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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 05:30:42 -0700 |
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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Zur Freundlichen Erinnerung + +Author: Oscar Maria Graf + +Posting Date: September 21, 2012 [EBook #7985] +Release Date: April, 2005 +First Posted: June 9, 2003 + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG *** + + + + +Produced by Eric Eldred, Marc D'Hooghe, Charles Franks, +and the Online Distributed Proofreading Team + + + + + + + + + + +ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG--ACHT ERZÄHLUNGEN + +von + +OSCAR MARIA GRAF + + + + + + + +INHALT + +Zwölf Jahre Zuchthaus. +Sinnlose Begebenheit. +Die Lunge. +Ohne Bleibe. +Etappe. +Michael Jürgert. +Ein dummer Mensch. +Ablauf. + + + + +ZWÖLF JAHRE ZUCHTHAUS + + +I. + +Weit hatte es der Schlosser Peter Windel im Laufe einer beinahe +zwanzigjährigen Arbeitszeit bei der Motorenfabrik Jank gebracht. Als +blutjunger Geselle trat er damals in den Dienst und heute war er +erster Werkmeister. Seine stumpfe, schweigende Energie, sein +fanatischer Lerneifer und seine fast pedantische, aber keineswegs +devote Pünktlichkeit hatten ihm Respekt und Achtung verschafft, bei +den Arbeitern sowohl, wie bei den Vorgesetzten. Beliebt war er nicht, +aber es war keiner in der ganzen Fabrik, der auf ein einmal +gesprochenes Wort von Windel nichts gab. Es dauerte allerdings lange, +bis er mehr als das Allernotwendigste sprach. Verschlossen, wortkarg +und mit jener stoischen Strenge im Gesicht, die schon nahe an der +Grenze des Mißmuts steht--so kannte man ihn seit Jahr und Tag. Noch +dazu war er keineswegs eine Erscheinung. Von Gestalt klein und nicht +gerade kräftig, etwas vornübergebeugt, mit langem Hals, auf dem ein +unförmiger, zu großer Kopf mit borstigen, kurzen, schon etwas +angegrauten Haaren und weitwegstehenden Ohren saß. Das lederne, +scharfe Gesicht machte einen überreizten Eindruck. Die tiefliegenden, +unruhigen Augen waren von vielen blutunterlaufenen Äderchen +durchzogen. Aus dem schroffen Tal der Backen hob sich die plumpe, +unregelmäßige Nase wie ein spitzer Hügel. Griesgrämig griff die +massige, verfaltete Stirne von einer Schläfenbucht zur andern. + +Das Merkwürdigste an diesem Antlitz aber war der untere Teil. Er +schien fast von einem anderen Menschen zu sein, hatte etwas so +Hilfloses und Schüchternes, daß man den Eindruck des Mädchenhaften +nicht losbrachte, wenn nicht hin und wieder der geöffnete kleine, +aufgeworfene Mund die eingerissenen, stark mitgenommenen Zähne gezeigt +hätte. Kam noch hinzu ein ungewöhnlich kurzes, fast in den Hals +gefallenes und nur durch einen ganz kleinen Ballen angedeutetes Kinn, +aus dem ein spröder Knebelbart spritzte wie eine Rettung. Sonst hätte +man buchstäblich der Meinung sein können, nach dem Hals ginge der Mund +an. + +Man sagt im allgemeinen, Pedanten, die ihr Dasein fast abgezirkelt +genau ableben, hätten ein sorgfältig gepflegtes Erinnerungsvermögen +und vergäßen die kleinste Kleinigkeit oft jahrelang nicht. + +Peter Windel hatte keine Erinnerung. + +Schließlich, daß man irgendwie zur Welt kommt, aufwächst und +allmählich auf einen Namen hört, dann, in der Schule, noch auf einen +zweiten; in die Lehre kommt, etliche Stellen wechselt; daß es einem +schlecht oder besser geht, daß man auf einem Gottesacker unter anderen +Leuten um ein Grab steht und den Kies auf den Sarg einer toten Mutter +oder eines verstorbenen Vaters, eines Bruders oder einer Schwester +fallen hört und endlich Hinterlassenschaftspapiere, Notariatszimmer +und Pfandbriefe zu sehen bekommt,--das erlebt so ziemlich jeder Mensch +auf die eine oder andere Weise. + +Ein schepperndes Weckerläuten. Es ist noch tiefste Nacht draußen, die +Fenster sind gefroren und hoch herauf verschneit, man hört auf den +weiten, überschneiten Straßen nur seine eigenen Schritte knirschen. +Aus Schnee und Dunkelheit kommt langsam eine flimmernde Straßenbahn, +dann hinter einer gelben Fensterscheibe ein verschlafenes, ärgerliches +Pförtnergesicht, üher einen Hof viele, dumpf trommelnde Schritte und +ineinanderschwimmende Laute, endlich einen glatten Hebel in der Hand, +--herumgezogen--und ratsch! ein ganzer Hauskoloß surrt bebend +auf, die Riemen klatschen, ächzen, es hämmert, feilt, quietscht, +kracht, klingt, braust--das wußte Peter Windel seit ewiger Zeit. +Zwischendurch freilich auch Sommertage. Ein offenes Fenster, Kühle und +Dämmerung und etliche schüchterne Vogeltriller beim Erwachen. Das +meiste der zwanzig Jahre--: Nächte über technischen Büchern, +Sonntagnachmittage über dem Zeichenblock und manchmal ein Zählen des +ersparten Geldes. Öfters als wünschenswert Streitigkeiten, Zänkereien +mit der halbtauben, beschränkten Logisfrau können noch hinzugezählt +werden. Das war alles. Peter Windel hatte keine Erinnerung. Er kannte +nur Interessen. + +Wenn nicht-- + +Und hier beginnt diese Geschichte. + + +II. + +"Sie sind eine Sau! Vier Wochen kein frisches Handtuch, zwei Monate +keine Bettwäsche gewechselt! Wenn das nicht aufhört, ziehe ich!" +schrie Peter Windel an einem Sonntag seine Logisfrau an. + +Wie immer. Das Weib blieb stehen, glotzte ihn an, verzog das Gesichtzu +einer weinerlichen Grimasse und winselte ein paar unverständliche +Worte heraus. Und weinte erst leise, dann immer unerträglicher. + +Das Fenster stand offen. Es war Sommer. Klar fiel die Sonne in den +Hof. Windel riß die Schranktüre auf, nahm seinen Regenmantel, schob +die Frau beiseite und ging. + +Vierzig Mark für ein Zimmer ist nicht viel und die Frau schnüffelte +nicht, war uralt, hockte den ganzen Tag in der dumpfen Küche und +lispelte Gebete. Unreinlich war sie nur von Zeit zu Zeit. Man mußte +sie dann grob anschreien.-- + +Auf der Treppe fiel Peter ein, daß er "Die Elektrizität als Nutzkraft" +vergessen hatte. Er drehte sich rasch um und ging zurück. Immer noch +stand das Weib in der Zimmermitte, fast unbeweglich und wimmerte. +Einen Augenblick maß sie Peter verärgert. Dann stampfte er mit dem Fuß +auf den Boden. + +"Herrgott nochmal!" stieß er heraus, warf seinen Mantel hin, riß die +Bettlaken herunter, zog in aller Eile Decke und Kopfkissen ab und warf +die ganze Wäsche der Frau vor die Füße, samt dem schmutzigen Handtuch. +"Gehn Sie doch in die Küche mit Ihrem Lamentieren und legen Sie mir +die Bettwäsche dann herein, ich mach's mir selber!" sagte er noch, +nahm vom Nachtkasten das vergessene Buch und schmiß wütend die Türe +zu. + +"Meine Lies' ... heut wird's das zweite Jahr!" wimmerte die Frau noch. +Und fiel wieder in ihr wimmerndes Weinen.-- + +Als Peter Windel tief in der Abendstunde nach Hause kam, lag sie quer +auf dem Zimmerboden, den Kopf auf die Waschtischkante geschlagen, eine +ziemlich große Wunde auf der Stirn--reglos, steif. + +Eine kleine Lache geronnenes Blut umgab den Kopf. Die Tote mußte sich +in den hingeworfenen Bettüchern mit den Füßen verwickelt haben und +dann hingefallen sein. + +Peter Windel stand und stand. Er fühlte das Brennen des angesteckten +Streichholzes nicht auf den Fingern. Erst als es wieder dunkel war, +zuckte er ein wenig, steckte schnell ein neues an und ließ es wieder +verglimmen. Stand und stand. + +Plötzlich gab er sich einen Ruck und lief wie ein Irrer davon, ließ +die Türen offen, polterte die Treppen hinunter, rannte hastig und +totenbleich an Leuten vorbei und meldete das Geschehene auf der +Polizeiwache. Als er mit zwei Schutzleuten und dem Polizeiarzt +zurückkam, waren schon Leute aus den Türen gekommen und musterten ihn, +trippelten nach und blieben an der Eingangstüre stehen mit gereckten +Hälsen, brummten, lispelten. + +Der eine der Schutzleute schloß endlich die Türe. Man machte Licht in +Peters Zimmer, schaute eine Zeitlang auf die Tote, nahm die zwei oder +drei schwarzen, verkohlten Streichholzköpfe auf ein Papier und sagte +zu Windel, der säulenstarr dastand: "Setzen Sie sich." + +Der Arzt beugte sich üher die Tote, ein Schutzmann prüfte die +Waschtischkante. Der Arzt nickte. + +"Setzen Sie sich!" sagte ein Schutzmann strenger. + +Peter brach endlich in einen Stuhl. + +Die drei lispelten in der Ecke. + +Der Arzt steckte seine Instrumente ein, hustete und stellte sich neben +die Tote. + +Ein Schutzmann nahm neben Peter Platz, einer blieb an dessen Seite +stehen. + +"Wann haben Sie die Frau verlassen?" fragte der Schutzmann und +notierte. + +Fragte weiter, mit einer gewissen hämischen Herausforderung: + +"Haben Sie Beziehungen zu der Hullinger gehabt?" + +"Nein." + +"Wie lange wohnen Sie hier?" + +"Und haben schon öfters solche Streitigkeiten mit der Hullinger gehabt?" + +"Ja," sagte Peter. + +"Und diesmal?" + +"Weil sie mir schon vier Wochen keine frische Bettwäsche mehr gab." + +"Sie waren also grob zu ihr?" + +"Ja." + +Und noch, was er Gehalt hätte, was er bezahlen müsse für Logis, ob die +Hullinger vielleicht eine größere Hinterlassenschaft in bar irgendwo +aufbewahrt, beziehungsweise ob ihm bekannt wäre, in welchen Verhältnissen +die Hullinger gelebt habe. + +Peter antwortete meistens mit Ja oder Nein. Seine Stimme klang +zerbrochen und schwer. + +"Dann muß ich im Hotel schlafen ... Herr Schutzmann ... wenn die Leiche +hier liegenbleiben muß," sagte er endlich hilflos. Er hatte diese +Anordnung vom Arzt gehört. + +Da stand der Schutzmann selbstbewußt auf, sagte: "Sie kommen mit!"-Alle +Menschen waren noch auf dem dunklen Hof, und entsetzte Blicke fielen auf +die Davongehenden. + + +III. + +Wegen dringenden Verdachts, seine Logisfrau ermordet zu haben, wurde +Peter Windel in Untersuchungshaft genommen und in einer Einzelzelle +untergebracht. Vier hohe, glatte, mit kahler, graugrüner Ölfarbe +gestrichene Wände umgaben ihn von nun ab. Unter der Lichtluke stand +die hölzerne Pritsche, daneben der Abort. Auf dessen Deckel konnte man +bei den Mahlzeiten den Eßnapf oder die blecherne Wasserkanne stellen. + +Die erste Nacht lehnte Peter schlaflos an der kalten Tür. Als die +Wärter in der Frühe aufschlossen, mußten sie fest drücken, bis seine +steife Gestalt nachgab und endlich, als sie wütend fluchten, mechanisch +etliche Schritte in den Raum machte. Während die Wärter die Brotration +auf die Pritsche legten und den Kaffee in die blecherne Tasse gossen, +stand der Gefangene die ganze Zeit unbeweglich und zusammengeschrumpft +da. Sie achteten nicht weiter darauf und schlossen geräuschvoll wieder +die Tür.-- + +Jetzt war Licht. Die Gefängnisuhr schlug sieben. + +Peter schaute schüchtern im Raum herum und begann zu gehen. Ging +stoisch die Wände lang. Immer zehn Schritte der Länge nach und zwölf +Schritte der Breite nach. Den ganzen Tag, ohne innezuhalten, wenn man +Essen oder Abendbrot brachte.-- + +Erst als das Licht beim Hereinbruch der zweiten Nacht verlosch, legte +er sich auf die Pritsche, zog die rauhe Decke üher sich und schlief +wie immer. Jäh erwachte er in der anderen Frühe. Es war stockdunkel. +Er griff in die Gegend des Abortes, als suche er etwas oder wolle +Licht anstecken und stieß dabei so hastig an die Wand der Wasserkanne, +daß dieselbe mit einem Knall auf den Boden fiel und klatschend die +Flüssigkeit aus ihr peitschte. Erschreckt schwang sich Peter von der +Pritsche, hielt seine aufgeknöpften Kleider raffend zusammen und +lauschte aufmerksam.-- + +Jetzt schlug es fünf. Er atmete auf und begann unsicher und vorsichtig +umherzutasten. Auf einmal fühlte er die Nässe an seinen Füßen. + +"Herrgott! Herrgott!" brummte er mürrisch und besann sich. Aber in +diesem Augenblick räkelte wer an der Tür. Ein Atmen wurde vernehmbar, +das Licht in der hohen Decke flammte auf und wieder standen die kahlen +Mauern ringsherum, das kleine Loch glotzte in den totenstillen Raum. + +"Was machen Sie denn da?!... Sind Sie ruhig!" brüllte der Wärter +draußen ärgerlich. Peters Finger streckten sich und ließen von den +Kleidern. Seine Hose fiel langsam herab. Ein Zittern schüttelte seinen +ganzen Körper. + +"Es ist schon fünf Uhr vorbei, ich muß weg!" hauchte er gedämpft. +--Aber es war schon wieder dunkel. Und still.-- + +Erst nach einer Weile brachte Peter die Kraft auf, seine Hose +hochzuziehen, und tastete sich zur Pritsche, legte sich darauf. Sein +Herz schlug hörbar und mit jedem Uhrenschlag erregter. Um sechs Uhr +schwang er sich empor und blieb dann hölzern sitzen. + +Das Licht griff endlich wieder von der hohen Decke in den Raum. Die +Tür öffnete sich unter dem Knarren der Schlüssel. Ein Wärter stellte +das Frühstück herein und der andere an der Tür warf den Aufwischlumpen +her und beide brummten und schimpften wegen des Wasserumschüttens, +hießen Peter aufwischen. Fast froh darüber ergriff dieser den Lappen, +kniete hin und wollte alles möglichst in die Länge ziehen. Aber die +Wärter zeterten und trieben zur Eile. + +"Vorwärts! Vorwärts! Glauben Sie, wir sind zu Ihrer Unterhaltung da! +... Marsch! Marsch! ... So ... fertig!" + +Sie rissen ihm den Lumpen aus der Hand und waren schon draußen. Wieder +wich die Tür in die Wand zurück. Die Schlüssel knirschten. Das Guckloch +starrte wie ein gräßliches, ausgestochenes Auge in den kahlen Raum. + +Peter kniete benommen da. Lange. + +Es war still! Still!! + +Fürchterlich still! + +Wie ein aufgescheuchtes Tier hob der Kniende plötzlich den Kopf, +schaute scheu um sich und sprang mit einem Satz an den Abort, hob den +Deckel und schloß ihn hastig wieder, hob und schloß. + +Die Spülung rauschte. Auf und zu klappte der Deckel. Es krachte, +rauschte. Immer hastiger, schneller, motorisch riß Peter auf und zu, +auf und zu, immerfort, immerzu, nur um die Stille nicht mehr zu hören, +hob und deckte zu, es rauschte, rauschte--bis der Wärter schrie: +"Sie!! ... Sie! Sind Sie verrückt geworden!!--Passen Sie auf! ... Man +ist schon mit anderen fertig geworden! ... Warten Sie, Sie!!" + +So erschrocken war Peter, daß er noch lange zitterte, dann ging er +hastig wieder die zehn und die zwölf Schritte. Den ganzen Tag.-- + +Viele, viele Tage, jedesmal um fünf Uhr früh, erwachte Peter so jäh. +Immer griff er hinüber zum Abortdeckel, wollte Licht anstecken, sprang +auf, brachte seine Kleider in Ordnung,--machte etliche Schritte, stieß +an die kalte Tür und prallte zurück. + +Neunzehnunddreiviertel Jahre gleichmäßiges Aufstehen lassen sich +schließlich nicht aus der Gewohnheit auslöschen. + +Um sechs Uhr pfiff es. Wenn er am Hebel stand undihn herumriß, fing +der mächtige Koloß der Fabrik zu surren an, die Riemen klatschten, +quietschten, es krachte, bebte, hämmerte.... + +Peter war so mit dem Kopf an die Tür gestoßen, daß er taumelnd +zurückfiel, glatt auf den Boden und liegenblieb.-- + +Wo!? Wo war man denn? Wo denn! Wo!!? + +Auf der Welt? In der Hölle? Tief in der Erde?-- + +Es war still! + +Nirgends war man! Nirgends! Gar nirgends! + +In einem Grab, in einem luftleeren, steinernen Sarg! In einer +fressenden Stille! Und durfte langsam, ganz langsam sterben. Niemand +wußte, sah und hörte etwas. Es war still! Still!!--Still!!! + +Doch--man hörte etwas, zeitweilig ein ganz fernes Klopfen, ein Kratzen +in den Wänden. Aus einer anderen Gruft vielleicht?!--Nein! Es waren +Holz--oder Mauerwürmer, die nagten, nagten, weil sie einen Kadaver +witterten.-- + +Die dann herabfielen wie Tropfen und langsam in den Leibbohrten,--nagten, +nagten und alles auffraßen!-- + +Das Licht kam wieder. Peter Windel stand auf, ging zehn und zwölf +Schritte. Er aß jetzt auch.-- + + +IV. + +Endlich nach fünfzehn Wochen Haft fand die Verhandlung gegen Peter +statt. + +Stupid folgte der Gefangene den Wärtern durch lange Gänge, dann fühlte +er Luft und bekam Angst, atmete sparsam. + +Und dann saß er in einem Saal, sah Gestalten, sah starre Augen und +hörte Redegeräusche um sich herum und aus sich heraus. + +Zuerst saß er da wie eine leblose Puppe. Dann, mit jedem gehörten +Wort, kam mehr und mehr das Leben in ihn. Sein Gesicht bewegte sich, +als öffne es sich aus einer Erstarrung--und dann lag ein Lächeln die +ganze Zeit auf seinen stoppeligen Falten und blieb.-- + +Die Dienstmagd vom Vorderhaus sagte aus. Einfach klangen ihre Worte. +Sie sprach nicht zu viel und nicht zu wenig. + +Das Geräusch der Worte war erst undeutlich, dann wurde es klarer und +klang.-- + +Am fraglichen Sonntag nachmittags zwei Uhr vernahm diese Dienstmagd +ein Wimmern aus dem offenen Fenster des Windelschen Zimmers. Dem +folgte ein grobes, kurzes Schimpfen. Dann sah sie den Angeklagten auf +der Treppe, wie er plötzlich innehielt und wieder umkehrte. Und wieder +hörte sie das Wimmern, noch deutlicher sogar und ein wütenden Schimpfen, +dann einen Türzuschlag und Windel mit grimmigem Gesicht die Treppe +hinunterrennen. + +Wie ruhig sie das sagte: "Und dann, gleich darauf, habe ich einen +dumpfen Knall und einen kurzen, nicht recht lauten Schrei, der eher +ein Stöhnen war, gehört und das Wimmern hat auf einmal aufgehört. Ich +weiß nicht mehr genau, war's gleich nach dem Türzuschlagen oder ein +wenig später. Ich bin dann zu meiner Schwester gegangen, weil ich +Ausgang hatte.... Die Leute im Vorderhaus und im Hinterhaus? ... Ja +... soviel ich gesehen habe, die waren fast alle weggegangen ... schon +mittags.... Es war ja auch so schönes Wetter." + +Peter Windel saß da und lauschte. Es klang!-- + +Er begann auf einmal langsam--dann aber stoßweise zu schluchzen. Eine +Bewegung kam in den Saal. Eine Glocke läutete. Lauter rief wer! +Ja!--Ja! Das konnte der Vesperruf in der großen Halle sein! Das war +dasselbe, dünne, schrille Läuten.-- + +Dann klangen wieder Stimmen hin und her. + +Der Chef, die Arbeiter und Angestellten und die frühere Logisfrau +sagten günstig über den Angeklagten aus. Die letztere weinte sogar +buchstäblich und sprach erregt, daß der Staatsanwalt sich verpflichtet +fühlte, sie zu fragen, wie lange Windel sie kenne, ob er sie zuletzt +noch aufgesucht und ob sie zu ihm in näherer Beziehung gestanden habe. + +Die dicke Frau wurde darob sehr schrill, schrie und es läutete +abermals. Peter Windel war wieder ruhig geworden und lächelte +wieder.-- + +Lächelte, trotz der furchtbaren Anklagerede des Staatsanwalts, +lächelte starr in den Raum, als der Rechtsanwalt redete und redete.-- + +Man fand keine Absicht in dieser Tat. Die Beweise waren zu mangelhaft. +Der Angeklagte war ein unbescholtener Mensch. Bis in die Schulzeit +hatten die eifrigen Nachforschungen der Behörden zurückgegriffen, +nichts ließ auf einen jähzornigen, böswilligen Menschen schließen, +sondern eher auf einen schüchternen, scheuen, dem das Leben stark +mitgespielt hatte.-- + +"Alles, was die tote Frau Hullinger hinterlassen hat, fand man +unberührt. Sie haben ein Zeugnis aus der weitaus überwiegenden +Mehrzahl der Aussagenden, daß der Angeklagte nie zu einer solchen Tat +fähig sei. Wie kann man annehmen, daß ein solcher Mensch wegen einer +geringfügigen Unreinlichkeit einfach eine alte Frau dermaßen an den +Waschtisch wirft, daß sie augenblicklich tot ist!" rief der Verteidiger. +Und viele nickten. Man hörte deutlich ein Aufatmen, als der Freispruch +bekanntgegeben wurde und sah aufgeheiterte, fast erlöste Gesichter.-- + +Peter Windel war frei. + +"Kommen Sie nur gleich wieder!" hatte sein Chef gesagt, als er ihm +beim Weggehen die Hand drückte. Und der Rechtsanwalt hatte einen Blick +wie ungefähr: "Na, das hätten wir wieder durchgedrückt!" + +Nach fünfzehn Wochen spürten Peters zögernde + +Schritte wieder Straßen, hörten seine Ohren Trambahnrattern, sahen +seine Augen Menschen, Farben, Fenster, und er wußte selber nicht, wie +und weshalb er plötzlich an einen Schalter herantrat und sagte: +"Dritter Klasse! Ja!" + +Er stieg auf den Zug und ging nicht in die Kupees. Eine Nacht lang +stand er auf dem eisernen, ratternden Vorplatz eines Wagens und +atmete.-- + +Der Wind pfiff. Der Zug sauste, riß die Luft auseinander, zog +vorbeifliegende Lichter in die Länge, bohrte hemmungslos in eine +dunkle, ungewisse Ferne. + +Keine Wand mehr, keine zehn und zwölf Schritte, kein Ende--das Toben +und Brausen wieder! Nur diesmal wie ein Flug durch einen unermeßlichen +Raum.-- + + +V. + +Aber--es ist nicht wahr! Man kann nichts wegtrinken, nichts vergessen +machen, nichts auslöschen! Man trägt es mit sich wie ein unsichtbares +Schneckenhaus und zuletzt!?-- + +Es sind immer wieder die kahlen, glatten Mauern, die Tür mit dem +ausgestochenen Aug' in der Mitte, die zehn und zwölf Schritte.... + +Es klopft.-- + +Es kratzt in den Wänden. Die Würmer nagen. Sie warten und fallen +plötzlich in einer Nacht wie schwere Tropfen herab, bohren sich ins +Fleisch, nagen--nagen.-- + +Peter Windel hatte eine wilde Flucht hinter sich. Durch Städte und +Dörfer war er gefahren, in Hotels und in Wirtschaften, in +Animierkneipen oder am Leib eines Weibes hatte er die Nächte +verbracht. Er trank, warf das Geld weg, aß, saß in den Theatern und +den Kinos, in den Bars und Vergnügungslokalen jeder Klasse. + +Es war immer wieder die Stille, das Stockdunkle, das Grab!-- + +Er floh und kehrte endlich wieder zurück zu Jank, nahm die Arbeit +wieder auf und wurde ruhiger. Es trat die alte Regelmäßigkeit in sein +Leben. Ereignislos verliefen die Jahre. Er wurde alt. Gebückt ging er. + +Der Chef nahm ihn in die Abteilung für technische Angelegenheiten ins +Bureau. Da saß er nun jeden Tag auf seinem Drehstuhl und rechnete, +schlug das Buch zu, kam am ändern Tag wieder und rechnete. + +Neben ihm saß das Schreibmaschinenfräulein, weiter am Fenster vorne +der Ingenieur und manchmal auch der Chef. + +Jahre.-- + +Plötzlich an einem Nachmittag gegen drei Uhr warf Peter Windel die +Feder weg, riß sich fast soldatisch herum, ging an den Schreibtisch +des Ingenieurs und sagte mit hohler, kalter Stimme: "Die Sache +liegt vollkommen glatt. Für den Verlust mache ich Sie keinesfalls +haftbar." + +Steif stand er einen Augenblick vor dem verblüfften Herrn und drehte +sich rasch um, rannte zur Tür und war weg. + +Schon nach der Mittagspause hatte er sich den Hut unter den +Schreibtisch gelegt. Und jetzt war er froh, daß kein ihm bekannter +Straßenbahner den Wagen führte, in den er stieg. + +Nach der fünften Haltestelle stieg er aus. Er war mitten in der Stadt. +"Das Urteil im Heinold-Prozeß! Zwölf Jahre Zuchthaus!" schrien die +Zeitungsverkäufer und flatterten mit den Extrablättern herum. + +Wichtige, gesprächige Gesichter tauchten auf, gedrängte Gruppen +stauten sich um die Anschlagssäulen. + +Peter bohrte seine Augen spähend in die staubige Luft. Nach einem +regen Ausschreiten blieb er auf einmal stehen, murmelte etliche Worte +heraus, drehte sich mechanisch herum und ging in den Blumenladen, +vor dem er jetzt stand. Nach einer langen Weile kam er mit einem +großen, auffallend schönen Rosenstrauß heraus, und ein kaltes Lächeln +lag auf seinen störrischen Zügen. + +"Lebenslänglich in einem Grab ... da schon lieber gleich weg," hatte +er gestern beim Treppenhinaufgehen gehört, und dann sagte eine andere +Frau superklug: "Beantragt erst. Es hängt noch vom Gericht ab." + +Heute war niemand im Treppenhaus. Auch die Wohnung war leer. Die +Logisfrau war wahrscheinlich zum Putzen gegangen und ihr Mann kam erst +gegen sieben Uhr abends von der Arbeit. + +Peter öffnete rasch und schritt behend in sein Zimmer, legte behutsam +den Rosenstrauß auf den Tisch und holte sich in der Küche warmes Wasser +zum Rasieren.-- + +Als er bereits im Gebrock vor dem Spiegel stand, überfiel ihn auf +einmal ein maßloses Zittern, und eine Totenblässe überzog sein +Gesicht. Mit Gewalt straffte er seine Füße. Dann nahm er endlich den +Strauß und verließ die Wohnung. + +Es war schon dunkel, als er vor der Tür des Staatsanwalts Petersen +stand und läutete. + +"Ich möchte gern ... wenn es erlaubt ist ... dem Herrn Staatsanwalt +diese Blumen bringen ... und--und gratulieren," stotterte er dem +Mädchen ins Gesicht. Das ließ ihn ein und führte ihn in ein +Empfangszimmer. Nach ganz kurzer Zeit tat sich die Mitteltür auf, und +Peter stand vor dem Staatsanwalt. Einen Augenblick hatte der Mann eine +steinern ernste Miene, dann flossen alle Falten in ein Wohlwollen und +er lächelte geschmeichelt. + +Mit vielen unbeholfenen Verbeugungen reichte ihm Peter den Rosenstrauß +und stotterte devot: "Für ... für den außerordentlichen Eindruck, den +ich von Ihrer Anklagerede empfing ... nur eine kleine Erkenntlichkeit +meiner Wenigkeit, Herr ... Herr Staatsanwalt, Herr....!" + +Der Staatsanwalt nahm ihm mit aller Freundlichkeit der Herablassung +den Strauß aus der Hand, führte ihn an die Nase und sog in vollen +Zügen den Duft ein, hob den Kopf wieder, sagte: "Ah ...!" und drehte +sich lächelnd um, zur anderen Tür schreitend: "Das muß ich gleich +meiner Frau sagen...." + +Jetzt, da er ihm den Rücken zugewendet hatte, rief Peter plötzlich mit +schneidender Hast: "Eins, zwei, drei! ... einen Augenblick ..." und er +lächelte, wie um sich zu besinnen ... "sind drei ... aber nein, nein! +Das stimmt nicht! ... Zehn und zwölf, verstehn Sie ... sind?" + +Der Staatsanwalt hatte sich erschreckt umgedreht, stand unschlüssig. +Peters Mund bewegte sich fieberhaft. Schaum stand auf seinen Lippen: +"Verstehn Sie ... zehn und zwölf Schritte! Den ganzen Tag! Den ganzen +Monat--ein Jahr--zwei!--drei!--vier--zwölf Jahre! Zwölf Jahre!!" + +Und noch ehe der Staatsanwalt auf ihn zustürzen konnte, stieß ihm +Peter mit aller Wucht sein feststehendes Messer in die Brust, daß er +lautlos zusammenbrach und vornüber hinfiel. Dumpf hallte es. Der +Körper warf sich etliche Male zuckend und blieb dann steif liegen. + +Peters Mund ging auf und zu: "Zehn und zwölf Schritte--einen Tag, +einen Monat--ein Jahr--zwölf Jahre, zwölf----" + +Die Tür ging auf. Hoch stand ihr Dunkel. Etwas Buntes, Weißes +flimmerte dazwischen! Peter schrie in einem Schrei: + +"Für den Verlust mache ich Sie keinesfalls haftbar,--Zwölf Jahre Grab! +Verstehn Sie ... Das ausgestochene Aug'! Die Würmer! Zwölf Jahre ... +Verstehn Sie! Zwölf Jahre Nirgends! Nicht Hölle! Nicht Welt! Zehn und +zwölf Schritte ... die Wü-ü-ürmer!".... + +Nach der irren Hast der ersten Worte spaltete sich die Stimme, +überschlug sich und klang zuletzt wie ein keuchendes, ersticktes +Stöhnen. Jetzt hielt er inne. + +Die hohen Türen standen offen da. Schwarz und düster. Gegen ihn +gerichtet wie drohende Rachen. + +Die Gestalten und Gesichter waren fort. Es war still. Still!--Mit weit +aufgerissenen Augen starrte Peter in diese Leere. Sein Körper begann +zu schlottern, aber er riß sich zusammen. Er wich zurück. Sein Kopf +stieß dumpf an den Fenstergriff. Erschrocken wandte er sich herum. Die +Helle brach üher ihn. Er öffnete rasch. + +Jetzt befiel ihn wieder das Zittern. Sein Gesicht verzerrte sich. Er +wollte umsehen und wagte es nicht. Seine Arme umklammerten das +Fensterkreuz. + +Furchtbar schrie er: "Hilfe! Hi-ilfe!" + +Er schwang sich plötzlich mit einem wilden Satz aufs Fenster und +sprang in die Tiefe.-- + + + + +SINNLOSE BEGEBENHEIT + + +Um es ohne Umschweife zu sagen--: Michel Zöll hatte heute einen guten +Tag. + +Vorgestern, als er stumpfsinnig in der Wärmestube der Arbeitsvermittlung +saß und an dem nassen, verfilzten Zigarrenstummel saugte, den er auf dem +Hergang in der Frühe gefunden hatte, kam sein Weib herein und sagte zu +ihm: "Dein Alter ist gestorben ... Vom Elektrizitätswerk haben sie +hergeschickt, daß er auf der Straße umgefallen ist.--Schau nach!" + +Es stimmte. + +Jetzt lag der Tote unter der Erde. + +"Ich komm schon!--Nachher!" sagte Michel zu seinem Weib nach dem +Begräbnis und schickte es heim, während er zur Logisfrau des +Verstorbenen ging.-- + +Wie oft hatte Michel es nicht gehört, wenn Fußtritte auf ihn traten, +wenn er in eine Ecke flog, wenn die Fäuste seines Vaters auf seinen +Kopf niedersausten oder eine Eisenstange, ein Teller, eine Bürste: +"Knochen, verstockter!--Der Teufel soll mich kreuzweis' holen, wenn +ich dir einen Pfennig hinterlaß'! Ertränkt sollte man dich im ersten +Bad haben, du Nichtsnutz!" + +Mit sechszehn Jahren noch, als Michel schon im letzten Lehrjahr stand +und eigentlich keine Last mehr war, wollte der Alte den Jungen +wegräumen und übergoß ihn beim Heimkommen mit siedendem Kartoffelwasser, +weil er das Vogelfutter für den Kanarienvogel mitzubringen vergessen +hatte. + +Michel mußte damals ins Krankenhaus gebracht werden und sah zum +erstenmal, wie ein Bett aussah. + +Es war schön in diesen hellen Räumen. Man sah viele fremde Menschen, +die allerhand erzählten. Michel faßte Mut da und ging nach seiner +Entlassung mit dem was er auf dem Leibe trug, auf die Wanderschaft, +schlug sich auf alle mögliche Art und Weise durchs Leben. + +Mutter--?! Ein komischer Begriff! + +Michel hatte noch so etwas wie eine abgemagerte Frau in einem Haufen +Lumpen im Gedächtnis. Ein Paar spindeldürre Arme wie Stöcke. Und +Hüsteln. + +Und das, was er nun seit ungefähr zwei Jahren unausgesetzt ablebte: +Eben ein Zimmer voll Gerumpel, mit erstickender Luft und einem +Vogelbauer im staubigen Fenster. + +Nur--daß Michels Weib zwei Kinder hatte und hin und wieder zum Putzen +ging, daß das jetzige Zimmer keinen Vogelbauer hatte, ein klein wenig +heller war, aber enger als das frühere. + +Vor zwei Jahren war es etwas anders. Damals arbeitete Michel noch in +der Motorenfabrik. Es war guter Verdienst. Aber wie der Teufel sein +wollte, die Firma machte Bankrott, kam noch hinzu, daß das damalige +Haus, in dem Michel mit Weib und Kindern in einer Zweizimmerwohnung +hauste, in ein Warenhaus umgewandelt wurde, und die Leute nach langem +Hin und Her auf die Straße gesetzt wurden. + +Weshalb soviel Aufhebens machen! Die Entwicklung der Dinge läßt sich +leicht denken. Die Hauptsache war immer: Man hatte zur Not ein Dach +üher dem Kopf bekommen. Man wußte, wo man hingehörte.-- + +Nun, es ist etwas Wahres dran an dem Sprichwort: "Wo die Not am +größten, ist Hilfe am nächsten." + +Trotzdem der Verstorbene sich vielleicht geschworen haben mochte, nie +und nimmermehr für Michel etwas zu hinterlassen, fiel dem Sohn jetzt +die ganze erraffte Habschaft des Alten zu.-- + +Es war erst fünf Uhr nachmittags. Michel konnte in aller Ruhe das +Zimmer des Verstorbenen durchstöbern und alles mitnehmen. Er fand +außer baren fünftausend Mark einige Anzüge, von denen er den besten +sogleich anzog, einen Überzieher, den er ebenfalls umlegte, und +allerhand Gerumpel, das er dem Tändler Finsterhofer verkaufte. + +Er war gut aufgelegt, der Michel, lachte und gab schließlich dem +drängenden Tändler auch das ganze andere Geschleppe, die übrigen +Anzüge und was da noch war. + +Die Tasche voll Geld schritt er in die dämmernde Stadt. + +"Ist doch gut, wenn man weiß, wer einen auf die Welt gebracht hat," +brummte er aufgeheitert und ging in eine der bekannten Wirtschaften +inder Bahnhofsnähe, um noch ein paar Gläser zur Feier des Tages zu +trinken. + +Es kam ihm merkwürdig vor, als er so unter den anderen Arbeitern, +Zuhältern, Herumlungerern und alten Huren saß. + +Einige kannten ihn und maßen ihn von der Seite. + +"Hast das große Los gezogen, Michel! He ... gibst was aus?" rief ihm +ein Tisch zu und in jedem Blick war ein konstatierendes Zwinkern. + +Michel setzte sich. Es tat ihm wohl, daß soviel Freundlichkeit ihn +umgab. Auf seinem Gesicht war sogar eine Art Gönnerhaftigkeit. + +"Meinetweg'n ...," rief er und lachte, "trinkt. Mein Alter hat ins +Gras gebissen! Es kommt mir nicht drauf an....!" + +Und die Gesichter um ihn zäunten sich enger, fingen zu glänzen an. +Man trank sich kameradschaftlich zu. + +"Erste Runde ... wer bezahlt!" schrie der martialische Kellner und +Ordnungsmann in den Tisch. + +"Daher!" schrie Michel und griff in seine Hosentasche, zog die Scheine +heraus. + +"Da gehn schon noch ein paar Runden, Michel?!" riefen mehrere. + +"Kameradschaft bleibt Kameradschaft!" bekräftigte ein anderer. + +Und Michel legte einen Hundertmarkschein auf den Tisch: "Soviel soll +genug sein!" + +Der Tisch war zufrieden, wurde laut, man brachte Bier und ließ Michel +leben! + +Dann stand Michel endlich auf. Einige wollten ihn noch halten, +bettelten. Aber ein paar andere mischten sich ein und riefen: "Nein +... richtig gesagt, sind wir zufrieden ... der Michel kommt wieder!" + +Und jeder drückte Micheln die Hand. + +"Ein kreuzguter Mensch!" hörte dieser noch, als er die Tür hinter sich +zuzog und seine Schritte eiliger straffte. + +Die großen Bogenlampen leuchteten schon durch den nachtdurchwobenen +Nebel. Aus den Kaffeehäusern griffen die Lichter, die Straßenbahnen +flimmerten, surrten und läuteten. + +Michel stieg nicht ein. Er ging zufrieden dahin und lächelte manchmal. +Es schien, als wolle er noch einmal, ganz für sich allein, das eben +zuteil gewordene Glück auskosten. + +Er griff nach seinem Geld. Er griff hastiger. Nichts. + +Seine Knie begannen zu schlottern, sein Herz stand jäh still. Er griff +nochmal. + +Das ganze Geld war weg. Man hatte es ihm gestohlen. + +Er taumelte an eine Hauswand. Griff, suchte--suchte alle Taschen +durch, vorsichtig, zitternd, furchtbar. + +Nichts mehr. + +Einen Augenblick stand er starr. + +Die Trambahn surrte vorbei. Ganz dünner Schnee fiel. Die Lichter +flimmerten. Es rauschte, rauschte--und war doch grauenhaft still. So +als ob alles wie ein fließendes Wasser leise um ihn herumflösse. Er +hörte es nicht und hörte es doch, hörte es wie ein verborgenes, leises +Kichern.... + +Der Schnee fiel. Michel bewegte sich nicht von der Stelle. + +Lange.-- + +Endlich gab er sich einen Ruck, rannte in die Wirtschaft zurück, auf +den Tisch zu. + +Es war keiner mehr da. Er fuhr den Ordnungsmann an. Fragte, flehte, +weinte. Vergebens. + +In sich zusammengesunken verließ er die Wirtschaft. Machte sich auf +den Heimweg. Als er vor dem Haus stand, in dem er wohnte,--hielt er +inne. Er griff nochmal in alle Taschen. + +Dann, als er die Treppen emporstieg, schien es, als hätte sein Gang +wieder die gewöhnliche Ruhe und Gleichgültigkeit, mit der er sonst +dahinschritt. Der Dunst des Zimmers schlug ihm ätzend entgegen. Es war +still und düster. Die zwei Kinder lagen im Korb, in einem Berg von +Lumpen, und schliefen. Anna saß am Tisch, die Petroleumlampe flammte +ärmlich und bläulich üher ihre Hände. + +Gleichgültig schaute das Weib vom Sockenstopfen auf und rief: "Hast +was gefunden?" + +Michel schwieg, drehte sich umständlich um und schloß die Tür. Dann, +seinem Weib wieder zugewendet, sagte er: "Zuwas stopfst' Socken? ... +Brauchst bloß Licht." + +"Hast denn solang braucht?" fragte Anna und fixierte nunmehr die +ungewohnte Kleidung ihres Mannes. + +"Ja ...," sagte Michel und zog seinen Überzieher aus, "ist eine schöne +Strecke gewesen...." + +"Ist ein schönes Stück Gewand," sagte Anna wieder, als Michel näher +ans Licht getreten war und sich auszuziehen begann, "sonst hat er also +nichts gehabt?" + +Der Michel schnaubte ein paarmal auf. Dann rief er einsilbig: "Geh, +leg dich nieder ... für uns wär's besser gewesen, man hätt' uns im +ersten Bad ertränkt ... leg dich nieder, Alte!" + +Und plumpsig ließ er sich ins Bett fallen, daß die Federn knarzten. +Bald darauf lag auch Anna an seiner Seite. + +Am ändern Tage trug Michel den Überzieher aufs Leihamt und gab Anna +das Geld. + +Wieder wie immer hockte er stumpfsinnig in der Wärmestube der +Arbeitsvermittlung.-- + + + + +DIE LUNGE + + +Die Arbeiterin Manztöter ist der Lungenschwindsucht erlegen. Sie war +eine stille, fleißige Person. Sie schaffte sich auch etwas. + +Vor vier Jahren trat sie in die Zigarettenfabrik Zuccalisto ein. +Bauernmagd war sie vorher gewesen. Eine von den vielen, die die Stadt +anzog, der Verdienst und die Aussicht auf eine baldige, einigermaßen +erträgliche Ehe vielleicht. + +Die Männer auf dem Lande waren plump und bedacht auf offene manchmal +in den Stall, faßten sie an der Brust, packten ihr Kinn, leckten ihre +Wangen. Ein rothaariger Knecht setzte ihr aufdringlich zu, stand und +stand überall und schlug einmal sinnlos auf sie ein. Daraufhin floh sie +in die Stadt. + +Sie änderte sich nicht, sparte, arbeitete und war fromm ohne +Bigotterie. Noch immer las sie das Wochenblatt jedesmal aus und den +Roman und hielt sich außerdem "Die christliche Dienstmagd". Unter dem +vielen Gemisch von afrikanischen Missionsberichten, fand sie eines +Tages die Geschichte eines Farmers in Südwestafrika, leis überhaucht +von friedlich-fleißigem Eheidyll. + +Einem solchen sparte sie das Geld vielleicht. + +Vierhundert Mark hatte sie schon auf der Sparkasse. Noch vielleicht +zwei Jahre oder längstens drei und es wären tausend gewesen. Tausend +Mark!-- + +Das ist schließlich nur Angewohnheit, daß man zur Vesper für fünfzig +Pfennig Käse oder ein Stück Wurst haben muß mit Bier. Kaffee mit einer +Semmel geht auch oder Gerstenauflauf von Mittag. Machte schon wieder +zwanzig Pfennig weniger.-- + +Außerdem kann man sich wöchentlich zweimal zu den Überstunden melden. +Sind auch wieder drei Mark fünfzig Pfennig für je eine Stunde. Man +macht jedesmal drei, sind zusammen wöchentlich einundzwanzig Mark. +Eineinhalb Tagelohn mehr. Dann, wenn man heimkommt, ist's meistens +schon dunkel, man braucht kein Licht mehr, legt sich einfach gleich +ins Bett und schläft ein, hat gar keinen Hunger mehr.-- + +Zuletzt waren es schon sechshundert Mark. Sechshundert! + +Und da kam die Lunge. + +Und kurz darauf hätte es eine allgemeine Aufbesserung gegeben, weil +die Zigarettenfabrik Zuccalisto fünfundvierzig Prozent Dividende +verteilen konnte dieses Jahr und auch was tun wollte für ihre Arbeiter. + + + + +OHNE BLEIBE + + +Es war schneidend kalt.-- + +Der Schutzmann an der Ecke sah einem angeheiterten Doppelpaar +grießgrämig nach und knurrte mürrisch. + +Durch den Gedanken, daß diese Leute nun in ihre warmen Stuben heimgingen +und vor dem Zubettgehen vielleicht noch heißen Tee tranken und eine +Kleinigkeit zu sich nahmen, hatte er sich davon abbringen lassen, weiter +auf und ab zu gehen und seine durchfrorenen Beine durch zeitweiliges +Stampfen einigermaßen warm zu erhalten. Jetzt stach die Kälte doppelt +quälend in allen seinen Gliedern. + +Er knirschte verdrossen, zog seinen Kopf noch tiefer in den +aufgestülpten, starren Mantelkragen, bog mit sichtlicher Überwindung +die steifgewordenen Knie und ging wieder weiter.-- + +Die Stimmen der Spätlinge verschwammen mehr und mehr. Es wurde wieder +still. Wie ausgestorben dehnte sich das verlassene Geviert aus. Düster +und drückend ragten die Hauswände empor. Der Schnee fiel dicht und +sehr ruhig.-- + +Mißmutig schwenkte der Schutzmann in eine breitere Straße ein. Durch +die gleichmäßiger verteilte Schneefläche schien es hier heller und +weiter zu sein. Er blickte erleichtert in die weiße Eintönigkeit. Eine +strichhaft hagere Gestalt kam auf ihn zu. Der Mann schien weder Kopf +noch Arme zu haben. Nur die Beine warf er mechanisch nach vorne wie +ein aufgezogenes Gespenst. Als er kaum noch fünf Schritte von ihm +entfernt war, hustete der Schutzmann sehr vernehmlich und hob sein +verärgertes Gesicht. + +"Sie!" rief er dem Herankommenden gehässig laut entgegen und warf sich +in straffere Haltung. + +Die Gestalt blieb stocksteif stehen. Nur der Frost schüttelte sie. + +"Haben Sie Papiere?" fragte der Schutzmann, noch einen Schritt +machend, und musterte den Mann. + +Der rührte sich nicht. + +"Sie!!" brüllte der Schutzmann wie fluchend und leuchtete dem Fremden +mit der Taschenlaterne entgegen. Alles an ihm war wieder in bester +dienstlicher Ordnung. + +Ein harkiger, abgerissener, verdorrter Baumstamm oder eine arg +ramponierte Säule konnte es sein, was da im Lichtkreis stand. Raschen +Blicks überflog sie der Polizist. + +"Ihre Papiere!--Sind Sie denn taub!" schrie er abermals, wütend über +das Aufgehalten werden bei solcher Kälte, und setzte schnell, wie +witternd hinzu: "Oder haben Sie keine?" + +Der Fremde zog endlich seine erstarrte Hand aus der tiefen Hosentasche +und reichte ihm die schmutzigen, durchnäßten Ausweise. + +"Karl Pruvik, Klempnergehilfe" stand auf der überleuchteten +Invalidenkarte. Herkunft, Geburts--und letzter Dienstort und Datum +waren verzeichnet. Abgestempelte Marken klebten auf der ersten Hälfte. + +Der Schutzmann steckte das Papier unter den blauen Militärpaß und +schlug diesen auf. + +"Infanterist Pruvik, Karl.--14. Regiment" orientierte die erste Seite. + +"Verwundet bei Luneville (Armschuß rechts), desgleichen bei Tarnopol +(Knieschuß links), verwundet bei Verdun (Schulterschuß links)" war im +Anhang eingetragen, und so und soviele Gefechte und Schlachten erwähnte +das nächste Blatt. + +Das Gesicht des Schutzmanns verlor mehr und mehr die stiere Härte, hob +sich etwas höher aus dem Mantelkragen. + +"Hm!--Auch Kriegsteilnehmer? ... Ohne Bleibe, was?" sagte er mit +zufriedener Ruhe und streckte dem regungslos Dastehenden die Papiere +him. Dessen Gestalt schwankte ein klein wenig nach vorne. + +"Hundekälte das! Warten Sie, es geht schon!" rief da der Schutzmann +noch loyaler und steckte dem Mann die Papiere hilfsbereit in die +Rocktasche: "Ist ja noch nicht so spät. Noch alles offen in der Stadt. +Sie kommen sicher unter!" + +"So," sagte er eben, als in nächster Nähe die Uhr zehn schlug. Einen +Augenblick horchte er auf, nickte und entfernte sich eilsamen +Schritts. Schon von weitem erspähte er die Ablösung. + +Karl Pruvik riß sich fest zusammen und schritt wieder weiter. + +Der Schnee fiel und fiel. + +Nach einer langen Weile wurde es endlich etwas lichter. Menschen +stapften vorüber. Grelle Autolaternen glotzten üher einen freien +Platz. Üher einem mächtigen Säulenportal leuchteten groß die +Buchstaben "Schauspielhaus". + +Vielleicht vom Licht angezogen verschnellerte Karl Pruvik unwillkürlich +seine Schritte, eilte geraden Wegs auf den Theaterausgang zu. Eben +strömte die Besucherschar aus den großen, glitzernden Toren. Er befand +sich im Nu mitten im dichtesten Gemeng und drängte sich vorwärts. Eine +warme Duftwelle schlug ihm entgegen, starkgeschminkte Gesichter tauchten +auf und seltsam kühne Reflexe warf das grelle Licht auf glänzende, +rauschende Damentoiletten. Überschnell schwirrten geschäftige Stimmen +ineinander, Seidenrauschen, Lächeln, Autohupen und das fadendünne Zirpen +süßlicher Tonfälle vermischten sich zu einem betäubenden Geräusch. +"Einfach glänzend!" rief wer. "Rührend, wie die Hohlmann spielt!--Nein, +einfach entzückend!" zwitscherte eine überhelle Stimme. "Huw, dieses +Schweinewetter!-Kommt schnell ins Auto!" ließ sich zwischendurch vernehmen. +Und wieder: "Kritisch gewertet--: Eine Glanzleistung in Regie und Spiel!" +Dann das laute, aufdringliche Gekicher der Backfische: "Dieses herrliche +Rüschenkleid, Mama!--Hast du gesehen,--den Sonnenschirm!--und das +Biedermeierkostüm im dritten Akt? Entzückend!--Du Lilly, weißt du was! +So gehen wir heuer im Fasching!--Gell Mammi! Gell!" + +Es plätscherte fort und fort, oben, unten, überall. Abschiednehmen, +Handküsse, Einladungen für das morgige Festessen, Lachen, Autovor--und +Abfahren--alles wie ein flimmernder Hexentanz!-- + +Karl Pruvik war mittlerweile unbemerkt bis an das Eingangstor +gelangt. Noch eine geschickte Finte und er hatte für heute nacht +ein Dach über dem Kopf. Sein Herz schlug heftig. Es war wieder Leben +in seine froststarren Glieder gekommen. Behende glitt er an den +aufeinandergedrängten Gestalten vorbei und fühlte auf einmal Raum und +Wärme. Er lugte spähend nach dem betreßten Portier, duckte sich mehr +noch zusammen, hielt den Atem an, arbeitete sich an der Wand entlang. + +Im selben Augenblick aber stockte die Bewegung des Menschentrupps. Er +zerteilte sich und jäh brachen die Reden ab. Durch eine glotzende +Gaffergasse hastete der Portier mit steinernem, finster drohendem +Gesicht auf ihn zu. + +"Was suchen Sie denn da?--He! Sie! Sie!" schrie der Türhüter. Karl +Pruvik zog wie ein gezüchtigter Hund die Schultern hoch und verbarg +den Kopf völlig in seiner schlotternden Brust. + +"Was Sie wollen, frag' ich!?" bellte der Portier hinter ihm und packte +ihn heftig am Arm, riß ihn zurück. Ohne Wort und ohne Abwehr ließ sich +der Eingedrungene von dem belfernden Türhüter und zwei inzwischen +herbeigeeilten Logendienern ins Freie schieben. "Hm, sowas?--Sich ins +Theater einzuschleichen!" sagte jemand von den Stehengebliebenen und +schüttelte den Kopf. Der ins Stocken geratene Menschenhaufe bekam +wieder Bewegung und drängte sich durch den Ausgang. Die Tore schlossen +sich finster. Schwätzendtrabten die letzten Paare vorüber. + +Karl Pruvik stand zögernd und benommen im glitzernden Schneegeflock. +Einen Augenblick hatte es den Anschein, als straffe sich sein Körper, +als hole er zu einem Satz aus und wolle in die vorbeigleitenden, +duftenden, rauschenden, geschwätzigen Menschen springen, aber +schließlich torkelte er doch üher die verschneite Freitreppe hinunter +und bog in die Seitengasse ein, die vom Theaterplatz abzweigte. Ein +letztes Auto surrte weg. Die Stimmen verloren sich in der Ferne. Die +erleichternde Helligkeit, die die Beleuchtung des Theaterpalastes nach +allen Seiten him verbreitet hatte, verlosch lautlos. Es war wieder +ringsherum die fahle, unwirkliche Düsternis der Winternacht.-- + +Karl Pruvik hob den Kopf hilflos. Eine knappe Wurfweite vor ihm ragte +etwas Schwarzes aus dem Schnee und bewegte sich wie schwebend von der +Stelle. Willenlos und ohne Grund folgte er der Erscheinung. + +Lange ging er so. + +Es mußte schon tief nach Mitternacht sein. Trist gähnten die +menschenleeren Straßen und Plätze. + +Man stand am Rande des Stadtparkes. Die kerzengerade Gestalt verschwand +zwischen den Bäumen. + +In der aufgeworfenen Bahn der Spur schritt Karl Pruvik weiter. Es war +viel dunkler hier. Die schneebeladenen Baumäste lasteten schwer herab. +Nur zeitweilig gab sich eine hellere, freiere Stelle und undeutlich +ließen sich eingemummte Bänke erkennen. Auf einer solchen hockte die +zusammengekauerte Gestalt nun, der er die ganze Zeit gefolgt war. +Stoisch ließ sich Karl Pruvik neben ihr nieder und legte wie aus einer +plötzlichen Eingebung heraus seinen steifen Arm um nasse, scharfe +Schultern. Lahm schmiegten sich die beiden Körper aneinander. "Kalt," +murmelte es kaum hörbar aus dem Kopf, der haltlos auf seine Brust +herabglitt. + +"Kalt," brummte Pruvik ebenso leise und schloß seine Augen. Auch sein +Kopf sank herüber auf das Genick des anderen. + +Kein Schnee fiel mehr. Es war seltsam--: Jetzt, da man schonungslos +der Kälte ausgeliefert war, wußteman nicht mehr, war's eine rasende +Hitze oder eine gänzliche Eisigkeit, was in den Gliedern brütete. Der +ganze Körper hatte das Gewicht verloren. Es schien als schwebe er +durch eine unsäglich friedliche Stille.... Auf einmal drückte etwas +Hartes an den Arm, umklammerte, zerrte. Es schrie wie durch +Nebelschwaden, dann näher. Es rüttelte stärker. Das Geschrei schwoll. +Der Kopf' an der Brust bewegte sich stumm. + +Karl Pruvik öffnete die Augen. Das grelle Licht einer Taschenlaterne +stach ihm ins Gesicht, blendete, schmerzte. + +"He!--He! Was ist da!!" schrie ein Schutzmann, riß erregt am Arm. + +"Was ist denn das! Auf! Auf!!" + +Alles tat wieder weh. Die zerfrorenen Knochen rührten sich, schmerzten, +als seien sie alle einzeln abgeschlagen und bewegten sich wie in einem +geplatzten Gipsverband klappernd von dannen. + +Erst in der Stube der Polizeistation sah Karl Pruvik, daß noch einer +neben ihm stand, genau so reglos und stumpf wie er. Auf den redeten +die zwei Schutzleute ein, fragten, schrien ihn an. + +Endlich nach einer Weile schritt man durch eine Tür und das Licht war +aus den Augen. Die beiden lagen auf einer Pritsche, in warme Decken +gewickelt. Die Glieder bewegten sich ohne Schmerz. Wärme kam langsam. +Von Zeit zu Zeit berührten sich Arm oder Fuß. + +Nach langer Zeit hörte Karl Pruvik wieder polternde Stimmen und kalte +Luft huschte üher sein Gesicht. Die Pritsche knarrte und Schritte +dumpften. Eine Tür fiel zu. Jetzt war es leer neben ihm.-- + +Es fiel gläseriges Tageslicht durch die vergitterte Luke, als er die +Augen öffnete. + +Ein etwas ins Rundliche gehender Schutzmann mit gemütlichem, wohlig +gerötetem Gesicht stand vor ihm und sagte in friedlichem Baß: "Sie +können sich wieder fertig machen. Es liegt nichts vor gegen Sie!" + +Karl Pruvik hob seinen übermüdeten Oberkörper auf der Pritsche. + +"Haben Sie denn den andern gekannt?" fragte der Schutzmann. + +Pruvik schüttelte dumpf den Kopf. + +"Hat ein paarmal eingebrochen," erzählte der Polizist beiläufig und +redete weiter: "Stehn Sie dann auf und kommen Sie. Sie können wieder +gehen." + +Karl Pruvik sah ihn verständnislos an. + +"Eine harte Zeit jetzt--und hundekalt diesen Winter!" brummte der +Schutzmann und bat Pruvik abermals aufzustehen. + +Der erhob sich endlich und ging mit ihm durch die Tür in die +Polizeistube hinaus. + +Ein Wachtmeister saß am Tisch und hatte seine Papiere in der Hand, sah +ohne Arg, beinahe mitleidig auf Pruvik. + +"Sie können wieder gehen," sagte er in dienstlichem Brustton und +reichte ihm Invalidenkarte und Militärpaß. + +Karl Pruvik stand zögernd da und machte keine Bewegung. + +"Es liegt nichts vor gegen Sie!--Daß einer keine Bleibe hat, kann +jedem einmal passieren," sagte der Wachtmeister menschlich. + +Pruvik nahm mechanisch seine Papiere. + +"Grüß Gott," sagten die beiden Polizisten und nickten dem Gehenden zu. + +Einer öffnete freundlich die Tür. + +Karl Pruvik ging. + +Es schneite nicht mehr auf den Straßen. Das Bleich des Tages tat den +Augen weh. Ein Wind hatte sich erhoben und pfiff schonungslos um die +scharfen Hausriffe. Es war kalt. Es war wirklich grausam kalt.... + + + + +ETAPPE + + +I. + +Der Stab für das Eisenbahnbauwesen der Ostarmee lag vor Dünaburg. Es +ging die Rede von einem russischen Durchbruchsversuch. Die Baukompagnie +14 geriet ins Feuer. Es gab Verluste. Der Bau der Feldeisenbahn kam ins +Stocken. Die Verbindung mit der Kampffront blieb auf Tage unterbrochen. +Vom Oberkommando der Armee lief eine Beschwerde beim Stab ein. Drängende +Befehle peitschten zur Beschleunigung. Der Major hatte wieder jenen +gehässigen Ärger auf seinem finsteren Gesicht, der an den Brückenbau in +Kowno vor der Ankunft des Kaisers erinnerte. + +Zwei Tage vorher bereits überwölbte das fertiggebaute, riesige hölzerne +Mittelstück die gesprengte Memelbrücke damals. Die Belastungsprobe war +glatt verlaufen. Allenthalben sah man entspannte, befriedigte Gesichter. +Die ermüdete Mannschaft trat schon zum Heimmarsch in die Quartiere +zusammen. Plötzlich murrte ein langgezogenes, ruckendes Grollen über +den nebeligen Fluß. Die Brückenmitte hatte nachgegeben, war fast um +einen halben Meter tiefer gesunken. Eine Totenstille herrschte minutenlang. +Dann bellten abgehackte Befehle durch die Luft. Die erschöpften +Abteilungen schwärmten wankend auseinander, wieder auf die Brücke und +ins eisige Wasser. Die ganze Nacht hämmerte, ächzte, krachte, schob und +schrie es aus dem spärlich beleuchteten Gerüst des Notbaues und aus der +Flußtiefe. Fieberhaft, mit verdrossenem, verbissenem Grimm wurde +gearbeitet. + +Wie Rudel totgehetzter Ziehtiere trotteten die Kolonnen am Morgen in +die zerschossene Stadt. + +Zwanzig Stunden wurde am darauffolgenden Tage gearbeitet. Zweiundzwanzig +ununterbrochen am andern. Die Ruhr brach aus unter der Mannschaft. + +Mehr als vierzig Mann starben, fünf ertranken in der Memel. + +Als der Kaiser ankam, erhielt der Major das Eiserne Kreuz erster +Klasse. + +"Herr Major,--hoffentlich ist es uns allen noch gegönnt, daß wir den +Pour le merite ebenso vergnügt mit Ihnen feiern dürfen," sagte damals +der geschnürte, glatzköpfige Stabsadjutant piepsend. + +Und zerschlissen freundlich lächelte der Major: "Wenn Petersburg fällt!" +--Damals ging es unaufhaltsam vor. + +Nun stockte es erstmalig während des ganzen Feldzugs.-- + +Die Russen funkten sehr nahe. Die zurückgetriebenen Eisenbahnbaukompagnien +verpendelten die Zeit mit nutzlosen Appellen. Vom Hauptquartier kam Befehl +auf Befehl. Die Offiziere flitzten nervös und gewichtig herum. Bei der +Mannschaft gab es Arreste. + +Unübersehbare Mengen Baumaterialien stapelten sich und mußten +liegenbleiben. + +Der Major ritt die Bauzüge ab, schrie, polterte, teilte Strafen aus. + +Fünfzehnhundert Russen, die an der Front gefangengenommen worden waren, +trafen ein. Befehl zur Aufnahme des Weiterbaues der Feldeisenbahn erging. + +Langsam rollten die stehengebliebenen Bauzüge vorwärts, in die tristen +Schneefelder hinein. Vor, vor--immer noch vor ging es! Bis zu der Stelle, +wo die Arbeit aufgegeben werden mußte. + +Die Geschosse schwirrten hoch in der schneeigen Luft. Ganz nahe. + +Schnee, Schnee. Kälte, Kälte. + +Die Baukompagnie 14, 15 und die Russen marschierten auf die +Arbeitsstellen. + +"Mist!--Humbug!--Unsinn!" knurrte von Zeit zu Zeit irgendeiner halblaut. + +In kilometerweiter Entfernung schlugen die Geschosse ein, warfen +Kotfontänen. + +Schlaggg!--lag alles am Boden. + +Man lag die halbe Zeit in Deckung. Die Arbeit machte kaum wesentliche +Fortschritte. + +Meldung erging an den zurückliegenden Stab.-- + +Der Ordonnanzreiter Peter Nirgend ritt durch den peitschenden Schnee. +Das Pferd dampfte. Die Lenden spritzten Blut. Fiebernd bog sich der +furchtsame Rücken im Galopp.-- + +Hauptmann und Oberleutnant der Baukompagnienempfingen den Heransprengenden +mit mürrischen Gesichtern. + +"Meldung vom Stab der Eisenbahntruppen!" keuchte Nirgend. Nur mit Mühe +konnte er sich stramm halten. + +Hastig öffnete der Hauptmann den Umschlag, überflog mit unterdrückter +Entrüstung das Papier und sah auf den Oberleutnant, reichte es ihm. + +"Hm!" brummte er kopfschüttelnd. "Hm!" machte der Oberleutnant +gleichfalls achselzuckend und ratlos. + +Dann stiegen beide in den Kanzleiwagen. + +Peter Nirgend führte sein schweißtriefendes Pferd auf und ab. Aus den +Quartierwagen der Mannschaft glotzten mißmutige Gesichter. + +"Geht's vor?" fragte einer. + +"Der Hund!" knurrten etliche dumpf, als Nirgend nickte. Der +Kanzleiunteroffizier rief aus dem Wagen, übergab ihm die Rückmeldung +an den Stab. Der gefrorene Boden klapperte unter den ausgreifenden +Hufen des Pferdes. Schneewolken staubten auf und nichts mehr sah +man.-- + +Ein abermaliger Befehl des Stabes bestimmte unverzügliche Aufnahme der +Arbeit und sofortige Herstellung der Verbindungslinie mit den Fronten. + +Schon tags darauf meldeten die vorgeschickten Kompagnien schwere +Verluste. Die fünfzehnhundert Russen weigerten sich, aus ihrem Bauzug +zu gehen. Man prügelte sie heraus. Aber am selben Abend noch mußten +die Züge zurückrollen. Viele Wagen waren zerstört. Die Eisenbahnlinie +überall ramponiert. + +Die ganze Nacht schrie es die Züge entlang. Neue Wagen wurden +eingeschoben. Unaufhörlich wurde rangiert.-- + +Am andern Mittag raunte es von Ohr zu Ohr: "Es geht wieder vor!" Es +ging ein Gerücht herum von einem scharfen Aufeinanderprallen zwischen +Major und Hauptmann. Kurz darauf hieß es: "Antreten zum Appell!" Vor +den gepferchten Reihen der zum abermaligen Vorrücken bestimmten +Truppen hakte ein fremder Offizier auf und ab und hielt eine +schwunghafte Rede. "Das deutsche Wesen darf nicht untergehen! Hurra! +Hurra! Hurra!" schloß er und alles brüllte mit. Wie ein einziger +Tierlaut klang's. + +"Fürs Vaterland!" murrte einer zynisch beim Auseinandergehen. + +"Für den Pour le mérite!" brummte ein bärtiger Kerl und sah +herausfordernd auf die lethargischen Gesichter der Kameraden. + +"Kotze!--Sich den Schwanz verbrennen ist die einzige Rettung!" +murmelte der Mannschaftskoch stoisch. + +"Nulpe! Wo denn?--Wenn weit und breit kein Puff ist!?" warf ihm der +Vagabund Tümpel hin und spuckte in großem Bogen durchs offene Fenster. + +Tief am Nachmittag ächzten die Bauzüge abermals finster in die +schneeige, verlassene Gegend hinaus. + +Am zweiten Tag, als Nirgend von den Kompagnien zum Stab zurückritt, +knallten Schüsse hinter ihm her. Einer davon streifte leicht seinen +rechten Arm. + +"Hu-u-und!" surrte es langgedehnt durch die kalten Nebelschwaden und +lief ihm nach wie ein unterirdisches Grollen. + +Gegen Morgen tauchten auf einmal die gelben Lichter der Bauzuglokomotiven +auf und kamen zischend näher. Die vierzehnte Kompagnie war his auf zirka +hundert Mann aufgerieben, und die fünfzehnte hatte gleichfalls zahlreiche +Verwundete und Tote. Die Russen hatten in der allgemeinen Panik des +Zurückflutens die Fluchtergriffen und irrten rudelweise in den +Schneefeldern herum.-- + +Nirgend trat dumpf ins Leutnantszimmer des Stabsbureaus, straffte +seine Glieder und sagte: "Zur Stelle!" + +Der schmächtige, elegante Offizier drehte sich wippend, etwas nervös +herum, maß den Hereingetretenen von oben his unten und fragte: "Na,--und?" + +"Man hat mich angeschossen," sagte Nirgend unvermittelt. + +"Ja--und?" + +"Es waren welche von uns, Herr Leutnant." + +Die gepflegten, spitzen Augenbrauen des Offiziers griffen zuckend in +die plötzlich streng gefaltete Stirn. + +"Quatsch!--Woraus schließen Sie denn das;" rief er wegwerfend. + +"Weil jeder wütend ist," sagte der Meldereiter einfach. + +"Halten Sie Ihr Maul, Sie Lümmel!--Was bilden Sie sich eigentlich +ein!" belferte der Leutnant drohend und schnellte auf. + +"Ich rede nicht um meinethalben," erzählte Nirgend ruhig und schaute +dem Schimpfenden entschlossen ins Gesicht, "aber um den Pour le merite +geht keiner mehr vor. Ich reite nicht mehr!" + +"Wasss!!" zischte es durch die warme Zimmerluft. + +Matratzenfeder. Die Tür des anderen Zimmers wurde ruckhaft aufgerissen. + +"Wasss!--Was ist da!?" schnarrte der Major und machte einen Schritt +auf Nirgend zu. Schon riß sich der Leutnant schlank und stramm herum, +wollte melden. Aber der Soldat kam ihm zuvor, sagte, zum Major +gewendet, mit der gleichen, einfachen Ruhe: "Ich reite nicht mehr, +Herr Major! Um einen Pour le mérite geht keiner mehr vor, sagen alle!" + +Einen Moment fielen die beiden Offiziere fast auseinander. Dann +schrien sie, bellten drohend: "Hinaus! Hi-naus! Sie Schweinehund!" + +Ganz korrekt drehte sich Nirgend um und ging aus dem Zimmer. In der +angrenzenden Schreibstube wurde fieberhaft gearbeitet. Jeder saß +geduckt da und kaum einer wagte aufzuschauen. Nur einige ängstliche +Blicke trafen den Hindurchschreitenden. Der Stab nistete in einem +einstöckigen Gelehrtenhaus. In den unteren Räumen waren die Bureaus, +oberhalb die Schlafzimmer der Offiziere und auf dem Dachboden hausten +die Mannschaften. Dort angelangt, legte Nirgend sich so wie er war +aufs Stroh und zündete sich eine Zigarette an. + +Es war merkwürdig, heute kam keiner zu Bett. Düster glomm der spärlich +helle Kreis der brennenden Zigarette im Dunkel. Wie in einer +verlassenen Totengruft lag man hier. Langsam fielen die Minuten von +der Decke herab. + +Eine lange Zeit verging. + +Dann knarrten Schritte die Treppe herauf, kamen näher. Es mußten +mehrere Leute sein. Peter Nirgend rührte sich nicht. + +Die Tür wurde geöffnet. Im Lichtkreis einer Taschenlaterne tauchte +undeutlich die Gestalt des Leutnants auf. Dahinter mußten noch einige +Leute stehen. Zwei Seitengewehre funkelten zur Höhe. + +Nirgend erhob sich ohne Hast. Irgendeine dunkle, breite Gestalt tappte +herein, tastete herum und entzündete die Lampe. Jetzt traten der +Leutnant und die zwei Soldaten mit den aufgepflanzten Seitengewehren +an den Tisch, wo der Unteroffizier, der Licht gemacht hatte, stand. +Der Leutnant verlas etwas von sofortiger Inhaftierung und Überweisung +an ein Kriegsgericht, faltete den Bogen wieder, sah Nirgend flüchtig +an und sagte zum Unteroffizier: "Wenn er in fünf Minuten nicht folgt, +wenden Sie Gewalt an!" + +"Zu Befehl, Herr Leutnant!" antwortete der strammgestandene Korporal. + +"Naja!" sagte der Leutnant und ging. + +Einige Augenblicke standen sich die Soldaten schweigend gegenüber. + +"Kamerad!--Mensch?" brachte der Unteroffizier endlich heraus, stockte +aber plötzlich und sagte dumpfer: "Packen Sie Ihre Sachen zusammen und +kommen Sie." + +"Seid ihr Vierzehner?" fragte Nirgend unbeweglich. Keine Antwort. +Keine Bewegung der anderen. Starr standen die drei. + +"Gestern nacht habt ihr auf mich geschossen--einer von eurer Kompagnie +war's!--Weil ich den Befehl zu euch brachte zum Vorrücken.--Einen +Denkzettel habt ihr dem Major geben wollen--jetzt macht ihr drei +wieder die Handlanger der Ordensjäger!" stieß Nirgend heraus. + +Keine Bewegung. Schweigen. Starr standen die drei. Wie glatte, finstere +Glassturze. Alles rutschte an ihnen herab. + +Man stand selber unter einem solchen Glassturz. Gespannt his aufs +äußerste mußte man an sich halten. Eine einzige Bewegung--und alles +konnte zusammenfallen, klirrte herab. Und--? + +Und man stand ohnmächtig, ausgeliefert und vereinsamt zwischen den +anderen. Die nackten Arme halfen nichts. Nicht einmal zu einer +Umschlingung, denn man rutschte ab. Fiel hin und war ein Häuflein +nichts. + +Und was war geschehen? + +Nichts! + +Die nackten Arme halfen nichts! Gar nichts! + +Nur die Kartätschen der Feinde, Hekatomben auseinandergerissener Leiber. +Das Unerträgliche. Die Sinnlosigkeit führte zum Sinn zurück. + +"Wollen Sie den Befehl befolgen?!" rief der Unteroffizier jetzt. + +"Ja!" schrie Nirgend fast überlaut: "Ja--am liebsten würde ich wieder +hinausreiten zu euch. Immer vor! Immer vor müßtet ihr--für den Pour le +mérite!" + +"Los--los!" plapperte der Unteroffizier verärgert, "reden Sie nicht! +Los!" + +"Ja!" bellte Nirgend abermals, "das ist das deutsche Wesen!" + +"Marsch!" brüllte der Unteroffizier: "Vorwärts jetzt!" Und zog ihn in +die Mitte. + +Man ging.-- + + +II. + +Der Schnee lag tief. Langsam ging es vorwärts. + +"Was macht man eigentlich mit mir?" fragte Peter Nirgend auf einmal +steif stehenbleibend. Es antwortete niemand. + +"Los--los!" brummte der Unteroffizier vorne wie für sich. Die Soldaten +schoben den Gefangenen weiter. + +"Er hat euch geschunden his aufs Blut.--Ihr habt es selbst gesagt, daß +ihr nicht mehr mitmachen wollt," sagte Peter beharrlich und stemmte +sich gegen die schiebenden Hände. + +"Los--los! Wir möchten auch zur Ruh kommen!" stieß der Unteroffizier +abermals murmelnd heraus und machte eine halbe Wendung. + +Einer der Soldaten setzte dem Häftling das Knie in den Rücken. + +"Gibt doch bloß Arrest, Mensch!" sagte der Unteroffizier beiläufig. + +Peter Nirgend ließ nach. Man watete wieder weiter. + +Die lange, geschwertete Linie eines spärlichen Lichtes stach durchs +Dunkel. Das war das Gemeindehaus, wo der Arrest abgesessen wurde. +Landstürmler versahen dort den Dienst. + +"Ihr kriecht, bis man euch die Kugel in den Leib jagt!" knirschte +Peter. + +Schweigen. + +Der Unteroffizier schlug mit der Faust an die Gemeindehaustür. Mit +hochgehobener Petroleumlampe erschien der verschlafene Sergeant in +ihrem Rahmen. Der Trupp trat in die wohligwarme Wachstube. Zwei +Landstürmler hoben schläfrig ihre Oberkörper auf den Pritschen, rieben +sich die Augen. Einer davon stieg herab und nahm den Schlüsselbund, +winkte Peter. + +"Kommt vors Kriegsgericht! Befehlsverweigerung!" sagte der Unteroffizier +zum Sergeant, der den Einlieferungsschein unterschrieb. Eine leise +Verachtung schwang mit den Worten mit. Der Landstürmler führte den +Häftling in die letzte Zelle. "Kamerad, leg dich gleich hin und wickle +dich fest ein. Es ist kalt," sagte er und trat aus der Zelle, schloß ab. + +Peter Nirgend blieb lauschend stehen. + +Jetzt hörte man die Leute vorne im Korridor. Er ging an die Tür, schlug +fest mit den Fäusten an dieselbe, schrie: "Ich muß dem Herrn Unteroffizier +noch was ausrichten!" + +Und sein ganzer Körper zitterte. + +Der Trupp kam den Korridor entlang, öffnete. + +"Was ist's denn?" fragte der Unteroffizier ärgerlich und trat ein. Die +anderen blieben draußen. + +"Werde ich erschossen?" fragte Peter unvermittelt. + +"Quatsch! Festung wird's geben!" räsonierte der Unteroffizier: "Was +wollen Sie denn?" + +"Da--da ist eine Blutlache!" rief Peter hastig und deutete auf die +Bodenfläche hinter der Pritsche. Der Unteroffizier trat einen Schritt +näher heran und beugte sich vornüber, hinter die Pritschenecke. Jetzt +war der Lichtkreis der Taschenlaterne nur noch ganz klein in der +Nische. Peter machte einen ruckhaften Satz, stemmte blitzschnell sein +Knie auf den Rücken des Korporals und schnitt mit aller Gewalt in +dessen Hals, tiefer--tiefer. Das warme Blut rann üher seine Finger. +Der Körper des Ermordeten gab nach, hing schräg üher die Pritsche. + +Die anderen stürzten herein und warfen sich auf Peter, schlugen auf +ihn ein, his er liegenblieb. + +Ihn überleuchtend, sagte ein Soldat zum Gefesselten: "Hund! Morgen +stehst du an der Wand!" + +Peter Nirgend schloß die Augen. + +Nach einer ziemlichen Weile wurde die Tür wieder aufgeriegelt. Wieder +erschien der hochgehobene Arm des Sergeanten mit der Petroleumlampe, +nur diesmal sehr zitternd. Offiziere traten ein. Einer beugte sich +über den Toten am Boden. Dann trugen zwei Soldaten die Leiche hinaus. + +"Was haben Sie denn da gemacht!?" fragte der Major Peter. + +Der schwieg. Kopfschütteln. Ein Soldat trat ein, stand stramm, erzählte +den Hergang. + +"Sowas heißt sich deutscher Soldat!" schnarrte der Leutnant beflissen. + +Inzwischen trug man ein Tischchen herein. Die Lampe wurde daraufgestellt +und der Gerichtsoffizier nahm das Protokoll auf. Nach der Vernehmung des +gänzlich gebeugten, zusammengefallenen Sergeanten und des anderen Soldaten, +trat der Leutnant abermals an Peter heran, stieß ihn: "Und Sie?" + +"Was haben Sie anzugeben?" rief der Gerichtsoffizier gleichfalls über +den Tisch. + +Keine Antwort kam. + +"Kerl!" + +Schweigen. + +Das Protokoll wurde verlesen. + +"Geben Sie das zu?" fragte der Gerichtsoffizier den Angeklagten. + +Dieser nickte stumm. + +Kopfschüttelnd verließen die Offiziere den Raum. Zwei Soldaten der +Baukompagnie 14 mit bajonettbepflanzten Gewehren blieben zurück. Der +Tisch mit der Petroleumlampe gleichfalls.-- + +"Schuft!" knurrte einer der Wächter und versetzte Peter einen Stoß in +den Leib. "Du sollst unsere Überstunden schmecken, Hund!" fluchte der +andere und schlug ihm die Faust ins Gesicht. + +Müde geworden, setzten sich die zwei Wachhabenden auf das trockene +Flecklein des Bodens und zündeten sich Zigaretten an. + +"Kamerad! Einen Zug! Einen Zug!" wimmerte mit einem Male Peter +flehend. + +"Ah?" rief der Raucher hämisch, ging an den Gefesselten heran und +hielt ihm die rauchende Zigarette unter die Nase: "Riecht gut, Herr +Halsabschneider, hm?" + +"Laß ihn doch! Er ist nicht wert, daß man ihn anschaut!" brummte der +andere Soldat. Aber der Angesprochene ließ sich nicht abhalten. + +Da reckte sich Peter stemmend, schrie: "Hasenfüße!" + +"Halt die Fresse, Hund!" fielen die beiden ihn an und warfen ihn +zurück, daß die Pritsche knarrte. "Hasenfüße!" plärrte Peter wilder. + +Die beiden hielten die Gewehrläufe drohend auf ihn gerichtet: "Noch +ein Wort und wir knallen dich nieder!" + +"Hasenfüße!" schrie Peter noch greller. Die Wächter schlugen sinnlos +auf ihn ein. + +"Hasenfüße!" bellte der Gefesselte aus Leibeskräften: "Hasenfüße! +Hasenfüße!" + +Da schossen sie. Das Gehirn peitschte an die Wand. + +Als der Sergeant und die Landstürmer schlotternd angestürmt kamen, +standen sie wie geistesabwesend stramm. Erst als kurz darauf der +Leutnant eintrat, meldeten sie zugleich: "Melden Herrn Leutnant, daß +wir ihn erschossen haben, weil er uns Hasenfüße genannt hat." + +Der Leutnant warf einen flüchtigen Blick auf die Leiche, drehte sich +herum und sagte befehlsmäßig: "Gut! Abtreten!"-- + +Tags darauf diktierte er dem Kanzleiunteroffizier folgende Meldung an +das Oberkommando der östlichen Streitkräfte in die Maschine: + +"Meldereiter Peter Nirgend, zugeteilt dem Stab der Eisenbahntruppen, +wurde wegen Befehlsverweigerung inhaftiert. Weiterleitung des Verfahrens +war dem Kriegsgericht der Etappenkommandantür übergeben. Nirgend +ermordete kurz nach seiner Einlieferung in die Arrestanstaltin seiner +Zelle den Unteroffizier der Eisenbahnbaukompagnie 14 Joseph Thiele durch +Durchschneidung des Halses. Sofortige Protokollaufnahme durch den +Gerichtsoffizier ergab Mord. Exekution wurde auf andern Tag 9 Uhr +festgelegt. Infolge fortgesetzter Widersetzlichkeiten gegen die +Wachhabenden und Verhöhnung des Feldheeres, mußten die Pioniere +Traugott Schloch und Otto Flemming von der Eisenbahnbaukompagnie 14 +von der Waffe Gebrauch machen, was den Tod des Nirgend zur Folge +hatte."-- + +Wegen Nachlässigkeit im Dienst wurde der Arrestsergeant strafversetzt.-- + +Einige Wochen später stand in einem Tagesbericht des Oberkommandos: +"Wegen pflichtmäßiger Ausführung eines Befehls wurden ausgezeichnet +mit dem Militärverdienstkreuz zweiter Klasse laut Beschluß des O.K.d. +O.A.: der Pionier Traugott Schloch bei der Eisenbahnbaukompagnie 14, +der Pionier Otto Flemming bei der Eisenbahnbaukompagnie 14." + + + + +MICHAEL JÜRGERT + + +I. + +"Alle Dinge sind eitel." Immer kehrt dieses Wort wieder, wenn der Name +Michael Jürgert in meiner Erinnerung auftaucht. Viele Male habe ich +nachdenkend dieses Leben umschritten wie einen verfallenen, traurigen, +rätselhaften Garten. Unruhig suchte ich nach dem Sinn dieses Ablaufs, +trachtete danach, all die widerstrebenden Geschehnisse folgerichtig +aneinanderzureihen, um möglicherweise ein erklärendes Bild zu finden, +einen Abschluß, eine befriedigende Lösung. + +Es gelang nicht. + +Hoffend, daß mir vielleicht eine Stunde doch noch die Erleuchtung +bringt, habe ich--so gut es ging--vorerst nur das nackte Tatsächliche +aus diesem Leben aufgeschrieben, alles so, wie es sich zugetragen hat. +Und hier ist es: + +Michael Jürgert kannte seinen Vater nicht. Als er sieben Jahre alt +war, erfuhr er von seiner Mutter so etwas wie ein Gestorbensein durch +einen merkwürdigen Unfall. Und einmal beim Maitanz warf ein Knecht in +sein Ohr, daß sein Vater "im Suff ertrunken sei". Darum, so hieß es, +säße ja seine Mutter schon all die Jahre im Gemeindehaus und wisse +nicht, von was sie leben sollte. + +Der Bruder von Michaels Vater, der wegen einer Weibergeschichte "ins +Amerika durch sei", hüte sich wohlweislich, etwas von sich hören zu +lassen, raunten sich die Dörfler zu, wenn die Rede von den Jürgerts +ging.-- + +Nach seiner Schulentlassung kam der etwas schwächliche Knabe als +Knecht in den Reinaltherhof. Es waren vier Knechte und zwei Mägde da. +Fünf Jahre stählten den wachsenden Körper, ergossen versteckten und +offenen Spott auf Michael. + +Auf Maria Lichtmeß, als er zwanzig Jahre zählte, wechselte er seinen +Dienstplatz und trat beim Peter Söllinger ein, dessen Gehöft auf der +runden Anhöhe vor dem Dorfe lag. + +Rechts vom Söllingerhof, nah am Waldrand, hockte die baufällige Hütte +des Gütlers Johann Pfremdinger, den man im ganzen Umkreis den "Letzten +Mensch" hieß, weil er die bigotte alte Pfanningerin zur Haushälterin +hatte und im allgemeinen sehr schlecht auf die Weiber zu sprechen war. +Wenn man ihn ärgern wollte, brauchte man bloß eine junge Dorfmagd oder +Bauerstochter des Sonntags an seinem Haus vorbeigehen zu lassen.-- + +Rundherum lagen die Felder Söllingers, weit verstreut die zwei Tagwerk +Pfremdingers und oft, wenn der alte Häusler zur Erntezeit schwerfällig +und mühsam auf den Fußwegen durch die Wiesen des Bauern ging, um auf +seine Grundstücke zu gelangen, sagte der letztere mürrisch zu ihm: +"Bist saudumm!--Wennst tauschen tätst mit mein' Rainacker, hättst +alles ums Haus ... Aber mit dir kann man ja nicht reden!" + +"Auf'm Rainacker wachst das nicht wie bei mir," gab ihm der "Letzte +Mensch" stets mit der gleichen Beharrlichkeit zurück und trottete +weiter.-- + +Die Jahre gingen, schwiegen. Der Peter Söllinger wurde unterdessen zum +Bürgermeister gewählt und kam eines Tages in den Stall zu Michael, +sagte: "Das geht jetzt nimmer, daß die Gemeinde deine Mutter aushält. +Bist ein Mordstrumm Mannsbild worden und kannst selber für sie +aufkommen. Der 'Letzt' Mensch' wird sterben. Die Pfanningerin müssen +wir ins Gemeindehaus tun." + +Michael nickte stumm. + +"Da draußen kann's nicht bleiben, die Pfanningerin," fuhr der Bauer +fort, indem er eine verächtliche Geste in die Gegend des +Pfremdingerhauses machte, "die alte Kalupp' paßt grad noch für ein' +Heustadel." + +Und wieder nickte Michael stumm. + +"Herrgott, bist du ein Stock!" stieß der Bauer heraus und ging +kopfschüttelnd und brummend aus dem Stall. Die Knechte lachten.-- + +Michael ging nach Feierabend zu seiner Mutter ins Gemeindehaus und +brachte ihr die Nachricht. Die alte Frau sah ihm nur in die Augen. +Dann sagte sie: "Ja ja, ist ja auch wahr, die alte Pfanningerin ist ja +auch älter als ich."-- + +Spät, nachdem seine Mutter längst schlief, zählte Michael sein +erspartes Geld. Zählte, zählte. Dachte, dachte. Rechnete, rechnete. + +Am andern Tag, während der Arbeit, hielt er manchmal inne und schaute +starr ins Leere. Des öfteren sah man ihn jetzt am Abend in die +Pfremdinger-Hütte gehen. "Was er nur immer beim 'Letzten Mensch' +anfängt, das Hornvieh!? Möcht wohl gar Häusler werden?" spöttelten die +Knechte, und Söllinger schaute dem fast furchtsam Davonschleichenden +mit finsterem Blick nach.-- + +Die Sterbeglocken klangen dünn durch die Luft. Mit dem alten +Pfremdinger ging es zu Ende. Die Pfanningerin, der Pfarrer--und +Michael Jürgert standen in der niederen Kammer um das Bett. Dann kam +noch die Jürgertin. + +Ganz zuletzt erst wälzte sich der Häusler nochmal herum. Schon drehten +sich seine Augen. + +"Er soll's haben, Hochwürden! Aber die Hälft' gehört der Kirch'!" +hauchte er schon röchelnd mit letzter Kraft heraus. + +"In Ewigkeit, Amen," murmelte sich bekreuzigend die alte Pfanningerin. +und der Pfarrer sah Michael an, nickte ihm zu. + +"Hab's denkt, daß er's kriegt, wenn er fleißig in die Kirch' rennt und +um den Pfarrer herumscharwenzelt recht bigott! Sowas tragt immer was +ein!" war ungefähr die übliche Bauern-Nachrede, als es verlautbarte, +daß Michael das Pfremdinger-Anwesen vom "Herrn Hochwürden zudiktiert" +bekommen habe. + +Acht Tage nach dem Begräbnis fuhr Michael auf einem Schubkarren die +spärliche Habschaft seiner Mutter ins Pfremdingerhaus und am +darauffolgenden Tag die Sachen der alten Pfanningerin ins Gemeindehaus. +Hinter manchem Fenster stand ein spöttischspitzes Gesicht und sagte +ungefähr: "Der hat's leicht. Kann sein Zeug auf dem Schubkarren fahren." + +Gut ein Vierteljahr war Stille. + +Wenn die Mäher beim Morgendämmern auf die Felder gingen, sang immer +schon die Sense Michaels unter dem flinken Schleifstein.