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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76986 ***
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+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
+
+ Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
+ Dmitri Philossophoff und anderen
+ herausgegeben von Moeller van den Bruck
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+ Übertragen von E. K. Rahsin
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+ Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band
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+ F. M. Dostojewski
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+ Ein kleiner Held
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+ Vier Novellen
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+ München und Leipzig
+ R. Piper & Co.
+ 1912
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+ R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912
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+ Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt
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+ Inhalt
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+ Vorwort VII
+ Ein kleiner Held 1
+ Weihnacht und Hochzeit 67
+ Njetotschka Neswanowa 83
+ Der Bettelknabe 373
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+ Vorwort
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+Der Band bringt, als der letzte der Ausgabe, vier Geschichten, die
+dadurch in einer gewissen abschließenden und versöhnenden Weise
+verbunden sind, daß sie, wenn auch mehr oder weniger tragisch, von
+Kindern und Kinderseelen handeln. Die drei ersten dieser Geschichten –
+„Kleiner Held“, „Weihnacht und Hochzeit“, „Njetotschka Neswanowa“ –
+stammen aus der frühesten Zeit Dostojewskis und gehören den Jahren 1848
+und 1849 an. Die größte von ihnen, „Njetotschka Neswanowa“, ist das
+Bruchstück eines Romanes, in der Wirkung ein liegengebliebenes
+Manuskript, ein unausgearbeiteter Entwurf, doch eben deshalb von einer
+Größe der psychologischen Anlage und übrigens auch von einer
+Großartigkeit der künstlerischen Erfassung, die ihn zu den tiefsten und
+gewaltigsten Dingen zählen lassen, die wir von Dostojewski besitzen. Die
+Dichtung erschien in den „Vaterländischen Annalen“, ihre Fortsetzung
+wurde durch Dostojewskis Verhaftung im Jahre 1848 unterbrochen, und nach
+der Rückkehr aus Sibirien ist das Fragment dann unausgeführt und
+unvollendet geblieben. – Die vierte Geschichte des Bandes, der
+„Bettelknabe“, gehört zu jenen „letzten Novellen“ von der Art der
+„Kleinen“ in Band XX der Ausgabe, die dem „Tagebuch eines
+Schriftstellers aus dem Jahre 1876“ entnommen sind und wohl von
+unmittelbaren Tagesereignissen angeregt waren, wie Dostojewski sie in
+den Zeitungen aufgezeichnet fand, oder selbst auf der Straße erlebte.
+
+ E. K. R.
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+ Ein kleiner Held
+
+
+Damals war ich noch nicht volle elf Jahre alt. Im Juli schickte man mich
+zum Besuch auf ein Gut in der Nähe von Moskau, zu meinem Verwandten
+T–off. Bei diesem hatten sich zu der Zeit einige fünfzig Gäste
+eingefunden, vielleicht sogar noch mehr ... genau weiß ich nicht, wie
+viele es ihrer waren – gezählt habe ich sie nicht. Es ging hoch her und
+man vergnügte sich nach Kräften. Fast hatte es den Anschein, als habe
+man die Feste zu feiern begonnen, damit sie nie wieder aufhören sollten,
+und der Hausherr schien sich geradezu geschworen zu haben, so schnell
+wie möglich sein ganzes Riesenvermögen zu vergeuden, ein Ziel, das er
+denn auch vor kurzem glücklich erreicht hat: er ist tatsächlich alles,
+auch den letzten Quadratfuß Land losgeworden.
+
+Jeden Augenblick trafen neue Gäste ein. Moskau war ja so nahe, daß man
+die Stadt vom Gute aus sehen konnte. Infolgedessen traten die
+aufbrechenden Gäste den zuletzt eingetroffenen meist nur den Platz ab
+und die Feste konnten schier endlos fortgesetzt werden. Vergnügungen
+aller Art folgten einander ununterbrochen und ein Ende dieser
+Reihenfolge war nicht abzusehen. Bald machte man hoch zu Roß Ausflüge in
+die Umgegend, bald weite Spaziergänge längs dem Fluß oder in den Wald;
+Picknicks und Diners im Freien gehörten zur Tagesordnung, und an schönen
+Abenden wurde regelmäßig auf der großen Terrasse des Herrenhauses
+gespeist. Diese war mit seltenen Blumen überreich geschmückt. Ihre
+duftende Blütenfülle ließ, vereint mit der glänzenden Beleuchtung der
+Tafel, unsere fast ausnahmslos hübschen jungen Damen noch viel schöner
+erscheinen, wenn sie in ihren frischen Farben nach den Ausflügen am Tage
+mit belebten Gesichtern und glänzenden schalkhaften Augen an der Tafel
+saßen und ein keckes Wortgeplänkel hin und her mutwillig und geschickt
+zu führen wußten, indes zwischen Scherz und Scherz ihr silberhelles
+Lachen erklang. Es wurde getanzt, musiziert, gesungen; bei schlechtem
+Wetter stellte man lebende Bilder, erfand Gesellschaftsspiele, bei denen
+es allerlei zu raten gab, und natürlich wurde auch Theater gespielt.
+Außerdem gab es manchmal Vorträge, die merkwürdigsten Erlebnisse wurden
+erzählt, Anekdoten herumgetragen usw.
+
+Aus der Gästeschar traten einige wenige von persönlicherem Gepräge
+ziemlich scharf hervor: und die waren denn auch anerkanntermaßen die
+Hauptpersonen. Selbstverständlich fehlte es auch hier nicht an Neid,
+Klatsch und den üblichen kleinen Verleumdungen, ohne die die Welt nun
+einmal nicht bestehen kann und ohne die wohl Millionen von Personen an
+ihrem Stumpfsinn sterben würden, wie die Fliegen im Herbst umkommen. Da
+ich aber damals erst elf Jahre zählte, fehlte mir noch das Verständnis
+für diese Menschensorte, und da meine Gedanken überdies mit ganz anderem
+beschäftigt waren, so blieb nur ein Teil von dem, was ich hin und wieder
+zufällig hörte, in meinem Gedächtnis haften. Später ist mir dann
+allerdings manches wieder eingefallen, was ich damals überhört oder
+nicht begriffen hatte. Sonst konnte sich nur das glänzende Äußere des
+Bildes meinen Kinderaugen dauernd einprägen. Und die allgemeine
+festliche Stimmung, die sorglose Fröhlichkeit, das heitere, glanzvolle
+Leben – alles das, was ich bis dahin noch nie gesehen und gehört hatte,
+konnte denn auch allerdings einen solchen Eindruck auf mich machen, daß
+ich mich in den ersten Tagen förmlich verlor und mir mein junger Kopf
+schwindlig wurde.
+
+Ich war natürlich noch ein Kind, nicht mehr als ein Kind, und die
+schönen Damen, die mich liebkosten, machten sich weiter keine Gedanken
+über mein Alter. Aber – merkwürdig! – trotz meiner elf Jahre bemächtigte
+sich meiner zuweilen doch schon eine seltsame Empfindung, die ich
+freilich selbst vorläufig noch nicht begreifen konnte: es war, als
+streiche irgend etwas ganz leise und zart über mein Herz, etwas
+Unbekanntes und Ungeahntes, wovon dann mein Herz wie nach einem heftigen
+Schreck zu brennen und zu pochen begann und mir oft ganz plötzlich das
+Blut heiß ins Gesicht trieb. Es kamen Augenblicke, in denen ich mich der
+verschiedenen kindlichen Vorrechte, die ich genoß, geradezu schämte und
+sie fast als persönliche Beleidigung empfand. Zuweilen aber bemächtigte
+sich meiner wiederum so etwas wie Verwunderung und ich schlich mich dann
+fort, irgendwohin, wo mich niemand sehen konnte, gleichsam nur, um
+einmal Atem zu schöpfen und mich an etwas zu erinnern, an irgend etwas,
+das da, wie mir schien, noch vor kurzem gewesen war ... wovon aber
+gleichwohl und ganz plötzlich jede Spur in meinem Gedächtnis wie
+ausgelöscht war ... – und ohne das ich doch, wie ich glaubte, nicht mehr
+auskommen konnte, wenn ich es auch keinem Menschen zeigen durfte.
+
+Zu guter Letzt schien es mir, daß ich den Menschen allen irgend etwas
+verheimlichte, wovon ich aber um keinen Preis auch nur ein Wort jemandem
+gesagt hätte, da ich kleiner Bursche mich dessen bis zu Tränen schämte.
+Bald aber begann ich in dem Trubel, der mich hier umgab, eine gewisse
+Einsamkeit zu empfinden. Es waren wohl noch andere Kinder da, aber sie
+waren alle entweder viel jünger oder viel älter als ich, und übrigens
+war es mir auch gar nicht um Spielgefährten zu tun. Freilich wäre mit
+mir nichts Besonderes geschehen, wenn ich nicht in der Gesellschaft eine
+Ausnahmestellung eingenommen hätte. In den Augen aller dieser reizenden
+Damen war ich noch das kleine unbestimmte Lebewesen, das sie liebkosten
+und mit dem sie wie mit einer Puppe spielen zu dürfen glaubten.
+Namentlich eine von ihnen, eine entzückende junge Blondine mit dem
+schönsten und reichsten Haar, das ich je gesehen habe und sehen werde,
+schien sich geradezu geschworen zu haben, mich nicht in Ruhe zu lassen.
+Während mich das Lachen, das sie unter den Gästen durch ihre
+ausgelassenen Scherze, die sie mit mir trieb, hervorrief, entschieden
+verwirrte und ärgerte, schien es ihr im Gegenteil und ganz fraglos ein
+riesiges Vergnügen zu bereiten. Sie benahm sich oft wie ein richtiges
+Pensionsmädel, doch sah sie dafür entzückend aus und in ihrer Schönheit
+war etwas, das sogleich in die Augen stach und einen einfach bestrickte.
