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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 05:30:58 -0700
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+The Project Gutenberg EBook of Der Nachsommer, by Adalbert Stifter
+#2 in our series by Adalbert Stifter
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+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
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+
+Title: Der Nachsommer
+ Indian Summer
+
+Author: Adalbert Stifter
+
+Release Date: May, 2005 [EBook #8126]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on June 16, 2003]
+[Last updated: November 29, 2017]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NACHSOMMER ***
+
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+
+This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg - DE"
+(http://www.gutenberg2000.de/stifter/nachsomm/nachsomm.htm), prepared
+by Gerd Bouillon.
+
+
+
+
+Der Nachsommer
+
+Eine Erzählung von
+Adalbert Stifter
+
+
+
+Inhalt:
+
+Die Häuslichkeit
+Der Wanderer
+Die Einkehr
+Die Beherbergung
+Der Abschied
+Der Besuch
+Die Begegnung
+Die Erweiterung
+Die Annäherung
+Der Einblick
+Das Fest
+Der Bund
+Die Entfaltung
+Das Vertrauen
+Die Mitteilung
+Der Rückblick
+Der Abschluß
+
+
+
+Die Häuslichkeit
+
+Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Teil des ersten
+Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur
+Miete war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsgewölbe, die
+Schreibstube nebst den Warenbehältern und anderen Dingen, die er zu
+dem Betriebe seines Geschäftes bedurfte. In dem ersten Stockwerke
+wohnte außer uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten Leuten
+bestand, einem Manne und seiner Frau, welche alle Jahre ein oder zwei
+Male bei uns speisten, und zu denen wir und die zu uns kamen, wenn
+ein Fest oder ein Tag einfiel, an dem man sich Besuche zu machen oder
+Glück zu wünschen pflegte. Mein Vater hatte zwei Kinder, mich, den
+erstgeborenen Sohn, und eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als
+ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir
+uns unseren Geschäften, die uns schon in der Kindheit regelmäßig
+aufgelegt wurden, widmen mußten, und in welchem wir schliefen. Die
+Mutter sah da nach und erlaubte uns zuweilen, daß wir in ihrem
+Wohnzimmer sein und uns mit Spielen ergötzen durften.
+
+Der Vater war die meiste Zeit in dem Verkaufsgewölbe und in der
+Schreibstube. Um zwölf Uhr kam er herauf, und es wurde in dem
+Speisezimmer gespeiset. Die Diener des Vaters speisten an unserem
+Tische mit Vater und Mutter, die zwei Mägde und der Magazinsknecht
+hatten in dem Gesindezimmer einen Tisch für sich. Wir Kinder bekamen
+einfache Speisen, der Vater und die Mutter hatten zuweilen einen
+Braten und jedesmal ein Glas guten Weines. Die Handelsdiener bekamen
+auch von dem Braten und ein Glas desselben Weines. Anfangs hatte der
+Vater nur einen Buchführer und zwei Diener, später hatte er viere.
+
+In der Wohnung war ein Zimmer, welches ziemlich groß war. In demselben
+standen breite, flache Kästen von feinem Glanze und eingelegter
+Arbeit. Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln grünen
+Seidenstoff, und waren mit Büchern angefüllt. Der Vater hatte darum
+die grünen Seidenvorhänge, weil er es nicht leiden konnte, daß die
+Aufschriften der Bücher, die gewöhnlich mit goldenen Buchstaben auf
+dem Rücken derselben standen, hinter dem Glase von allen Leuten
+gelesen werden konnten, gleichsam als wolle er mit den Büchern
+prahlen, die er habe. Vor diesen Kästen stand er gerne und öfter,
+wenn er sich nach Tische oder zu einer andern Zeit einen Augenblick
+abkargen konnte, machte die Flügel eines Kastens auf, sah die Bücher
+an, nahm eines oder das andere heraus, blickte hinein, und stellte es
+wieder an seinen Platz.
+
+An Abenden, von denen er selten einen außer Hause zubrachte, außer
+wenn er in Stadtgeschäften abwesend war oder mit der Mutter ein
+Schauspiel besuchte, was er zuweilen und gerne tat, saß er häufig eine
+Stunde, öfter aber auch zwei oder gar darüber, an einem kunstreich
+geschnitzten alten Tische, der im Bücherzimmer auf einem ebenfalls
+altertümlichen Teppiche stand, und las. Da durfte man ihn nicht
+stören, und niemand durfte durch das Bücherzimmer gehen. Dann kam er
+heraus und sagte, jetzt könne man zum Abendessen gehen, bei dem die
+Handelsdiener nicht zugegen waren, und das nur in der Mutter und in
+unserer Gegenwart eingenommen wurde. Bei diesem Abendessen sprach er
+sehr gerne zu uns Kindern und erzählte uns allerlei Dinge, mitunter
+auch scherzhafte Geschichten und Märchen. Das Buch, in dem er gelesen
+hatte, stellte er genau immer wieder in den Schrein, aus dem er es
+genommen hatte, und wenn man gleich nach seinem Heraustritte in das
+Bücherzimmer ging, konnte man nicht im geringsten wahrnehmen, daß eben
+jemand hier gewesen sei und gelesen habe. Überhaupt durfte bei dem
+Vater kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen,
+sondern mußte immer aufgeräumt sein, als wäre es ein Prunkzimmer. Es
+sollte dafür aber aussprechen, zu was es besonders bestimmt sei. Die
+gemischten Zimmer, wie er sich ausdrückte, die mehreres zugleich sein
+können, Schlafzimmer, Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht
+leiden. Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, könne
+nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein. Dieser Zug strenger
+Genauigkeit prägte sich uns ein und ließ uns auf die Befehle der
+Eltern achten, wenn wir sie auch nicht verstanden. So zum Beispiele
+durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten.
+Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumung desselben betraut.
+
+In den Zimmern hingen hie und da Bilder, und es standen in manchen
+Geräte, die aus alten Zeiten stammten und an denen wunderliche
+Gestalten ausgeschnitten waren, oder in welchen sich aus verschiedenen
+Hölzern eingelegte Laubwerke und Kreise und Linien befanden.
+
+Der Vater hatte auch einen Kasten, in welchem Münzen waren, von denen
+er uns zuweilen einige zeigte. Da befanden sich vorzüglich schöne
+Taler, auf welchen geharnischte Männer standen oder die Angesichter
+mit unendlich vielen Locken zeigten, dann waren einige aus sehr alten
+Zeiten mit wunderschönen Köpfen von Jünglingen oder Frauen, und eine
+mit einem Manne, der Flügel an den Füßen hatte. Er besaß auch Steine,
+in welche Dinge geschnitten waren. Er hielt diese Steine sehr hoch
+und sagte, sie stammen aus dem kunstgeübtesten Volke alter Zeiten,
+nehmlich aus dem alten Griechenlande her. Manchmal zeigte er sie
+Freunden; diese standen lange an dem Kästchen derselben, hielten den
+einen oder den andern in ihren Händen und sprachen darüber.
+
+Zuweilen kamen Menschen zu uns, aber nicht oft. Manches Mal wurden
+Kinder zu uns eingeladen, mit denen wir spielen durften, und öfter
+gingen wir auch mit den Eltern zu Leuten, welche Kinder hatten, und
+uns Spiele veranstalteten. Den Unterricht erhielten wir in dem Hause
+von Lehrern, und dieser Unterricht und die sogenannten Arbeitsstunden,
+in denen von uns Kindern das verrichtet werden mußte, was uns als
+Geschäft aufgetragen war, bildeten den regelmäßigen Verlauf der Zeit,
+von welchem nicht abgewichen werden durfte.
+
+Die Mutter war eine freundliche Frau, die uns Kinder ungemein liebte,
+und die weit eher ein Abweichen von dem angegebenen Zeitenlaufe
+zugunsten einer Lust gestattet hätte, wenn sie nicht von der Furcht
+vor dem Vater davon abgehalten worden wäre. Sie ging in dem Hause
+emsig herum, besorgte alles, ordnete alles, ließ aus der obgenannten
+Furcht keine Ausnahme zu und war uns ein ebenso ehrwürdiges Bildnis
+des Guten wie der Vater, von welchem Bildnisse gar nichts abgeändert
+werden konnte. Zu Hause hatte sie gewöhnlich sehr einfache Kleider an.
+Nur zuweilen, wenn sie mit dem Vater irgend wohin gehen mußte, tat
+sie ihre stattlichen seidenen Kleider an und nahm ihren Schmuck, daß
+wir meinten, sie sei wie eine Fee, welche in unsern Bilderbüchern
+abgebildet war. Dabei fiel uns auf, daß sie immer ganz einfache,
+obwohl sehr glänzende Steine hatte, und daß ihr der Vater nie die
+geschnittenen umhing, von denen er doch sagte, daß sie so schöne
+Gestalten in sich hätten.
+
+Da wir Kinder noch sehr jung waren, brachte die Mutter den Sommer
+immer mit uns auf dem Lande zu. Der Vater konnte uns nicht
+Gesellschaft leisten, weil ihn seine Geschäfte in der Stadt
+festhielten; aber an jedem Sonntage und an jedem Festtage kam er,
+blieb den ganzen Tag bei uns und ließ sich von uns beherbergen. Im
+Laufe der Woche besuchten wir ihn einmal, bisweilen auch zweimal in
+der Stadt, in welchem Falle er uns dann bewirtete und beherbergte.
+
+Dies hörte endlich auf, anfänglich weil der Vater älter wurde und die
+Mutter, die er sehr verehrte, nicht mehr leicht entbehren konnte;
+später aber aus dem Grunde, weil es ihm gelungen war, in der Vorstadt
+ein Haus mit einem Garten zu erwerben, wo wir freie Luft genießen, uns
+bewegen und gleichsam das ganze Jahr hindurch auf dem Lande wohnen
+konnten.
+
+
+Die Erwerbung des Vorstadthauses war eine große Freude. Es wurde nun
+von dem alten, finstern Stadthause in das freundliche und geräumige
+der Vorstadt gezogen. Der Vater hatte es vorher im allgemeinen
+zusammen richten lassen, und selbst, da wir schon darin wohnten,
+waren noch immer in verschiedenen Räumen desselben Handwerksleute
+beschäftigt. Das Haus war nur für unsere Familie bestimmt. Es wohnten
+nur noch unsere Handlungsdiener in demselben und gleichsam als
+Pförtner und Gärtner ein ältlicher Mann mit seiner Frau und seiner
+Tochter.
+
+In diesem Hause richtete sich der Vater ein viel größeres Zimmer
+zum Bücherzimmer ein, als er in der Stadtwohnung gehabt hatte, auch
+bestimmte er ein eigenes Zimmer zum Bilderzimmer; denn in der Stadt
+mußten die Bilder wegen Mangels an Raum in verschiedenen Zimmern
+zerstreut sein. Die Wände dieses neuen Bilderzimmers wurden mit
+dunkelrotbraunen Tapeten überzogen, von denen sich die Goldrahmen
+sehr schön abhoben. Der Fußboden war mit einem mattfarbigen Teppiche
+belegt, damit er die Farben der Bilder nicht beirre. Der Vater hatte
+sich eine Staffelei aus braunem Holze machen lassen, und diese stand
+in dem Zimmer, damit man bald das eine, bald das andere Bild darauf
+stellen und es genau in dem rechten Lichte betrachten konnte.
+
+Für die alten geschnitzten und eingelegten Geräte wurde auch ein
+eigenes Zimmer hergerichtet. Der Vater hatte einmal aus dem Gebirge
+eine Zimmerdecke mitgebracht, welche aus Lindenholz und aus dem Holze
+der Zirbelkiefer geschnitzt war. Diese Decke ließ er zusammen legen
+und ließ sie mit einigen Zutaten versehen, die man nicht merkte, so
+daß sie als Decke in dieses Zimmer paßte. Das freute uns Kinder sehr,
+und wir saßen nun doppelt gerne in dem alten Zimmer, wenn uns an
+Abenden der Vater und die Mutter dahin führten, und arbeiteten dort
+etwas, und ließen uns von den Zeiten erzählen, in denen solche Sachen
+gemacht worden sind.
+
+Am Ende eines hölzernen Ganges, der in dem ersten Geschosse des Hauses
+gegen den Garten hinaus lief, ließ er ein gläsernes Stübchen machen,
+das heißt, ein Stübchen, dessen zwei Wände, die gegen den Garten
+schauten, aus lauter Glastafeln bestanden; denn die Hinterwände waren
+Holz. In dieses Stübchen tat er alte Waffen aus verschiedenen Zeiten
+und mit verschiedenen Gestalten. Er ließ an den Stäben, in die das
+Glas gefügt war, viel Efeu aus dem Garten herauswachsen, auch im
+Innern ließ er Efeu an dem Gerippe ranken, daß derselbe um die alten
+Waffen rauschte, wenn einzelne Glastafeln geöffnet wurden, und der
+Wind durch dieselben herein zog. Eine große hölzerne Keule, welche in
+dem Stübchen war und welche mit gräulichen Nägeln prangte, nannte er
+Morgenstern, was uns Kindern gar nicht einleuchten wollte, da der
+Morgenstern viel schöner war.
+
+Noch war ein Zimmerchen, das er mit kunstreich abgenähten rotseidenen
+Stoffen, die er gekauft hatte, überziehen ließ. Sonst aber wußte man
+noch nicht, was in das Zimmer kommen würde.
+
+In dem Garten war Zwergobst, es waren Gemüse- und Blumenbeete, und an
+dem Ende desselben, von dem man auf die Berge sehen konnte, welche die
+Stadt in einer Entfernung von einer halben Meile in einem großen Bogen
+umgeben, befanden sich hohe Bäume und Grasplätze. Das alte Gewächshaus
+hatte der Vater teils ausbessern, teils durch einen Zubau vergrößern
+lassen.
+
+Sonst hatte das Haus auch noch einen großen Hof, der gegen den Garten
+zu offen war, in dem wir, wenn das Gartengras naß war, spielen
+durften, und gegen welchen die Fenster der Küche, in der die Mutter
+sich viel befand, und der Vorratskammern herab sahen.
+
+Der Vater ging täglich morgens in die Stadt in sein Verkaufsgewölbe
+und in seine Schreibstube. Die Handelsdiener mußten der Ordnung halber
+mit ihm gehen. Um zwölf Uhr kam er zum Speisen so wie auch jene
+Diener, welche nicht eben die Reihe traf, während der Speisestunde in
+dem Verkaufsgewölbe zu wachen. Nachmittag ging er größtenteils auch
+wieder in die Stadt. Die Sonntage und die Festtage brachte er mit uns
+zu.
+
+Von der Stadt wurden nun viel öfter Leute mit ihren Kindern zu uns
+geladen, da wir mehr Raum hatten, und wir durften im Hofe oder in dem
+Garten uns ergötzen. Die Lehrer kamen zu uns jetzt in die Vorstadt,
+wie sie sonst in der Stadt zu uns gekommen waren.
+
+Der Vater, welcher durch das viele Sitzen an dem Schreibtische sich
+eine Krankheit zuzuziehen drohte, gönnte sich nur auf das Andringen
+der Mutter täglich eine freie Zeit, welche er dazu verwendete,
+Bewegung zu machen. In dieser Zeit ging er zuweilen in eine
+Gemäldegalerie oder zu einem Freunde, bei welchem er ein Bild sehen
+konnte, oder er ließ sich bei einem Fremden einführen, bei dem
+Merkwürdigkeiten zu treffen waren. An schönen Sommerfesttagen fuhren
+wir auch zuweilen ins Freie und brachten den Tag in einem Dorfe oder
+auf einem Berge zu.
+
+Die Mutter, welche über die Erwerbung des Vorstadthauses
+außerordentlich erfreut war, widmete sich mit gesteigerter
+Tätigkeit dem Hauswesen. Alle Samstage prangte das Linnen »weiß wie
+Kirschenblüte« auf dem Aufhängeplatze im Garten, und Zimmer für Zimmer
+mußte unter ihrer Aufsicht gereinigt werden, außer denen, in welchen
+die Kostbarkeiten des Vaters waren, deren Abstäubung und Reinigung
+immer unter seinen Augen vor sich gehen mußte. Das Obst, die
+Blumen und die Gemüse des Gartens besorgte sie mit dem Vater
+gemeinschaftlich. Sie bekam einen Ruf in der Umgebung, daß
+Nachbarinnen kamen und von ihr Dienstboten verlangten, die in unserem
+Hause gelernt hätten.
+
+Als wir nach und nach heran wuchsen, wurden wir immer mehr in den
+Umgang der Eltern gezogen; der Vater zeigte uns seine Bilder und
+erklärte uns manches in denselben. Er sagte, daß er nur alte habe,
+die einen gewissen Wert besitzen, den man immer haben könne, wenn man
+einmal genötigt sein sollte, die Bilder zu verkaufen. Er zeigte uns,
+wenn wir spazieren gingen, die Wirkungen von Licht und Schatten, er
+nannte uns die Farben, welche sich an den Gegenständen befanden, und
+erklärte uns die Linien, welche Bewegung verursachten, in welcher
+Bewegung doch wieder eine Ruhe herrsche, und Ruhe in Bewegung sei die
+Bedingung eines jeden Kunstwerkes. Er sprach mit uns auch von seinen
+Büchern. Er erzählte uns, daß manche da seien, in welchen das
+enthalten wäre, was sich mit dem menschlichen Geschlechte seit seinem
+Beginne bis auf unsere Zeiten zugetragen habe, daß da die Geschichten
+von Männern und Frauen erzählt werden, die einmal sehr berühmt gewesen
+seien und vor langer Zeit, oft vor mehr als tausend Jahren gelebt
+haben. Er sagte, daß in anderen das enthalten sei, was die Menschen in
+vielen Jahren von der Welt und anderen Dingen, von ihrer Einrichtung
+und Beschaffenheit in Erfahrung gebracht hätten. In manchen sei zwar
+nicht enthalten, was geschehen sei, oder wie sich manches befinde,
+sondern was die Menschen sich gedacht haben, was sich hätte zutragen
+können, oder was sie für Meinungen über irdische und überirdische
+Dinge hegen.
+
+In dieser Zeit starb ein Großoheim von der Seite der Mutter. Die
+Mutter erbte den Schmuck seiner vor ihm gestorbenen Frau, wir Kinder
+aber sein übriges Vermögen. Der Vater legte es als unser natürlicher
+Vormund unter mündelgemäßer Sicherheit an und tat alle Jahre die
+Zinsen dazu.
+
+Endlich waren wir so weit herangewachsen, daß der gewöhnliche
+Unterricht, den wir bisher genossen hatten, nach und nach aufhören
+mußte. Zuerst traten diejenigen Lehrer ab, die uns in den
+Anfangsgründen der Kenntnisse unterwiesen hatten, die man heutzutage
+für alle Menschen für notwendig hält, dann verminderten sich auch
+die, welche uns in den Gegenständen Unterricht gegeben hatten,
+die man Kindern beibringen läßt, welche zu den gebildeteren oder
+ausgezeichneteren Ständen gehören sollen. Die Schwester mußte nebst
+einigen Fächern, in denen sie sich noch weiter ausbilden sollte, nach
+und nach in die Häuslichkeit eingeführt werden und die wichtigsten
+Dinge derselben erlernen, daß sie einmal würdig in die Fußstapfen der
+Mutter treten könnte. Ich trieb noch, nachdem ich die Fächer erlernt
+hatte, die man in unseren Schulen als Vorkenntnisse und Vorbereitungen
+zu den sogenannten Brotkenntnissen betrachtet, einzelne Zweige fort,
+die schwieriger waren und in denen eine Nachhilfe nicht entbehrt
+werden konnte. Endlich trat in Bezug auf mich die Frage heran, was
+denn in der Zukunft mit mir zu geschehen habe, und da tat der Vater
+etwas, was ihm von vielen Leuten sehr übel genommen wurde. Er
+bestimmte mich nehmlich zu einem Wissenschafter im Allgemeinen. Ich
+hatte bisher sehr fleißig gelernt und jeden neuen Gegenstand, der von
+den Lehrern vorgenommen wurde, mit großem Eifer ergriffen, so daß,
+wenn die Frage war, wie ich in einem Unterrichtszweige genügt habe,
+das Urteil der Lehrer immer auf großes Lob lautete. Ich hatte den
+angedeuteten Lebensberuf von dem Vater selber verlangt und er dem
+Verlangten zugestimmt. Ich hatte ihn verlangt, weil mich ein gewisser
+Drang meines Herzens dazu trieb. Das sah ich wohl trotz meiner Jugend
+schon ein, daß ich nicht alle Wissenschaften würde erlernen können;
+aber was und wie viel ich lernen würde, das war mir eben so
+unbestimmt, als mein Gefühl unbestimmt war, welches mich zu diesen
+Dingen trieb. Mir schwebte auch nicht ein besonderer Nutzen vor, den
+ich durch mein Bestreben erreichen wollte, sondern es war mir nur, als
+müßte ich so tun, als liege etwas innerlich Gültiges und Wichtiges in
+der Zukunft. Was ich aber im Einzelnen beginnen und an welchem Ende
+ich die Sache anfassen sollte, das wußte weder ich, noch wußten es die
+Meinigen. Ich hatte nicht die geringste Vorliebe für das eine oder das
+andere Fach, sondern es schienen alle anstrebenswert, und ich hatte
+keinen Anhaltspunkt, aus dem ich hätte schließen können, daß ich zu
+irgend einem Gegenstande eine hervorragende Fähigkeit besäße, sondern
+es erschienen mir alle nicht unüberwindlich. Auch meine Angehörigen
+konnten kein Merkmal finden, aus dem sie einen ausschließlichen Beruf
+für eine Sache in mir hätten wahrnehmen können.
+
+Nicht die Ungeheuerlichkeit, welche in diesem Beginnen lag, war es,
+was die Leute meinem Vater übelnahmen, sondern sie sagten, er hätte
+mir einen Stand, der der bürgerlichen Gesellschaft nützlich ist,
+befehlen sollen, damit ich demselben meine Zeit und mein Leben widme,
+und einmal mit dem Bewußtsein scheiden könne, meine Schuldigkeit getan
+zu haben.
+
+Gegen diesen Einwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der
+menschlichen Gesellschaft wegen da, sondern seiner selbst willen. Und
+wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er
+es auch für die menschliche Gesellschaft. Wen Gott zum besten Maler
+auf dieser Welt geschaffen hätte, der würde der Menschheit einen
+schlechten Dienst tun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte:
+wenn er der größte Maler wird, so tut er auch der Welt den größten
+Dienst, wozu ihn Gott erschaffen hat. Dies zeige sich immer durch
+einen innern Drang an, der einen zu einem Dinge führt, und dem man
+folgen soll. Wie könnte man denn sonst auch wissen, wozu man auf der
+Erde bestimmt ist, ob zum Künstler, zum Feldherrn, zum Richter, wenn
+nicht ein Geist da wäre, der es sagt, und der zu den Dingen führt, in
+denen man sein Glück und seine Befriedigung findet.
+
+Gott lenkt es schon so, daß die Gaben gehörig verteilt sind, so daß
+jede Arbeit getan wird, die auf der Erde zu tun ist, und daß nicht
+eine Zeit eintritt, in der alle Menschen Baumeister sind. In diesen
+Gaben liegen dann auch schon die gesellschaftlichen, und bei großen
+Künstlern, Rechtsgelehrten, Staatsmännern sei auch immer die
+Billigkeit, Milde, Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe. Und aus solchen
+Männern, welche ihren innern Zug am weitesten ausgebildet, seien
+auch in Zeiten der Gefahr am öftesten die Helfer und Retter ihres
+Vaterlandes hervorgegangen.
+
+Es gibt solche, die sagen, sie seien zum Wohle der Menschheit
+Kaufleute, Ärzte, Staatsdiener geworden; aber in den meisten Fällen
+ist es nicht wahr. Wenn nicht der innere Beruf sie dahin gezogen hat,
+so verbergen sie durch ihre Aussage nur einen schlechteren Grund,
+nehmlich daß sie den Stand als ein Mittel betrachteten, sich Geld und
+Gut und Lebensunterhalt zu erwerben. Oft sind sie auch, ohne weiter
+über eine Wahl mit sich zu Rate zu gehen, in den Stand geraten
+oder durch Umstände in ihn gestoßen worden und nehmen das Wohl der
+Menschheit in den Mund, das sie bezweckt hätten, um nicht ihre
+Schwäche zu gestehen. Dann ist noch eine eigene Gattung, welche immer
+von dem öffentlichen Wohle spricht. Das sind die, welche mit ihren
+eigenen Angelegenheiten in Unordnung sind. Sie geraten stets in Nöte,
+haben stets Ärger und Unannehmlichkeiten, und zwar aus ihrem eigenen
+Leichtsinne; und da liegt es ihnen als Ausweg neben der Hand, den
+öffentlichen Zuständen ihre Lage schuld zu geben und zu sagen, sie
+wären eigentlich recht auf das Vaterland bedacht, und sie würden alles
+am besten in demselben einrichten. Aber wenn wirklich die Lage kömmt,
+daß das Vaterland sie beruft, so geht es dem Vaterlande, wie es früher
+ihren eigenen Angelegenheiten gegangen ist. In Zeiten der Verirrung
+sind diese Menschen die selbstsüchtigsten und oft auch grausamsten.
+Es ist aber auch kein Zweifel. daß es solche gibt, denen Gott
+den Gesellschaftstrieb und die Gesellschaftsgaben in besonderem
+Maße verliehen hat. Diese widmen sich aus innerem Antriebe den
+Angelegenheiten der Menschen, erlernen sie auch am sichersten, finden
+Freude in den Anordnungen und opfern oft ihr Leben für ihren Beruf.
+Aber in der Zeit, in der sie ihr Leben opfern, sei sie lange oder sei
+sie ein Augenblick, empfinden sie Freude, und diese kömmt, weil sie
+ihrem innern Andrange nachgegeben haben.
+
+Gott hat uns auch nicht bei unseren Handlungen den Nutzen als Zweck
+vorgezeichnet, weder den Nutzen für uns noch für andere, sondern
+er hat der Ausübung der Tugend einen eigenen Reiz und eine eigene
+Schönheit gegeben, welchen Dingen die edlen Gemüter nachstreben. Wer
+Gutes tut, weil das Gegenteil dem menschlichen Geschlechte schädlich
+ist, der steht auf der Leiter der sittlichen Wesen schon ziemlich
+tief. Dieser müßte zur Sünde greifen, sobald sie dem menschlichen
+Geschlechte oder ihm Nutzen bringt. Solche Menschen sind es auch,
+denen alle Mittel gelten, und die für das Vaterland, für ihre Familie
+und für sich selber das Schlechte tun. Solche hat man zu Zeiten,
+wo sie im Großen wirkten, Staatsmänner geheißen, sie sind aber nur
+Afterstaatsmänner, und der augenblickliche Nutzen, den sie erzielten,
+ist ein Afternutzen gewesen und hat sich in den Tagen des Gerichtes
+als böses Verhängnis erwiesen.
+
+Daß bei dem Vater kein Eigennutz herrschte, beweist der Umstand, daß
+er im Rate der Stadt ein öffentliches Amt unentgeltlich verwaltete,
+daß er öfter die ganze Nacht in diesem Amte arbeitete, und daß er bei
+öffentlichen Dingen immer mit bedeutenden Summen an der Spitze stand.
+
+Er sagte, man solle mich nur gehen lassen, es werde sich aus dem
+Unbestimmten schon entwickeln, wozu ich taugen werde, und welche Rolle
+ich auf der Welt einzunehmen hätte.
+
+
+Ich mußte meine körperlichen Übungen fortsetzen. Schon als sehr kleine
+Kinder mußten wir so viele körperliche Bewegungen machen, als nur
+möglich war. Das war einer der Hauptgründe, weshalb wir im Sommer auf
+dem Lande wohnten, und der Garten, welcher bei dem Vorstadthause war,
+war einer der Hauptbeweggründe, weshalb der Vater das Haus kaufte.
+
+Man ließ uns als kleine Kinder gewöhnlich so viel gehen und laufen,
+als wir selber wollten, und machte nur ein Ende, wenn wir selber aus
+Müdigkeit ruhten. Es hatte in der Stadt sich eine Anstalt entwickelt,
+in welcher nach einer gewissen Ordnung Leibesbewegungen vorgenommen
+werden sollten, um alle Teile des Körpers nach Bedürfnis zu üben, und
+ihrer naturgemäßen Entfaltung entgegen zu führen. Diese Anstalt durfte
+ich besuchen, nachdem der Vater den Rat erfahrener Männer eingeholt
+und sich selber durch den Augenschein von den Dingen überzeugt hatte,
+die da vorgenommen wurden. Für Mädchen bestand damals eine solche
+Anstalt nicht, daher ließ der Vater für die Schwester in einem Zimmer
+unserer Wohnung so viele Vorrichtungen machen, als er und unser
+Hausarzt, der ein Begünstiger dieser Dinge war, für notwendig
+erachteten, und die Schwester mußte sich den Übungen unterziehen,
+die durch die Vorrichtungen möglich waren. Durch die Erwerbung des
+Vorstadthauses wurde die Sache noch mehr erleichtert. Nicht nur
+hatten wir mehr Raum im Innern des Hauses, um alle Vorrichtungen zu
+Körperübungen in besserem und ausgedehnterem Maße anlegen zu können.
+sondern es war auch der Hofraum und der Garten da, in denen an sich
+körperliche Übungen vorgenommen werden konnten und die auch weitere
+Anlagen möglich machten. Daß wir diese Sachen sehr gerne taten,
+begreift sich aus der Feurigkeit und Beweglichkeit der Jugend von
+selber. Wir hatten schon in der Kindheit schwimmen gelernt und gingen
+im Sommer fast täglich, selbst da wir in der Vorstadt wohnten, von
+wo aus der Weg weiter war, in die Anstalt, in welcher man schwimmen
+konnte. Selbst für Mädchen waren damals schon eigene Schwimmanstalten
+errichtet. Auch außerdem machten wir gerne weite Wege, besonders
+im Sommer. Wenn wir im Freien außer der Stadt waren, erlaubten die
+Eltern, daß ich mit der Schwester einen besonderen Umgang halten
+durfte. Wir übten uns da im Zurücklegen bedeutender Wege oder in
+Besteigung eines Berges. Dann kamen wir wieder an den Ort zurück, an
+welchem uns die Eltern erwarteten. Anfangs ging meistens ein Diener
+mit uns, später aber, da wir erwachsen waren, ließ man uns allein
+gehen. Um besser und mit mehr Bequemlichkeit für die Eltern an jede
+beliebige Stelle des Landes außerhalb der Stadt gelangen zu können,
+schaffte der Vater in der Folge zwei Pferde an, und der Knecht, der
+bisher Gärtner und gelegentlich unser Aufseher gewesen war, wurde
+jetzt auch Kutscher. In einer Reitschule, in welcher zu verschiedenen
+Zeiten Knaben und Mädchen lernen konnten, hatten wir reiten gelernt
+und hatten später unsere bestimmten Wochentage, an denen wir uns
+zu gewissen Stunden im Reiten üben konnten. Im Garten hatte ich
+Gelegenheit, nach einem Ziele zu springen, auf schmalen Planken zu
+gehen, auf Vorrichtungen zu klettern und mit steinernen Scheiben
+nach einem Ziele oder nach größtmöglicher Entfernung zu werfen. Die
+Schwester, so sehr sie von der Umgebung als Fräulein behandelt wurde,
+liebte es doch sehr, bei sogenannten gröberen häuslichen Arbeiten
+zuzugreifen, um zu zeigen, daß sie diese Dinge nicht nur verstehe,
+sondern an Kraft auch die noch übertreffe, welche von Kindheit an
+bei diesen Arbeiten gewesen sind. Die Eltern legten ihr bei diesem
+Beginnen nicht nur keine Hindernisse in den Weg, sondern billigten es
+sogar. Außerdem trieb sie noch das Lesen ihrer Bücher, machte Musik,
+besonders auf dem Klaviere und auf der Harfe, zu der sie auch sang,
+und malte mit Wasserfarben.
+
+Als ich den letzten Lehrer verlor, der mich in Sprachen unterrichtet
+hatte, als ich in denjenigen wissenschaftlichen Zweigen, in welchen
+man einen längeren Unterricht für nötig gehalten hatte, weil sie
+schwieriger oder wichtiger waren, solche Fortschritte gemacht hatte,
+daß man einen Lehrer nicht mehr für notwendig erachtete, entstand die
+Frage, wie es in Bezug auf meine erwählte wissenschaftliche Laufbahn
+zu halten sei, ob man da einen gewissen Plan entwerfen und zu dessen
+Ausführung Lehrer annehmen sollte. Ich bat, man möchte mir gar keinen
+Lehrer mehr nehmen, ich würde die Sachen schon selber zu betreiben
+suchen. Der Vater ging auf meinen Wunsch ein, und ich war nun sehr
+freudig, keinen Lehrer mehr zu haben und auf mich allein angewiesen zu
+sein.
+
+Ich fragte Männer um Rat, welche einen großen wissenschaftlichen Namen
+hatten und gewöhnlich an der einen oder der andern Anstalt der Stadt
+beschäftigt waren. Ich näherte mich ihnen nur, wenn es ohne Verletzung
+der Bescheidenheit geschehen konnte. Da es meistens nur eine Anfrage
+war, die ich in Bezug auf mein Lernen an solche Männer stellte, und da
+ich mich nicht in ihren Umgang drängte, so nahmen sie meine Annäherung
+nicht übel, und die Antwort war immer sehr freundlich und liebevoll.
+Auch waren unter den Männern, die gelegentlich in unser Haus kamen,
+manche, die in gelehrten Dingen bewandert waren. Auch an diese wandte
+ich mich. Meistens betrafen die Anfragen Bücher und die Folge, in
+welcher sie vorgenommen werden sollten. Ich trieb Anfangs jene Zweige
+fort, in denen ich schon Unterricht erhalten hatte, weil man sie zu
+jener Zeit eben als Grundlage einer allgemeinen menschlichen Bildung
+betrachtete, nur suchte ich zum Teile mehr Ordnung in dieselben zu
+bringen, als bisher befolgt worden war, zum Teile suchte ich mich auch
+in jenem Fache auszudehnen, das mir mehr zuzusagen begann. Auf diese
+Weise geschah es, daß in dem Ganzen doch noch eine ziemliche Ordnung
+herrschte, da bei der Unbestimmtheit des ganzen Unternehmens die
+Gefahr sehr nahe war, in die verschiedensten Dinge zersplittert und in
+die kleinsten Kleinlichkeiten verschlagen zu werden. In Bezug auf die
+Fächer, die ich eben angefangen hatte, besuchte ich auch Anstalten in
+unserer Stadt, die ihnen förderlich werden konnten: Büchersammlungen,
+Sammlungen von Werkzeugen und namentlich Orte, wo Versuche gemacht
+wurden, die ich wegen meiner Unreifheit und wegen Mangels an
+Gelegenheit und Werkzeugen nie hätte ausführen können. Was ich an
+Büchern und überhaupt an Lehrmitteln brauchte, schaffte der Vater
+bereitwillig an.
+
+
+Ich war sehr eifrig und gab mich manchem einmal ergriffenen
+Gegenstande mit all der entzündeten Lust hin, die der Jugend bei
+Lieblingsdingen eigen zu sein pflegt. Obwohl ich bei meinen Besuchen
+der öffentlichen Anstalten zu körperlicher oder geistiger Entwicklung,
+ferner bei den Besuchen, welche Leute bei uns oder welche wir bei
+ihnen machten, sehr viele junge Leute kennen gelernt hatte, so war ich
+doch nie dahin gekommen, so ausschließlich auf bloße Vergnügungen und
+noch dazu oft unbedeutende erpicht zu sein, wie ich es bei der größten
+Zahl der jungen Leute gesehen hatte. Die Vergnügungen, die in unserem
+Hause vorkamen, wenn wir Leute zum Besuche bei uns hatten, waren auch
+immer ernsterer Art.
+
+Ich lernte auch viele ältere Menschen kennen; aber ich achtete damals
+weniger darauf, weil es bei der Jugend Sitte ist, sich mit lebhafter
+Beteiligung mehr an die anzuschließen, die ihnen an Jahren näher
+stehen, und das, was an älteren Leuten befindlich ist, zu übersehen.
+
+Als ich achtzehn Jahre alt war, gab mir der Vater einen Teil meines
+Eigentums aus der Erbschaft vom Großoheime zur Verwaltung. Ich hatte
+bis dahin kein Geld zu regelmäßiger Gebarung gehabt, sondern wenn ich
+irgend etwas brauchte, kaufte es der Vater, und zu Dingen von minderem
+Belange gab mir der Vater das Geld, damit ich sie selber kaufe. Auch
+zu Vergnügungen bekam ich gelegentlich kleine Beträge. Von nun an
+aber, sagte der Vater, werde er mir am ersten Tage eines jeden Monats
+eine bestimmte Summe auszahlen, ich solle darüber ein Buch führen, er
+werde diese Auszahlungen bei der Verwaltung meines Gesammtvermögens,
+welche Verwaltung ihm noch immer zustehe, in Abrechnung bringen, und
+sein Buch und das meinige müßten stimmen. Er gab mir einen Zettel, auf
+welchem der Kreis dessen aufgezeichnet war, was ich von nun an mit
+meinen monatlichen Einkünften zu bestreiten hätte. Er werde mir
+nie mehr von seinem Gelde einen Gegenstand kaufen, der in den
+verzeichneten Kreis gehöre. Ich müsse pünktlich verfahren und
+haushälterisch sein; denn er werde mir auch nie und nicht einmal unter
+den dringendsten Bedingungen einen Vorschuß geben. Wenn ich zu seiner
+Zufriedenheit eine Zeit hindurch gewirtschaftet hätte, dann werde er
+meinen Kreis wieder erweitern, und er werde nach billigstem Ermessen
+sehen, in welcher Zeit er mir auch vor der erreichten gesetzlichen
+Mündigkeit meine Angelegenheiten ganz in die Hände werde geben können.
+
+
+
+Der Wanderer
+
+Ich verfuhr mit der Rente, welche mir der Vater ausgesetzt hatte, gut.
+Daher wurde nach einiger Zeit mein Kreis erweitert, wie es der Vater
+versprochen hatte. Ich sollte von nun an nicht bloß nur einen Teil
+meiner Bedürfnisse von dem zugewiesenen Einkommen decken, sondern
+alle. Deshalb wurde meine Rente vergrößert. Der Vater zahlte sie mir
+von nun an auch nicht mehr monatlich, sondern vierteljährlich aus, um
+mich an größere Zeitabschnitte zu gewöhnen. Sie mir halbjährlich oder
+gar nach ganzen Jahren einzuhändigen wollte er nicht wagen, damit ich
+doch nicht etwa in Unordnungen geriete. Er gab mir nicht die ganzen
+Zinsen von der Erbschaft des Großoheims, sondern nur einen Teil, den
+andern Teil legte er zu der Hauptsumme, so daß mein Eigentum wuchs,
+wenn ich auch von meiner Rente nichts erübrigte. Als Beschränkung
+blieb die Einrichtung, daß ich in dem Hause meiner Eltern wohnen und
+an ihrem Tische speisen mußte. Es ward dafür ein Preis festgesetzt,
+den ich alle Vierteljahre zu entrichten hatte. Jedes andere Bedürfnis,
+Kleider, Bücher, Geräte oder was es immer war, durfte ich nach meinem
+Ermessen und nach meiner Einsicht befriedigen.
+
+Die Schwester erhielt auch Befugnisse in Hinsicht ihres Teiles
+der Erbschaft des Großoheims, in so weit sie sich für ein Mädchen
+schickten.
+
+Wir waren über diese Einrichtung sehr erfreut und beschlossen, nach
+dem Wunsche und dem Willen der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu
+machen.
+
+Ich ging, nachdem ich in den verschiedenen Zweigen der Kenntnisse,
+die ich zuletzt mit meinen Lehrern betrieben hatte und welche als
+allgemein notwendige Kenntnisse für einen gebildeten Menschen gelten,
+nach mehreren Richtungen gearbeitet hatte, auf die Mathematik über.
+Man hatte mir immer gesagt, sie sei die schwerste und herrlichste
+Wissenschaft, sie sei die Grundlage zu allen übrigen, in ihr sei alles
+wahr, und was man aus ihr habe, sei ein bleibendes Besitztum für das
+ganze Leben. Ich kaufte mir die Bücher, die man mir riet, um von den
+Vorkenntnissen, die ich bereits hatte, ausgehen und zu dem Höheren
+immer weiter streben zu können. Ich kaufte mir eine sehr große
+Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausführen zu können. So saß
+ich nun in manchen Stunden, die zum Erlernen von Kenntnissen bestimmt
+waren, an meinem Tische und rechnete. Ich ging den Gängen der Männer
+nach, welche die Gestaltungen dieser Wissenschaft nach und nach
+erfunden hatten und von diesen Gestaltungen zu immer weiteren geführt
+worden waren. Ich setzte mir bestimmte Zeiträume fest, in welchen ich
+vom Weitergehen abließ, um das bis dahin Errungene wiederholen und
+meinem Gedächtnisse einprägen zu können, ehe ich zu ferneren Teilen
+vorwärts schritt. Die Bücher, welche ich nach und nach durchnehmen
+wollte, hatte ich in der Ordnung auf einem Bücherbrett aufgestellt.
+Ich war nach einer verhältnismäßigen Zeit in ziemlich schwierige
+Abteilungen des höheren Gebietes dieser Wissenschaft vorgerückt.
+
+
+Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im Sommer eine Zeit hindurch
+entfernt von den Eltern auf irgend einem Punkte des Landes zu wohnen.
+Zum ersten Aufenthalte dieser Art wurde das Landhaus eines Freundes
+meines Vaters nicht gar ferne von der Stadt erwählt. Ich erhielt ein
+Zimmerchen in dem obersten Teile des Hauses, dessen Fenster auf die
+nahen Weinberge und zwischen ihren Senkungen durch auf die entfernten
+Gebirge gingen. Die Frau des Hauses gab mir in sehr kurzen
+Zwischenzeiten immer erneuerte schneeweiße Fenstervorhänge. Sehr oft
+kamen die Eltern heraus, besuchten mich und brachten den Tag auf dem
+Lande zu. Sehr oft ging ich auch zu ihnen in die Stadt und blieb
+manchmal sogar über Nacht in ihrem Hause.
+
+Der zweite Aufenthalt im nächst darauf folgenden Sommer war viel
+weiter von der Stadt entfernt in dem Hause eines Landmanns. Man hat
+häufig in den Häusern unserer Landleute, in welchen alle Wohnstuben
+und andere Räumlichkeiten ebenerdig sind, doch noch ein Geschoß über
+diesen Räumlichkeiten, in welchem sich ein oder mehrere Gemächer
+befinden. Unter diesen Gemächern ist auch die sogenannte obere Stube.
+Häufig ist sie bloß das einzige Gemach des ersten Geschosses. Die
+obere Stube ist gewissermaßen das Prunkzimmer. In ihr stehen die
+schöneren Betten des Hauses, gewöhnlich zwei, in ihr stehen die
+Schreine mit den schönen Kleidern, in ihr hängen die Scheiben- und
+Jagdgewehre des Mannes, wenn er dergleichen hat, so wie die Preise,
+die er im Schießen etwa schon gewonnen, in ihr sind die schöneren
+Geschirre der Frau, besonders wenn sie Krüge aus Zinn oder etwas aus
+Porzellan hat, und in ihr sind auch die besseren Bilder des Hauses und
+sonstige Zierden, zum Beispiel ein schönes Jesuskindlein aus Wachs,
+welches in weißem feinem Flaume liegt. In einer solchen oberen Stube
+des Hauses eines Landmanns wohnte ich. Das Haus war so weit von der
+Stadt entfernt, daß ich die Eltern nur ein einziges Mal mit Benutzung
+des Postwagens besuchen konnte, sie aber gar nie zu mir kamen.
+
+Dieser Aufenthalt brachte Veränderungen in mir hervor. Weil ich mit
+den Meinigen nicht zusammen kommen konnte, so lebte die Sehnsucht nach
+Mitteilung viel stärker in mir, als wenn ich zu Hause gewesen wäre und
+sie jeden Augenblick hätte befriedigen können. Ich schritt also zu
+ausführlichen Briefen und Berichten. Ich hatte bisher immer aus
+Büchern gelernt, deren ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine
+Bücherkästen von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte mich nie
+geübt, etwas selber in größerem Zusammenhange zusammen zu stellen.
+Jetzt mußte ich es tun, ich tat es gerne, und freute mich, nach
+und nach die Gabe der Darstellung und Erzählung in mir wachsen zu
+fühlen. Ich schritt zu immer zusammengesetzteren und geordneteren
+Schilderungen.
+
+
+Auch eine andere Veränderung trat ein.
+
+Ich war schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge
+gewesen, wie sie sich so in der Schöpfung oder in dem geregelten
+Gange des menschlichen Lebens darstellte. Dies war oft eine große
+Unannehmlichkeit für meine Umgebung gewesen. Ich fragte unaufhörlich
+um die Namen der Dinge, um ihr Herkommen und ihren Gebrauch und konnte
+mich nicht beruhigen, wenn die Antwort eine hinausschiebende war. Auch
+konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenstand zu etwas Anderem
+machte, als er war. Besonders kränkte es mich, wenn er, wie ich
+meinte, durch seine Veränderung schlechter wurde. Es machte mir
+Kummer, als man einmal einen alten Baum des Gartens fällte und ihn in
+lauter Klötze zerlegte. Die Klötze waren nun kein Baum mehr, und da
+sie morsch waren, konnte man keinen Schemel, keinen Tisch, kein Kreuz,
+kein Pferd daraus schnitzen. Als ich einmal das offene Land kennen
+gelernt und Fichten und Tannen auf den Bergen stehen gesehen hatte,
+taten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen etwas in unserem Hause
+verfertigt wurde, weil sie einmal solche Fichten und Tannen gewesen
+waren. Ich fragte den Vater, wenn wir durch die Stadt gingen, wer die
+große Kirche des heiligen Stephan gebaut habe, warum sie nur einen
+Turm habe, warum dieser so spitzig sei, warum die Kirche so schwarz
+sei, wem dieses oder jenes Haus gehöre, warum es so groß sei, weshalb
+sich an einem andern Hause immer zwei Fenster neben einander befänden
+und in einem weiteren Hause zwei steinerne Männer das Sims des
+Haustores tragen.
+
+Der Vater beantwortete solche Fragen je nach seinem Wissen. Bei
+einigen äußerte er nur Mutmaßungen, bei anderen sagte er, er wisse
+es nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich alle Gewächse und
+Steine kennen und fragte um die Namen der Landleute und der Hunde. Der
+Vater pflegte zu sagen, ich müßte einmal ein Beschreiber der Dinge
+werden oder ein Künstler, welcher aus Stoffen Gegenstände fertigt,
+an denen er so Anteil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der die
+Merkmale und Beschaffenheiten der Sachen erforscht.
+
+Diese Eigenschaft nun führte mich, da ich auf dem Lande wohnte, in
+eine besondere Richtung. Ich legte die Mathematik weg und widmete
+mich der Betrachtung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen
+Vorkommnissen des Hauses, in dem ich wohnte, zuzusehen. Ich lernte
+nach und nach alle Werkzeuge und ihre Bestimmungen kennen. Ich ging
+mit den Arbeitern auf die Felder, auf die Wiesen und in die Wälder
+und arbeitete gelegentlich selber mit. Ich lernte in kurzer Zeit auf
+diese Weise die Behandlung und Gewinnung aller Bodenerzeugnisse des
+Landstriches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch ihre erste ländliche
+Verarbeitung zu Kunsterzeugnissen suchte ich in Erfahrung zu bringen.
+Ich lernte die Bereitung des Weines aus Trauben kennen, des Garnes und
+der Leinwand aus Flachs, der Butter und des Käses aus der Milch, des
+Mehles und Brotes aus dem Getreide. Ich merkte mir die Namen, womit
+die Landleute ihre Dinge benannten, und lernte bald die Merkmale
+kennen, aus denen man die Güte oder den geringeren Wert der
+Bodenerzeugnisse oder ihre nächsten Umwandlungen beurteilen konnte.
+Selbst in Gespräche, wie man dieses oder jenes auf eine vielleicht
+zweckmäßigere Weise hervorbringen könnte, ließ ich mich ein, fand aber
+da einen hartnäckigen Widerstand.
+
+Als ich diese Hervorbringung der ersten Erzeugnisse in jenem Striche
+des Landes, in welchem ich mich aufhielt, kennen gelernt hatte, ging
+ich zu den Gegenständen des Gewerbfleißes über. Nicht weit von meiner
+Wohnung war ein weites flaches Tal, das von einem Wasser durchströmt
+war, welches sich durch seine gleichbleibende Reichhaltigkeit und
+dadurch, daß es im Winter nicht leicht zufror, besonders zum Treiben
+von Werken eignete. In dem Tale waren daher mehrere Fabriken
+zerstreut. Sie gehörten meistens zu ansehnlichen Handelshäusern. Die
+Eigentümer lebten in der Stadt und besuchten zuweilen ihre Werke, die
+von einem Verwalter oder Geschäftsleiter versehen wurden.
+
+Ich besuchte nach und nach alle diese Fabriken und unterrichtete mich
+über die Erzeugnisse, welche da hervorgebracht wurden. Ich suchte
+den Hergang kennen zu lernen, durch welchen der Stoff in die Fabrik
+geliefert wurde, durch welchen er in die erste Umwandlung, von dieser
+in die zweite und so durch alle Stufen geführt wurde, bis er als
+letztes Erzeugnis der Fabrik hervorging. Ich lernte hier die Güte der
+einlangenden Rohstoffe kennen und wurde auf die Merkmale aufmerksam
+gemacht, aus denen auf eine vorzügliche Beschaffenheit der endlich in
+der Fabrik fertig gewordenen Erzeugnisse geschlossen werden konnte.
+Ich lernte auch die Mittel und Wege kennen, durch welche die
+Umwandlungen, die die Stoffe nach und nach zu erleiden hatten, bewirkt
+wurden.
+
+Die Maschinen, welche hiezu größtenteils verwendet wurden, waren mir
+durch meine bereits erworbenen Vorkenntnisse in ihren allgemeinen
+Einrichtungen schon bekannt. Es war mir daher nicht schwer, ihre
+besonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken, die hier erreicht
+werden sollten, einsehen zu lernen. Ich ging durch die Gefälligkeit
+der dabei Angestellten alle Teile durch, bis ich das Ganze so vor mir
+hatte und zusammen begreifen konnte, als hätte ich es als Zeichnung
+auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher alle Einrichtungen solcher
+Art nur aus Zeichnungen kennen zu lernen Gelegenheit hatte.
+
+In späterer Zeit begann ich, die Naturgeschichte zu betreiben. Ich
+fing bei der Pflanzenkunde an. Ich suchte zuerst zu ergründen, welche
+Pflanzen sich in der Gegend befänden, in welcher ich mich aufhielt. Zu
+diesem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus und bestrebte mich,
+die Standorte und die Lebensweise der verschiedenen Gewächse kennen zu
+lernen und alle Gattungen zu sammeln. Welche ich mit mir tragen konnte
+und welche nur einiger Maßen aufzubewahren waren, nahm ich mit in
+meine Wohnung. Von solchen, die ich nicht von dem Orte bringen konnte,
+wozu besonders die Bäume gehörten, machte ich mir Beschreibungen,
+welche ich zu der Sammlung einlegte. Bei diesen Beschreibungen, die
+ich immer nach allen sich mir darbietenden Eigenschaften der Pflanzen
+machte, zeigte sich mir die Erfahrung, daß nach meiner Beschreibung
+andere Pflanzen in eine Gruppe zusammen gehörten, als welche von den
+Pflanzenkundigen als zusammengehörig aufgeführt wurden. Ich bemerkte,
+daß von den Pflanzenlehrern die Einteilungen der Pflanzen nur nach
+einem oder einigen Merkmalen, zum Beispiele nach den Samenblättern
+oder nach den Blütenteilen, gemacht wurden, und daß da Pflanzen in
+einer Gruppe beisammen stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und
+in ihren meisten Eigenschaften sehr verschieden sind. Ich behielt
+die herkömmlichen Einteilungen bei und hatte aber auch meine
+Beschreibungen daneben. In diesen Beschreibungen standen die Pflanzen
+nach sinnfälligen Linien und, wenn ich mich so ausdrücken dürfte, nach
+ihrer Bauführung beisammen.
+
+Bei den Mineralien, welche ich mir sammelte, geriet ich beinahe in
+dieselbe Lage. Ich hatte mir schon seit meiner Kinderzeit manche
+Stücke zu erwerben gesucht. Fast immer waren dieselben aus
+anderen Sammlungen gekauft oder geschenkt worden. Sie waren schon
+Sammlungsstücke, hatten meistens das Papierstückchen mit ihrem Namen
+auf sich aufgeklebt.
+
+Auch waren sie womöglich immer im Kristallzustande. Das System von
+Mohs hatte einmal großes Aufsehen gemacht; ich war durch meine
+mathematischen Arbeiten darauf geführt worden, hatte es kennen und
+lieben gelernt. Allein da ich jetzt meine Mineralien in der Gegend
+meines Aufenthaltes suchte und zusammen trug, fand ich sie weit öfter
+in unkristallisirtem Zustande als in kristallisirtem, und sie zeigten
+da allerlei Eigenschaften für die Sinne, die sie dort nicht haben. Das
+Kristallisiren der Stoffe, welches das System von Mohs voraussetzt,
+kam mir wieder wie ein Blühen vor, und die Stoffe standen nach
+diesen Blüten beisammen. Ich konnte nicht lassen, auch hier neben
+den Einteilungen, die gebräuchlich waren, mir ebenfalls meine
+Beschreibungen zu machen.
+
+
+Ungefähr eine Meile von unserer Stadt liegt gegen Sonnenuntergang hin
+eine Reihe von schönen Hügeln. Diese Hügel setzen sich in Stufenfolgen
+und nur hie und da von etwas größeren Ebenen unterbrochen immer weiter
+nach Sonnenuntergang fort, bis sie endlich in höher gelegenes, noch
+hügligeres Land, das sogenannte Oberland, übergehen. In der Nähe der
+Stadt sind die Hügel mehrfach von Landhäusern besetzt und mit Gärten
+und Anlagen geschmückt, in weiterer Entfernung werden sie ländlicher.
+Sie tragen Weinreben oder Felder auf ihren Seiten, auch Wiesen sind
+zu treffen, und die Gipfel oder auch manche Rückenstrecken sind mit
+laubigen, mehr busch- als baumartigen Wäldern besetzt. Die Bäche und
+sonstigen Gewässer sind nicht gar häufig, und oft traf ich im Sommer
+zwischen den Hügeln, wenn mich Durst oder Zufall hinab führte, das
+ausgetrocknete, mit weißen Steinen gefüllte Bett eines Baches. In
+diesem Hügellande war mein Aufenthalt, und in demselben rückte ich
+immer weiter gegen Sonnenuntergang vor. Ich streifte weit und breit
+herum und war oft mehrere Tage von meiner Wohnung abwesend. Ich ging
+die einsamen Pfade, welche zwischen den Feldern oder Weingeländen
+hinliefen und sich von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort zogen und manche
+Meilen, ja Tagereisen in sich begriffen. Ich ging auf den abgelegenen
+Waldpfaden, die in Stammholz oder Gebüschen verborgen waren und
+nicht selten im Laubwerk, Gras oder Gestrippe spurlos endeten.
+Ich durchwanderte oft auch ohne Pfad Wiesen, Wald und sonstige
+Landflächen, um die Gegenstände zu finden, welche ich suchte. Daß
+wenige von unseren Stadtbewohnern auf solche Wege kommen, ist
+begreiflich, da sie nur kurze Zeit zu dem Genusse des Landlebens sich
+gönnen können und in derselben auf den breiten herkömmlichen Straßen
+des Landvergnügens bleiben und von anderen Pfaden nichts wissen.
+An der Mittagseite war das ganze Hügelland viele Meilen lang von
+Hochgebirge gesäumt. Auf einer Stelle der Basteien unserer Stadt kann
+man zwischen Häusern und Bäumen ein Fleckchen Blau von diesem Gebirge
+sehen. Ich ging oft auf jene Bastei, sah oft dieses kleine blaue
+Fleckchen und dachte nichts weiter als: das ist das Gebirge. Selbst
+da ich von dem Hause meines ersten Sommeraufenthaltes einen Teil des
+Hochgebirges erblickte, achtete ich nicht weiter darauf. Jetzt sah
+ich zuweilen mit Vergnügen von einer Anhöhe oder von dem Gipfel eines
+Hügels ganze Strecken der blauen Kette, welche in immer undeutlicheren
+Gliedern ferner und ferner dahin lief. Oft, wenn ich durch wildes
+Gestrippe plötzlich auf einen freien Abriß kam und mir die Abendröte
+entgegen schlug, weithin das Land in Duft und roten Rauch legend, so
+setzte ich mich nieder, ließ das Feuerwerk vor mir verglimmen, und es
+kamen allerlei Gefühle in mein Herz.
+
+Wenn ich wieder in das Haus der Meinigen zurückkehrte, wurde ich
+recht freudig empfangen, und die Mutter gewöhnte sich an meine
+Abwesenheiten, da ich stets gereifter von ihnen zurück kam. Sie und
+die Schwester halfen mir nicht selten, die Sachen, die ich mitbrachte,
+aus ihren Behältnissen auspacken, damit ich sie in den Räumen, die
+hiezu bestimmt waren, ordnen konnte.
+
+So war endlich die Zeit gekommen, in welcher es der Vater für geraten
+fand, mir die ganze Rente der Erbschaft des Großoheims zu freier
+Verfügung zu übertragen. Er sagte, ich könne mit diesem Einkommen
+verfahren, wie es mir beliebe, nur müßte ich damit ausreichen. Er
+werde mir auf keine Weise aus dem Seinigen etwas beitragen, noch mir
+je Vorschüsse machen, da meine Jahreseinnahme so reichlich sei, daß
+sie meine jetzigen Bedürfnisse, selbst wenn sie noch um Vieles größer
+würden, nicht nur hinlänglich decke, sondern daß sie selbst auch
+manche Vergnügungen bestreiten könne, und daß doch noch etwas übrig
+bleiben dürfte. Es liege somit in meiner Hand, für die Zukunft, die
+etwa größere Ausgaben bringen könnte, mir auch eine größere Einnahme
+zu sichern. Meine Wohnung und meinen Tisch dürfe ich nicht mehr, wenn
+ich nicht wolle, in dem Hause der Eltern nehmen, sondern wo ich immer
+wollte. Das Stammvermögen selber werde er an dem Orte, an welchem
+es sich bisher befand, liegen lassen. Er fügte bei, er werde mir
+dasselbe, sobald ich das vierundzwanzigste Jahr erreicht habe,
+einhändigen. Dann könne ich es nach meinem eigenen Ermessen verwalten.
+»Ich rate dir aber«, fuhr er fort, »dann nicht nach einer größeren
+Rente zu geizen, weil eine solche meistens nur mit einer größeren
+Unsicherheit des Stammvermögens zu erzielen ist. Sei immer deines
+Grundvermögens sicher und mache die dadurch entstehende kleinere Rente
+durch Mäßigkeit größer. Solltest du den Rat deines Vaters einholen
+wollen, so wird dir derselbe nie entzogen werden. Wenn ich sterbe oder
+freiwillig aus den Geschäften zurück trete, so werdet ihr beide auch
+noch von mir eine Vermehrung eures Eigentums erhalten. Wie groß
+dieselbe sein wird, kann ich noch nicht sagen, ich bemühe mich, durch
+Vorsicht und durch gut gegründete Geschäftsführung sie so groß als
+möglich und auch so sicher als möglich zu machen; aber alle stehen
+wir in der Hand des Herrn, und er kann durch Ereignisse, welche kein
+Menschenauge vorher sehen kann, meine Vermögensumstände bedeutend
+verändern. Darum sei weise und gebare mit dem Deinigen, wie du bisher
+zu meiner und zur Befriedigung deiner Mutter getan hast.« Ich war
+gerührt über die Handlungsweise meines Vaters und dankte ihm von
+ganzem Herzen. Ich sagte, daß ich mich stets bestreben werde, seinem
+Vertrauen zu entsprechen, daß ich ihn inständig um seinen Rat bitte,
+und daß ich in Vermögensangelegenheiten wie in anderen nie gegen ihn
+handeln, und daß ich auch nicht den kleinsten Schritt tun wolle,
+ohne nach diesem Rat zu verlangen. Eine Wohnung außer dem Hause
+zu beziehen, solange ich in unserer Stadt lebe, wäre mir sehr
+schmerzlich, und ich bitte, in dem Hause meiner Eltern und an ihrem
+Tische bleiben zu dürfen, solange Gott nicht selber durch irgend eine
+Schickung eine Änderung herbei führe.
+
+Der Vater und die Mutter waren über diese Worte erfreut. Die Mutter
+sagte, daß sie mir zu meiner bisherigen Wohnung, die mir doch als
+einem nunmehr selbständigen Manne besonders bei meinen jetzigen
+Verhältnissen zu klein werden dürfte, noch einige Räumlichkeiten
+zugeben wolle, ohne daß darum der Preis unverhältnismäßig wachse. Ich
+war natürlicher Weise mit Allem einverstanden. Ich mußte gleich mit
+der Mutter gehen und die mir zugedachte Vergrößerung der Wohnung
+besehen. Ich dankte ihr für ihre Sorgfalt. Schon in den nächsten Tagen
+richtete ich mich in der neuen Wohnung ein.
+
+Den Winter benutzte ich zum Teile mit Vorbereitungen, um im nächsten
+Sommer wieder große Wanderungen machen zu können. Ich hatte mir
+vorgenommen, nun endlich einmal das Hochgebirge zu besuchen, und in
+ihm so weit herum zu gehen, als es mir zusagen würde.
+
+
+Als der Sommer gekommen war, fuhr ich von der Stadt auf dem kürzesten
+Wege in das Gebirge. Von dem Orte meiner Ankunft aus wollte ich dann
+in ihm längs seiner Richtung von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang zu
+Fuße fort wandern. Ich begab mich sofort auf meinen Weg. Ich ging den
+Tälern entlang, selbst wenn sie von meiner Richtung abwichen und
+allerlei Windungen verfolgten. Ich suchte nach solchen Abschweifungen
+immer meinen Hauptweg wieder zu gewinnen. Ich stieg auch auf Bergjoche
+und ging auf der entgegengesetzten Seite wieder in das Tal hinab.
+
+Ich erklomm manchen Gipfel und suchte von ihm die Gegend zu sehen und
+auch schon die Richtung zu erspähen, in welcher ich in nächster Zeit
+vordringen würde. Im Ganzen hielt ich mich stets, soweit es anging,
+nach dem Hauptzuge des Gebirges und wich von der Wasserscheide so
+wenig als möglich ab.
+
+In einem Tale an einem sehr klaren Wasser sah ich einmal einen toten
+Hirsch. Er war gejagt worden, eine Kugel hatte seine Seite getroffen,
+und er mochte das frische Wasser gesucht haben, um seinen Schmerz zu
+kühlen. Er war aber an dem Wasser gestorben. Jetzt lag er an demselben
+so, daß sein Haupt in den Sand gebettet war und seine Vorderfüße in
+die reine Flut ragten. Ringsum war kein lebendiges Wesen zu sehen. Das
+Tier gefiel mir so, daß ich seine Schönheit bewunderte und mit ihm
+großes Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum gebrochen, es glänzte
+noch in einem schmerzlichen Glanze, und dasselbe, so wie das Antlitz,
+das mir fast sprechend erschien, war gleichsam ein Vorwurf gegen seine
+Mörder. Ich griff den Hirsch an, er war noch nicht kalt. Als ich
+eine Weile bei dem toten Tiere gestanden war, hörte ich Laute in den
+Wäldern des Gebirges, die wie Jauchzen und wie Heulen von Hunden
+klangen. Diese Laute kamen näher, waren deutlich zu erkennen, und
+bald sprang ein Paar schöner Hunde über den Bach, denen noch einige
+folgten. Sie näherten sich mir. Als sie aber den fremden Mann bei
+dem Wilde sahen, blieben einige in der Entfernung stehen und bellten
+heftig gegen mich, während andere heulend weite Kreise um mich
+zogen, in ihnen dahin flogen und in Eilfertigkeit sich an Steinen
+überschlugen und überstürzten. Nach geraumer Zeit kamen auch Männer
+mit Schießgewehren. Als sich diese dem Hirsche genähert hatten und
+neben mir standen, kamen auch die Hunde herzu, hatten vor mir keine
+Scheu mehr, beschnupperten mich und bewegten sich und zitterten um das
+Wild herum. Ich entfernte mich, nachdem die Jäger auf dem Schauplatze
+erschienen waren, sehr bald von ihm.
+
+Bisher hatte ich keine Tiere zu meinen Bestrebungen in der
+Naturgeschichte aufgesucht, obwohl ich die Beschreibungen derselben
+eifrig gelesen und gelernt hatte. Diese Vernachlässigung der
+leiblichen wirklichen Gestalt war bei mir so weit gegangen, daß ich,
+selbst da ich einen Teil des Sommers schon auf dem Lande zubrachte,
+noch immer die Merkmale von Ziegen, Schafen, Kühen aus meinen
+Abbildungen nicht nach den Gestalten suchte, die vor mir wandelten.
+
+Ich schlug jetzt einen andern Weg ein. Der Hirsch, den ich gesehen
+hatte, schwebte mir immer vor den Augen. Er war ein edler gefallner
+Held und war ein reines Wesen. Auch die Hunde, seine Feinde,
+erschienen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. Die schlanken
+springenden und gleichsam geschnellten Gestalten blieben mir ebenfalls
+vor den Augen. Nur die Menschen, welche das Tier geschossen hatten,
+waren mir widerwärtig, da sie daraus gleichsam ein Fest gemacht
+hatten. Ich fing von der Stunde an, Tiere so aufzusuchen und zu
+betrachten, wie ich bisher Steine und Pflanzen aufgesucht und
+betrachtet hatte. Sowohl jetzt, da ich noch in dem Gebirge war, als
+auch später zu Hause und bei meinen weiteren Wanderungen betrachtete
+ich Tiere und suchte ihre wesentlichen Merkmale sowohl an ihrem Leibe
+als auch an ihrer Lebensart und Bestimmung zu ergründen. Ich schrieb
+das, was ich gesehen hatte, auf und verglich es mit den Beschreibungen
+und Einteilungen, die ich in meinen Büchern fand. Da geschah es
+wieder, daß ich mit diesen Büchern in Zwiespalt geriet, weil es meinen
+Augen widerstrebte, Tiere nach Zehen oder anderen Dingen in einer
+Abteilung beisammen zu sehen, die in ihrem Baue nach meiner Meinung
+ganz verschieden waren. Ich stellte daher nicht wissenschaftlich, aber
+zu meinem Gebrauche eine andere Einteilung zusammen.
+
+Einen besonderen Zweck, den ich bei dem Besuche des Gebirges befolgen
+wollte, hatte ich dieses erste Mal nicht, außer was sich zufällig
+fand. Ich war nur im Allgemeinen in das Gebirge gegangen, um es zu
+sehen. Als daher dieser erste Drang etwas gesättigt war, begab ich
+mich auf dem nächsten Wege in das flache Land hinaus und fuhr auf
+diesem wieder nach Hause.
+
+Allein der kommende Sommer lockte mich abermals in das Gebirge. Hatte
+ich das erste Mal nur im Allgemeinen geschaut, und waren die Eindrücke
+wirkend auf mich heran gekommen, so ging ich jetzt schon mehr in das
+Einzelne, ich war meiner schon mehr Herr und richtete die Betrachtung
+auf besondere Dinge. Viele von ihnen drängten sich an meine Seele.
+Ich saß auf einem Steine und sah die breiten Schattenflächen und die
+scharfen, oft gleichsam mit einem Messer in sie geschnittenen Lichter.
+Ich dachte nach, weshalb die Schatten hier so blau seien und die
+Lichter so kräftig und das Grün so feurig und die Wässer so blitzend.
+Mir fielen die Bilder meines Vaters ein, auf denen Berge gemalt waren,
+und mir wurde es, als hätte ich sie mitnehmen sollen, um vergleichen
+zu können. Ich blieb in kleinen Ortschaften zuweilen länger und
+betrachtete die Menschen, ihr tägliches Gewerbe, ihr Fühlen, ihr
+Reden, Denken und Singen. Ich lernte die Zither kennen, betrachtete
+sie, untersuchte sie und hörte auf ihr spielen und zu ihr singen. Sie
+erschien mir als ein Gegenstand, der nur allein in die Berge gehört
+und mit den Bergen Eins ist. Die Wolken, ihre Bildung, ihr Anhängen
+an die Bergwände, ihr Suchen der Bergspitzen so wie die Verhältnisse
+des Nebels und seine Neigung zu den Bergen waren mir wunderbare
+Erscheinungen.
+
+Ich bestieg in diesem Sommer auch einige hohe Stellen, ich ließ mich
+von den Führern nicht bloß auf das Eis der Gletscher geleiten, welches
+mich sehr anregte und zur Betrachtung aufforderte, sondern bestieg
+auch mit ihrer Hilfe die höchsten Zinnen der Berge. Ich sah die
+Überreste einer alten, untergegangenen Welt in den Marmoren, die in
+dem Gebirge vorkommen und die man in manchen Tälern zu schleifen
+versteht. Ich suchte besondere Arten aufzufinden und sendete sie nach
+Hause. Den schönen Enzian hatte ich im früheren Sommer schon der
+Schwester in meinen Pflanzenbüchern gebracht, jetzt brachte ich ihr
+auch Alpenrosen und Edelweiß. Von der Zirbelkiefer und dem Knieholze
+nahm ich die zierlichen Früchte. So verging die Zeit, und so kam ich
+bereichert nach Hause.
+
+Ich ging von nun an jeden Sommer in das Gebirge.
+
+Wenn ich von den Zimmern meiner Wohnung in dem Hause meiner Eltern
+nach einem dort verbrachten Winter gegen den Himmel blickte und nicht
+mehr so oft an demselben die grauen Wolken und den Nebel sah, sondern
+öfter schon die blauen und heiteren Lüfte, wenn diese durch ihre Farbe
+schon gleichsam ihre größere Weichheit ankündigten, wenn auf den
+Mauern und Schornsteinen und Ziegeldächern, die ich nach vielen
+Richtungen übersehen konnte, schon immer kräftigere Tafeln von
+Sonnenschein lagen, kein Schnee sich mehr blicken ließ und an den
+Bäumen unseres Gartens die Knospen schwollen: so mahnte es mich
+bereits in das Freie. Um diesem Drange nur vorläufig zu genügen, ging
+ich gerne aus der Stadt und erquickte mich an der offenen Weite der
+Wiesen, der Felder, der Weinberge. Wenn aber die Bäume blühten und das
+erste Laub sich entwickelte, ging ich schon dem Blau der Berge zu,
+wenngleich ihre Wände noch von mannigfaltigem Schnee erglänzten. Ich
+erwählte mir nach und nach verschiedene Gegenden, an denen ich mich
+aufhielt, um sie genau kennen zu lernen und zu genießen.
+
+Mein Vater hatte gegen diese Reisen nichts, auch war er mit der
+Art, wie ich mit meinem Einkommen gebarte, sehr zufrieden. Es
+blieb nehmlich in jedem Jahre ein Erkleckliches über, was zu dem
+Grundvermögen getan werden konnte. Ich spürte desohngeachtet in meiner
+Lebensweise keinen Abgang. Ich strebte nach Dingen, die meine Freude
+waren und wenig kosteten, weit weniger als die Vergnügungen, denen
+meine Bekannten sich hingaben. Ich hatte in Kleidern, Speise und Trank
+die größte Einfachheit, weil es meiner Natur so zusagte, weil wir
+zur Mäßigkeit erzogen waren und weil diese Gegenstände, wenn ich
+ihnen große Aufmerksamkeit hätte schenken sollen, mich von meinen
+Lieblingsbestrebungen abgelenkt hätten. So ging alles gut, Vater und
+Mutter freuten sich über meine Ordnung, und ich freute mich über ihre
+Freude.
+
+
+Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich könnte mir ja meine
+Naturgegenstände, dachte ich, eben so gut zeichnen als beschreiben,
+und die Zeichnung sei am Ende noch sogar besser als die Beschreibung.
+Ich erstaunte, weshalb ich denn nicht sogleich auf den Gedanken
+geraten sei. Ich hatte wohl früher immer gezeichnet, aber mit
+mathematischen Linien, welche nach Rechnungsgesetzen entstanden,
+Flächen und Körper in der Meßkunst darstellten und mit Zirkel und
+Richtscheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht gut, daß man
+mit Linien alle möglichen Körper darstellen könne, und hatte es an den
+Bildern meines Vaters vollführt gesehen: aber ich hatte nicht weiter
+darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung beschäftigt war. Es
+mußte diese Vernachlässigung von einer Eigenschaft in mir herrühren,
+die ich in einem hohen Grade besaß und die man mir zum Vorwurfe
+machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenstande eifrig beschäftigt
+war, so vergaß ich darüber manchen andern, der vielleicht größere
+Bedeutung hatte. Sie sagten, das sei einseitig, ja es sei sogar Mangel
+an Gefühl.
+
+Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit Blättern, mit Stielen,
+mit Zweigen. Es war Anfangs die Ähnlichkeit nicht sehr groß, und die
+Vollkommenheit der Zeichnung ließ viel zu wünschen übrig, wie ich
+später erkannte. Aber es wurde immer besser, da ich eifrig war und vom
+Versuchen nicht abließ. Die früher in meine Pflanzenbücher eingelegten
+Pflanzen, wie sorgsam sie auch vorbereitet waren, verloren nach und
+nach nicht bloß die Farbe, sondern auch die Gestalt, und erinnerten
+nicht mehr entfernt an ihre ursprüngliche Beschaffenheit.
+
+Die gezeichneten Pflanzen dagegen bewahrten wenigstens die
+Gestalt, nicht zu gedenken, daß es Pflanzen gibt, die wegen ihrer
+Beschaffenheit, und selbst solche, die wegen ihrer Größe in ein
+Pflanzenbuch nicht gelegt werden können, wie zum Beispiele Pilze oder
+Bäume. Diese konnten in einer Zeichnung sehr wohl aufbewahrt werden.
+Die bloßen Zeichnungen aber genügten mir nach und nach auch nicht
+mehr, weil die Farbe fehlte, die bei den Pflanzen, besonders bei den
+Blüten, eine Hauptsache ist. Ich begann daher, meine Abbildungen mit
+Farben zu versehen und nicht eher zu ruhen, als bis die Ähnlichkeit
+mit den Urbildern erschien und immer größer zu werden versprach.
+
+Nach den Pflanzen nahm ich auch andere Gegenstände vor, deren Farbe
+etwas Auffallendes und Faßliches hatte. Ich geriet auf die Falter und
+suchte mehrere nachzubilden. Die Farben von minder hervorragenden
+Gegenständen, die zwar unscheinbar, aber doch bedeutsam sind, wie die
+der Gesteine im unkristallischen Zustande, kamen später an die Reihe,
+und ich lernte ihre Reize nach und nach würdigen.
+
+Da ich nun einmal zeichnete und die Dinge deshalb doch viel genauer
+betrachten mußte, und da das Zeichnen und meine jetzige Bestrebungen
+mich doch nicht ganz ausfüllten, kam ich auch noch auf eine andere,
+viel weiter gehende Richtung.
+
+Ich habe schon gesagt, daß ich gerne auf hohe Berge stieg und von
+ihnen aus die Gegenden betrachtete. Da stellten sich nun dem geübteren
+Auge die bildsamen Gestalten der Erde in viel eindringlicheren
+Merkmalen dar und faßten sich übersichtlicher in großen Teilen
+zusammen. Da öffnete sich dem Gemüte und der Seele der Reiz des
+Entstehens dieser Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen,
+ihres Dahinstreichens und Abweichens von einer Richtung, ihres
+Zusammenstrebens gegen einen Hauptpunkt und ihrer Zerstreuungen in die
+Fläche. Es kam ein altes Bild, das ich einmal in einem Buche gelesen
+und wieder vergessen hatte, in meine Erinnerung. Wenn das Wasser in
+unendlich kleinen Tröpfchen, die kaum durch ein Vergrößerungsglas
+ersichtlich sind, aus dem Dunste der Luft sich auf die Tafeln unserer
+Fenster absetzt, und die Kälte dazu kömmt, die nötig ist, so entsteht
+die Decke von Fäden, Sternen, Wedeln, Palmen und Blumen, die wir
+gefrorene Fenster heißen. Alle diese Dinge stellen sich zu einem
+Ganzen zusammen, und die Strahlen, die Täler, die Rücken, die
+Knoten des Eises sind durch ein Vergrößerungsglas angesehen
+bewunderungswürdig. Eben so stellt sich von sehr hohen Bergen aus
+gesehen die niedriger liegende Gestaltung der Erde dar. Sie muß aus
+einem erstarrenden Stoffe entstanden sein und streckt ihre Fächer
+und Palmen in großartigem Maßstabe aus. Der Berg selber, auf dem ich
+stehe, ist der weiße, helle und sehr glänzende Punkt, den wir in
+der Mitte der zarten Gewebe unserer gefrorenen Fenster sehen. Die
+Palmenränder der gefrorenen Fenstertafeln werden durch Abbröcklung
+wegen des Luftzuges oder durch Schmelzung wegen der Wärme lückenhaft
+und unterbrochen. An den Gebirgszügen geschehen Zerstörungen durch
+Verwitterung in Folge des Einflusses des Wassers, der Luft, der
+Wärme und der Kälte. Nur braucht die Zerstörung der Eisnadeln an den
+Fenstern kürzere Zeit als der Nadeln der Gebirge. Die Betrachtung der
+unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stunden widmete, erhob
+mein Herz zu höherer Bewegung, und es erschien mir als ein würdiges
+Bestreben, ja als ein Bestreben, zu dem alle meine bisherigen
+Bemühungen nur Vorarbeiten gewesen waren, dem Entstehen dieser
+Erdoberfläche nachzuspüren und durch Sammlung vieler kleiner Tatsachen
+an den verschiedensten Stellen sich in das große und erhabene Ganze
+auszubreiten, das sich unsern Blicken darstellt, wenn wir von
+Hochpunkt zu Hochpunkt auf unserer Erde reisen und sie endlich alle
+erfüllt haben und keine Bildung dem Auge mehr zu untersuchen bleibt
+als die Weite und die Wölbung des Meeres.
+
+Ich begann, durch diese Gefühle und Betrachtungen angeregt, gleichsam
+als Schlußstein oder Zusammenfassung aller meiner bisherigen Arbeiten
+die Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche und dadurch vielleicht
+der Bildung der Erde selber zu betreiben. Nebstdem, daß ich
+gelegentlich von hohen Stellen aus die Gestaltung der Erdoberfläche
+genau zeichnete, gleichsam als wäre sie durch einen Spiegel gesehen
+worden, schaffte ich mir die vorzüglichsten Werke an, welche über
+diese Wissenschaft handeln, machte mich mit den Vorrichtungen, die man
+braucht, bekannt, so wie mit der Art ihrer Benützung.
+
+Ich betrieb nun diesen Gegenstand mit fortgesetztem Eifer und mit
+einer strengen Ordnung.
+
+Dabei lernte ich auch nach und nach den Himmel kennen, die Gestaltung
+seiner Erscheinungen und die Verhältnisse seines Wetters.
+
+Meine Besuche der Berge hatten nun fast ausschließlich diesen Zweck zu
+ihrem Inhalte.
+
+
+
+Die Einkehr
+
+Eines Tages ging ich von dem Hochgebirge gegen das Hügelland hinaus.
+Ich wollte nehmlich von einem Gebirgszuge in einen andern übersiedeln
+und meinen Weg dahin durch einen Teil des offenen Landes nehmen.
+Jedermann kennt die Vorberge, mit welchen das Hochgebirge gleichsam
+wie mit einem Übergange gegen das flachere Land ausläuft. Mit Laub-
+oder Nadelwald bedeckt ziehen sie in angenehmer Färbung dahin, lassen
+hie und da das blaue Haupt eines Hochberges über sich sehen, sind hie
+und da von einer leuchtenden Wiese unterbrochen, führen alle Wässer,
+die das Gebirge liefert und die gegen das Land hinaus gehen, zwischen
+sich, zeigen manches Gebäude und manches Kirchlein und strecken sich
+nach allen Richtungen, in denen das Gebirge sich abniedert, gegen die
+bebauteren und bewohnteren Teile hinaus.
+
+Als ich von dem Hange dieser Berge herab ging und eine freiere
+Umsicht gewann, erblickte ich gegen Untergang hin die sanften Wolken
+eines Gewitters, das sich sachte zu bilden begann und den Himmel
+umschleierte. Ich schritt rüstig fort und beobachtete das Zunehmen und
+Wachsen der Bewölkung. Als ich ziemlich weit hinaus gekommen war und
+mich in einem Teile des Landes befand, wo sanfte Hügel mit mäßigen
+Flächen wechseln, Meierhöfe zerstreut sind, der Obstbau gleichsam in
+Wäldern sich durch das Land zieht, zwischen dem dunkeln Laube die
+Kirchtürme schimmern, in den Talfurchen die Bäche rauschen und überall
+wegen der größeren Weitung, die das Land gibt, das blaue, gezackte
+Band der Hochgebirge zu erblicken ist, mußte ich auf eine Einkehr
+denken; denn das Dorf, in welchem ich Rast halten wollte, war kaum
+mehr zu erreichen. Das Gewitter war so weit gediehen, daß es in einer
+Stunde und bei begünstigenden Umständen wohl noch früher ausbrechen
+konnte.
+
+Vor mir hatte ich das Dorf Rohrberg, dessen Kirchturm von der Sonne
+scharf beschienen über Kirschen- und Weidenbäumen hervor sah. Es lag
+nur ganz wenig abseits von der Straße. Näher waren zwei Meierhöfe,
+deren jeder in einer mäßigen Entfernung von der Straße in Wiesen und
+Feldern prangte. Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder ein
+Bauerhaus noch irgend ein Wirtschaftsgebäude eines Bürgers zu sein
+schien, sondern eher dem Landhause eines Städters glich. Ich hatte
+schon früher wiederholt, wenn ich durch die Gegend kam, das Haus
+betrachtet, aber ich hatte mich nie näher um dasselbe bekümmert. Jetzt
+fiel es mir um so mehr auf, weil es der nächste Unterkunftsplatz von
+meinem Standorte aus war und weil es mehr Bequemlichkeit als die
+Meierhöfe zu geben versprach. Dazu gesellte sich ein eigentümlicher
+Reiz. Es war, da schon ein großer Teil des Landes, mit Ausnahme des
+Rohrberger Kirchturmes, im Schatten lag, noch hell beleuchtet und sah
+mit einladendem schimmerndem Weiß in das Grau und Blau der Landschaft
+hinaus.
+
+Ich beschloß also, in diesem Hause eine Unterkunft zu suchen.
+
+Ich forschte dem zu Folge nach einem Wege, der von der Straße auf
+den Hügel des Hauses hinaufführen sollte. Nach meiner Kenntnis des
+Landesgebrauches war es mir nicht schwer, den mit einem Zaune und
+mit Gebüsch besäumten Weg, der von der Landstraße ab hinauf ging,
+zu finden. Ich schritt auf demselben empor und kam, wie ich richtig
+vermutet hatte, vor das Haus. Es war noch immer von der Sonne hell
+beschienen. Allein da ich näher vor dasselbe trat, hatte ich einen
+bewunderungswürdigen Anblick. Das Haus war über und über mit Rosen
+bedeckt, und wie es in jenem fruchtbaren hügligen Lande ist, daß,
+wenn einmal etwas blüht, gleich alles mit einander blüht, so war es
+auch hier: die Rosen schienen sich das Wort gegeben zu haben, alle
+zur selben Zeit aufzubrechen, um das Haus in einen Überwurf der
+reizendsten Farbe und in eine Wolke der süßesten Gerüche zu hüllen.
+
+Wenn ich sage, das Haus sei über und über mit Rosen bedeckt gewesen,
+so ist das nicht so wortgetreu zu nehmen. Das Haus hatte zwei ziemlich
+hohe Geschosse.
+
+Die Wand des Erdgeschosses war bis zu den Fenstern des oberen
+Geschosses mit den Rosen bedeckt. Der übrige Teil bis zu dem Dache war
+frei, und er war das leuchtende weiße Band, welches in die Landschaft
+hinaus geschaut und mich gewissermaßen herauf gelockt hatte. Die Rosen
+waren an einem Gitterwerke, das sich vor der Wand des Hauses befand,
+befestigt. Sie bestanden aus lauter Bäumchen. Es waren winzige
+darunter, deren Blätter gleich über der Erde begannen, dann höhere,
+deren Stämmchen über die ersten empor ragten, und so fort, bis die
+letzten mit ihren Zweigen in die Fenster des oberen Geschosses hinein
+sahen. Die Pflanzen waren so verteilt und gehegt, daß nirgends eine
+Lücke entstand und daß die Wand des Hauses, soweit sie reichten,
+vollkommen von ihnen bedeckt war.
+
+Ich hatte eine Vorrichtung dieser Art in einem so großen Maßstabe noch
+nie gesehen.
+
+Es waren zudem fast alle Rosengattungen da, die ich kannte, und
+einige, die ich noch nicht kannte. Die Farben gingen von dem reinen
+Weiß der weißen Rosen durch das gelbliche und rötliche Weiß der
+Übergangsrosen in das zarte Rot und in den Purpur und in das bläuliche
+und schwärzliche Rot der roten Rosen über. Die Gestalten und der Bau
+wechselten in eben demselben Maße. Die Pflanzen waren nicht etwa nach
+Farben eingeteilt, sondern die Rücksicht der Anpflanzung schien nur
+die zu sein, daß in der Rosenwand keine Unterbrechung statt finden
+möge. Die Farben blühten daher in einem Gemische durch einander.
+
+Auch das Grün der Blätter fiel mir auf. Es war sehr rein gehalten, und
+kein bei Rosen öfter als bei andern Pflanzen vorkommender Übelstand
+der grünen Blätter und keine der häufigen Krankheiten kam mir zu
+Gesichte. Kein verdorrtes oder durch Raupen zerfressenes oder durch
+ihr Spinnen verkrümmtes Blatt war zu erblicken. Selbst das bei Rosen
+so gerne sich einnistende Ungeziefer fehlte. Ganz entwickelt und
+in ihren verschiedenen Abstufungen des Grüns prangend standen die
+Blätter hervor. Sie gaben mit den Farben der Blumen gemischt einen
+wunderlichen Überzug des Hauses. Die Sonne, die noch immer gleichsam
+einzig auf dieses Haus schien, gab den Rosen und den grünen Blättern
+derselben gleichsam goldene und feurige Farben.
+
+
+Nachdem ich eine Weile mein Vorhaben vergessend vor diesen Blumen
+gestanden war, ermahnte ich mich und dachte an das Weitere. Ich sah
+mich nach einem Eingange des Hauses um. Allein ich erblickte keinen.
+Die ganze ziemlich lange Wand desselben hatte keine Tür und kein Tor.
+Auch durch keinen Weg war der Eingang zu dem Hause bemerkbar gemacht;
+denn der ganze Platz vor demselben war ein reiner, durch den Rechen
+wohlgeordneter Sandplatz. Derselbe schnitt sich durch ein Rasenband
+und eine Hecke von den angrenzenden, hinter meinem Rücken liegenden
+Feldern ab. Zu beiden Seiten des Hauses in der Richtung seiner
+Länge setzten sich Gärten fort, die durch ein hohes, eisernes, grün
+angestrichenes Gitter von dem Sandplatze getrennt waren. In diesen
+Gittern mußte also der Eingang sein.
+
+Und so war es auch.
+
+In dem Gitter, welches dem den Hügel heranführenden Wege zunächst
+lag, entdeckte ich die Tür oder eigentlich zwei Flügel einer Tür, die
+dem Gitter so eingefügt waren, daß sie von demselben bei dem ersten
+Anblicke nicht unterschieden werden konnten. In den Türen waren die
+zwei messingenen Schloßgriffe und an der Seite des einen Flügels ein
+Glockengriff.
+
+Ich sah zuerst ein wenig durch das Gitter in den Garten. Der Sandplatz
+setzte sich hinter dem Gitter fort, nur war er besäumt mit blühenden
+Gebüschen und unterbrochen mit hohen Obstbäumen, welche Schatten
+gaben. In dem Schatten standen Tische und Stühle; es war aber kein
+Mensch bei ihnen gegenwärtig. Der Garten erstreckte sich rückwärts um
+das Haus herum und schien mir bedeutend weit in die Tiefe zu gehen.
+
+Ich versuchte zuerst die Türgriffe, aber sie öffneten nicht. Dann nahm
+ich meine Zuflucht zu dem Glockengriffe und läutete.
+
+Auf den Klang der Glocke kam ein Mann hinter den Gebüschen des Gartens
+gegen mich hervor. Als er an der innern Seite des Gitters vor mir
+stand, sah ich, daß es ein Mann mit schneeweißen Haaren war, die er
+nicht bedeckt hatte. Sonst war er unscheinbar und hatte eine Art
+Hausjacke an, oder wie man das Ding nennen soll, das ihm überall
+enge anlag und fast bis auf die Knie herabreichte. Er sah mich einen
+Augenblick an, da er zu mir herangekommen war, und sagte dann: »Was
+wollt ihr, lieber Herr?«
+
+»Es ist ein Gewitter im Anzuge«, antwortete ich, »und es wird in
+Kurzem über diese Gegend kommen. Ich bin ein Wandersmann, wie ihr an
+meinem Ränzchen seht, und bitte daher, daß mir in diesem Hause so
+lange ein Obdach gegeben werde, bis der Regen, oder wenigstens der
+schwerere, vorüber ist.«
+
+»Das Gewitter wird nicht zum Ausbruche kommen«, sagte der Mann.
+
+»Es wird keine Stunde dauern, daß es kömmt«, entgegnete ich, »ich bin
+mit diesen Gebirgen sehr wohl bekannt und verstehe mich auch auf die
+Wolken und Gewitter derselben ein wenig.«
+
+»Ich bin aber mit dem Platze, auf welchem wir stehen, aller
+Wahrscheinlichkeit nach weit länger bekannt als ihr mit dem Gebirge,
+da ich viel älter bin als ihr«, antwortete er, »ich kenne auch seine
+Wolken und Gewitter und weiß, daß heute auf dieses Haus, diesen Garten
+und diese Gegend kein Regen niederfallen wird.«
+
+»Wir wollen nicht lange darüber Meinungen hegen, ob ein Gewitter
+dieses Haus netzen wird oder nicht«, sagte ich; »wenn ihr Anstand
+nehmet, mir dieses Gittertor zu öffnen, so habet die Güte und ruft den
+Herrn des Hauses herbei.«
+
+»Ich bin der Herr des Hauses.«
+
+Auf dieses Wort sah ich mir den Mann etwas näher an. Sein Angesicht
+zeigte zwar auch auf ein vorgerücktes Alter, aber es schien mir
+jünger als die Haare und gehörte überhaupt zu jenen freundlichen,
+wohlgefärbten, nicht durch das Fett der vorgerückten Jahre entstellten
+Angesichtern, von denen man nie weiß, wie alt sie sind. Hierauf sagte
+ich: »Nun muß ich wohl um Verzeihung bitten, daß ich so zudringlich
+gewesen bin, ohne weiteres auf die Sitte des Landes zu bauen. Wenn
+eure Behauptung, daß kein Gewitter kommen werde, einer Ablehnung
+gleich sein soll, werde ich mich augenblicklich entfernen. Denkt
+nicht, daß ich als junger Mann den Regen so scheue; es ist mir zwar
+nicht so angenehm, durchnäßt zu werden als trocken zu bleiben, es ist
+mir aber auch nicht so unangenehm, daß ich deshalb jemandem zur Last
+fallen sollte. Ich bin oft von dem Regen getroffen worden, und es
+liegt nichts daran, wenn ich auch heute getroffen werde.«
+
+»Das sind eigentlich zwei Fragen«, antwortete der Mann, »und ich muß
+auf beide etwas entgegnen. Das Erste ist, daß ihr in Naturdingen eine
+Unrichtigkeit gesagt habet, was vielleicht daher kömmt, daß ihr die
+Verhältnisse dieser Gegend zu wenig kennt oder auf die Vorkommnisse
+der Natur nicht genug achtet. Diesen Irrtum mußte ich berichtigen;
+denn in Sachen der Natur muß auf Wahrheit gesehen werden. Das Zweite
+ist, daß, wenn ihr mit oder ohne Gewitter in dieses Haus kommen wollt,
+und wenn ihr gesonnen seid, seine Gastfreundschaft anzunehmen, ich
+sehr gerne willfahren werde. Dieses Haus hat schon manchen Gast gehabt
+und manchen gerne beherbergt, und wie ich an euch sehe, wird es auch
+euch gerne beherbergen und so lange verpflegen, als ihr es für nötig
+erachten werdet. Darum bitte ich euch, tretet ein.«
+
+Mit diesen Worten tat er einen Druck am Schlosse des Torflügels,
+der Flügel öffnete sich, drehte sich mit einer Rolle auf einer
+halbkreisartigen Eisenschiene und gab mir Raum zum Eintreten.
+
+Ich blieb nun einen Augenblick unentschlossen.
+
+»Wenn das Gewitter nicht kömmt«, sagte ich, »so habe ich im Grunde
+keine Ursache, hier einzutreten; denn ich bin nur des anziehenden
+Gewitters willen von der Landstraße abgewichen und zu diesem Hause
+heraufgestiegen. Aber verzeiht mir, wenn ich noch einmal die Frage
+anrege. Ich bin beinahe eine Art Naturforscher und habe mich mehrere
+Jahre mit Naturdingen, mit Beobachtungen und namentlich mit diesem
+Gebirge beschäftigt, und meine Erfahrungen sagen mir, daß heute über
+diese Gegend und dieses Haus ein Gewitter kommen wird.«
+
+»Nun müßt ihr eigentlich vollends herein gehen«, sagte er, »jetzt
+handelt es sich darum, daß wir gemeinschaftlich abwarten, wer von uns
+beiden recht hat. Ich bin zwar kein Naturforscher und kann von mir
+nicht sagen, daß ich mich mit Naturwissenschaften beschäftigt habe;
+aber ich habe manches über diese Gegenstände gelesen, habe während
+meines Lebens mich bemüht, die Dinge zu beobachten und über das
+Gelesene und Gesehene nachzudenken. In Folge dieser Bestrebungen habe
+ich heute die unzweideutigen Zeichen gesehen, daß die Wolken, welche
+jetzt noch gegen Sonnenuntergang stehen, welche schon einmal gedonnert
+haben und von denen ihr veranlaßt worden seid, zu mir herauf zu
+steigen, nicht über dieses Haus und überhaupt über keine Gegend einen
+Regen bringen werden. Sie werden sich vielleicht, wenn die Sonne
+tiefer kömmt, verteilen und werden zerstreut am Himmel herum stehen.
+Abends werden wir etwa einen Wind spüren, und morgen wird gewiß wieder
+ein schöner Tag sein. Es könnte sich zwar ereignen, daß einige schwere
+Tropfen fallen oder ein kleiner Sprühregen nieder geht, aber gewiß
+nicht auf diesen Hügel.«
+
+»Da die Sache so ist«, erwiderte ich, »trete ich gerne ein und harre
+mit euch gerne der Entscheidung, auf die ich begierig bin.«
+
+Nach diesen Worten trat ich ein, er schloß das Gitter und sagte, er
+wolle mein Führer sein.
+
+
+Er führte mich um das Haus herum; denn in der den Rosen
+entgegengesetzten Seite war die Tür. Er führte mich durch dieselbe
+ein, nachdem er sie mit einem Schlüssel geöffnet hatte. Hinter der Tür
+erblickte ich einen Gang, welcher mit Amonitenmarmor gepflastert war.
+
+»Dieser Eingang«, sagte er, »ist eigentlich der Haupteingang; aber da
+ich mir nicht gerne das Pflaster des Ganges verderben lasse, halte ich
+ihn immer gesperrt, und die Leute gehen durch eine Tür in die Zimmer,
+welche wir finden würden, wenn wir noch einmal um die Ecke des
+Hauses gingen. Des Pflasters willen muß ich euch auch bitten, diese
+Filzschuhe anzuziehen.«
+
+Es standen einige Paare gelblicher Filzschuhe gleich innerhalb der
+Tür. Niemand konnte mehr als ich von der Notwendigkeit überzeugt
+sein, diesen so edlen und schönen Marmor zu schonen, der an sich
+so vortrefflich ist und hier ganz meisterhaft geglättet war. Ich
+fuhr daher mit meinen Stiefeln in ein Paar solcher Schuhe, er tat
+desgleichen, und so gingen wir über den glatten Boden. Der Gang,
+welcher von oben beleuchtet war, führte zu einer braunen getäfelten
+Tür. Vor derselben legte er die Filzschuhe ab, verlangte von mir, daß
+ich dasselbe tue, und, nachdem wir uns auf dem hölzernen Antritte der
+Tür der Filzschuhe entledigt hatten, öffnete er dieselbe und führte
+mich in ein Zimmer. Dem Ansehen nach war es ein Speisezimmer; denn in
+der Mitte desselben stand ein Tisch, an dessen Bauart man sah, daß er
+vergrößert oder verkleinert werden könne, je nachdem eine größere oder
+kleinere Anzahl von Personen um ihn sitzen sollte. Außer dem Tische
+befanden sich nur Stühle in dem Zimmer und ein Schrein, in welchem die
+Speisegerätschaften enthalten sein konnten.
+
+»Legt in diesem Zimmer«, sagte der Mann, »euern Hut, euern Stock und
+euer Ränzlein ab, ich werde euch dann in ein anderes Gemach führen, in
+welchem ihr ausruhen könnt.«
+
+Als er dies gesagt und ich ihm Folge geleistet hatte, trat er zu einer
+breiten Strohmatte und zu Fußbürsten, die sich am Ausgange des Zimmers
+befanden, reinigte sich an beiden sehr sorgsam seine Fußbekleidung
+und lud mich ein, dasselbe zu tun. Ich tat es, und da ich fertig war,
+öffnete er die Ausgangstür, die ebenfalls braun und getäfelt war, und
+führte mich durch ein Vorgemach in ein Ausruhezimmer, welches an der
+Seite des Vorgemaches lag.
+
+»Dieses Vorgemach«, sagte er, »ist der eigentliche Eingang in das
+Speisezimmer, und man kömmt von der andern Tür in dasselbe.«
+
+Das Ausruhezimmer war ein freundliches Gemach und schien recht eigens
+zum Sitzen und Ruhehalten bestimmt. Es befaßte nichts als lauter
+Tische und Sitze. Auf den Tischen lagen aber nicht, wie es häufig in
+unsern Besuchzimmern vorkömmt, Bücher oder Zeichnungen und dergleichen
+Dinge, sondern die Tafeln derselben waren unbedeckt und waren
+ausnehmend gut geglättet und gereinigt. Sie waren von dunklem
+Mahagoniholze, das in der Zeit noch mehr nachgedunkelt war. Ein
+einziges Geräte war da, welches kein Tisch und kein Sitz war, ein
+Gestelle mit mehreren Fächern, welches Bücher enthielt. An den Wänden
+hingen Kupferstiche.
+
+»Hier könnt ihr ausruhen, wenn ihr vom Gehen müde seid oder überhaupt
+ruhen wollt«, sagte der Mann, »ich werde gehen und sorgen, daß man
+euch etwas zu essen bereitet. Ihr müßt wohl eine Weile allein bleiben.
+Auf dem Gestelle liegen Bücher, wenn ihr etwa ein wenig in dieselben
+blicken wollet.«
+
+Nach diesen Worten entfernte er sich.
+
+Ich war in der Tat müde und setzte mich nieder.
+
+Als ich saß, konnte ich den Grund einsehen, weshalb der Mann vor dem
+Eintritte in dieses Zimmer so sehr seine Fußbekleidung gereinigt und
+mir den Wunsch zu gleicher Reinigung ausgedrückt hatte. Das Zimmer
+enthielt nehmlich einen schön getäfelten Fußboden, wie ich nie einen
+gleichen gesehen hatte. Es war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich
+konnte das Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter Holzgattungen
+in ihren natürlichen Farben zusammengesetzt und sie in ein Ganzes von
+Zeichnungen gebracht. Da ich von den Geräten meines Vaters her an
+solche Dinge gewohnt war und sie etwas zu beurteilen verstand, sah ich
+ein, daß man alles nach einem in Farben ausgeführten Plane gemacht
+haben mußte, welcher Plan mir selber wie ein Meisterstück erschien.
+Ich dachte, da dürfe ich ja gar nicht aufstehen und auf der Sache
+herum gehen, besonders wenn ich die Nägel in Anschlag brachte, mit
+denen meine Gebirgsstiefel beschlagen waren. Auch hatte ich keine
+Veranlassung zum Aufstehen, da mir die Ruhe nach einem ziemlich langen
+Gange sehr angenehm war.
+
+Da saß ich nun in dem weißen Hause, zu welchem ich hinauf gestiegen
+war, um in ihm das Gewitter abzuwarten.
+
+Es schien noch immer die Sonne auf das Haus, blickte durch die Fenster
+dieses Zimmers schief herein und legte lichte Tafeln auf den schönen
+Fußboden desselben.
+
+Als ich eine Weile gesessen war, bemächtigte sich meiner eine seltsame
+Empfindung, welche ich mir Anfangs nicht zu erklären vermochte. Es war
+mir nehmlich, als sitze ich nicht in einem Zimmer, sondern im Freien,
+und zwar in einem stillen Walde. Ich blickte gegen die Fenster, um mir
+das Ding zu erklären; aber die Fenster erteilten die Erklärung nicht:
+ich sah durch sie ein Stück Himmel, teils rein, teils etwas bewölkt,
+und unter dem Himmel sah ich ein Stück Gartengrün von emporragenden
+Bäumen, ein Anblick, den ich wohl schon sehr oft gehabt hatte. Ich
+spürte eine reine, freie Luft mich umgeben. Die Ursache davon war,
+daß die Fenster des Zimmers in ihren oberen Teilen offen waren.
+Diese oberen Teile konnten nicht nach Innen geöffnet werden, wie das
+gewöhnlich der Fall ist, sondern waren nur zu verschieben, und zwar
+so, daß einmal Glas in dem Rahmen vorgeschoben werden konnte, ein
+anderes Mal ein zarter Flor von weißgrauer Seide. Da ich in dem Zimmer
+saß, war das Letztere der Fall. Die Luft konnte frei herein strömen,
+Fliegen und Staub waren aber ausgeschlossen.
+
+Wenn nun gleich die reine Luft eine Mahnung des Freien gab, sah ich
+doch hierin nicht völlige Erklärung allein.
+
+Ich bemerkte noch etwas anderes. In dem Zimmer, in welchem ich mich
+befand, hörte man nicht den geringsten Laut eines bewohnten Hauses,
+den man doch sonst, es mag im Hause noch so ruhig sein, mehr oder
+weniger in Zwischenräumen vernimmt. Diese Art Abwesenheit häuslichen
+Geräusches verbarg allerdings die Nachbarschaft bewohnter Räume,
+konnte aber eben so wenig als die freie Luft die Waldempfindung geben.
+
+Endlich glaubte ich auf den Grund gekommen zu sein. Ich hörte nehmlich
+fast ununterbrochen, bald näher, bald ferner, bald leiser, bald lauter
+vermischten Vogelgesang. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf diese
+Wahrnehmung und erkannte bald, daß der Gesang nicht bloß von Vögeln
+herrühre, die in der Nähe menschlicher Wohnungen hausen, sondern auch
+von solchen, deren Stimme und Zwitschern mir nur aus den Wäldern und
+abgelegenen Bebuschungen bekannt war. Dieses wenig auffallende, mir
+aus meinem Gebirgsaufenthalte bekannte und von mir in der Tat nicht
+gleich beachtete Getön mochte wohl die Hauptursache meiner Täuschung
+gewesen sein, obwohl die Stille des Raumes und die reine Luft auch
+mitgewirkt haben konnten. Da ich nun genauer auf dieses gelegentliche
+Vogelzwitschern achtete, fand ich wirklich, daß Töne sehr einsamer und
+immer in tiefen Wäldern wohnender Vögel vorkamen. Es nahm sich dies
+wunderlich in einem bewohnten und wohleingerichteten Zimmer aus.
+
+Da ich aber nun den Grund meiner Empfindung aufgefunden hatte
+oder aufgefunden zu haben glaubte, war auch ein großer Teil ihrer
+Dunkelheit und mithin Annehmlichkeit verschwunden.
+
+Wie ich nun so fortwährend auf den Vogelgesang merkte, fiel mir
+sogleich auch etwas anderes ein. Wenn ein Gewitter im Anzuge ist und
+schwüle Lüfte in dem Himmelsraume stocken, schweigen gewöhnlich die
+Waldvögel. Ich erinnerte mich, daß ich in solchen Augenblicken oft in
+den schönsten, dichtesten, entlegensten Wäldern nicht den geringsten
+Laut gehört habe, etwa ein einmaliges oder zweimaliges Hämmern des
+Spechtes ausgenommen oder den kurzen Schrei jenes Geiers, den die
+Landleute Gießvogel nennen. Aber selbst er schweigt, wenn das Gewitter
+in unmittelbarer Annäherung ist. Nur bei den Menschen wohnende Vögel,
+die das Gewitter fürchten wie er, oder solche, die im weiten Freien
+hausen und vielleicht dessen majestätische Annäherung bewundern,
+zeigen sein Bevorstehen an. So habe ich Schwalben vor den dicken
+Wolken eines heraufsteigenden Gewitters mit ihrem weißen Bauchgefieder
+kreuzen gesehen und selbst schreien gehört, und so habe ich Lerchen
+singend gegen die dunkeln Gewitterwolken aufsteigen gesehen. Das
+Singen der Waldvögel erschien mir nun als ein schlimmes Zeichen für
+meine Voraussagung eines Gewitters. Auch fiel mir auf, daß sich noch
+immer keine Merkmale des Ausbruches zeigten, welchen ich nicht für so
+ferne gehalten hatte, als ich die Landstraße verließ. Die Sonne schien
+noch immer auf das Haus, und ihre glänzenden Lichttafeln lagen noch
+immer auf dem schönen Fußboden des Zimmers.
+
+
+Mein Beherberger schien es darauf angelegt zu haben, mich lange allein
+zu lassen, wahrscheinlich, um mir Raum zur Ruhe und Bequemlichkeit zu
+geben; denn er kam nicht so bald zurück, als ich nach seiner Äußerung
+erwartet hatte.
+
+Als ich eine geraume Weile gesessen war und das Sitzen anfing, mir
+nicht mehr jene Annehmlichkeit zu gewähren wie Anfangs, stand ich
+auf und ging auf den Fußspitzen, um den Boden zu schonen, zu dem
+Büchergestelle, um die Bücher anzusehen. Es waren aber bloß beinahe
+lauter Dichter. Ich fand Bände von Herder, Lessing, Goethe, Schiller,
+Übersetzungen Shakespeares von Schlegel und Tieck, einen griechischen
+Odysseus, dann aber auch etwas aus Ritters Erdbeschreibung, aus
+Johannes Müllers Geschichte der Menschheit und aus Alexander und
+Wilhelm Humboldt. Ich tat die Dichter bei Seite und nahm Alexander
+Humboldts Reise in die Äquinoctialländer, die ich zwar schon kannte,
+in der ich aber immer gerne las. Ich begab mich mit meinem Buche
+wieder zu meinem Sitze zurück.
+
+Als ich nicht gar kurze Zeit gelesen hatte, trat mein Beherberger
+herein.
+
+Ich hatte, weil er so lange abwesend war, gedacht, er werde sich etwa
+auch umgekleidet haben, weil er doch nun einmal einen Gast habe und
+weil sein Anzug so gar unbedeutend war. Aber er kam in den nehmlichen
+Kleidern zurück, in welchen er vor mir an dem Gittertore gestanden
+war.
+
+Er entschuldigte sein Außenbleiben nicht, sondern sagte, ich möchte,
+wenn ich ausgeruht hätte und es mir genehm wäre, zu speisen, ihm in
+das Speisezimmer folgen, es würde dort für mich aufgetragen werden.
+
+Ich sagte, ausgeruht hätte ich schon, aber ich sei nur gekommen, um
+Unterstand zu bitten, nicht aber auch in anderer Weise, besonders in
+Hinsicht von Speise und Trank, lästig zu fallen.
+
+»Ihr fallt nicht lästig«, antwortete der Mann, »ihr müßt etwas zu
+essen bekommen, besonders da ihr so lange da bleiben müßt, bis sich
+die Sache wegen des Gewitters entschieden hat. Da schon Mittag vorüber
+ist, wir aber genau mit der Mittagstunde des Tages zu Mittag essen und
+von da bis zu dem Abendessen nichts mehr aufgetragen wird, so muß für
+euch, wenn ihr nicht bis Abends warten sollet, besonders aufgetragen
+werden. Solltet ihr aber sollen zu Mittag gegessen haben und bis
+Abends warten wollen, so fordert es doch die Ehre des Hauses, daß euch
+etwas geboten werde, ihr möget es dann annehmen oder nicht. Folgt mir
+daher in das Speisezimmer.«
+
+Ich legte das Buch neben mich auf den Sitz und schickte mich an, zu
+gehen.
+
+Er aber nahm das Buch und legte es auf seinen Platz in dem
+Büchergestelle.
+
+»Verzeiht«, sagte er, »es ist bei uns Sitte, daß die Bücher, die auf
+dem Gestelle sind, damit jemand, der in dem Zimmer wartet oder sich
+sonst aufhält, bei Gelegenheit und nach Wohlgefallen etwas lesen kann,
+nach dem Gebrauche wieder auf das Gestelle gelegt werden, damit das
+Zimmer die ihm zugehörige Gestalt behalte.«
+
+Hierauf öffnete er die Tür und lud mich ein, in das mir bekannte
+Speisezimmer voraus zu gehen.
+
+Als wir in demselben angelangt waren, sah ich, daß in ausgezeichnet
+schönen weißen Linnen gedeckt sei, und zwar nur ein Gedecke, daß sich
+eingemachte Früchte, Wein, Wasser und Brot auf dem Tische befanden und
+in einem Gefäße verkleinertes Eis war, es in den Wein zu tun. Mein
+Ränzlein und meinen Schwarzdornstock sah ich nicht mehr, mein Hut aber
+lag noch auf seinem Platze.
+
+Mein Begleiter tat aus einer der Taschen seines Kleides ein, wie ich
+vermutete, silbernes Glöcklein hervor und läutete. Sofort erschien
+eine Magd und brachte ein gebratenes Huhn und schönen rot
+gesprenkelten Kopfsalat.
+
+Mein Gastherr lud mich ein, mich zu setzen und zu essen.
+
+Da es so freundlich geboten war, nahm ich es an. Obwohl ich wirklich
+schon einmal gegessen hatte, so war das vor dem Mittag gewesen, und
+ich war durch das Wandern wieder hungrig geworden. Ich genoß daher von
+dem Aufgesetzten.
+
+Mein Beherberger setzte sich zu mir, leistete mir Gesellschaft, aß und
+trank aber nichts.
+
+Da ich fertig war und die Eßgeräte hingelegt hatte, bot er mir an,
+wenn ich nicht zu müde sei, mich in den Garten zu führen.
+
+Ich nahm es an.
+
+Er läutete wieder mit dem Glöcklein, um den Befehl zu geben, daß man
+abräume, und führte mich nun nicht durch den Gang, durch welchen wir
+herein gekommen waren, sondern durch einen mit gewöhnlichen Steinen
+gepflasterten in den Garten. Er hatte jetzt ein kleines Häubchen von
+durchbrochener Arbeit auf seinen weißen Haaren, wie man sie gerne
+Kindern aufsetzt, um ihre Locken gleichsam wie in einem Netze
+einzufangen.
+
+Als wir in das Freie kamen, sah ich, daß, während ich aß, die Sonne
+auf das Haus zu scheinen aufgehört hatte, sie war von der Gewitterwand
+überholt worden. Auf dem Garten sowie auf der Gegend lag der warme,
+trockene Schatten, wie er bei solchen Gelegenheiten immer erscheint.
+Aber die Gewitterwand hatte sich während meines Aufenthaltes in dem
+Hause wenig verändert und gab nicht die Aussicht auf baldigen Ausbruch
+des Regens.
+
+
+Ein Umblick überzeugte mich sogleich, daß der Garten hinter dem Hause
+sehr groß sei. Es war aber kein Garten, wie man sie gerne hinter
+und neben den Landhäusern der Städter anlegt, nehmlich, daß man
+unfruchtbare oder höchstens Zierfrüchte tragende Gebüsche und Bäume
+pflegt und zwischen ihnen Rasen und Sandwege oder einige Blumenhügel
+oder Blumenkreise herrichtet, sondern es war ein Garten, der mich an
+den meiner Eltern bei dem Vorstadthause erinnerte. Es war da eine
+weitläufige Anlage von Obstbäumen, die aber hinlänglich Raum ließen,
+daß fruchtbare oder auch nur zum Blühen bestimmte Gesträuche
+dazwischen stehen konnten und daß Gemüse und Blumen vollständig zu
+gedeihen vermochten. Die Blumen standen teils in eigenen Beeten, teils
+liefen sie als Einfriedigung hin, teils befanden sie sich auf eigenen
+Plätzen, wo sie sich schön darstellten. Mich empfingen von jeher
+solche Gärten mit dem Gefühle der Häuslichkeit und Nützlichkeit,
+während die anderen einerseits mit keiner Frucht auf das Haus denken
+und andererseits wahrhaftig auch kein Wald sind. Was zur Rosenzeit
+blühen konnte, blühte und duftete, und weil eben die schweren Wolken
+am Himmel standen, so war aller Duft viel eindringender und stärker.
+Dies deutete doch wieder auf ein Gewitter hin.
+
+Nahe bei dem Hause befand sich ein Gewächshaus. Es zeigte uns aber
+gegen den Weg, auf dem wir gingen, nicht seine Länge, sondern seine
+Breite hin. Auch diese Breite, welche teilweise Gebüsche deckten, war
+mit Rosen bekleidet und sah aus wie ein Rosenhäuschen im Kleinen.
+
+Wir gingen einen geräumigen Gang, der mitten durch den Garten lief,
+entlang. Er war Anfangs eben, zog sich aber dann sachte aufwärts.
+
+Auch im Garten waren die Rosen beinahe herrschend. Entweder stand hie
+und da auf einem geeigneten Platze ein einzelnes Bäumchen oder es
+waren Hecken nach gewissen Richtungen angelegt, oder es zeigten sich
+Abteilungen, wo sie gute Verhältnisse zum Gedeihen finden und sich dem
+Auge angenehm darstellen konnten. Eine Gruppe von sehr dunkeln, fast
+violetten Rosen war mit einem eigenen zierlichen Gitter umgeben, um
+sie auszuzeichnen oder zu schützen. Alle Blumen waren wie die vor
+dem Hause besonders rein und klar entwickelt, sogar die verblühenden
+erschienen in ihren Blättern noch kraftvoll und gesund.
+
+Ich machte in Einsicht des letzten Umstandes eine Bemerkung.
+
+»Habt ihr denn nie eine jener alten Frauen gesehen«, sagte mein
+Begleiter, »die in ihrer Jugend sehr schön gewesen waren und sich
+lange kräftig erhalten haben? Sie gleichen diesen Rosen. Wenn sie
+selbst schon unzählige kleine Falten in ihrem Angesichte haben, so
+ist doch noch zwischen den Falten die Anmut herrschend und eine sehr
+schöne, liebe Farbe.«
+
+Ich antwortete, daß ich das noch nie beobachtet hätte, und wir gingen
+weiter.
+
+Es waren außer den Rosen noch andere Blumen im Garten. Ganze Beete von
+Aurikeln standen an schattigen Orten. Sie waren wohl längst verblüht,
+aber ihre starken grünen Blätter zeigten, daß sie in guter Pflege
+waren. Hie und da stand eine Lilie an einer einsamen Stelle, und voll
+entwickelte Nelken prangten in Töpfen auf einem eigenen Schragen, an
+dem Vorrichtungen angebracht waren, die Blumen vor Sonne zu bewahren.
+Sie waren noch nicht aufgeblüht, aber die Knospen waren weit
+vorgerückt und ließen treffliche Blumen ahnen. Es mochten nur die
+auserwählten auf dem Schragen stehen; denn ich sah die Schule dieser
+Pflanzen, als wir etwas weiter kamen, in langen, weithingehenden
+Beeten angelegt. Sonst waren die gewöhnlichen Gartenblumen da, teils
+in Beeten, teils auf kleinen, abgesonderten Plätzen, teils als
+Einfassungen. Besonders schien sich auch die Levkoje einer Vorliebe
+zu erfreuen, denn sie stand in großer Anzahl und Schönheit sowie in
+vielen Arten da. Ihr Duft ging wohltuend durch die Lüfte. Selbst in
+Töpfen sah ich diese Blume gepflegt und an zuträgliche Orte gestellt.
+Was an Zwiebelgewächsen, Hyazinthen, Tulpen und dergleichen vorhanden
+gewesen sein mochte, konnte ich nicht ermessen, da die Zeit dieser
+Blumen längst vorüber war.
+
+Auch die Zeit der Blütengesträuche war vorüber, und sie standen nur
+mit ihren grünen Blättern am Wege oder an ihren Stellen.
+
+Die Gemüse nahmen die weiten und größeren Räume ein. Zwischen ihnen
+und an ihren Seiten liefen Anpflanzungen von Erdbeeren. Sie schienen
+besonders gehegt, waren häufig aufgebunden und hatten Blechtäfelchen
+zwischen sich, auf denen die Namen standen.
+
+Die Obstbäume waren durch den ganzen Garten verteilt, wir gingen an
+vielen vorüber. Auch an ihnen, besonders aber an den zahlreichen
+Zwergbäumen, sah ich weiße Täfelchen mit Namen.
+
+An manchen Bäumen erblickte ich kleine Kästchen von Holz, bald an dem
+Stamme, bald in den Zweigen. In unserem Oberlande gibt man den Staren
+gerne solche Behälter, damit sie Ihr Nest in dieselben bauen. Die hier
+befindlichen Behältnisse waren aber anderer Art. Ich wollte fragen,
+aber in der Folge des Gespräches vergaß ich wieder darauf.
+
+Da wir in dem Garten so fortgingen, hörte ich besonders aus seinem
+bebuschten Teile wieder die Vogelstimmen, die ich in dem Wartezimmer
+gehört hatte, nur hier deutlicher und heller.
+
+Auch ein anderer Umstand fiel mir auf, da wir schon einen großen Teil
+des Gartens durchwandert hatten; ich bemerkte nehmlich gar keinen
+Raupenfraß. Während meines Ganges durch das Land hatte ich ihn aber
+doch gesehen, obwohl er mir, da er nicht außerordentlich war und
+keinen Obstmißwachs befürchten ließ, nicht besonders aufgefallen war.
+Bei der Frische der Belaubung dieses Gartens fiel er mir wieder ein.
+Ich sah das Laub deshalb näher an und glaubte zu bemerken, daß es
+auch vollkommener sei als anderwärts, das grüne Blatt war größer und
+dunkler, es war immer ganz, und die grünen Kirschen und die kleinen
+Äpfelchen und Birnchen sahen recht gesund daraus hervor. Ich
+betrachtete, durch diese Tatsache aufmerksam gemacht, nun auch den
+Kohl genauer, der nicht weit von unserm Wege stand. An ihm zeigte
+keine kahle Rippe, daß die Raupe des Weißlings genagt habe. Die
+Blätter waren ganz und schön. Ich nahm mir vor, diese Beobachtung
+gegen meinen Begleiter gelegentlich zur Sprache zu bringen.
+
+
+Wir waren mittlerweile bis an das Ende der Pflanzungen gelangt, und
+es begann Rasengrund, der steiler anstieg, Anfangs mit Bäumen besetzt
+war, weiter oben aber kahl fortlief.
+
+Wir stiegen auf ihm empor.
+
+Da wir auf eine ziemliche Höhe gelangt waren und Bäume die Aussicht
+nicht mehr hinderten, blieb ich ein wenig stehen, um den Himmel zu
+betrachten. Mein Begleiter hielt ebenfalls an. Das Gewitter stand
+nicht mehr gegen Sonnenuntergang allein, sondern jetzt überall. Wir
+hörten auch entfernten Donner, der sich öfter wiederholte. Wir hörten
+ihn bald gegen Sonnenuntergang, bald gegen Mittag, bald an Orten, die
+wir nicht angeben konnten. Mein Mann mußte seiner Sache sehr sicher
+sein; denn ich sah, daß in dem Garten Arbeiter sehr eifrig an den
+mehreren Ziehbrunnen zogen, um das Wasser in die durch den Garten
+laufenden Rinnen zu leiten und aus diesen in die Wasserbehälter.
+Ich sah auch bereits Arbeiter gehen, ihre Gießkannen in den
+Wasserbehältern füllen und ihren Inhalt auf die Pflanzenbeete
+ausstreuen. Ich war sehr begierig auf den Verlauf der Dinge, sagte
+aber gar nichts, und mein Begleiter schwieg auch.
+
+Wir gingen nach kurzem Stillstande auf dem Rasengrunde wieder weiter
+aufwärts, und zuletzt ziemlich steil.
+
+Endlich hatten wir die höchste Stelle erreicht und mit ihr auch das
+Ende des Gartens. Jenseits senkte sich der Boden wieder sanft abwärts.
+Auf diesem Platze stand ein sehr großer Kirschbaum, der größte Baum
+des Gartens, vielleicht der größte Obstbaum der Gegend. Um den Stamm
+des Baumes lief eine Holzbank, die vier Tischchen nach den vier
+Weltgegenden vor sich hatte, daß man hier ausruhen, die Gegend besehen
+oder lesen und schreiben konnte. Man sah an dieser Stelle fast nach
+allen Richtungen des Himmels. Ich erinnerte mich nun ganz genau, daß
+ich diesen Baum wohl früher bei meinen Wanderungen von der Straße
+oder von anderen Stellen aus gesehen hatte. Er war wie ein dunkler,
+ausgezeichneter Punkt erschienen, der die höchste Stelle der
+Gegend krönte. Man mußte an heiteren Tagen von hier aus die ganze
+Gebirgskette im Süden sehen, jetzt aber war nichts davon zu erblicken;
+denn alles floß in eine einzige Gewittermasse zusammen. Gegen
+Mitternacht erschien ein freundlicher Höhenzug, hinter welchem nach
+meiner Schätzung das Städtchen Landegg liegen mußte.
+
+Wir setzten uns ein wenig auf das Bänklein. Es schien, daß man an
+diesem Plätzchen niemals vorüber gehen konnte, ohne sich zu setzen und
+eine kleine Umschau zu halten; denn das Gras war um den Baum herum
+abgetreten, daß der kahle Boden hervorsah, wie wenn ein Weg um den
+Baum ginge. Man mußte sich daher gerne an diesem Platze versammeln.
+
+Als wir kaum ein Weilchen ausgeruht hatten, sah ich eine Gestalt aus
+den nicht sehr entfernten Büschen und Bäumen hervortreten und gegen
+uns empor gehen. Da sie etwas näher gekommen war, erkannte ich, daß
+es ein Gemische von Knabe und Jüngling war. Zuweilen hätte man meinen
+können, der Ankommende sei ganz ein Jüngling, und zuweilen, er sei
+noch ganz ein Knabe. Er trug ein blau- und weißgestreiftes Leinenzeug
+als Bekleidung, um den Hals hatte er nichts und auf dem Haupte auch
+nichts als eine dichte Menge brauner Locken.
+
+Da er herzugekommen war, sagte er: »Ich sehe, daß du mit einem fremden
+Manne beschäftigt bist, ich werde dich also nicht stören und wieder in
+den Garten hinab gehen.«
+
+»Tue das«, sagte mein Begleiter.
+
+Der Knabe machte eine schnelle und leichte Verbeugung gegen mich,
+wendete sich um und ging in derselben Richtung wieder zurück, in der
+er gekommen war.
+
+Wir blieben noch sitzen.
+
+Am Himmel änderte sich indessen wenig. Dieselbe Wolkendecke stand da,
+und wir hörten denselben Donner. Nur da die Decke dunkler geworden zu
+sein schien, so wurde jetzt zuweilen auch ein Blitz sichtbar.
+
+Nach einer Zeit sagte mein Begleiter. »Eure Reise hat wohl nicht einen
+Zweck, der durch den Aufenthalt von einigen Stunden oder von einem
+Tage oder von einigen Tagen gestört würde.«
+
+»Es ist so, wie ihr gesagt habt«, antwortete ich, »mein Zweck ist,
+soweit meine Kräfte reichen, wissenschaftliche Bestrebungen zu
+verfolgen und nebenbei, was ich auch nicht für unwichtig halte, das
+Leben in der freien Natur zu genießen.«
+
+»Dieses Letzte ist in der Tat auch nicht unwichtig«, versetzte mein
+Nachbar, »und da ihr euren Reisezweck bezeichnet habt, so werdet ihr
+gewiß einwilligen, wenn ich euch einlade, heute nicht mehr weiter zu
+reisen, sondern die Nacht in meinem Hause zuzubringen. Wünschet ihr
+dann am morgigen Tage und an mehreren darauf folgenden noch bei mir zu
+verweilen, so steht es nur bei euch, so zu tun.«
+
+»Ich wollte, wenn das Gewitter auch lange angedauert hätte, doch
+heute noch nach Rohrberg gehen«, sagte ich. »Da ihr aber auf eine so
+freundliche Weise gegen einen unbekannten Reisenden verfahrt, so sage
+ich gerne zu, die heutige Nacht in eurem Hause zuzubringen und bin
+euch dafür dankbar. Was morgen sein wird, darüber kann ich noch nicht
+entscheiden, weil das Morgen noch nicht da ist.«
+
+»So haben wir also für die kommende Nacht abgeschlossen, wie ich
+gleich gedacht habe«, sagte mein Begleiter, »ihr werdet wohl bemerkt
+haben, daß euer Ränzlein und euer Wanderstock nicht mehr in dem
+Speisezimmer waren, als ihr zum Essen dahin kamet.«
+
+»Ich habe es wirklich bemerkt«, antwortete ich.
+
+»Ich habe beides in euer Zimmer bringen lassen«, sagte er, »weil
+ich schon vermutete, daß ihr diese Nacht in unserm Hause zubringen
+würdet.«
+
+
+
+Die Beherbergung
+
+Nach einer Weile sagte mein Gastfreund: »Da ihr nun meine
+Nachtherberge angenommen habt, so könnten wir von diesem Baume auch
+ein wenig in das Freie gehen, daß ihr die Gegend besser kennen
+lernet. Wenn das Gewitter zum Ausbruche kommen sollte, so kennen wir
+wohl beide die Anzeichen genug, daß wir rechtzeitig umkehren, um
+ungefährdet das Haus zu erreichen.«
+
+»So kann es geschehen«, sagte ich, und wir standen von dem Bänkchen
+auf.
+
+Einige Schritte hinter dem Kirschbaume war der Garten durch eine
+starke Planke von der Umgebung getrennt. Als wir zu dieser Planke
+gekommen waren, zog mein Begleiter einen Schlüssel aus der Tasche,
+öffnete ein Pförtchen, wir traten hinaus und er schloß hinter uns das
+Pförtchen wieder zu.
+
+Hinter dem Garten fingen Felder an, auf denen die verschiedensten
+Getreide standen. Die Getreide, welche sonst wohl bei dem geringsten
+Luftzuge zu wanken beginnen mochten, standen ganz stille und
+pfeilrecht empor, das feine Haar der Ähren, über welches unsere Augen
+streiften, war gleichsam in einem unbeweglichen goldgrünen Schimmer.
+
+Zwischen dem Getreide lief ein Fußpfad durch. Derselbe war breit und
+ziemlich ausgetreten. Er ging den Hügel entlang, nicht steigend und
+nicht sinkend, so daß er immer auf dem höchsten Teile der Anhöhe
+blieb. Auf diesem Pfade gingen wir dahin.
+
+Zu beiden Seiten des Weges stand glühroter Mohn in dem Getreide, und
+auch er regte die leichten Blätter nicht.
+
+Es war überall ein Zirpen der Grillen; aber dieses war gleichsam eine
+andere Stille und erhöhte die Erwartung, die aller Orten war. Durch
+die über den ganzen Himmel liegende Wolkendecke ging zuweilen ein
+tiefes Donnern, und ein blasser Blitz lüftete zeitweilig ihr Dunkel.
+
+Mein Begleiter ging ruhig neben mir und strich manchmal sachte mit der
+Hand an den grünen Ähren des Getreides hin. Er hatte sein Netz von den
+weißen Haaren abgenommen, hatte es in die Tasche gesteckt und trug
+sein Haupt unbedeckt in der milden Luft,
+
+Unser Weg führte uns zu einer Stelle, auf welcher kein Getreide stand.
+Es war ein ziemlich großer Platz, der nur mit sehr kurzem Grase
+bedeckt war. Auf diesem Platze befand sich wieder eine hölzerne Bank
+und eine mittelgroße Esche.
+
+»Ich habe diesen Fleck freigelassen, wie ich ihn von meinen Vorfahren
+überkommen hatte«, sagte mein Begleiter, »obwohl er, wenn man ihn
+urbar machte und den Baum ausgrübe, in einer Reihe von Jahren eine
+nicht unbedeutende Menge von Getreide gäbe. Die Arbeiter halten hier
+ihre Mittagsruhe und verzehren hier ihr Mittagsmahl, wenn es ihnen auf
+das Feld nachgebracht wird. Ich habe die Bank machen lassen, weil ich
+auch gerne da sitze, wäre es auch nur, um den Schnittern zuzuschauen
+und die Feierlichkeit der Feldarbeiten zu betrachten. Alte
+Gewohnheiten haben etwas Beruhigendes, sei es auch nur das des
+Bestehenden und immer Gesehenen. Hier dürfte es aber mehr sein,
+weshalb die Stelle unbebaut blieb und der Baum auf derselben steht.
+Der Schatten dieser Esche ist wohl ein sparsamer, aber da er der
+einzige dieser Gegend ist, wird er gesucht, und die Leute, obwohl sie
+roh sind, achten gewiß auch auf die Aussicht, die man hier genießt.
+Setzt euch nur zu mir nieder und betrachtet das Wenige, was uns heute
+der verschleierte Himmel gönnt.«
+
+Wir setzten uns auf die Bank unter der Esche, so daß wir gegen Mittag
+schauten. Ich sah den Garten wie einen grünen Schoß schräg unter mir
+liegen.
+
+An seinem Ende sah ich die weiße mitternächtliche Mauer des Hauses und
+über der weißen Mauer das freundliche rote Dach. Von dem Gewächshause
+war nur das Dach und der Schornstein ersichtlich.
+
+Weiter hin gegen Mittag war das Land und das Gebirge kaum zu erkennen
+wegen des blauen Wolkenschattens und des blauen Wolkenduftes. Gegen
+Morgen stand der weiße Turm von Rohrberg und gegen Abend war Getreide
+an Getreide, zuerst auf unserm Hügel, dann jenseits desselben auf
+dem nächsten Hügel und so fort, so weit die Hügel sichtbar waren.
+Dazwischen zeigten sich weiße Meierhöfe und andere einzelne Häuser
+oder Gruppen von Häusern. Nach der Sitte des Landes gingen Zeilen von
+Obstbäumen zwischen den Getreidefeldern dahin, und in der Nähe von
+Häusern oder Dörfern standen diese Bäume dichter, gleichsam wie in
+Wäldchen, beisammen. Ich fragte meinen Nachbar teils nach den Häusern,
+teils nach dein Besitzern der Felder.
+
+»Die Felder von dem Kirschbaume gegen Sonnenuntergang hin bis zu der
+ersten Zeile von Obstbäumen sind unser«, sagte mein Begleiter. »Die
+wir von dem Kirschbaum bis hieher durchwandert haben, gehören auch
+uns. Sie gehen noch bis zu jenen langen Gebäuden, die ihr da unten
+seht, welche unsere Wirtschaftsgebäude sind. Gegen Mitternacht
+erstrecken sie sich, wenn ihr umsehen wollt, bis zu jenen Wiesen mit
+den Erlenbüschen. Die Wiesen gehören auch uns und machen dort die
+Grenze unserer Besitzungen. Im Mittag gehören die Felder uns bis zur
+Einfriedigung von Weißdorn, wo ihr die Straße verlassen habt. Ihr
+könnt also sehen, daß ein nicht ganz geringer Teil dieses Hügels von
+unserm Eigentume bedeckt ist. Wir sind von diesem Eigentume umringt
+wie von einem Freunde, der nie wankt und nicht die Treue bricht.«
+
+Mir fiel bei diesen Worten auf, daß er vom Eigentume immer die
+Ausdrücke uns und unser gebrauchte. Ich dachte, er werde etwa eine
+Gattin oder auch Kinder einbeziehen. Mir fiel der Knabe ein, den ich
+im Heraufgehen gesehen hatte, vielleicht ist dieser ein Sohn von ihm.
+
+»Der Rest des Hügels ist an drei Meierhöfe verteilt«, schloß er seine
+Rede, »welche unsere nächsten Nachbarn sind. Von den Niederungen
+an, die um den Hügel liegen, und jenseits welcher das Land wieder
+aufsteigt, beginnen unsere entfernteren Nachbarn.«
+
+»Es ist ein gesegnetes, ein von Gott beglücktes Land«, sagte ich.
+
+»Ihr habt recht gesprochen«, erwiderte er, »Land und Halm ist eine
+Wohltat Gottes. Es ist unglaublich, und der Mensch bedenkt es kaum,
+welch ein unermeßlicher Wert in diesen Gräsern ist. Laßt sie einmal
+von unserem Erdteile verschwinden, und wir verschmachten bei allem
+unserem sonstigen Reichtume vor Hunger. Wer weiß, ob die heißen Länder
+nicht so dünn bevölkert sind und das Wissen und die Kunst nicht so
+tragen wie die kälteren, weil sie kein Getreide haben. Wie viel selbst
+dieser kleine Hügel gibt, würdet ihr kaum glauben. Ich habe mir einmal
+die Mühe genommen, die Fläche dieses Hügels, soweit sie Getreideland
+ist, zu messen, um auf der Grundlage der Erträgnisse unserer
+Felder und der Erträgnisfähigkeit der Felder der Nachbarn, die ich
+untersuchte, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung zu machen, welche
+Getreidemenge im Durchschnitte jedes Jahr auf diesem Hügel wächst.
+
+Ihr würdet die Zahlen nicht glauben, und auch ich habe sie mir vorher
+nicht so groß vorgestellt. Wenn es euch genehm ist, werde ich euch die
+Arbeit in unserem Hause zeigen. Ich dachte mir damals, das Getreide
+gehöre auch zu jenen unscheinbaren, nachhaltigen Dingen dieses Lebens
+wie die Luft. Wir reden von dem Getreide und von der Luft nicht
+weiter, weil von beiden so viel vorhanden ist und uns beide überall
+umgeben. Die ruhige Verbrauchung und Erzeugung zieht eine unermeßliche
+Kette durch die Menschheit in den Jahrhunderten und Jahrtausenden.
+Überall, wo Völker mit bestimmten geschichtlichen Zeichnungen
+auftreten und vernünftige Staatseinrichtungen haben, finden wir
+sie schon zugleich mit dem Getreide, und wo der Hirte in lockeren
+Gesellschaftsbanden, aber vereint mit seiner Herde lebt, da sind es
+zwar nicht die Getreide, die ihn nähren, aber doch ihre geringeren
+Verwandten, die Gräser, die sein ebenfalls geringeres Dasein erhalten.
+- Aber verzeiht, daß ich da so von Gräsern und Getreiden rede, es ist
+natürlich, da ich da mitten unter ihnen wohne und auf ihren Segen erst
+in meinem Alter mehr achten lernte.«
+
+»Ich habe nichts zu verzeihen«, erwiderte ich; »denn ich teile eure
+Ansicht über das Getreide vollkommen, wenn ich auch ein Kind der
+großen Stadt bin. Ich habe diese Gewächse viel beachtet, habe darüber
+gelesen, freilich mehr von dem Standpunkte der Pflanzenkunde, und
+habe, seit ich einen großen Teil des Jahres in der freien Natur
+zubringe, ihre Wichtigkeit immer mehr und mehr einsehen gelernt.«
+
+»Ihr würdet es erst recht«, sagte er, »wenn ihr Besitztümer hättet
+oder auf euren Besitztümern euch mit der Pflege dieser Pflanzen
+besonders abgäbet.«
+
+»Meine Eltern sind in der Stadt«, antwortete ich, »mein Vater treibt
+die Kaufmannschaft, und außer einem Garten besitzt weder er noch ich
+einen liegenden Grund.«
+
+»Das ist von großer Bedeutung«, erwiderte er, »den Wert dieser
+Pflanzen kann keiner vollständig ermessen, als der sie pflegt.«
+
+
+Wir schwiegen nun eine Weile.
+
+Ich sah an seinen Wirtschaftsgebäuden Leute beschäftigt. Einige gingen
+an den Toren ab und zu, in häuslichen Arbeiten begriffen, andere
+mähten in einer nahen Wiese Gras und ein Teil war bedacht, das im
+Laufe des Tages getrocknete Heu in hochbeladenen Wägen durch die Tore
+einzufahren. Ich konnte wegen der großen Entfernung das Einzelne der
+Arbeiten nicht unterscheiden, so wie ich die eigentliche Bauart und
+die nähere Einrichtung der Gebäude nicht wahrnehmen konnte.
+
+»Was ihr von den Häusern und den Besitzern der Felder gesagt habt, daß
+ich sie euch nennen soll«, fuhr er nach einer Weile fort, »so hat dies
+seine Schwierigkeit, besonders heute. Man kann zwar von diesem Platze
+aus die größte Zahl der Nachbarn erblicken; aber heute, wo der Himmel
+umschleiert ist, sehen wir nicht nur das Gebirge nicht, sondern es
+entgeht uns auch mancher weiße Punkt des untern Landes, der Wohnungen
+bezeichnet, von denen ich sprechen möchte. Anderen Teils sind euch die
+Leute unbekannt. Ihr solltet eigentlich in der Gegend herumgewandert
+sein, in ihr gelebt haben, daß sie zu eurem Geiste spräche und ihr die
+Bewohner verstündet. Vielleicht kommt ihr wieder und bleibt länger bei
+uns, vielleicht verlängert ihr euren jetzigen Aufenthalt. Indessen
+will ich euch im Allgemeinen etwas sagen und von Besonderem
+hinzufügen, was euch ansprechen dürfte. Ich besuche auch meiner
+Nachbarn willen gerne diesen Platz; denn außerdem, daß hier auf der
+Höhe selbst an den schönsten Tagen immer ein kühler Luftzug geht,
+außerdem daß ich hier unter meinen Arbeitern bin, sehe ich von hier
+aus alle, die mich umgeben, es fällt mir manches von ihnen ein,
+und ich ermesse, wie ich ihnen nützen kann oder wie überhaupt das
+Allgemeine gefördert werden möge. Sie sind im Ganzen ungebildete, aber
+nicht ungelehrige Leute, wenn man sie nach ihrer Art nimmt und nicht
+vorschnell in eine andere zwingen will. Sie sind dann meist auch
+gutartig. Ich habe von ihnen manches für mein Inneres gewonnen und
+ihnen manchen äußeren Vorteil verschafft. Sie ahmen nach, wenn sie
+etwas durch längere Erfahrung billigen. Man muß nur nicht ermüden. Oft
+haben sie mich zuerst verlacht und endlich dann doch nachgeahmt. In
+Vielem verlachen sie mich noch, und ich ertrage es. Der Weg da durch
+meine Felder ist ein kürzerer, und da geht Mancher vorbei, wenn ich
+auf der Bank sitze, er bleibt stehen, er redet mit mir, ich erteile
+ihm Rat, und ich lerne aus seinen Worten. Meine Felder sind bereits
+ertragfähiger gemacht worden als die ihrigen, das sehen sie, und das
+ist bei ihnen der haltbarste Grund zu mancher Betrachtung. Nur die
+Wiese, welche sich hinter unserem Rücken befindet, tiefer als die
+Felder liegt und von einem kleinen Bache bewässert wird, habe ich
+nicht so verbessern können, wie ich wollte; sie ist noch durch die
+Erlengesträuche und durch die Erlenstöcke verunstaltet, die sich
+am Saume des Bächleins befinden und selbst hie und da Sumpfstellen
+veranlassen; aber ich kann die Sache im Wesentlichen nicht abändern,
+weil ich die Erlengesträuche und Erlenstöcke zu anderen Dingen
+notwendig brauche.«
+
+Um meine Frage nach dem Einzelnen seiner Nachbarn zu unterbrechen, die
+er, wie ich jetzt einsah, nicht beantworten konnte, wenigstens nicht,
+wie sie gestellt war, fragte ich ihn, ob denn zu seinem Anwesen nicht
+auch Waldgrund gehöre.
+
+»Allerdings«, antwortete er, »aber derselbe liegt nicht so nahe, als
+es der Bequemlichkeit wegen wünschenswert wäre; aber er liegt auch
+entfernt genug, daß die Schönheit und Anmut dieses Getreidehügels
+nicht gestört wird. Wenn ihr auf dem Wege nach Rohrberg fortgegangen
+wäret, statt zu unserem Hause heraufzusteigen, so würdet ihr nach
+einer halben Stunde Wanderns zu eurer Rechten dicht an der Straße die
+Ecke eines Buchenwaldes gefunden haben, um welche die Straße herum
+geht. Diese Ecke erhebt sich rasch, erweitert sich nach rückwärts,
+wohin man von der Straße nicht sehen kann, und gehört einem Walde an,
+der weit in das Land hinein geht. Man kann von hier aus ein großes
+Stück sehen. Dort links von dem Felde, auf welchem die junge Gerste
+steht.«
+
+»Ich kenne den Wald recht gut«, sagte ich, »er schlingt sich um eine
+Höhe und berührt die Straße nur mit einem Stücke; aber wenn man ihn
+betritt, lernt man seine Größe kennen. Es ist der Alizwald. Er hat
+mächtige Buchen und Ahorne, die sich unter die Tannen mischen. Die
+Aliz geht von ihm in die Agger. An der Aliz stehen beiderseits hohe
+Felsen mit seltenen Kräutern, und von ihnen geht gegen Mittag ein
+Streifen Landes mit den allerstärksten Buchen talwärts.«
+
+»Ihr kennt den Wald«, sagte er.
+
+»Ja«, erwiderte ich, »ich bin schon in ihm gewesen. Ich habe dort die
+größte Doppelbuche gezeichnet, die ich je gesehen, ich habe Pflanzen
+und Steine gesammelt und die Felsenlagen betrachtet.«
+
+»Jener Waldstreifen, der mit den starken Buchen bestanden ist, und
+noch mehreres Land jenes Waldes gehört zu diesem Anwesen«, sagte mein
+Beherberger. »Es ist weiter von da gegen Mittag auch ein Bergbühel
+unser, auf dem stellenweise die Birke sehr verkrüppelt vorkommt,
+welche zum Brennen wenig taugt, aber Holz zu feinen Arbeiten gibt.«
+
+»Ich kenne den Bühel auch«, sagte ich, »dort geht der Granit zu Ende,
+aus dem der ganze mitternächtliche Teil unseres Landes besteht, und
+es beginnt gegen Mittag zu nach und nach der Kalk, der endlich in den
+höchsten Gebirgen die Landesgrenze an der Mittagseite macht.«
+
+»Ja, der Bühel ist der südlichste Granitblock«, sagte mein Begleiter,
+»er übersetzt sogar die Wässer. Wir können hier trotz des Duftes
+der Wolken hie und da die Grenze sehen, in der sich der Granit
+abschneidet.«
+
+»Dort ist die Klamspitze«, sagte er, »die noch Granit hat, rechts der
+Gaisbühl, dann die Asser, der Losen und zuletzt die Grumhaut, die noch
+zu sehen ist.«
+
+Ich stimmte in allem bei.
+
+
+Der Abend kam indessen immer näher und näher, und der Nachmittag war
+bedeutend vorgerückt.
+
+Das Gewitter an dem Himmel war mir aber endlich besonders merkwürdig
+geworden.
+
+Ich hatte den Ausbruch desselben, als ich den Hügel zu dem weißen
+Hause empor stieg, um eine Unterkunft zu suchen, in kurzer Zeit
+erwartet; und nun waren Stunden vergangen und es war noch immer
+nicht ausgebrochen. Über den ganzen Himmel stand es unbeweglich. Die
+Wolkendecke war an manchen Stellen fast finster geworden und Blitze
+zuckten aus diesen Stellen bald höher, bald tiefer hervor. Der Donner
+folgte in ruhigem, schwerem Rollen auf diese Blitze; aber in der
+Wolkendecke zeigte sich kein Zusammensammeln zu einem einzigen
+Gewitterballen, und es war kein Anschicken zu einem Regen.
+
+Ich sagte endlich zu meinem Nachbar, indem ich auf die Männer
+zeigte, welche weiter unten in der Niederung, in welcher die
+Wirtschaftsgebäude lagen, Gras machten: »Diese scheinen auch auf kein
+Gewitter und auf kein gewöhnliches Nachregnen für den morgigen Tag
+zu rechnen, weil sie jetzt Gras mähen, das ihnen in der Nacht ein
+tüchtiger Regen durchnässen oder morgen eine kräftige Sonne zu Heu
+trocknen kann.«
+
+»Diese wissen gar nichts von dem Wetter«, sagte mein Begleiter, »und
+sie mähen das Gras nur, weil ich es so angeordnet habe.«
+
+Das waren die einzigen Worte, die er über das Wetter gesprochen hatte.
+Ich veranlaßte ihn auch nicht zu mehreren.
+
+Wir gingen von diesem Feldersitze, auf dem wir nun schon eine Weile
+gesessen waren, nicht mehr weiter von dem Hause weg, sondern, nachdem
+wir uns erhoben hatten, schlug mein Begleiter wieder den Rückweg ein.
+
+Wir gingen auf demselben Wege zurück, auf dem wir gekommen waren.
+
+Die Donner erschallten nun sogar lauter und verkündeten sich bald an
+dieser Stelle des Himmels, bald an jener.
+
+Als wir wieder in den Garten eingetreten waren, als mein Begleiter das
+Pförtchen hinter sich geschlossen hatte, und als wir von dem großen
+Kirschbaume bereits abwärts gingen, sagte er zu mir: »Erlaubt, daß ich
+nach dem Knaben rufe und ihm etwas befehle.«
+
+Ich stimmte sogleich zu, und er rief gegen eine Stelle des Gebüsches:
+»Gustav!«
+
+Der Knabe, den ich im Heraufgehen gesehen hatte, kam fast an der
+nehmlichen Stelle des Gartens zum Vorscheine, an welcher er früher
+herausgetreten war. Da er jetzt länger vor uns stehen blieb, konnte
+ich ihn genauer betrachten. Sein Angesicht erschien mir sehr rosig
+und schön, und besonders einnehmend zeigten sich die großen schwarzen
+Augen unter den braunen Locken, die ich schon früher beobachtet hatte.
+
+»Gustav«, sagte mein Begleiter, »wenn du noch an deinem Tische oder
+sonst irgendwo in dem Garten bleiben willst, so erinnere dich an das,
+was ich dir über Gewitter gesagt habe. Da die Wolken über den ganzen
+Himmel stehen, so weiß man nicht, wann überhaupt ein Blitz auf die
+Erde niederfährt und an welcher Stelle er sie treffen wird. Darum
+verweile unter keinem höheren Baume. Sonst kannst du hier bleiben,
+wie du willst. Dieser Herr bleibt heute bei uns, und du wirst zur
+Abendspeisestunde in dem Speisezimmer eintreffen.«
+
+»Ja«, sagte der Knabe, verneigte sich und ging wieder auf einem
+Sandwege in die Gesträuche des Gartens zurück.
+
+»Dieser Knabe ist mein Pflegesohn«, sagte mein Begleiter, »er ist
+gewohnt, zu dieser Tageszeit einen Spaziergang mit mir zu machen,
+darum kam er, da wir bei dem Kirschbaume saßen, von seinem
+Arbeitstische, den er im Garten hat, zu uns empor, um mich zu suchen;
+allein da er sah, daß ein Fremder da sei, ging er wieder an seine
+Stelle zurück.«
+
+Mir, der ich mich an den einfachen, folgerichtigen Ausdruck gewöhnt
+hatte, fiel es jetzt abermals auf, daß mein Begleiter, der, wenn er
+von seinen Feldern redete, fast immer den Ausdruck unser gebraucht
+hatte, nun, da er von seinem Pflegesohne sprach, den Ausdruck mein
+wählte, da er doch, wenn er etwa seine Gattin einbezog, jetzt auch das
+Wort unser gebrauchen sollte.
+
+
+Als wir von dem Rasengrunde hinab gekommen waren und den bepflanzten
+Garten betreten hatten, gingen wir in ihm auf einem anderen Wege
+zurück als auf dem wir herauf gegangen waren.
+
+Auf diesem Wege sah ich nun, daß der Besitzer des Gartens auch
+Weinreben in demselben zog, obwohl das Land der Pflege dieses
+Gewächses nicht ganz günstig ist. Es waren eigene dunkle Mauern
+aufgeführt, an denen die Reben mittelst Holzgittern empor geleitet
+wurden. Durch andere Mauern wurden die Winde abgehalten. Gegen Mittag
+allein waren die Stellen offen. So sammelte er die Hitze und gewährte
+Schutz. Auch Pfirsiche zog er auf dieselbe Weise, und aus den Blättern
+derselben schloß ich auf sehr edle Gattungen.
+
+Wir gingen hier an großen Linden vorüber, und in ihrer Nähe erblickte
+ich ein Bienenhaus.
+
+Von dem Gewächshause sah ich auf dem Rückwege wohl die Längenseite,
+konnte aber nichts Näheres erkennen, weil mein Begleiter den Weg zu
+ihm nicht einschlug. Ich wollte ihn auch nicht eigens darum ersuchen:
+ich vermutete, daß er mich zu seiner Familie führen würde.
+
+Da wir an dem Hause angekommen waren, geleitete er mich bei dem
+gemeinschaftlichen Eingange desselben hinein, führte mich über eine
+gewöhnliche Sandsteintreppe in das erste Stockwerk und ging dort mit
+mir einen Gang entlang, in dem viele Türen waren. Eine derselben
+öffnete er mit einem Schlüssel, den er schon in seiner Tasche in
+Bereitschaft hatte, und sagte: »Das ist euer Zimmer, solange ihr in
+diesem Hause bleibt. Ihr könnt jetzt in dasselbe eintreten oder es
+verlassen, wie es euch gefällt. Nur müsset ihr um acht Uhr wieder da
+sein, zu welcher Stunde ihr zum Abendessen werdet geholt werden. Ich
+muß euch nun allein lassen. In dem Wartezimmer habt ihr heute in
+Humboldts Reisen gelesen, ich habe das Buch in dieses Zimmer legen
+lassen. Wünschet ihr für jetzt oder für den Abend noch irgend ein
+Buch, so nennt es, daß ich sehe, ob es in meiner Büchersammlung
+enthalten ist.«
+
+Ich lehnte das Anerbieten ab und sagte, daß ich mit dem Vorhandenen
+schon zufrieden sei, und wenn ich mich außer Humboldt mit noch andern
+Buchstaben beschäftigen wolle, so habe ich in meinem Ränzchen schon
+Vorrat, um teils etwas mit Bleifeder zu schreiben, teils früher
+Geschriebenes durchzulesen und zu verbessern, welche Beschäftigung ich
+auf meinen Wanderungen häufig Abends vornehme.
+
+Er verabschiedete sich nach diesen Worten, und ich ging zur Tür
+hinein.
+
+Ich übersah mit einem Blicke das Zimmer. Es war ein gewöhnliches
+Fremdenzimmer, wie man es in jedem größeren Hause auf dem Lande hat,
+wo man zuweilen in die Lage kömmt, Herberge erteilen zu müssen. Die
+Geräte waren weder neu, noch nach der damals herrschenden Art gemacht,
+sondern aus verschiedenen Zeiten, aber nicht unangenehm ins Auge
+fallend. Die Überzüge der Sessel und des Ruhebettes waren gepreßtes
+Leder, was man damals schon selten mehr fand. Eine gesellige Zugabe,
+die man nicht häufig in solchen Zimmern findet, war eine altertümliche
+Pendeluhr in vollem Gange. Mein Ränzlein und mein Stock lagen, wie der
+Mann gesagt hatte, schon in diesem Zimmer.
+
+Ich setzte mich nieder, nahm nach einer Weile mein Ränzlein, öffnete
+es und blätterte in den Papieren, die ich daraus hervor genommen
+hatte, und schrieb gelegentlich in denselben.
+
+Da endlich die Dämmerung gekommen war, stand ich auf, ging gegen eines
+der beiden offenstehenden Fenster, lehnte mich hinaus und sah herum.
+Es war wieder Getreide, das ich vor mir auf dem sachte hinabgehenden
+Hügel erblickte. Am Morgen dieses Tages, da ich von meiner
+Nachtherberge aufgebrochen war, hatte ich auch Getreide rings um mich
+gesehen; aber dasselbe war in einem lustigen Wogen begriffen gewesen,
+während dieses reglos und unbewegt war wie ein Heer von lockeren
+Lanzen. Vor dem Hause war der Sandplatz, den ich bei meiner Ankunft
+schon gesehen und betreten hatte. Meine Fenster gingen also auf der
+Seite der Rosenwand heraus. Von dem Garten tönte noch schwaches
+Vogelgezwitscher herüber, und der Duft von den Tausenden der Rosen
+stieg wie eine Opfergabe zu mir empor.
+
+An dem Himmel, dessen Dämmerung heute viel früher gekommen war, hatte
+sich eine Veränderung eingefunden. Die Wolkendecke war geteilt, die
+Wolken standen in einzelnen Stücken gleichsam wie Berge an dem Gewölbe
+herum, und einzelne reine Teile blickten zwischen ihnen heraus. Die
+Blitze aber waren stärker und häufiger, die Donner klangen heller und
+kürzer.
+
+
+Als ich eine Weile bei dem Fenster hinaus gesehen hatte, hörte ich ein
+Pochen an meiner Tür, eine Magd trat herein und meldete, daß man mich
+zum Abendessen erwarte. Ich legte meine Papiere auf das Tischchen, das
+neben meinem Bette stand, legte den Humboldt darauf und folgte der
+Magd, nachdem ich die Tür hinter mir gesperrt hatte. Sie führte mich
+in das Speisezimmer.
+
+Bei dem Eintritte sah ich drei Personen: den alten Mann, der mit mir
+den Spaziergang gemacht hatte, einen andern, ebenfalls ältlichen Mann,
+der durch nichts besonders auffiel als durch seine Kleidung, welche
+einen Priester verriet, und den Pflegesohn des Hausbesitzers in seinem
+blaugestreiften Linnengewande.
+
+Der Herr des Hauses stellte mich dem Priester vor, indem er sagte:
+»Das ist der hochwürdige Pfarrer von Rohrberg, der ein Gewitter
+fürchtet und deshalb diese Nacht in unserm Hause zubringen wird«, und
+dann auf mich weisend fügte er bei: »Das ist ein fremder Reisender,
+der auch heute unser Dach mit uns teilen wird.«
+
+Nach diesen Worten und nach einem kurzen stummen Gebete setzten wir
+uns zu dem Tische an unsere angewiesenen Plätze. Das Abendessen war
+sehr einfach. Es bestand aus Suppe, Braten und Wein, zu welchem, wie
+zu dem an meinem Mittagsmahle, verkleinertes Eis gestellt wurde.
+Dieselbe Magd, welche mir mein Mittagessen gebracht hatte, bediente
+uns. Ein männlicher Diener kam nicht in das Zimmer. Der Pfarrer und
+mein Gastfreund sprachen öfter Dinge, die die Gegend betrafen, und ich
+ward gelegentlich einbezogen, wenn es sich um Allgemeineres handelte.
+Der Knabe sprach gar nicht.
+
+Die Dunkelheit des Abends wurde endlich so stark, daß die Kerzen,
+welche früher mit der Dämmerung gekämpft hatten, nun vollkommen die
+Herrschaft behaupteten, und die schwarzen Fenster nur zeitweise durch
+die hereinleuchtenden Blitze erhellt wurden.
+
+Da das Essen beendet war und wir uns zur Trennung anschickten, sagte
+der Hauswirt, daß er den Pfarrer und mich über die nähere Treppe in
+unser Zimmer führen würde. Wir nahmen jeder eine Wachskerze, die
+uns angezündet von der Magd gereicht wurde, während dessen sich der
+Knabe Gustav empfahl und durch die gewöhnliche Tür entfernte. Der
+Hauseigentümer führte uns bei der Tür hinaus, bei der ich zuerst
+herein gekommen war. Wir befanden uns draußen in dem schönen
+Marmorgange, von dem eine gleiche Marmortreppe emporführte. Wir
+durften die Filzschuhe nicht anziehen, weil jetzt über den Gang und
+die Treppe ein Tuchstreifen lag, auf dem wir gingen. In der Mitte der
+Treppe, wo sie einen Absatz machte, gleichsam einen erweiterten Platz
+oder eine Stiegenhalle, stand eine Gestalt aus weißem Marmor auf einem
+Gestelle. Durch ein paar Blitze, die eben jetzt fielen und das Haupt
+und die Schultern der Marmorgestalt noch röter beschienen, als es
+unsere Kerzen konnten, ersah ich, daß der Platz und die Treppe von
+oben herab durch eine Glasbedeckung ihre Beleuchtung empfangen mußten.
+
+Als wir an das Ende der Treppe gelangt waren, wendete sich der
+Hauswirt mit uns durch eine Tür links, und wir befanden uns in jenem
+Gange, in welchem mein Zimmer lag. Es war der Gang der Gastzimmer, wie
+ich nun zu erkennen vermeinte. Unser Gastfreund bezeichnete eines als
+das des Pfarrers und führte mich zu dem meinigen.
+
+Als wir in dasselbe getreten waren, fragte er mich, ob ich zu meiner
+Bequemlichkeit noch etwas wünsche, besonders, ob mir Bücher aus seinem
+Bücherzimmer genehm wären.
+
+Als ich sagte, daß ich keinen Wunsch habe und bis zum Schlafen schon
+Beschäftigung finden würde, antwortete er: »Ihr seid in eurem Gemache
+und in eurem Rechte. Schlummert denn recht wohl.«
+
+»Ich wünsche euch auch eine gute Nacht«, erwiderte ich, »und sage euch
+Dank für die Mühe, die ihr heute mit mir gehabt habet.«
+
+»Es war keine Mühe«, antwortete er, »denn sonst hätte ich sie mir ja
+ersparen können, wenn ich euch gar nicht zu Nacht geladen hätte.«
+
+»So ist es«, antwortete ich.
+
+»Erlaubt«, sagte er, indem er ein kleines Wachskerzchen hervorzog und
+an meinem Lichte anzündete.
+
+Nachdem er dieses Geschäft vollbracht hatte, verbeugte er sich, was
+ich erwiderte, und ging auf den Gang hinaus.
+
+
+Ich schloß hinter ihm die Tür, legte meinen Rock ab und lüftete mein
+Halstuch, weil, obgleich es schon spät war, die ruhige Nacht noch
+immer eine große Hitze und Schwüle in sich hegte. Ich ging einige
+Male in dem Zimmer hin und her, trat dann an ein Fenster, lehnte mich
+hinaus und betrachtete den Himmel. So viel die Dunkelheit und die
+noch immer hell leuchtenden Blitze erkennen ließen, war die Gestalt
+der Dinge dieselbe, wie sie am Abend vor dem Speisen gewesen war.
+Wolkentrümmer standen an dem Himmel und, wie die Sterne zeigten, waren
+zwischen ihnen reine Stellen. Zu Zeiten fuhr ein Blitz aus ihnen über
+den Getreidehügel und die Wipfel der unbewegten Bäume, und der Donner
+rollte ihm nach.
+
+Als ich eine Weile die freie Luft genossen hatte, schloß ich mein
+Fenster, schloß auch das andere und begab mich zur Ruhe.
+
+Nachdem ich noch eine Zeit lang, wie es meine Gewohnheit war, in
+dem Bette gelesen und mitunter sogar mit Bleifeder etwas in meine
+Schriften geschrieben hatte, löschte ich das Licht aus und richtete
+mich zum Schlafen.
+
+Ehe der Schlummer völlig meine Sinne umfing, hörte ich noch, wie sich
+draußen ein Wind erhob und die Wipfel der Bäume zu starkem Rauschen
+bewegte. Ich hatte aber nicht mehr genug Kraft, mich zu ermannen,
+sondern entschlief gleich darauf völlig.
+
+Ich schlief recht ruhig und fest.
+
+Als ich erwachte, war mein Erstes, zu sehen, ob es geregnet habe. Ich
+sprang aus dem Bette und riß die Fenster auf. Die Sonne war bereits
+aufgegangen, der ganze Himmel war heiter, kein Lüftchen rührte sich,
+aus dem Garten tönte das Schmettern der Vögel, die Rosen dufteten und
+die Erde zu meinen Füßen war vollkommen trocken. Nur der Sand war
+ein wenig gegen das Grün des begrenzenden Rasens gefegt worden, und
+ein Mann war beschäftigt, ihn wieder zu ebnen und in ein gehöriges
+Gleichgewicht zu bringen.
+
+Also hatte mein Gegner Recht gehabt, und ich war begierig, zu
+erfahren, aus welchen Gründen er seine Gewißheit, die er so sicher
+gegen mich behauptet hatte, geschöpft und wie er diese Gründe entdeckt
+und erforscht habe.
+
+Um das recht bald zu erfahren und meine Abreise nicht so lange zu
+verzögern, beschloß ich, mich anzukleiden und meinen Gastherrn
+ungesäumt aufzusuchen.
+
+Als ich mit meinem Anzuge fertig, war und mich in das Speisezimmer
+hinab begeben hatte, fand ich dort eine Magd mit den Vorbereitungen zu
+dem Frühmahle beschäftigt und fragte nach dem Herrn.
+
+»Er ist in dem Garten auf der Fütterungstenne«, sagte sie.
+
+»Und wo ist die Fütterungstenne, wie du es nennst?« sprach ich.
+
+»Gleich hinter dem Hause und nicht weit von den Glashäusern«,
+erwiderte sie.
+
+Ich ging hinaus und schlug die Richtung gegen das Gewächshaus ein.
+
+Vor demselben fand ich meinen Gastfreund auf einem Sandplatze. Es war
+derselbe Platz, von dem aus ich schon gestern das Gewächshaus mit
+seiner schmalen Seite und dem kleinen Schornsteine gesehen hatte.
+Diese Seite war mit Rosen bekleidet, daß das Haus wie ein zweites,
+kleines Rosenhäuschen hervor sah. Mein Gastfreund war in einer
+seltsamen Beschäftigung begriffen. Eine Unzahl Vögel befand sich vor
+ihm auf dem Sande. Er hatte eine Art von länglichem geflochtenem
+Korbdeckel in der Hand und streuete aus demselben Futter unter die
+Vögel. Er schien sich daran zu ergötzen, wie sie pickten, sich
+überkletterten, überstürzten und kollerten, wie die gesättigten davon
+flogen und wieder neue herbei schwirrten. Ich erkannte es nun endlich,
+daß außer den gewöhnlichen Gartenvögeln auch solche da waren, die mir
+sonst nur von tiefen und weit abgelegenen Wäldern bekannt waren. Sie
+erschienen gar nicht so scheu, als ich mit allem Rechte vermuten
+mußte. Sie trauten ihm vollkommen. Er stand wieder barhäuptig da, so
+daß es mir schien, daß er diese Sitte liebe, da er auch gestern auf
+dem Spaziergange seine so leichte Kopfbedeckung eingesteckt hatte.
+Seine Gestalt war vorgebeugt und die schlichten, aber vollen weißen
+Haare hingen an seinen Schläfen herab. Sein Anzug war auch heute
+wieder sonderbar. Er hatte wie gestern eine Art Jacke an, die fast bis
+auf die Knie hinab reichte. Sie war weißlich, hatte jedoch über die
+Brust und den Rücken hinab einen rötlichbraunen Streifen, der fast
+einen halben Fuß breit war, als wäre die Jacke aus zwei Stoffen
+verfertigt worden, einem weißen und einem roten. Beide Stoffe aber
+zeigten ein hohes Alter; denn das Weiß war gelblichbraun und das
+Rot zu Purpurbraun geworden. Unter der Jacke sah eine unscheinbare
+Fußbekleidung hervor, die mit Schnallenschuhen endete.
+
+Ich blieb hinter seinem Rücken in ziemlicher Entfernung stehen, um ihn
+nicht zu stören und die Vögel nicht zu verscheuchen.
+
+Als er aber seinen Korb geleert hatte und seine Gäste fortgeflogen
+waren, trat ich näher. Er hatte sich eben umgewendet, um
+zurückzugehen, und da er mich erblickte, sagte er: »Seid ihr schon
+ausgegangen? Ich hoffe, daß ihr gut geschlafen habt.«
+
+»Ja, ich habe sehr gut geschlafen«, erwiderte ich, »ich habe noch den
+Wind gehört, der sich gestern Abends erhoben hat, was weiter geschehen
+ist, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß heute die Erde trocken ist
+und daß ihr Recht gehabt habet.«
+
+»Ich glaube, daß nicht ein Tropfen auf diese Gegend vom Himmel
+gefallen ist«, antwortete er.
+
+»Wie das Aussehen der Erde zeigt, glaube ich es auch«, erwiderte ich;
+»aber nun müßt ihr mir auch wenigstens zum Teile sagen: woher ihr
+dies so gewiß wissen konntet und wie ihr euch diese Kenntnis erworben
+habt; denn das müßt ihr zugestehen, daß sehr viele Zeichen gegen euch
+waren.«
+
+»Ich will euch etwas sagen«, antwortete er, »die Darlegung der Sache,
+die ihr da verlangt, dürfte etwas lang werden, da ich sie euch, der
+sich mit Wissenschaften beschäftigt, doch nicht oberflächlich geben
+kann: verspreche mir, den heutigen Tag und die Nacht noch bei uns
+zuzubringen, da kann ich euch nicht nur dieses sagen, sondern noch
+vieles Andere, ihr könnt Verschiedenes anschauen, und ihr könnt mir
+von eurer Wissenschaft erzählen.«
+
+Dieses offen und freundlich gemachte Anerbieten konnte ich nicht
+ausschlagen, auch erlaubte mir meine Zeit recht gut, nicht nur einen,
+sondern mehrere Tage zu einer Nebenbeschäftigung zu verwenden. Ich
+gebrauchte daher die gewöhnliche Redeweise von Nichtlästigfallenwollen
+und sagte unter dieser Bedingung zu.
+
+»Nun so geht mit mir zuerst zu einem Frühmahle, das ich mit euch
+teilen will«, sagte er, »der Herr Pfarrer von Rohrberg hat uns schon
+vor Tagesanbruch verlassen, um zu rechter Zeit in seiner Kirche zu
+sein, und Gustav ist bereits zu seiner Arbeit gegangen.«
+
+Mit diesen Worten wendeten wir uns auf den Rückweg zu dem Hause. Als
+wir dort angekommen waren, gab er das, was ich Anfangs für einen
+Korbdeckel gehalten hatte, was aber ein eigens geflochtenes, sehr
+flaches und längliches Fütterungskörbchen war, einer Magd, daß sie es
+auf seinen Platz lege, und wir gingen in das Speisezimmer.
+
+Während des Frühmahles sagte ich: »Ihr habt selbst davon gesprochen,
+daß ich hier Verschiedenes anschauen könne, wäre es denn zu
+unbescheiden, wenn ich bäte, von dem Hause und dessen Umgebung Manches
+näher besehen zu dürfen. Es ist eine der lieblichsten Lagen, in der
+dieses Anwesen liegt, und ich habe bereits so Vieles davon gesehen,
+was meine Aufmerksamkeit aufregte, daß der Wunsch natürlich ist, noch
+Mehreres besehen zu dürfen.«
+
+»Wenn es euch Vergnügen macht, unser Haus und einiges Zubehör zu
+besehen«, antwortete er, »so kann das gleich nach dem Frühmahle
+geschehen, es wird nicht viele Zeit in Anspruch nehmen, da das Gebäude
+nicht so groß ist. Es wird sich dann auch das, was wir noch zu reden
+haben, natürlicher und verständlicher ergeben.«
+
+»Ja freilich«, sagte ich, »macht es mir Vergnügen.«
+
+Wir schritten also nach dem Frühmahle zu diesem Geschäfte.
+
+Er führte mich über die Treppe, auf welcher die weiße Marmorgestalt
+stand, hinauf. Heute fiel statt des roten zerstreuten Lichtes der
+Kerzen und der Blitze von der vergangenen Nacht das stille weiße
+Tageslicht auf sie herab und machte die Schultern und das Haupt in
+sanftem Glanze sich erhellen. Nicht nur die Treppe war in diesem
+Stiegenhause von Marmor, sondern auch die Bekleidung der Seitenwände.
+Oben schloß gewölbtes Glas, das mit feinem Drahte überspannt war, die
+Räume. Als wir die Treppe erstiegen hatten, öffnete mein Gastfreund
+eine Tür, die der gegenüber war, die zu dem Gange der Gastzimmer
+führte. Die Tür ging in einen großen Saal. Auf der Schwelle, an der
+der Tuchstreifen, welcher über die Treppe empor lag, endete, standen
+wieder Filzschuhe. Da wir jeder ein Paar derselben angezogen hatten,
+gingen wir in den Saal. Er war eine Sammlung von Marmor. Der Fußboden
+war aus dem farbigsten Marmor zusammengestellt, der in unseren
+Gebirgen zu finden ist. Die Tafeln griffen so ineinander, daß eine
+Fuge kaum zu erblicken war, der Marmor war sehr fein geschliffen und
+geglättet, und die Farben waren so zusammengestellt, daß der Fußboden
+wie ein liebliches Bild zu betrachten war. Überdies glänzte und
+schimmerte er noch in dem Lichte, das bei den Fenstern hereinströmte.
+Die Seitenwände waren von einfachen, sanften Farben. Ihr Sockel war
+mattgrün, die Haupttafeln hatten den lichtesten, fast weißen Marmor,
+den unsere Gebirge liefern, die Flachsäulen waren schwach rot und die
+Simse, womit die Wände an die Decke stießen, waren wieder aus schwach
+Grünlich und Weiß zusammengestellt, durch welche ein Gelb wie schöne
+Goldleisten lief. Die Decke war blaßgrau und nicht von Marmor, nur
+in der Mitte derselben zeigte sich eine Zusammenstellung von roten
+Amoniten, und aus derselben ging die Metallstange nieder, welche in
+vier Armen die vier dunkeln, fast schwarzen Marmorlampen trug, die
+bestimmt waren, in der Nacht diesen Raum beleuchten zu können. In dem
+Saale war kein Bild, kein Stuhl, kein Geräte, nur in den drei Wänden
+war jedesmal eine Tür aus schönem, dunklem Holze eingelegt, und in der
+vierten Wand befanden sich die drei Fenster, durch welche der Saal bei
+Tag beleuchtet wurde. Zwei davon standen offen, und zu dem Glanze des
+Marmors war der Saal auch mit Rosenduft erfüllt.
+
+Ich drückte mein Wohlgefallen über die Einrichtung eines solchen
+Zimmers aus; den alten Mann, der mich begleitete, schien dieses
+Vergnügen zu erfreuen, er sprach aber nicht weiter darüber.
+
+Aus diesem Saale führte er mich durch eine der Türen in eine Stube,
+deren Fenster in den Garten gingen.
+
+»Das ist gewissermaßen mein Arbeitszimmer«, sagte er, »es hat außer am
+frühen Morgen nicht viel Sonne, ist daher im Sommer angenehm, ich lese
+gerne hier oder schreibe oder beschäftige mich sonst mit Dingen, die
+Anteil einflößen.«
+
+
+Ich dachte mit Lebhaftigkeit, ich könnte sagen mit einer Art Sehnsucht
+auf meinen Vater, da ich diese Stube betreten hatte. In ihr war nichts
+mehr von Marmor, sie war wie unsere gewöhnlichen Stuben; aber sie war
+mit altertümlichen Geräten eingerichtet, wie sie mein Vater hatte und
+liebte. Allein die Geräte erschienen mir so schön, daß ich glaubte,
+nie etwas ihnen Ähnliches gesehen zu haben. Ich unterrichtete meinen
+Gastfreund von der Eigenschaft meines Vaters und erzählte ihm in
+Kurzem von den Dingen, welche derselbe besaß. Auch bat ich, die Sachen
+näher betrachten zu dürfen, um meinem Vater nach meiner Zurückkunft
+von ihnen erzählen und sie ihm, wenn auch nur notdürftig, beschreiben
+zu können. Mein Begleiter willigte sehr gerne in mein Begehren. Es war
+vor allem ein Schreibschrein, welcher meine Aufmerksamkeit erregte,
+weil er nicht nur das größte, sondern wahrscheinlich auch das schönste
+Stück des Zimmers war. Vier Delphine, welche sich mit dem Unterteil
+ihrer Häupter auf die Erde stützten und die Leiber in gewundener
+Stellung emporstreckten, trugen den Körper des Schreines auf diesen
+gewundenen Leibern. Ich glaubte Anfangs, die Delphine seien aus Metall
+gearbeitet, mein Begleiter sagte mir aber, daß sie aus Lindenholz
+geschnitten und nach mittelalterlicher Art zu dem gelblich grünlichen
+Metalle hergerichtet waren, dessen Verfertigung man jetzt nicht mehr
+zuwege bringt. Der Körper des Schreines hatte eine allseitig gerundete
+Arbeit mit sechs Fächern. Über ihm befand sich das Mittelstück, das in
+einer guten Schwingung flach zurückging und die Klappe enthielt, die
+geöffnet zum Schreiben diente. Von dem Mittelstücke erhob sich der
+Aufsatz mit zwölf geschwungenen Fächern und einer Mitteltür. An den
+Kanten des Aufsatzes und zu beiden Seiten der Mitteltür befanden sich
+als Säulen vergoldete Gestalten. Die beiden größten zu den Seiten der
+Tür waren starke Männer, die die Hauptsimse trugen. Ein Schildchen,
+das sich auf ihrer Brust öffnete, legte die Schlüsselöffnungen dar.
+Die zwei Gestalten an den vorderen Seitenkanten waren Meerfräulein,
+die in Übereinstimmung mit den Tragfischen jedes in zwei Fischenden
+ausliefen. Die zwei letzten Gestalten an den hintern Seitenkanten
+waren Mädchen in faltigen Gewändern. Alle Leiber der Fische sowohl als
+der Säulen erschienen mir sehr natürlich gemacht. Die Fächer hatten
+vergoldete Knöpfe, an denen sie herausgezogen werden konnten. Auf
+der achteckigen Fläche dieser Knöpfe waren Brustbilder geharnischter
+Männer oder geputzter Frauenzimmer eingegraben. Die Holzbelegung auf
+dem ganzen Schrein war durchaus eingelegte Arbeit. Ahornlaubwerk
+in dunkeln Nußholzfeldern, umgeben von geschlungenen Bändern und
+geflammtem Erlenholze.
+
+Die Bänder waren wie geknitterte Seide, was daher kam, daß sie aus
+kleinem, feingestreiftem, vielfarbigem Rosenholz senkrecht auf die
+Achse eingelegt waren. Die eingelegte Arbeit befand sich nicht bloß,
+wie es häufig bei derlei Geräten der Fall ist, auf der Daransicht,
+sondern auch auf den Seitenteilen und den Friesen der Säulen.
+
+Mein Begleiter stand neben mir, als ich diesem Geräte meine
+Aufmerksamkeit widmete, und zeigte mir Manches und erklärte mir auf
+meine Bitte Dinge, die ich nicht verstand.
+
+Auch eine andere Beobachtung machte ich, da ich mich in diesem Zimmer
+befand, die meine Geistestätigkeit in Anspruch nahm. Es kam mir
+nehmlich vor, daß der Anzug meines Begleiters nicht mehr so seltsam
+sei, als er mir gestern und als er mir heute erschienen war, da
+ich ihn auf dem Fütterungsplatze gesehen hatte. Bei diesen Geräten
+erschien er mir eher als zustimmend und hieher gehörig, und ich begann
+die Vermutung zu hegen, daß ich vielleicht noch diesen Anzug billigen
+werde und daß der alte Mann in dieser Hinsicht verständiger sein
+dürfte als ich.
+
+Außer dem Schreibschreine erregten noch zwei Tische meine
+Aufmerksamkeit, die an Größe gleich waren und auch sonst gleiche
+Gestalt hatten, sich aber nur darin unterschieden, daß jeder auf
+seiner Platte eine andere Gestaltung trug. Sie hatten nehmlich jeder
+ein Schild auf der Platte, wie es Ritter und adeliche Geschlechter
+führten, nur waren die Schilde nicht gleich. Aber auf beiden Tischen
+waren sie umgeben und verschlungen mit Laubwerk, Blumen- und
+Pflanzenwerk, und nie habe ich die leinen Fäden der Halme, der
+Pflanzenbärte und der Getreideähren zarter gesehen als hier, und doch
+waren sie von Holz in Holz eingelegt. Die übrige Gerätschaft waren
+hochlehnige Sessel mit Schnitzwerk, Flechtwerk und eingelegter Arbeit,
+zwei geschnitzte Sitzbänke, die man im Mittelalter Gesiedel geheißen
+hatte, geschnitzte Fahnen mit Bildern und endlich zwei Schirme von
+gespanntem und gepreßtem Leder, auf welchem Blumen, Früchte, Tiere,
+Knaben und Engel aus gemaltem Silber angebracht waren, das wie
+farbiges Gold aussah. Der Fußboden des Zimmers war gleich den Geräten
+aus Flächen alter eingelegter Arbeit zusammengestellt. Wir hatten
+wahrscheinlich wegen der Schönheit dieses Bodens bei dem Eintritte in
+diese Stube die Filzschuhe an unsern Füßen behalten.
+
+Obwohl der alte Mann gesagt hatte, daß dieses Zimmer sein
+Arbeitszimmer sei, so waren doch keine unmittelbaren Spuren von Arbeit
+sichtbar. Alles schien in den Laden verschlossen oder auf seinen Platz
+gestellt zu sein.
+
+Auch hier war mein Begleiter, als ich meine Freude über dieses Zimmer
+aussprach, nicht sehr wortreich, genau so wie in dem Marmorsaale;
+aber gleichwohl glaubte ich das Vergnügen ihm von seinem Angesicht
+herablesen zu können.
+
+Das nächste Zimmer war wieder ein altertümliches. Es ging gleichfalls
+auf den Garten. Sein Fußboden war wie in dem vorigen eingelegte
+Arbeit, aber auf ihm standen drei Kleiderschreine und das Zimmer war
+ein Kleiderzimmer. Die Schreine waren groß, altertümlich eingelegt und
+jeder hatte zwei Flügeltüren. Sie erschienen mir zwar minder schön
+als das Schreibgerüste im vorigen Zimmer, aber doch auch von großer
+Schönheit, besonders der mittlere, größte, der eine vergoldete
+Bekrönung trug und auf seinen Hohltüren ein sehr schönes Schild-,
+Laub- und Bänderwerk zeigte. Außer den Schreinen waren nur noch Stühle
+da und ein Gestelle, welches dazu bestimmt schien, gelegentlich
+Kleider darauf zu hängen. Die inneren Seiten der Zimmertüren waren
+ebenfalls zu den Geräten stimmend und bestanden aus Simswerk und
+eingelegter Arbeit.
+
+Als wir dieses Zimmer verließen, legten wir die Filzschuhe ab.
+
+Das nächste Zimmer, gleichfalls auf den Garten gehend, war das
+Schlafgemach. Es enthielt Geräte neuer Art, aber doch nicht ganz in
+der Gestaltung, wie ich sie in der Stadt zu sehen gewohnt war. Man
+schien hier vor Allem auf Zweckmäßigkeit gesehen zu haben. Das Bett
+stand mitten im Zimmer und war mit dichten Vorhängen umgeben. Es war
+sehr nieder und hatte nur ein Tischchen neben sich, auf dem Bücher
+lagen, ein Leuchter und eine Glocke standen und sich Geräte befanden,
+Licht zu machen. Sonst waren die Geräte eines Schlafzimmers da,
+besonders solche, die zum Aus- und Ankleiden und zum Waschen
+behilflich waren. Die Innenseiten der Türen waren hier wieder zu den
+Geräten stimmend.
+
+An das Schlafgemach stieß ein Zimmer mit wissenschaftlichen
+Vorrichtungen, namentlich zu Naturwissenschaften. Ich sah Werkzeuge
+der Naturlehre aus der neuesten Zeit, deren Verfertiger ich entweder
+persönlich aus der Stadt kannte oder deren Namen, wenn die Geräte aus
+andern Ländern stammten, mir dennoch bekannt waren. Es befanden sich
+Werkzeuge zu den vorzüglichsten Teilen der Naturlehre hier.
+
+Auch waren Sammlungen von Naturkörpern vorhanden, vorzüglich aus dem
+Mineralreiche. Zwischen den Geräten und an den Wänden war Raum, mit
+den vorhandenen Vorrichtungen Versuche anstellen zu können. Das Zimmer
+war gleichfalls noch immer ein Gartenzimmer.
+
+Endlich gelangten wir in das Eckzimmer des Hauses, dessen Fenster
+teils auf den Hauptkörper des Gartens gingen, teils nach Nordwesten
+sahen. Ich konnte aber die Bestimmung dieses Zimmers nicht erraten, so
+seltsam kam es mir vor. An den Wänden standen Schreine aus geglättetem
+Eichenholze mit sehr vielen kleinen Fächern. An diesen Fächern waren
+Aufschriften, wie man sie in Spezereiverkaufsbuden oder Apotheken
+findet. Einige dieser Aufschriften verstand ich, sie waren Namen von
+Sämereien oder Pflanzennamen. Die meisten aber verstand ich nicht.
+Sonst war weder ein Stuhl noch ein anderes Geräte in dem Zimmer. Vor
+den Fenstern waren wagrechte Brettchen befestigt, wie man sie hat,
+um Blumentöpfe darauf zu stellen; aber ich sah keine Blumentöpfe
+auf ihnen, und bei näherer Betrachtung zeigte sich auch, daß sie zu
+schwach seien, um Blumentöpfe tragen zu können. Auch wären gewiß
+solche auf ihnen gestanden, wenn sie dazu bestimmt gewesen wären, da
+ich in allen Zimmern, mit Ausnahme des Marmorsaales, an jedem nur
+einiger Maßen geeigneten Platze Blumen aufgestellt gesehen hatte.
+
+Ich fragte meinen Begleiter nicht um den Zweck des Zimmers, und er
+äußerte sich auch nicht darüber.
+
+
+Wir gelangten nun wieder in die Gemächer, die an der Mittagseite des
+Hauses lagen und über den Sandplatz auf die Felder hinaus sahen.
+
+Das erste nach dem Eckzimmer war ein Bücherzimmer. Es war groß und
+geräumig und stand voll von Büchern. Die Schreine derselben waren
+nicht so hoch, wie man sie gewöhnlich in Bücherzimmern sieht, sondern
+nur so, daß man noch mit Leichtigkeit um die höchsten Bücher langen
+konnte. Sie waren auch so flach, daß nur eine Reihe Bücher stehen
+konnte, keine die andere deckte und alle vorhandenen Bücher ihre
+Rücken zeigten. Von Geräten befand sich in dem Zimmer gar nichts als
+in der Mitte desselben ein langer Tisch, um Bücher darauf legen zu
+können. In seiner Lade waren die Verzeichnisse der Sammlung. Wir
+gingen bei dieser allgemeinen Beschauung des Hauses nicht näher auf
+den Inhalt der vorhandenen Bücher ein.
+
+Neben dem Bücherzimmer war ein Lesegemach. Es war klein und hatte nur
+ein Fenster, das zum Unterschiede aller anderen Fenster des Hauses mit
+grünseidenen Vorhängen versehen war, während die anderen grauseidne
+Rollzüge besaßen. An den Wänden standen mehrere Arten von Sitzen,
+Tischen und Pulten, so daß für die größte Bequemlichkeit der Leser
+gesorgt war. In der Mitte stand, wie im Bücherzimmer, ein großer Tisch
+oder Schrein - denn er hatte mehrere Laden -, der dazu diente, daß man
+Tafeln, Mappen, Landkarten und dergleichen auf ihm ausbreiten konnte.
+In den Laden lagen Kupferstiche. Was mir in diesem Zimmer auffiel,
+war, daß man nirgends Bücher oder etwas, das an den Zweck des Lesens
+erinnerte, herumliegen sah.
+
+Nach dem Lesegemache kam wieder ein größeres Zimmer, dessen Wände mit
+Bildern bedeckt waren. Die Bilder hatten lauter Goldrahmen, waren
+ausschließlich Ölgemälde und reichten nicht höher, als daß man sie
+noch mit Bequemlichkeit betrachten konnte. Sonst hingen sie aber
+so dicht, daß man zwischen ihnen kein Stückchen Wand zu erblicken
+vermochte. Von Geräten waren nur mehrere Stühle und eine Staffelei da,
+um Bilder nach Gelegenheit aufstellen und besser betrachten zu können.
+Diese Einrichtung erinnerte mich an das Bilderzimmer meines Vaters.
+
+Das Bilderzimmer führte durch die dritte Tür des Marmorsaales wieder
+in denselben zurück, und so hatten wir die Runde in diesen Gemächern
+vollendet.
+
+»Das ist nun meine Wohnung«, sagte mein Begleiter, »sie ist nicht groß
+und von außerordentlicher Bedeutung, aber sie ist sehr angenehm. In
+dem anderen Flügel des Hauses sind die Gastzimmer, welche beinahe alle
+dem gleichen, in welchem ihr heute Nacht geschlafen habt. Auch ist
+Gustavs Wohnung dort, die wir aber nicht besuchen können, weil wir
+ihn sonst in seinem Lernen stören würden. Durch den Saal und über die
+Treppe können wir nun wieder in das Freie gelangen.«
+
+Als wir den Saal durchschritten hatten, als wir über die Treppe
+hinabgegangen und zu dem Ausgange des Hauses gekommen waren, legten
+wir die Filzschuhe ab, und mein Begleiter sagte: »Ihr werdet euch
+wundern, daß in meinem Hause Teile sind, in welchen man sich die
+Unbequemlichkeit auflegen muß, solche Schuhe anzuziehen; aber es kann
+mit Fug nicht anders sein, denn die Fußböden sind zu empfindlich,
+als daß man mit gewöhnlichen Schuhen auf ihnen gehen könnte, und die
+Abteilungen, welche solche Fußböden haben, sind ja auch eigentlich
+nicht zum Bewohnen, sondern nur zum Besehen bestimmt, und endlich
+gewinnt sogar das Besehen an Wert, wenn man es mit Beschwerlichkeit
+erkaufen muß. Ich habe in diesen Zimmern gewöhnlich weiche Schuhe mit
+Wollsohlen an. In mein Arbeitszimmer kann ich auch ohne allen Umweg
+gelangen, da ich in dasselbe nicht durch den Saal gehen muß, wie wir
+jetzt getan haben, sondern da von dem Erdgeschosse ein Gang in das
+Zimmer hinaufführt, den ihr nicht gesehen haben werdet, weil seine
+beiden Enden mit guten Tapetentüren geschlossen sind. Der Pfarrer von
+Rohrberg leidet an der Gicht und verträgt heiße Füße nicht, daher
+belege ich für ihn, wenn er anwesend ist, die Treppe oder die Zimmer
+mit einem Streifen von Wollstoff, wie ihr es gestern gesehen habt.«
+
+Ich antwortete, daß die Vorrichtung sehr zweckmäßig sei und daß sie
+überall angewendet werden muß, wo kunstreiche oder sonst wertvolle
+Fußböden zu schonen sind.
+
+Da wir nun im Garten waren, sagte ich, indem ich mich umwendete und
+das Haus betrachtete: »Eure Wohnung ist nicht, wie ihr sagt, von
+geringer Bedeutung. Sie wird, so viel ich aus der kurzen Besichtigung
+entnehmen konnte, wenige ihres Gleichen haben. Auch hatte ich nicht
+gedacht, daß das Haus, wenn ich es so von der Straße aus sah, eine so
+große Räumlichkeit in sich hätte.«
+
+»So muß ich euch nun auch noch etwas anderes zeigen«, erwiderte er,
+»folgt mir ein wenig durch jenes Gebüsch.«
+
+Er ging nach diesen Worten voran, ich folgte ihm. Er schlug einen Weg
+gegen dichtes Gebüsch ein. Als wir dort angekommen waren, ging er auf
+einem schmalen Pfade durch dessen Verschlingung fort. Endlich kamen
+sogar hohe Bäume, unter denen der Weg dahin lief. Nach einer Weile tat
+sich ein anmutiger Rasenplatz vor uns auf, der wieder ein langes, aus
+einem Erdgeschosse bestehendes Gebäude trug. Es hatte viele Fenster,
+die gegen uns hersahen. Ich hatte es früher weder von der Straße aus
+erblickt noch von den Stellen des Gartens, auf denen ich gewesen war.
+Vermutlich waren die Bäume daran Schuld, die es umstanden.
+
+Da wir uns näherten, ging ein feiner Rauch aus seinem Schornsteine
+empor, obwohl, da es Sommer war, keine Einheizzeit, und da es noch so
+früh am Vormittage war, keine Kochzeit die Ursache davon sein konnte.
+Als wir näher kamen, hörte ich in dem Hause ein Schnarren und
+Schleifen, als ob in ihm gesägt und gehobelt würde. Da wir eingetreten
+waren, sah ich in der Tat eine Schreinerwerkstätte vor mir, in welcher
+tätig gearbeitet wurde. An den Fenstern, durch welche reichliches
+Licht hereinfiel, standen die Schreinertische und an den übrigen
+Wänden, welche fensterlos waren, lehnten Teile der in Arbeit
+begriffenen Gegenstände. Hier fand ich wieder eine Ähnlichkeit mit
+meinem Vater. So wie er sich einen jungen Mann abgerichtet hatte, der
+ihm seine altertümlichen Geräte nach seiner Angabe wieder herstellte,
+so sah ich hier gleich eine ganze Werkstätte dieser Art; denn ich
+erkannte aus den Teilen, die herumstanden, daß hier vorzüglich an der
+Wiederherstellung altertümlicher Gerätschaften gearbeitet werde. Ob
+auch Neues in dem Hause verfertigt werde, konnte ich bei dem ersten
+Anblicke nicht erkennen.
+
+Von den Arbeitern hatte jeder einen Raum an den Fenstern für sich, der
+von dem Raume seines Nachbars durch gezogene Schranken abgesondert
+war. Er hatte seine Geräte und seine eben notwendigen Arbeitsstücke
+in diesem Raume bei sich, das Andere, was er gerade nicht brauchte,
+hatte er an der Hinterwand des Hauses hinter sich, so daß eine
+übersichtliche Ordnung und Einheit bestand. Es waren vier Arbeiter. In
+einem großen Schreine, der einen Teil der einen Seitenwand einnahm,
+befanden sich vorrätige Werkzeuge, welche für den Fall dienten, daß
+irgend eines unversehens untauglich würde und zu seiner Herstellung
+zu viele Zeit in Anspruch nähme. In einem andern Schreine an der
+entgegengesetzten Seitenwand waren Fläschchen und Büchschen, in denen
+sich die Flüssigkeiten und andere Gegenstände befanden, die zur
+Erzeugung von Firnissen, Polituren oder dazu dienten, dem Holze eine
+bestimmte Farbe oder das Ansehen von Alter zu geben. Abgesondert von
+der Werkstube war ein Herd, auf welchem das zu Schreinerarbeiten
+unentbehrliche Feuer brannte. Seine Stätte war feuerfest, um die
+Werkstube und ihren Inhalt nicht zu gefährden.
+
+»Hier werden Dinge«, sagte mein Begleiter, »welche lange vor uns, ja
+oft mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeit verfertigt worden und in
+Verfall geraten sind, wieder hergestellt, wenigstens soweit es die
+Zeit und die Umstände nur immer erlauben. Es wohnt in den alten
+Geräten beinahe wie in den alten Bildern ein Reiz des Vergangenen
+und Abgeblühten, der bei dem Menschen, wenn er in die höheren Jahre
+kömmt, immer stärker wird. Darum sucht er das zu erhalten, was der
+Vergangenheit angehört, wie er ja auch eine Vergangenheit hat,
+die nicht mehr recht zu der frischen Gegenwart der rings um ihn
+Aufwachsenden paßt. Darum haben wir hier eine Anstalt für Geräte
+des Altertums gegründet, die wir dem Untergange entreißen,
+zusammenstellen, reinigen, glätten und wieder in die Wohnlichkeit
+einzuführen suchen.«
+
+
+Es wurde, da ich mich in dem Schreinerhause befand, eben an der
+Platte eines Tisches gearbeitet, die, wie mein Begleiter sagte,
+aus dem sechzehnten Jahrhunderte stammte. Sie war in Hölzern von
+verschiedener, aber natürlicher Farbe eingelegt. Bloß wo grünes Laub
+vorkam, war es von grüngebeiztem Holze. Von außen war eine Verbrämung
+von in einander geschlungenen und schneckenartig gewundenen Rollen,
+Laubzweigen und Obst. Die innere Fläche, welche von der Verbrämung
+durch ein Bänderwerk von rotem Rosenholze abgeschnitten war, trug
+auf einem Grunde von braunlich weißem Ahorne eine Sammlung von
+Musikgeräten. Sie waren freilich nicht in dem Verhältnisse ihrer
+Größen eingelegt. Die Geige war viel kleiner als die Mandoline, die
+Trommel und der Dudelsack waren gleich groß und unter beiden zog sich
+die Flöte wie ein Weberbaum dahin. Aber im Einzelnen erschienen mir
+die Sachen als sehr schön, und die Mandoline war so rein und lieblich,
+wie ich solche Dinge nicht schöner auf den alten Gemälden meines
+Vaters gesehen hatte. Einer der Arbeiter schnitt Stücke aus Ahorn,
+Buchs, Sandelholz, Ebenholz, türkisch Hasel und Rosenholz zurecht,
+damit sie in ihrer kleineren Gestalt gehörig austrocknen konnten.
+Ein anderer löste schadhafte Teile aus der Platte und ebnete die
+Grundstellen, um die neuen Bestandteile zweckmäßig einsetzen zu
+können. Der dritte schnitt und hobelte die Füße aus einem Ahornbalken
+und der vierte war beschäftigt, nach einer in Farben ausgeführten
+Abbildung der Tischplatte, die er vor sich hatte, und aus einer Menge
+von Hölzern, die neben ihm lagen, diejenigen zu bestimmen, die den
+auf der Zeichnung befindlichen Farben am meisten entsprächen. Mein
+Begleiter sagte mir, daß das Gerüste und die Füße des Tisches
+verlorengegangen seien und neu gemacht werden mußten.
+
+Ich fragte, wie man das einrichte, daß das Neue zu dem Vorhandenen
+passe.
+
+Er antwortete: »Wir haben eine Zeichnung gemacht, die ungefähr
+darstellte, wie die Füße und das Gerüste ausgesehen haben mögen.«
+
+Auf meine neue Frage, wie man denn das wissen könne, antwortete
+er: »Diese Dinge haben so gut wie bedeutendere Gegenstände ihre
+Geschichte, und aus dieser Geschichte kann man das Aussehen und den
+Bau derselben zusammen setzen. Im Verlaufe der Jahre haben sich die
+Gestaltungen der Geräte immer neu abgelöset, und wenn man auf diese
+Abfolge sein Augenmerk richtet, so kann man aus einem vorhandenen
+Ganzen auf verlorengegangene Teile schließen und aus aufgefundenen
+Teilen auf das Ganze gelangen. Wir haben mehrere Zeichnungen
+entworfen, in deren jede immer die Tischplatte einbezogen war, und
+haben uns auf diese Weise immer mehr der mutmaßlichen Beschaffenheit
+der Sache genähert. Endlich sind wir bei einer Zeichnung geblieben,
+die uns nicht zu widersprechend schien.«
+
+Auf meine Frage, ob er denn immer Arbeit für seine Anstalt habe,
+antwortete er: »Sie ist nicht gleich so entstanden, wie ihr sie hier
+sehet. Anfangs zeigte sich die Lust an alten und vorelterlichen
+Dingen, und wie die Lust wuchs, sammelten sich nach und nach schon die
+Gegenstände an, die ihrer Wiederherstellung entgegen sahen. Zuerst
+wurde die Ausbesserung bald auf diesem, bald auf jenem Wege versucht
+und eingeleitet. Viele Irrwege sind betreten worden. Indessen wuchs
+die Zahl der gesammelten Gegenstände immer mehr und deutete schon
+auf die künftige Anstalt hin. Als man in Erfahrung brachte, daß ich
+altertümliche Gegenstände kaufe, brachte man mir solche oder zeigte
+mir die Orte an, wo sie zu finden wären. Auch vereinigten sich mit uns
+hie und da Männer, welche auf die Dinge des Altertums ihr Augenmerk
+richteten, uns darüber schrieben und wohl auch Zeichnungen einsandten.
+So erweiterte sich unser Kreis immer mehr.
+
+Ungehörige Ausbesserungen aus früheren Zeiten gaben ebenfalls Stoff
+zu erneuerter Arbeit, und da wir anfangs auch an verschiedenen Orten
+arbeiten ließen und häufig genötigt waren, die Orte zu wechseln, ehe
+wir uns hier niederließen, so verschleppte sich manche Zeit und die
+Arbeitsgegenstände mehrten sich. Endlich gerieten wir auch auf den
+Gedanken, neue Gegenstände zu verfertigen. Wir gerieten auf ihn durch
+die alten Dinge, die wir immer in den Händen hatten. Diese neuen
+Gegenstände wurden aber nicht in der Gestalt gemacht, wie sie jetzt
+gebräuchlich sind, sondern wie wir sie für schön hielten. Wir lernten
+an dem Alten; aber wir ahmten es nicht nach, wie es noch zuweilen in
+der Baukunst geschieht, in der man in einem Stile, zum Beispiele in
+dem sogenannten gothischen, ganze Bauwerke nachbildet. Wir suchten
+selbstständige Gegenstände für die jetzige Zeit zu verfertigen mit
+Spuren des Lernens an vergangnen Zeiten. Haben ja selbst unsere
+Vorfahrer aus ihren Vorfahrern geschöpft, diese wieder aus den ihrigen
+und so fort, bis man auf unbedeutende und kindische Anfänge stößt.
+
+Überall aber sind die eigentlichen Lehrmeister die Werke der Natur
+gewesen.«
+
+»Sind solche neugemachte Gegenstände in eurem Hause vorhanden?« fragte
+ich.
+
+»Nichts von Bedeutung«, antwortete er, »einige sind an verschiedenen
+Punkten der Gegend zerstreut, einige sind in einem anderen Orte als
+in diesem Hause gesammelt. Wenn ihr Lust zu solchen Dingen habt oder
+sie in Zukunft fassen solltet und euer Weg euch wieder einmal hieher
+führt, so wird es nicht schwer sein, euch an den Ort zu geleiten, wo
+ihr mehrere unserer besten Gegenstände sehen könnt.«
+
+»Es sind der Wege sehr verschiedene«, erwiderte ich, »die die Menschen
+gehen, und wer weiß es, ob der Weg, der mich wegen eines Gewitters zu
+euch heraufgeführt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist und ob
+ich ihn nicht noch einmal gehe.«
+
+»Ihr habt da ein sehr wahres Wort gesprochen«, antwortete er, »die
+Wege der Menschen sind sehr verschiedene. Ihr werdet dieses Wort erst
+recht einsehen, wenn ihr älter seid.«
+
+»Und habt ihr dieses Haus eigens zu dem Zwecke der Schreinerei
+erbaut?« fragte ich weiter.
+
+»Ja«, antwortete er, »wir haben es eigens zu diesem Zwecke erbaut. Es
+ist aber viel später entstanden als das Wohnhaus. Da wir einmal so
+weit waren, die Sachen zu Hause machen zu lassen, so war der Schritt
+ein ganz leichter, uns eine eigene Werkstätte hiefür einzurichten.
+Der Bau dieses Hauses war aber bei weitem nicht das Schwerste, viel
+schwerer war es, die Menschen zu finden. Ich hatte mehrere Schreiner
+und mußte sie entlassen. Ich lernte nach und nach selber, und da trat
+mir der Starrsinn, der Eigenwille und das Herkommen entgegen. Ich nahm
+endlich solche Leute, die nicht Schreiner waren und sich erst hier
+unterrichten sollten. Aber auch diese hatten wie die Frühern eine
+Sünde, welche in arbeitenden Ständen und auch wohl in andern sehr
+häufig ist, die Sünde der Erfolggenügsamkeit oder der Fahrlässigkeit,
+die stets sagt: >es ist so auch recht<, und die jede weitere Vorsicht
+für unnötig erachtet. Es ist diese Sünde in den unbedeutendsten und
+wichtigsten Dingen des Lebens vorhanden, und sie ist mir in meinen
+früheren Jahren oft vorgekommen. Ich glaube, daß sie die größten Übel
+gestiftet hat. Manche Leben sind durch sie verloren gegangen, sehr
+viele andere, wenn sie auch nicht verloren waren, sind durch sie
+unglücklich oder unfruchtbar geworden. Werke, die sonst entstanden
+wären, hat sie vereitelt und die Kunst und was mit derselben
+zusammenhängt wäre mit ihr gar nicht möglich. Nur ganz gute Menschen
+in einem Fache haben sie gar nicht, und aus denen werden die Künstler,
+Dichter, Gelehrten, Staatsmänner und die großen Feldherren. Aber ich
+komme von meiner Sache ab. In unserer Schreinerei machte sie bloß, daß
+wir zu nichts Wesentlichem gelangten. Endlich fand ich einen Mann,
+der nicht gleich aus der Arbeit ging, wenn ich ihn bekämpfte; aber
+innerlich mochte er recht oft erzürnt gewesen sein und über Eigensinn
+geklagt haben. Nach Bemühungen von beiden Seiten gelang es. Die Werke
+gewannen Einfluß, in denen das Genaue und Zweckmäßige angestrebt war,
+und sie wurden zur Richtschnur genommen. Die Einsicht in die Schönheit
+der Gestalten wuchs und das Leichte und Feine wurde dem Schweren
+und Groben vorgezogen. Er las Gehilfen aus und erzog sie in seinem
+Sinne. Die Begabten fügten sich bald. Es wurde die Chemie und andere
+Naturwissenschaften hergenommen, und im Lesen schöner Bücher wurde das
+Innere des Gemütes zu bilden versucht.«
+
+
+Er ging nach diesen Worten gegen den Mann, der mit dem Aussuchen der
+Hölzer nach dem vor ihm liegen den Plane der Tischplatte beschäftigt
+war, und sagte: »Wollt ihr nicht die Güte haben, uns einige
+Zeichnungen zu zeigen, Eustach?«
+
+Der junge Mann, an den diese Worte gerichtet waren, erhob sich von
+seiner Arbeit und zeigte uns ein ruhiges, gefälliges Wesen. Er legte
+die grüne Tuchschürze ab, welche er vorgebunden hatte, und ging aus
+seiner Arbeitsstelle zu uns herüber. Es befand sich neben dieser
+Stelle in der Wand eine Glastür, hinter welcher grüne Seide in Falten
+gespannt war. Diese Tür öffnete er und führte uns in ein freundliches
+Zimmer. Das Zimmer hatte einen künstlich eingelegten Fußboden und
+enthielt mehrere breite, glatte Tische. Aus der Lade eines dieser
+Tische nahm der Mann eine große Mappe mit Zeichnungen, öffnete sie
+und tat sie auf der Tischplatte auseinander. Ich sah, daß diese
+Zeichnungen für mich zum Ansehen heraus genommen worden waren und
+legte daher die Blätter langsam um. Es waren lauter Zeichnungen
+von Bauwerken, und zwar teils im Ganzen, teils von Bestandteilen
+derselben. Sie waren sowohl, wie man sich ausdrückt, im Perspective
+ausgeführt, als auch in Aufrissen, in Längen- und Querschnitten. Da
+ich mich selber geraume Zeit mit Zeichnen beschäftigt hatte, wenn auch
+mit Zeichnen anderer Gegenstände, so war ich bei diesen Blättern schon
+mehr an meiner Stelle als bei den alten Geräten. Ich hatte immer bei
+dem Zeichnen von Pflanzen und Steinen nach großer Genauigkeit gestrebt
+und hatte mich bemüht, durch den Schwarzstift die Wesenheit derselben
+so auszudrücken, daß man sie nach Art und Gattung erkennen sollte.
+Freilich waren die vor mir liegenden Zeichnungen die von Bauwerken.
+Ich hatte Bauwerke nie gezeichnet, ich hatte sie eigentlich nie recht
+betrachtet. Aber andererseits waren die Linien, die hier vorkamen, die
+von großen Körpern, von geschichteten Stoffen und von ausgedehnten
+Flächen, wie sie bei mir auch an den Felsen und Bergen erschienen;
+oder sie waren die leichten Wendungen von Zieraten, wie sie bei mir
+die Pflanzen boten.
+
+Endlich waren ja alle Bauwerke aus Naturdingen entstanden, welche die
+Vorbilder gaben, etwa aus Felsenkuppen oder Felsenzacken oder selbst
+aus Tannen, Fichten oder anderen Bäumen. Ich betrachtete daher die
+Zeichnungen recht genau und sah sie um ihre Treue und Sachgemäßheit
+an. Als ich sie schon alle durchgeblättert hatte, legte ich sie wieder
+um und schaute noch einmal jedes einzelne Blatt an.
+
+Die Zeichnungen waren sämmtlich mit dem Schwarzstifte ausgeführt. Es
+war Licht und Schatten angegeben und die Linienführung war verstärkt
+oder gemäßigt, um nicht bloß die Körperlichkeit der Dinge, sondern
+auch das sogenannte Luftperspective darzustellen. In einigen Blättern
+waren Wasserfarben angewendet, entweder, um bloß einzelne Stellen zu
+bezeichnen, die eine besonders starke oder eigentümliche Farbe hatten,
+wie etwa, wo das Grün der Pflanzen sich auffallend von dem Gemäuer,
+aus dem es sproßte, abhob oder wo der Stoff durch Einfluß von Sonne
+oder Wasser eine ungewöhnliche Farbe erhalten hatte, wie zum Beispiele
+an gewissen Steinen, die durch Wasser bräunlich, ja beinahe rot
+werden; oder es waren Farben angewendet, um dem Ganzen einen Ton der
+Wirklichkeit und Zusammenstimmung zu geben; oder endlich es waren
+einzelne sehr kleine Stellen mit Farben, gleichsam mit Farbdruckern,
+wie man sich ausdrückt, bezeichnet, um Flächen oder Körper oder ganze
+Abteilungen im Raume zurück zu drängen. Immer aber waren die Farben
+so untergeordnet gehalten, daß die Zeichnungen nicht in Gemälde
+übergingen, sondern Zeichnungen blieben, die durch die Farbe nur noch
+mehr gehoben wurden. Ich kannte diese Verfahrungsweise sehr gut und
+hatte sie selber oft angewendet.
+
+Was den Wert der Zeichnungen anbelangt, so erschien mir derselbe ein
+ziemlich bedeutender. Die Hand, von der sie verfertigt worden waren,
+hielt ich für eine geübte, was ich daraus schloß, daß in den vielen
+Zeichnungen kein Fortschritt zu bemerken war, sondern daß dieser schon
+in der Zeit vor den Zeichnungen lag und hier angewendet wurde. Die
+Linien waren rein und sicher gezogen, das sogenannte Linearperspective
+war, so weit meine Augen urteilen konnten - denn eine mathematische
+Prüfung konnte ich nicht anlegen -, richtig, der Stoff des
+Schwarzstiftes war gut beherrscht, und mit seinen geringen Mitteln war
+Haushaltung getroffen, darum standen die Körper klar da und lösten
+sich von der Umgebung. Wo die Farbe eine Art Wirklichkeit angenommen
+hatte, war sie mit Gegenständlichkeit und Maß hingesetzt, was, wie ich
+aus Erfahrung wußte, so schwer zu finden ist, daß die Dinge als Dinge,
+nicht als Färbungen gelten. Dies ist besonders bei Gegenständen der
+Fall, die minder entschiedene Farben haben, wie Steine, Gemäuer und
+dergleichen, während Dinge von deutlichen Farben leichter zu behandeln
+sind, wie Blumen, Schmetterlinge, selbst manche Vögel.
+
+Eine besondere Tatsache aber fiel mir bei Betrachtung dieser
+Zeichnungen auf. Bei den Bauverzierungen, welche von Gegenständen
+der Natur genommen waren, von Pflanzen oder selbst von Tieren, kamen
+bedeutende Fehler vor, ja es kamen sogar Unmöglichkeiten vor, die kaum
+ein Anfänger macht, sobald er nur die Pflanze gut betrachtet. Bei den
+ganz gleichen Verzierungen an andern Bauwerken in andern Zeichnungen
+waren diese Fehler nicht da, sondern die Verzierungen waren in
+Hinsicht ihrer Urbilder in der Natur mit Richtigkeit angegeben.
+Ich hatte, da ich einmal zeichnete, öfter die Bilder meines Vaters
+betrachtet und in ihnen, selbst in solchen, die er für sehr gut hielt,
+ähnliche Fehler gefunden. Da die Bilder meines Vaters aus alter Zeit
+waren, diese Zeichnungen aber auch alte Bauwerke darstellten, so
+schloß ich, daß sie vielleicht Abrisse von wirklichen Bauten seien
+und daß die Fehler in den Zieraten der Zeichnungen Fehler in den
+wirklichen Zieraten der Bauarten seien, und daß die Zieraten, deren
+Zeichnungen fehlerlos waren, auch an den Bauwerken keinen Fehler
+gehabt haben.
+
+Es gewannen durch diesen Umstand die Zeichnungen in meinen Augen noch
+mehr, da er gerade ihre große Treue bewies.
+
+Auch ein eigentümlicher Gedanke kam mir bei der Betrachtung dieser
+Zeichnungen in das Haupt. Ich hatte nie so viele Zeichnungen von
+Bauwerken beisammen gesehen, so wie ich Bauwerke selber nicht zum
+Gegenstande meiner Aufmerksamkeit gemacht hatte. Da ich nun alle diese
+Laubwerke, diese Ranken, diese Zacken, diese Schwingungen, diese
+Schnecken in großer Abfolge sah, erschienen sie mir gewissermaßen
+wie Naturdinge, etwa wie eine Pflanzenwelt mit ihren zugehörigen
+Tieren. Ich dachte, man könnte sie eben so zu einem Gegenstande der
+Betrachtung und der Forschung machen wie die wirklichen Pflanzen
+und andere Hervorbringungen der Erde, wenn sie hier auch nur eine
+steinerne Welt sind. Ich hatte das nie recht beachtet, wenn ich auch
+hin und wieder an einer Kirche oder an einem anderen Gebäude einen
+steinernen Stengel oder eine Rose oder eine Distelspitze oder einen
+Säulenschaft oder die Vergitterung einer Tür ansah. Ich nahm mir vor,
+diese Gegenstände nun genauer zu beobachten.
+
+»Diese Zeichnungen sind lauter Abbildungen von wirklichen Bauwerken,
+die in unserem Lande vorhanden sind«, sagte mein Begleiter. »Wir haben
+sie nach und nach zusammen gebracht. Kein einziges Bauwerk unseres
+Landes, welches entweder im Ganzen schön ist oder an dem Teile
+schön sind, fehlt. Es ist nehmlich auch hier im Lande wie überall
+vorgekommen, daß man zu den Teilen alter Kirchen oder anderer Werke,
+die nicht fertig geworden sind, neue Zubaue in ganz anderer Art
+gemacht hat, so daß Bauwerke entstanden, die in verschiedenen Stilen
+ausgeführt und teils schön und teils häßlich sind. Die Landkirchen,
+die auf verschiedenen Stellen in unserer Zeit entstanden sind, haben
+wir nicht angenommen.«
+
+»Wer hat denn diese Zeichnungen verfertigt?« fragte ich.
+
+»Der Zeichner steht vor euch«, antwortete mein Begleiter, indem er auf
+den jungen Mann wies.
+
+Ich sah den Mann an, und es zeigte sich ein leichtes Erröten in seinem
+Angesichte.
+
+»Der Meister hat nach und nach die Teile des Landes besucht«, fuhr
+mein Gastfreund fort, »und hat die Baugegenstände gezeichnet, die ihm
+gefielen. Diese Zeichnungen hat er in seinem Buche nach Hause gebracht
+und sie dann auf einzelnen Blättern im Reinen ausgeführt. Außer den
+Zeichnungen von Bauwerken haben wir auch die von inneren Ausstattungen
+derselben. Seid so gefällig und zeigt auch diese Mappe, Eustach.«
+
+Der junge Mann legte die Mappe, die wir eben betrachtet hatten,
+zusammen und tat sie in ihre Lade. Dann nahm er aus einer anderen Lade
+eine andere Mappe und legte sie mir mit den Worten vor: »Hier sind die
+kirchlichen Gegenstände.«
+
+Ich sah die Zeichnungen in der Mappe, die er mir geöffnet hatte, an,
+wie ich früher die der Bauwerke angesehen hatte. Es waren Zeichnungen
+von Altären, Chorstühlen, Kanzeln, Sakramentshäuschen, Taufsteinen,
+Chorbrüstungen, Sesseln, einzelnen Gestalten, gemalten Fenstern
+und anderen Gegenständen, die in Kirchen vorkommen. Sie waren wie
+die Zeichnungen der Baugegenstände entweder ganz in Schwarzstift
+ausgeführt oder teils in Schwarzstift, teils in Farben. Hatte ich mich
+schon früher in diese Gegenstände vertieft, so geschah es jetzt noch
+mehr. Sie waren noch mannigfaltiger und für die Augen anlockender als
+die Bauwerke. Ich betrachtete jedes Blatt einzeln, und manches nahm
+ich noch einmal vor, nachdem ich es schon hingelegt hatte. Als ich
+mit dieser Mappe fertig war, legte mir der Meister eine neue vor und
+sagte: »Hier sind die weltlichen Gegenstände.«
+
+Die Mappe enthielt Zeichnungen von sehr verschiedenen Geräten, die in
+Wohnungen, Burgen, Klöstern und dergleichen vorkommen, sie enthielt
+Abbildungen von Vertäflungen, von ganzen Zimmerdecken, Fenster- und
+Türeinfassungen, ja von eingelegten Fußböden. Bei den weltlichen
+Geräten war viel mehr mit Farben gearbeitet als bei den kirchlichen
+und bei den Bauten; denn die Wohngeräte haben sehr oft die Farbe als
+einen wesentlichen Gegenstand ihrer Erscheinung, besonders wenn sie
+in verschiedenfarbigen Hölzern eingelegt sind. Ich fand in dieser
+Sammlung von Zeichnungen Abbildungen von Gegenständen, die ich in der
+Wohnung meines Gastfreundes gesehen hatte. So war der Schreibschrein
+und der große Kleiderschrein vorhanden. Auch der Tisch, an dem noch in
+der Schreinerstube gearbeitet wurde, stand hier schon fertig vor uns
+auf dem Papiere. Ich bemerkte hiebei, daß nur die Platte klar und
+kräftig ausgeführt war, das Gerüste und die Füße minder, gleichsam
+schattenhaft behandelt wurden. Ich erkannte, daß man so das Neue, was
+zu Geräten hinzukommen mußte, bezeichnen wollte. Mir gefiel diese Art
+sehr gut.
+
+»Die Kirchengeräte unseres Landes dürften in dieser Sammlung ziemlich
+vollständig sein«, sagte mein Gastfreund, »wenigstens wird nichts
+Wesentliches fehlen. Bei den weltlichen kann man das weniger sagen,
+da man nicht wissen kann, was noch hie und da in dem Lande zerstreut
+ist.«
+
+
+Als ich diese Mappe auch angesehen hatte, sagte mein Begleiter: »Diese
+Zeichnungen sind Nachbildungen von lauter wirklichen aus älterer Zeit
+auf uns gekommenen Gegenständen, wir haben aber auch Zeichnungen
+selbstständig entworfen, die Geräte oder andere kleinere Gegenstände
+darstellen. Zeigt uns auch diese, Meister.«
+
+Der junge Mann legte die Mappe auf den Tisch.
+
+Sie war viel umfassender als jede der früheren und enthielt nicht bloß
+die vollständige Darstellung der ganzen Gegenstände, sondern auch ihre
+Quer- und Längenschnitte und ihre Grundrisse. Es waren Abbildungen von
+verschiedenen Geräten, dann von Verkleidungen, Fußböden, Zimmerdecken,
+Nischen und endlich sogar von Baugegenständen, Treppenhäusern und
+Seitenkapellen. Man war mit großer Zweifelsucht und Gewissenhaftigkeit
+zu Werke gegangen; manche Zeichnung war vier-, ja fünfmal vorhanden
+und jedes Mal verändert und verbessert. Die letzten waren stets mit
+Farben angegeben und dies besonders deutlich, wenn die Gegenstände in
+Holz oder Marmor auszuführen waren. Ich fragte, ob einige dieser Dinge
+ausgeführt worden sind.
+
+»Freilich«, antwortete mein Begleiter, »wozu wären denn so viele
+Zeichnungen angefertigt worden? Alle Gegenstände, die ihr öfter
+gezeichnet sahet und deren letzte Zeichnung in Farben angegeben ist,
+sind in Wirklichkeit ausgearbeitet worden. Diese Zeichnungen sind die
+Pläne und Vorlagen zu den neuen Geräten, auf deren Verfertigung, wie
+ich früher sagte, wir geraten sind. Wenn ihr einmal in den Ort, von
+dem ich euch gesagt habe, daß er mehrere enthält, kommen solltet, so
+würdet ihr dort nicht nur viele von denen, die hier gezeichnet sind,
+sehen, sondern auch solche, die zusammen gehören und ein Ganzes
+bilden.«
+
+»Wenn man diese Zeichnungen betrachtet«, sagte ich, »und wenn man die
+anderen betrachtet, welche ich früher gesehen habe, so kömmt man auf
+den Gedanken, daß die Bauwerke einer Zeit und die Geräte, welche
+in diesen Bauwerken sein sollten, eine Einheit bilden, die nicht
+zerrissen werden kann.«
+
+»Allerdings bilden sie eine«, erwiderte er, »die Geräte sind ja die
+Verwandten der Baukunst, etwa ihre Enkel oder Urenkel, und sind aus
+ihr hervorgegangen. Dieses ist so wahr, daß ja auch unsere heutigen
+Geräte zu unserer heutigen Baukunst gehören. Unsere Zimmer sind
+fast wie hohle Würfel oder wie Kisten, und in solchen stehen die
+geradlinigen und geradflächigen Geräte gut. Es ist daher nicht ohne
+Begründung, wenn die viel schöneren altertümlichen Geräte in unseren
+Wohnungen manchen Leuten einen unheimlichen Eindruck machen, sie
+widersprechen der Wohnung; aber hierin haben die Leute Unrecht, wenn
+sie die Geräte nicht schön finden, die Wohnung ist es, und diese
+sollte geändert werden. Darum stehen in Schlössern und altertümlichen
+Bauten derlei Geräte noch am schönsten, weil sie da eine ihnen
+ähnliche Umgebung finden. Wir haben aus diesem Verhältnisse Nutzen
+gezogen und aus unseren Zeichnungen der Bauwerke viel für die
+Zusammenstellung unserer Geräte gelernt, die wir eben nach ihnen
+eingerichtet haben.«
+
+»Wenn man so viele dieser Dinge in so vielen Abbildungen vor sich
+sieht, wie wir jetzt getan haben«, sagte ich, »so kann man nicht
+umhin, einen großen Eindruck zu empfinden, den sie machen.«
+
+»Es haben sehr tiefsinnige Menschen vor uns gelebt«, erwiderte er,
+»man hat es nicht immer erkannt und fängt erst jetzt an, es wieder ein
+wenig einzusehen. Ich weiß nicht, ob ich es Rührung oder Schwermut
+nennen soll, was ich empfinde, wenn ich daran denke, daß unsere
+Voreltern ihre größten und umfassendsten Werke nicht vollendet haben.
+Sie mußten auf eine solche Ewigkeit des Schönheitsgefühles gerechnet
+haben, daß sie überzeugt waren, die Nachwelt werde an dem weiter
+bauen, was sie angefangen haben. Ihre unfertigen Kirchen stehen wie
+Fremdlinge in unserer Zeit. Wir haben sie nicht mehr empfunden oder
+haben sie durch häßliche Aftergebilde verunstaltet. Ich möchte
+jung sein, wenn eine Zeit kömmt, in welcher in unserem Vaterlande
+das Gefühl für diese Anfänge so groß wird, daß es die Mittel
+zusammenbringt, diese Anfänge weiter zu führen. Die Mittel sind
+vorhanden, nur werden sie auf etwas anderes angewendet, so wie man
+diese Bauwerke nicht aus Mangel der Mittel unvollendet ließ, sondern
+aus anderen Gründen.«
+
+Ich sagte nach diesen Worten, daß ich in dem berührten Punkte weniger
+unterrichtet sei; aber in einem anderen Punkte könnte ich vielleicht
+etwas sagen, nehmlich in Hinsicht der Zeichnungen. »Ich habe durch
+längere Zeit her Pflanzen, Steine, Tiere und andere Dinge gezeichnet,
+habe mich sehr geübt und dürfte daher etwa ein Urteil wagen können.
+Diese Zeichnungen erscheinen mir in Reinheit der Linien, in
+Richtigkeit des Perspectives, in kluger Hinstellung jedes Körperteiles
+und in passender Anwendung der Farben als ganz vortrefflich, und ich
+fühle mich gedrungen, dieses zu sagen.«
+
+Der Meister sagte zu diesem Lobe nichts, sondern er senkte den Blick
+zu Boden, meinen Gastfreund aber schien mein Urteil zu freuen.
+
+Er bedeutete den Meister, die Mappe zusammen zu binden und in die Lade
+zu legen, was auch geschah.
+
+
+Wir gingen von diesem Zimmer in die weiteren Räume des
+Schreinerhauses. Als wir über die Schwelle schritten, dachte ich,
+daß ich von altertümlichen Gegenständen trotz der Sammlungen meines
+Vaters, von denen ich doch lebenslänglich umgeben gewesen war,
+eigentlich bisher nicht viel verstanden habe und erst lernen müsse.
+
+Von dem Zimmer der Zeichnungen gingen wir in das Wohnzimmer des
+Meisters, welches neben den gewöhnlichen Gerätstücken ebenfalls
+Zeichnungstische und Staffeleien enthielt. Es war ebenso freundlich
+eingerichtet wie das Zimmer der Zeichnungen.
+
+Auch die Zimmer der Gehilfen besuchten wir und betraten dann die
+Nebenräume. Es waren dies Räume, die zu verschiedenen Gegenständen,
+die eine solche Anstalt fordert, notwendig sind. Der vorzüglichste war
+das Trockenhaus, welches hinter der Schreinerei angebracht war, aus
+der man in die untere und obere Abteilung desselben gelangen konnte.
+Es hatte den Zweck, daß in ihm alle Gattungen von Holz, die man hier
+verarbeitete, jenen Zustand der Trockenheit erreichen konnten, der
+in Geräten notwendig ist, daß nicht später wieder Beschädigungen
+eintreten. In dem unteren Raume wurden die größeren Holzkörper
+aufbewahrt, in dem oberen die kleineren und feineren. Ich konnte
+sehen, wie sehr es Ernst mit der Anlegung dieses Werkhauses war;
+denn ich fand in dem Trockenhause nicht nur einen sehr großen
+Vorrat von Holz, sondern auch fast alle Gattungen der inländischen
+und ausländischen Hölzer. Ich hatte hierin von der Zeit meiner
+naturwissenschaftlichen Bestrebungen her einige Kenntnis. Außerdem
+war das Holz beinahe durchgängig schon in die vorläufigen Gestalten
+geschnitten, in die es verarbeitet werden sollte, damit es auf diese
+Weise zu hinreichender Beruhigung austrocknen konnte. Mein Begleiter
+zeigte mir die verschiedenen Behältnisse und erklärte mir im
+Allgemeinen ihren Inhalt.
+
+In dem unteren Raume sah ich Lärchenholz zu sehr großen seltsamen
+Gestalten verbunden, gleichsam zu schlanken Gerüsten, Rahmen und
+dergleichen, und fragte, da ich mir die Sache nicht erklären konnte,
+um ihre Bedeutung.
+
+»In unserem Lande«, antwortete mein Begleiter, »sind mehrere
+geschnitzte Altäre. Sie sind alle aus Lindenholz verfertigt und einige
+von bedeutender Schönheit. Sie stammen aus sehr früher Zeit, etwa
+zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert, und sind
+Flügelaltäre, welche mit geöffneten Flügeln die Gestalt einer
+Monstranze haben. Sie sind zum Teile schon sehr beschädigt und drohen,
+in kürzerer oder längerer Zeit zu Grunde zu gehen. Da haben wir nun
+einen auf meine Kosten wiederhergestellt und arbeiten jetzt an einem
+zweiten. Die Holzgerüste, um die ihr fragtet, sind Grundlagen, auf
+denen Verzierungen befestigt werden müssen. Die Verzierungen sind noch
+ziemlich erhalten, ihre Grundlagen aber sind sehr morsch geworden,
+weshalb wir neue anfertigen müssen, wozu ihr hier die Entwürfe sehet.«
+
+»Hat man euch denn erlaubt, in einer Kirche einen Altar
+umzugestalten?« fragte ich.
+
+»Man hat es uns erst nach vielen Schwierigkeiten erlaubt«, antwortete
+er, »wir haben aber die Schwierigkeiten besiegt. Besonders kam uns das
+Mißtrauen in unsere Kenntnisse und Fähigkeiten entgegen, und hierin
+hatte man Recht. Wohin käme man denn, wenn man an vorhandenen Werken
+vorschnell Veränderungen anbringen ließe? Es könnten ja da Dinge von
+der größten Wichtigkeit verunstaltet oder zerstört werden. Wir mußten
+angeben, was wir verändern oder hinzufügen wollten und wie die Sache
+nach der Umarbeitung aussehen würde. Erst da wir dargelegt hatten, daß
+wir an den bestehenden Zusammenstellungen nichts ändern würden, daß
+keine Verzierung an einen andern Platz komme, daß kein Standbild an
+seinem Angesichte, seinen Händen oder den Faltungen seines Gewandes
+umgestaltet werde, sondern daß wir nur das Vorhandene in seiner
+jetzigen Gestalt erhalten wollen, damit es nicht weiter zerfallen
+könne, daß wir den Stoff, wo er gelitten hat, mit Stoff erfüllen
+wollen, damit die Ganzheit desselben vorhanden sei, daß wir an Zutaten
+nur die kleinsten Dinge anbringen würden, deren Gestalt vollkommen
+durch die gleichartigen Stücke bekannt wäre und in gleichmäßiger
+Vollkommenheit wie die alten verfertigt werden könnte, ferner als wir
+eine Zeichnung in Farben angefertigt hatten, die darstellte, wie der
+gereinigte und wieder hergestellte Altar aussehen würde, und endlich
+als wir Schnitzereien von geringem Umfange, einzelne Standbilder und
+dergleichen in unserem Sinne wieder hergestellt und zur Anschauung
+gebracht hatten, ließ man uns gewähren. Von Hindernissen, die nicht
+von der Obrigkeit ausgingen, von Verdächtigungen und ähnlichen
+Vorkommnissen rede ich nicht, sie sind auch wenig zu meiner Kenntnis
+gekommen.«
+
+»Da habt ihr ein langwieriges und, wie ich glaube, wichtiges Werk
+unternommen«, sagte ich.
+
+»Die Arbeit hat mehrere Jahre gedauert«, erwiderte er, »und was die
+Wichtigkeit anbelangt, so hat sich wohl niemand mehr den Zweifeln
+hingegeben, ob wir die nötige Sachkenntnis besäßen, als wir selber.
+Darum haben wir auch gar keine Veränderung in der Wesenheit der Sache
+vorgenommen. Selbst dort, wo es deutlich erwiesen war, daß Teile des
+Altars in der Zeit in eine andere Gruppe gestellt worden waren, als
+sie ursprünglich gewesen sein konnten, ließen wir das Vorgefundene
+bestehen. Wir befreiten nur die Gebilde von Schmutz und Übertünchung,
+befestigten das Zerblätterte und Lediggewordene, ergänzten das
+Mangelnde, wo, wie ich gesagt habe, dessen Gestalt vollkommen bekannt
+war, füllten alles, was durch Holzwürmer zerstört war, mit Holz aus,
+beugten durch ein erprobtes Mittel den künftigen Zerstörungen dieser
+Tiere vor und überzogen endlich den ganzen Altar, da er fertig war,
+mit einem sehr matten Firnisse. Es wird einmal eine Zeit kommen, in
+welcher vom Staate aus vollkommen sachverständige Männer in ein Amt
+werden vereinigt werden, das die Wiederherstellung alter Kunstwerke
+einleiten, ihre Aufstellung in dem ursprünglichen Sinne bewirken
+und ihre Verunstaltung für kommende Zeiten verhindern wird; denn so
+gut man uns gewähren ließ, die ja auch eine Verunstaltung hätten
+hervorbringen können, so gut wird man in Zukunft auch andere gewähren
+lassen, die minder zweifelsüchtig sind oder im Eifer für das Schöne
+nach ihrer Art verfahren und das Wesen des Überkommenen zerstören.«
+
+»Und glaubt ihr, daß ein Gesetz, welches verbietet, an dem Wesen
+eines vorgefundenen Kunstwerkes etwas zu ändern, dem Verfalle und der
+Zerstörung desselben für alle Zeiten vorbeugen würde?« fragte ich.
+
+»Das glaube ich nicht«, erwiderte er; »denn es können Zeiten so
+geringen Kunstsinnes kommen, daß sie das Gesetz selber aufheben; aber
+auf eine längere Dauer und auf eine bessere Weise wäre doch durch ein
+solches Gesetz gesorgt, als wenn gar keines wäre. Den besten Schutz
+für Kunstwerke der Vorzeit würde freilich eine fortschreitende und
+nicht mehr erlahmende Kunstempfindung gewähren. Aber alle Mittel,
+auch in ihrer größten Vollkommenheit angewendet, würden den endlichen
+Untergang eines Kunstwerkes nicht aufhatten können; dies liegt in der
+immerwährenden Tätigkeit und in dem Umwandlungstriebe der Menschen und
+in der Vergänglichkeit des Stoffes. Alles, was ist, wie groß und gut
+es sei, besteht eine Zeit, erfüllt einen Zweck und geht vorüber. Und
+so wird auch einmal über alle Kunstwerke, die jetzt noch sind, ein
+ewiger Schleier der Vergessenheit liegen, wie er jetzt über denen
+liegt, die vor ihnen waren.«
+
+»Ihr arbeitet an der Herstellung eines zweiten Altares«, sagte ich,
+»da ihr einen schon vollendet habt; würdet ihr auch noch andere
+herstellen, da ihr sagt, daß es mehrere in dem Lande gibt?«
+
+»Wenn ich die Mittel dazu hätte, würde ich es tun«, erwiderte er, »ich
+würde sogar, wenn ich reich genug wäre, angefangene mittelalterliche
+Bauwerke vollenden lassen. Da steht in Grünau hart an der Grenze
+unseres Landes an der Stadtpfarrkirche ein Turm, welcher der schönste
+unseres Landes ist und der höchste wäre, wenn er vollendet wäre;
+aber er ist nur ungefähr bis zu zwei Drittteilen seiner Höhe fertig
+geworden. Dieser altdeutsche Turm wäre das Erste, welches ich
+vollenden ließe. Wenn ihr wieder kommt, so führe ich euch in eine
+Kirche, in welcher auf Landeskosten ein geschnitzter Flügelaltar
+wieder hergestellt worden ist, der zu den bedeutendsten Kunstwerken
+gehört, welche in dieser Art vorhanden sind.«
+
+
+Wir traten bei diesen Worten den Rückweg aus dem Trockenhause in die
+Arbeitstube an. Mein Begleiter sagte auf diesem Wege: »Da Eustach
+jetzt vorzugsweise damit beschäftigt ist, die im Laufe befindlichen
+Werke auszufertigen, so hat er seinen Bruder, der herangewachsen ist,
+unterrichtet, und dieser versieht jetzt hauptsächlich das Geschäft des
+Zeichnens. Er ist eben daran, die Verzierungen, die in unserem Lande
+an Bauwerken, Holzarbeiten oder sonstwo vorkommen und die wir in
+unseren Blättern von größeren Werken noch nicht haben, zu zeichnen.