-- + +Dann kam das Unglück. + +Die einzige Kuh, die im Jürgertstall stand, ging ein. Notschlachtung +mußte vorgenommen werden. + +Die Bauern kamen, musterten das Fleisch mißtrauisch, kauften, +schimpften: "Ob er vielleicht nicht wisse, daß die Suppenbeine als +Zuwag' dreingingen?" Und einige wieder sagten in beinahe mitleidigem +Tonfall: "Ja, mein Gott, Bauer sein ist nicht so einfach! ... Sonst +tät's ja jeder machen." + +Drei Wochen nachher begrub man die alte Jürgertin. + +"Wärst' Knecht geblieben, wär gescheiter gewesen," sagte Söllinger zu +seinem ehemaligen Knecht, "wenn's einmal angeht, hört's nicht mehr +auf."-- + +Michael stürzte sich in die Arbeit. Der Pfarrer kam ein paarmal ins +Haus, sah nach. + +"Eine Kuh halt, eine Kuh, Herr Hochwürden!" murmelte Michael hin und +wieder dumpf. + +"Der Herr hat's gegeben--der Herr hat's wieder genommen," antwortete +der Geistliche nur.-- + +Und Michael verkaufte Heu und die zwei letzten Säcke Korn. Droben auf +dem schmalen Streifen, über den Söllingerfeldern, hatte er dieses im +letzten Jahr noch gebaut. Vom Reinalther lieh er sich damals den +Fuchsen und den Pflug, ackerte. Und seine Mutter humpelte hinterdrein +und säte.-- + +Es war Ferkelmarkt in Greinau. Die ganzen Bauern aus der Umgegend +standen gruppenweise auf dem Platz vor der Gastwirtschaft "Zur Post", +handelten hartnäckig herum mit den Händlern und kauften endlich. Die +eingepferchten Jungschweine machten einen Heidenlärm, die Pferde +scharrten ungeduldig und wurden unsanft zurückgerissen. Die Wirtsstube +war vollbesetzt. Aus und ein ging man, redete, schmauste, und knarrend +und knirschend, in scharfem Trab, rollten die Wägelchen davon. + +Schüchtern kam tief am Nachmittag Michael an. Die Bauern stießen +einander, zwinkerten, tuschelten spöttisch. + +"Jesus! Jesus! Jetzt wird's besser, der Michl kauft Ferkel!" lachte +der pralle Postwirt aus einer Gruppe und alle richtetengeringschätzige +Blicke auf den Häusler. Schweigsam und scheu umschritt der die +Ferkelsteigen. Es wurde schon leerer auf dem Platz. + +"Paß fein auf, daß sie dir nicht im Sack ersticken, Michl!" warf der +Söllinger rülpsend auf den Wagen steigend Michel zu, als er sah, daß +dieser zwei lautgrunzende Jungschweine in seinen Sack zog. Sein +hämisches Lachen schnitt die Luft auseinander.-- + +Dämmer stieg schon von den Feldern auf. Nacht sickerte gelassen vom +Himmel. Michael schritt beschwerlich aus. Die Schweine rumorten +immerzu im Sack auf seinem Rücken. Er mußte fest zuhalten, daß ein +lahmer Krampf langsam in seine Arme rieselte. Aber die bogen sich wie +aus Eisen von der Brust über die Schulter.-- + +Die Schritte hallten vereinsamt. + +Stille.-- + +Jetzt waren auch die Schweine still geworden, ganz still. Auf einmal +merkte es Michael. Ein Schreck durchfuhr ihn. Jähe Mattigkeit fiel +bleischwer in seine Kniegelenke. Er rüttelte den Sack vorsichtig, fast +wie einer, der zwischen Hoffnung und Angst vor der Gewißheit schwankt +und nicht mehr aus noch ein weiß. + +Nichts. + +Er rüttelte stärker. + +Nichts.-- + +Inzwischen war er an der schmalen Brücke, nah vor dem Hügel angelangt, +auf dem das Söllingergehöft mit gelben Augen saß. + +Der Bach murmelte gleichmäßig versunken. + +Schweißtriefend zerrte Michael den Sack auf die Brücke, wollte--in +unseliger Verzweiflung blitzhaft an den Spott Söllingers denkend +--nachsehen. Da--da--wupp!--fiel der Sack in die Tiefe. Es platschte. +Breite Ringe warf das Wasser und jetzt plärrten plötzlich die Schweine +heulend auf. Es gurgelte etliche Male und war jäh grauenhaft still. + +Mit einem furchtbaren Aufschrei sprang Michael ins Wasser, tappte wie +ein schwimmender Hund ungelenk auf der Oberfläche herum, weinte, +hustete, tauchte, schrie, brüllte.-- + +Am ändern Tage fischten die zwei Knechte des Bürgermeisters den leeren +zerrissenen Sack mit den Heugabeln aus dem Wasser und spießten ihn auf +einen Zaunpfahl vor Michaels Häuschen. Dann klopften sie. Aber niemand +gab an.-- + +Das ganze Dorf lachte knisternd. + +Als man drei Tage niemanden aus--und eingehen sah beim Jürgert, schickte +Söllinger den Nachtwächter und Gemeindediener Peter Gsott hinaus. Der +klopfte wieder und wieder, drohte mit wütenden Flüchen, als niemand +angab und holte dann den Schmied zum Türöffnen. + +Die beiden fanden Michael in der Schlafkammer ganz starr auf dem +Bettrand sitzend und wie irr ins Leere glotzend. Einen Augenblick +zwang ihnen dieser Zustand Schweigen ab. Endlich sagte der Schmied: +"Was hast' denn, daß' dich einsperrst, Michl?" + +Aber der Angesprochene machte nur mit der Hand eine lahme, wegwerfende +Geste. "Deinen leeren Sack haben die Söllingerknecht' gefunden! Die +Ferkel selber sind ersoffen," sagte dann der Gemeindediener. Als beide +sahen, daß Michael beharrlich mit der gleichen Apathie antwortete, +gingen sie und meldeten dem Bürgermeister, daß der "spinnerte Kerl" +schon noch lebe. Er sei, meinten sie, nur ein wenig irr noch.-- + +Im Dorf ging daraufhin die Rede: "Der Michl hat's Spinnen angefangen +wegen der ersoffenen Ferkel." + +Michael sah man nur ganz selten seit diesem Vorfall. Höchstenfalls bog +er einmal scheu ums Hauseck und eilte dem Wald zu.-- + +Um diese Zeit kam zum Bürgermeister Söllinger eine seltsame Nachricht +aus Amerika, betreffend die Familie Jürgert und deren Nachkommen. Der +Bauer, der sich, wie er sich ausdrückte, "darin nicht rechtauskannte", +schickte zum Pfarrer und dieser entzifferte endlich, daß die Familie +Jürgert (Überlebende oder Nachkommen) infolge des Todes eines Bruders +des verstorbenen Vaters Michaels zur Generalerbin einer außerordentlich +hohen Hinterlassenschaft in barem Geld eingesetzt sei und den Betrag +von einer Bank in Hamburg einverlangen könnte, sobald der Nachweis der +Erbberechtigung erbracht sei.-- + +Als der Pfarrer, der selber ein wenig zitterte, dies dem Söllinger +auseinandersetzte, erbleichte dieser sichtlichund sank wie vom Schlag +getroffen in einen Stuhl. + +"Ruhig beibringen, ist das beste. Ich geh' selber zu ihm hinaus," +sagte der Geistliche nach einigem Schweigen, nahm seinen Hut, steckte +das Papier zu sich und begab sich zu Michael. + +Ins Haus getreten, bemerkte er diesen dösig neben dem Herd hockend, +und als der geistliche Herr in sanftem, vorsichtigem Tonfall seinen +Namen rief, sprang er plötzlich auf, schlüpfte, so schnell es nur +ging, furchtgepackt in das rußige Holzloch unter dem Ofen und gab +keinen Laut von sich. Eine gute Weile stand der Geistliche ratlos da. +Endlich fand er wieder zum Entschluß zurück. + +"Geh heraus, Michl," sagte er sanft, "wir wollen wieder eine Kuh kaufen +und Ferkel." + +Michael räkelte sich erst und schlüpfte dann vollends aus dem Loch. +Seine Blicke waren mit einer schmerzvollen Bitthaftigkeit auf den +Pfarrer gerichtet. + +"Und dein Häusl, Michl, das werden wir auch wieder richten lassen. Es +ist arg baufällig," ermunterte dieser den Zögernden. Und als Michael +endlich aufrecht stand, nahm ihn der Gottesmann mild am Arm und zog +ihn sacht hinaus ins Freie. + +Frische Frühe lag üher den Feldern. Die Wiesen dufteten schwer. Die +Sonne stieg langsam in die Mittagshöhe.-- + +Wie zwei Kranke schritten die beiden dahin. Der Söllinger wagte nicht +herauszutreten, als sie vorbeikamen. Er lugte nur schweigend durchs +Fenster. + +Im Pfarrhaus angekommen, sagte der Geistliche zu Michael: "Du mußt +jetzt eine Zeitlang bei mir bleiben. Die Marie wird dir ein Zimmer +einrichten, bis dein Häusl fertig ist. Bis dahin ist auch wieder +Viehmarkt in Greinau." + +Und als verstünde er von alledem nichts, als höre er nur eine +erleichternde Melodie aus den Worten, stand Michael da und schwieg. +Allmählich glättete sich sein bangvolles Gesicht und eine aufatmende +Ruhe glänzte in seinen Augen. + +Drei stille Wochen glitten him. Jeden Tag saßen die zwei zusammen in +der Pfarrstube oder gingen wohl manchmal im Garten umher. Langsam +wurde Michael ruhiger. Aber von Zeit zu Zeit konnte man ein böses +Aufblitzen auf seinem knöchernen, schweigend gefalteten Gesicht +wahrnehmen. Die väterliche Arglosigkeit seines Pflegers aber machte +ihn nach und nach etwas zutraulicher und offener. Manchmal des Abends, +wenn der Geistliche aus einem Betbuch laut einige Stellen vorlas, hob +der Häusler den Kopf und lauschte sichtlich aufmerksamer. Ein +friedlicher Hauch hob Stück für Stück von dem Feindseligen ab, das +hinter den Falten brütete, und lebendiger kreisten seine Augen. + +Endlich nach einem Monat eröffnete der Pfarrer seinem Pflegling die +Nachricht aus Amerika. + +Michael hörte stumm zu. Er schien anfänglich nicht zu begreifen. Dies +erkennend, legte der Geistliche das Papier auf den Tisch. + +"Du bist jetzt ein reicher, sehr reicher Mann geworden, Michl," sagte +er, "du kannst dir hundert Kühe kaufen, ein Haus und soviel Ferkel, +als du willst. Es ist von jetzt ab keiner mehr im ganzen Umkreis, der +nur ein Drittel soviel Geld hat wie du. Begreifst du? Gott hat dir +geholfen. Es geht alles seinen gerechten Gang, wenn er es will." + +Michael schien die letzten Worte nicht mehr zu hören. Seine Augen +waren auf einmal weit geworden. Eine Gier flackerte in ihnen und der +ganze Ausdruck seines Gesichts war plötzlich völlig verändert. + +"Ich--ich kann also auch das Söllingerhaus und das vom Reinalther +kaufen?" fragte er hastig und gedämpft. + +"Das kannst du, wenn sie wollen," nickte der Geistliche, "du kannst +zehn solche Häuser kaufen, wenn du willst." + +"Zehn....!?" stieß Michael lauernd heraus und bohrte seine Blicke in +die Augen des Pfarrers. + +"Es ist sehr viel Geld," gab der zurück. + +"Und," fuhr Michael noch leiser, fiebernd vor Unruhe, scheu, als +lausche an den Wänden irgendein ungebetener Gast, fort: "Und ich +krieg' das ganze Geld in die Hand. Ich brauch' nur schreiben lassen?" + +"Ja, wenn Du willst." + +"Ja ...!! Ja, gleich! Gleich! Ich will!" schrie Michael verhalten. + +"Gut," sagte der Pfarrer und ging an den Tisch, "ich schreibe." + +"Und ... und die Häuser vom Söllinger und--und vom Reinalther?" fragte +Michael beharrlich. + +"Die ...? Ich kann mit ihnen reden," antwortete der Geistliche, während +er schrieb. Dann ließ er Michael unterzeichnen.-- + + +II. + +Im Dorf ging ein Schweigen um. Langsam verbreitete sich die Kunde von +Michaels Erbschaft. Betroffenen Gesichts raunten sich die Bauern die +Neuigkeit zu.-- + +Der Baumeister von Greinau, Michael Lindinger mit Namen, wurde ins +Pfarrhaus geladen. Michael lächelte schräg, als der Mann eintrat und +beauftragte ihn, einen Plan für ein neues Haus zu bringen. Trotz der +Einwendungen des Pfarrers wurde der Umbau des alten Anwesens abgelehnt. + +Michaels Rede war jetzt sicher geworden, fast bestimmt. + +"Ein neues Haus muß her!" sagte er beharrlich. + +Und der andere Michael erwiderte pfiffig: "Ja--schon lieber was Neues +als Flickwerk. Das taugt ein paar Jahr', dann geht's wieder von vorn' +an." + +Diese Beipflichtung entwaffnete den Geistlichen. Der Plan wurde +gefertigt. Der Auftrag gegeben. Die ehemalige Pfremdinger-Hütte +krachte zusammen mit allem, was sie barg. So hatte es Michael +gewünscht, steif und fest. Alles Dawider des Pfarrers nützte nichts. + +Krachte zusammen. + +Und die Dörfler standen herum, schwiegen, staunten, starrten. Vom +Pfarrhausfenster aus überschaute Michael den Vorgang. + +Auf einmal begann der Hausrist zu wanken, bröckelte, krachte. Die +Herumstehenden rannten auseinander und zuletzt war minutenlang eine +ungeheure Staubwolke. Dann, als es wieder lichter geworden war, lag +ein riesiger Trümmerhaufen da. + +Deutlich sah Michael, wie einige die Köpfe schüttelten. Eine Weite +dehnte seine Brust. + +"Das ist nicht recht," rief der Pfarrer hinter ihm. Michael hatte ihn +nicht eintreten hören und riß sich erschrocken herum. Reglos und stumm +standen sich die beiden gegenüber.-- + +Seitdem begegnete Michael seinem Pfleger mit verstocktem Schweigen. +Mied ihn.-- + +Der Bau wurde begonnen. Jeden Abend kam Lindinger ins Pfarrhaus und +berichtete über den Stand, machte Vorschläge, legte Rechnungen vor. + +Sein fast beteuerndes, sich immer wiederholendes: "S'ist wahnwitzig +teuer, die Sach', wahnwitzig teuer," ließ Michel lächeln. + +"Macht nichts, macht gar nichts," erwiderte er stets. + +"Ja--es ist gut, daß' wieder Arbeit gibt," meinte dann der +Maurermeister meistens und ging. Kaum war er draußen, schrumpfte +Michaels Gestalt im Lehnstuhl zusammen. Das Kinn schob sich vor. Nur +die Pupillen kreisten im Raum.-- + +An einem der Abende, als eben der Maurermeister das Zimmer Michaels +verlassen hatte, trat der Pfarrer ein. Michael erhob sich und wandte +ihm den Rücken zu.-- + +"Gelobt sei Jesus Christus!" brachte der Geistliche nach einigem +Schweigen heraus. + +Ohne sich umzuwenden, nickte Michael. Dann ging er ans Fenster, +deutete in die Talmulde, die der erste Mond silbern bestrich. + +"Hähähä--hä! Wird hoch der Turm, hoch!" keuchte er, reckte den Kopf +störrisch vor, nahe an die Scheibe: "Wenn man ganz droben ist, müssen +schon die Wolken angehen!" + +Unschlüssig stand der Geistliche. Schwieg. + +"Zum Söllinger kann ich hinunterschaun und aufs ganze Dorf!" redete +Michael weiter, ohne ihn zu achten. + +"Die zwei Kirchenfenster?" fragte endlich der Geistliche fast +schüchtern und hielt plötzlich mitten im Wort inne, als sich Michael +nunmehr hastig umwandte. + +"Zwei ...?! Sechs! Sechs Fenster ...--und neue Glocken, damit ich's +hör' in der Früh!" überflügelte dieser ihn, "da muß die Luft zittern, +wenn die läuten!--Schafft sie an! Morgen! Gleich! Gleich! Und drei +neue Meßgewänder!--Müssen fertig sein zum Jahrtag meiner Mutter! +Bestellt's! Bestellt's auch gleich!--Gleich!" + +Wie von einem wilden Strudel dahergetragen stürzten die Worte +heraus.-- + +Mit sehr ernstem Gesicht verließ der Pfarrer fast traumwandlerisch das +Zimmer. Lange noch hörte ihn die Marie im Zimmer auf- und abgehen und +laut beten. + +Klare, kalte Märztage zeigten das hereinbrechende Frühjahr an. + +Michael ging manchmal aus. Selten suchte er den Bau auf. Nie beschritt +er ihn. Immer bog er scheu ums Dorf und stapfte auf die Sandgrube zu, +aus der man den Kies für sein Haus holte. Es schien ihn dort etwas zu +interessieren. Er stand meistens oben am Rand und überschaute die +zackige Mulde. + +Böhmen und Italiener arbeiteten auf Taglohn dort und sprengten hin und +wieder einen Felsen, wenn an einer Stelle der Kies ausging.-- + +Eben lud man wieder. Michael war ganz nah herangekommen, stand wie +witternd, mit spähendem, vorgebeugtem Kopf da und sah aufmerksam auf +jede Bewegung des Lademeisters. + +"Und das--das reißt alles ein?--Mit einem Krach?" fragte er diesen +gespannt. Der Mann nickte und murmelte ein paar unverständliche Worte. + +Dann entzündete er ein Streichholz und steckte die Zündschnur an. +Alles rannte aus der Grube, wartete bis es knallte. + +Als dies geschehen war und die Leute wieder in die Grube zurückgingen, +sah man Michael im Türrahmen des Werkmeisterhauses stehen. Er ließ +sich das Pulver zeigen, rieb es merkwürdig lange auf seiner flachen +Hand und sagte harmlos zum Werkmeister: "Und so ein Staub hat's +drinnen, daß alles in die Luft fliegt?--Hm--hm--hm!" Ging wieder.-- + +Der Nachtwächter Peter Gsott glaubte bemerkt zu haben, daß eine +männliche Gestalt am Rand der Sandgrube auftauchte, sich schwarz vom +bleichen Mondhimmel abhob, dann aber plötzlich, wie in den Erdboden +gesunken, verschwand. + +Der Werkmeister schimpfte die Sprenger, daß sie soviel Pulver +brauchten. Es entstand ein Streit. Ein Italiener brüllte, daß die +ganze Grube hallte. Auf einmal kam man ins Handgemenge. Ein +furchtbares Raufen entstand. Der Werkmeister bekam einen Schlag auf +den Kopf und mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Am ändern Tag +verhafteten die Gendarmen von Greinau zwei Böhmen und einen Italiener, +der beim Söllinger auf der Tenne logierte. Er hatte sich im +Taubenschlag verkrochen und als man ihn herunterholte, stieß er +furchtbare Drohungen auf den Bürgermeister aus, die aber niemand +verstand. Anscheinend glaubte er, die Leute hätten ihn verraten. + +Michael begegnete der Haftkolonne und sah sich die drei Burschen sehr +genau an. Später trat er ins Bürgermeisterhaus und öffnete die +Stubentür hastig. Der Söllinger war im Augenblick so erstaunt, daß er +förmlich aufschrak und kein Wort fand. Säulenstarr stand er da und +heftete seinen Blick auf den nähertretenden Michael. Gemessen kam +dieser heran, ganz nahe und eine ungeheure Spannung lag in seinem +Gang. + +"Gibst dein Haus nicht her?" fragte er den stummen Bauern lauernd. + +"Nicht?" wiederholte er, als der verneinte und maß ihn scharf von der +Brust bis zur Stirn. + +"Ich ...!?" fand endlich der Söllinger das Wort. + +"Ja?" + +"Solang ich leb' nicht!" schrie der Bürgermeister schroff, als wolle +er sagen: "Was willst denn du auf einmal bei mir?" + +"Es paßt mir nicht vor meinem Turm," sagte Michael tonlos und spröde +und lächelte höhnisch in sich hinein. Draußen, vor der Tür, hörte er +noch den Schlag der Söllingerfaust auf die Tischplatte. + + +III. + +Richtig, der eine von den Böhmen lud damals den Felsen, erinnerte sich +Michael. Und der Italiener, der aus Söllingers Taubenschlag geholt +worden war, stand neben ihm, als es krachte. Dem konnte man nichts +nachweisen und mußte ihn nach vier Tagen wieder aus dem +Amtsgerichtsgefängnis entlassen. Nun strolchte er mit finsterem +Gesicht herum, und da bei den Bauern von alt her der Aberglaube +herrschte, daß solche Kerle mit ihren Verwünschungen kraft einer +innewohnenden dämonischen Macht Schaden und Unglück anrichten könnten, +so wagte keiner etwas gegen sein Kampieren in Heustädeln und Tennen +einzuwenden.-- + +An einem Aprilnachmittag traf ihn Michael auf der Waldstraße, ging +entschlossen auf ihn zu und sprach ihn an. + +"Habt's keine Arbeit mehr kriegt?" + +Offenbar verstand der Angesprochene dies, denn er nickte finster. + +"Geht's zu meinem Bau. Verlangt's den Lindinger und sagt's, ich hab +Euch geschickt," sagte Michael. + +Am ändern Tag schleppte der Italiener auf dem Bau Mörtel.-- + +Das Haus wuchs. Der Turm der Vorderfront bedurfte nur noch des +Dachstuhls. Beim Söllinger wurde eingebrochen. Man nahm wieder den +Italiener fest, obwohl ihn niemand angezeigt hatte. Da man ihm aber +nichts nachweisen konnte, entließ man ihn abermals. Michael traf ihn +am Pfarrhaus, nickte schon von weitem grüßend und hatte ein Lächeln +wie ungefähr: "Gut so!" Und wieder arbeitete der Italiener auf dem +Bau, finster gegen jedermann, verschlossen und wortkarg, nur etwas +aufgetaner zu Michael.--Die Kirche war nun jeden Sonntag drückend +voll. Die sechs Fenster strahlten ihren vielfarbigen Prunk über die +Köpfe der Betenden. Einen Monat später erschollen die neuen Glocken +erstmalig. Und in der Luft schwang ein Surren weithin. Wenn man jetzt +Michael sah, lag über seinem Gesicht etwas wie ein leuchtender, +verschwiegener Triumph. + +Der April zerging in Regen, Schneegestöber und flüchtigen Sonnentagen. +Die ersten Maitage ließen die grauweißen Wände des Neubaus sehr +schroff leuchten. Man konnte Michael manchmal mit dem Baumeister durch +die Räume schreiten sehen. Die Schreiner brachten Möbel. Es ging dem +Vollenden zu. + +Es war wahr, was der erste Knecht vom Reinalther sagte: "Einen solchen +Stall trifft man so schnell nicht mehr." Und: "Eine Lust müsse es +sein, dort zu arbeiten." + +Aber der Söllinger warf verächtlich hin: "Was hilft ihm das schöne +Haus und alles, wenn er kein Grundstück hat!" + +Und aus den Reden der Dörfler am Biertisch konnte man deutlich +heraushören, daß keiner bereit war, auch nur ein Tagwerk von seinen +Gründen abzugeben. + +"Unser Heu bleibt unser Heu," sagte der Gleimhans. Und alle nickten. + +"Der kommt schon und will einen Grund!--Aber da bleibt ihm der +Schnabel sauber!" brummte der Reinalther. + +Der Söllinger blickte düster drein und schwieg.-- + +Pfarrer und Ministrant gingen mit Michael durch die Räume des neuen +Hauses, beweihräucherten und besprenkelten alles. Eine Woche später +trieben drei Viehtreiber wohl an die zwanzig Kühe auf der Straße von +Greinau her ins Dorf und lieferten sie bei Michael ab. Der wohnte +schon vier Tage in seinem Haus. Zwei fremde Mägde, ein Knecht und +jener Italiener, den man von der Sandgrube davongetrieben und +verhaftet hatte, waren da. Und Heufuhren kamen an. Ganz fremde +Gesichter blickten von den leeren Wagen herunter, die durchs Dorf +ratterten. + +"Wenn er jeden Pfifferling kaufen muß, wird die Herrlichkeit bald ein +End' haben," brummten die Bauern, "mit den paar lumpigen Wiesen kann +er grad' eine Kuh füttern." + +Nach etlichen Wochen kam eine Magd Michaels zum Reinalther und zum +Gleimhans und richtete aus, die Bauern sollten zu ihm kommen. + +"So--!? Sonst nichts....?!" rief der Reinalther höhnisch und schaute +das dralle Frauenzimmer hämisch an, "sagst, er soll sich einen ändern +Dummen suchen!" + +Und--: "Der hat grad so weit zu mir her!" fertigte der Gleimhans die +Botschaftbringerin ab.-- + +Gleichsam, als hätte man sie ohne jeden Grund persönlich beleidigt, +kam die Magd zurück und berichtete Michael das Verhalten der beiden +Bauern. + +"Geh!--Ist schon gut!" schnitt dieser ihr das Wort ab, als sie +gesprächiger werden wollte. Seine Züge veränderten sich nicht. Nur +seine Augen glommen einmal funkelnd auf.-- + +In der Wirtsstube Simon Lechls herrschte diesen Abend ein belebteres +Gespräch. + +"Jetzt wird er langsam angekrochen kommen und Gründ' wollen," brummte +der Reinalther. + +"Da kann er alt werden!" erwiderte der Gleimhans. Und alle nickten. +"Mit seinem Geldhaufen ist er gar nichts!" sagte der Lechlwirt: +"Gründ' machen den Bauern!" + +"Das ist's!" bestätigte der Söllinger. + +Und wieder nickten alle.-- + + +IV. + +Die Jahre verstrichen. Das kahle, grell leuchtende Haus am Waldrand +nahm mehr und mehr eine verwitterte Farbe an. Bisweilen, wenn die +Scheune leer war, sah man die schwarze Kutsche Michaels in scharfem +Trab aus dem Dorf rollen, Greinau zu. Vorne auf dem Bock saß der +Italiener mit finster gefaltetem Gesicht und schaute nicht nach links +und nicht nach rechts. + +An den darauffolgenden Tagen knarrten dann meistens schwerbeladene +Heufuhren auf der Greinauer Straße daher und fuhren durchs Hoftor +Michaels. + +"Nette Wirtschaft!" brummten die Bauern: "Jeden Büschel Futter muß er +kaufen!" Und halb war es Mißmut, halb Schadenfreude, was auf ihren +Gesichtern stand. Die Ernten in dieser Gegend waren mehr als +überreichlich. Die Aufkäufer, die aus der Stadt kamen, hatten es +leicht und konnten anmaßend sein. Sie minderten die Preise, wo und wie +immer es nur ging. Die Transportkosten his zum Bestimmungsort mußten +die Bauern tragen. Es kostete stets einen ganzen Tag Zeit, wenn ein +Dörfler seinen verkauften Hafer, sein Korn oder Heu nach Greinau auf +den Bahnhof fuhr und dort in den Waggon lud. In die "Ferkelburg" aber, +wie man Michaels Haus nannte, fuhren fremde Heuwagen!-- + +Michael war fast nie zu sehen. Er saß in seiner Turmkammer und sann. +Grübelte, als warte er auf etwas. Gleichmäßig und ereignislos verlief +die Zeit. + +Durch irgendeinen findigen Kopf angeregt, war die ganze Dörflerherde +um Greinau darauf gekommen, daß eine Eisenbahnlinie gerade in dieser +Gegend notwendig sei. Eine Vereinigung bildete sich, wurde "Lokalverband +der Eisenbahninteressenten" genannt. Eine Eingabe um die andere +bestürmte das Ministerium. Die Regierung nahm endlich Kenntnis davon, +der Landtag sprach sich befürwortend aus. Die Eisenbahnlinie wurde +genehmigt.-- + +Michael verfolgte die Berichte im "Greinauer Wochenblatt" eifrig. Man +sah ihn jetzt öfters am Gemeindekasten vor dem Bürgermeisterhaus +stehen und die Anschläge lesen. Vom Söllingerhügel aus konnte man das +ganze hingebreitete Land übersehen. + +Da stand er auch. + +Und nicht selten. Oft sogar lange.-- + +An jenem Tag, da die amtliche Bekanntmachung von der Genehmigung der +Eisenbahnlinie angeschlagen war, wandte er sich behend, wie von einer +verhaltenen Freude ergriffen, herum und überblickte die Weiten. + +"Hm!--Jetzt!" stieß er plötzlich heraus, nickte etliche Male und ging +zuversichtlicher von dannen. + +Erst nachdem er in der Tür der Ferkelburg verschwunden war, trat der +Bürgermeister aus seinem Haus und heftete die Bekanntmachung der +großen Versammlung im Gasthaus "Zur Post" in Greinau in den Kasten. + +Am darauffolgenden Sonntag war der Tanzsaal der Postwirtschaft zum +Bersten voll. Die Bauern aus der Ganzen Umgebung waren zusammengeströmt. +Die bejahende Entschließung der Regierung wurde bekanntgegeben. Die +ganze Versammlung brüllte und klatschte begeistert. + +"Eine Bahn muß her!" erscholl von allen Seiten. Es gab schwere +Räusche.-- + +Schon nach einer knappen Woche erschienen die Vermessungsbeamten im +Dorf und wurden mit ehrwürdiger Neugier empfangen, durchschritten die +Felder, steckten weiß-rote Stangen auf, kamen immer näher an die +Häuser heran, zogen eine Linie durch Reinalthers Garten, über das +Gehöft Söllingers hinweg.-- + +Die Hände in den Hosentaschen, schweigend und gewichtig, sahen ihnen +die Bauern erst zu. + +"Also so ging's?" fragte der Gleimhans einen Vermesser. + +"Jawohl, ganz so," erwiderte dieser und war schon wieder weiter. + +"Hm!" brummte der Gleimhans, hob den Kopf und sah den Reinalther +verwundert an. + +"Müßt also mein halber Garten weg?" sagte dieser und sah den Geometern +nach. Die entfernten sich mehr und mehr. Weiter ging es--über das +Gehöft Söllingers hinweg. + +"Hoi--Hoi! Da wär demnach das ganze Bürgermeisterhaus im Weg!" stieß +jetzt der Reinalther fast entsetzt heraus und sah betroffen, mit +offenem Maul, auf Gleimhans. + +"Das wird sauber!--Gibt's nicht!" schrie dieser wütend und straffte +seine Gestalt. + +"Und--schau nur!--durch meine schönsten Gründ' gings'!" rief der +Reinalther, als eben die Vermesser die Linie durch seine Weizenlande +zogen, fäustete seine Hände drohend und polterte gleichfalls: "Gibt's +nicht!" + +Und auf der Stelle gingen die beiden zum Söllinger hinauf und erhoben +lebhaften Einspruch gegen dieses Vermessen. + +"Dein Haus soll weg! Dein Haus, Söllinger! Und unsere schönsten Gründ' +wollen's!" schrie der Reinalther aufgebracht. Und der Gleimhans, der +sich schon wieder ermannt hatte, sagte drohend: "Sollen kommen und mir +durch meinen Acker bauen!" + +Der Bürgermeister war wutrot his hinter die Ohren, schlug gewaltig in +den Tisch und rief ebenfalls: "Gibt's nicht! Gleich morgen fahren wir +zum Bezirksamtmann!" + +Als die beiden Bauern aus dem Bürgermeisterhaus traten, stand Michael +am Rande des Hügelrückens und sah den Vermessern gespannt nach. + +"Hm,--der Michl!" brummte erstaunt der Reinalther. + +"Den freut's, weil's ihm keine Gründ' nehmen können!" stieß der +Gleimhans wütend heraus.-- + +Das ganze Dorf war am nächsten Tag in Aufruhr. Man riß überall die +weiß-roten Stangen heraus, zerbrach sie. In aller Frühe schon fuhren +Söllinger, der Gleimhans und Reinalther nach Greinau zum Bezirksamtmann +und verlangten schimpfend eine sofortige Regelung der Angelegenheit. +Sie schrien, fluchten und drohten zuletzt auf das gefährlichste. Der +Bezirksamtmann rannte erregt in seinem Arbeitszimmer auf und ab, +gewann aber dann die Ruhe wieder und zuckte mit den Achseln: "Ja, +meine Herren, wenn keiner durch seinen Acker die Linie laufen läßt, +dann gibt es eben keine Bahnstrecke!" + +"Wir pfeifen auf eine!" riefen die drei Bauern zugleich. + +Der Bezirksamtmann machte ihnen klar, daß der Beschluß der Regierung +nicht rückgängig gemacht werden könne, daß doch angemessen entschädigt +werde und daß "die Herren der betreffenden Instanzen doch keine +Kindsköpfe seien und doch--" + +"Das ist uns gleich! Die Bahn kommt nicht! So nicht!" fuhr ihm der +Söllinger ins Wort und vertrat starrköpfig den Standpunkt seiner +Begleiter. + +Schließlich nach langem Hin und Her wurde beschlossen, eine Versammlung +der "Eisenbahninteressenten" einzuberufen.-- + +Bis auf die Straße heraus standen am nächsten Sonntag die Bauern, die +sich beim Postwirt in Greinau zusammengefunden hatten. Zeitweilig +entstand ein gefährliches Gedränge nach der Saaltür. Furchtbar +stürmisch ging es zu. Ein Regierungsvertreter war erschienen. Er wurde +niedergeschrien, als er betonte, daß "wenn die Abgabe der Gründe nicht +gutwillig geschähe, einfach abgeschätzt würde." + +Einfach abgeschätzt!--Einfach abgeschätzt!!! Was sollte denn das heißen? +Etwa gar, daß einem einfach die Äcker genommen würden!? + +Die Bauern wurden wild, standen auf, richteten sich drohend gegen die +Tribüne. Die auf der Straße Stehenden zwängten sich gewaltsam herein. + +"Gibt's nicht!" schrie der ganze Chorus. Ein ungeheurer Lärm erhob +sich. Alles machte Miene anzugreifen. Der Bezirksamtmann fuchtelte +völlig ratlos mit den Armen. Der Assessor schwang wehrlos die Glocke. +Es half alles nichts. Der Lärm wurde nur noch ärger. + +"'naus!--'naus! 'naus aus unserm Gau!" brüllte der ganze Saal. Saftige +Grobheiten flogen den Herren da droben an den Kopf. + +Als nichts mehr auf die tobende Schar einwirken konnte, schrie der +Bezirksamtmann heiser: "Die Versammlung ist geschlossen!" und +verschwand eiligst mit dem Herrn von der Regierung. Die rebellischen +Bauern wurden allmählich wieder ruhiger, betranken sich weidlich und +hielten die Sache für gewonnen. + +Ohne besonderen Zwischenfall verliefen die nächsten Tage.-- + +In seinem Turmzimmer ging Michael auf und ab, blieb hie und da stehen, +hob rasch den Kopf und lächelte schmal. Und früh am Morgen, him und +wieder, schritt er üher die nebeligen Felder.-- + +Inzwischen wurde der Bau der Eisenbahn im Landtag zum Beschluß erhoben. +Soweit ließ man sich noch ein, daß man Söllingers Haus umkreiste. +Dafür aber lief jetzt die Linie durch seine besten Getreideäcker. +Und war beschlossene Sache! Nächstes Frühjahr sollte die Strecke in +Angriff genommen werden. + +Beim Söllinger liefen die amtlichen Schriftstücke über die +abzutretenden Grundstücke ein. Die Bauern standen vor den Anschlägen +mit verbissenen Gesichtern, brummten und fluchten. Eine furchtbare +Erbitterung hatte das ganze Dorf ergriffen. Aber es half alles nichts. +Alles nichts! + +Und die Schätzpreise waren spottniedrig. + +Es gab kein Zurück mehr. Mißmutig fügten sich die Bauern. + +"Eine Bahn! Eine Bahn! hat alles geschrien!--Jetzt haben wir's!" +polterte der Gleimhans beim Lechl; "ich hab's immer schon gesagt: es +kommt nichts Besseres nach! Wo man mit der Regierung zu tun hat, ist +Schwindel!" + +Und die anderen, die am Tisch saßen, sahen ihn finster an. Finster und +besiegt, überlistet und ratlos. + +"Müssen ja doch! Hilft uns alles nichts!" brummte der Reinalther und +spuckte wütend aus. Und manchmal sagte ein Verärgerter: "Ach was,--ich +verkauf mein ganzes Zeug dem Jürgert und mach' ihm einen saftigen Preis! +Dann kann der sich mit der Regierung herumstreiten!" + +Kaum einer--so schien es--hörte darauf. Aber dann wiederholte es sich +des öfteren. Schüchtern klang es erst. Allmählich erzeugte es +nachdenkliche Gesichter und dann--dann sah man eines Tages den +Reinalther aus der "Ferkelburg" herausgehen. Keiner fragte nach dem +Grund dieses Besuches. Zwei-, dreimal wiederholte er sich und wieder +einmal fuhr die schwarze Kutsche aus dem Tor der "Ferkelburg". +Reinalther und Michael saßen hinten drinnen, der Italiener auf dem +Bock. Es ging Greinau zu. + +"Warum hast deine Alte nicht mitgenommen?" fragte Michael im +Dahinfahren. + +"Brummt und brummt bloß! Hat keinen Verstand für so was!" antwortete +der Bauer mit leichtem Ärger. + +"Hat's doch schön jetzt! Kann sich in die Stub'n sitzen und +privatisieren!" meinte Michael fast ermunternd. + +"Freilich! Das hab ich ihr doch schon hundertmal gesagt! Aber sie +meint halt immer: 'Der Feschl! Der Feschl--wenn er von der Fremd' +kommt--könnt' eine schöne Metzgerei aufmachen und hat jetzt auf einmal +keine Heimat mehr!" redete der Reinalther in die Luft, als spräche er +mit sich selbst. + +"Aber Geld hat er! Einen Batzen Geld!" erwiderte Michael darauf. Und +der Bauer nickte: "Das mein' ich eben auch!" + +Nachdem sie das Notariat verlassen hatten, lag auf Michaels Gesicht +eine freudig erregte Farbe. Er lud den Reinalther sogar zu einem +richtigen Schmaus ein und der wurde nach dem zweiten Krug schon +gesprächig. + +"Wären noch andere im Dorf, die ihr Zeug anbringen möchten, sag ich +dir, Michl, brauchst dich bloß dranmachen," schwatzte er vertraulich +über den Tisch. + +"Brauchen bloß kommen,--alle nimm' ich!" gab ihm Michael zurück. + +Über Reinalthers Gesicht huschte eine wohlige Röte. Offen und richtig +freundschaftlich betrachtete er seinen ehemaligen Knecht. + +"Weiß dich noch, wie'st mein Knecht warst, Michl," erzählte er, +"hätt'st dir auch den Buckl krumm gearbeit', wenn dein Amerikaner +nicht ins Gras 'bissen hätt'!" + +Und Michael nickte und schloß mit einem: "Jaja, so ist's auf der Welt +hie und da!" Dann fuhren sie wieder ins Dorf zurück. + +Der Reinalther durfte in seinem Haus bleiben und saß von jetzt ab Tag +für Tag beim Simon Lechl in der Wirtsstube. Oft kam er angeheitert +nach Hause. Dann brummte sein Weib: "Wirst noch grad so wie der +ersoffene Jürgert." + +"Hab'ns doch, Alte! Hab'ns doch!" gröhlte dann der Bauer bierselig +heraus.-- + + +V. + +Wie immer bei solchen Gelegenheiten, griff die Veränderung der Sachlage +mehr und mehr in das Leben eines Teiles der Dörfler ein. Die Kleinhäusler +fristeten hierzulande ein hartes Dasein. Ihre kärglichen Feldstreifen +trugen wenig. Jeder von ihnen war gezwungen, zur Erntezeit und während +des Winters, beim Holzen, bei den Bauern auf Taglohn zu arbeiten. Dieser +Verdienst war, wie man sich auszudrücken pflegte, "zum Leben zu wenig +und zum Sterben zu viel." + +Diesen Leuten kam der Bahnbau gelegen. Es gab erträgliche Löhne dort. + +"Da hab ich meinen Batzen Geld, basta!--Und brauch' nicht bitten und +betteln bei den Bauern," äußerte sich der Fendt, dessen baufällige Hütte +am Dorfausgang stand. "Ich bleib' überhaupt nicht mehr da," sagte der +Rieminger, "ich verkauf mein Häusl dem Jürgertmichl und mach' eine +Wäscherei auf in der Stadt. Da hab' ich auf niemand aufzupassen!" + +Und so geschah's auch. + +Kaum ein halbes Jahr rann him, da hatte Michael auch das Fendthäusl +und den baufälligen Reishof gekauft. Die beiden Häusler bekamen eine +saftige Summe und konnten in ihren Häusern bleiben. Michael verlangte +nicht einmal Mietzins von ihnen. Das trug sich herum von Ohr zu Ohr. +Mit einer gewissen Achtung sprach man davon.-- + +Der Bahnbau war in vollem Gange. Durch Gleimhansens Äcker trampelten +die Arbeiter, dicht hinter dem Söllingergehöft, in den Weizenlanden +wühlten sie den Kot aus der Erde. Mit verbissenen Gesichtern schauten +die Bauern auf ihre verwüsteten Äcker. Viel Fremdvolk war unter den +Arbeitern. Italiener und Böhmen. Es gab Einbrüche, nächtliche +Raufereien und Messerstechereien.-- + +Die Söllingerin bekam die letzte Ölung. Nach einigen Tagen starb sie. +Das ganze Dorf und viele Bauern aus der Umgebung standen um das Grab. +Die Glocken trugen ihr Läuten durch die Luft. + +Der Reinalther sagte beim Leichenschmaus im Wirtshaus zum Söllinger: +"Was hast' von dei'm Leben, Bürgermeister? Deine zwei Söhn' sind ja +doch schon städtisch, da will keiner mehr an die Mistgabel und an den +Pflug!" + +Finster sah der Söllinger ins Leere und erwiderte kein Wort. Seine +zwei Söhne, der Martin und der Joseph, saßen da und schwiegen +gleichfalls. Zwei flotte Burschen waren sie, sahen gar nicht mehr +bäurisch aus, studierten in der Stadt und hatten runde, selbstbewußte +Gesichter, auf denen ein überheblicher Stolz glänzte. + +Der Bürgermeister stand auf einmal auf und ging. + +Es war Erntezeit. Die Straße führte an den ehemaligen Reinaltherfeldern +vorbei und an der Breite des Ignatz Reis. Da arbeiteten die Knechte +Michaels und der Italiener beaufsichtigte sie. Er war ein schweigsamer, +finsterer Geselle mit unheimlich tiefglimmenden Augen. Wenn er wo +auftauchte, griffen alle unwillkürlich hastiger zu. Der Söllinger blieb +einen Augenblick stehen, biß die Zähne aufeinander und schlug, +weitergehend, den Hirschgriffstock fester auf den Boden.-- + +Den Michael sah man jetzt tagsüber fast nie. Nur am Abend stelzte er +üher den Söllingerhügel, blieb manchmal stehen und sah wie prüfend der +Bahnlinie nach. Gebückt ging er. Er trug meistens einen breiten Mantel +und hielt einen Stock in der Rechten. + +Manchmal wenn ein Heimkehrender an ihm vorbeiging, lag ein verglommenes +Lächeln auf seinen faltigen Zügen. Plötzlich aber verfinsterten sie sich, +sein Kopf senkte sich und hastig trottete er weiter. + +Einmal traf es sich, daß er dem Söllinger begegnete. Er blieb fest +stehen und sah dem Bauern lauernd in die Augen. Es war gerade an der +Stelle, wo der Bahndamm sich hob, nah' am Bachbrücklein. + +"Grad' deine schönsten Äcker haben's hergenommen," sagte Michael. + +"Hm!" nickte der Bürgermeister und wußte nicht, wo er hinschauensollte. + +"Wirst alt jetzt, Söllinger! Gib's her, dein Anwesen!" begann Michael +wieder. + +Der Bauer schüttelte nur den Kopf störrisch und ging wortlos weiter. +Aber dieses Mal sah Michael noch tief in der Nacht die Stubenfenster +im Bürgermeisterhaus leuchten. + +Einige Tage später geriet der Heustadel hinter dem Söllingerhof in +Brand und nur mit Mühe konnte die Feuerwehr das Überschlagen der +Flamme aufs Bauernhaus verhindern. + +Der Italiener Rotti und der Böhme Zdrenka hatten es auf die +Bürgermeister-Magd abgesehen. In einer Nacht erstach der Böhme den +Italiener. Zwei Gendarmen von Greinau kamen. Unruhig wurde es im +Söllingerhaus. + +Der Bürgermeister schlug wütend auf den Tisch: "Ich mag nicht mehr!" +Und resolut rannte er zur Tür hinaus, geradewegs auf die "Ferkelburg" +zu. + +Michael empfing ihn freundlich und ruhig. Er bot eine Summe, daß der +Bauer seine Augen weit aufriß. + +Der Handel kam zustande. + +Der Söllinger gab sein Bürgermeisteramt auf und zog zum Schmied. + +"Verkauf deine Kalupp'!" sagten jetzt jeden Abend der Reinalther und +er in der Lechlstube zum griesgrämigen Gleimhans. + +"Hast deine Ruh' und einen schönen Batzen Geld und der Michl läßt dich +drinn, solang als du willst!" bekräftigte der Lechlwirt. + +"Solang' ich leb, nicht!" gab der Gleimhans einsilbig zurück und +schüttelte beharrlich den Kopf.-- + +Michael kaufte das Schmiedanwesen. Der Schmied zog in die Stadt.-- + +"Kauft das ganze Dorf," brummte der Gleimhans, "und hat uns zuletzt +alle in der Mausfall'n!" + +"Soll er, wenn's ihm gefällt!--Er kann sich's leisten, zahlt gut und +ist nicht zuwider!--Läßt mit sich reden!" verteidigten der Wirt und +der Reinalther den Herrn von der "Ferkelburg". Und dumpf nickte der +Söllinger.-- + +Aber am nächsten Tag trat Michael ins Reinaltherhaus. Der Bauer +empfing ihn aufgeräumt und freundlich, ohne jegliches Arg. + +"Im Frühjahr müßt's raus! Hab' einen Pächter," sagte da auf einmal +Michael kurz. + +Dem Bauern gab es einen Ruck. Er sah ihn groß an. + +"Bringt aber sein Zeug schon übernächst's Monat!" sagte Michael wieder +und wandte sich zum Gehen. + +Der Reinalther wurde jäh bleich. Sein Kinn bebte. Seine Unterlippe +rutschte etwas herunter. + +Hilflos und bittend sah er auf Michael. + +"Geht's gar nicht, daß wir die paar Kammern hinten kriegen könnten und +bleiben dürfen!" brachte er kleinlaut heraus. + +Michael schüttelte schweigend den Kopf. + +"Gar nicht?" + +Michael drehte sich um, sah ihn kalt an: "Könnt's ja am End zum Schmied +einzieh'n. Obenauf sind noch drei Kammern. Nachher seid's mit'm Söllinger +beieinand! Überleg' dir's und laß mir's wissen!" + +Und ehe der Bauer etwas erwidern konnte, war er draußen. + +Eine Weile stand der Reinalther wie besinnungslos da. Dann ging er zum +Lechlwirt hinüber. + +Der Gleimhans und der Söllinger saßen da. Schüchtern und ganz von außen +herum erkundigte sich Reinalther nach den Räumlichkeiten im Schmiedhaus. + +"Mußt' raus?" fragte der Lechl. + +Stumm nickte der Befragte. + +"Ins Schmiedhaus?" + +"Schier," erwiderte der Bauer und setzte hinzu: "Hat einen Pächter fürs +Frühjahr." + +Gleimhansens Augen glänzten listig. Er hob den Kopf und lächelte +schadenfroh. + +"Vom Schmiedhaus ist gar nicht mehr weit ins Gemeindehaus!" warf er +boshaft him. + +Der Söllinger rückte sein Gesicht empor. + +"Ja--!" sagte der Gleimhans, ihn messend, "samt eurem Geld jagt er +Euch in die Mausfall'n, wenn's ihm paßt!" + +Die beiden anderen Bauern saßen dumpf da und starrten schweigend ins +Leere. Der eine erhob sich, und der andere. Und beide gingen ohne ein +Wort.-- + + +VI. + +Wiederholte Male hatte Michael zum Gleimhans geschickt. Er selbst kam, +der Italiener kam, die Magd kam. Es half alles nichts. Der Bauer gab +sein Anwesen nicht her. + +"Wenn nochmal einer kommt, kann er seine Knochen vor der Tür +zusammenkratzen!" brüllte er das letztemal wild. Es kam keiner mehr. + +Michael hatte nach und nach das ganze Dorf aufgekauft. Die Gehöfte und +Häuser lagen brach und still da. Die ehemaligen Besitzer waren entweder +fortgezogen, gestorben oder arbeiteten gegen Taglohn auf der Bahnstrecke. +Die Grundstücke wurden von den Ferkelburgleuten beackert, bebaut und +bewirtschaftet. + +Im ehemaligen Reishof logierte eine Hausiererin und führte einen +Kramladen. In den sonstigen Häusern wohnten Arbeiter oder auch die +früheren Besitzer, gingen in der Frühe heraus und abends hinein. Die +Mauern bröckelten ab, die Gärten verwahrlosten, alles lag verödet und +ruinenhaft da. + +Michael selbst saß den ganzen Tag in seinem Turmzimmer, üher die +Protokolle und Urkunden gebeugt, die er beim jedesmaligen Kauf eines +Anwesens vom Notariat ausgehändigt bekam. Nur der Italiener und die +Magd, die ihm das Essen brachte, sahen ihn. Alt und verfallen sah er +aus. Zusammengeschrumpft war seine Gestalt. + +Nachts, wenn der Mond silbern üher die Talmulde glitt, stand er am +Turmfenster und überschaute seinen Besitz. Dann glomm manchmal in +seinen Augen etwas wie Triumph. Nur wenn sein Blick auf das +Gleim-Anwesen fiel, wurde es finster auf seinem Gesicht.-- + +Aus der Erde brach der Frühling. Die Magd kam zum Reinalther und +brachte die Botschaft, der Bauer solle sich zum Ausziehen +bereitmachen. + +"Jaja, in Gott's Nam'! Sagt's nur, ich will ins Schmiedhaus!" gab ihr +der Bauer als Antwort mit in die "Ferkelburg". + +Am selben Tag trottete Michael eilsam auf den Kramladen zu und +verschwand scheu in dessen Tür. Die Krämerin schrak förmlich zusammen, +als er so dastand. + +Aus einem grauenhaft gelben Gesicht starrten verkohlte Augen auf sie. + +"Gib mir zwei Kalbstrick, Irlingerin, aber gute!" sagte Michael kurz. + +Die Krämerin legte einen Packen Stricke hin. + +Michael prüfte sorgfältig einen um den andern. + +"Die!" stieß er hastig heraus, warf das Geld him und nahm zwei +Stricke. + +"Tragen denn gleich zwei Küh' diesmal?" fragte die Krämerin endlich. + +Aber Michael nickte nur und ging. Eilig stelzte er durchs Dorf. + +Als er die Tür seines Turmzimmers zuschloß, zog er die Stricke aus +seiner Brusttasche, prüfte sie nochmal und legte sie in den Schrank, +schloß ab. Offenbar befriedigt atmete er auf, trat an den Schreibtisch +und las wieder die Urkunden.-- + +Gegen Abend kam der Pfarrer, der lange nicht mehr dagewesen war, in +die Ferkelburg. Mißtrauisch und etwas verwirrt empfing ihn Michael. + +"Das Kloster Sankt Marien möchte den Söllingerhof, Michl?" sagte nach +einer Weile Schweigens der Geistliche. + +Michael schüttelte den Kopf. + +"Ist nicht recht, daß alles so tot daliegt, Michl!" ermahnte der Pfarrer. + +"So?" sagte Michael hartnäckig, und seine Falten zuckten fast höhnisch. + +"Wirst ein alter Mann, Michl! Was tust mit den vielen Häusern!" murmelte +der Geistliche hilfloser. + +"G'richt halten!" stieß Michael gedämpft heraus und heftete seine Blicke +funkelnd auf den Pfarrer. Der stand beklommen da und atmete schwer. + +"Unser Herrgott wird dir Dank wissen, Michl!" fand er endlich das Wort +wieder und erinnerte abermals an den Söllingerhof. + +"Steht zu arg in der Sonn'", murmelte Michael noch leiser und +unheimlich heraus, "und wirft mir den ganzen Schatten in die unteren +Stuben!" + +Er stand gespannt da, bewegte sich nicht. Der Geistliche wurde +plötzlich blaß, als er das eingeschrumpfte, gelbe Gesicht im matten +Licht sah. + +Jetzt funkelten Michaels Augen wieder und seine Lippen gingen auf und +zu: + +"Hat einmal meinem Vater gehört, nicht?! ... Und der Söllinger hat es +ihm abgekauft, nicht?! ... Und--der Gleimhans hat ihm Geld 'geben. +--Vieh hat er dazumal geschachert, der Söllinger, nicht?! Und-und +hat's meinem Vater langsam abgekauft--langsam, nicht?! ... War ja ein +Hüttl, damals--nicht!?--" + +Er hielt inne. Der Pfarrer stand wortlos da. + +"Und nachher hat er das Saufen angefangen, mein Vater, nicht?!" +keuchte Michael fortfahrend heraus: "Und dann haben's meine Mutter ins +Gemeindehaus, und--und nachher haben sie sie auslogiert--ist +gestorben, weil unsere Kuh krepiert ist! Hat's nicht mehr erleben +können ... nicht!?"-- + +Jetzt stockte er plötzlich, hielt die Worte zurück und erbleichte. +Wieder bohrte er seine mißtrauischen Blicke in das Gesicht des +Pfarrers. Eine Unruhe fieberte auf seinen Falten. + +Auf einmal, ohne des Pfarrers zu achten, stieß er heraus: "So dunkel +ist's da unterm Turm wie im Gemeindehaus bei meiner Mutter +dazumal....!?"-- + +"Michl!" rief der Pfarrer nur mehr. Dann ging er.-- + +Michael stand eine Zeitlang in der gleichen Haltung da, dann zuckte er +erschreckt zusammen und brach in seinen Lehnstuhl. + +Später rief er den Italiener. Es war schon Nacht draußen. Er steckte +die Kerze an und zog die dichte Gardine vor. + +"Hast immer geladen in der Sandgrube, nicht?" fragte er den Italiener. + +Der nickte. + +"Bist krank, Guisepp'! Mußt Ruh' haben," redete Michael gut auf ihn +ein und ließ ihn nicht aus den Augen. + +Guiseppe stand verlegen und verständnislos da. + +"Das Söllingerhaus da drüben, Guisepp', das soll dir gehören, wenn'st +--wenn'st nochmal sprengst, bloß mehr dies einzige Mal!" sagte Michael +aschfahl und öffnete seinen Schreibtisch, legte drei Pulversäcke aufs +Pult. + +Der Italiener starrte ihn groß und schweigend an. + +Als dies Michael bemerkte, sprudelte er fast bittend und hastig +heraus: "Haben dich nie erwischt, Guisepp', nie! Hast dich immer +rausgemacht--wirst's auch diesmal fertigbringen!"-- + +Und dann setzte er ihm den Plan auseinander. + +Mitten im Gespräch horchte er jäh auf. Fern aus dem Dorf hörte man +Wagengeknatter und "Hü"-Rufe. Der Gleimhans fuhr die Habe Reinalthers +ins Schmiedhaus. + +"Geh!" sagte Michael hastig zum Italiener. Mechanisch verließ dieser +das Zimmer.-- + +Bis tief in die Nacht hinein schleppten der Gleimhans, der Söllinger +und die Reinalther-Eheleute die Möbel in die wackeligen Kammern im +ersten Stock des Schmiedhauses. + +Es war eine windige, unruhige, stockdunkle Nacht. Manchmal trug eine +Windwelle Laute und abgerissene Sätze herüber zur "Ferkelburg". + +Michael ging zitternd im Turm auf und ab. Auf und ab. Von Zeit zu Zeit +neigte er sich über den Schreibtisch und schrieb noch ein Wort oder +einen Satz auf einen aufgeschlagenen Bogen Papier. + +Jetzt riß der Wind die Schläge der Kirchturmuhr auseinander. Michael +tappte ans Fenster, hob die Gardine ganz schmal beiseite und band den +Strick an den Fenstergriff. + +Und sah scharf und spähend ins Dunkel hinaus. + +Da krachte es furchtbar. Ein riesiger Feuerklumpen brach in der Gegend +des Schmiedhauses schleudernd in die Schwärze der Nacht.-- + +Und um die runde Anhöhe hetzte eine lange Gestalt auf die Ferkelburg +zu. + +Michael faßte den Strick und legte seinen Hals in die Schlinge. Dann +brach er ins Knie und hob seine ineinandergerungenen Hände zur Höhe. +Sank.-- + +Mit jener grauenhaften Blässe, die oft jäh von furchtbarer Ahnung +Erschütterte befällt, sagte der Pfarrer am andern Tag vor der Leiche +des Erhängten: "Alle Dinge sind eitel!" Und hob den Blick gen Himmel. + +Auf dem Schreibtisch lag ein Testament, das Guiseppe die ganzen +Besitzungen und Hinterlassenschaften Michaels zuerkannte.-- + + + + +EIN DUMMER MENSCH + + +I. + +Seltsam sind Menschenwege. Kalt ist der Winter, heiß der Sommer, die +Zeit läuft weg und Alter und Verbitterung hocken in den Knochen, eh' +man sich richtig umsieht. Und schließlich--was ist's gewesen, wenn man +nachdenkt?-- + +Misere, Misere, Misere! + +Zufall ist alles--und nichts.-- + +Vor zweieinhalb Monaten noch--hol der Teufel diese kalten, widerwärtig +regnerischen Herbsttage!--trottete Adam Högl verdrießlich durch die +dumpfen Straßen, überlas ein um das anderemal die Karte des +Arbeitsamtes, die ihm anbefahl, daß er sich beim Kranenwerk als +Erdarbeiter zu melden hätte, zerknüllte sie ebensooft in der Tasche +und trat gedankenlos in die Kneipe der engagementslosen Artisten "Zur +wilden Rosa." + +Widerlich, wie er jetzt auf einmal noch quälender die kalte Nässe an +seinen Gliedern herabrieseln fühlte! Und ausgerechnet mußte noch dazu +die selbstspielende Geige unausgesetzt kratzen, daß es durch Mark und +Bein ging! + +Die rauchige Luft war zum Schneiden dick hier und ein Lärm herrschte +an allen Tischen wie auf einem Jahrmarkt. + +Knirschend und ohne sich um die geschwätzige Gesellschaft zu kümmern, +ließ sich der Eingetretene auf einen Stuhl fallen und schwang seinen +patschnassen Hut ein paarmal derart wütend him und her, daß die +herausgepeitschten Tropfen wie aus einem Weihwasserpinsel herumflogen. + +"Pilsner oder Most?" schrie der Kellner üher die Köpfe hinweg. + +"Pilsner!" brummte Högl finster zurück und machte sich breit. "Hoho!" +murrte jemand beinahe drohend am Tisch, und ärgerliche Gesichter hoben +sich. Auf einmal rief eine bekannte Stimme: "Mensch! Högl!" und Adam +Högl sah verwundert auf. + +"Högl! Mensch! Adam!" schrie es abermals und ein Herr mit rundem, +lachendem Gesicht tauchte an der anderen Tischseite auf, beugte sich +behend in die gedrängten Leute: "Erinnerst du dich? Krull, vierte +Kompagnie, Zimmer achtundzwanzig!? Bauchreden!" Adam Högl faltete +schnell die Stirn. + +Ja, es stimmte: Im Zimmer achtundzwanzig der vierten Kompagnie lag er +neben Ferdinand Krull und betrieb als Liebhaberei die gelegentlich +erlernte Kunst des Bauchredens. Er entsann sich ganz deutlich, und +unwillkürlich, fast von selbst entquollen ihm einige Laute. Er saß +gerade aufgerichtet da, mitten im plötzlich verstummten Kreis der +Gesichter, mit geschlossenem Mund--nur der herausgedrückte Punkt +seines Halses bewegte sich etwas auf und ab--und tief unten in seinem +Bauch redete es. + +"Mensch, du kannst noch!? Komm sofort mit! Du wirst meine beste +Nummer!" jubelte jetzt der ehemalige Barkellner Ferdinand Krull, und +ehe die verblüffte Schar sich's richtig versah, trabten die beiden +eilsamen Schrittes aus der Kneipe, stiegen in das bereitstehende Auto +und weg waren sie.-- + +Am selben Abend schon stand Adam Högl auf der grell beleuchteten, +geräumigen Bühne des Krullschen "Paradies-Kasinos" und johlte seine +Bauchstimmen-Witze in das bunte, glänzende Publikum, das sich +allabendlich hier zusammenfand. + +Flüchtig zurechtgemacht, im zu großen, faltigen Frack des beleibteren +Krull, mit viel zu weitem Kragen, der sich wie ein schmaler weißer +Kummet um seinen dürren, langen Hals wand, in einer karierten, +schnürenden Weste, einer billigen gestreiften Hose und den quälend +drückenden Lackschuhen des Wirtes--so stand Adam Högl, eine beachtete, +wichtig gewordene Einzelperson,--wie aus einer tiefen sumpfigen +Finsternis plötzlich auf einen strahlenden, weithin sichtbaren Gipfel +gehoben--inmitten der sorglosen, großen, prächtigen Welt. + +Musik fiel ein, säuselte süße, schmeichelnde Melodien durch den Raum, +tuschte, brach ab--der Vorhang peitschte in die Höhe. Vereinzeltes +Stühlerücken noch, leise verschwingendes Gläserklirren und andächtige +Stille minutenlang. Adam Högl riß die Augen weit auf. In der +blauüberleuchteten, abgedämpften Zuschauergruft tauchten puppige +Herrenrücken auf, kühngekleidete Damen, ebenmäßige, gepflegte, +wunderbar abgetönte Gesichter und lange, glitzernd beringte Hände +mit Elfenbeinfarbene Nacken bogen sich waghalsig. + +Herausfordernde, runde, nackte Arme bewegten sich lässig +undentblößte, leicht gerötete Brüste hoben und senkten sich wie +weiche, märchenseltsame Lichtflächen, die ein fächelnder Wind +arglos um schwirrte.-- + +Mit Gewalt mußte Adam Högl an sich halten. Der Atem stand ihm still. +Schweiß war auf seiner Stirn. Mühsam preßte er endlich die ersten +Laute heraus. + +Es räkelte. + +Sein Herz klopfte auf einmal wie im Galopp. Mit ganzer Kraft straffte +er sich, gröhlte unbeholfen den ersten Witz heraus, begann ohne +Zwischenpause den zweiten. + +Es räkelte schon wieder. Seine Knie begannen zu schlottern. Er biß die +Zähne fest aufeinander, preßte--preßte die Laute, die auf der Kehle +saßen, wieder zurück, hinunter in den Bauch und hatte endlich den +zweiten Witz. + +Das Räkeln verstärkte sich, verflachte zu einer allgemeinen +Bewegung. Schon drohte er umzufallen--da brach ein berstender, +frenetischer Jubel üher ihn her, ein Gelächter wie aus einer +vielstimmigen Riesentrompete, ein betäubendes Klatschen, als sei hoch +auf einem Berge die Schleuse eines gehemmten Flusses mit einem Male +jäh aufgerissen worden und die ganze Wasserlast falle sausend in die +Tiefe. + +Er war gerettet. + +Er atmete auf, hielt inne, ließ den Jubel verrauschen und jetzt floß +sein ganzer Mut und Witz berückend sicher aus ihm heraus, hinab in die +Gruft und wieder zurück an seine schweißnasse Brust wie +verhundertfachter, brausender Dank. + +Er hatte gesiegt. + +Einen solchen aus allen Geleisen geratenen Beifall hatte das +"Paradies-Kasino" noch nie erlebt.-- + +Vollkommen erschöpft schleppte sich Adam Högl am Arm seines ehemaligen +Regimentskameraden immer wieder durch die getürmten Blumenhaufen, vor +bis an die Rampe, kaum noch fähig, sich zu verbeugen. Und immer, immer +wieder zuckte der Vorhang, fuhr sausend auseinander und in die Höhe. + +Zuletzt sah es aus, als hätten sich alle Menschen da unten +übereinandergeworfen und in das wüste, kreischende Plärren mischte +sich endlich die Musik undschwoll an zu einem mächtigen Choral. Und +regelmäßiger, breit und den ganzen Raum erbeben lassend sang es aus +allen Kehlen zur Höhe: "Ooo du Pa--a--aradies! Pa--a-aradies +--Kasi--ino--o--o!" daß Adam Högl buchstäblich wie halbtot seinem +Kameraden in die Arme sank und aus tiefstem Glück erschüttert auf +johlte: "Pa--a--aradies!"-- + +Einige Tage später konnte er an allen Litfassäulen in halbmetergroßen +Buchstaben seinen Namen lesen und darunter stand: "Die große Nummer". +Und jeden Abend erntete er den gleichen Beifall. Schon in der Mitte +des zweiten Monats war auf allen Plakaten, quer üher "Die große +Nummer" geklebt, zu lesen: "Zum dritten Male prolongiert!"-- + + +II. + +Ohne es selber recht innezuwerden, rückte Adam Högl in eine andere +Menschen schicht hinauf. Er trug nunmehr seidegefütterte Anzüge der +besten Schneider, ging mit gelassener Selbstsicherheit durch die +Straßen und grüßte mit ausnehmender Vorliebe auffällig gestikulierend +und so geräuschvoll, daß alles stehen blieb und lachen mußte, vornehme +Gäste des "Paradies-Kasinos". Fast jeden Abend nach seinem Auftreten +saß er an irgendeinem Tisch, inmitten einer fidelen Gesellschaft, +trank je nach der Art seiner Gastgeber entweder herablassend beiläufig +oder mit einigen Brusttönen lobender Aufmerksamkeit ältesten Wein, +Bekanntesten französischen Sekt, jeden Nerv kitzelnde Liköre und sog, +immer witzgerecht, mit geübt bäuerlicher, biederer Bescheidenheit alle +Bewunderung der Gäste in sich hinein. + +Seine berechnete Natürlichkeit wirkte bestechend bei Damen, alten +Lebemännern und Industriellen. Er zotete, wenn ihn ein abfälliger, +herabmindernder Witz traf, üher alles hinweg mit jenerunerschütterlichen, +nie angreifbaren, hämischen Trockenheit, die entwaffnet. Mit dem ganzen +unterdrückten Instinkt eines Menschen, demdie Angst vor dem +Wiederzurücksinken in den Sumpf Spannkraft gibt, beobachtete er, erwog +die Möglichkeiten neuer Bekanntschaften, erlistetesich notwendige +Gebärden und Manieren, machte sich gutwirkende Kniffe zunutze +und galt bald als der gewiegteste Weinkenner und großartigste, +bewunderungswürdigste Zecher, mit dem es eine Lust war, Gelage zu halten. + +Freilich, es gab auch Abende ohne Einladung, wo er am Künstlertisch in +der zerwetzten Nische saß und sich mit Kollegen und Kolleginnen, die +mit ihm das Programm ausfüllten, unterhielt. Artisten aus aller Herren +Länder, dicke Sängerinnen, zierliche Chansonetten und schwergebaute +Ringkämpfer waren da. Intrigen, Neid und Intimitäten gab es da, +Vertraulichkeiten und Klatsch. Mit teilweise unverhohlenem oder auch +leisem, verstecktem, stechendem Spott sahen diese weltbereisten, mit +allen Wassern gewaschenen Leute auf den Neuling herab. Es war +unerquicklich und feindselig in dieser Nische, alles deutete zurück in +die Misere. + +Draußen, im Zuschauerraum, vertrugen sich die dickaufgetragenen +Freundlichkeiten vorübergehender Kollegen fast lächerlich leicht. +Während er nicht selten, wenn er spät nachts den Künstlertisch +verlassen hatte und heimwärts ging, zukunftsbesorgt und entmutigt war, +lebte er als Gast an den Tischen der Kasinobesucher stets auf, schaute +den vorübergehenden Kollegen kühn und dreist in die Augen, warf ihnen +treffsichere Zoten zu und lächelte unverschämt, wenn er auf ihren +Gesichtern die nur schwer zurückgehaltene Wut aufsteigen sah. Hier, in +diesem Meer, dessen Wellen ihn unausgesetzt emporhoben, fühlte er sich +völlig geborgen, unverfolgbar und mächtig. + +Adam Högl war kein Optimist. "Nichts dauert ewig und jeder muß sich +nach der Decke strecken," sagte er bei jeder Gelegenheit mit leiser +Ironie, doch handelte er danach. + +Gelegentlich eines wüsten Gelages mit dem Millionär van Haarskerk und +seiner Gesellschaft in einem abgedämpften Hinterraum des +Paradies-Kasinos ließ er sich kaltes Wasser kübelweise üher den Kopf +schütten, spielte mit Meisterschaft den völlig Betrunkenen, trank +gesalzenen Sekt ohne eine Miene zu verziehen, ertrug zur Steigerung +des Vergnügens viele, viele Stöße in den hingehaltenen Bauch und +tanzte zuguterletzt patschig und negerhaft wie ein Eunuch im Hemd +herum, daß sich die ganze Gesellschaft vor Lachen wälzte. + +Von da ab saß er jeden Abend am Tische van Haarskerks, duzte sich mit +diesem. Der Millionär war eine besondere Art von Mensch, Er hatte der +kleinen Kabarett-Diva Yvonne eine Villa draußen an der Peripherie der +Stadt gebaut und vertrieb sich die Zeit damit, mit ihren früheren +Bekannten Gelage zu halten, ausgesuchte Gerichte zu kochen und +Autotouren zu machen. Durch sein Verhältnis mit der Diva war er im +Laufe einer ganz kurzen Frist zu einer Art Stadtbekanntheit geworden. +Meistens kam er mit zwei oder drei vollbesetzten Autos im +Paradies-Kasino an. Allerhand zweifelhaft gekleidete Leute begleiteten +ihn, alles frühere Geliebte Yvonnes--: abgewirtschaftete Studenten, +die sich Dichter nannten, einige Kunstmaler, ehemalige Kabarettleute, +undefinierbare Witzbolde und schließlich noch einige Herren, die stets +neueste Mode am Leibe trugen, gepudert waren und das Einglas ins Auge +geklemmt hatten. Nach Schluß der Vorstellung fuhr man nicht selten mit +noch Hinzugekommenen, momentan die Langeweile vertreibenden +Eingeladenen nach Hause, um dort weiterzutrinken, zu diskutieren oder +Bakkarat zu spielen, his die Frühe fahl ihr Licht durch das dicke +Glasdach des Wintergartens auf die Zecher herabfallen ließ. + +Adam Högl faßte festesten Fuß in diesem Hause, ja, zählte geradezu zur +Familie, lernte fabelhafte Tafeln kennen, überschüttete die gelassene +Gleichgültigkeit, mit der man hier Unsummen in die Spieltischmitte +schob und wieder wegzog, mit seinen herabmindernden Späßen, trank +ebenso wählerisch wie selbstverständlich Whisky pur wie Kognak von +1875, Mit dem ihm eigenen Geschick sekundierte er, wenn Yvonne ihre +tausendmal erzählten Bettgeschichten und anzüglichen Witze erzählte. +Sein trainiertes Gelächter riß jedesmal mit und erleichterte den nur +mit Mühe die Langeweile verbergenden, devot Beifall spendenden +Günstlingen ihre schwierige Aufgabe auf das angenehmste. + +Oft und oft kam es vor, daß die überreizte Diva eine Vase durch eine +Glastür warf, Unheil stand drohend--da auf einmal trompetete das +Lachen Högls und glättete im Nu den Sturm. + +Es gab Nächte in diesem Hause mit ihm, die begannen mit einem wüsten +Balgen zwischen Yvonne und van Haarskerk, mit einem Zusammenschlagen +kostbarster chinesicher Zierrate, mit einem Demolieren von Türen und +Möbeln und endeten wie etwa eine unvergleichlich lustige Sylvesterfeier. + +Hier war ein reicher Fischplatz. Adam Högl warf vorsichtig seine +Angeln und Netze aus.-- + +"Denn nichts dauert ewig und jeder muß sich nach der Decke strecken!" + + +III. + +Die Tage und die Nächte liefen davon. Viel zu schnell. Sie schwebten +vorbei, ohne sich voneinander zu unterscheiden. Es war ein +unaufhaltsames Fließen. Es gab keinen festen Punkt, kein Nachdenken, +keinen Widerstand. + +Allmählich, mit jedem Tag bemerkbarer, ließ der Beifall nach. Es brach +jetzt kein plötzliches Gelächter mehr aus. Es war keine Stille mehr in +der Zuschauergruft, wenn Högl auftrat. Man sandte auch kein resolutes +"Pst!" mehr aus aufmerksamen, lauschenden Tischen, wenn die Kellner +servierten. Gelangweilte Gesichter sah man ringsum. Es schwätzte +jedermann während des Vertrags. Wie ein böses Gewissen rieselte durch +den erschauernden Körper jene penetrante Peinlichkeit, die immer +einsetzt, wenn man sich hilflos einer stärkeren Macht gegenübersieht +und es sich nicht eingestehen will. + +Es war acht Tage vor dem Ende des dritten Monats, und nichts wieder +hatte Krull von abermaliger Prolongierung erwähnt. Adam Högl stand +benommen hinter dem eben herabgefallenen Vorhang und wischte sich den +Schweiß von der Stirn. Es klatschte mäßig. Der Vorhang zuckte fast +mitleidig und wurde rasch noch einmal hochgezogen. Es klatschte etwas +mehr, als Högl dankte. Der Vorhang fiel wieder herab. Bagg--bagg--bagg +--bagg!--schon schwammen die Redegeräusche, das Klirren der Gläser, +das Stühlerücken und Surren der Ventilatoren darüber hinweg, und alles +verebbte zu einem gleichmäßigen Geplätscher. In acht Tagen vielleicht +stand Krull, der in der letzten Zeitmerkwürdig schüchtern auswich und +sich selten sehen ließ, vor ihm und sagte ungefähr: "Adam, du weißt! +Mein Publikum will Abwechslung. Ichbin Wirt, ich muß mich nach ihm +richten." + +Man war ihn satt!--Er konnte wo anders hingehen?--Schließlich--er +hatte noch etwas Geld, Anzüge. Es ging eine Zeitlang. Dann?-- + +Der Boden schwankte, man glitt aus, man ließ sich dahintreiben, dumpf +und verbittert auf einen nächsten jähen Zufall wartend. Die fast +märchenhafte Leichtigkeit, mit der man üher Nacht so hoch getragen +worden war, hatte die Energie vernichtet.--Adam Högl knirschte und +sah scheu rundherum. Die Angst kam von der Magengegend zur Gurgel +heraufgekrochen. Mit einem Ruck riß er sich zusammen und schritt zur +Tür. Da kam der schlanke Kellner und bat ihn in die Loge des +Millionärs. Er atmete erleichtert auf. "Ich komme gleich," sagte er +schnell und ging in die Garderobe. + +Nach einigen Minuten schritt er die Logenreihen entlang und hatte +schon wieder die breitlachende, humorvolle Miene, die man an ihm +gewohnt war. Aus verschiedenen Tischen nickten ihm Leute grüßend zu, +und scheinbar ganz in seligster Wonne erwiderte er. + +Die Haarskerksche Loge war wie gewöhnlich gepfropft voll. Jeder der +Herren lachte bereits das knallige Lachen Adam Högls. Das gab Mut. +Noch war man also nicht ausgelöscht.-- + +"Ah--haha!!" krächzte der Millionär aufstehend und machte Platz. + +"Was machst du?" fragte Yvonne den Angekommenen. + +"Einen schlechten Eindruck," erwiderte Högl trocken. Die Unterhaltung +belebte sich, wurde aufdringlich laut. + +"Psst! Psst!" zischte es aus den gegenüberliegenden Tischen, denn eben +trat die neuengagierte Sängerin auf und trillerte die ersten Laute. + +"Ah--a--a--ah--ah--a--a--aa!" sang Högl boshaft mit angestrengtester +Kopfstimme nach und der ganze Tisch kreischte hellauf. + +"Psst! Psst!" Adam Högl entdeckte mit einem flüchtigen Blick drüben in +einer dunklen Ecke Krull mit finsterem Gesicht, wandte sich schnell +wieder weg. + +"Ein Türteltäubchen! Ein Täubchenturtel!" gröhlte er sehr laut. + +"Ru--u--uhee! Psst!" brummte es noch energischer und empört gehobene +Gesichter tauchten auf. + +"Mistkäfer! Schweinebande!" knirschte Yvonne dumpf in den Tisch und +rief lauter: "Anton zahl'! Wir wollen gehen! Sofort!" + +Der Kellner kam eilends herangeflitzt. Sehr geräuschvoll bezahlte der +Millionär und die ganze Loge erhob sich. Alle tappten im Gänsemarsch +knatternd auf den Ausgang zu. + +"Psst! Psst! Ru--uhe!" surrte es ihnen nach. An der Tür stand Krull, +verbeugte sich devot und wollte entschuldigen. + +"Schon gut! Schon gut! Wir werden's uns merken!" schrie Yvonne und +befahl resolut: "Kommt! Laßt euch nicht aufhalten!" Der Trupp stürzte +hinaus. "Ich möchte heut' nur Högl, Kotlehm und Raming, Anton! Laß die +andern nach Hause fahren! Wir wollen unter uns sein!" sagte Yvonne vor +dem Auto. Der Millionär rannte auf die anderen Begleiter zu, sagte +ihnen dies, kam wieder zurück, stieg rasch ins volle Auto und gab das +Zeichen zum Abfahren. + +"So sind alle Wirte, weißt du! Pack! Pack!" schimpfte Yvonne während +des Dahinfahrens. + +"Eben! Eben!" brummte Högl in tiefem Baß. + +"Ein solches Miststück mit ihrem Geplärr! Na, ich danke!" + +"Eben! Eben!" sekundierte Högl befriedigt. + +Der Maler Kotlehm lachte gewaltsam. + +"Und diese Preßsackbrüste, pw! Diese Wurstfinger, äh!" zeterte Yvonne. + +"Gulasch! Gulasch mit Kartoffel!" murmelte Högl. Man lachte +allenthalben. Yvonne warf ihre Arme hingerissen um Högls Nacken und +drückte ihr kaltes geschminktes Gesicht an seine Wange, küßte ihn +breit und feucht, daß es schnalzte: "Högl, Du bist mein Mann!" + +Die Stimmung war wiederhergestellt. + +"Was trinken wir?" fragte van Haarskerk. + +"Sekt! Sekt!--Ich möchte heute schwimmen im Sekt--und dann Whisky!" +rief Yvonne emphatisch. + +Das Auto fuhr surrend durchs Tor. + + +IV. + +Die Dienerschaft war zu Bett gegangen. Es war still. Überall herrschte +ein Geruch nach Zigaretten, Parfüm und Alkohol. Man ließ sich in die +tiefen, nachgiebigen Fauteuils um den offenen Kamin im Rauchzimmer +fallen. Jener Punkt war erreicht, wo alles öde, langweilig, dumm und +trist zu sein scheint. Die Stimmung war zweideutig und unentschieden. +Es hieß geschickt eine Krise zu vermeiden, die scharfen, vorgeschobenen +Riffe der Überreiztheit gewandt zu umsegeln. Noch zwei oder drei +schweigende Minuten und man stand vielleicht auf, gähnte dösig und ging +zu Bett--oder aber auch Yvonne stieß zufällig mit dem Fuß wo an, +knirschte gehässig und schmiß eine Vase kaputt. Es gab Skandal und alles +war verloren, verhunzt. "Ich hab' Hunger," sagte Yvonne bereits bedrohlich. + +Adam Högl ergriff die Gelegenheit und brummte trocken: "Ein frugales +Mittelstück! Sehr richtig! Weder Früh--noch Nachtstück--ein Mittelstück, +ein Stück in der Mitte!" Man lachte lahm. Der Maler Kotlehm und der Lyriker +Raming bewegten sich etwas aufgefrischter: "Ja, das wäre nicht dumm!" + +"Geht!" befahl Yvonne Högl und dem Millionär. Die beiden waren +aufgestanden. "Komm! Kommen Sie, Herr Küchenchef! Wir wollen--Na, die +Herrschaften, na--na!?" trompetete Högl in seinem breiten Baß, als er +mit van Haarskerk in die Küche ging. Während der Hausherr eineinhalb +Dutzend Eier kochte, schmierte Högl Butterbrote, strich Kaviar darauf, +schnitt Schinken und Seelachs. + +Der Sekt war bereits abgekühlt. + +Als er die Gläser und das Tablett mit den Speisen in das Rauchzimmer +trug, hatte sich Adam Högl wieder ganz in der Gewalt und bediente +behend wie ein Servierkellner. Man griff gierig zu, schmatzte. Die +Stimmung hob sich. + +"Und ick?!--Ick hock mir ins Klosette rin und kotze alle Spucke +rinn!--rinn!--rinn!--" johlte Högl wie ein Grammophon mit wässerigem +Mund. Und: "--rinn!--rinn!--" wiederholte der ganze Chorus. + +Zufällig warf der Millionär seine Eierschalen in großem Bogen zur +Decke. Sie fielen in den Spiegel oberhalb des Kamins und zischten +auseinander. Belustigt darüber schleuderte Yvonne ihr Ei in die +glitzernde Fläche. Benng! klatschte es spritzend auseinander. Einen +Moment gafften alle unschlüssig. + +"Hoi--j! Hoi--j!" brüllte Högl unverblüfft wie ein Ausrufer und warf +ebenfalls sein Ei in den Spiegel. Das gefährliche Riff war umschifft. +Alles gröhlte mit einem Male mitgerissen. Patsch--Patsch--Patsch! +Jeder warf sein Ei in den Spiegel. Es klatschte um die Wette. Yvonne +schüttelte sich berstend. Adam Högl hüpfte vor Vergnügen. Wie doch +alles einfach ist!--"Das ist--um es richtig zu sagen--der Kampf mit +dem Spiegel oder der verspritzte Eidotter auf dem Kamingesims!" +plapperte Raming rülpsend. + +"Hahaha--ha! Der Lyriker wird witzig!" stichelte der Millionär. + +"Der Spiegelkrieg! Das Krieglspielchen! Das Spielchen mit dem +Kriegl-Spiegl!" gluckerte Högls Bauchstimme. Ein hemmungsloses +Gelächter peitschte auf. Man trank überschnell und mit vollstem +Behagen. Adam Högls Gesicht glänzte triumphierend. Sehr gewandt +spuckte er seinen Mund voll Sekt zur Decke. Ein dicker Strahl war's. +Im Nu folgten die ändern. + +Die Stimmung hatte einen ersten Höhepunkt erreicht. Es galt, ihn zu +halten. Adam Högl begann zu zoten. + +--Dem Lyriker Raming gab der Millionär seit einem Jahr ein Stipendium, +weil Yvonne dessen bastardhaft verfaltetes Gesicht gelegentlich einmal +als "angeilend" bezeichnet hatte. Des Malers Kotlehm vulgäre Schönheit +entzückte die Diva dergestalt, daß sie van Haarskerk veranlaßte, ihm +ein Atelier zu bauen. Von anderen noch wußte Adam Högl, daß sie +beträchtliche Summen wegen eines Witzes oder dergleichen erhalten +hatten. + +Und er hatte sich Wasser kübelweise üher den Kopf schütten lassen. + +In den Bauch treten lassen! + +Und in acht Tagen?-- + +Raming rülpste, ließ den Kopf haltlos auf seine Brust herabgleiten, +sank zusammen und schlief ein. + +"Der ausgewundene Strumpf zieht sich in die Vorhaut zurück!" rief Högl +breit, überprüfte unbemerkt die Gesichter der ändern. + +"Die Inspiration kommt im Schlaf!" warf der Millionär beiläufig him. + +"Weißt du, Anton," sagte die Diva schnell und aufgeräumt, "ein +Spielchen wäre jetzt richtig angebracht!" + +"Ein Bakkarat?--Ja, das wär' jetzt sehr nett!" sagte der Maler Kotlehm +ebenso. + +"Sehr richtig! Gewiß die Damen! Gewiß die Herren! Die Dammenherren, +die Herrendammen!" plapperte Högl und verbeugte sich wie ein Lakai: +"Adam Högl übernimmt die Saufregie, bitte, bitte meine Herrschaften, +bitte!" + +Das Schnarchen Ramings sägte friedlich und gleichmäßig. Yvonne, +Kotlehm und der Millionär setzten sich um das Spieltischchen, legten +die Banknoten in die Mitte. + +"Prost, Herr Kunstmaler, Herr Kotstengel!" rief Högl hämisch, hob das +volle Sektglas und schluckte hastig den ganzen Inhalt hinunter. + +Van Haarskerk gab die Karten. + +Högl, der nicht spielen konnte, ging auf und ab und brümmelte leise +singend vor sich him. Von Zeit zu Zeit lugte er flüchtig auf den +getürmten Haufen der Banknoten, die sich in der Tischmitte sammelten. +Lässig zog man die Scheine weg oder warf neue him. + +Mattblauer Tag lag schon auf den Gesimsen. Die Gärten draußen +bleichten. Stare zwitscherten leise auf. Tau stieg von der Erde hoch. +Unbehaglich tappte Adam Högl auf und ab, schielte manchmal auf die +Spieler, dann wieder durch die Fenster. + +Lästig! Die Umstände hatten einen kaltgestellt. Alles entglitt +wieder.--Jetzt verspielte Kotlehm. Erwar darauf gekommen, an jenem +Abend im abgedämpften Hinterraum des "Paradies-Kasinos", daß man auch +in den Bauch stoßen könnte. Adam Högl umspannte ihn unbemerkt mit +seinen düsteren, hassenden Blicken. + +"A--ah--ach!" stieß van Haarskerk mit boshafter Befriedigung heraus, +als der Maler abermals einen Geldschein auf den Tisch warf. + +"Prost!" rief Högl schadenfroh. + +"Donner und Doria!" lachte der Maler etwas nervös und legte die Karte +auf den Tisch. Abermals Hundert! + +Adam Högl ließ eine saftige Zote vom Stapel. Yvonne lachte. + +Wie um sich zu wehren, nahm Kotlehm das Glas und schrie feldwebelmäßig: +"He! Kuli! Einschenken!" Adam Högl schoß das Blut zu Kopf. Aber er faßte +sich schnell und hob die Karaffe: "Besser zielen!--Vorbeigeschissen!" Er +zitterte ein wenig, als er eingoß und schüttete daneben. + +"Hehe! Du! Kuli!" schrie Kotlehm und stieß ihn in den Bauch. Erquickt +schnellte der Millionär auf, nahm ihm die Karaffe. Adam Högl zog +verwirrt die Schultern hoch. Van Haarskerk lachte stoßweise und +schüttete den Rest über seinen geduckten Schädel. Eiskalt rann der +Sekt den Rücken herunter. + +Adam Högl raffte seine letzen Kräfte zusammen. Ratlosigkeit, Wut und +Verzweiflung standen auf einmal da. Wie von schwirrenden Peitschen +umsummt brummte der zerrüttete Kopf.-- + +Er drohte zu fallen, drückte noch einmal mit ganzer Gewalt den Bauch +heraus und grunzte endlich wieder. Wieder bellte das Gelächter. + +Der Maler Kotlehm sprang auf und fuchtelte mit den Armen herum wie ein +peitschenschwingender Tierbändiger. + +Das Spiel war zerrissen. Die neue Sensation hatte die Langeweile im Nu +ausgelöscht. Man umtanzte, umjohlte Adam Högl, der wie ein blinder Bär +herumtappte. Gutgezielte Stöße sausten in dessen Bauch. Van Haarskerk +kam mit einer gefüllten Karaffe, schüttete, goß, goß. + +Adam Högls Schuhe pfiffen. + +"Schurken! Sadistische Hunde!" schrie Yvonne machtlos in den +betäubenden Lärm. Raming hob schläfrig den Oberkörper und ließ sich +wieder zurückfallen. Das wüste Gebrüll zerspaltete die verrauchten +Bäume. Zwischendurch gluckste wie das Röcheln eines Verendenden Högls +Bauchstimme.--Heute noch! Noch einmal! Dann war vielleicht die +Rettung da. Man war geborgen. Eine Nacht Wasser über den Kopf--und +keine Misere mehr.-- + +Die Hose platzte, als er sich bückte. Kotlehm riß das Hemd heraus. + +"Hoij! Hoij!" zischte es von allen Seiten. Man nahm Högl in die Mitte +und stampfte durch den Wintergarten ins Freie. Schwerfällig, plumpsig +bewegte sich der Troß an den ersten Gemüsebeeten vorbei. Der Millionär +schob hinten, Kotlehm zog und zerrte an den Armen Högls. Yvonne +kreischte unaufhörlich. + +"A--ahach Mensch, laß mich doch schnaufen!" stöhnte Högl und riß +seinen Mund weit auf. Dicker Schweiß rann ihm herunter. + +"Hoij! Hoij!" schrie es wieder. Zog, zerrte. Adam Högl prustete, +hauchte. Der Maler Kotlehm riß einen Rettich aus dem Gemüsebeet und +stopfte ihn mit aller Gewalt in Högls Mund. + +Die Zähne krachten. Der Schlund kämpfte gegen das Ersticken. Blau lief +der Kopf an. Adam Högl stemmte sich würgend, spuckte, erhob beide Arme +furchtbar, stieß in die leere Luft. Es war auf einmal frei um ihn. Wie +Kettenlast fiel etwas ab. Der wachgewordene Körper straffte sich, als +renne er stahlhart gegen eine Wand und stieße sie durch. + +So leicht atmete es sich. + +Eine große Stille stand unfaßbar weiß ringsherum.