine Zeit hindurch zu leben, was ich +bezweifle, so wäre damit doch noch nichts gewonnen, da Mathilde, wie +ich sagte, die bei weitem größere Zahl von Eigenschaften noch nicht +besitzt, welche eine Gattin und Mutter besitzen muß, da sie ferner +nach den Ansichten, die wir über das körperliche Wohl unserer Kinder +für unsere Pflicht halten, wenigstens vor sechs oder sieben Jahren +sich nicht vermählen kann, und da also die Unsicherheit und Gefahr, +wie ich früher sprach, auch bei dieser eurer Behauptung für sie und +euch vorhanden wären. Da die Kinder in dem Alter Mathildens ihren +Eltern ohne Bedingung zu folgen haben, und da gute Kinder, wozu ich +Mathilden zähle, auch wenn es ihrem Herzen Schmerz macht, gerne +folgen, weil sie der Liebe und der bessern Einsicht der Eltern +vertrauen; so hätte ich nur sagen dürfen, mein Gatte und ich erkennen, +daß zum Wohle Mathildens das Band, das sie geschlungen hat, nicht +fortdauern dürfe und daß sie daher dasselbe abbrechen möge; allein +ich habe euch die Gründe unserer Ansicht entwickelt, weil ich euch +hochachte und weil ich auch gesehen habe, daß ihr mir zugetan seid, +wie ja auch euer Geständnis beweist, welches freilich etwas früher +hätte gemacht werden sollen. Erlaubt, daß ich nun auch von euch etwas +spreche. Ihr seid, wenn auch älter als Mathilde, doch als Mann noch so +jung, daß ihr die Lage in der ihr seid, kaum zu beurteilen fähig sein +dürftet. Mein Gatte und ich sind der Ansicht, daß ihr, so weit wir +euch kennen, durch euer Gefühl, das immer edel und warm ist, in +die Neigung zu Mathilden, der wir auch als Eltern immerhin einigen +Liebreiz zusprechen müssen, gestürzt worden seid, daß sich euch das +Gefühl als etwas Hohes und Erhabenes angekündigt hat, das euch noch +dazu so beseligte, und daß ihr daher an keinen Widerstand gedacht +habt, der euch ja auch als Untreue an Mathilden erscheinen mußte. +Allein eure Lage, in dieser Art genommen, darf nicht als die +gesetzmäßige bezeichnet werden. Ihr seid so jung, ihr habt euch in den +Anfang einer Laufbahn begeben. Ihr müßt nun in derselben fortfahren +oder, wenn ihr sie mißbilligt, eine andere einschlagen. In ganz und +gar keiner kann ein Mann von eurer Begabung und eurem inneren Wesen +nicht bleiben. Welche lange Zeit liegt nun vor euch, die ihr benützen +müßt, euch in jene feste Lebenstätigkeit zu bringen, die euch not tut, +und euch jene äußere Unabhängigkeit zu erwerben, die ihr braucht, +damit ihr Beides zur Errichtung eines dauernden Familienverhältnisses +anwenden könnt. Welche Unsicherheit in euren Bestrebungen, wenn ihr +eine verfrühte Neigung in dieselben hinein nehmt, und welche Gefahren +in dieser euch beherrschenden Neigung für euer Wesen und euer Herz! +Es wird euch beiden jetzt Schmerz machen, das geknüpfte Band zu lösen +oder wenigstens aufzuschieben, wir wissen es, wir fühlen den Schmerz, +ihr beide dauert uns, und wir machen uns Vorwürfe, daß wir die +entstandene Sachlage nicht zu verhindern gewußt haben; aber ihr werdet +beide ruhiger werden, Mathilde wird ihre Bildung vollenden können, ihr +werdet in eurem zukünftigen Stande euch befestigst haben, und dann +kann wieder gesprochen werden. Ihr hättet auch ohne diese Neigung +nicht lange mehr in eurer gegenwärtigen Stellung bleiben können. Wir +verdanken euch sehr viel. Unser Alfred und auch Mathilde reiften an +euch sehr schön empor. Aber eben deshalb hätten wir es nicht über +unser Gewissen bringen können, euch länger zu unserem Vorteile von +eurer Zukunft abzuhalten, und mein Gatte hatte sich vorgenommen, mit +euch über diese Sache zu sprechen. Überdenkt, was ich euch sagte. Ich +verlange heute keine Antwort; aber gebt sie mir in diesen Tagen. Ich +habe noch einen Wunsch, ich kenne euch und ich will ihn euch deshalb +anvertrauen. Ihr habt eine sehr große Gewalt über Mathilden, wie +wir wohl immer gesehen haben, wie sie uns in ihrer Größe aber nicht +erschienen ist, wendet, wenn meine Worte bei euch einen Eindruck +machten, diese Gewalt auf sie an, um sie von dem zu überzeugen, was +ich euch gesagt habe, und um das arme Kind zu beruhigen. Wenn es euch +gelingt, glaubt mir, so erweiset ihr Mathilden dadurch eine große +Liebe, ihr erweiset sie euch und auch uns. Geht dann mit dem Eifer, +der Begabung und der Ausdauer, wie ihr sie in unserem Hause bewiesen +habt, an euren Beruf. Wir waren euch alle sehr zugetan, ihr werdet +wieder Neigung und Anhänglichkeit finden, ihr werdet ruhiger werden +und alles wird sich zum Guten wenden.<« + +»Sie hatte ausgesprochen, legte ihre schöne, freundliche Hand auf den +Tisch und sah mich an.« + +»>Ihr seid ja so blaß wie eine getünchte Wand<, sagte sie nach einem +Weilchen.« + +»In meine Augen drangen einzelne Tränen, und ich antwortete: >Jetzt +bin ich ganz allein. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester sind +gestorben.< Mehr konnte ich nicht sagen, meine Lippen bebten vor +unsäglichem Schmerz.« + +»Sie stand auf, legte ihre Hand auf meinen Scheitel und sagte unter +Tränen mit ihrer lieblichen Stimme: >Gustav, mein Sohn! Du bist es ja +immer gewesen, und ich kann einen besseren nicht wünschen. Geht jetzt +beide den Weg eurer Ausbildung, und wenn dann einst euer gereiftes +Wesen dasselbe sagt, was jetzt das wallende Herz sagt, dann kommt +beide, wir werden euch segnen. Stört aber durch Fortspinnen, Steigern +und vielleicht Abarten eurer jetzigen heftigen Gefühle nicht die euch +so nötige letzte Entwicklung.<« + +»Es war das erste Mal gewesen, daß sie mich du genannt hatte.« + +»Sie verließ mich und ging einige Schritte im Zimmer hin und wieder.« + +»>Verehrte Frau<, sagte ich nach einer Weile, >es ist nicht nötig, +daß ich euch morgen oder in diesen Tagen antworte; ich kann es jetzt +sogleich. Was ihr mir an Gründen gesagt habt, wird sehr richtig sein, +ich glaube, daß es wirklich so ist, wie ihr sagt; allein mein ganzes +Innere kämpft dagegen, und wenn das Gesagte noch so wahr ist, so +vermag ich es nicht zu fassen. Erlaubt, daß eine Zeit hierüber vergehe +und daß ich dann noch einmal durchdenke, was ich jetzt nicht denken +kann. Aber eins ist es, was ich fasse. Ein Kind darf seinen Eltern +nicht ungehorsam sein, wenn es nicht auf ewig mit ihnen brechen, wenn +es nicht die Eltern oder sich selbst verwerfen soll. Mathilde kann +ihre guten Eltern nicht verwerfen, und sie ist selber so gut, daß sie +auch sich nicht verwerfen kann. Ihre Eltern verlangen, daß sie jetzt +das geschlossene Band auflösen möge, und sie wird folgen. Ich will es +nicht versuchen, durch Bitten das Gebot der Eltern wenden zu wollen. +Die Gründe, welche ihr mir gesagt habt und welche in mein Wesen nicht +eindringen wollen, werden in dem eurigen fest haften, sonst hättet +ihr mir sie nicht so nachdrücklich gesagt, hättet sie mir nicht mit +solcher Güte und zuletzt nicht mit Tränen gesagt. Ihr werdet davon +nicht lassen können. Wir haben uns nicht vorzustellen vermocht, daß +das, was für uns ein so hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil +sein wird. Ihr habt es mir mit eurer tiefsten Überzeugung gesagt. +Selbst wenn ihr irrtet, selbst wenn unsere Bitten euch zu erweichen +vermöchten, so würde euer freudiger Wille, euer Herz und euer Segen +mit dem Bunde nicht sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern, +ein Bund mit der Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund +der Trauer sein, er wäre ein ewiger Stachel, und euer ernstes oder +bekümmertes Antlitz würde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist +der Bund, und wäre er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so +lange, als die Eltern ihm nicht beistimmen können. Eure ungehorsame +Tochter würde ich nicht so unaussprechlich lieben können, wie ich sie +jetzt liebe, eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele, +wie fern ich auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden +daher das Band lösen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag. - O +Mutter, Mutter! - laßt euch diesen Namen zum ersten und vielleicht +auch zum letzten Male geben -, der Schmerz ist so groß, daß ihn keine +Zunge aussprechen kann und daß ich mir seine Größe nie vorzustellen +vermocht habe!<« + +»>Ich bekenne es<, antwortete sie, >und darum ist ja der Kummer, den +ich und mein Gatte empfinden, so groß, daß wir unserem teuren Kinde +und euch, den wir auch lieben, die Seelenkränkung nicht ersparen +können.<« + +»>Ich werde morgen Mathilden sagen<, erwiderte ich, >daß sie ihrem +Vater und ihrer Mutter gehorchen müsse. Heute erlaubt mir, verehrte +Frau, daß ich meine Gedanken etwas ordne - und daß ich auch noch +andere Dinge ordne, die not tun.<« + +»Die Tränen waren mir wieder in die Augen getreten.« + +»>Sammelt euch, lieber Gustav<, sagte sie, >und tut, was ihr für gut +haltet, sprecht mit Mathilden oder sprecht auch nicht, ich schreibe +euch nichts vor. Es wird eine Zeit kommen, in der ihr einsehen werdet, +daß ich euch nicht so unrecht tue, als ihr jetzt vielleicht glauben +möget.<« + +»Ich küßte ihr die Hand, die sie mir gütig gab, und verließ das +Zimmer.« + +»Am andern Tage bat ich Mathilden, mit mir einen Gang in den Garten +zu machen. Wir gingen durch den ersten Teil desselben, und wir gingen +durch den Weinlaubengang bis zu dem Gartenhause, an dem die Rosen +blühten. Während wir so wandelten, sprachen wir fast kein Wort, +außer daß wir sagten, wie uns hie und da eine Blume gefalle, wie das +Weinlaub schön sei und wie der Tag sich so ausgeheitert habe. Wir +waren zu gespannt auf das, was da kommen werde, Mathilde auf das, was +ich ihr mitzuteilen habe, und ich auf das, wie sie die Mitteilung +aufnehmen werde. In der Nähe des Gartenhauses war eine Bank, auf +welche von einem Rosengebüsche Schatten fiel. Ich lud sie ein, mit mir +auf der Bank Platz zu nehmen. Sie tat es. Es war das erste Mal, daß +wir ganz allein in den Garten gingen und daß wir allein bei einander +auf einer Bank saßen. Es war das Vorzeichen, daß uns dies in Zukunft +entweder ungestört werde gestattet sein oder daß es das letzte Mal sei +und daß man darum ein unbedingtes Vertrauen in uns setze. Ich sah, +daß Mathilde das empfinde; denn in ihrem ganzen Wesen war die höchste +Erwartung ausgeprägt. Deßohngeachtet rief sie mit keinem Worte den +Anfang der Mitteilungen hervor. Mein Wesen mochte sie in Angst gesetzt +haben; denn obwohl ich mir unzählige Male in der Nacht die Worte +zusammengestellt hatte, mit denen ich sie anreden wollte, so +konnte ich doch jetzt nicht sprechen, und obwohl ich suchte, meine +Empfindungen zu bemeistern, so mochte doch der Schmerz in meinem +Äußern zu lesen gewesen sein. Da wir schon eine Weile gesessen, waren, +auf unsere Fußspitzen gesehen und, was zu verwundern war, uns nicht +an der Hand gefaßt hatten, fing ich an, mit zitternder Stimme und mit +stockendem Atem zu sagen, was ihre Eltern meinen, und daß sie den +Wunsch hegen, daß wir wenigstens für die jetzige Zeit unser Band +auflösen mögen. Ich ging auf die Gründe, welche die Mutter angegeben +hatte, nicht ein, und legte Mathilden nur dar, daß sie zu gehorchen +habe und daß unter Ungehorsam unser Bund nicht bestehen könne.« + +»Als ich geendet hatte, war sie im höchsten Maße erstaunt.« + +»>Ich bitte dich, wiederholt mir nur in Kurzem, was du gesprochen hast +und was wir tun sollen<, sagte sie.« + +»>Du mußt den Willen deiner Eltern tun und das Band mit mir lösen<, +antwortete ich.« + +»>Und das schlägst du vor, und das hast du der Mutter versprochen, bei +mir auszuwirken?< fragte sie.« + +»>Mathilde, nicht auszuwirken<, antwortete ich, >wir müssen gehorchen; +denn der Wille der Eltern ist das Gesetz der Kinder.<« + +»>Ich muß gehorchen<, rief sie, indem sie von der Bank aufsprang, >und +ich werde auch gehorchen; aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern +sind sie nicht. Du mußtest nicht hieher kommen und den Auftrag +übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geschlossen hatten, +aufzulösen. Du mußtest sagen: Frau, eure Tochter wird euch gehorsam +sein, sagt ihr nur euren Willen; aber ich bin nicht verbunden, eure +Vorschriften zu befolgen, ich werde euer Kind lieben, so lange ein +Blutstropfen in mir ist, ich werde mit aller Kraft streben, einst in +ihren Besitz zu gelangen. Und da sie euch gehorsam ist, so wird sie +mit mir nicht mehr sprechen, sie wird mich nicht mehr ansehen, ich +werde weit von hier fortgehen; aber lieben werde ich sie doch, so +lange dieses Leben währt und das künftige, ich werde nie einer Andern +ein Teilchen von Neigung schenken und werde nie von ihr lassen. +So hättest da sprechen sollen, und wenn du von unserm Schlosse +fortgegangen wärest, so hätte ich gewußt, daß du so gesprochen hast, +und tausend Millionen Ketten hätten mich nicht von dir gerissen, +und jubelnd hätte ich einst in Erfüllung gebracht, was dir dieses +stürmische Herz gegeben. Du hast den Bund aufgelöset, ehe du mit mir +hieher gegangen bist, ehe du mich zu dieser Bank geführt hast, die ich +dir gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du getan hast. Wenn +jetzt auch der Vater und die Mutter kämen und sagten: Nehmet euch, +besitzet euch in Ewigkeit, so wäre doch alles aus. Du hast die Treue +gebrochen, die ich fester gewähnt habe als die Säulen der Welt und die +Sterne an dem Baue des Himmels.<« + +»>Mathilde<, sagte ich, >was ich jetzt tue, ist unendlich schwerer, +als was du verlangtest.<« + +»>Schwer oder nicht schwer, von dem ist hier nicht die Rede<, +antwortete sie, >von dem, was sein muß, ist die Rede, von dem, dessen +Gegenteil ich für unmöglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie +konntest du das tun?<« + +»Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete, gegen die Rosen, die +an dem Gartenhause blühten, gewendet, in das Gras nieder, schlug die +beiden Hände zusammen und rief unter strömenden Tränen: >Hört es, ihr +tausend Blumen, die herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es +du, Weinlaub, das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen +hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge in keiner Sprache +ausgesprochen werden kann. Dieses Herz ist jung an Jahren, aber es +ist reich an Großmut; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten +hingegeben, es war kein Gedanke in mir als er, das ganze künftige +Leben, das noch viele Jahre umfassen konnte, hätte ich wie einen Hauch +für ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langsam aus den +Adern fließen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen - und ich +hätte gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, daß er das weiß, weil ich +gemeint habe, daß er es auch tun würde. Und nun führt er mich heraus, +um mir zu sagen, was er sagte. Wären was immer für Schmerzen von Außen +gekommen, was immer für Kämpfe, Anstrengungen und Erduldungen; ich +hätte sie ertragen, aber nun er - er -! Er macht es unmöglich für +alle Zeiten, daß ich ihm noch angehören kann, weil er den Zauber +zerstört hat, der alles band, den Zauber, der ein unzerreißbares +Aneinanderhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewigkeit malte.<« + +»Ich ging zu ihr hinzu, um sie empor zu heben. Ich ergriff ihre Hand. +Ihre Hand war wie Glut. Sie stand auf, entzog mir die Hand, und ging +gegen das Gartenhaus, an dem die Rosen blühten.« + +»>Mathilde<, sagte ich, >es handelt sich nicht um den Bruch der Treue, +die Treue ist nicht gebrochen worden. Verwechsle die Dinge nicht. Wir +haben gegen die Eltern unrecht gehandelt, daß wir ihnen verbargen, +was wir getan haben, und daß wir in dem Verbergen beharrend geblieben +sind. Sie fürchten Übles für uns. Nicht die Zerstörung unserer Gefühle +verlangen sie, nur die Aufhebung des Äußerlichen unseres Bundes auf +eine Zeit.<« + +»>Kannst du eine Zeit nicht mehr du sein?< erwiderte sie, >kannst du +eine Zeit dein Herz nicht schlagen lassen? Äußeres, Inneres, das ist +alles eins, und alles ist die Liebe. Du hast nie geliebt, weil du es +nicht weißt.<« + +»>Mathilde<, antwortete ich, >du warst immer so gut, du warst edel, +rein, herrlich, daß ich dich mit allen Kräften in meine Seele schloß: +heute bist du zum ersten Male ungerecht. Meine Liebe ist unendlich, +ist unzerstörbar, und der Schmerz, daß ich dich lassen muß, ist +unsäglich, ich habe nicht gewußt, daß es einen so großen auf Erden +gibt; nur der ist größer, von dir verkannt zu sein. Ich unterscheide +nicht, wer dir das Gebot der Eltern hätte sagen sollen, es ist das +einerlei, sie sind die Eltern, das Gebot ist das Gebot, und das +Heiligste in uns sagt, daß die Eltern geehrt werden müssen, daß das +Band zwischen Eltern und Kind nicht zerstört werden darf, wenn auch +das Herz bricht, So fühlte ich, so handelte ich, und ich wollte dir +das Notwendige recht sanft und weich sagen, darum übernahm ich die +Sendung; ich glaubte, es könne dir niemand das Bittere so sanft und +weich sagen wie ich, darum kam ich. Aus Güte, aus Mitleid kam ich. +Die Pflicht leitete mich, in der Pflicht bricht mein Herz, und in dem +brechenden Herzen bist du.<« + +»>Ja, ja, das sind die Worte<, sagte sie, indem ihr Schluchzen immer +heftiger und fast krampfhaft wurde, >das sind die Worte, denen ich +sonst so gerne lauschte, die so süß in meine Seele gingen, die schon +süß waren, als du es noch nicht wußtest, denen ich glaubte wie der +ewigen Wahrheit. Du hättest es nicht unternehmen müssen, mich zur +Zerreißung unserer Liebe bewegen zu wollen, es soll, wenn hundertmal +Pflicht, dir nicht möglich gewesen sein. Darum kann ich dir jetzt +nicht mehr glauben, deine Liebe ist nicht die, die ich dachte und die +die meinige ist. Ich habe den Vergleichpunkt verloren und weiß nicht, +wie alles ist. Wenn du einst gesagt hättest, der Himmel ist nicht der +Himmel, die Erde nicht die Erde, ich hätte es dir geglaubt. Jetzt weiß +ich es nicht, ob ich dir glauben soll, was du sagst. Ich kann nicht +anders, ich weiß es nicht, und ich kann nicht machen, daß ich es weiß. +O Gott! daß es geworden ist, wie es ward, und daß zerstörbar ist, was +ich für ewig hielt! Wie werde ich es ertragen können?<« + +»Sie barg ihr Angesicht in den Rosen vor ihr, und ihre glühende Wange +war auch jetzt noch schöner als die Rosen. Sie drückte das Angesicht +ganz in die Blumen und weinte so, daß ich glaubte, ich fühle das +Zittern ihres Körpers oder es werde eine Ohnmacht ihren Schmerz +erschöpfen. Ich wollte sprechen, ich versuchte es mehrere Male; aber +ich konnte nicht, die Brust war mir zerpreßt und die Werkzeuge des +Sprechens ohne Macht. Ich faßte nach ihrem Körper, sie zuckte aber +weg, wenn sie es empfand. Dann stand ich unbeweglich neben ihr. Ich +griff mit der bloßen Hand in die Zweige der Rosen, drückte, daß mir +leichter würde, die Dornen derselben in die Hand und ließ das Blut an +ihr nieder rinnen.« + +»Als das eine Zeit gedauert hatte, als sich ihr Weinen etwas gemildert +hatte, hob sie das Angesicht empor, trocknete mit dem Tuche, das sie +aus der Tasche genommen, die Tränen und sagte: >Es ist alles vorüber. +Weshalb wir noch länger hier bleiben sollen, dazu ist kein Grund, +lasse uns wieder in das Haus gehen und das Weitere dieser Handlung +verfolgen. Wer uns begegnet, soll nicht sehen, daß ich so sehr geweint +habe.<« + +»Sie trocknete neuerdings mit dem Tuche die Augen, ließ neue Tränen +nicht mehr hervorquellen, richtete sich empor, strich sich die Haare +ein wenig zurecht und sagte: >Gehen wir in das Haus.<« + +»Sie richtete sich mit diesen Worten zum Gehen gegen den +Weinlaubengang, und ich ging neben ihr. Das Blut an meiner Hand konnte +sie nicht sehen. Ich unternahm es nicht mehr, sie zu trösten, ich sah, +daß ihre Verfassung dafür nicht empfänglich war. Auch erkannte ich, +daß sie im Zorne gegen mich ihren Schmerz leichter ertrage, als wenn +dieser Zorn nicht gewesen wäre. Wir gingen schweigend in das Haus. +Dort gingen wir in das Zimmer der Mutter. Mathilde warf sich ihrer +Mutter an das Herz. Ich küßte der Frau die Hand und entfernte mich.