+Wir erwarten ihn in kurzer Zeit auf einige Tage zurück. An diesen
+Dingen könnte auch die Gegenwart lernen, falls sie lernen will. Nicht
+bloß aus dem Großen, wenn wir das Große betrachteten, was unsere
+Voreltern gemacht haben und was die kunstsinnigsten vorchristlichen
+Völker gemacht haben, könnten wir lernen, wieder in edlen Gebäuden
+wohnen oder von edlen Geräten umringt sein, wenigstens wie die
+Griechen in schönen Tempeln beten; sondern wir könnten uns auch im
+Kleinen vervollkommnen, die Überzüge unserer Zimmer könnten schöner
+sein, die gewöhnlichen Geräte, Krüge, Schalen, Lampen, Leuchter, Äxte
+würden schöner werden, selbst die Zeichnungen auf den Stoffen zu
+Kleidern und endlich auch der Schmuck der Frauen in schönen Steinen;
+er würde die leichten Bildungen der Vergangenheit annehmen, statt daß
+jetzt oft eine Barbarei von Steinen in einer Barbarei von Gold liegt.
+Ihr werdet mir Recht geben, wenn ihr an die vielen Zeichnungen
+von Kreuzen, Rosen, Sternen denkt, die ihr in unseren Blättern
+mittelalterlicher Bauwerke gesehen habt.«
+
+Ich bewunderte den Mann, der, da er so redete, in einem sonderbaren,
+ja abgeschmackten Kleide neben mir ging.
+
+»Wenigstens Achtung vor Leuten, die vor uns gelebt haben, könnte
+man aus solchen Bestrebungen lernen«, fuhr er fort, »statt daß wir
+jetzt gewohnt sind, immer von unseren Fortschritten gegenüber der
+Unwissenheit unserer Voreltern reden zu hören. Das große Preisen von
+Dingen erinnert zu oft an Armut von Erfahrungen.«
+
+
+Wir waren bei diesen Worten wieder in die Werkstube gekommen und
+verabschiedeten uns von dem Meister. Ich reichte ihm die Hand, die
+er annahm, und schüttelte die seinige herzlich. Da wir aus dem Hause
+getreten waren und ich umschaute, sah ich durch das Fenster, wie er
+eben seine grüne Schürze herab nahm und wieder umband. Auch hörten wir
+das Hobeln und Sägen wieder, das bei unserem Besuche des Werkhauses
+ein wenig verstummt war.
+
+Wir betraten den Gebüschpfad und kamen wieder in die Nähe des
+Wohnhauses.
+
+»Ihr habt nun meine ganze Behausung gesehen«, sagte mein Gastfreund.
+
+»Ich habe ja Küche und Keller und Gesindestuben nicht gesehen«,
+erwiderte ich.
+
+»Ihr sollt sie sehen, wenn ihr wollt«, sagte er.
+
+Ich nahm mein mehr im Scherze gesprochenes Wort nicht zurück, und wir
+gingen wieder in das Haus.
+
+Ich sah hier eine große gewölbte Küche, eine große Speisekammer, drei
+Stuben für Dienstleute, eine für eine Art Hausaufseher, dann die
+Waschstube, den Backofen, den Keller und die Obstkammer. Wie ich
+vermutet hatte, war dies alles reinlich und zweckmäßig eingerichtet.
+Ich sah Mägde beschäftigt, und wir trafen auch den Hausaufseher in
+seinem Tagewerke begriffen. Das flache feine Körbchen, aus welchem
+mein Beherberger die Vögel gefüttert hatte, lehnte in einer eigenen
+Mauernische neben der Tür, welche sein bestimmter Platz zu sein
+schien.
+
+Wir gingen von diesen Räumen in das Gewächshaus. Es enthielt sehr
+viele Pflanzen, meistens solche, welche zur Zeit gebräuchlich waren.
+Auf den Gestellen standen Camellien mit gut gepflegten grünen
+Blättern, Rhododendren, darunter, wie mir die Aufschrift sagte, gelbe,
+die ich nie gesehen hatte, Azaleen in sehr mannigfaltigen Arten und
+besonders viele neuholländische Gewächse. Von Rosen war die Teerose
+in hervorragender Anzahl da, und ihre Blumen blühten eben. An das
+Gewächshaus stieß ein kleines Glashaus mit Ananas. Auf dem Sandwege
+vor beiden Häusern standen Citronen- und Orangenbäume in Kübeln. Der
+alte Gärtner hatte noch weißere Haare als sein Herr. Er war ebenfalls
+ungewöhnlich gekleidet, nur konnte ich bei ihm das Ungewöhnliche nicht
+finden. Das fiel mir auf, daß er viel reines Weiß an sich hatte,
+welches im Vereine mit seiner weißen Schürze mich eher an einen Koch
+als an einen Gärtner erinnerte.
+
+Daß die schmale Seite des Gewächshauses von Außen mit Rosen bekleidet
+sei, wie die Südseite des Wohnhauses, fiel mir wieder auf, aber es
+berührte mich nicht unangenehm.
+
+Die alte Gattin des Gärtners, die wir in der Wohnung desselben fanden,
+war ebenso weiß gekleidet wie ihr Mann. An die Gärtnerswohnung stießen
+die Kammern der Gehilfen.
+
+»Ihr habt ihr jetzt alles gesehen«, sagte mein Gastfreund, da wir aus
+diesen Kammern traten, »außer den Gastzimmern, die ich euch zeigen
+werde, wenn ihr es verlangt, und der Wohnung meines Ziehsohnes, die
+wir aber jetzt nicht betreten können, weil wir ihn in seinem Lernen
+stören würden.«
+
+»Wir wollen das auf eine spätere Stunde lassen, in der ich euch daran
+erinnern werde«, sagte ich, »jetzt habe ich aber ein anderes Anliegen
+an eure Güte, das mir näher am Herzen ist.«
+
+»Und dieses nähere Anliegen?« fragte er.
+
+»Daß ihr mir endlich sagt«, antwortete ich, »wie ihr zu einer so
+entschiedenen Gewißheit in Hinsicht des Wetters gekommen seid.«
+
+»Der Wunsch ist ein sehr gerechter«, entgegnete er, »und um so
+gerechter, als eure Meinung über das Gewitter der Grund gewesen ist,
+weshalb ihr zu unserem Hause herauf gegangen seid, und als unser
+Streit über das Gewitter der Grund gewesen ist, daß ihr länger da
+geblieben seid. Gehen wir aber gegen das Bienenhaus, und setzen wir
+uns auf eine Bank unter eine Linde. Ich werde euch auf dem Wege und
+auf der Bank meine Sache erzählen.«
+
+
+Wir schlugen einen breiten Sandpfad ein, der Anfangs von größeren
+Obstbäumen und später von hohen, schattenden Linden begrenzt war.
+Zwischen den Stämmen standen Ruhebänke, auf dem Sande liefen pickende
+Vögel und in den Zweigen wurde heute wieder das Singen vollbracht,
+welches ich gestern schon wahrgenommen hatte.
+
+»Ihr habt die Sammlung von Werkzeugen der Naturlehre in meiner Wohnung
+gesehen«, fing mein Begleiter an, als wir auf dem Sandwege dahin
+gingen, »sie erklären schon einen Teil unserer Sache.«
+
+»Ich habe sie gesehen«, antwortete ich, »besonders habe ich das
+Barometer, Thermometer sowie einen Luftblau- und Feuchtigkeitsmesser
+bemerkt; aber diese Dinge habe ich auch, und sie haben eher, da ich
+sie vor meiner Wanderung beobachtete, auf einen Niederschlag als auf
+sein Gegenteil gedeutet.«
+
+»Das Barometer ist gefallen«, erwiderte er, »und wies auf geringeren
+Luftdruck hin, mit welchem sehr oft der Eintritt von Regen verbunden
+ist.«
+
+»Wohl«, sagte ich.
+
+»Der Zeiger des Feuchtigkeitsmessers«, fuhr er fort, »rückte mehr
+gegen den Punkt der größten Feuchtigkeit.«
+
+»Ja, so ist es gewesen«, antwortete ich.
+
+»Aber der Electricitätsmesser«, sagte er, »verkündigte wenig
+Luftelectricität, daß also eine Entladung derselben, womit in unseren
+Gegenden gerne Regen verbunden ist, nicht erwartet werden konnte.«
+
+»Ich habe wohl auch die nehmliche Beobachtung gemacht«, entgegnete
+ich, »aber die electrische Spannung steht nicht so sehr im
+Zusammenhange mit Wetterveränderungen und ist meistens nur ihre Folge.
+Zudem hat sich gestern gegen Abend Electricität genug entwickelt, und
+alle Anzeichen, von denen ihr redet, verkündeten einen Niederschlag.«
+
+»Ja, sie verkündeten ihn und er ist erfolgt«, sagte mein Begleiter;
+»denn es bildeten sich aus den unsichtbaren Wasserdünsten sichtbare
+Wolken, die ja wohl sehr fein zerteiltes Wasser sind. Da ist der
+Niederschlag. Auf die geringe electrische Spannung legte ich kein
+Gewicht; ich wußte, daß, wenn einmal Wolken entständen, sich auch
+hinlängliche Electricität einstellen würde. Die Anzeichen, von denen
+wir geredet haben, beziehen sich aber nur auf den kleinen Raum, in dem
+man sich eben befindet, man muß auch einen weiteren betrachten, die
+Bläue der Luft und die Gestaltung der Wolken.«
+
+»Die Luft hatte schon gestern Vormittags die tiefe und finstere
+Bläue«, erwiderte ich, »welche dem Regen vorangeht, und die
+Wolkenbildung begann bereits am Mittage und schritt sehr rasch
+vorwärts.«
+
+»Bis hieher habt ihr Recht«, sagte mein Begleiter, »und die Natur hat
+euch auch Recht gegeben, indem sie eine ungewöhnliche Menge von Wolken
+erzeugte. Aber es gibt auch noch andere Merkmale als die wir bisher
+besprochen haben, welche euch entgangen sind.
+
+Ihr werdet wissen, daß Anzeichen bestehen, welche nur einer gewissen
+Gegend eigen sind und von den Eingeborenen verstanden werden, denen
+sie von Geschlecht zu Geschlecht überliefert worden sind. Oft vermag
+die Wissenschaft recht wohl den Grund der langen Erfahrung anzugeben.
+Ihr wißt, daß in Gegenden ein kleines Wölklein, an einer bestimmten
+Stelle des Himmels, der sonst rein ist, erscheinend und dort schweben
+bleibend, ein sicherer Gewitteranzeiger für diese Gegend ist, daß ein
+trüberer Ton an einer gewissen Stelle des Himmels, ein Windstoß aus
+einer gewissen Gegend her Vorboten eines Landregens sind und daß der
+Regen immer kömmt. Solche Anzeichen hat auch diese Gegend, und es sind
+gestern keine eingetreten, die auf Regen wiesen.«
+
+»Merkmale, die nur dieser Gegend angehören«, erwiderte ich, »konnte
+ich nicht beobachten; aber ich glaube, daß diese Merkmale allein euch
+doch nicht bestimmen konnten, einen so entscheidenden Ausspruch zu
+tun, wie ihr getan habt.«
+
+»Sie bestimmten mich auch nicht«, antwortete er, »ich hatte auch noch
+andere Gründe.«
+
+»Nun?«
+
+»Alle die Vorzeichen, von denen wir bisher geredet haben, sind sehr
+grobe«, sagte er, »und werden meistens von uns nur mittelst räumlicher
+Veränderungen erkannt, die, wenn sie nicht eine gewisse Größe
+erreichen, von uns gar nicht mehr beobachtet werden können. Der
+Schauplatz, auf welchem sich die Witterungsverhältnisse gestalten, ist
+sehr groß; dort, wohin wir nicht sehen und woher die Wirkungen auf
+unsere wissenschaftlichen Werkzeuge nicht reichen können, mögen
+vielleicht Ursachen und Gegenanzeigen sein, die, wenn sie uns bekannt
+wären, unsere Vorhersage in ihr Gegenteil umstimmen würden. Die
+Anzeichen können daher auch täuschen. Es sind aber noch viel feinere
+Vorrichtungen vorhanden, deren Beschaffenheit uns ein Geheimnis ist,
+die von Ursachen, die wir sonst gar nicht mehr messen können, noch
+betroffen werden und deren Wirkung eine ganz gewisse ist.«
+
+»Und diese Werkzeuge?«
+
+»Sind die Nerven.«
+
+»Also empfindet ihr durch eure Nerven, wenn Regen kommen wird?«
+
+»Durch meine Nerven empfinde ich das nicht«, antwortete er. »Der
+Mensch stört leider durch zu starke Einwirkungen, die er auf die
+Nerven macht, das feine Leben derselben, und sie sprechen zu ihm nicht
+mehr so deutlich, als sie sonst wohl könnten. Auch hat ihm die Natur
+etwas viel Höheres zum Ersatze gegeben, den Verstand und die Vernunft,
+wodurch er sich zu helfen und sich seine Stellung zu geben vermag. Ich
+meine die Nerven der Tiere.«
+
+»Es wird wohl wahr sein, was ihr sagt«, antwortete ich. »Die Tiere
+hängen mit der tiefer stehenden Natur noch viel unmittelbarer zusammen
+als wir. Es wird nur darauf ankommen, daß diese Beziehungen ergründet
+werden und dafür ein Ausdruck gefunden wird, besonders, was das
+kommende Wetter betrifft.«
+
+»Ich habe diesen Zusammenhang nicht ergründet«, entgegnete er,
+»noch weniger den Ausdruck dafür gefunden; beides dürfte in dieser
+Allgemeinheit wohl sehr schwer sein; aber ich habe zufällig einige
+Beobachtungen gemacht, habe sie dann absichtlich wiederholt und daraus
+Erfahrungen gesammelt und Ergebnisse zusammen gestellt, die eine
+Voraussage mit fast völliger Gewißheit möglich machen. Viele Tiere
+sind von Regen und Sonnenschein so abhängig, ja bei einigen handelt es
+sich geradezu um das Leben selber, je nachdem Sonne oder Regen ist,
+daß ihnen Gott notwendig hat Werkzeuge geben müssen, diese Dinge
+vorhinein empfinden zu können. Diese Empfindung als Empfindung kann
+aber der Mensch nicht erkennen, er kann sie nicht betrachten, weil
+sie sich den Sinnen entzieht; allein die Tiere machen in Folge dieser
+Vorempfindung Anstalten für ihre Zukunft, und diese Anstalten kann der
+Mensch betrachten und daraus Schlüsse ziehen. Es gibt einige, die ihre
+Nahrung finden, wenn es feucht ist, andere verlieren sie in diesem
+Falle. Manche müssen ihren Leib vor Regen bergen, manche ihre
+Brut in Sicherheit bringen. Viele müssen ihre für den Augenblick
+aufgeschlagene Wohnung verlassen oder eine andere Arbeit suchen.
+Da nun die Vorempfindung gewiß sein muß, wenn die daraus folgende
+Handlung zur Sicherung führen soll, da die Nerven schon berührt
+werden, wenn noch alle menschlichen wissenschaftlichen Werkzeuge
+schweigen, so kann eine Voraussage über das Wetter, die auf eine
+genaue Betrachtung der Handlungen der Tiere gegründet ist, mehr Anhalt
+gewähren als die aus allen wissenschaftlichen Werkzeugen zusammen
+genommen.«
+
+»Ihr eröffnet da eine neue Richtung.«
+
+»Die Menschen haben darin schon Vieles erfahren. Die besten
+Wetterkenner sind die Insekten und überhaupt die kleinen Tiere. Sie
+sind aber viel schwerer zu beobachten, da sie, wenn man dies tun will,
+nicht leicht zu finden sind und da man ihre Handlungen auch nicht
+immer leicht versteht. Aber von kleineren Tieren hängen oft größere
+ab, deren Speise jene sind, und die Handlungen kleinerer Tiere haben
+Handlungen größerer zur Folge, welche der Mensch leichter überblickt.
+Freilich steht da ein Schluß in der Mitte, der die Gefahr zu irren
+größer macht, als sie bei der unmittelbaren Betrachtung und der
+gleichsam redenden Tatsache ist. Warum, damit ich ein Beispiel
+anführe, steigt der Laubfrosch tiefer, wenn Regen folgen soll, warum
+fliegt die Schwalbe niedriger und springt der Fisch aus dem Wasser?
+Die Gefahr, zu irren, wird wohl bei oftmaliger Wiederholung der
+Beobachtung und bei sorglicher Vergleichung geringer; aber das
+Sicherste bleiben immer die Herden der kleinen Tiere. Das habt ihr
+gewiß schon gehört, daß die Spinnen Wetterverkündiger sind und daß die
+Ameisen den Regen vorhersagen. Man muß das Leben dieser kleinen Dinge
+betrachten, ihre häuslichen Einrichtungen anschauen, oft zu ihnen
+kommen, sehen, wie sie ihre Zeit hinbringen, erforschen, welche
+Grenzen ihre Gebiete haben, welche die Bedingungen ihres Glückes sind
+und wie sie denselben nachkommen. Darum wissen Jäger, Holzhauer und
+Menschen, welche einsam sind und zur Betrachtung dieses abgesonderten
+Lebens aufgefordert werden, das Meiste von diesen Dingen und wie aus
+dem Benehmen von Tieren das Wetter vorherzusagen ist. Es gehört aber
+wie zu allem auch Liebe dazu.«
+
+»Hier ist der Sitz«, unterbrach er sich, »von welchem ich früher
+gesprochen habe. Hier ist die schönste Linde meines Gartens, ich habe
+einen bessern Ruheplatz unter ihr anbringen lassen und gehe selten
+vorüber, ohne mich eine Weile nieder zu setzen, um mich an dem Summen
+in ihren Ästen zu ergötzen. Wollen wir uns setzen?«
+
+Ich willigte ein, wir setzten uns, das Summen war wirklich über unsern
+Häuptern zu hören, und ich fragte, »Habt ihr nun diese Beobachtungen
+an den Tieren, wie ihr sagtet, gemacht?«
+
+»Auf Beobachtungen bin ich eigentlich nicht ausgegangen«, antwortete
+er; »aber da ich lange in diesem Hause und in diesem Garten gelebt
+habe, hat sich Manches zusammengefunden; aus dem Zusammengefundenen
+haben sich Schlüsse gebaut, und ich bin durch diese Schlüsse umgekehrt
+wieder zu Betrachtungen veranlaßt worden. Viele Menschen, welche
+gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Welt
+zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es
+nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern Maßstab
+umlegen können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab
+mehr haben. Das sehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt
+behandelt. Oft habe ich gedacht, daß die Erforschung des Menschen und
+seines Treibens, ja sogar seiner Geschichte, nur ein anderer Zweig der
+Naturwissenschaft sei, wenn er auch für uns Menschen wichtiger ist,
+als er für Tiere wäre. Ich habe zu einer Zeit Gelegenheit gehabt, in
+diesem Zweige Manches zu erfahren und mir Einiges zu merken. Doch ich
+will zu meinem Gegenstande zurückkehren. Von dem, was die kleinen
+Tiere tun, wenn Regen oder Sonnenschein kommen soll, oder wie ich
+überhaupt aus ihren Handlungen Schlüsse ziehe, kann ich jetzt nicht
+reden, weil es zu umständlich sein würde, obwohl es merkwürdig ist;
+aber das kann ich sagen, daß nach meinen bisherigen Erfahrungen
+gestern keines der Tierchen in meinem Garten ein Zeichen von Regen
+gegeben hat.
+
+Wir mögen von den Bienen anfangen, welche in diesen Zweigen summen,
+und bis zu den Ameisen gelangen, die ihre Puppen an der Planke meines
+Gartens in die Sonne legen, oder zu dem Springkäfer, der sich seine
+Speise trocknet. Weil mich nun diese Tiere, wenn ich zu ihnen kam, nie
+getäuscht haben, so folgerte ich, daß die Wasserbildung, welche unsere
+gröberen wissenschaftlichen Werkzeuge voraussagten, nicht über die
+Entstehung von Wolken hinausgehen würde, da es sonst die Tiere gewußt
+hätten. Was aber mit den Wolken geschehen würde, erkannte ich nicht
+genau, ich schloß nur, daß durch die Abkühlung, die ihr Schatten
+erzeugen müßte, und durch die Luftströmungen, denen sie selber ihr
+Dasein verdankten, ein Wind entstehen könnte, der in der Nacht den
+Himmel wieder rein fegen würde.«
+
+»Und so geschah es auch«, sagte ich.
+
+»Ich konnte es um so sicherer voraussehen«, erwiderte er, »weil es
+an unserem Himmel und in unserem Garten oft schon so gewesen ist wie
+gestern und stets so geworden ist wie heute in der Nacht.«
+
+»Das ist ein weites Feld, von dem ihr da redet«, sagte ich, »und da
+steht der menschlichen Erkenntnis ein nicht unwichtiger Gegenstand
+gegenüber. Er beweist wieder, daß jedes Wissen Ausläufe hat, die man
+oft nicht ahnt, und wie man die kleinsten Dinge nicht vernachlässigen
+soll, wenn man auch noch nicht weiß, wie sie mit den größeren
+zusammenhängen. So kamen wohl auch die größten Männer zu den Werken,
+die wir bewundern, und so kann mit Hereinbeziehung dessen, von dem ihr
+redet, die Witterungskunde einer großen Erweiterung fähig sein.«
+
+»Diesen Glauben hege ich auch«, erwiderte er. »Euch Jüngeren wird es
+in den Naturwissenschaften überhaupt leichter, als es den Älteren
+geworden ist. Man schlägt jetzt mehr die Wege des Beobachtens
+und der Versuche ein, statt daß man früher mehr den Vermutungen,
+Lehrmeinungen, ja Einbildungen hingegeben war. Diese Wege wurden lange
+nicht klar, obgleich sie Einzelne wohl zu allen Zeiten gegangen sind.
+Je mehr Boden man auf die neue Weise gewinnt, desto mehr Stoff hat man
+als Hilfe zu fernern Erringungen.
+
+Man wendet sich jetzt auch mit Ernst der Pflege der einzelnen Zweige
+zu, statt wie früher immer auf das Allgemeine zu gehen; und es
+wird daher auch eine Zeit kommen, in der man dem Gegenstande eine
+Aufmerksamkeit schenken wird, von dem wir jetzt gesprochen haben. Wenn
+die Fruchtbarkeit, wie sie durch Jahrzehnte in der Naturwissenschaft
+gewesen ist, durch Jahrhunderte anhält, so können wir gar nicht ahnen,
+wie weit es kommen wird. Nur das eine wissen wir jetzt, daß das noch
+unbebaute Feld unendlich größer ist als das bebaute.«
+
+»Ich habe gestern einige Arbeiter bemerkt«, sagte ich, »welche, obwohl
+der Himmel voll Wolken war, doch Wasser pumpten, ihre Gießkannen
+füllten und die Gewächse begossen. Haben diese vielleicht auch
+gewußt, daß kein Regen kommen werde, oder haben sie bloß eure Befehle
+vollzogen, wie die Mäher, die an dem Meierhofe Gras abmähten?«
+
+»Das Letztere ist der Fall«, erwiderte er. »Diese Arbeiter glauben
+jedes Mal, daß ich mich irre, wenn der äußere Anschein gegen mich ist,
+wie oft sie auch durch den Erfolg belehrt worden sein mögen. Und so
+werden sie gewiß auch gestern geglaubt haben, daß Regen komme. Sie
+begossen die Gewächse, weil ich es angeordnet habe und weil es bei
+uns eingeführt ist, daß der, welcher wiederholt den Anordnungen nicht
+nachkömmt, des Dienstes entlassen wird. Es sind aber endlich auch noch
+andere Dinge außer den Tieren, welche das Wetter vorhersagen, nehmlich
+die Pflanzen.«
+
+»Von den Pflanzen wußte ich es schon, und zwar besser, als von den
+Tieren«, erwiderte ich.
+
+»In meinem Garten und in meinem Gewächshause sind Pflanzen«, sagte er,
+»welche einen auffallenden Zusammenhang mit dem Luftkreise zeigen,
+besonders gegen das Nahen der Sonne, wenn sie lange in Wolken gewesen
+war. Aus dem Geruche der Blumen kann man dem kommenden Regen entgegen
+sehen, ja sogar aus dem Grase riecht man ihn beinahe. Mir kommen diese
+Dinge so zufällig in den Garten und in das Haus; ihr aber werdet sie
+weit besser und weit gründlicher kennen lernen, wenn ihr die Wege der
+neuen Wissenschaftlichkeit wandelt und die Hilfsmittel benützt, die es
+jetzt gibt, besonders die Rechnung. Wenn ihr namentlich eine einzelne
+Richtung einschlage, so werdet ihr in derselben ungewöhnlich große
+Fortschritte machen.«
+
+»Woher schließt ihr denn das?« fragte ich.
+
+»Aus eurem Aussehen«, erwiderte er, »und schon aus der sehr bestimmten
+Aussage, die ihr gestern in Hinsicht des Wetters gemacht habt.«
+
+»Diese Aussage war aber falsch«, antwortete ich, »und aus ihr hättet
+ihr gerade das Gegenteil schließen können.«
+
+»Nein, das nicht«, sagte er, »eure Äußerung zeigte, weil sie so
+bestimmt war, daß ihr den Gegenstand genau beobachtet habt, und weil
+sie so warm war, daß ihr ihn mit Liebe und mit Eifer umfaßt; daß
+eure Meinung deßohngeachtet irrig war, kam nur daher, weil ihr einen
+Umstand, der auf sie Einfluß hatte, nicht kanntet und ihn auch nicht
+leicht kennen konntet; sonst würdet ihr anders geurteilt haben.«
+
+»Ja, ihr redet wahr, ich würde anders geurteilt haben«, antwortete
+ich, »und ich werde nicht wieder so voreilig urteilen.«
+
+
+»Ihr habt gestern gesagt, daß ihr euch mit Naturdingen beschäftiget«,
+fuhr er fort, »darf ich wohl fragen, ob ihr eine bestimmte Richtung
+gewählt habt und welche.«
+
+Ich war durch die Frage ein wenig in Verwirrung gebracht und
+antwortete: »Ich bin doch im Grunde nur ein gewöhnlicher Fußreisender.
+Ich besitze gerade so viel Vermögen, um unabhängig leben zu können,
+und gehe in der Welt herum, um sie anzusehen. Ich habe wohl vor Kurzem
+alle Wissenschaften angefangen; aber davon bin ich zurückgekommen und
+habe mir nur hauptsächlich die einzelne Wissenschaft der Erdbildung
+zur Aufgabe gemacht. Um die Werke, welche ich hierin lese, zu
+ergänzen, suche ich auf den Reisen, die ich in verschiedene
+Landesteile mache, zu beobachten, schreibe meine Erfahrungen auf und
+verfertige Zeichnungen. Da die Werke vorzüglich von Gebirgen handeln,
+so suche ich auch vorzüglich die Gebirge auf. Sie enthalten sonst auch
+Vieles, das mir lieb ist.«
+
+»Diese Wissenschaft ist eine sehr weite«, entgegnete mein Gastfreund,
+»wenn sie in der Bedeutung der Erdgeschichte genommen wird. Sie
+schließt manche Wissenschaften ein und setzt manche voraus. Die Berge
+sind wohl jetzt, wo diese Wissenschaft noch jung ist und wo man ihre
+ersten und greifbarsten Züge sammelt, von der größten Bedeutung; aber
+es wird auch die Ebene an die Reihe kommen, und ihre einfache und
+schwerer zu entziffernde Frage wird gewiß nicht von geringerer
+Wichtigkeit sein.«
+
+»Sie wird gewiß wichtig sein«, antwortete ich. »Ich habe die Ebene und
+ihre Sprache, die sie damals zu mir sprach, schon geliebt, ehe ich
+meine jetzige Aufgabe betrieb und ehe ich die Gebirge kannte.«
+
+»Ich glaube«, entgegnete mein Begleiter, »daß in der gegenwärtigen
+Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der
+des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen,
+das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer
+voraus; das ist nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der
+Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß der Drang des Sammelns
+in die Geister kömmt, wenn eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie
+auch noch nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird. Es geht
+gleichsam der Reiz der Ahnung in die Herzen, wozu etwas da sein könne
+und wozu es Gott bestellt haben möge. Aber selbst ohne diesen Reiz
+hat das Sammeln etwas sehr Einnehmendes. Ich habe meine Marmore alle
+selber in den Gebirgen gesammelt und habe ihren Bruch aus den Felsen,
+ihr Absägen, ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die Arbeit
+hat mir manche Freude gebracht, und ich glaube, daß mir nur darum
+diese Steine so lieb sind, weil ich sie selber gesucht habe.«
+
+»Habt ihr alle Arten unsers Gebirges?« fragte ich.
+
+»Ich habe nicht alle«, antwortete er, »ich hätte sie vielleicht
+nach und nach erhalten können, wenn ich meine Besuche stetig hätte
+fortsetzen können. Aber seit ich alt werde, wird es mir immer
+schwieriger. Wenn ich jetzt zu seltnen Zeiten einmal an den Rand des
+Simmeises hinaufkomme, empfinde ich, daß es nicht mehr ist wie in der
+Jugend, wo man keine Grenze kennt als das Ende des Tages oder die bare
+Unmöglichkeit. Weil ich nun nicht mehr so große Strecken durchreisen
+kann, um etwa Marmor, der mir noch fehlt, in Blöcken aufzusuchen,
+so wird die Ausbeute immer geringer; sie wird auch aus dem Grunde
+geringer, weil ich bereits so viel habe und die Stellen also seltener
+sind, wo ich ein noch Fehlendes finde. Da ich allen Marmor selber
+gesammelt habe, so kann ich wohl auch kein Stück an meinem Hause
+anbringen, das mir von fremder Hand käme.«
+
+»Ihr habt also wahrscheinlich das Haus selber gebaut oder es sehr
+umgestaltet?« fragte ich.
+
+»Ich habe es selber gebaut«, antwortete er. »Das Wohnhaus, welches zu
+den umliegenden Gründen gehört, war früher der Meierhof, an dem ihr
+gestern, da wir auf dem Bänkchen der Felderrast saßen, Leute Gras
+mähen gesehen habt. Ich habe ihn von dem früheren Besitzer sammt allen
+Ländereien, die dazu gehören, gekauft, habe das Haus auf dem Hügel
+gebaut und habe den Meierhof zum Wirtschaftsgebäude bestimmt.«
+
+»Aber den Garten könnt ihr doch unmöglich neu angelegt haben?«
+
+»Das ist eine eigene Entstehungsgeschichte«, erwiderte er. »Ich muß
+sagen: ich habe ihn neu angelegt, und ich muß sagen: ich habe ihn
+nicht neu angelegt.
+
+Ich habe mir mein Wohnhaus für den Rest meiner Tage auf einen Platz
+gebaut, der mir entsprechend schien. Der Meierhof stand in dem Tale,
+wie meistens die Gebäude dieser Art, damit sie das fette Gras, das man
+häufig in den Wirtschaften braucht, um das Gehöfte herum haben; ich
+wollte aber mit meiner Wohnung auf die Anhöhe. Da sie nun fertig war,
+sollte der Garten, der an dem Meierhofe stand und nur mit vereinzelten
+Bäumen oder mit Gruppen von ihnen zu mir langte, heraufgezogen werden.
+Die Linde, unter welcher wir jetzt sitzen, sowie ihre Kameraden, die
+um sie herum stehen oder einen Gartenweg bilden, stehen da, wo sie
+gestanden sind. Der große alte Kirschbaum auf der Anhöhe stand mitten
+im Getreide. Ich zog die Anhöhe zu meinem Garten, legte einen Weg zu
+dem Kirschbaume hinauf an und baute um ihn ein Bänklein herum. Und
+so ging es mit vielen andern Bäumen. Manche, und darunter sehr
+bedeutende, daß man es nicht glauben sollte, haben wir übersetzt. Wir
+haben sie im Winter mit einem großen Erdballen ausgegraben, sie mit
+Anwendung von Seilen umgelegt, hierher geführt und mit Hilfe von
+Hebeln und Balken in die vorgerichteten, gut zubereiteten Gruben
+gesenkt. Waren die Zweige und Äste gehörig gekürzt, so schlugen sie im
+Frühlinge desto kräftiger an, gleichsam als wären die Bäume zu neuem
+Leben erwacht. Die Gesträuche und das Zwergobst ist alles neu gesetzt
+worden. In kürzerer Zeit, als man glauben sollte, hatten wir die
+Freude, zu sehen, daß der Garten so zusammengewachsen erschien, als
+wäre er nie an einem andern Platze gewesen. In der Nähe des Meierhofes
+habe ich manchen Rest von Bäumen fällen lassen, wenn er dem
+Getreidebau hinderlich war; denn ich legte dort Felder an, wo ich die
+Bäume genommen hatte, um an Boden auf jener Seite zu gewinnen, was ich
+auf dieser durch Anlegung des Gartens verloren hatte.«
+
+»Ihr habt da einen reizenden Sitz«, bemerkte ich.
+
+»Nicht der Sitz allein, das ganze Land ist reizend«, erwiderte er,
+»und es ist gut da wohnen, wenn man von den Menschen kömmt, wo sie ein
+wenig zu dicht an einander sind, und wenn man für die Kräfte seines
+Wesens Tätigkeit mitbringt. Zuweilen muß man auch einen Blick in sich
+selbst tun. Doch soll man nicht stetig mit sich allein auch in dem
+schönsten Lande sein; man muß zu Zeiten wieder zu seiner Gesellschaft
+zurückkehren, wäre es auch nur, um sich an manche glänzende
+Menschentrümmer, die aus unsrer Jugend noch übrig sind, zu erquicken,
+oder an manchem festen Turm von einem Menschen empor zu schauen, der
+sich gerettet hat. Nach solchen Zeiten geht das Landleben wieder wie
+lindes Öl in das geöffnete Gemüt. Man muß aber weit von der Stadt weg
+und von ihr unberührt sein. In der Stadt kommen die Veränderungen,
+welche die Künste und die Gewerbe bewirkt haben, zur Erscheinung:
+auf dem Lande die, welche naheliegendes Bedürfnis oder Einwirken der
+Naturgegenstände auf einander hervorgebracht haben. Beide vertragen
+sich nicht, und hat man das Erste hinter sich, so erscheint das Zweite
+fast wie ein Bleibendes, und dann ruht vor dem Sinne ein schönes
+Bestehendes und zeigt sich dem Nachdenken ein schönes Vergangenes, das
+sich in menschlichen Wandlungen und in Wandlungen von Naturdingen in
+eine Unendlichkeit zurückzieht.«
+
+Ich antwortete nichts auf diese Rede, und wir schwiegen eine Weile.
+
+Endlich sagte er wieder: »Ihr bleibt noch heute nachmittag und in der
+Nacht bei uns?«
+
+»Nach dem, wie ich hier aufgenommen worden bin«, antwortete ich, »ist
+es ein angenehmes Gefühl, noch den Tag und die Nacht hier zubringen zu
+dürfen.«
+
+»So ist es gut«, erwiderte er, »ihr müßt aber auch erlauben, daß ich
+euch einen Teil des Vormittags allein lasse, weil die Stunde naht, in
+der ich zu Gustav gehen und ihm in seinem Lernen beistehen muß.«
+
+»Tut euch nur keinen Zwang an«, entgegnete ich.
+
+»So werde ich euch verlassen«, antwortete er, »geht indessen ein wenig
+in dem Garten herum, oder seht das Feld an, oder besucht das Haus.«
+
+»Ich wünsche für den Augenblick noch eine Weile unter diesem Baume
+sitzen bleiben zu dürfen«, erwiderte ich.
+
+»Tut, wie es euch gefällt«, antwortete er, »nur erinnert euch, daß
+ich gestern gesagt habe, daß in diesem Hause um zwölf Uhr zu Mittag
+gegessen wird.«
+
+»Ich erinnere mich«, sagte ich, »und werde keine Unordnung machen.«
+
+Eine kleine Weile nach diesen Worten stand er auf, strich sich mit
+seiner Hand die Tierchen und sonstigen Körperchen, die von dem Baume
+auf ihn herabgefallen waren, aus den Haaren, empfahl sich und ging in
+der Richtung gegen das Haus zu.
+
+
+
+Der Abschied
+
+Ich saß noch eine geraume Zeit unter dem Baume und legte mir zurecht,
+was ich gesehen und vernommen. Die Bienen summten in dem Baume, und
+die Vögel sangen in dem Garten. Das Haus, in welches der alte Mann
+gegangen war, blickte mit einzelnen Teilen, sei es von der weißen
+Wand, sei es von dem Ziegeldache durch das Grün der Bäume herüber,
+und zu meiner Rechten ging jenseits der Gebüsche, in der Gegend, in
+welcher ich das Schreinerhaus vermutete, ein dünner Rauch in die
+Luft empor. Das Singen der Vögel und das Summen der Bienen war mir
+beinahe eine Stille, da ich durch meine Gebirgswanderungen an solche
+andauernde Laute gewohnt war. Die Stille wurde unterbrochen durch
+einzelne Laute, welche von den Arbeitern im Garten herrührten,
+entweder daß man das Quieken einer Pumpe hörte, mit der man Wasser
+pumpte, und mittelst Rinnen in eine Tonne leitete, um es abends zum
+Begießen zu verwenden, oder daß eine menschliche Rede ferner oder
+näher erscholl, die einen Befehl oder eine Auskunft enthielt. Die
+verschiedenen Flecke des Himmels, welche durch das Grün der Bäume
+hereinsahen, waren ganz blau und zeigten, wie sehr mein Gastfreund mit
+seiner Voraussage des schönen Wetters Recht gehabt hatte.
+
+Ich riß mich endlich aus meinen Gedanken und ging in dem Garten empor.
+
+Ich ging zu dem großen Kirschbaume. Ich suchte das Freie, weil ich in
+dem Garten wegen der beschränkten Aussicht doch nicht einen genauen
+Überblick in Hinsicht der Witterungsverhältnisse machen konnte. Hier
+oben stand der Himmel als eine große, ausgedehnte Glocke über mir,
+und in der ganzen Glocke war kein einziges Wölklein. Das Hochgebirge,
+welches wir gestern nicht hatten sehen können, stand heute in seiner
+ganzen Klarheit an der Länge des südlichen Himmels dahin. Vor ihm
+waren die Vorlande mit manchen weißen Punkten von Kirchen und Dörfern,
+näher zu mir zeigte sich mancher Turm von einer Ortschaft, die ich
+kannte, und unter meinen Füßen ruhten der Garten und das Haus,
+in welchem ich gestern so freundlich aufgenommen worden war. Die
+Getreide, welche nicht weit von mir hinter der Planke des Gartens
+standen, und die gestern ganz ruhig gewesen waren, befanden sich heute
+in einem zwar schwachen, aber fröhlichen Wogen. Ich mußte denken, daß
+das Wetter nicht nur jetzt so schön sei, sondern daß es noch lange so
+schön bleiben werde.
+
+Von dem großen Kirschbaume ging ich wieder in den Garten zurück und
+betrachtete verschiedene Gegenstände.
+
+Ich ging auch noch einmal in das Gewächshaus. Ich konnte nun manches
+genauer ansehen, als es mir früher möglich gewesen war, da ich mit
+meinem Begleiter das Haus gleichsam nur durchschritten hatte. Der
+weiße Gärtner gesellte sich zu mir, erläuterte mir manches, gab mir
+über Verschiedenes Auskunft und beantwortete bereitwillig alle meine
+Fragen, wie weit seine Kenntnisse und seine Übersicht es zuließen.
+Als ich das Gebäude verlassen wollte, sagte er mir, er wolle mir noch
+etwas zeigen, was der Herr mir zu zeigen vergessen habe. Er führte
+mich auf einen Platz, der mit Sand bedeckt war, der von allen Seiten
+der Sonne zugänglich und doch durch Bäume und Gebüsche, die ihn in
+einer gewissen Entfernung umgaben, vor heftigen Winden geschützt war.
+Mitten auf dem Platze stand ein kleines gläsernes Haus, welches zum
+Teile in der Erde steckte. Dieser Umstand und dann der, daß es von
+Bäumen umringt war, machten, daß ich es früher nicht wahrgenommen
+hatte. Als wir näher kamen, sah ich, daß es ganz von Glas sei und nur
+so viel Gerippe habe, als sich zur Festigkeit der Tafeln notwendig
+zeige. Es war auch mit einem starken eisernen Gitter, wahrscheinlich
+des Hagels wegen, umspannt. Als wir die einigen Stufen von der Fläche
+des Gartens in das Innere hinabgestiegen waren, sah ich, daß sich
+Pflanzen in dem Hause befanden, und zwar nur eine einzige Gattung,
+nehmlich lauter Cactus. Mehr als hundert Arten standen in Tausenden
+von kleinen Töpfen da. Die niederen und runden standen frei, die
+langen, welche Luftwurzeln treiben, hatten Wände von Baumrinden
+neben sich, die mit Erde eingerieben waren, damit die Pflanzen die
+Luftwurzeln in sie schlagen konnten. Alle Glastafeln über unseren
+Häuptern waren geöffnet, daß die freie Luft den ganzen Raum
+durchdringen konnte und doch die Wirkung der Sonnenstrahlen nicht
+beirrt war. Die Töpfe standen in Reihen auf hölzernen Gestellen,
+die Gestelle aber waren wieder unterbrochen, so daß man in allen
+Richtungen herum gehen und alles betrachten konnte. Der Gärtner führte
+mich herum und zeigte mir die Abteilungen und Unterabteilungen, in
+welchen die Gewächse beisammenstanden.
+
+Ich sagte, daß ich mich freue, daß mein Gastfreund auf die Familie
+dieser Pflanzen eine solche Sorgfalt wende, da sie gewiß besonders und
+merkwürdig wären.
+
+»Wenn man sie länger betrachtet und länger mit ihnen umgeht, werden
+sie immer merkwürdiger«, antwortete mein Nachbar. »Die Stellung
+ihrer Bildungen ist so mannigfaltig, die Stacheln können zu einer
+wahren Zierde und zu einer Bewaffnung dienen, und die Blüten sind
+verwunderlich wie Märchen. In einem Monate würdet ihr sehr schöne
+sehen, jetzt sind sie noch zu wenig entwickelt.«
+
+Ich sagte ihm, daß ich schon Blüten gesehen habe, nicht bloß solche,
+die, wie schön sie seien, doch überall wachsen, sondern auch andere,
+die selten sind, und solche, die mit der Schönheit den lieblichen Duft
+vereinen. Ich sagte ihm, daß ich in früheren Zeiten Pflanzenkunde
+getrieben habe, zwar nicht in Bezug auf Gartenpflege, sondern zu
+meiner Belehrung und Erheiterung, und daß die Cactus nicht das Letzte
+gewesen wären, dem ich eine Aufmerksamkeit geschenkt habe.
+
+»Wenn der Herr alte Sachen sammelt«, sagte er, »so wäre es wohl auch
+recht, wenn er dies auch mit alten Pflanzen täte. Im Inghofe ist in
+dem Gewächshause ein Cereus, der stärker als ein Mannesarm sammt
+seiner Bekleidung ist. Er geht an der Wand empor, biegt sich um
+und wächst an der Decke des Hauses hin, an welcher er mit Bändern
+befestigt ist. Der untere Teil ist schon Holz geworden, daß man Namen
+eingeschnitten hat. Ich glaube, es ist ein Cereus peruvianus. Sie
+schätzen ihn nicht so hoch, und der Herr sollte den Cereus kaufen,
+wenn man auch wegen seiner Länge drei Wägen aneinander binden müßte,
+um ihn herüber bringen zu können. Er ist gewiß schon zweihundert Jahre
+alt.«
+
+Ich antwortete auf diese Rede nicht, um ihm seine Zeitrechnung in
+Hinsicht der Cactuspflege in Europa nicht zu stören.
+
+Ich dankte ihm, da ich endlich alles gesehen hatte, für seine Mühe und
+verließ das kleine Haus. Er verabschiedete sieh sehr freundlich und
+mit vielen Verbeugungen.
+
+Ich ging nun zu dem Eingangsgitter, durch welches mein Gastfreund mich
+gestern hereingelassen hatte, weil ich auch außerhalb des Gartens ein
+wenig herumsehen wollte. Ein Arbeiter, welcher in der Nähe beschäftigt
+war, öffnete mir die Tür, weil ich die Einrichtung des Schlosses nicht
+kannte, und ich trat in das Freie. Ich ging auf der Seite des Hügels,
+auf welcher ich gestern heraufgekommen war, in mehreren Richtungen
+herum. Wenn ich auch die Gegend des Landes, in der ich mich befand, im
+Allgemeinen sehr wohl kannte, so hatte ich mich doch nie so lange in
+ihr aufgehalten, um in das Einzelne eindringen zu können. Ich sah
+jetzt, daß es ein sehr fruchtbarer, schöner Teil sei, der mich
+aufgenommen hatte, daß sich anmutige Stellen zwischen die Krümmungen
+der Hügel hineinziehen und daß ein dichtes Bewohntsein der Gegend
+etwas sehr Heiteres erteile. Der Tag wurde nach und nach immer wärmer,
+ohne heiß zu sein, und es war jene Stille, die zur Zeit der Rosenblüte
+weit mehr als zu einer anderen auf den Feldern ist. In dieser Zeit
+sind alle Feldgewächse grün, sie sind im Wachsen begriffen, und wenn
+nicht viele Wiesen in der Gegend sind, auf welchen zu jener Zeit die
+Heuernte vorkömmt, so haben die Leute keine Arbeit auf den Feldern und
+lassen sie allein unter der befruchtenden Sonne.
+
+Die Stille war wie in dem Hochgebirge; aber sie war nicht so einsam,
+weil man überall von der Geselligkeit der Nährpflanzen umgeben war.
+
+
+
+Der Klang einer fernen Dorfglocke und meine Uhr, die ich herauszog,
+erinnerte mich daran, daß es Mittag sei.
+
+Ich ging dem Hause zu, das Gitter wurde mir auf einen Zug an der
+Glockenstange geöffnet, und ich ging in das Speisezimmer. Dort fand
+ich meinen Gastfreund und Gustav, und wir setzten uns zu Tische. Wir
+drei waren allein bei dem Mahle.
+
+Während des Essens sagte mein Gastfreund: »Ihr werdet euch wundern,
+daß wir so allein unsere Speisen verzehren. Es ist in der Tat sehr zu
+bedauern, daß die alte Sitte abgekommen ist, daß der Herr des Hauses
+zugleich mit den Seinigen und seinem Gesinde beim Mahle sitzt. Die
+Dienstleute gehören auf diese Weise zu der Familie, sie dienen oft
+lebenslang in demselben Hause, der Herr lebt mit ihnen ein angenehmes
+gemeinschaftliches Leben, und weil alles, was im Staate und in der
+Menschlichkeit gut ist, von der Familie kömmt, so werden sie nicht
+bloß gute Dienstleute, die den Dienst lieben, sondern leicht auch
+gute Menschen, die in einfacher Frömmigkeit an dem Hause wie an einer
+unverrückbaren Kirche hängen und denen der Herr ein zuverlässiger
+Freund ist. Seit sie aber von ihm getrennt sind, für die Arbeit
+bezahlt werden und abgesondert ihre Nahrung erhalten, gehören sie
+nicht zu ihm, nicht zu seinem Kinde, haben andere Zwecke, widerstreben
+ihm, verlassen ihn leicht und fallen, da sie familienlos und ohne
+Bildung sind, leicht dem Laster anheim. Die Kluft zwischen den
+sogenannten Gebildeten und Ungebildeten wird immer größer; wenn noch
+erst auch der Landmann seine Speisen in seinem abgesonderten Stübchen
+verzehrt, wird dort eine unnatürliche Unterscheidung, wo eine
+natürliche nicht vorhanden gewesen wäre.«
+
+»Ich habe«, fuhr er nach einer Weile fort, »diese Sitte in unserem
+hiesigen Hause einführen wollen; allein die Leute waren auf eine
+andere Weise herangewachsen, waren in sich selber hineingewachsen,
+konnten sich an ein Fremdes nicht anschließen und hätten nur die
+Freiheit ihres Wesens verloren. Es ist kein Zweifel, daß sie sich
+nach und nach in das Verhältnis würden eingelebt haben, besonders die
+Jüngeren, bei denen die Erziehung noch wirkt; allein ich bin so alt,
+daß das Unternehmen weit über den Rest meiner Jahre hinausgeht.
+Ich befreite daher meine Dienstleute von dem Zwange, und jüngere
+Nachfolger mögen den Versuch wieder erneuern, wenn sie meine Meinung
+teilen.«
+
+Mir fiel bei dieser Rede mein Elternhaus ein, in welchem es wohltuend
+ist, daß wenigstens die Handlungsdiener meines Vaters mit uns an dem
+Mittagstische essen.
+
+Die Zeit nach dem Mittagsessen ward dazu bestimmt, den Meierhof zu
+besuchen, und Gustav durfte uns begleiten.
+
+Wir gingen nicht den Weg, der an dem großen Kirschbaume vorüber
+und auf der Höhe der Felder dahin führt. Dieser Weg, sagte mein
+Gastfreund, sei mir schon bekannt; sondern wir gingen in der Nähe der
+Bienenhütte durch ein Pförtchen in das Freie und gingen auf einem
+Pfade über den sanften Abhang hinab, der noch mit hohen Obstbäumen,
+die die besseren Arten des Landes trugen und von dem Meierhofgarten
+übrig geblieben waren, bedeckt war. Die Wiesen, über die wir
+wandelten, waren so gut, wie ich sie selten angetroffen habe.
+
+Da wir zu dem Gebäude gekommen waren, sah ich, daß es ein weitläufiges
+Viereck war wie die größeren Landhöfe der Gegend, daß man aber hie und
+da daran gebessert und daß man es durch Zubauten erweitert hatte. Der
+Hofraum war an den Gebäuden herum mit breiten Steinen gepflastert, der
+übrige Teil desselben war mit grobem Quarzsande bedeckt, der öfter
+umgearbeitet wurde. Die Gebäude, welche diesen Raum umgaben,
+enthielten die Ställe, Scheunen, Wagengewölbe und Wohnungen. Das
+Vorratshaus stand weiter entfernt in dem Garten. Wir besahen die
+Tiere, welche eben zu Hause waren, von den Pferden und Rindern
+angefangen bis zu den Schweinen und dem Federvieh hinunter. Für die
+Rinder war hinter dem Hause ein schöner Platz eingefangen, auf welchem
+sie in freie Luft gelassen werden konnten. Es strömte frisches Wasser
+in einer tiefen Steinrinne durch den Platz, von welchem sie trinken
+konnten. Ich hatte diese Einrichtung nie gesehen, und sie gefiel mir
+sehr.
+
+Ein ähnlicher Platz war für das Federvieh eingefangen, und nicht weit
+davon war ein Anger, auf welchem sich die Füllen tummeln konnten. Wir
+besuchten auch die Wohnungen der Leute. Hier fielen mir die großen,
+schönen Steinrahmen auf, die an den Fenstern gesetzt waren, auch
+konnte man leicht die bedeutende Vergrößerung der Fenster sehen. In
+der Wagenhalle waren nicht bloß die Wägen und anderen Fahrzeuge,
+sondern auch die übrigen Landwirtschaftsgeräte in Vorrate
+vorhanden. Die Düngerstätte, welche auch hier wie in den meisten
+Wirtschaftshäusern unseres Landes in dem Hofe gewesen war, ist auf
+einen Platz hinter dem Hause verwiesen worden, den ringsum hohe
+Gebüsche umfingen.
+
+»Es ist hier noch Vieles im Entstehen und Werden begriffen«, sagte
+mein Gastfreund, »aber es geht langsam vorwärts. Man muß die
+Vorurteile der Leute schonen, die unter anderen Umgebungen
+herangewachsen und sie gewohnt sind, damit sie nicht durch das Neue
+beirrt werden und ihre Liebe zur Arbeit verlieren. Wir müssen uns
+beruhigen, daß schon so Vieles geschehen ist, und auf das Weitere
+hoffen.«
+
+Die Leute, welche dieses Haus bewohnten, waren damit beschäftigt, das
+Heu, welches gestern gemäht worden war, einzubringen oder, wo es not
+tat, vollkommen zu trocknen. Mein Gastfreund redete mit Manchem und
+fragte um Verschiedenes, das sich auf die täglichen Geschäfte bezog.
+
+Als wir von der entgegengesetzten Seite des Hauses fortgingen, sahen
+wir auch den Garten, in welchem die Gemüse und andere Dinge für den
+Gebrauch des Hofes gezogen wurden.
+
+Auf dem Rückwege schlugen wir eine andere Richtung ein, als auf
+der wir gekommen waren. Hatten wir auf unserem Herwege den großen
+Kirschbaum nördlich gelassen, so ließen wir ihn jetzt südlich, so daß
+es schien, daß wir den ganzen Garten des Hauses umgehen würden. Wir
+stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern
+gesagt hatte, daß sie die nördliche Grenze seines Besitztums sei und
+daß er sie nicht nach seinem Willen habe verbessern können. Der Weg
+führte sachte aufwärts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen
+Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefaßt war,
+entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter:
+»Das ist die Wiese, die ich euch gestern von dem Hügel herab gezeigt
+habe und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigentum gehe
+und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte.
+Ihr seht, daß die Stellen an dem Bache versumpft sind und saures Gras
+tragen. Dem wäre leicht abzuhelfen und das mildeste Gras zu erzielen,
+wenn man dem Bache einen geraden Lauf gäbe, daß er schneller abflösse,
+die Wände hie und da mit Steinen ausmauerte und die Niederungen
+mit trockener Erde anfüllte. Ich kann euch jetzt den Grund zeigen,
+weshalb dieses nicht geschieht. Ihr seht an beiden Seiten des Baches
+Erlenschößlinge wachsen. Wenn ihr näher herzutretet, so werdet ihr
+sehen, daß diese Schößlinge aus dicken Blöcken, gleichsam aus Knollen
+und Höckern von Holz hervorwachsen, welches Holz teils über der Erde
+ist, teils in dem feuchten Boden derselben steckt.«
+
+Wir waren bei diesen Worten zu dem Bache hinzugegangen, und ich sah,
+daß es so war.
+
+»Diese ungestalteten Anhäufungen von Holz«, fuhr er fort, »aus denen
+die dünnen Ruten oder krüppelhafte Äste hervorragen, bilden sich hier
+in sumpfigem Boden, sie entstehen aber auch im Sande oder in Steinen
+und sind ein Aftererzeugnis des sonst recht schön emporwachsenden
+Erlenbaumes. In dem vielteiligen Streben des Holzes, eine Menge
+Ruten oder zwieträchtige Äste anzusetzen und sich selber dabei zu
+vergrößern, entsteht ein solches Verwinden und Drehen der Fasern und
+Rinden, daß, wenn man einen solchen Block auseinandersägt und die
+Sägefläche glättet, sich die schönste Gestaltung von Farbe und
+Zeichnung in Ringen, Flammen und allerlei Schlangenzügen darstellt,
+so daß diese Gattung Erlenholz sehr gesucht für Schreinerarbeiten und
+sehr kostbar ist. Als ich das Anwesen hier gekauft, die Wiese besehen
+und die Erlenblöcke entdeckt hatte, ließ ich einen ausgraben,
+auseinandersägen und untersuchte ihn dann. Da fand ich, der ich damals
+im Erkennen des Holzes schon mehrere Übung hatte, daß diese Blöcke zu
+den schönsten gehören, die bestehen, und daß die feurige Farbe und der
+weiche, seidenartige Glanz des Holzes, auf welche Dinge man besonders
+das Augenmerk richtet, kaum ihresgleichen haben dürften. Ich ließ
+mehrere Blöcke ausgraben und Blätter aus ihnen schneiden. Ihr werdet
+die Verwendung derselben in unserer Nachbarschaft sehen, wenn ihr uns
+wieder besuchen wollt und uns Zeit gebt, euch dorthin zu führen, wo
+sie sind. Die übrigen Blöcke ließ ich in dem Boden als einen Schatz,
+der da bleiben und sich vermehren sollte. Nur wenn einer derselben
+nicht mehr zu treiben, sondern vielmehr abzusterben beginnt, wird er
+herausgenommen und wird zu Blättern geschnitten, welche ich dann zu
+künftigen Arbeiten aufbewahre oder verkaufe. An seiner Stelle bildet
+sich dann leicht ein anderer. Zu dem Entschlusse, diesen Anwuchs zu
+pflegen, kam ich, nachdem ich einerseits vorher nach und nach die
+Gegend um unser Haus immer näher kennen gelernt, alle Talmulden und
+Bachrinnen erforscht und nirgends auch nur annähernd so brauchbares
+Erlenholz gefunden hatte, und nachdem anderseits auch das, was mir auf
+mein Verlangen aus mehreren Orten eingesendet worden war, sich dem
+unseren als nicht gleichkommend gezeigt hatte. Ich ließ oberhalb
+des Erlenwuchses einen Wasserbau aufführen, um die Pflanzung
+vor Überschwemmung und Überkiesung zu sichern und das zu sehr
+anschwellende Wasser in ein anderes Rinnsal zu leiten.
+
+Meine Nachbarn sahen das Zweckdienliche der Sache ein, und zwei
+derselben legten sogar in öden Gründen, die nicht zu entwässern waren,
+solche Erlenpflanzungen an. Mit welchem Erfolge dies geschah, läßt
+sich noch nicht ermitteln, da die Pflanzen noch zu jung sind.«
+
+Wir betrachteten die Reihen dieser Gewächse und gingen dann weiter.
+
+Wir gingen die Wiese entlang, streiften an einem Gehölze hin,
+überschritten den Wasserbau, von dem mein Gastfreund gesprochen hatte,
+und begannen nicht nur den Garten, sondern den ganzen Getreidehügel,
+auf dem das Haus steht, zu umgehen.
+
+Da die Sonne immer wärmer, wenn auch nicht gar heiß schien, wunderte
+ich mich, daß keiner von meinen zwei Begleitern eine Bedeckung auf dem
+Haupte trug. Sie waren ohne einer solchen von dem Hause fortgegangen.
+Der alte Mann breitete dem Glanz der Sonne die Fülle seiner weißen
+Haare unter, und der Zögling trug auf seinem Scheitel die dichten,
+glänzenden braunen Locken. Ich wußte nicht, kamen mir die beiden ohne
+Kopfbedeckung sonderbar vor oder ich neben ihnen mit meinem Reisehute
+auf dem Haupte. Der Jüngling hatte wenigstens den Vorteil, daß ihm die
+Sonne die Wangen noch mehr rötete und noch schöner färbte, als sie
+sonst waren.
+
+Ich betrachtete ihn überhaupt gerne. Sein leichter Gang war ein
+heiterer Frühlingstag gegen den zwar auch noch kräftigen, aber
+bestimmten und abgemessenen Schritt seines Begleiters, seine schlanke
+Gestalt war der fröhliche Anfang, die seines Erziehers das Hinneigen
+zum Ende. Was sein Benehmen anbelangt, so war er zurückgezogen und
+bescheiden und mischte sich nicht in die Gespräche, außer wenn er
+gefragt wurde. Ich wendete mich häufig an ihn und fragte ihn um
+verschiedene Dinge, besonders um solche, die die Gegend umher betrafen
+und deren Kenntnis ich bei ihm voraussetzen mußte. Er antwortete
+sicher und mit einer gewissen Ehrerbietung gegen mich, obwohl ich ihm
+an Jahren nicht so ferne stand als sein Erzieher. Er ging meistens,
+auch wenn der Weg breit genug gewesen wäre, hinter uns.
+
+
+Als wir den Hügel vollends umgangen hatten und an mehreren ländlichen
+Wohnungen vorbeigekommen waren, stiegen wir auf der nehmlichen Seite
+und auf dem nehmlichen Wege gegen das Haus empor, auf welchem ich
+gestern gegen dasselbe hinangekommen war. Da wir es erreicht hatten,
+traten uns die Rosen entgegen, wie sie mir gestern entgegengetreten
+waren. Ich nahm von diesem Anblicke Gelegenheit, meinen Gastfreund der
+Rosen wegen zu fragen, da ich überhaupt gesonnen war, dieser Blumen
+willen einmal eine Frage zu tun. Ich bat ihn, ob wir denn zu besserer
+Betrachtung nicht näher auf den großen Sandplatz treten wollten. Wir
+taten es und standen vor der ganzen Wand von Blumen, die den unteren
+Teil des weißen Hauses deckte.
+
+Ich sagte, er müsse ein besonderer Freund dieser Blumen sein, da er so
+viele Arten hege, und da die Pflanzen hier in einer Vollkommenheit zu
+sehen seien wie sonst nirgends.
+
+»Ich liebe diese Blume allerdings sehr«, antwortete er, »halte sie
+auch für die schönste und weiß wirklich nicht mehr, welche von diesen
+beiden Empfindungen aus der andern hervorgegangen ist.«
+
+»Ich wäre auch geneigt«, sagte ich, »die Rose für die schönste Blume
+zu halten. Die Camellia steht ihr nahe, dieselbe ist zart, klar und
+rein, oft ist sie voll von Pracht; aber sie hat immer für uns etwas
+Fremdes, sie steht immer mit einem gewissen vornehmen Anstande da: das
+Weiche, ich möchte den Ausdruck gebrauchen, das Süße der Rose hat sie
+nicht. Wir wollen von dem Geruche gar nicht einmal reden; denn der
+gehört nicht hieher.«
+
+»Nein«, sagte er, »der gehört nicht hieher, wenn wir von der Schönheit
+sprechen; aber gehen wir über die Schönheit hinaus und sprechen wir
+von dem Geruche, so dürfte keiner sein, der dem Rosengeruche an
+Lieblichkeit gleichkommt.«
+
+»Darüber könnte nach einzelner Vorliebe gestritten werden«, antwortete
+ich, »aber gewiß wird die Rose weit mehr Freunde als Gegner haben. Sie
+wird sowohl jetzt geehrt, als sie in der Vergangenheit geehrt wurde.
+Ihr Bild ist zu Vergleichen das gebräuchlichste, mit ihrer Farbe wird
+die Jugend und Schönheit geschmückt, man umringt Wohnungen mit ihr,
+ihr Geruch wird für ein Kleinod gehalten und als etwas Köstliches
+versendet, und es hat Völker gegeben, die die Rosenpflege besonders
+schätzten, wie ja die waffenkundigen Römer sich mit Rosen kränzten.
+Besonders liebenswert ist sie, wenn sie so zur Anschauung gebracht
+wird wie hier, wenn sie durch eigentümliche Mannigfaltigkeit und
+Zusammenstellung erhöht und ihr gleichsam geschmeichelt wird. Erstens
+ist hier eine wahre Gewalt von Rosen, dann sind sie an der großen
+weißen Fläche des Hauses verteilt, von der sie sich abheben; vor ihnen
+ist die weiße Fläche des Sandes, und diese wird wieder durch das grüne
+Rasenband und die Hecke, wie durch ein grünes Samtband und eine grüne
+Verzierung, von dem Getreidefelde getrennt.«
+
+»Ich habe auf diesen Umstand nicht eigens gedacht«, sagte er, »als ich
+sie pflanzte, obwohl ich darauf sah, daß sie sich auch so schön als
+möglich darstellten.«
+
+»Aber ich begreife nicht, wie sie hier so gut gedeihen können«,
+entgegnete ich. »Sie haben hier eigentlich die ungünstigsten
+Bedingungen. Da ist das hölzerne Gitter, an das sie mit Zwang gebunden
+sind, die weiße Wand, an der sich die brennenden Sonnenstrahlen
+fangen, das Überdach, welches dem Regen, Taue und dem Einwirken des
+Himmelsgewölbes hinderlich ist, und endlich hält das Haus ja selber
+den freien Luftzug ab.«
+
+»Wir haben dieses Gedeihen nur nach und nach hervorrufen können«,
+antwortete er, »und es sind viele Fehlgriffe getan worden. Wir lernten
+aber und griffen die Sache dann der Ordnung nach an. Es wurde die
+Erde, welche die Rosen vorzüglich lieben, teils von anderen Orten
+verschrieben, teils nach Angabe von Büchern, die ich hiezu anschaffte,
+im Garten bereitet.
+
+Ich bin wohl nicht ganz unerfahren hieher gekommen, ich hatte auch
+vorher schon Rosen gezogen und habe hier meine Erfahrungen angewendet.
+Als die Erde bereit war, wurde ein tiefer, breiter Graben vor dem
+Hause gemacht und mit der Erde gefüllt. Hierauf wurde das hölzerne
+Gitter, welches reichlich mit Ölfarbe bestrichen war, daß es von
+Wasser nicht in Fäulnis gesetzt werden konnte, aufgerichtet, und eines
+Frühlings wurden die Rosenpflanzen, die ich entweder selbst gezogen
+oder von Blumenzüchtern eingesendet erhalten hatte, in die lockere
+Erde gesetzt. Da sie wuchsen, wurden sie angebunden, im Laufe der
+Jahre versetzt, verwechselt, beschnitten und dergleichen, bis sich die
+Wand allgemach erfüllte. In dem Garten sind die Vorratsbeete angelegt
+worden, gleichsam die Schule, in welcher die gezogen werden, die
+einmal hieher kommen sollen. Wir haben gegen die Sonne eine Rolle
+Leinwand unter dem Dache anbringen lassen, die durch einige leichte
+Züge mit Schnüren in ein Dach über die Rosen verwandelt werden kann,
+das nur gedämpfte Strahlen durchläßt. So werden die Pflanzen vor der
+zu heißen Sommersonne und die Blumen vor derjenigen Sonne geschützt,
+die ihnen schaden könnte. Die heutige ist ihnen nicht zu heiß, ihr
+seht, daß sie sie fröhlich aushalten. Was ihr von Tau und Regen sagt,
+so steht das Gitter nicht so nahe an dem Hause, daß die Einflüsse des
+freien Himmels ganz abgehalten werden. Tau sammelt sich auf den Rosen
+und selbst Regen träufelt auf sie herunter. Damit wir aber doch
+nachhelfen und zu jener Zeit Wasser geben können, wo es der Himmel
+versagt, haben wir eine hohle Walze unter der Dachrinne, die mit
+äußerst feinen Löchern versehen ist und aus Tonnen, die unter dem
+Dache stehen, mit Wasser gefüllt werden kann. Durch einen leichten
+Druck werden die Löcher geöffnet, und das Wasser fällt wie Tau auf die
+Rosen nieder. Es ist wirklich ein angenehmer Anblick, zu sehen, wie
+in Zeiten hoher Not das Wasser von Blättern und Zweigen rieselt und
+dieselben sich daran erfrischen. Und damit es endlich nicht an Luft
+gebricht, wie ihr fürchtet, gibt es ein leichtes Mittel. Zuerst ist
+auf diesem Hügel ein schwacher Luftzug ohnehin immer vorhanden und
+streicht an der Wand des Hauses. Sollten aber die Blumen an ganz
+stillen Tagen doch einer Luft bedürfen, so werden alle Fenster des
+Erdgeschosses geöffnet, und zwar sowohl an dieser Wand als auch an der
+entgegengesetzten. Da nun die entgegengesetzte Seite die nördliche ist
+und dort die Luft durch den Schatten abgekühlt wird, so strömt sie bei
+jenen Fenstern herein und bei denen der Rosen heraus. Ihr könnt da an
+den windstillsten Tagen ein sanftes Fächeln der Blätter sehen.«
+
+»Das sind bedeutende Anstalten«, erwiderte ich, »und beweisen eure
+Liebe zu diesen Blumen; aber aus ihnen allein erklärt sich doch noch
+nicht die besondere Vollkommenheit dieser Gewächse, die ich nirgends
+gesehen habe, so daß keine unvollkommene Blume, kein dürrer Zweig,
+kein unregelmäßiges Blatt vorkommt.«
+
+»Zum Teile erklärt sich die Tatsache doch wohl aus diesen Anstalten«,
+sagte er. »Luft, Sonne und Regen sind durch die südliche Lage des
+Standortes und die Vorrichtungen so weit verbessert, als sie hier
+verbessert werden können. Noch mehr ist an der Erde getan worden.
+Da wir nicht wissen, welches denn der letzte Grund des Gedeihens
+lebendiger Wesen überhaupt ist, so schloß ich, daß den Rosen am
+meisten gut tun müsse, was von Rosen kömmt. Wir ließen daher seit
+jeher alle Rosenabfälle sammeln, besonders die Blätter und selbst die
+Zweige der wilden Rosen, welche sich in der ganzen Gegend befinden.
+Diese Abfälle werden zu Hügeln in einem abgelegenen Teile unseres
+Gartens zusammengetan, den Einflüssen von Luft und Regen ausgesetzt,
+und so bereitet sich die Rosenerde. Wenn in einem Hügel sich keine
+Spur mehr von Pflanzentum zeigt und nichts als milde Erde vor die
+Augen tritt, so wird diese den Rosen gegeben. Die Pflanzen, welche
+neu gesetzt werden, erhalten in ihrem Graben gleich so viel Erde, daß
+sie auf mehrere Jahre versorgt sind. Ältere Rosen, welche von ihrem
+Standboden längere Zeit gezehrt haben, werden mit einer Erneuerung
+beteilt. Entweder wird die Erde oberhalb ihrer Wurzeln weggetan und
+ihnen neue gegeben, oder sie werden ganz ausgehoben und ihr Standpunkt
+durchaus mit frischer Erde erfüllt. Es ist auffällig sichtbar, wie
+sich Blatt und Blume an dieser Gabe erfreuen. Aber trotz der Erde und
+der Luft und der Sonne und der Feuchtigkeit würdet ihr die Rosen hier
+nicht so schön sehen, als ihr sie seht, wenn nicht noch andre Sorgfalt
+angewendet würde; denn immer entstehen manche Übel aus Ursachen, die
+wir nicht ergründen können oder die, wenn sie auch ergründet sind,
+wir nicht zu vereiteln vermögen. Endlich trifft ja die Gewächse wie
+alles Lebende der natürliche Tod. Kranke Pflanzen werden nun bei uns
+sogleich ausgehoben, in den Garten, gleichsam in das Rosenhospital
+getan und durch andere aus der Schule ersetzt. Abgestorbene Bäumchen
+kommen hier nicht leicht vor, weil sie schon in der Zeit des
+Absterbens weggetan werden. Tötet aber eine Ursache eines schnell,
+so wird es ohne Verzug entfernt. Eben so werden Teile, die erkranken
+oder zu Grunde gehen, von dem Gitter getrennt. Die beste Zeit ist der
+Frühling, wo die Zweige bloß liegen. Da werden Winkelleitern, die uns
+den Zugang zu allen Teilen gestatten, angelegt, und es wird das ganze
+Gitter untersucht.
+
+Man reinigt die Rinde, pflegt sie, verbindet ihre Wunden, knüpft die
+Zweige an und schneidet das Untaugliche weg. Aber auch im Sommer
+entfernen wir gleich jedes fehlerhafte Blatt und jede unvollständige
+Blume. Es haben nach und nach alle im Hause eine Neigung zu den Rosen
+bekommen, sehen gerne nach und zeigen es sogleich an, wenn sich etwas
+Unrechtes bemerken läßt. Auch in der Umgegend hat man Wohlgefallen an
+diesen Blumen gefunden, man setzt sie in Gärten und pflegt sie, ich
+schenke den Leuten die Pflanzen aus meinen Vermehrungsbeeten und
+unterrichte sie in der Behandlung. Zwei Wegestunden von hier ist ein
+Bauer, der wie ich eine ganze Wand seines Hauses mit Rosen bepflanzt
+hat.«
+
+»Je mehr es mir wichtig erscheint, wie ihr mit euren Rosen umgeht«,
+antwortete ich, »und für je wichtiger ihr sie selbst betrachtet, desto
+mehr muß ich doch die Frage tun, warum ihr denn gerade vorzugsweise an
+dieser Wand eures Hauses die Rosen zieht, wo ihr Standort doch nicht
+so ersprießlich ist, und wo man solche Anstalten machen muß, um ihr
+völliges Gedeihen zu sichern. Es ist zwar sehr schön, wie sie sich
+hier ausbreiten und darstellen; aber sollte man sie denn im Garten
+nicht auch in Stellungen und Gruppen bringen können, die eben so schön
+oder schöner wären als diese hier, und noch den Vorteil hätten, daß
+ihre Pflege viel leichter wäre?«
+
+»Ich habe die Rosen an die Wand des Hauses gesetzt«, erwiderte er,
+»weil sich eine Jugenderinnerung an diese Blume knüpft und mir die
+Art, sie so zu ziehen, lieb macht. Ich glaube, daß mir einzig darum
+die Rose so schön erscheint und daß ich darum die große Mühe für diese
+Art ihrer Pflege verwende.«
+
+»Ihr habt nichts von Ungeziefer gesagt«, entgegnete ich. »Nun weiß ich
+aber aus Erfahrung, daß kaum eine Pflanzengattung, etwa die Pappel
+ausgenommen, so gerne von Ungeziefer heimgesucht wird als die Rose,
+die in verschiedenen Arten und Geschlechtern von demselben bewohnt und
+entstellt wird. Hier sehe ich von dieser Plage gar nichts, als wäre
+sie nicht vorhanden oder als würde die Rose von ihr durch irgendein
+künstliches Mittel befreit. Ihr werdet doch nicht so wie jedes kranke
+Blatt auch jeden Blattwickler, jede Spinne, jede Blattlaus abnehmen
+lassen?
+
+Dieses bringt mich sogar noch auf einen weiteren Umstand, über den ich
+mir eine Frage an euch zu tun vorgenommen habe, welche ich gewiß noch
+vor meiner Abreise bei einer schicklichen Gelegenheit getan hätte,
+welche ich mir aber jetzt erlaube, da ihr mit solcher Güte und
+Bereitwilligkeit mir die Einsicht in die Dinge dieses Landsitzes
+gestattet habt. Bei meiner Wanderung durch das flache Land hatte ich
+mehrfach Gelegenheit zu bemerken, daß Obstbäume häufig kahle Äste
+haben oder daß überhaupt das Laub zerstört oder verunstaltet war, was
+von Raupenfraß herrührte. Mir fiel die Sache nicht weiter auf, da ich
+sie von Jugend an zu sehen gewohnt war und da sie sich nicht in einem
+ungewöhnlichen Grade zeigte; aber das fiel mir auf, daß so wie an
+diesen Rosen auch in eurem ganzen Garten nichts von dem Übel zu sehen
+ist, kein dürres Reis, kein kahles Zweiglein, kein Stengel eines
+abgefressenen Blattes, ja nicht einmal ein verletztes Blatt des
+Kohles, dem doch sonst der Weißling so gerne Schaden tut. Im
+Angesichte dieses Wohlbefindens kamen mir die Zerstörungen wieder zu
+Sinne, die ich in dem Lande gesehen hatte, und ich beschloß, in dieser
+Hinsicht eine Frage an euch zu tun, ob ihr denn da eigentümliche
+Vorkehrungen habt; denn das Ablesen der Raupen und Insekten hat sich
+ja überall als unzulänglich gezeigt.«
+
+»Wir würden allerdings durch Ablesen des Ungeziefers weder unsere
+Rosen noch die Bäume und Gesträuche im Garten vor Verunglimpfung
+frei halten können«, antwortete er. »Wir haben nun in der Tat andere
+Einrichtungen dagegen. Ich muß euch sagen, daß es mich freut, daß ihr
+in meinem Garten die Abwesenheit des Raupenfraßes bemerkt habt, und
+ich werde euch recht gerne darüber Aufklärung geben, und besonders
+darum, daß es sich auch ausbreiten könne. Die Beantwortung eurer
+Frage kann aber am besten in dem Garten geschehen, weil ich euch zur
+Bekräftigung gleich manche Vorrichtungen zeigen und die Beweise dartun
+kann. Wenn es euch genehm ist, so gehen wir in den Garten, in welchem
+auch eine kleine Ruhe auf irgend einem Bänkchen nach dem Gange von dem
+Meierhofe herauf nicht unangenehm sein wird.«
+
+»Einen Augenblick laßt mich noch diese Rosen betrachten«, sagte ich.
+
+»Tut nach eurem Gefallen«, antwortete er.
+
+Ich trat zuerst näher an das Gitter, um Einzelnes zu betrachten. Ich
+sah nun wirklich die reinliche Erde, in welcher die Stämmchen standen
+und die nicht von einem einzigen Gräschen bewachsen war. Ich sah das
+gutbestrichene Holzgitter, an welchem die Bäumchen angebunden und an
+welchem ihre Zweige ausgebreitet waren, daß sich keine leere Stelle an
+der Wand des Hauses zeigte. An jedem Stämmchen hing der Name der Blume
+auf Papier geschrieben und in einer gläsernen Hülse hernieder. Diese
+gläsernen Hülsen waren gegen den Regen geschützt, indem sie oben
+geschlossen, unten umgestülpt und mit einer kleinen Abflußrinne
+versehen waren. Nach dieser Betrachtung in der Nähe trat ich wieder
+zurück und besah noch einmal die ganze Wand der Blumen durch mehrere
+Augenblicke. Nachdem ich dieses getan hatte, sagte ich, daß wir jetzt
+in den Garten gehen könnten.
+
+Wir näherten uns dem Torgitter, der alte Mann tat einen Druck wie
+gestern, da er mich eingelassen hatte, das Tor öffnete sich und wir
+gingen in den Garten.
+
+Dort näherten wir uns einer Bank, die in angenehmem nachmittägigem
+Schatten stand. Als wir uns auf ihr niedergesetzt hatten, sagte mein
+Gastfreund: »Unsere Mittel, die Bäume, Gesträuche und kleineren
+Pflanzen vor Kahlheit zu bewahren, sind so einfach und in der Natur
+gegründet, daß es eine Schande wäre, sie aufzuzählen, wenn es
+andererseits nicht auch wahr wäre, daß sie nicht überall angewendet
+werden, besonders das letzte. Was nun das Kahlwerden von Bäumen und
+Ästen anlangt, so entsteht es nicht immer durch Raupen, sondern oft
+auch auf andern Wegen nach und nach. Gegen ein endliches Sterben und
+also Entlaubtwerden des ganzen Baumes gibt es so wenig ein Mittel als
+gegen den Tod des Menschen; aber so weit darf man es bei einem Baume
+im Garten nicht kommen lassen, daß er tot in demselben dasteht,
+sondern wenn man ihm durch Zurückschneiden seiner Äste öfter
+Verjüngungskräfte gegeben hat; wenn aber nach und nach dieses Mittel
+anfängt, seine Wirkung nicht mehr zu bewähren, so tut man dem Baume
+und dem Garten eine Wohltat, wenn man beide trennt. Ein solcher Baum
+steht also in einem nur einiger Maßen gut besorgten Garten oder auf
+anderem Grunde gar nicht. Damit aber auch nicht Teile eines Baumes
+kahl dastehen, haben wir mehrere Mittel. Sie bestehen aber darin, dem
+Baume zu geben, was ihm not tut, und ihm zu nehmen, was ihm schadet.
+Darum gilt als Oberstes, daß man nie einen Baum an eine Stelle setze,
+auf der er nicht leben kann. Auf Stellen, die Bäumen überhaupt das
+Leben versagen, setzt wohl kein vernünftiger Mensch einen. Aber
+es gibt auch Stellen, die nur darum nicht taugen, weil sie nicht
+bearbeitet sind, oder weil ihnen etwas mangelt, was einem bestimmten
+Gewächse notwendig ist. Um nun die Stelle gut zu bearbeiten, haben
+wir, ehe wir einen Baum setzten, eine so tiefe Grube gegraben und mit
+gelockerter Erde gefüllt, daß der Baum bedeutend alt werden konnte,
+ehe er genötigt war, seine Wurzeln in unbearbeiteten Boden zu treiben.
+Selbst alte Stämme, die ich hier gefunden hatte und deren Zustand mir
+nicht gefiel, habe ich durch Herausnehmen, Lockern ihres Standortes
+und Wiedereinsetzen zu vortrefflichem Gedeihen gebracht. Aber ehe wir
+die Grube gegraben haben, ehe wir den Baum in dieselbe gesetzt haben,
+haben wir auch durch Erfahrung oder Bücher herauszubringen gesucht,
+was ihm auch nebst der Erde noch not tue und welchen Platz er haben
+müsse. Für welchen Baum ein geeigneter Platz im Garten nicht ist, der
+soll auch im Garten gar nicht sein. Welche Bäume viele Luft brauchen,
+setzten wir in die Luft, die das Licht lieben, in das Licht, die
+den Schatten, in den Schatten. In den Schutz der größeren oder
+windwiderstandsfähigeren setzten wir diejenigen, welche des Schutzes
+bedurften. Die Frost und Reif scheuen, stehen an Wänden oder warmen
+Orten. Und auf diese Weise gedeihen nun alle durch ihre Lebenskraft
+und natürliche Nahrung. Im Frühlinge wird jeder Stamm und seine
+stärkeren Äste durch eine Bürste und gutes Seifenwasser gewaschen und
+gereinigt. Durch die Bürste werden die fremden Stoffe, die dem Baume
+schaden könnten, entfernt, und das Waschen ist ein nützliches Bad für
+die Rinde, die wie die Haut der Tiere von dem höchsten Belange für das
+Leben ist, und endlich werden die Stämme dadurch auch schön. Unsere
+Bäume haben kein Moos, die Rinde ist klar und bei den Kirschbäumen
+fast so fein wie graue Seide.«
+
+
+Ich hatte wohl gesehen, daß alle Bäume eine sehr gesunde Rinde haben;
+aber ich hatte dieses mit ihren schönen Blättern und mit ihrem guten
+Gedeihen überhaupt als eine notwendige Folge in Zusammenhang gebracht.
+
+»Wenn nun trotz aller Vorsichten doch einzelne Teile der Bäume durch
+Winde, Kälte oder dergleichen kahl werden«, fuhr mein Gastfreund
+fort, »so werden dieselben bei dem Beschneiden der Bäume im Frühlinge
+entfernt. Der Schnitt wird mit gutem Kitte verstrichen, daß keine
+Nässe in das Holz dringen und in dem noch gesunden Teile eine
+Krankheit erzeugen kann. Und so würde in einem Garten nie eine
+Kahlheit zu erblicken sein, wenn nicht äußere Feinde kämen, die eine
+solche zu bewirken trachteten. Derlei Feinde sind Hagel, Wolkenbrüche
+und ähnliche Naturerscheinungen, gegen die es keine Mittel gibt. Sie
+schaden aber auch nicht so sehr. In unseren Gegenden sind sie selten,
+und ihre Wirkungen können auch leicht durch schnelles Beseitigen des
+Zerstörten, durch Nachwuchs und Nachpflanzungen unbemerkbar gemacht
+werden. Aber gefährlichere Gegner sind die Insekten, diese können die
+Güte eines Gartens zerstören, können seine Schönheit entstellen und
+ihm in manchen Jahren einen wahrhaft traurigen Anblick geben. Dies ist
+der Umstand, von dem ich sagte, daß ich seiner zuletzt Erwähnung tun
+werde. Ihr seht, daß unser Garten von der Insektenplage, die ihr,
+wie ihr sagt, auf eurer Wanderung an anderen Bäumen bemerkt habt, in
+diesem Jahre frei ist.«
+
+»Ich habe Äpfelbäume an warmen und stillen Orten fast ganz entlaubt
+gesehen«, antwortete ich. »Es sind mir mehrere Fälle dieser Art
+vorgekommen. Aber daß einzelne Äste entlaubt waren, daß das Laub von
+ganzen Bäumen entstellt war, habe ich oft gesehen. Allein ich habe
+es für kein großes Übel gehalten, und habe auf kein schlechtes Jahr
+geschlossen, weil ich wußte, daß diese Zerstörungen immer vorkommen
+und daß ihr Schaden, wenn sie nicht im Übermaße auftreten, nicht
+erheblich ist. Ich betrachtete die Erscheinung als ein Ding, das so
+sein muß.«
+
+»Daran möchtet ihr Unrecht getan haben«, sagte mein Gastfreund, »einen
+Schaden bringt diese Erscheinung immer, und wenn man ihn nach ganzen
+Länderstrichen berechnete, so könnte er ein sehr beträchtlicher sein,
+zu dem noch der andere kömmt, daß man den entlaubten Baum anschauen
+muß. Auch ist das Ding keine Erscheinung, die so sein muß. Es gibt ein
+Mittel dagegen, und zwar ein Mittel, das außer seiner Wirksamkeit auch
+noch sehr schön ist und also zum Nutzen einen Genuß beschert, durch
+den uns die Natur gleichsam zu seiner Anwendung leiten will. Aber
+dennoch, wie ich früher sagte, wird dieses Mittel unter allen am
+wenigsten gebraucht, ja man beeifert sich sogar an vielen Orten, es zu
+zerstören. Ihr solltet das Mittel schon wahrgenommen haben.«
+
+Ich sah ihn fragend an.
+
+»Habt ihr nicht etwas in unserem Garten gehört, das euch besonders
+auffallend war?« fragte er.
+
+»Den Vogelsang«, sagte ich plötzlich.
+
+»Ihr habt richtig bemerkt«, erwiderte er. »Die Vögel sind in diesem
+Garten unser Mittel gegen Raupen und schädliches Ungeziefer. Diese
+sind es, welche die Bäume, Gesträuche, die kleinen Pflanzen und
+natürlich auch die Rosen weit besser reinigen, als es Menschenhände
+oder was immer für Mittel zu bewerkstelligen im Stande wären. Seit
+diese angenehmen Arbeiter uns Hilfe leisten, hat sich in unserm
+Garten so wie im heurigen Jahre auch sonst nie mehr ein Raupenfraß
+eingefunden, der nur im Geringsten bemerkbar gewesen wäre.«
+
+»Aber Vögel sind ja an allen Orten«, entgegnete ich. »Sollten sie in
+eurem Garten mehr sein, um ihn mehr schützen zu können?«
+
+»Sie sind auch mehr in unserem Garten«, erwiderte er, »weit mehr als
+an jeder Stelle dieses Landes und vielleicht auch anderer Länder.«
+
+»Und wie ist denn diese Mehrheit hieher gebracht worden?« fragte ich.
+
+»Es ist so, wie ich früher von den Bäumen gesagt habe, man muß ihnen
+die Bedingungen ihres Gedeihens geben, wenn man sie an einem Orte
+haben will; nur daß man die Tiere nicht erst an den Ort setzen muß
+wie die Bäume, sie kommen selber, besonders die Vögel, denen das
+Übersiedeln so leicht ist.«
+
+»Und welche sind denn die Bedingungen ihres Gedeihens?« fragte ich.
+
+»Hauptsächlich Schutz und Nahrung«, erwiderte er.
+
+»Wie kann man denn einen Vogel schützen?« fragte ich.
+
+»Ihn kann man nicht schützen«, sagte mein Gastfreund, »er schützt
+sich selber; aber die Gelegenheit zum Schutze kann man ihm geben. Die
+Singvögel, welche sich nicht mit Waffen verteidigen können, suchen
+gegen Feinde und Wetter Höhlungen in Bäumen, Felsen, Mauern oder
+dergleichen auf, die so enge sind, daß ihnen ihr meistens größerer
+Feind in dieselben nicht folgen kann, und so tief, daß er auch nicht
+mit einem Schnabel oder einer Tatze bis auf den Grund zu langen vermag
+- einige, wie die Spechte, machen sich selber die Höhlungen in die
+Bäume -, oder sie gehen in solche Dickichte, daß Raubvögel, Wiesel und
+ähnliche Verfolger nicht durchzudringen vermögen. Hiebei ist es ihnen
+noch mehr um den Schutz ihrer Jungen, die sie in solchen Orten haben,
+als um ihren eigenen zu tun. Erst, wenn so gesicherte Stellen nicht zu
+finden sind und die Zeit drängt, begnügt sich der Singvogel zum Wohnen
+und Brüten mit schlechteren Plätzen. Hat eine Gegend häufige solche
+Zufluchtsorte, so darf man sicher schließen, daß sie auch, wenn die
+andern Bedingungen nicht fehlen, viele Vögel hat. Denkt nur an ein
+altes löcheriges Turmdach, wie ist es von Dohlen und Mauerschwalben
+umschwärmt. Will man Vögel in eine Gegend ziehen, so muß man solche
+Zufluchtsorte schaffen, und zwar so gut als möglich. Wir können,
+wie ihr seht, nicht Felsen und Baumstämme aushöhlen, aber aus Holz
+gemachte Höhlungen können wir überall auf die Bäume aufhängen. Und
+dies tun wir auch. Wir machen diese Höhlungen tief genug, richten das
+Schlupfloch von der Wetterseite weg meistens gegen Mittag und machen
+es gerade so weit, daß der Vogel, für den es bestimmt ist, ein und aus
+kann.
+
+Ihr müßt ja derlei in den Bäumen unseres Gartens gesehen haben?«
+
+»Ich habe sie gesehen«, erwiderte ich, »habe dunkel vermutet, wozu sie
+dienen könnten, habe aber die Vorstellung in Folge anderer Eindrücke
+wieder aus dem Haupte verloren.«
+
+»Wenn wir etwa noch einmal ein wenig in dem Garten herumgehn«, sagte
+mein Gastfreund, »so werden wir mehrere solche Vogelbehälter sehen.
+Den Heckennistern bauen wir ein so dichtes Geflechte von Dornzweigen
+und Dornästen in unsere Büsche, daß man meinen sollte, es könne kaum
+eine Hummel ein- und ausschlüpfen; aber der Vogel findet doch einen
+Eingang und baut sich sein Nest. Solcher Nester könnt ihr mehrere
+sehen, wenn ihr wollt. Sie haben das Angenehme, daß man diese
+Federfamilien in ihrem Haushalte sieht, was bei den Höhlennistern
+nicht angeht. Auf diese Weise schützen wir die kleineren Vögel, die
+wir in unserem Garten brauchen. Die großen, welche sich mit Schnabel,
+Krallen und Flügeln verteidigen können, sind bei uns eher Feinde als
+Freunde und werden nicht geduldet.«
+
+»Außer dem Schutze«, fuhr er nach einer Weile fort, »brauchen
+die Vögel auch Nahrung. Sie meiden die nahrungsarmen Orte und
+unterscheiden sich hierdurch von den Menschen, welche zuweilen große
+Strecken weit gerade dahin wandern, wo sie ihren Unterhalt nicht
+finden. Die Vögel, die für unseren Garten passen, ernähren sich
+meistens von Gewürmen und Insekten; aber wenn an einem Platze, der zum
+Nisten geeignet ist, die Zahl der Vögel so groß wird, daß sie ihre
+Nahrung nicht mehr finden, so wandert ein Teil aus und sucht den
+Unterhalt des Lebens anderswo. Will man daher an einem Orte eine so
+große Zahl von Vögeln zurückhalten, daß man vollkommen sicher ist,
+daß sie auch in den ungezieferreichsten Jahren hinlänglich sind,
+um Schaden zu verhüten, so muß man ihnen außer ihrer von der Natur
+gegebenen Nahrung auch künstliche mit den eigenen Händen spenden. Tut
+man das, so kann man so viele Vögel an einem Platze erziehen, als man
+will. Es kömmt nur darauf an, daß man, um seinen Zweck nicht aus den
+Augen zu verlieren, nur so viel Almosen gibt, als notwendig ist,
+einen Nahrungsmangel zu verhindern. Es ist wohl in dieser Hinsicht im
+allgemeinen nicht zu befürchten, daß in der künstlichen Nahrung ein
+Übermaß eintrete, da den Tieren ohnehin die Insekten am liebsten sind.
+Nur wenn diese Nahrung gar zu reizend für sie gemacht würde, könnte
+ein solches Übermaß erfolgen, was leicht an der Vermehrung des
+Ungeziefers erkannt werden würde. Einige Erfahrung läßt einen schon
+den rechten Weg einhalten. Im Winter, in welchem einige Arten
+dableiben, und in Zeiten, wo ihre natürliche Kost ganz mangelt, muß
+man sie vollständig ernähren, um sie an den Platz zu fesseln. Durch
+unsere Anstalten sind Vögel, die im Frühlinge nach Plätzen suchten,
+wo sie sich anbauen könnten, in unserem Garten geblieben, sie sind,
+da sie die Bequemlichkeit sahen und Nahrung wußten, im nächsten
+Jahre wieder gekommen oder, wenn sie Wintervögel waren, gar nicht
+fortgegangen. Weil aber auch die Jungen ein Heimatsgefühl haben und
+gerne an Stellen bleiben, wo sie zuerst die Welt erblickten, so
+erkoren sich auch diese den Garten zu ihrem künftigen Aufenthaltsorte.
+Zu den vorhandenen kamen von Zeit zu Zeit auch neue Einwanderer, und
+so vermehrt sich die Zahl der Vögel in dem Garten und sogar in der
+nächsten Umgebung von Jahr zu Jahr. Selbst solche Vögel, die sonst
+nicht gewöhnlich in Gärten sind, sondern mehr in Wäldern und
+abgelegenen Gebüschen, sind gelegentlich gekommen, und da es ihnen
+gefiel, dageblieben, wenn ihnen auch manche Dinge, die sonst der Wald
+und die Einsamkeit gewähren, hier abgehen mochten. Zur Nahrung rechnen
+wir auch Licht, Luft und Wärme. Diese Dinge geben wir nach Bedarf
+dadurch, daß wir die Bauplätze zu den Nestern an den verschiedensten
+Stellen des Gartens anbringen, damit sich die Paare die wärmeren oder
+kühleren, luftigeren oder sonnigeren aussuchen können. Für welche
+keine taugliche Stelle möglich ist, die sind nicht hier. Es sind das
+nur solche Vögel, für welche die hiesigen Landstriche überhaupt nicht
+passen, und diese Vögel sind dann auch für unsere Landstriche nicht
+nötig. Zu den geeigneten Zeiten besuchen uns auch Wanderer und
+Durchzügler, die auf der Jahresreise begriffen sind.
+
+Sie hätten eigentlich keinen Anspruch auf eine Gabe, allein da sie
+sich unter die Einwohner mischen, so essen sie auch an ihrer Schüssel
+und gehen dann weiter.«
+
+»Auf welche Weise gebt ihr denn den Tieren die nötige Nahrung?« fragte
+ich.
+
+»Dazu haben wir verschiedene Einrichtungen«, sagte er. »Manche von den
+Vögeln haben bei ihrem Speisen festen Boden unter den Füßen, wie die
+Spechte, die an den Bäumen hacken, und solche, die ihre Nahrung auf
+der platten Erde suchen; andere, besonders die Waldvögel, lieben das
+Schwanken der Zweige, wenn sie essen, da sie ihr Mahl in eben diesen
+Zweigen suchen. Für die ersten streut man das Futter auf was immer für
+Plätze, sie wissen dieselben schon zu finden. Den anderen gibt man
+Gitter, die an Schnüren hängen, und in denen, in kleine Tröge gefüllt
+oder auf Stifte gesteckt, die Speise ist. Sie fliegen herzu und
+wiegen sich essend in dem Gitter. Die Vögel werden auch nach und nach
+zutraulich, nehmen es endlich nicht mehr so genau mit dem Tische, und
+es tummeln sich Festfüßler und Schaukler auf der Fütterungstenne, die
+neben dem Gewächshause ist, wo ihr mich heute morgen gesehen habt.«
+
+»Ich habe das von heute morgen mehr für zufällig als absichtlich
+gehalten«, sagte ich.
+
+»Ich tue es gerne, wenn ich anwesend bin«, erwiderte er, »obwohl es
+auch andere tun können. Für die ganz schüchternen, wie meistens die
+neuen Ankömmlinge und die ganz und gar eingefleischten Waldvögel sind,
+haben wir abgelegene Plätze, an die wir ihnen die Nahrung tun. Für die
+vertraulicheren und umgänglicheren bin ich sogar auf eine sehr bequeme
+und annehmliche Verfahrungsweise gekommen. Ich habe in dem Hause ein
+Zimmer, vor dessen Fenster Brettchen befestigt sind, auf welche ich
+das Futter gebe. Die Federgäste kommen schon herzu und speisen vor
+meinen Augen. Ich habe dann auch das Zimmer gleich zur Speisekammer
+eingerichtet und bewahre dort in Kästen, deren kleine Fächer mit
+Aufschriften versehen sind, dasjenige Futter, das entweder in
+Sämereien besteht oder dem schnellen Verderben nicht ausgesetzt ist.«
+
+»Das ist das Eckzimmer«, sagte ich, »das ich nicht begriff, und dessen
+Brettchen ich für Blumenbrettchen ansah und doch für solche nicht
+zweckmäßig fand.«
+
+»Warum habt ihr denn nicht gefragt?« erwiderte er.
+
+»Ich nahm es mir vor und habe wieder darauf vergessen«, antwortete
+ich.
+
+»Da die meisten Sänger von lebendigen Tierchen leben«, setzte er seine
+Erzählung fort, »so ist es nicht ganz leicht, die Nahrung für alle
+zu bereiten. Da aber doch ein großer Teil nebst dem Ungeziefer
+auch Sämereien nicht verschmäht, so sind in der Speisekammer alle
+Sämereien, welche auf unseren Fluren und in unseren Wäldern reifen und
+werden, wenn sie ausgehen oder veralten, durch frische ersetzt. Für
+solche, welche die Körner nicht lieben, wird der Abgang durch Teile
+unseres Mahles, zartes Fleisch, Obst, Eierstückchen, Gemüse und
+dergleichen, ersetzt, was unter die Körner gemischt wird. Die
+Kohlmeise erhält sehr gerne, wenn sie tätig ist, und besonders,
+wenn sie um ihre Jungen sich gut annimmt, ein Stückchen Speck zur
+Belohnung, den sie außerordentlich liebt. Auch Zucker wird zuweilen
+gestreut. Für den Trank ist im Garten reichlich gesorgt. In jede
+Wassertonne geht schief ein befestigter Holzsteg, an welchem sie zu
+dem Wasser hinabklettern können. In den Gebüschen sind Steinnäpfe, in
+die Wasser gegossen wird, und in dem Dickichte an der Abendseite des
+Gartens ist ein kleines Quellchen, das wir mit steinernen Rändern
+eingefaßt haben.«
+
+»Da habt ihr ja Arbeit und Sorge in Fülle mit diesen Gartenbewohnern«.
+sagte ich.
+
+»Es übt sich leicht ein«, antwortete er, »und der Lohn dafür ist sehr
+groß. Es ist kaum glaublich, zu welchen Erfahrungen man gelangt, wenn
+man durch mehrere Jahre diese gefiederten Tiere hegt und gelegentlich
+die Augen auf ihre Geschäftigkeit richtet. Alle Mittel, welche die
+Menschen ersonnen haben, um die Gewächse vor Ungeziefer zu bewahren,
+so trefflich sie auch sein mögen, so fleißig sie auch angewendet
+werden, reichen nicht aus, wie es ja in der Lage der Sache gegründet
+ist. Wie viele Hände von Menschen müßten tätig sein, um die
+unzählbaren Stellen, an deren sich Ungeziefer erzeugt, zu entdecken
+und die Mittel auf sie anzuwenden. Ja, die ganz gereinigten Stellen
+geben auf die Dauer keine Sicherheit und müssen stets von neuem
+untersucht worden. In den verschiedensten Zeiten und unbeachtet
+entwickeln sich die Insekten auf Stengeln, Blättern, Blüten, unter der
+Rinde und breiten sich unversehens und schnell aus. Wie könnte man da
+die Keime entdecken und vor ihrer Entwicklung vernichten? Oft sind die
+schädlichen Tierchen so klein, daß wir sie mit unseren Augen kaum zu
+entdecken vermögen, oft sind sie an Orten, die uns schwer zugänglich
+sind, zum Beispiele in den äußersten Spitzen der feinsten Zweige der
+Bäume. Oft ist der Schaden in größter Schnelligkeit entstanden, wenn
+man auch glaubt, daß man seine Augen an allen Stellen des Gartens
+gehabt, daß man keine unbeachtet gelassen und daß man seine Leute
+zur genauesten Untersuchung angeeifert hat. Zu dieser Arbeit ist von
+Gott das Vogelgeschlecht bestimmt worden und insbesondere das der
+kleinen und singenden, und zu dieser Arbeit reicht auch nur das
+Vogelgeschlecht vollkommen aus. Alle Eigenschaften der Insekten,
+von denen ich gesprochen habe, ihre Menge, ihre Kleinheit, ihre
+Verborgenheit und endlich ihre schnelle und plötzliche Entwicklung
+schützen sie gegen die Vögel nicht. Sprechen wir von der Menge. Alle
+Singvögel, wenn sie auch später Sämereien fressen, nähren doch ihre
+Jungen von Raupen, Insekten, Würmern, und da diese Jungen so schnell
+wachsen und so zu sagen unaufhörlich essen, so bringt ein einziges
+Paar in einem einzigen Tage eine erkleckliche Menge von solchen
+Tierchen in das Nest, was erst hundert Paare in zehn, vierzehn,
+zwanzig Tagen! So lange brauchen ungefähr die Jungen zum Flüggewerden.
+Und alle Stellen, wie zahlreich sie auch sein können, werden von den
+geschäftigen Eltern durchsucht. Sprechen wir von der Kleinheit der
+Tierchen. Sie oder ihre Larven und Eier mögen noch so klein sein, von
+den scharfen, spähenden Augen eines Vogels werden sie entdeckt. Ja
+manche Vögel, wie das Goldhähnchen, der Zaunkönig, dürfen ihren Jungen
+nur die kleinsten Nahrungsstückchen bringen, weil dieselben, wenn sie
+dem Ei entschlüpft sind, selber kaum so groß wie eine Fliege oder
+eine kleine Spinne sind. Gehen wir endlich auf die Abgelegenheit und
+Unerreichbarkeit der Aufenthaltsorte der Insekten über, so sind sie
+dadurch nicht vor dem Schnabel der Vögel geschützt, wenn sie für
+ihre Jungen oder sich Nahrung brauchen. Was wäre einem Vogel leicht
+unzugänglich? In die höchsten Zweige schwingt er sich empor, an der
+Rinde hält er sich und bohrt in sie, durch die dichtesten Hecken
+dringt er, auf der Erde läuft er, und selbst unter Blöcke und
+Steingerölle dringt er. Ja, einmal sah ich einen Buntspecht im Winter,
+da die Äste zu Stein gefroren schienen, auf einen solchen mit Gewalt
+loshämmeren und sich aus dessen Innern die Nahrung holen. Die Spechte
+zeigen auf diese Weise - ich sage es hier nebenbei - auch die Äste
+an, die morsch und vom Gewürme ergriffen sind, und daher weggeschafft
+werden müssen.
+
+Was zuletzt den unvorhergesehenen und plötzlichen Raupenfraß anlangt,
+den der Mensch zu spät entdeckt, so kann er sich nicht einstellen, da
+die Vögel überall nachsehen und bei Zeiten abhelfen.«
+
+»Wie sehr diese Tiere für das Ungeziefer geschaffen sind«, sagte er
+nach einer Weile, »zeigt sich aus der Beobachtung, daß sie die Arbeit
+unter sich teilen. Die Blaumeise und die Tannenmeise entdeckt die Brut
+der Ringelraupe und anderer Raupengattungen an den äußersten Spitzen
+der Zweige, wo sie unter der Rinde verborgen ist, indem sie, sich
+an die Zweige hängend, dieselben absucht, die Kohlmeise durchsucht
+fleißig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeise klettert Stamm auf
+Stamm ab und holt die versteckten Eier hervor, der Finke, der gerne in
+den Nadelbäumen nistet, weshalb auch solche Bäume in dem Garten sind,
+geht gleichwohl gerne von ihnen herab und läuft den Gängen der Käfer
+und der gleichen nach, und ihn unterstützen oder übertreffen vielmehr
+die Ammerlinge, die Grasmücken, die Rotkehlchen, die auf der Erde
+unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nahrung suchen und finden. Sie
+beirren sich wechselseitig nicht und lassen in ihrer unglaublichen
+Tätigkeit nicht nach, ja sie scheinen sich eher darin einander
+anzueifern. Ich habe nicht eigens Beobachtungen angestellt; aber wenn
+man mehrere Jahre unter den Tieren lebt, so gibt sich die Betrachtung
+von selber.«
+
+»Auch einen eigentümlichen Gedanken«, fuhr er fort, »hat das Walten
+dieser Tiere in mir erweckt oder vielmehr bestärkt; denn ich hatte
+ihn schon längst. Allen Tatsachen, die wichtig sind, hat Gott
+außer unserem Bewußtsein ihres Wertes auch noch einen Reiz für uns
+beigesellt, der sie annehmlich in unser Wesen gehen läßt.
+
+Diesen Tierchen nun, die so nützlich sind, hat er, ich möchte sagen,
+die goldene Stimme mitgegeben, gegen die der verhärtetste Mensch nicht
+verhärtet genug ist. Ich habe in unserem Garten mehr Vergnügen gehabt
+als manchmal in Sälen, in denen die kunstreichste Musik aufgeführt
+wurde, die selten zu hören ist. Zwar singt ein Vogel in einem Käfige
+auch; denn der Vogel ist leichtsinnig, er erschrickt zwar heftig, er
+fürchtet sich; aber bald ist der Schrecken und die Furcht vergessen,
+er hüpft auf einen Halt für seine Füße und trällert dort das Lied, das
+er gelernt hat und das er immer wiederholt. Wenn er jung und sogar
+auch alt gefangen wird, vergißt er sich und sein Leid, wird ein Hin-
+und Widerhüpfer in kleinem Raume, da er sonst einen großen brauchte,
+und singt seine Weise; aber dieser Gesang ist ein Gesang der
+Gewohnheit, nicht der Lust. Wir haben an unserm Garten einen
+ungeheueren Käfig ohne Draht, Stangen und Vogeltürchen, in welchem der
+Vogel vor außerordentlicher Freude, der er sich so leicht hingibt,
+singt, in welchem wir das Zusammentönen vieler Stimmen hören können,
+das in einem Zimmer beisammen nur ein Geschrei wäre, und in welchem
+wir endlich die häusliche Wirtschaft der Vögel und ihre Gebärden
+sehen können, die so verschieden sind und oft dem tiefsten Ernste ein
+Lächeln abgewinnen können. Man hat uns in diesem Hegen von Vögeln in
+einem Garten nicht nachgeahmt. Die Leute sind nicht verhärtet gegen
+die Schönheit des Vogels und gegen seinen Gesang, ja diese beiden
+Eigenschaften sind das Unglück des Vogels. Sie wollen dieselben
+genießen, sie wollen sie recht nahe genießen, und da sie keinen Käfig
+mit unsichtbaren Drähten und Stangen machen können wie wir, in dem sie
+das eigentliche Wesen des Vogels wahrnehmen könnten, so machen sie
+einen mit sichtbaren, in welchem der Vogel eingesperrt ist und
+seinem zu frühen Tode entgegen singt. Sie sind auf diese Weise nicht
+unfühlsam für die Stimme des Vogels, aber sie sind unfühlsam für
+sein Leiden. Dazu kommt noch, daß es der Schwäche und Eitelkeit des
+Menschen, besonders der Kinder, angenehm ist, eines Vogels, der durch
+seine Schwingen und seine Schnelligkeit gleichsam aus dem Bereiche
+menschlicher Kraft gezogen ist, Herr zu werden und ihn durch Witz und
+Geschicklichkeit in seine Gewalt zu bringen. Darum ist seit alten
+Zeiten der Vogelfang ein Vergnügen gewesen, besonders für junge Leute;
+aber wir müssen sagen, daß es ein sehr rohes Vergnügen ist, das man
+eigentlich verachten sollte. Freilich ist es noch schlechter und
+muß ohne weiteres verabscheut werden, wenn man Singvögel nicht des
+Gesanges wegen fängt, sondern sie fängt und tötet, um sie zu essen.
+Die unschuldigsten und mitunter schönsten Tiere, die durch ihren
+einschmeichelnden Gesang und ihr liebliches Benehmen ohnehin unser
+Vergnügen sind, die uns nichts anders tun als lauter Wohltaten, werden
+wie Verbrecher verfolgt, werden meistens, wenn sie ihrem Triebe
+der Geselligkeit folgen, erschossen, oder, wenn sie ihren nagenden
+Hunger stillen wollen, erhängt. Und dies geschieht nicht, um ein
+unabweisliches Bedürfnis zu erfüllen, sondern einer Lust und Laune
+willen. Es wäre unglaublich, wenn man nicht wüßte, daß es aus Mangel
+an Nachdenken oder aus Gewohnheit so geschieht. Aber das zeigt eben,
+wie weit wir noch von wahrer Gesittung entfernt sind. Darum haben
+weise Menschen bei wilden Völkern und bei solchen, die ihre Gierde
+nicht zu zähmen wußten oder einen höheren Gebrauch von ihren Kräften
+noch nicht machen konnten, den Aberglauben aufgeregt, um einen Vogel
+seiner Schönheit oder Nützlichkeit willen zu retten. So ist die
+Schwalbe ein heiliger Vogel geworden, der dem Hause Segen bringt,
+das er besucht, und den zu töten Sünde ist. Und selten dürfte es ein
+Vogel mehr verdienen als die Schwalbe, die so wunderschön ist und so
+unberechenbaren Nutzen bringt. So ist der Storch unter göttlichen
+Schutz gestellt, und den Staren hängen wir hölzerne Häuser in unsere
+Bäume. Ich hoffe, daß, wenn unseren Nachbarn die Augen über den Erfolg
+und den Nutzen des Hegens von Singvögeln aufgehen, sie vielleicht auch
+dazu schreiten werden, uns nachzuahmen; denn für Erfolg und Nutzen
+sind sie am empfänglichsten. Ich glaube aber auch, daß unsere
+Obrigkeiten das Ding nicht gering achten sollten, daß ein strenges
+Gesetz gegen das Fangen und Töten der Singvögel zu geben wäre und
+daß das Gesetz auch mit Umsicht und Strenge aufrecht erhalten werden
+sollte. Dann würde dem menschlichen Geschlechte ein heiligendes
+Vergnügen aufbewahrt bleiben, wir würden durch die Länder wie durch
+schöne Gärten gehen, und die wirklichen Gärten würden erquickend
+dastehen, in keinem Jahre leiden und in besonders unglücklichen nicht
+den Anblick der gänzlichen Kahlheit und der traurigen Verödung zeigen.
+Wollt ihr nicht auch ein wenig unsere gefiederten Freunde ansehen?«
+
+»Sehr gerne«, sagte ich.
+
+
+Wir standen von dem Sitze auf und gingen mehr in die Tiefe den Gartens
+zurück.
+
+Das vielstimmige Vogelgezwitscher durch den Garten und das helle
+Singen in unserer Nähe, welches mir gestern nachmittags da ich es in
+das Zimmer hinein gehört hatte, seltsam gewesen war, erschien mir nun
+sehr lieblich, ja ehrwürdig, und wenn ich einen Vogel durch einen Baum
+huschen sah oder über einen Sandweg laufen, so erfüllte es mich mit
+einer Gattung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer Hecke, wies
+mit dem Finger hinein und sagte: »Seht!«
+
+Ich antwortete, daß ich nichts sähe.
+
+»Schaut nur genauer«, sagte er, indem er mit dem Finger neuerdings die
+Richtung wies.
+
+Ich sah nun unter einem äußerst dichten Dornengeflechte, welches
+in die Hecke gemacht worden war, ein Nest. In dem Neste saß ein
+Rotkehlchen, wenigstens dem Rücken nach zu urteilen. Es flog nicht
+auf, sondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen uns und sah mit
+den schwarzen, glänzenden Augen unerschrocken und vertraulich zu uns
+herauf.
+
+»Dieses Rotkehlchen sitzt auf seinen Eiern«, sagte mein Begleiter,
+»es ist eine Spätehe, wie sie öfter vorkommen. Ich besuche es schon
+mehrere Tage und lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das
+weiß der Schelm, darum frägt er mich schon darnach und fürchtet den
+Fremden nicht, der bei mir ist.«
+
+In der Tat, das Tierchen blieb ruhig in seinem Neste und ließ sich
+durch unser Reden und durch unsere Augen nicht beirren.
+
+»Man muß eigentlich ehrlich gegen sie sein«, sagte mein Gastfreund;
+»aber ich habe keine Larve in der Hand, darum bitte ich dich, Gustav,
+gehe in das Haus und hole mir eine.«
+
+Der Jüngling wendete sich schnell um und eilte in das Haus.
+
+Indessen führte mich mein Begleiter eine Strecke vorwärts und zeigte
+mir neuerdings in einer Hecke unter Dornen ein Nest, in welchem eine
+Ammer saß.
+
+»Diese sitzt auf ihren Jungen, die noch kaum die ersten Härchen haben,
+und erwärmt sie«, sagte mein Begleiter. »Sie kann nicht viel von ihnen
+weg, darum bringt den meisten Teil der Nahrung der Vater herbei. Nach
+einigen Tagen aber werden sie schon so stark, daß sie der Mutter
+überall hervor sehen, wenn sie sich auch zeitweilig auf sie setzt.«
+
+Auch die Ammer flog bei unserer Annäherung nicht auf, sondern sah uns
+ruhig an.
+
+So zeigte mir mein Begleiter noch ein paar Nester, in denen Junge
+waren, die, wenn sie sich allein befanden, auf das Geräusch unserer
+Annäherung die gelben Schnäbel aufsperrten und Nahrung erwarteten. In
+zwei anderen waren Mütter, die bei unserem Herannahen nicht aufflogen.
+Da wir im Vorbeigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern ätzten,
+ließen sich diese nicht von ihrem Geschäfte abhalten, flogen herzu und
+nährten in unserer Gegenwart die Kinder.
+
+»Ich habe euch jetzt Nester gezeigt, die noch bevölkert sind«, sagte
+mein Gastfreund, »die meisten sind schon leer, die Jugend flattert
+bereits in dem Garten herum und übt sich zur Herbstreise. Die Nester
+sind zahlreicher als man vermutet, wir besuchen nur die, die uns bei
+der Hand sind.«
+
+Indessen war Gustav mit der verlangten Larve gekommen und gab sie dem
+alten Manne in die Hand. Dieser ging zu der Hecke, in welcher das Nest
+des Rotkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg daneben. Kaum
+hatte er sich entfernt und war zu uns getreten, die wir in der Nähe
+standen, so schlüpfte das Rotkehlchen unter den untersten Ästen der
+Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm sie und lief wieder in die
+Hecke zurück.
+
+Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei diesem Vorfalle überkam.
+Mein Gastfreund erschien mir wie ein weiser Mann, der sich zu einem
+niedreren Geschöpfe herabläßt.
+
+Auch der Jüngling Gustav war sehr heiter und zeigte Freude, wenn er
+in die Büsche blickte, in denen eine Wohnung war. Es war mir dies ein
+Beweis, daß das Zerstören der Vogelnester durch Wegnahme der Eier
+oder der Jungen und das Fangen der Vögel überhaupt den Kindern nicht
+angeboren ist, sondern daß dieser Zerstörungstrieb, wenn er da ist,
+von Eltern oder Erziehern hervorgerufen und in diese Bahn geleitet
+wurde, und daß er durch eine bessere Erziehung sein Gegenteil wird.
+
+Wir schritten weiter. In einer kleinen Fichte, die am Rande des
+Gartens stand, zeigten sie mir noch eine Finkenwohnung, die an dem
+Stamme in das Geflechte teils hervorgewachsener, teils künstlich
+eingefugter Äste und Zweige gebaut war. An anderen Bäumen sahen wir
+auch in die aufgehängten Behälter Vögel aus- und einschlüpfen. Mein
+Begleiter sagte, daß, wenn ich nur länger hier wäre, mir selbst die
+Sitten der Vögel verständlicher werden würden.
+
+Ich erwiderte, daß ich schon Mehreres aus meinen Reisen im Gebirge und
+aus meinen früheren Beschäftigungen in den Naturwissenschaften kenne.
+
+»Das ist doch immer weniger«, sagte mein Gastfreund, »als was man
+durch das lebendige Beisammenleben inne wird.«
+
+Es wurden einige Behälter, die mit aus Ruten geflochtenen Seilen an
+Bäumen befestigt waren und von denen man wußte, daß sie nicht mehr
+bewohnt seien, herabgenommen und auseinander gelegt, damit ich ihre
+Einrichtung sähe. Es war nur eine einfache Höhlung, die aus zwei
+halbhohlen Stücken bestand, die man mittelst Ringen, die enger zu
+schrauben waren, aneinanderpressen konnte.
+
+»Kein Singvogel«, sagte mein Begleiter, »geht in ein fertiges Nest,
+es mag nun dasselbe in einer früheren Zeit von ihm selber oder einem
+anderen Vogel gebaut worden sein, sondern er verfertigt sich sein
+Nest in jedem Frühlinge neu. Deshalb haben wir die Behälter aus zwei
+Teilen machen lassen, daß wir sie leicht auseinander nehmen und die
+veralteten Nester heraustun können. Auch zum Reinigen der Behälter ist
+diese Einrichtung sehr tauglich; denn wenn sie unbewohnt sind, nimmt
+allerlei Ungeziefer seine Zuflucht zu diesen Höhlungen, und der Vogel
+scheut Unrat und verdorbene Luft und würde eine unreine Höhlung nicht
+besuchen. Im letzten Teile des Winters, wenn der Frühling schon in
+Aussicht steht, werden alle diese Behälter herabgenommen, auf das
+Sorgfältigste gescheuert und in Stand gesetzt. Im Winter sind sie
+darum auf den Bäumen, weil doch mancher Vogel, der nicht abreist,
+Schutz in ihnen sucht. Die alten Nester werden zerfasert und gegen
+den Frühling ihre Bestandteile mit neuen vermehrt in dem Garten
+ausgestreut, damit die Familien Stoff für ihre Häuser finden.«
+
+Ich sah im Vorübergehen auch die Kletterstäbchen in den Wassertonnen,
+und im Gebüsche fanden wir das kleine rieselnde Wässerlein.
+
+
+Als wir uns auf dem Rückwege zum Hause befanden, sagte mein Begleiter:
+»Ich habe noch eine Art Gäste, die ich füttere, nicht daß sie mir
+nützen, sondern daß sie mir nicht schaden. Gleich in der ersten Zeit
+meines Hierseins, da ich eine sogenannte Baumschule anlegte, nehmlich
+ein Gärtchen, in welchem die zur Veredlung tauglichen Stämmchen
+gezogen wurden, habe ich die Bemerkung gemacht, daß mir im Winter
+die Rinde an Stämmchen abgefressen wurde, und gerade die beste und
+zarteste Rinde an den besten Stämmchen. Die Übeltäter wiesen sich
+teils durch ihre Spuren im Schnee, teils, weil sie auch auf frischer
+Tat ertappt wurden, als Hasen aus. Das Verjagen half nicht, weil sie
+wieder kamen und doch nicht Tag und Nacht jemand in der Baumschule
+Wache stehen konnte. Da dachte ich: die armen Diebe fressen die Rinde
+nur, weil sie nichts Besseres haben, hätten sie es, so ließen sie die
+Rinde stehen. Ich sammelte nun alle Abfälle von Kohl und ähnlichen
+Pflanzen, die im Garten und auf den Feldern übrig blieben, bewahrte
+sie im Keller auf und legte sie bei Frost und hohem Schnee teilweise
+auf die Felder außerhalb des Gartens. Meine Absicht wurde belohnt:
+die Hasen fraßen von den Dingen und ließen unsere Baumschule in
+Ruhe. Endlich wurde die Zahl der Gäste immer mehr, da sie die
+wohleingerichtete Tafel entdeckten; aber weil sie mit dem
+Schlechtesten, selbst mit den dicken Strünken des Kohles, zufrieden
+waren und ich mir solche von unseren Feldern und von Nachbarn leicht
+erwerben konnte, so fragte ich nichts darnach und fütterte. Ich
+sah ihnen oft aus dem Dachfenster mit dem Fernrohre zu. Es ist
+possierlich, wenn sie von der Ferne herzulaufen, dem bequem
+daliegenden Fraße mißtrauen, Männchen machen, hüpfen, dann aber sich
+doch nicht helfen können, herzustürzen und von dem Zeuge hastig
+fressen, das sie im Sommer nicht anschauen würden. Manche Leute legten
+Schlingen, da sie wußten, daß hier Hasen zusammenkamen. Aber da wir
+sehr sorgfältig nachspürten und die Schlingen wegnehmen ließen, da
+ich auch verbot, über unsere Felder zu gehen, und die Betroffenen
+zur Verantwortung zog, verlor sich die Sache wieder. Auch den Vögeln
+legten Buben in unserer Nähe Schlingen; aber das half sehr wenig, da
+die Vögel in unserem Garten sehr gute Kost hatten und nach der fremden
+Lockspeise nicht ausgingen. Die Beute an Vögeln war daher nie groß,
+und mit einiger Aufsicht und Wachsamkeit, die wir in den ersten Jahren
+einleiteten, geschah es, daß dieser Unfug auch bald wieder aufhörte.«
+
+Der alte Mann lud mich ein, in das Haus zu gehen und die
+Fütterungskammer anzusehen.
+
+Auf dem Wege dahin sagte er: »Unter die Feinde der Sänger gehören auch
+die Katzen, Hunde, Iltisse, Wiesel, Raubvögel. Gegen letzte schützen
+die Dornen und die Nestbehälter, und Hunde und Katzen werden in unserm
+Hause so erzogen, daß sie nicht in den Garten gehen, oder sie werden
+ganz von dem Hause entfernt.«
+
+
+Wir waren indessen in das Haus gekommen und gingen in das Eckzimmer,
+in welchem ich die vielen Fächer gesehen hatte. Mein Begleiter zeigte
+mir die Vorräte, indem er die Fächer herauszog und mir die Sämereien
+wies. Die Speisen, welche eben nicht in Sämereien bestehen, wie Eier,
+Brot, Speck, werden beim Bedarfe aus der Speisekammer des Hauses
+genommen.
+
+»Meine Nachbaren äußerten schon«, sagte mein Begleiter, »daß außer der
+Mühe, die das Erhalten der Singvögel macht, auch die Kosten zu ihrer
+Ernährung in keinem Verhältnisse zu ihrem Nutzen stehen. Aber das ist
+unrichtig. Die Mühe ist ein Vergnügen, das wird der, welcher einmal
+anfängt, bald inne werden; so wie der Blumenfreund keine Mühe, sondern
+nur Pflege kennt, welche zudem bei den Blumen viel mehr Tätigkeit in
+Anspruch nimmt als das Ziehen der Gesangvögel im Freien; die Kosten
+aber sind in der Tat nicht ganz unbedeutend; allein wenn ich die
+edlen Früchte eines einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen
+der Vögel wegen nicht abgefressen haben, verkaufe, so deckt der
+Kaufschilling die Nahrungskosten der Sänger ganz und gar. Freilich ist
+der Nutzen desto größer, je edler das Obst ist, welches in dem Garten
+gezogen wird, und dazu, daß sie edles Obst in dieser Gegend ziehen,
+sind sie schwer zu bewegen, weil sie meinen, es gehe nicht. Wir müssen
+ihnen aber zeigen, daß es geht, indem wir ihnen die Früchte weisen und
+zu kosten geben, und wir müssen ihnen zeigen, daß es nützt, indem wir
+ihnen Briefe unserer Handelsfreunde weisen, die uns das Obst abgekauft
+haben. Von den Stämmchen, die in unserer Obstschule wachsen, geben wir
+ihnen ab und unterrichten sie, wie und auf welchen Platz sie gesetzt
+werden sollen.«
+
+»Wenn wieder einmal ein Jahr kommen sollte wie das, welches wir vor
+fünf Jahren hatten«, fuhr er fort, »es war ein schlimmes Jahr, heiß
+mit wenig Regen und ungeheurem Raupenfraß. Die Bäume in Rohrberg, in
+Regau, in Landegg und Pludern standen wie Fegebesen in die Höhe, und
+die grauen Fahnen der Raupennester hingen von den entwürdigten Ästen
+herab. Unser Garten war unverletzt und dunkelgrün, sogar jedes Blatt
+hatte seine natürliche Ränderung und Ausspitzung. Wenn noch einmal
+ein solches Jahr käme, was Gott verhüte, so würden sie wieder ein
+Stückchen Erfahrung machen, das sie das erste Mal nicht gemacht
+haben.«
+
+Ich sah unterdessen die Sämereien und die Anstalten an, fragte manches
+und ließ mir manches erklären.
+
+Wir verließen hierauf das Zimmer, und da wir auf dem Gange waren und
+gegen Gustavs Zimmer gingen, sagte er: »Daß auch unnütze Glieder
+herbeikommen, Müßiggänger, Störefriede, das begreift sich. Ein großer
+Händelmacher ist der Sperling. Er geht in fremde Wohnungen, balgt
+sich mit Freund und Feind, ist zudringlich zu unsern Sämereien und
+Kirschen. Wenn die Gesellschaft nicht groß ist, lasse ich sie gelten
+und streue ihnen sogar Getreide. Sollten sie hier aber doch zu viel
+werden, so hilft die Windbüchse, und sie werden in den Meierhof
+hinabgescheucht. Als einen bösen Feind zeigte sich der Rotschwanz.
+Er flog zu dem Bienenhause und schnappte die Tierchen weg. Da half
+nichts, als ihn ohne Gnade mit der Windbüchse zu töten. Wir ließen
+beinahe in Ordnung Wache halten und die Verfolgung fortsetzen, bis
+dieses Geschlecht ausblieb. Sie waren so klug, zu wissen, wo Gefahr
+ist, und gingen in die Scheunen, in die Holzhütte des Meierhofes und
+die Ziegelhütte, wo die großen Wespennester unter dem Dache sind. Wir
+lassen auch darum im Meierhofe und anderen entfernteren Orten die
+grauen Kugeln solcher Nester, die sich unter den Latten und Sparren
+der Dächer oder Dachvorsprünge ansiedeln, nicht zerstören, damit sie
+diese Vögel hinziehen.«
+
+
+Während dieses Gespräches waren wir in dem Gange der Gastzimmer zu der
+Tür gekommen, die in Gustavs Wohnung führte. Mein Gastfreund fragte,
+ob ich diese Wohnung nicht jetzt besehen wollte, und wir traten ein,
+
+Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Arbeitszimmer und einem
+Schlafzimmer. Beide waren, wie es bei solchen Zimmern selten der Fall
+ist, sehr in Ordnung. Sonst war ihr Geräte sehr einfach. Bücherkästen,
+Schreib- und Zeichnungsgeräte, ein Tisch, Schreine für die Kleider,
+Stühle und das Bett. Der Jüngling stand fast errötend da, da ein
+Fremder in seiner Wohnung war. Wir entfernten uns bald, und der
+Bewohner machte uns die leichte, feine Verbeugung, die ich gestern
+schon an ihm bemerkt hatte, weil er uns nicht mehr begleiten, sondern
+in den Zimmern zurückbleiben wollte, in welchen er noch Arbeit zu
+verrichten hatte.
+
+»Ihr könnt nun auch die Gastzimmer besuchen«, sagte mein Begleiter,
+»dann habt ihr alle Räume unseres Hauses gesehen.«
+
+Ich willigte ein. Er nahm ein kleines silbernes Glöcklein aus seiner
+Tasche und läutete.
+
+Es erschien in kurzem eine Magd, von welcher er die Schlüssel der
+Zimmer verlangte. Sie holte dieselben und brachte sie an einem Ringe,
+von welchem einzelne los zu lösen waren. Jeder trug die Zahl seines
+Zimmers auf sich eingegraben. Nachdem mein Beherberger die Magd
+verabschiedet hatte, schloß er mir die einzelnen Zimmer auf. Sie waren
+einander vollkommen gleich. Sie waren gleich groß, jedes hatte zwei
+Fenster, und jedes hatte ähnliche Geräte wie das meine.
+
+»Ihr seht«, sagte er, »daß wir in unserem Hause nicht so ungesellig
+sind und bei dessen Anlegung schon auf Gäste gerechnet haben. Es
+können im äußersten Notfalle noch mehr untergebracht werden als die
+Zimmer anzeigen, wenn wir zwei in ein Gemach tun und noch andere
+Zimmer, namentlich die im Erdgeschosse, in Anspruch nehmen. Es ist
+aber in der Zeit, seit welcher dieses Haus besteht, der Notfall noch
+nicht eingetreten.«
+
+Als wir an die östliche Seite des Hauses gekommen waren, an die Seite,
+die seiner Wohnung gerade entgegengesetzt lag, öffnete er eine Tür,
+und wir traten nicht in ein Zimmer wie bisher, sondern in drei, welche
+sehr schön eingerichtet waren und zu lieblichem Wohnen einluden. Das
+erste war ein Zimmer für einen Diener oder eigentlich eine Dienerin;
+denn es sah ganz aus wie das Zimmer, in welchem die Mädchen meiner
+Mutter wohnten. Es standen große Kleiderkästen da, mit grünem Zitz
+verhängte Betten, und es lagen Dinge herum wie in dem Mädchenzimmer
+meiner Mutter. Die zwei anderen Gemächer zeigten zwar nicht solche
+Dinge, im Gegenteile, sie waren in der musterhaftesten Ordnung; aber
+sie wiesen doch eine solche Gestalt, daß man schließen mußte, daß sie
+zu Wohnungen für Frauen bestimmt sind. Die Geräte des ersten waren
+von Mahagoniholz, die des zweiten von Cedern. Überall standen
+weichgepolsterte Sitze und schöne Tische herum. Auf dem Fußboden lagen
+weiche Teppiche, die Pfeiler hatten hohe Spiegel, außerdem stand in
+jedem Zimmer noch ein beweglicher Ankleidespiegel, an den Fenstern
+waren Arbeitstischchen, und in der Ecke jedes Zimmers stand, von
+weißen Vorhängen dicht und undurchdringlich umgeben, ein Bett. Jedes
+Gemach hatte ein Blumentischchen, und an den Wänden hingen einige
+Gemälde.
+
+Als ich diese Zimmer eine Weile betrachtet hatte, öffnete mein
+Begleiter im dritten Zimmer mittelst eines Drückers eine Tapetentür,
+die sich den Blicken nicht gezeigt hatte, und führte mich noch in ein
+viertes, kleines Zimmer mit einem einzigen Fenster. Das Zimmerchen war
+sehr schön. Es war ganz in sanft rosenfarbener Seide ausgeschlagen,
+welche Zeichnungen in derselben, nur etwas dunkleren Farbe hatte. An
+dieser schwach rosenroten Seide lief eine Polsterbank von lichtgrauer
+Seide hin, die mit mattgrünen Bändern gerändert war. Sessel von
+gleicher Art standen herum. Die Seide, grau in Grau gezeichnet, hob
+sich licht und lieblich von dem Rot der Wände ab, es machte fast einen
+Eindruck, wie wenn weiße Rosen neben roten sind. Die grünen Streifen
+erinnerten an das grüne Laubblatt der Rosen. In einer der hinteren
+Ecken des Zimmers war ein Kamin von ebenfalls grauer, nur dunklerer
+Farbe mit grünen Streifen in den Simsen und sehr schmalen Goldleisten.
+Vor der Polsterbank und den Sesseln stand ein Tisch, dessen Platte
+grauer Marmor von derselben Farbe wie der Kamin war. Die Füße des
+Tisches und der Sessel so wie die Fassungen an der Polsterbank und den
+anderen Dingen waren von dem schönen veilchenblauen Amarantholze; aber
+so leicht gearbeitet, daß dieses Holz nirgends herrschte. An dem mit
+grauen Seidenvorhängen gesäumten Fenster, welches zwischen grünen
+Baumwölbungen auf die Landschaft und das Gebirge hinaussah, stand ein
+Tischchen von demselben Holze und ein reichgepolsterter Sessel und
+Schemel, wie wenn hier der Platz für eine Frau zum Ruhen wäre. An
+den Wänden hingen nur vier kleine, an Größe und Rahmen vollkommen
+gleiche Ölgemälde. Der Fußboden war mit einem feinen grünen Teppiche
+überspannt, dessen einfache Farbe sich nur ein wenig von dem Grün der
+Bänder abhob. Es war gleichsam der Rasenteppich, über dem die Farben
+der Rosen schwebten. Die Schürzange und die anderen Geräte an dem
+Kamine hatten vergoldete Griffe, auf dem Tische stand ein goldenes
+Glöcklein.
+
+Kein Merkmal in dem Gemache zeigte an, daß es bewohnt sei. Kein Geräte
+war verrückt, an dem Teppiche zeigte sich keine Falte und an den
+Fenstervorhängen keine Verknitterung.
+
+Als ich eine Zeit diese Dinge mit Staunen betrachtet hatte, öffnete
+mein Begleiter wieder die Tapetentür, die man auch im Innern dieses
+Zimmers nicht sehen konnte, und führte mich hinaus. Er hatte in dem
+Rosenzimmerchen nicht ein Wort gesprochen, und ich auch nicht. Als
+wir durch die anderen Zimmer gegangen waren und er sie hinter uns
+zugeschlossen hatte, sagte er mir ebenfalls über den Zweck dieser
+Wohnung nichts, und ich konnte natürlich nicht darum fragen.
+
+Als wir auf den Gang hinausgekommen waren, sagte er: »Nun habt ihr
+mein ganzes Haus gesehen; wenn ihr wieder einmal in der Zukunft
+vorüberkommt oder euch gar in der Ferne desselben erinnert, so könnt
+ihr euch gleich vorstellen, wie es im Inneren aussieht.«
+
+Bei diesen Worten nestelte er den Ring mit den Schlüsseln in irgend
+eine Tasche seines seltsamen Obergewandes.
+
+»Es ist ein Bild«, erwiderte ich auf seine Rede, »das sich mir tief
+eingeprägt hat und das ich nicht so bald vergessen werde.«
+
+»Ich habe mir das beinahe gedacht«, antwortete er.
+
+Da wir in die Nähe meines Zimmers gekommen waren, verabschiedete er
+sich, indem er sagte, daß er nun einen großen Teil meiner Zeit in
+Anspruch genommen habe und daß er, um mich nicht noch mehr einzuengen,
+mir nichts weiter davon entziehen wolle.
+
+Ich dankte ihm für seine Gefälligkeit und Freundlichkeit, mit welcher
+er mir einen Teil des Tages gewidmet und mir seine Häuslichkeit
+gezeigt habe, und wir trennten uns. Ich nahm den Schlüssel aus meiner
+Tasche und öffnete mein Zimmer, um einzutreten; ihn aber hörte ich die
+Treppe hinabgehen.
+
+Ich blieb nun bis gegen Abend in meinem Gastgemache, teils weil ich
+ermüdet war und wirklich einige Ruhe nötig hatte, teils weil ich
+meinem Gastfreunde nicht weiter lästig sein wollte.
+
+Am Abende ging ich wieder ein wenig auf die Felder außerhalb des
+Gartens hinaus und kam erst zur Speisestunde zurück. Ich hatte bei
+dieser Gelegenheit gelernt, mir selber das Gitter zu öffnen und zu
+schließen.
+
+Es war kein Gast da, und beim Abendessen wie beim Mittagessen waren
+nur mein Gastfreund, Gustav und ich. Die Gespräche waren über
+verschiedene gleichgültige Dinge, wir trennten uns bald, ich verfügte
+mich auf mein Zimmer, las noch, schrieb, entkleidete mich endlich,
+löschte das Licht und begab mich zur Ruhe.
+
+
+Der nächste Morgen war wieder herrlich und heiter. Ich öffnete
+die Fenster, ließ Duft und Luft hereinströmen, kleidete mich an,
+erfrischte mich mit reichlichem Wasser zum Waschen, und ehe die Sonne
+nur einen einzigen Tautropfen hatte aufsaugen können, stand ich
+schon mit meinem Ränzlein auf dem Rücken und mit meinem Hute und dem
+Schwarzdornstocke in der Hand im Speisezimmer. Der alte Mann und
+Gustav warteten meiner bereits.
+
+Nachdem das Frühmahl verzehrt worden war, wobei ich trotz der
+Forderung mein Ränzlein nicht abgelegt hatte, dankte ich noch einmal
+für die große Freundlichkeit und Offenheit, mit welcher ich hier
+aufgenommen worden war, verabschiedete mich und begab mich auf meinen
+Weg.
+
+
+Der alte Mann und Gustav begleiteten mich bis zum Gittertore des
+Gartens. Der Alte öffnete, um mich hinauszulassen, so wie er
+vorgestern geöffnet hatte, um mir den Eingang zu gestatten. Beide
+gingen mit mir durch das geöffnete Tor hinaus. Als wir auf dem
+Sandplatze vor dem Hause, angeweht von dem Dufte der Rosen, standen,
+sagte mein Beherberger: »Nun lebt wohl und geht glücklich eures Weges.
+Wir kehren durch unser Gitter wieder in unseren Landaufenthalt und zu
+unseren Beschäftigungen zurück. Wenn ihr in einer anderen Zeit wieder
+in die Nähe kommt und es euch gefällt, uns zu besuchen, so werdet ihr
+mit Freundlichkeit aufgenommen werden. Wenn ihr aber gar, ohne daß
+euch euer Weg hier vorüberführt, freiwillig zu uns kommt, um uns zu
+besuchen, so wird es uns besonders freuen. Es ist keine Redensart,
+wenn ich sage, daß es uns freuen würde, ich gebrauche diese
+Redensarten nicht, sondern es ist wirklich so. Wenn ihr das einmal
+wollt, so lebt in diesem Hause, so lange es euch zusagt, und lebt so
+ungebunden als ihr wollt, so wie auch wir so ungebunden leben werden
+als wir wollen. Wenn ihr uns die Zeit vorher etwa durch einen Boten
+wissen machen könntet, wäre es gut, weil wir, wenn auch nicht oft,
+doch manchmal abwesend sind.«
+
+»Ich glaube, daß ihr mich freundlich aufnehmen werdet, wenn ich wieder
+komme«, antwortete ich, »weil ihr es sagt und euer Wesen mir so
+erscheint, daß ihr nicht eine unwahre Höflichkeit aussprechen würdet.
+Ich begreife zwar den Grund nicht, weshalb ihr mich einladet, aber da
+ihr es tut, nehme ich es mit vieler Freude an und sage euch, daß ich
+im nächsten Sommer, wenn mich auch mein gewöhnlicher Weg nicht hieher
+führt, freiwillig in diese Gegend und in dieses Haus kommen werde, um
+eine kleine Zeit da zu bleiben.«
+
+»Tut es, und ihr werdet sehen, daß ihr nicht unwillkommen seid«, sagte
+er, »wenn ihr auch die Zeit ausdehnt.«
+
+»Ich werde vielleicht das Letztere tun«, antwortete ich, »und so lebet
+wohl.«
+
+»Lebt wohl.«
+
+Bei diesen Worten reichte er mir die Hand und drückte sie.
+
+Ich reichte meine Hand, da er sie losgelassen hatte, auch an den
+Knaben Gustav, welcher sie annahm, aber nichts sprach, sondern mich
+bloß mit seinen Augen freundlich ansah.
+
+Hierauf schieden wir, indem sie durch das Gitter zurückgingen, ich
+aber den Hut auf dem Haupte den Weg hinabwandelte, den ich vor zwei
+Tagen heraufgegangen war.
+
+Ich fragte mich nun, bei wem ich denn diesen Tag und die zwei Nächte
+zugebracht habe. Er hat um meinen Namen nicht gefragt und hat mir den
+seinigen nicht genannt. Ich konnte mir auf meine Frage keine Antwort
+geben.
+
+
+Und so ging ich denn nun weiter. Die grünen Ähren gaben jetzt in der
+Morgensonne feurige Strahlen, während sie bei meinem Heraufgehen im
+Schatten des herandrohenden Gewitters gestanden waren.
+
+Ich sah mich noch einmal um, da ich zwischen den Feldern hinabging,
+und sah das weiße Haus im Sonnenscheine stehen, wie ich es schon öfter
+hatte stehen gesehen, ich konnte noch den Rosenschimmer unterscheiden
+und glaubte, noch das Singen der zahlreichen Vögel im Garten vernehmen
+zu können.
+
+Hierauf wendete ich mich wieder um und ging abwärts, bis ich zu der
+Hecke und der Einfriedigung der Felder kam, bei der ich vorgestern
+von der Straße abgebogen hatte. Ich konnte mich nicht enthalten, noch
+einmal umzusehen. Das Haus stand jetzt nur mehr weiß da, wie ich es
+öfter bei meinen Wanderungen gesehen hatte.
+
+Ich ging nun auf der Landstraße in meiner Richtung vorwärts.
+
+Den ersten Mann, welcher mir begegnete, fragte ich, wem das weiße Haus
+auf dem Hügel gehöre und wie es hieße.
+
+»Es ist der Aspermeier, dem es gehört«, antwortete der Mann, »ihr seid
+ja gestern selber in dem Asperhofe gewesen und seid mit dem Aspermeier
+herumgegangen.«
+
+»Aber der Besitzer jenes Hauses ist doch unmöglich ein Meier?« fragte
+ich; denn mir war wohlbekannt, daß man in der Gegend jeden größeren
+Bauern einen Meier nannte.
+
+»Er ist anfangs nicht der Aspermeier gewesen«, antwortete der Mann,
+»aber er hat von dem alten Aspermeier den Asperhof gekauft, und das
+Haus hat er gebaut, welches in dem Garten steht und zu dem Asperhof
+gehört, und jetzt ist er der Aspermeier; denn der alte ist längst
+gestorben.«
+
+»Hat er denn nicht auch einen andern Namen?« fragte ich.
+
+»Nein, wir heißen ihn den Aspermeier«, antwortete er.
+
+Ich sah, daß der Mann nichts Weiteres von meinem Gastfreunde wisse und
+sich nicht um denselben gekümmert habe, ich gab daher bei ihm jedes
+weitere Forschen auf.
+
+Es begegneten mir noch mehrere Menschen, von denen ich dieselbe
+Antwort erhielt. Alle kehrten das Verhältnis um und sagten, das Haus
+im Garten gehöre zu dem Asperhofe. Ich beschloß daher, vorläufig jedes
+Forschen zu unterlassen, bis ich zu einem Menschen gekommen sein
+würde, von dem ich berechtigt war, eine bessere Auskunft zu erwarten.
+
+Da mir aber der Name Aspermeier und Asperhof nicht gefiel, nannte
+ich das Haus, in welchem ein solcher Rosendienst getrieben wurde, in
+meinem Haupte vorläufig daß Rosenhaus.
+
+Es begegnete mir aber niemand, den ich noch einmal hätte fragen
+können.
+
+Ich ließ, da ich so meines Weges weiter wandelte, die Dinge des
+letzten Tages in mir vorübergehen. Mich freute es, daß ich in dem
+Hause eine so große Reinlichkeit und Ordnung getroffen hatte, wie
+ich sie bisher nur in dem Hause meiner Eltern gesehen hatte. Ich
+wiederholte, was der alte Mann mir gezeigt und gesagt hatte, und es
+fiel mir ein, wie ich mich viel besser hätte benehmen können, wie ich
+auf manche Reden bessere Antworten geben und überhaupt viel bessere
+Dinge hätte sagen können.
+
+
+In diesen Betrachtungen wurde ich unterbrochen. Als ich ungefähr
+eine Stunde auf dem Wege gewandert war, kam ich an die Ecke des
+Buchenwaldes, von dem wir vorgestern abends gesprochen hatten, der zu
+den Besitzungen meines Gastfreundes gehört und in welchem ich einmal
+eine Gabelbuche gezeichnet hatte. Der Weg geht an dem Walde etwas
+steiler hinan und biegt um die Ecke desselben herum. Da ich bis zu
+der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen entgegen, welcher mit
+eingelegtem Radschuhe langsam die Straße herabfuhr. Er mochte darum
+langsamer als gewöhnlich fahren, weil sich diejenigen, welche in ihm
+saßen, Vorsicht zum Gesetze gemacht haben konnten. Es saßen nehmlich
+in dem offenen und des schönen Wetters willen ganz zurückgelegten
+Wagen zwei Frauengestalten, eine ältere und eine jüngere. Beide hatten
+Schleier, welche von den Hüten über die Schultern niedergingen. Die
+ältere hatte den Schleier über das Angesicht gezogen, welches aber
+doch, da der Schleier weiß war, ein wenig gesehen werden konnte. Die
+jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des Angesichts zurückgetan
+und zeigte dieses Angesicht der Luft. Ich sah sie beide an und
+zog endlich zu einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten
+freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte mir, da der Wagen
+immer tiefer über den Berg hinabging, ob denn nicht eigentlich das
+menschliche Angesicht der schönste Gegenstand zum Zeichnen wäre.
+
+Ich sah dem Wagen noch nach, bis er durch die Biegung des Weges
+unsichtbar geworden war. Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und
+aufwärts.
+
+Nach drei Stunden kam ich auf einen Hügel, von welchem ich in die
+Gegend zurücksehen konnte, aus der ich gekommen war. Ich sah mit
+meinem Fernrohre, das ich aus dem Ränzlein genommen hatte, deutlich
+den weißen Punkt des Hauses, in welchem ich die letzten zwei Nächte
+zugebracht hatte, und hinter dem Hause sah ich die duftigen Berge. Wie
+war nun der Punkt so klein in der großen Welt.
+
+Ich kam bald in den Ort, in welchem ich, da ich bisher nirgends
+angehalten hatte, mein Mittagsmahl einzunehmen gesonnen war, obwohl
+die Sonne bis zum Scheitel noch einen kleinen Bogen zurückzulegen
+hatte.
+
+Ich fragte in dem Orte wieder um den Besitzer des weißen Hauses und
+beschrieb dasselbe und seine Lage, so gut ich konnte. Man nannte mir
+einen Mann, der einmal in hohen Staatsämtern gestanden war; man nannte
+mir aber zwei Namen, den Freiherrn von Risach und einen Herrn Morgan.
+Ich war nun wieder ungewiß wie vorher.
+
+Am andern Tage morgens kam ich in den Gebirgszug, welcher das Ziel
+meiner Wanderung war und in welchen ich von dem anderen Gebirgszuge
+durch einen Teil des flachen Landes überzusiedeln beschlossen hatte.
+Am Mittage kam ich in dem Gasthofe an, den ich mir zur Wohnung
+ausgewählt hatte. Mein Koffer war bereits da, und man sagte mir,
+daß man mich früher erwartet habe. Ich erzählte die Ursache meiner
+verspäteten Ankunft, richtete mich in dem Zimmer, das ich mir
+bestellt hatte, ein und begab mich an die Geschäfte, welche in diesem
+Gebirgsteile zu betreiben ich mir vorgesetzt hatte.
+
+
+
+Der Besuch
+
+Ich blieb ziemlich lange in meinem neuen Aufenthaltsorte. Es
+entwickelte sich aus den Arbeiten ein Weiteres und Neues und hielt
+mich fest. Ich drang später noch tiefer in das Gebirgstal ein
+und begann Dinge, die ich mir für diesen Sommer gar nicht einmal
+vorgenommen hatte.
+
+Im späten Herbste kehrte ich zu den Meinigen zurück. Es erging mir auf
+dieser Reise, wie es mir auf jeder Heimreise ergangen war. Als ich das
+Gebirge verließ, waren die Bergahornblätter und die der Birken und
+Eschen nicht nur schon längst abgefallen, sondern sie hatten auch
+bereits ihre schöne gelbe Farbe verloren und waren schmutzig schwarz
+geworden, was nicht mehr auf die Kinder der Zweige erinnerte, die sie
+im Sommer gewesen waren, sondern auf die befruchtende Erde, die sie
+im Winter für den neuen Nachwuchs werden sollten; die Bewohner der
+Bergtäler und der Halden, die wohl gelegentlich in jeder Jahreszeit
+Feuer machen, unterhielten es schon den ganzen Tag in ihrem Ofen,
+um sich zu wärmen, und an heiteren Morgen glänzte der Reif auf den
+Bergwiesen und hatte bereits das Grün der Farrenkräuter in ein dürres
+Rostbraun verwandelt: da ich aber in die Ebene gelangt war und die
+Berge mir am Rande derselben nur mehr wie ein blauer Saum erschienen,
+und da ich endlich gar auf dem breiten Strome zu unserer Hauptstadt
+hinabfuhr, umfächelten mich so weiche und warme Lüfte, daß ich meinte,
+ich hätte die Berge zu früh verlassen. Es war aber nur der Unterschied
+der Himmelsbeschaffenheit in dem Gebirge und in den entfernten
+Niederungen. Als ich das Schiff verlassen hatte und an den Toren
+meiner Heimatstadt angekommen war, trugen die Akazien noch ihr Laub,
+warmer Sonnenschein legte sich auf die Umfassungsmauern und auf die
+Häuser, und schöngekleidete Menschen lustwandelten in den Stunden
+des Nachmittages. Die liebliche rötliche und dunkelblaue Farbe
+der Weintrauben, die man an dem Tore und auf dem Platze innerhalb
+desselben feil bot, brachte mir manchen freundlichen und fröhlichen
+Herbsttag meiner Kindheit in Erinnerung.
+
+Ich ging die gerade Gasse entlang, ich bog in ein paar Nebenstraßen
+und stand endlich vor dem wohlbekannten Vorstadthause mit dem Garten.
+
+Da ich die Treppe hinangegangen war, da ich die Mutter und die
+Schwester gefunden hatte, war die erste Frage nach Gesundheit und
+Wohlbefinden aller Angehörigen. Es war alles im besten Stande, die
+Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen lassen, alles war abgestaubt,
+gereinigt und an seinem Platze, als hätte man mich gerade an diesem
+Tage erwartet.
+
+Nach einem kurzen Gespräche mit der Mutter und der Schwester kleidete
+ich mich, ohne meinen Koffer zu erwarten, von meinen zurückgelassenen
+Kleidern auf städtische Weise an, um in die Stadt zu gehen und den
+Vater zu begrüßen, der noch auf seiner Handelsstube war. Das Gewimmel
+der Leute in den Gassen, das Herumgehen geputzter Menschen in den
+Baumgängen des grünen Platzes zwischen der Stadt und den Vorstädten,
+das Fahren der Wägen und ihr Rollen auf den mit Steinwürfeln
+gepflasterten Straßen und endlich, als ich in die Stadt kam, die
+schönen Warenauslagen und das Ansehnliche der Gebäude befremdeten und
+beengten mich beinahe als ein Gegensatz zu meinem Landaufenthalte;
+aber ich fand mich nach und nach wieder hinein, und es stellte sich
+als das Langgewohnte und Allbekannte wieder dar. Ich ging nicht zu
+meinen Freunden, an deren Wohnung ich vorüberkam, ich ging nicht in
+die Buchhandlung, in der ich manche Stunde des Abends zuzubringen
+gewohnt war und die an meinem Wege lag, sondern ich eilte zu meinem
+Vater. Ich fand ihn an dem Schreibtische und grüßte ihn ehrerbietig
+und wurde auch von ihm auf das Herzlichste empfangen. Nach kurzer
+Unterredung über Wohlbefinden und andere allgemeine Dinge sagte er,
+daß ich nach Hause gehen möchte, er habe noch Einiges zu tun, werde
+aber bald nachkommen, um mit der Mutter, der Schwester und mir den
+Abend zuzubringen.
+
+Ich ging wieder gerades Weges nach Hause. Dort machte ich einen Gang
+durch den Garten, sprach einige liebkosende Worte zu dem Hofhunde, der
+mich mit Heulen und Freudensprüngen begrüßte, und brachte dann noch
+eine Weile bei der Mutter und der Schwester zu. Hierauf ging ich in
+alle Zimmer unserer Wohnung, besonders in die mit den alten Geräten,
+den Büchern und Bildern. Sie kamen mir beinahe unscheinbar vor.
+
+
+Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war heute in dem Stübchen, in
+welchem die alten Waffen hingen und um welches der Epheu rankte, zum
+Abendessen aufgedeckt worden. Man hatte sogar bis gegen Abend die
+Fenster offen lassen können. Da während meines Ganges in die Stadt
+mein Koffer und meine Kisten von dem Schiffe gekommen waren, konnte
+ich die Geschenke, welche ich von der Reise mitgebracht hatte, in das
+Stübchen schaffen lassen: für die Mutter einige seltsame Töpfe und
+Geschirre, für den Vater ein Amonshorn von besonderer Größe und
+Schönheit, andere Marmorstücke und eine Uhr aus dem siebenzehnten
+Jahrhunderte, und für die Schwester das gewöhnliche Edelweiß,
+getrockneten Enzian, ein seidenes Bauertüchlein und silberne
+Brustkettlein, wie man sie in einigen Teilen des Gebirges trägt. Auch
+was man mir als Geschenke vorbereitet hatte, kam in das Stüblein:
+von der Mutter und Schwester verfertigte Arbeiten, darunter eine
+Reisetasche von besonderer Schönheit, dann sämtliche Arten guter
+Bleifedern, nach den Abstufungen der Härte in einem Fache geordnet,
+besonders treffliche Federkiele, glattes Papier, und von dem Vater ein
+Gebirgsatlas, dessen ich schon einige Male Erwähnung getan und den
+er für mich gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben und
+empfangen worden war, setzte man sich zu dem Tische, an dem wir
+heute Abend nur allein waren, wie es nach und nach bei jeder meiner
+Zurückkünfte nach einer längeren Abwesenheit der Gebrauch geworden
+war. Es wurden die Speisen aufgetragen, von denen die Mutter
+vermutete, daß sie mir die liebsten sein könnten. Die Vertraulichkeit
+und die Liebe ohne Falsch, wie man sie in jeder wohlgeordneten Familie
+findet, tat mir nach der längeren Vereinsamung außerordentlich wohl.
+
+
+Als die ersten Besprechungen über alles, was zunächst die Angehörigen
+betraf und was man in der jüngsten Zeit erlebt hatte, vorüber waren,
+als man mir den ganzen Gang des Hauswesens während meiner Abwesenheit
+auseinandergesetzt hatte, mußte ich auch von meiner Reise erzählen.
+Ich erklärte ihren Zweck und sagte, wo ich gewesen sei und was ich
+getan habe, ihn zu erreichen. Ich erwähnte auch des alten Mannes und
+erzählte, wie ich zu ihm gekommen sei, wie gut ich von ihm aufgenommen
+worden sei und was ich dort gesehen habe. Ich sprach die Vermutung
+aus, daß er, seiner Sprache nach zu urteilen, aus unserer Stadt sein
+könnte. Mein Vater ging seine Erinnerungen durch, konnte aber auf
+keinen Mann kommen, der dem von mir beschriebenen ähnlich wäre. Die
+Stadt ist groß, meinte er, es könnten da viele Leute gelebt haben,
+ohne daß er sie hätte kennen lernen können. Die Schwester meinte,
+vielleicht hätte ich ihn auch der Umgebung zufolge, in welcher ich ihn
+gefunden habe, schon in einem anderen und besonderen Lichte gesehen
+und in solchem dargestellt, woraus er schwerer zu erkennen sei. Ich
+entgegnete, daß ich gar nichts gesagt habe, als was ich gesehen hätte
+und was so deutlich sei, daß ich es, wenn ich mit Farben besser
+umzugehen wüßte, sogar malen könnte. Man meinte, die Zeit werde die
+Sache wohl aufklären, da er mich auf einen zweiten Besuch eingeladen
+habe und ich gewiß nicht anstehen werde, denselben abzustatten. Daß
+ich ihn nicht geradezu um seinen Namen gefragt habe, billigten alle
+meine Angehörigen, da er weit mehr getan, nehmlich mich aufgenommen
+und beherbergt habe, ohne um meinen Namen oder um meine Herkunft zu
+forschen.
+
+Der Vater erkundigte sich im Laufe des Gespräches genauer nach manchen
+Gegenständen in dem Hause des alten Mannes, deren ich Erwähnung getan
+hatte, besonders fragte er nach den Marmoren, nach den alten Geräten,
+nach den Schnitzarbeiten, nach den Bildsäulen, nach den Gemälden und
+den Büchern.
+
+Die Marmore konnte ich ihm fast ganz genau beschreiben, die alten
+Geräte beinahe auch. Der Vater geriet über die Beschreibung in
+Bewunderung und sagte, es würde für ihn eine große Freude sein, einmal
+solche Dinge mit eigenen Augen sehen zu können. Über Schnitzarbeiten
+konnte ich schon weniger sagen, über die Bücher auch nicht viel, und
+das wenigste, beinahe gar nichts, über Bildsäulen und Gemälde. Der
+Vater drang auch nicht darauf und verweilte nicht lange bei diesen
+letzteren Gegenständen - die Mutter meinte, es wäre recht schön, wenn
+er sich einmal aufmachte, eine Reise in das Oberland unternähme und
+die Sachen bei dem alten Manne selber ansähe. Er sitze jetzt immer
+wieder zu viel in seiner Schreibstube, er gehe in letzter Zeit auch
+alle Nachmittage dahin und bleibe oft bis in die Nacht dort. Eine
+Reise würde sein Leben recht erfrischen, und der alte Mann, der
+den Sohn so freundlich aufgenommen habe, würde ihn gewiß herzlich
+empfangen und ihm als einem Kenner seine Sammlungen noch viel lieber
+zeigen als einem andern. Wer weiß, ob er nicht gar auf dieser Reise
+das eine oder andere Stück für seine Altertumszimmer erwerben könnte.
+Wenn er immer warte, bis die dringendsten Geschäfte vorüber wären
+und bis er sich mehr auf die jüngeren Leute in seiner Arbeitsstube
+verlassen könne, so werde er gar nie reisen; denn die Geschäfte seien
+immer dringend, und sein Mißtrauen in die Kräfte der jüngeren Leute
+wachse immer mehr, je älter er werde und je mehr er selber alle Sachen
+allein verrichten wolle.
+
+Der Vater antwortete, er werde nicht nur schon einmal reisen,
+sondern sogar eines Tages sich in den Ruhestand setzen und keine
+Handelsgeschäfte weiter vornehmen.
+
+Die Mutter erwiderte, daß dies sehr gut sein und daß ihr dieser Tag
+wie ein zweiter Brauttag erscheinen werde.
+
+Ich mußte dem Vater nun auch die einzelnen Holzgattungen angeben, aus
+denen die verschiedenen Geräte in dem Rosenhause eingelegt seien,
+aus denen die Fußböden bestanden, und endlich aus welchen geschnitzt
+würde. Ich tat es so ziemlich gut, denn ich hatte bei der Betrachtung
+dieser Dinge an meinen Vater gedacht und hatte, mir mehr gemerkt, als
+sonst der Fall gewesen sein würde. Ich mußte ihm auch beschreiben, in
+welcher Ordnung diese Hölzer zusammengestellt seien, welche Gestalten
+sie bildeten und ob in der Zusammenstellung der Linien und Farben
+ein schöner Reiz liege. Ebenso mußte ich ihm auch noch mehr von den
+Marmorarten erzählen, die in dem Gange und in dem Saale wären, und
+mußte darstellen, wie sie verbunden wären, welche Gattungen an
+einander grenzten und wie sie sich dadurch abhöben. Ich nahm häufig
+ein Stück Papier und die Bleifeder zur Hand, um zu versinnlichen,
+was ich gesehen hätte. Er tat auch weitere Fragen, und durch ihre
+zweckmäßige Aufeinanderfolge konnte ich mehr beantworten, als ich mir
+gemerkt zu haben glaubte.
+
+Als es schon spät geworden war, mahnte die Mutter zur Ruhe, wir
+trennten uns von dem Waffenhäuschen und begaben uns zu Bette.
+
+Am anderen Tage begann ich meine Wohnung für den Winter einzurichten.
+Ich packte nach und nach die Sachen, welche ich von meiner Reise
+mitgebracht hatte, aus, stellte sie nach gewohnter Art und Weise auf
+und suchte sie in die vorhandenen einzureihen. Diese Beschäftigung
+nahm mehrere Tage in Anspruch.
+
+
+Am ersten Sonntage nach meiner Ankunft war ein Bewillkommungsmahl.
+Alle Leute von dem Handelsgeschäfte meines Vaters waren besonders
+eingeladen worden, und es wurden bessere Speisen und besserer Wein
+auf den Tisch gesetzt. Auch die zwei alten Leute, die in dem dunkeln
+Stadthause unsere Wohnungsnachbarn gewesen waren, sind zu diesem Mahle
+geladen worden, weil sie mich sehr lieb hatten und weil die Frau
+gesagt hatte, daß aus mir einmal große Dinge werden würden. Diese
+Mahle waren schon seit ein paar Jahren Sitte, und die alten Leute
+waren jedesmal Gäste dabei.
+
+Als ich mit dem Hauptsächlichsten in der Anordnung meiner Zimmer
+fertig war, besuchte ich auch meine Freunde in der Stadt und brachte
+wieder manche Abenddämmerung in der Buchhandlung zu, welche mir ein
+lieber Aufenthalt geworden war. Wenn ich durch die Gassen der Stadt
+ging, war es mir, als hätte ich das, was ich von dem alten Manne
+wußte, in einem Märchenbuche gelesen; wenn ich aber wieder nach Hause
+kam und in die Zimmer mit den altertümlichen Gegenständen und mit
+den Bildern ging, so war er wieder wirklich und paßte hieher als
+Vergleichsgegenstand.
+
+Die Spuren, welche mit einer Ankunft nach einer längeren Reise in
+einer Wohnung immer unzertrennlich verbunden sind, namentlich wenn man
+von dieser Reise viele Gegenstände mitgebracht hat, welche geordnet
+werden müssen, waren endlich aus meinem Zimmer gewichen, meine Bücher
+standen und lagen zum Gebrauche bereit, und meine Werkzeuge und
+Zeichnungsgerätschaften waren in der Ordnung, wie ich sie für den
+Winter bedurfte. Dieser Winter war aber auch schon ziemlich nahe. Die
+letzten schönen Spätherbsttage, die unserer Stadt so gerne zu Teil
+werden, waren vorüber, und die neblige, nasse und kalte Zeit hatte
+sich eingestellt.
+
+In unserem Hause war während meiner Abwesenheit eine Veränderung
+eingetreten. Meine Schwester Klotilde, welche bisher immer ein Kind
+gewesen war, war in diesem Sommer plötzlich ein erwachsenes Mädchen
+geworden. Ich selber hatte mich bei meiner Rückkehr sehr darüber
+verwundert, und sie kam mir beinahe ein wenig fremd vor.
+
+Diese Veränderung brachte für den kommenden Winter auch eine
+Veränderung in unser Haus. Unser Leben war für die Hauptstadt eines
+großen Reiches bisher ein sehr einfaches und beinah ländliches
+gewesen. Der Kreis der Familien, mit denen wir verkehrten, hatte keine
+große Ausdehnung gehabt, und auch da hatten sich die Zusammenkünfte
+mehr auf gelegentliche Besuche oder auf Spiele der Kinder im Garten
+beschränkt. Jetzt wurde es anders. Zu Klotilden kamen Freundinnen,
+mit deren Eltern wir in Verbindung gewesen waren, diese hatten wieder
+Verwandte und Bekannte, mit denen wir nach und nach in Beziehungen
+gerieten. Es kamen Leute zu uns, es wurde Musik gemacht, vorgelesen,
+wir kamen auch zu anderen Leuten, wo man sich ebenfalls mit Musik und
+ähnlichen Dingen unterhielt. Diese Verhältnisse übten aber auf unser
+Haus keinen so wesentlichen Einfluß aus, daß sie dasselbe umgestaltet
+hätten. Ich lernte außer den Freunden, die ich schon hatte und an
+deren Art und Weise ich gewöhnt war, noch neue kennen. Sie hatten
+meistens ganz andere Bestrebungen als ich und schienen mir in den
+meisten Dingen überlegen zu sein. Sie hielten mich auch für besonders,
+und zwar zuerst darum, weil die Art der Erziehung in unserem Hause
+eine andere gewesen war als in anderen Häusern, und dann, weil ich
+mich mit anderen Dingen beschäftigte als auf die sie ihre Wünsche
+und Begierden richteten. Ich vermutete, daß sie mich wegen meiner
+Sonderlichkeit geringer achteten als sich unter einander selbst.
+
+Sie erwiesen meiner Schwester große Aufmerksamkeiten und suchten ihr
+zu gefallen. Die jungen Leute, welche in unser Haus kommen durften,
+waren nur lauter solche, deren Eltern zu uns eingeladen waren, die wir
+auch besuchten und an deren Sitten sich kein Bedenken erhob. Meine
+Schwester wußte nicht, daß ihr die Männer gefallen sollten, und sie
+achtete nicht darauf. Ich aber kam in jenen Tagen, wenn mir einfiel,
+daß meine Schwester einmal einen Gatten haben werde, immer auf den
+nehmlichen Gedanken, daß dies kein anderer Mann sein könne als der so
+wäre wie der Vater.
+
+Auch mich zogen diese jungen Männer und andere, die nicht eben der
+Schwester willen in das Haus kamen, öfter in ihre Gespräche; sie
+erzählten mir von ihren Ansichten, Bestrebungen, Unterhaltungen und
+manche vertrauten mir Dinge, welche sie in ihrem geheimen Inneren
+dachten. So sagte mir einmal einer namens Preborn, welcher der Sohn
+eines alten Mannes war, der ein hohes Amt am Hofe bekleidete und öfter
+in unser Haus kam, die junge Tarona sei die größte Schönheit der
+Stadt, sie habe einen Wuchs, wie ihn niemand von der halben Million
+der Einwohner der Stadt habe, wie ihn nie irgend jemand gehabt habe,
+und wie ihn keine Künstler alter und neuer Zeit darstellen könnten.
+Augen habe sie, welche Kiesel in Wachs verwandeln und Diamanten
+schmelzen könnten. Er liebe sie mit solcher Heftigkeit, daß er manche
+Nacht ohne Schlaf auf seinem Lager liege oder in seiner Stube herum
+wandle. Sie lebe nicht hier, komme aber öfter in die Stadt, er werde
+sie mir zeigen, und ich müsse ihm als Freund in seiner Lage beistehen.
+
+Ich dachte, daß vieles in diesen Worten nicht Ernst sein könne. Wenn
+er das Mädchen so sehr liebe, so hätte er es mir oder einem andern gar
+nicht sagen sollen, auch wenn wir Freunde gewesen wären. Freunde waren
+wir aber nicht, wenn man das Wort in der eigentlichen Bedeutung nimmt,
+wir waren es nur, wie man es in der Stadt mit einer Redeweise von
+Leuten nennt, die einander sehr bekannt sind und mit einander öfter
+umgehen. Und endlich konnte er ja keinen Beistand von mir erwarten,
+der ich in der Art mit Menschen umzugehen nicht sehr bewandert war und
+in dieser Hinsicht weit unter ihm selber stand.
+
+Ich besuchte zuweilen auch den einen oder den anderen dieser jungen
+Leute außer der Zeit, in der wir in Begleitung unserer Eltern
+zusammenkamen, und da war ebenfalls öfter von Mädchen die Rede. Sie
+sagten, wie sie diese oder jene lieben, sich vergeblich nach ihr
+sehnen oder von ihr Zeichen der Gegenneigung erhalten hätten. Ich
+dachte, das sollten sie nicht sagen; und wenn sie eine mutwillige
+Bemerkung über die Gestalt oder das Benehmen eines Mädchens
+ausdrückten, so errötete ich, und es war mir, als wäre meine Schwester
+beleidigt worden.
+
+Ich ging nun öfter in die Stadt und betrachtete aufmerksamer den alten
+Bau unseres Erzdomes. Seit ich die Zeichnungen von Bauwerken in dem
+Rosenhause so genau und in solcher Menge angesehen hatte, waren mir
+die Bauwerke nicht mehr so fremd wie früher. Ich sah sie gerne an, ob
+sie irgend etwas Ähnliches mit den Gegenständen hätten, die ich in den
+Zeichnungen gesehen hatte. Auf meiner Reise von dem Rosenhause in das
+Gebirgstal, in welchem ich mich später aufgehalten hatte, und von
+diesem Gebirgstale bis zu dem Schiffe, das mich zur Heimreise
+aufnehmen sollte, war mir nichts besonders Betrachtenswertes
+vorgekommen. Nur einige Wegsäulen sehr alter Art erinnerten an die
+reinen und anspruchlosen Gestalten, wie ich sie bei dem Meister auf
+dem reinen Papier mit reinen Linien gesehen hatte. Aber in der Nische
+der einen Wegsäule war statt des Standbildes, das einst darinnen
+gewesen war und auf welches der Sockel noch hinwies, ein neues Gemälde
+mit bunten Farben getan worden, in der anderen fehlte jede Gestalt.
+Auf meiner Stromesfahrt kam ich wohl an Kirchen und Burgen vorüber,
+die der Beachtung wert sein mochten, aber mein Zweck führte mich in
+dem Schiffe weiter. An dem Erzdome sah ich beinahe alle Gestalten von
+Verzierungen, Simsen, Bögen, Säulen und größeren Teilwerken, wie ich
+sie auf dem Papier im Rosenhause gesehen hatte. Es ergötzte mich, in
+meiner Erinnerung diese Gestalten mit den gesehenen zu vergleichen und
+sie gegenseitig abzuschätzen.
+
+
+Auch in Beziehung der Edelsteine fiel mir das ein, was der alte Mann
+in dem Rosenhause über die Fassung derselben gesagt hatte. Es gab
+Gelegenheit genug, gefaßte Edelsteine zu sehen. In unzähligen
+Schaufenstern der Stadt liegen Schmuckwerke zur Ansicht und zur
+Verlockung zum Kaufe aus. Ich betrachtete sie überall, wo sie mir auf
+meinem Wege aufstießen, und ich mußte denken, daß der alte Mann recht
+habe. Wenn ich mir die Zeichnungen von Kreuzen, Rosen, Sternen,
+Nischen und dergleichen Dingen an mittelalterlichen Baugegenständen,
+wie ich sie im Rosenhause gesehen hatte, vergegenwärtigte, so waren
+sie viel leichter, zarter und, ich möchte den Ausdruck gebrauchen,
+inniger als diese Sachen hier, und waren doch nur Teile von Bauwerken,
+während diese Schmuck sein sollten. Mir kam wirklich vor, daß sie, wie
+er gesagt hatte, unbeholfen in Gold und unbeholfen in den Edelsteinen
+seien. Nur bei einigen Vorkaufsorten, die als die vorzüglichsten
+galten, fand ich eine Ausnahme. Ich sah, daß dort die Fassungen sehr
+einfach waren, ja daß man, wenn die Edelsteine einmal eine größere
+Gestalt und einen höheren Wert annahmen, schier gar keine Fassung
+mehr machte, sondern nur so viel von Gold oder kleinen Diamanten
+anwendete, als unumgänglich nötig schien, die Dinge nehmen und an dem
+menschlichen Körper befestigen zu können. Mir schien dieses schon
+besser, weil hier die Edelsteine allein den Wert und die Schönheit
+darstellen sollten. Ich dachte aber in meinem Herzen, daß die
+Edelsteine, wie schön sie auch seien, doch nur Stoffe wären, und daß
+es viel vorzüglicher sein müßte, wenn man sie, ohne daß ihre Schönheit
+einen Eintrag erhielte, doch auch mit einer Gestalt umgäbe, welche
+außer der Lieblichkeit des Stoffes auch den Geist des Menschen sehen
+ließe, der hier tätig war und an dem man Freude haben könnte. Ich nahm
+mir vor, wenn ich wieder zu meinem alten Gastfreunde käme, mit ihm
+über die Sache zu reden. Ich sah, daß ich in dem Rosenhause etwas
+Ersprießliches gelernt hatte.
+
+Ich wurde bei jener Gelegenheit zufällig mit dem Sohne eines
+Schmuckhändlers bekannt, welcher als der vorzüglichste in der Stadt
+galt. Er zeigte mir öfter die wertvolleren Gegenstände, die sie in dem
+Verkaufsgewölbe hatten, die aber nie in einem Schaufenster lagen, er
+erklärte mir dieselben und machte mich auf die Merkmale aufmerksam, an
+denen man die Schönheit der Edelsteine erkennen könne. Ich getraute
+mir nie, meine Ansichten über die Fassung derselben darzulegen. Er
+versprach mir, mich näher in die Kenntnis der Edelsteine einführen,
+und ich nahm es recht gerne an.
+
+Weil ich durch meine Gebirgswanderungen an viele Bewegung gewöhnt war,
+so ging ich alle Tage entweder durch Teile der Stadt herum, oder ich
+machte einen Weg in den Umgebungen derselben. Das Zuträgliche der
+starken Gebirgsluft ersetzte nur hier die Herbstluft, die immer rauher
+wurde, und ich ging ihr sehr gerne entgegen, wenn sie mit Nebeln
+gefüllt oder hart von den Bergen her wehte, die gegen Westen die
+Umgebungen unserer Stadt säumten.
+
+Ich fing auch in jener Zeit an, das Theater zuweilen zu besuchen.
+Der Vater hatte, so lange wir Kinder waren, nie erlaubt, daß wir
+ein Schauspiel zu sehen bekämen. Er sagte, es würde dadurch die
+Einbildungskraft der Kinder überreizt und überstürzt, sie behingen
+sich mit allerlei willkürlichen Gefühlen und gerieten dann in
+Begierden oder gar Leidenschaften. Da wir mehr herangewachsen waren,
+was bei mir schon seit längerer Zeit, bei der Schwester aber kaum
+seit einem Jahre der Fall war, durften wir zu seltenen Zeiten das
+Hoftheater besuchen. Der Vater wählte zu diesen Besuchen jene Stücke
+aus, von denen er glaubte, daß sie uns angemessen wären und unser
+Wesen förderten. In die Oper oder gar in das Ballet durften wir
+nie gehen, eben so wenig durften wir ein Vorstadttheater besuchen.
+Wir sahen auch die Aufführung eines Schauspiels nie anders als in
+Gesellschaft unserer Eltern. Seit ich selbstständig gestellt war,
+hatte ich auch die Freiheit, nach eigener Wahl die Schauspielhäuser
+zu besuchen. Da ich mich aber mit wissenschaftlichen Arbeiten
+beschäftigte, hatte ich nach dieser Richtung hin keinen mächtigen Zug.
+Aus Gewohnheit ging ich manchmal in eines von den nehmlichen Stücken,
+die ich schon mit den Eltern gesehen hatte. In diesem Herbste wurde es
+anders. Ich wählte zuweilen selber ein Stück aus, dessen Aufführung im
+Hoftheater ich sehen wollte.
+
+Es lebte damals an der Hofbühne ein Künstler, von dem der Ruf sagte,
+daß er in der Darstellung des Königs Lear von Shakespeare das Höchste
+leiste, was ein Mensch in diesem Kunstzweige zu leisten im Stande
+sei. Die Hofbühne stand auch in dem Rufe der Musteranstalt für ganz
+Deutschland. Es wurde daher behauptet, daß es in deutscher Sprache auf
+keiner deutschen Bühne etwas gäbe, was jener Darstellung gleich käme,
+und ein großer Kenner von Schauspieldarstellungen sagte in seinem
+Buche über diese Dinge von dem Darsteller des Königs Lear auf unserer
+Hofbühne, daß es unmöglich wäre, daß er diese Handlung so darstellen
+könnte, wie er sie darstellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren
+Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk erschaffen und mit
+unübertrefflicher Weisheit ausgestattet worden ist.
+
+Ich beschloß daher, da ich diese Umstände erfahren hatte, der nächsten
+Vorstellung des König Lear auf unserer Hofbühne beizuwohnen.
+
+
+Eines Tages war in den Zeitungen, die täglich zu dem Frühmahle
+des Vaters kamen, für die Hofbühne die Aufführung des König Lear
+angekündigt und als Darsteller des Lear der Mann genannt, von dem ich
+gesprochen habe und der jetzt schon dem Greisenalter entgegen geht.
+Die Jahreszeit war bereits in den Winter hinein vorgerückt. Ich
+richtete meine Geschäfte so ein, daß ich in der Abendzeit den Weg
+zu dem Hoftheater einschlagen konnte. Da ich gerne das Treiben der
+Stadt ansehen wollte, wie ich auf meinen Reisen die Dinge im Gebirge
+untersuchte, ging ich früher fort, um langsam den Weg zwischen der
+Vorstadt und der Stadt zurück zu legen. Ich hatte einen einfachen
+Anzug angelegt, wie ich ihn gerne auf Spaziergängen hatte, und eine
+Kappe genommen, die ich bei meinen Reisen trug. Es fiel ein feiner
+Regen nieder, obwohl es in der unteren Luft ziemlich kalt war. Der
+Regen war mir nicht unangenehm, sondern eher willkommen, wenn er mir
+auch auf meinen Anzug fiel, an dem nicht viel zu verderben war. Ich
+schritt seinem Rieseln mit Gemessenheit entgegen. Der Weg zwischen den
+Bäumen auf dem freien Raume vor der Stadt war durch das Eis, welches
+sich bildete, gleichsam mit Glas überzogen, und die Leute, welche vor
+und neben mir gingen, glitten häufig aus. Ich war an schwierige Wege
+gewöhnt und ging auf der Mitte der Eisbahn ohne Beschwerde fort.
+Die Zweige der Bäume glänzten in der Nachbarschaft der brennenden
+Laternen, sonst war es überall finstere Nacht, und der ganze Raum und
+die Mauern der Stadt waren in ihrer Dunkelheit verborgen. Als ich von
+dem Gehwege in die Fahrstraße einbog, rasselten viele Wägen an mir
+vorüber, und die Pferde zerstampften und die Räder zerschnitten die
+sich bildende Eisdecke. Die meisten von ihnen, wenn auch nicht alle,
+fuhren in das Theater. Mir kam es beinahe sonderbar vor, daß sie und
+ich selber in diesem unfreundlichen Wetter einem Raume zustrebten, in
+welchem eine erlogene Geschichte vorgespiegelt wird. So kam ich in die
+erleuchtete Überwölbung, in der die Wägen hielten, ich wendete mich
+von ihr in den Eingang, kaufte meine Karte, steckte meine Kappe in die
+Tasche meines Überrocks, gab diesen in das Kleiderzimmer und trat in
+den hellen ebenerdigen Raum des Darstellungssaales. - Ich hatte von
+meinem Vater die Gewohnheit angenommen, nie von oben herab oder
+von großer Entfernung die Darstellung eines Schauspieles zu sehen,
+weil man den Menschen, welche die Handlung darstellen, in ihrer
+gewöhnlichen Stellung nicht auf die obere Fläche ihres Kopfes oder
+ihrer Schultern sehen soll und weil man ihre Mienen und Geberden
+soll betrachten können. Ich blieb daher ungefähr am Ende des ersten
+Drittteiles der Länge des Raumes stehen und wartete, bis sich der Saal
+füllen würde und die Glocke zum Beginne des Stückes tönte.
+
+Sowohl die gewöhnlichen Sitze als auch die Logen füllten sich sehr
+stark mit geputzten Leuten, wie es Sitte war, und wahrscheinlich von
+dem Rufe des Stückes und des Schauspielers angezogen strömte heute
+eine weit größere und gemischtere Menge, wie man bei dem ersten Blicke
+erkennen konnte, in diese Räume. Männer, die neben mir standen,
+sprachen dieses aus, und in der Tat war in der Versammlung manche
+Gestalt zu sehen, die von den entferntesten Teilen der Vorstädte
+gekommen sein mußte. Die meisten, da endlich gleichsam Haupt an Haupt
+war, blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne.
+
+Es war damals nicht meine Gewohnheit, und ist es jetzt auch noch
+nicht, in überfüllten Räumen die Menge der Menschen, die Kleider, den
+Putz, die Lichter, die Angesichter und dergleichen zu betrachten.
+Ich stand also ruhig, bis die Musik begann und endete, bis sich der
+Vorhang hob und das Stück den Anfang nahm.
+
+Der König trat ein und war, wie er später von sich sagte, jeder Zoll
+ein König. Aber er war auch ein übereilender und bedaurungswürdiger
+Tor. Regan, Goneril und Cordelia redeten, wie sie nach ihrem Gemüte
+reden mußten, auch Kent redete so, wie er nicht anders konnte. Der
+König empfing die Reden, wie er nach seinem heftigen, leichtsinnigen
+und doch liebenswürdigen Gemüte ebenfalls mußte. Er verbannte die
+einfache Cordelia, die ihre Antwort nicht schmücken konnte, der er
+desto heftiger zürnte, da sie früher sein Liebling gewesen war, und
+gab sein Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Goneril, die
+ihm auf seine Frage, wer ihn am meisten liebe, mit übertriebenen
+Ausdrücken schmeichelten und ihm dadurch, wenn er der Betrachtung
+fähig gewesen wäre, schon die Unechtheit ihrer Liebe dartaten, was
+auch die edle Cordelia mit solchem Abscheu erfüllte, daß sie auf die
+Frage, wie _sie_ den Vater liebe, weniger zu antworten wußte, als sie
+vielleicht zu einer anderen Zeit, wo das Herz sich freiwillig öffnete,
+gesagt hätte. Gegen Kent, der Cordelia verteidigen wollte, wütete er
+und verbannte ihn ebenfalls, und so sieht man bei dieser heftigen und
+kindischen Gemütsart des Königs üblen Dingen entgegen.
+
+Ich kannte dieses Schauspiel nicht und war bald von dem Gange der
+Handlung eingenommen.
+
+Der König wohnt nun mit seinen hundert Rittern im ersten Monate bei
+der einen Tochter, um im zweiten dann bei der anderen zu sein und
+so abwechselnd fortzufahren, wie es bedungen war. Die Folgen dieser
+schwachen Maßregel zeigten sich auch im Lande. In dem hohen Hause
+Glosters empört sich ein unehelicher Sohn gegen den Vater und den
+rechtmäßigen Bruder und ruft unnatürliche Dinge in die Welt, da auch
+in des Königs Hause unnatürliche und unzweckmäßige Dinge geschahen. In
+dem Hofhalte der Tochter und in der in diesen Hofhalt eingepflanzten
+zweiten Hofhaltung des Königs und seiner hundert Ritter entstehen
+Anstände und Widrigkeiten, und die Entgegnungen der Tochter gegen das
+Tun des Königs und seines Gefolges sind sehr begreiflich, aber fast
+unheimlich. Beinahe herzzerreißend ist nun die treuherzige, fast blöde
+Zuversicht des Königs, womit er die eine Tochter, die mit schnöden
+Worten seinen Handlungen entgegen getreten war, verläßt, um zu der
+anderen, sanfteren zu gehen, die ihn mit noch härterem Urteile
+abweist. Sein Diener ist hier in den Stock geschlagen, er selber
+findet keine Aufnahme, weil man nicht vorbereitet ist, weil man die
+andere Schwester erwartet, die man aufnehmen muß, man rät dem König,
+zu der verlassenen Tochter zurückzukehren und sich ihren Maßregeln zu
+fügen. Bei dem Könige war vorher blindes Vertrauen in die Töchter,
+Übereilung im Urteile gegen Cordelia, Leichtsinn in Vergebung der
+Würden: jetzt entsteht Reue, Scham, Wut und Raserei. Er will nicht
+zu der Tochter zurückkehren, eher geht er in den Sturm und in das
+Ungewitter auf die Haide hinaus, die gegen ihn wüten dürfen, denen er
+ja nichts geschenkt hat. Er tritt in die Wüste bei Nacht, Sturm und
+Ungewitter, der Greis gibt die weißen Haare den Winden preis, da
+er auf der Haide vorschreitet, von niemandem begleitet als von dem
+Narren, er wirft den Mantel in die Luft, und da er sich in Ausdrücken
+erschöpft hat, weiß er nichts mehr als die Worte - Lear! Lear! Lear!
+aber in diesem einzigen Worte liegt seine ganze vergangene Geschichte
+und liegen seine ganzen gegenwärtigen Gefühle. Er wirft sich später
+dem Narren an die Brust und ruft mit Angst: Narr, Narr! ich werde
+rasend - ich möchte nicht rasend werden - nur nicht toll! Da er die
+drei letzten Worte milder sagte, gleichsam bittend, so flossen mir
+die Tränen über die Wangen herab, ich vergaß die Menschen herum und
+glaubte die Handlung als eben geschehend. Ich stand und sah unverwandt
+auf die Bühne. Der König wird nun wirklich toll, er kränzt sich in den
+Tagen nach jener Sturmnacht mit Blumen, schwärmt auf den Hügeln und
+Haiden und hält mit Bettlern einen hohen Gerichtshof. Es ist indessen
+schon Botschaft an seine Tochter Cordelia getan worden, daß Regan
+und Goneril den Vater schnöd behandeln. Diese war mit Heeresmacht
+gekommen, um ihn zu retten. Man hatte ihn auf der Haide gefunden, und
+er liegt nun im Zelte Cordelias und schläft. Während der letzten Zeit
+ist er in sich zusammengesunken, er ist, während wir ihn so vor uns
+sahen, immer älter, ja gleichsam kleiner geworden. Er hatte lange
+geschlafen, der Arzt glaubt, daß der Zustand der Geisteszerrüttung nur
+in der übermannenden Heftigkeit der Gefühle gelegen war und daß sich
+sein Geist durch die lange Ruhe und den erquickenden Schlaf wieder
+stimmen werde. Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat
+nicht den Mut, die vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen,
+und sagt im Mißtrauen auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte
+diese fremde Frau für sein Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der
+Wahrheit seiner Vorstellung überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem
+Bette herab und bittet knieend und händefaltend sein eigenes Kind
+stumm um Vergebung. Mein Herz war in dem Augenblicke gleichsam
+zermalmt, ich wußte mich vor Schmerz kaum mehr zu fassen. Das hatte
+ich nicht geahnt, von einem Schauspiele war schon längst keine Rede
+mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir. Der günstige
+Ausgang, welchen man den Aufführungen dieses Stückes in jener Zeit
+gab, um die fürchterlichen Gefühle, die diese Begebenheit erregt, zu
+mildern, tat auf mich keine Wirkung mehr, mein Herz sagte, daß das
+nicht möglich sei, und ich wußte beinahe nicht mehr, was vor mir und
+um mich vorging. Als ich mich ein wenig erholt hatte, tat ich fast
+scheu einen Blick auf meine Umgebung, gleichsam um mich zu überzeugen,
+ob man mich beobachtet habe. Ich sah, daß alle Angesichter auf die
+Bühne blickten und daß sie in starker Erregung gleichsam auf den
+Schauplatz hingeheftet seien. Nur in einer ebenerdigen Loge sehr nahe
+bei mir saß ein Mädchen, welches nicht auf die Darstellung merkte,
+sie war schneebleich, und die Ihrigen waren um sie beschäftigt. Sie
+kam mir unbeschreiblich schön vor. Das Angesicht war von Tränen
+übergossen, und ich richtete meinen Blick unverwandt auf sie. Da die
+bei ihr Anwesenden sich um und vor sie stellten, gleichsam um sie vor
+der Betrachtung zu decken, empfand ich mein Unrecht und wendete die
+Augen weg.
+
+Das Stück war indessen aus geworden, und um mich entstand die Unruhe,
+die immer mit dem Fortgehen aus einem Schauspielhause verbunden ist.
+Ich nahm mein Taschentuch heraus, wischte mir die Stirne und die Augen
+ab und richtete mich zum Fortgehen. Ich ging in das Kleiderzimmer,
+holte mir meinen Überrock und zog ihn an. Als ich in den Vorsaal kam,
+war dort ein sehr starres Gedränge, und da er mehrere Ausgänge hatte,
+wogten die Menschen vielfach hin und her. Ich gab mich einem größeren
+Zuge hin, der langsam bei dem Hauptausgange ausmündete. Plötzlich war
+es mir, als ob sich meinen Blicken, die auf den Ausgang gerichtet
+waren, ganz nahe etwas zur Betrachtung aufdrängte. Ich zog sie zurück,
+und in der Tat hatte ich zwei große, schöne Augen den meinigen
+gegenüber, und das Angesicht des Mädchens aus der ebenerdigen Loge war
+ganz nahe an dem meinigen. Ich blickte sie fest an, und es war mir,
+als ob sie mich freundlich ansähe und mir lieblich zulächelte. Aber in
+dem Augenblicke war sie vorüber. Sie war mit einem Menschenstrome aus
+dem Logengange gekommen, dieser Strom hatte unseren Zug gekreuzt und
+strebte bei einem Seitenausgange hinaus. Ich sah sie nur noch von
+rückwärts und sah, daß sie in einen schwarzseidenen Mantel gehüllt
+war. Ich war endlich auch bei dem Hauptausgange hinaus, kommen. Dort
+zog ich erst meine Kappe aus der Tasche des Überrockes, setzte sie auf
+und blieb noch einen Augenblick stehen und sah den abfahrenden Wägen
+nach, die ihre roten Laternenlichter in die trübe Nacht hinaustrugen.
+Es regnete noch viel dichter als bei meinem Hereingehen. Ich schlug
+den Weg nach Hause ein. Ich gelangte aus den fahrenden Wägen,
+ich gelangte aus dem größeren Strome der Menschen und bog in den
+vereinsamteren Weg ein, der im Freien durch die Reihen der Bäume der
+Vorstadt zuführte. Ich schritt neben den düsteren Laternen vorbei, kam
+wieder in die Gassen der Vorstadt, durchging sie und war endlich in
+dem Hause meiner Eltern.
+
+Es war beinahe Mitternacht geworden. Die Mutter, welche es sich bei
+solchen Gelegenheiten nicht nehmen läßt, besonders auf die Gesundheit
+der Ihrigen bedacht zu sein, war noch angekleidet und wartete meiner
+im Speisezimmer. Die Magd, welche mir die Wohnung geöffnet hatte,
+sagte mir dieses und wies mich dahin. Die Mutter hatte noch ein
+Abendessen für mich in Bereitschaft und wollte, daß ich es einnehme.
+Ich sagte ihr aber, daß ich noch zu sehr mit dem Schauspiele
+beschäftigt sei und nichts essen könne. Sie wurde besorgt und sprach
+von Arznei. Ich erwiderte ihr, daß ich sehr wohl sei und daß mir gar
+nichts als Ruhe not tue.
+
+»Nun, wenn dir Ruhe not tut, so ruhe«, sagte sie, »ich will dich nicht
+zwingen, ich habe es gut gemeint.«
+
+»Gut gemeint wie immer, teure Mutter«, antwortete ich, »darum danke
+ich auch.«
+
+Ich ergriff ihre Hand und küßte sie. Wir wünschten uns gegenseitig
+eine gute Nacht, nahmen Lichter und begaben uns auf unsere Zimmer.
+
+Ich entkleidete mich, legte mich auf mein Bett, löschte die Lichter
+aus und ließ mein heftiges Herz nach und nach in Ruhe kommen. Es war
+schon beinahe gegen Morgen, als ich einschlief.
+
+Das erste, was ich am andern Tage tat, war, daß ich den Vater um die
+Werke Shakespeares aus seiner Büchersammlung bat und sie, da ich sie
+hatte, in meinem Zimmer zur Lesung für diesen Winter zurecht legte.
+Ich übte mich wieder im Englischen, damit ich sie nicht in einer
+Übersetzung lesen müsse.
+
+Als ich im vergangenen Sommer von meinem alten Gastfreunde Abschied
+genommen hatte und an dem Saume seines Waldes auf der Landstraße dahin
+ging, waren mir zwei in einem Wagen fahrende Frauen begegnet. Damals
+hatte ich gedacht, daß das menschliche Angesicht der beste Gegenstand
+für das Zeichnen sein dürfte. Dieser Gedanke fiel mir wieder ein, und
+ich suchte mir Kenntnisse über das menschliche Antlitz zu verschaffen.
+Ich ging in die kaiserliche Bildersammlung und betrachtete dort alle
+schönen Mädchenköpfe, welche ich abgemalt fand. Ich ging öfter hin und
+betrachtete die Köpfe. Aber auch von lebenden Mädchen, mit denen ich
+zusammentraf, sah ich die Angesichter an, ja ich ging an trockenen
+Wintertagen auf öffentliche Spaziergänge und sah die Angesichter der
+Mädchen an, die ich traf. Aber unter allen Köpfen, sowohl den gemalten
+als auch den wirklichen, war kein einziger, der ein Angesicht
+gehabt hätte, welches sich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte
+vergleichen können, welches ich an dem Mädchen in der Loge gesehen
+hatte. Dieses eine wußte ich, obwohl ich mir das Angesicht eigentlich
+gar nicht mehr vorstellen konnte und obwohl ich es, wenn ich es
+wieder gesehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer
+Ausnahmsstellung gesehen, und im ruhigen Leben mußte es gewiß ganz
+anders sein.
+
+Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein lesendes Kind gemalt war.
+Es hatte eine so einfache Miene, nichts war in derselben als die
+Aufmerksamkeit des Lesens, man sah auch nur die eine Seite des
+Angesichtes, und doch war alles so hold. Ich versuchte das Angesicht
+zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge,
+von denen noch dazu das Auge nicht zu sehen war, sondern durch das Lid
+beschattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich
+durfte mir das Bild herabnehmen, ich durfte ihm eine Stellung geben,
+wie ich wollte, um die Nachahmung zu versuchen; sie gelang nicht,
+wenn ich auch alle meine Fertigkeit, die ich im Zeichnen anderer
+Gegenstände bereits hatte, darauf anwendete.
+
+Der Vater sagte mir endlich, daß die Wirkung dieses Bildes vorzüglich
+in der Zartheit der Farbe liege, und daß es daher nicht möglich sei,
+dieselbe in schwarzen Linien nachzuahmen. Er machte mich überhaupt,
+da er meine Bestrebungen sah, mehr mit den Eigenschaften der Farben
+bekannt, und ich suchte mich auch in diesen Dingen zu unterrichten und
+zu üben.
+
+Sonderbar war es, daß ich nie auf den Gedanken kam, meine Schwester
+zu betrachten, ob ihre Züge zum Nachzeichnen geeignet wären, oder den
+Wunsch hegte, ihr Angesicht zu zeichnen, obgleich es in meinen Augen
+nach dem des Mädchens in der Loge das schönste auf der Welt war. Ich
+hatte nie den Mut dazu. Oft kam mir auch jetzt noch der Gedanke, so
+schön und rein wie Klotilde könne doch nichts mehr auf der Erde sein;
+aber da fielen mir die Züge des weinenden Mädchens ein, das die
+Ihrigen zu beruhigen gestrebt hatten und von dem ich mir einbildete,
+daß es mich im Vorsaale des Theaters freundlich angeblickt habe, und
+ich mußte sie vorziehen. Ich konnte sie mir zwar nicht vorstellen;
+aber es schwebte mir ein unbestimmtes, dunkles Bild von Schönheit vor
+der Seele. Die Freundinnen meiner Schwester oder andere Mädchen, mit
+denen ich gelegentlich zusammen kam, hatten manche liebe, angenehme
+Eigenschaften in ihrem Angesichte, ich betrachtete sie und dachte mir,
+wie dieses oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich mochte sie ebenfalls
+nie ersuchen, und so kam ich nicht dazu, ein lebendes, vor mir
+befindliches Angesicht zu zeichnen. Ich wiederholte also die Züge in
+der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man machte mich endlich
+auch darauf aufmerksam, daß ich immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war
+beschämt und begann später Männer, Greise, Frauen, ja auch andere
+Teile des Körpers zu zeichnen, so weit ich sie in Vorlagen oder
+Gipsabgüssen bekommen konnte.
+
+Trotz dieser Bestrebungen, welchen nach dem Grundsatze unseres Hauses
+kein Hindernis in den Weg gelegt wurde, vernachlässigte ich meine
+Hauptbeschäftigung doch nicht. Es tat mir sehr wohl, zu Hause unter
+meinen Sammlungen herum zu gehen, ich dachte oft an die Worte des
+alten Mannes in dem Rosenhause, und im Gegensatze zu den Festen,
+zu denen ich geladen war, oder selbst zu Spaziergängen und
+Geschäftsbesuchen war mir meine Wohnung wie eine holde,
+bedeutungsvolle Einsamkeit, die mir noch lieber wurde, weil ihre
+Fenster auf Gärten und wenig geräuschvolle Gegenden hinausgingen.
+
+
+Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer größer, je näher der Winter
+seinem Ende zuging, und ich hatte in dieser Hinsicht und oft auch in
+anderer mehr Ursache und Pflicht, zu dieser oder jener Familie einen
+Gang zu tun.
+
+Bei einer solchen Gelegenheit ereignete sich mit mir ein Vorfall, der
+mich nach dem Beiwohnen bei der Aufführung des Lear in jenem Winter am
+meisten beschäftigte.
+
+Wir waren seit Jahren mit einer Familie sehr befreundet, welche in
+der Hofburg wohnte. Es war die Wittwe und Tochter eines berühmten
+Mannes, der einmal in großem Ansehen gestanden war. Da der Vater ein
+bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach seinem
+Tode auch ein Hoffräulein, weshalb sie mit der Mutter in der Burg
+wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee, der andere bei einer
+Gesandtschaft. Wenn das Fräulein nicht eben im Dienste war, wurde
+zuweilen abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in welchem etwas
+vorgelesen, gesprochen oder Musik gemacht wurde. Da die Mutter etwas
+älter wurde, spielte man sogar zuweilen Karten. Wir waren öfter an
+solchen Abenden bei dieser Familie. In jenem Winter hatte ich ein
+Buch, welches mir von der Mutter des Hoffräuleins war geliehen worden,
+länger behalten, als es eigentlich die Höflichkeit erlaubte. Deshalb
+ging ich eines Mittags hin, um das Buch persönlich zu überbringen und
+mich zu entschuldigen. Als ich von dem äußeren Burgplatze durch das
+hohe Gewölbe des Gehweges in den inneren gekommen war, fuhren eben
+aus dem Hofe zu meiner Rechten mehrere Wägen heraus, die meinen Weg
+kreuzten und mich zwangen, eine Weile stehen zu bleiben. Es standen
+noch mehrere Menschen neben mir, und ich fragte, was diese Wägen
+bedeuteten.
+
+»Es sind Glückwünsche, welche dem Kaiser nach seiner Wiedergenesung
+von großen Herren abgestattet worden sind und welche er eben
+angenommen hatte«, sagte ein Mann neben mir.
+
+Der letzte der Wägen war mit zwei Rappen bespannt, und in ihm saß ein
+einzelner Mann. Er hatte den Hut neben sich liegen und trug die weißen
+Haare frei in der winterlichen Luft. Der Überrock war ein wenig offen,
+und unter ihm waren Ordenssterne sichtbar. Als der Wagen bei mir
+vorüberfuhr, sah ich deutlich, daß mein alter Gastfreund, der mich in
+dem Rosenhause so wohlwollend aufgenommen hatte, in demselben sitze.
+Er fuhr schnell vorbei, wie es bei Wägen dieser Art Sitte ist, und
+schlug die Richtung nach der Stadt ein. Er fuhr bei dem Tore aus der
+Burg, an welchem die zwei Riesen als Simsträger angebracht sind. Ich
+wollte jemand von meinen Nachbaren fragen, wer der Mann sei; aber da
+von den Wägen, welche die Fußgänger aufgehalten hatten, der seinige
+der letzte gewesen und der Weg sodann frei war, so waren alle
+Nachbaren bereits ihrer Wege gegangen, und diejenigen, welche jetzt
+neben mir waren, hatten die Wägen nicht in der Nähe gesehen.
+
+Ich ging daher über den Hof und stieg, über die sogenannte
+Reichskanzleitreppe empor.
+
+Ich traf die alte Frau allein, übergab ihr das Buch und sagte meine
+Entschuldigungen.
+
+Im Verlaufe des Gespräches erwähnte ich des Mannes, den ich in dem
+Wagen gesehen hatte und fragte, ob sie nicht wisse, wer er sei. Sie
+wußte von gar nichts.
+
+»Ich habe nicht bei den Fenstern hinabgeschaut«, sagte sie, »es geht
+Vieles auf dem großen Hofe vor, ich achte nicht darauf. Ich habe gar
+nicht gewußt, daß bei dem Kaiser eine Vorfahrt gewesen ist, er war
+vorgestern noch nicht ganz gesund. Da mein Mann noch lebte, haben wir
+immer die Aussicht auf den großen Platz der Hofburg gehabt, und wie
+bedeutende Dinge da auch vorgehen, so wiederholen sich doch immer die
+nehmlichen, wenn man viele Jahre zuschaut; und endlich schaut man gar
+nicht mehr zu und hat herinnen ein Buch oder sein Strickzeug, wenn
+draußen in das Gewehr gerufen wird, oder Reiter zu hören sind, oder
+Wagen rollen.«
+
+»Wer ist denn von denen, die in der Aufwartung bei dem Kaiser
+wegfuhren, in dem letzten Wagen gesessen, Henriette?« fragte sie ihre
+eben eintretende Tochter, das Hoffräulein.
+
+»Das ist der alte Risach gewesen«, antwortete diese, »er ist eigens
+hereingekommen, um sich Seiner Majestät vorzustellen und seine Freude
+über dessen Wiedergenesung auszudrücken.«
+
+
+Ich hatte in meiner Jugend öfter den Namen Risach nennen gehört,
+allein ich hatte damals so wenig darauf geachtet, was ein Mann, dessen
+Namen ich hörte, tue, daß ich jetzt gar nicht wußte, wer dieser Risach
+sei, Ich fragte daher mit jener Rücksicht, die man bei solchen Fragen
+immer beobachtet, und erfuhr, daß der Freiherr von Risach zwar nicht
+die höchsten Staatswürden bekleidet habe, daß er aber in der wichtigen
+und schmerzlichen Zeit des nunmehr auch alternden Kaisers in den
+belangreichsten Dingen tätig gewesen sei, daß er mit den Männern,
+welche die Angelegenheiten Europas leiteten, an der Schlichtung
+dieser Angelegenheiten gearbeitet habe, daß er von fremden Herrschern
+geschätzt worden sei, daß man gemeint habe, er werde einmal an die
+Spitze gelangen, daß er aber dann ausgetreten sei. Er lebe meistens
+auf dem Lande, komme aber öfter herein und besuche diesen oder jenen
+seiner Freunde. Der Kaiser achte ihn sehr, und es dürfte noch jetzt
+vorkommen, daß hie und da nach seinem Rate gefragt werde. Er soll
+reich geheiratet, aber seine Frau wieder verloren haben. Überhaupt
+wisse man diese Verhältnisse nicht genau.
+
+Alles dieses hatte mir das Hoffräulein gesagt.
+
+»Siehst du, meine liebe Henriette«, sprach die alte Frau, »wie sich
+die Dinge in der Welt verändern. Du weißt es noch nicht, weil du noch
+jung bist und weil du nichts erfahren hast. Das Niedrige wird hoch,
+das Hohe wird niedrig, Eines wird so, das Andere wird anders, und ein
+Drittes bleibt bestehen. Dieser Risach ist sehr oft in unser Haus
+gekommen. Da uns der Vater noch zuweilen in dem alten Doktorwagen, den
+er hatte, und der dunkelgrün und schwarz angestrichen war, spazieren
+fahren ließ, ist er nicht einmal, sondern oft auf dem Kutschbocke
+gesessen, oder er ist gar, wenn wir im Freien fuhren und uns die Leute
+nicht sehen konnten, hinten aufgestanden wie ein Leibdiener, denn der
+Wagen des Vaters hat ein Dienerbrett gehabt. Wir waren kaum anders
+als Kinder, er war ein junger Student, der wenig Bekanntschaft hatte,
+dessen Herkunft man nicht wußte und um den man auch nicht fragte. Wenn
+wir in dem Garten auf dem Landhause waren, sprang er mit den Brüdern
+auf den hölzernen Esel, oder sie jagten die Runde in das Wasser oder
+setzten unsere Schaukel in Bewegung. Er brachte deinen Vater zu meinen
+Brüdern als Kameraden in das Haus. Man wußte damals kaum, wer schöner
+gewesen sei, Risach oder dein Vater. Aber nach einer Zeit wurde Risach
+weniger gesehen, ich weiß nicht warum, es vergingen manche Jahre, und
+ich trat mit deinem Vater in den heiligen Stand der Ehe. Die Brüder
+waren als Staatsdiener zerstreut, die Eltern waren endlich tot, von
+Risach wurde oft gesprochen, aber wir kamen wenig zusammen. Der Vater
+begann seine Tätigkeit hauptsächlich erst dann, als Risach schon
+ausgetreten war. Da sitze ich jetzt nun wieder, aber in einem anderen
+Teile der Burg, dein Vater hat die Erde verlassen müssen, du bist
+nicht einmal mehr ein Kind, dienst deiner hohen, gütigen Herrin, und
+da von Risach die Rede war, meinte ich, es seien kaum einige Jahre
+vergangen, seit er die Schaukel in unserem Garten bewegt hat.«
+
+Ich fragte, ob nicht Risach eine Besitzung im Oberlande habe.
+
+Man sagte mir, daß er dort eine habe.
+
+Ich wollte nicht weiter fragen, um nicht die ganze Darlegung meiner
+Einkehr in diesem Sommer machen zu müssen.
+
+Als ich aber nach Hause gekommen war, erzählte ich die heutige
+Begegnung meinen Angehörigen bei dem Mittagessen. Der Vater kannte den
+Freiherrn von Risach sehr gut. Er war in früherer Zeit mehrere Male
+mit ihm zusammengekommen, hatte ihn aber jetzt schon lange nicht
+gesehen. Als Anhaltspunkte, daß mein Beherberger in dem Rosenhause der
+Freiherr von Risach gewesen sei, dienten, daß ich ihn, wenn mich nicht
+in der Schnelligkeit des Fahrens eine Ähnlichkeit getäuscht hat,
+selber gesehen habe, daß er im Oberlande eine Besitzung hat, daß er
+wohlhabend sei, was mein Beherberger sein müsse, und daß er hohe
+Geistesgaben besitze, die mein Beherberger auch zu haben scheine.
+Man beschloß, in dieser Sache nicht weiter zu forschen, da mein
+Beherberger mir seinen Namen nicht freiwillig genannt habe, und die
+Dinge so zu belassen, wie sie seien.
+
+Außer diesen zwei Begebenheiten, die wenigstens für mich von Bedeutung
+waren, ereignete sich nichts in jenem Winter, was meine Aufmerksamkeit
+besonders in Anspruch genommen hätte. Ich war viel beschäftigt, mußte
+oft Stunden der Nacht zu Hilfe nehmen, und so ging mir der Winter weit
+schneller vorüber, als es in früheren Jahren der Fall gewesen war. Im
+allgemeinen aber befriedigten mich besonders die Hilfsmittel, die eine
+große Stadt zur Ausbildung gibt und die man sonst nicht leicht findet.
+
+Als die Tage schon länger wurden, als die eigentliche Stadtlust schon
+aufgehört hatte und die stillen Wochen der Fastenzeit liefen, fragte
+ich eines Tages Preborn, weshalb er mir denn die Gräfin Tarona nicht
+gezeigt habe, die er so liebe, die so schön sein soll, und zu deren
+Gewinnung er meinen Beistand angerufen habe.
+
+»Erstens ist sie keine Gräfin«, antwortete er mir, »ich weiß nicht
+genau ihren Stand, ihr Vater ist tot, und sie lebt in der Gesellschaft
+einer reichen Mutter; aber das weiß ich, daß sie nicht von Adel ist,
+was mir sehr zusagt, da ich es auch nicht bin - und zweitens ist sie
+und ihre Mutter in diesem Winter nicht in die Stadt gekommen. Das
+ist die Ursache, daß ich sie dir nicht zeigen konnte und daß du
+Gelegenheit fandest, einen Spott gegen mich zu richten. Du mußt sie
+aber vorerst sehen. Alle, denen heuer Schönheiten gesagt worden sind,
+alle, die man gerühmt hat, alle, die geblendet haben, sind nichts, ja
+sie sind noch weniger als nichts gegen sie.«
+
+Ich antwortete ihm, daß ich nicht spotten, sondern die Sache einfach
+habe sagen wollen.
+
+
+Wie sich der Frühling immer mehr näherte, rüstete ich mich zu meiner
+Reise. Ich wollte heuer früher reisen, weil ich mir vorgenommen hatte,
+ehe ich in die Berge ginge, einen Besuch in dem Rosenhause zu machen.
+Mit jedem Jahre wurden meine Zurüstungen weitläufiger, weil ich
+in jedem Jahre mehr Erfahrungen hatte und meine Entwürfe weiter
+hinaus gingen. Heuer hatte ich auch beschlossen, umfassendere
+Zeichnungswerkzeuge und sogar Farben mitzunehmen. Wie es mit jeder
+Gewohnheit ist, war es auch bei mir. Wenn ich mich in jedem Herbste
+nach der Häuslichkeit zurück sehnte, war es mir in jedem Frühlinge wie
+einem Zugvogel, der in jene Gegenden zurückkehren muß, die er in dem
+Herbste verlassen hatte.
+
+Als sich im März in der Stadt schon recht liebliche Tage einstellten,
+welche die Menschen in das Freie und auf die Wälle lockten, war ich
+mit meinen Vorbereitungen fertig, und nachdem ich von den Meinigen den
+gewöhnlichen herzlichen Abschied genommen hatte, reisete ich eines
+Morgens ab.
+
+Mir war damals, so wie jetzt noch, jedes Fortfahren von den
+Angehörigen in der Nacht sowie das Antreten irgend einer Reise in der
+Nacht sehr zuwider. Die Post ging aber damals in das Oberland erst
+abends ab, darum fuhr ich lieber in einem Mietwagen. Die Landhäuser
+außer der Stadt, welche reichen Bewohnern derselben gehörten, waren
+noch im Winterschlafe. Sie waren teilweise in ihren Umhüllungen mit
+Stroh oder mit Brettern befangen, was einen großen Gegensatz zu dem
+heiteren Himmel und zu den Lerchen machte, welche schon überall
+sangen. Ich fuhr nur durch die Ebene. Da ich in den Bereich der Hügel
+gelangte, verließ ich den Wagen und setzte meinen Weg nach meiner
+gewöhnlichen Art in kurzen Fußreisen fort.
+
+Ich betrachtete wieder überall die Bauwerke, wo sie mir als
+betrachtenswert aufstießen. Ich habe einmal irgendwo gelesen, daß der
+Mensch leichter und klarer zur Kenntnis und zur Liebe der Gegenstände
+gelangt, wenn er Zeichnungen und Gemälde von ihnen sieht, als wenn er
+sie selber betrachtet, weil ihm die Beschränktheit der Zeichnung alles
+kleiner und vereinzelter zusammen faßt, was er in der Wirklichkeit
+groß und mit Genossen vereint erblickt. Bei mir schien sich dieser
+Ausspruch zu bestätigen. Seit ich die Bauzeichnungen in dem Rosenhause
+gesehen hatte, faßte ich Bauwerke leichter auf, beurteilte sie
+leichter, und ich begriff nicht, warum ich früher auf sie nicht so
+aufmerksam gewesen war.
+
+Im Oberlande war es noch viel rauher, als ich es in der Stadt
+verlassen hatte. Als ich eines Morgens an der Ecke des Buchenwaldes
+meines Gastfreundes ankam, in welchem der Alizbach in die Agger fällt,
+war noch manches Wässerchen mit einer Eisrinde bedeckt. Da ich das
+Rosenhaus erblickte, machte es einen ganz anderen Eindruck als damals,
+da ich es als weiße Stelle in dem gesättigten und dunkeln Grün der
+Felder und Bäume unter einem schwülen und heißen Himmel gesehen
+hatte. Die Felder hatten noch, mit Ausnahme der grünen Streifen der
+Wintersaat, die braunen Schollen der nackten Erde, die Bäume hatten
+noch kein Knöspchen, und das Weiß des Hauses sah zu mir herüber, als
+sähe ich es auf einem schwach veilchenblauen Grunde.
+
+Ich ging auf der Straße in der Nähe von Rohrberg vorüber und kam
+endlich zu der Stelle, wo der Feldweg von ihr über den Hügel zu dem
+Rosenhause hinaufführt. Ich ging zwischen den Zäunen und nackten
+Hecken dahin, ich ging auf der Höhe zwischen den Feldern und stand
+dann vor dem Gitter des Hauses. Wie anders war es jetzt. Die Bäume
+ragten mit dem schwarzen oder braunlichen Gezweige nackt in die
+dunkelblaue Luft. Das einzige Grün waren die Gartengitter. Über die
+Rosenbäumchen an dem Hause war eine schöngearbeitete Decke von Stroh
+herabgelassen. Ich zog den Glockengriff, ein Mann erschien, der mich
+kannte und einließ, und ich wurde zu dem Herrn geführt, der sich eben
+in dem Garten befand.
+
+Ich traf ihn in einer Kleidung wie im Sommer, nur daß sie von wärmerem
+Stoffe gemacht war. Die weißen Haare hatte er wieder wie gewöhnlich
+unbedeckt.
+
+Er schien mir wieder so sehr ein Ganzes mit seiner Umgebung, wie er es
+mir im vorigen Sommer geschienen hatte.
+
+Man war damit beschäftigt, die Stämme der Obstbäume mit Wasser und
+Seife zu reinigen. Auch sah ich, wie hie und da Arbeiter auf Leitern
+neben den Bäumen waren, um die abgestorbenen und überflüssigen Äste
+abzuschneiden. Als ich im vorigen Sommer fort gegangen war, hatte
+mein Gastfreund gesagt, daß ich meine Wiederkunft vorher durch eine
+Botschaft anzeigen möge, damit ich ihn zu Hause treffe. Er hatte
+aber wahrscheinlich nicht bedacht, daß dieses Schwierigkeiten habe,
+indem ich in der Regel selber nicht wissen kann, wie sich durch
+Witterungsverhältnisse oder andere Umstände meine Vorhaben zu ändern
+gezwungen sein dürften. Ich habe ihm also eine Botschaft nicht
+geschickt und ihn auf meine Gefahr hin überrascht. Er aber nahm mich
+so freundlich auf, da er mich auf sich zuschreiten sah, wie er mich
+bei dem vorigjährigen Aufenthalte in seinem Hause freundlich behandelt
+hat.
+
+Ich sagte, er möge es sich selber zuschreiben, daß ich ihn schon so
+früh im Jahre in seinem Hause überfalle; er habe mich so wohlwollend
+eingeladen, und ich habe mir es nicht versagen können, hieher zu
+kommen, ehe die Täler und die Fußwege in dem Gebirge so frei wären,
+daß ich meine Beschäftigungen in ihnen anfangen könnte.
+
+»Wir haben eine ganze Reihe von Gastzimmern, wie ihr wißt«, sagte er,
+»wir sehen Gäste sehr gerne, und ihr seid gewiß kein unlieber unter
+ihnen, wie ich euch schon im vergangenen Sommer gesagt habe.«
+
+Er wollte mich in das Haus geleiten, ich sagte aber, daß ich heute
+erst drei Stunden gegangen sei, daß meine Kräfte sich noch in sehr
+gutem Zustande befänden und daß er erlauben möge, daß ich hier bei ihm
+in dem Garten bleibe. Ich bitte ihn nur um das einzige, daß er mein
+Ränzlein und meinen Stock in mein Zimmer tragen lasse.
+
+Er nahm das silberne Glöcklein, das er bei sich trug, aus der Tasche
+und läutete. Der Klang war selbst im Freien sehr durchdringend, und
+es erschien auf ihn eine Magd aus dem Hause, welcher er auftrug, mein
+Ränzlein, das ich mittlerweile abgenommen hatte, und meinen Stock, den
+ich ihr darreichte, in mein Zimmer zu tragen. Er gab ihr noch ferner
+einige Weisungen, was in dem Zimmer zu geschehen habe.
+
+
+Ich fragte nach Gustav, ich fragte nach dem Zeichner in dem
+Schreinerhause, und ich fragte sogar nach dem weißen alten Gärtner
+und seiner Frau. Gustav sei gesund, erhielt ich zur Antwort, er
+vervollkommne sich an Geist und Körper. Er sei eben in seiner
+Arbeitsstube beschäftigt, er werde sich gewiß sehr freuen, mich zu
+sehen. Der Zeichner lebe fort wie früher und sei sehr eifrig, und
+was die Gärtnersleute anbelange, so verändern sich diese schon seit
+mehreren Jahren gar nicht mehr und seien heuer wie ich sie im vorigen
+Sommer gesehen habe. Ich fragte endlich auch noch nach dem Gesinde,
+den Gartenarbeitern und den Meierhofleuten. Sie seien alle ganz
+wohl, wurde geantwortet, es sei seit meinem vorjährigen Besuche kein
+Krankheitsfall vorgekommen, und es habe auch keines der Leute eine
+gründliche Ursache zur Unzufriedenheit gegeben.
+
+Nach mehreren gleichgültigen Gesprächen namentlich über die
+Beschaffenheit der Wege, auf denen ich hieher gekommen war, und über
+das Vorrücken der Wintersaaten auf den Feldern wendete er sich wieder
+mehr der Arbeit, die vor ihm geschah, zu, und auch ich richtete meine
+Aufmerksamkeit auf dieselbe. Ich hatte mir einmal, da er mir erzählte,
+daß er die Baumstämme waschen lasse, die Sache sehr umständlich
+gedacht. Ich sah aber jetzt, daß sie mittelst Doppelleitern und
+Brettern sehr einfach vor sich gehe. Mit den langstieligen Bürsten
+konnte man in die höchsten Zweige emporfahren, und da die Leute
+von der Zweckmäßigkeit der Maßregel fest überzeugt waren und emsig
+arbeiteten, so schritt das Werk mit einer von mir nicht geahnten
+Schnelligkeit vor. In der Tat, wenn man einen gewaschenen und
+gebürsteten Stamm ansah, wie er rein und glatt in der Luft stand,
+während sein Nachbar noch rauh und schmutzig war, so meinte man, daß
+dem einen sehr wohl sein müsse und daß der andere verdrossen aussehe.
+Mir fiel die stolze Äußerung ein, die mein Gastfreund im vergangenen
+Sommer zu mir getan hatte, daß ich mir den Stamm jenes Kirschbaumes
+ansehen solle, ob seine Rinde nicht aussähe wie feine graue Seide. Sie
+war wirklich wie Seide und mußte es gerade immer mehr werden, da sie
+in jedem Jahre aufs Neue gepflegt wurde.
+
+Als wir nach einer Weile weiter in den Garten zurückgingen, sah ich
+auch noch andere Arbeiten. Die Hecken wurden gebunden und geordnet,
+das Dornenreisig zu den Nestern der Vögel unter ihnen hergerichtet,
+die Wege von den Schäden des Winters ausgebessert, unter den
+Zwergbäumen, die schon beschnitten waren, die Erde gelockert und
+bei den schwächeren, welche Stäbe hatten, nachgesehen, ob diese
+festhielten und nicht etwa in der Erde abgefault wären. Es wurden
+losgegangene Bänder wieder geknüpft, im Gemüsegarten umgegraben,
+Fenster an Winterbeeten gelüftet oder zugedeckt, die Pumpen
+ausgebessert, mancher Nagel eingeschlagen und endlich hie und da ein
+Behältnis für die Vögel gereinigt und befestigt.
+
+Ich verabschiedete mich von meinem Gastfreunde, da er sehr mit der
+Leitung der Arbeiten beschäftigt war, und ging allein in dem Garten
+herum, in Teilen, in die ich wollte. Die Vögel waren schon zahlreich
+da, sie schlüpften durch die laublosen Zweige der Bäume, und es begann
+schon hie und da ein Laut oder ein Zwitschern. Besonders lieblich und
+hell schallte der Gesang der aufsteigenden Lerchen von den den Garten
+umgebenden Feldern herein. Die Vorrichtungen zur Ernährung und
+Tränkung der Vögel waren wegen der Blattlosigkeit der Bäume und
+Gesträuche mehr sichtbar, auch schaute ich mehr nach ihnen aus als bei
+meiner ersten Ankunft, da ich jetzt bereits von ihnen wußte. Ich sah
+mehrere zum Aufstecken von Kernen dienende Gitter, von denen mir mein
+Gastfreund erzählt hatte.
+
+Ich betrachtete auch die Zweige. Die Knospen der Blätter und der
+Blüten waren schon sehr geschwollen und harrten der Zeit, in welcher
+sie aufbrechen würden.
+
+Ich stieg bis zu dem großen Kirschbaume empor und sah über den Garten,
+über das Haus und auf die Berge. Eine ganz heitere dunkelblaue Luft
+war über alles ausgegossen. Dieser schöne Tag, deren es in der
+frühen Jahreszeit noch ziemlich wenige gibt, war es auch, der meinen
+Gastfreund bewog, so viele Arbeiten in dem Garten zu veranlassen.
+Unter der heiteren Luft lag die Erde noch in bedeutender Öde.
+Ich wollte auch zu der Felderrast hinüber gehen; allein der Weg,
+der am Morgen gefroren gewesen sein mochte, war jetzt weich und
+tief durchfeuchtet, daß das Gehen auf ihm sehr unangenehm und
+verunreinigend gewesen wäre. Ich sah die dunkeln Wintersaaten und die
+nackten Schollen der neben ihnen liegenden Felder eine Weile an und
+ging dann wieder hinab.
+
+Ich ging zu den Gärtnerleuten. Mir kam es nicht vor, wie mein
+Gastfreund gesagt hatte, daß sie sich nicht verändert hätten. Der Mann
+schien mir noch weißer geworden zu sein. Seine Haare unterschieden
+sich nicht mehr von der Leinwand. Die Frau aber war unverändert. Sie
+mußte von einer sehr reinlichkeitliebenden Familie stammen, weil sie
+das Häuschen so nett hielt und den alten Mann so fleckenlos und knapp
+heraus kleidete. Er machte mir ganz genau wieder den nehmlichen
+Eindruck wie im vergangenen Jahre, als ob er einer ganz anderen
+Beschäftigung angehörte.
+
+Da ich von dem Gewächshause gegen die Fütterungstenne ging, begegnete
+mir Gustav. Er lief mit einem Rufe auf mich zu und grüßte mich.
+
+Der Knabe hatte sich in kurzer Zeit sehr geändert. Er stand sehr schön
+neben mir da, und gegen die rauhe Art der Natur, die noch kein Laub,
+kein Gras, keinen Stengel, keine Blume getrieben hatte, sondern der
+Jahreszeit gemäß nur die braunen Schollen, die braunen Stämme und die
+nackten Zweige zeigte, war er noch schöner; wie ich oft beim Zeichnen
+bemerkt hatte, daß zum Beispiele Augen der Tiere in struppigen Köpfen
+noch glänzender erschienen und daß feine Kinderangesichtchen, wenn sie
+von Pelzwerk umgeben sind, noch feiner aussehen. Ein sanftes Rot war
+auf seinen Wangen, braune Haarfülle um die Stirne, und die großen
+schwarzen Augen waren wie bei einem Mädchen. Es war, obwohl er sehr
+heiter war, fast etwas Trauerndes in ihnen.
+
+Wir gingen dem Platze zu, auf welchem sein Ziehvater beschäftigt war.
+Ich erzählte ihm auf dem Wege von meinen Angehörigen; von meiner
+Mutter, von meinem Vater und von meiner lieblichen Schwester. Auch
+erzählte ich ihm von der Stadt, wie man dort lebe, was sie für
+Vergnügungen biete, was sie für Unannehmlichkeiten habe und wie ich in
+ihr meine Zeit hinbringe.
+
+Er sagte mir, daß er jetzt schon in die Naturlehre eingerückt sei, daß
+ihm der Vater Versuche zeige und daß ihn die Sache sehr freue.
+
+Wir blieben eine Weile bei dem Ziehvater. Gustav zeigte mir allerlei
+und machte mich bald auf diese, bald auf jene Veränderung aufmerksam,
+welche sich seit meiner früheren Anwesenheit ergeben habe.
+
+Der Mittag vereinigte uns in dem Hause.
+
+Da ich so, da die Speisen erschienen, meinem alten Gastfreunde
+gegenüber saß, fiel mir plötzlich auf, was der Mann für schöne Zähne
+habe. Sehr dicht, weiß, klein und mit einem feinen Schmelze überzogen
+saßen sie in dem Munde, und kein einziger fehlte. Seine Wangen hatten
+durch den vielen Aufenthalt in der freien Luft ein gutes und gesundes
+Rot, nur seine Haare schienen mir wie bei dem Gärtner noch weißer
+geworden zu sein.
+
+Nach dem Essen begab ich mich ein wenig in mein Zimmer. Es war
+sehr freundlich hergerichtet worden, und in dem Ofen brannte ein
+erwärmendes Feuer.
+
+Nachmittags gingen wir in das Schreinerhaus. Eustach begrüßte mich aus
+seiner Stelle tretend sehr heiter, und ich erwiderte seinen Gruß auf
+das herzlichste. Auch die andern Arbeiter gaben zu erkennen, daß sie
+mich noch kannten. Ich besah zuerst die Dinge nur flüchtig und im
+allgemeinen. Der schöne Tisch war sehr weit vorgerückt; aber er war
+noch lange nicht fertig. Es waren wieder ein paar neue Erwerbungen
+gemacht worden. Man zeigte sie mir und machte mich darauf aufmerksam,
+was aus ihnen werden könne. Auch Plane zu selbstständigen Arbeiten
+waren wieder gemacht worden, und man legte mir in kurzem die
+Grundansichten auseinander. Ich bat Eustach, daß er erlaube, daß ich
+ihn während meiner Anwesenheit ein paar Male besuche. Er gestand es
+sehr gerne zu.
+
+Nach diesem Besuche machten wir trotz der sehr schlechten Wege einen
+weiten Spaziergang. Da ich davon sprach, daß ich schon die Vögel in
+dem Garten bemerkt habe, sagte mein Gastfreund: »Wenn ihr länger bei
+uns wäret, so würdet ihr jetzt eine ganze Lebensgeschichte dieser
+Tiere erfahren. Die Zurückgebliebenen fangen schon an, sich zu
+erheitern, die fortgezogen sind, treffen bereits allmählich ein und
+werden mit Geschrei empfangen. Sie drängen sich sehr an die Tafel und
+sputen sich, bis die in der Fremde erfahrnen Nahrungssorgen verwunden
+sind; denn dort werden sie schwerlich einen Brotvater finden, der
+ihnen gibt. Von da an werden sie immer inniger und singen täglich
+schöner. Dann wird ein Gekose in den Zweigen, und sie jagen sich.
+Hieran schließt sich die Häuslichkeit. Sie sorgen für die Zukunft und
+schleppen sich mit närrischen Lappen zu dem Nesterbau. Ich lasse ihnen
+dann allerlei Fäden zupfen, sie nehmen sie aber nicht immer, sondern
+ich sehe manchmal einen, wie er an einem kotigen Halme zerrt. Nun
+kömmt die Zeit der Arbeit wie bei uns in den Männerjahren. Da werden
+die leichtsinnigen Vögel ernsthaft, sie sind rastlos beschäftigt,
+ihre Nachkommen zu füttern, sie zu erziehen und zu unterrichten, daß
+sie zu etwas Tüchtigem tauglich werden, namentlich zu der großen
+bevorstehenden Reise. Gegen den Herbst kömmt wieder eine freiere Zeit.
+Da haben sie gleichsam einen Nachsommer und spielen eine Weile, ehe
+sie fort gehen.«
+
+Als wir von dem Spaziergange zurückgekehrt waren und es Abend wurde,
+versammelten wir uns an dem Kamine des Speisezimmers, in welchem ein
+lustiges Feuer brannte. Auch Eustach wurde herüber geholt, und der
+weiße Gärtner mußte kommen und sagen, welche Fortschritte die Pflanzen
+in den Winterbeeten und in den Gewächshäusern gemacht hatten. Die
+Haushälterin Katharina setzte hie und da ein warmes Getränke auf ein
+Tischchen.
+
+
+Am andern Tage morgens ging ich zu meinem Gastfreunde in das
+Fütterungszimmer, um zuzusehen. Er suchte sich alle Gattungen Nahrung
+aus den Fächern zurecht, öffnete dann die Fenster und tat das Futter
+auf die Brettchen. Er blieb an dem Fenster stehen und ich bei ihm.
+Trotzdem kamen die Vögel in Bögen oder geraden Linien herbei geflogen.
+Ihn fürchteten sie nicht, weil sie ihn als den Nährvater kannten,
+und mich nicht, weil ich bei ihm stand. Sie drängten sich, pickten,
+zwitscherten und balgten sich sogar mitunter.
+
+»Ich gebe im späteren Frühlinge und Sommer den Weibchen sehr gerne
+noch eine leckere Draufgabe«, sagte er, »weil manches Mal eine
+bedrängte Mutter unter ihnen sein kann. Die so hastig und zugleich so
+erschreckt fressen, sind Fremde. Sie würden um keinen Preis zu einem
+Menschen herzu gehen, wenn sie nicht der bitterste Hunger nötigte. Ich
+habe in harten Wintern schon die seltensten Vögel auf diesen Brettern
+gesehen.«
+
+Als alles vorüber war und sich keine Gäste mehr einfanden, schloß er
+die Fenster.
+
+Ich stieg von da auf den Dachboden des Hauses empor, weil er gesagt
+hatte, daß jetzt auch den Hasen außerhalb des Gartens Futter gestreut
+würde und daß man sie von da sehen könnte. Sie haben noch nichts als
+die karge Wintersaat und Nadelreiser, weshalb man noch nachhelfen
+müsse. Da die Magd die Blätter ausgestreut und sich entfernt hatte,
+kamen schon Hasen herzu. Ich schraubte ein Fernrohr an einen Balken,
+und es war lächerlich anzusehen, worauf mich Gustav aufmerksam machte,
+wenn ein riesiger Hase in dem Fernrohre saß, mit schreckhaften Augen
+auf das verdächtige Mahl sah und schnell die Lippen bewegte, als fräße
+er schon. Da ich auch dies gesehen hatte, stieg ich wieder herunter
+und ging mit Gustav in das Zimmer, in welchem die Geräte zur
+Naturlehre standen.
+
+Es sollte nun erst das Frühmahl eingenommen werden. Dasselbe wurde
+zur Winterszeit immer in dem Zimmer der naturwissenschaftlichen
+Gerätschaften genommen, weil man, da man einen Teil des Vormittages
+in seinen Zimmern zubrachte, nicht eigens dazu in das Speisezimmer
+hinabsteigen wollte und weil in derselben Zeit in den andern
+Wohngemächern des alten Mannes, im Arbeitszimmer und Schlafzimmer,
+eben aufgeräumt und gelüftet wurde.
+
+Mein Gastfreund erwartete mich und Gustav schon, denn er war nicht mit
+uns auf den Dachboden hinauf gestiegen. Das Gemach war sanft erwärmt,
+und in der Nähe des Ofens stand ein Tisch, der gedeckt und mit
+allen Geräten versehen war, ein angenehmes Frühmahl zu bereiten. Er
+stand auf einem freien Raume, um den herum sich die Werkzeuge der
+Wissenschaft befanden.
+
+Da wir nach dem Frühmahle nun so saßen, da eine anmutige Wärme das
+Zimmer erfüllte, da von dem Widerscheine der ganz schief die Fenster
+treffenden Morgensonne das Messing, das Glas und das Holz der
+verschiedenartigen Werkzeuge erglänzte, sagte ich zu meinem alten
+Gastfreunde: »Es ist seltsam, da ich von eurer Besitzung in die Stadt
+und ihre Bestrebungen kam, lag mir euer Wesen hier wie ein Märchen in
+der Erinnerung, und nun, da ich hier bin und das Ruhige vor mir sehe,
+ist mir dieses Wesen wieder wirklich und das Stadtleben ein Märchen.
+Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß.«
+
+»Es gehört wohl Beides und Alles zu dem Ganzen, daß sich das Leben
+erfülle und beglücke«, antwortete er. »Weil die Menschen nur ein
+Einziges wollen und preisen, weil sie, um sich zu sättigen, sich in
+das Einseitige stürzen, machen sie sich unglücklich. Wenn wir nur in
+uns selber in Ordnung wären, dann würden wir viel mehr Freude an den
+Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünschen und
+Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese immer an und vermögen
+nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. Leider heißen wir
+sie wichtig, wenn sie Gegenstände unserer Leidenschaften sind, und
+unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, während es
+doch oft umgekehrt sein kann.«
+
+Ich verstand dieses Wort damals noch nicht so ganz genau, ich war noch
+zu jung und hörte selber oft nur mein eigenes Innere reden, nicht die
+Dinge um mich.
+
+
+Gegen Mittag kam derjenige meiner Koffer, den ich in das Rosenhaus
+bestellt hatte. Ich packte ihn aus und zeigte Gustav, der mich
+besuchte, manche Bücher, Zeichnungen und andere Dinge, die er
+enthielt, und richtete mich in meinem Zimmer häuslich ein.
+
+So gingen nun mehrere Tage dahin.
+
+In diesem Hause war jeder unabhängig und konnte seinem Ziele
+zustreben. Nur durch die gemeinsame Hausordnung war man gewissermaßen
+zu einem Bande verbunden. Selbst Gustav erschien völlig frei. Das
+Gesetz, welches seine Arbeiten regelte, war nur einmal gegeben, es
+war sehr einfach, der Jüngling hatte es zu dem seinigen gemacht, er
+hatte es dazu machen müssen, weil er verständig war, und so lebte er
+darnach.
+
+Gustav bat mich sehr, ich möchte einmal seinem Unterrichte in der
+Naturlehre beiwohnen. Ich sagte es meinem Gastfreunde, und dieser
+hatte nichts dawider. So war ich dann nicht einmal, sondern mehrere
+Male bei diesem Unterrichte zugegen. Mein alter Gastfreund saß in
+einem Lehnsessel und erzählte. Er beschrieb eine Erscheinung, er
+machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es möglich
+war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung oder, wo dies nicht
+möglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung
+darzustellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menschen zur
+Kenntnis dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses vollendet
+hatte, tat er das gleiche mit einer zweiten, verwandten Erscheinung.
+Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehörigen Erscheinungen, der
+ihm hinlänglich schien, ausgeführt hatte, dann hob er dasjenige,
+was allen Erscheinungen gleichartig ist, hervor und stellte die
+Grunderscheinung oder das Gesetz dar.
+
+Bei diesem Unterrichte, wurde nicht ein gewisses Buch zu Grunde
+gelegt, sondern Gustav schrieb später das, was ihm erzählt worden war,
+aus dem Gedächtnisse auf, der alte Mann besserte es dann in seiner
+Gegenwart aus, und so erhielt der Knabe nicht nur ein Handbuch der
+Naturwissenschaft, sondern lernte den Stoff selber schon durch das
+Aufschreiben und Ausbessern. Was sich Gustav angeeignet hatte, wurde
+zu Zeiten gleichsam in freundlichen Gesprächen durchgenommen. Die
+Sprache des Unterrichtes war stets so einfach und klar, daß ich
+meinte, ein Kind müsse diese Dinge verstehen können. Mir fiel es
+jetzt erst recht auf, wie ungehörig manche Lehrer in der Stadt in
+dieser Wissenschaft verfahren, welche sie gewissermaßen in eine
+wissenschaftliche Necksprache kleiden, die ein Schüler nicht versteht
+und mit welcher sie die Mathematik so in eins verflechten, daß beide
+beides nicht sind und ein Ganzes auch nicht darstellen. Ich sah, daß
+Gustav auch die Rechnung auf die Naturlehre anwandte, aber wo er es
+tat, erkannte ich, daß er es stets mit Sachkenntnis und Klarheit tat,
+und daß er immer die Rechnung nicht als Hauptsache, sondern hier
+als Dienerin der Natur betrachtete. Ich urteilte aus meinen eigenen
+früheren Arbeiten, daß er auch in diesem Fache einen gründlichen
+Unterricht erhalten haben mußte. Ich fragte ihn einmal darnach und
+erfuhr, daß auch hierin sein Ziehvater sein Lehrer gewesen sei.
+
+Ich besuchte später auch den Unterricht in der Länderkunde. Hier fiel
+mir auf, daß gezeichnete Karten gebraucht wurden, welche alle den
+nehmlichen Maßstab hatten, so daß Rußland in einer außerordentlich
+großen, die Schweiz in einer sehr kleinen Karte dargestellt war.
+Mir leuchtete der Zweck dieser Maßregel ein, damit nehmlich
+bei der lebhaften jugendlichen Einbildungskraft ein Bild der
+Größenverhältnisse dauernd eingeprägt werde. Ich erinnerte mich bei
+dieser Gelegenheit einer Wette, die wir Kinder um eine Kleinigkeit
+über die Frage abgeschlossen hatten, ob Philadelphia nicht beinahe so
+südlich wie Rom liege, was die meisten mit Lachen verneinten. Eine
+herbeigebrachte Karte zeigte, daß es südlicher als Neapel liege.
+
+Allgemein sagten damals auch die großen Leute, die zugegen waren,
+daß bei Kindern dieser Irrtum, durch die Raumverhältnisse, in denen
+unsere gewöhnlichen Karten gezeichnet seien, veranlaßt werden mußte.
+Die Karten, welche Gustav gebrauchte, waren von dem Zeichner im
+Schreinerhause nach Karten unserer sogenannten Atlasse verfertigt
+worden.
+
+Ich fragte meinen Gastfreund, ob Gustav auch Geschichte lerne, worauf
+er erwiderte: »Man nimmt sehr häufig mit jungen Schülern gleich
+zur Erdbeschreibung auch Geschichte vor; ich glaube aber, daß man
+hierin Unrecht tut. Wenn man in der Erdbeschreibung nicht bloß die
+geschichtliche Einteilung der Erde und Länder vor Augen hat, was ich
+auch für einen Fehler halte, sondern wenn man auf die bleibenden
+Gestaltungen der Erde sieht, auf denen sich eben durch ihren Einfluß
+verschiedenartige Völker gebildet haben, so ist die Erde ein
+Naturgegenstand und Erdbeschreibung zum großen Teile ein Bestandteil
+der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaften sind uns aber viel
+greifbarer als die Wissenschaften der Menschen, wenn ich ja Natur und
+Menschen gegenüber stellen soll, weil man die Gegenstände der Natur
+außer sich hinstellen und betrachten kann, die Gegenstände der
+Menschheit aber uns durch uns selber verhüllt sind.
+
+Man sollte meinen, daß das Gegenteil statthaben solle, daß man sich
+selber besser als Fremdes kennen solle, viele glauben es auch; aber
+es ist nicht so. Tatsachen der Menschheit, ja Tatsachen unseres
+eigenen Innern werden uns, wie ich schon einmal gesagt habe, durch
+Leidenschaft und Eigensucht verborgen gehalten oder mindestens
+getrübt. Glaubt nicht der größte Teil, daß der Mensch die Krone der
+Schöpfung, daß er besser als Alles, selbst das Unerforschte sei? Und
+meinen die, welche aus ihrem Ich nicht heraus zu schreiten vermögen,
+nicht, daß das All nur der Schauplatz dieses Ichs sei, selbst die
+unzähligen Welten des ewigen Raumes dazu gerechnet? Und dennoch dürfte
+es ganz anders sein. Ich glaube daher, daß Gustav erst nach Erlernung
+der Naturwissenschaften zu den Wissenschaften des Menschen übergehen
+soll und daß er da ungefähr die Reihe beobachten soll: Körperlehre,
+Seelenlehre, Denklehre, Sittenlehre, Rechtslehre, Geschichte. Hierauf
+mag er etwas von den Büchern der sogenannten Weltweisheit lesen, dann
+aber muß er in das Leben selber hinaus kommen.«
+
+Zum Unterrichte für Gustav waren gewisse Stunden festgesetzt, welche
+der alte Mann nie versäumte, andere Stunden waren für die Selbstarbeit
+bestimmt, welche Gustav wieder gewissenhaft hielt. Die übrige Zeit war
+zu freier Beschäftigung überlassen.
+
+In solchen Zeiten waren wir manches Mal in dem Lesezimmer. Mein
+Gastfreund kam auch öfter und gelegentlich auch Eustach oder der eine
+und der andere Arbeiter. Für Gustav waren nach der Wahl seines Lehrers
+die Bücher, die er lesen durfte, bestimmt. Er benutzte sie fleißig,
+ich sah aber nie, daß er nach einem anderen langte. Eustach und die
+anderen Leute hatten freie Auswahl, und natürlich ich auch. Da ich
+das erste Mal in diesem Hause war, hatte ich es getadelt, daß das
+Bücherzimmer von dem Lesezimmer abgesondert sei, es erschien mir
+dieses als ein Umweg und eine Weitschweifigkeit. Da ich aber jetzt
+länger bei meinem Gastfreunde war, erkannte ich meine Meinung als
+einen Irrtum. Dadurch, daß in dem Bücherzimmer nichts geschah, als
+daß dort nur die Bücher waren, wurde es gewissermaßen eingeweiht; die
+Bücher bekamen eine Wichtigkeit und Würde, das Zimmer ist ihr Tempel,
+und in einem Tempel wird nicht gearbeitet. Diese Einrichtung ist auch
+eine Huldigung für den Geist, der so mannigfaltig in diesen gedruckten
+und beschriebenen Papieren und Pergamentblättern enthalten ist. In dem
+Lesezimmer aber wird dann der wirkliche und der freundliche Gebrauch
+dieses Geistes vermittelt, und seine Erhabenheit wird in unser
+unmittelbares und irdisches Bedürfnis gezogen. Das Zimmer ist auch
+recht lieblich zum Lesen. Da scheint die freundliche Sonne herein,
+da sind die grünen Vorhänge, da sind die einladenden Sitze und
+Vorrichtungen zum Lesen und Schreiben. Selbst daß man jedes Buch nach
+dem zeitlichen Gebrauche wieder in das Bücherzimmer an seinem Platz
+tragen muß, erschien mir jetzt gut; es vermittelt den Geist der
+Ordnung und Reinheit und ist gerade bei Büchern wie der Körper
+der Wissenschaft das System. Wenn ich mich jetzt an Bücherzimmer
+erinnerte, die ich schon sah, in welchen Leitern, Tische, Sessel,
+Bänke waren, auf denen allen etwas lag, seien es Bücher, Papiere,
+Schreibzeuge oder gar Geräte zum Abfegen, so erschienen mir solche
+Büchersäle wie Kirchen, in denen man mit Trödel wirtschaftet.
+
+Ich ging auch öfter zu Eustach in das Schreinerhaus. An einem der
+ersten sehr heiteren Tage nahm ich alle Zeichnungen mit seiner
+Erlaubnis heraus und sah sie noch einmal mit großer Muße und
+Genauigkeit an. Ich konnte es fast kaum glauben, wie sehr mich meine
+Zeichnungsübungen während des vergangenen Winters gefördert hatten.
+Ich verstand jetzt Vieles, was ich da vorfand, besser als im Sommer,
+und es gefielen mir die meisten Dinge auch mehr. Ich teilte ihm
+manches von meinen Zeichnungen mit, namentlich von Zeichnungen von
+Pflanzen, deren ich dieses Mal eine größere Anzahl in meinem Koffer
+mitgebracht hatte.
+
+Bei meiner ersten Anwesenheit hatte ich in dem Ränzchen nur einige
+Schriften, ein Fernrohr und andere Sachen getragen, die in ein so
+kleines Behältnis gehen, Zeichnungen aber nicht. Er hatte eine
+Freude an diesen Dingen; aber sonderbar war es anzusehen, wie er die
+Pflanzenzeichnungen nicht als Pflanzenfreund und Kenner anblickte,
+sondern als Baumeister, der ihre Gestalt verwenden kann. Er versuchte
+später selber auch Zeichnungen nach lebenden Pflanzen; aber hier trat
+der Unterschied von einem Pflanzenfreunde noch mehr hervor: die Bilder
+wurden ihm allgemach durch unmerkliche Zusätze aus Gewächsen schöne
+Verzierungen. Er suchte sich auch in der Regel solche Vorbilder aus,
+die zu seinem Berufe in näherer Beziehung standen oder in eine solche
+gebracht werden konnten. In Bezug auf die anderen Dinge, die in dem
+Schreinerhause gearbeitet wurden, zeigte er mir Alles und erklärte mir
+Manches, wenn ich nach Erklärung verlangte. Auch hierin glaubte ich
+seit dem vorigen Sommer Fortschritte gemacht zu haben, namentlich da
+ich die Gegenstände, die mein Vater besaß, wohl genau betrachtet und
+mir eingeprägt hatte, um ihre Bilder hieher übertragen und mit dem,
+was sich hier befand, vergleichen zu können.
+
+Die Gestalten gingen jetzt leichter in mein Wesen ein, mir gefiel
+Vieles mehr als im vorigen Sommer, und ich wurde auf Manches
+aufmerksam, was ich damals nicht beachtet hatte. Wir saßen zuweilen in
+dem freundlichen Zimmer Eustachs, wenn die Vormittagssonne durch die
+geschlossenen Vorhänge sanft hereinblickte, und redeten von allerlei
+Dingen.
+
+An Nachmittagen, besonders wenn trübes Wetter war und die Geschäfte im
+Freien nicht eine große Ausdehnung hatten, versammelte man sich in dem
+Arbeitszimmer meines Gastfreundes. Dieses Zimmer war an Nachmittagen,
+wo es sehr zusammengeräumt und wo mehr Muße war, der Vereinigungspunkt
+der kleinen Gesellschaft, wenn sie sich überhaupt vereinigte. Mein
+alter Gastfreund hatte sich dieses Gemach sehr wohnlich, wenn auch
+für Einsamkeit geeignet, herrichten lassen, wie er überhaupt, wenn er
+nicht eigens Menschen um sich versammelte, die Einsamkeit liebte. Er
+hatte neben seinem Sessel einen Glockenzug, der durch den Fußboden in
+die Gesindezimmer hinab ging, um schnell einen Diener rufen zu können.
+In dem Schlafzimmer war etwas Ähnliches. Dort befanden sich außer
+dem gewöhnlichen Glockenzuge an den Seitenbrettern des Bettes zwei
+Platten, die durch das leiseste Auflegen einer Hand eine laut und
+lange tönende Glocke in Bewegung setzten, damit man, wenn dem alten
+Manne etwas zustieße, schnell zu Hilfe eilen könnte. Zwei Diener
+hatten immer die Schlüssel zu seinen Gemächern, um auch in der Nacht
+von außen aufsperren zu können. Diese Vorrichtungen waren eine
+Erfindung Eustachs, weil der alte Mann jede Einschränkung durch
+Dienerschaft, ja die Nähe derselben nicht wollte, um nicht gestört zu
+werden. Er ließ auch nicht zu, daß Gustav in einem Zimmer neben ihm
+schlafe, um sich nicht an ihn zu gewöhnen und ihn dann zu vermissen,
+da der Jüngling doch einmal fort müsse. Wenn man in dem Arbeitszimmer
+meines Gastfreundes versammelt war, besprach man gewöhnlich
+Angelegenheiten des Besitztums, Veränderungen, die notwendig sind,
+Arbeiten, die man vornehmen müsse, und Gegenstände der Kunst. Hieher
+wurden die Pläne und Entwürfe von Dingen gebracht, die man entweder in
+Holz ausführen wollte oder die Anlagen in dem Garten oder Umänderungen
+an Gebäuden betrafen. Es war gut, diese Entwürfe gerade in dieses
+Zimmer zu bringen, weil sie da eine sehr schöne und ausgezeichnete
+Umgebung antrafen, und sich daher jeder Fehler und jede
+Unzulänglichkeit, wenn derlei in dem Entwurfe waren, sogleich
+aufzeigte und verbessert werden konnte. An dem Tage, wo mehrere
+Menschen in das Arbeitszimmer des alten Mannes kamen, war immer ein
+Teppich über den auserlesenen Fußboden desselben gebreitet, damit er
+keine Beschädigung erleide.
+
+
+Wenn trockene Wege waren, gingen wir öfter in den Meierhof. Dort
+wurden die Arbeiten, welche der erste Frühling bringt, rüstig
+betrieben. Das Ganze war seit meiner vorjährigen Anwesenheit in
+Ordnung und Fülle sehr vorgeschritten. Man mußte bis spät in den
+Herbst hinein und selbst im Winter, soweit es tunlich war, fleißig
+gearbeitet haben. Im Innern des Hofes war nicht mehr bloß die schöne
+Pflasterung an den Gebäuden herum und der reinliche Sand über den
+ganzen Hofraum, sondern es war in der Mitte desselben ein kleiner
+Springquell, der mit drei Strahlen in ein Becken fiel und eine
+Blumenanlage um sich hatte.
+
+Auf das alles sahen die hellen Fenster des Hofes ringsum heraus. So
+sah dieser Teil des Gebäudes, obwohl zwei Seiten des Hofes Ställe und
+Scheunen waren, wie ein Edelsitz aus. Ich fragte meinen Gastfreund,
+ob er neues Mauerwerk habe aufführen lassen, da ich den Meierhof viel
+vollkommener sehe als im vergangenen Jahre, und da er auch schöner
+sei, als sie hier im Lande gebaut würden.
+
+»Ich habe keine Mauern aufführen lassen«, antwortete er, »nur die
+letzten äußeren Verschönerungen habe ich angebracht, und die Fenster
+habe ich vergrößert, der Grund war schon da. Die Meierhöfe und
+größeren Bauerhöfe unserer Gegend sind nicht so häßlich gebaut, als
+ihr meint. Nur sind sie stets bis auf ein gewisses Maß fertig, weiter
+nicht; die letzte Vollendung, gleichsam die Feile, fehlt, weil sie in
+dem Herzen der Bewohner fehlt. Ich habe bloß dieses Letzte gegeben.
+Wenn man mehrere Beispiele aufstellte, so würden sich im Lande die
+Ansichten über das notwendige Aussehen und die Wohnbarkeit der Häuser
+ändern. Dieses Haus soll so ein Beispiel sein.«
+
+Die Wege um den Hof und dessen Wiesen und Felder waren auch nicht mehr
+so, wie sie größtenteils in dem vorigen Sommer gewesen waren. Sie
+waren fest, mit weißem Quarze belegt und scharf und wohl abgegrenzt.
+
+An schönen Mittagen, die bereits auch immer wärmer wurden, saß ich
+gerne auf dem Bänkchen, das um den großen Kirschbaum lief, und sah auf
+die unbelaubten Bäume, auf die frisch geeggten Felder, auf die grünen
+Tafeln der Wintersaat, die schon sprossenden Wiesen und durch den
+Duft, der in dem ersten Frühlinge gerne aus Gründen quillt, auf die
+Hochgebirge, die mit dem Glanze des noch in ungeheurer Menge auf
+ihnen liegenden Schnees spielten. Gustav schloß sich an mich viel an,
+wahrscheinlich weil ich unter allen Bewohnern des Hauses ihm an Alter
+am nächsten war. Er saß deshalb gerne bei mir auf dem Bänkchen. Wir
+gingen manches Mal auf die Felderrast hinüber, und er zeigte mir einen
+Strauch, auf dem bald Blüten hervor kommen würden, oder eine sonnige
+Stelle, auf der das erste Grün erschien, oder Steine, um die schon
+verfrühte Tierchen spielten.
+
+Eines Tages entdeckte ich in den Schreinen der Natursammlung eine
+Zusammenstellung aller inländischen Hölzer. Sie waren in lauter
+Würfeln aufgestellt, von denen zwei Flächen quer gegen die Fasern,
+die übrigen vier nach den Fasern geschnitten waren. Von diesen vier
+Flächen war eine rauh, die zweite glatt, die dritte poliert und die
+vierte hatte die Rinde. Im Innern der Würfel, welche hohl waren und
+geöffnet werden konnten, befanden sich die getrockneten Blüten, die
+Fruchtteile, die Blätter und andere merkwürdige Zugehöre der Pflanze,
+zum Beispiel gar die Moose, die auf gewissen Orten gewöhnlich wachsen.
+Eustach sagte mir, der alte Herr - so nannten alle Bewohner des Hauses
+meinen Gastfreund, nur Gustav nannte ihn Ziehvater - habe diese
+Sammlung angelegt und die Anordnung so ausgedacht. Sie soll nach dem
+Willen des alten Herrn noch einmal gemacht und der Gewerbschule zum
+Geschenke gegeben werden.
+
+Seine seltsame Kleidung und seine Gewohnheit, immer barhäuptig zu
+gehen, welch beides mir Anfangs sehr aufgefallen war, beirrte mich
+endlich gar nicht mehr, ja es stimmte eigentlich zu der Umgebung
+sowohl seiner Zimmer als der um ihn herum wohnenden Bevölkerung, von
+der er sich nicht als etwas Vornehmes abhob, der er vielmehr gleich
+war und von der er sich doch wieder als etwas Selbstständiges
+unterschied. Mir fiel im Gegenteile ein, daß manches nicht
+geschmackvoll sei, was wir so heißen, am wenigstens der Stadtrock und
+der Stadthut der Männer.
+
+In die Zimmer, welche nach Frauenart eingerichtet waren, wurde
+ich einmal auf meine Bitte geführt. Sie gefielen mir wieder sehr,
+besonders das letzte, kleine, welchem ich jetzt den Namen »die Rose«
+gab. Man konnte in ihm sitzen, sinnen und durch das liebliche Fenster
+auf die Landschaft blicken. Daß ich nicht um den Gebrauch dieser
+Zimmer fragte, begreift sich.
+
+Ich erzählte meinem Gastfreunde oft von meinem Vater, von der Mutter
+und von der Schwester. Ich erzählte ihm von allen unsern häuslichen
+Verhältnissen und beschrieb ihm mehrfach, so genau ich es konnte, die
+Dinge, die mein Vater in seinen Zimmern hatte und auf welche er einen
+Wert legte. Meinen Namen nannte ich hiebei nicht, und er fragte auch
+nicht darnach.
+
+Ebenso wußte ich, obwohl ich nun länger in seinem Hause gewesen war,
+noch immer seinen Namen nicht. Zufällig ist er nicht genannt worden,
+und da er ihn nicht selber sagte, so wollte ich aus Grundsatz
+niemanden darum fragen. Von Gustav oder Eustach wäre er am leichtesten
+zu erfahren gewesen; aber diese zwei mochte ich am wenigsten fragen,
+am allerwenigsten Gustav, wenn er unzählige Male unbefangen den
+Namen Ziehvater aussprach. Der Mann war sehr gut, sehr lieb und sehr
+freundlich gegen mich, er nannte seinen Namen nicht, ich konnte auch
+nicht mit Gewißheit voraussetzen, daß er meine, ich kenne denselben;
+daher beschloß ich, gar nicht, selbst nicht in der größten Entfernung
+von diesem Orte, um den Namen des Besitzers des Rosenhauses zu fragen.
+
+
+Nach und nach änderte sich die Zeit immer mehr und immer gewaltiger.
+Die Tage waren viel länger geworden, die Sonne schien schon sehr warm,
+die Fristen, in denen der Himmel sich klar und wolkenlos zeigte,
+wurden bereits länger als die, in denen er umwölkt oder neblich war;
+die Erde sproßte, die Bäume knospten, an den Rosenbäumchen vor dem
+Hause wurde sehr fleißig gearbeitet, alles war heiter, und der
+Frühling war in seine ganze Fülle eingetreten. Diese Zeit war schon
+lange als diejenige bestimmt gewesen, in welcher ich abreisen würde.
+Ich sagte dieses noch einmal meinem Gastfreunde, und da ich Anstalten
+getroffen hatte, meinen Koffer fort zu senden, wurde der Tag der
+Abreise festgesetzt.
+
+Wir hatten früher noch die Verabredung getroffen, daß ich meine
+Arbeiten so einrichten wolle, daß ich zur Zeit der Rosenblüte
+wiederkommen und wieder längere Zeit in dem Hause verbleiben könne. Da
+ich sah, daß ich gerne aufgenommen werde und daß ich in Hinsicht der
+äußeren Mittel keine Last in dem Hause sei, und da mein Gemüt sich
+auch diesem Orte zugeneigt fühlte, so war mir diese Verabredung ganz
+nach meinem Sinne. Nur, meinte mein Gastfreund, müßte ich dann in den
+Gebirgstälern schon zur Herreise aufbrechen, wenn dort kaum die Rosen
+völlige Knospen hätten, weil sie hier der bessern Erde und der bessern
+Pflege willen früher blühten als an allen Teilen des Landes. Ich sagte
+es zu, und so war alles in Ordnung.
+
+Am Tage vor meiner Abreise kam Eustachs Bruder zurück. Er mochte
+zwanzig und einige Jahre alt sein, war schön gewachsen, hatte braune
+Wangen und dunkle Locken und ein klein wenig aufgeworfene Lippen.
+Mir war, als wäre ich dem Manne schon einige Male auf meinen Reisen
+begegnet. Er brachte in seinem Buche viele und darunter schöne
+Zeichnungen mit, welche mit Anteil betrachtet wurden. Sie sollten nun
+auf größerem Papiere und in künstlerischer Richtung ausgeführt werden.
+
+Als ich am Abende vor der Abreise noch im Meierhofe gewesen war, als
+ich am Morgen derselben zu Eustach und den Gärtnersleuten gegangen
+war, als ich den Hausbewohnern Lebewohl gesagt und von meinem
+Gastfreunde und von Gustav vor dem Hause Abschied genommen hatte, ging
+ich den Hügel hinunter, und ich hörte schon von dem Garten und von den
+Hecken und aus den Saaten den kräftigen Frühlingsgesang der Vögel.
+
+
+
+Die Begegnung
+
+Auf der Reise nach dem Orte meiner Bestimmung zeichnete ich ein
+schönes Standbild, welches ich in der Nische einer Mauertrümmer fand.
+Ich hatte dazu mein Zeichnungsbuch aus dem Ränzlein genommen, in
+welchem ich es jetzt immer trug. Dies war die einzige Unterbrechung
+und der einzige Aufenthalt auf dieser Reise gewesen.
+
+Als ich an meinem Bestimmungsorte angelangt war, war das erste, was
+ich tat, daß ich meine Zeit besser zu Rate hielt als früher. Ich
+mußte mir bekennen, daß die Art, wie in dem Rosenhause das Tagewerk
+betrieben wurde, auf mich von großem Einflusse sein solle. Da dort der
+Wert der Zeit sehr hoch angeschlagen und dieses Gut sehr sorgfältig
+angewendet wurde, so fing ich, wenn ich mir auch bisher einen großen
+Vorwurf nicht hatte machen können, dennoch an, mit viel mehr Ordnung
+als bisher nach einem einzigen Ziele während einer bestimmten Zeit
+hinzuarbeiten, während ich früher, durch augenblickliche Eindrücke
+bestimmt, mit den Zielen öfter wechselte und, obwohl ich eifrig
+strebte, doch eine dem Streben entsprechende Wirkung nicht jederzeit
+erreichte. Ich machte mir nun zur Aufgabe, eine bestimmte Strecke zu
+durchforschen und im Verlaufe überhaupt nichts liegen zu lassen, was
+von Wesenheit wäre, aber auch nichts auf eine gelegenere Zukunft zu
+verschieben, so daß, sollte ich bis zur Rosenzeit mit der vorgesetzten
+Strecke nicht fertig werden, wenigstens der Teil, den ich vollendete,
+wirklich fertig wäre und ich auf genau umschriebene Ergebnisse zu
+deuten im Stande wäre. Das sah ich nach dem Beginne der Arbeiten sehr
+bald, daß ich mir den Raum zu groß ausgesteckt hatte; aber auch das
+sah ich sehr bald, daß der kleinere Raum, den ich überwinden würde,
+mir mehr an Erfolg sicherte, als wenn ich wie in meiner Vergangenheit
+durch geraume Zeit den Blick so ziemlich auf Alles gespannt hätte.
+Hiezu kam auch eine gewisse Zufriedenheit, die ich fühlte, wenn ich
+sah, daß sich Glied an Glied zu einer Ordnung aneinander reihte,
+während früher mehr ein ansprechender Stoff durcheinander lag, als daß
+eine aus dem Stoffe hervorgehende Gestaltung sich entwickelt hätte.
+
+Meine Kisten füllten sich und stellten sich an einander.
+
+Meine Führer und meine Träger gewannen auch einen Halt in der neuen
+Ordnung und es wuchs ihnen ein Zutrauen zu mir. Ich bekam eine Neigung
+zu ihnen, die sie erwiderten, so daß sich ein fröhliches Zusammenleben
+immer mehr gestaltete und die Arbeit heiter und darum auch zweckmäßig
+wurde. Oft, wenn wir abends in der Wirtsstube um den großen
+viereckigen Ahorntisch oder, da die Tage endlich heißer wurden, statt
+an den toten Brettern des Tisches draußen unter den lebenden und
+rauschenden Ahornen saßen, um welche ein fichtener Tisch zusammen
+gezimmert war und auf welche das vielfenstrige Gasthaus heraus sah,
+rechneten sie sich vor, was heute, was seit vierzehn Tagen geschehen
+sei, wie viel wir, wie sie sich ausdrückten, abgetan haben, und wie
+viel Gebirge zusammen gestellt worden sei. Sie fingen auch bald an,
+die Sache nach ihrer Art zu begreifen, über Vorkommnisse in den
+Gebirgszügen zu reden und zu streiten und mir zuzumuten, daß, wenn ich
+mir merken könnte, woher alle die gesammelten Stücke seien, und wenn
+ich die Höhe und die Mächtigkeit der Gebirge zu messen im Stande
+wäre, ich das Gebirge im Kleinen auf einer Wiese oder auf einem Felde
+aufstellen könnte. Ich sagte ihnen, daß das ein Teil meines Zweckes
+sei, und wenn gleich das Gebirge nicht auf einer Wiese oder auf
+einem Felde zusammengestellt werde, so werde es doch auf dem Papiere
+gezeichnet und werde mit solchen Farben bemalt, daß jeder, der sich
+auf diese Dinge verstände, das Gebirge mit allem, woraus es bestehe,
+vor Augen habe. Deshalb merke ich mir nicht nur, woher die Stücke
+seien und unter welchen Verhältnissen sie in den Bergen bestehen,
+sondern schreibe es auch auf, damit es nicht vergessen werde, und
+beklebe auch die Stücke mit Zetteln, auf denen alles Notwendige stehe.
+Diese Stücke, in ihrer Ordnung aufgestellt, seien dann der Beweis
+dessen, was auf dem Papiere oder der Karte, wie man das Ding nenne,
+aufgemalt sei. Sie meinten, daß dieses sehr klug getan sei, um, wenn
+einer einen Stein oder sonst etwas zu einem Baue oder dergleichen
+bedürfe, gleich aus der Karte heraus lesen zu können, wo er zu finden
+sei. Ich sagte ihnen, daß ein anderer Zweck auch darin bestehe, aus
+dem, was man in den Gebirgen finde, schließen zu können, wie sie
+entstanden seien.
+
+Die Gebirge seien gar nicht entstanden, meinte einer, sondern seien
+seit Erschaffung der Welt schon dagewesen.
+
+»Sie wachsen auch«, sagte ein anderer, »jeder Stein wächst, jeder
+Berg wächst wie die anderen Geschöpfe. Nur«, setzte er hinzu, weil er
+gerne ein wenig schalkhaft war, »wachsen sie nicht so schnell wie die
+Schwämme.«
+
+So stritten sie länger und öfter über diesen Gegenstand, und so
+besprachen wir uns über unsere Arbeiten. Sie lernten durch den bloßen
+Umgang mit den Dingen des Gebirges und durch das öftere Anschauen
+derselben nach und nach ein Weiteres und Richtigeres, und lächelten
+oft über eine irrige Ansicht und Meinung, die sie früher gehabt
+hatten.
+
+Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Festhaltung der Ordnung dehnte
+sich aus, die Blätter mehrten sich und gaben Aussicht zu einer
+umfassenden und regelmäßigen Zusammenstellung des Stoffes, wenn die
+Wintertage oder sonst Tage der Muße gekommen sein würden.
+
+An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die Arbeit minder drängte, gab
+es noch Gelegenheit zu manchen angenehmen Freuden und zu stärkender
+Erholung.
+
+Eines Tages fanden wir ein Stück Marmor, von dem ich dachte, daß ihn
+mein Gastfreund in seinem Rosenhause noch gar nicht habe. Er war von
+dem reinsten Weiß, Rosenrot und Strohgelb in kleiner und lieblicher
+Mischung. Seine Art ist eine der seltensten, und hier war sie in einem
+so großen Stücke vorhanden, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich
+beschloß, diesen Marmor meinem Gastfreunde zum Geschenke zu machen.
+Ich versuchte, mir ein Eigentumsrecht darüber zu erwerben, und als
+mir dieses gelungen war, ging ich daran, das Stück, soweit seine
+Festigkeit ununterbrochen war, heraus nehmen und in eine Gestalt
+schneiden zu lassen, deren es fähig war. Es zeigte sich, daß eine
+schöne Tischplatte aus diesem Stoffe zu verfertigen wäre. Von den
+losen Schuttstücken nahm ich mehrere der besseren mit, um allerlei
+Dinge der Erinnerung daraus machen zu lassen. Eines ließ ich zu
+einer Tafel schleifen und dieselbe glätten, daß mein Gastfreund die
+Zeichnung und die Farbe des Marmors auf das beste sehen könne.
+
+
+So war eine Strecke abgetan, als in den Tälern sich die kleinen
+Knospen der Rosen zu zeigen anfingen und selbst an dem Hagedorn, der
+in Feldgehegen oder an Gebirgssteinen wuchs, die Bällchen zu der
+schönen, aber einfachen Blume sich entwickelten, die die Ahnfrau
+unserer Rosen ist. Ich beschloß daher, meine Reise in das Rosenhaus
+anzutreten. Ich habe mich kaum mit größerem Vergnügen nach einem
+langen Sommer zur Heimreise vorbereitet, als ich mich jetzt nach einer
+wohlgeordneten Arbeit zu dem Besuche im Rosenhause anschickte, um dort
+eine Weile einen angenehmen Landaufenthalt zu genießen.
+
+Eines Nachmittages stieg ich zu dem Hause empor und fand die Rosen
+zwar nicht blühend, aber so überfüllt mit Knospen, daß in nicht mehr
+fernen Tagen eine reiche Blüte zu erwarten war.
+
+»Wie hat sich alles verändert«, sagte ich zu dem Besitzer, nachdem ich
+ihn begrüßt hatte, »da ich im Frühlinge von hier fortging, war noch
+alles öde, und nun blättert, blüht und duftet alles hier beinahe in
+solcher Fülle wie im vorigen Jahre zu der Zeit, da ich zum ersten Male
+in dieses Haus heraufkam.«
+
+»Ja«, erwiderte er, »wir sind wie der reiche Mann, der seine Schätze
+nicht zählen kann. Im Frühlinge kennt man jedes Gräschen persönlich,
+das sich unter den ersten aus dem Boden hervor wagt, und beachtet
+sorgsam sein Gedeihen, bis ihrer so viele sind, daß man nicht mehr
+nach ihnen sieht, daß man nicht mehr daran denkt, wie mühevoll sie
+hervor gekommen sind, ja daß man Heu aus ihnen macht und gar nicht
+darauf achtet, daß sie in diesem Jahre erst geworden sind, sondern
+tut, als ständen sie von jeher auf dem Platze.«
+
+Man hatte mir eine eigene Wohnung machen lassen und führte mich
+in dieselbe ein. Es waren zwei Zimmer am Anfange des Ganges der
+Gastzimmer, welche man durch eine neugebrochene Tür zu einer einzigen
+Wohnung gemacht hatte. Das eine war bedeutend groß und hatte
+ursprünglich die Bestimmung gehabt, mehrere Personen zugleich zu
+beherbergen. Es war jetzt ausgeleert, an seinen Wänden standen Tische
+und Gestelle herum, sowie in seiner Mitte ein langer Tisch angebracht
+war, damit ich meine Sachen, die ich etwa von dem Gebirge brächte,
+ausbreiten könnte. Das zweite Zimmer war kleiner und war zu meinem
+Schlaf- und Wohngemache hergerichtet. Der alte Mann reichte mir die
+Schlüssel zu dieser Wohnung. Auch zeigte man mir in der leichten
+gemauerten Hütte, die nicht weit hinter der Schreinerei an der
+westlichen Grenze des Gartens lag und in früheren Zeiten zu den
+Steinarbeiten benutzt worden war, einen Raum, den man ausgeleert hatte
+und in welchen ich Gegenstände, die ich gesammelt hätte, bis auf
+weitere Verfügung niederlegen könnte. Sollte ich mehr brauchen, so
+könne noch mehr geräumt werden, da jetzt die Arbeiten mit den Steinen
+fast beendigt seien und selten etwas gesägt, geschliffen oder
+geglättet werde. Ich war über diese Aufmerksamkeiten so gerührt, daß
+ich fast keinen Dank dafür zu sagen vermochte. Ich begriff nicht, was
+ich mir denn für Verdienste um den Mann oder seine Umgebung erworben
+habe, daß man solche Anstalten mache. Das Eine gereichte zu meiner
+Beruhigung, daß ich aus diesen Vorrichtungen sah, daß ich in dem Hause
+nicht unwillkommen sei, denn sonst wäre man nicht auf den Gedanken
+derselben geraten. Dieses Bewußtsein versprach meinen Bewegungen in
+den hiesigen Verhältnissen viel mehr Freiheit zu geben. Ich stattete
+endlich doch meinen Dank ab und man nahm ihn mit Vergnügen auf.
+
+
+Da ich in meiner Wohnung meine Wandersachen abgelegt hatte und
+die ersten allgemeinen Gespräche vorüber waren, wollte ich einen
+übersichtlichen Gang durch den Garten machen. Ich ging bei der
+Seitentür des Hauses hinaus, und da ich auf den kleinen Raum kam, der
+hier eingefaßt ist, kam der große Hofhund auf mich zu und wedelte.
+Als ich sah, daß der alte Hilan mich erkenne und begrüße, war ich so
+kindisch, mich darüber zu freuen, weil es mir war, als sei ich kein
+Fremder, sondern gehöre gewissermaßen zur Familie.
+
+Am nächsten Tage nach meiner Ankunft erschien der Wagen mit meinem
+Gepäcke und mit der Marmorplatte. Ich ließ abladen und übergab die
+Platte meinem Gastfreunde mit dem Bedeuten, daß ich ihm in derselben
+eine Erinnerung aus dem Gebirge bringe. Zugleich händigte ich ihm
+das kleinere geschliffene Stück zur genaueren Einsicht in die Natur
+des Marmors ein. Er besah das Stück und dann auch die Platte sehr
+sorgfältig. Hierauf sagte er: »Dieser Marmor ist außerordentlich
+schön, ich habe ihn noch gar nicht in meiner Sammlung, auch scheint
+die Platte dicht und ohne Unterbrechung zu sein, so daß ein reiner
+Schliff auf ihr möglich sein wird, ich bin sehr erfreut, in dem
+Besitze dieses Stückes zu sein und danke euch sehr dafür. Allein in
+meinem Hause kann er als Bestandteil desselben nicht verwendet werden,
+weil dort nur solche Stücke angebracht sind, welche ich selber
+gesammelt habe, und weil ich an dieser Art der Sammlung und an der
+Verbuchung darüber eine solche Freude habe, daß ich auch in der
+Zukunft nicht von diesem Grundsatze abgehe. Es wird aber ganz gewiß
+aus diesem Marmor etwas gemacht werden, das seiner nicht unwert ist,
+ich hege die Hoffnung, daß es euch gefallen wird, und ich wünsche, daß
+die Gelegenheit seiner Verwendung euch und mir zur Freude gereiche.«
+
+Ich hatte ohnehin ungefähr so etwas erwartet und war beruhigt.
+
+Der Marmor wurde in die Steinhütte gebracht, um dort zu liegen, bis
+man über ihn verfügen würde. Meine übrigen Dinge aber ließ ich in
+meine Wohnung bringen.
+
+Ich ging im Sommer immer sehr leicht gekleidet, entweder in
+ungebleichtem oder gestreiftem Linnen. Den Kopf bedeckte meistens ein
+leichter Strohhut. Um nun hier nicht aufzufallen und um weniger von
+der einfachen Kleidung der Hausbewohner abzustechen, nahm ich ein paar
+solcher Anzüge sammt einem Strohhute aus dem Koffer, kleidete mich in
+einen und legte dafür meinen Reiseanzug für eine künftige Wanderung
+zurück,
+
+Mein Gastfreund hatte auf seiner Besitzung eine etwas eigentümliche
+Tracht teils eingeführt, teils nahmen sie die Leute selber an. Die
+Dienerinnen des Hauses waren in die Landestracht gekleidet, nur dort,
+wo diese, wie namentlich in unserem Gebirge, ungefällig war oder in
+das Häßliche ging, wurde sie durch den Einfluß des Hausbesitzers
+gemildert und mit kleinen Zutaten versehen, die mir schön erschienen.
+Diese Zutaten fanden im Anfange Widerstand, aber da sie von dem alten
+Herrn geschenkt wurden und man ihn nicht kränken wollte, wurden sie
+angenommen und später von den Umwohnerinnen nicht nur beneidet,
+sondern auch nachgeahmt. Die Männer, welche in dem Hause dienten oder
+in dem Meierhofe arbeiteten oder in dem Garten beschäftigt waren,
+trugen gefärbtes Linnen, nur war dasselbe nicht so dunkel, als es
+bei uns im Gebirge gebräuchlich ist. Eine Jacke oder eine andere Art
+Überrock hatten sie im Sommer nicht, sondern sie gingen in lediglichen
+Hemdärmeln, und um den Hals hatten sie ein loses Tuch geschlungen. Auf
+dem Haupte trugen einige wie der Hausherr nichts, andere hatten den
+gewöhnlichen Strohhut. Eustach schien in seiner Kleidung niemanden
+nachzuahmen, sondern sie selbst zu wählen. Er ging auch in gestreiftem
+Linnen, meistens rostbraun mit grau oder weiß; aber die Streifen waren
+fast handbreit, oder es hatte der ganze Stoff nur zwei Farben, die
+Hälfte des Längenblattes braun, die Hälfte weiß. Oft hatte er einen
+Strohhut, oft gar nichts auf dem Haupte. Seine Arbeiter hatten
+ähnliche Anzüge, auf denen selten ein Schmutzfleck zu sehen war; denn
+bei der Arbeit hatten sie große grüne Schürzen um. Unter allen diesen
+Leuten hoben sich der Gärtner und die Gärtnerin heraus, welche bloß
+schneeweiß gingen.
+
+Ich zeigte meinem Gastfreunde und Eustach die Zeichnung, welche ich
+von dem Standbilde in der Mauernische gemacht hatte. Sie freuten sich,
+daß ich auf derlei Dinge aufmerksam sei, und sagten, daß sie dasselbe
+Bild auch unter ihren Zeichnungen hätten, nur daß es jetzt mit
+mehreren anderen Blättern außer Hause sei.
+
+Ich betrachtete nun alles, was mir in dem Garten und auf dem Felde
+im vorigen Jahre in derselben Jahreszeit merkwürdig gewesen war.
+Die Blätter der Bäume, die Blätter des Kohles und die von anderen
+Gewächsen waren vom Raupenfraße frei, und nicht nur die im Garten,
+sondern auch die in der nächsten und in der in ziemliche Ferne
+reichenden Umgebung. Ich hatte bei meiner Herreise eigens auf diesen
+Umstand mein Augenmerk gerichtet. Dennoch entbehrte der Garten nicht
+des schönen Schmuckes der Faltern; denn einerseits konnten die Vögel
+doch nicht alle und jede Raupen verzehren und andererseits wehte
+der Wind diese schönen lebendigen Blumen in unsern Garten oder sie
+kamen auf ihren Wanderungen, die sie manchmal in große Entfernungen
+antreten, selber hieher. Der Gesang der Vögel war mir wieder wie im
+vorigen Jahre eigentümlich, und er war mir wieder ganz besonders
+schmelzend.
+
+Dadurch, daß sie in verschiedenen Fernen sind, die Laute also
+mit ungleicher Stärke an das Ohr schlagen, dadurch, daß sie sich
+gelegenheitlich unterbrechen, da sie inzwischen allerlei zu tun haben,
+eine Speise zu haschen, auf ein Junges zu merken, wird ein reizender
+Schmelz veranlaßt wie in einem Walde, während die besten Singvögel in
+vielen Käfigen nahe bei einander nur ein Geschrei machen, und dadurch,
+daß sie in dem Garten sich doch wieder näher sind als im Walde, wird
+der Schmelz kräftiger, während er im Walde zuweilen dünn und einsam
+ist. Ich sah die Nester, besuchte sie und lernte die Gebräuche dieser
+Tiere kennen.
+
+In meinen Zimmern richtete ich mich ein, ich tat die Bücher und
+Papiere, die ich mitgebracht hatte, heraus, um zu lesen, einzuzeichnen
+und zu ordnen. Ich legte auch auf den großen Tisch und auf die
+Gestelle an den Wänden kleinere Gegenstände, die ich mitgebracht
+hatte, besonders Versteinerungen oder andere deutlichere Überreste, um
+sie zu benutzen.
+
+Gustav kam häufig zu mir, er nahm Anteil an diesen Dingen, ich
+erklärte ihm manches, und mein Gastfreund sah es nicht ungern, wenn
+ich mit ihm, entweder ein Buch in der Hand unter den schattigen Linden
+des Gartens oder ohne Buch auf großen Spaziergängen - denn der alte
+Mann liebte die Bewegung noch sehr - von meiner Wissenschaft sprach.
+Er erzählte mir dagegen von der seinigen, und ich hörte ihm freundlich
+zu, wenn er auch Dinge brachte, die mir schon besser bekannt waren.
+Zeiten, in denen ich ohne Beschäftigung und allein war, brachte ich
+auf Gängen in den Feldern oder auf einem Besuche in dem Schreinerhause
+oder in dem Gewächshause oder bei den Cactus zu.
+
+Die wogenden Felder, die ich im vorigen Jahre um dieses Anwesen
+getroffen hatte, waren auch heuer wogende und wurden mit jedem Tage
+schöner, dichter und segensreicher, der Garten hüllte sich in die
+Menge seiner Blätter und der nach und nach schwellenden Früchte, der
+Gesang der Vögel wurde mir immer noch lieblicher und schien die Zweige
+immer mehr zu erfüllen, die scheuen Tiere lernten mich kennen, nahmen
+von mir Futter und fürchteten mich nicht mehr. Ich lernte nach und
+nach alle Dienstleute kennen und nennen, sie waren freundlich mit
+mir, und ich glaube, sie wurden mir gut, weil sie den Herrn mich mit
+Wohlwollen behandeln sahen. Die Rosen gediehen sehr, Tausende harrten
+des Augenblicks, in dem sie aufbrechen würden. Ich half oft an den
+Beschäftigungen, die diesen Blumen gewidmet wurden, und war dabei,
+wenn die Rosenarbeiten besichtigt wurden und ausgemittelt ward, ob
+alles an ihnen in gutem Stande sei. Ebenso ging ich gerne zum Besehen
+anderer Dinge mit, wenn auf Wiesen oder im Walde gearbeitet wurde, in
+welch letzterem man jetzt daran war, das im Winter geschlagene Holz zu
+verkleinern oder zum Baue oder zu Schreinerarbeiten herzurichten. Ich
+trug oft meinen Strohhut, wenn der alte Mann und Gustav neben mir
+barhäuptig gingen, in der Hand, und ich mußte bekennen, daß die Luft
+viel angenehmer durch die Haare strich, als wenn sie durch einen Hut
+auf dem Haupte zurück gehalten wurde, und daß die Hitze durch die
+Locken so gut wie durch einen Hut von dem bloßen Haupte abgehalten
+wurde.
+
+
+Eines Tages, da ich in meinem Zimmer saß, hörte ich einen Wagen zu dem
+Hause herzufahren. Ich weiß nicht, weshalb ich hinabging, den Wagen
+ankommen zu sehen. Da ich an das Gitter gelangte, stand er schon
+außerhalb desselben. Er war von zwei braunen Pferden herbeigezogen
+worden, der Kutscher saß noch auf dem Bocke und mußte eben angehalten
+haben. Vor der Wagentür, mit dem Rücken gegen mich gekehrt, stand
+mein Gastfreund, neben ihm Gustav und neben diesem Katharina und zwei
+Mägde. Der Wagen war noch gar nicht geöffnet, er war ein geschlossener
+Gläserwagen und hatte an der innern Seite seiner Fenster grüne
+zugezogene Seidenvorhänge. Einen Augenblick nach meiner Ankunft
+öffnete mein Gastfreund die Wagentür. Er geleitete an seiner Hand eine
+Frauengestalt aus dem Wagen. Sie hatte einen Schleier auf dem Hute,
+hatte aber den Schleier zurückgeschlagen und zeigte uns ihr Angesicht.
+Sie war eine alte Frau.
+
+Augenblicklich, da ich sie sah, fiel mir das Bild ein, welches mein
+Gastfreund einmal über manche alternde Frauen von verblühenden Rosen
+hergenommen hatte. »Sie gleichen diesen verwelkenden Rosen. Wenn sie
+schon Falten in ihrem Angesichte haben, so ist doch noch zwischen den
+Falten eine sehr schöne, liebe Farbe«, hatte er gesagt, und so war es
+bei dieser Frau. Über die vielen feinen Fältchen war ein so sanftes
+und zartes Rot, daß man sie lieben mußte und daß sie wie eine Rose
+dieses Hauses war, die im Verblühen noch schöner sind als andere Rosen
+in ihrer vollen Blüte. Sie hatte unter der Stirne zwei sehr große
+schwarze Augen, unter dem Hute sahen zwei sehr schmale Silberstreifen
+des Haares hervor, und der Mund war sehr lieb und schön. Sie stieg von
+dem Wagentritte herab und sagte die Worte: »Gott grüße dich, Gustav!«
+
+Hiebei neigte sich der alte Mann gegen sie, sie neigte ihr
+Angesicht gegen ihn und die beiderseitigen Lippen küßten sich zum
+Willkommensgruße.
+
+Nach dieser Frau kam eine zweite Frauengestalt aus dem Wagen.
+Sie hatte auch einen Schleier um den Hut und hatte ihn auch
+zurückgeschlagen. Unter dem Hute sahen braune Locken hervor, das
+Antlitz war glatt und fein, sie war noch ein Mädchen. Unter der
+Stirne waren gleichfalls große schwarze Augen, der Mund war hold und
+unsäglich gütig, sie schien mir unermeßlich schön. Mehr konnte ich
+nicht denken; denn mir fiel plötzlich ein, daß es gegen die Sitte
+sei, daß ich hinter dem Gitter stehe und die Aussteigenden anschaue,
+während die, die sie empfangen, mir den Rücken zuwenden und von meiner
+Anwesenheit nichts wissen. Ich ging um die Ecke des Hauses zurück und
+begab mich wieder in mein Wohnzimmer.
+
+Dort hörte ich nach einiger Zeit an Tritten und Gesprächen, daß die
+ganze Gesellschaft an meinem Zimmer vorbei den ganzen Gang entlang
+wahrscheinlich in die schönen Gemächer an der östlichen Seite des
+Hauses gehe.
+
+Was weiter an dem Wagen geschehen sei, ob noch eine oder zwei Personen
+aus demselben gestiegen seien, konnte ich nicht wissen; denn auch
+nicht einmal beim Fenster wollte ich nun hinabsehen. Daß aber
+Gegenstände von demselben abgepackt und in das Haus gebracht wurden,
+konnte ich an dem Reden und Rufen der Leute erkennen. Auch den Wagen
+hörte ich endlich fortfahren, wahrscheinlich wurde er in den Meierhof
+gebracht.
+
+Ich blieb immer in der Tiefe des Zimmers sitzen. Ich ging weder zu dem
+Fenster, noch ging ich in den Garten, noch verließ ich überhaupt das
+Zimmer, obwohl eine ziemlich lange Zeit ruhig und still verfloß. Ich
+wollte lesen oder schreiben und tat es dann doch wieder nicht.
+
+
+Endlich, da vielleicht ein paar Stunden vergangen waren, kam Katharina
+und sagte, der alte Herr lasse mich recht schön bitten, daß ich in das
+Speisezimmer kommen möge, man erwarte mich dort.
+
+Ich ging hinab.
+
+Als ich eingetreten war, sah ich, daß mein Gastfreund in einem
+Lehnsessel an dem Tische saß, neben ihm saß Gustav. An der
+entgegengesetzten Seite saß die Frau. Ihr Sessel war aber ein wenig
+von dem Tische abgewendet und der Tür, durch welche ich eintrat,
+zugekehrt. Hinter ihr und um eine Sesselhälfte seitwärts saß das
+Mädchen.
+
+Sie waren nun ganz anders gekleidet, als da ich sie aus dem Wagen
+steigen gesehen hatte. Statt des städtischen Hutes, den sie da
+getragen hatten, deckte jetzt ein Strohhut mit nicht gar breiten
+Flügeln, so daß sie eben genug Schatten gaben, das Haupt, die übrigen
+Kleider bestanden aus einem einfachen, lichten, mattfärbigen Stoffe
+und waren ohne alle besonderen Verzierungen verfertigt, so wie der
+Schnitt nichts Auffälliges hatte, weder eine zur Schau getragene
+Ländlichkeit noch ein zu strenge festgehaltenes städtisches Wesen.
+
+Es standen mehrere Diener herum, so wie Katharina, die mich geholt
+hatte, auch wieder hinter mir in das Zimmer gegangen war und sich zu
+den dastehenden Mägden gesellt hatte. Selbst der Gärtner Simon war
+zugegen.
+
+Als ich in die Nähe des Tisches gekommen war, stand mein Gastfreund
+auf, umging den Tisch, führte mich vor die Frau und sagte: »Erlaube,
+daß ich dir den jungen Mann vorstelle, von dem ich dir erzählt habe.«
+Hierauf wandte er sich gegen mich und sagte: »Diese Frau ist Gustavs
+Mutter, Mathildis.«
+
+Die Frau sagte in dem ersten Augenblicke nichts, sondern richtete ein
+Weilchen die dunkeln Augen auf mich.
+
+Dann wies er mit der Hand auf das Mädchen und sagte: »Diese ist
+Gustavs Schwester Natalie.«
+
+Ich wußte nicht, waren die Wangen des Mädchens überhaupt so rot oder
+war es errötet. Ich war sehr befangen und konnte kein Wort hervor
+bringen. Es war mir äußerst auffallend, daß er jetzt, wo er den Namen
+beinahe mit Notwendigkeit brauchte, weder um den meinigen gefragt noch
+den der Frauen genannt hatte. Ehe ich recht mit mir zu Rate gehen
+konnte, ob zu der Verbeugung, welche ich gemacht hatte, etwas gesagt
+werden solle oder nicht, fuhr er in seiner Rede fort und sagte: »Er
+ist ein freundlicher Hausgenosse von uns geworden und schenkt uns
+einige Zeit in unserer ländlichen Einsamkeit. Er strebt die Berge
+und das Land zu erforschen und zur Kenntnis des Bestehenden und zur
+Herstellung der Geschichte des Gewordenen etwas beizutragen. Wenn auch
+die Taten und die Förderung der Welt mehr das Geschäft des Mannes
+und des Greises sind, so ziert ein ernstes Wollen auch den Jüngling,
+selbst wo es nicht so klar und so bestimmt ist wie hier.«
+
+»Mein Freund hat mir von euch erzählt«, sagte die Frau zu mir, indem
+sie mich wieder mit den dunkeln glänzenden Augen ansah, »er hat mir
+gesagt, daß ihr im vergangenen Jahre bei ihm waret, daß ihr ihn im
+Frühlinge besucht habt und daß ihr versprochen habt, zur Zeit der
+Rosenblüte wieder eine Weile in diesem Hause zuzubringen. Mein Sohn
+hat auch sehr oft von euch gesprochen.«
+
+»Er scheint nicht ganz ungerne hier zu sein«, sagte mein Gastfreund;
+»denn sein Angesicht wenigstens hat noch nicht, bei dem früheren so
+wie bei deinem jetzigen Besuche, die Heiterkeit verloren.«
+
+Ich hatte mich während dieser Reden gesammelt und sagte: »Wenn ich
+auch aus der großen Stadt komme, so bin ich doch wenig mit fremden
+Menschen in Verkehr getreten und weiß daher nicht, wie mit ihnen um
+zugehen ist. In diesem Hause bin ich, da ich irrtümlich ein Gewitter
+fürchtete und um einen Unterstand herauf ging, sehr freundlich
+aufgenommen worden, ich bin wohlwollend eingeladen worden, wieder zu
+kommen und habe es getan. Es ist mir hier in Kurzem so lieb geworden
+wie bei meinen teuren Eltern, bei welchen auch eine Regelmäßigkeit
+und Ordnung herrscht wie hier. Wenn ich nicht ungelegen bin und die
+Umgebung mir nicht abgeneigt ist, so sage ich gerne, wenn ich auch
+nicht weiß, ob man es sagen darf, daß ich immer mit Freuden kommen
+werde, wenn man mich einladet.«
+
+»Ihr seid eingeladen«, erwiderte mein Gastfreund, »und ihr müßt aus
+unsern Handlungen erkennen, daß ihr uns sehr willkommen seid. Nun
+werden auch Gustavs Mutter und Schwester eine Weile in diesem Hause
+zubringen, und wir werden erwarten, wie sich unser Leben entwickeln
+wird. Wollt ihr euch nicht ein wenig zu mir setzen und abwarten, bis
+der Willkommensgruß von allen, die da stehen, vorüber ist?«
+
+Er ging wieder um den Tisch herum zurück, und ich folgte ihm. Gustav
+machte mir Platz neben seinem Ziehvater und sah mich mit der Freude
+an, welche ein Sohn empfindet, der in der Fremde den Besuch der Mutter
+empfängt.
+
+Natalie hatte kein Wort gesprochen.
+
+Ich konnte jetzt, da ich ein wenig gegen die Frauen hin zu blicken
+vermochte, recht deutlich sehen, daß hier Gustavs Mutter und Schwester
+zugegen seien; denn beide hatten dieselben großen schwarzen Augen wie
+Gustav, beide dieselben Züge des Angesichtes, und Natalie hatte auch
+die braunen Locken Gustavs, während die der Mutter die Silberfarbe des
+Alters trugen. Sie gingen nun, recht schön geordnet, in einem viel
+breiteren Bande an beiden Seiten der Stirne herab, als sie es unter
+dem Reisestrohhute getan hatten.
+
+Vor Mathilde war, während wir unsere Sitze eingenommen hatten, die
+Haushälterin Katharina getreten.
+
+Die Frau sagte: »Sei mir vielmal gegrüßt, Katharina, ich danke dir, du
+hast deinen Herrn und meinen Sohn in deiner besonderen Obhut und übst
+viele Sorgfalt an ihnen aus. Ich danke dir sehr. Ich habe dir etwas
+gebracht, nur als eine kleine Erinnerung, ich werde es dir schon
+geben.«
+
+Als Katharina zurück getreten war, als sich die anderen insgesammt
+näherten, sich verbeugten und mehrere Mädchen der Frau die Hand
+küßten, sägte sie: »Seid mir alle von Herzen gegrüßt, ihr sorgt alle
+für den Herrn und seinen Ziehsohn. Sei gegrüßt, Simon, sei gegrüßt,
+Klara, ich danke euch allen und habe allen etwas gebracht, damit ihr
+seht, daß ich keines in meiner Zuneigung vergessen habe; denn sonst
+ist es freilich nur eine Kleinigkeit.«
+
+Die Leute wiederholten ihre Verbeugung, manche auch den Handkuß, und
+entfernten sich. Sie hatten sich auch vor Natalie geneigt, welche den
+Gruß recht freundlich erwiderte.
+
+Als alle fort waren, sagte die Frau zu Gustav: »Ich habe auch dir
+etwas gebracht, das dir Freude machen soll, ich sage noch nicht was;
+allein ich habe es nur vorläufig gebracht, und wir müssen erst den
+Ziehvater fragen, ob du es schon ganz oder nur teilweise oder noch gar
+nicht gebrauchen darfst.«
+
+»Ich danke dir, Mutter«, erwiderte der Sohn, »du bist recht gut,
+liebe Mutter, ich weiß jetzt schon, was es ist, und wie der Ziehvater
+ausspricht, werde ich genau tun.«
+
+»So wird es gut sein«, antwortete sie.
+
+Nach dieser Rede waren alle aufgestanden.
+
+»Du bist heuer zu sehr guter Zeit gekommen, Mathilde«, sagte mein
+Gastfreund, »keine einzige der Rosen ist noch aufgebrochen; aber alle
+sind bereit dazu.«
+
+Wir hatten uns während dieser Rede der Tür genähert, und mein
+Gastfreund hatte mich gebeten, bei der Gesellschaft zu bleiben.
+
+Wir gingen bei dem grünen Gitter hinaus und gingen auf den Sandplatz
+vor dem Hause. Die Leute mußten von diesem Vorgange schon unterrichtet
+sein; denn ihrer zwei brachten einen geräumigen Lehnsessel und
+stellten ihn in einer gewissen Entfernung mit seiner Vorderseite gegen
+die Rosen.
+
+Die Frau setzte sich in den Sessel, legte die Hände in den Schoß und
+betrachtete die Rosen.
+
+Wir standen um sie. Natalie stand zu ihrer Linken, neben dieser
+Gustav, mein Gastfreund stand hinter dem Stuhle und ich stellte mich,
+um nicht zu nahe an Natalie zu sein, an die rechte Seite und etwas
+weiter zurück.
+
+Nachdem die Frau eine ziemliche Zeit gesessen war, stand sie
+schweigend auf, und wir verließen den Platz. Wir gingen nun in das
+Schreinerhaus. Eustach war nicht bei der allgemeinen Bewillkommnung im
+Speisezimmer gewesen. Er mußte wohl als Künstler betrachtet worden,
+dem man einen Besuch zudenke. Ich erkannte aus dem ganzen Benehmen,
+daß das Verhältnis in der Tat so sei und als das richtigste empfunden
+werde. Eustach mußte das gewußt haben; denn er stand mit seinen Leuten
+ohne die grünen Schürzen vor der Tür, um die Angekommenen zu begrüßen.
+Die Frau dankte freundlich für den Gruß aller, redete Eustach herzlich
+an, fragte ihn um sein und seiner Leute Wohlbefinden, um ihre Arbeiten
+und Bestrebungen, und sprach von vergangenen Leistungen, was ich, da
+mir diese fremd waren, nicht ganz verstand. Hierauf gingen wir in die
+Werkstätte, wo die Frau jede der einzelnen Arbeiterstellen besah. In
+dem Zimmer Eustachs sprach sie die Bitte aus, daß er ihr bei ihrem
+längeren Aufenthalte manches Einzelne zeigen und näher erklären möge.
+
+Von dem Schreinerhause gingen wir in die Gärtnerwohnung, wo die Frau
+ein Weilchen mit den alten Gärtnerleuten sprach.
+
+Hierauf begaben wir uns in das Gewächshaus, zu den Ananas, zu den
+Cacteen und in den Garten.
+
+Die Frau schien alle Stellen genau zu kennen; sie blickte mit
+Neugierde auf die Plätze, auf denen sie gewisse Blumen zu finden
+hoffte, sie suchte bekannte Vorrichtungen auf und blickte sogar in
+Büsche, in denen etwa noch das Nest eines Vogels zu erwarten war. Wo
+sich etwas seit früher verändert hatte, bemerkte sie es und fragte um
+die Ursache. So waren wir durch den ganzen Garten bis zu dem großen
+Kirschbaume und zu der Felderrast gekommen. Dort sprach sie noch etwas
+mit meinem Gastfreunde über die Ernte und über die Verhältnisse der
+Nachbarn.
+
+Natalie sprach äußerst wenig.
+
+Als wir in das Haus zurück gekommen waren, begaben wir uns, da das
+Mittagsmahl nahe war, auf unsere Zimmer. Mein Gastfreund sagte mir
+noch vorher, ich möge mich zum Mittagessen nicht umkleiden; es sei
+dieses in seinem Hause selbst bei Besuchen von Fremden nicht Sitte,
+und ich würde nur auffallen.
+
+Ich dankte ihm für die Erinnerung.
+
+Als ich, da die Hausglocke zwölf Uhr geschlagen hatte, in das
+Speisezimmer hinunter gegangen war, fand ich in der Tat die
+Gesellschaft nicht umgekleidet. Mein Gastfreund war in den Kleidern,
+wie er sie alle Tage hatte, und die Frauen trugen die nehmlichen
+Gewänder, in denen sie den Spaziergang gemacht hatten. Gustav und ich
+waren wie gewöhnlich.
+
+Am oberen Ende des Tisches stand ein etwas größerer Stuhl und vor ihm
+auf dem Tische ein Stoß von Tellern. Mein Gastfreund führte, da ein
+stummes Gebet verrichtet worden war, die Frau zu diesem Stuhle, den
+sie sofort einnahm. Links von ihr saß mein Gastfreund, rechts ich,
+neben meinem Gastfreunde Natalie und neben ihr Gustav. Mir fiel es
+auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern
+geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm und
+von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn
+wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu
+füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug.
+
+Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das
+immer bisher gefehlt hätte. Es war nun etwas wie eine Familie in
+dieses Haus gekommen, welcher Umstand mir die Wohnung meiner Eltern
+immer so lieb und angenehm gemacht hatte.
+
+Das Essen war so einfach, wie es in allen Tagen gewesen war, die ich
+in dem Rosenhause zugebracht hatte.
+
+Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit
+einer offenen Heiterkeit und Ruhe.
+
+Nach dem Essen kam ein großer Korb, welchen Arabella, das
+Dienstmädchen Mathildens, welches mit den Frauen gekommen war, welches
+ich aber nicht mehr hatte aussteigen gesehen, herein gebracht hatte.
+Außer dem Korbe wurde auch ein Pack in grauem Papiere und mit schönen
+Schnüren zugeschnürt gebracht und auf zwei Sessel gelegt, die an
+der Wand standen. In dem Korbe befanden sich die Geschenke, welche
+Mathilde den Leuten mitgebracht hatte und welche jetzt ausgepackt
+waren. Ich sah, daß diese Geschenkausteilung gebräuchlich war und
+öfter vorkommen mußte. Das Gesinde kam herein, und jede der Personen
+erhielt etwas Geeignetes, sei es ein schwarzes seidnes Tuch für ein
+Mädchen oder eine Schürze oder ein Stoff auf ein Kleid, oder sei
+es für einen Mann eine Reihe Silberknöpfe auf eine Weste oder eine
+glänzende Schnalle auf das Hutband oder eine zierliche Geldtasche. Der
+Gärtner empfing etwas, das in sehr feine Metallblätter gewickelt war.
+Ich vermutete, daß es eine besondere Art von Schnupftabak sein müsse.
+
+
+Als schon alles ausgeteilt war, als sich schon alle auf das beste
+bedankt und aus dem Zimmer entfernt hatten, wies Mathilde auf den
+Pack, der noch immer auf den Sesseln lag, und sagte: »Gustav, komme
+her zu mir.«
+
+Der Jüngling stand auf und ging um den Tisch herum zu ihr. Sie nahm
+ihn freundlich bei der Hand und sagte: »Was noch da liegt, gehört dir.
+Du hast mich schon lange darum gebeten, und ich habe es dir lange
+versagen müssen, weil es noch nicht für dich war. Es sind Goethes
+Werke. Sie sind dein Eigentum. Vieles ist für das reifere Alter, ja
+für das reifste. Du kannst die Wahl nicht treffen, nach welcher du
+diese Bücher zur Hand nehmen oder auf spätere Tage aufsparen sollst.
+Dein Ziehvater wird zu den vielen Wohltaten, die er dir erwies, auch
+noch die fügen, daß er für dich wählt, und du wirst ihm in diesen
+Dingen ebenso folgen, wie du ihm bisher gefolgt hast.«
+
+»Gewiß, liebe Mutter, werde ich es tun, gewiß«, sagte Gustav.
+
+»Die Bücher sind nicht neue und schön eingebundene, wie du vielleicht
+erwartest«, fuhr sie fort. »Es sind dieselben Bücher Goethes, in
+welchen ich in so mancher Nachtstunde und in so mancher Tagesstunde
+mit Freude und mit Schmerzen gelesen habe und die mir oft Trost und
+Ruhe zuzuführen geeignet waren. Es sind meine Bücher Goethes, die ich
+dir gebe. Ich dachte, sie könnten dir lieber sein, wenn du außer dem
+Inhalte die Hand deiner Mutter daran fändest, als etwa nur die des
+Buchbinders und Druckers.«
+
+»O lieber, viel lieber, teure Mutter, sind sie mir«, antwortete
+Gustav, »ich kenne ja die Bücher, die mit dem feinen braunen Leder
+gebunden sind, die feine Goldverzierung auf dem Rücken haben und in
+der Goldverzierung die niedlichen Buchstaben tragen, die Bücher, in
+denen ich dich so oft habe lesen gesehen, weshalb es auch kam, daß ich
+dich schon wiederholt um solche Bücher gebeten habe.«
+
+»Ich dachte es, daß sie dir lieber sind«, sagte die Frau, »und darum
+habe ich sie dir gegeben. Da ich aber auch wohl noch gerne für
+den Überrest meines Lebens ein Wort von diesem merkwürdigen Manne
+vernehmen möchte, werde ich mir die Bücher neu kaufen, für mich haben
+die neuen die Bedeutung wie die alten. Du aber nimm die deinigen in
+Empfang und bringe sie an den Ort, der dir dafür eingeräumt ist.«
+
+Gustav küßte ihr die Hand und legte seinen Arm wie in unbeholfener
+Zärtlichkeit auf die Schulter ihres Gewandes. Er sprach aber kein
+Wort, sondern ging zu den Büchern und begann, ihre Schnur zu lösen.
+
+Als ihm dies gelungen war, als er die Bücher aus den Umschlagpapieren
+gelöst und in mehreren geblättert hatte, kam er plötzlich mit einem
+in der Hand zu uns und sagte: »Aber siehst du, Mutter, da sind manche
+Zeilen mit einem feinen Bleistifte unterstrichen und mit demselben
+feingespitzten Stifte sind Worte an den Rand geschrieben, die von
+deiner Hand sind. Diese Dinge sind dein Eigentum, sie sind in den
+neugekauften Büchern nicht enthalten, und ich darf dir dein Eigentum
+nicht entziehen.«
+
+»Ich gebe es dir aber«, antwortete sie, »ich gebe es dir am liebsten,
+der du jetzt schon von mir entfernt bist und in Zukunft wahrscheinlich
+noch viel weiter von mir entfernt leben wirst. Wenn du in den Büchern
+liesest, so liesest du das Herz des Dichters und das Herz deiner
+Mutter, welches, wenn es auch an Werte tief unter dem des Dichters
+steht, für dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein
+Mutterherz ist. Wenn ich an Stellen lesen werde, die ich unterstrichen
+habe, werde ich denken, hier erinnert er sich an seine Mutter,
+und wenn meine Augen über Blätter gehen werden, auf welche ich
+Randbemerkungen niedergeschrieben habe, wird mir dein Auge
+vorschweben, welches hier von dem Gedruckten zu dem Geschriebenen
+sehen und die Schriftzüge von Einer vor sich haben wird, die deine
+beste Freundin auf der Erde ist. So werden die Bücher immer ein Band
+zwischen uns sein, wo wir uns auch befinden. Deine Schwester Natalie
+ist bei mir, sie hört öfter als du meine Worte, und ich höre auch oft
+ihre liebe Stimme und sehe ihr freundliches Angesicht.«
+
+»Nein, nein, Mutter«, sagte Gustav, »ich kann die Bücher nicht nehmen,
+ich beraube dich und Natalie.«
+
+»Natalie wird schon etwas anderes bekommen«, antwortete die Mutter.
+»Daß du mich nicht beraubst, habe ich dir schon erklärt, und es war
+seit längerer Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir diese
+Bücher geben werde.«
+
+Gustav machte keine Einwendungen mehr. Er nahm ihre Rechte in seine
+beiden Hände, drückte sie, küßte sie und ging dann wieder zu den
+Büchern.
+
+Als er alle ausgepackt hatte, holte er einen Diener und ließ sie durch
+ihn in seine Wohnung tragen.
+
+
+Nach dem Essen war es im Plane, daß wir uns zerstreuen sollten und
+jeder sich nach seinem Sinne beschäftige.
+
+Ich hatte es während des Vorganges mit den Büchern nicht vermocht, auf
+das Angesicht Nataliens zu schauen, was etwa in ihr vorgehen möge und
+was sich in den Zügen spiegle. Ich mußte mir nur denken, sie werde
+von dem höchsten Beifalle über die Handlung ihrer Mutter durchdrungen
+sein. Als wir uns aber von dem Tische erhoben, als wir das stumme
+Gebet gesprochen und uns wechselweise verneigt hatten, wobei ich meine
+Augen immer nur auf meinen alten Gastfreund und auf die Frau gerichtet
+hatte, und als wir uns jetzt anschickten, das Zimmer zu verlassen, und
+Natalie den Arm Gustavs nahm und beide Geschwister sich umkehrten, um
+der Tür zuzugehen, wagte ich es, den Blick zu dem Spiegel zu erheben,
+in dem ich sie sehen mußte. Ich sah aber fast nichts mehr als die vier
+ganz gleichen schwarzen Augen sich in dem Spiegel umwenden.
+
+Wir traten alle in das Freie.
+
+Mein Gastfreund und die Frau begaben sich in eine Wirtschaftstube.
+
+Natalie und Gustav gingen in den Garten, er zeigte ihr Verschiedenes,
+das ihm etwa an dem Herzen lag oder worüber er sich freute, und sie
+nahm gewiß den Anteil, den die Schwester an den Bestrebungen des
+Bruders hat, den sie liebt, auch wenn sie die Bestrebungen nicht ganz
+verstehen sollte und sie, wenn es auf sie allein ankäme, nicht zu den
+ihrigen machen würde. So tut es ja auch Klotilde mit mir in meiner
+Eltern Hause.
+
+Ich stand an dem Eingange des Hauses und sah den beiden Geschwistern
+nach, so lange ich sie sehen konnte. Einmal erblickte ich sie, wie sie
+vorsichtig in ein Gebüsch schauten. Ich dachte mir, er werde ihr ein
+Vogelnest gezeigt haben und sie sehe mit Teilnahme auf die winzige
+befiederte Familie. Ein anderes Mal standen sie bei Blumen und
+schauten sie an. Endlich sah ich nichts mehr. Das lichte Gewand der
+Schwester war unter den Bäumen und Gesträuchen verschwunden, manche
+schimmernde Stellen wurden zuweilen noch sichtbar und dann nichts
+mehr. Ich ging hierauf in meine Zimmer.
+
+Mir war, als müsse ich dieses Mädchen schon irgendwo gesehen haben;
+aber da ich mich bisher viel mehr mit leblosen Gegenständen oder
+mit Pflanzen beschäftigt hatte als mit Menschen, so hatte ich
+keine Geschicklichkeit, Menschen zu beurteilen, ich konnte mir die
+Gesichtszüge derselben nicht zurecht legen, sie mir nicht einprägen
+und sie nicht vergleichen; daher konnte ich auch nicht ergründen, wo
+ich Natalie schon einmal gesehen haben könnte.
+
+Ich blieb den ganzen Nachmittag in meiner Wohnung.
+
+Als die Hitze des Tages, welcher ganz heiter war, sich ein wenig
+gemildert hatte, wurde ich aufgefordert, einen Spaziergang mit zu
+machen. An demselben nahmen mein Gastfreund, Mathilde, Natalie,
+Gustav und ich Teil. Wir gingen durch eine Strecke des Gartens. Mein
+Gastfreund, Mathilde und ich bildeten eine Gruppe, da sie mich in
+ihr Gespräch gezogen hatten, und wir gingen, wo es die Breite des
+Sandweges zuließ, neben einander. Die andere Gruppe bildeten Natalie
+und Gustav, und sie gingen eine ziemliche Anzahl Schritte vor uns.
+Unser Gespräch betraf den Garten und seine verschiedenen Bestandteile,
+die sich zu einem angenehmen Aufenthalte wohltuend ablösten, es betraf
+das Haus und manche Verzierungen darin, es erweiterte sich auf die
+Fluren, auf denen wieder der Segen stand, der den Menschen abermals
+um ein Jahr weiter helfen sollte, und es ging auf das Land über,
+auf manche gute Verhältnisse desselben und auf anderes, was der
+Verbesserung bedürfte. Ich sah den zwei holen Gestalten nach, die
+vor uns gingen. Gustav ist mir heute plötzlich als völlig erwachsen
+erschienen. Ich sah ihn neben der Schwester gehen und sah, daß er
+größer sei als sie. Dieser Gedanke drängte sich mir mehrere Male auf.
+War er aber auch größer, so war ihre Gestalt feiner und ihre Haltung
+anmutiger. Gustav hatte wie sein Ziehvater nichts auf dem Haupte als
+die Fülle seiner dichten braunen Locken, und als Natalie den sanft
+schattenden Strohhut, den sie wie ihre Mutter auf hatte, abgenommen
+und an den Arm gehängt hatte, so zeigten ihre Locken genau die Farbe
+wie die Gustavs, und wenn die Geschwister, die sich sehr zu lieben
+schienen, sehr nahe an einander gingen, so war es von ferne, als sähe
+man eine einzige braune, glänzende Haarfülle und als teilen sich nur
+unten die Gestalten.
+
+Wir gingen bei der Pforte hinaus, die gegen den Meierhof führt, gingen
+aber nicht in den Meierhof, sondern machten einen großen Bogen durch
+die Felder und kamen dann schief über den südlichen Abhang des Hügels
+wieder zu dem Hause hinauf.
+
+Da die Tage sehr lang waren, so leuchtete noch die Abendröte, wenn
+wir von unserem Abendessen, das pünktlich immer zur gleichen Zeit
+sein mußte, aufstanden. Wir gingen daher heute auch noch nach dem
+Abendessen in den Garten. Wir gingen zu dem großen Kirschbaume empor.
+Dort setzten wir uns auf das Bänklein. Mein Gastfreund und Mathilde
+saßen in der Mitte, so daß ihre Angesichter gegen den Garten hinab
+gerichtet waren. Links von meinem Gastfreunde saß ich, rechts von der
+Mutter saßen Natalie und Gustav. Die Lüfte dunkelten immer mehr, ein
+blasser Schein war über die Wipfel des Gartens, der jetzt schwieg, und
+über das Dach des Hauses gebreitet. Das Gespräch war heiter und ruhig,
+und die Kinder wendeten oft ihr Angesicht herüber, um an dem Gespräche
+Anteil zu nehmen und gelegentlich selber ein Wort zu reden.
+
+Da sich der eine und der andere Stern an dem Himmel entzündete und
+in den Tiefen der Gartengesträuche schon die völlige Dunkelheit
+herrschte, gingen wir in das Haus und in unsere Zimmer.
+
+Ich war sehr traurig. Ich legte meinen Strohhut auf den Tisch, legte
+meinen Rock ab und sah bei einem der offenen Fenster hinaus. Es war
+heute nicht wie damals, da ich zum ersten Male in diesem Hause über
+dem Rosengitter aus dem offenen Fenster in die Nacht hinausgeschaut
+hatte. Es standen nicht die Wolken am Himmel, die ihn nach Richtungen
+durchzogen und ihm Gestaltung gaben, sondern es brannte bereits über
+dem ganzen Gewölbe der einfache und ruhige Sternenhimmel. Es ging kein
+Duft der Rosen zu meiner Nachtherberge herauf, da sie noch in den
+Knospen waren, sondern es zog die einsame Luft kaum fühlbar durch die
+Fenster herein, ich war nicht von dem Verlangen belebt wie damals, das
+Wesen und die Art meines Gastfreundes zu erforschen, dies lag entweder
+aufgelöst vor mir oder war nicht zu lösen. Das einzige war, daß wieder
+Getreide außerhalb des Sandplatzes vor den Rosen ruhig und unbewegt
+stand; aber es war eine andere Gattung und es war nicht zu erwarten,
+daß es in der Nacht im Winde sich bewegen und am Morgen, wenn ich die
+geklärten Augen über die Gegend wendete, vor mir wogen würde.
+
+Als die Nacht schon sehr weit vorgerückt war, ging ich von dem Fenster
+und obwohl ich jeden Abend gewohnt war, ehe ich mich zur Ruhe begab,
+zu meinem Schöpfer zu beten, so kniete ich doch jetzt vor dem
+einfachen Tischlein hin und tat ein heißes, inbrünstiges Gebet zu
+Gott, dem ich alles und jedes, besonders mein Sein und mein Schicksal
+und das Schicksal der Meinigen, anheim stellte.
+
+Dann entkleidete ich mich, schloß die Schlösser meiner Zimmer ab und
+begab mich zur Ruhe.
+
+Als ich schon zum Entschlummern war, kam mir der Gedanke, ich wolle
+nach Mathilden und ihren Verhältnissen eben so wenig eine Frage tun,
+als ich sie nach meinem Gastfreunde getan habe.
+
+Ich erwachte sehr zeitig; aber nach der Natur jener Jahreszeit war es
+schon ganz licht, ein blauer, wolkenloser Himmel wölbte sich über die
+Hügel, das Getreide unter meinen Füßen wogte wirklich nicht, sondern
+es stand unbewegt, mit starkem Taue wie mit feurigen Funken angetan,
+in der aufgehenden Sonne da.
+
+Ich kleidete mich an, richtete meine Gedanken zu Gott und setzte mich
+zu meiner Arbeit.
+
+Nach geraumer Zeit hörte ich durch meine Fenster, welche ich bei
+weiter fortschreitendem Morgen geöffnet hatte, daß auch am äußersten
+Ende des Hauses gegen Osten Fenster erklangen, welche geöffnet wurden.
+In jener Gegend wohnten die Frauen in den schönen, nach weiblicher Art
+eingerichteten Gemächern. Ich ging zu meinem Fenster, schaute hinaus
+und sah wirklich, daß alle Fensterflügel an jenem Teile des Hauses
+offen standen. Nach einer Zeit, da es bereits zur Stunde des
+Frühmahles ging, hörte ich weibliche Schritte an meiner Tür vorüber
+der Marmortreppe zugehen, welche mit einem weichen Teppiche belegt
+war. Ich hatte auch, obwohl sie gedämpft war, wahrscheinlich, um mich
+nicht zu stören, Gustavs Stimme erkannt.
+
+Ich ging nach einer kleinen Weile auch über die Marmortreppe an dem
+Marmorbilde der Muse vorüber in das Speisezimmer hinunter.
+
+Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und so verflossen nach und
+nach mehrere.
+
+Die Ordnung des Hauses war durch die Ankunft der Frauen fast gar
+nicht gestört worden, nur daß solche Vorrichtungen vorgenommen werden
+mußten, welche die Aufmerksamkeit für die Frauen verlangte. Die
+Unterrichts- und Lernstunden Gustavs wurden eingehalten wie früher,
+und ebenso ging die Beschäftigung meines Gastfreundes ihren Gang.
+Mathilde beteiligte sich nach Frauenart an dem Hauswesen. Sie sah auf
+das, was ihren Sohn betraf, und auf alles, was das häusliche Wohl des
+alten Mannes anging. Sie wurde gar nicht selten in der Küche gesehen,
+wie sie mitten unter den Mägden stand und an den Arbeiten Teil nahm,
+die da vorfielen. Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer, in
+den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren. Sie sorgte für die
+Dinge, welche den Dienstleuten gehörten, insoferne sie sich auf ihre
+Nahrung bezogen oder auf ihre Wohnung oder auf ihre Kleider und
+Schlafstellen. Sie legte das Linnen, die Kleider und anderes Eigentum
+des alten Herrn und ihres Sohnes zurecht und bewirkte, daß, wo
+Verbesserungen notwendig waren, dieselben eintreten könnten. Unter
+diesen Dingen ging sie manches Mal des Tages auf den Sandplatz vor dem
+Hause und betrachtete gleichsam wehmütig die Rosen, die an der Wand
+des Hauses empor wuchsen. Natalie brachte viele Zeit mit Gustav zu.
+Die Geschwister mußten sich außerordentlich lieben. Er zeigte ihr alle
+seine Bücher, namentlich die neu zu den alten hinzu gekommen waren,
+er erklärte ihr, was er jetzt lerne, und suchte sie in dasselbe
+einzuweihen, wenn sie es auch schon wußte und früher die nehmlichen
+Weg gegangen war. Wenn es die Umstände mit sich brachten, schweiften
+sie in deinem Garten herum und freuten sich all des Lebens, was in
+demselben war, und freuten sich des gegenseitigen Lebens, das sich
+an einander schmiegte und dessen sie sich kaum als eines gesonderten
+bewußt wurden. Die Zeit, welche alle frei hatten, brachten wir häufig
+gemeinschaftlich mit einander zu. Wir gingen in den Garten oder saßen
+unter einem schattigen Baume oder machten einen Spaziergang oder waren
+in dem Meierhofe. Ich vermochte nicht in die Gespräche so einzugehen,
+wie ich es mit meinem Gastfreunde allein tat, und wenn auch Mathilde
+recht freundlich mit mir sprach, so wurde ich fast immer noch stummer.
+
+
+Die Rosen fingen an, sich stets mehr zu entwickeln, sehr viele waren
+bereits aufgeblüht und stündlich öffneten andere den sanften Kelch.
+Wir gingen sehr oft hinaus und betrachteten die Zierde, und es
+mußte manchmal eine Leiter herbei, um irgend etwas Störendes oder
+Unvollkommenes zu entfernen.
+
+Die Mittage waren lieb und angenehm. Auch das, daß Mathilde und
+Natalie so fein und passend, wenn auch einfach angezogen waren, wie
+ich es von meiner Mutter und Schwester gewohnt war, gab dem Mahle
+einen gewissen Glanz, den ich früher vermißt hatte. Die Vorhänge waren
+gegen die unmittelbare Sonne jederzeit zu, und es war eine gebrochene
+und sanfte Helle in dem Zimmer.
+
+Die Abende nach dem Abendessen brachten wir immer im Freien zu, da
+noch lauter schöne Tage gewesen waren. Meistens saßen wir bei dem
+großen Kirschbaume oben, welches bei weitem der schönste Platz zu
+einem Abendsitze war, obgleich er auch zu jeder andern Zeit, wenn die
+Hitze nicht zu groß war, mit der größten Annehmlichkeit erfüllte.
+Mein Gastfreund führte die Gespräche klar und warm, und Mathilde
+konnte ihm entsprechend antworten. Sie wurden mit einer Milde und
+Einsicht geführt, daß sie immer an sich zogen, daß ich gerne meine
+Aufmerksamkeit hin richtete und, wenn sie auch Gewöhnliches betrafen,
+etwas Neues und Eindringendes zu hören glaubte. Der alte Mann führte
+dann die Frau im Sternenscheine oder bei dem schwachen Lichte der
+schmalen Mondessichel, die jetzt immer deutlicher in dem Abendrote
+schwamm, über den Hügel in das Haus hinab, und die schlanken Gestalten
+der Kinder gingen an den dunkeln Büschen dahin.
+
+Das war alles so einfach, klar und natürlich, daß es mir immer war,
+die zwei Leute seien Eheleute und Besitzer dieses Anwesens, Gustav
+und Natalie seien ihre Kinder, und ich sei ein Freund, der sie hier
+in diesem abgeschiedenen Winkel der Welt besucht habe, wo sie den
+stilleren Rest ihres Daseins in Unscheinbarkeit und Ruhe hinbringen
+wollten.
+
+Eines Tages wurde eine feierliche Mahlzeit in dem Speisezimmer
+gehalten. Es war Eustach, dann der Hausaufseher, der alte Gärtner
+mit seiner Frau, der Verwalter des Meierhofes und die Haushälterin
+Katharina geladen worden. Statt Katharinen mußte ein anderes die
+Herrschaft in der Küche führen. Es mußte, wie ich aus allem entnahm,
+jedes Mal bei der Anwesenheit Mathildens die Sitte sein, ein solches
+Gastmahl abzuhalten; die Leute fanden sich auf eine natürliche Art
+in die Sache, und die Gespräche gingen mit einer Gemäßheit vor sich,
+welche auf Übung deutete. Mathilde konnte sie veranlassen, etwas zu
+sagen, was paßte und was daher dem Sprechenden ein Selbstgefühl gab,
+das ihm den Aufenthalt in der Umgebung angenehm machte. Eustach
+allein erhielt die Auszeichnung, daß man das bei ihm nicht für nötig
+erachtete, er sprach daher auch weniger und nur in allgemeinen
+Ausdrücken über allgemeine Dinge. Er empfand, daß er der höheren
+Gesellschaft zugezählt werde, wie ich es auch, da ich ihn näher kennen
+gelernt hatte, ganz natürlich fand, während die anderen nicht merkten,
+daß man sie empor hebe. Der Gärtner und seine Frau waren in ihrem
+weißen, reinlichen Anzuge ein sehr liebes greises Paar, welches auch
+die anderen mit einer gewissen Auszeichnung behandelten. An Speisen
+war eine etwas reichlichere Auswahl als gewöhnlich, die Männer bekamen
+einen guten Gebirgswein zum Getränke, für die Frauen wurde ein süßer
+neben die Backwerke gestellt.
+
+Da die Rosen immer mehr der Entfaltung entgegen gingen, wurden einmal
+Sessel und Stühle in einem Halbkreise auf dem Sandplatze vor dem Hause
+aufgestellt, so daß die Öffnung des Kreises gegen das Haus sah, und
+ein langer Tisch wurde in die Mitte gestellt. Wir setzten uns auf die
+Sessel, der Gärtner Simon war gerufen worden, Eustach kam, und von den
+Leuten und Gartenarbeitern konnte kommen, wer da wollte. Sie machten
+auch Gebrauch davon.
+
+Die Rosen wurden einer sehr genauen Beurteilung unterzogen. Man fragte
+sich, welche die schönsten seien oder welche dem einen oder dem
+anderen mehr gefielen. Die Aussprüche erfolgten verschieden und jedes
+suchte seine Meinung zu begründen. Es lagen Druckwerke und Abbildungen
+auf dem Tische, zu denen man dann seine Zuflucht nahm, ohne eben jedes
+Mal ihrem Ausspruche beizupflichten. Man tat die Frage, ob man nicht
+Bäumchen versetzen solle, um eine schönere Mischung der Farben zu
+erzielen. Der allgemeine Ausspruch ging dahin, daß man es nicht tun
+solle, es täte den Bäumchen wehe, und wenn sie groß wären, könnten sie
+sogar eingehen; eine zu ängstliche Zusammenstellung der Farben verrate
+die Absicht und störe die Wirkung; eine reizende Zufälligkeit sei
+doch das Angenehmste. Es wurde also beschlossen, die Bäume stehen zu
+lassen, wie sie standen. Man sprach sich nun über die Eigenschaften
+der verschiedenen Bäumchen aus, man beurteilte ihre Trefflichkeit
+an sich, ohne auf die Blumen Rücksicht zu nehmen, und oft wurde der
+Gärtner um Auskunft angerufen. Über die Gesundheit der Pflanzen und
+ihre Pflege konnte kein Tadel ausgesprochen werden, sie waren heuer so
+vortrefflich, wie sie alle Jahre vortrefflich gewesen waren. Auf den
+Tisch wurden nun Erfrischungen gestellt und alle jene Vorrichtungen
+ausgebreitet, die zu einem Vesperbrote notwendig sind. Aus den Reden
+Mathildens sah ich, daß sie mit allen hier befindlichen Rosenpflanzen
+sehr vertraut sei und daß sie selbst kleine Veränderungen bemerkte,
+welche seit einem Jahre vorgegangen sind. Sie mußte wohl Lieblinge
+unter den Blumen haben, aber man erkannte, daß sie allen ihre Neigung
+in einem hohen Maße zugewendet habe. Ich schloß aus diesem Vorgange
+wieder, welche Wichtigkeit diese Blumen für dieses Haus haben.
+
+
+Gegen Abend desselben Tages kam ein Besuch in das Rosenhaus. Es war
+ein Mann, welcher in der Nähe eine bedeutende Besitzung hatte, die er
+selber bewirtschaftete, obwohl er sich im Winter eine geraume Zeit
+in der Stadt aufhielt. Er war von seiner Gattin und zwei Töchtern
+begleitet, Sie waren auf der Rückfahrt von einem Besuche begriffen,
+den sie in einem entfernteren Teile der Gegend gemacht hatten, und
+waren wie sie sagten, zu dem Hause herauf gefahren, um zu sehen, ob
+die Rosen schon blühten und um die gewöhnliche Pracht zu bewundern.
+Sie hatten im Sinne, am Abende wieder fort zu fahren, allein da die
+Zeit schon so weit vorgerückt war, drang mein Gastfreund in sie,
+die Nacht in seinem Hause zuzubringen, in welches Begehren sie
+auch einwilligten. Die Pferde und der Wagen wurden in den Meierhof
+gebracht, den Reisenden wurden Zimmer angewiesen.
+
+Sie gingen aus denselben aber wieder sehr bald hervor, man begab sich
+auf den Sandplatz vor dem Hause, und die Rosenschau wurde aufs neue
+vorgenommen. Es waren zum Teile noch die Stühle vorhanden, die man
+heute herausgetragen hatte, obwohl der Tisch schon weggeräumt war. Die
+Mutter setzte sich auf einen derselben und nötigte Mathilden, neben
+ihr Platz zu nehmen. Die Mädchen gingen neben den Rosen hin, und man
+redete viel von den Blumen und bewunderte sie.
+
+Vor dem Abendessen wurde noch ein Gang durch den Garten und einen Teil
+der Felder gemacht, dann begab sich alles auf seine Zimmer.
+
+Da die Stunde zu dem Abendmahle geschlagen hatte, versammelte man sich
+wieder in dem Speisesaale. Der Fremde und seine Begleiterinnen hatten
+sich umgekleidet, der Mann erschien sogar im schwarzen Fracke,
+die Frauen hatten einen Anzug, wie man ihn in der Stadt bei nicht
+festlichen, aber freundschaftlichen Besuchen hat. Wir waren in unseren
+gewöhnlichen Kleidern. Aber gerade durch den Anzug der Fremden, an dem
+sachgemäß nichts zu tadeln war, was ich recht gut beurteilen konnte,
+weil ich solche Gewänder an meiner Mutter und Schwester oft sah
+und auch oft Urteile darüber hörte, wurden unsere Kleider nicht in
+den Schatten gestellt, sondern sie taten eher denen der Fremden,
+wenigstens in meinen Augen, Abbruch. Der geputzte Anzug erschien mir
+auffallend und unnatürlich, während der andere einfach und zweckmäßig
+war. Es gewann den Anschein, als ob Mathilde, Natalie, mein alter
+Gastfreund und selbst Gustav bedeutende Menschen wären, indes jene
+einige aus der großen Menge darstellten, wie sie sich überall
+befinden.
+
+Ich betrachtete während der Zeit des Essens und nachher, da wir
+uns noch eine Weile in dem Speisezimmer aufhielten, sogar auch die
+Schönheit der Mädchen. Die ältere von den beiden Töchtern der Fremden
+- wenigstens mir erschien sie als die ältere - hieß Julie. Sie hatte
+braune Haare wie Natalie. Dieselben waren reich und waren schön um die
+Stirne geordnet. Die Augen waren braun, groß und blickten mild. Die
+Wangen waren fein und ebenmäßig, und der Mund war äußerst sanft und
+wohlwollend. Ihre Gestalt hatte sich neben den Rosen und auf dem
+Spaziergange als schlank und edel, und ihre Bewegungen hatten sich als
+natürliche und würdevolle gezeigt. Es lag ein großer hinziehender Reiz
+in ihrem Wesen. Die jüngere, welche Appolonia hieß, hatte gleichfalls
+braune, aber lichtere Haare als die Schwester. Sie waren ebenso
+reich und wo möglich noch schöner geordnet. Die Stirne trat klar und
+deutlich von ihnen ab, und unter derselben blickten zwei blaue Augen
+nicht so groß wie die braunen der Schwester, aber noch einfacher,
+gütevoller und treuer hervor. Diese Augen schienen von dem Vater zu
+kommen, der sie auch blau hatte, während die der Mutter braun waren.
+Die Wangen und der Mund erschienen noch feiner als bei der Schwester
+und die Gestalt fast unmerkbar kleiner. War ihr Benehmen minder
+anmutig als das der Schwester, so war es treuherziger und lieblicher.
+Meine Freunde in der Stadt würden gesagt haben, es seien zwei
+hinreißende Wesen, und sie waren es auch. Natalie - ich weiß nicht,
+war ihre Schönheit unendlich größer oder war es ein anderes Wesen
+in ihr, welches wirkte -, ich hatte aber dieses Wesen noch in einem
+geringen Maße zu ergründen vermocht, da sie sehr wenig zu mir
+gesprochen hatte, ich hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht
+beurteilen können, da ich mir nicht den Mut nahm, sie zu beobachten,
+wie man eine Zeichnung beobachtet - aber sie war neben diesen zwei
+Mädchen weit höher, wahr, klar und schön, daß jeder Vergleich
+aufhörte. Wenn es wahr ist, daß Mädchen bezaubernd wirken können, so
+konnten die zwei Schwestern bezaubern; aber um Natalie war etwas wie
+ein tiefes Glück verbreitet.
+
+Mathilde und mein Gastfreund schienen diese Familie sehr zu lieben und
+zu achten, das zeigte das Benehmen gegen sie.
+
+Die Mutter der zwei Mädchen schien ungefähr vierzig Jahre alt zu sein.
+Sie hatte noch alle Frische und Gesundheit einer schönen Frau, deren
+Gestalt nur etwas zu voll war, als daß sie zu einem Gegenstande der
+Zeichnung hätte dienen können, wie man wenigstens in Zeichnungen gerne
+schöne Frauen vorstellt. Ihr Gespräch und ihr Benehmen zeigte, daß sie
+in der Welt zu dem sogenannten vorzüglicheren Umgang gehöre. Der Vater
+schien ein kenntnisvoller Mann zu sein, der mit dem Benehmen der
+feineren Stände der Stadt die Einfachheit der Erfahrung und die Güte
+eines Landwirtes verband, auf den die Natur einen sanften Einfluß
+übte. Ich hörte seiner Rede gerne zu. Mathilde erschien bedeutend
+älter als die Mutter der zwei Mädchen, sie schien einstens wie Natalie
+gewesen zu sein, war aber jetzt ein Bild der Ruhe und, ich möchte
+sagen, der Vergebung. Ich weiß nicht, warum mir in den Tagen dieser
+Ausdruck schon mehrere Male einfiel. Sie sprach von den Gegenständen,
+welche von den Besuchenden vorgebracht wurden, brachte aber nie ihre
+eigenen Gegenstände zum Gespräche. Sie sprach mit Einfachheit, ohne
+von den Gegenständen beherrscht zu werden und ohne die Gegenstände
+ausschließlich beherrschen zu wollen. Mein Gastfreund ging in die
+Ansichten seines Gutsnachbars ein und redete in der ihm eigentümlichen
+klaren Weise, wobei er aber auch die Höflichkeit beging, den Gast die
+Gegenstände des Gespräches wählen zu lassen.
+
+So saßen diese zwei Abteilungen von Menschen an demselben Tische und
+bewegten sich in demselben Zimmer, wirklich zwei Abteilungen von
+Menschen.
+
+Daraus, daß sie gerade zur Rosenblüte herauf gefahren waren, erkannte
+ich, daß die Nachbarn meines Gastfreundes nicht bloß um seine Vorliebe
+für diese Blumen wußten, sondern daß sie etwa auch Anteil daran
+nahmen.
+
+Es wurde nach dem Essen nicht mehr ein Spaziergang gemacht, wie in
+diesen Tagen, sondern man blieb in Gesprächen bei einander und ging
+später, als es sonst in diesem Hause gebräuchlich war, zur Ruhe.
+
+Am anderen Morgen wurde das Frühmahl in dem Garten eingenommen, und
+nachdem man sich noch eine Weile in dem Gewächshause aufgehalten
+hatte, fuhren die Gäste mit der wiederholt vorgebrachten Bitte fort,
+sie doch auch recht bald auf ihrem Gute zu besuchen, was zugesagt
+wurde.
+
+Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin,
+wie sie seit der Ankunft der Frauen dahin gegangen waren. Die Zeit,
+welche jedes frei hatte, brachten wir wieder öfter gemeinschaftlich
+zu. Ich wurde nicht selten in diesen Zeiten ausdrücklich zur
+Gesellschaft geladen. Natalie hatte auch ihre Lernstunden, welche sie
+gewissenhaft hielt. Gustav sagte mir, daß sie jetzt Spanisch lerne und
+spanische Bücher mit hieher gebracht habe. Ich hatte doch den Raum,
+welchen man mir in dem sogenannten Steinhause eingeräumt hatte,
+benutzt und hatte mehrere meiner Gegenstände dort hingebracht. Gustav
+las bereits in den Büchern von Goethe. Sein Ziehvater hatte ihm
+Hermann und Dorothea ausgewählt und ihm gesagt, er solle das Werk so
+genau und sorgfältig lesen, daß er jeden Vers völlig verstehe, und wo
+ihm etwas dunkel sei, dort solle er fragen. Mir war es rührend, daß
+die Bücher alle in Gustavs Zimmer aufgestellt waren und daß man das
+Zutrauen hatte, daß er kein anderes lesen werde, als welches ihm von
+dem Ziehvater bezeichnet worden sei. Ich kam oft zu ihm, und wenn ich
+nach der Kenntnis, die ich bereits von seinem Wesen gewonnen hatte,
+nicht gewußt hätte, daß er sein Versprechen halten werde, so hätte ich
+mich durch meine Besuche von dieser Tatsache überzeugt. Mathilde und
+Natalie standen oft dabei, wenn mein Gastfreund für seine gefiederten
+Gäste auf der Fütterungstenne Körner streute, und nicht selten, wenn
+ich des Morgens von einem Gange durch den Garten zurückkam, sah
+ich, daß bei der Fütterung in dem Eckzimmer, an dessen Fenstern die
+Fütterungsbrettchen angebracht waren, eine schöne Hand tätig sei, die
+ich für Nataliens erkannte. Wir besuchten manchmal die Nester, in
+welchen noch gebrütet wurde oder sich Junge befanden. Die meisten
+aber waren schon leer, und die Nachkommenschaft wohnte bereits in
+den Zweigen der Bäume. Oft befanden wir uns in dem Schreinerhause,
+sprachen mit den Leuten, betrachteten die Fortschritte der Arbeit und
+redeten darüber.
+
+Wir besuchten sogar auch Nachbarn und sahen uns in ihrer
+Wirtschaftlichkeit um. Wenn wir in dem Hause waren, befanden wir uns
+in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes, es wurde etwas gelesen, oder
+es wurde ein geistansprechender Versuch in dem Zimmer der Naturlehre
+gemacht, oder wir waren in dem Bilderzimmer oder in dem Marmorsaale.
+Mein Gastfreund mußte oft seine Kunst ausüben und das Wetter
+voraussagen. Immer, wenn er eine bestimmte Aussage machte, traf sie
+ein. Oft verweigerte er aber diese Aussage, weil, wie er erklärte, die
+Anzeigen nicht deutlich und verständlich genug für ihn seien.
+
+Zuweilen waren wir auch in den Zimmern der Frauen. Wir kamen dahin,
+wenn wir dazu geladen waren. Das kleine letzte Zimmerchen mit der
+Tapetentür gehörte insbesondere Mathilden. Ich hatte es Rosenzimmer
+genannt, und es wurde scherzweise der Name beibehalten. Mir war es
+ein anmutiger Eindruck, daß ich sah, wie liebend und wie hold dieses
+Zimmer für die alte Frau eingerichtet worden war. Es herrschte eine
+zusammenstimmende Ruhe in diesem Zimmer mit den sanften Farben
+Blaßrot, Weißgrau, Grün, Mattveilchenblau und Gold. In all das sah die
+Landschaft mit den lieblichen Gestalten der Hochgebirge herein.
+
+Mathilde saß gerne auf dem eigentümlichen Sessel am Fenster und sah
+mit ihrem schönen Angesichte hinaus, dessen Art mein Gastfreund einmal
+mit einer welkenden Rose verglichen hatte.
+
+In den Zimmern las zuweilen Natalie etwas vor, wenn mein Gastfreund es
+verlangte. Sonst wurde gesprochen. Ich sah auf ihrem Tische Papiere in
+schöner Ordnung und neben ihnen Bücher liegen. Ich konnte es nie über
+mich bringen, auch nur auf die Aufschrift dieser Bücher zu sehen, viel
+weniger gar eines zu nehmen und hinein zu schauen. Es taten dies auch
+andere nie. An dem Fenster stand ein verhüllter Rahmen, an dem sie
+vielleicht etwas arbeitete; aber sie zeigte nichts davon. Gustav,
+wahrscheinlich aus Neigung zu mir, um mich mit den schönen Dingen zu
+erfreuen, die seine Schwester verfertigte, ging sie wiederholt darum
+an. Sie lehnte es aber jedes Mal auf eine einfache Art ab. Ich hatte
+einmal in einer Nacht, da meine Fenster offen waren, Zithertöne
+vernommen. Ich kannte dieses Musikgerät des Gebirges sehr gut, ich
+hatte es bei meinen Wanderungen sehr oft und von den verschiedensten
+Händen spielen gehört, und hatte mein Ohr für seine Klänge und
+Unterschiede zu bilden gesucht. Ich ging an das Fenster und hörte zu.
+Es waren zwei Zithern, die im östlichen Flügel des Hauses abwechselnd
+gegen einander und mit einander spielten. Wer Übung im Hören dieser
+Klänge hat, merkt es gleich, ob auf derselben Zither oder auf
+verschiedenen, und von denselben Händen oder verschiedenen gespielt
+wird. In den Gemächern der Frauen sah ich später die zwei Zithern
+liegen. Es wurde aber in unserer Gegenwart nie darauf gespielt. Mein
+Gastfreund verlangte es nicht, ich ohnehin nicht, und in dieser
+Angelegenheit beobachtete auch Gustav eine feste Enthaltung.
+
+
+Indessen war nach und nach die Zeit herangerückt, in welcher die Rosen
+in der allerschönsten Blüte standen. Das Wetter war sehr günstig
+gewesen. Einige leichte Regen, welche mein Gastfreund vorausgesagt
+hatte, waren dem Gedeihen bei weitem förderlicher gewesen, als es
+fortdauernd schönes Wetter hätte tun können. Sie kühlten die Luft von
+zu großer Hitze zu angenehmer Milde herab und wuschen Blatt, Blume und
+Stengel viel reiner von dem Staube, der selbst in weit von der Straße
+entfernten und mitten in Feldern gelegenen Orten doch nach lange
+andauerndem schönem Wetter sich auf Dächern, Mauern, Zäunen, Blättern
+und Halmen sammelt, als es die Sprühregen, die mein Gastfreund ein
+paar Male durch seine Vorrichtung unter dem Dache auf die Rosen hatte
+ergehen lassen, zu tun im Stande gewesen waren. Unter dem klarsten,
+schönsten und tiefsten Blau des Himmels standen nun eines Tages
+Tausende von den Blumen offen, es schien, daß keine einzige Knospe im
+Rückstande geblieben und nicht aufgegangen ist. In ihrer Farbe von dem
+reinsten Weiß in gelbliches Weiß, in Gelb, in blasses Rot, in feuriges
+Rosenrot, in Purpur, in Veilchenrot, in Schwarzrot zogen sie an der
+Fläche dahin, daß man bei lebendiger Anschauung versucht wurde, jenen
+alten Völkern Recht zu geben, die die Rosen fast göttlich verehrten
+und bei ihren Freuden und Festen sich mit diesen Blumen bekränzten.
+Man war täglich, teils einzeln, teils zusammen, zu dem Rosengitter
+gekommen, um die Fortschritte zu betrachten, man hatte gelegentlich
+auch andere Rosenteile und Rosenanlagen in dem Garten besucht;
+allein an diesem Tage erklärte man einmütig, jetzt sei die Blüte am
+schönsten, schöner vermöge sie nicht mehr zu werden und von jetzt an
+müsse sie abzunehmen beginnen. Dies hatte man zwar auch schon einige
+Tage früher gesagt; jetzt aber glaubte man sich nicht mehr zu irren,
+jetzt glaubte man auf dem Gipfel angelangt zu sein.
+
+So weit ich mich auf das vergangene Jahr zu erinnern vermochte, in
+welchem ich auch diese Blumen in ihrer Blüte angetroffen hatte, waren
+sie jetzt schöner als damals.
+
+Es kamen wiederholt Besuche an, die Rosen zu sehen. Die Liebe zu
+diesen Blumen, welche in dem Rosenhause herrschte, und die zweckmäßige
+Pflege, welche sie da erhielten, war in der Nachbarschaft bekannt
+geworden, und da kamen manche, welche sich wirklich an dem
+ungewöhnlichen Ergebnisse dieser Zucht ergötzen wollten, und andere,
+die dem Besitzer etwas Angenehmes erzeigen wollten, und wieder
+andere, die nichts Besseres zu tun wußten, als nachzuahmen, was
+ihre Umgebung tat. Alle diese Arten waren nicht schwer von einander
+zu unterscheiden. Die Behandlung derselben war von Seite meines
+Gastfreundes so fein, daß ich es nicht von ihm vermutet hatte und daß
+ich diese Eigenschaft an ihm erst jetzt, wo ich ihn unter Menschen
+beobachten konnte, entdeckte.
+
+Auch Bauern kamen zu verschiedenen Zeiten und baten, daß sie die Rosen
+anschauen dürfen. Nicht nur die Rosen wurden ihnen gezeigt, sondern
+auch alles andere im Hause und Garten, was sie zu sehen wünschten,
+besonders aber der Meierhof, insoferne sie ihn nicht kannten oder
+ihnen die letzten Veränderungen in demselben neu waren.
+
+Eines Tages kam auch der Pfarrer von Rohrberg, den ich bei meinem
+vorjährigen Besuche in dem Rosenhause getroffen hatte. Er zeichnete
+sich einige Rosen in ein Buch, das er mitgebracht hatte, und wendete
+sogar Wasserfarben an, um die Farben der Blumen so getreu, als nur
+immer möglich ist, nachzuahmen. Die Zeichnung aber sollte keine
+Kunstabbildung von Blumen sein, sondern er wollte sich nur solche
+Blumen anmerken und von ihnen den Eindruck aufbewahren, deren Art er
+in seinen Garten zu verpflanzen wünschte. Es bestand nehmlich schon
+seit lange her zwischen meinem Gastfreunde und dem Pfarrer das
+Verhältnis, daß mein Gastfreund dem Pfarrer Pflanzen gab, womit
+dieser seinen Garten zieren wollte, den er teils neu um das Pfarrhaus
+angelegt, teils erweitert hatte.
+
+Unter allen aber schien Mathilde die Rosen am meisten zu lieben. Sie
+mußte überhaupt die Blumen sehr lieben; denn auf den Blumentischen in
+ihren Zimmern standen stets die schönsten und frischesten des Gartens,
+auch wurde gerne auf dem Tische, an welchem wir speisten, eine Gruppe
+von Gartentöpfen mit ihren Blumen zusammengestellt. Abgebrochen oder
+abgeschnitten und in Gläser mit Wasser gestellt durften in diesem
+Hause keine Blumen werden, außer sie waren welk, so daß man sie
+entfernen mußte. Den Rosen aber wendete sie ihr meistes Augenmerk zu.
+Nicht nur ging sie zu denen, welche im Garten in Sträuchen, Bäumchen
+und Gruppen standen, und bekümmerte sich um ihre Hegung und Pflege,
+sondern sie besuchte auch ganz allein, wie ich schon früher bemerkt
+hatte, die, welche an der Wand des Hauses blühten. Oft stand sie lange
+davor und betrachtete sie. Zuweilen holte sie sich einen Schemel,
+stieg auf ihn und ordnete in den Zweigen. Sie nahm entweder ein welkes
+Laubblatt ab, das den Blicken der andern entgangen war, oder bog eine
+Blume heraus, die am vollkommenen Aufblühen gehindert war, oder las
+ein Käferchen ab oder lüftete die Zweige, wo sie sich zu dicht und zu
+buschig gedrängt hatten. Zuweilen blieb sie auf dem Schemel stehen,
+ließ die Hand sinken und betrachtete wie im Sinnen die vor ihr
+ausgebreiteten Gewächse.
+
+Wirklich war der Tag, den man als den schönsten der Rosenblüte
+bezeichnet hatte, auch der schönste gewesen. Von ihm an begann sie
+abzunehmen, und die Blumen fingen an zu welken, so daß man öfter die
+Leiter und die Schere zur Hand nehmen mußte, um Verunzierungen zu
+beseitigen.
+
+Auch zwei fremde Reisende waren in das Rosenhaus gekommen, welche
+sich eine Nacht und einen Teil des darauf folgenden Vormittages in
+demselben aufgehalten hatten. Sie hatten den Garten, die Felder und
+den Meierhof besehen. In seine Zimmer und in die Schreinerei hatte sie
+mein Gastfreund nicht geführt, woraus ich die mir angenehme Bemerkung
+zog, daß er mir bei meiner ersten Ankunft in seinem Hause eine
+Bevorzugung gab, die nicht jedem zu Teil wurde, daß ich also eine Art
+Zuneigung bei ihm gefunden haben mußte.
+
+Gegen das Ende der Rosenblüte kam Eustachs Bruder Roland in das Haus.
+Da er sich mehrere Tage in demselben aufhielt, fand ich Gelegenheit,
+ihn genauer zu beobachten. Er hatte noch nicht die Bildung seines
+Bruders, auch nicht dessen Biegsamkeit; aber er schien mehr Kraft zu
+besitzen, die seinen Beschäftigungen einen wirksamen Erfolg versprach.
+Was mir auffiel, war, daß er mehrere Male seine dunkeln Augen länger
+auf Natalien heftete, als mir schicklich erscheinen wollte. Er hatte
+eine Reihe von Zeichnungen gebracht und wollte noch einen entfernteren
+Teil des Landes besuchen, ehe er wiederkehrte, um den Stoff vollkommen
+zu ordnen.
+
+
+Ehe Mathilde und Natalie das Rosenhaus verließen, mußte noch der
+versprochene Besuch auf dem Gute des Nachbars, welches Ingheim hieß
+und von dem Volke nicht selten der Inghof genannt wurde, gemacht
+werden. Es wurde hingeschickt und ein Tag genannt, an dem man kommen
+wollte, welcher auch angenommen wurde. Am Morgen dieses Tages wurden
+die braunen Pferde, mit denen Mathilde gekommen war und die sie die
+Zeit über in dem Meierhofe gelassen hatte, vor den Wagen gespannt,
+der die Frauen gebracht hatte, und Mathilde und Natalie setzten sich
+hinein. Mein Gastfreund, Gustav und ich, der ich eigens in die Bitte
+des Gegenbesuchs eingeschlossen worden war, stiegen in einen anderen
+Wagen, der mit zwei sehr schönen Grauschimmeln meines Gastfreundes
+bespannt war. Eine rasche Fahrt von einer Stunde brachte uns an den
+Ort unserer Bestimmung. Ingheim ist ein Schloß, oder eigentlich sind
+zwei Schlösser da, welche noch von mehreren anderen Gebäuden umgeben
+sind. Das alte Schloß war einmal befestigt. Die grauen, aus großen
+viereckigen Steinen erbauten runden Türme stehen noch, ebenso die
+graue aus gleichen Steinen erbaute Mauer zwischen den Türmen.
+Beide Teile beginnen aber oben zu verfallen. Hinter den Türmen und
+Mauern steht das alte, unbewohnte, ebenfalls graue Haus, scheinbar
+unversehrt; aber von den mit Brettern verschlagenen Fenstern schaut
+die Unbewohntheit und Ungastlichkeit herab. Vor diesen Werken des
+Altertums steht das neue weiße Haus, welches mit seinen grünen
+Fensterläden und dem roten Ziegeldache sehr einladend aussieht. Wenn
+man von der Ferne kömmt, meint man, es sei unmittelbar an das alte
+Schloß angebaut, welches hinter ihm emporragt. Wenn man aber in dem
+Hause selber ist und hinter dasselbe geht, so sieht man, daß das alte
+Gemäuer noch ziemlich weit zurück ist, daß es auf einem Felsen steht
+und daß es durch einen breiten, mit einem Obstbaumwald bedeckten
+Graben von dem neuen Hause getrennt ist. Auch kann man in der Ferne
+wegen der ungewöhnlichen Größe des alten Schlosses die Geräumigkeit
+des neuen Hauses nicht ermessen. Sobald man sich aber in demselben
+befindet, so erkennt man, daß es eine bedeutende Räumlichkeit habe und
+nicht bloß für das Unterkommen der Familie gesorgt ist, sondern auch
+eine ziemliche Zahl von Gästen noch keine Ungelegenheit bereitet. Ich
+hatte wohl den Namen des Schlosses öfter gehört, dasselbe aber nie
+gesehen. Es liegt so abseits von den gewöhnlichen Wegen und ist durch
+einen großen Hügel so gedeckt, daß es von Reisenden, welche durch
+diese Gegend gewöhnlich den Gebirgen zugehen, nicht gesehen werden
+kann. Als wir uns näherten, entwickelten sich die mehreren Bauwerke.
+Zuerst kamen wir zu den Wirtschaftsgebäuden oder der sogenannten
+Meierei. Dieselben standen, wie es bei vielen Besitzungen in unserem
+Lande der Brauch ist, ziemlich weit entfernt von dem Wohnhause und
+bildeten eine eigene Abteilung. Von da führte der Weg durch eine Allee
+uralter großer Linden eine Strecke gegen das neue Haus. Die Allee ist
+ein Bruchstück von derjenigen, die einmal gegen die Zugbrücke des
+alten Schlosses hinauf geführt hatte; sie brach daher ab, und wir
+fuhren die übrige Strecke durch schönen grünen Rasen, der mit
+einzelnen Blumenhügeln geschmückt war, dem Hause zu. Dasselbe war von
+weißlich grauer Farbe und hatte säulenartige Streifen und Friese. Alle
+Fenster, soweit die geöffneten Läden eine Einsicht zuließen, zeigten
+von Innen schwere Vorhänge. Als der Wagen der Frauen unter dem
+Überdache der Vorfahrt hielt, stand schon der Herr von Ingheim
+sammt seiner Gattin und seinen Töchtern am Ende der Treppe zur
+Bewillkommnung. Sie waren alle mit Geschmack gekleidet, sowie die
+Dienerschaft, die hinter ihnen stand, in Festkleidern war. Der
+Herr half den Frauen aus dem Wagen, und da wir mittlerweile auch
+ausgestiegen und herzugekommen waren, wurden wir von der ganzen
+Familie begrüßt und die Treppe hinauf geleitet.
+
+Man führte uns in ein großes Empfangszimmer und wies uns Plätze an.
+Mathilde und Natalie hatten zwar festlichere Kleider an, als sie im
+Rosenhause trugen, aber dieselben, so edel der Stoff war, zeigten doch
+keine übermäßige Verzierung oder gar Überladung. Mein Gastfreund,
+Gustav und ich waren gekleidet, wie man es zu ländlichen Besuchen zu
+sein pflegt. So ließen wir uns in die prachtvollen Polster, die hier
+überall ausgelegt waren, nieder. Auf einem Tische, über den ein
+schöner Teppich gebreitet war, standen Erfrischungen verschiedener
+Art. Andere Tische, die noch in dem Zimmer standen, waren unbedeckt.
+Die Geräte waren von Mahagoniholz und schienen aus der ersten
+Werkstätte der Stadt zu stammen. Ebenso waren die Spiegel, die
+Kronleuchter und andere Dinge des Zimmers. Eine Ecke an einem Fenster
+nahm ein sehr schönes Clavier ein. Die ersten Gespräche betrafen die
+gewöhnlichen Dinge über Wohlbefinden, über Wetter, über Gedeihen
+der Feld- und Gartengewächse. Die Männer nannten sich wechselweise
+Nachbar, die Frauen benannten sich gar nicht.
+
+Als man etwas Weniges von den dastehenden Speisen genommen hatte,
+erhob man sich, und wir gingen durch die Zimmer. Es war eine Reihe,
+deren Fenster größtenteils gegen Mittag auf die Landschaft hinaus
+gingen. Alle waren sehr schön nach neuer Art eingerichtet, besonders
+reich waren die Palisandergeräte im Empfangszimmer der Frau, in
+welchem, so wie in dem Arbeitszimmer der Mädchen, wieder Claviere
+standen. Der Herr des Hauses führte besonders mich in den Räumen
+herum, dem sie noch fremd waren. Die übrige Gesellschaft folgte uns
+gelegentlich in das eine oder andere Gemach.
+
+Aus den Zimmern ging man in den Garten. Derselbe war wie viele
+wohlgehaltene und schöne Gärten in der Nähe der Stadt. Schöne
+Sandgänge, grüne ausgeschnittene Rasenplätze mit Blumenstücken,
+Gruppen von Zier- und Waldgebüschen, ein Gewächshaus mit
+Camellien, Rhododendren, Azaleen, Eriken, Calceolarien und vielen
+neuholländischen Pflanzen, endlich Ruhebänke und Tische an geeigneten
+schattigen Stellen. Der Obstgarten als Nützlichkeitsstück war nicht
+bei dem Wohnhause, sondern hinter dem Meierhofe.
+
+Von dem Garten gingen wir, wie es bei ländlichen Besuchen zu geschehen
+pflegt, in die Meierei. Wir gingen durch die Reihen der glatten
+Rinder, die meistens weiß gestirnt waren, wir besahen die Schafe, die
+Pferde, das Geflügel, die Milchkammer, die Käsebereitung, die Brauerei
+und ähnliche Dinge. Hinter den Scheuern trafen wir den Gemüsegarten
+und den sehr weitläufigen Obstgarten an. Von diesen gingen wir in die
+wohlbestellten Felder und in die Wiesen. Der Wald, welcher zu der
+Besitzung gehört, wurde mir in der Ferne gezeigt.
+
+Nachdem wir unsern ziemlich bedeutenden Spaziergang beendigt hatten,
+wurden wir in eine ebenerdige große Speisehalle geführt, in welcher
+der Mittagtisch gedeckt war. Ein einfaches, aber ausgesuchtes Mahl
+wurde aufgetragen, wobei die Dienerschaft hinter unseren Stühlen
+stehend bediente. Hatte sich die Familie Ingheim schon bei dem Besuche
+auf dem Rosenhause als unter die gebildeten gehörig gezeigt, so war
+dies bei unserem Empfange in ihrem eigenen Hause wieder der Fall.
+Sowohl bei Vater und Mutter als auch bei den Mädchen war Einfachheit,
+Ruhe und Bescheidenheit. Die Gespräche bewegten sich um mehrere
+Gegenstände, sie rissen sich nicht einseitig nach einer gewissen
+Richtung hin, sondern schmiegten sich mit Maß der Gesellschaft an.
+Einen Teil der Zeit nach dem Mittagessen brachten wir in den Zimmern
+des ersten Stockwerkes zu. Es wurde Musik gemacht, und zwar Clavier
+und Gesang. Zuerst spielte die Mutter etwas, dann beide Mädchen
+allein, dann zusammen. Jedes der Mädchen sang auch ein Lied. Natalie
+saß in den seidenen Polstern und hörte aufmerksam zu. Als man sie aber
+aufforderte, auch zu spielen, verweigerte sie es.
+
+Gegen Abend fuhren wir wieder in das Rosenhaus zurück.
+
+Als Gustav aus unserem Wagen gesprungen war, als mein Gastfreund und
+ich denselben verlassen hatten, und ich die edle, schlanke Gestalt
+Nataliens gegen die Marmortreppe hinzu gehen sah, blieb ich ein
+Weilchen stehen und begab mich dann auch in meine Zimmer, wo ich bis
+zum Abendessen blieb.
+
+Dieses war wie gewöhnlich, man machte aber nach demselben an diesem
+Tage keinen Spaziergang mehr.
+
+Ich ging in mein Schlafzimmer, öffnete die Fenster, die man trotz des
+warmen Tages, weil ich abwesend gewesen war, geschlossen gehalten
+hatte, und lehnte mich hinaus. Die Sterne begannen sachte zu glänzen,
+die Luft war mild und ruhig und die Rosendüfte zogen zu mir herauf.
+Ich geriet in tiefes Sinnen. Es war mir wie im Traume, die Stille der
+Nacht und die Düfte der Rosen mahnten an Vergangenes; aber es war doch
+heute ganz anders.
+
+Nach diesem Besuche auf dem Inghofe folgten mehrere Regentage, und
+als diese beendigt waren und wieder dem Sonnenscheine Platz machten,
+war auch die Zeit heran genaht, in welcher Mathilde und Natalie das
+Rosenhaus verlassen sollten. Es war schon Mehreres gepackt worden, und
+darunter sah ich auch die beiden Zithern, die man in sammtene Fächer
+tat, welche ihrerseits wieder in lederne Behältnisse gesteckt wurden.
+
+Endlich war der Tag der Abreise festgesetzt worden.
+
+Am Abende vorher war schon das Hauptsächlichste, was mitgenommen
+werden sollte, in den Wagen geschafft, und die Frauen hatten
+am Nachmittage in mehreren Stellen Abschied genommen: bei den
+Gärtnerleuten, in der Schreinerei und im Meierhofe.
+
+Am andern Morgen erschienen sie bei dem Frühmahle in Reisekleidern,
+während noch Arabella, das Dienstmädchen Mathildens, diejenigen
+Sachen, die bis zu dem letzten Augenblicke im Gebrauch gewesen waren,
+in den Wagen packte.
+
+Nach dem Frühmahle, als die Frauen schon die Reisehüte aufhatten,
+sagte Mathilde zu meinem Gastfreunde:
+
+»Ich danke dir, Gustav, lebe wohl, und komme bald in den Sternenhof.«
+
+»Lebe wohl, Mathilde«, sagte mein Gastfreund.
+
+Die zwei alten Leute küßten sich wieder auf die Lippen, wie sie es bei
+der Ankunft Mathildens getan hatten.
+
+»Lebe wohl, Natalie«, sagte er dann zu dem Mädchen.
+
+Dasselbe erwiderte nur leise die Worte: »Dank für alle Güte.«
+
+Mathilde sagte zu dem Knaben: »Sei folgsam und nimm dir deinen
+Ziehvater zum Vorbilde.«
+
+Der Knabe küßte ihr die Hand.
+
+Dann, zu mir gewendet, sprach sie: »Habet Dank für die freundlichen
+Stunden, die ihr uns in diesem Hause gewidmet habt. Der Besitzer wird
+euch für euren Besuch wohl schon danken. Bleibt meinem Knaben gut, wie
+ihr es bisher gewesen seid, und laßt euch seine Anhänglichkeit nicht
+leid tun. Wenn es eure schöne Wissenschaft zuläßt, so seid unter
+denen, die von diesem Hause aus den Sternenhof besuchen werden. Eure
+Ankunft wird dort sehr willkommen sein.«
+
+»Den Dank muß wohl ich zurückgeben für alle die Güte, welche mir
+von euch und von dem Besitzer dieses Hauses zu Teil geworden ist«,
+erwiderte ich. »Wenn Gustav einige Zuneigung zu mir hat, so ist
+wohl die Güte seines Herzens die Ursache, und wenn ihr mich von
+dem Sternenhofe nicht zurück weiset, so werde ich gewiß unter den
+Besuchenden sein.«
+
+Ich empfand, daß ich mich auch von Natalien verabschieden sollte; ich
+vermochte aber nicht, etwas zu sagen, und verbeugte mich nur stumm.
+Sie erwiderte diese Verbeugung ebenfalls stumm.
+
+Hierauf verließ man das Haus und ging auf den Sandplatz hinaus.
+Die braunen Pferde standen mit dem Wagen schon vor dem Gitter. Die
+Hausdienerschaft war herbei gekommen, Eustach mit seinen Arbeitern
+stand da, der Gärtner mit seinen Leuten und seiner Frau und der Meier
+mit dem Großknechte aus dem Meierhofe waren ebenfalls gekommen.
+
+»Ich danke euch recht schön, liebe Leute«, sagte Mathilde, »ich danke
+euch für eure Freundschaft und Güte, seid für euren Herrn treu und
+gut. Du, Katharina, sehe auf ihn und Gustav, daß keinem ein Ungemach
+zustößt.«
+
+»Ich weiß, ich weiß« fuhr sie fort, als sie sah, daß Katharina reden
+wollte, »du tust Alles, was in deinen Kräften ist, und noch mehr, als
+in deinen Kräften ist; aber es liegt schon so in dem Menschen, daß er
+um Erfüllung seiner Herzenswünsche bittet, wenn er auch weiß, daß sie
+ohnehin erfüllt werden, ja daß sie schon erfüllt worden sind.«
+
+»Kommt recht gut nach Hause«, sagte Katharina, indem sie Mathilden die
+Hand küßte und sich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Augen trocknete.
+
+Alle drängten sich herzu und nahmen Abschied. Mathilde hatte für
+ein jedes liebe Worte. Auch von Natalien beurlaubte man sich, die
+gleichfalls freundlich dankte.
+
+»Eustach, vergeßt den Sternenhof nicht ganz«, sagte Mathilde zu diesem
+gewendet, »besucht uns mit den anderen. Ich will nicht sagen, daß euch
+auch die Dinge dort notwendig haben könnten, ihr sollt unsertwegen
+kommen.«
+
+»Ich werde kommen, hochverehrte Frau«, erwiderte Eustach.
+
+Nun sprach sie noch einige Worte zu dem Gärtner und seiner Frau und zu
+dem Meier, worauf die Leute ein wenig zurück traten.
+
+»Sei gut, mein Kind«, sagte sie zu Gustav, indem sie ihm ein Kreuz
+mit Daumen und Zeigefinger auf die Stirne machte und ihn auf dieselbe
+küßte. Der Knabe hielt ihre Hand fest umschlungen und küßte sie. Ich
+sah in seinen großen schwarzen Augen, die in Tränen schwammen, daß er
+sich gerne an ihren Hals würfe; aber die Scham, die einen Bestandteil
+seines Wesens machte, mochte ihn zurück halten.
+
+»Bleibe lieb, Natalie«, sagte mein Gastfreund.
+
+Das Mädchen hätte bald die dargereichte Hand geküßt, wenn er es
+zugelassen hätte.
+
+»Teurer Gustav, habe noch einmal Dank«, sagte Mathilde zu meinem
+Gastfreunde. Sie hatte noch mehr sagen wollen; aber es brachen Tränen
+aus ihren Augen. Sie nahm ein feines, weißes Tuch und drückte es fest
+gegen diese Augen, aus denen sie heftig weinte.
+
+Mein Gastfreund stand da und hielt die Augen ruhig; aber es fielen
+Tränen aus denselben herab.
+
+»Reise recht glücklich, Mathilde«, sagte er endlich, »und wenn bei
+deinem Aufenthalte bei uns etwas gefehlt hat, so rechne es nicht
+unserer Schuld an.«
+
+Sie tat das Tuch von den Augen, die noch fortweinten, deutete auf
+Gustav und sagte: »Meine größte Schuld steht da, eine Schuld, welche
+ich wohl nie werde tilgen können.«
+
+»Sie ist nicht auf Tilgung entstanden«, erwiderte mein Gastfreund.
+»Rede nicht davon, Mathilde, wenn etwas Gutes geschieht, so geschieht
+es recht gerne.«
+
+Sie hielten sich noch einen Augenblick bei den Händen, während ein
+leichtes Morgenlüftchen einige Blätter der abgeblühten Rosen zu ihren
+Füßen wehte.
+
+Dann führte er sie zu dem Wagen, sie stieg ein, und Natalie folgte
+ihr.
+
+Es war nach den mehreren Regentagen ein sehr klarer, nicht zu warmer
+Tag gefolgt. Der Wagen war offen und zurück gelegt. Mathilde ließ den
+Schleier von dem nehmlichen Hute, den sie bei ihrer Herfahrt gehabt
+hatte, über ihr Angesicht herabfallen; Natalie aber legte den ihrigen
+zurück und gab ihre Augen den Morgenlüften. Nachdem auch noch Arabella
+in den Wagen gestiegen war, zogen die Pferde an, die Räder furchten
+den Sand und der Wagen ging auf dem Wege hinab der Hauptstraße zu.
+
+Wir begaben uns wieder in das Haus zurück.
+
+Jeder ging in sein Zimmer und zu seinen Geschäften.
+
+
+Nachdem ich eine Weile in meiner Wohnung gewesen war, suchte ich den
+Garten auf. Ich ging zu mehreren Blumen, die in einer für Blumen schon
+so weit vorgerückten Jahreszeit noch blühten, ich ging zu den Gemüsen,
+zu dem Zwergobste und endlich zu dem großen Kirschbaume hinauf. Von
+demselben ging ich in das Gewächshaus. Ich traf dort den Gärtner,
+welcher an seinen Pflanzen arbeitete. Als er mich eintreten sah,
+kam er mir entgegen und sagte: »Es ist gut, daß ich allein mit euch
+sprechen kann, habt ihr ihn gesehen?«
+
+»Wen?« fragte ich.
+
+»Nun, ihr waret ja auf dem Inghofe«, antwortete er, »da werdet ihr
+wohl den Cereus peruvianus angeschaut haben.«
+
+»Nein, den habe ich nicht angeschaut«, erwiderte ich, indem ich mich
+wohl des Gespräches erinnerte, in welchem er mir erzählt hatte, daß
+sich eine so große Pflanze dieser Art in dem Inghofe finde, »ich habe
+auf ihn vergessen.«
+
+»Nun, wenn ihr ihn vergessen habt, so wird ihn wohl der Herr
+angeschaut haben«, sagte er.
+
+»Ich glaube, daß uns niemand auf diese Pflanze aufmerksam gemacht hat,
+als wir in dem Gewächshause waren«, erwiderte ich; »denn wenn jemand
+anderer sich eigens zu dieser Pflanze gestellt hätte, so hätte ich es
+gewiß bemerkt und hätte sie auch angesehen.«
+
+»Das ist sehr sonderbar und sehr merkwürdig«, sagte er; »nun, wenn ihr
+vergessen habt, den Cereus peruvianus anzusehen, so müßt ihr einmal
+mit mir hinübergehen; wir brauchen nicht zwei Stunden, und es ist ein
+angenehmer Weg. So etwas seht ihr nicht leicht anders wo. Sie bringen
+ihn nie zur Blüte. Wenn ich ihn hier hätte, so würde er bald so weiß
+wie meine Haare blühen, natürlich viel weißer. Die unseren sind noch
+viel zu klein zum Blühen.«
+
+Ich sagte ihm zu, daß ich einmal mit ihm in den Inghof hinübergehen
+werde, ja sogar, wenn es nicht eine Unschicklichkeit sei und nicht zu
+große Hindernisse im Wege stehen, daß ich auch versuchen werde, dahin
+zu wirken, daß diese Pflanze zu ihm herüberkomme.
+
+Er war sehr erfreut darüber und sagte, die Hindernisse seien gar
+nicht groß, sie achten den Cereus nicht, sonst hätten sie ja die
+Gesellschaft zu ihm hingeführt, und der Herr wolle sich vielleicht
+keine Verbindlichkeit gegen den Nachbar auflegen. Wenn ich aber eine
+Fürsprache mache, so würde der Cereus gewiß herüber kommen.
+
+Wie doch der Mensch überall seine eigenen Angelegenheiten mit sich
+herum führt, dachte ich, und wie er sie in die ganze übrige Welt
+hineinträgt. Dieser Mann beschäftigt sich mit seinen Pflanzen und
+meint, alle Leute müßten ihnen ihre Aufmerksamkeit schenken, während
+ich doch ganz andere Gedanken in dem Haupte habe, während mein
+Gastfreund seine eigenen Bestrebungen hat und Gustav seiner Ausbildung
+obliegt. Das eine Gute hatte aber die Ansprache des Gärtners für mich,
+daß sie mich von meinen wehmütigen und schmerzlichen Gefühlen ein
+wenig abzog und mir die Überzeugung brachte, wie wenig Berechtigung
+sie haben und wie wenig sie sich für das Einzige und Wichtigste in der
+Welt halten dürfen.
+
+Ich blieb noch länger in dem Gewächshause und ließ mir Mehreres von
+dem Gärtner zeigen und erklären. Dann ging ich wieder in meine Wohnung
+und setzte mich zu meiner Arbeit.
+
+Wir kamen bei dem Mittagessen zusammen, wir machten am Nachmittage
+einen Spaziergang, und die Gespräche waren wie gewöhnlich.
+
+
+Die Zeit auf dem Rosenhause floß nach dem Besuche der Frauen wieder so
+hin, wie sie vor demselben hingeflossen war.
+
+Ich hatte die Muße, welche ich mir von meinen Arbeiten im Gebirge
+zu einem Aufenthalte bei meinem Gastfreunde abgedungen hatte,
+beinahe schon erschöpft. Das, was ich mir in dem Rosenhause als
+Ergänzungsarbeit zu tun auferlegt hatte, rückte auch seiner Vollendung
+entgegen. Ich ließ mir aber deßohngeachtet einen Aufschub gefallen,
+weil man verabredet hatte, einen Besuch auf dem Sternenhofe zu machen,
+was, wie ich einsah, Mathildens Wohnsitz war, und weil ich bei diesem
+Besuche zugegen sein wollte. Auch war es im Plane, daß wir eine Kirche
+besuchen wollten, die in dem Hochlande lag und in welcher sich ein
+sehr schöner Altar aus dem Mittelalter befand. Ich nahm mir vor,
+das, was mir an Zeit entginge, durch ein länger in den Herbst hinein
+fortgesetztes Verweilen im Gebirge wieder einzubringen.
+
+Mein Gastfreund hatte in dem Meierhofe wieder Bauarbeiten beginnen
+lassen und beschäftigte dort mehrere Leute. Er ging alle Tage hin, um
+bei den Arbeiten nachzusehen. Wir begleiteten ihn sehr oft. Es war
+eben die letzte Einfuhr des Heues aus den höheren, in dem Alizwalde
+gelegenen Wiesen, deren Ertrag später als in der Ebene gemäht wurde,
+im Gange. Wir erfreuten uns an dieser duftenden, würzigen Nahrung der
+Tiere, welche aus den Waldwiesen viel besser war als aus den fetten
+Wiesen der Täler; denn auf den Bergwiesen wachsen sehr mannigfaltige
+Kräuter, die aus den sehr verschiedenartigen Gesteingrundlagen die
+Stoffe ihres Gedeihens ziehen, während die gleichartigere Gartenerde
+der tiefen Gründe wenigere, wenngleich wasserreichere Arten hervor
+bringt. Mein Gastfreund widmete diesem Zweige eine sehr große
+Aufmerksamkeit, weil er die erste Bedingung des Gedeihens der
+Haustiere, dieser geselligen Mitarbeiter der Menschen ist. Alles,
+was die Würze, den Wohlgeruch und, wie er sich ausdrückte, die
+Nahrungslieblichkeit beeinträchtigen konnte, mußte strenge
+hintan gehalten werden, und wo durch Versehen oder Ungunst der
+Zeitverhältnisse doch dergleichen eintrat, mußte das minder Taugliche
+ganz beseitigt oder zu andern Wirtschaftszwecken verwendet werden.
+Darum konnte man aber auch keine schöneres, glatteren, glänzenderen
+und fröhlicheren Tiere sehen als auf dem Asperhofe. Der
+Wirtschaftsvorteil lag außerdem noch als Zugabe bei; denn da das
+Schlechtere gar nicht verwendet werden durfte, wurde bei der
+Behandlung und Einbringung die größte Sorgfalt von den Leuten
+beobachtet, abgesehen davon, daß mein Gastfreund bei seiner Kenntnis
+der Witterungsverhältnisse weniger Schaden durch Regen oder
+dergleichen erlitt als die meisten Landwirte, die sich um diese
+Kenntnis gar nicht bekümmerten. Und der Nachteil der Nichtanwendung
+des Schlechteren wurde weit durch den Vorteil des besseren Gedeihens
+der Tiere aufgewogen. In dem Asperhofe konnte man immer mit einer
+geringeren Anzahl Tiere größere Arbeiten ausführen als in anderen
+Gehöften. Hiezu kam noch eine gewisse Fröhlichkeit und Heiterkeit
+der untergeordneten Leute, die bei jeder sachgemäßen Führung eines
+Geschäftes, bei dem sie beteiligt sind, und bei einer wenn auch
+strengen, doch stets freundlichen Behandlung nicht ausbleibt. Ich
+hörte bei meiner jetzigen Anwesenheit öfter von benachbarten Leuten
+die Äußerung, das hätte man dem alten Asperhofe nicht angesehen, daß
+das noch heraus kommen könnte.
+
+Es wurde, da wieder mehrere Gewitter niedergegangen waren, die Luft
+sich gereinigt hatte und einige schöne Tage erwartet werden konnten,
+die Reise zu der Kirche mit dem sehenswürdigen Altare festgesetzt.
+
+Im Norden unseres herrlichen Stromes, welcher das Land in einen
+nördlichen und südlichen Teil teilt, erhebt sich ein Hochland, welches
+viele Meilen die nördlichen Ufer des Stromes begleitet. In seinem
+Süden ist eine acht bis zehn Meilen breite, verhältnismäßig ebene
+Gegend von großer Fruchtbarkeit, die endlich von dem Zuge der Alpen
+begrenzt ist. Ich war bisher nur vorzugsweise in die Alpen gegangen,
+die nördlichen Hochlande hatte ich bloß ein einziges Mal betreten und
+nur eine kleine Ecke derselben durchwandert. Jetzt sollte ich mit
+meinem Gastfreunde eine Fahrt in das Innere derselben machen; denn die
+Kirche, welche das Ziel unserer Reise war, steht weit näher an der
+nördlichen als an der südlichen Grenze des Hochlandes. Wir fuhren
+in der Begleitung Eustachs von dem Stromesufer die staffelartigen
+Erhebungen empor und fuhren dann in dem hohen vielgehügelten Lande
+dahin. Wir fuhren oft mit unseren Gespann langsam bis auf die höchste
+Spitze eines Berges empor, dann auf der Höhe fort, oder wir senkten
+uns wieder in ein Tal, umfuhren oft in Windungen abwärts die Dachung
+des Berges, legten eine enge Schlucht zurück, stiegen wieder empor,
+veränderten recht oft unsere Richtung und sahen die Hügel, die Gehöfte
+und andere Bildungen von verschiedenen Seiten. Wir erblickten oft von
+einer Spitze das ganze flache gegen Mittag gelegene Land mit seiner
+erhabenen Hochgebirgskette, und waren dann wieder in einem Talkessel,
+in welchem wir keine Gegenstände neben unserem Wagen hatten als eine
+dunkle, weitästige Fichte und eine Mühle. Oft, wenn wir uns einem
+Gegenstande gleichsam auf einer Ebene nähern zu können schienen, war
+plötzlich eine tiefe Schlucht in die Ebene geschnitten, und wir mußten
+dieselbe in Schlangenwindungen umfahren.
+
+Ich hatte bei meinem ersten Besuche dieses Hochlandes die Bemerkung
+gemacht, daß es mir da stiller und schweigsamer vorkomme, als wenn ich
+durch andere, ebenfalls stille und schweigende Landschaften zog. Ich
+dachte nicht weiter darüber nach. Jetzt kam mir dieselbe Empfindung
+wieder. In diesem Lande liegen die wenigen größeren Ortschaften sehr
+weit von einander entfernt, die Gehöfte der Bauern stehen einzeln auf
+Hügeln oder in einer tiefen Schlucht oder an einem nicht geahnten
+Abhange. Herum sind Wiesen, Felder, Wäldchen und Gestein. Die Bäche
+gehen still in den Schluchten, und wo sie rauschen, hört man ihr
+Rauschen nicht, weil die Wege sehr oft auf den Höhen dahin führen.
+Einen großen Fluß hat das Land nicht, und wenn man die ausgedehnte
+südliche Ebene und das Hochgebirge sieht, so ist es nur ein sehr
+großer, aber stiller Gesichtseindruck. In den Alpen geht der
+Straßenzug meistens nur in den Talrinnen, an den Flüssen oder
+Wildbächen dahin, er kann sich wenig verzweigen, der Verkehr ist auf
+ihn zusammengedrängt, und es regt sich auf ihm, und es wehet und
+rauscht an ihm.
+
+In diesem Lande sind noch viele wertvolle Altertümer zerstreut und
+aufbewahrt, es haben einmal reiche Geschlechter in ihm gewohnt, und
+die Krieges- und Völkerstürme sind nicht durch das Land gegangen.
+
+Wir kamen in den kleinen Ort Kerberg. Er liegt in einem sehr
+abgeschiedenen Winkel und ist von keinerlei Bedeutung. Nicht einmal
+eine Straße von nur etwas lebhaftem Verkehre führt durch, sondern
+nur einer jener Landwege, wie sie zum Austausche der Erzeugnisse der
+Bevölkerung dienen und von dem guten Sand- und Steinstoffe des Landes
+sehr gut gebaut sind. Nur die Lage ist schön, da hier die Bildungen
+etwas größer sind und, mit dämmerigem Walde teilweise bekleidet,
+anmutig zusammentreten. Und doch steht in diesem Orte die Kirche,
+zu welcher wir auf der Reise waren. Hinter dem Orte, ungefähr nach
+Mitternacht, liegt ein weitläufiges Schloß auf einem Berge, welches
+große Garten- und Waldanlagen um sich hat. Auf diesem Schlosse hat
+einmal ein reiches und mächtiges Geschlecht gewohnt. Einer von ihnen
+hatte in dem kleinen Orte die Kirche bauen und auszieren lassen. Er
+hat die Kirche im altdeutschen Stile gebaut, Spitzbogen schließen
+sie, schlanke Säulen aus Stein teilen sie in drei Schiffe, und hohe
+Fenster mit Steinrosen in ihren Bögen und mit den kleinen vieleckigen
+Täfelchen geben ihr Licht. Der Hochaltar ist aus Lindenholz
+geschnitzt, steht wie eine Monstranze auf dem Priesterplatze und ist
+von fünf Fenstern umgeben. Viele Zeiten sind vorübergegangen. Der
+Gründer ist gestorben, man zeigt sein Bild aus rotem Marmor in
+Halbarbeit auf einer Platte in der Kirche. Andere Menschen sind
+gekommen, man machte Zutaten in der Kirche, man bemalte und bestrich
+die steinernen Säulen und die aus gehauenen Steinen gebauten Wände,
+man ersetzte die zwei Seitenaltäre, von deren Gestalt man jetzt nichts
+mehr weiß, durch neue, und es geht die Sage, daß schöne Glasgemälde
+die Monstranze umstanden haben, daß sie fortgekommen seien und daß
+gemeine viereckige Tafeln in die fünf Fenster gesetzt wurden. Sie
+verunzieren in der Tat noch jetzt die Kirche. Die neuen Besitzer des
+Schlosses waren nicht mehr so reich und mächtig, andere Zeiten hatten
+andere Gedanken bekommen, und so war der geschnitzte Hochaltar von
+Vögeln, Fliegen und Ungeziefer beschmutzt worden, die Sonne, die
+ungehindert durch die viereckigen Tafeln hereinschien, hatte ihn
+ausgedörrt, Teile fielen herab und wurden willkürlich wieder hinauf
+getan und durcheinander gestellt, und in Arme, Angesichter und
+Gewänder bohrte sich der Wurm.
+
+Darum haben die Behörden des Landes den Altar wieder hergestellt, und
+zu diesem gingen wir.
+
+
+Eustach geleitete uns in die Kirche, es war ein sonniger Vormittag,
+kein Mensch war zugegen, und wir traten vor das Schnitzwerk. Eustach
+konnte vieles aus den Regeln der alten Kunst und aus der Geschichte
+derselben erklären. Er sprach über das Mittelfeld, in welchem drei
+ganze, überlebensgroße Gestalten auf reich verzierten Gestellen unter
+reichen Überdächern standen. Es waren die Gestalten des heiligen
+Petrus, des heiligen Wolfgang - beide in Bischofsgewändern - und des
+heiligen Christophorus, wie er das Jesuskindlein auf der Schulter
+trägt, und wie dasselbe nach der Legende dem riesenhaft starken Manne
+schwer wie ein Weltball wird und seine Kräfte erschöpft, welche
+Erschöpfung in der Gestalt ausgedrückt ist. Sehr viele kleine
+Gestalten waren noch nach der Sitte unserer Vorältern in dem Raume
+zerstreut. An dem Mittelfelde waren in gezierten Rahmen zwei Flügel,
+auf welchen Bilder in halberhabener Arbeit sich befanden: die
+Verkündigung des Engels, die Geburt des Heilandes, die Opferung der
+drei Könige und der Tod Marias. Oberhalb des Mittelstückes war ein
+Giebel mit der emporstrebenden durchbrochenen Arbeit, die man, wie
+Eustach meint, fälschlich die gothische nennt, da sie vielmehr
+mittelalterlich deutsch sei. In diese durchbrochene Arbeit waren
+mehrere Gestalten eingestreut. Zu beiden Seiten hinter den Flügeln
+standen die Gestalten des heiligen Florian und des heiligen Georg in
+mittelalterlicher Ritterrüstung empor.
+
+Der heilige Florian hatte das Sinnbild des brennenden Hauses und der
+heilige Georg das des Drachen zu seinen Füßen. Eustach behauptete,
+daß sich nur aus der Ansicht eines Sinnbildes die Kleinheit solcher
+Beigaben zu altertümlichen Gestalten erkläre, da unsere kunstsinnigen
+Altvordern gewiß nicht den großen Fehler der Unverhältnismäßigkeit der
+Körper der Gegenstände gemacht haben würden. Mein Gastfreund sagte,
+ohne die Meinung Eustachs verwerfen zu wollen, daß man die Sache auch
+etwa so auslegen könne, daß man durch die über alles Maß hinausgehende
+Größe der Gestalten, gegen welche ein Haus oder ein Drache klein sei,
+ihre Übernatürlichkeit habe ausdrücken wollen.
+
+Mein Gastfreund sagte, es müßten einmal nicht nur viel kunstsinnigere
+Zeiten gewesen sein als heute, sondern es müßte die Kunst auch ein
+allgemeineres Verständnis bis in das unterste Volk hinab gefunden
+haben; denn wie wären sonst Kunstwerke in so abgelegene Orte wie
+Kerberg gekommen, oder wie befänden sich solche in noch kleineren
+Kirchen und Kapellen des Hochlandes, die oft einsam auf einem Hügel
+stehen oder mit ihren Mauern aus einem Waldberge hervor ragen, oder
+wie wären kleine Kirchlein, Feldkapellen, Wegsäulen, Denksteine
+alter Zeit mit solcher Kunst gearbeitet: so wie heut zu Tage der
+Kunstverfall bis in die höheren Stände hinauf rage, weil man nicht nur
+in die Kirchen, Gräber und heiligen Orte abscheuliche Gestalten, die
+eher die Andacht zerstören als befördern, von dem Volke stellen läßt,
+sondern auch bis zu sich hinauf in das herrschaftliche Schloß so oft
+die leeren und geistesarmen Arbeiten einer ohnmächtigen Zeit zieht.
+Meines Gastfreundes und Eustachs bemächtigte sich bei diesen
+Betrachtungen eine Traurigkeit, welche ich nicht ganz begriff.
+
+Wir betrachteten nach dem Altare auch noch die Kirche, betrachteten
+das Steinbild des Mannes, der sie hatte erbauen lassen. und
+betrachteten noch andere alte Grabdenkmale und Inschriften. Es zeigte
+sich hier, daß die fünf Fenster des Priesterplatzes nicht wie die
+Fenster des Kirchenschiffes in ihren Spitzbogen Steinrosen hatten, was
+als neuer Beweis galt, daß das Glas aus diesen Fenstern einmal heraus
+genommen worden war, und daß man zu besserer Gewinnung der Gemälde
+in den Spitzbogen oder gar zu bequemerer Einsetzung der viereckigen
+Tafeln die steinernen Fassungen weggeräumt habe.
+
+Ich ging mit manchem Gedanken bereichert neben meinen zwei Begleitern
+aus der Kirche.
+
+Auf der Rückfahrt schlugen wir einen anderen Weg ein, damit ich auch
+noch andere Teile des Landes zu sehen bekäme. Wir besuchten noch ein
+paar Kirchen und kleinere Bauwerke, und Eustach versprach mir, daß
+er mir, wenn wir nach Hause gekommen wären, die Zeichnungen von den
+Dingen zeigen würde, welche wir gesehen hatten. Die Männer sprachen
+auf der Rückreise auch von der mutmaßlichen Zeit, in welcher die
+Kirche, die das Ziel unserer Reise gewesen war, entstanden sein
+könnte. Sie schlossen auf diese Zeit aus der Art und Weise des Baues
+und aus manchen Verzierungen. Sie bedauerten nur, daß man Näheres
+darüber aus Urkunden nicht erfahren könne, da das Schriftgewölbe des
+alten Schlosses unzugänglich gehalten werde.
+
+Wir fuhren am Mittage des nächsten Tages wieder die staffelartigen
+Erhebungen hinab und gelangten in später Nacht in das Rosenhaus.
+
+Ich mahnte in ein paar Tagen darauf den Gärtner an unsern verabredeten
+Gang nach Ingheim. Er freute sich über meine Achtsamkeit, wie er es
+nannte, und an einem freundlichen Nachmittage gingen wir in das Schloß
+hinüber. Wir sagten die Ursache unseres Besuches und wurden mit
+Zuvorkommenheit empfangen.
+
+Wir gingen sogleich in das Gewächshaus, und es war in Wirklichkeit
+eine sehr schöne und zu ansehnlicher Größe ausgebildete Pflanze, zu
+der mich der Gärtner Simon geführt hatte. Ich kannte nicht genau, wie
+weit sich diese Pflanzen überhaupt entwickeln und welche Größe sie zu
+erreichen vermögen; aber eine größere habe ich nirgends gesehen. Daß
+man sie in Ingheim nicht viel achte, erkannte ich ebenfalls; denn der
+Winkel des Gewächshauses, in welchem sie in freiem Boden stand, war
+der vernachlässigteste, es lagen Blumenstäbe, Bastbänder, welke
+Blätter und dergleichen dort, und man hatte ihn mit Gestellen, auf
+welchen andere Pflanzen standen, verstellt, daß sein Anblick den Augen
+entzogen werde. Man konnte den grünen Arm dieser Pflanze wohl an der
+Decke des Hauses hingehen sehen, ich hatte aber dort hinauf bei meiner
+ersten Anwesenheit nicht geschaut. Mein Begleiter erkannte jetzt, daß
+es ein Cereus peruvianus sei und erklärte mir seine Merkmale. Sonst
+aber konnten wir keine Cactus in Ingheim entdecken. Nach mancher
+Aufmerksamkeit, die uns in dem Schlosse noch zu Teil wurde, begaben
+wir uns gegen Abend wieder auf den Rückweg, und ich tröstete meinen
+alten Begleiter mit den Worten, daß ich glaube, daß es nicht schwer
+sein werde, diese Pflanze in das Rosenhaus zu bringen. Dort würde sie
+die Sammlung ergänzen und zieren, während sie in Ingheim allein ist.
+Auch wird man wohl einem Wunsche meines Gastfreundes willfährig sein,
+und ich werde die Sache schon zu fördern trachten.
+
+
+Nach kurzer Zeit traten wir unsere Weg zum Besuche in dem Sternenhofe
+an. Dieses Mal fuhr außer Eustach auch Gustav mit. Die Grauschimmel
+wurden vor einen größeren Wagen gespannt, als wir in den Hochlanden
+gehabt hatten, und wir fuhren mit ihnen über den Hügel hinab. Es war
+sehr früh am Morgen, noch lange vor Sonnenaufgang. Wir fuhren auf der
+Hauptstraße gegen Rohrberg zu und fuhren endlich auf der Anhöhe an dem
+Alizwalde empor. Da die Pferde langsam den Weg hinan gingen, sagte
+mein Gastfreund: »Es ist möglich, daß ihr im vorigen Jahre an dieser
+Stelle Mathilden und Natalien gesehen habt. Sie erzählten mir, als sie
+zu Besuche der Rosenblüte zu mir kamen, und ich ihnen von euch, von
+eurer Anwesenheit bei mir und von eurer an dem Morgen ihrer Ankunft
+erfolgten Abreise sagte, daß sie einem Fußreisenden auf der Alizhöhe
+begegnet seien, der dem ungefähr gleich gesehen habe, den ich ihnen
+beschrieben.«
+
+Plötzlich war es mir ganz klar, daß wirklich Mathilde und Natalie
+die zwei Frauen gewesen waren, welchen ich an jenem Morgen an dieser
+Stelle begegnet bin. Mir waren jetzt deutlich dieselben Reisehüte vor
+Augen, die sie auch dieses Mal aufgehabt hatten, ich sah die Züge
+Nataliens wieder, und auch der Wagen und die braunen Pferde kamen
+mir in die Erinnerung. Darum also war mir Natalie immer als schon
+einmal gesehen vorgeschwebt. Ich hatte ja sogar damals gedacht,
+daß das menschliche Angesicht etwa der edelste Gegenstand für die
+Zeichnungskunst sein dürfte, und hatte sie als unbeholfener Mensch,
+der im Zurechtlegen aller Eindrücke geschickter ist als in dem der
+menschlichen, doch wieder aus meiner Vorstellungskraft verloren. Ich
+sagte zu meinem Gastfreunde, daß er durch seine Bemerkung meinem
+Gedächtnisse zu Hilfe gekommen sei, daß ich jetzt alles klar wisse und
+daß mir auf dieser Anhöhe Mathilde und Natalie begegnet seien, und daß
+ich ihnen, da der Wagen langsam den Berg hinab fuhr, nachgesehen habe.
+
+»Ich habe mir es gleich so gedacht«, erwiderte er.
+
+Aber auch etwas anderes fiel mir ein und machte, daß mein Angesicht
+errötete. Also hatte mein Gastfreund von mir mit den Frauen
+gesprochen, und mich sogar beschrieben. Er hatte also einen Anteil an
+mir genommen. Das freute mich von diesem Manne sehr.
+
+Als wir auf der Höhe des Berges angekommen waren, ließ mein Gastfreund
+an einer Stelle, wo das Seitengebüsch des Weges eine Durchsicht
+erlaubte, halten, stand im Wagen auf und bat mich, das gleiche zu tun.
+Er sagte, daß man an dieser Stelle das Stück des Alizwaldes, das zu
+dem Asperhofe gehöre, übersehen könne. Er wies mir mit dem Zeigefinger
+an den Farbunterschieden des Waldes, die durch die Mischung der
+Buchen und Tannen, durch Licht und Schatten und durch andere Merkmale
+hervorgebracht wurden, die Grenzen dieses Besitztumes nach. Als ich
+dies genugsam verstanden und ihm auch mit dem Finger ungefähr die
+Stellen des Waldes gezeigt hatte, an denen ich schon gewesen war,
+setzten wir uns wieder nieder und fuhren weiter.
+
+Es war bei dieser Gelegenheit das erste Mal gewesen, daß ich aus
+seinem Munde den Namen Asperhof gehört habe, mit dem er sein Besitztum
+bezeichnete.
+
+Nach kurzer Fahrt trennten wir uns von der nach Osten gehenden
+Hauptstraße und schlugen einen gewöhnlichen Verbindungsweg nach Süden
+ein. Wir fuhren also dem Hochgebirge näher. Am Mittage blieben wir
+eine ziemlich lange Zeit zur Erquickung und zum Ausruhen der Pferde,
+auf deren Pflege mein Gastfreund sehr sah, in einem einzeln stehenden
+Gasthofe, und es war schon am Abende in tiefer Dämmerung, als mir mein
+Gastfreund die Umrisse des Sternenhofes zeigte. Ich war schon zweimal
+in der Gegend gewesen, erinnerte mich sogar im allgemeinen auf das
+Gebäude und wußte genau, daß am Fuße des Hügels, auf welchem es stand,
+sehr schöne Ahorne wuchsen. Ich hatte aber nie Ursache gehabt, mich
+weiter um diese Gegenstände zu kümmern.
+
+Wir kamen bei Sternenscheine zu den mir bekannten Ahornen, fuhren
+einen Hügel empor, legten einen Torweg zurück und hielten in einem
+Hofe. In demselben standen vier große Bäume, an deren eigentümlichen,
+gegen den dunkeln Nachthimmel gehaltenen Bildungen ich erkannte, daß
+es Ahorne seien. In ihrer Mitte plätscherte ein Brunnen. Auf das
+Rollen des Wagens unter dem hallenden Torwege kamen Diener mit
+Lichtern herbei, uns aus dem Wagen zu helfen. Gleich darauf erschien
+auch Mathilde und Natalie in dem Hofe, um uns zu begrüßen. Sie
+geleiteten uns die Treppe hinan in einen Vorsaal, in welchem die
+Begrüßungen im allgemeinen wiederholt wurden und von wo aus man uns
+unsere Zimmer anwies.
+
+Das meinige war ein großes freundliches Gemach, in welchem bereits
+auf dem Tische zwei Kerzen brannten. Ich legte, da der Diener die
+Tür hinter sich geschlossen hatte, meinen Hut auf den Tisch, und das
+Nächste, was ich tat, war, daß ich mehrere Male schnell in dem Zimmer
+auf und nieder ging, um die durch das Fahren ersteiften Glieder wieder
+ein wenig einzurichten. Als dieses ziemlich gelungen war, trat ich an
+eines der offenen Fenster, um herum zu schauen. Es war aber nicht viel
+zu sehen. Die Nacht war schon zu weit vorgerückt und die Lichter im
+Zimmer machten die Luft draußen noch finsterer. Ich sah nur so viel,
+daß meine Fenster ins Freie gingen. Nach und nach begrenzten sich
+vor meinen Augen die dunkeln Gestalten der am Fuße des Hügels
+stehenden Ahorne, dann kamen Flecken von dunkler und fahler Farbe,
+wahrscheinlich Abwechslung von Feld und Wald, weiter war nichts zu
+unterscheiden als der glänzende Himmel darüber, der von unzähligen
+Sternen, aber nicht von dem geringsten Stückchen Mond beleuchtet war.
+
+Nach einer Zeit kam Gustav und holte mich zu dem Abendessen ab. Er
+hatte eine große Freude, daß ich in dem Sternenhofe sei. Ich ordnete
+aus meinem Reisesacke, der heraufgeschafft worden war, ein wenig meine
+Kleider und folgte dann Gustav in das Speisezimmer. Dasselbe war fast
+wie das in dem Rosenhause. Mathilde saß wie dort in einem Ehrenstuhle
+oben an, ihr zur Rechten mein Gastfreund und Natalie, ihr zur Linken
+ich, Eustach und Gustav. Auch hier besorgte eine Haushälterin und eine
+Magd den Tisch. Der Hergang bei dem Speisen war der nehmliche wie an
+jenen Abenden bei meinem Gastfreunde, an denen wir alle beisammen
+gewesen waren.
+
+Um von der Reise ausruhen zu können, trennte man sich bald und suchte
+seine Zimmer.
+
+Ich entschlief unter Unruhe, sank aber nach und nach in festeren
+Schlummer und erwachte, da die Sonne schon aufgegangen war.
+
+Jetzt war es Zeit, herum zu schauen.
+
+Ich kleidete mich so schnell und so sorgfältig an, als ich konnte,
+ging an ein Fenster, öffnete es und sah hinaus. Ein ganz gleicher,
+sehr schön grüner Rasen, der durch keine Blumengebüsche oder
+dergleichen unterbrochen war, sondern nur den weißen Sandweg enthielt,
+breitete sich über die gedehnte Dachung des Hügels, auf der das
+Gebäude stand, hinab. Auf dem Sandwege aber gingen Natalie und Gustav
+herauf. Ich sah in die schönen jugendlichen Angesichter, sie aber
+konnten mich nicht sehen, weil sie ihre Augen nicht erhoben. Sie
+schienen in traulichem Gespräche begriffen zu sein, und bei ihrer
+Annäherung - an dem Gange, an der Haltung, an den großen dunklen
+Augen, an den Zügen der Angesichter - sah ich wieder recht deutlich,
+daß sie Geschwister seien. Ich sah auf sie, so lange ich sie erblicken
+konnte, bis sie endlich der dunkle Torweg aufgenommen hatte.
+
+Jetzt war die Gegend sehr leer.
+
+Ich blickte kaum auf sie.
+
+Allgemach entwickelten sich aber wieder freundlich Felder, Wäldchen
+und Wiesen im Gemisch, ich erblickte Meierhöfe rings herumgestreut,
+hie und da erglänzte ein weißer Kirchturm in der Ferne und die Straße
+zog einen lichten Streifen durch das Grün. Den Schluß machte das
+Hochgebirge, so klar, daß man an dem untern Teile seiner Wand die
+Talwindungen, an dem obern die Gestaltung der Kanten und Flächen und
+die Schneetafeln wahrnehmen konnte.
+
+Sehr groß und schön waren die Ahorne, die unten am Hügel standen,
+deshalb mochten sie schon früher bei meinen Reisen durch diese Gegend
+meine Aufmerksamkeit erregt haben. Von ihnen zogen sich Erlenreihen
+fort, die den Lauf der Bäche anzeigten.
+
+Das Haus mußte weitläufig sein; denn die Wand, in der sich meine
+Fenster befanden und die ich, hinausgebeugt, übersehen konnte, war
+sehr groß. Sie war glatt mit vorspringenden steinernen Fenstersimsen
+und hatte eine grauweißliche Farbe, mit der sie offenbar erst in
+neuerer Zeit übertüncht worden war.
+
+Hinter dem Hause mußte vielleicht ein Garten oder ein Wäldchen sein,
+weil ich Vogelgesang herüber hörte. Auch war es mir zuweilen, als
+vernähme ich das Rauschen des Hofbrunnens.
+
+Der Tag war heiter.
+
+Ich harrte nun der Dinge, die kommen sollten.
+
+
+Ein Diener rief mich zu dem Frühmahle. Es war zu derselben Zeit wie
+im Rosenhause. Als ich in das Speisezimmer getreten war, sagte mir
+Mathilde, daß es sehr lieb von mir sei, daß ich ihre Freunde und ihren
+Sohn in den Sternenhof begleitet habe, sie werde sich bemühen, daß es
+mir in demselben gefalle, wozu ihr ihr Freund, der mir den Asperhof
+anziehend mache, beistehen müsse.
+
+Ich antwortete, daß ich mich auf die Reise in den Sternenhof sehr
+gefreut habe und daß ich mich freue, in demselben zu sein. Von einer
+Bedeutung sei es nicht, daß mir eine Rücksicht zu Teil werde, ich
+bitte nur, daß man, wenn ich etwas fehle, es nachsehe.
+
+Nach mir trat Eustach ein. Mathilde begrüßte auch ihn noch einmal.
+
+Gustav, der schon zugegen war, gesellte sich zu mir.
+
+Die Frauen waren häuslich und schön, aber minder einfach als in dem
+Rosenhause gekleidet. Meinen Gastfreund sah ich zum ersten Male in
+ganz anderen Kleidern als auf seiner Besitzung und auf dem Besuche zu
+Ingheim. Er war schwarz, mit einem Fracke, der einen etwas weiteren
+und bequemeren Schnitt hatte als gewöhnlich, und sogar einen leichten
+Biberhut trug er in der Hand.
+
+Nach dem Frühmahle sagte Mathilde, sie wolle mir ihre Wohnung zeigen.
+Die andern gingen mit. Wir traten aus dem Speisezimmer in einen
+Vorsaal. Am Ende desselben wurden zwei Flügeltüren aufgetan, und ich
+sah in eine Reihe von Zimmern, welche nach der ganzen Länge des Hauses
+hinlaufen mußte. Als wir eingetreten waren, sah ich, daß in den
+Zimmern alles mit der größten Reinheit, Schönheit und Zusammenstimmung
+geordnet war. Die Türen standen offen, so daß man durch alle
+Zimmer sehen konnte. Die Geräte waren passend, die Wände waren mit
+zahlreichen Gemälden geziert, es standen Glaskästen mit Büchern, es
+waren musikalische Geräte da, und auf Gestellen, die an den rechten
+Orten angebracht waren, befanden sich Blumen. Durch die Fenster sah
+die nähere Landschaft und die ferneren Gebirge herein.
+
+Es zeigte sich, daß diese Zimmer ein schöner Spaziergang seien, der
+unter dem Dache und zwischen den Wänden hinführte. Man konnte sie
+entlang schreiten, von angenehmen Gegenständen umgeben sein und die
+Kälte oder das Ungestüm des Wetters oder Winters nicht empfinden,
+während man doch Feld und Wald und Berg erblickte. Selbst im Sommer
+konnte es Vergnügen gewähren, hier bei offenen Fenstern gleichsam halb
+im Freien und halb in der Kunst zu wandeln. Da ich meinen Blick mehr
+auf das Einzelne richtete, fielen mir die Geräte besonders auf. Die
+waren neu und nach sehr schönen Gedanken gebildet. Sie schickten sich
+so in ihre Plätze, daß sie gewissermaßen nicht von Außen gekommen,
+sondern zugleich mit diesen Räumen entstanden zu sein schienen. Es
+waren an ihnen sehr viele Holzarten vermischt, das erkannte ich sehr
+bald, es waren Holzarten, die man sonst nicht gerne zu Geräten nimmt,
+aber sie schienen mir so zu stimmen, wie in der Natur die sehr
+verschiedenen Geschöpfe stimmen.
+
+Ich machte in dieser Hinsicht eine Bemerkung gegen meinen Gastfreund,
+und er antwortete: »Ihr habt einmal gefragt, ob Gegenstände, die wir
+in unserem Schreinerhause neu gemacht haben, in meinem Hause vorhanden
+seien, worauf ich geantwortet habe, daß nichts von Bedeutung in
+demselben sei, daß sich aber einige gesammelt in einem anderen Orte
+befinden, in den ich euch, wenn ihr Lust zu solchen Dingen hättet,
+geleiten würde. Diese Zimmer hier sind der andere Ort, und ihr seht
+die neuen Geräte, die in unserem Schreinerhause verfertigt worden
+sind.«
+
+»Es ist aber zu bewundern, wie sehr sie in ihren Abwechslungen und
+Gestalten hieher passen«, sagte ich.
+
+»Als wir einmal den Plan gefaßt hatten, die Zimmer Mathildens nach
+und nach mit neuen Geräten zu bestellen«, erwiderte er, »so wurde die
+ganze Reihe dieser Zimmer im Grund- und Aufrisse aufgenommen, die
+Farben bestimmt, welche die Wände der einzelnen Zimmer haben sollten,
+und diese Farben gleich in die Zeichnungen getragen. Hierauf wurde zur
+Bestimmung der Größe, der Gestalt und der Farbe, mithin der Hölzer der
+einzelnen Geräte geschritten. Die Farbezeichnungen derselben wurden
+verfertigt und mit den Zeichnungen der Zimmer verglichen. Die
+Gestalten der Geräte sind nach der Art entworfen worden, die wir vom
+Altertume lernten, wie ich euch einmal sagte, aber so, daß wir nicht
+das Altertum geradezu nachahmten, sondern selbstständige Gegenstände
+für die jetzige Zeit verfertigten mit Spuren des Lernens an
+vergangenen Zeiten. Wir sind nach und nach zu dieser Ansicht gekommen,
+da wir sahen, daß die neuen Geräte nicht schön sind und daß die alten
+in neue Räume zu wohnlicher Zusammenstimmung nicht paßten. Wir haben
+uns selber gewundert, als die Sachen nach vielerlei Versuchen,
+Zeichnungen und Entwürfen fertig waren, wie schön sie seien. In der
+Kunst, wenn man bei so kleinen Dingen von Kunst reden kann, ist eben
+so wenig ein Sprung möglich als in der Natur. Wer plötzlich etwas so
+Neues erfinden wollte, daß weder den Teilen noch der Gestaltung nach
+ein Ähnliches da gewesen ist, der würde so töricht sein wie der,
+der fordern würde, daß aus den vorhandenen Tieren und Pflanzen sich
+plötzlich neue, nicht dagewesene entwickeln. Nur daß in der Schöpfung
+die Allmählichkeit immer rein und weise ist; in der Kunst aber, die
+der Freiheit des Menschen anheim gegeben ist, oft Zerrissenheit, oft
+Stillstand, oft Rückschritt erscheint. Was die Hölzer anbelangt, so
+sind da fast alle und die schönsten Blätter verwendet worden, die wir
+aus den Knollen der Erlen geschnitten haben, die in unserer Sumpfwiese
+gewachsen sind. Ihr könnt sie dann betrachten. Wir haben uns aber auch
+bemüht, Hölzer aus unserer ganzen Gegend zu sammeln, die uns schön
+schienen, und haben nach und nach mehr zusammengebracht, als wir
+anfänglich glaubten. Da ist der schneeige, glatte Bergahorn, der
+Ringelahorn, die Blätter der Knollen von dunkelm Ahorn - alles aus den
+Alizgründen -, dann die Birke von den Wänden und Klippen der Aliz,
+der Wachholder von der dürren, schiefen Haidefläche, die Esche, die
+Eberesche, die Eibe, die Ulme, selbst Knorren von der Tanne, der
+Haselstrauch, der Kreuzdorn, die Schlehe und viele andere Gesträuche,
+die an Festigkeit und Zartheit wetteifern, dann aus unseren Gärten
+der Wallnußbaum, die Pflaume, der Pfirsich, der Birnbaum, die Rose.
+Eustach hat die Blätter der Hölzer alle gemalt und zur Vorgleichung
+zusammengestellt, er kann euch die Zeichnung einmal im Asperhofe
+zeigen und die vielen Arten noch angeben, die ich hier nicht genannt
+habe. In der Holzsammlung müssen sie ja auch vorhanden sein.«
+
+Ich betrachtete die Sachen genauer. Die Erlenblätter, von denen mir
+mein Gastfreund im vorigen Jahre gesagt hatte, daß sie an einem
+anderen Orte verwendet worden seien, waren in der Tat außerordentlich,
+so feurig und fast erhaben, auch ungemein groß; alles andere Holz,
+wie zart, wie schön in der Zusammenstellung, daß man gar nicht ahnen
+sollte, daß dies in unseren Wäldern ist. Und die Gestalten der Geräte,
+wie leicht, wie fein, wie anschmiegend, sie waren ganz anders als
+die jetzt verfertigt werden, und waren doch neu und für unsere Zeit
+passend. Ich erkannte, welch ein Wert in den Zeichnungen liege, die
+Eustach habe. Ich dachte an meinen Vater, der solche Dinge so liebt.
+Ach, wenn er nur hier wäre, daß er sie sehen könnte! Mir war, als
+gingen mir neue Kenntnisse auf. Ich wagte einen Blick auf Natalie, ich
+wendete ihn aber schnell wieder weg; sie stand so in Gedanken, daß ich
+glaube, daß sie errötete, als ich sie anblickte.
+
+Mathilde sagte zu Eustach: »Es ist im Verlaufe der Zeit, ohne daß eine
+absichtliche Störung vorgekommen wäre, manches hier anders geworden
+und nicht mehr so schön als anfangs. Wir werden es einmal, wenn ihr
+Zeit habt und herüber kommen wollt, ansehen, ihr könnt die Fehler
+erkennen und Mittel zur Abhilfe an die Hand geben.«
+
+Wir gingen nun weiter. Durch eine geöffnete Tür gelangten wir in
+Zimmer, welche in einer anderen Richtung des Hauses lagen. Die
+durchwanderten hatten nach Süd gesehen, diese sahen nach West. Es
+waren ein großer Saal und zwei Seitengemächer. Waren die früheren
+Zimmer lieb und wohnlich gewesen, so waren diese wahrhaft prachtvoll.
+Der Saal war mit Marmor gepflastert, die Zimmer hatten altertümliche
+Wandbekleidung, altertümliche Fenstervorhänge und altertümliche
+Geräte, der Fußboden des Saales enthielt die schönsten, seltensten und
+zahlreichsten Gattungen unsers Marmors, nach einer Zeichnung eingelegt
+und so geglättet, daß er alle Dinge spiegelte. Es war der ernsteste
+und feurigste Teppich. Wir mußten hier auch Filzschuhe anlegen. Auf
+diesem Spiegelboden standen die schönsten und wohlerhaltensten alten
+Schreine und andere Einrichtungsstücke. Es waren hier die größten
+versammelt. In den zwei anstoßenden Gemächern standen auf feurig
+farbigen Holzteppichen die kleineren, zarteren und feineren. Waren
+gleich die altertümlichen Geräte nicht schöner als die bei meinem
+Gastfreunde - ich glaube, schönere wird es kaum geben -, so zeigte
+sich hier eine Zusammenstimmung, als müßten die, welche diese Dinge
+ursprünglich hatten herrichten lassen, in ihren einstigen Trachten
+bei den Türen hereingehen. Es ergriff einen ein Gefühl eines
+Bedeutungsvollen.
+
+»Die Marmore«, sagte mein Gastfreund, »sind aller Orten erworben,
+geschliffen, geglättet und nach einer altertümlichen Zeichnung vieler
+Kirchenfenster eingesetzt worden.«
+
+»Aber daß ihr die Geräte so zusammen gefunden habt, daß sie wie ein
+Einziges stimmen, ist zu verwundern«, sagte ich.
+
+»Also empfindet ihr, daß sie stimmen?« erwiderte er. »Seht, das ist
+mir lieb, daß ihr das sagt. Ihr seid ein Beobachter, der nicht von der
+Sucht nach Altem befangen ist, wie uns unsere Gegner vorwerfen. Ihr
+empfangt also das Gefühl von den Gegenständen und tragt es nicht in
+dieselben hinein, wie auch unsere Gegner von uns sagen. Die Sache aber
+ist nur so: als man die Nichtigkeit und Leere der letztvergangenen
+Zeiten erkannte und wieder auf das Alte zurück wies und es nicht
+mehr als Plunder und Trödel ansah, sondern Schönes darin suchte: da
+geschahen freilich törichte Dinge. Man sammelte wieder Altes und nur
+Altes. Statt der neuen Mode mit neuen Gegenständen kam die neueste
+mit alten Gegenständen. Man raffte Schreine, Betschemel, Tische und
+dergleichen zusammen, weil sie alt waren, nicht weil sie schön waren,
+und stellte sie auf. Da standen nun Dinge beisammen, die in ihren
+Zeiten weit von einander ablagen, es konnte nicht fehlen, daß ein
+Widerwärtiges herauskam und daß die Feinde des Alten, wenn sie Gefühl
+hatten, sich abwenden mußten. Nichts aber kann so wenig passen, als
+alte Dinge von sehr verschiedenen Zeiten. Die Vorältern legten so sehr
+einen eigentümlichen Geist in ihre Dinge - es war der Geist ihres
+Gemütes und ihres allgemeinen Gefühlslebens -, daß sie diesem Geiste
+sogar den Zweck opferten. Man bringt Linnen, Kleider und dergleichen
+in neue Geräte zweckmäßiger unter als in alte. Man kann daher alte
+Geräte von ziemlich gleicher Zeit, aber verschiedenem Zwecke ohne
+große Störung des Geistes der Traulichkeit und Innigkeit, der in ihnen
+wohnt, zusammenstellen, während von unseren Geräten, die keinen Geist,
+aber einen Zweck haben, sogleich ein Widersinniges ausgeht, wenn man
+Dinge verschiedenen Gebrauches in dasselbe Zimmer tut, wie etwa den
+Schreibtisch, den Waschtisch, den Bücherschrein und das Bett. Die
+größte Wirkung erzielt man freilich, wenn man alte Geräte aus
+derselben und guten Zeit, die also denselben Geist haben, und auch
+Geräte des nehmlichen Zweckes, in ein Zimmer bringt. Da spricht nun in
+der Wirklichkeit etwas ganz anderes als bei unseren neuen Dingen.«
+
+»Und das scheint mir hier der Fall zu sein«, sagte ich.
+
+»Es ist nicht Alles alt«, erwiderte er. »Viele Dinge sind so
+unwiederbringlich verloren gegangen, daß es fast unmöglich ist, eine
+ganze Wohnung mit Gegenständen aus der selben Zeit einzurichten, daß
+kein notwendiges Stück fehlt. Wir haben daher lieber solche Stücke im
+alten Sinn neu gemacht, als alte Stücke von einer ganz anderen Zeit
+zugemischt. Damit aber Niemand irre geführt werde, ist an jedem
+solchen altneuen Stücke ein Silberplättchen eingefügt, auf welchem die
+Tatsache in Buchstaben eingegraben ist.«
+
+Er zeigte mir nun jene Gegenstände, welche in dem Schreinerhause als
+Ergänzung hinzugemacht worden sind.
+
+Trotzdem war bei mir der Eindruck immer derselbe, und ich hatte
+beständig und beständig den Gedanken an meinen Vater in dem Haupte.
+Man führte mich auch zu den alten, schweren, mit Gold und Silber
+durchwirkten Fenstervorhängen und zeigte mir dieselben als echt, so
+auch die ledernen, mit Farben und Metallverzierungen versehenen Belege
+der Zimmerwände. Nur hat man da in dem Leder nachhelfen und ihm
+Nahrung geben müssen.
+
+Als ich diese ernsten und feierlichen Gemächer genugsam betrachtet
+hatte, öffnete Mathilde das schwere Schloß der Ausgangstür, und wir
+kamen in mehrere unbedeutende Räume, die nach Norden sahen, worunter
+auch der allgemeine Eintrittssaal und das Speisezimmer waren. Von da
+gelangten wir in den Flügel, dessen Fenster die Morgensonne hatten.
+Hier waren die Wohnzimmer Mathildens und Nataliens. Jede hatte ein
+größeres und ein kleineres Gemach. Sie waren einfach mit neuen Geräten
+eingerichtet und drückten durch Dinge unmittelbaren Gebrauches die
+Bewohntheit aus, ohne daß ich die vielen Spielereien sah, mit denen
+gerne, zwar nicht bei meinen Eltern, aber an anderen Orten unserer
+Stadt, die Zimmer der Frauen angefüllt sind. In jeder der zwei
+Wohnungen sah ich eine der Zithern, die in dem Rosenhause gewesen
+waren. Bei Natalien herrschten besonders Blumen vor. Es standen
+Gestelle herum, auf welche sie von dem Garten herauf gebracht worden
+waren, um hier zu verblühen. Auch standen größere Pflanzen, namentlich
+solche, welche schöne Blätter oder einen schönen Bau hatten, in einem
+Halbkreise und in Gruppen auf dem Fußboden.
+
+In einem Vorsaale, der den Eintritt zu diesen Wohnungen bildete,
+befand sich ein Clavier.
+
+Die Zimmer im zweiten Stockwerke des Hauses waren geblieben, wie sie
+früher gewesen waren. Sie sahen so aus, wie sie gerne in weitläufigen
+alten Schlössern auszusehen pflegen. Sie waren mit Geräten vieler
+Zeiten, die meistens ohne Geschmack waren, mit Spielereien vergangener
+Geschlechter, mit einigen Waffen und mit Bildern, namentlich
+Bildnissen, die nach der Laune des Tages gemacht waren, angefüllt.
+Namentlich waren an den Wänden der Gänge Abbildungen aufgehängt
+von großen Fischen, die man einmal gefangen, nebst beigefügter
+Beschreibung, von Hirschen, die man geschossen, von Federwild, von
+Wildschweinen und dergleichen. Auch Lieblingshunde fehlten nicht. In
+diesem Stockwerke waren nach Süden die Gastzimmer, und der Flügel
+derselben war geordnet worden. Hier befand sich auch mein Zimmer nebst
+dem Gustavs.
+
+Nach der Besichtigung der Zimmer gingen wir in das Freie. Die breite
+Haupttreppe aus rotem Marmor führte in den Hof hinab. Derselbe zeigte,
+wie groß das Gebäude sei. Er war von vier ganz gleichen, langen
+Flügeln umschlossen. In seiner Mitte war ein Becken von grauem Marmor,
+in welches sich aus einer Verschlingung von Wassergöttinnen vier
+Strahlen ergossen. Um das Becken standen vier Ahorne, welche gewiß
+nicht kleiner waren als die, welche den Schloßhügel säumten. Auf
+dem Sandplatze unter den Ahornen waren Ruhebänke, ebenfalls aus
+grauem Marmor. Von diesem Sandplatze liefen Sandwege wie Strahlen
+auseinander. Der übrige Raum war gleichförmiges Rasen, nur daß an den
+Mauern des Hauses eine Pflasterung von glatten Steinen herum führte.
+
+Von dem Hofe gingen wir bei dem großen Tore hinaus. Ich wendete mich,
+da wir draußen waren, unwillkürlich um, um das Gebäude zu betrachten.
+Über dem Tore war ein ziemlich umfangreiches steinernes Schild
+mit sieben Sternen. Sonst sah ich nichts, als was ich bei meinem
+Morgenausblicke aus dem Fenster schon gesehen hatte. Wir gingen auf
+einem Sandwege des grünen Rasens, wir umgingen das Haus und gelangten
+hinter demselben in den Garten. Hier sah ich, was ich mir schon
+früher gedacht hatte, daß das Gebäude, welches man wohl ein Schloß
+nennen mußte, nur aus den vier großen Flügeln bestehe, welche ein
+vollkommenes Viereck bildeten. Die Wirtschaftsgebäude standen ziemlich
+weit entfernt in dem Tale.
+
+Der Garten begann mit Blumen, Obst und Gemüse, zeigte aber, daß er in
+der Entfernung mit etwas endigen müsse, das wie ein Laubwald aussah.
+Alles war rein und schön gehalten. Der Garten war auch hier mit
+gefiederten Bewohnern bevölkert, und man hatte ähnliche Vorrichtungen
+wie im Asperhofe. Die Bäume standen daher auch vortrefflich und
+gesund. Rosen zeigten sich ebenfalls viele, nur nicht in so besonderen
+Gruppierungen wie bei meinem Gastfreunde. Die Gewächshäuser des
+Gartens waren ausgedehnt und weit größer und sorgfältiger gepflegt
+als auf dem Asperhofe. Der Gärtner, ein junger und, wie es schien,
+unterrichteter Mann, empfing uns mit Höflichkeit und Ehrfurcht am
+Eingange derselben. Er zeigte mir mit mehr Genauigkeit seine Schätze,
+als ich mit der Rücksicht auf meine Begleiter, denen nichts neu
+war, für vereinbarlich hielt. Es waren viele Pflanzen aus fremden
+Weltteilen da, sowohl im warmen als im kalten Hause. Besonders erfreut
+war er über seine reiche Sammlung von Ananas, die einen eigenen Platz
+in einem Gewächshause einnahmen.
+
+Nicht weit hinter dem Gewächshause stand eine Gruppe von Linden,
+welche beinahe so schön und so groß waren wie die in dem Garten des
+Asperhofes. Auch war der Sand unter ihrem Schattendache so rein
+gefegt, und um die Ähnlichkeit zu vollenden, liefen auf demselben
+Finken, Ammern, Schwarzkehlchen und andere Vögel so traulich hin, wie
+auf dem Sande des Rosenhauses. Daß Bänke unter den Linden standen, ist
+natürlich. Die Linde ist der Baum der Wohnlichkeit. Wo wäre eine Linde
+in deutschen Landen - und gewiß ist es in andern auch so - unter der
+nicht eine Bank stände oder auf der nicht ein Bild hinge oder neben
+welcher sich nicht eine Kapelle befände. Die Schönheit ihres Baues,
+das Überdach ihres Schattens und das gesellige Summen des Lebens in
+ihren Zweigen ladet dazu ein. Wir gingen in den Schatten der Linden.
+
+»Das ist eigentlich der schönste Platz in dem Sternenhofe«, sagte
+Mathilde, »und jeder, der den Garten besucht, muß hier ein wenig
+ruhen, daher sollt ihr auch so tun.«
+
+Mit diesen Worten wies sie auf die Bänke, die fast in einem Bogen
+unter den Stämmen der Linden standen und hinter denen sich eine Wand
+grünen Gebüsches aufbaute. Wir setzten uns nieder. Das Summen, wie es
+jedes Mal in diesen Bäumen ist, war gleichmäßig über unserm Haupte,
+das stumme Laufen der Vögel über den reinen Sand war vor unsern Augen
+und ihr gelegentlicher Aufflug in die Bäume tönte leicht in unsere
+Ohren.
+
+Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß auch mit Unterbrechungen ein
+leises Rauschen hörbar sei, gleichsam als würde es jetzt von einem
+leichten Lüftchen hergetragen, jetzt nicht. Ich äußerte mich darüber.
+
+»Ihr habt recht gehört«, sagte Mathilde, »wir werden die Sache gleich
+sehen.«
+
+Wir erhoben uns und gingen auf einem schmalen Sandpfade durch die
+Gebüsche, die sich in geringer Entfernung hinter den Linden befanden.
+Als wir etwa vierzig oder fünfzig Schritte gegangen waren, öffnete
+sich das Dickicht und ein freier Platz empfing uns, der rückwärts mit
+dichtem Grün geschlossen war. Das Grün bestand aus Epheu, welcher
+eine Mauer von großen Steinen bekleidete, die an ihren beiden Enden
+riesenhafte Eichen hatte. In der Mitte der Mauer war eine große
+Öffnung, oben mit einem Bogen begrenzt, gleichsam wie eine große
+Nische oder wie eine Tempelwölbung. Im Innern dieser Wölbung,
+die gleichfalls mit Eppich überzogen war, ruhte eine Gestalt von
+schneeweißem Marmor - ich habe nie ein so schimmerndes und fast
+durchsichtiges Weiß des Marmors gesehen, das noch besonders merkwürdig
+wurde durch das umgebende Grün. Die Gestalt war die eines Mädchens,
+aber weit über die gewöhnliche Lebensgröße, was aber in der Epheuwand
+und neben den großen Eichen nicht auffiel. Sie stützte das Haupt mit
+der einen Hand, den anderen Arm hatte sie um ein Gefäß geschlungen,
+aus welchem Wasser in ein vor ihr befindliches Becken rann. Aus dem
+Becken fiel das Wasser in eine in den Sand gemauerte Vertiefung, von
+welcher es als kleines Bächlein in das Gebüsch lief.
+
+Wir standen eine Weile, betrachteten die Gestalt und redeten über sie.
+Eustach und ich kosteten auch mittelst einer alabasternen Schale, die
+in einer Vertiefung des Epheus stand, von dem frischen Wasser, welches
+sich aus dem Gefäße ergoß.
+
+
+Hierauf gingen wir hinter der Eppichwand über eine Steintreppe empor
+und erstiegen einen kleinen Hügel, auf welchem sich wieder Sitze
+befanden, die von verschiedenen Gebüschen beschattet waren. Gegen das
+Haus zu aber gewährten sie die Aussicht. Wir mußten uns hier wieder
+ein wenig setzen. Zwischen den Eichen, gleichsam wie in einem grünen,
+knorrigen Rahmen erschien das Haus. Mit seinem hohen, steilen Dache
+von altertümlichen Ziegeln und mit seinen breiten und hochgeführten
+Rauchfängen glich es einer Burg, zwar nicht einer Burg aus den
+Ritterzeiten, aber doch aus den Jahren, in denen man noch den Harnisch
+trug, aber schon die weichen Locken der Perücke auf ihn herabfallen
+ließ. Die Schwere einer solchen Erscheinung sprach sich auch in dem
+ganzen Bauwerke aus. Zu beiden Seiten des Schlosses sah man die
+Landschaft und hinten das liebliche Blau der Gebirge. Die dunkeln
+Gestalten der Linden, unter denen wir gesessen waren, befanden sich
+weiter links und störten die Aussicht nicht.
+
+»Man hat sehr mit Unrecht in neuerer Zeit die Mauern dieses Schlosses
+mit der weißgrauen Tünche überzogen«, sagte mein Gastfreund,
+»wahrscheinlich um es freundlicher zu machen, welche Absicht man sehr
+gerne zu Ende des vorigen Jahrhunderts an den Tag legte. Wenn man
+die großen Steine, aus denen die Hauptmauern errichtet sind, nicht
+bestrichen hätte, so würde das natürliche Grau derselben mit
+dem Rostbraun des Daches und dem Grün der Bäume einen sehr
+zusammenstimmenden Eindruck gemacht haben. Jetzt aber steht das Schloß
+da wie eine alte Frau, die weiß gekleidet ist. Ich würde den Versuch
+machen, wenn das Schloß mein Eigentum wäre, ob man nicht mit Wasser
+und Bürsten und zuletzt auf trockenem Wege mit einem feinen Meißel
+die Tünche beseitigen könnte. Alle Jahre eine mäßige Summe darauf
+verwendet, würde jährlich die Aussicht, des widrigen Anblickes
+erledigt zu werden, angenehm vermehren.«
+
+»Wir können ja den Versuch nahe an der Erde machen und aus der Arbeit
+einen ungefähren Kostenanschlag verfertigen«, sagte Mathilde; »denn
+ich gestehe gerne zu, daß mich auch der Anblick dieser Farbe nicht
+erfreut, besonders, da die Außenseite der Mauern ganz von Steinen ist,
+die mit feinen Fugen an einander stoßen, und man also bei Erbauung des
+Hauses auf keine andere Farbe als die der Steine gerechnet hat. Jetzt
+ist das Schloß von Innen viel natürlicher und, wenn auch nicht an eine
+Kunstzeit erinnernd, doch in seiner Art zusammenstimmender als von
+Außen.«
+
+»Das Grau der Mauer mit den grauen Steinsimsen der Fenster, die nicht
+ungeschickt gegliedert sind, mit der Höhe und Breite der Fenster,
+deren Verhältnis zu den festen Zwischenräumen ein richtiges ist,
+würde, glaube ich, dem Hause ein schöneres Ansehen geben, als man
+jetzt ahnt«, sagte Eustach.
+
+Mir fielen bei dieser Äußerung die Worte ein, welche mein Gastfreund
+einmal zu mir gesagt hatte, daß alte Geräte in neuen Häusern nicht
+gut stehen. Ich erinnerte mich, daß in dem Saale und in den alt
+eingerichteten Gemächern dieses Schlosses die hohen Fenster, die
+breiten Räume zwischen ihnen und die eigentümlich gestalteten
+Zimmerdecken den Geräten sehr zum Vorteile gereichten, was in Zimmern
+der neuen Art gewiß nicht der Fall gewesen wäre.
+
+
+Als wir so sprachen, kamen Natalie und Gustav, die bei der Nymphe des
+Brunnens zurückgeblieben waren, die Steintreppe zu uns empor. Die
+Angesichter waren sanft gerötet, die dunkeln Augen blickten heiter in
+das Freie, und die beiden jugendlichen Gestalten stellten sich mit
+einer anmutigen Bewegung hinter uns.
+
+Von diesem Hügel der Eichenaussicht gingen wir weiter in den Garten
+zurück und gelangten endlich in das Gemisch von Ahornen, Buchen,
+Eichen, Tannen und anderen Bäumen, welches wie ein Wäldchen den Garten
+schloß. Wir gingen in den Schatten ein, und die Freudenäußerungen
+und das Geschmetter der Vögel war kaum irgendwo größer als hier. Wir
+besuchten Stellen, wo man der Natur nachgeholfen hatte, um diese
+Abteilung noch angenehmer zu machen, und Gustav zeigte mir Bänke,
+Tischchen und andere Plätze, wo er mit Natalien gesessen war, wo
+sie gelernt, wo sie als Kinder gespielt hatten. Wir gingen an den
+wunderbar von Licht und Schatten gesprenkelten Stämmen dahin, wir
+gingen über die dunkeln und die leuchtenden Stellen der Sandwege, wir
+gingen an reichen grünenden Büschen, an Ruhebänken und sogar an einer
+Quelle vorbei und kamen durch Wendungen, die ich nicht bemerkt hatte,
+an einer Stelle wieder in den freien Garten zurück, die an der
+entgegengesetzten Seite von der lag, bei welcher wir das Wäldchen
+betreten hatten.
+
+Wir ließen jetzt die zwei großen Eichen links, ebenso die Linden und
+gingen auf einem anderen Wege in das Schloß zurück.
+
+Das Mittagessen wurde an dem äußerst schönen Grün des Hügels
+unmittelbar vor dem Hause unter einem Dache von Linnen eingenommen.
+
+Am Nachmittage besprachen sich Mathilde und Eustach vorläufig über
+das, was in Hinsicht der Beschädigungen geschehen könnte, welche die
+neuen Geräte in den Südzimmern sowie die Fußböden und zum Teile auch
+die alten Geräte in den Westzimmern in der Zeit erlitten hatten. Gegen
+Abend wurden der Meierhof und die Wirtschaftsgebäude besucht.
+
+So wie Mathilde in dem Rosenhause um den weiblichen Anteil des
+Hauswesens sich bekümmert, alles, was dahin einschlug, besehen und
+Anleitungen zu Verbesserungen gegeben hatte: so tat es mein Gastfreund
+in dem Sternenhofe mit allem, was auf die äußere Verwaltung des
+Besitzes Bezug hatte, worin er mehr Erfahrung zu haben schien als
+Mathilde. Er ging in alle Räume, besah die Tiere und ihre Verpflegung
+und besah die Anstalten zur Bewahrung oder Umgestaltung der
+Wirtschaftserzeugnisse. War mir dieses Verhältnis schon in dem
+Rosenhause ersichtlich gewesen, so war es hier noch mehr der Fall. In
+den Handlungen meines Gastfreundes und in dem kleinen Teile, den ich
+von seinen Gesprächen mit Mathilde über häusliche Dinge hörte, zeigte
+er sich als ein Mann, der mit der Bewirtschaftung eines großen
+Besitzes vertraut ist und die Pflichten, die ihm in dieser Hinsicht
+zufallen, mit Eifer, mit Umsicht und mit einem Blicke über das Ganze
+erfüllt, ohne eben deshalb die Grenzen zu berühren, innerhalb welcher
+die Geschäfte einer Frau liegen. Das geschah so natürlich, als müßte
+es so sein und als wäre es nicht anders möglich.
+
+Von dem Meierhofe gingen wir in die Wiesen und auf die Felder, welche
+zu der Besitzung gehörten. Wir gingen endlich über die Grenzen des
+Besitztumes hinaus, gingen über den Boden anderer Menschen, die wir
+zum Teile arbeitend auf den Feldern trafen und mit denen wir redeten.
+Wir gelangten endlich auf eine Anhöhe, die eine große Umsicht
+gewährte. Wir blieben hier stehen. Das erste, auf das wir blickten,
+war das Schloß mit seinem grünen Hügel und im Schoße seiner
+umgürtenden Ahorne und des begrenzenden Gartenwaldes. Dann gingen wir
+auf andere Punkte über.
+
+Man zeigte und nannte mir die einzelnen Häuser, die zerstreut in der
+Landschaft lagen und durch die Linien von Obstbäumen, die hier überall
+durch das Land gingen, wie durch grüne Ketten zusammenhingen. Dann kam
+man auf die entfernteren Ortschaften, deren Türme hier zu erblicken
+waren. In diesem Stoffe konnte ich schon mehr mitreden, da mir die
+meisten Orte bekannt waren. Als wir aber mit unsern Augen in die
+Gebirge gelangten, war ich fast der Bewandertste. Ich geriet nach und
+nach in das Reden, da man mich um verschiedene Punkte fragte, und sah,
+daß ich Antwort zu geben wußte. Ich nannte die Berge, deren Spitzen
+erkennbar hervortraten, ich nannte auch Teile von ihnen, ich
+bezeichnete die Täler, deren Windungen zu verfolgen waren, zeigte die
+Schneefelder, bemerkte die Einsattlungen, durch welche Berge oder
+ganze Gebirgszüge zusammenhingen oder getrennt waren, und suchte die
+Richtungen zu verdeutlichen, in denen bekannte Gebirgsortschaften
+lagen oder bekannte Menschenstämme wohnten. Natalie stand neben mir,
+hörte sehr aufmerksam zu und fragte sogar um Einiges.
+
+Als die Sonne untergegangen war und die sanfte Glut von den Gipfeln
+der Hochgebirge sich verlor, gingen wir in das Schloß zurück.
+
+Das Abendessen wurde in dem Speisezimmer eingenommen.
+
+So brachten wir mehrere Tage in freundlichem Umgange und in heiteren,
+mitunter belehrenden Gesprächen hin.
+
+Endlich rüsteten wir uns zur Abreise. Am frühesten Morgen war der
+Wagen bespannt. Mathilde und Natalie waren aufgestanden, um uns
+Lebewohl zu sagen. Mein Gastfreund nahm Abschied von Mathilde und
+Natalie, Eustach und Gustav verabschiedeten sich, und ich glaubte auch
+einige Worte des Dankes für die gütige Aufnahme an Mathilde richten zu
+müssen. Sie gab eine freundliche Antwort und lud mich ein, bald wieder
+zu kommen. Selbst zu Natalie sagte ich ein Wort des Abschiedes, das
+sie leise erwiderte.
+
+Wie sie so vor mir stand, begriff ich wieder, wie ich bei ihrem ersten
+Anblicke auf den Gedanken gekommen war, daß der Mensch doch der
+höchste Gegenstand für die Zeichnungskunst sei, so süß gehen ihre
+reinen Augen und so lieb und hold gehen ihre Züge in die Seele des
+Betrachters.
+
+Wir stiegen in den Wagen, fuhren den grünen Rasenhügel hinab, wendeten
+unsern Weg gegen Norden und kamen spät in der Nacht im Rosenhause an.
+
+Mein Bleiben war nun in diesem Hause nicht mehr lange; denn ich hatte
+keine Zeit mehr zu verlieren. Ich packte meine Sachen ein, bezeichnete
+die Kisten und Koffer, welchen Weg sie zu nehmen hätten, besuchte
+alle, von denen ich glaubte, Abschied nehmen zu müssen, dankte
+meinem Gastfreunde für alle Güte und Freundlichkeit, leistete das
+Versprechen, wieder zu kommen, und wanderte eines Tages über den
+Rosenhügel hinunter. Da es zu einer Zeit geschah, in welcher Gustav
+frei war, begleiteten er und Eustach mich eine Stunde Weges.
+
+
+
+Die Erweiterung
+
+Ich ging an den Ort, wo ich meine Arbeiten abgebrochen hatte. Die
+Leute, welche von meiner Absicht, wieder zu kommen, unterrichtet
+waren, hatten mich schon lange erwartet. Der alte Kaspar, welcher mein
+treuester Begleiter auf meinen Gebirgswanderungen war und meistens in
+einem Ledersacke die wenigen Lebensmittel trug, welche wir für einen
+Tag brauchten, hatte schon mehrere Male in dem Ahornwirtshause um mich
+gefragt und war gewöhnlich, wie mir die Wirtin sagte, ehe er eintrat,
+ein wenig auf der Gasse stehen geblieben und hatte auf die vielen
+Fenster, welche von der hölzernen Zimmerung des Hauses auf die Ahorne
+hinausschauten, empor geblickt, um zu sehen, ob nicht aus einem
+derselben mein Haupt hervorrage. Jetzt saß er wieder bei mir an dem
+langen Eichtentische unter den grünen Bäumen, und die andern, denen er
+Botschaft getan hatte, fanden sich ein. Ich war sehr erfreut und es
+rührte mein Herz, als ich sah, daß diese Leute mit Vergnügen mein
+Wiederkommen ansahen und sich schon auf die Fortsetzung der Arbeit
+freuten.
+
+Ich ging sehr rüstig daran, gleichsam als ob mich mein Gewissen
+drängte, das, was ich durch die längere Abwesenheit versäumt hatte,
+einzubringen. Ich arbeitete fleißiger und tätiger als in allen
+früheren Zeiten, wir durchforschten die Bergwände längs ihrer
+Einlagerungen in die Talsohlen und in ihren verschiedenen Höhepunkten,
+die uns zugänglich waren oder die wir uns durch unsere Hämmer und
+Meißel zugänglich machten. Wir gingen die Täler entlang und spähten
+nach Spuren ihrer Zusammensetzungen, und wir begleiteten die Wasser,
+die in den Tiefen gingen, und untersuchten die Gebilde, welche von
+ihnen aus entlegenen Stellen hergetragen und immer weiter und weiter
+geschoben wurden. Der Hauptsammelplatz für uns blieb das Ahornhaus,
+und wenn wir auch oft länger von demselben abwesend waren und in
+anderen Gebirgswirtshäusern oder bei Holzknechten oder auf einer Alpe
+oder gar im Freien übernachteten, so kamen wir in Zwischenräumen
+doch immer wieder in das Ahornhaus zurück, wir wurden dort als
+Eingebürgerte betrachtet, meine Leute fanden ihre Schlafstellen im
+Heu, ich hatte mein beständiges wohleingerichtetes Zimmer und hatte
+ein Gelaß, in welches ich meine gesammelten Gegenstände konnte bringen
+lassen.
+
+Oft, wenn ich von dem Arbeiten ermüdet war oder wenn ich glaubte,
+in dem Einsammeln meiner Gegenstände genug getan zu haben, saß
+ich auf der Spitze eines Felsens und schaute sehnsüchtig in die
+Landschaftsgebilde, welche mich umgaben, oder blickte in einen der
+Seen nieder, wie sie unser Gebirge mehrere hat, oder betrachtete die
+dunkle Tiefe einer Schlucht, oder suchte mir in den Moränen eines
+Gletschers einen Steinblock aus und saß in der Einsamkeit und schaute
+auf die blau oder grüne oder schillernde Farbe des Eises. Wenn
+ich wieder talwärts kam und unter meinen Leuten war, die sich
+zusammenfanden, war es mir, als sei mir alles wieder klarer und
+natürlicher.
+
+Von einem Jägersmanne, welcher aber mehr ein Herumstreicher war, als
+daß er an einem Platze durch lange Zeit als ein mit dem Bezirke und
+mit dem Wildstande vertrauter Jäger gedient hätte, ließ ich mir eine
+Zither über die Gebirge herüber bringen. Er kannte, eben weil er
+nirgends lange blieb und an allen Orten schon gedient hatte, das ganze
+Gebirge genau und wußte, wo die besten und schönsten Zithern gemacht
+würden. Er konnte dies darum auch am besten beurteilen, weil er
+der fertigste und berühmteste Zitherspieler war, den es im Gebirge
+gab. Er brachte mir eine sehr schöne Zither, deren Griffbrett von
+rabenschwarzem Holze war, in welchem sich aus Perlenmutter und
+Elfenbein eingelegte Verzierungen befanden, und auf welchem die Stege
+von reinem glänzenden Silber gemacht waren. Die Bretter, sagte mein
+Bote, könnten von keiner singreicheren Tanne sein; sie ist von dem
+Meister gesucht und in guten Zeichen und Jahren eingebracht worden.
+Die Füßlein der Zither waren elfenbeinerne Kugeln. Und in der Tat,
+wenn der Jägersmann auf ihr spielte, so meinte ich, nie einen süßeren
+Ton auf einem menschlichen Geräte gehört zu haben. Selbst was Mathilde
+und Natalie in dem Rosenhause gespielt hatten, war nicht so gewesen;
+ich hatte weit und breit nichts gehört, was an die Handhabung der
+Zither durch diesen Jägersmann erinnerte. Ich ließ ihn gerne in meiner
+Gegenwart auf meiner Zither spielen, weil ihm keine so klang wie diese
+und weil er sagte, sie müsse eingespielt werden.
+
+Er wurde mein Lehrer im Zitherspiele, und ich nahm mir vor, da ich
+sah, daß er meine Zither allen anderen vorzog, ihm, wenn ich Ursache
+hätte, mit unseren Lehrstunden zufrieden zu sein, eine gleiche zu
+kaufen.
+
+Er hatte nehmlich erzählt, daß der Meister mehrere aus dem gleichen
+Holze wie die meinige und in gleicher Art gefertigt habe. Da sie
+nun ziemlich teuer gewesen war, so schloß ich, daß der Meister die
+gleichen nicht so schnell werde verkaufen können und daß noch eine
+werde übrig sein, wenn ich meinem Lehrer zu dem gewöhnlichen Lohne,
+den ich ihm in Geld zugedacht habe, noch dieses Geschenk würde
+hinzufügen wollen.
+
+
+Ich begann in demselben Sommer auch, mir eine Sammlung von Marmoren
+anzulegen. Die Stücke, die ich gelegentlich fand oder die ich mir
+erwarb, wurden zu kleinen Körpern geschliffen, gleichsam dicken
+Tafeln, die auf ihren Flächen die Art des Marmors zeigten. Wenn ich
+größere Stücke fand, so bestimmte ich sie außer dem, daß ich die
+gleiche Art in Tafeln in die Sammlung tat, zu allerlei Gegenständen,
+zu kleinen Dingen des Gebrauches auf Schreibtischen, Schreinen,
+Waschtischen oder zu Teilen von Geräten oder zu Geräten selbst. Ich
+hoffte, meinem Vater und meiner Mutter eine große Freude zu machen,
+wenn ich nach und nach als Nebengewinn meiner Arbeiten eine Zierde in
+ihr Haus oder gar in den Garten brächte; denn ich sann auch darauf,
+aus einem Blocke, wenn ich einen fände, der groß genug wäre, ein
+Wasserbecken machen zu lassen.
+
+Im Lauterthale fand ich einmal Roland, den Bruder Eustachs. Er hatte
+in einer alten Kirche gezeichnet und war jetzt damit beschäftigt, im
+Gasthause des Lauterthales diese Zeichnungen und einige andere, welche
+er in der Nähe entworfen hatte, mehr in das Reine zu bringen. Es
+befand sich nehmlich nicht weit von Lauterthal ein einsamer Hof
+oder eigentlich mehr ein festes, steinernes, schloßartiges Haus,
+welches einmal einer Familie gehört hatte, die durch Handel mit
+Gebirgserzeugnissen und durch immer ausgedehnteren Verkehr in viele
+Gegenden der Erde wohlhabend und durch Entartung ihrer Nachkommen,
+durch den Leichtsinn derselben und durch Verschwendung wieder arm
+geworden war. Einer dieses Geschlechtes hatte das große steinerne Haus
+gebaut. Es gehörte jetzt einem fremden Herrn aus der Stadt, welcher
+es seiner Lage und seiner Seltenheiten willen gekauft hatte und
+es zuweilen besuchte. In dem Hause waren schöne Bauwerke, schöne
+Steinarbeiten und schöne Arbeiten aus Holz, teils in Zimmerdecken,
+Türen und Fußböden, teils in Geräten. Die Holzarbeit mußte einmal im
+Gebirge viel blühender gewesen sein als jetzt. Von diesen Gegenständen
+durfte nichts aus dem Hause gebracht werden, auch wurde von ihnen
+nichts verkauft. Roland hatte die Erlaubnis erhalten, zu zeichnen, was
+ihm als zeichnungswürdig erscheinen würde. Dieses Zweckes halber hielt
+er sich im Lanterthalwirtshause auf. Ich besuchte mit ihm öfter das
+Haus, und wir gerieten in mannigfache Gespräche, namentlich, wenn
+wir abends, nachdem wir beide unser Tagewerk getan hatten, an dem
+Wirtstische in der großen Stube zusammen kamen. Ich fand in ihm einen
+sehr feurigen Mann von starken Entschlüssen und von heftigem Begehren,
+sei es, daß ein Gegenstand der Kunst sein Herz erfüllte oder daß er
+sonst etwas in den Bereich seines Wesens zu ziehen strebte. Er verließ
+diese Stätte früher als ich.
+
+Ehe mich meine Geschäfte aus der Gegend führten, fand ich noch etwas,
+das mich meines Vaters willen sehr freute. Kaspar hatte öfters meinen
+und Rolands Gesprächen zugehört und mitunter sogar in die Zeichnungen
+geblickt. Einmal sagte er mir, daß, wenn ich an alten Dingen so ein
+Vergnügen hätte, er mir etwas zeigen könne, das sehr alt und sehr
+merkwürdig wäre.
+
+Es gehöre einem Holzknechte, der ein Haus, einen Garten und
+ein kleines Feldwesen habe, das von seinem Weibe und seinen
+heranwachsenden Kindern besorgt werde. Wir gingen einmal auf meine
+Anregung in das Haus hinauf, das jenseits eines Waldarmes mitten in
+einer trockenen Wiese nicht weit von kleinen Feldern und hart an einem
+großen, vereinzelten Steinblocke lag, wie sie sich losgerissen oft im
+Innern von fruchtbaren Gründen befinden. Das alte Werk, welches ich
+hier traf, war die Vertäfelung von zwei Fensterpfeilern, ungefähr
+halbmanneshoch. Es war offenbar der Rest einer viel größeren
+Vertäfelung, welche in der angegebenen Höhe auf dem Fußboden längs der
+ganzen Wände eines Zimmers herum gelaufen war. Hier bestanden nur mehr
+die Verkleidungen von zwei Fensterpfeilern; aber sie waren vollkommen
+ganz. Halberhabne Gestalten von Engeln und Knaben, mit Laubwerk
+umgeben, standen auf einem Sockel und trugen zarte Simse. Der Besitzer
+des Häuschens hatte die zwei Verkleidungen in seiner Prunkstube so
+aufgestellt, daß sie mit der unverzierten Höhlung gegen die Stube
+schauten. In diese Höhlung hatte er geschnitzte und bemalte
+Heiligenbilder aus neuerer Zeit gestellt. Vermutlich war das Werk
+einmal in dem steinernen Hause gewesen und war dort weggekommen, da
+etwa Nachfolger Veränderungen machten und Gegenstände verschleuderten.
+Der Besitzer des Wiesenhauses sagte uns, daß sein Großvater die
+Dinge in einer Versteigerung der Hagermühle gekauft habe, die wegen
+Verschwendung des Müllers war eingeleitet worden. Meine Nachfragen um
+die Ergänzungen zu diesen Verkleidungen waren vergeblich, und durch
+Vermittlung Kaspars erkaufte ich von dem Besitzer die übergebliebenen
+Reste. Ich ließ Kisten machen, legte die gefugten Teile auseinander,
+packte sie selber ein und sendete sie unterdessen in das Ahornhaus zu
+meinen anderen Dingen.
+
+
+Ich blieb wirklich in jenem Herbste sehr lange im Gebirge. Es lag
+nicht nur der Schnee schon auf den Bergen, sondern er deckte auch
+bereits das ganze Land, und man fuhr schon in Schlitten statt in
+Wägen, als ich von dem Ahornhause Abschied nahm. Ich hatte alle meine
+Sachen gepackt und hatte sie voraus gesendet, weil ich im künftigen
+Jahre nicht mehr in diesem freundlichen Hause, sondern irgend wo
+anders meinen Aufenthalt würde aufschlagen müssen. Ich sagte allen
+meinen Leuten Lebewohl und ging auf der glattgefrorenen Bahn neben dem
+rauschenden Flusse, der schon Stücke Ufereis ansetzte, in die ebneren
+Länder hinaus. Mein Weg führte mich in seinem Verlaufe auf Anhöhen
+dahin, von welchen ich im Norden die Gegend des Rosenhauses und im
+Süden die des Sternenhofes erblicken konnte. In dem weißen Gewande,
+welches sich über die Gefilde breitete und welches von den
+dunkeln Bändern der Wälder geschnitten war, konnte ich kaum die
+Hügelgestaltungen erkennen, innerhalb welcher das Haus meines Freundes
+liegen mußte, noch weniger konnte ich die Umgebungen des Sternenhofes
+unterscheiden, da ich nie im Winter in dieser Gegend gewesen war. Das
+aber wußte ich mit Gewißheit, in welcher Richtung das Haus liegen
+müsse, an dem im vergangenen Sommer so viele Rosen geblüht haben und
+in welcher das Schloß, hinter dem die alten Linden standen und die
+Quelle floß, an der die weibliche Gestalt aus weißem Marmor Wache
+hielt. Die wohltuenden Fäden, die mich nach beiden Richtungen zogen,
+wurden von dem stärkeren Bande aufgehoben, das mich zu den lieben,
+teuren Meinigen führte.
+
+Als ich das flache Land erreicht hatte und an dem Orte eingetroffen
+war, in welchem mich meine Kisten erwarten sollten, übergab ich
+dieselben, die ich unverletzt vorfand, meinem Frächter zur Beförderung
+an den Strom und empfahl sie ihm, besonders die mit den Altertümern,
+auf das Angelegentlichste. Am anderen Tage reiste ich in einem Wagen
+nach. Am Strome ließ ich die Kisten sorgfältig in ein Schiff bringen
+und fuhr am nächsten Morgen mit dem nehmlichen Schiffe meiner
+Vaterstadt zu.
+
+Ich langte glücklich dort an, ließ meine Habseligkeiten in unser Haus
+schaffen, packte zuerst die Kiste mit den Altertümern aus und war
+beruhigt, als die Holzschnitzereien unversehrt daraus hervor gingen.
+Die Freude meines Vaters war außerordentlich, die Mutter freute sich
+des Vaters willen, und die Schwester, deren glänzende Augen bald auf
+mich, bald auf den Vater schauten, zeigte, daß sie mit mir zufrieden
+sei. Dieses ließ mir manches vergessen, das beinahe wie eine Sorge in
+meinem Herzen war. Ich befand mich wieder bei meinen Angehörigen, die
+mit allen Kräften ihrer Seele an meinem Wohle Anteil nahmen, und dies
+erfüllte mich mit Ruhe und einer süßen Empfindung, die mir in der
+letzten Zeit beinahe fremd geworden war.
+
+Ich sah am anderen Tage, als ich in das Speisezimmer ging, den Vater,
+wie er vor den Verkleidungen stand und sie betrachtete. Bald neigte er
+sich näher zu ihnen, bald kniete er nieder und befühlte manches mit
+der Hand oder untersuchte es genauer mit den Augen.
+
+Mir klopfte das Herz vor Freude, und die weißen Haare, welche unter
+den dunkeln immer häufiger auf seinem Haupte zum Vorschein kamen,
+erschienen mir doppelt ehrwürdig, und die leichte Falte der Sorge
+auf seiner Stirne, die in der Arbeit für uns auf diesem Sitze seiner
+Gedanken entstanden war, während ich meiner Freude nachgehen und die
+Welt und die Menschen genießen konnte, und während meine Schwester wie
+eine prachtvolle Rose erblühen durfte, erfüllte mich beinahe mit einer
+Andacht. Die Mutter kam dazu, er zeigte ihr manches, er erklärte ihr
+die Stellungen der Gestalten, die Führung und die Schwingung der
+Stengel und der Blätter und die Einteilung des Ganzen. Die Mutter
+verstand diese Dinge durch die langjährige Übung viel besser als ich,
+und ich sah jetzt, daß ich dem Vater etwas weit Schöneres gebracht
+habe, als ich wußte. Ich nahm mir vor, im nächsten Frühlinge viel
+genauer nach den zu diesen Verkleidungen noch gehörenden Teilen zu
+forschen; ich hatte früher nur im allgemeinen gefragt, jetzt wollte
+ich aber auf das Sorgfältigste in der ganzen Gegend suchen. Nachdem
+wir noch eine Weile über das Werk geredet hatten, führte mich die
+Mutter durch alle meine Zimmer und zeigte mir, was man während meiner
+Abwesenheit getan habe, um mir den Winteraufenthalt recht angenehm zu
+machen. Die Schwester kam dazu, und da die Mutter fortgegangen war,
+schlang sie beide Arme um meinen Hals, küßte mich und sagte, daß ich
+so gut sei und daß sie mich nach Vater und Mutter unter allen Dingen,
+die auf der Welt sein können, am meisten und am außerordentlichsten
+liebe. Mir wären bei dieser Rede bald die Tränen in die Augen
+getreten.
+
+Als ich später in meinem Zimmer allein auf und ab ging, wollte mir
+mein Herz immer sagen: »Jetzt ist alles gut, jetzt ist alles gut.«
+
+Ich kaufte mir am andern Tage eine spanische Sprachlehre, welche mir
+ein Freund, der sich seit mehreren Jahren mit diesen Dingen abgegeben
+hatte, anriet. Ich begann neben meinen anderen Arbeiten vorerst für
+mich in diesem Buche zu lernen, mir vorbehaltend, später, wenn ich es
+für nötig halten sollte, auch einen Lehrer im Spanischen zu nehmen.
+Auch fuhr ich nicht nur fort, in den Schauspielen Shakespeares zu
+lesen, sondern ich wendete die Zeit, die mir von meinen Arbeiten übrig
+blieb, auch der Lesung anderer dichterischer Werke zu. Ich suchte die
+Schriften der alten Griechen und Römer wieder hervor, von denen ich
+schon Bruchstücke während meiner Studienjahre als Pflichterfüllung
+hatte lesen müssen. Damals waren mir die Gestaltungen dieser Völker,
+die ich mit ruhigen und kühlen Kräften hatte erfassen können, sehr
+angenehm gewesen, deshalb nahm ich jetzt die Bücher dieser Art wieder
+vor.
+
+Meine Zither gereichte der Schwester zur Freude. Ich spielte ihr die
+Dinge vor, die ich bereits auf diesen Saiten hervorzubringen im Stande
+war, ich zeigte ihr die Anfangsgründe, und als für uns beide in dieser
+Übung auch ein Meister aus der Stadt in das Haus kam, lieh ich ihr die
+Zither und versprach ihr, eine eben so schöne und gute oder eine noch
+schönere und bessere für sie aus dem Gebirge zu schicken, wenn sie zu
+bekommen wäre. Ich erzählte ihr, daß der Mann, der mir in dem Gebirge
+Unterricht im Zitherspiele gebe, bei weitem schöner, wenn auch nicht
+so gekünstelt spiele als der Meister in der Stadt. Ich sagte, ich
+wolle in dem Gebirge sehr fleißig lernen und ihr, wenn ich wieder
+komme, Unterricht in dem erteilen, was ich unterdessen in mein
+Eigentum verwandelt hätte.
+
+Unter diesen Beschäftigungen und unter andern Dingen, welche schon
+frühere Winter eingeleitet hatten, ging die kältere Jahreszeit dahin.
+Als die Frühlingslüfte wehten und die Erde abzutrocknen begann, trat
+ich meine Sommerwanderung wieder an. Ich wählte doch abermals das
+Ahornhaus zu meinem Aufenthalte, wenn ich auch wußte, daß ich oft weit
+von ihm weggehen und lange von ihm würde entfernt bleiben müssen.
+Es war nur schon zur Gewohnheit geworden, und es war mir lieb und
+angenehm in ihm.
+
+Das erste, was ich vernahm, war, daß ich Botschaft nach meinem
+Zitherspieljägersmanne aussandte. Da er überall zu finden ist,
+kam er sehr bald, und wir verabredeten, wie wir unsere Übungen
+im Zitherspiele fortsetzen würden. Gleichzeitig begann ich die
+Forschungen nach jenen Teilen der Wandverkleidungen, welche zu den
+meinem Vater überbrachten Pfeilerverkleidungen als Ergänzung gehörten.
+Ich forschte in dem Hause nach, in welchem Roland im vergangenen
+Sommer gezeichnet hatte, ich forschte bei dem Holzknechte, von welchem
+mir die Pfeilerverkleidungen waren verkauft worden, ich dehnte meine
+Forschungen in alle Teile der umliegenden Gegend aus, gab besonders
+Männern Aufträge, welche oft in die abgelegensten Winkel von Häusern
+und anderen Gebäuden kommen, wie zum Beispiele Zimmerleuten, Maurern,
+daß sie mir sogleich Nachricht gäben, wenn sie etwas aus Holz
+Geschnitztes entdeckten, ich reiste selber an manche Stellen, um
+nachzusehen: allein es fand sich nichts mehr vor. Als beinahe
+nicht zu bezweifeln stellte sich heraus, daß die von mir gekauften
+Verkleidungen einmal zu dem steinernen Hause der ausgestorbenen
+Gebirgskaufherren gehört haben, in welchem sie die Unterwand eines
+ganzen Saales umgeben haben mochten. Bei einer einmal vorgenommenen
+sogenannten Verschönerung späterer, verschwenderisch gewordener
+Nachkommen hat man sie wahrscheinlich weg getan und sie fremden Händen
+überlassen, die sie in abwechselnden Besitz brachten.
+
+Die Pfeilerverkleidungen, welche gleichsam Nischen bildeten, in die
+man Heiligenbilder tun konnte, sind übrig geblieben, die anderen
+geraden Teile sind verkommen oder sogar mutwillig zerschlagen oder
+verbrannt worden.
+
+Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthaltes ging ich auch mit
+meinem Jägersmanne von dem Ahornhause über das Echergebirge in das
+Echertal, wo der Meister wohnte, von dem der Jäger die Zither für mich
+gekauft hatte und von dem ich auch eine für meine Schwester kaufen
+wollte. Dieser Mann verfertigte Zithern für das ganze umliegende
+Gebirge und zur Versendung. Er hatte noch zwei mit der meinigen ganz
+gleiche. Ich wählte eine davon, da in der Arbeit und in dem Tone gar
+keine Verschiedenheit wahrgenommen werden konnte. Der Meister sagte,
+er habe lange keine so guten Zithern gemacht und werde lange keine
+solchen mehr machen. Sie seien alle drei von gleichem Holze, er habe
+es mit vieler Mühe gesucht und mit vielen Schwierigkeiten gefunden. Er
+werde vielleicht auch nie mehr ein solches finden. Auch werde er kaum
+mehr so kostbare Zithern machen, da seine entfernten Abnehmer nur
+oberflächliche Ware verlangten und auch die Gebirgsleute, die wohl die
+Güte verstehen, doch nicht gerne teure Zithern kauften.
+
+Von dem Zitherspiele, welches mein Jäger mit mir übte, schrieb ich mir
+so viel auf, als ich konnte, um es der Schwester zum Einlernen und zum
+Spielen zu bringen.
+
+
+Gegen die Zeit der Rosenblüte ging ich in den Asperhof und fand die
+zwei Zimmer schon für mich hergerichtet, welche ich im vorigen Sommer
+bewohnt hatte.
+
+Am ersten Tage erzählte mir schon der Gärtner Simon, der von seinem
+Gewächshause zu mir herüber gekommen war, daß der Cereus peruvianus in
+dem Asperhofe sei. Der Herr habe ihn von dem Inghofe gekauft, und da
+ich gewiß Ursache dieser Erwerbung sei, so müsse er mir seinen Dank
+dafür abstatten. Ich hatte allerdings mit meinem Gastfreunde über den
+Cereus geredet, wie ich es dem Gärtner versprochen hatte; aber ich
+wußte nicht, wie viel Anteil ich an dem Kaufe hätte, und sagte daher,
+daß ich den Dank nur mit Zurückhaltung annehmen könne. Ich mußte dem
+Gärtner in das Cactushaus folgen, um den Cereus anzusehen. Die Pflanze
+war in freien Grund gestellt, man hatte für sie einen eigenen Aufbau,
+gleichsam ein Türmchen von doppeltem Glas, auf dem Cactushause
+errichtet und hatte durch Stützen oder durch Lenkung der
+Sonnenstrahlen auf gewisse Stellen des Gewächses Anstalten getroffen,
+daß der Cereus, der sich an der Decke des Gewächshauses im Inghofe
+hatte krümmen müssen, wieder gerade wachsen könne. Ich hätte nicht
+gedacht, daß diese Pflanze so groß sei und daß sie sich so schön
+darstellen würde.
+
+Weil mein Vater an altertümlichen Dingen eine so große Freude hatte,
+weil ihn die Verkleidungen so sehr erfreut hatten, welche ich ihm im
+vergangenen Herbste gebracht hatte, so tat ich an meinen Gastfreund,
+da ich eine Weile in seinem Hause gewesen war, eine Bitte. Ich hatte
+die Bitte schon länger auf dem Herzen gehabt, tat sie aber erst jetzt,
+da man gar so gut und freundlich mit mir in dem Rosenhause war. Ich
+ersuchte nehmlich meinen Gastfreund, daß er erlaube, daß ich einige
+seiner alten Geräte zeichnen und malen dürfe, um meinem Vater die
+Abbilder zu bringen, die ihm eine deutlichere Vorstellung geben
+würden, als es meine Beschreibungen zu tun im Stande wären.
+
+Er gab die Einwilligung sehr gerne und sagte: »Wenn ihr eurem Vater
+ein Vergnügen bereiten wollet, so zeichnet und malet, wie ihr wollt,
+ich habe nicht nur nichts dagegen, sondern werde auch Sorge tragen,
+daß in den Zimmern, die ihr benützen wollt, gleich alles zu eurer
+Bequemlichkeit hergerichtet werde. Sollte euch Eustach an die Hand
+gehen können, so wird er es gewiß sehr gerne tun.«
+
+Am folgenden Tage war in dem Zimmer, in welchem sich der große
+Kleiderschrein befand. mit dem ich anfangen wollte, eine Staffelei
+aufgestellt und neben ihr ein Zeichnungstisch, ob ich mich des einen
+oder des andern bedienen wollte. Der Schrein war von seiner Stelle weg
+in ein besseres Licht gerückt, und alle Fenster bis auf eines waren
+mit ihren Vorhängen bedeckt, damit eine einheitliche Beleuchtung auf
+den Gegenstand geleitet wurde, der gezeichnet werden sollte. Eustach
+hatte alle seine Farbstoffe zu meiner Verfügung gestellt, wenn etwa
+die von mir mitgebrachten irgendwo eine Lücke haben sollten. Das
+zeigte sich sogleich klar, daß die Zeichnungen jedenfalls mit Farben
+gemacht werden müßten, weil sonst gar keine Vorstellung von den
+Gegenständen hätte erzeugt werden können, die aus verschiedenfarbigem
+Holze zusammengestellt waren.
+
+Ich ging sogleich an die Arbeit. Mein Gastfreund hatte auch für meine
+Ruhe gesorgt. So oft ich zeichnete, durfte niemand in das Zimmer
+kommen, in dem ich war, und so lange sich überhaupt meine
+Gerätschaften in demselben befanden, durfte es zu keinem andern
+Gebrauche verwendet werden. Um desto mehr glaubte ich meine Arbeit
+beschleunigen zu müssen.
+
+
+Es waren indessen Mathilde und Natalie in dem Asperhofe angekommen,
+und sie lebten dort, wie sie im vorigen Jahre gelebt hatten.
+
+Ich zeichnete fleißig fort. Niemand stellte das Verlangen, meine
+Arbeit zu sehen. Eustach hatte ich gebeten, daß ich ihn zuweilen um
+Rat fragen dürfe, was er bereitwillig zugestanden hatte. Ich führte
+ihn daher zu Zeiten in das Zimmer, und er gab mir mit vieler
+Sachkenntnis an, was hie und da zu verbessern wäre. Nur Gustav ließ
+Neugierde nach der Zeichnung blicken; nicht daß ihm geradezu eine
+Äußerung in dieser Hinsicht entfallen wäre; aber da er sich so an mich
+angeschlossen hatte und da sein Wesen sehr offen und klar war, so
+erschien es nicht schwer, den Wunsch, den er hegte, zu erkennen. Ich
+lud ihn daher ein, mich in dem Zimmer zu besuchen, wenn ich zeichnete,
+und ich richtete es so ein, daß meine Zeichnungszeit in seine freien
+Stunden fiel. Er kam fleißig, sah mir zu, fragte um allerlei und
+geriet endlich darauf, auch ein solches Gemälde versuchen zu wollen.
+Da mein Gastfreund nichts dawider hatte, so überließ ich ihm meine
+Farben zur Benützung, und er begann auf einem Tische neben mir sein
+Geschäft, indem er den nehmlichen Schrein abbildete wie ich. Im
+Zeichnen war er sehr unterrichtet, Eustach war sein Lehrmeister;
+dieser hatte aber bisher noch immer nicht zugegeben, daß sein Zögling
+den Gebrauch der Farben anfange, weil er von dem Grundsatze ausging,
+daß zuvor eine sehr sichere und behende Zeichnung vorhanden sein
+müsse. Die Spielerei aber mit dem Schreine - denn es war nichts weiter
+als eine Spielerei - ließ er als eine Ausnahme geschehen.
+
+Ich wurde in Kurzem mit der ersten Arbeit fertig. Das Bild sah in den
+genau und gewissenhaft nachgeahmten Farben fast noch lieblicher und
+reizender aus als der Gegenstand selber, da alles ins Kleinere und
+Feinere zusammengerückt war.
+
+Da ich die Zeichnung vollendet hatte, legte ich sie meinem Gastfreunde
+und Mathilde vor. Sie billigten dieselbe und schlugen einige kleine
+Änderungen vor. Da ich die Notwendigkeit derselben einsah, nahm ich
+sie sogleich vor. Hierauf wurde von ihnen so wie von Eustach die
+Abbildung für fertig erklärt.
+
+Nach dem Kleiderschreine nahm ich den Schreibtisch mit den Delphinen
+vor.
+
+Weil ich durch die erste Zeichnung schon einige Fertigkeit erlangt
+hatte, so ging es bei der zweiten schneller, und alles geriet mit mehr
+Leichtigkeit und Schwung. Ich war fertig geworden und legte auch diese
+Abbildung Mathilden, meinem Gastfreunde und Eustach vor. Gustav hatte
+in der Zeit auch seine Zeichnung des großen Schreines vollendet und
+brachte sie herbei. Er wurde ein wenig ausgelacht, und andererseits
+wurden ihm auch Dinge angegeben, die er noch zu verändern und hinein
+zu machen hätte. Auch bei mir wurden Verbesserungen vorgeschlagen. Als
+wir beide mit unsern Ausfeilungen fertig waren, wurden in dem Zimmer,
+in welchem wir gezeichnet hatten, die Geräte wieder an den Platz
+gerückt, und die Staffelei und unsere Malergerätschaften wurden daraus
+entfernt. Ich hatte mir in diesem Zimmer nur die zwei Gegenstände
+abzubilden vorgenommen.
+
+Hierauf versuchte ich noch einige kleinere Gegenstände.
+
+Unterdessen waren manche Leute zum Besuche in das Rosenhaus gekommen,
+wir selber hatten auch einige Nachbarn aufgesucht, hatten Spaziergänge
+gemacht, und an mehreren Abenden saßen wir im Garten oder vor den
+Rosen oder unter dem großen Kirschbaume und es wurde von verschiedenen
+Dingen gesprochen.
+
+
+Eustach sagte mir einmal, da ich von den Geräten in dem Sternenhofe
+redete und die Äußerung machte, daß meinen Vater Abbildungen von ihnen
+sehr freuen würden, es könne keinen Schwierigkeiten unterliegen, daß
+ich in dem Sternenhofe ebenso zeichnen dürfe wie in dem Asperhause.
+Ich ging auf die Sache nicht ein, da ich nicht den Mut hatte, mit
+Mathilde darüber zu sprechen. Am andern Tage zeigte mir Eustach die
+Einwilligung an, und Mathilde lud mich auf das Freundlichste ein und
+sagte, daß mir in ihrem Hause jede Bequemlichkeit zu Gebote stehen
+würde. Ich dankte sehr freundlich für die Güte, und nach mehreren
+Tagen fuhr ich mit den Pferden meines Gastfreundes in den Sternenhof,
+während Mathilde und Natalie noch in dem Rosenhause blieben.