+Natürlich glich sie nicht jenen kleinen verschämten blonden Mädelchen,
+die so zart und rosig sind und zutunlich wie weiße Mäuschen, oder die so
+lieblich aussehen wie Pastorentöchterchen. Sie war nicht sehr groß von
+Wuchs und ihre Gestalt ein wenig voll, ihr Gesicht aber hatte zarte,
+feine Züge, die entzückend gezeichnet waren. Es lag eine Elektrizität in
+diesem Gesicht, so daß es in ihm oft wie ein Blitz aufleuchten konnte,
+und überhaupt war sie – ganz Feuer, wie man zu sagen pflegt, lebendig,
+lebhaft, leicht. Aus ihren großen offenen Augen sprühten förmlich
+Funken, als wären sie Edelsteine. Nie würde ich solche blauen,
+strahlenden Augen gegen die schwarzen des Südens eintauschen, und
+sollten sie auch noch hundertmal dunkler sein, als der dunkelste
+andalusische Blick, denn meine Blondine war wirklich jener
+Schwarzäugigen ebenbürtig, die ein berühmter Dichter in so schönen
+Versen besingt, daß er zum Schluß dem ganzen Kastilien schwören konnte,
+sein Leben freudig hingeben zu wollen, wenn man ihm dafür erlaube, nur
+mit der Fingerspitze die Mantilla seiner Schönen zu berühren. Jetzt füge
+man noch hinzu, daß _meine_ Schöne die lustigste aller Schönen war und
+dazu das unvernünftigste, lachlustigste, unartigste Kind, und das alles,
+obwohl sie schon seit etwa fünf Jahren verheiratet war. Das Lachen wich
+fast nie von ihren Lippen, die so frisch und jung aussahen, wie die
+zarten Blätter einer Rose, wenn sie unter den Strahlen der Morgensonne
+kaum erst ihren duftenden Blütenkelch geöffnet und ihr die Sonne noch
+nicht die kühlen glitzernden Tautropfen abgetrunken hat.
+
+Ich weiß noch, am zweiten Tage nach meiner Ankunft wurde Theater
+gespielt. Der Saal war buchstäblich überfüllt: es gab keinen einzigen
+freien Platz, und da ich mich zufällig etwas verspätet hatte, mußte ich
+stehend der Aufführung zusehen. Aber das lustige Spiel zog mich immer
+mehr nach vorn und bald hatte ich mich ganz unbemerkt bis zu den ersten
+Reihen durchgearbeitet, wo ich dann endlich stehen blieb und mich auf
+die Lehne eines Stuhles stützte, auf dem eine Dame saß. Diese Dame war
+meine schöne Blondine. Ich muß aber hinzufügen, daß wir damals noch
+nicht bekannt miteinander waren. Und da nun – ich weiß nicht, wie es kam
+– begann ich ihre märchenhaft schönen Schultern zu betrachten, die so
+zart und weiß aussahen wie Milchschaum: obgleich es mir damals gewiß
+noch ganz gleichgültig war, ob ich die schönsten Frauenschultern sah
+oder den Kopfputz mit feuerfarbenen Bändern, der das graue Haar einer
+ehrwürdigen Dame in der ersten Reihe vor mir verdeckte. Neben der
+blonden Schönheit saß aber ein älteres Fräulein, eine von jenen, die,
+wie ich später beobachtet habe, sich immer möglichst in der Nähe junger
+und hübscher Damen aufhalten, und in der Regel gerade diejenigen wählen,
+die die männliche Jugend nicht zu verscheuchen pflegen. Doch dies nur
+nebenbei; ich erwähnte es bloß deshalb, weil dieses ältere Fräulein
+meine betrachtenden Blicke bemerkte, sich sogleich zu ihrer schönen
+Nachbarin beugte und ihr mit maliziösem Lächeln etwas ins Ohr flüsterte.
+Plötzlich sah sich diese nach mir um und ihr flammender Blick traf mich
+im Halbdunkel, so daß ich, der ich darauf nicht vorbereitet war,
+erschrocken zusammenfuhr. Da lächelte sie.
+
+„Gefällt dir das Stück?“ fragte sie mich und sah mir spöttisch mit
+zuzwinkerndem Blick in die Augen.
+
+„Ja–a,“ antwortete ich und sah sie immer noch mit einer gewissen
+Verwunderung an, an der wiederum sie Gefallen zu finden schien.
+
+„Warum stehst du denn? So wirst du doch müde. Oder sind alle Stühle
+besetzt?“
+
+„Ja, alle, es ist kein Platz mehr frei,“ sagte ich, diesmal mehr mit
+meiner Sorge um einen Stuhl beschäftigt, als mit dem blitzenden Blick
+der schönen Dame, und dabei herzlich froh darüber, daß sich endlich ein
+gutes Herz fand, dem ich mein Leid mitteilen konnte. „Ich habe bereits
+gesucht, aber auf jedem Stuhl sitzt schon jemand,“ fügte ich hinzu, als
+wollte ich mich bei ihr darüber beklagen, daß alle Stühle besetzt waren.
+
+„Komm her!“ sagte sie schnell entschlossen, wie sie sich zu allem immer
+blitzschnell entschloß, gleichviel was für eine tolle Idee ihr in den
+Kopf kam. „Komm her zu mir, schnell, und setz’ dich auf meinen Schoß.“
+
+„Auf den Schoß? ...“ wiederholte ich einigermaßen verwundert, und ich
+wußte nicht recht, was ich tun sollte.
+
+Wie ich bereits sagte, fingen meine Kindervorrechte nachgerade an, mich
+zu kränken und zu beschämen. Diese Blondine aber trieb es weit ärger als
+alle anderen. Überdies begann ich, der ich schon von jeher ein etwas
+schüchterner und verschämter Knabe war, mich gerade zu jener Zeit vor
+Damen ganz besonders zu fürchten, und deshalb machte mich ihre
+Aufforderung vollends unsicher.
+
+„Nun ja, auf den Schoß! Warum willst du denn nicht auf meinem Schoß
+sitzen?“ Und sie lachte, lachte immer übermütiger, lachte Gott weiß
+worüber – vielleicht über ihren eigenen Einfall oder vielleicht auch vor
+Freude darüber, daß sie mich so verlegen gemacht hatte.
+
+Ich errötete und sah mich in meiner Verwirrung verstohlen um – wie um
+eine Möglichkeit zu erspähen, irgendwohin zu entschlüpfen. Aber sie kam
+mir zuvor, erwischte meine Hand, zog mich geschwind zu sich und
+plötzlich – ganz unvermutet und zu meiner größten Verwunderung – preßte
+sie meine Hand mit ihren heißen Fingern wie in einen Schraubstock. Es
+tat schrecklich weh und ich mußte meine ganze Kraft zusammennehmen, um
+nicht aufzuschreien. Da war es denn wohl kein Wunder, daß ich die
+seltsamsten Gesichter schnitt. Hinzu kam noch, daß ich nicht nur
+verwundert und erschrocken war, sondern einfach entsetzt, und zwar über
+die Tatsache, die ich nun plötzlich am eigenen Körper erfahren mußte:
+daß so schöne Damen zugleich so böse sein und sich so schlimm an kleinen
+Jungen vergreifen konnten, die ihnen doch nichts getan hatten, und das
+noch dazu vor so vielen fremden Menschen! Wahrscheinlich spiegelte aber
+mein unglückliches Gesicht alle meine Seelenregungen wieder, denn die
+unartige Dame lachte unbändig und preßte dabei meine armen Finger, als
+wollte sie sie zerquetschen. Es schien ihr ein rasendes Vergnügen zu
+bereiten, etwas recht Tolles anzustellen und einen armen Jungen recht
+bis zur Verzweiflung zu peinigen und zum besten zu haben. Ich war in der
+Tat der Verzweiflung nahe. Erstens verging ich fast vor Scham, da alle,
+die in der Nähe saßen, sich nach uns umsahen, die einen erstaunt und
+verständnislos, die anderen lachend, da sie sogleich begriffen, daß die
+schöne Blondine wieder jemandem einen Streich spielte. Und zweitens
+wollte ich schreien vor Schmerz, denn die Schöne schien ihren ganzen
+Ehrgeiz darein zu setzen, meine Finger mit wahrem Ingrimm, gerade weil
+ich nicht schrie, zusammenzupressen. Ich aber hielt wie ein kleiner
+Spartaner stand und schrie nicht. Ich fürchtete, mit meinem Schrei das
+Publikum zu erschrecken und die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu
+lenken: was aber dann mit mir geschehen wäre, das vermochte ich nicht
+einmal auszudenken! In meiner Verzweiflung begann ich einen erbitterten
+Kampf mit ihr, um meine Hand aus ihren Fingern zu reißen, aber die
+Grausame war ja viel, viel stärker als ich. Endlich hielt ich den
+Schmerz nicht länger aus und schrie auf – aber nur darauf hatte sie
+gewartet! Im Nu ließ sie meine Hand fahren und saß da, als wäre gar
+nichts geschehen, als wäre sie das unschuldigste Geschöpf der Welt, das
+nichts damit zu schaffen hat, wenn ein anderer unartig ist: kurz, wie es
+ein echter Schulbube tut, der, kaum daß der Lehrer ihm den Rücken kehrt,
+im Handumdrehen etwas anrichtet – und wäre es auch nur, daß er einem
+kleinen Schwächling einen Rippenstoß versetzt oder ähnliches mit dem
+Erfolg verbricht, daß der andere aufschreit – in der nächsten Sekunde
+aber wieder stramm und artig auf seinem Platz sitzt und fromm die Augen
+niederschlägt oder mit ungeteilter Aufmerksamkeit in seinem Buch liest
+und somit den Herrn Lehrer, der auf den Lärm hin wie ein Habicht auf ihn
+losschießt, mit einer langen Nase wieder abziehen läßt.