« + +»Den ganzen übrigen Teil des Tages verbrachte ich damit, meine Habe zu +packen, um morgen dieses Haus verlassen zu können. Mathildens Vater +besuchte mich einmal und sagte: >Kränket euch nicht zu sehr, es wird +vielleicht noch alles gut.<« + +»Im Übrigen waren seine Gründe, die er freundlich und sanft sagte, die +nehmlichen wie die seiner Gattin. Auch Mathildens Mutter kam einmal zu +mir herüber, lächelte trübsinnig bei meinem Treiben und gab mir die +Hand. Meine Hoffnungen waren düsterer, als es die dieser zwei Menschen +zu sein schienen. Mathildens Glauben an mich war erschüttert. Da ich +meine Absicht, morgen abreisen zu wollen, erklärt hatte, und man +nichts mehr dagegen einwendete, was man Anfangs tat, rief ich Alfred +und sagte ihm, daß ich nicht etwa eine größere Reise vor habe, wie er +glauben mochte, sondern daß ich auf lange, vielleicht auf immer dieses +Haus verlasse. Es seien Umstände eingetreten, die dies notwendig +machten. Er fiel mir mit Schluchzen um den Hals, ich konnte ihn gar +nicht besänftigen, ja ich weinte beinahe selber laut. Er wurde später +zu beiden Eltern, die in der Schreibstube des Vaters waren, geholt, +damit sie ihn beruhigten. Sein Schlafzimmer war heute unter der +Aufsicht eines Dieners ein anderes. Als er in dasselbe gebracht worden +war, ging ich zu den Eltern und sagte ihnen den Dank für alles Gute, +das ich in ihrem Hause genossen habe. Sie dankten mir auch und ließen +mich Hoffnungen erblicken. Es ward verabredet, daß ich mit den Pferden +des Hauses auf die nächste Post gebracht werden solle. Mathilde +erschien nicht zum Abendessen.« + +»Am nächsten Morgen wurde der Wagen bepackt. Ich machte mich +reisefertig. Es war mir erlaubt worden, von Mathilden Abschied nehmen +zu dürfen. Sie weigerte sich aber, mich zu sehen. Ich ging daher in +meine Wohnung, reichte dem alten Raimund die Hand und sagte: >Lebe +wohl, Raimund.<« + +»>Lebt recht wohl, junger Herr<, antwortete er, >und seid recht +glücklich.<« + +»>Du weißt nicht, Raimund!<« + +»>Ich weiß, ich weiß, junger Herr - es kann ja werden.<« + +»>Lebe wohl.<« + +»Ich ging nun die Treppe hinab, er begleitete mich. Unten bei dem +Wagen stand der Herr und die Frau des Hauses und mehrere von den +Dienstleuten. Auch vom Meierhofe waren Leute herbei gekommen. Alfred, +der spät entschlummert war, schlief noch; die Besitzer des Hauses +nahmen auf eine auszeichnende Weise von mir Abschied, die Umstehenden +beurlaubten sich auch, wünschten mir Glück und eine fröhliche +Wiederkehr. Ich bestieg den Wagen und fuhr von Heinbach dahin.« + +»Der Besitzer dieses Hauses hatte mir einmal gesagt: >Vielleicht +verlasset ihr einst unser Haus nicht mit Reue und Schmerz.<« + +»Ich verließ es nicht mit Reue, aber mit Schmerz.« + +»Er hatte auch die Vermutung ausgesprochen, daß mir etwa auch seine +Familie unvergeßlich bleiben durfte. Sie blieb mir unvergeßlich.« + +»Ich verabschiedete auf der Post den Wagen aus Heinbach, das letzte +Merkmal aus diesem Orte, und ließ mich nach der Stadt einschreiben, wo +ich so lange gewesen war, wo ich meine Lernzeit vollendet hatte, von +wo ich nach Heinbach gegangen war, und wo sich das Haus von Mathildens +Eltern befand. Ich blieb aber nicht in der Stadt.« + +»In der Nähe meiner Heimat ist im Walde eine Felskuppe, von welcher +man sehr weit sieht. Sie geht mit ihrem nördlichen Rücken sanft ab und +trägt auf ihm sehr dunkle Tannen. Gegen Süden stürzt sie steil ab, ist +hoch und geklüftet und sieht auf einen dünnbestandenen Wald, zwischen +dessen Stämmen Weidegrund ist. Jenseits des Waldes erblickt man Wiesen +und Feld, weiter ein blauliches Moor, dann ein dunkelblaues Waldband +und über diesem die fernen Hochgebirge. Ich ging von der Stadt in +meine Heimat und von der Heimat auf diese Felskuppe. Ich saß auf ihr +und weinte bitterlich. Jetzt war ich verödet, wie ich früher nie +verödet gewesen war. Ich sah in das dunkle Innere der Schlünde und +fragte, ob ich mich hinabwerfen solle. Das Bild meiner verstorbenen +Mutter mischte sich in diese unklare, schauerliche Vorstellung, und +wurde mir ein Liebes, an das ich denken mußte. Ich ging täglich auf +diese Kuppe und blieb oft mehrere Stunden auf ihr sitzen. Ich weiß +nicht, warum ich sie suchte. In meiner Jugend war ich oft auf ihr, und +wir machten uns das Vergnügen, Steine ziemlicher Größe von ihr hinab +zu werfen, um den Steinstaub aufwirbeln zu sehen, wenn der Geworfene +auf Klippen stieß, und um sein Gepolter in den Klippen und sein +Rasseln in dem am Fuße des Felsens befindlichen Gerölle zu hören. Von +dieser Kuppe war kein Einblick in jene Länder, in denen Mathildens +Wohnung lag, man sah nicht einmal Gebirgszüge, die an sie grenzten. +Ich ging auch nach und nach in anderen Teilen der Umgebung meines +Heimatortes herum. Mein Schwager war ein sanfter und stiller Mann, +und wir sprachen in meinem Geburtshause oft einen ganzen Tag hindurch +nicht mehr als einige Worte.« + +»Als eine geraume Zeit vergangen war, dachte ich auf meine Abreise und +auf meine Berufsarbeiten, die ich schon so lange vergessen hatte und +auf die ich, in dem Hause in Heinbach befangen, vielleicht noch länger +nicht gedacht haben würde.« + +»Ich ging wieder in die Stadt, in der ich meine Habe gelassen hatte, +und widmete mich ernstlich der Laufbahn, zu welcher ich eigentlich +die Vorbereitungsschulen besucht hatte. Ich meldete mich zum +Staatsdienste, wurde eingereiht und arbeitete jetzt sehr fleißig in +dem Bereiche der unteren Stellen, in welchen ich war. Ich lebte noch +zurückgezogener als sonst. Mein kleines Gehalt und das Erträgnis +meines Ersparten reichten hin, meine Bedürfnisse zu decken. Ich +wohnte in einem Teile der Vorstadt, welcher von dem Hause der Eltern +Mathildens sehr weit entfernt war. Im Winter ging ich fast nirgends +hin als von meiner Wohnstube in meine Amtsstube, welcher Weg wohl sehr +lange war, und von der Amtsstube in meine Wohnstube. Meine Nahrung +nahm ich in einem kleinen Gasthause an meinem Wege ein. Freunde und +Genossen besuchte ich wenig, mir war alle Verbindung mit Menschen +verleidet. Als Erholung diente mir der Betrieb der Geschichte der +Staatswissenschaften und der Wissenschaften der Natur. Ein Gang auf +dem Walle der äußeren Stadt oder eine Wanderung in einem einsamen Teil +der Umgebungen der Stadt gaben mir Luft und Bewegung. Mathilden sah +ich einmal. Sie fuhr mit ihrer Mutter in einem offenen Wagen in einer +der breiten Straßen der Vorstädte, in einer Gegend, in welcher ich +sie nicht vermutet hatte. Ich blickte hin, erkannte sie und meinte +umsinken zu müssen. Ob sie mich gesehen hat, weiß ich nicht. Ich ging +dann in meine Amtsstube zu meinem Schreibtische. In der ersten Zeit +wurde ich von meinen Vorgesetzten wenig beachtet. Ich arbeitete mit +einem außerordentlichen Fleiße, er war mir Arznei für eine Wunde +geworden, und ich flüchtete gern zu dieser Arznei. So lange alle diese +Verhältnisse, welche in meinen Amtsgeschäften vorkamen, in meinem +Haupte waren, war nichts Anderes darin. Schmerzvoll waren nur die +Zwischenräume. Auch die Wissenschaften leiteten nicht so sicher ab. +Mein Fleiß lenkte endlich die Aufmerksamkeit auf sich, man beförderte +mich. Anfangs ging es langsamer, dann schneller. Nach dem Verlaufe +von mehreren Jahren war ich in einer der ehrenvolleren Stellungen des +Staatsdienstes, welche zu dem Verkehre mit dem gebildeteren Teile +der Stadteinwohnerschaft berechtigten, und ich hatte die gegründete +Aussicht, noch weiter zu steigen. In solchen Verhältnissen werden +gewöhnlich die Ehen mit Mädchen aus ansehnlicheren Häusern +geschlossen, welche dann zu glücklichem und ehrenvollem Familienleben +führen. Mathilde mußte jetzt ein und zwanzig oder zwei und zwanzig +Jahre alt sein. Irgend eine Annäherung ihrer Eltern an mich hatte +nicht statt gefunden, auch konnte ich nicht die geringsten Merkmale +auffinden, wie unermüdlich ich auch suchte, daß sie sich nach mir +erkundigt hätten. Ich konnte also unmittelbare Schritte zur Annäherung +an sie nicht tun. Ich leitete also solche mittelbar ein, welche +sie auf die gewisseste Art von der Unwandelbarkeit meiner Neigung +überzeugten. Ich erhielt die unzweideutigsten Beweise zurück, daß mich +Mathilde verachte. Zu einer Verehelichung, wozu ihres Reichtums und +ihrer unbeschreiblichen Schönheit willen sich die glänzendsten Anträge +fanden, konnte sie nicht gebracht werden. + +Mit tiefem, schwerem Ernste breitete ich nun das Bahrtuch der +Bestattung über die heiligsten Gefühle meines Lebens.« + +»Ich will euch nicht mit dem behelligen, wie es mir weiter in meiner +Staatslaufbahn erging. Es gehört nicht hieher und ist euch wohl im +Wesentlichen bekannt. Die Kriege brachen aus, ich wurde abwechselnd zu +verschiedenen Stellen versetzt, große, umfassende Arbeiten, Reisen, +Berichte, Vorschläge wurden erfordert, ich wurde zu Sendungen +verwendet, kam mit den verschiedensten Menschen in Berührung, und der +Kaiser wurde, ich kann es wohl sagen, beinahe mein Freund. Als ich in +den Freiherrnrang erhoben wurde, kam mein alter Oheim Ferdinand aus +der Entfernung zu mir, um, wie er sagte, mir seine Aufwartung zu +machen. Obwohl er meine Mutter vernachlässigt hatte, ja nach dem +Tode meines Vaters durch seine Zurückhaltung beinahe hart gegen sie +gewesen war, so nahm ich ihn doch freundlich auf, weil er in meiner +Verlassenheit zuletzt der einzige Verwandte war, den ich noch hatte. +Wir blieben seit jener Zeit mit einander in Briefwechsel. Es kamen +wohl viele Menschen mit mir in Verbindung und ich lernte manche +Seiten der Gesellschaft kennen; aber teils waren die Verbindungen +Geschäftsverbindungen, teils drängten sich Menschen an mich, die +durch mich zu steigen hofften, teils waren die Begegnungen ganz +gleichgültig. Wie schwer mir aber meine Geschäfte wurden, wie sehr +ich im Grunde zu ihnen nicht geeignet war, davon habe ich euch schon +gesagt. Ich war nach und nach beinahe ein alter Mann geworden. Da +ich viel in der Entfernung lebte, wußte ich manche Beziehungen der +Hauptstadt nicht. Mathilde hatte sich in etwas vorgerückteren Jahren +vermählt. Der Friede wurde dauernd hergestellt, ich blieb wieder +beständig in der Hauptstadt, und hier tat ich etwas, das mir ein +Vorwurf bis zu meinem Lebensende sein wird, weil es nicht nach den +reinen Gesetzen der Natur ist, obwohl es tausend Mal und tausend +Mal in der Welt geschieht. Ich heiratete ohne Liebe und Neigung. Es +war zwar keine Abneigung vorhanden, aber auch keine Neigung. Die +Hochachtung war gegenseitig groß. Man hatte mir viel davon gesagt, daß +es meine Pflicht sei, mir einen Familienstand zu gründen, daß ich im +Alter von teuern Angehörigen umgeben sein müsse, die mich lieben, +pflegen und schützen und auf die meine Ehren und mein Name übergehen +können. Es sei auch Pflicht gegen die Menschheit und den Staat. Auf +meine Einwendung, daß ich eine Neigung gegen irgend ein weibliches +Wesen nicht habe, sagten sie, Neigungen führen oft zu unglücklichen +Verbindungen, Kenntnis der gegenseitigen Beschaffenheit und +wechselseitige Hochachtung bauen dauerndes Glück. Trotz meiner +gereifteren Jahre hatte ich in diesen Dingen noch immer sehr +wenige Kenntnisse. Meine Jugendneigung, die so heftig und beinahe +ausschweifend gewesen war, hatte kein Glück gebracht. Ich heiratete +also ein Mädchen, welches nicht mehr jung war, eine angenehme Bildung +hatte, vom reinsten Wandel war und gegen mich tiefe Verehrung empfand. +Man sagte, ich hätte reich geheiratet, weil mein Hauswesen ein +ansehnliches war; allein die Sache verhielt sich nicht so. Meine +Gattin hatte mir eine namhafte Mitgift gebracht, aber ich hätte eine +größere Gabe hinzulegen können. Da ich in meinem mäßigen Leben beinahe +nichts brauchte, so hatte ich, besonders da ich einmal in höherer +Stellung war, bedeutende Ersparungen gemacht. Diese legte ich in den +damaligen Staatspapieren nieder, und da dieselben nach Beendigung des +Krieges ansehnlich stiegen, so war ich beinahe ein reicher Mann. Wir +lebten zwei Jahre in dieser Ehe, und in dieser wußte ich, was ich vor +der Schließung derselben nicht gewußt hatte, daß nehmlich keine ohne +Neigung eingegangen werden soll. Wir lebten in Eintracht, wir lebten +in hoher Verehrung der gegenseitigen guten Eigenschaften, wir lebten +in wechselweisem Vertrauen und in wechselweiser Aufmerksamkeit, man +nannte unsere Ehe musterhaft; aber wir lebten bloß ohne Unglück. Zu +dem Glücke gehört mehr als Verneinendes, es ist der Inbegriff der +Holdseligkeit des Wesens eines Andern, zu dem alle unsre Kräfte einzig +und fröhlich hinziehen. Als Julie nach zwei Jahren gestorben war, +betrauerte ich sie redlich; aber Mathildens Bild war unberührt in +meinem Herzen stehen geblieben. Ich war jetzt wieder allein. Zur +Schließung einer neuen Ehe war ich nicht mehr zu bewegen. Ich wußte +jetzt, was ich vorher nicht gewußt hatte. Liebe und Neigung, dachte +ich, ist ein Ding, das seinen Zug an meinem Herzen vorüber genommen +hatte.« + +»Ein Jahr nach dem Tode Juliens starb mein Oheim und setzte mich zu +dem Erben seines beträchtlichen Vermögens ein.« + +»Meine Geschäfte wurden mir indessen von Tag zu Tag schwerer. So wie +ich in früheren Zeiten schon gedacht hatte, daß der Staatsdienst +meiner Eigenheit nicht entspreche und daß ich besser täte, wenn ich +ihn verließe: so wuchs dieser Gedanke bei genauerem Nachdenken und +schärferem Selbstbeobachten zu immer größerer Gewißheit, und ich +beschloß, meine Ämter niederzulegen. Meine Freunde suchten mich daran +zu verhindern, und Mancher, den ich als feste Säule des Staates kennen +zu lernen Gelegenheit gehabt und mit dem ich in schwierigen Zeiten +manche harte Amtsstunde durchgemacht hatte, sagte eindringlich, +daß ich meine Tätigkeit nicht einstellen sollte. Aber ich blieb +unerschüttert. Ich zeigte meinen Austritt an. Der Kaiser nahm ihn +wohlwollend und mit übersendeten Ehren an. Ich hatte die Absicht, mir +für die letzten Tage meines Lebens einen Landsitz zu gründen und dort +einigen wissenschaftlichen Arbeiten, einigem Genusse der Kunst, so +weit ich dazu fähig wäre, der Bewirtschaftung meiner Felder und Gärten +und hie und da einer gemeinnützigen Maßregel für die Umgebung zu +leben. Manches Mal könnte ich in die Stadt gehen, um meine alten +Freunde zu besuchen, und zuweilen könnte ich eine Reise in die +entfernteren Länder unternehmen. Ich ging in meine Heimat. Dort fand +ich meinen Schwager schon seit vier Jahren gestorben, das Haus in +fremden Händen und völlig umgebaut. Ich reiste bald wieder ab. Nach +mehreren mißglückten Versuchen fand ich diesen Platz, auf dem ich +jetzt lebe, und setzte mich hier fest. Ich kaufte den Asperhof, +baute das Haus auf dem Hügel und gab nach und nach der Besitzung die +Gestalt, in der ihr sie jetzt sehet. Mir hatte das Land gefallen, +mir hatte diese reizende Stelle gefallen, ich kaufte noch mehrere +Wiesen, Wälder und Felder hinzu, besuchte alle Teile der Umgebung, +gewann meine Beschäftigung lieb und machte mehrere Reisen in die +bedeutendsten Länder Europas. So bleichten sich meine Haare, und +Freude und Behagen schien sich bei mir einstellen zu wollen.« + +»Als ich schon ziemlich lange hier gewesen war, meldete man mir eines +Tages, daß eine Frau den Hügel herangefahren sei und daß sie jetzt +mit einem Knaben vor den Rosen, die sich an den Wänden des Hauses +befinden, stehe. Ich ging hinaus, sah den Wagen und sah auch die Frau +mit dem Knaben vor den Rosen stehen. Ich ging auf sie zu. Mathilde war +es, die einen Knaben an der Hand haltend und von strömenden Tränen +überflutet die Rosen ansah. Ihr Angesicht war gealtert und ihre +Gestalt war die einer Frau mit zunehmenden Jahren.« + +»>Gustav, Gustav<, rief sie, da sie mich angeblickt hatte, >ich kann +dich nicht anders nennen als: du. Ich bin gekommen, dich des schweren +Unrechtes willen, das ich dir zugefügt habe, um Vergebung zu bitten. +Nimm mich einen Augenblick in dein Haus auf.<« + +»>Mathilde<, sagte ich, >sei gegrüßt, sei auf diesem Boden, sei +tausend Mal gegrüßt und halte dieses Haus für deines.<« + +»Ich war mit diesen Worten zu ihr hinzugetreten, hatte ihre Hand +gefaßt und hatte sie auf den Mund geküßt.« + +»Sie ließ meine Hand nicht los, drückte sie stark, und ihr Schluchzen +wurde so heftig, daß ich meinte, ihre mir noch immer so teuere Brust +müsse zerspringen.« + +»>Mathilde<, sagte ich sanft, >erhole dich.<« + +»>Führe mich in das Haus<, sprach sie leise.« + +»Ich rief erst durch mein Glöckchen, welches ich immer bei mir +trage, meinen Hausverwalter herzu und befahl ihm, Wagen und Pferde +unterzubringen. Dann faßte ich Mathildens Arm und führte sie in das +Haus. Als wir in dem Speisezimmer angelangt waren, sagte ich zu dem +Knaben: >Setze dich hier nieder und warte, bis ich mit deiner Mutter +gesprochen und die Tränen, die ihr jetzt so weh tun, gemildert habe.<« + +»Der Knabe sah mich traulich an und gehorchte. Ich führte Mathilde in +das Wartezimmer und bot ihr einen Sitz an. Als sie sich in die weichen +Kissen niedergelassen hatte, nahm ich ihr gegenüber auf einem Stuhle +Platz. Sie weinte fort, aber ihre Tränen wurden nach und nach linder. +Ich sprach nichts. Nachdem eine Zeit vergangen war, quollen ihre +Tropfen sparsamer und weniger aus den Augen, und endlich trocknete sie +die letzten mit ihrem Tuche ab. Wir saßen nun schweigend da und sahen +einander an. Sie mochte auf meine weißen Haare schauen, und ich +blickte in ihr Angesicht. Dasselbe war schon verblüht; aber auf den +Wangen und um den Mund lag der liebe Reiz und die sanfte Schwermut, +die an abgeblühten Frauen so rührend sind, wenn gleichsam ein Himmel +vergangener Schönheit hinter ihnen liegt, der noch nachgespiegelt +wird. Ich erkannte in den Zügen die einstige prangende Jugend.« + +»>Gustav<, sagte sie, >so sehen wir uns wieder. Ich konnte das Unrecht +nicht mehr tragen, das ich dir angetan habe.<« + +»>Es ist kein Unrecht geschehen, Mathilde<, sagte ich.« + +»>Ja, du bist immer gut gewesen<, antwortete sie, >das wußte ich, +darum bin ich gekommen. Du bist auch jetzt gut, das sagt dein liebes +Auge, das noch so schön ist wie einst, da es meine Wonne war. O ich +bitte dich, Gustav, verzeihe mir.<« + +»>O teure Mathilde, ich habe dir nichts zu verzeihen, oder du hast es +mir auch<, antwortete ich. >Die Erklärung liegt darin, daß du nicht zu +sehen vermochtest, was zu sehen war, und daß ich dann nicht näher zu +treten vermochte, als ich hätte näher treten sollen. In der Liebe +liegt alles. Dein schmerzhaftes Zürnen war die Liebe, und mein +schmerzhaftes Zurückhalten war auch die Liebe. In ihr liegt unser +Fehler und in ihr liegt unser Lohn.<« + +»>Ja, in der Liebe<, erwiderte sie, >die wir nicht ausrotten konnten. +Gustav, ich bin dir doch trotz allem treu geblieben und habe nur dich +allein geliebt. Viele haben mich begehrt, ich wies sie ab; man hat mir +einen Gatten gegeben, der gut, aber fremd neben mir lebte, ich kannte +nur dich, die Blume meiner Jugend, die nie verblüht ist. Und du liebst +mich auch, das sagen die tausend Rosen vor den Mauern deines Hauses, +und es ist ein Strafgericht für mich, daß ich gerade zu der Zeit ihrer +Blüte gekommen bin.<« + +»>Rede nicht von Strafgerichten, Mathilde<, erwiderte ich, >und weil +alles Andere so ist, so lasse die Vergangenheit und sage, welche deine +Lage jetzt ist. Kann ich dir in irgend etwas helfen?<« + +»>Nein, Gustav<, entgegnete sie, >die größte Hilfe ist die, daß du da +bist. Meine Lage ist sehr einfach. Der Vater und die Mutter sind schon +längst tot, der Gatte ist ebenfalls vor Langem gestorben und Alfred - +du hast ihn ja recht geliebt -<« + +»>Wie ich einen Sohn lieben würde<, antwortete ich.