+
+Im Sternenhofe fand ich zu meiner Überraschung schon alles zu meinem
+Empfange vorbereitet. Da Bilder in dem Schlosse waren, hatte man auch
+mehrere Staffeleien, welche man mir zur Auswahl in das große Zimmer
+gestellt hatte, in welchem die altertümlichen Geräte standen. Auch ein
+Zeichnungstisch mit allem Erforderlichen war in das Zimmer geschafft
+worden. Ich wählte unter den Staffeleien eine und ließ die übrigen
+wieder an ihre gewöhnlichen Orte bringen. Den Zeichnungstisch behielt
+ich zur Bequemlichkeit neben der Staffelei bei mir. Es war nun zum
+Malen beinahe alles so eingerichtet wie im Asperhofe. Auch durfte ich
+mir die Geräte, die ich zu zeichnen vorhatte, in das Licht rücken
+lassen wie ich wollte. Zum Wohnen und Schlafen hatte man mir das
+nehmliche Zimmer hergerichtet, in welchem ich bei meinem ersten
+Besuche gewesen war. Zum Speisen wurde mir der Saal, in dem ich
+arbeitete, oder mein Wohnzimmer frei gestellt. Ich wählte das Letzte.
+
+Ich betrachtete mir vorerst die Geräte und wählte diejenigen aus, die
+ich abbilden wollte. Hierauf ging ich an die Arbeit. Ich malte sehr
+fleißig, um die Unordnung, welche meine Arbeiten notwendig in dem
+Hause machen mußten, so kurz als möglich dauern zu lassen. Ich blieb
+daher den ganzen Tag in dem Saale, nur des Abends, wenn es dämmerte,
+oder Morgens, ehe die Sonne aufging, begab ich mich in das Freie oder
+in den Garten, um einen Gang in der erquickenden Luft zu machen oder
+gelegentlich auch, stille stehend oder auf einer Ruhebank sitzend, die
+weite Gegend um mich herum zu betrachten. Oft, wenn ich die Pinsel
+gereinigt und all das unter Tags gebrauchte Malergeräte geordnet und
+an seinen Platz gelegt hatte, saß ich unter den alten hohen Linden
+im Garten und dachte nach, bis das späte Abendrot durch die Blätter
+derselben herein fiel und die Schatten auf dem Sandboden so tief
+geworden waren, daß man die kleinen Gegenstände, die auf diesem Boden
+lagen, nicht mehr sehen konnte. Noch öfter aber war ich auf dem Platze
+hinter der Epheuwand, von welchem aus das Schloß in die großen Eichen
+eingerahmt zu erblicken war und neben und hinter dem Schlosse sich die
+Gegend und die Berge zeigten. Es war die Stille des Landes, wenn der
+heitere Späthimmel sich über das Schloß hinzog, wenn die Spitzen von
+dessen Dachfähnchen glänzten, sich in Ruhe das Grün herum lagerte und
+das Blau der Berge immer sanfter wurde.
+
+Zuweilen, in besonders heißen Tagen, ging ich auch in die Grotte, in
+welcher die Marmornymphe war, freute mich der Kühle, die da herrschte,
+sah das gleiche Rinnen des Wassers und sah den gleichen Marmor, auf
+dem nur zuweilen ein Lichtchen zuckte, wenn sich ein später Strahl in
+dem Wasser fing und auf die Gestalt geworfen wurde.
+
+In dem Schlosse war es sehr einsam, die Diener waren in ihren
+abgelegenen Zimmern, ganze Reihen von Fenstern waren durch
+herabgelassene Vorhänge bedeckt, und zu dem Hofbrunnen ging selten
+eine Gestalt, um Wasser zu holen, daher er zwischen den großen Ahornen
+eintönig fortrauschte. Diese Stille machte, daß ich desto mehr der
+Bewohnerinnen dachte, die jetzt abwesend waren, daß ich meinte, ihre
+Spuren entdecken zu können, und daß ich dachte, ihren Gestalten
+irgendwo begegnen zu müssen. Besser war es, wenn ich in die Landschaft
+hinausging. Dort lebten die Klänge der Arbeit, dort sah ich heitere
+Menschen, die sich beschäftigten, und regsame Tiere, die ihnen halfen.
+
+Es war eine Art von Verwalter in dem Schlosse, der den Auftrag haben
+mußte, für mich zu sorgen, wenigstens tat er alles, was er zu meiner
+Bequemlichkeit für nötig erachtete. Er fragte oft nach meinen
+Wünschen, ließ mehr Speisen und Getränke auf meinen Tisch stellen als
+nötig war, sorgte stets für frisches Wasser, Kerzen und andere Dinge,
+ließ eine Menge Bücher, die er aus der Büchersammlung des Schlosses
+genommen haben mochte, in mein Zimmer bringen und meinte zuweilen, daß
+es die Höflichkeit erfordere, daß er mehrere Minuten mit mir spreche.
+Ich machte so wenig als möglich Gebrauch von allen für mich in diesem
+Schlosse eingeleiteten Anstalten und ging nicht einmal in die Meierei,
+in welcher es sehr lebhaft war, um durch meine Gegenwart oder durch
+mein Zuschauen nicht jemanden in seiner Arbeit zu beirren.
+
+Als ich mit den ausgewählten Gegenständen fertig war, hörte ich nicht
+auf; denn aus ihnen entwickelten sich wieder andere Arbeiten, was
+seinen Grund darin hatte, daß ein Gegenstand den andern verlangte,
+was wieder daher rührte, daß die Geräte dieses Zimmers und der
+Nebengemächer ein Ganzes bildeten, welches man nicht zerstückt denken
+konnte. Was mir aber zu statten kam, war die große Übung, die ich nach
+und nach erlangte, so daß ich endlich in einem Tage mehr vor mich
+brachte als sonst in dreien.
+
+Eustach kam einmal herüber, mich zu besuchen. Ich sah darin ein
+Zeichen, daß man mir Gelegenheit geben wollte, mich seines Rates zu
+bedienen. Ich tat dieses auch, freute mich der Worte, die er sprach,
+und folgte den Ansichten, die er entwickelte. Er erzählte mir auch,
+daß Mathilde und Natalie noch lange in dem Asperhofe zu bleiben
+gedächten. Da, wie ich wußte, ihr Besuch in dem vorigen Sommer im
+Rosenhause viel kürzer gewesen war, so verfiel ich auf den Gedanken,
+ob sie nicht etwa gerade darum heuer länger in demselben verweilten,
+um mir Muße zu meinen Arbeiten in dem Sternenhofe zu geben. Ob es nun
+so sei oder nicht, wußte ich nicht, es konnte aber so sein, und darum
+beschloß ich, mein Malen abzukürzen. Endlich mußte ich doch einmal
+schließen, da ich doch nicht alle Gegenstände abbilden konnte. Ich
+sagte Eustach die Zeit, in der ich fertig sein würde. Er blieb zwei
+Tage in dem Schlosse, vermaß Manches, untersuchte Einiges in manchen
+Zimmern und kehrte dann wieder in das Rosenhaus zurück.
+
+Ehe ich ganz fertig war, kamen alle vom Asperhofe herüber und blieben
+einige Tage. Auch Eustach kam wieder mit. Ich legte vor, was ich
+gemacht hatte, und es geschah das Nehmliche, was in dem Rosenhause
+geschehen war. Man billigte im Allgemeinen die Arbeit und stellte
+hie und da etwas aus, was zu verbessern wäre. Ich hatte schon zu der
+Abbildung der Geräte im Asperhofe Ölfarben angewendet, weil ich in
+Behandlung derselben nach und nach eine größere Fertigkeit erlangt
+hatte als in der der Wasserfarben und weil die Wirkung eine viel
+größere war. Die Geräte des Sternenhofes hatte ich nun auch mit
+Ölfarben abgebildet, und diese Abbildungen waren viel gelungener als
+die im Rosenhause. Ich erkannte die Vorschläge, welche mir gemacht
+worden waren, an und bemerkte mir sie zur Ausführung.
+
+Eustach ging von dem Sternenhofe wieder in das Rosenhaus zurück; mein
+Gastfreund, Mathilde, Natalie und Gustav machten eine kleine Reise.
+
+Auch mein Bleiben war nicht mehr lange in dem Schlosse. Ich machte
+noch fertig, was fertig zu machen war, ich verbesserte, was zu
+verbessern vorgeschlagen worden war und was mir selber noch in der
+Zeit als verbeßrungswürdig einfiel und wartete dann ab, bis alles gut
+getrocknet wäre, um es einpacken und für den Vater in Bereitschaft
+halten zu können. Da dies geschehen war, dankte ich dem Verwalter sehr
+verbindlich für alle seine Aufmerksamkeit, gab den Mädchen, die für
+mich zu tun gehabt hatten, Geschenke, welche ich mir zu diesem Zwecke
+schon früher angeschafft hatte, und bestieg den Wagen, den mir der
+Verwalter zu meiner Zurückfahrt in das Rosenhaus zur Verfügung
+gestellt hatte.
+
+Als ich in dem Rosenhause ankam, traf ich meinen Gastfreund und seine
+Gesellschaft von der Reise schon zurückgekehrt an. Ich blieb noch
+mehrere Tage bei ihnen, nahm dann Abschied und begab mich in das
+Ahornhaus zu meinen Arbeiten zurück.
+
+
+Ich suchte diese Arbeiten rasch zu betreiben; aber alles war jetzt
+anders und nahm eine andere Färbung in meinem Herzen an.
+
+Als ich in dem Frühling die Hauptstadt verlassen hatte und dem langsam
+über einen Berg empor fahrenden Wagen folgte, war ich einmal bei einem
+Haufen von Geschiebe stehen geblieben, das man aus einem Flußbette
+genommen und an der Straße aufgeschüttet hatte, und hatte das Ding
+gleichsam mit Ehrfurcht betrachtet. Ich erkannte in den roten, weißen,
+grauen, schwarzgelben und gesprenkelten Steinen, welche lauter
+plattgerundete Gestalten hatten, die Boten von unserem Gebirge, ich
+erkannte jeden aus seiner Felsenstadt, von der er sich losgetrennt
+hatte und von der er ausgesendet worden war. Hier lag er unter
+Kameraden, deren Geburtsstätte oft viele Meilen von der seinigen
+entfernt ist, alle waren sie an Gestalt gleich geworden, und alle
+harrten, daß sie zerschlagen und zu der Straße verwendet würden.
+
+Besonders kamen mir die Gedanken, wozu dann alles da sei, wie es
+entstanden sei, wie es zusammenhänge, und wie es zu unserem Herzen
+spreche.
+
+Einmal gelangte ich zu dem See hinunter und betrachtete an dem
+sonnigen Nachmittage die Tatsache, daß die Schönheit der absteigenden
+Berge meistens gegen einen Seespiegel am größten ist. Kömmt das aus
+Zufall, haben die abstürzenden, dem See zueilenden Wässer die Berge
+so schön gefurcht, gehöhlt, geschnitten, geklüftet, oder entspringt
+unsere Empfindung von dem Gegensatze des Wassers und der Berge, wie
+nehmlich das erste eine weiche, glatte, feine Fläche bildet, die durch
+die rauhen absteigenden Riffe, Rinnen und Streifen geschnitten wird,
+während unterhalb nichts zu sehen ist und so das Rätsel vermehrt wird?
+Ich dachte bei dieser Gelegenheit: wenn das Wasser durchsichtiger
+wäre, zwar nicht so durchsichtig wie die Luft, doch beinahe so, dann
+müßte man das ganze innere Becken sehen, nicht so klar wie in der
+Luft, sondern in einem grünlichen, feuchten Schleier. Das müßte sehr
+schön sein. Ich blieb in Folge dieses Gedankens länger an dem See,
+mietete mich in einem Gasthofe ein und machte mehrere Messungen der
+Tiefe des Wassers an verschiedenen Stellen, deren Entfernung vom Ufer
+ich mittelst einer Meßschnur bezeichnete. Ich dachte, auf diese Weise
+könnte man annähernd die Gestalt des Seebeckens ergründen, könnte
+es zeichnen und könnte das innere Becken von dem äußeren durch eine
+sanftere, grünlichere Farbe unterscheiden. Ich beschloß, bei einer
+ferneren Gelegenheit die Messungen fortzusetzen.
+
+Diese Bestrebungen brachten mich auf die Betrachtung der Seltsamkeiten
+unserer Erdgestaltungen. In dem Seegrunde sah ich ein Tal, in
+dessen Sohle, die sich bei andern Tälern mit dem vieltausendfachen
+Pflanzenreichtume und den niedergestürzten Gebirgsteilen füllt und
+so einen schönen Wechsel von Pflanzen und Gestein darstellt, kein
+Pflanzengrund sich entwickelt, sondern das Gerölle sich sachte mehrt,
+der Boden sich hebt und die ursprünglichen Klüftungen ausfüllt.
+Dazu kommen die Stücke, die unmittelbar von den Wänden in den See
+stürzen, dazu kommen die Hügel, die außer der gewöhnlichen Ordnung
+von bedeutenden Hochwassern in den See geschoben und von dem
+nachträglichen Wellenschlage wieder abgeflacht werden. In
+Jahrtausenden und Jahrtausenden füllt sich das Becken immer mehr, bis
+einmal, mögen hundert oder noch mehr Jahrtausende vergangen sein,
+kein See mehr ist, auf der ungeheuren Dicke der Geröllschichten der
+menschliche Fuß wandelt, Pflanzen grünen und selbst Bäume stehen. So
+kannte ich manche Stellen, die einst Seegrund gewesen waren.
+
+Der Fluß, der Vater des Sees, hatte sich in seinem Weiterlaufe tiefer
+gewühlt, er hatte den Seespiegel niederer gelegt, der Seegrund hatte
+sich gehoben, bis nichts mehr war als ein Tal, an dem jetzt die Ufer
+als grüne Wälle in langen Strecken stehen, mit kräftigen Kräutern,
+blühenden Büschen und mancher lachenden Wohnung von Menschen prangen,
+während das, was einmal ein mächtiges Wasser gebildet hatte, jetzt
+als ein schmales Bändlein in glänzenden Schlangenlinien durch die
+Landschaft geht.
+
+Ich betrachtete vom See aus die Schichtungen der Felsen. Was bei
+Kristallen der Blätterdurchgang ist, das zeigt sich hier in großen
+Zügen. An manchen Stellen ist die Neigung diese, an manchen ist sie
+eine andere. Sind diese ungeheuren Blätter einst gestürzt worden,
+sind sie erhoben worden, werden sie noch immer erhoben? Ich zeichnete
+manche Lagerungen in ihren schönen Verhältnissen und in ihren
+Neigungen gegen die wagrechte Fläche. Wenn ich so die Blätter
+durchging und die Gestaltungen ansah, war es mir wie eine unbekannte
+Geschichte, die ich nicht enträtseln konnte und zu der es doch
+Anhaltspunkte geben mußte, um die Ahnungen in Nahrung zu setzen.
+
+Wenn ich die Stücke unbelebter Körper, die ich für meine Schreine
+sammelte, ansah, so fiel mir auf, daß hier diese Körper liegen, dort
+andere, daß ungeheure Mengen desselben Stoffes zu großen Gebirgen
+aufgetürmt sind und daß wieder in kleinen Abständen kleine Lagerungen
+mit einander wechseln. Woher sind sie gekommen, wie haben sie sich
+gehäuft? Liegen sie nach einem Gesetze, und wie ist dieses geworden?
+Oft sind Teile eines größeren Körpers in Menge oder einzeln an
+Stellen, wo der Körper selber nicht ist, wo sie nicht sein sollen,
+wo sie Fremdlinge sind. Wie sind sie an den Platz gekommen? Wie ist
+überhaupt an einer Stelle gerade dieser Stoff entstanden und nicht ein
+anderer? Woher ist die Berggestalt im Großen gekommen? Ist sie noch in
+ihrer Reinheit da oder hat sie Veränderungen erlitten, und erleidet
+sie dieselben noch immer? Wie ist die Gestalt der Erde selber
+geworden, wie hat sich ihr Antlitz gefurcht, sind die Lücken groß,
+sind sie klein?
+
+Wenn ich auf meinen Marmor kam - wie bewunderungswürdig ist der
+Marmor! Wo sind denn die Tiere hin, deren Spuren wir ahnungsvoll in
+diesen Gebilden sehen? Seit welcher Zeit sind die Riesenschnecken
+verschwunden, deren Andenken uns hier überliefert wird? Ein Andenken,
+das in ferne Zeiten zurück geht, die niemand gemessen hat, die
+vielleicht niemand gesehen hat und die länger gedauert haben als der
+Ruhm irgend eines Sterblichen.
+
+
+Eine Tatsache fiel mir auf. Ich fand tote Wälder, gleichsam
+Gebeinhäuser von Wäldern, nur daß die Gebeine hier nicht in eine Halle
+gesammelt waren, sondern noch aufrecht auf ihrem Boden standen. Weiße,
+abgeschälte, tote Bäume in großer Zahl, so daß vermutet werden mußte,
+daß an dieser Stelle ein Wald gestanden sei. Die Bäume waren Fichten
+oder Lärchen oder Tannen. Jetzt konnte an der Stelle ein Baum gar
+nicht mehr wachsen, es sind nur Kriechhölzer um die abgestorbenen
+Stämme, und auch diese selten. Meistens bedeckt Gerölle den Boden oder
+größere, mit gelbem Moose überdeckte Steine. Ist diese Tatsache eine
+vereinzelte, nur durch vereinzelte Ortsursachen hervorgebracht? Hängt
+sie mit der großen Weltbildung zusammen? Sind die Berge gestiegen, und
+haben sie ihren Wälderschmuck in höhere, todbringende Lüfte gehoben?
+Oder hat sich der Boden geändert, oder waren die Gletscherverhältnisse
+andere? Das Eis aber reichte einst tiefer: wie ist das alles geworden?
+
+Wird sich vieles, wird sich alles noch einmal ganz ändern? In welch
+schneller Folge geht es? Wenn durch das Wirken des Himmels und seiner
+Gewässer das Gebirge beständig zerbröckelt wird, wenn die Trümmer
+herabfallen, wenn sie weiter zerklüftet werden und der Strom sie
+endlich als Sand und Geschiebe in die Niederungen hinausführt, wie
+weit wird das kommen? Hat es schon lange gedauert? Unermeßliche
+Schichten von Geschieben in ebenen Ländern bejahen es. Wird es noch
+lange dauern? So lange Luft, Licht, Wärme und Wasser dieselben
+bleiben, so lange es Höhen gibt, so lange wird es dauern. Werden
+die Gebirge also einstens verschwunden sein? Werden nur flache,
+unbedeutende Höhen und Hügel die Ebenen unterbrechen, und werden
+spelbst diese auseinander gewaschen werden? Wird dann die Wärme in den
+feuchten Niederungen oder in tiefen, heißen Schluchten verschwinden,
+so wie die kalte Luft in Höhen auf die Erde ohne Einfluß sein wird,
+so daß alle Glieder in unsern Ländern von demselben lauen Stoffe
+umflossen sind und sich die Verhältnisse aller Gewächse ändern? Oder
+dauert die Tätigkeit, durch welche die Berge gehoben wurden, noch
+heute fort, daß sie durch innere Kraft an Höhe ersetzen oder
+übertreffen, was sie von Außen her verlieren? Hört die Hebungskraft
+einmal auf? Ist nach Jahrmillionen die Erde weiter abgekühlt, ist ihre
+Rinde dicker, so daß der heiße Fluß in ihrem Innern seine Kristalle
+nicht mehr durch sie empor zu treiben vermag? Oder legt er langsam und
+unmerklich stets die Ränder dieser Rinde auseinander, wenn er durch
+sie seine Geschiebe hinan hebt? Wenn die Erde Wärme ausstrahlt
+und immer mehr erkaltet, wird sie nicht kleiner? Sind dann die
+Umdrehungsgeschwindigkeiten ihrer Kreise nicht geringer? Ändert das
+nicht die Passate? Werden Winde, Wolken, Regen nicht anders? Wie viele
+Millionen Jahre müssen verfließen, bis ein menschliches Werkzeug die
+Änderung messen kann?
+
+Solche Fragen stimmten mich ernst und feierlich, und es war, als wäre
+in mein Wesen ein inhaltreicheres Leben gekommen. Wenn ich gleich
+weniger sammelte und zusammentrug als früher, so war es doch,
+als würde ich in meinem Innern bei weitem mehr gefördert als in
+vergangenen Zeiten.
+
+Wenn eine Geschichte des Nachdenkens und Forschens wert ist, so ist
+es die Geschichte der Erde, die ahnungsreichste, die reizendste,
+die es gibt, eine Geschichte, in welcher die der Menschen nur ein
+Einschiebsel ist und wer weiß es, welch ein kleines, da sie von
+anderen Geschichten vielleicht höherer Wesen abgelöset werden kann.
+Die Quellen zu der Geschichte der Erde bewahrt sie selber wie in einem
+Schriftengewölbe in ihrem Inneren auf, Quellen, die vielleicht in
+Millionen Urkunden niedergelegt sind und bei denen es nur darauf
+ankömmt, daß wir sie lesen lernen und sie durch Eifer und Rechthaberei
+nicht verfälschen. Wer wird diese Geschichte einmal klar vor Augen
+haben? Wird eine solche Zeit kommen oder wird sie nur der immer ganz
+wissen, der sie von Ewigkeit her gewußt hat?
+
+
+Von solchen Fragen flüchtete ich zu den Dichtern. Wenn ich von langen
+Wanderungen in das Ahornhaus zurück kam oder wenn ich ferne von dem
+Ahornhause in irgend einem Stübchen eines Alpengebäudes wohnte, so
+las ich in den Werken eines Mannes, der nicht Fragen löste, sondern
+Gedanken und Gefühle gab, die wie eine Lösung in holder Umhüllung
+waren und wie ein Glück aussahen. Ich hatte mannigfaltige solcher
+Männer. Unter den Büchern waren auch solche, in denen Schwulst
+enthalten war. Sie gaben die Natur in und außer dem Menschen nicht so
+wie sie ist, sondern sie suchten sie schöner zu machen und suchten
+besondere Wirkungen hervorzubringen. Ich wendete mich von ihnen ab.
+Wem das nicht heilig ist was ist, wie wird der Besseres erschaffen
+können als was Gott erschaffen hat? In der Naturwissenschaft war ich
+gewohnt geworden, auf die Merkmale der Dinge zu achten, diese Merkmale
+zu lieben und die Wesenheit der Dinge zu verehren. Bei den Dichtern
+des Schwulstes fand ich gar keine Merkmale, und es erschien mir
+endlich lächerlich, wenn einer schaffen wollte, der nichts gelernt
+hat.
+
+Die Männer gefielen mir, welche die Dinge und die Begebenheiten mit
+klaren Augen angeschaut hatten und sie in einem sicheren Maße in dem
+Rahmen ihrer eigenen inneren Größe vorführten. Andere gaben Gefühle in
+schöner Sittenkraft, die tief auf mich wirkten. Es ist unglaublich,
+welche Gewalt Worte üben können; ich liebte die Worte und liebte
+die Männer und sehnte mich oft nach einer unbestimmten, unbekannten
+glücklichen Zukunft hinaus.
+
+Die Alten, die ich einst zu verstehen geglaubt hatte, kamen mir doch
+jetzt anders vor als früher. Es schien mir, als wären sie natürlicher,
+wahrer, einfacher und größer als die Männer der neuen Zeit und als
+lasse sie der Ernst ihres Wesens und die Achtung vor sich selbst nicht
+zu den Überschreitungen gelangen, welche spätere Zeiten für schön
+hielten. Ich trug Homeros, Äschylos, Sophokles, Thukydides fast
+auf allen Wanderungen mit mir. Um sie zu verstehen, nahm ich alle
+griechischen Sprachwerke, die mir empfohlen waren, vor und lernte
+in ihnen. Am förderlichsten im Verstehen war aber das Lesen selber.
+Bei den Alten nahm ich Geschichtschreiber gerne unter Dichter, sie
+schienen mir dort einander näher zu stehen als bei den Neuen.
+
+Da geriet auch ich auf das Malen. Die Gebirge standen im Reize und im
+Ganzen vor mir, wie ich sie früher nie gesehen hatte. Sie waren meinen
+Forschungen stets Teile gewesen. Sie waren jetzt Bilder, so wie früher
+bloß Gegenstände. In die Bilder konnte man sich versenken, weil sie
+eine Tiefe hatten, die Gegenstände lagen stets ausgebreitet zur
+Betrachtung da. So wie ich früher Gegenstände der Natur für
+wissenschaftliche Zwecke gezeichnet hatte, wie ich bei diesen
+Zeichnungen zur Anwendung von Farben gekommen war, wie ich ja vor
+Kurzem erst Geräte gezeichnet und gemalt hatte: so versuchte ich jetzt
+auch, den ganzen Blick, in dem ein Hintereinanderstehendes, im Dufte
+Schwebendes, vom Himmel sich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder
+Leinwand zu zeichnen und mit Ölfarben zu malen. Das sah ich sogleich,
+daß es weit schwerer war als meine früheren Bestrebungen, weil es
+sich hier darum handelte, ein Räumliches, das sich nicht in gegebenen
+Abmessungen und mit seinen Naturfarben, sondern gleichsam als die
+Seele eines Ganzen darstellte, zu erfassen, während ich früher nur
+einen Gegenstand mit bekannten Linienverhältnissen und seiner ihm
+eigentümlichen Farbe in die Mappe zu übertragen hatte. Die ersten
+Versuche mißlangen gänzlich. Dieses schreckte mich aber nicht ab,
+sondern eiferte mich vielmehr noch immer stärker an. Ich versuchte
+wieder und immer wieder. Endlich vertilgte ich die Versuche
+nicht mehr, wie ich früher getan hatte, sondern bewahrte sie zur
+Vergleichung auf. Diese Vergleichung zeigte mir nach und nach, daß
+sich die Versuche besserten und die Zeichnung leichter und natürlicher
+wurde. Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das Unnennbare, was
+in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen, und je mehr ich nach dem
+Ergreifen strebte, desto schöner wurde auch dieses Unnennbare vor mir
+selbst.
+
+Ich blieb so lange in dem Gebirge, als es nur möglich wurde und als
+die zunehmende Kälte einen Aufenthalt im Freien nicht ganz und gar
+verbot.
+
+Im spätesten Herbste ging ich noch einmal zu meinem Gastfreunde in
+das Rosenhaus. Es war zur Zeit, da in dem Gebirge schon mannigfaltige
+Schneelasten auf den Höhen lagen und das flache Land sich schon jedes
+Schmuckes entäußert hatte. Der Garten meines Freundes war kahl,
+die Bienenhütte war in Stroh eingehüllt, in den laublosen Zweigen
+schrillte mir noch manche vereinzelte Kohlmeise oder ein Wintervogel,
+und über ihnen zogen in dem grauen Himmel die grauen Dreiecke der
+Gänse nach dem Süden. Wir saßen in den langen Abenden bei dem Feuer
+des Kamins, arbeiteten unter Tags an der Einhüllung und Einwinterung
+der Gegenstände, die es bedurften, oder machten an manchem Nachmittage
+einen Spaziergang, wenn der regsame Nebel die Hügel und die Täler und
+die Ebenen umwandelte.
+
+Ich zeigte meinem Gastfreunde meine Versuche im landschaftlichen
+Malen, weil ich es gewissermaßen für eine Falschheit gehalten hätte,
+ihm nichts von der Veränderung zu sagen, die in mir vorgegangen war.
+Ich scheute mich sehr, die Versuche vorzulegen, ich tat es aber doch,
+und zwar zu einer Zeit, da auch Eustach zugegen war. Als Einleitung
+erklärte ich, wie ich nach und nach dazu gekommen wäre, diese Dinge zu
+machen.
+
+»Es geht allen so, welche die Gebirge öfter besuchen und welche
+Einbildungskraft und einiges Geschick in den Händen haben«, sagte mein
+Gastfreund, »ihr braucht euch deshalb nicht beinahe zu entschuldigen,
+es war zu erwarten, daß ihr nicht bloß bei eurem Sammeln von Steinen
+und Versteinerungen bleiben werdet, es ist so in der Natur, und es ist
+so gut.«
+
+Die Entwürfe wurden mit viel mehr Ernst und Genauigkeit durchgenommen,
+als sie verdienten. Da sowohl mein Gastfreund als auch Eustach
+jedes Blatt öfter betrachtet hatten, sprachen sie mit mir
+darüber. Ihr Urteil ging einstimmig darauf hinaus, daß mir das
+Naturwissenschaftliche viel besser gelungen sei als das Künstlerische.
+Die Steine, die sich in den Vordergründen befänden, die Pflanzen, die
+um sie herum wuchsen, ein Stück alten Holzes, das da läge, Teile von
+Gerölle, die gegen vorwärts säßen, selbst die Gewässer, die sich
+unmittelbar unter dem Blicke befänden, hätte ich mit Treue und mit den
+ihnen eigentümlichen Merkmalen ausgedrückt. Die Fernen, die großen
+Flächen der Schatten und der Lichter an ganzen Bergkörpern und das
+Zurückgehen und Hinausweichen des Himmelsgewölbes seien mir nicht
+gelungen. Man zeigte mir, daß ich nicht nur in den Farben viel zu
+bestimmt gewesen wäre, daß ich gemalt hätte, was nur mein Bewußtsein
+an entfernten Stellen gesagt, nicht mein Auge, sondern daß ich auch
+die Hintergründe zu groß gezeichnet hätte, sie wären meinen Augen
+groß erschienen, und das hätte ich durch das Hinaufrücken der Linien
+angeben wollen. Aber durch Beides, durch Deutlichkeit der Malerei
+und durch die Vergrößerung der Fernen hätte ich die letzteren näher
+gerückt und ihnen das Großartige benommen, das sie in der Wirklichkeit
+besäßen. Eustach riet mir, eine Glastafel mit Canadabalsam zu
+überziehen, wodurch sie etwas rauher würde, so daß Farben auf ihr
+haften, ohne daß sie die Durchsichtigkeit verlöre und durch diese
+Tafel Fernen mit den an sie grenzenden näheren Gegenständen mittelst
+eines Pinsels zu zeichnen, und ich würde sehen, wie klein sich die
+größten und ausgedehntesten entfernten Berge darstellen und wie groß
+das zunächstliegende Kleine würde. Dieses Verfahren aber empfehle
+er nur, damit man zur Überzeugung der Verhältnisse komme und einen
+Maßstab gewinne, nicht aber, daß man dadurch künstlerische Aufnahmen
+von Landschaften mache, weil durch einen solchen Vorgang die
+künstlerische Freiheit und Leichtigkeit verloren würde, welche in
+Bezug auf Darstellung das Wesen und das Herz der Kunst sei. Das Auge
+soll nur geübt und unterrichtet werden, die Seele müsse schaffen, das
+Auge soll ihr dienen. In Hinsicht der Farbgebung der Fernen riet er
+mir, dort, wo ich einen Zweifel hätte, ob ich etwas sähe oder nur
+wisse, es lieber nicht anzugeben und überhaupt in der Farbe lieber
+unbestimmter als bestimmter zu sein, weil dadurch die Gegenstände an
+Großartigkeit gewinnen. Sie werden durch die Unbestimmtheit ferner
+und durch dieses allein größer. Durch Linien des Zeichnenstiftes auf
+dem kleinen Papiere oder der kleinen Leinwand könne man nichts groß
+machen. Durch Verdeutlichung werden die Körper näher gerückt und
+verkleinert. Wenn überhaupt ein Fehler gegen die Genauigkeit gemacht
+werden müsse - und kein Mensch könne Dinge, namentlich Landschaften,
+in ihrer völligen Wesenheit geben -, so sei es besser, die Gegenstände
+großartiger und übersichtlicher zu geben als in zu viele einzelne
+Merkmale zerstreut. Das erste sei das Künstlerischere und Wirksamere.
+
+Ich sah sehr gut ein, was sie sagten, und wußte auch, woher die Fehler
+kämen, von denen sie redeten. Ich hatte bisher alle Gegenstände in
+Hinblick auf meine Wissenschaft gezeichnet, und in dieser waren
+Merkmale die Hauptsache. Diese mußten in der Zeichnung ausgedrückt
+sein und gerade die am schärfsten, durch welche sich die Gegenstände
+von verwandten unterschieden. Selbst bei meinem Zeichnen von
+Angesichtern hatte ich deren Linien, ihr Körperliches, ihre Licht- und
+Schattenverteilung unmittelbar vor mir.
+
+Daher war mein Auge geübt, selbst bei fernen Gegenständen das, was sie
+wirklich an sich hatten, zu sehen, wenn es auch noch so undeutlich
+war, und dafür auf das, was ihnen durch Luft, Licht und Dünste
+gegeben wurde, weniger zu achten, ja diese Dinge als Hindernisse der
+Beobachtung eher weg zu denken als zum Gegenstande der Aufmerksamkeit
+zu machen. Durch das Urteil meiner Freunde wurde mir der Verstand
+plötzlich geöffnet, daß ich das, was mir bisher immer als wesenlos
+erschienen war, betrachten und kennen lernen müsse. Durch Luft,
+Licht, Dünste, Wolken, durch nahe stehende andere Körper gewinnen die
+Gegenstände ein anderes Aussehen, dieses müsse ich ergründen, und die
+veranlassenden Dinge müsse ich, wenn es mir möglich wäre, so sehr zum
+Gegenstande meiner Wissenschaft machen, wie ich früher die unmittelbar
+in die Augen springenden Merkmale gemacht hatte. Auf diese Weise
+dürfte es zu erreichen sein, daß die Darstellung von Körpern gelänge,
+die in einem Mittel und in einer Umgebung von anderen Körpern
+schwimmen. Ich sagte das meinen Freunden, und sie billigten meinen
+Entschluß. Wenn der Nebel oder überhaupt die trübe Jahreszeit einen
+Blick in die Ferne gestattete, wurde das, was mit Worten gesagt wurde,
+auch an wirklichen Beispielen erörtert, und wir sprachen über die Art
+und Weise, wie sich die entfernten Gebirge oder Teile von ihnen oder
+näher gehende von der Hauptkette sich ablösende Gründe darstellten.
+Es ist unglaublich, wie sehr ich in jenem kurzen Herbstaufenthalte
+unterrichtet wurde.
+
+
+Ich sprach mit meinem Gastfreunde auch von den Dichtern, welche ich
+las, und erzählte ihm von dem großen Eindrucke, welchen ihre Worte auf
+mich machten. Wir gingen bei Gelegenheit einmal in sein Bücherzimmer,
+er führte mich vor die Schreine, in welchen die Dichter standen, und
+zeigte mir, was er in dieser Hinsicht besaß. Er sagte auch, ich möchte
+während des Aufenthaltes in seinem Hause von den Büchern Gebrauch
+machen, wie ich wollte; ich könnte sie im Lesezimmer benützen oder
+auch in meine Wohnung mit hinübernehmen. Es waren Werke in den
+ältesten Sprachen da, von Indien bis nach Griechenland und Italien,
+es waren Werke der neueren Zeiten da und auch der neuesten. Am
+zahlreichsten waren natürlich die der Deutschen.
+
+»Ich habe diese Bücher gesammelt«, sagte er, »nicht als ob ich sie
+alle verstände; denn von manchen ist mir die Sprache vollkommen fremd;
+aber ich habe im Verlaufe meines Lebens gelernt, daß die Dichter, wenn
+sie es im rechten Sinne sind, zu den größten Wohltätern der Menschheit
+zu rechnen sind. Sie sind die Priester des Schönen und vermitteln
+als solche bei dem steten Wechsel der Ansichten über Welt, über
+Menschenbestimmung, über Menschenschicksal und selbst über göttliche
+Dinge das ewig Dauernde in uns und das allzeit Beglückende. Sie geben
+es uns im Gewande des Reizes, der nicht altert, der sich einfach
+hinstellt und nicht richten und verurteilen will. Und wenn auch alle
+Künste dieses Göttliche in der holden Gestalt bringen, so sind sie
+an einen Stoff gebunden, der diese Gestalt vermitteln muß: die Musik
+an den Ton und Klang, die Malerei an die Linien und die Farbe, die
+Bildnerkunst an den Stein, das Metall und dergleichen, die Baukunst an
+die großen Massen irdischer Bestandteile, sie müssen mehr oder minder
+mit diesem Stoffe ringen; nur die Dichtkunst hat beinahe gar keinen
+Stoff mehr, ihr Stoff ist der Gedanke in seiner weitesten Bedeutung,
+das Wort ist nicht der Stoff, es ist nur der Träger des Gedankens, wie
+etwa die Luft den Klang an unser Ohr führt. Die Dichtkunst ist daher
+die reinste und höchste unter den Künsten. Da ich nun meine, daß
+es so ist, wie ich sage, so habe ich die Männer, welche die Stimme
+der Zeiten als große in der Kunst des Dichtens bezeichnete, hier
+zusammengestellt. Ich habe Dichter in fremden Sprachen, die ich nicht
+verstand, dazu getan, wenn ich nur wußte, daß sie in der Geschichte
+ihres Volkes vorzüglich genannt werden, und wenn ich von einem
+Fachmanne das Zeugnis hatte, daß ich in dem Buche den Dichter besitze,
+den ich meine. Sie mögen unverstanden hier stehen oder es mag wohl
+einer oder der andere in diesen Saal kommen, der manchen versteht
+und liest. Ich habe wohl auch solche Bücher hieher gestellt, die
+mir gefallen, das Urteil der Zeit mag anders lauten oder erst
+festzustellen sein. In diesen Büchern habe ich viel Glück gefunden und
+in dem Alter fast noch mehr als in der Jugend. Wenn auch die Jugend
+die Worte aus einem goldenen Munde mit einem Sturme und mit Entzücken
+aufnimmt, wenn sie auch dieselben mit einer Art Schwärmerei und mit
+Sehnsucht in dem Busen trägt, so ist es doch fast stets mehr die
+Wärme des eigenen Gefühles, die sie empfindet, als daß sie die fremde
+Weisheit und Größe in ein besonnenes, betrachtendes, abwägendes Herz
+aufnehmen könnte. Ihr seid selber jung, und die Tiefe und Innigkeit
+der Dichtung mag euch fördern und euer Herz jedem künftigen Großen
+öffnen, wie die reine Dichtkunst das immer an der Jugend tut; aber
+ihr werdet selber einmal sehen, um wie viel milder und klarer die
+verglühende Sonne des Alters in die Größe eines fremden Geistes
+leuchtet als die feurige Morgensonne der Jugend, die alles mit ihrem
+Glanze färbt, so wie es eine Tatsache ist, daß die innige, wahre und
+treue Liebe der alternden Gattin fester und dauernder beglückt als
+die lodernde Leidenschaft der jungen, schönen, schimmernden Braut.
+Die Jugend sieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und
+Unendlichkeit der Zukunft, diese verhüllt die Mängel und ersetzt das
+Abgängige. Sie dichtet in das Kunstwerk, was im eignen Herzen lebt.
+Daher kömmt die Erscheinung, daß Werke von bedeutend verschiedener
+Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können, und daß
+Erzeugnisse höchster Größe, wenn sie keine Wiederspieglung der
+Jugendblüte sind, nicht erfaßt werden können. In dem Alter werden
+selbst solche Glanzstellen der Jugend, die schon sehr ferne liegen,
+wie etwa die Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und
+Grenzenlosigkeit, oder wie die holde und berauschende Seligkeit der
+Gegenliebe, oder die Träume künftiger Taten und künftiger Größe, der
+Blick in ein unendliches, erst kommendes Leben, oder wie das erste
+Stammeln in irgend einer Kunst, von dem Greise in dem sanften Spiegel
+seiner Erinnerung beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der
+sie in dem Brausen seines Lebens überhört, und an der grauen Wimper
+mag manche beseligendere und mitunter schmerzlichere Träne hängen als
+der feurige Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem Auge des
+Jünglings springt und keine Spur hinterläßt. Ich lese jetzt selten
+mehr die größten Geister im Zusammenhange - mit kleineren tue ich es
+wohl, weil sie in einzelnen Stellen minder bedeutend sind -, aber
+ich lese immer in ihnen und werde wohl bis zu meinem Lebensende in
+ihnen lesen. Sie begleiten mich mit ihren Gedanken wie mit großen
+Erquickungen durch den Rest meines Lebens und werden mir wohl, wie ich
+ahne, an der dunkeln Pforte Kränze aufhängen, als wären sie von meinen
+eigenen Rosen geflochten. Deshalb gebe ich auch kein Buch aus dem
+Hause, weil ich nicht weiß, ob ich es nicht in nächster Zeit selber
+brauchen werde. Im Hause stehen sie jedem, der davon Gebrauch machen
+will, zu Gebote. Nur für Gustav wird eine Auswahl getroffen, weil er
+noch zu jung ist und nicht alles sondern kann. Er würde hier zwar
+nichts gänzlich Schlechtes finden; aber nicht alles Gute würde er
+verstehen, und dann wäre die daran gewendete Zeit verloren; oder er
+könnte es mißverstehen, und dann wäre der Erfolg ein unrichtiger. Das
+Schlechte, das sich Dichtkunst nennt, ist der Jugend sehr gefährlich.
+In der Wissenschaft zeigt es sich viel leichter auf. In der Mathematik
+liegt es in der Darstellung, da solche Werke wohl kaum vorkommen
+dürften, in denen sogar der Stoff fehlerhaft wäre, in der
+Naturwissenschaft liegt es in der Darstellung wie im Stoffe, in welch
+letzterem es sich in der Gestalt gewagter Behauptungen ausspricht; nur
+in der sogenannten Weisheitslehre kann es verborgener sein gleichwie
+in der Dichtkunst, weil manche Weisheitslehre wie Dichtkunst zusammen
+gestellt ist und wirkt: aber in den Werken der eigentlichen Dichtkunst
+versteckt es sich vor dem blühenden Gemüte des Jünglings, dieser
+breitet seine Blüten und seine Begierden darüber und saugt das Gift in
+sich. Ein klarer Verstand, der sich von Kindheit an eben zur Klarheit
+hingeübt hat, und ein gutes, reines Herz sind Schutzwehren vor
+Schlechtigkeit und Sittenlosigkeit von Dichtungen, weil der klare
+Verstand den hohlen Schwulst von sich abweist und das reine Herz
+die Unsittlichkeit ablehnt. Aber Beides geschieht nur gegen die
+Entschiedenheit des Schlechten. Wo es in Reize verhüllt ist und mit
+Reinem gemischt, dort ist es am bedenklichsten, und da müssen Ratgeber
+und väterliche Freunde zu Hilfe stehen, daß sie teils aufklären,
+teils von vornherein die Annäherung des Übels aufhatten. Gegen die
+Schlechtigkeit in der Darstellung oder gegen die lange Weile braucht
+man kein Mittel als sie selber. Ihr seid zwar noch jung; aber ihr
+seid nicht so jung zu dem Lesen von Dichtern gekommen wie die meisten
+unserer Jünglinge, und ihr habt so viel in Wissenschaften gelernt, daß
+ich glaube, daß man euch alle Dichter in die Hände geben kann, ohne
+Gefahr zu befürchten, selbst bei solchen, die in ihrem Amte sehr
+zweifelhaft sind. Euer Geist wird sich wohl heraus finden und gerade
+dadurch noch mehr klären. Da ich von der Weisheitslehre sprach, welche
+man in unserem deutschen Lande noch immer als Weisheitsliebe mit dem
+griechischen Worte Philosophie bezeichnet, muß ich euch sagen, was ihr
+wohl vielleicht schon aus anderen Reden von mir gemerkt haben mögt,
+daß ich nicht gar sehr viel auf sie halte, wenn sie in ihrem eigenen
+und eigentümlichen Gewande auftritt. Ich habe alte und neue Werke
+derselben mit gutem Willen durchgenommen; aber ich habe mich zu viel
+mit der Natur abgegeben, als daß ich auf ledigliche Abhandlungen ohne
+gegebener Grundlage viel Gewicht legen könnte, ja sie sind mir sogar
+widerwärtig. Vielleicht reden wir noch ein anderes Mal von dem
+Gegenstande. Wenn ich je einige Weisheit gelernt habe, so habe ich sie
+nicht aus den eigentlichsten Weisheitsbüchern, am wenigsten aus den
+neuen - jetzt lese ich gar keine mehr - gelernt, sondern ich habe sie
+aus Dichtern genommen oder aus der Geschichte, die mir am Ende wie die
+gegenständlichste Dichtung vorkömmt.«
+
+
+Als ich meinen Gastfreund so reden hörte, erinnerte ich mich, daß ich
+ihn in der Tat viel lesen gesehen habe. Oft war er mit einem Buche
+unter einem schattigen Baume gesessen oder in rauherer Jahreszeit auf
+einer sonnigen Bank, oft hatte er sich mit einem auf einen Spaziergang
+begeben, er ist sehr häufig in dem Lesezimmer gewesen, und er trug
+Bücher in seine Arbeitsstube. Als wir die letzte Fahrt in den
+Sternenhof gemacht hatten, hatte er Bücher mitgenommen, und ich glaube
+von Gustav gehört zu haben, daß er auf jede Reise Bücher einpacke.
+
+Ich ging bei meinem jetzigen Aufenthalte in dem Rosenhause sehr oft in
+das Bücherzimmer, und wie ich früher vor den Schränken gestanden war,
+die die Werke der Naturwissenschaften enthielten, und wie ich damals
+manches Buch in das Lesezimmer mitgenommen hatte, so stand ich jetzt
+vor den Schreinen mit den Dichtern, sah viele einzelne der vorhandenen
+Bücher an, trug manches in das Lesezimmer oder mit Bewilligung meines
+Gastfreundes in meine Stube und schrieb mir die Aufschrift von manchem
+in mein Gedenkbuch, um es mir, wenn ich nach Hause gekommen wäre, zu
+kaufen.
+
+Gegen das Ende meines Aufenthaltes, da noch einige sonnige Tage kamen,
+zeichnete und malte ich auch mehrere Stücke der schönen getäfelten
+Fußböden, die in diesem Hause anzutreffen waren. Ich tat dies, um
+dem Vater von allen Dingen, welche ich gesehen hatte, einiger Maßen
+Abbildungen bringen zu können.
+
+Als es schon bald zu meiner Abreise kam, sagte mein Gastfreund, er
+hätte noch etwas mit mir zu reden, und er sprach: »Weil euch euere
+Natur selber zum Teile aus dem Kreise herausgezogen hat, den ihr um
+euch gesteckt habt, weil ihr zu euren früheren Bestrebungen noch
+den Einblick in die Dichtungen gesellt habt, so wie ja schon das
+Landschaftsmalen als ein Übergang in das Kunstfach ein Schritt aus
+eurem Kreise war, so erlaubet mir, daß ich als Freund, der euch wohl
+will, ein Wort zu euch rede. Ihr solltet zu eurem Wesen eine breitere
+Grundlage legen. Wenn die Kräfte des allgemeinen Lebens zugleich in
+allen oder vielen Richtungen tätig sind, so wird der Mensch, eben weil
+alle Kräfte wirksam sind, weit eher befriedigt und erfüllt, als wenn
+eine Kraft nach einer einzigen Richtung hinzielt. Das Wesen wird
+dann im Ganzen leichter gerundet und gefestet. Das Streben in
+einer Richtung legt dem Geiste eine Binde an, verhindert ihn, das
+Nebenliegende zu sehen und führt ihn in das Abenteuerliche. Später,
+wenn der Grund gelegt ist, muß der Mann sich wieder dem Einzigen
+zuwenden, wenn er irgendwie etwas Bedeutendes leisten soll. Er wird
+dann nicht mehr in das Einseitige verfallen. In der Jugend muß man
+sich allseitig üben, um als Mann gerade dann für das Einzelne tauglich
+zu sein. Ich sage nicht, daß man sich in das Tiefste des Lebens
+in allen Richtungen versenken müsse, wie zum Beispiele in allen
+Wissenschaften, wie ihr ja selber einmal angefangen habt, das wäre
+überwältigend oder tötend, ohne dabei möglich zu sein; sondern daß
+man das Leben, wie es uns überall umgibt, aufsuche, daß man seine
+Erscheinungen auf sich wirken lasse, damit sie Spuren einprägen,
+unmerklich und unbewußt, ohne daß man diese Erscheinungen der
+Wissenschaft unterwerfe. Darin, meine ich, besteht das natürliche
+Wissen des Geistes, zum Unterschiede von der absichtlichen Pflege
+desselben. Er wird nach und nach gerecht für die Vorkommnisse des
+Lebens. Ihr habt, scheint es mir, zu jung einen einzelnen Zug erfaßt,
+unterbrecht ihn ein wenig, ihr werdet ihn dann freier und großartiger
+wieder aufnehmen. Schaut auch die unbedeutenden, ja nichtigen
+Erscheinungen des Lebens an. Geht in die Stadt, sucht euch deren
+Vorkommnisse zurecht zu legen, kommt dann zu uns auf das Land,
+lebt einmal eine Weile müßig bei uns, das heißt tut, was euch der
+Augenblick und die Neigung eingibt, wir wollen dieses Haus und den
+Garten genießen, wollen den Nachbar Ingheim besuchen, wollen auch
+zu anderen entfernteren Nachbarn gehen und die Dinge an uns vorüber
+fließen lassen, wie sie fließen.«
+
+Ich dankte ihm für seine Bemerkungen, sagte, daß ich selber so etwas
+Ähnliches in mir empfinde, daß ich wohl etwas unbeholfen gegen das
+Leben sei, daß meine Eltern und wohlmeinenden Freunde wohl Nachsicht
+mit mir haben müssen und daß ich für jeden Wink dankbar sei. Besonders
+freue mich die Einladung in sein Haus, und ich werde ihr mit vieler
+Freude Folge leisten.
+
+Als die Zeit meiner Abreise herangekommen war, packte ich die
+Zeichnungen und alles, was ich in dem Rosenhause hatte, ein, nahm den
+herzlichsten Abschied von dem alten Manne, Gustav, Eustach, Roland,
+der gekommen war, verabschiedete mich von allen Bewohnern des Hauses,
+Gartens und Meierhofes und reisete zu meinen Angehörigen in die
+Hauptstadt zurück.
+
+Das Erste, was ich dort nach dem innigsten und aufrichtigsten
+Bewillkommen sah, war, daß mein Vater das teils gläserne, teils
+hölzerne Häuschen, in welchem die alten Waffen hingen, um welches
+sich der Epheu rankte und welches im Grunde den äußersten Ansatz oder
+gleichsam einen Erker des rechten Flügels des Hauses gegen den Garten
+bildete, in dem vergangenen Sommer hatte umbauen lassen. Er hatte es
+bedeutend vergrößert, aber die Leisten, Spangen und Rahmen, in denen
+das Glas befestigt war, hatte er in der früheren Art gelassen, nur
+waren sie dem Stoffe nach neu gemacht und mit schönen Verzierungen
+und Schnitzereien versehen. Die Simse des Daches waren nach
+mittelalterlicher Weise verfertigt, schön geschnitzt und verziert.
+Der Epheu war wieder an Leisten empor geleitet worden und blickte an
+manchen Stellen durch das Glas herein. Die Fenster waren nicht mehr
+nach Außen und Innen zu öffnen wie früher, sondern zum Verschieben.
+Die größte Veränderung aber war die, daß der Vater zwei Säulen hatte
+aufführen lassen, während früher die beiden Wände, welche nach Außen
+geschaut hatten, aus Glas verfertigt gewesen waren. Diese zwei Pfeiler
+hatten genau die Abmessungen, daß die zwei Verkleidungen, welche ich
+ihm in dem vorigen Herbste gebracht hatte, auf dieselben paßten. Die
+Verkleidungen waren aber noch nicht auf ihnen, weil das Mauerwerk
+zuerst austrocknen mußte, daß das Holz an demselben keinen Schaden
+nehmen konnte. Der Vater hatte mir nur den ganzen Plan und die
+Vorrichtungen zu seiner Ausführung gesagt. So wie es mich einerseits
+freute, daß der Vater das Holzkunstwerk so schätzte, daß er eigens zu
+dem Zwecke, es anbringen zu können, das Häuschen hatte umbauen lassen,
+so war es mir andererseits erst recht schmerzlich, daß ich die
+Ergänzungen zu den Verkleidungen nicht aufzufinden im Stande gewesen
+war. Ich sagte dem Vater von meinen Bemühungen und von meinem
+Leidwesen wegen des schlechten Erfolges. Er und die Mutter trösteten
+mich und sagten, es sei alles auch in der vorhandenen Gestalt recht
+schön, was verschwunden ist und nicht mehr erlangt werden kann,
+müsse man nicht eigensinnig anstreben, sondern sich an dem, was eine
+gute Gunst uns noch erhalten habe, freuen. Das Häuschen werde eine
+Erinnerung sein, und so oft man sich in demselben, wenn es vollkommen
+in den Stand gesetzt sein werde, befinden werde, werde einem die Zeit
+vorschweben, in welcher das Holzwerk gemacht worden sei, und die,
+in welcher ein lieber Sohn es zur Freude des Vaters ans dem Gebirge
+gebracht habe.
+
+Ich mußte mich wohl, obgleich ungern, beruhigen. Es erschien mir
+jetzt erst recht schön, wenn die Verkleidungen am ganzen Innern des
+Häuschens herum liefen und über ihnen einerseits die Pfeiler und
+andererseits die Fenster schimmerten.
+
+Nach einigen Tagen, in welchen die ersten Besprechungen geführt
+wurden, die nach einer Reise eines Familiengliedes im Schoße
+einer Familie immer vorfallen, wenn auch die Reise eine jährlich
+wiederkommende ist, legte ich dem Vater, da unterdessen auch meine
+Koffer und Kisten angekommen waren, die Abbildungen vor, welche ich
+von den Geräten und Fußböden im Rosenhause und im Sternenhofe gemacht
+hatte. Ich war auf die Wirkung sehr neugierig. Ich hatte einen Sonntag
+abgewartet, an welchem er Zeit hatte und an welchem er gerne nach dem
+Mittagessen eine geraume Weile in dem Kreise seiner Familie zubrachte.
+Ich legte die Blätter vor ihm auf einem Tische auseinander. Er schien
+mir bei ihrem Anblick - ich kann sagen - betroffen. Er sah die Blätter
+genau an, nahm jedes mehrere Male in die Hand und sagte längere Zeit
+kein Wort. Endlich ging seine Empfindung in eine unverhohlene Freude
+über. Er sagte, ich wisse gar nicht, was ich gemacht hätte, ich wisse
+gar nicht, welchen Wert diese Dinge hätten, ich hätte in früherer Zeit
+die Schönheit und Zusammenstimmigkeit dieser Dinge mit Worten gar
+nicht so in das rechte Licht gestellt, wie es sich jetzt in Farbe und
+Zeichnung, wenn auch beides mangelhaft wäre, beurkunde. Im ersten
+Augenblicke hielt der Vater die Geräte, welche ich in dem Sternenhofe
+abgebildet hatte, für wirklich alte; als ich ihn aber auf die
+tatsächlichen Verhältnisse derselben aufmerksam machte, sagte er, das
+müsse ein außerordentlicher Mensch sein, der diese Entwürfe gemacht
+habe, er müsse nicht nur mit der alten Bauart und Zusammenstellung der
+Geräte sehr vertraut sein, sondern er müsse auch ein ungewöhnliches
+Schönheitsgefühl haben, um aus der Menge der überlieferten Gestalten
+das zu wählen, was er gewählt habe. Und die Zusammenreihung der Geräte
+sei so aus einem Gusse, als wären sie einstens zu einem Zweck und
+in einer Zeit verfertigt worden. Auch die wirklich alten Geräte im
+Rosenhause seien von einer Schönheit, wie er sie nie gesehen habe,
+obgleich ihm die vorzüglichsten und berühmtesten Sammlungen der Stadt
+und mancher Schlösser bekannt wären. Zwei so auserlesene Stücke wie
+den großen Kleiderschrein und den Schreibschrein mit den Delphinen
+dürfte man kaum irgendwo finden. Sie wären wert, in einem kaiserlichen
+Gemache zu stehen.
+
+
+Ich erzählte ihm, um den Mann, der die Entwürfe für den Sternenhof
+gemacht hatte, näher zu bezeichnen, daß ich viele Bauzeichnungen und
+Zeichnungen von anderen Dingen in dem Rosenhause gesehen habe, welche
+weit höhere Gegenstände darstellen und auch mit einer ungleich
+größeren Vollendung ausgeführt seien, als ich bei meinen Abbildungen
+anzubringen im Stande gewesen wäre. Diese Arbeiten seien bei dem Manne
+Vorbildungen gewesen, damit er die Entwürfe hätte machen können, die
+er gemacht habe.
+
+Er schien auf meine Worte nicht zu achten, sondern legte irgend ein
+Blatt hin, nahm ein anderes auf und betrachtete es.
+
+»So weit ich aus den Abbildungen urteilen kann«, sagte er, »sind die
+altertümlichen Gegenstände, welche du mir da veranschaulicht hast,
+nicht nur an sich sehr vortrefflich, sondern sie sind auch höchst
+wahrscheinlich, wie Farbe und Zeichnung dartut, sehr zweckmäßig wieder
+hergestellt. Meine Habseligkeiten sinken dagegen zu Unbedeutenheiten
+herab, und ich sehe aus diesen Blättern, wie man die Sache anfassen
+muß, wenn man die Zeit, die Kenntnisse und die Mittel dazu hat.«
+
+Mich freute es jetzt recht sehr, daß ich auf den Gedanken gekommen
+war, dem Vater diese Dinge nachzubilden, um ihm eine Vorstellung von
+ihnen zu geben; mich freute sein Anteil, den er an ihnen nahm, und die
+Freude, die er darüber hatte.
+
+»Es sind nun zwei Wege, die zu gehen sind«, meinte die Mutter,
+»entweder kannst du dir nach diesen Gemälden die Dinge, die sie
+darstellen, machen lassen, um dich immerwährend daran zu ergötzen,
+oder du kannst in den Asperhof und Sternenhof reisen und sie in
+Wirklichkeit sehen, um eine Freude zu haben, so lange du sie siehst,
+und in der Erinnerung dich zu laben, wenn du wieder weggereist bist.«
+
+Der Vater antwortete: »Die Geräte, die hier gezeichnet sind,
+nachmachen zu lassen, ist eine Unzukömmlichkeit; denn erstens müßte
+hiezu die Einwilligung des Eigentümers erlangt werden, und wenn sie
+auch erlangt worden wäre, so hätten zweitens die nachgebildeten
+Gegenstände in meinen Augen nicht den Wert, den sie haben sollten,
+weil sie doch nur, wie die Maler sagen, Copien wären. Es böte sich
+auch noch der Gedanke, mit Einwilligung des Eigentümers nach diesen
+Abbildungen neue Zusammenstellungen entwerfen und in Wirklichkeit
+ausführen zu lassen; allein das verlangt eine so große
+Geschicklichkeit, welche ich nicht nur mir nicht zutraue, sondern
+welche ich auch an den Arbeitern in ähnlichen Dingen, die ich in
+unserer Stadt kenne, nicht aufzufinden hoffe. Und zuletzt wären die
+verfertigten Gegenstände doch noch immer nichts mehr als halbe Copien.
+Das Verfertigen geht also nicht. Was deinen zweiten Weg anbelangt,
+Mutter, so werde ich ihn gewiß gehen. Ich habe mir schon früher bei
+den Erzählungen von diesen Dingen vorgenommen, die Reise zu ihnen zu
+machen; jetzt aber, da ich die Abbildungen sehe, werde ich die Reise
+nicht nur um so gewisser, sondern auch in viel näherer Zeit machen,
+als es wohl sonst hätte geschehen können.«
+
+»Das wird recht schön sein«, riefen wir fast alle aus einem Munde.
+
+Die Mutter sagte: »Du solltest gleich die Zeit bestimmen und solltest
+gleich mit deinem Sohne verabreden, daß er dich in derselben zu dem
+alten Manne in das Rosenhaus führe, welcher dich schon auch in den
+Sternenhof geleiten würde.«
+
+»Nun, so dränget nur nicht«, erwiderte er, »es wird geschehen, das
+ist genug; binden, wißt ihr, kann sich ein Mann nicht, der von seinem
+Geschäfte abhängt und nicht wissen kann, welche Umstände einzutreten
+vermögen, die von ihm Zeit und Handlungen fordern.«
+
+Die Mutter kannte ihn zu gut, um weiter in ihn zu dringen, er würde
+bei seinem ausgesprochenen Satze geblieben sein. Sie beruhigte sich
+mit dem Erlangten.
+
+Sowohl sie als die Schwester dankten mir, daß ich dem Vater die Bilder
+gebracht hatte, die ihm ein solches Vergnügen bereiteten.
+
+»Die Fußböden müssen auch vortrefflich sein«, rief er aus.
+
+»Sie sind viel schöner als die ungefähre Malerei andeuten kann«,
+erwiderte ich, »mein Pinsel kann noch immer nicht den Glanz und die
+Zartheit und das Seidenartige der Holzfasern ausdrücken, was man alles
+dort so liebt, daß nur mit Filzschuhen auf diesen Böden gegangen
+werden darf.«
+
+»Das kann ich mir denken«, antwortete er, »das kann ich mir denken.«
+
+Hierauf mußte ich ihm alle Hölzer nennen, die hier mit Farben
+angegeben waren und aus denen die abgebildeten Gegenstände bestanden.
+Die meisten kannte er ohnehin, was mich freute, weil es der Beweis
+war, daß ich die Farben nicht unsachgemäß angewendet habe. Die er
+nicht kannte, nannte ich ihm. Ich wußte sie fast alle ganz genau
+anzugeben.
+
+Er verwunderte sich wieder und immer aufs Neue und suchte sich die
+Gegenstände recht lebhaft vorzustellen.
+
+Die Mutter und Schwester fragten mich, ob ich recht lange zu dieser
+Arbeit gebraucht hätte und ob ich nicht dabei beklommen gewesen wäre.
+
+Ich antwortete, daß ich des Zweckes willen sehr fleißig gewesen sei,
+daß es anfänglich langsam gegangen sei, daß ich aber nach und nach
+Übung erlangt hätte und daß ich dann weit schneller vorwärtsgekommen
+sei, als ich selber geahnt habe. Und was die Beklemmung anbelangt, so
+hätte ich sie freilich im Anfange gehabt; aber da die Dinge einmal auf
+mich gewirkt hätten, da ich in Eifer geraten wäre, da sich hie und
+da ein Gelingen eingestellt hätte, namentlich da mir durch die
+Entschiedenheit der Erscheinung mancher Holzgattung die Farbe
+gleichsam von selber in die Hand gegeben worden wäre, so hätte sich
+bald die Unbefangenheit eingefunden und nach und nach sich die Lust
+hinzu gesellt.
+
+Nach diesen Worten zeigte mir der Vater auch manchen Fehler, den ich
+in den Arbeiten gemacht hätte, und setzte mir auseinander, wie ich
+selbe, falls ich wieder ähnliche Dinge entwerfen sollte, vermeiden
+könnte. Da er Gemälde hatte, da er sich seit Jahren mit denselben
+beschäftigt hatte, so durfte ihm wohl ein Urteil in dieser Hinsicht
+zugewachsen sein, und ich erkannte das, was er sagte, als vollkommen
+richtig an und glaubte mich aber auch befähigt zu fühlen, es in
+Zukunft besser zu machen.
+
+Nach den Fehlern ging der Vater auch auf die Vorzüge der Arbeit über
+und sagte, daß er nach den Zeichnungen von Köpfen, die ich vor einiger
+Zeit gemacht hätte, zu schließen, von mir nicht erwartet hätte, daß
+ich etwas so Sachgemäßes in Ölfarben würde ausführen können.
+
+Dieser Sonntagsnachmittag war eine sehr liebe, angenehme Zeit.
+
+Die Freundlichkeit der Schwester, die sie besonders an diesem
+Nachmittage an den Tag legte, war mir ein schönerer Lohn, als wenn ein
+Kenner gesagt hätte, daß meine Blätter ausgezeichnet seien, das Lob
+der Mutter, daß ich auf den Vater und das väterliche Haus gedacht habe
+und aus Liebe zu beiden, um Freude zu bereiten, eine beschwerliche
+Arbeit unternommen habe, erregte mir die angenehmsten Gefühle, und da
+auch der Vater mit einigen gewählten Worten seinen Dank aussprach und
+sagte, daß er dieses Zartgefühl nicht vergessen werde, konnte ich nur
+mit großer Gewalt die Tränen bemeistern.
+
+Ich gab ihm alle Blätter als Eigentum, und er reihte sie seiner
+Sammlung von Merkwürdigkeiten ein.
+
+Am nächsten Tage packte ich die Zithern aus, legte beide der Schwester
+vor und ließ ihr die Wahl, ob sie die meinige oder die neuangekaufte
+als für sie gehörig annehmen wolle. Sie wählte die neue und freute
+sich darüber sehr. Ich zeigte ihr auch die Stücke, welche ich mir nach
+dem Spiele meines Gebirgslehrmeisters geschrieben hatte, und ließ sie
+ihr in ihrem Zimmer, daß sie sie abschreiben lassen könne und daß sie
+ihre Übungen darnach begönne. Ich versprach ihr, in diesem Winter ihr
+Lehrer in dieser Kunst zu sein.
+
+Nach einiger Zeit brachte ich auch meine Malereien von
+Gebirgslandschaften zum Vorscheine. Ich hatte bis dahin immer nicht
+den Mut dazu gehabt; aber endlich machte mir mein Gewissen zu bittere
+Vorwürfe, daß ich gegen meine Angehörigen Heimlichkeiten habe. Ich
+zeigte meinem Vater die Blätter auch an einem Sonntagsnachmittage. Ich
+blickte ihm erstaunt in das Angesicht, als er dieselben gesehen hatte
+und das Nehmliche sagte, was mein Gastfreund im Rosenhause und was
+Eustach gesagt hatten. Bei diesen letzten beiden hatte es mich nicht
+gewundert, da ich sie für Kenner hielt und da sie Gebirgsbewohner
+waren. Der Vater aber, der zwar Bilder besaß, war ein Kaufherr und
+war nie lange in dem Gebirge gewesen. Es erhöhte dies meine Ehrfurcht
+gegen ihn noch mehr. Er zeigte mir, wo ich unwahr gewesen war,
+und setzte mir auseinander, wie es hätte sein sollen, was ich
+augenblicklich begriff. Das was er lobte und richtig fand, gefiel mir
+selber nachher doppelt so wohl.
+
+Klotilden mußte ich die Blätter noch einmal und allein in ihrem Zimmer
+zeigen. Sie verlangte, daß ich ihr beinahe alles erkläre. Sie war nie
+in höherem oder im Urgebirge gewesen, sie wollte sehen, wie diese
+Dinge beschaffen seien, und sie reizten ihre Aufmerksamkeit sehr.
+Obgleich meine Malereien keine Kunstwerke waren, wie ich jetzt immer
+mehr einsah, so hatten sie doch einen Vorzug, den ich erst später
+recht erkannte und der darin bestand, daß ich nicht wie ein Künstler
+nach Abrundung noch zusammenstimmender Wirkung oder Anwendung von
+Schulregeln rang, sondern mich ohne vorgefaßter Einübung den Dingen
+hingab und sie so darzustellen suchte, wie ich sie sah. Dadurch
+gewannen sie, was sie auch an Schmelz und Einheit verloren, an
+Naturwahrheit in einzelnen Stücken und gaben dem Nichtkenner und dem,
+der nie die Gebirge gesehen hatte, eine bessere Vorstellung als schöne
+und künstlerisch vollendete Gemälde, wenn sie nicht die vollendetsten
+waren, die dann freilich auch die Wahrheit im höchsten Maße trugen.
+Aus diesem Grunde sagte mir Klotilde durch eine Art unbewußter Ahnung,
+sie wisse jetzt, wie die Berge aussehen, was sie aus vielen und guten
+Bildern nicht gewußt hätte. Sie äußerte auch den Wunsch, einmal die
+hohen Berge selber sehen zu können, und meinte, wenn der Vater die
+Reise in das Rosenhaus und in den Sternenhof mache und bei dieser
+Gelegenheit auch die Gebirge besuche, werde sie ihn bitten, sie
+mitreisen zu lassen. Ich erzählte ihr nun recht viel von den Bergen,
+beschrieb ihr ihre Herrlichkeit und Größe, machte sie mit manchen
+Eigentümlichkeiten derselben bekannt und setzte ihr meine
+verschiedenen Reisen in denselben und meine Bestrebungen ausführlicher
+als sonst auseinander. Ich hatte nie so viel von den Gebirgen mit
+ihr geredet. Nach diesen Worten verlangte sie auch, daß ich sie
+unterrichte, ebensolche Abbildungen verfertigen zu können, wie sie
+hier vor ihr liegen. Sie wolle sich Farben und alle andere dazu
+notwendigen Gerätschaften verschaffen. Da sie ohnehin ziemlich gut
+zeichnen konnte, so war die Sache nicht so schwierig als sie beim
+ersten Anscheine ausgesehen hatte. Ich versprach ihr meinen Beistand,
+wenn die Eltern einwilligen würden.
+
+Wir fragten nach einiger Zeit die Eltern. Sie hatten im Ganzen
+nichts dagegen, nur die Mutter verlangte ausdrücklich, daß diese
+Arbeiten nur Nebendinge sein sollen, Dinge zum Vergnügen, nicht
+Hauptbeschäftigungen; denn die Hauptpflicht des Weibes sei ihr Haus,
+diese Dinge können zwar auch recht wohl in das Haus gehören; aber
+einseitig oder gar mit Leidenschaft betrieben, untergraben sie eher
+das Haus, als sie es bauen helfen. Klotilde aber sei schon so alt, daß
+sie sich ihrem künftigen Berufe zuwenden müsse.
+
+Wir begriffen das alles und versprachen, nichts ins Übermaß gehen
+lassen zu wollen.
+
+Es wurden alle Erfordernisse angeschafft, und wir begannen in
+gegönnten Zeiten die Arbeit.
+
+Auch spanisch wollte die Schwester von mir lernen. Ich betrieb es
+fort, und da ich ihr voraus war, wurde ich auch hierin ihr Lehrer,
+was die Mutter mit derselben Einschränkung wie das Landschaftsmalen
+gelten ließ. Es waren also in unserem Hause für dieses Jahr mehr
+Beschäftigungen für mich vorhanden als in anderen Zeiten.
+
+Es war mir in jenem Herbste besonders wunderbar, daß weder Vater noch
+Mutter genauer nach meinem Gastfreunde fragten. Sie mußten entweder
+nach meinen Erzählungen ein entschiedenes Vertrauen in ihn setzen
+oder sie wollten durch zu vieles Einmischen die Unbefangenheit meiner
+Handlungen nicht stören.
+
+
+Bei allen häuslichen Bestrebungen fing ich bei dem herannahenden
+Winter doch ein etwas anderes Leben an, als ich es bisher geführt
+hatte, und zwar ein etwas mannigfaltigeres. Ich hatte in vergangener
+Zeit nur solche Stadtkreise besucht, in welche meine Eltern geladen
+worden waren oder in welche ich durch Freunde, die ich gewann, gezogen
+wurde. Diese Kreise bestanden größtenteils aus Leuten von ähnlichem
+Stande mit dem meines Vaters. Ich spürte Neigung in mir, nun auch
+Sitten und Gebräuche so wie Ansichten und Meinungen solcher Menschen
+kennen zu lernen, die sich auf glänzenderen Lebenswegen befanden. Der
+Zufall gab bald hier, bald da Gelegenheit dazu, und teils suchte ich
+auch Gelegenheiten. Es geschah, daß ich Bekanntschaften machte und
+mitunter auch fortsetzen konnte. Ich lernte Leute von höherem Adel
+kennen, lernte sehen, wie sie sich bewegen, wie sie sich gegenseitig
+behandeln und wie sie sich gegen solche, die nicht ihres Standes sind,
+benehmen.
+
+Es lebte eine alte, edle, verwittwete Fürstin in unserer Stadt, deren
+zu früh verstorbener Gemahl den Oberbefehl in den letzten großen
+Kriegen geführt hatte. Sie war häufig mit ihm im Felde gewesen und
+hatte da die Verhältnisse von Kriegsheeren und ihren Bewegungen kennen
+gelernt, sie war in den größten Städten Europas gewesen und hatte
+die Bekanntschaft von Menschen gemacht, in deren Händen die ganzen
+Zustände des Weltteiles lagen, sie hatte das gelesen, was die
+hervorragendsten Männer und Frauen in Dichtungen, in betrachtenden
+Werken und zum Teile in Wissenschaften, die ihr zugänglich waren,
+geschrieben haben, und sie hatte alles Schöne genossen, was die Künste
+hervorbringen. Einstens war sie in den höheren Kreisen eine der
+außerordentlichsten Schönheiten gewesen, und noch jetzt konnte man
+sich kaum etwas Lieblicheres denken als die freundlichen, klugen und
+innigen Züge dieses Angesichtes. Ein Mann, der sich viel mit Gemälden
+und ihrer Beurteilung abgab und oft in die Nähe der Fürstin kam, sagte
+einmal, daß nur Rembrandt im Stande gewesen wäre, die feinen Töne und
+die kunstgemäßen Übergänge ihres Angesichtes zu malen. Sie hatte jetzt
+eine Wohnung an der Ostgrenze der innern Stadt, damit die Morgensonne
+ihre Zimmer füllte und damit sie den freien Blick über das frische
+Grün und auf die entfernten Vorstädte hätte. Blühende Söhne in hohen
+kriegerischen Würden besuchten die alte, ehrwürdige Mutter hier, so
+oft ihr Dienst ihre Anwesenheit in der Stadt gestattete und so oft
+während dieser Anwesenheit ein Augenblick es erlaubte. Schöne Enkel
+und Enkelinnen gingen bei ihr aus und ein, und eine zahlreiche
+Verwandtschaft wurde bald in diesen, bald in jenen Mitgliedern in
+ihren Zimmern gesehen. Aber geistige Erholung oder Anstrengung -
+wie man den Ausdruck nehmen will - war ihr ein Bedürfnis geblieben.
+Sie wollte nicht bloß das wissen, was jetzt noch auf den geistigen
+Gebieten hervor gebracht wurde, und in dieser Beziehung, wenn irgend
+ein Werk Ruhm erlangte und Aufsehen machte, suchte sie auch an dessen
+Pforte zu klopfen und zu sehen, ob sie eintreten könnte; sondern sie
+nahm oft auch ein Buch von solchen Personen in die Hand, die in ihre
+Jugendzeit gefallen und dort bedeutsam gewesen waren, sie ging das
+Werk durch und forschte, ob sie auch jetzt noch die zahlreichen, mit
+Rotstift gemachten Zeichen und Anmerkungen wieder in derselben Art
+machen oder ob sie andere an ihre Stelle setzen würde; ja sie nahm
+Werke der ältesten Vergangenheit vor, die jetzt die Leute, außer sie
+wären Gelehrte, nur in dem Munde führen, nicht lesen; sie wollte doch
+sehen, was sie enthielten, und wenn sie ihr gefielen, wurden sie
+nach manchen Zwischenzeiten wieder hervorgeholt. Von dem, was in den
+Verhältnissen der Staaten und Völker vorging, wollte sie beständig
+unterrichtet sein. Sie empfing daher von manchen ihrer Verwandten und
+Bekannten Briefe, und die vorzüglichsten Zeitungsblätter mußten auf
+ihren Tisch kommen. Weil aber, obwohl ihre Augen noch nicht so schwach
+waren, das viele Lesen, das sie sich hatte auflegen müssen, bei
+ihrem Alter doch hätte beschwerlich werden können, hatte sie eine
+Vorleserin, welche einen Teil, und zwar den größten, des Lesestoffes
+auf sich nahm und ihr vortrug. Diese Vorleserin war aber keine bloße
+Vorleserin, sondern vielmehr eine Gesellschafterin der Fürstin, die
+mit ihr über das Gelesene sprach und die eine solche Bildung besaß,
+daß sie dem Geiste der alten Frau Nahrung zu geben vermochte, so
+wie sie von diesem Geiste auch Nahrung empfing. Nach dem Urteile
+von Männern, die über solche Dinge sprechen können, war die
+Gesellschafterin von außerordentlicher Begabung, sie war im Stande,
+jedes Große in sich aufzunehmen und wiederzugeben, so wie ihre eigenen
+Hervorbringungen, zu denen sie sich zuweilen verleiten ließ, zu den
+beachtenswertesten der Zeit gehörten. Sie blieb immer um die Fürstin,
+auch wenn diese im Sommer auf ein Landgut, das in einem entfernten
+Teile des Reiches lag und ihr Lieblingsaufenthalt war, ging, oder wenn
+sie sich auf Reisen befand oder eine Zeit an einer schönen Stelle
+unsers Gebirges weilte, wie sie gerne tat. An manchen Abenden zu der
+Zeit, da sie in der Stadt war, sammelte die Fürstin einen kleinen
+Kreis um sich, in welchem entweder etwas vorgelesen wurde oder in
+welchem man über wissenschaftliche oder gesellige oder Staatsdinge
+oder Dinge der Kunst sprach. Die Kreise waren regelmäßig an gleichen
+Tagen der Woche, sie waren in der Stadt bekannt, wurden sehr hoch
+geachtet oder verspottet, wie eben der Beurteilende war, wurden
+gesucht und bestanden zuweilen aus sehr bedeutenden Personen. In diese
+Kreise hatte ich Zutritt erlangt. Die Fürstin hatte mich einige Male
+getroffen, es war einmal von meiner Wissenschaft die Rede gewesen, sie
+war sehr neugierig, was man denn von der Geschichte der Erdbildung
+wisse und aus welchen Umständen man seine Schlüsse ziehe, und sie
+hatte mich in ihre Nähe gezogen. Ich hörte aufmerksam zu, wenn ich an
+den bestimmten Abenden in ihrem Gesellschaftszimmer war, sprach selber
+wenig und meistens nur, wenn ich dazu aufgefordert wurde. Die Fürstin
+saß in schwarzem oder aschgrauem Seidenkleide - lichtere trug sie nie
+- in ihrem Polsterstuhle und hatte einen Schemel unter ihren Füßen.
+Die Lampe trug gegen ihre Seite hin einen grünen Schirm und goß ihr
+Licht in die Gegend der Vorleserin oder des Vorlesers, wenn eben
+gelesen wurde. Die Andern saßen nach ihrer Bequemlichkeit herum.
+Meistens bildete sich von selber eine Art Kreis. Man hörte in tiefer
+Stille dem Vorlesen zu und nahm an den Gesprächen, die nach dem Lesen
+folgten oder die, wenn gar keine Vorlesung war, den ganzen Abend
+erfüllten, den eifrigsten Anteil. Die Fürstin konnte ihnen den
+lebhaftesten und tiefsten Fortgang geben. Es schien, daß das, was die
+vorzüglichsten Männer in ihrer Gegenwart sprachen, von ihr angeregt
+wurde und daß ihre größte Gabe darin bestand, das, was in Anderen war,
+hervor zu rufen. Sie saß dabei mit ihrer äußerst zierlichen Gestalt
+auf die anmutigste Weise in ihrem Stuhle und bewegte noch als
+hochbetagte Frau die Gesellschaft mit ihrer herrlichen Schönheit.
+Zuweilen, wenn sich ihr Inneres erregte, stand sie auf, hielt sich
+an ihrem Stuhle und erklärte und sprach zu den Anwesenden mit ihrer
+klaren, zarten, wohllautenden Stimme.
+
+Ich lernte verschiedene Menschen in den Zimmern der Fürstin
+kennen. Zuweilen war es ein hervorragender Künstler, den man dort
+sprechen hörte, zuweilen ein Staatsmann, der mit den wichtigsten
+Angelegenheiten unseres Landes betraut war, oder es war sonst eine
+bedeutende Persönlichkeit der Gesellschaft, oder es waren die Säulen
+und die Führer unseres tapferen Heeres. Ich hörte bei der Fürstin
+Aussprüche, die ich mir merken wollte, die ich mir aufschrieb und die
+mir ein unveräußerliches Eigentum bleiben sollten. Ich gestehe es,
+daß ich nie ohne eine gewisse Beklemmung in das Zimmer mit den
+blaubemalten Wänden und den dunkelblauen Geräten und den einigen
+Bildern, worunter mich besonders das anzog, welches ihren Landsitz
+darstellte, trat, und ich gestehe es, daß ich nie das Zimmer ohne Ruhe
+und Befriedigung verließ. Ich empfand, daß jene Abende für mich von
+großer Bedeutung, daß sie eine Zukunft seien.
+
+Außer den besonders hervorragenden Menschen lernte ich bei der Fürstin
+auch noch andere Personen, des höheren Adels unseres Reiches, kennen,
+kam manches Mal mit den Kreisen desselben in Berührung und sah seine
+Art, seine Lebensweise und seine Sitten.
+
+
+Neben diesen Abteilungen der menschlichen Gesellschaft kam ich auch
+mit anderen zusammen. Es war in der Stadt ein öffentlicher Ort,
+welcher hauptsächlich von Künstlern aller Art besucht wurde, welche
+sich dort besprachen, Erfrischungen zu sich nahmen, Zeitungen lasen
+oder sich mit körperlichen Spielen ergötzten. Diesen Ort besuchte ich
+gerne. Da war der eine oder der andere Schauspieler von der Hofbühne
+oder von der Oper, da war ein Maler, dessen Namen damals hoch
+gepriesen wurde, da waren Tonkünstler, sowohl ausübende als dichtende,
+da waren Bildhauer und Baumeister, vorzüglich aber waren es
+Schriftsteller und Dichter, und es befanden sich darunter auch
+Vorstände und Mitarbeiter an Zeitungsanstalten.
+
+Von anderen Personen waren höhere Staatsdiener, Bürger, Kaufleute und
+überhaupt solche vorhanden, die einen Anteil an Kunst und Wissenschaft
+und an einem dahin abzielenden Umgange nahmen. Wenn auch eigentlich
+nur eine ungezwungene Heiterkeit herrschte, wenn auch nur Spiele zu
+körperlicher Bewegung und daneben das Schachspiel vorzuherrschen
+schienen, so waren doch auch Gespräche und, wie es bei solchen Männern
+zu erwarten war, Gespräche sehr lebhafter Natur im Gange, und waren
+doch im Grunde die Hauptsache. Da konnte man in leichten Worten den
+tiefen Geist des Einen sehen oder den ruhigen, der alles zersetzt
+und in seine Bestandteile auflöst, oder den lebhaften, der darüber
+weggeht, oder den leichtfertigen, der alles verlacht, oder den, dessen
+Sitten selbst ein wenig bedenklich waren. Oft war es nur ein Wort, ein
+Witz, der den Grund geben konnte, um Schlüsse zu bauen. Trotz meiner
+Schüchternheit, die mich ferne hielt, geriet ich doch in Gespräche
+und lernte den einen und andern Mann von denen kennen, die sich hier
+einfanden. Selbst das äußere Benehmen und Gebaren von Männern, die
+sonst solche Geltung haben, schien mir nicht gleichgiltig.
+
+Ich besuchte in jenem Winter auch gerne Orte, an welchen sich
+viele Menschen zu ihren Vergnügungen versammeln, um die Art ihrer
+Erscheinung, ihr Wesen und ihr Verhalten als eines Ganzen sehen zu
+können. Vorzüglich ging ich dahin, wo das eigentliche Volk, wie man es
+jetzt häufig zum Gegensatze der sogenannten Gebildeten nennt, zusammen
+kömmt. Die man gebildet nennt, sind fast überall gleich; das Volk
+aber ist ursprünglich, wie ich es bei meinen Wanderungen schon kennen
+lernte, und hat seine zugearteten Bräuche und Sitten.
+
+Ich ging in die guten Darstellungen von Musikstücken, ich fuhr im
+Besuche des Hoftheaters fort, ging jetzt auch in die Oper und besuchte
+manche öffentliche wissenschaftliche Vorträge, dann Kunst- und
+Büchersammlungen, hauptsächlich aber zur Vervollkommnung meiner
+eigenen künftigen Arbeiten die Sammlungen von Gemälden.
+
+Den Umgang mit meinem neuen Freunde, dem Sohne des Juwelenhändlers,
+setzte ich fort. Wir begannen endlich in der Tat einen eigenen
+Unterrichtsgang über Edelsteine und Perlen. Zwei Tage in der Woche
+waren festgesetzt, an denen ich zu einer bestimmten, für ihn
+verfügbaren Stunde kam und so lange blieb, als es eben seine Zeit
+gestattete. Er führte mich zuerst in die Kenntnis aller jener
+Mineralien ein, welche man Edelsteine nennt und vorzüglich zu Schmuck
+benützt. Ebenso zeigte er mir alle Gattungen von Perlen. Hierauf
+unterrichtete er mich in dem Verfahren, die Juwelen zu erkennen und
+von falschen zu unterscheiden. Später erst ging er auf die Merkmale
+der schönen und der minder schönen über. Bei diesem Unterrichte kamen
+mir meine Kenntnisse in den Naturwissenschaften sehr zu statten, ja
+ich war sogar im Stande, durch Angaben aus meinem Fache die Kenntnisse
+meines Freundes zu erweitern, besonders was das Verhalten der
+Edelsteine zum Lichtdurchgang, zur doppelten Brechung und zu der
+sogenannten Polarisation des Lichtes anbelangt. Ich hatte aber noch
+immer nicht den Mut, über die gebräuchliche Fassung der Edelsteine mit
+ihm zu sprechen und meine Gedanken hierüber ihm mitzuteilen.
+
+Unter diesen Dingen ging neben meinen eigentlichen Arbeiten der
+Unterricht, den ich meiner Schwester gab, regelmäßig fort. In der
+Malerei hatte sie noch viel größere Schwierigkeiten als ich, weil sie
+einesteils weniger geübt war und weil sie andernteils die Urbilder
+nicht gesehen, sondern nur fehlerhafte Abbilder vor sich hatte. Im
+Zitherspiel ging es weit besser. Ich wurde heuer ein wirksamerer
+Lehrer, als ich es in dem vergangenen Jahre gewesen war, und konnte
+nach dem, was ich gelernt hatte, überhaupt ein besserer Lehrer für
+sie sein, als einer in der Stadt zu finden gewesen wäre, obwohl diese
+Schwierigkeiten überwanden, deren Besiegung mir und Klotilden eine
+Unmöglichkeit gewesen wäre. Nach meinen Ansichten, die ich in den
+Bergen gelernt hatte, kam es aber darauf nicht an. Wir lernten
+endlich wechselweise von einander und brachten manche freudige und
+empfindungsreiche Stunde an der Zither zu.
+
+Ich mußte zuletzt Klotilden auch im Spanischen unterrichten. Da ich
+immer einige Schritte von ihr voraus war, so konnte ich allerdings
+einen Lehrer für sie wenigstens in den Anfangsgründen vorstellen. Wie
+es im weiteren Verlaufe zu machen wäre, würde sich zeigen. Wir lebten
+uns in ein wechselseitiges Tätigkeitsleben hinein.
+
+So verging der Winter, und ich blieb damals bis ziemlich tief in das
+Frühjahr hinein bei den Meinigen in der Stadt.
+
+
+
+Die Annäherung
+
+Obwohl fast den ganzen Winter hindurch davon die Rede gewesen war,
+daß mich der Vater in dem nächsten Frühlinge in das Gebirge begleiten
+werde und daß er bei dieser Gelegenheit den Mann im Rosenhause
+besuchen wolle, um dessen Seltenheiten und Kostbarkeiten zu sehen, so
+hatte er doch, als der Frühling gekommen war, nicht Zeit, sich von
+seinen Geschäften zu trennen, und ich mußte wie in allen früheren
+Jahren meine Reise allein antreten.
+
+Als ich zu meinem Gastfreunde gekommen war, war das Erste, daß ich
+ihm von den Wandverkleidungen erzählte. Ich hatte früher ihrer nicht
+erwähnt, weil ich sie doch nicht für so wichtig gehalten hatte. Ich
+erzählte ihm, daß ich sie in dem Lauterthale gefunden und gekauft
+habe und daß sie aus Schnitzarbeit von Gestalten und Verzierungen
+bestanden. Der Vater, dem ich sie gebracht, habe eine große Freude
+darüber gehabt, habe sie nicht nur mit großem Vergnügen empfangen,
+sondern habe auch einen Teil eines Nebenbaues unseres Hauses umgebaut,
+um die Verkleidungen geschickt anbringen zu können. Dieses letztere
+habe mir erst gezeigt, wie wert der Vater diese Dinge halte, und
+dies habe mich bestimmt, noch genauer nachzuforschen, ob ich denn
+die Ergänzungen zu dem Getäfel nicht aufzufinden vermöge; denn
+das, was der Vater habe, seien nur Bruchstücke, und zwar zwei
+Pfeilerverkleidungen, das übrige fehle. Ich habe wohl schon
+Nachforschungen in der besten Art, wie ich glaube, angestellt; aber
+ich wolle sie doch noch fortsetzen und versuchen, ob ich nicht noch
+neue Mittel und Wege auffinden könne, zu meinem Ziele, wenn es noch
+vorhanden sei, zu gelangen oder die größtmögliche Gewißheit zu
+erhalten, daß das Gesuchte nicht mehr bestehe.
+
+Ich beschrieb meinem Gastfreunde, so gut ich es aus der Erinnerung
+konnte, die Vertäflungen und machte ihn mit dem Fundorte und den
+Nebenumständen bekannt. Ich verhehlte ihm nicht, daß ich das darum
+tue, daß er mir einen Rat geben möge, wie ich etwa weiter vorzugehen
+habe. Es handle sich um einen Gegenstand, der meinem Vater nahe gehe.
+Nicht vorzüglich, weil diese Dinge schön seien, obwohl dies auch ein
+Antrieb für sich sein könnte, sondern hauptsächlich darum suche ich
+darnach zu forschen, weil sie dem Vater Freude machen. Je älter er
+werde, desto mehr schließe er sich in einem engen Raume ab, sein
+Geschäftszimmer und sein Haus werden nach und nach seine ganze Welt,
+und da seien es vorzüglich Werke der bildenden Kunst und die Bücher,
+mit denen er sich beschäftige und die Wirkung, welche diese Dinge auf
+ihn machen, wachse mit den Jahren. Er habe sich von dem Schnitzwerke
+in den ersten Tagen kaum trennen können, er habe es in allen Teilen
+genau betrachtet und sei zuletzt so mit demselben bekannt geworden,
+als wäre er bei dessen Verfertigung zugegen gewesen. Darum wolle ich
+so vorgehen, daß ich mich nicht in die Lage setze, mir einen Vorwurf
+machen zu müssen, daß ich in meinen Nachforschungen etwas versäumt
+habe. Bisher seien sie freilich fruchtlos gewesen.
+
+Mein Gastfreund fragte mich noch um einige Teile des Werkes und seines
+Auffindens, die ich ihm nicht dargestellt hatte oder die ihm dunkel
+geblieben waren, und ließ sich die Örtlichkeiten des Auffindens noch
+einmal auf das Umständlichste beschreiben. Hierauf sagte er mir, ich
+möge an meinen Vater ungesäumt einen Brief senden und ihn bitten, die
+genauen Ausmaße des Schnitzwerkes nach Außen und nach Innen zu nehmen
+und mir zu schicken. Ich begriff augenblicklich die Zweckmäßigkeit der
+Maßregel und schämte mich, daß sie mir selber nicht früher eingefallen
+war. Er selber wolle vorläufig an Roland schreiben und ihm dann,
+wenn sie eingelangt wären, die Ausmaße schicken. Auch wolle er seine
+Geschäftsführer in jener Gegend beauftragen, sich um die Sache zu
+bemühen. Wenn das Gesuchte zu finden ist, so dürfte Roland der
+geeignetste Mithelfer sein, und die anderen Männer, die er noch
+auffordern werde, hätten sich schon in den verschiedensten
+Gelegenheiten sehr erprobt.
+
+Ich dankte meinem Gastfreunde auf das Verbindlichste für seine
+Gefälligkeit und versprach, in nichts säumig zu sein.
+
+Am nächsten Morgen trug ein Bote meinen Brief an den Vater und die
+Briefe meines Gastfreundes an Roland und andere Männer auf die nächste
+Post. Mein Gastfreund mußte bis in die tiefe Nacht geschrieben haben,
+denn es war ein ganzes Päckchen von Briefen. Mich rührte diese Güte
+außerordentlich, denn ich wußte nicht, wie ich sie verdient hatte.
+
+
+Daß ich in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in dem Rosenhause
+gleich an alle Orte ging, die mir lieb waren, begreift sich.
+
+In dem Zeichnungszimmer Eustachs fand ich den Musiktisch fertig. Es
+war seit seiner Vollendung erst eine kurze Zeit verflossen, deshalb
+stand er noch an dieser Stelle. Ich hatte nicht geahnt, daß das Werk,
+das ich bei Beginn seiner Wiederherstellung gesehen hatte, sich so
+darstellen würde, wenn es fertig wäre. Ich hatte Bilder, Bauwerke,
+Zeichnungen und dergleichen in jüngster Zeit in großer Menge gesehen
+und selber ähnliche Dinge verfertigt, ich konnte mir daher in solchen
+Sachen ein kleines Urteil zutrauen; aber, wenn ich nicht gewußt hätte,
+daß der Rahmen und das Gestelle des Tisches neu gemacht worden sei, so
+hätte ich es nie erkannt, so sehr paßte beides im Baue, in der ganzen
+Art und selbst in der Farbe des Holzes zu der Platte. Das ganze
+Werk stand rein, glänzend und klar vor den Augen. Die Farbe der
+verschiedenen Hölzer an den Verzierungen, am Laubwerke, am Obste und
+an den Geräten trat unter der Macht des Harzes kräftig und scharf
+hervor. Selbst die Mißverhältnisse der Größen in den verschiedenen
+eingelegten Geräten, zum Beispiele zwischen der Flöte, der Geige, der
+Trommel, welche mir bei meinem ersten Besuche in dem Schreinerhause
+Anstoß gegeben hatten, erschienen mir jetzt als naiv und hatten etwas
+Anziehendes für mich, welches mir die Tischplatte lieber machte als
+wenn sie ganz fehlerfrei oder etwa nach neuen Kunstbegriffen gemacht
+gewesen wäre. Ich fragte Eustach, wohin der Tisch zu stehen kommen
+würde. Er konnte es mir nicht sagen. Es sei darüber nichts eröffnet
+worden, ob er in dem Hause bleiben oder ob er irgend wohin versendet
+werden würde. Jetzt bleibe er hier stehen, damit alle Nachtrocknungen
+in jener allmählichen Stufenfolge vor sich gehen können, wie sie bei
+jedem neuverfertigten Geräte eintreten müssen, daß es nicht Schaden
+leide. Die meisten der neuverfertigten oder wiederhergestellten Werke
+seien zu diesem Zwecke in dem Zeichnungszimmer stehen geblieben, wenn
+sie anders dort Platz hatten. Ich betrachtete den Tisch noch eine
+Weile und ging dann zu andern Gegenständen über.
+
+Auch die Gärtnerleute besuchte ich, die Leute des Meierhofes, die
+Gartenarbeiter, die Dienstleute des Hauses und einige Nachbaren, zu
+denen wir früher öfter gekommen waren und die ich näher kennen gelernt
+hatte.
+
+Obwohl ich nach dem Rate und der Einladung meines Gastfreundes
+entschlossen war heuer meine Berufsarbeit, wenigstens jenes Berufes,
+den ich mir selber aufgelegt hatte, ruhen zu lassen, sondern einen
+Teil des Sommers in dem Rosenhause zu verleben und mich meiner Laune
+und dem Augenblicke hinzugeben: hatte ich doch nicht den Willen, gar
+nichts zu tun, was mir die größte Qual gewesen wäre, sondern mich bei
+meinen Handlungen von meinem Vergnügen und der Gelegenheit leiten
+zu lassen. Mein Gastfreund hatte mir die nehmlichen zwei Zimmer
+eingeräumt, welche ich bisher stets inne gehabt hatte, und freute
+sich, daß ich seinen Rat befolgen und einmal auch anderswohin sehen
+wolle als immer einseitig auf meine Arbeiten, und daß ich einmal
+zu einem allgemeineren Bewußtsein kommen wolle, als zu dem ich
+mich bisher gebannt hätte. Ich hatte viele Bücher und Schriften
+mitgebracht, hatte alle Werkzeuge zur Ölmalerei bei mir und hatte doch
+aus Vorsicht auch einige Vorrichtungen zu Vermessungen und dergleichen
+eingepackt.
+
+Wenn man von dem Rosenhause über den Hügel, auf dem der große
+Kirschbaum steht, nordwärts geht, so kömmt man in die Wiese, durch
+welche der Bach fließt, an dem mein Gastfreund jene Erlengewächse
+zieht, welche ihm das schöne Holz liefern, das er neben anderen
+Hölzern zu seinen Schreinerarbeiten verwendet. Wir waren öfter zu
+diesem Bache gekommen und seinen Ufern entlang gegangen. Er floß aus
+einem Gehölze hervor, in welchem mein Gastfreund einige Wasserwerke
+hatte aufführen lassen, um die Wiese vor Überschwemmungen zu sichern
+und die Verwilderung des Baches zu verhindern. Im Innern des Gehölzes
+befindet sich ein ziemlich großer Teich, eigentlich ein kleiner See,
+da er nicht mit Kunst angelegt, sondern größtenteils von selber
+entstanden war. Nur Geringes hatte man hinzu gefügt, um nicht
+Versumpfungen an seinen Rändern und Überflutungen bei seinem Ausflusse
+entstehen zu lassen. Das Wasser dieses Waldbeckens ist so klar, daß
+man in ziemlicher Tiefe noch alle die bunten Steine sehen kann, welche
+auf dem Grunde liegen. Nur schienen sie grünlich blau gefärbt, wie es
+bei allen Wässern der Fall ist, die aus unsern Kalkalpen oder in deren
+Nähe fließen. Rings um dieses Wasser ist das Gezweige so dicht, daß
+man keinen Stein und kaum einen Uferrand sehen kann, sondern die
+Zweige aus dem Wasser zu ragen scheinen. Die Bäume, die da stehen,
+sind eines Teils Nadelholz, das mit seinem Ernste sich in die
+Heiterkeit mischt, die auf den Ästen, Blättern und Wipfeln der
+Laubbäume ruht, die den vorherrschenden Teil bilden. Vorzugsweise ist
+die Erle, der Ahorn, die Buche, die Birke und die Esche vorhanden.
+Zwischen den Stämmen ist reichliches Wuchergestrippe. Der Bach in der
+Erlenwiese meines Gastfreundes verdankt dem See sein Dasein; aber
+da dieser aus Quellzuflüssen lebt, so ist der ausfließende Bach
+oft so trocken, daß man, ohne sich die Sohle zu netzen, über seine
+hervorragenden Steine gehen kann. Wo er aus dem See geht, ist eine
+kleine Hütte erbaut, die den Hauptzweck hat, daß die, welche in dem
+See sich baden wollen, in ihr sich entkleiden können. Der Seegrund
+geht mit seinen schönen Kieseln so sachte in die Tiefe, daß man
+ziemlich weit vorwärts gehen und das wallende Wasser genießen kann
+ohne den Grund zu verlieren. Auch zum Lernen des Schwimmens ist dieser
+Teil sehr geeignet, weil man an allen Stellen Grund findet und sich
+unbefangener den Übungen hingeben kann. Weiter draußen beginnt das
+Gebiet derer, die ihrer Arme und ihrer Bewegungen schon vollständig
+Herr sind. Gustav ging an Sommertagen fast jeden zweiten Tag mit
+Eustach oder mit jemand anderm oder zuweilen auch mit meinem
+Gastfreunde zu dem See hinaus, um in demselben zu schwimmen. Diese
+Tätigkeit, so wie die andern Körperbewegungen und Übungen, die für
+ihn in dem Rosenhause angeordnet waren, schienen ihm viele Freude zu
+machen. Mein Gastfreund hielt auf körperliche Übungen sehr viel, da
+sie zur Entwicklung und Gesundheit unumgänglich notwendig seien. Er
+lobte diese Übungen sehr an den Griechen und Römern, welche beiden
+Völker er auf eine hervorragende Weise ehrte. Das liege auf der Hand,
+pflegte er zu sagen, daß, so wie die Krankheit des Körpers den Geist
+zu etwas anderem mache, als er in der Gesundheit des Körpers ist, ein
+kräftiger und in hohem Maße entwickelter Körper die Grundlage zu allem
+dem abgebe, was tüchtig und herzhaft heißt. Bei den alten Römern ist
+ein großer Teil ihrer Erfolge in der Geschichte und ihres früheren
+Glückes in der Pflege und Entwicklung ihres Körpers zu suchen. Ihr
+Glück dauerte auch nur so lange, als die vernünftige Pflege ihrer
+Leibesübungen dauerte. In neuen Schulen vernachlässige man diese
+Pflege zu sehr, die bei uns um so notwendiger wäre, als sich durch
+das Zusammengehäuftsein in dunstigen und heißen Stuben ohnehin Übel
+erzeugen, die dem Aufenthalte in freier Luft fremd sind. Darum werden
+auch die Geisteskräfte von Schülern der neuen Zeit nicht entwickelt
+wie sie sollten und wie sie es bei Kindern, die in Wald und Feldern
+schweifen, freilich auf Kosten ihres höheren Wesens, wirklich sind.
+Daher stamme ein Teil der Schalheit und Trägheit unserer Zeiten. Ich
+ging mit Gustav jetzt, da ich viele Muße hatte, sehr fleißig zu dem
+Wäldchen, und da ich in der Kunst des Schwimmens eine große Fertigkeit
+hatte, so sah er an mir ein Vorbild, dem er nachstreben konnte, und
+lernte Gelenkigkeit und Ausdauer mehr, als er es ohne mich gekonnt
+hätte.
+
+Überhaupt gewann Gustav eine immer größere Neigung zu mir. Es mochte,
+wie ich mir schon früher gedacht hatte, zuerst der Umstand eingewirkt
+haben, daß ich ihm an Alter nicht so sehr ferne stand. Dazu mochte
+sich gesellt haben, daß ich, der ich eigentlich sehr einsam und
+abgeschlossen erzogen worden war, viel tiefer in spätere Jahre hinein
+die Merkmale der Kindheit bewahrt haben mochte als andere Leute,
+die gleichen Alters mit mir waren, und zuletzt konnte jetzt
+auch das wirken, daß ich bei meiner Geschäftlosigkeit viel
+mehr Berührungspunkte mit ihm fand, als es bei meinen früheren
+Anwesenheiten in dem Rosenhause der Fall gewesen war.
+
+Ich schrieb nun auf dem Asperhofe mehr Briefe als sonst, ich las in
+Dichtern, betrachtete alles um mich herum, schweifte oft weit in die
+Gegend hinaus; aber diese Lebensweise wurde mir bald beschwerlich, und
+ich suchte etwas hervor, was mich tiefer beschäftigte. Die Dichter als
+das Edelste, was mir jetzt begegnete, riefen wieder das Malen hervor.
+Ich richtete meine Zeichnungsgeräte und meine Vorrichtungen zur
+Malerei in den Stand und begann wieder meine Übungen im Malen der
+Landschaft. Ich malte je nach der Laune bald ein Stück Himmel, bald
+eine Wolke, bald einen Baum oder Gruppen von Bäumen, entfernte Berge,
+Getreidehügel und dergleichen. Auch schloß ich menschliche Gestalten
+nicht aus und versuchte Teile derselben. Ich versuchte das Antlitz
+des Gärtners Simon und das seiner Gattin auf die Leinwand zu bringen.
+Die beiden Leute hatten eine große Freude über das Ding, und ich gab
+ihnen die Bilder in ihre Stube, nachdem ich vorher nette Rahmen dazu
+bestellt und in der Zeit, bis sie eintrafen, mir Abbilder von den
+Köpfen für meine eigene Mappe gemacht hatte. Ich malte die Hände oder
+Büsten verschiedener Leute, die sich in dem Rosenhause oder in dem
+Meierhofe befanden. Meinen Gastfreund oder Eustach oder Gustav zu
+bitten, daß sie mir als Gegenstand meiner Kunstbestrebungen dienen
+sollten, hatte ich nicht den Mut, weil die Erfolge noch gar zu
+unbedeutend waren.
+
+
+Gustav nahm unter allen den größten Anteil an diesen Dingen. So wie er
+im vorigen Jahre Geräte mit mir gemalt hatte, versuchte er es heuer
+auch mit den Landschaften. Sein Ziehvater und sein Zeichnungslehrer
+hatten nichts dagegen, da nur freie Stunden zu diesen Beschäftigungen
+verwendet wurden, da seine Körperübungen nicht darunter zu leiden
+hatten und da sich dadurch das Band zwischen mir und ihm noch mehr
+befestigte, was mein Gastfreund nicht ungern zu sehen schien, da
+doch zuletzt der Jüngling niemanden hatte, an wen er das Gefühl der
+Freundschaft leiten sollte, das in seinen Jahren so gerne erwacht und
+das sich in sanftem Zuge an einen Gegenstand richtet. Da unter seiner
+Hand ein Baum, ein Stein, ein Berg, ein Wässerchen in lieblichen
+Farben hervorging, hatte er eine unaussprechliche Freude. Bei Eustach
+hatte er nur größtenteils Bau- und Gerätezeichnungen gesehen, und
+Roland hatte auch nur Ähnliches von seinen Reisen zurück gebracht. Was
+von Landschaften in der Gemäldesammlung seines Ziehvaters hing, auf
+denen er wohl grüne Bäume, weiße Wolken, blaue Berge beobachten
+konnte, hatte er nie um seine Entstehung angeschaut, sondern die Dinge
+waren da, wie auch andere Dinge da sind, das Haus, der Getreidehügel,
+der Berg, der ferne Kirchturm, und er hatte nicht daran gedacht, daß
+auch er solche Gegenstände hervorzubringen vermochte. Er redete auf
+Spaziergängen davon, wie dieser Baum sich baue, wie jener Berg sich
+runde, und er erzählte mir, daß ihm oft von dem Zeichnen lebhaft
+träume.
+
+Man ließ den Jüngling auch auf größere Entfernungen von dem Rosenhause
+mit mir gehen. Seine Arbeiten wurden dabei so eingerichtet, daß,
+wenn sie auch unterbrochen werden mußten, ein wesentlicher Schaden
+sich nicht einstellen konnte. Dafür gewann er an Gesundheit und
+körperlicher Abhärtung bedeutend. Wir waren nicht selten mehrere Tage
+abwesend, und Gustav vergnügte es sehr, wenn wir Abends nach unserem
+leichten Mahle in einem Gasthause in unser Zimmer gingen, wenn er
+durch die Fenster auf eine fremde Landschaft hinausschauen konnte,
+wenn er sein Ränzlein und seine Reisesachen auf dem Tische zurecht
+richten und dann die ermüdeten Glieder auf dem Gastbette ausstrecken
+durfte. Wir bestiegen hohe Berge, wir gingen an Felswänden hin, wir
+begleiteten den Lauf rauschender Bäche und schifften über Seen.
+
+Er wurde stark, und das zeigte sich sichtbar, wenn wir von einer
+Gebirgswanderung - denn fast immer gingen wir in das Gebirge -
+zurückkehrten, wenn seine Wangen gebräunt waren, als wollten
+sie beinahe schwarz werden, wenn seine Locken die dunkle Stirne
+beschatteten und die großen Augen lebhaft aus dem Angesichte hervor
+leuchteten. Ich weiß nicht, welcher innere Zug von Neigung mich zu dem
+Jünglinge hinwendete, der in seinem Geiste zuletzt doch nur ein Knabe
+war, den ich über die einfachsten Dinge täglicher Erfahrung belehren
+mußte, namentlich, wenn es Wanderungsangelegenheiten waren, und der
+mir in seiner Seele nichts bieten konnte, wodurch ich erweitert und
+gehoben werden mußte, es müßte nur das Bild der vollkommensten Güte
+und Reinheit gewesen sein, das ich täglich mehr an ihm sehen, lieben
+und verehren konnte.
+
+Ich ging auch einige Male zu dem Lautersee. Ich hatte im vorigen Jahre
+angefangen, seine Tiefe an verschiedenen Stellen zu messen, um ein
+Bild darzustellen, in welchem sich die Berge, die den See umstanden,
+sichtbar auch unter der Wasserfläche fortsetzten und nur durch einen
+tieferen Ton gedämpft waren. Der Reiz, den diese Aufnahme herbei
+geführt hatte, stellte sich wieder ein, und ich setzte die Messungen
+nach einem Plane fort, um die Talsohle des Sees immer richtiger zu
+ergründen und das Bild einer größeren Sicherstellung entgegen zu
+führen. Gustav begleitete mich mehrere Male und arbeitete mit den
+Männern, die ich gedungen hatte, das Schiff zu lenken, die Schnüre
+auszuwerfen, die Kloben zu richten, an denen sich die Senkgewichte
+abwickelten, oder andere Dinge zu tun, die sich als notwendig
+erwiesen.
+
+Besondere Freude machte es mir, daß ich nach und nach die Feinheiten
+des menschlichen Angesichtes immer besser behandeln lernte, besonders,
+was mir früher so schwer war, wenn der leichte Duft der Farbe über die
+Wangen schöner Mädchen ging, die sich sanft rundeten, schier keine
+Abwechslung zeigten und doch so mannigfaltig waren. Mir waren die
+Versuche am angenehmsten, das Liebliche, Sittige, Schelmische, das
+sich an manchen jungen Land- oder Gebirgsmädchen darstellte, auf der
+Leinwand nachzuahmen.
+
+
+Eines Abends, da Blitze fast um den ganzen Gesichtskreis leuchteten
+und ich von dem Garten gegen das Haus ging, fand ich die Tür, welche
+zu dem Gange des Amonitenmarmors, zu der breiten Marmortreppe und zu
+dem Marmorsaale führte, offen stehen. Ein Arbeiter, der in der Nähe
+war, sagte mir, daß wahrscheinlich der Herr durch die Tür hinein
+gegangen sei, daß er sich vermutlich in dem steinernen Saale befinden
+werde, in welchen er gerne gehe, wenn Gewitter am Himmel ständen, und
+daß die Tür vielleicht offen geblieben sei, damit Gustav, wenn er
+käme, auch hinaufgehen könnte. Ich blickte in den Marmorgang, sah
+hinter der Schwelle mehrere Paare von Filzschuhen stehen und beschloß,
+auch in den steinernen Saal hinauf zu gehen, um meinen Gastfreund
+aufzusuchen. Ich legte ein Paar von passenden Filzschuhen an und ging
+den Gang des Amonitenmarmors entlang. Ich kam zu der Marmortreppe
+und stieg langsam auf ihr empor. Es war heute kein Tuchstreifen über
+sie gelegt, sie stand in ihrem ganzen feinen Glanze da und erhellte
+sich noch mehr, wenn ein Blitz durch den Himmel ging und von der
+Glasbedachung, die über der Treppe war, hereingeleitet wurde. So
+gelangte ich bis in die Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung
+und Erweiterung, gleichsam wie in einer Halle, nicht weit von der
+Wand die Bildsäule von weißem Marmor steht. Es war noch so licht, daß
+man alle Gegenstände in klaren Linien und deutlichen Schatten sehen
+konnte. Ich blickte auf die Bildsäule, und sie kam mir heute ganz
+anders vor. Die Mädchengestalt stand in so schöner Bildung, wie sie
+ein Künstler ersinnen, wie sie sich eine Einbildungskraft vorstellen
+oder wie sie ein sehr tiefes Herz ahnen kann, auf dem niedern Sockel
+vor mir, welcher eher eine Stufe schien, auf die sie gestiegen war, um
+herumblicken zu können. ich vermochte nun nicht weiter zu gehen und
+richtete meine Augen genauer auf die Gestalt. Sie schien mir von
+heidnischer Bildung zu sein. Das Haupt stand auf dem Nacken, als
+blühete es auf demselben. Dieser war ein wenig, aber kaum merklich
+vorwärts gebogen, und auf ihm lag das eigentümliche Licht, das nur der
+Marmor hat und das das dicke Glas des Treppendaches hereinsendete. Der
+Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den Nacken niederging,
+schnitt diesen mit einem flüchtigen Schatten, der das Licht noch
+lieblicher machte. Die Stirne war rein, und es ist begreiflich, daß
+man nur aus Marmor so etwas machen kann. Ich habe nicht gewußt, daß
+eine menschliche Stirne so schön ist. Sie schien mir unschuldvoll zu
+sein und doch der Sitz von erhabenen Gedanken. Unter diesem Throne war
+die klare Wange ruhig und ernst, dann der Mund, so feingebildet, als
+sollte er verständige Worte sagen oder schöne Lieder singen, und
+als sollte er doch so gütig sein. Das Ganze schloß das Kinn wie ein
+ruhiges Maß. Daß sich die Gestalt nicht regte, schien bloß in dem
+strengen, bedeutungsvollen Himmel zu liegen, der mit den fernen
+stehenden Gewittern über das Glasdach gespannt war und zur Betrachtung
+einlud. Edle Schatten wie schöne Hauche hoben den sanften Glanz der
+Brust, und dann waren Gewänder bis an die Knöchel hinunter. Ich dachte
+es sei Nausikae, wie sie an der Pforte des goldenen Saales stand und
+zu Odysseus die Worte sagte: »Fremdling, wenn du in dein Land kömmst,
+so gedenke meiner.« Der eine Arm war gesenkt und hielt in den Fingern
+ein kleines Stäbchen, der andere war in der Gewandung zum Teile
+verhüllt, die er ein wenig emporhob. Das Kleid war eher eine schön
+geschlungene Hülle als ein nach einem gebräuchlichen Schnitte
+verfertigtes. Es erzählte von der reinen, geschlossenen Gestalt und
+war so stofflich treu, daß man meinte, man könne es falten und in
+einen Schrein verpacken. Die einfache Wand des grauen Amonitenmarmors
+hob die weiße Gestalt noch schärfer ab und stellte sie freier. Wenn
+ein Blitz geschah, floß ein rosenrotes Licht an ihr hernieder, und
+dann war wieder die frühere Farbe da. Mir dünkte es gut, daß man diese
+Gestalt nicht in ein Zimmer gestellt hatte, in welchem Fenster sind,
+durch die alltägliche Gegenstände herein schauen und durch die
+verworrene Lichter einströmen, sondern daß man sie in einen Raum getan
+hat, der ihr allein gehört, der sein Licht von oben bekömmt und sie
+mit einer dämmerigen Halle wie mit einem Tempel umfängt. Auch durfte
+der Raum nicht einer des täglichen Gebrauchs sein, und es war sehr
+geeignet, daß die Wände rings herum mit einem kostbaren Steine
+bekleidet sind. Ich hatte eine Empfindung, als ob ich bei einem
+lebenden schweigenden Wesen stände, und hatte fast einen Schauer, als
+ob sich das Mädchen in jedem Augenblicke regen würde. Ich blickte die
+Gestalt an und sah mehrere Male die rötlichen Blitze und die graulich
+weiße Farbe auf ihr wechseln. Da ich lange geschaut hatte, ging
+ich weiter. Wenn es möglich wäre, mit Filzschuhen noch leichter
+aufzutreten als es ohnehin stets geschehen muß, so hätte ich es getan.
+Ich ging mit dem lautlosen Tritte langsam über die glänzenden Stufen
+des Marmors bis zu dem steinernen Saale hinan. Seine Tür war halb
+geöffnet. Ich trat hinein.
+
+Mein Gastfreund war wirklich in demselben. Er ging in leichten Schuhen
+mit Sohlen, die noch weicher als Filz waren, auf dem geglätteten
+Pflaster auf und nieder.
+
+Da er mich kommen sah, ging er auf mich zu und blieb vor mir stehen.
+
+»Ich habe die Tür zu dem Marmorgange offen gesehen«, sagte ich, »man
+hat mir berichtet, daß ihr hier oben sein könntet, und da bin ich
+herauf gegangen, euch zu suchen.«
+
+»Daran habt ihr recht getan«, erwiderte er.
+
+»Warum habt ihr mir denn nicht gesagt«, sprach ich weiter, »daß die
+Bildsäule, welche auf eurer Marmortreppe steht, so schön ist?«
+
+»Wer hat es euch denn jetzt gesagt?« fragte er.
+
+»Ich habe es selber gesehen«, antwortete ich.
+
+»Nun dann werdet ihr es um so sicherer wissen und mit desto größerer
+Festigkeit glauben«, erwiderte er, »als wenn euch jemand eine
+Behauptung darüber gesagt hätte.«
+
+»Ich habe nehmlich den Glauben, daß das Bildwerk sehr schön sei«,
+antwortete ich, mich verbessernd.
+
+»Ich teile mit euch den Glauben, daß das Werk von großer Bedeutung
+sei«, sagte er.
+
+»Und warum habt ihr denn nie zu mir darüber gesprochen?« fragte ich.
+
+»Weil ich dachte, daß ihr es nach einer bestimmten Zeit selber
+betrachten und für schön erachten werdet«, antwortete er.
+
+»Wenn ihr mir es früher gesagt hättet, so hätte ich es früher gewußt«,
+erwiderte ich.
+
+»Jemandem sagen, daß etwas schön sei«, antwortete er, »heißt nicht
+immer, jemandem den Besitz der Schönheit geben. Er kann in vielen
+Fällen bloß glauben. Gewiß aber verkümmert man dadurch demjenigen das
+Besitzen des Schönen, der ohnehin aus eigenem Antriebe darauf gekommen
+wäre. Dies setzte ich bei euch voraus, und darum wartete ich sehr
+gerne auf euch.«
+
+»Aber was müßt ihr denn die Zeit her über mich gedacht haben, daß ich
+diese Bildsäule sehen konnte und über sie geschwiegen habe?« fragte
+ich.
+
+»Ich habe gedacht, daß ihr wahrhaftig seid«, sagte er, »und ich habe
+euch höher geachtet als die, welche ohne Überzeugung von dem Werke
+reden, oder als die, welche es darum loben, weil sie hören, daß es von
+Andern gelobt wird.«
+
+»Und wo habt ihr denn das herrliche Bildwerk hergenommen?« fragte ich.
+
+»Es stammt aus dem alten Griechenlande«, antwortete er, »und seine
+Geschichte ist sonderbar. Es stand viele Jahre in einer Bretterbude
+bei Cumä in Italien. Sein unterer Teil war mit Holz verbaut, weil man
+den Platz, an dem es stand, und der teils offen, teils gedeckt war, zu
+häufigem Ballschlagen verwendete, und die Bälle nicht selten in die
+Bude der Gestalt flogen. Deshalb legte man von der Brust abwärts einen
+dachartigen Schutz an, der die Bälle geschickt herab rollen machte und
+über den sich die Gestalt wie eine Büste darstellte. Es waren in dem
+Raume, teils an den Bretterbuden, teils an Mauerstücken, aus denen
+er bestand, noch andere Gestalten angebracht, ein kleiner Herkules,
+mehrere Köpfe und ein altertümlicher Stier von etwa drei Fuß Höhe;
+denn der Platz wurde auch zu Tänzen benutzt und war an den Stellen,
+die keine Wand hatten, mit Schlinggewächsen und Trauben begrenzt, an
+andern war er offen und blickte über Myrten, Lorbeer, Eichen auf die
+blauen Berge und den heiteren Himmel dieses Landes hinaus. Gedeckt
+waren nur Teile des Raumes, besonders dort, wo die Gestalten standen.
+Diese hatten Dächer über sich wie die niedlichen Täfelchen, welche
+italienische Mädchen auf dem Kopfe tragen. Im Übrigen war die
+Bedeckung das Gezelt des Himmels. Mich brachte ein günstiger Zufall
+nach Cumä, und zu diesem Ballplatze, auf dem sich eben junges Volk
+belustigte. Gegen Abend, da sie nach Hause gegangen waren, besichtigte
+ich das Mauerwerk, welches aus Resten alter Kunstbauten bestand, und
+die Gestalten, welche sämmtlich aus Gips waren, wie sie in Italien
+so häufig alten edlen Kunstwerken nachgebildet werden. Den Herkules
+kannte ich insbesondere sehr gut, nur war er hier viel kleiner
+gebildet. Die Büste des Mädchens - für eine solche hielt ich die
+Gestalt - war mir unbekannt; allein sie gefiel mir sehr. Da ich
+mich über die reizende Lage dieses Plätzchens aussprach, sagte die
+Besitzerin, eine wahrhaftige altrömische Sibylle, es werde hier in
+Kurzem noch viel schöner werden. Ihr Sohn, der sich durch Handel Geld
+erworben, werde den Platz in einen Saal mit Säulen verwandeln, es
+werden Tische herum stehen, und es werden vornehme Fremde kommen, sich
+hier zu ergötzen. Die Gestalten müssen weg, weil sie ungleich seien
+und weil Menschen und Tiere unter einander stehen, ihr Sohn habe schon
+die schönsten Gipsarbeiten bestellt, die alle gleich groß wären.
+Sie führte mich zu dem Mädchen und zeigte mir durch eine Spalte der
+Bretter, daß dasselbe in ganzer Gestalt da stehe und also die andern
+Dinge weit überrage. Man habe darum an dem oberen Rande der Balken,
+mit denen die Gestalt umbaut ist, einen hölzernen, bemalten Sockel
+angebracht, von dem der Oberleib wie eine Büste herab schaue. Dadurch
+sei die Sache wieder zu den anderen gestimmt worden. Ich fragte, wann
+ihr Sohn hieherkomme und wann das Umbauen beginnen würde. Da sie mir
+das gesagt hatte, entfernte ich mich. Zur Zeit des mir von der Alten
+angegebenen Beginnes des Umbaues fand ich mich auf dem Platze wieder
+ein. Ich traf den Sohn der Wittwe - eine solche war sie - hier an, und
+der Bau hatte schon begonnen. Die alten reizenden Mauerstücke waren
+zum Teile abgetragen, und ihre Stoffe waren geschichtet, um zu dem
+neuen Baue verwendet zu werden. Die Schlinggewächse und Reben waren
+ausgerottet, die Gesträuche vor dem Platze vernichtet, und man ebnete
+ihre Stelle, um dort Rosen anzulegen. Auf der Südseite baute man schon
+die Sockelmauern, auf welche die Säulen von Ziegeln zu stehen kommen
+sollten. Die Gestalt des Mädchens, von der man die Balkenverhüllung
+weggenommen hatte, lag in einer Hütte, welche größtenteils Baugeräte
+enthielt. Neben ihr lagen der Herkules, der Stier und die Köpfe,
+die, wie ich jetzt sah, alte Römer darstellten. Mir gefiel nun auch
+die früher nicht gesehene übrige Gestalt des Mädchens, die nicht
+wesentlich verletzt war, außerordentlich, und ich erhandelte sie, da
+die Dinge zum Zwecke des Verkaufes in der Bretterhütte lagen. Aber
+der Verkäufer sagte, er gebe von der Sammlung nichts einzeln weg,
+und ich mußte den Stier, den Herkules und die Köpfe mit kaufen. Der
+Kaufschilling war nicht geringe, da mein Gegenmann die Schönheit der
+Gestalt recht gut kannte und sie geltend machte; aber ich fügte mich.
+Ich ließ Kisten machen, um die Dinge fortzuschaffen. Den Stier, den
+Herkules und die Köpfe verkaufte ich in Italien um ein Geringes, die
+Mädchengestalt sendete ich wohlverpackt, daß der Gips nicht leide, an
+meinen damaligen Aufenthaltsort; ich kann euch den Namen jetzt nicht
+nennen, es war ein kleines Städtchen an dem Gebirge. Mir fiel schon
+damals auf, daß das Fahrgeld für die Gestalt sehr hoch sei und daß
+man sich über ihr Gewicht beklagt habe; allein ich hielt es für
+italienische List, um von mir, dem Fremden, etwas mehr heraus zu
+pressen. Als ich aber nach Deutschland zurückgekehrt war und als eines
+Tages die Gipsgestalt, für deren gute Verpackung und Überbringung ich
+durch mir wohlbekannte Versendungsvermittler gesorgt hatte, in dem
+Asperhofe ankam, überzeugte ich mich selber von dem ungemeinen
+Gewichte der Last. Da der Bretterverschlag, in welchem sich die
+Gestalt befand, nicht so schwer sein konnte, so entstand in mir und
+Eustach, der damals schon in dem Asperhofe war, der Gedanke, die
+Gestalt möchte etwa naß geworden sein und durch die Nässe gelitten
+haben. Wir ließen das Standbild in die hölzerne Hütte schaffen, welche
+ich teils zu seinem Empfange, teils zur Reinigung von den vielen
+Schmutzflecken, die es an seinem früheren Standorte erhalten hatte,
+vor dem Eingange in den Garten hatte aufbauen lassen. Da es dort von
+den Brettern und von allen seinen andern Hüllen befreit worden war,
+sahen wir, daß sich unsere Furcht nicht bestätigte. Die Gestalt war so
+trocken, wie Gips nur überhaupt zu sein vermag. Wir setzten nach und
+nach die Vorrichtungen in Gebrauch, durch die wir die Gestalt in die
+Nähe der Glaswand der Hütte auf eine drehbare Scheibe stellen konnten,
+um sie nach Bequemlichkeit betrachten und reinigen zu können. Da sie
+auf der Scheibe stand und wir uns von der Sicherheit ihres Standes
+überzeugt hatten, gingen wir zu ihrer Betrachtung über. Eustach war
+über ihre Schönheit entzückt und machte mich auf Manches aufmerksam,
+was mir auf dem Tanz- und Ballplatze bei Cumä und später in der
+Bauhütte entgangen war. Freilich stand die Gestalt jetzt viel
+vorteilhafter, da durch die reinen Scheiben der Glaswand das klare
+Licht auf sie fiel und alle Schwingungen und Schwellungen der
+Gestaltung deutlich machte. Da wir die Überzeugung gewonnen hatten,
+daß ein edles Werk in das Haus gekommen sei, beschlossen wir, sofort
+zu dessen Reinigung zu schreiten. Wir nahmen uns vor, dort, wo der
+Schmutz nur locker auf der Oberfläche liege und dem reinen Wasser und
+dem Pinsel weiche, auch nur Wasser und den Pinsel anzuwenden. Leichtes
+Übertünchen und sanftes Glätten würde die letzte Nachhülfe geben. Für
+tiefer gehende Verunreinigung wurde die Anwendung des Messers und der
+Feile beschlossen; nur sollte die äußerste Vorsicht beobachtet und
+lieber eine kleine Verunreinigung gelassen werden, als daß eine
+sichtbare Umgestaltung des Stoffes vorgenommen würde. Eustach machte
+in meiner Gegenwart Versuche, und ich billigte sein Verfahren. Es
+wurde nun sogleich ans Werk geschritten und die Arbeit in der nächsten
+Zeit fortgesetzt. Eines Tages kam Eustach zu mir herauf und sagte, er
+müsse mich auf einen sonderbaren Umstand aufmerksam machen. Er sei auf
+dem Schulterblatte mit dem feinen Messer auf einen Stoff gestoßen, der
+nicht das Taube des Gipses habe, sondern das Messer gleiten mache und
+etwas wie die Ahnung eines Klanges merken lasse. Wenn die Sache nicht
+so unwahrscheinlich wäre, würde er sagen, daß der Stoff Marmor sei.
+Ich ging mit ihm in die Bretterhütte hinab. Er zeigte mir die Stelle.
+Es war ein Platz, mit dem die Gestalt häufig, wenn sie gelegt wurde,
+auf den Boden kam und der daher durch diesen Umstand und zum Teile
+durch Versendungen, denen die Gestalt ausgesetzt gewesen sein mochte,
+mehr abgenutzt war als andere. Ich ließ das Messer auf dieser Stelle
+gleiten, ich ließ es an ihr erklingen, und auch ich hatte das Gefühl,
+daß es Marmor sei, was ich eben behandle. Weil der Platz, an dem die
+Versuche gemacht wurden, doch zu augenfällig war, um weiter gehen
+zu können und ihn etwa zu verunstalten, so beschlossen wir an einem
+unscheinbareren einen neuen Versuch zu machen. In der Ferse des
+linken Fußes fehlte ein kleines Stückchen, dort mußte jedenfalls Gips
+eingesetzt werden, dort beschlossen wir zu forschen. Wir drehten die
+Gestalt mit ihrer Scheibe in eine Lage, in welcher das helle Licht auf
+die Lücke an der Ferse fiel. Es zeigte sich, daß neben der kleinen
+Vertiefung noch ein Stückchen Gips ledig sei und bei der leisesten
+Berührung herab fallen müsse. Wir setzten das Messer an, das Stück
+sprang weg, und es zeigte sich auf dem Grunde, der bloß wurde, ein
+Stoff, der nicht Gips war. Das Auge sagte, es sei Marmor. Ich holte
+ein Vergrößerungsglas, wir leiteten durch Spiegel ein schimmerndes
+Licht auf die Stelle, ich schaute durch das Glas auf sie, und mir
+funkelten die feinen Kristalle des weißen Marmors entgegen. Eustach
+sah ebenfalls durch die Linse, wir versuchten an dem Platze noch
+andere Mittel, und es stellte sich fest, daß die untersuchte
+Fläche Marmor sei. Nun begannen wir, um das Unglaubliche völlig zu
+beweisen oder unsere Meinung zu widerlegen, auch an andern Stellen
+Untersuchungen. Wir fingen an Stellen an, welche ohnehin ein wenig
+schadhaft waren und gingen nach und nach zu anderen über. Wir
+beobachteten zuletzt gar nicht mehr so genau die Vorsichten, die wir
+uns am Anfange auferlegt hatten, und kamen zu dem Ergebnisse, daß an
+zahlreichen Stellen unter dem Gipse der Gestalt weißer Marmor sei.
+Der Schluß war nun erklärlich, daß an allen Stellen, auch den nicht
+untersuchten, der Gips über Marmor liege. Das große Gewicht der
+Gestalt war nicht der letzte Grund unserer Vermutung. Durch welchen
+Zufall oder durch welch seltsames Beginnen die Marmorgestalt
+mit Gips könne überzogen worden sein, war uns unerklärlich. Am
+wahrscheinlichsten däuchte uns, daß es einmal irgend ein Besitzer
+getan habe, damit ein fremder Feind, der etwa seine Wohnstadt und ihre
+Kunstwerke bedrohte, die Gestalt, als aus wertlosem Stoffe bestehend,
+nicht mit sich fort nehme. Weil nun doch der Feind die Gestalt
+genommen habe oder weil ein anderer hindernder Umstand eingetreten
+sei, habe die Decke nicht mehr weggenommen werden können, und der
+edle Kern habe undenkbar lange Jahre in der schlechten Hülle stecken
+müssen. Wir fingen nun auf dem Wirbel des Hauptes an, den Gips nach
+und nach zu beseitigen. Teils, und zwar im Roheren, geschah es mit
+dem Messer, teils, und zwar gegen das Ende, wurden Pinsel und das
+auflösende Mittel des Wassers angewendet. Wir rückten so von dem
+Haupte über die Gestalt hinunter, und alles und jedes war Marmor.
+Durch den Gips war der Marmor vor den Unbilden folgender Zeiten
+geschützt worden, daß er nicht das trübe Wasser der Erde oder sonstige
+Unreinigkeiten einsaugen mußte, und er war reiner als ich je Marmor
+aus der alten Zeit gesehen habe, ja er war so weiß, als sei die
+Gestalt vor nicht gar langer Zeit erst gemacht worden. Da aller Gips
+beseitigt war, wurde die Oberfläche, welche doch durch die feinsten
+zurückgebliebenen Teile des Überzuges rauh war, durch weiche, wollene
+Tücher so lange geglättet, bis sich der glänzende Marmor zeigte und
+durch Licht und Schatten die feinste und zartest empfundene Schwingung
+sichtbar wurde. Jetzt war die Gestalt erst noch viel schöner als
+sie sich in Gips dargestellt hatte, und Eustach und ich waren von
+Bewunderung ergriffen. Daß sie nicht aus neuer Zeit stamme, sondern
+dem alten Volke der Griechen angehöre, erkannten wir bald. Ich hatte
+so viele und darunter die als die schönsten gepriesenen Bildwerke der
+alten Heidenzeit gesehen und vermochte daher zwischen ihren und den
+Arbeiten des Mittelalters oder der neuen Zeit zu vergleichen. Ich
+hatte alle Abbildungen, welche von den Bildwerken der alten Zeit
+zu bekommen waren, in den Asperhof gebracht, so daß ich neuerdings
+Vergleichungen anstellen konnte, und daß auch Eustach, welcher
+nicht so viel in Wirklichkeit gesehen hatte, ein Urteil zu gewinnen
+vermochte. Nur nach sehr langen und sehr genauen Untersuchungen gaben
+wir uns mit Festigkeit dem Gedanken hin, daß das Standbild aus der
+alten Griechenzeit herrühre. Wir lernten bei diesen Untersuchungen,
+zu deren größerer Sicherstellung wir sogar Reisen unternahmen, die
+Merkmale der alten und neuen Bildwerke so weit kennen, daß wir die
+Überzeugung gewannen, die besten Werke beider Zeiten gleich bei der
+ersten Betrachtung von einander unterscheiden zu können. Das Schlechte
+ist freilich schwerer in Hinsicht seiner Zeit zu ermitteln. Merkwürdig
+ist es, daß völlig Wertloses aus der alten Zeit gar nicht auf
+uns gekommen ist. Entweder ist es nicht entstanden oder eine
+kunstbegeisterte Zeit hat es sogleich beseitigt. Wir haben in jener
+Untersuchungszeit viel über alte Kunst gelernt. Von wem und aus
+welchem Zeitabschnitte aber unser Standbild herrühre, konnten wir
+nicht ermitteln. Das war jedoch gewiß, daß es nicht der strengen Zeit
+angehöre und von der späteren, weicheren stamme. Ehe ich aber das
+Bild aus der Hütte, in welcher es stand, entfernte, ja ehe ich an den
+Platz dachte, auf welchen ich es stellen wollte, mußte etwas anderes
+geschehen. Ich reiste nach Italien und suchte bei Cumä den Verkäufer
+meines Standbildes auf. Er war mit den Umänderungen seines Platzes
+beinahe fertig. Dieser war jetzt eine Halle neuer Art, in welcher
+einige Menschen süßen roten Wein tranken, in welcher neue Gipsbilder
+standen, um welche grüner Rasen war und aus welcher man eine schöne
+Aussicht hatte. Ich erzählte ihm von der Entdeckung, welche ich
+gemacht hatte und sagte, er möge nun nach derselben den Preis des
+Bildes bestimmen. Er könnte es zu diesem Zwecke selber in Deutschland
+besehen oder es besehen lassen. Er fand Beides nicht für nötig,
+sondern forderte sogleich eine ansehnliche Summe, die den Wert eines
+solchen Gegenstandes, deren Preise in den verschiedenen Zeiten sehr
+wechseln, darstellen mochte. Ich war damals schon in den Besitz meiner
+größeren Habe gekommen, die mir durch eine Erbschaft zugefallen war,
+und zeigte mich bereit, die Summe zu erlegen, nur möchte ich mich über
+das Herkommen des Standbildes noch näher unterrichten und mir die
+Gewißheit über das Recht verschaffen, das mein Vormann bei so
+veränderter Sachlage über das Bild habe. Meine Forschungen führten zu
+nichts weiter, als daß das Bild seit vielen Menschenaltern schon in
+dem Besitze der Familie sei, von welcher ich es habe, daß einmal
+Überreste eines alten Gebäudes hier gewesen wären, daß man das Gebäude
+nach und nach abgebrochen habe, daß man aus Wasserbecken, niederen
+Säulengittern und andern Dingen von weißem Steine Kalk gebrannt, und
+daß man aus den Resten des Gebäudes und mit dem Kalke Häuser in den
+Umgebungen gebaut habe. Es seien mehrere Standbilder bei den Trümmern
+gewesen und seien verkauft worden. Für das weiße Mädchen mit dem Stabe
+in der Hand habe man einmal einen Mantel aus Holz gemacht, darüber ist
+ein Streit in Hinsicht der Zahlung entstanden, und die Schrift, welche
+den Großvater des jetzigen Besitzers zur Zahlung verurteilte, ist mir
+in dem Amte zur Einsicht und beglaubigten Abschrift gewiesen worden.
+Nachdem ich mir noch einen Kaufvertrag über das Marmorbild von einem
+Notar hatte verfassen lassen und mich mit einer gefertigten Abschrift
+versehen hatte, erlegte ich die geforderte Summe und reiste wieder
+nach Hause. Hier wurde beraten, wohin das nun mit allem Rechte mein
+genannte Standbild kommen sollte. Es war nicht schwer, die Stelle
+auszufinden. Ich hatte auf der Marmortreppe schon einen Absatz
+errichtet, der einerseits die Treppe unterbrechen und ihr dadurch
+Zierlichkeit verleihen und andrerseits dazu dienen sollte, daß einmal
+ein Standbild auf ihm stehe und der Treppe den größten Schmuck
+verleihe. Nachdem wir uns durch Messungen überzeugt hatten, daß die
+Gestalt für den Platz nicht zu hoch sei, wurde der kleine Sockel
+verfertigt, auf dem sie jetzt steht, es wurde eine Vorrichtung gebaut.
+sie auf den Platz zu bringen, und sie wurde auf ihn gebracht. Wir
+standen nun oft vor der Gestalt und betrachteten sie. Die Wirkung
+wurde statt schwächer immer größer und nachhaltiger, und unter allen
+Kunstgegenständen, die ich habe, ist mir dieser der liebste. Das ist
+der hohe Wert der Kunstdenkmale der alten, heitern Griechenwelt, nicht
+bloß der Denkmale der bildenden Kunst, die wir noch haben, sondern
+auch der der Dichtung, daß sie in ihrer Einfachheit und Reinheit das
+Gemüt erfüllen und es, wenn die Lebensjahre des Menschen nach und nach
+fließen, nicht verlassen, sondern es mit Ruhe und Größe noch mehr
+erweitern und mit Unscheinbarkeit und Gesetzmäßigkeit zu immer
+größerer Bewunderung hinreißen. Dagegen ist in der Neuzeit oft ein
+unruhiges Ringen nach Wirkung, das die Seele nicht gefangen nimmt,
+sondern als ein Unwahres von sich stößt. Es sind manche Männer
+gekommen, das Standbild zu betrachten, manche Freunde und Kenner der
+alten Kunst, und der Erfolg ist fast immer derselbe gewesen, ein
+Ernst der Anerkennung und der Würdigung. Wir, Eustach und ich, sind
+in den Dingen der alten Kunst sehr hiedurch vorgeschritten, und
+beide sind wir von der alten Kunst erst recht zur Erkenntnis der
+mittelalterlichen gekommen. Wenn wir die unnachahmliche Reinheit,
+Klarheit, Mannigfaltigkeit und Durchbildung der alten Gestaltungen
+betrachtet hatten und zu denen des Mittelalters gingen, bei welchen
+große Fehler in diesen Beziehungen walten, so sahen wir hier ein
+Inneres, ein Gemüt voll Ungeziertheit, voll Glauben und voll
+Innigkeit, das uns fast im Stammeln so rührt wie uns jenes dort im
+vollendeten Ausdrucke erhobt. Über die Zeit der Entstehung unseres
+Standbildes können wir auch jetzt noch nichts Festes behaupten, auch
+nicht, ob es mit anderen aus dem Volke von Standbildern, das in Hellas
+stand, nach Rom gekommen ist, oder ob es unter den Römern von einem
+Griechen gefertigt worden ist, wie man es in jener Römerzeit, da
+griechische Kunst mit nicht hinlänglichem Verständnisse über Italien
+ausgebreitet wurde, in den Sitz eines Römers gebracht hat und wie es
+auf ein ganz anderes, entferntes Geschlecht übergegangen ist.«
+
+Er schwieg nach diesen Worten, und ich sah den Mann an. Wir waren,
+während er sprach, in dem Saale auf und nieder gegangen. Ich begriff,
+warum er diesen Saal bei Abendgewittern aufsucht. Durch die hellen
+Fenster schaut der ganze südliche Himmel herein, und auch Teile des
+westlichen und des östlichen sind zu erblicken. Die ganze Kette der
+hiesigen Alpen kann am Rande des Gesichtskreises gesehen werden. Wenn
+nun ein Gewitter in jenem Raume entsteht - und am schönsten sind
+Gewitterwände oder Gewitterberge, wenn sie sich über fernhinziehende
+Gebirge lagern oder längs des Kammes derselben dahin gehen -, so kann
+er dasselbe frei betrachten, und es breitet sich vor ihm aus. Zu dem
+Ernste der Wolkenwände gesellt sich der Ernst der Wände von Marmor,
+und daß in dem Saale gar keine Geräte sind, vermehrt noch die
+Einsamkeit und Größe. Wenn nun vollends schon eine schwache
+Abenddämmerung eingetreten ist, so zeigt die Oberfläche des Marmors
+den Widerschein der Blitze, und während wir so auf und nieder gingen,
+war einige Male der reine, kalte Marmor wie in eine Glut getaucht, und
+nur die hölzernen Türen standen dunkel in dem Feuer oder zeigten ihre
+düstere Fügung.
+
+Ich fragte meinen Gastfreund, ob er das Marmorstandbild schon lange
+besitze.
+
+»Die Zahl der Jahre ist nicht sehr groß«, antwortete er, »ich kann
+sie euch aber nicht genau angeben, weil ich sie nicht in meinem
+Gedächtnisse behalten habe. Ich werde in meinen Büchern nachsehen und
+werde euch morgen sagen, wie lange das Bild in meinem Hause steht.«
+
+»Ihr werdet wohl erlauben«, sagte ich, »daß ich die Gestalt öfter
+ansehen darf und daß ich mir nach und nach einpräge und immer klarer
+mache, warum sie denn so schön ist und welches die Merkmale sind, die
+auf uns eine solche Wirkung machen.«
+
+
+»Ihr dürft sie besehen, so oft ihr wollt«, antwortete er, »den
+Schlüssel zu der Tür des Marmorganges gebe ich euch sehr gerne, oder
+ihr könnt auch von dem Gange der Gastzimmer über die Marmortreppe
+hinabgehen, nur müßt ihr sorgen, daß ihr immer Filzschuhe in
+Bereitschaft habt, sie anzuziehen. Ich freue mich jetzt, daß ich den
+Marmorgang und die Treppe so habe machen lassen, wie sie gemacht sind.
+Ich habe damals schon immer daran gedacht, daß auf die Treppe ein Bild
+von weißem Marmor wird gestellt werden, daß dann am besten das Licht
+von oben darauf herabfällt und daß die umgebenden Wände so wie der
+Boden eine dunklere, sanfte Farbe haben müssen. Das reine Weiß - in
+der lichten Dämmerung der Treppe erscheint es fast als ganz rein -
+steht sehr deutlich von der umgebenden tieferen Farbe ab. Was aber
+die Merkmale anbelangt, an denen ihr die Schönheit erkennen wollt, so
+werdet ihr keine finden. Das ist eben das Wesen der besten Werke der
+alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der höchsten Kunst
+überhaupt, daß man keine einzelnen Teile oder einzelne Absichten
+findet, von denen man sagen kann, das ist das Schönste, sondern das
+Ganze ist schön, von dem Ganzen möchte man sagen, es ist das Schönste;
+die Teile sind bloß natürlich. Darin liegt auch die große Gewalt, die
+solche Kunstwerke auf den ebenmäßig gebildeten Geist ausüben, eine
+Gewalt, die in ihrer Wirkung bei einem Menschen, wenn er altert,
+nicht abnimmt, sondern wächst, und darum ist es für den in der Kunst
+Gebildeten so wie für den völlig Unbefangenen, wenn sein Gemüt nur
+überhaupt dem Reize zugänglich ist, so leicht, solche Kunstwerke
+zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beispieles für diese meine
+Behauptung, welches sehr merkwürdig ist. Ich war einmal in einem
+Saale von alten Standbildern, in welchem sich ein aus weißem Marmor
+verfertigter, auf seinem Sitze zurückgesunkener und schlafender
+Jüngling befand. Es kamen Landleute in den Saal, deren Tracht
+schließen ließ, daß sie in einem sehr entfernten Teile des Landes
+wohnten. Sie hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenschuhen lag
+der Staub einer vielleicht erst heute Morgen vollbrachten Wanderung.
+Als sie in die Nähe des Jünglings kamen, gingen sie behutsam auf den
+Spitzen ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine so unmittelbare und tiefe
+Anerkennung ist wohl selten einem Meister zu Teil geworden. Wer aber
+in einer bestimmten Richtung befangen ist und nur die Schönheit, die
+in ihr liegt, zu fassen und zu genießen versteht, oder wer sich in
+einzelne Reize, die die neuen Werke bringen, hineingelebt hat, für
+den ist es sehr schwer, solche Werke des Altertums zu verstehen, sie
+erscheinen ihm meistens leer und langweilig. Ihr waret eigentlich auch
+in diesem Falle. Wenngleich nicht von der neuen, nur bestimmte Seiten
+gebenden Kunst gefangen, habt ihr doch Abbildungen von gewissen
+Gegenständen, besonders denen eurer wissenschaftlichen Bestrebungen,
+zu sehr und zu lange in einer Richtung gemacht, als daß euer Auge sich
+nicht daran gewöhnt, euer Gemüt sich nicht dazu hingeneigt hätte und
+ungefüger geworden wäre, etwas anderes mit gleicher Liebe aufzunehmen,
+das in einer anderen Richtung lag, oder vielmehr, das sich in keiner
+oder in allen Richtungen befand. Ich habe gar nie gezweifelt, daß ihr
+zu dieser Allgemeinheit gelangen werdet, weil schöne Kräfte in euch
+sind, die noch auf keinen Afterweg geleitet sind und nach Erfüllung
+streben; aber ich habe nicht gedacht, daß dies so bald geschehen
+werde, da ihr noch zu kraftvoll in dem auf seiner Stufe höchst
+lobenswerten Streben nach dem Einzelnen begriffen waret. Ich habe
+geglaubt, irgend ein großes, allgemeines menschliches Gefühl, das euch
+ergreifen würde, würde euch auf den Standpunkt führen, auf dem ich
+euch jetzt sehe.«
+
+Ich konnte eine geraume Zeit auf diese letzte Rede meines Gastfreundes
+nichts antworten. Wir gingen schweigend in dem Saale auf und nieder,
+und es war um so stiller, als unsere mit weichen Sohlen bekleideten
+Füße nicht das geringste Geräusch auf dem glänzenden Fußboden machten.
+Blitze zuckten zuweilen in den Spiegelflächen um und unter uns, der
+Donner rollte gleichsam bei den offenen Fenstern herein und die
+Wolken bauten sich in Gebirgen oder in Trümmern oder in luftigen
+Länderstrecken durch den weiten Raum auf, den die Fenster des Saales
+beherrschten.
+
+Ich sagte endlich, daß ich mich jetzt erinnere, wie mein Vater oft
+geäußert habe, daß in schönen Kunstwerken Ruhe in Bewegung sein müsse.
+
+»Es ist ein gewöhnlicher Kunstausdruck«, entgegnete mein Gastfreund,
+»allein es täte es auch ohne ihn. Man versteht gewöhnlich unter
+Bewegung Bewegbarkeit. Bewegung kann die bildende Kunst, von der wir
+hier eigentlich reden, gar nicht darstellen. Da die Kunst in der Regel
+lebende Wesen, Menschen, Tiere, Pflanzen - und selbst die Landschaft
+trotz der starrenden Berge ist mit ihren beweglichen Wolken und ihrem
+Pflanzenschmucke dem Künstler ein Atmendes; denn sonst wird sie
+ihm ein Erstarrendes - darstellt, so muß sie diese Gegenstände so
+darstellen, daß es dem Beschauer erscheint, sie könnten sich im
+nächsten Augenblicke bewegen. Ich will hier wieder aus dem Altertume
+ein Beispiel anführen. Alle Stoffe, mit welchen Menschen sich
+bekleiden, nehmen nach der Art der Bewegungen, denen sich verschiedene
+Menschen gerne hingeben, verschiedene Gestaltungen an. Ein Freund von
+mir erkannte einen alten wohlbekannten und trefflichen Schauspieler
+einmal bei einer Gelegenheit, bei welcher er nur ein Stück des Rockes
+des Schauspielers sehen konnte. Wenn nun die Gestaltungen der Stoffe,
+die sich meistens in Falten kund geben, nach der Wirklichkeit
+nachgebildet werden, nicht nach willkürlichen Zurechtlegungen, die man
+nach herkömmlichen Schönheitsgesetzen an der Gliederpuppe macht, so
+liegt in diesen nachgebildeten Gestaltungen zuerst eine bestimmte
+Eigentümlichkeit und Einzelheit, die den Gegenstand sinnlich
+hinstellt, und dann drückt die Gestaltung nicht bloß den Zustand aus,
+in dem sie gegenwärtig ist, sondern sie weist auch auf den zurück,
+der unmittelbar vorher war und von dem sich die Gebilde noch leise
+vorfinden, und sie läßt zugleich den nächstkünftigen ahnen, zu dem die
+Bildungen neigen. Dies ist es, was bei Gewandungen ganz vorzüglich
+für das beschauende Auge den Begriff der Bewegung gibt und mithin
+der Lebendigkeit. Dies ist es, da die Alten so gerne nach der Natur
+arbeiteten, was sie dort, wo sie Gewänder anbringen, so meisterhaft
+handhaben, daß der Spruch entstanden ist, sie stellten nicht nur dar,
+was ist, sondern auch, was zunächst war und sein wird. Darum bilden
+sie in der Gewandung nicht bloß die Hauptteile, sondern auch die
+entsprechenden Unterabteilungen, und dies mit einer solchen Zartheit
+und Genauigkeit, daß man auf den Stoff des Werkes vergißt und nur den
+Stoff der Gewandung sieht und ihn zusammenlegen und in der Hand ballen
+zu können vermeint. Solcher Bildung gegenüber legen manche Neuen
+sogenannte edle Falten zurecht, bilden sie im Erze oder Marmor nach,
+vermeiden hiebei in sorglichem Maße zu große Einzelheiten, um nicht
+unruhig zu werden, und erzielen hiebei, daß man allerdings große,
+edle Massen von Faltungen sieht, daß aber in der Falte der Stoff des
+Werkes, nicht des Gewandes herrscht, daß man die marmorne, die erzene
+Falte sieht, daß das Gemüt erkältet wird und daß man meint, der Mann,
+der damit angetan ist, könne nicht gehen, weil ihn die erzene Falte
+hindere. Wie es mit dem Gewande ist, ist es auch mit dem Leibe,
+der das Gewand der Seele ist, und die Seele allein kann ja nur der
+Gegenstand sein, welchen der Künstler durch das Bild und Gleichnis
+des Leibes darstellt. Hier auch ließen sich die Alten von der
+Natur leiten, und wenn sie Sünden begingen, die das Auge des
+naturforschenden Zergliederers, strenge genommen, tadeln müßte, so
+begingen sie keine, die das nicht so stofflich blickende Auge der
+Kunst zu verdammen gezwungen wäre. Dafür zeigt die Schwingung der
+Gliederflächen in ihren Teilen und Unterabteilungen eine solche
+Ausbildung und Durchführung, daß die Zustände von jetzt und von
+unmittelbar vorher und nachher sichtbar werden, daß die Glieder, wie
+ich vorher von der Gewandung sagte, die Vorstellung der Beweglichkeit
+geben und daß sie leben. Wie bei den Gewändern bilden manche Neue auch
+die Glieder ins Größere, Allgemeinere, weniger Ausgeführte, um nicht
+krampfig zu werden, und dann geraten die Muskeln gerne wie glatte,
+spröde, unbiegsame Glaskörper, und die Gestalt kann sich nicht rühren.
+Das Gesagte mag ungefähr den Begriff von dem geben, was man in der
+Kunst unter Bewegung versteht. Was man unter Ruhe begreift, das mag
+wohl zuerst darin bestehen, daß jeder Gegenstand, den die bildende
+Kunst darstellt, genau betrachtet, in Ruhe ist. Der laufende Wagen,
+das rennende Pferd, der stürzende Wasserfall, die jagende Wolke,
+selbst der zuckende Blitz sind in der Abbildung ein Starres,
+Bleibendes, und der Künstler kann nur durch die früher von mir
+angedeuteten Mittel die Bewegung als Bewegbarkeit, als Täuschung des
+Auges darstellen, wodurch er zugleich seinen Gegenstand über die
+Grenzen des unmittelbar Dargestellten hinaushebt und ihm eine ungleich
+größere Bedeutung gibt. Aber die dargestellte Bewegung darf nicht zu
+gewaltsam sein, sonst helfen die Mittel nicht, der Künstler scheitert
+und wird lächerlich. Zum Beispiele Pferde, die von einem Felsen durch
+die Luft hinabstürzen, dürfen nicht in der Luft fallend gemalt werden
+- wenigstens dürfte dies leichter eine den Verstand befriedigende
+Zeichnung als ein das ganze Kunstvermögen entzückendes Bild werden.
+Darum darf der in seinen Gestalten sich stets erneuende Wasserfall mit
+weit geringerer Gefahr dargestellt werden als eine Flüssigkeit, die
+aus einem Gefäße gegossen wird, wobei die Einbildungskraft sich mit
+dem Gedanken quält, daß das Gefäß nicht leer wird. Der in hohen Lüften
+auf seinen Schwingen ruhende Geier ist im Bilde erhaben, der dicht
+vor unsern Augen auf seine Beute stürzende kann sehr mißlich werden.
+Der an Bergen emporsteigende Nebel ist lieblich, der von einer
+abgefeuerten Kanone aufsteigende Rauch verletzt uns durch sein
+immerwährendes Bleiben. Es ist begreiflich, daß die Grenzen zwischen
+dem Darstellbaren in der Bewegung nicht fest zu bestimmen sind und
+daß größere Begabungen viel weiter hierin gehen dürfen als kleinere.
+So sah ich schon sehr oft gemalte fahrende Wägen. Die Pferde sind
+gewöhnlich ihrer Fußstellung nach im schönsten Laufe begriffen,
+während die Speichen der Wagenräder klar und sichtbar in völliger
+Ruhe starren. Der größere Künstler wird uns den Nebel der sausenden
+Speichen darstellen und manches Andere zutun und zusammenstellen, daß
+wir den Wagen wirklich fahren sehen. Außer dem hier gegebenen Begriffe
+von stofflicher Ruhe mag wohl unter Ruhe weit öfter die künstlerische
+zu verstehen sein, die ein Kunstwerk, sei es Bild, Dichtung oder
+Musik, nie entbehren kann, ohne aufzuhören, ein Kunstwerk zu sein.
+Es ist diese Ruhe jene allseitige Übereinstimmung aller Teile zu
+einem Ganzen, erzeugt durch jene Besonnenheit, die in höchster
+kunstliebender Begeisterung nie fehlen darf, durch jenes Schweben
+über dem Kunstwerke und das ordnende Überschauen desselben, wie stark
+auch Empfindungen oder Taten in demselben stürmen mögen, die das
+Kunstschaffen des Menschen dem Schaffen Gottes ähnlich macht und Maß
+und Ordnung blicken läßt, die uns so entzücken. Bewegung regt an,
+Ruhe erfüllt, und so entsteht jener Abschluß in der Seele, den wir
+Schönheit nennen. Es ist nicht zu zweifeln, daß sich Andere vielleicht
+Anderes bei diesen Worten denken, daß dieses Andere gut oder besser
+als das Meinige sein kann - gewöhnlich geht es mit solchen Gangwörtern
+so, daß jeder seinen eigenen Sinn hinein legt. Das Beste ist, daß die
+schaffende Kraft in der Regel nicht nach solchen aufgestellten Sätzen
+wirkt, sondern das Rechte trifft, weil sie die Kraft ist, und es
+desto sicherer trifft, je mehr sie sich auf ihrem eigentümlichen Wege
+naturgemäß ausbildet. Für das Verständnis der Kunst, für solche,
+welche ihre Werke beschauen und sich darüber besprechen, sind
+Auslegungen derselben Einkleidung ihres Wesens in Worte eine sehr
+nützliche Sache, nur muß man die Worte nicht zum Hauptgegenstande
+machen und auf einen Sinn, den man ihnen beilegt, nicht so bestehen,
+daß man alles verdammt, was nicht nach diesem Sinne ist. Sonst müßte
+man ja den größten und einzigen Künstler am meisten tadeln, Gott, der
+so unzählige Gestaltungen erschaffen hat und dessen Werke ja wirklich
+von Menschen untergeordneten Geistes getadelt werden, die meinen, sie
+hätten es anders gemacht.«
+
+
+Bei diesen Worten kam Gustav in den Saal. Die Dämmerung hatte schon
+stark zugenommen, es regnete aber noch immer nicht.
+
+»Dieser steht noch auf demselben Stande, auf welchem ihr früher
+gestanden seid«, sagte mein Gastfreund auf Gustav weisend, der auf ihn
+zuging.
+
+»Wie meinst du das, Vater?« fragte der Knabe.
+
+»Wir redeten von Kunst«, antwortete mein Gastfreund, »und da behaupte
+ich, daß du noch nicht in der Lage bist, Kunstwerke so erkennen und
+beurteilen zu können wie unser Gast hier.«
+
+»Wohl, das behaupte ich selber«, sagte Gustav, »er ist darum auch
+teilweise mein Lehrer, und wenn er in der Erkenntnis der Kunst dir
+und Eustach und der Mutter nachstrebt, so werde ich meines Teils ihm
+wieder nachstreben.«
+
+»Das ist gut«, sagte mein Gastfreund, »aber das ist es nicht so ganz,
+wovon wir sprachen, allein es tut nichts zur Sache und gehört auch
+nicht zur Wesenheit.«
+
+Mit diesen Worten, gleichsam um ferneren Fragen vorzubeugen, trat er
+an ein Fenster und wir mit ihm.
+
+Wir betrachteten eine Weile die Erscheinung vor uns, die über dem
+immer dunkler werdenden Gefilde immer großartiger wurde, und gingen
+dann, da der Abend beinahe in Finsternis übergehen wollte und die
+Stunde des Abendessens gekommen war, über die Marmortreppe in das
+Speisezimmer hinunter.
+
+Das Gewitter war in der Nacht ausgebrochen, hatte einen Teil derselben
+mit Donnern und einen Teil mit bloßem Regen erfüllt und machte dann
+einem sehr schönen und heiteren Morgen Platz.
+
+Das Erste, was ich an diesem Tage tat, war, daß ich zu dem marmornen
+Standbilde ging. Ich hatte es gestern, da wir über die Treppe
+hinabstiegen, nicht mehr deutlich und nur von einem Blitze
+oberflächlich beleuchtet gesehen. Die Finsternis war auf der Treppe
+schon zu groß gewesen. Heute stand es in der ruhigen und klaren Helle
+des Tages, welche das Glasdach auf die Treppe sendete, schmucklos und
+einfach da. Ich hatte nicht gedacht, daß das Bild so groß sei. Ich
+stellte mich ihm gegenüber und betrachtete es lange.
+
+Mein Gastfreund hatte Recht, ich konnte keine eigentliche einzelne
+Schönheit entdecken, was wir im neuen Sinne Schönheit heißen, und ich
+erinnerte mich auf der Treppe sogar, daß ich oft von einem Buche oder
+von einem Schauspiele, ja von einem Bilde sagen gehört hatte, es sei
+voller Schönheiten, und dem Standbilde gegenüber fiel mir ein, wie
+unrecht entweder ein solcher Spruch sei oder, wenn er berechtigt ist,
+wie arm ein Werk sei, das nur Schönheiten hat, selbst dann, wenn es
+voll von ihnen ist und das nicht selber eine Schönheit ist; denn ein
+großes Werk, das sah ich jetzt ein, hat keine Schönheiten und um so
+weniger, je einheitlicher und einziger es ist. Ich geriet sogar auf
+den Gedanken und auf die Erfahrung, die ich mir nie klar gemacht
+hatte, daß, wenn man sagt, dieser Mann, diese Frau habe eine schöne
+Stimme, schöne Augen, einen schönen Mund, eben damit zuleich gesagt
+ist, das andere sei nicht so schön; denn sonst würde man nicht
+Einzelnes herausheben. Was bei einem lebenden Menschen gilt, dachte
+ich, gilt bei einem Kunstwerke nicht, bei welchem alle Teile gleich
+schön sein müssen, so daß keiner auffällt, sonst ist es eben als
+Kunstwerk nicht rein und ist im strengsten Sinne genommen keines.
+Dessenohngeachtet, daß ich, oder vielmehr eben darum, weil ich keine
+einzelnen Schönheiten an dem Standbilde zu entdecken vermochte,
+machte es, wie ich mir jetzt ganz klar bewußt war, wieder einen
+außerordentlichen Eindruck auf mich. Der Eindruck war aber nicht
+einer, wie ich ihn öfter vor schönen Sachen hatte, ja selbst vor
+Dichtungen, sondern er war, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf,
+allgemeiner, geheimer, unenträtselbarer, er wirkte eindringlicher und
+gewaltiger; aber seine Ursache lag auch in höheren Fernen, und mir
+wurde begreiflich, ein welch hohes Ding die Schönheit sei, wie
+schwerer sie zu erfassen und zu bringen sei als einzelne Dinge, die
+die Menschen erfreuen und wie sie in dem großen Gemüte liege und
+von da auf die Mitmenschen hinausgehe, um Großes zu stiften und zu
+erzeugen. Ich empfand, daß ich in diesen Tagen in mir um Vieles weiter
+gerückt werde.
+
+In der nächsten Zeit sprach ich auch mit Eustach über das Standbild.
+Er war sehr erfreut darüber, daß ich es als so schön erkannte, und
+sagte, daß er sich schon lange darnach gesehnt habe, mit mir über
+dieses Werk zu sprechen; allein es sei unmöglich gewesen, da
+ich selber nie davon geredet habe und eine Zwiesprache nur dann
+ersprießlich werde, wenn man beiderseitig von einem Gegenstande
+durchdrungen sei. Wir betrachteten nun miteinander das Bildwerk und
+machten uns wechselseitig auf Dinge aufmerksam, die wir an demselben
+zu erkennen glaubten. Besonders war es Eustach, der über das
+Marmorbild, so sehr es sich in seiner Einfachheit und seiner täglich
+sich vor mir immer staunenswerter entwickelnden Natürlichkeit jeder
+Einzelverhandlung zu entziehen schien, doch über sein Entstehen, über
+die Art seiner Verhältnisse, über seine Gesetzmäßigkeit und über das
+Geheimnis seiner Wirkung sachkundig zu sprechen wußte. Ich hörte
+begierig zu und empfand, daß es wahr sei, was er sprach, obgleich ich
+ihn nicht immer so genau verstand wie meinen Gastfreund, da er nicht
+so klar und einfach zu sprechen wußte wie dieser. Ich schritt in der
+Erkenntnis des Bildes vor, und es war mir, als ob es nach seinen
+Worten immer näher an mich heran gerückt würde.
+
+Er suchte viele Zeichnungen hervor, auf denen sich Abbildungen
+von Standbildern oder andern geschnitzten oder auf anderem Wege
+hervorgebrachten Gestalten des Mittelalters befanden. Wir verglichen
+diese Gestalten mit der aus dem Griechentume stammenden.
+
+Auch wirkliche Gestaltungen von kleinen Engeln, Heiligen oder anderen
+Personen, die sich in dem Rosenhause oder in der Nähe befanden, suchte
+er zur Vergleichung herbei zu bringen. Es zeigte sich hier für meine
+Augen, daß das wahr sei, was mein Gastfreund über griechische und
+mittelalterliche Kunst gesagt hatte. Es war mir wie ein jugendlicher
+und doch männlich gereifter Sinn voll Maß und Besonnenheit sowie voll
+herrlicher Sinnfälligkeit, der aus dem Griechenwerke sprach. In den
+mittelalterlichen Gebilden war es mir ein liebes, einfaches, argloses
+Gemüt, das gläubig und innig nach Mitteln griff, sich auszusprechen,
+der Mittel nicht völlig Herr wurde, dies nicht wußte und doch
+Wirkungen hervorbrachte, die noch jetzt ihre Macht auf uns äußern und
+uns mit Staunen erfüllen. Es ist die Seele, die da spricht und in
+ihrer Reinheit und in ihrem Ernste uns mit Bewunderung erfüllt,
+während spätere Zeiten, von denen Eustach zahlreiche Abbildungen von
+Bildwerken vorlegte, trotz ihrer Einsicht, ihrer Aufgeklärtheit und
+ihrer Kenntnis der Kunstmittel nur frostige Gestalten in unwahren
+Flattergewändern und übertriebenen Gebärden hervorbrachten, die keine
+Glut und keine Innigkeit haben, weil sie der Künstler nicht hatte, und
+die nicht einmal irgend eine Seele zeigen, weil der Künstler nicht mit
+der Seele arbeitete, sondern mit irgend einer Überlegung nach eben
+herrschenden Gestaltungsansichten, weshalb er das, was ihm an Gefühl
+abging, durch Unruhe und Heftigkeit des Werkes zu ersetzen suchte. Was
+die Sinnfälligkeit anlangt, so schien mir das Mittelalter nicht nach
+Vollendung in derselben gestrebt zu haben. Neben einem Haupte, das in
+seiner Einfachheit und Gegenständlichkeit trefflich und tadellos war,
+befinden sich wieder Bildungen und Gliederungen, die beinahe unmöglich
+sind. Der Künstler sah dies nicht; denn er fand den Zustand seines
+Gemütes in dem Ausdrucke seines Werkes, mehr hatte er nicht
+beabsichtigt, und nach Verschmelzung des Sinnentumes strebte er nicht,
+weil es ihm, wenigstens in seiner Kunsttätigkeit ferne lag und er
+einen Mangel nicht empfand. Darum stellt sich auch bei uns die Wirkung
+der Innerlichkeit ein, obgleich wir, unähnlich dem schaffenden
+Künstler des Mittelalters, die sinnlichen Mängel des Werkes empfinden.
+Dies spricht um so mehr für die Trefflichkeit der damaligen Arbeiten.
+
+Es waren recht schöne Tage, die ich mit Eustach in diesen
+Vergleichungen und diesen Bestrebungen hinbrachte.
+
+Ich wurde auch wieder auf die Gemälde alter und längstvergangener
+Zeiten zurückgeführt. Ich hatte in meiner frühesten Jugend eine
+Abneigung vor alten Gemälden gehabt. Ich glaubte, daß in ihnen eine
+Dunkelheit und Düsterheit herrsche, die dem fröhlichen Reize der
+Farben, wie er in den neuen Bildern sich vorstellt und wie ich ihn
+auch in der Natur zu sehen meinte, entgegen und weit untergeordnet
+sei. Diese Meinung hatte ich zwar fahren gelassen, als ich selber zu
+malen begonnen und nach und nach gesehen hatte, daß die Dinge der
+Natur und selber das menschliche Angesicht die heftigen Farben nicht
+haben, die sich in dem Farbekasten befinden, daß aber dafür die Natur
+eine Kraft des Lichtes und des Schattens besitze, die wenigstens ich
+durch alle meine Farben nicht darzustellen vermochte. Deßohngeachtet
+war mir die Erkenntnis dessen, was die Malerkunst in früheren Zeiten
+hervorgebracht hatte, nicht in dem Maße aufgegangen, als es der
+Sache nach notwendig gewesen wäre. Wenn ich gleich im Einzelnen
+vorgesehritten war und Manches in alten Bildern als sehr schön erkannt
+hatte, so war ich doch fort und fort zu sehr in meinen Bestrebungen
+auf dem Gebiete der Natur befangen, als daß ich auf andere Gebilde
+als die der Natur mit kräftiger Innerlichkeit geachtet hätte. Darum
+erschienen mir Pflanzen, Faltern, Bäume, Steine, Wässer, selbst das
+menschliche Angesicht als Gegenstände, die würdig wären, von der
+Malerkunst nachgebildet zu werden; aber alte Bilder erschienen
+mir nicht als Nachbildungen, sondern gewissermaßen als kostbare
+Gegenstände, die da sind und auf denen sich Dinge befinden, die man
+gewohnt ist als auf Gemälden befindliche zu sehen. Diese Richtung
+hatte für mich den Nutzen, daß ich bei meinen Versuchen, Gegenstände
+der Natur zu malen, nicht in die Nachahmung irgend eines Meisters
+verfiel, sondern daß meine Arbeiten mit all ihrer Fehlerhaftigkeit
+etwas sehr Gegenständliches und Naturwahres hatten; aber es erwuchs
+mir auch der Nachteil daraus, daß ich nie aus alten Meistern lernte,
+wie dieser oder jener die Farben und Linien behandelt habe und daß
+ich mir alles selber mühevoll erfinden mußte und in Vielem gar
+zu einem Ziele nicht gelangte. Obwohl ich später der Betrachtung
+mittelalterlicher Gemälde mich mehr zuwandte und sogar im Winter viele
+Zeit in Gemäldesammlungen unserer Stadt zubrachte, so war doch ein
+früherer Zustand noch mehr oder weniger unbewußt vorherrschend und die
+Kunst des Pinsels fand von mir nicht die Hingabe, die sie verdient
+hätte. Als ich jetzt mit Eustach die Zeichnungen mittelalterlicher
+bildender Kunst durchging, als ich mit ihm ein mir wie ein neues
+Wunder aufgegangenes Werk des alten Griechentums betrachtete, als ich
+dieses Werk mit den minder alten unserer Vorfahren verglich und die
+Unterschiede und Beziehungen einsehen lernte: da fing ich auch an, die
+Gemälde meines Gastfreundes anders zu betrachten, als ich bisher sie
+und andere Gemälde betrachtet hatte. Ich ging nicht nur oft in sein
+Bilderzimmer und verweilte lange Zeit in demselben, sondern ich ließ
+mir auch das Verzeichnis der Bilder geben, um nach und nach die
+Meister kennen zu lernen, die er versammelt hatte, ich bat, daß
+mir erlaubt werde, mir das eine oder andere Bild, wie ich es eben
+wünschte, auf die Staffelei stellen zu dürfen, um es so kennen zu
+lernen, wie mich ein innerer Drang trieb, und ich brachte oft mehrere
+Tage in Untersuchung eines einzigen Bildes zu. Welch ein neues Reich
+öffnete sich vor meinen Blicken! Wie die Dichter mir eine Welt der
+Seele aufschlossen, so lag hier wieder eine Welt, es war wieder eine
+Welt der Seele, wieder dieselbe Welt der hochgehenden Seele der
+Dichtkunst; aber mit wie ganz anderen Mitteln war sie hier erstrebt
+und erreicht. Welche Kraft, welche Anmut, welche Fülle, welche
+Zartheit, und wie war dem Schöpfer eine ähnliche, eine gleiche, aber
+menschliche Schöpfung nachgeschaffen. Ich lernte die Beziehungen der
+alten Malerei - mein Freund hatte fast lauter alte Bilder - zu der
+Natur kennen. Ich lernte einsehen, daß die alten Meister die Natur
+getreuer und liebevoller nachahmten als die neuen, ja daß sie im
+Erlernen der Züge der Natur eine unsägliche Ausdauer und Geduld
+hatten, vielleicht mehr, als ich empfand, daß ich selber hätte, und
+vielleicht mehr, als mancher Kunstjünger der Gegenwart haben mag. Ich
+konnte nicht aburteilen, da ich zu wenige Werke der Gegenwart kannte
+und so betrachtet hatte, als ich jetzt ältere Bilder betrachtete;
+aber es schien mir ein größeres Eingehen in das Wesen der Natur kaum
+möglich. Ich begriff nicht, wie ich das so lange nicht in dem Maße
+hatte sehen können, als ich es hätte sehen sollen. Wenn aber auch
+die Alten, wie ich hier mit ihnen umging, sich der Wirklichkeit sehr
+beflissen und sich ihr sehr hingaben, so ging das doch nicht so weit,
+als ich bei der Abbildung meiner naturwissenschaftlichen Gegenstände
+geschritten war, von denen ich alle Einzelheiten, so weit es nur
+immer möglich gewesen war, zu geben gesucht hatte. Dies wäre, wie
+ich einsah, der Kunst hinderlich gewesen, und statt einen ruhigen
+Gesammteindruck zu erzielen, wäre sie in lauter Einzelheiten
+zerfallen. Die Meister, welche mein Gastfreund in seiner Sammlung
+besaß, verstanden es, das Einzelne der Natur in großen Zügen zu fassen
+und mit einfachen Mitteln - oft mit einem einzigen Pinselstriche -
+darzustellen, so daß man die kleinsten Merkmale zu erblicken wähnte,
+bei näherer Betrachtung aber sah, daß sie nur der Erfolg einer großen
+und allgemeinen Behandlung waren. Diese große Behandlung sicherte
+ihnen aber auch Wirkungen im Großen, die dem entgehen, welcher die
+kleinsten Gliederungen in ihren kleinsten Teilen bildet. Ich sah erst
+jetzt, welche schöne Gestalten aus dem menschlichen Geschlechte auf
+der Malerleinwand lebten, wie edel ihre Glieder sind, wie mannigfaltig
+- strahlend, kräftig, geistvoll, milde - ihr Antlitz, wie adelig
+ihre Gewänder, und wäre es eine Bettlerjacke, und wie treffend die
+Umgebung. Ich sah, daß die Farbe der Angesichter und anderer Teile das
+leuchtende Licht menschlicher Gestaltungen ist, nicht der Farbestoff,
+mit dem der Unkundige seinen Gebilden ein widriges Rot und Weiß gibt,
+daß die Schatten so tief gehen, wie sie die Natur zeigt, und daß die
+Umgebung eine noch größere Tiefe hat, wodurch jene Kraft erzielt
+wird, die sich der nähert, welche die Schöpfung durch wirklichen
+Sonnenschein gibt, den niemand malen kann, weil man den Pinsel nicht
+in Licht zu tauchen vermag, eine Kraft, die ich jetzt an den alten
+Bildern so bewunderte. Von der außermenschlichen Natur sah ich
+leuchtende Wolken, klare Himmelsgebilde, ragende, reiche Bäume,
+gedehnte Ebenen, starrende Felsen, ferne Berge, helle, dahinfließende
+Bäche, spiegelnde Seen und grüne Weiden, ich sah ernste Bauwerke und
+ich sah das sogenannte stille Leben in Pflanzen, Blumen, Früchten, in
+Tieren und Tierchen. Ich bewunderte das Geschick und den Geist, womit
+alles zurechtgelegt und hervorgebracht ist. Ich erkannte, wie unsere
+Vorfahren Landschaften und Tiere malten. Ich erstaunte über den
+zarten Schmelz, womit einer mittelst Überfarben seinen Gebilden
+eine Durchsichtigkeit gab, oder über die Stärke, womit ein anderer
+undurchsichtige Farben hinstellte, daß sie einen Berg bildeten, der
+das Licht fängt und spiegelt und es so zwingt, das Bild mit zu malen,
+zu dem ein Licht in dem Farbenkasten nicht war. Ich erkannte, wie der
+eine in durchsichtigen Farben untermalte und auf diese seine festen,
+körperigen Farben aufsetzte, oder wie ein anderer Farbe auf Farbe mit
+breitem Pinsel hinstellt und mit ihm die Übergänge vermittelt und mit
+ihm die Zeichnung umreißt. Daß alte Bilder düsterer sind, erschien mir
+einleuchtend, da das Öl die Farben nachdunkeln macht und der Firniß
+eine dunkle bräunliche Farbe erhält. Beides haben umsichtige Meister
+mehr als voreilige zu vermeiden gewußt, und mein Gastfreund hatte
+Bilder, die in schöner Pracht und Farbenherrlichkeit leuchteten,
+obwohl auch bei ihnen die Würde bewahrt blieb, daß sie mehr die Kraft
+des Tones als auffallende oder etwa gar unwahre Farben brachten. Da
+ich schon viel mit Farben beschäftigt gewesen war, so verweilte ich
+oft lange bei einem Bilde, um zu ergründen, wie es gemalt ist und auf
+welche Weise die Stoffe behandelt worden sind. In dem Rosenzimmerchen
+Mathildens, wohin mich mein Gastfreund führte, um auch dort die Bilder
+zu sehen, hingen vier kleine Gemälde, davon zwei von Tizian waren,
+eines von Dominichino und eines von Guido Reni. Sie waren an Größe
+fast gleich und hatten gleiche Rahmen. Sie waren die schönsten,
+die mein Gastfreund besaß. Je mehr man sie betrachtete, desto
+mehr fesselten sie die Seele. Ich bat ihn fast zu oft, mir diese
+vier Bildchen zu zeigen, und er ermüdete nicht, mir immer die
+Frauengemächer aufzuschließen, mich in das Zimmerchen zu führen, mich
+die Bilder betrachten zu lassen und mit mir darüber zu sprechen. Er
+nahm sie öfter herab und stellte sie auf dem Tische oder auf einem
+Sessel so auf, daß sie in dem besten Lichte standen. Ich brachte
+merkwürdige Tage in jener Zeit in dem Rosenhause meines Freundes
+zu. Mein Wesen war in einer hohen, in einer edlen und veredelnden
+Stimmung.
+
+Ich fragte ihn einmal, woher er denn die Bilder erhalten habe.
+
+»Sie sind recht nach und nach in das Haus gekommen, wie es der
+Sammelfleiß und mitunter auch der Zufall gefügt hat«, antwortete er.
+»Ich habe von einem Oheime mehrere geerbt; sie waren aber nicht die
+besten, wie ich sie jetzt habe, ich verkaufte einen Teil davon, um
+mir andere, wenn auch wenigere, aber bessere zu kaufen. Ich habe euch
+schon einmal gesagt, daß ich in Italien gewesen bin. Ich habe drei
+Reisen in dieses Land gemacht. Da hat sich Manches gefunden. Ich habe
+stets nach Bildern gesucht, habe Manches gekauft, Manches wieder
+verkauft, Neues gekauft, und so war ein fortlaufender Wechsel, bis
+es so wurde, wie es jetzt ist. Nun aber verkaufe oder vertausche ich
+nichts mehr, selbst wenn mir etwas Außerordentliches vorkäme, das ich
+nicht ohne Weggabe eines Früheren erkaufen könnte. Mit dem Alter wird
+man so anhänglich an das Gewohnte, daß man es nicht missen kann, wenn
+es auch verbraucht zu werden beginnt und verschossen und verschollen
+ist. Ich lege alte Kleider nicht gerne ab, und wenn ich eines der
+Bilder, die mich nun so lange umgeben, aus dem Hause lassen müßte, so
+würde ich einem großen Schmerze nicht entgehen. Sie mögen nun bleiben,
+wie sie sind und wo sie sind, bis ich scheide. Selbst der Gedanke, daß
+ein Nachfolger die Bilder so lasse und sie ehre, wie sie hier sind,
+hat für mich etwas sehr Angenehmes, obwohl er töricht ist und ich ihm
+aus dem Wege gehe; denn darin besteht das Leben der Welt, daß ein
+Streben und Erringen und darum ein Wandel ist, welcher Wandel auch
+hier eintreten wird. Ich habe auch längere Zeit schon nichts mehr
+gekauft, außer einer recht lieben kleinen Landschaft von Ruysdael, die
+neben der Tür im Bilderzimmer hängt und die ihr so gerne anschaut. Ich
+würde nur etwas sehr Wertvolles kaufen, in so ferne es meine Kräfte
+zuließen. Ich habe oft Jahre lang auf ein Bild warten müssen, das mir
+sehr gefiel und das ich zu haben wünschte, entweder, weil der Besitzer
+eigensinnig war und, obwohl er das Bild weggeben wollte, doch
+Bedingungen an die Hingabe knüpfte, die nicht zu erfüllen waren,
+oder weil er sich von dem Bilde nicht trennen wollte, obgleich er es
+mißhandelte und zu Grunde gehen ließ. Zuweilen mußte ich schlechtere
+Bilder kaufen, die durch Farbenreiz oder andere Eigenschaften das Auge
+ansprachen, um einen Vorrat zum Tausche zu haben. Es gibt nehmlich
+Leute, welche Freude an Bildern haben, welche ältere bedeutende Bilder
+nicht weggeben, wenn sie solche besitzen, sie aber doch nicht erkennen
+und sie durch schlechte Behandlung Schaden leiden lassen. Sie ziehen
+ein Gemälde vor, welches sie besser verstehen, welches ihnen mehr
+gefällt, wenn es auch im Werte minder ist, und sind zu einem Tausche
+bereit. Dieser macht ihnen Freude, und wenn ich ihnen darlegte, daß
+ihr Gemälde einen höheren Wert habe als das meinige, und wenn ich
+diesen Wert nach genauer Schätzung durch Geld ausglich, so war das
+Vergnügen noch größer; denn sie zweifelten doch immer, ob ich Recht
+habe und das alte Bild nicht aus Vorliebe überschätze, da ihnen ja
+ihre Augen sagten, daß der Unterschied nicht so groß sei. Auf diese
+Weise bekam ich manches Angenehme, ohne meinem Billigkeitsgefühle nahe
+treten zu müssen, was bei Bildergeschäften so leicht der Fall wird.
+Die heilige Maria mit dem Kinde, welche euch so wohl gefällt und
+welche ich beinahe eine Zierde meiner Sammlung nennen möchte, hat
+mir Roland auf dem Dachboden eines Hauses gefunden. Er war dorthin
+mit dem Eigentümer gestiegen, um altes Eisenwerk, darunter sich
+mittelalterliche Sporen und eine Klinge befanden, zu kaufen. Das Bild
+war ohne Blindrahmen und war nicht etwa zusammengerollt, sondern wie
+ein Tuch zusammengelegt und lag im Staube. Roland konnte nicht genau
+erkennen, ob es einen Wert habe, und kaufte es dem Manne um ein
+Geringes ab. Ein Soldat hatte es einmal aus Italien geschickt. Er
+hatte es als bloße Packleinwand benützt und hatte Wäsche und alte
+Kleider in dasselbe getan, die ihm zu Hause ausgebessert werden
+sollten. Darum hatte das Bild Brüche, wo nehmlich die Leinwand
+zusammengelegt gewesen war, an welchen Brüchen sich keine Farbe
+zeigte, da sie durch die Gewalt des Umbiegens weggesprungen war. Auch
+hatte man, da wahrscheinlich die Fläche zum Zwecke einer Umhüllung
+zu groß gewesen war, Streifen von ihr weggeschnitten. Man sah die
+Schnitte noch ganz deutlich, während die anderen Ränder sehr alt waren
+und noch die Spuren von den Nägeln zeigten, mit denen sie einst an den
+Blindrahmen befestigt gewesen waren. Auch war, durch die Mißhandlungen
+der Zeiten herbeigeführt, an andern Stellen als an denen der Brüche
+die Farbe verschwunden, so daß man nicht nur den Grund des Gemäldes,
+sondern hie und da auch die lediglichen nackten Faden der alten
+Leinwand sehen konnte. So kam das Bild auf dem Asperhofe an. Wir
+breiteten es zuerst auseinander, wuschen es mit reinem Wasser und
+mußten dann, um es als Fläche zu erhalten und es betrachten zu können,
+Gewichte auf seine vier Ecken legen. So lag es auf dem Fußboden des
+Zimmers vor uns. Wir erkannten, daß es das Werk eines italienischen
+Malers sei, wir erkannten auch, daß es aus älterer Zeit stamme; aber
+von welchem Künstler es herrühre oder auch nur aus welcher Zeit es
+sei, war nach dem Zustande, in welchem die Malerei sich befand,
+durchaus nicht zu bestimmen. Teile, welche ganz waren, ließen indessen
+ahnen, daß das Gemälde einen nicht zu geringen Wert haben dürfte.
+Wir gingen nun daran, ein Brett zu verfertigen, auf welches das Bild
+geklebt werden könnte. Wir bereiten solche Bretter gewöhnlich aus
+Eichenholz, das aus zwei übereinander liegenden Stücken, deren Fasern
+auf einander senkrecht sind, und einem Roste besteht, damit dem
+sogenannten Werfen oder Verbiegen des Holzes vorgebeugt werde. Als das
+Brett fertig und die Verkittung an demselben vollkommen ausgetrocknet
+war, wurde das Gemälde auf dasselbe aufgezogen. Wir hatten dort, wo
+die Ränder des Bildes weggeschnitten waren, die Holzfläche größer
+gemacht und die neu entstandenen Stellen mit passender Leinwand gut
+ausgeklebt, um dem Gemälde annähernd wieder eine Gestalt geben zu
+können, die es ursprünglich gehabt haben mochte und in der es sich
+den Augen wohlgefällig zeigte. Hierauf wurde daran gegangen, das Bild
+von dem alten, hie und da noch vorfindlichen Firnisse und von dem
+Schmutze, den es hatte, zu reinigen. Der Firniß war durch die
+gewöhnlichen Mittel leicht wegzubringen, nicht so leicht aber der
+durch Jahrhunderte veraltete Schmutz, ohne daß man in Gefahr kam, auch
+die Farben zu beschädigen. Das gereinigte, auf der Staffelei stehende
+Gemälde wies uns nun eine viel größere Schönheit, als es uns nach der
+ersten oberflächlichen Waschung gezeigt hatte; aber es war durch die
+vielen Sprünge, Risse und nackten Stellen noch so verunstaltet, daß
+eine genaue Würdigung auch jetzt nicht möglich war, selbst wenn wir
+bedeutend größere Erfahrungen gehabt hätten als wir hatten. Roland und
+Eustach schritten zur Ausbesserung. Kein Ding kann schwieriger sein,
+und durch keins sind Gemälde so sehr entstellt und entwertet worden.
+Ich glaube, wir haben einen nicht unrichtigen Weg eingeschlagen.
+Eine ursprüngliche Farbe durfte gar nicht bedeckt werden. Zum Glücke
+hatte das Bild gar nie eine Ausbesserung oder sogenannte Übermalung
+erhalten, so daß entweder nur die ursprüngliche Farbe vorhanden war
+oder gar keine. In die farbentblößten Stellen wurde die Farbe, welche
+die umgrenzenden Ränder zeigten, gleichsam wie ein Stift eingesetzt,
+bis die Grube erfüllt war. Wir nahmen die Farben so trocken als
+möglich und so dicht gerieben, als es der Laufer auf dem Steine, ohne
+stecken zu bleiben zuwege bringen konnte. Wenn sich aber doch wieder
+nach dem Trocknen eine Vertiefung zeigte, wurde dieselbe neuerdings
+mit der nehmlichen Farbe ausgefüllt und so fortgefahren, bis eine
+Höhlung nicht mehr entstand. Erhöhungen, die blieben, wurden mit einem
+feinen Messer gleichgeschliffen. Auch über unausrottbaren Schmutz
+wurde die Farbe seiner Umgebung gelegt. Wenn die Farbe nach längerer
+Zeit durch das Öl, das sie enthielt, und durch andere Ursachen, die
+vielleicht noch mitwirken, nachgedunkelt war und sich in dem Gemälde
+als Fleck zeigte, wurde mit äußerst trockener Farbe und mit der Spitze
+eines feinen Pinsels die Stelle so lange gleichsam ausgepunktet, bis
+sie sich von der Umgebung durchaus nicht mehr unterschied. Dieses
+Verfahren wurde zuweilen mehrere Male wiederholt. Zuletzt konnte man
+mit freien Augen die Plätze, an welchen sich neue Farben befanden,
+gar nicht mehr erkennen. Nur das Vergrößerungsglas zeigte noch die
+Ausbesserungen. Wir brachten Jahre mit diesem Verfahren zu, besonders
+da Zwischenzeiten waren, die mit andern Arbeiten ausgefüllt werden
+mußten und da unser Vorgehen selber Zwischenzeiten bedingte, in denen
+die Farben auszutrocknen hatten oder in denen man ihnen Zeit geben
+mußte, die Veränderungen zu zeigen, die notwendig bei ihnen eintreten
+müssen. Dafür aber war an dem vollendeten Gemälde nicht zu merken, daß
+es nicht in allen Teilen ein altes sei, es hatte die feinen Sprünge
+alter Bilder und hatte alle die Reinheit und Klarheit des Pinsels,
+der es ursprünglich geschaffen hatte. Wenn man alte Bilder bei
+Ausbesserungen übermalt und dadurch stimmt, so ist nicht selten
+ein Überzug über die feinen Linien, welche die Zeit in alte Bilder
+sprengt, und dieser Überzug zeigt nicht nur, daß das Bild ausgebessert
+worden ist, sondern er stellt auch einen feinen Schleier dar, der über
+die Farben gebreitet ist und sie trüb und undurchsichtig macht. Solche
+Bilder geben oft einen düstern, unerfreulichen und schwerlastenden
+Eindruck. Es werden Viele unser Tun in Herstellung alter Bilder
+unbedeutend und unerheblich nennen, besonders da es so viele Zeit und
+so viele Anstalten erforderte; uns aber machte es eine große und eine
+innige Freude. Ihr werdet es gewiß nicht tadeln, da ihr einen so
+großen Anteil an den Hervorbringungen der Kunst zu nehmen beginnt.
+Wenn nach und nach die Gestalt eines alten Meisters vor uns aufstand,
+so war es nicht bloß das Gefühl eines Erschaffens, das uns beseelte,
+sondern das noch viel höhere eines Wiederbelebens eines Dinges, das
+sonst verloren gewesen wäre und das wir selber nicht hätten erschaffen
+können. Als schon bereits einige Teile des Bildes fertig waren, zeigte
+es sich, daß die Farben reiner und glänzender seien, als wir gedacht
+hatten, und daß das Bild einen vorzüglicheren Wert habe, als Anfangs
+unsere Vermutung war. So lange die vielen Sprünge und farblosen
+Stellen und so lange die unreinen Flecke, die wir nicht hatten
+beseitigen können, auf dem Gemälde waren, übten sie auch auf das
+Nichtzerstörte und sogar auf das sehr wohl Erhaltene einen Einfluß aus
+und ließen es im Ganzen mißfärbiger erscheinen, als es war. Nachdem
+aber in einer ziemlich großen Fläche die widerstreitenden Stellen mit
+den entsprechenden Farben zugedeckt waren und die neue Farbe die alte,
+statt ihr zu widersprechen, unterstützte, so kam eine Reinheit, ein
+Schmelz, eine Durchsichtigkeit und sogar ein Feuer zu Stande, daß wir
+in Erstaunen gerieten; denn bei starkbeschädigten Bildern kann man die
+Folgerichtigkeit der Übergänge nicht beurteilen, bis man sie nicht
+vollendet vor sich hat. Freilich mochte der besondere Farbenfluß sich
+noch höher darstellen, da er von den unverbesserten und widerwärtigen
+Stellen umgeben und gehoben wurde; aber das war schon vorauszusehen,
+daß, wenn das ganze Bild fertig sein würde, seine Stimmung einen
+entschieden künstlerischen Eindruck machen müsse. Ich hatte während
+der Arbeit viele Mühe darauf verwendet, die ganze Geschichte und
+die Herkunft des Bildes zu erforschen; allein ich kam zu keinem
+Ergebnisse. Der Soldat, der die Leinwand aus Italien geschickt hatte,
+war längst gestorben, und es lebte überhaupt niemand mehr, der in
+näherer Beziehung zu dem Ereignisse gestanden wäre; denn dasselbe
+hatte sich weit früher zugetragen, als ich gedacht hatte. Der
+Großvater des letzten Besitzers des Bildes hatte öfter erzählt, daß
+er sagen gehört habe, daß ein aus dem Hause gebürtiger Soldat einmal
+seine Strümpfe und Hemden in ein Muttergottesbild eingewickelt aus
+Welschland nach Hause geschickt habe. Die Wahrheit der Erzählung
+bestätigte sich dadurch, daß man noch das alte zerstörte Marienbild
+auf dem Dachboden des Hauses fand. Ich konnte auch nicht ergründen,
+welche Gelegenheit es gewesen sei, die jenen deutschen Soldaten nach
+Welschland geführt hatte. Von dem, herauszufinden, aus welcher Gegend
+Italiens das Bild gekommen sei, konnte nun vollends gar keine Rede
+mehr sein. Als nach langer Zeit, nach vieler Mühe und mancher
+Unterbrechung das Gemälde in einem schönen, altertümlich gearbeiteten
+Goldrahmen fertig vor uns stand, war es eine Art Fest für uns. Roland
+war herbei gerufen worden, da er gegen den Schluß des Werkes eine
+Reise angetreten und die Vollendung seinem Bruder überlassen hatte.
+Mehrere Nachbaren waren geladen worden, ja ein Freund und Kenner alter
+Kunst, dem ich die Sache gemeldet hatte, war sogar von ziemlich weiter
+Entfernung herzugekommen, um die Wiederherstellung zu sehen, und
+Andere, wenn sie auch nicht geladen waren, hatten sich eingefunden,
+da sie durch Zufall Kenntnis von der Begebenheit erhalten hatten, und
+wußten, daß sie auf dem Asperhofe nicht unwillkommen sein würden. Es
+ist nicht wahr, was man öfter sagt, daß eine schöne Frau ohne Schmuck
+schöner sei als in demselben; und eben so ist es nicht wahr, daß
+ein Gemälde zu seiner Geltung nicht des Rahmens bedürfe. Ich
+hatte zu unserem Marienbilde einen Rahmen nach Zeichnungen aus
+mittelalterlichen Gegenständen bestellt und hatte dessen Ausführung
+gelegentlich, wenn mich ein Geschäft oder mein Wille in die Stadt
+brachte, überwacht. Er war weit eher auf dem Asperhofe angekommen, als
+das Bild fertig war, und mußte die Zeit über in seiner Kiste verpackt
+harren. Wir versuchten auch nicht ein einziges Mal das Bild in ihn
+zu fügen, ehe es fertig war, um den Eindruck nicht zu schwächen.
+Bei neuen Bildern zeigt freilich der Rahmen erst, daß noch Manches
+hinzuzufügen und zu ändern ist, und Vieles muß an solchen Bildern erst
+gemacht werden, wenn man sie bereits in einem Rahmen gesehen hat.
+Bei alten Bildern, die wiederhergestellt werden, ist das anders,
+besonders, wenn sie auf unsere Weise hergestellt worden. Da gibt das
+Vorhandene den Weg der Herstellung an, man kann nicht anders malen,
+als man malt, und die Tiefe, das Feuer und der Glanz der Farben ist
+daher durch das bereits auf der Leinwand Befindliche bedingt. Wie dann
+das Bild in einem Rahmen aussehen werde, liegt nicht in der Willkür
+des Wiederherstellers, und wenn es in dem Rahmen trefflich oder minder
+gut steht, so ist das Sache des ursprünglichen Meisters, dessen Werk
+man nicht ändern darf. Als unsere Maria, welche noch nicht einmal
+einen Firniß erhalten hatte, aus den altertümlichen Gestalten des
+Rahmens, die sehr paßten, heraussah, so war es ein wunderbarer
+Anblick, und erst jetzt sahen wir, welche Lieblichkeit und Kraft
+der alte Meister in seinem Bilde dargelegt hatte. Obwohl der Rahmen
+erhabene Arbeit in Blumen, Verzierungen und sogar in Teilen der
+menschlichen Gestalt enthielt und auf demselben Glanzlichter von
+starker Wirkung angebracht waren, so erschien das Bild doch nicht
+unruhig, ja es beherrschte den Rahmen und machte seinen Reichtum zu
+einer anmutigen Mannigfaltigkeit, während es selber durch seine Gewalt
+sich geltend machte und in den erhebenden Farben von würdigem Schmucke
+umgeben thronte. Ein leiser Ruf entschlüpfte den Lippen aller
+Anwesenden, und ich freute mich, daß ich mich nicht getäuscht hatte,
+als ich auf die Macht des Bildes rechnend einen so reichen Rahmen für
+dasselbe bestellt hatte. Wir standen lange davor und betrachteten die
+Schönheit der Farbengebung an den entblößten Teilen so wie die der
+Gewandung und der Gründe, was im Vereine mit der Einfachheit und
+Hoheit der Linienführung und mit der maßvollen Anordnung der Flächen
+ein so würdevolles und heiliges Ganzes bildete, daß man sich eines
+tiefen Ernstes nicht erwehren konnte, der wie wahrhaftige Andacht war.
+Erst später fingen wir zu sprechen an, beredeten dieses und jenes und
+kamen, wie es natürlich war, dahin, Vermutungen über den Meister zu
+wagen. Es wurde Guido Reni genannt, es wurde Tizian genannt, es wurde
+die Rafaelische Schule genannt. Für alles hatte man Gründe, und der
+Schluß war, wie er es auch noch heute ist, daß man nicht wußte, von
+wem das Bild sei. Roland war außerordentlich vergnügt, daß er die
+Sache in ihrer Entstehung schon geahnt und durch den Kauf eine
+so zweckmäßige Handlung ausgeführt habe. Damals war er noch
+außerordentlich jung, er war bei Weitem nicht so eingeübt wie jetzt
+und war daher seiner Handlung nicht ganz sicher. Eustach sah man es
+an, daß ihm, wie der Volksausdruck sagt, das Herz vor Freude lache.
+Eine freundliche Bewirtung meiner Gäste war damals das Ende des Tages.
+Wir suchten in der folgenden Zeit eine Stelle, an welcher das Bild
+am vorteilhaftesten aufgehängt werden könnte. Roland erhielt eine
+Belohnung in einem Werke, das er sich schon lange gewünscht hatte, und
+Eustach, das sah ich wohl, fand seine schönste Befriedigung darin, daß
+er näher in unsere Kunstkreise gezogen wurde. Dem Manne, von welchem
+das Bild in seinem verstümmelten Zustande gekauft worden war, gab ich
+noch eine Summe, mit welcher er weit über seine Erwartung abgefunden
+war; denn das Bild hätte er doch nie herstellen lassen können, er
+wäre auch auf den Gedanken nicht gekommen, und ohne Roland wäre das
+Bild nicht verkauft worden, bis es immer mehr verfallen und einmal
+vernichtet worden wäre. Oft stand ich in späteren Zeiten noch davor
+und hatte manche Freude in Betrachtung des Werkes. Ich sah das
+Angesicht und die Hände der Mutter an und sah das teils nackte, teils
+durch schöne Tücher schicklich verhüllte Kind. Ein dem Lande Italien
+so häufig zukommendes Zeichen ist es, daß das Kind nicht in den Armen
+der Mutter gehalten wird, sondern daß es mit schönem Hinneigen zu
+derselben und von ihr leicht und sanft umfaßt auf einem erhöhten
+Gegenstande vor ihr steht. Der Künstler hat dadurch nicht nur
+Gelegenheit gefunden, den Körper des Kindes in einer weit schöneren
+Stellung zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Busen gehalten
+gewesen wäre, sondern er hat noch den weit höheren Vorteil erreicht,
+das göttliche Kind in seiner Kraft und in seiner Freiheit zu zeigen,
+was die Wirkung hat, als ehrten wir gleichsam schon die Macht, mit
+welcher es einstens handeln wird. Daß südliche Völker den Heiland als
+Kind in so großer sinnlicher Schönheit malen, hat mich immer entzückt,
+und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher wie ein kräftiger,
+wunderschöner Leib des Südens aussieht, so beirrt mich das nicht,
+sehen doch die Jesuskinder und die Johanneskinder des herrlichen
+Rafael auch so aus, und die Wirkung ist doch eine so gewaltige. Daß
+die Mutter, deren Mund so schön ist, die Augen gegen Himmel wendet,
+sagt mir nicht ganz zu. Die Wirkung, scheint mir, ist hierin ein
+wenig überboten, und der Künstler legt in eine Handlung, die er seine
+Gestalt vor uns vornehmen läßt, eine Bedeutung, von der er nicht
+machen kann, daß wir sie in der bloßen Gestalt sehen. Wer durch
+einfachere Mittel wirkt, wirkt besser. Wenn er die Heiligkeit und
+Hoheit statt in die erhobenen Augen in die bloße Gestalt hätte legen
+können, wobei die Augen einfach vor sich hinblickten, so hätte er
+besser getan. Rafael läßt seine Madonnen ruhig und ernst blicken, und
+sie werden Himmelsköniginnen, während so manche andere nur betende
+Mädchen sind. Aus diesem möchte ich auch schließen, daß das Bild nicht
+aus der Rafaelschen Schule ist, so sehr die herrliche Gestalt des
+Kindes daran erinnert. Das Bild hängt nicht mehr dort, wo es Anfangs
+war. Wir haben alle Bilder mehrere Male umgehängt, und es gewährt eine
+eigene Freude, zu versuchen, ob in einer andern Anordnung die Wirkung
+des Ganzen nicht eine bessere sei. Auch darüber haben wir ernste
+Beratungen und vielerlei Versuche angestellt, welche Farbe wir den
+Wänden geben sollen, daß sich die Bilder am besten von ihnen abheben.
+Wir blieben dann bei dem rötlichen Braun stehen, das ihr jetzt noch
+in dem Gemäldezimmer findet. Ich lasse nun nichts mehr ändern. Die
+jetzige Lage der Bilder ist mir zu einer Gewohnheit und ist mir lieb
+geworden, und ich möchte ohne übeln Eindruck die Sache nicht anders
+sehen. Sie ist mir eine Freude und eine Blume meines Alters geworden.
+Die Erwerbung der Bilder, die, wie ihr schon aus meinen früheren
+Worten schließen könnt, nicht immer so leicht war wie die der heiligen
+Maria, stellt eine eigene Linie in dem Gange meines Lebens dar, und
+diese Linie ist mit Vielem versehen, was mir teils einen freudigen,
+teils einen trüben Rückblick gewährt. Wir sind in manche Verhältnisse
+geraten, haben manche Menschen kennen gelernt und haben manche Zeit
+mit Wiederherstellung der Bilder, mit Verwindung von Täuschungen,
+mit Hineinleben in Schönheiten zugebracht, wir haben auch manche zu
+Zeichnungen und Entwürfen von Rahmen verwendet; denn alle Gemälde
+haben wir nach und nach in neue, von uns entworfene Rahmen getan,
+und so stehen nun die Werke um mich wie alte, hochverehrungswürdige
+Freunde, die es täglich mehr werden und die eine Annehmlichkeit und
+eine Wonne für meine noch übrigen Tage sind.«
+
+Daß ich durch die Erzählung meines Gastfreundes der Sammlung seiner
+Bilder noch mehr zugewendet wurde, begreift sich.
+
+Ich lenkte meine Aufmerksamkeit nun auch auf die Kupferstiche meines
+Gastfreundes. Da dieselben nicht unter Glas und Rahmen waren, sondern
+sich in großen Laden des Tisches im Lesezimmer befanden, so konnte man
+sie weit bequemer betrachten als die Gemälde. Ich nahm mir zuerst die
+Mappen nach einander heraus und sah alle Kupferstiche der Reihe nach
+an. Dann aber ging ich an eine mehr geordnete Betrachtung. So wie mein
+Gastfreund nicht Bücher aus dem Hause gab, wohl aber einem Gaste in
+sein Zimmer die verlangten bringen ließ, so tat er es auch mit den
+Kupferstichen, nur gab er immer gleich eine ganze Mappe in ein Zimmer,
+nicht aber leicht einzelne Blätter. Er tat dies der Erhaltung und
+Schonung willen. Weil ich nun nicht viele Stunden im Lesezimmer
+ununterbrochen mit Ansehen von Kupferstichen zubringen mochte, so
+ließ mir mein Gastfreund die einzelnen Mappen nach und nach in meine
+Wohnung bringen, und ich konnte die in ihnen enthaltenen Werke mit
+Muße betrachten, konnte diese Beschäftigung auch durch Anderes
+unterbrechen und konnte, wenn ich die Mappe durch eine beliebige Zeit
+in meiner Wohnung gehabt hatte, dieselbe durch eine andere ersetzen.
+Später, da ich alle Mappen genau durchsucht hatte, wobei ich mir
+diejenigen Werke aufzeichnete, die mir ganz besonders gefielen oder
+die von meinem Gastfreunde und Eustach als vorzüglich bezeichnet
+waren, schlug ich mir bei Gelegenheit nur die eine oder andere auf, um
+das eine oder andere mir sehr liebe Werk des Grabstichels zu besehen.
+Ich merkte mir in meinem Gedenkbuche auch diejenigen an, welche ich
+mir gleichfalls kaufen wollte, wenn es solche waren, die man noch im
+Handel bekommen konnte. Ich lernte bei diesen Untersuchungen die Art
+und Weise des Vortrags verschiedener Meister und verschiedener Zeiten
+kennen und endlich auch würdigen, und ich fand wieder, wie es bei den
+Gemälden der Fall ist, daß mit geringen Ausnahmen auch diese Kunst
+eine schönere Vergangenheit gehabt habe, als sie eine Gegenwart habe,
+ja bei den Kupferstichen konnte ich dies noch genauer kennen lernen
+als bei Gemälden, da mein Freund alte und neue Kupferstiche hatte,
+während in seinem Bilderzimmer nur sehr wenige neue Bilder hingen, die
+Vergleichung also schwieriger war, und ich mich auf die neuen Bilder
+weniger erinnerte, welche ich in der Stadt gesehen hatte und welche
+ich auch mit anderen Augen mochte angeschaut haben. Ich lernte
+die Feinheiten, die Großartigkeit, die Schönheit, die Ruhe in der
+Behandlung immer mehr kennen und würdigen und beschloß, da mir
+Kupferstiche weit leichter zu erwerben waren als Gemälde, vorläufig
+damit zu beginnen, mir Blätter, die ich für trefflich hielt, zu kaufen
+und eine Sammlung anzubahnen. Es war eine ziemliche Zeit hingegangen,
+die ich mit Betrachtung und Einprägung der Kupferstiche und Gemälde
+verbrachte. Eustach war häufig bei mir, wir sprachen über die Dinge,
+und ich lernte täglich höher von diesem Manne denken.
+
+Ich kam während dieser Zeit auch öfter in das Schreinerhaus und andere
+Werkstätten und sah zu, was da verfertiget werde.
+
+Bei diesen Veranlassungen fiel es mir auf, daß mein Gastfreund noch
+nicht begonnen hatte, aus dem in Wahrheit gewiß außerordentlich
+schönen Marmor, den ich ihm gebracht hatte, dessen Schönheit ich ganz
+gewiß zu beurteilen verstand und der ihm selber viele Freude gemacht
+zu haben schien, etwas verfertigen zu lassen. Ich konnte auch
+den Marmor in dem Rosenhause gar nicht auffinden. Er war in dem
+Vorratshause gelegen, wo sich auch öfter Steine von mir befunden
+hatten. Jetzt war er nicht mehr dort. War er, um nicht Verletzungen zu
+erfahren, in einen anderen, sichereren Ort gebracht worden oder hatte
+man ihn doch irgendwohin gesendet, wo an ihm gearbeitet wurde? Das
+Letzte war nicht denkbar, da mein Gastfreund alle Dinge aus Holz
+und Stein in seinem Hause arbeiten ließ, wozu auch nicht nur die
+Vorrichtungen und Werkzeuge vorhanden waren, sondern wohin auch zu
+jeder Zeit die etwa noch mangelnden Arbeitskräfte gezogen werden
+können.
+
+
+Ich machte eines Tages eine Reise in das Lauterthal und hielt mich
+einige Zeit in demselben auf. Es war nicht, um meine gewöhnliche
+Beschäftigung dort vorzunehmen, sondern um nach den Arbeiten mit
+meinem Marmor zu sehen. In der Nähe des Ahorngasthauses - etwa zwei
+Wegestunden von demselben entfernt - befand sich die Anstalt, in
+welcher Marmor gesägt und geschliffen wurde und in welcher man
+verschiedene Dinge aus Marmor verfertigte. Der Ort hieß das Rothmoor,
+weshalb, konnte ich nicht ergründen; denn es war überall Gestein und
+rauschendes Wasser, und von einem Moore war auf Meilen in der Länge
+und Breite nichts zu finden; aber der Ort hieß so. Es befanden sich
+dort mehrere Stücke Marmor von mir, damit aus denselben etwas für den
+Vater gemacht würde. Das größte Stück war fast rosenrot, und es sollte
+daraus ein Wasserbecken für den Garten werden. Das Becken aber hatte
+ich selber entworfen. Aus großer Vorliebe für Gewächse hatte ich seine
+Gestalt aus dem Gewächsreiche genommen. Es war ein Blatt, welches dem
+der Einbeere sehr ähnlich war, in welchem die glänzende dunkelschwarze
+Kugel liegt. Ich hatte das Blatt nach einem wirklichen aus Wachs
+gebildet, nur die Auszackung machte ich geringer und die Tiefe größer.
+Das Wachsblatt wurde von einem Arbeiter, der des Gestaltens sehr
+kundig war, in Gips bedeutend größer nachgebildet, und nach dem
+Gipsblatte sollte das Marmorbecken gearbeitet werden. In der Tiefe
+desselben sollte wie bei dem Einbeerenblatte die Kugel liegen, und aus
+einem Stiele, der sich über das Blatt erhebt, soll das Wasser in einem
+feinen Strahle in das Blatt springen. Das Blatt selber sollte von
+Rosenmarmor, der Stamm und Stengel von einem anderen, dunkleren
+sein. Ich bestrebte mich in dem Rothmoore nachzusehen, wie weit die
+Arbeit gediehen sei, und versuchte durch Besprechungen für größere
+Leichtigkeit und Reinheit einzuwirken. Aus anderem Marmor sollten
+andere Dinge verfertigt werden. Zuerst das Pflaster um die Einbeere
+herum. Das Blatt sollte sein Wasser auf dieses Pflaster hinabgießen,
+dasselbe sollte auf seiner Ebene eine sanfte Rinne bilden, um
+das Wasser weiter zu leiten. Die Farbe des Pflasters sollte blaß
+gelblich sein. Ich hatte eine erkleckliche Anzahl Stücke hiezu
+zusammengebracht. Für eine Laube in dem Garten hatte ich die Platte
+eines Tischchens beabsichtigt. Sonst waren noch kleine Tragsteine, ein
+paar Simse und Briefbeschwerer im Werke. Die Sachen waren in Arbeit.
+Als Daraufgabe war ein Nest, in welchem zwei Eier lagen, deren Marmor
+fast täuschend die Farbe von Kibitzeiern hatte.
+
+Ich war mit den Arbeiten, so weit sie jetzt gediehen waren, sehr
+zufrieden. Der Stein zu dem Becken war nicht nur in seine allgemeine
+Gestalt geschnitten worden, sondern das Blatt war in rohen Umrissen
+fertig, so daß zur feineren Ausfeilung und zur Glättung geschritten
+werden konnte. Es arbeiteten zwei Menschen ausschließlich an diesem
+Gegenstande. Mit dem Gipsvorbilde ließ ich noch einige Veränderungen
+vornehmen. Es war mir nicht leicht genug und zeigte mir nicht
+hinlänglich das Weiche des Pflanzenlebens.
+
+Ich ging in die Berge, suchte Pflanzen der Einbeere und brachte sie
+sammt ihrer Erde in Töpfen zurück, damit sie nicht zu schnell welkten
+und uns länger als Muster dienen könnten. An diesen Pflanzen suchte
+ich zu zeigen, was an dem Vorbilde noch fehle. Ich erklärte, wo ein
+Blatteil sich sanfter legen, ein Rand sich weicher krümmen müsse,
+damit endlich das Steinbild, wenn es fertig wäre, nicht den Eindruck
+hervorbringe, als ob es gemacht worden, sondern den, als ob es
+gewachsen wäre. Da ich mich bemühte, die Sache ohne Verletzung des
+Mannes, welcher das Gipsvorbild verfertiget hatte, darzulegen und sie
+eher in das Gewand einer Beratung einzukleiden, so ging man auf meine
+Ansichten sehr gerne ein, und da die ersten Versuche gelangen und das
+Becken durch die größere Ähnlichkeit, die es mit dem Blatte erlangte,
+auch sichtbar an Schönheit gewann, so ging man mit Eifer an die
+Fortsetzung, suchte sich den Pflanzenmerkmalen immer mehr zu nähern
+und erlebte die Freude, daß endlich das Werk in ungemein edlerer
+Vollendung dastand als früher. Selbst für künftige Arbeiten hatte man
+durch dieses Verfahren einen Anhaltspunkt gewonnen, und Hoffnungen
+geschöpft, sich in schönere und heiterere Kreise zu schwingen.
+Der Werkmeister sprach unverhohlen mit mir über die Sache. Früher
+hatte man nach hergebrachten Gestalten und Zeichnungen Gegenstände
+verfertigt, dieselben versandt und Preise dafür erhalten, die solchen
+Waren gewöhnlich zukommen, so daß die Anstalt bestehen konnte, aber
+einer gehäbigen und wohlhabenden Blüte doch nicht teilhaftig war.
+Daß man sich an Pflanzen als Vorbilder wenden könne, war ihnen nicht
+eingefallen.
+
+Jetzt richtete man den Blick auf sie und fand, daß alle Berge voll
+von Dingen ständen, die ihnen Fingerzeige geben könnten, wie sie ihre
+Werke zu verfertigen und zu veredeln hätten.
+
+Ich blieb so lange da, bis das Gipsblatt vollkommen fertig war, und
+bis ich mich darüber beruhigt hatte, welche Werkzeuge zum Messen
+angewendet würden, damit die Gestalt des Vorbildes mit allen ihren
+Verhältnissen in die Nachbildung übergehen könnte.
+
+Nachdem ich noch die Bitte um Beschleunigung der Arbeit angebracht
+hatte, damit ich sie so bald als möglich in den Garten des Vaters
+bringen könnte, und nachdem ich versprochen hatte, in diesem Sommer
+noch einen Besuch in der Anstalt zu machen, trat ich den Rückweg in
+das Rosenhaus wieder an.
+
+Ich bestieg auf meiner Wanderung, die ich in den Bergen zu Fuße
+machte, das Eiskar, setzte mich auf einen Steinblock und sah beinahe
+den ganzen Nachmittag in tiefem Sinnen auf die Landschaften, die vor
+mir ausgebreitet waren, hinaus.
+
+
+In dem Rosenhause beschäftigte ich mich wieder mit Betrachtung der
+Bilder. Ich nahm sogar ein Vergrößerungsglas und sah die Gemälde an,
+wie denn die verschiedenen alten Meister gemalt haben, ob der eine
+einen stumpfen, starren Pinsel genommen habe, der andere einen langen,
+weichen, ob sie mit breitem oder spitzigem gearbeitet, ob sie viel
+untermalt haben oder gleich mit den schweren, undurchsichtigen Farben
+darauf gegangen seien, ob sie in kleinen Flächen fertig gemacht oder
+das Große vorerst angelegt und es in allen Teilen nach und nach der
+Vollendung zugeführt hätten.
+
+Mein Gastfreund war in diesen Dingen sehr erfahren und stand mir bei.
+
+Von den Dichtern nahm ich jetzt Calderon vor. Ich konnte ihn bereits
+in dem Spanischen lesen und vertiefte mich mit großem Eifer in seinen
+Geist.
+
+Wir besuchten mehrere Male den Inghof. Es wurde dort Musik gemacht, es
+wurde gespielt, wir besuchten die schönsten Teile der Umgebung oder
+besahen, was der Garten oder der Meierhof oder das Haus Vorzügliches
+aufzuweisen hatte.
+
+Zur Zeit der Rosenblüte kamen Mathilde und Natalie auf den Asperhof.
+Wir wußten den Tag der Ankunft und erwarteten sie. Als sie
+ausgestiegen waren, als Mathilde und mein Gastfreund sich begrüßt
+hatten, als einige Worte von den Lippen der Mutter zu Gustav
+gesprochen worden waren, wendete sie sich zu mir und sprach mit den
+freundlichsten Mienen und mit dem liebevollsten Blick ihrer Augen
+die Freude aus, mich hier zu finden, zu wissen, daß ich mich schon
+ziemlich lange bei ihrem Freunde und ihrem Sohne aufgehalten habe,
+und zu hoffen, daß ich die ganze schöne Jahreszeit auf dem Asperhofe
+zubringen werde.
+
+Ich erwiderte, daß ich heuer beschlossen habe, den ganzen Sommer über
+bloß für mein Vergnügen zu leben und daß ich es mit großem Danke
+anerkennen müsse, daß mir erlaubt sei, auf diesem Sitze verweilen zu
+dürfen, der das Herz, den Verstand und das ganze Wesen eines jungen
+Mannes so zu bilden geeignet sei.
+
+Natalie stand vor mir, da dieses gesprochen worden war. Sie erschien
+mir in diesem Jahre vollkommener geworden und war so außerordentlich
+schön, wie ich nie in meinem ganzen Leben ein weibliches Wesen gesehen
+habe.
+
+Sie sagte kein Wort zu mir, sondern sah mich nur an. Ich war nicht
+im Stande, etwas aufzufinden, was ich zur Bewillkommnung hätte sagen
+können. Ich verbeugte mich stumm, und sie erwiderte diese Verbeugung
+durch eine gleiche.
+
+Hierauf gingen wir in das Haus.
+
+Die Tage verflossen wie die in den vergangenen Jahren. Nur eine
+einzige Ausnahme trat ein. Man begann nach und nach von den Bildern
+zu sprechen, man sprach von der Marmorgestalt, welche auf der schönen
+Treppe des Hauses stand, man ging öfter in das Bilderzimmer und besah
+Verschiedenes, und man verweilte manche Augenblicke in der dämmerigen
+Helle der Treppe, auf welche von oben die sanfte Flut des Lichtes
+hernieder sank, und vergnügte sich an der Herrlichkeit der dort
+befindlichen Gestalt und der Pracht ihrer Gliederung. Ich erkannte,
+daß Mathilde in der Beurteilung der Kunst erfahren sei und daß sie
+dieselbe mit warmem Herzen liebe. Auch an Natalien sah ich, daß sie in
+Kunstdingen nicht fremd sei und daß sie in ihrer Neigung etwas gelten.
+Ich machte also jetzt die Erfahrung, daß man in früherer Zeit, da
+ich mein Augenmerk noch weniger auf Gemälde und ähnliche Kunstwerke
+gerichtet hatte und dieselben einen tiefen Platz in meinem Innern noch
+nicht einnahmen, mich geschont habe, daß man nicht eingegangen sei,
+in meiner Gegenwart von den in dem Hause befindlichen Kunstwerken
+zu sprechen, um mich nicht in einen Kreis zu nötigen, der in jenem
+Augenblicke noch beinahe außerhalb meiner Seelenkräfte lag. Mir kam
+jetzt auch zu Sinne, daß in gleicher Weise mein Vater nie zu mir auf
+eigenen Antrieb von seinen Bildern gesprochen habe und daß er sich nur
+insoweit über dieselben eingelassen, als ich selber darauf zu sprechen
+kam und um dieses oder jenes fragte. Sie haben also sämmtlich einen
+Gegenstand vermieden, der in mir noch nicht geläufig war und von dem
+sie erwarteten, daß ich vielleicht mein Gemüt zu ihm hinwenden würde.
+Mich erfüllte diese Betrachtung einigermaßen mit Scham, und ich
+erschien mir gegenüber all den Personen, die nun durch meine
+Vorstellung gingen, als ungefüg und unbehilflich; aber da sie immer so
+gut und liebreich gegen mich gewesen waren, so schloß ich aus diesem
+Umstande, daß sie nicht nachteilig über mich geurteilt und daß
+sie meinen Anteil an dem, was ihnen bereits teuer war, als sicher
+bevorstehend betrachtet haben. Dieser Gedanke beruhigte mich eines
+Teiles wieder. Besonders aber gereichte es mir zur Genugtuung, daß sie
+mit einer Art von Freude in die Gespräche eingingen, die sich jetzt
+über bildende Kunst entspannen, daß also das nicht unsachgemäß sein
+mußte, was ich in dieser Richtung jetzt äußerte, und daß es ihnen
+angenehm war, mit mir auf einer Lebensrichtung zusammen zu treffen,
+welche für sie Wichtigkeit hatte.
+
+Eines Tages, da die Blüte der Rosen schon beinahe zu Ende war, wurde
+ich unfreiwillig der Zeuge einiger Worte, welche Mathilde an meinen
+Gastfreund richtete und welche offenbar nur für diesen allein
+bestimmt waren. Ich zeichnete in einer Stube des Erdgeschosses
+ein Fenstergitter. Das Erdgeschoß des Hauses hatte lauter eiserne
+Fenstergitter. Diese waren aber nicht jene großstäbigen Gitter, wie
+man sie an vielen Häusern und auch an Gefängnissen anbringt, sondern
+sie waren sanft geschweift und hatten oben und unten eine flache
+Wölbung, die mitten, gleichsam wie in einen Schlußstein, in eine
+schöne Rose zusammenlief. Diese Rose war von vorzüglich leichter
+Arbeit und war ihrem Vorbilde treuer, als ich irgendwo in Eisen
+gesehen hatte. Außerdem war das ganze Gitter in zierlicher Art
+zusammengestellt, und die Stäbe hatten nebst der Schlußrose noch
+manche andere bedeutsame Verzierungen. Es war fast gegen Abend, als ich
+mich in einer Stube des Erdgeschosses, deren Fenster auf die Rosen
+hinausgingen, befand, um mir vorläufig die ganze Gestalt des Gitters,
+die außen zu sehr von den Rosen verdeckt war, zu entwerfen. Die
+einzelnen Verzierungen, deren Hauptentwicklung nach außen ging, wollte
+ich mir später einmal von dorther zeichnen. Da ich in meine Arbeit
+vertieft war, dunkelte es vor dem Fenster, wie wenn die Laubblätter
+vor demselben von einem Schatten bedeckt würden. Da ich genauer
+hinsah, erkannte ich, daß jemand vor dem Fenster stehe, den ich aber
+der dichten Ranken willen nicht erkennen konnte. In diesem Augenblicke
+ertönte durch das geöffnete Fenster klar und deutlich Mathildens
+Stimme, die sagte: »Wie diese Rosen abgeblüht sind, so ist unser Glück
+abgeblüht.«
+
+Ihr antwortete die Stimme meines Gastfreundes, welcher sagte: »Es ist
+nicht abgeblüht, es hat nur eine andere Gestalt.«
+
+Ich stand auf, entfernte mich von dem Fenster und ging in die Mitte
+des Zimmers, um von dem weiteren Verlaufe des Gespräches nicht mehr zu
+vernehmen. Da ich ferner überlegt hatte, daß es nicht geziemend sei,
+wenn mein Gastfreund und Mathilde später erführen, daß ich zu der
+Zeit, als sie ein Gespräch vor dem Fenster geführt hatten, in der
+Stube gewesen sei, der jenes Fenster angehörte, so entfernte ich mich
+auch aus derselben und ging in den Garten. Da ich nach einer Zeit
+meinen Gastfreund, Mathilden, Natalie und Gustav gegen den großen
+Kirschbaum zugehen sah, begab ich mich wieder in die Stube und holte
+mir meine Zeichnungsgeräte, die ich dort liegen gelassen hatte;
+denn der Abend war mittlerweile so dunkel geworden, daß ich zum
+Weiterzeichnen nicht mehr sehen konnte.
+
+Als die Rosenblüte gänzlich vorüber war, beschlossen wir, uns auch
+eine Zeit in dem Sternenhofe aufzuhalten. Da wir den Hügel zu ihm
+hinan fuhren, sah ich, daß Gerüste an dem Mauerwerke aufgeschlagen
+waren, und als wir uns genähert hatten, erkannte ich, daß die
+Arbeiter, die sich auf den Gerüsten befanden, damit beschäftigt waren,
+die Tünche von den breiten Steinen, welche an die Oberfläche der
+Mauern gingen, abzunehmen und die Steine zu reinigen. Man hatte vorher
+an einem abgelegenen Teile des Hauses einen Versuch gemacht, welcher
+sich bewährte und welcher dartat, daß das Haus ohne Tünche viel
+schöner aussehen werde.
+
+In dem Sternenhofe wurde ich so freundlich behandelt, wie in der
+früheren Zeit, ja wenn ich meinem Gefühle trauen durfte und wenn man
+so feine Unterscheidungen machen darf, noch freundlicher als früher.
+Mathilde zeigte mir selber alles, von dem sie glaubte, daß es mir von
+einigem Werte sein könnte, und erklärte mir bei diesem Vorgange alles,
+von dem sie glaubte, daß es einer Erklärung bedürfen könnte. Während
+dieses meines Aufenthaltes erfuhr ich auch, daß Mathilde das Schloß
+von einem vornehmen Manne gekauft hatte, der selten auf demselben
+gewesen war und es ziemlich vernachlässigt hatte. Vor ihm war es im
+Besitze einer Verwandten gewesen, deren Großvater es gekauft hatte. In
+der Zeit vorher war ein häufiger Wechsel der Eigentümer gewesen, und
+das Gut war sehr herab gekommen. Mathilde fing damit an, daß sie die
+zum Schlosse gehörigen Untertanen, welche Zehnte und Gaben in dasselbe
+zu entrichten hatten, gegen ein vereinbartes Entgelt für alle Zeiten
+von ihren Pflichten entband und sie zu unbeschränkten Eigentümern auf
+ihrem Grunde machte. Das zweite, was sie tat, bestand darin, daß sie
+die Liegenschaften des Schlosses selber zu bewirtschaften begann,
+daß sie einen geschlossenen Hausstand von Gesinde und ihrer eigenen
+Familie begründete und mit diesem Hausstande lebte. Sie richtete den
+Meierhof zurecht und brachte mit Hilfe tätiger Leute, die sie aufnahm,
+die Felder, die Wiesen und Wälder in einen besseren Stand.
+
+Die schönen Zeilen von Obstbäumen, welche durch die Fluren liefen und
+die mir bei meinem ersten Aufenthalte schon so sehr gefallen hatten,
+waren von ihr selber gepflanzt, und wenn sie gute, selbst ziemlich
+erwachsene Obstbäume irgendwo erhalten konnte, so scheute sie nicht
+die Zeit und den Aufwand, sie bringen und auf ihren Grund setzen zu
+lassen. Da die Nachbarn dieses Verfahren allmählich nachahmten, so
+erhielt die Gegend das eigentümliche und wohlgefällige Ansehen, das
+sie von den umliegenden Ländereien unterschied.
+
+Die Gemälde, welche sich in den Wohnzimmern Mathildens und Nataliens
+befanden, hatten nach meiner Meinung im Ganzen genommen zwar nicht den
+Wert wie die im Asperhofe, aber es waren manche darunter, welche mir
+nach meinen jetzigen Ansichten mit der größten Meisterschaft gemacht
+schienen. Ich sagte die Sache meinem Gastfreunde, er bestätigte sie
+und zeigte mir Gemälde von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese, Van Dyck
+und Holbein. Unbedeutende oder gar schlechte Bilder, wie ich sie, so
+weit mir jetzt dieses meine Rückerinnerung plötzlich und wiederholt
+vor Augen brachte, in manchen Sammlungen, die mir in früheren Jahren
+zugänglich gewesen waren, gesehen hatte, befanden sich weder in der
+Wohnung Mathildens noch in dem Asperhofe. Wir sprachen auch hier
+so wie in dem Rosenhause von den Gemälden, und es gehörte zu den
+schönsten Augenblicken, wenn ein Bild auf die Staffelei getan worden
+war, wenn man die Fenster, die ein störendes Licht hätten senden
+können, verhüllt hatte, wenn das Bild in die rechte Helle gerückt
+worden war, und wenn wir uns nun davor befanden. Mathilde und
+mein Gastfreund saßen gewöhnlich, Eustach und ich standen, neben
+uns Natalie und nicht selten auch Gustav, welcher bei solchen
+Gelegenheiten sehr bescheiden und aufmerksam war. Öfter sprach
+hauptsächlich mein Gastfreund von dem Bilde, öfter aber auch Eustach,
+wozu Mathilde ihre Worte oder einfachen Meinungen gesellte. Man
+wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte sich Manches, das
+man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die
+man ohnehin kannte. So wiederholte man den Genuß und verlebte sich in
+das Kunstwerk. Ich sprach sehr selten mit, höchstens fragte ich und
+ließ mir etwas erklären. Natalie stand daneben und redete niemals ein
+Wort.
+
+
+Zur Nymphe des Brunnens, die unter der Eppichwand im Garten war, ging
+ich auch öfter. Früher hatte ich den wunderschönen Marmor bewundert,
+desgleichen mir nicht vorgekommen war; jetzt erschien mir auch die
+Gestalt als ein sehr schönes Gebilde. Ich verglich sie mit der auf
+der Treppe im Hause meines Gastfreundes stehenden. Wenn auch jenes an
+Hoheit, Würde und Ernst weit den Vorzug in meinen Augen hatte, so war
+dieses doch auch für mich sehr anmutig, weich und klar, es hatte eine
+beschwichtigende Ruhe, wie die Göttin eines Quells sollte, und hatte
+doch wieder jenes Reine und, ich möchte sagen, Fremde, das ein Gemälde
+nicht hat, das aber der Marmor so gerne zeigt. Ich wurde mir dieser
+Empfindung des Fremden jetzt klarer bewußt, und ich erfuhr auch,
+daß sie mich schon in früherer Zeit ergriffen hatte, wenn ich mich
+Marmorbildwerken gegenüber befand. Es wirkte bei dieser Gestalt noch
+ein Besonderes mit, was in meiner Beschäftigung der Erdforschung
+seinen Grund hat, nehmlich, daß der Marmor gar so schön und fast
+fleckenlos war. Er gehörte zu jener Gattung, die an den Rändern
+durchscheinend ist, deren Weiße beinahe funkelt und uns verleitet,
+zu meinen, man sähe die zarten Kristalle wie Eisnadeln oder wie
+Zuckerkörner schimmern. Diese Reinheit hatte für mich an der Gestalt
+etwas Erhabenes. Nur dort, wo das Wasser aus dem Kruge floß, den die
+Gestalt umschlungen hielt, war ein grünlicher Schein in dem Marmor,
+und der Staffel, auf dem der am tiefsten herabgehende Fuß ruhte, war
+ebenfalls grün und von unten durch die herauf dringende Feuchtigkeit
+ein wenig verunreinigt. Der Marmor an dem Bilde meines Freundes war
+wohl trefflich, es mochte wahrscheinlich parischer sein; aber er hatte
+schon einigermaßen die Farbe alten Marmors, während die Nymphe wie neu
+war, als wäre der Marmor aus Carrara. Ich dachte mir wohl auch, und
+meine Freunde bestätigten es, daß das Bildwerk neueren Ursprunges sei;
+aber wie bei dem meines Gastfreundes wußte man auch hier den Meister
+nicht. Ich saß sehr gerne in der Grotte bei dem Bildwerke. Es war da
+ein Sitz von weißem Marmor in einer Vertiefung, die sich seitwärts von
+der Nymphe in das Bauwerk zurück zog und von der aus man die Gestalt
+sehr gut betrachten konnte. Es war ein sanftes Dämmern auf dem Marmor,
+und im Dämmern war es wieder, als leuchtete der Marmor. Man konnte
+hier auch das leise Rinnen des Wassers aus dem Kruge, das Kräuseln
+desselben in dem Becken, das Hinabträufeln auf den Boden und das
+gelegentliche Blitzen auf demselben sehen.
+
+Zur Wohnung hatte man mir dieselbe Räumlichkeit gegeben, die ich in
+den ersten zwei Malen inne hatte, da ich in diesem Schlosse war. Man
+hatte sie mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet, auf die man nur
+immer denken konnte und deren ich zum größten Teile nicht bedurfte;
+denn ich war in meinem Reiseleben gewohnt geworden, in den äußeren
+Dingen auf das Einfachste vorzugehen.
+
+Da wir von dem Sternenhofe Abschied nahmen, sagte mir Mathilde auf die
+liebe, freundliche Weise Lebewohl, mit der sie mich empfangen hatte.
+
+Wir besuchten auf unserer Rückreise mehrere Landwirte, welche in der
+Gegend einen großen Ruf genossen, und besahen, was sie auf ihren
+Gütern eingeführt hatten und was sie zum Wohle des Landes auszubreiten
+wünschten. Mein Gastfreund nahm Rebstecklinge, Abteilungen von Samen
+und Abbildungen von neuen Vorrichtungen mit nach Hause.
+
+Ehe ich die Rückreise zu den Meinigen antrat, ging ich noch einmal in
+das Rothmoor, um zu sehen, wie weit die Arbeiten aus meinem Marmor
+gediehen wären. Von den kleineren Dingen waren manche fertig. Das
+Wasserbecken und die größeren Arbeiten mußten in das nächste Jahr
+hinüber genommen werden. Ich billigte diese Anordnung; denn es war mir
+lieber, daß die Sache gut gemacht würde, als daß sie bald fertig wäre.
+
+Das Vollendete packte ich ein, um es mit nach Hause zu nehmen.
+
+In dem Rosenhause fand ich bei meiner Zurückkunft einen Brief
+von Roland, der über die Ergebnisse der Nachforschungen nach den
+Ergänzungen zu den Pfeilerverkleidungen meines Vaters sprach. Es war
+keine Hoffnung vorhanden, die Ergänzungen zu finden. Im ganzen Gebirge
+war nichts, was mit den beschriebenen Verkleidungen Ähnlichkeit hatte,
+überhaupt sind da keine Verkleidungen und Vertäflungen vorhanden
+gewesen, wohin Roland seit Jahren seine Wanderungen angestellt hatte,
+sie müßten denn sehr verborgen sein, wornach man ein Auffinden so dem
+Zufalle anheim geben müsse, wie das durch Zufall entdeckt worden sei,
+was ich meinem Vater gebracht hätte. In Hinsicht der Vertäflungen
+aber, um welche es sich hier handle, sei beinahe Gewiß vorhanden, daß
+sie zerstört worden seien. Die Ausmaße, welche ihm über die in den
+Händen meines Vaters befindlichen Werke zugesendet worden seien,
+passen genau auf ein Gemach im Steinhause des Lauterthales, woher
+gleich Anfangs der Ursprung der Dinge vermutet worden sei und welches
+Gemach jetzt öde steht. Es habe zwei Pfeiler, an denen die noch
+vorhandenen Verkleidungen gewesen sein müssen. Die Zwischenarbeiten
+sind eben so zerstört worden wie Vieles, was sich in jenem steinernen
+Schlößchen befunden habe; denn sonst mußten sie sich entweder in
+dem Gebäude oder in der Gegend vorfinden, was beides nicht der Fall
+ist, oder sie müßten sehr im Verborgenen sein, da doch sonst die
+Nachforschungen, welche nun schon durch zwei Jahre angestellt und
+bekannt geworden seien, die Leute veranlaßt haben dürften, die Sachen
+zum Verkaufe um einen guten Kaufschilling zu bringen. Man müsse also
+seine Gedanken dahin richten, daß nichts zu finden sei, und wenn doch
+noch etwas gefunden würde, so müsse man es als eine unverhoffte Gunst
+ansehen. Mein Gastfreund und ich sagten, daß wir ungefähr auf dieses
+Ergebnis gefaßt gewesen seien.