-- + +Nach langer Zeit, als er die Augen öffnete, saugte die Kälte der +feuchten Erde an allen seinen Gliedern. Er lag langgestreckt in einem +Gemüsebeet. Schmutz und Blut klebten auf seinen zerschundenen Wangen. +Er schloß den Mund, schluckte. Die Gurgel würgte. Ein wüster Ekel +stieg vom Magen auf.-- + +Wie eine gemeine, grüne Qualle hockte das Haus in den zertrampelten +Beeten. Das zärtliche Rot des frühen Tages beleckte die Fenster, die +ausdruckslos vor sich hinglotzten. Es roch nach Verwesung.-- + +Taumelnd sprang er auf und rannte entsetzt aus dem Garten. Schwankend +wie ein Wrack trieb er über die Wiesen, der Stadt zu. Eine gräßliche +Schwäche fieberte in ihm. Angstvoll schleuderte er zuletzt seine Füße +nach vorne, lief, lief, was er konnte. + +Erst als er die ersten Häuser erreicht hatte, hielt er inne und wischte +sich aufatmend Kot und Blut aus dem Gesicht. + +Ruhig und nüchtern griff die Straße aus. Arbeiter gingen vorüber und +beachteten ihn kaum. Sie bewegten sich und redeten wie Menschen, die +nichts anficht. Es strömte eine seltsame Festigkeit aus ihren Gebärden +und Worten. + +Verlassen, nutzlos, ein jämmerlicher Wicht stand Adam Högl da. +Unerbittlich brach die Scham der letzten Wochen aus ihm, stieg, stieg. +Bettelnd, hilflos blickte er auf alle Menschen. + +Endlich gab er sich einen Ruck und ging wieder weiter. Sein Gesicht +bekam langsam eine größere Ausgeglichenheit. Fester, entschlossener, +mit dem erleicherten Ernst eines Menschen, der sich durch eine große +Erschütterung die Ruhe wieder zurückerobert hat, schritt er fürbaß.-- + + + + +ABLAUF + + +I. + +Man sagt, wenn sich die zwanziger Jahre aus einem Menschenleben +winden, fangen die Reibungen an zwischen natürlichem Denken und +dunklem Trieb. Es beginnt ein Aufruhr im Innern. Über die Dämme, die +die Erziehung notdürftig aufgebaut hat, bricht das Blut und je nach +der Festigkeit des Betroffenen folgt einer solchen Krise eine +Zerrüttung, ja nicht selten ein zeitweiser gänzlicher Zusammenbruch +und nur langsam, unter Weh und Qual, stellt sich das Gleichgewicht +wieder ein.-- + +Glücklich derjenige, der von früh auf Menschen, Bücher, Winke, +Erfahrungen und Anleitungen kennenlernte, die seinen Horizont +erweiterten und ihm einigermaßen dazu verhalfen, solchen +Erschütterungen nicht ganz wehrlos zu begegnen. + +Alle aber, die von Kind auf nichts anderes kennenlernen, als daß +dieser oder jener geschickte Handgriff, diese Finte oder jene schwer +erlernbare Körperhaltung die Mühe der Arbeit erleichtern, haben wenig +Zeit, sich gegen solche innere Überfälle zu wappnen. Es ist wahr, auch +sie überwinden. Aber sie leiden mehr darunter und werden ärger +mitgenommen von solchen Qualen. Der Schmerz fällt hier mit schwererer +Wucht nieder auf arglose, unvorbereitete Herzen. Die Jahre verfließen +verbraucht und wenig sinnvoll für solche Menschen. Sie stehen meist +unvermerktmitten im Gestrüpp plötzlich hervorbrechender Gefühle, +kämpfen blindlings gegen ihre Dämonie, werden überwältigt davon und +fallen schließlich in gänzliche Lethargie.-- + +Johann Krill fiel so in den Rachen der Welt. + +Sein Vater war Zimmermann auf einem Dorfe, seine Mutter Bauernmagd. +Auf einmal war dieses Kind da und man mußte notgedrungen heiraten. Man +frettete sich gerade so durch gegen Taglohn. Wenn das Akkordmähen zur +Erntezeit anfing, war es am besten. Zimmererarbeiten gab es wenig. Hin +und wieder Baumfällen und Holzspalten im staatlichen Forst, das war +ziemlich alles. + +Es hieß eben: "Nicht krank sein!" und "Sich nach der Decke strecken!" +--Kinder solcher Eltern, noch dazu "ledige", haben nichts Gutes bei den +Bauern. Es heißt aufstehen mit den Knechten um vier Uhr früh, zugreifen +und den anderen an Flinkheit nichts nachgeben und den Mund halten. Die +Knochen schmerzen am Anfang, aber das verliert sich mit der Zeit.-- + +Nach seiner Schulentlassung kam Johann zu einem Schlosser im nahen +Marktflecken zur Lehre. Jetzt waren es Hammerstiele und Eisenstangen +oder Wellblechstücke, mit denen man warf oder zuschlug. Und wehe, wenn +der Vater eine Klage hörte! Sein Ochsenziemer, der stets neben dem +Handtuch am Ofen hing, war furchtbar. + +Nun, es kam schließlich die Gesellenprüfung und der Achtzehnjährige +ging auf die Wanderschaft. Als gutgelernter, sehniger Arbeiter landete +er dann nach ungefähr fünf Jahren in dieser Stadt und fand Stellung in +einer Fabrik. Es war ein Riesenwerk, man verdiente gut und hatte keinen +schweren Posten geschnappt. + +An einem Abend--es war Sommer und Samstag--kam Johann in seinem Zimmer +an, wusch sich, zog seinen Sonntagsanzug an und steckte Geld zu sich. +Er bummelte erstmalig wie ein freier Mensch in aufgefrischter Stimmung +durch die Straßen, besah sich das bunte Treiben, trank in verschiedenen +Lokalen und als diese geschlossen wurden, trottete er, auf einmal +merkwürdig überwach und unruhig, die "Fleischgasse" auf und nieder. +Diese Straße hieß eigentlich "Fleuschgasse", getauft nach dem +Namen eines verdienten Ehrenbürgers der Stadt, aber seitdem die +Polizei verfügt hatte, daß sich nur hier die professionellen +Prostituierten auf und ab bewegen durften, hatten Volksmund und üble +Nachrede den harmlosen Namen "Fleusch" in den anzüglichen "Fleisch" +umgewandelt. + +Johann Krill brauchte sich nicht sonderlich anzustrengen. Schon nach +kurzer Zeit redete ihn eine süßliche Stimme an und besinnungslos +folgte er. Zum erstenmal in seinem Leben fiel der junge Mann in eine +vollkommene Verwirrung. Eine ganz fremde Luftschicht umschwelte ihn. +Er wußte nicht mehr, ging oder schwebte er. Durch all seine Glieder +flog und flammte es. Er sah alles doppelt, hörte jedes Geräusch wie +aus weiter Ferne und wußte nicht, was es war. Wie ein Hitzklumpen fiel +sein Körper auf eine schwammige Teigmasse und ertrank darin. Es biß +sich jemand fest an ihm. Es lachte. + +Langsam kehrte alles wieder zurück, wurde deutlicher und war ein +grünliches Zimmer, ein Gesicht, das breit auseinandergeflossen vor ihm +lag. + +Schließlich, als er die Besinnung wieder hatte, verzog auch er das +Gesicht zu einem Lachen, wollte reden, begann zu schlottern, schmiß +seinen Kopf in ihre Brust und verschluckte das Weinen. + +Erquickt darüber preßte ihn das Mädchen wild an ihre Brüste, nahm +seinen zerwühlten Kopf und hob ihn auf, zog ihn kosend immer wieder an +ihren dicklippigen Mund und küßte ihn unausgesetzt, daß er zuletzt +gänzlich machtlos mit sich geschehen ließ und auf einmal weinerlich +und wimmernd anfing, sein Leben zu erzählen. Stockend kamen ihm die +Worte, so, als besinne er sich immer erst, bevor er sie über die +Lippen lasse. Und beruhigt, fast ein wenig staunend saß das halbnackte +Mädchen da und hörte zu. Aber auf einmal stockte es wieder--und endete +und wieder griffen seine Arme aus, er umspannte sie, riß und zerrte an +ihr, daß sie aufkreischte. + +"Nimm alles! Tu alles!" murmelte er verhalten, als sie seine Geldbörseaus +der Hose zog, drängte es ihr auf, dieses Geld, und beleckte ungeschlacht +ihren ganzen Leib wie ein durstiger Hirsch. + +Und nicht nur das. Plötzlich klang sein Gemurmel wieder weinerlich und +in einem fort stöhnte er: "Du! Du! Ich hab dich so gern! Du--du! Ich +möcht dich heiraten. Ich arbeit', ich mach' alles. Du hast es gut bei +mir! Du! Du!" + +Anfänglich schien es, als belustige sich das Mädchen über ihn. Sie zog +ihn an den Haaren und kitzelte ihn lachend. Dann aber, als seine +Wildheit immer mehr anschwoll und seine Züge einen fast irren, +düsteren Ausdruck annahmen, ließ sie das Spielen. In ihren schlaffen +Körper stieg mit einem Male eine Wärme. Überwältigt, zuckend sank sie +zurück, ihn umfangend. Sie, über die vielleicht Hunderte +hinweggegangen waren, umschlang diesen plumpen, ungeschlachten +Menschen und küßte ihn mit dem ganzen, hingegebenen Ernst echter +Liebe.... + +In der Frühe nach dieser wüsten Nacht rannte Johann in seinen +Sonntagskleidern zur Fabrik, wankte wie betrunken durch das zufällig +offene Tor und erschrak derart, als ihn der Portier anrief und fragte, +was er denn an einem Feiertag hier wolle, daß er sich wie ein +plötzlich ertappter Dieb umdrehte und wortlos davonjagte. Er lief +durch die Straßen mit eingezogenem Kopf, ging wieder langsamer, setzte +sich in irgendeine versteckte Nische und hielt seinen erhitzten Kopf +fest. Immer wieder mündete er in die "Fleischgasse", wagte es aber +nicht, hinaufzugehen zu seiner auf so eigentümliche Weise gewonnenen +Geliebten. Der Abend kam. Die Nacht fiel herab und er stellte sich an +die Ecke, wo er sie getroffen hatte, wartete und wartete. Und es +geschah etwas, was niemand gedacht hätte, etwas, was ebenso +unglaubwürdig wie wunderlich klingt--: Anna kam nicht. Sie stand an +keiner Ecke, war überhaupt nicht auf der ganzen Straße zu sehen. Sie +lag droben--so wie er sie verlassen hatte--im Bett, verstört, +zerbrochen und bekam erst wieder völliges Leben, als er nach langem +Kampf und mit vielen Finten zu ihr gelangt war. + +Aufgefrischt schwang sie sich aus ihrer Lagerstatt, streichelte ihn +zärtlich und begehrend und sagte zuletzt muttergütig: "Ja, dich möcht +ich heiraten." + +Beide standen benommen voreinander, ein jedes zitterte und sagte +nichts mehr.-- + +Seit dieser Zeit haßte man Johann in der Fabrik. Er verhielt sich wie +völlig verstummt und hatte stetsein Gesicht, als wolle er die ganze +Welt umbringen. Er arbeitete für drei. Und jeden Tag verließ er fast +fluchtartig nach der Arbeit die Fabrik und kam zu Anna. Als es endlich +ruchbar wurde, daß er sich verheiraten wolle und man es ihm sagte, ihn +beglückwünschte und leichte Anzüglichkeiten machte, wurde er rot his +hinter die Ohren und schlug verwirrt die Augen nieder. + +"Ja! Ja!" schrie er dann auf wie ein brüllendes, gereiztes Tier, daß +die Fragenden halb verärgert und halb verblüfft "Oho!" herausstießen +und sich alle mit ihm verfeindeten. + +Alle wunderten sich, daß er gar keine Anstalten zur Hochzeit traf. Er +hielt bei keinem seiner Arbeitskollegen um die Brautzeugenschaft an. +Finster hockte er während der Vesperzeit da und starrte dumm ins +Leere. Niemand wußte, ob er um einen freien Tag zur Erledigung seiner +Verehelichung gebeten hatte. + +Drei Tage vor seiner Hochzeit kam er nicht mehr und wurde entlassen, +weil er auch kein Entschuldigungsschreiben schickte.-- + +II. + +Die ersten Wochen der Krillschen Ehe verliefen--wenn man so sagen +darf--unterirdisch glücklich. Mit Hilfe Bekannter fand Anna schon +einige Tage vor ihrer Hochzeit eine annehmbare, freundliche +Dreizimmerwohnung in einem anderen Viertel. Mit den Ersparnissen +Johanns wurden Möbel auf Teilzahlung beschafft und zum Schluß hatte +man, weiß Gott wie, noch Geld übrig. Man sah das Paar nicht mehr in +der alten Gegend. Außerdem vermied es Johann auf der Straße, Leuten, +die er zu kennen glaubte, zu begegnen. Furchtsam wich er aus, machte +große Bogen vor früheren Bekannten, ja, scheute sogar nicht, +ihrethalben große Umwege zu machen. Zu Hause erst, in der Verborgenheit +der vier Wände, kam Beruhigung über ihn. Mit zufriedenem Gefühl +durchtappte er immer wieder die Räume und bestaunte seine Habschaften +und am Ende stand er stets mit verschwommenen Augen vor seinem ständig +adrett gekleideten, beweglichen Weib. + +Vorerst dachten die beiden nicht ans Verdienen. Mit tausend +Kleinigkeiten verzettelten sich die Tage. Es gab kein geregeltes +Dahinleben mehr, keine bestimmte Mittagszeit, kein Weckerläuten in der +frischen Frühe, keine Müdigkeit am Abend. Die Nacht war kurz, lästig +kurz und oft noch um zehn Uhr vormittags verdüsterten die +herabgezogenen Jalousien das dumpfige Schlafzimmer. Und man blieb +liegen und liegen. + +Mit der bewußten Neugier, mit der wilden, noch einmal völlig +auflodernden, durstigen Liebe erfahrener Frauen, über die das zu frühe +Altern schon ihre ersten Schatten geworfen, liebte Anna Johann. Jede +ihrer Bewegungen, jedes Wort waren eine stumme, begehrende Aufforderung. +Ihre Nähe benahm den Atem, zerrüttete die eben gefaßten Gedankengänge. +Wie eine warme, unsagbar wohltuende Gischtwelle ergoß sich ihre +Atmosphäre unaufhörlich über Johann. + +Er _war_ nicht mehr! + +Zerschmolzen, zerronnen liefen die Zungen seiner Brunst ohne Unterlaß +üher das Meer ihres Körpers. + +Die Zeit war weggeweht, alles schwirrte, rann, floh.-- + +Erst ganz langsam wieder festigte sich seine Gestalt, stückweise +beinahe. Und es schien, als seien es andere Teile, die sich nun +vereinigten. Ein immer klarer werdendes Begreifen keimte auf, wuchs +ohne Überstürzung, vermittelte Halt und Festigkeit. Alle Scheu, alle +Furcht und Unsicherheit wichen. Auf einmal war Johann Krill ein +anderer. + +Jetzt erst kam ihm die Besinnung. Jetzt erst war er eigentlich +verheiratet, hatte ein Fundament, besaß Weib und Möbel und so weiter. + +Er erinnerte sich genau. Es war nirgends anders. Im Dorf nicht. In der +Stadt nicht. Es war immer das gleiche. Der Bauer, bei dem er zuletzt +auf dem Dorfe war, hatte drei Töchter. Ringsum standen größere und +kleinere Häuser. + +"Dahinein gehörst du, das ist was Handfestes," ließ er einmal beim +Abendessen fallen, der Bauer, und deutete dabei auf den mächtigen +Grillhof hinüber. Und die ältere Tochter sah ihn ohne Verblüffung an +und sagte: "Der Grillhans braucht bloß kommen." Zur Erntezeit ließ man +die ältere Tochter daheim und an einem Abend sagte sie: "Hat schon +geschnappt!" Etliche Wochen später gab es eine saftige Hochzeit. + +"Ein' schöne Sach', Hans, ein schöner Hof. Der ist so einen Brocken +Weib wert," lachte der Bauer bei der Hochzeit und schaute seinem +Schwiegersohn in die Augen. Und: "Ja--ja, hast mir's ja auch leicht +gemacht," brummte der Grillhans bierselig. + +Dann kamen die beiden anderen Töchter an die Reihe. Bei der einen +vollzog sich die Sache leicht, und bei der jüngsten, die etwas +hochnäsig war, ging es schwerer. "Herrgott, Rindvieh!--um so einen Hof +ziert man sich doch nicht so! Besinn dich nicht so lang', sag' ich!" +brüllte der Bauer sie an und als zufällig an einem der darauffolgenden +Abende der gewünschte Werber kam, sagte er zu diesem: "Bleib nur +beieinander mit der Zenz. Wir legen uns nieder." + +Und Bauer und Bäuerin gingen schlafen. + +"Ist's so weit?" fragte der Bauer beim Mittagessen andern Tags seine +Tochter. Und diese sagte nickend: "Im Frühjahr, meint er. Er will noch +den Stall bauen lassen." + +"In Gottesnamen, die paar Monat' sind gleich vergangen. Meinetwegen!" +brummte der Bauer und die Sache nahm ihren gewöhnlichen Verlauf. Im +Frühjahr gab es wieder eine breite Hochzeit.-- + +Es war also nirgends recht viel anders. Johann Krill war mit dieser +Erkenntnis zufrieden. Das Neue, das Unerwartete, was ihn einmal in +Brand und Aufruhr gesetzt hatte, war verloschen. Ohne Staunen stand er +nunmehr auf dem Boden der Welt und achtete nichts mehr auf ihr. +Kurzum, er wurde--gemütlich. Kam eine angenehme Sache, war es gut, kam +sie nicht, war es auch gut.-- + +An einem Nachmittag, als sie beim Kaffeetrinken in der Küche saßen, +sagte Anna: "Es wird Zeit, daß wir wieder um Verdienst schauen." + +Und Johann nickte stumm. Er begann wieder Stellung zu suchen. + +Umsichtig und resolut wie sie war, machte sich aber auch Anna auf die +Suche und an einem Tag kam sie freudig an und sagte: "Die Rienken will +mich fürs Büfett. Ich kann gleich anfangen, sagt sie. S'ist ein gutes +Lokal.--Was meinst du?--Unser Geld ist weg und mit einer Stellung für +dich wird's noch eine Zeitlang dauern. Jetzt kannst du auch mit aller +Ruhe suchen." + +Das leuchtete ein. Johann nickte wieder. + +"Die Rienken? Wo ist denn das?" fragte er dann weiter. + +Anna begann von einer Bar "Tip-Top" zu erzählen. + +"In der Quergasse," berichtete sie geschäftiger, "die Rienken kenn' +ich schon lang. Ist eine nette Person. Es verkehren massenhaft Gäste +dort, nur bessere Leute. Nicht so allerhand, von Hinz bis Kunz. Lauter +Stammgäste... Na, was sag' ich--Fabrikbesitzer, Beamte und so Leute. +Wer weiß, man kann ein gutes Geld machen, braucht sich nicht +abzuschinden und kann schließlich auch für dich was ausfindig +machen,--wie meinst du?" + +Johann Krill glotzte stumpf in ihre Augen. + +"Na, so hör doch, du--Patsch, hör doch!--Und die Rienken ist eine gute +Person, steht zu einem," redete Anna weiter und rüttelte ihren Mann +schmeichelhaft, begann wieder ihr siegendes Lachen und küßte ihn. + +"Das ist--also wieder--das Alte," sagte Johann endlich. Nachdenklich, +schwerfällig. + +"A--aber geh doch, Tolpatsch! Keine Rede davon! Wer sagt denn _davon_ +was! Ich bin doch nur hinterm Büfett--nu ja, nu ja, wenn schon einer +mal zu tappen anfängt und mir ein Gläschen bezahlt, Herrgott--das ist +doch kein Weltuntergang," beruhigte ihn Anna und fuhr fort: "Sieh +mal--Ware sind wir nun ein für allemal, ob so oder so--ob du in die +Fabrik gehst oder ob ich--was anderes mache. Es kommt immer nur darauf +an, daß wir uns die Sache möglichst leicht machen, daß wir noch was +wegschnappen für unseren Komfort!" + +Johann Krill hatte jetzt ein wenig klarere Augen. Es war etwas wie ein +aufgegangenes Licht auf seinem Gesicht. Er nickte. + +"Stimmt schon," sagte er. + +"Also sag' ich der Rienken, daß ich komme?" fragte Anna. + +"Ich muß dann auch was suchen," gab Johann statt jeder Antwort zurück. + +"Ach, du bist ja verdreht!--Ja freilich, freilich,--sofort denkt er, +er muß nun wieder rackern von früh bis spät und für die Familie +sorgen! Ach du, du!" lachte Anna und knüllte seinen Kopf in ihre Brust. + +Jeden Nachmittag um vier Uhr ging Anna nunmehr zur Bar "Tip-Top" der +Sylvia Rienke. Spät in der Nacht kam sie stets nach Hause, roch nach +Zigaretten und Alkohol. Manchmal war sie auch leicht betrunken, +brachte allerhand zu essen und zu trinken mit, und dann saßen die +beiden Eheleute nicht selten his zum Morgengrauen in der besten Laune +beisammen und ließen sich's gut gehen.-- + +In der letzten Zeit war Johann Krill etwas einsilbiger. Er saß meistens +in Hemdsärmeln im Schlafzimmer und schien schwerfällig immer über das +gleiche nachzudenken.-- + +Ja, alles war ausgelöscht. Langweilig und trist vertropften die +Stunden. Es war ungemütlich. Wenn man den ganzen Tag in der Fabrik +arbeitete, verging wenigstens die Zeit schneller. + +Aber Anna zerstreute ihn immer wieder. + +Wenn sie nachmittags weggegangen war, verließ auch er die Wohnung und +lungerte entschlußlos in der Stadt herum oder setzte sich in +irgendeine Kneipe. Und jetzt, da er sich alleingelassen sah, +unterhielt er sich auch wieder mit seinesgleichen. + +"Maschinenschlosser?" fragte ihn eines Tages ein älterer Arbeiter am +Kneipentisch. + +"Ja," antwortete Krill. "Eventuell auch zum Maschinisten zu +gebrauchen?" + +"Bei Schall und Weber war ich Maschinist." + +"Mensch, bei uns sucht man solche. Geh hin. Du kannst sofort +anfangen," erzählte der Arbeiter und überprüfte Krill. + +Der nickte. + +Etliche Tage nachher schlief Johann schon, als Anna heimkam. Sein +Gesicht war rußig. Er schwitzte. Anna wollte ihn aufwecken, aber er +drehte sich schläfrig um und schnarchte weiter. Verärgert legte sie +sich ins Bett. + +In der Frühe, als plötzlich der Wecker schrillte, schrak sie empor und +sah erstaunt auf ihren Mann, der sich eben wusch. + +"Arbeitest du denn wieder?" fragte sie. + +"Ja." + +"Dumm!--Ich hätte jetzt etwas für dich.--Ein schöner Posten," sagte +sie und richtete sich vollends auf im Bett. + +Einige Augenblicke stummten sie einander an. + +"Der Fabrikmensch, der immer Schwedenpunsch schmeißt, hat mir's +versprochen ... Laß doch das andere fahren, da verkommst du ja bloß," +begann Anna wieder und wollte eben aus dem Bett springen. + +"Jetzt ist's schon wie's ist!" knurrte er und ging. + + +III. + +Es gab Ärgerlichkeiten bei Krills. Dadurch, daß nun auch Johann seiner +Arbeit nachging, vernachlässigte der Haushalt. Anna, die oft erst +gegen zwei oder drei Uhr nach Hause kam, schlief bis tief in den +Mittag hinein. Schließlich meldeten sich die Wanzen. Man putzte, +schrubbte, streute übelriechende Pulver aus. Aber es half nichts. Es +war unerträglich zuletzt. + +"Das ist eine verschobene Sache, wenn du ins Geschäft gehst und hier +muß alles verkommen," sagte Johann zu Anna. + +"Für wen tu' ich's denn?--" erwiderte sie, "man braucht soviel und die +Löhne sind zum Verhungern." + +Sie kam schließlich auf alles zu sprechen. Daß man sich doch nicht +umsonst von unten herausgewunden habe, daß man doch nicht zu den +Nächstbesten gehöre und man müsse jetzt eine neue Wohnung haben. Was +der Umzug schon koste! Alles klang wie ein zaghafter Vorwurf. +"Warten hättest du sollen. Der Herr mit dem Schwedenpunsch ist so +nett. Du könntest da gut unterkommen." + +Eine Zeitlang ging es auf solche Weise hin und her. Johann war die +ganze Rederei schon widerwärtig. + +"Was du doch alles erzählst! Sind wir denn weiß der Teufel was?!" +sagte er endlich fester: "Mein Vater hat sein Leben lang gearbeitet. +Meine Mutter stand noch mit siebzig Jahren früh um vier Uhr auf--und +wir, wir bilden uns auf einmal ein, etwas Besonderes zu sein!" Während +des Redens schon bekam sein Gesicht langsam eine bestimmtere Haltung. + +Schließlich, als aller Spruch und Widerspruch allmählich erlahmte, +einigte man sich aber doch, und Johann willigte beiläufig ein, sich in +der Fabrik des Herrn, der bei der Rienken jeden Abend Schwedenpunsch +bezahle, vorzustellen. + +Mit jedem Tag wurde er nun auch mißvergnügter. Es gefiel ihm nicht +mehr in seiner Fabrik. Er wurde mürrisch gegen jedermann und kam +zuletzt plötzlich nicht mehr. Nach einigen Tagen stellte er sich in +dem anderen Betrieb vor. Er wurde merkwürdig freundlich empfangen und +ging besinnungslos darauf ein, Nachtschicht zu machen. + +Anna behandelte ihn zärtlicher als je, wenn er frühmorgens ankam. +Nicht lange darauf fand sie auch eine Wohnung im dritten Stock des +Rienkeschen Hauses und alles machte einen glücklichen Anlauf. Sie +brachte jetzt immer mehr mit. Pasteten, kalte Hühnerschenkel, Blumen, +Zigaretten, halbe Flaschen Wein, ja zuletzt sogar Stoffe, Halsketten, +einen Ring. + +Sie war in der fröhlichsten Laune jedesmal und erzählte von diesem und +jenem Herrn, von den guten Gästen bei Rienkes und konnte sich nicht +genug tun, den Chef Johanns zu loben. + +"Und was ich dir sage--er ist ein Mensch, der das Leben kennt. Er ist +für die Arbeiter. Er läßt leben neben sich," plauderte sie. + +Und Johann lächelte hölzern und sah auf ihre Brüste, die schwammig und +verbraucht nach unten sich sackten. + +"Ist für die Arbeiter--?" sagte er und sah sie dumm an. + +"Ist ein anständiger Mensch. Keiner von den Ausnützern, gar nicht so +eingebildet und hochnäsig--und fidel, sag ich dir, fidel,--na ich +danke, wenn der anfängt. Man kann sich schief lachen," erwiderte Anna +und lachte auf, als erinnere sie sich an etwas sehr Drolliges. + +"Und--der gibt dir--so--solche Sachen?" + +Annas Mund zuckte ein wenig. Sie schlug schnell die Augen nieder und +fand das Wort nicht gleich. + +"Hmhm," brachte sie dann heraus und schluckte etwas hinunter, setzte +rasch hinzu: "Und die Rienken ist so nett zu mir." + +"So," brummte Johann nur noch, "nu ja, es geht immer rundum." + +Dann legte er sich schlafen. + +Am Abend schlüpfte er in seine Sonntagskleider und ging nicht in die +Fabrik. Er durchwanderte etliche Male die Quergasse und trat dann in +die "Tip-Top"-Bar. + +Es ging bereits fidel zu. Einige Herren in modischem Anzug saßen vorne +am Büfett auf den hohen Stühlen und saugten an den Strohhalmen, die in +schlanken gefüllten Gläsern mit glitzerndem Eis staken. In der einen +Ecke spielte ein Befrackter Klavier und ein hagerer Geiger begleitete +ihn. In den Nischen, die mit künstlichem Efeu zu Laubengängen +hergerichtet waren, tuschelte es und hin und wieder zirpte ein +schrilles Auflachen aus ihrem Dunkel. Eben wollte eine hochbusige +duftende Bedienerin mit zuvorkommender Freundlichkeit auf Johann +zueilen. Da auf einmal schrie es aus einer Nische: "Um Gotteswillen, +Hans!" Und ein hurtiges Getrampel und Knarren wurde hörbar. + +Johann wandte schnell den Kopf dahin und sah hinter einer dichten +Weinflaschenparade das pralle, runde, kleinstirnige Gesicht seines +Chefs, die Rienken und das totenblasse, entsetzte Gesicht seiner Frau. +Die Köpfe der drei hingen auseinander wie schwere Dolden. Geradewegs +ging Johann auf sie los und ließ sich in einen der gepolsterten Stühle +an ihrem Tisch fallen. + +Eine peinliche Stille trat ein. Jeder hielt jetzt fassungslos den Atem +an. Nur Johann schien sicher zu sein. + +"Ich bin nicht zur Schicht gegangen, Herr Hochvogel--ich hab' einen +Höllendurst, ich könnt' ein Meer aussaufen," sagte er ohne sichtliche +Erregung und lächelte schnell. Das löste eine Entspannung aus. Man +atmete wieder und nahm langsam die gewöhnliche Haltung an. Der +Fabrikherr schnitt ein malitiöses Gesicht. Er suchte sich zu fassen +und griff zum Weinglas. + +"Heiß ist's hier," sagte Johann wieder. + +"Nicht zur Schicht? Aber Johann!?" brachte nunmehr Anna heraus. Die +Rienken erhob sich und verließ den Tisch. + +"Das macht doch nichts, oder? Herr Hochvogel, macht das was aus?" +fragte Johann den Fabrikherrn. + +"Na--wissen Sie, meinetwegen,--wir wollen einige gute Schoppen +heben--ich kann's verstehen,--ich drück' gern ein Auge zu--bei Ihnen, +Herr Krill.--Sie sind mir gut--sie arbeiten zuverlässig, da--da--da +übersieht man auch mal einen Seitensprung, Prost!" sprudelte der +Fabrikherr verlegen. Die Worte flossen schnell, fast ängstlich aus +ihm, so, als wären sie wunderliche Ziegelsteine, mit denen man im Nu +eine schützende Mauer um sich schließen könnte. + +"Zu gütig," lispelte Anna bereits. + +Und Herr Hochvogel goß das Glas der Rienken voll und schob es behend +dem Arbeiter hin: "Da, trinken Sie!" + +Die ärgste Gefahr schien behoben zu sein. Man konnte es an den +allmählich sich wieder aufheiternden Gesichtern sehen. Auch die Wirtin +kam wieder an den Tisch und der Fabrikant bestellte in einem fort. + +Johann beachtete das Getue Hochvogels mit seiner Frau auch nicht +weiter. Er trank in vollen Zügen und wurde immer lustiger, lachte und +machte hin und wieder einen dreisten Witz. Dadurch wurde auch Anna +kühner. Sie wich nicht von der Seite des Fabrikherrn und streichelte +ihn ein paarmal kosend, warf belustigte Blicke zwischen den beiden +Männern hin und her. + +"Hab ich nicht gesagt, Hans, daß er ein netter Mensch ist?" sagte sie +übermütig und lachte piepsend. + +"Ein netter Me--ensch! Ein sehr netter Mensch! Ein Goldmensch!" +brümmelte Johann schon etwas betrunken und summte weiter: "Verbringt +das Geld so gemütlich, so--so--so--" Er wankte bereits him und her und +rülpste ungeniert in den Tisch. Gläsern standen seine Augen. Die +anderen kicherten. + +"Hat ihn schon mächtig," hörte er Hochvogels Stimme. + +"Na, na! Herr Krill, na--!" rief die Rienken. + +Johann hob den schweren Kopf und glotzte auf das verschwommene Gemeng +der drei, die im fahlen Lichtschimmer hinter den Weinflaschen sich hin +und her drückten. + +"Ein ne--etter Mensch,--eine richtige Qualle--e--iin dummes Vieh!--Ein +geiler Orang--g--kutan, hahahaha--hat den Schwanz eingezogen, weil der +Wärter gekommen ist, haha--a--a!--" Johann sank haltlos zurück. + +"Das ist zu stark!" zischte Hochvogel. Der Tisch knarrte. Die +Weinflaschen klirrten gegeneinander. Die zwei Frauen lispelten +besänftigend. Schnell, überschnell mengten sich ihre flehenden Worte +ineinander. Ein Gezerre um den Aufgestandenen begann. + +Mit herabhängenden Armen, halb eingeschlafen, zerfallen hing Johann +auf dem Stuhl. "Er ist doch betrunken!" "Bitte, bitte,--er ist's doch +nicht gewohnt!" "Er meint's doch nicht übel, Herr Hochvogel!" +"Bitte!--Hier, trinken Sie. Er schläft ja schon! Seh'n Sie, seh'n +Sie!--Es passiert nie wieder. Ich sag's ihm morgen,--mein Wort, mein +Ehrenwort!" alles zerfloß ineinander, bittend, winselnd, aufgeregt, +ängstlich. + +Wie ein zischendes Gezirpe umsummte dieses Geplätscher Johanns Kopf. +Als gieße irgend jemand kaltes Wasser üher ihn. + +"Haha! Hat's viellleicht gestoh--lllen und--und wirft's weg,--dadas +Gellldt,--wei--weils brennt in der Tasche, haha,--das dumme Vieh, +haha--das Arschloch!" grunzte der Betrunkene lallend und lachte +ruckweise, immerfort, glucksend. + +Da wurde der Tisch weggestoßen und stapfend hasteten Schritte vorbei. +Wieder das Gezwitscher. Noch geschäftiger. Dann fiel eine Tür krachend +zu. + +"Hans!" schrie Anna wütend und riß ihren Mann an der Schulter. + +"Saustall!" stieß die Rienken heraus. + +Krill hob den Kopf und langte lahm nach Anna: "Haha--ha--es ist so +wunderschön auf der We--elt, haha--ha!" + +Sein ausgreifender Arm fiel wieder herab. Er sank in die alte Haltung +zurück. Dünner Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Er schnaubte +geräuschvoll wie ein Pferd, das von der Kolik geplagt wird. + +Unter wüstem Gezeter und Gejammer verließ Anna mit ihm die Bar. Sie +mußte ihn buchstäblich die Stiege hinaufschleppen. + + +IV. + +Dieser unerquickliche Vorfall hatte schlimme Folgen. Am andern Tag, +sehr früh, schellte es. Krill schlief wie ein Sack. Anna schreckte auf +und lief halb angekleidet an die Tür. Der Ausgeher der Hochvogelschen +Fabrik brachte die Papiere und den Lohn für Johann. In einem sehr +kurzen, ärgerlichen Brief stand, daß sich Krill nicht mehr sehen +lassen sollte und entlassen sei. + +"Ja, ja--ist schon recht!" sagte Anna verwirrt und warf die Tür zu. +Ohne Johann zu wecken, kleidete sie sich an und ging in die Fabrik +hinaus, um Hochvogel zu besänftigen. Auf dem ganzen Wege überlegte sie +sich die besten Worte und übte sich in der Art, wie sie den +Verärgerten wieder dazu bewegen wollte, daß er stillschweigend über +das üble Ereignis hinwegginge.-- + +Aber sie wurde nicht vorgelassen. Erbittert und erniedrigt trat sie +den Heimweg an. + +"Da!--Das hast du gemacht mit deinen Dummheiten!" fuhr sie den +inzwischen erwachten, auf dem Bettrand sitzenden Johann an und warf +ihm das Schreiben Hochvogels him. Der blickte stumpfsinnig zu ihr auf +und sagte kein Wort. Dies erregte sie nur noch mehr. Sie stampfte +schimpfend aus dem Schlafzimmer und rannte zur Rienken hinunter. + +Die Wirtin empfing sie sehr kühl. + +"Herr Hochvogel hat mich wissen lassen, daß er nicht mehr kommt. Ich +kann Sie nicht mehr brauchen.--Das ist der Dank dafür, daß ich mich +so um Sie angenommen habe," schimpfte sie mit hochgehobenem Kopf. Anna +versuchte auf alle mögliche Art, sie umzustimmen. Vergebens. + +"Und überhaupt--glauben Sie, ein solcher Mann wie Hochvogel läßt sich +derartige Schmutzigkeiten ins Gesicht sagen! Passen Sie mal auf,--das +hat noch ein gerichtliches Nachspiel. Und ich, was hab' ich von meiner +Gutmütigkeit?--Vor die Gerichte werde ich gezerrt. Mein Lokal verliert +den guten Ruf--ich hab' den Schaden und sitz' in der Patsche,--werden +Sie sehen, ob's nicht so kommt?--Sagen Sie es nur ihrem 'Kerl'--am +liebsten ist's mir, ihr zieht aus. Basta!" zeterte die Bienken immer +bestimmter. + +Auch Anna wurde allmählich ärgerlich und schimpfte. + +"Geh'n Sie bloß aus meinem Lokal, Sie--Sie! So eine krieg' ich alle +Tage!" fauchte die Wirtin wütend, rannte zur Tür und riß sie auf: +"Geh'n Sie bloß aus meinem Lokal!" "Geh'n Sie!" schrie sie, daß ihr +Kopf blau anlief: "Geh'n Sie! Sie--Sie Ludermensch!" + +Auch in Anna platzte die angesammelte Wut nun vollends. + +"Was sagen Sie da, was?! Sie Kupplerin, Sie dreckige!" schrie sie +schriller noch. "Solang man sich hergibt, ist man gut, dann kann man +gehen, Sie Dreckfetzen!" + +"Geh'n Sie! Geh'n Sie!" pfiff die Wirtin erstickt: "Hinaus da, +hinaus!" + +Keifend verließ Anna das Lokal. Zitternd vor Erregung kam sie in ihrer +Wohnung an. "Es ist Schluß mit allem! Ich mag nicht mehr!" stöhnte sie +erschöpft und sank in einen Küchenstuhl. Unter stoßweisem Weinen und +Vorwürfen erzählte sie Johann ihr Mißgeschick. Der hatte den Kopf +unter dem Hahn der Wasserleitung und ließ immerfort den kalten Strahl +üher ihn herabrinnen. Er drehte sich nicht um. Nicht im mindesten ließ +er sich stören. Annas Geduld riß völlig. Sie begann wüst zu schimpfen. + +"Und du!--Du lungerst da heroben herum und läßt mich die Füße +ausrennen! Ich kann mich mit den Leuten herumschlagen und die Suppe +ausfressen, die du eingebrockt hast!" bellte sie ihn an. "Du! Du +Lump!" + +Er drehte sich endlich um. Kein Wort kam aus ihm. + +"So rede doch, Stock!" schrie sie, "was willst du denn jetzt machen? +Ich kann nichts mehr tun! Ich bin kaputt!" Er schwieg immer noch. Da +stand er, tatsächlich wie ein Stock. Sie zerbrach an seiner +Gleichgültigkeit und fiel in ein heftiges Weinen. Es schüttelte sie +gerade so. Johann sah ohne Niedergeschlagenheit auf ihre +zusammengekauerte, zuckende Gestalt nieder. + +"Was ich tun will?" sagte er endlich leichthin, als sei gar nichts +vorgefallen,--"der wird mich schon nicht gleich herauswerfen. Ich gehe +einfach heute wieder zur Schicht und fertig. Und die Rienken--die wird +schon wieder aufhören mit ihrem Geschimpfe, wenn sie müd ist." Anna +blickte auf einmal auf zu ihm. "Ist doch ein netter Kerl, dieser +Hochvogel. Mit dem läßt sich doch reden," brummte er. Der arglose +Ernst, die Selbstverständlichkeit dieser Worte bezwangen. Tatsächlich +wurde sie vollkommen ruhig und glaubte zuletzt wirklich, daß dies der +einzig glückliche Weg sei, mit einem Schlag alles Mißliche beheben +würde. + +"Herrgott, ich bin ja auch so dumm! Ich laß mich von jedem ins +Bockshorn jagen," schalt sie sich selbst, wischte sich schnell die +Tränen ab und stellte Kaffeewasser auf. Ganz munter wurde sie wieder. + +Als sie dann wieder am Tisch saßen, begann sie über die Rienken zu +schimpfen und über Hochvogel und erzählte im Laufe des Gesprächs alles +mögliche von den beiden. + +"Es war ganz richtig, daß du ihm mal heimgeleuchtet hast," sagte sie, +"die ganze Sippschaft glaubt immer, sie könnte Schindluder mit einem +treiben!--Was hat er mir nicht alles angetragen, wenn ich mit ihm +schlafen würde! Und wie hat die Rienken gekuppelt und jetzt--jetzt +spielt sie sich auf, diese Sau, diese alte!" + +Sie blickte immer wieder wie verlegen zu Johann herüber, wurde aber, +da er vollkommen ruhig war, immer weitschweifiger und erzählte mehr +und immer mehr. Sein Gleichmut quälte sie. Sie berichtete dreister, +anzüglicher. + +"Er hat das Geld gerade so weggeworfen. Die Bluse hat er mir +aufgerissen, einmal. Er hat immer seine Hand unter meinem Rock gehabt, +der Drecksack! Von den Hosen hat er einmal ein halbes Dutzend +dahergebracht und wollte, daß ich's vor ihm anziehen soll--und die +Bienken half mit und verschwand immer, wenn er anfing," sagte sie und +fuhr fort: "Einmal wollt' ich ihn schon heraufnehmen in der Frühe und +abwarten, bis du von der Fabrik kämst." + +Johann verzog keine Miene. + +"Jaja--das Loch und das Geld," brummte er beiläufig. "Es geht immer +rundum." + +Ihre Hände bewegten sich in einem fort. Nervös zerrieb sie die +Brotkrumen mit den Fingern. Sie erzählte nichts mehr. Sie schwieg. Als +er fortgegangen war, fiel ihr Kopf auf den Tisch und ein wüstes +Schluchzen brach aus ihr.-- + +Johann kam ohne Hindernis durch die Fabrikpforte. Im Umkleideraum +trafen ihn bereits befremdende Gesichter. Keiner sprach ihn mehr an +und als er in den Maschinenraum hinuntersteigen wollte, kam der +Schichtmeister rasch auf ihn zu und rief: "Sie sind doch entlassen, +was wollen Sie denn noch hier?" Einige Arbeiter blieben mit +verwunderten Mienen stehen. Das rüttelte ihn aus der Fassung. Er sah +beklommen auf den Schichtmeister, auf die Arbeiter und hilflos im Raum +herum. + +"Sie sind nun einmal bestimmt entlassen, das weiß ich," rief der +Schichtmeister resoluter, "ich kann gar nicht verstehen, daß Sie der +Pförtner hereingelassen hat, der hat es doch gewußt! Hat er Sie denn +nicht darauf aufmerksam gemacht?" + +Johann schüttelte stumm den Kopf, blieb beharrlich stehen, dumm und +kindisch. Die beiden anderen Arbeiter trotteten weiter. + +Der Schichtmeister holte den Portier. Zeternd redete er auf denselben +ein, als er mit ihm ankam. + +"Wie konnten Sie denn den Mann hereinlassen. Der Chef hat's doch +ausdrücklich gesagt, daß er entlassen ist," bellte er. + +Der Portier sah verärgert auf Johann und sagte ebenfalls: "Jaja, ich +hab' Sie nur nicht gesehen. Sie sind entlassen. Sie haben hier nichts +mehr zu suchen." + +Johann knickte zusammen. + +"Ja--ja, nu ja, dann muß ich gehn," stotterte er endlich heraus, ging +in den Ankleideraum und entfernte sich. Niedergedrückt, fast beschämt +trat er durch das große Fabrikportal ins Freie. Zermürbt kam er zu +Hause an. + +"Ja," sagte er tonlos zu Anna, "man hat mich rausgesetzt!" + +"Da hast du es nun!" stieß diese heraus, "Trottel!" Die Vorwürfe +begannen von neuem. + +"Ich muß mich eben wieder um was anderes umsehn," brummte er +ärgerlich. + +"Und ich?! Wenn die Rienken uns hinaussetzt, was ist dann! Glaubst du, +ich hab' mir umsonst meine Füße ausgerannt, daß wir ein wenig +anständiger leben konnten! Du keine Arbeit, kein Geld, ich nichts zu +tun--ich danke!" belferte sie. + +"Nu ja, in Gottesnamen, es wird schon wieder werden!" schloß er und +legte sich zu Bett. Machtlos stand Anna vor diesem Stumpfsinn. Vor +Verbitterung zitterte sie am ganzen Körper und faustete in einem fort +die Hände. + +"Herrgott, es ist ja zum Davonlaufen!" schrie sie auf einmal: +"Meinetwegen--ich geh!" Sie schmiß heftig die Tür zu. "Dummes +Frauenzimmer!" Er stieg aus dem Bett, rief ihr nach, aber es +antwortete niemand mehr. + +Wegen solcher Dummheiten war man plötzlich aus der Ordnung +gerissen.--Er schloß die Tür wieder. + +Der Nachtschlaf war auch zum Teufel.-- + +Er kleidete sich schließlich an und ging sie suchen. + +Ohne nachzudenken, wanderte er zur Fleischgasse und fand sie auch +dort. Bereits stand ein Herr in einem hellen Regenmantel vor ihr und +lispelte. Johann trat an die beiden heran und riß Anna weg: "Unsinn! +Komm!" + +"Ich mag nicht!" knirschte sie eigensinnig und wollte sich losmachen. + +Der Herr im Regenmantel ergriff ihre Partei und begann zu brüllen. Er +schwang schon den Stock und wollte auf Johann einbauen. Da kam ein +Schutzmann eiligen Schrittes angeflitzt, notierte den Namen des Herrn +und nahm die beiden mit auf die Wache. + +Alles Gejammer Annas half nichts. Das Erklären Johanns war vergebens. +Sie mußten mit. + +Häßlich, wie das Mißgeschick die Menschen gemein macht! Auf dem ganzen +Weg überschüttete Anna Johann mit den wüstesten Schimpfworten und +schließlich riß auch diesem die Geduld. + +"Halt das Maul, dummes Vieh, dummes!" fluchte er, "hilft ja doch +nichts! Was läufst du denn davon, so mitten in der Nacht! Jetzt hast +du es." + +"Vorwärts! Marsch-marsch!" knurrte der Schutzmann immer wieder. + +V. Der Vorfall in der Fleischgasse hatte zur Folge, daß man Johann +wegen Zuhälterei in Untersuchung behielt. Ein Verfahren wurde gegen +ihn eingeleitet. Anna entließ man nach ungefähr zehn Tagen. Sie wurde +polizeiärztlich untersucht und erhielt die übliche Erlaubniskarte der +Prostituierten wieder. Als sie zu Hause ankam, war sie nicht wenig +erstaunt. Die Rienken, nun einmal rabiat geworden, hatte die +Gelegenheit benützt und pfänden lassen. Während der Haftzeit nämlich +war der Monatserste gekommen, der Dritte, der Fünfte und der Siebente. +So waren wenigstens die ziemlich eindeutigen Briefe der Bar- und +Hausbesitzerin, die im Kasten steckten, datiert. Man sah es den +schiefen, gekratzt-hingeflitzten Buchstaben der Schrift förmlich an, +daß Sylvia Rienke das Warten auf den Mietszins satt hatte, das Warten +und diese Mieter. "Diese, wo Kerle haben, die mir meine Gäste +verjagen, können bei mir ziehen," hieß es endlich im Kündigungsbrief +vom Achten. Und Recht behielt sie, die wackere Wirtin. Anna mußte +ziehen. Sie verkaufte, was übriggeblieben war, und bezog ein Zimmer in +der Nähe der Fleischgasse. + +Die drohend gereckten Fäuste, die sie am Tage ihres Abzuges, plärrend +und keifend, mit weißem Schaum vor dem Munde, der Rienken +entgegenhielt, und das hämische, restlos rachsüchtige: "Das streich +ich dir noch an, Mistvettel!" waren ein Anfang für ihr weiteres +Verhalten. Jetzt gab es fast jeden Tag kleinere oder größere +Unannehmlichkeiten in der Bar "Tip-Top". Anna hetzte Polizei und von +ihr bestochene skandalsüchtige Gäste in das Lokal. + +In der ganzen Fleischgasse war sie jetzt die Fleißigste. Mit einem +Eifer, ja, mit einer geradezu fanatischen Selbstvergessenheit, wie man +sie nur bei Verzweifelten oder Bohrend-Hassenden findet, verbiß sie +sich ins Verdienen. + +"Die?! Hm, die schleppt auf Rekord," ließ sich nicht selten eine +andere Prostituierte vernehmen, wenn die Rede auf Anna kam. Und es +stimmte.-- + +Das Merkwürdigste aber war, daß sie nunmehr alle Hebel in Bewegung +setzte, um Johann frei zu bekommen. Sie warf das Geld weg an +Rechtsanwälte, verfaßte eine Eingabe um die andere, bestürmte die +Instanzen, rannte von Pontius zu Pilatus, ja, sie faßte zu guter Letzt +sogar dem romantischen Plan, ihn mit Hilfe einiger Männer zu befreien, +die ihr das Blaue vom Himmel herunterzuholen versprachen, ihr Geld und +wieder Geld abnahmen und eines Tages verschwanden. + +Und Johann? + +Er lag den ganzen Tag auf der Pritsche, wurde sogar dick von dem Essen, +das sie ihm schickte, und war stets ruhig und trocken, wenn sie ihn +besuchen durfte. Als sie ihm von dem Auszug aus dem Rienkeschen Hause +erzählte, hörte er stumm zu--dann, nach einer Weile, lächelte er +und sagte: "Hml Hm,--war doch schön an dem Abend mit Hochvogel, +hmhamhm!" + +Er fand nichts Schlimmes daran, daß Anna manchmal klagte. + +"Es ist--man müßte so was aufmachen, wie die Rienken hat," sagte er +ein andermal wie aus einem dumpfen Gedankenkreis heraus. + +Und wieder einmal, als Anna jammerte, daß alles Essen so teuer wäre, +ließ er so etwas fallen wie: "Nuja, die Bauern machen sich jetzt +gesund. Hm, die Bauern und die, die was für'n Magen verkaufen--" + +Man sagt, der Weise überwindet und kommt zur vollkommenen Ruhe. + +Es gibt Menschen, die ohne Empfindungsvermögen geboren werden. Und es +sind welche, die, wenn die Schmerzen und Erschütterungen ihre Seele +in zu rascher Aufeinanderfolge zermürben, zuletzt in eine völlige +Stumpfheit münden. Zu diesen gehörte Johann Krill. + +"Es war doch schön an dem Abend mit Hochvogel--so gemütlich!" und "So +was wie die Rienken hat, müßt' man aufmachen." Das war er!-- + +Mittlerweile kam der Termin zur Verhandlung gegen ihn. Anna hetzte +noch mehr herum. Sie schlief nicht mehr, sie vergaß das Essen. + +Im Gerichtssaal hustete sie die ganze Zeit. Unstet liefen die Pupillen +ihrer Augen von einem Winkel zum anderen. Auch die Rienken war als +Zeuge geladen. Dummerweise war einer von den letzten Anwälten, die +Anna genommen hatte, darauf gekommen, sie zu laden. Sie trug ein +schwarzes Seidenkleid, dessen schweres Spitzengewirr vom speckigen +Nacken kraus herabrann üher den hochgeschnürten, überquellenden Busen. +Ein blutrotes Granatkollier prangte patzig auf der gelben, welken Haut +ihres Halses, dessen blaue Äderung nur schlecht vom dick aufgetragenen +Puder verwischt war. Ihre Froschhände waren beteuernd auf den Magen +gepreßt und spielten manchmal mit dem Schildpatt-Lorgnon, das an einer +breiten goldenen Kette herabhing. + +"Ich bin gleich fertig mit meinen Aussagen, Herr Amtsrichter, ich hab' +ein Geschäft und viel im Kopf," begann sie, als sie aufgerufen wurde. + +"Die?!--Gott sei Dank, ich hab' immer anständige Bedienerinnen gehabt," +fuhr sie fort, üher Anna befragt, und warf einen seitlichen, herablassenden +Blick auf diese, "aber nun, man tappt auch einmal herein.--Ich hab' es mir +aber--glauben Sie es mir, Herr Amtsrichter, ich bin fünfzehn Jahre auf dem +gleichen Platz und weiß, was der Ruf für ein Geschäft ausmacht--ich hab' +es mir geschworen: Rienken, sagt' ich mir, Rienken--von der Fleischgasse +nimmst du keine mehr, nicht um die Welt!" Sie kam immer mehr in Zug. + +"Vettel!" schrie Anna schrill und wurde verwarnt. Die Rienken drehte sich +schnell um und dann wieder zum Richter. "Man soll sich nicht ärgern, Herr +Amtsrichter?" Und sie schnitt eine weinerliche Miene: + +"Wie hab' ich den Leuten geholfen und was hab' ich davon!--Es ist bloß +gut, daß ich meinen Kopf nie verlier', es ist ja bloß gut, daß ich +mich nie auf die gleiche Stufe stelle mit--mit--so was." + +Und endlich zur Sache gerufen, erzählte sie weitschweifig, daß Johann +die Stellung bei diesem Fabrikherrn nicht umsonst angenommen habe. +"Und Nachtschicht--er wird schon gewußt haben, warum. Man kennt +solche--Nachtschichten!" Und Herr Hochvogel?... Sie geriet etwas in +Verwirrung. Nun, der habe bald klar gesehen, ein solcher Herr ließe +sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. + +"Der muß her! Der muß Zeuge machen!" schrie Anna, und ihr Rechtsanwalt +brachte es auch fertig. Nun wurde es aber noch ungünstiger. Obwohl dem +Fabrikanten die ganze Sache äußerst unangenehm war, obwohl er sich +außerordentlich zurückhielt und nichts gegen Johann eigentlich +vorbringen konnte, als eben jenen üblen Vorfall in der Rienkeschen +Bar--es machte alles einen schlechten, sehr schlechten Eindruck +--Johann Krill wurde verurteilt. + +Anna bekam einen minutenlangen Schreikrampf. Sie stürzte vor und +wollte auf die Rienken los. Es mußten sie Schutzleute mit Gewalt +wegbringen. + +Johann, der ohne Erregung den Auftritten zusah, nahm alles mit Ruhe +hin. Er lächelte fast verlegen, als ihn die Richter am Schluß fragten, +ob er noch etwas zu sagen wünsche. + +"Dumm," brummte er und kratzte sich hinter dem rechten Ohr, "dumm, +Herr Richter, man tappt eben hinein und--und dann passiert allerhand." + +Die steinernen Amtsmienen wußten einen Augenblick lang wirklich nicht, +sollten sie lachen oder einige beruhigende Worte des Mitleids aus ihren +Lippen lassen. + +Damit war es zu Ende. Anna konnte Johann nun nicht mehr besuchen. Die +beiden waren auseinander.--In ihrer Wut schlug Anna einige Tage +später die zwei großen Fensterscheiben der Rienkeschen Bar ein und +konnte mit Mühe nur überwältigt werden. Das Beil wurde ihr abgenommen +und der herbeigerufene Schutzmann nahm sie mit. + +Und wieder gab es einen Prozeß. Wegen Bedrohung und Sachbeschädigung +wurde Anna Krill zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. + +Hier bricht der Faden ab. Es ist nichts mehr zu berichten. + +Eine Million ist viel--eine Milliarde ist mehr.--Johann Krill ist +Legion. + +Vielleicht arbeitet Johann Krill wieder irgendwo oder er trinkt, oder +er hat den Halt verloren und sitzt weiter in Gefängnissen. + +Anna--Sie wird eines Tages krank sein, wieder gesunden, wieder krank +werden und so fort.... + +Das einzige, was bestehen bleibt, solange wie diese Gesellschaft, +ist--die Rienken! + +Wie lange noch?! + + + + + + + + + +End of Project Gutenberg's Zur Freundlichen Erinnerung, by Oscar Maria Graf + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG *** + +***** This file should be named 7985-8.txt or 7985-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/7/9/8/7985/ + +Produced by Eric Eldred, Marc D'Hooghe, Charles Franks, +and the Online Distributed Proofreading Team + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. Compliance requirements are not uniform and it takes a +considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up +with these requirements. We do not solicit donations in locations +where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For forty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. 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Als +blutjunger Geselle trat er damals in den Dienst und heute war er +erster Werkmeister. Seine stumpfe, schweigende Energie, sein +fanatischer Lerneifer und seine fast pedantische, aber keineswegs +devote Puenktlichkeit hatten ihm Respekt und Achtung verschafft, bei +den Arbeitern sowohl, wie bei den Vorgesetzten. Beliebt war er nicht, +aber es war keiner in der ganzen Fabrik, der auf ein einmal +gesprochenes Wort von Windel nichts gab. Es dauerte allerdings lange, +bis er mehr als das Allernotwendigste sprach. Verschlossen, wortkarg +und mit jener stoischen Strenge im Gesicht, die schon nahe an der +Grenze des Missmuts steht--so kannte man ihn seit Jahr und Tag. Noch +dazu war er keineswegs eine Erscheinung. Von Gestalt klein und nicht +gerade kraeftig, etwas vornuebergebeugt, mit langem Hals, auf dem ein +unfoermiger, zu grosser Kopf mit borstigen, kurzen, schon etwas +angegrauten Haaren und weitwegstehenden Ohren sass. Das lederne, +scharfe Gesicht machte einen ueberreizten Eindruck. Die tiefliegenden, +unruhigen Augen waren von vielen blutunterlaufenen Aederchen +durchzogen. Aus dem schroffen Tal der Backen hob sich die plumpe, +unregelmaessige Nase wie ein spitzer Huegel. Griesgraemig griff die +massige, verfaltete Stirne von einer Schlaefenbucht zur andern. + +Das Merkwuerdigste an diesem Antlitz aber war der untere Teil. Er +schien fast von einem anderen Menschen zu sein, hatte etwas so +Hilfloses und Schuechternes, dass man den Eindruck des Maedchenhaften +nicht losbrachte, wenn nicht hin und wieder der geoeffnete kleine, +aufgeworfene Mund die eingerissenen, stark mitgenommenen Zaehne gezeigt +haette. Kam noch hinzu ein ungewoehnlich kurzes, fast in den Hals +gefallenes und nur durch einen ganz kleinen Ballen angedeutetes Kinn, +aus dem ein sproeder Knebelbart spritzte wie eine Rettung. Sonst haette +man buchstaeblich der Meinung sein koennen, nach dem Hals ginge der Mund +an. + +Man sagt im allgemeinen, Pedanten, die ihr Dasein fast abgezirkelt +genau ableben, haetten ein sorgfaeltig gepflegtes Erinnerungsvermoegen +und vergaessen die kleinste Kleinigkeit oft jahrelang nicht. + +Peter Windel hatte keine Erinnerung. + +Schliesslich, dass man irgendwie zur Welt kommt, aufwaechst und +allmaehlich auf einen Namen hoert, dann, in der Schule, noch auf einen +zweiten; in die Lehre kommt, etliche Stellen wechselt; dass es einem +schlecht oder besser geht, dass man auf einem Gottesacker unter anderen +Leuten um ein Grab steht und den Kies auf den Sarg einer toten Mutter +oder eines verstorbenen Vaters, eines Bruders oder einer Schwester +fallen hoert und endlich Hinterlassenschaftspapiere, Notariatszimmer +und Pfandbriefe zu sehen bekommt,--das erlebt so ziemlich jeder Mensch +auf die eine oder andere Weise. + +Ein schepperndes Weckerlaeuten. Es ist noch tiefste Nacht draussen, die +Fenster sind gefroren und hoch herauf verschneit, man hoert auf den +weiten, ueberschneiten Strassen nur seine eigenen Schritte knirschen. +Aus Schnee und Dunkelheit kommt langsam eine flimmernde Strassenbahn, +dann hinter einer gelben Fensterscheibe ein verschlafenes, aergerliches +Pfoertnergesicht, ueher einen Hof viele, dumpf trommelnde Schritte und +ineinanderschwimmende Laute, endlich einen glatten Hebel in der Hand, +--herumgezogen--und ratsch! ein ganzer Hauskoloss surrt bebend +auf, die Riemen klatschen, aechzen, es haemmert, feilt, quietscht, +kracht, klingt, braust--das wusste Peter Windel seit ewiger Zeit. +Zwischendurch freilich auch Sommertage. Ein offenes Fenster, Kuehle und +Daemmerung und etliche schuechterne Vogeltriller beim Erwachen. Das +meiste der zwanzig Jahre--: Naechte ueber technischen Buechern, +Sonntagnachmittage ueber dem Zeichenblock und manchmal ein Zaehlen des +ersparten Geldes. Oefters als wuenschenswert Streitigkeiten, Zaenkereien +mit der halbtauben, beschraenkten Logisfrau koennen noch hinzugezaehlt +werden. Das war alles. Peter Windel hatte keine Erinnerung. Er kannte +nur Interessen. + +Wenn nicht-- + +Und hier beginnt diese Geschichte. + + +II. + +"Sie sind eine Sau! Vier Wochen kein frisches Handtuch, zwei Monate +keine Bettwaesche gewechselt! Wenn das nicht aufhoert, ziehe ich!" +schrie Peter Windel an einem Sonntag seine Logisfrau an. + +Wie immer. Das Weib blieb stehen, glotzte ihn an, verzog das Gesichtzu +einer weinerlichen Grimasse und winselte ein paar unverstaendliche +Worte heraus. Und weinte erst leise, dann immer unertraeglicher. + +Das Fenster stand offen. Es war Sommer. Klar fiel die Sonne in den +Hof. Windel riss die Schranktuere auf, nahm seinen Regenmantel, schob +die Frau beiseite und ging. + +Vierzig Mark fuer ein Zimmer ist nicht viel und die Frau schnueffelte +nicht, war uralt, hockte den ganzen Tag in der dumpfen Kueche und +lispelte Gebete. Unreinlich war sie nur von Zeit zu Zeit. Man musste +sie dann grob anschreien.-- + +Auf der Treppe fiel Peter ein, dass er "Die Elektrizitaet als Nutzkraft" +vergessen hatte. Er drehte sich rasch um und ging zurueck. Immer noch +stand das Weib in der Zimmermitte, fast unbeweglich und wimmerte. +Einen Augenblick mass sie Peter veraergert. Dann stampfte er mit dem Fuss +auf den Boden. + +"Herrgott nochmal!" stiess er heraus, warf seinen Mantel hin, riss die +Bettlaken herunter, zog in aller Eile Decke und Kopfkissen ab und warf +die ganze Waesche der Frau vor die Fuesse, samt dem schmutzigen Handtuch. +"Gehn Sie doch in die Kueche mit Ihrem Lamentieren und legen Sie mir +die Bettwaesche dann herein, ich mach's mir selber!" sagte er noch, +nahm vom Nachtkasten das vergessene Buch und schmiss wuetend die Tuere +zu. + +"Meine Lies' ... heut wird's das zweite Jahr!" wimmerte die Frau noch. +Und fiel wieder in ihr wimmerndes Weinen.-- + +Als Peter Windel tief in der Abendstunde nach Hause kam, lag sie quer +auf dem Zimmerboden, den Kopf auf die Waschtischkante geschlagen, eine +ziemlich grosse Wunde auf der Stirn--reglos, steif. + +Eine kleine Lache geronnenes Blut umgab den Kopf. Die Tote musste sich +in den hingeworfenen Bettuechern mit den Fuessen verwickelt haben und +dann hingefallen sein. + +Peter Windel stand und stand. Er fuehlte das Brennen des angesteckten +Streichholzes nicht auf den Fingern. Erst als es wieder dunkel war, +zuckte er ein wenig, steckte schnell ein neues an und liess es wieder +verglimmen. Stand und stand. + +Ploetzlich gab er sich einen Ruck und lief wie ein Irrer davon, liess +die Tueren offen, polterte die Treppen hinunter, rannte hastig und +totenbleich an Leuten vorbei und meldete das Geschehene auf der +Polizeiwache. Als er mit zwei Schutzleuten und dem Polizeiarzt +zurueckkam, waren schon Leute aus den Tueren gekommen und musterten ihn, +trippelten nach und blieben an der Eingangstuere stehen mit gereckten +Haelsen, brummten, lispelten. + +Der eine der Schutzleute schloss endlich die Tuere. Man machte Licht in +Peters Zimmer, schaute eine Zeitlang auf die Tote, nahm die zwei oder +drei schwarzen, verkohlten Streichholzkoepfe auf ein Papier und sagte +zu Windel, der saeulenstarr dastand: "Setzen Sie sich." + +Der Arzt beugte sich ueher die Tote, ein Schutzmann pruefte die +Waschtischkante. Der Arzt nickte. + +"Setzen Sie sich!" sagte ein Schutzmann strenger. + +Peter brach endlich in einen Stuhl. + +Die drei lispelten in der Ecke. + +Der Arzt steckte seine Instrumente ein, hustete und stellte sich neben +die Tote. + +Ein Schutzmann nahm neben Peter Platz, einer blieb an dessen Seite +stehen. + +"Wann haben Sie die Frau verlassen?" fragte der Schutzmann und +notierte. + +Fragte weiter, mit einer gewissen haemischen Herausforderung: + +"Haben Sie Beziehungen zu der Hullinger gehabt?" + +"Nein." + +"Wie lange wohnen Sie hier?" + +"Und haben schon oefters solche Streitigkeiten mit der Hullinger gehabt?" + +"Ja," sagte Peter. + +"Und diesmal?" + +"Weil sie mir schon vier Wochen keine frische Bettwaesche mehr gab." + +"Sie waren also grob zu ihr?" + +"Ja." + +Und noch, was er Gehalt haette, was er bezahlen muesse fuer Logis, ob die +Hullinger vielleicht eine groessere Hinterlassenschaft in bar irgendwo +aufbewahrt, beziehungsweise ob ihm bekannt waere, in welchen Verhaeltnissen +die Hullinger gelebt habe. + +Peter antwortete meistens mit Ja oder Nein. Seine Stimme klang +zerbrochen und schwer. + +"Dann muss ich im Hotel schlafen ... Herr Schutzmann ... wenn die Leiche +hier liegenbleiben muss," sagte er endlich hilflos. Er hatte diese +Anordnung vom Arzt gehoert. + +Da stand der Schutzmann selbstbewusst auf, sagte: "Sie kommen mit!"-Alle +Menschen waren noch auf dem dunklen Hof, und entsetzte Blicke fielen auf +die Davongehenden. + + +III. + +Wegen dringenden Verdachts, seine Logisfrau ermordet zu haben, wurde +Peter Windel in Untersuchungshaft genommen und in einer Einzelzelle +untergebracht. Vier hohe, glatte, mit kahler, graugruener Oelfarbe +gestrichene Waende umgaben ihn von nun ab. Unter der Lichtluke stand +die hoelzerne Pritsche, daneben der Abort. Auf dessen Deckel konnte man +bei den Mahlzeiten den Essnapf oder die blecherne Wasserkanne stellen. + +Die erste Nacht lehnte Peter schlaflos an der kalten Tuer. Als die +Waerter in der Fruehe aufschlossen, mussten sie fest druecken, bis seine +steife Gestalt nachgab und endlich, als sie wuetend fluchten, mechanisch +etliche Schritte in den Raum machte. Waehrend die Waerter die Brotration +auf die Pritsche legten und den Kaffee in die blecherne Tasse gossen, +stand der Gefangene die ganze Zeit unbeweglich und zusammengeschrumpft +da. Sie achteten nicht weiter darauf und schlossen geraeuschvoll wieder +die Tuer.-- + +Jetzt war Licht. Die Gefaengnisuhr schlug sieben. + +Peter schaute schuechtern im Raum herum und begann zu gehen. Ging +stoisch die Waende lang. Immer zehn Schritte der Laenge nach und zwoelf +Schritte der Breite nach. Den ganzen Tag, ohne innezuhalten, wenn man +Essen oder Abendbrot brachte.-- + +Erst als das Licht beim Hereinbruch der zweiten Nacht verlosch, legte +er sich auf die Pritsche, zog die rauhe Decke ueher sich und schlief +wie immer. Jaeh erwachte er in der anderen Fruehe. Es war stockdunkel. +Er griff in die Gegend des Abortes, als suche er etwas oder wolle +Licht anstecken und stiess dabei so hastig an die Wand der Wasserkanne, +dass dieselbe mit einem Knall auf den Boden fiel und klatschend die +Fluessigkeit aus ihr peitschte. Erschreckt schwang sich Peter von der +Pritsche, hielt seine aufgeknoepften Kleider raffend zusammen und +lauschte aufmerksam.-- + +Jetzt schlug es fuenf. Er atmete auf und begann unsicher und vorsichtig +umherzutasten. Auf einmal fuehlte er die Naesse an seinen Fuessen. + +"Herrgott! Herrgott!" brummte er muerrisch und besann sich. Aber in +diesem Augenblick raekelte wer an der Tuer. Ein Atmen wurde vernehmbar, +das Licht in der hohen Decke flammte auf und wieder standen die kahlen +Mauern ringsherum, das kleine Loch glotzte in den totenstillen Raum. + +"Was machen Sie denn da?!... Sind Sie ruhig!" bruellte der Waerter +draussen aergerlich. Peters Finger streckten sich und liessen von den +Kleidern. Seine Hose fiel langsam herab. Ein Zittern schuettelte seinen +ganzen Koerper. + +"Es ist schon fuenf Uhr vorbei, ich muss weg!" hauchte er gedaempft. +--Aber es war schon wieder dunkel. Und still.-- + +Erst nach einer Weile brachte Peter die Kraft auf, seine Hose +hochzuziehen, und tastete sich zur Pritsche, legte sich darauf. Sein +Herz schlug hoerbar und mit jedem Uhrenschlag erregter. Um sechs Uhr +schwang er sich empor und blieb dann hoelzern sitzen. + +Das Licht griff endlich wieder von der hohen Decke in den Raum. Die +Tuer oeffnete sich unter dem Knarren der Schluessel. Ein Waerter stellte +das Fruehstueck herein und der andere an der Tuer warf den Aufwischlumpen +her und beide brummten und schimpften wegen des Wasserumschuettens, +hiessen Peter aufwischen. Fast froh darueber ergriff dieser den Lappen, +kniete hin und wollte alles moeglichst in die Laenge ziehen. Aber die +Waerter zeterten und trieben zur Eile. + +"Vorwaerts! Vorwaerts! Glauben Sie, wir sind zu Ihrer Unterhaltung da! +... Marsch! Marsch! ... So ... fertig!" + +Sie rissen ihm den Lumpen aus der Hand und waren schon draussen. Wieder +wich die Tuer in die Wand zurueck. Die Schluessel knirschten. Das Guckloch +starrte wie ein graessliches, ausgestochenes Auge in den kahlen Raum. + +Peter kniete benommen da. Lange. + +Es war still! Still!! + +Fuerchterlich still! + +Wie ein aufgescheuchtes Tier hob der Kniende ploetzlich den Kopf, +schaute scheu um sich und sprang mit einem Satz an den Abort, hob den +Deckel und schloss ihn hastig wieder, hob und schloss. + +Die Spuelung rauschte. Auf und zu klappte der Deckel. Es krachte, +rauschte. Immer hastiger, schneller, motorisch riss Peter auf und zu, +auf und zu, immerfort, immerzu, nur um die Stille nicht mehr zu hoeren, +hob und deckte zu, es rauschte, rauschte--bis der Waerter schrie: +"Sie!! ... Sie! Sind Sie verrueckt geworden!!--Passen Sie auf! ... Man +ist schon mit anderen fertig geworden! ... Warten Sie, Sie!!" + +So erschrocken war Peter, dass er noch lange zitterte, dann ging er +hastig wieder die zehn und die zwoelf Schritte. Den ganzen Tag.-- + +Viele, viele Tage, jedesmal um fuenf Uhr frueh, erwachte Peter so jaeh. +Immer griff er hinueber zum Abortdeckel, wollte Licht anstecken, sprang +auf, brachte seine Kleider in Ordnung,--machte etliche Schritte, stiess +an die kalte Tuer und prallte zurueck. + +Neunzehnunddreiviertel Jahre gleichmaessiges Aufstehen lassen sich +schliesslich nicht aus der Gewohnheit ausloeschen. + +Um sechs Uhr pfiff es. Wenn er am Hebel stand undihn herumriss, fing +der maechtige Koloss der Fabrik zu surren an, die Riemen klatschten, +quietschten, es krachte, bebte, haemmerte.... + +Peter war so mit dem Kopf an die Tuer gestossen, dass er taumelnd +zurueckfiel, glatt auf den Boden und liegenblieb.-- + +Wo!? Wo war man denn? Wo denn! Wo!!? + +Auf der Welt? In der Hoelle? Tief in der Erde?-- + +Es war still! + +Nirgends war man! Nirgends! Gar nirgends! + +In einem Grab, in einem luftleeren, steinernen Sarg! In einer +fressenden Stille! Und durfte langsam, ganz langsam sterben. Niemand +wusste, sah und hoerte etwas. Es war still! Still!!--Still!!! + +Doch--man hoerte etwas, zeitweilig ein ganz fernes Klopfen, ein Kratzen +in den Waenden. Aus einer anderen Gruft vielleicht?!--Nein! Es waren +Holz--oder Mauerwuermer, die nagten, nagten, weil sie einen Kadaver +witterten.-- + +Die dann herabfielen wie Tropfen und langsam in den Leibbohrten,--nagten, +nagten und alles auffrassen!-- + +Das Licht kam wieder. Peter Windel stand auf, ging zehn und zwoelf +Schritte. Er ass jetzt auch.-- + + +IV. + +Endlich nach fuenfzehn Wochen Haft fand die Verhandlung gegen Peter +statt. + +Stupid folgte der Gefangene den Waertern durch lange Gaenge, dann fuehlte +er Luft und bekam Angst, atmete sparsam. + +Und dann sass er in einem Saal, sah Gestalten, sah starre Augen und +hoerte Redegeraeusche um sich herum und aus sich heraus. + +Zuerst sass er da wie eine leblose Puppe. Dann, mit jedem gehoerten +Wort, kam mehr und mehr das Leben in ihn. Sein Gesicht bewegte sich, +als oeffne es sich aus einer Erstarrung--und dann lag ein Laecheln die +ganze Zeit auf seinen stoppeligen Falten und blieb.-- + +Die Dienstmagd vom Vorderhaus sagte aus. Einfach klangen ihre Worte. +Sie sprach nicht zu viel und nicht zu wenig. + +Das Geraeusch der Worte war erst undeutlich, dann wurde es klarer und +klang.-- + +Am fraglichen Sonntag nachmittags zwei Uhr vernahm diese Dienstmagd +ein Wimmern aus dem offenen Fenster des Windelschen Zimmers. Dem +folgte ein grobes, kurzes Schimpfen. Dann sah sie den Angeklagten auf +der Treppe, wie er ploetzlich innehielt und wieder umkehrte. Und wieder +hoerte sie das Wimmern, noch deutlicher sogar und ein wuetenden Schimpfen, +dann einen Tuerzuschlag und Windel mit grimmigem Gesicht die Treppe +hinunterrennen. + +Wie ruhig sie das sagte: "Und dann, gleich darauf, habe ich einen +dumpfen Knall und einen kurzen, nicht recht lauten Schrei, der eher +ein Stoehnen war, gehoert und das Wimmern hat auf einmal aufgehoert. Ich +weiss nicht mehr genau, war's gleich nach dem Tuerzuschlagen oder ein +wenig spaeter. Ich bin dann zu meiner Schwester gegangen, weil ich +Ausgang hatte.... Die Leute im Vorderhaus und im Hinterhaus? ... Ja +... soviel ich gesehen habe, die waren fast alle weggegangen ... schon +mittags.... Es war ja auch so schoenes Wetter." + +Peter Windel sass da und lauschte. Es klang!-- + +Er begann auf einmal langsam--dann aber stossweise zu schluchzen. Eine +Bewegung kam in den Saal. Eine Glocke laeutete. Lauter rief wer! +Ja!--Ja! Das konnte der Vesperruf in der grossen Halle sein! Das war +dasselbe, duenne, schrille Laeuten.-- + +Dann klangen wieder Stimmen hin und her. + +Der Chef, die Arbeiter und Angestellten und die fruehere Logisfrau +sagten guenstig ueber den Angeklagten aus. Die letztere weinte sogar +buchstaeblich und sprach erregt, dass der Staatsanwalt sich verpflichtet +fuehlte, sie zu fragen, wie lange Windel sie kenne, ob er sie zuletzt +noch aufgesucht und ob sie zu ihm in naeherer Beziehung gestanden habe. + +Die dicke Frau wurde darob sehr schrill, schrie und es laeutete +abermals. Peter Windel war wieder ruhig geworden und laechelte +wieder.-- + +Laechelte, trotz der furchtbaren Anklagerede des Staatsanwalts, +laechelte starr in den Raum, als der Rechtsanwalt redete und redete.-- + +Man fand keine Absicht in dieser Tat. Die Beweise waren zu mangelhaft. +Der Angeklagte war ein unbescholtener Mensch. Bis in die Schulzeit +hatten die eifrigen Nachforschungen der Behoerden zurueckgegriffen, +nichts liess auf einen jaehzornigen, boeswilligen Menschen schliessen, +sondern eher auf einen schuechternen, scheuen, dem das Leben stark +mitgespielt hatte.-- + +"Alles, was die tote Frau Hullinger hinterlassen hat, fand man +unberuehrt. Sie haben ein Zeugnis aus der weitaus ueberwiegenden +Mehrzahl der Aussagenden, dass der Angeklagte nie zu einer solchen Tat +faehig sei. Wie kann man annehmen, dass ein solcher Mensch wegen einer +geringfuegigen Unreinlichkeit einfach eine alte Frau dermassen an den +Waschtisch wirft, dass sie augenblicklich tot ist!" rief der Verteidiger. +Und viele nickten. Man hoerte deutlich ein Aufatmen, als der Freispruch +bekanntgegeben wurde und sah aufgeheiterte, fast erloeste Gesichter.-- + +Peter Windel war frei. + +"Kommen Sie nur gleich wieder!" hatte sein Chef gesagt, als er ihm +beim Weggehen die Hand drueckte. Und der Rechtsanwalt hatte einen Blick +wie ungefaehr: "Na, das haetten wir wieder durchgedrueckt!" + +Nach fuenfzehn Wochen spuerten Peters zoegernde + +Schritte wieder Strassen, hoerten seine Ohren Trambahnrattern, sahen +seine Augen Menschen, Farben, Fenster, und er wusste selber nicht, wie +und weshalb er ploetzlich an einen Schalter herantrat und sagte: +"Dritter Klasse! Ja!" + +Er stieg auf den Zug und ging nicht in die Kupees. Eine Nacht lang +stand er auf dem eisernen, ratternden Vorplatz eines Wagens und +atmete.-- + +Der Wind pfiff. Der Zug sauste, riss die Luft auseinander, zog +vorbeifliegende Lichter in die Laenge, bohrte hemmungslos in eine +dunkle, ungewisse Ferne. + +Keine Wand mehr, keine zehn und zwoelf Schritte, kein Ende--das Toben +und Brausen wieder! Nur diesmal wie ein Flug durch einen unermesslichen +Raum.-- + + +V. + +Aber--es ist nicht wahr! Man kann nichts wegtrinken, nichts vergessen +machen, nichts ausloeschen! Man traegt es mit sich wie ein unsichtbares +Schneckenhaus und zuletzt!?-- + +Es sind immer wieder die kahlen, glatten Mauern, die Tuer mit dem +ausgestochenen Aug' in der Mitte, die zehn und zwoelf Schritte.... + +Es klopft.-- + +Es kratzt in den Waenden. Die Wuermer nagen. Sie warten und fallen +ploetzlich in einer Nacht wie schwere Tropfen herab, bohren sich ins +Fleisch, nagen--nagen.-- + +Peter Windel hatte eine wilde Flucht hinter sich. Durch Staedte und +Doerfer war er gefahren, in Hotels und in Wirtschaften, in +Animierkneipen oder am Leib eines Weibes hatte er die Naechte +verbracht. Er trank, warf das Geld weg, ass, sass in den Theatern und +den Kinos, in den Bars und Vergnuegungslokalen jeder Klasse. + +Es war immer wieder die Stille, das Stockdunkle, das Grab!-- + +Er floh und kehrte endlich wieder zurueck zu Jank, nahm die Arbeit +wieder auf und wurde ruhiger. Es trat die alte Regelmaessigkeit in sein +Leben. Ereignislos verliefen die Jahre. Er wurde alt. Gebueckt ging er. + +Der Chef nahm ihn in die Abteilung fuer technische Angelegenheiten ins +Bureau. Da sass er nun jeden Tag auf seinem Drehstuhl und rechnete, +schlug das Buch zu, kam am aendern Tag wieder und rechnete. + +Neben ihm sass das Schreibmaschinenfraeulein, weiter am Fenster vorne +der Ingenieur und manchmal auch der Chef. + +Jahre.-- + +Ploetzlich an einem Nachmittag gegen drei Uhr warf Peter Windel die +Feder weg, riss sich fast soldatisch herum, ging an den Schreibtisch +des Ingenieurs und sagte mit hohler, kalter Stimme: "Die Sache +liegt vollkommen glatt. Fuer den Verlust mache ich Sie keinesfalls +haftbar." + +Steif stand er einen Augenblick vor dem verbluefften Herrn und drehte +sich rasch um, rannte zur Tuer und war weg. + +Schon nach der Mittagspause hatte er sich den Hut unter den +Schreibtisch gelegt. Und jetzt war er froh, dass kein ihm bekannter +Strassenbahner den Wagen fuehrte, in den er stieg. + +Nach der fuenften Haltestelle stieg er aus. Er war mitten in der Stadt. +"Das Urteil im Heinold-Prozess! Zwoelf Jahre Zuchthaus!" schrien die +Zeitungsverkaeufer und flatterten mit den Extrablaettern herum. + +Wichtige, gespraechige Gesichter tauchten auf, gedraengte Gruppen +stauten sich um die Anschlagssaeulen. + +Peter bohrte seine Augen spaehend in die staubige Luft. Nach einem +regen Ausschreiten blieb er auf einmal stehen, murmelte etliche Worte +heraus, drehte sich mechanisch herum und ging in den Blumenladen, +vor dem er jetzt stand. Nach einer langen Weile kam er mit einem +grossen, auffallend schoenen Rosenstrauss heraus, und ein kaltes Laecheln +lag auf seinen stoerrischen Zuegen. + +"Lebenslaenglich in einem Grab ... da schon lieber gleich weg," hatte +er gestern beim Treppenhinaufgehen gehoert, und dann sagte eine andere +Frau superklug: "Beantragt erst. Es haengt noch vom Gericht ab." + +Heute war niemand im Treppenhaus. Auch die Wohnung war leer. Die +Logisfrau war wahrscheinlich zum Putzen gegangen und ihr Mann kam erst +gegen sieben Uhr abends von der Arbeit. + +Peter oeffnete rasch und schritt behend in sein Zimmer, legte behutsam +den Rosenstrauss auf den Tisch und holte sich in der Kueche warmes Wasser +zum Rasieren.-- + +Als er bereits im Gebrock vor dem Spiegel stand, ueberfiel ihn auf +einmal ein massloses Zittern, und eine Totenblaesse ueberzog sein +Gesicht. Mit Gewalt straffte er seine Fuesse. Dann nahm er endlich den +Strauss und verliess die Wohnung. + +Es war schon dunkel, als er vor der Tuer des Staatsanwalts Petersen +stand und laeutete. + +"Ich moechte gern ... wenn es erlaubt ist ... dem Herrn Staatsanwalt +diese Blumen bringen ... und--und gratulieren," stotterte er dem +Maedchen ins Gesicht. Das liess ihn ein und fuehrte ihn in ein +Empfangszimmer. Nach ganz kurzer Zeit tat sich die Mitteltuer auf, und +Peter stand vor dem Staatsanwalt. Einen Augenblick hatte der Mann eine +steinern ernste Miene, dann flossen alle Falten in ein Wohlwollen und +er laechelte geschmeichelt. + +Mit vielen unbeholfenen Verbeugungen reichte ihm Peter den Rosenstrauss +und stotterte devot: "Fuer ... fuer den ausserordentlichen Eindruck, den +ich von Ihrer Anklagerede empfing ... nur eine kleine Erkenntlichkeit +meiner Wenigkeit, Herr ... Herr Staatsanwalt, Herr....!" + +Der Staatsanwalt nahm ihm mit aller Freundlichkeit der Herablassung +den Strauss aus der Hand, fuehrte ihn an die Nase und sog in vollen +Zuegen den Duft ein, hob den Kopf wieder, sagte: "Ah ...!" und drehte +sich laechelnd um, zur anderen Tuer schreitend: "Das muss ich gleich +meiner Frau sagen...." + +Jetzt, da er ihm den Ruecken zugewendet hatte, rief Peter ploetzlich mit +schneidender Hast: "Eins, zwei, drei! ... einen Augenblick ..." und er +laechelte, wie um sich zu besinnen ... "sind drei ... aber nein, nein! +Das stimmt nicht! ... Zehn und zwoelf, verstehn Sie ... sind?" + +Der Staatsanwalt hatte sich erschreckt umgedreht, stand unschluessig. +Peters Mund bewegte sich fieberhaft. Schaum stand auf seinen Lippen: +"Verstehn Sie ... zehn und zwoelf Schritte! Den ganzen Tag! Den ganzen +Monat--ein Jahr--zwei!--drei!--vier--zwoelf Jahre! Zwoelf Jahre!!" + +Und noch ehe der Staatsanwalt auf ihn zustuerzen konnte, stiess ihm +Peter mit aller Wucht sein feststehendes Messer in die Brust, dass er +lautlos zusammenbrach und vornueber hinfiel. Dumpf hallte es. Der +Koerper warf sich etliche Male zuckend und blieb dann steif liegen. + +Peters Mund ging auf und zu: "Zehn und zwoelf Schritte--einen Tag, +einen Monat--ein Jahr--zwoelf Jahre, zwoelf----" + +Die Tuer ging auf. Hoch stand ihr Dunkel. Etwas Buntes, Weisses +flimmerte dazwischen! Peter schrie in einem Schrei: + +"Fuer den Verlust mache ich Sie keinesfalls haftbar,--Zwoelf Jahre Grab! +Verstehn Sie ... Das ausgestochene Aug'! Die Wuermer! Zwoelf Jahre ... +Verstehn Sie! Zwoelf Jahre Nirgends! Nicht Hoelle! Nicht Welt! Zehn und +zwoelf Schritte ... die Wue-ue-uermer!".... + +Nach der irren Hast der ersten Worte spaltete sich die Stimme, +ueberschlug sich und klang zuletzt wie ein keuchendes, ersticktes +Stoehnen. Jetzt hielt er inne. + +Die hohen Tueren standen offen da. Schwarz und duester. Gegen ihn +gerichtet wie drohende Rachen. + +Die Gestalten und Gesichter waren fort. Es war still. Still!--Mit weit +aufgerissenen Augen starrte Peter in diese Leere. Sein Koerper begann +zu schlottern, aber er riss sich zusammen. Er wich zurueck. Sein Kopf +stiess dumpf an den Fenstergriff. Erschrocken wandte er sich herum. Die +Helle brach ueher ihn. Er oeffnete rasch. + +Jetzt befiel ihn wieder das Zittern. Sein Gesicht verzerrte sich. Er +wollte umsehen und wagte es nicht. Seine Arme umklammerten das +Fensterkreuz. + +Furchtbar schrie er: "Hilfe! Hi-ilfe!" + +Er schwang sich ploetzlich mit einem wilden Satz aufs Fenster und +sprang in die Tiefe.-- + + + + +SINNLOSE BEGEBENHEIT + + +Um es ohne Umschweife zu sagen--: Michel Zoell hatte heute einen guten +Tag. + +Vorgestern, als er stumpfsinnig in der Waermestube der Arbeitsvermittlung +sass und an dem nassen, verfilzten Zigarrenstummel saugte, den er auf dem +Hergang in der Fruehe gefunden hatte, kam sein Weib herein und sagte zu +ihm: "Dein Alter ist gestorben ... Vom Elektrizitaetswerk haben sie +hergeschickt, dass er auf der Strasse umgefallen ist.