« + +»>Er ist auch tot<, sagte sie, >er hat kein Weib, kein Kind +hinterlassen, das Haus in Heinbach und das in der Stadt hat er noch +bei seinen Lebzeiten verkauft. Ich bin im Besitze des Vermögens der +Familie und lebe mit meinen Kindern einsam. Lieber Gustav, ich habe +dir den Knaben gebracht - wie wußtest du denn, daß er mein Sohn sei?<« + +»>Ich habe deine schwarzen Augen und deine braunen Locken an ihm +gesehen<, antwortete ich.« + +»>Ich habe dir den Knaben gebracht<, sagte sie, >daß du sähest, daß er +ist wie dein Alfred - fast sein Ebenbild -, aber er hat niemanden, der +so lieb mit ihm umgeht, wie du mit Alfred umgegangen bist, der ihn so +liebt, wie du Alfred geliebt hast, und den er wieder so lieben könnte, +wie Alfred dich geliebt hat.<« + +»>Wie heißt der Knabe?< fragte ich.« + +»>Gustav, wie du<, antwortete sie.« + +»Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten.« + +»>Mathilde<, sagte ich, >ich habe nicht Weib, nicht Kind, nicht +Anverwandte. Du warst das Einzige, was ich in meinem ganzen Leben +besaß und behielt. Lasse mir den Knaben, lasse ihn bei mir, ich will +ihn lehren, ich will ihn erziehen.<« + +»>O mein Gustav<, rief sie mit den schmerzlichsten Tönen der Rührung, +>wie wahr ist mein Gefühl, das mich an dich, den besten der Menschen, +wies, als ich ein Kind war, und das mich nicht verlassen hatte, so +lange ich lebte.<« + +»Sie war aufgestanden, hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt und +weinte auf das Innigste. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, +meine Tränen flossen unaufhaltsam, ich schlang meine Arme um sie und +drückte sie an mein Herz. Und ich weiß nicht, ob je der heiße Kuß der +Jugendliebe tiefer in die Seele gedrungen und zu größrer Höhe erhebend +gewesen ist als dieses verspätete Umfassen der alten Leute, in denen +zwei Herzen zitterten, die von der tiefsten Liebe überquollen. Was +im Menschen rein und herrlich ist, bleibt unverwüstlich und ist ein +Kleinod in allen Zeiten.« + +»Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich sie zu ihrem Sitze, nahm +den meinigen wieder ein, und fragte: >Hast du noch andere Kinder?<« + +»>Ein Mädchen, welches mehrere Jahre älter ist als der Knabe<, +erwiderte sie, >ich werde dir dasselbe auch bringen, es hat ebenfalls +die schwarzen Augen und die braunen Haare wie ich. Das Mädchen behalte +ich, den Knaben lasse, weil du so gütig bist, um dich leben, so lange +du willst. Er möge werden wie du. O, ich hatte kaum geahnt, wie hier +alles werden wird.<« + +»>Mathilde, beruhige dich jetzt<, sagte ich, >ich werde den Knaben +holen, wir werden mit ihm freundlich sprechen.<« + +»Ich tat es, trat mit dem Knaben an der Hand herein und wir sprachen +mit dem Kinde und abwechselnd unter uns noch eine geraume Weile. +Ich zeigte Mathilden hierauf das Haus, den Garten, den Meierhof und +alles Andere. Gegen Abend fuhr sie wieder fort, um in Rohrberg zu +übernachten. Den Knaben sollte sie der Verabredung gemäß wieder +mit sich nehmen, ihn ausrüsten und vorbereiten und ihn, wie sie es +für gelegen halte, bringen. Wir blieben von dem Augenblicke an in +Briefwechsel, und als eine Zeit vergangen war, brachte sie mir Gustav, +der noch bei mir ist, sie brachte mir auch Natalien, die damals im +ersten Aufblühen begriffen war. Eine größere Gleichheit als zwischen +diesem Kinde und dem Kinde Mathilde kann nicht mehr gedacht werden. +Ich erschrak, als ich das Mädchen sah. Ob in den Jahren, in denen +jetzt Natalie ist, Mathilde auch ihr gleich gewesen ist, kann ich +nicht sagen; denn da war ich von Mathilden schon getrennt.« + +»Es begann nun eine sehr liebliche Zeit. Mathilde kam mit Natalien +öfter, um uns zu besuchen. Ich machte ihr in den ersten Tagen den +Vorschlag, daß ich die Rosen, wenn sie ihr schmerzliche Erinnerungen +weckten, von dem Hause entfernen wolle. Sie ließ es aber nicht zu, +sie sagte, sie seien ihr das Teuerste geworden und bilden den Schmuck +dieses Hauses. Sie hatte sich zu einer solchen Milde und Ruhe +gestimmt, wie ihr sie jetzt kennt, und diese Lage ihres Wesens +befestigte sich immer mehr, je mehr sich ihre äußeren Verhältnisse +einer Gleichmäßigkeit zuneigten und je mehr ihr Inneres, ich darf es +wohl sagen, sich beglückt fühlte. + +Ein freundlicher Verkehr hatte sich entwickelt, Gustav hatte sich an +mich gewöhnt, ich an ihn, und aus der Gewöhnung war Liebe entstanden. +Mathilde gab Rat in meinem Hauswesen, ich in der Verwaltung ihrer +Angelegenheiten. Nataliens Erziehung wurde oft zwischen uns +besprochen und Schritte getan, die wir verabredet hatten. Und in der +gegenseitigen Hilfleistung stärkte sich die Neigung, die wir gegen +einander hatten, die nie verschwunden war, die sich zu einem edlen, +tiefen freundlichen Gefühle gebildet hatte und die nun offen und +rechtmäßig bestehen konnte. Ich hatte wieder Jemanden, den ich zu +lieben vermochte, und Mathilde konnte ihr Herz, das mir immer gehört +hatte, unumwunden an mein Wohl und an mein Wesen wenden. Nach einer +Zeit wurde der Sternenhof verkäuflich. Ich schlug Mathilden den Kauf +vor. Sie besah das Gut. Seiner Nachbarschaft mit mir willen und schon +seiner Linden willen, die sie an die großen Bäume auf dem Rasenplatze +vor dem Hause in Heinbach erinnerten, war sie zu dem Kaufe geneigt. +Auch hatte der Sternenhof überhaupt große Ähnlichkeit mit dem Hause in +Heinbach, war an sich eine sehr angenehme Besitzung und gab Mathilden +für den Rest ihres Lebens einen festen Punkt und einige Abrundung +ihrer Verhältnisse. Also wurde er erworben. Um dieselbe Zeit ließ ich +in meinem Hause die Wohnung für Mathilden und Natalien herrichten. In +dem Sternenhofe war viel Arbeit, bis alles zur gefälligen Wohnlichkeit +geordnet war. Und auch nach dieser Zeit wurde beständig geändert und +umgewandelt, bis das Haus so war, wie es jetzt ist. Und selber jetzt, +wie ihr wißt, wird dort wie hier gebaut, befestigt, verschönert, und +es wird wohl immer so fortgehen. Die Rosen, dieses Merkmal unserer +Trennung und Vereinigung, sollten vorzugsweise auf dem Asperhofe +bleiben, weil es Mathilden lieb war, daß sie dieselben dort gefunden +hatte. Jede Rosenblütezeit verlebte sie bei mir, sie liebte diese +Blumen außerordentlich, pflegte sie und konnte sich freuen, wenn sie +mir eine Art, die ich noch nicht hatte, zubringen konnte. Dafür ließ +ich ihr in ihrem Schlosse die Geräte machen, die ihr so viel Vergnügen +bereiten. Gustav wurde von Tag zu Tage trefflicher und versprach, +einmal ein Mann zu werden, woran seines Gleichen Freude haben sollten. +Natalie wurde nicht bloß schön und herrlich, sondern sie wurde auch im +Umgange mit ihrer Mutter so rein und edel, wie Wenige sind. Sie hatte +das tiefe Gefühl ihrer Mutter erhalten; aber teils durch ihr Wesen, +teils durch eine sehr sorgfältige Erziehung ist mehr Ruhe und +Stetigkeit in ihr Dasein gekommen. Zwischen Mathilden und mir war ein +eigenes Verhältnis. Es gibt eine eheliche Liebe, die nach den Tagen +der feurigen, gewitterartigen Liebe, die den Mann zu dem Weibe führt, +als stille, durchaus aufrichtige süße Freundschaft auftritt, die über +alles Lob und über allen Tadel erhaben ist, und die vielleicht das +Spiegelklarste ist, was menschliche Verhältnisse aufzuweisen haben. +Diese Liebe trat ein. Sie ist innig, ohne Selbstsucht, freut sich, +mit dem Andern zusammen zu sein, sucht seine Tage zu schmücken und zu +verlängern, ist zart und hat gleichsam keinen irdischen Ursprung an +sich. + +Mathilde nimmt Anteil an meinen Bestrebungen. Sie geht mit in den +Räumen meines Hauses herum, ist mit mir in dem Garten, betrachtet die +Blumen oder Gemüse, ist in dem Meierhofe und schaut seine Erträgnisse +an, geht in das Schreinerhaus und betrachtet, was wir machen, +und sie beteiligt sich an unserer Kunst und selbst an unsern +wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich sehe in ihrem Hause nach, +betrachte die Dinge im Schlosse, im Meierhofe, auf den Feldern, nehme +Teil an ihren Wünschen und Meinungen und schloß die Erziehung und +die Zukunft ihrer Kinder in mein Herz. So leben wir in Glück und +Stetigkeit gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer. +Meine Sammlungen vervollständigen sich, die Baulichkeiten runden sich +immer mehr, ich habe Menschen an mich gezogen, ich habe hier mehr +gelernt als sonst in meinem ganzen Leben, die Spielereien gehen ihren +Gang, und etwas Weniges nütze ich doch auch noch.« + +Er schwieg nach diesen Worten eine Weile, und ich auch. Dann fuhr er +wieder fort: »Ich habe das alles mitteilen müssen, damit ihr wißt, wie +ich mit der Familie in dem Sternenhofe zusammenhänge, und damit in dem +Kreise, in welchen ihr nun auch tretet, für euch Klarheit ist. Die +Kinder wissen die Verhältnisse im Allgemeinen, ein näheres Eingehen +war für sie nicht so nötig wie für euch. Ich wünsche nicht, daß ihr +gegen eure künftige Gattin Geheimnisse habt, ihr könnt Natalien +mitteilen, was ich euch sagte, ich konnte es, wie ihr begreifet, +nicht. Über Nataliens Zukunft sprach ich oft mit Mathilden. Sie sollte +einen Gatten bekommen, den sie aus tiefer Neigung nimmt. Es sollte die +gegenseitige größte Hochachtung vorhanden sein. Durch Beides sollte +sie das Glück finden, das ihre Mutter und ihren väterlichen Freund +gemieden hat. Mathilde hat in Begleitung des alten Raimund, der +seitdem gestorben ist, große Reisen gemacht. Sie hat auf denselben +dauerndere Ruhe gesucht und auch gefunden. Sie hat sie in der +Betrachtung der edelsten Kunstwerke des menschlichen Geschlechtes und +in der Anschauung mancher Völker und ihres Treibens gefunden. Natalie +ist dadurch befestigt, veredelt und geglättet worden. Manche junge +Männer hat sie kennen gelernt, aber sie hat nie ein Zeichen einer +Neigung gegeben. Sogenannte sehr glänzende Verbindungen sind auf diese +Weise für sie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge gehabt, +wenn ich unter unseren jungen Männern hätte wählen müssen. Als ihr +zum ersten Male an dem Gitter meines Hauses standet und ich euch sah, +dachte ich: >Das ist vielleicht der Gatte für Natalien.< Warum ich es +dachte, weiß ich nicht. Später dachte ich es wieder, wußte aber warum. +Natalie sah euch und liebte euch, so wie ihr sie. Wir kannten das +Keimen der gegenseitigen Neigung. Bei Natalien trat sie Anfangs in +einem höheren Schwunge ihres ganzen Wesens, später in einer etwas +schmerzlichen Unruhe auf. In euch erschloß sie euer Herz zu einer +früheren Blüte der Kunst und zu einem Eingehen in die tieferen Schätze +der Wissenschaft. Wir warteten auf die Entwicklung. Zu größerer +Sicherheit und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten wir +absichtlich Natalien zwei Winter nicht in die Stadt, daß sie von euch +getrennt sei, ja sie wurde von ihrer Mutter wieder auf größere Reisen +und in größere Gesellschaften gebracht. Ihre Gefühle aber blieben +beständig und die Entwicklung trat ein. Wir geben euch mit Freuden das +Mädchen in eure Liebe und in euren Schutz, ihr werdet sie beglücken +und sie euch; denn ihr werdet euch nicht ändern, und sie wird sich +auch nicht ändern. Gustav wird einmal den Sternenhof und was dazu +gehört erhalten; denn das Haus ist Mathilden so lieb geworden, daß +sie wünscht, daß es ein Eigentum ihrer Familie bleibe und daß die +kommenden Geschlechter das ehren, was die erste Besitzerin darin +niedergelegt hat. Gustav wird es tun, das wissen wir schon, und seinen +Nachfolgern die gleiche Gesinnung einzupflanzen, wird wohl auch sein +Bestreben sein. Natalie erhält von mir den Asperhof mit allem, was in +ihm ist, nebst meinen Barschaften. Ihr werdet mein Andenken hier nicht +verunehren.« + +Mir traten die Tränen in die Augen, da er so sprach, und ich reichte +ihm meine Hand hinüber. Er nahm sie und druckte sie herzlich. + +»Ihr könnt hier auf dem Asperhofe wohnen oder in dem Sternenhofe oder +bei euren Eltern. Überall wird Platz für euch zu machen sein. Ihr +könnt auch euern Aufenthalt abwechselnd zwischen uns teilen, und +das wird wohl wahrscheinlich der Fall sein, bis sich alle unsere +Verhältnisse dem neuen Ereignisse gemäß gerichtet haben. Die Schriften +bezüglich der Übertragung meines Vermögens an Natalien werden ihr nach +der Vermählung eingehändigt werden. So lange ich lebe, erhält sie +einen Teil, den Rest nach meinem Tode. Wie ihr mit dem, was sie jetzt +empfängt, gebaren sollt, darüber wird euer Vater die beste Belehrung +geben können. Er wird wohl mit mir auch darüber sprechen. Natalie +erhält auch nach ihrer Vermählung den Teil, der ihr aus dem Nachlasse +ihres Vaters Tarona gebührt.« + +»Ist Nataliens Name Tarona?« fragte ich. + +»Habt ihr das nicht gewußt?« fragte er seinerseits. + +»Ich habe Mathilden immer die Frau von Sternenhof nennen gehört«, +antwortete ich, »bin mit Mathilden und Natalien nirgends zusammen +gewesen als im Sternenhofe, Asperhofe und Inghofe, und da wurden beide +stets bei ihrem Vornamen genannt. Weitere Forschungen stellte ich gar +nie an.« + +»Mathilde ließ geschehen, daß sie nach dem Sternenhofe geheißen wurde, +der Name war ihr lieber. So mag es wohl gekommen sein, daß ihr keinen +andern gehört habt. Für Gustav wird die Erlaubnis zur Führung dieses +Namens nachgesucht werden.« + +»Aber die Tarona, erzählte man mir, sei gerade in jenem Winter, an +welchem ich Natalien in der Loge gesehen habe, nicht in der Stadt +gewesen«, sagte ich, und dachte an Preborn, welcher mir diese Tatsache +mitgeteilt hatte. + +»Ganz richtig«, erwiderte mein Gastfreund, »wir sind auch nur zur +Aufführung des König Lear hingefahren. Ich war in der Loge hinter +Natalien, habe euch aber nicht gesehen.« + +»Ich euch auch nicht«, antwortete ich. + +»Natalie hat uns von dem jungen Manne erzählt, der ihr im +Schauspielhause aufgefallen sei«, erwiderte er, »aber erst nach langer +Zeit konnte sie uns eröffnen, daß ihr es gewesen seid.« + +»Habe ich euch nicht einmal im Winter in der Stadt nach der +Wiedergenesung des Kaisers, mit euren Ehrenzeichen geschmückt, fahren +gesehen?« fragte ich. + +»Das ist möglich«, antwortete er, »ich war in jener Zeit in der Stadt +und an dem Hofe.« + +»Nun mein sehr lieber junger Freund«, sagte er nach einer Weile, »ich +habe euch von meinem Leben erzählt, da ihr einer der unseren werden +sollt, ich habe zu euch von meinem tiefsten Herzen geredet, und jetzt +enden wir dieses Gespräch.« + +»Ich bin euch Dank schuldig«, antwortete ich, »allein all das Gehörte +ist noch zu mächtig und neu in mir, als daß ich jetzt die Worte des +Dankes finden könnte. Nur eins berührt mich fast wie ein Schmerz, daß +ihr mit Mathilden nach eurer Wiedervereinigung nicht in einen nähern +Bund getreten seid.« + +Der Greis errötete bei diesen Worten, er errötete so tief und zugleich +so schön, wie ich es nie an ihm gesehen hatte. + +»Die Zeit war vorüber«, antwortete er, »das Verhältnis wäre nicht mehr +so schön gewesen, und Mathilde hat es auch wohl nie gewünscht.« + +Er war schon früher aufgestanden, jetzt reichte er mir die Hand, +drückte die meine herzlich und verließ das Zimmer. + +Ich blieb eine geraume Weile stehen und suchte meine Gedanken zur +Sammlung zu bringen. Das wäre mir nie zu Sinne gekommen, als ich zum +ersten Male zu diesem Hause heraufstieg und des andern Tages seinen +Inhalt sah, daß alles so kommen würde, wie es kam, und daß das alles +zu meinem Eigentume bestimmt sei. Auch begriff ich jetzt, weshalb +er meistens, wenn er von seinem Besitze sprach, das Wort »unser« +gebrauchte. Er bezog es schon auf Mathilden und ihre Kinder. + +Nachdem ich noch eine Zeit in meiner Wohnung verweilt hatte, verließ +ich sie, um in frischer Luft einen Spaziergang zu machen und noch das +Gehörte in mir ausklingen zu lassen. + + + +Der Abschluß + +Am nächsten Tage ging ich im Laufe des Vormittages zu einer Stunde, an +welcher ich meinen Gastfreund weniger beschäftigt wußte, in gewähltem +Anzuge in seine Stube und dankte ihm innig für das Vertrauen, welches +er mir geschenkt habe, und für die Achtung, welche er mir dadurch +erweise, daß er mich würdig erachte, Nataliens Gatte zu werden. + +»Was das Vertrauen anbelangt«, erwiderte er, »so ist es natürlich, +daß man nicht jeden, der uns ferne steht, in unsere innersten +Angelegenheiten einweiht; aber eben so natürlich ist es, daß +derjenige, der für die Zukunft einen Teil, ich möchte sagen unserer +Familie ausmachen wird, auch alles wisse, was diese Familie betrifft. +Ich habe euch das Wesentlichste gesagt, einzelne kleine Umstände, die +der Vorstellungskraft nicht immer gegenwärtig sind, ändern wohl an der +Sachlage nichts. Was die Hochachtung anbelangt, die darin liegt, daß +ich euch zu Nataliens Gatten geeignet erachte, so habt ihr vor allen +Männern dieser Erde den unermeßlichen Vorzug, daß euch Natalie liebt +und euch und keinen andern will; aber auch trotz dieses Vorzuges +würden Mathilde und ich, dem man hierin ein Recht eingeräumt hat, +nie eingewilligt haben, wenn uns euer Wesen nicht die Zuversicht +eingeflößt hätte, daß da ein dauernd glückliches Familienband geknüpft +werden könne. Was die Hochachtung anbelangt, die ich euch, abgesehen +von dieser Angelegenheit, schuldig bin, so habe ich meiner Meinung +nach euch die Beweise derselben gegeben. Wenn ich auch gedacht habe, +ihr dürftet Nataliens künftiger Gatte sein, so war der Eintritt +dieses Ereignisses so unbestimmt, da es ja auf die Entstehung einer +gegenseitigen Neigung ankam, daß der Gedanke daran auf mein Benehmen +gegen euch keinen Einfluß haben konnte, ja im Verlaufe der Zeiten war +der Gedanke erst der Sohn meiner Meinung von euch.« + +»Ihr habt mir wirklich so viele Beweise eures Wohlwollens und eurer +Schonung gegeben«, antwortete ich, »daß ich gar nicht weiß, wie ich +sie verdiene; denn Vorzüge von was immer für einer Art sind gar nicht +an mir.« + +»Das Urteil über den Grund, woraus Achtung und Neigung oder Mißachtung +und Abneigung entsteht, muß immer Andern überlassen werden; denn wenn +man zuletzt auch annähernd weiß, was man in einem Fache geleistet hat, +wenn man sich auch seines guten Willens im Wandel bewußt ist, so kennt +man doch alle Abschattungen seines Wesens nicht, in wie ferne sie +gegen Andere gerichtet sind, man kennt sie nur in der Richtung gegen +sich selbst, und beide Richtungen sind sehr verschieden. Übrigens, +mein lieber Sohn, wenn es auch ganz in der Ordnung ist, daß man in +der Gesellschaft der Menschen einen gewissen Anstand und Abstand in +Kleidern und sonstigem Benehmen zeigt, so wäre es in der eigenen +Familie eine Last. Komme also in Zukunft in deinen Alltagsgewändern zu +mir. Und wenn ich auch kein Verwandter deiner Braut bin, so betrachte +mich als einen solchen, wie etwa als ihren Pflegevater. Es wird schon +alles recht werden, es wird schon alles gut werden.« + +Er hatte bei diesen Worten die Hand auf mein Haupt gelegt, sah mich +an, und in seinen Augen standen Tränen. + +Ich hatte nie im Verkehre mit mir die Augen dieses Greises naß werden +gesehen; ich war daher sehr erschüttert und sagte: »So erlaubt mir, +daß ich in dieser ernsten Stunde auch meinen Dank für das ausspreche, +was ich in diesem Hause geworden bin; denn wenn ich irgend etwas bin, +so bin ich es hier geworden, und gewährt mir in dieser Stunde auch +eine Bitte, die mir sehr am Herzen liegt: erlaubt, daß ich eure +ehrwürdige Hand küsse.« + +»Nun, nur dieses eine Mal«, erwiderte er, »oder höchstens noch einmal, +wenn du mit Natalien, die ein Kleinod meines Herzens ist, von dem +Altare gehst.« + +Ich faßte seine Hand und drückte sie an meine Lippen; er legte aber +die andere um meinen Nacken und drückte mich an sein Herz. Ich konnte +vor Rührung nicht sprechen. + +»Bleibe noch eine Weile in diesem Hause«, sagte er später, »dann gehe +zu den Deinigen und leiste ihnen Gesellschaft. Dein Vater bedarf +deiner Person auch.« + +»Darf ich den Meinigen eure Mitteilung erzählen?« fragte ich. + +»Ihr müßt es sogar tun«, antwortete er, »denn eure Eltern haben ein +Recht, zu wissen, in welche Gesellschaft ihr Sohn durch Schließung +eines sehr heiligen Bundes tritt, und sie haben auch ein Recht, zu +wünschen, daß ihr Sohn nicht Geheimnisse vor ihnen habe. Ich werde +übrigens wohl selber mit eurem Vater über dieses und viele andere +Dinge sprechen.