+
+Zu meinem Glück jedoch wurde gerade in diesem Augenblick die
+Aufmerksamkeit der übrigen durch das meisterhafte Spiel unseres
+Hausherrn in Anspruch genommen – er spielte nämlich in der Komödie die
+Hauptrolle. Stürmischer Beifall erscholl und ich benutzte schnell die
+Gelegenheit zur Flucht, drängte mich durch ein paar Reihen und lief in
+die entgegengesetzte Ecke, von wo aus ich halbversteckt hinter einer
+Säule mit Grauen dorthin spähte, wo mein grausamer Quälgeist saß. Sie
+lachte so, daß sie das Taschentuch an die Lippen pressen mußte. Und
+lange noch sah sie sich immer wieder nach mir um, jedoch ohne mich zu
+entdecken. Allem Anscheine nach tat es ihr sehr leid, daß unsere
+verrückte Balgerei so schnell ein Ende gefunden hatte, ja vielleicht
+heckte sie schon einen neuen Streich aus.
+
+Damit begann also unsere Bekanntschaft, und seit jenem Abend war ich
+meines Lebens nicht mehr sicher vor ihr. Sie verfolgte mich ohne Maß und
+Gewissen. Sie wurde einfach zu meinem Schreckgespenst. Das Groteske
+ihrer Scherze mit mir bestand hauptsächlich darin, daß sie beteuerte,
+bis über die Ohren in mich verliebt zu sein – und zwar sagte sie das
+ganz ungeniert in Gegenwart aller Gäste. Natürlich war das für mich, dem
+ohnehin mehr als nötig verschämten Knaben, ungefähr das Fürchterlichste,
+was ich mir denken konnte, und es ärgerte mich fast bis zu Tränen; ja
+ein paarmal brachte sie mich in eine so unangenehme und bedenkliche
+Lage, daß ich nahe daran war, mit dieser heimtückischen Anbeterin einen
+regelrechten Faustkampf zu eröffnen. Aber meine naive Verwirrung, meine
+Verzweiflung und Wut schienen sie nur anzustacheln, mich noch lebhafter
+zu verfolgen. Sie kannte kein Erbarmen, ich aber wußte nicht, wo ich
+mich vor ihr verbergen sollte, und zum Unglück wirkte noch das Gelächter
+der anderen, das sie durch ihre Scherze mit mir hervorzurufen verstand,
+anfeuernd auf sie, so daß man zu guter Letzt fand, sie gehe mit ihren
+Scherzen denn doch zu weit. Und wirklich muß auch ich zugeben – ich
+meine heute, denn damals konnte ich das noch nicht beurteilen –, daß sie
+sich zu viel mit einem solchen Kinde erlaubte, wie ich es damals war.
+
+Aber so war nun einmal ihr Wesen, das ja deshalb noch nicht schlecht zu
+sein brauchte: sie war eben auch noch ein richtiges verwöhntes Kind. Wie
+ich nachher erfuhr, soll gerade ihr Mann sie am meisten verwöhnt haben –
+ein dicker kleiner Herr mit einem frischen Gesicht, sehr reich und sehr
+beschäftigt, letzteres wenigstens nach seiner Lebensweise zu urteilen:
+ewig hatte er etwas vor, und keine zwei Stunden hielt er es an einem Ort
+aus, jeden Tag fuhr er vom Gut nach Moskau, oft sogar zweimal am Tage,
+und zwar, wie er behauptete, wegen geschäftlicher Angelegenheiten. Etwas
+Lustigeres und Gutmütigeres als es seine komische, aber dabei doch immer
+gesetzte Miene und Haltung war, hätte man schwerlich irgendwo finden
+können. Seine Frau liebte er nicht nur bis zur Schwäche – nein, er
+betete sie geradezu an wie seinen Abgott.
+
+Da versteht es sich wohl von selbst, daß er ihr nichts verbot, und daß
+sie tun konnte, was ihr gerade einfiel. Freunde und Freundinnen besaß
+sie eine Menge. Denn erstens gab es überhaupt wenige, die sie nicht
+liebten, und zweitens war sie gar nicht wählerisch in der Wahl ihrer
+guten Bekannten, obgleich auch ihrem Charakter viel mehr Ernst zugrunde
+lag, als man nach dem, was ich soeben erzählt habe, annehmen könnte.
+Aber von allen ihren Freundinnen liebte sie eigentlich nur eine junge
+Frau, eine entfernte Verwandte von ihr, die gleichfalls als Gast auf
+dem Gute weilte. Zwischen ihnen bestand ein ganz eigenes
+Freundschaftsverhältnis, eines von jenen seltsam zarten, geistig
+vornehmen, wie es sich zuweilen aus der Begegnung zweier sonst recht
+verschiedener Charaktere ergibt, die vielleicht sogar einander ganz
+entgegengesetzt sind, von denen aber der eine strenger und tiefer und
+reiner ist als der andere, während dieser mit feinem Taktgefühl
+ehrlicher Selbsteinschätzung und neidloser Liebe sich dem anderen
+unterordnet, indem er dessen Überlegenheit anerkennt und seine
+Freundschaft wie ein Glück und einen kostbaren Schatz im Herzen bewahrt.
+Daraus entwickelt sich dann dieses zarte, innerlich vornehme Verhältnis
+zueinander, das Güte und Nachsicht auf der einen Seite, auf der anderen
+Liebe und Verehrung des Höherstehenden kennzeichnen – eine Verehrung,
+der freilich eine gewisse Furcht nicht fehlt: die Furcht nämlich, sich
+in den Augen desjenigen, der für einen so hoch steht, etwas zu vergeben,
+was zugleich den glühenden Wunsch hervorruft, mit jedem Schritt und
+jeder Tat dem Herzen des Freundes näher zu treten. Sie waren beide in
+gleichem Alter, aber es war doch in allem ein schier unermeßlicher
+Unterschied zwischen ihnen, vor allem auch in ihrer äußeren Erscheinung.
+^M–me^ M. war gleichfalls sehr schön, aber ihre Schönheit hatte etwas
+Eigenartiges, was sie auf den ersten Blick von der Schar der hübschen
+Damen unterschied; und dieses nur schwer erklärbare Etwas wirkte mit
+einer unwiderstehlichen Anziehungskraft auf Menschen oder richtiger, es
+erweckte in jedem, der ihr begegnete, ein gutes, reines Gefühl, das
+einen alsbald wie eine geheime, aber mächtige Sympathie zu ihr hinzog.
+Es gibt solche Gesichter. In ihrer Nähe fühlt ein jeder sich irgendwie
+besser, irgendwie freier und wärmer: und doch war der Blick ihrer
+traurigen großen Augen, aus denen Geist und Kraft sprachen, zugleich
+schüchtern und unruhig, wie in immerwährender Flucht vor etwas
+Feindlichem und drohend Grausamem, und diese seltsame Scheu breitete
+zuweilen solch eine Wehmut über ihre stillen Züge, die an die heiligen
+Gesichter italienischer Madonnen gemahnten, daß man bald ebenso traurig
+wurde, als hätte man selbst einen Kummer, vielleicht den gleichen wie
+sie, deren Leid man so recht nachfühlen konnte. Aus ihrem bleichen,
+schmalen Gesicht sah, trotz der vollendeten Schönheit seiner reinen,
+regelmäßigen Züge und der wehmütigen Strenge einer dumpfen, verborgenen
+Qual, doch noch das ursprüngliche klare Kinderantlitz hervor, das
+Gesicht der noch nicht vergessenen, vertrauensseligen Jahre – der Jahre
+eines vielleicht unbewußten Glücks. Und dazu kam dieses stille, etwas
+scheue, unbestimmte Lächeln und alles das erweckte eine so unerklärliche
+Teilnahme für diese Frau, daß im Herzen eines jeden unwillkürlich eine
+süße, innige Sorge um sie erwachte, eine Sorge, die für sie noch aus der
+Ferne sprach und einen über Zeit und Raum hinweg mit ihr verband. Sie
+war vielleicht etwas schweigsam und verschlossen, obwohl es zugleich
+schwerlich ein aufmerksameres und liebevolleres Wesen gab, als sie es
+zeigen konnte, wenn jemand der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die
+im Leben geradezu wie barmherzige Schwestern sind. Vor ihnen braucht man
+nichts zu verbergen, nichts zu verschweigen, wenigstens nichts, was in
+unserer Seele krank und verwundet ist. Wer leidet, der gehe getrost zu
+ihnen und fürchte nicht, ihnen zur Last zu fallen, denn nur selten weiß
+jemand von uns, wieviel unendlich geduldige Liebe, wieviel Mitgefühl und
+welch ein Allverzeihen in manchem Frauenherzen sein kann. Ganze Schätze
+an Mitempfinden, Trost und Hoffnung ruhen in diesen reinen Herzen, die
+so oft selbst verwundet sind – Herzen, die viel trauern, mehr als andere
+lieben, aber die Wunden behutsam vor jedem neugierigen Blick verbergen,
+denn tiefes Leiden schweigt und verbirgt sich. Diese Frauen schreckt
+weder die Tiefe der Wunde noch ihre Fäulnis: wer an sie mit seinem
+Vertrauen herantritt, ist ihrer schon wert. Sie sind wie zum Helfen
+geboren ... ^M–me^ M. war von hohem Wuchs, biegsam und schlank, aber ein
+wenig mager. Ihre Bewegungen waren alle irgendwie ungleichmäßig, bald
+langsam und sanft und nicht ohne eine gewisse Würde, bald wieder
+kindlich schnell. Dabei sprach aus ihrer Geste zugleich so etwas wie ein
+Bangen, wie eine Schutzlosigkeit, die aber doch wieder niemanden um
+Schutz anflehte oder um Beistand bat.