+
+
+Als der Herbst ziemlich vorgesehritten war, begab ich mich auf die
+Rückreise in meine Heimat. Es war ein sehr heiterer Sonntagsmorgen,
+den ich zu meiner Ankunft auserwählt hatte, weil ich wußte, daß an
+diesem Tage der Vater zu Hause sein würde und ich daher den Nachmittag
+in dem vollen Kreise der Meinigen zubringen konnte. Ich war nicht
+wie gewöhnlich auf einem Schiffe gekommen, sondern ich hatte meine
+Wanderung längs des ganzen Gebirges gegen Sonnenaufgang unternommen
+und war dann mitternachtwärts mit einem Wagen in unsere Stadt
+gefahren. Den Vater traf ich sehr heiter an, er schien gleichsam um
+mehrere Jahre jünger geworden zu sein. Die Augen glänzten in seinem
+Angesichte, als wäre ihm eine sehr große Freude widerfahren. Auch die
+anderen sahen sehr vergnügt und fröhlich aus.
+
+Nach dem Mittagessen führte er mich in das gläserne Häuschen und
+zeigte mir, daß sich die Verkleidungen bereits auf den Pfeilern
+befänden. Es war ein bewunderungswürdiger Anblick, ich hätte nie
+gedacht, daß sich die Schnitzerei so gut darstellen würde. Sie war
+vollkommen gereinigt und schwach mit Firniß überzogen worden.
+
+»Siehst du«, sagte der Vater, »wie sich alles schön gestaltet hat.
+Die Holzverkleidung fügt sich, als wäre sie für diese Pfeiler gemacht
+worden. Es ist fast auch so der Fall; wenn nicht die Holzverkleidung
+für die Pfeiler gemacht worden ist, so sind doch die Pfeiler für die
+Holzverkleidung gemacht worden. Was aber von weit größerer Bedeutung
+ist, besteht darin, daß das Holzkunstwerk in das ganze Häuschen so
+paßt, als wäre sie ursprünglich für dasselbe bestimmt gewesen - und
+dies freut mich am meisten. Ich kann mich daher auch nicht so betrüben
+wie du, daß die anderen Teile der Verkleidungen nicht aufzufinden
+gewesen sind. Ich müßte das ganze Häuschen wieder umbauen, wenn die
+Ergänzungen zum Vorscheine gekommen wären; denn schwerlich würden sie
+hieher passen, und zu verstümmeln oder zu vergrößern würden sie ihrer
+Natur nach nicht sein. Wir wollen daher das Vorhandene genießen, und
+kömmt durch ein Wunder die Ergänzung zum Vorscheine, so wird sich
+schon zeigen, was zu tun sei. Du siehst, wir haben uns viele Mühe
+gegeben, die Lücken auszufüllen und alles in einen natürlichen
+Zusammenhang zu bringen.«
+
+So war es auch. Über den Verkleidungen befanden sich an den Pfeilern
+Spiegel eingesetzt, deren Rahmen die Verzierungen der Verkleidung
+fortsetzten und zu den Verzierungen der Fensterstäbe und Fensterkreuze
+hinüber leiteten. Unter den Fenstern waren Simse und Vertäflungen so
+angebracht, daß sie eine ruhigere Fläche zwischen den Schnitzwerken
+abgaben. Ich sprach gegen meinen Vater meine Bewunderung aus, daß man
+der Sache eine solche Gestalt zu geben gewußt habe.
+
+»Es ist uns aber auch ein sehr tüchtiger Lehrmeister beigestanden«,
+erwiderte er, »und wir waren in der Lage, nach seinem Rate noch
+Manches in unserem begonnenen Werke abzuändern; denn sonst wäre es
+nicht so geworden, wie es geworden ist. Setze dich zu uns, daß ich es
+dir erzähle.«
+
+Er saß mit der Mutter auf einer Bank, die aus feinen Rohrstäben
+geflochten war, die Schwester und ich nahmen ihnen gegenüber auf
+Sesseln Platz.
+
+»Dein Gastfreund«, fing er an, »hat uns ausgefunden und hat, als du
+zwei Wochen fort warest, seine Bauzeichnungen und die Zeichnungen
+vieler anderer Gegenstände hieher gesendet, daß ich sie ansehe. Er
+hat mir auch den Antrag gemacht, daß ich manche, die mir besonders
+gefielen, zu meinem Gebrauche nachzeichnen lassen dürfe, nur möchte
+ich ihm die Blätter vorher alle senden und die bezeichnen, deren
+Nachbildung ich wünschte, er würde sie mir dann gelegentlich zu diesem
+Gebrauche zustellen. Ich lehnte diese Erlaubnis ab, nur Einzelnes von
+Verzierungen oder Stäben ließ ich flüchtig heraus zeichnen, in so
+fern ich erkannte, daß es mir bei meinen nächsten Anordnungen würde
+dienlich sein. Den größten Nutzen aber schöpften wir - mein Arbeiter
+und ich - aus der Anschauung des Ganzen überhaupt. Wir lernten hier
+neue Dinge kennen, wir sahen, daß es Schöneres gibt, als wir selber
+haben, so daß wir den Plan und die Ausführung zu den Arbeiten in dem
+Häuschen hier viel besser machten, als wir sonst beides gemacht haben
+würden.
+
+Die Zeichnungen von den Bauwerken, Geräten und anderen Dingen, welche
+mir dein Gastfreund gesandt hat, sind so schön, daß es vielleicht
+wenige gleiche gibt. Ich habe wohl in jüngeren Jahren bei meinen
+Reisen und Wanderungen sehr schöne und hie und da schönere Bauwerke
+gesehen; aber Zeichnungen von Bauwerken habe ich nie so vollendet klar
+und rein gesehen. Ich hatte eine große Freude bei dem Anschauen dieser
+Dinge, und wer in dem Besitze einer so trefflichen Sammlung der
+schönsten, zahlreichen und dabei so mannigfaltigen Gegenstände ist,
+der kann niemals mehr bei seinen Anordnungen in das Unbedeutende,
+Leere und Nichtige verfallen, ja er muß bei gehöriger Benützung, und
+wenn sein Geist die Dinge in sich aufzunehmen versteht, nur das Hohe
+und Reine hervorbringen. Das ist eine seltne Gunst des Schicksales,
+wenn ein Mann die Muße, Mittel und Mitarbeiter hat, solche Werke
+anlegen zu können. Es gehörte zu meinen schönsten Augenblicken, in
+diesen Sammlungen blättern zu dürfen und mich in die Anschauung
+dessen, was mich besonders ansprach, zu vertiefen. Vielleicht gönnt es
+doch noch einmal eine spätere Gunst, von dem Anerbieten dieses Mannes
+Gebrauch machen zu können und hie und da etwas zu Stande zu bringen,
+was nicht ganz ein unwerter Zuwachs zu meinen letzten Tagen ist.
+
+Also gefällt dir das, was wir zu unseren Verkleidungen hatten hinzu
+machen lassen?«
+
+»Vater, sehr«, erwiderte ich; »aber ich habe jetzt andere Dinge zu
+reden; ich kann mich von meinem Erstaunen nicht erholen, daß mein
+Gastfreund seine Zeichnungen hieher gesendet hat, die er so liebt,
+die er gewiß nicht weniger liebt als seine Bücher, von denen er doch
+keines aus seinem Hause gibt. Ich habe eine so große Freude über
+dieses Ereignis, daß ich nicht Worte finde, sie nur halb auszudrücken.
+Vater, mein Gefühl hat in jüngster Zeit einen solchen Aufschwung
+genommen, daß ich die Sache selber nicht begreife, ich muß mit dir
+darüber reden, ich habe sehr viele Dinge mit dir zu reden.
+
+Meinem Gastfreunde muß ich auf das Wärmste und Heißeste danken, sobald
+ich ihn sehe, er hat mir durch die Sendung der Zeichnungen an dich die
+höchste Gunst erzeigt, die er mir nur zu erzeigen im Stande war.«
+
+»Dann muß ich dich bitten, mit mir zu gehen und noch etwas
+anzuschauen«, sagte mein Vater.
+
+Er führte mich in sein Altertumszimmer. Die Mutter und die Schwester
+gingen mit.
+
+
+An einem Pfeiler, der mit einem langen, altertümlich gefaßten Spiegel
+geschmückt war, stand der Tisch mit den Musikgeräten, den ich im
+Rosenhause in der Wiederherstellung befindlich und zu Anfang dieses
+Sommers bereits vollendet gesehen hatte.
+
+Ich konnte vor Verwunderung kein Wort sagen.
+
+Der Vater, der mein Gefühl verstand, sagte. »Der Tisch ist mein
+Eigentum. Er ist mir in diesem Sommer gesendet worden, und es war
+die Bitte beigefügt, ich möge ihn unter meinen andern Dingen als
+Erinnerung an einen Mann aufstellen, dessen größte Freude es wäre,
+einem Andern, der seine Neigung gleichen Dingen zuwende wie er, ein
+Vergnügen zu machen.«
+
+»Da muß ich nun augenblicklich zu meinem Freunde reisen«, rief ich.
+
+»Den Dank habe ich ihm wohl schon ausgedrückt«, sagte der Vater; »aber
+wenn du hingehen und es mit dem eigenen Munde tun willst, so freut es
+mich um desto mehr.«
+
+Die Schwester hüpfte oder sprang beinahe in dem Zimmer herum und rief:
+»Ich habe es mir gedacht, daß er so handeln wird, ich habe es mir
+gedacht. O der Freude, o der Freude! Wirst du bald abreisen?«
+
+»Morgen mit dem frühesten Tagesanbruch«, erwiderte ich, »heute müssen
+noch Pferde bestellt werden.«
+
+»Es ist eine späte Jahreszeit und du bist kaum gekommen, mein Sohn«,
+sagte die Mutter; »aber ich halte dich nicht ab. Der Tisch und noch
+mehr die Gesinnung des Mannes, der ihn sendete, haben auf deinen Vater
+wie ein Glück gewirkt. Das müssen vortreffliche Menschen sein.«
+
+»Sie haben ihres Gleichen nicht auf Erden«, rief ich. Ohne zu säumen
+schickte ich den Knecht auf die Post, um mir auf den nächsten Morgen
+um vier Uhr zwei Pferde zu bestellen. Dann sprachen wir noch von dem
+Tische. Der Vater breitete sich über seine Eigenschaften aus, er
+erklärte uns dieses und jenes und setzte mir dann in einer längeren
+Beweisführung auseinander, warum er gerade auf diesem Platze stehen
+müsse, auf dem er stehe. Ohne von den Gemälden des Vaters etwas zu
+sagen, auf welche ich mich sehr gefreut hatte und von denen ich
+mit dem Vater hatte reden wollen, und ohne auf meinen diesjährigen
+Sommeraufenthalt näher einzugehen, ließ ich den Rest des Tages
+verfließen und erwartete mit Ungeduld den Morgen. Nur gelegentliche
+Fragen des Vaters beantwortete ich und hörte zu, wenn er wieder von
+dem sprach, was in diesem Sommer ein Ereignis für ihn gewesen war. Vor
+dem Schlafengehen nahmen wir Abschied, und ich begab mich auf meine
+Zimmer.
+
+Um drei Uhr des Morgens war ein leichter Lederkoffer gepackt, und
+eine halbe Stunde später stand ich in guten Reisekleidern da. In dem
+Speisezimmer, in welchem noch ein Frühstück für mich bereit stand,
+erwarteten mich die Mutter und die Schwester. Der Vater, sagten sie,
+schlummre noch sehr sanft. Das Frühmahl war eingenommen, die Pferde
+standen vor dem Haustore, die Mutter verabschiedete sich von mir,
+die Schwester begleitete mich zu dem Wagen, küßte mich dort auf das
+Innigste und Freudigste, ich stieg ein und der Wagen fuhr in der noch
+überall dicht herrschenden Finsternis davon.
+
+Ich war nie mit eigenen Postpferden gefahren, weil ich die Auslage für
+Verschwendung hielt. Jetzt tat ich es, mir ging die Reise noch immer
+nicht schnell genug, und auf jeder Post, wo ich neue Pferde und einen
+neuen Wagen erhielt, däuchte mir der Aufenthalt zu lange.
+
+Ich hatte den Vater um den Brief nicht gefragt, der mit den
+Zeichnungen oder mit dem Tische gekommen war, auch hatte ich mich
+nicht um die Art erkundigt, wie diese Dinge eingelangt seien. Der
+Vater hatte ebenfalls nichts davon erwähnt. Ich beschloß, meinem
+Vorhaben treu zu bleiben und hierüber eine Frage nicht zu stellen.
+
+
+Nach einer nur durch das notwendige Essen von mir unterbrochenen Fahrt
+bei Tag und Nacht kam ich gegen den Mittag des zweiten Tages in dem
+Rosenhause an. Ich hielt vor dem Gitter, gab einem Knechte, der gar
+nicht erstaunt war, weil er an mein Gehen und Kommen in diesem Hause
+gewohnt sein mochte, meinen Koffer, sendete Wagen und Pferde auf die
+letzte Post, in die sie gehörten, zurück, ging in das Haus und fragte
+nach meinem Freunde.
+
+Er sei in seinem Arbeitszimmer, sagte man mir.
+
+Ich ließ mich melden und wurde hinaufgewiesen.
+
+Er kam mir lächelnd entgegen, als ich eintrat. Ich sagte, er scheine
+zu wissen, weshalb ich komme.
+
+»Ich glaube es mir denken zu können«, antwortete er.
+
+»Dann werdet ihr euch nicht wundern«, sagte ich, »daß ich in diesem
+Jahre, für welches ich schon Abschied genommen habe, mittelst einer
+sehr eiligen Reise noch einmal in euer Haus komme. Ihr habt meinem
+Vater eine doppelte Freude erwiesen, ihr habt zu mir nichts gesagt,
+mein Vater hat mir auch nichts geschrieben, wahrscheinlich, um den
+Eindruck, wenn ich die Sache selber sähe, größer zu machen: ich müßte
+ein sehr unrechtlicher Mensch sein, wenn ich nicht käme und für den
+Jubel, der in mein Herz kam, nicht dankte. Ich weiß nicht, wodurch ich
+es denn verdient habe, daß ihr das getan habt, was ihr tatet; ich weiß
+nicht, wie ihr denn mit meinem Vater zusammenhänget, daß ihr ihm ein
+so kostbares Geschenk macht und daß ihr mit den Zeichnungen so in
+Liebe an ihn dachtet.
+
+Ich danke euch tausendmal und auf das herzlichste dafür. Ich habe euch
+für alles Freundliche, was mir in eurem Hause zu Teil geworden ist, in
+meinem Herzen gedankt, ich habe euch auch mit Worten gedankt. Dieses
+aber ist das Liebste, was mir von euch gekommen ist, und ich biete
+euch den heißesten Dank dafür an, der sich am besten aussprechen
+würde, wenn es mir nur auch einmal gegönnt wäre, für euch etwas tun zu
+können.«
+
+»Das dürfte sich vielleicht auch einmal fügen«, antwortete er, »das
+Beste aber, was der Mensch für einen andern tun kann, ist doch immer
+das, was er für ihn ist. Das Angenehmste an der Sache ist mir, daß ich
+mich nicht getäuscht habe und daß euer Vater an den Sendungen Freude
+hatte und daß die Freude des Vaters auch euch Freude machte. Im
+übrigen ist ja alles sehr einfach und natürlich. Ihr habt mir von den
+altertümlichen Dingen erzählt, welche euer Vater besitzt und welche
+ihm Vergnügen machen, ihr habt von seinen Bildern gesprochen, ihr habt
+ihm Schnitzwerke gebracht, für welche er eigens einen kleinen Erker
+seines Hauses umbauen ließ, ihr habt euch große Mühe gegeben, die
+Ergänzungen zu den Schnitzereien zu finden, habt sogar meinen Rat
+hiebei eingeholt, und es war euch unangenehm, befürchten zu müssen,
+daß ihr das Gesuchte trotz alles Strebens nicht finden würdet. Da
+dachte ich, daß ich vielleicht mit einem meiner Gegenstände eurem
+Vater ein Vergnügen machen könnte, besprach mich mit Eustach und
+sandte den Tisch. Das Übersenden der Zeichnungen war auch ganz
+folgerichtig. Ihr habt im vorigen Jahre mit vieler Mühe hier und im
+Sternenhofe Abbildungen von Geräten gemacht, um eurem Vater nur im
+Allgemeinen eine Vorstellung von dem zu geben, was hier ist. Wie nahe
+lag es also, ihm Zeichnungen zu schicken, in denen noch weit mehr,
+weit Umfassenderes und weit Edleres enthalten ist, obgleich sie
+nur die Sammlung eines einzelnen Menschen sind und weit hinter dem
+zurückstehen, was an Prachtwerken hie und da besteht. Wir haben
+vielerlei an alten Geräten hier, wir können etwas entbehren, haben
+schon Manches weggegeben, und geben gerne etwas einem Manne, der damit
+Freude hat und der es zu pflegen und zu achten versteht.«
+
+»Es wurde mir sehr viel Schmerz machen«, sagte ich, »wenn ihr nur im
+Entferntesten denken könntet, daß ich mit meinen Handlungen auf ein
+solches Ergebnis habe hinzielen können.«
+
+»Das habe ich nie geglaubt, mein junger Freund«, antwortete er, »sonst
+hätte ich die Sachen gar nicht geschickt. Aber es ist die zwölfte
+Stunde nahe. Gehet mit mir in das Speisezimmer. Wir wußten zwar von
+eurer Ankunft nichts; aber es wird sich schon etwas vorfinden, daß
+ihr nicht Hunger leiden müsset und daß auch wir nicht einen Abbruch
+leiden.«
+
+Mit diesen Worten gingen wir in das Speisezimmer.
+
+Nach dem Essen wurde ich von Gustav in meine Wohnung geleitet, die
+immer in reinlichem Stande gehalten wurde und die jetzt von einem
+schwachen Feuer wohltätig erwärmt war. Mir tat eine Ruhe etwas not,
+und die mäßige Wärme erquickte meine Glieder.
+
+Im Laufe des Nachmittages sagte mein Gastfreund zu mir. »Es ist nie
+ein so schöner Spätherbst gewesen als heuer, meine Witterungsbücher
+weisen keinen solchen seit meinem Hiersein aus, und es sind alle
+Anzeichen vorhanden, daß dieser Zustand noch mehrere Tage dauern wird.
+Nirgends aber sind solche klare Spätherbsttage schöner als in unseren
+nördlichen Hochlanden. Während nicht selten in der Tiefe Morgennebel
+liegen, ja der Strom täglich in seinem Tale Morgens den Nebelstreifen
+führt, schaut auf die Häupter des Hochlandes der wolkenlose Himmel
+herab und geht über sie eine reine Sonne auf, die sie auch den ganzen
+Tag hindurch nicht verläßt. Darum ist es auch in dieser Jahreszeit in
+dem Hochlande verhältnismäßig warm, und während die rauhen Nebel in
+der Tiefgegend schon die Blätter von den Obstbäumen gestreift haben,
+prangt oben noch mancher Birkenwald, mancher Schlehenstrauch, manches
+Buchengehege mit seinem goldenen und roten Schmucke. Nachmittags ist
+dann gewöhnlich auch die Aussicht über das ganze Tiefland deutlicher
+als je zu irgend einer Zeit im Sommer. Wir haben daher beschlossen,
+heuer noch eine Reise in das Hochland zu machen, wie ich es in
+früherer Zeit schon in manchen Jahren getan habe. Die Entfernungen
+sind dort nicht so groß, und sollten sich die Vorboten melden, daß
+das Wetter sich zur Änderung anschicken so können wir jederzeit den
+Heimweg antreten und ohne viel Ungemach den Asperhof wieder erreichen.
+Morgen wird Mathilde und Natalie eintreffen, sie fahren mit uns, auch
+Eustach begleitet uns. Wolltet ihr nicht auch den Weg mit uns machen
+und einige Tage der lieblichen Spätzeit mit uns genießen? Kömmt dann
+Schnee oder Regen, wenn wir wieder in meinem Hause angelangt sind, so
+werdet ihr wohl auf dem Postwagen eure Heimreise machen können und das
+Wetter wird euch nicht viel anhaben.«
+
+»Es kann mir nie viel anhaben«, entgegnete ich, »weil ich gegen seine
+Einflüsse abgehärtet bin, auch könnte mir in dem Gefühle, welches ich
+gegen euch habe, keine größere Annehmlichkeit begegnen, als einige
+Zeit in eurer Gesellschaft zu reisen; aber zu Hause wissen sie nichts
+davon und erwarten mich wahrscheinlich schon bald.«
+
+»Ihr könntet sie ja in einem Briefe verständigen«, sagte er.
+
+»Das kann ich tun«, erwiderte ich. »Wenn ich auch gleich nach
+meiner Ankunft nach einer viele Monate dauernden Abwesenheit wieder
+fortgereist bin, wenn sie mich auch schon in den nächsten Tagen
+erwarten, so werden sie doch einsehen, daß ein längerer Aufenthalt in
+der Gesellschaft eines Mannes, zu welchem ich in einer Angelegenheit
+wie die zwischen uns vorgefallene gereist bin, nur in der Natur der
+Sache gegründet ist. Sie würden es weit übler nehmen, wenn ich unter
+den bestehenden Verhältnissen nach Hause käme, als wenn ich noch eine
+Weile bei euch bleibe.«
+
+»Ich habe euch meine Frage und mein Anerbieten gestellt«, antwortete
+mein Gastfreund, »handelt nach eurem besten Ermessen. Was ihr tut,
+wird wohl das Rechte sein.«
+
+»Ich schreibe sogleich den Brief.«
+
+»Gut, und ich werde ihn sofort auf die Post senden.«
+
+
+Ich ging in meine Zimmer und schrieb einen Brief an den Vater. Es war
+wohl das Rechte, was ich tat. Wie schwer würden es mir Vater, Mutter
+und Schwester verziehen haben, wenn ich mich nicht mit Freude an einen
+Mann zu einer kurzen Reise angeschlossen hätte, der so an unserm Hause
+gehandelt hat.
+
+Als ich mit dem Briefe fertig war, trug ich ihn hinab, und der Knecht,
+der gewöhnlich zu allen Botengängen verwendet wurde, wartete schon auf
+ihn, um nebst anderen Aufträgen ihn an den Ort zu bringen, in welchem
+er auf die Post kommen sollte.
+
+
+Am anderen Tage, schon im Verlaufe des Vormittages, kamen Mathilde und
+Natalie. Es schien, daß allen die Ursache, weshalb ich, nachdem ich
+schon Abschied genommen hatte, wieder in das Rosenhaus gekommen war,
+Freude machte. Sie sahen mich freundlicher an. Selbst Natalie, die
+mich so gemieden hatte, war anders. Ich glaubte einige Male, wenn ich
+abgewendet war, ihren Blick auf mich gerichtet zu wissen, den sie aber
+sogleich, wenn ich hinsah, weg wendete. Gustav schloß sich mit ganzem
+Herzen an mich an und hatte darüber kein Hehl. Ich wußte schon, daß
+er mir immer seine Neigung in großem Maße zugewendet habe, und ich
+erwiderte sie aus dem Grunde meiner Seele.
+
+Nachmittags wurden die Vorbereitungen zur Reise gemacht, und am
+anderen Morgen noch vor Aufgang der Sonne fuhren wir ab. Mit Mathilde
+fuhren Natalie und ein Dienstmädchen, mit meinem Gastfreunde fuhren
+Eustach, Gustav und ich. Mit Roland sollten wir irgend wo im Lande
+zusammen treffen, er sollte eine Strecke mit uns reisen, und für
+diesen Fall war es dann bestimmt, daß Gustav in dem Wagen der Mutter
+untergebracht werden mußte. Die eigentümliche Art des Hochlandes
+erzeugte einen eigentümlichen Plan des Reisens. Wir hatten nehmlich
+beschlossen, über manchen steilen und länger dauernden Berg hinan zu
+gehen, ebenso über manchen hinab. Dies sollte die ganze Gesellschaft
+zuweilen zusammen bringen, zuweilen trennen. Man konnte auf diese Art
+Manches gemeinschaftlich genießen, Manches vereinzelt, sich aber in
+Kürze davon Mitteilungen machen.
+
+Ehe noch die Sonne den höchsten Punkt ihres Bogens erklommen hatte,
+waren wir bereits die Dachung empor gekommen, welche das niedrere
+Land von dem Hochlande trennt, und fuhren nun in das eigentliche Ziel
+unserer Reise hinein.
+
+Mein Gastfreund hatte Recht. In dem milden, sanften Schimmer der
+Nachmittagsonne, die hier fast wärmer schien als in den Ebenen und
+Tälern des Tieflandes, fuhren wir einem lieblichen Schauplatze
+entgegen. Selbst untergeordnete Umstände vereinigten sich, die Reise
+angenehm zu machen. Die sandigen Straßen des Oberlandes, welche auch
+sehr gut gebaut waren, zeigten sich, ohne staubig zu sein, sehr
+trocken, was von den Wegen in der Tiefe nicht gesagt werden konnte,
+die teils durch die täglichen Morgennebel getränkt, teils ihres
+schweren Bodens halber schon in langen Strecken feucht, kühl und
+schmutzig waren. So rollten wir bequem dahin, alles war klar,
+durchsichtig und ruhig. Nataliens gelber Reisestrohhut tauchte vor uns
+auf oder verschwand, so wie ihr Wagen einen leichten Wall hinan ging
+oder jenseits desselben hinab fuhr.
+
+Die Sonne stand an dem wolkenlosen Himmel, aber schon tief gegen
+Süden, gleichsam als wollte sie für dieses Jahr Abschied nehmen. Die
+letzte Kraft ihrer Strahlen glänzte noch um manches Gestein und um
+die bunten Farben des Gestrippes an dem Gesteine. Die Felder waren
+abgeerntet und umgepflügt, sie lagen kahl den Hügeln und Hängen
+entlang, nur die grünen Tafeln der Wintersaaten leuchteten hervor.
+Die Haustiere, des Sommerzwanges entledigt, der sie auf einen kleinen
+Weidefleck gebannt hatte, gingen auf den Wiesen, um das nachsprossende
+Gras zu genießen, oder gar auf den Saatfeldern umher. Die Wäldchen,
+die die unzähligen Hügel krönten, glänzten noch in dieser späten Zeit
+des Jahres entweder goldgelb in dem unverlorenen Schmuck des Laubes
+oder rötlich oder es zogen sich bunte Streifen durch das dunkle,
+bergan klimmende Grün der Föhren empor. Und über allem dem war doch
+ein blasser, sanfter Hauch, der es milderte und ihm einen lieben
+Reiz gab. Besonders gegen die Talrinnen oder Tiefen zu war die blaue
+Farbe zart und schön. Aus diesem Dufte heraus leuchteten hie und
+da entfernte Kirchtürme oder schimmerten einzelne weiße Punkte von
+Häusern. Das Tiefland war von den Morgennebeln befreit, es lag sammt
+dem Hochgebirge, das es gegen Süden begrenzte, überall sichtbar da
+und säumte weithinstreichend das abgeschlossene Hügelgelände, auf
+dem wir fuhren, wie eine entfernte, duftige, schweigende Fabel. Von
+Menschentreiben darin war kaum etwas zu sehen, nicht die Begrenzungen
+der Felder, geschweige eine Wohnung, nur das blitzende Band des
+Stromes war hie und da durch das Blau gezogen. Es war unsäglich, wie
+mir alles gefiel, es gefiel mir bei weitem mehr als früher, da ich
+das erste Mal dieses Land mit meinem Gastfreunde genauer besah.
+Ich tauchte meine ganze Seele in den holden Spätduft, der alles
+umschleierte, ich senkte sie in die tiefen Einschnitte, an denen
+wir gelegentlich hin fuhren, und übergab sie mit tiefem, innerem
+Abschlusse der Ruhe und Stille, die um uns wartete.
+
+Als wir einmal einen langen Berg empor klommen, dessen Weg einerseits
+an kleinen Felsstücken, Gestrippe und Wiesen dahinging, andererseits
+aber den Blick in eine Schlucht und jenseits derselben auf Berge,
+Wiesen, Felder und entfernte Waldbänder gewährte, als die Wägen voran
+gingen und die ganze Gesellschaft langsam folgte, vielfach stehen
+bleibend und sich besprechend, geriet ich neben Natalien, die mich,
+nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, fragte, ob ich noch das
+Spanische betreibe.
+
+Ich antwortete ihr, daß ich es erst seit Kurzem zu lernen begonnen
+habe, daß ich aber seit der Zeit immer darin fortgefahren sei und daß
+ich zuletzt mich an Calderon gewagt habe.
+
+Sie sagte, von ihrer Mutter sei ihr das Spanische empfohlen worden.
+Es gefalle ihr, sie werde nicht davon ablassen, so weit nehmlich ihre
+Kräfte darin ausreichen, und sie finde in dem Inhalte der spanischen
+Schriften, besonders in der Einsamkeit der Romanzen, in den Pfaden der
+Maultiertreiber und in den Schluchten und Bergen eine Ähnlichkeit mit
+dem Lande, in dem wir reisen. Darum gefalle ihr das Spanische, weil
+ihr dieses Land hier so gefalle. Sie würde am liebsten, wenn es auf
+sie ankäme, in diesen Bergen wohnen.
+
+»Mir gefällt auch dieses Land«, erwiderte ich, »es gefällt mir mehr,
+als ich je gedacht hätte. Da ich zum ersten Male hier war, übte es auf
+mich schier keinen Reiz aus, ja mit seinem raschen Wechsel und doch
+mit der großen Ähnlichkeit aller Gründe stieß es mich eher ab, als
+es mich anzog. Da ich mit unserem Gastfreunde später einmal einen
+größeren Teil bereiste, war es ganz anders, ich fand mich zu dieser
+Weitsicht und Beschränktheit, zu dieser Enge und Großartigkeit, zu
+dieser Einfachheit und Mannigfaltigkeit hingeneigt. Ich fühlte mich
+bewegt, obwohl ich an ganz andere Gestalten gewohnt war und sie
+liebte, nehmlich an die des Hochgebirges. Heute aber gefällt mir
+alles, was uns umgibt, es gefällt mir so, daß ich es kaum zu sagen im
+Stande bin.«
+
+»Seht, das geht immer so«, erwiderte sie. »Als ich mit meinem Vater
+zum ersten Male hier war, freilich befand ich mich noch in den
+Kinderjahren, war mir das unaufhörliche Auf- und Abfahren so
+unangenehm, daß ich mich auf das Äußerste wieder in unsere Stadt und
+in deren Ebenen zurück sehnte. Nach langer Zeit fuhr ich mit der
+Mutter durch diese Gegenden und später wiederholt in derselben
+Gesellschaft wie heute, außer euch, und jedes Mal wurde mir das Land
+und seine Gestaltungen, ja selbst seine Bewohner lieber. Auch das ist
+eigentümlich und angenehm, daß man Wagenreisen und Fußreisen verbinden
+kann. Wenn man, wie wir jetzt tun, die Wägen verläßt und einen langen
+Berg hinan geht oder ihn hinab geht, wird einem das Land bekannter,
+als wenn man immer in dem Wagen bleibt. Es tritt näher an uns. Die
+Gesträuche an dem Wege, die Steinmauern, die sie hier so gerne um die
+Felder legen, ein Birkenwäldchen mit den kleinsten Dingen, die unter
+seinen Stämmen wachsen, die Wiesen, die sich in eine Schlucht hinab
+ziehen, und die Baumwipfel, welche aus der Schlucht herauf sehen, hat
+man unmittelbar vor Augen. In Ebenen eilt man schnell vorbei. Hier ist
+gerade so eine Schlucht, wie ich sprach.«
+
+Wir blieben ein Weilchen stehen und sahen in die Schlucht hinab. Beide
+sprachen wir gar nichts. Endlich fragte ich sie, woher sie denn wisse,
+daß ich die spanische Sprache lerne.
+
+»Unser Gastfreund hat es uns gesagt«, erwiderte sie, »er hat uns auch
+gesagt, daß ihr Calderon leset.«
+
+Nach diesen Worten gingen wir weiter. Die andere Gesellschaft, welche
+vor uns gewesen war, blieb im Gespräche stehen, und wir erreichten
+sie. Die Gespräche wurden allgemeiner und betrafen meistens die
+Gegenstände, welche man eben, entweder in nächster Nähe oder in großer
+Entfernung, sah.
+
+Weil nach Untergang der Sonne gleich große Kühle eintrat und unsere
+Reise nicht den Zweck hatte, große Strecken zurück zu legen, sondern
+das zu genießen, was die Zeit und der Weg boten, so wurde, als
+die Sonne hinter den Waldsäumen hinab sank, Halt gemacht und die
+Nachtherberge bezogen. Die Einteilung war schon so gemacht worden, daß
+wir zu dieser Zeit in einem größeren Orte eintrafen. Wir gingen noch
+ins Freie. Wie schnell war in Kurzem der Schauplatz geändert! Die
+belebende und färbende Sonne war verschwunden, alles stand einfarbiger
+da, die Kühle der Luft ließ sich empfinden, in der Tiefe der
+Wiesengründe zogen sich sehr bald Nebelfäden hin, das ferne
+Hochgebirge stand scharf in der klaren Luft, während das Tiefland
+verschwamm und Schleier wurde. Der Westhimmel war über den dunkeln
+Wäldern hellgelb, manche Rauchsäule stieg aus einer Wohnung gegen
+ihn auf, und bald auch glänzte hie und da ein Stern, die feine
+Mondessichel wurde über den Zacken des westlichen Waldes sichtbar, um
+in sie zu sinken.
+
+Wir gingen nun in ein Zimmer, das für uns geheizt worden war,
+verzehrten dort unser Abendessen, blieben noch eine Zeit in Gesprächen
+sitzen und begaben uns dann in unsere Schlafgemächer.
+
+Am andere Tage war ein klarer Reif über Wiesen und Felder. Die
+Nebelfäden unserer Umgebung waren verschwunden, alles lag scharf
+und funkelnd da, nur das Tiefland war ein einziger wogender Nebel,
+jenseits dessen das Hochgebirge deutlich mit seinen frischen und
+sonnigen Schneefeldern dastand.
+
+Kurz nach Aufgang der Sonne fuhren wir fort, und bald waren ihre
+milden Strahlen zu spüren. Wir empfanden sie, der Reif schmolz weg und
+in Kurzem zeigte sich uns die Gegend wieder wie gestern.
+
+Wir besuchten eine Kirche, in welcher mein Gastfreund Ausbesserungen
+an alten Schnitzereien machen ließ. Es war aber gerade jetzt nicht
+viel zu sehen. Ein Teil der Gegenstände war in das Rosenhaus
+abgegangen, ein anderer war abgebrochen und lag zum Einpacken bereit.
+Die Kirche war klein und sehr alt. Sie war in den ersten Anfängen
+der gothischen Kunst gebaut. Ihre Abbildung befand sich unter den
+Bauzeichnungen Eustachs. Als wir alles besehen hatten, fuhren wir
+wieder weiter.
+
+Nachmittags gesellte sich Roland zu uns. Er hatte uns in einem
+Gasthause erwartet, in welchem unsere Pferde Futter bekamen.
+
+Ich konnte, da wir uns eine Weile in dem Hause aufhielten, und später
+bei einer andern Gelegenheit, da wir eine Strecke zu Fuß gingen,
+wieder bemerken, daß seine Blicke zuweilen auf Natalien hafteten.
+
+Er hatte Zeichnungen in einem Buche, das er bei sich trug, und er
+hatte Bemerkungen und Vorschläge in sein Gedenkbuch geschrieben. Er
+teilte von beiden Einiges mit, soweit es die Reise gestattete, und
+versprach, Abends, wenn wir in der Herberge angelangt sein würden,
+noch Mehreres vorzulegen.
+
+Am nächsten Tage Nachmittags kamen wir nach Kerberg und besahen die
+Kirche und den schönen geschnitzten Hochaltar. Mir gefiel er jetzt
+viel besser, als da ich ihn in Gesellschaft meines Gastfreundes und
+Eustachs zum ersten Male gesehen hatte. Ich begriff nicht, wie ich
+damals mit so wenig Anteil vor diesem außerordentlichen Werke hatte
+stehen können; denn außerordentlich erschien es mir trotz seiner
+Fehler, die, wie ich wohl sah, in jedem Werke altdeutscher Kunst zu
+finden sein würden, die ich aber in dem Bildnerwerke, das auf der
+Treppe meines Freundes stand, nicht fand. Wir blieben lange in der
+Kirche, und ich wäre gerne noch länger geblieben. Vor der Ruhe,
+dem Ernste, der Würde und der Kindlichkeit dieses Werkes kam eine
+Ehrfurcht, ja fast ein Schauer in mein Herz, und die Einfachheit der
+Anlage bei dem großen Reichtume des Einzelnen beruhigte das Auge und
+das Gemüt. Wir sprachen über das Werk, und aus dem Gespräche erkannte
+ich jetzt recht deutlich, daß früher auch vor diesem Werke die zwei
+Männer auf meine Unkenntnis Rücksicht genommen hatten, und ich dankte
+es ihnen in meinem Herzen. Ich nahm mir vor, einmal von dieser
+Schnitzarbeit ein genaues Abbild zu machen und es meinem Vater zu
+bringen.
+
+Ich äußerte mich, wie schön, wie groß einmal die Kunst gewirkt habe
+und wie dies jetzt anders geworden scheine.
+
+»Es sind in der Kunst viele Anfänge gemacht worden«, sagte mein
+Gastfreund. »Wenn man die Werke betrachtet, die uns aus sehr alten
+Zeiten überliefert worden sind, aus den Zeiten der ägyptischen
+Reiche, des assyrischen, medischen, persischen, der Reiche Indiens,
+Kleinasiens, Griechenlands, Roms - Vieles wird noch erst in unsern
+Zeiten aus der Erde zu Tage gefördert, Vieles harrt noch der
+zukünftigen Enthüllung, wer weiß, ob nicht sogar auch Amerika
+Schätzenswertes verbirgt -, wenn man diese Werke betrachtet und wenn
+man die besten Schriften liest, die über die Entwicklung der Kunst
+geschrieben worden sind: so sieht man, daß die Menschen in der
+Erschaffung einer Schöpfung, die der des göttlichen Schöpfers ähnlich
+sein soll - und das ist ja die Kunst, sie nimmt Teile, größere oder
+kleinere, der Schöpfung und ahmt sie nach -, immer in Anfängen
+geblieben sind, sie sind gewissermaßen Kinder, die nachäffen. Wer hat
+noch erst nur einen Grashalm so treu gemacht, wie sie auf der Wiese
+zu Millionen wachsen, wer hat einen Stein, eine Wolke, ein Wasser,
+ein Gebirge, die gelenkige Schönheit der Tiere, die Pracht der
+menschlichen Glieder nachgebildet, daß sie nicht hinter den Urbildern
+wie schattenhafte Wesen stehen, und wer hat erst die Unendlichkeit des
+Geistes darzustellen gewußt, die schon in der Endlichkeit einzelner
+Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der Fruchtbarkeit der
+Erde mit ihren Winden, Wolkenzügen, in dem Erdballe selber und dann in
+der Unendlichkeit des Alls? Oder wer hat nur diesen Geist zu fassen
+gewußt? Einige Völker sind sinniger und inniger geworden, andere haben
+ins Größere und Weitere gearbeitet, wieder andere haben den Umriß mit
+keuscher und reiner Seele aufgenommen und andere sind schlicht und
+einfältig gewesen. Nicht ein Einzelnes von diesen ist die Kunst, alles
+zusammen ist die Kunst, was da gewesen ist und was noch kommen wird.
+Wir gleichen den Kindern auch darin, daß, wenn sie ein Haus, eine
+Kirche, einen Berg aus Erde nur entfernt ähnlich ausgeführt haben,
+sie eine größere Freude darüber empfinden, als wenn sie das um
+Unvergleichliches schönere Haus, die schönere Kirche oder den
+schöneren Berg selbst ansehen. Wir haben ein innigeres und süßeres
+Gefühl in unserem Wesen, wenn wir eine durch Kunst gebildete
+Landschaft, Blumen oder einen Menschen sehen, als wenn diese
+Gegenstände in Wirklichkeit vor uns sind. Was die Kinder bewundern,
+ist der Geist eines Kindes, der doch so viel in der Nachahmung
+hervorgebracht hat, und was wir in der Kunst bewundern, ist, daß der
+Geist eines Menschen, uns gleichsam sinnlich greifbar, ein Gegenstand
+unserer Liebe und Verehrung, wenn auch fehlerhaft, doch dem etwas
+nachgeschaffen hat, den wir in unserer Vernunft zu fassen streben, den
+wir nicht in den beschränkten Kreis unserer Liebe ziehen können und
+vor dem die Schauer der Anbetung und Demütigung in Anbetracht seiner
+Majestät immer größer werden, je näher wir ihn erkennen. Darum ist die
+Kunst ein Zweig der Religion, und darum hat sie ihre schönsten Tage
+bei allen Völkern im Dienste der Religion zugebracht. Wie weit sie
+es in dem Nachschaffen bringen kann, vermag niemand zu wissen. Wenn
+schöne Anfänge da gewesen sind, wie zum Beispiele im Griechentume,
+wenn sie wieder zurück gesunken sind, so kann man nicht sagen, die
+Kunst sei zu Grunde gegangen; andere Anfänge werden wieder kommen, sie
+werden ganz Anderes bilden, wenn ihnen gleich allen das Nehmliche zu
+Grunde liegt und liegen wird, das Göttliche; und niemand kann sagen,
+was in zehntausend, in hunderttausend Jahren, in Millionen von Jahren
+oder in Hunderten von Billionen von Jahren sein wird, da niemand den
+Plan des Schöpfers mit dem menschlichen Geschlechte auf der Erde
+kennt. Darum ist auch in der Kunst nichts ganz unschön, so lange es
+noch ein Kunstwerk ist, das heißt, so lange es das Göttliche nicht
+verneint, sondern es auszudrücken strebt, und darum ist auch nichts in
+ihr ohne Möglichkeit der Übertreffung schön, weil es dann schon das
+Göttliche selber wäre, nicht ein Versuch des menschlichen Ausdruckes
+desselben. Aus dem nehmlichen Grunde sind nicht alle Werke aus den
+schönsten Zeiten gleich schön und nicht alle aus den verkommensten
+oder rohesten gleich häßlich. Was wäre denn die Kunst, wenn die
+Erhebung zu dem Göttlichen so leicht wäre, wie groß oder klein auch
+die Stufe der Erhebung sei, daß sie Vielen, ohne innere Größe und
+ohne Sammlung dieser Größe bis zum sichtlichen Zeichen, gelänge? Das
+Göttliche mußte nicht so groß sein, und die Kunst würde uns nicht so
+entzücken. Darum ist auch die Kunst so groß, weil es noch unzählige
+Erhebungen zum Göttlichen gibt, ohne daß sie den Kunstausdruck finden,
+Ergebung, Pflichttreue, das Gebet, Reinheit des Wandels, woran wir uns
+auch erfreuen, ja woran die Freude den höchsten Gipfel erreichen kann,
+ohne daß sie doch Kunstgefühl wird. Sie kann etwas Höheres sein, sie
+wird als Höchstes dem Unendlichen gegenüber sogar Anbetung und ist
+daher ernster und strenger als das Kunstgefühl, hat aber nicht das
+Holde des Reizes desselben. Daher ist die Kunst nur möglich in einer
+gewissen Beschränkung, in der die Annäherung zu dem Göttlichen von dem
+Banne der Sinne umringt ist und gerade ihren Ausdruck in den Sinnen
+findet. Darum hat nur der Mensch allein die Kunst, und wird sie haben,
+so lange er ist, wie sehr die Äußerungen derselben auch wechseln
+mögen. Es wäre des höchsten Wunsches würdig, wenn nach Abschluß
+des Menschlichen ein Geist die gesammte Kunst des menschlichen
+Geschlechtes von ihrem Entstehen bis zu ihrem Vergehen zusammenfassen
+und überschauen dürfte.«
+
+Mathilde antwortete hierauf mit Lächeln: »Das wäre ja im Großen, was
+du jetzt im Kleinen tust, und es dürfte hiezu eine ewige Zeit und ein
+unendlicher Raum nötig sein.«
+
+»Wer weiß, wie es mit diesen Dingen ist«, erwiderte mein Gastfreund,
+»und es wird hier wie überall gut sein: Ergebung, Vertrauen, Warten.«
+
+
+Eustach öffnete die Mappe, in welcher er die Zeichnung des Altares und
+die Zeichnungen von Teilen der Kirche, von der Kirche selber und von
+Gegenständen hatte, die sich in der Kirche befanden.
+
+Wir verglichen die Zeichnung mit dem Altare, es wurde Manches bemerkt,
+Manches gelobt, Manches zur Verbesserung der Zeichnung vorgeschlagen.
+
+Wir betrachteten auch die Kirche, wir betrachteten Teile derselben,
+wir besahen Grabmäler und unter ihnen auch den großen roten Stein, auf
+welchem der Mann mit der hohen, schönen Stirne abgebildet ist, der die
+Kirche und den Altar gegründet hatte.
+
+Wie blieben an diesem Tage in Kerberg. Wir stiegen auf den Berg, auf
+welchem das alte Schloß lag, und sahen das Schloß und den in dem
+tiefsten herbstlichen Zustande stehenden Garten an. Wir gingen auf den
+Stellen, auf welchen die alten mächtigen und reichen Leute gegangen
+waren, die einst hier gewohnt hatten, und auch der Mann, als dessen
+Tat die Kirche in dem Tale steht.
+
+»Was alle diese Menschen getan haben«, sagte mein Gastfreund, »wäre
+zum Teile in den Papieren und Pergamenten enthalten, die in den
+Schlössern und Häusern dieses Landes und mitunter auch in entfernten
+Städten liegen. Einige wissen einen Teil dieser Taten, die meisten
+sind damit völlig unbekannt, und diejenigen, welche auf den Spuren
+herum gehen, die ihre Vorfahren getreten haben, wissen oft nicht, wer
+diese gewesen sind. Es wäre nicht unziemlich, wenn durch Öffnung der
+Briefgewölbe in allen Ländern auch Einzelgeschichten von Familien und
+Gegenden verfaßt würden, die unser Herz oft näher berühren und uns
+greiflicher sind als die großen Geschichten der großen Reiche. Man
+betritt wohl diesen Weg, aber vielleicht nicht ausreichend und nicht
+in der rechten Art.«
+
+Von Kerberg aus wendeten wir uns am folgenden Tage den höher gelegenen
+Teilen des Landes zu, das dichter und ausgebreiteter bewaldet war
+als die bisher befahrenen Gegenden und von dem uns durch das Dämmer
+des Vormittages die breiten und weithinziehenden Bergesrücken mit
+Nadeldunkel und Buchenrot entgegen sahen.
+
+Mein Gastfreund hatte Recht gehabt. Ein Tag wurde immer schöner als
+der andere. Nicht der geringste Nebel war auf der Erde, auf welcher
+wir reiseten, nicht das geringste Wölkchen am Himmel, der sich über
+uns spannte. Die Sonne begleitete uns freundlich an jedem Tage,
+und wenn sie schied, schien sie zu versprechen, morgen wieder so
+freundlich zu erscheinen.
+
+Roland blieb drei Tage bei uns, dann verließ er uns, nachdem er vorher
+noch Zeichnungen und andere Papiere in den Wagen meines Gastfreundes
+gepackt hatte. Er wollte noch bis zum Eintritte des schlechten Wetters
+in dem Lande bleiben und dann in das Rosenhaus zurückkehren.
+
+Alles war recht lieb und freundlich auf dieser Reise, die Gespräche
+waren traulich und angenehm, und jedes Ding, eine kleine alte Kirche,
+in der einst Gläubige gebetet, eine Mauertrümmer auf einem Berge, wo
+einst mächtige und gebietende Menschen gehaust hatten, ein Baum auf
+einer Anhöhe, der allein stand, ein Häuschen an dem Wege, auf das die
+Sonne schien, alles gewann einen eigentümlichen sanften Reiz und eine
+Bedeutung.
+
+Am achten Tage wandten wir unsere Wägen wieder gegen Süden, und am
+neunten Abend trafen wir in dem Asperhofe ein.
+
+Ehe ich mich zu meiner Heimreise rüstete, sah ich noch einmal
+Manches der herrlichen Bilder meines Gastfreundes, drückte manches
+Außerordentliche der Bücher in meine Seele, sah die geliebten
+Angesichter der Menschen, die mich umgaben, und sah manchen Blick der
+Landschaft, die sich zu tiefem Ersterben rüstete.
+
+Mein Herz war gehoben und geschwellt, und es war, als breitete sich
+in meinem Geiste die Frage aus, ob nun ein solches Vorgehen, ob
+die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das Leben umschreibe und
+vollende, oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das es umschließe und es
+mit weit größerem Glück erfülle.
+
+
+
+Der Einblick
+
+Ich fuhr bei sehr schlechtem Wetter, welches mit Wind, Regen und
+Schnee nach den hellen und sonnigen Tagen, die wir in dem Hochlande
+zugebracht hatten, gefolgt war, von dem Rosenhause ab. Die Pferde
+meines Gastfreundes brachten mich auf die erste Post, wo schon ein
+Platz für mich in dem in der Richtung nach meiner Heimat gehenden
+Postwagen bestellt war. Mathilde und Natalie waren zwei Tage vor mir
+abgereist, da sich schon die Zeichen an dem Himmel zeigten, daß die
+milden Tage für dieses Jahr zu Ende gehen würden. Roland war von
+seiner Wanderung in dem Asperhofe eingetroffen. Alles hatte auf
+stürmische Änderung in dem Luftraume hingedeutet. Ich weiß nicht,
+warum ich so lange geblieben war. Es erschien mir auch einerlei, ob
+das Wetter übel sei oder nicht. Ich war von meinen Wanderungen her
+an jedes Wetter gewohnt, um so mehr konnte mir dasselbe gleichgültig
+sein, wenn ich in einem vollkommen geschützten Wagen saß und auf einer
+wohlgebauten Hauptstraße dahin rollte.
+
+Am dritten Tage Mittags nach meiner Abreise von dem Rosenhause traf
+ich bei den Meinigen ein. Die zweite Ankunft in diesem Jahre.
+
+Sie hatten aus meinem Briefe die Verspätung meiner Ankunft entnommen,
+den Grund vollständig gebilligt und wären, wie ich ganz richtig
+vorausgesehen hatte, unwillig auf mich geworden, wenn ich anders
+gehandelt hätte. Ich erzählte nun alles, was sich nach meiner
+schnellen Abreise von Hause begeben hatte. Da bei meiner ersten
+Ankunft gleich die eine Ursache zur Wiederabreise vorgekommen war,
+so konnte ich auch jetzt erst nach und nach erzählen, was sich im
+vergangenen Sommer mit mir zugetragen habe. Der Vater kam sehr
+häufig auf die Zeichnungen zurück, die ihm mein Gastfreund gesendet
+hatte, und aus seinen Reden war zu entnehmen, wie sehr er die
+Geschicklichkeit des Mannes anerkannte, der die Zeichnungen gemacht
+hatte, und wie hoch in seiner Achtung der stehe, auf dessen
+Veranlassung sie entstanden waren. Er führte mich neuerdings zu dem
+Musikgerättische, zeigte mir noch einmal, warum er ihn gerade an
+diesen Platz gestellt habe, und fragte mich wieder, ob ich mit der
+Wahl des Ortes einverstanden sei. Mich wunderte Anfangs die Frage, da
+er sonst nicht gewohnt war, mich in solchen Dingen zu Rate zu ziehen.
+Nach meiner Ansicht war der Tisch in dem Altertumszimmer an dem
+Fensterpfeiler in passender Umgebung sehr gut gestellt und zeigte
+seine Eigenschaften in dem besten Lichte. Ich wiederholte daher meine
+vollkommene Billigung des Platzes, die ich schon vor meiner Abreise
+ausgesprochen hatte. Später aber sah ich wohl recht deutlich, daß es
+nur die Freude an diesem Stücke war, was den Vater zur Wiederholung
+der Frage über die Zweckmäßigkeit des Platzes und zum wiederholten
+Zurückkommen zu dem Tische veranlaßt hatte. Das freudige Wesen,
+welches ich bei meiner ersten Ankunft in seiner ganzen Gestalt
+ausgedrückt gesehen zu haben glaubte, erschien mir jetzt auch noch
+über ihn verbreitet. Selbst die Mutter und die Schwester schienen mir
+vergnügter zu sein als in andern Zeiten - ja mir war es, als liebten
+mich alle mehr als sonst, so gut, so freundlich, so hingebend waren
+sie. Wie sehr dieses Gefühl, von den Seinen geliebt zu sein, das Herz
+beseligt, ist mit Worten nicht auszusprechen.
+
+Ich erzählte meinem Vater von dem Marmorbilde, welches auf der Treppe
+im Hause meines Gastfreundes steht, und suchte ihm eine Beschreibung
+von diesem Kunstwerke zu machen. Er sah mich sehr aufmerksam an, ja
+mir war es einige Male, als sähe er mich gewissermaßen betroffen
+an. Er fragte um Manches und veranlaßte mich neuerdings von dem
+Bilderwerke zu sprechen. Es schien ihn sehr angelegentlich zu
+berühren.
+
+Ich erzählte ihm dann auch von der Brunnengestalt in dem Sternenhofe,
+verglich sie mit der Treppengestalt im Rosenhause, suchte den
+Unterschied hervorzuheben, und suchte für die Treppengestalt weit den
+Vorzug zu gewinnen, obgleich sie der älteren Zeit angehöre und die
+andere etwa erst im vergangenen Jahrhunderte verfertigt worden sei,
+und obgleich diese fast blendend reinen Marmor habe, die andere aber
+einen, dem man das hohe Alter schon ansehe. Er fragte auch hier noch
+um Vergleichungspunkte, und ich sah, daß er die Sache ergriff und
+Einsicht von ihr hatte. Ich erzählte ihm dann auch von den Gemälden
+meines Gastfreundes, ich nannte ihm die Meister, von denen Werke
+vorhanden wären, und bemühte mich, Beschreibungen von den Bildern zu
+geben, welche mich am meisten in Anspruch genommen hätten. Er tat auch
+in dieser Hinsicht zahlreiche Fragen und machte, daß ich mich über
+den Gegenstand weiter ausbreitete, als ich wohl ursprünglich im Sinne
+hatte.
+
+Am zweiten Tage nach meiner Ankunft, da wir wieder von diesen Dingen
+gesprochen hatten, nahm er mich bei der Hand und führte mich in
+sein Bilderzimmer. Ich war absichtlich seit meiner Ankunft nicht in
+demselben gewesen und hatte mir dessen Besuch auf eine ruhigere Zeit
+aufgehoben. Ich hatte die zwei Tage in Gesprächen mit meinen Eltern
+hingebracht, zum Teile hatte ich sie auch benützt, die Dinge, welche
+ich ihnen und der Schwester gebracht hatte, zu übergeben. Darunter
+waren auch die kleineren Marmorgegenstände, welche im Rothmoore fertig
+geworden waren. Der Rest der Zeit war mit Auspacken, Einräumen und
+mit einigen Ankunftsbesuchen ausgefüllt worden. Da wir in das Zimmer
+getreten waren und die Mitte desselben erreicht hatten, ließ er meine
+Hand fahren, sagte aber nichts. Ich war im größten Erstaunen. Die
+Bilder, welche vorhanden waren und deren Zahl geringe war, weit
+geringer als bei meinem Gastfreunde, ja selbst im Sternenhofe,
+erschienen mir als außerordentlich schön, als ganz vollendete,
+zusammenstimmende Meisterwerke, wie sie, wenn ich dem ersten Eindrucke
+trauen durfte, bei meinem Gastfreunde in dieser gleich hohen und
+zusammengehörigen Schönheit nicht vorhanden waren. Es befand sich, wie
+ich bald entdeckte, kein Bild der neueren oder neusten Zeit darunter,
+sämmtlich gehörten sie der älteren Zeit an, wenigstens, wie ich
+wahrzunehmen glaubte, dem sechzehnten Jahrhunderte. Ein ganz tiefes,
+eigentümliches Gefühl kam in meine Seele. Das ist die große und nicht
+zu beschreibende Liebe des Vaters. Diese kostbaren Dinge besaß er, an
+diesen Dingen hing sein Herz, sein Sohn war vorüber gegangen, ohne sie
+zu beachten, und der Vater entzog dem Sohne doch kein Teilchen der
+Zuneigung, er opferte sich ihm, er opferte ihm fast sein Leben, er
+sorgte für ihn und suchte ihm nicht einmal zu beweisen, wie schön die
+Sachen wären. Ich erfuhr, wie sehr ich auch hier geschont worden war.
+
+»Das sind ja herrliche Bilder«, rief ich in Rührung aus.
+
+»Ich glaube, daß sie nicht unbedeutend sind«, erwiderte er mit einer
+durch Bewegung ergriffenen Stimme.
+
+Dann gingen wir näher, um sie zu betrachten. Es waren in der Tat
+lauter alte Gemälde, keines von besonders großen Abmessungen, keines
+von kunstwidriger Kleinheit. Ich tat die Bemerkung, daß er keine neuen
+Bilder habe.
+
+»Es hat sich so gefügt«, sagte er, »ich habe schon einige der hier
+befindlichen Stücke von deinem Großvater, der auch ein Freund von
+solchen Dingen war, geerbt, und anderes habe ich gelegentlich
+erworben.
+
+Die mittelalterliche Kunst steht wohl höher als die neue. In ihr ist
+ein größerer Reichtum schöner Werke vorhanden als in der neuen, es ist
+daher leichter möglich, ein fehlerfreies altes Bild zu erwerben als
+ein neues. Wer Bilder unserer Zeiten liebt, gibt solche, die an
+Schönheit keinen Tadel verdienen, nicht zum Kaufe, sie sind daher
+nicht leicht zu erhalten. Bilder, die von Anfängern oder von solchen
+herrühren, die schwach in der Kunst sind, stehen leicht und an vielen
+Orten, teils von den Künstlern, teils von Händlern, wie es auch in
+früheren Zeiten gewesen sein wird, zum Kaufen. Zu diesen konnte ich
+nie eine Neigung fassen, daher ist es gekommen, daß ich lauter alte
+Bilder besitze. Es war ein kräftiges und gewaltiges Geschlecht, das
+damals wirkte. Dann kam eine schwächliche und entartetere Zeit.
+Sie meinte es besser zu machen, wenn sie die Gestalten reicher und
+verblasener bildete, wenn sie heftiger in der Farbe und weniger tief
+im Schatten würde. Sie lernte das Alte nach und nach mißachten, daher
+ließ sie dasselbe verfallen, ja die mit der Unkenntnis eintretende
+Rohheit zerstörte Manches, besonders wenn wilde und verworrene
+Zeitläufe eintraten. Man wendete dann wieder um und achtete
+allgemeiner wieder das Alte - von allen Seiten mißachtet war es
+niemals. - Man suchte sogar nachzuahmen, nicht bloß in der Malerkunst,
+sondern auch, und zwar noch mehr in der Baukunst; man konnte aber das
+Vorbild weder in der Grundeinheit noch in der Ausführung erreichen, so
+gut und treu die neuen Einzelnheiten auch gewesen sein mochten. Es ist
+langsam besser geworden, was sich eben in dem Zeichen kund tat, daß
+man alte Bauwerke wieder schätzte - ich selber weiß noch eine Zeit,
+in welcher Reisende und Schriftsteller, die man für gelehrt und
+spruchberechtigt achtete, die gothische Bauweise für barbarisch und
+veraltet erklärten -, daß man alte Bilder hervor zog, ja alte Geräte
+sammelte und in dem Schnitte der Kleider alte Gebilde und Wendungen
+teilweise einführte. Möge man auf diesem Wege zum Besseren fortfahren
+und nicht bloß das Alte wieder zu einer Mode machen, die den Geist
+nicht kennt, sondern nur die Veränderung liebt. Du kannst es noch
+erleben, wenn wieder eine Höhe eintritt; denn ein Schwellen von Tiefe
+in Höhe und ein Sinken aus der Höhe in die Tiefe war immer vorhanden.
+Wenn die Erkenntnis des Altertums, nicht bloß des unsern, sondern
+des noch schönern des Griechentums, wie es sich jetzt auszusprechen
+scheint, immer fortschreitet und nicht ermattet, so werden wir auch
+dahin kommen, daß wir eigene Werke werden ersinnen können, in denen
+die ernste Schönheitsmuse steht, nicht Leidenschaft oder Absicht oder
+ein äußerlicher Reiz oder ledigliche planlose Heftigkeit, Werke, die
+nicht nachgeahmt sind oder in denen nur ein älterer Stil ausgedrückt
+ist. Wenn wir dahin gekommen sind, dann dürften wir wohl auch
+gesellschaftlich auf einer Stufe stehen, daß nicht bloß Teile unseres
+Volkes nach Außen mächtig sind, sondern das ganze Volk, und daß es
+dann mit seinem Leben gelassen kräftig auf das Leben anderer Völker
+wirkt. Ich denke immer, die sind glücklich, die die Lerchen dieses
+Frühlings singen hören; aber diese werden den Zustand nicht so
+empfinden wie der, der andere gesehen hat, so wie der Unschuldige
+seine Unschuld nicht empfindet, der rechtliche Mann seine
+Rechtschaffenheit nicht hoch anschlägt und verdorbene Zeiten ihre
+Verdorbenheit nicht kennen.«
+
+Ich dachte, da mein Vater so sprach, an meinen Gastfreund, der ähnlich
+fühlt und sich ähnlich ausspricht. Aber es ist ja kein Wunder, daß
+Männer, die ein ähnliches Streben haben, also auch ähnlichen Geist
+besitzen, auf ähnliche Gedanken kommen, besonders, wenn sie an Alter
+nicht zu verschieden sind.
+
+Wie betrachteten nun das Einzelne.
+
+Mein Vater hatte Bilder von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese,
+Annibale Carracci, Dominichino, Salvator Rosa, Nikolaus Poussin,
+Claude Lorrain, Albrecht Dürer, den beiden Holbein, Lucas Cranach, Van
+Dyck, Rembrandt, Ostade, Potter, van der Neer, Wouvermann und Jakob
+Ruisdael. Wir gingen von dem einen zu dem andern, betrachteten ein
+jedes, taten manches Bild auf die Staffelei und redeten über ein
+jedes. Mein Herz war voll Freude. Es erschien mir jetzt immer
+deutlicher, was ich beim ersten Anblicke nur vermutet hatte, daß die
+Bilder in dem Gemäldezimmer meines Vaters lauter vorzügliche seien,
+und daß sie noch dazu an Wert so sehr zusammen stimmten, daß das Ganze
+eben den Eindruck eines Außerordentlichen machte. Ich hatte schon so
+viel Urteil gewonnen, daß ich dachte, nicht gar zu weit mehr in die
+Irre geraten zu können. Ich äußerte mich in dieser Beziehung gegen
+meinen Vater, und er versicherte in der Tat, daß er glaube, daß er
+nicht nur gute Meister besitze, sondern auch von diesen Meistern
+nach seiner Erfahrung, die er sich in vielen Jahren, in vielen
+Gemäldesammlungen und im Lesen vieler Werke über Kunst erworben habe,
+bessere von ihren Arbeiten. Ich gab mich den Bildern immer inniger
+hin und konnte mich von manchem kaum trennen. Das Köpfchen von einem
+jungen Mädchen, das ich mir einmal zu einem Zeichnungsmuster genommen
+hatte, stammte von Hans Holbein dem Jüngern her. Es war so zart, so
+lieb, daß es jetzt auch wieder einen Zauber auf mich ausübte, wie es
+wohl auch damals ausgeübt haben mußte; denn sonst hätte ich es ja
+nicht zum Vorbilde genommen. Kaum waren hier Mittel zu entdecken, mit
+denen der Künstler gewirkt hatte. Eine so einfache, so natürliche
+Färbung mit wenig Glanz und Vortreten der Farben, so gering scheinende
+harmlose Linien und doch eine solche Lieblichkeit, Reinheit,
+Bescheidenheit, daß man kaum weggehen konnte. Die blonden Haare, die
+sich von der Stirn gegen hinten zogen, waren fast mit keinem Aufwande
+gemacht, und doch konnte es kaum etwas Schöneres geben als diese
+blonden Locken. Der Vater erlaubte, daß ich mir das Bild zweimal auf
+die Staffelei stellen durfte.
+
+Als wir mit dem Anschauen der Bilder fertig waren, zog der Vater eine
+flache Lade aus einem Kasten in dem Altertumszimmer, stellte die Lade
+auf einen Tisch in der Nähe des Fensters und lud mich ein, hinzu zu
+gehen und seine geschnittenen Steine anzusehen.
+
+Ich tat es.
+
+Hier war meine Verwunderung fast noch größer als bei den Bildern. Ich
+fand auf den Steinen die Gestalten wieder, wie die eine war, welche
+auf der Treppe des Hauses meines Gastfreundes stand.
+
+»Das sind lauter antike Bildungen«, sagte mein Vater.
+
+Es waren verschiedene Steine von verschiedenem Werte und verschiedener
+Größe. Edelsteine, die durch ihren Stoff einen hohen Wert nach unsern
+heutigen Begriffen haben, wie Saphire, Rubine, waren nicht dabei;
+doch aber mindere, die wohl als Schmuck getragen werden können, und,
+wie ich mich jetzt deutlich erinnerte, von unserer Mutter auch bei
+Gelegenheiten getragen wurden. Es war ein Onyx da, auf welchem eine
+Gruppe in der gewöhnlichen halb erhabenen Arbeit geschnitten war.
+Ein Mann saß in einem altertümlichen Stuhle. Er hatte nur geringe
+Bekleidung. Seine Arme ruhten sehr schlicht an seiner Seite und sein
+feines Angesicht war nur ein wenig gehoben. Er war noch ein sehr
+junger Mann. Frauen, Mädchen, Jünglinge standen seitwärts in
+leichterer Arbeit und weniger kräftig hervorgehoben, eine Göttin hielt
+einen Kranz oberhalb des Hauptes des sitzenden Mannes. Mein Vater
+sagte, das sei sein bester wie größter Stein und der sitzende Mann
+dürfte Augustus sein. Wenigstens stimme sein Halbangesicht, wie es auf
+dem Steine sei, mit jenen Halbangesichtern Augustus' zusammen, die man
+auf den gut erhaltenen Münzen dieses Mannes sehe. Die Gestalt, die
+Gliederung, die Haltung dieses Mannes, die Gestalten der Mädchen,
+Frauen und Jünglinge, ihre Bekleidung, ihre Stellungen in Ruhe und
+Einfachheit, die deutliche und naturgemäße Ausführung der kleinen
+Teile in den Gliedern und Gewändern machten auf mich wieder jene
+ernste, tiefe, fremde, zauberartige Wirkung, welche die Gestalt auf
+der Treppe in dem Hause meines Gastfreundes in mir hervorgebracht
+hatte, da ich im vergangenen Sommer während des Gewitters zu ihr empor
+gestiegen war. Auf den andern Steinen befanden sich Männer in Helmen,
+entweder schöne junge Angesichter oder alte mit ehrwürdigen Bärten.
+Solche, die in mittleren Mannesjahren standen, waren gar nicht
+vorhanden. Auch Frauenköpfe waren auf einigen Steinen zu sehen. Auf
+mehreren zeigten sich ganze Gestalten, ein Hermes mit den Flügeln an
+den Füßen, ein schreitender Jüngling oder einer, der mit dem Arme zum
+Wurfe mit einem Steine ausholt. Diese Gestalten waren so genau und
+richtig, daß sie das Vergrößerungsglas ertrugen. Steine mit andern
+Dingen als menschliche Gestalten hatte mein Vater gar nicht. Ich
+erinnerte mich, daß ich irgendwo - des Ortes, konnte ich mich nicht
+mehr entsinnen - Käfer auf Steine geschnitten gesehen hatte.
+
+»Ich habe die Steine mit menschlichen Gestalten vorgezogen«, sagte
+mein Vater, als ich in dieser Hinsicht eine Bemerkung machte, »weil
+sie mir doch dasjenige schienen, was zu dem Menschen in der nächsten
+Beziehung steht. Ich bin nicht reich genug, eine große Sammlung von
+geschnittenen Steinen anlegen zu können, in welcher alle Gattungen
+enthalten sind, so fern man überhaupt Gelegenheit hat, sie zu kaufen,
+und weil ich das nicht konnte, so habe ich mich lediglich auf
+menschliche Gestalten beschränkt und unter diesen wieder auf jene,
+deren Erwerb mir ohne Einfluß auf mein Hauswesen möglich war; denn
+es gibt da Kunstwerke in diesem Fache, welche ein ganzes Vermögen
+in Anspruch nehmen, von dessen Rente manche kleine Familie, deren
+Ansprüche nicht zu bedeutend sind, leben könnte.«
+
+Die Männer in den Helmen trugen diese Kopfbedeckung in der
+gewöhnlichen Art, wie man sie auf den alten Münzen sieht und wie ich
+sie schon auf Abbildungen von Kunstwerken in halberhabener Arbeit
+gesehen habe, die sich auf griechischen oder römischen Bauten
+befanden. Die einfache Art, den Helm zu tragen, wenn er auch eine noch
+so kostbare Arbeit ist, habe ich an Abbildungen aus späteren Zeiten,
+namentlich aus dem Mittelalter, nicht mehr gefunden. Die Angesichter
+hatten Züge, die etwas Fremdes wiesen, das jetzt nicht mehr vorkömmt
+und auf eine entlegene Zeit zurückdeutet. Die Züge waren meistens
+einfach, ja sogar oft unbegreiflich einfach, und doch waren sie schön,
+schöner und menschlich richtiger - so schien es mir wenigstens -
+als sie jetzt vorkommen. Die Stirnen, die Nasen, die Lippen waren
+strenger, ungekünstelter und schienen der Ursprünglichkeit der
+menschlichen Gestalt näher. Dies war selbst bei den Abbildungen der
+Greise der Fall und sogar da, wo man vermuten durfte, das abgebildete
+Haupt sei das Bildnis eines Menschen, der wirklich gelebt hat. Es
+konnte diese Gestaltung nicht Eingebung des Künstlers sein, da
+offenbar die Steine verschiedenen Zeiten und verschiedenen Meistern
+angehörten; sie mußte also Eigentum jener Vergangenheit gewesen sein.
+Die Köpfe der Frauen waren auch schön, oft überraschend schön; sie
+hatten aber auch etwas Eigentümliches, das sich von unsern gewohnten
+Vorstellungen entfernte, sei es in der Art, das Haupthaar aufzustecken
+und es zu tragen, sei es, wie sich Stirne und Nase zeigten, sei es im
+Nacken, im Halse, im Beginne der Brust oder der Arme, wenn diese Teile
+noch auf dem Bilde waren, sei es in dem uns fernliegenden Ganzen.
+Allgemein aber waren diese Köpfe kräftiger und erinnerten mehr an die
+Männlichkeit als die unserer heutigen Frauen. Sie erschienen dadurch
+reizender und ehrfurchterweckender. Die Ausführung dieser Abbildungen
+zeigte sich so rein, so entwickelt und folgerichtig, daß man nirgends,
+auch nicht im Kleinsten, versucht wurde, zu denken, daß etwas fehle,
+ja daß man im Gegenteile die Gebilde wie Naturnotwendigkeiten ansah
+und daß einem in der Erinnerung an spätere Werke war, diese seien
+kindliche Anfänge und Versuche. Die Künstler haben also große und
+einfache Schönheitsbegriffe gehabt, sie haben sich diese aus der
+Schönheit ihrer Umgebung genommen und diese Schönheit der Umgebung
+durch ihre Schönheitsbegriffe wieder verschönert. So sehr mir die
+Bilder des Vaters gefielen, so sehr mir die Bilder meines Gastfreundes
+gefallen hatten, so sehr wurde ich, wie ich durch die Marmorgestalt
+meines Gastfreundes ernster und höher gestimmt worden war als durch
+seine Bilder, auch durch die geschnittenen Steine meines Vaters
+ernster und höher gestimmt als durch seine Bilder. Er mußte das
+fühlen. Er sagte nach einer Weile, da wir die Steine angeschaut
+hatten, da ich mich in dieselben vertieft und manchen mehrere Male in
+meine Hände genommen hatte: »Das, was die Griechen in der Bildnerei
+geschaffen haben, ist das Schönste, welches auf der Welt besteht,
+nichts kann ihm in andern Künsten und in späteren Zeiten an
+Einfachheit, Größe und Richtigkeit an die Seite gesetzt werden, es
+wäre denn in der Musik, in der wir in der Tat einzelne Satzstücke und
+vielleicht ganze Werke haben, die der antiken Schlichtheit und Größe
+verglichen werden können. Das haben aber Menschen hervorgebracht,
+deren Lebensbildung auch einfach und antik gewesen ist, ich will nur
+Bach, Händel, Haydn, Mozart nennen. Es ist sehr schade, daß von der
+griechischen Malerei nichts übrig geblieben ist als Teile von dem, was
+in dieser Kunst immer als ein untergeordneter Zweig betrachtet worden
+ist, von der Wandmalerei und Gebäudeverzierung. Da die griechische
+Dichtkunst das Höchste ist, was in dieser Kunstabteilung besteht,
+da ihre Baukunst als Muster einfacher Schönheit, besonders für die
+Gestaltung ihres Landes, gilt, da ihre Geschichtschreiber und Redner
+kaum ihresgleichen haben, so ist anzunehmen, daß ihre Malerei auch
+diesen Dingen gleichgeartet gewesen sein müsse. Sie sprechen in
+Schriften, die bis auf unsere Tage gekommen sind, von ihren Bauwerken,
+von ihrer Weltweisheit, Geschichtschreibung, Dichtkunst und
+Bildnerkunst nicht höher als von ihrer Malerei, ja nicht selten
+scheint es, als zögen sie diese noch vor, also muß auch sie vom
+höchsten Belange gewesen sein; denn es ist nicht anzunehmen, daß
+Schriftsteller, die doch endlich der Ausdruck, wenn auch der gehobenen
+ihrer Zeit und ihres Volkes sind, so feine Kenntnisse und so feines
+Gefühl in andern Künsten gehabt haben und für Fehler der Malerei blind
+gewesen wären. Wahrscheinlich würden wir uns an Strenge und Rundung
+in ihrer Malerei ergötzen und sie bewundern, wie wir es mit ihren
+Bildsäulen tun. Ob wir an ihnen für unsere Malerei etwas lernen
+könnten, weiß ich nicht, so wie ich nicht weiß, wie viel es ist, was
+wir an ihrer Bildhauerei gelernt haben.
+
+Diese Steine sind durch viele Jahre mein Vergnügen gewesen. Oft in
+trüben Stunden, wenn Sorgen und Zweifel das Leben seines Duftes
+beraubten und es dürr vor mich hinzubreiten schienen, bin ich zu
+dieser Sammlung gegangen, habe diese Gestalten angeschaut, bin in
+eine andere Zeit und in eine andere Welt versetzt worden und bin ein
+anderer Mensch geworden.«
+
+
+Ich sah meinen Vater an. Hatte ich früher schon oft Gelegenheit
+gehabt, ihn hoch zu achten, und hatte ich zu verschiedenen Zeiten
+entdeckt, daß er bedeutendere Eigenschaften besitze, als ich geahnt
+hatte, so war ich doch nie in der Lage, ihn beurteilen zu können, wie
+ich ihn jetzt beurteilte. In Geschäfte der eintönigsten Art gezwungen
+oder vielleicht selber und freiwillig in diese Geschäfte gegangen -
+denn er führte sie mit einer Ordnung, mit einer Rechtlichkeit, mit
+einer Ausdauer, mit einer Anhänglichkeit an sie, daß man staunen
+mußte -, hatte er, der unscheinbar seinen bürgerlichen Obliegenheiten
+nachkam und von dem Viele nur glauben mochten, daß er in seinem Hause
+einige Spielereien von alten Geräten, Bildern und Büchern habe,
+vielleicht einen tieferen und einsameren Kreis um sich gezogen, als
+ich jetzt noch erkennen konnte, und hatte ohne Anspruch an diesem
+Kreise fort gebaut. Ich empfand Ehrfurcht vor ihm und fragte ihn, ob
+er die Schriftsteller, von denen er spreche, griechisch gelesen habe.
+
+»Wie könnte ich sie denn anders gelesen haben und noch lesen, wenn ich
+sie lieben soll«, antwortete er, »die alte vorchristliche Welt hat so
+ganz andere Vorstellungen als die unsere, die Völkerwanderung hat so
+sehr einen Abschnitt in der Geschichte gemacht, daß die Werke der
+vorher gewesenen Völker gar nicht übersetzt werden können, weil
+unsere Sprachen in ihrem Körper und in ihrem Geiste auf die alten
+Vorstellungen nicht passen. Im Lesen in ihrer Sprache und in ihren
+Dichtungen und Geschichten wird man nach und nach einer von ihnen und
+lernt ihre Art beurteilen, was man sonst nie mehr kann. In unsern
+Schulen lernen wir ja römisch und griechisch, und wenn man in der
+Zeit nach der Schule noch etwas nachhilft und fleißig in den alten
+Schriften liest, so fügt sich die Sache ohne Mühe und gelingt
+leichter, als man etwa das Französische, Italienische oder Englische
+lernt, wie es ja jetzt die meisten Leute tun.«
+
+»Du hast ja aber auch diese Sprachen gelernt«, sagte ich.
+
+»Wie sie auch andere lernen«, antwortete er, »und wie es mein Stand
+forderte.«
+
+»Ich habe es bis heute nicht gewußt, daß du in den alten Sprachen
+Bücher liesest«, sagte ich, »und was noch mehr ist, daß du dich in
+die Dichtkunst, in die Geschichte und Weltweisheit der Völker, deren
+Schriften du liesest, vertiefest. Du weißt, daß wir uns nie anmaßten,
+die Bücher zu untersuchen, in denen du liesest.«
+
+»Es war keine Ursache vorhanden, dir zu erzählen, was ich lese«,
+antwortete er, »ich dachte, es wird sich schon geben. Deine Mutter
+wußte es wohl.«
+
+Die Hochachtung für den Vater, der ohne Aufheben mehr war, als der
+Sohn geahnt hatte, und der geduldig auf den Sohn gewartet hatte, ob
+er auf dem Wege zu ihm stoßen werde, war nicht die einzige Frucht
+dieses Tages. Ich empfand recht wohl, daß der Vater auch mich höher
+achtete und daß er eine große Freude habe, daß der Sohn nun auch in
+Kunstdingen sich ihm nähere. Daß wir in einigen wissenschaftlichen
+Sachen zusammen trafen, wußte ich wohl, da wir über Gegenstände der
+Geschichte, der Dichtungen und über andere in jüngster Zeit manchmal
+gesprochen hatten.
+
+Ich wußte aber nie, in wie ferne und auf welchen Wegen der Vater zu
+diesen Dingen gekommen war. Heute hatte ich einen großem Einblick
+getan, und ich wußte nun auch gar nicht, welch eine geregelte
+wissenschaftliche Bildung der Vater aus seinen früheren Jahren hinter
+sich habe und ob es nicht etwa gar aus dieser wissenschaftlichen
+Bildung herzuschreiben sei, daß er mich gerade meinen Weg habe gehen
+lassen, der mir selber zuweilen abenteuerlich vorgekommen war. Ich
+mußte jetzt doppelt wünschen, daß mein Vater einmal mit meinem
+Gastfreunde zusammen käme, um mit ihm über ähnliche Gegenstände zu
+sprechen, wie er heute zu mir gesprochen hatte. Ich konnte doch nicht
+hinreichend eingehen und wußte auch nicht, in wie ferne er in seinen
+Urteilen über altgriechische Bildnerkunst, Dichtkunst, Malerei und
+über die neuere Musik Recht habe. Allein der Vater arbeitete so
+ruhig in seinem Berufsgeschäfte weiter, er war in alle Einzelheiten
+desselben so vertieft und sorgte für den regelmäßigen Fortgang
+desselben, daß es nicht leicht zu erwarten war, daß er sich zu einer
+Reise entschließen würde.
+
+Gegen das Ende unseres Gespräches kam auch die Mutter und Klotilde
+herein. Das Angesicht der Mutter wurde sehr heiter, als sie uns bei
+den Steinen stehen sah, als sie sah, daß der Vater sie mir zeigte
+und erklärte, und als sie auch erkennen mochte, daß in dem Wesen des
+Vaters eine Freude sei, und daß die Annäherung, die sie geahnt habe,
+wirklich eingetreten sei.
+
+Wir gingen noch einige Male bald in das Bilderzimmer, bald in das
+Altertumszimmer, in welchem noch immer die Lade mit den Steinen auf
+dem Tische stand, und redeten über Verschiedenes.
+
+»Diese Kunstwerke«, sagte der Vater, da er die Steine wieder
+verschlossen hatte und da wir uns aus diesem Zimmer entfernten,
+»könnt ihr in euren Besitz bringen. Wenn ihr Sinn und tiefe Liebe für
+dieselben habet, so werdet ihr sie nach unserem Tode in einer von mir
+gemachten und, wie ich glaube, gerechten Teilung empfangen. Sterbe
+ich vor eurer Mutter, so bleiben sie als Denkmal unseres friedlichen
+Hauses in der Lage, in der sie jetzt sind, und sie werden euch erst
+eingehändigt, wenn mir auch die Mutter gefolgt ist. Will Klotilde dir
+ihren Anteil abtreten, so ist die Summe schon bestimmt, welche du ihr
+dafür geben mußt, und so auch umgekehrt. Ist bei beiden nach unserm
+Absterben eine solche Liebe zu diesen Bildern und Steinen nicht
+vorhanden, daß ihr sie unzersplittert bewahret, so ist schon bestimmt,
+daß auf eure hierin eingeholte Erklärung dieselben gegen ein Entgelt,
+das nicht unbillig ist, an einen Ort übergehen, an welchem sie
+beisammen bleiben. Ich glaube aber wohl, daß diese Neigung in unserm
+Hause fortdauern werde.«
+
+Wir antworteten auf diese Rede nichts, weil sie einen Gegenstand
+berührte, der, wie entfernt wir ihn uns auch denken mußten, doch
+schmerzlich auf uns einwirkte.
+
+Ich verlegte mich nach dieser gemachten Erfahrung mit noch größerem
+Eifer auf die Kenntnis der Werke der bildenden Kunst. Ich lernte mich
+in die Bilder des Vaters bis in die kleinsten Einzelheiten hinein und
+war zu diesem Zwecke sehr oft und zuweilen lange in dem Bilderzimmer,
+ich besuchte alle größeren zugänglichen Sammlungen und suchte deren
+Bilder zu ergründen, ich besah alle Bildnerwerke, die in unserer
+Stadt einen Ruf hatten, und strebte nach einer genauen Kenntnis ihrer
+Beschaffenheiten, ich las endlich namhafte Werke über die Kunst und
+verglich meine Gedanken und Gefühle mit den in den Büchern gefundenen.
+Ich sprach viel mit meinem Vater über diese Gegenstände, wir näherten
+uns immer mehr, meine Empfindungen wurden stets inniger, und ich
+versenkte meine Seele in sie. Unsern Erzdom bewunderte ich jetzt in
+einem höheren Maße als in allen früheren Zeiten, und ich stand manche
+Stunde vor seinem ungeheuren Baue. Selbst die Gebilde der Mathematik,
+wenn ich wieder zu Zeiten etwas in ihr zu tun hatte, erschienen
+mir zuweilen schön und zierlich, was mir namentlich bei einigen
+französischen Mathematikern geschah. Das Malen schöner Köpfe setzte
+ich fort und eben so wurde das Zeichnen und Malen von Landschaften,
+welches ich im vorigen Jahre mit der Schwester begonnen hatte, nicht
+bei Seite gesetzt. Ich nahm mit ihr die Zeichnungen vor, welche sie im
+vergangenen Sommer während meiner Abwesenheit gemacht hatte, und so
+wie ich von meinem Gastfreunde, von Eustach und von dem Vater über die
+Fehler belehrt worden war, die sich in meinen Landschaftsversuchen
+befanden, so belehrte ich Klotilden wieder über die ihrigen.
+
+Seit ich Mathilden kannte, besonders aber jetzt, nachdem ich öfter in
+ihrer Gesellschaft gewesen war und im Spätherbste die Reise mir ihr
+und den andern in das Hochland gemacht hatte, war ich auch auf die
+Angesichter ältlicher und alter Frauen aufmerksam geworden. Man tut
+sehr Unrecht, und ich bin mir bewußt, daß ich es auch getan habe, und
+gewiß handeln andere Leute in ihrer Jugend ebenfalls so, wenn man die
+Angesichter von Frauen und Mädchen, sobald sie ein gewisses Alter
+erreicht haben, sofort beseitigt und sie für etwas hält, das die
+Betrachtung nicht mehr lohnt. Ich fing jetzt zu denken an, daß es
+anders sei. Die große Schönheit und Jugend reißt unsere Aufmerksamkeit
+hin und erregt ein tiefstes Gefallen; warum sollten wir aber mit
+dem Geiste nicht auch ein Angesicht betrachten, über welches Jahre
+hingegangen sind? Liegt nicht eine Geschichte darin, oft eine
+unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die ihren Widerschein auf
+die Züge gießt, daß wir sie mit Rührung lesen oder ahnen? Die Jugend
+weist auf die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergangenheit.
+Hat diese kein Recht auf unsern Anteil? Als ich Mathilden das erste
+Mal sah, fiel mir das Bild der verblühenden Rose ein, welches mein
+Gastfreund von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es
+so treffend fand; und später oft, wenn ich Mathilden betrachtete,
+gesellte sich das Bild wieder zu meinen Gedanken, es erregten sich
+neue und es erzeugte sich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal
+gedacht, daß Mathilde aussehe wie ein Bild der Vergebung, und später
+dachte ich es mir öfter. Ihr Angesicht mußte sehr schön gewesen sein,
+vielleicht gar so schön wie jetzt Nataliens, nun ist es ganz anders;
+aber es spricht leise von einer Vergangenheit, daß wir meinen, wir
+müßten sie vernehmen können, und wir vernähmen sie auch gerne, weil
+sie uns so anziehend scheint. Sie muß manche Neigungen gehabt haben,
+sie muß manche Freuden erlebt und manches Gut verloren haben, sie hat
+Schmerzen und Kummer ertragen; aber sie hat alles Gott geopfert und
+hat gesucht, mit sich in das Gleiche zu kommen, sie ist mit den
+Menschen gut gewesen, und jetzt ist sie in tiefem Glücke, mit manchem
+unerfüllten Wunsche und mit mancher kleinern und größern Sorge, die
+sie sinnen macht. Als ich einen Mann sagen gehört hatte, daß die
+Fürstin, in deren Abendgesellschaften ich zuweilen sein durfte, so
+schöne Töne in dem Angesichte habe, daß sie nur Rembrandt zu malen
+im Stande wäre, wurde ich nicht bloß auf die Fürstin noch mehr
+aufmerksam, die in ihrem hohen Alter noch so schön war, sondern ich
+betrachtete auch Mathilden wieder genauer und lernte die Schönheit,
+wenn schon manche Jahre über sie gegangen sind, besser kennen.
+Ich fing nun an, Männer und Frauen, die in höherem Alter sind, zu
+betrachten und sie um die Bedeutung ihrer Züge zu erforschen. Dabei
+fielen mir die Greisenköpfe auf den Steinen meines Vaters ein. Ich
+betrachtete die Steine öfter, da mir der Zugang zu denselben erlaubt
+war, und verglich die Köpfe, die sich auf ihnen befanden, mit
+denjenigen, die mir in dem jetzt lebenden Geschlechte aufstießen.
+Beide Arten waren wirklich nicht mit einander vergleichbar und es
+zeigten sich in ihnen die Verschiedenheiten menschlicher Geschlechter.
+Das Antlitz der Fürstin erschien mir nun um vieles schöner als in der
+früheren Zeit, daß ich aber nicht auf den Wunsch geriet, es malen zu
+wollen, also noch weniger dem Wunsche einen Ausdruck gab, begreift
+sich. In den Angesichtern der Manchen, welche ich jetzt eifriger
+betrachtete, fand ich freilich oft etwas, das mir nicht gefiel, sei
+es Neid, sei es irgend eine Begierlichkeit, sei es bloße Abgelebtheit
+oder Geistlosigkeit, sei es etwas Anderes, ich stellte bei solchen
+Gelegenheiten meine Betrachtung bald ein und hegte nicht den Wunsch,
+das Gesehene zu malen. Seit ich Gustav besser kennen gelernt hatte und
+näher mit ihm befreundet worden war, betrachtete ich auch gerne Köpfe
+von Jünglingen, ob sie nicht Gegenstände zum Malen abgäben. Wenn
+gleich sein Angesicht ebenfalls nicht jenen schönen und einfachen
+Angesichtern auf den Steinen meines Vaters glich, die besonders edel
+und merkwürdig aus den Helmen heraus sahen, so war es ihnen doch näher
+als alle andern, welche ich jetzt zu erblicken Gelegenheit hatte, und
+war überhaupt so schön, wie es selten einen Kopf eines Knaben geben
+wird, der eben in das Jünglingsalter übertritt.
+
+Wenn der Ausdruck der Mienen der Jünglinge unserer Stadt oft darauf
+hinwies, daß ihr Geist verzogen worden sein mag, wenn sie etwas
+Weichliches oder etwas zu sehr Herausforderndes oder etwas hatten, das
+schon über ihre Jahre hinausging, ohne doch Kraft zu zeigen, so war
+Gustavs Antlitz so kräftig, daß es vor Gesundheit zu schwellen schien,
+es war so einfach, daß es gleichsam keinen Wunsch, keine Sorge, kein
+Leiden, keine Bewegung aussprach, und doch war es wieder so weich und
+gütig, daß man, wenn der feurige Blick nicht gewesen wäre, in das
+Angesicht eines Mädchens zu blicken geglaubt haben würde.
+
+Ich zeichnete und malte meine Köpfe jetzt anders als noch kurz vorher.
+Wenn ich früher, vorzüglich bei Beginne dieser meiner Beschäftigung,
+nur auf Richtigkeit der äußeren Linien sah, so weit ich dieselbe
+darzustellen vermochte, und wenn ich nur die Farben annäherungsweise
+zu erringen im Stande war, so glaubte ich, mein Ziel erreicht zu
+haben: jetzt sah ich aber auf den Ausdruck, gleichsam, wenn ich das
+Wort gebrauchen darf, auf die Seele, welche durch die Linien und die
+Farben dargestellt wird. Seit ich die Marmorgestalt in dem Hause
+meines Gastfreundes so lieben gelernt hatte und in die Bilder mich
+vertiefte, welche ich in dem Rosenhause getroffen hatte und in dem
+Hause meines Vaters vorfand, war alles anders als früher, ich suchte
+und haschte nach irgend einem Innern, nach irgend etwas, das weit
+außer dem Bereiche von Linien und Farben lag, das größer war als diese
+Dinge und doch durch sie darzustellen sein mußte. Einen Kopf so zu
+zeichnen oder gar zu malen, wie ich jetzt wollte, war viel schwerer
+als wie ich früher anstrebte, es war, ohne einen Vergleich zuzulassen,
+schwerer; aber es war nicht zu umgehen, wenn man überhaupt die Sache
+machen wollte, es war dichten, wenn ein Dichtungswerk geliefert sein
+sollte. Ich stellte meine Aufgabe kleiner, ich suchte die Züge auf
+einem bescheidenen Raume zu entwerfen und begnügte mich mit den
+Andeutungen in Zeichnung und Farben, wenn nur ein Inneres zu sprechen
+begann, ohne daß ich darauf beharrte, daß aus dem Begonnenen ein
+ausgeführtes Bild werden sollte, was nicht selten, wenn ich es
+versuchte, das Innere wieder vertilgte und das Gemälde seelenlos
+machte. Mein Vater wurde der Richter und war jetzt ein strenger,
+während er früher alles einfach hatte gelten lassen, was ich
+unternahm. Er pflegte zu sagen, das, was ich jetzt vor Augen habe, sei
+das Künstlerische, mein Früheres sei ein Vergnügen gewesen. Ich nahm
+häufig, wenn ich nicht in das Reine kommen konnte, zu den Bildern
+meine Zuflucht und suchte zu ergründen, wie es dieser und jener
+gemacht habe, um zu dem Ausdrucke zu gelangen, den er darstellte. Mein
+Vater sagte, das sei der geschichtliche Weg der Kunst, man könne ihn
+verfolgen, wenn man große Bildersammlungen besuche und wenn die Werke
+ohne große Lücken da sind, um sie vergleichen zu können. Das sei auch
+außer der genauesten Betrachtung der Natur und der Liebe zu ihr der
+Weg, auf dem die Kunst wachse und auf dem sie bei den verschiedenen
+Anfängen, die sie in verschiedenen Zeiten und Räumen gehabt habe,
+gewachsen ist, bis sie wieder versank oder zerstört wurde, um wieder
+zu beginnen und zu versuchen, ob sie steigen könne. Wo der bare
+Hochmut auftritt, der alles Gewesene verwirft und aus sich schaffen
+will, dort ist es mit der Kunst wie auch mit andern Dingen in dieser
+Welt aus, und man wirft sich in das bloße Leere.
+
+Außer dem Zeichnungsunterrichte setzte ich mit der Schwester auch die
+Übungen in der spanischen Sprache und im Zitherspiele fort. Sie war
+ohnehin von Kindheit an geneigt gewesen, alles, was ich tat, ein
+wenig nachzuahmen, und ich hatte immer die Lust gehabt, ihr Führer zu
+werden. Dies blieb jetzt zum Teile auch so fort.
+
+
+Der Unterricht, welchen mir mein Freund, der Sohn des Juwelenhändlers,
+in der Edelsteinkunde gegeben hatte, wurde wieder aufgenommen
+und fortgesetzt. Da wir auch außerdem in manchen Stunden einen
+freundlichen Umgang mit einander pflegten, so nahm ich mir eines
+Tages, obwohl es mir stets schwer wird, jemandem über seinen ihm
+eigentümlichen Beruf etwas zu sagen, doch den Mut, ihn meine Gedanken
+über die Fassung der Edelsteine wissen zu lassen, wie ich nehmlich
+glaube, daß es nicht richtig sei, wenn die Edelsteine von der Fassung
+erdrückt würden; daß ich es aber auch für nicht richtig halte, wenn
+sie keine andere Fassung hätten, als die sie brauchten, um an dem
+Kleidungsstücke mit dem Halt, den sie benötigen, befestigt worden zu
+können; und daß daher der Mittelweg sich darbiete, daß die Schönheit
+des Steines durch die Schönheit der Gestaltgebung vergrößert werde,
+wodurch es sich möglich mache, daß der an sich so kostbare Stoff das
+Kostbarste würde, nehmlich ein Kunstwerk. Ich wies hiebei auf die
+Gestaltungen hin, welche die Kunst des Mittelalters hege und aus denen
+geschöpft und weiter fortgeschritten werden könne. »Du hast im Grunde
+vollkommen Recht«, erwiderte mein Freund, »wir fühlen das alle
+mehr oder minder klar, außer denen, welchen alles gleichgültig und
+unwesentlich ist, was nicht unmittelbar zum Erwerbe führt; darum sind
+auch allerlei Versuche gemacht worden und werden noch gemacht, die
+Fassung zu vergeistigen. Sie gelingen insoferne mehr oder weniger, je
+nachdem es größere oder kleinere Künstler sind, welche die Entwürfe
+machen. Hierin liegt aber eine mehrfache Schwierigkeit. Zuerst sind
+die, welche in Juwelen und Perlen arbeiten, sehr selten Künstler, sie
+können es nicht leicht werden, weil die Vorbereitung dazu zu viel Zeit
+und Kräfte in Anspruch nehmen würde; werden sie es aber, so bleiben
+sie gleich Künstler, verfertigen Kunstwerke und arbeiten nicht in
+Edelsteinen, was ihrem Geiste und ihrem Einkommen abträglich wäre.
+Müssen nun Künstler um Entwürfe angegangen werden, so bietet sich
+zweitens der Übelstand, daß der Künstler die Juwelen zu wenig kennt
+und die Fassung daher zu wenig auf ihre Natur berechnen kann, wozu
+sich noch gesellt, daß die großen Künstler schwer zugänglich sind,
+Entwürfe für Edelsteinfassungen auszuarbeiten, es müßte denn dies eine
+besondere Liebhaberei sein; und wenn sie es tun, so kömmt die Fassung
+sehr teuer. Deshalb muß man zu geringeren Künstlern seine Zuflucht
+nehmen, welche dann auch wieder geringere Entwürfe liefern. Wir haben
+die Sache in unserer Handelsstube ganz im Klaren. Wir versuchen auch
+von Zeit zu Zeit ein wirkliches Kunstwerk in Perlen und edlen Steinen
+darzustellen und warten, ob ein Kenner komme und es übernehme; denn
+der Leute, welche Edelsteine brauchen, sind viel mehr als welche
+Kunstdinge suchen. Solche Werke in großer Zahl ausführen zu lassen,
+hindert uns der Mangel an zahlreichen trefflichen Entwürfen und der
+Mangel an Käufern, da der Juwelenverkauf doch endlich unser Erwerb
+ist. Da unsere gewöhnlichen Kunden aber doch so viel Geschmack haben,
+daß sie eine unedle Fassung beleidigen würde, so wählen wir den
+natürlichsten Weg, die Fassung im Stoffe edel und in der Gestalt auf
+das Einfachste zu machen, so daß die Schönheit der Steine oder der
+Perlen allein es ist, was herrscht, und der Anker, an dem es haftet,
+sich verbirgt. Was deinen Gedanken von mittelalterlichen Gestaltungen
+anbelangt, so ist er nicht neu; man hat schon solche versucht, und der
+Freiherr von Risach hat bei uns nach beigebrachten Zeichnungen Dinge
+ähnlicher Art verfertigen lassen.« Mir leuchtete die Sache sehr ein,
+und ich konnte sie nicht weiter bereden. Ich betrachtete von nun an
+mit noch größerer Sorgfalt und Genauigkeit die Arbeiten, welche mein
+Freund in den verschiedenen Werkstätten der Stadt machen ließ. Sie
+waren meistens sehr schön, ja ich glaube, schöner, als man sie
+irgendwo zu sehen gewohnt ist. Desungeachtet mußte ich behaupten, daß
+wenn nur überhaupt ein edlerer und höherer Sinn für Kunst vorhanden
+wäre, diejenigen Leute, welche große Summen für Schmuck ausgeben,
+dieselben Summen oder vielleicht noch größere dahin verwenden würden,
+daß sie gleich wirkliche Kunstwerke in Juwelen bestellten. Dagegen
+erwiderte mein Freund, daß, wie hoch der Kunstsinn auch stehe und
+wie weit er sich verbreite, doch die Zahl derer immer größer bleiben
+würde, welche bloß Schmuck als Schmucksachen kaufe, als derer, welche
+Kunstwerke in Kleinodien entwerfen und ausführen lassen, was er
+allerdings als die höchste Spitze seines Berufes ansehen würde. Dazu
+komme noch, daß mancher, der Kunstsinn habe, von der Schönheit der
+Steine sich gefangen nehmen lasse und zuletzt nichts begehre als
+diese einzige Schönheit. In dem letzten Grunde hatte mein Freund ganz
+besonders Recht; denn je mehr ich selber die Steine betrachtete, je
+mehr ich mit ihnen umging, eine desto größere Macht übten sie auf
+mich, daß ich begriff, daß es Menschen gibt, welche bloß eine
+Edelsteinsammlung ohne Fassung anlegen und sich daran ergötzen. Es
+liegt etwas Zauberhaftes in dem feinen sammtartigen Glanze der Farbe
+der Edelsteine. Ich zog die farbigen vor, und so sehr die Diamanten
+funkelten, so ergriff mich doch mehr das einfache, reiche, tiefe
+Glühen der farbigen.
+
+Meinen Beruf, den ich im Sommer bei Seite gesetzt hatte, nahm ich
+wieder auf. Ich machte mir gleichsam Vorwürfe, daß ich ihn so
+verlassen und mich einem planlosen Leben hatte hingeben können. Ich
+tat das, wozu der Winter gewöhnlich ausersehen war, und setzte die
+Arbeiten der vorigen Zeiten fort. Das Regelmäßige der Beschäftigung
+übte bald seine sanfte Wirkung auf mich; denn was ich trotz der
+freudigen Stimmung, in welcher ich aus meinen Erringungen in der Kunst
+und in der Wissenschaft war, doch Schmerzliches in mir hatte, das
+wich zurück und mußte erblassen vor der festen, ernsten, strengen
+Beschäftigung, die der Tag forderte und die ihn in seine Zeiten
+zerlegte.
+
+Ich besuchte auch, wie im vergangenen Winter, meine Kreise, dann
+Musik- und Kunstanstalten.
+
+Daß das alles vereinigt werden konnte, mußte eine genaue
+Zeiteinteilung gemacht werden, und ich mußte die Zeit richtig
+verwenden. Dazu war ich wohl von Kindheit an gewöhnt worden, ich stand
+sehr früh auf und hatte Manches für den Tag schon an der Lampe fertig
+gemacht, wenn die allgemeine Frühstunde in unserm Hause heran rückte
+und man sich zu dem Frühmahle versammelte. Dazu brauchte ich nicht
+viel Schlaf und konnte manche Stunde von der beginnenden Nacht nehmen.
+Die Tätigkeit stärkte, und wenn ein Schwung und eine Erhebung in
+meinem Wesen war, so wurde der Schwung und die Erhebung durch die
+Tätigkeit noch klarer und fester.
+
+Einer meiner ersten Gänge war nach meiner Zurückkunft zu der Fürstin,
+um mich ihr vorzustellen.
+
+Sie war selber erst vor wenigen Tagen von ihrem Lieblingslandsitze
+in die Stadt zurückgekehrt und noch nicht recht heimisch. Sie
+empfing mich sehr freundlich wie immer und fragte mich um meine
+Beschäftigungen während des Sommers. Ich konnte ihr nicht viel sagen
+und erzählte ihr außer den Messungen, die ich am Lautersee vorgenommen
+hatte, von meinen Kunstbestrebungen, meiner Kunstneigung und meiner
+Liebe zu den Dichtungen. Von den besonderen Verhältnissen zu meinem
+Gastfreunde erwähnte ich nur das Allgemeine, weil ich es für anmaßend
+gehalten hätte, einer alten, würdigen Frau, deren Beziehungen
+ausgebreitet und inhaltsreich waren, unaufgefordert Einzelheiten von
+meinem Leben mitzuteilen. Sie ging auch nicht näher darauf ein, dafür
+verweilte sie desto eifriger bei der Kunst und bei den Dichtern. Sie
+fragte mich, was ich gelesen hätte, wie ich es aufgefaßt hätte und
+was ich darüber dächte. Sie zeigte sich hierbei mit allen den Werken
+bekannt, welche ich ihr nannte, nur hatte sie das Griechische, von
+dem ich ihr erzählte, bloß in der Übersetzung gelesen. Sie ging
+im Allgemeinen auf die Gegenstände ein und verweilte bei manchem
+Einzelnen ganz besonders. Unsere Ansichten trafen oft zusammen, oft
+gingen sie auch auseinander, und sie suchte ihre Meinung zu begründen,
+was mir zum mindesten immer manche neue Gesichtspunkte gab. In Bezug
+auf die Kunst verlangte sie, daß ich ihr einige Zeichnungen und
+Malereien zeigen möchte, deren Wahl ich selber vornehmen könne, wenn
+ich schon nicht alle vor ihre Augen bringen wollte.
+
+Ich sagte, daß alle wohl zu viel wären, namentlich, da ich in erster
+Zeit so viele bloß naturwissenschaftliche Zeichnungen gemacht
+habe, und daß ich selber die Grenze nicht angeben könne, wo die
+naturwissenschaftlichen Zeichnungen in die künstlerisch angelegten
+übergingen. Ich würde aus allen Zeitabschnitten etwas auswählen und es
+ihr bringen. Es wurde ein Tag bestimmt, an welchem ich zur Mittagszeit
+zu ihr kommen sollte.
+
+Ich kam an dem Tage, es war niemand als die Vorleserin zugegen, und es
+wurde der Befehl gegeben, niemanden vorzulassen; denn ihr allein hätte
+ich ja die Zeichnungen gebracht, nicht jedem fremden Auge, das dazu
+käme. Sie sah alle Blätter an und billigte alle, besonders erregten
+naturwissenschaftliche Pflanzenzeichnungen ihre Aufmerksamkeit,
+weil sie sich viel mit Pflanzenkunde beschäftigt hatte, noch jetzt
+Anteil an dieser Wissenschaft nahm und sie besonders bei ihren
+Landaufenthalten pflegte. Sie freute sich an der Genauigkeit der
+Abbildungen und sagte mir ganz richtig, welche den Urbildern am
+meisten entsprächen. Nach diesen Pflanzenzeichnungen sagten ihr am
+meisten die der Köpfe zu. An den landschaftlichen Versuchen mochte
+ihr die Einseitigkeit aufgefallen sein, da sie gewiß eine Kennerin
+landschaftlicher Bildungen war, weil sie sehr gerne im Sommer einige
+Wochen an irgend einer der schönsten Stellen unseres Landes verweilte.
+Sie äußerte sich aber in dieser Richtung nicht. Von den Köpfen sagte
+sie, daß man auf diese Weise eine ganze Sammlung merkwürdiger Menschen
+anlegen könnte. Ich erwiderte, darauf sei ich nicht ausgegangen, ich
+könnte auch nicht so leicht beurteilen, wer ein merkwürdiger Mensch
+sei. Es habe mir nur, da ich lange Zeit Gegenstände der Natur
+gezeichnet hatte, eingeleuchtet, daß das menschliche Antlitz der
+würdigste Gegenstand für Zeichnungen sei, und da habe ich die Versuche
+begonnen, es in solchen auszudrücken. Ich habe anfangs dabei unwissend
+fast immer die Richtung von Naturzeichnungen verfolgt, bis sich mir
+etwas Höheres zeigte, dessen Darstellung darüber hinausgeht, das
+uns erst die Züge und Mienen recht menschlich macht und dessen
+Vergegenwärtigung ich nun anstrebe, in Ungewißheit, ob es gelingen
+werde oder nicht.
+
+Sie fragte auch nach denjenigen von meinen wissenschaftlichen
+Bestrebungen, die ich im Zusammenhange aufgeschrieben habe, und
+ließ den Wunsch blicken, etwas Zusammengehöriges zu erfahren. Die
+Geschichte, wie unsere Erde entstanden sei und wie sie sich bis auf
+die heutigen Tage entwickelt habe, mußte den größten Anteil erwecken.
+Ich entgegnete, daß wir nicht so weit seien und daß ich am wenigsten
+zu denen gehöre, welche einen ergiebigen Stoff zu neuen Schlüssen
+geliefert haben, so sehr ich mich auch bestrebe, für mich, und wenn
+es angeht, auch für Andere so viel zu fördern, als mir nur immer
+möglich ist. Wenn sie davon und auch von dem, was Andere getan haben,
+Mitteilungen zu empfangen wünsche, ohne sich eben in die vorhandenen
+wissenschaftlichen Werke vertiefen und den Gegenstand als eigenen
+Zweck vornehmen zu wollen, so werde sich wohl Zeit und Gelegenheit
+finden. Sie zeigte sich zufrieden und entließ mich mit jener Güte und
+Anmut, die ihr so eigen war.
+
+Seit dieser Zeit verwandelte sich mein Verhältnis zu ihr in ein
+anderes. Da ich nun einmal unter Tags in ihrer Wohnung gewesen
+war, geschah dies öfter, entweder, wenn wir Werke oder Abbildungen
+anzuschauen hatten, wozu das Licht der abendlichen Lampen nicht
+ausreichend gewesen wäre, oder wenn sie mich zu Gesprächen einladen
+ließ, die dann gewöhnlich zwischen ihr, ihrer Gesellschafterin und
+mir vorfielen - selten geschah es, daß einer ihrer Söhne gelegentlich
+anwesend war oder eine Enkelin oder jemand von ihren näheren
+Anverwandten - und bei denen meistens die Geschichte der Erde oder
+etwas in die Naturlehre Einschlägiges der Gegenstand war. Öfter machte
+ich auch selber einen kurzen Besuch, um mich um den Zustand ihrer
+Gesundheit zu erkundigen. Auch die Abende kamen in Bezug auf mich in
+eine andere Gestalt. Da wir einmal von Dichtungen geredet hatten, mit
+denen ich mich in der letzten Zeit beschäftigte und da gerade diese
+Dichtungen aus einer vergangenen Zeit stammten, die nichts mit den
+Tageserzeugnissen gemein hatte, da die Fürstin sich in ihren jetzigen
+Jahren mit diesen Dingen nicht beschäftigte und die Zeit schon
+ziemlich weit hinter ihr lag, in der sie Kenntnis von solchen Werken
+genommen hatte, so wurde beschlossen, wieder das eine oder das andere
+vorzunehmen und es gemeinschaftlich zu genießen. Das geschah an
+Abenden, und ich mußte oft die Pflicht des Vorlesers übernehmen,
+besonders wenn die Gesellschaft nicht zahlreich war, was sich gerne an
+Abenden ereignete, in denen Dichtungen vorgenommen wurden. In diese
+Pflicht geriet ich bei Gelegenheit der Vornahme einiger spanischen
+Romanzen. Die Fürstin, die Gesellschafterin, ich und noch ein
+Mann, welcher zugegen war, verstanden schlecht spanisch; doch war
+beschlossen worden, die Romanzen in spanischer Sprache zu lesen. Das
+Vorlesen wurde mir aufgetragen, und wie schlecht oder gut es ging, wir
+verstanden doch mit eingemischten Erklärungen und mit gelegentlichen
+Gesprächen in unserer Muttersprache zuletzt die Romanzen. Nach diesem
+Vorgange mußte ich nun auch öfter in deutscher Sprache vorlesen, und
+es geschah nicht selten, daß ich um meine Meinung über Teile des
+Gelesenen befragt wurde und daß man eine Erklärung verlangte. Dies
+wurde um so mehr der Fall, als wir uns auch über Abteilungen aus
+Cervantes und Calderon wagten. In andern Sprachen, besonders im
+Italienischen des Dante und Tasso, las sehr gerne die Gesellschafterin
+der Fürstin. Das Alte aus dem Griechischen - es wurde nur die Ilias
+und Odysseus, dann einiges aus Äschylos vorgenommen - mußte ich ganz
+allein in deutscher Übersetzung vorlesen. Es wurde da auch sehr viel
+über das uralte gesellschaftliche Leben der Griechen, über ihre
+häuslichen Einrichtungen, über ihren Staat, ihre Kunst und über die
+Gestalt und Beschaffenheit ihres Landes und ihrer Meere gesprochen.
+Ich wurde zu diesen Beschäftigungen in diesem Winter weit öfter zu der
+Fürstin eingeladen, als es früher der Fall gewesen war. Der Frühling
+und die Zeit, in welcher man wieder den Landaufenthalt zu suchen
+pflegt, kam uns zu früh, wir verabredeten noch, was wir in dem
+nächsten Winter vorzunehmen gedächten, und die Fürstin beurlaubte mich
+mit vieler und sehr gewinnender Freundlichkeit.
+
+
+Die Beschäftigungen im Kreise unserer Familie bestanden jetzt in sehr
+häufigen Gesprächen zwischen dem Vater und mir über die Kunst und über
+Bücher. Er erzählte mir, wie er dazu gekommen wäre, Bilder lieb zu
+gewinnen und sich Bilder zu sammeln. Er kam hiebei auf seine Jugend,
+und da er in einer freudigeren und erregteren Stimmung war, als sonst,
+so erzählte er mir ausführlich, wie er dieselbe verlebt habe. Er
+stellte mir dar, wie er sich die Mittel, um etwas lernen zu können,
+selber habe verschaffen müssen, und wie ihm sein älterer Bruder, der
+ein sehr begabter Mensch gewesen wäre, hierin zwar ein wenig, aber in
+der Tat sehr wenig habe beistehen können, weil er sich selbst alles
+habe herbei schaffen müssen und nur um wenige Jahre älter gewesen sei.
+Nach Anweisung vernünftiger Menschen habe er zu lesen begonnen, und
+manchen freien Tag in seiner Lehrzeit habe er in seiner Kammer bei den
+Büchern zugebracht. Er habe, da er frei wurde und teils in unserer
+Stadt, teils in den ersten Handelsplätzen Europas Dienste tat, die
+Bekanntschaft von Künstlern gemacht, habe sie in ihren Arbeitsstuben
+besucht, habe über die Art zu malen sich Kenntnisse gesammelt und
+sei mit diesen Kenntnissen in die berühmtesten Bildersammlungen der
+größten Städte gegangen. Hiebei sei es ihm widerfahren, daß er zweimal
+im Lernen habe von vorne anfangen müssen. So sei es ihm in Rom, wohin
+er sich von Triest aus begeben hatte, um dort ein halbes Jahr für
+sich selber zu leben, klar geworden, daß er gar nichts wisse. Er habe
+wieder unverdrossen angefangen, und von Rom schreibe sich seine Liebe
+für alte Bilder her. Sein Bruder habe den Weg durch die Staatsschulen
+gemacht, und da er ihn sehr liebte, habe er von ihm auch die Liebe zu
+den alten Sprachen angenommen. In seinen Diensten habe er mehr freie
+Zeit gehabt als da er noch lernte, und diese Zeit habe er zu seinen
+Lieblingsneigungen angewendet. Mit einem alten Abte, der die
+Verwaltung seines Klosters abgegeben hatte und seine würdevolle Muße,
+wie er sich ausdrückte, im Winter in unserer Stadt genoß, habe er alte
+Dichter und Geschichtschreiber gelesen. Der Abt sei ein großer Freund
+der alten Schriften gewesen, habe bei ihm Neigung zu diesen Dingen
+entdeckt und sei ihm mit seinen Kenntnissen beigestanden. Er habe sehr
+oft im Zimmer des Abtes laut aus den sogenannten Classikern lesen
+müssen. Die Bekanntschaft desselben habe er bei seinem Dienstherrn
+in unserer Stadt gemacht, in dessen Hause dem Abte, der einst Lehrer
+dieses Dienstherrn gewesen sei, jährlich ein oder zwei Male ein Fest
+gegeben wurde. Der Dienstherr, der letzte, bei dem sich mein Vater
+befunden, sei ein Ehrenmann gewesen, der seinen Leuten nicht nur
+Gelegenheit verschafft habe, etwas lernen zu können, indem er sie zu
+den vorkommenden Reisen benützte, auf denen sie Geschäftsfreunde,
+Handelsverbindungen, Verkehrswege und dergleichen kennen lernten,
+sondern der ihnen auch Zeit gönnte, selber, wenn sie nicht die Mittel
+zu großen Geschäftsanlagen besaßen, mit kleinen Anfängen zu größeren
+Unternehmungen und zu endlicher Selbstständigkeit schreiten zu können.
+So habe auch der Vater mit kleinen Ersparnissen begonnen, habe sich
+ausgedehnt und sei endlich, da die Anfänge unter den Flügeln seines
+Herrn geschehen seien, mit dessen Unterstützung ein selbstständiger
+Kaufmann geworden. Was er zu Vergnügungen hätte verwenden können, habe
+er bei Seite gelegt und habe sich entweder ein Buch oder ein Kunstwerk
+gekauft oder habe eine Reise zu seiner Belehrung gemacht. Da sich
+seine Verbindungen mehrten und stets ergiebiger zu werden versprachen,
+habe er meine Mutter kennen gelernt und ihre Hand gewonnen. Sie habe
+eine nicht unbeträchtliche Mitgift in das Haus gebracht, und so sei
+gemeinschaftlich der Grund gelegt worden, daß wir Kinder nun nicht nur
+frei und unabhängig bei unsern Eltern in ihrem eigenen Hause leben
+können, sondern auch für die Zukunft einen Notpfennig zu erwarten
+hätten, und daß er selber sich mit Manchem habe umringen können, was
+ihm die sanfte Neigung seines Herzens geboten habe und was ihm als
+Erheiterung und nach der Liebe seiner Gattin und der Wohlgeratenheit
+seiner Kinder auch als Lohn seines Alters dienen werde. Der betagte
+Abt habe ihn als seinen letzten Schüler noch getraut und sei bald
+darauf gestorben. Mit der jungen Frau habe er dreimal seine alten
+Eltern, welche ferne in einem waldigen Lande von einer wenig
+ergiebigen Feldwirtschaft lebten, besucht, sie seien dann kurz darauf
+eins nach dem andern gestorben.
+
+Sein Dienstherr habe uns noch aus der Taufe gehoben, sei dann von den
+Geschäften zurück getreten, habe bei seinem einzigen Kinde, einer
+Tochter, die an einen angesehenen Güterbesitzer verheiratet war,
+gelebt und sei bei ihr auch endlich gestorben. So haben sich alle
+Verhältnisse geändert. Das heimatliche Waldhaus mit der geringen
+Feldwirtschaft haben er und sein Bruder einer Schwester geschenkt,
+diese sei ohne Kinder gestorben, und da weder er noch der Bruder das
+Haus bewirtschaften konnten, so haben sie eingewilligt, daß es an
+einen entfernten Verwandten falle. Der Bruder sei während unserer
+Unmündigkeit gestorben, eben so die Großeltern von mütterlicher Seite
+und endlich ein Großoheim von eben dieser Seite, der uns Kinder zu
+Erben eingesetzt, und da die Mutter keine Geschwister gehabt habe,
+so seien wir nun allein und so sei keine Verwandtschaft weder von
+väterlicher noch von mütterlicher Seite übrig. Er habe die Liebe,
+welche ihm durch den Tod seiner Angehörigen, denen er, besonders dem
+Bruder, eine treue Erinnerung weihe, anheimgefallen sei, an die Mutter
+und uns übertragen, sein Haus sei nun sein Alles, und wir zwei, die
+Schwester und ich, sollten verbunden bleiben und sollten in Neigung
+nicht von einander lassen, besonders wenn auch wir allein sein und er
+und die Mutter im Kirchhofe schlummern würden.
+
+Diese Ermahnung zur Liebe war nicht nötig; denn daß wir, die Schwester
+und ich, uns mehr lieben könnten, als wir taten, schien uns nicht
+möglich, nur die Eltern liebten wir beide noch mehr, und wenn eine
+Anspielung darauf gemacht wurde, daß sie uns einst verlassen sollten,
+so betrübte uns das außerordentlich, und wohin wir die Liebe, die uns
+dann zurückfallen sollte, wenden würden, wußten wir sehr wohl, wir
+würden sie an gar nichts wenden, sie würde von selber über die
+Grabhügel hinaus gegen die verstorbenen Eltern bis an unser Lebensende
+fortdauern.
+
+
+Die andern Vorkommnisse, die zwar auch in unserer Familie, aber nicht
+in ihr allein, sondern zugleich in Gesellschaft von geladenen Menschen
+vorfielen, waren mir nicht so angenehm als in früheren Zeiten, ja sie
+waren mir eher widerwärtig und dünkten mir Zeitverlust. Sie bestanden
+beinahe gleichmäßig wie in früheren Jahren aus abendlichen Kreisen, in
+denen gesprochen wurde, oder aus Gesellschaften, in denen etwas Musik
+oder gar Tanz vorkam. An dem letzteren nahm ich gar keinen Teil, und
+die Schwester, welche, wie ich schon seit länger wahrnahm, schier alle
+meine Neigungen teilte, tat es sehr wenig und flüchtete an solchen
+Abenden sehr gerne zu mir. Ich hatte die Leute, darunter aber
+vorzüglich die jungen, welche bei solchen Gelegenheiten zu uns kamen,
+schon genau kennen gelernt, und wenn ich in früherer Zeit eine Scheu,
+ja sogar eine gewisse Gattung von Ehrfurcht vor ihnen gehabt hatte,
+so war dies jetzt nicht mehr der Fall; ich hatte durch Nachdenken und
+durch Erfahrungen im Umgange mit andern Menschen einsehen gelernt, daß
+das, wovor ich besonders eine Scheu hatte, nehmlich ihre Sicherheit
+und Vornehmheit, nur ein Ding ist welches man lernt, wenn man sehr
+viel in solchen Gesellschaften ist, wie sie bei uns waren, und wenn
+man in diesen Gesellschaften viel spricht und in den Vordergrund
+tritt. Und daß dieses Ding nicht schwer zu erlernen ist, sah ich
+daraus, daß es solche inne hatten, deren Geisteskräfte hoch zu achten
+ich nicht veranlaßt war. Meine Erfahrungen an Menschen hatte ich aber
+nicht bloß in hohen Ständen gemacht, sondern auch in niedern, und
+in diesen zwar nicht in der Stadt, sondern bei Gebirgsbewohnern und
+Landbebauern. In hohen Ständen sah ich junge Leute, namentlich bei
+der Fürstin war das der Fall, welche jenes Benehmen, das mir sonst so
+hoch über mir schien, nicht hatten, sondern sich einfach und wenig
+vortretend gaben, höflich und nicht linkisch waren, und an das Wort,
+das ich öfter in meiner Jugend gehört, aber falsch verstanden hatte,
+»ein junger Mann von guter Erziehung« erinnerten. In den untern
+Ständen habe ich manchen Mann kennen gelernt, der, wenn er vor solchen
+stand, die er für höher erachtete als sich selbst, nicht die Mühe
+übernahm, auch höher in seinem Benehmen sein zu wollen, sondern
+der ruhig so sprach, wie er die Sache verstand, und ruhig die Rede
+anhörte, die ihm ein Anderer erwiderte. Dieser Mann schien mir auch
+von höherer Erziehung als die, welche viele Arten des Benehmens wissen
+und ersichtlich machen. Ein gültiges Beispiel gab mein Gastfreund, der
+noch einfacher war als jene Männer, von denen ich sagte, daß ich sie
+bei der Fürstin gesehen habe, und dessen Rede und Tun so klare Achtung
+erzeugten. Selbst sein Anzug, der Anfangs auffiel, stimmte zu Allem.
+Auch Eustach, Gustav aber ganz gewiß, standen im entschiedenen Vorzuge
+vor meinen Gesellschaftsleuten. Weil ich nun diese Menschen sehr gut
+kannte und weil sie mir keine hohe Rücksichtnahme mehr einflößten, war
+es mir unersprießlich, mit ihnen zu sein, und es erschien mir, daß ich
+die Zeit besser würde benützen können. Aber auch die Erfahrungen in
+dieser Hinsicht mochte mein Vater für nützlich gehalten haben. Ich
+machte sie nur an jungen Männern. Über Mädchen konnte ich ein Urteil
+gar nicht sagen, weil ich sehr wenig mit ihnen sprach und weil mich
+natürlich keine in meiner Zurückgezogenheit aufsuchen konnte. Wie
+älteren Leuten, Männern wie Frauen, kam mir oft jemand entgegen, dem
+ich Achtung zollen mußte; aber auch zu alten Leuten wie zu Mädchen
+konnte ich mich nicht drängen. Unter denen, welchen ich mehr zugetan
+war, stand der Sohn des Juwelenhändlers oben an, ich war ihm wirklich
+in der eigentlichen Bedeutung ein Freund. Wir brachten außer unseren
+Kleinodienlehrstunden manche Zeit mit einander zu, wir besprachen
+verschiedene Dinge und lasen auch mitunter kleine Abschnitte von
+Schriften mit einander, die wir gemeinschaftlich achteten. Seine
+Eltern waren sehr liebenswürdig und fein. Der junge Preborn war mir
+auch nicht unangenehm. Er sprach noch öfter von der schönen Tarona
+und bedauerte sehr, daß sie auf weite Reisen gegangen und daher gar
+nicht in die Stadt gekommen sei, weswegen er mir sie nie habe zeigen
+können. An den eigentlichen Vergnügungen, die junge Männer unter sich
+anstellten, nahm ich nur ungemein selten Teil. Daß ich aber auch
+überhaupt viel weniger mit Männern meines Alters umging und nicht, wie
+es bei vielen jungen Leuten in unserer Stadt der Gebrauch ist, Tage
+mit ihnen zubrachte und dies öfter wiederholte, rührte daher, daß ich
+viele Beschäftigungen hatte und daß mir daher zu wenig Zeit übrig
+blieb, sie auf Anderes zu verwenden. Am liebsten war es mir, wenn ich
+mit meinen Angehörigen allein war.
+
+
+Ich ging nach dem Winter ziemlich spät im Frühlinge auf das Land. So
+erfreulich der letzte Sommer für mich gewesen war, so sehr er mein
+Herz gehoben hatte, so war doch etwas Unliebes in dem Grunde meines
+Innern zurück geblieben, was nichts anders schien als das Bewußtsein,
+daß ich in meinem Berufe nicht weiter gearbeitet habe und einer
+planlosen Beschäftigung anheim gegeben gewesen sei. Ich wollte das
+nun einbringen und den größten Teil des Sommers einer festen und
+angestrengten Tätigkeit weihen. Ich nahm alle Geräte und Werke mit,
+welche ich zur Fortsetzung meiner Arbeiten brauchte. Freie Stunden,
+die nach genauer Zeiteinteilung übrig blieben, wollte ich dann meinen
+Lieblingsdingen widmen.
+
+Ich kam in das Ahornwirtshaus und bestellte mir da hin auch die Leute,
+die ich verwenden wollte, wenn sie sich nehmlich bereit erklärten, mir
+in entferntere Teile der Gebirge zu folgen, wohin mich heuer meine
+Arbeiten führen würden. Der alte Kaspar wollte mitgehen, zwei andere
+auch, und so hatte ich genug. Ich erkundigte mich nach meinem
+Zitherspiellehrer, er war fort und so gut wie verschollen. Kein Mensch
+wußte etwas von ihm. Ich ging in das Rothmoor, um nachzusehen, wie
+weit die Marmorarbeiten gediehen waren. Sie wurden heuer fertig, und
+ich konnte sie im Herbste nach Hause bringen lassen. Da das geschehen
+war, verließ ich für diesen Sommer das Ahornwirtshaus, in welchem ich
+nun so lange gewohnt hatte, um mich in die Bergabteilung zu begeben,
+die ich durchforschen wollte. Ich ging mit einem wehmütigen Gefühle
+von dem Hause fort.
+
+An einer Stelle, wo das Gebirge weit verzweigt und wild verflochten,
+aber deßohngeachtet bei Weitem nicht so schön war wie das, welches
+ich verlassen hatte, setzte ich mich wie in einem Mittelpunkte meiner
+Bestrebungen fest. Ich vermißte das heitere, fensterschimmernde
+Ahornhaus, ich vermißte das ganze Tal, in dem ich beinahe heimisch
+geworden war. In einem Hause, das an der Öffnung dreier Täler lag
+und mir daher den geeignetsten Platz abgab, mietete ich mich ein.
+Schwarzer Tannenwald sah auf meine Fenster, schritt an den Bächen,
+welche aus den drei Tälern kamen, neben feuchten Wiesen und andern
+offenen Stellen in die Talgründe hinein und zog sich auf die Berge.
+Die höheren Kuppen oder gar die Schneeberge konnte man wegen der
+Enge des Tales über den finstern Tannen nicht sehen. Das mochte auch
+die Ursache sein, daß das Haus und die mehreren in den Waldlehnen
+zerstreuten und an den Bächen hingehenden Hütten die Tann hießen.
+Mauern, mit grünem Moose bewachsen, bildeten mein Haus und grenzten
+an ein zerfallenes Gärtchen, in welchem wenig mehr als Schnittlauch
+wuchs. Auf der Gasse war der Boden schwarz, und dieselbe Schwärze zog
+sich in das Gras hinein; denn das Einzige, welches häufig an diesem
+Wirtshause ankam und da hielt, damit sich Menschen und Tiere
+erquickten, waren Kohlenfuhren. In dem ganzen, bei näherer
+Besichtigung sich als ungeheuer zeigenden Waldgebiete waren die
+Kohlenbrennereien zerstreut, und ganze Züge von den schwarzen
+Fuhrwerken und den schwarzen Fuhrmännern zogen die düstere Straße
+hinaus, um die Kohlen gegen die Ebenen zu bringen, von wo sie sogar
+bis in unsere Stadt befördert wurden. Nur ein einziges Zimmer mit
+kleinen Fenstern und eisernen Kreuzen daran konnte ich haben. In
+demselben war ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett und eine bemalte Truhe,
+in die ich Kleider und andere Dinge legen konnte. Für meine größeren
+Kisten wurde mir ein Verschlag in einem Schuppen eingeräumt. Kaspar
+und die andern schliefen, wenn wir uns in dem Hause befanden, in der
+Scheuer im Heu. Ich ließ mein Gepäcke größtenteils in meinen Koffern,
+hing nur das Nötige an Nägel, die in dem Zimmer waren, legte meine
+Schreibgeräte, meine wissenschaftlichen Bücher und meine Dichter auf
+den Tisch, füllte das Bettgestelle mit meinen von Hause mitgebrachten
+Bettstücken, stellte meine Bergstöcke in eine Ecke und war
+eingerichtet. Die Sonne, welche am späten Vormittage bei einem Fenster
+meines Zimmers hereinkam, streifte am Nachmittage das andere, um bald
+die Spitzen der Tannen zu vergolden und zu verschwinden. Ich war in
+manchen ähnlichen Herbergen schon gewesen, war daran gewöhnt, fügte
+mich und wurde mit dem Wirte, der Wirtin und einer rührigen Tochter,
+einfachen, gutmütigen Leuten, die einen kleinen Gedankenkreis hatten,
+bald bekannt. Sonst kam noch manches Mal ein Gebirgsjäger, ein
+seltener Wandersmann oder ein Hausierer in das Tannwirtshaus. Die
+größte Zahl der Gäste bestand außer den Kohlenführern in Holzknechten,
+welche in den großen Wäldern zerstreut waren und welche gerne an
+Samstagen oder an Tagen vor großen Festen heraus kamen, um zu den
+Ihrigen zu gehen. Da verweilten sie denn nun nicht selten gerne
+ein wenig in dem Tannwirtshause, um sich ein Gutes zu tun. Die
+Hauptbeschäftigung aller Bewohner der Tann war die Holzarbeit und ihr
+Hauptreichtum waren Kühe und Ziegen, welche täglich in die Wälder
+gingen und von welchen die jüngeren den ganzen Sommer hindurch auf der
+Höhe der Waldungen und der Holzschläge blieben.
+
+Von diesem Hause aus fingen wir nun an, unsere Beschäftigungen zu
+betreiben. Durch die langen und weithingestreckten Waldungen ging
+unser Hammer, und die Leute trugen die Zeugen der verschiedenen
+Bodenbeschaffenheiten, auf denen die ausgedehnten Waldbestände
+wuchsen, in der Gestalt der mannigfaltigen Gesteine in die Tann. Wenn
+auch von unserem Gasthause aus die Felsenberge oder gar das Eis nicht
+zu erblicken waren, so waren sie darum nicht weniger vorhanden. Weil
+hier Alles großartiger war.
+
+Da wir uns tiefer im Gebirge und näher seinem Urstocke befanden, so
+dehnten sich auch die Wälder in mächtigeren Anschwellungen aus, und
+wenn man durch eine Reihe von Stunden in dem dunkeln Schatten der
+feuchten Tannen und Fichten gegangen war, so wurden endlich ihre
+Reihen lichter, ihr Bestand minderte sich, erstorbene Stämme oder
+solche, die durch Unfälle zerstört worden waren, wurden häufiger, das
+trockene Gestein mehrte sich, und wenn nun freie Plätze mit kurzem
+Grase oder Sandgrieß oder Knieholz folgten, so sah man dämmerige
+Wände in riesigen Abmessungen vor den Augen stehen, und blitzende
+Schneefelder waren in ihnen, oder zwischen auseinanderschreitenden
+Felsen schaute ein ganz in Weiß gehüllter Berg hervor. Die Gesteinwelt
+folgte nun in noch größeren Ausdehnungen auf die Waldwelt. Uns führte
+unsere Absicht oft aus der Umschließung der Wälder in das Freie
+der Berge hinaus. Wenn die Bestandteile eines ganzen Gesteinzuges
+ergründet waren, wenn alle Wässer, die der Gesteinzug in die Täler
+sendet, untersucht waren, um jedes Geschiebe, das der Bach führt, zu
+betrachten und zu verzeichnen, wenn nun nichts Neues nach mehrfacher
+und genauer Untersuchung sich mehr ergab, so wurde versucht, sich des
+Zuges selbst zu bemächtigen und seine Glieder, so weit es die Macht
+und Gewalt der Natur zuließ, zu begehen. In die wildesten und
+abgelegensten Gründe führte uns so unser Plan, auf die schroffsten
+Grate kamen wir, wo ein scheuer Geier oder irgend ein unbekanntes
+Ding vor uns aufflog und ein einsamer Holzarm hervor wuchs, den in
+Jahrhunderten kein menschliches Auge gesehen hatte; auf lichte Höhen
+gelangten wir, welche die ungeheure Wucht der Wälder, in denen unser
+Wirtshaus lag, und die angebauteren Gefilde draußen, in denen die
+Menschen wohnten, wie ein kleines Bild zu unsern Füßen legten. Meine
+Leute wurden immer eifriger. Wie überhaupt der Mensch einen Trieb hat,
+die Natur zu besiegen und sich zu ihrem Herrn zu machen, was schon die
+Kinder durch kleines Bauen und Zusammenfügen, noch mehr aber durch
+Zerstören zeigen und was die Erwachsenen dadurch dartun, daß sie die
+Erde nicht nur zur nahrungsprossenden machen, wie der Dichter des
+Achilleus so oft sagt, sondern sie auch vielfach zu ihrem Vergnügen
+umgestalten, so sucht auch der Bergbewohner seine Berge, die er lieb
+hat, zu zähmen, er sucht sie zu besteigen, zu überwinden und sucht
+selbst dort hinan zu klettern, wohin ihn ein weiterer, wichtigerer
+Zweck gar nicht treibt. Die Erzählung solcher bestandener Züge bildet
+einen Teil der Würze des Lebens der Bergbewohner. Meine Leute waren
+in einer gesteigerten Freude und Empfindung, wenn wir mit dem Hammer
+und Meißel teils Stufen in die glatten Wände schlugen, teils Löcher
+machten, unsere vorrätigen Eisen eintrieben, auf solche Weise Leitern
+verfertigten und auf einen Standort gelangten, auf den zu gelangen
+eine Unmöglichkeit schien.
+
+Wir kamen oft eine Reihe von Tagen nicht in unser Tannwirtshaus hinab.
+
+Ich suchte auch gerne auf die Gipfel hoher Berge zu gelangen, wenn
+mich selbst eben meine Beschäftigung nicht dahin führte. Ich stand auf
+dem Felsen, der das Eis und den Schnee überragte, an dessen Fuß sich
+der Firnschrund befand, den man hatte überspringen müssen oder zu
+dessen Überwindung wir nicht selten Leitern verfertigten und über das
+Eis trugen, ich stand auf der zuweilen ganz kleinen Fläche des letzten
+Steines, oberhalb dessen keiner mehr war, und sah auf das Gewimmel der
+Berge um mich und unter mir, die entweder noch höher mit den weißen
+Hörnern in den Himmel ragten und mich besiegten oder die meinen Stand
+in anderen Luftebenen fortsetzten oder die einschrumpften und hinab
+sanken und kleine Zeichnungen zeigten, ich sah die Täler wie rauchige
+Falten durch die Gebilde ziehen und manchen See wie ein kleines
+Täfelchen unten stehen, ich sah die Länder wie eine schwache Mappe vor
+mir liegen, ich sah in die Gegend, wo gleichsam wie in einen staubigen
+Nebel getaucht die Stadt sein mußte, in der alle lebten, die mir
+teuer waren, Vater, Mutter und Schwester, ich sah nach den Höhen, die
+von hier aus wie blauliche Lämmerwolken erschienen, auf denen das
+Asperhaus sein mußte und der Sternenhof, wo mein lieber Gastfreund
+hauste, wo die gute, klare Mathilde wohnte, wo Eustach war, wo der
+fröhliche, feurige Gustav sich befand und wo Nataliens Augen blickten.
+
+Alles schwieg unter mir, als wäre die Welt ausgestorben, als wäre das,
+daß sich Alles von Leben rege und rühre, ein Traum gewesen. Nicht
+einmal ein Rauch war auf die Höhe hinauf zu sehen, und da wir zu
+solchen Besteigungen stets schöne Tage wählten, so war auch meistens
+der Himmel heiter und in der dunkelblauen Finsternis hin eine
+endlosere Wüste, als er in der Tiefe und in den mit kleinen
+Gegenständen angefüllten Ländern erscheint. Wenn wir hinab stiegen,
+wenn Kaspar hinter uns die Eisen aus den Steinen zog und in den Sack
+tat, den er an einem Stricke um die Schultern hängen hatte, wenn wir
+nun die Leiter über den Firnschrund zurückzogen oder im Falle, daß
+wir keine Leiter gebraucht hatten, über den Spalt gesprungen waren,
+so zeigte sich in dem Ernste von Kaspars harten Zügen oder in
+den Angesichtern der Andern, die uns begleiteten, eine gewisse
+Veränderung, so daß ich schloß, daß der Stand, auf dem wir gestanden
+waren, einen Eindruck auf sie gemacht haben mußte.
+
+Die Stunden oder Tage, die ich mir von meiner Arbeit abdingen konnte,
+weil ich Ruhe brauchte oder das Wetter mich hinderte, wendete ich zur
+Entwerfung leichter Landschaftsgebilde an, und die Tiefe der Nacht
+wurde, ehe sich die Augen schlossen, durch die großen Worte eines, der
+schon längst gestorben war und der sie uns in einem Buche hinterlassen
+hatte, erhellt, und wenn die Kerze ausgelöscht war, wurden die Worte
+in jenes Reich mit hinüber genommen, das uns so rätselhaft ist und das
+einen Zustand vorbildet, der uns noch unergründlicher erscheint.
+
+Wie in der jüngstvergangenen Zeit konnte ich auch jetzt nicht mehr mit
+der bloßen Sammlung des Stoffes meiner Wissenschaft mich begnügen,
+ich konnte nicht mehr das Vorgefundene bloß einzeichnen, daß ein Bild
+entstehe, wie Alles über einander und neben einander gelagert ist -
+ich tat dieses zwar jetzt auch sehr genau -, sondern ich mußte mich
+stets um die Ursache fragen, warum etwas sei, um die Art, wie es
+seinen Anfang genommen habe. Ich baute in diesen Gedanken fort und
+schrieb, was durch meine Seele ging, auf. Vielleicht wird einmal in
+irgend einer Zukunft etwas daraus.
+
+
+Zur Zeit der Rosenblüte machte ich einen Abschnitt in meinem Beginnen,
+ich wollte mir eine Unterbrechung gönnen und den Asperhof besuchen.
+
+Ich lohnte meine Leute ab, gab ihnen das Versprechen, daß ich sie in
+Zukunft wieder verwenden werde, legte zu ihrem Lohne noch ein kleines
+Heimreisegeld und entließ sie. In dem Tannhause verpackte ich Alles
+wohl, was mein Eigentum war, berichtigte das, was ich schuldig
+geworden, sagte, daß ich wiederkommen werde, daß man mir das
+Dagelassene unterdessen gut bewahren möge und fuhr in einem
+einspännigen Gebirgswäglein durch den tiefen Weg, der von dem
+rauschenden Bache des Tannwirtshauses waldaufwärts führt, davon. Als
+ich die Heerstraße erreicht hatte, sendete ich meinen Fuhrmann zurück
+und wählte für die weitere Fahrt einen Platz im Postwagen. Die Strecke
+von der letzten Post zu meinem Freunde legte ich zu Fuße zurück. Für
+Nachsendung meines Gepäckes trug ich Sorge.
+
+Ich war später gekommen, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. In der
+tiefen Abgeschiedenheit und in der hohen kühlen Lage der Tann hatte
+ich mich über das, was draußen geschah, getäuscht. In dem freieren
+Lande war ein warmer Frühling und ein sehr warmer Frühsommer gewesen,
+was ich in den Bergen nicht so genau hatte ermessen können. Darum
+blühten schon die Rosen mit freudiger Fülle in allen Gärten, an denen
+ich vorüber kam. In schöner Vollkommenheit schauten die untadeligen
+Laubkronen meines Gastfreundes über das dunkle Dach des Hauses und
+standen an den beiden Flügeln des Gartengitters, als ich den Hügel
+hinan stieg. Die Fenstervorhänge, welche teils ein wenig geöffnet,
+teils der Hitze willen geschlossen waren, luden mich gastlich ein, und
+der Schmelz des Gesanges der Vögel und mancher lautere vereinzelte Ruf
+grüßte mich wie einen, der hier schon lange bekannt ist.
+
+Da ich die Einrichtung des Gittertores kannte, drückte ich an der
+Vorrichtung, der Flügel öffnete sich und ich trat in den Garten.
+
+Mein Gastfreund war bei den Bienen. Ich erfuhr das von dem Gärtner,
+welcher der erste war, den ich zu sehen bekam. Er ordnete etwas an
+einem Geranienbeete in der Nähe des Einganges. Ich schlug den Weg zu
+den Bienen ein. Mein Gastfreund stand vor der Hütte und erwartete das
+Erscheinen einer jungen Familie, die schwärmen wollte. Er sagte mir
+dieses, als ich hinzutrat, ihn zu begrüßen. Der Empfang war beinahe
+bewegt, wie zwischen einem Vater und einem Sohne, so sehr war meine
+Liebe zu ihm schon gewachsen, und eben so mochte auch er schon eine
+Zuneigung zu mir gewonnen haben.
+
+Da er doch wohl von seinem Vorhaben nicht weggehen konnte, sagte ich,
+ich wolle die andern auch begrüßen, und er billigte es. Er hatte mir
+erzählt, daß Mathilde und Natalie in dem Asperhofe seien.
+
+Ich ging gegen das Haus. Gustav hatte es schon erfahren, daß ich da
+sei, er flog die Treppe herunter und auf mich zu. Gruß, Gegengruß,
+Fragen, Antworten, Vorwürfe, daß ich so spät gekommen sei und daß
+ich in dem Frühlinge doch nicht einige Tage benützt habe, um in den
+Asperhof zu gehen. Er sagte, daß er mir sehr viel zu erzählen habe,
+daß er mir alles erzählen wolle und daß ich recht lange, lange da
+bleiben müsse.
+
+Er führte mich nun zu seiner Mutter. Diese saß an einem Tische im
+Gebüsche und las. Sie stand auf, da sie mich nahen sah, und ging mir
+entgegen. Sie reichte mir die Hand, die ich, wie es in unserer Stadt
+Sitte war, küssen wollte. Sie ließ es nicht zu. Ich hatte wohl schon
+früher bemerkt, daß sie nicht zugab, daß ihr die Hand geküßt werde;
+aber ich hatte in dem Augenblicke nicht daran gedacht. Sie sagte, daß
+ich ihr sehr willkommen sei, daß sie mich schon früher erwartet habe
+und daß ich nun eine nicht zu kurze Zeit meinen hiesigen Freunden
+schenken müsse. Wir gingen unter diesen Worten wieder zu dem Tische
+zurück, auf den sie ihr Buch gelegt hatte, und sie hieß mich an ihm
+Platz nehmen. Ich setzte mich auf einen der dastehenden Stühle. Gustav
+blieb neben uns stehen. Ihr Angesicht war so heiter und freundlich,
+daß ich meinte, es nie so gesehen zu haben. Oder es war wohl immer so,
+nur in meiner Erinnerung war es ein wenig zurück getreten. Wirklich,
+so oft ich Mathilden nach längerer Trennung sah, erschien sie mir,
+obwohl sie eine alternde Frau war, immer lieblicher und immer
+anmutiger. Zwischen den Fältchen des Alters und auf den Zügen, welche
+auf eine Reihe von Jahren wiesen, wohnte eine Schönheit, welche rührte
+und Zutrauen erweckte. Und mehr als diese Schönheit war es, wie ich
+wohl jetzt erkannte, da ich so viele Angesichter so genau betrachtet
+hatte, um sie nachzubilden, die Seele, welche gütig und abgeschlossen
+sich darstellte und auf die Menschen, die ihr naheten, wirkte. Um die
+reine Stirne zog sich das Weiß der Haubenkrause, und ähnliche weiße
+Streifen waren um die feinen Hände.
+
+Auf dem Tische stand ein Blumentopf mit einer dunkeln, fast
+veilchenblauen Rose. Sie lehnte sich in dem Rohrstuhle, auf dem sie
+saß, zurück, faltete die Hände auf ihrem Schooße und sagte: »Wir
+werden in dem Sternenhofe ein kleines Fest feiern. Ihr wißt, daß wir
+begonnen haben, die Tünche, womit die großen Steinflächen, die die
+Mauern unsers Hauses bekleiden, in früheren Jahren überstrichen worden
+sind, wegzunehmen, weil unser Freund meinte, daß dieselbe das Haus
+entstelle und daß es sich weit schöner zeigen würde, wenn sie
+weggenommen und der bloße Stein sichtbar wäre. Heuer ist nun die ganze
+vordere Fläche des Hauses fertig geworden, die Gerüste werden eben
+abgebrochen, und da werden, wenn die Spuren auch auf dem Boden vor
+dem Hause vertilgt sind, wenn der Sand geebnet ist, wenn der Rasen
+gereinigt und gewaschen ist, daß er keine Kalkflecke, sondern das
+reine Grün zeigt, wir alle hinausfahren, um die Sache zu betrachten
+und ein Urteil abzugeben, ob das Haus den Gewinn gemacht habe, der
+sich uns versprochen hat.
+
+Es werden auch andere Menschen kommen, es werden wahrscheinlich sich
+einige Nachbarn einfinden, und da ihr zu unsern Freunden aus dem
+Asperhofe gehört, und da wir alle euer Urteil in Anschlag bringen
+möchten, so seid ihr gebeten, auch dabei zu sein und die Gesellschaft
+zu vermehren.«
+
+»Mein Urteil ist wohl sehr geringe«, antwortete ich, »und wenn es
+nicht ganz verwerflich ist, und wenn ich mir einige Kenntnisse und
+eine bestimmte Empfindung des Schönen erworben habe, so danke ich
+Alles dem Besitzer dieses Hauses, der mich so gütig aufgenommen und
+Manches in mir hervor gezogen hat, das wohl sonst nie zu irgend einer
+Bedeutung gekommen wäre. Ich werde also kaum zur Feststellung der
+Sache auf dem Sternenhofe etwas beitragen können, und meine Ansicht
+wird gewiß die meines Gastfreundes und Eustachs sein; aber da ihr mich
+so freundlich einladet und da es mir eine Freude macht, in eurem Hause
+sein zu können, so nehme ich die Einladung gerne an, vorausgesetzt,
+daß die Zeit nicht zu spät bestimmt ist, da ich doch wohl noch in
+diesem Sommer in den Ort meiner jetzigen Tätigkeit zurückkehren und
+Einiges vor mich bringen möchte.«
+
+»Die Zeit ist sehr nahe«, erwiderte sie, »es ist ohnehin schon seit
+länger her gebräuchlich, daß nach der Rosenblüte, zu welcher ich immer
+in diesem Hause eingeladen bin, unsere hiesigen Freunde auf eine Weile
+in den Sternenhof hinüber fahren. Das wird auch heuer so sein.
+
+Während hier die feinen Blätter dieser Blumen sich vollkommen
+entwickeln und endlich welken und abfallen, wird unser Hausverwalter
+in dem Sternenhofe Alles in Ordnung bringen, daß keine Verwirrung mehr
+zu sehr sichtbar ist, er wird uns hierüber einen Brief schreiben und
+wir werden den Tag der Zusammenkunft bestimmen. Von dem Urteile, wenn
+irgend eines mit einem überwiegenden Gewichte zu Stande kömmt, wird
+es abhängen, ob auch die Kosten zu der Reinigung der andern Teile des
+Hauses verwendet werden oder ob der jetzige Zustand, daß eine Seite
+von der Tünche befreit ist, die übrigen aber damit behaftet sind, der
+gewiß weniger schön ist, als wenn Alles übertüncht geblieben wäre,
+fortbestehen oder ob gar das Befreite wieder übertüncht werden solle.
+Daß ihr übrigens eure Ansichten geringe achtet, daran tut ihr Unrecht.
+Wenn in der Nähe unsers Freundes Einiges an euch früher zur Blüte kam,
+so ist dies wohl sehr natürlich; es ist ja Alles an uns Menschen so,
+daß es wieder von andern Menschen groß gezogen wird, und es ist das
+glückliche Vorrecht bedeutender Menschen, daß sie in andern auch das
+Bedeutende, das wohl sonst später zum Vorscheine gekommen wäre, früher
+entwickeln. Wie sicher in euch die Anlage zu dem Höheren und Größeren
+vorhanden war, zeigt schon die Wahl, mit der ihr aus eigenem Antriebe
+auf eine wissenschaftliche Beschäftigung gekommen seid, die sonst
+unsere jungen Leute in den Jahren, in denen ihr euch entschieden habt,
+nicht zu ergreifen pflegen, und daß euer Herz dem Schönen zugewendet
+war, geht daraus hervor, daß ihr schon bald begannet, die Gegenstände
+eurer Wissenschaft abzubilden, worauf der, dem der bildende Sinn
+mangelt, nicht so leicht verfällt, er macht sich eher schriftliche
+Verzeichnisse, und endlich habt ihr ja in Kurzem die Abbildung anderer
+Dinge, menschlicher Köpfe, Landschaften, versucht und habt euch auf
+die Dichter gewendet. Daß es aber auch nicht ein unglücklicher Tag
+war, an welchem ihr über diesen Hügel herauf ginget, zeigt sich in
+einer Tatsache: ihr liebt den Besitzer dieses Hauses, und einen
+Menschen lieben können ist für den, der das Gefühl hat, ein großer
+Gewinn.«
+
+Gustav hatte während dieser Rede die Mutter stets freundlich
+angesehen.
+
+Ich aber sagte: »Er ist ein ungewöhnlicher, ein ganz außerordentlicher
+Mensch.«
+
+Sie erwiderte auf diese Worte nichts, sondern schwieg eine Weile.
+Später fing sie wieder an: »Ich habe mir diese Rosenpflanze auf den
+Tisch gestellt, gewissermaßen als die Gesellschafterin meines Lesens -
+gefällt euch die Blume?«
+
+»Sie gefällt mir sehr«, antwortete ich, »wie mir überhaupt alle Rosen
+gefallen, die in diesem Hause gezogen werden.«
+
+»Sie ist eine neue Art«, sagte sie, »ich habe aus England einen Brief
+bekommen, in welchem eine Freundin mit Auszeichnung von einer Rose
+sprach, die sie in Kew gesehen habe und deren Namen sie hinzu fügte.
+Da ich in dem Verzeichnisse unserer Rosen den Namen nicht fand, dachte
+ich, daß dies eine Art sein dürfte, welche unser Freund nicht hat.
+Ich schrieb an die Freundin, ob sie mir eine solche Rosenpflanze
+verschaffen könne. Mit Hilfe eines Mannes, der uns beide kennt,
+erhielt sie die Pflanze, und in diesem Frühlinge wurde sie mir in
+einem Topfe, sehr wohl und sinnreich verpackt, aus England geschickt.
+Ich pflegte sie, und da die Blumen sich entwickeln wollten, brachte
+ich sie unserm Freunde. Die Rosen öffneten sich hier vollends, und
+wir sahen - besonders er, der alle Merkmale genau kennt -, daß diese
+Blume sich in der Sammlung dieses Hauses noch nicht befindet. Eustach
+bildete sie ab, daß wir sie festhalten und ob die, welche in Zukunft
+kommen werden, ihr gleichen. Mein Freund schrieb nach England um
+Pfropfreiser für den nächsten Frühling, diese Pflanze bleibt indessen
+in dem Topfe und wird hier besorgt werden.«
+
+Während sie so sprach, regten sich die Zweige neben einem schmalen
+Pfade, der aus dem Gebüsche auf den Platz führte, und Natalie trat auf
+dem Pfade hervor. Sie war erhitzt und trug einen Strauß von Feldblumen
+in der Hand. Sie mußte nicht gewußt haben, daß ein Fremder bei der
+Mutter sei; denn sie erschrak sehr, und mir schien, als ginge durch
+das Rot des erwärmten Angesichtes eine Blässe, die wieder mit einem
+noch stärkeren Rot wechselte. Ich war ebenfalls beinahe erschrocken
+und stand auf.
+
+Sie war an der Ecke des Gebüsches stehen geblieben, und ich sagte die
+Worte: »Mich freut es sehr, mein Fräulein, euch so wohl zu sehen.«
+
+»Mich freut es auch, daß ihr wohl seid«, erwiderte sie.
+
+»Mein Kind, du bist sehr erhitzt«, sagte die Mutter, »du mußt weit
+gewesen sein, es kömmt schon die Mittagsstunde, und in derselben
+solltest du nicht so weit gehen. Setze dich ein wenig auf einen dieser
+Sessel, aber setze dich in die Sonne, damit du nicht zu schnell
+abkühlest.«
+
+Natalie blieb noch ein ganz kleines Weilchen stehen, dann rückte sie
+folgsam einen von den herumstehenden Sesseln so, daß er ganz von der
+Sonne beschienen wurde, und setzte sich auf ihn. Sie hatte den runden
+Hut mit dem nicht gar großen Schirme, wie ihn Mathilde und sie
+sehr gerne auf Spaziergängen in der Nähe des Rosenhauses und des
+Sternenhofes trugen, als sie aus dem Gebüsche getreten war, in der
+Hand gehabt, jetzt, da die Sonne auf ihren Scheitel schien, setzte sie
+ihn auf. Sie legte den Strauß von Feldblumen, den sie gebracht hatte,
+auf den Tisch und fing an, die einzelnen Gewächse heraus zu suchen und
+gleichsam zu einem neuen Strauße zu ordnen.
+
+»Wo bist du denn gewesen?« fragte die Mutter.
+
+»Ich bin zu mehreren Rosenstellen in dem Garten gegangen«, antwortete
+Natalie, »ich bin zwischen den Gebüschen neben den Zwergobstbäumen und
+unter den großen Bäumen, dann zu dem Kirschbaume empor und von da in
+das Freie hinaus gegangen. Dort standen die Saaten und es blühten
+Blumen zwischen den Halmen und in dem Grase. Ich ging auf dem schmalen
+Wege zwischen den Getreiden fort, ich kam zur Felderrast, saß dort ein
+wenig, ging dann auf dem Getreidehügel auf mehreren Rainen ohne Weg
+zwischen den Feldern herum, pflückte diese Blumen und ging dann wieder
+in den Garten zurück.«
+
+»Und hast du dich denn lange auf dem Berge aufgehalten, und hast du
+alle Zeit zu dem Aufsuchen und Pflücken dieser Blumen verwendet?«
+fragte Mathilde.
+
+»Ich weiß nicht, wie lange ich mich auf dem Berge aufgehalten habe;
+aber ich meine, es wird nicht lange gewesen sein«, antwortete Natalie,
+»ich habe nicht bloß diese Blumen gepflückt, sondern auch auf die
+Gebirge geschaut, ich habe auf den Himmel gesehen und auf die Gegend,
+auf diesen Garten und auf dieses Haus geblickt.«
+
+»Mein Kind«, sagte Mathilde, »es ist kein Übel, wenn du in den
+Umgebungen dieses Hauses herum gehst; aber es ist nicht gut, wenn du
+in der heißen Sonne, die gegen Mittag zwar nicht am heißesten ist,
+aber immerhin schon heiß genug, auf dem Hügel herum gehst, welcher ihr
+ganz ausgesetzt ist, welcher keinen Baum - außer bei der Felderrast -
+und keinen Strauch hat, der Schatten bieten könnte. Und du weißt auch
+nicht, wie lange du in der Hitze verweilest, wenn du dich in das
+Herumsehen vertiefest oder wenn du Blumen pflückest und in dieser
+Beschäftigung die Zeit nicht beachtest.«
+
+»Ich habe mich in das Blumenpflücken nicht vertieft«, erwiderte
+Natalie, »ich habe die Blumen nur so gelegentlich gelesen, wie sie mir
+in meinem Dahingehen aufstießen. Die Sonne tut mir nicht so weh, liebe
+Mutter, wie du meinst, ich empfinde mich in ihr sehr wohl und sehr
+frei, ich werde nicht müde, und die Wärme des Körpers stärkt mich
+eher, als daß sie mich drückt.«
+
+»Du hast auch dein Hut an dem Arme getragen«, sagte die Mutter.
+
+»Ja, das habe ich getan«, antwortete Natalie, »aber du weißt, daß ich
+dichte Haare habe, auf dieselben legt sich die Sonnenwärme wohltätig,
+wohltätiger als wenn ich den Hut auf dem Haupte trage, der so heiß
+macht, und die freie Luft geht angenehm, wenn man das Haupt entblößt
+hat, an der Stirne und an den Haaren dahin.«
+
+Ich betrachtete Natalie, da sie so sprach. Ich erkannte erst jetzt,
+warum sie mir immer so merkwürdig gewesen ist, ich erkannte es, seit
+ich die geschnittenen Steine meines Vaters gesehen hatte. Mir erschien
+es, Natalie sehe einem der Angesichter ähnlich, welche ich auf
+den Steinen erblickt hatte, oder vielmehr in ihren Zügen war das
+Nehmliche, was in den Zügen auf den Angesichtern der geschnittenen
+Steine ist. Die Stirne, die Nase, der Mund, die Augen, die Wangen
+hatten genau etwas, was die Frauen dieser Steine hatten, das Freie,
+das Hohe, das Einfache, das Zarte und doch das Kräftige, welches auf
+einen vollständig gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen
+eigentümlichen Willen und eine eigentümliche Seele. Ich blickte auf
+Gustav, der noch immer neben dem Tische stand, ob ich auch an ihm
+etwas Ähnliches entdecken könnte. Er war noch nicht so entwickelt, daß
+sich an ihm schon das Wesen der Gestalt aussprechen konnte, die Züge
+waren noch zu rund und zu weich; aber es däuchte mir, daß er in
+wenigen Jahren so aussehen würde, wie die Jünglingsangesichter unter
+den Helmen auf den Steinen aussehen, und daß er dann Natalien noch
+mehr gleichen würde. Ich blickte auch Mathilden an; aber ihre Züge
+waren wieder in das Sanftere des Alters übergegangen; ich glaubte
+deßohngeachtet, vor nicht langer Zeit müßte auch sie ausgesehen haben,
+wie die älteren Frauen auf den Steinen aussehen. Natalie stammte also
+gleichsam aus einem Geschlechte, das vergangen war und das anders und
+selbständiger war als das jetzige. Ich sah lange auf die Gestalt,
+welche beim Sprechen bald die Augen zu uns aufschlug, bald sie wieder
+auf ihre Blumen nieder senkte. Daß ihr Haupt so antik erschien,
+wie der Vater mit einem altrömischen Beiworte von seinen Steinen
+sagte, mochte zum Teile auch daher kommen - wenigstens gewann ihre
+Erscheinung dadurch -, daß es mit einem richtig gebildeten Halse
+aus einem ganz einfachen, schmucklosen Kleide hervor sah. Keine
+überflüssige Zutat von Stoffen und keine Kette oder sonst ein Schmuck
+umgab den Hals - dieses macht nur die bloß anmutigen Angesichter noch
+anmutiger -, sondern das Kleid mit einer nicht auffallenden Farbe und
+mit einem nicht auffallenden Schnitte schloß den reinen Hals und ging
+an der übrigen Gestalt hernieder.
+
+Die Mutter sah Natalien freundlich an, da sie sprach, und sagte dann:
+»Der Jugend ist alles gut, der Jugend schlägt alles zum Gedeihen
+aus, sie wird wohl auch empfinden, was ihr not tut, wie das Alter
+empfindet, was es bedarf - Ruhe und Stille -, und unser Freund sagt ja
+auch, man soll der Natur ihr Wort reden lassen; darum magst du gehen,
+wie du fühlest, daß du es bedarfst, Natalie, du wirst kein Unrecht
+begehen, wie du es ja nie tust, du wirst keine Maßregel außer Acht
+lassen, die wir dir gesagt haben, und du wirst dich in deine Gedanken
+nicht so vertiefen, daß du deinen Körper vergäßest.«
+
+»Das werde ich nicht tun, Mutter«, entgegnete Natalie, »aber lasse
+mich gehen, es ist ein Wunsch in mir, so zu verfahren. Ich werde ihn
+mäßigen, wie ich kann; ich tue es um deinetwillen, Mutter, daß du dich
+nicht beunruhigest. Ich möchte auf dem Felderhügel herum gehen, dann
+auch in dem Tale und in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen
+und Alles darin beschauen und betrachten. Und die Ruhe schließt dann
+so schön das Gemüt und den Willen ab.«
+
+Daß Natalie doch durch das Wandeln in der heißen Sonne unmittelbar
+vor der Mittagszeit sich erhitzt habe, zeigte ihr Angesicht. Dasselbe
+behielt die Röte, welche es nach dem ersten Erblassen erhalten hatte,
+und verlor sie nur in geringem Maße, während sie an dem Tische saß,
+was doch eine geraume Zeit dauerte. Es blühte dieses Rot wie ein
+sanftes Licht auf ihren Wangen und verschönerte sie gleichsam wie ein
+klarer Schimmer.
+
+Sie fuhr in ihrem Geschäfte mit den Blumen fort, sie legte eine nach
+der andern von dem größeren Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere
+Strauß der größere wurde, der größere aber sich immer verkleinerte.
+Sie schied keine einzige Blume aus, sie warf nicht einmal einen
+Grashalm weg, der sich eingefunden hatte; es erschien also, daß sie
+weniger eine Auslese der Blumen machen, als dem alten Strauße eine
+neue, schönere Gestalt geben wollte. So war es auch, denn der alte
+Strauß war endlich verschwunden und der neue lag allein auf dem
+Tische.
+
+Mathilde hatte ihr Buch immer vor sich auf dem Tische liegen und sah
+nicht wieder hinein. Sie frug mich um meinen letzten Aufenthalt und um
+meine letzten Arbeiten. Ich setzte ihr beides auseinander.
+
+Gustav hatte sich indessen auch auf einen Sessel, ganz nahe an mir,
+gesetzt, und hörte aufmerksam zu.
+
+Als die Sonne im Mittage angekommen war und nachgerade unsern ganzen
+Tisch erfüllt hatte, erschien Arabella, um uns zum Mittagessen zu
+rufen.
+
+Ein Mann, der in dem Garten arbeitete, mußte den Blumentopf in das
+Haus tragen. Mathilde nahm das Buch und ein Arbeitskörbchen, das neben
+ihr auf dem Tische gestanden war, Natalie nahm ihren Blumenstrauß,
+hing ihren Hut wieder an ihren Arm, und so gingen wir in das Haus. Die
+Frauen wandelten vor uns, Gustav und ich gingen hinter ihnen.
+
+
+Daß ich mich gegen meinen Gastfreund, gegen Eustach, gegen Gustav und
+selbst gegen die Leute des Hauses verteidigen mußte, weil ich heuer so
+spät gekommen sei, nahm mich nicht Wunder, da ich immer so freundlich
+hier aufgenommen worden war, und da man sich beinahe daran gewöhnt
+hatte, daß ich alle Sommer in das Rosenhaus komme, wie ja auch mir
+diese Besuche zur Gewohnheit geworden waren.
+
+Mein Gastfreund und ich sprachen von den Dingen, welche ich im Laufe
+des heurigen Sommers unternommen hatte, so wie er mir auch in den
+ersten Tagen alles zeigte, was in dem Rosenhause geschah und was sich
+in meiner Abwesenheit verändert hatte.
+
+Ich sah, daß die Zeit der Rosenblüte nicht so lange dauern werde,
+weil ich ja auch nicht zu ihrem ersten Anfange, sondern etwas später
+gekommen war.
+
+Die Bilder gaben mir wieder eine süße Empfindung, und die hohe Gestalt
+auf der Treppe trat mir immer näher, seit ich die geschnittenen Steine
+gesehen hatte und seit ich wußte, daß etwas unter den Lebenden wandle,
+das ähnlich sei. Ich ging mit Gustav oder allein öfter in der Gegend
+herum.
+
+Eines Nachmittages waren wir in dem Rosenzimmer. Mathilde sprach
+recht freundlich von verschiedenen Gegenständen des Lebens, von den
+Erscheinungen desselben, wie man sie aufnehmen müsse und wie sie in
+dem Laufe der Jahre sich ablösen. Mein Gastfreund antwortete ihr. Bei
+dieser Gelegenheit sah ich erst, wie zart und schön für das Zimmer
+gesorgt worden war; denn die vier an Größe wie an Rahmen gleichen
+Gemälde, die in demselben hingen, waren trotz ihrer Kleinheit bei
+Weitem das Herrlichste und Außerordentlichste, was es an Gemälden im
+Rosenhause gab. Ich hatte mein Urteil doch schon so weit gebildet, um
+bei dem großen Unterschiede, der da waltete, das einsehen zu können.
+Doch leitete ich auch meinen Gastfreund auf den Gegenstand, und er
+gab meine Wahrnehmung, freilich in sehr bescheidenen Ausdrücken, weil
+Mathilde zugegen war, zu. Wir besahen, nachdem das Gespräch eine
+Wendung genommen hatte, die Bilder und machten uns auf das Zarte,
+Liebliche und Hohe derselben aufmerksam.
+
+Besuche, wie gewöhnlich zur Rosenzeit, kamen auch heuer; aber ich
+mischte mich weniger als etwa in früheren Jahren unter die Leute.
+
+Natalie ging wirklich, wie ich jetzt selber wahrnahm, in diesem Sommer
+mehr als in vergangenen im Garten und in der Gegend herum, sie ging
+viel weiter und ging auch öfter allein. Sie ging nicht bloß bei dem
+großen Kirschbaume öfter in das Freie und ging dort zwischen den
+Saaten herum, sondern sie ging auch geradewegs über den Hügel hinab zu
+der Straße, oder sie ging in den Meierhof oder längs der Hügel dahin,
+oder sie ging ein Stück auf dem Wege nach dem Inghofe. Wenn sie
+zurückgekehrt war, saß sie in ihrem Lehnstuhle und blickte auf das,
+was vor ihr oder in ihrer Umgebung geschah.
+
+Eines Tages, da ich selber einen weiten Weg gemacht hatte und gegen
+Abend in das Rosenhaus zurück kehrte, sah ich, da ich von dem
+Erlenbache hinauf eine kürzere Richtung eingeschlagen hatte, auf
+bloßem Rasen zwischen den Feldern gegangen, auf der Höhe angekommen
+war und nun gegen die Felderrast zuging, auf dem Bänklein, das unter
+der Esche derselben steht, eine Gestalt sitzen. Ich kümmerte mich
+nicht viel um sie und ging meines Weges, welcher gerade auf den Baum
+zuführte, weiter. Ich konnte, wie nahe ich auch kam, die Gestalt nicht
+erkennen; denn sie hatte nicht nur den Rücken gegen mich gekehrt,
+sondern war auch durch den größten Teil des Baumstammes gedeckt. Ihr
+Angesicht blickte nach Süden. Sie regte sich nicht und wendete sich
+nicht. So kam ich fast dicht gegen sie heran. Sie mußte nun meinen
+Tritt im Grase oder mein Anstreifen an das Getreide gehört haben; denn
+sie erhob sich plötzlich, wendete sich um, damit sie mich sähe, und
+ich stand vor Natalien. Kaum zwei Schritte waren wir von einander
+entfernt. Das Bänklein stand zwischen uns. Der Baumstamm war jetzt
+etwas seitwärts. Wir erschraken beide. Ich hatte nehmlich nicht - auch
+nicht im Entferntesten - daran gedacht, daß Natalie auf dem Bänklein
+sitzen könne, und sie mußte erschrocken sein, weil sie plötzlich
+Schritte hinter sich gehört hatte, wo doch kein Weg ging, und weil
+sie, da sie sich umwendete, einen Mann vor sich stehen gesehen hatte.
+Ich mußte annehmen, daß sie nicht gleich erkannt habe, daß ich es sei.
+
+Ein Weilchen standen wir stumm gegenüber, dann sagte ich: »Seid
+ihr es, Fräulein, ich hatte nicht gedacht, daß ich euch unter dem
+Eschenbaume sitzend finden würde.«
+
+»Ich war ermüdet«, antwortete sie, »und setzte mich auf die Bank, um
+zu ruhen. Auch dürfte es wohl an der Zeit später geworden sein, als
+man gewohnt ist, mich nach Hause kommen zu sehen.«
+
+»Wenn ihr ermüdet seid«, sagte ich, »so will ich nicht Ursache sein,
+daß ihr steht, ich bitte, setzet euch, ich will, so schnell ich kann,
+durch die Felder und den Garten eilen und euch Gustav herauf senden,
+daß er euch nach Hause begleite.«
+
+»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte sie, »es ist ja noch nicht
+Abend, und selbst wenn es Abend wäre, so droht wohl nirgends
+ringsherum eine Gefahr. Ich bin schon viel weiter allein gegangen, ich
+bin allein nach Hause zurückgekehrt, meine Mutter und unser Gastfreund
+haben deshalb keine Besorgnisse gehabt. Heute bin ich bis auf dem
+Raitbühel bei dem roten Kreuze gewesen und bin von dort zu der Bank
+hieher zurück gegangen.«
+
+»Das ist ja fast über eine Stunde Weges«, sagte ich.
+
+»Ich weiß nicht, wie lange ich gegangen bin«, antwortete sie, »ich
+ging zwischen den Feldern hin, auf denen die ungeheure Menge des
+Getreides steht, ich ging an manchem Strauche hin, den der Rain
+enthält, ich ging an manchem Baume vorbei, der in dem Getreide steht,
+und kam zu dem roten Kreuze, das aus den Saaten empor ragt.«
+
+»Wenn ich sehr gut gehe«, sagte ich, »so brauche ich von hier bis zu
+dem roten Kreuze eine Stunde.«
+
+»Ich habe, wie ich sagte, die Zeit nicht gezählt«, entgegnete sie,
+»ich bin von hier zu dem Kreuze gegangen, und bin von dem Kreuze
+wieder hieher zurück gekehrt.«
+
+Während dieser Worte war ich aus der ungefügen Stellung im Grase
+hinter dem Bänklein auf den freien Raum herüber getreten, der sich vor
+dem Baume ausbreitet, Natalie hatte eine leichte Bewegung gemacht und
+sich wieder auf das Bänkchen gesetzt.
+
+»Nach einem solchen Gange bedürft ihr freilich der Ruhe«, sprach ich.
+
+»Es ist auch nicht gerade deswillen«, antwortete sie, »weshalb ich
+diese Bank suchte. So ermüdet ich bin, so könnte ich wohl noch recht
+gut den Weg durch die Felder und den Garten nach Hause, ja noch einen
+viel weiteren machen; aber es gesellte sich zu dem körperlichen
+Wunsche noch ein anderer.«
+
+»Nun?«
+
+»Auf diesem Platze ist es schön, das Auge kann sich ergehen, ich bin
+bei meinen Gedanken, ich brauche diese Gedanken nicht zu unterbrechen,
+was ich doch tun muß, wenn ich zu den Meinigen zurück kehre.«
+
+»Und darum ruhet ihr hier?«
+
+»Darum ruhe ich hier.«
+
+»Seid ihr von eurer Kindheit an gerne allein in den Feldern gegangen?«
+
+»Ich erinnere mich des Wunsches nicht«, antwortete sie, »wie es denn
+überhaupt einige Zeitabschnitte in meiner Kindheit gibt, an welche
+ich mich nicht genau erinnern kann, und da der Wunsch in meinem
+Gedächtnisse nicht gegenwärtig ist, so wird auch die Tatsache nicht
+gewesen sein, obwohl es wahr ist, daß ich als Kind lebhafte Bewegungen
+sehr geliebt habe.«
+
+»Und jetzt führt euch eure Neigung öfter in das Freie?« fragte ich.
+
+»Ich gehe gerne herum, wo ich nicht beengt bin«, antwortete sie, »ich
+gehe zwischen den Feldern und den wallenden Saaten, ich steige auf die
+sanften Hügel empor, ich wandere an den blätterreichen Bäumen vorüber
+und gehe so fort, bis mich eine fremde Gegend ansieht, der Himmel über
+derselben gleichsam ein anderer ist und andere Wolken hegt. Im Gehen
+sinne und denke ich dann. Der Himmel, die Wolken darin, das Getreide,
+die Bäume, die Gesträuche, das Gras, die Blumen stören mich nicht.
+Wenn ich recht ermüdet bin und auf einem Bänklein wie hier oder auf
+einem Sessel in unserem Garten oder selbst auf einem Sitze in unserem
+Zimmer ausruhen kann, so denke ich, ich werde nun nicht wieder so weit
+gehen. - Und wo seid denn ihr gewesen?« fragte sie, nachdem sie sich
+unterbrochen und ein Weilchen geschwiegen hatte.
+
+»Ich bin nach dem Essen von dem Erlenbache zu dem Teiche hinauf
+gegangen«, antwortete ich, »dann durch das Gehölze auf den Balkhügel
+empor, von dem man die Gegend von Landegg sieht und den Turm seiner
+Pfarrkirche erblicken kann. Von dem Balkhügel bin ich dann noch auf
+den Höhen fortgegangen, bis ich zu den Rohrhäusern gekommen bin. Da
+ich dort schon zwei starke Wegstunden von dem Asperhofe entfernt
+war, schlug ich den Rückweg ein. Ich hatte im Hingehen viele Zeit
+verbraucht, weil ich häufig stehen geblieben war und verschiedene
+Dinge angesehen hatte, deshalb wählte ich nun einen kürzeren Rückgang.
+Ich ging auf Feldpfaden und mannigfaltigen Kirchenwegen durch die
+Felder, bis ich zwischen Dernhof und Ambach wieder zu dem Seewalde und
+zu dem Erlenbache herabkam. Von dort aus waren mir Raine bekannt, die
+am kürzesten auf die Felderrast herüber führten. Obwohl auf ihnen kein
+Weg führt, ging ich doch auf ihrem Grase fort und kam so gegen euch
+herzu.«
+
+»Da müßt ihr ja recht müde sein«, sagte sie und machte eine Bewegung
+auf dem Bänklein, um mir Platz neben sich zu verschaffen.
+
+Ich wußte nicht recht, wie ich tun sollte, setzte mich aber doch an
+ihrer Seite nieder.
+
+»Habt ihr etwa ein Buch mit euch genommen, um auf dieser Bank zu
+lesen«, fragte ich, »oder habt ihr nicht Blumen gepflückt?«
+
+»Ich habe kein Buch mitgenommen und habe keine Blumen gepflückt«,
+antwortete sie, »ich kann nicht lesen, wenn ich gehe, und kann auch
+nicht lesen, wenn ich im freien Felde auf einer Bank oder auf einem
+Steine sitze.«
+
+Wirklich sah ich auch gar nichts neben ihr, sie hatte kein Körbchen
+oder sonst irgend etwas, das Frauen gerne mit sich zu tragen pflegen,
+um Gegenstände hinein legen zu können; sie saß müßig auf dem Bänklein,
+und ihr Strohhut, den sie von dem Haupte genommen hatte, lag neben ihr
+in dem Grase.
+
+»Die Blumen pflücke ich«, fuhr sie nach einem Weilchen fort, »wenn sie
+bei Gelegenheit an dem Wege stehen. Hier herum ist meistens der Mohn,
+der aber wenig zu Sträußen paßt, weil er gerne die Blätter fallen
+läßt, dann sind die Kornblumen, die Wegnelken, die Glocken und andere.
+Oft pflücke ich auch keine Blumen, wenn sie noch so reichlich vor mir
+stehen.«
+
+Mir war es seltsam, daß ich mit Natalien allein unter der Esche der
+Felderrast sitze. Ihre Fußspitzen ragten in den Staub der vor uns
+befindlichen offenen Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider
+berührte denselben Staub. In der Krone der Esche rührte sich kein
+Blättchen; denn die Luft war still. Weit vor uns hinabgehend und weit
+zu unserer Rechten und Linken hin sowie rückwärts war das grüne, der
+Reife entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume desselben, der uns am
+nächsten war, sahen uns der rote Mohn und die blauen Kornblumen an.
+Die Sonne ging dem Untergange zu und der Himmel glänzte an der Stelle,
+gegen die sie ging, fast weißglühend über die Saatfelder herüber,
+keine Wolke war und das Hochgebirge stand rein und scharf geschnitten
+an dem südlichen Himmel.
+
+»Und habt ihr bei dem roten Kreuze auch ein wenig geruht?« fragte ich
+nach einer Weile.
+
+»Bei dem roten Kreuze habe ich nicht geruht«, antwortete sie,
+»man kann dort nicht ruhen, es steht fast unter lauter Halmen des
+Getreides, ich lehnte mich mit einem Arme an seinen Stamm und sah
+auf die Gegend hinaus, auf die Felder, auf die Obstbäume und auf die
+Häuser der Menschen, dann wendete ich mich wieder um und schlug den
+Rückweg zu diesem Bänklein ein.«
+
+»Wenn heiterer Himmel ist und die Sonne scheint, dann ist es in der
+Weite schön«, sagte ich.
+
+»Es ist wohl schön«, erwiderte sie, »die Berge gehen wie eine Kette
+mit silbernen Spitzen dahin, die Wälder sind ausgebreitet, die Felder
+tragen den Segen für die Menschen, und unter all den Dingen liegt das
+Haus, in welchem die Mutter und der Bruder und der väterliche Freund
+sind; aber ich gehe auch an bewölkten Tagen auf den Hügel oder an
+solchen, an denen man nichts deutlich sehen kann. Als Bestes bringt
+der Gang, daß man allein ist, ganz allein, sich selber hingegeben. Tut
+ihr bei euren Wanderungen nicht auch so, und wie erscheint denn euch
+die Welt, die ihr zu erforschen trachtet?«
+
+»Es war zu verschiedenen Zeiten verschieden«, antwortete ich; »einmal
+war die Welt so klar als schön, ich suchte Manches zu erkennen,
+zeichnete Manches und schrieb mir Manches auf. Dann wurden alle Dinge
+schwieriger, die wissenschaftlichen Aufgaben waren nicht so leicht zu
+lösen, sie verwickelten sich und wiesen immer wieder auf neue Fragen
+ein. Dann kam eine andre Zeit; es war mir, als sei die Wissenschaft
+nicht mehr das Letzte, es liege nichts daran, ob man ein Einzelnes
+wisse oder nicht, die Welt erglänzte wie von einer innern Schönheit,
+die man auf ein Mal fassen soll, nicht zerstückt, ich bewunderte sie,
+ich liebte sie, ich suchte sie an mich zu ziehen und sehnte mich nach
+etwas Unbekanntem und Großem, das da sein müsse.«
+
+
+Sie sagte nach diesen Worten eine Zeit hindurch nichts; dann aber
+fragte sie: »Und ihr werdet in diesem Sommer noch einmal in euren
+Aufenthaltsort zurück kehren, den ihr euch jetzt zu eurer Arbeit
+auserkoren habt?«
+
+»Ich werde in denselben zurück kehren«, antwortete ich.
+
+»Und den Winter bringt ihr bei euren lieben Angehörigen zu?« fragte
+sie weiter.
+
+»Ich werde ihn wie alle bisherigen in dem Hause meiner Eltern
+verleben«, sagte ich.
+
+»Und seid ihr in dem Winter im Sternenhofe?« fragte ich nach einiger
+Zeit.
+
+»Wir haben ihn früher zuweilen in der Stadt zugebracht«, antwortete
+sie, »jetzt sind wir schon einige Male in dem Sternenhofe geblieben,
+und zwei Mal haben wir eine Reise gemacht.«
+
+»Habt ihr außer Klotilden keine andere Schwester?« fragte sie, nachdem
+wir wieder ein Weilchen geschwiegen hatten.
+
+»Ich habe keine andere«, erwiderte ich, »wir sind nur zwei Kinder, und
+das Glück, einen Bruder zu besitzen, habe ich gar nie kennen gelernt.«
+
+»Und mir ist wieder das Glück, eine Schwester zu haben, nie zu Teil
+geworden«, antwortete sie.
+
+Die Sonne war schon untergegangen, die Dämmerung trat ein, und wir
+waren immer sitzen geblieben. Endlich stand sie auf und langte nach
+ihrem Hute, der in dem Grase lag. Ich hob denselben auf und reichte
+ihn ihr dar. Sie setzte ihn auf und schickte sich zum Fortgehen an.
+Ich bot ihr meinen Arm. Sie legte ihren Arm in den meinigen, aber
+so leicht, daß ich ihn kaum empfand. Wir schlugen nicht den Weg auf
+den Anhöhen hin zu dem Gartenpförtchen ein, das in der Nähe des
+Kirschbaumes ist, sondern wir gingen auf dem Pfade, der von der
+Felderrast zwischen dem Getreide abwärts läuft, gegen den Meierhof
+hinab. Wir sprachen nun gar nicht mehr. Ihr Kleid fühlte ich sich
+neben mir regen, ihren Tritt fühlte ich im Gehen. Ein Wässerlein,
+das unter Tags nicht zu vernehmen war, hörte man rauschen, und der
+Abendhimmel, der immer goldener wurde, flammte über uns und über den
+Hügeln der Getreide und um manchen Baum, der beinahe schwarz da stand.
+Wir gingen bis zu dem Meierhofe. Von demselben gingen wir über die
+Wiese, die zu dem Hause meines Gastfreundes führt, und schlugen den
+Pfad zu dem Gartenpförtchen ein, das in jener Richtung in der Gegend
+der Bienenhütte angebracht ist. Wir gingen durch das Pförtchen in den
+Garten, gingen an der Bienenhütte hin, gingen zwischen Blumen, die da
+standen, zwischen Gesträuch, das den Weg säumte, und endlich unter
+Bäumen dahin und kamen in das Haus. Wir gingen in den Speisesaal, in
+welchem die Andern schon versammelt waren. Natalie zog hier ihren Arm
+aus dem meinigen. Man fragte uns nicht, woher wir gekommen wären und
+wie wir uns getroffen hätten. Man ging bald zu dem Abendessen, da die
+Zeit desselben schon heran gekommen war.
+
+Während des Essens sprachen Natalie und ich fast nichts.
+
+Als wir uns im Speisesaale getrennt hatten und als jedes in sein
+Zimmer gegangen war, löschte ich die Lichter in dem meinigen sogleich
+aus, setzte mich in einen der gepolsterten Lehnstühle und sah auf
+die Lichttafeln, welche der inzwischen heraufgekommene Mond auf die
+Fußböden meiner Zimmer legte. Ich ging sehr spät schlafen, las aber
+nicht mehr, wie ich es sonst in jeder Nacht gewohnt war, sondern blieb
+auf meinem Lager liegen und konnte sehr lange den Schlummer nicht
+finden.
+
+In den Tagen, die auf jenen Abend folgten, schien es mir, als weiche
+mir Natalie aus. Die Zithern hörte ich wieder in ein paar Nächten, sie
+wurden sehr gut gespielt, was ich jetzt mehr empfinden und beurteilen
+konnte als früher. Ich sprach aber nichts darüber, und noch weniger
+sagte ich etwas davon, daß ich selber in diesem Spiele nicht mehr
+so unerfahren sei. Meine Zither hatte ich nie in das Rosenhaus
+mitgenommen.
+
+Endlich nahte die Zeit, in welcher man in den Sternenhof gehen sollte.
+Mathilde und Natalie reisten in Begleitung ihrer Dienerin früher
+dahin, um Vorkehrungen zu treffen und die Gäste zu empfangen. Wir
+sollten später folgen.
+
+In der Zeit zwischen der Abreise Mathildens und der unsrigen tat mein
+Gastfreund eine Bitte an mich. Sie bestand darin, daß ich ihm in dem
+kommenden Winter eine genaue Zeichnung von den Vertäflungen anfertigen
+möchte, welche ich meinem Vater aus dem Lauterthale gebracht hatte
+und welche von ihm in die Pfeiler des Glashäuschens eingesetzt
+worden waren. Die Zeichnung möchte ich ihm dann im nächsten Sommer
+mitbringen. Ich fühlte mich sehr vergnügt darüber, daß ich dem Manne,
+zu welchem mich eine solche Neigung zog und dem ich so viel verdankte,
+einen Dienst erweisen konnte und versprach, daß ich die Zeichnung so
+genau und so gut machen werde, als es meine Kräfte gestatten.
+
+An einem der folgenden Tage fuhren mein Gastfreund, Eustach, Roland,
+Gustav und ich in den Sternenhof ab.
+
+
+
+Das Fest
+
+Ein Fest in dem Sinne, wie man das Wort gewöhnlich nimmt, war es
+nicht, was in dem Sternenhofe vorkommen sollte, sondern es waren
+mehrere Menschen zu einem gemeinschaftlichen Besuche eingeladen
+worden, und diese Einladungen hatte man auch nicht eigens und
+feierlich, sondern nur gelegentlich gemacht. Übrigens stand es in
+Hinsicht des Sternenhofes so wie des Asperhofes jedem Freunde und
+jedem Bekannten frei, zu was immer für einer Zeit einen Besuch machen
+und eine Weile zu bleiben.
+
+Als wir am zweiten Tage nach unserer Abreise von dem Asperhofe - wir
+hatten einen kleinen Umweg gemacht - in dem Sternenhofe eintrafen,
+waren schon mehrere Menschen versammelt. Fremde Diener, zuweilen
+seltsam gekleidet, gingen, wie sich das allemal findet, wenn mehrere
+Familien zusammen kommen, in der Nähe des Schlosses herum oder auf dem
+Wege zwischen dem Meierhofe und dem Schlosse hin und her. Man hatte
+einen Teil der Wägen und Pferde in dem Meierhofe untergebracht. Wir
+fuhren bei dem Tore hinein, und unser Wagen hielt im Hofe. Ich hatte
+schon, da wir den Hügel hinan fuhren und uns dem Schlosse näherten,
+einen Blick auf dessen vorderste Mauer geworfen, an der jetzt die
+bloßen Steine ohne Tünche sichtbar waren, und hatte mein Urteil
+schnell gefaßt. Mir gefiel die neue Gestalt um Außerordentliches
+besser als die frühere, an welche ich jetzt kaum zurück denken mochte.
+Meine Begleiter äußerten sich während des Hinzufahrens nicht, ich
+sagte natürlich auch nichts. Im Hofe näherten sich Diener, welche
+unser Gepäcke in Empfang nehmen und Wagen und Pferde unterbringen
+sollten. Der Hausverwalter führte uns die große Treppe hinan und
+geleitete uns in das Gesellschaftszimmer. Dasselbe war eines von jenen
+Zimmern, die in einer Reihe fortlaufen und mit den neuen, im Asperhofe
+verfertigten Geräten versehen sind. Die Türen aller dieser Zimmer
+standen offen. Mathilde saß an einem Tische und eine ältliche Frau
+neben ihr. Mehrere andere Frauen und Mädchen so wie ältere und jüngere
+Männer saßen an verschiedenen Stellen umher. Auf dem unscheinbarsten
+Platze saß Natalie. Mathilde so wie Natalie waren gekleidet, wie
+die Frauen und Mädchen von den besseren Ständen gekleidet zu sein
+pflegten; aber ich konnte doch nicht umhin, zu bemerken, daß ihre
+Kleider weit einfacher gemacht und verziert waren als die der anderen
+Frauen, daß sie aber viel besser zusammen stimmten und ein edleres
+Gepräge trugen, als man dies sonst findet. Mir war, als sähe ich den
+Geist meines Gastfreundes daraus hervorblicken, und wenn ich an höhere
+Kreise unserer Stadt, zu denen ich Zutritt hatte, dachte, so schien es
+mir auch, daß gerade dieser Anzug derjenige vornehme sei, nach welchem
+die Andern strebten. Mathilde stand auf und verbeugte sich freundlich
+gegen uns. Das taten die Andern auch, und wir taten es gegen Mathilde
+und gegen die Andern. Hierauf setzte man sich wieder, und der
+Hausverwalter und zwei Diener sorgten, daß wir Sitze bekamen. Ich
+setzte mich an eine Stelle, welche sehr wenig auffällig war. Die Sitte
+des gegenseitigen Vorstellens der Personen, wie sie fast überall
+vorkömmt, scheint in dem Rosenhause und in dem Sternenhofe nicht
+strenge gebräuchlich sein; denn ich wußte schon mehrere Fälle, in
+denen es unterblieben war; besonders wenn sich mehrere Menschen
+zusammen gefunden hatten. Bei der gegenwärtigen Gelegenheit unterblieb
+es auch. Man überließ es eher den Bemühungen des Einzelnen, sich die
+Kenntnis über eine Person zu verschaffen, an der ihm gelegen war, oder
+man überließ es eher dem Zufalle, miteinander bekannt zu werden, als
+daß man bei jedem neuen Ankömmlinge das Verzeichnis der Anwesenden
+gegen ihn wiederholt hätte. Zudem schienen sich hier die meisten
+Personen zu kennen. Mich wollte man wahrscheinlich aus dem Spiele
+lassen, weil ich nie, wenn fremde Menschen in den Asperhof gekommen
+waren, gefragt hatte, wer sie seien. Gustav benahm sich hier auch
+beinahe wie ein Fremder. Nachdem er sich gegen seine Mutter sehr artig
+verbeugt, in die allgemeine Verbeugung gegen die Andern eingestimmt
+und Natalien zugelächelt hatte, setzte er sich bescheiden auf einen
+abgelegenen Platz und hörte aufmerksam zu. Mein Gastfreund und Eustach
+so wie auch Roland waren in den gebräuchlichen Besuchkleidern, ich
+ebenfalls. Mir kamen diese Männer in ihren schwarzen Kleidern fremder
+und fast geringer vor als in ihrem gewöhnlichen Hausanzuge.
+
+Mein Gastfreund war bald mit verschiedenen Anwesenden im Gespräche.
+Allgemein wurde von allgemeinen und gewöhnlichen Dingen geredet, und
+das Gespräch ging bald zwischen einzelnen, bald zwischen mehreren
+Personen hin und wider. Ich sprach wenig und fast ausschließlich nur,
+wenn ich angeredet und gefragt wurde. Ich sah auf die Versammlung vor
+mir oder auf manchen Einzelnen oder auf Natalien. Roland rückte einmal
+seinen Stuhl zu mir und knüpfte ein Gespräch über Dinge an, die uns
+beiden nahe lagen. Wahrscheinlich tat er es, weil er sich ebenso
+vereinsamt unter den Menschen empfand wie ich.
+
+Nachdem man den Nachmittagstee, bei dem man eigentlich versammelt war,
+verzehrt und sich schon zum größten Teile erhoben hatte und in Gruppen
+zusammen getreten war, wurde der Vorschlag gemacht, sich in den Garten
+zu begeben und dort einen Spaziergang zu machen. Der Vorschlag fand
+Beifall. Mathilde erhob sich und mit ihr die älteren Frauen. Die
+jüngeren waren ohnehin schon gestanden. Ein schöner alter Herr,
+wahrscheinlich der Gatte der ältlichen Frau, welche neben Mathilden
+gesessen war, bot der Hausfrau den Arm, um sie über die Treppe hinab
+zu geleiten, dasselbe tat mein Gastfreund mit der ältlichen Frau.
+Einige Paare entstanden noch auf diese Weise, das Andere ging
+gemischt. Ich blieb stehen und ließ die Leute an mir vorüber gehen, um
+mich nicht vorzudrängen. Natalie ging mit einem schönen Mädchen an mir
+vorüber und sprach mit demselben, als sie an mir vorbei ging. Ich war,
+mit Roland und Gustav, der letzte, welcher über die Treppe hinab ging.
+Im Garten war es so, wie es bei einer größeren Anzahl von Gästen
+in ähnlichen Fällen immer zu sein pflegt. Man bewegte sich langsam
+vorwärts, man blieb bald hier, bald da stehen, betrachtete dieses oder
+jenes, besprach sich, ging wieder weiter, löste sich in Teile und
+vereinigte sich wieder. Ich achtete auf alles, was gesprochen wurde,
+gar nicht. Natalie sah ich mit demselben Mädchen gehen, mit dem sie an
+mir in dem Gesellschaftszimmer vorüber gegangen war, dann gesellten
+sich noch ein paar hinzu. Ich sah sie mit ihrem lichtbraunen
+Seidenkleide zwischen andere hervorschimmern, dann sah ich sie wieder
+nicht, dann sah ich sie abermals wieder. Gebüsche deckten sie dann
+ganz. Die jungen Männer, welche ich in der Gesellschaft getroffen
+hatte, gingen bald mit dem älteren Teile, bald mit dem jüngeren.
+Roland und Gustav gesellten sich zu mir, und wenn Gustav fragte, wie
+es dort aussehe, wo ich jetzt gearbeitet habe, ob hohe Berge sind,
+weite Täler, und ob es so freundlich ist wie am Lautersee, und ob ich
+noch weiter vordringen wolle, und in welche Berge ich dann komme: so
+sprach Roland wieder von den Anwesenden und nannte mir manchen und
+erzählte mir von ihren Verhältnissen. Durch seine Reisen in dem Lande,
+durch seinen Aufenthalt in Kirchen, Kapellen, verfallenen Schlössern
+und allen bedeutenderen Orten erfuhr er mehr, als irgend ein Anderer
+erfahren konnte, und durch sein lebhaftes Wesen und sein gutes
+Gedächtnis wurde er zur Erforschung angeleitet und war im Stande, das
+Erforschte zu bewahren. Die ältliche Frau, welche wir bei unserem
+Eintritte in das Gesellschaftszimmer neben Mathilden sitzen gesehen
+hatten, war die Besitzerin eines großen Anwesens, etwa eine halbe
+Tagereise von dem Sternenhofe entfernt. Ihr Name war Tillburg, wie
+auch ihr Schloß hieß. Sie hatte sich mit allen Annehmlichkeiten und
+mit allem, was prächtig war, umringt. Ihre Gewächshäuser waren die
+schönsten im Lande, ihr Garten enthielt alles, was in der Zeit
+als vorzüglich auftauchte und wurde von zwei Gärtnern und einem
+Obergärtner nebst vielen Gehilfen besorgt, ihre Zimmer wiesen Geräte
+und Stoffe von allen Hauptstädten der Welt auf, und ihre Wägen waren
+das Bequemste und Zierlichste, was man in dieser Art hatte. Gemälde,
+Bücher, Zeitschriften, kleine Spielereien waren in ihren Wohnzimmern
+zerstreut. Sie machte Besuche in der Umgegend und empfing auch solche
+gerne. Im Winter ist sie selten in ihrem Schlosse und immer nur auf
+kurze Zeit, sie macht gerne Reisen und hält sich besonders oft in
+südlichen Gegenden auf, von denen sie Merkwürdigkeiten zurückbringt.
+Sie war die einzige Tochter und Erbin ihrer Eltern, ein Bruder, den
+sie hatte, war in der zartesten Jugend gestorben. Der Mann mit dem
+freundlichen Angesichte, welcher Mathilden aus dem Saale geführt
+hatte, war ihr Gatte. Er war ebenfalls das einzige Kind reicher
+Eltern, die Verbindung hatte sich ergeben, und so waren zwei große
+Vermögen in eins zusammen gekommen. Er teilte nicht gerade die
+Liebhabereien seiner Gattin, war ihnen aber auch nicht entgegen. Er
+hatte keine Leidenschaften, war einfach, machte seiner Gattin, die er
+sehr liebte, gerne eine Freude und fand in den Reisen derselben, auf
+denen er sie begleitete, halb sein eigenes Vergnügen, halb eines, weil
+er das ihrige teilte. Er verwaltete aber von jeher die Besitzungen
+sehr einsichtig. Die Tillburg stammt von ihm. Einer von den jungen
+Männern, die im Gesellschaftszimmer waren, der schlanke Mann mit den
+lebhaften dunkeln Augen ist der Sohn, und zwar das einzige Kind dieser
+Eheleute, er ist gut erzogen worden, und man kann nicht wissen, ob von
+Tillburg her nicht zartere Beziehungen zu dem Sternenhofe gewünscht
+werden.
+
+Gustav machte bei diesen Worten eine leichte Seitenbewegung gegen
+Roland, sah ihn an, sagte aber nichts.
+
+Ich erinnerte mich der Tillburg, die ich sehr gut kannte, aber nie
+betreten hatte. Ich war öfter in ihrer Nähe vorüber gekommen und hatte
+die vier runden Türme an ihren vier Ecken, denen man in der neueren
+Zeit eine lichte Farbe gegeben hatte, eine Tünche, wie man sie gerade
+jetzt von dem Sternenhofe wieder weg haben will, nicht angenehm
+empfunden, wie sie sich so scharf von dem Grün der nahen Bäume und dem
+Blau der fernen Berge und des Himmels abhoben, welchen letzteren sie
+beinahe finster machten.
+
+»Der kleinere Mann mit den weißen Haaren, der in der Nähe des
+mittleren Fensters gesessen und öfter aufgestanden war«, fuhr Roland
+fort, »ist der Besitzer von Haßberg. Sein Vater hatte die Besitzung
+erst gekauft und sie ursprünglich für einen jüngeren Sohn bestimmt, da
+der ältere das Stammgut Weißbach erben sollte; allein der jüngere Sohn
+und der Vater starben, und so hatte der ältere Weißbach und Haßberg.
+Er übergab nach einiger Zeit seinem Sohne das Stammgut und zog sich
+nach Haßberg zurück. Er ist einer jener Männer, die immer erfinden und
+bauen müssen. In Weißbach hat er schon mehrere Bauten aufgeführt.
+
+In Haßberg richtete er eine Musterwirtschaft ein, er verbesserte
+die Felder und Wiesen und friedigte sie mit schönen Hecken ein, er
+errichtete einen auserlesenen Viehstand und führte in geschützten
+Lagen den Hopfenbau ein, der sich unter seine Nachbarn verbreitete
+und eine Quelle des Wohlstandes eröffnete. Er dämmte dem Ritflusse
+Wiesen ab, er mauerte die Ufer des Mühlbaches heraus, er baute eine
+Flachsröstanstalt, baute neue Ställe, Scheuern. Trockenhäuser,
+Brücken, Stege, Gartenhäuser, und ändert im Innern des Schlosses
+beständig um. Er ist im Laufe des ganzen Tages mit Nachschauen und
+Anordnen beschäftigt, zeichnet und entwirft in der Nacht, und wenn
+irgendwo im Lande über Führung einer Straße oder Anlegung eines
+Bewirtschaftungsplanes oder Errichtung eines Gebäudes Rat gepflogen
+wird, so wird er gerufen, und er macht bereitwillig die Reisen auf
+seine eigenen Kosten. Selbst bei der Regierung des Landes ist sein
+Wort nicht ohne Bedeutung. Die Frau mit dem aschgrauen Kleide ist
+seine Gattin, und die zwei Mädchen, welche vor Kurzem mit Natalie
+gegen die Eichen zugingen, sind seine Töchter. Frau und Töchter reden
+ihm zu, er solle sich mehr Ruhe gönnen, da er schon alt wird, er sagt
+immer: >Das ist das Letzte, was ich baue<; allein ich glaube, den
+letzten Plan zu einem Baue wird er auf seinem Totenbette machen. Unser
+Freund hält in diesen Dingen große Stücke auf ihn.«
+
+Da wir um die Ecke eines Gebüsches bogen und gegen die Eichen,
+welche an der Eppichwand stehen, zugingen, sahen wir wieder eine
+Menschengruppe vor uns. Roland, der einmal im Zuge war, sagte: »Der
+Mann in dem feinen schwarzen Anzuge, vor dem seine Gattin in dem
+nelkenbraunen Seidenkleide geht, ist der Freiherr von Wachten, dessen
+Sohn hier ebenfalls zugegen ist, ein Mann von mittelgroßer Gestalt,
+der im Gesellschaftszimmer so lange am Eckfenster gestanden war, ein
+junger Mann von vielen angenehmen Eigenschaften, der aber zu oft in
+den Sternenhof kömmt, als daß es sich durch bloßen Zufall erklären
+ließe.
+
+Der Freiherr verwaltet seine Besitzungen gut, er hat keine besondere
+Vorliebe, hält alles und jedes in der ihm zugehörigen Ordnung und wird
+immer reicher. Da er nur den einzigen Sohn und keine Tochter hat, so
+wird die künftige Gattin seines Sohnes eine sehr ansehnliche und sehr
+reiche Frau. Die Familie lebt im Winter häufig in der Stadt. Die Güter
+liegen etwas zerstreut. Thondorf mit den schönen Wiesen und dem großen
+Waldgarten müßt ihr ja kennen.«
+
+»Ich kenne es«, antwortete ich.
+
+»Auf dem Randek hat er ein zerfallendes Schloß«, fuhr Roland fort,
+»in welchem wunderschöne Türen sind, die aus dem sechzehnten
+Jahrhunderte stammen dürften. Der Verwalter rät ihm, die Türen nicht
+herzugeben, und so zerfallen sie nach und nach. Sie sind in unsern
+Zeichnungsbüchern enthalten und würden Gemächer, im Stile jener Zeit
+gebaut und eingerichtet, sehr zieren. Sogar zu Tischen oder anderen
+Dingen, falls man sie als Türen nicht verwenden könnte, würden sie
+sehr brauchbar sein. Ich habe auch in der sehr zerfallenen Kapelle von
+Randek außerordentlich schöne Tragsteine gezeichnet. Meistens wohnt
+der Freiherr im Sommer in Wahlstein, schon ziemlich tief in den
+Bergen, wo die Elm hervorströmt.«
+
+»Ich kenne den Sitz«, antwortete ich, »und kenne auch die Familie im
+Allgemeinen.«
+
+»Der Mann mit den schneeweißen Haaren«, sprach Roland weiter, »heißt
+Sandung, er veredelt die Schafzucht, und der eine von den zwei neben
+ihm gehenden Männern ist der Besitzer des sogenannten Berghofes, ein
+allgemein geachteter Mann, und der andere ist der Oberamtmann von
+Landegg. Es fehlen noch die vom Inghof, dann sind mehrere Vertreter
+der hier herum wohnenden Leute vorhanden. Ich teile sie, wenn ich in
+meiner Liebhaberei im Lande herum reise, nach ihren Liebhabereien
+in Gruppen ein, und man könnte eine Landmappe so nach diesen
+Liebhabereien mit Farben zeichnen, wie ihr die Gebirge mit Farben
+zeichnet, um das Vorkommen der verschiedenen Gesteine anzuzeigen.«
+
+Da wir wieder eine Wendung machten, ganz nahe an der rechten Seite
+der Eppichwand, ging Mathilde mit der Frau von Tillburg auf einem
+Nebenwege gegen uns hervor. Sie blieb vor uns stehen und sagte zu mir:
+»Ihr habt meiner Brunnennymphe nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt
+als ihr solltet; ihr zieht die Gestalt auf der Treppe unsers Freundes
+zu sehr vor. Sie verdient es wohl; allein ihr müßt doch die hiesige
+auch ein wenig genauer ansehen und sie mir ein wenig schön heißen.«
+
+»Ich habe sie schön geheißen«, erwiderte ich, »und wenn meine ganz
+unbedeutende Meinung etwas gilt, so soll ihr die Anerkennung gewiß
+nicht entgehen.«
+
+»Wir besuchen nun ohnehin alle die Grotte«, entgegnete sie.
+
+Nach diesen Worten ging sie mit ihrer Begleiterin auf dem Hauptwege
+gegen die Eppichwand vor, wir folgten. Die Anderen kamen in
+verschiedenen Richtungen herzu, und man ging zu der Marmorgestalt in
+der Brunnenhalle.
+
+Einige gingen hinein, Andere blieben mehr am Eingange stehen, und man
+redete über die Gestalt. Diese ruhte indessen in ihrer Lage, und die
+Quelle rann sanft und stetig fort. Es waren nur allgemeine Dinge,
+welche über das Bildwerk gesprochen wurden. Mir kam es fremd vor, die
+geputzten Menschen in den verschiedenfarbigen Kleidern vor dem reinen,
+weißen, weichen Marmor stehen zu sehen. Roland und ich sprachen
+nichts.
+
+Man entfernte sich wieder von dem Marmor, ging langsam an der
+Eppichwand hin und stieg die Stufen zu der Aussicht empor. Auf dieser
+verteilte man eine Zeit und ging dann gegen die Linden zurück. Nach
+Betrachtung der Linden und des schönen Platzes unter ihnen begab
+sich der Zug wieder auf den Rückweg in das Schloß. Eustach hatte ich
+beinahe die ganze Zeit nicht gesehen.
+
+Zugleich mit uns kamen im Schlosse Wägen an, in denen die von Ingheim
+und noch einige Gäste saßen. Nachdem man sich bewillkommt hatte und
+nachdem die Angekommenen sich von den überflüssigen Reisekleidern
+befreit hatten, teilte sich, wie es bei ähnlichen Gelegenheiten stets
+vorkömmt, die Gesellschaft in Gruppen, von denen einige vor dem Hause
+standen und plauderten, andere auf den Sandwegen im Rasen herumgingen,
+wieder andere gegen den Meierhof wandelten. Als die Abendröte hinter
+den Bäumen erschien, die in schönen Zeilen im Westen des Schlosses die
+Felder säumten, und als ihr Glühen immer blässer wurde und dem Gelb
+des Spätabends Platz machte, sammelten sich die Leute wieder. Die
+einen kehrten von ihrem Spaziergange, die anderen von ihrem Gespräche,
+die dritten von ihrer Betrachtung verschiedener Gegenstände zurück,
+und man begab sich in das Speisezimmer. In demselben begann nun
+ein Abend, wie sie auf dem Lande, wo man von dem Umgange mit
+Seinesgleichen viel ausgeschlossener ist, zu den vergnügtesten
+gehören. Ich habe diese Betrachtung, da ich im Sommer immer ferne von
+der Stadt war, öfter machen können. Da man Menschen, mit denen man
+gleiche Gesinnungen und gleiche Meinungen hat, auf dem Lande viel
+seltener sieht als in der Stadt, da man mit dem Raume nicht so kargen
+muß wie in der Stadt, wo jede Familie nur das mit vielen Kosten
+erschwingt, was sie für sich und nächste Angehörige braucht, da die
+Lebensmittel auf dem Lande gewöhnlich aus der ersten und unmittelbaren
+Quelle bei der Hand sind, auch strenge Anforderungen hierin nicht
+gemacht werden: so ist man auf dem Lande viel gastfreundlicher als in
+der Stadt, und Gelegenheiten, wo man sich in einem Zimmer und um einen
+Tisch versammelt, werden da viel fröhlicher, ungezwungener und auch
+herzliches begangen, weil man sich freut, sich wieder zu sehen, weil
+man um alles fragen will, was sich an den verschiedenen Stellen, woher
+die Ankömmlinge gekommen sind, zugetragen hat, weil man die eigenen
+Erlebnisse mitteilen und weil man seine Ansichten austauschen will.
+
+Der Tisch war schon gedeckt, der Hausverwalter wies allen ihre Plätze
+an, die zur Vermeidung von dennoch möglichen Verwirrungen noch
+überdies durch von seiner Hand geschriebene Zettel bezeichnet waren,
+und man setzte sich. Der Mann hatte gesorgt, daß solche, die sich gut
+kannten, nahe zusammen kamen.
+
+Deßohngeachtet schritt man mit der Freimütigkeit des Landes und alter
+Bekannter dazu, die Zettel noch zu verwechseln und sich gegen die
+Anordnungen des Mannes zusammen zu setzen. Von der Decke des Zimmers
+hing eine sanft brennende Lampe hernieder, und außer ihr wurde die
+Tafel noch durch verteilte strahlende Kerzen erhellt. Mathilde nahm
+den Mittelsitz ein und richtete ihre Freundlichkeit und ihr ruhiges
+Wesen gegen alle, die in ihrem Bereiche waren, und selbst gegen die
+entferntesten Plätze suchte sie ihre Aufmerksamkeit zu erstrecken.
+Die bekannteren und älteren Gäste saßen ihr zunächst, die jüngeren
+entfernter. Julie, die Tochter Ingheims mit den heiteren braunen
+Augen, saß mir fast gegenüber, ihre Schwester, die blauäugige
+Apollonia, etwas weiter unten. Sie hatten sehr geschmackvolle Kleider
+an, das Geschmeide, das sie trugen, hätte, wie ich meinte, etwas
+weniger sein sollen. Neben beiden saßen die jungen Männer Tillburg und
+Wachten. Natalie saß zwischen Eustach und Roland. Ob es so angeordnet,
+ob es ihre eigene Wahl war, wußte ich nicht. Man trug ein einfaches
+Mahl auf, und fröhliche Gespräche belebten es. Man sprach von den
+Begebnissen der Gegend, man neckte sich mit kleinen Erlebnissen, man
+teilte sich Erfahrungen mit, die man in seinem Kreise gemacht hatte,
+man sprach von Büchern, die in der Gegend neu waren, und beurteilte
+sie, man erzählte, was man im Bereiche seiner Liebhaberei Neues
+erworben, was man für Reisen gemacht und was man für fernere vorhabe.
+Auch auf die Geschichte des Landes kam es, auf seine Verwaltung,
+auf Verbesserungen, die zu machen wären, und auf Schätze, die
+noch ungehoben liegen. Selbst Wissenschaft und Kunst war nicht
+ausgeschlossen. Mancher Scherz erheiterte die Anwesenden, und man
+schien sehr vergnügt, sich so in einen Kreis versammelt zu haben, wo
+sich Neues ergab und wo man Altes wieder beleben konnte.
+
+Nach ein paar schnell vergangenen Stunden stand man auf, die Lichter
+zu dem Gange in die verschiedenen Schlafgemächer wurden angezündet,
+und man begab sich allmählich zur Ruhe.
+
+
+Am andern Morgen nach dem Frühmahle, da die höher gestiegene Sonne die
+Gräser bereits getrocknet hatte, begab man sich in das Freie, um das
+Urteil über die Arbeiten an der Vorderseite des Hauses zu fällen. Alle
+gingen mit. Selbst Dienerschaft stand seitwärts in der Nähe, als ob
+sie wüßte, was geschehe - und sie wußte es wohl auch - und als ob sie
+sich dabei beteiligen sollte. Man ging einige hundert Schritte von
+der Vorderseite des Hauses weg, wendete sich dann um, blieb im Grase
+stehen und betrachtete die von der Tünche befreite Wand. Hierauf
+umging man in einem weiten Bogen eine Ecke des Hauses, um auch eine
+Wand zu sehen, auf welcher sich noch die Tünche befand. Nachdem man
+Beides wohl angeschaut hatte, nahm man einen Stand ein, der beide
+Ansichten gestattete.
+
+Nach und nach wurden Meinungen laut. Man fragte zuerst die älteren und
+ansehnlicheren Gäste. Diese gaben fast alle ihr Urteil unbestimmt und
+mit Vorsicht ab. Beide Einrichtungen hätten ihr Gutes, an beiden wird
+etwas auszustellen sein, und es komme auf Geschmack und Vorliebe an.
+Da das Gespräch allgemeiner wurde, traten schon manche Meinungen
+abgeschlossener hervor. Einige sagten, es sei etwas Besonderes und
+nicht überall Vorkommendes, die nackten Steine aus einer Wand stehen
+zu lassen. Wenn die Kosten nicht zu scheuen sind, möge man es an dem
+ganzen Schlosse so machen, und man habe dann etwas sehr Eigenes.
+Andere meinten, es sei doch überall Sitte, die Wände selbst gegen
+Außen mit einer Tünche zu bekleiden, ein licht getünchtes Haus sei
+sehr freundlich, darum hätten auch die Vorbesitzer des Hauses so
+getan, um sein Ansehen dem neuen Geschmacke näher zu bringen. Darauf
+sagten wieder Andere, die Gedanken der Menschen seien wechselvoll,
+einmal habe man die großen viereckigen Steine, aus denen das Äußere
+dieser Wände bestehe, nackt hervor sehen lassen, später habe man sie
+überstrichen, jetzt sei eine Zeit gekommen, wo man wieder auf das
+Alte zurück gehe und es verehre, man könne also die Steine wieder
+nacktlegen.
+
+Mein Gastfreund vernahm die Meinungen, und antwortete in unbestimmten
+und nicht auf eine einzelne Ansicht gestellten Worten, da alles, was
+gesagt wurde, sich ungefähr in demselben Kreise bewegte. Mathilde
+sprach nur Unbedeutendes, und Eustach und Roland schwiegen ganz. Von
+der feurigen Natur des letzten wunderte es mich am meisten. Ich schloß
+aus dieser Tatsache, daß meine Freunde ihre Meinung entweder schon
+gefaßt hatten oder daß sie dieselbe erst für sich fassen wollten.
+Diese eben abgehaltene Beschau erschien mir also etwas Allgemeines,
+Unwesentliches, als eine nachbarliche Artigkeit, als eine Gelegenheit,
+zusammen zu kommen, um sich gemeinschaftlich zu sehen und zu sprechen,
+wie man es bei andern Anlässen auch tut.
+
+Mir erschien die Bloßlegung der Steine unbedingt als das Natürlichste.
+Wie ich wohl schon erkennen gelernt hatte, ist bei Denkmälern - und je
+größer und würdiger sie sein sollen, um desto mehr ist dies der Fall
+- der Stoff nicht gleichgültig, und dann darf er aber nicht mit
+Fremdartigem vermengt werden. Ein Siegesbogen, selbst wenn er unter
+Dach steht, darf von Marmor sein, weniger schon von Ziegeln oder Holz,
+ganz und gar nicht von gegossenem Eisen oder festgeklebtem Papier.
+Eine Bildsäule kann von Marmor, Metall oder Holz sein, weniger von
+groben Steinen, ganz und gar nicht von allerlei zusammengefügten
+Bestandteilen. Unsere neuen Häuser, die nur bestimmt sind, Menschen
+aufzunehmen, um ihnen Obdach zu geben, haben nichts Denkmalartiges,
+sei es ein Denkmal für den Glanz einer Familie, sei es ein Denkmal
+der abgeschlossenen und wohlgenossenen Wohnlichkeit für irgend ein
+Geschlecht. Darum werden sie fachartig aus Ziegeln gebaut und mit
+einer Schicht überstrichen, wie man auch lackiertes Geräte macht oder
+künstliches Gestein malt. Schon die aus bloßem Holze zur Wohnung eines
+Geschlechtes in unseren Gebirgsländern (nicht zur Spielerei in Gärten)
+erbauten Häuser haben Denkmalartiges, noch mehr die Schlösser, die aus
+festen Steinen gefügt sind, die Torbogen, die Pfeiler, die Brücken
+und noch mehr die aus Stein gebauten Kirchen. Daraus ergab sich mir
+von selber, daß diejenigen, die dieses Schloß so bauten, daß die
+Außenseiten der Wände fest gefügte viereckige, unbestrichene Steine
+sind, Recht gehabt haben, und daß die, welche die Steine bestrichen,
+im Unrechte waren, und daß die, welche sie wieder bloß legen, abermals
+im Rechte sind. Ich sah, daß man an sämtlichen Steinen, weil sonst
+die Kalktünche nicht zu vertilgen gewesen wäre, die Oberfläche mit
+scharfen Hämmern erneuert hatte. Dies gab wohl den Steinen etwas, das
+ein lichteres Grau ist, als die alten Simse und Tragsteine hatten, die
+nicht getüncht waren; allein durch Zeit und Wetter werden sich auch
+die erneuerten Steinoberflächen wieder dunkler färben.
+
+
+Man ging, da man eine Weile gesprochen hatte, obwohl ein eigentliches
+Urteil nicht gefällt worden war, wieder in das Haus zurück, und auch
+die Dienerschaft, welche zugeschaut hatte, ging auseinander, gleichsam
+als ob die Sache jetzt aus wäre.
+
+In dem Hause zerstreuten sich die Gäste, manche begaben sich in
+Zimmer, manche gingen in das Freie. Ich nahm in meinem Schlafgemache,
+wozu mir das nehmliche Zimmer, welches ich früher bewohnt hatte,
+angewiesen worden war, einen leichteren Hut und einen bequemeren
+Rock und ging dann auch in den Garten. Ich ging ganz allein in einem
+dunkeln Gange zwischen Gebüschen hin, und es war mir wohl, daß ich
+allein war. Ich schlug die abgelegenen, wenig gangbaren und auch
+weniger im Stande gehaltenen Wege ein, damit ich niemanden begegne und
+damit sich niemand zu mir geselle. Es war auch wirklich kein Mensch in
+den Gängen, und ich sah nur kleine Vögel, welche ungescheut in ihnen
+liefen und Futter von der Erde pickten. Ich umging den Lindenplatz
+und kam hinter ihm aus dem Gebüsche heraus. Von da ging ich in einem
+großen Umwege der Eppichwand zu und hatte vor, in die Nymphengrotte zu
+treten, wenn niemand in ihr wäre. Als ich schon nahe an der Grotte war
+und schief in dieselbe blicken konnte, sah ich, daß Natalie auf dem
+Marmorbänklein sitze, welches sich seitwärts von der Nymphengestalt
+befand. Sie saß an dem innersten Ende des Bänkleins. Ihr blaßgraues
+Seidenkleid schimmerte aus der dunkeln Höhlung heraus. Einen Arm ließ
+sie an ihrer Gestalt ruhen, den andern hatte sie auf die Lehne des
+Bänkleins gestützt und barg die Stirn in ihrer Hand. Ich blieb stehen
+und wußte nicht, was ich tun sollte. Daß ich nicht in die Grotte gehen
+wolle, war mir klar; allein die kleinste Wendung, die ich machte,
+konnte ein Geräusch erregen und sie stören. Aber ohne daß ich ein
+Geräusch machte, sah sie auf und sah mich stehen. Sie erhob sich, ging
+aus der Grotte, ging mit beeilten Schritten an der Eppichwand hin und
+entfernte sich in das Gebüsch. In Kurzem sah ich den Schimmer ihres
+Kleides verschwinden. Eine ganz kleine Zeit blieb ich stehen,
+dann ging ich in die Grotte hinein. Ich setzte mich auf dieselbe
+Marmorbank, auf der sie gesessen war und sah in das Rinnen des
+Wassers, sah auf die einsame Alabasterschale, die neben dem Becken
+stand, und sah auf den ruhigen, glänzenden Marmor. Ich saß sehr lange.
+Da sich Stimmen näherten und da ich vermuten mußte, daß man die
+Brunnengestalt besuchen würde, stand ich auf, ging aus der Grotte,
+ging in das Gebüsch und begab mich auf denselben Wegen, auf denen ich
+gekommen war, in das Schloß zurück.
+
+Der Mittag vereinigte noch einmal alle Gäste bei dem Mahle. Mehrere
+von ihnen hatten beschlossen, gleich nach demselben fort zu fahren,
+um noch vor der Nacht ihre Heimat zu erreichen. Man brachte einen
+fröhlichen Trinkspruch aus auf die schöne Gestaltung des Schlosses und
+einen Dank für die herzliche Bewirtung. Der Spruch wurde mit einem
+Wunsche für das Wohl der Gesellschaft und für baldiges Wiedersehen
+erwidert. Die heitere Sommersonne verklärte das Zimmer, und die Blumen
+des Gartens schmückten es.
+
+Nach dem Mahle fuhren mehrere der Gäste fort, und im Laufe des
+Nachmittages entfernten sich alle.
+
+Wir, die nach dem Asperhofe mußten, hatten beschlossen, morgen früh
+abzufahren.
+
+Bei dem Abendessen kam das Gespräch auf das Unternehmen an dem Hause.
+Ich sah, daß die Übriggebliebenen schon einig waren. Es sprach nun
+mein Gastfreund, es sprachen Eustach und Roland. Sie hatten alle meine
+Ansicht. Ich wurde aufgefordert, auch meine Meinung zu sagen. Ich
+sprach sie nach meiner innern Empfindung aus. Alle mochten sie wohl
+so erwartet haben. Über den Aufwand zur Deckung der künftigen Kosten
+sprach mein Gastfreund mit Mathilden besonders. Durch das Abschlagen
+der Steine mit scharfen Hämmern hatten sich die Auslagen größer
+gezeigt, als man Anfangs vermuten konnte. Mein Gastfreund riet daher,
+daß man die Arbeit auf längere Fristen ausdehnen solle, wodurch die
+Kosten weniger empfindlich würden und, da doch das Schaffen des
+Schönen das Vergnügen bilde, dieses Vergnügen sich verlängere. Man
+billigte den Vorschlag und freute sich auf das Wachsen des Edleren
+und freute sich auf den Augenblick, wenn das Haus in einem würdigen
+Gewande da stehen würde und man die Beruhigung hätte, es so dem
+künftigen Besitzer übergeben zu können.
+
+Mit dem Anbruche des nächsten Tages fuhren mein Gastfreund, Eustach,
+Roland, Gustav und ich auf dem Wege nach dem Rosenhause dahin.
+
+Als ich in Hinsicht der eben zugebrachten Tage etwas über das
+Landleben sagte und die Annehmlichkeiten desselben berührte, und als
+wir eine Zeit über diesen Gegenstand gesprochen hatten, sagte mein
+Gastfreund: »Das gesellschaftliche Leben in den Städten, wenn man es
+in dem Sinne nimmt, daß man immer mit fremden Personen zusammen ist,
+bei denen man entweder mit andern zum Besuche ist, oder die mit andern
+bei uns sind, ist nicht ersprießlich. Es ist das nehmliche Einerlei
+wie das Leben in Orten, die den großen Städten nahe sind. Man sehnt
+sich, ein anderes Einerlei aufzusuchen; denn wohl ist jedes Leben
+und jede Äußerung einer Gegend ein Einerlei, und es gewährt einen
+Abschluß, von dem einen Einerlei in ein anderes über zu gehen. Aber es
+gibt auch ein Einerlei, welches so erhaben ist, daß es als Fülle die
+ganze Seele ergreift und als Einfachheit das All umschließt. Es sind
+erwählte Menschen, die zu diesem kommen und es zur Fassung ihres
+Lebens machen können.«
+
+»In der Weltgeschichte kömmt wohl Ähnliches vor«, sagte ich.
+
+»In der Weltgeschichte kömmt es vor«, antwortete er, »wo ein Mensch
+durch eine große Tat, die sein Leben erfüllt, diesem Leben eine
+einfache Gestalt geben kann, abgelöst von allem Kleinlichen - in der
+Wissenschaft, wo ein großartiges Feld höchsten Erringens vor dem
+Menschen liegt - oder in der Klarheit und Ruhe der Lebensanschauungen,
+die endlich Alles auf einige ausgedehnte, aber einfältige Grundlinien
+zurück führt. Jedoch sind auch hier Maße und Abstufungen wie in allen
+andern Dingen des Lebens.«
+
+»Von den zwei Hauptzeiträumen, welche das menschliche Geschlecht
+betroffen haben«, erwiderte ich, »von dem sogenannten antiken und
+dem heutigen, dürfte wohl der griechisch-römische das Meiste von dem
+Gesagten aufzuweisen haben.«
+
+»Wir wissen zuletzt gar nicht, welche Zeiträume es in der Geschichte
+gegeben hat«, antwortete er. »Die Griechen und Römer sind unserer Zeit
+am nächsten, wir sind aus ihnen hervor gegangen und wissen von ihnen
+auch das Meiste. Wer weiß, wie viele Völkerabschnitte es gegeben hat
+und wie viele unbekannte Geschichtsquellen noch verborgen sind. Wenn
+einmal ganze Reihen solcher Völkerzustände wie Griechen- und Römertum
+vorliegen, dann läßt sich eher über unsere Frage etwas sagen. Oder
+sind etwa solche Reihen nur dagewesen und vergessen worden, und werden
+überhaupt die hintersten Stücke der Weltgeschichte vergessen, wenn
+sich vorne neue ansetzen und ihrer Entwicklung entgegen eilen? Wer
+wird dann nach zehntausend Jahren noch von Hellenen oder von uns
+reden? Ganz andere Vorstellungen werden kommen, die Menschen werden
+ganz andere Worte haben, mit ihnen in ganz anderen Sätzen reden, und
+wir würden sie gar nicht verstehen, wie wir nicht verstehen würden,
+wenn etwas zehntausend Jahre vor uns gesagt worden wäre und uns
+vorläge, selbst wenn wir der Sprache mächtig wären. Was ist dann jeder
+Ruhm? Aber kehren wir zu unserem Gegenstande zurück und sehen wir von
+Ägyptern, Assyrern, Indern, Medern, Hebräern, Persern, von denen Kunde
+zu uns herüber gekommen ist, ab und vergleichen wir uns nur allein mit
+der griechisch-römischen Welt, so dürfte in ihr wirklich mehr einfache
+Lebensgröße gelegen sein als in der unsern liegt. Ich verwundere mich
+oft, wenn ich in der Lage bin, zu entscheiden, welchen von beiden ich
+den Preis geben soll, Cäsars Taten oder Cäsars Schriften, wie sehr ich
+im Schwanken begriffen bin und wie wenig ich es weiß. Beides ist so
+klar, so stark, so unbeirrt, daß wir wenig desgleichen haben dürften.«
+
+»Jene alten Verhältnisse des Handelns und Denkens waren aber, wie ich
+glaube, auch weniger verwickelt als die unsrigen«, sagte ich.
+
+»Sie hatten einen nicht so ausgedehnten Schauplatz wie wir«, erwiderte
+er, »obwohl auch der Platz der Taten zu Cäsars Zeit - Britannien,
+Gallien, Italien, Asien, Afrika -, oder zu Alexanders Zeit -
+Griechenland und Orient - nicht ganz klein war. Ihre Verhältnisse nach
+Außen gestalteten sich daher leichter; aber im Innern dürften sie bei
+der großen Zahl der mithandelnden Personen, von denen die meisten
+Stimme und Gewalt in Staatsdingen hatten, nicht so leicht gewesen
+sein, und die Macht, diese Gemüter durch Wort, Erscheinung und
+Handlung zu gewinnen und zu leiten, dürfte schwierig zu erwerben
+gewesen sein und dürfte eben dem Wesen eines Mannes die feste Gestalt
+aufgedrückt haben, die wir so oft an ihm bewundern. Unsere Zeit ist
+eine ganz verschiedene. Sie ist auf den Zusammensturz jener gefolgt
+und erscheint mir als eine Übergangszeit, nach welcher eine kommen
+wird, von der das griechische und römische Altertum weit wird
+übertroffen werden. Wir arbeiten an einem besondern Gewichte der
+Weltuhr, das den Alten, deren Sinn vorzüglich auf Staatsdinge, auf das
+Recht und mitunter auf die Kunst ging, noch ziemlich unbekannt war,
+an den Naturwissenschaften. Wir können jetzt noch nicht ahnen, was
+die Pflege dieses Gewichtes für einen Einfluß haben wird auf die
+Umgestaltung der Welt und des Lebens. Wir haben zum Teile die Sätze
+dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder
+Lehrzimmern, zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den
+Handel, auf den Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir
+stehen noch zu sehr in dem Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse
+beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges.
+Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes
+Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn
+wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die
+verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit
+gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden
+die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten
+Austauschens gemeinsam werden, daß Allen Alles zugänglich ist? Jetzt
+kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie
+hat, was sie ist und was sie weiß, absperren: bald wird es aber nicht
+mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden.
+Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der
+Geringste wissen und können muß, um Vieles größer sein als jetzt. Die
+Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich
+dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz
+vorausschreiten und die andern sogar in Frage stellen können. Welche
+Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen
+erlangen? Diese Wirkung ist bei Weitem die wichtigste. Der Kampf in
+dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist entstanden, weil neue
+menschliche Verhältnisse eintraten, das Brausen, von welchem ich
+sprach, wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche
+Übel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine
+Abklärung folgen, die Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der
+endlich doch siegen wird, eine bloße Macht werden, die er gebraucht,
+und weil er einen neuen menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine
+Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen
+ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen
+werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden wird, vermag
+ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir sicher,
+andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr
+auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund
+inne wohnt, beharren mag.«
+
+Wir gingen nun in manches Einzelne dieses Stoffes ein, behandelten
+es im Fahren und suchten die möglichen Folgen anzugeben. Besonders
+wurden Zweige der Naturwissenschaften genannt, welche vorzugsweise
+vorgeschritten waren und Einfluß zu gewinnen schienen, wie die Chemie
+und andere. Roland war entschieden für Neuerung, wenn sie auch Alles
+umstürzte, mein Gastfreund und Eustach hegten den Wunsch, daß jenes
+Neue, welches bleiben soll, weil es gut ist - denn wie vieles Neue ist
+nicht gut -, nur allgemach Platz finden und ohne zu große Störung sich
+einbürgern möchte. So ist der Übergang ein längerer, aber er ist ein
+ruhigerer und seine Folgen sind dauernder.
+
+Nach dem Mittagsessen kam das Gespräch auf die Brunnennymphe im
+Sternenhofe, und mein Gastfreund erzählte mir, wie sie erworben worden
+war. Ein Mann, der entfernt mit Mathilden verwandt war, hatte zu
+seinem großen Vermögen noch Erbschaften gemacht. Er verlegte sich
+auf Sammlungen. Er hatte Münzen, er hatte Siegel, er hatte keltische
+und römische Altertümer, Musikgeräte, Tulpen und Georginen, Bücher,
+Gemälde und Bildsäulen. Er baute in seinem Garten an sein Haus,
+welches etwas erhöht stand, eine große Fläche, die er mit Steinen
+pflasterte und von welcher künstliche steinerne Stufen in mehreren
+Richtungen nach dem Garten hinab gingen. Auf die Brüstungen dieser
+Fläche und auf die Einfassungen der Treppen wurden Bildsäulen gesetzt.
+Es gehörte zu den größten Vergnügungen des Mannes, auf der Fläche hin
+und her zu gehen. Das tat er auch oft, wenn die heißeste Sonne am
+Himmel stand und das Pflaster in die Sohlen brannte. Außerdem hatte er
+auch noch Bildsäulen auf den Treppen des Hauses und in den Zimmern.
+Die Nymphe, welche jetzt Mathilde besitzt, hatte er in einem
+Brunnentempel im Garten. Er hatte sie von seinem Großoheime geerbt.
+Sie soll zu den Jugendzeiten desselben von einem italienischen
+Bildhauer für einen Fürsten verfertigt worden sein, dessen schneller
+Todfall das Übergehen an ihre Bestimmung vereitelte. So kam sie
+nach mehreren Zufällen an den Großoheim, der Verbindungen mit dem
+Künstler hatte. Man sagt, diese Bildsäule sei der Anfang zu der
+Bildsäulenliebhaberei des Vetters Mathildens gewesen. Als dieser
+Mann starb, fand sich ein letzter Wille geschrieben vor, daß alle
+Kunstwerke an Kunstkenner oder Kunstliebhaber, nicht aber an Händler
+verkauft werden und daß das Geld dafür und die anderen Dinge, die er
+hinterlassen, und zwar letztere nach einem Schätzungswerte, unter
+seine entfernten Verwandten verteilt werden sollten; denn Kinder
+oder nähere Verwandte hatte er nicht. Da nun die Nymphe weitaus
+das schönste Kunstwerk war, welches er besaß, da Mathilde es immer
+bewundert hatte, da sie schon im Besitze des Sternenhofes war und in
+demselben schon schöne Gemälde untergebracht hatte: so war es ihr
+nicht schwer, sich als eine Kunstliebhaberin auszuweisen und das
+Bildwerk anzukaufen. Man gönnte es ihr mehr als einem Fremden, weil
+auf diese Weise das Kunstwerk gewissermaßen in der Familie blieb und
+sie überdies auch mehr in die gemeinschaftliche Erbschaft zahlte, als
+ein Fremder getan haben würde.
+
+Sie brachte das ihr so liebe Werk in den Sternenhof und stellte es
+dort in einem Saale auf. Erst lange darnach wurde durch Eustachs und
+meines Gastfreundes Bemühungen zwischen den Eichen, die schon standen,
+die Eppichwand und die Quellengrotte gebaut und so der Gestalt ein
+würdiger und wirkungsvollerer Aufenthaltsort gegeben, da sie für den
+Saal doch immer zu groß und ihre Stellung und ihre Beschäftigung
+unpassend gewesen war. Den Krug, aus welchem das Wasser rann, hatte
+sie schon, das Becken und die Bank sind neu gemacht worden, die
+Alabasterschale hat Mathilde aus ihrem Besitztume dazu gegeben.