--Schau nach!" + +Es stimmte. + +Jetzt lag der Tote unter der Erde. + +"Ich komm schon!--Nachher!" sagte Michel zu seinem Weib nach dem +Begraebnis und schickte es heim, waehrend er zur Logisfrau des +Verstorbenen ging.-- + +Wie oft hatte Michel es nicht gehoert, wenn Fusstritte auf ihn traten, +wenn er in eine Ecke flog, wenn die Faeuste seines Vaters auf seinen +Kopf niedersausten oder eine Eisenstange, ein Teller, eine Buerste: +"Knochen, verstockter!--Der Teufel soll mich kreuzweis' holen, wenn +ich dir einen Pfennig hinterlass'! Ertraenkt sollte man dich im ersten +Bad haben, du Nichtsnutz!" + +Mit sechszehn Jahren noch, als Michel schon im letzten Lehrjahr stand +und eigentlich keine Last mehr war, wollte der Alte den Jungen +wegraeumen und uebergoss ihn beim Heimkommen mit siedendem Kartoffelwasser, +weil er das Vogelfutter fuer den Kanarienvogel mitzubringen vergessen +hatte. + +Michel musste damals ins Krankenhaus gebracht werden und sah zum +erstenmal, wie ein Bett aussah. + +Es war schoen in diesen hellen Raeumen. Man sah viele fremde Menschen, +die allerhand erzaehlten. Michel fasste Mut da und ging nach seiner +Entlassung mit dem was er auf dem Leibe trug, auf die Wanderschaft, +schlug sich auf alle moegliche Art und Weise durchs Leben. + +Mutter--?! Ein komischer Begriff! + +Michel hatte noch so etwas wie eine abgemagerte Frau in einem Haufen +Lumpen im Gedaechtnis. Ein Paar spindelduerre Arme wie Stoecke. Und +Huesteln. + +Und das, was er nun seit ungefaehr zwei Jahren unausgesetzt ablebte: +Eben ein Zimmer voll Gerumpel, mit erstickender Luft und einem +Vogelbauer im staubigen Fenster. + +Nur--dass Michels Weib zwei Kinder hatte und hin und wieder zum Putzen +ging, dass das jetzige Zimmer keinen Vogelbauer hatte, ein klein wenig +heller war, aber enger als das fruehere. + +Vor zwei Jahren war es etwas anders. Damals arbeitete Michel noch in +der Motorenfabrik. Es war guter Verdienst. Aber wie der Teufel sein +wollte, die Firma machte Bankrott, kam noch hinzu, dass das damalige +Haus, in dem Michel mit Weib und Kindern in einer Zweizimmerwohnung +hauste, in ein Warenhaus umgewandelt wurde, und die Leute nach langem +Hin und Her auf die Strasse gesetzt wurden. + +Weshalb soviel Aufhebens machen! Die Entwicklung der Dinge laesst sich +leicht denken. Die Hauptsache war immer: Man hatte zur Not ein Dach +ueher dem Kopf bekommen. Man wusste, wo man hingehoerte.-- + +Nun, es ist etwas Wahres dran an dem Sprichwort: "Wo die Not am +groessten, ist Hilfe am naechsten." + +Trotzdem der Verstorbene sich vielleicht geschworen haben mochte, nie +und nimmermehr fuer Michel etwas zu hinterlassen, fiel dem Sohn jetzt +die ganze erraffte Habschaft des Alten zu.-- + +Es war erst fuenf Uhr nachmittags. Michel konnte in aller Ruhe das +Zimmer des Verstorbenen durchstoebern und alles mitnehmen. Er fand +ausser baren fuenftausend Mark einige Anzuege, von denen er den besten +sogleich anzog, einen Ueberzieher, den er ebenfalls umlegte, und +allerhand Gerumpel, das er dem Taendler Finsterhofer verkaufte. + +Er war gut aufgelegt, der Michel, lachte und gab schliesslich dem +draengenden Taendler auch das ganze andere Geschleppe, die uebrigen +Anzuege und was da noch war. + +Die Tasche voll Geld schritt er in die daemmernde Stadt. + +"Ist doch gut, wenn man weiss, wer einen auf die Welt gebracht hat," +brummte er aufgeheitert und ging in eine der bekannten Wirtschaften +inder Bahnhofsnaehe, um noch ein paar Glaeser zur Feier des Tages zu +trinken. + +Es kam ihm merkwuerdig vor, als er so unter den anderen Arbeitern, +Zuhaeltern, Herumlungerern und alten Huren sass. + +Einige kannten ihn und massen ihn von der Seite. + +"Hast das grosse Los gezogen, Michel! He ... gibst was aus?" rief ihm +ein Tisch zu und in jedem Blick war ein konstatierendes Zwinkern. + +Michel setzte sich. Es tat ihm wohl, dass soviel Freundlichkeit ihn +umgab. Auf seinem Gesicht war sogar eine Art Goennerhaftigkeit. + +"Meinetweg'n ...," rief er und lachte, "trinkt. Mein Alter hat ins +Gras gebissen! Es kommt mir nicht drauf an....!" + +Und die Gesichter um ihn zaeunten sich enger, fingen zu glaenzen an. +Man trank sich kameradschaftlich zu. + +"Erste Runde ... wer bezahlt!" schrie der martialische Kellner und +Ordnungsmann in den Tisch. + +"Daher!" schrie Michel und griff in seine Hosentasche, zog die Scheine +heraus. + +"Da gehn schon noch ein paar Runden, Michel?!" riefen mehrere. + +"Kameradschaft bleibt Kameradschaft!" bekraeftigte ein anderer. + +Und Michel legte einen Hundertmarkschein auf den Tisch: "Soviel soll +genug sein!" + +Der Tisch war zufrieden, wurde laut, man brachte Bier und liess Michel +leben! + +Dann stand Michel endlich auf. Einige wollten ihn noch halten, +bettelten. Aber ein paar andere mischten sich ein und riefen: "Nein +... richtig gesagt, sind wir zufrieden ... der Michel kommt wieder!" + +Und jeder drueckte Micheln die Hand. + +"Ein kreuzguter Mensch!" hoerte dieser noch, als er die Tuer hinter sich +zuzog und seine Schritte eiliger straffte. + +Die grossen Bogenlampen leuchteten schon durch den nachtdurchwobenen +Nebel. Aus den Kaffeehaeusern griffen die Lichter, die Strassenbahnen +flimmerten, surrten und laeuteten. + +Michel stieg nicht ein. Er ging zufrieden dahin und laechelte manchmal. +Es schien, als wolle er noch einmal, ganz fuer sich allein, das eben +zuteil gewordene Glueck auskosten. + +Er griff nach seinem Geld. Er griff hastiger. Nichts. + +Seine Knie begannen zu schlottern, sein Herz stand jaeh still. Er griff +nochmal. + +Das ganze Geld war weg. Man hatte es ihm gestohlen. + +Er taumelte an eine Hauswand. Griff, suchte--suchte alle Taschen +durch, vorsichtig, zitternd, furchtbar. + +Nichts mehr. + +Einen Augenblick stand er starr. + +Die Trambahn surrte vorbei. Ganz duenner Schnee fiel. Die Lichter +flimmerten. Es rauschte, rauschte--und war doch grauenhaft still. So +als ob alles wie ein fliessendes Wasser leise um ihn herumfloesse. Er +hoerte es nicht und hoerte es doch, hoerte es wie ein verborgenes, leises +Kichern.... + +Der Schnee fiel. Michel bewegte sich nicht von der Stelle. + +Lange.-- + +Endlich gab er sich einen Ruck, rannte in die Wirtschaft zurueck, auf +den Tisch zu. + +Es war keiner mehr da. Er fuhr den Ordnungsmann an. Fragte, flehte, +weinte. Vergebens. + +In sich zusammengesunken verliess er die Wirtschaft. Machte sich auf +den Heimweg. Als er vor dem Haus stand, in dem er wohnte,--hielt er +inne. Er griff nochmal in alle Taschen. + +Dann, als er die Treppen emporstieg, schien es, als haette sein Gang +wieder die gewoehnliche Ruhe und Gleichgueltigkeit, mit der er sonst +dahinschritt. Der Dunst des Zimmers schlug ihm aetzend entgegen. Es war +still und duester. Die zwei Kinder lagen im Korb, in einem Berg von +Lumpen, und schliefen. Anna sass am Tisch, die Petroleumlampe flammte +aermlich und blaeulich ueher ihre Haende. + +Gleichgueltig schaute das Weib vom Sockenstopfen auf und rief: "Hast +was gefunden?" + +Michel schwieg, drehte sich umstaendlich um und schloss die Tuer. Dann, +seinem Weib wieder zugewendet, sagte er: "Zuwas stopfst' Socken? ... +Brauchst bloss Licht." + +"Hast denn solang braucht?" fragte Anna und fixierte nunmehr die +ungewohnte Kleidung ihres Mannes. + +"Ja ...," sagte Michel und zog seinen Ueberzieher aus, "ist eine schoene +Strecke gewesen...." + +"Ist ein schoenes Stueck Gewand," sagte Anna wieder, als Michel naeher +ans Licht getreten war und sich auszuziehen begann, "sonst hat er also +nichts gehabt?" + +Der Michel schnaubte ein paarmal auf. Dann rief er einsilbig: "Geh, +leg dich nieder ... fuer uns waer's besser gewesen, man haett' uns im +ersten Bad ertraenkt ... leg dich nieder, Alte!" + +Und plumpsig liess er sich ins Bett fallen, dass die Federn knarzten. +Bald darauf lag auch Anna an seiner Seite. + +Am aendern Tage trug Michel den Ueberzieher aufs Leihamt und gab Anna +das Geld. + +Wieder wie immer hockte er stumpfsinnig in der Waermestube der +Arbeitsvermittlung.-- + + + + +DIE LUNGE + + +Die Arbeiterin Manztoeter ist der Lungenschwindsucht erlegen. Sie war +eine stille, fleissige Person. Sie schaffte sich auch etwas. + +Vor vier Jahren trat sie in die Zigarettenfabrik Zuccalisto ein. +Bauernmagd war sie vorher gewesen. Eine von den vielen, die die Stadt +anzog, der Verdienst und die Aussicht auf eine baldige, einigermassen +ertraegliche Ehe vielleicht. + +Die Maenner auf dem Lande waren plump und bedacht auf offene manchmal +in den Stall, fassten sie an der Brust, packten ihr Kinn, leckten ihre +Wangen. Ein rothaariger Knecht setzte ihr aufdringlich zu, stand und +stand ueberall und schlug einmal sinnlos auf sie ein. Daraufhin floh sie +in die Stadt. + +Sie aenderte sich nicht, sparte, arbeitete und war fromm ohne +Bigotterie. Noch immer las sie das Wochenblatt jedesmal aus und den +Roman und hielt sich ausserdem "Die christliche Dienstmagd". Unter dem +vielen Gemisch von afrikanischen Missionsberichten, fand sie eines +Tages die Geschichte eines Farmers in Suedwestafrika, leis ueberhaucht +von friedlich-fleissigem Eheidyll. + +Einem solchen sparte sie das Geld vielleicht. + +Vierhundert Mark hatte sie schon auf der Sparkasse. Noch vielleicht +zwei Jahre oder laengstens drei und es waeren tausend gewesen. Tausend +Mark!-- + +Das ist schliesslich nur Angewohnheit, dass man zur Vesper fuer fuenfzig +Pfennig Kaese oder ein Stueck Wurst haben muss mit Bier. Kaffee mit einer +Semmel geht auch oder Gerstenauflauf von Mittag. Machte schon wieder +zwanzig Pfennig weniger.-- + +Ausserdem kann man sich woechentlich zweimal zu den Ueberstunden melden. +Sind auch wieder drei Mark fuenfzig Pfennig fuer je eine Stunde. Man +macht jedesmal drei, sind zusammen woechentlich einundzwanzig Mark. +Eineinhalb Tagelohn mehr. Dann, wenn man heimkommt, ist's meistens +schon dunkel, man braucht kein Licht mehr, legt sich einfach gleich +ins Bett und schlaeft ein, hat gar keinen Hunger mehr.-- + +Zuletzt waren es schon sechshundert Mark. Sechshundert! + +Und da kam die Lunge. + +Und kurz darauf haette es eine allgemeine Aufbesserung gegeben, weil +die Zigarettenfabrik Zuccalisto fuenfundvierzig Prozent Dividende +verteilen konnte dieses Jahr und auch was tun wollte fuer ihre Arbeiter. + + + + +OHNE BLEIBE + + +Es war schneidend kalt.-- + +Der Schutzmann an der Ecke sah einem angeheiterten Doppelpaar +griessgraemig nach und knurrte muerrisch. + +Durch den Gedanken, dass diese Leute nun in ihre warmen Stuben heimgingen +und vor dem Zubettgehen vielleicht noch heissen Tee tranken und eine +Kleinigkeit zu sich nahmen, hatte er sich davon abbringen lassen, weiter +auf und ab zu gehen und seine durchfrorenen Beine durch zeitweiliges +Stampfen einigermassen warm zu erhalten. Jetzt stach die Kaelte doppelt +quaelend in allen seinen Gliedern. + +Er knirschte verdrossen, zog seinen Kopf noch tiefer in den +aufgestuelpten, starren Mantelkragen, bog mit sichtlicher Ueberwindung +die steifgewordenen Knie und ging wieder weiter.-- + +Die Stimmen der Spaetlinge verschwammen mehr und mehr. Es wurde wieder +still. Wie ausgestorben dehnte sich das verlassene Geviert aus. Duester +und drueckend ragten die Hauswaende empor. Der Schnee fiel dicht und +sehr ruhig.-- + +Missmutig schwenkte der Schutzmann in eine breitere Strasse ein. Durch +die gleichmaessiger verteilte Schneeflaeche schien es hier heller und +weiter zu sein. Er blickte erleichtert in die weisse Eintoenigkeit. Eine +strichhaft hagere Gestalt kam auf ihn zu. Der Mann schien weder Kopf +noch Arme zu haben. Nur die Beine warf er mechanisch nach vorne wie +ein aufgezogenes Gespenst. Als er kaum noch fuenf Schritte von ihm +entfernt war, hustete der Schutzmann sehr vernehmlich und hob sein +veraergertes Gesicht. + +"Sie!" rief er dem Herankommenden gehaessig laut entgegen und warf sich +in straffere Haltung. + +Die Gestalt blieb stocksteif stehen. Nur der Frost schuettelte sie. + +"Haben Sie Papiere?" fragte der Schutzmann, noch einen Schritt +machend, und musterte den Mann. + +Der ruehrte sich nicht. + +"Sie!!" bruellte der Schutzmann wie fluchend und leuchtete dem Fremden +mit der Taschenlaterne entgegen. Alles an ihm war wieder in bester +dienstlicher Ordnung. + +Ein harkiger, abgerissener, verdorrter Baumstamm oder eine arg +ramponierte Saeule konnte es sein, was da im Lichtkreis stand. Raschen +Blicks ueberflog sie der Polizist. + +"Ihre Papiere!--Sind Sie denn taub!" schrie er abermals, wuetend ueber +das Aufgehalten werden bei solcher Kaelte, und setzte schnell, wie +witternd hinzu: "Oder haben Sie keine?" + +Der Fremde zog endlich seine erstarrte Hand aus der tiefen Hosentasche +und reichte ihm die schmutzigen, durchnaessten Ausweise. + +"Karl Pruvik, Klempnergehilfe" stand auf der ueberleuchteten +Invalidenkarte. Herkunft, Geburts--und letzter Dienstort und Datum +waren verzeichnet. Abgestempelte Marken klebten auf der ersten Haelfte. + +Der Schutzmann steckte das Papier unter den blauen Militaerpass und +schlug diesen auf. + +"Infanterist Pruvik, Karl.--14. Regiment" orientierte die erste Seite. + +"Verwundet bei Luneville (Armschuss rechts), desgleichen bei Tarnopol +(Knieschuss links), verwundet bei Verdun (Schulterschuss links)" war im +Anhang eingetragen, und so und soviele Gefechte und Schlachten erwaehnte +das naechste Blatt. + +Das Gesicht des Schutzmanns verlor mehr und mehr die stiere Haerte, hob +sich etwas hoeher aus dem Mantelkragen. + +"Hm!--Auch Kriegsteilnehmer? ... Ohne Bleibe, was?" sagte er mit +zufriedener Ruhe und streckte dem regungslos Dastehenden die Papiere +him. Dessen Gestalt schwankte ein klein wenig nach vorne. + +"Hundekaelte das! Warten Sie, es geht schon!" rief da der Schutzmann +noch loyaler und steckte dem Mann die Papiere hilfsbereit in die +Rocktasche: "Ist ja noch nicht so spaet. Noch alles offen in der Stadt. +Sie kommen sicher unter!" + +"So," sagte er eben, als in naechster Naehe die Uhr zehn schlug. Einen +Augenblick horchte er auf, nickte und entfernte sich eilsamen +Schritts. Schon von weitem erspaehte er die Abloesung. + +Karl Pruvik riss sich fest zusammen und schritt wieder weiter. + +Der Schnee fiel und fiel. + +Nach einer langen Weile wurde es endlich etwas lichter. Menschen +stapften vorueber. Grelle Autolaternen glotzten ueher einen freien +Platz. Ueher einem maechtigen Saeulenportal leuchteten gross die +Buchstaben "Schauspielhaus". + +Vielleicht vom Licht angezogen verschnellerte Karl Pruvik unwillkuerlich +seine Schritte, eilte geraden Wegs auf den Theaterausgang zu. Eben +stroemte die Besucherschar aus den grossen, glitzernden Toren. Er befand +sich im Nu mitten im dichtesten Gemeng und draengte sich vorwaerts. Eine +warme Duftwelle schlug ihm entgegen, starkgeschminkte Gesichter tauchten +auf und seltsam kuehne Reflexe warf das grelle Licht auf glaenzende, +rauschende Damentoiletten. Ueberschnell schwirrten geschaeftige Stimmen +ineinander, Seidenrauschen, Laecheln, Autohupen und das fadenduenne Zirpen +suesslicher Tonfaelle vermischten sich zu einem betaeubenden Geraeusch. +"Einfach glaenzend!" rief wer. "Ruehrend, wie die Hohlmann spielt!--Nein, +einfach entzueckend!" zwitscherte eine ueberhelle Stimme. "Huw, dieses +Schweinewetter!-Kommt schnell ins Auto!" liess sich zwischendurch vernehmen. +Und wieder: "Kritisch gewertet--: Eine Glanzleistung in Regie und Spiel!" +Dann das laute, aufdringliche Gekicher der Backfische: "Dieses herrliche +Rueschenkleid, Mama!--Hast du gesehen,--den Sonnenschirm!--und das +Biedermeierkostuem im dritten Akt? Entzueckend!--Du Lilly, weisst du was! +So gehen wir heuer im Fasching!--Gell Mammi! Gell!" + +Es plaetscherte fort und fort, oben, unten, ueberall. Abschiednehmen, +Handkuesse, Einladungen fuer das morgige Festessen, Lachen, Autovor--und +Abfahren--alles wie ein flimmernder Hexentanz!-- + +Karl Pruvik war mittlerweile unbemerkt bis an das Eingangstor +gelangt. Noch eine geschickte Finte und er hatte fuer heute nacht +ein Dach ueber dem Kopf. Sein Herz schlug heftig. Es war wieder Leben +in seine froststarren Glieder gekommen. Behende glitt er an den +aufeinandergedraengten Gestalten vorbei und fuehlte auf einmal Raum und +Waerme. Er lugte spaehend nach dem betressten Portier, duckte sich mehr +noch zusammen, hielt den Atem an, arbeitete sich an der Wand entlang. + +Im selben Augenblick aber stockte die Bewegung des Menschentrupps. Er +zerteilte sich und jaeh brachen die Reden ab. Durch eine glotzende +Gaffergasse hastete der Portier mit steinernem, finster drohendem +Gesicht auf ihn zu. + +"Was suchen Sie denn da?--He! Sie! Sie!" schrie der Tuerhueter. Karl +Pruvik zog wie ein gezuechtigter Hund die Schultern hoch und verbarg +den Kopf voellig in seiner schlotternden Brust. + +"Was Sie wollen, frag' ich!?" bellte der Portier hinter ihm und packte +ihn heftig am Arm, riss ihn zurueck. Ohne Wort und ohne Abwehr liess sich +der Eingedrungene von dem belfernden Tuerhueter und zwei inzwischen +herbeigeeilten Logendienern ins Freie schieben. "Hm, sowas?--Sich ins +Theater einzuschleichen!" sagte jemand von den Stehengebliebenen und +schuettelte den Kopf. Der ins Stocken geratene Menschenhaufe bekam +wieder Bewegung und draengte sich durch den Ausgang. Die Tore schlossen +sich finster. Schwaetzendtrabten die letzten Paare vorueber. + +Karl Pruvik stand zoegernd und benommen im glitzernden Schneegeflock. +Einen Augenblick hatte es den Anschein, als straffe sich sein Koerper, +als hole er zu einem Satz aus und wolle in die vorbeigleitenden, +duftenden, rauschenden, geschwaetzigen Menschen springen, aber +schliesslich torkelte er doch ueher die verschneite Freitreppe hinunter +und bog in die Seitengasse ein, die vom Theaterplatz abzweigte. Ein +letztes Auto surrte weg. Die Stimmen verloren sich in der Ferne. Die +erleichternde Helligkeit, die die Beleuchtung des Theaterpalastes nach +allen Seiten him verbreitet hatte, verlosch lautlos. Es war wieder +ringsherum die fahle, unwirkliche Duesternis der Winternacht.-- + +Karl Pruvik hob den Kopf hilflos. Eine knappe Wurfweite vor ihm ragte +etwas Schwarzes aus dem Schnee und bewegte sich wie schwebend von der +Stelle. Willenlos und ohne Grund folgte er der Erscheinung. + +Lange ging er so. + +Es musste schon tief nach Mitternacht sein. Trist gaehnten die +menschenleeren Strassen und Plaetze. + +Man stand am Rande des Stadtparkes. Die kerzengerade Gestalt verschwand +zwischen den Baeumen. + +In der aufgeworfenen Bahn der Spur schritt Karl Pruvik weiter. Es war +viel dunkler hier. Die schneebeladenen Baumaeste lasteten schwer herab. +Nur zeitweilig gab sich eine hellere, freiere Stelle und undeutlich +liessen sich eingemummte Baenke erkennen. Auf einer solchen hockte die +zusammengekauerte Gestalt nun, der er die ganze Zeit gefolgt war. +Stoisch liess sich Karl Pruvik neben ihr nieder und legte wie aus einer +ploetzlichen Eingebung heraus seinen steifen Arm um nasse, scharfe +Schultern. Lahm schmiegten sich die beiden Koerper aneinander. "Kalt," +murmelte es kaum hoerbar aus dem Kopf, der haltlos auf seine Brust +herabglitt. + +"Kalt," brummte Pruvik ebenso leise und schloss seine Augen. Auch sein +Kopf sank herueber auf das Genick des anderen. + +Kein Schnee fiel mehr. Es war seltsam--: Jetzt, da man schonungslos +der Kaelte ausgeliefert war, wussteman nicht mehr, war's eine rasende +Hitze oder eine gaenzliche Eisigkeit, was in den Gliedern bruetete. Der +ganze Koerper hatte das Gewicht verloren. Es schien als schwebe er +durch eine unsaeglich friedliche Stille.... Auf einmal drueckte etwas +Hartes an den Arm, umklammerte, zerrte. Es schrie wie durch +Nebelschwaden, dann naeher. Es ruettelte staerker. Das Geschrei schwoll. +Der Kopf' an der Brust bewegte sich stumm. + +Karl Pruvik oeffnete die Augen. Das grelle Licht einer Taschenlaterne +stach ihm ins Gesicht, blendete, schmerzte. + +"He!--He! Was ist da!!" schrie ein Schutzmann, riss erregt am Arm. + +"Was ist denn das! Auf! Auf!!" + +Alles tat wieder weh. Die zerfrorenen Knochen ruehrten sich, schmerzten, +als seien sie alle einzeln abgeschlagen und bewegten sich wie in einem +geplatzten Gipsverband klappernd von dannen. + +Erst in der Stube der Polizeistation sah Karl Pruvik, dass noch einer +neben ihm stand, genau so reglos und stumpf wie er. Auf den redeten +die zwei Schutzleute ein, fragten, schrien ihn an. + +Endlich nach einer Weile schritt man durch eine Tuer und das Licht war +aus den Augen. Die beiden lagen auf einer Pritsche, in warme Decken +gewickelt. Die Glieder bewegten sich ohne Schmerz. Waerme kam langsam. +Von Zeit zu Zeit beruehrten sich Arm oder Fuss. + +Nach langer Zeit hoerte Karl Pruvik wieder polternde Stimmen und kalte +Luft huschte ueher sein Gesicht. Die Pritsche knarrte und Schritte +dumpften. Eine Tuer fiel zu. Jetzt war es leer neben ihm.-- + +Es fiel glaeseriges Tageslicht durch die vergitterte Luke, als er die +Augen oeffnete. + +Ein etwas ins Rundliche gehender Schutzmann mit gemuetlichem, wohlig +geroetetem Gesicht stand vor ihm und sagte in friedlichem Bass: "Sie +koennen sich wieder fertig machen. Es liegt nichts vor gegen Sie!" + +Karl Pruvik hob seinen uebermuedeten Oberkoerper auf der Pritsche. + +"Haben Sie denn den andern gekannt?" fragte der Schutzmann. + +Pruvik schuettelte dumpf den Kopf. + +"Hat ein paarmal eingebrochen," erzaehlte der Polizist beilaeufig und +redete weiter: "Stehn Sie dann auf und kommen Sie. Sie koennen wieder +gehen." + +Karl Pruvik sah ihn verstaendnislos an. + +"Eine harte Zeit jetzt--und hundekalt diesen Winter!" brummte der +Schutzmann und bat Pruvik abermals aufzustehen. + +Der erhob sich endlich und ging mit ihm durch die Tuer in die +Polizeistube hinaus. + +Ein Wachtmeister sass am Tisch und hatte seine Papiere in der Hand, sah +ohne Arg, beinahe mitleidig auf Pruvik. + +"Sie koennen wieder gehen," sagte er in dienstlichem Brustton und +reichte ihm Invalidenkarte und Militaerpass. + +Karl Pruvik stand zoegernd da und machte keine Bewegung. + +"Es liegt nichts vor gegen Sie!--Dass einer keine Bleibe hat, kann +jedem einmal passieren," sagte der Wachtmeister menschlich. + +Pruvik nahm mechanisch seine Papiere. + +"Gruess Gott," sagten die beiden Polizisten und nickten dem Gehenden zu. + +Einer oeffnete freundlich die Tuer. + +Karl Pruvik ging. + +Es schneite nicht mehr auf den Strassen. Das Bleich des Tages tat den +Augen weh. Ein Wind hatte sich erhoben und pfiff schonungslos um die +scharfen Hausriffe. Es war kalt. Es war wirklich grausam kalt.... + + + + +ETAPPE + + +I. + +Der Stab fuer das Eisenbahnbauwesen der Ostarmee lag vor Duenaburg. Es +ging die Rede von einem russischen Durchbruchsversuch. Die Baukompagnie +14 geriet ins Feuer. Es gab Verluste. Der Bau der Feldeisenbahn kam ins +Stocken. Die Verbindung mit der Kampffront blieb auf Tage unterbrochen. +Vom Oberkommando der Armee lief eine Beschwerde beim Stab ein. Draengende +Befehle peitschten zur Beschleunigung. Der Major hatte wieder jenen +gehaessigen Aerger auf seinem finsteren Gesicht, der an den Brueckenbau in +Kowno vor der Ankunft des Kaisers erinnerte. + +Zwei Tage vorher bereits ueberwoelbte das fertiggebaute, riesige hoelzerne +Mittelstueck die gesprengte Memelbruecke damals. Die Belastungsprobe war +glatt verlaufen. Allenthalben sah man entspannte, befriedigte Gesichter. +Die ermuedete Mannschaft trat schon zum Heimmarsch in die Quartiere +zusammen. Ploetzlich murrte ein langgezogenes, ruckendes Grollen ueber +den nebeligen Fluss. Die Brueckenmitte hatte nachgegeben, war fast um +einen halben Meter tiefer gesunken. Eine Totenstille herrschte minutenlang. +Dann bellten abgehackte Befehle durch die Luft. Die erschoepften +Abteilungen schwaermten wankend auseinander, wieder auf die Bruecke und +ins eisige Wasser. Die ganze Nacht haemmerte, aechzte, krachte, schob und +schrie es aus dem spaerlich beleuchteten Geruest des Notbaues und aus der +Flusstiefe. Fieberhaft, mit verdrossenem, verbissenem Grimm wurde +gearbeitet. + +Wie Rudel totgehetzter Ziehtiere trotteten die Kolonnen am Morgen in +die zerschossene Stadt. + +Zwanzig Stunden wurde am darauffolgenden Tage gearbeitet. Zweiundzwanzig +ununterbrochen am andern. Die Ruhr brach aus unter der Mannschaft. + +Mehr als vierzig Mann starben, fuenf ertranken in der Memel. + +Als der Kaiser ankam, erhielt der Major das Eiserne Kreuz erster +Klasse. + +"Herr Major,--hoffentlich ist es uns allen noch gegoennt, dass wir den +Pour le merite ebenso vergnuegt mit Ihnen feiern duerfen," sagte damals +der geschnuerte, glatzkoepfige Stabsadjutant piepsend. + +Und zerschlissen freundlich laechelte der Major: "Wenn Petersburg faellt!" +--Damals ging es unaufhaltsam vor. + +Nun stockte es erstmalig waehrend des ganzen Feldzugs.-- + +Die Russen funkten sehr nahe. Die zurueckgetriebenen Eisenbahnbaukompagnien +verpendelten die Zeit mit nutzlosen Appellen. Vom Hauptquartier kam Befehl +auf Befehl. Die Offiziere flitzten nervoes und gewichtig herum. Bei der +Mannschaft gab es Arreste. + +Unuebersehbare Mengen Baumaterialien stapelten sich und mussten +liegenbleiben. + +Der Major ritt die Bauzuege ab, schrie, polterte, teilte Strafen aus. + +Fuenfzehnhundert Russen, die an der Front gefangengenommen worden waren, +trafen ein. Befehl zur Aufnahme des Weiterbaues der Feldeisenbahn erging. + +Langsam rollten die stehengebliebenen Bauzuege vorwaerts, in die tristen +Schneefelder hinein. Vor, vor--immer noch vor ging es! Bis zu der Stelle, +wo die Arbeit aufgegeben werden musste. + +Die Geschosse schwirrten hoch in der schneeigen Luft. Ganz nahe. + +Schnee, Schnee. Kaelte, Kaelte. + +Die Baukompagnie 14, 15 und die Russen marschierten auf die +Arbeitsstellen. + +"Mist!--Humbug!--Unsinn!" knurrte von Zeit zu Zeit irgendeiner halblaut. + +In kilometerweiter Entfernung schlugen die Geschosse ein, warfen +Kotfontaenen. + +Schlaggg!--lag alles am Boden. + +Man lag die halbe Zeit in Deckung. Die Arbeit machte kaum wesentliche +Fortschritte. + +Meldung erging an den zurueckliegenden Stab.-- + +Der Ordonnanzreiter Peter Nirgend ritt durch den peitschenden Schnee. +Das Pferd dampfte. Die Lenden spritzten Blut. Fiebernd bog sich der +furchtsame Ruecken im Galopp.-- + +Hauptmann und Oberleutnant der Baukompagnienempfingen den Heransprengenden +mit muerrischen Gesichtern. + +"Meldung vom Stab der Eisenbahntruppen!" keuchte Nirgend. Nur mit Muehe +konnte er sich stramm halten. + +Hastig oeffnete der Hauptmann den Umschlag, ueberflog mit unterdrueckter +Entruestung das Papier und sah auf den Oberleutnant, reichte es ihm. + +"Hm!" brummte er kopfschuettelnd. "Hm!" machte der Oberleutnant +gleichfalls achselzuckend und ratlos. + +Dann stiegen beide in den Kanzleiwagen. + +Peter Nirgend fuehrte sein schweisstriefendes Pferd auf und ab. Aus den +Quartierwagen der Mannschaft glotzten missmutige Gesichter. + +"Geht's vor?" fragte einer. + +"Der Hund!" knurrten etliche dumpf, als Nirgend nickte. Der +Kanzleiunteroffizier rief aus dem Wagen, uebergab ihm die Rueckmeldung +an den Stab. Der gefrorene Boden klapperte unter den ausgreifenden +Hufen des Pferdes. Schneewolken staubten auf und nichts mehr sah +man.-- + +Ein abermaliger Befehl des Stabes bestimmte unverzuegliche Aufnahme der +Arbeit und sofortige Herstellung der Verbindungslinie mit den Fronten. + +Schon tags darauf meldeten die vorgeschickten Kompagnien schwere +Verluste. Die fuenfzehnhundert Russen weigerten sich, aus ihrem Bauzug +zu gehen. Man pruegelte sie heraus. Aber am selben Abend noch mussten +die Zuege zurueckrollen. Viele Wagen waren zerstoert. Die Eisenbahnlinie +ueberall ramponiert. + +Die ganze Nacht schrie es die Zuege entlang. Neue Wagen wurden +eingeschoben. Unaufhoerlich wurde rangiert.-- + +Am andern Mittag raunte es von Ohr zu Ohr: "Es geht wieder vor!" Es +ging ein Geruecht herum von einem scharfen Aufeinanderprallen zwischen +Major und Hauptmann. Kurz darauf hiess es: "Antreten zum Appell!" Vor +den gepferchten Reihen der zum abermaligen Vorruecken bestimmten +Truppen hakte ein fremder Offizier auf und ab und hielt eine +schwunghafte Rede. "Das deutsche Wesen darf nicht untergehen! Hurra! +Hurra! Hurra!" schloss er und alles bruellte mit. Wie ein einziger +Tierlaut klang's. + +"Fuers Vaterland!" murrte einer zynisch beim Auseinandergehen. + +"Fuer den Pour le merite!" brummte ein baertiger Kerl und sah +herausfordernd auf die lethargischen Gesichter der Kameraden. + +"Kotze!--Sich den Schwanz verbrennen ist die einzige Rettung!" +murmelte der Mannschaftskoch stoisch. + +"Nulpe! Wo denn?--Wenn weit und breit kein Puff ist!?" warf ihm der +Vagabund Tuempel hin und spuckte in grossem Bogen durchs offene Fenster. + +Tief am Nachmittag aechzten die Bauzuege abermals finster in die +schneeige, verlassene Gegend hinaus. + +Am zweiten Tag, als Nirgend von den Kompagnien zum Stab zurueckritt, +knallten Schuesse hinter ihm her. Einer davon streifte leicht seinen +rechten Arm. + +"Hu-u-und!" surrte es langgedehnt durch die kalten Nebelschwaden und +lief ihm nach wie ein unterirdisches Grollen. + +Gegen Morgen tauchten auf einmal die gelben Lichter der Bauzuglokomotiven +auf und kamen zischend naeher. Die vierzehnte Kompagnie war his auf zirka +hundert Mann aufgerieben, und die fuenfzehnte hatte gleichfalls zahlreiche +Verwundete und Tote. Die Russen hatten in der allgemeinen Panik des +Zurueckflutens die Fluchtergriffen und irrten rudelweise in den +Schneefeldern herum.-- + +Nirgend trat dumpf ins Leutnantszimmer des Stabsbureaus, straffte +seine Glieder und sagte: "Zur Stelle!" + +Der schmaechtige, elegante Offizier drehte sich wippend, etwas nervoes +herum, mass den Hereingetretenen von oben his unten und fragte: "Na,--und?" + +"Man hat mich angeschossen," sagte Nirgend unvermittelt. + +"Ja--und?" + +"Es waren welche von uns, Herr Leutnant." + +Die gepflegten, spitzen Augenbrauen des Offiziers griffen zuckend in +die ploetzlich streng gefaltete Stirn. + +"Quatsch!--Woraus schliessen Sie denn das;" rief er wegwerfend. + +"Weil jeder wuetend ist," sagte der Meldereiter einfach. + +"Halten Sie Ihr Maul, Sie Luemmel!--Was bilden Sie sich eigentlich +ein!" belferte der Leutnant drohend und schnellte auf. + +"Ich rede nicht um meinethalben," erzaehlte Nirgend ruhig und schaute +dem Schimpfenden entschlossen ins Gesicht, "aber um den Pour le merite +geht keiner mehr vor. Ich reite nicht mehr!" + +"Wasss!!" zischte es durch die warme Zimmerluft. + +Matratzenfeder. Die Tuer des anderen Zimmers wurde ruckhaft aufgerissen. + +"Wasss!--Was ist da!?" schnarrte der Major und machte einen Schritt +auf Nirgend zu. Schon riss sich der Leutnant schlank und stramm herum, +wollte melden. Aber der Soldat kam ihm zuvor, sagte, zum Major +gewendet, mit der gleichen, einfachen Ruhe: "Ich reite nicht mehr, +Herr Major! Um einen Pour le merite geht keiner mehr vor, sagen alle!" + +Einen Moment fielen die beiden Offiziere fast auseinander. Dann +schrien sie, bellten drohend: "Hinaus! Hi-naus! Sie Schweinehund!" + +Ganz korrekt drehte sich Nirgend um und ging aus dem Zimmer. In der +angrenzenden Schreibstube wurde fieberhaft gearbeitet. Jeder sass +geduckt da und kaum einer wagte aufzuschauen. Nur einige aengstliche +Blicke trafen den Hindurchschreitenden. Der Stab nistete in einem +einstoeckigen Gelehrtenhaus. In den unteren Raeumen waren die Bureaus, +oberhalb die Schlafzimmer der Offiziere und auf dem Dachboden hausten +die Mannschaften. Dort angelangt, legte Nirgend sich so wie er war +aufs Stroh und zuendete sich eine Zigarette an. + +Es war merkwuerdig, heute kam keiner zu Bett. Duester glomm der spaerlich +helle Kreis der brennenden Zigarette im Dunkel. Wie in einer +verlassenen Totengruft lag man hier. Langsam fielen die Minuten von +der Decke herab. + +Eine lange Zeit verging. + +Dann knarrten Schritte die Treppe herauf, kamen naeher. Es mussten +mehrere Leute sein. Peter Nirgend ruehrte sich nicht. + +Die Tuer wurde geoeffnet. Im Lichtkreis einer Taschenlaterne tauchte +undeutlich die Gestalt des Leutnants auf. Dahinter mussten noch einige +Leute stehen. Zwei Seitengewehre funkelten zur Hoehe. + +Nirgend erhob sich ohne Hast. Irgendeine dunkle, breite Gestalt tappte +herein, tastete herum und entzuendete die Lampe. Jetzt traten der +Leutnant und die zwei Soldaten mit den aufgepflanzten Seitengewehren +an den Tisch, wo der Unteroffizier, der Licht gemacht hatte, stand. +Der Leutnant verlas etwas von sofortiger Inhaftierung und Ueberweisung +an ein Kriegsgericht, faltete den Bogen wieder, sah Nirgend fluechtig +an und sagte zum Unteroffizier: "Wenn er in fuenf Minuten nicht folgt, +wenden Sie Gewalt an!" + +"Zu Befehl, Herr Leutnant!" antwortete der strammgestandene Korporal. + +"Naja!" sagte der Leutnant und ging. + +Einige Augenblicke standen sich die Soldaten schweigend gegenueber. + +"Kamerad!--Mensch?" brachte der Unteroffizier endlich heraus, stockte +aber ploetzlich und sagte dumpfer: "Packen Sie Ihre Sachen zusammen und +kommen Sie." + +"Seid ihr Vierzehner?" fragte Nirgend unbeweglich. Keine Antwort. +Keine Bewegung der anderen. Starr standen die drei. + +"Gestern nacht habt ihr auf mich geschossen--einer von eurer Kompagnie +war's!--Weil ich den Befehl zu euch brachte zum Vorruecken.--Einen +Denkzettel habt ihr dem Major geben wollen--jetzt macht ihr drei +wieder die Handlanger der Ordensjaeger!" stiess Nirgend heraus. + +Keine Bewegung. Schweigen. Starr standen die drei. Wie glatte, finstere +Glassturze. Alles rutschte an ihnen herab. + +Man stand selber unter einem solchen Glassturz. Gespannt his aufs +aeusserste musste man an sich halten. Eine einzige Bewegung--und alles +konnte zusammenfallen, klirrte herab. Und--? + +Und man stand ohnmaechtig, ausgeliefert und vereinsamt zwischen den +anderen. Die nackten Arme halfen nichts. Nicht einmal zu einer +Umschlingung, denn man rutschte ab. Fiel hin und war ein Haeuflein +nichts. + +Und was war geschehen? + +Nichts! + +Die nackten Arme halfen nichts! Gar nichts! + +Nur die Kartaetschen der Feinde, Hekatomben auseinandergerissener Leiber. +Das Unertraegliche. Die Sinnlosigkeit fuehrte zum Sinn zurueck. + +"Wollen Sie den Befehl befolgen?!" rief der Unteroffizier jetzt. + +"Ja!" schrie Nirgend fast ueberlaut: "Ja--am liebsten wuerde ich wieder +hinausreiten zu euch. Immer vor! Immer vor muesstet ihr--fuer den Pour le +merite!" + +"Los--los!" plapperte der Unteroffizier veraergert, "reden Sie nicht! +Los!" + +"Ja!" bellte Nirgend abermals, "das ist das deutsche Wesen!" + +"Marsch!" bruellte der Unteroffizier: "Vorwaerts jetzt!" Und zog ihn in +die Mitte. + +Man ging.-- + + +II. + +Der Schnee lag tief. Langsam ging es vorwaerts. + +"Was macht man eigentlich mit mir?" fragte Peter Nirgend auf einmal +steif stehenbleibend. Es antwortete niemand. + +"Los--los!" brummte der Unteroffizier vorne wie fuer sich. Die Soldaten +schoben den Gefangenen weiter. + +"Er hat euch geschunden his aufs Blut.--Ihr habt es selbst gesagt, dass +ihr nicht mehr mitmachen wollt," sagte Peter beharrlich und stemmte +sich gegen die schiebenden Haende. + +"Los--los! Wir moechten auch zur Ruh kommen!" stiess der Unteroffizier +abermals murmelnd heraus und machte eine halbe Wendung. + +Einer der Soldaten setzte dem Haeftling das Knie in den Ruecken. + +"Gibt doch bloss Arrest, Mensch!" sagte der Unteroffizier beilaeufig. + +Peter Nirgend liess nach. Man watete wieder weiter. + +Die lange, geschwertete Linie eines spaerlichen Lichtes stach durchs +Dunkel. Das war das Gemeindehaus, wo der Arrest abgesessen wurde. +Landstuermler versahen dort den Dienst. + +"Ihr kriecht, bis man euch die Kugel in den Leib jagt!" knirschte +Peter. + +Schweigen. + +Der Unteroffizier schlug mit der Faust an die Gemeindehaustuer. Mit +hochgehobener Petroleumlampe erschien der verschlafene Sergeant in +ihrem Rahmen. Der Trupp trat in die wohligwarme Wachstube. Zwei +Landstuermler hoben schlaefrig ihre Oberkoerper auf den Pritschen, rieben +sich die Augen. Einer davon stieg herab und nahm den Schluesselbund, +winkte Peter. + +"Kommt vors Kriegsgericht! Befehlsverweigerung!" sagte der Unteroffizier +zum Sergeant, der den Einlieferungsschein unterschrieb. Eine leise +Verachtung schwang mit den Worten mit. Der Landstuermler fuehrte den +Haeftling in die letzte Zelle. "Kamerad, leg dich gleich hin und wickle +dich fest ein. Es ist kalt," sagte er und trat aus der Zelle, schloss ab. + +Peter Nirgend blieb lauschend stehen. + +Jetzt hoerte man die Leute vorne im Korridor. Er ging an die Tuer, schlug +fest mit den Faeusten an dieselbe, schrie: "Ich muss dem Herrn Unteroffizier +noch was ausrichten!" + +Und sein ganzer Koerper zitterte. + +Der Trupp kam den Korridor entlang, oeffnete. + +"Was ist's denn?" fragte der Unteroffizier aergerlich und trat ein. Die +anderen blieben draussen. + +"Werde ich erschossen?" fragte Peter unvermittelt. + +"Quatsch! Festung wird's geben!" raesonierte der Unteroffizier: "Was +wollen Sie denn?" + +"Da--da ist eine Blutlache!" rief Peter hastig und deutete auf die +Bodenflaeche hinter der Pritsche. Der Unteroffizier trat einen Schritt +naeher heran und beugte sich vornueber, hinter die Pritschenecke. Jetzt +war der Lichtkreis der Taschenlaterne nur noch ganz klein in der +Nische. Peter machte einen ruckhaften Satz, stemmte blitzschnell sein +Knie auf den Ruecken des Korporals und schnitt mit aller Gewalt in +dessen Hals, tiefer--tiefer. Das warme Blut rann ueher seine Finger. +Der Koerper des Ermordeten gab nach, hing schraeg ueher die Pritsche. + +Die anderen stuerzten herein und warfen sich auf Peter, schlugen auf +ihn ein, his er liegenblieb. + +Ihn ueberleuchtend, sagte ein Soldat zum Gefesselten: "Hund! Morgen +stehst du an der Wand!" + +Peter Nirgend schloss die Augen. + +Nach einer ziemlichen Weile wurde die Tuer wieder aufgeriegelt. Wieder +erschien der hochgehobene Arm des Sergeanten mit der Petroleumlampe, +nur diesmal sehr zitternd. Offiziere traten ein. Einer beugte sich +ueber den Toten am Boden. Dann trugen zwei Soldaten die Leiche hinaus. + +"Was haben Sie denn da gemacht!?" fragte der Major Peter. + +Der schwieg. Kopfschuetteln. Ein Soldat trat ein, stand stramm, erzaehlte +den Hergang. + +"Sowas heisst sich deutscher Soldat!" schnarrte der Leutnant beflissen. + +Inzwischen trug man ein Tischchen herein. Die Lampe wurde daraufgestellt +und der Gerichtsoffizier nahm das Protokoll auf. Nach der Vernehmung des +gaenzlich gebeugten, zusammengefallenen Sergeanten und des anderen Soldaten, +trat der Leutnant abermals an Peter heran, stiess ihn: "Und Sie?" + +"Was haben Sie anzugeben?" rief der Gerichtsoffizier gleichfalls ueber +den Tisch. + +Keine Antwort kam. + +"Kerl!" + +Schweigen. + +Das Protokoll wurde verlesen. + +"Geben Sie das zu?" fragte der Gerichtsoffizier den Angeklagten. + +Dieser nickte stumm. + +Kopfschuettelnd verliessen die Offiziere den Raum. Zwei Soldaten der +Baukompagnie 14 mit bajonettbepflanzten Gewehren blieben zurueck. Der +Tisch mit der Petroleumlampe gleichfalls.-- + +"Schuft!" knurrte einer der Waechter und versetzte Peter einen Stoss in +den Leib. "Du sollst unsere Ueberstunden schmecken, Hund!" fluchte der +andere und schlug ihm die Faust ins Gesicht. + +Muede geworden, setzten sich die zwei Wachhabenden auf das trockene +Flecklein des Bodens und zuendeten sich Zigaretten an. + +"Kamerad! Einen Zug! Einen Zug!" wimmerte mit einem Male Peter +flehend. + +"Ah?" rief der Raucher haemisch, ging an den Gefesselten heran und +hielt ihm die rauchende Zigarette unter die Nase: "Riecht gut, Herr +Halsabschneider, hm?" + +"Lass ihn doch! Er ist nicht wert, dass man ihn anschaut!" brummte der +andere Soldat. Aber der Angesprochene liess sich nicht abhalten. + +Da reckte sich Peter stemmend, schrie: "Hasenfuesse!" + +"Halt die Fresse, Hund!" fielen die beiden ihn an und warfen ihn +zurueck, dass die Pritsche knarrte. "Hasenfuesse!" plaerrte Peter wilder. + +Die beiden hielten die Gewehrlaeufe drohend auf ihn gerichtet: "Noch +ein Wort und wir knallen dich nieder!" + +"Hasenfuesse!" schrie Peter noch greller. Die Waechter schlugen sinnlos +auf ihn ein. + +"Hasenfuesse!" bellte der Gefesselte aus Leibeskraeften: "Hasenfuesse! +Hasenfuesse!" + +Da schossen sie. Das Gehirn peitschte an die Wand. + +Als der Sergeant und die Landstuermer schlotternd angestuermt kamen, +standen sie wie geistesabwesend stramm. Erst als kurz darauf der +Leutnant eintrat, meldeten sie zugleich: "Melden Herrn Leutnant, dass +wir ihn erschossen haben, weil er uns Hasenfuesse genannt hat." + +Der Leutnant warf einen fluechtigen Blick auf die Leiche, drehte sich +herum und sagte befehlsmaessig: "Gut! Abtreten!"-- + +Tags darauf diktierte er dem Kanzleiunteroffizier folgende Meldung an +das Oberkommando der oestlichen Streitkraefte in die Maschine: + +"Meldereiter Peter Nirgend, zugeteilt dem Stab der Eisenbahntruppen, +wurde wegen Befehlsverweigerung inhaftiert. Weiterleitung des Verfahrens +war dem Kriegsgericht der Etappenkommandantuer uebergeben. Nirgend +ermordete kurz nach seiner Einlieferung in die Arrestanstaltin seiner +Zelle den Unteroffizier der Eisenbahnbaukompagnie 14 Joseph Thiele durch +Durchschneidung des Halses. Sofortige Protokollaufnahme durch den +Gerichtsoffizier ergab Mord. Exekution wurde auf andern Tag 9 Uhr +festgelegt. Infolge fortgesetzter Widersetzlichkeiten gegen die +Wachhabenden und Verhoehnung des Feldheeres, mussten die Pioniere +Traugott Schloch und Otto Flemming von der Eisenbahnbaukompagnie 14 +von der Waffe Gebrauch machen, was den Tod des Nirgend zur Folge +hatte."-- + +Wegen Nachlaessigkeit im Dienst wurde der Arrestsergeant strafversetzt.-- + +Einige Wochen spaeter stand in einem Tagesbericht des Oberkommandos: +"Wegen pflichtmaessiger Ausfuehrung eines Befehls wurden ausgezeichnet +mit dem Militaerverdienstkreuz zweiter Klasse laut Beschluss des O.K.d. +O.A.: der Pionier Traugott Schloch bei der Eisenbahnbaukompagnie 14, +der Pionier Otto Flemming bei der Eisenbahnbaukompagnie 14." + + + + +MICHAEL JUERGERT + + +I. + +"Alle Dinge sind eitel." Immer kehrt dieses Wort wieder, wenn der Name +Michael Juergert in meiner Erinnerung auftaucht. Viele Male habe ich +nachdenkend dieses Leben umschritten wie einen verfallenen, traurigen, +raetselhaften Garten. Unruhig suchte ich nach dem Sinn dieses Ablaufs, +trachtete danach, all die widerstrebenden Geschehnisse folgerichtig +aneinanderzureihen, um moeglicherweise ein erklaerendes Bild zu finden, +einen Abschluss, eine befriedigende Loesung. + +Es gelang nicht. + +Hoffend, dass mir vielleicht eine Stunde doch noch die Erleuchtung +bringt, habe ich--so gut es ging--vorerst nur das nackte Tatsaechliche +aus diesem Leben aufgeschrieben, alles so, wie es sich zugetragen hat. +Und hier ist es: + +Michael Juergert kannte seinen Vater nicht. Als er sieben Jahre alt +war, erfuhr er von seiner Mutter so etwas wie ein Gestorbensein durch +einen merkwuerdigen Unfall. Und einmal beim Maitanz warf ein Knecht in +sein Ohr, dass sein Vater "im Suff ertrunken sei". Darum, so hiess es, +saesse ja seine Mutter schon all die Jahre im Gemeindehaus und wisse +nicht, von was sie leben sollte. + +Der Bruder von Michaels Vater, der wegen einer Weibergeschichte "ins +Amerika durch sei", huete sich wohlweislich, etwas von sich hoeren zu +lassen, raunten sich die Doerfler zu, wenn die Rede von den Juergerts +ging.-- + +Nach seiner Schulentlassung kam der etwas schwaechliche Knabe als +Knecht in den Reinaltherhof. Es waren vier Knechte und zwei Maegde da. +Fuenf Jahre staehlten den wachsenden Koerper, ergossen versteckten und +offenen Spott auf Michael. + +Auf Maria Lichtmess, als er zwanzig Jahre zaehlte, wechselte er seinen +Dienstplatz und trat beim Peter Soellinger ein, dessen Gehoeft auf der +runden Anhoehe vor dem Dorfe lag. + +Rechts vom Soellingerhof, nah am Waldrand, hockte die baufaellige Huette +des Guetlers Johann Pfremdinger, den man im ganzen Umkreis den "Letzten +Mensch" hiess, weil er die bigotte alte Pfanningerin zur Haushaelterin +hatte und im allgemeinen sehr schlecht auf die Weiber zu sprechen war. +Wenn man ihn aergern wollte, brauchte man bloss eine junge Dorfmagd oder +Bauerstochter des Sonntags an seinem Haus vorbeigehen zu lassen.-- + +Rundherum lagen die Felder Soellingers, weit verstreut die zwei Tagwerk +Pfremdingers und oft, wenn der alte Haeusler zur Erntezeit schwerfaellig +und muehsam auf den Fusswegen durch die Wiesen des Bauern ging, um auf +seine Grundstuecke zu gelangen, sagte der letztere muerrisch zu ihm: +"Bist saudumm!--Wennst tauschen taetst mit mein' Rainacker, haettst +alles ums Haus ... Aber mit dir kann man ja nicht reden!" + +"Auf'm Rainacker wachst das nicht wie bei mir," gab ihm der "Letzte +Mensch" stets mit der gleichen Beharrlichkeit zurueck und trottete +weiter.-- + +Die Jahre gingen, schwiegen. Der Peter Soellinger wurde unterdessen zum +Buergermeister gewaehlt und kam eines Tages in den Stall zu Michael, +sagte: "Das geht jetzt nimmer, dass die Gemeinde deine Mutter aushaelt. +Bist ein Mordstrumm Mannsbild worden und kannst selber fuer sie +aufkommen. Der 'Letzt' Mensch' wird sterben. Die Pfanningerin muessen +wir ins Gemeindehaus tun." + +Michael nickte stumm. + +"Da draussen kann's nicht bleiben, die Pfanningerin," fuhr der Bauer +fort, indem er eine veraechtliche Geste in die Gegend des +Pfremdingerhauses machte, "die alte Kalupp' passt grad noch fuer ein' +Heustadel." + +Und wieder nickte Michael stumm. + +"Herrgott, bist du ein Stock!" stiess der Bauer heraus und ging +kopfschuettelnd und brummend aus dem Stall. Die Knechte lachten.-- + +Michael ging nach Feierabend zu seiner Mutter ins Gemeindehaus und +brachte ihr die Nachricht. Die alte Frau sah ihm nur in die Augen. +Dann sagte sie: "Ja ja, ist ja auch wahr, die alte Pfanningerin ist ja +auch aelter als ich."-- + +Spaet, nachdem seine Mutter laengst schlief, zaehlte Michael sein +erspartes Geld. Zaehlte, zaehlte. Dachte, dachte. Rechnete, rechnete. + +Am andern Tag, waehrend der Arbeit, hielt er manchmal inne und schaute +starr ins Leere. Des oefteren sah man ihn jetzt am Abend in die +Pfremdinger-Huette gehen. "Was er nur immer beim 'Letzten Mensch' +anfaengt, das Hornvieh!? Moecht wohl gar Haeusler werden?" spoettelten die +Knechte, und Soellinger schaute dem fast furchtsam Davonschleichenden +mit finsterem Blick nach.-- + +Die Sterbeglocken klangen duenn durch die Luft. Mit dem alten +Pfremdinger ging es zu Ende. Die Pfanningerin, der Pfarrer--und +Michael Juergert standen in der niederen Kammer um das Bett. Dann kam +noch die Juergertin. + +Ganz zuletzt erst waelzte sich der Haeusler nochmal herum. Schon drehten +sich seine Augen. + +"Er soll's haben, Hochwuerden! Aber die Haelft' gehoert der Kirch'!" +hauchte er schon roechelnd mit letzter Kraft heraus. + +"In Ewigkeit, Amen," murmelte sich bekreuzigend die alte Pfanningerin. +und der Pfarrer sah Michael an, nickte ihm zu. + +"Hab's denkt, dass er's kriegt, wenn er fleissig in die Kirch' rennt und +um den Pfarrer herumscharwenzelt recht bigott! Sowas tragt immer was +ein!" war ungefaehr die uebliche Bauern-Nachrede, als es verlautbarte, +dass Michael das Pfremdinger-Anwesen vom "Herrn Hochwuerden zudiktiert" +bekommen habe. + +Acht Tage nach dem Begraebnis fuhr Michael auf einem Schubkarren die +spaerliche Habschaft seiner Mutter ins Pfremdingerhaus und am +darauffolgenden Tag die Sachen der alten Pfanningerin ins Gemeindehaus. +Hinter manchem Fenster stand ein spoettischspitzes Gesicht und sagte +ungefaehr: "Der hat's leicht. Kann sein Zeug auf dem Schubkarren fahren." + +Gut ein Vierteljahr war Stille. + +Wenn die Maeher beim Morgendaemmern auf die Felder gingen, sang immer +schon die Sense Michaels unter dem flinken Schleifstein.-- + +Dann kam das Unglueck. + +Die einzige Kuh, die im Juergertstall stand, ging ein. Notschlachtung +musste vorgenommen werden. + +Die Bauern kamen, musterten das Fleisch misstrauisch, kauften, +schimpften: "Ob er vielleicht nicht wisse, dass die Suppenbeine als +Zuwag' dreingingen?" Und einige wieder sagten in beinahe mitleidigem +Tonfall: "Ja, mein Gott, Bauer sein ist nicht so einfach! ... Sonst +taet's ja jeder machen." + +Drei Wochen nachher begrub man die alte Juergertin. + +"Waerst' Knecht geblieben, waer gescheiter gewesen," sagte Soellinger zu +seinem ehemaligen Knecht, "wenn's einmal angeht, hoert's nicht mehr +auf."-- + +Michael stuerzte sich in die Arbeit. Der Pfarrer kam ein paarmal ins +Haus, sah nach. + +"Eine Kuh halt, eine Kuh, Herr Hochwuerden!" murmelte Michael hin und +wieder dumpf. + +"Der Herr hat's gegeben--der Herr hat's wieder genommen," antwortete +der Geistliche nur.-- + +Und Michael verkaufte Heu und die zwei letzten Saecke Korn. Droben auf +dem schmalen Streifen, ueber den Soellingerfeldern, hatte er dieses im +letzten Jahr noch gebaut. Vom Reinalther lieh er sich damals den +Fuchsen und den Pflug, ackerte. Und seine Mutter humpelte hinterdrein +und saete.-- + +Es war Ferkelmarkt in Greinau. Die ganzen Bauern aus der Umgegend +standen gruppenweise auf dem Platz vor der Gastwirtschaft "Zur Post", +handelten hartnaeckig herum mit den Haendlern und kauften endlich. Die +eingepferchten Jungschweine machten einen Heidenlaerm, die Pferde +scharrten ungeduldig und wurden unsanft zurueckgerissen. Die Wirtsstube +war vollbesetzt. Aus und ein ging man, redete, schmauste, und knarrend +und knirschend, in scharfem Trab, rollten die Waegelchen davon. + +Schuechtern kam tief am Nachmittag Michael an. Die Bauern stiessen +einander, zwinkerten, tuschelten spoettisch. + +"Jesus! Jesus! Jetzt wird's besser, der Michl kauft Ferkel!" lachte +der pralle Postwirt aus einer Gruppe und alle richtetengeringschaetzige +Blicke auf den Haeusler. Schweigsam und scheu umschritt der die +Ferkelsteigen. Es wurde schon leerer auf dem Platz. + +"Pass fein auf, dass sie dir nicht im Sack ersticken, Michl!" warf der +Soellinger ruelpsend auf den Wagen steigend Michel zu, als er sah, dass +dieser zwei lautgrunzende Jungschweine in seinen Sack zog. Sein +haemisches Lachen schnitt die Luft auseinander.-- + +Daemmer stieg schon von den Feldern auf. Nacht sickerte gelassen vom +Himmel. Michael schritt beschwerlich aus. Die Schweine rumorten +immerzu im Sack auf seinem Ruecken. Er musste fest zuhalten, dass ein +lahmer Krampf langsam in seine Arme rieselte. Aber die bogen sich wie +aus Eisen von der Brust ueber die Schulter.-- + +Die Schritte hallten vereinsamt. + +Stille.-- + +Jetzt waren auch die Schweine still geworden, ganz still. Auf einmal +merkte es Michael. Ein Schreck durchfuhr ihn. Jaehe Mattigkeit fiel +bleischwer in seine Kniegelenke. Er ruettelte den Sack vorsichtig, fast +wie einer, der zwischen Hoffnung und Angst vor der Gewissheit schwankt +und nicht mehr aus noch ein weiss. + +Nichts. + +Er ruettelte staerker. + +Nichts.-- + +Inzwischen war er an der schmalen Bruecke, nah vor dem Huegel angelangt, +auf dem das Soellingergehoeft mit gelben Augen sass. + +Der Bach murmelte gleichmaessig versunken. + +Schweisstriefend zerrte Michael den Sack auf die Bruecke, wollte--in +unseliger Verzweiflung blitzhaft an den Spott Soellingers denkend +--nachsehen. Da--da--wupp!--fiel der Sack in die Tiefe. Es platschte. +Breite Ringe warf das Wasser und jetzt plaerrten ploetzlich die Schweine +heulend auf. Es gurgelte etliche Male und war jaeh grauenhaft still. + +Mit einem furchtbaren Aufschrei sprang Michael ins Wasser, tappte wie +ein schwimmender Hund ungelenk auf der Oberflaeche herum, weinte, +hustete, tauchte, schrie, bruellte.-- + +Am aendern Tage fischten die zwei Knechte des Buergermeisters den leeren +zerrissenen Sack mit den Heugabeln aus dem Wasser und spiessten ihn auf +einen Zaunpfahl vor Michaels Haeuschen. Dann klopften sie. Aber niemand +gab an.-- + +Das ganze Dorf lachte knisternd. + +Als man drei Tage niemanden aus--und eingehen sah beim Juergert, schickte +Soellinger den Nachtwaechter und Gemeindediener Peter Gsott hinaus. Der +klopfte wieder und wieder, drohte mit wuetenden Fluechen, als niemand +angab und holte dann den Schmied zum Tueroeffnen. + +Die beiden fanden Michael in der Schlafkammer ganz starr auf dem +Bettrand sitzend und wie irr ins Leere glotzend. Einen Augenblick +zwang ihnen dieser Zustand Schweigen ab. Endlich sagte der Schmied: +"Was hast' denn, dass' dich einsperrst, Michl?" + +Aber der Angesprochene machte nur mit der Hand eine lahme, wegwerfende +Geste. "Deinen leeren Sack haben die Soellingerknecht' gefunden! Die +Ferkel selber sind ersoffen," sagte dann der Gemeindediener. Als beide +sahen, dass Michael beharrlich mit der gleichen Apathie antwortete, +gingen sie und meldeten dem Buergermeister, dass der "spinnerte Kerl" +schon noch lebe. Er sei, meinten sie, nur ein wenig irr noch.-- + +Im Dorf ging daraufhin die Rede: "Der Michl hat's Spinnen angefangen +wegen der ersoffenen Ferkel." + +Michael sah man nur ganz selten seit diesem Vorfall. Hoechstenfalls bog +er einmal scheu ums Hauseck und eilte dem Wald zu.-- + +Um diese Zeit kam zum Buergermeister Soellinger eine seltsame Nachricht +aus Amerika, betreffend die Familie Juergert und deren Nachkommen. Der +Bauer, der sich, wie er sich ausdrueckte, "darin nicht rechtauskannte", +schickte zum Pfarrer und dieser entzifferte endlich, dass die Familie +Juergert (Ueberlebende oder Nachkommen) infolge des Todes eines Bruders +des verstorbenen Vaters Michaels zur Generalerbin einer ausserordentlich +hohen Hinterlassenschaft in barem Geld eingesetzt sei und den Betrag +von einer Bank in Hamburg einverlangen koennte, sobald der Nachweis der +Erbberechtigung erbracht sei.-- + +Als der Pfarrer, der selber ein wenig zitterte, dies dem Soellinger +auseinandersetzte, erbleichte dieser sichtlichund sank wie vom Schlag +getroffen in einen Stuhl. + +"Ruhig beibringen, ist das beste. Ich geh' selber zu ihm hinaus," +sagte der Geistliche nach einigem Schweigen, nahm seinen Hut, steckte +das Papier zu sich und begab sich zu Michael. + +Ins Haus getreten, bemerkte er diesen doesig neben dem Herd hockend, +und als der geistliche Herr in sanftem, vorsichtigem Tonfall seinen +Namen rief, sprang er ploetzlich auf, schluepfte, so schnell es nur +ging, furchtgepackt in das russige Holzloch unter dem Ofen und gab +keinen Laut von sich. Eine gute Weile stand der Geistliche ratlos da. +Endlich fand er wieder zum Entschluss zurueck. + +"Geh heraus, Michl," sagte er sanft, "wir wollen wieder eine Kuh kaufen +und Ferkel." + +Michael raekelte sich erst und schluepfte dann vollends aus dem Loch. +Seine Blicke waren mit einer schmerzvollen Bitthaftigkeit auf den +Pfarrer gerichtet. + +"Und dein Haeusl, Michl, das werden wir auch wieder richten lassen. Es +ist arg baufaellig," ermunterte dieser den Zoegernden. Und als Michael +endlich aufrecht stand, nahm ihn der Gottesmann mild am Arm und zog +ihn sacht hinaus ins Freie. + +Frische Fruehe lag ueher den Feldern. Die Wiesen dufteten schwer. Die +Sonne stieg langsam in die Mittagshoehe.-- + +Wie zwei Kranke schritten die beiden dahin. Der Soellinger wagte nicht +herauszutreten, als sie vorbeikamen. Er lugte nur schweigend durchs +Fenster. + +Im Pfarrhaus angekommen, sagte der Geistliche zu Michael: "Du musst +jetzt eine Zeitlang bei mir bleiben. Die Marie wird dir ein Zimmer +einrichten, bis dein Haeusl fertig ist. Bis dahin ist auch wieder +Viehmarkt in Greinau." + +Und als verstuende er von alledem nichts, als hoere er nur eine +erleichternde Melodie aus den Worten, stand Michael da und schwieg. +Allmaehlich glaettete sich sein bangvolles Gesicht und eine aufatmende +Ruhe glaenzte in seinen Augen. + +Drei stille Wochen glitten him. Jeden Tag sassen die zwei zusammen in +der Pfarrstube oder gingen wohl manchmal im Garten umher. Langsam +wurde Michael ruhiger. Aber von Zeit zu Zeit konnte man ein boeses +Aufblitzen auf seinem knoechernen, schweigend gefalteten Gesicht +wahrnehmen. Die vaeterliche Arglosigkeit seines Pflegers aber machte +ihn nach und nach etwas zutraulicher und offener. Manchmal des Abends, +wenn der Geistliche aus einem Betbuch laut einige Stellen vorlas, hob +der Haeusler den Kopf und lauschte sichtlich aufmerksamer. Ein +friedlicher Hauch hob Stueck fuer Stueck von dem Feindseligen ab, das +hinter den Falten bruetete, und lebendiger kreisten seine Augen. + +Endlich nach einem Monat eroeffnete der Pfarrer seinem Pflegling die +Nachricht aus Amerika. + +Michael hoerte stumm zu. Er schien anfaenglich nicht zu begreifen. Dies +erkennend, legte der Geistliche das Papier auf den Tisch. + +"Du bist jetzt ein reicher, sehr reicher Mann geworden, Michl," sagte +er, "du kannst dir hundert Kuehe kaufen, ein Haus und soviel Ferkel, +als du willst. Es ist von jetzt ab keiner mehr im ganzen Umkreis, der +nur ein Drittel soviel Geld hat wie du. Begreifst du? Gott hat dir +geholfen. Es geht alles seinen gerechten Gang, wenn er es will." + +Michael schien die letzten Worte nicht mehr zu hoeren. Seine Augen +waren auf einmal weit geworden. Eine Gier flackerte in ihnen und der +ganze Ausdruck seines Gesichts war ploetzlich voellig veraendert. + +"Ich--ich kann also auch das Soellingerhaus und das vom Reinalther +kaufen?" fragte er hastig und gedaempft. + +"Das kannst du, wenn sie wollen," nickte der Geistliche, "du kannst +zehn solche Haeuser kaufen, wenn du willst." + +"Zehn....!?" stiess Michael lauernd heraus und bohrte seine Blicke in +die Augen des Pfarrers. + +"Es ist sehr viel Geld," gab der zurueck. + +"Und," fuhr Michael noch leiser, fiebernd vor Unruhe, scheu, als +lausche an den Waenden irgendein ungebetener Gast, fort: "Und ich +krieg' das ganze Geld in die Hand. Ich brauch' nur schreiben lassen?" + +"Ja, wenn Du willst." + +"Ja ...!! Ja, gleich! Gleich! Ich will!" schrie Michael verhalten. + +"Gut," sagte der Pfarrer und ging an den Tisch, "ich schreibe." + +"Und ... und die Haeuser vom Soellinger und--und vom Reinalther?" fragte +Michael beharrlich. + +"Die ...? Ich kann mit ihnen reden," antwortete der Geistliche, waehrend +er schrieb. Dann liess er Michael unterzeichnen.-- + + +II. + +Im Dorf ging ein Schweigen um. Langsam verbreitete sich die Kunde von +Michaels Erbschaft. Betroffenen Gesichts raunten sich die Bauern die +Neuigkeit zu.-- + +Der Baumeister von Greinau, Michael Lindinger mit Namen, wurde ins +Pfarrhaus geladen. Michael laechelte schraeg, als der Mann eintrat und +beauftragte ihn, einen Plan fuer ein neues Haus zu bringen. Trotz der +Einwendungen des Pfarrers wurde der Umbau des alten Anwesens abgelehnt. + +Michaels Rede war jetzt sicher geworden, fast bestimmt. + +"Ein neues Haus muss her!" sagte er beharrlich. + +Und der andere Michael erwiderte pfiffig: "Ja--schon lieber was Neues +als Flickwerk. Das taugt ein paar Jahr', dann geht's wieder von vorn' +an." + +Diese Beipflichtung entwaffnete den Geistlichen. Der Plan wurde +gefertigt. Der Auftrag gegeben. Die ehemalige Pfremdinger-Huette +krachte zusammen mit allem, was sie barg. So hatte es Michael +gewuenscht, steif und fest. Alles Dawider des Pfarrers nuetzte nichts. + +Krachte zusammen. + +Und die Doerfler standen herum, schwiegen, staunten, starrten. Vom +Pfarrhausfenster aus ueberschaute Michael den Vorgang. + +Auf einmal begann der Hausrist zu wanken, broeckelte, krachte. Die +Herumstehenden rannten auseinander und zuletzt war minutenlang eine +ungeheure Staubwolke. Dann, als es wieder lichter geworden war, lag +ein riesiger Truemmerhaufen da. + +Deutlich sah Michael, wie einige die Koepfe schuettelten. Eine Weite +dehnte seine Brust. + +"Das ist nicht recht," rief der Pfarrer hinter ihm. Michael hatte ihn +nicht eintreten hoeren und riss sich erschrocken herum. Reglos und stumm +standen sich die beiden gegenueber.-- + +Seitdem begegnete Michael seinem Pfleger mit verstocktem Schweigen. +Mied ihn.-- + +Der Bau wurde begonnen. Jeden Abend kam Lindinger ins Pfarrhaus und +berichtete ueber den Stand, machte Vorschlaege, legte Rechnungen vor. + +Sein fast beteuerndes, sich immer wiederholendes: "S'ist wahnwitzig +teuer, die Sach', wahnwitzig teuer," liess Michel laecheln. + +"Macht nichts, macht gar nichts," erwiderte er stets. + +"Ja--es ist gut, dass' wieder Arbeit gibt," meinte dann der +Maurermeister meistens und ging. Kaum war er draussen, schrumpfte +Michaels Gestalt im Lehnstuhl zusammen. Das Kinn schob sich vor. Nur +die Pupillen kreisten im Raum.-- + +An einem der Abende, als eben der Maurermeister das Zimmer Michaels +verlassen hatte, trat der Pfarrer ein. Michael erhob sich und wandte +ihm den Ruecken zu.-- + +"Gelobt sei Jesus Christus!" brachte der Geistliche nach einigem +Schweigen heraus. + +Ohne sich umzuwenden, nickte Michael. Dann ging er ans Fenster, +deutete in die Talmulde, die der erste Mond silbern bestrich. + +"Haehaehae--hae! Wird hoch der Turm, hoch!" keuchte er, reckte den Kopf +stoerrisch vor, nahe an die Scheibe: "Wenn man ganz droben ist, muessen +schon die Wolken angehen!" + +Unschluessig stand der Geistliche. Schwieg. + +"Zum Soellinger kann ich hinunterschaun und aufs ganze Dorf!" redete +Michael weiter, ohne ihn zu achten. + +"Die zwei Kirchenfenster?" fragte endlich der Geistliche fast +schuechtern und hielt ploetzlich mitten im Wort inne, als sich Michael +nunmehr hastig umwandte. + +"Zwei ...?! Sechs! Sechs Fenster ...--und neue Glocken, damit ich's +hoer' in der Frueh!" ueberfluegelte dieser ihn, "da muss die Luft zittern, +wenn die laeuten!--Schafft sie an! Morgen! Gleich! Gleich! Und drei +neue Messgewaender!--Muessen fertig sein zum Jahrtag meiner Mutter! +Bestellt's! Bestellt's auch gleich!--Gleich!" + +Wie von einem wilden Strudel dahergetragen stuerzten die Worte +heraus.-- + +Mit sehr ernstem Gesicht verliess der Pfarrer fast traumwandlerisch das +Zimmer. Lange noch hoerte ihn die Marie im Zimmer auf- und abgehen und +laut beten. + +Klare, kalte Maerztage zeigten das hereinbrechende Fruehjahr an. + +Michael ging manchmal aus. Selten suchte er den Bau auf. Nie beschritt +er ihn. Immer bog er scheu ums Dorf und stapfte auf die Sandgrube zu, +aus der man den Kies fuer sein Haus holte. Es schien ihn dort etwas zu +interessieren. Er stand meistens oben am Rand und ueberschaute die +zackige Mulde. + +Boehmen und Italiener arbeiteten auf Taglohn dort und sprengten hin und +wieder einen Felsen, wenn an einer Stelle der Kies ausging.-- + +Eben lud man wieder. Michael war ganz nah herangekommen, stand wie +witternd, mit spaehendem, vorgebeugtem Kopf da und sah aufmerksam auf +jede Bewegung des Lademeisters. + +"Und das--das reisst alles ein?--Mit einem Krach?" fragte er diesen +gespannt. Der Mann nickte und murmelte ein paar unverstaendliche Worte. + +Dann entzuendete er ein Streichholz und steckte die Zuendschnur an. +Alles rannte aus der Grube, wartete bis es knallte. + +Als dies geschehen war und die Leute wieder in die Grube zurueckgingen, +sah man Michael im Tuerrahmen des Werkmeisterhauses stehen. Er liess +sich das Pulver zeigen, rieb es merkwuerdig lange auf seiner flachen +Hand und sagte harmlos zum Werkmeister: "Und so ein Staub hat's +drinnen, dass alles in die Luft fliegt?--Hm--hm--hm!" Ging wieder.-- + +Der Nachtwaechter Peter Gsott glaubte bemerkt zu haben, dass eine +maennliche Gestalt am Rand der Sandgrube auftauchte, sich schwarz vom +bleichen Mondhimmel abhob, dann aber ploetzlich, wie in den Erdboden +gesunken, verschwand. + +Der Werkmeister schimpfte die Sprenger, dass sie soviel Pulver +brauchten. Es entstand ein Streit. Ein Italiener bruellte, dass die +ganze Grube hallte. Auf einmal kam man ins Handgemenge. Ein +furchtbares Raufen entstand. Der Werkmeister bekam einen Schlag auf +den Kopf und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Am aendern Tag +verhafteten die Gendarmen von Greinau zwei Boehmen und einen Italiener, +der beim Soellinger auf der Tenne logierte. Er hatte sich im +Taubenschlag verkrochen und als man ihn herunterholte, stiess er +furchtbare Drohungen auf den Buergermeister aus, die aber niemand +verstand. Anscheinend glaubte er, die Leute haetten ihn verraten. + +Michael begegnete der Haftkolonne und sah sich die drei Burschen sehr +genau an. Spaeter trat er ins Buergermeisterhaus und oeffnete die +Stubentuer hastig. Der Soellinger war im Augenblick so erstaunt, dass er +foermlich aufschrak und kein Wort fand. Saeulenstarr stand er da und +heftete seinen Blick auf den naehertretenden Michael. Gemessen kam +dieser heran, ganz nahe und eine ungeheure Spannung lag in seinem +Gang. + +"Gibst dein Haus nicht her?" fragte er den stummen Bauern lauernd. + +"Nicht?" wiederholte er, als der verneinte und mass ihn scharf von der +Brust bis zur Stirn. + +"Ich ...!?" fand endlich der Soellinger das Wort. + +"Ja?" + +"Solang ich leb' nicht!" schrie der Buergermeister schroff, als wolle +er sagen: "Was willst denn du auf einmal bei mir?" + +"Es passt mir nicht vor meinem Turm," sagte Michael tonlos und sproede +und laechelte hoehnisch in sich hinein. Draussen, vor der Tuer, hoerte er +noch den Schlag der Soellingerfaust auf die Tischplatte. + + +III. + +Richtig, der eine von den Boehmen lud damals den Felsen, erinnerte sich +Michael. Und der Italiener, der aus Soellingers Taubenschlag geholt +worden war, stand neben ihm, als es krachte. Dem konnte man nichts +nachweisen und musste ihn nach vier Tagen wieder aus dem +Amtsgerichtsgefaengnis entlassen. Nun strolchte er mit finsterem +Gesicht herum, und da bei den Bauern von alt her der Aberglaube +herrschte, dass solche Kerle mit ihren Verwuenschungen kraft einer +innewohnenden daemonischen Macht Schaden und Unglueck anrichten koennten, +so wagte keiner etwas gegen sein Kampieren in Heustaedeln und Tennen +einzuwenden.-- + +An einem Aprilnachmittag traf ihn Michael auf der Waldstrasse, ging +entschlossen auf ihn zu und sprach ihn an. + +"Habt's keine Arbeit mehr kriegt?" + +Offenbar verstand der Angesprochene dies, denn er nickte finster. + +"Geht's zu meinem Bau. Verlangt's den Lindinger und sagt's, ich hab +Euch geschickt," sagte Michael. + +Am aendern Tag schleppte der Italiener auf dem Bau Moertel.-- + +Das Haus wuchs. Der Turm der Vorderfront bedurfte nur noch des +Dachstuhls. Beim Soellinger wurde eingebrochen. Man nahm wieder den +Italiener fest, obwohl ihn niemand angezeigt hatte. Da man ihm aber +nichts nachweisen konnte, entliess man ihn abermals. Michael traf ihn +am Pfarrhaus, nickte schon von weitem gruessend und hatte ein Laecheln +wie ungefaehr: "Gut so!" Und wieder arbeitete der Italiener auf dem +Bau, finster gegen jedermann, verschlossen und wortkarg, nur etwas +aufgetaner zu Michael.--Die Kirche war nun jeden Sonntag drueckend +voll. Die sechs Fenster strahlten ihren vielfarbigen Prunk ueber die +Koepfe der Betenden. Einen Monat spaeter erschollen die neuen Glocken +erstmalig. Und in der Luft schwang ein Surren weithin. Wenn man jetzt +Michael sah, lag ueber seinem Gesicht etwas wie ein leuchtender, +verschwiegener Triumph. + +Der April zerging in Regen, Schneegestoeber und fluechtigen Sonnentagen. +Die ersten Maitage liessen die grauweissen Waende des Neubaus sehr +schroff leuchten. Man konnte Michael manchmal mit dem Baumeister durch +die Raeume schreiten sehen. Die Schreiner brachten Moebel. Es ging dem +Vollenden zu. + +Es war wahr, was der erste Knecht vom Reinalther sagte: "Einen solchen +Stall trifft man so schnell nicht mehr." Und: "Eine Lust muesse es +sein, dort zu arbeiten." + +Aber der Soellinger warf veraechtlich hin: "Was hilft ihm das schoene +Haus und alles, wenn er kein Grundstueck hat!" + +Und aus den Reden der Doerfler am Biertisch konnte man deutlich +heraushoeren, dass keiner bereit war, auch nur ein Tagwerk von seinen +Gruenden abzugeben. + +"Unser Heu bleibt unser Heu," sagte der Gleimhans. Und alle nickten. + +"Der kommt schon und will einen Grund!--Aber da bleibt ihm der +Schnabel sauber!" brummte der Reinalther. + +Der Soellinger blickte duester drein und schwieg.-- + +Pfarrer und Ministrant gingen mit Michael durch die Raeume des neuen +Hauses, beweihraeucherten und besprenkelten alles. Eine Woche spaeter +trieben drei Viehtreiber wohl an die zwanzig Kuehe auf der Strasse von +Greinau her ins Dorf und lieferten sie bei Michael ab. Der wohnte +schon vier Tage in seinem Haus. Zwei fremde Maegde, ein Knecht und +jener Italiener, den man von der Sandgrube davongetrieben und +verhaftet hatte, waren da. Und Heufuhren kamen an. Ganz fremde +Gesichter blickten von den leeren Wagen herunter, die durchs Dorf +ratterten. + +"Wenn er jeden Pfifferling kaufen muss, wird die Herrlichkeit bald ein +End' haben," brummten die Bauern, "mit den paar lumpigen Wiesen kann +er grad' eine Kuh fuettern." + +Nach etlichen Wochen kam eine Magd Michaels zum Reinalther und zum +Gleimhans und richtete aus, die Bauern sollten zu ihm kommen. + +"So--!? Sonst nichts....?!" rief der Reinalther hoehnisch und schaute +das dralle Frauenzimmer haemisch an, "sagst, er soll sich einen aendern +Dummen suchen!" + +Und--: "Der hat grad so weit zu mir her!" fertigte der Gleimhans die +Botschaftbringerin ab.-- + +Gleichsam, als haette man sie ohne jeden Grund persoenlich beleidigt, +kam die Magd zurueck und berichtete Michael das Verhalten der beiden +Bauern. + +"Geh!--Ist schon gut!" schnitt dieser ihr das Wort ab, als sie +gespraechiger werden wollte. Seine Zuege veraenderten sich nicht. Nur +seine Augen glommen einmal funkelnd auf.-- + +In der Wirtsstube Simon Lechls herrschte diesen Abend ein belebteres +Gespraech. + +"Jetzt wird er langsam angekrochen kommen und Gruend' wollen," brummte +der Reinalther. + +"Da kann er alt werden!" erwiderte der Gleimhans. Und alle nickten. +"Mit seinem Geldhaufen ist er gar nichts!" sagte der Lechlwirt: +"Gruend' machen den Bauern!" + +"Das ist's!" bestaetigte der Soellinger. + +Und wieder nickten alle.-- + + +IV. + +Die Jahre verstrichen. Das kahle, grell leuchtende Haus am Waldrand +nahm mehr und mehr eine verwitterte Farbe an. Bisweilen, wenn die +Scheune leer war, sah man die schwarze Kutsche Michaels in scharfem +Trab aus dem Dorf rollen, Greinau zu. Vorne auf dem Bock sass der +Italiener mit finster gefaltetem Gesicht und schaute nicht nach links +und nicht nach rechts. + +An den darauffolgenden Tagen knarrten dann meistens schwerbeladene +Heufuhren auf der Greinauer Strasse daher und fuhren durchs Hoftor +Michaels. + +"Nette Wirtschaft!" brummten die Bauern: "Jeden Bueschel Futter muss er +kaufen!" Und halb war es Missmut, halb Schadenfreude, was auf ihren +Gesichtern stand. Die Ernten in dieser Gegend waren mehr als +ueberreichlich. Die Aufkaeufer, die aus der Stadt kamen, hatten es +leicht und konnten anmassend sein. Sie minderten die Preise, wo und wie +immer es nur ging. Die Transportkosten his zum Bestimmungsort mussten +die Bauern tragen. Es kostete stets einen ganzen Tag Zeit, wenn ein +Doerfler seinen verkauften Hafer, sein Korn oder Heu nach Greinau auf +den Bahnhof fuhr und dort in den Waggon lud. In die "Ferkelburg" aber, +wie man Michaels Haus nannte, fuhren fremde Heuwagen!-- + +Michael war fast nie zu sehen. Er sass in seiner Turmkammer und sann. +Gruebelte, als warte er auf etwas. Gleichmaessig und ereignislos verlief +die Zeit. + +Durch irgendeinen findigen Kopf angeregt, war die ganze Doerflerherde +um Greinau darauf gekommen, dass eine Eisenbahnlinie gerade in dieser +Gegend notwendig sei. Eine Vereinigung bildete sich, wurde "Lokalverband +der Eisenbahninteressenten" genannt. Eine Eingabe um die andere +bestuermte das Ministerium. Die Regierung nahm endlich Kenntnis davon, +der Landtag sprach sich befuerwortend aus. Die Eisenbahnlinie wurde +genehmigt.-- + +Michael verfolgte die Berichte im "Greinauer Wochenblatt" eifrig. Man +sah ihn jetzt oefters am Gemeindekasten vor dem Buergermeisterhaus +stehen und die Anschlaege lesen. Vom Soellingerhuegel aus konnte man das +ganze hingebreitete Land uebersehen. + +Da stand er auch. + +Und nicht selten. Oft sogar lange.-- + +An jenem Tag, da die amtliche Bekanntmachung von der Genehmigung der +Eisenbahnlinie angeschlagen war, wandte er sich behend, wie von einer +verhaltenen Freude ergriffen, herum und ueberblickte die Weiten. + +"Hm!--Jetzt!" stiess er ploetzlich heraus, nickte etliche Male und ging +zuversichtlicher von dannen. + +Erst nachdem er in der Tuer der Ferkelburg verschwunden war, trat der +Buergermeister aus seinem Haus und heftete die Bekanntmachung der +grossen Versammlung im Gasthaus "Zur Post" in Greinau in den Kasten. + +Am darauffolgenden Sonntag war der Tanzsaal der Postwirtschaft zum +Bersten voll. Die Bauern aus der Ganzen Umgebung waren zusammengestroemt. +Die bejahende Entschliessung der Regierung wurde bekanntgegeben. Die +ganze Versammlung bruellte und klatschte begeistert. + +"Eine Bahn muss her!" erscholl von allen Seiten. Es gab schwere +Raeusche.-- + +Schon nach einer knappen Woche erschienen die Vermessungsbeamten im +Dorf und wurden mit ehrwuerdiger Neugier empfangen, durchschritten die +Felder, steckten weiss-rote Stangen auf, kamen immer naeher an die +Haeuser heran, zogen eine Linie durch Reinalthers Garten, ueber das +Gehoeft Soellingers hinweg.-- + +Die Haende in den Hosentaschen, schweigend und gewichtig, sahen ihnen +die Bauern erst zu. + +"Also so ging's?" fragte der Gleimhans einen Vermesser. + +"Jawohl, ganz so," erwiderte dieser und war schon wieder weiter. + +"Hm!" brummte der Gleimhans, hob den Kopf und sah den Reinalther +verwundert an. + +"Muesst also mein halber Garten weg?" sagte dieser und sah den Geometern +nach. Die entfernten sich mehr und mehr. Weiter ging es--ueber das +Gehoeft Soellingers hinweg. + +"Hoi--Hoi! Da waer demnach das ganze Buergermeisterhaus im Weg!" stiess +jetzt der Reinalther fast entsetzt heraus und sah betroffen, mit +offenem Maul, auf Gleimhans. + +"Das wird sauber!--Gibt's nicht!" schrie dieser wuetend und straffte +seine Gestalt. + +"Und--schau nur!--durch meine schoensten Gruend' gings'!" rief der +Reinalther, als eben die Vermesser die Linie durch seine Weizenlande +zogen, faeustete seine Haende drohend und polterte gleichfalls: "Gibt's +nicht!" + +Und auf der Stelle gingen die beiden zum Soellinger hinauf und erhoben +lebhaften Einspruch gegen dieses Vermessen. + +"Dein Haus soll weg! Dein Haus, Soellinger! Und unsere schoensten Gruend' +wollen's!" schrie der Reinalther aufgebracht. Und der Gleimhans, der +sich schon wieder ermannt hatte, sagte drohend: "Sollen kommen und mir +durch meinen Acker bauen!" + +Der Buergermeister war wutrot his hinter die Ohren, schlug gewaltig in +den Tisch und rief ebenfalls: "Gibt's nicht! Gleich morgen fahren wir +zum Bezirksamtmann!" + +Als die beiden Bauern aus dem Buergermeisterhaus traten, stand Michael +am Rande des Huegelrueckens und sah den Vermessern gespannt nach. + +"Hm,--der Michl!" brummte erstaunt der Reinalther. + +"Den freut's, weil's ihm keine Gruend' nehmen koennen!" stiess der +Gleimhans wuetend heraus.