+
+Ich sagte bereits, daß die bösen Bemerkungen der tückischen Blondine
+mich beschämten, ärgerten, peinigten, daß mein Herz mir blutete. Aber
+hierfür gab es noch einen anderen Grund, sogar einen recht seltsamen und
+dummen, den ich jedoch wie ein Heiligtum vor allen geheimhielt, für den
+ich wie ein Geizhals für seinen Schatz zitterte und der mir schon beim
+bloßen Gedanken, auch wenn ich ganz allein mit meinem verwirrten Kopf
+irgendwo in einer dunkeln Ecke saß, wo der forschende spöttische Blick
+meines Plagegeistes mich nicht erreichen konnte und ich mich vor allen
+blauen Augen sicher fühlte – der mir schon bei dem bloßen Gedanken an
+den Gegenstand dieser Ursache das Herz vor lauter Verwirrung, Scham und
+Furcht stille stehen machte. Mit einem Wort: ich war in ^M–me^ M.
+verliebt. Und doch – muß ich nicht annehmen, daß ich soeben den größten
+Unsinn gesagt habe: denn das war ja ganz undenkbar!? Trotzdem – warum
+machte von allen Gesichtern, die ich sah, nur ihr Gesicht einen solchen
+Eindruck auf mich? Weshalb folgte mein Blick nur ihr allein, wo sie ging
+oder stand, weshalb _liebte_ ich es, sie zu betrachten, obschon doch
+damals mein Sinn entschieden noch nicht danach stand, Frauen zu
+entdecken und ihnen nahezutreten? Es geschah das namentlich abends, wenn
+sich bei trübem oder kühlem Wetter die ganze Gesellschaft in den Sälen
+versammelte und ich dann aus irgendeiner Saalecke, wo ich einsam und
+verlassen saß, ziellos nach allen Seiten ausguckte – wohin die Augen
+selbst gerade wollten, da ich keine andere Beschäftigung für sie zu
+finden wußte. Außer meiner Verfolgerin sprach selten jemand ein Wort zu
+mir, so daß ich mich an solchen Abenden gewöhnlich sträflich langweilte.
+Dann betrachtete ich die Menschen und spitzte die Ohren, wenn ich
+Gespräche hörte, von denen ich oft kein Wort begriff. Da kam es denn
+ganz von selbst, daß die traurigen Augen und das stille Lächeln der
+schönen ^M–me^ M. Gott weiß weshalb meine Aufmerksamkeit fesselten, und
+dann konnte nichts mehr den seltsamen, unbestimmten und unfaßbar süßen
+Eindruck verwischen, den sie auf mich machte. Oft saß ich stundenlang
+und sah sie an und konnte meinen Blick nicht von ihr losreißen. Jede
+Geste, jede Bewegung, jeder Ausdruck ihres Gesichts prägte sich meinem
+Gedächtnis ein und ich lauschte auf jede Veränderung ihrer Stimme, die
+nicht laut war, sondern von einer tieferen, dunkleren, etwas
+verschleierten Klangfarbe – und merkwürdig! – aus diesen Beobachtungen
+und ihren seltsamen süßen Eindrücken erwuchs in mir eine ganz
+unerklärliche Neugier. Es war fast, als ahnte ich ein Geheimnis in ihr,
+das ich alsbald unbedingt ergründen wollte.
+
+Am quälendsten war mir daher meine Lage in ihrer Gegenwart. Denn alle
+diese Scherze und Neckereien erniedrigten mich in meinen Augen und waren
+für mein Gefühl die schrecklichsten Beleidigungen. Und wenn nun gar bei
+dem allgemeinen Gelächter über mich auch ^M–me^ M. zuweilen
+unwillkürlich mitlachte, dann kannte meine Verzweiflung keine Grenzen:
+ich war außer mir vor Schmerz und Scham und riß mich mit der Wut eines
+Besessenen aus den Händen meiner Verfolgerin – rannte nach oben, in den
+zweiten Stock, wo ich dann den ganzen Rest des Tages verbrachte, da ich
+mich nicht mehr im Saal zu zeigen wagte. Übrigens war ich mir damals
+weder über meine Scham noch über meine Erregung im klaren: der ganze
+Prozeß spielte sich vollkommen unbewußt ab. Mit ^M–me^ M. hatte ich noch
+keine zwei Worte gesprochen, und ich hätte natürlich nie den Mut gehabt,
+sie anzureden. Eines Abends aber, nach einem für mich elend verlaufenen
+Tage, blieb ich während des Spaziergangs hinter den anderen zurück und
+da ich schrecklich müde geworden war, ging ich durch den Garten wieder
+nach Hause. Ich wählte den kürzesten Weg – eine entlegene Allee – und da
+erblickte ich auf einer Bank plötzlich ^M–me^ M. Sie saß dort ganz
+allein, als habe sie diese Einsamkeit gesucht, saß zurückgelehnt, mit
+gesenktem Kopf, und ihre Finger bewegten mechanisch das Taschentuch, das
+sie in der Hand hielt. Sie war so in Nachdenken versunken, daß sie es
+gar nicht hörte, wie ich mich ihr näherte.
+
+Als sie mich erblickte, erhob sie sich schnell von der Bank, wandte das
+Gesicht fort und ich sah, wie sie das Taschentuch an die Augen führte,
+um die Tränenspuren fortzuwischen. Sie hatte geweint. Dann tat sie, als
+wäre nichts geschehen, lächelte mir zu und ging mit mir zum Hause. Ich
+habe vergessen, wovon wir sprachen; nur schickte sie mich unterwegs
+immer wieder unter verschiedenen Vorwänden von sich fort: bald bat sie
+mich, eine Blume zu bringen – bald sollte ich ihr sagen, wer dort in der
+nächsten Allee ritt. Sobald ich mich aber von ihr fortwandte, fuhr sie
+wieder schnell mit dem Tuch über die Wangen, da die ungehorsamen Tränen
+nicht versiegen wollten, vielmehr aus dem wehen, kämpfenden Herzen immer
+wieder in ihre armen Augen traten. Ich begriff sehr wohl, daß ich ihr
+lästig war, da sie mich so oft fortschickte. Sie aber sah doch, daß ich
+schon alles bemerkt hatte, und trotzdem konnte sie sich nicht
+beherrschen – das quälte mich für sie noch viel mehr! Ich ärgerte mich
+über mich selbst fast bis zur Verzweiflung, ich verwünschte mein Unglück
+und meine Dummheit, die mich keinen Vorwand finden ließ, unter dem ich
+mich hätte entfernen können, ohne sie noch obendrein merken zu lassen,
+daß ich um ihr Leid wußte. So ging ich denn betrübt und unglücklich, mit
+meinem Zwiespalt im Herzen, neben ihr her und fand trotz aller
+Anstrengung kein einziges Wort, mit dem ich unsere einsilbige
+Unterhaltung hätte beleben können.
+
+Diese Begegnung machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich ^M–me^
+M. den ganzen Abend mit unersättlicher Neugier verstohlen betrachtete.
+Aber ungeachtet meiner Vorsicht trafen unsere Blicke sich doch ein
+paarmal, und als sie das zweite Mal diesen meinen Blick bemerkte, da
+lächelte sie. Es war das an diesem Abend das einzige Mal, daß ich sie
+lächeln sah. Die Trauer war jedoch noch nicht aus ihrem Gesicht gewichen
+und sie war sogar noch bleicher als sonst. Die ganze Zeit unterhielt sie
+sich mit einer alten Dame, die eigentlich, weil sie immer spionierte und
+Klatschgeschichten verbreitete, niemand ausstehen konnte, die vielmehr
+von allen gefürchtet wurde, weshalb man sich denn gewissermaßen
+gezwungen fühlte, im Verkehr mit ihr liebenswürdig und aufmerksam zu
+sein, ob man wollte oder nicht ...
+
+Gegen zehn Uhr traf plötzlich der Mann von ^M–me^ M. ein. Ich sah, wie
+sie bei dem unerwarteten Erscheinen ihres Gatten zusammenzuckte und wie
+ihr ohnehin schon so bleiches Gesicht noch um einen unheimlichen Grad
+stärker erblaßte. Es war das so auffallend, daß auch andere es
+bemerkten: wenigstens fing ich von einem leisen Gespräch in meiner Nähe
+ein paar Bemerkungen auf, aus denen ungefähr hervorging, daß die arme
+^M–me^ M. kein gerade beneidenswertes Leben habe. Ihr Mann sei, wie man
+wisse, eifersüchtig wie ein Mohr, jedoch nicht aus Liebe zu ihr, sondern
+nur aus Liebe zu sich selbst. Dieser Mensch war nämlich ... in erster
+Linie ein „Europäer“, und zwar einer der neuzeitlichen, von modernen
+Ideen angekränkelten, mit denen er gerne großtat. Was sein Äußeres
+betraf, so war er ein brünetter, großer und sehr stämmiger Herr mit
+europäisch geschnittenem Backenbart und einem selbstzufriedenen,
+frischen Gesicht, mit zuckerweißen Zähnen und dem Auftreten eines
+vollendeten Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen Menschen“. So nennt
+man nämlich in gewissen Kreisen einen besonderen, auf Kosten anderer
+fett gewordenen Menschenschlag, der so gut wie nichts tut und auch so
+gut wie nichts tun will, der vielmehr vom ewigen Müßiggang und Nichtstun
+anstatt des Herzens sozusagen nur ein Stück Speck im Leibe hat. Gerade
+von diesen Leuten aber hört man jeden Augenblick, daß sie nur infolge
+gewisser höchst verwickelter und ihnen feindlicher Umstände nichts zu
+tun hätten, daß sie ihren „Genius ermüdeten“ und daß es deshalb „traurig
+sei“, sie „unbeschäftigt zu sehen“. Das ist nun einmal ihre
+schönklingende Phrase, ihr ^Mot d’ordre^, das diese satten Fettwänste
+überall anbringen – weshalb sie einen denn auch schon längst langweilen,
+um nicht mehr zu sagen; wie eben jede ausgesprochene Tartüfferie oder
+jedes leere, alberne Wort. Übrigens scheinen einige dieser spaßigen
+Käuze, die auf keinerlei Weise eine Arbeit für sich finden können –
+zumal sie auch nie eine solche ernstlich suchen – gerade danach zu
+trachten, alle davon zu überzeugen, daß sie an Stelle des Herzens nicht
+ein Stück Speck, sondern im Gegenteil etwas sehr Tiefgründiges besäßen.