« + +Wir beurlaubten uns hierauf, und ich verließ das Zimmer. + +Den Rest des Vormittages verbrachte ich mit Abfassung eines Briefes an +meine Eltern. + +Am Nachmittage suchte ich Gustav auf, und er erhielt die Erlaubnis, +mit mir einen weiteren Weg in der Gegend zu machen. Wir kamen in der +Dämmerung zurück, und er mußte die Zeit, welche er am Tage verloren +hatte, bei der Lampe nachholen. + +Unter Arbeiten in meinen Papieren, in welche ich einige Ordnung zu +bringen suchte, im Umgange mit meinem Gastfreunde, der mir leutselig +manche Zeit schenkte, unter manchem Besuche im Schreinerhause, wo +Eustach sehr beschäftigt war, oder bei seinem Bruder Roland, der jeden +lichten Augenblick des Tages zu seinem Bilde benützte, und endlich +unter manchem weiten Gange in der Umgebung, da dieser Winter der erste +war, den ich so tief im Lande zubrachte, verging noch die Zeit bis +gegen die Mitte des Hornung. Ich nahm nun Abschied, sendete meine +Sachen auf die Post nach Rohrberg und ging zu Fuße nach, harrte dort +der Ankunft des Wagens aus dem Westen, erhielt, da er gekommen war, +einen Platz in ihm und fuhr meiner Heimat zu. + + +Ich wurde wie immer sehr freudig von den Meinigen gegrüßt und mußte +ihnen von der Winterreise im Hochgebirge erzählen. Ich tat es, und +erzählte ihnen in den ersten Tagen auch, was mir mein Gastfreund +mitgeteilt hatte. Es war ihnen bisher unbekannt gewesen. + +»Ich habe Risach oft nennen gehört«, sagte mein Vater, »und stets war +der Ausdruck der Hochachtung mit der Nennung seines Namens verbunden. +Von der Familie, welche Heinbach besaß, habe ich nur Alfred +flüchtig gekannt. Mit Tarona war ich einmal in einer entfernten +Geschäftsverbindung gestanden.« + +Die Jugendbeziehungen meines Gastfreundes zu Mathilden mußten sehr +geheim gehalten worden sein, da weder je der Vater noch irgend jemand +aus seiner Bekanntschaft von dieser Sache etwas gehört hatte, obwohl +über ähnliche Gegenstände die Sprechlust am regesten zu sein pflegt. +Daß meine Mitteilungen an meine Angehörigen nach dem Bunde mit +Natalien den größten Eindruck machten, ist begreiflich. Deßohngeachtet +hatte ich doch auch dem Vater etwas gebracht, was ihn sehr freute. Ich +war in den letzten Tagen meines Aufenthaltes in dem Rosenhause noch +bei dem Gärtner gewesen und hatte ihn ersucht, mir die Vorschrift +zur Bereitung des Bindemittels an den Gläsern des Gewächshauses zu +verschaffen, wodurch das Hineinziehen des Wassers zwischen die Gläser +und das dadurch bewirkte Herabtropfen verhindert wird. Er hatte die +Vorschrift wohl nicht selber, ging aber zu meinem Gastfreunde, und +durch diesen erhielt ich sie. Ich erzählte meinem Vater von der Sache +und übergab ihm die Anleitung zur Bereitung. + +»Das wird das für die Pflanzen so schädliche Herabtropfen des +Winterwassers in unserem hiesigen Gewächshause also für die Zukunft +verhindern«, sagte er, »noch mehr freue ich mich aber, es gleich neu +in den neuen Gewächshäusern anwenden zu können, welche neben dem +Landhause stehen werden, das ich bauen werde.« + +Die Mutter lächelte. + +»Bereitet euch einstweilen auf die Reise in den Sternenhof und in das +Rosenhaus vor«, sagte der Vater, »alles Andere ist geschehen, der +Schritt, der nun zu tun ist, liegt uns ob. In den ersten Tagen des +Frühlings worden wir hinreisen, und ich werde für meinen Sohn werben. +Ihr Weiber bereitet euch gerne auf solche Dinge vor, tut es und beeilt +euch, ihr habt nicht lange Zeiten vor euch, zwei Monate und etwas +darüber. Was mir bis dahin obliegt, wird nicht auf sich warten +lassen.« + +Daß diese Maßregel Beifall hatte, ging aus der Sachlage hervor; die +Zeit zur Vorbereitung aber wollte man etwas kurz nennen. Der Vater +sagte, es dürfe nicht das Geringste zugegeben werden, weil man es +sonst der Wichtigkeit des Verhältnisses nähme. Das war einleuchtend. + +Es ging nun an ein Arbeiten und Bestellen, und kein Tag war, dem nicht +seine Last zugeteilt wurde. Die Mutter traf auch Vorbereitungen für +den Fall, daß die neuen Ehegatten in ihrem Hause wohnen würden. Der +Vater sagte ihr zwar, daß meiner Verbindung noch meine große Reise +vorangehen werde; allein sie widerlegte ihn mit der Bemerkung, daß es +keinen Schaden bringe, wenn Manches früher fertig sei, als man es eben +brauche. Er ließ sofort ihrem hausmütterlichen Sinne seinen Lauf. + +Zu Ende des Märzes brachte der Vater einen sehr schönen Wagen in das +Haus. Es war ein Reisewagen für vier Personen. Er hatte den Wagen nach +seinen eigenen Angaben machen lassen. + +»Wir müssen unsere Freunde ehren«, sagte er, »wir müssen uns selber +ehren, und wer kann wissen, ob wir den Wagen nicht noch öfter brauchen +werden.« + +Er verlangte, daß man ihn genau besehe und in Hinsicht seiner +Bequemlichkeit, besonders für Reisegegenstände von Frauen, prüfe. +Es geschah, und man mußte die Einrichtung des Wagens loben. Es war +Festigkeit mit Leichtigkeit verbunden, und bei einer gefälligen +Gestalt bot er Räumlichkeit für alle nötigen Dinge. + +»Ich bin nun fertig«, sachte er, »sorgt, daß eure Vorbereitungen nicht +zu lange dauern.« + +Aber auch die Frauen waren zu der rechten Zeit in Bereitschaft. Der +Vater hatte den Beginn der Baumblüte und des Blätterknospens als +Reisezeit bestimmt, und zu dieser Zeit fuhren wir auch fort. + +Ich fuhr nun einen Weg, den ich so oft allein oder mit Fremden in +einem Wagen zurückgelegt hatte, mit allen meinen Angehörigen. Wir +fuhren mit Pferden, die wir uns auf jeder Post geben ließen; allein +wir fuhren zur Bequemlichkeit der Mutter und Klotildens, weshalb wir +uns oft länger an einem Orte aufhielten und kleine Tagereisen machten. +Ein sehr schönes Wetter und eine Fülle von weißen und rotschimmernden +Blüten begleitete uns. + +Am vierten Tage vormittags fuhren wir in dem Sternenhofe ein. Mathilde +war von unserer Ankunft unterrichtet worden. Wir hatten das Wagendach +zurückgelegt, und alle Blicke meiner Angehörigen hafteten schon von +weiter Entfernung her auf dem Blütenhügel, auf dem das Schloß stand, +sie richteten sich jetzt auf die Gestalt des Bauwerkes, endlich auf +das Sternenschild über dem Tore, auf die Wölbung des Torweges und +zuletzt auf Mathilden und Natalien, die da standen, um uns zu +empfangen. Wir stiegen aus. Natalie wechselte die Farben zwischen Blaß +und Purpurrot. Man wartete nicht weiter mit dem Gruße. Klotilde und +Natalie lagen sich an dem Halse und weinten. Meine ehrwürdige Mutter +war von Mathilden umfaßt und an das Herz gedrückt. Dann wurde der +Vater von ihr anmutsvoll und herzlich gegrüßt, sie reichte ihm beide +Hände und sah ihn mit ihren Augen, die noch immer so schön waren, auf +das Innigste an. Natalie hatte indessen die Hand meiner Mutter gefaßt +und sie geküßt. Diese gab den Kuß auf die Stirne des schönen Mädchens +zurück. Der Vater wollte wahrscheinlich etwas Heiteres oder gar +Scherzhaftes zu Natalien sagen; aber als er sie näher anblickte, wurde +er sehr ernst und beinahe scheu, er grüßte sie anständig und sehr +fein. Wahrscheinlich hatte ihn ihre Schönheit überrascht oder er +erinnerte sich, wie es auch mir ergangen war, an die Pracht seiner +geschnittenen Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das Herz +gedrückt. Auf mich dachte beinahe niemand. Ob dieser Empfang der +strengen Umgangssitte oder irgend einer Rangordnung gemäß war, darnach +fragte niemand. Wir gingen unter einander gemischt die Treppe hinan +und wurden in Mathildens Gesellschaftszimmer geführt. Dort lieh man +den Grüßen erst lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck. + +»So lange haben wir uns gekannt und erst jetzt sehen wir uns«, sagte +Mathilde zu meinen Eltern, als sie dieselben zum Niedersitzen auf ihre +Plätze veranlaßt hatte. + +»Es war ein Wunsch von vielen Jahren«, entgegnete mein Vater, »daß wir +die Menschen sähen, die gegen meinen Sohn so wohlwollend waren und die +sein Wesen so sehr gehoben hatten.« + +»Das ist nun Natalie, meine teure Klotilde«, sagte ich, indem ich +beide Mädchen einander vorstellte, »das ist Natalie, die ich so sehr +liebe, so sehr wie dich selbst.« + +»Nein, mehr als mich, und so ist es auch recht«, erwiderte Klotilde. + +»Sei meine Schwester«, sagte Natalie, »ich werde dich lieben wie eine +Schwester, ich werde dich lieben, so sehr es nur mein Herz vermag.« + +»Ich nenne dich auch du«, erwiderte Klotilde, »ich liebe meinen Bruder +wie mein eigenes Herz, und werde dich auch so lieben.« + +Die beiden Mädchen umarmten sich wieder und küßten sich wieder. + +Als wir uns um den Tisch gesetzt hatten, sagte ich zu Natalien: »Und +mich grüßt ihr beinahe gar nicht.« + +»Ihr wißt es ja doch«, erwiderte sie, indem sie mich freundlich ansah. + +Das Gespräch dauerte nun allgemeiner über denselben Gegenstand fort. + +Die zwei Frauen konnten sich kaum genug betrachten und nahmen sich +immer wieder bei den Händen. + +Als man endlich auf andere Gegenstände übergegangen war und über die +Reise und ihre Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten gesprochen +hatte, sagte mein Vater, daß wir noch sämtlich in Reisekleidern seien, +daß wir ans verabschieden müßten, und er fragte, wann er die Ehre +haben könnte, sich Mathilden wieder vorstellen zu dürfen. + +»Nicht Vorstellung«, erwiderte sie, »Besuch, wann ihr immer wollt.« + +»Also in zwei Stunden«, entgegnete mein Vater. + + +Wir gingen in unsere Zimmer, und mein Vater wies uns an, uns in +Festkleider zu kleiden. Nach zwei Stunden ging er allein mit der +Mutter, beide wie an einem hohen Festtage geschmückt, zu Mathilden, +welche sie zu sprechen verlangten. Mathilde empfing sie in dem großen +Gesellschaftszimmer, und mein Vater warb um die Hand Nataliens für +mich. + +Nach wenigen Augenblicken wurden Natalie, Klotilde und ich +hineingerufen, und Mathilde sagte: »Der Herr und die Frau Drendorf +haben für ihren Sohn Heinrich um deine Hand geworben, Natalie.« + +Natalie, welche in einem so festlichen Kleide da stand, wie ich sie +nie gesehen hatte, weshalb sie mir beinahe fremd erschien, blickte +mich mit Tränen in den Augen an. Ich ging auf sie zu, faßte sie an der +Hand, führte sie vor ihre Mutter, und wir sprachen einige Worte des +Dankes. Sie entgegnete sehr freundlich. Dann gingen wir zu meinen +Eltern und dankten ihnen gleichfalls, die gleichfalls freundlich +antworteten. Klotilde war in ihrem Festanzuge sehr befangen, was auch +fast bei allen Andern der Fall war. Mein Vater löste die Stimmung, +indem er zu einem Tische schritt, auf welchem er ein Kästchen +niedergestellt hatte. Er nahm das Kästchen, näherte sich Natalien und +sagte: »Liebe Braut und künftige Tochter, hier bringe ich ein kleines +Geschenk; aber es ist eine Bedingung daran geknüpft. Ihr seht, daß +ein Faden um das Schloß liegt und daß der Faden ein Siegel trägt. +Schneidet den Faden nicht eher ab als nach eurer Vermählung. Den Grund +meiner Bitte werdet ihr dann auch sehen. Wollt ihr sie freundlich +erfüllen?« + +»Ich danke für eure Güte innig«, antwortete Natalie, »und ich werde +die Bedingung erfüllen.« + +Sie empfing das Kästchen aus der Hand des Vaters. Auch die Mutter und +Klotilde gaben ihr Geschenke, so wie Mathilde und Natalie Gegenstände +aus den benachbarten Zimmern herbeiholten, um die Mutter, Klotilden +und den Vater zu beschenken. Natalie und ich gaben uns nichts. Dann +setzten wir uns um einen Tisch nieder, und es begannen herzliche +Gespräche. Am Schlusse sagte Mathilde: »So wäre denn der Bund, den die +Herzen unserer Kinder geschlossen haben, auch durch die Beistimmung +der Eltern bekräftigt. Der Tag der ewigen Verbindung mag nach ihrem +Wunsche und unserer Meinung festgesetzt werden. Wir wollen darüber +jetzt nicht sprechen, sondern es der Beratung und Vereinbarung +anheimgeben.« + +Nach diesen Worten trennten wir uns und begaben uns in unsere Zimmer. + +Die festlichen Kleider wurden nun abgelegt, und es begann das +Besuchsleben, wie es in ähnlichen Verhältnissen und namentlich, wenn +man in so nahe Beziehungen getreten ist, der Fall zu sein pflegt. +Mathilde führte nach und nach den Vater und die Mutter in alle Teile +des Schlosses, des Gartens, des Meierhofes, der Felder, der Wiesen und +der Wälder. Sie zeigte ihnen alle Zimmer des Hauses: ihre Wohnzimmer, +die Zimmer mit den alten Geräten, sie zeigte ihnen die Bilder und +was sich nur immer in dem Schlosse befand. Sie ging mit ihnen in den +Garten: zu den Linden, zu allen Obstbäumen, zu den Blumenbeeten, in +die Grotte mit der Brunnennymphe, auf die Eppichwand und in jede +Anlage, die in dem Garten enthalten war. Ebenso wurde alles, was sich +auf die Landwirtschaft bezog, auf das Genaueste durchgenommen. Gegen +den Abend, wenn die Sonnenstrahlen milde auf die blühende Erde +leuchteten, wurde ein gemeinschaftlicher Gang durch irgend einen +Teil der Gegend gemacht. Wiederholt gingen wir die ganze Länge des +Berührweges durch, und die Eltern fanden Gefallen an dieser Bahn, die +eine freie und rüstige Bewegung in trüben Tagen so wie im Winter auf +eine angenehme Weise gestatte. Der Vater konnte über alles der Freude +und des Lobes kein Ende finden. Mathilde und die Mutter sprachen +oft lange und immer sehr freundlich mit einander, sie tauschten +wahrscheinlich ihre Ansichten über Häuslichkeit und Verwaltung des +Zugehörigen aus. Natalie und Klotilde waren fast unzertrennlich, sie +schlossen sich an einander an, bezeugten sich jede Innigkeit, und +oft, wenn wir alle in das Schloß zurückgekehrt waren, gingen sie +noch auf einem einsamen Wege des Gartens oder auf einem Pfade des +nächstgelegenen Feldes herum. + +»Siehst du, Klotilde«, sagte ich, »ich konnte dir kein Bild von +Natalie bringen, weil keins da war, jetzt hast du sie selber.« + +»Um wie viel lieber als jedes Bild«, antwortete sie, »aber ein Bild +muß doch ausgeführt werden, damit man später wisse, wie sie in diesen +Jahren ausgesehen habe.« + +Acht Tage entließ uns Mathilde nicht von dem Sternenhofe, und jeder +Tag fand seine freundliche Beschäftigung. Am neunten wurden die +Anstalten gemacht, daß wir alle in das Rosenhaus abreisen konnten. +Mathilde und die Eltern fuhren in unserem Reisewagen. Natalie, +Klotilde und ich in dem Wagen Mathildens. + +Als wir den Hügel hinanfuhren, konnte mein Vater seine Neugierde +kaum mehr bemeistern. Ich sah ihn öfter in dem Wagen aufstehen und +herumblicken. Es war ein wolkig heiterer Tag, Strichregen gingen auf +entferntere Wälder nieder, Sonnenblicke schnitten goldne Bilder auf +den Hügeln und Ebenen aus, und das Haus meines Gastfreundes schaute +sanft von seiner Anhöhe hernieder. Obwohl, da wir von der Stadt +abfuhren, dort bereits alles in Blüte stand, war in der Umgebung des +Rosenhauses trotz der Zeit, die wir auf der Reise und in dem Hause +Mathildens zugebracht hatten, doch noch die Baumblüte nicht vorüber, +sondern sie war erst in ihrer vollen Entfaltung. Denn das Land +hier lag um ein Bedeutendes höher als die Stadt. Ein Teil des +Wintergetreides stand auf dem Hügel in üppigstem Wuchse, ein Teil +schickte sich dazu an, das Sommergetreide keimte hie und da, und hie +und da war noch die braune Erde zu sehen. + +Mein Gastfreund hatte durch Mathilden Nachricht von unserer Ankunft +erhalten. Als wir bei dem Gitter anfuhren, stand er mit Gustav, +Eustach, Roland, mit der Haushälterin Katharine, mit dem +Hausverwalter, mit dem Gärtner und anderen Leuten auf dem Sandplatze +vor dem Gitter, um uns zu empfangen. Wir stiegen aus, und da standen +sich nun mein Vater und mein Gastfreund gegenüber. Der letztere +hatte schneeweiße Haare, mein Vater etwas minder weiße, aber liebe, +ehrwürdige Männer waren beide. Sie reichten sich die Hand, sahen sich +einen Augenblick an und schüttelten sich dann ihre Rechte herzlich. + +»Seid mir gegrüßt, seid mir tausendmal gegrüßt an meiner Schwelle«, +sagte mein Gastfreund, »selten ist hier einer eingegangen, der so +willkommen gewesen wäre wie ihr, und selten habe ich mich nach +jemandem so gesehnt wie nach euch. Wir sind nun so lange in Verbindung +und ich habe euch schon so lange in der Liebe eures Sohnes geliebt.« + +»Ich euch in der Liebe eures jungen Freundes«, erwiderte mein Vater, +»es ist einer meiner liebsten Tage, der mich unter dieses Dach bringt. +Ich komme in das Haus des Mannes, den ich durch meinen Sohn kenne, +obgleich ich auch den Staatsmann hochachten muß. Ich komme mit der +Schuld des Dankes belastet. Ihr habt mich ausgezeichnet, ehe ich es +nur im geringsten Maße um euch verdient hatte.« + +»Laßt das jetzt, es machte mir ja selber Freude«, entgegnete mein +Gastfreund, »aber seht, so begeht man Fehler, wenn man von einer +Leidenschaft befangen ist, besonders, wenn zwei alte Altertumsfreunde +zusammentreffen. Ich habe versäumt, eurer verehrtest Gattin meinen +ersten Gruß darzubringen, wie es Pflicht gewesen wäre. Aber, teure +Frau, ihr werdet es, wenn auch nicht ganz entschuldigen, doch als ein +geringeres Vergehen ansehen, als eine andere Frau, da ihr euren Gatten +und seine Beziehungen zu seinen Schätzen kennt. Seid mir gegrüßt, +und wenn ich sage, daß ich euch nicht minder als euren Gatten hieher +gewünscht habe, so sage ich die Wahrheit, und euer eigener Sohn ist +gegen euch Zeuge, wenn ihr meine Worte bezweifeln wolltet. Es freut +mich, euch in mein Haus führen zu können, erlaubt, daß ich eure Hand +fasse. Mathilde, Natalie, Heinrich, ihr müsset heute etwas Nebensache +sein, und dieses Fräulein, das ich wohl schon als Klotilde kenne, wird +erlauben, daß ich sie auch ein wenig liebe und um Gegenneigung bitte. +Gustav, führe das Fräulein.« + +»Gönnt mir die Gnade, euch führen zu dürfen«, sagte Gustav zu +Klotilden. + +Sie sah den Jüngling sanft an und sagte: »Ich bitte um die +Gefälligkeit.« + +»Ehe wir gehen«, sagte mein Gastfreund noch, »sehet noch hier meine +zwei ausgezeichneten Künstler Eustach und Roland, die mit mir in +unserem Besitze leben, den ich Sorgenfrei nennen würde, wenn er nicht +voll von Sorgen steckte. Sie wollen euch vor dem Hause begrüßen. Seht +da auch meine Katharine, die das Haus zusammenhält, und dann meinen +Hausverwalter und Gärtner und Andere, welche die Lust des Empfanges +nicht missen wollten.« + +Mein Vater reichte jedem die Hand, und die Mutter und Klotilde +verbeugten sich auf das Artigste. + +Hierauf nahm mein Gastfreund den Arm meiner Mutter, mein Vater den +Mathildens, ich Nataliens, Gustav Klotildens, und so gingen wir bei +dem Eisengitter in den Garten und in das Haus. Die Wägen fuhren in den +Meierhof. In dem Hause wurden wir gleich in unsere Zimmer geführt. +Mathilde und Natalie gingen in ihre gewöhnliche Wohnung. Für meinen +Vater und für meine Mutter war ein Aufenthalt von drei Zimmern +eigens gerichtet worden. Sie hatten sehr schöne Wandbekleidungen und +vorzügliche Geräte. Für alle und jede Bequemlichkeit war gesorgt. +Klotilde hatte ein zierliches blaßblaues Zimmerchen daneben. Ich ging +von der Wohnung meiner Eltern in meine Zimmer, welche die gewöhnlichen +waren. Gustav besuchte mich hier in dem ersten Augenblicke, und +umschlang mich mit der größten Freude und Liebe. + +»Nun ist doch alles sicher und gewiß«, sagte er. + +»Sicher und gewiß«, entgegnete ich, »wenn Gott sein Vollbringen gibt. +Jetzt bist du mein teurer, vielgeliebter Bruder in der Tat, wenn du es +auch der Fassung nach erst in einiger Zeit wirst.« + +»Darf ich auch du sagen?« fragte er. + +»Von ganzem Herzen«, erwiderte ich. + +»Also du, mein geliebter, mein teurer Bruder«, sagte er. + +»Auf immer, so lange wir leben, was auch, sonst für Zwischenfälle +kommen mögen«, sagte ich. + +»Auf immer«, antwortete er, »aber jetzt kleide dich schnell um, damit +du nicht zu spät kommst. Man wird in dem Besuchsaale zu ebener Erde +noch einmal zu einem Gruße zusammenkommen, ehe man zum Mittagessen +geht. Ich muß mich selber zurecht richten.