-- + +Das ganze Dorf war am naechsten Tag in Aufruhr. Man riss ueberall die +weiss-roten Stangen heraus, zerbrach sie. In aller Fruehe schon fuhren +Soellinger, der Gleimhans und Reinalther nach Greinau zum Bezirksamtmann +und verlangten schimpfend eine sofortige Regelung der Angelegenheit. +Sie schrien, fluchten und drohten zuletzt auf das gefaehrlichste. Der +Bezirksamtmann rannte erregt in seinem Arbeitszimmer auf und ab, +gewann aber dann die Ruhe wieder und zuckte mit den Achseln: "Ja, +meine Herren, wenn keiner durch seinen Acker die Linie laufen laesst, +dann gibt es eben keine Bahnstrecke!" + +"Wir pfeifen auf eine!" riefen die drei Bauern zugleich. + +Der Bezirksamtmann machte ihnen klar, dass der Beschluss der Regierung +nicht rueckgaengig gemacht werden koenne, dass doch angemessen entschaedigt +werde und dass "die Herren der betreffenden Instanzen doch keine +Kindskoepfe seien und doch--" + +"Das ist uns gleich! Die Bahn kommt nicht! So nicht!" fuhr ihm der +Soellinger ins Wort und vertrat starrkoepfig den Standpunkt seiner +Begleiter. + +Schliesslich nach langem Hin und Her wurde beschlossen, eine Versammlung +der "Eisenbahninteressenten" einzuberufen.-- + +Bis auf die Strasse heraus standen am naechsten Sonntag die Bauern, die +sich beim Postwirt in Greinau zusammengefunden hatten. Zeitweilig +entstand ein gefaehrliches Gedraenge nach der Saaltuer. Furchtbar +stuermisch ging es zu. Ein Regierungsvertreter war erschienen. Er wurde +niedergeschrien, als er betonte, dass "wenn die Abgabe der Gruende nicht +gutwillig geschaehe, einfach abgeschaetzt wuerde." + +Einfach abgeschaetzt!--Einfach abgeschaetzt!!! Was sollte denn das heissen? +Etwa gar, dass einem einfach die Aecker genommen wuerden!? + +Die Bauern wurden wild, standen auf, richteten sich drohend gegen die +Tribuene. Die auf der Strasse Stehenden zwaengten sich gewaltsam herein. + +"Gibt's nicht!" schrie der ganze Chorus. Ein ungeheurer Laerm erhob +sich. Alles machte Miene anzugreifen. Der Bezirksamtmann fuchtelte +voellig ratlos mit den Armen. Der Assessor schwang wehrlos die Glocke. +Es half alles nichts. Der Laerm wurde nur noch aerger. + +"'naus!--'naus! 'naus aus unserm Gau!" bruellte der ganze Saal. Saftige +Grobheiten flogen den Herren da droben an den Kopf. + +Als nichts mehr auf die tobende Schar einwirken konnte, schrie der +Bezirksamtmann heiser: "Die Versammlung ist geschlossen!" und +verschwand eiligst mit dem Herrn von der Regierung. Die rebellischen +Bauern wurden allmaehlich wieder ruhiger, betranken sich weidlich und +hielten die Sache fuer gewonnen. + +Ohne besonderen Zwischenfall verliefen die naechsten Tage.-- + +In seinem Turmzimmer ging Michael auf und ab, blieb hie und da stehen, +hob rasch den Kopf und laechelte schmal. Und frueh am Morgen, him und +wieder, schritt er ueher die nebeligen Felder.-- + +Inzwischen wurde der Bau der Eisenbahn im Landtag zum Beschluss erhoben. +Soweit liess man sich noch ein, dass man Soellingers Haus umkreiste. +Dafuer aber lief jetzt die Linie durch seine besten Getreideaecker. +Und war beschlossene Sache! Naechstes Fruehjahr sollte die Strecke in +Angriff genommen werden. + +Beim Soellinger liefen die amtlichen Schriftstuecke ueber die +abzutretenden Grundstuecke ein. Die Bauern standen vor den Anschlaegen +mit verbissenen Gesichtern, brummten und fluchten. Eine furchtbare +Erbitterung hatte das ganze Dorf ergriffen. Aber es half alles nichts. +Alles nichts! + +Und die Schaetzpreise waren spottniedrig. + +Es gab kein Zurueck mehr. Missmutig fuegten sich die Bauern. + +"Eine Bahn! Eine Bahn! hat alles geschrien!--Jetzt haben wir's!" +polterte der Gleimhans beim Lechl; "ich hab's immer schon gesagt: es +kommt nichts Besseres nach! Wo man mit der Regierung zu tun hat, ist +Schwindel!" + +Und die anderen, die am Tisch sassen, sahen ihn finster an. Finster und +besiegt, ueberlistet und ratlos. + +"Muessen ja doch! Hilft uns alles nichts!" brummte der Reinalther und +spuckte wuetend aus. Und manchmal sagte ein Veraergerter: "Ach was,--ich +verkauf mein ganzes Zeug dem Juergert und mach' ihm einen saftigen Preis! +Dann kann der sich mit der Regierung herumstreiten!" + +Kaum einer--so schien es--hoerte darauf. Aber dann wiederholte es sich +des oefteren. Schuechtern klang es erst. Allmaehlich erzeugte es +nachdenkliche Gesichter und dann--dann sah man eines Tages den +Reinalther aus der "Ferkelburg" herausgehen. Keiner fragte nach dem +Grund dieses Besuches. Zwei-, dreimal wiederholte er sich und wieder +einmal fuhr die schwarze Kutsche aus dem Tor der "Ferkelburg". +Reinalther und Michael sassen hinten drinnen, der Italiener auf dem +Bock. Es ging Greinau zu. + +"Warum hast deine Alte nicht mitgenommen?" fragte Michael im +Dahinfahren. + +"Brummt und brummt bloss! Hat keinen Verstand fuer so was!" antwortete +der Bauer mit leichtem Aerger. + +"Hat's doch schoen jetzt! Kann sich in die Stub'n sitzen und +privatisieren!" meinte Michael fast ermunternd. + +"Freilich! Das hab ich ihr doch schon hundertmal gesagt! Aber sie +meint halt immer: 'Der Feschl! Der Feschl--wenn er von der Fremd' +kommt--koennt' eine schoene Metzgerei aufmachen und hat jetzt auf einmal +keine Heimat mehr!" redete der Reinalther in die Luft, als spraeche er +mit sich selbst. + +"Aber Geld hat er! Einen Batzen Geld!" erwiderte Michael darauf. Und +der Bauer nickte: "Das mein' ich eben auch!" + +Nachdem sie das Notariat verlassen hatten, lag auf Michaels Gesicht +eine freudig erregte Farbe. Er lud den Reinalther sogar zu einem +richtigen Schmaus ein und der wurde nach dem zweiten Krug schon +gespraechig. + +"Waeren noch andere im Dorf, die ihr Zeug anbringen moechten, sag ich +dir, Michl, brauchst dich bloss dranmachen," schwatzte er vertraulich +ueber den Tisch. + +"Brauchen bloss kommen,--alle nimm' ich!" gab ihm Michael zurueck. + +Ueber Reinalthers Gesicht huschte eine wohlige Roete. Offen und richtig +freundschaftlich betrachtete er seinen ehemaligen Knecht. + +"Weiss dich noch, wie'st mein Knecht warst, Michl," erzaehlte er, +"haett'st dir auch den Buckl krumm gearbeit', wenn dein Amerikaner +nicht ins Gras 'bissen haett'!" + +Und Michael nickte und schloss mit einem: "Jaja, so ist's auf der Welt +hie und da!" Dann fuhren sie wieder ins Dorf zurueck. + +Der Reinalther durfte in seinem Haus bleiben und sass von jetzt ab Tag +fuer Tag beim Simon Lechl in der Wirtsstube. Oft kam er angeheitert +nach Hause. Dann brummte sein Weib: "Wirst noch grad so wie der +ersoffene Juergert." + +"Hab'ns doch, Alte! Hab'ns doch!" groehlte dann der Bauer bierselig +heraus.-- + + +V. + +Wie immer bei solchen Gelegenheiten, griff die Veraenderung der Sachlage +mehr und mehr in das Leben eines Teiles der Doerfler ein. Die Kleinhaeusler +fristeten hierzulande ein hartes Dasein. Ihre kaerglichen Feldstreifen +trugen wenig. Jeder von ihnen war gezwungen, zur Erntezeit und waehrend +des Winters, beim Holzen, bei den Bauern auf Taglohn zu arbeiten. Dieser +Verdienst war, wie man sich auszudruecken pflegte, "zum Leben zu wenig +und zum Sterben zu viel." + +Diesen Leuten kam der Bahnbau gelegen. Es gab ertraegliche Loehne dort. + +"Da hab ich meinen Batzen Geld, basta!--Und brauch' nicht bitten und +betteln bei den Bauern," aeusserte sich der Fendt, dessen baufaellige Huette +am Dorfausgang stand. "Ich bleib' ueberhaupt nicht mehr da," sagte der +Rieminger, "ich verkauf mein Haeusl dem Juergertmichl und mach' eine +Waescherei auf in der Stadt. Da hab' ich auf niemand aufzupassen!" + +Und so geschah's auch. + +Kaum ein halbes Jahr rann him, da hatte Michael auch das Fendthaeusl +und den baufaelligen Reishof gekauft. Die beiden Haeusler bekamen eine +saftige Summe und konnten in ihren Haeusern bleiben. Michael verlangte +nicht einmal Mietzins von ihnen. Das trug sich herum von Ohr zu Ohr. +Mit einer gewissen Achtung sprach man davon.-- + +Der Bahnbau war in vollem Gange. Durch Gleimhansens Aecker trampelten +die Arbeiter, dicht hinter dem Soellingergehoeft, in den Weizenlanden +wuehlten sie den Kot aus der Erde. Mit verbissenen Gesichtern schauten +die Bauern auf ihre verwuesteten Aecker. Viel Fremdvolk war unter den +Arbeitern. Italiener und Boehmen. Es gab Einbrueche, naechtliche +Raufereien und Messerstechereien.-- + +Die Soellingerin bekam die letzte Oelung. Nach einigen Tagen starb sie. +Das ganze Dorf und viele Bauern aus der Umgebung standen um das Grab. +Die Glocken trugen ihr Laeuten durch die Luft. + +Der Reinalther sagte beim Leichenschmaus im Wirtshaus zum Soellinger: +"Was hast' von dei'm Leben, Buergermeister? Deine zwei Soehn' sind ja +doch schon staedtisch, da will keiner mehr an die Mistgabel und an den +Pflug!" + +Finster sah der Soellinger ins Leere und erwiderte kein Wort. Seine +zwei Soehne, der Martin und der Joseph, sassen da und schwiegen +gleichfalls. Zwei flotte Burschen waren sie, sahen gar nicht mehr +baeurisch aus, studierten in der Stadt und hatten runde, selbstbewusste +Gesichter, auf denen ein ueberheblicher Stolz glaenzte. + +Der Buergermeister stand auf einmal auf und ging. + +Es war Erntezeit. Die Strasse fuehrte an den ehemaligen Reinaltherfeldern +vorbei und an der Breite des Ignatz Reis. Da arbeiteten die Knechte +Michaels und der Italiener beaufsichtigte sie. Er war ein schweigsamer, +finsterer Geselle mit unheimlich tiefglimmenden Augen. Wenn er wo +auftauchte, griffen alle unwillkuerlich hastiger zu. Der Soellinger blieb +einen Augenblick stehen, biss die Zaehne aufeinander und schlug, +weitergehend, den Hirschgriffstock fester auf den Boden.-- + +Den Michael sah man jetzt tagsueber fast nie. Nur am Abend stelzte er +ueher den Soellingerhuegel, blieb manchmal stehen und sah wie pruefend der +Bahnlinie nach. Gebueckt ging er. Er trug meistens einen breiten Mantel +und hielt einen Stock in der Rechten. + +Manchmal wenn ein Heimkehrender an ihm vorbeiging, lag ein verglommenes +Laecheln auf seinen faltigen Zuegen. Ploetzlich aber verfinsterten sie sich, +sein Kopf senkte sich und hastig trottete er weiter. + +Einmal traf es sich, dass er dem Soellinger begegnete. Er blieb fest +stehen und sah dem Bauern lauernd in die Augen. Es war gerade an der +Stelle, wo der Bahndamm sich hob, nah' am Bachbruecklein. + +"Grad' deine schoensten Aecker haben's hergenommen," sagte Michael. + +"Hm!" nickte der Buergermeister und wusste nicht, wo er hinschauensollte. + +"Wirst alt jetzt, Soellinger! Gib's her, dein Anwesen!" begann Michael +wieder. + +Der Bauer schuettelte nur den Kopf stoerrisch und ging wortlos weiter. +Aber dieses Mal sah Michael noch tief in der Nacht die Stubenfenster +im Buergermeisterhaus leuchten. + +Einige Tage spaeter geriet der Heustadel hinter dem Soellingerhof in +Brand und nur mit Muehe konnte die Feuerwehr das Ueberschlagen der +Flamme aufs Bauernhaus verhindern. + +Der Italiener Rotti und der Boehme Zdrenka hatten es auf die +Buergermeister-Magd abgesehen. In einer Nacht erstach der Boehme den +Italiener. Zwei Gendarmen von Greinau kamen. Unruhig wurde es im +Soellingerhaus. + +Der Buergermeister schlug wuetend auf den Tisch: "Ich mag nicht mehr!" +Und resolut rannte er zur Tuer hinaus, geradewegs auf die "Ferkelburg" +zu. + +Michael empfing ihn freundlich und ruhig. Er bot eine Summe, dass der +Bauer seine Augen weit aufriss. + +Der Handel kam zustande. + +Der Soellinger gab sein Buergermeisteramt auf und zog zum Schmied. + +"Verkauf deine Kalupp'!" sagten jetzt jeden Abend der Reinalther und +er in der Lechlstube zum griesgraemigen Gleimhans. + +"Hast deine Ruh' und einen schoenen Batzen Geld und der Michl laesst dich +drinn, solang als du willst!" bekraeftigte der Lechlwirt. + +"Solang' ich leb, nicht!" gab der Gleimhans einsilbig zurueck und +schuettelte beharrlich den Kopf.-- + +Michael kaufte das Schmiedanwesen. Der Schmied zog in die Stadt.-- + +"Kauft das ganze Dorf," brummte der Gleimhans, "und hat uns zuletzt +alle in der Mausfall'n!" + +"Soll er, wenn's ihm gefaellt!--Er kann sich's leisten, zahlt gut und +ist nicht zuwider!--Laesst mit sich reden!" verteidigten der Wirt und +der Reinalther den Herrn von der "Ferkelburg". Und dumpf nickte der +Soellinger.-- + +Aber am naechsten Tag trat Michael ins Reinaltherhaus. Der Bauer +empfing ihn aufgeraeumt und freundlich, ohne jegliches Arg. + +"Im Fruehjahr muesst's raus! Hab' einen Paechter," sagte da auf einmal +Michael kurz. + +Dem Bauern gab es einen Ruck. Er sah ihn gross an. + +"Bringt aber sein Zeug schon uebernaechst's Monat!" sagte Michael wieder +und wandte sich zum Gehen. + +Der Reinalther wurde jaeh bleich. Sein Kinn bebte. Seine Unterlippe +rutschte etwas herunter. + +Hilflos und bittend sah er auf Michael. + +"Geht's gar nicht, dass wir die paar Kammern hinten kriegen koennten und +bleiben duerfen!" brachte er kleinlaut heraus. + +Michael schuettelte schweigend den Kopf. + +"Gar nicht?" + +Michael drehte sich um, sah ihn kalt an: "Koennt's ja am End zum Schmied +einzieh'n. Obenauf sind noch drei Kammern. Nachher seid's mit'm Soellinger +beieinand! Ueberleg' dir's und lass mir's wissen!" + +Und ehe der Bauer etwas erwidern konnte, war er draussen. + +Eine Weile stand der Reinalther wie besinnungslos da. Dann ging er zum +Lechlwirt hinueber. + +Der Gleimhans und der Soellinger sassen da. Schuechtern und ganz von aussen +herum erkundigte sich Reinalther nach den Raeumlichkeiten im Schmiedhaus. + +"Musst' raus?" fragte der Lechl. + +Stumm nickte der Befragte. + +"Ins Schmiedhaus?" + +"Schier," erwiderte der Bauer und setzte hinzu: "Hat einen Paechter fuers +Fruehjahr." + +Gleimhansens Augen glaenzten listig. Er hob den Kopf und laechelte +schadenfroh. + +"Vom Schmiedhaus ist gar nicht mehr weit ins Gemeindehaus!" warf er +boshaft him. + +Der Soellinger rueckte sein Gesicht empor. + +"Ja--!" sagte der Gleimhans, ihn messend, "samt eurem Geld jagt er +Euch in die Mausfall'n, wenn's ihm passt!" + +Die beiden anderen Bauern sassen dumpf da und starrten schweigend ins +Leere. Der eine erhob sich, und der andere. Und beide gingen ohne ein +Wort.-- + + +VI. + +Wiederholte Male hatte Michael zum Gleimhans geschickt. Er selbst kam, +der Italiener kam, die Magd kam. Es half alles nichts. Der Bauer gab +sein Anwesen nicht her. + +"Wenn nochmal einer kommt, kann er seine Knochen vor der Tuer +zusammenkratzen!" bruellte er das letztemal wild. Es kam keiner mehr. + +Michael hatte nach und nach das ganze Dorf aufgekauft. Die Gehoefte und +Haeuser lagen brach und still da. Die ehemaligen Besitzer waren entweder +fortgezogen, gestorben oder arbeiteten gegen Taglohn auf der Bahnstrecke. +Die Grundstuecke wurden von den Ferkelburgleuten beackert, bebaut und +bewirtschaftet. + +Im ehemaligen Reishof logierte eine Hausiererin und fuehrte einen +Kramladen. In den sonstigen Haeusern wohnten Arbeiter oder auch die +frueheren Besitzer, gingen in der Fruehe heraus und abends hinein. Die +Mauern broeckelten ab, die Gaerten verwahrlosten, alles lag veroedet und +ruinenhaft da. + +Michael selbst sass den ganzen Tag in seinem Turmzimmer, ueher die +Protokolle und Urkunden gebeugt, die er beim jedesmaligen Kauf eines +Anwesens vom Notariat ausgehaendigt bekam. Nur der Italiener und die +Magd, die ihm das Essen brachte, sahen ihn. Alt und verfallen sah er +aus. Zusammengeschrumpft war seine Gestalt. + +Nachts, wenn der Mond silbern ueher die Talmulde glitt, stand er am +Turmfenster und ueberschaute seinen Besitz. Dann glomm manchmal in +seinen Augen etwas wie Triumph. Nur wenn sein Blick auf das +Gleim-Anwesen fiel, wurde es finster auf seinem Gesicht.-- + +Aus der Erde brach der Fruehling. Die Magd kam zum Reinalther und +brachte die Botschaft, der Bauer solle sich zum Ausziehen +bereitmachen. + +"Jaja, in Gott's Nam'! Sagt's nur, ich will ins Schmiedhaus!" gab ihr +der Bauer als Antwort mit in die "Ferkelburg". + +Am selben Tag trottete Michael eilsam auf den Kramladen zu und +verschwand scheu in dessen Tuer. Die Kraemerin schrak foermlich zusammen, +als er so dastand. + +Aus einem grauenhaft gelben Gesicht starrten verkohlte Augen auf sie. + +"Gib mir zwei Kalbstrick, Irlingerin, aber gute!" sagte Michael kurz. + +Die Kraemerin legte einen Packen Stricke hin. + +Michael pruefte sorgfaeltig einen um den andern. + +"Die!" stiess er hastig heraus, warf das Geld him und nahm zwei +Stricke. + +"Tragen denn gleich zwei Kueh' diesmal?" fragte die Kraemerin endlich. + +Aber Michael nickte nur und ging. Eilig stelzte er durchs Dorf. + +Als er die Tuer seines Turmzimmers zuschloss, zog er die Stricke aus +seiner Brusttasche, pruefte sie nochmal und legte sie in den Schrank, +schloss ab. Offenbar befriedigt atmete er auf, trat an den Schreibtisch +und las wieder die Urkunden.-- + +Gegen Abend kam der Pfarrer, der lange nicht mehr dagewesen war, in +die Ferkelburg. Misstrauisch und etwas verwirrt empfing ihn Michael. + +"Das Kloster Sankt Marien moechte den Soellingerhof, Michl?" sagte nach +einer Weile Schweigens der Geistliche. + +Michael schuettelte den Kopf. + +"Ist nicht recht, dass alles so tot daliegt, Michl!" ermahnte der Pfarrer. + +"So?" sagte Michael hartnaeckig, und seine Falten zuckten fast hoehnisch. + +"Wirst ein alter Mann, Michl! Was tust mit den vielen Haeusern!" murmelte +der Geistliche hilfloser. + +"G'richt halten!" stiess Michael gedaempft heraus und heftete seine Blicke +funkelnd auf den Pfarrer. Der stand beklommen da und atmete schwer. + +"Unser Herrgott wird dir Dank wissen, Michl!" fand er endlich das Wort +wieder und erinnerte abermals an den Soellingerhof. + +"Steht zu arg in der Sonn'", murmelte Michael noch leiser und +unheimlich heraus, "und wirft mir den ganzen Schatten in die unteren +Stuben!" + +Er stand gespannt da, bewegte sich nicht. Der Geistliche wurde +ploetzlich blass, als er das eingeschrumpfte, gelbe Gesicht im matten +Licht sah. + +Jetzt funkelten Michaels Augen wieder und seine Lippen gingen auf und +zu: + +"Hat einmal meinem Vater gehoert, nicht?! ... Und der Soellinger hat es +ihm abgekauft, nicht?! ... Und--der Gleimhans hat ihm Geld 'geben. +--Vieh hat er dazumal geschachert, der Soellinger, nicht?! Und-und +hat's meinem Vater langsam abgekauft--langsam, nicht?! ... War ja ein +Huettl, damals--nicht!?--" + +Er hielt inne. Der Pfarrer stand wortlos da. + +"Und nachher hat er das Saufen angefangen, mein Vater, nicht?!" +keuchte Michael fortfahrend heraus: "Und dann haben's meine Mutter ins +Gemeindehaus, und--und nachher haben sie sie auslogiert--ist +gestorben, weil unsere Kuh krepiert ist! Hat's nicht mehr erleben +koennen ... nicht!?"-- + +Jetzt stockte er ploetzlich, hielt die Worte zurueck und erbleichte. +Wieder bohrte er seine misstrauischen Blicke in das Gesicht des +Pfarrers. Eine Unruhe fieberte auf seinen Falten. + +Auf einmal, ohne des Pfarrers zu achten, stiess er heraus: "So dunkel +ist's da unterm Turm wie im Gemeindehaus bei meiner Mutter +dazumal....!?"-- + +"Michl!" rief der Pfarrer nur mehr. Dann ging er.-- + +Michael stand eine Zeitlang in der gleichen Haltung da, dann zuckte er +erschreckt zusammen und brach in seinen Lehnstuhl. + +Spaeter rief er den Italiener. Es war schon Nacht draussen. Er steckte +die Kerze an und zog die dichte Gardine vor. + +"Hast immer geladen in der Sandgrube, nicht?" fragte er den Italiener. + +Der nickte. + +"Bist krank, Guisepp'! Musst Ruh' haben," redete Michael gut auf ihn +ein und liess ihn nicht aus den Augen. + +Guiseppe stand verlegen und verstaendnislos da. + +"Das Soellingerhaus da drueben, Guisepp', das soll dir gehoeren, wenn'st +--wenn'st nochmal sprengst, bloss mehr dies einzige Mal!" sagte Michael +aschfahl und oeffnete seinen Schreibtisch, legte drei Pulversaecke aufs +Pult. + +Der Italiener starrte ihn gross und schweigend an. + +Als dies Michael bemerkte, sprudelte er fast bittend und hastig +heraus: "Haben dich nie erwischt, Guisepp', nie! Hast dich immer +rausgemacht--wirst's auch diesmal fertigbringen!"-- + +Und dann setzte er ihm den Plan auseinander. + +Mitten im Gespraech horchte er jaeh auf. Fern aus dem Dorf hoerte man +Wagengeknatter und "Hue"-Rufe. Der Gleimhans fuhr die Habe Reinalthers +ins Schmiedhaus. + +"Geh!" sagte Michael hastig zum Italiener. Mechanisch verliess dieser +das Zimmer.-- + +Bis tief in die Nacht hinein schleppten der Gleimhans, der Soellinger +und die Reinalther-Eheleute die Moebel in die wackeligen Kammern im +ersten Stock des Schmiedhauses. + +Es war eine windige, unruhige, stockdunkle Nacht. Manchmal trug eine +Windwelle Laute und abgerissene Saetze herueber zur "Ferkelburg". + +Michael ging zitternd im Turm auf und ab. Auf und ab. Von Zeit zu Zeit +neigte er sich ueber den Schreibtisch und schrieb noch ein Wort oder +einen Satz auf einen aufgeschlagenen Bogen Papier. + +Jetzt riss der Wind die Schlaege der Kirchturmuhr auseinander. Michael +tappte ans Fenster, hob die Gardine ganz schmal beiseite und band den +Strick an den Fenstergriff. + +Und sah scharf und spaehend ins Dunkel hinaus. + +Da krachte es furchtbar. Ein riesiger Feuerklumpen brach in der Gegend +des Schmiedhauses schleudernd in die Schwaerze der Nacht.-- + +Und um die runde Anhoehe hetzte eine lange Gestalt auf die Ferkelburg +zu. + +Michael fasste den Strick und legte seinen Hals in die Schlinge. Dann +brach er ins Knie und hob seine ineinandergerungenen Haende zur Hoehe. +Sank.-- + +Mit jener grauenhaften Blaesse, die oft jaeh von furchtbarer Ahnung +Erschuetterte befaellt, sagte der Pfarrer am andern Tag vor der Leiche +des Erhaengten: "Alle Dinge sind eitel!" Und hob den Blick gen Himmel. + +Auf dem Schreibtisch lag ein Testament, das Guiseppe die ganzen +Besitzungen und Hinterlassenschaften Michaels zuerkannte.-- + + + + +EIN DUMMER MENSCH + + +I. + +Seltsam sind Menschenwege. Kalt ist der Winter, heiss der Sommer, die +Zeit laeuft weg und Alter und Verbitterung hocken in den Knochen, eh' +man sich richtig umsieht. Und schliesslich--was ist's gewesen, wenn man +nachdenkt?-- + +Misere, Misere, Misere! + +Zufall ist alles--und nichts.-- + +Vor zweieinhalb Monaten noch--hol der Teufel diese kalten, widerwaertig +regnerischen Herbsttage!--trottete Adam Hoegl verdriesslich durch die +dumpfen Strassen, ueberlas ein um das anderemal die Karte des +Arbeitsamtes, die ihm anbefahl, dass er sich beim Kranenwerk als +Erdarbeiter zu melden haette, zerknuellte sie ebensooft in der Tasche +und trat gedankenlos in die Kneipe der engagementslosen Artisten "Zur +wilden Rosa." + +Widerlich, wie er jetzt auf einmal noch quaelender die kalte Naesse an +seinen Gliedern herabrieseln fuehlte! Und ausgerechnet musste noch dazu +die selbstspielende Geige unausgesetzt kratzen, dass es durch Mark und +Bein ging! + +Die rauchige Luft war zum Schneiden dick hier und ein Laerm herrschte +an allen Tischen wie auf einem Jahrmarkt. + +Knirschend und ohne sich um die geschwaetzige Gesellschaft zu kuemmern, +liess sich der Eingetretene auf einen Stuhl fallen und schwang seinen +patschnassen Hut ein paarmal derart wuetend him und her, dass die +herausgepeitschten Tropfen wie aus einem Weihwasserpinsel herumflogen. + +"Pilsner oder Most?" schrie der Kellner ueher die Koepfe hinweg. + +"Pilsner!" brummte Hoegl finster zurueck und machte sich breit. "Hoho!" +murrte jemand beinahe drohend am Tisch, und aergerliche Gesichter hoben +sich. Auf einmal rief eine bekannte Stimme: "Mensch! Hoegl!" und Adam +Hoegl sah verwundert auf. + +"Hoegl! Mensch! Adam!" schrie es abermals und ein Herr mit rundem, +lachendem Gesicht tauchte an der anderen Tischseite auf, beugte sich +behend in die gedraengten Leute: "Erinnerst du dich? Krull, vierte +Kompagnie, Zimmer achtundzwanzig!? Bauchreden!" Adam Hoegl faltete +schnell die Stirn. + +Ja, es stimmte: Im Zimmer achtundzwanzig der vierten Kompagnie lag er +neben Ferdinand Krull und betrieb als Liebhaberei die gelegentlich +erlernte Kunst des Bauchredens. Er entsann sich ganz deutlich, und +unwillkuerlich, fast von selbst entquollen ihm einige Laute. Er sass +gerade aufgerichtet da, mitten im ploetzlich verstummten Kreis der +Gesichter, mit geschlossenem Mund--nur der herausgedrueckte Punkt +seines Halses bewegte sich etwas auf und ab--und tief unten in seinem +Bauch redete es. + +"Mensch, du kannst noch!? Komm sofort mit! Du wirst meine beste +Nummer!" jubelte jetzt der ehemalige Barkellner Ferdinand Krull, und +ehe die verblueffte Schar sich's richtig versah, trabten die beiden +eilsamen Schrittes aus der Kneipe, stiegen in das bereitstehende Auto +und weg waren sie.-- + +Am selben Abend schon stand Adam Hoegl auf der grell beleuchteten, +geraeumigen Buehne des Krullschen "Paradies-Kasinos" und johlte seine +Bauchstimmen-Witze in das bunte, glaenzende Publikum, das sich +allabendlich hier zusammenfand. + +Fluechtig zurechtgemacht, im zu grossen, faltigen Frack des beleibteren +Krull, mit viel zu weitem Kragen, der sich wie ein schmaler weisser +Kummet um seinen duerren, langen Hals wand, in einer karierten, +schnuerenden Weste, einer billigen gestreiften Hose und den quaelend +drueckenden Lackschuhen des Wirtes--so stand Adam Hoegl, eine beachtete, +wichtig gewordene Einzelperson,--wie aus einer tiefen sumpfigen +Finsternis ploetzlich auf einen strahlenden, weithin sichtbaren Gipfel +gehoben--inmitten der sorglosen, grossen, praechtigen Welt. + +Musik fiel ein, saeuselte suesse, schmeichelnde Melodien durch den Raum, +tuschte, brach ab--der Vorhang peitschte in die Hoehe. Vereinzeltes +Stuehleruecken noch, leise verschwingendes Glaeserklirren und andaechtige +Stille minutenlang. Adam Hoegl riss die Augen weit auf. In der +blauueberleuchteten, abgedaempften Zuschauergruft tauchten puppige +Herrenruecken auf, kuehngekleidete Damen, ebenmaessige, gepflegte, +wunderbar abgetoente Gesichter und lange, glitzernd beringte Haende +mit Elfenbeinfarbene Nacken bogen sich waghalsig. + +Herausfordernde, runde, nackte Arme bewegten sich laessig +undentbloesste, leicht geroetete Brueste hoben und senkten sich wie +weiche, maerchenseltsame Lichtflaechen, die ein faechelnder Wind +arglos um schwirrte.-- + +Mit Gewalt musste Adam Hoegl an sich halten. Der Atem stand ihm still. +Schweiss war auf seiner Stirn. Muehsam presste er endlich die ersten +Laute heraus. + +Es raekelte. + +Sein Herz klopfte auf einmal wie im Galopp. Mit ganzer Kraft straffte +er sich, groehlte unbeholfen den ersten Witz heraus, begann ohne +Zwischenpause den zweiten. + +Es raekelte schon wieder. Seine Knie begannen zu schlottern. Er biss die +Zaehne fest aufeinander, presste--presste die Laute, die auf der Kehle +sassen, wieder zurueck, hinunter in den Bauch und hatte endlich den +zweiten Witz. + +Das Raekeln verstaerkte sich, verflachte zu einer allgemeinen +Bewegung. Schon drohte er umzufallen--da brach ein berstender, +frenetischer Jubel ueher ihn her, ein Gelaechter wie aus einer +vielstimmigen Riesentrompete, ein betaeubendes Klatschen, als sei hoch +auf einem Berge die Schleuse eines gehemmten Flusses mit einem Male +jaeh aufgerissen worden und die ganze Wasserlast falle sausend in die +Tiefe. + +Er war gerettet. + +Er atmete auf, hielt inne, liess den Jubel verrauschen und jetzt floss +sein ganzer Mut und Witz berueckend sicher aus ihm heraus, hinab in die +Gruft und wieder zurueck an seine schweissnasse Brust wie +verhundertfachter, brausender Dank. + +Er hatte gesiegt. + +Einen solchen aus allen Geleisen geratenen Beifall hatte das +"Paradies-Kasino" noch nie erlebt.-- + +Vollkommen erschoepft schleppte sich Adam Hoegl am Arm seines ehemaligen +Regimentskameraden immer wieder durch die getuermten Blumenhaufen, vor +bis an die Rampe, kaum noch faehig, sich zu verbeugen. Und immer, immer +wieder zuckte der Vorhang, fuhr sausend auseinander und in die Hoehe. + +Zuletzt sah es aus, als haetten sich alle Menschen da unten +uebereinandergeworfen und in das wueste, kreischende Plaerren mischte +sich endlich die Musik undschwoll an zu einem maechtigen Choral. Und +regelmaessiger, breit und den ganzen Raum erbeben lassend sang es aus +allen Kehlen zur Hoehe: "Ooo du Pa--a--aradies! Pa--a-aradies +--Kasi--ino--o--o!" dass Adam Hoegl buchstaeblich wie halbtot seinem +Kameraden in die Arme sank und aus tiefstem Glueck erschuettert auf +johlte: "Pa--a--aradies!"-- + +Einige Tage spaeter konnte er an allen Litfassaeulen in halbmetergrossen +Buchstaben seinen Namen lesen und darunter stand: "Die grosse Nummer". +Und jeden Abend erntete er den gleichen Beifall. Schon in der Mitte +des zweiten Monats war auf allen Plakaten, quer ueher "Die grosse +Nummer" geklebt, zu lesen: "Zum dritten Male prolongiert!"-- + + +II. + +Ohne es selber recht innezuwerden, rueckte Adam Hoegl in eine andere +Menschen schicht hinauf. Er trug nunmehr seidegefuetterte Anzuege der +besten Schneider, ging mit gelassener Selbstsicherheit durch die +Strassen und gruesste mit ausnehmender Vorliebe auffaellig gestikulierend +und so geraeuschvoll, dass alles stehen blieb und lachen musste, vornehme +Gaeste des "Paradies-Kasinos". Fast jeden Abend nach seinem Auftreten +sass er an irgendeinem Tisch, inmitten einer fidelen Gesellschaft, +trank je nach der Art seiner Gastgeber entweder herablassend beilaeufig +oder mit einigen Brusttoenen lobender Aufmerksamkeit aeltesten Wein, +Bekanntesten franzoesischen Sekt, jeden Nerv kitzelnde Likoere und sog, +immer witzgerecht, mit geuebt baeuerlicher, biederer Bescheidenheit alle +Bewunderung der Gaeste in sich hinein. + +Seine berechnete Natuerlichkeit wirkte bestechend bei Damen, alten +Lebemaennern und Industriellen. Er zotete, wenn ihn ein abfaelliger, +herabmindernder Witz traf, ueher alles hinweg mit jenerunerschuetterlichen, +nie angreifbaren, haemischen Trockenheit, die entwaffnet. Mit dem ganzen +unterdrueckten Instinkt eines Menschen, demdie Angst vor dem +Wiederzuruecksinken in den Sumpf Spannkraft gibt, beobachtete er, erwog +die Moeglichkeiten neuer Bekanntschaften, erlistetesich notwendige +Gebaerden und Manieren, machte sich gutwirkende Kniffe zunutze +und galt bald als der gewiegteste Weinkenner und grossartigste, +bewunderungswuerdigste Zecher, mit dem es eine Lust war, Gelage zu halten. + +Freilich, es gab auch Abende ohne Einladung, wo er am Kuenstlertisch in +der zerwetzten Nische sass und sich mit Kollegen und Kolleginnen, die +mit ihm das Programm ausfuellten, unterhielt. Artisten aus aller Herren +Laender, dicke Saengerinnen, zierliche Chansonetten und schwergebaute +Ringkaempfer waren da. Intrigen, Neid und Intimitaeten gab es da, +Vertraulichkeiten und Klatsch. Mit teilweise unverhohlenem oder auch +leisem, verstecktem, stechendem Spott sahen diese weltbereisten, mit +allen Wassern gewaschenen Leute auf den Neuling herab. Es war +unerquicklich und feindselig in dieser Nische, alles deutete zurueck in +die Misere. + +Draussen, im Zuschauerraum, vertrugen sich die dickaufgetragenen +Freundlichkeiten voruebergehender Kollegen fast laecherlich leicht. +Waehrend er nicht selten, wenn er spaet nachts den Kuenstlertisch +verlassen hatte und heimwaerts ging, zukunftsbesorgt und entmutigt war, +lebte er als Gast an den Tischen der Kasinobesucher stets auf, schaute +den voruebergehenden Kollegen kuehn und dreist in die Augen, warf ihnen +treffsichere Zoten zu und laechelte unverschaemt, wenn er auf ihren +Gesichtern die nur schwer zurueckgehaltene Wut aufsteigen sah. Hier, in +diesem Meer, dessen Wellen ihn unausgesetzt emporhoben, fuehlte er sich +voellig geborgen, unverfolgbar und maechtig. + +Adam Hoegl war kein Optimist. "Nichts dauert ewig und jeder muss sich +nach der Decke strecken," sagte er bei jeder Gelegenheit mit leiser +Ironie, doch handelte er danach. + +Gelegentlich eines wuesten Gelages mit dem Millionaer van Haarskerk und +seiner Gesellschaft in einem abgedaempften Hinterraum des +Paradies-Kasinos liess er sich kaltes Wasser kuebelweise ueher den Kopf +schuetten, spielte mit Meisterschaft den voellig Betrunkenen, trank +gesalzenen Sekt ohne eine Miene zu verziehen, ertrug zur Steigerung +des Vergnuegens viele, viele Stoesse in den hingehaltenen Bauch und +tanzte zuguterletzt patschig und negerhaft wie ein Eunuch im Hemd +herum, dass sich die ganze Gesellschaft vor Lachen waelzte. + +Von da ab sass er jeden Abend am Tische van Haarskerks, duzte sich mit +diesem. Der Millionaer war eine besondere Art von Mensch, Er hatte der +kleinen Kabarett-Diva Yvonne eine Villa draussen an der Peripherie der +Stadt gebaut und vertrieb sich die Zeit damit, mit ihren frueheren +Bekannten Gelage zu halten, ausgesuchte Gerichte zu kochen und +Autotouren zu machen. Durch sein Verhaeltnis mit der Diva war er im +Laufe einer ganz kurzen Frist zu einer Art Stadtbekanntheit geworden. +Meistens kam er mit zwei oder drei vollbesetzten Autos im +Paradies-Kasino an. Allerhand zweifelhaft gekleidete Leute begleiteten +ihn, alles fruehere Geliebte Yvonnes--: abgewirtschaftete Studenten, +die sich Dichter nannten, einige Kunstmaler, ehemalige Kabarettleute, +undefinierbare Witzbolde und schliesslich noch einige Herren, die stets +neueste Mode am Leibe trugen, gepudert waren und das Einglas ins Auge +geklemmt hatten. Nach Schluss der Vorstellung fuhr man nicht selten mit +noch Hinzugekommenen, momentan die Langeweile vertreibenden +Eingeladenen nach Hause, um dort weiterzutrinken, zu diskutieren oder +Bakkarat zu spielen, his die Fruehe fahl ihr Licht durch das dicke +Glasdach des Wintergartens auf die Zecher herabfallen liess. + +Adam Hoegl fasste festesten Fuss in diesem Hause, ja, zaehlte geradezu zur +Familie, lernte fabelhafte Tafeln kennen, ueberschuettete die gelassene +Gleichgueltigkeit, mit der man hier Unsummen in die Spieltischmitte +schob und wieder wegzog, mit seinen herabmindernden Spaessen, trank +ebenso waehlerisch wie selbstverstaendlich Whisky pur wie Kognak von +1875, Mit dem ihm eigenen Geschick sekundierte er, wenn Yvonne ihre +tausendmal erzaehlten Bettgeschichten und anzueglichen Witze erzaehlte. +Sein trainiertes Gelaechter riss jedesmal mit und erleichterte den nur +mit Muehe die Langeweile verbergenden, devot Beifall spendenden +Guenstlingen ihre schwierige Aufgabe auf das angenehmste. + +Oft und oft kam es vor, dass die ueberreizte Diva eine Vase durch eine +Glastuer warf, Unheil stand drohend--da auf einmal trompetete das +Lachen Hoegls und glaettete im Nu den Sturm. + +Es gab Naechte in diesem Hause mit ihm, die begannen mit einem wuesten +Balgen zwischen Yvonne und van Haarskerk, mit einem Zusammenschlagen +kostbarster chinesicher Zierrate, mit einem Demolieren von Tueren und +Moebeln und endeten wie etwa eine unvergleichlich lustige Sylvesterfeier. + +Hier war ein reicher Fischplatz. Adam Hoegl warf vorsichtig seine +Angeln und Netze aus.-- + +"Denn nichts dauert ewig und jeder muss sich nach der Decke strecken!" + + +III. + +Die Tage und die Naechte liefen davon. Viel zu schnell. Sie schwebten +vorbei, ohne sich voneinander zu unterscheiden. Es war ein +unaufhaltsames Fliessen. Es gab keinen festen Punkt, kein Nachdenken, +keinen Widerstand. + +Allmaehlich, mit jedem Tag bemerkbarer, liess der Beifall nach. Es brach +jetzt kein ploetzliches Gelaechter mehr aus. Es war keine Stille mehr in +der Zuschauergruft, wenn Hoegl auftrat. Man sandte auch kein resolutes +"Pst!" mehr aus aufmerksamen, lauschenden Tischen, wenn die Kellner +servierten. Gelangweilte Gesichter sah man ringsum. Es schwaetzte +jedermann waehrend des Vertrags. Wie ein boeses Gewissen rieselte durch +den erschauernden Koerper jene penetrante Peinlichkeit, die immer +einsetzt, wenn man sich hilflos einer staerkeren Macht gegenuebersieht +und es sich nicht eingestehen will. + +Es war acht Tage vor dem Ende des dritten Monats, und nichts wieder +hatte Krull von abermaliger Prolongierung erwaehnt. Adam Hoegl stand +benommen hinter dem eben herabgefallenen Vorhang und wischte sich den +Schweiss von der Stirn. Es klatschte maessig. Der Vorhang zuckte fast +mitleidig und wurde rasch noch einmal hochgezogen. Es klatschte etwas +mehr, als Hoegl dankte. Der Vorhang fiel wieder herab. Bagg--bagg--bagg +--bagg!--schon schwammen die Redegeraeusche, das Klirren der Glaeser, +das Stuehleruecken und Surren der Ventilatoren darueber hinweg, und alles +verebbte zu einem gleichmaessigen Geplaetscher. In acht Tagen vielleicht +stand Krull, der in der letzten Zeitmerkwuerdig schuechtern auswich und +sich selten sehen liess, vor ihm und sagte ungefaehr: "Adam, du weisst! +Mein Publikum will Abwechslung. Ichbin Wirt, ich muss mich nach ihm +richten." + +Man war ihn satt!--Er konnte wo anders hingehen?--Schliesslich--er +hatte noch etwas Geld, Anzuege. Es ging eine Zeitlang. Dann?-- + +Der Boden schwankte, man glitt aus, man liess sich dahintreiben, dumpf +und verbittert auf einen naechsten jaehen Zufall wartend. Die fast +maerchenhafte Leichtigkeit, mit der man ueher Nacht so hoch getragen +worden war, hatte die Energie vernichtet.--Adam Hoegl knirschte und +sah scheu rundherum. Die Angst kam von der Magengegend zur Gurgel +heraufgekrochen. Mit einem Ruck riss er sich zusammen und schritt zur +Tuer. Da kam der schlanke Kellner und bat ihn in die Loge des +Millionaers. Er atmete erleichtert auf. "Ich komme gleich," sagte er +schnell und ging in die Garderobe. + +Nach einigen Minuten schritt er die Logenreihen entlang und hatte +schon wieder die breitlachende, humorvolle Miene, die man an ihm +gewohnt war. Aus verschiedenen Tischen nickten ihm Leute gruessend zu, +und scheinbar ganz in seligster Wonne erwiderte er. + +Die Haarskerksche Loge war wie gewoehnlich gepfropft voll. Jeder der +Herren lachte bereits das knallige Lachen Adam Hoegls. Das gab Mut. +Noch war man also nicht ausgeloescht.-- + +"Ah--haha!!" kraechzte der Millionaer aufstehend und machte Platz. + +"Was machst du?" fragte Yvonne den Angekommenen. + +"Einen schlechten Eindruck," erwiderte Hoegl trocken. Die Unterhaltung +belebte sich, wurde aufdringlich laut. + +"Psst! Psst!" zischte es aus den gegenueberliegenden Tischen, denn eben +trat die neuengagierte Saengerin auf und trillerte die ersten Laute. + +"Ah--a--a--ah--ah--a--a--aa!" sang Hoegl boshaft mit angestrengtester +Kopfstimme nach und der ganze Tisch kreischte hellauf. + +"Psst! Psst!" Adam Hoegl entdeckte mit einem fluechtigen Blick drueben in +einer dunklen Ecke Krull mit finsterem Gesicht, wandte sich schnell +wieder weg. + +"Ein Tuerteltaeubchen! Ein Taeubchenturtel!" groehlte er sehr laut. + +"Ru--u--uhee! Psst!" brummte es noch energischer und empoert gehobene +Gesichter tauchten auf. + +"Mistkaefer! Schweinebande!" knirschte Yvonne dumpf in den Tisch und +rief lauter: "Anton zahl'! Wir wollen gehen! Sofort!" + +Der Kellner kam eilends herangeflitzt. Sehr geraeuschvoll bezahlte der +Millionaer und die ganze Loge erhob sich. Alle tappten im Gaensemarsch +knatternd auf den Ausgang zu. + +"Psst! Psst! Ru--uhe!" surrte es ihnen nach. An der Tuer stand Krull, +verbeugte sich devot und wollte entschuldigen. + +"Schon gut! Schon gut! Wir werden's uns merken!" schrie Yvonne und +befahl resolut: "Kommt! Lasst euch nicht aufhalten!" Der Trupp stuerzte +hinaus. "Ich moechte heut' nur Hoegl, Kotlehm und Raming, Anton! Lass die +andern nach Hause fahren! Wir wollen unter uns sein!" sagte Yvonne vor +dem Auto. Der Millionaer rannte auf die anderen Begleiter zu, sagte +ihnen dies, kam wieder zurueck, stieg rasch ins volle Auto und gab das +Zeichen zum Abfahren. + +"So sind alle Wirte, weisst du! Pack! Pack!" schimpfte Yvonne waehrend +des Dahinfahrens. + +"Eben! Eben!" brummte Hoegl in tiefem Bass. + +"Ein solches Miststueck mit ihrem Geplaerr! Na, ich danke!" + +"Eben! Eben!" sekundierte Hoegl befriedigt. + +Der Maler Kotlehm lachte gewaltsam. + +"Und diese Presssackbrueste, pw! Diese Wurstfinger, aeh!" zeterte Yvonne. + +"Gulasch! Gulasch mit Kartoffel!" murmelte Hoegl. Man lachte +allenthalben. Yvonne warf ihre Arme hingerissen um Hoegls Nacken und +drueckte ihr kaltes geschminktes Gesicht an seine Wange, kuesste ihn +breit und feucht, dass es schnalzte: "Hoegl, Du bist mein Mann!" + +Die Stimmung war wiederhergestellt. + +"Was trinken wir?" fragte van Haarskerk. + +"Sekt! Sekt!--Ich moechte heute schwimmen im Sekt--und dann Whisky!" +rief Yvonne emphatisch. + +Das Auto fuhr surrend durchs Tor. + + +IV. + +Die Dienerschaft war zu Bett gegangen. Es war still. Ueberall herrschte +ein Geruch nach Zigaretten, Parfuem und Alkohol. Man liess sich in die +tiefen, nachgiebigen Fauteuils um den offenen Kamin im Rauchzimmer +fallen. Jener Punkt war erreicht, wo alles oede, langweilig, dumm und +trist zu sein scheint. Die Stimmung war zweideutig und unentschieden. +Es hiess geschickt eine Krise zu vermeiden, die scharfen, vorgeschobenen +Riffe der Ueberreiztheit gewandt zu umsegeln. Noch zwei oder drei +schweigende Minuten und man stand vielleicht auf, gaehnte doesig und ging +zu Bett--oder aber auch Yvonne stiess zufaellig mit dem Fuss wo an, +knirschte gehaessig und schmiss eine Vase kaputt. Es gab Skandal und alles +war verloren, verhunzt. "Ich hab' Hunger," sagte Yvonne bereits bedrohlich. + +Adam Hoegl ergriff die Gelegenheit und brummte trocken: "Ein frugales +Mittelstueck! Sehr richtig! Weder Frueh--noch Nachtstueck--ein Mittelstueck, +ein Stueck in der Mitte!" Man lachte lahm. Der Maler Kotlehm und der Lyriker +Raming bewegten sich etwas aufgefrischter: "Ja, das waere nicht dumm!" + +"Geht!" befahl Yvonne Hoegl und dem Millionaer. Die beiden waren +aufgestanden. "Komm! Kommen Sie, Herr Kuechenchef! Wir wollen--Na, die +Herrschaften, na--na!?" trompetete Hoegl in seinem breiten Bass, als er +mit van Haarskerk in die Kueche ging. Waehrend der Hausherr eineinhalb +Dutzend Eier kochte, schmierte Hoegl Butterbrote, strich Kaviar darauf, +schnitt Schinken und Seelachs. + +Der Sekt war bereits abgekuehlt. + +Als er die Glaeser und das Tablett mit den Speisen in das Rauchzimmer +trug, hatte sich Adam Hoegl wieder ganz in der Gewalt und bediente +behend wie ein Servierkellner. Man griff gierig zu, schmatzte. Die +Stimmung hob sich. + +"Und ick?!--Ick hock mir ins Klosette rin und kotze alle Spucke +rinn!--rinn!--rinn!--" johlte Hoegl wie ein Grammophon mit waesserigem +Mund. Und: "--rinn!--rinn!--" wiederholte der ganze Chorus. + +Zufaellig warf der Millionaer seine Eierschalen in grossem Bogen zur +Decke. Sie fielen in den Spiegel oberhalb des Kamins und zischten +auseinander. Belustigt darueber schleuderte Yvonne ihr Ei in die +glitzernde Flaeche. Benng! klatschte es spritzend auseinander. Einen +Moment gafften alle unschluessig. + +"Hoi--j! Hoi--j!" bruellte Hoegl unverbluefft wie ein Ausrufer und warf +ebenfalls sein Ei in den Spiegel. Das gefaehrliche Riff war umschifft. +Alles groehlte mit einem Male mitgerissen. Patsch--Patsch--Patsch! +Jeder warf sein Ei in den Spiegel. Es klatschte um die Wette. Yvonne +schuettelte sich berstend. Adam Hoegl huepfte vor Vergnuegen. Wie doch +alles einfach ist!--"Das ist--um es richtig zu sagen--der Kampf mit +dem Spiegel oder der verspritzte Eidotter auf dem Kamingesims!" +plapperte Raming ruelpsend. + +"Hahaha--ha! Der Lyriker wird witzig!" stichelte der Millionaer. + +"Der Spiegelkrieg! Das Krieglspielchen! Das Spielchen mit dem +Kriegl-Spiegl!" gluckerte Hoegls Bauchstimme. Ein hemmungsloses +Gelaechter peitschte auf. Man trank ueberschnell und mit vollstem +Behagen. Adam Hoegls Gesicht glaenzte triumphierend. Sehr gewandt +spuckte er seinen Mund voll Sekt zur Decke. Ein dicker Strahl war's. +Im Nu folgten die aendern. + +Die Stimmung hatte einen ersten Hoehepunkt erreicht. Es galt, ihn zu +halten. Adam Hoegl begann zu zoten. + +--Dem Lyriker Raming gab der Millionaer seit einem Jahr ein Stipendium, +weil Yvonne dessen bastardhaft verfaltetes Gesicht gelegentlich einmal +als "angeilend" bezeichnet hatte. Des Malers Kotlehm vulgaere Schoenheit +entzueckte die Diva dergestalt, dass sie van Haarskerk veranlasste, ihm +ein Atelier zu bauen. Von anderen noch wusste Adam Hoegl, dass sie +betraechtliche Summen wegen eines Witzes oder dergleichen erhalten +hatten. + +Und er hatte sich Wasser kuebelweise ueher den Kopf schuetten lassen. + +In den Bauch treten lassen! + +Und in acht Tagen?-- + +Raming ruelpste, liess den Kopf haltlos auf seine Brust herabgleiten, +sank zusammen und schlief ein. + +"Der ausgewundene Strumpf zieht sich in die Vorhaut zurueck!" rief Hoegl +breit, ueberpruefte unbemerkt die Gesichter der aendern. + +"Die Inspiration kommt im Schlaf!" warf der Millionaer beilaeufig him. + +"Weisst du, Anton," sagte die Diva schnell und aufgeraeumt, "ein +Spielchen waere jetzt richtig angebracht!" + +"Ein Bakkarat?--Ja, das waer' jetzt sehr nett!" sagte der Maler Kotlehm +ebenso. + +"Sehr richtig! Gewiss die Damen! Gewiss die Herren! Die Dammenherren, +die Herrendammen!" plapperte Hoegl und verbeugte sich wie ein Lakai: +"Adam Hoegl uebernimmt die Saufregie, bitte, bitte meine Herrschaften, +bitte!" + +Das Schnarchen Ramings saegte friedlich und gleichmaessig. Yvonne, +Kotlehm und der Millionaer setzten sich um das Spieltischchen, legten +die Banknoten in die Mitte. + +"Prost, Herr Kunstmaler, Herr Kotstengel!" rief Hoegl haemisch, hob das +volle Sektglas und schluckte hastig den ganzen Inhalt hinunter. + +Van Haarskerk gab die Karten. + +Hoegl, der nicht spielen konnte, ging auf und ab und bruemmelte leise +singend vor sich him. Von Zeit zu Zeit lugte er fluechtig auf den +getuermten Haufen der Banknoten, die sich in der Tischmitte sammelten. +Laessig zog man die Scheine weg oder warf neue him. + +Mattblauer Tag lag schon auf den Gesimsen. Die Gaerten draussen +bleichten. Stare zwitscherten leise auf. Tau stieg von der Erde hoch. +Unbehaglich tappte Adam Hoegl auf und ab, schielte manchmal auf die +Spieler, dann wieder durch die Fenster. + +Laestig! Die Umstaende hatten einen kaltgestellt. Alles entglitt +wieder.--Jetzt verspielte Kotlehm. Erwar darauf gekommen, an jenem +Abend im abgedaempften Hinterraum des "Paradies-Kasinos", dass man auch +in den Bauch stossen koennte. Adam Hoegl umspannte ihn unbemerkt mit +seinen duesteren, hassenden Blicken. + +"A--ah--ach!" stiess van Haarskerk mit boshafter Befriedigung heraus, +als der Maler abermals einen Geldschein auf den Tisch warf. + +"Prost!" rief Hoegl schadenfroh. + +"Donner und Doria!" lachte der Maler etwas nervoes und legte die Karte +auf den Tisch. Abermals Hundert! + +Adam Hoegl liess eine saftige Zote vom Stapel. Yvonne lachte. + +Wie um sich zu wehren, nahm Kotlehm das Glas und schrie feldwebelmaessig: +"He! Kuli! Einschenken!" Adam Hoegl schoss das Blut zu Kopf. Aber er fasste +sich schnell und hob die Karaffe: "Besser zielen!--Vorbeigeschissen!" Er +zitterte ein wenig, als er eingoss und schuettete daneben. + +"Hehe! Du! Kuli!" schrie Kotlehm und stiess ihn in den Bauch. Erquickt +schnellte der Millionaer auf, nahm ihm die Karaffe. Adam Hoegl zog +verwirrt die Schultern hoch. Van Haarskerk lachte stossweise und +schuettete den Rest ueber seinen geduckten Schaedel. Eiskalt rann der +Sekt den Ruecken herunter. + +Adam Hoegl raffte seine letzen Kraefte zusammen. Ratlosigkeit, Wut und +Verzweiflung standen auf einmal da. Wie von schwirrenden Peitschen +umsummt brummte der zerruettete Kopf.-- + +Er drohte zu fallen, drueckte noch einmal mit ganzer Gewalt den Bauch +heraus und grunzte endlich wieder. Wieder bellte das Gelaechter. + +Der Maler Kotlehm sprang auf und fuchtelte mit den Armen herum wie ein +peitschenschwingender Tierbaendiger. + +Das Spiel war zerrissen. Die neue Sensation hatte die Langeweile im Nu +ausgeloescht. Man umtanzte, umjohlte Adam Hoegl, der wie ein blinder Baer +herumtappte. Gutgezielte Stoesse sausten in dessen Bauch. Van Haarskerk +kam mit einer gefuellten Karaffe, schuettete, goss, goss. + +Adam Hoegls Schuhe pfiffen. + +"Schurken! Sadistische Hunde!" schrie Yvonne machtlos in den +betaeubenden Laerm. Raming hob schlaefrig den Oberkoerper und liess sich +wieder zurueckfallen. Das wueste Gebruell zerspaltete die verrauchten +Baeume. Zwischendurch gluckste wie das Roecheln eines Verendenden Hoegls +Bauchstimme.--Heute noch! Noch einmal! Dann war vielleicht die +Rettung da. Man war geborgen. Eine Nacht Wasser ueber den Kopf--und +keine Misere mehr.-- + +Die Hose platzte, als er sich bueckte. Kotlehm riss das Hemd heraus. + +"Hoij! Hoij!" zischte es von allen Seiten. Man nahm Hoegl in die Mitte +und stampfte durch den Wintergarten ins Freie. Schwerfaellig, plumpsig +bewegte sich der Tross an den ersten Gemuesebeeten vorbei. Der Millionaer +schob hinten, Kotlehm zog und zerrte an den Armen Hoegls. Yvonne +kreischte unaufhoerlich. + +"A--ahach Mensch, lass mich doch schnaufen!" stoehnte Hoegl und riss +seinen Mund weit auf. Dicker Schweiss rann ihm herunter. + +"Hoij! Hoij!" schrie es wieder. Zog, zerrte. Adam Hoegl prustete, +hauchte. Der Maler Kotlehm riss einen Rettich aus dem Gemuesebeet und +stopfte ihn mit aller Gewalt in Hoegls Mund. + +Die Zaehne krachten. Der Schlund kaempfte gegen das Ersticken. Blau lief +der Kopf an. Adam Hoegl stemmte sich wuergend, spuckte, erhob beide Arme +furchtbar, stiess in die leere Luft. Es war auf einmal frei um ihn. Wie +Kettenlast fiel etwas ab. Der wachgewordene Koerper straffte sich, als +renne er stahlhart gegen eine Wand und stiesse sie durch. + +So leicht atmete es sich. + +Eine grosse Stille stand unfassbar weiss ringsherum.-- + +Nach langer Zeit, als er die Augen oeffnete, saugte die Kaelte der +feuchten Erde an allen seinen Gliedern. Er lag langgestreckt in einem +Gemuesebeet. Schmutz und Blut klebten auf seinen zerschundenen Wangen. +Er schloss den Mund, schluckte. Die Gurgel wuergte. Ein wuester Ekel +stieg vom Magen auf.-- + +Wie eine gemeine, gruene Qualle hockte das Haus in den zertrampelten +Beeten. Das zaertliche Rot des fruehen Tages beleckte die Fenster, die +ausdruckslos vor sich hinglotzten. Es roch nach Verwesung.-- + +Taumelnd sprang er auf und rannte entsetzt aus dem Garten. Schwankend +wie ein Wrack trieb er ueber die Wiesen, der Stadt zu. Eine graessliche +Schwaeche fieberte in ihm. Angstvoll schleuderte er zuletzt seine Fuesse +nach vorne, lief, lief, was er konnte. + +Erst als er die ersten Haeuser erreicht hatte, hielt er inne und wischte +sich aufatmend Kot und Blut aus dem Gesicht. + +Ruhig und nuechtern griff die Strasse aus. Arbeiter gingen vorueber und +beachteten ihn kaum. Sie bewegten sich und redeten wie Menschen, die +nichts anficht. Es stroemte eine seltsame Festigkeit aus ihren Gebaerden +und Worten. + +Verlassen, nutzlos, ein jaemmerlicher Wicht stand Adam Hoegl da. +Unerbittlich brach die Scham der letzten Wochen aus ihm, stieg, stieg. +Bettelnd, hilflos blickte er auf alle Menschen. + +Endlich gab er sich einen Ruck und ging wieder weiter. Sein Gesicht +bekam langsam eine groessere Ausgeglichenheit. Fester, entschlossener, +mit dem erleicherten Ernst eines Menschen, der sich durch eine grosse +Erschuetterung die Ruhe wieder zurueckerobert hat, schritt er fuerbass.-- + + + + +ABLAUF + + +I. + +Man sagt, wenn sich die zwanziger Jahre aus einem Menschenleben +winden, fangen die Reibungen an zwischen natuerlichem Denken und +dunklem Trieb. Es beginnt ein Aufruhr im Innern. Ueber die Daemme, die +die Erziehung notduerftig aufgebaut hat, bricht das Blut und je nach +der Festigkeit des Betroffenen folgt einer solchen Krise eine +Zerruettung, ja nicht selten ein zeitweiser gaenzlicher Zusammenbruch +und nur langsam, unter Weh und Qual, stellt sich das Gleichgewicht +wieder ein.-- + +Gluecklich derjenige, der von frueh auf Menschen, Buecher, Winke, +Erfahrungen und Anleitungen kennenlernte, die seinen Horizont +erweiterten und ihm einigermassen dazu verhalfen, solchen +Erschuetterungen nicht ganz wehrlos zu begegnen. + +Alle aber, die von Kind auf nichts anderes kennenlernen, als dass +dieser oder jener geschickte Handgriff, diese Finte oder jene schwer +erlernbare Koerperhaltung die Muehe der Arbeit erleichtern, haben wenig +Zeit, sich gegen solche innere Ueberfaelle zu wappnen. Es ist wahr, auch +sie ueberwinden. Aber sie leiden mehr darunter und werden aerger +mitgenommen von solchen Qualen. Der Schmerz faellt hier mit schwererer +Wucht nieder auf arglose, unvorbereitete Herzen. Die Jahre verfliessen +verbraucht und wenig sinnvoll fuer solche Menschen. Sie stehen meist +unvermerktmitten im Gestruepp ploetzlich hervorbrechender Gefuehle, +kaempfen blindlings gegen ihre Daemonie, werden ueberwaeltigt davon und +fallen schliesslich in gaenzliche Lethargie.-- + +Johann Krill fiel so in den Rachen der Welt. + +Sein Vater war Zimmermann auf einem Dorfe, seine Mutter Bauernmagd. +Auf einmal war dieses Kind da und man musste notgedrungen heiraten. Man +frettete sich gerade so durch gegen Taglohn. Wenn das Akkordmaehen zur +Erntezeit anfing, war es am besten. Zimmererarbeiten gab es wenig. Hin +und wieder Baumfaellen und Holzspalten im staatlichen Forst, das war +ziemlich alles. + +Es hiess eben: "Nicht krank sein!" und "Sich nach der Decke strecken!" +--Kinder solcher Eltern, noch dazu "ledige", haben nichts Gutes bei den +Bauern. Es heisst aufstehen mit den Knechten um vier Uhr frueh, zugreifen +und den anderen an Flinkheit nichts nachgeben und den Mund halten. Die +Knochen schmerzen am Anfang, aber das verliert sich mit der Zeit.-- + +Nach seiner Schulentlassung kam Johann zu einem Schlosser im nahen +Marktflecken zur Lehre. Jetzt waren es Hammerstiele und Eisenstangen +oder Wellblechstuecke, mit denen man warf oder zuschlug. Und wehe, wenn +der Vater eine Klage hoerte! Sein Ochsenziemer, der stets neben dem +Handtuch am Ofen hing, war furchtbar. + +Nun, es kam schliesslich die Gesellenpruefung und der Achtzehnjaehrige +ging auf die Wanderschaft. Als gutgelernter, sehniger Arbeiter landete +er dann nach ungefaehr fuenf Jahren in dieser Stadt und fand Stellung in +einer Fabrik. Es war ein Riesenwerk, man verdiente gut und hatte keinen +schweren Posten geschnappt. + +An einem Abend--es war Sommer und Samstag--kam Johann in seinem Zimmer +an, wusch sich, zog seinen Sonntagsanzug an und steckte Geld zu sich. +Er bummelte erstmalig wie ein freier Mensch in aufgefrischter Stimmung +durch die Strassen, besah sich das bunte Treiben, trank in verschiedenen +Lokalen und als diese geschlossen wurden, trottete er, auf einmal +merkwuerdig ueberwach und unruhig, die "Fleischgasse" auf und nieder. +Diese Strasse hiess eigentlich "Fleuschgasse", getauft nach dem +Namen eines verdienten Ehrenbuergers der Stadt, aber seitdem die +Polizei verfuegt hatte, dass sich nur hier die professionellen +Prostituierten auf und ab bewegen durften, hatten Volksmund und ueble +Nachrede den harmlosen Namen "Fleusch" in den anzueglichen "Fleisch" +umgewandelt. + +Johann Krill brauchte sich nicht sonderlich anzustrengen. Schon nach +kurzer Zeit redete ihn eine suessliche Stimme an und besinnungslos +folgte er. Zum erstenmal in seinem Leben fiel der junge Mann in eine +vollkommene Verwirrung. Eine ganz fremde Luftschicht umschwelte ihn. +Er wusste nicht mehr, ging oder schwebte er. Durch all seine Glieder +flog und flammte es. Er sah alles doppelt, hoerte jedes Geraeusch wie +aus weiter Ferne und wusste nicht, was es war. Wie ein Hitzklumpen fiel +sein Koerper auf eine schwammige Teigmasse und ertrank darin. Es biss +sich jemand fest an ihm. Es lachte. + +Langsam kehrte alles wieder zurueck, wurde deutlicher und war ein +gruenliches Zimmer, ein Gesicht, das breit auseinandergeflossen vor ihm +lag. + +Schliesslich, als er die Besinnung wieder hatte, verzog auch er das +Gesicht zu einem Lachen, wollte reden, begann zu schlottern, schmiss +seinen Kopf in ihre Brust und verschluckte das Weinen. + +Erquickt darueber presste ihn das Maedchen wild an ihre Brueste, nahm +seinen zerwuehlten Kopf und hob ihn auf, zog ihn kosend immer wieder an +ihren dicklippigen Mund und kuesste ihn unausgesetzt, dass er zuletzt +gaenzlich machtlos mit sich geschehen liess und auf einmal weinerlich +und wimmernd anfing, sein Leben zu erzaehlen. Stockend kamen ihm die +Worte, so, als besinne er sich immer erst, bevor er sie ueber die +Lippen lasse. Und beruhigt, fast ein wenig staunend sass das halbnackte +Maedchen da und hoerte zu. Aber auf einmal stockte es wieder--und endete +und wieder griffen seine Arme aus, er umspannte sie, riss und zerrte an +ihr, dass sie aufkreischte. + +"Nimm alles! Tu alles!" murmelte er verhalten, als sie seine Geldboerseaus +der Hose zog, draengte es ihr auf, dieses Geld, und beleckte ungeschlacht +ihren ganzen Leib wie ein durstiger Hirsch. + +Und nicht nur das. Ploetzlich klang sein Gemurmel wieder weinerlich und +in einem fort stoehnte er: "Du! Du! Ich hab dich so gern! Du--du! Ich +moecht dich heiraten. Ich arbeit', ich mach' alles. Du hast es gut bei +mir! Du! Du!" + +Anfaenglich schien es, als belustige sich das Maedchen ueber ihn. Sie zog +ihn an den Haaren und kitzelte ihn lachend. Dann aber, als seine +Wildheit immer mehr anschwoll und seine Zuege einen fast irren, +duesteren Ausdruck annahmen, liess sie das Spielen. In ihren schlaffen +Koerper stieg mit einem Male eine Waerme. Ueberwaeltigt, zuckend sank sie +zurueck, ihn umfangend. Sie, ueber die vielleicht Hunderte +hinweggegangen waren, umschlang diesen plumpen, ungeschlachten +Menschen und kuesste ihn mit dem ganzen, hingegebenen Ernst echter +Liebe.... + +In der Fruehe nach dieser wuesten Nacht rannte Johann in seinen +Sonntagskleidern zur Fabrik, wankte wie betrunken durch das zufaellig +offene Tor und erschrak derart, als ihn der Portier anrief und fragte, +was er denn an einem Feiertag hier wolle, dass er sich wie ein +ploetzlich ertappter Dieb umdrehte und wortlos davonjagte. Er lief +durch die Strassen mit eingezogenem Kopf, ging wieder langsamer, setzte +sich in irgendeine versteckte Nische und hielt seinen erhitzten Kopf +fest. Immer wieder muendete er in die "Fleischgasse", wagte es aber +nicht, hinaufzugehen zu seiner auf so eigentuemliche Weise gewonnenen +Geliebten. Der Abend kam. Die Nacht fiel herab und er stellte sich an +die Ecke, wo er sie getroffen hatte, wartete und wartete. Und es +geschah etwas, was niemand gedacht haette, etwas, was ebenso +unglaubwuerdig wie wunderlich klingt--: Anna kam nicht. Sie stand an +keiner Ecke, war ueberhaupt nicht auf der ganzen Strasse zu sehen. Sie +lag droben--so wie er sie verlassen hatte--im Bett, verstoert, +zerbrochen und bekam erst wieder voelliges Leben, als er nach langem +Kampf und mit vielen Finten zu ihr gelangt war. + +Aufgefrischt schwang sie sich aus ihrer Lagerstatt, streichelte ihn +zaertlich und begehrend und sagte zuletzt mutterguetig: "Ja, dich moecht +ich heiraten." + +Beide standen benommen voreinander, ein jedes zitterte und sagte +nichts mehr.-- + +Seit dieser Zeit hasste man Johann in der Fabrik. Er verhielt sich wie +voellig verstummt und hatte stetsein Gesicht, als wolle er die ganze +Welt umbringen. Er arbeitete fuer drei. Und jeden Tag verliess er fast +fluchtartig nach der Arbeit die Fabrik und kam zu Anna. Als es endlich +ruchbar wurde, dass er sich verheiraten wolle und man es ihm sagte, ihn +beglueckwuenschte und leichte Anzueglichkeiten machte, wurde er rot his +hinter die Ohren und schlug verwirrt die Augen nieder. + +"Ja! Ja!" schrie er dann auf wie ein bruellendes, gereiztes Tier, dass +die Fragenden halb veraergert und halb verbluefft "Oho!" herausstiessen +und sich alle mit ihm verfeindeten. + +Alle wunderten sich, dass er gar keine Anstalten zur Hochzeit traf. Er +hielt bei keinem seiner Arbeitskollegen um die Brautzeugenschaft an. +Finster hockte er waehrend der Vesperzeit da und starrte dumm ins +Leere. Niemand wusste, ob er um einen freien Tag zur Erledigung seiner +Verehelichung gebeten hatte. + +Drei Tage vor seiner Hochzeit kam er nicht mehr und wurde entlassen, +weil er auch kein Entschuldigungsschreiben schickte.-- + +II. + +Die ersten Wochen der Krillschen Ehe verliefen--wenn man so sagen +darf--unterirdisch gluecklich. Mit Hilfe Bekannter fand Anna schon +einige Tage vor ihrer Hochzeit eine annehmbare, freundliche +Dreizimmerwohnung in einem anderen Viertel. Mit den Ersparnissen +Johanns wurden Moebel auf Teilzahlung beschafft und zum Schluss hatte +man, weiss Gott wie, noch Geld uebrig. Man sah das Paar nicht mehr in +der alten Gegend. Ausserdem vermied es Johann auf der Strasse, Leuten, +die er zu kennen glaubte, zu begegnen. Furchtsam wich er aus, machte +grosse Bogen vor frueheren Bekannten, ja, scheute sogar nicht, +ihrethalben grosse Umwege zu machen. Zu Hause erst, in der Verborgenheit +der vier Waende, kam Beruhigung ueber ihn. Mit zufriedenem Gefuehl +durchtappte er immer wieder die Raeume und bestaunte seine Habschaften +und am Ende stand er stets mit verschwommenen Augen vor seinem staendig +adrett gekleideten, beweglichen Weib. + +Vorerst dachten die beiden nicht ans Verdienen. Mit tausend +Kleinigkeiten verzettelten sich die Tage. Es gab kein geregeltes +Dahinleben mehr, keine bestimmte Mittagszeit, kein Weckerlaeuten in der +frischen Fruehe, keine Muedigkeit am Abend. Die Nacht war kurz, laestig +kurz und oft noch um zehn Uhr vormittags verduesterten die +herabgezogenen Jalousien das dumpfige Schlafzimmer. Und man blieb +liegen und liegen. + +Mit der bewussten Neugier, mit der wilden, noch einmal voellig +auflodernden, durstigen Liebe erfahrener Frauen, ueber die das zu fruehe +Altern schon ihre ersten Schatten geworfen, liebte Anna Johann. Jede +ihrer Bewegungen, jedes Wort waren eine stumme, begehrende Aufforderung. +Ihre Naehe benahm den Atem, zerruettete die eben gefassten Gedankengaenge. +Wie eine warme, unsagbar wohltuende Gischtwelle ergoss sich ihre +Atmosphaere unaufhoerlich ueber Johann. + +Er _war_ nicht mehr! + +Zerschmolzen, zerronnen liefen die Zungen seiner Brunst ohne Unterlass +ueher das Meer ihres Koerpers. + +Die Zeit war weggeweht, alles schwirrte, rann, floh.-- + +Erst ganz langsam wieder festigte sich seine Gestalt, stueckweise +beinahe. Und es schien, als seien es andere Teile, die sich nun +vereinigten. Ein immer klarer werdendes Begreifen keimte auf, wuchs +ohne Ueberstuerzung, vermittelte Halt und Festigkeit. Alle Scheu, alle +Furcht und Unsicherheit wichen. Auf einmal war Johann Krill ein +anderer. + +Jetzt erst kam ihm die Besinnung. Jetzt erst war er eigentlich +verheiratet, hatte ein Fundament, besass Weib und Moebel und so weiter. + +Er erinnerte sich genau. Es war nirgends anders. Im Dorf nicht. In der +Stadt nicht. Es war immer das gleiche. Der Bauer, bei dem er zuletzt +auf dem Dorfe war, hatte drei Toechter. Ringsum standen groessere und +kleinere Haeuser. + +"Dahinein gehoerst du, das ist was Handfestes," liess er einmal beim +Abendessen fallen, der Bauer, und deutete dabei auf den maechtigen +Grillhof hinueber. Und die aeltere Tochter sah ihn ohne Verblueffung an +und sagte: "Der Grillhans braucht bloss kommen." Zur Erntezeit liess man +die aeltere Tochter daheim und an einem Abend sagte sie: "Hat schon +geschnappt!" Etliche Wochen spaeter gab es eine saftige Hochzeit. + +"Ein' schoene Sach', Hans, ein schoener Hof. Der ist so einen Brocken +Weib wert," lachte der Bauer bei der Hochzeit und schaute seinem +Schwiegersohn in die Augen. Und: "Ja--ja, hast mir's ja auch leicht +gemacht," brummte der Grillhans bierselig. + +Dann kamen die beiden anderen Toechter an die Reihe. Bei der einen +vollzog sich die Sache leicht, und bei der juengsten, die etwas +hochnaesig war, ging es schwerer. "Herrgott, Rindvieh!--um so einen Hof +ziert man sich doch nicht so! Besinn dich nicht so lang', sag' ich!" +bruellte der Bauer sie an und als zufaellig an einem der darauffolgenden +Abende der gewuenschte Werber kam, sagte er zu diesem: "Bleib nur +beieinander mit der Zenz. Wir legen uns nieder." + +Und Bauer und Baeuerin gingen schlafen. + +"Ist's so weit?" fragte der Bauer beim Mittagessen andern Tags seine +Tochter. Und diese sagte nickend: "Im Fruehjahr, meint er. Er will noch +den Stall bauen lassen." + +"In Gottesnamen, die paar Monat' sind gleich vergangen. Meinetwegen!" +brummte der Bauer und die Sache nahm ihren gewoehnlichen Verlauf. Im +Fruehjahr gab es wieder eine breite Hochzeit.-- + +Es war also nirgends recht viel anders. Johann Krill war mit dieser +Erkenntnis zufrieden. Das Neue, das Unerwartete, was ihn einmal in +Brand und Aufruhr gesetzt hatte, war verloschen. Ohne Staunen stand er +nunmehr auf dem Boden der Welt und achtete nichts mehr auf ihr. +Kurzum, er wurde--gemuetlich. Kam eine angenehme Sache, war es gut, kam +sie nicht, war es auch gut.-- + +An einem Nachmittag, als sie beim Kaffeetrinken in der Kueche sassen, +sagte Anna: "Es wird Zeit, dass wir wieder um Verdienst schauen." + +Und Johann nickte stumm. Er begann wieder Stellung zu suchen. + +Umsichtig und resolut wie sie war, machte sich aber auch Anna auf die +Suche und an einem Tag kam sie freudig an und sagte: "Die Rienken will +mich fuers Buefett. Ich kann gleich anfangen, sagt sie. S'ist ein gutes +Lokal.--Was meinst du?--Unser Geld ist weg und mit einer Stellung fuer +dich wird's noch eine Zeitlang dauern. Jetzt kannst du auch mit aller +Ruhe suchen." + +Das leuchtete ein. Johann nickte wieder. + +"Die Rienken? Wo ist denn das?" fragte er dann weiter. + +Anna begann von einer Bar "Tip-Top" zu erzaehlen. + +"In der Quergasse," berichtete sie geschaeftiger, "die Rienken kenn' +ich schon lang. Ist eine nette Person. Es verkehren massenhaft Gaeste +dort, nur bessere Leute. Nicht so allerhand, von Hinz bis Kunz. Lauter +Stammgaeste... Na, was sag' ich--Fabrikbesitzer, Beamte und so Leute. +Wer weiss, man kann ein gutes Geld machen, braucht sich nicht +abzuschinden und kann schliesslich auch fuer dich was ausfindig +machen,--wie meinst du?" + +Johann Krill glotzte stumpf in ihre Augen. + +"Na, so hoer doch, du--Patsch, hoer doch!--Und die Rienken ist eine gute +Person, steht zu einem," redete Anna weiter und ruettelte ihren Mann +schmeichelhaft, begann wieder ihr siegendes Lachen und kuesste ihn. + +"Das ist--also wieder--das Alte," sagte Johann endlich. Nachdenklich, +schwerfaellig. + +"A--aber geh doch, Tolpatsch! Keine Rede davon! Wer sagt denn _davon_ +was! Ich bin doch nur hinterm Buefett--nu ja, nu ja, wenn schon einer +mal zu tappen anfaengt und mir ein Glaeschen bezahlt, Herrgott--das ist +doch kein Weltuntergang," beruhigte ihn Anna und fuhr fort: "Sieh +mal--Ware sind wir nun ein fuer allemal, ob so oder so--ob du in die +Fabrik gehst oder ob ich--was anderes mache. Es kommt immer nur darauf +an, dass wir uns die Sache moeglichst leicht machen, dass wir noch was +wegschnappen fuer unseren Komfort!" + +Johann Krill hatte jetzt ein wenig klarere Augen. Es war etwas wie ein +aufgegangenes Licht auf seinem Gesicht. Er nickte. + +"Stimmt schon," sagte er. + +"Also sag' ich der Rienken, dass ich komme?" fragte Anna. + +"Ich muss dann auch was suchen," gab Johann statt jeder Antwort zurueck. + +"Ach, du bist ja verdreht!--Ja freilich, freilich,--sofort denkt er, +er muss nun wieder rackern von frueh bis spaet und fuer die Familie +sorgen! Ach du, du!" lachte Anna und knuellte seinen Kopf in ihre Brust. + +Jeden Nachmittag um vier Uhr ging Anna nunmehr zur Bar "Tip-Top" der +Sylvia Rienke. Spaet in der Nacht kam sie stets nach Hause, roch nach +Zigaretten und Alkohol. Manchmal war sie auch leicht betrunken, +brachte allerhand zu essen und zu trinken mit, und dann sassen die +beiden Eheleute nicht selten his zum Morgengrauen in der besten Laune +beisammen und liessen sich's gut gehen.-- + +In der letzten Zeit war Johann Krill etwas einsilbiger. Er sass meistens +in Hemdsaermeln im Schlafzimmer und schien schwerfaellig immer ueber das +gleiche nachzudenken.-- + +Ja, alles war ausgeloescht. Langweilig und trist vertropften die +Stunden. Es war ungemuetlich. Wenn man den ganzen Tag in der Fabrik +arbeitete, verging wenigstens die Zeit schneller. + +Aber Anna zerstreute ihn immer wieder. + +Wenn sie nachmittags weggegangen war, verliess auch er die Wohnung und +lungerte entschlusslos in der Stadt herum oder setzte sich in +irgendeine Kneipe. Und jetzt, da er sich alleingelassen sah, +unterhielt er sich auch wieder mit seinesgleichen. + +"Maschinenschlosser?" fragte ihn eines Tages ein aelterer Arbeiter am +Kneipentisch. + +"Ja," antwortete Krill. "Eventuell auch zum Maschinisten zu +gebrauchen?" + +"Bei Schall und Weber war ich Maschinist." + +"Mensch, bei uns sucht man solche. Geh hin. Du kannst sofort +anfangen," erzaehlte der Arbeiter und ueberpruefte Krill. + +Der nickte. + +Etliche Tage nachher schlief Johann schon, als Anna heimkam. Sein +Gesicht war russig. Er schwitzte. Anna wollte ihn aufwecken, aber er +drehte sich schlaefrig um und schnarchte weiter. Veraergert legte sie +sich ins Bett. + +In der Fruehe, als ploetzlich der Wecker schrillte, schrak sie empor und +sah erstaunt auf ihren Mann, der sich eben wusch. + +"Arbeitest du denn wieder?" fragte sie. + +"Ja." + +"Dumm!--Ich haette jetzt etwas fuer dich.--Ein schoener Posten," sagte +sie und richtete sich vollends auf im Bett. + +Einige Augenblicke stummten sie einander an. + +"Der Fabrikmensch, der immer Schwedenpunsch schmeisst, hat mir's +versprochen ... Lass doch das andere fahren, da verkommst du ja bloss," +begann Anna wieder und wollte eben aus dem Bett springen. + +"Jetzt ist's schon wie's ist!" knurrte er und ging. + + +III. + +Es gab Aergerlichkeiten bei Krills. Dadurch, dass nun auch Johann seiner +Arbeit nachging, vernachlaessigte der Haushalt. Anna, die oft erst +gegen zwei oder drei Uhr nach Hause kam, schlief bis tief in den +Mittag hinein. Schliesslich meldeten sich die Wanzen. Man putzte, +schrubbte, streute uebelriechende Pulver aus. Aber es half nichts. Es +war unertraeglich zuletzt. + +"Das ist eine verschobene Sache, wenn du ins Geschaeft gehst und hier +muss alles verkommen," sagte Johann zu Anna. + +"Fuer wen tu' ich's denn?--" erwiderte sie, "man braucht soviel und die +Loehne sind zum Verhungern." + +Sie kam schliesslich auf alles zu sprechen. Dass man sich doch nicht +umsonst von unten herausgewunden habe, dass man doch nicht zu den +Naechstbesten gehoere und man muesse jetzt eine neue Wohnung haben. Was +der Umzug schon koste! Alles klang wie ein zaghafter Vorwurf. +"Warten haettest du sollen. Der Herr mit dem Schwedenpunsch ist so +nett. Du koenntest da gut unterkommen." + +Eine Zeitlang ging es auf solche Weise hin und her. Johann war die +ganze Rederei schon widerwaertig. + +"Was du doch alles erzaehlst! Sind wir denn weiss der Teufel was?!" +sagte er endlich fester: "Mein Vater hat sein Leben lang gearbeitet. +Meine Mutter stand noch mit siebzig Jahren frueh um vier Uhr auf--und +wir, wir bilden uns auf einmal ein, etwas Besonderes zu sein!" Waehrend +des Redens schon bekam sein Gesicht langsam eine bestimmtere Haltung. + +Schliesslich, als aller Spruch und Widerspruch allmaehlich erlahmte, +einigte man sich aber doch, und Johann willigte beilaeufig ein, sich in +der Fabrik des Herrn, der bei der Rienken jeden Abend Schwedenpunsch +bezahle, vorzustellen. + +Mit jedem Tag wurde er nun auch missvergnuegter. Es gefiel ihm nicht +mehr in seiner Fabrik. Er wurde muerrisch gegen jedermann und kam +zuletzt ploetzlich nicht mehr. Nach einigen Tagen stellte er sich in +dem anderen Betrieb vor. Er wurde merkwuerdig freundlich empfangen und +ging besinnungslos darauf ein, Nachtschicht zu machen. + +Anna behandelte ihn zaertlicher als je, wenn er fruehmorgens ankam. +Nicht lange darauf fand sie auch eine Wohnung im dritten Stock des +Rienkeschen Hauses und alles machte einen gluecklichen Anlauf. Sie +brachte jetzt immer mehr mit. Pasteten, kalte Huehnerschenkel, Blumen, +Zigaretten, halbe Flaschen Wein, ja zuletzt sogar Stoffe, Halsketten, +einen Ring. + +Sie war in der froehlichsten Laune jedesmal und erzaehlte von diesem und +jenem Herrn, von den guten Gaesten bei Rienkes und konnte sich nicht +genug tun, den Chef Johanns zu loben. + +"Und was ich dir sage--er ist ein Mensch, der das Leben kennt. Er ist +fuer die Arbeiter. Er laesst leben neben sich," plauderte sie. + +Und Johann laechelte hoelzern und sah auf ihre Brueste, die schwammig und +verbraucht nach unten sich sackten. + +"Ist fuer die Arbeiter--?" sagte er und sah sie dumm an. + +"Ist ein anstaendiger Mensch. Keiner von den Ausnuetzern, gar nicht so +eingebildet und hochnaesig--und fidel, sag ich dir, fidel,--na ich +danke, wenn der anfaengt. Man kann sich schief lachen," erwiderte Anna +und lachte auf, als erinnere sie sich an etwas sehr Drolliges. + +"Und--der gibt dir--so--solche Sachen?" + +Annas Mund zuckte ein wenig. Sie schlug schnell die Augen nieder und +fand das Wort nicht gleich. + +"Hmhm," brachte sie dann heraus und schluckte etwas hinunter, setzte +rasch hinzu: "Und die Rienken ist so nett zu mir." + +"So," brummte Johann nur noch, "nu ja, es geht immer rundum." + +Dann legte er sich schlafen. + +Am Abend schluepfte er in seine Sonntagskleider und ging nicht in die +Fabrik. Er durchwanderte etliche Male die Quergasse und trat dann in +die "Tip-Top"-Bar. + +Es ging bereits fidel zu. Einige Herren in modischem Anzug sassen vorne +am Buefett auf den hohen Stuehlen und saugten an den Strohhalmen, die in +schlanken gefuellten Glaesern mit glitzerndem Eis staken. In der einen +Ecke spielte ein Befrackter Klavier und ein hagerer Geiger begleitete +ihn. In den Nischen, die mit kuenstlichem Efeu zu Laubengaengen +hergerichtet waren, tuschelte es und hin und wieder zirpte ein +schrilles Auflachen aus ihrem Dunkel. Eben wollte eine hochbusige +duftende Bedienerin mit zuvorkommender Freundlichkeit auf Johann +zueilen. Da auf einmal schrie es aus einer Nische: "Um Gotteswillen, +Hans!" Und ein hurtiges Getrampel und Knarren wurde hoerbar. + +Johann wandte schnell den Kopf dahin und sah hinter einer dichten +Weinflaschenparade das pralle, runde, kleinstirnige Gesicht seines +Chefs, die Rienken und das totenblasse, entsetzte Gesicht seiner Frau. +Die Koepfe der drei hingen auseinander wie schwere Dolden. Geradewegs +ging Johann auf sie los und liess sich in einen der gepolsterten Stuehle +an ihrem Tisch fallen. + +Eine peinliche Stille trat ein. Jeder hielt jetzt fassungslos den Atem +an. Nur Johann schien sicher zu sein. + +"Ich bin nicht zur Schicht gegangen, Herr Hochvogel--ich hab' einen +Hoellendurst, ich koennt' ein Meer aussaufen," sagte er ohne sichtliche +Erregung und laechelte schnell. Das loeste eine Entspannung aus. Man +atmete wieder und nahm langsam die gewoehnliche Haltung an. Der +Fabrikherr schnitt ein malitioeses Gesicht. Er suchte sich zu fassen +und griff zum Weinglas. + +"Heiss ist's hier," sagte Johann wieder. + +"Nicht zur Schicht? Aber Johann!?" brachte nunmehr Anna heraus. Die +Rienken erhob sich und verliess den Tisch. + +"Das macht doch nichts, oder? Herr Hochvogel, macht das was aus?" +fragte Johann den Fabrikherrn. + +"Na--wissen Sie, meinetwegen,--wir wollen einige gute Schoppen +heben--ich kann's verstehen,--ich drueck' gern ein Auge zu--bei Ihnen, +Herr Krill.