+
+Wir kamen am Abende im Rosenhause an. Am andern Tage bat ich meinen
+Gastfreund, er möge erlauben, daß ich eine Nachzeichnung von der
+Zeichnung des Kerberger Altares, die er besitze, mache, und diese
+Zeichnung meinem Vater zum Geschenke bringe. Er erlaubte es sehr
+gerne. Die Zeichnung war nach dem Vorschlage, welcher auf der Reise in
+das Hochland gemacht worden war, von Roland verbessert worden, und so
+wurde sie mir übergeben.
+
+Ich schloß mich in mein Zimmer ein und arbeitete mehrere Tage fleißig
+von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bis ich mit der Zeichnung
+fertig war. Ich verpackte sie nun sehr wohl und gab meinem Gastfreunde
+die Urzeichnung zurück.
+
+
+Nun hielt ich mich nicht mehr länger in dem Asperhofe auf und eilte in
+die Tann.
+
+Ich stieg dort auf Berge, ich arbeitete sehr angestrengt, ich spielte
+sehr viel auf meiner Zither und las in meinen Büchern.
+
+Eines Tages gegen den Spätsommer hin hörte ich mit Allem auf. Ich
+packte meine Kisten, tat die Werkzeuge und die Schriften, die sich auf
+meine Arbeiten bezogen, in ihre Fächer und Koffer, entließ fast alle
+Leute, versah die Kisten mit Aufschriften, verordnete ihre Versendung
+und ging dann in das Lauterthal. Dort nahm ich nur den alten Kaspar
+und von den jungen Männern einen, der mir besonders lieb geworden war,
+und beschloß, die Messung des Lautersees zu Ende zu bringen.
+
+Ich mietete mich in dem Seewirtshause ein, richtete alle Geräte,
+welche mir zu meinem Vorhaben nötig waren, zurecht, ließ diejenigen
+neu verfertigen, welche ich nicht hatte, und ging ans Werk. Ich
+arbeitete recht fleißig. So lange das Licht des Tages leuchtete, waren
+wir auf dem Wasser. Nachts - außer einigen Stunden Schlafes - war ich
+an dem Papiere teils mit Rechnungen, teils mit Schreiben, teils sogar
+mit Zeichnen beschäftigt. Ich wiederholte einige Messungen, welche ich
+in früheren Zeiten vorgenommen hatte, um mich von der Beständigkeit
+oder Wandelbarkeit des Wasserstandes oder des Seegrundes zu
+überzeugen. Da ein durchaus gleicher Wasserstand nicht zu denken ist,
+so bezog ich meine Messungen auf einen mittleren Stand und stellte
+immer die Frage, wie tief unter diesem Stande die bestimmten Stellen
+des Seegrundes liegen. Dieser mittlere Stand, der nach demjenigen
+genommen wurde, welcher in der meisten Zeit des Jahres herrscht, war
+in meiner Abbildung auch der Wasserspiegel. Ihn nahm ich bei den
+Nachmessungen zur Richtschnur. In größeren Entfernungen von dem Ufer
+hatte sich der Seegrund seit dem Beginne meiner Messungen nicht
+geändert, oder wenn er sich geändert hatte, war es so wenig, daß es
+durch unsere Meßwerkzeuge nicht wahrzunehmen war. An jenen Ufern oder
+in der Nähe derselben, wo große Tiefen herrschten und steile, ruhige
+Wände standen, an denen bei Regengüssen höchstens schmale Bänder oder
+seichte Wasserflächen niederrieseln, war ebenfalls keine Veränderung.
+Aber an seichten Stellen bei flacheren Ufern, wo der Regen Gerölle und
+andere Dinge einführt, fanden sich schon Veränderungen vor. Am meisten
+aber waren die Wandlungen und am größten, wo eine Schlucht sich gegen
+das Wasser öffnete, aus welcher ein Bergbach hervorströmte, der, je
+nachdem er weiter her floß oder bei Güssen heftiger anschwoll, auch
+größere Berge von Gerölle in den See schob und dort liegen ließ.
+
+Nach der Wiederholung dieser alten Messungen wurde zu neuen
+geschritten, die zur Vollendung der mir zum Ziele gesetzten Kenntnisse
+notwendig waren. Ebenso wurden die Zeichnungen der Gebilde, welche
+sich außerhalb des Wassers als Ufer befanden, fleißig fortgesetzt.
+
+Zweimal wurde die Arbeit unterbrochen. Ich ging in das Rothmoor, um
+nachzusehen, wie weit die Dinge, die aus meinen Marmoren verfertigt
+werden sollten, gediehen wären und wie gut sie ausgeführt würden.
+Die Fortschritte waren zu loben. Man sagte - und ich selber sah die
+Möglichkeit ein -, daß in diesem Sommer noch alles fertig werden
+würde. Aber in Hinsicht der Güte hatte ich Ausstellungen zu machen.
+Ich ordnete mit Bitten, Vorstellungen und Versprechen an, daß man das,
+was ich angab, so genau und so rein mache, wie ich es wollte.
+
+Wenn Regenzeit war, so daß die Wolken an den Bergen herum hingen und
+weder diese noch die Gestalt des Sees richtig zu überblicken waren,
+so blieb ich zu Hause und zeichnete und malte dasjenige in mein
+Hauptblatt, was ich im Freien auf viele Nebenblätter aufgenommen
+hatte. So rückte das Unternehmen der Vollendung immer näher.
+
+Endlich waren die Arbeiten im Freien beendigt, und es erübrigte nur
+noch, die vielen Angaben, welche in meinen Papieren zerstreut waren
+und welche ich bisher nicht hatte bewältigen können, in die Zeichnung
+einzutragen und die Gestalten, welche ich auf einzelnen Blättern
+hatte, teils mit der Hauptzeichnung wegen der Richtigkeit zu
+vergleichen, teils diese, wo es nottat, zu ergänzen. Auch Farben
+mußten auf verschiedene Stellen aufgetragen werden.
+
+Nach langer Arbeit und nach vielen Schwierigkeiten, die ich zur
+Erzielung einer großen Genauigkeit zu überwinden hatte, war das
+Werk eines Tages fertig, und der ganze Entwurf lag in schwermütiger
+Düsterheit und in einer Schönheit vor meinen Augen, die ich selber
+nicht erwartet hatte. Ich betrachtete allein die Abbildung eine Weile,
+da niemand war, der das Anschauen mit mir geteilt hätte, rollte dann
+das Blatt auf eine Walze, verpackte es sehr gut in einen Koffer, nahm
+von dem See und von allen Bewohnern des Seewirtshauses Abschied und
+begab mich auf den Weg in das Ahornhaus des Lauterthales.
+
+Dort siedelte ich mich an. Ich ging nun täglich in das Rothmoor,
+blieb den ganzen Tag dort und kehrte Abends zurück, so daß ich in der
+Dämmerung im Ahornhause ankam. Ich sah im Rothmoore den Arbeiten an
+meinen Marmoren zu, dem Schneiden, Feilen, Reiben, Schleifen und
+Glätten. Ich gab auch an, wie Manches zu behandeln sei und wie es
+einer größeren Vollendung, namentlich aber einer größern Genauigkeit
+entgegen geführt werden könnte.
+
+
+Das Wasserbecken meines Vaters wurde nach und nach fertig und die
+kleineren Dinge, welche gemacht werden sollten, waren ebenfalls
+vollendet. Die Sonne schien in die Bauhütte, und das Becken erglänzte
+recht rein und schön in derselben. Ich ließ von starken Balken
+Behältnisse zimmern. In diese wurden die Teile des Beckens mit Winden,
+Hebeln und Stricken gepackt und zur Versendung bereitet. Die Wägen
+mußten eigens vorgerichtet werden, damit die Behältnisse an den Strom
+gebracht werden könnten. Diese Vorrichtung war endlich fertig. Das
+Aufladen wurde bewerkstelligt, und die Wägen gingen ab. Ich ging
+mit ihnen bis an den Strom und verließ sie keinen Augenblick, um wo
+möglich jeden Unfall zu verhüten. Am Strome wurden die Behältnisse auf
+ein Schiff verladen und weiter befördert. Von dem Landungsplatze vor
+unserer Stadt wurden sie endlich wieder durch starke Wägen in unsern
+Garten gebracht.
+
+Es wurde nun daran geschritten, das Wasserwerk in diesem Herbste noch
+fertig zu machen. Der Vater hatte auf Briefe von mir und auf gesendete
+Maße den Dingen bereits vorarbeiten lassen. Es wurden nun noch mehrere
+Arbeiter gedungen und ein Wasserbaukundiger genommen, welcher die
+Arbeiten zu leiten hatte. Ich war den ganzen Tag bei dem Werke zugegen
+und half mit. Der Vater kargte sich ebenfalls alle mögliche Zeit ab,
+um zugegen sein und zuschauen zu können. Die Röhren wurden gelegt,
+die Steigröhre verzapft, der Stengel über sie gebaut, mit den nötigen
+Eisen gestärkt und verlötet, und an demselben wurde das Blatt
+befestigt. Der Pfropfen, welcher den in das Blatt mündenden Stengel
+geschlossen gehalten hatte, wurde gelüftet, und der reine Strahl
+fiel auf die im Blatte liegende Einbeere hinunter, füllte das Becken
+und glitt von demselben, als es gefüllt war, auf den sanften gelb
+marmornen Fußboden nieder und rieselte in dessen Rinne weiter. Die
+Farben stimmten sehr gut zusammen, das Dunkel des Stengels hob sich
+von dem Rosenrot des Blattes ab, und das Gelb des Fußbodens gab dem
+Rosenrot eine schönere Farbe und einen feineren Glanz. Es waren
+mehrere Gäste zur Eröffnung des Werkes geladen worden, und diese sowie
+Vater, Mutter und Schwester freuten sich des Gelingens.
+
+Der Vater reichte mir als Gegengeschenk, sehr schön gebunden und auf
+den Deckeln mit halberhabener Arbeit versehen, das Nibelungenlied. Ich
+dankte ihm sehr dafür.
+
+Es wurde beschlossen, für den Winter ein Bretterhäuschen über das
+Wasserwerk machen zu lassen und dasselbe gut zu verwahren, daß keine
+Kälte eindringen könne. Für den Frühling wurden Pläne entworfen, wie
+man die Gartenumgebungen des Beckens einrichten solle, daß der ganze
+Anblick ein desto würdigerer und schönerer sei. Man hoffte, bis zum
+Eintritte der besseren Jahreszeit mit den Entwürfen im Reinen zu sein
+und beginnen zu können.
+
+Ich übergab außer dem Becken auch die andern Marmorgegenstände, welche
+in dem Rothmoore waren verfertiget worden. Darunter befanden sich
+Säulen und Simse, welche an einer Stelle verwendet werden sollten,
+die am Ende des Gartens lag, eine Aussicht auf die Berge und auf die
+Umgebung bot und auf welcher der Vater etwas zu errichten vorhatte,
+das der Aussicht würdig wäre und sie besser genießen lasse. Ich
+meinte, es dürfte eine schöne Fassung anzulegen sein, die den Platz
+begrenzt, die breite Flächen hat, daß man sich auf dieselben lehnen
+und Dinge auf sie legen könne und an der sich Sitze befänden, auf
+welchen man ausruhen könne. Wenn in der Nähe dieser Fassung ein
+Tisch wäre, würde es noch besser sein. Außerdem hatte ich Schalen
+zu beliebigem Gebrauche gebracht, Ringe, die einen Vorhang fassen,
+Tischplatten, Pfeilerverzierungen, Steine von verschiedener Farbe, die
+im Vierecke geschliffen waren und die man der Reihe nach auf Papier
+oder Ähnliches legen konnte, und noch mehrere Dinge dieser Art. Dem
+Vater zeigte ich die Zeichnung von dem Kerberger Altare und sagte, daß
+ich sie eigens für ihn gemacht habe und sie ihm hiemit übergebe. Er
+war sehr erfreut darüber und dankte mir dafür. Der Altar war ihm zwar
+nicht neu, er hatte ihn in früherer Zeit, ehe er wieder hergestellt
+worden war, gesehen, und die Zeichnung des wiederhergestellten Altares
+war unter den von meinem Gastfreunde dem Vater im vorigen Jahre
+gesendeten Zeichnungen gewesen. Deßohngeachtet war es ihm sehr
+angenehm, die Zeichnung zu besitzen und sie öfter und nach Muße
+betrachten zu können. Er machte mich auf mehrere Dinge aufmerksam, die
+er nach wiederholter Betrachtung entdeckt hatte. Zuerst sah er, daß
+der Altar viel reicher und mannigfaltiger sei, als da er ihn in noch
+unverbessertem Zustande vor vielen Jahren in Wirklichkeit gesehen
+hatte; dann machte er mich darauf aufmerksam, daß dieses Werk schon
+die Rundlinie habe, daß die Türmchen durch gewundene Stäbe in
+Gestalten von Pyramiden gebildet und daß die menschlichen Gestalten
+schon sehr durchgearbeitet seien, was alles darauf hindeuten daß das
+Werk nicht mehr der Zeit der strengen gothischen Bauart angehöre,
+sondern derjenigen, wo diese Art sich schon zu verwandeln begonnen
+hatte. Auch zeigte er mir, daß Teile der Verzierungen im Laufe der
+Zeiten an andere Orte gestellt worden seien als an die sie gehören,
+daß die Büsten sich nicht an dem rechten Platze befinden und daß
+menschliche Gestalten verloren gegangen sein müssen. Er holte Bücher
+aus seinem Bücherschreine herbei, in denen Abbildungen waren und aus
+denen er mir die Wahrheit dessen bewies, was er behauptete. Ich sagte
+ihm, daß mein Gastfreund und Eustach der nehmlichen Meinung sind, daß
+aber die Wiederherstellungen, welche man an dem Altare gemacht hat,
+im strengen Wortverstande nicht Wiederherstellungen gewesen seien,
+sondern daß man sich zuerst nur zum Zwecke gesetzt habe, den Stoff
+zu erhalten und weitere Umänderungen oder größere Ergänzungen einer
+ferneren Zeit aufzubewahren, wenn sich überhaupt die Mittel und Wege
+dazu fänden. Nur solche Ergänzungen sind gemacht worden, bei denen die
+Gestalt des Gegenstandes unzweifelhaft gegeben war.
+
+Die Bücher des Vaters machten mich auf die Sache, die sie behandelten,
+mehr aufmerksam, ich bat ihn, daß er sie mir in meine Wohnung leihe,
+und begann sie durchzugehen. Sie führten mich dahin, daß ich die
+Baukunst und ihre Geschichte vom Anfange an genauer kennen zu lernen
+wünschte und mir alle Bücher, die hiezu nötig wagen, nach dem Rate
+meines Vaters und Anderer ankaufte.
+
+
+
+Der Bund
+
+Der Winter verging wie gewöhnlich. Ich richtete meine mitgebrachten
+Dinge in Ordnung und holte an Schreibgeschäften nach, was im Sommer
+wegen der Tätigkeit im Freien und der anderweitig verlorenen Zeit im
+Rückstande geblieben war. Der Umgang mit den Meinigen in dem engsten
+Kreise des Hauses war mir das Liebste, er war mein größtes Vergnügen,
+er war meine höchste Freude. Der Vater bezeigte mir von Tag zu Tag
+mehr Achtung. Liebe konnte er mir nicht in größerem Maße bezeigen,
+denn diese hatte er mir immer höchstmöglich bewiesen; aber so wie
+er früher bei der zärtlichsten Sorgfalt für mein Wohl und bei der
+Herbeischaffung alles dessen, was zu meinem Unterhalte und meiner
+Ausbildung notwendig gewesen ist, mich meine Wege gehen ließ, immer
+freundlich und liebevoll war und nicht begehrte, daß ich mich in
+andere Richtungen begebe, die ihm etwa bequemer sein mochten: so war
+er zwar dies jetzt alles auch; aber er fragte mich doch häufiger
+um meine Bestrebungen und ließ sich die Dinge, welche darauf Bezug
+hatten, auseinandersetzen, er holte meinen Rat und meine Meinung
+in Angelegenheiten seiner Sammlungen oder in denen des Hauses
+ein und handelte darnach, er sprach über Werke der Dichter, der
+Geschichtschreiber, der Kunst mit mir, und tat dies öfter, als
+es in früheren Zeiten der Fall gewesen war. Er brachte in meiner
+Gesellschaft manche Zeit bei seinen Bildern, bei seinen Büchern
+und bei seinen andern Dingen zu und versammelte uns gerne in dem
+Glashäuschen, das eine erwärmte Luft durchwehte, die sich traulich um
+die alten Waffen, die alten Schnitzwerke und die Pfeilerverkleidungen
+ergoß. Er sprach von verschiedenen Dingen und schien sich wohl zu
+fühlen, den Abend in dem engsten Kreise seiner Familie zubringen zu
+können. Mir schien es, daß er zu der jetzigen Zeit nicht nur früher
+aus seiner Schreibstube nach Hause komme als sonst, sondern daß er
+sich auch mehr innerhalb der Mauern desselben aufhalte als in früheren
+Jahren. Die Mutter war sehr freudig über die Heiterkeit dem Vaters,
+sie ging gerne in seine Pläne ein und beförderte alles, was sie in
+ihrem Kreise zu der Erfüllung derselben tun konnte. Sie schien uns
+Kinder mehr zu lieben als in jeder vergangenen Zeit. Klotilde wendete
+sich immer mehr und mehr zu mir, sie war gleichsam mein Bruder, ich
+war ihr Freund, ihr Ratgeber, ihr Gesellschafter. Sie schien gar keine
+andere Empfindung als für unser Haus zu haben. Wir setzten unsere
+Übungen im Spanischen, im Zitherspielen, im Zeichnen und Malen fort.
+
+Trotz dieser Dinge war sie auch im Hauswesen eifrig, um der Mutter
+Folge zu leisten und ihren Beifall zu gewinnen. Wenn etwas in dieser
+Art, das eine größere Sorgfalt und Geschicklichkeit erheischte,
+besonders gelang und dies erkannt wurde, so war ihre Befriedigung
+größer, als wenn sie bei einer ernsten und wichtigen Bewerbung vor
+einer ansehnlichen Versammlung den Preis davon getragen hätte.
+
+In den Gesellschaften, die in kleineren oder größeren Kreisen, nur
+seltener als in früheren Jahren, in unserem Hause statt fanden, wurden
+jetzt auch mehr Gespräche geführt als da wir auch jünger waren. Es
+wurden ernsthafte Dinge in Untersuchung gezogen, Angelegenheiten des
+Staates, allgemeine öffentliche Unternehmungen oder Erscheinungen, die
+von sich reden machten. Man sprach auch von seinen Beschäftigungen,
+von seinen Liebhabereien oder von dem gewöhnlichen Tagesstoffe, wie
+etwa das Theater ist oder wie Begebenheiten sind, die sich in den
+nächsten Umgebungen zutragen. Im Übrigen wurde auch zu den bekannten
+Vergnügungen gegriffen, Musik, Tanz, Liedersingen. Manche jüngere
+Leute lernten sich da neu kennen, ältere setzten die früher bestandene
+Bekanntschaft fort.
+
+Ich besuchte meine Freunde, besprach mich mit ihnen und erzählte ihnen
+im Allgemeinen, womit ich mich eben beschäftige. Sie teilten mir
+aus dem Kreise ihrer Erlebnisse mit und machten mich auf manche
+Persönlichkeiten aufmerksam.
+
+Ich setzte meine Malerei fort, ich betrieb die Edelsteinkunde und
+besuchte manches Theater. Das Lesen der Bücher über Baukunst vergnügte
+mich sehr, und es eröffnete sich mir da ein neues Feld, das manches
+Ersprießliche und manche Förderung versprach.
+
+Die Abende bei der Fürstin erschienen mir immer wichtiger. Es hatte
+sich nach und nach eine Gesellschaft zusammen gefunden, deren
+Mitglieder sich häufig und gerne in dem Zimmer der Fürstin
+versammelten. Es wurden die anziehendsten Stoffe verhandelt, und
+man schrak nicht zurück, wenn jemand die Fragen der allerneuesten
+Weltweisheit auf die Bahn brachte. Man legte sich die Dinge zurecht,
+wie man konnte, man kleidete die eigentümliche Redeweise der
+sogenannten Fachmänner in die gewöhnliche Sprache und wendete den
+gewöhnlichen Verstand darauf an. Was durch diese Mittel und durch die
+der Gesellschaft herausgebracht werden konnte, das besaß man, und wenn
+es von der Gesellschaft als ein Gewinn betrachtet wurde, so behielt
+man es als einen Gewinn. Wenn aber nur Worte da zu sein schienen, von
+denen man eine greifbare Bedeutung nicht ermitteln konnte, so ließ man
+die Sache dahin gestellt sein, ohne ihr eine Folge zu geben und ohne
+über sie aburteilen zu wollen. Die Dichter und das Spanische wurden
+lebhaft fortgesetzt.
+
+Wenn sehr klare Tage waren und eine heitere Sonne ein erhellendes
+Licht in den Zimmern vermittelte, so war ich in dem Glashäuschen und
+arbeitete an den Abbildungen der Pfeilerverkleidungen für meinen
+Gastfreund. Ich wollte sie so gut machen, als es mir nur möglich wäre,
+um dem Manne, dem ich so viel verdankte und den ich so hoch achtete,
+Zufriedenheit abzugewinnen oder ihm gar etwa ein Vergnügen zu
+bereiten. Ich wollte zuerst Zeichnungen von den Verkleidungen
+entwerfen und nach ihnen Bilder in Ölfarben ausführen. Ich machte die
+Zeichnungen auf lichtbraunes Papier, tiefte die Schatten in Schwarz
+ab, erhöhte die Lichter in einem helleren Braun und setzte die
+höchsten Glanzstellen mit Weiß auf. Als ich die Zeichnungen in dieser
+Art fertig hatte und durch vielfache Vergleichungen und Abmessungen
+überzeugt war, daß sie in allen Verhältnissen richtig seien, setzte
+ich noch den Maßstab hinzu, nach dem sie ausgeführt waren. Ich schritt
+nun zur Verfertigung der Bilder.
+
+Sie wurden etwas kleiner als die Entwürfe gemacht, aber im genauen
+Verhältnisse zu denselben. Ich benutzte zum Malen immer die nehmlichen
+Vormittagsstunden, um die Glanzpunkte, die Lichter und die Schatten in
+ihrer vollen Richtigkeit zu erfassen und auch der Farbe im Allgemeinen
+ihre Treue geben zu können. Es zeigte sich mir da eine Erfahrung in
+den Farben wieder bestätigt, die ich schon früher gemacht hatte. Auf
+die mit schwachem Firnisse überzogenen Holzschnitzwerke nahmen die
+umgebenden Gegenstände einen solchen Einfluß, daß sich Schwerter,
+Morgensterne, dunkelrotes Faltenwerk, die Führung der Wände, des
+Fußbodens, die Fenstervorhänge und die Zimmerdecke in unbestimmten
+Ausdehnungen und unklaren Umrissen in ihnen spiegelten. Ich merkte
+bald, daß, wenn alle diese Dinge in die Farbe der Abbildungen
+aufgenommen werden sollten, die dargestellten Gegenstände wohl an
+Reichtum und Reiz gewinnen, aber an Verständlichkeit verlieren würden,
+so lange man nicht das Zimmer mit allem, was es enthält, mit malt, und
+dadurch die Begründung aufzeigt. Da ich dies nicht konnte und mein
+Zweck es auch nicht erheischte, so entfernte ich alles Zufällige und
+stark Einwirkende aus dem Zimmer und malte dann die Schnitzereien,
+wie sie sich sammt den übergebliebenen Einwirkungen mir zeigten, um
+einerseits wahr zu sein und um andererseits, wenn ich jede Einwirkung
+der Umgebung weg ließe, nicht etwas geradezu Unmögliches an ihre
+Stelle zu setzen und den Gegenstand seines Lebens zu berauben, weil er
+dadurch aus jeder Umgebung gerückt würde, keinen Platz seines Daseins
+und also überhaupt kein Dasein hätte. Was die wirkliche Ortsfarbe der
+Schnitzereien sei, würde sich aus dem Ganzen schon ergeben und müßte
+aus ihm erkannt worden. Ich wendete bei der Arbeit sehr viele Mühe auf
+und suchte sie so genau, als es meiner Kraft und meinen Kenntnissen
+möglich war, zu verrichten. Ich erhöhte und vertiefte die Farben so
+lange und suchte nach dem richtigen Tone und dem erforderlichen Feuer
+so lange, bis das Bild, neben die Gegenstände gestellt, aus der Ferne
+von ihnen nicht zu unterscheiden war. Die Zeichnung des Bildes mußte
+richtig sein, weil sie vollkommen genau nach dem ursprünglichen
+Entwurfe gemacht worden war, den ich nach mathematischen Weisungen
+zusammen gestellt hatte. Als die Sache nach meiner Meinung fertig war,
+zeigte ich sie dem Vater, welcher sie auch mit Ausnahme von kleinen
+Anständen, die er erhob, billigte. Die Anstände beseitigte ich zu
+seiner Zufriedenheit. Hierauf wurde alles in taugliche Fächer gebracht
+und zur Vorführung bereit gehalten.
+
+
+Es waren fast die Tage des Vorfrühlings herangekommen, ehe ich mit
+diesem Werke fertig war. Dies hatte seinen Grund auch vorzüglich
+darin, daß ich die späteren hellen Wintertage mehr als die früheren
+trüben hatte benützen können.
+
+Im Frühlinge trat ich meine Reise wieder an.
+
+Ich machte zuerst einen Besuch bei meinem Gastfreunde, brachte ihm die
+Fächer, in denen die Abbildungen der Pfeilerverkleidungen enthalten
+waren, und händigte ihm sowohl den Entwurf als auch das Farbenbild der
+Schnitzereien ein. Er berief Eustach in seine Stube, in welcher die
+Dinge ausgepackt wurden, herüber. Beide sprachen sich sehr günstig
+über die Arbeit aus, und zwar günstiger als über jede frühere, die ich
+ihnen vorgelegt hatte. Ich war darüber sehr erfreut. Eustach sagte,
+daß man sehr gut die Ortsfarben und die, welche durch fremde
+Einwirkungen entstanden waren, unterscheiden könne, und daß man aus
+den letzten die Beschaffenheit der Umgebungen zu ahnen vermöge. Sie
+stellten das Bild in die nötige Entfernung und betrachteten es mit
+Gefallen. Besonders anerkennend sprach Eustach über die Richtigkeit
+und Brauchbarkeit des unfarbigen Entwurfes.
+
+Ich reiste nach dem kurzen Besuche in dem Rosenhause in die Gegend der
+Tann, blieb auch dort nur kurz und drang tiefer in das Gebirge ein,
+um eine Mittelstelle zu finden, von der aus ich meine neuen Arbeiten
+unternehmen könnte. Als ich eine solche gefunden hatte, ging ich in
+das Lauterthal und dort in das Ahornwirtshaus, um meinen Kaspar und
+die Andern, welche mir im vorigen Jahre geholfen hatten, auch für
+das heutige zu dingen. Als dies, wie ich glaube zu gegenseitiger
+Zufriedenheit, abgetan war, blieb ich noch einige Tage in dem
+Ahornhause, teils damit sich meine Leute zu der Abreise rüsten
+konnten, teils um das mir liebgewordene Haus, das liebgewordene Tal
+und die Umgebung wieder ein wenig zu genießen. Ich ging bei dieser
+Gelegenheit mehrere Male in das Rothmoor, um dort nachzusehen, was man
+eben für Gegenstände aus Marmor mache. Mir schien es, als wäre die
+Anstalt seit einem Jahre sehr gediehen. Ich besprach mich auch dort
+über Arbeiten, die für mich auszuführen wären, falls ich den hiezu
+nötigen Marmor fände. Erkundigungen, um auf Spuren der Ergänzungen der
+Pfeilerverkleidungen meines Vaters, die ich in dieser Gegend gekauft
+hatte, zu kommen, waren auch heuer wie in früherer Zeit fruchtlos.
+
+Ein Ereignis trat in dem Lauterthale ein, das mich sehr erheiterte.
+Mein Zitherspiellehrer, der einige Zeit gleichsam verschollen war, war
+wieder da. Er zeigte viele Freude, mich zu sehen, und sagte, er wolle
+mir in das Kargrat folgen, welches jetzt der Mittelpunkt meiner
+Arbeiten war, ein Dörfchen auf grasigen, baum- und buschlosen Anhöhen,
+ganz nahe dem ewigen Eise, mit armen Bewohnern und einem vielleicht
+noch ärmeren, genügsamen Pfarrer. Er sagte, er wolle diejenigen
+Arbeiten, die ich ihm auftragen werde, gegen Lohn verrichten, und in
+freier Zeit wollen wir auf der Zither spielen. Er habe noch keinen
+Schüler gehabt, mit dem ihm die Übungen auf der Zither so viele Freude
+gemacht hätten. Ich beschloß, einen Versuch zu wagen, und wir wurden
+über die gegenseitigem Bedingungen einig.
+
+Als alles in Bereitschaft war, gingen wir aus dem Ahornhause in das
+Kargrat ab. Ich ging mit den Leuten auf abgelegenen und schneller zum
+Ziele führenden Gebirgspfaden. Nur einmal hatten wir eine Strecke
+gebahnter Straße, auf welcher ich zwei leichte Wägen mietete. Im
+Kargrat fand ich ein kleines Zimmerchen. Für meine Leute wurde eine
+Scheune zurecht gerichtet, und zur Aufbewahrung meiner Gegenstände
+wurde aus Brettern ein ganz kleines Häuschen eigens erbaut. Wir waren
+nun in der Nähe der höchsten Höhen. In mein winziges Fenster sahen die
+drei Schneehäupter der Leiterköpfe, hinter denen die steile, ziemlich
+schlanke, blendend weiße Nadel der Karspitze hervorragte, und neben
+denen die edelsteinglänzenden Bänke der Stimmen oder des Simmieises
+sich dehnten. Um den sehr spitzen Kirchturm des Dörfchens wehte die
+scharfe, fast harte Gebirgsluft und senkte sich auf unsere Häupter und
+Angesichter nieder. Weit ab gegen die Tiefe zu lagen die anderen Berge
+und die dichter bewohnten und bevölkerten Länder.
+
+Über das Zitherspiel meines wiedergefundenen Lehrers war ich wirklich
+sehr erfreut. Ich hatte in der Zeit, während welcher ich ihn nicht
+gesehen hatte, schon beinahe vergessen, wie vortrefflich er spiele.
+Alles, was ich seit dem gehört hatte, erblaßte zur Unbedeutenheit
+gegen sein Spiel, von dem ich den Ausdruck »höchste Herrlichkeit«
+gebrauchen muß. Er scheint von diesem seinem Musikgeräte auch
+ergriffen und beherrscht zu sein; wenn er spielt, ist er ein anderer
+Mensch und greift in seine und in die Tiefen anderer Menschen, und
+zwar in gute. Auf diesen Berghöhen war das schöne Spiel fast noch
+schöner, noch rührender und einsamer.
+
+Wie uns im vorigen Jahre Wälder und Wände eingeschlossen hatten und
+nur wenige Stellen uns freien Umblick verschafften, so waren wir heuer
+fast immer auf freien Höhen, und nur ausnahmsweise umschlossen uns
+Wände oder Wälder. Der häufigste Begleiter unserer Bestrebungen war
+das Eis.
+
+Als die Kalendertage sagten, daß die Rosenblüte schon beinahe vorüber
+sein müsse, beschloß ich, meine Freunde zu besuchen. Ich ordnete im
+Kargrat alles für meine Abwesenheit und Wiederkunft an und begab mich
+auf den Weg.
+
+Als ich in dem Asperhofe ankam, sagten mir der Gärtner und die
+Dienstleute, daß Mathilde, Natalie, mein Gastfreund, Eustach, Roland
+und Gustav in den Sternenhof fort seien. Die Rosen waren schon
+verblüht, und man hatte mich nicht mehr erwartet. Mein Gastfreund
+hatte gesagt, daß ich, weil ich ihm im Frühlinge mitgeteilt hatte, daß
+ich heuer ganz nahe an dem Simmieise wohnen werde, wahrscheinlich im
+Sommer von dorther den weiten Weg nicht werde haben machen wollen, und
+daß zu vermuten sei, daß ich im Herbst meine Arbeit abkürzen und auf
+eine Zeit bei meinen Freunden einsprechen werde. Sollte ich aber
+dennoch kommen, so hatten die Leute den Auftrag, zu sagen, daß man
+mich bitte, in den Sternenhof nachzukommen.
+
+Ich mietete also des andern Tages auf der Post einen leichten Wagen
+und schlug die Richtung nach dem Sternenhofe ein.
+
+Als ich in der Umgebung desselben angekommen war, sah ich an Zäunen
+und in Gärten noch manche Rose frisch blühen, obwohl im Asperhofe
+weder auf dem Gitter noch im Garten eine zu erblicken gewesen war,
+außer mancher welken und gerunzelten Blume, die man abzunehmen
+vergessen hatte. Auch auf der Anhöhe, die zu dem Schlosse empor
+leitete, waren an Rosenbüschen, die gelegentlich den Rasen säumten,
+weil man im Sternenhofe die Rosen nicht eigens pflegte, sondern sie
+nur wie gewöhnlich als schönen Gartenschmuck zog, noch Knospen, die
+ihres Aufbrechens harrten. Diese Tatsache mag daher kommen, weil der
+Sternenhof näher an den Gebirgen und höher liegt als das Rosenhaus
+meines Freundes.
+
+In dem Hofe des Hauses nahmen die Leute mein Gepäck und die Pferde in
+Empfang und wiesen mich die große Treppe hinan. Da ich gemeldet worden
+war, wurde ich in Mathildens Zimmer geführt und fand sie in demselben
+allein. Sie ging mir fast bis zu der Tür entgegen und empfing mich
+mit derselben offenen Herzlichkeit und Freundlichkeit, die ihr immer
+eigen war. Sie führte mich zu dem Tische, der an einem mit Blumen
+geschmückten Fenster stand, wo sie gerne saß, und wies mir ihr
+gegenüber einen Stuhl an dem Tische an. Als wir uns gesetzt hatten,
+sagte sie: »Es freut mich sehr, daß ihr noch gekommen seid, wir haben
+geglaubt, daß ihr heuer den weiten Weg nicht machen würdet.«
+
+»Wo man mich so freundlich aufnimmt«, antwortete ich, »und wo man
+mich so gütig behandelt, dahin mache ich gerne einen Weg, ich mache
+ihn jedes Jahr, wenn er auch weit ist, und wenn ich auch meine
+Beschäftigung unterbrechen muß.«
+
+»Und jetzt findet ihr mich und Natalien nur allein in diesem Hause«,
+erwiderte sie, »die Männer, da sie sahen, daß ihr nach dem Abblühen
+der Rosen noch nicht gekommen waret, meinten, ihr würdet im Sommer nun
+gar nicht mehr kommen, und haben eine kleine Reise angetreten, die
+auch Gustav mitmacht, weil er das Reisen so liebt. Sie besuchen eine
+kleine Kirche in einem abgelegenen Gebirgstale, deren Zeichnung Roland
+gebracht hat. Die Kirche wurde in der Zeichnung sehr schön befunden,
+und zu ihr sind sie nun unter Rolands Führung auf dem Wege. Wo sie
+nach der Besichtigung derselben hinfahren werden, weiß ich nicht; aber
+das weiß ich, daß sie nur einige Tage ausbleiben und in den Sternenhof
+zurückkehren werden. Ihr müßt sie hier erwarten, sie werden eine
+Freude haben, euch zu sehen, und ich werde mich bemühen, alles
+Erforderliche einzuleiten, daß ihr indessen hier die beste
+Bequemlichkeit haben könnet.«
+
+»Der Bequemlichkeit«, erwiderte ich, »bin ich weder gewohnt, noch
+schlage ich sie hoch an. Ich möchte nur nicht eine Störung in euer
+jetziges einsames Hauswesen bringen. Das Höchste, was mir zu Teil
+werden kann, habe ich empfangen, eine freundliche Aufnahme.«
+
+»Wenn auch gewiß eine freundliche Aufnahme das Höchste ist, und wenn
+ihr auch eine Bequemlichkeit nicht begehret«, antwortete sie, »so ist
+die Freundlichkeit in den Mienen bei der Aufnahme eines Gastes nicht
+das Einzige, so schätzenswert sie dort ist, sondern sie muß sich auch
+in der Tat äußern, und es muß uns erlaubt sein, unsere Pflicht, die
+uns lieb ist, zu erfüllen, und dem Gaste eine so gute Wohnlichkeit zu
+bereiten, als es die Umstände erlauben, er mag sie nun benutzen oder
+nicht.«
+
+»Was ihr für eine Pflicht haltet, will ich nicht bestreiten«,
+antwortete ich, »ich will es nicht beirren, nur wünschen muß ich, daß
+es mit so wenig eigener Aufopferung als möglich verbunden ist.«
+
+»Diese wird nicht groß sein«, sagte sie, »auf einige Aufmerksamkeit
+in Hinsicht der Genauigkeit und Willigkeit der Leute kömmt es an, und
+diese müsset ihr mir schon erlauben.«
+
+Sie zog mit diesen Worten an einer Glockenschnur und bedeutete den
+hereinkommenden Diener, daß er ihr den Hausverwalter rufe.
+
+Da dieser erschienen war, sagte sie ihm mit sehr einfachen und kurzen
+Worten, daß für einen längeren Aufenthalt für mich in dem Hause auf
+das Beste gesorgt werden möge. Als er sich entfernen wollte, trug sie
+ihm noch auf, vorerst dem Fräulein zu sagen, wer gekommen sei, sie
+würde es später auch selber melden, und zum Abendessen würden wir in
+dem Speisezimmer zusammen kommen.
+
+Der Hausverwalter entfernte sich, und Mathilde sagte, jetzt wäre das
+Hauptsächlichste getan, und es erübrige später nur noch, sich einen
+Bericht über die Mittel und die Art der Ausführung geben zu lassen.
+
+Wir gingen nun auf andere Gespräche über. Mathilde fragte mich um mein
+Befinden und um das Allgemeine meiner Beschäftigungen, denen ich mich
+in diesem Sommer hingegeben habe.
+
+Ich antwortete ihr, daß mein körperliches Befinden immer gleich wohl
+geblieben sei. Man habe mich von Kindheit an zu einem einfachen Leben
+angeleitet, und dieses, verbunden mit viel Aufenthalt im Freien, habe
+mir eine dauernde und heitere Gesundheit gegeben. Mein geistiges
+Befinden hänge von meinen Beschäftigungen ab. Ich suche dieselben
+nach meiner Einsicht zu regeln, und wenn sie geordnet und nach meiner
+Meinung mit Aussicht auf einen Erfolg vor sich gehen, so geben sie
+mir Ruhe und Haltung. Sie sind aber in den letzten Jahren, was meine
+Hauptrichtung anbelangt, fast immer dieselben geblieben, nur der
+Schauplatz habe sich geändert. Die Nebenrichtungen sind freilich
+andere geworden, und dies werde wohl fortdauern, so lange das Leben
+daure.
+
+Hierauf fragte ich nach dem Wohlbefinden aller unserer Freunde.
+
+Mathilde antwortete, man könne hierüber sehr befriedigt sein. Mein
+Gastfreund fahre in seinem einfachen Leben fort, er bestrebe sich, daß
+sein kleiner Fleck Landes seine Schuldigkeit, die jedem Landbesitze
+zum Zwecke des Bestehenden obliege, bestmöglich erfülle, er tue seinen
+Nachbarn und andern Leuten viel Gutes, er tue es ohne Gepränge und
+suche hauptsächlich, daß es in ganzer Stille geschehe, er schmücke
+sich sein Leben mit der Kunst, mit der Wissenschaft und mit
+andern Dingen, die halb in dieses Gebiet, halb beinahe in das der
+Liebhabereien schlagen, und er suche endlich sein Dasein mit jener
+Ruhe der Anbetung der höchsten Macht zu erfüllen, die alles Bestehende
+ordnet. Was zuletzt auch noch zum Glücke gehört, das Wohlwollen der
+Menschen, komme ihm von selber entgegen. Eustach und der ziemlich
+selbständige Roland haben sich zum Teile an dieses Gewebe von
+Tätigkeiten angeschlossen, zum Teile folgen sie eigenen Antrieben und
+Verhältnissen. Gustav strebe erst auf der Leiter seiner Jugend empor,
+und sie glaube, er strebe nicht unrichtig. Wenn dieses sei, so werde
+dann die letzte Sprosse an jede Höhe dieses Lebens anzulegen sein, auf
+der ihm einmal zu wandeln bestimmt sein dürfte. Was endlich sie selber
+und Natalie betreffe, so sei das Leben der Frauen immer ein abhängiges
+und ergänzendes, und darin fühle es sich beruhigt und befestigt. Sie
+beide hätten den Halt von Verwandten und nahen Angehörigen, dem sie
+zur Festigung von Natur aus zugewiesen wären, verloren, sie leben
+unsicher auf ihrem Besitztume, sie müßten Manches aus sich schöpfen
+wie ein Mann und genießen der weiblichen Rechte nur in dem
+Widerscheine des Lebens ihrer Freunde, mit dem der Lauf der Jahre sie
+verbunden habe. Das sei die Lage, sie daure ihrer Natur nach so fort
+und gehe ihrer Entwicklung entgegen. Mich hatte diese Darstellung
+Mathildens beinahe ernst gemacht. Die Stimmung milderte sich wieder,
+da wir auf die Erzählung von Dingen kamen, die sich in diesem Sommer
+zugetragen hatten. Mathilde berichtete mir über die Rosenblüte, über
+die Besuche in derselben, über ihr Leben auf dem Sternenhofe und über
+das Gedeihen alles dessen, was der Jahresernte entgegen sehe. Ich
+beschrieb ihr ein wenig meinen jetzigen Aufenthaltsort, erklärte ihr,
+was ich anstrebe, und erzählte ihr, auf welchen Wegen und mit welchen
+Mitteln wir es auszuführen versuchen.
+
+Nachdem das Gespräch auf diese Art eine Zeit gedauert hatte, empfahl
+ich mich und begab mich in mein Zimmer.
+
+Es war mir dieselbe Wohnung eingeräumt und hergerichtet worden, welche
+ich jedes Mal, so oft ich in dem Sternenhofe gewesen war, inne gehabt
+hatte. Ein Diener hatte mich von dem Vorzimmer Mathildens in dieselbe
+geführt. Sie hatte beinahe genau dasselbe Ansehen wie früher, wenn ich
+ein Bewohner dieses Hauses gewesen war. Sogar die Bücher, welche der
+Hausverwalter jedes Mal zu meiner Beschäftigung herbeigeschafft hatte,
+waren nicht vergessen worden. Nachdem ich mich eine Weile allein
+befunden hatte, trat dieser Hausverwalter herein und fragte mich, ob
+alles in der Wohnung in gehöriger Ordnung sei oder ob ich einen Wunsch
+habe. Als ich ihm die Versicherung gegeben hatte, daß alles über meine
+Bedürfnisse trefflich sei, und nachdem ich ihm für seine Mühe und
+Sorgfalt gedankt hatte, entfernte er sich wieder.
+
+Ich überließ mich eine Zeit der Ruhe, dann ging ich in den Räumen
+herum, sah bald bei dem einen, bald bei dem andern Fenster auf die
+bekannten Gegenstände, auf die nahen Felder und auf die entfernten
+Gebirge hinaus und kleidete mich dann zu dem Abendessen anders an.
+
+Zu diesem Abendessen wurde ich bald, da ich spät am Tage in dem
+Schlosse angekommen war, gerufen.
+
+Ich begab mich in den Speisesaal und fand dort bereits Mathilden und
+Natalien. Mathilde hatte sich anders angekleidet, als ich sie bei
+meiner Ankunft in ihrem Zimmer getroffen hatte. Von Natalien wußte ich
+dies nicht; aber da sie ein ähnliches Kleid anhatte wie Mathilde, so
+vermutete ich es und mußte überzeugt sein, daß man ihr meine Ankunft
+gemeldet habe. Wir begrüßten uns sehr einfach und setzten uns zu dem
+Tische.
+
+Mir war es äußerst seltsam und befremdend, daß ich mit Mathilden und
+Natalien allein in ihrem Hause bei dem Abendtische sitze.
+
+Die Gespräche bewegten sich um gewöhnliche Dinge.
+
+Nach dem Speisen entfernte ich mich bald, um die Frauen nicht zu
+belästigen, und zog mich in meine Wohnung zurück.
+
+Dort beschäftigte ich mich eine Zeit mit Papieren und Büchern, die
+ich aus meinem Koffer hervorgesucht hatte, geriet dann in Sinnen und
+Denken und begab mich endlich zur Ruhe.
+
+
+Der folgende Tag wurde zu einem einsamen Morgenspaziergange benützt,
+dann frühstückten wir mit einander, dann gingen wir in den Garten,
+dann beschäftigte ich mich bei den Bildern in den Zimmern. Der
+Nachmittag wurde zu einem Gange in Teile des Meierhofes und auf die
+Felder verwendet, und der Abend war wie der vorhergegangene.
+
+Mit Natalien war ich, da sie jetzt mit ihrer Mutter allein in dem
+Schlosse wohnte, beinahe fremder als ich es sonst unter vielen Leuten
+gewesen war.
+
+Wir hatten an diesem Tage nicht viel mit einander gesprochen und nur
+die allergewöhnlichsten Dinge.
+
+Der zweite Tag verging wie der erste. Ich hatte die Bilder wieder
+angesehen, ich war in den Zimmern mit den altertümlichen Geräten
+gewesen und hatte den Gängen, Gemächern und Abbildungen des oberen
+Stockwerkes einen Besuch gemacht.
+
+Am dritten Tage meines Aufenthaltes in dem Sternenhofe, nachmittags,
+da ich eine Weile in die Zeilen des alten Homer geblickt hatte, wollte
+ich meine Wohnung, in der ich mich befand, verlassen und in den Garten
+gehen. Ich legte die Worte Homers auf den Tisch, begab mich in das
+Vorzimmer, schloß die Tür meiner Wohnung hinter mir ab und ging über
+die kleinere Treppe im hinteren Teile des Hauses in den Garten.
+
+Es war ein sehr schöner Tag, keine einzige Wolke stand an dem Himmel,
+die Sonne schien warm auf die Blumen, daher es stille von Arbeiten
+und selbst vom Gesange der Vögel war. Nur das einfache Scharren und
+leise Hämmern der Arbeiter hörte ich, welche mit der Hinwegschaffung
+der Tünche des Hauses in der Nähe meines Ausganges auf Gerüsten
+beschäftigt waren. Ich ging neben Gebüschen und verspäteten Blumen
+einem Schatten zu, welcher sich mir auf einem Sandwege bot, der mit
+ziemlich hohen Hecken gesäumt war. Der Sandweg führte mich zu den
+Linden, und von diesen ging ich durch eine Überlaubung der Eppichwand
+zu. Ich ging an ihr entlang und trat in die Grotte des Brunnens. Ich
+war von der linken Seite der Wand gekommen, von welcher man beim
+Herannahen den schöneren Anblick der Quellennymphe hat, dafür aber das
+Bänkchen nicht gewahr wird, welches in der Grotte der Nymphe gegenüber
+angebracht ist. Als ich eingetreten war, sah ich Natalien auf dem
+Bänklein sitzen. Sie war sehr erschrocken und stand auf. Ich war
+auch erschrocken; dennoch sah ich in ihr Angesicht. In demselben war
+ein Schwanken zwischen Rot und Blaß, und ihre Augen waren auf mich
+gerichtet.
+
+Ich sagte: »Mein Fräulein, ihr werdet mir es glauben, wenn ich euch
+sage, daß ich von dem Laubgange an der linken Seite dieser Wand gegen
+die Grotte gekommen bin und euch habe nicht sehen können, sonst wäre
+ich nicht eingetreten und hätte euch nicht gestört.«
+
+Sie antwortete nichts und sah mich noch immer an.
+
+Ich sagte wieder: »Da ich euch nun einmal beunruhigt habe, wenn auch
+gegen meinen Willen, so werdet ihr mir es wohl gütig verzeihen, und
+ich werde mich sogleich entfernen.«
+
+»Ach nein, nein«, sagte sie.
+
+Da ich schwankte und die Bedeutung der Worte nicht erkannte, fragte
+ich: »Zürnet ihr mir, Natalie?«
+
+»Nein, ich zürne euch nicht«, antwortete sie, und richtete die Augen,
+die sie eben niedergeschlagen hatte, wieder auf mich.
+
+»Ihr seid auf diesen Platz gegangen, um allein zu sein«, sagte ich,
+»also muß ich euch verlassen.«
+
+»Wenn ihr mich nicht aus Absicht meidet, so ist es nicht ein Müssen,
+daß ihr mich verlasset«, antwortete sie.
+
+»Wenn es nicht eine Pflicht ist, euch zu verlassen«, erwiderte
+ich, »so müßt ihr euren Platz wieder einnehmen, von dem ich euch
+verscheucht habe. Tut es, Natalie, setzt euch auf eure frühere Stelle
+nieder.«
+
+Sie ließ sich auf das Bänkchen nieder, ganz vorn gegen den Ausgang,
+und stützte sich auf die Marmorlehne.
+
+Ich kam nun auf diese Weise zwischen sie und die Gestalt zu stehen.
+Da ich dieses für unschicklich hielt, so trat ich ein wenig gegen den
+Hintergrund. Allein jetzt stand ich wieder aufrecht vor dem leeren
+Teile der Bank in der nicht sehr hohen Halle, und da mir auch dieses
+eher unziemend als ziemend erschien, so setzte ich mich auf den
+andern Teil der Bank und sagte: »Liebt ihr wohl diesen Platz mehr als
+andere?«
+
+»Ich liebe ihn«, antwortete sie, »weil er abgeschlossen ist und weil
+die Gestalt schön ist. Liebt ihr ihn nicht auch?«
+
+»Ich habe die Gestalt immer mehr lieben gelernt, je länger ich sie
+kannte«, antwortete ich.
+
+»Ihr ginget früher öfter her?« fragte sie.
+
+»Als ich durch die Güte eurer Mutter manche Geräte in dem Sternenhofe
+zeichnete und fast allein in demselben wohnte, habe ich oft diese
+Halle besucht«, erwiderte ich. »Und später auch, wenn ich durch
+freundliche Einladung hieher kam, habe ich nie versäumt, an diese
+Stelle zu gehen.«
+
+»Ich habe euch hier gesehen«, sagte sie.
+
+»Die Anlage ist gemacht, daß sie das Gemüt und den Verstand erfüllet«,
+antwortete ich, »die grüne Wand des Eppichs schließt ruhig ab, die
+zwei Eichen stehen wie Wächter und das Weiß des Steins geht sanft von
+dem Dunkel der Blätter und des Gartens weg.«
+
+»Es ist alles nach und nach entstanden, wie die Mutter erzählt«,
+erwiderte sie, »der Eppich ist erzogen worden, die Wand vergrößert,
+erweitert und bis an die Eichen geführt. Selbst in der Halle war
+es einmal anders. Die Bank war nicht da. Aber da der Marmor so oft
+betrachtet wurde, da die Menschen vor ihm standen oder selbst in der
+Halle neben ihm, da die Mutter ebenfalls die Gestalt gerne betrachtete
+und lange betrachtete: so ließ sie aus dem gleichen Stoffe, aus dem
+die Nymphe gearbeitet ist, diese Bank machen, und ließ dieselbe mit
+der kunstreichen, vorchristlich ausgeführten Lehne versehen, damit sie
+einerseits zu dem vorhandenen Werke stimme und damit andererseits das
+Werk mit Ruhe und Erquickung angesehen werden könne. Mit der Zeit ist
+auch die Alabasterschale hieher gekommen.«
+
+»Die Menschen werden von solchen Werken gezogen«, antwortete ich, »und
+die Lust des Schauens findet sich.«
+
+»Ich habe diese Gestalt von meiner Kindheit an gesehen und habe mich
+an sie gewöhnt«, sagte sie, »haltet ihr nicht auch den bloßen Stein
+schon für sehr schön?«
+
+»Ich halte ihn für ganz besonders schön«, erwiderte ich.
+
+»Mir ist immer, wenn ich ihn lange betrachte«, sagte sie, »als hätte
+er eine sehr große Tiefe, als sollte man in ihn eindringen können und
+als wäre er durchsichtig, was er nicht ist. Er hält eine reine Fläche
+den Augen entgegen, die so zart ist, daß sie kaum Widerstand leistet
+und in der man als Anhaltspunkte nur die vielen feinen Splitter
+funkeln sieht.«
+
+»Der Stein ist auch durchsichtig«, antwortete ich, »nur muß man eine
+dünne Schichte haben, durch die man sehen will. Dann scheint die Welt
+fast goldartig, wenn man sie durch ihn ansieht. Wenn mehrere Schichten
+übereinander liegen, so werden sie in ihrem Anblicke von Außen weiß,
+wie der Schnee, der auch aus lauter durchsichtigen kleinen Eisnadeln
+besteht, weiß wird, wenn Millionen solcher Nadeln auf einander
+liegen.«
+
+»So habe ich nicht unrecht empfunden«, sagte sie.
+
+»Nein«, erwiderte ich, »ihr habt recht geahnt.«
+
+»Wenn die Edelsteine nicht nach dem geachtet werden, was sie kosten«,
+sagte sie, »sondern nach dem, wie sie edel sind, so gehört der Marmor
+gewiß unter die Edelsteine.«
+
+»Er gehört unter dieselben, er gehört gewißlich unter dieselben«,
+erwiderte ich. »Wenn er auch als bloßer Stoff nicht so hoch im Preise
+steht wie die gesuchten Steine, die nur in kleinen Stücken vorkommen,
+so ist er doch so auserlesen und so wunderbar, daß er nicht bloß in
+der weißen, sondern auch in jeder andern Farbe begehrt wird, daß man
+die verschiedensten Dinge aus ihm macht, und daß das Höchste, was
+menschliche bildende Kunst darzustellen vermag, in der Reinheit des
+weißen Marmors ausgeführt wird.«
+
+»Das ist es, was mich auch immer sehr ergriff, wenn ich hier saß und
+betrachtete«, sagte sie, »daß in dem harten Steine das Weiche und
+Runde der Gestaltung ausgedrückt ist, und daß man zu der Darstellung
+des Schönsten in der Welt den Stoff nimmt, der keine Makel hat. Dies
+sehe ich sogar immer an der Gestalt auf der Treppe unsers Freundes,
+welche noch schöner und ehrfurchterweckender als dieses Bildwerk
+hier ist, wenngleich ihr Stoff in der Länge der vielen Jahre, die er
+gedauert hat, verunreinigt worden war.«
+
+»Es ist gewiß nicht ohne Bedeutung«, entgegnete ich, »daß die Menschen
+in den edelsten und selbst hie und da ältesten Völkern zu diesem
+Stoffe griffen, wenn sie hohes Göttliches oder Menschliches bilden
+wollten, während sie Ausschmückungen in Laubwerk, Simsen, Säulen,
+Tiergestalten und selbst untergeordnete Menschen- und Götterbilder
+aus farbigem Marmor, aus Sandstein, aus Holz, Ton, Gold oder Silber
+verfertigten. Es wäre zugänglicherer, behandelbarerer Stoff gewesen:
+Holz, Erde, weicher Stein, manche Metalle; sie aber gruben weißen
+Marmor aus der Erde und bildeten aus ihm. Aber auch die andern
+Edelsteine, aus denen man verschiedene Dinge macht, geschnittene
+Steine, allerlei Gestalten, Blumen- und Zierwerk, so wie endlich
+diejenigen, die man besonders Edelsteine nennt und zum Schmucke der
+menschlichen Gestalt und hoher Dinge anwendet, haben in ihrem Stoffe
+etwas, das anzieht und den menschlichen Geist zu sich leitet, es ist
+nicht bloß die Seltenheit oder das Schimmern, das sie wertvoll macht.«
+
+»Habt ihr auch die Edelsteine kennen zu lernen gesucht?« fragte sie.
+
+»Ein Freund hat mir Vieles von ihnen gezeigt und erklärt«, antwortete
+ich.
+
+»Sie sind freilich für die Menschen sehr merkwürdig«, sagte sie.
+
+»Es ist etwas Tiefes und Ergreifendes in ihnen«, antwortete ich,
+»gleichsam ein Geist in ihrem Wesen, der zu uns spricht, wie zum
+Beispiele in der Ruhe des Smaragdes, dessen Schimmerpunkten kein
+Grün der Natur gleicht, es müßte nur auf Vogelgefiedern, wie das des
+Colibri, oder auf den Flügeldecken von Käfern sein - wie in der Fülle
+des Rubins, der mit dem rosensammtnen Lichtblicke gleichsam als der
+vornehmste unter den gefärbten Steinen zu uns aufsieht - wie in dem
+Rätsel des Opals, der unergründlich ist - und wie in der Kraft des
+Diamantes, der wegen seines großen Lichtbrechungsvermögens in einer
+Schnelligkeit wie der Blitz den Wechsel des Feuers und der Farben
+gibt, den kaum die Schneesterne noch der Sprühregen des Wasserfalles
+haben. Alles, was den edlen Steinen nachgemacht wird, ist der Körper
+ohne diesen Geist, es ist der inhaltleere, spröde, harte Glanz statt
+der reichen Tiefe und Milde.«
+
+»Ihr habt von der Perle nicht gesprochen.«
+
+»Sie ist kein Edelstein, gesellt sich aber im Gebrauche gerne zu ihm.
+In ihrem äußern Ansehen ist sie wohl das Bescheidenste; aber nichts
+schmückt mit dem so sanft umflorten Seidenglanze die menschliche
+Schönheit schöner als die Perle. Selbst an dem Kleide eines Mannes, wo
+sie etwas hält, wie die Schleife des Halstuches oder wie die Falte des
+Brustlinnens, dünkt sie mich das Würdigste und Ernsteste.«
+
+»Und liebt ihr die Edelsteine als Schmuck?« fragte sie.
+
+»Wenn die schönsten Steine ihrer Art ausgewählt werden«, antwortete
+ich, »wenn sie in einer Fassung sind, welche richtigen Kunstgesetzen
+entspricht, und wenn diese Fassung an der Stelle, wo sie ist, einen
+Zweck erfüllt, also notwendig erscheint: dann ist wohl kein Schmuck
+des menschlichen Körpers feierlicher als der der Edelsteine.«
+
+Wir schwiegen nach diesen Worten, und ich konnte Natalien jetzt erst
+ein wenig betrachten. Sie hatte ein mattes hellgraues Seidenkleid an,
+wie sie es überhaupt gerne trug. Das Kleid reichte, wie es bei ihr
+immer der Fall war, bis zum Halse und bis zu den Knöcheln der Hand.
+Von Schmuck hatte sie gar nichts an sich, nicht das Geringste, während
+ihr Körper doch so stimmend zu Edelsteinen gewesen wäre. Ohrgehänge,
+welche damals alle Frauen und Mädchen trugen, hatte weder Mathilde je,
+seit ich sie kannte, getragen, noch trug sie Natalie.
+
+In unserem Schweigen sahen wir gleichsam wie durch Verabredung gegen
+das rieselnde Wasser.
+
+Endlich sagte sie: »Wir haben von dem Angenehmen dieses Ortes
+gesprochen und sind von dem edlen Steine des Marmors auf die
+Edelsteine gekommen; aber eines Dinges wäre noch Erwähnung zu tun, das
+diesen Ort ganz besonders auszeichnet.«
+
+»Welches Dinges?«
+
+»Des Wassers. Nicht bloß, daß dieses Wasser vor vielen, die ich kenne,
+gut zur Erquickung gegen den Durst ist, so hat sein Spielen und sein
+Fließen gerade an dieser Stelle und durch diese Vorrichtungen etwas
+Besänftigendes und etwas Beachtungswertes.«
+
+»Ich fühle wie ihr«, antwortete ich, »und wie oft habe ich dem schönen
+Glänzen und dem schattenden Dunkel dieses lebendigen flüchtigen
+Körpers an dieser Stelle zugesehen, eines Körpers, der wie die Luft
+wohl viel bewunderungswürdiger wäre als es die Menschen zu erkennen
+scheinen.«
+
+»Ich halte auch das Wasser und die Luft für bewunderungswürdig«,
+entgegnete sie, »die Menschen achten nur so wenig auf Beides, weil
+sie überall von ihnen umgeben sind. Das Wasser erscheint mir als das
+bewegte Leben des Erdkörpers, wie die Luft sein ungeheurer Odem ist.«
+
+»Wie richtig sprecht ihr«, sagte ich, »und es sind auch Menschen
+gewesen, die das Wasser sehr geachtet haben; wie hoch haben die
+Griechen ihr Meer gehalten, und wie riesenhafte Werke haben die Römer
+aufgeführt, um sich das Labsal eines guten Wassers zuzuleiten. Sie
+haben freilich nur auf den Körper Rücksicht genommen und haben
+nicht, wie die Griechen die Schönheit ihres Meeres betrachteten, die
+Schönheit des Wassers vor Augen gehabt; sondern sie haben sich nur
+dieses Kleinod der Gesundheit in bester Art verschaffen wollen. Und
+ist wohl etwas außer der Luft, das mit größerem Adel in unser Wesen
+eingeht als das Wasser? Soll nicht nur das reinste und edelste
+sich mit uns vereinigen? Sollte dies nicht gerade in den
+gesundheitverderbenden Städten sein, wo sie aber nur Vertiefungen
+machen und das Wasser trinken, das aus ihnen kömmt? Ich bin in den
+Bergen gewesen, in Tälern, in Ebenen, in der großen Stadt und habe
+in der Hitze, im Durste, in der Bewegung den kostbaren Kristall des
+Wassers und seine Unterschiede kennen gelernt. Wie erquickt der Quell
+in den Bergen und selbst in den Hügeln, vorzüglich wenn er am reinsten
+aus dem reinen Granit fließt, und, Natalie, wie schön ist außerdem der
+Quell!«
+
+Hatte nun Natalie schon früher einen Durst empfunden und hatte
+derselbe ihr Gespräch auf das Wasser gelenkt, oder war durch das
+Gespräch ein leichter Durst in ihr hervorgerufen worden: sie stand
+nun auf, nahm die Alabasterschale in die Hand, ließ sie sich in dem
+sanften Strahle füllen, setzte sie an ihre schönen Lippen, trank einen
+Teil des Wassers, ließ das übrige in das tiefere Becken fließen,
+stellte die leere Schale an ihren Platz und setzte sich wieder zu mir
+auf die Bank.
+
+Mir war das Herz ein wenig gedrückt, und ich sagte: »Wenn wir beide
+das Schöne dieses Ortes betrachtet und wenn wir von ihm und von andern
+Dingen, auf die er uns führte, gerne gesprochen haben, so ist doch
+etwas in ihm, was mir Schmerz erregt.«
+
+»Was kann euch denn an diesem Orte Schmerz erregen?« fragte sie.
+
+»Natalie«, antwortete ich, »es ist jetzt ein Jahr, daß ihr mich an
+dieser Halle absichtlich gemieden habt. Ihr saßet auf derselben Bank,
+auf welcher ihr jetzt sitzet, ich stand im Garten, ihr tratet heraus
+und ginget von mir mit beeiligten Schritten in das Gebüsch.«
+
+Sie wendete ihr Angesicht gegen mich, sah mich mit den dunklen Augen
+an und sagte: »Dessen erinnert euch, und das macht euch Schmerz?«
+
+»Es macht mir jetzt im Rückblicke Schmerz und hat ihn mir damals
+gemacht«, antwortete ich.
+
+»Ihr habt mich ja aber auch gemieden«, sagte sie.
+
+»Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu haben, als dränge ich
+mich zu euch«, entgegnete ich.
+
+»War ich euch denn von einer Bedeutung?« fragte sie.
+
+»Natalie«, antwortete ich, »ich habe eine Schwester, die ich im
+höchsten Maße liebe, ich habe viele Mädchen in unserer Stadt und in
+dem Lande kennen gelernt; aber keines, selbst nicht meine Schwester,
+achte ich so hoch wie euch, keines ist mir stets so gegenwärtig und
+erfüllt mein ganzes Wesen wie ihr.«
+
+Bei diesen Worten traten die Tränen aus ihren Augen und flossen über
+ihre Wangen herab.
+
+Ich erstaunte, ich blickte sie an und sagte: »Wenn diese schönen
+Tropfen sprechen, Natalie, sagen sie, daß ihr mir auch ein wenig gut
+seid?«
+
+»Wie meinem Leben«, antwortete sie.
+
+Ich erstaunte noch mehr und sprach: »Wie kann es denn sein, ich habe
+es nicht geglaubt.«
+
+»Ich habe es auch von euch nicht geglaubt«, erwiderte sie.
+
+»Ihr konntet es leicht wissen«, sagte ich. »Ihr seid so gut, so rein,
+so einfach. So seid ihr vor mir gewandelt, ihr waret mir begreiflich
+wie das Blau des Himmels, und eure Seele erschien mir so tief wie das
+Blau des Himmels tief ist. Ich habe euch mehrere Jahre gekannt, ihr
+waret stets bedeutend vor der herrlichen Gestalt eurer Mutter und der
+eures ehrwürdigen Freundes, ihr waret heute, wie ihr gestern gewesen
+waret und morgen wie heute, und so habe ich euch in meine Seele
+genommen zu denen, die ich dort liebe, zu Vater, Mutter, Schwester -
+nein, Natalie, noch tiefer, tiefer -«
+
+Sie sah mich bei diesen Worten sehr freundlich an, ihre Tränen flossen
+noch häufiger, und sie reichte mir ihre Hand herüber.
+
+Ich faßte ihre Hand, ich konnte nichts sagen und blickte sie nur an.
+
+Nach mehreren Augenblicken ließ ich ihre Hand los und sagte: »Natalie,
+es ist mir nicht begreiflich, wie ist es denn möglich, daß ihr mir gut
+seid, mir, der gar nichts ist und nichts bedeutet?«
+
+»Ihr wißt nicht, wer ihr seid«, antwortete sie. »Es ist gekommen, wie
+es kommen mußte. Wir haben viele Zeit in der Stadt zugebracht, wir
+sind oft den ganzen Winter in derselben gewesen, wir haben Reisen
+gemacht, haben verschiedene Länder und Städte gesehen, wir sind in
+London, Paris und Rom gewesen. Ich habe viele junge Männer kennen
+gelernt. Darunter sind wichtige und bedeutende gewesen. Ich
+habe gesehen, daß mancher Anteil an mir nahm; aber es hat mich
+eingeschüchtert, und wenn einer durch sprechende Blicke oder durch
+andere Merkmale es mir näher legte, so entstand eine Angst in mir, und
+ich mußte mich nur noch ferner halten. Wir gingen wieder in die Heimat
+zurück. Da kamet ihr eines Sommers in den Asperhof, und ich sah euch.
+Ihr kamet im nächsten Sommer wieder. Ihr waret ohne Anspruch, ich sah,
+wie ihr die Dinge dieser Erde liebtet, wie ihr ihnen nach ginget und
+wie ihr sie in eurer Wissenschaft hegtet - ich sah, wie ihr meine
+Mutter verehrtet, unsern Freund hochachtetet, den Knaben Gustav
+beinahe liebtet, von eurem Vater, eurer Mutter und eurer Schwester nur
+mit Ehrerbietung sprachet, und da - - da -«
+
+»Da, Natalie?«
+
+»Da liebte ich euch, weil ihr so einfach, so gut und doch so ernst
+seid.«
+
+»Und ich liebte euch mehr, als ich je irgend ein Ding dieser Erde zu
+lieben vermochte.«
+
+»Ich habe manchen Schmerz um euch empfunden, wenn ich in den Feldern
+herumging.«
+
+»Ich habe es ja nicht gewußt, Natalie, und weil ich es nicht wußte, so
+mußte ich mein Inneres verbergen und gegen jedermann schweigen, gegen
+den Vater, gegen die Mutter, gegen die Schwester und sogar gegen mich.
+Ich bin fortgefahren, das zu tun, was ich für meine Pflicht erachtete,
+ich bin in die Berge gegangen, habe mir ihre Zusammensetzung
+aufgeschrieben, habe Gesteine gesammelt und Seen gemessen, ich bin auf
+den Rat eures Freundes einen Sommer beschäftigungslos in dem Asperhofe
+gewesen, bin dann wieder in die Wildnis gegangen und zu der Grenze des
+Eises emporgestiegen. Ich konnte nur eure Mutter, euren Freund und
+euren Bruder immer wärmer lieben: aber, Natalie, wenn ich auf den
+Höhen der Berge war, habe ich euer Bild in dem heitern Himmel gesehen,
+der über mir ausgespannt war, wenn ich auf die festen, starren Felsen
+blickte, so erblickte ich es auch in dem Dufte, der vor denselben
+webte, wenn ich auf die Länder der Menschen hinausschaute, so war es
+in der Stille, die über der Welt gelagert war, und wenn ich zu Hause
+in die Züge der Meinigen blickte, so schwebte es auch in denen.«
+
+»Und nun hat sich alles recht gelöset.«
+
+»Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie.«
+
+»Mein teurer Freund!«
+
+Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen
+schweigend da.
+
+
+Wie hatte seit einigen Augenblicken alles sich um mich verändert, und
+wie hatten die Dinge eine Gestalt gewonnen, die ihnen sonst nicht
+eigen war. Nataliens Augen, in welche ich schauen konnte, standen in
+einem Schimmer, wie ich sie nie, seit ich sie kenne, gesehen hatte.
+Das unermüdlich fließende Wasser, die Alabasterschale, der Marmor
+waren verjüngt; die weißen Flimmer auf der Gestalt und die wunderbar
+im Schatten blühenden Lichter waren anders; die Flüssigkeit rann,
+plätscherte oder pippte oder tönte im einzelnen Falle anders; das
+sonnenglänzende Grün von draußen sah als ein neues freundlich herein,
+und selbst das Hämmern, mit welchem man die Tünche von den Mauern des
+Hauses herabschlug, tönte jetzt als ein ganz verschiedenes in die
+Grotte von dem, das ich gehört hatte, als ich aus dem Hause gegangen
+war.
+
+Nach einer geraumen Weile sagte Natalie: »Und von dem Abende im
+Hoftheater habt ihr auch nie etwas gesprochen.«
+
+»Von welchem Abende, Natalie?«
+
+»Als König Lear aufgeführt wurde.«
+
+»Ihr seid doch nicht das Mädchen in der Loge gewesen?«
+
+»Ich bin es gewesen.«
+
+»Nein, ihr seid so blühend wie eine Rose, und jenes Mädchen war blaß
+wie eine weiße Lilie.«
+
+»Es mußte mich der Schmerz entfärbt haben. Ich war kindisch, und es
+hat mir damals wohlgetan, in euren Augen allein unter allen denen, die
+die Loge umgaben, ein Mitgefühl mit meiner Empfindung zu lesen. Diese
+Empfindung wurde durch euer Mitgefühl zwar noch stärker, so daß
+sie beinahe zu mächtig wurde; aber es war gut. Ich habe nie einer
+Vorstellung beigewohnt, die so ergreifend gewesen wäre. Ich sah es
+als einen günstigen Zufall an, daß mir eure Augen, die bei dem Leiden
+des alten Königs übergeflossen waren, bei dem Fortgehen aus dem
+Schauspielhause so nahe kamen. Ich glaubte ihnen mit meinen Blicken
+dafür danken zu müssen, daß sie mir beigestimmt hatten, wo ich sonst
+vereinsamt gewesen wäre. Habt ihr das nicht erkannt?«
+
+»Ich habe es erkannt und habe gedacht, daß der Blick des Mädchens
+wohlwollend sei, und daß er ein Einverständnis über unsere
+gemeinschaftliche Empfindung bei der Vorstellung bedeuten könne.«
+
+»Und ihr habt mich also nicht wieder erkannt?«
+
+»Nein, Natalie.«
+
+»Ich habe euch gleich erkannt, als ich euch in dem Asperhofe sah.«
+
+»Es ist mir lieb, daß es eure Augen gewesen sind, die mir den Dank
+gesagt haben; der Dank ist tief in mein Gemüt gedrungen. Aber wie
+konnte es auch anders sein, da eure Augen das Liebste und Holdeste
+sind, was für mich die Erde hat.«
+
+»Ich habe euch schon damals in meinem Herzen höher gestellt als die
+andern, obwohl ihr ein Fremder waret und obwohl ich denken konnte, daß
+ihr mir in meinem ganzen Leben fremd bleiben werdet.«
+
+»Natalie, was mir heute begegnet ist, bildet eine Wendung in meinem
+Leben, und ein so tiefes Ereignis, daß ich es kaum denken kann. Ich
+muß suchen, alles zurecht zu legen und mich an den Gedanken der
+Zukunft zu gewöhnen.«
+
+»Es ist ein Glück, das uns ohne Verdienst vom Himmel gefallen, weil es
+größer ist als jedes Verdienst.«
+
+»Drum lasset uns es dankbar aufnehmen.«
+
+»Und ewig bewahren.«
+
+»Wie war es gut, Natalie, daß ich die Worte Homers, die ich heute
+nachmittag las, nicht in mein Herz aufnehmen konnte, daß ich das Buch
+weglegte, in den Garten ging und daß das Schicksal meine Schritte zu
+dem Marmor des Brunnens lenkte.«
+
+»Wenn unsere Wesen zu einander neigten, obgleich wir es nicht
+gegenseitig wußten, so würden sie sich doch zugeführt worden sein,
+wann und wo es immer geschehen wäre, das weiß ich nun mit Sicherheit.«
+
+»Aber sagt, warum habt ihr mich denn gemieden, Natalie?«
+
+»Ich habe euch nicht gemieden, ich konnte mit euch nicht sprechen, wie
+es mir in meinem Innern war, und ich konnte auch nicht so sein, als
+ob ihr ein Fremder wäret. Doch war mir eure Gegenwart sehr lieb. Aber
+warum habt denn auch ihr euch ferne von mir gehalten?«
+
+»Mir war wie euch. Da ihr so weit von mir waret, konnte ich mich nicht
+nahen. Eure Gegenwart verherrlichte mir Alles, was uns umgab, aber das
+dunkle künftige Glück schien mir unerreichbar.«
+
+»Nun ist doch erfüllet, was sich vorbereitete.«
+
+»Ja, es ist erfüllt.«
+
+Nach einem kleinen Schweigen fuhr ich fort: »Ihr habt gesagt, Natalie,
+daß wir das Glück, das uns vom Himmel gefallen ist, ewig aufbewahren
+sollen. Wir sollen es auch ewig aufbewahren. Schließen wir den Bund,
+daß wir uns lieben wollen, so lange das Leben währt, und daß wir treu
+sein wollen, was auch immer komme und was die Zukunft bringe, ob es
+uns aufbewahrt ist, daß wir in Vereinigung die Sonne und den Himmel
+genießen, oder ob jedes allein zu beiden emporblickt und nur des
+andern mit Schmerzen gedenken kann.«
+
+»Ja, mein Freund, Liebe, unveränderliche Liebe, so lange das Leben
+währt, und Treue, was auch die Zukunft von Gunst oder Ungunst bringen
+mag.«
+
+»O Natalie, wie wallt mein Herz in Freude! Ich habe es nicht geahnt,
+daß es so entzückend ist, euch zu besitzen,- die mir unerreichbar
+schien.«
+
+»Ich habe auch nicht gedacht, daß ihr euer Herz von den großen Dingen,
+denen ihr ergeben waret, wegkehren und mir zuwenden werdet.«
+
+»O meine geliebte, meine teure, ewig mir gehörende Natalie!«
+
+»Mein einziger, mein unvergeßlicher Freund!«
+
+Ich war von Empfindung überwältigt, ich zog sie näher an mich und
+neigte mein Angesicht zu ihrem. Sie wendete ihr Haupt herüber und gab
+mit Güte ihre schönen Lippen meinem Munde, um den Kuß zu empfangen,
+den ich bot.
+
+»Ewig für dich allein«, sagte ich.
+
+»Ewig für dich allein«, sagte sie leise.
+
+Schon als ich die süßen Lippen an meinen fühlte, war mir, als sei ein
+Zittern in ihr und als fließen ihre Tränen wieder.
+
+Da ich mein Haupt wegwendete und in ihr Angesicht schaute, sah ich die
+Tränen in ihren Augen.
+
+Ich fühlte die Tropfen auch in den meinen hervorquellen, die ich nicht
+mehr zurückhalten konnte. Ich zog Natalien wieder näher an mich, legte
+ihr Angesicht an meine Brust, neigte meine Wange auf ihre schönen
+Haare, legte die eine Hand auf ihr Haupt und hielt sie so sanft umfaßt
+und an mein Herz gedrückt. Sie regte sich nicht, und ich fühlte
+ihr Weinen. Da diese Stellung sich wieder löste, da sie mir in das
+Angesicht schaute, drückte ich noch einmal einen heißen Kuß auf ihre
+Lippen zum Zeichen der ewigen Vereinigung und der unbegrenzten Liebe.
+Sie schlang auch ihre Arme um meinen Hals und erwiderte den Kuß
+zu gleichem Zeichen der Einheit und der Liebe. Mir war in diesem
+Augenblicke, daß Natalie nun meiner Treue und Güte hingegeben, daß sie
+ein Leben eins mit meinem Leben sei. Ich schwor mir, mit allem, was
+groß, gut, schön und stark in mir ist, zu streben, ihre Zukunft zu
+schmücken und sie so glücklich zu machen, als es nur in meiner Macht
+ist und erreicht werden kann.
+
+
+Wir saßen nun schweigend neben einander, wir konnten nicht sprechen
+und drückten uns nur die Hände als Bestätigung des geschloßnen Bundes
+und des innigsten Verständnisses.
+
+Da eine Zeit vergangen war, sagte endlich Natalie: »Mein Freund, wir
+haben uns der Fortdauer und der Unaufhörlichkeit unserer Neigung
+versichert, und diese Neigung wird auch dauern; aber was nun geschehen
+und wie sich alles Andere gestalten wird, das hängt von unsern
+Angehörigen ab, von meiner Mutter, und von euren Eltern.«
+
+»Sie werden unser Glück mit Wohlwollen ansehen.«
+
+»Ich hoffe es auch; aber wenn ich das vollste Recht hätte, meine
+Handlungen selber zu bestimmen, so wurde ich nie auch nicht ein
+Teilchen meines Lebens so einrichten, daß es meiner Mutter nicht
+gefiele; es wäre kein Glück für mich. Ich werde so handeln, so lange
+wir beisammen auf der Erde sind. Ihr tut wohl auch so?«
+
+»Ich tue es; weil ich meine Eltern liebe und weil mir eine Freude nur
+als solche gilt, wenn sie auch die ihre ist.«
+
+»Und noch jemand muß gefragt werden.«
+
+»Wer?«
+
+»Unser edler Freund. Er ist so gut, so weise, so uneigennützig. Er
+hat unserm Leben einen Halt gegeben, als wir ratlos waren, er ist uns
+beigestanden, als wir es bedurften, und jetzt ist er der zweite Vater
+Gustavs geworden.«
+
+»Ja, Natalie, er soll und muß gefragt werden; aber sprecht, wenn eins
+von diesen nein sagt?«
+
+»Wenn eines nein sagt, und wir es nicht überzeugen können, so wird es
+Recht haben, und wir werden uns dann lieben, so lange wir leben, wir
+werden einander treu sein in dieser und jener Welt; aber wir dürften
+uns dann nicht mehr sehen.«
+
+»Wenn wir ihnen die Entscheidung über uns anheim gegeben haben,
+so mußte es wohl so sein; aber es wird gewiß nicht, gewiß nicht
+geschehen.«
+
+»Ich glaube mit Zuversicht, daß es nicht geschehen wird.«
+
+»Mein Vater wird sich freuen, wenn ich ihm sage, wie ihr seid, er wird
+euch lieben, wenn er euch sieht, die Mutter wird euch eine zweite
+Mutter sein und Klotilde wird sich euch mit ganzer Seele zuwenden.«
+
+»Ich verehre eure Eltern und liebe Klotilde schon so lange, als ich
+euch von ihnen reden und erzählen hörte. Mit meiner Mutter werde ich
+noch heute sprechen, ich könnte die Nacht nicht über das Geheimnis
+herauf gehen lassen. Wenn ihr zu euren Eltern reiset, sagt ihnen, was
+geschehen ist, und sendet bald Nachricht hieher.«
+
+»Ja, Natalie.«
+
+»Geht ihr von hier wieder in die Berge?«
+
+»Ich wollte es; nun aber hat sich Wichtigeres ereignet, und ich muß
+gleich zu meinen Eltern. Nur auf Kurzes will ich, so schnell es geht,
+in meinen jetzigen Standort reisen, um die Arbeiten abzubestellen, die
+Leute zu entlassen und Alles in Ordnung zu bringen.«
+
+»Das muß wohl so sein.«
+
+»Die Antwort meiner Eltern bringt dann nicht eine Nachricht, sondern
+ich selber.«
+
+»Das ist noch erfreulicher. Mit unserm Freunde wird wohl hier geredet
+werden.«
+
+»Natalie, dann habt ihr eine Schwester an Klotilden und ich einen
+Bruder an Gustav.«
+
+»Ihr habt ihn ja immer sehr geliebt. Alles ist so schön daß es fast zu
+schön ist.«
+
+Dann sprachen wir von der Zurückkunft der Männer, was sie sagen würden
+und wie unser Gastfreund die schnelle Wendung der Dinge aufnehmen
+werde.
+
+Zuletzt, als die Gemüter zu einer sanfteren Ruhe zurückgekehrt waren,
+erhoben wir uns, um in das Haus zu gehen. Ich bot Natalien meinen Arm,
+den sie annahm. Ich führte sie der Eppichwand entlang, ich führte
+sie durch einen schönen Gang des Gartens, und wir gelangten dann in
+offnere, freie Stellen, in denen wir eine Umsicht hatten.
+
+Als wir da eine Strecke vorwärts gekommen waren, sahen wir Mathilden
+außerhalb des Gartens gegen den Meierhof gehen. Das Pförtchen, welches
+von dem Garten gegen den Meierhof führt, war in der Nähe und stand
+offen.
+
+»Ich werde meiner Mutter folgen und werde gleich jetzt mit ihr
+sprechen«, sagte Natalie.
+
+»Wenn ihr es für gut haltet, so tut es«, erwiderte ich.
+
+»Ja, ich tue es, mein Freund. Lebt wohl.«
+
+»Lebt wohl.«
+
+Sie zog ihren Arm aus dem meinigen, wir reichten uns die Hände,
+drückten sie uns, und Natalie schlug den Weg zu dem Pförtchen ein.
+
+Ich sah ihr nach, sie blickte noch einmal gegen mich um, ging dann
+durch das Pförtchen, und das graue Seidenkleid verschwand unter den
+grünen Hecken des Grundes.
+
+Ich ging in das Haus und begab mich in meine Wohnung.
+
+Da lag das Buch, in welchem die Worte Homers waren, die heute die
+Gewalt über mein Herz verloren hatten - es lag, wie ich es auf den
+Tisch gelegt hatte. Was war indessen geschehen! Die schönste Jungfrau
+dieser Erde hatte ich an mein Herz gedrückt. Aber was will das sagen?
+Das edelste, wärmste, herrlichste Gemüt ist mein, es ist mir in Liebe
+und Neigung zugetan. Wie habe ich das verdient, wie kann ich es
+verdienen?!
+
+Ich setzte mich nieder und sah gegen die Ruhe der heitern Luft hinaus.
+
+Ich verließ an diesem Tage gar nicht mehr das Haus. Gegen Abend ging
+ich in den Gang, der im Norden des Hauses hinläuft, und sah auf den
+Garten hinaus. Auf einer freien Stelle, in welcher ein weißer Pfad
+durch Wiesengrün hingeht, sah ich Mathilden mit Natalien wandeln.
+
+Ich ging wieder in mein Zimmer zurück.
+
+Als es dunkelte, wurde ich zu dem Abendessen gerufen.
+
+Da Mathilde und Natalie in den Speisesaal getreten waren, lud mich
+Mathilde mit einem sanften Lächeln und mit der Freundlichkeit, die ihr
+immer eigen war, ein, an ihrer Seite Platz zu nehmen.
+
+
+
+Die Entfaltung
+
+Wir waren in dem nehmlichen Zimmer zum Speisen zusammen gekommen, in
+dem wir die Zeit her, die ich im Schlosse gewesen war, unser Mahl am
+Morgen, Mittag und Abend, wie es die Tageszeit brachte, eingenommen
+hatten, der Tisch war mit dem klaren, weißen, feinen Linnen gedeckt,
+in das schönere und altertümlichere Blumen als jetzt gebräuchlich
+sind, gleichsam wie Silber in Silber eingewebt waren, der Diener stand
+mit den weißen Handschuhen hinter uns, der Hausverwalter ging in
+dem Zimmer hin und her, und es war an der Wand der Schrein mit den
+Fächerabteilungen, in denen die mannigfaltigen Dinge sich befanden,
+die in einem Speisezimmer stets nötig sind: aber heute war mir alles
+wie feenhaft, Mathilde hatte ein veilchenblaues Seidenkleid mit
+dunkleren Streifen an, und um die Schultern war ein Gewebe von
+schwarzen Spitzen. Sie kleidete sich jedes Mal, wenn ein Gast da war,
+zum Speisen neu an, hatte es bisher meinetwillen auch getan und hatte
+es an diesem Abende nicht unterlassen. Mit dem feinen, lieben und
+freundlichen Angesichte, das durch die dunkle Seide fast noch feiner
+und schöner wurde, ließ sie sich in ihren Armstuhl zwischen uns
+nieder. Natalie war rechts und ich links. Natalie hatte nicht Zeit
+gefunden, ihr Kleid zu wechseln, sie hatte dasselbe lichtgraue
+Seidenkleid an, das sie am Nachmittage getragen hatte und das mir so
+lieb geworden war. Ich getraute mir fast nicht, sie anzusehen, und
+auch sie hatte die großen, schönen, unbeschreiblich edlen Augen
+größtenteils auf die Mutter gerichtet. So vergingen einige
+Augenblicke. Es wurde das Gebet gesprochen, das Mathilde immer in
+ihrem Armstuhle sitzend stille mit gefalteten Händen verrichtete und
+das daher die Anderen ebenfalls sitzend und stille vollbrachten. Als
+dieses geschehen war, wurden, wie es der Gebrauch in diesem Hause
+eingeführt hatte, die Flügeltüren geöffnet, ein Diener trat mit einem
+Topfe herein, setzte ihn auf den Tisch, der Hausverwalter nahm den
+Deckel desselben ab und sagte, wie er immer tat: »Ich wünsche sehr
+wohl zu speisen.«
+
+Mathilde streckte den Arm mit dem dunkeln Seidenkleide aus, nahm den
+großen silbernen Löffel und schöpfte, wie sie es sich nie nehmen ließ
+zu tun, Suppe für uns auf die Teller, welche der Diener darreichte.
+Der Hausverwalter hatte, da er alles in Ordnung sah, das Zimmer nach
+seiner Gepflogenheit verlassen. Das Abendessen war nun wie alle Tage.
+Mathilde sprach freundlich und heiter von verschiedenen Gegenständen,
+die sich eben darboten, und vergaß nicht, der abwesenden Freunde
+zu erwähnen und des Vergnügens zu gedenken, das ihre Rückkunft
+veranlassen werde. Sie sprach von der Ernte, von dem Segen, der heuer
+überall so reichlich verbreitet sei, und wie sich alles, was sich auf
+der Erde befinde, doch zuletzt immer wieder in das Rechte wende. Als
+die Zeit des Abendessens vorüber war, erhob sie sich, und es wurden
+die Anstalten gemacht, daß sich jedes in seine Wohnung begebe. Mit
+derselben sanften Güte, mit der sie mich vor dem Abendessen begrüßt
+hatte, verabschiedete sie sich nun, wir wünschten uns wechselseitig
+eine glückliche Ruhe und trennten uns.
+
+Als ich in meinem Zimmer angekommen war, trat ich in der Nacht dieses
+Tages, der für mich in meinem bisherigen Leben am merkwürdigsten
+geworden war, an das Fenster und blickte gegen den Himmel. Es stand
+kein Mond an demselben und keine Wolke, aber in der milden Nacht
+brannten so viele Sterne, als wäre der Himmel mit ihnen angefüllt und
+als berührten sie sich gleichsam mit ihren Spitzen. Die Feierlichkeit
+traf mich erhebender, und die Pracht des Himmels war mir eindringender
+als sonst, wenn ich sie auch mit großer Aufmerksamkeit betrachtet
+hatte. Ich mußte mich in der neuen Welt erst zurecht finden. Ich sah
+lange mit einem sehr tiefen Gefühle zu dem sternbedeckten Gewölbe
+hinauf. Mein Gemüt war so ernst, wie es nie in meinem ganzen Leben
+gewesen war. Es lag ein fernes, unbekanntes Land vor mir. Ich ging
+zu dem Lichte, das auf meinem Tische brannte und stellte meinen
+undurchsichtigen Schirm vor dasselbe, daß seine Helle nur in die
+hinteren Teile des Zimmers falle und mir den Schein des Sternenhimmels
+nicht beirre. Dann ging ich wieder zu dem Fenster und blieb vor
+demselben. Die Zeit verfloß, und die Nachtfeier ging indessen fort.
+Wie es sonderbar ist, dachte ich, daß in der Zeit, in der die kleinen,
+wenn auch vieltausendfältigen Schönheiten der Erde verschwinden und
+sich erst die unermeßliche Schönheit des Weltraums in der fernen,
+stillen Lichtpracht auftut, der Mensch und die größte Zahl der andern
+Geschöpfe zum Schlummer bestimmt ist! Rührt es daher, daß wir nur auf
+kurze Augenblicke und nur in der rätselhaften Zeit der Traumwelt zu
+jenen Größen hinan sehen dürfen, von denen wir eine Ahnung haben, und
+die wir vielleicht einmal immer näher und näher werden schauen dürfen?
+Sollen wir hienieden nie mehr als eine Ahnung haben? Oder ist es der
+großen Zahl der Menschen nur darum bloß in kurzen schlummerlosen
+Augenblicken gestattet, zu dem Sternenhimmel zu schauen, damit die
+Herrlichkeit desselben uns nicht gewöhnlich werde und die Größe sich
+nicht dadurch verliere? Aber ich bin ja wiederholt in ganzen Nächten
+allein gefahren, die Sternbilder haben sich an dem Himmel sachte
+bewegt, ich habe meine Augen auf sie gerichtet gehalten, sie sind
+dunkelschwarzen, gestaltlosen Wäldern oder Erdrändern zugesunken,
+andere sind im Osten aufgestiegen, so hat es fortgedauert,
+die Stellungen haben sich sanft geändert und das Leuchten hat
+fortgelächelt, bis der Himmel von der nahenden Sonne lichter wurde,
+das Morgenrot im Osten erschien und die Sterne wie ein ausgebranntes
+Feuerwerksgerüste erloschen waren. Haben da meine vom Nachtwachen
+brennenden Augen die verschwundene stille Größe nicht für höher
+erkannt als den klaren Tag, der alles deutlich macht? Wer kann wissen,
+wie dies ist. Wie wird es jenen Geschöpfen sein, denen nur die Nacht
+zugewiesen ist, die den Tag nicht kennen? Jenen großen, wunderbaren
+Blumen ferner Länder, die ihr Auge öffnen, wenn die Sonne
+untergegangen ist, und die ihr meistens weißes Kleid schlaff und
+verblüht herabhängen lassen, wenn die Sonne wieder aufgeht? Oder
+den Tieren, denen die Nacht ihr Tag ist? Es war eine Weihe und eine
+Verehrung des Unendlichen in mir.
+
+Träumend, ehe ich entschlief, begab ich mich auf mein Lager, nachdem
+ich vorher das Licht ausgelöscht und die Vorhänge der Fenster
+absichtlich nicht zugezogen hatte, damit ich die Sterne hereinscheinen
+sähe.
+
+
+Des anderen Morgens sammelte ich mich, um mir bewußt zu werden, was
+geschehen ist und welche tiefe Pflichten ich eingegangen war. Ich
+kleidete mich an, um in das Freie zu gehen und mein Angesicht und
+meinen Körper der kühlen Morgenluft zu geben.
+
+Als ich mein Zimmer verlassen hatte, suchte ich einen Gang zu
+gewinnen, der im südlichen Teile des Schlosses in der Länge desselben
+dahin läuft. Seine Fenster münden in den Hof und von ihm gehen Türen
+in die, gegen Mittag liegenden Zimmer Mathildens und Nataliens. Diese
+Türen, einst vielleicht zum Gebrauche für Gäste bestimmt, waren
+jetzt meistens geschlossen, weil die Verbindung im Innern der Zimmer
+hergestellt war. Ich hatte den Gang darum aufgesucht, weil er an der
+Westseite des Schlosses zu einer kleinen Treppe führt, die abwärts
+geht und in ein Pförtchen endet, das gewöhnlich des Morgens geöffnet
+wurde und durch das man unmittelbar in die Felder auf breite, trockene
+Wege gelangen konnte, die den Wanderer unbemerkter ins Weite führen,
+als es durch den Hauptausgang des Schlosses möglich gewesen wäre. Die
+Bewohnerinnen der Zimmer, die an den Gang stießen, glaubte ich darum
+nicht stören zu können, weil das Steinpflaster des Ganges seiner
+ganzen Länge nach mit einem weichen Teppiche belegt war, der keine
+Tritte hören ließ.
+
+Außerdem hatte die Sonne auch bereits einen so hohen Morgenbogen
+zurückgelegt, daß zu vermuten war, daß alle im Schlosse schon längst
+aufgestanden sein würden.
+
+Da ich gegen das Ende des Ganges und in die Nähe der Treppe gekommen
+war, sah ich eine Tür offen stehen, von der ich vermutete, daß sie
+zu den Zimmern der Frauen führen müsse. War die Tür offen, weil man
+fortgehen wollte oder weil man eben gekommen war? Oder hatte eine
+Dienerin in der Eile offen gelassen, oder war irgend ein anderer
+Grund? Ich zauderte, ob ich vorbeigehen sollte; allein, da ich wußte,
+daß die Tür doch nur in einen Vorsaal ging und da die Treppe schon so
+nahe war, die mich ins Freie führen sollte, so beschloß ich, vorbei
+zu gehen und meine Schritte zu beschleunigen. Ich schritt auf dem
+weichen Teppiche fort und trat nur behutsamer auf. Da ich an der Tür
+angekommen war, sah ich hinein. Was ich vermutet hatte, bestätigte
+sich, die Tür ging in einen Vorsaal. Derselbe war nur klein und mit
+gewöhnlichen Geräten versehen. Aber nicht bloß in den Vorsaal konnte
+ich blicken, sondern auch in ein weiteres Zimmer, das mit einer großen
+Glastür an den Vorsaal stieß, welche Glastür noch überdies halb
+geöffnet war. In diesem Zimmer aber stand Natalie. An den Wänden
+hinter ihr erhoben sich edle mittelalterliche Schreine. Sie stand fast
+mitten in dem Gemache vor einem Tische, auf welchem zwei Zithern lagen
+und von welchem ein sehr reicher altertümlicher Teppich nieder hing.
+Sie war vollständig, gleichsam wie zum Ausgehen gekleidet, nur hatte
+sie keinen Hut auf dem Haupte. Ihre schönen Locken waren auf dem
+Hinterhaupte geordnet und wurden von einem Bande oder etwas Ähnlichem
+getragen. Das Kleid reichte wie gewöhnlich bis zu dem Halse und schloß
+dort ohne irgend einer fremden Zutat. Es war wieder von lichtem,
+grauem Seidenstoffe, hatte aber sehr feine, stark rote Streifen. Es
+schloß die Hüften sehr genau und ging dann in reichen Falten bis
+auf den Fußboden nieder. Die Ärmel waren enge, reichten bis zum
+Handgelenke und hatten an diesem wie am Oberarme dunkle Querstreifen,
+die wie ein Armband schlossen. Natalie stand ganz aufrecht, ja der
+Oberkörper war sogar ein wenig zurückgebogen. Der linke Arm war
+ausgestreckt und stützte sich mittelst eines aufrecht stehenden
+Buches, auf das sie die Hand legte, auf das Tischchen. Die rechte
+Hand lag leicht auf dem linken Unterarm. Das unbeschreiblich schöne
+Angesicht war in Ruhe, als hätten die Augen, die jetzt von den Lidern
+bedeckt waren, sich gesenkt und sie dächte nach. Eine solche reine,
+feine Geistigkeit war in ihren Zügen, wie ich sie an ihr, die immer
+die tiefste Seele aussprach, doch nie gesehen hatte. Ich verstand
+auch, was die Gestalt sprach, ich hörte gleichsam ihre inneren Worte:
+»Es ist nun eingetreten!« Sie hatte mich nicht kommen gehört, weil der
+Teppich den Fußboden des Ganges bedeckte und sie konnte mich nicht
+sehen, weil ihr Angesicht gegen Süden gerichtet war. Ich beobachtete
+nur zwei Augenblicke ihre sinnende Stellung und ging dann leise
+vorüber und die Treppe hinunter. Es erfüllte mich gleichsam mit einem
+Meere von Wonne, Natalien von der nehmlichen Empfindung beseelt zu
+sehen, die ich hatte, von der Empfindung, sich das errungene, kaum
+gehoffte und so hoch gehaltene Gut geistig zu sichern, sich klar zu
+machen, was man erhalten hat und in welche neue, unermeßlich wichtige
+Wendung des Lebens man eingetreten sei. Ich konnte es kaum fassen, daß
+ich es sei, um den eine Gestalt, die das Schönste ausdrückt, was mir
+bis jetzt bekannt geworden ist, eine Gestalt, die man wohl auch stolz
+geheißen, die sich bisher von jeder Neigung abgewendet hatte, in diese
+tiefe sinnende Empfindung gesunken sei. Ich dachte mir, daß ich, so
+lange ich lebe, und sollte mein Leben bis an die äußerste Grenze des
+menschlichen Alters oder darüber hinaus gehen, mit jedem Tropfen
+meines Blutes, mit jeder Faser meines Herzens sie lieben werde, sie
+möge leben oder tot sein, und daß ich sie fort und fort durch alle
+Zeiten in der tiefsten Seele meiner Seele tragen werde. Es erschien
+mir als das süßeste Gefühl, sie nicht nur in diesem Leben, sondern in
+tausend Leben, die nach tausend Toden folgen mögen, immer lieben zu
+können. Wie viel hatte ich in der Welt gesehen, wie viel hatte mich
+erfreut, an wie Vielem hatte ich Wohlgefallen gehabt: und wie ist
+jetzt alles nichts, und wie ist es das höchste Glück, eine reine,
+tiefe, schöne menschliche Seele ganz sein eigen nennen zu können, ganz
+sein eigen!
+
+
+Ich ging durch das Pförtchen hinaus, das ich nur angelehnt fand, und
+ging auf dem Wege fort, der an dieser Seite vor dem Schlosse vorbei
+führt und dann in die Felder hinaus geht. Er ist breit, mit feinem
+Sande belegt und eignet sich daher seiner Trockenheit willen ganz
+besonders zu Morgenspaziergängen. Er ist von dem vorigen Besitzer des
+Schlosses angelegt und von Mathilden verbessert worden. Er geht von
+dem Pförtchen nach beiden Richtungen, nach Norden und nach Süden,
+ziemlich weit fort und bildet auf diese Weise zu dem Schlosse eine
+Berührungslinie. Roland hatte ihn scherzweise auch immer den Berührweg
+genannt. Die Obstbäume, die ihn jetzt häufig säumen, hat Mathilde
+meistens schon erwachsen an ihn versetzt. Früher war der ganze Weg
+eine Allee von Pappeln gewesen; allein, da er ganz gerade durch die
+Gegend geht und mit den geraden Bäumen bepflanzt war, so erschien
+er sehr unschön und für einen Lustweg, was er sein sollte, wenig
+geeignet. Nach Beratungen mit ihren Freunden hatte Mathilde die
+Pappeln, welche außerdem auch den Feldern sehr schädlich waren, nach
+und nach beseitigt. Sie waren gefällt und ihre Wurzeln ausgegraben
+worden. Da man die Obstbäume an ihre Stelle setzte, vermied man es
+absichtlich, an allen Plätzen, an welchen Pappeln gestanden waren,
+Obstbäume zu pflanzen, damit nicht wieder statt der Pappelallee eine
+Obstbaumallee würde, was zwar minder unschön als früher gewesen wäre,
+aber doch immer noch nicht schön. Durch diese Unterbrechung der
+Baumpflanzung erhielt der Weg, dessen gerade Richtung schwer zu
+beseitigen gewesen wäre und die doch sonst zu eigentümlich war,
+als daß man sie hätte abändern sollen, wenn man nicht Alles nach
+ganz neuen Gedanken einrichten wollte, die nötige Abwechslung.
+Mitternachtwärts von dem Schlosse führt er durch Wiesen und Felder an
+Gebüschen hin, steigt dann zu einem Walde hinan, in welchen er eine
+Strecke eindringt. Südwärts geht er durch Felder, hat dort besonders
+schöne Apfelbäume an seinen Seiten, wölbt sich sanft über einen
+Ackerrücken und gewährt von ihm eine schöne Aussicht in die Gebirge.
+
+Ich schlug die Richtung nach Süden ein, wie ich überhaupt sehr gerne
+bei dem Beginne eines Spazierganges so gehe, daß ich leicht nach
+Mittag sehe, das Licht vor mir habe und in den schöneren Glanz und
+die lieblichere Färbung der Wolken blicken kann. Der Himmel war wie
+gestern ganz heiter, die Sonne stand in seinem östlichen Teile und
+begann die Tropfen, welche an allen Gräsern und an dem Laube der Bäume
+hingen, aufzusaugen. Die Morgenkühle war noch nicht vergangen, obwohl
+der Einfluß der Sonne immer mehr und mehr bemerkbar wurde. Ich sah mit
+neuen Augen auf alle Dinge um mich, es schien, als hätten sie sich
+verjüngt und als müßte ich mich wieder allmählich an ihren Anblick
+gewöhnen. Ich kam auf die Anhöhe und sah auf den langen Zug der
+Gebirge. Die blauen Spitzen blickten auf mich herüber, und die
+vielen Schneefelder zeigten mir ihren feinen Glanz. Ich sah auch die
+Berghäupter an dem Kargrat, wo ich zuletzt gearbeitet hatte. Mir
+war, als wäre es schon viele Jahre, seit ich in jenen Eisfeldern und
+Schneegründen gewesen war. Ich ließ, während ich so dastand, die milde
+Luft, den Glanz der Sonne und das Prangen der Dinge auf mich wirken.
+Sonst hatte ich immer irgend ein Buch in meine Tasche gesteckt, wenn
+ich in der Gegend herum gehen wollte; heute hatte ich es nicht getan.
+
+Mir war jetzt nicht, als sollte ich irgend ein Buch lesen. Ich ging
+nach einer Weile wieder an den Bäumen dahin, an denen schon die
+mannigfaltigen Äpfel hingen, die jeder nach seiner Art brachte und die
+schon hie und da ihre eigentümliche Farbe zu erhalten begannen. Ich
+ging so lange auf der Anhöhe des Felderrückens fort, bis sie sich
+leicht zu senken anfing, über welche Senkung der Weg noch hinabgeht,
+um in dem Tale an der Grenze eines fremden Gutes zu enden oder
+vielmehr in einen anderen Weg überzugehen, der die Eigenschaften
+aller jener Fußwege hat, die in unzähligen Richtungen unser Land
+durchziehen und auf deren taugliche Beschaffenheit, Verbesserung oder
+Verschönerung niemand denkt. Ich ging auf der Senkung des Weges nicht
+mehr hinunter, weil ich nicht talwärts kommen wollte, wo die Blicke
+beengt sind.
+
+Ich wendete mich um und hatte den Anblick des Schlosses vor mir,
+welches jetzt von solcher Bedeutung für mich geworden war. Die Fenster
+schimmerten in dem Glanze der Sonne, das Grau der von der Tünche
+befreiten südlichen Mauer schaute sanft zu mir herüber, das dunkle
+Dach hob sich von der Bläue der nördlichen Luft ab, und ein leichter
+Rauch stieg von einigen seiner Schornsteine auf.
+
+Ich ging langsam auf dem Rücken des Feldes an den Obstbäumen vorüber
+meines Weges zurück, bis er sachte gegen das Schloß abwärts zu gehen
+begann.
+
+An dieser Stelle sah ich jetzt, daß mir eine Gestalt, welche mir
+früher durch Baumkronen verdeckt gewesen sein mochte, entgegen kam,
+welche die Gestalt Nataliens war. Wir gingen beide schneller, als
+wir uns erblickten, um uns früher zu erreichen. Da wir nun zusammen
+trafen, blickte mich Natalie mit ihren großen dunkeln Augen freundlich
+an und reichte mir die Hand. Ich empfing sie, drückte sie herzlich und
+sagte einen innigen Gruß.
+
+»Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg
+gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt
+wirklich gehe.«
+
+»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich.
+
+»Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie,
+»dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte
+bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen
+und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid
+angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war.
+Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die
+Morgenluft zu genießen.«
+
+Ich sah wirklich, daß sie das lichte graue Kleid mit den feinen
+tiefroten Streifen nicht mehr an habe, sondern ein einfacheres,
+kürzeres, mattbraunes trage. Jenes Kleid wäre freilich zu einem
+Morgenspaziergange nicht tauglich gewesen, weil es in reichen Falten
+fast bis auf den Fußboden nieder ging. Sie hatte jetzt einen leichten
+Strohhut auf dem Haupte, welchen sie immer bei ihren Wanderungen durch
+die Felder trug. Ich fragte sie, ob sie glaube, daß noch so viel Zeit
+vor dem Frühmahle sei, daß sie über die Felderanhöhe hinaus und wieder
+in das Schloß zurückkommen könne.
+
+»Wohl ist noch so viel Zeit«, erwiderte sie, »ich wäre ja sonst
+nicht fortgegangen, weil ich eine Störung in der Hausordnung nicht
+verursachen möchte.«
+
+»Dann erlaubt ihr wohl, daß ich euch begleite?« sagte ich.
+
+»Es wird mir sehr lieb sein«, antwortete sie.
+
+Ich begab mich an ihre Seite, und wir wandelten den Weg, den ich
+gekommen war, zurück.
+
+Ich hätte ihr sehr gerne meinen Arm angeboten; aber ich hatte nicht
+den Mut dazu.
+
+Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme
+nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den
+Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen
+hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte
+Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?«
+
+»Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht
+unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung,
+welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in
+das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich
+habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf,
+und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde,
+ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.«
+
+»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren
+Sommers zu atmen«, erwiderte sie.
+
+»Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«,
+antwortete ich. »Das weiß ich, wenn ich auf einem hohen Berge stehe
+und die Luft in ihrer Weite wie ein unausmeßbares Meer um mich herum
+ist. Aber nicht bloß die Luft des Sommers ist erquickend, auch die des
+Winters ist es, jede ist es, welche rein ist und in welcher sich nicht
+Teile finden, die unserm Wesen widerstreben.«
+
+»Ich gehe oft mit der Mutter an stillen Wintertagen gerade diesen Weg,
+auf dem wir jetzt wandeln. Er ist wohl und breit ausgefahren, weil die
+Bewohner von Erltal und die der umliegenden Häuser im Winter von ihrem
+tief gelegenen Fahrwege eine kleine Abbeugung über die Felder machen
+und dann unseren Spazierweg seiner ganzen Länge nach befahren. Da ist
+es oft recht schön, wenn die Zweige der Bäume voll von Kristallen
+hängen oder wenn sie bereift sind und ein feines Gitterwerk über ihren
+Stämmen und Ästen tragen.
+
+Oft ist es sogar, als wenn sich der Reif in der Luft befände und sie
+mit ihm erfüllt wäre. Ein feiner Duft schwebt in ihr, daß man die
+nächsten Dinge nur wie in einen Rauch gehüllt sehen kann. Ein anderes
+Mal ist der Himmel wieder so klar, daß man alles deutlich erblickt. Er
+spannt sich dunkelblau über die Gefilde, die in der Sonne glänzen, und
+wenn wir auf die Höhe der Felder kommen, können wir von ihr den ganzen
+Zug der Gebirge sehen. Im Winter ist die Landschaft sehr still, weil
+die Menschen sich in ihren Häusern halten, so viel sie können, weil
+die Singvögel Abschied genommen haben, weil das Wild in die tieferen
+Wälder zurück gegangen ist, und weil selbst ein Gespann nicht den
+tönenden Hufschlag und das Rollen der Räder hören läßt, sondern nur
+der einfache Klang der Pferdeglocke, die man hier hat, anzeigt, daß
+irgend wo jemand durch die Stille des Winters fährt. Wir gehen auf der
+klaren Bahn dahin, die Mutter leitet die Gespräche auf verschiedene
+Dinge, und das Ziel unserer Wanderung ist gewöhnlich die Stelle, wo
+der Weg in das Tal hinabzugehen anfängt. In der Stadt habt ihr die
+schönen Winterspaziergänge nicht, welche uns das Land gewährt.«
+
+»Nein, Natalie, die haben wir nicht. Wir haben von der dem Winter als
+Winter eigentümlichen Wesenheit nichts als die Kälte; denn der Schnee
+wird auch aus der Stadt fortgeschafft«, erwiderte ich, »und nicht bloß
+im Winter, auch im Sommer hat die Stadt nichts, was sich nur entfernt
+mit der Freiheit und Weite des offenen Landes vergleichen ließe.
+Eine erweiterte Pflege der Kunst und der Wissenschaft, eine erhöhte
+Geselligkeit und die Regierung des menschlichen Geschlechts sind in
+der Stadt, und diese Dinge begreifen auch das, was man in der Stadt
+sucht. Einen Teil von Wissenschaft und Kunst aber kann man wohl auch
+auf dem Lande hegen, und ob größere Zweige der allgemeinen Leitung der
+Menschen auch auf das Land gelegt werden könnten, als jetzt geschieht,
+weiß ich nicht, da ich hierin zu wenig Kenntnisse habe. Ich trage
+schon lange den Gedanken in mir, einmal auch im Winter in das
+Hochgebirge zu gehen und dort eine Zeit zuzubringen, um Erfahrungen zu
+sammeln. Es ist seltsam und reizt zur Nachahmung, was uns die Bücher
+melden, die von Leuten verfaßt wurden, welche im Winter hochgelegene
+Gegenden besucht oder gar die Spitzen bedeutender Berge erstiegen
+haben.«
+
+»Wenn es für Leben und Gesundheit keine Gefahr hat, solltet ihr es
+tun«, antwortete sie. »Es ist wohl ein Vorrecht der Männer, das
+Größere wagen und erfahren zu können. Wenn wir zuweilen im Winter
+in großen Städten gewesen sind und dort das Leben der verschiedenen
+Menschen gesehen haben, dann sind wir gerne in den Sternenhof
+zurückgegangen. Wir haben hier in manchen größeren Zeiträumen alle
+Jahreszeiten genossen und haben jeden Wechsel derselben im Freien
+kennen gelernt. Wir sind mit Freunden verbunden, deren Umgang uns
+veredelt, erhebt, und zu denen wir kleine Reisen machen. Wir haben
+einige Ergebnisse der Kunst und in einem gewissen Maße auch der
+Wissenschaft, so weit es sich für Frauen ziemt, in unsere Einsamkeit
+gezogen.«
+
+»Der Sternenhof ist ein edler und ein würdevoller Sitz«, entgegnete
+ich, »er hat sich ein schönes Teil des Menschlichen gesammelt und muß
+nicht das Widerwärtige desselben hinnehmen. Aber es mußten auch viele
+Umstände zusammentreffen, da es somit werden konnte, wie es ward.«
+
+»Das sagt die Mutter auch«, erwiderte sie, »und sie sagt, sie müsse
+der Vorsehung sehr danken, daß sie ihre Bestrebungen so unterstützt
+und geleitet habe, weil wohl sonst das Wenigste zu Stande gekommen
+wäre.«
+
+Wir hatten in der Zeit dieses Gespräches nach und nach die höchste
+Stelle des Weges erreicht. Vor uns ging es wieder abwärts. Wir blieben
+eine Weile stehen.
+
+»Sagt mir doch«, begann Natalie wieder, »wo liegt denn das Kargrat, in
+welchem ihr euch in diesem Teile des Sommers aufgehalten habt? Man muß
+es ja von hier aus sehen können.«
+
+»Freilich kann man es sehen«, antwortete ich, »es liegt fast im
+äußersten Westen des Teiles der Kette, der von hier aus sichtbar ist.
+Wenn ihr von jenen Schneefeldern, die rechts von der sanftblauen
+Kuppe, welche gerade über der Grenzeiche eures Weizenfeldes sichtbar
+ist, liegen, und die fast wie zwei gleiche, mit der Spitze nach
+aufwärts gerichtete Dreiecke aussehen, wieder nach rechts geht, so
+werdet ihr lichte, fast wagrecht gehende Stellen in dem greulichen
+Dämmer des Gebirges sehen, das sind die Eisfelder des Kargrats.«
+
+»Ich sehe sie sehr deutlich«, erwiderte sie, »ich sehe auch die
+Spitzen, die über das Eis empor ragen. Und auf diesem Eise seid ihr
+gewesen?«
+
+»An seinen Grenzen, die es in allen Richtungen umgeben«, antwortete
+ich, »und auf ihm selber«.
+
+»Da müßt ihr ja auch deutlich hieher gesehen haben«, sagte sie.
+
+»Die Berggestaltungen des Kargrates, die wir hier sehen«, erwiderte
+ich, »sind so groß, daß wir seine Teile wohl von hier aus
+unterscheiden können; aber die Abteilungen der hiesigen Gegend sind
+so klein, daß ihre Gliederungen von dort aus nicht erblickt werden
+können. Das Land liegt wie eine mit Duft überschwebte einfache Fläche
+unten. Mit dem Fernrohre konnte ich mir einzelne bekannte Stellen
+suchen, und ich habe mir die Bildungen der Hügel und Wälder des
+Sternenhofes gesucht.«
+
+»Ach nennt mir doch einige von den Spitzen, die wir von hier aus sehen
+können«, sagte sie.
+
+»Das ist die Kargratspitze, die ihr über dem Eise als höchste seht«,
+erwiderte ich, »und rechts ist die Glommspitze und dann der Ethern und
+das Krummhorn. Links sind nur zwei, der Aschkogel und die Sente.«
+
+»Ich sehe sie«, sagte sie, »ich sehe sie.«
+
+»Und dann sind noch geringere Erhöhungen«, fuhr ich fort, »die sich
+gegen die weiteren Berghänge senken, die keinen Namen haben und die
+man hier nicht sieht.«
+
+Da wir noch eine Weile gestanden waren, die Berge betrachtet und
+gesprochen hatten, wendeten wir uns um und wandelten dem Schlosse zu.
+
+»Es ist doch sonderbar«, sagte Natalie, »daß diese Berge keinen weißen
+Marmor hervorbringen, da sie doch so viel verschiedenfarbigen haben.«
+
+»Da tut ihr unseren Bergen ein kleines Unrecht«, antwortete ich, »sie
+haben schon Lager von weißem Marmor, aus denen man bereits Stücke
+zu mannigfaltigen Zwecken bricht, und gewiß werden sie in ihren
+Verzweigungen noch Stellen bergen, wo vielleicht der feinste und
+ungetrübteste weiße Marmor ist.«
+
+»Ich würde es lieben, mir Dinge aus solchem Marmor machen zu lassen«,
+sagte sie.
+
+»Das könnt ihr ja tun«, erwiderte ich, »kein Stoff ist geeigneter
+dazu.«
+
+»Ich könnte aber nach meinen Kräften nur kleine Gegenstände anfertigen
+lassen, Verzierungen und dergleichen«, sagte sie, »wenn ich die
+rechten Stücke bekommen könnte, und wenn meine Freunde mir mit ihrem
+Rate beistanden.«
+
+»Ihr könnt sie bekommen«, antwortete ich, »und ich selber könnte euch
+hierin helfen, wenn ihr es wünscht.«
+
+»Es wird mir sehr lieb sein«, erwiderte sie, »unser Freund hat edle
+Werke aus farbigem Marmor in seinem Hause ausführen lassen, und ihr
+habt ja auch schöne Dinge aus solchem für eure Eltern veranlaßt.«
+
+»Ja, und ich suche noch immer schöne Stücke Marmor zu erwerben, um sie
+gelegentlich zu künftigen Werken zu verwenden«, antwortete ich.
+
+»Meine Vorliebe für den weißen Marmor habe ich wohl aus den reichen,
+schönen und großartigen Dingen gezogen«, entgegnete sie, »die ich in
+Italien aus ihm ausgeführt gesehen habe. Besonders wird mir Florenz
+und Rom unvergeßlich sein. Das sind Dinge, die unsere höchste
+Bewunderung erregen, und doch, habe ich immer gedacht, ist es
+menschlicher Sinn und menschlicher Geist, der sie entworfen und
+ausgeführt hat. Euch werden auch Gegenstände bei eurem Aufenthalte im
+Freien erschienen sein, die das Gemüt mächtig in Anspruch nehmen.«
+
+»Die Kunstgebilde leiten die Augen auf sich, und mit Recht«,
+antwortete ich, »sie erfüllen mit Bewunderung und Liebe. Die
+natürlichen Dinge sind das Werk einer anderen Hand, und wenn sie
+auf dem rechten Wege betrachtet werden, regen sie auch das höchste
+Erstaunen an.«
+
+»So habe ich wohl immer gefühlt«, sagte sie.
+
+»Ich habe auf meinem Lebenswege durch viele Jahre Werke der Schöpfung
+betrachtet«, erwiderte ich, »und dann auch, so weit es mir möglich
+war, Werke der Kunst kennen gelernt, und beide entzückten meine
+Seele.«
+
+Mit diesen Gesprächen waren wir allmählich dem Schlosse näher gekommen
+und waren jetzt bei dem Pförtchen.
+
+An demselben blieb Natalie stehen und sagte die Worte: »Ich habe
+gestern sehr lange mit der Mutter gesprochen, sie hat von ihrer Seite
+eine Einwendung gegen unseren Bund nicht zu machen.«
+
+Ihre feinen Züge überzog ein sanftes Rot, als sie diese Worte zu mir
+sprach. Sie wollte nun sogleich durch das Pförtchen hinein gehen, ich
+hielt sie aber zurück und sagte: »Fräulein, ich hielte es nicht für
+Recht, wenn ich euch etwas verhehlte. Ich habe euch heute schon einmal
+gesehen, ehe wir zusammentrafen. Als ich am Morgen über den Gang
+hinter euren Zimmern ins Freie gehen wollte, standen die Türen in
+einen Vorsaal und in ein Zimmer offen, und ich sah euch in diesem
+letztern an einem mit einem altertümlichen Teppiche behängten
+Tischchen, die Hand auf ein Buch gestützt, stehen.«
+
+»Ich dachte an mein neues Schicksal«, sagte sie.
+
+»Ich wußte es, ich wußte es«, antwortete ich, »und mögen die
+himmlischen Mächte es so günstig gestalten, als es der Wille derer
+ist, die euch wohlwollen.«
+
+Ich reichte ihr beide Hände, sie faßte sie, und wir drückten uns
+dieselben.
+
+Darauf ging sie in das Pförtchen ein und über die Treppe empor.
+
+Ich wartete noch ein wenig.
+
+Da sie oben war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, stieg ich
+auch die Treppe empor.
+
+
+Das ganze Wesen Nataliens schien mir an diesem Morgen glänzender, als
+es die ganze Zeit her gewesen war, und ich ging mit einem tief, tief
+geschwellten Herzen in mein Zimmer.
+
+Dort kleidete ich mich insoweit um, als es nötig war, die Spuren des
+Morgenspazierganges zu beseitigen und anständig zu erscheinen, dann
+ging ich, da die Stunde des Frühmahles schon heran nahte, in das
+Speisezimmer.
+
+Ich war in demselben allein. Der Tisch war schon gedeckt und Alles zum
+Morgenmahle in Bereitschaft gesetzt. Nachdem ich eine Weile gewartet
+hatte, kam Mathilde mit Natalie zugleich in das Zimmer. Natalie hatte
+sich umgekleidet, sie hatte jetzt ein festlicheres Kleid an als sie
+beim Morgenspaziergange getragen hatte, weil sie gleich Mathilden bei
+Tische einen Gast durch ein besseres Kleid ehrte. Mit der gewöhnlichen
+Ruhe und Heiterkeit, aber mit einer fast noch größeren Freundlichkeit
+als sonst begrüßte mich Mathilde und wies mir meinen Platz an. Wir
+setzten uns. Wir waren nun bei dem Frühmahle, wie wir es die mehreren
+Tage her gewohnt waren. Dieselben Gegenstände befanden sich auf dem
+Tische und derselbe Vorgang wurde befolgt wie immer. Obgleich nur ein
+Dienstmädchen ab und zu ging und wir in den Zwischenzeiten allein
+waren, indem Mathilde nach ihrer Gepflogenheit manche Handlungen,
+die bei einem solchen Frühmahle nötig sind, an dem Tische selbst
+verrichtete, so wurde doch über unsere besonderen Angelegenheiten
+auch jetzt nicht gesprochen. Gewöhnliche Dinge, wie sie sich an
+gewöhnlichen Tagen darbieten, bildeten den Inhalt der Gespräche. Teils
+Kunst, teils die schönen Tage der Jahreszeit, die eben war, und teils
+ein Abschnitt des Aufenthaltes während der Rosenzeit im Asperhofe
+wurden abgehandelt. Dann standen wir auf und trennten uns.
+
+Und so wurde auch am ganzen Tage von dem Verhältnisse, in welches ich
+zu Natalien getreten war, nichts gesprochen.
+
+Wir fanden uns noch im Laufe des Vormittags im Garten zusammen.
+Mathilde zeigte mir einige Veränderungen, welche sie vorgenommen
+hatte. Mehrere zu sehr in geraden Linien gezogene geschorne Hecken,
+die sich noch in einem abgelegenen Teile des Gartens befunden hatten,
+waren beseitigt worden und hatten einer leichteren und gefälligeren
+Anlage Platz gemacht. Blumenbeete waren gezogen worden und mehrere
+Pflanzen, welche man erst kennen gelernt hatte, welche mein Gastfreund
+sehr liebte und unter denen sich außerordentlich schöne befanden,
+waren in eine Gruppe gestellt worden. Mathilde nannte ihre Namen,
+Natalie hörte aufmerksam zu. Am Nachmittage wurde ein Spaziergang
+gemacht. Zuerst besuchten wir die Arbeiter, welche mit der
+Hinwegschaffung der Tünche von der Steinbekleidung des Hauses
+beschäftigt waren, und sahen eine Zeit hindurch zu. Mathilde tat
+mehrere Fragen und ließ sich in Erörterungen über Dinge ein, die diese
+Angelegenheit betrafen. Dann gingen wir in einem großen Bogen längs
+des Rückens der Anhöhen herum, die zu einem Teile das Tal beherrschen,
+in dem das Schloß liegt. Wir kamen an dem Saume eines Wäldchens
+vorüber, von dem man das Schloß, den Garten und die Wirtschaftsgebäude
+sehen konnte, und gingen endlich durch den nördlichen Arm desselben
+Spazierweges in das Schloß zurück, in dessen südlichem Teile ich heute
+Morgens mit Natalien gewandelt war.
+
+Gegen Abend kam der Wagen mit den Wanderern an.
+
+Mein Gastfreund stieg zuerst heraus, dann folgten fast gleichzeitig
+die übrigen, jüngeren Männer. Ich wurde von allen gegrüßt und von
+allen getadelt, daß ich so spät gekommen sei. Man begab sich in das
+gemeinschaftliche Gesellschaftszimmer und besprach sich dort eine
+Weile, ehe man sich in die Gemächer verfügen wollte, die für einen
+jeden bestimmt waren.
+
+Mein Gastfreund fragte mich, wo ich mich heuer aufgehalten und welche
+Teile des Gebirges ich durchstreift habe. Ich antwortete ihm, daß ich
+ihm schon im Allgemeinen gesagt habe, daß ich an den Simmigletscher
+gehen werde, daß ich aber meinen besonderen Wohnort im Kargrat
+aufgeschlagen habe, in dem mit dem Gebirgsstocke gleichnamigen kleinen
+Dörflein. Von da aus habe ich meine Streifereien gemacht. Ich nannte
+ihm die einzelnen Richtungen, weil er besonders in der Gegend der
+Simmen sehr bekannt war. Eustach sprach über die schönen Naturbilder,
+die in jenen Gestaltungen vorkommen. Roland sagte, ich möchte doch
+auch einmal die Klamkirche, in der sie gewesen seien, besuchen;
+die Zeichnungen werde mir Eustach schon zeigen, damit ich einen
+vorläufigen Überblick davon zu erlangen vermöge. Gustav grüßte mich
+einfach mit seiner Liebe und Freundschaft, wie er es immer getan
+hatte. Auf die gelegentliche Frage meines Gastfreundes, ob ich nun
+lange in der Gesellschaft meiner Freunde zu bleiben gesonnen sei,
+antwortete ich, daß mich eine wichtige Angelegenheit vielleicht schon
+in sehr kurzer Zeit fortführen könnte.
+
+Nach diesen allgemeinen Gesprächen begaben sich die Reisenden in
+ihre Zimmer, um die Spuren der Reise zu beseitigen, staubige Kleider
+abzulegen, sich sonst zu erfrischen oder Mitgebrachtes in eine Ordnung
+zu richten.
+
+Wir sahen uns erst bei dem Abendessen wieder.
+
+Dasselbe war so heiter und freundlich, wie es immer gewesen war.
+
+Am anderen Morgen nach dem Frühmahle ging mein Gastfreund eine Zeit
+mit Mathilden im Garten spazieren, dann kam er in mein Zimmer und
+sagte zu mir: »Ihr habt Recht, und es ist sehr gut von euch, daß ihr
+das, was euren hiesigen Freunden lieb und angenehm ist, euren Eltern
+und euren Angehörigen sagen wollt.«
+
+Ich erwiderte nichts, errötete und verneigte mich sehr ehrerbietig.
+
+Ich erklärte im Laufe des Vormittages, daß ich, sobald es nur immer
+möglich wäre, abreisen müßte. Man stellte mir Pferde bis zur nächsten
+Post zur Verfügung, und nachdem ich mein kleines Gepäck geordnet
+hatte, beschloß ich, noch vor dem Mittage die Reise anzutreten. Man
+ließ es zu. Ich nahm Abschied. Die klaren, heiteren Augen meines
+Gastfreundes begleiteten mich, als ich von ihm hinwegging. Mathilde
+war sanft und gütig, Natalie stand in der Vertiefung eines Fensters,
+ich ging zu ihr hin und sagte leise: »Liebe, liebe Natalie, lebet
+wohl.«
+
+»Mein lieber, teurer Freund, lebet wohl«, antwortete sie ebenfalls
+leise, und wir reichten uns die Hände.
+
+Nach einem Augenblicke verabschiedete ich mich auch von den anderen,
+die, da sie wußten, daß ich abreisen werde, in das Gesellschaftszimmer
+gekommen waren. Ich schüttelte Eustach und Roland die Hände und
+empfing Gustavs Kuß, welche innigere Art des Bewillkommens und
+Scheidens schon seit längerer Zeit zwischen uns üblich geworden war
+und welche mir heute so besonders wichtig wurde.
+
+Hierauf ging ich die Treppe hinab und bestieg den Wagen.
+
+Mathildens Pferde brachten mich auf die nächste Post. Dort sendete
+ich sie zurück und nahm andere in der Richtung nach dem Kargrat. Ich
+gönnte mir wenig Ruhe. Als ich dort angekommen war, erklärte ich
+meinen Leuten, daß Umstände eingetreten wären, welche die Fortsetzung
+der heurigen Arbeiten nicht erlaubten. Ich entließ sie also, händigte
+ihnen aber den Lohn ein, den sie bekommen hätten, wenn sie mir in
+der ganzen vertragsmäßigen Zeit gedient hätten. Sie waren hierüber
+zufrieden. Der Jäger und Zitherspieler war früher, ehe ich gekommen
+war, fortgegangen. Wohin er sich begeben habe, wußten die Leute
+selber nicht. Das Verhältnis mit meinen Arbeitern zu ordnen, war mir
+das Wichtigste auf meinem Arbeitsplatze gewesen; deshalb war ich
+hingereist. Ich hatte ihnen vor meinem Besuche im Asperhofe gesagt,
+daß ich bald wieder kommen werde, hatte ihnen während meiner
+Abwesenheit Arbeit aufgetragen und hatte ihnen Arbeit nach meiner
+Wiederkunft in Aussicht gestellt. Dieses mußte nun umgeändert werden.
+Da es geschehen war, gab ich meine Sachen im Kargrat so in Verwahrung,
+daß sie gesichert waren, und reiste sogleich wieder ab. Ich hatte
+die Pferde, die ich von dem letzten größeren Orte in das Kargrat
+mitgenommen hatte, bei mir behalten und fuhr jetzt mit ihnen wieder
+fort. Auf dem ersten Postamte verlangte ich eigene Postpferde und
+schlug die Richtung zu meinen Eltern ein.
+
+Als ich dort angekommen war, machte mein unvermutetes Erscheinen
+beinahe den Eindruck des Erstaunens. Alle Ereignisse waren so schnell
+gekommen, daß, da einmal meine Abreise zu meinen Eltern festgesetzt
+war, ein Brief, der sie von meiner Ankunft benachrichtigt hätte,
+wahrscheinlich nicht früher zu ihnen gekommen wäre als ich selbst.
+Sie konnten sich daher nicht erklären, warum ich ohne vorhergegangene
+Benachrichtigung nun im Sommer statt im Herbste komme. Ich sagte ihnen
+auf ihre Frage, daß allerdings ein Grund zu meiner jetzigen Heimreise
+vorhanden sei, aber keineswegs ein unangenehmer, daß ich in Ungeduld
+so schnell abgereist sei und daß ich ihnen eine frühere Nachricht von
+meiner Ankunft nicht habe zugeben lassen können. Hierauf waren sie
+beruhigt und, wie es ihre Art war, fragten sie mich nun nicht nach
+meinem Grunde.
+
+
+Am andern Morgen, ehe der Vater in die Stadt ging, begab ich mich
+zu ihm in das Bücherzimmer und sagte ihm, daß ich zu Natalien, der
+Tochter der Freundin meines Gastfreundes, schon seit langer Zeit
+her eine Zuneigung gefaßt habe, daß diese Neigung in mir verborgen
+geblieben und daß es mein Vorsatz gewesen sei, sie, wenn sie ohne
+Aussicht wäre, zu unterdrücken, ohne daß ich je zu irgend jemandem
+ein Wort darüber sagte. Nun habe aber Natalie auch mich ihres Anteils
+nicht für unwert gehalten, ich habe davon nichts gewußt, bis ein
+Zufall, da wir von anderen, weit entlegenen Dingen sprachen, die
+gegenseitig unbekannte Stimmung zu Tage brachte. Da haben wir nun
+einen Bund geschlossen, daß wir uns unsere Neigung bewahren wollen, so
+lange wir leben, und daß wir sie in dieser Art nie einem anderen Wesen
+schenken würden. Natalie habe verlangt, und mein Sinn stimmte diesem
+Verlangen vollkommen bei, daß wir unseren Angehörigen diese Tatsache
+mitteilen sollten, damit wir uns unseres Gutes durch ihre Zustimmung
+erfreuen oder, wenn von einem Teile die Billigung versagt würde,
+die Neigung zwar unverändert erhalten, aber den persönlichen Umgang
+aufheben. Da nun Nataliens Angehörige nichts eingewendet haben, so sei
+ich hier, um die Sache meinen Eltern zu sagen, und ihm sage ich sie
+zuerst, der Mutter würde ich sie später mitteilen.
+
+»Mein Sohn«, antwortete er, »du bist mündig, du hast das Recht,
+Verträge abzuschließen und hast einen sehr wichtigen abgeschlossen. Da
+ich dich genau kenne, da ich dich seit einiger Zeit noch viel genauer
+kennen zu lernen Gelegenheit hatte als ich dich früher kannte, so weiß
+ich, daß deine Wahl einen Gegenstand getroffen hat, der, wenn ihm
+auch gewiß wie allen Menschen Fehler eigen sind, an Wert und Güte
+entsprechen wird. Wahrscheinlich hat er beide Dinge in einem höheren
+Maße als die Menschen, wie sie in größerer Menge jetzt überall sind.
+In dieser Meinung bestärken mich noch mehrere Umstände. Eure Neigung
+ist nicht schnell entstanden, sondern hat sich vorbereitet, du hast
+sie überwinden wollen, du hast nichts gesagt, du hast uns von Natalien
+wenig erzählt, also ist es kein hastiges, fortreißendes Verlangen,
+welches dich erfaßt hat, sondern eine auf dem Grunde der Hochachtung
+beruhende Zuneigung. Bei Natalien ist es wahrscheinlich auch so,
+weil, wie du gesagt hast, ihre Gegenneigung vorhanden war, ehe du sie
+erkennen konntest. Ferner hat bei deinem Gastfreunde die Gesammtheit
+deines Wesens eine so entschiedene Förderung erhalten, du hast
+nach manchem Besuche bei ihm auch so hervorragende Einzelheiten
+zurückgebracht, daß ihm eine große Güte und Bildung eigen sein muß,
+die auf seine Umgebung übergeht. Ich habe nichts einzuwenden.«
+
+Obgleich ich mir vorgestellt hatte, daß mein Vater dem geschlossenen
+Bunde kein Hindernis entgegenstellen werde, so war ich doch bei dieser
+Unterredung beklommen und ernst gewesen, so wie in der Haltung meines
+Vaters eine tiefe Ergriffenheit nicht zu verkennen gewesen war. Jetzt,
+da er geredet hatte, kam in mein Herz eine Freudigkeit, die sich auch
+in meinen Augen und in meinen Mienen ausgedrückt haben mußte. Mein
+Vater blickte mich gütig und freundlich an und sagte: »Du wirst mit
+der Mutter von diesem Gegenstande nicht so leicht sprechen, ich werde
+deine Stelle vertreten und ihr von dem geschlossenen Bunde erzählen,
+daß du schneller über die Mitteilung hinwegkömmst. Lasse den Vormittag
+vergehen, nach dem Mittagessen werde ich die Mutter in dieses Zimmer
+bitten. Klotilde wird dann gelegentlich auch Kenntnis von deinem
+Schritte erhalten.«
+
+Wir verließen nun das Bücherzimmer. Mein Vater rüstete sich, in
+seine Geschäftsstube in die Stadt zu gehen, wie er sich jeden Morgen
+gerüstet hatte. Als er fertig war, nahm er von der Mutter Abschied und
+ging fort. Der Vormittag verfloß, wie gewöhnlich die Zeit nach meiner
+Ankunft verflossen war. Die Mutter und Klotilde fragten nicht nach dem
+Grunde meines ungewöhnlichen Zurückkommens und gingen ihren Geschäften
+nach. Als das Mittagmahl vorüber war, nahm der Vater die Mutter in das
+Bücherzimmer und blieb eine Weile mit ihr dort. Als sie wieder zu mir
+und Klotilden herauskamen, blickte sie mich freundlich an, sagte aber
+nichts.
+
+Sie setzten sich wieder zu uns, und wir blieben noch eine Zeit an dem
+Tische sitzen.
+
+Als wir aufgestanden waren, gingen wir in den Garten, welchen ich
+jetzt durch eine Reihe von Jahren nicht im Sommer gesehen hatte. Die
+Rosen, welche hie und da zerstreut waren, glichen nicht denen meines
+Gastfreundes, waren aber auch nicht schlechter als die, welche sich in
+dem Sternenhofe befanden. Der Garten, welcher mir in meiner Kindheit
+immer so lieb und traulich gewesen war, erschien mir jetzt klein und
+unbedeutend, obwohl seine Blumen, die gerade in dieser Sommerzeit noch
+blühten, seine Obstbäume, seine Gemüse, Weinreben und Pfirsichgitter
+nicht zu den geringsten der Stadt gehörten. Es zeigte sich nur eben
+der Unterschied eines Stadtgartens und des Gartens eines reichen
+Landbesitzers. Man wies mir alles, was man für wichtig erachtete,
+und machte mich auf alle Veränderungen aufmerksam. Man schien sich
+gleichsam zu freuen, daß man mich doch einmal zu Anfang der heißeren
+Jahreszeit hier habe, während ich sonst nur immer am Beginne der
+kälteren gekommen war, wenn die Blätter abfielen und der Garten sich
+seines Schmuckes entäußerte. Gegen den Abend ging der Vater wieder in
+die Stadt. Wir blieben in dem Garten. Da sich in einem Augenblicke die
+Schwester mit dem Aufbinden eines Rebenzweiges beschäftigte und ich
+mit der Mutter allein an dem Marmorbrunnen der Einbeere stand, in
+welchen das köstliche helle Wasser nieder rieselte, sagte sie zu mir:
+»Ich wünsche, daß jedes Glück und jeder Segen vom Himmel dich auf dem
+sehr wichtigen Schritte begleiten möge, den du getan hast, mein Sohn.
+Wenn du auch sorgsam gewählt hast, und wenn auch alle Bedingungen zum
+Gedeihen vorhanden sind, so bleibt der Schritt doch ein schwerer und
+wichtiger, noch steht das Zusammenfinden und das Einleben in einander
+bevor.«
+
+»Möge es uns Gott so gewähren, wie wir glauben, es erwarten zu
+dürfen«, antwortete ich, »ich wollte auch kein Glück gründen, ohne daß
+ich meine Eltern darum fragte und ohne daß ihr Wille mit dem meinigen
+übereinstimmte. Zuerst mußte wohl Gewißheit gesucht werden, ob sich
+die Neigungen zusammen gefunden hätten. Als dieses erkannt war, mußte
+der Sinn und die Zustimmung der Angehörigen erforscht werden, und
+deshalb bin ich hier.«
+
+»Der Vater sagt«, erwiderte sie, »daß alles recht ist, daß der Weg
+sich ebnen wird und daß jene Dinge, die in jeder Verbindung und also
+auch in dieser im Anfange ungefügig sind, hier eher ihre Gleichung
+finden werden als irgendwo. Wenn er es aber auch nicht gesagt hätte,
+so wüßte ich es doch. Du bist unter so vortrefflichen Leuten gewesen,
+du würdest auch ohne dem nicht unwürdig gewählt haben, und hast du
+gewählt, so ist dein Herz gut und wird sich in Kürze in ein Frauenherz
+finden, wie auch sie ihr Leben in dem deinigen finden wird. Es sind
+nicht alle, es sind nicht viele Verbindungen dieser Art glücklich; ich
+kenne einen großen Teil der Stadt und habe auch einen nicht zu kleinen
+Teil des Lebens beobachtet. Du hast im Grunde nur unsere Ehe gesehen:
+möge die deinige so glücklich sein, als es die meine mit deinem
+ehrwürdigen Vater ist.«
+
+Ich antwortete nicht, es wurden mir die Augen naß.
+
+»Klotilde wird jetzt einsam sein«, fuhr die Mutter fort, »sie hat
+keine andere Neigung als unser Haus, als Vater und Mutter und als
+dich.«
+
+»Mutter«, antwortete ich, »wenn du Natalien sehen wirst, wenn du
+erfahren wirst, wie sie einfach und gerecht ist, wie ihr Sinn nach dem
+Gültigen und Hohen strebt, wie sie schlicht vor uns allen wandelt und
+wie sie viel, viel besser ist als ich, so wirst du nicht mehr von
+einer Vereinsamung sprechen, sondern von einer Verbindung, Klotilde
+wird um eines mehr haben als jetzt, und du und der Vater werdet um
+eines mehr haben. Aber auch Mathilde, mein Gastfreund und der Kreis
+jener trefflichen Menschen wird in eure Verbindung gezogen werden, ihr
+werdet zu ihnen hingezogen werden, und was bis jetzt getrennt war,
+wird Einigung sein.«
+
+»Ich habe mir es so gedacht, mein Sohn«, antwortete die Mutter, »und
+ich glaube wohl, daß es so kommen wird; aber Klotilde wird die Art
+ihrer Neigung zu dir umwandeln müssen, und möge das alles mit gelindem
+Kelche vorübergehen.«
+
+
+Zu dem Ende dieser Worte war auch Klotilde herzu gekommen. Sie brachte
+mir eine Rose und sagte mit heiteren Mienen, daß sie mir dieselbe bloß
+darum gebe, um mir einen kleinen Ersatz für alle die Rosen zu bieten,
+welche ich heuer im Asperhofe durch meine Hieherreise versäumt habe.
+
+Mir fiel es bei diesen Worten erst auf, daß im väterlichen Garten
+die Rosen blühten, während sie doch in dem höher gelegenen und einer
+rauheren Luft ausgesetzten Asperhofe schon verblüht waren. Ich sprach
+davon. Man fand den Grund bald heraus. Die Asperhofrosen waren den
+ganzen Tag der Sonne ausgesetzt, mochten auch besser gepflegt werden
+und einen besseren Boden haben, während hier teils durch Bäume, die
+man des kleineren Raumes wegen enger setzen mußte, teils durch die
+Mauern näherer und entfernterer Häuser vielfältig Schatten entstand.
+
+Ich nahm die Rose und sagte, Klotilde würde meinem Gastfreunde einen
+schlechten Dienst tun, wenn sie in seinem Garten eine Rose pflückte.
+
+»Dort würde ich nicht den Mut dazu haben«, antwortete sie.
+
+Wir blieben nun eine Weile bei dem Marmorwasserwerke stehen. Klotilde
+zeigte mir, was der Vater im Frühlinge habe machen lassen, zum Teile,
+um den Wasserzug noch mehr zu sichern, zum Teile, um Verschönerungen
+anzubringen. Ich sah, wie trefflich und zweckmäßig er die Dinge hatte
+zubereiten lassen und wie sehr ich von ihm lernen könne. Ich freute
+mich schon auf die Zeit, die nicht mehr ferne sein konnte, in welcher
+der Vater mit meinem Gastfreunde zusammen kommen würde.
+
+Als wir von dem Wasserwerke weg gingen, führte mich Klotilde nun
+zu dem Platze, von welchem eine Aussicht in die Gegend geboten ist
+und den man mit einer Brustwehr zu versehen beschlossen hatte. Die
+Brustwehr war schon zum Teile fertig. Sie war aufgemauert, war mit den
+von mir gebrachten Marmorplatten belegt und war seitwärts mit Marmor
+bekleidet, den sich der Vater verschafft hatte. Auch meine Simse und
+Tragsteine waren verwendet. Ich sah aber, daß noch Vieles an Marmor
+fehlte und versprach, daß ich suchen werde, zu Stande zu bringen, daß
+die ganze Brustwehr aus gleichartigen Stücken und in gleicher Weise
+könne hergestellt werden.
+
+»Du siehst, daß wir auch in der Ferne deiner denken und dir etwas
+Angenehmes zu bereiten streben«, sagte Klotilde.
+
+»Ich habe ja nie daran gezweifelt«, antwortete ich, »und denke auch
+eurer, wie meine Briefe beweisen.«
+
+»Du solltest doch wieder einmal einen ganzen Sommer hier bleiben«,
+sagte sie.
+
+»Wer weiß, was geschieht«, erwiderte ich.
+
+Als die Dunkelheit bereits mit ihrer vollen Macht hereinzubrechen
+anfing, kam der Vater wieder aus der Stadt, und wir nahmen unser
+Abendessen in dem Waffenhäuschen. Da sehr lange Tage waren und da es
+nach dem Eintreten der völligen Finsternis schon ziemlich spät war,
+so konnten wir nach dem Speisen nicht mehr so lange in dem Häuschen
+mit den gläsernen Wänden beim Brennen der traulichen Lichter sitzen
+bleiben, wie in dem Herbste, wenn ich nach einer langen Sommerarbeit
+wieder zu den Meinigen zurückgekehrt war. Auch hatte man heute in
+dem lauen Abende mehrere der Glasabteilungen geöffnet, der Eppich
+flüsterte in einem gelegentlichen Luftzuge, und die Flamme im Innern
+der Lampe wankte unerfreulich. Wir trennten uns und suchten unsere
+Ruhe.
+
+Am anderen Tage am frühesten Morgen kam Klotilde zu mir. Als ich auf
+ihr Pochen geöffnet hatte und sie eingetreten war, verkündigte ihr
+Angesicht, daß die Mutter über meine Angelegenheit mit ihr gesprochen
+habe. Sie sah mich an, ging näher, fiel mir um den Hals und brach in
+einen Strom von Tränen aus. Ich ließ ihr ein Weilchen freien Lauf und
+sagte dann sanft: »Klotilde, wie ist dir denn?«
+
+»Wohl und wehe«, antwortete sie, indem sie sich von mir zu einem Sitze
+führen ließ, auf den ich mich neben ihr niederließ.
+
+»Du weißt nun also alles?«
+
+»Ich weiß alles. Warum hast du mir es denn nicht früher gesagt?«
+
+»Ich mußte doch vorher mit den Eltern sprechen, und dann, Klotilde,
+hatte ich gegen dich gerade den wenigsten Mut.«
+
+»Und warum hast du nicht in früheren Sommern etwas gesagt?«
+
+»Weil nichts zu sagen war. Es ist erst jetzt zu gegenseitiger Kenntnis
+gekommen, und da bin ich hergeeilt, mich den Meinigen zu offenbaren.
+Als das Gefühl nur das meine war und die Zukunft sich noch verhüllte,
+durfte ich nicht reden, weil es mir nicht männlich schien und weil die
+Empfindung, die vielleicht in Kurzem gänzlich weggetan werden mußte,
+durch Worte nicht gesteigert werden durfte.«
+
+»Ich habe es immer geahnt«, sagte Klotilde, »und habe dir immer das
+höchste und größte Glück gewünscht. Sie muß sehr gut, sehr lieb, sehr
+treu sein. Ich habe nur das Verlangen, daß sie dich so liebt wie ich.«
+
+»Klotilde«, antwortete ich, »du wirst sie sehen, du wirst sie kennen
+lernen, du wirst sie lieben; und wenn sie mich dann auch nicht mit der
+in der Geburt gegründeten schwesterlichen Liebe liebt, so liebt sie
+mich mit einer anderen, die auch mein Glück, dein Glück, das Glück der
+Eltern vermehren wird.«
+
+»Ich habe oft gedacht, wenn du von ihr erzähltest, wie wenig du auch
+sagtest, und gerade, weil du wenig sagtest«, fuhr sie fort, »daß sich
+etwa da ein Band entwickeln könnte, daß es sehr zu wünschen wäre,
+daß du ihre Neigung gewännest und daß daraus eine bessere Einigung
+entstehen könnte als durch die Verbindung mit einem Mädchen unserer
+Stadt oder mit einem anderen.«
+
+»Und nun ist es so«, erwiderte ich.
+
+»Warum hast du denn nie ein Bild von ihr gemalt?« fragte sie.
+
+»Weil ich sie eben so wenig oder noch weniger darum bitten konnte als
+dich oder die Mutter oder den Vater. Ich hatte nicht das Herz dazu«,
+antwortete ich.
+
+»Nun sei recht glücklich, sei zufrieden bis in dein höchstes Alter,
+und bereue nie, auch nicht im geringsten den Schritt, den du getan
+hast«, sagte sie.
+
+»Ich glaube, daß ich ihn nie bereuen werde, und ich danke dir innig
+für deine Wünsche, meine teure, meine geliebte Klotilde«, erwiderte
+ich.
+
+Sie trocknete ihre Tränen mit dem Tuche, ordnete gleichsam ihr ganzes
+Wesen und sah mich freundlich an.
+
+»Wer wird jetzt mit mir zeichnen, spanische Bücher lesen, Zither
+spielen, wem werde ich alles sagen, was mir in das Herz kömmt?« sprach
+sie nach einer Weile.
+
+»Mir, Klotilde«, erwiderte ich, »alles, was ich früher war, werde ich
+dir bleiben. Lesen, Zeichnen, Zitherspielen wirst du mit Natalien;
+auch mitteilen wirst du dich ihr, und mit ihr wirst du das alles
+vollführen, was du bisher mit mir vollführt hast. Lerne sie nur erst
+kennen, und du wirst begreifen, daß es wahr ist, was ich sage.«
+
+»Ich möchte sie gerne sehr bald sehen«, sagte sie.
+
+»Du wirst sie bald sehen«, antwortete ich, »es muß sich jetzt eine
+Verbindung unserer Familie mit jenen Menschen, bei denen ich bisher so
+häufig gewesen bin, anknüpfen; ich wünsche selber, daß du sie bald,
+sehr bald sehest.«
+
+»Bis dahin aber mußt du mir sehr viel von ihr erzählen, und wenn es
+möglich ist, mußt du mir ein Bild von ihr bringen«, sagte sie.
+
+»Ich werde dir erzählen«, antwortete ich, »jetzt, da wir einmal von
+der Sache gesprochen haben, werde ich dir sehr gerne erzählen, ich
+werde mit dir leichter von dem Bunde reden als mit ihr selber. Ob
+ich dir ein Bild werde bringen oder schicken können, weiß ich nicht;
+wenn es möglich ist, werde ich es tun. Aber es wird nur in dem Falle
+sein können, wenn ein Bild von ihr da ist und man es mir, oder eine
+Abbildung davon überläßt. Behalte es dann, bis du mit ihr selber
+zusammen kömmst und wir in freundlicher Verbindung mit einander leben.
+Endlich aber, Klotilde...«
+
+»Endlich?«
+
+»Endlich wird doch auch die Zeit kommen, in welcher du von uns
+ausscheiden wirst, zwar nicht mit deinem Geiste, wohl aber mit
+einem Teile deiner Beziehungen, wenn nehmlich auch du eine tiefere
+Verbindung eingehst.«
+
+»Nie, nie werde ich das tun«, rief sie beinahe heftig, »nein, ich
+könnte ihm zürnen, ihm, der mein Herz hier wegführen würde. Ich liebe
+nur den Vater, die Mutter und dich. Ich liebe dieses stille Haus und
+alle, die berechtigt in demselben aus und ein gehen, ich liebe das,
+was es enthält, und die Dinge, die sich in ihm allmählich gestalten,
+ich werde Natalien und ihre Angehörigen lieben, aber nie einen
+Fremden, der mich von euch ziehen wollte.«
+
+»Er wird dich aber von uns ziehen, Klotilde«, sagte ich, »und du wirst
+doch da bleiben, er wird berechtigt sein, hier aus und ein zu gehen,
+er wird ein Ding sein, das sich in dem Hause allmählich gestaltet, und
+du wirst vielleicht nicht von Vater und Mutter gehen dürfen, gewiß
+aber wird kein Zwang sein, daß du sie oder mich weniger lieben
+müssest.«
+
+»Nein, nein, rede mir nicht von diesen Dingen«, erwiderte sie, »es
+peinigt mich und zerstört mir das Herz, das ich dir mit großer
+Teilnahme in der Morgenstunde habe bringen wollen.«
+
+»Nun, so reden wir nicht mehr davon, Klotilde«, sagte ich, »sei nur
+beruhigt und bleibe bei mir.«
+
+»Ich bleibe ja bei dir«, antwortete sie, »und sprich freundlich zu
+mir.«
+
+Sie hatte die letzte Spur der Tränen von ihrem Angesichte vertilgt,
+sie setzte sich auf dem Sitze neben mir noch mehr zurecht, und ich
+mußte mit ihr sprechen. Sie fragte mich von neuem um Natalien, wie sie
+aussehe, was sie tue, wie sie sich zu ihrer Mutter, ihrem Bruder und
+zu meinem Gastfreunde verhalte. Ich mußte ihr erzählen, wann ich sie
+zum ersten Male gesehen habe, wann ich in dem Sternenhofe gewesen sei,
+wann sie den Asperhof besucht habe, wann ein Ahnungsgefühl in mein
+Herz gekommen, wie es dort gewachsen sei, wie ich mit mir gekämpft
+habe, was dann gekommen sei und wie es sich gefügt habe, daß wir
+endlich die Worte zu einander gefunden haben.
+
+Ich erzählte ihr gerne, ich erzählte ihr immer leichter, und je mehr
+sich die Worte von dem Herzen löseten, desto süßer wurde mein Gefühl.
+Ich hatte nicht geglaubt, daß ich von diesem meinem innersten Wesen zu
+irgend jemandem sprechen könnte; aber Klotildens Seele war der einzige
+liebe Schrein, in welchem ich das Teure niederlegen konnte.
+
+Wir blieben sehr lange sitzen, immer fragte mich Klotilde wieder um
+Neues und wieder um Altes. Da kam die Mutter in meine Stube. Da sie
+uns in vertraulichem Gespräche sitzen fand, setzte sie sich auch zu
+dem Tische, der vor mir und Klotilden stand, und sagte nach einer
+kurzen Weile, daß sie gekommen sei, uns zum Frühmahle zu holen. Sie
+hätte Klotilden nirgends gesehen und hätte gemeint, daß sie an diesem
+Morgen bei mir sein müsse.
+
+»Meine geliebten Kinder«, fuhr sie fort, »bewahrt euch eure Liebe,
+entfremdet euch nie eure Herzen und bleibt euch in allen Lagen
+zugewandt, wie ihr euch jetzt und wie ihr den Eltern zugewandt seid;
+dann werdet ihr einen Schatz haben, der einer der schönsten im Leben
+ist, und der so oft verkannt wird. Ihr werdet in eurer Vereinigung
+sittlich stark sein, ihr werdet die Freude eures Vaters bilden, und
+mir werdet ihr das Glück meines Alters sein.«
+
+Wir antworteten nichts auf diese Rede, weil uns ihr Inhalt so
+natürlich war, und folgten der Mutter aus dem Zimmer.
+
+
+Der Vater harrte schon unser in dem Speisegemache, und da jetzt die
+Ursache meiner unvermuteten Nachhausekunft allen bekannt war und
+keines sich dagegen erklärte, so sprachen wir nun unverhohlen
+gemeinschaftlich von der Angelegenheit. Die Eltern hegten die besten
+Erwartungen von dem neuen Bunde und freuten sich der Übereinstimmung
+zwischen mir und der Schwester. Ich mußte ihnen nun, wie ich es schon
+gegen Klotilde getan hatte, noch Mehreres von Natalien erzählen, wie
+sie sei, was sie tue, wohin sich ihre Bildung neige und wie sie ihre
+Jugend könne zugebracht haben. Auch von Mathilden und dem Sternenhofe
+so wie von dem Asperhofe und meinem Gastfreunde mußte ich noch Manches
+nachholen, was das Bild ergänzen sollte, welches sich die Meinigen
+von den dortigen Verhältnissen machten. Ich sagte ihnen auch, daß ein
+günstiges Geschick hier walte, da gerade Natalie jenes Mädchen gewesen
+sei, welches einmal bei der Aufführung des König Lear in einer
+Loge neben mir so ergriffen gewesen sei, welches mir großen Anteil
+eingeflößt, und mich, der ich den Schmerz im Trauerspiele geteilt
+hätte, im Herausgehen gleichsam zum Danke freundlich angeblickt habe.
+Erst in letzter Zeit sei das aufgeklärt worden.
+
+Der Vater sagte, daß die Familien, die durch längere Zeit gleichsam
+durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen waren, durch das Band
+der geistigen Entwicklung seines Sohnes und des Verkehrs desselben
+mit beiden Teilen, auch in der Wirklichkeit sich nähern, sich kennen
+lernen und in eine Verbindung treten werden.
+
+Die Mutter entgegnete, das sei jetzt die dringendste Veranlassung,
+ja es sei nicht nur eine gesellschaftliche, sondern sogar eine
+Familienpflicht, daß der Vater, welcher, je älter er werde, mit einer
+desto wärmeren Ausdauer, welche unbegreiflich ist, sich an seine
+Arbeitsstube kette, nun endlich einmal sich den Geschäften entreiße,
+eine Reise mache und sich in derselben nur mit heiteren und schönen
+Dingen beschäftige.
+
+»Nicht nur ich werde eine Reise machen«, antwortete er, »sondern auch
+du und Klotilde. Wir werden die Menschen dort, welche meinen Sohn so
+freundlich aufgenommen haben, besuchen. Aber auch sie werden eine
+Reise machen; denn auch sie werden zu uns in die Stadt kommen und in
+diesen Zimmern verweilen. Wann aber diese Reisen stattfinden werden,
+läßt sich jetzt noch gar nicht beurteilen. Jedenfalls muß unser Sohn
+zuerst allein wieder hinreisen und muß die Einwilligung seiner Familie
+überbringen. Seinem Ermessen und hauptsächlich den Ratschlägen seines
+älteren Freundes wird es dann anheimgegeben sein, wie die Sachen im
+weiteren Verlaufe sich entwickeln sollen. Die Reise unseres Sohnes muß
+aber sogleich geschehen; denn so fordert es die neue Pflicht, die er
+eingegangen ist. Wir werden abwarten, welche Nachrichten er uns von
+seiner Ankunft im Sternenhofe zusenden oder welche Meinung er uns
+selber überbringen wird.«
+
+»Die Reise, mein Vater«, entgegnete ich, »wünsche ich, so bald es nur
+möglich ist, anzutreten, am liebsten sogleich morgen oder wenn ein
+Aufschub sein muß, doch übermorgen.«
+
+»Es wird nicht verspätet sein, wenn du übermorgen reisest, da sich
+noch Einiges zum Besprechen ergeben kann«, antwortete er.
+
+Klotilde äußerte ihre Freude, daß einmal alle eine Reise antreten
+würden.
+
+»Und für den guten Vater könnte nun öfter der Anlaß gegeben sein«,
+sagte die Mutter, »daß er in das Freiere und Weitere komme, daß er
+reine Luft atme und Berg und Wald und Feld betrachte.«
+
+»Ich werde doch einmal, meine liebe Therese, mein Buch abschließen«,
+erwiderte der Vater, »und es wird für mich der Stillstand der
+Geschäfte eintreten. Sie mögen in andere Hände übergehen oder sich
+ganz auflösen. Dann wird es Zeit sein, im Anblicke von Berg, Wald und
+Feld ein Haus zu mieten oder zu bauen, daß wir im Sommer dort und im
+Winter hier wohnen, wenn wir nicht gar lieber auch manchen Winter
+draußen bleiben wollen.«
+
+»So hast du oft gesagt«, antwortete die Mutter, »aber es ist nicht
+geschehen.«
+
+»Wenn Zeit und Ort darnach angetan sind, wird es geschehen«, erwiderte
+er.
+
+»Wenn dann noch deine Gesundheit und dein geistiges Wesen davon den
+gewünschten Nutzen ziehen«, sagte die Mutter, »werde ich jeden Winter
+preisen, welchen wir mitten in irgend einem Lande zubringen.«
+
+»Es wird sich Vieles ereignen, woran wir jetzt nicht denken«,
+antwortete der Vater.
+
+Wir standen von dem Frühmahle auf, und jedes ging an seine Geschäfte.
+
+Im Laufe des Vormittages ließ mich die Mutter wieder zu sich bitten
+und fragte mich, wie ich es denn zu halten gedenke, wo ich mit
+Natalien wohnen wolle. Es sei in dem Hause Platz genug, nur müßte
+alles gerichtet werden. Auch seien viele andere Dinge zu ordnen,
+besonders meine Kleider, in denen ich doch nun anders sein müsse. Sie
+wünsche meine Meinung zu hören, damit man zu rechter Zeit beginnen
+könne, um noch fertig zu werden.
+
+Ich sagte, daß ich in der Tat auf diese Angelegenheit nicht gedacht
+habe, daß ihre Erwägung wohl noch Zeit habe, und daß wir vor Allem den
+Vater um Rat fragen sollten.
+
+Sie war damit einverstanden.
+
+Als wir nach dem Mittagsessen den Vater fragten, war er meiner
+Meinung, daß es noch zu frühe sei, an diese Dinge zu denken. Es würde
+schon zu rechter Zeit geschehen, daß alles, was not tue, in Ordnung
+gesetzt werden könne. Jetzt seien andere Dinge zu besprechen und zu
+bedenken. Wenn es an der Zeit sei, werde es die Mutter erfahren, daß
+sie alle ihre Maßregeln ausreichend treffen könne.
+
+Sie war damit zufrieden.
+
+
+Nachmittags fragte ich in der Stadt im Hause der Fürstin an und
+erfuhr, daß dieselbe zufällig auf mehrere Tage anwesend sei. Sie
+habe die Absicht, nach Riva zu gehen, um dort einige Wochen an den
+Ufern des blauen Gardasees zu verleben. Sie sei jetzt eben damit
+beschäftigt, die Vorbereitungen zu dieser Reise zu machen. Ich ließ
+anfragen, wann ich sie sprechen könnte, und wurde auf den nächsten Tag
+um zwölf Uhr bestellt.
+
+Ich nahm zu dieser Zeit eine Mappe mit einigen meiner Arbeiten
+zu mir und verfügte mich in ihre Wohnung. Nach den freundlichen
+Empfangsworten drückte sie ihre Verwunderung aus, mich jetzt hier zu
+finden. Ich gab die Verwunderung für ihre Person zurück. Sie führte
+mir als Grund ihre beabsichtigte Reise an, und ich sagte, daß
+plötzlich gekommene Angelegenheiten meinen Sommeraufenthalt
+unterbrochen und mich in die Stadt geleitet hätten.
+
+Sie fragte mich um meine Arbeiten während der Zeit meiner Abwesenheit.
+
+Ich erklärte ihr dieselben. Als ich von dem Simmigletscher sprach,
+nahm sie besonderen Anteil, weil ihr dieses Gebirge aus früherer Zeit
+her bekannt war. Ich mußte ihr genau beschreiben und zeigen, wo wir
+gewesen und was wir getan haben. Ich zog die Zeichnungen, die ich in
+Farben von den Eisfeldern, ihren Einränderungen, ihrer Einbuchtung,
+ihrer Abgleitung und ihrem oberen Ursprunge gemacht hatte und in
+meiner Mappe mit mir trug, hervor und breitete sie vor ihr aus. Sie
+ließ sich jedes, auch das Kleinste an diesen Zeichnungen beschreiben
+und erklären. Ich mußte ihr auch versprechen, bei nächster günstiger
+Gelegenheit meine Zeichnung von dem Grunde des Lautersees ihr
+vorzulegen und auf das Genaueste zu erörtern. Es sei ihr dies
+doppelt wünschenswert, weil sie jetzt selber zu einem See reise, der
+einer der merkwürdigsten des südlichen Alpenabhanges sei. Hierauf
+befragte sie mich um meine anderen Bestrebungen auf dem Gebiete
+der bildenden Kunst, worauf ich erwiderte, daß ich heuer außer den
+Gletscherzeichnungen, die doch wieder fast nur wissenschaftlicher
+Natur seien, nichts hatte machen können, weder in Landschaften noch in
+Abbildung menschlicher Köpfe.
+
+»Wenn ihr ein sehr schönes jugendliches Angesicht abbilden wollt«,
+sagte sie, »so müsset ihr suchen, das Angesicht der jenen Tarona
+abbilden zu dürfen. Ich bin alt, habe viel erfahren, habe sehr viele
+Menschen gesehen und betrachtet, aber es ist mir wenig vorgekommen,
+das edler, einnehmender und liebenswürdiger gewesen wäre als die Züge
+der Tarona.«
+
+Ich errötete sehr tief bei diesen Worten.
+
+Sie richtete die klaren, lieben Augen auf mich, lächelte sehr fein und
+sagte: »Haltet ihr etwa schon Jemanden für das Schönste?«
+
+Ich antwortete nicht, und sie schien auch eine Antwort nicht zu
+erwarten. Von Natalien konnte ich ihr nichts sagen, da die Sache nicht
+so weit gediehen war, um sie Andern verkündigen zu können.
+
+Wir brachen ab, ich verabschiedete mich bald, sie reichte mir gütig
+die Hand, welche ich küßte, und lud mich ein, ja im künftigen Winter
+sehr bald von dem Gebirge zurück zu kommen, da auch sie sehr bald in
+der Stadt einzutreffen gedenke.
+
+Ich antwortete, daß ich über jenen Zeitpunkt jetzt durchaus nicht zu
+verfügen im Stande sei.
+
+Am zweiten Tage Morgens stand ich reisefertig in meinem Zimmer.
+Der Wagen war vor das Haus bestellt worden. Ich hatte mir es nicht
+versagen können, in einem besonderen Wagen so schnell als möglich in
+den Sternenhof zu fahren. Vater, Mutter und Schwester waren in dem
+Speisezimmer, um von mir Abschied zu nehmen. Ich begab mich auch in
+dasselbe, und wir nahmen ein kleines Frühmahl ein. Nach demselben
+sagte ich Lebewohl.
+
+»Gott segne dich, mein Sohn«, sprach die Mutter, »Gott segne dich auf
+deinem Wege, er ist der entscheidende, du bist nie einen so wichtigen
+gegangen. Wenn mein Gebet und meine Wünsche etwas vermögen, wirst du
+ihn nicht bereuen.«
+
+Sie küßte mich auf den Mund und machte mir das Zeichen des Kreuzes auf
+die Stirn.
+
+Der Vater sagte: »Du hast von deiner frühen Jugend an erfahren, daß
+ich mich nicht in deine Angelegenheiten menge; handle selbstständig
+und trage die Folgen. Wenn du mich frägst, wie du jetzt getan hast, so
+werde ich dir immer beistehen, in so weit es meine größere Erfahrung
+vermag. Aber einen Rat möchte ich dir doch in dieser wichtigen
+Angelegenheit geben oder vielmehr nicht einen Rat geben, sondern
+deine Aufmerksamkeit möchte ich auf einen Umstand leiten, auf den du
+vielleicht in der Befangenheit dieser Tage nicht gedacht hast. Ehe
+du das ernste Band schließest, ist noch Manches für dich notwendig,
+deinen Geist und dein Gemüt zu stärken und zu festigen. Eine Reise in
+die wichtigsten Städte Europas und zu den bedeutendsten Völkern ist
+ein sehr gutes Mittel dazu. Du kannst es, deine Vermögenslage hat sich
+sehr gebessert, und ich lege wohl auch etwas dazu, wie ich überhaupt
+mit dir Abrechnung halten muß.«
+
+Ich war sehr bewegt und konnte nicht sprechen. Ich nahm den Vater nur
+bei der Hand und dankte ihm stumm.
+
+Klotilde nahm mit Tränen Abschied und sagte leise, als ich sie an mich
+drückte: »Gehe mit Gott, es wird Alles recht sein, was du tust, weil
+du gut bist und weil du auch klug bist.«
+
+Ich sprach die Hoffnung aus, daß ich bald wieder kommen werde, und
+ging die Treppe hinab.
+
+Meine Reise war sehr schnell, weil überall die Pferde schon bestellt
+waren, weil ich nirgends schlief und zum Essen nur die kürzeste Zeit
+verwendete.
+
+Als ich im Sternenhofe in das Zimmer Mathildens trat, kam sie mir
+entgegen und sagte: »Seid willkommen, es ist Alles, wie ich gedacht
+habe; denn sonst wäret ihr nicht zu mir, sondern zu unserem Freunde
+gekommen.«
+
+»Meine Angehörigen ehren euch, ehren unseren Freund und glauben an
+unser Glück und an unsere Zukunft«, erwiderte ich.
+
+»Seid willkommen, Natalie«, sagte ich, als diese gerufen worden und
+in das Zimmer getreten war, »ich bringe freundliche Grüße von den
+Meinigen.«
+
+»Seid willkommen«, antwortete sie, »ich habe immer gehofft, daß es so
+geschehen und daß eure Abwesenheit so kurz sein wird.«
+
+»Meine Hoffnung war wohl auch dieselbe«, erwiderte ich, »aber jetzt
+ist alles klar, und jetzt ist völlige Beruhigung vorhanden.«
+
+Wir blieben bei Mathilden und sprachen einige Zeit miteinander.
+
+Am zweiten Tage nach meiner Ankunft reiste ich zu meinem Gastfreunde.
+Mathilde hatte mir einen Wagen und Pferde mit gegeben.
+
+Als ich in das Schreinerhaus gekommen war, in welchem sich mein
+Gastfreund bei meiner Ankunft befand, reichte er mir die Hand und
+sagte: »Ich bin von eurer Rückkunft bereits benachrichtigt; man hat
+mir von dem Sternenhofe gleich nach eurem Eintreffen in demselben
+geschrieben.«
+
+Eustach sah mich seltsam an, so daß ich vermutete, er wisse auch
+bereits von der Sache.
+
+Wir gingen nun in das Haus, und man öffnete mir meine gewöhnliche
+Wohnung. Gustav kam nach einer Weile zu mir herauf und konnte seiner
+Freude beinahe kein Ende machen, daß alles sei, wie es ist. Mein
+Gastfreund hatte ihm die Tatsache erst heute eröffnet. Er sprach ohne
+Rückhalt aus, daß ihm die Sache so weit, weit lieber sei, als wenn
+Tillburg seine Schwester aus dem Hause geführt hätte, dessen Wille
+wohl immer dahin gerichtet gewesen wäre.
+
+
+
+Das Vertrauen
+
+Ich blieb einige Zeit bei meinem Gastfreunde, teils, weil er es selber
+verlangte, teils, um jene Ruhe zu gewinnen, die ich sonst immer hatte
+und die ich brauchte, um in meinen Bestrebungen klar zu sehen und sie
+nach gemachter Einsicht zu ordnen.
+
+Die Leute blickten mich fragend oder verwundert an. Vermutlich hatte
+es sich ausgebreitet, in welche Beziehung ich zu Personen getreten
+bin, welche Freunde des Hauses sind und welche oft in dasselbe als
+Besuchende kommen. Nirgends aber trat mir der Anschein entgegen, als
+ob man mir das Verhältnis mißgönnte oder es mit ungünstigen Augen
+ansähe. Im Gegenteile, die Leute waren fast freundlicher und
+dienstwilliger als vorher. Ich kam in das Gartenhaus. Der Gärtner
+Simon trat mir mit einer Art Ehrerbietung entgegen und rief seine
+Gattin Clara herbei, um ihr zu sagen, daß ich da sei, und um sie zu
+veranlassen, daß sie mir ihre Verbeugung mache. Er hatte dies sonst
+nie getan. Als diese Art von Vorstellung vorüber war, führte er
+mich erst in den Garten, wie er mit kurzem Ausdrucke bloß seine
+Gewächshäuser nannte. Er zeigte mir wieder seine Pflanzen, erklärte
+mir, was neu erworben worden war, was sich besonders schön entwickelt
+habe und was in gutem Stande geblieben sei; er erzählte mir auch,
+welche Verluste man erlitten habe, wie die Pflanzen im schönsten
+Gedeihen gewesen seien, die man verloren habe und welchen besonderen
+Ursachen man ihren Verlust zuschreiben müsse. Er bedachte hiebei
+nicht, daß etwa meine Gedanken anderswo sein könnten, wie er bei einer
+früheren Gelegenheit auch nicht geahnt hatte, daß mein Gemüt abwesend
+sei, da er mir ebenfalls mit vieler Lust und großer Umsicht seine
+Gewächse erklärt hatte. Besonders eifrig war er in der Darlegung der
+Vorzüge und Schönheiten der Rose, welche die Frau des Sternenhofes für
+den Herrn des Hauses aus England verschrieben habe. Er führte mich zu
+ihr und zeigte mir alle Vortrefflichkeiten derselben. Dann mußte ich
+auch mit ihm in das Cactushaus gehen, wo er mir sogleich den Cereus
+Peruvianus wies, der durch meine Güte, wie er sich ausdrückte, in
+den Asperhof gekommen sei. Er wachse bereits steilrecht in seinem
+Glasfache empor, was durch viele Mühe und Kunst bewirkt worden sei.
+Die gelbliche Farbe vom Inghofe sei in die dunkelblau-grüne, gleichsam
+mit einem Dufte überflogene übergegangen, welche die völlige
+Gesundheit der Pflanze beweise. Wenn es so fortgehe, so könne auch
+noch die Freude der fabelhaften weißen Blumen der lebendigen Säule in
+dieses Haus kommen. Er führte mich dann zu einigen Cactusgestalten,
+die eben im Blühen begriffen waren. Es lag eine ziemlich große
+Sammellinse in der Nähe, um die Blumen und nebstbei auch die Waffen
+und die Gestaltungen der Pflanzenkörper unter dem Einflusse des
+vollen Sonnenlichtes betrachten zu können. Er bat mich, die Linse
+zu gebrauchen. Es war eine farblos zeigende und zugleich eine, bei
+welcher die Abweichung wegen der Kugelgestalt auf ein Kleinstes
+gebracht war. Überhaupt wies sie sich als vortrefflich aus. Er
+erzählte mir, daß der Herr das Vergrößerungsglas eigens zum Betrachten
+der Cacteen habe machen, es in das schöne Elfenbein fassen und in das
+reine Sammetfach habe legen lassen. Heute erst sei er noch in dem
+Cactushause gewesen und habe mit dem Glase die Blüten und viele
+Stacheln angeschaut. Ich bediente mich des Glases und sah in den von
+den seidenartigen Blumenblättern umstandenen gelben, weißen oder
+rosenfarbigen Kelch hinein, wie sie eben vorhanden waren. Daß der
+Glanz dieser Blumenfarben besonders schön, weit schöner als die
+feinste Seide und als der der meisten Blumen sei, wußte ich ohnehin,
+mußte es mir aber doch von dem Gärtner Simon zeigen lassen, so wie er
+auch der schönen, grün oder rosig oder dunkelrotbraun dämmernden Tiefe
+des Kelches erwähnte, aus der die Wucht der schlanken Staubfäden
+aufsteige, die keine Blüte so zierlich habe. Überhaupt seien die
+Cactusblumen die schönsten auf der Welt, wenn man etwa einige
+Schmarotzergewächse und ganz wenige andere, vereinzelte Blumen
+ausnehme. Er machte mich auch auf einen Umstand aufmerksam, den ich
+nicht wußte, oder den ich nicht beobachtet hatte, daß nehmlich bei
+einigen Kugelcactus sich die Blumen stets aus neuen Stachelaugen,
+meistens mit ganz kurzem Stengel, entwickeln, während sie bei andern
+auf einem mehr oder minder hohen Stiele aus vorjährigen oder noch
+älteren Stachelaugen sich erheben. Er sagte, das werde gewiß einmal
+einen Grund zu einer neuen Einteilung dieser Cactusgestalt geben. Er
+zeigte mir an vorhandenen Gewächsen den Unterschied, und ich mußte
+ihn erkennen. Er sagte, daß dies nicht zufällig sei und daß er die
+Tatsache schon dreißig Jahre beobachte. Damals, als er jung gewesen,
+seien kaum einige dieser Gestaltungen bekannt gewesen, jetzt vermehre
+sich die Kenntnis derselben bedeutend, seit die Menschen zur Einsicht
+ihrer Schönheit gekommen sind und Reisende Pflanzen aus Amerika
+senden, wie jener Reisende, der von deutschen Landen aus fast
+in der ganzen Welt gewesen sei. Es könne nur Unverstand oder
+Oberflächlichkeit oder Kurzsichtigkeit diese Pflanzengattung
+ungestaltig nennen, da doch nichts regelmäßiger und mannigfaltiger und
+dabei reizender sei als eben sie. Nur eine erste genaue Betrachtung
+und Vergleichung derselben sei nötig, und nur ein sehr kurzes
+Fortsetzen dieser Betrachtung, damit die Gegner dieser Pflanzen in
+warme Verehrer derselben übergehen - es müßte nur ein Mensch überhaupt
+kein Freund der Pflanzen sein, welche Gattung es vielleicht in der
+Welt nicht gibt. Als ich das Pflanzenhaus verließ, begleitete er mich
+bis an die Grenze der Gewächshäuser, und auch seine Gattin trat aus
+der Tür ihrer Wohnung, um sich von mir zu verabschieden.
+
+In dem Blumengarten und in der Abteilung der Gemüse blieben die
+Arbeitsleute vor mir stehen, nahmen den Hut ab und grüßten mich artig.
+
+Eustach war mild und freundlich wie gewöhnlich; aber er war noch weit
+inniger, als er es in früheren Zeiten gewesen war. Mich freute die
+Billigung gerade von diesem Menschen ungemein. Er zeigte mir alles,
+was in der Arbeit war und was sich an wirklichen Dingen, was an
+Zeichnungen, was an Nachrichten in der jüngsten Zeit zu dem bereits
+Vorhandenen hinzugefunden hatte. Er sagte, daß mein Gastfreund in
+Kurzem eine ziemlich weit entfernte Kirche besuchen werde, in welcher
+man auf seine Kosten Wiederherstellungen mache, und daß er mich zu
+dieser Reise einladen wolle. Ich sah unter allen vorhandenen Dingen
+und Stoffen den sehr schönen Marmor nicht, den ich meinem Gastfreunde
+zum Geschenke gemacht hatte, und war auch nie in Kenntnis gekommen,
+daß daraus etwas verfertigt worden sei. Es sprach niemand davon, und
+ich fragte auch nicht. In mancher Stunde sah ich den Arbeiten zu,
+welche in dem Schreinerhause ausgeführt wurden.
+
+Roland war wie gewöhnlich im Sommer nicht in dem Asperhofe anwesend.
+
+Mit Eustach besuchte ich auch die Bilder meines Gastfreundes, seine
+Kupferstiche, seine Schnitzereien und seine Geräte. Wir sprachen über
+die Dinge, und ich suchte mir ihren Wert und ihre Bedeutung immer mehr
+eigen zu machen. Auch in das Bücherzimmer, den Marmorsaal und das
+Treppenhaus meines Gastfreundes ging ich. Wie war die Gestalt auf
+der Treppe erhaben, edel und rein gegen die Nymphe in der Grotte des
+Gartens im Sternenhofe, die mir in der letzten Zeit so lieb geworden
+war. Durch meine Bitte ließ sich mein Freund bewegen, mir die
+Zimmer aufzuschließen, in denen Mathilde und Natalie während ihres
+Aufenthaltes in dem Asperhofe wohnen. Ich blieb länger als in den
+anderen in dem letzten kleinen Gemache mit der Tapetentür, welches ich
+die Rose genannt hatte. Mich umwehte die Ruhe und Klarheit, die in
+dem ganzen Wesen Mathildens ausgeprägt ist, die in den Farben und
+Gestalten des Zimmers sich zeigte und die in den unvergleichlichen
+Bildern lag, die hier aufgehängt waren.
+
+Wir gingen auch in den Meierhof. Die Leute begegneten mir
+achtungsvoll, sie zeigten mir alle Räume und wiesen, was sich in ihnen
+befinde, was dort gearbeitet werde, wozu sie dienen und was sich in
+neuerer Zeit geändert habe. Der Meier hatte seine besondere Freude an
+der neuen, von ihm selbst verbesserten Zucht der Füllen und an dem
+Volke aller von meinem Gastfreunde eingeführten Gattungen von Hühnern.
+Als wir uns von dem Meierhofe entfernten und uns der vielstimmige
+Gesang der Vögel aus dem Garten des Hauses entgegen schallte, sah ich
+im Rückblicke, daß sich unter dem Torwege eine Gruppe von Mägden mit
+ihren blauen Schürzen und weißen Hemdärmeln gesammelt habe und uns
+nachschaue.
+
+Wenn ich auch erkannte, daß ich der Gegenstand der Aufmerksamkeit
+geworden war, so entschlüpfte doch Niemandem ein Wort, welches einen
+Grund dieser Aufmerksamkeit angedeutet hätte.
+
+Gustav, welcher wohl Anfangs seine Freude gegen mich ausgesprochen
+hatte, daß es sei, wie es ist, und daß keiner von denen, die es
+gewollt hatten, seine Schwester fortgeführt, sprach nun von dem
+Gegenstande nicht mehr und schloß sich nur noch herzlicher, wenn
+dieses möglich war, an mich an.
+
+Mein Gastfreund sagte mir endlich auch von der Reise nach der Kirche,
+von welcher Eustach gesprochen hatte, und lud mich zu derselben ein.
+Ich nahm die Einladung an.
+
+
+Wir fuhren eines Morgens von dem Asperhofe fort, mein Gastfreund,
+Eustach, Gustav und ich. Gustav wird, wie mir mein Gastfreund
+sagte, auf jede kleinere Reise von ihm mitgenommen. Wenn dies bei
+ausgedehnteren Reisen nicht der Fall sein kann, so wird er zu seiner
+Mutter in den Sternenhof gebracht. Wir kamen erst am zweiten Tage
+bei der Kirche an. Roland, welcher von unserer Ankunft unterrichtet
+gewesen war, erwartete uns dort. Die Kirche war ein Gebäude im
+altdeutschen Sinn. Sie stammte, wie meine Freunde versicherten, aus
+dem vierzehnten Jahrhunderte her. Die Gemeinde war nicht groß und
+nicht besonders wohlhabend. Die letztvergangenen Jahrhunderte hatten
+an dieser Kirche viel verschuldet. Man hatte Fenster zumauern lassen,
+entweder ganz oder zum Teile, man hatte aus den Nischen der Säulen
+die Steinbilder entfernt und hatte hölzerne, die vergoldet und gemalt
+waren, an ihre Stelle gebracht. Weil aber diese größer waren als ihre
+Vorgänger, so hat man die Stellen, an die sie kommen sollten, häufig
+ausgebrochen, und die früheren Überdächer mit ihren Verzierungen
+weggeschlagen. Auch ist das Innere der ganzen Kirche mit bunten Farben
+bemalt worden. Als dieses in dem Laufe der Jahre auch wieder schadhaft
+wurde und sich Ausbesserungsarbeiten an der Kirche als dringlich
+notwendig erwiesen, gab sich auch kund, daß die Mittel dazu schwer
+aufzubringen sein würden. Die Gemeinde geriet beinahe über den Umfang
+der Arbeiten, die vorzunehmen wären, in großen Hader. Offenbar waren
+in früheren Zeiten reiche und mächtige Wohltäter gewesen, welche die
+Kirche hervorgerufen und erhalten hatten. In der Nähe stehen noch die
+Trümmer der Schlösser, in denen jene wohlhabenden Geschlechter gehaust
+hatten. Jetzt steht die Kirche allein als erhaltenes Denkmal jener
+Zeit auf dem Hügel, einige in neuerer Zeit erbaute Häuser stehen um
+sie herum, und rings liegt die Gemeinde in den in dem Hügellande
+zerstreuten Gehöften. Die Besitzer der Schloßrainen wohnen in weit
+entfernten Gegenden und haben, da sie ganz anderen Geschlechtern
+angehören, entweder nie eine Liebe zu der einsamen Kirche gehabt oder
+haben sie verloren. Der Pfarrer, ein schlichter, frommer Mann, der
+zwar keine tiefen Kenntnisse der Kunst hatte, aber seit Jahren an den
+Anblick seiner Kirche gewöhnt war und sie, da sie zu verfallen begann,
+wieder gerne in einem so guten Zustande gesehen hätte, als nur möglich
+ist, schlug alle Wege ein, zu seinem Ziele zu gelangen, die ihm nur
+immer in den Sinn kamen. Er sammelte auch Gaben. Auf letztem Wege kam
+er zu meinem Gastfreunde. Dieser nahm Anteil an der Kirche, die er
+unter seinen Zeichnungen hatte, reiste selber hin und besah sie. Er
+versprach, daß er, wenn man seinen Plan zur Wiederherstellung der
+Kirche billige und annehme, alle Kosten der Arbeit, die über den
+bereits vorhandenen Vorrat hinausreichen, tragen und die Arbeit
+in einer gewissen Zahl von Jahren beendigen werde. Der Plan wurde
+ausgearbeitet und von allen, welche in der Angelegenheit etwas zu
+sprechen hatten, genehmigt, nachdem der Pfarrer schon vorher, ohne
+ihn gesehen zu haben, sehr für ihn gedankt und sich überall eifrig
+für seine Annahme verwendet hatte. Es wurde dann zur Ausführung
+geschritten, und in dieser Ausführung war mein Gastfreund begriffen.
+Die Füllmauern in den Fenstern wurden vorsichtig weggebrochen, daß
+man keine der Verzierungen, welche in Mörtel und Ziegeln begraben
+waren, beschädige, und dann wurden Glasscheiben in der Art der noch
+erhaltenen in die ausgebrochenen Fenster eingesetzt. Die hölzernen
+Bilder von Heiligen wurden aus der Kirche entfernt, die Nischen wurden
+in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder hergestellt. Wo man unter dem
+Dache der Kirche oder in anderen Räumen die alten schlanken Gestalten
+der Heiligenbilder wieder finden konnte, wurden sie, wenn sie
+beschädigt waren, ergänzt, und an ihre mutmaßlichen Stellen gesetzt.
+Für welche Nischen man keine Standbilder auffinden konnte, die wurden
+leer gelassen. Man hielt es für besser, daß sie in diesem Zustande
+verharren, als daß man eins der hölzernen Bilder, welche zu der Bauart
+der Kirche nicht paßten, in ihnen zurückgelassen hätte. Freilich wäre
+die Verfertigung von neuen Standbildern das Zweckmäßigste gewesen;
+allein das war nicht in den Plan der Wiederherstellung aufgenommen
+worden, weil es über die zu diesem Werke verfügbaren Kräfte meines
+Gastfreundes ging. Alle Nischen aber, auch die leeren, wurden,
+wenn Beschädigungen an ihnen vorkamen, in guten Stand gesetzt.
+Die Überdächer über ihnen wurden mit ihren Verzierungen wieder
+hergestellt. Zu der Übertünchung des Innern der Kirche war ein Plan
+entworfen worden, nach welchem die Farbe jener Teile, die nicht Stein
+waren, so unbestimmt gehalten werden sollte, daß ihr Anblick dem eines
+bloßen Stoffes am ähnlichsten wäre. Die Gewölberippen, deren Stein
+nicht mit Farbe bestrichen war, so wie alles Andere von Stein wurde
+unberührt gelassen, und sollte mit seiner bloß stofflichen Oberfläche
+wirken. Die Gerüste zu der Übertünchung waren bereits dort geschlagen,
+wo man mit Leitern nicht auslangen konnte. Freilich wäre in der Kirche
+noch vieles Andere zu verbessern gewesen. Man hatte den alten Chor
+verkleidet und ganz neue Mauern zu einer Emporkirche aufgeführt, man
+hatte ein Seitenkapellchen im neuesten Sinne hinzugefügt, und es
+war ein Teil der Wand des Nebenschiffes ausgenommen worden, um eine
+Vertiefung zu mauern, in welche ein neuer Seitenaltar zu stehen kam.
+Alle diese Fehler konnten wegen Unzulänglichkeit der Mittel nicht
+verbessert werden. Der Hauptaltar in altdeutscher Art war geblieben.
+Roland sagte, es sei ein Glück gewesen, daß man im vorigen
+Jahrhunderte nicht mehr so viel Geld gehabt habe als zur Zeit der
+Erbauung der Kirche, denn sonst hätte man gewiß den ursprünglichen
+Altar weggenommen und hätte einen in dem abscheulichen Sinne des
+vergangenen Jahrhunderts an seine Stelle gesetzt. Mein Gastfreund
+besah alles, was da gearbeitet wurde, und es ward ein Rat mit Eustach
+und Roland gehalten, dem auch ich beigezogen wurde, um zu erörtern,
+ob alles dem gefaßten Plane getreu gehalten werde, und ob man nicht
+Manches mit Aufwendung einer mäßigen Summe noch zu dem ursprünglich
+Beabsichtigten hinzu tun könnte, was der Kirche not täte und was ihr
+zur Zierde gereichte. Die Ansichten vereinigten sich sehr bald, da die
+Männer nach der nehmlichen Richtung hin strebten und da ihre Bildungen
+in dieser Hinsicht sich wechselweise zu dem gleichen Ergebnisse
+durchdrungen hatten. Ich konnte sehr wenig mitreden, obgleich ich
+gefragt wurde, weil ich einerseits zu wenig mit den vorhandenen
+Grundlagen vertraut war und weil andererseits meine Kenntnisse in dem
+Einzelnen der Kunst, um welche es sich hier handelte, mit denen meiner
+Freunde nicht Schritt halten konnten. Der Pfarrer hatte uns sehr
+freundlich aufgenommen und wollte uns sämmtlich in seinem kleinen
+Hause beherbergen. Mein Gastfreund lehnte es ab, und wir richteten
+uns, so gut es ging, in dem Gasthofe ein. Der Ehrerbietung und des
+Dankes aber konnte der bescheidene Pfarrer gegen meinen Gastfreund
+kein Ende finden. Auch kam eine Abordnung mehrerer Gemeindeglieder,
+um, wie sie sagten, ihre Aufwartung zu machen und ihren Dank
+darzubringen. Wirklich, wenn man die schlanken, edlen Gestaltungen der
+Kirche ansah, welche da einsam auf ihrem Hügel in einem abgelegenen
+Teile des Landes stand, in dem man sie gar nicht gesucht hätte, und
+die schon geschehenen Verbesserungen betrachtete, welche ihre feinen
+Glieder wieder zu Ansehen und Geltung brachten, so konnte man nicht
+umhin, sich zu freuen, daß die reinen blauen Lüfte wieder den reinen,
+einfachen Bau umfächelten, wie sie ihn umfächelt hatten, als er
+nach dem Haupte des längst verstorbenen Meisters aus den Händen der
+Arbeitsleute hervor gegangen war. Und wirklich mußte man sich auch zum
+Danke verpflichtet fühlen, daß es einen Mann gab, wie mein Gastfreund
+war, der aus Liebe zu schönen Dingen, und ich muß wohl auch
+hinzufügen, aus Liebe zur Menschheit, einen Teil seines Einkommens,
+seiner Zeit und seiner Einsicht opferte, um manch Edles dem Verfalle
+zu entreißen und vor die Augen der Menschen wohlgebildete und hohe
+Gestaltungen zu bringen, daß sie sich daran, wenn sie dessen fähig
+sind und den Willen haben, erheben und erbauen können.
+
+Das alles wußten aber die Gemeindeglieder nicht, sie dankten nur, weil
+sie meinten, daß es ihre Schuldigkeit sei.
+
+Nachdem mein Gastfreund den Bau gut befunden und mit Eustach, dem
+eigentlichen Werkmeister, das Nähere angeordnet hatte, und nachdem
+auch Roland die Zusicherung gegeben hatte, daß er dem Wunsche meines
+Gastfreundes gemäß öfter nachsehen und Bericht erstatten werde,
+rüsteten wir uns, unsere verschiedenen Wege zu gehen. Roland wollte
+wieder in das nahe liegende Gebirge zurückkehren, von dem er zu der
+Kirche heraus gekommen war, und wir wollten den Weg nach dem Asperhofe
+antreten. Roland entfernte sich zuerst. Wir besuchten noch den Inhaber
+eines Glaswerkes in der Nähe, der von großem Einflusse war, und
+begaben uns dann auf den Weg nach dem Hause meines Freundes.
+
+Auf dem Rückwege kamen wir über die Bildung des Schönen zu sprechen,
+wie es gut sei, daß Menschen aufstehen, die es darstellen, daß über
+ihre Mitbrüder auch dieses sanfte Licht sich verbreite und sie immer
+zu hellerer Klarheit fort führe; daß es aber auch gut sei, daß
+Menschen bestehen, welche geeignet sind, das Schöne in sich
+aufzunehmen und es durch Umgang auf Andere zu übertragen, besonders,
+wenn sie noch, wie mein Gastfreund, das Schöne überall aufsuchen, es
+erhalten und es durch Mühe und Kraft wieder herzustellen suchen, wo es
+Schaden gelitten hatte. Es sei ein ganz eigenes Ding um die Befähigung
+und den Drang hiezu.
+
+»Wir haben schon einmal über Ähnliches gesprochen«, sagte mein
+Gastfreund, »meine Erfahrungen in der Zeit meines Lebens haben mich
+gelehrt, daß es ganz bestimmte Anlagen zu ganz bestimmten Dingen gibt,
+mit denen die Menschen geboren werden. Nur in der Größe unterscheiden
+sich diese Anlagen, in der Möglichkeit, sich auszusprechen, und in der
+Gelegenheit, kräftig zur Wirksamkeit kommen zu können. Dadurch scheint
+Gott die Mannigfaltigkeit der Taten mit ihrem nachdrücklichsten
+Erfolge, wie es auf der Erde notwendig ist, vermitteln zu wollen.
+Es erschien mir immer merkwürdig, wo ich Gelegenheit hatte, es zu
+beobachten, wie bei Menschen, die bestimmt sind, ganz Ungewöhnliches
+in einer Richtung zu leisten, sich ihre Anlage bis in die feinsten
+Fäden ihres Gegenstandes ausspricht und zu ihm hindrängt, während sie
+in Anderm bis zum Kindlichen unwissend bleiben können. Einer, der
+über Kunstdinge trotz aller Belehrung, trotz alles Umganges, trotz
+langjähriger täglicher Berührung mit auserlesenen Kunstwerken nie
+Anderes als Ungereimtes sagen konnte, war ein Staatsmann, der die
+feinsten Abschattungen seines Gegenstandes durchdrang, der die
+Gedanken der Völker und die Absichten der Menschen und Regierungen,
+mit denen er verkehrte, erriet und es verstand, alle Dinge seinen
+Zwecken dienstbar machen zu können, so daß das Anderen wie ein
+Zauberwerk eines Geistes erschien, was gleichsam ein Naturgesetz war.
+In meiner Jugend kannte ich einen Mann, der mit einem Verstande, über
+den wir uns vor Bewunderung kaum zu fassen wußten, in die Tiefen eines
+Kunstwesens, das er besprechen wollte, einging, und Gedanken zu Tage
+brachte, von denen wir nicht begriffen, wie sie in das Herz eines
+Menschen haben kommen können; während er die Meinungen und Absichten
+ganz gewöhnlicher Menschen und gerade solcher, die tief unter ihm
+standen, nicht durchschaute und den notwendigen Gang der Staaten nicht
+sah, weil ihm das Auge dafür versagt war oder weil er im Drange seiner
+Gegenstände darauf nicht achtete. Ich könnte noch mehrere Beispiele
+anführen: den zum Feldherrn Geborenen im Richtersaale um Mein und
+Dein, oder den, der wissenschaftliche Stoffe fördert, in der Bildung
+eines Heeres. So hat Gott es auch Manchen gegeben, daß sie dem Schönen
+nachgehen müssen und sich zu ihm wie zu einer Sonne wenden, von der
+sie nicht lassen können. Es ist aber immer nur eine bestimmte Zahl von
+solchen, deren einzelne Anlage zu einer besonderen großen Wirksamkeit
+ausgeprägt ist. Ihrer können nicht viele sein, und neben ihnen werden
+die geboren, bei denen sich eine gewisse Richtung nicht ausspricht,
+die das Alltägliche tun und deren eigentümliche Anlage darin besteht,
+daß sie gerade keine hervorragende Anlage zu einem hervorragenden
+Gegenstande haben. Sie müssen in großer Menge sein, daß die Welt in
+ihren Angeln bleibt, daß das Stoffliche gefördert werde und alle Wege
+im Betriebe sind. Sehr häufig aber kömmt es nun leider auf den Umstand
+an, daß der rechten Anlage der rechte Gegenstand zugeführt wird, was
+so oft nicht der Fall ist.«
+
+»Könnte denn nicht die Anlage den Gegenstand suchen, und sucht sie ihn
+nicht auch oft?« fragte Eustach.
+
+»Wenn sie in großer Macht und Fülle vorhanden ist, sucht sie ihn«,
+entgegnete mein Gastfreund, »zuweilen aber geht sie in dem Suchen zu
+Grunde.«
+
+»Das ist ja traurig, und dann wird ihr Zweck verfehlt«, antwortete
+Eustach.
+
+»Ich glaube nicht, daß ihr Zweck deshalb ganz verfehlt wird«, sagte
+mein Gastfreund, »das Suchen und das, was sie in diesem Suchen fördert
+und in sich und Anderen erzeugt, war ihr Zweck. Es müssen eben
+verschiedene, und zwar verschieden hohe und verschieden geartete
+Stufen erstiegen werden. Wenn jede Anlage mit völliger Blindheit ihrem
+Gegenstande zugeführt würde und ihn ergreifen und erschöpfen müßte,
+so wäre eine viel schönere und reichere Blume dahin, die Freiheit der
+Seele, die ihre Anlage einem Gegenstande zuwenden kann oder sich von
+ihm fern halten, die ihr Paradies sehen, sich von ihm abwenden und
+dann trauern kann, daß sie sich von ihm abgewendet hat, oder die
+endlich in das Paradies eingeht und sich glücklich fühlt, daß sie
+eingegangen ist.«
+
+»Oft habe ich schon gedacht«, sagte ich, »da die Kunst so sehr auf die
+Menschen wirkt, wie ich an mir selber, wenn auch nur erst kurze Zeit,
+zu beobachten Gelegenheit hatte, ob denn der Künstler bei der Anlage
+seines Werkes seine Mitmenschen vor Augen habe und dahin rechne, wie
+er es einrichten müsse, daß auf sie die Wirkung gemacht werde, die er
+beabsichtiget.«
+
+»Ich hege keine Zweifel, daß es nicht so ist«, erwiderte mein
+Gastfreund, »wenn der Mensch überhaupt seine ihm angeborne Anlage
+nicht kennt, selbst wenn sie eine sehr bedeutende sein sollte und wenn
+er mannigfaltige Handlungen vornehmen muß, ehe seine Umgebung ihn oder
+er sich selber inne wird, ja wenn er zuletzt sich seiner Freiheit
+gemäß seiner Anlage hingeben oder sich von ihr abwenden kann: so wird
+er wohl im Wirken dieser Anlage nicht so zu rechnen im Stande sein,
+daß sie an einem gewissen Punkte anlanden müsse; sondern je größer
+die Kraft ist, um so mehr, glaube ich, wirkt sie nach den ihr
+eigentümlichen Gesetzen, und das dem Menschen inwohnende Große strebt,
+unbewußt der Äußerlichkeiten, seinem Ziele zu und erreicht desto
+Wirkungsvolleres, je tiefer und unbeirrter es strebt. Das Göttliche
+scheint immer nur von dem Himmel zu fallen. Es hat wohl Menschen
+gegeben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugnis auf die Mitmenschen
+wirken soll, die Wirkung ist auch gekommen, sie ist oft eine große
+gewesen, aber keine künstlerische und keine tiefe; sie haben etwas
+Anderes erreicht, das ein Zufälliges und Äußeres war, das die, welche
+nach ihnen kamen, nicht teilten und von dem sie nicht begriffen,
+wie es auf die Vorgänger hatte wirken können. Diese Menschen bauten
+vergängliche Werke und waren nicht Künstler, während das durch die
+wirkliche Macht der Kunst Geschaffene, weil es die reine Blüte der
+Menschheit ist, nach allen Zeiten wirkt und entzückt, so lange die
+Menschen nicht ihr Köstlichstes, die Menschheit, weggeworfen haben.«
+
+»Es ist einmal in der Stadt die Frage gestellt worden«, sagte ich, »ob
+ein Künstler, wenn er wüßte, daß sein Werk, das er beabsichtigt, zwar
+ein unübertroffenes Meisterwerk sein wird, daß es aber die Mitwelt
+nicht versteht und daß es auch keine Nachwelt verstehen wird, es doch
+schaffen müsse oder nicht. Einige meinten, es sei groß, wenn er es
+täte, er tue es für sich, er sei seine Mit- und Nachwelt. Andere
+sagten, wenn er etwas schaffe, von dem er wisse, daß es die Mitwelt
+nicht verstehe, so sei er schon töricht und vollends, wenn er es
+schaffe und weiß, daß auch keine Nachwelt es begreifen wird.«
+
+»Dieser Fall wird wohl kaum sein«, antwortete mein Gastfreund, »der
+Künstler macht sein Werk, wie die Blume blüht, sie blüht, wenn sie
+auch in der Wüste ist und nie ein Auge auf sie fällt. Der wahre
+Künstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden
+werden wird oder nicht. Ihm ist klar und schön vor Augen, was er
+bildet, wie sollte er meinen, daß reine, unbeschädigte Augen es nicht
+sehen? Was rot ist, ist es nicht allen rot? Was selbst der gemeine
+Mann für schön hält, glaubt er das nicht für alle schön? Und sollte
+der Künstler das wirklich Schöne nicht für die Geweihten schön halten?
+Woher käme denn sonst die Erscheinung, daß einer ein herrliches Werk
+macht, das seine Mitwelt nicht ergreift? Er wundert sich, weil er
+eines andern Glaubens war. Es sind dies die Größten, welche ihrem
+Volke voran gehen und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken stehen,
+zu der sie ihre Welt erst durch ihre Werke führen müssen. Nach
+Jahrzehnten denkt und fühlt man wie jene Künstler, und man begreift
+nicht, wie sie konnten mißverstanden werden. Aber man hat durch diese
+Künstler erst so denken und fühlen gelernt. Daher die Erscheinung, daß
+gerade die größten Menschen die naivsten sind.
+
+Wenn nun der früher angegebene Fall möglich wäre, wenn es einen wahren
+Künstler gäbe, der zugleich wüßte, daß sein beabsichtigtes Werk nie
+verstanden werden würde, so würde er es doch machen, und wenn er es
+unterläßt, so ist er schon gar kein Künstler mehr, sondern ein Mensch,
+der an Dingen hängt, die außer der Kunst liegen. Hieher gehört auch
+jene rührende Erscheinung, die von manchen Menschen so bitter getadelt
+wird, daß einer, dem recht leicht gangbare Wege zur Verfügung ständen,
+sich reichlich und angenehm zu nähren, ja zu Wohlstand zu gelangen,
+lieber in Armut, Not, Entbehrung, Hunger und Elend lebt und immer
+Kunstbestrebungen macht, die ihm keinen äußeren Erfolg bringen und
+oft auch wirklich kein Erzeugnis von nur einigem Kunstwerte sind. Er
+stirbt dann im Armenhause oder als Bettler oder in einem Hause, wo er
+aus Gnaden gehalten wurde.«
+
+
+Wir waren unseres Freundes Meinung. Eustach ohnehin schon, weil er
+die Kunstdinge als das Höchste des irdischen Lebens ansah und ein
+Kunststreben als bloßes Bestreben schon für hoch hielt, wie er auch
+zu sagen pflegte, das Gute sei gut, weil es gut sei. Ich stimmte bei,
+weil mich das, was mein Gastfreund sagte, überzeugte, und Gustav
+mochte es geglaubt haben - Erfahrungen hatte er nicht -, weil ihm
+alles Wahrheit war, was sein Pflegevater sagte.
+
+Von einem Streben, das gewissermaßen sein eigener Zweck sei, vom
+Vertiefen der Menschen in einen Gegenstand, dem scheinbar kein äußerer
+Erfolg entspricht und dem der damit Behaftete doch alles Andere
+opfert, kamen wir überhaupt auf Verschiedenes, an das der Mensch sein
+Herz hängt, das ihn erfüllt und das sein Dasein oder Teile seines
+Daseins umschreibt. Nachdem wir wirklich eine größere Zahl von Dingen
+durchsprochen hatten, die zu dem Menschen in das von uns angeführte
+Verhältnis treten können, als ich je vermutet hätte, machte mein
+Gastfreund folgenden Ausspruch: »Wenn wir hier alle die Dinge
+ausschließen, die nur den Körper oder das Tierische des Menschen
+betreffen und befriedigen und deren andauerndes Begehren mit
+Hinwegsetzung alles Andern wir mit dem Namen Leidenschaft bezeichnen,
+weshalb es denn nichts Falscheres geben kann, als wenn man von edlen
+Leidenschaften spricht, und wenn wir als Gegenstände höchsten Strebens
+nur das Edelste des Menschen nennen: so dürfte alles Drängen nach
+solchen Gegenständen vielleicht nicht mit Unrecht nur mit einem Namen
+zu benennen sein, mit Liebe. Lieben als unbedingte Werthaltung mit
+unbedingter Hinneigung kann man nur das Göttliche oder eigentlich nur
+Gott; aber da uns Gott für irdisches Fühlen zu unerreichbar ist, kann
+Liebe zu ihm nur Anbetung sein, und er gab uns für die Liebe auf
+Erden Teile des Göttlichen in verschiedenen Gestalten, denen wir uns
+zuneigen können: so ist die Liebe der Eltern zu den Kindern, die
+Liebe des Vaters zur Mutter, der Mutter zum Vater, die Liebe der
+Geschwister, die Liebe des Bräutigams zur Braut, der Braut zum
+Bräutigam, die Liebe des Freundes zum Freunde, die Liebe zum
+Vaterlande, zur Kunst, zur Wissenschaft, zur Natur, und endlich
+gleichsam kleine Rinnsale, die sich von dem großen Strome abzweigen,
+Beschäftigungen mit einzelnen, gleichsam kleinlichen Gegenständen,
+denen sich oft der Mensch am Abende seines Lebens wie kindlichen
+Notbehelfen hingibt, Blumenpflege, Zucht einer einzigen Gewächsart,
+einer Tierart und so weiter, was wir mit dem Namen Liebhaberei
+belegen. Wen die größeren Gegenstände der Liebe verlassen haben, oder
+wer sie nie gehabt hat, und wer endlich auch gar keine Liebhaberei
+besitzt, der lebt kaum und betet auch kaum Gott an, er ist nur da.
+
+So faßt es sich, glaube ich, zusammen, was wir mit der Richtung
+großer Kräfte nach großen Zielen bezeichnen, und so findet es seine
+Berechtigung.«
+
+»Jene Zeit«, sagte er nach einer Weile, »in welcher die Kirchen gebaut
+worden sind, wie wir eben eine besucht haben, war in dieser Hinsicht
+weit größer als die unsrige, ihr Streben war ein höheres, es war
+die Verherrlichung Gottes in seinen Tempeln, während wir jetzt
+hauptsächlich auf den stofflichen Verkehr sehen, auf die
+Hervorbringung des Stoffes und auf die Verwendung des Stoffes,
+was nicht einmal ein an sich gültiges Streben ist, sondern nur
+beziehungsweise, in so fern ihm ein höherer Gedanke zu Grunde
+gelegt werden kann. Das Streben unserer älteren Vorgänger war auch
+insbesondere darum ein höheres, weil ihm immer Erfolge zur Seite
+standen, die Hervorbringung eines wahrhaft Schönen. Jene Tempel waren
+die Bewunderung ihrer Zeit, Jahrhunderte bauten daran, sie liebten sie
+also, und jene Tempel sind auch jetzt in ihrer Unvollendung oder in
+ihren Trümmern die Bewunderung einer wieder erwachenden Zeit, die ihre
+Verdüsterung abgeschüttelt hat, aber zum allseitigen Handeln noch
+nicht durchgedrungen ist. Sogar das Streben unserer unmittelbaren
+Vorgänger, welche sehr viele Kirchen nach ihrer Schönheitsvorstellung
+gebaut, noch mehr Kirchen aber durch zahllose Zubauten, durch
+Aufstellung von Altären, durch Umänderungen entstellt und uns eine
+sehr große Zahl solcher Denkmale hinterlassen haben, ist in so
+ferne noch höher als das unsere, indem es auch auf Erbauung von
+Gotteshäusern ausging, auf Darstellung eines Schönen und Kirchlichen,
+wenn es sich auch in dem Wesen des Schönen von den Vorbildern
+der früheren Jahrhunderte entfernt hat. Wenn unsere Zeit von dem
+Stofflichen wieder in das Höhere übergeht, wie es den Anschein
+hat, werden wir in Baugegenständen nicht auch gleich das Schöne
+verwirklichen können. Wir werden Anfangs in der bloßen Nachahmung
+des als schön Erkannten aus älteren Zeiten befangen sein, dann wird
+durch den Eigenwillen der unmittelbar Betrauten manches Ungereimte
+entstehen, bis nach und nach die Zahl der heller Blickenden größer
+wird, bis man nach einer allgemeineren und begründeteren Einsicht
+vorgeht und aus den alten Bauarten neue, der Zeit eigentümlich
+zugehörige, entsprießen.«
+
+»In der Kirche, welche wir eben gesehen haben«, sagte ich, »liegt nach
+meiner Meinung eine eigentümliche Schönheit, daß es nicht begreiflich
+ist, wie eine Zeit gekommen ist, in welcher man es verkennen und so
+Manches hinzufügen konnte, was vielleicht schon an sich unschön ist,
+gewiß aber nicht paßt.«
+
+»Es waren rauhe Zeiten über unser Vaterland gekommen«, erwiderte er,
+»welche nur in Streit und Verwüstung die Kräfte übten und die tieferen
+Richtungen der menschlichen Seele ausrotteten. Als diese Zeiten
+vorüber waren, hatte man die Vorstellung des Schönen verloren, an
+seine Stelle trat die bloße Zeitrichtung, die nichts als schön
+erkannte als sich selber und daher auch sich selber überall
+hinstellte, es mochte passen oder nicht. So kam es, daß römische oder
+korinthische Simse zwischen altdeutsche Säulen gefügt wurden.«
+
+»Aber auch unter den altdeutschen Kirchen ist diese, welche wir
+verlassen haben, wenn ich nach den Kirchen, die ich gesehen habe,
+urteilen darf, eine der schönsten und edelsten«, sagte ich.
+
+»Sie ist klein«, erwiderte mein Gastfreund, »aber sie übertrifft
+manche große. Sie strebt schlank empor wie Halme, die sich wiegen, und
+gleicht auch den Halmen darin, daß ihre Bögen so natürlich und leicht
+aufspringen wie Halme, die da nicken. Die Rosen in den Fensterbögen,
+die Verzierungen an den Säulenknäufen, an den Bogenrippen, so wie die
+Rose der Turmspitze sind so leicht wie die verschiedenen Gewächse, die
+in dem Halmenfelde sich entwickeln.«
+
+»Darum überkam mich auch wieder ein Gedanke«, antwortete ich, »den ich
+schon öfter hatte, daß man nehmlich die Fassung von Edelsteinen im
+Sinne altdeutscher Baudenkmale einrichten sollte, und daß man dadurch
+zu schöneren Gestaltungen käme.«
+
+»Wenn ihr den Gedanken so nehmet«, erwiderte er, »daß sich die, welche
+Edelsteine fassen, im Sinne der alten Baumeister bilden sollen, welche
+Würdiges und Schönes auf einfache und erhebende Art darstellten,
+so dürftet ihr, glaube ich, recht haben. Wenn ihr aber meint, daß
+Gestaltungen, welche an mittelalterlichen Gebäuden vorkommen, im
+verkleinerten Maßstabe sofort als Schmuckdinge zu gebrauchen seien, so
+dürftet ihr euch irren.«
+
+»So habe ich es gemeint«, sagte ich.
+
+»Wir haben schon einmal über diesen Gegenstand gesprochen«, erwiderte
+er, »und ich habe damals selber auf die altertümliche Kunst als die
+Grundlage von Schmuck hingewiesen; aber ich habe damit nicht bloß
+die Baukunst gemeint, sondern jede Kunst, auch die der Geräte,
+der Kirchenstoffe, der weltlichen Stoffe, die Malerkunst, die
+Bildhauerkunst, die Holzschneidekunst und Ähnliches. Auch habe ich
+nicht die unmittelbare Nachahmung der Gestaltungen gemeint, sondern
+die Erkennung des Geistes, der in diesen Gestaltungen wohnt, das
+Erfüllen des Gemütes mit diesem Geiste, und dann das Schaffen in
+dieser Erkenntnis und in diesem Erfülltsein. Es steht der Übertragung
+der baulichen Gestaltungen auf Schmuck auch ein stoffliches Hindernis
+entgegen. Die Gebäude, an denen der Schönheitssinn besonders zur
+Ausprägung kam, waren immer mehr oder weniger ernste Gegenstände:
+Kirchen, Paläste, Brücken und im Altertume Säulen und Bögen. Im
+Mittelalter sind die Kirchen weit das Überwiegende; bleiben wir also
+bei ihnen. Um den Ernst und die Würde der Kirche darzustellen, ist der
+Stoff nicht gleichgültig, aus dem man sie verfertiget. Man wählte den
+Stein als den Stoff, aus dem das Großartigste und Gewaltigste von dem,
+was sich erhebt, besteht, die Gebirge. Er leiht ihnen dort, wo er
+nicht von Wald oder Rasen überkleidet ist, sondern nackt zu Tage
+steht, das erhabenste Ansehen. Daher gibt er auch der Kirche die
+Gewalt ihres Eindruckes. Er muß dabei mit seiner einfachen Oberfläche
+wirken und darf nicht bemalt oder getüncht sein. Das Nächste unter dem
+Emporstrebenden, was sich an das Gebirge anschließt, ist der Wald. Ein
+Baum übt nach dem Felsen die größte Macht. Daher ist die Kirche in
+Würde und künstlerischem Ansehen auch noch von Holz denkbar, sobald es
+nicht bemalt und nicht bestrichen ist. Eine eiserne Kirche oder gar
+eine von Silber könnte nicht anders als widrig wirken, sie würde nur
+wie roher Prunk aussehen, und von einer Kirche aus Papier, gesetzt,
+man könnte den Wänden auf die Dauer Widerstand gegen Wetter und den
+Verzierungen durch Pressen oder dergleichen die schönsten Gestalten
+geben, wendet sich das Herz mit Widerwillen und Verachtung ab. Mit dem
+Stoffe hängt die Gestaltung zusammen. Der Stein ist ernst, er strebt
+auf und läßt sich nicht in die weichsten, feinsten und gewundensten
+Erscheinungen biegen. Ich rede von dem Bausteine, nicht von dem
+Marmor. Daher hat man die Gestalten der Kirche aus ihm emporstrebend,
+einfach und stark gemacht, und wo Biegungen vorkommen, sind sie mit
+Maß und mit einem gewissen Adel ausgeführt und überladen nicht die
+Wände und die andern Bildungen. In der Zeit, als sie das Übergewicht
+zu bekommen anfingen, hörte auch die strenge Schönheit der Kirchen auf
+und die Niedlichkeit begann. Zu den Fassungen unseres Schmuckes nehmen
+wir Metall, und zwar meistens Gold. Das Metall aber hat wesentlich
+andere Merkmale als der Stein. Es ist schwerer; darf also, ohne uns zu
+drücken, nicht in größeren Stücken angewendet worden, sondern muß in
+zarte Gestaltungen auseinander laufen.
+
+Dabei hat es unter allen Stoffen die größte Biegsamkeit und
+Dehnbarkeit, wir glauben ihm daher die kühnsten Windungen und
+Verschlingungen und fordern sie von ihm. Die Bildungen, besonders
+Zieraten aus Gold, können daher nicht genau dieselben sein wie die aus
+Stein, wenn beide schön sein sollen. Aber aus dem inneren Geiste des
+einen, glaube ich, kann man recht gut und soll man den innern Geist
+des andern kennen, und es dürfte Treffliches heraus kommen.«
+
+Ich vermochte gegen diese Ansicht nichts Wesentliches einzuwenden.
+Eustach führte sie noch genauer durch Beispiele aus, die er von
+bekannten Steingestaltungen an Kirchen hernahm. Er zeigte, wie eine
+geläufige, leichte, kirchliche Steinbildung, wenn man sie etwa aus
+Gold machen lasse, sogleich schwer, träg und unbeholfen werde, und
+er zeigte auch, wie man nach und nach die Steingestaltung umwandeln
+müsse, daß sie zu einer für Gold tauge, und da lebendig und
+eigentümlich werde. Er versprach mir, daß er mir über diese
+Angelegenheit, wenn wir nach Hause gekommen sein würden, Zeichnungen
+zeigen würde. Ich sah hieraus, wie sehr meine Freunde über diesen
+Gegenstand nachgedacht haben und wie sie tatsächlich in ihn
+eingegangen seien.
+
+»Es sind aber nicht bloß die Äußerlichkeiten an unserer Kirche sehr
+schön«, fuhr mein Gastfreund fort, »sondern die Gestalten der Heiligen
+auf dem Altare und in den Nischen sind schöner, als man sie sonst
+meistens aus dem Zeitalter, aus welchem die Kirche stammt, zu sehen
+gewohnt ist. Wenn ich sagte, daß die griechischen Bildergestalten eine
+größere sinnliche Schönheit haben als die aus dem Mittelalter, so ist
+dieses nicht ausnahmslos so. Es gibt auch höchst liebliche Gestalten
+aus dem Mittelalter, und wo keine Verzeichnung ist und wo sich
+Sinnlichkeit zeigt, sind sie meistens wärmer als die griechischen. In
+der kleinen Kirche ist Ähnliches vorhanden, deshalb habe ich so gerne
+ihre Wiederherstellung übernommen, deshalb bedaure ich, daß meine
+Mittel nicht so groß sind, die gänzliche Vollendung herbeiführen zu
+können, und deshalb habe ich so sehr nach den Gestalten, die in den
+Nischen fehlen, suchen lassen, um so viel als möglich die Kirche zu
+bevölkern, wenn auch der Gedanke Raum hatte, daß vielleicht nicht
+einmal alle Gestalten fertig geworden und alle Plätze besetzt gewesen
+seien. Vielleicht steht einmal eine höhere und allgemeinere Kraft
+auf, die diese und noch wichtigere Kirchen wieder in ihrer Reinheit
+darstellt.«
+
+Wir kamen am zweiten Tage in dem Asperhofe an, und ich sagte, daß ich
+nun nicht mehr lange da verweilen könne. Mein Gastfreund erwiderte,
+daß er in einigen Tagen in den Sternenhof fahren werde, daß er mich
+einlade, ihn zu begleiten und daß ich bis dahin noch bei ihm bleiben
+möge.
+
+Ich erklärte, daß bei mir wohl einige Tage keinen wesentlichen
+Unterschied machten, daß ich aber doch wünsche, bald zu meinen Eltern
+zurückkehren zu können.
+
+So war der Abend vor der Abreise in den Sternenhof gekommen, und
+mein Gastfreund sagte an demselben in einem gelegenen Augenblicke zu
+mir: »Ihr tretet nun zu jemandem, der mir nahe ist, in ein inniges
+Verhältnis; es ist billig, daß ihr alles wisset, wie es in dem
+Sternenhofe ist und in welchen Beziehungen ich zu demselben stehe. Ich
+werde euch alles darlegen. Damit ihr aber in noch viel größerer Ruhe
+seid und mit Klarheit das Mitgeteilte aufnehmen könnet, so werde ich
+es euch erzählen, wenn ihr wieder in den Asperhof kommt. Ihr werdet
+jetzt zu euren Eltern gehen, wie ihr sagt, um ihnen zu berichten, wie
+ihr aufgenommen worden seid und wie die Angelegenheit steht. Wenn ihr
+dann nach eurem beliebigen Willen wieder zu mir kommt, sei es zu was
+immer für einer Zeit, so werdet ihr willkommen sein und bereitwilligen
+Empfang finden.«
+
+
+Am anderen Morgen saß ich nebst Gustav mit ihm in dem Wagen, und wir
+fuhren dem Sternenhofe zu.
+
+Wir wurden dort so freundlich und heiter aufgenommen wie immer, ja
+noch freundlicher und heiterer als sonst. Die Zimmer, welche wir immer
+bewohnt hatten, standen für uns, wie für Personen, welche zu der
+Familie gehörten, in Bereitschaft. Natalie stand mit lieblichen Mienen
+neben ihrer Mutter und sah ihren älteren Freund und mich an. Ich
+grüßte mit Ehrerbietung die Mutter und fast mit gleicher Ehrerbietung
+die Tochter. Gustav war etwas schüchterner als sonst und blickte
+bald mich, bald Natalien an. Wir sprachen die gewöhnlichen
+Bewillkommungsworte und andere unbedeutende Dinge. Dann verfügten wir
+uns in unsere Zimmer.
+
+Noch an demselben Tage und am nächsten besah mein Gastfreund
+verschiedene Dinge, welche zur Bewirtschaftung des Gutes gehörten,
+besprach sich mit Mathilden darüber, besuchte selbst ziemlich
+entfernte Stellen und ordnete im Namen Mathildens an. Auch die
+Arbeiten in der Hinwegschaffung der Tünche von der Außenseite des
+Schlosses besah er. Er stieg selber auf die Gerüste, untersuchte die
+Genauigkeit der Hinwegschaffung der aufgetragenen Kruste und die
+Reinheit der Steine. Er prüfte die Größe der in einer gewöhnlichen
+Zeit vollbrachten Arbeit und gab Aufträge für die Zukunft. Wir waren
+bei den meisten dieser Beschäftigungen gemeinschaftlich zugegen.
+
+Man behandelte mich auf eine ausgezeichnete Art. Mathilde war so
+sanft, so gelassen und milde wie immer. Wer nicht genauer geblickt
+hätte, würde keinen Unterschied zwischen sonst und jetzt gewahr
+geworden sein. Sie war immer gütig und konnte daher nicht gütiger
+sein. Ich empfand aber doch einen Unterschied. Sie richtete das Wort
+so offen an mich wie früher; aber es war doch jetzt anders. Sie fragte
+mich oft, wenn es sich um Dinge des Schlosses, des Gartens, der
+Felder, der Wirtschaft handelte, um meine Meinung, wie einen, der
+ein Recht habe und der fast wie ein Eigentümer sei. Sie fragte gewiß
+nicht, um meine Meinung so gründlich zu wissen; denn mein Gastfreund
+gab die besten Urteile über alle diese Gegenstände ab, sondern sie
+fragte so, weil ich einer der ihrigen war. Sie hob aber diese Fragen
+nicht hervor und betonte sie nicht, wie jemand getan hätte, bei dem
+sie Absicht gewesen wären, sondern sie empfand das Zusammengehörige
+unseres Wesens und gab es so. Mir ging diese Behandlung ungemein lieb
+in die Seele. Mein Gastfreund war wohl beinahe gar nicht anders; denn
+sein Wesen war immer ein ganzes und geschlossenes; aber auch er schien
+herzlicher als sonst.
+
+Gustav verlor sein anfängliches schüchternes Wesen. Obwohl er auch
+jetzt noch kein Wort sagte, welches auf unser Verhältnis anspielte -
+das taten auch die anderen nicht, und er hatte eine zu gute Erziehung
+erhalten, um, obgleich er noch so jung war, hierin eine Ausnahme zu
+machen -, so ging er doch zuweilen plötzlich an meine Seite, nahm mich
+bei einem Arme, drückte ihn oder nahm mich bei der Hand und drückte
+sie mit der seinen. Nur mit Natalie war es ganz anders. Wir waren
+beinahe scheuer und fremder, als wir es vor jenem Hervorleuchten des
+Gefühles in der Grotte der Brunnennymphe gewesen waren. Ich durfte
+sie am Arme führen, wir durften mit einander sprechen; aber wenn
+dies geschah, so redeten wir von gleichgültigen Dingen, welche weit
+entfernt von unseren jetzigen Beziehungen lagen. Und dennoch fühlte
+ich ein Glück, wenn ich an ihrer Seite ging, daß ich es kaum mit
+Worten hätte sagen können. Alles, die Wolken, die Sterne, die Bäume,
+die Felder schwebten in einem Glanze, und selbst die Personen ihrer
+Mutter und ihres alten Freundes waren verklärter. Daß in Natalien
+Ähnliches war, wußte ich, ohne daß sie es sagte.
+
+Wenn wir an dem Scheunentore des Meierhofes vorbeigingen oder an
+einer anderen Tür oder an einem Felde oder sonst an einem Platze, auf
+welchem gearbeitet wurde, so traten die Menschen zusammen, blickten
+uns nach und sahen uns mit denselben bedeutungsvollen Augen an, mit
+denen man mich in dem Asperhofe angeschaut hatte. Es war mir also
+klar, daß man auch hier wußte, in welchen Beziehungen ich zu der
+Tochter des Hauses stehe. Ich hätte es auch aus der größeren
+Ehrerbietung der Diener heraus lesen können, wenn es mir nicht schon
+sonst deutlich gewesen wäre. Aber auch hier wie in dem Asperhofe
+bemerkte ich, daß es etwas Freundliches war, etwas, das wie Freude
+aussah, was sich in den Mienen der Leute spiegelte. Sie mußten also
+auch hier mit dem, was sich vorbereitete, zufrieden sein. Ich war
+darüber tief vergnügt; denn auf welchem Stande der Entwickelung die
+Leute immer stehen mögen, so ist es doch gewiß, wie ich aus dem
+Umgange mit vielen Menschen reichlich erfahren habe, daß Geringere die
+Höheren oft sehr richtig beurteilen und namentlich, wenn Verbindungen
+geschlossen werden, seien es Freundschaften, seien es Ehen, mit
+richtiger Kraft erkennen, was zusammen gehört und was nicht. Daß sie
+mich also zu Natalien gehörig ansahen, erfüllte mich mit nachhaltender
+inniger Freude.
+
+Wie Natalie über diese Kundgebungen der Leute dachte, konnte ich nicht
+erkennen.
+
+Nachdem so drei Tage vergangen waren, nachdem wir die verschiedensten
+Stellen des Schlosses, des Gartens, der Felder und der Wälder
+gemeinschaftlich besucht hatten, nachdem wir auch manchen Augenblick
+in den Gemäldezimmern und in denen mit den altertümlichen Geräten
+zugebracht und an Verschiedenem uns erfreut hatten, nachdem endlich
+auch alles, was in Angelegenheiten des Gutes zu besprechen und zu
+ordnen war, zwischen Mathilden und meinem Gastfreunde besprochen
+und geordnet worden war, wurde auf den nächsten Tag die Abreise
+beschlossen. Wir verabschiedeten uns auf eine ähnliche Weise, wie wir
+uns bewillkommt hatten, der Wagen war vorgefahren, und wir schlugen
+die Richtung zurück ein, in der wir vor vier Tagen gekommen waren.
+
+
+Ich fuhr mit meinem Gastfreunde nur bis an die Poststraße und auf
+derselben bis zur ersten Post. Dort trennten wir uns. Er fuhr auf
+Nebenwegen dem Asperhofe zu, weil er mir zu lieb einen Umweg gemacht
+hatte, ich aber schlug mit Postpferden die Richtung gegen das Kargrat
+ein. Ich war entschlossen, im Kargrat für jetzt ganz abzubrechen und
+also die Gegenstände, die ich noch dort hatte, fortschaffen zu lassen.
+Als ich in dem kleinen Orte eingetroffen war, richtete ich meine
+Verhältnisse zurecht, ließ meine Dinge einpacken und schickte sie
+fort. Ich nahm von dem Pfarrer, welchen ich kennen gelernt hatte,
+Abschied, verabschiedete mich auch von meinen Wirtsleuten und von den
+anderen Menschen, die mir bekannt geworden waren, sagte, daß ich nicht
+weiß, wann ich in das Kargrat zurückkehren werde, um meine Arbeiten,
+welche ich wegen eines schnell eingetretenen Umstandes hatte abbrechen
+müssen, fortzusetzen, und reiste wieder ab.
+
+Ich ging jetzt in das Lauterthal, um es zu besuchen. Es war in der
+Richtung nach meiner Heimat ein geringer Umweg, und ich wollte das
+Tal, das mir lieb geworden war, wieder sehen. Besonders aber führte
+mich ein Zweck dahin. Obwohl ich wenig Hoffnung hatte, daß mein
+Auftrag, den ich in dem Tale gegeben hatte, zu forschen, ob sich nicht
+doch noch die Ergänzungen zu den Vertäflungen meines Vaters fänden,
+einen Erfolg haben werde, so wollte ich doch nicht nach Hause reisen,
+ohne in dieser Hinsicht Nachfrage gehalten zu haben. Die gewünschten
+Ergänzungen hatten sie zwar nicht gefunden, auch keine Spur zu
+denselben war entdeckt worden; aber manche Leute hatte ich gesehen,
+denen ich in früheren Tagen geneigt worden war, Gegenstände hatte ich
+erblickt, von denen ich in vergangenen Jahren zu meinem Vergnügen
+umringt gewesen war.
+
+Ich ging auch in das Rothmoor. Dort fand ich die Arbeiten noch in
+einem höheren Maße entwickelt und im Gange, als sie es bei meiner
+letzten Anwesenheit gewesen waren. Von mehreren Orten hatte man
+Bestellungen eingesendet, selbst von unserer Stadt, wo das Becken der
+Einbeere bekannt geworden war und manchen Beifall gefunden hatte,
+waren Briefe geschickt worden. Fremde kamen zu Zeiten in diese
+abgelegene Gegend, machten Käufe und hinterließen Aufträge. Ich sah
+also, daß sich Manches hier gebessert habe, betrachtete die Arbeiten
+und bestellte auch wieder einige neue, weil ich teils noch Stücke
+schönen Marmors hatte, aus denen irgend etwas gemacht werden konnte
+und weil anderen Teils in dem Garten des Vaters zur Brüstung oder zu
+anderen Stellen noch Gegenstände fehlten. Die Leute hatten mich recht
+freundlich und zuvorkommend empfangen, sie zeigten mir, was im Gange
+war, welche Verbesserungen sie eingeführt hatten und welche sie noch
+beabsichtigen. Sie ließen hiebei nicht unerwähnt, daß ich der kleinen
+Anstalt immer zugetan gewesen sei und daß ich zu den Verbesserungen
+manchen Anlaß und manchen Fingerzeig gegeben habe. Ich drückte meine
+Freude über alles das aus und versprach, daß ich, wenn ich in die Nähe
+käme, jederzeit recht gerne einen kurzen Besuch in dem Rothmoor machen
+würde.
+
+Nach diesem unbedeutenden Aufenthalte im Lauterthale und im Rothmoor
+setzte ich meine Reise zu meinen Eltern ohne weitere Verzögerung fort.
+
+
+
+Die Mitteilung
+
+Zu Hause hatten sie mich noch nicht erwartet, weil ich ihnen durch
+meinen Brief angezeigt hatte, daß ich mit meinem Gastfreunde eine
+kleine Reise zu einer altertümlichen Kirche machen würde. Auch hatten
+sie sich vorgestellt, daß ich noch einmal in meinen Aufenthaltsort
+in das Hochgebirge gehen und mich auf der Rückreise eine Zeit in dem
+Sternenhofe aufhatten werde. Sie irrten aber; denn obwohl ich in
+beiden Orten war, war ich doch nicht lange dort, und es drängte mein
+Herz, den Meinigen zu eröffnen, wie meine Angelegenheiten stehen. Als
+ich dieses getan hatte, waren sie bei Weitem weniger ergriffen, als
+ich erwartet hatte. Sie freuten sich, aber sie sagten, sie hätten
+gewußt, daß es so sein werde, ja sie hätten seit Jahren die jetzige
+Entwicklung schon geahnt. Im Rosenhause und im Sternenhofe, meinten
+sie, würde man mich nicht so freundschaftlich und gütig behandelt
+haben, wenn man mich nicht lieb gehabt und wenn man nicht selbst das,
+was sich jetzt ereignet hat, als etwas Angenehmes betrachtet hätte,
+dessen Spuren man ja doch habe entstehen sehen müssen. So lieb mir
+diese Ansicht war, weil sie die Gesinnungen meiner Angehörigen gegen
+mich ausdrückte, so konnte ich doch nicht umhin, zu denken, daß nur
+die Meinigen die Sache so betrachten, weil sie eben die Meinigen sind,
+und daß sie mich auch darum des Empfangenen für würdig erachteten. Ich
+aber wußte es anders, weil ich Natalien und ihre Umgebung kannte und
+ihren Wert zu ahnen vermochte. Ich konnte das, was mir begegnete, nur
+als ein Glück ansehen, welches mir ein günstiges Schicksal entgegen
+geführt hatte und dessen immer würdiger zu werden ich mich bestreben
+müsse.
+
+Mein Vater sagte, es sei alles gut, die Mutter ließ in wehmütiger und
+freudiger Stimmung immer wieder die Worte fallen, daß denn so gar
+nichts für ein so wichtiges Verhältnis vorbereitet sei; die Schwester
+sah mich öfter sinnend und betrachtend an.
+
+Ich sprach die Bitte aus, daß die Eltern mir nun beistehen müßten,
+das, was in den gegenwärtigen Verhältnissen zu tun sei, auf das
+Schicklichste zu tun, und ich legte auch den Wunsch dar, daß ich nach
+des Vaters Ansicht eine größere Reise unternehmen möchte.
+
+»Es sind mehrere Dinge nötig«, sagte der Vater. »Zuerst, glaube ich,
+erwartet man von deinen Eltern eine Annäherung an sie; denn die
+Angehörigen der Braut können sich nicht schicklich zuerst den
+Angehörigen des Bräutigams vorstellen. Außerdem hat mir dein
+Gastfreund Liebes erwiesen, was ich ihm noch nicht habe vergelten
+können. Ferner hat dir dein Gastfreund Mitteilungen zu machen, die
+er für notwendig hält; und endlich solltest du wirklich, wie du
+auch selber wünschest, eine größere Reise machen, um wenigstens im
+Allgemeinen Menschen und Welt näher kennen zu lernen. Was deine
+Gegenleute tun werden, ist ihre Sache, und wir müssen es erwarten.
+Unsere Angelegenheit ist jetzt, das, was uns obliegt, auf solche Weise
+zu tun, daß wir uns weder vordrängen noch daß etwas geschehe, was
+wie geringere Achtung dessen aussähe, was uns durch diese Verbindung
+geboten wird. Ich glaube, die natürlichste Ordnung wäre folgende. Du
+mußt zuerst die Mitteilungen deines Freundes anhören, weil sie dir
+zuerst ohne Bedingung angetragen worden sind. Dann werde ich mit
+deiner Mutter eine Reise zur Mutter deiner Braut machen und bei dieser
+Gelegenheit deinen Gastfreund besuchen. Endlich magst du den Vorschlag
+tun, daß du eine Reise zu höherer Ausbildung zu unternehmen wünschest.