+Was dies Etwas freilich sei, eigentlich und im letzten Grunde, das würde
+auch der beste Chirurg nicht sagen können – nur aus Höflichkeit,
+versteht sich, könnte er es nicht! Diese Herren bringen ihr Leben damit
+zu, daß sie alle ihre Fähigkeiten zu billigem Spott, kurzsichtigster
+Kritik und maßlos dünkelhaftem Auftreten verwerten. Da sie aber nichts
+weiter zu tun haben, als die Fehler und Schwächen anderer zu entdecken
+und ans Licht zu zerren, und da sie von Güte und Nachsicht genau nur so
+viel besitzen, wie die Natur etwa einer Auster verliehen hat, so fällt
+es ihnen auch nicht schwer, unter solchen Umständen ziemlich umsichtig
+und mit viel Vorsicht unter den Menschen zu leben. Dessen rühmen sie
+sich denn auch über alle Maßen. So sind sie zum Beispiel fest überzeugt,
+daß womöglich die ganze Welt ihnen tributpflichtig sei, und sie
+betrachten diese Welt nahezu als ihre Vorratskammer. Sie sehen in allen
+anderen Menschen um sich her Dummköpfe und glauben, ein jeder gleiche
+einer Apfelsine oder einem Schwamm, aus dem sie, sobald sie nur wollen,
+auch den letzten Tropfen herauspressen können. Sie halten sich in
+gewissem Sinne für die Herren der Welt und scheinen anzunehmen, daß
+diese ganze löbliche Ordnung der Dinge einzig davon herrühre, daß sie so
+kluge und gewichtige Menschen sind. In ihrem maßlosen Eigendünkel werden
+sie nie eigene Mängel zugeben, sondern sich immer unter allen Umständen
+und in jeder Beziehung für vollkommen halten. Sie gleichen jenem
+besonderen Menschentyp, dessen Ahnherren Tartüffe und Falstaff sind,
+jenen Schelmen, die so viel und so oft betrügen, daß sie selbst
+schließlich glauben, alles was sie sagen, tun und lassen habe seine
+Richtigkeit, d. h. es sei von ihnen durchaus richtig, so zu leben und zu
+betrügen: sie haben eben ihre Beteuerungen, daß sie ehrlich und
+uneigennützig seien, so oft gehört, daß sie zu guter Letzt selbst
+glauben, sie seien uneigennützig und ihre Betrügereien zeugten von
+aufrichtigster Ehrlichkeit. Zu einer unparteiischen Selbstkritik und
+Selbsterkenntnis langt es bei ihnen nie. Zum Erfassen mancher Dinge sind
+sie eben viel zu schwerfällig. Im Vordergrunde aller Dinge und
+Geschehnisse steht ihnen immer die eigene goldene Person, der Moloch,
+dem sie alles opfern, ihr herrliches „Ich“! Die ganze Natur, die ganze
+Welt ist für sie nicht mehr als ein großer schöner Spiegel, der nur dazu
+geschaffen scheint, damit ein kleiner Gott sich ununterbrochen in ihm
+bewundern kann und außer seiner eigenen Person niemand und nichts zu
+sehen braucht. Da ist es denn kein Wunder, wenn sie unter solchen
+Umständen alle übrigen Erscheinungen der Welt immer irgendwie entstellt
+sehen und nie so, wie sie wirklich sind. Für alles haben sie eine
+fertige Phrase vorrätig und zwar – was übrigens äußerst geschickt von
+ihnen ist – immer nur eine der allermodernsten. Ja, man kann sagen, daß
+hauptsächlich sie es sind, die die Verbreitung der Phrase besorgen,
+deren Erfolg sie beizeiten wittern. Jawohl, Spürsinn – das ist das
+einzige, was man ihnen nachrühmen kann, denn in dieser Beziehung haben
+sie wirklich eine feine Nase; wenigstens ist sie fein genug, um
+derartige moderne Ausdrücke früher als andere herauszuschnüffeln und
+sich rechtzeitig anzueignen, so daß es fast den Anschein hat, als
+stammten sie von ihnen. Namentlich versehen sie sich mit solchen, die
+ihrer tiefen Liebe zur Menschheit Ausdruck geben sollen und die
+angeblich einzig richtige und vernunftgemäße Menschenfreundschaft
+dartun, um dabei gleichzeitig rücksichtslos über die veraltete Romantik
+herzufallen, mit ihr nicht selten alles Schöne und Erhabene zu
+verurteilen, ohne zu begreifen, daß jedes kleinste Gefühl derselben
+wertvoller ist, als ihre ganze Weichtierexistenz. In ihrer geistigen
+Stumpfheit sind sie unfähig, die Wahrheit in einer noch unfertigen, von
+der altbekannten abweichenden Form, in einem Übergangsstadium zu
+erkennen, und so lehnen sie denn alles ab, was noch im Entstehen ist und
+seine Form erst sucht und deshalb noch nicht ganz feststeht. Diese
+wohlgenährten satten Menschen haben ihr Leben gewöhnlich gleichsam im
+Zustande eines fortgesetzten Räuschchens heiter verbracht. Alles ist
+ihnen von anderen zurecht gemacht worden, selbst aber haben sie noch nie
+etwas geleistet und wissen natürlich nicht, wie schwer es ist, etwas zu
+vollbringen. Wehe dem aber, der mit irgendeiner Rauheit ihre satten
+Gefühle streift: das würde niemals verziehen, noch vergessen werden,
+Rache üben sie aber dafür mit Wonne. In der Summe ergibt sich, daß ein
+derartiger Held nichts mehr und nichts weniger ist als ein riesengroßer,
+bis zur letzten Möglichkeit aufgeblasener Sack, voll von Sentenzen,
+Modephrasen und Schlagwörtern aller Art.
+
+Übrigens war ^M–r^ M. doch ein etwas bemerkenswerterer Herr, zumal er
+eine Gabe besaß, die ihn immerhin durch eine gewisse Eigenart
+auszeichnete: er war nämlich ein guter Erzähler, war witzig und
+redselig, so daß in der Gesellschaft sich immer ein Kreis um ihn
+versammelte. An jenem Abend war er besonders gut aufgelegt; er riß die
+Unterhaltung an sich, war schlagfertig, beinahe geistvoll, gut gelaunt
+und brachte es so weit, daß alle nur ihm zuhörten und ihn anstaunten.
+Dagegen war ^M–me^ M. die ganze Zeit schweigsam und litt sichtlich: sie
+sah so traurig aus, daß ich fürchtete, jeden Augenblick wieder Tränen an
+ihren Wimpern erglänzen zu sehen. Alles das machte, wie gesagt, einen
+tiefen Eindruck auf mich. Ich war bestürzt und verwundert und eine
+seltsame Neugier erfaßte mich. Die ganze Nacht träumte mir von ^M–r^ M.,
+während ich bis dahin selten von so peinigenden und aufregenden Träumen
+heimgesucht worden war.
+
+Am anderen Morgen wurde ich schon früh nach unten in den Saal gerufen,
+wo die Proben zu den lebenden Bildern, zu denen auch ich mich hergeben
+mußte, stattfanden. Diese lebenden Bilder, ferner eine Theateraufführung
+und ein großer Ball, alles an einem Abend, sollten zur Feier des
+Geburtstages der jüngsten Tochter unseres verschwenderischen Hausherrn
+stattfinden. Wir hatten im ganzen nur noch etwa fünf Tage Zeit. Zu
+diesem Fest waren aus Moskau und von den benachbarten Landgütern nicht
+viel weniger als hundert Personen eingeladen, so daß große
+Vorbereitungen getroffen werden mußten, die natürlich den Trubel noch
+erhöhten. Die Proben oder richtiger die Durchsicht der vorhandenen
+Kostüme fand zu einer so ungelegenen Zeit statt, weil der bekannte
+Künstler R., ein Freund und Gast unseres Hausherrn, der aus Gefälligkeit
+sich bereit erklärt hatte, die Bilder zu stellen, noch nach Moskau
+fahren wollte, um die fehlenden Requisiten einzukaufen. So hieß es denn:
+sich beeilen. Mich hatte man für ein lebendes Bild zusammen mit ^M–me^
+M. ausersehen. Das Bild stellte eine Szene aus dem mittelalterlichen
+Leben dar und hieß: „Die Schloßherrin und ihr Page“.
+
+Ich war entsetzlich verwirrt, als ich mit ^M–me^ M. auf der Probe
+zusammentraf. Natürlich war ich überzeugt, daß sie sogleich alle meine
+Gedanken, Zweifel und Vermutungen, die mir seit dem letzten Abend durch
+den Kopf gefahren waren, aus meinen Augen erraten würde. Und überdies
+bedrückte mich noch so etwas wie ein Schuldgefühl ihr gegenüber, weil
+ich sie in ihrem Leid überrascht und ihre Tränen bemerkt hatte. Wußte
+ich denn, ob sie nicht vielleicht sogar sehr ärgerlich über mich war?
+Aber, Gott sei Dank, es verlief alles ohne irgendwelche
+Unannehmlichkeiten: ich wurde von ihr ganz einfach – gar nicht bemerkt.