--Sie sind mir gut--sie arbeiten zuverlaessig, da--da--da +uebersieht man auch mal einen Seitensprung, Prost!" sprudelte der +Fabrikherr verlegen. Die Worte flossen schnell, fast aengstlich aus +ihm, so, als waeren sie wunderliche Ziegelsteine, mit denen man im Nu +eine schuetzende Mauer um sich schliessen koennte. + +"Zu guetig," lispelte Anna bereits. + +Und Herr Hochvogel goss das Glas der Rienken voll und schob es behend +dem Arbeiter hin: "Da, trinken Sie!" + +Die aergste Gefahr schien behoben zu sein. Man konnte es an den +allmaehlich sich wieder aufheiternden Gesichtern sehen. Auch die Wirtin +kam wieder an den Tisch und der Fabrikant bestellte in einem fort. + +Johann beachtete das Getue Hochvogels mit seiner Frau auch nicht +weiter. Er trank in vollen Zuegen und wurde immer lustiger, lachte und +machte hin und wieder einen dreisten Witz. Dadurch wurde auch Anna +kuehner. Sie wich nicht von der Seite des Fabrikherrn und streichelte +ihn ein paarmal kosend, warf belustigte Blicke zwischen den beiden +Maennern hin und her. + +"Hab ich nicht gesagt, Hans, dass er ein netter Mensch ist?" sagte sie +uebermuetig und lachte piepsend. + +"Ein netter Me--ensch! Ein sehr netter Mensch! Ein Goldmensch!" +bruemmelte Johann schon etwas betrunken und summte weiter: "Verbringt +das Geld so gemuetlich, so--so--so--" Er wankte bereits him und her und +ruelpste ungeniert in den Tisch. Glaesern standen seine Augen. Die +anderen kicherten. + +"Hat ihn schon maechtig," hoerte er Hochvogels Stimme. + +"Na, na! Herr Krill, na--!" rief die Rienken. + +Johann hob den schweren Kopf und glotzte auf das verschwommene Gemeng +der drei, die im fahlen Lichtschimmer hinter den Weinflaschen sich hin +und her drueckten. + +"Ein ne--etter Mensch,--eine richtige Qualle--e--iin dummes Vieh!--Ein +geiler Orang--g--kutan, hahahaha--hat den Schwanz eingezogen, weil der +Waerter gekommen ist, haha--a--a!--" Johann sank haltlos zurueck. + +"Das ist zu stark!" zischte Hochvogel. Der Tisch knarrte. Die +Weinflaschen klirrten gegeneinander. Die zwei Frauen lispelten +besaenftigend. Schnell, ueberschnell mengten sich ihre flehenden Worte +ineinander. Ein Gezerre um den Aufgestandenen begann. + +Mit herabhaengenden Armen, halb eingeschlafen, zerfallen hing Johann +auf dem Stuhl. "Er ist doch betrunken!" "Bitte, bitte,--er ist's doch +nicht gewohnt!" "Er meint's doch nicht uebel, Herr Hochvogel!" +"Bitte!--Hier, trinken Sie. Er schlaeft ja schon! Seh'n Sie, seh'n +Sie!--Es passiert nie wieder. Ich sag's ihm morgen,--mein Wort, mein +Ehrenwort!" alles zerfloss ineinander, bittend, winselnd, aufgeregt, +aengstlich. + +Wie ein zischendes Gezirpe umsummte dieses Geplaetscher Johanns Kopf. +Als giesse irgend jemand kaltes Wasser ueher ihn. + +"Haha! Hat's viellleicht gestoh--lllen und--und wirft's weg,--dadas +Gellldt,--wei--weils brennt in der Tasche, haha,--das dumme Vieh, +haha--das Arschloch!" grunzte der Betrunkene lallend und lachte +ruckweise, immerfort, glucksend. + +Da wurde der Tisch weggestossen und stapfend hasteten Schritte vorbei. +Wieder das Gezwitscher. Noch geschaeftiger. Dann fiel eine Tuer krachend +zu. + +"Hans!" schrie Anna wuetend und riss ihren Mann an der Schulter. + +"Saustall!" stiess die Rienken heraus. + +Krill hob den Kopf und langte lahm nach Anna: "Haha--ha--es ist so +wunderschoen auf der We--elt, haha--ha!" + +Sein ausgreifender Arm fiel wieder herab. Er sank in die alte Haltung +zurueck. Duenner Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Er schnaubte +geraeuschvoll wie ein Pferd, das von der Kolik geplagt wird. + +Unter wuestem Gezeter und Gejammer verliess Anna mit ihm die Bar. Sie +musste ihn buchstaeblich die Stiege hinaufschleppen. + + +IV. + +Dieser unerquickliche Vorfall hatte schlimme Folgen. Am andern Tag, +sehr frueh, schellte es. Krill schlief wie ein Sack. Anna schreckte auf +und lief halb angekleidet an die Tuer. Der Ausgeher der Hochvogelschen +Fabrik brachte die Papiere und den Lohn fuer Johann. In einem sehr +kurzen, aergerlichen Brief stand, dass sich Krill nicht mehr sehen +lassen sollte und entlassen sei. + +"Ja, ja--ist schon recht!" sagte Anna verwirrt und warf die Tuer zu. +Ohne Johann zu wecken, kleidete sie sich an und ging in die Fabrik +hinaus, um Hochvogel zu besaenftigen. Auf dem ganzen Wege ueberlegte sie +sich die besten Worte und uebte sich in der Art, wie sie den +Veraergerten wieder dazu bewegen wollte, dass er stillschweigend ueber +das ueble Ereignis hinwegginge.-- + +Aber sie wurde nicht vorgelassen. Erbittert und erniedrigt trat sie +den Heimweg an. + +"Da!--Das hast du gemacht mit deinen Dummheiten!" fuhr sie den +inzwischen erwachten, auf dem Bettrand sitzenden Johann an und warf +ihm das Schreiben Hochvogels him. Der blickte stumpfsinnig zu ihr auf +und sagte kein Wort. Dies erregte sie nur noch mehr. Sie stampfte +schimpfend aus dem Schlafzimmer und rannte zur Rienken hinunter. + +Die Wirtin empfing sie sehr kuehl. + +"Herr Hochvogel hat mich wissen lassen, dass er nicht mehr kommt. Ich +kann Sie nicht mehr brauchen.--Das ist der Dank dafuer, dass ich mich +so um Sie angenommen habe," schimpfte sie mit hochgehobenem Kopf. Anna +versuchte auf alle moegliche Art, sie umzustimmen. Vergebens. + +"Und ueberhaupt--glauben Sie, ein solcher Mann wie Hochvogel laesst sich +derartige Schmutzigkeiten ins Gesicht sagen! Passen Sie mal auf,--das +hat noch ein gerichtliches Nachspiel. Und ich, was hab' ich von meiner +Gutmuetigkeit?--Vor die Gerichte werde ich gezerrt. Mein Lokal verliert +den guten Ruf--ich hab' den Schaden und sitz' in der Patsche,--werden +Sie sehen, ob's nicht so kommt?--Sagen Sie es nur ihrem 'Kerl'--am +liebsten ist's mir, ihr zieht aus. Basta!" zeterte die Bienken immer +bestimmter. + +Auch Anna wurde allmaehlich aergerlich und schimpfte. + +"Geh'n Sie bloss aus meinem Lokal, Sie--Sie! So eine krieg' ich alle +Tage!" fauchte die Wirtin wuetend, rannte zur Tuer und riss sie auf: +"Geh'n Sie bloss aus meinem Lokal!" "Geh'n Sie!" schrie sie, dass ihr +Kopf blau anlief: "Geh'n Sie! Sie--Sie Ludermensch!" + +Auch in Anna platzte die angesammelte Wut nun vollends. + +"Was sagen Sie da, was?! Sie Kupplerin, Sie dreckige!" schrie sie +schriller noch. "Solang man sich hergibt, ist man gut, dann kann man +gehen, Sie Dreckfetzen!" + +"Geh'n Sie! Geh'n Sie!" pfiff die Wirtin erstickt: "Hinaus da, +hinaus!" + +Keifend verliess Anna das Lokal. Zitternd vor Erregung kam sie in ihrer +Wohnung an. "Es ist Schluss mit allem! Ich mag nicht mehr!" stoehnte sie +erschoepft und sank in einen Kuechenstuhl. Unter stossweisem Weinen und +Vorwuerfen erzaehlte sie Johann ihr Missgeschick. Der hatte den Kopf +unter dem Hahn der Wasserleitung und liess immerfort den kalten Strahl +ueher ihn herabrinnen. Er drehte sich nicht um. Nicht im mindesten liess +er sich stoeren. Annas Geduld riss voellig. Sie begann wuest zu schimpfen. + +"Und du!--Du lungerst da heroben herum und laesst mich die Fuesse +ausrennen! Ich kann mich mit den Leuten herumschlagen und die Suppe +ausfressen, die du eingebrockt hast!" bellte sie ihn an. "Du! Du +Lump!" + +Er drehte sich endlich um. Kein Wort kam aus ihm. + +"So rede doch, Stock!" schrie sie, "was willst du denn jetzt machen? +Ich kann nichts mehr tun! Ich bin kaputt!" Er schwieg immer noch. Da +stand er, tatsaechlich wie ein Stock. Sie zerbrach an seiner +Gleichgueltigkeit und fiel in ein heftiges Weinen. Es schuettelte sie +gerade so. Johann sah ohne Niedergeschlagenheit auf ihre +zusammengekauerte, zuckende Gestalt nieder. + +"Was ich tun will?" sagte er endlich leichthin, als sei gar nichts +vorgefallen,--"der wird mich schon nicht gleich herauswerfen. Ich gehe +einfach heute wieder zur Schicht und fertig. Und die Rienken--die wird +schon wieder aufhoeren mit ihrem Geschimpfe, wenn sie mued ist." Anna +blickte auf einmal auf zu ihm. "Ist doch ein netter Kerl, dieser +Hochvogel. Mit dem laesst sich doch reden," brummte er. Der arglose +Ernst, die Selbstverstaendlichkeit dieser Worte bezwangen. Tatsaechlich +wurde sie vollkommen ruhig und glaubte zuletzt wirklich, dass dies der +einzig glueckliche Weg sei, mit einem Schlag alles Missliche beheben +wuerde. + +"Herrgott, ich bin ja auch so dumm! Ich lass mich von jedem ins +Bockshorn jagen," schalt sie sich selbst, wischte sich schnell die +Traenen ab und stellte Kaffeewasser auf. Ganz munter wurde sie wieder. + +Als sie dann wieder am Tisch sassen, begann sie ueber die Rienken zu +schimpfen und ueber Hochvogel und erzaehlte im Laufe des Gespraechs alles +moegliche von den beiden. + +"Es war ganz richtig, dass du ihm mal heimgeleuchtet hast," sagte sie, +"die ganze Sippschaft glaubt immer, sie koennte Schindluder mit einem +treiben!--Was hat er mir nicht alles angetragen, wenn ich mit ihm +schlafen wuerde! Und wie hat die Rienken gekuppelt und jetzt--jetzt +spielt sie sich auf, diese Sau, diese alte!" + +Sie blickte immer wieder wie verlegen zu Johann herueber, wurde aber, +da er vollkommen ruhig war, immer weitschweifiger und erzaehlte mehr +und immer mehr. Sein Gleichmut quaelte sie. Sie berichtete dreister, +anzueglicher. + +"Er hat das Geld gerade so weggeworfen. Die Bluse hat er mir +aufgerissen, einmal. Er hat immer seine Hand unter meinem Rock gehabt, +der Drecksack! Von den Hosen hat er einmal ein halbes Dutzend +dahergebracht und wollte, dass ich's vor ihm anziehen soll--und die +Bienken half mit und verschwand immer, wenn er anfing," sagte sie und +fuhr fort: "Einmal wollt' ich ihn schon heraufnehmen in der Fruehe und +abwarten, bis du von der Fabrik kaemst." + +Johann verzog keine Miene. + +"Jaja--das Loch und das Geld," brummte er beilaeufig. "Es geht immer +rundum." + +Ihre Haende bewegten sich in einem fort. Nervoes zerrieb sie die +Brotkrumen mit den Fingern. Sie erzaehlte nichts mehr. Sie schwieg. Als +er fortgegangen war, fiel ihr Kopf auf den Tisch und ein wuestes +Schluchzen brach aus ihr.-- + +Johann kam ohne Hindernis durch die Fabrikpforte. Im Umkleideraum +trafen ihn bereits befremdende Gesichter. Keiner sprach ihn mehr an +und als er in den Maschinenraum hinuntersteigen wollte, kam der +Schichtmeister rasch auf ihn zu und rief: "Sie sind doch entlassen, +was wollen Sie denn noch hier?" Einige Arbeiter blieben mit +verwunderten Mienen stehen. Das ruettelte ihn aus der Fassung. Er sah +beklommen auf den Schichtmeister, auf die Arbeiter und hilflos im Raum +herum. + +"Sie sind nun einmal bestimmt entlassen, das weiss ich," rief der +Schichtmeister resoluter, "ich kann gar nicht verstehen, dass Sie der +Pfoertner hereingelassen hat, der hat es doch gewusst! Hat er Sie denn +nicht darauf aufmerksam gemacht?" + +Johann schuettelte stumm den Kopf, blieb beharrlich stehen, dumm und +kindisch. Die beiden anderen Arbeiter trotteten weiter. + +Der Schichtmeister holte den Portier. Zeternd redete er auf denselben +ein, als er mit ihm ankam. + +"Wie konnten Sie denn den Mann hereinlassen. Der Chef hat's doch +ausdruecklich gesagt, dass er entlassen ist," bellte er. + +Der Portier sah veraergert auf Johann und sagte ebenfalls: "Jaja, ich +hab' Sie nur nicht gesehen. Sie sind entlassen. Sie haben hier nichts +mehr zu suchen." + +Johann knickte zusammen. + +"Ja--ja, nu ja, dann muss ich gehn," stotterte er endlich heraus, ging +in den Ankleideraum und entfernte sich. Niedergedrueckt, fast beschaemt +trat er durch das grosse Fabrikportal ins Freie. Zermuerbt kam er zu +Hause an. + +"Ja," sagte er tonlos zu Anna, "man hat mich rausgesetzt!" + +"Da hast du es nun!" stiess diese heraus, "Trottel!" Die Vorwuerfe +begannen von neuem. + +"Ich muss mich eben wieder um was anderes umsehn," brummte er +aergerlich. + +"Und ich?! Wenn die Rienken uns hinaussetzt, was ist dann! Glaubst du, +ich hab' mir umsonst meine Fuesse ausgerannt, dass wir ein wenig +anstaendiger leben konnten! Du keine Arbeit, kein Geld, ich nichts zu +tun--ich danke!" belferte sie. + +"Nu ja, in Gottesnamen, es wird schon wieder werden!" schloss er und +legte sich zu Bett. Machtlos stand Anna vor diesem Stumpfsinn. Vor +Verbitterung zitterte sie am ganzen Koerper und faustete in einem fort +die Haende. + +"Herrgott, es ist ja zum Davonlaufen!" schrie sie auf einmal: +"Meinetwegen--ich geh!" Sie schmiss heftig die Tuer zu. "Dummes +Frauenzimmer!" Er stieg aus dem Bett, rief ihr nach, aber es +antwortete niemand mehr. + +Wegen solcher Dummheiten war man ploetzlich aus der Ordnung +gerissen.--Er schloss die Tuer wieder. + +Der Nachtschlaf war auch zum Teufel.-- + +Er kleidete sich schliesslich an und ging sie suchen. + +Ohne nachzudenken, wanderte er zur Fleischgasse und fand sie auch +dort. Bereits stand ein Herr in einem hellen Regenmantel vor ihr und +lispelte. Johann trat an die beiden heran und riss Anna weg: "Unsinn! +Komm!" + +"Ich mag nicht!" knirschte sie eigensinnig und wollte sich losmachen. + +Der Herr im Regenmantel ergriff ihre Partei und begann zu bruellen. Er +schwang schon den Stock und wollte auf Johann einbauen. Da kam ein +Schutzmann eiligen Schrittes angeflitzt, notierte den Namen des Herrn +und nahm die beiden mit auf die Wache. + +Alles Gejammer Annas half nichts. Das Erklaeren Johanns war vergebens. +Sie mussten mit. + +Haesslich, wie das Missgeschick die Menschen gemein macht! Auf dem ganzen +Weg ueberschuettete Anna Johann mit den wuestesten Schimpfworten und +schliesslich riss auch diesem die Geduld. + +"Halt das Maul, dummes Vieh, dummes!" fluchte er, "hilft ja doch +nichts! Was laeufst du denn davon, so mitten in der Nacht! Jetzt hast +du es." + +"Vorwaerts! Marsch-marsch!" knurrte der Schutzmann immer wieder. + +V. Der Vorfall in der Fleischgasse hatte zur Folge, dass man Johann +wegen Zuhaelterei in Untersuchung behielt. Ein Verfahren wurde gegen +ihn eingeleitet. Anna entliess man nach ungefaehr zehn Tagen. Sie wurde +polizeiaerztlich untersucht und erhielt die uebliche Erlaubniskarte der +Prostituierten wieder. Als sie zu Hause ankam, war sie nicht wenig +erstaunt. Die Rienken, nun einmal rabiat geworden, hatte die +Gelegenheit benuetzt und pfaenden lassen. Waehrend der Haftzeit naemlich +war der Monatserste gekommen, der Dritte, der Fuenfte und der Siebente. +So waren wenigstens die ziemlich eindeutigen Briefe der Bar- und +Hausbesitzerin, die im Kasten steckten, datiert. Man sah es den +schiefen, gekratzt-hingeflitzten Buchstaben der Schrift foermlich an, +dass Sylvia Rienke das Warten auf den Mietszins satt hatte, das Warten +und diese Mieter. "Diese, wo Kerle haben, die mir meine Gaeste +verjagen, koennen bei mir ziehen," hiess es endlich im Kuendigungsbrief +vom Achten. Und Recht behielt sie, die wackere Wirtin. Anna musste +ziehen. Sie verkaufte, was uebriggeblieben war, und bezog ein Zimmer in +der Naehe der Fleischgasse. + +Die drohend gereckten Faeuste, die sie am Tage ihres Abzuges, plaerrend +und keifend, mit weissem Schaum vor dem Munde, der Rienken +entgegenhielt, und das haemische, restlos rachsuechtige: "Das streich +ich dir noch an, Mistvettel!" waren ein Anfang fuer ihr weiteres +Verhalten. Jetzt gab es fast jeden Tag kleinere oder groessere +Unannehmlichkeiten in der Bar "Tip-Top". Anna hetzte Polizei und von +ihr bestochene skandalsuechtige Gaeste in das Lokal. + +In der ganzen Fleischgasse war sie jetzt die Fleissigste. Mit einem +Eifer, ja, mit einer geradezu fanatischen Selbstvergessenheit, wie man +sie nur bei Verzweifelten oder Bohrend-Hassenden findet, verbiss sie +sich ins Verdienen. + +"Die?! Hm, die schleppt auf Rekord," liess sich nicht selten eine +andere Prostituierte vernehmen, wenn die Rede auf Anna kam. Und es +stimmte.-- + +Das Merkwuerdigste aber war, dass sie nunmehr alle Hebel in Bewegung +setzte, um Johann frei zu bekommen. Sie warf das Geld weg an +Rechtsanwaelte, verfasste eine Eingabe um die andere, bestuermte die +Instanzen, rannte von Pontius zu Pilatus, ja, sie fasste zu guter Letzt +sogar dem romantischen Plan, ihn mit Hilfe einiger Maenner zu befreien, +die ihr das Blaue vom Himmel herunterzuholen versprachen, ihr Geld und +wieder Geld abnahmen und eines Tages verschwanden. + +Und Johann? + +Er lag den ganzen Tag auf der Pritsche, wurde sogar dick von dem Essen, +das sie ihm schickte, und war stets ruhig und trocken, wenn sie ihn +besuchen durfte. Als sie ihm von dem Auszug aus dem Rienkeschen Hause +erzaehlte, hoerte er stumm zu--dann, nach einer Weile, laechelte er +und sagte: "Hml Hm,--war doch schoen an dem Abend mit Hochvogel, +hmhamhm!" + +Er fand nichts Schlimmes daran, dass Anna manchmal klagte. + +"Es ist--man muesste so was aufmachen, wie die Rienken hat," sagte er +ein andermal wie aus einem dumpfen Gedankenkreis heraus. + +Und wieder einmal, als Anna jammerte, dass alles Essen so teuer waere, +liess er so etwas fallen wie: "Nuja, die Bauern machen sich jetzt +gesund. Hm, die Bauern und die, die was fuer'n Magen verkaufen--" + +Man sagt, der Weise ueberwindet und kommt zur vollkommenen Ruhe. + +Es gibt Menschen, die ohne Empfindungsvermoegen geboren werden. Und es +sind welche, die, wenn die Schmerzen und Erschuetterungen ihre Seele +in zu rascher Aufeinanderfolge zermuerben, zuletzt in eine voellige +Stumpfheit muenden. Zu diesen gehoerte Johann Krill. + +"Es war doch schoen an dem Abend mit Hochvogel--so gemuetlich!" und "So +was wie die Rienken hat, muesst' man aufmachen." Das war er!-- + +Mittlerweile kam der Termin zur Verhandlung gegen ihn. Anna hetzte +noch mehr herum. Sie schlief nicht mehr, sie vergass das Essen. + +Im Gerichtssaal hustete sie die ganze Zeit. Unstet liefen die Pupillen +ihrer Augen von einem Winkel zum anderen. Auch die Rienken war als +Zeuge geladen. Dummerweise war einer von den letzten Anwaelten, die +Anna genommen hatte, darauf gekommen, sie zu laden. Sie trug ein +schwarzes Seidenkleid, dessen schweres Spitzengewirr vom speckigen +Nacken kraus herabrann ueher den hochgeschnuerten, ueberquellenden Busen. +Ein blutrotes Granatkollier prangte patzig auf der gelben, welken Haut +ihres Halses, dessen blaue Aederung nur schlecht vom dick aufgetragenen +Puder verwischt war. Ihre Froschhaende waren beteuernd auf den Magen +gepresst und spielten manchmal mit dem Schildpatt-Lorgnon, das an einer +breiten goldenen Kette herabhing. + +"Ich bin gleich fertig mit meinen Aussagen, Herr Amtsrichter, ich hab' +ein Geschaeft und viel im Kopf," begann sie, als sie aufgerufen wurde. + +"Die?!--Gott sei Dank, ich hab' immer anstaendige Bedienerinnen gehabt," +fuhr sie fort, ueher Anna befragt, und warf einen seitlichen, herablassenden +Blick auf diese, "aber nun, man tappt auch einmal herein.--Ich hab' es mir +aber--glauben Sie es mir, Herr Amtsrichter, ich bin fuenfzehn Jahre auf dem +gleichen Platz und weiss, was der Ruf fuer ein Geschaeft ausmacht--ich hab' +es mir geschworen: Rienken, sagt' ich mir, Rienken--von der Fleischgasse +nimmst du keine mehr, nicht um die Welt!" Sie kam immer mehr in Zug. + +"Vettel!" schrie Anna schrill und wurde verwarnt. Die Rienken drehte sich +schnell um und dann wieder zum Richter. "Man soll sich nicht aergern, Herr +Amtsrichter?" Und sie schnitt eine weinerliche Miene: + +"Wie hab' ich den Leuten geholfen und was hab' ich davon!--Es ist bloss +gut, dass ich meinen Kopf nie verlier', es ist ja bloss gut, dass ich +mich nie auf die gleiche Stufe stelle mit--mit--so was." + +Und endlich zur Sache gerufen, erzaehlte sie weitschweifig, dass Johann +die Stellung bei diesem Fabrikherrn nicht umsonst angenommen habe. +"Und Nachtschicht--er wird schon gewusst haben, warum. Man kennt +solche--Nachtschichten!" Und Herr Hochvogel?... Sie geriet etwas in +Verwirrung. Nun, der habe bald klar gesehen, ein solcher Herr liesse +sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. + +"Der muss her! Der muss Zeuge machen!" schrie Anna, und ihr Rechtsanwalt +brachte es auch fertig. Nun wurde es aber noch unguenstiger. Obwohl dem +Fabrikanten die ganze Sache aeusserst unangenehm war, obwohl er sich +ausserordentlich zurueckhielt und nichts gegen Johann eigentlich +vorbringen konnte, als eben jenen ueblen Vorfall in der Rienkeschen +Bar--es machte alles einen schlechten, sehr schlechten Eindruck +--Johann Krill wurde verurteilt. + +Anna bekam einen minutenlangen Schreikrampf. Sie stuerzte vor und +wollte auf die Rienken los. Es mussten sie Schutzleute mit Gewalt +wegbringen. + +Johann, der ohne Erregung den Auftritten zusah, nahm alles mit Ruhe +hin. Er laechelte fast verlegen, als ihn die Richter am Schluss fragten, +ob er noch etwas zu sagen wuensche. + +"Dumm," brummte er und kratzte sich hinter dem rechten Ohr, "dumm, +Herr Richter, man tappt eben hinein und--und dann passiert allerhand." + +Die steinernen Amtsmienen wussten einen Augenblick lang wirklich nicht, +sollten sie lachen oder einige beruhigende Worte des Mitleids aus ihren +Lippen lassen. + +Damit war es zu Ende. Anna konnte Johann nun nicht mehr besuchen. Die +beiden waren auseinander.--In ihrer Wut schlug Anna einige Tage +spaeter die zwei grossen Fensterscheiben der Rienkeschen Bar ein und +konnte mit Muehe nur ueberwaeltigt werden. Das Beil wurde ihr abgenommen +und der herbeigerufene Schutzmann nahm sie mit. + +Und wieder gab es einen Prozess. Wegen Bedrohung und Sachbeschaedigung +wurde Anna Krill zu zwei Monaten Gefaengnis verurteilt. + +Hier bricht der Faden ab. Es ist nichts mehr zu berichten. + +Eine Million ist viel--eine Milliarde ist mehr.--Johann Krill ist +Legion. + +Vielleicht arbeitet Johann Krill wieder irgendwo oder er trinkt, oder +er hat den Halt verloren und sitzt weiter in Gefaengnissen. + +Anna--Sie wird eines Tages krank sein, wieder gesunden, wieder krank +werden und so fort.... + +Das einzige, was bestehen bleibt, solange wie diese Gesellschaft, +ist--die Rienken! + +Wie lange noch?! + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG *** + +This file should be named 7zfre10.txt or 7zfre10.zip +Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7zfre11.txt +VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7zfre10a.txt + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +We are now trying to release all our eBooks one year in advance +of the official release dates, leaving time for better editing. +Please be encouraged to tell us about any error or corrections, +even years after the official publication date. + +Please note neither this listing nor its contents are final til +midnight of the last day of the month of any such announcement. +The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at +Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. 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Als +blutjunger Geselle trat er damals in den Dienst und heute war er +erster Werkmeister. Seine stumpfe, schweigende Energie, sein +fanatischer Lerneifer und seine fast pedantische, aber keineswegs +devote Pünktlichkeit hatten ihm Respekt und Achtung verschafft, bei +den Arbeitern sowohl, wie bei den Vorgesetzten. Beliebt war er nicht, +aber es war keiner in der ganzen Fabrik, der auf ein einmal +gesprochenes Wort von Windel nichts gab. Es dauerte allerdings lange, +bis er mehr als das Allernotwendigste sprach. Verschlossen, wortkarg +und mit jener stoischen Strenge im Gesicht, die schon nahe an der +Grenze des Mißmuts steht--so kannte man ihn seit Jahr und Tag. Noch +dazu war er keineswegs eine Erscheinung. Von Gestalt klein und nicht +gerade kräftig, etwas vornübergebeugt, mit langem Hals, auf dem ein +unförmiger, zu großer Kopf mit borstigen, kurzen, schon etwas +angegrauten Haaren und weitwegstehenden Ohren saß. Das lederne, +scharfe Gesicht machte einen überreizten Eindruck. Die tiefliegenden, +unruhigen Augen waren von vielen blutunterlaufenen Äderchen +durchzogen. Aus dem schroffen Tal der Backen hob sich die plumpe, +unregelmäßige Nase wie ein spitzer Hügel. Griesgrämig griff die +massige, verfaltete Stirne von einer Schläfenbucht zur andern. + +Das Merkwürdigste an diesem Antlitz aber war der untere Teil. Er +schien fast von einem anderen Menschen zu sein, hatte etwas so +Hilfloses und Schüchternes, daß man den Eindruck des Mädchenhaften +nicht losbrachte, wenn nicht hin und wieder der geöffnete kleine, +aufgeworfene Mund die eingerissenen, stark mitgenommenen Zähne gezeigt +hätte. Kam noch hinzu ein ungewöhnlich kurzes, fast in den Hals +gefallenes und nur durch einen ganz kleinen Ballen angedeutetes Kinn, +aus dem ein spröder Knebelbart spritzte wie eine Rettung. Sonst hätte +man buchstäblich der Meinung sein können, nach dem Hals ginge der Mund +an. + +Man sagt im allgemeinen, Pedanten, die ihr Dasein fast abgezirkelt +genau ableben, hätten ein sorgfältig gepflegtes Erinnerungsvermögen +und vergäßen die kleinste Kleinigkeit oft jahrelang nicht. + +Peter Windel hatte keine Erinnerung. + +Schließlich, daß man irgendwie zur Welt kommt, aufwächst und +allmählich auf einen Namen hört, dann, in der Schule, noch auf einen +zweiten; in die Lehre kommt, etliche Stellen wechselt; daß es einem +schlecht oder besser geht, daß man auf einem Gottesacker unter anderen +Leuten um ein Grab steht und den Kies auf den Sarg einer toten Mutter +oder eines verstorbenen Vaters, eines Bruders oder einer Schwester +fallen hört und endlich Hinterlassenschaftspapiere, Notariatszimmer +und Pfandbriefe zu sehen bekommt,--das erlebt so ziemlich jeder Mensch +auf die eine oder andere Weise. + +Ein schepperndes Weckerläuten. Es ist noch tiefste Nacht draußen, die +Fenster sind gefroren und hoch herauf verschneit, man hört auf den +weiten, überschneiten Straßen nur seine eigenen Schritte knirschen. +Aus Schnee und Dunkelheit kommt langsam eine flimmernde Straßenbahn, +dann hinter einer gelben Fensterscheibe ein verschlafenes, ärgerliches +Pförtnergesicht, üher einen Hof viele, dumpf trommelnde Schritte und +ineinanderschwimmende Laute, endlich einen glatten Hebel in der Hand, +--herumgezogen--und ratsch! ein ganzer Hauskoloß surrt bebend +auf, die Riemen klatschen, ächzen, es hämmert, feilt, quietscht, +kracht, klingt, braust--das wußte Peter Windel seit ewiger Zeit. +Zwischendurch freilich auch Sommertage. Ein offenes Fenster, Kühle und +Dämmerung und etliche schüchterne Vogeltriller beim Erwachen. Das +meiste der zwanzig Jahre--: Nächte über technischen Büchern, +Sonntagnachmittage über dem Zeichenblock und manchmal ein Zählen des +ersparten Geldes. Öfters als wünschenswert Streitigkeiten, Zänkereien +mit der halbtauben, beschränkten Logisfrau können noch hinzugezählt +werden. Das war alles. Peter Windel hatte keine Erinnerung. Er kannte +nur Interessen. + +Wenn nicht-- + +Und hier beginnt diese Geschichte. + + +II. + +"Sie sind eine Sau! Vier Wochen kein frisches Handtuch, zwei Monate +keine Bettwäsche gewechselt! Wenn das nicht aufhört, ziehe ich!" +schrie Peter Windel an einem Sonntag seine Logisfrau an. + +Wie immer. Das Weib blieb stehen, glotzte ihn an, verzog das Gesichtzu +einer weinerlichen Grimasse und winselte ein paar unverständliche +Worte heraus. Und weinte erst leise, dann immer unerträglicher. + +Das Fenster stand offen. Es war Sommer. Klar fiel die Sonne in den +Hof. Windel riß die Schranktüre auf, nahm seinen Regenmantel, schob +die Frau beiseite und ging. + +Vierzig Mark für ein Zimmer ist nicht viel und die Frau schnüffelte +nicht, war uralt, hockte den ganzen Tag in der dumpfen Küche und +lispelte Gebete. Unreinlich war sie nur von Zeit zu Zeit. Man mußte +sie dann grob anschreien.-- + +Auf der Treppe fiel Peter ein, daß er "Die Elektrizität als Nutzkraft" +vergessen hatte. Er drehte sich rasch um und ging zurück. Immer noch +stand das Weib in der Zimmermitte, fast unbeweglich und wimmerte. +Einen Augenblick maß sie Peter verärgert. Dann stampfte er mit dem Fuß +auf den Boden. + +"Herrgott nochmal!" stieß er heraus, warf seinen Mantel hin, riß die +Bettlaken herunter, zog in aller Eile Decke und Kopfkissen ab und warf +die ganze Wäsche der Frau vor die Füße, samt dem schmutzigen Handtuch. +"Gehn Sie doch in die Küche mit Ihrem Lamentieren und legen Sie mir +die Bettwäsche dann herein, ich mach's mir selber!" sagte er noch, +nahm vom Nachtkasten das vergessene Buch und schmiß wütend die Türe +zu. + +"Meine Lies' ... heut wird's das zweite Jahr!" wimmerte die Frau noch. +Und fiel wieder in ihr wimmerndes Weinen.-- + +Als Peter Windel tief in der Abendstunde nach Hause kam, lag sie quer +auf dem Zimmerboden, den Kopf auf die Waschtischkante geschlagen, eine +ziemlich große Wunde auf der Stirn--reglos, steif. + +Eine kleine Lache geronnenes Blut umgab den Kopf. Die Tote mußte sich +in den hingeworfenen Bettüchern mit den Füßen verwickelt haben und +dann hingefallen sein. + +Peter Windel stand und stand. Er fühlte das Brennen des angesteckten +Streichholzes nicht auf den Fingern. Erst als es wieder dunkel war, +zuckte er ein wenig, steckte schnell ein neues an und ließ es wieder +verglimmen. Stand und stand. + +Plötzlich gab er sich einen Ruck und lief wie ein Irrer davon, ließ +die Türen offen, polterte die Treppen hinunter, rannte hastig und +totenbleich an Leuten vorbei und meldete das Geschehene auf der +Polizeiwache. Als er mit zwei Schutzleuten und dem Polizeiarzt +zurückkam, waren schon Leute aus den Türen gekommen und musterten ihn, +trippelten nach und blieben an der Eingangstüre stehen mit gereckten +Hälsen, brummten, lispelten. + +Der eine der Schutzleute schloß endlich die Türe. Man machte Licht in +Peters Zimmer, schaute eine Zeitlang auf die Tote, nahm die zwei oder +drei schwarzen, verkohlten Streichholzköpfe auf ein Papier und sagte +zu Windel, der säulenstarr dastand: "Setzen Sie sich." + +Der Arzt beugte sich üher die Tote, ein Schutzmann prüfte die +Waschtischkante. Der Arzt nickte. + +"Setzen Sie sich!" sagte ein Schutzmann strenger. + +Peter brach endlich in einen Stuhl. + +Die drei lispelten in der Ecke. + +Der Arzt steckte seine Instrumente ein, hustete und stellte sich neben +die Tote. + +Ein Schutzmann nahm neben Peter Platz, einer blieb an dessen Seite +stehen. + +"Wann haben Sie die Frau verlassen?" fragte der Schutzmann und +notierte. + +Fragte weiter, mit einer gewissen hämischen Herausforderung: + +"Haben Sie Beziehungen zu der Hullinger gehabt?" + +"Nein." + +"Wie lange wohnen Sie hier?" + +"Und haben schon öfters solche Streitigkeiten mit der Hullinger gehabt?" + +"Ja," sagte Peter. + +"Und diesmal?" + +"Weil sie mir schon vier Wochen keine frische Bettwäsche mehr gab." + +"Sie waren also grob zu ihr?" + +"Ja." + +Und noch, was er Gehalt hätte, was er bezahlen müsse für Logis, ob die +Hullinger vielleicht eine größere Hinterlassenschaft in bar irgendwo +aufbewahrt, beziehungsweise ob ihm bekannt wäre, in welchen Verhältnissen +die Hullinger gelebt habe. + +Peter antwortete meistens mit Ja oder Nein. Seine Stimme klang +zerbrochen und schwer. + +"Dann muß ich im Hotel schlafen ... Herr Schutzmann ... wenn die Leiche +hier liegenbleiben muß," sagte er endlich hilflos. Er hatte diese +Anordnung vom Arzt gehört. + +Da stand der Schutzmann selbstbewußt auf, sagte: "Sie kommen mit!"-Alle +Menschen waren noch auf dem dunklen Hof, und entsetzte Blicke fielen auf +die Davongehenden. + + +III. + +Wegen dringenden Verdachts, seine Logisfrau ermordet zu haben, wurde +Peter Windel in Untersuchungshaft genommen und in einer Einzelzelle +untergebracht. Vier hohe, glatte, mit kahler, graugrüner Ölfarbe +gestrichene Wände umgaben ihn von nun ab. Unter der Lichtluke stand +die hölzerne Pritsche, daneben der Abort. Auf dessen Deckel konnte man +bei den Mahlzeiten den Eßnapf oder die blecherne Wasserkanne stellen. + +Die erste Nacht lehnte Peter schlaflos an der kalten Tür. Als die +Wärter in der Frühe aufschlossen, mußten sie fest drücken, bis seine +steife Gestalt nachgab und endlich, als sie wütend fluchten, mechanisch +etliche Schritte in den Raum machte. Während die Wärter die Brotration +auf die Pritsche legten und den Kaffee in die blecherne Tasse gossen, +stand der Gefangene die ganze Zeit unbeweglich und zusammengeschrumpft +da. Sie achteten nicht weiter darauf und schlossen geräuschvoll wieder +die Tür.-- + +Jetzt war Licht. Die Gefängnisuhr schlug sieben. + +Peter schaute schüchtern im Raum herum und begann zu gehen. Ging +stoisch die Wände lang. Immer zehn Schritte der Länge nach und zwölf +Schritte der Breite nach. Den ganzen Tag, ohne innezuhalten, wenn man +Essen oder Abendbrot brachte.-- + +Erst als das Licht beim Hereinbruch der zweiten Nacht verlosch, legte +er sich auf die Pritsche, zog die rauhe Decke üher sich und schlief +wie immer. Jäh erwachte er in der anderen Frühe. Es war stockdunkel. +Er griff in die Gegend des Abortes, als suche er etwas oder wolle +Licht anstecken und stieß dabei so hastig an die Wand der Wasserkanne, +daß dieselbe mit einem Knall auf den Boden fiel und klatschend die +Flüssigkeit aus ihr peitschte. Erschreckt schwang sich Peter von der +Pritsche, hielt seine aufgeknöpften Kleider raffend zusammen und +lauschte aufmerksam.-- + +Jetzt schlug es fünf. Er atmete auf und begann unsicher und vorsichtig +umherzutasten. Auf einmal fühlte er die Nässe an seinen Füßen. + +"Herrgott! Herrgott!" brummte er mürrisch und besann sich. Aber in +diesem Augenblick räkelte wer an der Tür. Ein Atmen wurde vernehmbar, +das Licht in der hohen Decke flammte auf und wieder standen die kahlen +Mauern ringsherum, das kleine Loch glotzte in den totenstillen Raum. + +"Was machen Sie denn da?!... Sind Sie ruhig!" brüllte der Wärter +draußen ärgerlich. Peters Finger streckten sich und ließen von den +Kleidern. Seine Hose fiel langsam herab. Ein Zittern schüttelte seinen +ganzen Körper. + +"Es ist schon fünf Uhr vorbei, ich muß weg!" hauchte er gedämpft. +--Aber es war schon wieder dunkel. Und still.-- + +Erst nach einer Weile brachte Peter die Kraft auf, seine Hose +hochzuziehen, und tastete sich zur Pritsche, legte sich darauf. Sein +Herz schlug hörbar und mit jedem Uhrenschlag erregter. Um sechs Uhr +schwang er sich empor und blieb dann hölzern sitzen. + +Das Licht griff endlich wieder von der hohen Decke in den Raum. Die +Tür öffnete sich unter dem Knarren der Schlüssel. Ein Wärter stellte +das Frühstück herein und der andere an der Tür warf den Aufwischlumpen +her und beide brummten und schimpften wegen des Wasserumschüttens, +hießen Peter aufwischen. Fast froh darüber ergriff dieser den Lappen, +kniete hin und wollte alles möglichst in die Länge ziehen. Aber die +Wärter zeterten und trieben zur Eile. + +"Vorwärts! Vorwärts! Glauben Sie, wir sind zu Ihrer Unterhaltung da! +... Marsch! Marsch! ... So ... fertig!" + +Sie rissen ihm den Lumpen aus der Hand und waren schon draußen. Wieder +wich die Tür in die Wand zurück. Die Schlüssel knirschten. Das Guckloch +starrte wie ein gräßliches, ausgestochenes Auge in den kahlen Raum. + +Peter kniete benommen da. Lange. + +Es war still! Still!! + +Fürchterlich still! + +Wie ein aufgescheuchtes Tier hob der Kniende plötzlich den Kopf, +schaute scheu um sich und sprang mit einem Satz an den Abort, hob den +Deckel und schloß ihn hastig wieder, hob und schloß. + +Die Spülung rauschte. Auf und zu klappte der Deckel. Es krachte, +rauschte. Immer hastiger, schneller, motorisch riß Peter auf und zu, +auf und zu, immerfort, immerzu, nur um die Stille nicht mehr zu hören, +hob und deckte zu, es rauschte, rauschte--bis der Wärter schrie: +"Sie!! ... Sie! Sind Sie verrückt geworden!!--Passen Sie auf! ... Man +ist schon mit anderen fertig geworden! ... Warten Sie, Sie!!" + +So erschrocken war Peter, daß er noch lange zitterte, dann ging er +hastig wieder die zehn und die zwölf Schritte. Den ganzen Tag.-- + +Viele, viele Tage, jedesmal um fünf Uhr früh, erwachte Peter so jäh. +Immer griff er hinüber zum Abortdeckel, wollte Licht anstecken, sprang +auf, brachte seine Kleider in Ordnung,--machte etliche Schritte, stieß +an die kalte Tür und prallte zurück. + +Neunzehnunddreiviertel Jahre gleichmäßiges Aufstehen lassen sich +schließlich nicht aus der Gewohnheit auslöschen. + +Um sechs Uhr pfiff es. Wenn er am Hebel stand undihn herumriß, fing +der mächtige Koloß der Fabrik zu surren an, die Riemen klatschten, +quietschten, es krachte, bebte, hämmerte.... + +Peter war so mit dem Kopf an die Tür gestoßen, daß er taumelnd +zurückfiel, glatt auf den Boden und liegenblieb.-- + +Wo!? Wo war man denn? Wo denn! Wo!!? + +Auf der Welt? In der Hölle? Tief in der Erde?-- + +Es war still! + +Nirgends war man! Nirgends! Gar nirgends! + +In einem Grab, in einem luftleeren, steinernen Sarg! In einer +fressenden Stille! Und durfte langsam, ganz langsam sterben. Niemand +wußte, sah und hörte etwas. Es war still! Still!!--Still!!! + +Doch--man hörte etwas, zeitweilig ein ganz fernes Klopfen, ein Kratzen +in den Wänden. Aus einer anderen Gruft vielleicht?!--Nein! Es waren +Holz--oder Mauerwürmer, die nagten, nagten, weil sie einen Kadaver +witterten.-- + +Die dann herabfielen wie Tropfen und langsam in den Leibbohrten,--nagten, +nagten und alles auffraßen!-- + +Das Licht kam wieder. Peter Windel stand auf, ging zehn und zwölf +Schritte. Er aß jetzt auch.-- + + +IV. + +Endlich nach fünfzehn Wochen Haft fand die Verhandlung gegen Peter +statt. + +Stupid folgte der Gefangene den Wärtern durch lange Gänge, dann fühlte +er Luft und bekam Angst, atmete sparsam. + +Und dann saß er in einem Saal, sah Gestalten, sah starre Augen und +hörte Redegeräusche um sich herum und aus sich heraus. + +Zuerst saß er da wie eine leblose Puppe. Dann, mit jedem gehörten +Wort, kam mehr und mehr das Leben in ihn. Sein Gesicht bewegte sich, +als öffne es sich aus einer Erstarrung--und dann lag ein Lächeln die +ganze Zeit auf seinen stoppeligen Falten und blieb.-- + +Die Dienstmagd vom Vorderhaus sagte aus. Einfach klangen ihre Worte. +Sie sprach nicht zu viel und nicht zu wenig. + +Das Geräusch der Worte war erst undeutlich, dann wurde es klarer und +klang.-- + +Am fraglichen Sonntag nachmittags zwei Uhr vernahm diese Dienstmagd +ein Wimmern aus dem offenen Fenster des Windelschen Zimmers. Dem +folgte ein grobes, kurzes Schimpfen. Dann sah sie den Angeklagten auf +der Treppe, wie er plötzlich innehielt und wieder umkehrte. Und wieder +hörte sie das Wimmern, noch deutlicher sogar und ein wütenden Schimpfen, +dann einen Türzuschlag und Windel mit grimmigem Gesicht die Treppe +hinunterrennen. + +Wie ruhig sie das sagte: "Und dann, gleich darauf, habe ich einen +dumpfen Knall und einen kurzen, nicht recht lauten Schrei, der eher +ein Stöhnen war, gehört und das Wimmern hat auf einmal aufgehört. Ich +weiß nicht mehr genau, war's gleich nach dem Türzuschlagen oder ein +wenig später. Ich bin dann zu meiner Schwester gegangen, weil ich +Ausgang hatte.... Die Leute im Vorderhaus und im Hinterhaus? ... Ja +... soviel ich gesehen habe, die waren fast alle weggegangen ... schon +mittags.... Es war ja auch so schönes Wetter." + +Peter Windel saß da und lauschte. Es klang!-- + +Er begann auf einmal langsam--dann aber stoßweise zu schluchzen. Eine +Bewegung kam in den Saal. Eine Glocke läutete. Lauter rief wer! +Ja!--Ja! Das konnte der Vesperruf in der großen Halle sein! Das war +dasselbe, dünne, schrille Läuten.-- + +Dann klangen wieder Stimmen hin und her. + +Der Chef, die Arbeiter und Angestellten und die frühere Logisfrau +sagten günstig über den Angeklagten aus. Die letztere weinte sogar +buchstäblich und sprach erregt, daß der Staatsanwalt sich verpflichtet +fühlte, sie zu fragen, wie lange Windel sie kenne, ob er sie zuletzt +noch aufgesucht und ob sie zu ihm in näherer Beziehung gestanden habe. + +Die dicke Frau wurde darob sehr schrill, schrie und es läutete +abermals. Peter Windel war wieder ruhig geworden und lächelte +wieder.-- + +Lächelte, trotz der furchtbaren Anklagerede des Staatsanwalts, +lächelte starr in den Raum, als der Rechtsanwalt redete und redete.-- + +Man fand keine Absicht in dieser Tat. Die Beweise waren zu mangelhaft. +Der Angeklagte war ein unbescholtener Mensch. Bis in die Schulzeit +hatten die eifrigen Nachforschungen der Behörden zurückgegriffen, +nichts ließ auf einen jähzornigen, böswilligen Menschen schließen, +sondern eher auf einen schüchternen, scheuen, dem das Leben stark +mitgespielt hatte.-- + +"Alles, was die tote Frau Hullinger hinterlassen hat, fand man +unberührt. Sie haben ein Zeugnis aus der weitaus überwiegenden +Mehrzahl der Aussagenden, daß der Angeklagte nie zu einer solchen Tat +fähig sei. Wie kann man annehmen, daß ein solcher Mensch wegen einer +geringfügigen Unreinlichkeit einfach eine alte Frau dermaßen an den +Waschtisch wirft, daß sie augenblicklich tot ist!" rief der Verteidiger. +Und viele nickten. Man hörte deutlich ein Aufatmen, als der Freispruch +bekanntgegeben wurde und sah aufgeheiterte, fast erlöste Gesichter.-- + +Peter Windel war frei. + +"Kommen Sie nur gleich wieder!" hatte sein Chef gesagt, als er ihm +beim Weggehen die Hand drückte. Und der Rechtsanwalt hatte einen Blick +wie ungefähr: "Na, das hätten wir wieder durchgedrückt!" + +Nach fünfzehn Wochen spürten Peters zögernde + +Schritte wieder Straßen, hörten seine Ohren Trambahnrattern, sahen +seine Augen Menschen, Farben, Fenster, und er wußte selber nicht, wie +und weshalb er plötzlich an einen Schalter herantrat und sagte: +"Dritter Klasse! Ja!" + +Er stieg auf den Zug und ging nicht in die Kupees. Eine Nacht lang +stand er auf dem eisernen, ratternden Vorplatz eines Wagens und +atmete.-- + +Der Wind pfiff. Der Zug sauste, riß die Luft auseinander, zog +vorbeifliegende Lichter in die Länge, bohrte hemmungslos in eine +dunkle, ungewisse Ferne. + +Keine Wand mehr, keine zehn und zwölf Schritte, kein Ende--das Toben +und Brausen wieder! Nur diesmal wie ein Flug durch einen unermeßlichen +Raum.-- + + +V. + +Aber--es ist nicht wahr! Man kann nichts wegtrinken, nichts vergessen +machen, nichts auslöschen! Man trägt es mit sich wie ein unsichtbares +Schneckenhaus und zuletzt!?-- + +Es sind immer wieder die kahlen, glatten Mauern, die Tür mit dem +ausgestochenen Aug' in der Mitte, die zehn und zwölf Schritte.... + +Es klopft.-- + +Es kratzt in den Wänden. Die Würmer nagen. Sie warten und fallen +plötzlich in einer Nacht wie schwere Tropfen herab, bohren sich ins +Fleisch, nagen--nagen.-- + +Peter Windel hatte eine wilde Flucht hinter sich. Durch Städte und +Dörfer war er gefahren, in Hotels und in Wirtschaften, in +Animierkneipen oder am Leib eines Weibes hatte er die Nächte +verbracht. Er trank, warf das Geld weg, aß, saß in den Theatern und +den Kinos, in den Bars und Vergnügungslokalen jeder Klasse. + +Es war immer wieder die Stille, das Stockdunkle, das Grab!-- + +Er floh und kehrte endlich wieder zurück zu Jank, nahm die Arbeit +wieder auf und wurde ruhiger. Es trat die alte Regelmäßigkeit in sein +Leben. Ereignislos verliefen die Jahre. Er wurde alt. Gebückt ging er. + +Der Chef nahm ihn in die Abteilung für technische Angelegenheiten ins +Bureau. Da saß er nun jeden Tag auf seinem Drehstuhl und rechnete, +schlug das Buch zu, kam am ändern Tag wieder und rechnete. + +Neben ihm saß das Schreibmaschinenfräulein, weiter am Fenster vorne +der Ingenieur und manchmal auch der Chef. + +Jahre.-- + +Plötzlich an einem Nachmittag gegen drei Uhr warf Peter Windel die +Feder weg, riß sich fast soldatisch herum, ging an den Schreibtisch +des Ingenieurs und sagte mit hohler, kalter Stimme: "Die Sache +liegt vollkommen glatt. Für den Verlust mache ich Sie keinesfalls +haftbar." + +Steif stand er einen Augenblick vor dem verblüfften Herrn und drehte +sich rasch um, rannte zur Tür und war weg. + +Schon nach der Mittagspause hatte er sich den Hut unter den +Schreibtisch gelegt. Und jetzt war er froh, daß kein ihm bekannter +Straßenbahner den Wagen führte, in den er stieg. + +Nach der fünften Haltestelle stieg er aus. Er war mitten in der Stadt. +"Das Urteil im Heinold-Prozeß! Zwölf Jahre Zuchthaus!" schrien die +Zeitungsverkäufer und flatterten mit den Extrablättern herum. + +Wichtige, gesprächige Gesichter tauchten auf, gedrängte Gruppen +stauten sich um die Anschlagssäulen. + +Peter bohrte seine Augen spähend in die staubige Luft. Nach einem +regen Ausschreiten blieb er auf einmal stehen, murmelte etliche Worte +heraus, drehte sich mechanisch herum und ging in den Blumenladen, +vor dem er jetzt stand. Nach einer langen Weile kam er mit einem +großen, auffallend schönen Rosenstrauß heraus, und ein kaltes Lächeln +lag auf seinen störrischen Zügen. + +"Lebenslänglich in einem Grab ... da schon lieber gleich weg," hatte +er gestern beim Treppenhinaufgehen gehört, und dann sagte eine andere +Frau superklug: "Beantragt erst. Es hängt noch vom Gericht ab." + +Heute war niemand im Treppenhaus. Auch die Wohnung war leer. Die +Logisfrau war wahrscheinlich zum Putzen gegangen und ihr Mann kam erst +gegen sieben Uhr abends von der Arbeit. + +Peter öffnete rasch und schritt behend in sein Zimmer, legte behutsam +den Rosenstrauß auf den Tisch und holte sich in der Küche warmes Wasser +zum Rasieren.-- + +Als er bereits im Gebrock vor dem Spiegel stand, überfiel ihn auf +einmal ein maßloses Zittern, und eine Totenblässe überzog sein +Gesicht. Mit Gewalt straffte er seine Füße. Dann nahm er endlich den +Strauß und verließ die Wohnung. + +Es war schon dunkel, als er vor der Tür des Staatsanwalts Petersen +stand und läutete. + +"Ich möchte gern ... wenn es erlaubt ist ... dem Herrn Staatsanwalt +diese Blumen bringen ... und--und gratulieren," stotterte er dem +Mädchen ins Gesicht. Das ließ ihn ein und führte ihn in ein +Empfangszimmer. Nach ganz kurzer Zeit tat sich die Mitteltür auf, und +Peter stand vor dem Staatsanwalt. Einen Augenblick hatte der Mann eine +steinern ernste Miene, dann flossen alle Falten in ein Wohlwollen und +er lächelte geschmeichelt. + +Mit vielen unbeholfenen Verbeugungen reichte ihm Peter den Rosenstrauß +und stotterte devot: "Für ... für den außerordentlichen Eindruck, den +ich von Ihrer Anklagerede empfing ... nur eine kleine Erkenntlichkeit +meiner Wenigkeit, Herr ... Herr Staatsanwalt, Herr....!" + +Der Staatsanwalt nahm ihm mit aller Freundlichkeit der Herablassung +den Strauß aus der Hand, führte ihn an die Nase und sog in vollen +Zügen den Duft ein, hob den Kopf wieder, sagte: "Ah ...!" und drehte +sich lächelnd um, zur anderen Tür schreitend: "Das muß ich gleich +meiner Frau sagen...." + +Jetzt, da er ihm den Rücken zugewendet hatte, rief Peter plötzlich mit +schneidender Hast: "Eins, zwei, drei! ... einen Augenblick ..." und er +lächelte, wie um sich zu besinnen ... "sind drei ... aber nein, nein! +Das stimmt nicht! ... Zehn und zwölf, verstehn Sie ... sind?" + +Der Staatsanwalt hatte sich erschreckt umgedreht, stand unschlüssig. +Peters Mund bewegte sich fieberhaft. Schaum stand auf seinen Lippen: +"Verstehn Sie ... zehn und zwölf Schritte! Den ganzen Tag! Den ganzen +Monat--ein Jahr--zwei!--drei!--vier--zwölf Jahre! Zwölf Jahre!!" + +Und noch ehe der Staatsanwalt auf ihn zustürzen konnte, stieß ihm +Peter mit aller Wucht sein feststehendes Messer in die Brust, daß er +lautlos zusammenbrach und vornüber hinfiel. Dumpf hallte es. Der +Körper warf sich etliche Male zuckend und blieb dann steif liegen. + +Peters Mund ging auf und zu: "Zehn und zwölf Schritte--einen Tag, +einen Monat--ein Jahr--zwölf Jahre, zwölf----" + +Die Tür ging auf. Hoch stand ihr Dunkel. Etwas Buntes, Weißes +flimmerte dazwischen! Peter schrie in einem Schrei: + +"Für den Verlust mache ich Sie keinesfalls haftbar,--Zwölf Jahre Grab! +Verstehn Sie ... Das ausgestochene Aug'! Die Würmer! Zwölf Jahre ... +Verstehn Sie! Zwölf Jahre Nirgends! Nicht Hölle! Nicht Welt! Zehn und +zwölf Schritte ... die Wü-ü-ürmer!".... + +Nach der irren Hast der ersten Worte spaltete sich die Stimme, +überschlug sich und klang zuletzt wie ein keuchendes, ersticktes +Stöhnen. Jetzt hielt er inne. + +Die hohen Türen standen offen da. Schwarz und düster. Gegen ihn +gerichtet wie drohende Rachen. + +Die Gestalten und Gesichter waren fort. Es war still. Still!--Mit weit +aufgerissenen Augen starrte Peter in diese Leere. Sein Körper begann +zu schlottern, aber er riß sich zusammen. Er wich zurück. Sein Kopf +stieß dumpf an den Fenstergriff. Erschrocken wandte er sich herum. Die +Helle brach üher ihn. Er öffnete rasch. + +Jetzt befiel ihn wieder das Zittern. Sein Gesicht verzerrte sich. Er +wollte umsehen und wagte es nicht. Seine Arme umklammerten das +Fensterkreuz. + +Furchtbar schrie er: "Hilfe! Hi-ilfe!" + +Er schwang sich plötzlich mit einem wilden Satz aufs Fenster und +sprang in die Tiefe.-- + + + + +SINNLOSE BEGEBENHEIT + + +Um es ohne Umschweife zu sagen--: Michel Zöll hatte heute einen guten +Tag. + +Vorgestern, als er stumpfsinnig in der Wärmestube der Arbeitsvermittlung +saß und an dem nassen, verfilzten Zigarrenstummel saugte, den er auf dem +Hergang in der Frühe gefunden hatte, kam sein Weib herein und sagte zu +ihm: "Dein Alter ist gestorben ... Vom Elektrizitätswerk haben sie +hergeschickt, daß er auf der Straße umgefallen ist.--Schau nach!" + +Es stimmte. + +Jetzt lag der Tote unter der Erde. + +"Ich komm schon!--Nachher!" sagte Michel zu seinem Weib nach dem +Begräbnis und schickte es heim, während er zur Logisfrau des +Verstorbenen ging.-- + +Wie oft hatte Michel es nicht gehört, wenn Fußtritte auf ihn traten, +wenn er in eine Ecke flog, wenn die Fäuste seines Vaters auf seinen +Kopf niedersausten oder eine Eisenstange, ein Teller, eine Bürste: +"Knochen, verstockter!--Der Teufel soll mich kreuzweis' holen, wenn +ich dir einen Pfennig hinterlaß'! Ertränkt sollte man dich im ersten +Bad haben, du Nichtsnutz!" + +Mit sechszehn Jahren noch, als Michel schon im letzten Lehrjahr stand +und eigentlich keine Last mehr war, wollte der Alte den Jungen +wegräumen und übergoß ihn beim Heimkommen mit siedendem Kartoffelwasser, +weil er das Vogelfutter für den Kanarienvogel mitzubringen vergessen +hatte. + +Michel mußte damals ins Krankenhaus gebracht werden und sah zum +erstenmal, wie ein Bett aussah. + +Es war schön in diesen hellen Räumen. Man sah viele fremde Menschen, +die allerhand erzählten. Michel faßte Mut da und ging nach seiner +Entlassung mit dem was er auf dem Leibe trug, auf die Wanderschaft, +schlug sich auf alle mögliche Art und Weise durchs Leben. + +Mutter--?! Ein komischer Begriff! + +Michel hatte noch so etwas wie eine abgemagerte Frau in einem Haufen +Lumpen im Gedächtnis. Ein Paar spindeldürre Arme wie Stöcke. Und +Hüsteln. + +Und das, was er nun seit ungefähr zwei Jahren unausgesetzt ablebte: +Eben ein Zimmer voll Gerumpel, mit erstickender Luft und einem +Vogelbauer im staubigen Fenster. + +Nur--daß Michels Weib zwei Kinder hatte und hin und wieder zum Putzen +ging, daß das jetzige Zimmer keinen Vogelbauer hatte, ein klein wenig +heller war, aber enger als das frühere. + +Vor zwei Jahren war es etwas anders. Damals arbeitete Michel noch in +der Motorenfabrik. Es war guter Verdienst. Aber wie der Teufel sein +wollte, die Firma machte Bankrott, kam noch hinzu, daß das damalige +Haus, in dem Michel mit Weib und Kindern in einer Zweizimmerwohnung +hauste, in ein Warenhaus umgewandelt wurde, und die Leute nach langem +Hin und Her auf die Straße gesetzt wurden. + +Weshalb soviel Aufhebens machen! Die Entwicklung der Dinge läßt sich +leicht denken. Die Hauptsache war immer: Man hatte zur Not ein Dach +üher dem Kopf bekommen. Man wußte, wo man hingehörte.-- + +Nun, es ist etwas Wahres dran an dem Sprichwort: "Wo die Not am +größten, ist Hilfe am nächsten." + +Trotzdem der Verstorbene sich vielleicht geschworen haben mochte, nie +und nimmermehr für Michel etwas zu hinterlassen, fiel dem Sohn jetzt +die ganze erraffte Habschaft des Alten zu.-- + +Es war erst fünf Uhr nachmittags. Michel konnte in aller Ruhe das +Zimmer des Verstorbenen durchstöbern und alles mitnehmen. Er fand +außer baren fünftausend Mark einige Anzüge, von denen er den besten +sogleich anzog, einen Überzieher, den er ebenfalls umlegte, und +allerhand Gerumpel, das er dem Tändler Finsterhofer verkaufte. + +Er war gut aufgelegt, der Michel, lachte und gab schließlich dem +drängenden Tändler auch das ganze andere Geschleppe, die übrigen +Anzüge und was da noch war. + +Die Tasche voll Geld schritt er in die dämmernde Stadt. + +"Ist doch gut, wenn man weiß, wer einen auf die Welt gebracht hat," +brummte er aufgeheitert und ging in eine der bekannten Wirtschaften +inder Bahnhofsnähe, um noch ein paar Gläser zur Feier des Tages zu +trinken. + +Es kam ihm merkwürdig vor, als er so unter den anderen Arbeitern, +Zuhältern, Herumlungerern und alten Huren saß. + +Einige kannten ihn und maßen ihn von der Seite. + +"Hast das große Los gezogen, Michel! He ... gibst was aus?" rief ihm +ein Tisch zu und in jedem Blick war ein konstatierendes Zwinkern. + +Michel setzte sich. Es tat ihm wohl, daß soviel Freundlichkeit ihn +umgab. Auf seinem Gesicht war sogar eine Art Gönnerhaftigkeit. + +"Meinetweg'n ...," rief er und lachte, "trinkt. Mein Alter hat ins +Gras gebissen! Es kommt mir nicht drauf an....!" + +Und die Gesichter um ihn zäunten sich enger, fingen zu glänzen an. +Man trank sich kameradschaftlich zu. + +"Erste Runde ... wer bezahlt!" schrie der martialische Kellner und +Ordnungsmann in den Tisch. + +"Daher!" schrie Michel und griff in seine Hosentasche, zog die Scheine +heraus. + +"Da gehn schon noch ein paar Runden, Michel?!" riefen mehrere. + +"Kameradschaft bleibt Kameradschaft!" bekräftigte ein anderer. + +Und Michel legte einen Hundertmarkschein auf den Tisch: "Soviel soll +genug sein!" + +Der Tisch war zufrieden, wurde laut, man brachte Bier und ließ Michel +leben! + +Dann stand Michel endlich auf. Einige wollten ihn noch halten, +bettelten. Aber ein paar andere mischten sich ein und riefen: "Nein +... richtig gesagt, sind wir zufrieden ... der Michel kommt wieder!" + +Und jeder drückte Micheln die Hand. + +"Ein kreuzguter Mensch!" hörte dieser noch, als er die Tür hinter sich +zuzog und seine Schritte eiliger straffte. + +Die großen Bogenlampen leuchteten schon durch den nachtdurchwobenen +Nebel. Aus den Kaffeehäusern griffen die Lichter, die Straßenbahnen +flimmerten, surrten und läuteten. + +Michel stieg nicht ein. Er ging zufrieden dahin und lächelte manchmal. +Es schien, als wolle er noch einmal, ganz für sich allein, das eben +zuteil gewordene Glück auskosten. + +Er griff nach seinem Geld. Er griff hastiger. Nichts. + +Seine Knie begannen zu schlottern, sein Herz stand jäh still. Er griff +nochmal. + +Das ganze Geld war weg. Man hatte es ihm gestohlen. + +Er taumelte an eine Hauswand. Griff, suchte--suchte alle Taschen +durch, vorsichtig, zitternd, furchtbar. + +Nichts mehr. + +Einen Augenblick stand er starr. + +Die Trambahn surrte vorbei. Ganz dünner Schnee fiel. Die Lichter +flimmerten. Es rauschte, rauschte--und war doch grauenhaft still. So +als ob alles wie ein fließendes Wasser leise um ihn herumflösse. Er +hörte es nicht und hörte es doch, hörte es wie ein verborgenes, leises +Kichern.... + +Der Schnee fiel. Michel bewegte sich nicht von der Stelle. + +Lange.-- + +Endlich gab er sich einen Ruck, rannte in die Wirtschaft zurück, auf +den Tisch zu. + +Es war keiner mehr da. Er fuhr den Ordnungsmann an. Fragte, flehte, +weinte. Vergebens. + +In sich zusammengesunken verließ er die Wirtschaft. Machte sich auf +den Heimweg. Als er vor dem Haus stand, in dem er wohnte,--hielt er +inne. Er griff nochmal in alle Taschen. + +Dann, als er die Treppen emporstieg, schien es, als hätte sein Gang +wieder die gewöhnliche Ruhe und Gleichgültigkeit, mit der er sonst +dahinschritt. Der Dunst des Zimmers schlug ihm ätzend entgegen. Es war +still und düster. Die zwei Kinder lagen im Korb, in einem Berg von +Lumpen, und schliefen. Anna saß am Tisch, die Petroleumlampe flammte +ärmlich und bläulich üher ihre Hände. + +Gleichgültig schaute das Weib vom Sockenstopfen auf und rief: "Hast +was gefunden?" + +Michel schwieg, drehte sich umständlich um und schloß die Tür. Dann, +seinem Weib wieder zugewendet, sagte er: "Zuwas stopfst' Socken? ... +Brauchst bloß Licht." + +"Hast denn solang braucht?" fragte Anna und fixierte nunmehr die +ungewohnte Kleidung ihres Mannes. + +"Ja ...," sagte Michel und zog seinen Überzieher aus, "ist eine schöne +Strecke gewesen...." + +"Ist ein schönes Stück Gewand," sagte Anna wieder, als Michel näher +ans Licht getreten war und sich auszuziehen begann, "sonst hat er also +nichts gehabt?" + +Der Michel schnaubte ein paarmal auf. Dann rief er einsilbig: "Geh, +leg dich nieder ... für uns wär's besser gewesen, man hätt' uns im +ersten Bad ertränkt ... leg dich nieder, Alte!" + +Und plumpsig ließ er sich ins Bett fallen, daß die Federn knarzten. +Bald darauf lag auch Anna an seiner Seite. + +Am ändern Tage trug Michel den Überzieher aufs Leihamt und gab Anna +das Geld. + +Wieder wie immer hockte er stumpfsinnig in der Wärmestube der +Arbeitsvermittlung.-- + + + + +DIE LUNGE + + +Die Arbeiterin Manztöter ist der Lungenschwindsucht erlegen. Sie war +eine stille, fleißige Person. Sie schaffte sich auch etwas. + +Vor vier Jahren trat sie in die Zigarettenfabrik Zuccalisto ein. +Bauernmagd war sie vorher gewesen. Eine von den vielen, die die Stadt +anzog, der Verdienst und die Aussicht auf eine baldige, einigermaßen +erträgliche Ehe vielleicht. + +Die Männer auf dem Lande waren plump und bedacht auf offene manchmal +in den Stall, faßten sie an der Brust, packten ihr Kinn, leckten ihre +Wangen. Ein rothaariger Knecht setzte ihr aufdringlich zu, stand und +stand überall und schlug einmal sinnlos auf sie ein. Daraufhin floh sie +in die Stadt. + +Sie änderte sich nicht, sparte, arbeitete und war fromm ohne +Bigotterie. Noch immer las sie das Wochenblatt jedesmal aus und den +Roman und hielt sich außerdem "Die christliche Dienstmagd". Unter dem +vielen Gemisch von afrikanischen Missionsberichten, fand sie eines +Tages die Geschichte eines Farmers in Südwestafrika, leis überhaucht +von friedlich-fleißigem Eheidyll. + +Einem solchen sparte sie das Geld vielleicht. + +Vierhundert Mark hatte sie schon auf der Sparkasse. Noch vielleicht +zwei Jahre oder längstens drei und es wären tausend gewesen. Tausend +Mark!-- + +Das ist schließlich nur Angewohnheit, daß man zur Vesper für fünfzig +Pfennig Käse oder ein Stück Wurst haben muß mit Bier. Kaffee mit einer +Semmel geht auch oder Gerstenauflauf von Mittag. Machte schon wieder +zwanzig Pfennig weniger.-- + +Außerdem kann man sich wöchentlich zweimal zu den Überstunden melden. +Sind auch wieder drei Mark fünfzig Pfennig für je eine Stunde. Man +macht jedesmal drei, sind zusammen wöchentlich einundzwanzig Mark. +Eineinhalb Tagelohn mehr. Dann, wenn man heimkommt, ist's meistens +schon dunkel, man braucht kein Licht mehr, legt sich einfach gleich +ins Bett und schläft ein, hat gar keinen Hunger mehr.-- + +Zuletzt waren es schon sechshundert Mark. Sechshundert! + +Und da kam die Lunge. + +Und kurz darauf hätte es eine allgemeine Aufbesserung gegeben, weil +die Zigarettenfabrik Zuccalisto fünfundvierzig Prozent Dividende +verteilen konnte dieses Jahr und auch was tun wollte für ihre Arbeiter. + + + + +OHNE BLEIBE + + +Es war schneidend kalt.-- + +Der Schutzmann an der Ecke sah einem angeheiterten Doppelpaar +grießgrämig nach und knurrte mürrisch. + +Durch den Gedanken, daß diese Leute nun in ihre warmen Stuben heimgingen +und vor dem Zubettgehen vielleicht noch heißen Tee tranken und eine +Kleinigkeit zu sich nahmen, hatte er sich davon abbringen lassen, weiter +auf und ab zu gehen und seine durchfrorenen Beine durch zeitweiliges +Stampfen einigermaßen warm zu erhalten. Jetzt stach die Kälte doppelt +quälend in allen seinen Gliedern. + +Er knirschte verdrossen, zog seinen Kopf noch tiefer in den +aufgestülpten, starren Mantelkragen, bog mit sichtlicher Überwindung +die steifgewordenen Knie und ging wieder weiter.-- + +Die Stimmen der Spätlinge verschwammen mehr und mehr. Es wurde wieder +still. Wie ausgestorben dehnte sich das verlassene Geviert aus. Düster +und drückend ragten die Hauswände empor. Der Schnee fiel dicht und +sehr ruhig.-- + +Mißmutig schwenkte der Schutzmann in eine breitere Straße ein. Durch +die gleichmäßiger verteilte Schneefläche schien es hier heller und +weiter zu sein. Er blickte erleichtert in die weiße Eintönigkeit. Eine +strichhaft hagere Gestalt kam auf ihn zu. Der Mann schien weder Kopf +noch Arme zu haben. Nur die Beine warf er mechanisch nach vorne wie +ein aufgezogenes Gespenst. Als er kaum noch fünf Schritte von ihm +entfernt war, hustete der Schutzmann sehr vernehmlich und hob sein +verärgertes Gesicht. + +"Sie!" rief er dem Herankommenden gehässig laut entgegen und warf sich +in straffere Haltung. + +Die Gestalt blieb stocksteif stehen. Nur der Frost schüttelte sie. + +"Haben Sie Papiere?" fragte der Schutzmann, noch einen Schritt +machend, und musterte den Mann. + +Der rührte sich nicht. + +"Sie!!" brüllte der Schutzmann wie fluchend und leuchtete dem Fremden +mit der Taschenlaterne entgegen. Alles an ihm war wieder in bester +dienstlicher Ordnung. + +Ein harkiger, abgerissener, verdorrter Baumstamm oder eine arg +ramponierte Säule konnte es sein, was da im Lichtkreis stand. Raschen +Blicks überflog sie der Polizist. + +"Ihre Papiere!--Sind Sie denn taub!" schrie er abermals, wütend über +das Aufgehalten werden bei solcher Kälte, und setzte schnell, wie +witternd hinzu: "Oder haben Sie keine?" + +Der Fremde zog endlich seine erstarrte Hand aus der tiefen Hosentasche +und reichte ihm die schmutzigen, durchnäßten Ausweise. + +"Karl Pruvik, Klempnergehilfe" stand auf der überleuchteten +Invalidenkarte. Herkunft, Geburts--und letzter Dienstort und Datum +waren verzeichnet. Abgestempelte Marken klebten auf der ersten Hälfte. + +Der Schutzmann steckte das Papier unter den blauen Militärpaß und +schlug diesen auf. + +"Infanterist Pruvik, Karl.--14. Regiment" orientierte die erste Seite. + +"Verwundet bei Luneville (Armschuß rechts), desgleichen bei Tarnopol +(Knieschuß links), verwundet bei Verdun (Schulterschuß links)" war im +Anhang eingetragen, und so und soviele Gefechte und Schlachten erwähnte +das nächste Blatt. + +Das Gesicht des Schutzmanns verlor mehr und mehr die stiere Härte, hob +sich etwas höher aus dem Mantelkragen. + +"Hm!--Auch Kriegsteilnehmer? ... Ohne Bleibe, was?" sagte er mit +zufriedener Ruhe und streckte dem regungslos Dastehenden die Papiere +him. Dessen Gestalt schwankte ein klein wenig nach vorne. + +"Hundekälte das! Warten Sie, es geht schon!" rief da der Schutzmann +noch loyaler und steckte dem Mann die Papiere hilfsbereit in die +Rocktasche: "Ist ja noch nicht so spät. Noch alles offen in der Stadt. +Sie kommen sicher unter!" + +"So," sagte er eben, als in nächster Nähe die Uhr zehn schlug. Einen +Augenblick horchte er auf, nickte und entfernte sich eilsamen +Schritts. Schon von weitem erspähte er die Ablösung. + +Karl Pruvik riß sich fest zusammen und schritt wieder weiter. + +Der Schnee fiel und fiel. + +Nach einer langen Weile wurde es endlich etwas lichter. Menschen +stapften vorüber. Grelle Autolaternen glotzten üher einen freien +Platz. Üher einem mächtigen Säulenportal leuchteten groß die +Buchstaben "Schauspielhaus". + +Vielleicht vom Licht angezogen verschnellerte Karl Pruvik unwillkürlich +seine Schritte, eilte geraden Wegs auf den Theaterausgang zu. Eben +strömte die Besucherschar aus den großen, glitzernden Toren. Er befand +sich im Nu mitten im dichtesten Gemeng und drängte sich vorwärts. Eine +warme Duftwelle schlug ihm entgegen, starkgeschminkte Gesichter tauchten +auf und seltsam kühne Reflexe warf das grelle Licht auf glänzende, +rauschende Damentoiletten. Überschnell schwirrten geschäftige Stimmen +ineinander, Seidenrauschen, Lächeln, Autohupen und das fadendünne Zirpen +süßlicher Tonfälle vermischten sich zu einem betäubenden Geräusch. +"Einfach glänzend!" rief wer. "Rührend, wie die Hohlmann spielt!--Nein, +einfach entzückend!" zwitscherte eine überhelle Stimme. "Huw, dieses +Schweinewetter!-Kommt schnell ins Auto!" ließ sich zwischendurch vernehmen. +Und wieder: "Kritisch gewertet--: Eine Glanzleistung in Regie und Spiel!" +Dann das laute, aufdringliche Gekicher der Backfische: "Dieses herrliche +Rüschenkleid, Mama!--Hast du gesehen,--den Sonnenschirm!--und das +Biedermeierkostüm im dritten Akt? Entzückend!--Du Lilly, weißt du was! +So gehen wir heuer im Fasching!--Gell Mammi! Gell!" + +Es plätscherte fort und fort, oben, unten, überall. Abschiednehmen, +Handküsse, Einladungen für das morgige Festessen, Lachen, Autovor--und +Abfahren--alles wie ein flimmernder Hexentanz!-- + +Karl Pruvik war mittlerweile unbemerkt bis an das Eingangstor +gelangt. Noch eine geschickte Finte und er hatte für heute nacht +ein Dach über dem Kopf. Sein Herz schlug heftig. Es war wieder Leben +in seine froststarren Glieder gekommen. Behende glitt er an den +aufeinandergedrängten Gestalten vorbei und fühlte auf einmal Raum und +Wärme. Er lugte spähend nach dem betreßten Portier, duckte sich mehr +noch zusammen, hielt den Atem an, arbeitete sich an der Wand entlang. + +Im selben Augenblick aber stockte die Bewegung des Menschentrupps. Er +zerteilte sich und jäh brachen die Reden ab. Durch eine glotzende +Gaffergasse hastete der Portier mit steinernem, finster drohendem +Gesicht auf ihn zu. + +"Was suchen Sie denn da?--He! Sie! Sie!" schrie der Türhüter. Karl +Pruvik zog wie ein gezüchtigter Hund die Schultern hoch und verbarg +den Kopf völlig in seiner schlotternden Brust. + +"Was Sie wollen, frag' ich!?" bellte der Portier hinter ihm und packte +ihn heftig am Arm, riß ihn zurück. Ohne Wort und ohne Abwehr ließ sich +der Eingedrungene von dem belfernden Türhüter und zwei inzwischen +herbeigeeilten Logendienern ins Freie schieben. "Hm, sowas?--Sich ins +Theater einzuschleichen!" sagte jemand von den Stehengebliebenen und +schüttelte den Kopf. Der ins Stocken geratene Menschenhaufe bekam +wieder Bewegung und drängte sich durch den Ausgang. Die Tore schlossen +sich finster. Schwätzendtrabten die letzten Paare vorüber. + +Karl Pruvik stand zögernd und benommen im glitzernden Schneegeflock. +Einen Augenblick hatte es den Anschein, als straffe sich sein Körper, +als hole er zu einem Satz aus und wolle in die vorbeigleitenden, +duftenden, rauschenden, geschwätzigen Menschen springen, aber +schließlich torkelte er doch üher die verschneite Freitreppe hinunter +und bog in die Seitengasse ein, die vom Theaterplatz abzweigte. Ein +letztes Auto surrte weg. Die Stimmen verloren sich in der Ferne. Die +erleichternde Helligkeit, die die Beleuchtung des Theaterpalastes nach +allen Seiten him verbreitet hatte, verlosch lautlos. Es war wieder +ringsherum die fahle, unwirkliche Düsternis der Winternacht.-- + +Karl Pruvik hob den Kopf hilflos. Eine knappe Wurfweite vor ihm ragte +etwas Schwarzes aus dem Schnee und bewegte sich wie schwebend von der +Stelle. Willenlos und ohne Grund folgte er der Erscheinung. + +Lange ging er so. + +Es mußte schon tief nach Mitternacht sein. Trist gähnten die +menschenleeren Straßen und Plätze. + +Man stand am Rande des Stadtparkes. Die kerzengerade Gestalt verschwand +zwischen den Bäumen. + +In der aufgeworfenen Bahn der Spur schritt Karl Pruvik weiter. Es war +viel dunkler hier. Die schneebeladenen Baumäste lasteten schwer herab. +Nur zeitweilig gab sich eine hellere, freiere Stelle und undeutlich +ließen sich eingemummte Bänke erkennen. Auf einer solchen hockte die +zusammengekauerte Gestalt nun, der er die ganze Zeit gefolgt war. +Stoisch ließ sich Karl Pruvik neben ihr nieder und legte wie aus einer +plötzlichen Eingebung heraus seinen steifen Arm um nasse, scharfe +Schultern. Lahm schmiegten sich die beiden Körper aneinander. "Kalt," +murmelte es kaum hörbar aus dem Kopf, der haltlos auf seine Brust +herabglitt. + +"Kalt," brummte Pruvik ebenso leise und schloß seine Augen. Auch sein +Kopf sank herüber auf das Genick des anderen. + +Kein Schnee fiel mehr. Es war seltsam--: Jetzt, da man schonungslos +der Kälte ausgeliefert war, wußteman nicht mehr, war's eine rasende +Hitze oder eine gänzliche Eisigkeit, was in den Gliedern brütete. Der +ganze Körper hatte das Gewicht verloren. Es schien als schwebe er +durch eine unsäglich friedliche Stille.... Auf einmal drückte etwas +Hartes an den Arm, umklammerte, zerrte. Es schrie wie durch +Nebelschwaden, dann näher. Es rüttelte stärker. Das Geschrei schwoll. +Der Kopf' an der Brust bewegte sich stumm. + +Karl Pruvik öffnete die Augen. Das grelle Licht einer Taschenlaterne +stach ihm ins Gesicht, blendete, schmerzte. + +"He!--He! Was ist da!!" schrie ein Schutzmann, riß erregt am Arm. + +"Was ist denn das! Auf! Auf!!" + +Alles tat wieder weh. Die zerfrorenen Knochen rührten sich, schmerzten, +als seien sie alle einzeln abgeschlagen und bewegten sich wie in einem +geplatzten Gipsverband klappernd von dannen. + +Erst in der Stube der Polizeistation sah Karl Pruvik, daß noch einer +neben ihm stand, genau so reglos und stumpf wie er. Auf den redeten +die zwei Schutzleute ein, fragten, schrien ihn an. + +Endlich nach einer Weile schritt man durch eine Tür und das Licht war +aus den Augen. Die beiden lagen auf einer Pritsche, in warme Decken +gewickelt. Die Glieder bewegten sich ohne Schmerz. Wärme kam langsam. +Von Zeit zu Zeit berührten sich Arm oder Fuß. + +Nach langer Zeit hörte Karl Pruvik wieder polternde Stimmen und kalte +Luft huschte üher sein Gesicht. Die Pritsche knarrte und Schritte +dumpften. Eine Tür fiel zu. Jetzt war es leer neben ihm.-- + +Es fiel gläseriges Tageslicht durch die vergitterte Luke, als er die +Augen öffnete. + +Ein etwas ins Rundliche gehender Schutzmann mit gemütlichem, wohlig +gerötetem Gesicht stand vor ihm und sagte in friedlichem Baß: "Sie +können sich wieder fertig machen. Es liegt nichts vor gegen Sie!" + +Karl Pruvik hob seinen übermüdeten Oberkörper auf der Pritsche. + +"Haben Sie denn den andern gekannt?" fragte der Schutzmann. + +Pruvik schüttelte dumpf den Kopf. + +"Hat ein paarmal eingebrochen," erzählte der Polizist beiläufig und +redete weiter: "Stehn Sie dann auf und kommen Sie. Sie können wieder +gehen." + +Karl Pruvik sah ihn verständnislos an. + +"Eine harte Zeit jetzt--und hundekalt diesen Winter!" brummte der +Schutzmann und bat Pruvik abermals aufzustehen. + +Der erhob sich endlich und ging mit ihm durch die Tür in die +Polizeistube hinaus. + +Ein Wachtmeister saß am Tisch und hatte seine Papiere in der Hand, sah +ohne Arg, beinahe mitleidig auf Pruvik. + +"Sie können wieder gehen," sagte er in dienstlichem Brustton und +reichte ihm Invalidenkarte und Militärpaß. + +Karl Pruvik stand zögernd da und machte keine Bewegung. + +"Es liegt nichts vor gegen Sie!--Daß einer keine Bleibe hat, kann +jedem einmal passieren," sagte der Wachtmeister menschlich. + +Pruvik nahm mechanisch seine Papiere. + +"Grüß Gott," sagten die beiden Polizisten und nickten dem Gehenden zu. + +Einer öffnete freundlich die Tür. + +Karl Pruvik ging. + +Es schneite nicht mehr auf den Straßen. Das Bleich des Tages tat den +Augen weh. Ein Wind hatte sich erhoben und pfiff schonungslos um die +scharfen Hausriffe. Es war kalt. Es war wirklich grausam kalt.... + + + + +ETAPPE + + +I. + +Der Stab für das Eisenbahnbauwesen der Ostarmee lag vor Dünaburg. Es +ging die Rede von einem russischen Durchbruchsversuch. Die Baukompagnie +14 geriet ins Feuer. Es gab Verluste. Der Bau der Feldeisenbahn kam ins +Stocken. Die Verbindung mit der Kampffront blieb auf Tage unterbrochen. +Vom Oberkommando der Armee lief eine Beschwerde beim Stab ein. Drängende +Befehle peitschten zur Beschleunigung. Der Major hatte wieder jenen +gehässigen Ärger auf seinem finsteren Gesicht, der an den Brückenbau in +Kowno vor der Ankunft des Kaisers erinnerte. + +Zwei Tage vorher bereits überwölbte das fertiggebaute, riesige hölzerne +Mittelstück die gesprengte Memelbrücke damals. Die Belastungsprobe war +glatt verlaufen. Allenthalben sah man entspannte, befriedigte Gesichter. +Die ermüdete Mannschaft trat schon zum Heimmarsch in die Quartiere +zusammen. Plötzlich murrte ein langgezogenes, ruckendes Grollen über +den nebeligen Fluß. Die Brückenmitte hatte nachgegeben, war fast um +einen halben Meter tiefer gesunken. Eine Totenstille herrschte minutenlang. +Dann bellten abgehackte Befehle durch die Luft. Die erschöpften +Abteilungen schwärmten wankend auseinander, wieder auf die Brücke und +ins eisige Wasser. Die ganze Nacht hämmerte, ächzte, krachte, schob und +schrie es aus dem spärlich beleuchteten Gerüst des Notbaues und aus der +Flußtiefe. Fieberhaft, mit verdrossenem, verbissenem Grimm wurde +gearbeitet. + +Wie Rudel totgehetzter Ziehtiere trotteten die Kolonnen am Morgen in +die zerschossene Stadt. + +Zwanzig Stunden wurde am darauffolgenden Tage gearbeitet. Zweiundzwanzig +ununterbrochen am andern. Die Ruhr brach aus unter der Mannschaft. + +Mehr als vierzig Mann starben, fünf ertranken in der Memel. + +Als der Kaiser ankam, erhielt der Major das Eiserne Kreuz erster +Klasse. + +"Herr Major,--hoffentlich ist es uns allen noch gegönnt, daß wir den +Pour le merite ebenso vergnügt mit Ihnen feiern dürfen," sagte damals +der geschnürte, glatzköpfige Stabsadjutant piepsend. + +Und zerschlissen freundlich lächelte der Major: "Wenn Petersburg fällt!" +--Damals ging es unaufhaltsam vor. + +Nun stockte es erstmalig während des ganzen Feldzugs.-- + +Die Russen funkten sehr nahe. Die zurückgetriebenen Eisenbahnbaukompagnien +verpendelten die Zeit mit nutzlosen Appellen. Vom Hauptquartier kam Befehl +auf Befehl. Die Offiziere flitzten nervös und gewichtig herum. Bei der +Mannschaft gab es Arreste. + +Unübersehbare Mengen Baumaterialien stapelten sich und mußten +liegenbleiben. + +Der Major ritt die Bauzüge ab, schrie, polterte, teilte Strafen aus. + +Fünfzehnhundert Russen, die an der Front gefangengenommen worden waren, +trafen ein. Befehl zur Aufnahme des Weiterbaues der Feldeisenbahn erging. + +Langsam rollten die stehengebliebenen Bauzüge vorwärts, in die tristen +Schneefelder hinein. Vor, vor--immer noch vor ging es! Bis zu der Stelle, +wo die Arbeit aufgegeben werden mußte. + +Die Geschosse schwirrten hoch in der schneeigen Luft. Ganz nahe. + +Schnee, Schnee. Kälte, Kälte. + +Die Baukompagnie 14, 15 und die Russen marschierten auf die +Arbeitsstellen. + +"Mist!