+Weil aber dein Gastfreund selber gesagt hat, daß du, ehe er dir seine
+Mitteilungen macht, zu größerer Ruhe kommen sollst, und weil es
+andererseits unziemend wäre, zu sehr zu drängen, so kannst du nicht
+jetzt sogleich zu ihm gehen und ihn um seine Eröffnungen bitten,
+sondern du mußt eine Zeit verfließen lassen und ihn später, vielleicht
+im Winter, besuchen. Dadurch sieht er auch, daß du einerseits nicht
+zudringlich bist und daß du andererseits, da du in ungewohnter
+Jahreszeit zu ihm kömmst, doch die Sehnsucht zu erkennen gibst, deine
+Sache zu fördern. Und damit du gewisser zu der erforderlichen Ruhe
+gelangest, schlage ich dir vor, mich auf einer kleinen Reise in meine
+Geburtsgegend zu begleiten, die wir in Kürze antreten können.
+
+Wenn du dann im Winter zu deinem Gastfreunde kömmst, so kannst du ihm
+unsere Grüße bringen und ihm sagen, daß wir mit Beginn der schöneren
+Jahreszeit kommen und für dich um die Hand der Tochter seiner Freundin
+werben werden.«
+
+Alle waren mit diesem Vorschlage vollkommen einverstanden. Besonders
+freute sich die Mutter, als sie hörte, daß der Vater von freien
+Stücken auf einen Reiseplan gekommen sei, dessen Richtung sie gar
+nicht erraten hätte.
+
+»Ich muß mich ja üben«, erwiderte er, »wenn ich im Frühlinge eine
+Reise in das Oberland bis in die Nähe der Gebirge antreten soll, die
+uns auch in den Rosenhof bringt und weiß Gott wie weit noch führen
+kann; denn wenn Leute, die immer zu Hause sind, einmal von der
+Wanderungslust ergriffen werden, dann können sie auch ihres Reisens
+kein Ende finden und besuchen Gegend um Gegend.«
+
+Ich aber sagte hierauf: »Weil Klotilde nie die Gebirge gesehen hat,
+weil sie in dieser ganzen Angelegenheit am weitesten zurückgesetzt
+ist, weil ich ihr immer versprochen habe, sie in die Berge zu führen,
+und weil die Erfüllung dieses Versprechens durch meine größere
+Reise wieder hinaus geschoben werden könnte: so mache ich ihr den
+Vorschlag, mit mir, wenn ich mit dem Vater von unserer kleinen Reise
+zurückgekommen bin, einen Teil des Herbstes in dem Hochgebirge
+zuzubringen. Die Tage des Herbstes, selbst die des Spätherbstes,
+sind in den Gebirgen meistens sehr schön, und wir können in den
+klaren Lüften weiter herum sehen, als es oft in dem schwülen und
+gewitterreichen Dunstkreise der Monate Juni oder Juli möglich ist.«
+
+Klotilde nahm diesen Vorschlag mit Freude an, und ich versprach ihr,
+in den Tagen, die noch bis zu meiner Abreise mit dem Vater verfließen
+werden, alles anzugeben, was sie an Kleidern und sonstigen Dingen zu
+der Gebirgsreise bedürfe, welche Gegenstände sie dann während meiner
+Abreise vorrichten lassen könne.
+
+»Wenn ich zu den Mitteilungen meines Freundes an Ruhe gewinnen muß«,
+setzte ich hinzu, »so könnten diese Reisen das beste Mittel dazu
+abgeben.«
+
+Der Vater und die Mutter waren mit meinem Vorschlage sehr zufrieden.
+Die Mutter sagte nur, sie werde an den Vorbereitungen Klotildens
+mitarbeiten und besonders darauf sehen, daß alles vorhanden sei, was
+zu dem Schutze der Gesundheit gehöre.
+
+Ich erwiderte, daß das sehr gut sei und daß ich auch bei der Reise
+selber alle Maßregeln ergreifen werde, daß Klotildens Gesundheit
+keinen Schaden leide.
+
+Wir fingen wirklich am andern Tage an, die Dinge zu bereden, welche
+Klotilde zur Reise brauche. Sie ging rüstig an die Anschaffung. Ich
+entwarf ein Verzeichnis der Notwendigkeiten, welches ich nach und
+nach ergänzte. Als einige Zeit verflossen war, glaubte ich es so
+vervollständigt zu haben, daß nun nicht leicht mehr etwas Wesentliches
+vergessen werden konnte.
+
+
+Indessen rückte auch der Tag heran, an welchem ich mit dem Vater
+abreisen sollte.
+
+Am frühen Morgen desselben setzten wir uns in den leichten Reisewagen,
+dessen sich der Vater immer bedient hatte, wenn er größere
+Entfernungen zurücklegen mußte. Jetzt war er lange nicht mehr aus dem
+Wagenbehältnis gekommen. Auf Anordnung der Mutter wurde er einige
+Tage vorher von Sachkundigen genau untersucht, ob er nicht heimliche
+Gebrechen habe, welche uns in Schaden bringen könnten. Als dies
+einstimmig verneint worden war, gab sie sich zufrieden. Wir hatten
+Postpferde, wechselten dieselben an gehörigen Orten und hielten uns in
+ihnen so lange auf, als es uns beliebte. Gegen jeden Abend ließ der
+Vater noch bei Tageslicht halten, es wurde das Nachtlager bestellt und
+wir machten vor dem Abendessen einen Spaziergang. In diesen Tagen, an
+denen ich mehr Stunden hintereinander ununterbrochen mit dem Vater
+zubrachte, als dies je vorher der Fall gewesen war, sprach ich
+auch mehr mit ihm als je zu einer anderen Zeit. Wir sprachen von
+Kunstdingen: er erzählte mir von seinen Bildern, sagte mir Manches
+über ihre Erwerbung, was ich noch nicht wußte, und verbreitete sich in
+guter Rede über ihren Kunstwert, er kam auf seine Steine und erklärte
+mir Manches; wir ergingen uns in Büchern, die uns beiden geläufig
+waren, setzten ihren Wert, wenn er dichterisch oder wissenschaftlich
+war, auseinander und erinnerten uns gegenseitig an Teile des Inhaltes;
+wir sprachen auch von Zeitereignissen und von der Lage unsers Staates.
+
+Er erzählte mir endlich von seinem kaufmännischen Geschäfte und machte
+mich mit dessen Grundlagen und Stellungen bekannt. Er zeigte mir Teile
+der Gegend, durch die wir fuhren, und unterrichtete mich von dem
+Schicksale mancher Familie, die in diesem oder jenem Abschnitte der
+Landschaft wohnte. Unter diesen Verhältnissen kamen wir am vierten
+Tage an dem Orte unserer Bestimmung an. Die Gegend war mir völlig
+unbekannt, weil mich meine Wanderungen nie hieher getragen hatten.
+
+Am Saume des Waldes, der den Norden unseres Landes begrenzt, ging ein
+Tal hin, das einst Wald gewesen war und das jetzt zerstreute Häuser,
+einzelne Felder, Wiesen, Felsen, Schluchten und rinnende Wasser in
+seinem Bereiche hegte. Eines der Häuser, halb aus Holz gezimmert und
+halb gemauert, war das Geburtshaus meines Vaters. Es stand am Rande
+eines Wäldchens, das von dem großen Walde herstammte, der einst diese
+ganzen Gegenden bedeckt hatte. Es war gegen West durch eine Gruppe
+sehr großer und dicht stehender Buchen gedeckt. daß ihm die Winde
+von dorther wenig anhaben konnten, hatte gegen Ost den Schutz eines
+Felsens, im Norden den des großen Waldbandes und schaute gegen Süden
+auf seine nicht unbeträchtlichen Wiesen und Felder, deren Ergiebigkeit
+in Getreide gering, in Futterkräutern außerordentlich war, weshalb der
+größere Reichtum auch in Herden bestand. Wir fuhren in das Gasthaus
+des Tales, ließen unsere Reisedinge abpacken, bestellten uns auf
+einige Tage Wohnung und besuchten dann die sehr entfernten Verwandten,
+welche jetzt des Vaters Stammhaus bewohnten. Es war gegen Mittag.
+Sie nahmen uns, da wir uns entdeckt hatten, sehr freundlich auf und
+verlangten, daß wir unser Gepäcke holen lassen und bei ihnen wohnen
+sollten. Nur auf die dringenden Vorstellungen des Vaters, daß wir
+ihnen die Bequemlichkeit nähmen und selber keine gewännen, gaben sie
+nach und verlangten nur noch, daß wir zum bevorstehenden Mittagessen
+bei ihnen bleiben sollten, was wir annahmen.
+
+Da wir nun in der großen Wohnstube saßen, zeigte mir der Vater den
+geräumigen Ahorntisch, bei dem er und seine Geschwister ihre Nahrung
+eingenommen hatten. Der Tisch war alt geworden, aber der Vater sagte,
+daß er noch in derselben Ecke stehe, von den zwei Fenstern beglänzt
+und von der hereinscheinenden Sonne beleuchtet wie einst. Er zeigte
+mir seine gewesene, neben der Stube befindliche Schlafkammer.
+
+Dann gingen wir hinaus, er wies mir die Treppe, die auf den hölzernen
+Gang führte, welcher rings um den Hof lief, und den Quell, der sich
+noch immer mit hellem Wasser in den Granittrog ergoß, welchen schon
+sein Urgroßvater hatte hauen lassen, er wies mir den Stall, die
+Scheune und hinter ihr den Waldweg, auf dem er, noch ein halbes Kind,
+mit einem Stabe in der Hand die Heimat verlassen habe, um in der
+Fremde sein Glück zu suchen. Wir gingen sogar in das Freie und dort
+herum. Der Vater blieb häufig stehen und erinnerte sich noch der
+Fruchtgattungen, welche auf verschiedenen Stellen gestanden waren,
+als er mit einem Täfelchen, darauf sich rote und schwarze Buchstaben
+befanden, in das eine Viertelstunde entlegene hölzerne Haus ging, das
+an der Straße stand, von Buchen umgeben war und die Schule für alle
+Kinder des Tales vorstellte. Er sagte, es sei alles noch wie zur Zeit
+seiner Kindheit, die nehmlichen Begrenzungen, die nehmlichen kleinen
+Feldwege und dieselben Wassergräben und Quellrinnsale. Er sagte, es
+sei ihm, als ständen sogar dieselben Arnicablumen auf der Wiese, die
+er als Knabe angeschaut habe, und da er mich zu dem Steinbühl geführt
+hatte, der am Rande der Felder lag, so ragten die Himbeerzweige
+empor, rankten sich die dornenreichen Brombeerreben um die Steine und
+wucherten die Erdbeerblätter, gerade wie die, von denen er als Knabe
+gepflückt hatte. Vom Steinbühl gingen wir zu dem einfachen Essen, das
+wir mit unsern Verwandten verzehrten. Nach demselben besuchten wir mit
+dem jetzigen Eigentümer alle Besitzungen. Der Vater sagte, dort habe
+sein Vater gepflügt, geeggt, gegraben, hier habe seine Mutter mit der
+Schwester, der Magd und den Tagelöhnern Heu gemacht, dort seien die
+Kühe und Ziegen gegen den Wald hinan gegangen wie sie jetzt gehen, und
+die Seinigen haben ausgesehen wie die Leute jetzt aussehen.
+
+Als wir zurückgekehrt waren, verabschiedeten wir uns, der Vater dankte
+für die Bewirtung und sagte, daß er gegen den Abend noch einmal in das
+Haus kommen werde.
+
+Da wir uns in dem Zimmer unseres Gasthofes befanden, öffnete der Vater
+seinen Koffer und nahm allerlei Dinge aus demselben hervor, welche
+zu Geschenken für die Bewohner des Hauses bestimmt waren, in dem wir
+gespeist hatten. Ich war von ihm nie in die Kenntnis gesetzt worden,
+welche Bewohner wir in seinem Vaterhause treffen würden, er mußte sie
+wohl auch selber nicht genau gekannt haben. Ich war also nicht mit
+Geschenken versehen. Der Vater hatte aber auch für diesen Fall
+gesorgt, er gab mir mehrere Dinge, besonders Stoffe, kleine
+Schmucksachen und Ähnliches, um es bei unserem Abendbesuche in dem
+Hause auszuteilen. Er hatte nicht gleich bei seiner Ankunft die
+Geschenke mitnehmen wollen, weil er es, obwohl die Leute nur die
+gewöhnlichen Talbewohner dieser Gegend waren, für unschicklich hielt,
+mit Gaben belastet das Haus zu betreten und ihnen gleichsam sagen zu
+wollen: >Ich glaube, daß ihr das für das Wichtigste haltet.< Jetzt
+aber war er ihnen etwas schuldig geworden und konnte den Dank für die
+gute Aufnahme abstatten.
+
+Als wir die Geschenke in dem Hause verteilt und dafür die Freude
+und den Dank der Empfänger geerntet hatten, die in zwei Eheleuten
+mittlerer Jahre, in deren zwei Söhnen, einer Tochter und in einer
+alten Großmutter bestanden - den Knecht und die zwei Mägde nicht
+gerechnet -, war es mittlerweile Nacht geworden, und wir kehrten
+wieder in unsere Herberge zurück.
+
+Wir blieben noch vier Tage in der Gegend. Der Vater besuchte in meiner
+Begleitung viele Stellen, die ihm einst lieb gewesen waren, einen
+kleinen See, einen Felsblock, von dem eine schöne Aussicht war, eine
+Gartenanlage in einem nicht sehr entfernten schloßähnlichen Gebäude,
+die hölzerne Schule und vor allem die eine und eine halbe Wegestunde
+entfernte Kirche, welche das Gotteshaus des Tales war und um welche
+der Kirchhof bog, in welchem sein Vater und seine Mutter ruhten. Eine
+weiße Marmortafel, die er und sein Bruder hatten setzen lassen, ehrte
+ihr Angedenken. Sonst ging der Vater auch fast in allen Zeiten des
+Tages auf den Wegen der Felder und des Waldes herum.
+
+Am fünften Tage traten wir die Rückreise zu den Unsrigen an.
+
+Wir waren am frühen Morgen noch zu unsern Verwandten gegangen. Sie
+waren, wie es bei Landleuten in solchen Fällen gebräuchlich ist,
+schöner angekleidet als sonst und erwarteten uns. Wir nahmen in
+herzlicher Weise Abschied. Ich versprach, da ich ohnehin das Wandern
+gewohnt sei und viele Gegenden besuche, auch hieher wieder zu kommen
+und noch öfter in dem kleinen Hause vorzusprechen. Der Vater sagte,
+es könne sein, daß er wieder komme oder auch nicht, wie es sich eben
+beim Alter füge. Man müsse erwarten, was Gott gewähre. Die Leute
+begleiteten uns in das Gasthaus und blieben da, bis wir den Wagen
+bestiegen hatten. Aus den Worten ihres Abschiedes und ihrer
+Danksagungen erkannte ich, daß der Vater ihnen auch eine Summe Geldes
+gegeben haben müsse. Sie sahen uns sehr lange nach.
+
+Im Fortfahren war der Vater anfangs ernst und wortkarg, es mochte ihm
+das Herz schwer gewesen sein. Später entwickelte sich bei uns wieder
+ein Verkehr der Rede, wie er auf der Herreise gewesen war.
+
+Am Abende des dritten Tages nach unserer Abfahrt waren wir wieder in
+dem Hause in der Vaterstadt.
+
+Die Mutter war sehr erfreut, daß der Aufenthalt von elf Tagen in der
+freien Luft für den Vater von so wohltätigen Folgen gewesen sei. Seine
+Wangen haben sich nicht nur schön rot gefärbt, sie seien auch voller
+geworden, und das Auge sei weit klarer, als wenn es immer auf das
+Papier seiner Schreibstube geblickt hätte.
+
+»Das ist nur die Wirkung des Anfangs und eine Folge des Reizes des
+Wechsels auf die körperlichen Gebilde«, sagte der Vater, »im Verlaufe
+der Zeit gewöhnt sich Blut, Muskel und Nerv an die freie Luft und
+Bewegung und das erste rötet sich nicht mehr so, und die letzten
+schwellen. Allerdings aber wirkt viel Aufenthalt in freier Luft und
+gehörige Bewegung, in welche sich keine Sorgen mischen, weit günstiger
+auf die Gesundheit, als ein stetiges Sitzen in Stuben und ein Hingeben
+an Gedanken für die Zukunft. Wir werden schon einmal, und wer weiß wie
+nahe die Zeit ist, auch dieses Glück genießen und uns recht darüber
+freuen.«
+
+»Wir werden uns freuen, wenn du es genießest«, erwiderte die Mutter,
+»du entbehrst es am meisten und dir ist es am nötigsten. Wir Andern
+können in unsern Garten und in die Umgebung der Stadt gehen, du suchst
+immer die düstere Stube. Weil du es aber schon so oft gesagt hast, so
+wird es doch einmal wahr werden.«
+
+»Es wird wahr werden, Mutter«, antwortete der Vater, »es wird wahr
+werden.«
+
+Sie wendete sich an uns, wir sollen bestätigen, daß der Vater nie so
+gesund und so heiter ausgesehen habe als nach dieser kurzen Reise.
+
+Wir gaben es zu.
+
+Nun mußte aber auch noch auf eine andere Reise gedacht werden, weil
+heuer einmal der Sommer der Reisen war, und wir mußten dieselbe ins
+Werk setzen, meine und Klotildens Fahrt ins Gebirge. Der Herbst war
+schon da, wie ich an den Buchenblättern um das Geburtshaus meines
+Vaters hatte wahrnehmen können, die bereits im Begriffe waren, die
+rote Farbe vor ihrem Abfallen zu gewinnen. Es war keine Zeit mehr zu
+verlieren.
+
+Für Klotilden waren die Vorbereitungen fertig, ich brauchte keine,
+weil ich immer in Bereitschaft war, und so konnten wir ungesäumt
+unsere verabredete Fahrt beginnen.
+
+Die Mutter legte mir das Wohl der Schwester sehr an das Herz, der
+Vater sagte, wir sollen die Muße nach unserer besten Einsicht
+genießen, und so fuhren wir bei dem Aufgange einer klaren Herbstsonne
+aus dem Tore unseres Hauses.
+
+Ich wollte die Schwester, welche ihre erste größere Reise machte,
+nicht der Berührung mit anderen Menschen in einem gemeinschaftlichen
+Wagen aussetzen, da man deren Wesen und Benehmen nicht voraus wissen
+konnte; deshalb zog ich es vor, mit Postpferden so lange zu fahren,
+als es mir gut erscheinen werde, und dann die Art unsers Weiterkommens
+im Gebirge je nach der Sachlage zu bestimmen. Es hatte diese Art zu
+reisen noch den Vorteil, daß ich anhalten konnte, wo ich wollte, und
+daß ich der Schwester Manches erklären durfte, ohne dabei auf jemand
+Rücksicht nehmen zu müssen, der als Zeuge gegenwärtig wäre. Auch
+konnten wir uns in unseren geschwisterlichen Gesprächen über unsere
+Angehörigen, unser Haus und andere Dinge nach der freien Stimmung
+unserer Seele bewegen. Auf diese Art fuhren wir zwei Tage. Ich gönnte
+ihr öfter Ruhe, da sie ein fortwährendes Fahren nicht gewohnt war, und
+endete immer noch lange vor Abend unsere Tagreise. Wir sahen die Berge
+schon immer in der Nähe von einigen Meilen mit unserem Wege gleich
+laufen; aber ihre Teile waren hier weniger wichtig. Es war mir äußerst
+lieblich, die Gestalt der Schwester neben mir in dem Wagen zu wissen,
+ihr schönes Angesicht zu sehen und ihren Atem zu empfinden. Ihre
+schwesterliche Rede und die frische Weise, alles, was ihr neu war,
+in die vollkommen klare Seele aufzunehmen, war mir unaussprechlich
+wohltätig.
+
+Am Vormittage des dritten Tages ließ ich sie ruhen. Für den Nachmittag
+mietete ich einen Wagen, und wir fuhren von der Poststraße weg gerade
+dem Gebirge zu. Unsere Fahrt war von angenehmer und heiterer Stimmung
+begleitet, und wir ergingen uns in mannigfaltigen Gesprächen. Als die
+blauen Berge in der klaren Luft, die einen milchig grünlichen Schimmer
+hatte, uns entgegen traten, leuchtete ihr Auge immer freundlicher
+und ihre Mienen waren teilnehmend der Gegend, in die wir fuhren,
+zugekehrt. Gleich wie bei dem Vater röteten sich nach dieser
+dreitägigen Reise auch ihre zarten Wangen, und ihre Augen wurden
+glänzender. So kamen wir endlich an dem Orte an, den ich für unsere
+Nachtruhe bestimmt hatte. An demselben rauschte die grüne Afel mit
+ihren Gebirgswässern vorüber, welches Rauschen durch ein schief über
+das Flußbett gezogenes Wehr noch vermehrt wurde. Waldhänge in langen
+Rücken begannen schon sich zu erheben, und oberhalb des dunkeln Randes
+eines bedeutend hohen Buchenwaldes blickte bereits das rote Haupt
+eines im Abende glühenden Berges herein, auf welchem schon einzelne
+Strecken von Schnee lagen.
+
+Des andern Tages mietete ich ein Gebirgswägelchen, wie sie zum
+Fortkommen auf Wegen, die nicht Poststraßen sind, in den Gebirgen am
+besten dienen und deren Pferde an die Gegenstände des Gebirges und an
+die Beschaffenheit seiner Wege gewöhnt und daher am zuverlässigsten
+sind. Wir brachten unsere Sachen in demselben, so gut es ging, unter
+und fuhren der glänzenden Afel entgegen, immer tiefer in die Berge
+hinein. Ich nannte jeden Namen eines vorzüglichen Berges, machte auf
+die Bildungen aufmerksam und suchte die Farben, die Lichter und die
+Schatten zu erörtern. Überall begannen schon die Laubwälder die
+rötliche und gelbliche Färbung anzunehmen, was den Hauch über all den
+Gestaltungen noch lieblicher machte.
+
+Da ich in eine gewisse Tiefe des Gebirges gekommen war, änderte ich
+die Richtung und fuhr nun nach der Länge desselben hin. Als zwei Tage
+vergangen waren und der dritte auch schon dem Nachmittag zuneigte,
+blickte uns aus der Tiefe des Tales das Gewässer des Lautersees
+entgegen. Wir kamen um den Rücken eines breiten Waldberges herum, und
+die Glanzstellen entwickelten sich immer mehr. Endlich lag der größte
+Teil des Spiegels unter dem Gezweige der Tannen, der Buchen und
+der Ahorne zu unsern Füßen. Wir sanken mit unserem Wäglein auf dem
+schmalen Wege immer tiefer und tiefer, bis wir nach etwa zwei Stunden
+an dem Ufer des Sees anlangten und die Steinchen in seinen seichten
+Buchten hätten zählen können. Wir fuhren an dem Ufer dahin, umfuhren
+eine kleine Strecke des Sees und kamen in dem Seewirtshause an. Dort
+lohnte ich unsern Fuhrmann ab und mietete uns für mehrere Tage ein.
+Klotilde mußte dasselbe Zimmer bekommen, welches ich während der
+Zeiten meiner Vermessungen des Lautersees innegehabt hatte. Ich
+begnügte mich mit einem kleineren Stübchen in ihrer Nähe. Man staunte
+das schöne, und wie man sich ausdrückte, vornehme Mädchen an, und ich
+gewann sichtbar an Ansehen, da ich eine solche Schwester hatte.
+
+Alle, die ein Ruder führen konnten oder die geübt waren, Steigeisen
+anzulegen und einen Alpenstock zu gebrauchen, kamen herzu und boten
+ihre Dienste an. Ich sagte, daß ich sie rufen werde, wenn wir sie
+bedürfen und daß wir uns dann ihrer Gesellschaft sehr erfreuen würden.
+
+Zuerst machte ich Klotilden ein wenig in ihrem Zimmerchen wohnhaft.
+Ich zeigte ihr bedeutsam Stellen, die sie aus ihren Fenstern sehen
+konnte, und nannte ihr dieselben. Ich zeigte ihr, wie ich in
+verschiedenen Richtungen auf dem See gefahren war, um seine Tiefe
+zu messen, und wie wir uns bald auf dieser, bald auf jener Stelle
+des Wassers festsetzen mußten. Sie richtete sich Farben und
+Zeichnungsgeräte zurechte, um zu versuchen, ob sie nicht auch nach der
+unmittelbaren Anschauung von den Räumen ihres Zimmerchens aus etwas
+von den Gestaltungen, die sie hier sehen konnte, auf das Papier zu
+übertragen vermöchte.
+
+Die folgenden Tage brachten wir damit zu, in den Umgebungen des
+Seehauses Spaziergänge zu machen, damit Klotilde sich ein wenig
+in diese Bildungen einlebe. Das vorausgesagte schöne Wetter war
+eingetroffen, es dauerte fort, und so konnten wir uns der Freude und
+dem Vergnügen, welche diese Gänge uns gewährten, um so ungestörter
+hingeben, als auch der Stand unserer Gesundheit ein vortrefflicher war
+und die Befürchtungen, welche die Mutter und zum Teile auch ich in
+Hinsicht Klotildens gehegt hatten, nicht in Erfüllung gingen. Wir
+schickten von hier aus Briefe nach Hause.
+
+In der Folge der Tage führte ich sie auf den See hinaus. Ich führte
+sie auf die verschiedenen Teile, die entweder an sich schön und
+bedeutend waren oder von denen man schöne und merkwürdige Anblicke
+gewinnen konnte. Ich unterstützte sie mit allen meinen Erfahrungen,
+die ich mir durch meine mehrfältigen Aufenthalte in dem Gebirge
+gesammelt hatte. Sie nahm alles mit einer tiefen Seele auf, und durch
+meine Hilfe waren ihr manche Umwege erspart, welche diejenigen, die
+zum ersten Male die Berge besuchen, machen müssen, ehe es ihnen
+gelingt, sich die Größe und Erhabenheit der Gebirge aufschließen zu
+können. Auf den Seefahrten unterstützten uns zwei junge Schiffer, die
+meine steten Begleiter bei meinen Messungen gewesen waren. Wir gingen
+auch bergan. Ich hatte Klotilden Fußbekleidungen machen lassen,
+welche nach Innen weich, nach Außen aber hart und dem rauhen Gerölle
+Widerstand leistend waren. Auf dem Haupte trug sie einen bequemen
+Schirmhut und in der Hand einen eigens für sie gemachten Alpenstock.
+Wenn wir auf die Höhen kamen, wurde mit Freude die Aussicht genossen.
+Klotilde versuchte auch nach der Anschauung etwas zu zeichnen und zu
+malen; aber die Ergebnisse waren noch weit mangelhafter als bei mir,
+da sie einen geringeren Vorrat von Erfahrung zu dem Versuche brachte.
+
+Nachdem über eine Woche vergangen war, führte ich Klotilden mittelst
+eines gleichen Fuhrwerkes, wie wir sie bisher im Gebirge gehabt
+hatten, in das Lauterthal und in das Ahornhaus. Dort fanden wir ein
+besseres Unterkommen als in dem Seehause, und wir erhielten zwei
+nebeneinander befindliche geräumige und freundliche Zimmer, deren
+Fenster auf die Ahorne vor dem Hause hinausgingen und durch die gelben
+Blätter derselben auf die blauduftigen Höhen sahen, die vom Hause
+gegen den Süden standen. Ich zeigte meine Schwester der Wirtin, ich
+zeigte sie dem alten Kaspar, der auf die Kunde meiner Ankunft sogleich
+herbei gekommen war, und ich zeigte sie den andern, welche sich
+gleichfalls reichlich eingefunden hatten. Es war hier ein noch
+größerer Jubel als in dem Seehause, es freute sie, daß eine solche
+Jungfrau in die Berge gekommen und daß sie meine Schwester sei. Sie
+boten ihre Dienste an und näherten sich mit einiger Scheu.
+
+Klotilde betrachtete alle diese Menschen, die ich ihr als meine
+Begleiter und Gehilfen bei meinen Arbeiten vorstellte, mit Vergnügen,
+sie sprach mit ihnen und ließ sich wieder erzählen. Sie lernte
+sich immer mehr in die Art dieser Leute ein. Ich fragte um meinen
+Zitherspiellehrer, weil ich Klotilden diesen Mann zeigen wollte und
+weil ich auch wünschte, daß sie sein außerordentliches Spiel mit
+eigenen Ohren hören möchte. Wir hatten zu diesem Zwecke unsere beiden
+Zithern in unserm Gepäcke mitgenommen. Man sagte mir aber, daß seit
+der Zeit, als ich ihnen erzählt habe, daß er von meinen Arbeiten
+fortgegangen sei, kein Mensch, weder in den nähern noch in den
+ferneren Tälern, etwas von ihm gehört habe. Ich sagte also Klotilden,
+daß sie keinen andern als die gewöhnlichen einheimischen Zitherspieler
+werde hören können, wie sie dieselben auch bereits gehört habe und
+wie sie ihr anziehender erschienen seien als die Kunstspieler in der
+Stadt und als ich, der ich wahrscheinlich ein Zwitter zwischen einem
+Kunstspieler und einem Spieler des Gebirges sei. Wir richteten uns in
+unserem Zimmer ein und begannen ungefähr so zu leben, wie wir in der
+Umgebung des Seehauses gelebt hatten. Ich führte Klotilden in das
+Echertal zu dem Meister, welcher unsere Zithern verfertiget hatte. Er
+besaß noch immer die dritte Zither, welche mit meiner und Klotildens
+ganz gleich war. Er sagte, es seien zwar Käufer von Zithern gekommen,
+die diese gepriesen hätten; aber das seien Gebirgsleute gewesen, die
+nicht so viel Geld haben, sich eine solche Zither kaufen zu können.
+Die Andern, welche die Mittel besäßen, vorzüglich Reisende, ziehen
+Zithern vor, welche eine schöne Ausschmückung haben, wenn sie auch
+teurer sind, und lassen die stehen, deren Tugenden sie nicht zu
+schätzen wissen. Er spielte ein wenig auf ihr, er spielte mit einer
+großen Fertigkeit; aber in jener wilden und weichen Weise, mit
+welcher mein schweifender Jägersmann spielte und welche gerade diesem
+Musikgeräte so zusagte, vermochte weder er zu spielen noch hatte ich
+jemanden so spielen gehört. Ich sagte dem alten Manne, daß das Mädchen
+meine Schwester sei und daß sie auch eine von den drei Zithern
+besitze, von denen er sage, daß sie die besten seien, die er in seinem
+Leben gemacht habe. Er hatte seine Freude darüber, gab Klotilden ein
+Bündel Saiten und sagte: »Es sind meine besten Zithern und werden wohl
+auch meine besten bleiben.«
+
+Wir besuchten die Täler und einige Berge um das Ahornhaus, und Kaspar
+oder ein Anderer waren zuweilen unsere Begleiter und Träger.
+
+Ich führte Klotilden auch in das Häuschen, in welchem ich die
+Pfeilerverkleidungen für den Vater gekauft hatte, ich führte sie
+in das steinerne Schloß, in welchen sie ursprünglich gewesen sein
+mochten, und ich führte sie auch in das Rothmoor, wo sie das Arbeiten
+in Marmor betrachten konnte.
+
+Wir blieben länger in dem Ahornhause, als wir im Seehause
+gewesen waren, und alle Menschen waren hier noch freundlicher,
+zutraulicher und hilfreicher als dort. Die Wirtin war unermüdet
+in Dienstanerbietungen gegen meine Schwester. Zu Ende unseres
+Aufenthaltes traten hier kühle und regnerische Tage ein. Wir
+verbrachten sie still in der heitern Wohnlichkeit des Hauses. Aber
+aus der Beschaffenheit des Laubes an den Bäumen und dem Aussehen der
+Herbstpflanzen auf den Matten, aus dem Verhalten der Tiere und aus der
+Beschaffenheit des Pelzes derselben erkannte ich, daß die dauernde
+kalte und unfreundliche Zeit noch nicht gekommen sei und daß noch
+warme und klare Tage eintreten müssen. Als daher das Wetter sich
+wieder aufheiterte, verließ ich mit Klotilden das Ahornhaus und schlug
+den Weg in das Kargrat ein.
+
+
+Ich hatte mich in meinen Voraussetzungen nicht getäuscht. Nachdem
+zwei halb heitere und kühle Tage gewesen waren, die wir mit Fahren
+zugebracht hatten, zog wieder ein ganz heiterer, zwar am Morgen
+kalter, in seinem Verlaufe aber sich schnell erwärmender Tag über die
+beschneiten Gipfel herauf, dem eine Reihe schöner und warmer Tage
+folgte, die den Schnee auf den Höhen und den, welcher das Eis der
+Gletscher bedeckt hatte, wieder weg nahmen und das letztere so weit
+sichtbar machten, als es in diesem Sommer überhaupt sichtbar gewesen
+war. Wir hatten am zweiten dieser schönen Tage das Kargrat erreicht.
+Die Reise war darum von so langer Dauer gewesen, weil wir kleine
+Tagefahrten gemacht hatten und weil wir die Berge hinan und hinab
+recht langsam gefahren waren. Wir zogen in die Ärmlichkeit unserer
+Wohnung, die durch die Größe und Öde der Gegend, von welcher sie
+umgeben war, noch mehr herabgedrückt wurde, ein. Am zweiten Tage nach
+unserer Ankunft, da alles vorbereitet worden war, folgte mir Klotilde
+auf das Simmieis. Es waren Führer, Träger von Lebensmitteln und von
+Allem, was auf einer solchen Wanderung notwendig oder nützlich sein
+konnte, und endlich auch solche, die eine Sänfte hatten, mitgegangen.
+Wir waren am ersten Tage bis zur Karzuflucht gekommen. Dort waren wir
+in dem aus Holzblöcken für die Besteiger der Karspitze gezimmerten
+Häuschen über Nacht geblieben, hatten aus mitgebrachtem Holze Feuer
+gemacht und uns unser Abendessen bereitet.
+
+Mit Anbruch des nächsten Tages gingen wir weiter und kamen im Glanze
+des Vormittages auf die Wölbung des Gletschers. Daß an eine Besteigung
+der Karspitze nicht gedacht werden konnte, war natürlich.
+
+Wir betrachteten hier nun, was zu betrachten war, und als sich Kälte
+in den Gliedern einstellen wollte, traten wir den Rückweg an. In der
+Zuflucht wurden wieder Speisen bereitet, und dann gingen wir vollends
+hinab. Als wir zurückgekehrt waren, sank mir Klotilde fast erschöpft
+an das Herz.
+
+Ich legte am andern Tage Klotilden mehrere Zeichnungen, die
+ich von Gletschern, ihren Einfassungen, Wölbungen, Spaltungen,
+Zusammenschiebungen und dergleichen gemacht hatte, vor, damit sie in
+der frischen Erinnerung das Gesehene mit dem Abgebildeten vergleichen
+konnte. Ich machte auf Vieles aufmerksam, führte Manches in ihr
+Gedächtnis zurück und erwähnte hier auch als an der geeignetsten
+Stelle, wie sehr die Abbildung hinter der Wirklichkeit zurück bleibe.
+In den nächsten zwei Tagen besuchten wir noch verschiedene Stellen,
+von denen wir das Eis und die Schneegestaltungen dieser Berge
+betrachten konnten. Auch einen Wassersturz von einer steilrechten Wand
+zeigte ich Klotilden. Hierauf aber begann ich auf unsere Rückreise zu
+den Eltern zu denken. Die Zeit war nach und nach so vorgerückt, daß
+ein Aufenthalt in diesen hochgelegenen Räumen, besonders für ein der
+Stadt gewohntes Mädchen, nicht mehr ersprießlich war. Ich schlug daher
+Klotilden vor, nun auf dem nächsten Wege durch das ebenere Land unsere
+Heimat zu gewinnen zu suchen. Sie war damit einverstanden. Von dem
+nächsten größeren Orte her wurde ein Fuhrwerk bestellt, welches uns
+auf die erste Post bringen sollte. Wir nahmen von unserer Wirtin
+und ihrem Manne so wie von unsern Trägern und Führern, die noch zum
+Empfange eines kleinen Geschenkes herbei gekommen waren, Abschied; wir
+verabschiedeten uns von dem Pfarrer, der uns zuweilen besucht und uns
+auf Schönheiten, von seinem kleinen Gesichtskreise aus, aufmerksam
+gemacht hatte, und fuhren auf unserem Karren, der nur mit einem Pferde
+bespannt war, auf dem schmalen Wege von dem Kargrat hinab. Das Letzte,
+was wir von dem kleinen Örtchen sahen, war die mit Schindeln bedeckte
+Wand des Pfarrhofes und die gleichfalls mit Schindeln bedeckte
+Wand der schmalen Seite der Kirche. Ich sagte Klotilden, daß diese
+Bedeckungen notwendig seien, um die in diesen Höhen stark wirkende
+Gewalt des Regens und des Schnees von dem Mauerwerke abzuhalten. Wir
+konnten nur noch einen Blick auf die zwei Gebäude tun, dann trat eine
+Höhe zwischen unsere Augen und sie. Wir glitten mit unserem Fuhrwerke
+sehr schnell abwärts, wilde Gründe umgaben uns, und endlich empfing
+uns der Wald, der die Niederungen suchte, in ihnen dahin zog und schon
+wohnlicher und wärmer war. Wir kamen unter Wiegen und Ächzen unseres
+Wägleins immer tiefer und tiefer, Fahrgeleise von Holzwegen, die den
+Wald durchstrichen, mündeten in unsere Straße, diese wurde fester und
+breiter, und wir fuhren zuweilen schon eben und behaglich dahin.
+
+Als wir den Ort erreicht hatten, an welchem sich die nächste Post
+befand, lohnte ich den Führer meines Wägleins ab, sendete ihn zurück
+und nahm Postpferde. Wir fuhren in gerader Richtung auf dem kürzesten
+Wege aus dem Gebirge gegen das flachere Land, um die Heerstraße zu
+gewinnen, die nach unserer Heimat führte. Immer mehr und mehr sanken
+die Berge hinter uns zurück, die milde Herbstsonne, die sie beschien,
+färbte sie immer blauer und blauer, die Höhen, die uns jetzt
+begegneten, wurden stets kleiner und kleiner, bis wir in das Land
+hinaus kamen, dessen Gefilde mit lauter dem Menschen nutzbarem Grunde
+bedeckt waren. Dort trafen wir auf die große Straße. Bisher waren wir
+gegen Norden gefahren, jetzt änderten wir die Richtung und fuhren dem
+Osten zu. Wir hatten auch bessere Wägen.
+
+Da wir einen Tag auf dieser Straße gefahren waren, ließ ich an einem
+Orte halten und beschloß, einen Tag an demselben zu bleiben; den Abend
+und die Nacht brachten wir in Ruhe zu. Am andern Tage gegen Mittag
+führte ich die Schwester auf einen mäßig hoben Hügel. Der Tag war ein
+sehr schöner Herbsttag, der Schleier, welcher im Vormittage so Hügel
+als Gründe zart umwebt hatte, war einer völligen Klarheit gewichen.
+Ich befestigte mittelst Schrauben mein Fernrohr an dem Stamme einer
+Eiche und richtete es. Dann hieß ich Klotilden durchsehen und fragte
+sie, was sie sähe.
+
+»Ein hohes, dunkles Dach«, sagte sie, »aus welchem mehrere breite
+und mächtige Rauchfänge empor ragen. Unter dem Dache ist ein Gemäuer
+von ebenfalls dunkler Farbe, in welchem große Fenster in gemäßen
+Entfernungen stehen. Das Gebäude scheint ein Viereck zu sein.«
+
+»Und was siehst du weiter, Klotilde, wenn du das Rohr in die
+Umgebungen des Gebäudes richtest?« fragte ich.
+
+»Bäume, die hinter dem Hause stehen, gleichsam wie ein Garten«,
+antwortete sie. »Die Mauern des Gebäudes sind dort licht wie die
+unserer Häuser. Dann sehe ich Felder, in ihnen wieder Bäume, hie und
+da ein Haus und endlich wolkenartige Spitzen, die wie das Hochgebirge
+sind, das wir verlassen haben.«
+
+»Es ist das Hochgebirge«, antwortete ich.
+
+»Ist das etwa - -?« fragte sie, den Kopf von dem Fernrohre wegwendend
+und mich ansehend.
+
+»Ja, Klotilde, das Gebäude ist der Sternenhof«, antwortete ich.
+
+»Wo Natalie wohnt?« fragte sie.
+
+»Wo Natalie wohnt, wo die edle Mathilde verweilt, wo so treffliche
+Menschen ein und aus gehen, wohin meine Gedanken sich mit Empfindung
+wenden, wo sanfte Gegenstände der Kunst thronen und wo ein liebes Land
+um all die Mauern herum liegt«, antwortete ich.
+
+»Das ist der Sternenhof!« sagte Klotilde, blickte wieder in das
+Fernrohr und sah lange durch dasselbe.
+
+»Ich habe dich mit Freude auf diesen Hügel geführt, Klotilde«, sagte
+ich, »um dir diesen Ort zu zeigen, in dem mein warmes Herz schlägt und
+ein tiefer Teil von meinem Wesen wohnt.«
+
+»Ach lieber, teurer Bruder«, antwortete sie, »wie oft gehen meine
+Gedanken an den Ort und wie oft weilt mein Gemüt in seinen mir noch
+unbekannten Mauern!«
+
+»Du begreifst aber«, sagte ich, »daß wir jetzt nicht hingehen können
+und daß die Angelegenheit ihre naturgemäße Entwickelung haben muß.«
+
+»Ich begreife es«, antwortete sie.
+
+»Du wirst sie sehen, an deinem Herzen halten und sie lieben«, sagte
+ich.
+
+Klotilde sah wieder in das Rohr, sie sah sehr lange in dasselbe und
+betrachtete alles genau. Ich lenkte ihren Blick auf die Teile, die mir
+wichtig schienen, erklärte ihr alles und erzählte von dem Schlosse und
+von denen, die in demselben sind.
+
+Es war indessen der Mittag gekommen, wir lösten das Fernrohr ab und
+gingen langsam unserer Wohnung zu.
+
+»Kann man hier nicht auch das Rosenhaus deines Freundes sehen?« fragte
+sie im Heimgehen.
+
+»Hier nicht«, erwiderte ich, »hier ist nicht einmal der höchste Teil
+der Rosenhausgegend zu erblicken, weil der Kronwald, den du gegen
+Norden siehst, sie deckt. Im Weiterfahren werden wir auf einen Hügel
+kommen, von dem aus ich dir die Anhöhe zeigen kann, auf welcher
+das Haus liegt und von dem aus du mit dem Fernrohre das Haus sehen
+kannst.«
+
+Wir gingen in unsere Wohnung, und am nächsten Tage fuhren wir weiter.
+Als wir an die Stelle gekommen waren, von welcher man die Höhe des
+Asperhofes sehen konnte, ließ ich halten, wir stiegen aus, ich zeigte
+Klotilden den Hügel, auf welchem das Haus meines Gastfreundes liegt,
+richtete das Fernrohr und ließ sie durch dasselbe das Haus erblicken.
+Wir waren aber hier so weit von dem Asperhofe entfernt, daß man selbst
+durch das Fernrohr das Haus nur als ein weißes Sternchen sehen konnte.
+Nach dessen Betrachtung fuhren wir wieder weiter.
+
+Als nach diesem Tage der dritte vergangen war, fuhren wir gegen Abend
+durch den Torweg des Vorstadthauses unserer Eltern ein.
+
+»Mutter«, rief ich, da uns diese und der Vater, der unsere Ankunft
+gewußt hatte und daher zu Hause geblieben war, entgegen kamen, »ich
+bringe sie dir gesund und blühend zurück.«
+
+Wirklich war Klotilde, wie es dem Vater auf seiner kleinen Reise
+ergangen war, durch die Luft und die Bewegung kräftiger, heiterer und
+in ihrem Angesichte reicher an Farbe geworden, als sie es je in der
+Stadt gewesen war.
+
+Sie sprang von dem Wagen in die Arme der Mutter und begrüßte diese und
+dann auch den Vater freudenvoll; denn es war das erste Mal gewesen,
+daß sie die Eltern verlassen hatte und auf längere Zeit in ziemlicher
+Entfernung von ihnen gewesen war. Man führte sie die Treppe hinan
+und dann in ihr Zimmer. Dort mußte sie erzählen, erzählte gerne und
+unterbrach sich öfter, indem sie das inzwischen heraufgebrachte Gepäck
+aufschloß und die mannigfaltigen Dinge heraus nahm, die sie in den
+verschiedenen Ortschaften zu Geschenken und Erinnerungen gekauft oder
+an mancherlei Wanderstellen gesammelt hatte. Ich war ebenfalls mit in
+ihr Zimmer gegangen, und als wir geraume Weile bei ihr gewesen waren,
+entfernten wir uns und überließen sie einer notwendigen Ruhe.
+
+Nun folgte für Klotilden fast eine Zeit der Betäubung, sie beschrieb,
+sie erzählte wieder, sie setzte sich vor Zeichnungen hin, blätterte
+in ihnen oder zeichnete selber und suchte in der Erinnerung Gesehenes
+nachzubilden.
+
+Aber auch für mich war diese Reise nicht ohne Erfolg gewesen. Was ich
+halb im Scherze, halb im Ernste gesagt hatte, daß ich durch diese
+Reise zu einer größeren Ruhe kommen werde, ist in Wirklichkeit
+eingetroffen. Klotilde, welche alle die Gegenstände, die mir längst
+bekannt waren, mit neuen Augen angeschaut, welche alles so frisch, so
+klar und so tief in ihr Gemüt aufgenommen hatte, hatte meine Gedanken
+auf sich gelenkt, hatte mir selber etwas Frisches und Ursprüngliches
+gegeben und mir Freude über ihre Freude mitgeteilt, so daß ich
+gleichsam gestärkter und befestigter über meine Beziehungen nachdenken
+und sie mir gewissermaßen vor mir selber zurecht legen konnte.
+
+Ich hatte mit Natalien keinen Briefwechsel verabredet, ich hatte
+nicht daran gedacht, sie wahrscheinlich auch nicht. Unser Verhältnis
+erschien mir so hoch, daß es mir kleiner vorgekommen wäre, wenn wir
+uns gegenseitig Briefe geschickt hätten. Wir mußten in der Festigkeit
+der Überzeugung der Liebe des Andern ruhen, durften uns nicht durch
+Ungeduld vermindern und mußten warten, wie sich alles entwickeln
+werde. So konnte ich mit dem Gefühle von Seligkeit von Natalien fern
+sein, konnte mich freuen, daß alles so ist, wie es ist, und konnte
+dessen harren, was meine Eltern und Nataliens Angehörige beginnen
+werden.
+
+Klotilden, welche ihren Bergen, Lüften, Seen und Wäldern die Farbe
+geben wollte, die sie gesehen hatte, suchte ich beizustehen und zeigte
+ihr, worin sie fehle und wie sie es immer besser machen könne. Wir
+wußten es jetzt, daß man die zarte Kraft, wie sie uns in der Wesenheit
+der Hochgebirge entgegen tritt, nicht darstellen könne und die Kunst
+des großen Meisters nur in der besten Annäherung bestehe. Auch in
+ihrem Bestreben, die Art, wie sie im Gebirge die Zither spielen gehört
+hatte und die eigentümlichen Töne, die ihr dort vorgekommen waren,
+nachzuahmen, suchte ich ihr zu helfen. Wir konnten wohl beide unsere
+Vorbilder nicht völlig erreichen, freuten uns aber doch unserer
+Versuche.
+
+Bei einigen Freunden machte ich gelegentlich zwei oder drei Besuche.
+
+So war der Winter gekommen. Ich faßte, weil ich schon nach dem Rate
+des Vaters beschlossen hatte, im Winter meinen Gastfreund zu besuchen,
+zugleich auch den Entschluß, einmal im Winter in das Hochgebirge
+zu gehen und, wenn dies möglich sein sollte, einen hohen Berg zu
+besteigen und auf dem Eise eines Gletschers zu verweilen. Ich
+bestimmte hierzu den Januar als den beständigsten und meistens auch
+klarsten Monat des Winters. Gleich nach seinem Beginne fuhr ich von
+dem Hause meiner Eltern ab und fuhr in dem flimmernden Schnee und in
+der blendenden Hülle, die alle Fluren deckte, im Schlitten der Gegend
+zu, in welcher meine Freunde lebten. Das Wetter war schon durch zehn
+Tage beständig und mäßig kalt gewesen, der Schnee war reichlich, und
+auf der Bahn glitten die Fahrzeuge wie in den Lüften dahin. Wie ich
+sonst nie anders als im offenen Wagen fuhr, so fuhr ich auch jetzt,
+mit guten Pelzen versehen, im offenen Schlitten und freute mich der
+weichen Hülle, die um meinen Körper war, und auch der, die überall und
+allüberall lag, freute mich der schweigenden bereiften Wälder, der
+ruhenden Obstbäume, die ihre weißen Gitter ausstreckten, der Häuser,
+von denen der wohnliche Rauch aufstieg, und der Unzahl der Sterne, die
+Nachts in dem kalten und finsteren Himmel feuriger funkelten als je
+sonst im Sommer. Ich hatte vor, zuerst die Gebirge und dann meinen
+Gastfreund zu besuchen.
+
+
+Ich fuhr bis in die Nähe des Lauterthales. Da ich die Straße verlassen
+sollte, mietete ich einen einspännigen Schlitten, weil in den
+Seitenwegen, auf denen man immer im Winter nur mit einem Pferde fährt,
+die Bahn zu enge ist, als daß zwei Pferde sicher neben einander gehen
+könnten, und fuhr in das Tal und in das Ahornwirtshaus. Die Ahorne
+streckten ungeheure, abenteuerlich gestaltete, entblätterte und mit
+feinen Zweigen wie mit Bärten versehene Arme der winterlichen Luft
+entgegen, das fensterreiche Wirtshaus war in seiner braunen Farbe
+gegen die Schneedecke auf seinem Dache und gegen den Schnee, der
+überall ringsum lag, noch brauner als sonst, und die Fichtentische
+vor dem Hause waren abgebrochen und in Aufbewahrung getan worden. Die
+Wirtin empfing mich mit Erstaunen und mit Freude, daß ich in einer
+solchen Jahreszeit komme, und gab mir das beste Versprechen, daß meine
+Stube so warm und heimlich sein solle, als wehe kein einziges Lüftchen
+hinein, und so licht, als schiene die Sonne, wenn sie überhaupt
+scheint, sonst nirgends hin als auf meine Fenster. Ich ließ meine
+Gerätschaften in die Stube bringen, und bald loderte auch ein lustiges
+Feuer in dem Ofen derselben, der ausnahmsweise, wie es sonst in den
+Gebirgen fast gar nicht vorkömmt, von Innen zu heizen war. Die Wirtin
+hatte es so einrichten lassen, weil von Außen der Zugang zu dem Ofen
+so schwer gewesen war. Als ich mich ein wenig erwärmt und meine
+Hauptsachen in Ordnung gebracht hatte, ging ich in die allgemeine
+Gaststube hinunter. In ihr waren verschiedene Leute anwesend, die der
+Weg vorbei führte oder die eine kleine Erquickung und ein Gespräch
+suchten. Bei den vielen und sehr nahe stehenden Fenstern drang ein
+reichliches Licht herein, so daß die Sonnenstrahlen des Wintertages
+um die Tische spielten, was um so wohltätiger war, da auch eine
+behagliche Wärme von den in dem großen Ofen brennenden Klötzen das
+Zimmer erfüllte. Ich fragte wieder um meinen Zitherspiellehrer, es
+hatte niemand etwas von ihm gehört. Ich fragte um den alten Kaspar, er
+war gesund, und es wurde auf meine Bitte um ihn gesendet. Ich sagte,
+daß ich im Sinne hätte, von dem Lautersee in die Eisfelder der Echern
+hinaufzusteigen. Ich hätte Anfangs Lust gehabt, das Simmieis an der
+Karspitze zu besuchen; aber der Zugang ins Kargrat sei mir im Winter
+sehr unangenehm, und wenn die Echern auch etwas tiefer liegen als
+die Simmen, so seien sie doch schöner und von unvergleichlich
+wohlgebildeten Felsen eingefaßt. Alle rieten mir von meinem
+Unternehmen ab, es sei im Winter nicht durchzudringen, und die Kälte
+sei auf den Bergen so groß, daß sie kein Mensch zu ertragen vermöge.
+Ich widerlegte die Einwürfe vorerst dadurch, daß ich sagte, es
+sei eben im Winter niemand auf den Echern gewesen, wie sie selber
+berichten, und daß man daher nichts Sicheres wissen könne.
+
+»Aber man kann es sich denken«, erwiderten viele.
+
+»Erfahrung ist noch besser«, sagte ich.
+
+Indessen kam der alte Kaspar. Die Sache wurde ihm gleich von den
+Anwesenden erzählt, und er riet auch entschieden von dem Unternehmen
+ab. Ich sagte, daß viele Forscher in Naturdingen im Winter schon auf
+hohen Bergen gewesen seien, auf höheren als den Echern, daß sie dort
+Nächte und zuweilen auch eine Reihe von Tagen und Nächten zugebracht
+haben. Man wendete immer ein, das seien andere Berge gewesen, und in
+den hiesigen gehe es durchaus nicht. Der alte Kaspar verstand sich
+endlich ganz allein dazu, mich, wenn ich durchaus wolle, zu begleiten.
+Aber das Wetter, meinte er, müßten wir uns sorgsam dazu auslesen. Ich
+erwiderte ihm, daß ich Geräte bei mir hätte, die mir anzeigen, wenn
+eine schöne Zeit bevorstehe, daß ich mich auch ein wenig auf die
+Zeichen an dem Himmel verstehe und daß ich selber auf den Höhen nicht
+gar gerne in einen Schneesturm oder in einen langedauernden Nebel
+geraten möchte. Alle andern Leute, welche mir sonst gerne bei meinen
+Bergarbeiten geholfen hatten und welche ich ebenfalls ins Wirtshaus
+hatte rufen lassen, lehnten es durchaus ab, mich im Winter in die
+Echern zu begleiten. Dem Kaspar sagte ich, er müsse sich vorbereiten.
+Ich hätte selber verschiedene Dinge bei mir, von denen er sich die
+aussuchen könne, von welchen er glaube, daß er sie auf unserer
+Wanderung mitnehmen möge. Den Tag, an welchem wir zum See hinunter
+gehen werden, würde ich ihm dann schon sagen. Ich ging unter den
+lebhaftesten Gesprächen der Anwesenden über diesen Gegenstand in meine
+Stube zurück und brachte den Abend in derselben zu. Ich wußte, daß sie
+nun tief in die Nacht hinein über die Sache sprechen würden und daß in
+den nächsten Tagen für das ganze Tal diese Unternehmung den Stoff der
+Unterredungen bilden wurde.
+
+Es meldete sich nun auch wirklich keiner mehr, um mich und Kaspar zu
+begleiten.
+
+Die Zeit bis zum Beginne unsers Unternehmens brachte ich damit zu, daß
+ich Wanderungen in der Umgegend machte. Ich betrachtete die Wälder,
+die in Ruhe und Pracht dastanden, ich betrachtete die Höhen, auf
+welchen die unermeßlichen Schneemengen lagen, ich betrachtete die
+Echernwand, von der eine Last von Eiszapfen niederhing, deren manche
+die Dicke von Bäumen hatten, zuweilen losbrachen und mit Krachen und
+Klingen in den Schnee niederstürzten, ich ging auf Berge und schaute
+in die stille, gleichsam verdichtete Winterluft und auf alle die
+weißen Gebilde, die durch dunkle Wälder, durch Felsen und durch das
+sanfte Blau der fernen Bergzüge geschnitten waren.
+
+Gegen die Mitte des Januars, zu welcher Zeit gewöhnlich das Wetter
+am ausdauerndsten zu sein pflegt, stellten sich die Zeichen ein, daß
+längere Zeit schöne Tage sein werden. Ein etwas weicher Luftzug der
+vorigen Tage hatte sich verloren, die graue Decke am Himmel war
+verschwunden und den verwaschenen Federwolken war eine tiefe Bläue
+gefolgt. Die Luft zog aus Osten, die Kälte mehrte sich, der Schnee
+flimmerte und Abends zeigte sich der feine blauliche Duft in den
+Gründen, der heitere Morgen und immer größere Kälte versprach. Meine
+Werkzeuge gaben starken Luftdruck und große Trockenheit an.
+
+Ich sagte dem alten Kaspar, daß wir nunmehr aufbrechen würden. Wir
+nahmen an Alpenstöcken, Steigeisen, Stricken, Schneereifen, Decken,
+Kleidern, was wir nötig erachteten, eine Schaufel, eine Axt,
+Kochgeschirr und Lebensmittel auf mehrere Tage. So bepackt gingen wir
+zu dem See. Dort teilten wir unsere Dinge in zwei bequeme Lasten,
+daß jeder mit der seinigen so leicht als möglich gehen könne, und
+erwarteten den nächsten Morgen.
+
+Beim Grauen des Lichtes machten wir uns auf den Weg und stiegen mit
+unseren sehr hohen Stiefeln, die ich eigens zu diesem Zwecke hatte
+machen lassen, in den tiefen Schnee der Wege, die zu den Höhen, auf
+die wir wollten, führten, die aber nur im Sommer betreten wurden, die
+jetzt keine Spur zeigten und die wir nur fanden, weil wir der Gegend
+sehr kundig waren. Wir gingen mehrere Stunden in diesem tiefen Schnee,
+dann kamen Wälder, in denen er niederer lag und durch welche das
+Fortkommen leichter war. Viele Gerölle und schiefliegende Wände, die
+nun folgten, zeigten ebenfalls weniger Schnee als die Tiefe, und
+es war über sie im Winter leichter zu gehen, als ich es im Sommer
+gefunden hatte, da die Unebenheiten und die kleinen scharfen Riffe
+und Steine mit einer Schneedecke überhüllt waren. Als wir die ersten
+Vorberge überwunden hatten und auf die Hochebene der Echern gekommen
+waren, von der man wieder den blauen See recht tief und dunkel in der
+weißen Umgebung unten liegen sah, machten wir ein wenig Halt. Die
+Oberfläche der Echern oder die Hochebene, wie man sie auch gerne
+nennt, ist aber nichts weniger als eine Ebene, sie ist es nur im
+Vergleiche mit den steilen Abhängen, welche ihre Seitenwände gegen
+den See bilden. Sie besteht aus einer großen Anzahl von Gipfeln, die
+hinter und neben einander stehen, verschieden an Größe und Gestalt
+sind, tiefe Rinnen zwischen sich haben und bald in einer Spitze sich
+erheben, bald breitgedehnte Flächen darstellen. Diese sind mit kurzem
+Grase und hie und da mit Knieföhren bedeckt, und unzählige Felsblöcke
+ragen aus ihnen empor. Es ist hier am schwersten durchzukommen. Selbst
+im Sommer ist es schwierig, die rechte Richtung zu behalten, weil
+die Gestaltungen einander so ähnlich sind und ein ausgetretener Pfad
+begreiflicher Weise nicht da ist: wie viel mehr im Winter, in welchem
+die Gestalten durch Schneeverhüllungen überdeckt und entstellt sind,
+und selbst da, wo sie hervorragen, ein ungewohntes und fremdartiges
+Ansehen haben. Es sind mehrere Alpenhütten in diesem Gebiete
+zerstreut, und es befinden sich im Sommer Herden hier oben, die aber,
+wie zahlreich sie auch sind, in der großen Ausdehnung verschwinden und
+sich gegenseitig oft Monate lang nicht sehen. Wir wünschten noch beim
+Lichte des Tages über diese Erdbildungen hinüber zu kommen und hatten
+vor, zur Einhaltung der Richtung uns gegenseitig in unserer Kenntnis
+der Riffe und der Hügelgestaltungen zu unterstützen und uns die
+entscheidenden Bildungen wechselseitig zu nennen und zu beschreiben.
+Am oberen Ende der Hochebene, wo wieder die größeren Felsenbildungen
+beginnen und das Verirren weit weniger möglich ist, steht im Bereiche
+großer Kalksteinblöcke eine Sennhütte, die Ziegenalpe genannt, welche
+das Ziel unserer heutigen Wanderung war. Am Rande der Bergansteigung
+und dem Anfange der Hochebene, wo wir jetzt waren, setzten wir uns
+nieder. Es liegt da ein großer Stein, der beinahe ganz schwarz ist.
+Er ist nicht nur dieser Farbe willen an sich merkwürdig, sondern
+besonders darum, weil er durch eben diese Farbe, dann durch seine
+Größe und seine seltsame Gestalt von Weitem gesehen werden kann und
+denen, die von der Ziegenalpe durch die Hochebene abwärts kommen,
+zum Zeichen, und wenn sie bei ihm angelangt sind, zur Beruhigung des
+richtig zurückgelegten Weges dient. Weil Vielen, die auf der Hochebene
+sind, Sennen, Alpenwanderern, Jägern, der Stein ein Versammlungsort
+ist, so findet sich von ihm ab schon ein merkbar ausgetretener
+Pfad und man kann die Richtung zu dem See hinab nicht mehr leicht
+verfehlen. Auch ist die gegen Sonnenaufgang überhängende Gestalt des
+Felsens geeignet, vor Regen und heftigen Westwinden zu schützen. Als
+wir bei ihm angelangt waren, sahen wir freilich keine Spur eines
+Menschen rings um ihn; denn unberührter Schnee lag bis zu seinen
+Wänden hinzu, und er stand noch einmal so schwarz aus dieser Umgebung
+hervor. Wir fanden aber auf kleineren Steinen, die unter seinem
+Überdache lagen, und auf die der Schnee nicht hereingefallen war, Raum
+zum Sitzen und folgten dieser Einladung willig, da sich schon Ermüdung
+eingestellt hatte. Kaspar schnallte die Umhüllungen der Decken
+auseinander und holte zwei leichte, aber wärmende Pelze und andere
+Pelzsachen hervor, die ich dazu bestimmt hatte, unsere Körper und
+Füße, die im Wandern sich sehr erwärmt hatten, in der Ruhe vor
+Verkühlung zu schützen. Als wir diese Pelzdinge umgetan hatten,
+schritten wir dazu, uns durch Speise und Trank zu erquicken. Etwas
+Wein und Brod reichte zu dem Zwecke hin. Ich betrachtete, nachdem
+unser Mahl vollendet war, den Wärmemesser, welchen ich gleich
+nach unserer Ankunft an einer freien Stelle auf meinen Alpenstock
+aufgehängt hatte, und zeigte meinem Begleiter Kaspar, daß die Wärme
+hier oben größer sei, als wir sie gestern zu gleicher Tageszeit unten
+in der Ebene des Sees gehabt hatten. Die Sonne schien sehr kräftig auf
+den Schnee, es wehte kein Lüftchen, an dem grünlich blaulichen Himmel
+lagerten nur ein paar sehr dünne weißliche Streifen. Auch konnte man
+von dem Steinvorsprunge, von dem aus der See zu erblicken war, fast
+deutlich wahrnehmen, daß unten nicht nur die dichtere, sondern auch
+kältere Luft liege. Denn so deutlich und klar der See zu erblicken
+war, so zog sich doch an den weißen oder weißgesprenkelten Wänden
+desselben ein feiner blaulich schillernder Dunst hin zum Zeichen, daß
+dort unsere obere, wärmere Luft mit der unteren, schon seit längerer
+Zeit über dem See stehenden kälteren zusammengrenze und sich
+da ein sanfter Beschlag bilde. Ich schaute nur noch auf den
+Feuchtigkeitsmesser und den des Luftdruckes, dann packte Kaspar unsere
+Decken und Pelze, ich meine Geräte ein, und wir gingen unsers Weges
+weiter.
+
+Mit großer Vorsicht suchten wir die Richtung, die uns nottat, zu
+bestimmen. Auf jeder Stelle, die eine größere Umsicht gewährte,
+hielten wir etwas an und suchten uns die Gestalt der Umgebung
+zu vergegenwärtigen und uns des Raumes, auf dem wir standen, zu
+vergewissern. Ich zog zum Überflusse auch noch die Magnetnadel zu
+Rate. In den Niederungen und Mulden zwischen einzelnen Höhen mußten
+wir uns der Schneereife bedienen. Gegen den späten Nachmittag stiegen
+uns die höheren und dunkleren Zacken der Echern aus dem Schnee
+entgegen. Als die Sonne fast nur mehr um ihre eigene Breite von dem
+Rande des Gesichtskreises entfernt war, kamen wir in der Ziegenalpe
+an. Hier hatten wir einen eigentümlichen Anblick. Es ist da eine
+Stelle, von welcher aus man nicht mehr zu dem See oder zu seiner
+Umgebung zurücksehen kann, dafür öffnet sich gegen Sonnenuntergang ein
+weiter Blick in die Lichtung des Lauterthales, besonders aber in das
+Echertal, in welchem der Mann wohnt, welcher meine und Klotildens
+Zither gemacht hatte. In diese Ferne wollte ich noch einen Blick tun,
+ehe wir in die Hütte gingen. Aber ich konnte die Täler nicht sehen.
+Die Wirkung, welche sich aus dem Aneinandergrenzen der oberen,
+wärmeren Luft und der unteren, kälteren, wie ich schon am schwarzen
+Steine bemerkt hatte, ergab, war noch stärker geworden, und ein
+einfaches, wagrechtes, weißlichgraues Nebelmeer war zu meinen Füßen
+ausgespannt. Es schien riesig groß zu sein und ich über ihm in der
+Luft zu schweben.
+
+Einzelne schwarze Knollen von Felsen ragten über dasselbe empor, dann
+dehnte es sich weithin, ein trübblauer Strich entfernter Gebirge zog
+an seinem Rande, und dann war der gesättigte, goldgelbe, ganz reine
+Himmel, an dem eine grelle, fast strahlenlose Sonne stand, zu ihrem
+Untergange bereitet. Das Bild war von unbeschreiblicher Größe. Kaspar,
+welcher neben mir stand, sagte: »Verehrter Herr, der Winter ist doch
+auch recht schön.«
+
+»Ja, Kaspar«, sagte ich, »er ist schön, er ist sehr schön.«
+
+Wir blieben stehen, bis die Sonne untergegangen war. Die Farbe des
+Himmels wurde für einen Augenblick noch höher und flammender, dann
+begann alles nach und nach zu erbleichen und schmolz zuletzt in ein
+farbloses Ganzes zusammen. Nur die gewaltigen Erhebungen, die gegen
+Süden standen und die das Eis, das wir besuchen wollten, enthielten,
+glommen noch von einem unsichern Lichte, während mancher Stern über
+ihnen erschien. Wir gingen nun in dem beinahe finster gewordenen
+und ziemlich unwegsamen Raume zur Hütte, um in derselben unsere
+Vorbereitungen zum Übernachten zu treffen. Die Hütte war, wie es im
+Winter immer ist, wo sie leer steht, nicht gesperrt. Ein Holzriegel,
+der sehr leicht zu beseitigen war, schloß die Tür. Wir traten ein,
+steckten eine Kerze in unsern Handleuchter und machten Licht. Wir
+suchten das Gemach der Sennerinnen und ließen uns dort nieder. In den
+Schlafstellen war etwas Heu, ein grober Brettertisch stand in der
+Mitte des Gemaches, eine Bank lief an der Wand hin und eine bewegliche
+stand an dem Tische. Wir hatten vor, hier erst unser eigentliches
+warmes Tagesmahl zu bereiten. Aber, worauf wir kaum gefaßt waren, es
+zeigte sich nirgends auch nicht der geringste Vorrat von Holz. Ich
+hatte für den Fall Weingeist bei mir, um einige Schnitten Braten in
+einer flachen Pfanne rösten zu können; aber wir zogen es vorzüglich
+wegen der Erwärmung des Körpers vor, ein Stück Bank zu verbrennen und
+dem Eigentümer Ersatz zu leisten. Kaspar machte sich mit der Axt an
+die Arbeit, und bald loderte ein lustiges Feuer auf dem Herde. Ein
+Abendessen wurde bereitet, wie wir es oft bei unsern Gebirgsarbeiten
+bereitet hatten, aus dem Heu der Schlafstellen, den Decken und den
+Pelzen wurden Betten zurecht gemacht, und nachdem ich noch meine
+Meßwerkzeuge, die im Freien vor der Hütte aufgehängt waren, betrachtet
+hatte, begaben wir uns zur Ruhe. Auch jetzt am späten Abende war bei
+ganz heiterem, sternenvollem Himmel eine viel mindere Kälte in dieser
+Höhe als ich vermutet hatte.
+
+
+Ehe der Tag graute, standen wir auf, machten Licht, kleideten uns
+vollständig an, richteten all unsere Dinge zurecht, bereiteten ein
+Frühmahl, verzehrten es und traten unsern Weg an. Die Echernspitze
+stand fast schwarz im Süden, wir konnten sie deutlich in die blasse
+Luft über dem Haustein, der uns noch unsere Eisfelder deckte, empor
+ragen sehen. Der Tag war wieder ganz heiter. Obgleich es noch nicht
+licht war, durften wir eine Verirrung nicht fürchten, denn wir mußten
+geraume Zeit zwischen Felsen empor gehen, die unsere Richtung von
+beiden Seiten begrenzten und uns nicht abweichen ließen. Wir legten,
+weil der Schnee in diesen Rinnen sich angehäuft hatte, unsere
+Schneereife an und gingen in der ungewissen Dämmerung vorwärts. Nach
+etwas mehr als einer Stunde Wanderung kamen wir auf die Höhe hinaus,
+wo die Gegend sich wieder öffnet und gegen Osten weite Felder
+hinziehen. Diese biegen, nachdem sie sich ziemlich hoch erhoben, gegen
+Süden um einen Fels herum und lassen dann den Eisstock erblicken, zu
+dem wir wollten. Dieser drückt mit großer Macht von Süden gegen Norden
+herab und hat zu seiner südlichen Begrenzung die Echernspitze. Auf den
+erklommenen Feldern war es schon ganz licht; allein die Berge, welche
+wir am östlichen Rande derselben unter uns und weit draußen erblicken
+sollten, waren nicht zu sehen, sondern am Rande der mit Schnee
+bedeckten Felder setzte sich eine Farbe, die nur ein klein wenig von
+der Schneefarbe verschieden war, fast ins Unermeßliche fort, die
+des Nebels. Er hatte seit gestern noch mehr überhand genommen und
+begrenzte unsere Höhe als Insel. Kaspar wollte erschrecken. Ich aber
+machte ihn aufmerksam, daß der Himmel über uns ganz heiter sei, daß
+dieser Nebel von jenem sehr verschieden sei, der bei dem Beginne des
+Regen- oder Schneewetters zuerst die Spitzen der Berge in Gestalt von
+Wolken einhüllt, sich dann immer tiefer, oft bis zur Hälfte der Berge,
+hinabzieht und den Wanderern so fürchterlich ist; unser Nebel sei kein
+Hochnebel, sondern ein Tiefnebel, der die Bergspitzen, auf denen das
+Verirren so schrecklich sei, freilasse und der beim Höhersteigen der
+Sonne verschwinden werde. Im schlimmsten Falle, wenn er auch bliebe,
+sei er nur eine wagrechte Schichte, die nicht höher stehe, als wo
+der schwarze Stein liegt. Von dort hinab aber ist uns der Weg sehr
+bekannt, wir müssen unsere eigenen Fußstapfen finden und können an
+ihnen abwärts gehen.
+
+Kaspar, welcher mit dem Gebirgsleben sehr vertraut war, sah meine
+Gründe ein und war beruhigt.
+
+Während wir standen und sprachen, fing sich an einer Stelle der Nebel
+im Osten zu lichten an, die Schneefelder verfärbten sich zu einer
+schöneren und anmutigeren Farbe, als das Bleigrau war, mit dem sie
+bisher bedeckt gewesen waren, und in der lichten Stelle des Nebels
+begann ein Punkt zu glühen, der immer größer wurde und endlich in
+der Größe eines Tellers schweben blieb, zwar trübrot, aber so innig
+glimmend wie der feurigste Rubin. Die Sonne war es, die die niederen
+Berge überwunden hatte und den Nebel durchbrannte. Immer rötlicher
+wurde der Schnee, immer deutlicher, fast grünlich seine Schatten, die
+hohen Felsen zu unserer Rechten, die im Westen standen, spürten auch
+die sich nähernde Leuchte und röteten sich. Sonst war nichts zu sehen
+als der ungeheure, dunkle, ganz heitere Himmel über uns, und in der
+einfachen großen Fläche, die die Natur hieher gelegt hatte, standen
+nur die zwei Menschen, die da winzig genug sein mußten. Der Nebel fing
+endlich an seiner äußersten Grenze zu leuchten an wie geschmolzenes
+Metall, der Himmel lichtete sich und die Sonne quoll wie blitzendes
+Erz aus ihrer Umhüllung empor. Die Lichter schossen plötzlich über den
+Schnee zu unsern Füßen und fingen sich an den Felsen. Der freudige Tag
+war da.
+
+Wir banden uns die Stricke um den Leib und ließen ein ziemlich langes
+Stück von der Leibbinde des einen zu der des andern gehen, damit, wenn
+einer, da wir jetzt über eine sehr schiefe Fläche zu gehen hatten,
+gleiten sollte, er durch den andern gehalten würde. Im Sommer war
+diese Fläche mit vielen kleinen und scharfen Steinen bedeckt, daher
+der Übergang über sie viel leichter. Im Winter kannte man den Boden
+nicht, und der Schnee konnte ins Gleiten geraten. Ohne Hilfe der
+Schneereife, die hier, weil sie unbehilflich machten, nur gefährlich
+werden konnten, gelangten wir mit angewandter Vorsicht glücklich
+hinüber, lösten die Stricke, bogen nach einer darauf erfolgten
+mehrstündigen Wanderung um die Felsen und standen an dem Gletscher und
+auf dem ewigen Schnee.
+
+Auf dem Eise, da wir nach uns sehr bekannten Richtungen auf demselben
+vorschritten, zeigte sich beinahe mit Rücksicht auf den Sommer gar
+keine Veränderung. Da auch im Sommer fast jeder Regen des Tales die
+Höhen entweder gar nicht trifft oder auf ihnen Schnee ist, so war es
+jetzt auf dem Gletscher wie im Sommer, und wir schritten auf bekannten
+Gebieten vorwärts. Wo die Eismengen geborsten und zertrümmert
+waren, hatte sie an ihren Oberflächen der Schnee bedeckt, mit den
+Seitenflächen sahen sie grünlich oder blaulich schillernd aus dem
+allgemeinen Weiß hervor, weiter aufwärts, wo die Gletscherwölbung rein
+dalag, war sie mit Schnee bedeckt. Der einzige Unterschied bestand,
+daß jetzt keine einzige breite oder lange Eisstelle bloßgelegt
+in ihrer grünlichen Farbe da stand, was doch zuweilen im Sommer
+geschieht. Wir verweilten einige Zeit auf dem Eise und nahmen auf
+demselben auch unser Mittagmahl, in Wein und Brod bestehend, ein.
+
+Unter uns hatte sich aber indessen eine Veränderung vorbereitet. Der
+Nebel war nach und nach geschwunden, ein Teil der fernen oder der
+näheren Berge war nach dem andern sichtbar geworden, verschwunden,
+wieder sichtbar geworden, und endlich stand Alles im Sonnenglanze ohne
+ein Flöckchen Nebel, der wie ausgetilgt war, in sanfter Bläue oder
+wie in goldigem Schimmer oder wie im fernen, matten Silberglanze, in
+tiefem Schweigen und unbeweglich da. Die Sonne strahlte einsam ohne
+einer geselligen Wolke an dem Himmel. Die Kälte war auch hier nicht
+groß, geringer als ich sie im Tale beobachtet hatte, und nicht viel
+größer als sie auch zu Sommerszeiten auf diesen Höhen ist.
+
+Nachdem wir uns eine geraume Weile auf dem Eise aufgehalten hatten,
+traten wir den Rückweg an. Wir gelangten leicht an den gewöhnlichen
+Ausgang des Gletschers, von wo aus man das Hinabgehen über die Berge
+einleitet. Wir fanden unsere Fußstapfen, die in der ungetrübten
+Oberfläche des Schnees, da hierauf selten auch Tiere kommen, sehr
+deutlich erkennbar waren, und gingen nach ihnen fort. Wir kamen
+glücklich über die schiefe Fläche und langten gegen Abend in der
+Ziegenalpe an. Es war hier schon zu dunkel, um noch etwas von der
+Umgebung sehen zu können. Wir hielten in der Hütte wieder unser warm
+zubereitetes Abendmahl, wärmten uns am Reste der Bank und erquickten
+uns durch Schlaf. Der nächste Morgen war abermals klar, in den Tälern
+lag wieder der Nebel. Da auch die Nacht vollkommen windstill gewesen
+war, so hatten wir uns jetzt in Hinsicht unsers Rückweges über die
+Hochebene nicht zu sorgen. Unsere Fußstapfen standen vollkommen
+unverwischt da, und ihnen konnten wir uns anvertrauen. Selbst da, wo
+wir ratend gestanden waren und etwa den Alpenstock seitwärts unseres
+Standortes in den Schnee gestoßen hatten, war die Spur noch völlig
+sichtbar. Wir kamen früher als wir gedacht hatten an dem schwarzen
+Steine an. Dort hielten wir wieder unser Mittagmahl und gingen dann
+unter dem sich immer mehr und mehr lichtenden Nebel, der uns aber hier
+kein wesentliches Hindernis mehr machte, die steile Senkung der Berge
+hinunter. Der an ihrem Fuße beobachtete Wärmemesser zeigte wirklich
+eine größere Kälte, als wir auf den Bergen gehabt hatten.
+
+Am Nachmittage waren wir wieder in dem Seewirtshause.
+
+Am andern Tage gingen wir in das Ahornhaus im Lauterthale. Alles
+umringte uns und wollte unsere Erlebnisse wissen. Sie wunderten sich,
+daß die Unternehmung so einfach gewesen sei, besonders aber, daß die
+Kälte, die schon im Sommer gegen die Wärme der Täler so abstehe, im
+Winter nicht ganz fürchterlich soll gewesen sein. Kaspar war ein
+wichtiger Mann geworden.
+
+Ich aber war von dem, was ich oben gesehen und gefunden hatte,
+vollkommen erfüllt. Die tiefe Empfindung, welche jetzt immer in meinem
+Herzen war und welche mich angetrieben hatte, im Winter die Höhen der
+Berge zu suchen, hatte mich nicht getäuscht. Ein erhabenes Gefühl war
+in meine Seele gekommen, fast so erhaben wie meine Liebe zu Natalien.
+Ja, diese Liebe wurde durch das Gefühl noch gehoben und veredelt, und
+mit Andacht gegen Gott, den Herrn, der so viel Schönes geschaffen
+und uns so glücklich gemacht hat, entschlief ich, als ich wieder zum
+ersten Male in meinem Bette in der wohnlichen Stube des Ahornhauses
+ruhte.
+
+Es hat mich nicht gereut, daß ich noch die Weihe dieser Unternehmung
+auf mich genommen hatte, ehe ich zu meinem Gastfreunde ging, um ihm
+meinen Winterbesuch zu machen.
+
+Ich hielt mich nur noch so lange in dem Lauterthale auf, um noch die
+bedeutendsten Stellen desselben im Winterschmucke zu sehen und um die
+Einleitung zu treffen, daß dem Eigentümer der Ziegenalpe die Bank, die
+wir verbrannt hatten, ersetzt würde. Dann fuhr ich in einem Schlitten
+in der Richtung nach dem Asperhofe hinaus. Kaspar hatte recht herzlich
+von mir Abschied genommen, er war mir durch diese Unternehmung noch
+mehr befreundet geworden, als er es früher gewesen war.
+
+Die größere Wärme in den oberen Teilen der Luft, welche nur ein
+Vorbote des beginnenden Südwindes gewesen war, hatte sich nun völlig
+geltend gemacht, der Südwind war in den Höhen eingetreten, obwohl es
+in der Tiefe noch kalt war, Wolken hatten die Berge umhüllt, zogen
+über die Länder hinaus und schüttelten Regen herab, der in Gestalt von
+Eiskörnern unten ankam und mir um das Haupt und die Wangen prasselte,
+als ich in dem Asperhofe eintraf.
+
+Die Pferde und der Schlitten wurden in den Meierhof gebracht, ich ging
+zu meinem Gastfreunde. Er saß in seinem Arbeitszimmer und ordnete
+Pergamentblätter, von denen er einen großen Stoß vor sich hatte. Ich
+begrüßte ihn, und er empfing mich wie immer gleich freundlich.
+
+Ich sagte ihm, daß ich seit meiner letzten Anwesenheit im Asperhofe
+fast immer gereist sei. Erst hätte ich noch das Kargrat besucht,
+weil ich dort zu ordnen gehabt hätte, dann sei ich zu meinen Eltern
+gegangen, hierauf habe ich mit meinem Vater einen Besuch in seiner
+Heimat gemacht, dann sei ich mit meiner Schwester auf eine Zeit,
+um ihr ein Vergnügen zu bereiten, in das Hochgebirge gefahren, als
+hierauf der Winter gekommen sei, habe ich die Echerngletscher besucht,
+und nun sei ich hier.
+
+»Ihr seid wie immer herzlich willkommen«, sagte er, »bleibt bei uns,
+so lange es euch gefällt, und seht unser Haus wie das eurer Eltern
+an.«
+
+»Ich danke euch, ich danke euch sehr«, erwiderte ich.
+
+Er zog an der Klingel zu seinen Füßen, und die alte Katharina kam
+herauf. Er befahl ihr, meine Zimmer zu heizen, daß ich sie sehr bald
+benutzen könne.
+
+»Es ist schon geschehen«, antwortete sie. »Als wir den jungen Herrn
+hereinfahren sahen, ließ ich durch Ludmilla gleich heizen, es brennt
+schon; aber ein wenig gelüftet muß noch werden, neue Überzüge müssen
+kommen, der Staub muß abgewischt werden, ihr müßt euch schon ein wenig
+gedulden.«
+
+»Es ist gut und recht«, sagte mein Gastfreund, »sorge nur, daß alles
+wohnlich sei.«
+
+»Es wird schon werden«, antwortete Katharina und verließ das Zimmer.
+
+»Ihr könnt, wenn ihr wollt«, sagte er dann zu mir, »indessen, bis eure
+Wohnung in Ordnung ist, mit mir zu Eustach hinüber gehen und sehen,
+was eben gearbeitet wird. Wir können hiebei auch bei Gustav anklopfen
+und ihm sagen, daß ihr gekommen seid.«
+
+
+Ich nahm den Vorschlag an. Er zog eine Art Überrock über seine
+Kleider, die beinahe wie im Sommer waren, an, und wir gingen aus dem
+Zimmer. Wir begaben uns zuerst zu Gustav, und ich begrüßte ihn. Er
+flog an mein Herz, und sein Ziehvater sagte ihm, er dürfe uns in
+das Schreinerhaus begleiten. Er nahm gar kein Überkleid, sondern
+verwechselte nur seinen Zimmerrock mit einem etwas wärmeren und war
+bereit, uns zu folgen. Wir gingen über die gemeinschaftliche Treppe
+hinab, und als wir unten angekommen waren, sah ich, daß mein
+Gastfreund auch heute an dem unfreundlichen Wintertage barhäuptig
+ging. Gustav hatte eine ganz leichte Kappe auf dem Haupte. Wir gingen
+über den Sandplatz dem Gebüsche zu. Die Eiskörner, welche eine
+bereifte, weiße und rauhe Gestalt hatten, mischten sich mit den weißen
+Haaren meines Freundes und sprangen auf seinem zwar nicht leichten,
+aber noch nicht für eine strenge Winterkälte eingerichteten Überrocke.
+Die Bäume des Gartens, die uns nahe standen, seufzten in dem Winde,
+der von den Höhen immer mehr gegen die Niederungen herab kam und
+an Heftigkeit mit jeder Stunde wuchs. So gelangten wir gegen das
+Schreinerhaus. Wie bei meiner ersten Annäherung stieg auch heute ein
+leichter Rauch aus demselben empor, aber er ging nicht wie damals in
+einer geraden luftigen Säule in die Höhe, sondern wie er die Mauern
+des Schornsteins verließ, wurde er von dem Winde genommen, in
+Flatterzeug verwandelt und nach verschiedenen Richtungen gerissen.
+Auch waren nicht die grünen Wipfel da, an denen er damals empor
+gestiegen war, sondern die nackten Äste mit den feinen Ruten der
+Zweige standen empor und neigten sich im Winde über das Haus herüber.
+Auf dem Dache desselben lag der Schnee. Von Tönen konnten wir bei
+dieser Annäherung aus dem Innern nichts hören, weil außen das Sausen
+des Windes um uns war.
+
+Da wir eingetreten waren, kam uns Eustach entgegen, und er grüßte mich
+noch freundlicher und herzlicher, als er es sonst immer getan hatte.
+Ich bemerkte, daß um zwei Arbeiter mehr als gewöhnlich in dem Hause
+beschäftigt waren. Es mußte also viele oder dringende Arbeit geben.
+Die Wärme gegen den Wind draußen empfing uns angenehm und wohnlich
+im Hause. Eustach geleitete uns durch die Werkstube in sein Gemach.
+Ich sagte ihm, daß ich gekommen sei, um auch einen kleinen Teil des
+Winters in dem Asperhofe zu bleiben, den ich in demselben nie gesehen
+und den ich nur meistens in der Stadt verlebt habe, wo seine Wesenheit
+durch die vielen Häuser und durch die vielen Anstalten gegen ihn
+gebrochen werde.
+
+»Bei uns könnt ihr ihn in seiner völligen Gestalt sehen«, sagte
+Eustach, »und er ist immer schön, selbst dann noch, wann er seine Art
+so weit verleugnet, daß er mit warmen Winden, blaugeballten Wolken und
+Regengüssen über die schneelose Gegend daher fährt. So weit vergißt er
+sich bei uns nie, daß er in ein Afterbild des Sommers, wie zuweilen in
+südlichen Ländern, verfällt und warme Sommertage und allerlei Grün zum
+Vorschein bringt. Dann wäre er freilich nicht auszuhalten.«
+
+Ich erzählte ihm von meinem Besuche auf dem Echerngletscher und sagte,
+daß ich doch auch schon manchen schönen und stürmischen Wintertag im
+Freien und ferne von der großen Stadt zugebracht habe.
+
+Hierauf zeigte er mir Zeichnungen, welche zu den früheren neu hinzu
+gekommen waren, und zeigte mir Grund- und Aufrisse und andere Pläne
+zu den Werken, an denen eben gearbeitet werde. Unter den Zeichnungen
+befanden sich schon einige, die nach Gegenständen in der Kirche von
+Klam genommen worden waren, und unter den Plänen befanden sich viele,
+die zu den Ausbesserungen gehörten, die mein Gastfreund in der Kirche
+vornehmen ließ, welche ich mit ihm besucht hatte.
+
+Nach einer Weile gingen wir auch in die Arbeitsstube und besahen die
+Dinge, die da gemacht wurden. Meistens betrafen sie Gegenstände,
+welche für die Kirche, für die eben gearbeitet wurde, gehörten. Dann
+sah ich ein Zimmerungswerk aus feinen Eichen- und Lärchenbohlen,
+welches wie der Hintergrund zu Schnitzwerken von Vertäflungen aussah,
+auch erblickte ich Simse, wie zu Vertäflungen gehörend. Von Geräten
+war ein Schrein in Arbeit, der aus den verschiedensten Hölzern, ja
+mitunter aus seltsamen, die man sonst gar nicht zu Schreinerarbeiten
+nimmt, bestehen sollte. Er schien mir sehr groß werden zu wollen; aber
+seinen Zweck und seine Gestalt konnte ich aus den Anfängen, die zu
+erblicken waren, nicht erraten. Ich fragte auch nicht darnach, und man
+berichtete mir nichts darüber.
+
+Als wir uns eine Zeit in dem Schreinerhause aufgehalten und auch über
+andere Gegenstände gesprochen hatten, als sich in demselben befanden
+oder mit demselben in Beziehung standen, entfernten wir uns wieder,
+und mein Freund und Gustav geleiteten mich in das Wohnhaus zurück und
+dort in meine Zimmer. In ihnen war es bereits warm, ein lebhaftes
+Feuer mußte den Tönen nach, die zu hören waren, in dem Ofen brennen,
+alles war gefegt und gereinigt, weiße Fenstervorhänge und weiße
+Überzüge glänzten an dem Bette und an jenen Geräten, für die sie
+gehörten, und alle meine Reisesachen, welche ich in dem Schlitten
+geführt hatte, waren bereits in meiner Wohnung vorhanden. Mein
+Gastfreund sagte, ich möge mich hier nun zurecht finden und
+einrichten, und er verließ mich dann mit Gustav.
+
+Ich packte nun die Gegenstände, welche ich in meinen Reisebehältnissen
+hatte, aus und verteilte sie so, daß die beiden Gemächer, welche mir
+zur Verfügung standen, recht winterlich behaglich, wozu die Wärme, die
+in den Zimmern herrschte, einlud, ausgestattet waren. Ich wollte es so
+tun, ich mochte mich nun lange oder kurz in diesen Räumen aufzuhalten
+haben, was von den Umständen abhing, die nicht in meiner Berechnung
+lagen. Besonders richtete ich mir meine Bücher, meine Schreibdinge
+und auch Vorbereitungen zu gelegentlichem Zeichnen so her, daß alles
+dies meinen Wünschen, so weit ich das jetzt einsah, auf das Beste
+entsprach. Nachdem ich mit allem fertig war, kleidete ich mich auch
+um, damit die Reisekleider mit bequemeren und häuslichen vertauscht
+wären.
+
+Hierauf machte ich einen Spaziergang. Ich ging in dem Garten meinen
+gewöhnlichen Weg zu dem großen Kirschbaume hinauf. Aus dem in dem
+Schnee wohl ausgetretenen Pfade sah ich, daß hier häufig gegangen
+werde und daß der Garten im Winter nicht verwaist ist, wie es bei so
+vielen Gärten geschieht und wie es aber auch bei meinen Eltern nicht
+geduldet wird, denen der Garten auch im Winter ein Freund ist. Selbst
+die Nebenpfade waren gut ausgetreten, und an manchen Stellen sah ich,
+daß man nach dauerndem Schneefalle auch die Schaufel angewendet habe.
+Die zarteren Bäumchen und Gewächse waren mit Stroh verwahrt, alles,
+was hinter Glas stehen sollte, war wohl geschlossen und durch
+Verdämmungen geschützt, und alle Beete und alle Räume, die in ihrer
+Schneehülle dalagen, waren durch die um sie geführten Wege gleichsam
+eingerahmt und geordnet. Die Zweige der Bäume waren von ihrem Reife
+befreit, der Schnee, der in kleinen Kügelchen daher jagte, konnte auf
+ihnen nicht haften, und sie standen desto dunkler und beinahe schwarz
+von dem umgebenden Schnee ab. Sie beugten sich im Winde und sausten
+dort, wo sie in mächtigen Abteilungen einem großen Baume angehörten
+und in ihrer Dichtheit gleichsam eine Menge darstellten. In den
+entlaubten Ästen konnte ich desto deutlicher und häufiger die
+Nestbehälter sehen, welche auf den Bäumen angebracht waren. Von den
+gefiederten Bewohnern des Gartens war aber nichts zu sehen und zu
+hören. Waren wenige oder keine da, konnte man sie in dem Sturme nicht
+bemerken oder haben sie sich in Schlupfwinkel, namentlich in ihre
+Häuschen, zurückgezogen? In den Zweigen des großen Kirschbaumes
+herrschte der Wind ganz besonders. Ich stellte mich unter den Baum
+neben die an seinem Stamme befindliche Bank und sah gegen Süden. Das
+dunkle Baumgitter lag unter mir, wie schwarze, regellose Gewebe auf
+den Schnee gezeichnet, weiter war das Haus mit seinem weißen Dache,
+und weiter war nichts; denn die fernere Gegend war kaum zu erblicken.
+Bleiche Stellen oder dunklere Ballen schimmerten durch, je nachdem
+das Auge sich auf Schneeflächen oder Wälder richtete, aber nichts war
+deutlich zu erkennen, und in langen Streifen, gleichsam in nebligen
+Fäden, aus denen ein Gewebe zu verfertigen ist, hing der fallende
+Schnee von dem Himmel herunter. Von dem Kirschbaume konnte ich nicht
+in das Freie hinausgehen; denn das Pförtchen war geschlossen. Ich
+wendete mich daher um und ging auf einem anderen Wege wieder in das
+Haus zurück.
+
+An demselben Tage erfuhr ich auch, daß Roland anwesend sei. Mein
+Gastfreund holte mich ab, mich zu ihm zu begleiten. Man hatte ihm in
+dem Wohnhause ein großes Zimmer zurecht gerichtet. In demselben malte
+er eben eine Landschaft in Ölfarben. Als wir eintraten, sahen wir ihn
+vor seiner Staffelei stehen, die zwar nicht mitten in dem Zimmer, doch
+weiter von dem Fenster entfernt war, als dies sonst gewöhnlich der
+Fall zu sein pflegt. Das zweite der Fenster war mit einem Vorhange
+bedeckt. Er hatte ein leinenes Überkleid an seinem Oberkörper an und
+hielt gerade das Malerbrett und den Stab in der Hand. Er legte beides
+auf den nahestehenden Tisch, da er uns kommen sah, und ging uns
+entgegen. Mein Gastfreund sagte, daß er mich zu dem Besuche bei ihm
+aufgefordert habe und daß Roland wohl nichts dagegen haben werde.
+
+»Der Besuch ist mir sehr erfreulich«, sagte er, »aber gegen mein Bild
+wird wohl viel einzuwenden sein.«
+
+»Wer weiß das?« sagte mein Gastfreund.
+
+»Ich wende viel ein«, antwortete Roland, »und Andere, die sich des
+Gegenstandes bemächtigen, werden auch wohl viel einzuwenden haben.«
+
+Wir waren während dieser Worte vor das Bild getreten.
+
+Ich hatte nie etwas Ähnliches gesehen. Nicht, daß ich gemeint
+hätte, daß das Bild so vortrefflich sei, das konnte man noch nicht
+beurteilen, da sich Vieles in den ersten Anfängen befand, auch glaubte
+ich zu bemerken, daß Manches wohl kaum würde gemeistert werden
+können. Aber in der Anlage und in dem Gedanken erschien mir das
+Bild merkwürdig. Es war sehr groß, es war größer als man gewöhnlich
+landschaftliche Gegenstände behandelt sieht, und wenn es nicht gerollt
+wird, so kann es aus dem Zimmer, in welchem es entsteht, gar nicht
+gebracht werden. Auf diesem wüsten Raume waren nicht Berge oder
+Wasserfluten oder Ebenen oder Wälder oder die glatte See mit schönen
+Schiffen dargestellt, sondern es waren starre Felsen da, die nicht als
+geordnete Gebilde empor standen, sondern, wie zufällig, als Blöcke und
+selbst hie und da schief in der Erde staken, gleichsam als Fremdlinge,
+die wie jene Normannen auf dem Boden der Insel, die ihnen nicht
+gehörte, sich seßhaft gemacht hatten. Aber der Boden war nicht wie der
+jener Insel oder vielmehr, er war so, wo er nicht von den im Altertume
+berühmten Kornfeldern bekleidet oder von den dunkeln, fruchtbringenden
+Bäumen bedeckt ist, sondern wo er zerrissen und vielgestaltig ohne
+Baum und Strauch mit den dürren Gräsern, den weiß leuchtenden Furchen,
+in denen ein aus unzähligen Steinen bestehender Quarz angehäuft ist
+und mit dem Gerölle und mit dem Trümmerwerke, das überall ausgesät
+ist, der dörrenden Sonne entgegenschaut. So war Rolands Boden, so
+bedeckte er die ungeheure Fläche, und so war er in sehr großen und
+einfachen Abteilungen gehalten, und über ihm waren Wolken, welche
+einzeln und vielzählig schimmernd und Schatten werfend in einem Himmel
+standen, welcher tief und heiß und südlich war.
+
+Wir standen eine Weile vor dem Bilde und betrachteten es. Roland
+stand hinter uns, und da ich mich einmal wendete, sah ich, daß er die
+Leinwand mit glänzenden Augen betrachtete. Wir sprachen wenig oder
+beinahe nichts.
+
+»Er hat sich die Aufgabe eines Gegenstandes gestellt, den er noch
+nicht gesehen hat«, sagte mein Gastfreund, »er hält sich ihn nur in
+seiner Einbildungskraft vor Augen. Wir werden sehen, wie weit er
+gelingt. Ich habe wohl solche Dinge oder vielmehr ihnen Ähnliches weit
+unten im Süden gesehen.«
+
+»Ich bin nicht auf irgend etwas Besonderes ausgegangen«, antwortete
+Roland, »sondern habe nur so Gestaltungen, wie sie sich in dem Gemüte
+finden, entfaltet. Ich will auch Versuche in Ölfarben machen, welche
+mich immer mehr gereizt haben als meine Wasserfarben und in denen sich
+Gewaltiges und Feuriges darstellen lassen muß.«
+
+Ich bemerkte, als ich seine Geräte näher betrachtete, daß er Pinsel
+mit ungewöhnlich langen Stielen habe, daß er also sehr aus der Ferne
+arbeiten müsse, was bei einer so großen Leinwandfläche wohl auch nicht
+anders sein kann und was ich auch aus der Behandlung ersah. Seine
+Pinsel waren ziemlich groß, und ich sah auch lange, feine Stäbe,
+an deren Spitzen Zeichnungskohlen angebunden waren, mit welchen er
+entworfen haben mußte. Die Farben waren in starken Mengen auf der
+Palette vorhanden.
+
+»Der Herr dieses Hauses ist so gütig«, sagte Roland, »und läßt mich
+hier wirtschaften, während ich verbunden wäre, Zeichnungen zu machen,
+welche wir eben brauchen, und während ich an Entwürfen arbeiten
+sollte, die zu den Dingen notwendig sind, die eben ausgeführt werden.«
+
+»Das wird sich alles finden«, antwortete mein Gastfreund, »ihr habt
+mir schon Entwürfe gemacht, die mir gefallen. Arbeitet und wählt nach
+eurem Gutdünken, euer Geist wird euch schon leiten.«
+
+Um Roland, der hier vor seinem Werke stand und dessen ganze Umgebung,
+wie sie in dem Zimmer ausgebreitet war, auf Ausführung dieses Werkes
+hinzielte, nicht länger zu stören, da die Wintertage ohnehin so kurz
+waren, entfernten wir uns.
+
+Da wir den Gang entlang gingen, sagte mein Gastfreund: »Er sollte
+reisen.«
+
+Als es dunkel geworden war, versammelten wir uns in dem Arbeitszimmer
+meines Gastfreundes bei dem wohlgeheizten Ofen. Es war Eustach,
+Roland, Gustav und ich zugegen. Es wurde von den verschiedensten
+Dingen gesprochen, am meisten aber von der Kunst und von den
+Gegenständen, welche eben in der Ausführung begriffen waren. Es mochte
+wohl Vieles vorkommen, was Gustav nicht verstand, er sprach auch sehr
+wenig mit; aber es mochte doch das Gespräch ihn mannigfaltig fördern,
+und selbst das Unverstandene mochte Ahnungen erregen, die weiter
+führen oder die aufbewahrt werden und in Zukunft geeignet sind, feste
+Gestaltungen, die sich fügen wollen, einleiten zu helfen. Ich wußte
+das sehr wohl aus meiner eigenen Jugend und selbst auch aus der
+jetzigen Zeit.
+
+Da ich in mein Schlafgemach zurückgekehrt war, fühlte ich es recht
+angenehm, daß die Scheite aus dem Buchenwalde meines Gastfreundes, der
+ein Teil des Alizwaldes war, in dem Ofen brennen. Ich beschäftigte
+mich noch eine Zeit mit Lesen und teilweise auch mit Schreiben.
+
+
+Am anderen Morgen war Regen. Er fiel in Strömen aus blaulich
+gefärbten, gleichartigen, über den Himmel dahin jagenden Wolken herab.
+Der Wind hatte zu solcher Heftigkeit zugenommen, daß er um das ganze
+Haus heulte. Da er aus Südwesten kam, schlug der Regen an meine
+Fenster und rann an dem Glase in wässerigen Flächen nieder. Aber da
+das Haus sehr gut gebaut war, so hatte Regen und Wind keine anderen
+Folgen als daß man sich recht geborgen in dem schützenden Zimmer fand.
+Auch ist es nicht zu leugnen, daß der Sturm, wenn er eine gewisse
+Größe erreicht, etwas Erhabenes hat und das Gemüt zu stärken im Stande
+ist. Ich hatte die ersten Morgenstunden bei Licht in Wärme damit
+hingebracht, dem Vater und der Mutter einen Brief zu schreiben, worin
+ich ihnen anzeigte, daß ich auf dem Echerneise gewesen sei, daß ich
+alle Vorsicht beim Hinaufsteigen und Heruntergehen angewendet habe,
+daß uns nicht der geringste Unfall zugestoßen sei und daß ich mich
+seit gestern bei meinem Freunde im Rosenhause befinde. An Klotilden
+legte ich ein besonderes Blatt bei, worin ich, auf ihre teilweise
+Kenntnis des Gebirges, die sie sich auf der mit mir gemachten Reise
+erworben hatte, bauend, eine kleine Beschreibung des winterlichen
+Hochgebirgbesuches gab. Als es dann heller geworden und die Stunde zum
+Frühmahle gekommen war, ging ich in das Speisezimmer hinunter. Ich
+erfuhr nun hier, daß es im Winter der Gebrauch sei, daß Eustach und
+Roland, deren gestrige Anwesenheit bei dem Abendessen ich für zufällig
+gehalten hatte, mit meinem Gastfreunde und Gustav an einem Tische
+speisen. Es sollte auch im Sommer so sein; allein da oft in dieser
+Jahreszeit in dem Schreinerhause lange vor Sonnenaufgang aufgestanden
+und zu einer Arbeit geschritten wird, so verändern sich die Stunden,
+an denen eine Erquickung des Körpers notwendig wird, und Eustach
+hat selber gebeten, daß ihm dann die Zeit und Art seines Essens zu
+eigener Wahl überlassen werde. Roland ist ohnehin zu jener Jahreszeit
+meistens von dem Hause abwesend. Ich war nie so spät im Winter in dem
+Rosenhause gewesen, daß ich diese Einrichtung hätte kennen lernen
+können. Mein Gastfreund, Eustach, Roland, Gustav und ich saßen also
+beim Frühmahltische. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um das
+Wetter, welches so stürmisch herein gebrochen war, und es wurde
+erläutert, wie es hatte kommen müssen, wie es sich erklären lasse, wie
+es ganz natürlich sei, wie jedes Hauswesen sich auf solche Wintertage
+in der Verfassung halten müsse und wie, wenn das der Fall sei, man
+dann derlei Ereignisse mit Geduld ertragen, ja darin eine nicht
+unangenehme Abwechslung finden könne. Nach dem Frühmahle begab sich
+jedes an seine Arbeit. Mein Gastfreund ging in sein Zimmer, um dort im
+Ordnen der Pergamente, das er angefangen hatte, fortzufahren, Eustach
+ging in die Schreinerei, Roland, für den die Zeit trotz des trüben
+Tages doch endlich auch hell genug zum Malen geworden war, begab sich
+zu seinem Bilde, Gustav setzte sein Lernen fort und ich ging wieder in
+meine Zimmer. Da ich dort eine Zeit mit Lesen und Schreiben zugebracht
+hatte und da der Sturm, statt sich zu mildern, in den Vormittagstunden
+nur noch heftiger geworden war, beschloß ich doch, wie es meine
+Gewohnheit war, auf eine Zeit in das Freie zu gehen. Ich wählte
+eine zweckmäßige Fußbekleidung, nahm meinen Wachsmantel, der eine
+Wachshaube hatte, die man über den Kopf ziehen konnte, und ging über
+die gemeinschaftliche Treppe hinab. Ich schlug den Weg durch das
+Gittertor auf den Sandplatz vor dem Hause ein. Dort konnte der
+Südwestwind recht an meine Person fallen, und er trieb mir die
+Tropfen, welche für einen Winterregen bedeutend groß waren, mit
+Prasseln auf meinen Überwurf, in das Angesicht, in die Augen und auf
+die Hände. Ich blieb auf dem Platze ein wenig stehen und betrachtete
+die Rosen, welche an der Wand des Hauses gezogen wurden. Manche
+Stämmchen waren durch Stroh geschützt, bei manchen war stellenweise
+die Erde über den Wurzeln mit einer schützenden Decke bekleidet,
+andere waren bloß fest gebunden, bei allen aber sah ich, daß man
+außerordentliche Schutzmittel nicht angewendet habe und daß alle nur
+gegen Verletzungen von äußerlicher Gewalt gesichert waren.
+
+Der Schnee konnte sie überhüllen, wie ich noch die Spuren sah, der
+Regen konnte sie begießen, wie ich heute erfuhr, aber nirgends konnte
+der Wind ein Stämmchen oder einen Zweig lostrennen und mit ihm spielen
+oder ihn zerren. Die ganze Wand des Hauses war auch im Übrigen
+unversehrt, und der Regen, der gegen dieselbe anschlug, konnte ihr
+nichts anhaben. Ich ging von dem Sandplatze über den Hügel hinunter.
+Der Schnee hatte schon die Gewalt des Regens verspürt, welcher
+ziemlich warm war. Die weiche, sanfte und flaumige Gestalt war
+verloren gegangen, etwas Glattes und Eisiges hatte sich eingestellt,
+und hie und da standen gezackte Eistrümmer gleichsam wie zerfressen
+da. Das Wasser rann in Schneefurchen, die es gewählt hatte, nieder,
+und an offenen Stellen, wo es durch die löcherichte Beschaffenheit des
+Schnees nicht verschluckt wurde, rieselte es über die Gräser hinab.
+Ich ging, ohne auf einen Weg zu achten, durch den wässerigen Schnee
+fort. In der Tiefe des Tales lenkte ich gegen Osten. Ich ging eine
+Strecke fort, ging dort über die Wiesen und ließ das Schauspiel auf
+mich wirken. Es war fast herrlich, wie der Wind, welcher den Schnee
+nicht mehr heben konnte, den Regen auf ihn nieder jagte, wie schon
+Stellen bloß lagen, wie die grauen Schleier gleichsam bänderweise
+nieder rollten und wie die trüben Wolken über dem bleichen Gefilde
+unbekümmert um Menschentun und Menschenwerke dahin zogen.
+
+Ich richtete endlich in der Tiefe der Wiesen meinen Weg nordwärts
+gegen den Meierhof hinauf. Als ich dort anbelangt war, erfuhr ich, daß
+der Herr, wie man hier meinen Gastfreund kurzweg nannte, heute auch
+schon da gewesen, aber bereits wieder fortgegangen sei. Er hatte
+Mehreres besichtigt und Mehreres angeordnet. Ich fragte, ob er heute
+auch barhäuptig gewesen sei, und es wurde bejaht. Da ich den Meierhof
+besehen hatte und in verschiedenen Räumen desselben herum gegangen
+war, sah ich erst recht, was ein wohleingerichtetes Haus sei. Der
+Regen fiel auf dasselbe nieder wie auf einen Stein, in den er nicht
+eindringen und von dem er äußerlich nur in Jahrhunderten etwas herab
+waschen könne. Keine Ritze zeigte sich für das Einlassen des Wassers
+bereit, und kein Teilchen der Bekleidung schickte sich zur Loslösung
+an. Im Innern wurden die Arbeiten getan wie an jedem Tage. Die Knechte
+reinigten Getreide mit der sogenannten Getreideputzmühle, schaufelten
+es seitwärts und maßen es in Säcke, damit es auf den Schüttboden
+gebracht werde. Der Meier war dabei beschäftigt, ordnete an und prüfte
+die Reinheit. Ein Teil der Mägde war in den Ställen beschäftigt, ein
+Teil richtete auf der Futtertenne das Futter zurecht, ein Teil spann,
+und die Frau des Meiers ordnete in der Milchkammer. Ich sprach mit
+allen, und sie zeigten Freude, daß ich sogar in dieser Jahreszeit
+einmal gekommen sei.
+
+Von dem Meierhofe ging ich über den mit Obstbäumen bepflanzten Raum
+gegen den Garten hinüber. Das Pförtchen an dieser Seite war unter Tags
+selbst im Winter nicht gesperrt. Ich ging durch dasselbe ein und begab
+mich in die Wohnung des Gärtners. Dort legte ich meinen Wachsmantel,
+durch dessen Falten das Wasser rann, ab und setzte mich auf die reine,
+weiße Bank vor dem Ofen. Der alte Mann und seine Frau empfingen mich
+recht freundlich. In ihrem ganzen Wesen war etwas sehr Aufrichtiges.
+Seit geraumer Zeit war bei diesen alten Leuten beinahe etwas
+Elternhaftes gegen mich gewesen. Die Gärtnersfrau Clara sah mich immer
+wieder gleichsam verstohlen von der Seite an. Wahrscheinlich dachte
+sie an Natalien. Der alte Simon fragte mich, ob ich denn nicht in die
+Gewächshäuser gehen und die Pflanzen auch im Winter besehen wolle.
+
+Das sei außer dem Besuche, den ich ihm und seiner Gattin machen
+wollte, meine Nebenabsicht gewesen, erwiderte ich.
+
+Er nahm einen anderen Rock um und geleitete mich in die Gewächshäuser,
+welche an seine Wohnung stießen. Ich nahm wirklich großen Anteil an
+den Pflanzen selber, da ich mich ja in früherer Zeit viel mit Pflanzen
+beschäftigt hatte, und nahm Anteil an dem Zustande derselben. Wir
+gingen in alle Räume des nicht unbeträchtlich großen Kalthauses und
+begaben uns dann in das Warmhaus. Nicht bloß, daß ich die Pflanzen
+nach meiner Absicht betrachtete, nahm ich mir auch die Zeit,
+freundlich anzuhören, was mein Begleiter über die einzelnen sagte, und
+hörte zu, wie er sich über Lieblinge ziemlich weit verbreitete. Diese
+Hingabe an seine Rede und die Teilnahme an seinen Pfleglingen, die ich
+ihm stets bewiesen hatte, mochten nebst dem Anteile, den er mir an der
+Erwerbung des Cereus peruvianus zuschrieb, Ursache sein, daß er eine
+gewisse Anhänglichkeit gegen mich hegte. Als wir an dem Ausgange der
+Gewächshäuser waren, welcher seiner Wohnung entgegengesetzt lag,
+fragte er mich, ob ich auch in das Cactushaus gehen wolle, er werde
+zu diesem Behufe, da wir einen freien Raum zu überschreiten hätten,
+meinen Wachsmantel holen. Ich sagte ihm aber, daß dies nicht nötig
+sei, da er ja auch ohne Schutz herüber gehe, daß mein Gastfreund heute
+schon barhäuptig in dem Meierhofe gewesen sei, und daß es mir nicht
+schaden werde, wenn ich auch einmal eine kurze Strecke im Regen ohne
+Kopfbedeckung gehe.
+
+»Ja der Herr, der ist Alles gewohnt«, antwortete er.
+
+»Ich bin zwar nicht Alles, aber Vieles gewohnt«, erwiderte ich, »und
+wir gehen schon so hinüber.«
+
+Er ließ sich von seinem Vorhaben endlich abbringen, und wir gingen in
+das Cactushaus. Er zeigte mir alle Gewächse dieser Art, besonders den
+Peruvianus, welcher wirklich eine prachtvolle Pflanze geworden war,
+er verbreitete sich über die Behandlung dieser Gewächse während des
+Winters, sagte, daß mancher schon im Hornung blüht, daß nicht alle
+eine gewisse Kälte vertragen, sondern in der wärmeren Abteilung des
+Hauses stehen müssen, besonders verlangen dieses viele Cereusarten,
+und er ging dann auf die Einrichtung des Hauses selbst über und hob
+es als eine Vorzüglichkeit heraus, daß der Herr für jene Stellen, an
+denen die Gläser über einander liegen, ein so treffliches Bindemittel
+gefunden habe, durch welches das Hereinziehen des Wassers an den
+übereinandergelegten Stellen des Glases unmöglich sei und das diesen
+Pflanzen so nachteilige Herabfallen von Wassertropfen vermieden werde.
+Dadurch kann es auch allein geschehen, daß an Regentagen und an Tagen,
+an welchen Schnee schmilzt, das Haus nicht mit Brettern gedeckt werden
+müsse, was finster macht und den Pflanzen schädlich ist. Ich könne
+das ja heute sehen, wie bei einem Regen so heftiger Art nicht ein
+Tröpflein herein dringen kann oder vom Winde hereingeschlagen wird.
+Bretter würden überhaupt über dieses Haus nicht gelegt. Gegen den
+Hagel sei es durch dickes Glas und den Panzer geschützt, und wenn
+kalte Nächte zu erwarten sind, werde eine Strohdecke angewendet, und
+der Schnee werde durch Besen entfernt. Mir war wirklich der Umstand
+merkwürdig und wichtig, daß hier kein Herabtropfen von dem Glasdache
+statt finde, was meinem Vater so unangenehm ist. Ich nahm mir vor,
+meinen Gastfreund um Eröffnung des Verfahrens zu ersuchen, um dasselbe
+dem Vater mitzuteilen. Als wir auf dem Rückwege durch die anderen
+Gewächshäuser gingen, sah ich, daß auch hier kein Herabtropfen
+vorhanden sei, und mein Begleiter bestätigte es.
+
+Da ich noch ein Weilchen in der Wohnung der Gärtnerleute geblieben
+war und mit der Gärtnerfrau gesprochen hatte, machte ich Anstalt zum
+Heimwege. Die Gärtnerfrau hatte meinen Wachsmantel in der Zeit, in
+der ich mit ihrem Manne in den Gewächshäusern gewesen war, an seiner
+Außenfläche von allem Wasser befreit und ihn überhaupt handlich
+und angenehm hergerichtet. Ich dankte ihr, sagte, daß er wohl bald
+wieder verknittert sein würde, empfahl mich freundlich, nahm die
+anderseitigen freundlichen Empfehlungen in Empfang und ging dann in
+meine Zimmer.
+
+Dort kleidete ich mich sorgfältig um und ging dann zu meinem
+Gastfreunde. Er war eben mit Gustav beschäftigt, der ihm Rechenschaft
+von seinen Morgenarbeiten ablegte. Ich fragte, ob es mir erlaubt wäre,
+in das Bildergemach oder in ähnliche zu gehen.
+
+»Das Lesezimmer und das Bilderzimmer so wie das mit den Kupferstichen
+sind ordnungsgemäß geheizt«, antwortete mein Gastfreund, »der
+Büchersaal, der Marmorsaal und die Marmortreppe werden leidlich warm
+sein. Verschlossen ist keiner der Räume. Bedient euch derselben, wie
+ihr es zu Hause tun würdet.«
+
+
+Ich dankte und entfernte mich. Nach meiner Kenntnis der Tageinteilung
+wußte ich, daß er seine Beschäftigung mit Gustav fortsetzte.
+
+Ich ging zuerst auf die Marmortreppe. Ich suchte sie von oben zu
+gewinnen. Als ich von dem gemeinschaftlichen Gange in den oberen Teil
+des Marmorganges eingetreten war, zog ich, wie es hier vorgeschrieben
+war, Filzschuhe, welche immer in Bereitschaft standen, an und ging die
+glatte, schöne Treppe hinunter.
+
+Als ich in die Mitte derselben gekommen war, wo sich der breite
+Absatz befindet, hielt ich an; denn das war das Ziel meiner Wanderung
+gewesen. Ich wollte die altertümliche Marmorgestalt betrachten. Selbst
+heute in dem bleiernen Lichte, das durch die Glaswölbung, welche noch
+dazu durch das auf ihr rinnende Wasser getrübt war, gleichsam träge
+nieder fiel, war die Erscheinung eine gewaltige und erhebende. Die
+hehre Jungfrau, sonst immer sanft und hoch, stand heute in den
+flüssigen Schleiern des dumpferen Lichtes zwar trüb, aber mild da, und
+der Ernst des Tages legte sich auch als Ernst auf ihre unaussprechlich
+anmutigen Glieder. Ich sah die Gestalt lange an, sie war mir, wie bei
+jedem erneuerten Anblicke, wieder neu. Wie sehr mir auch die blendend
+weiße Gestalt der Brunnennymphe im Sternenhofe nach der jüngsten
+Vergangenheit als liebes Bild in die Seele geprägt worden war, so war
+sie doch ein Bild aus unserer Zeit und war mit unseren Kräften zu
+fassen: hier stand das Altertum in seiner Größe und Herrlichkeit. Was
+ist der Mensch, und wie hoch wird er, wenn er in solcher Umgebung, und
+zwar in solcher Umgebung von größerer Fülle weilen darf!
+
+Ich ging langsam die Treppe wieder hinan und ging in den Marmorsaal.
+Seine Größe, seine Leerheit, der, wenn ein solches Wort erlaubt ist,
+dunkle Glanz, der von dem dunkeln und mit ungewissen und zweideutigen
+Lichtern wechselnden Tage auf seinen Wänden lag und wechselte, ließ
+sich nach dem Anblicke der Gestalt des Altertums tragen und ertragen.
+Ja, der Saal erschien mir in dem finstern Tage noch größer und ernster
+als sonst, und ich weilte gerne in ihm, fast so gerne wie an jenem
+Abende, an welchem ich mit meinem Gastfreunde unter dem sanften
+Blitzen eines Gewitterhimmels in ihm auf und ab gegangen war.
+
+Ich ging auch jetzt wieder in demselben hin und wider und ließ den
+Sturm draußen mit seinen trüben Lichtern, die Wände hier innen mit
+ihrem matten Glanze und die Erinnerung der eben gesehenen Gestalt in
+mir wirken.
+
+Nach einer Zeit trat ich durch die Tür, welche in das Bilderzimmer
+führt. Die Bilder hingen in dem düsteren Glanze des Tages da und
+konnten selbst dort, wo der Künstler die kraftvollsten Mittel des
+Lichtes und Schattens angewendet hatte, nicht zur vollen Wirksamkeit
+gelangen, weil das, was die Bilder erst recht malen hilft, fehlte, die
+Macht eines sonnigen und heiteren Tages. Selbst als ich zu einigen,
+die ich besonders liebte, näher getreten war, selbst als ich vor einem
+Guido, der auf der Staffelei stand, die nahe an das Fenster und in
+das beste Licht gerückt worden war, niedersaß, um ihn zu betrachten,
+konnte die Empfindung, die sonst diese Werke in mir erregten, nicht
+emporkeimen. Ich erkannte bald die Ursache, welche darin bestand, daß
+ohnehin eine viel höhere in meinem Gemüte wartete, welche durch die
+Gestalt des Altertums in mir hervorgerufen worden war. Die Gemälde
+erschienen mir beinahe klein. Ich ging in das Bücherzimmer, nahm mir
+Odysseus aus seinem Schreine, begab mich in das Lesezimmer, in welchem
+die gesellige Flamme, die Freundin des Menschen, die ihm in der
+Finsternis Licht und im Winter des Nordens Wärme gibt, hinter dem
+feinen Gitter eines Kamines freundlich loderte, und in welchem alles
+auf das Reinlichste geordnet war, setzte mich in einiger Entfernung
+von dem Fenster in einen weichen Sitz und begann unter dem Prasseln
+des Regens an den Fenstern von der ersten Zeile an zu lesen. Die
+fremden Worte, die als lebendig gesprochen einer fernen Zeit
+angehörten, die Gestalten, welche durch diese Worte in unsere Zeit mit
+all ihrer ihnen einstens angehörigen Eigentümlichkeit heraufgeführt
+wurden, schlossen sich an die Jungfrau an, welche ich auf der Treppe
+hatte stehen gesehen. Als Nausikae kam, war es mir wieder, wie es mir
+bei der ersten richtigen Betrachtung der Marmorgestalt gewesen war,
+die Gewänder des harten Stoffes löseten sich zu leichter Milde, die
+Glieder bewegten sich, das Angesicht erhielt wandelbares Leben, und
+die Gestalt trat als Nausikae zu mir. Es war auch die Erinnerung jenes
+Abends gewesen, die heute meine Hand, als ich von der Treppe in den
+Marmorsaal und in das Bilderzimmer herauf gekommen war und in diesen
+keine Befriedigung gefunden hatte, zu den Worten Homers im Odysseus
+greifen ließ. Als die Helden das Mahl in dem Saale genossen hatten,
+als der Sänger gerufen worden war, als die Worte jenes Liedes
+vernommen worden waren, dessen Ruhm damals bis zu dem Himmel reichte,
+als Odysseus das Haupt verhüllt hatte, damit man die Tränen nicht
+sähe, welche ihm aus den Augen flossen, als endlich Nausikae schlicht
+und mit tiefem Gefühle an den Säulen der Pforte des Saales stand: da
+gesellte sich auch lächelnd das schöne Bild Nataliens zu mir; sie war
+die Nausikae von jetzt, so wahr, so einfach, nicht prunkend mit ihrem
+Gefühle und es nicht verhehlend. Beide Gestalten verschmolzen in
+einander, und ich las und dachte zugleich, und bald las ich und bald
+dachte ich, und als ich endlich sehr lange bloß allein gedacht hatte,
+nahm ich das Buch, das vor mir auf dem Tische lag, wieder auf, trug es
+in das Bücherzimmer auf seinen Platz und ging durch den Marmorsaal und
+den Gang der Gastzimmer in meine Wohnung zurück.
+
+Das Werk des Vormittages war abgetan.
+
+
+Am Mittagtische fanden sich wieder dieselben Personen ein, welche
+bei dem Frühmahle versammelt gewesen waren. Nach dem Genusse eines
+einfachen, aber für Gedeihen und Gesundheit sehr wohl zubereiteten
+Mahles, wie es immer in dem Rosenhause sein mußte, nach manchem
+freundlichen und erheiternden Gespräche stand man auf, um wieder zu
+seinen Geschäften zu gehen, die jedem ernst und wichtig genug waren,
+mochten sie nun im Erwerben von Kenntnissen bestehen, wie fast
+ausschließlich bei Gustav, oder mochten sie im Vorwärtsdringen in der
+Kunst oder auf wissenschaftlichem Felde oder in einer richtigeren
+Gestaltung der eigenen Lebenslage enthalten sein.
+
+Für den heutigen Nachmittag war ein besonderes Geschäft vorbehalten
+worden, zu welchem auch Roland kommen und deshalb seine heutige
+Arbeit an seinem Bilde abbrechen mußte. Es war eine Sammlung von
+Kupferstichen eingelangt, welche zum Kaufe angeboten waren, und deren
+Besichtigung man auf den heutigen Nachmittag anberaumt hatte. Mein
+Gastfreund lud mich zu der Sache ein. Die Kupferstiche lagen in zwei
+Mappen in dem Zimmer meines Gastfreundes. Wir gingen über die Treppe,
+die für die Dienerschaft bestimmt war, in sein Zimmer empor und
+rückten den Tisch, auf welchem die Mappen lagen, näher an ein Fenster,
+damit wir die Blätter besser betrachten konnten. Die Mappen wurden
+geöffnet, und bald sah man, daß der Sammler der in denselben
+enthaltenen Stücke kein Mann gewesen sei, der von der Tiefe der Kunst,
+von ihrem Ernste und von ihrer Bedeutung für das menschliche Leben
+eine Vorstellung gehabt habe. Er war eben ein Sammler gewöhnlicher Art
+gewesen, der die Menge und die Mannigfaltigkeit der Stücke vor Augen
+gehabt hatte. Jetzt lag er im Grabe, und seine Erben mußten weder für
+die Verhältnisse der Kunst zum menschlichen Leben noch für Sammeln
+von was immer für einer Art einen Sinn gehabt haben, daher sie alle
+Hefte meinem Gastfreunde, von dem sie gehört hatten, daß er solche
+Merkwürdigkeiten suche, zum Verkaufe anboten. Neben ganz wertlosen
+Erzeugnissen des Grabstichels nach heutiger unbedeutender Weise, wie
+sie in Büchern und Bilderwerken zum Behufe des Gelderwerbes vorkommen,
+neben Steinzeichnungen mit der Feder und der Kreide befanden sich auch
+bessere Werke von jetzt und besonders einige Stücke aus älterer Zeit
+von großem Werte. Mein Gastfreund und seine zwei Gehilfen sprachen
+bei dieser Gelegenheit Manches über Kupferstiche, was mir neu war und
+woran ich die Bedeutung dieses Kunstzweiges mehr kennen lernte, als
+ich sie früher kannte. Da er die Übersetzung der Werke der großen
+Meister aller Zeiten vermitteln kann, da er ein Bild, das nur einmal
+da ist, das für viele Menschen an fernen und ihnen nie erreichbaren
+Orten sich befindet, oder das als Eigentum eines einzelnen Mannes
+nicht einmal allen denen, die denselben Ort mit ihm bewohnen,
+zugänglich ist, vervielfältiget und zur Anschauung in viele Orte
+und in ferne Zeiten bringen kann, so sollte man ihm wohl die größte
+Aufmerksamkeit schenken. Wenn er nicht einer gewissen, zu bestimmten
+Zeiten in Schwung kommenden Art huldigt, sondern strebt, die Seele des
+Meisters, wie sie sich in dem Bilde darstellt, wieder zu geben, wenn
+er nicht bloß die Stoffe, wie sie sich in dem Bilde befinden, von
+der Zartheit des menschlichen Angesichtes und der menschlichen Hände
+angefangen durch den Glanz der Seide und die Glätte des Metalles bis
+zu der Rauhigkeit der Felsen und Teppiche herab, sondern auch sogar
+die Farben, die der Maler angewendet hat, durch verschiedene, aber
+immer klare, leicht geführte und schöngeschwungene Linien, die niemals
+unbedeutend, niemals durch Absonderlichkeit auffallend sein, niemals
+einen bloßen Fleck bilden dürfen und die er zur Bemeisterung jedes
+neuen Gegenstandes neu erfinden kann, darstellt: dann kann er zwar
+nicht der Malerei in ihren Wirkungen an die Seite gesetzt werden,
+die sie auf ihre Beschauer geradehin ausübt, aber er kann ihr an
+Kunstwirkung überhaupt als ebenbürtig erkannt werden, weil er auf eine
+größere Zahl von Menschen wirkt und bei denen, welche die nachgeahmten
+Gemälde nicht sehen können, eine desto tiefere und vollere
+Kunstwirkung hervorbringt, je tiefer und edler er selber ist. Dies
+habe ich bei meinem Gastfreunde in der Zeit, als ich mit ihm in
+Verbindung war, immer mehr kennen gelernt, und dies ist mir wieder
+besonders klar geworden, als die Kupferstiche durchgesehen wurden
+und als man über ihren Wert und über Mittel, Wege und Wirkung der
+Kupferstecherkunst überhaupt sprach. Es wurde, da man die Einzelheiten
+der guten Blätter genau untersucht und ihre Vorzüge und ihre Mängel
+sorglich besprochen hatte, festgesetzt, daß man der guten Stücke
+willen die ganze Sammlung kaufen wolle, wenn ihr Preis einen gewissen
+Betrag, den man anbot und den man gerechter und billiger Weise geben
+konnte, nicht überstiege. Die schlechten Blätter wollte man dann
+vernichten, weil sie durch ihr Dasein eine gute Wirkung nicht nur
+nicht hervorbringen, sondern das Gefühl dessen, der nichts Besseres
+sieht, statt es zu heben, in eine rohere und verbildetere Richtung
+lenken, als es nähme, wenn ihm nichts als die Gegenstände der
+Natur geboten würden. Den Geist des Menschen, sagten die Männer,
+verunreinigte falsche Kunst mehr als die Unberührtheit von jeder
+Kunst. Da es dämmerte, wurden die Kupferstiche in ihre Behältnisse
+getan, der Tisch wurde wieder an seine Stelle gerückt, und wir
+trennten uns.
+
+Der Sturm hatte eher zu als ab genommen, und der Regen schlug in
+Strömen an die Fenster.
+
+Abends waren wir wieder in dem Arbeitszimmer meines Gastfreundes
+vereinigt, nur Gustav fehlte, weil er sich in seinem Zimmer noch mit
+seiner Tagesaufgabe beschäftigte. Ehe wir zu dem Abendessen gingen,
+zeichnete mein Gastfreund noch den Stand der naturwissenschaftlichen
+Geräte, welche sich auf Luftdruck, Feuchtigkeit, Wärme, Electricität
+und dergleichen bezogen, in seine Bücher, und dann ging er durch
+das ganze Haus und besah den Verhalt der Dinge in demselben, die
+geförderten Arbeiten der Hausleute, ihr jetziges Tun und den
+allfälligen Einfluß des heutigen stürmischen Wetters.
+
+Bei dem Abendessen wurde, nachdem man die Nahrungsbedürfnisse in
+kurzer Zeit gestillt und heitere Gespräche geführt hatte, noch aus
+einem Buche vorgelesen, das damal neu war. Es betraf größtenteils
+die Geschichte des Seidenbaues und der Seidenweberei, und besonders
+wurde der Abschnitt behandelt, wie dieses Gewerbe aus dem fernsten
+Morgenlande nach Syrien, nach Arabien, Egypten, Byzanz, dem
+Peloponnes, nach Sicilien, Spanien, Italien und Frankreich gekommen
+sei. Mein Gastfreund behauptete, daß in der Anfertigung von jenen
+Prachtstoffen, die aus Seide und Gold oder Silber bestanden, was die
+Feinheit und Zartheit des Gewebes, was dessen Weichheit, verbunden
+mit mildem Glanze, gegen den die heutigen Stoffe dieser Art, in ihrer
+Steifheit und in ihrem harten Schimmer stark abstehen, und was endlich
+den Schwung, die feine Zierlichkeit und die reiche Einbildungskraft
+in den Zeichnungen betrifft, die Zeit des dreizehnten und vierzehnten
+Jahrhunderts den späteren Zeiten und besonders der unsrigen weit
+vorzuziehen sei. Er habe zu spät angefangen, diesem Zweige des
+Altertumes, der beinahe ein Zweig der Kunst sei, seine Aufmerksamkeit
+zu widmen. Eine Sammlung solcher Stoffe müßte merkwürdig sein, er
+könne aber keine mehr anlegen, da sie Reisen durch ganz Europa, ja
+durch nicht unbedeutende Teile von Asien und Afrika voraussetze
+und wahrscheinlich die Kräfte eines einzelnen Mannes überschreite.
+Gesellschaften oder der Staat könnten solche Sammlungen zur
+Vergleichung, zur Belehrung, ja zur Bereicherung der Geschichte
+selber zu Stande bringen. In reichen Abteien, in den Kleiderschreinen
+alter berühmter Kirchen, in Schatzkammern und andern Behältnissen
+königlicher Burgen und größerer Schlösser dürfte sich Vieles finden,
+was dort zu entbehren wäre und in einer Sammlung Sprache und Bedeutung
+gewänne. Wie viel müßte nach den Kreuzzügen aus dem Morgenlande nach
+Europa gekommen sein, da selbst einfache Ritter mit dort gewonnener
+Beute an Gold und kostbaren Stoffen in die Heimat zurückgekehrt seien
+und sich Prunk außer bei kirchlichen Feierlichkeiten, Krönungen,
+Aufzügen, Kampfspielen auch im gewöhnlichen Verkehre mehr eingefunden
+hatte, als er früher gewesen war. Wie müßte dieser Zweig auch ein
+Licht auf die mit seinem Blühen ganz gleich laufende Zeit werfen,
+in welcher jene merkwürdigen Kirchen gebaut wurden, deren erhabene
+Überbleibsel noch heute unsere Bewunderung erregen, wie müßte er
+auch eine Beziehung eröffnen zur Verzierungskunst jener Zeit in
+Steinmetzarbeit, in Elfenbein- und Holzschnitzerei, ja zum Beginne der
+später blühenden großen Malerschulen in dem Norden und Süden Europas,
+und wie müßte er sogar auf Gedanken über Anschauungsweise der Völker,
+ihre Verbindungen und ihre Handelswege leiten. Tun das ja auch Münzen,
+tun es Siegel und andere, diesen untergeordnete Dinge. Roland sagte,
+er wolle nun solche Stoffe zu sammeln suchen.
+
+Wir gingen an jenem Abende später auseinander als gewöhnlich.
+
+Am anderen Morgen, als ich aufgestanden war und das beginnende Licht
+einen Ausblick durch die Fenster gestattete, sah ich frischen Schnee
+über alle Gefilde ausgebreitet, und in dichten Flocken, die um das
+Glas der Fenster spielten, fiel er noch immer von dem Himmel herunter.
+Der Wind hatte etwas nachgelassen, die Kälte mußte gestiegen sein.
+
+Wir machten an diesem Tage alle zusammen einen ziemlich großen
+Spaziergang. Im Garten wurde herumgegangen, ob etwas zu richten sei,
+die Gewächshäuser wurden besucht, in dem Meierhofe wurde nachgesehen
+und Abends wurde in dem Buche, welches von der Seidenweberei handelte,
+weiter gelesen. Der Schneefall hatte bis in die Dämmerung gedauert,
+dann kamen heitere Stellen an dem Himmel zum Vorscheine.
+
+Wie diese zwei Tage vergangen waren, so vergingen nun mehrere,
+und mein Gastfreund begann nicht, seine Mitteilungen, welche er
+versprochen hatte, zu machen. Wir hatten außer der Zeit, die jeder in
+seiner Wohnung bei seinen Arbeiten zubrachte, manche Gänge durch die
+Gegend gemacht, was um so angenehmer war, als nach den stürmischen
+Tagen bei meiner Ankunft sich heiteres, stilles und kaltes Wetter
+eingestellt hatte. Ich war zu mancher Zeit in der Gesellschaft meines
+Gastfreundes, ich sah ihm zu, wenn er seine Vögel vor dem Fenster
+fütterte oder wenn er für Ernährung der Hasen außerhalb der Grenze
+seines Gartens sorgte, was des tiefen Schnees willen, der gefallen
+war, doppelt notwendig wurde, wir hatten weitere Fahrten in dem
+Schlitten gemacht, um Nachbarn zu besuchen, Manches zu besprechen oder
+die freie Luft und die Bewegung zu genießen, einmal war ich mit meinem
+Gastfreunde zu einer Brücke gefahren, die er mit mehreren Männern
+beschauen sollte, weil man vorhatte, sie im Frühlinge neu zu bauen -
+man hatte meinen Gastfreund nicht verschont und ihn mit Gemeindeämtern
+betraut -, mehrere Male waren wir in verschiedenen Teilen der Wälder
+gewesen, um bei dem Fällen der Hölzer nachzusehen, welche zum Bauen
+und zur Verarbeitung in dem Schreinerhause verwendet werden sollten,
+welche Fällung in dieser Jahreszeit vor sich gehen mußte; wir waren
+auch einmal im Inghofe gewesen und hatten die dortigen Gewächshäuser
+besehen. Der Hausverwalter und der Gärtner hatten uns bereitwillig
+und freundlich herum geführt. Der Herr des Besitztums war mit seiner
+Familie in der Stadt.
+
+Eines Tages kam mein Gastfreund in meine Wohnung, was er öfter tat,
+teils um mich zu besuchen, teils um nach zu sehen, ob es mir nicht an
+etwas Notwendigem gebreche. Nachdem das Gespräch über verschiedene
+Dinge eine Weile gedauert hatte, sagte er: »Ihr werdet wohl wissen,
+daß ich der Freiherr von Risach bin.«
+
+»Lange wußte ich es nicht«, antwortete ich, »jetzt weiß ich es schon
+eine geraume Zeit.«
+
+»Habt ihr nie gefragt?«
+
+»Ich habe nach der ersten Nacht, die ich in eurem Hause zugebracht
+habe, einen Bauersmann gefragt, welcher mir die Antwort gab, ihr
+seiet der Aspermeier. An demselben Tage forschte ich auch in weiterer
+Entfernung, ohne etwas Genaues zu erfahren. Später habe ich nie mehr
+gefragt.«
+
+»Und warum habt ihr denn nie gefragt?«
+
+»Ihr habt euch mir nicht genannt; daraus schloß ich, daß ihr nicht für
+nötig hieltet, mir euren Namen zu sagen, und daraus zog ich für mich
+die Maßregel, daß ich euch nicht fragen dürfe, und wenn ich euch nicht
+fragen durfte, durfte ich es auch einen andern nicht.«
+
+»Man nennt mich hier in der ganzen Gegend den Asperherrn«, antwortete
+er, »weil es bei uns gebräuchlich ist, den Besitzer eines Gutes nach
+dem Gute, nicht nach seiner Familie zu benennen. Jener Name erbt in
+Hinsicht aller Besitzer bei dem Volke fort, dieser ändert sich bei
+einer Änderung des Besitzstandes, und da mußte das Volk stets wieder
+einen neuen Namen erlernen, wozu es viel zu beharrend ist. Einige
+Landleute nennen mich auch den Aspermeier, wie mein Vorgänger geheißen
+hat.«
+
+»Ich habe einmal zufällig euren richtigen Namen nennen gehört«, sagte
+ich.
+
+»Ihr werdet dann auch wissen, daß ich in Staatsdiensten gestanden
+bin«, erwiderte er.
+
+»Ich weiß es«, sagte ich.
+
+»Ich war für dieselben nicht geeignet«, antwortete er.
+
+»Dann sagt ihr etwas, dem alle Leute, die ich bisher über euch gehört
+habe, widersprechen. Sie loben eure Staatslaufbahn insgesammt«,
+erwiderte ich.
+
+»Sie sehen vielleicht auf einige einzelne Ergebnisse«, antwortete er,
+»aber sie wissen nicht, mit welchem Ungemache des Entstehens diese aus
+meinem Herzen gekommen sind. Sie können auch nicht wissen, wie die
+Ergebnisse geworden wären, wenn ein Anderer von gleicher Begabung,
+aber von größerer Gemütseignung für den Staatsdienst, oder wenn gar
+einer von auch noch größerer Begabung sie gefördert hätte.«
+
+»Das kann man von jedem Dinge sagen«, erwiderte ich.
+
+»Man kann es«, antwortete er, »dann soll man aber das, was nicht
+gerade mißlungen ist, auch nicht sogleich loben. Hört mich an. Der
+Staatsdienst oder der Dienst des allgemeinen Wesens überhaupt, wie er
+sich bis heute entwickelt hat, umfaßt eine große Zahl von Personen. Zu
+diesem Dienste wird auch von den Gesetzen eine gewisse Ausbildung und
+ein gewisser Stufengang in Erlangung dieser Ausbildung gefordert und
+muß gefordert werden. Je nachdem nun die Hoffnung vorhanden ist,
+daß einer nach Vollendung der geforderten Ausbildung und ihres
+Stufenganges sogleich im Staatsdienste Beschäftigung finden und daß
+er in einer entsprechenden Zeit in jene höheren Stellen empor rücken
+werde, welche einer Familie einen anständigen Unterhalt gewähren,
+widmen sich mehr oder wenigere Jünglinge der Staatslaufbahn. Aus der
+Zahl derer, welche mit gutem Erfolge den vorgeschriebenen Bildungsweg
+zurückgelegt haben, wählt der Staat seine Diener und muß sie im Ganzen
+daraus wählen. Es ist wohl kein Zweifel, daß auch außerhalb dieses
+Kreises Männer von Begabung für den Staatsdienst sind, von großer
+Begabung, ja von außerordentlicher Begabung; aber der Staat kann
+sie, jene ungewöhnlichen Fälle abgerechnet, wo ihre Begabung durch
+besondere Zufälle zur Erscheinung gelangt und mit dem Staate in
+Wechselwirkung gerät, nicht wählen, weil er sie nicht kennt und weil
+das Wählen ohne nähere Kenntnis und ohne die vorliegende Gewähr der
+erlangten vorgeschriebenen Ausbildung Gefahr drohte und Verwirrung und
+Mißleitung in die Geschäfte bringen könnte.
+
+Wie nun diejenigen, welche die Vorbereitungsjahre zurückgelegt haben,
+beschaffen sind, so muß sie der Staat nehmen. Oft sind selbst große
+Begabungen in größerer Zahl darunter, oft sind sie in geringerer,
+oft ist im Durchschnitte nur Gewöhnlichkeit vorhanden. Auf diese
+Beschaffenheit seines Personenstoffes mußte nun der Staat die
+Einrichtung seines Dienstes gründen. Der Sachstoff dieses Dienstes
+mußte eine Fassung bekommen, die es möglich macht, daß die zur
+Erreichung des Staatszweckes nötigen Geschäfte fortgehen und keinen
+Abbruch und keine wesentliche Schwächung erleiden, wenn bessere oder
+geringere einzelne Kräfte abwechselnd auf die einzelnen Stellen
+gelangen, in denen sie tätig sind. Ich könnte ein Beispiel gebrauchen
+und sagen, jene Uhr wäre die vortrefflichste, welche so gebaut
+wäre, daß sie richtig ginge, wenn auch ihre Teile verändert würden,
+schlechtere an die Stelle besserer, bessere an die Stelle schlechterer
+kämen. Aber eine solche Uhr dürfte kaum möglich sein. Der Staatsdienst
+mußte sich aber so möglich machen oder sich nach der Entwicklung,
+die er heute erlangt hat, aufgeben. Es ist nun einleuchtend, daß die
+Fassung des Dienstes eine strenge sein muß, daß es nicht erlaubt sein
+könne, daß ein Einzelner den Dienstesinhalt in einer andern Fassung
+als in der vorgeschriebenen anstrebe, ja daß sogar mit Rücksicht auf
+die Zusammenhaltung des Ganzen ein Einzelnes minder gut verrichtet
+werden muß, als man es, von seinem Standpunkte allein betrachtet, tun
+könnte. Die Eignung zum Staatsdienste von Seite des Gemütes, abgesehen
+von den andern Fähigkeiten, besteht nun auch in wesentlichen Teilen
+darin, daß man entweder das Einzelne mit Eifer zu tun im Stande ist,
+ohne dessen Zusammenhang mit dem großen Ganzen zu kennen, oder daß man
+Scharfsinn genug hat, den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen
+zum Wohle und Zwecke des Allgemeinen einzusehen und daß man dann
+dieses Einzelne mit Lust und Begeisterung vollführt. Das letztere
+tut der eigentliche Staatsmann, das erste der sogenannte gute
+Staatsdiener. Ich war keins von beiden. Ich hatte von Kindheit an,
+freilich ohne es damals oder in den Jugendjahren zu wissen, zwei
+Eigenschaften, die dem Gesagten geradezu entgegen standen. Ich war
+erstens gerne der Herr meiner Handlungen. Ich entwarf gerne das Bild
+dessen, was ich tun sollte, selbst und vollführte es auch gerne mit
+meiner alleinigen Kraft. Daraus folgte, daß ich schon als Kind, wie
+meine Mutter erzählte, eine Speise, ein Spielzeug und dergleichen
+lieber nahm als mir geben ließ, daß ich gegen Hilfe widerspenstig
+war, daß man mich als Knaben und Jüngling ungehorsam und eigensinnig
+nannte, und daß man in meinen Männerjahren mir Starrsinn vorwarf. Das
+hinderte aber nicht, daß ich dort, wo mir ein Fremdes durch Gründe und
+hohe Triebfedern unterstützt gegeben wurde, dasselbe als mein Eigenes
+aufnahm und mit der tiefsten Begeisterung durchführte. Das habe ich
+einmal in meinem Leben gegen meine stärkste Neigung, die ich hatte,
+getan, um der Ehre und der Pflicht zu genügen. Ich werde es euch
+später erzählen. Daraus folgt, daß ich eigensinnig in der Bedeutung
+des Wortes, wie man es gewöhnlich nimmt, nicht gewesen bin und es auch
+im Alter, in dem man überhaupt immer milder wird, gewiß nicht bin.
+Eine zweite Eigenschaft von mir war, daß ich sehr gerne die Erfolge
+meiner Handlungen abgesondert von jedem Fremdartigen vor mir haben
+wollte, um klar den Zusammenhang des Gewollten und Gewirkten
+überschauen und mein Tun für die Zukunft regeln zu können. Eine
+Handlung, die nur gesetzt wird, um einer Vorschrift zu genügen oder
+eine Fassung zu vollenden, konnte mir Pein erregen. Daraus folgte, daß
+ich Taten, deren letzter Zweck ferne lag oder mir nicht deutlich war,
+nur lässig zu vollführen geneigt war, während ich Handlungen, wenn ihr
+Ziel auch sehr schwer und nur durch viele Mittelglieder zu erreichen
+war, mit Eifer und Lust zu Ende führte, sobald ich mir nur den
+Hauptzweck und die Mittelzwecke deutlich machen und mir aneignen
+konnte. Im ersten Falle vermochte ich es mir nur durch die
+Vorstellung, daß der Zweck wenn auch dunkel, doch ein hoher sei,
+abzuringen, daß ich mit aller Kraft an das Werk ging, wobei ich aber
+immer zum Eilen geneigt war, weshalb man mich auch ungeduldig schalt:
+im zweiten Falle gingen die Kräfte von selber an das Werk, und es
+wurde mit der größten Ausdauer und mit Verwendung aller gegebenen Zeit
+zu Stande gebracht, weshalb man mich auch wieder hartnäckig nannte.
+Ihr werdet in diesem Hause Dinge gesehen haben, aus denen euch klar
+geworden ist, daß ich Zwecke auch mit großer Geduld verfolgen kann.
+Sonderbar ist es überhaupt und dürfte von größerer Bedeutung sein, als
+man ahnt, daß mit dem zunehmenden Alter die Weitaussichtigkeit der
+Pläne wächst, man denkt an Dinge, die unabsehliche Strecken jenseits
+alles Lebenszieles liegen, was man in der Jugend nicht tut, und das
+Alter setzt mehr Bäume und baut mehr Häuser als die Jugend. Ihr seht,
+daß mir zwei Hauptdinge zum Staatsdiener fehlen, das Geschick zum
+Gehorchen, was eine Grundbedingung jeder Gliederung von Personen und
+Sachen ist, und das Geschick zu einer tätigen Einreihung in ein Ganzes
+und kräftiger Arbeit für Zwecke, die außer dem Gesichtskreise liegen,
+was nicht minder eine Grundbedingung für jede Gliederung ist. Ich
+wollte immer am Grundsätzlichen ändern und die Pfeiler verbessern,
+statt in einem Gegebenen nach Kräften vorzugehen, ich wollte die
+Zwecke allein entwerfen und wollte jede Sache so tun, wie sie für sich
+am besten ist, ohne auf das Ganze zu sehen und ohne zu beachten, ob
+nicht durch mein Vorgehen anderswo eine Lücke gerissen werde, die mehr
+schadet als mein Erfolg nützt. Ich wurde, da ich noch kaum mehr als
+ein Knabe war, in meine Laufbahn geführt, ohne daß ich sie und mich
+kannte, und ich ging in derselben fort, so weit ich konnte, weil ich
+einmal in ihr war und mich schämte, meine Pflicht nicht zu tun. Wenn
+einiges Gute durch mich zu Stande kam, so rührt es daher, daß ich
+einerseits in Betrachtung meines Amtes und seiner Gebote meinen
+Kräften eine mögliche Tätigkeit abrang und daß andererseits die
+Zeitereignisse solche Aufgaben herbei führten, bei denen ich die Pläne
+des Handelns entwerfen und selber durchführen konnte. Wie tief aber
+mein Wesen litt, wenn ich in Arten des Handelns, die seiner Natur
+entgegengesetzt sind, begriffen war, das kann ich euch jetzt kaum
+ausdrücken, noch wäre ich damals im Stande gewesen, es auszudrücken.
+Mir fiel in jener Zeit immer und unabweislich die Vergleichung ein,
+wenn etwas, das Flossen hat, fliegen, und etwas, das Flügel hat,
+schwimmen muß. Ich legte deshalb in einem gewissen Lebensalter meine
+Ämter nieder. Wenn ihr fragt, ob es denn notwendig sei, daß sich in
+der Gliederung des Staatsdienstes eine so große Anzahl von Personen
+befinde, und ob man nicht einen Teil der allgemeinen Geschäfte, wie
+sie jetzt sind, zu besonderen Geschäften machen und sie besonderen
+Körperschaften oder Personen, die sie hauptsächlich angehen,
+überlassen könnte, wodurch eine größere Übersicht in den Staatsdienst
+käme und wodurch es möglich würde, daß sich hervorragende Begabungen
+mehr im Entwerfen und Vollführen von Plänen zu allgemeinem Besten
+geltend machen könnten: so antworte ich: diese Frage ist allerdings
+eine wichtige und ihre richtige Beantwortung von der größten
+Bedeutung; aber eben die richtige Beantwortung in allen ihren
+Einzelnheiten dürfte eine der schwersten Aufgaben sein, und ich
+getraue mir nicht, von mir zu behaupten, daß ich diese richtige
+Beantwortung zu geben im Stande wäre. Auch liegt dieser Gegenstand
+unserem heutigen Gespräche zu ferne, und wir können ein anderes Mal
+von ihm reden, so weit wir im Urteile über ihn zu kommen vermögen.
+Das ist gewiß: wenn auch im gegenwärtigen Staatsdienste Veränderungen
+notwendig sein sollten, und wenn die Veränderungen in dem früher
+angeführten Sinne vor sich gehen werden, so hat der gegenwärtige
+Zustand doch in den allgemeinen Umwandlungen, denen der Staat so wie
+jedes menschliche Ding und die Erde selbst unterworfen ist, sein
+Recht, er ist ein Glied der Kette und wird seinem Nachfolger so
+weichen, wie er selber aus seinem Vorläufer hervor gegangen ist. Wir
+haben schon vielmal über Lebensberuf gesprochen, und daß es so schwer
+ist, seine Kräfte zu einer Zeit zu kennen, in welcher man ihnen ihre
+Richtung vorzeichnen, das heißt, einen Lebensweg wählen muß. Wir
+hatten bei unsern Gesprächen hauptsächlich die Kunst im Auge, aber
+auch von jeder andern Lebensbeschäftigung gilt dasselbe. Selten sind
+die Kräfte so groß, daß sie sich der Betrachtung aufdrängen und
+die Angehörigen eines jungen Menschen zur Ergreifung des rechten
+Gegenstandes für ihn führen, oder daß sie selber mit großer Gewalt
+ihren Gegenstand ergreifen. Ich hatte außer den Eigenschaften meines
+Geistes, die ich euch eben darlegte, noch eine besondere, deren
+Wesenheit ich erst sehr spät erkannte. Von Kindheit an hatte ich einen
+Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind.
+Bloße Beziehungen und Verhältnisse sowie die Abziehung von Begriffen
+hatten für mich wenig Wert, ich konnte sie in die Versammlung der
+Wesen meines Hauptes nicht einreihen. Da ich noch klein war, legte ich
+allerlei Dinge aneinander und gab dem so Entstandenen den Namen einer
+Ortschaft, den ich etwa zufällig öfter gehört hatte, oder ich bog eine
+Gerte, einen Blumenstengel und dergleichen zu einer Gestalt und gab
+ihr einen Namen, oder ich machte aus einem Fleckchen Tuch den Vetter,
+die Muhme; ja sogar jenen abgezogenen Begriffen und Verhältnissen,
+von denen ich sprach, gab ich Gestalten und konnte sie mir merken.
+So erinnere ich mich noch jetzt, daß ich als Kind öfter das Wort
+Kriegswerbung hörte. Wir bekamen damals einen neuen Ahorntisch, dessen
+Plattenteile durch dunkelfarbige Holzkeile an einander gehalten
+wurden. Der Querschnitt dieser Keile kam als eine dunkle Gestalt an
+der Dicke der Platte quer über die Fuge zum Vorscheine, und diese
+Gestalt hieß ich die Kriegswerbung. Diese sinnliche Regung, die wohl
+alle Kinder haben, wurde bei mir, da ich heran wuchs, immer deutlicher
+und stärker. Ich hatte Freude an allem, was als Wahrnehmbares
+hervorgebracht wurde, an dem Keimen des ersten Gräsleins, an dem
+Knospen der Gesträuche, an dem Blühen der Gewächse, an dem ersten
+Reife, der ersten Schneeflocke, an dem Sausen des Windes, dem Rauschen
+des Regens, ja an dem Blitze und Donner, obwohl ich beide fürchtete.
+Ich ging zusehen, wenn die Zimmerleute Holz aushauten, wenn eine
+Hütte gezimmert, ein Brett angenagelt wurde. Ja, die Worte, die einen
+Gegenstand sinnlich vorstellbar bezeichneten, waren mir weit lieber
+als die, welche ihn nur allgemein angaben. So zum Beispiele traf
+es mich viel mächtiger, wenn jemand sagte: der Graf reitet auf dem
+Schecken, als: er reitet auf einem Pferde. Ich zeichnete mit einem
+Rotstifte Hirsche, Reiter, Hunde, Blumen, mit Vorliebe aber Städte,
+von denen ich ganz wunderbare Gestalten zusammensetzte. Ich machte aus
+feuchtem Lehm Palläste, aus Holzrinde Altäre und Kirchen. Ich nenne
+diesen Trieb Schaffungslust. Er ist bei vielen Menschen mehr oder
+minder vorhanden. Eine noch größere Zahl aber hat die Bewahrungslust,
+von der der Geiz eine häßliche Abart ist. Selbst in späteren Jahren
+trat diese Lust nicht zurück. Da ich einmal an unserem schönen Strome
+zu wohnen kam und im ersten Winter zum ersten Male das Treibeis sah,
+konnte ich mich nicht satt sehen an dem Entstehen desselben und
+an dem gegenseitigen Anstoßen und Abreiben der mehr oder minder
+runden Kuchen. Selbst in den nächstfolgenden Wintern stand ich oft
+stundenlange an dem Ufer und sah den Eisbildungen zu, besonders der
+Entstehung des Standeises. Das, was Vielen so unangenehm ist, das
+Verlassen einer Wohnung und das Beziehen einer andern, machte mir
+Lust. Mich freute das Einpacken, das Auspacken und die Instandsetzung
+der neuen Räume. In den Jünglingsjahren trat eine weitere Seite dieses
+Triebes hervor. Ich liebte nicht bloß Gestalten, sondern ich liebte
+schöne Gestalten. Dies war wohl auch schon in dem Kindertriebe
+vorhanden. Rote Farben, sternartige oder vielverschlungene Dinge
+sprachen mich mehr an als andere. Es kam aber diese Eigenschaft damals
+weniger zum Bewußtsein. Als Jüngling begehrte ich die Gestalten wie
+sie als Körper aus der Bildhauerei und Baukunst hervor gehen, als
+Flächen, Linien und Farben aus der Malerei, als Folge der Gefühle in
+der Musik, der menschlich sittlichen und der irdisch merkwürdigen
+Zustände in der Dichtkunst. Ich gab mich diesen Gestalten mit
+Wärme hin und verlangte Gebilde, die ihnen ähnlich sind im Leben.
+Felsen, Berge, Wolken, Bäume, die ihnen glichen, liebte ich, die
+entgegengesetzten verachtete ich. Menschen, menschliche Handlungen und
+Verhältnisse, die ihnen entsprachen, zogen mich an, die andern stießen
+mich ab. Es war, ich erkannte es spät, im Grunde die Wesenheit eines
+Künstlers, die sich in mir offenbarte und ihre Erfüllung heischte. Ob
+ich ein guter oder ein mittelmäßiger Künstler geworden wäre, weiß ich
+nicht. Ein großer aber wahrscheinlich nicht, weil dann nach allem
+Vermuten doch die Begabung durchgebrochen wäre und ihren Gegenstand
+ergriffen hätte. Vielleicht irre ich mich auch darin, und es war mehr
+bloß die Anlage des Kunstverständnisses, was sich offenbarte, als die
+der Kunstgestaltung. Wie das aber auch ist: in jedem Falle waren die
+Kräfte, die sich in mir regten, dem Wirken eines Staatsdieners eher
+hinderlich als förderlich. Sie verlangten Gestalten und bewegten
+sich um Gestalten. So wie aber der Staat selber die Ordnung der
+gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ist, also nicht eine
+Gestalt, sondern eine Fassung: so beziehen sich die Ergebnisse der
+Arbeiten der Staatsmänner meist auf Beziehungen und Verhältnisse der
+Staatsglieder oder der Staaten, sie liefern daher Fassungen, nicht
+Gestalten. So wie ich in der Kindheit oft den abgezogenen Begriffen
+eine Gestalt leihen mußte, um sie halten zu können, so habe ich oft in
+gereiften Jahren im Staatsdienste, wenn es sich um Staatsbeziehungen,
+um Forderungen anderer Staaten an uns oder unseres Staates an andere
+handelte, mir die Staaten als einen Körper und eine Gestalt gedacht
+und ihre Beziehungen dann an ihre Gestalten angeknüpft. Auch habe ich
+nie vermocht, die bloßen eigenen Beziehungen oder den Nutzen unseres
+Staates allein als das höchste Gesetz und die Richtschnur meiner
+Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an
+sich sind, war bei mir so groß, daß ich bei Verwicklungen, streitigen
+Ansprüchen und bei der Notwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht
+auf unsern Nutzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur für sich
+forderten und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder
+werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten,
+ohne welchem sie nicht sein können, was sie sind. Diese meine
+Eigenschaft hat mir manchen Kummer bereitet, sie hat mir hohen Tadel
+zugezogen; aber sie hat mir auch Achtung und Anerkennung eingebracht.
+Wenn meine Meinung angenommen und ins Werk gesetzt worden war, so
+hatte die neue Ordnung der Dinge, weil sie auf das Wesentliche ihrer
+Natur gegründet war, Bestand, sie brachte in so ferne, weil wir
+vor erneuerten Unordnungen, also vor wiederholter Kraftanstrengung
+geschützt waren, unserem Staate einen größeren Nutzen, als wenn
+wir früher den einseitigen angestrebt hätten, und ich erhielt
+Ehrenzeichen, Lob und Beförderung. Wenn ich in jenen Tagen der
+schweren Arbeit eine Ruhezeit hatte und auf einer kleinen Reise die
+erhabene Gestalt eines Berges sah oder eine Hügelreihe sich türmender
+Wolken oder die blauen Augen eines freundlichen Landmädchens oder den
+schlanken Körper eines Jünglings auf einem schönen Pferde - oder wenn
+ich auch nur in meinem Zimmer vor meinen Gemälden stand, deren ich
+damals schon manche sammelte, oder vor einer kleinen Bildsäule, so
+verbreitete sich eine Ruhe und ein Wohlbehagen über mein Inneres,
+als wäre es in seine Ordnung gerückt worden. Wenn ein künstlerisches
+Gestaltungsvermögen in mir war, so war es das eines Baumeisters oder
+eines Bildhauers oder auch noch das eines Malers, gewiß aber nicht das
+eines Dichters oder gar eines Tonsetzers. Die ersteren Gegenstände
+zogen mich immer mehr an, die letzteren standen mir ferner. Wenn es
+aber mehr eine Kunstliebe war, was sich in mir äußerte, nicht eine
+Schöpfungskraft, so war es immerhin auch ein Vermögen der Gestalten,
+aber nur eines, die Gestalten aufzunehmen. Wenn diese Art von
+Eigentümlichkeit den Besitzer zunächst beglückt, wie ja jede Kraft,
+selbst die Schaffungskraft, zuerst ihres Besitzers willen da ist,
+so bezieht sie sich doch auch auf andere Menschen, wie in zweiter
+Hinsicht jede Kraft, selbst die eigenste eines Menschen, nicht in ihm
+verschlossen bleiben kann, sondern auf andere übergeht. Es ist eine
+sehr falsche Behauptung, die man aber oft hört, daß jedes große
+Kunstwerk auf seine Zeit eine große Wirkung hervorbringen müsse, daß
+ferner das Werk, welches eine große Wirkung hervor bringt, auch ein
+großes Kunstwerk sei, und daß dort, wo bei einem Werke die Wirkung
+ausbleibt, von einer Kunst nicht geredet werden kann. Wenn irgend ein
+Teil der Menschheit, ein Volk, rein und gesund am Leibe und an der
+Seele ist, wenn seine Kräfte gleichmäßig entwickelt, nicht aber nach
+einer Seite unverhältnismäßig angespannt und tätig sind, so nimmt
+dieses Volk ein reines und wahres Kunstwerk treu und warm in sein
+Herz auf, wozu es keiner Gelehrsamkeit, sondern nur seiner schlichten
+Kräfte bedarf, die das Werk als ein ihnen Gleichartiges aufnehmen und
+hegen. Wenn aber die Begabungen eines Volkes, und seien sie noch so
+hoch, nach einer Richtung hin in weiten Räumen voraus eilen, wenn sie
+gar auf bloße Sinneslust oder auf Laster gerichtet sind, so müssen
+die Werke, welche eine große Wirkung hervor bringen sollen, auf jene
+Richtung, in der die Kräfte vorzugsweise tätig sind, hinzielen, oder
+sie müssen Sinneslust und Laster darstellen. Reine Werke sind einem
+solchen Volke ein Fremdes, es wendet sich von ihnen. Daher rührt
+die Erscheinung, daß edle Werke der Kunst ein Zeitalter rühren und
+begeistern können, und daß dann ein Volk kömmt, dem sie nicht mehr
+sprechen. Sie verhüllen ihr Haupt und harren bis andere Geschlechter
+an ihnen vorüber wandeln, die wieder reines Sinnes sind und zu ihnen
+empor blicken. Diesen lächeln sie und von diesen werden sie wieder wie
+herübergerettete Heiligtümer in Tempel gebracht. In entarteten Völkern
+blüht zuweilen, aber sehr selten, ein reines Werk wie ein vereinsamter
+Strahl hervor, es wird nicht beachtet und wird später von einem
+Menschenforscher entdeckt, wie jener Gerechte in Sodoma. Damit aber
+der Dienst der Kunst leichter werde, sind in jedem Zeitalter solche,
+denen ein tieferer Sinn für Kunstwerke gegeben ward, sie sehen mit
+klarerem Auge in ihre Teile, nehmen sie mit Wärme und Freude in
+ihr Herz und übergeben sie so ihren Mitmenschen. Wenn man die
+Erschaffenden Götter nennt, so sind jene die Priester dieser Götter.
+Sie verzögern den Schritt des Unheiles, wenn der Kunstdienst zu
+verfallen beginnt, und sie tragen, wenn es nach der Finsternis wieder
+hell werden soll, die Leuchte voran. Wenn ich nun ein solcher war,
+wenn ich bestimmt war, durch Anschauung hoher Gestalten der Kunst
+und der Schöpfung, die mir ja immer mit freundlichen Augen zugewinkt
+haben, Freude in mein Herz zu sammeln, und Freude, Erkenntnis und
+Verehrung der Gestalten auf meine Mitmenschen zu übertragen, so war
+mir meine Staatslaufbahn in diesem Berufe wieder sehr hinderlich, und
+dürftige Spätblüten können den Sommer, dessen kräftige Lüfte und warme
+Sonne unbenutzt vorüber gingen, nicht ersetzen. Es ist traurig, daß
+man sich nicht so leicht den Weg, der der vorzüglichste in jedem Leben
+sein soll, wählen kann. Ich wiederhole, was wir oft gesagt haben und
+womit euer ehrwürdiger Vater auch übereinstimmt, daß der Mensch seinen
+Lebensweg seiner selbst willen zur vollständigen Erfüllung seiner
+Kräfte wählen soll. Dadurch dient er auch dem Ganzen am Besten, wie
+er nur immer dienen kann. Es wäre die schwerste Sünde, seinen Weg nur
+ausschließlich dazu zu wählen, wie man sich so oft ausdrückt, der
+Menschheit nützlich zu werden. Man gäbe sich selber auf und müßte in
+den meisten Fällen im eigentlichen Sinne sein Pfund vergraben. Aber
+was ist es mit der Wahl? Unsere gesellschaftlichen Verhältnisse sind
+so geworden, daß zur Befriedigung unserer stofflichen Bedürfnise ein
+sehr großer Aufwand gehört. Daher werden junge Leute, ehe sie sich
+selber bewußt werden, in Laufbahnen gebracht, die ihnen den Erwerb
+dessen, was sie zur Befriedigung der angeführten Bedürfnisse brauchen,
+sichern. Von einem Berufe ist da nicht die Rede. Das ist schlimm,
+sehr schlimm, und die Menschheit wird dadurch immer mehr eine Herde.
+Wo noch eine Wahl möglich ist, weil man nicht nach sogenanntem
+Broderwerbe auszugehen braucht, dort sollte man sich seiner Kräfte
+sehr klar bewußt werden, ehe man ihnen den Wirkungskreis zuteilt. Aber
+muß man nicht in der Jugend wählen, weil es sonst zu spät ist? Und
+kann man sich in der Jugend immer seiner Kraft bewußt werden? Es ist
+schwierig, und mögen, die beteiligt sind, darüber wachen, daß weniger
+leichtsinnig verfahren werde. Lasset uns über diesen Gegenstand
+abbrechen. Ich wollte euch das, was ich gesagt habe, sagen, ehe ich
+euch erzähle, wie ich mit den Angehörigen eurer künftigen Braut
+zusammenhänge. Ich sagte es euch, damit ihr ungefähr den Stand
+beurteilen könnt, auf dem ich nun stehe. Wir wollen zur Fortsetzung
+eine andere Zeit bestimmen.«
+
+Nach diesen Worten ging das Gespräch auf andere Gegenstände über, wir
+machten dann auch einen Spaziergang, dem sich auch Gustav zugesellte.
+
+
+
+Der Rückblick
+
+Ohne daß ich eine nähere oder entferntere Aufforderung oder Bitte
+gemacht hätte, fuhr mein Gastfreund nach Verlauf eines Tages in seinen
+Mitteilungen fort. Er hatte gefragt, ob er eine Zeit in meinem Zimmer
+zubringen dürfe, und ich hatte es begreiflicher Weise bejaht. Wir
+saßen an einem angenehmen und stillen Feuer, das von sehr großen und
+dichten Buchenklötzen unterhalten wurde, er lehnte sich in seinem
+Polsterstuhle zurück und sagte: »Ich möchte, wenn es euch genehm ist,
+heute meine Mitteilungen an euch vollenden. Ich habe Sorge getragen,
+daß wir nicht gestört werden, ihr dürft nur sagen, ob ihr mich hören
+wollt.«
+
+»Ihr wißt, daß es mir nicht nur angenehm, sondern auch meine Pflicht
+ist«, antwortete ich.
+
+»Zuerst muß ich von mir erzählen«, begann er, »es dürfte so notwendig
+sein. Ich bin im Dorfe Dallkreuz in dem sogenannten Hinterwalde
+geboren worden. Ihr wißt, daß der Name Hinterwald nicht mehr so viel
+zu bedeuten hat, als er sagt. Einmal war er wie über die ganze Gegend,
+welche von unserem Strome als ein Gebilde von Hügeln nordwärts geht,
+auch über die Gründe von Dallkreuz verbreitet. Dallkreuz war damals
+nicht, und sein Entstehen mochte mit dem Aufschlagen von einigen
+Holzarbeiterhütten begonnen haben. Jetzt sind Felder, Wiesen und
+Weiden über das ganze Hügelland gebreitet, und einige Reste der alten
+Waldungen schauen ernst auf diese Gründe herab. Das Haus meines Vaters
+stand außerhalb des Ortes in der Nähe einiger anderer, war aber doch
+frei genug, um auf Wiesen, Felder, Gärten und im Süden auf ein sehr
+schönes blaues Waldband zu sehen. Als ich ein Knabe von zehn Jahren
+war, kannte ich alle Bäume und Gesträuche der Gegend und konnte
+sie nennen, ich kannte die vorzüglichsten Pflanzen und Gesteine,
+ich kannte alle Wege, wußte, wohin sie führten und war in allen
+benachbarten Orten schon gewesen, die sie berühren. Ich kannte
+alle Hunde von Dallkreuz, wußte, welche Farben sie hatten, wie sie
+hießen und wem sie gehörten. Ich liebte die Wiesen, die Felder, die
+Gesträuche, unser Haus außerordentlich, und unsere Kirchenglocken
+däuchten mir das Lieblichste und Anmutigste, was es nur auf Erden
+geben kann. Meine Eltern lebten in Frieden und Eintracht, ich hatte
+noch eine Schwester, welche meine Knabenfahrten mit mir machen
+mußte. Zu unserem Hause, das nur ein Erdgeschoß hatte, welches aber
+schneeweiß war und weithin in dem Grün leuchtete, gehörten Wiesen,
+Felder und Wäldchen. Der Vater ließ aber das durch Knechte verwalten,
+er selber trieb einen Handel mit Flachs und Linnen, der ihn auf
+vielfache Reisen führte. Ich wurde, da ich noch ein Kind war, zu dem
+Erben dieser Dinge bestimmt, sollte aber vorher auf einer Lehranstalt
+die notwendige Ausbildung bekommen. Der Vater hatte, als dessen
+Eltern, die ich nur wenig gekannt hatte, gestorben waren, keine
+Verwandten mehr. Meine Mutter, die der Vater von ferne her geholt
+hatte, hatte noch einen Bruder, der aber mit ihr, weil sie als von
+einem wohlhabenden Hause stammend eine Verbindung unter ihrem Stande,
+wie er sich ausdrückte, geschlossen hatte, zerfallen war und durch
+nichts versöhnt werden konnte. Wir wußten nichts von ihm, man vermied
+es, seiner Erwähnung zu tun, und oft in einem ganzen Jahre wurde sein
+Name nicht genannt. Die Zustände meines Vaters aber blühten empor,
+und er war fast der Angesehenste in der Gegend. In dem Jahre, nach
+dessen Ende ich in die Lehranstalt abgehen sollte, trafen mehrere
+Unglücksfälle ein. Hagelschaden verwüstete die Felder, ein Teil des
+Gebäudes brannte ab, und als das alles wieder hergestellt und in
+das Geleise gebracht worden war, starb der Vater eines plötzlichen,
+unvorhergesehenen Todes. Ein lässiger Vormund, hinterlistige
+Handelsfreunde, welche zweifelhafte Forderungen stellten, und ein
+unglücklicher Prozeß, der daraus entsprang, brachten für die Mutter
+eine Lage herbei, in welcher sie mit Sorgen für unsere Zukunft zu
+kämpfen hatte. Sie war, da man endlich alles zur Ruhe gebracht hatte,
+auf das Notdürftigste beschränkt. Ich mußte im Herbste das geliebte
+Haus, das geliebte Tal und die geliebten Angehörigen verlassen. Mit
+ärmlicher Ausstattung ging ich an der Hand eines größeren Schülers zu
+Fuß den ziemlich weiten Weg in die Lehranstalt. Dort gehörte ich zu
+den Dürftigsten. Aber die Mutter sandte das, was sie senden konnte,
+so genau und zu rechter Zeit, daß ich nie viel, aber doch das zum
+Bestehen Nötige hatte. Es war an der Anstalt Sitte, daß die Knaben
+in den höheren Abteilungen denen in den niedreren außerordentlichen
+Unterricht erteilten und dafür ein Entgelt bekamen. Da ich einer der
+besten Schüler war, so wurden mir in meinem vierten Lehrjahre schon
+einige Knaben zum Unterrichten zugeteilt, und ich konnte der Mutter
+die Auslagen für mich erleichtern. Nach zwei Jahren erwarb ich mir
+bereits so viel, daß ich meinen ganzen Unterhalt selbst bestreiten
+konnte. Jede Jahresferien brachte ich bei der Mutter und Schwester in
+dem weißen Hause zu. Von dem Antreten des Hauses als Erbschaft war
+nun keine Rede mehr. Ich dachte, ich werde mir durch meine Kenntnisse
+eine Stellung verschaffen und das Haus und den Grundbesitz einmal als
+Notpfennig der Schwester überlassen. So war die Zeit heran gekommen,
+in welcher ich mich für einen Lebensberuf entscheiden mußte. Die
+damals übliche Vorbereitungsschule, die ich eben zurückgelegt hatte,
+führte nur zu einigen Lebensstellungen und machte zu andern eher
+untauglich als tauglich. Ich entschloß mich für den Staatsdienst, weil
+mir die andern Stufen, zu denen ich von meinen jetzigen Kenntnissen
+emporsteigen konnte, noch weniger zusagten. Meine Mutter konnte mir
+mit keinem Rate beistehen. Ich hatte mir ein kleines Sümmchen durch
+außerordentliche Sparsamkeit zusammengelegt. Mit diesem und tausend
+Segenswünschen der Mutter versehen und mit den Abschiedstränen der
+geliebten Schwester benetzt begab ich mich auf die Reise in die Stadt.
+Zu Fuße wanderte ich durch unser Tal hinaus, und suchte durch allerlei
+Betrachtungen die Tränen zu ersticken, welche mir immer in die Augen
+steigen wollten. Als unsere Wäldergestalten hinter mir lagen, als
+die Herbstsonne schon auf ganz andere Felder schien, als ich durch
+meine Jugend hindurch gesehen hatte, wurde mein Gemüt nach und nach
+leichter, und ich durfte nicht mehr fürchten, daß mir jeder, der
+mir begegnete, ansehen könne, daß mir das Weinen so nahe sei. Die
+Entschlossenheit, welche mir eingegeben hatte, in die große Stadt zu
+gehen und dort mein Heil in dem Berufe eines Staatsdieners zu suchen,
+ließ mich immer fester und rascher meinen Weg verfolgen und tausend
+glänzende Schlösser in die Luft bauen. Als ich an jenem Rande
+angekommen war, wo unser höheres Land in großen Absätzen gegen den
+Strom hinabgeht und ganz andere Gestaltungen anfangen, sah ich
+noch einmal um, segnete das Mutterherz, das nun beinahe schon eine
+Tagereise weit hinter mir lag, streichelte gleichsam mit den Fingern
+die schönen, langwimperigen Augenlider der Schwester, die immer etwas
+blaß aussah, segnete unser weißes Haus mit dem roten Dache, segnete
+all die Felder und Wäldchen, die hinter mir lagen und die ich
+durchwandelt hatte, und stieg, nun wirklich schwere Tränen in den
+Augen tragend, in den tiefen Weg hinunter, welcher damals unter
+hohem Laubdache hingehend einen der Pässe ausmachte, die das rauhere
+Oberland mit dem tiefen Stromlande verbinden. Ich konnte nun, nachdem
+ich drei Schritte gemacht hatte, die Gestaltungen meines Geburtslandes
+nicht mehr sehen, nur sein Rand war alles, was meine Augen erreichen
+konnten und was mich noch lange begleiten würde. Ganz andere Bildungen
+lagen vor mir. Es war mir, ich müsse umkehren, um nur noch einmal
+zurück schauen zu können. Ich tat es aber nicht, weil ich mich vor mir
+selber schämte, und ich ging beeiligten Schrittes den Weg hinunter
+und immer tiefer hinunter. Ich durfte auch nichts verzögern, wenn ich
+vor Einbruch der Nacht noch zu dem Strome hinunter gelangen wollte,
+auf dem mich am andern Morgen ein Schiff weiter tragen sollte. Die
+herbstliche Abendsonne spielte durch die Zweige, manche Kohlmeise ließ
+einen Ruf erschallen, wie ihn die hatten erschallen lassen, welche
+jetzt noch in meinen heimatlichen Bergwäldchen verweilten, mancher
+Fuhrmann, mancher Wanderer begegnete mir, ich ging mit ernstem Herzen
+weiter, und als die Sonne untergegangen war, hörte ich das Rauschen
+des Stromes, der mir nun so wichtig geworden war, und sah sein
+goldenes abendliches Glänzen.«
+
+»Ich vergesse mich«, unterbrach sich hier mein Gastfreund, »und
+erzähle euch Dinge, die nicht wichtig sind; aber es gibt Erinnerungen,
+die, wie unbedeutende Gegenstände sie auch für Andere betreffen, doch
+für den Eigentümer im höchsten Alter so kräftig dastehen, als ob sie
+die größte Schönheit der Vergangenheit enthielten.«
+
+»Ich bitte euch«, entgegnete ich, »fahret so fort und entzieht mir
+nicht die Bilder, die euch aus früheren Zeiten übrig sind, sie gehen
+schöner in das Gemüt und verbinden leichter, was verbunden werden
+soll, als wenn von dem lebendigen Leben ein flacher Schatten gegeben
+werden sollte. Auch ist meine Zeit, wenn anders die eurige nicht
+strenger zugemessen ist, kein Hindernis, daß ihr mir irgend etwas
+vorenthalten solltet.«
+
+»Meine Zeit«, antwortete er, »ist entweder so gemessen, daß ich nichts
+Anderes tun sollte, als auf mein Ende sehen, oder daß ich über sie
+verfügen kann, wie ich will; denn was sollte ein so alter Mann noch
+Ausschließliches zu tun haben? Er mag für die paar Stunden, die
+ihm übrig sind, noch Blumen zurecht legen, wie er will. Ich tue ja
+eigentlich hier auf dieser Besitzung nichts anders. Auch dürfte das,
+was ich euch sagen will, für euch nicht ganz unwichtig sein, wie sich
+wohl in der Folge zeigen wird. Ich fahre daher fort, wie sich oben
+unter den Worten die Erzählung gibt.«
+
+»Die Nacht verbrachte ich in gutem Schlummer, und der erste Morgen
+sah mich auf einem jener rohen, kleinen Schiffe, wie sie damals mit
+verschiedenen Gütern beladen unsern Strom abwärts befuhren, und auch
+Menschen mit sich nahmen. Mehrere junge Leute, die entweder ganz
+gleichen oder ähnlichen Beruf mit mir verfolgten, standen auf dem
+Verdecke und legten sogar manches Mal Hand an die Ruder, da unser
+Schiff auf dem breiten, rauschenden Strome sich abwärts bewegte und
+die kleine Stadt, die uns Nachtherberge gegeben hatte, sich aus den
+Morgennebeln ringend unsern Augen immer weiter und weiter zurück trat.
+Manches Lied, mancher Spruch, der aus der Schar meiner Begleiter
+hervortrat, machte seine Wirkung auf mich, und ich wurde stärker und
+entschlossener.«
+
+»Als am Abende des zweiten Tages unserer Wasserfahrt der hohe schlanke
+Turm der Stadt, deren Miteinwohner ich nun werden sollte, gleichsam
+luftig blau unter den Gebüschen der Ufer sichtbar wurde, als man sich
+rief und das Zeichen sich zeigte, das man nun nach Verlauf von etwas
+mehr als einer Stunde erreichen werde, wollte mir das Herz im Busen
+wieder unruhiger pochen. Dieses Merkmal vergangener Menschenalter,
+dachte ich, welches so viele große und gewaltige Schicksale gesehen
+hatte, wird nun auch auf dein kleines Geschick herabsehen, es mag sich
+nun gut oder übel abspinnen, und wird, wenn es längstens abgelaufen
+ist, wieder auf Andere schauen. Wir fuhren rascher zu, weil alles
+hoffnungsvoll die Ruder führte, die Entschloßneren sangen ein Lied,
+und ehe noch die Stunde um war, legte unser Schiff an der steinernen
+Einfassung des Flusses im Angesichte sehr großer Häuser an. Ein
+älterer Schüler, der schon zwei Jahre in der Stadt zugebracht hatte
+und jetzt von den bei seinen Eltern verlebten Ferien zurückkehrte,
+erbot sich, mir einen Gasthof zur Unterkunft zu zeigen und mir morgen
+zur Auffindung eines Wohnzimmerchens für mich behilflich zu sein. Ich
+nahm es dankbar an. Unter dem Torwege des Gasthofes, in den er mich
+geführt hatte, nahm er Abschied von mir und versprach, mich morgen
+mit Tagesanbruch zu besuchen. Er hielt Wort, ehe ich angekleidet
+war, stand er schon in meinem Zimmer, und ehe die Sonne den Mittag
+erreichte, waren meine Sachen schon in einem Mietzimmerchen, das wir
+für mich gefunden hatten, untergebracht. Er verabschiedete sich und
+suchte seine wohlbekannten Kreise auf. Ich habe ihn später selten
+mehr gesehen, da uns nur die Schiffahrt zusammengebracht hatte und da
+seine Laufbahn eine ganz andere war als die meine. Als ich von meinem
+Stübchen ausging, die Stadt zu betrachten, befiel mich wieder eine
+sehr große Bangigkeit. Diese ungeheure Wildnis von Mauern und Dächern,
+dieses unermeßliche Gewimmel von Menschen, die sich alle fremd sind
+und an einander vorübereilen, die Unmöglichkeit, wenn ich einige
+Gassen weit gegangen war, mich zurecht zu finden, und die
+Notwendigkeit, wenn ich nach Hause wollte, mich Schritt für Schritt
+durchfragen zu müssen, wirkte sehr niederdrückend auf mich, der ich
+bisher immer in einer Familie gelebt hatte und stets an Orten gewesen
+war, in denen ich alle Häuser und Menschen kannte. Ich ging zu dem
+Vorstande der Rechtsschule, um mich für die Vorbereitungsjahre zum
+Staatsdienste einschreiben zu lassen. Er nahm mich meiner trefflichen
+Zeugnisse willen sehr gut auf und ermahnte mich, durch die große Stadt
+mich von meinem Fleiße nicht abbringen zu lassen. Ach Gott, die große
+Stadt war für mich bei meinen so kargen Mitteln nichts als ein Wald,
+dessen Bäume auf mich keine Beziehung haben, und sie trieb mich durch
+ihre Fremdartigkeit eher zum Fleiße an, als daß sie mich abgehalten
+hätte. Am Tage der Eröffnung des Unterrichtes ging ich, der ich nun
+doch schon einige auf mich bezügliche Wege wußte, in die hohe Schule.
+Dort wogte ein großes Gewimmel durch einander. Alle Fächer wurden hier
+gelehrt, und für alle Fächer fanden sich Schüler. Die meisten sahen
+sehr begabt, gebildet und behende aus, so daß ich wieder im Glauben
+an meine nur geringen Kräfte zu zagen anfing, hier gleichen Schritt
+halten zu können. Ich begab mich in den Lehrsaal, in den ich gehörte,
+und setzte mich auf einen der mittleren Plätze. Die Lehrstunde begann
+und ging vorüber, so wie nun viele nach und nach begannen und vorüber
+gingen. Sie und die ganze Stadt hatten noch immer etwas Ungewöhnliches
+für mich. Das Liebste war mir, in meinem Stübchen zu sitzen, an meine
+Vergangenheit zu denken und sehr lange Briefe an meine Mutter zu
+schreiben.«
+
+»Als einige Zeit verflossen war, wuchs mir Mut und Kraft im Herzen.
+Unser Lehrer, ein würdiger Rat in der Rechtsversammlung der Schule,
+lehrte fragend. Ich schrieb getreulich seine Lehren in meine Hefte.
+Als schon eine große Zahl meiner Mitschüler gefragt worden war, als
+endlich die Reihe auch mich getroffen hatte, erkannte ich, daß ich
+Vielen, die mich an Kleidern und äußerem Benehmen übertrafen, in
+unserem Lehrfache nicht nachstehe, sondern einer großen Zahl vor
+sei. Dies lehrte mich nach und nach die mir bisher fremd gebliebenen
+Verhältnisse der Stadt würdigen, und sie wurden mir immer mehr und
+mehr vertraut. Einige Schüler hatte ich schon früher gekannt, da sie
+vor mir von der nehmlichen Lehranstalt, in der ich bisher gewesen war,
+hieher übergetreten waren; andere lernte ich noch kennen. Als meine
+Barschaft, mit der ich sehr strenge Haus hielt, sich schon sichtlich
+zu verringern begann, wurde ich von einem meiner Mitschüler, der mein
+Nachbar auf der Schulbank war und aus meinem Munde gehört hatte, daß
+ich früher Unterricht gegeben habe, aufgefordert, seine zwei kleinen
+Schwestern zu unterrichten. Wir hatten durch die tägliche Berührung
+eine Art Freundschaft geschlossen und waren einander geneigt. Als er
+daher zu Hause gehört hatte, daß man für die zwei kleinen Mädchen
+einen Lehrer suche, schlug er mich vor und erzählte mir auch von der
+Sache. Die Eltern wollten mich sehen, er führte mich zu ihnen und ich
+wurde angenommen. Auch hatten die Schritte, welche ich selber nach
+meiner Berechnung der Dinge getan hatte, um durch Erteilung von
+Unterricht einen Erwerb zu bekommen, Erfolg. Sie hatten zwar keinen
+bedeutenden, auf einen solchen hatte ich nicht gerechnet, aber sie
+hatten doch einen. So war das in Erfüllung gegangen, was ich durch
+meine Umsiedlung in die große Stadt angestrebt hatte. Ich lebte jetzt
+sorgenfrei, hatte in dem Hause meines Freundes, in welches ich öfter
+geladen wurde, eine Gattung Familienumgang und konnte mit allem Eifer
+der Erlernung meines Faches mich widmen.«
+
+»In den ersten Ferien besuchte ich die Mutter und Schwester. Ich hatte
+die besten Zeugnisse in meinem Koffer und konnte ihnen von meinen
+sehr guten anderweitigen Erfolgen erzählen; denn gegen das Ende
+des Schuljahres hatten sich diese sehr gebessert. Mit ganz anderem
+Herzen als vor einem Jahre konnte ich nach dem Ende der Ferien das
+mütterliche Haus verlassen, und die Reise in die Stadt antreten.«
+
+»Nach dem zweiten Jahre konnte ich die Meinigen nicht mehr besuchen.
+Ich war in der Stadt bekannt geworden, die Art, wie ich Kinder
+unterrichtete, sagte vielen Familien zu, man suchte mich und gab mir
+auch einen größeren Lohn. Ich konnte mir dadurch mehr erwerben, legte
+mir stets etwas als Sparpfennig zurück und hatte bei der Freudigkeit
+meines Gemütes über diesen Fortgang Kraft genug, neben meinem Fache
+auch noch meine Lieblingswissenschaften Mathematik und Naturlehre zu
+betreiben. Nur das Einzige war störend, daß die Familien, bei denen
+ich Unterricht gab, nicht gerne sahen, daß ich durch eine Reise den
+Unterricht unterbreche. Es war diese Forderung eine begreifliche, ich
+blieb mit den Meinigen in einem lebhafteren Briefwechsel als früher
+und verabredete mit ihnen, daß ich nicht eher als nach Beendigung
+meines Lehrganges sie wieder besuchen, dann aber einige Monate bei
+ihnen bleiben wolle. Hiemit waren auch die, in deren Dienste ich
+stand, zufrieden.«
+
+
+»Die Stadt, welche mir Anfangs so unheimlich gewesen war, wurde mir
+immer lieber. Ich gewöhnte mich daran, immer fremde Menschen in den
+Gassen und auf den Plätzen zu sehen und darunter nur selten einem
+Bekannten zu begegnen; es erschien mir dieses so weltbürgerlich,
+und wie es früher mein Gemüt niedergedrückt hatte, so stählte es
+jetzt dasselbe. Einen schönen Einfluß übten auf mich die großen
+wissenschaftlichen und Kunsthilfsmittel, welche die Stadt besitzt.
+
+Ich besuchte die Büchersammlungen, die der Gemälde, ich ging gerne in
+das Schauspiel und hörte gute Musik. Es lebte von jeher ein großer
+Eifer für wissenschaftliche Bestrebungen in mir, und ich konnte
+demselben jetzt bei der Heiterkeit meiner Lage Nahrung geben. Was ich
+bedurfte und was ich durch meine Mittel mir nicht hätte anschaffen
+können, fand ich in den Sammlungen. Da ich den sogenannten
+Vergnügungen nicht nachging, sondern in meinen Bestrebungen mein
+Vergnügen fand, so hatte ich Zeit genug, und weil ich gesund und stark
+war, reichte auch meine Kraft aus. In hohem Maße befriedigten mich
+einige schöne Gebäude, besonders Kirchen, dann Bildsäulen und Gemälde.
+Ich brachte manchen Tag damit zu, mich in die Betrachtung der
+kleinsten Teile dieser Dinge zu vertiefen. Auch hatte ich manche
+Familien kennen gelernt, wurde bei ihnen aufgenommen und bildete nach
+und nach meinen Umgang mit Menschen etwas mehr heraus.«
+
+»Da ich in dem zweiten Jahre meiner Lernzeit war, vermählte sich meine
+Schwester. Ich hatte ihren jetzigen Gatten schon früher gekannt. Er
+war ein sehr guter Mann, hatte keine Leidenschaften, keine übeln
+Gewohnheiten, war häuslich sogar auch tätig, hatte eine angenehme
+Körpererscheinung, war aber sonst nichts mehr. Diese Vermählung hatte
+mir keine Freude und kein Leid gemacht. Da ich meine Schwester so
+liebte, so war mir stets, daß sie nie einen andern Mann als den
+allerherrlichsten bekommen solle. Dies war nun wohl nicht der Fall.
+Die Mutter schrieb mir, daß mein Schwager seine Gattin sehr verehre,
+daß er lange und treu um sie geworben und endlich ihr Herz gewonnen
+habe. Sie wohnen in unserem Hause, und von da aus treibe er still und
+emsig sein kleines Handelsgeschäft, das sie nähre. Ich schrieb einen
+Brief entgegen, worin ich den Vermählten Glück und Segen wünschte
+und den Schwager bat, seine Gattin sehr zu lieben, zu schonen und zu
+ehren; denn ich glaube, daß sie es verdiene. Die Antworten versprachen
+alles, so wie die folgenden Briefe immer den Stempel eines stillen
+häuslichen Friedens trugen.«
+
+»In diesen Verhältnissen kam die Zeit heran, da ich mit den letzten
+Prüfungen meine Vorbereitungsjahre beendigt hatte. Ich richtete eben
+mein Reisegepäcke zusammen, um der Verabredung gemäß nach langer
+Trennung die Meinigen wieder zu sehen, als ein Brief von der Hand der
+Schwester kam, dessen Inneres häufige Tränenspuren zeigte und der mir
+sagte, daß unsere Mutter gestorben sei. Sie war vor einiger Zeit krank
+geworden, man hielt das Übel nicht für gefährlich, und da man mich in
+der Vorbereitung zu meinen letzten Prüfungen wußte, so wollte man mir,
+um mich nicht zu stören, keine Meldung von der Krankheit zukommen
+lassen. So zog es sich durch zehn Tage hin, von wo es sich rasch
+verschlimmerte, und ehe man es sich versah, mit dem Tode endigte. Man
+konnte mir nur mehr diesen melden. Ich raffte sofort alles zusammen,
+was zu einer Reise nötig schien, schrieb zwei Zeilen an einen
+Freund, worin ich ihn bat, die Sache meinen Bekannten, die ich ihm
+bezeichnete, zu melden und mich zu entschuldigen, daß ich ohne
+Abschied abreise.
+
+Hierauf ging ich auf die Post und ließ mich einschreiben. Zwei Stunden
+darnach saß ich schon in dem Wagen, und obwohl wir in der Nacht wie am
+Tage fuhren, obwohl ich von der letzten Post aus, an der der Weg nach
+meiner Heimat ablenkte, eigene Pferde nahm und mittelst Wechsels
+derselben unaufhörlich fortfuhr, so kam ich doch zu spät, um die
+irdische Hülle meiner Mutter noch einmal sehen zu können. Sie ruhte
+bereits im Grabe. Nur in ihren Kleidern, in Geräten, im Arbeitszeuge,
+das auf ihrem Tischchen lag, sah ich die Spuren ihres Daseins. Ich
+warf mich in eine Lehnbank und wollte in Tränen vergehen. Es war der
+erste große Verlust, den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des
+Vaters war ich zu jung gewesen, um ihn recht empfinden zu können.
+Obwohl der erste Schmerz unsäglich heiß gewesen war und ich geglaubt
+hatte, ihn nicht überleben zu können, so verminderte er sich wider
+meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem Schatten
+wurde und ich mir nach Verlauf von einigen Jahren keine Vorstellung
+mehr von dem Vater machen konnte. Jetzt war es anders. Ich hatte mich
+daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten häuslichen Reinheit
+zu betrachten, als das Bild des Duldens, der Sanftmut, des Ordnens und
+des Bestehens. So war sie ein Mittelpunkt für unser Denken geworden,
+und mir kam fast nicht zu Sinne, daß das je einmal anders werden
+könne. Jetzt wußte ich erst, wie sehr wir sie liebten. Sie, die nie
+gefordert hatte, die nie auf sich irgend eine Beziehung gemacht hatte,
+die geräuschlos immer gegeben hatte, die jedes Schicksal als eine
+Fügung des Himmels empfangen hatte und die in ruhigem Glauben ihre
+Kinder der Zukunft anvertraut hatte, war nicht mehr. Unter der
+Decke der Schollen schlummerte ihr Herz, das dort vielleicht so
+ergebungsvoll schlummerte, wie es sonst in der Kammer unter der Hülle
+seiner weißen Decke geschlummert hatte. Die Schwester war wie ein
+Schatten, sie wollte mich trösten, und ich wußte nicht, ob sie
+des Trostes nicht noch bedürftiger wäre als ich. Der Gatte meiner
+Schwester war in einer gewissen Ergebung, er war stille und ging an
+die Beschäftigungen seines Berufes. Ich ließ mir nach einer Zeit das
+frische Grab der Mutter zeigen, weinte dort meine Seele aus und betete
+für sie zu dem Herrn des Himmels. Da ich in das Haus zurückgekehrt
+war, besuchte ich alle Räume, in denen sie zuletzt geweilt hatte,
+besonders ihr eigenes Stübchen, in welchem man alles gelassen hatte,
+wie es bei ihrer Erkrankung gewesen war. Der Schwager und die
+Schwester boten mir an und baten mich, eine Zeit bei ihnen zu
+verweilen. Ich nahm es an. In dem hinteren Teile des Hauses, den
+ich immer am meisten geliebt hatte, war schon vor der Erkrankung
+der Mutter ein Zimmer für mich, größtenteils durch ihre Hände,
+hergerichtet worden. Dieses Zimmer bezog ich und packte darin meinen
+Koffer aus. Seine zwei Fenster gingen in den Garten, die weißen
+Fenstervorhänge hatte noch die Mutter geordnet, und das Linnen des
+Bettes war durch ihre vorsorglichen Finger gleichgestrichen worden.
+Ich getraute mir kaum, etwas zu berühren, um es nicht zu zerstören.
+Ich blieb sehr lange unbeweglich in dem Zimmer sitzen. Dann ging ich
+wieder durch das ganze Haus. Es schien mir gar nicht, als ob es das
+wäre, in welchem ich die Tage meiner Kindheit verlebt hatte. Es
+erschien mir so groß und fremd. Die Wohnung, welche sich meine
+Schwester und ihr Gatte darin eingerichtet hatten, war früher nicht da
+gewesen, dafür war das Gemach für Vater und Mutter, das immer, auch
+nach seinem Tode, noch bestanden war, verschwunden, ebenso fand ich
+das Zimmer für uns Kinder nicht mehr, welches ich in allen Ferien,
+die ich zu Hause zugebracht hatte, noch in dem Zustande aus unserer
+früheren Zeit her gesehen hatte. Es war eben eine neue Haushaltung in
+dem Gebäude eingerichtet worden. Unter dem Dache angekommen, sah ich,
+daß man schadhafte Stellen des Daches ausgebessert hatte, daß man
+neue Ziegel genommen hatte und daß an den Kanten, wo sich früher die
+Rundziegel befunden hatten, die neue Art der Verklebung durch Mörtel
+angewendet worden war. Dies alles tat mir wehe, obwohl es natürlich
+war, und obwohl ich es zu einer andern Zeit kaum beachtet haben würde.
+Jetzt aber war mein Gemüt durch den Schmerz erregt, und jetzt schien
+es mir, als ob man alles Alte, auch die Mutter, aus dem Hause hinaus
+gedrängt hätte.«
+
+»Ich lebte von jetzt an still in dem Zimmer, las, schrieb, ging
+täglich auf das Grab der Mutter, besuchte die Felder und manches
+Wäldchen, hielt mich aber von den Menschen ferne, weil sie immer von
+meinem Verluste redeten und mit den Worten in ihm stets wühlten. Das
+Haus war auch sehr stille. Die Vermählten hatten noch keine Kinder,
+mein Schwager, dessen Wesen friedlich und einfach war, befand sich
+größten teils außer Hause, die Schwester besorgte mit der einzigen
+Magd, die sie hatte, die häuslichen Geschäfte, und wenn die
+Abenddämmerung kam, wurde die Tür, die gegen die Straße ging, mit
+den eisernen Stangen von Innen verriegelt, und nur die in den Garten
+führende blieb offen, bis die Stunde zum Schlafen kam, wo sie dann
+auch die Schwester mit eigenen Händen schloß. Das häusliche Glück der
+zwei Ehegatten schien fest gegründet zu sein, das war eine Linderung
+für meine Wunde, und ich verzieh dem Schwager, daß er nicht ein
+Mann war, der durch hohe Begabung und den Schwung seiner Seele die
+Schwester zu einem himmlischen Glücke emporgeführt hatte.«
+
+»So vergingen mehrere Wochen. Vor meiner Abreise ging ich noch in
+unser Gerichtsamt, verzichtete dort für meine Schwester auf jeden
+Erbanspruch des von unsern Eltern hinterlassenen Besitztumes und ließ
+meine Rechte auf die Schwester überschreiben. So war den beiden Gatten
+das Dasein, so lange es ihnen der Himmel verlieh, gesichert; ich hatte
+als Erbteil den Unterricht bekommen und hoffte durch das, was er mir
+an Kenntnissen eingebracht hatte und was ich mir noch erwerben wollte,
+den Unterhalt meines Lebens schon zu decken. Hierauf reiste ich,
+von dem Danke und von den wärmsten Wünschen für mein Wohl von der
+Schwester und dem Schwager begleitet, wieder in die Stadt ab.«
+
+»In derselben begann ich jetzt ein sehr zurückgezogenes Leben zu
+führen. Ich hatte mir so viel erspart, daß ich nur einen kleinen Teil
+meiner Zeit zum Unterrichtgeben verwenden mußte. Die übrige wendete
+ich für mich an und verlegte mich auf Naturwissenschaften, auf
+Geschichte und Staatswissenschaften. Meinen eigentlichen Beruf
+ließ ich etwas außer Acht. Die Wissenschaften und die Kunst, deren
+Vergnügen ich nie entsagte, füllten mein Herz aus. Ich suchte jetzt
+weniger als je die Gesellschaft von Menschen auf. Die Notwendigkeit,
+die Zeit der Vorbereitung zu meinem Berufe recht zu benutzen und mir
+außerdem noch meinen Lebensunterhalt zu erwerben, hatte mich schon
+in früheren Jahren fast nur auf mich allein zurückgewiesen, und ich
+setzte jetzt dies Leben fort.«
+
+»Allein es dauerte nicht lange in dieser Art. Schon nach einem halben
+Jahre, als ich das Grab der Mutter verlassen hatte kam mir von meinem
+Schwager die Nachricht zu, daß zu den zwei Gräbern des Vaters und der
+Mutter auf unserer Familienbegräbnisstätte ein drittes Grab gekommen
+sei, das meiner Schwester. Sie hatte sich seit dem Tode der Mutter
+nicht recht erholt, und eine unversehene Verkühlung raffte sie dahin.
+Der Schwager schrieb mir, und wie ich sah, in aufrichtigem Kummer,
+daß er nun ganz verlassen sei, daß er keine Freude mehr habe, daß er
+einsam sein Leben zubringen wolle, daß er wohl von der Verewigten zum
+Erben eingesetzt worden sei, daß er aber gerne mit mir teilen wolle,
+er habe kein Kind, seine einzige Freude liege im Grabe, er achte nicht
+mehr viel auf Besitzungen, sein Stückchen Brod, welches für sein
+einfaches Leben recht klein sein dürfe, werde er für die Zeit schon
+finden, die er noch zubringen müsse, ehe er zu Kornelien gehen könne.
+Da der Mann meine Schwester sehr geliebt hatte, da ihre Briefe an mich
+immer von ihrem Glücke erzählten, gönnte ich ihm das kleine Besitztum
+und schrieb ihm zurück, daß ich keine Ansprüche erhebe und daß er das
+Hinterlassene ungeteilt genießen möge. Er dankte mir, ich sah aber aus
+seinem Briefe, daß er über das Geschenk eben keine sonderliche Freude
+habe.«
+
+»Ich zog mich nun noch mehr zurück, und mein Leben war sehr trübe.
+Ich zeichnete viel, ich bildete zuweilen auch etwas in Ton und suchte
+sogar manches in Farben darzustellen. Nach einiger Zeit kam mir
+von befreundeter Hand der Antrag, daß ich bei einer gebildeten
+und wohlhabenden Familie wohnen möchte, daß ich einen Teil des
+Unterrichtes eines Knaben, der in der Familie sei, gegen vorteilhafte
+Bedingungen übernehmen möchte, worunter auch die war, daß ich nicht
+gebunden sei, daß ich öfter abwesend sein und zum Teile sogar kleine
+Reisen machen könne. In der Verödung, in der ich mich befand, hatte
+die Aussicht auf ein Familienleben eine Art Anziehung für mich, und
+ich nahm den Antrag unter der Bedingung an, daß ich die Freiheit haben
+müsse, in jedem Augenblicke das Verhältnis wieder auflösen zu können.
+Die Bedingung wurde zugestanden, ich packte meine Sachen, und nach
+drei Tagen fuhr ich in der Richtung nach dem Landsitze der Familie
+ab. Dieser Sitz war ein angenehmes Haus in der Nähe großer Meiereien,
+die einem Grafen gehörten. Das Haus war beinahe zwei Tagereisen von
+der Stadt entfernt. Es war sehr geräumig, hatte eine sonnige Lage,
+liebliche Rasenplätze um sich und hing mit einem großen Garten
+zusammen, in dem teils Gemüse, teils Obst, teils Blumen gezogen
+wurden. Der Besitzer des Hauses war ein Mann, der von reichlichen
+Renten lebte, sonst aber kein Amt noch irgend eine andere
+Beschäftigung zum Gelderwerb hatte. So war er mir geschildert worden,
+mit dem Beifügen, daß er ein sehr guter Mann sei, mit dem sich
+jedermann vertrage, daß er eine treffliche, sorgsame Frau habe und daß
+außer dem Knaben nur noch ein halberwachsenes Mädchen da sei. Diese
+Dinge waren es auch vorzüglich, welche mich zur Annahme bestimmt
+hatten. Mein Name sei der Familie in einem Hause genannt worden, mit
+dem sie in sehr inniger Beziehung stand, und ich sei sehr empfohlen
+worden. Man hatte mir auf die letzte Post einen Wagen entgegen
+gesandt. Es war ein schöner Nachmittag, als ich in Heinbach, das war
+der Name des Hauses, einfuhr. Wir hielten unter einem hohen Torwege,
+zwei Diener kamen die Treppe herab, um meine Sachen in Empfang zu
+nehmen und mir mein Zimmer zu zeigen. Als ich noch im Wagen mit
+Herausnehmen von ein paar Büchern und andern Kleinigkeiten beschäftigt
+war, kam auch der Herr des Hauses herunter, begrüßte mich artig und
+führte mich selber in meine Wohnung, die aus zwei freundlichen Zimmern
+bestand. Er sagte, ich möge mich hier zurecht richten, möge hiebei nur
+meine Bequemlichkeit vor Augen haben, ein Diener sei angewiesen, meine
+Befehle zu vollziehen, und wenn ich fertig sei und etwa heute noch
+wünsche, mit seiner Gattin zu sprechen, so möge ich klingeln, der
+Diener werde mich zu ihr führen. Hierauf verließ er mich unter
+höflichem Abschiede. Der Mann gefiel mir sehr wohl. Ich entledigte
+mich meiner staubigen Kleider, reinigte mich, legte nur das
+Notwendigste in meinem Zimmer in Ordnung, kleidete mich dann
+besuchsgemäß an und ließ die Frau des Hauses fragen, ob ich bei ihr
+erscheinen dürfe. Sie sendete eine bejahende Antwort. Ich wurde über
+einen Gang geführt, in welchem allerlei Bilder hingen, wir traten in
+einen Vorsaal und von dem in das Zimmer der Frau. Es war ein großes
+Zimmer mit drei Fenstern, an welches ein niedliches Gemach stieß.
+In diesem Zimmer waren heitere Geräte, einige Bilder, und die
+Nachmittagssonne war durch sanfte Vorhänge gedämpft. Die Frau saß an
+einem großen Tische, zu ihren Füßen spielte ein Knabe, und seitwärts
+an einem kleinen Tischchen saß ein Mädchen und hatte ein Buch vor
+sich. Es schien, es habe vorgelesen. Die Frau stand auf und ging mir
+entgegen. Sie war sehr schön, noch ziemlich jung, und was mir am
+meisten auffiel war, daß sie sehr schöne braune Haare, aber tief
+dunkle, große schwarze Augen hatte. Ich erschrak ein wenig, wußte aber
+nicht warum. Mit einer Freundlichkeit, die mein Zutrauen gewann, hieß
+sie mich einen Platz nehmen, und als ich dies getan hatte, nannte sie
+meinen Vor- und Familiennamen, hieß mich beinahe herzlich willkommen
+und sagte, daß sie sich schon sehr gesehnt habe, mich unter ihrem
+Dache zu sehen.«
+
+»>Alfred<, rief sie, >komm und küsse diesem Herrn die Hand!<«
+
+»Der Knabe, welcher bisher neben ihr gespielt hatte, stand auf, trat
+vor mich, küßte mir die Hand und sagte: >Sei willkommen!<«
+
+»>Sei auch du willkommen<, erwiderte ich und drückte ein wenig das
+Händchen des Knaben. Er hatte ein sehr rosiges Angesicht, ebenfalls
+braune Haare wie die Mutter, aber dunkelblaue Augen, wie ich sie an
+dem Vater gesehen zu haben glaubte.«
+
+»>Das ist das Kind, dessentwegen ich euch so sehr in unser Haus
+gewünscht habe<, sagte sie. >Ihr sollt dasselbe weniger unterrichten,
+dazu sind Lehrer da, welche das Haus besuchen, sondern wir bitten
+euch, daß ihr bei uns lebet, daß ihr dem Knaben öfter eure
+Gesellschaft gönnt, daß er außer dem Umgange mit seinem Vater auch den
+eines jungen Mannes hat, was auf ihn Einfluß nehmen möge. Erziehung
+ist wohl nichts als Umgang, ein Knabe, selbst wenn er so klein ist,
+muß nicht immer mit seiner Mutter oder wieder nur mit Knaben umgehen.
+Der Unterricht ist viel leichter als die Erziehung. Zu ihm darf man
+nur etwas wissen und es mitteilen können, zur Erziehung muß man etwas
+sein. Wenn aber einmal jemand etwas ist, dann, glaube ich, erzieht er
+auch leicht. Meine Freundin Adele, die Gattin des Kaufherrn, dessen
+Warengewölbe dem großen Tore des Erzdomes gegenüber ist, hat mir von
+euch erzählt. Wenn ihr es für gut findet, den Knaben auch in irgend
+etwas zu unterrichten, so ist es eurem Ermessen überlassen, wie und
+wie weit ihr es tut.<«
+
+»Ich konnte auf diese Worte nichts antworten; ich war sehr errötet.«
+
+»>Mathilde<, sagte die Frau, >begrüße auch diesen Herrn, er wird jetzt
+bei uns wohnen.<«
+
+»Das Mädchen, welches immer bei seinem aufgeschlagenen Buche sitzen
+geblieben war, stand jetzt auf und näherte sich mir. Ich erstaunte,
+daß das Mädchen schon so groß sei, ich hatte es mir kleiner gedacht.
+Es war auf einem etwas niederen Stuhle gesessen. Da es in meine Nähe
+gekommen war, stand ich auf, wir verneigten uns gegen einander,
+Mathilde ging wieder zu ihrem Sitze, und ich nahm auch den meinigen
+wieder ein. Die Frau hatte wohl diese Begrüßung eingeleitet, um mein
+Erröten vorüber gehen zu machen. Es war auch zum großen Teile vorüber
+gegangen. Sie hatte eine Antwort auf ihre an mich gerichtete Rede
+auch wahrscheinlich nicht erwartet. Sie fragte mich jetzt um mehrere
+gleichgültige Dinge, die ich beantwortete.
+
+In meine näheren Verhältnisse oder etwa gar in die meiner Familie ging
+sie nicht ein. Nachdem die Unterredung eine Weile gedauert hatte,
+verabschiedete sie mich, sagte, ich möchte von der Reise etwas
+ausruhen, bei dem Abendessen würden wir uns wieder sehen. Der Knabe
+hatte während der ganzen Zeit meine Hand gehalten, war neben mir
+stehen geblieben und hatte öfter zu meinem Angesichte heraufgeschaut.
+Ich löste jetzt meine Hand aus der seinen, grüßte ihn noch, verneigte
+mich vor der Mutter und verließ das Zimmer.«
+
+»Als ich in meiner Wohnung angekommen war, setzte ich mich auf einen
+der schönen Stühle nieder. Jetzt wußte ich, weshalb man mir so gute
+Bedingungen gestellt hatte und wie schwer meine Aufgabe war. Ich
+zagte. Das Benehmen der Frau hatte mir sehr gefallen, darum zagte ich
+noch mehr. Als ich eine Zeit auf meinem Stuhle gesessen war, erhob
+ich mich wieder, und es fiel mir ein, daß ich ja dem Herrn des Hauses
+auch einen Besuch zu machen habe. Ich klingelte und verlangte von
+dem eintretenden Diener, daß er mich zu dem Herrn führe. Der Diener
+antwortete, der Herr sei in den Wald gegangen und werde erst Abends
+zurückkehren. Er hatte den Befehl hinterlassen, daß man mir sage,
+ich möge nur meine Reisesachen auspacken, möge ausruhen und möge
+mir seinethalben keine Pflichten auflegen, morgen könne das Weitere
+besprochen werden. Ich legte daher die Kleider, welche ich zu dem
+Besuche bei der Frau genommen hatte, wieder ab, zog mich anders an
+und brachte meine Sachen nun in meiner Wohnung in Ordnung. Bei dieser
+Beschäftigung ging mir nach und nach der ganze Rest des noch übrigen
+Tages dahin. Als ich fertig war, dämmerte es bereits. Nachdem ich mich
+gereinigt und zum Abendessen angekleidet hatte, sagte mir mein Diener,
+daß sich der Herr, der schon nach Hause zurückgekehrt sei, zum Besuche
+bei mir melde. Ich sagte zu, der Herr kam und fragte, ob man in meiner
+Wohnung alles nach Gebühr vorbereitet habe und ob ich nichts vermisse.
+Ich antwortete, daß alles meine Erwartung übertreffe und daher ein
+weiteres Begehren die größte Unbescheidenheit wäre. Er sagte, daß er
+nun wünsche, daß mein Eintritt in sein Haus gesegnet sei, daß mein
+Aufenthalt darin erfreulich sein möge und daß ich es einst nicht mit
+Reue und Schmerz verlasse. Hierauf lud er mich zum Abendessen ein. Wir
+gingen in ein sehr heiteres Speisezimmer, in welchem ein einfaches
+Abendmahl unter einfachen Gesprächen eingenommen wurde. Bei demselben
+war der Herr, die Frau, die zwei Kinder und ich gegenwärtig.«
+
+»Am nächsten Vormittage ließ ich anfragen, ob ich den Herrn besuchen
+dürfe. Ich wurde dazu eingeladen, und mein Diener führte mich zu ihm.
+Ich war in denselben Besuchkleidern wie gestern bei der Frau. Der Herr
+saß bei Papieren und Schriften, er erhob sich bei meinem Eintritte,
+ging mir entgegen, grüßte mich auf das Ausgezeichnetste und führte
+mich zu einem Tische.
+
+Er war schon völlig und sehr fein angekleidet. Als wir uns
+niedergelassen hatten, sagte er: >Seid mir noch einmal in meinem Hause
+willkommen. Ihr seid uns so empfohlen worden, daß wir uns glücklich
+schätzen, daß ihr zu uns gekommen seid, daß ihr eine Zeit bei uns
+wohnen wollt und daß ihr erlaubt, daß mein lieber Knabe, dem ich eine
+glückselige Zukunft wünsche, eure Gesellschaft genieße. Ich glaube,
+ihr werdet vielleicht in einiger Zeit sehen, daß wir eure Freunde
+sind, und ihr werdet uns etwa auch eure Freundschaft schenken. Richtet
+eure Beschäftigungen ein, wie ihr wollt, verlegt euch auf das, was
+euer künftiger Beruf fordert und betrachtet euch in allen Stücken
+wie in eurem eigenen Hause. Ihr werdet euch wohl hier an Einfachheit
+gewöhnen müssen. Wir haben hier und in der Stadt wenig Besuch und
+machen auch wenig. Mathilde wird von der Frau selber erzogen. Mit
+Erzieherinnen hatten wir kein Glück. Wir gaben es daher auf, für
+Mathilden eine Gesellschafterin zu suchen. Sie ist bei der Mutter,
+zuweilen sieht sie Mädchen ihres Alters, und manches Mal wohnt sie
+Gesprächen und Spaziergängen mit zwei älteren guten und lieben Mädchen
+bei. Sonst ist sie in ihrer Ausbildung begriffen und bringt ihre Zeit
+mit Lernen zu. Wie es mit dem Knaben ist, werdet ihr wohl sehen. Man
+hat uns gesagt, daß ihr in der Stadt sehr zurückgezogen gelebt habt,
+deshalb glaubten wir, daß ihr bei uns nicht gar sehr die menschliche
+Gesellschaft vermissen werdet. Ich beschäftige mich mit einigen
+wissenschaftlichen Dingen, und wenn euch ein Gespräch hierin, falls
+wir in den Gegenständen zusammentreffen, nicht unangenehm ist, so
+betrachtet mich als euren älteren Bruder, und zwar nicht bloß hierin,
+sondern auch in allen anderen Dingen.<«
+
+»>Ich bin durch eure Güte sehr beschämt<, antwortete ich, >und sehe
+jetzt erst, wie groß die Aufgabe ist, die ich in eurem Hause habe. Ich
+weiß nicht, ob ich ihr auch nur in einem geringen Maße werde genügen
+können.<«
+
+»>Es wird vielleicht nicht schwer sein, zu genügen<, erwiderte er.«
+
+»>Wenn es aber doch nicht geschähe?< fragte ich.«
+
+»>Dann wären wir so offen und sagten es euch, damit man darnach
+handeln könnte<, antwortete er.«
+
+»>Das erleichtert mir mein Herz sehr<, erwiderte ich; >denn auf diese
+Weise wird nie Mißtrauen aufkommen können. Ich habe bisher nur in zwei
+Familien gelebt, in der meiner Mutter - denn mein Vater ist in meiner
+frühen Jugend gestorben - und in der eines würdigen alten Amtmannes,
+in dessen Hause ich während meiner lateinischen Schulen in Kost
+und Wohnung war. Die erste Familie ist mir wie jedem Menschen
+unvergeßlich, und die zweite ist es mir auch.<«
+
+»>Vielleicht wird es auch die unsere<, sagte er, >jetzt laßt euch das
+Haus und sein Zugehör zeigen, daß ihr den Schauplatz kennt, auf dem
+ihr ein Weilchen leben sollt. Oder wollt ihr etwas anders tun, so tut
+es. Zu mir steht euch der Zutritt stets offen, laßt euch nicht ansagen
+und klopft nicht an meine Tür.<«
+
+»Mit diesen Worten war unser Gespräch zu Ende, wir erhoben uns,
+verabschiedeten uns, er reichte mir freundlich die Hand, und ich
+verließ das Zimmer.«
+
+»Ich kleidete mich nun in meine gewöhnlichen Kleider und ließ fragen,
+ob Alfred Zeit habe, mich zu begleiten und mir etwas von dem Hause und
+dem Garten zu zeigen. Man antwortete, daß Alfred gleich kommen werde
+und daß er hinlänglich Zeit habe. Die Mutter führte den Knaben selbst
+zu mir, und sie brachte auch einen Diener mit, welcher einen Bund
+Schlüssel trug und den Auftrag hatte, mir die Räume des Hauses zu
+zeigen. Der Diener war ein alter Mann und schien die Aufsicht über
+die andern Dienstleute zu haben. Die Mutter entfernte sich sogleich
+wieder. Ich sprach einige freundliche Worte mit dem Knaben, welcher
+über sieben Jahre alt schien, er erwiderte diese Worte unbefangen und,
+wie ich glaubte, zutraulich. Dann gingen wir, die Räume des Hauses zu
+betrachten. Das Haus war nicht alt, es war kein Schloß und mochte in
+dem siebenzehnten Jahrhunderte gebaut worden sein. Es bestand aus
+zwei Flügeln, die einen rechten Winkel bildeten und einen Sandplatz
+einschlossen. Die Zufahrt war aber von entgegengesetzter Seite, daher
+der Sandplatz, welcher Blumenbeete hatte, mehr einem Garten und einem
+Spielplatze für die Kinder als einer Anfahrt glich. Es waren auf
+demselben, und zwar an den Mauern des Hauses, auch Linnendächer zum
+Aufspannen gegen die Sonne angebracht. Das Haus hatte ein Erdgeschoß
+und ein Stockwerk. Durch beide lief der Länge nach ein breiter Gang,
+von dem aus man in die Zimmer gelangen konnte. Die Mauern des Ganges
+waren schneeweiß, hatten Stuckarbeit, schön vergitterte Fenster und
+zeigten braune, wohlgebohnte Gemächertüren. An vielen Stellen der
+Gänge hingen Gemälde. Sie waren durchaus nicht vorzüglich, aber auch
+bei Weitem nicht so schlecht, als solche Gang- und Treppengemälde
+gewöhnlich zu sein pflegen. Die Gegenstände, welche auf ihnen
+abgebildet waren, drehten sich in einem kleinen Kreise: Landschaften
+mit Ansichten der Umgebung oder merkwürdiger Gebäude, Tiere -
+vorzüglich Hunde mit Jagdgerätschaften -, Küchengeschirr oder Inneres
+von Zimmern und anderen Gelassen. Der alte Diener schloß manche
+Gemächer auf, die im Gebrauche waren; denn das Haus hatte mehr, als
+die jetzigen Bewohner benützten. Es war ein großer, mit sehr schönen
+Geräten versehener Saal da, in welchem, wenn es notwendig war,
+Gesellschaften aufgenommen wurden, dann waren andere Zimmer zu
+verschiedenem Gebrauche, darunter ein sehr großes Bücherzimmer und
+die Zimmer für Gäste. Alles war sehr schön eingerichtet und rein und
+ordentlich gehalten. Als wir das Haus gesehen hatten, sagte Alfred,
+Raimund, der alte Diener, sei nun nicht mehr vonnöten, den Garten
+werde er mir schon allein zeigen. Ich war damit einverstanden,
+verabschiedete den alten Diener und ging mit Alfred ins Freie. Das
+Erdgeschoß, worin sich die Küche, die Gesindezimmer und dergleichen
+befanden, hatten wir nicht besucht. Die Ställe und Wagenbehälter
+waren abseits des Hauses in eigenen Gebäuden. Als wir in das Freie
+gekommen waren, zeigte sich ein sehr schöner Rasenplatz, der von
+mannigfaltigen, künstlich angelegten Wegen durchkreuzt war. Auf diesem
+Rasenplatze standen in ziemlichen Entfernungen sehr große Bäume. Zu
+jedem führte ein Weg, und fast unter jedem stand ein Bänkchen oder
+ein Sitz. Alfred führte mich zu den meisten und nannte mir sie. Mich
+erfreute dieses Zeichen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit. Er
+erzählte mir auch, was sie bald unter diesem, bald unter jenem Baume
+getan und wie sie gespielt hätten. Die Bäume waren Eichen, Linden,
+Ulmen und eine Anzahl sehr großer Birnbäume. Diese Art von Wald hatte
+etwas sehr Anmutiges.«
+
+»>Ich darf allein nicht zu dem Teiche gehen<, sagte Alfred, >weil ich
+leicht hinein fallen könnte, und ich gehe auch nicht hin; aber weil du
+heute bei mir bist, so dürfen wir ihn besuchen. Komme mit, ich habe
+Brot bei mir, um es den Enten und den Fischen zu geben.<«
+
+»Er faßte mich bei der Hand, und ich ließ mich von ihm führen. Er
+geleitete mich durch ein kleines Gebüsch zu einem mäßig großen Teiche,
+der das Merkwürdige hatte, daß auf ihm hölzerne Hüttchen in geringen
+Entfernungen angebracht waren, die die Bestimmung hatten, daß darin
+Wildenten nisteten. Das geschah auch reichlich. Es war noch nicht
+so weit im Sommer, und wir sahen noch manche Mutter mit ihren fast
+erwachsenen, aber noch nicht flugfähigen Jungen auf dem Wasser
+herumschwimmen. An den Ufern waren an verschiedenen Stellen
+Futterbrettchen angebracht. Im Wasser selber bewegte sich eine große
+Zahl schwerfälliger Karpfen. Alfred zog ein Weißbrot aus seiner
+Tasche, zerbrach es in kleine Stückchen, warf diese einzeln in das
+Wasser und hatte seine Freude daran, wenn die Enten und auch manch
+ungeschickter Mund eines Karpfen darnach haschten. Es schien, daß er
+mich dieses Zweckes halber zu dem Teiche geführt hatte. Als er mit
+seinem Brote fertig war, gingen wir weiter. Er sagte: >Wenn du auch
+den Garten sehen willst, so werde ich dich schon hinführen.<«
+
+»>Ja, wohl will ich ihn sehen<, antwortete ich.«
+
+»Er führte mich nun aus dem Gebüsche, wir begaben uns auf die
+entgegengesetzte Seite des Hauses, dort war ein mit einem Gitter
+umgebener großer Garten, und wir gingen durch das Tor desselben
+hinein. Blumen, Gemüse, Zwerg- und Lattenobst empfingen uns. In der
+Ferne sah ich die größeren und wahrscheinlich sehr edlen Obstbäume
+stehen. Daß mir der Garten um viel mehr gefiel als der Teich, sagte
+ich Alfred nicht, er mochte es auch nicht wissen. In sehr schöner Art
+waren hier die Blumen gepflegt, die man gewöhnlich in Gärten findet.
+Sie hatten nicht bloß ihre ihnen zusagenden Plätze, sondern sie waren
+auch zu einem sehr schönen Ganzen zusammengestellt. An Gemüsen glaubte
+ich die besten Arten zu sehen, wie man sie nur immer in den Handlungen
+der Stadt finden konnte. Zwischen ihnen stand das Zwergobst. Die
+Gewächshäuser enthielten Blumen, aber auch Früchte. Ein sehr langer
+Gang, welcher mit Wein überwölbt war, führte uns in den Obstgarten.
+Die Bäume standen in guten Entfernungen, waren gut gehalten, hatten
+Grasboden unter sich, und es führten auch hier wieder Wege von einem
+zum andern. An seiner rechten Seite war dieser Gartenteil von dichtem
+Haselnußgebüsche begrenzt. Ein Pfad führte uns durch dasselbe
+hindurch. Wir trafen jenseits einen freien Platz, auf welchem ein
+ziemlich großes Gartenhaus stand. Es war gemauert, hatte hohe Fenster,
+ein Ziegeldach und seine Gestalt war ein Sechseck. Die Außenseite
+dieses Hauses war ganz mit Rosen überdeckt. Es waren Latten an dem
+Mauerwerke angebracht und an diese Latten waren die Rosenzweige
+gebunden. Sie standen in Erde vor dem Hause, hatten verschiedene Größe
+und waren so gebunden, daß die ganzen Mauern überdeckt waren. Da eben
+die Zeit der Rosenblüte war und diese Rosen außerordentlich reich
+blühten, so war es nicht anders, als stände ein Tempel von Rosen da
+und es wären Fenster in dieselben eingesetzt. Alle Farben, von dem
+dunkelsten Rot, gleichsam Veilchenblau, durch das Rosenrot und Gelb
+bis zu dem Weiß, waren vorhanden. Bis in eine große Entfernung
+verbreitete sich der Duft. Ich stand lange vor diesem Hause, und
+Alfred stand neben mir. Außer den Rosen an dem Gartenhause waren
+auf dem ganzen Platze Rosengesträuche und Rosenbäumchen in Beeten
+zerstreut. Sie waren nach einem sinnvollen Plane geordnet, das zeigte
+sich gleich bei dem ersten Blicke. Alle Stämmchen trugen Täfelchen mit
+ihrem Namen.«
+
+»>Das ist der Rosengarten<, sagte Alfred, >da sind viele Rosen, es
+darf aber keine abgepflückt werden.<«
+
+»>Wer pflanzt denn diese Rosen und wer pflegt sie?< fragte ich.«
+
+»>Der Vater und die Mutter<, antwortete Alfred, >und der Gärtner muß
+ihnen helfen.<«
+
+»Ich ging zu allen Rosenbeeten, und ging dann um das ganze Haus herum.
+Als ich alles betrachtet hatte, gingen wir auch in das Haus hinein.
+Es war mit Marmor gepflastert, auf dem feine Rohrmatten lagen. In der
+Mitte stand ein Tisch und an den Wänden Bänkchen, deren Sitze von Rohr
+geflochten waren. Eine angenehme Kühle wehte in dem Hause; denn die
+Fenster, durch welche die Sonne herein scheinen konnte, waren durch
+gegliederte Balken zu schützen. Da wir wieder aus dem Innern dieses
+Gartenhauses getreten waren, besuchten wir noch einmal den Obstgarten
+und gingen bis an sein Ende. Da wir an das Gartengitter gekommen
+waren, sagte Alfred: >Hier ist der Garten zu Ende und wir müssen
+wieder umkehren.<«
+
+»Das taten wir auch, wir gingen wieder zu dem Eingangstore zurück,
+durchschritten es, begaben uns in das Haus, und ich führte Alfred zu
+seiner Mutter.«
+
+»Das war das Haus und der Garten in Heinbach, der Besitzung des Herrn
+und der Frau Makloden.«
+
+»Der erste Tag verging sehr gut, so auch ein zweiter, ein dritter und
+mehrere. Ich wohnte mich in meine zwei Zimmer ein, und die Stille des
+Landes tat mir in meiner jetzigen Gemütsverfassung sehr wohl. Für
+den Unterricht Alfreds war in der Art gesorgt, daß der Graf, dessen
+Meiereien in der Nähe von Heinbach lagen, und ein Herr von Heinbach,
+wie man Makloden jetzt auch nannte, eine Summe stifteten und dem
+Lehrer der Gemeinde Heinbach zulegten unter der Bedingung, daß ein
+in gewissen Fächern gebildeter Mann stets diese Stelle bekleide,
+welchen sie in Vorschlag zu bringen das Recht hatten und der die
+Verbindlichkeit übernahm, die Kinder des Hauses Heinbach und die des
+Verwalters der Meiereien in ihren Wohnungen zu unterrichten, wofür er
+aber besonders bezahlt wurde. Die Schule und die Kirche Heinbach waren
+eine kleine halbe Wegstunde von dem Herrenhause entfernt. Der Lehrer
+kam jeden Nachmittag herüber und blieb eine Zeit bei Alfred. Mathilde
+wurde nur mehr in seltenen Stunden noch von ihm unterrichtet. Für
+Alfred sollte ich die Art der Lehrstunden einrichten, was ich auch
+im Übereinkommen mit dem Lehrer, der ein sehr bescheidener und nicht
+ungebildeter junger Mann war, tat. Den Unterricht in gewissen Dingen,
+jetzt vor allem den Sprachunterricht, behielt ich mir vor. So kam die
+Sache in den Gang und so ging sie fort.«
+
+»Das Leben in Heinbach war wirklich sehr einfach.
+
+Man stand mit der Morgensonne auf, versammelte sich in dem
+Speisezimmer zum Frühmahle, dem einiges Gespräch folgte, und ging dann
+an seine Geschäfte. Die Kinder mußten ihre Aufgaben machen, von denen
+Mathilde besonders von der Mutter manche in einigen Zweigen bekam. Der
+Vater ging in seine Stube, las, schrieb oder er sah in dem Garten oder
+in dem kleinen Grundbesitze nach, der zu dem Hause gehörte. Ich war
+teils in meiner Wohnung mit meinen Arbeiten, die ich in der Stadt
+begonnen hatte und hier fortsetzte, beschäftigt, teils war ich in
+Alfreds Zimmer und überwachte und leitete, was er zu tun hatte. Die
+Mutter stand mir hierin bei, und sie hielt es für ihre Pflicht, noch
+mehr um Alfred zu sein als ich. Der Mittag versammelte uns wieder in
+dem Speisezimmer, am Nachmittage waren Lehrstunden und der Rest des
+Tages wurde zu Gesprächen, zu Spaziergängen, zum Aufenthalte im Garten
+oder, besonders wenn Regenwetter war, zum gemeinschaftlichen Lesen
+eines Buches benutzt. Was man im Freien tun konnte, wurde lieber im
+Freien als in Zimmern abgemacht. Besonders war hiezu der Aufenthalt
+unter den Linnendächern am Hause geeignet, den die Mutter sehr liebte.
+Stundenlang war sie mit irgend einer weiblichen Arbeit und die Kinder
+mit ihrem Schreibzeuge oder mit Büchern auf diesem Platze beschäftigt.
+Dies war besonders der Fall, wenn die Vormittagssonne die Luft
+durchwürzte und doch noch nicht so viel Kraft hatte, die Mauern zu
+erhitzen und den Aufenthalt an ihnen zu verleiden. Auch wurden die
+mannigfaltigen Bänkchen auf dem Rasenplatze, vor welche man Tischchen
+stellte, und das Innere des Rosenhauses benützt. Zuweilen wurden
+größere Spaziergänge verabredet. An solchen Tagen waren keine
+Lehrstunden, man bestimmte die Zeit, in welcher fortgegangen
+werden sollte, alle mußten gerüstet sein, und mit dem betreffenden
+Glockenschlage wurde aufgebrochen. Wir besuchten zuweilen einen Berg,
+einen Wald oder gingen durch schöne, ansprechende Gründe. Manches Mal
+war es auch eine Ortschaft, in welche wir uns begaben. Um das Haus
+lagen in geringen Entfernungen Besitztümer von Familien, mit denen
+die Bewohner von Heinbach Umgang pflegten. Öfter fuhr ein Wagen vor
+unserem Hause vor, öfter fuhr der unsere in die Nachbarschaft. Die
+Kinder mischten sich zur Geselligkeit und ältere traten zusammen. Die
+Mutter Alfreds sah es gerne, wie sie mir sagte, wenn eine Freundin
+Mathildens bei ihr durch längere Zeit verweilte, sie aber konnte sich
+nie entschließen, ihre Tochter zu anderen Leuten auf Besuch zu geben.
+Sie wollte nicht getrennt sein. Auch, meinte sie, würde sich Mathilde
+fern von ihr nicht wohl fühlen. Von Künsten wurde bei wechselseitigen
+Besuchen vorzüglich die Musik geübt. Es war der Gesang, der gepflegt
+wurde, das Clavier, und zu vierstimmigen Darstellungen die Geigen. Der
+Vater Alfreds schien mir ein Meister auf der Geige zu sein. Wir hörten
+solchen Vorstellungen zu. Wir Unbeschäftigten sahen aber auch sehr
+gerne zu, wenn die Kinder auf dem Rasenplatze hüpften und sich in
+ihren Spielen ergötzten. Bei alle dem besorgte die Mutter Alfreds
+aber auch ihr ausgedehntes Hauswesen. Sie gab den Dienern und Mägden
+hervor, was das Haus brauchte, sorgte für die richtige und zweckmäßige
+Verwendung, leitete die Einkäufe und ordnete die Arbeiten an. Die
+Bekleidung des Herrn, der Frau und der Kinder war sehr ausgezeichnet,
+aber auch sehr einfach und wohlbildend. Nach dem Abendessen saß man
+oft noch eine geraume Weile in Gesprächen bei dem Tische, und dann
+suchte jedes sein Zimmer.«
+
+»So war eine Zeit vergangen, und so kam nach und nach der Herbst. Ich
+lebte mich immer mehr in das Haus ein und fühlte mich mit jedem Tage
+wohler. Man behandelte mich sehr gütig. Was ich bedurfte, war immer
+da, ehe das Bedürfnis sich noch klar dargestellt hatte. Aber auch
+nicht bloß das wurde hergestellt, was ich bedurfte, sondern auch das,
+was zum Schmucke des Lebens geeignet ist. Blumen, die ich liebte,
+wurden in Töpfen in meine Zimmer gestellt, ein Buch, ein neues
+Zeichnungsgeräte fand sich von Zeit zu Zeit ein, und da ich einmal auf
+mehrere Tage abwesend war, sah ich bei meiner Rückkehr meine Wohnung
+mit Farben bekleidet, die ich einmal bei einem Besuche in einem
+Nachbarschlosse sehr gelobt hatte.