+Ihre Gedanken waren offenbar mit etwas ganz anderem beschäftigt und sie
+schien weder mich noch sonst etwas von der Probe zu sehen. Sie machte
+den Eindruck, als laste eine große quälende Sorge auf ihr. Nach
+beendeter Probe lief ich schnell fort und kleidete mich um. Etwa zehn
+Minuten später trat ich auf die Terrasse, um in den Garten zu gehen. In
+demselben Augenblick trat aus einer anderen Tür auch ^M–me^ M. auf die
+Terrasse und zugleich erblickten wir beide vor uns ihren
+selbstzufriedenen Herrn Gemahl, der aus dem Garten heraufkam, wohin er
+gerade eine Schar junger Damen begleitet hatte. Die Begegnung mit seiner
+Frau kam auch für ihn ganz unerwartet. ^M–me^ M. errötete plötzlich und
+in ihrer hastigen Bewegung drückte sich ein gewisser Unmut aus. Der Herr
+Gemahl, der sorglos eine Arie vor sich hingepfiffen und unausgesetzt mit
+tiefsinniger Miene seinen schönen Backenbart geglättet hatte, runzelte
+ein wenig die Stirn, als er seine Frau erblickte und betrachtete sie,
+wie ich mich jetzt entsinne, mit entschieden inquisitorischem Blick.
+
+„Sie gehen in den Garten?“ fragte er, da er in ihrer Hand einen
+Sonnenschirm und ein Buch bemerkte.
+
+„Nein, in den Wald,“ sagte sie und errötete leicht.
+
+„Allein?“
+
+„Mit ihm ...“ Sie wies auf mich. „Ich gehe morgens immer allein
+spazieren,“ fügte sie wie zur Erklärung hinzu, aber mit einer etwas
+unsicheren Stimme, die wohl gleichgültig klingen sollte, statt dessen
+aber genau so klang, wie wenn man zum erstenmal im Leben bewußt lügt.
+
+„Hm ... Ich habe soeben eine ganze Gesellschaft hinbegleitet. Sie
+versammeln sich dort alle bei der Rosenlaube, um N. das Geleit zu geben.
+Er verläßt uns, wie Sie wissen ... Es ist ihm da irgendwo in Odessa ein
+Malheur passiert ... Ihre Kusine (das war mein blonder Plagegeist) lacht
+und weint, beides zugleich, so daß man nicht aus ihr klug werden kann.
+Übrigens sagte sie mir, daß Sie aus irgendeinem Grunde auf N. böse seien
+und ihn deshalb nicht begleiten wollten. Natürlich ein Unsinn?“
+
+„Sie scherzt nur,“ sagte ^M–me^ M. und stieg die Stufen der Terrasse
+hinab.
+
+„Also das ist jetzt Ihr täglicher ^Cavalier servant^?“ fragte er noch
+beiläufig mit spöttisch zuckenden Mundwinkeln und musterte mich durch
+sein Monokel.
+
+„Page!“ rief ich, wütend über seinen Blick, über seinen Spott, und dann
+lachte ich ihm gerade ins Gesicht und sprang mit einem Satz über drei
+Stufen ...
+
+„Nun, viel Vergnügen,“ brummte ^M–r^ M. und ging weiter.
+
+Ich war natürlich gleich zu ^M–me^ M. getreten, als sie auf mich wies,
+und hatte mir den Anschein gegeben, als hätten wir uns schon vor einer
+Stunde verabredet, und ich tat so, als sei ich schon einen ganzen Monat
+jeden Morgen mit ihr spazierengegangen. Nur konnte ich nicht begreifen,
+weshalb diese Begegnung sie so verwirrte, und was sie eigentlich im
+Sinne hatte, als sie sich zu der kleinen Lüge entschloß. Warum hatte sie
+nicht ganz einfach gesagt, daß sie allein gehe? So aber wußte ich nicht,
+was ich davon denken sollte. Dennoch begann ich allmählich, trotz meiner
+Unsicherheit und aller Befürchtungen, mit naiver Neugier verstohlen zu
+ihr aufzusehen: doch ganz wie vor einer Stunde in der Probe bemerkte sie
+auch jetzt weder meine Blicke noch meine stumme Frage. Nur dieselbe
+quälende Sorge spiegelte sich noch deutlicher, noch tiefer in ihren
+erregten Zügen wieder und sprach aus jeder Bewegung, sprach vor allem
+aus ihrem schnellen Gang. Sie mußte Eile haben, denn sie beschleunigte
+ihre Schritte und unruhig blickte sie in jede Allee, in jeden Durchhau
+im Walde, und zwar immer nach der Seite des Gartens hin. Auch ich begann
+etwas zu erwarten. Da vernahmen wir Pferdegetrappel hinter uns. Es war
+eine ganze Kavalkade, Damen und Herren, hoch zu Roß, die alle jenen N.,
+der uns so plötzlich verließ, begleiteten.
+
+Unter den Reiterinnen erblickte ich auch meine Blondine, von der ^M–r^
+M. uns erzählt hatte, daß sie gelacht und geweint habe, beides zugleich.
+Ihrer Gewohnheit gemäß lachte sie nun wieder wie ein Kind und war so
+mutwillig und lustig wie nur je. Sie ritt einen prächtigen Schimmel. Als
+die Gesellschaft uns erreichte, zog N. den Hut, hielt aber weder sein
+Pferd an, noch sagte er ein Wort zu ^M–me^ M. Bald waren sie alle hinter
+einer Wegbiegung verschwunden. Ich blickte zu ^M–me^ M. auf und –
+beinahe hätte ich aufgeschrien vor Überraschung: sie war totenbleich und
+rührte sich nicht, nur große Tränen standen in ihren Augen. Unsere
+Blicke trafen sich: ^M–me^ M. errötete jäh, wandte sich für einen
+Augenblick fort und ich las Unruhe und Ärger in ihrem Gesicht, obschon
+sie sich schnell und mit aller Gewalt zusammennahm. Ich war überflüssig,
+war lästiger noch als tags zuvor: das war mir klar. Aber wie sollte ich
+mich entfernen, unter welchem Vorwande?
+
+Da schlug ^M–me^ M. plötzlich, als habe sie meine Gedanken erraten, das
+Buch auf, das sie mitgenommen hatte, und, indem ihr wieder das Blut in
+die Wangen stieg, sagte sie – sichtlich bemüht, mich dabei nicht
+anzusehen – als habe sie es soeben erst bemerkt:
+
+„Ach! Das ist ja der zweite Band, ich habe mich versehen! Bitte, bring
+mir den ersten!“
+
+Es war nicht mißzuverstehen! Ich hatte meine Rolle ausgespielt und auf
+einem geraderen Wege hätte man mich schwerlich fortschicken können.
+
+Ich lief mit dem Buche fort und kehrte nicht zurück. Der erste Band
+blieb an diesem Morgen unberührt auf dem Tische liegen ...
+
+Aber seitdem war ich so verändert, daß ich mir selbst ganz fremd vorkam:
+mein Herz pochte wie in fortwährender Angst. Ich wandte die größte
+Vorsicht an, um nicht irgendwie ^M–me^ M. zu begegnen. Dafür aber
+betrachtete ich von nun an mit einer nahezu wilden Neugier ihren
+selbstzufriedenen Herrn Gemahl, als wollte ich an ihm etwas Besonderes
+entdecken. Ich begreife jetzt selbst nicht, wie ich damals zu dieser
+lächerlichen Neugier kam, doch entsinne ich mich, daß alles, was ich an
+jenem Morgen erlebt, mich in ein ganz eigenartiges Erstaunen versetzt
+hatte. Und doch war es nur erst ein Anfang an diesem Tage gewesen, an
+dem mir noch ganz andere und noch viel größere Erlebnisse bevorstanden.
+
+Es wurde ausnahmsweise früher als sonst zu Mittag gespeist. Am
+Nachmittage sollten wir eine Ausfahrt nach einem Nachbardorf machen, um
+einmal ein richtiges Dorffest, das dort gefeiert wurde, kennen zu lernen
+– deshalb speisten wir früher. Ich hatte mich schon drei Tage auf dieses
+Fest gefreut, von dem ich Gott weiß wie viel erwartete. Den Kaffee
+tranken alle auf der Terrasse. Vorsichtig folgte ich den anderen aus dem
+Speisesaal und verbarg mich hinter mehreren Sesseln. Mich zog wieder
+meine Neugier dorthin: und die war so groß, daß ich ihr sogar auf die
+Gefahr hin folgte, von ^M–me^ M. bemerkt zu werden. Der Zufall fügte es
+jedoch anders: ich geriet in die Nähe meiner blonden Verfolgerin. An dem
+Tage war mit ihr ein Wunder geschehen, etwas schier Unglaubliches: sie
+sah plötzlich noch einmal so schön aus, als sie bis dahin ausgesehen
+hatte. Wie und warum das gekommen war – das weiß ich nicht, aber mit
+Frauen geschieht dieses Wunder ja recht oft! Unter uns befand sich ein
+neuer Gast, ein langer, blonder, junger Mann, der gerade aus Moskau
+eingetroffen war, fast wie um N. zu ersetzen, der uns am Morgen
+verlassen hatte, und von dem das Gerücht ging, daß er in unsere blonde
+Schönheit sterblich verliebt gewesen sei. Der neue Gast aber stand schon
+seit langer Zeit in einem Verhältnis zu ihr, wie Benedikt zu Beatrice in
+Shakespeares „Viel Lärm um nichts“. Kurz, unsere Schönheit fand an
+diesem Tage ungeheuren Beifall. Ihre Scherze und ihre Unterhaltung waren
+so entzückend, so zutraulich naiv, so verzeihlich unvorsichtig, sie war
+dabei selbst mit einer so graziösen Sicherheit vom allgemeinen Beifall
+überzeugt, daß sie die ganze Zeit über von allen Anwesenden tatsächlich
+nur bewundert wurde. Um sie herum bildete sich ein dreifacher Kreis von
+überraschten, verwunderten und entzückten Zuhörern, denn so bezaubernd
+hatte man sie noch nie gesehen. Jedes Wort von ihr ward wie ein
+verführerisches Wunderding erhascht und weitergegeben, jeder Scherz,
+jede schlagfertige Antwort erregte Begeisterung. Wie es schien, hatte
+niemand soviel Geschmack, Geist und Verstand an ihr vermutet. Ihre
+besten Eigenschaften wurden durch ihre täglichen kindischen Tollheiten,
+die oft fast zu Narrheiten ausarteten, in den Schatten gestellt und
+selten von jemand bemerkt – oder wer sie zwischen jenen Kindereien
+bemerkte, der hielt sie für Zufall, so daß ihr plötzlicher Erfolg mit
+einem allgemein verwunderten Geflüster aufgenommen wurde.