« + + +Es war so, wie Gustav gesagt hatte, und es war an alle die Einladung +ergangen. Er verließ mich, und ich kleidete mich um. + +Wir versammelten uns in dem Besuchzimmer zu ebener Erde, in welchem +ich, da ich das erste Mal in diesem Hause war, allein gewartet hatte, +während mein Gastfreund gegangen war, ein Mittagessen für mich zu +bestellen. Ich hatte damals den Gesang der Vögel hereingehört. +Der eingelegte Fußboden war heute mit einem sehr schönen Teppiche +ganz überspannt. Auch Eustach und Roland waren zu der Versammlung +eingeladen worden. + +Als sich alle eingefunden hatten, stand mein Gastfreund, welcher so +festlich angezogen war wie wir, auf und sprach: »Ich richte noch +einmal an alle, welche gekomrnen sind, den Empfangsgruß innerhalb der +Wände dieses Hauses. Es ist ein schöner Tag. + +Wenn gleich mancher liebe Freund und gewissermaßen Schlachtkamerade, +den ich noch besitze, nicht hier ist, so kann eben nicht immer alles, +was man liebt, versammelt sein. Das Eigentliche ist hier, ist aus +einem lieben Anlasse hier, aus welchem ein noch schönerer Tag für +Manche hervorgehen kann. Ihr, sehr hochgeehrte Frau, die Mutter des +jungen Mannes, welcher zu verschiedenen Malen unter dem Dache dieses +Hauses gewohnt hat, seid dem Hause willkommen. Es hat euren Namen oft +gehört und die Namen eurer Tugenden, und wenn der Schall der Rede +oft auch ganz Anderes zu verkünden schien, so gingen unbewußt eure +Eigenschaften daraus hervor, sammelten sich hier und erzeugten +Ehrerbietung und, erlaubt einem alten Manne das Wort, Liebe. Ihr, mein +edler Freund - gönnt mir den Namen auch, den ich euch so gerne gebe +-, ein graues Haupt wie ich, aber ehrwürdiger in der Verehrung seiner +Kinder und darum auch in der anderer Leute, ihr habt mit eurer Gattin +unsichtbar dieses Haus bewohnt und ehrt es, da es eure Gestalt nun +selber in seinen Räumen sieht. Ihr, Klotilde, wandeltet mit euren +Eltern hier und seid gleichfalls in eurem Eigentume. Zu dir, Mathilde, +spreche ich erst jetzt, nachdem ich zu den Andern gesprochen habe, +die nicht so oft die Schwelle dieses Hauses betreten haben wie du. Du +bringst uns heute etwas, das allen lieb sein wird. Sei deshalb nicht +mehr gegrüßt und willkommen, als du hier immer gegrüßt und willkommen +gewesen bist. Sei willkommen, Natalie, und seid gegrüßt, Heinrich. +Eustach, Roland, Gustav sind als Zeugen hier von dem, was da +geschieht.« + +Meine Mutter antwortete hierauf: »Ich habe immer gedacht, daß wir in +diesem Hause werden herzlich empfangen werden, es ist so, ich danke +sehr dafür.« + +»Ich danke auch, und möge die gute Meinung von uns sich bewähren«, +sagte der Vater. + +Klotilde verneigte sich nur. + +Mathilde sprach: »Sei bedankt für deinen Gruß, Gustav, und wenn du +sagst, daß ich etwas bringe, das allen lieb sein wird, so berichte +ich, daß Heinrich Drendorf und Natalie vor neun Tagen im Sternenhofe +verlobt worden sind. Wir haben den Weg zu dir gemacht, um deine +Billigung zu dieser Vornahme zu erwirken. Du hast immer wie ein Vater +an Natalien gehandelt. Was sie ist, ist sie größtenteils durch dich. +Daher könnte ein Band sie nie beglücken, das deinen vollen Segen nicht +hätte.« + +»Natalie ist ein gutes, treffliches Mädchen«, erwiderte mein +Gastfreund, »sie ist durch ihr innerstes Wesen und durch ihre +Erziehung das geworden, was sie ist. Ich mag ein Weniges beigetragen +haben, wie alle nicht bösen Menschen, mit denen wir umgehen, zu +unserem Wesen etwas Gutes beitragen. Du weißt, daß der geschlossene +Bund meine Billigung hat, und daß ich ihm alles Glück wünsche. Weil du +mich aber Vater Nataliens nennst, so mußt du erlauben, daß ich auch +als Vater handle. Natalie erhält als meine Erbin den Asperhof mit +allem Zubehör und allem, was darin ist, sie erhält auch, da ich gar +keine Verwandten besitze, meine ganze übrige Habe. Die Ausfolgung +geschieht in der Art, daß sie einen Teil des gesammten Vermögens an +ihrem Vermählungstage empfängt nebst den Papieren, welche ihr das +Anrecht auf den Rest zusprechen, der ihr an meinem Todestage anheim +fällt. Einige Geschenke an Freunde und Diener werden in den Papieren +enthalten sein, die sie gerne verabfolgen wird. Weil ich Vater bin, +so werde ich auch meine liebe Tochter ausstatten, von ihrer Mutter +kann sie nur Geschenke annehmen. Und einen Eigensinn müßt ihr mir +gestatten, dessen Bekämpfung von eurer Seite mich sehr schmerzen +würde. Die Vermählung soll auf dem Asperhofe gefeiert werden. Hieher +ist der Bräutigam vor mehreren Jahren zuerst gekommen, hier habt ihr +ihn kennen gelernt, hier ist vielleicht die Neigung gekeimt und hier +endlich wohnt ja der Vater, wie er eben genannt worden ist. Vom +Vermählungstage an wird im Asperhofe für die jungen Eheleute eine +Wohnung in Bereitschaft stehen, es wird aber an sie nicht die +Forderung gestellt werden, daß sie dieselbe benützen. Sie sollen nach +ihrer Wahl ihre Wohnung aufschlagen: entweder im Asperhofe oder im +Sternenhofe oder in der Stadt oder auch abwechslungsweise, wie es +ihnen gefällt.« + +Mathilde war während dieser ganzen Rede mit Würde und Anstand in ihrem +Sitze gesessen, wie überhaupt in der ganzen Versammlung ein tiefer +Ernst herrschte. Mathilde suchte ihre Haltung zu bewahren; allein +aus ihren Augen stürzten Tränen, und ihr Mund zitterte vor starker +Bewegung. Sie stand auf und wollte reden; aber sie konnte nicht und +reichte nur ihre Hand an Risach. Dieser ging um den Tisch - denn eine +Ecke desselben trennte sie -, drückte Mathilden sanft in ihren Sitz +nieder, küßte sie sachte auf die Stirne und strich einmal mit seiner +Hand über ihre Haare, die sie glatt gescheitelt über der feinen Stirne +hatte. + +Mein Vater nahm hierauf, da Risach wieder an seinem Platze war, das +Wort, und sprach: »Es ist noch ein Vater da, welcher auch einige Worte +reden und einige Bedingungen stellen möchte. Vor allem, Freiherr von +Risach, empfanget den innigsten Dank von mir im Namen meiner Familie, +daß ihr ein Mitglied derselben zu einem Mitgliede der eurigen +aufzunehmen für würdig erachtet habt. Unserer Familie ist dadurch +eine Ehre erzeigt worden, und mein Sohn Heinrich wird sich sicherlich +bestreben, sich alle jene Eigenschaften zu erwerben, welche ihm +zur Erfüllung seiner neuen Pflichten und zur Darstellung jener +Menschenwürde überhaupt nötig sind, ohne welche man ein Teil der +besseren menschlichen Gesellschaft nicht sein kann. Ich hoffe, daß ich +hierin für meinen Sohn bürgen kann, und ihr selber hofft es, da ihr +ihn in die Stellung aufgenommen habt, in der er ist. Mein Sohn wird in +die neue Haushaltung bringen, was nicht für unbillig erachtet worden +soll. In meinem Hause in der Stadt wird eine anständige Wohnung für +die Neuvermählten immer in Bereitschaft stehen, und wenn ich das +Landleben einmal vorziehen sollte, so werden sie auch in meiner neuen +Wohnung einen Platz finden. Ihr eigenes ständiges Haus mögen sie nach +Belieben aufschlagen. + +Daß die Vermählung in dem Asperhofe sei, ist nach meiner Meinung +gerecht, und ich glaube, es wird niemand die Maßregel bestreiten. Und +nun habe ich noch eine Bitte an euch, Freiherr von Risach, nehmt mich +alten Mann und meine alte Gattin nebst unsrer Tochter nicht ungerne +in euren Familienkreis auf. Wir sind bürgerliche Leute und haben als +solche einfach gelebt; aber in jedem Verhältnisse unsere Ehre und +unsern guten Namen aufrecht zu erhalten gesucht.« + +»Ich kenne euch schon lange«, antwortete Risach, »obwohl nicht +persönlich, und habe euch schon lange hoch geachtet. Noch höher +achtete und liebte ich euch, als ich euren Sohn kennen gelernt hatte. +Wie sehr es mich freut, in eine nähere Umgangsverbindung mit euch zu +kommen, kann euch euer Sohn sagen und wird euch die Zukunft zeigen. +Was die Bürgerlichkeit anlangt, so gehörte ich zu diesem Stande. +Vergängliche Handlungen, die man Verdienste nannte, haben mich +auf eine Zeit aus ihm gerückt, ich kehre durch meine angenommene +Tochter wieder zu ihm zurück, der mir allein gebührt. Ehrenvoller, +würdiger Mann einer stetigen Tätigkeit und eines wohlgegründeten +Familienlebens, wenn ihr mich, der ich Beides nicht habe, für wert +erachtet, so kommt an mein Herz und laßt uns die letzten Lebenstage +freundlich mit einander gehen.« + +Beide Männer verließen ihre Plätze, begegneten sich auf halbem Wege zu +einander, schlossen sich in die Arme und hielten sich einen Augenblick +fest. Wie erschütternd das auf alle wirkte, zeigte die Tatsache, daß +es totenstill im Zimmer war und daß manche Augen feucht wurden. + +Meine Mutter war, da Risach Mathilden verlassen hatte, zu ihr +gegangen, hatte sich neben sie gesetzt und hatte ihre beiden Hände +gefaßt. Die Frauen küßten sich und hielten sich noch immer beinahe +umfangen. + +Ich und Natalie traten jetzt vor Risach und sagten, daß wir ihm für +alles Liebe und Gute gegen uns aufs Tiefste danken und daß unser +einziges Bestreben sein werde, seiner guten Meinung über uns immer +würdiger zu werden. + +»Ihr seid lieb und freundlich und ehrlich«, sagte er, »und alles wird +gut werden.« + +Wir gingen wieder an unsere Plätze, und Eustach, Klotilde, Roland, +Gustav und selbst die Eltern wünschten uns nun alles Glück und allen +Segen. + +Hierauf nahm das Gespräch eine Wendung auf einfachere und +gewöhnlichere Dinge. Man stand auch öfter auf und mischte sich +durcheinander. Meine Mutter hatte heute einige der schönsten +geschnittenen Steine meines Vaters als Schmuck an ihrem Körper. Mein +Gastfreund hatte öfter darauf hingeblickt; allein jetzt konnten er und +Eustach dem Reize nicht mehr widerstehen, sie traten zu meiner Mutter, +betrachteten verwundert die Steine und sprachen über dieselben. Später +kam auch Roland hinzu. Meinem Vater glänzten die Augen vor Freude. + +Als das Gespräch noch eine Weile gedauert hatte, trennte man sich und +bestellte sich auf einen Spaziergang, der noch vor dem Mittagessen +statt finden sollte. Auf dem Sandplatze vor dem Rosengitter an dem +Hause wollte man sich versammeln. + +Wir kleideten uns in andere Kleider und kamen vor dem Hause zusammen. + +Mein Vater, der wahrscheinlich sehr neugierig war, alles in diesem +Hause zu sehen, hatte sich zu Risach gesellt, sie standen vor den +Rosengewächsen, und mein Gastfreund erklärte dem Vater alles. Mathilde +war an der Seite meiner Mutter, Klotilde und Natalie hielten sich an +den Armen, und ich und Gustav so wie zu Zeiten auch Eustach und Roland +hielten uns in der Nähe der alten Männer auf. Wir gingen von dem +Sandplatze in den Garten, damit die Meinigen zuerst diesen sähen. Mein +Gastfreund machte für meinen Vater den Führer und zeigte und erklärte +ihm alles. Wo meine Mutter und Klotilde an dem Gesehenen Anteil +nahmen, wurde es ihnen von ihren Begleiterinnen erläutert. + +»Da sehe ich ja aber doch Faltern«, sagte mein Vater, als wir eine +geraume Strecke in dem Garten vorwärts gekommen waren. + +»Es wäre wohl kaum denkbar und möglich, daß meine Vögel alle Keime +ausrotteten«, antwortete mein Gastfreund, »sie hindern nur die +unmäßige Verbreitung. Einiges bleibt aber immer übrig, was für das +nächste Jahr Nahrung liefert. Zudem kommen auch von der Ferne Faltern +hergeflogen. Sie wären wohl auch die schönste Zierde eines Gartens, +wenn ihre Raupen nicht so oft für unsere menschlichen Bedürfnisse so +schädlich wären.« + +»Bringen denn nicht aber auch die Vögel manchen Baumfrüchten Schaden?« +fragte mein Vater. + +»Ja, sie bringen Schaden«, entgegnete mein Gastfreund, »er trifft +hauptsächlich die Kirschenarten und andere weichere Obstgattungen; +aber im Verhältnisse zu dem Nutzen, den mir die Vögel bringen, ist +der Schaden sehr geringe, sie sollen von dem Überflusse, den sie mir +verschaffen, auch einen Teil genießen, und endlich, da sie neben +ihrer natürlichen Nahrung von mir noch außerordentliche und mitunter +Leckerbissen bekommen, so ist dadurch der Anlaß zu Angriffen auf mein +Obst geringer.« + +Wir gingen durch den ganzen Garten. Jedes Blumenbeet, jede einzelne +merkwürdigere Blume, jeder Baum, jedes Gemüsebeet, der Lindengang, +die Bienenhütte, die Gewächshäuser, alles wurde genau betrachtet. Der +Tag hatte sich beinahe ganz ausgeheitert, und eine Fülle von Blüten +lastete und duftete überall. Wir gingen bis zu dem großen Kirschbaume +empor und sahen von ihm über den Garten zurück. Der Vater fühlte sich +ganz glücklich, alles das sehen und betrachten zu können. Die Mutter +mochte wohl ihren Umgebungen nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt +haben wie der Vater, und sie mochte mit Mathilden mehr über das Wohl +und Wehe und über die Zukunft ihrer Kinder gesprochen haben. Auch +dürfte der Inhalt der Gespräche zwischen Klotilden und Natalien nicht +vorherrschend der Garten gewesen sein. Sie konnten manche Fäden über +andere Dinge anzuknüpfen gehabt haben. + +Von dem großen Kirschbaume mußte wieder in das Haus zurückgegangen +werden, weil die Zeit, welche noch bis zu dem Mittagessen gegeben +gewesen war, ihren Ablauf genommen hatte. Man verfügte sich einen +Augenblick in seine Zimmer und versammelte sich dann im Speisesaale. + +Der Nachmittag war zur Besichtigung des Meierhofes, der Wiesen und +Felder bestimmt. Wir gingen von dem großen Kirschbaume auf dem +Getreidehügel hinaus und auf ihm fort bis zu der Felderrast. Wir +gingen genau den Weg, welchen ich an jenem Abende mit meinem +Gastfreunde gegangen war, als ich mich zum ersten Male in dem +Asperhofe befunden hatte. Wir sahen von der Felderrast ein wenig +herum. Die Esche hatte eben ihre ersten kleinen Blätter angesetzt und +suchte sie auszubreiten. Wir konnten uns nicht niedersetzen, weil das +Bänkchen dazu viel zu klein war. Von der Felderrast gingen wir in den +Meierhof. Wir schlugen den Weg ein, welchen ich einmal mit Natalien +allein gewandelt war. Nach der Besichtigung des Meierhofes, in welchem +mein Gastfreund meinem Vater das Kleinste und Größte zeigte, und +in welchem er ihm erklärte, wie alles früher ausgesehen hatte, was +daraus geworden war und was noch werden sollte, gingen wir durch +die Meierhofwiesen, durch die Felder am Abhange des Hügels des +Rosenhauses, dann den Hügel herum, endlich in das Gehölze des Teiches +und von ihn am dem Erlenbache zurück, so daß wir wieder zu dem großen +Kirschbaume kamen und von ihm in das Haus zurückkehrten. Es war +mittlerweile Abend geworden. Alles hatte die Bewunderung meines Vaters +erregt. + +Der nächste Tag war dazu bestimmt, das Innere des Hauses, seine +Kunstschätze und alles, was es sonst enthielt, zu besehen. +Mein Gastfreund führte meinen Vater zuerst in alle Zimmer des +Erdgeschosses, dann über den Marmorgang die Treppe hinan zur +Marmorgestalt. Wir waren alle mit, außer Eustach und Roland. Bei der +Marmorgestalt hielten wir uns sehr lange auf. Von ihr gingen wir +in den Marmorsaal, in welchem mein Gastfreund meinem Vater alle +Marmorarten nannte und ihm die Orte ihres Vorkommens bezeichnete. Dann +besuchten wir nach und nach die Wohnzimmer meines Gastfreundes, die +Zimmer mit den Bildern, Büchern, Kupferstichen, das Lesezimmer, das +Eckzimmer mit den Vogelbrettchen und endlich die Gastzimmer und die +Wohnung Mathildens. Auch Rolands Gemach wurde besehen, in welchem auf +einer Staffelei sein beinahe fertiges Bild stand. Den Beschluß machte +der Besuch des Schreinerhauses und die Besichtigung seiner Einrichtung +und alles dessen, was da eben gefördert wurde. War mein Vater schon +gestern voll Bewunderung gewesen, so war er heute beinahe außer sich. +Die Marmorgestalt hatte seinen Beifall so sehr, daß er sagte, er +könne sich von seinen Reisen her nicht auf Vieles erinnern, was von +altertümlichen Werken besser wäre als diese Gestalt. Sie wurde von +allen Seiten besehen und wieder besehen, dieser Teil und jener Teil +und das Ganze wurde besprochen. So etwas, sagte mein Vater, könne er +nicht entfernt aufweisen, nur einige seiner alten geschnittenen Steine +könnten neben dieser Gestalt noch besehen werden. Der Marmorsaal +gefiel ihm sehr, und der Gedanke, ein solches Gemach zu bauen, +erschien ihm als ein äußerst glücklicher. Er pries die Geduld +meines Gastfreundes im Suchen des Marmors und lobte die, welche die +Zusammenstellung entworfen hatten, daß etwas so Reines und Großartiges +zu Stande gekommen sei. Die alten Geräte, die Bilder, die Bücher, die +Kupferstiche beschäftigten meinen Vater auf das Lebhafteste, er sah +alles genau an und sprach als Liebhaber und auch als Kenner über +Vieles. Mein Gastfreund verständigte sich leicht mit ihm, ihre +Ansichten trafen häufig zusammen und ergänzten sich häufig, in so +ferne man überhaupt Ansichten in einer Gesellschaft, in welcher man +sich kurz fassen mußte, aussprechen konnte. Meine Mutter freute +sich innig über die Freude des Vaters. So war es denn also doch in +Erfüllung gegangen, was sie so oft gewünscht hatte, daß mein Vater das +Haus meines Gastfreundes besuchte, und es war auf eine liebe Art in +Erfüllung gegangen, die sie sich gewiß einstens nicht gedacht hatte. +Rolands Bild betrachtete der Vater sehr aufmerksam, er hielt es für +höchst bedeutend, er sprach mit Risach über Verschiedenes in demselben +und äußerte sich, daß, nach diesem Werke zu urteilen, Roland eine +hoffnungsvolle Zukunft vor sich haben dürfte. Daß es meinen Gastfreund +mit Vergnügen erfüllte, daß seine Schöpfungen mit solcher Anerkennung +von einem Manne, aus dessen Worten die Berechtigung zu einem Urteile +hervorging, betrachtet werden, ist begreiflich. Die zwei Männer +schlossen sich immer mehr an einander und vergaßen zuweilen ein wenig +die übrige Gesellschaft. In dem Schreinerhause, in welchem Eustach +den Führer machte, wurden nicht nur alle Zeichnungen und Pläne +durchgesehen, sondern die ganze Einrichtung und die Art, wie hier +verfahren werde, sammt allen Werkzeugen, wurde einer genauen +Beobachtung unterzogen. Der Vater war voll der Billigung darüber. Mit +Besichtigung dieser Dinge war der ganze Tag verbraucht worden. + +Am nächsten Tage fuhr man in den Alizwald, damit mein Gastfreund +meinen Eltern den Forst zeigen konnte, welcher zu dem Asperhofe +gehörte. + +Die folgenden Tage waren für die Gesellschaft schon weniger +vereinigend. Man zerstreute sich und ging dem nach, was eben die +meiste Anziehungskraft ausübte. Zu mir und Natalien kamen nach und +nach alle Bewohner des Rosenhauses und des Meierhofes, um uns Glück +und Segen zu unserer bevorstehenden Vereinigung zu wünschen. Sie +hatten jetzt erst, nach geschehener Verlobung, die Gewißheit davon +erhalten, hatten es aber in früherer Zeit aus den Vorgängen, die sie +sahen, gemutmaßt und geschlossen. Mein Vater holte Vieles wieder im +Einzelnen nach, was er im Allgemeinen gesehen hatte, er war bald hier, +bald dort und war viel mit dem Besitzer des Hauses beschäftigt. Die +Frauen ließen sich das angelegen sein, was Sache des Hauswesens +ist, und verkehrten manche Weile mit Katharinen. Wir jüngeren Leute +gingen viel in dem Garten herum, besuchten manche Stelle und machten +Spaziergänge. Wir waren mehrere Male bei den Gärtnerleuten, saßen +einmal lange bei ihrem Tische und besahen einmal ausführlich für +uns die Gewächshäuser und ließen uns das Vorhandene von dem Gärtner +erklären. Eines Tages waren wir auch alle im Inghofe, und die Bewohner +des Inghofes waren eines andern Tages im Asperhofe. Der Pfarrer von +Rohrberg und mehrere der angeseheneren Bewohner der Gegend waren von +nahe oder von ferne herzugekommen, um zu dem ihnen bekannt gewordenen +Ereignisse ihren Glückwunsch darzubringen. Selbst Bauersleute der +Nachbarschaft und Andere, die mich und Natalien kannten, kamen zu +demselben Zwecke. + +Wir mußten zwölf Tage in dem Asperhofe zubringen, dann aber wurde +unser Reisewagen bepackt, und wir traten die Rückreise in unsere +Vaterstadt an. + + +Da wir zu Hause angekommen waren, wurde sogleich daran gegangen, +Zimmer in Bereitschaft zu setzen, daß wir den Gegenbesuch, wenn er +eintreffen würde, anstandsvoll empfangen könnten. Ich rüstete mich +indessen auch noch zu etwas Anderem, was noch vor der Verbindung mit +Natalien statthaben mußte, zu meiner großen Reise. Ich suchte die +Anstalten so zu treffen, daß ich glaubte, nichts Wesentliches außer +Acht gelassen zu haben. Die Notwendigkeit, mir durch diese Reise noch +Manches, was mir fehlte, anzueignen und in dieser Hinsicht nicht zu +weit hinter Natalien zurückstehen zu müssen, war mir einleuchtend, und +eben so einleuchtend war es mir, daß ich eine größere Reise allein +machen müsse, ehe ich in künftiger Zeit mit Natalien eine Reise +antreten könnte. Ich hatte auch vor, mich gleich nach der Zeit, in der +uns der Gegenbesuch abgestattet sein würde, auf die Reise zu begeben. + +Der Gegenbesuch kam drei Wochen nach dem Tage, an welchem wir in +der Stadt angelangt waren. Ein Brief hatte ihn vorher angekündigt. +Mathilde, Risach, Natalie und Gustav trafen in einem schönen +Reisewagen ein. Sie wurden in die für sie in Bereitschaft gehaltenen +Zimmer geführt. Nachdem sie sich umgekleidet hatten, kamen wir zum +Gruße in unserem Besuchzimmer zusammen. Der Empfang in unserem Hause +war so herzlich und innig, wie er nur immer in dem Sternenhofe und in +dem Hause meines Gastfreundes gewesen war. In allen Mienen war Freude, +und alle Worte setzten die begonnene Bekanntschaft und die sich +entwickelnde Freundschaft fort. Selbst bis auf die Dienerschaft +pflanzte sich das angenehme Gefühl über. Aus einzelnen Worten und aus +den heitern Angesichtern entnahm man, wie sehr ihnen die wunderschöne +Braut gefalle. Was unser Haus und die Stadt für die Gäste Angenehmes +bieten konnte, wurde ihnen zur Verfügung gestellt. Wie auf den beiden +Landsitzen wurde auch hier alles gezeigt, was das Haus enthält. + +Die Gäste wurden in die Zimmer geführt, besahen Bilder, Bücher, +alte Schreine und geschnittene Steine. Sie kamen in das gläserne +Eckhäuschen und in alle Teile des Gartens. In Hinsicht der Bilder +meines Vaters sprach sich mein Gastfreund dahin aus, daß sie als +Ganzes durchaus wertvoller seien als seine Sammlung, obwohl er auch +einzelne Stücke besitze, welche dem Besten aus meines Vaters Sammlung +an die Seite gestellt werden könnten. Meinen Vater freute dieses +Urteil, und er sagte, er hätte ungefähr dasselbe gefällt. + +Die geschnittenen Steine, sagte mein Gastfreund, seien auserlesen, und +denen hätte er nichts Gleiches entgegenzustellen, es müßte nur das +Marmorstandbild sein. + +»Das ist es auch, und das ist das Höchste, was in beiden +Kunstsammlungen besteht«, erwiderte mein Vater. + +Die Schnitzarbeiten im Glashäuschen waren meinem Gastfreunde aus +meinen Abbildungen bekannt. Er beschäftigte sich aber doch mit ihrer +genauen Besichtigung und erteilte ihnen mit Rücksicht auf die Zeit +ihrer Entstehung viel Lob. Mein Einbeerblatt aus Marmor im Garten +wurde einer Anerkennung nicht für unwürdig erachtet. Meinen Vater +erquickte die Würdigung seiner Schätze von einem Manne, wie Risach +war, sehr, und ich glaube, er hatte keine angenehmeren Stunden gehabt, +seit er alle diese Dinge zusammen gebracht, als die Zeit, die Risach +bei ihm gewesen war. Selbst jenen Augenblick dürfte er kaum vorgezogen +haben, da sich zum ersten Male meine Augen für den Wert dessen +geöffnet hatten, was er besaß. Bei mir war es damals nur Gefühl +gewesen, bei Risach war jetzt es Urteil. + +Zum Vergnügen außer dem Hause geschahen zwei Theaterbesuche, drei +gemeinschaftliche Besuche in Kunstsammlungen und einige Fahrten in die +Umgebung. + +Bei dieser Zusammenkunft wurde auch die Vermählungszeit besprochen. +Ich sollte meine angekündigte Reise unternehmen und nach der +Zurückkunft sollte kein Aufschub mehr stattfinden. Der Tag werde dann +festgestellt werden. Nach dieser Verabredung wurde Abschied genommen. +Der Abschied war dieses Mal sehr schwer, weil er auf länger genommen +wurde und weil unglückliche Zufälle in der Abwesenheit nicht unmöglich +sein konnten. Aber wir waren standhaft, wir scheuten uns, vor Zeugen, +selbst vor so lieben, einen Schmerz zu äußern, sondern trennten uns +und versprachen, uns zu schreiben. + +Als uns unsere Gäste verlassen hatten, zeigten wir in Briefen an +einige uns sehr befreundete Familien meine Verlobung an. Zur Fürstin +ging ich selbst, um ihr dieses Verhältnis zu eröffnen. Sie lächelte +herzlich und sagte, daß sie sehr wohl bemerkt habe, daß ich einmal, da +sie des Namens Tarona Erwähnung getan hatte, äußerst heftig errötet +sei. + +Ich erwiderte, daß ich damals nur errötet sei, weil sie mich auf einer +inneren Neigung betroffen habe, den Namen Tarona habe ich in jener +Zeit an Natalien noch gar nicht gekannt. Ich sprach auch von meiner +Reise, sie lobte diesen Entschluß sehr und erzählte mir von den +Verhältnissen verschiedener Hauptstädte, in denen sie in früheren +Jahren zeitweilig gewohnt hatte. Sie erwähnte kurz auch Manches +über das äußere Ansehen der Länder, da sie eine große Freundin +landschaftlicher Schönheiten war. Sie hatte eben in dem Augenblicke +vor, wieder an den Gardasee zu gehen, den sie schon öfter besucht +hatte. Das war auch die Ursache, daß sie noch so spät im Frühlinge in +der Stadt war. Sie ersuchte mich, nach meiner Zurückkunft wieder bei +ihr auf ein Weilchen zu erscheinen. Ich versprach es. + +Meine Reise wurde nun keinen Augenblick mehr verzögert. Ich nahm von +den Meinigen Abschied und fuhr eines Tages zu dem Tore unserer Stadt +hinaus. + +Ich ging zuerst über die Schweiz nach Italien; nach Venedig, Florenz, +Rom, Neapel, Syrakus, Palermo, Malta. Von Malta schiffte ich mich nach +Spanien ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen Abweichungen +durchzog. Ich war in Gibraltar, Granada, Sevilla, Cordoba, Toledo, +Madrid und vielen anderen, minderen Städten. Von Spanien ging ich nach +Frankreich, von dort nach England, Irland und Schottland und von dort +über die Niederlande und Deutschland in meine Heimat zurück. Ich +war um einen und einen halben Monat weniger als zwei Jahre abwesend +gewesen. Wieder war es Frühling, als ich zurückkehrte, die mächtige +Welt der Alpen, der Feuerberge Neapels und Siciliens, der Schneeberge +des südlichen Spaniens, der Pyrenäen und der Nebelberge Schottlands +hatten auf mich gewirkt. Das Meer, vielleicht das Großartigste, +was die Erde besitzt, nahm ich in meine Seele auf. Unendlich viel +Anmutiges und Merkwürdiges umringte mich. Ich sah Völker und lernte +sie in ihrer Heimat begreifen und oft lieben. Ich sah verschiedene +Gattungen von Menschen mit ihren Hoffnungen, Wünschen und +Bedürfnissen, ich sah Manches von dem Betriebe des Verkehrs, und in +bedeutenden Städten blieb ich lange und beschäftigte mich mit ihren +Kunstanstalten, Bücherschätzen, ihrem Verkehre, gesellschaftlichem und +wissenschaftlichem Leben und mit lieben Briefen, die aus der Heimat +kamen, und mit solchen, die dorthin abgingen. + +Ich kam auf meiner Rückreise früher in die Gegend des Asperhofes und +des Sternenhofes als in meine Heimat. Ich sprach daher in beiden ein. +Alles war sehr wohl und gesund und fand mich sehr gebräunt. Hier +erfuhr ich auch eine Veränderung, die mit meinem Vater vorgegangen +war und die sie mir in den Briefen verschwiegen hatten, damit ich +überrascht würde. Alle seine Anspielungen, daß er plötzlich einmal in +den Ruhestand treten werde, daß er sich, ehe man sichs versehe, auf +dem Lande befinden werde, daß sich Vieles ereignen werde, woran man +jetzt nicht denke, daß man nicht wisse, ob man nicht den Reisewagen +öfter brauchen könne, waren in Erfüllung gegangen. Er hatte sein +Handelsgeschäft abgetreten und hatte den auf einer sehr lieblichen +Stelle zwischen dem Asperhofe und Sternenhofe gelegenen, verkäuflich +gewordenen Gusterhof gekauft, den er eben für sich einrichten lasse. +Man freute sich schon darauf, wie er sich in diesem neuen Besitztume +häuslich und wohnlich niederlassen werde. Ich nahm mir nicht Zeit, +diesen Hof, den ich von Außen kannte, zu besuchen, weil ich Natalien, +die mir wie ein Gut wieder gegeben worden war, nicht noch unnötig +länger von meiner Seite entfernt wissen wollte. Nach innigem Empfange +und Abschiede reiste ich zu meinen Eltern, und reiste Tag und Nacht, +um bald einzutreffen. Sie wußten von meiner Ankunft und empfingen mich +freudig. Ich richtete mich sogleich in meiner Wohnung ein. Es war mir +seltsam und wohltuend, den Vater jetzt immer zu Hause und ihn stets +mit Plänen, Entwürfen, Zeichnungen umringt zu sehen. Er war während +meiner Abwesenheit fünf Male in dem Gusterhofe und bei diesen +Gelegenheiten öfter bei Mathilde oder Risach als Gast gewesen. Die +Mutter und Klotilde hatten ihn zweimal begleitet. Er war in diesen +zwei Jahren um ein gut Teil jünger geworden. Auch die Bewohner des +Sternen- und Asperhofes hatten sich einmal im Winter bei meinen Eltern +als Gäste eingefunden. Die Bande waren sehr schön und lieb geflochten. + +Gleich am ersten Tage meiner Anwesenheit im elterlichen Hause führte +mich meine Mutter in die Zimmer, die für mich und Natalien als Wohnung +hergerichtet worden waren, wenn wir uns in der Stadt aufhatten +wollten. Ich hatte gar nicht gedacht, daß in dem Hause so viel Platz +sei, so geräumig war die Wohnung. Sie war zugleich so schön und edel +angeordnet, daß ich meine Freude daran hatte. Ich sprach bei dieser +Gelegenheit von dem Vermählungstage, und die Mutter antwortete, daß +der Vater glaube, es sei nun keine Ursache einer Säumnis, und von uns, +als von der Seite des Bräutigams, müsse die Anregung ausgehen. Ich bat +um Beschleunigung, und am folgenden Tage gingen schon unsere Briefe in +den Sternenhof und zu Risach ab. In Kurzem kam die Antwort zurück, und +der Tag war nach unsern Vorschlägen festgesetzt. Der Sammelplatz war +der Asperhof. + +Meinem Versprechen getreu stellte ich mich nun auch bei der Fürstin. +Sie war schon auf ihren Landsitz abgereist. Ich schrieb ihr +daher einige Zeilen, daß ich zurück sei, und zeigte ihr meinen +Vermählungstag an. In kurzer Zeit kam eine Antwort von ihr nebst einem +Päckchen, welches ein Erinnerungszeichen an meine Vermählungsfeier von +ihr enthalte. Sie könne es mir nicht persönlich übergeben, weil sie +seit einigen Wochen kränklich sei und sich deshalb so früh auf das +Land habe begeben müssen. Das Erinnerungszeichen liege schon seit +länger in Bereitschaft. Ich öffnete das Päckchen. Es enthielt eine +einzige, aber sehr große und sehr schöne Perle. Die Fassung war fast +keine. Nur ein Stengel und ein Goldscheibchen hafteten an der Perle, +daß sie eingeknöpft werden konnte. Ich freute mich außerordentlich +über die Gesinnung der edlen Fürstin, über die Trefflichkeit des +Geschmackes und über dessen Sinnigkeit; denn eine Perle ist es ja in +meinen Augen, die ich mir als Geschenk an meine Brust zu heften im +Begriffe war. Ich schrieb eine innige Dankantwort zurück. + +Unsere Vorbereitungen waren bald gemacht, und wir reisten ab. + +»Wir können ja unsere letzten Rüstungen in meinem Landhause machen«, +sagte der Vater mit heiterem Lächeln. + +Wir fuhren in den Gusterhof. Eine kleine, aber freundlich bestellte +Wohnung, die der Vater vorläufig für solche Gelegenheiten hatte +herrichten lassen, empfing uns. Es war ein liebliches Gefühl, in +unserem eigenen, uns zugehörigen Landsitze zu sein. Der Vater schien +dieses Gefühl am tiefsten zu hegen, und die Mutter freute sich dessen +ungemein. Wir blieben hier so lange und vervollständigten unsere +Vorbereitungen, daß wir zwei Tage vor der Vermählung in dem Asperhofe +eintreffen konnten. Mathilde und Natalie waren schon anwesend, da +wir ankamen. Wir begrüßten uns herzlich. Alles war in einer gewissen +Spannung der Vorbereitungen. Ich konnte Natalien oft nur auf einige +Augenblicke sehen. Klotilde wurde auch sofort hineingezogen. +Botschaften kamen und gingen ab, Gäste und Trauzeugen trafen ein. Ich +selber war in einer Art Beklemmung. + +Am Nachmittage des ersten Tages fand ich einmal Mathilden, meinen +Gastfreund und Gustav im Lindengange auf und ab wandeln. Ich gesellte +mich zu ihnen. Gustav verließ uns bald. + +»Wir sprachen eben davon, daß mein Sohn sich nun bald von hier +entfernen und in die Welt gehen müsse«, sagte Mathilde, »habt ihr ihn +nach eurer Reise nicht auch verändert gefunden?« + +»Er ist ein vollkommener Jüngling geworden«, erwiderte ich, »ich habe +auf meinen Reisen keinen gesehen, der ihm gleich wäre. Er war ein sehr +kraftvoller Knabe und ist auch ein solcher Jüngling geworden, aber, +wie ich glaube, gemilderter und sanfter. Ja, sogar in seinen Augen, +die noch glänzender geworden sind, erscheint mir etwas, das beinahe +wie das Schmachten bei einem Mädchen ist.« + +»Es freut mich, daß ihr das auch bemerkt habt«, sagte mein Gastfreund, +»es ist so, und es ist sehr gut, wenn auch gefährlich, daß es so ist. +Gerade bei sehr kraftvollen Jünglingen, deren Herz von keinem bösen +Rauche angeweht worden ist, tritt in gewissen Jahren ein Schmachten +ein, das noch holder wirkt als bei heranblühenden Mädchen. Es ist dies +nicht Schwäche, sondern gerade Überfülle von Kraft, die so reizend +wirkt, wenn sie aus den meistens dunkeln, sanftschimmernden Augen +blickt und gleichsam wie ein Juwel an den unschuldigen Wimpern hängt. +Solche Jünglinge dulden aber auch, wenn böse Schicksalstage kommen, +mit einem Starkmute, der der Krone eines Märtyrers wert wäre, und wenn +das Vaterland Opfer heischt, legen sie ihr junges Leben einfach und +gut auf den Altar. Sie können aber auch zu falscher Begeisterung +getrieben und mißbraucht werden, und wenn ein solches Jünglingsauge +zu rechter Zeit in das rechte Mädchenauge schaut, so flammt die +plötzlichste, heißeste, aber oft auch unglücklichste Liebe empor, +weil der junge, unverfälschte Mann sie fast unausrottbar in sein Herz +nimmt. Wir werden, wenn die jetzige Angelegenheit vorüber ist, weiter +von dem sprechen, was etwa not tut.« + +»Ich sehe ja das Gute und die Gefahr«, sagte Mathilde. + +Wir gingen bald in das Haus zurück. + +»Er muß in die Härte der Welt, die wird ihn stählen«, sagte mein +Gastfreund auf dem Wege dahin. + + +Endlich war der Vermählungstag angebrochen. Die Trauung sollte am +Vormittage in der Kirche zu Rohrberg stattfinden, in welche der +Asperhof eingepfarrt war. Der Versammlungsort war der Marmorsaal, +dessen Fußboden zu diesem Zwecke mit feinem grünen Tuche überspannt +worden war. Gleiches Tuch lag auf allen Treppen. Ich kleidete mich in +meinen Zimmern an, tat ein Gebet zu Gott und wurde von einem meiner +Trauzeugen in den Marmorsaal geführt. Von unsern Angehörigen waren +erst die Männer dort. Die Zeugen und die meisten Gäste waren zugegen. +Risach war im Staatskleide und mit allen seinen Ehren geschmückt. Da +tat sich die Tür, die von dem Gange hereinführte, auf und Natalie mit +ihrer und meiner Mutter, mit Klotilden und mit noch andern Frauen und +Mädchen trat herein. Sie war prachtvoll gekleidet und mit Edelsteinen +gleichsam übersät; aber sie war sehr blaß. Die Edelsteine waren in +mittelalterlicher Fassung, das sah ich wohl; aber ich hatte nicht die +Stimmung, auch nur einen Augenblick darauf zu achten. Ich ging ihr +entgegen und reichte ihr sanft die Hand zum Gruße. Sie zitterte sehr. + +Mein Gastfreund sagte zu meinen Eltern: »Das Lieblingsgespräch eures +Sohnes waren bisher seine Eltern und seine Schwester, wer ein so guter +Sohn ist, wird auch ein guter Gatte werden.« + +»Die schöneren Eigenschaften, die eine Zukunft gewähren«, sagte mein +Vater, »hat er von euch gebracht, wir haben es wohl gesehen und haben +ihn darum immer mehr geliebt, ihr habt ihn gebildet und veredelt.« + +»Ich muß antworten wie bei Natalien«, erwiderte mein Gastfreund, »sein +Selbst hat sich entwickelt und aller Umgang, der ihm zu Teil geworden, +vorerst der eurige, hat geholfen.« + +Ich wollte etwas sprechen, konnte aber vor Bewegung nicht. + +Gustav, der in der Nähe der Frauen stand, sah mich an, ich ihn auch. +Er war ebenfalls sehr blaß. + +Indessen hatten sich alle nach und nach eingefunden, die bei der +Trauung gegenwärtig sein sollten, die Stunde der Abfahrt war da und +der Hausverwalter meldete, daß alles in Bereitschaft sei. + +Mathilde machte Natalien das Zeichen des Kreuzes auf die Stirne, den +Mund und die Brust, und diese beugte sich mit ihren Lippen auf die +Hand der Mutter nieder. Dann faßten die Mädchen den Schleier, der wie +ein Silbernebel von dem Haupte Nataliens bis zu ihren Füßen reichte, +hüllten sie in ihn, und Natalie ging, von ihren Mädchen umringt +und von den Frauen geleitet, die Treppe hinunter, auf welcher die +Marmorgestalt stand. Wir folgten. Mit mir waren meine Zeugen und +Risach und der Vater. Den ersten Teil der Wagenreihe nahmen die +Frauen, die Braut und die Mädchen ein, den letzten die Männer und ich. +Wir stiegen ein, der Zug setzte sich in Bewegung. Es war viel Volk +gekommen, die Brautfahrt zu sehen. Darunter erblickte ich meinen +Zitherspiellehrer, welcher mir mit einem grünen Hute, auf dem er +Federn hatte, winkte. Die Bewohner des Meierhofes und die Diener des +Hauses waren größtenteils vorausgegangen und harrten unser in der +Kirche. Einige befanden sich auch in den Wägen. Der Zug fuhr langsam +den Hügel hinab. + +In der Kirche erwartete uns der Pfarrer von Rohrberg, wir traten vor +den Altar, und die Trauung ward vollbracht. + +Zum Zurückfahren kamen Natalie und ich allein in einen Wagen. Sie +sprach nichts, der Schleier blieb zurückgeschlagen und Tropfen nach +Tropfen floß aus ihren Augen. + +Da wir wieder in dem Marmorsaale waren, wurden auf den langen Tisch, +den man heute hier aufgerichtet und mit vielen Stühlen umgeben hatte, +von Risach und von meinem Vater die Papiere niedergelegt, die sich auf +unsere Vermählung und unser Vermögen bezogen. Ich aber nahm indessen +Natalien an der Hand und führte sie durch das Bilder- und Lesezimmer +in das Bücherzimmer, in welchem wir allein waren. Dort stellte ich +mich ihr gegenüber und breitete die Arme aus. Sie stürzte an meine +Brust. Wir umschlangen uns fest und weinten beide beinahe laut. + +»Meine teure, meine einzige Natalie!« sagte ich. + +»O mein geliebter, mein teurer Gatte«, antwortete sie, »dieses Herz +gehört nun ewig dir, habe Nachsicht mit seinen Gebrechen und seiner +Schwäche.« + +»O mein teures Weib«, entgegnete ich, »ich werde dich ohne Ende ehren +und lieben, wie ich dich heute ehre und liebe. Habe auch du Geduld mit +mir.« + +»O Heinrich, du bist ja so gut«, antwortete sie. + +»Natalie, ich werde suchen, jeden Fehler dir zu Liebe abzulegen«, +erwiderte ich, »und bis dahin werde ich jeden so verhüllen, daß er +dich nicht verwunde.« + +»Und ich werde bestrebt sein, dich nie zu kränken«, antwortete sie. + +»Alles wird gut werden«, sagte ich. + +»Es wird alles gut werden, wie unser zweiter Vater gesagt hat«, +antwortete sie. + +Ich führte sie näher an das Fenster, und da standen wir und hielten +uns an den Händen. Die Frühlingssonne schien herein, und neben den +Diamanten glänzten die Tropfen, die auf ihr schönes Kleid gefallen +waren. + +»Natalie, bist du glücklich?« sagte ich nach einer Weile. + +»Ich bin es in hohem Maße«, antwortete sie, »mögest du es auch sein.« + +»Du bist mein Kleinod und mein höchstes Gut auf dieser Erde«, +erwiderte ich, »es ist mir noch wie im Traume, daß ich es errungen +habe, und ich will es erhalten, so lange ich lebe.« + +Ich küßte sie auf den Mund, den sie freundlich bot. In ihre feinen +Wangen war das Rot zurückgekehrt. + +In diesem Augenblicke hörten wir Tritte in dem Nebenzimmer, und +Mathilde, meine Mutter, Risach, mein Vater und Klotilde, die uns +gesucht hatten, traten ein. + +»Mutter, teure Mutter«, sagte ich zu Mathilden, indem ich allen +entgegen ging, Mathildens Hand faßte und sie zu küssen strebte. +Mathilde hatte sich nie die Hand von irgend jemandem küssen lassen. +Dieses Mal erlaubte sie, daß ich es tue, indem sie sanft sagte: »Nur +das eine Mal.