+
+Bei Spaziergängen gesellte sich der Vater Alfreds gerne zu mir, wir
+gingen abgesondert von den Andern und führten Gespräche, die mir in
+dem, was er sagte, sehr inhaltreich schienen. Ebenso war die Mutter
+Alfreds nicht ungeneigt, sich mit mir zu besprechen. Wenn ich in
+Alfreds Zimmer war, das an das ihrige grenzte, kam sie gerne herein
+und sprach mit mir, oder sie ließ mich in ihr Zimmer treten, wies mir
+einen Sitz an und redete mit mir. Ich hatte ihr nach und nach alle
+meine Familienverhältnisse erzählt, sie hatte teilnehmend zugehört und
+hatte manches Wort gesprochen, das höchst wohltätig in meine Seele
+ging. Alfred war mir gleich in den ersten Tagen zugetan, und diese
+Neigung wuchs. Sein Wesen war nicht verbildet. Er war körperlich sehr
+gesund, und dies wirkte auch auf seinen Geist, der nebstdem überall
+von den Seinigen mit Maß und Ruhe umgeben war. Er lernte sehr genau
+und lernte leicht und gut, er war folgsam und wahrhaftig. Ich wurde
+ihm bald zugeneigt. Noch ehe der Winter kam, verlangte er, daß er
+nicht mehr neben der Mutter, sondern neben mir wohnen solle, er sei ja
+kein so kleiner Knabe mehr, daß er die Mutter immer brauche, und er
+müsse nun bald neben den Männern sein. Man willfahrte ihm auf meine
+Bitte, er bekam ein Zimmer neben mir, und der Diener, der bis jetzt
+nebst andern meine Aufträge zu besorgen gehabt hatte, wurde uns
+gemeinschaftlich beigegeben. Sein Körper entwickelte sich auch
+ziemlich regsam, er war in dem Sommer gewachsen, sein Haupt war
+regelmäßiger und sein Blick war stärker geworden.«
+
+»So endete der Herbst, und als bereits die Reife an jedem Morgen auf
+den Wiesen lagen, zogen wir in die Stadt. Hier änderte sich Manches.
+Alfred und ich wohnten wohl wieder neben einander; aber statt des
+Himmels und der Berge und der grünen Bäume sahen Häuser und Mauern in
+unsere Fenster herein. Ich war es von früherem Stadtleben gewohnt, und
+Alfred achtete wenig darauf. Es wurden mehr Lehrer in mehr Fächern
+genommen, und die Lehrstunden waren gedrängter als auf dem Lande. Auch
+kamen wir mit viel mehr Menschen in Berührung und die Einwirkungen
+vervielfältigten sich. Aber auch hier wurde ich nicht minder gut
+behandelt als auf dem Lande. Ich wurde nach und nach zur Familie
+gerechnet, und alles was überhaupt der Familie gemeinschaftlich
+zukam, wurde auch mir zugeteilt. Die Mutter Alfreds sorgte für meine
+häuslichen Angelegenheiten, und nur die Anschaffung von Kleidern,
+Büchern und dergleichen war meine Sache.«
+
+»Als kaum die ersten Frühlingslüfte kamen, gingen wir wieder nach
+Heinbach. Mathilde, Alfred und ich saßen in einem Wagen, der Vater
+und die Mutter in einem anderen. Alfred wollte nicht von mir getrennt
+sein, er wollte neben mir sitzen. Man mußte es daher so einrichten,
+daß Mathilde uns gegenüber saß. Sie war, als ich das Haus betreten
+hatte, noch nicht völlig vierzehn Jahre alt. Jetzt ging sie gegen
+fünfzehn. Sie war in dem vergangenen Jahre bedeutend gewachsen, so
+daß sie wohl so groß war wie ein vollendetes Mädchen. Ihr Körper war
+äußerst schlank, aber sehr gefällig gebildet. Man kleidete sie gerne
+in dunkle Stoffe, die ihr wohl standen. Wenn sie in dem tiefen Blau
+oder in dem Nelkenbraun oder in der Farbe des Veilchens ging und das
+schöne Weiß das Kleid oben säumte, so wurde eine Anmut sichtbar, die
+gleichsam sagte, daß alles sei, wie es sein muß. Ihre Wangen waren
+sehr frisch, sanft rot und wurden jetzt ein wenig länglich, ihr Mund
+war fast rosenrot, die großen Augen waren sehr glänzend schwarz, und
+die reinen braunen Haare gingen von der sanften Stirne zurück. Die
+Mutter liebte sie sehr, sie ließ sie fast gar nicht von sich, sprach
+mit ihr, ging mit ihr spazieren, unterrichtete sie auf dem Lande
+selber und wohnte in der Stadt jeder Unterrichtsstunde bei, die ein
+fremder Lehrer erteilte. Nur mit mir und Alfred ließ sie sie im
+vergangenen Sommer oft im Garten auf dem Rasenplatze, ja sogar in
+der Gegend herum gehen. Da ging ich mit beiden Kindern, fragte sie,
+erzählte ihnen, ließ mich selber fragen und ließ mir erzählen. Alfred
+hielt mich größtenteils an der Hand oder suchte sich überhaupt
+irgendwie an mich anzuhängen, sei es selbst mit einem Hakenstäbchen,
+das er sich von irgend einem Busche geschnitten hatte. Mathilde
+wandelte neben uns. Ich hatte nur den Auftrag, zu sorgen, daß sie
+keine heftigen Bewegungen mache, welche an sich für ein Mädchen nicht
+anständig sind und ihrer Gesundheit schaden könnten, und daß sie nicht
+in sumpfige oder unreine Gegenden komme und sich ihre Schuhe oder ihre
+Kleider beschmutze; denn man hielt sie sehr rein. Ihre Kleider mußten
+immer ohne Makel sein, ihre Zähne, ihre Hände mußten sehr rein sein,
+und ihr Haupt und ihre Haare wurden täglich so vortrefflich geordnet,
+daß kein Tadel entstehen konnte. Ich zeigte den Kindern die Berge,
+die zu sehen waren, und nannte sie, ich lehrte sie die Bäume, die
+Gesträuche und selbst manche Wiesenpflanzen kennen, ich las ihnen
+Steinchen, Schneckenhäuschen, Muscheln auf und erzählte ihnen von dem
+Haushalte der Tiere, selbst solcher, die groß und mächtig sind und in
+entfernten Wäldern oder gar in Wüsten wohnen. Alfred liebte das Walten
+und das Tun der Vögel sehr, besonders ihren Gesang. Er freute sich,
+aus dem Fluge einen Vogel zu erraten, und wenn die Stimmen in dem
+Gebüsche oder im Walde ertönten, konnte er alle die Sänger herzählen,
+von denen sie strömten. Er lehrte dies ein wenig auch Mathilden
+und fragte sie bei manchem Laute, woher er rühre. Ich hatte die
+Vorschriften der Mutter nie überschritten, und Mathilde gewann an
+Schönheit des Aussehens und an Gesundheit durch diese Spaziergänge.
+So wie die Mutter im Sommer und Herbste sie mit uns hatte herum gehen
+lassen, so ließ sie sie jetzt mit uns fahren. Sie saß zwei Tage uns
+gegenüber. Es war am Morgen und Abende noch ziemlich kühl. Ich hatte
+einen Mantel, und Alfred war in einen warmen Überrock geknöpft.
+Mathilde hatte über ihr dunkles Wollkleid, aus dem nicht einmal die
+Spitzen ihrer Schuhe hervorsahen, ein Mäntelchen, das ihren ganzen
+Oberkörper bis an das Kinn verhüllte, auf dem Haupte hatte sie
+einen warmen, wohlgefütterten Hut, dessen weite Flügel sich wohl
+anschmiegten, so daß nichts, als beinahe nur die Wangen, welche in
+der Märzluft noch röter geworden waren, und die glänzenden Augen
+hervorsahen. Wir beredeten, was wir in dem nächsten Sommer vornehmen
+wollten. Der Hauptinhalt unserer Gespräche aber war, daß alles, was
+uns auf unserem Wege oder in dessen Nähe begegnete, bemerkt wurde, daß
+wir es nannten und darüber sprachen. So kamen wir endlich bei heiterem
+und klarem Märzwetter in Heinbach an. Die Bäume vor den Fenstern
+hatten noch kein Laub, der Garten war öde und die Felder waren noch
+nicht grün, außer dort, wo sie die Wintersaaten trugen.«
+
+»Obwohl es draußen sehr unwirtlich war, wenn man den äußerst
+freundlichen blauen Himmel abrechnet, so war es in dem Hause sehr
+heimisch. Alles war auf das Reinlichste geputzt und zu dem Empfange
+der Bewohner hergerichtet. Die Zimmer glänzten, die Fenster
+spiegelten, durch die Vorhänge schien eine helle Märzsonne herein und
+in den Kaminen brannte ein behagliches Feuer. Meine zwei Gemächer
+waren um ein sehr liebliches Eckzimmerchen vermehrt worden, und man
+hatte mir schönere und bequemere Geräte in meine Wohnung gestellt.
+Ich traf jetzt die Veranstaltung, daß die Tür von meiner Wohnung in
+Alfreds Zimmer immer offen war, daß beide Wohnungen eine bildeten und
+daß ich gleichsam neben einem jüngeren Bruder lebte. Hatte ich eine
+Arbeit vor, bei der eine Störung hindernd gewesen wäre, so ging ich in
+mein Eckzimmer.«
+
+»Das Leben in dem Landhause begann jetzt wieder wie in dem vorigen
+Sommer. Wenn auch noch kein Laub auf den Bäumen war, wenn sich das
+Grün der Wiesen noch dürftig zeigte und auf den Feldern für die
+Sommerfrucht noch die nackte Scholle lag, so gingen wir doch schon
+vielfach spazieren. Alfred und ich gingen täglich, selbst wenn trübes
+Wetter war, nur nicht, wenn heftiger Regen von dem Himmel strömte.
+Wenn nach einem klaren Morgen, an dem wir noch die Erde und die Dächer
+weiß gesehen hatten, ein heiterer Tag kam und die Wege trocken waren,
+ging Mathilde mit uns, und wir führten sie auf Anhöhen oder Felder, wo
+wir kurz vorher die schönsten Triller der Lerchen gehört hatten. Diese
+Sänger waren die einzigen, die mit uns schon die Gegend bevölkerten.«
+
+»Nach und nach wurde das Weiß auf Feld und Wiesen seltener, die Sonne
+schien kräftiger, das Feuer in den Kaminen war nicht mehr nötig,
+die Wiesen gewannen Grün, die Bäume Knospen und an den Zweigen der
+Lattenpfirsiche im Garten erschienen einzelne Blüten. Die Sänger
+der Luft erschienen in verschiedenen Gestalten und Farben. Wenn ich
+irgendwo Veilchen oder andere Frühlingsblumen fand, welche Mathilde
+nicht mit uns hatte pflücken können, so brachte ich sie ihr in einem
+Strauße für das Blumenglas ihres Tischchens nach Hause. Als Dank für
+solche Aufmerksamkeiten erhielt ich zu meinem Geburtsfeste, welches in
+die ersten Tage des Frühlings fiel, von ihrer Hand gestickt ein rundes
+Deckchen, worauf ein silberner Handleuchter, den mir Mathildens Mutter
+gab, zu stehen bestimmt war.«
+
+»Der Frühling war endlich mit voller Pracht gekommen. Im vergangenen
+Jahre hatte ich ihn in dieser Gegend nicht gesehen, weil ich erst
+später angelangt war. Überhaupt hatte ich meines längern Stadtlebens
+willen schon lange nicht einen vollkommenen Frühling in der Tiefe des
+Landes erblickt. Nur an der Grenze des Landes, das heißt, wo es an die
+Stadt reicht, hatte ich den einen oder andere Frühlingstag zugebracht
+oder irgend einen Sonnenblick erlauscht. Das teilt man aber mit
+Vielen, die aus der Stadt hinaus kommen, und muß es im Gedränge und
+Staube genießen. In Heinbach war Einsamkeit und Stille, die blaue Luft
+schien unermeßlich, und die Blütenfülle wollte die Bäume erdrücken.
+Jeden Morgen strömte neue Würze durch die geöffneten Fenster. Man
+fühlte in Heinbach, wie sehr mich Ungewohnten dieser Reichtum
+überrasche und freue, und man suchte mir diese Freude auf jede Weise
+noch fühlbarer zu machen und sie zu erhöhen. Jeden Tag wurden die
+Blumen in meiner Wohnung durch neu aufgeblühte aus den Gewächshäusern
+ersetzt. Wenn in dem freien Grunde sich etwas zeigte, sei es ein
+Gesträuch, sei es eine Blume, so machte man mich darauf aufmerksam,
+man brachte den größten Teil der Zeit im Freien zu, und machte weit
+öfter und weit längere Spaziergänge als sonst. Mathilde erzählte
+mir es, wenn sie den Gesang eines Vogels gehört hatte, wenn Faltern
+vorüber geflogen waren, wenn sich ein Becher in einem Gebüsche
+geöffnet hatte, ja sie gab mir zuweilen Blumen, um sie in meiner
+Wohnung aufzubewahren.«
+
+»So verging der Frühling, und der Sommer rückte vor.
+
+War mir das Leben im vergangenen Jahre in dieser Familie angenehm
+gewesen, so war es mir in diesem noch angenehmer. Wir gewöhnten uns
+immer mehr an einander, und mir war zuweilen, als hätte ich wieder
+eine unzerstörbare Heimat. Der Herr des Hauses zeichnete mich aus, er
+besuchte mich oft in meiner Wohnung und sprach lange mit mir, er lud
+mich zu sich, zeigte mir seine Sammlungen, seine Arbeiten und sprach
+über Gegenstände, die bewiesen, daß er mich auch achte. Mathildens
+Mutter war sehr liebreich, freundlich und gütig. Sie sorgte wie früher
+für mich; aber sie tat es einfacher und fast wie ein Ding, das sich
+von selber verstehe. Wir waren oft alle in ihrem Zimmer und spielten
+ein kindisches Spiel oder trieben Musik. Alfred hatte gleich Anfangs
+schon viel Zutrauen zu mir gezeigt, dieses Zutrauen war immer
+gewachsen und war dann unbedingt geworden. Er war ein vortrefflicher
+Knabe, offen, klar, einfach, gutmütig, lebendig, ohne doch einem
+heftigen Zorne anheimzufallen, heiter, unschuldig und folgsam. Er war
+jetzt gegen neun Jahre alt, entwickelte sich stets fröhlicher und
+gewann am Geiste sowie am Körper. Mathilde wurde immer herrlicher,
+sie war zuletzt feiner als die Rosen an dem Gartenhause, zu denen wir
+sehr gerne gingen. Ich liebte beide Kinder unsäglich. Wenn Alfred
+Unterrichtsstunde hatte, war ich dabei und leitete und überwachte sie,
+ich überwachte sein Lernen und fragte ihn immer um das Gelernte, damit
+er sich bei dem Lehrer keine Blöße gebe. Die Gegenstände, die ich mit
+ihm vornahm, vermehrte ich ansehnlich, ich suchte sie ihm recht gut
+beizubringen, und er lernte sie auch besser als früher bei andern
+Lehrern. Vater und Mutter waren oft bei dem Unterrichte zugegen und
+überzeugten sich von den Fortschritten. Mathilde nahm ich nicht nur
+sehr gerne, sondern viel lieber als früher zu unsern Spaziergängen
+mit. Ich sprach mit ihr, ich erzählte ihr, ich zeigte ihr Gegenstände,
+die an unserm Wege waren, hörte ihre Fragen, ihre Erzählungen und
+beantwortete sie. Bei rauhen Wegen oder wo Nässe zu befürchten war,
+zeigte ich ihr die besseren Stellen oder die Richtungen, auf denen man
+trockenen Fußes gehen konnte. Zu Hause nahm ich an ihren Bestrebungen
+Anteil. Ich sah öfter ihre Zeichnungen an und gab ihr einen Rat, den
+sie sehr gerne verlangte und befolgte. Sie freute sich sehr, wenn das
+Veränderte dann viel besser aussah. Ich war dabei, wenn sie auf dem
+Claviere spielte, und hörte zu, so lange ihre Finger aus den Saiten
+die Töne hervor zu locken suchten. Ich schrieb ihr in Hefte sehr
+zierlich ab, wenn sie irgendwo einen Gesang hörte und sich denselben
+aus dem Gedächtnisse in Musiknoten aufschrieb. Dies war besonders in
+Hinsicht der Zither der Fall, die sie spielen zu lernen angefangen
+hatte, die sie sehr liebte und auf der sie bedeutende Fortschritte
+machte. Oft hörte die Mutter Mathildens mit Aufmerksamkeit zu, wenn
+sie anmutige Weisen aus den Metallsaiten hervorbrachte, und ich und
+Alfred regten uns nicht und lauschten. Ich las ihr und der Mutter aus
+ihren Büchern vor und bezeichnete schöne Stellen durch eingelegte
+Zeichen. Auch Blumen, Waldfrüchte und dergleichen brachte ich ihr,
+wenn ich dachte, daß sie ihr Freude machen könnten.«
+
+»Der Sommer war beinahe vergangen und der Herbst stand bevor. Wir
+hatten so viel getan, daß uns die Zeit sehr kurz schien. Wir waren uns
+auch genug, um unsere Stunden zu erfüllen. Wenn fremde Kinder zugegen
+waren, wenn Spiele veranstaltet waren und alle auf dem heiteren Rasen
+hüpften und sprangen, stand Mathilde seitwärts und sah teilnahmslos
+zu. Wir fuhren auch nicht so oft in die Nachbarschaft wie im
+vergangenen Jahre, und verlangten es auch nicht.«
+
+»Eines Tages nachmittags standen wir drei an dem Ausgange des langen
+Laubenweges, der mit Reben bekleidet ist und zu dem Obstgarten führt.
+Mathilde und ich standen ganz allein an der Mündung des Laubganges,
+Alfred war unter den Bäumen damit beschäftigt gewesen, einige
+Täfelchen, die an den Stämmen hingen und schmutzig geworden waren, zu
+reinigen, dann las er abgefallenes halbreifes Obst zusammen, legte
+es in Häufchen und sonderte das bessere von dem schlechteren ab. Ich
+sagte zu Mathilden, daß der Sommer nun bald zu Ende sei, daß die Tage
+mit immer größerer Schnelligkeit kürzer werden, daß bald die Abende
+kühl sein würden, daß dann dieses Laub sich gelb färben, daß man die
+Trauben ablesen und endlich in die Stadt zurückkehren würde.«
+
+»Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe.«
+
+»Ich sagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar so schön sei und
+daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden.«
+
+»>Es ist wirklich sehr schön<, antwortete sie, >hier sind wir alle
+viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird
+getrennt und es ist, als wäre man in eine andere Ortschaft gereist. Es
+ist doch das größte Glück, Jemanden recht zu lieben.<«
+
+»>Ich habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr<,
+erwiderte ich, >und ich weiß daher nicht, wie es ist.<«
+
+»>Man liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister<, sagte sie, >und
+andere Leute.<«
+
+»>Mathilde, liebst du denn auch mich?< erwiderte ich.«
+
+»Ich hatte sie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte
+in den Mund kamen, es war, als wären sie mir durch eine fremde Macht
+hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: >Gustav,
+Gustav, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist.<«
+
+»Mir brachen die heftigsten Tränen hervor.«
+
+»Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund
+und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und
+drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie
+nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte.«
+
+»Von jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer, als dieses
+süße Kind.«
+
+»Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend
+in unsäglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des
+Weinlaubes, und als sich, da sie den süßen Atem zog, ihr Busen hob und
+senkte, war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir, sondern
+eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fühlte
+mich beklommen.«
+
+»Nach einer Weile sagte ich: >Teure, teure Mathilde.<«
+
+»>Mein teurer, teurer Gustav<, antwortete sie.«
+
+»Ich reichte ihr die Hand und sagte: >Auf immer, Mathilde.<«
+
+»>Auf ewig<, antwortete sie, indem sie meine Hand faßte.«
+
+»In diesem Augenblicke kam Alfred auf uns herzu. Er bemerkte nichts.
+Wir gingen schweigend neben ihm in dem Gange dahin. Er erzählte uns,
+daß die Namen der Bäume, die auf weiße Blechtäfelchen geschrieben
+sind, welche Täfelchen an Draht von dem untersten Aste jedes Baumes
+hernieder hängen, von den Leuten oft sehr verunreinigt würden, daß man
+sie alle putzen solle, und daß der Vater den Befehl erlassen sollte,
+daß ein jeder, der einen Baum wäscht, putzt oder dergleichen oder der
+sonst eine Arbeit bei ihm verrichtet, sich sehr in Acht zu nehmen
+habe, daß er das Täfelchen nicht bespritzt oder sonst eine
+Unreinigkeit darauf bringt. Dann erzählte er uns, daß er schöne
+Borsdorfer Äpfel gefunden habe, welche durch einen Insektenstich zu
+einer früheren, beinahe vollkommenen Reife gediehen seien. Er habe sie
+am Stamme des Baumes zusammengelegt und werde den Vater bitten, sie zu
+untersuchen, ob man sie nicht doch brauchen könne. Dann seien viele
+andere, welche vor der Zeit abfielen, weil die Bäume heuer mit zu viel
+Obst beladen wären und ihre Kraft nicht genug ist, alle zur Reife zu
+bringen. Diese habe er auch zusammengelegt, so viele er in der ersten
+Baumreihe habe finden können. Sie werden wohl zu gar nichts tauglich
+sein. Er freue sich schon sehr auf den Herbst, wo man alles das
+herabnehmen werde und wo auch die schönen roten, blauen und goldgrünen
+Trauben von diesem Ganggeländer heruntergelesen werden würden. Es sei
+gar nicht mehr lange bis dahin.«
+
+»Wir sprachen nicht und gingen einige Male in dem Gange mit ihm hin
+und wider.«
+
+»Die große Erregung hatte sich ein wenig gelegt, und wir gingen in das
+Haus. Ich ging aber nicht mit Mathilden zu ihrer Mutter, wie ich sonst
+immer getan hatte, sondern nachdem ich Alfred in sein Zimmer geschickt
+hatte, schweifte ich durch die Büsche herum und ging immer wieder auf
+den Platz, von welchem ich die Fenster sehen konnte, innerhalb welcher
+die teuerste aller Gestalten verweilte. Ich meinte, ich müsse sie
+durch mein Sehnen zu mir herausziehen können. Es war erst ein
+Augenblick, seit wir uns getrennt hatten, und mir erschien es so
+lange. Ich glaubte, ohne sie nicht bestehen zu können, ich glaubte,
+jede Zeit sei ein verlornes Gut, in welcher ich das holde, schlanke
+Mädchen nicht an mein Herz drückte. Ich hatte früher nie irgend
+ein Mädchen bei der Hand gefaßt als meine Schwester, ich hatte nie
+mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick
+gewechselt. Dieses Gefühl war jetzt wie ein Sturmwind über mich
+gekommen. Ich glaubte sie durch die Mauern in ihrem Zimmer gehen
+sehen zu müssen mit dem langen kornblumenblauen Kleide, mit den
+glanzvollen Augen und dem rosenherrlichen Munde. Es bewegte sich der
+Fenstervorhang, aber sie war nicht an demselben; es schimmerte an dem
+Glase wie von einem rosigen Angesichte, aber es war nur ein schiefes
+Hereinleuchten der beginnenden Abendröte gewesen. Ich ging wieder
+durch die Büsche, ich ging durch den Weinlaubengang in den Obstgarten,
+der Weinlaubengang war mir jetzt ein fremdwichtiges Ding, wie
+ein Pallast aus dem fernsten Morgenlande. Ich ging durch das
+Haselnußgebüsch zu dem Rosenhause, es war, als blühten und glühten
+alle Rosen um das Haus, obwohl nur die grünen Blätter und die Ranken
+um dasselbe waren. Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurück und
+ging auf den Platz, von dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie
+beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich
+erblickt hatte, fuhr sie zurück. Auch mir war es gewesen, da ich die
+holde Gestalt sah, als hätte mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich
+ging wieder in die Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine
+Strecke Rasen säumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im
+Schatten ruhen zu können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück.
+Dann ging ich wieder auf ein Fleckchen Rasen und sah gegen die
+Fenster. Sie beugte sich wieder heraus. Dies taten wir ungezählte
+Male, bis der Flieder in dem Rot der Abendröte schwamm und die Fenster
+wie Rubinen glänzten. Es war zauberhaft, ein süßes Geheimnis mit
+einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein und es als Glut im
+Herzen zu hegen. Ich trug es entzückt in meine Wohnung.«
+
+»Als wir zum Abendessen zusammen kamen, fragte mich Mathildens Mutter:
+>Warum seid ihr denn heute, da ihr mit den Kindern aus dem Garten
+zurückgekehrt waret, nicht mehr zu mir gegangen?<«
+
+»Ich vermochte auf diese Frage nicht ein Wort zu antworten; es wurde
+aber nicht beachtet.«
+
+»Ich schlief in der ganzen Nacht kaum einige Augenblicke. Ich freute
+mich schon auf den Morgen, an dem ich sie wieder sehen würde. Wir
+trafen alle in dem Speisesaale zu dem Frühmahle zusammen. Ein Blick,
+ein leichtes Erröten sagte alles, sie sagten, daß wir uns besaßen
+und daß wir es wußten. Den ganzen Morgen brachte ich mit Alfred
+im eifrigen Lernen zu. Gegen Mittag, als Gräser und Laubblätter
+getrocknet waren, gingen wir in den Garten. Mathilde flog mit einem
+Buche, in dem sie eben gelesen hatte, aus dem Hause, sie eilte auf uns
+zu, und wir tauschten den Blick der Einigung. Sie sah mich innig an,
+und ich fühlte, wie meine Empfindung aus meinen Augen strömte. Wir
+gingen durch den Blumengarten und durch den Gemüsegarten auf den
+Weinlaubengang zu. Es war, als hätten wir uns verabredet, dorthin
+zu gehn. Mathilde und ich sprachen gewöhnliche Dinge, und in den
+gewöhnlichen Dingen lag ein Sinn, den wir verstanden. Sie gab mir ein
+Weinblatt, und ich verbarg das Weinblatt an meinem Herzen. Ich reichte
+ihr ein Blümchen, und sie steckte das Blümchen in ihren Busen. Ich
+nahm ihr das Papierstreifchen, welches als Merkmal in ihrem Buche
+steckte, und behielt es bei mir. Sie wollte es wieder haben, ich
+gab es nicht, und sie lächelte und ließ es mir. Wir kamen in das
+Haselgebüsch, durchstreiften es und traten vor die Rosen des
+Gartenhauses. Sie nahm einige welke Blätter ab und reinigte dadurch
+den Zweig. Ich tat das Nehmliche mit dem Nachbarzweige. Sie gab mir
+ein grünes Rosenblatt, ich knickte einen zarten Zweig, was eigentlich
+nicht erlaubt war, und gab ihr den Zweig. Sie wendete sich einen
+Augenblick ab, und da sie sich wieder uns zugewandt, hatte sie den
+Rosenzweig bei sich verborgen. Wir gingen in das Gartenhaus, sie
+stand an dem Tische und stützte sich mit ihrer Hand auf die Platte
+desselben. Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach einigen
+Augenblicken hatten sich unsere Finger berührt. Sie stand wie eine
+feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer
+hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine schwierige
+Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu stützen oder sie
+auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fürchteten wir, uns die Hände
+zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. Es ist nicht
+zu sagen, woher es kommt, daß vor einem Herzen die Erde, der Himmel,
+die Sterne, die Sonne, das ganze Weltall verschwindet, und vor dem
+Herzen eines Wesens, das nur ein Mädchen ist und das Andere noch ein
+Kind heißen. Aber sie war wie der Stengel einer himmlischen Lilie
+zaubervoll, anmutsvoll, unbegreiflich.«
+
+»Wir gingen wieder in das Haus, und wir gingen, ehe wir zu dem
+Mittagessen gerufen wurden, zu der Mutter. Bei der Mutter waren
+wir stiller und wortarmer als gewöhnlich. Mathilde suchte sich ein
+Papierstreifchen und legte es wieder an jener Stelle in das Buch, wo
+ich ihr das Merkzeichen herausgenommen hatte. Dann setzte sie sich zu
+dem Claviere und rief einzelne Töne aus den Saiten. Alfred erzählte,
+was wir in dem Garten getan hatten und berichtete der Mutter, daß wir
+verdorrte und unbrauchbare Blätter von den Rosenzweigen, die an den
+Latten des Gartenhauses angebunden sind, herabgenommen hätten.
+
+Hierauf wurden wir zu dem Mittagessen gerufen. Nachmittag war kein
+Spaziergang. Die Eltern gingen nicht, und ich schlug Alfred und
+Mathilden keinen vor. Ich nahm ein Buch eines Lieblingsdichters, las
+sehr lange, und feurige Tränen wie heiße Tropfen kamen öfter in meine
+Augen. Später saß ich auf der Bank in dem Fliedergebüsche und schaute
+zuweilen durch die Zweige auf die Wohnung Mathildens. Dort stand
+manches Mal das Mädchen, das so schön wie ein Engel war, an dem
+Fenster. Gegen den Abend spielte Mathilde in dem Zimmer der Mutter auf
+dem Claviere sehr ernst, sehr schön und sehr ergreifend. Dann nahm sie
+noch die Zither und spielte auf derselben ebenfalls. Die Saiten mußten
+sie so ergriffen haben, daß sie nicht aufhören konnte. Sie spielte
+immer fort, und die Töne wurden immer rührender und ihre Verbindung
+immer natürlicher. Die Mutter lobte sie sehr. Der Vater, welcher in
+einem Geschäfte in der nächsten kleinen Stadt gewesen war, kam endlich
+auch zur Mutter, und wir blieben in dem Zimmer derselben, bis wir zu
+dem Abendessen gerufen wurden. Der Vater nahm Mathilden an den Arm und
+führte sie zärtlich in den Speisesaal.«
+
+»Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben
+war ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß
+wir unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie
+geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor
+Alfred und vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber
+gaben und die wie von selber auf die Lippen kamen, machten sie wir uns
+gegenseitig kund. Tausend Fäden fanden sich, an denen unsere Seelen zu
+einander hin und her gehen konnten.
+
+Wenn wir in dem Besitze von diesen tausend Fäden waren, so fanden sich
+wieder tausend und mehrten sich immer. Die Lüfte, die Gräser, die
+späten Blumen der Herbstwiese, die Früchte, der Ruf der Vögel, die
+Worte eines Buches, der Klang der Saiten, selbst das Schweigen waren
+unsere Boten. Und je tiefer sich das Gefühl verbergen mußte, desto
+gewaltiger war es, desto drängender loderte es in dem Innern. Auf
+Spaziergänge gingen wir drei, Mathilde, Alfred und ich, jetzt weniger
+als sonst, es war, als scheuten wir uns vor der Anregung. Die Mutter
+reichte oft den Sommerhut und munterte auf. Das war dann ein großes,
+ein namenloses Glück. Die ganze Welt schwamm vor den Blicken, wir
+gingen Seite an Seite, unsere Seelen waren verbunden, der Himmel, die
+Wolken, die Berge lächelten uns an, unsere Worte konnten wir hören,
+und wenn wir nicht sprachen, so konnten wir unsere Tritte vernehmen,
+und wenn auch das nicht war, oder wenn wir stille standen, so wußten
+wir, daß wir uns besaßen, der Besitz war ein unermeßlicher, und wenn
+wir nach Hause kamen, war es, als sei er noch um ein Unsägliches
+vermehrt worden. Wenn wir in dem Hause waren, so wurde ein Buch
+gereicht, in dem unsere Gefühle standen, und das Andere erkannte die
+Gefühle, oder es wurden sprechende Musiktöne hervorgesucht, oder es
+wurden Blumen in den Fenstern zusammengestellt, welche von unserer
+Vergangenheit redeten, die so kurz und doch so lang war. Wenn wir
+durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er
+in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem
+Haselgebüsche war als wir, wenn er uns in dem Innern des Gartenhauses
+allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren, konnten uns
+die Hand reichen oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen
+Augenblick halten, die heißen Lippen an einander drücken und die Worte
+stammeln: >Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und
+nur dein, nur dein allein!<«
+
+»>O ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein und nur dein
+allein.<«
+
+»Diese Augenblicke waren die allerglückseligsten.«
+
+»So war der tiefe Herbst gekommen. Wir hatten in dem Reste des Sommers
+ein Äußeres nicht vermißt. Mathilde und Alfred hatten immer weniger
+verlangt, in die Nachbarschaft zu fahren, und so war es gekommen, daß
+auch die Eltern weniger fuhren und daß auch Fremde weniger zu uns
+kamen. Wenn sie aber da waren, wenn auch Alfred an den Spielen und
+Ergötzungen der Kinder Teil nahm, so war Mathilde doch teilnahmloser
+als je. Sie hielt sich ferne, wie eine, die nicht hieher gehört. Auch
+in ihrem körperlichen Wesen war in dieser kurzen Zeit eine große
+Veränderung vorgegangen. Sie war stärker geworden, ihre Wangen waren
+purpurner, ihre Augen glänzender geworden.
+
+Alfred liebte mich sehr. Neben seinen Eltern und seiner Schwester
+liebte er vielleicht nichts so sehr als mich, und ich vergalt es ihm
+mit ganzer Seele.«
+
+»Der späte Herbst war endlich dem Beginne des Winters gewichen. Wie
+wir sehr früh von der Stadt auf das Land gingen, so blieben wir auch
+sehr tief in die sinkende Jahreszeit hinein auf demselben. Alfreds
+Erwartung war in Erfüllung gegangen. Das Obst und die Trauben waren
+abgenommen worden. Auf den Zweigen der Bäume war kein Blatt mehr, und
+der Nebel und der Frost zogen sich durch die Gründe des Tales. Da
+gingen wir in die Stadt. Dort war Mathilde enger umgrenzt. Lehrer,
+Erziehungsstunden, Unterricht, Arbeiten drängten sich an sie heran.
+Ihr ganzes Wesen aber war begeisterter und getragener, und ich
+erschien mir reich, um Vieles reicher als die Besitzer all der Häuser,
+der Palläste und des Glanzes der ungeheuren Stadt. Wir konnten uns nur
+seltener sprechen; aber wenn sie mir auf dem Gange begegnete, wenn sie
+mir in dem Zimmer der Mutter einige Worte sagen konnte, wenn in der
+Menge das Geschick uns an einander vorüberführte oder wenn uns ein
+anderer geistiger Augenblick gegeben war, dann sagten mir ihre schönen
+Augen, dann sagten einige Worte, wie sehr wir uns liebten, wie
+unveränderlich diese Liebe sei und wie unbegrenzt unsere Seelen
+einander beherrschten. Sie wurde jetzt auch von andern Leuten bemerkt,
+und junge Männer richteten ihre Augen auf sie; aber wenn man ihr
+entgegen kam, wenn ihr gehuldigt wurde, wenn man sie in einer Familie
+feierte, so war sie ganz ruhig gegen diese Dinge, setzte ihnen gar
+keine Äußerung entgegen, und ihr engelschönes Wesen sagte mir, es
+sagte es nur von mir verstanden, daß sie mit ihrer wundervollen
+Gestalt, mit der Wärme ihrer Seele und dem Glanz ihres Aufblühens nur
+mich beglücke, und daß es ihr Wonne mache, mich beglücken zu können.
+Oft, wenn ich von weiten Gängen in der Stadt zurückkehrte und zu dem
+Hause kam, in welchem wir wohnten, blieb ich stehen und betrachtete
+das Haus. Es war merkwürdiger, es war gefeit worden vor den Häusern
+der Stadt, und mit Rührung sah ich auf die Mauern, innerhalb welcher
+das Wesen wohnte, das von überirdischen Räumen gekommen war, meine
+Seele zu erfüllen. Mathilde sah die Vergötterung, welche ich ihr
+weihte, sie sah dieselbe genau auf den geheimen Wegen, auf denen ich
+ihre Liebe erkannte, und Freude leuchtete darüber von ihrer Stirne,
+welche gleichfalls nur von mir gesehen wurde. Die Eltern Mathildens
+fingen auch an, sie in vorzüglichere Stoffe zu kleiden, als sie bisher
+getan hatten, und wenn sie mit edlen Gewändern angetan vor mir stand,
+kam sie mir ferner und näher, fremder und angehöriger vor als sonst.«
+
+»Eines Tages, als ich über die Treppe unsers Hauses, welches nur von
+unserer Familie allein bewohnt wurde, herabging, um einen Freund zu
+besuchen, begegnete mir Mathilde. Sie war mit der Mutter an das Haus
+gefahren, die Mutter war in dem Wagen sitzen geblieben, sie aber
+sollte hinaufgehen, um irgend etwas zu holen. Sie war in schwarze
+Seide gekleidet, ein seidenes Mäntelchen war um ihre Schultern, und
+aus dem Hute mit dem grünen Flore sah das blühende, durch die Kälte
+erfrischte Angesicht hervor. Da wir uns hinter einer Biegung der
+Treppe begegneten, wurde sie dunkelglühend. Ich erschrak und sagte
+aber: >O Mathilde, Mathilde, du himmelvolles Wesen, alle streben sie
+nach dir, wie wird das werden, o wie wird das werden?!<«
+
+»>Gustav, Gustav<, antwortete sie, >du bist der trefflichste von
+allen, du bist ihr König, du bist der Einzige, alles ist gut und
+herrlich, und Millionen Kräfte sollen es nicht zerreißen können.<«
+
+»Ich ergriff ihre Hand, ein glühender Kuß, nur einen Augenblick
+gegeben, aber mit fest aneinandergedrückten Lippen, bekräftigte die
+Worte. Ich hörte ihre Seide die Treppe emporrauschen, ich aber ging
+die Stufen hinunter. Da ich unten die gläserne Doppeltür der Treppe
+geöffnet hatte, sah ich den Wagen stehen. Hinter den Fenstern
+desselben saß freundlich die Mutter Mathildens und sah mich an. Ich
+grüßte sie ehrerbietig und ging vorüber. Ich ging nun nicht mehr zu
+dem Freunde, den ich hatte besuchen wollen.«
+
+»Mit Alfred betrieb ich das, was er zu lernen hatte, immer eifriger,
+ich war immer sorgsamer, daß er es gut inne habe, und legte, wo ich
+konnte, wie früher und in noch größerem Maße selber Hand an. Auch auf
+den Gang seiner Entwickelung im Allgemeinen suchte ich so einzuwirken,
+wie es mir nur möglich war. Ich sprach sehr viel mit ihm und ging sehr
+viel mit ihm um. Er schloß sich, da er es wohl wußte, daß ich ihn
+liebe, immer inniger an mich an, ja er schloß sich auf das Innigste
+und fast ausschließlich an mich. Er wohnte wie auf dem Lande so auch
+in der Stadt neben mir.«
+
+»Im ersten Frühlinge fuhren wir wieder wie im vorigen Jahre nach
+Heinbach. Es war wieder die Veranstaltung getroffen, daß Mathilde,
+Alfred und ich in einem Wagen fuhren. Alfred saß wieder neben mir und
+schmiegte sich an mich. Mathilde saß gegenüber. Und so konnten wir
+uns zwei Tage mit den Augen der Liebe ungehindert ansehen und konnten
+mit einander sprechen. Und wenn wir auch von gleichgültigen Dingen
+redeten, so hörten wir doch unsere Stimme, und in gewöhnlichen Dingen
+zitterte das tiefe Herz durch. Jene zwei Tage waren die glückseligsten
+meines Lebens.«
+
+»Auf dem Lande begann nun wieder ein Leben, wie es im vergangenen
+Jahre gewesen war. Wir waren ungebunden und konnten leichter unsere
+Seelen tauschen. Wir waren freier in dem Zimmer der Mutter oder in dem
+des Vaters, wir konnten den Garten besuchen, wir konnten unter den
+Bäumen des Rasenplatzes wandeln und wir konnten spazieren gehen. Am
+liebsten wurde uns der Weinlaubengang. Er war ein Heiligtum geworden,
+seine Zweige sahen uns vertraut an, seine Blätter wurden unsere
+Zeugen, und durch seine Verschlingungen bebte manches tiefe Wort und
+wehte mancher Hauch der unergründlichsten Glückseligkeit. Fast ebenso
+lieb war uns das Gartenhaus. Manchen Flug der Wonne deckte es mit
+seinen schützenden Mauern, und es umgab uns wie ein stiller Tempel,
+wenn wir alle drei eintraten und zwei Gemüter wallten. Wir gingen
+oft an diese beiden Orte. Die Verbindungsfäden wuchsen tausendfach,
+Mathilde wurde stets noch herrlicher, sie wurde von Andern immer
+heißer begehrt, aber ihre Seele schloß sich nur fester an die
+meinige.«
+
+»Ich machte jetzt oft sehr große Wege allein. Wenn ich so weit war,
+daß ich das Haus nicht mehr sehen konnte und wenn ich so dastand und
+die weißen Wolken betrachtete, die über dem Hause stehen mußten, und
+wenn ich auf den Wald sah, jenseits dessen das Haus sich befand, so
+kam eine tiefe Bewegung in mich. Und wenn ich dann nach Hause eilte,
+ins Innere der Mauern ging, sie da sah und an ihr die Freude des
+Wiedersehens erkannte, so frohlockte gleichsam springend mir das Herz
+in dem Busen über meinen unendlichen Besitz.«
+
+»Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein Übel in mein Glück
+bohrte. Es nagte der Gedanke an mir, daß wir die Eltern Mathildens
+täuschen. Sie ahnten nicht, was bestand, und wir sagten es ihnen
+nicht. Immer drückender wurde mir das Gefühl und immer ängstender
+lastete es auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches
+immer größer wird, wenn man es berührt.«
+
+»Eines Tages, da eben die Rosenblüte war, sagte ich zu Mathilden, ich
+wolle zur Mutter gehen, ihr alles entdecken und sie um ihr gütiges
+Vorwort bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut sein,
+sie wünsche es, und unser Glück müsse dadurch sich erst recht klären
+und befestigen.«
+
+»Ich ging nun zur Mutter Mathildens und sagte ihr alles mit schlichten
+Worten, aber mit zagender Stimme.«
+
+»>Ich habe das von euch nicht erwartet und nicht geahnt<, erwiderte
+sie, >ich kann euch auch einen Bescheid nicht geben. Ich muß erst mit
+meinem Gatten sprechen. Kommt in einer Stunde in mein Zimmer, und ich
+werde euch antworten.<«
+
+»Ich verbeugte mich, verließ ihr Gemach und begab mich in mein
+Eckzimmer.«
+
+»Als die Stunde vorüber war, ging ich in das Besuchzimmer der Mutter
+Mathildens. Sie erwartete mich schon. Sie saß an ihrem Tische, um den
+wir uns so oft versammelt hatten. Sie bot mir auch einen Stuhl an.
+Nachdem ich mich gesetzt hatte, sagte sie: >Mein Gatte ist mit mir
+gleicher Ansicht. Wir haben euch ein Vertrauen geschenkt, das so groß
+war, daß wir es nicht verantworten können. Ihr gabet uns Grund zu
+diesem Vertrauen. Wir wollen nicht weiter darüber rechten. Aber eins
+muß gesprochen werden. Die Verbindung, welche ihr beide geschlossen
+habt, ist ohne Ziel, wenigstens ist jetzt ein Ziel nicht abzusehen.
+Ihr mögt wohl beide einen gleichen Anteil an der Schließung dieses
+Bundes haben. Aber beide durftet ihr vielleicht an seine Folgen nicht
+gedacht haben, sonst könnten wir euch schwerer entschuldigen. Ihr habt
+euch nur eurem Gefühle hingegeben. Ich begreife das. Ich kann mir nur
+nicht erklären, daß ich es nicht schon früher begriffen habe. Ich habe
+euch so - so sehr vertraut. Hört mich aber jetzt an. Mathilde ist noch
+ein Kind, es muß eine Reihe von Jahren vergehen, in denen sie noch
+lernen muß, was ihr für ihren einstigen Beruf not tut, es muß noch
+eine Reihe von Jahren vergehen, ehe sie nur begreift, was der Bund
+ist, den sie eben geschlossen hat. Sie ist lebhaft, sie hat ein Gefühl
+von ihrer Seele Besitz nehmen lassen, welches ihr angenehm ist und
+welches wahrscheinlich diese ihre ganze Seele erfüllt. Sollen wir sie
+in diesem Gefühle befangen sein lassen in der ganzen Zeit, in der sie
+erst die wichtigsten Vorbereitungen zu ihrem künftigen Leben treffen
+muß, oder soll sie ruhiger sein, um diese Vorbereitungen in dem
+rechten Maße treffen zu können? Soll das Gefühl nun fortdauern, immer
+fort, bis wir sagen können, daß sie Braut sei? Wenn es fortdauert,
+wird es nicht peinigende Stunden bringen, da es nicht so bald in
+seinen natürlichen Abschluß gelangen kann und Zweifel, Ungeduld,
+Vorwärtstreiben, Unmut und Schmerz in seinem Gefolge führen? Wird es
+da nicht jene schönen, edlen, heitern, ruhigen Tage wegfressen, die
+der aufblühenden Jungfrau bestimmt sind, ehe sie den Brautkranz
+in ihre Haare flicht? Sind nicht oft frühzeitige, auf weite Ziele
+gerichtete Neigungen die Zerstörerinnen des Lebensglückes geworden?
+Wenn ihr Mathilden liebt, wenn ihr sie mit wahrhafter Liebe eures
+Herzens liebt, könnt ihr sie einer solchen Gefahr aussetzen
+wollen? Gräbt nicht tiefes Sehnen und heftiges Fühlen, durch Jahre
+fortgesetzt, alle Kräfte des Menschen an? Und wie, wenn die Neigung
+des einen schwindet und das andere trostlos ist? Oder wenn sie in
+beiden ermattet und eine Leere hinter sich läßt? Ihr werdet beide
+sagen, das sei bei euch nicht möglich. Ich weiß, daß ihr jetzt so
+fühlt, ich weiß, daß es bei euch vielleicht auch nicht möglich
+ist; allein ich habe oft gesehen, daß Neigungen aufhörten und sich
+änderten, ja daß die stärksten Gefühle, welche allen Gewalten
+trotzten, dann, da sie keinen andern Widerstand mehr hatten als
+die zähe, immer dauernde, aufreibende Zeit, dieser stillen und
+unscheinbaren Gewalt unterlegen sind. Soll Mathilde - ich will sagen
+eure Mathilde - dieser Möglichkeit anheimgegeben werden? Ist ihr das
+Leben, in das sie jetzt mit frischer Seele hinein sieht, nicht zu
+gönnen? Es ist größere Liebe, auf die eigene Seligkeit nicht achten,
+ja die gegenwärtige Seligkeit des geliebten Gegenstandes auch nicht
+achten, aber dafür das ruhige, feste und dauernde Glück desselben
+begründen. Das, glaube ich, ist eure und ist Mathildens Pflicht. Ihr
+könnt nur nicht einwenden, daß dieses Glück durch eine Verbindung,
+die sogleich geschlossen wird, zu begründen sei. Wenn auch Mathildens
+Vermögen so groß wäre, daß daraus ein Familienbesitzstand gegründet
+werden könnte, wenn ihr es auch über euch vermöchtet, von dem
+Vermögen eurer Gattin wenigstens eine Zeit hindurch zu leben, was ich
+bezweifle, so wäre damit doch noch nichts gewonnen, da Mathilde, wie
+ich sagte, die bei weitem größere Zahl von Eigenschaften noch nicht
+besitzt, welche eine Gattin und Mutter besitzen muß, da sie ferner
+nach den Ansichten, die wir über das körperliche Wohl unserer Kinder
+für unsere Pflicht halten, wenigstens vor sechs oder sieben Jahren
+sich nicht vermählen kann, und da also die Unsicherheit und Gefahr,
+wie ich früher sprach, auch bei dieser eurer Behauptung für sie und
+euch vorhanden wären. Da die Kinder in dem Alter Mathildens ihren
+Eltern ohne Bedingung zu folgen haben, und da gute Kinder, wozu ich
+Mathilden zähle, auch wenn es ihrem Herzen Schmerz macht, gerne
+folgen, weil sie der Liebe und der bessern Einsicht der Eltern
+vertrauen; so hätte ich nur sagen dürfen, mein Gatte und ich erkennen,
+daß zum Wohle Mathildens das Band, das sie geschlungen hat, nicht
+fortdauern dürfe und daß sie daher dasselbe abbrechen möge; allein
+ich habe euch die Gründe unserer Ansicht entwickelt, weil ich euch
+hochachte und weil ich auch gesehen habe, daß ihr mir zugetan seid,
+wie ja auch euer Geständnis beweist, welches freilich etwas früher
+hätte gemacht werden sollen. Erlaubt, daß ich nun auch von euch etwas
+spreche. Ihr seid, wenn auch älter als Mathilde, doch als Mann noch so
+jung, daß ihr die Lage in der ihr seid, kaum zu beurteilen fähig sein
+dürftet. Mein Gatte und ich sind der Ansicht, daß ihr, so weit wir
+euch kennen, durch euer Gefühl, das immer edel und warm ist, in
+die Neigung zu Mathilden, der wir auch als Eltern immerhin einigen
+Liebreiz zusprechen müssen, gestürzt worden seid, daß sich euch das
+Gefühl als etwas Hohes und Erhabenes angekündigt hat, das euch noch
+dazu so beseligte, und daß ihr daher an keinen Widerstand gedacht
+habt, der euch ja auch als Untreue an Mathilden erscheinen mußte.
+Allein eure Lage, in dieser Art genommen, darf nicht als die
+gesetzmäßige bezeichnet werden. Ihr seid so jung, ihr habt euch in den
+Anfang einer Laufbahn begeben. Ihr müßt nun in derselben fortfahren
+oder, wenn ihr sie mißbilligt, eine andere einschlagen. In ganz und
+gar keiner kann ein Mann von eurer Begabung und eurem inneren Wesen
+nicht bleiben. Welche lange Zeit liegt nun vor euch, die ihr benützen
+müßt, euch in jene feste Lebenstätigkeit zu bringen, die euch not tut,
+und euch jene äußere Unabhängigkeit zu erwerben, die ihr braucht,
+damit ihr Beides zur Errichtung eines dauernden Familienverhältnisses
+anwenden könnt. Welche Unsicherheit in euren Bestrebungen, wenn ihr
+eine verfrühte Neigung in dieselben hinein nehmt, und welche Gefahren
+in dieser euch beherrschenden Neigung für euer Wesen und euer Herz!
+Es wird euch beiden jetzt Schmerz machen, das geknüpfte Band zu lösen
+oder wenigstens aufzuschieben, wir wissen es, wir fühlen den Schmerz,
+ihr beide dauert uns, und wir machen uns Vorwürfe, daß wir die
+entstandene Sachlage nicht zu verhindern gewußt haben; aber ihr werdet
+beide ruhiger werden, Mathilde wird ihre Bildung vollenden können, ihr
+werdet in eurem zukünftigen Stande euch befestigst haben, und dann
+kann wieder gesprochen werden. Ihr hättet auch ohne diese Neigung
+nicht lange mehr in eurer gegenwärtigen Stellung bleiben können. Wir
+verdanken euch sehr viel. Unser Alfred und auch Mathilde reiften an
+euch sehr schön empor. Aber eben deshalb hätten wir es nicht über
+unser Gewissen bringen können, euch länger zu unserem Vorteile von
+eurer Zukunft abzuhalten, und mein Gatte hatte sich vorgenommen, mit
+euch über diese Sache zu sprechen. Überdenkt, was ich euch sagte. Ich
+verlange heute keine Antwort; aber gebt sie mir in diesen Tagen. Ich
+habe noch einen Wunsch, ich kenne euch und ich will ihn euch deshalb
+anvertrauen. Ihr habt eine sehr große Gewalt über Mathilden, wie
+wir wohl immer gesehen haben, wie sie uns in ihrer Größe aber nicht
+erschienen ist, wendet, wenn meine Worte bei euch einen Eindruck
+machten, diese Gewalt auf sie an, um sie von dem zu überzeugen, was
+ich euch gesagt habe, und um das arme Kind zu beruhigen. Wenn es euch
+gelingt, glaubt mir, so erweiset ihr Mathilden dadurch eine große
+Liebe, ihr erweiset sie euch und auch uns. Geht dann mit dem Eifer,
+der Begabung und der Ausdauer, wie ihr sie in unserem Hause bewiesen
+habt, an euren Beruf. Wir waren euch alle sehr zugetan, ihr werdet
+wieder Neigung und Anhänglichkeit finden, ihr werdet ruhiger werden
+und alles wird sich zum Guten wenden.<«
+
+»Sie hatte ausgesprochen, legte ihre schöne, freundliche Hand auf den
+Tisch und sah mich an.«
+
+»>Ihr seid ja so blaß wie eine getünchte Wand<, sagte sie nach einem
+Weilchen.«
+
+»In meine Augen drangen einzelne Tränen, und ich antwortete: >Jetzt
+bin ich ganz allein. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester sind
+gestorben.< Mehr konnte ich nicht sagen, meine Lippen bebten vor
+unsäglichem Schmerz.«
+
+»Sie stand auf, legte ihre Hand auf meinen Scheitel und sagte unter
+Tränen mit ihrer lieblichen Stimme: >Gustav, mein Sohn! Du bist es ja
+immer gewesen, und ich kann einen besseren nicht wünschen. Geht jetzt
+beide den Weg eurer Ausbildung, und wenn dann einst euer gereiftes
+Wesen dasselbe sagt, was jetzt das wallende Herz sagt, dann kommt
+beide, wir werden euch segnen. Stört aber durch Fortspinnen, Steigern
+und vielleicht Abarten eurer jetzigen heftigen Gefühle nicht die euch
+so nötige letzte Entwicklung.<«
+
+»Es war das erste Mal gewesen, daß sie mich du genannt hatte.«
+
+»Sie verließ mich und ging einige Schritte im Zimmer hin und wieder.«
+
+»>Verehrte Frau<, sagte ich nach einer Weile, >es ist nicht nötig,
+daß ich euch morgen oder in diesen Tagen antworte; ich kann es jetzt
+sogleich. Was ihr mir an Gründen gesagt habt, wird sehr richtig sein,
+ich glaube, daß es wirklich so ist, wie ihr sagt; allein mein ganzes
+Innere kämpft dagegen, und wenn das Gesagte noch so wahr ist, so
+vermag ich es nicht zu fassen. Erlaubt, daß eine Zeit hierüber vergehe
+und daß ich dann noch einmal durchdenke, was ich jetzt nicht denken
+kann. Aber eins ist es, was ich fasse. Ein Kind darf seinen Eltern
+nicht ungehorsam sein, wenn es nicht auf ewig mit ihnen brechen, wenn
+es nicht die Eltern oder sich selbst verwerfen soll. Mathilde kann
+ihre guten Eltern nicht verwerfen, und sie ist selber so gut, daß sie
+auch sich nicht verwerfen kann. Ihre Eltern verlangen, daß sie jetzt
+das geschlossene Band auflösen möge, und sie wird folgen. Ich will es
+nicht versuchen, durch Bitten das Gebot der Eltern wenden zu wollen.
+Die Gründe, welche ihr mir gesagt habt und welche in mein Wesen nicht
+eindringen wollen, werden in dem eurigen fest haften, sonst hättet
+ihr mir sie nicht so nachdrücklich gesagt, hättet sie mir nicht mit
+solcher Güte und zuletzt nicht mit Tränen gesagt. Ihr werdet davon
+nicht lassen können. Wir haben uns nicht vorzustellen vermocht, daß
+das, was für uns ein so hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil
+sein wird. Ihr habt es mir mit eurer tiefsten Überzeugung gesagt.
+Selbst wenn ihr irrtet, selbst wenn unsere Bitten euch zu erweichen
+vermöchten, so würde euer freudiger Wille, euer Herz und euer Segen
+mit dem Bunde nicht sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern,
+ein Bund mit der Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund
+der Trauer sein, er wäre ein ewiger Stachel, und euer ernstes oder
+bekümmertes Antlitz würde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist
+der Bund, und wäre er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so
+lange, als die Eltern ihm nicht beistimmen können. Eure ungehorsame
+Tochter würde ich nicht so unaussprechlich lieben können, wie ich sie
+jetzt liebe, eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele,
+wie fern ich auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden
+daher das Band lösen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag. - O
+Mutter, Mutter! - laßt euch diesen Namen zum ersten und vielleicht
+auch zum letzten Male geben -, der Schmerz ist so groß, daß ihn keine
+Zunge aussprechen kann und daß ich mir seine Größe nie vorzustellen
+vermocht habe!<«
+
+»>Ich bekenne es<, antwortete sie, >und darum ist ja der Kummer, den
+ich und mein Gatte empfinden, so groß, daß wir unserem teuren Kinde
+und euch, den wir auch lieben, die Seelenkränkung nicht ersparen
+können.<«
+
+»>Ich werde morgen Mathilden sagen<, erwiderte ich, >daß sie ihrem
+Vater und ihrer Mutter gehorchen müsse. Heute erlaubt mir, verehrte
+Frau, daß ich meine Gedanken etwas ordne - und daß ich auch noch
+andere Dinge ordne, die not tun.<«
+
+»Die Tränen waren mir wieder in die Augen getreten.«
+
+»>Sammelt euch, lieber Gustav<, sagte sie, >und tut, was ihr für gut
+haltet, sprecht mit Mathilden oder sprecht auch nicht, ich schreibe
+euch nichts vor. Es wird eine Zeit kommen, in der ihr einsehen werdet,
+daß ich euch nicht so unrecht tue, als ihr jetzt vielleicht glauben
+möget.<«
+
+»Ich küßte ihr die Hand, die sie mir gütig gab, und verließ das
+Zimmer.«
+
+»Am andern Tage bat ich Mathilden, mit mir einen Gang in den Garten
+zu machen. Wir gingen durch den ersten Teil desselben, und wir gingen
+durch den Weinlaubengang bis zu dem Gartenhause, an dem die Rosen
+blühten. Während wir so wandelten, sprachen wir fast kein Wort,
+außer daß wir sagten, wie uns hie und da eine Blume gefalle, wie das
+Weinlaub schön sei und wie der Tag sich so ausgeheitert habe. Wir
+waren zu gespannt auf das, was da kommen werde, Mathilde auf das, was
+ich ihr mitzuteilen habe, und ich auf das, wie sie die Mitteilung
+aufnehmen werde. In der Nähe des Gartenhauses war eine Bank, auf
+welche von einem Rosengebüsche Schatten fiel. Ich lud sie ein, mit mir
+auf der Bank Platz zu nehmen. Sie tat es. Es war das erste Mal, daß
+wir ganz allein in den Garten gingen und daß wir allein bei einander
+auf einer Bank saßen. Es war das Vorzeichen, daß uns dies in Zukunft
+entweder ungestört werde gestattet sein oder daß es das letzte Mal sei
+und daß man darum ein unbedingtes Vertrauen in uns setze. Ich sah,
+daß Mathilde das empfinde; denn in ihrem ganzen Wesen war die höchste
+Erwartung ausgeprägt. Deßohngeachtet rief sie mit keinem Worte den
+Anfang der Mitteilungen hervor. Mein Wesen mochte sie in Angst gesetzt
+haben; denn obwohl ich mir unzählige Male in der Nacht die Worte
+zusammengestellt hatte, mit denen ich sie anreden wollte, so
+konnte ich doch jetzt nicht sprechen, und obwohl ich suchte, meine
+Empfindungen zu bemeistern, so mochte doch der Schmerz in meinem
+Äußern zu lesen gewesen sein. Da wir schon eine Weile gesessen, waren,
+auf unsere Fußspitzen gesehen und, was zu verwundern war, uns nicht
+an der Hand gefaßt hatten, fing ich an, mit zitternder Stimme und mit
+stockendem Atem zu sagen, was ihre Eltern meinen, und daß sie den
+Wunsch hegen, daß wir wenigstens für die jetzige Zeit unser Band
+auflösen mögen. Ich ging auf die Gründe, welche die Mutter angegeben
+hatte, nicht ein, und legte Mathilden nur dar, daß sie zu gehorchen
+habe und daß unter Ungehorsam unser Bund nicht bestehen könne.«
+
+»Als ich geendet hatte, war sie im höchsten Maße erstaunt.«
+
+»>Ich bitte dich, wiederholt mir nur in Kurzem, was du gesprochen hast
+und was wir tun sollen<, sagte sie.«
+
+»>Du mußt den Willen deiner Eltern tun und das Band mit mir lösen<,
+antwortete ich.«
+
+»>Und das schlägst du vor, und das hast du der Mutter versprochen, bei
+mir auszuwirken?< fragte sie.«
+
+»>Mathilde, nicht auszuwirken<, antwortete ich, >wir müssen gehorchen;
+denn der Wille der Eltern ist das Gesetz der Kinder.<«
+
+»>Ich muß gehorchen<, rief sie, indem sie von der Bank aufsprang, >und
+ich werde auch gehorchen; aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern
+sind sie nicht. Du mußtest nicht hieher kommen und den Auftrag
+übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geschlossen hatten,
+aufzulösen. Du mußtest sagen: Frau, eure Tochter wird euch gehorsam
+sein, sagt ihr nur euren Willen; aber ich bin nicht verbunden, eure
+Vorschriften zu befolgen, ich werde euer Kind lieben, so lange ein
+Blutstropfen in mir ist, ich werde mit aller Kraft streben, einst in
+ihren Besitz zu gelangen. Und da sie euch gehorsam ist, so wird sie
+mit mir nicht mehr sprechen, sie wird mich nicht mehr ansehen, ich
+werde weit von hier fortgehen; aber lieben werde ich sie doch, so
+lange dieses Leben währt und das künftige, ich werde nie einer Andern
+ein Teilchen von Neigung schenken und werde nie von ihr lassen.
+So hättest da sprechen sollen, und wenn du von unserm Schlosse
+fortgegangen wärest, so hätte ich gewußt, daß du so gesprochen hast,
+und tausend Millionen Ketten hätten mich nicht von dir gerissen,
+und jubelnd hätte ich einst in Erfüllung gebracht, was dir dieses
+stürmische Herz gegeben. Du hast den Bund aufgelöset, ehe du mit mir
+hieher gegangen bist, ehe du mich zu dieser Bank geführt hast, die ich
+dir gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du getan hast. Wenn
+jetzt auch der Vater und die Mutter kämen und sagten: Nehmet euch,
+besitzet euch in Ewigkeit, so wäre doch alles aus. Du hast die Treue
+gebrochen, die ich fester gewähnt habe als die Säulen der Welt und die
+Sterne an dem Baue des Himmels.<«
+
+»>Mathilde<, sagte ich, >was ich jetzt tue, ist unendlich schwerer,
+als was du verlangtest.<«
+
+»>Schwer oder nicht schwer, von dem ist hier nicht die Rede<,
+antwortete sie, >von dem, was sein muß, ist die Rede, von dem, dessen
+Gegenteil ich für unmöglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie
+konntest du das tun?<«
+
+»Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete, gegen die Rosen, die
+an dem Gartenhause blühten, gewendet, in das Gras nieder, schlug die
+beiden Hände zusammen und rief unter strömenden Tränen: >Hört es, ihr
+tausend Blumen, die herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es
+du, Weinlaub, das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen
+hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge in keiner Sprache
+ausgesprochen werden kann. Dieses Herz ist jung an Jahren, aber es
+ist reich an Großmut; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten
+hingegeben, es war kein Gedanke in mir als er, das ganze künftige
+Leben, das noch viele Jahre umfassen konnte, hätte ich wie einen Hauch
+für ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langsam aus den
+Adern fließen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen - und ich
+hätte gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, daß er das weiß, weil ich
+gemeint habe, daß er es auch tun würde. Und nun führt er mich heraus,
+um mir zu sagen, was er sagte. Wären was immer für Schmerzen von Außen
+gekommen, was immer für Kämpfe, Anstrengungen und Erduldungen; ich
+hätte sie ertragen, aber nun er - er -! Er macht es unmöglich für
+alle Zeiten, daß ich ihm noch angehören kann, weil er den Zauber
+zerstört hat, der alles band, den Zauber, der ein unzerreißbares
+Aneinanderhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewigkeit malte.<«
+
+»Ich ging zu ihr hinzu, um sie empor zu heben. Ich ergriff ihre Hand.
+Ihre Hand war wie Glut. Sie stand auf, entzog mir die Hand, und ging
+gegen das Gartenhaus, an dem die Rosen blühten.«
+
+»>Mathilde<, sagte ich, >es handelt sich nicht um den Bruch der Treue,
+die Treue ist nicht gebrochen worden. Verwechsle die Dinge nicht. Wir
+haben gegen die Eltern unrecht gehandelt, daß wir ihnen verbargen,
+was wir getan haben, und daß wir in dem Verbergen beharrend geblieben
+sind. Sie fürchten Übles für uns. Nicht die Zerstörung unserer Gefühle
+verlangen sie, nur die Aufhebung des Äußerlichen unseres Bundes auf
+eine Zeit.<«
+
+»>Kannst du eine Zeit nicht mehr du sein?< erwiderte sie, >kannst du
+eine Zeit dein Herz nicht schlagen lassen? Äußeres, Inneres, das ist
+alles eins, und alles ist die Liebe. Du hast nie geliebt, weil du es
+nicht weißt.<«
+
+»>Mathilde<, antwortete ich, >du warst immer so gut, du warst edel,
+rein, herrlich, daß ich dich mit allen Kräften in meine Seele schloß:
+heute bist du zum ersten Male ungerecht. Meine Liebe ist unendlich,
+ist unzerstörbar, und der Schmerz, daß ich dich lassen muß, ist
+unsäglich, ich habe nicht gewußt, daß es einen so großen auf Erden
+gibt; nur der ist größer, von dir verkannt zu sein. Ich unterscheide
+nicht, wer dir das Gebot der Eltern hätte sagen sollen, es ist das
+einerlei, sie sind die Eltern, das Gebot ist das Gebot, und das
+Heiligste in uns sagt, daß die Eltern geehrt werden müssen, daß das
+Band zwischen Eltern und Kind nicht zerstört werden darf, wenn auch
+das Herz bricht, So fühlte ich, so handelte ich, und ich wollte dir
+das Notwendige recht sanft und weich sagen, darum übernahm ich die
+Sendung; ich glaubte, es könne dir niemand das Bittere so sanft und
+weich sagen wie ich, darum kam ich. Aus Güte, aus Mitleid kam ich.
+Die Pflicht leitete mich, in der Pflicht bricht mein Herz, und in dem
+brechenden Herzen bist du.<«
+
+»>Ja, ja, das sind die Worte<, sagte sie, indem ihr Schluchzen immer
+heftiger und fast krampfhaft wurde, >das sind die Worte, denen ich
+sonst so gerne lauschte, die so süß in meine Seele gingen, die schon
+süß waren, als du es noch nicht wußtest, denen ich glaubte wie der
+ewigen Wahrheit. Du hättest es nicht unternehmen müssen, mich zur
+Zerreißung unserer Liebe bewegen zu wollen, es soll, wenn hundertmal
+Pflicht, dir nicht möglich gewesen sein. Darum kann ich dir jetzt
+nicht mehr glauben, deine Liebe ist nicht die, die ich dachte und die
+die meinige ist. Ich habe den Vergleichpunkt verloren und weiß nicht,
+wie alles ist. Wenn du einst gesagt hättest, der Himmel ist nicht der
+Himmel, die Erde nicht die Erde, ich hätte es dir geglaubt. Jetzt weiß
+ich es nicht, ob ich dir glauben soll, was du sagst. Ich kann nicht
+anders, ich weiß es nicht, und ich kann nicht machen, daß ich es weiß.
+O Gott! daß es geworden ist, wie es ward, und daß zerstörbar ist, was
+ich für ewig hielt! Wie werde ich es ertragen können?<«
+
+»Sie barg ihr Angesicht in den Rosen vor ihr, und ihre glühende Wange
+war auch jetzt noch schöner als die Rosen. Sie drückte das Angesicht
+ganz in die Blumen und weinte so, daß ich glaubte, ich fühle das
+Zittern ihres Körpers oder es werde eine Ohnmacht ihren Schmerz
+erschöpfen. Ich wollte sprechen, ich versuchte es mehrere Male; aber
+ich konnte nicht, die Brust war mir zerpreßt und die Werkzeuge des
+Sprechens ohne Macht. Ich faßte nach ihrem Körper, sie zuckte aber
+weg, wenn sie es empfand. Dann stand ich unbeweglich neben ihr. Ich
+griff mit der bloßen Hand in die Zweige der Rosen, drückte, daß mir
+leichter würde, die Dornen derselben in die Hand und ließ das Blut an
+ihr nieder rinnen.«
+
+»Als das eine Zeit gedauert hatte, als sich ihr Weinen etwas gemildert
+hatte, hob sie das Angesicht empor, trocknete mit dem Tuche, das sie
+aus der Tasche genommen, die Tränen und sagte: >Es ist alles vorüber.
+Weshalb wir noch länger hier bleiben sollen, dazu ist kein Grund,
+lasse uns wieder in das Haus gehen und das Weitere dieser Handlung
+verfolgen. Wer uns begegnet, soll nicht sehen, daß ich so sehr geweint
+habe.<«
+
+»Sie trocknete neuerdings mit dem Tuche die Augen, ließ neue Tränen
+nicht mehr hervorquellen, richtete sich empor, strich sich die Haare
+ein wenig zurecht und sagte: >Gehen wir in das Haus.<«
+
+»Sie richtete sich mit diesen Worten zum Gehen gegen den
+Weinlaubengang, und ich ging neben ihr. Das Blut an meiner Hand konnte
+sie nicht sehen. Ich unternahm es nicht mehr, sie zu trösten, ich sah,
+daß ihre Verfassung dafür nicht empfänglich war. Auch erkannte ich,
+daß sie im Zorne gegen mich ihren Schmerz leichter ertrage, als wenn
+dieser Zorn nicht gewesen wäre. Wir gingen schweigend in das Haus.
+Dort gingen wir in das Zimmer der Mutter. Mathilde warf sich ihrer
+Mutter an das Herz. Ich küßte der Frau die Hand und entfernte mich.«
+
+»Den ganzen übrigen Teil des Tages verbrachte ich damit, meine Habe zu
+packen, um morgen dieses Haus verlassen zu können. Mathildens Vater
+besuchte mich einmal und sagte: >Kränket euch nicht zu sehr, es wird
+vielleicht noch alles gut.<«
+
+»Im Übrigen waren seine Gründe, die er freundlich und sanft sagte, die
+nehmlichen wie die seiner Gattin. Auch Mathildens Mutter kam einmal zu
+mir herüber, lächelte trübsinnig bei meinem Treiben und gab mir die
+Hand. Meine Hoffnungen waren düsterer, als es die dieser zwei Menschen
+zu sein schienen. Mathildens Glauben an mich war erschüttert. Da ich
+meine Absicht, morgen abreisen zu wollen, erklärt hatte, und man
+nichts mehr dagegen einwendete, was man Anfangs tat, rief ich Alfred
+und sagte ihm, daß ich nicht etwa eine größere Reise vor habe, wie er
+glauben mochte, sondern daß ich auf lange, vielleicht auf immer dieses
+Haus verlasse. Es seien Umstände eingetreten, die dies notwendig
+machten. Er fiel mir mit Schluchzen um den Hals, ich konnte ihn gar
+nicht besänftigen, ja ich weinte beinahe selber laut. Er wurde später
+zu beiden Eltern, die in der Schreibstube des Vaters waren, geholt,
+damit sie ihn beruhigten. Sein Schlafzimmer war heute unter der
+Aufsicht eines Dieners ein anderes. Als er in dasselbe gebracht worden
+war, ging ich zu den Eltern und sagte ihnen den Dank für alles Gute,
+das ich in ihrem Hause genossen habe. Sie dankten mir auch und ließen
+mich Hoffnungen erblicken. Es ward verabredet, daß ich mit den Pferden
+des Hauses auf die nächste Post gebracht werden solle. Mathilde
+erschien nicht zum Abendessen.«
+
+»Am nächsten Morgen wurde der Wagen bepackt. Ich machte mich
+reisefertig. Es war mir erlaubt worden, von Mathilden Abschied nehmen
+zu dürfen. Sie weigerte sich aber, mich zu sehen. Ich ging daher in
+meine Wohnung, reichte dem alten Raimund die Hand und sagte: >Lebe
+wohl, Raimund.<«
+
+»>Lebt recht wohl, junger Herr<, antwortete er, >und seid recht
+glücklich.<«
+
+»>Du weißt nicht, Raimund!<«
+
+»>Ich weiß, ich weiß, junger Herr - es kann ja werden.<«
+
+»>Lebe wohl.<«
+
+»Ich ging nun die Treppe hinab, er begleitete mich. Unten bei dem
+Wagen stand der Herr und die Frau des Hauses und mehrere von den
+Dienstleuten. Auch vom Meierhofe waren Leute herbei gekommen. Alfred,
+der spät entschlummert war, schlief noch; die Besitzer des Hauses
+nahmen auf eine auszeichnende Weise von mir Abschied, die Umstehenden
+beurlaubten sich auch, wünschten mir Glück und eine fröhliche
+Wiederkehr. Ich bestieg den Wagen und fuhr von Heinbach dahin.«
+
+»Der Besitzer dieses Hauses hatte mir einmal gesagt: >Vielleicht
+verlasset ihr einst unser Haus nicht mit Reue und Schmerz.<«
+
+»Ich verließ es nicht mit Reue, aber mit Schmerz.«
+
+»Er hatte auch die Vermutung ausgesprochen, daß mir etwa auch seine
+Familie unvergeßlich bleiben durfte. Sie blieb mir unvergeßlich.«
+
+»Ich verabschiedete auf der Post den Wagen aus Heinbach, das letzte
+Merkmal aus diesem Orte, und ließ mich nach der Stadt einschreiben, wo
+ich so lange gewesen war, wo ich meine Lernzeit vollendet hatte, von
+wo ich nach Heinbach gegangen war, und wo sich das Haus von Mathildens
+Eltern befand. Ich blieb aber nicht in der Stadt.«
+
+»In der Nähe meiner Heimat ist im Walde eine Felskuppe, von welcher
+man sehr weit sieht. Sie geht mit ihrem nördlichen Rücken sanft ab und
+trägt auf ihm sehr dunkle Tannen. Gegen Süden stürzt sie steil ab, ist
+hoch und geklüftet und sieht auf einen dünnbestandenen Wald, zwischen
+dessen Stämmen Weidegrund ist. Jenseits des Waldes erblickt man Wiesen
+und Feld, weiter ein blauliches Moor, dann ein dunkelblaues Waldband
+und über diesem die fernen Hochgebirge. Ich ging von der Stadt in
+meine Heimat und von der Heimat auf diese Felskuppe. Ich saß auf ihr
+und weinte bitterlich. Jetzt war ich verödet, wie ich früher nie
+verödet gewesen war. Ich sah in das dunkle Innere der Schlünde und
+fragte, ob ich mich hinabwerfen solle. Das Bild meiner verstorbenen
+Mutter mischte sich in diese unklare, schauerliche Vorstellung, und
+wurde mir ein Liebes, an das ich denken mußte. Ich ging täglich auf
+diese Kuppe und blieb oft mehrere Stunden auf ihr sitzen. Ich weiß
+nicht, warum ich sie suchte. In meiner Jugend war ich oft auf ihr, und
+wir machten uns das Vergnügen, Steine ziemlicher Größe von ihr hinab
+zu werfen, um den Steinstaub aufwirbeln zu sehen, wenn der Geworfene
+auf Klippen stieß, und um sein Gepolter in den Klippen und sein
+Rasseln in dem am Fuße des Felsens befindlichen Gerölle zu hören. Von
+dieser Kuppe war kein Einblick in jene Länder, in denen Mathildens
+Wohnung lag, man sah nicht einmal Gebirgszüge, die an sie grenzten.
+Ich ging auch nach und nach in anderen Teilen der Umgebung meines
+Heimatortes herum. Mein Schwager war ein sanfter und stiller Mann,
+und wir sprachen in meinem Geburtshause oft einen ganzen Tag hindurch
+nicht mehr als einige Worte.«
+
+»Als eine geraume Zeit vergangen war, dachte ich auf meine Abreise und
+auf meine Berufsarbeiten, die ich schon so lange vergessen hatte und
+auf die ich, in dem Hause in Heinbach befangen, vielleicht noch länger
+nicht gedacht haben würde.«
+
+»Ich ging wieder in die Stadt, in der ich meine Habe gelassen hatte,
+und widmete mich ernstlich der Laufbahn, zu welcher ich eigentlich
+die Vorbereitungsschulen besucht hatte. Ich meldete mich zum
+Staatsdienste, wurde eingereiht und arbeitete jetzt sehr fleißig in
+dem Bereiche der unteren Stellen, in welchen ich war. Ich lebte noch
+zurückgezogener als sonst. Mein kleines Gehalt und das Erträgnis
+meines Ersparten reichten hin, meine Bedürfnisse zu decken. Ich
+wohnte in einem Teile der Vorstadt, welcher von dem Hause der Eltern
+Mathildens sehr weit entfernt war. Im Winter ging ich fast nirgends
+hin als von meiner Wohnstube in meine Amtsstube, welcher Weg wohl sehr
+lange war, und von der Amtsstube in meine Wohnstube. Meine Nahrung
+nahm ich in einem kleinen Gasthause an meinem Wege ein. Freunde und
+Genossen besuchte ich wenig, mir war alle Verbindung mit Menschen
+verleidet. Als Erholung diente mir der Betrieb der Geschichte der
+Staatswissenschaften und der Wissenschaften der Natur. Ein Gang auf
+dem Walle der äußeren Stadt oder eine Wanderung in einem einsamen Teil
+der Umgebungen der Stadt gaben mir Luft und Bewegung. Mathilden sah
+ich einmal. Sie fuhr mit ihrer Mutter in einem offenen Wagen in einer
+der breiten Straßen der Vorstädte, in einer Gegend, in welcher ich
+sie nicht vermutet hatte. Ich blickte hin, erkannte sie und meinte
+umsinken zu müssen. Ob sie mich gesehen hat, weiß ich nicht. Ich ging
+dann in meine Amtsstube zu meinem Schreibtische. In der ersten Zeit
+wurde ich von meinen Vorgesetzten wenig beachtet. Ich arbeitete mit
+einem außerordentlichen Fleiße, er war mir Arznei für eine Wunde
+geworden, und ich flüchtete gern zu dieser Arznei. So lange alle diese
+Verhältnisse, welche in meinen Amtsgeschäften vorkamen, in meinem
+Haupte waren, war nichts Anderes darin. Schmerzvoll waren nur die
+Zwischenräume. Auch die Wissenschaften leiteten nicht so sicher ab.
+Mein Fleiß lenkte endlich die Aufmerksamkeit auf sich, man beförderte
+mich. Anfangs ging es langsamer, dann schneller. Nach dem Verlaufe
+von mehreren Jahren war ich in einer der ehrenvolleren Stellungen des
+Staatsdienstes, welche zu dem Verkehre mit dem gebildeteren Teile
+der Stadteinwohnerschaft berechtigten, und ich hatte die gegründete
+Aussicht, noch weiter zu steigen. In solchen Verhältnissen werden
+gewöhnlich die Ehen mit Mädchen aus ansehnlicheren Häusern
+geschlossen, welche dann zu glücklichem und ehrenvollem Familienleben
+führen. Mathilde mußte jetzt ein und zwanzig oder zwei und zwanzig
+Jahre alt sein. Irgend eine Annäherung ihrer Eltern an mich hatte
+nicht statt gefunden, auch konnte ich nicht die geringsten Merkmale
+auffinden, wie unermüdlich ich auch suchte, daß sie sich nach mir
+erkundigt hätten. Ich konnte also unmittelbare Schritte zur Annäherung
+an sie nicht tun. Ich leitete also solche mittelbar ein, welche
+sie auf die gewisseste Art von der Unwandelbarkeit meiner Neigung
+überzeugten. Ich erhielt die unzweideutigsten Beweise zurück, daß mich
+Mathilde verachte. Zu einer Verehelichung, wozu ihres Reichtums und
+ihrer unbeschreiblichen Schönheit willen sich die glänzendsten Anträge
+fanden, konnte sie nicht gebracht werden.
+
+Mit tiefem, schwerem Ernste breitete ich nun das Bahrtuch der
+Bestattung über die heiligsten Gefühle meines Lebens.«
+
+»Ich will euch nicht mit dem behelligen, wie es mir weiter in meiner
+Staatslaufbahn erging. Es gehört nicht hieher und ist euch wohl im
+Wesentlichen bekannt. Die Kriege brachen aus, ich wurde abwechselnd zu
+verschiedenen Stellen versetzt, große, umfassende Arbeiten, Reisen,
+Berichte, Vorschläge wurden erfordert, ich wurde zu Sendungen
+verwendet, kam mit den verschiedensten Menschen in Berührung, und der
+Kaiser wurde, ich kann es wohl sagen, beinahe mein Freund. Als ich in
+den Freiherrnrang erhoben wurde, kam mein alter Oheim Ferdinand aus
+der Entfernung zu mir, um, wie er sagte, mir seine Aufwartung zu
+machen. Obwohl er meine Mutter vernachlässigt hatte, ja nach dem
+Tode meines Vaters durch seine Zurückhaltung beinahe hart gegen sie
+gewesen war, so nahm ich ihn doch freundlich auf, weil er in meiner
+Verlassenheit zuletzt der einzige Verwandte war, den ich noch hatte.
+Wir blieben seit jener Zeit mit einander in Briefwechsel. Es kamen
+wohl viele Menschen mit mir in Verbindung und ich lernte manche
+Seiten der Gesellschaft kennen; aber teils waren die Verbindungen
+Geschäftsverbindungen, teils drängten sich Menschen an mich, die
+durch mich zu steigen hofften, teils waren die Begegnungen ganz
+gleichgültig. Wie schwer mir aber meine Geschäfte wurden, wie sehr
+ich im Grunde zu ihnen nicht geeignet war, davon habe ich euch schon
+gesagt. Ich war nach und nach beinahe ein alter Mann geworden. Da
+ich viel in der Entfernung lebte, wußte ich manche Beziehungen der
+Hauptstadt nicht. Mathilde hatte sich in etwas vorgerückteren Jahren
+vermählt. Der Friede wurde dauernd hergestellt, ich blieb wieder
+beständig in der Hauptstadt, und hier tat ich etwas, das mir ein
+Vorwurf bis zu meinem Lebensende sein wird, weil es nicht nach den
+reinen Gesetzen der Natur ist, obwohl es tausend Mal und tausend
+Mal in der Welt geschieht. Ich heiratete ohne Liebe und Neigung. Es
+war zwar keine Abneigung vorhanden, aber auch keine Neigung. Die
+Hochachtung war gegenseitig groß. Man hatte mir viel davon gesagt, daß
+es meine Pflicht sei, mir einen Familienstand zu gründen, daß ich im
+Alter von teuern Angehörigen umgeben sein müsse, die mich lieben,
+pflegen und schützen und auf die meine Ehren und mein Name übergehen
+können. Es sei auch Pflicht gegen die Menschheit und den Staat. Auf
+meine Einwendung, daß ich eine Neigung gegen irgend ein weibliches
+Wesen nicht habe, sagten sie, Neigungen führen oft zu unglücklichen
+Verbindungen, Kenntnis der gegenseitigen Beschaffenheit und
+wechselseitige Hochachtung bauen dauerndes Glück. Trotz meiner
+gereifteren Jahre hatte ich in diesen Dingen noch immer sehr
+wenige Kenntnisse. Meine Jugendneigung, die so heftig und beinahe
+ausschweifend gewesen war, hatte kein Glück gebracht. Ich heiratete
+also ein Mädchen, welches nicht mehr jung war, eine angenehme Bildung
+hatte, vom reinsten Wandel war und gegen mich tiefe Verehrung empfand.
+Man sagte, ich hätte reich geheiratet, weil mein Hauswesen ein
+ansehnliches war; allein die Sache verhielt sich nicht so. Meine
+Gattin hatte mir eine namhafte Mitgift gebracht, aber ich hätte eine
+größere Gabe hinzulegen können. Da ich in meinem mäßigen Leben beinahe
+nichts brauchte, so hatte ich, besonders da ich einmal in höherer
+Stellung war, bedeutende Ersparungen gemacht. Diese legte ich in den
+damaligen Staatspapieren nieder, und da dieselben nach Beendigung des
+Krieges ansehnlich stiegen, so war ich beinahe ein reicher Mann. Wir
+lebten zwei Jahre in dieser Ehe, und in dieser wußte ich, was ich vor
+der Schließung derselben nicht gewußt hatte, daß nehmlich keine ohne
+Neigung eingegangen werden soll. Wir lebten in Eintracht, wir lebten
+in hoher Verehrung der gegenseitigen guten Eigenschaften, wir lebten
+in wechselweisem Vertrauen und in wechselweiser Aufmerksamkeit, man
+nannte unsere Ehe musterhaft; aber wir lebten bloß ohne Unglück. Zu
+dem Glücke gehört mehr als Verneinendes, es ist der Inbegriff der
+Holdseligkeit des Wesens eines Andern, zu dem alle unsre Kräfte einzig
+und fröhlich hinziehen. Als Julie nach zwei Jahren gestorben war,
+betrauerte ich sie redlich; aber Mathildens Bild war unberührt in
+meinem Herzen stehen geblieben. Ich war jetzt wieder allein. Zur
+Schließung einer neuen Ehe war ich nicht mehr zu bewegen. Ich wußte
+jetzt, was ich vorher nicht gewußt hatte. Liebe und Neigung, dachte
+ich, ist ein Ding, das seinen Zug an meinem Herzen vorüber genommen
+hatte.«
+
+»Ein Jahr nach dem Tode Juliens starb mein Oheim und setzte mich zu
+dem Erben seines beträchtlichen Vermögens ein.«
+
+»Meine Geschäfte wurden mir indessen von Tag zu Tag schwerer. So wie
+ich in früheren Zeiten schon gedacht hatte, daß der Staatsdienst
+meiner Eigenheit nicht entspreche und daß ich besser täte, wenn ich
+ihn verließe: so wuchs dieser Gedanke bei genauerem Nachdenken und
+schärferem Selbstbeobachten zu immer größerer Gewißheit, und ich
+beschloß, meine Ämter niederzulegen. Meine Freunde suchten mich daran
+zu verhindern, und Mancher, den ich als feste Säule des Staates kennen
+zu lernen Gelegenheit gehabt und mit dem ich in schwierigen Zeiten
+manche harte Amtsstunde durchgemacht hatte, sagte eindringlich,
+daß ich meine Tätigkeit nicht einstellen sollte. Aber ich blieb
+unerschüttert. Ich zeigte meinen Austritt an. Der Kaiser nahm ihn
+wohlwollend und mit übersendeten Ehren an. Ich hatte die Absicht, mir
+für die letzten Tage meines Lebens einen Landsitz zu gründen und dort
+einigen wissenschaftlichen Arbeiten, einigem Genusse der Kunst, so
+weit ich dazu fähig wäre, der Bewirtschaftung meiner Felder und Gärten
+und hie und da einer gemeinnützigen Maßregel für die Umgebung zu
+leben. Manches Mal könnte ich in die Stadt gehen, um meine alten
+Freunde zu besuchen, und zuweilen könnte ich eine Reise in die
+entfernteren Länder unternehmen. Ich ging in meine Heimat. Dort fand
+ich meinen Schwager schon seit vier Jahren gestorben, das Haus in
+fremden Händen und völlig umgebaut. Ich reiste bald wieder ab. Nach
+mehreren mißglückten Versuchen fand ich diesen Platz, auf dem ich
+jetzt lebe, und setzte mich hier fest. Ich kaufte den Asperhof,
+baute das Haus auf dem Hügel und gab nach und nach der Besitzung die
+Gestalt, in der ihr sie jetzt sehet. Mir hatte das Land gefallen,
+mir hatte diese reizende Stelle gefallen, ich kaufte noch mehrere
+Wiesen, Wälder und Felder hinzu, besuchte alle Teile der Umgebung,
+gewann meine Beschäftigung lieb und machte mehrere Reisen in die
+bedeutendsten Länder Europas. So bleichten sich meine Haare, und
+Freude und Behagen schien sich bei mir einstellen zu wollen.«
+
+»Als ich schon ziemlich lange hier gewesen war, meldete man mir eines
+Tages, daß eine Frau den Hügel herangefahren sei und daß sie jetzt
+mit einem Knaben vor den Rosen, die sich an den Wänden des Hauses
+befinden, stehe. Ich ging hinaus, sah den Wagen und sah auch die Frau
+mit dem Knaben vor den Rosen stehen. Ich ging auf sie zu. Mathilde war
+es, die einen Knaben an der Hand haltend und von strömenden Tränen
+überflutet die Rosen ansah. Ihr Angesicht war gealtert und ihre
+Gestalt war die einer Frau mit zunehmenden Jahren.«
+
+»>Gustav, Gustav<, rief sie, da sie mich angeblickt hatte, >ich kann
+dich nicht anders nennen als: du. Ich bin gekommen, dich des schweren
+Unrechtes willen, das ich dir zugefügt habe, um Vergebung zu bitten.
+Nimm mich einen Augenblick in dein Haus auf.<«
+
+»>Mathilde<, sagte ich, >sei gegrüßt, sei auf diesem Boden, sei
+tausend Mal gegrüßt und halte dieses Haus für deines.<«
+
+»Ich war mit diesen Worten zu ihr hinzugetreten, hatte ihre Hand
+gefaßt und hatte sie auf den Mund geküßt.«
+
+»Sie ließ meine Hand nicht los, drückte sie stark, und ihr Schluchzen
+wurde so heftig, daß ich meinte, ihre mir noch immer so teuere Brust
+müsse zerspringen.«
+
+»>Mathilde<, sagte ich sanft, >erhole dich.<«
+
+»>Führe mich in das Haus<, sprach sie leise.«
+
+»Ich rief erst durch mein Glöckchen, welches ich immer bei mir
+trage, meinen Hausverwalter herzu und befahl ihm, Wagen und Pferde
+unterzubringen. Dann faßte ich Mathildens Arm und führte sie in das
+Haus. Als wir in dem Speisezimmer angelangt waren, sagte ich zu dem
+Knaben: >Setze dich hier nieder und warte, bis ich mit deiner Mutter
+gesprochen und die Tränen, die ihr jetzt so weh tun, gemildert habe.<«
+
+»Der Knabe sah mich traulich an und gehorchte. Ich führte Mathilde in
+das Wartezimmer und bot ihr einen Sitz an. Als sie sich in die weichen
+Kissen niedergelassen hatte, nahm ich ihr gegenüber auf einem Stuhle
+Platz. Sie weinte fort, aber ihre Tränen wurden nach und nach linder.
+Ich sprach nichts. Nachdem eine Zeit vergangen war, quollen ihre
+Tropfen sparsamer und weniger aus den Augen, und endlich trocknete sie
+die letzten mit ihrem Tuche ab. Wir saßen nun schweigend da und sahen
+einander an. Sie mochte auf meine weißen Haare schauen, und ich
+blickte in ihr Angesicht. Dasselbe war schon verblüht; aber auf den
+Wangen und um den Mund lag der liebe Reiz und die sanfte Schwermut,
+die an abgeblühten Frauen so rührend sind, wenn gleichsam ein Himmel
+vergangener Schönheit hinter ihnen liegt, der noch nachgespiegelt
+wird. Ich erkannte in den Zügen die einstige prangende Jugend.«
+
+»>Gustav<, sagte sie, >so sehen wir uns wieder. Ich konnte das Unrecht
+nicht mehr tragen, das ich dir angetan habe.<«
+
+»>Es ist kein Unrecht geschehen, Mathilde<, sagte ich.«
+
+»>Ja, du bist immer gut gewesen<, antwortete sie, >das wußte ich,
+darum bin ich gekommen. Du bist auch jetzt gut, das sagt dein liebes
+Auge, das noch so schön ist wie einst, da es meine Wonne war. O ich
+bitte dich, Gustav, verzeihe mir.<«
+
+»>O teure Mathilde, ich habe dir nichts zu verzeihen, oder du hast es
+mir auch<, antwortete ich. >Die Erklärung liegt darin, daß du nicht zu
+sehen vermochtest, was zu sehen war, und daß ich dann nicht näher zu
+treten vermochte, als ich hätte näher treten sollen. In der Liebe
+liegt alles. Dein schmerzhaftes Zürnen war die Liebe, und mein
+schmerzhaftes Zurückhalten war auch die Liebe. In ihr liegt unser
+Fehler und in ihr liegt unser Lohn.<«
+
+»>Ja, in der Liebe<, erwiderte sie, >die wir nicht ausrotten konnten.
+Gustav, ich bin dir doch trotz allem treu geblieben und habe nur dich
+allein geliebt. Viele haben mich begehrt, ich wies sie ab; man hat mir
+einen Gatten gegeben, der gut, aber fremd neben mir lebte, ich kannte
+nur dich, die Blume meiner Jugend, die nie verblüht ist. Und du liebst
+mich auch, das sagen die tausend Rosen vor den Mauern deines Hauses,
+und es ist ein Strafgericht für mich, daß ich gerade zu der Zeit ihrer
+Blüte gekommen bin.<«
+
+»>Rede nicht von Strafgerichten, Mathilde<, erwiderte ich, >und weil
+alles Andere so ist, so lasse die Vergangenheit und sage, welche deine
+Lage jetzt ist. Kann ich dir in irgend etwas helfen?<«
+
+»>Nein, Gustav<, entgegnete sie, >die größte Hilfe ist die, daß du da
+bist. Meine Lage ist sehr einfach. Der Vater und die Mutter sind schon
+längst tot, der Gatte ist ebenfalls vor Langem gestorben und Alfred -
+du hast ihn ja recht geliebt -<«
+
+»>Wie ich einen Sohn lieben würde<, antwortete ich.«
+
+»>Er ist auch tot<, sagte sie, >er hat kein Weib, kein Kind
+hinterlassen, das Haus in Heinbach und das in der Stadt hat er noch
+bei seinen Lebzeiten verkauft. Ich bin im Besitze des Vermögens der
+Familie und lebe mit meinen Kindern einsam. Lieber Gustav, ich habe
+dir den Knaben gebracht - wie wußtest du denn, daß er mein Sohn sei?<«
+
+»>Ich habe deine schwarzen Augen und deine braunen Locken an ihm
+gesehen<, antwortete ich.«
+
+»>Ich habe dir den Knaben gebracht<, sagte sie, >daß du sähest, daß er
+ist wie dein Alfred - fast sein Ebenbild -, aber er hat niemanden, der
+so lieb mit ihm umgeht, wie du mit Alfred umgegangen bist, der ihn so
+liebt, wie du Alfred geliebt hast, und den er wieder so lieben könnte,
+wie Alfred dich geliebt hat.<«
+
+»>Wie heißt der Knabe?< fragte ich.«
+
+»>Gustav, wie du<, antwortete sie.«
+
+»Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten.«
+
+»>Mathilde<, sagte ich, >ich habe nicht Weib, nicht Kind, nicht
+Anverwandte. Du warst das Einzige, was ich in meinem ganzen Leben
+besaß und behielt. Lasse mir den Knaben, lasse ihn bei mir, ich will
+ihn lehren, ich will ihn erziehen.<«
+
+»>O mein Gustav<, rief sie mit den schmerzlichsten Tönen der Rührung,
+>wie wahr ist mein Gefühl, das mich an dich, den besten der Menschen,
+wies, als ich ein Kind war, und das mich nicht verlassen hatte, so
+lange ich lebte.<«
+
+»Sie war aufgestanden, hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt und
+weinte auf das Innigste. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen,
+meine Tränen flossen unaufhaltsam, ich schlang meine Arme um sie und
+drückte sie an mein Herz. Und ich weiß nicht, ob je der heiße Kuß der
+Jugendliebe tiefer in die Seele gedrungen und zu größrer Höhe erhebend
+gewesen ist als dieses verspätete Umfassen der alten Leute, in denen
+zwei Herzen zitterten, die von der tiefsten Liebe überquollen. Was
+im Menschen rein und herrlich ist, bleibt unverwüstlich und ist ein
+Kleinod in allen Zeiten.«
+
+»Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich sie zu ihrem Sitze, nahm
+den meinigen wieder ein, und fragte: >Hast du noch andere Kinder?<«
+
+»>Ein Mädchen, welches mehrere Jahre älter ist als der Knabe<,
+erwiderte sie, >ich werde dir dasselbe auch bringen, es hat ebenfalls
+die schwarzen Augen und die braunen Haare wie ich. Das Mädchen behalte
+ich, den Knaben lasse, weil du so gütig bist, um dich leben, so lange
+du willst. Er möge werden wie du. O, ich hatte kaum geahnt, wie hier
+alles werden wird.<«
+
+»>Mathilde, beruhige dich jetzt<, sagte ich, >ich werde den Knaben
+holen, wir werden mit ihm freundlich sprechen.<«
+
+»Ich tat es, trat mit dem Knaben an der Hand herein und wir sprachen
+mit dem Kinde und abwechselnd unter uns noch eine geraume Weile.
+Ich zeigte Mathilden hierauf das Haus, den Garten, den Meierhof und
+alles Andere. Gegen Abend fuhr sie wieder fort, um in Rohrberg zu
+übernachten. Den Knaben sollte sie der Verabredung gemäß wieder
+mit sich nehmen, ihn ausrüsten und vorbereiten und ihn, wie sie es
+für gelegen halte, bringen. Wir blieben von dem Augenblicke an in
+Briefwechsel, und als eine Zeit vergangen war, brachte sie mir Gustav,
+der noch bei mir ist, sie brachte mir auch Natalien, die damals im
+ersten Aufblühen begriffen war. Eine größere Gleichheit als zwischen
+diesem Kinde und dem Kinde Mathilde kann nicht mehr gedacht werden.
+Ich erschrak, als ich das Mädchen sah. Ob in den Jahren, in denen
+jetzt Natalie ist, Mathilde auch ihr gleich gewesen ist, kann ich
+nicht sagen; denn da war ich von Mathilden schon getrennt.«
+
+»Es begann nun eine sehr liebliche Zeit. Mathilde kam mit Natalien
+öfter, um uns zu besuchen. Ich machte ihr in den ersten Tagen den
+Vorschlag, daß ich die Rosen, wenn sie ihr schmerzliche Erinnerungen
+weckten, von dem Hause entfernen wolle. Sie ließ es aber nicht zu,
+sie sagte, sie seien ihr das Teuerste geworden und bilden den Schmuck
+dieses Hauses. Sie hatte sich zu einer solchen Milde und Ruhe
+gestimmt, wie ihr sie jetzt kennt, und diese Lage ihres Wesens
+befestigte sich immer mehr, je mehr sich ihre äußeren Verhältnisse
+einer Gleichmäßigkeit zuneigten und je mehr ihr Inneres, ich darf es
+wohl sagen, sich beglückt fühlte.
+
+Ein freundlicher Verkehr hatte sich entwickelt, Gustav hatte sich an
+mich gewöhnt, ich an ihn, und aus der Gewöhnung war Liebe entstanden.
+Mathilde gab Rat in meinem Hauswesen, ich in der Verwaltung ihrer
+Angelegenheiten. Nataliens Erziehung wurde oft zwischen uns
+besprochen und Schritte getan, die wir verabredet hatten. Und in der
+gegenseitigen Hilfleistung stärkte sich die Neigung, die wir gegen
+einander hatten, die nie verschwunden war, die sich zu einem edlen,
+tiefen freundlichen Gefühle gebildet hatte und die nun offen und
+rechtmäßig bestehen konnte. Ich hatte wieder Jemanden, den ich zu
+lieben vermochte, und Mathilde konnte ihr Herz, das mir immer gehört
+hatte, unumwunden an mein Wohl und an mein Wesen wenden. Nach einer
+Zeit wurde der Sternenhof verkäuflich. Ich schlug Mathilden den Kauf
+vor. Sie besah das Gut. Seiner Nachbarschaft mit mir willen und schon
+seiner Linden willen, die sie an die großen Bäume auf dem Rasenplatze
+vor dem Hause in Heinbach erinnerten, war sie zu dem Kaufe geneigt.
+Auch hatte der Sternenhof überhaupt große Ähnlichkeit mit dem Hause in
+Heinbach, war an sich eine sehr angenehme Besitzung und gab Mathilden
+für den Rest ihres Lebens einen festen Punkt und einige Abrundung
+ihrer Verhältnisse. Also wurde er erworben. Um dieselbe Zeit ließ ich
+in meinem Hause die Wohnung für Mathilden und Natalien herrichten. In
+dem Sternenhofe war viel Arbeit, bis alles zur gefälligen Wohnlichkeit
+geordnet war. Und auch nach dieser Zeit wurde beständig geändert und
+umgewandelt, bis das Haus so war, wie es jetzt ist. Und selber jetzt,
+wie ihr wißt, wird dort wie hier gebaut, befestigt, verschönert, und
+es wird wohl immer so fortgehen. Die Rosen, dieses Merkmal unserer
+Trennung und Vereinigung, sollten vorzugsweise auf dem Asperhofe
+bleiben, weil es Mathilden lieb war, daß sie dieselben dort gefunden
+hatte. Jede Rosenblütezeit verlebte sie bei mir, sie liebte diese
+Blumen außerordentlich, pflegte sie und konnte sich freuen, wenn sie
+mir eine Art, die ich noch nicht hatte, zubringen konnte. Dafür ließ
+ich ihr in ihrem Schlosse die Geräte machen, die ihr so viel Vergnügen
+bereiten. Gustav wurde von Tag zu Tage trefflicher und versprach,
+einmal ein Mann zu werden, woran seines Gleichen Freude haben sollten.
+Natalie wurde nicht bloß schön und herrlich, sondern sie wurde auch im
+Umgange mit ihrer Mutter so rein und edel, wie Wenige sind. Sie hatte
+das tiefe Gefühl ihrer Mutter erhalten; aber teils durch ihr Wesen,
+teils durch eine sehr sorgfältige Erziehung ist mehr Ruhe und
+Stetigkeit in ihr Dasein gekommen. Zwischen Mathilden und mir war ein
+eigenes Verhältnis. Es gibt eine eheliche Liebe, die nach den Tagen
+der feurigen, gewitterartigen Liebe, die den Mann zu dem Weibe führt,
+als stille, durchaus aufrichtige süße Freundschaft auftritt, die über
+alles Lob und über allen Tadel erhaben ist, und die vielleicht das
+Spiegelklarste ist, was menschliche Verhältnisse aufzuweisen haben.
+Diese Liebe trat ein. Sie ist innig, ohne Selbstsucht, freut sich,
+mit dem Andern zusammen zu sein, sucht seine Tage zu schmücken und zu
+verlängern, ist zart und hat gleichsam keinen irdischen Ursprung an
+sich.
+
+Mathilde nimmt Anteil an meinen Bestrebungen. Sie geht mit in den
+Räumen meines Hauses herum, ist mit mir in dem Garten, betrachtet die
+Blumen oder Gemüse, ist in dem Meierhofe und schaut seine Erträgnisse
+an, geht in das Schreinerhaus und betrachtet, was wir machen,
+und sie beteiligt sich an unserer Kunst und selbst an unsern
+wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich sehe in ihrem Hause nach,
+betrachte die Dinge im Schlosse, im Meierhofe, auf den Feldern, nehme
+Teil an ihren Wünschen und Meinungen und schloß die Erziehung und
+die Zukunft ihrer Kinder in mein Herz. So leben wir in Glück und
+Stetigkeit gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer.
+Meine Sammlungen vervollständigen sich, die Baulichkeiten runden sich
+immer mehr, ich habe Menschen an mich gezogen, ich habe hier mehr
+gelernt als sonst in meinem ganzen Leben, die Spielereien gehen ihren
+Gang, und etwas Weniges nütze ich doch auch noch.«
+
+Er schwieg nach diesen Worten eine Weile, und ich auch. Dann fuhr er
+wieder fort: »Ich habe das alles mitteilen müssen, damit ihr wißt, wie
+ich mit der Familie in dem Sternenhofe zusammenhänge, und damit in dem
+Kreise, in welchen ihr nun auch tretet, für euch Klarheit ist. Die
+Kinder wissen die Verhältnisse im Allgemeinen, ein näheres Eingehen
+war für sie nicht so nötig wie für euch. Ich wünsche nicht, daß ihr
+gegen eure künftige Gattin Geheimnisse habt, ihr könnt Natalien
+mitteilen, was ich euch sagte, ich konnte es, wie ihr begreifet,
+nicht. Über Nataliens Zukunft sprach ich oft mit Mathilden. Sie sollte
+einen Gatten bekommen, den sie aus tiefer Neigung nimmt. Es sollte die
+gegenseitige größte Hochachtung vorhanden sein. Durch Beides sollte
+sie das Glück finden, das ihre Mutter und ihren väterlichen Freund
+gemieden hat. Mathilde hat in Begleitung des alten Raimund, der
+seitdem gestorben ist, große Reisen gemacht. Sie hat auf denselben
+dauerndere Ruhe gesucht und auch gefunden. Sie hat sie in der
+Betrachtung der edelsten Kunstwerke des menschlichen Geschlechtes und
+in der Anschauung mancher Völker und ihres Treibens gefunden. Natalie
+ist dadurch befestigt, veredelt und geglättet worden. Manche junge
+Männer hat sie kennen gelernt, aber sie hat nie ein Zeichen einer
+Neigung gegeben. Sogenannte sehr glänzende Verbindungen sind auf diese
+Weise für sie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge gehabt,
+wenn ich unter unseren jungen Männern hätte wählen müssen. Als ihr
+zum ersten Male an dem Gitter meines Hauses standet und ich euch sah,
+dachte ich: >Das ist vielleicht der Gatte für Natalien.< Warum ich es
+dachte, weiß ich nicht. Später dachte ich es wieder, wußte aber warum.
+Natalie sah euch und liebte euch, so wie ihr sie. Wir kannten das
+Keimen der gegenseitigen Neigung. Bei Natalien trat sie Anfangs in
+einem höheren Schwunge ihres ganzen Wesens, später in einer etwas
+schmerzlichen Unruhe auf. In euch erschloß sie euer Herz zu einer
+früheren Blüte der Kunst und zu einem Eingehen in die tieferen Schätze
+der Wissenschaft. Wir warteten auf die Entwicklung. Zu größerer
+Sicherheit und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten wir
+absichtlich Natalien zwei Winter nicht in die Stadt, daß sie von euch
+getrennt sei, ja sie wurde von ihrer Mutter wieder auf größere Reisen
+und in größere Gesellschaften gebracht. Ihre Gefühle aber blieben
+beständig und die Entwicklung trat ein. Wir geben euch mit Freuden das
+Mädchen in eure Liebe und in euren Schutz, ihr werdet sie beglücken
+und sie euch; denn ihr werdet euch nicht ändern, und sie wird sich
+auch nicht ändern. Gustav wird einmal den Sternenhof und was dazu
+gehört erhalten; denn das Haus ist Mathilden so lieb geworden, daß
+sie wünscht, daß es ein Eigentum ihrer Familie bleibe und daß die
+kommenden Geschlechter das ehren, was die erste Besitzerin darin
+niedergelegt hat. Gustav wird es tun, das wissen wir schon, und seinen
+Nachfolgern die gleiche Gesinnung einzupflanzen, wird wohl auch sein
+Bestreben sein. Natalie erhält von mir den Asperhof mit allem, was in
+ihm ist, nebst meinen Barschaften. Ihr werdet mein Andenken hier nicht
+verunehren.«
+
+Mir traten die Tränen in die Augen, da er so sprach, und ich reichte
+ihm meine Hand hinüber. Er nahm sie und druckte sie herzlich.
+
+»Ihr könnt hier auf dem Asperhofe wohnen oder in dem Sternenhofe oder
+bei euren Eltern. Überall wird Platz für euch zu machen sein. Ihr
+könnt auch euern Aufenthalt abwechselnd zwischen uns teilen, und
+das wird wohl wahrscheinlich der Fall sein, bis sich alle unsere
+Verhältnisse dem neuen Ereignisse gemäß gerichtet haben. Die Schriften
+bezüglich der Übertragung meines Vermögens an Natalien werden ihr nach
+der Vermählung eingehändigt werden. So lange ich lebe, erhält sie
+einen Teil, den Rest nach meinem Tode. Wie ihr mit dem, was sie jetzt
+empfängt, gebaren sollt, darüber wird euer Vater die beste Belehrung
+geben können. Er wird wohl mit mir auch darüber sprechen. Natalie
+erhält auch nach ihrer Vermählung den Teil, der ihr aus dem Nachlasse
+ihres Vaters Tarona gebührt.«
+
+»Ist Nataliens Name Tarona?« fragte ich.
+
+»Habt ihr das nicht gewußt?« fragte er seinerseits.
+
+»Ich habe Mathilden immer die Frau von Sternenhof nennen gehört«,
+antwortete ich, »bin mit Mathilden und Natalien nirgends zusammen
+gewesen als im Sternenhofe, Asperhofe und Inghofe, und da wurden beide
+stets bei ihrem Vornamen genannt. Weitere Forschungen stellte ich gar
+nie an.«
+
+»Mathilde ließ geschehen, daß sie nach dem Sternenhofe geheißen wurde,
+der Name war ihr lieber. So mag es wohl gekommen sein, daß ihr keinen
+andern gehört habt. Für Gustav wird die Erlaubnis zur Führung dieses
+Namens nachgesucht werden.«
+
+»Aber die Tarona, erzählte man mir, sei gerade in jenem Winter, an
+welchem ich Natalien in der Loge gesehen habe, nicht in der Stadt
+gewesen«, sagte ich, und dachte an Preborn, welcher mir diese Tatsache
+mitgeteilt hatte.
+
+»Ganz richtig«, erwiderte mein Gastfreund, »wir sind auch nur zur
+Aufführung des König Lear hingefahren. Ich war in der Loge hinter
+Natalien, habe euch aber nicht gesehen.«
+
+»Ich euch auch nicht«, antwortete ich.
+
+»Natalie hat uns von dem jungen Manne erzählt, der ihr im
+Schauspielhause aufgefallen sei«, erwiderte er, »aber erst nach langer
+Zeit konnte sie uns eröffnen, daß ihr es gewesen seid.«
+
+»Habe ich euch nicht einmal im Winter in der Stadt nach der
+Wiedergenesung des Kaisers, mit euren Ehrenzeichen geschmückt, fahren
+gesehen?« fragte ich.
+
+»Das ist möglich«, antwortete er, »ich war in jener Zeit in der Stadt
+und an dem Hofe.«
+
+»Nun mein sehr lieber junger Freund«, sagte er nach einer Weile, »ich
+habe euch von meinem Leben erzählt, da ihr einer der unseren werden
+sollt, ich habe zu euch von meinem tiefsten Herzen geredet, und jetzt
+enden wir dieses Gespräch.«
+
+»Ich bin euch Dank schuldig«, antwortete ich, »allein all das Gehörte
+ist noch zu mächtig und neu in mir, als daß ich jetzt die Worte des
+Dankes finden könnte. Nur eins berührt mich fast wie ein Schmerz, daß
+ihr mit Mathilden nach eurer Wiedervereinigung nicht in einen nähern
+Bund getreten seid.«
+
+Der Greis errötete bei diesen Worten, er errötete so tief und zugleich
+so schön, wie ich es nie an ihm gesehen hatte.
+
+»Die Zeit war vorüber«, antwortete er, »das Verhältnis wäre nicht mehr
+so schön gewesen, und Mathilde hat es auch wohl nie gewünscht.«
+
+Er war schon früher aufgestanden, jetzt reichte er mir die Hand,
+drückte die meine herzlich und verließ das Zimmer.
+
+Ich blieb eine geraume Weile stehen und suchte meine Gedanken zur
+Sammlung zu bringen. Das wäre mir nie zu Sinne gekommen, als ich zum
+ersten Male zu diesem Hause heraufstieg und des andern Tages seinen
+Inhalt sah, daß alles so kommen würde, wie es kam, und daß das alles
+zu meinem Eigentume bestimmt sei. Auch begriff ich jetzt, weshalb
+er meistens, wenn er von seinem Besitze sprach, das Wort »unser«
+gebrauchte. Er bezog es schon auf Mathilden und ihre Kinder.
+
+Nachdem ich noch eine Zeit in meiner Wohnung verweilt hatte, verließ
+ich sie, um in frischer Luft einen Spaziergang zu machen und noch das
+Gehörte in mir ausklingen zu lassen.
+
+
+
+Der Abschluß
+
+Am nächsten Tage ging ich im Laufe des Vormittages zu einer Stunde, an
+welcher ich meinen Gastfreund weniger beschäftigt wußte, in gewähltem
+Anzuge in seine Stube und dankte ihm innig für das Vertrauen, welches
+er mir geschenkt habe, und für die Achtung, welche er mir dadurch
+erweise, daß er mich würdig erachte, Nataliens Gatte zu werden.
+
+»Was das Vertrauen anbelangt«, erwiderte er, »so ist es natürlich,
+daß man nicht jeden, der uns ferne steht, in unsere innersten
+Angelegenheiten einweiht; aber eben so natürlich ist es, daß
+derjenige, der für die Zukunft einen Teil, ich möchte sagen unserer
+Familie ausmachen wird, auch alles wisse, was diese Familie betrifft.
+Ich habe euch das Wesentlichste gesagt, einzelne kleine Umstände, die
+der Vorstellungskraft nicht immer gegenwärtig sind, ändern wohl an der
+Sachlage nichts. Was die Hochachtung anbelangt, die darin liegt, daß
+ich euch zu Nataliens Gatten geeignet erachte, so habt ihr vor allen
+Männern dieser Erde den unermeßlichen Vorzug, daß euch Natalie liebt
+und euch und keinen andern will; aber auch trotz dieses Vorzuges
+würden Mathilde und ich, dem man hierin ein Recht eingeräumt hat,
+nie eingewilligt haben, wenn uns euer Wesen nicht die Zuversicht
+eingeflößt hätte, daß da ein dauernd glückliches Familienband geknüpft
+werden könne. Was die Hochachtung anbelangt, die ich euch, abgesehen
+von dieser Angelegenheit, schuldig bin, so habe ich meiner Meinung
+nach euch die Beweise derselben gegeben. Wenn ich auch gedacht habe,
+ihr dürftet Nataliens künftiger Gatte sein, so war der Eintritt
+dieses Ereignisses so unbestimmt, da es ja auf die Entstehung einer
+gegenseitigen Neigung ankam, daß der Gedanke daran auf mein Benehmen
+gegen euch keinen Einfluß haben konnte, ja im Verlaufe der Zeiten war
+der Gedanke erst der Sohn meiner Meinung von euch.«
+
+»Ihr habt mir wirklich so viele Beweise eures Wohlwollens und eurer
+Schonung gegeben«, antwortete ich, »daß ich gar nicht weiß, wie ich
+sie verdiene; denn Vorzüge von was immer für einer Art sind gar nicht
+an mir.«
+
+»Das Urteil über den Grund, woraus Achtung und Neigung oder Mißachtung
+und Abneigung entsteht, muß immer Andern überlassen werden; denn wenn
+man zuletzt auch annähernd weiß, was man in einem Fache geleistet hat,
+wenn man sich auch seines guten Willens im Wandel bewußt ist, so kennt
+man doch alle Abschattungen seines Wesens nicht, in wie ferne sie
+gegen Andere gerichtet sind, man kennt sie nur in der Richtung gegen
+sich selbst, und beide Richtungen sind sehr verschieden. Übrigens,
+mein lieber Sohn, wenn es auch ganz in der Ordnung ist, daß man in
+der Gesellschaft der Menschen einen gewissen Anstand und Abstand in
+Kleidern und sonstigem Benehmen zeigt, so wäre es in der eigenen
+Familie eine Last. Komme also in Zukunft in deinen Alltagsgewändern zu
+mir. Und wenn ich auch kein Verwandter deiner Braut bin, so betrachte
+mich als einen solchen, wie etwa als ihren Pflegevater. Es wird schon
+alles recht werden, es wird schon alles gut werden.«
+
+Er hatte bei diesen Worten die Hand auf mein Haupt gelegt, sah mich
+an, und in seinen Augen standen Tränen.
+
+Ich hatte nie im Verkehre mit mir die Augen dieses Greises naß werden
+gesehen; ich war daher sehr erschüttert und sagte: »So erlaubt mir,
+daß ich in dieser ernsten Stunde auch meinen Dank für das ausspreche,
+was ich in diesem Hause geworden bin; denn wenn ich irgend etwas bin,
+so bin ich es hier geworden, und gewährt mir in dieser Stunde auch
+eine Bitte, die mir sehr am Herzen liegt: erlaubt, daß ich eure
+ehrwürdige Hand küsse.«
+
+»Nun, nur dieses eine Mal«, erwiderte er, »oder höchstens noch einmal,
+wenn du mit Natalien, die ein Kleinod meines Herzens ist, von dem
+Altare gehst.«
+
+Ich faßte seine Hand und drückte sie an meine Lippen; er legte aber
+die andere um meinen Nacken und drückte mich an sein Herz. Ich konnte
+vor Rührung nicht sprechen.
+
+»Bleibe noch eine Weile in diesem Hause«, sagte er später, »dann gehe
+zu den Deinigen und leiste ihnen Gesellschaft. Dein Vater bedarf
+deiner Person auch.«
+
+»Darf ich den Meinigen eure Mitteilung erzählen?« fragte ich.
+
+»Ihr müßt es sogar tun«, antwortete er, »denn eure Eltern haben ein
+Recht, zu wissen, in welche Gesellschaft ihr Sohn durch Schließung
+eines sehr heiligen Bundes tritt, und sie haben auch ein Recht, zu
+wünschen, daß ihr Sohn nicht Geheimnisse vor ihnen habe. Ich werde
+übrigens wohl selber mit eurem Vater über dieses und viele andere
+Dinge sprechen.«
+
+Wir beurlaubten uns hierauf, und ich verließ das Zimmer.
+
+Den Rest des Vormittages verbrachte ich mit Abfassung eines Briefes an
+meine Eltern.
+
+Am Nachmittage suchte ich Gustav auf, und er erhielt die Erlaubnis,
+mit mir einen weiteren Weg in der Gegend zu machen. Wir kamen in der
+Dämmerung zurück, und er mußte die Zeit, welche er am Tage verloren
+hatte, bei der Lampe nachholen.
+
+Unter Arbeiten in meinen Papieren, in welche ich einige Ordnung zu
+bringen suchte, im Umgange mit meinem Gastfreunde, der mir leutselig
+manche Zeit schenkte, unter manchem Besuche im Schreinerhause, wo
+Eustach sehr beschäftigt war, oder bei seinem Bruder Roland, der jeden
+lichten Augenblick des Tages zu seinem Bilde benützte, und endlich
+unter manchem weiten Gange in der Umgebung, da dieser Winter der erste
+war, den ich so tief im Lande zubrachte, verging noch die Zeit bis
+gegen die Mitte des Hornung. Ich nahm nun Abschied, sendete meine
+Sachen auf die Post nach Rohrberg und ging zu Fuße nach, harrte dort
+der Ankunft des Wagens aus dem Westen, erhielt, da er gekommen war,
+einen Platz in ihm und fuhr meiner Heimat zu.
+
+
+Ich wurde wie immer sehr freudig von den Meinigen gegrüßt und mußte
+ihnen von der Winterreise im Hochgebirge erzählen. Ich tat es, und
+erzählte ihnen in den ersten Tagen auch, was mir mein Gastfreund
+mitgeteilt hatte. Es war ihnen bisher unbekannt gewesen.
+
+»Ich habe Risach oft nennen gehört«, sagte mein Vater, »und stets war
+der Ausdruck der Hochachtung mit der Nennung seines Namens verbunden.
+Von der Familie, welche Heinbach besaß, habe ich nur Alfred
+flüchtig gekannt. Mit Tarona war ich einmal in einer entfernten
+Geschäftsverbindung gestanden.«
+
+Die Jugendbeziehungen meines Gastfreundes zu Mathilden mußten sehr
+geheim gehalten worden sein, da weder je der Vater noch irgend jemand
+aus seiner Bekanntschaft von dieser Sache etwas gehört hatte, obwohl
+über ähnliche Gegenstände die Sprechlust am regesten zu sein pflegt.
+Daß meine Mitteilungen an meine Angehörigen nach dem Bunde mit
+Natalien den größten Eindruck machten, ist begreiflich. Deßohngeachtet
+hatte ich doch auch dem Vater etwas gebracht, was ihn sehr freute. Ich
+war in den letzten Tagen meines Aufenthaltes in dem Rosenhause noch
+bei dem Gärtner gewesen und hatte ihn ersucht, mir die Vorschrift
+zur Bereitung des Bindemittels an den Gläsern des Gewächshauses zu
+verschaffen, wodurch das Hineinziehen des Wassers zwischen die Gläser
+und das dadurch bewirkte Herabtropfen verhindert wird. Er hatte die
+Vorschrift wohl nicht selber, ging aber zu meinem Gastfreunde, und
+durch diesen erhielt ich sie. Ich erzählte meinem Vater von der Sache
+und übergab ihm die Anleitung zur Bereitung.
+
+»Das wird das für die Pflanzen so schädliche Herabtropfen des
+Winterwassers in unserem hiesigen Gewächshause also für die Zukunft
+verhindern«, sagte er, »noch mehr freue ich mich aber, es gleich neu
+in den neuen Gewächshäusern anwenden zu können, welche neben dem
+Landhause stehen werden, das ich bauen werde.«
+
+Die Mutter lächelte.
+
+»Bereitet euch einstweilen auf die Reise in den Sternenhof und in das
+Rosenhaus vor«, sagte der Vater, »alles Andere ist geschehen, der
+Schritt, der nun zu tun ist, liegt uns ob. In den ersten Tagen des
+Frühlings worden wir hinreisen, und ich werde für meinen Sohn werben.
+Ihr Weiber bereitet euch gerne auf solche Dinge vor, tut es und beeilt
+euch, ihr habt nicht lange Zeiten vor euch, zwei Monate und etwas
+darüber. Was mir bis dahin obliegt, wird nicht auf sich warten
+lassen.«
+
+Daß diese Maßregel Beifall hatte, ging aus der Sachlage hervor; die
+Zeit zur Vorbereitung aber wollte man etwas kurz nennen. Der Vater
+sagte, es dürfe nicht das Geringste zugegeben werden, weil man es
+sonst der Wichtigkeit des Verhältnisses nähme. Das war einleuchtend.
+
+Es ging nun an ein Arbeiten und Bestellen, und kein Tag war, dem nicht
+seine Last zugeteilt wurde. Die Mutter traf auch Vorbereitungen für
+den Fall, daß die neuen Ehegatten in ihrem Hause wohnen würden. Der
+Vater sagte ihr zwar, daß meiner Verbindung noch meine große Reise
+vorangehen werde; allein sie widerlegte ihn mit der Bemerkung, daß es
+keinen Schaden bringe, wenn Manches früher fertig sei, als man es eben
+brauche. Er ließ sofort ihrem hausmütterlichen Sinne seinen Lauf.
+
+Zu Ende des Märzes brachte der Vater einen sehr schönen Wagen in das
+Haus. Es war ein Reisewagen für vier Personen. Er hatte den Wagen nach
+seinen eigenen Angaben machen lassen.
+
+»Wir müssen unsere Freunde ehren«, sagte er, »wir müssen uns selber
+ehren, und wer kann wissen, ob wir den Wagen nicht noch öfter brauchen
+werden.«
+
+Er verlangte, daß man ihn genau besehe und in Hinsicht seiner
+Bequemlichkeit, besonders für Reisegegenstände von Frauen, prüfe.
+Es geschah, und man mußte die Einrichtung des Wagens loben. Es war
+Festigkeit mit Leichtigkeit verbunden, und bei einer gefälligen
+Gestalt bot er Räumlichkeit für alle nötigen Dinge.
+
+»Ich bin nun fertig«, sachte er, »sorgt, daß eure Vorbereitungen nicht
+zu lange dauern.«
+
+Aber auch die Frauen waren zu der rechten Zeit in Bereitschaft. Der
+Vater hatte den Beginn der Baumblüte und des Blätterknospens als
+Reisezeit bestimmt, und zu dieser Zeit fuhren wir auch fort.
+
+Ich fuhr nun einen Weg, den ich so oft allein oder mit Fremden in
+einem Wagen zurückgelegt hatte, mit allen meinen Angehörigen. Wir
+fuhren mit Pferden, die wir uns auf jeder Post geben ließen; allein
+wir fuhren zur Bequemlichkeit der Mutter und Klotildens, weshalb wir
+uns oft länger an einem Orte aufhielten und kleine Tagereisen machten.
+Ein sehr schönes Wetter und eine Fülle von weißen und rotschimmernden
+Blüten begleitete uns.
+
+Am vierten Tage vormittags fuhren wir in dem Sternenhofe ein. Mathilde
+war von unserer Ankunft unterrichtet worden. Wir hatten das Wagendach
+zurückgelegt, und alle Blicke meiner Angehörigen hafteten schon von
+weiter Entfernung her auf dem Blütenhügel, auf dem das Schloß stand,
+sie richteten sich jetzt auf die Gestalt des Bauwerkes, endlich auf
+das Sternenschild über dem Tore, auf die Wölbung des Torweges und
+zuletzt auf Mathilden und Natalien, die da standen, um uns zu
+empfangen. Wir stiegen aus. Natalie wechselte die Farben zwischen Blaß
+und Purpurrot. Man wartete nicht weiter mit dem Gruße. Klotilde und
+Natalie lagen sich an dem Halse und weinten. Meine ehrwürdige Mutter
+war von Mathilden umfaßt und an das Herz gedrückt. Dann wurde der
+Vater von ihr anmutsvoll und herzlich gegrüßt, sie reichte ihm beide
+Hände und sah ihn mit ihren Augen, die noch immer so schön waren, auf
+das Innigste an. Natalie hatte indessen die Hand meiner Mutter gefaßt
+und sie geküßt. Diese gab den Kuß auf die Stirne des schönen Mädchens
+zurück. Der Vater wollte wahrscheinlich etwas Heiteres oder gar
+Scherzhaftes zu Natalien sagen; aber als er sie näher anblickte, wurde
+er sehr ernst und beinahe scheu, er grüßte sie anständig und sehr
+fein. Wahrscheinlich hatte ihn ihre Schönheit überrascht oder er
+erinnerte sich, wie es auch mir ergangen war, an die Pracht seiner
+geschnittenen Steine. Klotilde wurde von Mathilden auch an das Herz
+gedrückt. Auf mich dachte beinahe niemand. Ob dieser Empfang der
+strengen Umgangssitte oder irgend einer Rangordnung gemäß war, darnach
+fragte niemand. Wir gingen unter einander gemischt die Treppe hinan
+und wurden in Mathildens Gesellschaftszimmer geführt. Dort lieh man
+den Grüßen erst lebhaftere Worte und einen geregelten Ausdruck.
+
+»So lange haben wir uns gekannt und erst jetzt sehen wir uns«, sagte
+Mathilde zu meinen Eltern, als sie dieselben zum Niedersitzen auf ihre
+Plätze veranlaßt hatte.
+
+»Es war ein Wunsch von vielen Jahren«, entgegnete mein Vater, »daß wir
+die Menschen sähen, die gegen meinen Sohn so wohlwollend waren und die
+sein Wesen so sehr gehoben hatten.«
+
+»Das ist nun Natalie, meine teure Klotilde«, sagte ich, indem ich
+beide Mädchen einander vorstellte, »das ist Natalie, die ich so sehr
+liebe, so sehr wie dich selbst.«
+
+»Nein, mehr als mich, und so ist es auch recht«, erwiderte Klotilde.
+
+»Sei meine Schwester«, sagte Natalie, »ich werde dich lieben wie eine
+Schwester, ich werde dich lieben, so sehr es nur mein Herz vermag.«
+
+»Ich nenne dich auch du«, erwiderte Klotilde, »ich liebe meinen Bruder
+wie mein eigenes Herz, und werde dich auch so lieben.«
+
+Die beiden Mädchen umarmten sich wieder und küßten sich wieder.
+
+Als wir uns um den Tisch gesetzt hatten, sagte ich zu Natalien: »Und
+mich grüßt ihr beinahe gar nicht.«
+
+»Ihr wißt es ja doch«, erwiderte sie, indem sie mich freundlich ansah.
+
+Das Gespräch dauerte nun allgemeiner über denselben Gegenstand fort.
+
+Die zwei Frauen konnten sich kaum genug betrachten und nahmen sich
+immer wieder bei den Händen.
+
+Als man endlich auf andere Gegenstände übergegangen war und über die
+Reise und ihre Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten gesprochen
+hatte, sagte mein Vater, daß wir noch sämtlich in Reisekleidern seien,
+daß wir ans verabschieden müßten, und er fragte, wann er die Ehre
+haben könnte, sich Mathilden wieder vorstellen zu dürfen.
+
+»Nicht Vorstellung«, erwiderte sie, »Besuch, wann ihr immer wollt.«
+
+»Also in zwei Stunden«, entgegnete mein Vater.
+
+
+Wir gingen in unsere Zimmer, und mein Vater wies uns an, uns in
+Festkleider zu kleiden. Nach zwei Stunden ging er allein mit der
+Mutter, beide wie an einem hohen Festtage geschmückt, zu Mathilden,
+welche sie zu sprechen verlangten. Mathilde empfing sie in dem großen
+Gesellschaftszimmer, und mein Vater warb um die Hand Nataliens für
+mich.
+
+Nach wenigen Augenblicken wurden Natalie, Klotilde und ich
+hineingerufen, und Mathilde sagte: »Der Herr und die Frau Drendorf
+haben für ihren Sohn Heinrich um deine Hand geworben, Natalie.«
+
+Natalie, welche in einem so festlichen Kleide da stand, wie ich sie
+nie gesehen hatte, weshalb sie mir beinahe fremd erschien, blickte
+mich mit Tränen in den Augen an. Ich ging auf sie zu, faßte sie an der
+Hand, führte sie vor ihre Mutter, und wir sprachen einige Worte des
+Dankes. Sie entgegnete sehr freundlich. Dann gingen wir zu meinen
+Eltern und dankten ihnen gleichfalls, die gleichfalls freundlich
+antworteten. Klotilde war in ihrem Festanzuge sehr befangen, was auch
+fast bei allen Andern der Fall war. Mein Vater löste die Stimmung,
+indem er zu einem Tische schritt, auf welchem er ein Kästchen
+niedergestellt hatte. Er nahm das Kästchen, näherte sich Natalien und
+sagte: »Liebe Braut und künftige Tochter, hier bringe ich ein kleines
+Geschenk; aber es ist eine Bedingung daran geknüpft. Ihr seht, daß
+ein Faden um das Schloß liegt und daß der Faden ein Siegel trägt.
+Schneidet den Faden nicht eher ab als nach eurer Vermählung. Den Grund
+meiner Bitte werdet ihr dann auch sehen. Wollt ihr sie freundlich
+erfüllen?«
+
+»Ich danke für eure Güte innig«, antwortete Natalie, »und ich werde
+die Bedingung erfüllen.«
+
+Sie empfing das Kästchen aus der Hand des Vaters. Auch die Mutter und
+Klotilde gaben ihr Geschenke, so wie Mathilde und Natalie Gegenstände
+aus den benachbarten Zimmern herbeiholten, um die Mutter, Klotilden
+und den Vater zu beschenken. Natalie und ich gaben uns nichts. Dann
+setzten wir uns um einen Tisch nieder, und es begannen herzliche
+Gespräche. Am Schlusse sagte Mathilde: »So wäre denn der Bund, den die
+Herzen unserer Kinder geschlossen haben, auch durch die Beistimmung
+der Eltern bekräftigt. Der Tag der ewigen Verbindung mag nach ihrem
+Wunsche und unserer Meinung festgesetzt werden. Wir wollen darüber
+jetzt nicht sprechen, sondern es der Beratung und Vereinbarung
+anheimgeben.«
+
+Nach diesen Worten trennten wir uns und begaben uns in unsere Zimmer.
+
+Die festlichen Kleider wurden nun abgelegt, und es begann das
+Besuchsleben, wie es in ähnlichen Verhältnissen und namentlich, wenn
+man in so nahe Beziehungen getreten ist, der Fall zu sein pflegt.
+Mathilde führte nach und nach den Vater und die Mutter in alle Teile
+des Schlosses, des Gartens, des Meierhofes, der Felder, der Wiesen und
+der Wälder. Sie zeigte ihnen alle Zimmer des Hauses: ihre Wohnzimmer,
+die Zimmer mit den alten Geräten, sie zeigte ihnen die Bilder und
+was sich nur immer in dem Schlosse befand. Sie ging mit ihnen in den
+Garten: zu den Linden, zu allen Obstbäumen, zu den Blumenbeeten, in
+die Grotte mit der Brunnennymphe, auf die Eppichwand und in jede
+Anlage, die in dem Garten enthalten war. Ebenso wurde alles, was sich
+auf die Landwirtschaft bezog, auf das Genaueste durchgenommen. Gegen
+den Abend, wenn die Sonnenstrahlen milde auf die blühende Erde
+leuchteten, wurde ein gemeinschaftlicher Gang durch irgend einen
+Teil der Gegend gemacht. Wiederholt gingen wir die ganze Länge des
+Berührweges durch, und die Eltern fanden Gefallen an dieser Bahn, die
+eine freie und rüstige Bewegung in trüben Tagen so wie im Winter auf
+eine angenehme Weise gestatte. Der Vater konnte über alles der Freude
+und des Lobes kein Ende finden. Mathilde und die Mutter sprachen
+oft lange und immer sehr freundlich mit einander, sie tauschten
+wahrscheinlich ihre Ansichten über Häuslichkeit und Verwaltung des
+Zugehörigen aus. Natalie und Klotilde waren fast unzertrennlich, sie
+schlossen sich an einander an, bezeugten sich jede Innigkeit, und
+oft, wenn wir alle in das Schloß zurückgekehrt waren, gingen sie
+noch auf einem einsamen Wege des Gartens oder auf einem Pfade des
+nächstgelegenen Feldes herum.
+
+»Siehst du, Klotilde«, sagte ich, »ich konnte dir kein Bild von
+Natalie bringen, weil keins da war, jetzt hast du sie selber.«
+
+»Um wie viel lieber als jedes Bild«, antwortete sie, »aber ein Bild
+muß doch ausgeführt werden, damit man später wisse, wie sie in diesen
+Jahren ausgesehen habe.«
+
+Acht Tage entließ uns Mathilde nicht von dem Sternenhofe, und jeder
+Tag fand seine freundliche Beschäftigung. Am neunten wurden die
+Anstalten gemacht, daß wir alle in das Rosenhaus abreisen konnten.
+Mathilde und die Eltern fuhren in unserem Reisewagen. Natalie,
+Klotilde und ich in dem Wagen Mathildens.
+
+Als wir den Hügel hinanfuhren, konnte mein Vater seine Neugierde
+kaum mehr bemeistern. Ich sah ihn öfter in dem Wagen aufstehen und
+herumblicken. Es war ein wolkig heiterer Tag, Strichregen gingen auf
+entferntere Wälder nieder, Sonnenblicke schnitten goldne Bilder auf
+den Hügeln und Ebenen aus, und das Haus meines Gastfreundes schaute
+sanft von seiner Anhöhe hernieder. Obwohl, da wir von der Stadt
+abfuhren, dort bereits alles in Blüte stand, war in der Umgebung des
+Rosenhauses trotz der Zeit, die wir auf der Reise und in dem Hause
+Mathildens zugebracht hatten, doch noch die Baumblüte nicht vorüber,
+sondern sie war erst in ihrer vollen Entfaltung. Denn das Land
+hier lag um ein Bedeutendes höher als die Stadt. Ein Teil des
+Wintergetreides stand auf dem Hügel in üppigstem Wuchse, ein Teil
+schickte sich dazu an, das Sommergetreide keimte hie und da, und hie
+und da war noch die braune Erde zu sehen.
+
+Mein Gastfreund hatte durch Mathilden Nachricht von unserer Ankunft
+erhalten. Als wir bei dem Gitter anfuhren, stand er mit Gustav,
+Eustach, Roland, mit der Haushälterin Katharine, mit dem
+Hausverwalter, mit dem Gärtner und anderen Leuten auf dem Sandplatze
+vor dem Gitter, um uns zu empfangen. Wir stiegen aus, und da standen
+sich nun mein Vater und mein Gastfreund gegenüber. Der letztere
+hatte schneeweiße Haare, mein Vater etwas minder weiße, aber liebe,
+ehrwürdige Männer waren beide. Sie reichten sich die Hand, sahen sich
+einen Augenblick an und schüttelten sich dann ihre Rechte herzlich.
+
+»Seid mir gegrüßt, seid mir tausendmal gegrüßt an meiner Schwelle«,
+sagte mein Gastfreund, »selten ist hier einer eingegangen, der so
+willkommen gewesen wäre wie ihr, und selten habe ich mich nach
+jemandem so gesehnt wie nach euch. Wir sind nun so lange in Verbindung
+und ich habe euch schon so lange in der Liebe eures Sohnes geliebt.«
+
+»Ich euch in der Liebe eures jungen Freundes«, erwiderte mein Vater,
+»es ist einer meiner liebsten Tage, der mich unter dieses Dach bringt.
+Ich komme in das Haus des Mannes, den ich durch meinen Sohn kenne,
+obgleich ich auch den Staatsmann hochachten muß. Ich komme mit der
+Schuld des Dankes belastet. Ihr habt mich ausgezeichnet, ehe ich es
+nur im geringsten Maße um euch verdient hatte.«
+
+»Laßt das jetzt, es machte mir ja selber Freude«, entgegnete mein
+Gastfreund, »aber seht, so begeht man Fehler, wenn man von einer
+Leidenschaft befangen ist, besonders, wenn zwei alte Altertumsfreunde
+zusammentreffen. Ich habe versäumt, eurer verehrtest Gattin meinen
+ersten Gruß darzubringen, wie es Pflicht gewesen wäre. Aber, teure
+Frau, ihr werdet es, wenn auch nicht ganz entschuldigen, doch als ein
+geringeres Vergehen ansehen, als eine andere Frau, da ihr euren Gatten
+und seine Beziehungen zu seinen Schätzen kennt. Seid mir gegrüßt,
+und wenn ich sage, daß ich euch nicht minder als euren Gatten hieher
+gewünscht habe, so sage ich die Wahrheit, und euer eigener Sohn ist
+gegen euch Zeuge, wenn ihr meine Worte bezweifeln wolltet. Es freut
+mich, euch in mein Haus führen zu können, erlaubt, daß ich eure Hand
+fasse. Mathilde, Natalie, Heinrich, ihr müsset heute etwas Nebensache
+sein, und dieses Fräulein, das ich wohl schon als Klotilde kenne, wird
+erlauben, daß ich sie auch ein wenig liebe und um Gegenneigung bitte.
+Gustav, führe das Fräulein.«
+
+»Gönnt mir die Gnade, euch führen zu dürfen«, sagte Gustav zu
+Klotilden.
+
+Sie sah den Jüngling sanft an und sagte: »Ich bitte um die
+Gefälligkeit.«
+
+»Ehe wir gehen«, sagte mein Gastfreund noch, »sehet noch hier meine
+zwei ausgezeichneten Künstler Eustach und Roland, die mit mir in
+unserem Besitze leben, den ich Sorgenfrei nennen würde, wenn er nicht
+voll von Sorgen steckte. Sie wollen euch vor dem Hause begrüßen. Seht
+da auch meine Katharine, die das Haus zusammenhält, und dann meinen
+Hausverwalter und Gärtner und Andere, welche die Lust des Empfanges
+nicht missen wollten.«
+
+Mein Vater reichte jedem die Hand, und die Mutter und Klotilde
+verbeugten sich auf das Artigste.
+
+Hierauf nahm mein Gastfreund den Arm meiner Mutter, mein Vater den
+Mathildens, ich Nataliens, Gustav Klotildens, und so gingen wir bei
+dem Eisengitter in den Garten und in das Haus. Die Wägen fuhren in den
+Meierhof. In dem Hause wurden wir gleich in unsere Zimmer geführt.
+Mathilde und Natalie gingen in ihre gewöhnliche Wohnung. Für meinen
+Vater und für meine Mutter war ein Aufenthalt von drei Zimmern
+eigens gerichtet worden. Sie hatten sehr schöne Wandbekleidungen und
+vorzügliche Geräte. Für alle und jede Bequemlichkeit war gesorgt.
+Klotilde hatte ein zierliches blaßblaues Zimmerchen daneben. Ich ging
+von der Wohnung meiner Eltern in meine Zimmer, welche die gewöhnlichen
+waren. Gustav besuchte mich hier in dem ersten Augenblicke, und
+umschlang mich mit der größten Freude und Liebe.
+
+»Nun ist doch alles sicher und gewiß«, sagte er.
+
+»Sicher und gewiß«, entgegnete ich, »wenn Gott sein Vollbringen gibt.
+Jetzt bist du mein teurer, vielgeliebter Bruder in der Tat, wenn du es
+auch der Fassung nach erst in einiger Zeit wirst.«
+
+»Darf ich auch du sagen?« fragte er.
+
+»Von ganzem Herzen«, erwiderte ich.
+
+»Also du, mein geliebter, mein teurer Bruder«, sagte er.
+
+»Auf immer, so lange wir leben, was auch, sonst für Zwischenfälle
+kommen mögen«, sagte ich.
+
+»Auf immer«, antwortete er, »aber jetzt kleide dich schnell um, damit
+du nicht zu spät kommst. Man wird in dem Besuchsaale zu ebener Erde
+noch einmal zu einem Gruße zusammenkommen, ehe man zum Mittagessen
+geht. Ich muß mich selber zurecht richten.«
+
+
+Es war so, wie Gustav gesagt hatte, und es war an alle die Einladung
+ergangen. Er verließ mich, und ich kleidete mich um.
+
+Wir versammelten uns in dem Besuchzimmer zu ebener Erde, in welchem
+ich, da ich das erste Mal in diesem Hause war, allein gewartet hatte,
+während mein Gastfreund gegangen war, ein Mittagessen für mich zu
+bestellen. Ich hatte damals den Gesang der Vögel hereingehört.
+Der eingelegte Fußboden war heute mit einem sehr schönen Teppiche
+ganz überspannt. Auch Eustach und Roland waren zu der Versammlung
+eingeladen worden.
+
+Als sich alle eingefunden hatten, stand mein Gastfreund, welcher so
+festlich angezogen war wie wir, auf und sprach: »Ich richte noch
+einmal an alle, welche gekomrnen sind, den Empfangsgruß innerhalb der
+Wände dieses Hauses. Es ist ein schöner Tag.
+
+Wenn gleich mancher liebe Freund und gewissermaßen Schlachtkamerade,
+den ich noch besitze, nicht hier ist, so kann eben nicht immer alles,
+was man liebt, versammelt sein. Das Eigentliche ist hier, ist aus
+einem lieben Anlasse hier, aus welchem ein noch schönerer Tag für
+Manche hervorgehen kann. Ihr, sehr hochgeehrte Frau, die Mutter des
+jungen Mannes, welcher zu verschiedenen Malen unter dem Dache dieses
+Hauses gewohnt hat, seid dem Hause willkommen. Es hat euren Namen oft
+gehört und die Namen eurer Tugenden, und wenn der Schall der Rede
+oft auch ganz Anderes zu verkünden schien, so gingen unbewußt eure
+Eigenschaften daraus hervor, sammelten sich hier und erzeugten
+Ehrerbietung und, erlaubt einem alten Manne das Wort, Liebe. Ihr, mein
+edler Freund - gönnt mir den Namen auch, den ich euch so gerne gebe
+-, ein graues Haupt wie ich, aber ehrwürdiger in der Verehrung seiner
+Kinder und darum auch in der anderer Leute, ihr habt mit eurer Gattin
+unsichtbar dieses Haus bewohnt und ehrt es, da es eure Gestalt nun
+selber in seinen Räumen sieht. Ihr, Klotilde, wandeltet mit euren
+Eltern hier und seid gleichfalls in eurem Eigentume. Zu dir, Mathilde,
+spreche ich erst jetzt, nachdem ich zu den Andern gesprochen habe,
+die nicht so oft die Schwelle dieses Hauses betreten haben wie du. Du
+bringst uns heute etwas, das allen lieb sein wird. Sei deshalb nicht
+mehr gegrüßt und willkommen, als du hier immer gegrüßt und willkommen
+gewesen bist. Sei willkommen, Natalie, und seid gegrüßt, Heinrich.
+Eustach, Roland, Gustav sind als Zeugen hier von dem, was da
+geschieht.«
+
+Meine Mutter antwortete hierauf: »Ich habe immer gedacht, daß wir in
+diesem Hause werden herzlich empfangen werden, es ist so, ich danke
+sehr dafür.«
+
+»Ich danke auch, und möge die gute Meinung von uns sich bewähren«,
+sagte der Vater.
+
+Klotilde verneigte sich nur.
+
+Mathilde sprach: »Sei bedankt für deinen Gruß, Gustav, und wenn du
+sagst, daß ich etwas bringe, das allen lieb sein wird, so berichte
+ich, daß Heinrich Drendorf und Natalie vor neun Tagen im Sternenhofe
+verlobt worden sind. Wir haben den Weg zu dir gemacht, um deine
+Billigung zu dieser Vornahme zu erwirken. Du hast immer wie ein Vater
+an Natalien gehandelt. Was sie ist, ist sie größtenteils durch dich.
+Daher könnte ein Band sie nie beglücken, das deinen vollen Segen nicht
+hätte.«
+
+»Natalie ist ein gutes, treffliches Mädchen«, erwiderte mein
+Gastfreund, »sie ist durch ihr innerstes Wesen und durch ihre
+Erziehung das geworden, was sie ist. Ich mag ein Weniges beigetragen
+haben, wie alle nicht bösen Menschen, mit denen wir umgehen, zu
+unserem Wesen etwas Gutes beitragen. Du weißt, daß der geschlossene
+Bund meine Billigung hat, und daß ich ihm alles Glück wünsche. Weil du
+mich aber Vater Nataliens nennst, so mußt du erlauben, daß ich auch
+als Vater handle. Natalie erhält als meine Erbin den Asperhof mit
+allem Zubehör und allem, was darin ist, sie erhält auch, da ich gar
+keine Verwandten besitze, meine ganze übrige Habe. Die Ausfolgung
+geschieht in der Art, daß sie einen Teil des gesammten Vermögens an
+ihrem Vermählungstage empfängt nebst den Papieren, welche ihr das
+Anrecht auf den Rest zusprechen, der ihr an meinem Todestage anheim
+fällt. Einige Geschenke an Freunde und Diener werden in den Papieren
+enthalten sein, die sie gerne verabfolgen wird. Weil ich Vater bin,
+so werde ich auch meine liebe Tochter ausstatten, von ihrer Mutter
+kann sie nur Geschenke annehmen. Und einen Eigensinn müßt ihr mir
+gestatten, dessen Bekämpfung von eurer Seite mich sehr schmerzen
+würde. Die Vermählung soll auf dem Asperhofe gefeiert werden. Hieher
+ist der Bräutigam vor mehreren Jahren zuerst gekommen, hier habt ihr
+ihn kennen gelernt, hier ist vielleicht die Neigung gekeimt und hier
+endlich wohnt ja der Vater, wie er eben genannt worden ist. Vom
+Vermählungstage an wird im Asperhofe für die jungen Eheleute eine
+Wohnung in Bereitschaft stehen, es wird aber an sie nicht die
+Forderung gestellt werden, daß sie dieselbe benützen. Sie sollen nach
+ihrer Wahl ihre Wohnung aufschlagen: entweder im Asperhofe oder im
+Sternenhofe oder in der Stadt oder auch abwechslungsweise, wie es
+ihnen gefällt.«
+
+Mathilde war während dieser ganzen Rede mit Würde und Anstand in ihrem
+Sitze gesessen, wie überhaupt in der ganzen Versammlung ein tiefer
+Ernst herrschte. Mathilde suchte ihre Haltung zu bewahren; allein
+aus ihren Augen stürzten Tränen, und ihr Mund zitterte vor starker
+Bewegung. Sie stand auf und wollte reden; aber sie konnte nicht und
+reichte nur ihre Hand an Risach. Dieser ging um den Tisch - denn eine
+Ecke desselben trennte sie -, drückte Mathilden sanft in ihren Sitz
+nieder, küßte sie sachte auf die Stirne und strich einmal mit seiner
+Hand über ihre Haare, die sie glatt gescheitelt über der feinen Stirne
+hatte.
+
+Mein Vater nahm hierauf, da Risach wieder an seinem Platze war, das
+Wort, und sprach: »Es ist noch ein Vater da, welcher auch einige Worte
+reden und einige Bedingungen stellen möchte. Vor allem, Freiherr von
+Risach, empfanget den innigsten Dank von mir im Namen meiner Familie,
+daß ihr ein Mitglied derselben zu einem Mitgliede der eurigen
+aufzunehmen für würdig erachtet habt. Unserer Familie ist dadurch
+eine Ehre erzeigt worden, und mein Sohn Heinrich wird sich sicherlich
+bestreben, sich alle jene Eigenschaften zu erwerben, welche ihm
+zur Erfüllung seiner neuen Pflichten und zur Darstellung jener
+Menschenwürde überhaupt nötig sind, ohne welche man ein Teil der
+besseren menschlichen Gesellschaft nicht sein kann. Ich hoffe, daß ich
+hierin für meinen Sohn bürgen kann, und ihr selber hofft es, da ihr
+ihn in die Stellung aufgenommen habt, in der er ist. Mein Sohn wird in
+die neue Haushaltung bringen, was nicht für unbillig erachtet worden
+soll. In meinem Hause in der Stadt wird eine anständige Wohnung für
+die Neuvermählten immer in Bereitschaft stehen, und wenn ich das
+Landleben einmal vorziehen sollte, so werden sie auch in meiner neuen
+Wohnung einen Platz finden. Ihr eigenes ständiges Haus mögen sie nach
+Belieben aufschlagen.
+
+Daß die Vermählung in dem Asperhofe sei, ist nach meiner Meinung
+gerecht, und ich glaube, es wird niemand die Maßregel bestreiten. Und
+nun habe ich noch eine Bitte an euch, Freiherr von Risach, nehmt mich
+alten Mann und meine alte Gattin nebst unsrer Tochter nicht ungerne
+in euren Familienkreis auf. Wir sind bürgerliche Leute und haben als
+solche einfach gelebt; aber in jedem Verhältnisse unsere Ehre und
+unsern guten Namen aufrecht zu erhalten gesucht.«
+
+»Ich kenne euch schon lange«, antwortete Risach, »obwohl nicht
+persönlich, und habe euch schon lange hoch geachtet. Noch höher
+achtete und liebte ich euch, als ich euren Sohn kennen gelernt hatte.
+Wie sehr es mich freut, in eine nähere Umgangsverbindung mit euch zu
+kommen, kann euch euer Sohn sagen und wird euch die Zukunft zeigen.
+Was die Bürgerlichkeit anlangt, so gehörte ich zu diesem Stande.
+Vergängliche Handlungen, die man Verdienste nannte, haben mich
+auf eine Zeit aus ihm gerückt, ich kehre durch meine angenommene
+Tochter wieder zu ihm zurück, der mir allein gebührt. Ehrenvoller,
+würdiger Mann einer stetigen Tätigkeit und eines wohlgegründeten
+Familienlebens, wenn ihr mich, der ich Beides nicht habe, für wert
+erachtet, so kommt an mein Herz und laßt uns die letzten Lebenstage
+freundlich mit einander gehen.«
+
+Beide Männer verließen ihre Plätze, begegneten sich auf halbem Wege zu
+einander, schlossen sich in die Arme und hielten sich einen Augenblick
+fest. Wie erschütternd das auf alle wirkte, zeigte die Tatsache, daß
+es totenstill im Zimmer war und daß manche Augen feucht wurden.
+
+Meine Mutter war, da Risach Mathilden verlassen hatte, zu ihr
+gegangen, hatte sich neben sie gesetzt und hatte ihre beiden Hände
+gefaßt. Die Frauen küßten sich und hielten sich noch immer beinahe
+umfangen.
+
+Ich und Natalie traten jetzt vor Risach und sagten, daß wir ihm für
+alles Liebe und Gute gegen uns aufs Tiefste danken und daß unser
+einziges Bestreben sein werde, seiner guten Meinung über uns immer
+würdiger zu werden.
+
+»Ihr seid lieb und freundlich und ehrlich«, sagte er, »und alles wird
+gut werden.«
+
+Wir gingen wieder an unsere Plätze, und Eustach, Klotilde, Roland,
+Gustav und selbst die Eltern wünschten uns nun alles Glück und allen
+Segen.
+
+Hierauf nahm das Gespräch eine Wendung auf einfachere und
+gewöhnlichere Dinge. Man stand auch öfter auf und mischte sich
+durcheinander. Meine Mutter hatte heute einige der schönsten
+geschnittenen Steine meines Vaters als Schmuck an ihrem Körper. Mein
+Gastfreund hatte öfter darauf hingeblickt; allein jetzt konnten er und
+Eustach dem Reize nicht mehr widerstehen, sie traten zu meiner Mutter,
+betrachteten verwundert die Steine und sprachen über dieselben. Später
+kam auch Roland hinzu. Meinem Vater glänzten die Augen vor Freude.
+
+Als das Gespräch noch eine Weile gedauert hatte, trennte man sich und
+bestellte sich auf einen Spaziergang, der noch vor dem Mittagessen
+statt finden sollte. Auf dem Sandplatze vor dem Rosengitter an dem
+Hause wollte man sich versammeln.
+
+Wir kleideten uns in andere Kleider und kamen vor dem Hause zusammen.
+
+Mein Vater, der wahrscheinlich sehr neugierig war, alles in diesem
+Hause zu sehen, hatte sich zu Risach gesellt, sie standen vor den
+Rosengewächsen, und mein Gastfreund erklärte dem Vater alles. Mathilde
+war an der Seite meiner Mutter, Klotilde und Natalie hielten sich an
+den Armen, und ich und Gustav so wie zu Zeiten auch Eustach und Roland
+hielten uns in der Nähe der alten Männer auf. Wir gingen von dem
+Sandplatze in den Garten, damit die Meinigen zuerst diesen sähen. Mein
+Gastfreund machte für meinen Vater den Führer und zeigte und erklärte
+ihm alles. Wo meine Mutter und Klotilde an dem Gesehenen Anteil
+nahmen, wurde es ihnen von ihren Begleiterinnen erläutert.
+
+»Da sehe ich ja aber doch Faltern«, sagte mein Vater, als wir eine
+geraume Strecke in dem Garten vorwärts gekommen waren.
+
+»Es wäre wohl kaum denkbar und möglich, daß meine Vögel alle Keime
+ausrotteten«, antwortete mein Gastfreund, »sie hindern nur die
+unmäßige Verbreitung. Einiges bleibt aber immer übrig, was für das
+nächste Jahr Nahrung liefert. Zudem kommen auch von der Ferne Faltern
+hergeflogen. Sie wären wohl auch die schönste Zierde eines Gartens,
+wenn ihre Raupen nicht so oft für unsere menschlichen Bedürfnisse so
+schädlich wären.«
+
+»Bringen denn nicht aber auch die Vögel manchen Baumfrüchten Schaden?«
+fragte mein Vater.
+
+»Ja, sie bringen Schaden«, entgegnete mein Gastfreund, »er trifft
+hauptsächlich die Kirschenarten und andere weichere Obstgattungen;
+aber im Verhältnisse zu dem Nutzen, den mir die Vögel bringen, ist
+der Schaden sehr geringe, sie sollen von dem Überflusse, den sie mir
+verschaffen, auch einen Teil genießen, und endlich, da sie neben
+ihrer natürlichen Nahrung von mir noch außerordentliche und mitunter
+Leckerbissen bekommen, so ist dadurch der Anlaß zu Angriffen auf mein
+Obst geringer.«
+
+Wir gingen durch den ganzen Garten. Jedes Blumenbeet, jede einzelne
+merkwürdigere Blume, jeder Baum, jedes Gemüsebeet, der Lindengang,
+die Bienenhütte, die Gewächshäuser, alles wurde genau betrachtet. Der
+Tag hatte sich beinahe ganz ausgeheitert, und eine Fülle von Blüten
+lastete und duftete überall. Wir gingen bis zu dem großen Kirschbaume
+empor und sahen von ihm über den Garten zurück. Der Vater fühlte sich
+ganz glücklich, alles das sehen und betrachten zu können. Die Mutter
+mochte wohl ihren Umgebungen nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt
+haben wie der Vater, und sie mochte mit Mathilden mehr über das Wohl
+und Wehe und über die Zukunft ihrer Kinder gesprochen haben. Auch
+dürfte der Inhalt der Gespräche zwischen Klotilden und Natalien nicht
+vorherrschend der Garten gewesen sein. Sie konnten manche Fäden über
+andere Dinge anzuknüpfen gehabt haben.
+
+Von dem großen Kirschbaume mußte wieder in das Haus zurückgegangen
+werden, weil die Zeit, welche noch bis zu dem Mittagessen gegeben
+gewesen war, ihren Ablauf genommen hatte. Man verfügte sich einen
+Augenblick in seine Zimmer und versammelte sich dann im Speisesaale.
+
+Der Nachmittag war zur Besichtigung des Meierhofes, der Wiesen und
+Felder bestimmt. Wir gingen von dem großen Kirschbaume auf dem
+Getreidehügel hinaus und auf ihm fort bis zu der Felderrast. Wir
+gingen genau den Weg, welchen ich an jenem Abende mit meinem
+Gastfreunde gegangen war, als ich mich zum ersten Male in dem
+Asperhofe befunden hatte. Wir sahen von der Felderrast ein wenig
+herum. Die Esche hatte eben ihre ersten kleinen Blätter angesetzt und
+suchte sie auszubreiten. Wir konnten uns nicht niedersetzen, weil das
+Bänkchen dazu viel zu klein war. Von der Felderrast gingen wir in den
+Meierhof. Wir schlugen den Weg ein, welchen ich einmal mit Natalien
+allein gewandelt war. Nach der Besichtigung des Meierhofes, in welchem
+mein Gastfreund meinem Vater das Kleinste und Größte zeigte, und
+in welchem er ihm erklärte, wie alles früher ausgesehen hatte, was
+daraus geworden war und was noch werden sollte, gingen wir durch
+die Meierhofwiesen, durch die Felder am Abhange des Hügels des
+Rosenhauses, dann den Hügel herum, endlich in das Gehölze des Teiches
+und von ihn am dem Erlenbache zurück, so daß wir wieder zu dem großen
+Kirschbaume kamen und von ihm in das Haus zurückkehrten. Es war
+mittlerweile Abend geworden. Alles hatte die Bewunderung meines Vaters
+erregt.
+
+Der nächste Tag war dazu bestimmt, das Innere des Hauses, seine
+Kunstschätze und alles, was es sonst enthielt, zu besehen.
+Mein Gastfreund führte meinen Vater zuerst in alle Zimmer des
+Erdgeschosses, dann über den Marmorgang die Treppe hinan zur
+Marmorgestalt. Wir waren alle mit, außer Eustach und Roland. Bei der
+Marmorgestalt hielten wir uns sehr lange auf. Von ihr gingen wir
+in den Marmorsaal, in welchem mein Gastfreund meinem Vater alle
+Marmorarten nannte und ihm die Orte ihres Vorkommens bezeichnete. Dann
+besuchten wir nach und nach die Wohnzimmer meines Gastfreundes, die
+Zimmer mit den Bildern, Büchern, Kupferstichen, das Lesezimmer, das
+Eckzimmer mit den Vogelbrettchen und endlich die Gastzimmer und die
+Wohnung Mathildens. Auch Rolands Gemach wurde besehen, in welchem auf
+einer Staffelei sein beinahe fertiges Bild stand. Den Beschluß machte
+der Besuch des Schreinerhauses und die Besichtigung seiner Einrichtung
+und alles dessen, was da eben gefördert wurde. War mein Vater schon
+gestern voll Bewunderung gewesen, so war er heute beinahe außer sich.
+Die Marmorgestalt hatte seinen Beifall so sehr, daß er sagte, er
+könne sich von seinen Reisen her nicht auf Vieles erinnern, was von
+altertümlichen Werken besser wäre als diese Gestalt. Sie wurde von
+allen Seiten besehen und wieder besehen, dieser Teil und jener Teil
+und das Ganze wurde besprochen. So etwas, sagte mein Vater, könne er
+nicht entfernt aufweisen, nur einige seiner alten geschnittenen Steine
+könnten neben dieser Gestalt noch besehen werden. Der Marmorsaal
+gefiel ihm sehr, und der Gedanke, ein solches Gemach zu bauen,
+erschien ihm als ein äußerst glücklicher. Er pries die Geduld
+meines Gastfreundes im Suchen des Marmors und lobte die, welche die
+Zusammenstellung entworfen hatten, daß etwas so Reines und Großartiges
+zu Stande gekommen sei. Die alten Geräte, die Bilder, die Bücher, die
+Kupferstiche beschäftigten meinen Vater auf das Lebhafteste, er sah
+alles genau an und sprach als Liebhaber und auch als Kenner über
+Vieles. Mein Gastfreund verständigte sich leicht mit ihm, ihre
+Ansichten trafen häufig zusammen und ergänzten sich häufig, in so
+ferne man überhaupt Ansichten in einer Gesellschaft, in welcher man
+sich kurz fassen mußte, aussprechen konnte. Meine Mutter freute
+sich innig über die Freude des Vaters. So war es denn also doch in
+Erfüllung gegangen, was sie so oft gewünscht hatte, daß mein Vater das
+Haus meines Gastfreundes besuchte, und es war auf eine liebe Art in
+Erfüllung gegangen, die sie sich gewiß einstens nicht gedacht hatte.
+Rolands Bild betrachtete der Vater sehr aufmerksam, er hielt es für
+höchst bedeutend, er sprach mit Risach über Verschiedenes in demselben
+und äußerte sich, daß, nach diesem Werke zu urteilen, Roland eine
+hoffnungsvolle Zukunft vor sich haben dürfte. Daß es meinen Gastfreund
+mit Vergnügen erfüllte, daß seine Schöpfungen mit solcher Anerkennung
+von einem Manne, aus dessen Worten die Berechtigung zu einem Urteile
+hervorging, betrachtet werden, ist begreiflich. Die zwei Männer
+schlossen sich immer mehr an einander und vergaßen zuweilen ein wenig
+die übrige Gesellschaft. In dem Schreinerhause, in welchem Eustach
+den Führer machte, wurden nicht nur alle Zeichnungen und Pläne
+durchgesehen, sondern die ganze Einrichtung und die Art, wie hier
+verfahren werde, sammt allen Werkzeugen, wurde einer genauen
+Beobachtung unterzogen. Der Vater war voll der Billigung darüber. Mit
+Besichtigung dieser Dinge war der ganze Tag verbraucht worden.
+
+Am nächsten Tage fuhr man in den Alizwald, damit mein Gastfreund
+meinen Eltern den Forst zeigen konnte, welcher zu dem Asperhofe
+gehörte.
+
+Die folgenden Tage waren für die Gesellschaft schon weniger
+vereinigend. Man zerstreute sich und ging dem nach, was eben die
+meiste Anziehungskraft ausübte. Zu mir und Natalien kamen nach und
+nach alle Bewohner des Rosenhauses und des Meierhofes, um uns Glück
+und Segen zu unserer bevorstehenden Vereinigung zu wünschen. Sie
+hatten jetzt erst, nach geschehener Verlobung, die Gewißheit davon
+erhalten, hatten es aber in früherer Zeit aus den Vorgängen, die sie
+sahen, gemutmaßt und geschlossen. Mein Vater holte Vieles wieder im
+Einzelnen nach, was er im Allgemeinen gesehen hatte, er war bald hier,
+bald dort und war viel mit dem Besitzer des Hauses beschäftigt. Die
+Frauen ließen sich das angelegen sein, was Sache des Hauswesens
+ist, und verkehrten manche Weile mit Katharinen. Wir jüngeren Leute
+gingen viel in dem Garten herum, besuchten manche Stelle und machten
+Spaziergänge. Wir waren mehrere Male bei den Gärtnerleuten, saßen
+einmal lange bei ihrem Tische und besahen einmal ausführlich für
+uns die Gewächshäuser und ließen uns das Vorhandene von dem Gärtner
+erklären. Eines Tages waren wir auch alle im Inghofe, und die Bewohner
+des Inghofes waren eines andern Tages im Asperhofe. Der Pfarrer von
+Rohrberg und mehrere der angeseheneren Bewohner der Gegend waren von
+nahe oder von ferne herzugekommen, um zu dem ihnen bekannt gewordenen
+Ereignisse ihren Glückwunsch darzubringen. Selbst Bauersleute der
+Nachbarschaft und Andere, die mich und Natalien kannten, kamen zu
+demselben Zwecke.
+
+Wir mußten zwölf Tage in dem Asperhofe zubringen, dann aber wurde
+unser Reisewagen bepackt, und wir traten die Rückreise in unsere
+Vaterstadt an.
+
+
+Da wir zu Hause angekommen waren, wurde sogleich daran gegangen,
+Zimmer in Bereitschaft zu setzen, daß wir den Gegenbesuch, wenn er
+eintreffen würde, anstandsvoll empfangen könnten. Ich rüstete mich
+indessen auch noch zu etwas Anderem, was noch vor der Verbindung mit
+Natalien statthaben mußte, zu meiner großen Reise. Ich suchte die
+Anstalten so zu treffen, daß ich glaubte, nichts Wesentliches außer
+Acht gelassen zu haben. Die Notwendigkeit, mir durch diese Reise noch
+Manches, was mir fehlte, anzueignen und in dieser Hinsicht nicht zu
+weit hinter Natalien zurückstehen zu müssen, war mir einleuchtend, und
+eben so einleuchtend war es mir, daß ich eine größere Reise allein
+machen müsse, ehe ich in künftiger Zeit mit Natalien eine Reise
+antreten könnte. Ich hatte auch vor, mich gleich nach der Zeit, in der
+uns der Gegenbesuch abgestattet sein würde, auf die Reise zu begeben.
+
+Der Gegenbesuch kam drei Wochen nach dem Tage, an welchem wir in
+der Stadt angelangt waren. Ein Brief hatte ihn vorher angekündigt.
+Mathilde, Risach, Natalie und Gustav trafen in einem schönen
+Reisewagen ein. Sie wurden in die für sie in Bereitschaft gehaltenen
+Zimmer geführt. Nachdem sie sich umgekleidet hatten, kamen wir zum
+Gruße in unserem Besuchzimmer zusammen. Der Empfang in unserem Hause
+war so herzlich und innig, wie er nur immer in dem Sternenhofe und in
+dem Hause meines Gastfreundes gewesen war. In allen Mienen war Freude,
+und alle Worte setzten die begonnene Bekanntschaft und die sich
+entwickelnde Freundschaft fort. Selbst bis auf die Dienerschaft
+pflanzte sich das angenehme Gefühl über. Aus einzelnen Worten und aus
+den heitern Angesichtern entnahm man, wie sehr ihnen die wunderschöne
+Braut gefalle. Was unser Haus und die Stadt für die Gäste Angenehmes
+bieten konnte, wurde ihnen zur Verfügung gestellt. Wie auf den beiden
+Landsitzen wurde auch hier alles gezeigt, was das Haus enthält.
+
+Die Gäste wurden in die Zimmer geführt, besahen Bilder, Bücher,
+alte Schreine und geschnittene Steine. Sie kamen in das gläserne
+Eckhäuschen und in alle Teile des Gartens. In Hinsicht der Bilder
+meines Vaters sprach sich mein Gastfreund dahin aus, daß sie als
+Ganzes durchaus wertvoller seien als seine Sammlung, obwohl er auch
+einzelne Stücke besitze, welche dem Besten aus meines Vaters Sammlung
+an die Seite gestellt werden könnten. Meinen Vater freute dieses
+Urteil, und er sagte, er hätte ungefähr dasselbe gefällt.
+
+Die geschnittenen Steine, sagte mein Gastfreund, seien auserlesen, und
+denen hätte er nichts Gleiches entgegenzustellen, es müßte nur das
+Marmorstandbild sein.
+
+»Das ist es auch, und das ist das Höchste, was in beiden
+Kunstsammlungen besteht«, erwiderte mein Vater.
+
+Die Schnitzarbeiten im Glashäuschen waren meinem Gastfreunde aus
+meinen Abbildungen bekannt. Er beschäftigte sich aber doch mit ihrer
+genauen Besichtigung und erteilte ihnen mit Rücksicht auf die Zeit
+ihrer Entstehung viel Lob. Mein Einbeerblatt aus Marmor im Garten
+wurde einer Anerkennung nicht für unwürdig erachtet. Meinen Vater
+erquickte die Würdigung seiner Schätze von einem Manne, wie Risach
+war, sehr, und ich glaube, er hatte keine angenehmeren Stunden gehabt,
+seit er alle diese Dinge zusammen gebracht, als die Zeit, die Risach
+bei ihm gewesen war. Selbst jenen Augenblick dürfte er kaum vorgezogen
+haben, da sich zum ersten Male meine Augen für den Wert dessen
+geöffnet hatten, was er besaß. Bei mir war es damals nur Gefühl
+gewesen, bei Risach war jetzt es Urteil.
+
+Zum Vergnügen außer dem Hause geschahen zwei Theaterbesuche, drei
+gemeinschaftliche Besuche in Kunstsammlungen und einige Fahrten in die
+Umgebung.
+
+Bei dieser Zusammenkunft wurde auch die Vermählungszeit besprochen.
+Ich sollte meine angekündigte Reise unternehmen und nach der
+Zurückkunft sollte kein Aufschub mehr stattfinden. Der Tag werde dann
+festgestellt werden. Nach dieser Verabredung wurde Abschied genommen.
+Der Abschied war dieses Mal sehr schwer, weil er auf länger genommen
+wurde und weil unglückliche Zufälle in der Abwesenheit nicht unmöglich
+sein konnten. Aber wir waren standhaft, wir scheuten uns, vor Zeugen,
+selbst vor so lieben, einen Schmerz zu äußern, sondern trennten uns
+und versprachen, uns zu schreiben.
+
+Als uns unsere Gäste verlassen hatten, zeigten wir in Briefen an
+einige uns sehr befreundete Familien meine Verlobung an. Zur Fürstin
+ging ich selbst, um ihr dieses Verhältnis zu eröffnen. Sie lächelte
+herzlich und sagte, daß sie sehr wohl bemerkt habe, daß ich einmal, da
+sie des Namens Tarona Erwähnung getan hatte, äußerst heftig errötet
+sei.
+
+Ich erwiderte, daß ich damals nur errötet sei, weil sie mich auf einer
+inneren Neigung betroffen habe, den Namen Tarona habe ich in jener
+Zeit an Natalien noch gar nicht gekannt. Ich sprach auch von meiner
+Reise, sie lobte diesen Entschluß sehr und erzählte mir von den
+Verhältnissen verschiedener Hauptstädte, in denen sie in früheren
+Jahren zeitweilig gewohnt hatte. Sie erwähnte kurz auch Manches
+über das äußere Ansehen der Länder, da sie eine große Freundin
+landschaftlicher Schönheiten war. Sie hatte eben in dem Augenblicke
+vor, wieder an den Gardasee zu gehen, den sie schon öfter besucht
+hatte. Das war auch die Ursache, daß sie noch so spät im Frühlinge in
+der Stadt war. Sie ersuchte mich, nach meiner Zurückkunft wieder bei
+ihr auf ein Weilchen zu erscheinen. Ich versprach es.
+
+Meine Reise wurde nun keinen Augenblick mehr verzögert. Ich nahm von
+den Meinigen Abschied und fuhr eines Tages zu dem Tore unserer Stadt
+hinaus.
+
+Ich ging zuerst über die Schweiz nach Italien; nach Venedig, Florenz,
+Rom, Neapel, Syrakus, Palermo, Malta. Von Malta schiffte ich mich nach
+Spanien ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen Abweichungen
+durchzog. Ich war in Gibraltar, Granada, Sevilla, Cordoba, Toledo,
+Madrid und vielen anderen, minderen Städten. Von Spanien ging ich nach
+Frankreich, von dort nach England, Irland und Schottland und von dort
+über die Niederlande und Deutschland in meine Heimat zurück. Ich
+war um einen und einen halben Monat weniger als zwei Jahre abwesend
+gewesen. Wieder war es Frühling, als ich zurückkehrte, die mächtige
+Welt der Alpen, der Feuerberge Neapels und Siciliens, der Schneeberge
+des südlichen Spaniens, der Pyrenäen und der Nebelberge Schottlands
+hatten auf mich gewirkt. Das Meer, vielleicht das Großartigste,
+was die Erde besitzt, nahm ich in meine Seele auf. Unendlich viel
+Anmutiges und Merkwürdiges umringte mich. Ich sah Völker und lernte
+sie in ihrer Heimat begreifen und oft lieben. Ich sah verschiedene
+Gattungen von Menschen mit ihren Hoffnungen, Wünschen und
+Bedürfnissen, ich sah Manches von dem Betriebe des Verkehrs, und in
+bedeutenden Städten blieb ich lange und beschäftigte mich mit ihren
+Kunstanstalten, Bücherschätzen, ihrem Verkehre, gesellschaftlichem und
+wissenschaftlichem Leben und mit lieben Briefen, die aus der Heimat
+kamen, und mit solchen, die dorthin abgingen.
+
+Ich kam auf meiner Rückreise früher in die Gegend des Asperhofes und
+des Sternenhofes als in meine Heimat. Ich sprach daher in beiden ein.
+Alles war sehr wohl und gesund und fand mich sehr gebräunt. Hier
+erfuhr ich auch eine Veränderung, die mit meinem Vater vorgegangen
+war und die sie mir in den Briefen verschwiegen hatten, damit ich
+überrascht würde. Alle seine Anspielungen, daß er plötzlich einmal in
+den Ruhestand treten werde, daß er sich, ehe man sichs versehe, auf
+dem Lande befinden werde, daß sich Vieles ereignen werde, woran man
+jetzt nicht denke, daß man nicht wisse, ob man nicht den Reisewagen
+öfter brauchen könne, waren in Erfüllung gegangen. Er hatte sein
+Handelsgeschäft abgetreten und hatte den auf einer sehr lieblichen
+Stelle zwischen dem Asperhofe und Sternenhofe gelegenen, verkäuflich
+gewordenen Gusterhof gekauft, den er eben für sich einrichten lasse.
+Man freute sich schon darauf, wie er sich in diesem neuen Besitztume
+häuslich und wohnlich niederlassen werde. Ich nahm mir nicht Zeit,
+diesen Hof, den ich von Außen kannte, zu besuchen, weil ich Natalien,
+die mir wie ein Gut wieder gegeben worden war, nicht noch unnötig
+länger von meiner Seite entfernt wissen wollte. Nach innigem Empfange
+und Abschiede reiste ich zu meinen Eltern, und reiste Tag und Nacht,
+um bald einzutreffen. Sie wußten von meiner Ankunft und empfingen mich
+freudig. Ich richtete mich sogleich in meiner Wohnung ein. Es war mir
+seltsam und wohltuend, den Vater jetzt immer zu Hause und ihn stets
+mit Plänen, Entwürfen, Zeichnungen umringt zu sehen. Er war während
+meiner Abwesenheit fünf Male in dem Gusterhofe und bei diesen
+Gelegenheiten öfter bei Mathilde oder Risach als Gast gewesen. Die
+Mutter und Klotilde hatten ihn zweimal begleitet. Er war in diesen
+zwei Jahren um ein gut Teil jünger geworden. Auch die Bewohner des
+Sternen- und Asperhofes hatten sich einmal im Winter bei meinen Eltern
+als Gäste eingefunden. Die Bande waren sehr schön und lieb geflochten.
+
+Gleich am ersten Tage meiner Anwesenheit im elterlichen Hause führte
+mich meine Mutter in die Zimmer, die für mich und Natalien als Wohnung
+hergerichtet worden waren, wenn wir uns in der Stadt aufhatten
+wollten. Ich hatte gar nicht gedacht, daß in dem Hause so viel Platz
+sei, so geräumig war die Wohnung. Sie war zugleich so schön und edel
+angeordnet, daß ich meine Freude daran hatte. Ich sprach bei dieser
+Gelegenheit von dem Vermählungstage, und die Mutter antwortete, daß
+der Vater glaube, es sei nun keine Ursache einer Säumnis, und von uns,
+als von der Seite des Bräutigams, müsse die Anregung ausgehen. Ich bat
+um Beschleunigung, und am folgenden Tage gingen schon unsere Briefe in
+den Sternenhof und zu Risach ab. In Kurzem kam die Antwort zurück, und
+der Tag war nach unsern Vorschlägen festgesetzt. Der Sammelplatz war
+der Asperhof.
+
+Meinem Versprechen getreu stellte ich mich nun auch bei der Fürstin.
+Sie war schon auf ihren Landsitz abgereist. Ich schrieb ihr
+daher einige Zeilen, daß ich zurück sei, und zeigte ihr meinen
+Vermählungstag an. In kurzer Zeit kam eine Antwort von ihr nebst einem
+Päckchen, welches ein Erinnerungszeichen an meine Vermählungsfeier von
+ihr enthalte. Sie könne es mir nicht persönlich übergeben, weil sie
+seit einigen Wochen kränklich sei und sich deshalb so früh auf das
+Land habe begeben müssen. Das Erinnerungszeichen liege schon seit
+länger in Bereitschaft. Ich öffnete das Päckchen. Es enthielt eine
+einzige, aber sehr große und sehr schöne Perle. Die Fassung war fast
+keine. Nur ein Stengel und ein Goldscheibchen hafteten an der Perle,
+daß sie eingeknöpft werden konnte. Ich freute mich außerordentlich
+über die Gesinnung der edlen Fürstin, über die Trefflichkeit des
+Geschmackes und über dessen Sinnigkeit; denn eine Perle ist es ja in
+meinen Augen, die ich mir als Geschenk an meine Brust zu heften im
+Begriffe war. Ich schrieb eine innige Dankantwort zurück.
+
+Unsere Vorbereitungen waren bald gemacht, und wir reisten ab.
+
+»Wir können ja unsere letzten Rüstungen in meinem Landhause machen«,
+sagte der Vater mit heiterem Lächeln.
+
+Wir fuhren in den Gusterhof. Eine kleine, aber freundlich bestellte
+Wohnung, die der Vater vorläufig für solche Gelegenheiten hatte
+herrichten lassen, empfing uns. Es war ein liebliches Gefühl, in
+unserem eigenen, uns zugehörigen Landsitze zu sein. Der Vater schien
+dieses Gefühl am tiefsten zu hegen, und die Mutter freute sich dessen
+ungemein. Wir blieben hier so lange und vervollständigten unsere
+Vorbereitungen, daß wir zwei Tage vor der Vermählung in dem Asperhofe
+eintreffen konnten. Mathilde und Natalie waren schon anwesend, da
+wir ankamen. Wir begrüßten uns herzlich. Alles war in einer gewissen
+Spannung der Vorbereitungen. Ich konnte Natalien oft nur auf einige
+Augenblicke sehen. Klotilde wurde auch sofort hineingezogen.
+Botschaften kamen und gingen ab, Gäste und Trauzeugen trafen ein. Ich
+selber war in einer Art Beklemmung.
+
+Am Nachmittage des ersten Tages fand ich einmal Mathilden, meinen
+Gastfreund und Gustav im Lindengange auf und ab wandeln. Ich gesellte
+mich zu ihnen. Gustav verließ uns bald.
+
+»Wir sprachen eben davon, daß mein Sohn sich nun bald von hier
+entfernen und in die Welt gehen müsse«, sagte Mathilde, »habt ihr ihn
+nach eurer Reise nicht auch verändert gefunden?«
+
+»Er ist ein vollkommener Jüngling geworden«, erwiderte ich, »ich habe
+auf meinen Reisen keinen gesehen, der ihm gleich wäre. Er war ein sehr
+kraftvoller Knabe und ist auch ein solcher Jüngling geworden, aber,
+wie ich glaube, gemilderter und sanfter. Ja, sogar in seinen Augen,
+die noch glänzender geworden sind, erscheint mir etwas, das beinahe
+wie das Schmachten bei einem Mädchen ist.«
+
+»Es freut mich, daß ihr das auch bemerkt habt«, sagte mein Gastfreund,
+»es ist so, und es ist sehr gut, wenn auch gefährlich, daß es so ist.
+Gerade bei sehr kraftvollen Jünglingen, deren Herz von keinem bösen
+Rauche angeweht worden ist, tritt in gewissen Jahren ein Schmachten
+ein, das noch holder wirkt als bei heranblühenden Mädchen. Es ist dies
+nicht Schwäche, sondern gerade Überfülle von Kraft, die so reizend
+wirkt, wenn sie aus den meistens dunkeln, sanftschimmernden Augen
+blickt und gleichsam wie ein Juwel an den unschuldigen Wimpern hängt.
+Solche Jünglinge dulden aber auch, wenn böse Schicksalstage kommen,
+mit einem Starkmute, der der Krone eines Märtyrers wert wäre, und wenn
+das Vaterland Opfer heischt, legen sie ihr junges Leben einfach und
+gut auf den Altar. Sie können aber auch zu falscher Begeisterung
+getrieben und mißbraucht werden, und wenn ein solches Jünglingsauge
+zu rechter Zeit in das rechte Mädchenauge schaut, so flammt die
+plötzlichste, heißeste, aber oft auch unglücklichste Liebe empor,
+weil der junge, unverfälschte Mann sie fast unausrottbar in sein Herz
+nimmt. Wir werden, wenn die jetzige Angelegenheit vorüber ist, weiter
+von dem sprechen, was etwa not tut.«
+
+»Ich sehe ja das Gute und die Gefahr«, sagte Mathilde.
+
+Wir gingen bald in das Haus zurück.
+
+»Er muß in die Härte der Welt, die wird ihn stählen«, sagte mein
+Gastfreund auf dem Wege dahin.
+
+
+Endlich war der Vermählungstag angebrochen. Die Trauung sollte am
+Vormittage in der Kirche zu Rohrberg stattfinden, in welche der
+Asperhof eingepfarrt war. Der Versammlungsort war der Marmorsaal,
+dessen Fußboden zu diesem Zwecke mit feinem grünen Tuche überspannt
+worden war. Gleiches Tuch lag auf allen Treppen. Ich kleidete mich in
+meinen Zimmern an, tat ein Gebet zu Gott und wurde von einem meiner
+Trauzeugen in den Marmorsaal geführt. Von unsern Angehörigen waren
+erst die Männer dort. Die Zeugen und die meisten Gäste waren zugegen.
+Risach war im Staatskleide und mit allen seinen Ehren geschmückt. Da
+tat sich die Tür, die von dem Gange hereinführte, auf und Natalie mit
+ihrer und meiner Mutter, mit Klotilden und mit noch andern Frauen und
+Mädchen trat herein. Sie war prachtvoll gekleidet und mit Edelsteinen
+gleichsam übersät; aber sie war sehr blaß. Die Edelsteine waren in
+mittelalterlicher Fassung, das sah ich wohl; aber ich hatte nicht die
+Stimmung, auch nur einen Augenblick darauf zu achten. Ich ging ihr
+entgegen und reichte ihr sanft die Hand zum Gruße. Sie zitterte sehr.
+
+Mein Gastfreund sagte zu meinen Eltern: »Das Lieblingsgespräch eures
+Sohnes waren bisher seine Eltern und seine Schwester, wer ein so guter
+Sohn ist, wird auch ein guter Gatte werden.«
+
+»Die schöneren Eigenschaften, die eine Zukunft gewähren«, sagte mein
+Vater, »hat er von euch gebracht, wir haben es wohl gesehen und haben
+ihn darum immer mehr geliebt, ihr habt ihn gebildet und veredelt.«
+
+»Ich muß antworten wie bei Natalien«, erwiderte mein Gastfreund, »sein
+Selbst hat sich entwickelt und aller Umgang, der ihm zu Teil geworden,
+vorerst der eurige, hat geholfen.«
+
+Ich wollte etwas sprechen, konnte aber vor Bewegung nicht.
+
+Gustav, der in der Nähe der Frauen stand, sah mich an, ich ihn auch.
+Er war ebenfalls sehr blaß.
+
+Indessen hatten sich alle nach und nach eingefunden, die bei der
+Trauung gegenwärtig sein sollten, die Stunde der Abfahrt war da und
+der Hausverwalter meldete, daß alles in Bereitschaft sei.
+
+Mathilde machte Natalien das Zeichen des Kreuzes auf die Stirne, den
+Mund und die Brust, und diese beugte sich mit ihren Lippen auf die
+Hand der Mutter nieder. Dann faßten die Mädchen den Schleier, der wie
+ein Silbernebel von dem Haupte Nataliens bis zu ihren Füßen reichte,
+hüllten sie in ihn, und Natalie ging, von ihren Mädchen umringt
+und von den Frauen geleitet, die Treppe hinunter, auf welcher die
+Marmorgestalt stand. Wir folgten. Mit mir waren meine Zeugen und
+Risach und der Vater. Den ersten Teil der Wagenreihe nahmen die
+Frauen, die Braut und die Mädchen ein, den letzten die Männer und ich.
+Wir stiegen ein, der Zug setzte sich in Bewegung. Es war viel Volk
+gekommen, die Brautfahrt zu sehen. Darunter erblickte ich meinen
+Zitherspiellehrer, welcher mir mit einem grünen Hute, auf dem er
+Federn hatte, winkte. Die Bewohner des Meierhofes und die Diener des
+Hauses waren größtenteils vorausgegangen und harrten unser in der
+Kirche. Einige befanden sich auch in den Wägen. Der Zug fuhr langsam
+den Hügel hinab.
+
+In der Kirche erwartete uns der Pfarrer von Rohrberg, wir traten vor
+den Altar, und die Trauung ward vollbracht.
+
+Zum Zurückfahren kamen Natalie und ich allein in einen Wagen. Sie
+sprach nichts, der Schleier blieb zurückgeschlagen und Tropfen nach
+Tropfen floß aus ihren Augen.
+
+Da wir wieder in dem Marmorsaale waren, wurden auf den langen Tisch,
+den man heute hier aufgerichtet und mit vielen Stühlen umgeben hatte,
+von Risach und von meinem Vater die Papiere niedergelegt, die sich auf
+unsere Vermählung und unser Vermögen bezogen. Ich aber nahm indessen
+Natalien an der Hand und führte sie durch das Bilder- und Lesezimmer
+in das Bücherzimmer, in welchem wir allein waren. Dort stellte ich
+mich ihr gegenüber und breitete die Arme aus. Sie stürzte an meine
+Brust. Wir umschlangen uns fest und weinten beide beinahe laut.
+
+»Meine teure, meine einzige Natalie!« sagte ich.
+
+»O mein geliebter, mein teurer Gatte«, antwortete sie, »dieses Herz
+gehört nun ewig dir, habe Nachsicht mit seinen Gebrechen und seiner
+Schwäche.«
+
+»O mein teures Weib«, entgegnete ich, »ich werde dich ohne Ende ehren
+und lieben, wie ich dich heute ehre und liebe. Habe auch du Geduld mit
+mir.«
+
+»O Heinrich, du bist ja so gut«, antwortete sie.
+
+»Natalie, ich werde suchen, jeden Fehler dir zu Liebe abzulegen«,
+erwiderte ich, »und bis dahin werde ich jeden so verhüllen, daß er
+dich nicht verwunde.«
+
+»Und ich werde bestrebt sein, dich nie zu kränken«, antwortete sie.
+
+»Alles wird gut werden«, sagte ich.
+
+»Es wird alles gut werden, wie unser zweiter Vater gesagt hat«,
+antwortete sie.
+
+Ich führte sie näher an das Fenster, und da standen wir und hielten
+uns an den Händen. Die Frühlingssonne schien herein, und neben den
+Diamanten glänzten die Tropfen, die auf ihr schönes Kleid gefallen
+waren.
+
+»Natalie, bist du glücklich?« sagte ich nach einer Weile.
+
+»Ich bin es in hohem Maße«, antwortete sie, »mögest du es auch sein.«
+
+»Du bist mein Kleinod und mein höchstes Gut auf dieser Erde«,
+erwiderte ich, »es ist mir noch wie im Traume, daß ich es errungen
+habe, und ich will es erhalten, so lange ich lebe.«
+
+Ich küßte sie auf den Mund, den sie freundlich bot. In ihre feinen
+Wangen war das Rot zurückgekehrt.
+
+In diesem Augenblicke hörten wir Tritte in dem Nebenzimmer, und
+Mathilde, meine Mutter, Risach, mein Vater und Klotilde, die uns
+gesucht hatten, traten ein.
+
+»Mutter, teure Mutter«, sagte ich zu Mathilden, indem ich allen
+entgegen ging, Mathildens Hand faßte und sie zu küssen strebte.
+Mathilde hatte sich nie die Hand von irgend jemandem küssen lassen.
+Dieses Mal erlaubte sie, daß ich es tue, indem sie sanft sagte: »Nur
+das eine Mal.«
+
+Dann küßte sie mich auf die Stirne und sagte: »Sei so glücklich, mein
+Sohn, als du es verdienst und als es die wünscht, die dir heute ihr
+halbes Leben gegeben hat.«
+
+Risach sagte zu mir: »Mein Sohn, ich werde dich jetzt du nennen, und
+du mußt zu mir wie zu deinem ersten Vater auch dies Wörtchen sagen -
+mein Sohn, nach dem, was heute vorgefallen, ist deine erste Pflicht,
+ein edles, reines, grundgeordnetes Familienleben zu errichten. Du hast
+das Vorbild an deinen Eltern vor dir, werde, wie sie sind. Die Familie
+ist es, die unsern Zeiten not tut, sie tut mehr not als Kunst und
+Wissenschaft, als Verkehr, Handel, Aufschwung, Fortschritt oder wie
+alles heißt, was begehrungswert erscheint. Auf der Familie ruht die
+Kunst, die Wissenschaft, der menschliche Fortschritt, der Staat. Wenn
+Ehen nicht beglücktes Familienleben werden, so bringst du vergeblich
+das Höchste in der Wissenschaft und Kunst hervor, du reichst es einem
+Geschlechte, das sittlich verkommt, dem deine Gabe endlich nichts mehr
+nützt und das zuletzt unterläßt, solche Güter hervor zu bringen. Wenn
+du auf dem Boden der Familie einmal stehend - viele schließen keine
+Ehe und wirken doch Großes -, wenn du aber auf dem Boden der Familie
+einmal stehst, so bist du nur Mensch, wenn du ganz und rein auf ihm
+stehst. Wirke dann auch für die Kunst oder für die Wissenschaft, und
+wenn du Ungewöhnliches und Ausgezeichnetes leistest, so wirst du mit
+Recht gepriesen, nütze dann auch deinen Nachbarn in gemeinschaftlichen
+Angelegenheiten und folge dem Rufe des Staates, wenn es not tut. Dann
+hast du dir gelebt und allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens
+wie bisher und alles wird sich wohl gestalten.«
+
+Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an sich und küßte mich auf den
+Mund.
+
+Natalie war indessen in den Armen meiner Mutter, meines Vaters und
+Klotildens gewesen.
+
+»Er wird gewiß bleiben, wie er heute ist«, sagte sie, wahrscheinlich
+auf einen Wunsch für die Zukunft antwortend.
+
+»Nein, mein teures Kind«, sagte meine Mutter, »er wird nicht so
+bleiben, das weißt du jetzt noch nicht: er wird mehr werden, und du
+wirst mehr werden. Die Liebe wird eine andere, in vielen Jahren ist
+sie eine ganz andere; aber in jedem Jahr ist sie eine größere, und
+wenn du sagst, jetzt lieben wir uns am meisten, so ist es in Kurzem
+nicht mehr wahr, und wenn du statt des blühenden Jünglings einst
+einen welken Greis vor dir hast, so liebst du ihn anders, als du den
+Jüngling geliebt hast; aber du liebst ihn unsäglich mehr, du liebst
+ihn treuer, ernster und unzerreißbarer.«
+
+Mein Vater wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
+
+Meine Mutter küßte Natalien noch einmal und sagte: »Du liebe, gute,
+teure Tochter.«
+
+Natalie gab den Kuß zurück und schlang die Arme um den Hals meiner
+Mutter.
+
+»Kinder, jetzt müssen wir zu den Andern gehen«, sagte Risach.
+
+Wir gingen in den Saal. Dort gab Risach Papiere in die Hände
+Nataliens. Sie legte sie in die meinigen. Mein Vater gab mir auch
+Papiere. Alle Anwesenden wünschten uns nun Glück, vor allem Gustav,
+den ich die letzte Zeit her gar nicht gesehen hatte. Er fiel der
+Schwester um den Hals und auch mir. In seinen schönen Augen perlten
+Tränen. Dann beglückwünschten uns Eustach, Roland, die vom Inghofe,
+der Pfarrer von Rohrberg, der mich auf unser erstes Zusammentreffen in
+diesem Hause an jenem Gewitterabende erinnerte, und alle Andern.
+
+Risach sagte, daß jetzt jedem zwei Stunden zur Verfügung gegeben
+seien, dann müsse sich alles in dem Marmorsaale zu einem kleinen Mahle
+versammeln.
+
+Natalie wurde von ihren Trauungsjungfrauen in die Gemächer ihrer
+Mutter geführt, daß sie dort die Trauungsgewänder ablege. Ich ging in
+meine Wohnung, kleidete mich um und verschloß die Papiere, ohne sie
+anzusehen. Nach einer geraumen Zeit ging ich in das Vorzimmer zu
+Mathildens Wohnung und fragte, ob Natalie schon in Bereitschaft
+sei, ich ließe bitten, mit mir einen kurzen Gang durch den Garten
+zu machen. Sie erschien in einem schönen, aber sehr einfachen
+Seidenkleide und ging mit mir die Treppe hinab. Sie reichte mir den
+Arm und wir wandelten eine Zeit unter den großen Linden und auf
+anderen Gängen des Garten herum.
+
+Nachdem die zwei Stunden verflossen waren, wurde mit der Glocke das
+Zeichen zum Mahle gegeben. Alles begab sich in den Saal und erhielt
+dort seine Sitze angewiesen. Das Mahl war, wie gewöhnlich bei Risach,
+einfach, aber vortrefflich. Für Kenner und Liebhaber standen sehr edle
+Weine bereit. Es war nie in dem Saale ein Mahl abgehalten worden, und
+der Ernst des Marmors, bemerkte mein gewesener Gastfreund, dürfe nur
+in den Ernst des edelsten Weines nieder blicken. Trinksprüche wurden
+ausgebracht und sogar Reime auf ewiges Wohl hergesagt.
+
+»Habe ich es gut gemacht, Natta«, sagte mein einstiger Gastfreund,
+»daß ich dir den rechten Mann ausgesucht habe? Du meintest immer,
+ich verstände mich nicht auf diese Dinge, aber ich habe ihn auf den
+ersten Blick erkannt. Nicht bloß die Liebe ist so schnell wie die
+Electricität, sondern auch der Geschäftsblick.«
+
+»Aber Vater«, sagte Natalie errötend, »wir haben ja über diesen
+Gegenstand nie gestritten, und ich konnte dir die Fähigkeit nicht
+absprechen.«
+
+»So hast du dir es gewiß gedacht«, erwiderte er, »aber richtig habe
+ich doch geurteilt: er war immer sehr bescheiden, hat nie vorlaut
+geforscht und gedrängt und wird gewiß ein sanfter Mann werden.«
+
+»Und du, Heinrich«, sagte er nach einer Weile, »werde darum nicht
+stolz. Verdankst du mir nicht endlich ganz und gar Alles? Du
+hast einmal, da du zum ersten Male in diesem Hause warst, in der
+Schreinerei gesagt, daß der Wege sehr verschiedene sind und daß man
+nicht wissen könne, ob der, der dich eines Gewitters wegen zu mir
+herauf geführt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist, worauf ich
+antwortete, daß du ein wahres Wort gesprochen habest und daß du es
+erst recht einsehen werdest, wenn du älter bist; denn in dem Alter,
+dachte ich mir damals, übersieht man erst die Wege, wie ich die
+meinigen übersehen habe. Wer hätte aber damals geglaubt, daß mein Wort
+die Bedeutung bekommen werde, die es heute hat? Und alles hing davon
+ab, daß du hartnäckig gemeint hast, ein Gewitter werde kommen, und daß
+du meinen Gegenreden nicht geglaubt hast.«
+
+»Darum, Vater, war es Fügung, und die Vorsicht selber hat mich zu
+meinem Glücke geführt«, sagte ich.
+
+»Die alte Frau, die in dem dunkeln Stadthause unsere Wohnungsnachbarin
+und zuweilen unser Gast war«, sagte mein Vater, »hat dir, Heinrich,
+die Weissagung gemacht, es werde recht viel aus dir werden: und nun
+bist du bloß, wie du selber sagst, glücklich geworden.«
+
+»Das Andere wird kommen«, riefen mehrere Stimmen.
+
+»Eine gute Eigenschaft habe ich an deiner Gattin zu ihren andern
+Tugenden entdeckt«, fuhr mein Vater fort, »sie ist nicht neugierig;
+oder hast du, liebe Tochter, das Kästchen schon eröffnet, welches ich
+dir gegeben habe?«
+
+»Nein, Vater, ich wartete auf deinen Wink«, antwortete Natalie.
+
+»So lasse das Kästchen bringen«, entgegnete mein Vater.
+
+Es geschah. Der Faden mit dem Siegel wurde entzwei geschnitten, das
+Kästchen geöffnet, und auf weißem Sammt lag ein außerordentlich
+schöner Schmuck von Smaragden. Ein allgemeiner Ruf der Verwunderung
+machte sich hörbar. Nicht nur waren die Steine an sich, obwohl nicht
+zu den größten ihrer Art gehörend, sehr schön, sondern die Fassung,
+die Steine nicht drückend, war doch so leicht und so schön, daß das
+Ganze wie ein zusammengehöriges, in einander gewachsenes Werk, wie ein
+wirkliches Kunstwerk, erschien. Selbst Eustach und Roland sprachen
+ihre Verwunderung aus, und vollends Risach. Sie versicherten, daß sie
+keine neue Arbeit gesehen hätten, die dieser gliche.
+
+»Dein Freund, mein Heinrich, hat diesen Schmuck fertigen lassen«,
+sagte mein Vater, »wir haben Smaragde gewählt, weil er eben sehr
+schöne und in erforderlicher Anzahl hatte, weil Smaragde unter allen
+farbigen Steinen den Ton des weiblichen Halses und Angesichtes am
+sanftesten heben, und weil du tief gefärbte und reine Smaragde so
+liebst. Und alle hier sind tief und rein. Wir haben gesucht, nach
+deinen Grundsätzen die Steine fassen zu lassen. Es sind viele
+Zeichnungen gemacht, gewählt, verworfen und wieder gewählt worden.
+Es dürfte der beste Zeichner unserer Stadt sein, der endlich das
+Vorliegende zusammen gestellt hat. Es wurde hierauf beinahe Tag und
+Nacht gearbeitet, um zu rechter Zeit fertig zu sein. Geöffnet sollte
+das Kästchen darum nicht werden, damit meine Tochter nicht etwa bloß
+mir zu Liebe diesen Schmuck an ihrem Trauungstage nehmen und einen
+schöneren und kostbareren, den sie besitze, zu ihrem Leidwesen ruhen
+lasse.«
+
+»Sie besitzt keinen schöneren«, erwiderte Risach, »wir haben
+den, welchen sie heute trug, nach Zeichnungen, die wir aus
+mittelalterlichen Gegenständen frei zusammen trugen, ebenfalls bei
+Heinrichs Freunde verfertigen lassen. Mathilde, laß doch den Schmuck
+herbei bringen, daß wir beide vergleichen.«
+
+Mathilde reichte an Natalien ein Schlüsselchen, und diese holte selber
+das Fach, in welchem der Schmuck lag. Er war eine Zusammensetzung von
+Diamanten und Rubinen. Er sah so zart, rein und edel aus, wie ein in
+Farben gesetztes mittelalterliches Kunstwerk. Ein wahrer Zauber lag
+um diese Innigkeit von Wasserglanz und Rosenröte in die sinnigen
+Gestalten verteilt, die nur aus den Gedanken unserer Vorfahren so
+genommen werden können. Und dennoch stand nach einstimmigem Urteil der
+Smaragdschmuck nicht zurück. Der Künstler der Gegenwart kam zu Ehren.
+
+»Es ist aber auch keiner in unserer Stadt und vielleicht in weiten
+Kreisen, der so zeichnen kann«, sagte mein Vater, »er huldigt keinem
+Zeitgeschmacke, sondern nur der Wesenheit der Dinge, und hat ein so
+tiefes Gemüt, daß der höchste Ernst und die höchste Schönheit daraus
+hervorblicken. Oft wehte es mich aus seinen Gestalten so an wie aus
+den Nibelungen oder wie aus der Geschichte der Ottone. Wenn dieser
+Mann nicht so bescheiden wäre und statt den Dingen, womit man ihn
+überhäuft, lieber große Gemälde machte, er würde seines Gleichen
+jetzt nicht haben und nur mit den größten Meistern der Vergangenheit
+zusammengestellt werden können.«
+
+»Ein Schmuck in seinem Fache«, sagte eine Stimme, »ist doch wie ein
+Bild ohne Rahmen, oder noch mehr wie ein Rahmen ohne Bild.«
+
+»Freilich ist es so«, entgegnete Risach, »man kann jedes Ding nur an
+seinem Platze beurteilen, und da mein Freund als mein Nebenbuhler
+aufgetreten ist, so wäre es nicht zu verwerfen - Natta, bist du mein
+liebes Kind?«
+
+»Vater, wie gerne!« antwortete diese.
+
+Sie stand von ihrem Stuhle auf, entfernte sich und kam so gekleidet
+wieder, daß man ihr einen kostbaren Schmuck umlegen konnte. Es geschah
+zuerst mit den Diamanten und Rubinen. Wie herrlich war Natalie, und
+es bewährte sich, daß der Schmuck der Rahmen sei. Am Vormittage, in
+beklemmenden und tieferen Gefühlen befangen, konnte ich dem Schmucke
+keine Aufmerksamkeit schenken. Jetzt sah ich die schönen Gestaltungen
+wie von einem sanften Scheine umgeben. Im Mittelpunkte aller Blicke
+errötete die junge Frau, und die Rosen ihrer Farbe gaben den Rubinen
+erst die Seele und empfingen sie von ihnen. Der Ausdruck der
+Bewunderung war allgemein. Hierauf wurde der Smaragdschmuck umgelegt.
+Aber auch er war vollendet. Der dunkle, tiefe Stein gab der Oberfläche
+von Nataliens Bildungen etwas Ernstes, Feierliches, fremdartig
+Schönes. War der Diamantschmuck wie fromm erschienen, so erschien der
+Smaragdschmuck wie heldenartig. Keiner erhielt den Preis. Risach und
+der Vater stimmten selber überein. Natalie nahm ihn wieder ab, beide
+Schmuckstücke wurden in ihre Fächer gelegt, Natalie trug sie fort und
+erschien nach einer Zeit wieder in ihrem früheren Anzuge.
+
+Bei dem Smaragdschmucke hatte sich etwas Auffälliges ereignet. Von
+ihm waren die Ohrgehänge im Fache zurückgeblieben. Der Diamantschmuck
+enthielt keine Ohrgehänge. Mathilde und Natalie trugen Ohrgehänge
+nicht, weil nach ihrer Meinung der Schmuck dem Körper dienen soll.
+Wenn aber der Körper verwundet wird, um Schmuck in die Verletzung zu
+hängen, werde er Diener des Schmuckes.
+
+Als noch immer von den Steinen gesprochen wurde, was ihre Bestimmung
+sei und wie sie sich auf dem Körper ganz anders ansehen lassen als in
+ihrem Fache, sagte Eustach etwas, das mir als sehr wahr erschien:
+
+»Was die innere Bestimmung der Edelsteine ist«, sprach er, »kann nach
+meiner Meinung niemand wissen: für den Menschen sind sie als Schmuck
+an seinem Körper am schönsten, und zwar zuerst an den Teilen, die er
+entblößt trägt, dann aber an seinem Gewande und an allem, was sonst
+mit ihm in Berührung kommt, wie Königskronen, Waffen. An bloßen
+Geräten, wie wichtig sie sind, erscheinen die Steine als tot, und an
+Tieren sind sie entwürdigt.«
+
+Man sprach noch länger über diesen Gegenstand und erläuterte ihn durch
+Beispiele.
+
+»Da heute unser Wettkampf unentschieden geblieben ist«, sagte Risach
+zu meinem Vater, »so wollen wir nun sehen, wer mit geringerem Aufwande
+seinen Sitz zu einem größeren Kunstwerke machen kann, du deinen
+Drenhof, oder wenn du ihn lieber Gusterhof nennen willst, oder ich
+meinen Asperhof.«
+
+»Du bist schon im Vorsprunge«, entgegnete mein Vater, »und hast gute
+Zeichner bei dir: ich fange erst an, und mein Zeichner liefert mir
+wahrscheinlich keine Zeichnung mehr.«
+
+»Wenn es uns im Asperhofe an Arbeit fehlt, so worden wir in den
+Drenhof hinüber geliehen«, sagte Eustach.
+
+»Auch dann, wenn wir hier Arbeit haben«, erwiderte Risach, »ich will
+dem Feinde Waffen liefern.«
+
+
+Der Nachmittag war ziemlich vorgerückt und es fehlte nicht mehr viel
+zum Abende. Das Mahl war schon längst aus und man saß nur mehr, wie es
+öfter geschieht, im Gespräche um den Tisch.
+
+Mir war schon länger her das Benehmen des Gärtners Simon aufgefallen;
+denn er, so wie die vorzüglicheren Diener des Hauses und Meierhofes,
+war zu Tische geladen worden. Die Andern hatten in dem Meierhofe ein
+Mahl. Ich hatte ihm am Morgen zur Erinnerung an den heutigen Tag eine
+silberne Dose mit meinem Namen in dem Deckel gegeben. Diese Dose hatte
+er bei sich auf dem Tische und sprach ihr unruhig zu. Manches Mal
+flüsterte er mit seinem Weibe, das an seiner Seite saß, und öfter ging
+er fort und kam wieder. Eben trat er nach einer solchen Entfernung
+wieder in den Saal. Er setzte sich nicht und schien mit sich zu
+kämpfen. Endlich trat er zu mir und sprach: »Alles Gute belohnt sich,
+und euch erwartet heute noch eine große Freude.«
+
+Ich sah ihn befremdet an.
+
+»Ihr habt den Cereus peruvianus vom Untergange gerettet«, fuhr er
+fort, »wenigstens hätte er leicht untergehen können, und ihr seid
+Ursache gewesen, daß er in dieses Haus gekommen ist, und heute noch
+wird er blühen. Ich habe ihn durch Kälte zurück zu halten gesucht,
+selbst auf die Gefahr hin, daß er die Knospe abwerfe, damit er nicht
+eher blühe als heute. Es ist alles gut gegangen. Eine Knospe steht zum
+Entfalten bereit. In mehreren Minuten kann sie offen sein. Wenn die
+Gesellschaft dem Gewächshause die Ehre antun wollte...«
+
+»Ja, Simon, ja, wir gehen hin«, sagte mein Gastfreund.
+
+Sofort erhob man sich von dem Tische und rüstete sich zu dem Gange
+in die Gewächshäuser. Simon hatte alles Andere um die Stelle des
+Peruvianus, der in ein eigenes Glashäuschen hinein ragte, entfernt
+und Platz zum Betrachten der Pflanze gemacht. Die Blume war, da wir
+hinkamen, bereits offen. Eine große, weiße, prachtvolle, fremdartige
+Blume. Alles war einstimmig im Lobe derselben.
+
+»So viele Menschen den Peruvianus haben«, sagte Simon, »denn gar
+selten ist er eben nicht, so mächtig groß sie auch seinen Stamm
+ziehen, so selten bringen sie ihn zur Blüte. Wenige Menschen in Europa
+haben diese weiße Blume gesehen. Jetzt öffnet sie sich, morgen mit
+Tagesanbruch ist sie hin. Sie ist kostbar mit ihrer Gegenwart. Mir ist
+es geglückt, sie blühen zu machen - und gerade heute. - Es ist ein
+Glück, das die wahrste Freude hervorbringen muß.«
+
+Wir blieben ziemlich lange und erwarteten das völlige Entfalten.
+
+»Es kommen auch nicht viele Blumen, wie bei gemeinen Gewächsen,
+hervor«, sagte Simon wieder, »sondern stets nur eine, später etwa
+wieder eine.«
+
+Mein Gastfreund schien wirklich Freude an der Blume zu haben, ebenso
+auch Mathilde. Natalie und ich dankten Simon besonders für seine
+große Aufmerksamkeit und sagten, daß wir ihm diese Überraschung nie
+vergessen werden. Dem alten Manne standen die Tränen in den Augen.
+Er hatte Lampen um die Blume angebracht, die bei hereinbrechender
+Dämmerung angezündet worden sollten, wenn etwa jemand die Blume in
+der Nacht betrachten wolle. Bei längerem Anschauen gefiel uns die
+Blume immer mehr. Es dürften in unsern Gärten wenige sein, die
+an Seltsamkeit, Vornehmheit und Schönheit ihr gleichen. Von den
+Anwesenden hatte sie nie einer gesehen. Wir gingen endlich fort, und
+der eine und der andere versprach, im Laufe des Abends noch einmal zu
+kommen.
+
+Da wir auf dem Rückwege waren und an dem Gebüsche, das sich in der
+Nähe des Lindenganges befindet, vorbeigingen, ertönte dicht am Wege
+in den Büschen ein Zitherklang. Risach, welcher meine Mutter führte,
+blieb stehen, ebenso mein Vater und Mathilde und dann auch die Andern,
+die sich eben in unserer Nähe befanden. Ich war mit Natalien mehr
+gegen den Busch getreten; denn ich erkannte augenblicklich den Klang
+meines Zitherspiellehrers. Er trug eine ihm eigentümliche Weise vor,
+dann hielt er inne, dann spielte er wieder, dann hielt er wieder inne,
+und so fort. Es waren lauter Weisen, die er selber ersonnen hatte oder
+die ihm vielleicht eben in dem Augenblicke in den Sinn gekommen waren.
+Er spielte mit aller Kraft und Kunst, die ich an ihm so oft bewundert
+hatte, ja er schien heute noch besser als je zu spielen. Es war, als
+wenn er nichts auf Erden liebte als seine Zither. Alles, was sich in
+der Nähe befand, lauschte unbeweglich, und nicht einmal ein Zeichen
+eines Beifalles wurde laut. Nur Mathilde sah einmal auf Natalien hin,
+und zwar so bedeutsam, als wollte sie sagen: das haben wir nicht
+gehört, und das vermögen wir nicht hervorzubringen. Die Zither war ein
+lebendiges Wesen, das in einer Sprache sprach, die allen fremd war und
+die alle verstanden. Als die Töne endlich nicht mehr wieder beginnen
+zu wollen schienen, trat ich mit Natalien ins Gebüsch, und da saß mein
+Zitherspiellehrer an einem Tischchen und hatte seine Zither vor sich.
+Sein Anzug war graues Tuch und sehr abgetragen, sein grüner Hut lag
+neben der Zither auf dem Tische.
+
+»Joseph, bist du wieder in der Gegend?« fragte ich ihn.
+
+»So recht nicht«, antwortete er, »ich bin gekommen, euch auf der
+Hochzeit einmal gut aufzuspielen.«
+
+»Das hast du getan und das kann keiner so«, sagte ich, »du sollst
+dafür eine Freude haben, und ich weiß dir eine zu verschaffen, welche
+dir die größte ist. Bessere Hände können das, was ich dir geben will,
+nicht fassen als die deinen. Das Rechte muß zusammenkommen. Ich bin
+dir ohnehin auch noch einen Dank schuldig für dein eifriges Lehren und
+für deine Begleitung im Gebirge.«
+
+»Dafür habt ihr mich bezahlt, und das Heutige tat ich freiwillig«,
+sagte er.
+
+»Warte nur einige Tage hier, dann wirst du empfangen, was ich meine«,
+sprach ich.
+
+»Ich warte gerne«, erwiderte er.
+
+»Du sollst gut gehalten sein«, sagte ich.
+
+Indessen waren alle Andern auch herbeigekommen und überschütteten
+den Mann mit Lob. Risach lud ihn ein, eine Weile in seinem Hause zu
+bleiben. Er spielte noch einige Weisen, er vergaß beinahe, daß ihm
+jemand zuhöre, spielte sich hinein und hörte endlich auf, ohne auf die
+Umstehenden Rücksicht zu nehmen, genau so, wie er es immer tat. Wir
+entfernten uns dann.
+
+Ich rief sogleich den Hausverwalter herbei, sagte ihm, er möge
+mir einen Boten besorgen, welcher auf der Stelle in das Echerthal
+abzugehen bereit sei. Der Hausverwalter versprach es. Ich schrieb
+einige Zeilen an den Zithermacher, legte das nötige Geld bei,
+versprach noch mehr zu senden, wenn es nötig sein sollte, und
+verlangte, daß er die dritte Zither, welche die gleiche von der
+meinigen und der meiner Schwester sei, in eine Kiste wohlverpackt dem
+Boten mitgebe, der den Brief bringt. Der Bote erschien, ich gab ihm
+das Schreiben und die nötigen Weisungen, und er versprach, die heutige
+Nacht zu Hilfe zu nehmen und in kürzester Frist zurück zu sein. Ich
+hielt mich nun für sicher, daß nicht etwa im letzten Augenblicke die
+Zither wegkomme, wenn sie überhaupt noch da sei.
+
+Indessen war es tief Abend geworden. Ich ging mit Natalien und
+Klotilden noch einmal zu dem Cereus peruvianus, der im Lampenlicht
+fast noch schöner war. Simon schien bei ihm wachen zu wollen. Immer
+gingen Leute ab und zu. Joseph hörten wir auch noch einmal spielen. Er
+spielte in der großen unteren Stube, wir traten ein, er hatte guten
+Wein vor sich, den ihm Risach gesendet hatte. Das ganze Hausvolk war
+um ihn versammelt. Wir hörten lange zu, und Klotilde begriff jetzt,
+warum ich im Gebirge so gestrebt habe, daß sie diesen Mann höre.
+
+Ein Teil der Gäste hatte noch heute das Haus verlassen, ein anderer
+wollte es bei Anbruch des nächsten Tages tun und einige wollten noch
+bleiben.
+
+Im Laufe des folgenden Vormittages, da sich die Zahl der Anwesenden
+schon sehr gelichtet hatte, kamen noch einige Geschenke zum
+Vorscheine. Risach führte uns in das Vorratshaus, welches neben dem
+Schreinerhause war. Dort hatte man einen Platz geschafft, auf welchem
+mehrere mit Tüchern verhüllte Gegenstände standen. Risach ließ den
+ersten enthüllen, es war ein kunstreich geschnittener Tisch und hatte
+den Marmor als Platte, welchen ich einst meinem Gastfreunde gebracht
+hatte, und über dessen Schicksal ich später in Ungewißheit war.
+
+»Die Platte ist schöner als tausende«, sagte Risach, »darum gebe
+ich das Geschenk meines einstigen Freundes in dieser Gestalt meinem
+jetzigen Sohne. Keinen Dank, bis alles vorüber ist.«
+
+Nun wurde ein großer, hoher Schrein enthüllt.
+
+»Ein Scherz von Eustach an dich, mein Sohn«, sagte Risach.
+
+Der Schrein war von allen Hölzern, welche unser Land aufzuweisen hat,
+in eingelegter Arbeit verfertigt. Eustach hatte die Zusammenstellung
+entworfen. Die Sache sah außerordentlich reizend aus. Ich hatte bei
+meinem Winterbesuche im Asperhofe an diesem Schreine arbeiten gesehen.
+Ich hatte damals die Ansammlung von Hölzern seltsam gefunden, auch
+hatte ich den Zweck des Schreines nicht erkannt. Er war in mein
+Arbeitszimmer für meine Mappen bestimmt.
+
+Zuletzt wurden mehrere Gegenstände enthüllt. Es waren die Ergänzungen
+zu meines Vaters Vertäflungen. Das war gleich auf den ersten Blick
+zu erkennen und erregte Freude; aber ob sie die rechten oder
+nachgebildete seien, war nicht zu entscheiden. Risach klärte alles
+auf. Es waren nachgebildete. Zu diesem Behufe hatte man von mir
+die Abbildungen der Vertäflungen des Vaters verlangt. Roland hatte
+vergeblich nach den echten geforscht. Er hatte Messungen nach den
+vorhandenen Resten vorgenommen und nach Orten gesucht, auf welche
+die Messungen paßten. In einem abgelegenen Teile der Holzbauten
+des steinernen Hauses hatte er endlich Bohlen gefunden, welche den
+Messungen genau entsprachen. Die Bohlen waren teils vermorscht, teils
+zerrissen und trugen die Verletzungen, wie man die Schnitzereien von
+ihnen herab gerissen hatte. Es war nun fast gewiß, daß die Ergänzungen
+verloren gegangen seien. Man machte daher die Nachbildungen. In
+demselben Winterbesuche hatte ich auch das Bohlenwerk zu diesen
+Schnitzereien gesehen. Mein Vater erklärte die Arbeit für
+außerordentlich schön.
+
+»Sie hat auch lange gedauert, mein lieber Freund«, sagte Risach, »aber
+wir haben sie für dich zu Stande gebracht, und sie wird genau in dein
+Glashäuschen passen oder leicht einzupassen sein; außer du zögest vor,
+die Schnitzereien in den Drenhof bringen zu lassen.«
+
+»So wird es auch geschehen, mein Freund«, sagte mein Vater.
+
+Nun ging es erst an ein Danksagen und an ein Ausdrücken der Freude.
+Die Geber lehnten jeden Dank von sich ab. Man beschloß, die
+Gegenstände in kurzer Zeit auf ihren Bestimmungsort zu bringen.
+
+An diesem Tage und in den folgenden verließen uns nach und nach
+alle Fremden, und erst jetzt begann ein liebes Leben unter lauter
+Angehörigen. Risach hatte für mich und Natalien eine sehr schöne
+Wohnung herrichten lassen. Sie konnte nicht groß sein, war aber sehr
+zierlich. In den zwei Jahren meiner Abwesenheit waren ihre Wände
+bekleidet und waren neue, ausgezeichnete Geräte für sie angeschafft
+worden. Wir beschlossen aber, unsere regelmäßige Wohnung so lange in
+dem Sternenhofe aufzuschlagen, bis ihn Gustav würde übernehmen können,
+damit Mathilde in der Zwischenzeit nicht zu vereinsamt wäre. Dabei
+würde ich oft in den Asperhof kommen, um mit Risach zu beratschlagen
+oder zu arbeiten, oft würden auch die Andern kommen, und oft würden
+wir uns da oder im Gusterhofe oder im Sternenhofe oder in der
+Stadt besuchen und zeitweilig dort wohnen. Mit Natalien hatte ich
+eine größere Reise vor. Für den Fall, daß ich in was immer für
+Angelegenheiten abwesend sein sollte, nahm jedes Haus das Recht in
+Anspruch, Natalien beherbergen zu dürfen.
+
+Der Zitherspieler spielte täglich und oft ziemlich lange vor uns. Am
+fünften Tage kam die Zither. Ich überreichte sie ihm, und er, da er
+sie erkannte, wurde fast blaß vor Freude. Dieses Geschenk durfte das
+beste für ihn genannt werden; von diesem Geschenke wird er sich nicht
+trennen, während es von jedem andern zweifelhaft wäre, ob er es nicht
+verschleudere. Als er die Zither gestimmt und auf ihr gespielt hatte,
+sahen wir erst, wie trefflich sie sei. Er wollte fast gar nicht
+aufhören zu spielen. Risach ließ ihm noch über ihr Fach ein
+wasserdichtes Lederbehältnis machen. Nach mehreren Tagen nahm er
+Abschied und verließ uns.
+
+Wir machten alle eine kleine Reise in das Ahornwirtshaus, und ich
+stellte Kaspar und alle Andern, die mit mir in Verbindung gewesen
+waren, Risach, Mathilden, meinen Eltern und Natalien vor. Wir blieben
+sechs Tage in dem Ahornhause. Von da gingen wir in den Sternenhof. Die
+Tünche war nun überall von ihm weggenommen worden, und er stand in
+seiner reinen, ursprünglichen Gestalt da. Auch hier wurden wir in die
+Wohnung eingeführt, die während meiner Abwesenheit für uns hergestellt
+worden war. Sie konnte in dem weitläufigen Gebäude viel größer sein
+als die im Asperhofe. Sie war zu einer vollständigen Haushaltung
+hergerichtet.
+
+Von dem Sternenhofe gingen wir in die Stadt. Dort machten wir alle
+Besuche, welche in den Kreisen meiner Eltern und in denen Mathildens
+notwendig waren. Risach stellte manchem Freunde seine angenommene und
+neuvermählte Tochter nebst ihrem Gatten und ihrer Mutter vor. Ich
+erfuhr, daß meine Vermählung mit Natalie Tarona Aufsehen errege; ich
+erfuhr, daß insbesondere einige meiner Freunde - sie hatten sich
+wenigstens immer so genannt - geäußert haben, das sei unbegreiflich.
+Nataliens Neigung zu mir war mir stets ein Geschenk und daher
+unbegreiflich; da aber nun diese es aussprachen, begriff ich, daß
+es nicht unbegreiflich sei. Ich besuchte meinen Juwelenfreund, der
+wirklich ein Freund geblieben war. Er hatte die innigste Freude
+über mein Glück. Ich führte ihn in unsere Familien ein. Bekannt
+war er mit allen Teilen schon lange gewesen. Ich dankte ihm sehr
+für die prachtvolle Fassung der Diamanten und Rubinen und des
+Smaragdschmuckes. Er fühlte sich über Risachs und meines Vaters Urteil
+sehr beglückt.
+
+»Wenn wir solche Kunden in großer Zahl hätten, wie diese zwei Männer
+sind, teurer Freund«, sagte er, »dann würde unsere Beschäftigung bald
+an die Grenzen der Kunst gelangen, ja sich mit ihr vereinigen. Wir
+würden freudig arbeiten, und die Käufer würden erkennen, daß die
+geistige Arbeit auch einen Preis habe wie die Steine und das Gold.«
+
+Ich nahm bei ihm eine sehr wertvolle und mit Kunst verzierte Uhr als
+Gegenscherz für Eustachs Mappenschrein. Klotilde hatte sie ausgewählt.
+Für Roland ließ ich einen Rubin in einen Ring fassen, daß er ihn zur
+Erinnerung an mich trage und meine Dankbarkeit für seine Bemühungen
+zur Auffindung der Ergänzungen der Pfeilerverkleidungen anerkenne.
+
+»Er ist ohnehin ein Nebenbuhler von mir«, sagte ich, »er hat Natalien
+oft lange und bedeutend angesehen.«
+
+»Das hat einen sehr unschuldigen Grund«, entgegnete mein Gastfreund,
+»Roland erwarb sich ein Liebchen mit gleichen Augen und Haaren, wie
+sie Natalie besitzt. Er hat uns das öfter gesagt. Das Mädchen ist die
+Tochter eines Forstmeisters im Gebirge und ihm äußerst zugetan. Da
+nun der Arme ihren Anblick oft lange entbehren muß, so sah er zur
+Erquickung Natalien an. Es hat Schwierigkeiten mit diesem jungen
+Manne, ich wünsche sein Wohl. Er kann ein bedeutender Künstler werden
+oder auch ein unglücklicher Mensch, wenn sich nehmlich sein Feuer, das
+der Kunst entgegen wallt, von seinem Gegenstande abwendet und sich
+gegen das Innere des jungen Mannes richtet. Ich hoffe aber, daß ich
+alles werde ins Gleiche bringen können.«
+
+Da alle notwendigen Dinge in der Stadt abgetan waren, wurde die
+Rückreise angetreten, und zwar in den Asperhof. Die Zeit der
+Rosenblüte war herangerückt, und heuer sollte sie von den vereinigten
+Familien als ein Denkzeichen der Vergangenheit und aber auch als eins
+der Zukunft zum ersten Male in dieser Vereinigung und mit besonderer
+Festlichkeit begangen werden. Mein Vater sollte sehen, welche Gewalt
+die Menge und die Mannigfaltigkeit auszuüben im Stande ist, wenn diese
+Menge und Mannigfaltigkeit auch nur lauter Rosen sind. Nach Verlauf
+der Rosenblüte sollte alles und jedes, das durch diese Vermählung
+unterbrochen worden war, in das alte Geleise zurückkehren.
+
+
+Da wir in dem Asperhofe angekommen waren, gelangte ich erst zu einiger
+Ruhe. Da sah ich auch gelegentlich die Papiere an, die uns Risach und
+der Vater gegeben hatten, und erstaunte sehr. Beide enthielten für uns
+viel mehr, als wir nur entfernt vermutet hatten. Risach wollte bis zu
+seinem Tode das Haus in der Art wie bisher fort bewirtschaften, damit,
+wie er sagte, er seinen Nachsommer bis zum Ende ausgenießen könne.
+Unser Rat und unsere Hilfe in der Bewirtschaftung wird ihm Freude
+machen. Einen namhaften Teil seiner Barschaft hatte er uns übergeben.
+Und weil öfter zwei Familien in dem Asperhofe sein können, so lagen
+den Papieren Pläne bei, daß auf einem schönen Platze zwischen dem
+Rosenhause und dem Meierhofe, hart am Getreide, ein neues Haus
+aufgeführt und sogleich zum Baue geschritten werden möge. Aber auch
+das von dem Vater uns Übergebene war der gesammten Habe Risachs
+ebenbürtig und übertraf weit meine Erwartungen. Als wir unsern Dank
+abstatteten und ich mein Befremden ausdrückte, sagte der Vater: »Du
+kannst darüber ganz ruhig sein; ich tue mir und Klotilden keinen
+Abbruch. Ich habe auch meine heimlichen Freuden und meine
+Leidenschaften gehabt. Das geben verachtete bürgerliche Gewerbe
+eben, bürgerlich und schlicht betrieben. Was unscheinbar ist,
+hat auch seinen Stolz und seine Größe. Jetzt aber will ich der
+Schreibstubenleidenschaft, die sich nach und nach eingefunden,
+Lebewohl sagen und nur meinen kleineren Spielereien leben, daß ich
+auch einen Nachsommer habe wie dein Risach.«
+
+Als wir einige Zeit in dem Rosenhause verweilt hatten, traten eines
+Tages Natalie und ich zu unserem neuen Vater und baten ihn, er möge
+ein Versprechen von uns annehmen, dessen Annahme uns sehr freuen
+wurde.
+
+»Und was ist das?« fragte er.
+
+»Daß wir, wenn du uns dereinst in dieser Welt früher verlassen
+solltest als wir dich, keine Veränderung in allem, wie es sich in dem
+Hause und in der Besitzung vorfindet, machen wollen, damit dein teures
+Andenken bestehe und forterbe«, sagten wir.
+
+»Da tut ihr zu viel«, antwortete er, »ihr verspreche etwas, dessen
+Größe ihr nicht kennt. Diese Bande darf ich nicht um euren Willen und
+eure Verhältnisse legen, sie könnten von den übelsten Folgen sein.
+Wollt ihr mein Gedächtnis in mannigfachem Bestehenlassen ehren, tut es
+und pflanzt auch euren Nachkommen diesen Sinn ein, sonst ändert, wir
+ihr wünscht und wie es not tut. Wir wollen, so lange ich lebe, selber
+noch mit einander ändern, verschönern, bauen; ich will noch eine
+Freude haben, und mit euch zu ändern und zu wirken ist mir lieber, als
+wenn ich es allein tue.«
+
+»Aber der Erlenbach muß als Denkmal der schönen Geräte bestehen
+bleiben.«
+
+»Setzt eine Urkunde auf, daß ihm nichts angetan werde von Geschlecht
+zu Geschlecht, bis seine Reste vermodern oder ein Wolkenguß ihn von
+seiner Stelle feget.«
+
+Er küßte Natalien, wie er gerne tat, auf die Stirne, mir reichte er
+die Hand.
+
+Als die Rosenzeit wirklich recht innig und zum Staunen meiner
+Angehörigen, welche so etwas nie gesehen hatten, vorüber gegangen war,
+nahmen wir Abschied, die Vereinigung, welche nun so lange bestanden
+hatte, löste sich und die Tage kehrten in ihren gewöhnlichen Abfluß
+zurück. Meine Eltern gingen mit Klotilden in den Gusterhof, wo sie bis
+zum Winter bleiben wollten, und ich siedelte mit Natalien in unsere
+ständige Wohnung in den Sternenhof über. Wir sollten nun die
+eigentliche Familie desselben sein, Mathilde werde bei uns wohnen und
+mit an unserem Tische speisen. Die Bewirtschaftung des Gutes sollte
+ebenfalls ich leiten. Ich übernahm die Pflicht und bat um Mathildens
+Beihilfe, so ausgedehnt sie dieselbe leisten wolle. Sie sagte es zu.
+
+So rückte nun die Zeit in ihr altes Recht, und ein einfaches,
+gleichmäßiges Leben ging Woche nach Woche dahin.
+
+Nur im Herbste fand eine Abwechslung statt. Die Vettern aus dem
+Geburtshause des Vaters besuchten meine Eltern in dem Gusterhofe. Wir
+fuhren zu ihnen hinüber. Der Vater ließ sie reichlich beschenkt in
+einem Wagen in ihre Heimat zurückführen.
+
+Mit Beginn des Winters war Rolands Bild fertig. Es war seiner Größe
+willen zu rollen, hatte einen großen Goldrahmen, der zu zerlegen war,
+und wurde in dem Marmorsaale auf einer Staffelei aufgestellt. Wir
+reisten alle in den Asperhof. Das Bild wurde vielfach betrachtet und
+besprochen. Roland war in einer gehobenen, schwebenden Stimmung;
+denn was auch die Meinung seiner Umgebung war, wie sehr sie auch das
+Hervorgebrachte lobte und wohl auch Hindeutungen gab, was noch zu
+verbessern wäre: so mochte ihm sein Inneres versprechen, daß er einmal
+vielleicht noch weit Höheres, ja ein ganz Großes zu Stande zu bringen
+vermögen werde. Risach sagte ihm die Mittel zu, reisen zu können und
+ordnete die Zubereitung zu einer baldigen Abreise nach Rom an. Gustav
+mußte noch den Winter im Asperhofe zubringen. Im Frühlinge sollte er
+endlich in die Welt gehen.
+
+So waren nun mannigfaltige Beziehungen geordnet und geknöpft.
+
+Mathilde hatte einmal, da ich sie im Sternenhofe besuchte, zu mir
+gesagt, das Leben der Frauen sei ein beschränktes und abhängiges,
+sie und Natalie hätten den Halt von Verwandten verloren, sie müßten
+Manches aus sich schöpfen wie ein Mann und in dem Widerscheine ihrer
+Freunde leben. Das sei ihre Lage, sie daure ihrer Natur nach fort und
+gehe ihrer Entwicklung entgegen. Ich hatte mir die Worte gemerkt und
+hatte sie tief ins Herz genommen.
+
+Ein Teil dieser Entwicklung, glaubte ich nun, war gekommen, der zweite
+wird mit Gustavs Ansiedlung eintreten. An mir hatten die Frauen wieder
+einen Halt gewonnen, daß sich ein fester Kern ihres Daseins wieder
+darstelle; ein neues Band war durch mich von ihnen zu den Meinigen
+geschlungen, und selbst das Verhältnis zu Risach hatte an Rundung und
+Festigkeit gewonnen. Den Abschluß der Familienzusammengehörigkeit wird
+dann Gustav bringen.
+
+Was mich selber anbelangt, so hatte ich nach der gemeinschaftlichen
+Reise in die höheren Lande die Frage an mich gestellt, ob ein Umgang
+mit lieben Freunden, ob die Kunst, die Dichtung, die Wissenschaft das
+Leben umschreibe und vollende oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das
+es umschließe und es mit weit größerem Glück erfülle. Dieses größere
+Glück, ein Glück, das unerschöpflich scheint, ist mir nun von einer
+ganz anderen Seite gekommen als ich damals ahnte. Ob ich es nun in der
+Wissenschaft, der ich nie abtrünnig werden wollte, weit werde bringen
+können, ob mir Gott die Gnade geben wird, unter den Großen derselben
+zu sein, das weiß ich nicht; aber eines ist gewiß, das reine
+Familienleben, wie es Risach verlangt, ist gegründet, es wird, wie
+unsre Neigung und unsre Herzen verbürgen, in ungeminderter Fülle
+dauern, ich werde meine Habe verwalten, werde sonst noch nutzen, und
+jedes, selbst das wissenschaftliche Bestreben, hat nun Einfachheit,
+Halt und Bedeutung.
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der Nachsommer, by Adalbert Stifter
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NACHSOMMER ***
+
+This file should be named 8126-8.txt or 8126-8.zip
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+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
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+We are now trying to release all our eBooks one year in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
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+and editing by those who wish to do so.
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+Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new
+eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!).
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+can get to them as follows, and just download by date. This is
+also a good way to get them instantly upon announcement, as the
+indexes our cataloguers produce obviously take a while after an
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+as it appears in our Newsletters.
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+Information about Project Gutenberg (one page)
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+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
+We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
+If they reach just 1-2% of the world's population then the total
+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
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+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
+
+Here is the briefest record of our progress (* means estimated):
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+express permission.]
+
+*END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*
+
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Binary files differ
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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