+
+Übrigens trug zu diesem Erfolg noch ein besonderer, etwas kitzliger
+Umstand bei – kitzlig wenigstens im Hinblick auf die Rolle, die der Herr
+Gemahl der ^M–me^ M. dabei spielte. Der Wildfang hatte sich nämlich
+vorgenommen – und wie ich bemerken muß: zu allseitigem Gaudium oder zum
+mindesten doch zu dem der goldenen Jugend – wahrhaft unbarmherzig ^M–r^
+M., immer nur M., anzugreifen, und dies wohl aus verschiedenen Gründen,
+die in ihren Augen wahrscheinlich alle sehr gewichtig waren. Sie
+eröffnete im Kampf mit ihm ein richtiges Schnellfeuer von spöttischen
+Herausforderungen, Seitenhieben und Sarkasmen von der boshaftesten Art,
+die von allen Seiten so geschlossen, glatt und rund waren, daß man sie
+nirgends fassen konnte, um sie der gütigen Spenderin zurückzuwerfen,
+Sarkasmen, denen der Gegner nahezu wehrlos ausgeliefert war, die nie ihr
+Ziel verfehlten und ihr Opfer, das sich in vergeblichen Anstrengungen
+erschöpfte, schließlich in die wildeste Wut versetzten und zur
+komischsten Verzweiflung brachten.
+
+Ich weiß es zwar nicht genau, aber ich glaube doch sagen zu dürfen, daß
+dieser Zweikampf nicht zufällig entbrannte, sondern von ihr mit Absicht
+herbeigeführt wurde. Eigentlich begann der verzweifelte Kampf schon bei
+Tisch. Ich nenne ihn „verzweifelt“, denn M. streckte die Waffen nicht so
+bald. Er mußte mit Aufbietung seiner ganzen Geistesgegenwart all seinen
+Scharfsinn und seine allerdings recht geringe Gewandtheit
+zusammennehmen, um nicht eine Schlappe sondergleichen davonzutragen – um
+nicht mit Schmach und Schande das Feld räumen zu müssen. Der Kampf
+verlief unter fast unaufhörlichem Gelächter aller Zeugen und Teilnehmer.
+Jedenfalls hatte sich das Blatt für ihn an diesem zweiten Tage völlig
+gewendet und mit dem Beifall, den er am ersten Abend eingeerntet, war es
+zu Ende. Wie ich und auch andere bemerkten, war ^M–me^ M. mehrmals im
+Begriff, ihrer unvorsichtigen Freundin ins Wort zu fallen. Diese aber
+schien ihrerseits dem eifersüchtigen Gatten unbedingt eine Narrenkappe
+aufsetzen oder ihn wenigstens eine lächerliche Rolle spielen lassen zu
+wollen – etwa diejenige eines Blaubart, wenigstens nach dem zu urteilen,
+was ich noch behalten habe, und nach der Rolle, die ich selbst durch
+einen Zufall in dieser Komödie spielen sollte.
+
+Es geschah ganz plötzlich und so unvorhergesehen, daß ich kaum zur
+Besinnung kam. Ich stand und hörte zu, ohne etwas Böses zu ahnen, und
+hatte sogar meine Vorsicht vergessen, als ich mich mit einemmal mitten
+in den Streit hineingezogen sah: sie stellte mich plötzlich als den
+Todfeind und natürlichen Gegner des ^M–r^ M. vor, als den sterblich bis
+zur Verzweiflung verliebten Anbeter seiner Frau. Mit ihrem Ehrenwort
+verbürgte sich die Schreckliche für die Wahrheit ihrer Behauptungen, und
+sie beteuerte hoch und heilig, daß sie die sichersten Beweise besitze,
+z. B. habe sie noch an diesem Morgen im Walde gesehen ... –
+
+Doch sie konnte den Satz nicht beenden: ich unterbrach sie in dem für
+mich entscheidenden Augenblick. Aber dieser Augenblick wiederum war von
+ihr so geschickt abgepaßt, der Knoten war so genial geschürzt und die
+scherzhafte Lösung so wohl vorbereitet, und dabei alles so unnachahmlich
+wiedergegeben, daß eine schallende Lachsalve diesen letzten Trumpf
+begrüßte. Und obschon ich damals gleich erriet, daß die lächerlichste
+Rolle gar nicht mir zufiel, war ich doch so verwirrt, aufgebracht und
+erschrocken, daß ich mit Tränen in den Augen, mit dem Schmerz und der
+Erschütterung der Verzweiflung und Scham mich zwischen den Stühlen im Nu
+durchgedrängt hatte, mitten im Kreise stand und mit vor Tränen
+stockender Stimme empört meiner Feindin zurief:
+
+„Und Sie schämen sich nicht ... ganz laut ... und vor allen Damen ...
+eine solche Unwahrheit zu sagen!? ... Sie gebärden sich wie ein dummes
+Mädchen ... und das noch dazu vor Männern! Was werden die dazu sagen?
+Sie sind doch schon groß und ... verheiratet! ...“
+
+Ohrenbetäubender Beifall unterbrach meine kindlichen Vorwürfe. Meine
+Standrede machte Furore. Es war aber nicht meine Geste, es waren auch
+nicht die Tränen in meinen Augen, die so erheiternd wirkten, sondern es
+war vor allem das, daß ich quasi als Verteidiger des ^M–r^ M. auftrat,
+was ein so unbändiges Gelächter hervorrief. In der Erinnerung muß ich
+jetzt gleichfalls lachen ... Damals aber erstarrte ich beinahe und
+verlor fast die Besinnung vor Entsetzen über diese Menschen – ich
+erbebte, bedeckte das Gesicht mit den Händen und stürzte fort, stieß in
+der Tür mit einem Diener zusammen, dem das Teebrett aus den Händen fiel,
+und lief wie der Wind nach oben in mein Zimmer. Ich riß den Schlüssel
+heraus, der von außen in der Tür stak, und schloß mich ein. Das war aber
+auch mein Glück, denn schon folgte mir eine wilde Jagd: eine halbe
+Minute später lief eine ganze Bande Sturm gegen meine Tür. Es waren alle
+unsere jungen Damen: ich hörte ihr Lachen, ihr Geschwätz, tausend
+Stimmen durcheinander, eine schneller als die andere – wie ein
+Schwalbenvolk zwitscherten sie durcheinander. Alle, alle ausnahmslos
+baten sie, flehten sie mich an, die Tür wenigstens auf einen Augenblick
+zu öffnen; sie schwuren, daß mir nichts Böses widerfahren werde, sie
+wollten mich nur totküssen, wie sie versicherten. Welche Drohung hätte
+fürchterlicher sein können? Ich verging vor Scham und preßte das Gesicht
+in die Kissen und hätte um keinen Preis die Tür geöffnet oder auch nur
+mit einer Silbe geantwortet. Sie lärmten und bettelten noch lange hinter
+der Tür, ich aber blieb gefühllos und taub, wie nur ein Elfjähriger sein
+kann.
+
+Was sollte ich jetzt tun? alles war aufgedeckt, alles verraten, was ich
+so eifersüchtig geheimgehalten und vor allen Blicken verborgen hatte!
+... Ich war für ewig mit Schmach und Schande bedeckt! In Wirklichkeit
+hätte ich freilich nicht zu sagen gewußt, was ich so ängstlich
+geheimhalten wollte; immerhin aber hatte ich doch vor der Entdeckung
+dieses geheimgehaltenen Etwas wie ein Blättchen gezittert. Auch war ich
+mir bis dahin durchaus nicht klar darüber gewesen, ob es etwas Gutes
+oder Schlechtes, etwas Rühmliches oder Schmähliches sei. Nun aber kam
+mir, plötzlich, zu meinem großen Kummer unter Qualen die Erkenntnis, daß
+dies alles _komisch_ und _beschämend_ war! Mein Instinkt sagte mir zwar
+gleichzeitig, daß eine solche Auffassung falsch, unnatürlich und roh
+sei; aber ich war geschlagen, vernichtet; das Denkvermögen, oder
+vielmehr die Erkenntnisfähigkeit war in mir gleichsam gelähmt und schien
+sich irgendwie verwickelt und verwirrt zu haben. Es war mir unmöglich,
+mich gegen dieses Urteil aufzulehnen oder es auch nur gründlich zu
+untersuchen: ich war wie betäubt und fühlte nur, daß man mein Herz
+unmenschlich und schamlos verwundet hatte. Ich weinte ohnmächtige
+Tränen. Zugleich war ich gereizt: machtlose Wut kochte in mir und
+alsbald stieg sogar Haß auf, den ich zum erstenmal in meinem Leben
+empfand, denn zum erstenmal in meinem Leben hatte ich ernstes Leid und
+eine wirkliche Kränkung erfahren. In mir, dem unwissenden Kinde, war das
+erste noch unbewußte, noch unentwickelte Gefühl mit roher Hand berührt,
+das erste scheue mädchenhaft zarte Schamgefühl entblößt und entheiligt
+und der erste und vielleicht sehr ernste ästhetische Eindruck ins
+Lächerliche gezogen worden. Allerdings konnten die Lacher vieles nicht
+wissen und meine Qualen nicht voraussehen. Hinzu kam noch ein besonderer
+Umstand, über den ich mir selbst noch nicht ganz klar geworden war, oder
+richtiger: den zu untersuchen ich mich bis dahin nicht recht getraut
+hatte. In Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bett liegen und
+verbarg das Gesicht in den Kissen. Frostschauer überliefen meinen Körper
+und ich fieberte. Zwei Fragen quälten mich: was hatte diese
+nichtsnutzige Blondine am Morgen im Walde zwischen mir und ^M–me^ M.