« + +Dann küßte sie mich auf die Stirne und sagte: »Sei so glücklich, mein +Sohn, als du es verdienst und als es die wünscht, die dir heute ihr +halbes Leben gegeben hat.« + +Risach sagte zu mir: »Mein Sohn, ich werde dich jetzt du nennen, und +du mußt zu mir wie zu deinem ersten Vater auch dies Wörtchen sagen - +mein Sohn, nach dem, was heute vorgefallen, ist deine erste Pflicht, +ein edles, reines, grundgeordnetes Familienleben zu errichten. Du hast +das Vorbild an deinen Eltern vor dir, werde, wie sie sind. Die Familie +ist es, die unsern Zeiten not tut, sie tut mehr not als Kunst und +Wissenschaft, als Verkehr, Handel, Aufschwung, Fortschritt oder wie +alles heißt, was begehrungswert erscheint. Auf der Familie ruht die +Kunst, die Wissenschaft, der menschliche Fortschritt, der Staat. Wenn +Ehen nicht beglücktes Familienleben werden, so bringst du vergeblich +das Höchste in der Wissenschaft und Kunst hervor, du reichst es einem +Geschlechte, das sittlich verkommt, dem deine Gabe endlich nichts mehr +nützt und das zuletzt unterläßt, solche Güter hervor zu bringen. Wenn +du auf dem Boden der Familie einmal stehend - viele schließen keine +Ehe und wirken doch Großes -, wenn du aber auf dem Boden der Familie +einmal stehst, so bist du nur Mensch, wenn du ganz und rein auf ihm +stehst. Wirke dann auch für die Kunst oder für die Wissenschaft, und +wenn du Ungewöhnliches und Ausgezeichnetes leistest, so wirst du mit +Recht gepriesen, nütze dann auch deinen Nachbarn in gemeinschaftlichen +Angelegenheiten und folge dem Rufe des Staates, wenn es not tut. Dann +hast du dir gelebt und allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens +wie bisher und alles wird sich wohl gestalten.« + +Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an sich und küßte mich auf den +Mund. + +Natalie war indessen in den Armen meiner Mutter, meines Vaters und +Klotildens gewesen. + +»Er wird gewiß bleiben, wie er heute ist«, sagte sie, wahrscheinlich +auf einen Wunsch für die Zukunft antwortend. + +»Nein, mein teures Kind«, sagte meine Mutter, »er wird nicht so +bleiben, das weißt du jetzt noch nicht: er wird mehr werden, und du +wirst mehr werden. Die Liebe wird eine andere, in vielen Jahren ist +sie eine ganz andere; aber in jedem Jahr ist sie eine größere, und +wenn du sagst, jetzt lieben wir uns am meisten, so ist es in Kurzem +nicht mehr wahr, und wenn du statt des blühenden Jünglings einst +einen welken Greis vor dir hast, so liebst du ihn anders, als du den +Jüngling geliebt hast; aber du liebst ihn unsäglich mehr, du liebst +ihn treuer, ernster und unzerreißbarer.« + +Mein Vater wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen. + +Meine Mutter küßte Natalien noch einmal und sagte: »Du liebe, gute, +teure Tochter.« + +Natalie gab den Kuß zurück und schlang die Arme um den Hals meiner +Mutter. + +»Kinder, jetzt müssen wir zu den Andern gehen«, sagte Risach. + +Wir gingen in den Saal. Dort gab Risach Papiere in die Hände +Nataliens. Sie legte sie in die meinigen. Mein Vater gab mir auch +Papiere. Alle Anwesenden wünschten uns nun Glück, vor allem Gustav, +den ich die letzte Zeit her gar nicht gesehen hatte. Er fiel der +Schwester um den Hals und auch mir. In seinen schönen Augen perlten +Tränen. Dann beglückwünschten uns Eustach, Roland, die vom Inghofe, +der Pfarrer von Rohrberg, der mich auf unser erstes Zusammentreffen in +diesem Hause an jenem Gewitterabende erinnerte, und alle Andern. + +Risach sagte, daß jetzt jedem zwei Stunden zur Verfügung gegeben +seien, dann müsse sich alles in dem Marmorsaale zu einem kleinen Mahle +versammeln. + +Natalie wurde von ihren Trauungsjungfrauen in die Gemächer ihrer +Mutter geführt, daß sie dort die Trauungsgewänder ablege. Ich ging in +meine Wohnung, kleidete mich um und verschloß die Papiere, ohne sie +anzusehen. Nach einer geraumen Zeit ging ich in das Vorzimmer zu +Mathildens Wohnung und fragte, ob Natalie schon in Bereitschaft +sei, ich ließe bitten, mit mir einen kurzen Gang durch den Garten +zu machen. Sie erschien in einem schönen, aber sehr einfachen +Seidenkleide und ging mit mir die Treppe hinab. Sie reichte mir den +Arm und wir wandelten eine Zeit unter den großen Linden und auf +anderen Gängen des Garten herum. + +Nachdem die zwei Stunden verflossen waren, wurde mit der Glocke das +Zeichen zum Mahle gegeben. Alles begab sich in den Saal und erhielt +dort seine Sitze angewiesen. Das Mahl war, wie gewöhnlich bei Risach, +einfach, aber vortrefflich. Für Kenner und Liebhaber standen sehr edle +Weine bereit. Es war nie in dem Saale ein Mahl abgehalten worden, und +der Ernst des Marmors, bemerkte mein gewesener Gastfreund, dürfe nur +in den Ernst des edelsten Weines nieder blicken. Trinksprüche wurden +ausgebracht und sogar Reime auf ewiges Wohl hergesagt. + +»Habe ich es gut gemacht, Natta«, sagte mein einstiger Gastfreund, +»daß ich dir den rechten Mann ausgesucht habe? Du meintest immer, +ich verstände mich nicht auf diese Dinge, aber ich habe ihn auf den +ersten Blick erkannt. Nicht bloß die Liebe ist so schnell wie die +Electricität, sondern auch der Geschäftsblick.« + +»Aber Vater«, sagte Natalie errötend, »wir haben ja über diesen +Gegenstand nie gestritten, und ich konnte dir die Fähigkeit nicht +absprechen.« + +»So hast du dir es gewiß gedacht«, erwiderte er, »aber richtig habe +ich doch geurteilt: er war immer sehr bescheiden, hat nie vorlaut +geforscht und gedrängt und wird gewiß ein sanfter Mann werden.« + +»Und du, Heinrich«, sagte er nach einer Weile, »werde darum nicht +stolz. Verdankst du mir nicht endlich ganz und gar Alles? Du +hast einmal, da du zum ersten Male in diesem Hause warst, in der +Schreinerei gesagt, daß der Wege sehr verschiedene sind und daß man +nicht wissen könne, ob der, der dich eines Gewitters wegen zu mir +herauf geführt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist, worauf ich +antwortete, daß du ein wahres Wort gesprochen habest und daß du es +erst recht einsehen werdest, wenn du älter bist; denn in dem Alter, +dachte ich mir damals, übersieht man erst die Wege, wie ich die +meinigen übersehen habe. Wer hätte aber damals geglaubt, daß mein Wort +die Bedeutung bekommen werde, die es heute hat? Und alles hing davon +ab, daß du hartnäckig gemeint hast, ein Gewitter werde kommen, und daß +du meinen Gegenreden nicht geglaubt hast.« + +»Darum, Vater, war es Fügung, und die Vorsicht selber hat mich zu +meinem Glücke geführt«, sagte ich. + +»Die alte Frau, die in dem dunkeln Stadthause unsere Wohnungsnachbarin +und zuweilen unser Gast war«, sagte mein Vater, »hat dir, Heinrich, +die Weissagung gemacht, es werde recht viel aus dir werden: und nun +bist du bloß, wie du selber sagst, glücklich geworden.« + +»Das Andere wird kommen«, riefen mehrere Stimmen. + +»Eine gute Eigenschaft habe ich an deiner Gattin zu ihren andern +Tugenden entdeckt«, fuhr mein Vater fort, »sie ist nicht neugierig; +oder hast du, liebe Tochter, das Kästchen schon eröffnet, welches ich +dir gegeben habe?« + +»Nein, Vater, ich wartete auf deinen Wink«, antwortete Natalie. + +»So lasse das Kästchen bringen«, entgegnete mein Vater. + +Es geschah. Der Faden mit dem Siegel wurde entzwei geschnitten, das +Kästchen geöffnet, und auf weißem Sammt lag ein außerordentlich +schöner Schmuck von Smaragden. Ein allgemeiner Ruf der Verwunderung +machte sich hörbar. Nicht nur waren die Steine an sich, obwohl nicht +zu den größten ihrer Art gehörend, sehr schön, sondern die Fassung, +die Steine nicht drückend, war doch so leicht und so schön, daß das +Ganze wie ein zusammengehöriges, in einander gewachsenes Werk, wie ein +wirkliches Kunstwerk, erschien. Selbst Eustach und Roland sprachen +ihre Verwunderung aus, und vollends Risach. Sie versicherten, daß sie +keine neue Arbeit gesehen hätten, die dieser gliche. + +»Dein Freund, mein Heinrich, hat diesen Schmuck fertigen lassen«, +sagte mein Vater, »wir haben Smaragde gewählt, weil er eben sehr +schöne und in erforderlicher Anzahl hatte, weil Smaragde unter allen +farbigen Steinen den Ton des weiblichen Halses und Angesichtes am +sanftesten heben, und weil du tief gefärbte und reine Smaragde so +liebst. Und alle hier sind tief und rein. Wir haben gesucht, nach +deinen Grundsätzen die Steine fassen zu lassen. Es sind viele +Zeichnungen gemacht, gewählt, verworfen und wieder gewählt worden. +Es dürfte der beste Zeichner unserer Stadt sein, der endlich das +Vorliegende zusammen gestellt hat. Es wurde hierauf beinahe Tag und +Nacht gearbeitet, um zu rechter Zeit fertig zu sein. Geöffnet sollte +das Kästchen darum nicht werden, damit meine Tochter nicht etwa bloß +mir zu Liebe diesen Schmuck an ihrem Trauungstage nehmen und einen +schöneren und kostbareren, den sie besitze, zu ihrem Leidwesen ruhen +lasse.« + +»Sie besitzt keinen schöneren«, erwiderte Risach, »wir haben +den, welchen sie heute trug, nach Zeichnungen, die wir aus +mittelalterlichen Gegenständen frei zusammen trugen, ebenfalls bei +Heinrichs Freunde verfertigen lassen. Mathilde, laß doch den Schmuck +herbei bringen, daß wir beide vergleichen.« + +Mathilde reichte an Natalien ein Schlüsselchen, und diese holte selber +das Fach, in welchem der Schmuck lag. Er war eine Zusammensetzung von +Diamanten und Rubinen. Er sah so zart, rein und edel aus, wie ein in +Farben gesetztes mittelalterliches Kunstwerk. Ein wahrer Zauber lag +um diese Innigkeit von Wasserglanz und Rosenröte in die sinnigen +Gestalten verteilt, die nur aus den Gedanken unserer Vorfahren so +genommen werden können. Und dennoch stand nach einstimmigem Urteil der +Smaragdschmuck nicht zurück. Der Künstler der Gegenwart kam zu Ehren. + +»Es ist aber auch keiner in unserer Stadt und vielleicht in weiten +Kreisen, der so zeichnen kann«, sagte mein Vater, »er huldigt keinem +Zeitgeschmacke, sondern nur der Wesenheit der Dinge, und hat ein so +tiefes Gemüt, daß der höchste Ernst und die höchste Schönheit daraus +hervorblicken. Oft wehte es mich aus seinen Gestalten so an wie aus +den Nibelungen oder wie aus der Geschichte der Ottone. Wenn dieser +Mann nicht so bescheiden wäre und statt den Dingen, womit man ihn +überhäuft, lieber große Gemälde machte, er würde seines Gleichen +jetzt nicht haben und nur mit den größten Meistern der Vergangenheit +zusammengestellt werden können.« + +»Ein Schmuck in seinem Fache«, sagte eine Stimme, »ist doch wie ein +Bild ohne Rahmen, oder noch mehr wie ein Rahmen ohne Bild.« + +»Freilich ist es so«, entgegnete Risach, »man kann jedes Ding nur an +seinem Platze beurteilen, und da mein Freund als mein Nebenbuhler +aufgetreten ist, so wäre es nicht zu verwerfen - Natta, bist du mein +liebes Kind?« + +»Vater, wie gerne!« antwortete diese. + +Sie stand von ihrem Stuhle auf, entfernte sich und kam so gekleidet +wieder, daß man ihr einen kostbaren Schmuck umlegen konnte. Es geschah +zuerst mit den Diamanten und Rubinen. Wie herrlich war Natalie, und +es bewährte sich, daß der Schmuck der Rahmen sei. Am Vormittage, in +beklemmenden und tieferen Gefühlen befangen, konnte ich dem Schmucke +keine Aufmerksamkeit schenken. Jetzt sah ich die schönen Gestaltungen +wie von einem sanften Scheine umgeben. Im Mittelpunkte aller Blicke +errötete die junge Frau, und die Rosen ihrer Farbe gaben den Rubinen +erst die Seele und empfingen sie von ihnen. Der Ausdruck der +Bewunderung war allgemein. Hierauf wurde der Smaragdschmuck umgelegt. +Aber auch er war vollendet. Der dunkle, tiefe Stein gab der Oberfläche +von Nataliens Bildungen etwas Ernstes, Feierliches, fremdartig +Schönes. War der Diamantschmuck wie fromm erschienen, so erschien der +Smaragdschmuck wie heldenartig. Keiner erhielt den Preis. Risach und +der Vater stimmten selber überein. Natalie nahm ihn wieder ab, beide +Schmuckstücke wurden in ihre Fächer gelegt, Natalie trug sie fort und +erschien nach einer Zeit wieder in ihrem früheren Anzuge. + +Bei dem Smaragdschmucke hatte sich etwas Auffälliges ereignet. Von +ihm waren die Ohrgehänge im Fache zurückgeblieben. Der Diamantschmuck +enthielt keine Ohrgehänge. Mathilde und Natalie trugen Ohrgehänge +nicht, weil nach ihrer Meinung der Schmuck dem Körper dienen soll. +Wenn aber der Körper verwundet wird, um Schmuck in die Verletzung zu +hängen, werde er Diener des Schmuckes. + +Als noch immer von den Steinen gesprochen wurde, was ihre Bestimmung +sei und wie sie sich auf dem Körper ganz anders ansehen lassen als in +ihrem Fache, sagte Eustach etwas, das mir als sehr wahr erschien: + +»Was die innere Bestimmung der Edelsteine ist«, sprach er, »kann nach +meiner Meinung niemand wissen: für den Menschen sind sie als Schmuck +an seinem Körper am schönsten, und zwar zuerst an den Teilen, die er +entblößt trägt, dann aber an seinem Gewande und an allem, was sonst +mit ihm in Berührung kommt, wie Königskronen, Waffen. An bloßen +Geräten, wie wichtig sie sind, erscheinen die Steine als tot, und an +Tieren sind sie entwürdigt.« + +Man sprach noch länger über diesen Gegenstand und erläuterte ihn durch +Beispiele. + +»Da heute unser Wettkampf unentschieden geblieben ist«, sagte Risach +zu meinem Vater, »so wollen wir nun sehen, wer mit geringerem Aufwande +seinen Sitz zu einem größeren Kunstwerke machen kann, du deinen +Drenhof, oder wenn du ihn lieber Gusterhof nennen willst, oder ich +meinen Asperhof.« + +»Du bist schon im Vorsprunge«, entgegnete mein Vater, »und hast gute +Zeichner bei dir: ich fange erst an, und mein Zeichner liefert mir +wahrscheinlich keine Zeichnung mehr.« + +»Wenn es uns im Asperhofe an Arbeit fehlt, so worden wir in den +Drenhof hinüber geliehen«, sagte Eustach. + +»Auch dann, wenn wir hier Arbeit haben«, erwiderte Risach, »ich will +dem Feinde Waffen liefern.« + + +Der Nachmittag war ziemlich vorgerückt und es fehlte nicht mehr viel +zum Abende. Das Mahl war schon längst aus und man saß nur mehr, wie es +öfter geschieht, im Gespräche um den Tisch. + +Mir war schon länger her das Benehmen des Gärtners Simon aufgefallen; +denn er, so wie die vorzüglicheren Diener des Hauses und Meierhofes, +war zu Tische geladen worden. Die Andern hatten in dem Meierhofe ein +Mahl. Ich hatte ihm am Morgen zur Erinnerung an den heutigen Tag eine +silberne Dose mit meinem Namen in dem Deckel gegeben. Diese Dose hatte +er bei sich auf dem Tische und sprach ihr unruhig zu. Manches Mal +flüsterte er mit seinem Weibe, das an seiner Seite saß, und öfter ging +er fort und kam wieder. Eben trat er nach einer solchen Entfernung +wieder in den Saal. Er setzte sich nicht und schien mit sich zu +kämpfen. Endlich trat er zu mir und sprach: »Alles Gute belohnt sich, +und euch erwartet heute noch eine große Freude.« + +Ich sah ihn befremdet an. + +»Ihr habt den Cereus peruvianus vom Untergange gerettet«, fuhr er +fort, »wenigstens hätte er leicht untergehen können, und ihr seid +Ursache gewesen, daß er in dieses Haus gekommen ist, und heute noch +wird er blühen. Ich habe ihn durch Kälte zurück zu halten gesucht, +selbst auf die Gefahr hin, daß er die Knospe abwerfe, damit er nicht +eher blühe als heute. Es ist alles gut gegangen. Eine Knospe steht zum +Entfalten bereit. In mehreren Minuten kann sie offen sein. Wenn die +Gesellschaft dem Gewächshause die Ehre antun wollte...« + +»Ja, Simon, ja, wir gehen hin«, sagte mein Gastfreund. + +Sofort erhob man sich von dem Tische und rüstete sich zu dem Gange +in die Gewächshäuser. Simon hatte alles Andere um die Stelle des +Peruvianus, der in ein eigenes Glashäuschen hinein ragte, entfernt +und Platz zum Betrachten der Pflanze gemacht. Die Blume war, da wir +hinkamen, bereits offen. Eine große, weiße, prachtvolle, fremdartige +Blume. Alles war einstimmig im Lobe derselben. + +»So viele Menschen den Peruvianus haben«, sagte Simon, »denn gar +selten ist er eben nicht, so mächtig groß sie auch seinen Stamm +ziehen, so selten bringen sie ihn zur Blüte. Wenige Menschen in Europa +haben diese weiße Blume gesehen. Jetzt öffnet sie sich, morgen mit +Tagesanbruch ist sie hin. Sie ist kostbar mit ihrer Gegenwart. Mir ist +es geglückt, sie blühen zu machen - und gerade heute. - Es ist ein +Glück, das die wahrste Freude hervorbringen muß.« + +Wir blieben ziemlich lange und erwarteten das völlige Entfalten. + +»Es kommen auch nicht viele Blumen, wie bei gemeinen Gewächsen, +hervor«, sagte Simon wieder, »sondern stets nur eine, später etwa +wieder eine.« + +Mein Gastfreund schien wirklich Freude an der Blume zu haben, ebenso +auch Mathilde. Natalie und ich dankten Simon besonders für seine +große Aufmerksamkeit und sagten, daß wir ihm diese Überraschung nie +vergessen werden. Dem alten Manne standen die Tränen in den Augen. +Er hatte Lampen um die Blume angebracht, die bei hereinbrechender +Dämmerung angezündet worden sollten, wenn etwa jemand die Blume in +der Nacht betrachten wolle. Bei längerem Anschauen gefiel uns die +Blume immer mehr. Es dürften in unsern Gärten wenige sein, die +an Seltsamkeit, Vornehmheit und Schönheit ihr gleichen. Von den +Anwesenden hatte sie nie einer gesehen. Wir gingen endlich fort, und +der eine und der andere versprach, im Laufe des Abends noch einmal zu +kommen. + +Da wir auf dem Rückwege waren und an dem Gebüsche, das sich in der +Nähe des Lindenganges befindet, vorbeigingen, ertönte dicht am Wege +in den Büschen ein Zitherklang. Risach, welcher meine Mutter führte, +blieb stehen, ebenso mein Vater und Mathilde und dann auch die Andern, +die sich eben in unserer Nähe befanden. Ich war mit Natalien mehr +gegen den Busch getreten; denn ich erkannte augenblicklich den Klang +meines Zitherspiellehrers. Er trug eine ihm eigentümliche Weise vor, +dann hielt er inne, dann spielte er wieder, dann hielt er wieder inne, +und so fort. Es waren lauter Weisen, die er selber ersonnen hatte oder +die ihm vielleicht eben in dem Augenblicke in den Sinn gekommen waren. +Er spielte mit aller Kraft und Kunst, die ich an ihm so oft bewundert +hatte, ja er schien heute noch besser als je zu spielen. Es war, als +wenn er nichts auf Erden liebte als seine Zither. Alles, was sich in +der Nähe befand, lauschte unbeweglich, und nicht einmal ein Zeichen +eines Beifalles wurde laut. Nur Mathilde sah einmal auf Natalien hin, +und zwar so bedeutsam, als wollte sie sagen: das haben wir nicht +gehört, und das vermögen wir nicht hervorzubringen. Die Zither war ein +lebendiges Wesen, das in einer Sprache sprach, die allen fremd war und +die alle verstanden. Als die Töne endlich nicht mehr wieder beginnen +zu wollen schienen, trat ich mit Natalien ins Gebüsch, und da saß mein +Zitherspiellehrer an einem Tischchen und hatte seine Zither vor sich. +Sein Anzug war graues Tuch und sehr abgetragen, sein grüner Hut lag +neben der Zither auf dem Tische. + +»Joseph, bist du wieder in der Gegend?« fragte ich ihn. + +»So recht nicht«, antwortete er, »ich bin gekommen, euch auf der +Hochzeit einmal gut aufzuspielen.« + +»Das hast du getan und das kann keiner so«, sagte ich, »du sollst +dafür eine Freude haben, und ich weiß dir eine zu verschaffen, welche +dir die größte ist. Bessere Hände können das, was ich dir geben will, +nicht fassen als die deinen. Das Rechte muß zusammenkommen. Ich bin +dir ohnehin auch noch einen Dank schuldig für dein eifriges Lehren und +für deine Begleitung im Gebirge.