--Humbug!--Unsinn!" knurrte von Zeit zu Zeit irgendeiner halblaut. + +In kilometerweiter Entfernung schlugen die Geschosse ein, warfen +Kotfontänen. + +Schlaggg!--lag alles am Boden. + +Man lag die halbe Zeit in Deckung. Die Arbeit machte kaum wesentliche +Fortschritte. + +Meldung erging an den zurückliegenden Stab.-- + +Der Ordonnanzreiter Peter Nirgend ritt durch den peitschenden Schnee. +Das Pferd dampfte. Die Lenden spritzten Blut. Fiebernd bog sich der +furchtsame Rücken im Galopp.-- + +Hauptmann und Oberleutnant der Baukompagnienempfingen den Heransprengenden +mit mürrischen Gesichtern. + +"Meldung vom Stab der Eisenbahntruppen!" keuchte Nirgend. Nur mit Mühe +konnte er sich stramm halten. + +Hastig öffnete der Hauptmann den Umschlag, überflog mit unterdrückter +Entrüstung das Papier und sah auf den Oberleutnant, reichte es ihm. + +"Hm!" brummte er kopfschüttelnd. "Hm!" machte der Oberleutnant +gleichfalls achselzuckend und ratlos. + +Dann stiegen beide in den Kanzleiwagen. + +Peter Nirgend führte sein schweißtriefendes Pferd auf und ab. Aus den +Quartierwagen der Mannschaft glotzten mißmutige Gesichter. + +"Geht's vor?" fragte einer. + +"Der Hund!" knurrten etliche dumpf, als Nirgend nickte. Der +Kanzleiunteroffizier rief aus dem Wagen, übergab ihm die Rückmeldung +an den Stab. Der gefrorene Boden klapperte unter den ausgreifenden +Hufen des Pferdes. Schneewolken staubten auf und nichts mehr sah +man.-- + +Ein abermaliger Befehl des Stabes bestimmte unverzügliche Aufnahme der +Arbeit und sofortige Herstellung der Verbindungslinie mit den Fronten. + +Schon tags darauf meldeten die vorgeschickten Kompagnien schwere +Verluste. Die fünfzehnhundert Russen weigerten sich, aus ihrem Bauzug +zu gehen. Man prügelte sie heraus. Aber am selben Abend noch mußten +die Züge zurückrollen. Viele Wagen waren zerstört. Die Eisenbahnlinie +überall ramponiert. + +Die ganze Nacht schrie es die Züge entlang. Neue Wagen wurden +eingeschoben. Unaufhörlich wurde rangiert.-- + +Am andern Mittag raunte es von Ohr zu Ohr: "Es geht wieder vor!" Es +ging ein Gerücht herum von einem scharfen Aufeinanderprallen zwischen +Major und Hauptmann. Kurz darauf hieß es: "Antreten zum Appell!" Vor +den gepferchten Reihen der zum abermaligen Vorrücken bestimmten +Truppen hakte ein fremder Offizier auf und ab und hielt eine +schwunghafte Rede. "Das deutsche Wesen darf nicht untergehen! Hurra! +Hurra! Hurra!" schloß er und alles brüllte mit. Wie ein einziger +Tierlaut klang's. + +"Fürs Vaterland!" murrte einer zynisch beim Auseinandergehen. + +"Für den Pour le mérite!" brummte ein bärtiger Kerl und sah +herausfordernd auf die lethargischen Gesichter der Kameraden. + +"Kotze!--Sich den Schwanz verbrennen ist die einzige Rettung!" +murmelte der Mannschaftskoch stoisch. + +"Nulpe! Wo denn?--Wenn weit und breit kein Puff ist!?" warf ihm der +Vagabund Tümpel hin und spuckte in großem Bogen durchs offene Fenster. + +Tief am Nachmittag ächzten die Bauzüge abermals finster in die +schneeige, verlassene Gegend hinaus. + +Am zweiten Tag, als Nirgend von den Kompagnien zum Stab zurückritt, +knallten Schüsse hinter ihm her. Einer davon streifte leicht seinen +rechten Arm. + +"Hu-u-und!" surrte es langgedehnt durch die kalten Nebelschwaden und +lief ihm nach wie ein unterirdisches Grollen. + +Gegen Morgen tauchten auf einmal die gelben Lichter der Bauzuglokomotiven +auf und kamen zischend näher. Die vierzehnte Kompagnie war his auf zirka +hundert Mann aufgerieben, und die fünfzehnte hatte gleichfalls zahlreiche +Verwundete und Tote. Die Russen hatten in der allgemeinen Panik des +Zurückflutens die Fluchtergriffen und irrten rudelweise in den +Schneefeldern herum.-- + +Nirgend trat dumpf ins Leutnantszimmer des Stabsbureaus, straffte +seine Glieder und sagte: "Zur Stelle!" + +Der schmächtige, elegante Offizier drehte sich wippend, etwas nervös +herum, maß den Hereingetretenen von oben his unten und fragte: "Na,--und?" + +"Man hat mich angeschossen," sagte Nirgend unvermittelt. + +"Ja--und?" + +"Es waren welche von uns, Herr Leutnant." + +Die gepflegten, spitzen Augenbrauen des Offiziers griffen zuckend in +die plötzlich streng gefaltete Stirn. + +"Quatsch!--Woraus schließen Sie denn das;" rief er wegwerfend. + +"Weil jeder wütend ist," sagte der Meldereiter einfach. + +"Halten Sie Ihr Maul, Sie Lümmel!--Was bilden Sie sich eigentlich +ein!" belferte der Leutnant drohend und schnellte auf. + +"Ich rede nicht um meinethalben," erzählte Nirgend ruhig und schaute +dem Schimpfenden entschlossen ins Gesicht, "aber um den Pour le merite +geht keiner mehr vor. Ich reite nicht mehr!" + +"Wasss!!" zischte es durch die warme Zimmerluft. + +Matratzenfeder. Die Tür des anderen Zimmers wurde ruckhaft aufgerissen. + +"Wasss!--Was ist da!?" schnarrte der Major und machte einen Schritt +auf Nirgend zu. Schon riß sich der Leutnant schlank und stramm herum, +wollte melden. Aber der Soldat kam ihm zuvor, sagte, zum Major +gewendet, mit der gleichen, einfachen Ruhe: "Ich reite nicht mehr, +Herr Major! Um einen Pour le mérite geht keiner mehr vor, sagen alle!" + +Einen Moment fielen die beiden Offiziere fast auseinander. Dann +schrien sie, bellten drohend: "Hinaus! Hi-naus! Sie Schweinehund!" + +Ganz korrekt drehte sich Nirgend um und ging aus dem Zimmer. In der +angrenzenden Schreibstube wurde fieberhaft gearbeitet. Jeder saß +geduckt da und kaum einer wagte aufzuschauen. Nur einige ängstliche +Blicke trafen den Hindurchschreitenden. Der Stab nistete in einem +einstöckigen Gelehrtenhaus. In den unteren Räumen waren die Bureaus, +oberhalb die Schlafzimmer der Offiziere und auf dem Dachboden hausten +die Mannschaften. Dort angelangt, legte Nirgend sich so wie er war +aufs Stroh und zündete sich eine Zigarette an. + +Es war merkwürdig, heute kam keiner zu Bett. Düster glomm der spärlich +helle Kreis der brennenden Zigarette im Dunkel. Wie in einer +verlassenen Totengruft lag man hier. Langsam fielen die Minuten von +der Decke herab. + +Eine lange Zeit verging. + +Dann knarrten Schritte die Treppe herauf, kamen näher. Es mußten +mehrere Leute sein. Peter Nirgend rührte sich nicht. + +Die Tür wurde geöffnet. Im Lichtkreis einer Taschenlaterne tauchte +undeutlich die Gestalt des Leutnants auf. Dahinter mußten noch einige +Leute stehen. Zwei Seitengewehre funkelten zur Höhe. + +Nirgend erhob sich ohne Hast. Irgendeine dunkle, breite Gestalt tappte +herein, tastete herum und entzündete die Lampe. Jetzt traten der +Leutnant und die zwei Soldaten mit den aufgepflanzten Seitengewehren +an den Tisch, wo der Unteroffizier, der Licht gemacht hatte, stand. +Der Leutnant verlas etwas von sofortiger Inhaftierung und Überweisung +an ein Kriegsgericht, faltete den Bogen wieder, sah Nirgend flüchtig +an und sagte zum Unteroffizier: "Wenn er in fünf Minuten nicht folgt, +wenden Sie Gewalt an!" + +"Zu Befehl, Herr Leutnant!" antwortete der strammgestandene Korporal. + +"Naja!" sagte der Leutnant und ging. + +Einige Augenblicke standen sich die Soldaten schweigend gegenüber. + +"Kamerad!--Mensch?" brachte der Unteroffizier endlich heraus, stockte +aber plötzlich und sagte dumpfer: "Packen Sie Ihre Sachen zusammen und +kommen Sie." + +"Seid ihr Vierzehner?" fragte Nirgend unbeweglich. Keine Antwort. +Keine Bewegung der anderen. Starr standen die drei. + +"Gestern nacht habt ihr auf mich geschossen--einer von eurer Kompagnie +war's!--Weil ich den Befehl zu euch brachte zum Vorrücken.--Einen +Denkzettel habt ihr dem Major geben wollen--jetzt macht ihr drei +wieder die Handlanger der Ordensjäger!" stieß Nirgend heraus. + +Keine Bewegung. Schweigen. Starr standen die drei. Wie glatte, finstere +Glassturze. Alles rutschte an ihnen herab. + +Man stand selber unter einem solchen Glassturz. Gespannt his aufs +äußerste mußte man an sich halten. Eine einzige Bewegung--und alles +konnte zusammenfallen, klirrte herab. Und--? + +Und man stand ohnmächtig, ausgeliefert und vereinsamt zwischen den +anderen. Die nackten Arme halfen nichts. Nicht einmal zu einer +Umschlingung, denn man rutschte ab. Fiel hin und war ein Häuflein +nichts. + +Und was war geschehen? + +Nichts! + +Die nackten Arme halfen nichts! Gar nichts! + +Nur die Kartätschen der Feinde, Hekatomben auseinandergerissener Leiber. +Das Unerträgliche. Die Sinnlosigkeit führte zum Sinn zurück. + +"Wollen Sie den Befehl befolgen?!" rief der Unteroffizier jetzt. + +"Ja!" schrie Nirgend fast überlaut: "Ja--am liebsten würde ich wieder +hinausreiten zu euch. Immer vor! Immer vor müßtet ihr--für den Pour le +mérite!" + +"Los--los!" plapperte der Unteroffizier verärgert, "reden Sie nicht! +Los!" + +"Ja!" bellte Nirgend abermals, "das ist das deutsche Wesen!" + +"Marsch!" brüllte der Unteroffizier: "Vorwärts jetzt!" Und zog ihn in +die Mitte. + +Man ging.-- + + +II. + +Der Schnee lag tief. Langsam ging es vorwärts. + +"Was macht man eigentlich mit mir?" fragte Peter Nirgend auf einmal +steif stehenbleibend. Es antwortete niemand. + +"Los--los!" brummte der Unteroffizier vorne wie für sich. Die Soldaten +schoben den Gefangenen weiter. + +"Er hat euch geschunden his aufs Blut.--Ihr habt es selbst gesagt, daß +ihr nicht mehr mitmachen wollt," sagte Peter beharrlich und stemmte +sich gegen die schiebenden Hände. + +"Los--los! Wir möchten auch zur Ruh kommen!" stieß der Unteroffizier +abermals murmelnd heraus und machte eine halbe Wendung. + +Einer der Soldaten setzte dem Häftling das Knie in den Rücken. + +"Gibt doch bloß Arrest, Mensch!" sagte der Unteroffizier beiläufig. + +Peter Nirgend ließ nach. Man watete wieder weiter. + +Die lange, geschwertete Linie eines spärlichen Lichtes stach durchs +Dunkel. Das war das Gemeindehaus, wo der Arrest abgesessen wurde. +Landstürmler versahen dort den Dienst. + +"Ihr kriecht, bis man euch die Kugel in den Leib jagt!" knirschte +Peter. + +Schweigen. + +Der Unteroffizier schlug mit der Faust an die Gemeindehaustür. Mit +hochgehobener Petroleumlampe erschien der verschlafene Sergeant in +ihrem Rahmen. Der Trupp trat in die wohligwarme Wachstube. Zwei +Landstürmler hoben schläfrig ihre Oberkörper auf den Pritschen, rieben +sich die Augen. Einer davon stieg herab und nahm den Schlüsselbund, +winkte Peter. + +"Kommt vors Kriegsgericht! Befehlsverweigerung!" sagte der Unteroffizier +zum Sergeant, der den Einlieferungsschein unterschrieb. Eine leise +Verachtung schwang mit den Worten mit. Der Landstürmler führte den +Häftling in die letzte Zelle. "Kamerad, leg dich gleich hin und wickle +dich fest ein. Es ist kalt," sagte er und trat aus der Zelle, schloß ab. + +Peter Nirgend blieb lauschend stehen. + +Jetzt hörte man die Leute vorne im Korridor. Er ging an die Tür, schlug +fest mit den Fäusten an dieselbe, schrie: "Ich muß dem Herrn Unteroffizier +noch was ausrichten!" + +Und sein ganzer Körper zitterte. + +Der Trupp kam den Korridor entlang, öffnete. + +"Was ist's denn?" fragte der Unteroffizier ärgerlich und trat ein. Die +anderen blieben draußen. + +"Werde ich erschossen?" fragte Peter unvermittelt. + +"Quatsch! Festung wird's geben!" räsonierte der Unteroffizier: "Was +wollen Sie denn?" + +"Da--da ist eine Blutlache!" rief Peter hastig und deutete auf die +Bodenfläche hinter der Pritsche. Der Unteroffizier trat einen Schritt +näher heran und beugte sich vornüber, hinter die Pritschenecke. Jetzt +war der Lichtkreis der Taschenlaterne nur noch ganz klein in der +Nische. Peter machte einen ruckhaften Satz, stemmte blitzschnell sein +Knie auf den Rücken des Korporals und schnitt mit aller Gewalt in +dessen Hals, tiefer--tiefer. Das warme Blut rann üher seine Finger. +Der Körper des Ermordeten gab nach, hing schräg üher die Pritsche. + +Die anderen stürzten herein und warfen sich auf Peter, schlugen auf +ihn ein, his er liegenblieb. + +Ihn überleuchtend, sagte ein Soldat zum Gefesselten: "Hund! Morgen +stehst du an der Wand!" + +Peter Nirgend schloß die Augen. + +Nach einer ziemlichen Weile wurde die Tür wieder aufgeriegelt. Wieder +erschien der hochgehobene Arm des Sergeanten mit der Petroleumlampe, +nur diesmal sehr zitternd. Offiziere traten ein. Einer beugte sich +über den Toten am Boden. Dann trugen zwei Soldaten die Leiche hinaus. + +"Was haben Sie denn da gemacht!?" fragte der Major Peter. + +Der schwieg. Kopfschütteln. Ein Soldat trat ein, stand stramm, erzählte +den Hergang. + +"Sowas heißt sich deutscher Soldat!" schnarrte der Leutnant beflissen. + +Inzwischen trug man ein Tischchen herein. Die Lampe wurde daraufgestellt +und der Gerichtsoffizier nahm das Protokoll auf. Nach der Vernehmung des +gänzlich gebeugten, zusammengefallenen Sergeanten und des anderen Soldaten, +trat der Leutnant abermals an Peter heran, stieß ihn: "Und Sie?" + +"Was haben Sie anzugeben?" rief der Gerichtsoffizier gleichfalls über +den Tisch. + +Keine Antwort kam. + +"Kerl!" + +Schweigen. + +Das Protokoll wurde verlesen. + +"Geben Sie das zu?" fragte der Gerichtsoffizier den Angeklagten. + +Dieser nickte stumm. + +Kopfschüttelnd verließen die Offiziere den Raum. Zwei Soldaten der +Baukompagnie 14 mit bajonettbepflanzten Gewehren blieben zurück. Der +Tisch mit der Petroleumlampe gleichfalls.-- + +"Schuft!" knurrte einer der Wächter und versetzte Peter einen Stoß in +den Leib. "Du sollst unsere Überstunden schmecken, Hund!" fluchte der +andere und schlug ihm die Faust ins Gesicht. + +Müde geworden, setzten sich die zwei Wachhabenden auf das trockene +Flecklein des Bodens und zündeten sich Zigaretten an. + +"Kamerad! Einen Zug! Einen Zug!" wimmerte mit einem Male Peter +flehend. + +"Ah?" rief der Raucher hämisch, ging an den Gefesselten heran und +hielt ihm die rauchende Zigarette unter die Nase: "Riecht gut, Herr +Halsabschneider, hm?" + +"Laß ihn doch! Er ist nicht wert, daß man ihn anschaut!" brummte der +andere Soldat. Aber der Angesprochene ließ sich nicht abhalten. + +Da reckte sich Peter stemmend, schrie: "Hasenfüße!" + +"Halt die Fresse, Hund!" fielen die beiden ihn an und warfen ihn +zurück, daß die Pritsche knarrte. "Hasenfüße!" plärrte Peter wilder. + +Die beiden hielten die Gewehrläufe drohend auf ihn gerichtet: "Noch +ein Wort und wir knallen dich nieder!" + +"Hasenfüße!" schrie Peter noch greller. Die Wächter schlugen sinnlos +auf ihn ein. + +"Hasenfüße!" bellte der Gefesselte aus Leibeskräften: "Hasenfüße! +Hasenfüße!" + +Da schossen sie. Das Gehirn peitschte an die Wand. + +Als der Sergeant und die Landstürmer schlotternd angestürmt kamen, +standen sie wie geistesabwesend stramm. Erst als kurz darauf der +Leutnant eintrat, meldeten sie zugleich: "Melden Herrn Leutnant, daß +wir ihn erschossen haben, weil er uns Hasenfüße genannt hat." + +Der Leutnant warf einen flüchtigen Blick auf die Leiche, drehte sich +herum und sagte befehlsmäßig: "Gut! Abtreten!"-- + +Tags darauf diktierte er dem Kanzleiunteroffizier folgende Meldung an +das Oberkommando der östlichen Streitkräfte in die Maschine: + +"Meldereiter Peter Nirgend, zugeteilt dem Stab der Eisenbahntruppen, +wurde wegen Befehlsverweigerung inhaftiert. Weiterleitung des Verfahrens +war dem Kriegsgericht der Etappenkommandantür übergeben. Nirgend +ermordete kurz nach seiner Einlieferung in die Arrestanstaltin seiner +Zelle den Unteroffizier der Eisenbahnbaukompagnie 14 Joseph Thiele durch +Durchschneidung des Halses. Sofortige Protokollaufnahme durch den +Gerichtsoffizier ergab Mord. Exekution wurde auf andern Tag 9 Uhr +festgelegt. Infolge fortgesetzter Widersetzlichkeiten gegen die +Wachhabenden und Verhöhnung des Feldheeres, mußten die Pioniere +Traugott Schloch und Otto Flemming von der Eisenbahnbaukompagnie 14 +von der Waffe Gebrauch machen, was den Tod des Nirgend zur Folge +hatte."-- + +Wegen Nachlässigkeit im Dienst wurde der Arrestsergeant strafversetzt.-- + +Einige Wochen später stand in einem Tagesbericht des Oberkommandos: +"Wegen pflichtmäßiger Ausführung eines Befehls wurden ausgezeichnet +mit dem Militärverdienstkreuz zweiter Klasse laut Beschluß des O.K.d. +O.A.: der Pionier Traugott Schloch bei der Eisenbahnbaukompagnie 14, +der Pionier Otto Flemming bei der Eisenbahnbaukompagnie 14." + + + + +MICHAEL JÜRGERT + + +I. + +"Alle Dinge sind eitel." Immer kehrt dieses Wort wieder, wenn der Name +Michael Jürgert in meiner Erinnerung auftaucht. Viele Male habe ich +nachdenkend dieses Leben umschritten wie einen verfallenen, traurigen, +rätselhaften Garten. Unruhig suchte ich nach dem Sinn dieses Ablaufs, +trachtete danach, all die widerstrebenden Geschehnisse folgerichtig +aneinanderzureihen, um möglicherweise ein erklärendes Bild zu finden, +einen Abschluß, eine befriedigende Lösung. + +Es gelang nicht. + +Hoffend, daß mir vielleicht eine Stunde doch noch die Erleuchtung +bringt, habe ich--so gut es ging--vorerst nur das nackte Tatsächliche +aus diesem Leben aufgeschrieben, alles so, wie es sich zugetragen hat. +Und hier ist es: + +Michael Jürgert kannte seinen Vater nicht. Als er sieben Jahre alt +war, erfuhr er von seiner Mutter so etwas wie ein Gestorbensein durch +einen merkwürdigen Unfall. Und einmal beim Maitanz warf ein Knecht in +sein Ohr, daß sein Vater "im Suff ertrunken sei". Darum, so hieß es, +säße ja seine Mutter schon all die Jahre im Gemeindehaus und wisse +nicht, von was sie leben sollte. + +Der Bruder von Michaels Vater, der wegen einer Weibergeschichte "ins +Amerika durch sei", hüte sich wohlweislich, etwas von sich hören zu +lassen, raunten sich die Dörfler zu, wenn die Rede von den Jürgerts +ging.-- + +Nach seiner Schulentlassung kam der etwas schwächliche Knabe als +Knecht in den Reinaltherhof. Es waren vier Knechte und zwei Mägde da. +Fünf Jahre stählten den wachsenden Körper, ergossen versteckten und +offenen Spott auf Michael. + +Auf Maria Lichtmeß, als er zwanzig Jahre zählte, wechselte er seinen +Dienstplatz und trat beim Peter Söllinger ein, dessen Gehöft auf der +runden Anhöhe vor dem Dorfe lag. + +Rechts vom Söllingerhof, nah am Waldrand, hockte die baufällige Hütte +des Gütlers Johann Pfremdinger, den man im ganzen Umkreis den "Letzten +Mensch" hieß, weil er die bigotte alte Pfanningerin zur Haushälterin +hatte und im allgemeinen sehr schlecht auf die Weiber zu sprechen war. +Wenn man ihn ärgern wollte, brauchte man bloß eine junge Dorfmagd oder +Bauerstochter des Sonntags an seinem Haus vorbeigehen zu lassen.-- + +Rundherum lagen die Felder Söllingers, weit verstreut die zwei Tagwerk +Pfremdingers und oft, wenn der alte Häusler zur Erntezeit schwerfällig +und mühsam auf den Fußwegen durch die Wiesen des Bauern ging, um auf +seine Grundstücke zu gelangen, sagte der letztere mürrisch zu ihm: +"Bist saudumm!--Wennst tauschen tätst mit mein' Rainacker, hättst +alles ums Haus ... Aber mit dir kann man ja nicht reden!" + +"Auf'm Rainacker wachst das nicht wie bei mir," gab ihm der "Letzte +Mensch" stets mit der gleichen Beharrlichkeit zurück und trottete +weiter.-- + +Die Jahre gingen, schwiegen. Der Peter Söllinger wurde unterdessen zum +Bürgermeister gewählt und kam eines Tages in den Stall zu Michael, +sagte: "Das geht jetzt nimmer, daß die Gemeinde deine Mutter aushält. +Bist ein Mordstrumm Mannsbild worden und kannst selber für sie +aufkommen. Der 'Letzt' Mensch' wird sterben. Die Pfanningerin müssen +wir ins Gemeindehaus tun." + +Michael nickte stumm. + +"Da draußen kann's nicht bleiben, die Pfanningerin," fuhr der Bauer +fort, indem er eine verächtliche Geste in die Gegend des +Pfremdingerhauses machte, "die alte Kalupp' paßt grad noch für ein' +Heustadel." + +Und wieder nickte Michael stumm. + +"Herrgott, bist du ein Stock!" stieß der Bauer heraus und ging +kopfschüttelnd und brummend aus dem Stall. Die Knechte lachten.-- + +Michael ging nach Feierabend zu seiner Mutter ins Gemeindehaus und +brachte ihr die Nachricht. Die alte Frau sah ihm nur in die Augen. +Dann sagte sie: "Ja ja, ist ja auch wahr, die alte Pfanningerin ist ja +auch älter als ich."-- + +Spät, nachdem seine Mutter längst schlief, zählte Michael sein +erspartes Geld. Zählte, zählte. Dachte, dachte. Rechnete, rechnete. + +Am andern Tag, während der Arbeit, hielt er manchmal inne und schaute +starr ins Leere. Des öfteren sah man ihn jetzt am Abend in die +Pfremdinger-Hütte gehen. "Was er nur immer beim 'Letzten Mensch' +anfängt, das Hornvieh!? Möcht wohl gar Häusler werden?" spöttelten die +Knechte, und Söllinger schaute dem fast furchtsam Davonschleichenden +mit finsterem Blick nach.-- + +Die Sterbeglocken klangen dünn durch die Luft. Mit dem alten +Pfremdinger ging es zu Ende. Die Pfanningerin, der Pfarrer--und +Michael Jürgert standen in der niederen Kammer um das Bett. Dann kam +noch die Jürgertin. + +Ganz zuletzt erst wälzte sich der Häusler nochmal herum. Schon drehten +sich seine Augen. + +"Er soll's haben, Hochwürden! Aber die Hälft' gehört der Kirch'!" +hauchte er schon röchelnd mit letzter Kraft heraus. + +"In Ewigkeit, Amen," murmelte sich bekreuzigend die alte Pfanningerin. +und der Pfarrer sah Michael an, nickte ihm zu. + +"Hab's denkt, daß er's kriegt, wenn er fleißig in die Kirch' rennt und +um den Pfarrer herumscharwenzelt recht bigott! Sowas tragt immer was +ein!" war ungefähr die übliche Bauern-Nachrede, als es verlautbarte, +daß Michael das Pfremdinger-Anwesen vom "Herrn Hochwürden zudiktiert" +bekommen habe. + +Acht Tage nach dem Begräbnis fuhr Michael auf einem Schubkarren die +spärliche Habschaft seiner Mutter ins Pfremdingerhaus und am +darauffolgenden Tag die Sachen der alten Pfanningerin ins Gemeindehaus. +Hinter manchem Fenster stand ein spöttischspitzes Gesicht und sagte +ungefähr: "Der hat's leicht. Kann sein Zeug auf dem Schubkarren fahren." + +Gut ein Vierteljahr war Stille. + +Wenn die Mäher beim Morgendämmern auf die Felder gingen, sang immer +schon die Sense Michaels unter dem flinken Schleifstein.-- + +Dann kam das Unglück. + +Die einzige Kuh, die im Jürgertstall stand, ging ein. Notschlachtung +mußte vorgenommen werden. + +Die Bauern kamen, musterten das Fleisch mißtrauisch, kauften, +schimpften: "Ob er vielleicht nicht wisse, daß die Suppenbeine als +Zuwag' dreingingen?" Und einige wieder sagten in beinahe mitleidigem +Tonfall: "Ja, mein Gott, Bauer sein ist nicht so einfach! ... Sonst +tät's ja jeder machen." + +Drei Wochen nachher begrub man die alte Jürgertin. + +"Wärst' Knecht geblieben, wär gescheiter gewesen," sagte Söllinger zu +seinem ehemaligen Knecht, "wenn's einmal angeht, hört's nicht mehr +auf."-- + +Michael stürzte sich in die Arbeit. Der Pfarrer kam ein paarmal ins +Haus, sah nach. + +"Eine Kuh halt, eine Kuh, Herr Hochwürden!" murmelte Michael hin und +wieder dumpf. + +"Der Herr hat's gegeben--der Herr hat's wieder genommen," antwortete +der Geistliche nur.-- + +Und Michael verkaufte Heu und die zwei letzten Säcke Korn. Droben auf +dem schmalen Streifen, über den Söllingerfeldern, hatte er dieses im +letzten Jahr noch gebaut. Vom Reinalther lieh er sich damals den +Fuchsen und den Pflug, ackerte. Und seine Mutter humpelte hinterdrein +und säte.-- + +Es war Ferkelmarkt in Greinau. Die ganzen Bauern aus der Umgegend +standen gruppenweise auf dem Platz vor der Gastwirtschaft "Zur Post", +handelten hartnäckig herum mit den Händlern und kauften endlich. Die +eingepferchten Jungschweine machten einen Heidenlärm, die Pferde +scharrten ungeduldig und wurden unsanft zurückgerissen. Die Wirtsstube +war vollbesetzt. Aus und ein ging man, redete, schmauste, und knarrend +und knirschend, in scharfem Trab, rollten die Wägelchen davon. + +Schüchtern kam tief am Nachmittag Michael an. Die Bauern stießen +einander, zwinkerten, tuschelten spöttisch. + +"Jesus! Jesus! Jetzt wird's besser, der Michl kauft Ferkel!" lachte +der pralle Postwirt aus einer Gruppe und alle richtetengeringschätzige +Blicke auf den Häusler. Schweigsam und scheu umschritt der die +Ferkelsteigen. Es wurde schon leerer auf dem Platz. + +"Paß fein auf, daß sie dir nicht im Sack ersticken, Michl!" warf der +Söllinger rülpsend auf den Wagen steigend Michel zu, als er sah, daß +dieser zwei lautgrunzende Jungschweine in seinen Sack zog. Sein +hämisches Lachen schnitt die Luft auseinander.-- + +Dämmer stieg schon von den Feldern auf. Nacht sickerte gelassen vom +Himmel. Michael schritt beschwerlich aus. Die Schweine rumorten +immerzu im Sack auf seinem Rücken. Er mußte fest zuhalten, daß ein +lahmer Krampf langsam in seine Arme rieselte. Aber die bogen sich wie +aus Eisen von der Brust über die Schulter.-- + +Die Schritte hallten vereinsamt. + +Stille.-- + +Jetzt waren auch die Schweine still geworden, ganz still. Auf einmal +merkte es Michael. Ein Schreck durchfuhr ihn. Jähe Mattigkeit fiel +bleischwer in seine Kniegelenke. Er rüttelte den Sack vorsichtig, fast +wie einer, der zwischen Hoffnung und Angst vor der Gewißheit schwankt +und nicht mehr aus noch ein weiß. + +Nichts. + +Er rüttelte stärker. + +Nichts.-- + +Inzwischen war er an der schmalen Brücke, nah vor dem Hügel angelangt, +auf dem das Söllingergehöft mit gelben Augen saß. + +Der Bach murmelte gleichmäßig versunken. + +Schweißtriefend zerrte Michael den Sack auf die Brücke, wollte--in +unseliger Verzweiflung blitzhaft an den Spott Söllingers denkend +--nachsehen. Da--da--wupp!--fiel der Sack in die Tiefe. Es platschte. +Breite Ringe warf das Wasser und jetzt plärrten plötzlich die Schweine +heulend auf. Es gurgelte etliche Male und war jäh grauenhaft still. + +Mit einem furchtbaren Aufschrei sprang Michael ins Wasser, tappte wie +ein schwimmender Hund ungelenk auf der Oberfläche herum, weinte, +hustete, tauchte, schrie, brüllte.-- + +Am ändern Tage fischten die zwei Knechte des Bürgermeisters den leeren +zerrissenen Sack mit den Heugabeln aus dem Wasser und spießten ihn auf +einen Zaunpfahl vor Michaels Häuschen. Dann klopften sie. Aber niemand +gab an.-- + +Das ganze Dorf lachte knisternd. + +Als man drei Tage niemanden aus--und eingehen sah beim Jürgert, schickte +Söllinger den Nachtwächter und Gemeindediener Peter Gsott hinaus. Der +klopfte wieder und wieder, drohte mit wütenden Flüchen, als niemand +angab und holte dann den Schmied zum Türöffnen. + +Die beiden fanden Michael in der Schlafkammer ganz starr auf dem +Bettrand sitzend und wie irr ins Leere glotzend. Einen Augenblick +zwang ihnen dieser Zustand Schweigen ab. Endlich sagte der Schmied: +"Was hast' denn, daß' dich einsperrst, Michl?" + +Aber der Angesprochene machte nur mit der Hand eine lahme, wegwerfende +Geste. "Deinen leeren Sack haben die Söllingerknecht' gefunden! Die +Ferkel selber sind ersoffen," sagte dann der Gemeindediener. Als beide +sahen, daß Michael beharrlich mit der gleichen Apathie antwortete, +gingen sie und meldeten dem Bürgermeister, daß der "spinnerte Kerl" +schon noch lebe. Er sei, meinten sie, nur ein wenig irr noch.-- + +Im Dorf ging daraufhin die Rede: "Der Michl hat's Spinnen angefangen +wegen der ersoffenen Ferkel." + +Michael sah man nur ganz selten seit diesem Vorfall. Höchstenfalls bog +er einmal scheu ums Hauseck und eilte dem Wald zu.-- + +Um diese Zeit kam zum Bürgermeister Söllinger eine seltsame Nachricht +aus Amerika, betreffend die Familie Jürgert und deren Nachkommen. Der +Bauer, der sich, wie er sich ausdrückte, "darin nicht rechtauskannte", +schickte zum Pfarrer und dieser entzifferte endlich, daß die Familie +Jürgert (Überlebende oder Nachkommen) infolge des Todes eines Bruders +des verstorbenen Vaters Michaels zur Generalerbin einer außerordentlich +hohen Hinterlassenschaft in barem Geld eingesetzt sei und den Betrag +von einer Bank in Hamburg einverlangen könnte, sobald der Nachweis der +Erbberechtigung erbracht sei.-- + +Als der Pfarrer, der selber ein wenig zitterte, dies dem Söllinger +auseinandersetzte, erbleichte dieser sichtlichund sank wie vom Schlag +getroffen in einen Stuhl. + +"Ruhig beibringen, ist das beste. Ich geh' selber zu ihm hinaus," +sagte der Geistliche nach einigem Schweigen, nahm seinen Hut, steckte +das Papier zu sich und begab sich zu Michael. + +Ins Haus getreten, bemerkte er diesen dösig neben dem Herd hockend, +und als der geistliche Herr in sanftem, vorsichtigem Tonfall seinen +Namen rief, sprang er plötzlich auf, schlüpfte, so schnell es nur +ging, furchtgepackt in das rußige Holzloch unter dem Ofen und gab +keinen Laut von sich. Eine gute Weile stand der Geistliche ratlos da. +Endlich fand er wieder zum Entschluß zurück. + +"Geh heraus, Michl," sagte er sanft, "wir wollen wieder eine Kuh kaufen +und Ferkel." + +Michael räkelte sich erst und schlüpfte dann vollends aus dem Loch. +Seine Blicke waren mit einer schmerzvollen Bitthaftigkeit auf den +Pfarrer gerichtet. + +"Und dein Häusl, Michl, das werden wir auch wieder richten lassen. Es +ist arg baufällig," ermunterte dieser den Zögernden. Und als Michael +endlich aufrecht stand, nahm ihn der Gottesmann mild am Arm und zog +ihn sacht hinaus ins Freie. + +Frische Frühe lag üher den Feldern. Die Wiesen dufteten schwer. Die +Sonne stieg langsam in die Mittagshöhe.-- + +Wie zwei Kranke schritten die beiden dahin. Der Söllinger wagte nicht +herauszutreten, als sie vorbeikamen. Er lugte nur schweigend durchs +Fenster. + +Im Pfarrhaus angekommen, sagte der Geistliche zu Michael: "Du mußt +jetzt eine Zeitlang bei mir bleiben. Die Marie wird dir ein Zimmer +einrichten, bis dein Häusl fertig ist. Bis dahin ist auch wieder +Viehmarkt in Greinau." + +Und als verstünde er von alledem nichts, als höre er nur eine +erleichternde Melodie aus den Worten, stand Michael da und schwieg. +Allmählich glättete sich sein bangvolles Gesicht und eine aufatmende +Ruhe glänzte in seinen Augen. + +Drei stille Wochen glitten him. Jeden Tag saßen die zwei zusammen in +der Pfarrstube oder gingen wohl manchmal im Garten umher. Langsam +wurde Michael ruhiger. Aber von Zeit zu Zeit konnte man ein böses +Aufblitzen auf seinem knöchernen, schweigend gefalteten Gesicht +wahrnehmen. Die väterliche Arglosigkeit seines Pflegers aber machte +ihn nach und nach etwas zutraulicher und offener. Manchmal des Abends, +wenn der Geistliche aus einem Betbuch laut einige Stellen vorlas, hob +der Häusler den Kopf und lauschte sichtlich aufmerksamer. Ein +friedlicher Hauch hob Stück für Stück von dem Feindseligen ab, das +hinter den Falten brütete, und lebendiger kreisten seine Augen. + +Endlich nach einem Monat eröffnete der Pfarrer seinem Pflegling die +Nachricht aus Amerika. + +Michael hörte stumm zu. Er schien anfänglich nicht zu begreifen. Dies +erkennend, legte der Geistliche das Papier auf den Tisch. + +"Du bist jetzt ein reicher, sehr reicher Mann geworden, Michl," sagte +er, "du kannst dir hundert Kühe kaufen, ein Haus und soviel Ferkel, +als du willst. Es ist von jetzt ab keiner mehr im ganzen Umkreis, der +nur ein Drittel soviel Geld hat wie du. Begreifst du? Gott hat dir +geholfen. Es geht alles seinen gerechten Gang, wenn er es will." + +Michael schien die letzten Worte nicht mehr zu hören. Seine Augen +waren auf einmal weit geworden. Eine Gier flackerte in ihnen und der +ganze Ausdruck seines Gesichts war plötzlich völlig verändert. + +"Ich--ich kann also auch das Söllingerhaus und das vom Reinalther +kaufen?" fragte er hastig und gedämpft. + +"Das kannst du, wenn sie wollen," nickte der Geistliche, "du kannst +zehn solche Häuser kaufen, wenn du willst." + +"Zehn....!?" stieß Michael lauernd heraus und bohrte seine Blicke in +die Augen des Pfarrers. + +"Es ist sehr viel Geld," gab der zurück. + +"Und," fuhr Michael noch leiser, fiebernd vor Unruhe, scheu, als +lausche an den Wänden irgendein ungebetener Gast, fort: "Und ich +krieg' das ganze Geld in die Hand. Ich brauch' nur schreiben lassen?" + +"Ja, wenn Du willst." + +"Ja ...!! Ja, gleich! Gleich! Ich will!" schrie Michael verhalten. + +"Gut," sagte der Pfarrer und ging an den Tisch, "ich schreibe." + +"Und ... und die Häuser vom Söllinger und--und vom Reinalther?" fragte +Michael beharrlich. + +"Die ...? Ich kann mit ihnen reden," antwortete der Geistliche, während +er schrieb. Dann ließ er Michael unterzeichnen.-- + + +II. + +Im Dorf ging ein Schweigen um. Langsam verbreitete sich die Kunde von +Michaels Erbschaft. Betroffenen Gesichts raunten sich die Bauern die +Neuigkeit zu.-- + +Der Baumeister von Greinau, Michael Lindinger mit Namen, wurde ins +Pfarrhaus geladen. Michael lächelte schräg, als der Mann eintrat und +beauftragte ihn, einen Plan für ein neues Haus zu bringen. Trotz der +Einwendungen des Pfarrers wurde der Umbau des alten Anwesens abgelehnt. + +Michaels Rede war jetzt sicher geworden, fast bestimmt. + +"Ein neues Haus muß her!" sagte er beharrlich. + +Und der andere Michael erwiderte pfiffig: "Ja--schon lieber was Neues +als Flickwerk. Das taugt ein paar Jahr', dann geht's wieder von vorn' +an." + +Diese Beipflichtung entwaffnete den Geistlichen. Der Plan wurde +gefertigt. Der Auftrag gegeben. Die ehemalige Pfremdinger-Hütte +krachte zusammen mit allem, was sie barg. So hatte es Michael +gewünscht, steif und fest. Alles Dawider des Pfarrers nützte nichts. + +Krachte zusammen. + +Und die Dörfler standen herum, schwiegen, staunten, starrten. Vom +Pfarrhausfenster aus überschaute Michael den Vorgang. + +Auf einmal begann der Hausrist zu wanken, bröckelte, krachte. Die +Herumstehenden rannten auseinander und zuletzt war minutenlang eine +ungeheure Staubwolke. Dann, als es wieder lichter geworden war, lag +ein riesiger Trümmerhaufen da. + +Deutlich sah Michael, wie einige die Köpfe schüttelten. Eine Weite +dehnte seine Brust. + +"Das ist nicht recht," rief der Pfarrer hinter ihm. Michael hatte ihn +nicht eintreten hören und riß sich erschrocken herum. Reglos und stumm +standen sich die beiden gegenüber.-- + +Seitdem begegnete Michael seinem Pfleger mit verstocktem Schweigen. +Mied ihn.-- + +Der Bau wurde begonnen. Jeden Abend kam Lindinger ins Pfarrhaus und +berichtete über den Stand, machte Vorschläge, legte Rechnungen vor. + +Sein fast beteuerndes, sich immer wiederholendes: "S'ist wahnwitzig +teuer, die Sach', wahnwitzig teuer," ließ Michel lächeln. + +"Macht nichts, macht gar nichts," erwiderte er stets. + +"Ja--es ist gut, daß' wieder Arbeit gibt," meinte dann der +Maurermeister meistens und ging. Kaum war er draußen, schrumpfte +Michaels Gestalt im Lehnstuhl zusammen. Das Kinn schob sich vor. Nur +die Pupillen kreisten im Raum.-- + +An einem der Abende, als eben der Maurermeister das Zimmer Michaels +verlassen hatte, trat der Pfarrer ein. Michael erhob sich und wandte +ihm den Rücken zu.-- + +"Gelobt sei Jesus Christus!" brachte der Geistliche nach einigem +Schweigen heraus. + +Ohne sich umzuwenden, nickte Michael. Dann ging er ans Fenster, +deutete in die Talmulde, die der erste Mond silbern bestrich. + +"Hähähä--hä! Wird hoch der Turm, hoch!" keuchte er, reckte den Kopf +störrisch vor, nahe an die Scheibe: "Wenn man ganz droben ist, müssen +schon die Wolken angehen!" + +Unschlüssig stand der Geistliche. Schwieg. + +"Zum Söllinger kann ich hinunterschaun und aufs ganze Dorf!" redete +Michael weiter, ohne ihn zu achten. + +"Die zwei Kirchenfenster?" fragte endlich der Geistliche fast +schüchtern und hielt plötzlich mitten im Wort inne, als sich Michael +nunmehr hastig umwandte. + +"Zwei ...?! Sechs! Sechs Fenster ...--und neue Glocken, damit ich's +hör' in der Früh!" überflügelte dieser ihn, "da muß die Luft zittern, +wenn die läuten!--Schafft sie an! Morgen! Gleich! Gleich! Und drei +neue Meßgewänder!--Müssen fertig sein zum Jahrtag meiner Mutter! +Bestellt's! Bestellt's auch gleich!--Gleich!" + +Wie von einem wilden Strudel dahergetragen stürzten die Worte +heraus.-- + +Mit sehr ernstem Gesicht verließ der Pfarrer fast traumwandlerisch das +Zimmer. Lange noch hörte ihn die Marie im Zimmer auf- und abgehen und +laut beten. + +Klare, kalte Märztage zeigten das hereinbrechende Frühjahr an. + +Michael ging manchmal aus. Selten suchte er den Bau auf. Nie beschritt +er ihn. Immer bog er scheu ums Dorf und stapfte auf die Sandgrube zu, +aus der man den Kies für sein Haus holte. Es schien ihn dort etwas zu +interessieren. Er stand meistens oben am Rand und überschaute die +zackige Mulde. + +Böhmen und Italiener arbeiteten auf Taglohn dort und sprengten hin und +wieder einen Felsen, wenn an einer Stelle der Kies ausging.-- + +Eben lud man wieder. Michael war ganz nah herangekommen, stand wie +witternd, mit spähendem, vorgebeugtem Kopf da und sah aufmerksam auf +jede Bewegung des Lademeisters. + +"Und das--das reißt alles ein?--Mit einem Krach?" fragte er diesen +gespannt. Der Mann nickte und murmelte ein paar unverständliche Worte. + +Dann entzündete er ein Streichholz und steckte die Zündschnur an. +Alles rannte aus der Grube, wartete bis es knallte. + +Als dies geschehen war und die Leute wieder in die Grube zurückgingen, +sah man Michael im Türrahmen des Werkmeisterhauses stehen. Er ließ +sich das Pulver zeigen, rieb es merkwürdig lange auf seiner flachen +Hand und sagte harmlos zum Werkmeister: "Und so ein Staub hat's +drinnen, daß alles in die Luft fliegt?--Hm--hm--hm!" Ging wieder.-- + +Der Nachtwächter Peter Gsott glaubte bemerkt zu haben, daß eine +männliche Gestalt am Rand der Sandgrube auftauchte, sich schwarz vom +bleichen Mondhimmel abhob, dann aber plötzlich, wie in den Erdboden +gesunken, verschwand. + +Der Werkmeister schimpfte die Sprenger, daß sie soviel Pulver +brauchten. Es entstand ein Streit. Ein Italiener brüllte, daß die +ganze Grube hallte. Auf einmal kam man ins Handgemenge. Ein +furchtbares Raufen entstand. Der Werkmeister bekam einen Schlag auf +den Kopf und mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Am ändern Tag +verhafteten die Gendarmen von Greinau zwei Böhmen und einen Italiener, +der beim Söllinger auf der Tenne logierte. Er hatte sich im +Taubenschlag verkrochen und als man ihn herunterholte, stieß er +furchtbare Drohungen auf den Bürgermeister aus, die aber niemand +verstand. Anscheinend glaubte er, die Leute hätten ihn verraten. + +Michael begegnete der Haftkolonne und sah sich die drei Burschen sehr +genau an. Später trat er ins Bürgermeisterhaus und öffnete die +Stubentür hastig. Der Söllinger war im Augenblick so erstaunt, daß er +förmlich aufschrak und kein Wort fand. Säulenstarr stand er da und +heftete seinen Blick auf den nähertretenden Michael. Gemessen kam +dieser heran, ganz nahe und eine ungeheure Spannung lag in seinem +Gang. + +"Gibst dein Haus nicht her?" fragte er den stummen Bauern lauernd. + +"Nicht?" wiederholte er, als der verneinte und maß ihn scharf von der +Brust bis zur Stirn. + +"Ich ...!?" fand endlich der Söllinger das Wort. + +"Ja?" + +"Solang ich leb' nicht!" schrie der Bürgermeister schroff, als wolle +er sagen: "Was willst denn du auf einmal bei mir?" + +"Es paßt mir nicht vor meinem Turm," sagte Michael tonlos und spröde +und lächelte höhnisch in sich hinein. Draußen, vor der Tür, hörte er +noch den Schlag der Söllingerfaust auf die Tischplatte. + + +III. + +Richtig, der eine von den Böhmen lud damals den Felsen, erinnerte sich +Michael. Und der Italiener, der aus Söllingers Taubenschlag geholt +worden war, stand neben ihm, als es krachte. Dem konnte man nichts +nachweisen und mußte ihn nach vier Tagen wieder aus dem +Amtsgerichtsgefängnis entlassen. Nun strolchte er mit finsterem +Gesicht herum, und da bei den Bauern von alt her der Aberglaube +herrschte, daß solche Kerle mit ihren Verwünschungen kraft einer +innewohnenden dämonischen Macht Schaden und Unglück anrichten könnten, +so wagte keiner etwas gegen sein Kampieren in Heustädeln und Tennen +einzuwenden.-- + +An einem Aprilnachmittag traf ihn Michael auf der Waldstraße, ging +entschlossen auf ihn zu und sprach ihn an. + +"Habt's keine Arbeit mehr kriegt?" + +Offenbar verstand der Angesprochene dies, denn er nickte finster. + +"Geht's zu meinem Bau. Verlangt's den Lindinger und sagt's, ich hab +Euch geschickt," sagte Michael. + +Am ändern Tag schleppte der Italiener auf dem Bau Mörtel.-- + +Das Haus wuchs. Der Turm der Vorderfront bedurfte nur noch des +Dachstuhls. Beim Söllinger wurde eingebrochen. Man nahm wieder den +Italiener fest, obwohl ihn niemand angezeigt hatte. Da man ihm aber +nichts nachweisen konnte, entließ man ihn abermals. Michael traf ihn +am Pfarrhaus, nickte schon von weitem grüßend und hatte ein Lächeln +wie ungefähr: "Gut so!" Und wieder arbeitete der Italiener auf dem +Bau, finster gegen jedermann, verschlossen und wortkarg, nur etwas +aufgetaner zu Michael.--Die Kirche war nun jeden Sonntag drückend +voll. Die sechs Fenster strahlten ihren vielfarbigen Prunk über die +Köpfe der Betenden. Einen Monat später erschollen die neuen Glocken +erstmalig. Und in der Luft schwang ein Surren weithin. Wenn man jetzt +Michael sah, lag über seinem Gesicht etwas wie ein leuchtender, +verschwiegener Triumph. + +Der April zerging in Regen, Schneegestöber und flüchtigen Sonnentagen. +Die ersten Maitage ließen die grauweißen Wände des Neubaus sehr +schroff leuchten. Man konnte Michael manchmal mit dem Baumeister durch +die Räume schreiten sehen. Die Schreiner brachten Möbel. Es ging dem +Vollenden zu. + +Es war wahr, was der erste Knecht vom Reinalther sagte: "Einen solchen +Stall trifft man so schnell nicht mehr." Und: "Eine Lust müsse es +sein, dort zu arbeiten." + +Aber der Söllinger warf verächtlich hin: "Was hilft ihm das schöne +Haus und alles, wenn er kein Grundstück hat!" + +Und aus den Reden der Dörfler am Biertisch konnte man deutlich +heraushören, daß keiner bereit war, auch nur ein Tagwerk von seinen +Gründen abzugeben. + +"Unser Heu bleibt unser Heu," sagte der Gleimhans. Und alle nickten. + +"Der kommt schon und will einen Grund!--Aber da bleibt ihm der +Schnabel sauber!" brummte der Reinalther. + +Der Söllinger blickte düster drein und schwieg.-- + +Pfarrer und Ministrant gingen mit Michael durch die Räume des neuen +Hauses, beweihräucherten und besprenkelten alles. Eine Woche später +trieben drei Viehtreiber wohl an die zwanzig Kühe auf der Straße von +Greinau her ins Dorf und lieferten sie bei Michael ab. Der wohnte +schon vier Tage in seinem Haus. Zwei fremde Mägde, ein Knecht und +jener Italiener, den man von der Sandgrube davongetrieben und +verhaftet hatte, waren da. Und Heufuhren kamen an. Ganz fremde +Gesichter blickten von den leeren Wagen herunter, die durchs Dorf +ratterten. + +"Wenn er jeden Pfifferling kaufen muß, wird die Herrlichkeit bald ein +End' haben," brummten die Bauern, "mit den paar lumpigen Wiesen kann +er grad' eine Kuh füttern." + +Nach etlichen Wochen kam eine Magd Michaels zum Reinalther und zum +Gleimhans und richtete aus, die Bauern sollten zu ihm kommen. + +"So--!? Sonst nichts....?!" rief der Reinalther höhnisch und schaute +das dralle Frauenzimmer hämisch an, "sagst, er soll sich einen ändern +Dummen suchen!" + +Und--: "Der hat grad so weit zu mir her!" fertigte der Gleimhans die +Botschaftbringerin ab.-- + +Gleichsam, als hätte man sie ohne jeden Grund persönlich beleidigt, +kam die Magd zurück und berichtete Michael das Verhalten der beiden +Bauern. + +"Geh!--Ist schon gut!" schnitt dieser ihr das Wort ab, als sie +gesprächiger werden wollte. Seine Züge veränderten sich nicht. Nur +seine Augen glommen einmal funkelnd auf.-- + +In der Wirtsstube Simon Lechls herrschte diesen Abend ein belebteres +Gespräch. + +"Jetzt wird er langsam angekrochen kommen und Gründ' wollen," brummte +der Reinalther. + +"Da kann er alt werden!" erwiderte der Gleimhans. Und alle nickten. +"Mit seinem Geldhaufen ist er gar nichts!" sagte der Lechlwirt: +"Gründ' machen den Bauern!" + +"Das ist's!" bestätigte der Söllinger. + +Und wieder nickten alle.-- + + +IV. + +Die Jahre verstrichen. Das kahle, grell leuchtende Haus am Waldrand +nahm mehr und mehr eine verwitterte Farbe an. Bisweilen, wenn die +Scheune leer war, sah man die schwarze Kutsche Michaels in scharfem +Trab aus dem Dorf rollen, Greinau zu. Vorne auf dem Bock saß der +Italiener mit finster gefaltetem Gesicht und schaute nicht nach links +und nicht nach rechts. + +An den darauffolgenden Tagen knarrten dann meistens schwerbeladene +Heufuhren auf der Greinauer Straße daher und fuhren durchs Hoftor +Michaels. + +"Nette Wirtschaft!" brummten die Bauern: "Jeden Büschel Futter muß er +kaufen!" Und halb war es Mißmut, halb Schadenfreude, was auf ihren +Gesichtern stand. Die Ernten in dieser Gegend waren mehr als +überreichlich. Die Aufkäufer, die aus der Stadt kamen, hatten es +leicht und konnten anmaßend sein. Sie minderten die Preise, wo und wie +immer es nur ging. Die Transportkosten his zum Bestimmungsort mußten +die Bauern tragen. Es kostete stets einen ganzen Tag Zeit, wenn ein +Dörfler seinen verkauften Hafer, sein Korn oder Heu nach Greinau auf +den Bahnhof fuhr und dort in den Waggon lud. In die "Ferkelburg" aber, +wie man Michaels Haus nannte, fuhren fremde Heuwagen!-- + +Michael war fast nie zu sehen. Er saß in seiner Turmkammer und sann. +Grübelte, als warte er auf etwas. Gleichmäßig und ereignislos verlief +die Zeit. + +Durch irgendeinen findigen Kopf angeregt, war die ganze Dörflerherde +um Greinau darauf gekommen, daß eine Eisenbahnlinie gerade in dieser +Gegend notwendig sei. Eine Vereinigung bildete sich, wurde "Lokalverband +der Eisenbahninteressenten" genannt. Eine Eingabe um die andere +bestürmte das Ministerium. Die Regierung nahm endlich Kenntnis davon, +der Landtag sprach sich befürwortend aus. Die Eisenbahnlinie wurde +genehmigt.-- + +Michael verfolgte die Berichte im "Greinauer Wochenblatt" eifrig. Man +sah ihn jetzt öfters am Gemeindekasten vor dem Bürgermeisterhaus +stehen und die Anschläge lesen. Vom Söllingerhügel aus konnte man das +ganze hingebreitete Land übersehen. + +Da stand er auch. + +Und nicht selten. Oft sogar lange.-- + +An jenem Tag, da die amtliche Bekanntmachung von der Genehmigung der +Eisenbahnlinie angeschlagen war, wandte er sich behend, wie von einer +verhaltenen Freude ergriffen, herum und überblickte die Weiten. + +"Hm!--Jetzt!" stieß er plötzlich heraus, nickte etliche Male und ging +zuversichtlicher von dannen. + +Erst nachdem er in der Tür der Ferkelburg verschwunden war, trat der +Bürgermeister aus seinem Haus und heftete die Bekanntmachung der +großen Versammlung im Gasthaus "Zur Post" in Greinau in den Kasten. + +Am darauffolgenden Sonntag war der Tanzsaal der Postwirtschaft zum +Bersten voll. Die Bauern aus der Ganzen Umgebung waren zusammengeströmt. +Die bejahende Entschließung der Regierung wurde bekanntgegeben. Die +ganze Versammlung brüllte und klatschte begeistert. + +"Eine Bahn muß her!" erscholl von allen Seiten. Es gab schwere +Räusche.-- + +Schon nach einer knappen Woche erschienen die Vermessungsbeamten im +Dorf und wurden mit ehrwürdiger Neugier empfangen, durchschritten die +Felder, steckten weiß-rote Stangen auf, kamen immer näher an die +Häuser heran, zogen eine Linie durch Reinalthers Garten, über das +Gehöft Söllingers hinweg.-- + +Die Hände in den Hosentaschen, schweigend und gewichtig, sahen ihnen +die Bauern erst zu. + +"Also so ging's?" fragte der Gleimhans einen Vermesser. + +"Jawohl, ganz so," erwiderte dieser und war schon wieder weiter. + +"Hm!" brummte der Gleimhans, hob den Kopf und sah den Reinalther +verwundert an. + +"Müßt also mein halber Garten weg?" sagte dieser und sah den Geometern +nach. Die entfernten sich mehr und mehr. Weiter ging es--über das +Gehöft Söllingers hinweg. + +"Hoi--Hoi! Da wär demnach das ganze Bürgermeisterhaus im Weg!" stieß +jetzt der Reinalther fast entsetzt heraus und sah betroffen, mit +offenem Maul, auf Gleimhans. + +"Das wird sauber!--Gibt's nicht!" schrie dieser wütend und straffte +seine Gestalt. + +"Und--schau nur!--durch meine schönsten Gründ' gings'!" rief der +Reinalther, als eben die Vermesser die Linie durch seine Weizenlande +zogen, fäustete seine Hände drohend und polterte gleichfalls: "Gibt's +nicht!" + +Und auf der Stelle gingen die beiden zum Söllinger hinauf und erhoben +lebhaften Einspruch gegen dieses Vermessen. + +"Dein Haus soll weg! Dein Haus, Söllinger! Und unsere schönsten Gründ' +wollen's!" schrie der Reinalther aufgebracht. Und der Gleimhans, der +sich schon wieder ermannt hatte, sagte drohend: "Sollen kommen und mir +durch meinen Acker bauen!" + +Der Bürgermeister war wutrot his hinter die Ohren, schlug gewaltig in +den Tisch und rief ebenfalls: "Gibt's nicht! Gleich morgen fahren wir +zum Bezirksamtmann!" + +Als die beiden Bauern aus dem Bürgermeisterhaus traten, stand Michael +am Rande des Hügelrückens und sah den Vermessern gespannt nach. + +"Hm,--der Michl!" brummte erstaunt der Reinalther. + +"Den freut's, weil's ihm keine Gründ' nehmen können!" stieß der +Gleimhans wütend heraus.-- + +Das ganze Dorf war am nächsten Tag in Aufruhr. Man riß überall die +weiß-roten Stangen heraus, zerbrach sie. In aller Frühe schon fuhren +Söllinger, der Gleimhans und Reinalther nach Greinau zum Bezirksamtmann +und verlangten schimpfend eine sofortige Regelung der Angelegenheit. +Sie schrien, fluchten und drohten zuletzt auf das gefährlichste. Der +Bezirksamtmann rannte erregt in seinem Arbeitszimmer auf und ab, +gewann aber dann die Ruhe wieder und zuckte mit den Achseln: "Ja, +meine Herren, wenn keiner durch seinen Acker die Linie laufen läßt, +dann gibt es eben keine Bahnstrecke!" + +"Wir pfeifen auf eine!" riefen die drei Bauern zugleich. + +Der Bezirksamtmann machte ihnen klar, daß der Beschluß der Regierung +nicht rückgängig gemacht werden könne, daß doch angemessen entschädigt +werde und daß "die Herren der betreffenden Instanzen doch keine +Kindsköpfe seien und doch--" + +"Das ist uns gleich! Die Bahn kommt nicht! So nicht!" fuhr ihm der +Söllinger ins Wort und vertrat starrköpfig den Standpunkt seiner +Begleiter. + +Schließlich nach langem Hin und Her wurde beschlossen, eine Versammlung +der "Eisenbahninteressenten" einzuberufen.-- + +Bis auf die Straße heraus standen am nächsten Sonntag die Bauern, die +sich beim Postwirt in Greinau zusammengefunden hatten. Zeitweilig +entstand ein gefährliches Gedränge nach der Saaltür. Furchtbar +stürmisch ging es zu. Ein Regierungsvertreter war erschienen. Er wurde +niedergeschrien, als er betonte, daß "wenn die Abgabe der Gründe nicht +gutwillig geschähe, einfach abgeschätzt würde." + +Einfach abgeschätzt!--Einfach abgeschätzt!!! Was sollte denn das heißen? +Etwa gar, daß einem einfach die Äcker genommen würden!? + +Die Bauern wurden wild, standen auf, richteten sich drohend gegen die +Tribüne. Die auf der Straße Stehenden zwängten sich gewaltsam herein. + +"Gibt's nicht!" schrie der ganze Chorus. Ein ungeheurer Lärm erhob +sich. Alles machte Miene anzugreifen. Der Bezirksamtmann fuchtelte +völlig ratlos mit den Armen. Der Assessor schwang wehrlos die Glocke. +Es half alles nichts. Der Lärm wurde nur noch ärger. + +"'naus!--'naus! 'naus aus unserm Gau!" brüllte der ganze Saal. Saftige +Grobheiten flogen den Herren da droben an den Kopf. + +Als nichts mehr auf die tobende Schar einwirken konnte, schrie der +Bezirksamtmann heiser: "Die Versammlung ist geschlossen!" und +verschwand eiligst mit dem Herrn von der Regierung. Die rebellischen +Bauern wurden allmählich wieder ruhiger, betranken sich weidlich und +hielten die Sache für gewonnen. + +Ohne besonderen Zwischenfall verliefen die nächsten Tage.-- + +In seinem Turmzimmer ging Michael auf und ab, blieb hie und da stehen, +hob rasch den Kopf und lächelte schmal. Und früh am Morgen, him und +wieder, schritt er üher die nebeligen Felder.-- + +Inzwischen wurde der Bau der Eisenbahn im Landtag zum Beschluß erhoben. +Soweit ließ man sich noch ein, daß man Söllingers Haus umkreiste. +Dafür aber lief jetzt die Linie durch seine besten Getreideäcker. +Und war beschlossene Sache! Nächstes Frühjahr sollte die Strecke in +Angriff genommen werden. + +Beim Söllinger liefen die amtlichen Schriftstücke über die +abzutretenden Grundstücke ein. Die Bauern standen vor den Anschlägen +mit verbissenen Gesichtern, brummten und fluchten. Eine furchtbare +Erbitterung hatte das ganze Dorf ergriffen. Aber es half alles nichts. +Alles nichts! + +Und die Schätzpreise waren spottniedrig. + +Es gab kein Zurück mehr. Mißmutig fügten sich die Bauern. + +"Eine Bahn! Eine Bahn! hat alles geschrien!--Jetzt haben wir's!" +polterte der Gleimhans beim Lechl; "ich hab's immer schon gesagt: es +kommt nichts Besseres nach! Wo man mit der Regierung zu tun hat, ist +Schwindel!" + +Und die anderen, die am Tisch saßen, sahen ihn finster an. Finster und +besiegt, überlistet und ratlos. + +"Müssen ja doch! Hilft uns alles nichts!" brummte der Reinalther und +spuckte wütend aus. Und manchmal sagte ein Verärgerter: "Ach was,--ich +verkauf mein ganzes Zeug dem Jürgert und mach' ihm einen saftigen Preis! +Dann kann der sich mit der Regierung herumstreiten!" + +Kaum einer--so schien es--hörte darauf. Aber dann wiederholte es sich +des öfteren. Schüchtern klang es erst. Allmählich erzeugte es +nachdenkliche Gesichter und dann--dann sah man eines Tages den +Reinalther aus der "Ferkelburg" herausgehen. Keiner fragte nach dem +Grund dieses Besuches. Zwei-, dreimal wiederholte er sich und wieder +einmal fuhr die schwarze Kutsche aus dem Tor der "Ferkelburg". +Reinalther und Michael saßen hinten drinnen, der Italiener auf dem +Bock. Es ging Greinau zu. + +"Warum hast deine Alte nicht mitgenommen?" fragte Michael im +Dahinfahren. + +"Brummt und brummt bloß! Hat keinen Verstand für so was!" antwortete +der Bauer mit leichtem Ärger. + +"Hat's doch schön jetzt! Kann sich in die Stub'n sitzen und +privatisieren!" meinte Michael fast ermunternd. + +"Freilich! Das hab ich ihr doch schon hundertmal gesagt! Aber sie +meint halt immer: 'Der Feschl! Der Feschl--wenn er von der Fremd' +kommt--könnt' eine schöne Metzgerei aufmachen und hat jetzt auf einmal +keine Heimat mehr!" redete der Reinalther in die Luft, als spräche er +mit sich selbst. + +"Aber Geld hat er! Einen Batzen Geld!" erwiderte Michael darauf. Und +der Bauer nickte: "Das mein' ich eben auch!" + +Nachdem sie das Notariat verlassen hatten, lag auf Michaels Gesicht +eine freudig erregte Farbe. Er lud den Reinalther sogar zu einem +richtigen Schmaus ein und der wurde nach dem zweiten Krug schon +gesprächig. + +"Wären noch andere im Dorf, die ihr Zeug anbringen möchten, sag ich +dir, Michl, brauchst dich bloß dranmachen," schwatzte er vertraulich +über den Tisch. + +"Brauchen bloß kommen,--alle nimm' ich!" gab ihm Michael zurück. + +Über Reinalthers Gesicht huschte eine wohlige Röte. Offen und richtig +freundschaftlich betrachtete er seinen ehemaligen Knecht. + +"Weiß dich noch, wie'st mein Knecht warst, Michl," erzählte er, +"hätt'st dir auch den Buckl krumm gearbeit', wenn dein Amerikaner +nicht ins Gras 'bissen hätt'!" + +Und Michael nickte und schloß mit einem: "Jaja, so ist's auf der Welt +hie und da!" Dann fuhren sie wieder ins Dorf zurück. + +Der Reinalther durfte in seinem Haus bleiben und saß von jetzt ab Tag +für Tag beim Simon Lechl in der Wirtsstube. Oft kam er angeheitert +nach Hause. Dann brummte sein Weib: "Wirst noch grad so wie der +ersoffene Jürgert." + +"Hab'ns doch, Alte! Hab'ns doch!" gröhlte dann der Bauer bierselig +heraus.-- + + +V. + +Wie immer bei solchen Gelegenheiten, griff die Veränderung der Sachlage +mehr und mehr in das Leben eines Teiles der Dörfler ein. Die Kleinhäusler +fristeten hierzulande ein hartes Dasein. Ihre kärglichen Feldstreifen +trugen wenig. Jeder von ihnen war gezwungen, zur Erntezeit und während +des Winters, beim Holzen, bei den Bauern auf Taglohn zu arbeiten. Dieser +Verdienst war, wie man sich auszudrücken pflegte, "zum Leben zu wenig +und zum Sterben zu viel." + +Diesen Leuten kam der Bahnbau gelegen. Es gab erträgliche Löhne dort. + +"Da hab ich meinen Batzen Geld, basta!--Und brauch' nicht bitten und +betteln bei den Bauern," äußerte sich der Fendt, dessen baufällige Hütte +am Dorfausgang stand. "Ich bleib' überhaupt nicht mehr da," sagte der +Rieminger, "ich verkauf mein Häusl dem Jürgertmichl und mach' eine +Wäscherei auf in der Stadt. Da hab' ich auf niemand aufzupassen!" + +Und so geschah's auch. + +Kaum ein halbes Jahr rann him, da hatte Michael auch das Fendthäusl +und den baufälligen Reishof gekauft. Die beiden Häusler bekamen eine +saftige Summe und konnten in ihren Häusern bleiben. Michael verlangte +nicht einmal Mietzins von ihnen. Das trug sich herum von Ohr zu Ohr. +Mit einer gewissen Achtung sprach man davon.-- + +Der Bahnbau war in vollem Gange. Durch Gleimhansens Äcker trampelten +die Arbeiter, dicht hinter dem Söllingergehöft, in den Weizenlanden +wühlten sie den Kot aus der Erde. Mit verbissenen Gesichtern schauten +die Bauern auf ihre verwüsteten Äcker. Viel Fremdvolk war unter den +Arbeitern. Italiener und Böhmen. Es gab Einbrüche, nächtliche +Raufereien und Messerstechereien.-- + +Die Söllingerin bekam die letzte Ölung. Nach einigen Tagen starb sie. +Das ganze Dorf und viele Bauern aus der Umgebung standen um das Grab. +Die Glocken trugen ihr Läuten durch die Luft. + +Der Reinalther sagte beim Leichenschmaus im Wirtshaus zum Söllinger: +"Was hast' von dei'm Leben, Bürgermeister? Deine zwei Söhn' sind ja +doch schon städtisch, da will keiner mehr an die Mistgabel und an den +Pflug!" + +Finster sah der Söllinger ins Leere und erwiderte kein Wort. Seine +zwei Söhne, der Martin und der Joseph, saßen da und schwiegen +gleichfalls. Zwei flotte Burschen waren sie, sahen gar nicht mehr +bäurisch aus, studierten in der Stadt und hatten runde, selbstbewußte +Gesichter, auf denen ein überheblicher Stolz glänzte. + +Der Bürgermeister stand auf einmal auf und ging. + +Es war Erntezeit. Die Straße führte an den ehemaligen Reinaltherfeldern +vorbei und an der Breite des Ignatz Reis. Da arbeiteten die Knechte +Michaels und der Italiener beaufsichtigte sie. Er war ein schweigsamer, +finsterer Geselle mit unheimlich tiefglimmenden Augen. Wenn er wo +auftauchte, griffen alle unwillkürlich hastiger zu. Der Söllinger blieb +einen Augenblick stehen, biß die Zähne aufeinander und schlug, +weitergehend, den Hirschgriffstock fester auf den Boden.-- + +Den Michael sah man jetzt tagsüber fast nie. Nur am Abend stelzte er +üher den Söllingerhügel, blieb manchmal stehen und sah wie prüfend der +Bahnlinie nach. Gebückt ging er. Er trug meistens einen breiten Mantel +und hielt einen Stock in der Rechten. + +Manchmal wenn ein Heimkehrender an ihm vorbeiging, lag ein verglommenes +Lächeln auf seinen faltigen Zügen. Plötzlich aber verfinsterten sie sich, +sein Kopf senkte sich und hastig trottete er weiter. + +Einmal traf es sich, daß er dem Söllinger begegnete. Er blieb fest +stehen und sah dem Bauern lauernd in die Augen. Es war gerade an der +Stelle, wo der Bahndamm sich hob, nah' am Bachbrücklein. + +"Grad' deine schönsten Äcker haben's hergenommen," sagte Michael. + +"Hm!" nickte der Bürgermeister und wußte nicht, wo er hinschauensollte. + +"Wirst alt jetzt, Söllinger! Gib's her, dein Anwesen!" begann Michael +wieder. + +Der Bauer schüttelte nur den Kopf störrisch und ging wortlos weiter. +Aber dieses Mal sah Michael noch tief in der Nacht die Stubenfenster +im Bürgermeisterhaus leuchten. + +Einige Tage später geriet der Heustadel hinter dem Söllingerhof in +Brand und nur mit Mühe konnte die Feuerwehr das Überschlagen der +Flamme aufs Bauernhaus verhindern. + +Der Italiener Rotti und der Böhme Zdrenka hatten es auf die +Bürgermeister-Magd abgesehen. In einer Nacht erstach der Böhme den +Italiener. Zwei Gendarmen von Greinau kamen. Unruhig wurde es im +Söllingerhaus. + +Der Bürgermeister schlug wütend auf den Tisch: "Ich mag nicht mehr!" +Und resolut rannte er zur Tür hinaus, geradewegs auf die "Ferkelburg" +zu. + +Michael empfing ihn freundlich und ruhig. Er bot eine Summe, daß der +Bauer seine Augen weit aufriß. + +Der Handel kam zustande. + +Der Söllinger gab sein Bürgermeisteramt auf und zog zum Schmied. + +"Verkauf deine Kalupp'!" sagten jetzt jeden Abend der Reinalther und +er in der Lechlstube zum griesgrämigen Gleimhans. + +"Hast deine Ruh' und einen schönen Batzen Geld und der Michl läßt dich +drinn, solang als du willst!" bekräftigte der Lechlwirt. + +"Solang' ich leb, nicht!" gab der Gleimhans einsilbig zurück und +schüttelte beharrlich den Kopf.-- + +Michael kaufte das Schmiedanwesen. Der Schmied zog in die Stadt.-- + +"Kauft das ganze Dorf," brummte der Gleimhans, "und hat uns zuletzt +alle in der Mausfall'n!" + +"Soll er, wenn's ihm gefällt!--Er kann sich's leisten, zahlt gut und +ist nicht zuwider!--Läßt mit sich reden!" verteidigten der Wirt und +der Reinalther den Herrn von der "Ferkelburg". Und dumpf nickte der +Söllinger.-- + +Aber am nächsten Tag trat Michael ins Reinaltherhaus. Der Bauer +empfing ihn aufgeräumt und freundlich, ohne jegliches Arg. + +"Im Frühjahr müßt's raus! Hab' einen Pächter," sagte da auf einmal +Michael kurz. + +Dem Bauern gab es einen Ruck. Er sah ihn groß an. + +"Bringt aber sein Zeug schon übernächst's Monat!" sagte Michael wieder +und wandte sich zum Gehen. + +Der Reinalther wurde jäh bleich. Sein Kinn bebte. Seine Unterlippe +rutschte etwas herunter. + +Hilflos und bittend sah er auf Michael. + +"Geht's gar nicht, daß wir die paar Kammern hinten kriegen könnten und +bleiben dürfen!" brachte er kleinlaut heraus. + +Michael schüttelte schweigend den Kopf. + +"Gar nicht?" + +Michael drehte sich um, sah ihn kalt an: "Könnt's ja am End zum Schmied +einzieh'n. Obenauf sind noch drei Kammern. Nachher seid's mit'm Söllinger +beieinand! Überleg' dir's und laß mir's wissen!" + +Und ehe der Bauer etwas erwidern konnte, war er draußen. + +Eine Weile stand der Reinalther wie besinnungslos da. Dann ging er zum +Lechlwirt hinüber. + +Der Gleimhans und der Söllinger saßen da. Schüchtern und ganz von außen +herum erkundigte sich Reinalther nach den Räumlichkeiten im Schmiedhaus. + +"Mußt' raus?" fragte der Lechl. + +Stumm nickte der Befragte. + +"Ins Schmiedhaus?" + +"Schier," erwiderte der Bauer und setzte hinzu: "Hat einen Pächter fürs +Frühjahr." + +Gleimhansens Augen glänzten listig. Er hob den Kopf und lächelte +schadenfroh. + +"Vom Schmiedhaus ist gar nicht mehr weit ins Gemeindehaus!" warf er +boshaft him. + +Der Söllinger rückte sein Gesicht empor. + +"Ja--!" sagte der Gleimhans, ihn messend, "samt eurem Geld jagt er +Euch in die Mausfall'n, wenn's ihm paßt!" + +Die beiden anderen Bauern saßen dumpf da und starrten schweigend ins +Leere. Der eine erhob sich, und der andere. Und beide gingen ohne ein +Wort.-- + + +VI. + +Wiederholte Male hatte Michael zum Gleimhans geschickt. Er selbst kam, +der Italiener kam, die Magd kam. Es half alles nichts. Der Bauer gab +sein Anwesen nicht her. + +"Wenn nochmal einer kommt, kann er seine Knochen vor der Tür +zusammenkratzen!" brüllte er das letztemal wild. Es kam keiner mehr. + +Michael hatte nach und nach das ganze Dorf aufgekauft. Die Gehöfte und +Häuser lagen brach und still da. Die ehemaligen Besitzer waren entweder +fortgezogen, gestorben oder arbeiteten gegen Taglohn auf der Bahnstrecke. +Die Grundstücke wurden von den Ferkelburgleuten beackert, bebaut und +bewirtschaftet. + +Im ehemaligen Reishof logierte eine Hausiererin und führte einen +Kramladen. In den sonstigen Häusern wohnten Arbeiter oder auch die +früheren Besitzer, gingen in der Frühe heraus und abends hinein. Die +Mauern bröckelten ab, die Gärten verwahrlosten, alles lag verödet und +ruinenhaft da. + +Michael selbst saß den ganzen Tag in seinem Turmzimmer, üher die +Protokolle und Urkunden gebeugt, die er beim jedesmaligen Kauf eines +Anwesens vom Notariat ausgehändigt bekam. Nur der Italiener und die +Magd, die ihm das Essen brachte, sahen ihn. Alt und verfallen sah er +aus. Zusammengeschrumpft war seine Gestalt. + +Nachts, wenn der Mond silbern üher die Talmulde glitt, stand er am +Turmfenster und überschaute seinen Besitz. Dann glomm manchmal in +seinen Augen etwas wie Triumph. Nur wenn sein Blick auf das +Gleim-Anwesen fiel, wurde es finster auf seinem Gesicht.-- + +Aus der Erde brach der Frühling. Die Magd kam zum Reinalther und +brachte die Botschaft, der Bauer solle sich zum Ausziehen +bereitmachen. + +"Jaja, in Gott's Nam'! Sagt's nur, ich will ins Schmiedhaus!" gab ihr +der Bauer als Antwort mit in die "Ferkelburg". + +Am selben Tag trottete Michael eilsam auf den Kramladen zu und +verschwand scheu in dessen Tür. Die Krämerin schrak förmlich zusammen, +als er so dastand. + +Aus einem grauenhaft gelben Gesicht starrten verkohlte Augen auf sie. + +"Gib mir zwei Kalbstrick, Irlingerin, aber gute!" sagte Michael kurz. + +Die Krämerin legte einen Packen Stricke hin. + +Michael prüfte sorgfältig einen um den andern. + +"Die!" stieß er hastig heraus, warf das Geld him und nahm zwei +Stricke. + +"Tragen denn gleich zwei Küh' diesmal?" fragte die Krämerin endlich. + +Aber Michael nickte nur und ging. Eilig stelzte er durchs Dorf. + +Als er die Tür seines Turmzimmers zuschloß, zog er die Stricke aus +seiner Brusttasche, prüfte sie nochmal und legte sie in den Schrank, +schloß ab. Offenbar befriedigt atmete er auf, trat an den Schreibtisch +und las wieder die Urkunden.-- + +Gegen Abend kam der Pfarrer, der lange nicht mehr dagewesen war, in +die Ferkelburg. Mißtrauisch und etwas verwirrt empfing ihn Michael. + +"Das Kloster Sankt Marien möchte den Söllingerhof, Michl?" sagte nach +einer Weile Schweigens der Geistliche. + +Michael schüttelte den Kopf. + +"Ist nicht recht, daß alles so tot daliegt, Michl!" ermahnte der Pfarrer. + +"So?" sagte Michael hartnäckig, und seine Falten zuckten fast höhnisch. + +"Wirst ein alter Mann, Michl! Was tust mit den vielen Häusern!" murmelte +der Geistliche hilfloser. + +"G'richt halten!" stieß Michael gedämpft heraus und heftete seine Blicke +funkelnd auf den Pfarrer. Der stand beklommen da und atmete schwer. + +"Unser Herrgott wird dir Dank wissen, Michl!" fand er endlich das Wort +wieder und erinnerte abermals an den Söllingerhof. + +"Steht zu arg in der Sonn'", murmelte Michael noch leiser und +unheimlich heraus, "und wirft mir den ganzen Schatten in die unteren +Stuben!" + +Er stand gespannt da, bewegte sich nicht. Der Geistliche wurde +plötzlich blaß, als er das eingeschrumpfte, gelbe Gesicht im matten +Licht sah. + +Jetzt funkelten Michaels Augen wieder und seine Lippen gingen auf und +zu: + +"Hat einmal meinem Vater gehört, nicht?! ... Und der Söllinger hat es +ihm abgekauft, nicht?! ... Und--der Gleimhans hat ihm Geld 'geben. +--Vieh hat er dazumal geschachert, der Söllinger, nicht?! Und-und +hat's meinem Vater langsam abgekauft--langsam, nicht?! ... War ja ein +Hüttl, damals--nicht!?--" + +Er hielt inne. Der Pfarrer stand wortlos da. + +"Und nachher hat er das Saufen angefangen, mein Vater, nicht?!" +keuchte Michael fortfahrend heraus: "Und dann haben's meine Mutter ins +Gemeindehaus, und--und nachher haben sie sie auslogiert--ist +gestorben, weil unsere Kuh krepiert ist! Hat's nicht mehr erleben +können ... nicht!?"-- + +Jetzt stockte er plötzlich, hielt die Worte zurück und erbleichte. +Wieder bohrte er seine mißtrauischen Blicke in das Gesicht des +Pfarrers. Eine Unruhe fieberte auf seinen Falten. + +Auf einmal, ohne des Pfarrers zu achten, stieß er heraus: "So dunkel +ist's da unterm Turm wie im Gemeindehaus bei meiner Mutter +dazumal....!?"-- + +"Michl!" rief der Pfarrer nur mehr. Dann ging er.-- + +Michael stand eine Zeitlang in der gleichen Haltung da, dann zuckte er +erschreckt zusammen und brach in seinen Lehnstuhl. + +Später rief er den Italiener. Es war schon Nacht draußen. Er steckte +die Kerze an und zog die dichte Gardine vor. + +"Hast immer geladen in der Sandgrube, nicht?" fragte er den Italiener. + +Der nickte. + +"Bist krank, Guisepp'! Mußt Ruh' haben," redete Michael gut auf ihn +ein und ließ ihn nicht aus den Augen. + +Guiseppe stand verlegen und verständnislos da. + +"Das Söllingerhaus da drüben, Guisepp', das soll dir gehören, wenn'st +--wenn'st nochmal sprengst, bloß mehr dies einzige Mal!" sagte Michael +aschfahl und öffnete seinen Schreibtisch, legte drei Pulversäcke aufs +Pult. + +Der Italiener starrte ihn groß und schweigend an. + +Als dies Michael bemerkte, sprudelte er fast bittend und hastig +heraus: "Haben dich nie erwischt, Guisepp', nie! Hast dich immer +rausgemacht--wirst's auch diesmal fertigbringen!"-- + +Und dann setzte er ihm den Plan auseinander. + +Mitten im Gespräch horchte er jäh auf. Fern aus dem Dorf hörte man +Wagengeknatter und "Hü"-Rufe. Der Gleimhans fuhr die Habe Reinalthers +ins Schmiedhaus. + +"Geh!" sagte Michael hastig zum Italiener. Mechanisch verließ dieser +das Zimmer.-- + +Bis tief in die Nacht hinein schleppten der Gleimhans, der Söllinger +und die Reinalther-Eheleute die Möbel in die wackeligen Kammern im +ersten Stock des Schmiedhauses. + +Es war eine windige, unruhige, stockdunkle Nacht. Manchmal trug eine +Windwelle Laute und abgerissene Sätze herüber zur "Ferkelburg". + +Michael ging zitternd im Turm auf und ab. Auf und ab. Von Zeit zu Zeit +neigte er sich über den Schreibtisch und schrieb noch ein Wort oder +einen Satz auf einen aufgeschlagenen Bogen Papier. + +Jetzt riß der Wind die Schläge der Kirchturmuhr auseinander. Michael +tappte ans Fenster, hob die Gardine ganz schmal beiseite und band den +Strick an den Fenstergriff. + +Und sah scharf und spähend ins Dunkel hinaus. + +Da krachte es furchtbar. Ein riesiger Feuerklumpen brach in der Gegend +des Schmiedhauses schleudernd in die Schwärze der Nacht.-- + +Und um die runde Anhöhe hetzte eine lange Gestalt auf die Ferkelburg +zu. + +Michael faßte den Strick und legte seinen Hals in die Schlinge. Dann +brach er ins Knie und hob seine ineinandergerungenen Hände zur Höhe. +Sank.-- + +Mit jener grauenhaften Blässe, die oft jäh von furchtbarer Ahnung +Erschütterte befällt, sagte der Pfarrer am andern Tag vor der Leiche +des Erhängten: "Alle Dinge sind eitel!" Und hob den Blick gen Himmel. + +Auf dem Schreibtisch lag ein Testament, das Guiseppe die ganzen +Besitzungen und Hinterlassenschaften Michaels zuerkannte.-- + + + + +EIN DUMMER MENSCH + + +I. + +Seltsam sind Menschenwege. Kalt ist der Winter, heiß der Sommer, die +Zeit läuft weg und Alter und Verbitterung hocken in den Knochen, eh' +man sich richtig umsieht. Und schließlich--was ist's gewesen, wenn man +nachdenkt?-- + +Misere, Misere, Misere! + +Zufall ist alles--und nichts.-- + +Vor zweieinhalb Monaten noch--hol der Teufel diese kalten, widerwärtig +regnerischen Herbsttage!--trottete Adam Högl verdrießlich durch die +dumpfen Straßen, überlas ein um das anderemal die Karte des +Arbeitsamtes, die ihm anbefahl, daß er sich beim Kranenwerk als +Erdarbeiter zu melden hätte, zerknüllte sie ebensooft in der Tasche +und trat gedankenlos in die Kneipe der engagementslosen Artisten "Zur +wilden Rosa." + +Widerlich, wie er jetzt auf einmal noch quälender die kalte Nässe an +seinen Gliedern herabrieseln fühlte! Und ausgerechnet mußte noch dazu +die selbstspielende Geige unausgesetzt kratzen, daß es durch Mark und +Bein ging! + +Die rauchige Luft war zum Schneiden dick hier und ein Lärm herrschte +an allen Tischen wie auf einem Jahrmarkt. + +Knirschend und ohne sich um die geschwätzige Gesellschaft zu kümmern, +ließ sich der Eingetretene auf einen Stuhl fallen und schwang seinen +patschnassen Hut ein paarmal derart wütend him und her, daß die +herausgepeitschten Tropfen wie aus einem Weihwasserpinsel herumflogen. + +"Pilsner oder Most?" schrie der Kellner üher die Köpfe hinweg. + +"Pilsner!" brummte Högl finster zurück und machte sich breit. "Hoho!" +murrte jemand beinahe drohend am Tisch, und ärgerliche Gesichter hoben +sich. Auf einmal rief eine bekannte Stimme: "Mensch! Högl!" und Adam +Högl sah verwundert auf. + +"Högl! Mensch! Adam!" schrie es abermals und ein Herr mit rundem, +lachendem Gesicht tauchte an der anderen Tischseite auf, beugte sich +behend in die gedrängten Leute: "Erinnerst du dich? Krull, vierte +Kompagnie, Zimmer achtundzwanzig!? Bauchreden!" Adam Högl faltete +schnell die Stirn. + +Ja, es stimmte: Im Zimmer achtundzwanzig der vierten Kompagnie lag er +neben Ferdinand Krull und betrieb als Liebhaberei die gelegentlich +erlernte Kunst des Bauchredens. Er entsann sich ganz deutlich, und +unwillkürlich, fast von selbst entquollen ihm einige Laute. Er saß +gerade aufgerichtet da, mitten im plötzlich verstummten Kreis der +Gesichter, mit geschlossenem Mund--nur der herausgedrückte Punkt +seines Halses bewegte sich etwas auf und ab--und tief unten in seinem +Bauch redete es. + +"Mensch, du kannst noch!? Komm sofort mit! Du wirst meine beste +Nummer!" jubelte jetzt der ehemalige Barkellner Ferdinand Krull, und +ehe die verblüffte Schar sich's richtig versah, trabten die beiden +eilsamen Schrittes aus der Kneipe, stiegen in das bereitstehende Auto +und weg waren sie.-- + +Am selben Abend schon stand Adam Högl auf der grell beleuchteten, +geräumigen Bühne des Krullschen "Paradies-Kasinos" und johlte seine +Bauchstimmen-Witze in das bunte, glänzende Publikum, das sich +allabendlich hier zusammenfand. + +Flüchtig zurechtgemacht, im zu großen, faltigen Frack des beleibteren +Krull, mit viel zu weitem Kragen, der sich wie ein schmaler weißer +Kummet um seinen dürren, langen Hals wand, in einer karierten, +schnürenden Weste, einer billigen gestreiften Hose und den quälend +drückenden Lackschuhen des Wirtes--so stand Adam Högl, eine beachtete, +wichtig gewordene Einzelperson,--wie aus einer tiefen sumpfigen +Finsternis plötzlich auf einen strahlenden, weithin sichtbaren Gipfel +gehoben--inmitten der sorglosen, großen, prächtigen Welt. + +Musik fiel ein, säuselte süße, schmeichelnde Melodien durch den Raum, +tuschte, brach ab--der Vorhang peitschte in die Höhe. Vereinzeltes +Stühlerücken noch, leise verschwingendes Gläserklirren und andächtige +Stille minutenlang. Adam Högl riß die Augen weit auf. In der +blauüberleuchteten, abgedämpften Zuschauergruft tauchten puppige +Herrenrücken auf, kühngekleidete Damen, ebenmäßige, gepflegte, +wunderbar abgetönte Gesichter und lange, glitzernd beringte Hände +mit Elfenbeinfarbene Nacken bogen sich waghalsig. + +Herausfordernde, runde, nackte Arme bewegten sich lässig +undentblößte, leicht gerötete Brüste hoben und senkten sich wie +weiche, märchenseltsame Lichtflächen, die ein fächelnder Wind +arglos um schwirrte.-- + +Mit Gewalt mußte Adam Högl an sich halten. Der Atem stand ihm still. +Schweiß war auf seiner Stirn. Mühsam preßte er endlich die ersten +Laute heraus. + +Es räkelte. + +Sein Herz klopfte auf einmal wie im Galopp. Mit ganzer Kraft straffte +er sich, gröhlte unbeholfen den ersten Witz heraus, begann ohne +Zwischenpause den zweiten. + +Es räkelte schon wieder. Seine Knie begannen zu schlottern. Er biß die +Zähne fest aufeinander, preßte--preßte die Laute, die auf der Kehle +saßen, wieder zurück, hinunter in den Bauch und hatte endlich den +zweiten Witz. + +Das Räkeln verstärkte sich, verflachte zu einer allgemeinen +Bewegung. Schon drohte er umzufallen--da brach ein berstender, +frenetischer Jubel üher ihn her, ein Gelächter wie aus einer +vielstimmigen Riesentrompete, ein betäubendes Klatschen, als sei hoch +auf einem Berge die Schleuse eines gehemmten Flusses mit einem Male +jäh aufgerissen worden und die ganze Wasserlast falle sausend in die +Tiefe. + +Er war gerettet. + +Er atmete auf, hielt inne, ließ den Jubel verrauschen und jetzt floß +sein ganzer Mut und Witz berückend sicher aus ihm heraus, hinab in die +Gruft und wieder zurück an seine schweißnasse Brust wie +verhundertfachter, brausender Dank. + +Er hatte gesiegt. + +Einen solchen aus allen Geleisen geratenen Beifall hatte das +"Paradies-Kasino" noch nie erlebt.-- + +Vollkommen erschöpft schleppte sich Adam Högl am Arm seines ehemaligen +Regimentskameraden immer wieder durch die getürmten Blumenhaufen, vor +bis an die Rampe, kaum noch fähig, sich zu verbeugen. Und immer, immer +wieder zuckte der Vorhang, fuhr sausend auseinander und in die Höhe. + +Zuletzt sah es aus, als hätten sich alle Menschen da unten +übereinandergeworfen und in das wüste, kreischende Plärren mischte +sich endlich die Musik undschwoll an zu einem mächtigen Choral. Und +regelmäßiger, breit und den ganzen Raum erbeben lassend sang es aus +allen Kehlen zur Höhe: "Ooo du Pa--a--aradies! Pa--a-aradies +--Kasi--ino--o--o!" daß Adam Högl buchstäblich wie halbtot seinem +Kameraden in die Arme sank und aus tiefstem Glück erschüttert auf +johlte: "Pa--a--aradies!"-- + +Einige Tage später konnte er an allen Litfassäulen in halbmetergroßen +Buchstaben seinen Namen lesen und darunter stand: "Die große Nummer". +Und jeden Abend erntete er den gleichen Beifall. Schon in der Mitte +des zweiten Monats war auf allen Plakaten, quer üher "Die große +Nummer" geklebt, zu lesen: "Zum dritten Male prolongiert!"-- + + +II. + +Ohne es selber recht innezuwerden, rückte Adam Högl in eine andere +Menschen schicht hinauf. Er trug nunmehr seidegefütterte Anzüge der +besten Schneider, ging mit gelassener Selbstsicherheit durch die +Straßen und grüßte mit ausnehmender Vorliebe auffällig gestikulierend +und so geräuschvoll, daß alles stehen blieb und lachen mußte, vornehme +Gäste des "Paradies-Kasinos". Fast jeden Abend nach seinem Auftreten +saß er an irgendeinem Tisch, inmitten einer fidelen Gesellschaft, +trank je nach der Art seiner Gastgeber entweder herablassend beiläufig +oder mit einigen Brusttönen lobender Aufmerksamkeit ältesten Wein, +Bekanntesten französischen Sekt, jeden Nerv kitzelnde Liköre und sog, +immer witzgerecht, mit geübt bäuerlicher, biederer Bescheidenheit alle +Bewunderung der Gäste in sich hinein. + +Seine berechnete Natürlichkeit wirkte bestechend bei Damen, alten +Lebemännern und Industriellen. Er zotete, wenn ihn ein abfälliger, +herabmindernder Witz traf, üher alles hinweg mit jenerunerschütterlichen, +nie angreifbaren, hämischen Trockenheit, die entwaffnet. Mit dem ganzen +unterdrückten Instinkt eines Menschen, demdie Angst vor dem +Wiederzurücksinken in den Sumpf Spannkraft gibt, beobachtete er, erwog +die Möglichkeiten neuer Bekanntschaften, erlistetesich notwendige +Gebärden und Manieren, machte sich gutwirkende Kniffe zunutze +und galt bald als der gewiegteste Weinkenner und großartigste, +bewunderungswürdigste Zecher, mit dem es eine Lust war, Gelage zu halten. + +Freilich, es gab auch Abende ohne Einladung, wo er am Künstlertisch in +der zerwetzten Nische saß und sich mit Kollegen und Kolleginnen, die +mit ihm das Programm ausfüllten, unterhielt. Artisten aus aller Herren +Länder, dicke Sängerinnen, zierliche Chansonetten und schwergebaute +Ringkämpfer waren da. Intrigen, Neid und Intimitäten gab es da, +Vertraulichkeiten und Klatsch. Mit teilweise unverhohlenem oder auch +leisem, verstecktem, stechendem Spott sahen diese weltbereisten, mit +allen Wassern gewaschenen Leute auf den Neuling herab. Es war +unerquicklich und feindselig in dieser Nische, alles deutete zurück in +die Misere. + +Draußen, im Zuschauerraum, vertrugen sich die dickaufgetragenen +Freundlichkeiten vorübergehender Kollegen fast lächerlich leicht. +Während er nicht selten, wenn er spät nachts den Künstlertisch +verlassen hatte und heimwärts ging, zukunftsbesorgt und entmutigt war, +lebte er als Gast an den Tischen der Kasinobesucher stets auf, schaute +den vorübergehenden Kollegen kühn und dreist in die Augen, warf ihnen +treffsichere Zoten zu und lächelte unverschämt, wenn er auf ihren +Gesichtern die nur schwer zurückgehaltene Wut aufsteigen sah. Hier, in +diesem Meer, dessen Wellen ihn unausgesetzt emporhoben, fühlte er sich +völlig geborgen, unverfolgbar und mächtig. + +Adam Högl war kein Optimist. "Nichts dauert ewig und jeder muß sich +nach der Decke strecken," sagte er bei jeder Gelegenheit mit leiser +Ironie, doch handelte er danach. + +Gelegentlich eines wüsten Gelages mit dem Millionär van Haarskerk und +seiner Gesellschaft in einem abgedämpften Hinterraum des +Paradies-Kasinos ließ er sich kaltes Wasser kübelweise üher den Kopf +schütten, spielte mit Meisterschaft den völlig Betrunkenen, trank +gesalzenen Sekt ohne eine Miene zu verziehen, ertrug zur Steigerung +des Vergnügens viele, viele Stöße in den hingehaltenen Bauch und +tanzte zuguterletzt patschig und negerhaft wie ein Eunuch im Hemd +herum, daß sich die ganze Gesellschaft vor Lachen wälzte. + +Von da ab saß er jeden Abend am Tische van Haarskerks, duzte sich mit +diesem. Der Millionär war eine besondere Art von Mensch, Er hatte der +kleinen Kabarett-Diva Yvonne eine Villa draußen an der Peripherie der +Stadt gebaut und vertrieb sich die Zeit damit, mit ihren früheren +Bekannten Gelage zu halten, ausgesuchte Gerichte zu kochen und +Autotouren zu machen. Durch sein Verhältnis mit der Diva war er im +Laufe einer ganz kurzen Frist zu einer Art Stadtbekanntheit geworden. +Meistens kam er mit zwei oder drei vollbesetzten Autos im +Paradies-Kasino an. Allerhand zweifelhaft gekleidete Leute begleiteten +ihn, alles frühere Geliebte Yvonnes--: abgewirtschaftete Studenten, +die sich Dichter nannten, einige Kunstmaler, ehemalige Kabarettleute, +undefinierbare Witzbolde und schließlich noch einige Herren, die stets +neueste Mode am Leibe trugen, gepudert waren und das Einglas ins Auge +geklemmt hatten. Nach Schluß der Vorstellung fuhr man nicht selten mit +noch Hinzugekommenen, momentan die Langeweile vertreibenden +Eingeladenen nach Hause, um dort weiterzutrinken, zu diskutieren oder +Bakkarat zu spielen, his die Frühe fahl ihr Licht durch das dicke +Glasdach des Wintergartens auf die Zecher herabfallen ließ. + +Adam Högl faßte festesten Fuß in diesem Hause, ja, zählte geradezu zur +Familie, lernte fabelhafte Tafeln kennen, überschüttete die gelassene +Gleichgültigkeit, mit der man hier Unsummen in die Spieltischmitte +schob und wieder wegzog, mit seinen herabmindernden Späßen, trank +ebenso wählerisch wie selbstverständlich Whisky pur wie Kognak von +1875, Mit dem ihm eigenen Geschick sekundierte er, wenn Yvonne ihre +tausendmal erzählten Bettgeschichten und anzüglichen Witze erzählte. +Sein trainiertes Gelächter riß jedesmal mit und erleichterte den nur +mit Mühe die Langeweile verbergenden, devot Beifall spendenden +Günstlingen ihre schwierige Aufgabe auf das angenehmste. + +Oft und oft kam es vor, daß die überreizte Diva eine Vase durch eine +Glastür warf, Unheil stand drohend--da auf einmal trompetete das +Lachen Högls und glättete im Nu den Sturm. + +Es gab Nächte in diesem Hause mit ihm, die begannen mit einem wüsten +Balgen zwischen Yvonne und van Haarskerk, mit einem Zusammenschlagen +kostbarster chinesicher Zierrate, mit einem Demolieren von Türen und +Möbeln und endeten wie etwa eine unvergleichlich lustige Sylvesterfeier. + +Hier war ein reicher Fischplatz. Adam Högl warf vorsichtig seine +Angeln und Netze aus.-- + +"Denn nichts dauert ewig und jeder muß sich nach der Decke strecken!" + + +III. + +Die Tage und die Nächte liefen davon. Viel zu schnell. Sie schwebten +vorbei, ohne sich voneinander zu unterscheiden. Es war ein +unaufhaltsames Fließen. Es gab keinen festen Punkt, kein Nachdenken, +keinen Widerstand. + +Allmählich, mit jedem Tag bemerkbarer, ließ der Beifall nach. Es brach +jetzt kein plötzliches Gelächter mehr aus. Es war keine Stille mehr in +der Zuschauergruft, wenn Högl auftrat. Man sandte auch kein resolutes +"Pst!" mehr aus aufmerksamen, lauschenden Tischen, wenn die Kellner +servierten. Gelangweilte Gesichter sah man ringsum. Es schwätzte +jedermann während des Vertrags. Wie ein böses Gewissen rieselte durch +den erschauernden Körper jene penetrante Peinlichkeit, die immer +einsetzt, wenn man sich hilflos einer stärkeren Macht gegenübersieht +und es sich nicht eingestehen will. + +Es war acht Tage vor dem Ende des dritten Monats, und nichts wieder +hatte Krull von abermaliger Prolongierung erwähnt. Adam Högl stand +benommen hinter dem eben herabgefallenen Vorhang und wischte sich den +Schweiß von der Stirn. Es klatschte mäßig. Der Vorhang zuckte fast +mitleidig und wurde rasch noch einmal hochgezogen. Es klatschte etwas +mehr, als Högl dankte. Der Vorhang fiel wieder herab. Bagg--bagg--bagg +--bagg!--schon schwammen die Redegeräusche, das Klirren der Gläser, +das Stühlerücken und Surren der Ventilatoren darüber hinweg, und alles +verebbte zu einem gleichmäßigen Geplätscher. In acht Tagen vielleicht +stand Krull, der in der letzten Zeitmerkwürdig schüchtern auswich und +sich selten sehen ließ, vor ihm und sagte ungefähr: "Adam, du weißt! +Mein Publikum will Abwechslung. Ichbin Wirt, ich muß mich nach ihm +richten." + +Man war ihn satt!--Er konnte wo anders hingehen?--Schließlich--er +hatte noch etwas Geld, Anzüge. Es ging eine Zeitlang. Dann?-- + +Der Boden schwankte, man glitt aus, man ließ sich dahintreiben, dumpf +und verbittert auf einen nächsten jähen Zufall wartend. Die fast +märchenhafte Leichtigkeit, mit der man üher Nacht so hoch getragen +worden war, hatte die Energie vernichtet.--Adam Högl knirschte und +sah scheu rundherum. Die Angst kam von der Magengegend zur Gurgel +heraufgekrochen. Mit einem Ruck riß er sich zusammen und schritt zur +Tür. Da kam der schlanke Kellner und bat ihn in die Loge des +Millionärs. Er atmete erleichtert auf. "Ich komme gleich," sagte er +schnell und ging in die Garderobe. + +Nach einigen Minuten schritt er die Logenreihen entlang und hatte +schon wieder die breitlachende, humorvolle Miene, die man an ihm +gewohnt war. Aus verschiedenen Tischen nickten ihm Leute grüßend zu, +und scheinbar ganz in seligster Wonne erwiderte er. + +Die Haarskerksche Loge war wie gewöhnlich gepfropft voll. Jeder der +Herren lachte bereits das knallige Lachen Adam Högls. Das gab Mut. +Noch war man also nicht ausgelöscht.-- + +"Ah--haha!!" krächzte der Millionär aufstehend und machte Platz. + +"Was machst du?" fragte Yvonne den Angekommenen. + +"Einen schlechten Eindruck," erwiderte Högl trocken. Die Unterhaltung +belebte sich, wurde aufdringlich laut. + +"Psst! Psst!" zischte es aus den gegenüberliegenden Tischen, denn eben +trat die neuengagierte Sängerin auf und trillerte die ersten Laute. + +"Ah--a--a--ah--ah--a--a--aa!" sang Högl boshaft mit angestrengtester +Kopfstimme nach und der ganze Tisch kreischte hellauf. + +"Psst! Psst!" Adam Högl entdeckte mit einem flüchtigen Blick drüben in +einer dunklen Ecke Krull mit finsterem Gesicht, wandte sich schnell +wieder weg. + +"Ein Türteltäubchen! Ein Täubchenturtel!" gröhlte er sehr laut. + +"Ru--u--uhee! Psst!" brummte es noch energischer und empört gehobene +Gesichter tauchten auf. + +"Mistkäfer! Schweinebande!" knirschte Yvonne dumpf in den Tisch und +rief lauter: "Anton zahl'! Wir wollen gehen! Sofort!" + +Der Kellner kam eilends herangeflitzt. Sehr geräuschvoll bezahlte der +Millionär und die ganze Loge erhob sich. Alle tappten im Gänsemarsch +knatternd auf den Ausgang zu. + +"Psst! Psst! Ru--uhe!" surrte es ihnen nach. An der Tür stand Krull, +verbeugte sich devot und wollte entschuldigen. + +"Schon gut! Schon gut! Wir werden's uns merken!" schrie Yvonne und +befahl resolut: "Kommt! Laßt euch nicht aufhalten!" Der Trupp stürzte +hinaus. "Ich möchte heut' nur Högl, Kotlehm und Raming, Anton! Laß die +andern nach Hause fahren! Wir wollen unter uns sein!" sagte Yvonne vor +dem Auto. Der Millionär rannte auf die anderen Begleiter zu, sagte +ihnen dies, kam wieder zurück, stieg rasch ins volle Auto und gab das +Zeichen zum Abfahren. + +"So sind alle Wirte, weißt du! Pack! Pack!" schimpfte Yvonne während +des Dahinfahrens. + +"Eben! Eben!" brummte Högl in tiefem Baß. + +"Ein solches Miststück mit ihrem Geplärr! Na, ich danke!" + +"Eben! Eben!" sekundierte Högl befriedigt. + +Der Maler Kotlehm lachte gewaltsam. + +"Und diese Preßsackbrüste, pw! Diese Wurstfinger, äh!" zeterte Yvonne. + +"Gulasch! Gulasch mit Kartoffel!" murmelte Högl. Man lachte +allenthalben. Yvonne warf ihre Arme hingerissen um Högls Nacken und +drückte ihr kaltes geschminktes Gesicht an seine Wange, küßte ihn +breit und feucht, daß es schnalzte: "Högl, Du bist mein Mann!" + +Die Stimmung war wiederhergestellt. + +"Was trinken wir?" fragte van Haarskerk. + +"Sekt! Sekt!--Ich möchte heute schwimmen im Sekt--und dann Whisky!" +rief Yvonne emphatisch. + +Das Auto fuhr surrend durchs Tor. + + +IV. + +Die Dienerschaft war zu Bett gegangen. Es war still. Überall herrschte +ein Geruch nach Zigaretten, Parfüm und Alkohol. Man ließ sich in die +tiefen, nachgiebigen Fauteuils um den offenen Kamin im Rauchzimmer +fallen. Jener Punkt war erreicht, wo alles öde, langweilig, dumm und +trist zu sein scheint. Die Stimmung war zweideutig und unentschieden. +Es hieß geschickt eine Krise zu vermeiden, die scharfen, vorgeschobenen +Riffe der Überreiztheit gewandt zu umsegeln. Noch zwei oder drei +schweigende Minuten und man stand vielleicht auf, gähnte dösig und ging +zu Bett--oder aber auch Yvonne stieß zufällig mit dem Fuß wo an, +knirschte gehässig und schmiß eine Vase kaputt. Es gab Skandal und alles +war verloren, verhunzt. "Ich hab' Hunger," sagte Yvonne bereits bedrohlich. + +Adam Högl ergriff die Gelegenheit und brummte trocken: "Ein frugales +Mittelstück! Sehr richtig! Weder Früh--noch Nachtstück--ein Mittelstück, +ein Stück in der Mitte!" Man lachte lahm. Der Maler Kotlehm und der Lyriker +Raming bewegten sich etwas aufgefrischter: "Ja, das wäre nicht dumm!" + +"Geht!" befahl Yvonne Högl und dem Millionär. Die beiden waren +aufgestanden. "Komm! Kommen Sie, Herr Küchenchef! Wir wollen--Na, die +Herrschaften, na--na!?" trompetete Högl in seinem breiten Baß, als er +mit van Haarskerk in die Küche ging. Während der Hausherr eineinhalb +Dutzend Eier kochte, schmierte Högl Butterbrote, strich Kaviar darauf, +schnitt Schinken und Seelachs. + +Der Sekt war bereits abgekühlt. + +Als er die Gläser und das Tablett mit den Speisen in das Rauchzimmer +trug, hatte sich Adam Högl wieder ganz in der Gewalt und bediente +behend wie ein Servierkellner. Man griff gierig zu, schmatzte. Die +Stimmung hob sich. + +"Und ick?!--Ick hock mir ins Klosette rin und kotze alle Spucke +rinn!--rinn!--rinn!--" johlte Högl wie ein Grammophon mit wässerigem +Mund. Und: "--rinn!--rinn!--" wiederholte der ganze Chorus. + +Zufällig warf der Millionär seine Eierschalen in großem Bogen zur +Decke. Sie fielen in den Spiegel oberhalb des Kamins und zischten +auseinander. Belustigt darüber schleuderte Yvonne ihr Ei in die +glitzernde Fläche. Benng! klatschte es spritzend auseinander. Einen +Moment gafften alle unschlüssig. + +"Hoi--j! Hoi--j!" brüllte Högl unverblüfft wie ein Ausrufer und warf +ebenfalls sein Ei in den Spiegel. Das gefährliche Riff war umschifft. +Alles gröhlte mit einem Male mitgerissen. Patsch--Patsch--Patsch! +Jeder warf sein Ei in den Spiegel. Es klatschte um die Wette. Yvonne +schüttelte sich berstend. Adam Högl hüpfte vor Vergnügen. Wie doch +alles einfach ist!--"Das ist--um es richtig zu sagen--der Kampf mit +dem Spiegel oder der verspritzte Eidotter auf dem Kamingesims!" +plapperte Raming rülpsend. + +"Hahaha--ha! Der Lyriker wird witzig!" stichelte der Millionär. + +"Der Spiegelkrieg! Das Krieglspielchen! Das Spielchen mit dem +Kriegl-Spiegl!" gluckerte Högls Bauchstimme. Ein hemmungsloses +Gelächter peitschte auf. Man trank überschnell und mit vollstem +Behagen. Adam Högls Gesicht glänzte triumphierend. Sehr gewandt +spuckte er seinen Mund voll Sekt zur Decke. Ein dicker Strahl war's. +Im Nu folgten die ändern. + +Die Stimmung hatte einen ersten Höhepunkt erreicht. Es galt, ihn zu +halten. Adam Högl begann zu zoten. + +--Dem Lyriker Raming gab der Millionär seit einem Jahr ein Stipendium, +weil Yvonne dessen bastardhaft verfaltetes Gesicht gelegentlich einmal +als "angeilend" bezeichnet hatte. Des Malers Kotlehm vulgäre Schönheit +entzückte die Diva dergestalt, daß sie van Haarskerk veranlaßte, ihm +ein Atelier zu bauen. Von anderen noch wußte Adam Högl, daß sie +beträchtliche Summen wegen eines Witzes oder dergleichen erhalten +hatten. + +Und er hatte sich Wasser kübelweise üher den Kopf schütten lassen. + +In den Bauch treten lassen! + +Und in acht Tagen?-- + +Raming rülpste, ließ den Kopf haltlos auf seine Brust herabgleiten, +sank zusammen und schlief ein. + +"Der ausgewundene Strumpf zieht sich in die Vorhaut zurück!" rief Högl +breit, überprüfte unbemerkt die Gesichter der ändern. + +"Die Inspiration kommt im Schlaf!" warf der Millionär beiläufig him. + +"Weißt du, Anton," sagte die Diva schnell und aufgeräumt, "ein +Spielchen wäre jetzt richtig angebracht!" + +"Ein Bakkarat?--Ja, das wär' jetzt sehr nett!" sagte der Maler Kotlehm +ebenso. + +"Sehr richtig! Gewiß die Damen! Gewiß die Herren! Die Dammenherren, +die Herrendammen!" plapperte Högl und verbeugte sich wie ein Lakai: +"Adam Högl übernimmt die Saufregie, bitte, bitte meine Herrschaften, +bitte!" + +Das Schnarchen Ramings sägte friedlich und gleichmäßig. Yvonne, +Kotlehm und der Millionär setzten sich um das Spieltischchen, legten +die Banknoten in die Mitte. + +"Prost, Herr Kunstmaler, Herr Kotstengel!" rief Högl hämisch, hob das +volle Sektglas und schluckte hastig den ganzen Inhalt hinunter. + +Van Haarskerk gab die Karten. + +Högl, der nicht spielen konnte, ging auf und ab und brümmelte leise +singend vor sich him. Von Zeit zu Zeit lugte er flüchtig auf den +getürmten Haufen der Banknoten, die sich in der Tischmitte sammelten. +Lässig zog man die Scheine weg oder warf neue him. + +Mattblauer Tag lag schon auf den Gesimsen. Die Gärten draußen +bleichten. Stare zwitscherten leise auf. Tau stieg von der Erde hoch. +Unbehaglich tappte Adam Högl auf und ab, schielte manchmal auf die +Spieler, dann wieder durch die Fenster. + +Lästig! Die Umstände hatten einen kaltgestellt. Alles entglitt +wieder.--Jetzt verspielte Kotlehm. Erwar darauf gekommen, an jenem +Abend im abgedämpften Hinterraum des "Paradies-Kasinos", daß man auch +in den Bauch stoßen könnte. Adam Högl umspannte ihn unbemerkt mit +seinen düsteren, hassenden Blicken. + +"A--ah--ach!" stieß van Haarskerk mit boshafter Befriedigung heraus, +als der Maler abermals einen Geldschein auf den Tisch warf. + +"Prost!" rief Högl schadenfroh. + +"Donner und Doria!" lachte der Maler etwas nervös und legte die Karte +auf den Tisch. Abermals Hundert! + +Adam Högl ließ eine saftige Zote vom Stapel. Yvonne lachte. + +Wie um sich zu wehren, nahm Kotlehm das Glas und schrie feldwebelmäßig: +"He! Kuli! Einschenken!" Adam Högl schoß das Blut zu Kopf. Aber er faßte +sich schnell und hob die Karaffe: "Besser zielen!--Vorbeigeschissen!" Er +zitterte ein wenig, als er eingoß und schüttete daneben. + +"Hehe! Du! Kuli!" schrie Kotlehm und stieß ihn in den Bauch. Erquickt +schnellte der Millionär auf, nahm ihm die Karaffe. Adam Högl zog +verwirrt die Schultern hoch. Van Haarskerk lachte stoßweise und +schüttete den Rest über seinen geduckten Schädel. Eiskalt rann der +Sekt den Rücken herunter. + +Adam Högl raffte seine letzen Kräfte zusammen. Ratlosigkeit, Wut und +Verzweiflung standen auf einmal da. Wie von schwirrenden Peitschen +umsummt brummte der zerrüttete Kopf.-- + +Er drohte zu fallen, drückte noch einmal mit ganzer Gewalt den Bauch +heraus und grunzte endlich wieder. Wieder bellte das Gelächter. + +Der Maler Kotlehm sprang auf und fuchtelte mit den Armen herum wie ein +peitschenschwingender Tierbändiger. + +Das Spiel war zerrissen. Die neue Sensation hatte die Langeweile im Nu +ausgelöscht. Man umtanzte, umjohlte Adam Högl, der wie ein blinder Bär +herumtappte. Gutgezielte Stöße sausten in dessen Bauch. Van Haarskerk +kam mit einer gefüllten Karaffe, schüttete, goß, goß. + +Adam Högls Schuhe pfiffen. + +"Schurken! Sadistische Hunde!" schrie Yvonne machtlos in den +betäubenden Lärm. Raming hob schläfrig den Oberkörper und ließ sich +wieder zurückfallen. Das wüste Gebrüll zerspaltete die verrauchten +Bäume. Zwischendurch gluckste wie das Röcheln eines Verendenden Högls +Bauchstimme.--Heute noch! Noch einmal! Dann war vielleicht die +Rettung da. Man war geborgen. Eine Nacht Wasser über den Kopf--und +keine Misere mehr.-- + +Die Hose platzte, als er sich bückte. Kotlehm riß das Hemd heraus. + +"Hoij! Hoij!" zischte es von allen Seiten. Man nahm Högl in die Mitte +und stampfte durch den Wintergarten ins Freie. Schwerfällig, plumpsig +bewegte sich der Troß an den ersten Gemüsebeeten vorbei. Der Millionär +schob hinten, Kotlehm zog und zerrte an den Armen Högls. Yvonne +kreischte unaufhörlich. + +"A--ahach Mensch, laß mich doch schnaufen!" stöhnte Högl und riß +seinen Mund weit auf. Dicker Schweiß rann ihm herunter. + +"Hoij! Hoij!" schrie es wieder. Zog, zerrte. Adam Högl prustete, +hauchte. Der Maler Kotlehm riß einen Rettich aus dem Gemüsebeet und +stopfte ihn mit aller Gewalt in Högls Mund. + +Die Zähne krachten. Der Schlund kämpfte gegen das Ersticken. Blau lief +der Kopf an. Adam Högl stemmte sich würgend, spuckte, erhob beide Arme +furchtbar, stieß in die leere Luft. Es war auf einmal frei um ihn. Wie +Kettenlast fiel etwas ab. Der wachgewordene Körper straffte sich, als +renne er stahlhart gegen eine Wand und stieße sie durch. + +So leicht atmete es sich. + +Eine große Stille stand unfaßbar weiß ringsherum.-- + +Nach langer Zeit, als er die Augen öffnete, saugte die Kälte der +feuchten Erde an allen seinen Gliedern. Er lag langgestreckt in einem +Gemüsebeet. Schmutz und Blut klebten auf seinen zerschundenen Wangen. +Er schloß den Mund, schluckte. Die Gurgel würgte. Ein wüster Ekel +stieg vom Magen auf.-- + +Wie eine gemeine, grüne Qualle hockte das Haus in den zertrampelten +Beeten. Das zärtliche Rot des frühen Tages beleckte die Fenster, die +ausdruckslos vor sich hinglotzten. Es roch nach Verwesung.-- + +Taumelnd sprang er auf und rannte entsetzt aus dem Garten. Schwankend +wie ein Wrack trieb er über die Wiesen, der Stadt zu. Eine gräßliche +Schwäche fieberte in ihm. Angstvoll schleuderte er zuletzt seine Füße +nach vorne, lief, lief, was er konnte. + +Erst als er die ersten Häuser erreicht hatte, hielt er inne und wischte +sich aufatmend Kot und Blut aus dem Gesicht. + +Ruhig und nüchtern griff die Straße aus. Arbeiter gingen vorüber und +beachteten ihn kaum. Sie bewegten sich und redeten wie Menschen, die +nichts anficht. Es strömte eine seltsame Festigkeit aus ihren Gebärden +und Worten. + +Verlassen, nutzlos, ein jämmerlicher Wicht stand Adam Högl da. +Unerbittlich brach die Scham der letzten Wochen aus ihm, stieg, stieg. +Bettelnd, hilflos blickte er auf alle Menschen. + +Endlich gab er sich einen Ruck und ging wieder weiter. Sein Gesicht +bekam langsam eine größere Ausgeglichenheit. Fester, entschlossener, +mit dem erleicherten Ernst eines Menschen, der sich durch eine große +Erschütterung die Ruhe wieder zurückerobert hat, schritt er fürbaß.-- + + + + +ABLAUF + + +I. + +Man sagt, wenn sich die zwanziger Jahre aus einem Menschenleben +winden, fangen die Reibungen an zwischen natürlichem Denken und +dunklem Trieb. Es beginnt ein Aufruhr im Innern. Über die Dämme, die +die Erziehung notdürftig aufgebaut hat, bricht das Blut und je nach +der Festigkeit des Betroffenen folgt einer solchen Krise eine +Zerrüttung, ja nicht selten ein zeitweiser gänzlicher Zusammenbruch +und nur langsam, unter Weh und Qual, stellt sich das Gleichgewicht +wieder ein.-- + +Glücklich derjenige, der von früh auf Menschen, Bücher, Winke, +Erfahrungen und Anleitungen kennenlernte, die seinen Horizont +erweiterten und ihm einigermaßen dazu verhalfen, solchen +Erschütterungen nicht ganz wehrlos zu begegnen. + +Alle aber, die von Kind auf nichts anderes kennenlernen, als daß +dieser oder jener geschickte Handgriff, diese Finte oder jene schwer +erlernbare Körperhaltung die Mühe der Arbeit erleichtern, haben wenig +Zeit, sich gegen solche innere Überfälle zu wappnen. Es ist wahr, auch +sie überwinden. Aber sie leiden mehr darunter und werden ärger +mitgenommen von solchen Qualen. Der Schmerz fällt hier mit schwererer +Wucht nieder auf arglose, unvorbereitete Herzen. Die Jahre verfließen +verbraucht und wenig sinnvoll für solche Menschen. Sie stehen meist +unvermerktmitten im Gestrüpp plötzlich hervorbrechender Gefühle, +kämpfen blindlings gegen ihre Dämonie, werden überwältigt davon und +fallen schließlich in gänzliche Lethargie.-- + +Johann Krill fiel so in den Rachen der Welt. + +Sein Vater war Zimmermann auf einem Dorfe, seine Mutter Bauernmagd. +Auf einmal war dieses Kind da und man mußte notgedrungen heiraten. Man +frettete sich gerade so durch gegen Taglohn. Wenn das Akkordmähen zur +Erntezeit anfing, war es am besten. Zimmererarbeiten gab es wenig. Hin +und wieder Baumfällen und Holzspalten im staatlichen Forst, das war +ziemlich alles. + +Es hieß eben: "Nicht krank sein!" und "Sich nach der Decke strecken!" +--Kinder solcher Eltern, noch dazu "ledige", haben nichts Gutes bei den +Bauern. Es heißt aufstehen mit den Knechten um vier Uhr früh, zugreifen +und den anderen an Flinkheit nichts nachgeben und den Mund halten. Die +Knochen schmerzen am Anfang, aber das verliert sich mit der Zeit.-- + +Nach seiner Schulentlassung kam Johann zu einem Schlosser im nahen +Marktflecken zur Lehre. Jetzt waren es Hammerstiele und Eisenstangen +oder Wellblechstücke, mit denen man warf oder zuschlug. Und wehe, wenn +der Vater eine Klage hörte! Sein Ochsenziemer, der stets neben dem +Handtuch am Ofen hing, war furchtbar. + +Nun, es kam schließlich die Gesellenprüfung und der Achtzehnjährige +ging auf die Wanderschaft. Als gutgelernter, sehniger Arbeiter landete +er dann nach ungefähr fünf Jahren in dieser Stadt und fand Stellung in +einer Fabrik. Es war ein Riesenwerk, man verdiente gut und hatte keinen +schweren Posten geschnappt. + +An einem Abend--es war Sommer und Samstag--kam Johann in seinem Zimmer +an, wusch sich, zog seinen Sonntagsanzug an und steckte Geld zu sich. +Er bummelte erstmalig wie ein freier Mensch in aufgefrischter Stimmung +durch die Straßen, besah sich das bunte Treiben, trank in verschiedenen +Lokalen und als diese geschlossen wurden, trottete er, auf einmal +merkwürdig überwach und unruhig, die "Fleischgasse" auf und nieder. +Diese Straße hieß eigentlich "Fleuschgasse", getauft nach dem +Namen eines verdienten Ehrenbürgers der Stadt, aber seitdem die +Polizei verfügt hatte, daß sich nur hier die professionellen +Prostituierten auf und ab bewegen durften, hatten Volksmund und üble +Nachrede den harmlosen Namen "Fleusch" in den anzüglichen "Fleisch" +umgewandelt. + +Johann Krill brauchte sich nicht sonderlich anzustrengen. Schon nach +kurzer Zeit redete ihn eine süßliche Stimme an und besinnungslos +folgte er. Zum erstenmal in seinem Leben fiel der junge Mann in eine +vollkommene Verwirrung. Eine ganz fremde Luftschicht umschwelte ihn. +Er wußte nicht mehr, ging oder schwebte er. Durch all seine Glieder +flog und flammte es. Er sah alles doppelt, hörte jedes Geräusch wie +aus weiter Ferne und wußte nicht, was es war. Wie ein Hitzklumpen fiel +sein Körper auf eine schwammige Teigmasse und ertrank darin. Es biß +sich jemand fest an ihm. Es lachte. + +Langsam kehrte alles wieder zurück, wurde deutlicher und war ein +grünliches Zimmer, ein Gesicht, das breit auseinandergeflossen vor ihm +lag. + +Schließlich, als er die Besinnung wieder hatte, verzog auch er das +Gesicht zu einem Lachen, wollte reden, begann zu schlottern, schmiß +seinen Kopf in ihre Brust und verschluckte das Weinen. + +Erquickt darüber preßte ihn das Mädchen wild an ihre Brüste, nahm +seinen zerwühlten Kopf und hob ihn auf, zog ihn kosend immer wieder an +ihren dicklippigen Mund und küßte ihn unausgesetzt, daß er zuletzt +gänzlich machtlos mit sich geschehen ließ und auf einmal weinerlich +und wimmernd anfing, sein Leben zu erzählen. Stockend kamen ihm die +Worte, so, als besinne er sich immer erst, bevor er sie über die +Lippen lasse. Und beruhigt, fast ein wenig staunend saß das halbnackte +Mädchen da und hörte zu. Aber auf einmal stockte es wieder--und endete +und wieder griffen seine Arme aus, er umspannte sie, riß und zerrte an +ihr, daß sie aufkreischte. + +"Nimm alles! Tu alles!" murmelte er verhalten, als sie seine Geldbörseaus +der Hose zog, drängte es ihr auf, dieses Geld, und beleckte ungeschlacht +ihren ganzen Leib wie ein durstiger Hirsch. + +Und nicht nur das. Plötzlich klang sein Gemurmel wieder weinerlich und +in einem fort stöhnte er: "Du! Du! Ich hab dich so gern! Du--du! Ich +möcht dich heiraten. Ich arbeit', ich mach' alles. Du hast es gut bei +mir! Du! Du!" + +Anfänglich schien es, als belustige sich das Mädchen über ihn. Sie zog +ihn an den Haaren und kitzelte ihn lachend. Dann aber, als seine +Wildheit immer mehr anschwoll und seine Züge einen fast irren, +düsteren Ausdruck annahmen, ließ sie das Spielen. In ihren schlaffen +Körper stieg mit einem Male eine Wärme. Überwältigt, zuckend sank sie +zurück, ihn umfangend. Sie, über die vielleicht Hunderte +hinweggegangen waren, umschlang diesen plumpen, ungeschlachten +Menschen und küßte ihn mit dem ganzen, hingegebenen Ernst echter +Liebe.... + +In der Frühe nach dieser wüsten Nacht rannte Johann in seinen +Sonntagskleidern zur Fabrik, wankte wie betrunken durch das zufällig +offene Tor und erschrak derart, als ihn der Portier anrief und fragte, +was er denn an einem Feiertag hier wolle, daß er sich wie ein +plötzlich ertappter Dieb umdrehte und wortlos davonjagte. Er lief +durch die Straßen mit eingezogenem Kopf, ging wieder langsamer, setzte +sich in irgendeine versteckte Nische und hielt seinen erhitzten Kopf +fest. Immer wieder mündete er in die "Fleischgasse", wagte es aber +nicht, hinaufzugehen zu seiner auf so eigentümliche Weise gewonnenen +Geliebten. Der Abend kam. Die Nacht fiel herab und er stellte sich an +die Ecke, wo er sie getroffen hatte, wartete und wartete. Und es +geschah etwas, was niemand gedacht hätte, etwas, was ebenso +unglaubwürdig wie wunderlich klingt--: Anna kam nicht. Sie stand an +keiner Ecke, war überhaupt nicht auf der ganzen Straße zu sehen. Sie +lag droben--so wie er sie verlassen hatte--im Bett, verstört, +zerbrochen und bekam erst wieder völliges Leben, als er nach langem +Kampf und mit vielen Finten zu ihr gelangt war. + +Aufgefrischt schwang sie sich aus ihrer Lagerstatt, streichelte ihn +zärtlich und begehrend und sagte zuletzt muttergütig: "Ja, dich möcht +ich heiraten." + +Beide standen benommen voreinander, ein jedes zitterte und sagte +nichts mehr.-- + +Seit dieser Zeit haßte man Johann in der Fabrik. Er verhielt sich wie +völlig verstummt und hatte stetsein Gesicht, als wolle er die ganze +Welt umbringen. Er arbeitete für drei. Und jeden Tag verließ er fast +fluchtartig nach der Arbeit die Fabrik und kam zu Anna. Als es endlich +ruchbar wurde, daß er sich verheiraten wolle und man es ihm sagte, ihn +beglückwünschte und leichte Anzüglichkeiten machte, wurde er rot his +hinter die Ohren und schlug verwirrt die Augen nieder. + +"Ja! Ja!" schrie er dann auf wie ein brüllendes, gereiztes Tier, daß +die Fragenden halb verärgert und halb verblüfft "Oho!" herausstießen +und sich alle mit ihm verfeindeten. + +Alle wunderten sich, daß er gar keine Anstalten zur Hochzeit traf. Er +hielt bei keinem seiner Arbeitskollegen um die Brautzeugenschaft an. +Finster hockte er während der Vesperzeit da und starrte dumm ins +Leere. Niemand wußte, ob er um einen freien Tag zur Erledigung seiner +Verehelichung gebeten hatte. + +Drei Tage vor seiner Hochzeit kam er nicht mehr und wurde entlassen, +weil er auch kein Entschuldigungsschreiben schickte.-- + +II. + +Die ersten Wochen der Krillschen Ehe verliefen--wenn man so sagen +darf--unterirdisch glücklich. Mit Hilfe Bekannter fand Anna schon +einige Tage vor ihrer Hochzeit eine annehmbare, freundliche +Dreizimmerwohnung in einem anderen Viertel. Mit den Ersparnissen +Johanns wurden Möbel auf Teilzahlung beschafft und zum Schluß hatte +man, weiß Gott wie, noch Geld übrig. Man sah das Paar nicht mehr in +der alten Gegend. Außerdem vermied es Johann auf der Straße, Leuten, +die er zu kennen glaubte, zu begegnen. Furchtsam wich er aus, machte +große Bogen vor früheren Bekannten, ja, scheute sogar nicht, +ihrethalben große Umwege zu machen. Zu Hause erst, in der Verborgenheit +der vier Wände, kam Beruhigung über ihn. Mit zufriedenem Gefühl +durchtappte er immer wieder die Räume und bestaunte seine Habschaften +und am Ende stand er stets mit verschwommenen Augen vor seinem ständig +adrett gekleideten, beweglichen Weib. + +Vorerst dachten die beiden nicht ans Verdienen. Mit tausend +Kleinigkeiten verzettelten sich die Tage. Es gab kein geregeltes +Dahinleben mehr, keine bestimmte Mittagszeit, kein Weckerläuten in der +frischen Frühe, keine Müdigkeit am Abend. Die Nacht war kurz, lästig +kurz und oft noch um zehn Uhr vormittags verdüsterten die +herabgezogenen Jalousien das dumpfige Schlafzimmer. Und man blieb +liegen und liegen. + +Mit der bewußten Neugier, mit der wilden, noch einmal völlig +auflodernden, durstigen Liebe erfahrener Frauen, über die das zu frühe +Altern schon ihre ersten Schatten geworfen, liebte Anna Johann. Jede +ihrer Bewegungen, jedes Wort waren eine stumme, begehrende Aufforderung. +Ihre Nähe benahm den Atem, zerrüttete die eben gefaßten Gedankengänge. +Wie eine warme, unsagbar wohltuende Gischtwelle ergoß sich ihre +Atmosphäre unaufhörlich über Johann. + +Er _war_ nicht mehr! + +Zerschmolzen, zerronnen liefen die Zungen seiner Brunst ohne Unterlaß +üher das Meer ihres Körpers. + +Die Zeit war weggeweht, alles schwirrte, rann, floh.-- + +Erst ganz langsam wieder festigte sich seine Gestalt, stückweise +beinahe. Und es schien, als seien es andere Teile, die sich nun +vereinigten. Ein immer klarer werdendes Begreifen keimte auf, wuchs +ohne Überstürzung, vermittelte Halt und Festigkeit. Alle Scheu, alle +Furcht und Unsicherheit wichen. Auf einmal war Johann Krill ein +anderer. + +Jetzt erst kam ihm die Besinnung. Jetzt erst war er eigentlich +verheiratet, hatte ein Fundament, besaß Weib und Möbel und so weiter. + +Er erinnerte sich genau. Es war nirgends anders. Im Dorf nicht. In der +Stadt nicht. Es war immer das gleiche. Der Bauer, bei dem er zuletzt +auf dem Dorfe war, hatte drei Töchter. Ringsum standen größere und +kleinere Häuser. + +"Dahinein gehörst du, das ist was Handfestes," ließ er einmal beim +Abendessen fallen, der Bauer, und deutete dabei auf den mächtigen +Grillhof hinüber. Und die ältere Tochter sah ihn ohne Verblüffung an +und sagte: "Der Grillhans braucht bloß kommen." Zur Erntezeit ließ man +die ältere Tochter daheim und an einem Abend sagte sie: "Hat schon +geschnappt!" Etliche Wochen später gab es eine saftige Hochzeit. + +"Ein' schöne Sach', Hans, ein schöner Hof. Der ist so einen Brocken +Weib wert," lachte der Bauer bei der Hochzeit und schaute seinem +Schwiegersohn in die Augen. Und: "Ja--ja, hast mir's ja auch leicht +gemacht," brummte der Grillhans bierselig. + +Dann kamen die beiden anderen Töchter an die Reihe. Bei der einen +vollzog sich die Sache leicht, und bei der jüngsten, die etwas +hochnäsig war, ging es schwerer. "Herrgott, Rindvieh!--um so einen Hof +ziert man sich doch nicht so! Besinn dich nicht so lang', sag' ich!" +brüllte der Bauer sie an und als zufällig an einem der darauffolgenden +Abende der gewünschte Werber kam, sagte er zu diesem: "Bleib nur +beieinander mit der Zenz. Wir legen uns nieder." + +Und Bauer und Bäuerin gingen schlafen. + +"Ist's so weit?" fragte der Bauer beim Mittagessen andern Tags seine +Tochter. Und diese sagte nickend: "Im Frühjahr, meint er. Er will noch +den Stall bauen lassen." + +"In Gottesnamen, die paar Monat' sind gleich vergangen. Meinetwegen!" +brummte der Bauer und die Sache nahm ihren gewöhnlichen Verlauf. Im +Frühjahr gab es wieder eine breite Hochzeit.-- + +Es war also nirgends recht viel anders. Johann Krill war mit dieser +Erkenntnis zufrieden. Das Neue, das Unerwartete, was ihn einmal in +Brand und Aufruhr gesetzt hatte, war verloschen. Ohne Staunen stand er +nunmehr auf dem Boden der Welt und achtete nichts mehr auf ihr. +Kurzum, er wurde--gemütlich. Kam eine angenehme Sache, war es gut, kam +sie nicht, war es auch gut.-- + +An einem Nachmittag, als sie beim Kaffeetrinken in der Küche saßen, +sagte Anna: "Es wird Zeit, daß wir wieder um Verdienst schauen." + +Und Johann nickte stumm. Er begann wieder Stellung zu suchen. + +Umsichtig und resolut wie sie war, machte sich aber auch Anna auf die +Suche und an einem Tag kam sie freudig an und sagte: "Die Rienken will +mich fürs Büfett. Ich kann gleich anfangen, sagt sie. S'ist ein gutes +Lokal.--Was meinst du?--Unser Geld ist weg und mit einer Stellung für +dich wird's noch eine Zeitlang dauern. Jetzt kannst du auch mit aller +Ruhe suchen." + +Das leuchtete ein. Johann nickte wieder. + +"Die Rienken? Wo ist denn das?" fragte er dann weiter. + +Anna begann von einer Bar "Tip-Top" zu erzählen. + +"In der Quergasse," berichtete sie geschäftiger, "die Rienken kenn' +ich schon lang. Ist eine nette Person. Es verkehren massenhaft Gäste +dort, nur bessere Leute. Nicht so allerhand, von Hinz bis Kunz. Lauter +Stammgäste... Na, was sag' ich--Fabrikbesitzer, Beamte und so Leute. +Wer weiß, man kann ein gutes Geld machen, braucht sich nicht +abzuschinden und kann schließlich auch für dich was ausfindig +machen,--wie meinst du?" + +Johann Krill glotzte stumpf in ihre Augen. + +"Na, so hör doch, du--Patsch, hör doch!--Und die Rienken ist eine gute +Person, steht zu einem," redete Anna weiter und rüttelte ihren Mann +schmeichelhaft, begann wieder ihr siegendes Lachen und küßte ihn. + +"Das ist--also wieder--das Alte," sagte Johann endlich. Nachdenklich, +schwerfällig. + +"A--aber geh doch, Tolpatsch! Keine Rede davon! Wer sagt denn _davon_ +was! Ich bin doch nur hinterm Büfett--nu ja, nu ja, wenn schon einer +mal zu tappen anfängt und mir ein Gläschen bezahlt, Herrgott--das ist +doch kein Weltuntergang," beruhigte ihn Anna und fuhr fort: "Sieh +mal--Ware sind wir nun ein für allemal, ob so oder so--ob du in die +Fabrik gehst oder ob ich--was anderes mache. Es kommt immer nur darauf +an, daß wir uns die Sache möglichst leicht machen, daß wir noch was +wegschnappen für unseren Komfort!" + +Johann Krill hatte jetzt ein wenig klarere Augen. Es war etwas wie ein +aufgegangenes Licht auf seinem Gesicht. Er nickte. + +"Stimmt schon," sagte er. + +"Also sag' ich der Rienken, daß ich komme?" fragte Anna. + +"Ich muß dann auch was suchen," gab Johann statt jeder Antwort zurück. + +"Ach, du bist ja verdreht!--Ja freilich, freilich,--sofort denkt er, +er muß nun wieder rackern von früh bis spät und für die Familie +sorgen! Ach du, du!" lachte Anna und knüllte seinen Kopf in ihre Brust. + +Jeden Nachmittag um vier Uhr ging Anna nunmehr zur Bar "Tip-Top" der +Sylvia Rienke. Spät in der Nacht kam sie stets nach Hause, roch nach +Zigaretten und Alkohol. Manchmal war sie auch leicht betrunken, +brachte allerhand zu essen und zu trinken mit, und dann saßen die +beiden Eheleute nicht selten his zum Morgengrauen in der besten Laune +beisammen und ließen sich's gut gehen.-- + +In der letzten Zeit war Johann Krill etwas einsilbiger. Er saß meistens +in Hemdsärmeln im Schlafzimmer und schien schwerfällig immer über das +gleiche nachzudenken.-- + +Ja, alles war ausgelöscht. Langweilig und trist vertropften die +Stunden. Es war ungemütlich. Wenn man den ganzen Tag in der Fabrik +arbeitete, verging wenigstens die Zeit schneller. + +Aber Anna zerstreute ihn immer wieder. + +Wenn sie nachmittags weggegangen war, verließ auch er die Wohnung und +lungerte entschlußlos in der Stadt herum oder setzte sich in +irgendeine Kneipe. Und jetzt, da er sich alleingelassen sah, +unterhielt er sich auch wieder mit seinesgleichen. + +"Maschinenschlosser?" fragte ihn eines Tages ein älterer Arbeiter am +Kneipentisch. + +"Ja," antwortete Krill. "Eventuell auch zum Maschinisten zu +gebrauchen?" + +"Bei Schall und Weber war ich Maschinist." + +"Mensch, bei uns sucht man solche. Geh hin. Du kannst sofort +anfangen," erzählte der Arbeiter und überprüfte Krill. + +Der nickte. + +Etliche Tage nachher schlief Johann schon, als Anna heimkam. Sein +Gesicht war rußig. Er schwitzte. Anna wollte ihn aufwecken, aber er +drehte sich schläfrig um und schnarchte weiter. Verärgert legte sie +sich ins Bett. + +In der Frühe, als plötzlich der Wecker schrillte, schrak sie empor und +sah erstaunt auf ihren Mann, der sich eben wusch. + +"Arbeitest du denn wieder?" fragte sie. + +"Ja." + +"Dumm!--Ich hätte jetzt etwas für dich.--Ein schöner Posten," sagte +sie und richtete sich vollends auf im Bett. + +Einige Augenblicke stummten sie einander an. + +"Der Fabrikmensch, der immer Schwedenpunsch schmeißt, hat mir's +versprochen ... Laß doch das andere fahren, da verkommst du ja bloß," +begann Anna wieder und wollte eben aus dem Bett springen. + +"Jetzt ist's schon wie's ist!" knurrte er und ging. + + +III. + +Es gab Ärgerlichkeiten bei Krills. Dadurch, daß nun auch Johann seiner +Arbeit nachging, vernachlässigte der Haushalt. Anna, die oft erst +gegen zwei oder drei Uhr nach Hause kam, schlief bis tief in den +Mittag hinein. Schließlich meldeten sich die Wanzen. Man putzte, +schrubbte, streute übelriechende Pulver aus. Aber es half nichts. Es +war unerträglich zuletzt. + +"Das ist eine verschobene Sache, wenn du ins Geschäft gehst und hier +muß alles verkommen," sagte Johann zu Anna. + +"Für wen tu' ich's denn?--" erwiderte sie, "man braucht soviel und die +Löhne sind zum Verhungern." + +Sie kam schließlich auf alles zu sprechen. Daß man sich doch nicht +umsonst von unten herausgewunden habe, daß man doch nicht zu den +Nächstbesten gehöre und man müsse jetzt eine neue Wohnung haben. Was +der Umzug schon koste! Alles klang wie ein zaghafter Vorwurf. +"Warten hättest du sollen. Der Herr mit dem Schwedenpunsch ist so +nett. Du könntest da gut unterkommen." + +Eine Zeitlang ging es auf solche Weise hin und her. Johann war die +ganze Rederei schon widerwärtig. + +"Was du doch alles erzählst! Sind wir denn weiß der Teufel was?!" +sagte er endlich fester: "Mein Vater hat sein Leben lang gearbeitet. +Meine Mutter stand noch mit siebzig Jahren früh um vier Uhr auf--und +wir, wir bilden uns auf einmal ein, etwas Besonderes zu sein!" Während +des Redens schon bekam sein Gesicht langsam eine bestimmtere Haltung. + +Schließlich, als aller Spruch und Widerspruch allmählich erlahmte, +einigte man sich aber doch, und Johann willigte beiläufig ein, sich in +der Fabrik des Herrn, der bei der Rienken jeden Abend Schwedenpunsch +bezahle, vorzustellen. + +Mit jedem Tag wurde er nun auch mißvergnügter. Es gefiel ihm nicht +mehr in seiner Fabrik. Er wurde mürrisch gegen jedermann und kam +zuletzt plötzlich nicht mehr. Nach einigen Tagen stellte er sich in +dem anderen Betrieb vor. Er wurde merkwürdig freundlich empfangen und +ging besinnungslos darauf ein, Nachtschicht zu machen. + +Anna behandelte ihn zärtlicher als je, wenn er frühmorgens ankam. +Nicht lange darauf fand sie auch eine Wohnung im dritten Stock des +Rienkeschen Hauses und alles machte einen glücklichen Anlauf. Sie +brachte jetzt immer mehr mit. Pasteten, kalte Hühnerschenkel, Blumen, +Zigaretten, halbe Flaschen Wein, ja zuletzt sogar Stoffe, Halsketten, +einen Ring. + +Sie war in der fröhlichsten Laune jedesmal und erzählte von diesem und +jenem Herrn, von den guten Gästen bei Rienkes und konnte sich nicht +genug tun, den Chef Johanns zu loben. + +"Und was ich dir sage--er ist ein Mensch, der das Leben kennt. Er ist +für die Arbeiter. Er läßt leben neben sich," plauderte sie. + +Und Johann lächelte hölzern und sah auf ihre Brüste, die schwammig und +verbraucht nach unten sich sackten. + +"Ist für die Arbeiter--?" sagte er und sah sie dumm an. + +"Ist ein anständiger Mensch. Keiner von den Ausnützern, gar nicht so +eingebildet und hochnäsig--und fidel, sag ich dir, fidel,--na ich +danke, wenn der anfängt. Man kann sich schief lachen," erwiderte Anna +und lachte auf, als erinnere sie sich an etwas sehr Drolliges. + +"Und--der gibt dir--so--solche Sachen?" + +Annas Mund zuckte ein wenig. Sie schlug schnell die Augen nieder und +fand das Wort nicht gleich. + +"Hmhm," brachte sie dann heraus und schluckte etwas hinunter, setzte +rasch hinzu: "Und die Rienken ist so nett zu mir." + +"So," brummte Johann nur noch, "nu ja, es geht immer rundum." + +Dann legte er sich schlafen. + +Am Abend schlüpfte er in seine Sonntagskleider und ging nicht in die +Fabrik. Er durchwanderte etliche Male die Quergasse und trat dann in +die "Tip-Top"-Bar. + +Es ging bereits fidel zu. Einige Herren in modischem Anzug saßen vorne +am Büfett auf den hohen Stühlen und saugten an den Strohhalmen, die in +schlanken gefüllten Gläsern mit glitzerndem Eis staken. In der einen +Ecke spielte ein Befrackter Klavier und ein hagerer Geiger begleitete +ihn. In den Nischen, die mit künstlichem Efeu zu Laubengängen +hergerichtet waren, tuschelte es und hin und wieder zirpte ein +schrilles Auflachen aus ihrem Dunkel. Eben wollte eine hochbusige +duftende Bedienerin mit zuvorkommender Freundlichkeit auf Johann +zueilen. Da auf einmal schrie es aus einer Nische: "Um Gotteswillen, +Hans!" Und ein hurtiges Getrampel und Knarren wurde hörbar. + +Johann wandte schnell den Kopf dahin und sah hinter einer dichten +Weinflaschenparade das pralle, runde, kleinstirnige Gesicht seines +Chefs, die Rienken und das totenblasse, entsetzte Gesicht seiner Frau. +Die Köpfe der drei hingen auseinander wie schwere Dolden. Geradewegs +ging Johann auf sie los und ließ sich in einen der gepolsterten Stühle +an ihrem Tisch fallen. + +Eine peinliche Stille trat ein. Jeder hielt jetzt fassungslos den Atem +an. Nur Johann schien sicher zu sein. + +"Ich bin nicht zur Schicht gegangen, Herr Hochvogel--ich hab' einen +Höllendurst, ich könnt' ein Meer aussaufen," sagte er ohne sichtliche +Erregung und lächelte schnell. Das löste eine Entspannung aus. Man +atmete wieder und nahm langsam die gewöhnliche Haltung an. Der +Fabrikherr schnitt ein malitiöses Gesicht. Er suchte sich zu fassen +und griff zum Weinglas. + +"Heiß ist's hier," sagte Johann wieder. + +"Nicht zur Schicht? Aber Johann!?" brachte nunmehr Anna heraus. Die +Rienken erhob sich und verließ den Tisch. + +"Das macht doch nichts, oder? Herr Hochvogel, macht das was aus?" +fragte Johann den Fabrikherrn. + +"Na--wissen Sie, meinetwegen,--wir wollen einige gute Schoppen +heben--ich kann's verstehen,--ich drück' gern ein Auge zu--bei Ihnen, +Herr Krill.--Sie sind mir gut--sie arbeiten zuverlässig, da--da--da +übersieht man auch mal einen Seitensprung, Prost!" sprudelte der +Fabrikherr verlegen. Die Worte flossen schnell, fast ängstlich aus +ihm, so, als wären sie wunderliche Ziegelsteine, mit denen man im Nu +eine schützende Mauer um sich schließen könnte. + +"Zu gütig," lispelte Anna bereits. + +Und Herr Hochvogel goß das Glas der Rienken voll und schob es behend +dem Arbeiter hin: "Da, trinken Sie!" + +Die ärgste Gefahr schien behoben zu sein. Man konnte es an den +allmählich sich wieder aufheiternden Gesichtern sehen. Auch die Wirtin +kam wieder an den Tisch und der Fabrikant bestellte in einem fort. + +Johann beachtete das Getue Hochvogels mit seiner Frau auch nicht +weiter. Er trank in vollen Zügen und wurde immer lustiger, lachte und +machte hin und wieder einen dreisten Witz. Dadurch wurde auch Anna +kühner. Sie wich nicht von der Seite des Fabrikherrn und streichelte +ihn ein paarmal kosend, warf belustigte Blicke zwischen den beiden +Männern hin und her. + +"Hab ich nicht gesagt, Hans, daß er ein netter Mensch ist?" sagte sie +übermütig und lachte piepsend. + +"Ein netter Me--ensch! Ein sehr netter Mensch! Ein Goldmensch!" +brümmelte Johann schon etwas betrunken und summte weiter: "Verbringt +das Geld so gemütlich, so--so--so--" Er wankte bereits him und her und +rülpste ungeniert in den Tisch. Gläsern standen seine Augen. Die +anderen kicherten. + +"Hat ihn schon mächtig," hörte er Hochvogels Stimme. + +"Na, na! Herr Krill, na--!" rief die Rienken. + +Johann hob den schweren Kopf und glotzte auf das verschwommene Gemeng +der drei, die im fahlen Lichtschimmer hinter den Weinflaschen sich hin +und her drückten. + +"Ein ne--etter Mensch,--eine richtige Qualle--e--iin dummes Vieh!--Ein +geiler Orang--g--kutan, hahahaha--hat den Schwanz eingezogen, weil der +Wärter gekommen ist, haha--a--a!--" Johann sank haltlos zurück. + +"Das ist zu stark!" zischte Hochvogel. Der Tisch knarrte. Die +Weinflaschen klirrten gegeneinander. Die zwei Frauen lispelten +besänftigend. Schnell, überschnell mengten sich ihre flehenden Worte +ineinander. Ein Gezerre um den Aufgestandenen begann. + +Mit herabhängenden Armen, halb eingeschlafen, zerfallen hing Johann +auf dem Stuhl. "Er ist doch betrunken!" "Bitte, bitte,--er ist's doch +nicht gewohnt!" "Er meint's doch nicht übel, Herr Hochvogel!" +"Bitte!--Hier, trinken Sie. Er schläft ja schon! Seh'n Sie, seh'n +Sie!--Es passiert nie wieder. Ich sag's ihm morgen,--mein Wort, mein +Ehrenwort!" alles zerfloß ineinander, bittend, winselnd, aufgeregt, +ängstlich. + +Wie ein zischendes Gezirpe umsummte dieses Geplätscher Johanns Kopf. +Als gieße irgend jemand kaltes Wasser üher ihn. + +"Haha! Hat's viellleicht gestoh--lllen und--und wirft's weg,--dadas +Gellldt,--wei--weils brennt in der Tasche, haha,--das dumme Vieh, +haha--das Arschloch!" grunzte der Betrunkene lallend und lachte +ruckweise, immerfort, glucksend. + +Da wurde der Tisch weggestoßen und stapfend hasteten Schritte vorbei. +Wieder das Gezwitscher. Noch geschäftiger. Dann fiel eine Tür krachend +zu. + +"Hans!" schrie Anna wütend und riß ihren Mann an der Schulter. + +"Saustall!" stieß die Rienken heraus. + +Krill hob den Kopf und langte lahm nach Anna: "Haha--ha--es ist so +wunderschön auf der We--elt, haha--ha!" + +Sein ausgreifender Arm fiel wieder herab. Er sank in die alte Haltung +zurück. Dünner Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Er schnaubte +geräuschvoll wie ein Pferd, das von der Kolik geplagt wird. + +Unter wüstem Gezeter und Gejammer verließ Anna mit ihm die Bar. Sie +mußte ihn buchstäblich die Stiege hinaufschleppen. + + +IV. + +Dieser unerquickliche Vorfall hatte schlimme Folgen. Am andern Tag, +sehr früh, schellte es. Krill schlief wie ein Sack. Anna schreckte auf +und lief halb angekleidet an die Tür. Der Ausgeher der Hochvogelschen +Fabrik brachte die Papiere und den Lohn für Johann. In einem sehr +kurzen, ärgerlichen Brief stand, daß sich Krill nicht mehr sehen +lassen sollte und entlassen sei. + +"Ja, ja--ist schon recht!" sagte Anna verwirrt und warf die Tür zu. +Ohne Johann zu wecken, kleidete sie sich an und ging in die Fabrik +hinaus, um Hochvogel zu besänftigen. Auf dem ganzen Wege überlegte sie +sich die besten Worte und übte sich in der Art, wie sie den +Verärgerten wieder dazu bewegen wollte, daß er stillschweigend über +das üble Ereignis hinwegginge.-- + +Aber sie wurde nicht vorgelassen. Erbittert und erniedrigt trat sie +den Heimweg an. + +"Da!--Das hast du gemacht mit deinen Dummheiten!" fuhr sie den +inzwischen erwachten, auf dem Bettrand sitzenden Johann an und warf +ihm das Schreiben Hochvogels him. Der blickte stumpfsinnig zu ihr auf +und sagte kein Wort. Dies erregte sie nur noch mehr. Sie stampfte +schimpfend aus dem Schlafzimmer und rannte zur Rienken hinunter. + +Die Wirtin empfing sie sehr kühl. + +"Herr Hochvogel hat mich wissen lassen, daß er nicht mehr kommt. Ich +kann Sie nicht mehr brauchen.--Das ist der Dank dafür, daß ich mich +so um Sie angenommen habe," schimpfte sie mit hochgehobenem Kopf. Anna +versuchte auf alle mögliche Art, sie umzustimmen. Vergebens. + +"Und überhaupt--glauben Sie, ein solcher Mann wie Hochvogel läßt sich +derartige Schmutzigkeiten ins Gesicht sagen! Passen Sie mal auf,--das +hat noch ein gerichtliches Nachspiel. Und ich, was hab' ich von meiner +Gutmütigkeit?--Vor die Gerichte werde ich gezerrt. Mein Lokal verliert +den guten Ruf--ich hab' den Schaden und sitz' in der Patsche,--werden +Sie sehen, ob's nicht so kommt?--Sagen Sie es nur ihrem 'Kerl'--am +liebsten ist's mir, ihr zieht aus. Basta!" zeterte die Bienken immer +bestimmter. + +Auch Anna wurde allmählich ärgerlich und schimpfte. + +"Geh'n Sie bloß aus meinem Lokal, Sie--Sie! So eine krieg' ich alle +Tage!" fauchte die Wirtin wütend, rannte zur Tür und riß sie auf: +"Geh'n Sie bloß aus meinem Lokal!" "Geh'n Sie!" schrie sie, daß ihr +Kopf blau anlief: "Geh'n Sie! Sie--Sie Ludermensch!" + +Auch in Anna platzte die angesammelte Wut nun vollends. + +"Was sagen Sie da, was?! Sie Kupplerin, Sie dreckige!" schrie sie +schriller noch. "Solang man sich hergibt, ist man gut, dann kann man +gehen, Sie Dreckfetzen!" + +"Geh'n Sie! Geh'n Sie!" pfiff die Wirtin erstickt: "Hinaus da, +hinaus!" + +Keifend verließ Anna das Lokal. Zitternd vor Erregung kam sie in ihrer +Wohnung an. "Es ist Schluß mit allem! Ich mag nicht mehr!" stöhnte sie +erschöpft und sank in einen Küchenstuhl. Unter stoßweisem Weinen und +Vorwürfen erzählte sie Johann ihr Mißgeschick. Der hatte den Kopf +unter dem Hahn der Wasserleitung und ließ immerfort den kalten Strahl +üher ihn herabrinnen. Er drehte sich nicht um. Nicht im mindesten ließ +er sich stören. Annas Geduld riß völlig. Sie begann wüst zu schimpfen. + +"Und du!--Du lungerst da heroben herum und läßt mich die Füße +ausrennen! Ich kann mich mit den Leuten herumschlagen und die Suppe +ausfressen, die du eingebrockt hast!" bellte sie ihn an. "Du! Du +Lump!" + +Er drehte sich endlich um. Kein Wort kam aus ihm. + +"So rede doch, Stock!" schrie sie, "was willst du denn jetzt machen? +Ich kann nichts mehr tun! Ich bin kaputt!" Er schwieg immer noch. Da +stand er, tatsächlich wie ein Stock. Sie zerbrach an seiner +Gleichgültigkeit und fiel in ein heftiges Weinen. Es schüttelte sie +gerade so. Johann sah ohne Niedergeschlagenheit auf ihre +zusammengekauerte, zuckende Gestalt nieder. + +"Was ich tun will?" sagte er endlich leichthin, als sei gar nichts +vorgefallen,--"der wird mich schon nicht gleich herauswerfen. Ich gehe +einfach heute wieder zur Schicht und fertig. Und die Rienken--die wird +schon wieder aufhören mit ihrem Geschimpfe, wenn sie müd ist." Anna +blickte auf einmal auf zu ihm. "Ist doch ein netter Kerl, dieser +Hochvogel. Mit dem läßt sich doch reden," brummte er. Der arglose +Ernst, die Selbstverständlichkeit dieser Worte bezwangen. Tatsächlich +wurde sie vollkommen ruhig und glaubte zuletzt wirklich, daß dies der +einzig glückliche Weg sei, mit einem Schlag alles Mißliche beheben +würde. + +"Herrgott, ich bin ja auch so dumm! Ich laß mich von jedem ins +Bockshorn jagen," schalt sie sich selbst, wischte sich schnell die +Tränen ab und stellte Kaffeewasser auf. Ganz munter wurde sie wieder. + +Als sie dann wieder am Tisch saßen, begann sie über die Rienken zu +schimpfen und über Hochvogel und erzählte im Laufe des Gesprächs alles +mögliche von den beiden. + +"Es war ganz richtig, daß du ihm mal heimgeleuchtet hast," sagte sie, +"die ganze Sippschaft glaubt immer, sie könnte Schindluder mit einem +treiben!--Was hat er mir nicht alles angetragen, wenn ich mit ihm +schlafen würde! Und wie hat die Rienken gekuppelt und jetzt--jetzt +spielt sie sich auf, diese Sau, diese alte!" + +Sie blickte immer wieder wie verlegen zu Johann herüber, wurde aber, +da er vollkommen ruhig war, immer weitschweifiger und erzählte mehr +und immer mehr. Sein Gleichmut quälte sie. Sie berichtete dreister, +anzüglicher. + +"Er hat das Geld gerade so weggeworfen. Die Bluse hat er mir +aufgerissen, einmal. Er hat immer seine Hand unter meinem Rock gehabt, +der Drecksack! Von den Hosen hat er einmal ein halbes Dutzend +dahergebracht und wollte, daß ich's vor ihm anziehen soll--und die +Bienken half mit und verschwand immer, wenn er anfing," sagte sie und +fuhr fort: "Einmal wollt' ich ihn schon heraufnehmen in der Frühe und +abwarten, bis du von der Fabrik kämst." + +Johann verzog keine Miene. + +"Jaja--das Loch und das Geld," brummte er beiläufig. "Es geht immer +rundum." + +Ihre Hände bewegten sich in einem fort. Nervös zerrieb sie die +Brotkrumen mit den Fingern. Sie erzählte nichts mehr. Sie schwieg. Als +er fortgegangen war, fiel ihr Kopf auf den Tisch und ein wüstes +Schluchzen brach aus ihr.-- + +Johann kam ohne Hindernis durch die Fabrikpforte. Im Umkleideraum +trafen ihn bereits befremdende Gesichter. Keiner sprach ihn mehr an +und als er in den Maschinenraum hinuntersteigen wollte, kam der +Schichtmeister rasch auf ihn zu und rief: "Sie sind doch entlassen, +was wollen Sie denn noch hier?" Einige Arbeiter blieben mit +verwunderten Mienen stehen. Das rüttelte ihn aus der Fassung. Er sah +beklommen auf den Schichtmeister, auf die Arbeiter und hilflos im Raum +herum. + +"Sie sind nun einmal bestimmt entlassen, das weiß ich," rief der +Schichtmeister resoluter, "ich kann gar nicht verstehen, daß Sie der +Pförtner hereingelassen hat, der hat es doch gewußt! Hat er Sie denn +nicht darauf aufmerksam gemacht?" + +Johann schüttelte stumm den Kopf, blieb beharrlich stehen, dumm und +kindisch. Die beiden anderen Arbeiter trotteten weiter. + +Der Schichtmeister holte den Portier. Zeternd redete er auf denselben +ein, als er mit ihm ankam. + +"Wie konnten Sie denn den Mann hereinlassen. Der Chef hat's doch +ausdrücklich gesagt, daß er entlassen ist," bellte er. + +Der Portier sah verärgert auf Johann und sagte ebenfalls: "Jaja, ich +hab' Sie nur nicht gesehen. Sie sind entlassen. Sie haben hier nichts +mehr zu suchen." + +Johann knickte zusammen. + +"Ja--ja, nu ja, dann muß ich gehn," stotterte er endlich heraus, ging +in den Ankleideraum und entfernte sich. Niedergedrückt, fast beschämt +trat er durch das große Fabrikportal ins Freie. Zermürbt kam er zu +Hause an. + +"Ja," sagte er tonlos zu Anna, "man hat mich rausgesetzt!" + +"Da hast du es nun!" stieß diese heraus, "Trottel!" Die Vorwürfe +begannen von neuem. + +"Ich muß mich eben wieder um was anderes umsehn," brummte er +ärgerlich. + +"Und ich?! Wenn die Rienken uns hinaussetzt, was ist dann! Glaubst du, +ich hab' mir umsonst meine Füße ausgerannt, daß wir ein wenig +anständiger leben konnten! Du keine Arbeit, kein Geld, ich nichts zu +tun--ich danke!" belferte sie. + +"Nu ja, in Gottesnamen, es wird schon wieder werden!" schloß er und +legte sich zu Bett. Machtlos stand Anna vor diesem Stumpfsinn. Vor +Verbitterung zitterte sie am ganzen Körper und faustete in einem fort +die Hände. + +"Herrgott, es ist ja zum Davonlaufen!" schrie sie auf einmal: +"Meinetwegen--ich geh!" Sie schmiß heftig die Tür zu. "Dummes +Frauenzimmer!" Er stieg aus dem Bett, rief ihr nach, aber es +antwortete niemand mehr. + +Wegen solcher Dummheiten war man plötzlich aus der Ordnung +gerissen.--Er schloß die Tür wieder. + +Der Nachtschlaf war auch zum Teufel.-- + +Er kleidete sich schließlich an und ging sie suchen. + +Ohne nachzudenken, wanderte er zur Fleischgasse und fand sie auch +dort. Bereits stand ein Herr in einem hellen Regenmantel vor ihr und +lispelte. Johann trat an die beiden heran und riß Anna weg: "Unsinn! +Komm!" + +"Ich mag nicht!" knirschte sie eigensinnig und wollte sich losmachen. + +Der Herr im Regenmantel ergriff ihre Partei und begann zu brüllen. Er +schwang schon den Stock und wollte auf Johann einbauen. Da kam ein +Schutzmann eiligen Schrittes angeflitzt, notierte den Namen des Herrn +und nahm die beiden mit auf die Wache. + +Alles Gejammer Annas half nichts. Das Erklären Johanns war vergebens. +Sie mußten mit. + +Häßlich, wie das Mißgeschick die Menschen gemein macht! Auf dem ganzen +Weg überschüttete Anna Johann mit den wüstesten Schimpfworten und +schließlich riß auch diesem die Geduld. + +"Halt das Maul, dummes Vieh, dummes!" fluchte er, "hilft ja doch +nichts! Was läufst du denn davon, so mitten in der Nacht! Jetzt hast +du es." + +"Vorwärts! Marsch-marsch!" knurrte der Schutzmann immer wieder. + +V. Der Vorfall in der Fleischgasse hatte zur Folge, daß man Johann +wegen Zuhälterei in Untersuchung behielt. Ein Verfahren wurde gegen +ihn eingeleitet. Anna entließ man nach ungefähr zehn Tagen. Sie wurde +polizeiärztlich untersucht und erhielt die übliche Erlaubniskarte der +Prostituierten wieder. Als sie zu Hause ankam, war sie nicht wenig +erstaunt. Die Rienken, nun einmal rabiat geworden, hatte die +Gelegenheit benützt und pfänden lassen. Während der Haftzeit nämlich +war der Monatserste gekommen, der Dritte, der Fünfte und der Siebente. +So waren wenigstens die ziemlich eindeutigen Briefe der Bar- und +Hausbesitzerin, die im Kasten steckten, datiert. Man sah es den +schiefen, gekratzt-hingeflitzten Buchstaben der Schrift förmlich an, +daß Sylvia Rienke das Warten auf den Mietszins satt hatte, das Warten +und diese Mieter. "Diese, wo Kerle haben, die mir meine Gäste +verjagen, können bei mir ziehen," hieß es endlich im Kündigungsbrief +vom Achten. Und Recht behielt sie, die wackere Wirtin. Anna mußte +ziehen. Sie verkaufte, was übriggeblieben war, und bezog ein Zimmer in +der Nähe der Fleischgasse. + +Die drohend gereckten Fäuste, die sie am Tage ihres Abzuges, plärrend +und keifend, mit weißem Schaum vor dem Munde, der Rienken +entgegenhielt, und das hämische, restlos rachsüchtige: "Das streich +ich dir noch an, Mistvettel!" waren ein Anfang für ihr weiteres +Verhalten. Jetzt gab es fast jeden Tag kleinere oder größere +Unannehmlichkeiten in der Bar "Tip-Top". Anna hetzte Polizei und von +ihr bestochene skandalsüchtige Gäste in das Lokal. + +In der ganzen Fleischgasse war sie jetzt die Fleißigste. Mit einem +Eifer, ja, mit einer geradezu fanatischen Selbstvergessenheit, wie man +sie nur bei Verzweifelten oder Bohrend-Hassenden findet, verbiß sie +sich ins Verdienen. + +"Die?! Hm, die schleppt auf Rekord," ließ sich nicht selten eine +andere Prostituierte vernehmen, wenn die Rede auf Anna kam. Und es +stimmte.-- + +Das Merkwürdigste aber war, daß sie nunmehr alle Hebel in Bewegung +setzte, um Johann frei zu bekommen. Sie warf das Geld weg an +Rechtsanwälte, verfaßte eine Eingabe um die andere, bestürmte die +Instanzen, rannte von Pontius zu Pilatus, ja, sie faßte zu guter Letzt +sogar dem romantischen Plan, ihn mit Hilfe einiger Männer zu befreien, +die ihr das Blaue vom Himmel herunterzuholen versprachen, ihr Geld und +wieder Geld abnahmen und eines Tages verschwanden. + +Und Johann? + +Er lag den ganzen Tag auf der Pritsche, wurde sogar dick von dem Essen, +das sie ihm schickte, und war stets ruhig und trocken, wenn sie ihn +besuchen durfte. Als sie ihm von dem Auszug aus dem Rienkeschen Hause +erzählte, hörte er stumm zu--dann, nach einer Weile, lächelte er +und sagte: "Hml Hm,--war doch schön an dem Abend mit Hochvogel, +hmhamhm!" + +Er fand nichts Schlimmes daran, daß Anna manchmal klagte. + +"Es ist--man müßte so was aufmachen, wie die Rienken hat," sagte er +ein andermal wie aus einem dumpfen Gedankenkreis heraus. + +Und wieder einmal, als Anna jammerte, daß alles Essen so teuer wäre, +ließ er so etwas fallen wie: "Nuja, die Bauern machen sich jetzt +gesund. Hm, die Bauern und die, die was für'n Magen verkaufen--" + +Man sagt, der Weise überwindet und kommt zur vollkommenen Ruhe. + +Es gibt Menschen, die ohne Empfindungsvermögen geboren werden. Und es +sind welche, die, wenn die Schmerzen und Erschütterungen ihre Seele +in zu rascher Aufeinanderfolge zermürben, zuletzt in eine völlige +Stumpfheit münden. Zu diesen gehörte Johann Krill. + +"Es war doch schön an dem Abend mit Hochvogel--so gemütlich!" und "So +was wie die Rienken hat, müßt' man aufmachen." Das war er!-- + +Mittlerweile kam der Termin zur Verhandlung gegen ihn. Anna hetzte +noch mehr herum. Sie schlief nicht mehr, sie vergaß das Essen. + +Im Gerichtssaal hustete sie die ganze Zeit. Unstet liefen die Pupillen +ihrer Augen von einem Winkel zum anderen. Auch die Rienken war als +Zeuge geladen. Dummerweise war einer von den letzten Anwälten, die +Anna genommen hatte, darauf gekommen, sie zu laden. Sie trug ein +schwarzes Seidenkleid, dessen schweres Spitzengewirr vom speckigen +Nacken kraus herabrann üher den hochgeschnürten, überquellenden Busen. +Ein blutrotes Granatkollier prangte patzig auf der gelben, welken Haut +ihres Halses, dessen blaue Äderung nur schlecht vom dick aufgetragenen +Puder verwischt war. Ihre Froschhände waren beteuernd auf den Magen +gepreßt und spielten manchmal mit dem Schildpatt-Lorgnon, das an einer +breiten goldenen Kette herabhing. + +"Ich bin gleich fertig mit meinen Aussagen, Herr Amtsrichter, ich hab' +ein Geschäft und viel im Kopf," begann sie, als sie aufgerufen wurde. + +"Die?!--Gott sei Dank, ich hab' immer anständige Bedienerinnen gehabt," +fuhr sie fort, üher Anna befragt, und warf einen seitlichen, herablassenden +Blick auf diese, "aber nun, man tappt auch einmal herein.--Ich hab' es mir +aber--glauben Sie es mir, Herr Amtsrichter, ich bin fünfzehn Jahre auf dem +gleichen Platz und weiß, was der Ruf für ein Geschäft ausmacht--ich hab' +es mir geschworen: Rienken, sagt' ich mir, Rienken--von der Fleischgasse +nimmst du keine mehr, nicht um die Welt!" Sie kam immer mehr in Zug. + +"Vettel!" schrie Anna schrill und wurde verwarnt. Die Rienken drehte sich +schnell um und dann wieder zum Richter. "Man soll sich nicht ärgern, Herr +Amtsrichter?" Und sie schnitt eine weinerliche Miene: + +"Wie hab' ich den Leuten geholfen und was hab' ich davon!--Es ist bloß +gut, daß ich meinen Kopf nie verlier', es ist ja bloß gut, daß ich +mich nie auf die gleiche Stufe stelle mit--mit--so was." + +Und endlich zur Sache gerufen, erzählte sie weitschweifig, daß Johann +die Stellung bei diesem Fabrikherrn nicht umsonst angenommen habe. +"Und Nachtschicht--er wird schon gewußt haben, warum. Man kennt +solche--Nachtschichten!" Und Herr Hochvogel?... Sie geriet etwas in +Verwirrung. Nun, der habe bald klar gesehen, ein solcher Herr ließe +sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. + +"Der muß her! Der muß Zeuge machen!" schrie Anna, und ihr Rechtsanwalt +brachte es auch fertig. Nun wurde es aber noch ungünstiger. Obwohl dem +Fabrikanten die ganze Sache äußerst unangenehm war, obwohl er sich +außerordentlich zurückhielt und nichts gegen Johann eigentlich +vorbringen konnte, als eben jenen üblen Vorfall in der Rienkeschen +Bar--es machte alles einen schlechten, sehr schlechten Eindruck +--Johann Krill wurde verurteilt. + +Anna bekam einen minutenlangen Schreikrampf. Sie stürzte vor und +wollte auf die Rienken los. Es mußten sie Schutzleute mit Gewalt +wegbringen. + +Johann, der ohne Erregung den Auftritten zusah, nahm alles mit Ruhe +hin. Er lächelte fast verlegen, als ihn die Richter am Schluß fragten, +ob er noch etwas zu sagen wünsche. + +"Dumm," brummte er und kratzte sich hinter dem rechten Ohr, "dumm, +Herr Richter, man tappt eben hinein und--und dann passiert allerhand." + +Die steinernen Amtsmienen wußten einen Augenblick lang wirklich nicht, +sollten sie lachen oder einige beruhigende Worte des Mitleids aus ihren +Lippen lassen. + +Damit war es zu Ende. Anna konnte Johann nun nicht mehr besuchen. Die +beiden waren auseinander.--In ihrer Wut schlug Anna einige Tage +später die zwei großen Fensterscheiben der Rienkeschen Bar ein und +konnte mit Mühe nur überwältigt werden. Das Beil wurde ihr abgenommen +und der herbeigerufene Schutzmann nahm sie mit. + +Und wieder gab es einen Prozeß. Wegen Bedrohung und Sachbeschädigung +wurde Anna Krill zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. + +Hier bricht der Faden ab. Es ist nichts mehr zu berichten. + +Eine Million ist viel--eine Milliarde ist mehr.--Johann Krill ist +Legion. + +Vielleicht arbeitet Johann Krill wieder irgendwo oder er trinkt, oder +er hat den Halt verloren und sitzt weiter in Gefängnissen. + +Anna--Sie wird eines Tages krank sein, wieder gesunden, wieder krank +werden und so fort.... + +Das einzige, was bestehen bleibt, solange wie diese Gesellschaft, +ist--die Rienken! + +Wie lange noch?! + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, ZUR FREUNDLICHEN ERINNERUNG *** + +This file should be named 8zfre10.txt or 8zfre10.zip +Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 8zfre11.txt +VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 8zfre10a.txt + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +We are now trying to release all our eBooks one year in advance +of the official release dates, leaving time for better editing. +Please be encouraged to tell us about any error or corrections, +even years after the official publication date. + +Please note neither this listing nor its contents are final til +midnight of the last day of the month of any such announcement. +The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at +Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A +preliminary version may often be posted for suggestion, comment +and editing by those who wish to do so. + +Most people start at our Web sites at: +http://gutenberg.net or +http://promo.net/pg + +These Web sites include award-winning information about Project +Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new +eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!). + + +Those of you who want to download any eBook before announcement +can get to them as follows, and just download by date. This is +also a good way to get them instantly upon announcement, as the +indexes our cataloguers produce obviously take a while after an +announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter. + +http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext05 or +ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext05 + +Or /etext04, 03, 02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, +91 or 90 + +Just search by the first five letters of the filename you want, +as it appears in our Newsletters. + + +Information about Project Gutenberg (one page) + +We produce about two million dollars for each hour we work. The +time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours +to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright +searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our +projected audience is one hundred million readers. If the value +per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2 +million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text +files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+ +We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002 +If they reach just 1-2% of the world's population then the total +will reach over half a trillion eBooks given away by year's end. + +The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks! +This is ten thousand titles each to one hundred million readers, +which is only about 4% of the present number of computer users. + +Here is the briefest record of our progress (* means estimated): + +eBooks Year Month + + 1 1971 July + 10 1991 January + 100 1994 January + 1000 1997 August + 1500 1998 October + 2000 1999 December + 2500 2000 December + 3000 2001 November + 4000 2001 October/November + 6000 2002 December* + 9000 2003 November* +10000 2004 January* + + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created +to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium. + +We need your donations more than ever! + +As of February, 2002, contributions are being solicited from people +and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut, +Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois, +Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts, +Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New +Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio, +Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South +Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West +Virginia, Wisconsin, and Wyoming. + +We have filed in all 50 states now, but these are the only ones +that have responded. + +As the requirements for other states are met, additions to this list +will be made and fund raising will begin in the additional states. +Please feel free to ask to check the status of your state. + +In answer to various questions we have received on this: + +We are constantly working on finishing the paperwork to legally +request donations in all 50 states. If your state is not listed and +you would like to know if we have added it since the list you have, +just ask. + +While we cannot solicit donations from people in states where we are +not yet registered, we know of no prohibition against accepting +donations from donors in these states who approach us with an offer to +donate. + +International donations are accepted, but we don't know ANYTHING about +how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made +deductible, and don't have the staff to handle it even if there are +ways. + +Donations by check or money order may be sent to: + + PROJECT GUTENBERG LITERARY ARCHIVE FOUNDATION + 809 North 1500 West + Salt Lake City, UT 84116 + +Contact us if you want to arrange for a wire transfer or payment +method other than by check or money order. + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been approved by +the US Internal Revenue Service as a 501(c)(3) organization with EIN +[Employee Identification Number] 64-622154. 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