« + +»Dafür habt ihr mich bezahlt, und das Heutige tat ich freiwillig«, +sagte er. + +»Warte nur einige Tage hier, dann wirst du empfangen, was ich meine«, +sprach ich. + +»Ich warte gerne«, erwiderte er. + +»Du sollst gut gehalten sein«, sagte ich. + +Indessen waren alle Andern auch herbeigekommen und überschütteten +den Mann mit Lob. Risach lud ihn ein, eine Weile in seinem Hause zu +bleiben. Er spielte noch einige Weisen, er vergaß beinahe, daß ihm +jemand zuhöre, spielte sich hinein und hörte endlich auf, ohne auf die +Umstehenden Rücksicht zu nehmen, genau so, wie er es immer tat. Wir +entfernten uns dann. + +Ich rief sogleich den Hausverwalter herbei, sagte ihm, er möge +mir einen Boten besorgen, welcher auf der Stelle in das Echerthal +abzugehen bereit sei. Der Hausverwalter versprach es. Ich schrieb +einige Zeilen an den Zithermacher, legte das nötige Geld bei, +versprach noch mehr zu senden, wenn es nötig sein sollte, und +verlangte, daß er die dritte Zither, welche die gleiche von der +meinigen und der meiner Schwester sei, in eine Kiste wohlverpackt dem +Boten mitgebe, der den Brief bringt. Der Bote erschien, ich gab ihm +das Schreiben und die nötigen Weisungen, und er versprach, die heutige +Nacht zu Hilfe zu nehmen und in kürzester Frist zurück zu sein. Ich +hielt mich nun für sicher, daß nicht etwa im letzten Augenblicke die +Zither wegkomme, wenn sie überhaupt noch da sei. + +Indessen war es tief Abend geworden. Ich ging mit Natalien und +Klotilden noch einmal zu dem Cereus peruvianus, der im Lampenlicht +fast noch schöner war. Simon schien bei ihm wachen zu wollen. Immer +gingen Leute ab und zu. Joseph hörten wir auch noch einmal spielen. Er +spielte in der großen unteren Stube, wir traten ein, er hatte guten +Wein vor sich, den ihm Risach gesendet hatte. Das ganze Hausvolk war +um ihn versammelt. Wir hörten lange zu, und Klotilde begriff jetzt, +warum ich im Gebirge so gestrebt habe, daß sie diesen Mann höre. + +Ein Teil der Gäste hatte noch heute das Haus verlassen, ein anderer +wollte es bei Anbruch des nächsten Tages tun und einige wollten noch +bleiben. + +Im Laufe des folgenden Vormittages, da sich die Zahl der Anwesenden +schon sehr gelichtet hatte, kamen noch einige Geschenke zum +Vorscheine. Risach führte uns in das Vorratshaus, welches neben dem +Schreinerhause war. Dort hatte man einen Platz geschafft, auf welchem +mehrere mit Tüchern verhüllte Gegenstände standen. Risach ließ den +ersten enthüllen, es war ein kunstreich geschnittener Tisch und hatte +den Marmor als Platte, welchen ich einst meinem Gastfreunde gebracht +hatte, und über dessen Schicksal ich später in Ungewißheit war. + +»Die Platte ist schöner als tausende«, sagte Risach, »darum gebe +ich das Geschenk meines einstigen Freundes in dieser Gestalt meinem +jetzigen Sohne. Keinen Dank, bis alles vorüber ist.« + +Nun wurde ein großer, hoher Schrein enthüllt. + +»Ein Scherz von Eustach an dich, mein Sohn«, sagte Risach. + +Der Schrein war von allen Hölzern, welche unser Land aufzuweisen hat, +in eingelegter Arbeit verfertigt. Eustach hatte die Zusammenstellung +entworfen. Die Sache sah außerordentlich reizend aus. Ich hatte bei +meinem Winterbesuche im Asperhofe an diesem Schreine arbeiten gesehen. +Ich hatte damals die Ansammlung von Hölzern seltsam gefunden, auch +hatte ich den Zweck des Schreines nicht erkannt. Er war in mein +Arbeitszimmer für meine Mappen bestimmt. + +Zuletzt wurden mehrere Gegenstände enthüllt. Es waren die Ergänzungen +zu meines Vaters Vertäflungen. Das war gleich auf den ersten Blick +zu erkennen und erregte Freude; aber ob sie die rechten oder +nachgebildete seien, war nicht zu entscheiden. Risach klärte alles +auf. Es waren nachgebildete. Zu diesem Behufe hatte man von mir +die Abbildungen der Vertäflungen des Vaters verlangt. Roland hatte +vergeblich nach den echten geforscht. Er hatte Messungen nach den +vorhandenen Resten vorgenommen und nach Orten gesucht, auf welche +die Messungen paßten. In einem abgelegenen Teile der Holzbauten +des steinernen Hauses hatte er endlich Bohlen gefunden, welche den +Messungen genau entsprachen. Die Bohlen waren teils vermorscht, teils +zerrissen und trugen die Verletzungen, wie man die Schnitzereien von +ihnen herab gerissen hatte. Es war nun fast gewiß, daß die Ergänzungen +verloren gegangen seien. Man machte daher die Nachbildungen. In +demselben Winterbesuche hatte ich auch das Bohlenwerk zu diesen +Schnitzereien gesehen. Mein Vater erklärte die Arbeit für +außerordentlich schön. + +»Sie hat auch lange gedauert, mein lieber Freund«, sagte Risach, »aber +wir haben sie für dich zu Stande gebracht, und sie wird genau in dein +Glashäuschen passen oder leicht einzupassen sein; außer du zögest vor, +die Schnitzereien in den Drenhof bringen zu lassen.« + +»So wird es auch geschehen, mein Freund«, sagte mein Vater. + +Nun ging es erst an ein Danksagen und an ein Ausdrücken der Freude. +Die Geber lehnten jeden Dank von sich ab. Man beschloß, die +Gegenstände in kurzer Zeit auf ihren Bestimmungsort zu bringen. + +An diesem Tage und in den folgenden verließen uns nach und nach +alle Fremden, und erst jetzt begann ein liebes Leben unter lauter +Angehörigen. Risach hatte für mich und Natalien eine sehr schöne +Wohnung herrichten lassen. Sie konnte nicht groß sein, war aber sehr +zierlich. In den zwei Jahren meiner Abwesenheit waren ihre Wände +bekleidet und waren neue, ausgezeichnete Geräte für sie angeschafft +worden. Wir beschlossen aber, unsere regelmäßige Wohnung so lange in +dem Sternenhofe aufzuschlagen, bis ihn Gustav würde übernehmen können, +damit Mathilde in der Zwischenzeit nicht zu vereinsamt wäre. Dabei +würde ich oft in den Asperhof kommen, um mit Risach zu beratschlagen +oder zu arbeiten, oft würden auch die Andern kommen, und oft würden +wir uns da oder im Gusterhofe oder im Sternenhofe oder in der +Stadt besuchen und zeitweilig dort wohnen. Mit Natalien hatte ich +eine größere Reise vor. Für den Fall, daß ich in was immer für +Angelegenheiten abwesend sein sollte, nahm jedes Haus das Recht in +Anspruch, Natalien beherbergen zu dürfen. + +Der Zitherspieler spielte täglich und oft ziemlich lange vor uns. Am +fünften Tage kam die Zither. Ich überreichte sie ihm, und er, da er +sie erkannte, wurde fast blaß vor Freude. Dieses Geschenk durfte das +beste für ihn genannt werden; von diesem Geschenke wird er sich nicht +trennen, während es von jedem andern zweifelhaft wäre, ob er es nicht +verschleudere. Als er die Zither gestimmt und auf ihr gespielt hatte, +sahen wir erst, wie trefflich sie sei. Er wollte fast gar nicht +aufhören zu spielen. Risach ließ ihm noch über ihr Fach ein +wasserdichtes Lederbehältnis machen. Nach mehreren Tagen nahm er +Abschied und verließ uns. + +Wir machten alle eine kleine Reise in das Ahornwirtshaus, und ich +stellte Kaspar und alle Andern, die mit mir in Verbindung gewesen +waren, Risach, Mathilden, meinen Eltern und Natalien vor. Wir blieben +sechs Tage in dem Ahornhause. Von da gingen wir in den Sternenhof. Die +Tünche war nun überall von ihm weggenommen worden, und er stand in +seiner reinen, ursprünglichen Gestalt da. Auch hier wurden wir in die +Wohnung eingeführt, die während meiner Abwesenheit für uns hergestellt +worden war. Sie konnte in dem weitläufigen Gebäude viel größer sein +als die im Asperhofe. Sie war zu einer vollständigen Haushaltung +hergerichtet. + +Von dem Sternenhofe gingen wir in die Stadt. Dort machten wir alle +Besuche, welche in den Kreisen meiner Eltern und in denen Mathildens +notwendig waren. Risach stellte manchem Freunde seine angenommene und +neuvermählte Tochter nebst ihrem Gatten und ihrer Mutter vor. Ich +erfuhr, daß meine Vermählung mit Natalie Tarona Aufsehen errege; ich +erfuhr, daß insbesondere einige meiner Freunde - sie hatten sich +wenigstens immer so genannt - geäußert haben, das sei unbegreiflich. +Nataliens Neigung zu mir war mir stets ein Geschenk und daher +unbegreiflich; da aber nun diese es aussprachen, begriff ich, daß +es nicht unbegreiflich sei. Ich besuchte meinen Juwelenfreund, der +wirklich ein Freund geblieben war. Er hatte die innigste Freude +über mein Glück. Ich führte ihn in unsere Familien ein. Bekannt +war er mit allen Teilen schon lange gewesen. Ich dankte ihm sehr +für die prachtvolle Fassung der Diamanten und Rubinen und des +Smaragdschmuckes. Er fühlte sich über Risachs und meines Vaters Urteil +sehr beglückt. + +»Wenn wir solche Kunden in großer Zahl hätten, wie diese zwei Männer +sind, teurer Freund«, sagte er, »dann würde unsere Beschäftigung bald +an die Grenzen der Kunst gelangen, ja sich mit ihr vereinigen. Wir +würden freudig arbeiten, und die Käufer würden erkennen, daß die +geistige Arbeit auch einen Preis habe wie die Steine und das Gold.« + +Ich nahm bei ihm eine sehr wertvolle und mit Kunst verzierte Uhr als +Gegenscherz für Eustachs Mappenschrein. Klotilde hatte sie ausgewählt. +Für Roland ließ ich einen Rubin in einen Ring fassen, daß er ihn zur +Erinnerung an mich trage und meine Dankbarkeit für seine Bemühungen +zur Auffindung der Ergänzungen der Pfeilerverkleidungen anerkenne. + +»Er ist ohnehin ein Nebenbuhler von mir«, sagte ich, »er hat Natalien +oft lange und bedeutend angesehen.« + +»Das hat einen sehr unschuldigen Grund«, entgegnete mein Gastfreund, +»Roland erwarb sich ein Liebchen mit gleichen Augen und Haaren, wie +sie Natalie besitzt. Er hat uns das öfter gesagt. Das Mädchen ist die +Tochter eines Forstmeisters im Gebirge und ihm äußerst zugetan. Da +nun der Arme ihren Anblick oft lange entbehren muß, so sah er zur +Erquickung Natalien an. Es hat Schwierigkeiten mit diesem jungen +Manne, ich wünsche sein Wohl. Er kann ein bedeutender Künstler werden +oder auch ein unglücklicher Mensch, wenn sich nehmlich sein Feuer, das +der Kunst entgegen wallt, von seinem Gegenstande abwendet und sich +gegen das Innere des jungen Mannes richtet. Ich hoffe aber, daß ich +alles werde ins Gleiche bringen können.« + +Da alle notwendigen Dinge in der Stadt abgetan waren, wurde die +Rückreise angetreten, und zwar in den Asperhof. Die Zeit der +Rosenblüte war herangerückt, und heuer sollte sie von den vereinigten +Familien als ein Denkzeichen der Vergangenheit und aber auch als eins +der Zukunft zum ersten Male in dieser Vereinigung und mit besonderer +Festlichkeit begangen werden. Mein Vater sollte sehen, welche Gewalt +die Menge und die Mannigfaltigkeit auszuüben im Stande ist, wenn diese +Menge und Mannigfaltigkeit auch nur lauter Rosen sind. Nach Verlauf +der Rosenblüte sollte alles und jedes, das durch diese Vermählung +unterbrochen worden war, in das alte Geleise zurückkehren. + + +Da wir in dem Asperhofe angekommen waren, gelangte ich erst zu einiger +Ruhe. Da sah ich auch gelegentlich die Papiere an, die uns Risach und +der Vater gegeben hatten, und erstaunte sehr. Beide enthielten für uns +viel mehr, als wir nur entfernt vermutet hatten. Risach wollte bis zu +seinem Tode das Haus in der Art wie bisher fort bewirtschaften, damit, +wie er sagte, er seinen Nachsommer bis zum Ende ausgenießen könne. +Unser Rat und unsere Hilfe in der Bewirtschaftung wird ihm Freude +machen. Einen namhaften Teil seiner Barschaft hatte er uns übergeben. +Und weil öfter zwei Familien in dem Asperhofe sein können, so lagen +den Papieren Pläne bei, daß auf einem schönen Platze zwischen dem +Rosenhause und dem Meierhofe, hart am Getreide, ein neues Haus +aufgeführt und sogleich zum Baue geschritten werden möge. Aber auch +das von dem Vater uns Übergebene war der gesammten Habe Risachs +ebenbürtig und übertraf weit meine Erwartungen. Als wir unsern Dank +abstatteten und ich mein Befremden ausdrückte, sagte der Vater: »Du +kannst darüber ganz ruhig sein; ich tue mir und Klotilden keinen +Abbruch. Ich habe auch meine heimlichen Freuden und meine +Leidenschaften gehabt. Das geben verachtete bürgerliche Gewerbe +eben, bürgerlich und schlicht betrieben. Was unscheinbar ist, +hat auch seinen Stolz und seine Größe. Jetzt aber will ich der +Schreibstubenleidenschaft, die sich nach und nach eingefunden, +Lebewohl sagen und nur meinen kleineren Spielereien leben, daß ich +auch einen Nachsommer habe wie dein Risach.« + +Als wir einige Zeit in dem Rosenhause verweilt hatten, traten eines +Tages Natalie und ich zu unserem neuen Vater und baten ihn, er möge +ein Versprechen von uns annehmen, dessen Annahme uns sehr freuen +wurde. + +»Und was ist das?« fragte er. + +»Daß wir, wenn du uns dereinst in dieser Welt früher verlassen +solltest als wir dich, keine Veränderung in allem, wie es sich in dem +Hause und in der Besitzung vorfindet, machen wollen, damit dein teures +Andenken bestehe und forterbe«, sagten wir. + +»Da tut ihr zu viel«, antwortete er, »ihr verspreche etwas, dessen +Größe ihr nicht kennt. Diese Bande darf ich nicht um euren Willen und +eure Verhältnisse legen, sie könnten von den übelsten Folgen sein. +Wollt ihr mein Gedächtnis in mannigfachem Bestehenlassen ehren, tut es +und pflanzt auch euren Nachkommen diesen Sinn ein, sonst ändert, wir +ihr wünscht und wie es not tut. Wir wollen, so lange ich lebe, selber +noch mit einander ändern, verschönern, bauen; ich will noch eine +Freude haben, und mit euch zu ändern und zu wirken ist mir lieber, als +wenn ich es allein tue.« + +»Aber der Erlenbach muß als Denkmal der schönen Geräte bestehen +bleiben.« + +»Setzt eine Urkunde auf, daß ihm nichts angetan werde von Geschlecht +zu Geschlecht, bis seine Reste vermodern oder ein Wolkenguß ihn von +seiner Stelle feget.« + +Er küßte Natalien, wie er gerne tat, auf die Stirne, mir reichte er +die Hand. + +Als die Rosenzeit wirklich recht innig und zum Staunen meiner +Angehörigen, welche so etwas nie gesehen hatten, vorüber gegangen war, +nahmen wir Abschied, die Vereinigung, welche nun so lange bestanden +hatte, löste sich und die Tage kehrten in ihren gewöhnlichen Abfluß +zurück. Meine Eltern gingen mit Klotilden in den Gusterhof, wo sie bis +zum Winter bleiben wollten, und ich siedelte mit Natalien in unsere +ständige Wohnung in den Sternenhof über. Wir sollten nun die +eigentliche Familie desselben sein, Mathilde werde bei uns wohnen und +mit an unserem Tische speisen. Die Bewirtschaftung des Gutes sollte +ebenfalls ich leiten. Ich übernahm die Pflicht und bat um Mathildens +Beihilfe, so ausgedehnt sie dieselbe leisten wolle. Sie sagte es zu. + +So rückte nun die Zeit in ihr altes Recht, und ein einfaches, +gleichmäßiges Leben ging Woche nach Woche dahin. + +Nur im Herbste fand eine Abwechslung statt. Die Vettern aus dem +Geburtshause des Vaters besuchten meine Eltern in dem Gusterhofe. Wir +fuhren zu ihnen hinüber. Der Vater ließ sie reichlich beschenkt in +einem Wagen in ihre Heimat zurückführen. + +Mit Beginn des Winters war Rolands Bild fertig. Es war seiner Größe +willen zu rollen, hatte einen großen Goldrahmen, der zu zerlegen war, +und wurde in dem Marmorsaale auf einer Staffelei aufgestellt. Wir +reisten alle in den Asperhof. Das Bild wurde vielfach betrachtet und +besprochen. Roland war in einer gehobenen, schwebenden Stimmung; +denn was auch die Meinung seiner Umgebung war, wie sehr sie auch das +Hervorgebrachte lobte und wohl auch Hindeutungen gab, was noch zu +verbessern wäre: so mochte ihm sein Inneres versprechen, daß er einmal +vielleicht noch weit Höheres, ja ein ganz Großes zu Stande zu bringen +vermögen werde. Risach sagte ihm die Mittel zu, reisen zu können und +ordnete die Zubereitung zu einer baldigen Abreise nach Rom an. Gustav +mußte noch den Winter im Asperhofe zubringen. Im Frühlinge sollte er +endlich in die Welt gehen. + +So waren nun mannigfaltige Beziehungen geordnet und geknöpft. + +Mathilde hatte einmal, da ich sie im Sternenhofe besuchte, zu mir +gesagt, das Leben der Frauen sei ein beschränktes und abhängiges, +sie und Natalie hätten den Halt von Verwandten verloren, sie müßten +Manches aus sich schöpfen wie ein Mann und in dem Widerscheine ihrer +Freunde leben. Das sei ihre Lage, sie daure ihrer Natur nach fort und +gehe ihrer Entwicklung entgegen. Ich hatte mir die Worte gemerkt und +hatte sie tief ins Herz genommen. + +Ein Teil dieser Entwicklung, glaubte ich nun, war gekommen, der zweite +wird mit Gustavs Ansiedlung eintreten. An mir hatten die Frauen wieder +einen Halt gewonnen, daß sich ein fester Kern ihres Daseins wieder +darstelle; ein neues Band war durch mich von ihnen zu den Meinigen +geschlungen, und selbst das Verhältnis zu Risach hatte an Rundung und +Festigkeit gewonnen. Den Abschluß der Familienzusammengehörigkeit wird +dann Gustav bringen. + +Was mich selber anbelangt, so hatte ich nach der gemeinschaftlichen +Reise in die höheren Lande die Frage an mich gestellt, ob ein Umgang +mit lieben Freunden, ob die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das +Leben umschreibe und vollende oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das +es umschließe und es mit weit größerem Glück erfülle. Dieses größere +Glück, ein Glück, das unerschöpflich scheint, ist mir nun von einer +ganz anderen Seite gekommen als ich damals ahnte. Ob ich es nun in der +Wissenschaft, der ich nie abtrünnig werden wollte, weit werde bringen +können, ob mir Gott die Gnade geben wird, unter den Großen derselben +zu sein, das weiß ich nicht; aber eines ist gewiß, das reine +Familienleben, wie es Risach verlangt, ist gegründet, es wird, wie +unsre Neigung und unsre Herzen verbürgen, in ungeminderter Fülle +dauern, ich werde meine Habe verwalten, werde sonst noch nutzen, und +jedes, selbst das wissenschaftliche Bestreben, hat nun Einfachheit, +Halt und Bedeutung. + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Der Nachsommer, by Adalbert Stifter + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NACHSOMMER *** + +This file should be named 8126-8.txt or 8126-8.zip + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +We are now trying to release all our eBooks one year in advance +of the official release dates, leaving time for better editing. +Please be encouraged to tell us about any error or corrections, +even years after the official publication date. + +Please note neither this listing nor its contents are final til +midnight of the last day of the month of any such announcement. +The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at +Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. 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If the value +per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2 +million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text +files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+ +We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002 +If they reach just 1-2% of the world's population then the total +will reach over half a trillion eBooks given away by year's end. + +The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks! +This is ten thousand titles each to one hundred million readers, +which is only about 4% of the present number of computer users. + +Here is the briefest record of our progress (* means estimated): + +eBooks Year Month + + 1 1971 July + 10 1991 January + 100 1994 January + 1000 1997 August + 1500 1998 October + 2000 1999 December + 2500 2000 December + 3000 2001 November + 4000 2001 October/November + 6000 2002 December* + 9000 2003 November* +10000 2004 January* + + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created +to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium. + +We need your donations more than ever! + +As of February, 2002, contributions are being solicited from people +and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut, +Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois, +Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts, +Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New +Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio, +Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South +Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West +Virginia, Wisconsin, and Wyoming. + +We have filed in all 50 states now, but these are the only ones +that have responded. + +As the requirements for other states are met, additions to this list +will be made and fund raising will begin in the additional states. +Please feel free to ask to check the status of your state. + +In answer to various questions we have received on this: + +We are constantly working on finishing the paperwork to legally +request donations in all 50 states. 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