+gesehen, was hatte sie sehen können? Und die zweite Frage: wie, auf
+welche Weise, mit welchen Augen konnte ich jetzt noch ^M–me^ M. ins
+Gesicht sehen, ohne auf der Stelle in demselben Augenblick vor Scham und
+Verzweiflung zu vergehen?
+
+Ein ungewohnter Lärm auf dem Hof weckte mich aus der halben
+Bewußtlosigkeit, in der ich mich befand. Ich stand auf und trat ans
+Fenster. Der Hof war voll von Equipagen, Reitpferden, Stallknechten und
+Kutschern: es sah aus, als wollten alle Gäste uns verlassen. Ein paar
+Reiter saßen schon auf den Pferden, die übrigen Gäste nahmen in den
+verschiedenen Wagen Platz ... – Da fiel mir ein, daß wir ja nach dem
+Nachbardorf fahren sollten und eine gewisse Unruhe erfaßte mich: ich
+begann, mit den Augen meinen Klepper zu suchen, aber der war nicht zu
+sehen – folglich hatte man mich vergessen. Da hielt ich es nicht aus und
+lief Hals über Kopf nach unten, ohne an alle unangenehmen Folgen und den
+ganzen Vorfall noch weiter zu denken ...
+
+Unten erwartete mich eine vernichtende Nachricht: es gab für mich
+diesmal weder ein Pferd, noch einen Platz in einem Wagen – alle waren
+bereits besetzt und ich mußte das Vergnügen anderen abtreten.
+
+Von neuem Leid betroffen blieb ich an der Freitreppe stehen und blickte
+traurig auf die lange Wagenreihe und die Reiter und Reiterinnen, deren
+Tiere bereits unruhig tänzelten.
+
+Man wartete nur noch auf einen der Herren, der sich wohl etwas verspätet
+hatte. Unten vor der Freitreppe stand ein Reitpferd, schäumte ins Gebiß,
+scharrte mit dem Huf und zuckte bei jeder Kleinigkeit zusammen, wobei es
+große Lust verriet, sich zu bäumen. Zwei Stallknechte hielten das Tier
+am Zaum und zugleich sich selbst etwas bänglich nach Möglichkeit außer
+dem Bereich seiner Hufe, wie denn überhaupt alle in achtungsvoller
+Entfernung von ihm standen.
+
+Es hatte in der Tat seinen Grund, und einen sehr unangenehmen dazu,
+weshalb ich nicht mitkonnte. Abgesehen davon, daß noch neue Gäste
+angekommen waren, die die freien Plätze in den Wagen einnahmen, wollte
+es das Unglück, daß zwei Reitpferde erkrankten, von denen das eine mein
+Klepper war. Durch dieses Unglück wurde aber nicht ich allein betroffen:
+auch für unseren neuen Gast, den blassen, jungen Mann, von dem ich
+bereits gesprochen, stand kein Reitpferd mehr zur Verfügung.
+Infolgedessen hatte sich unser Hausherr gezwungen gesehen, seinen
+wilden, noch nicht ganz zugerittenen jungen Hengst dem Gast anzubieten,
+wobei er freilich zur Beruhigung seines Gewissens hinzufügte, daß es ein
+Ding der Unmöglichkeit sei, auf dem Tier zu reiten, und daß er schon
+längst beschlossen habe, den Hengst wegen seiner Wildheit zu verkaufen,
+sobald er nur einen Käufer finden würde. Doch der junge Mann erklärte
+trotz der Warnung, daß er sich im Sattel sicher genug fühle, und im
+übrigen auch völlig bereit sei, sich gleichviel auf was für einen
+Pferderücken zu setzen, wenn er nur mitreiten könne. Da schwieg denn der
+Hausherr – doch wie mir schien, spielte ein etwas zweideutiges
+verschmitztes Lächeln um seine Lippen: er stand in Erwartung des
+Reiters, der sich im Sattel so sicher wähnte, auf der Treppe, ließ auch
+sein Pferd noch warten, rieb sich die Hände und blickte immer wieder
+nach der Tür. Ähnliche Gedanken wie ihr Herr schienen auch die beiden
+Stallburschen zu haben, die den Hengst hielten und sehr stolz darauf
+waren, sich vor soviel Zuschauern als die Bändiger eines wilden Tieres
+zeigen zu können, das jeden Augenblick einen Menschen totzutrampeln
+vermochte. In ihren Augen aber schien das verschmitzte Lächeln des Herrn
+sich widerzuspiegeln und sie guckten gleichfalls immer wieder nach der
+Tür, in der der kühne Reiter doch bald erscheinen mußte. Übrigens
+verhielt auch das Tier sich nicht anders, als habe es sich mit seinem
+Besitzer samt den Stallburschen verabredet: es stand stolz und bis auf
+weiteres ruhig mit hocherhobenem Kopf da, wie wenn es fühle, daß einige
+Dutzend neugieriger Blicke auf ihm ruhten, und wie wenn es gerade auf
+seinen schlechten Ruf stolz sei – tat also ganz so wie mancher
+unverbesserliche Galgenstrick, der mit seinen Galgenstreichen prahlt.
+Und es war, als wollte das Tier den Kühnen herausfordern, der es wagen
+würde, ihm seine Freiheit zu nehmen.
+
+Dieser Kühne erschien endlich. Es war ihm peinlich, daß er die
+Gesellschaft so lange hatte warten lassen, und indem er sich eilig die
+Handschuh anzog, stieg er die Stufen hinab und sah erst auf, als er
+schon die Hand nach dem Pferdehals ausstreckte und ein wildes Bäumen des
+Tieres, begleitet von einem warnenden Schrei der Zuschauer, ihn
+verblüfften. Der junge Mann trat einen Schritt zurück und betrachtete
+verwundert den Hengst, der jetzt am ganzen Körper zitterte, wütend
+schnaufte und wild die blutunterlaufenen Augen rollte, wobei er sich
+immer wieder auf die Hinterbeine setzte und die Vorderbeine hob, als
+wäre er im Begriff, sich im nächsten Augenblick loszureißen und in
+wilden Sätzen davonzujagen – die Stallburschen womöglich hinter sich
+herschleifend. Der junge Mann betrachtete ihn immer noch mit einem
+gewissen Befremden: dann errötete er leicht, wie in einer kleinen
+Verwirrung – sah auf, sah sich im Kreise um und sah die erschreckten
+Damen ...
+
+„Es ist ein schönes Tier,“ sagte er, wie zu sich selbst, „und meiner
+Meinung nach muß es prächtig sein, darauf zu reiten, – aber ... aber
+wissen Sie was? _Ich_ werde es doch nicht versuchen,“ schloß er, sich
+mit seinem stillen, freundlichen Lächeln, das seinem guten und klugen
+Gesicht so vortrefflich stand, an unseren Hausherrn wendend.
+
+„Und dennoch halte ich Sie für einen vorzüglichen Reiter, mein Wort
+darauf,“ versetzte dieser sichtlich erfreut und drückte unwillkürlich
+und dankbar seinem Gast die Hand, „eben weil Sie auf den ersten Blick
+erkannt haben, was für ein Tier es ist,“ fügte er stolz hinzu. „Werden
+Sie es mir glauben, daß ich, der ich dreiundzwanzig Jahre lang Husar
+gewesen bin, schon dreimal das Vergnügen hatte, dank seiner Gnaden auf
+der Erde zu liegen, nämlich genau so oft, wie ich mich auf diesen ...
+nichtsnutzigen Satan gesetzt habe. – Tankred, he! mein Freund, hier ist
+man dir nicht gewachsen! Dein Reiter muß offenbar ein zweiter Ilja von
+Murom[1] sein, der vorläufig noch in seinem uns unbekannten Dorf
+Karatscharowo sitzt und wartet, bis dir die Zähne ausfallen. Na, führt
+ihn fort! Wir haben genug von ihm! Habt ihn umsonst herausgeführt!“ rief
+er den Stallburschen zu und rieb sich wieder selbstzufrieden die Hände.
+
+Ich muß hier bemerken, daß Tankred ihm nicht den geringsten Nutzen
+brachte und ganz umsonst seinen Hafer fraß. Überdies hatte er, der alte
+Husar, mit dem Ankauf dieses Pferdes seinen Ruhm als Pferdekenner
+eingebüßt, da er für dieses Tier, das außer seiner Schönheit gar keinen
+Wert besaß, eine märchenhafte Summe bezahlt hatte ... Nichtsdestoweniger
+war er jetzt sehr zufrieden mit dem Tier, das seinen schlimmen Ruf
+bewährte und sich somit immerhin einen gewissen Ruhm erwarb, gleichviel
+welcher Art dieser auch war.
+
+„Wie, Sie wollen nicht mit uns reiten?“ rief die Blondine, der es sehr
+darum zu tun war, daß ihr ^Cavalier servant^ gerade diesmal sie
+begleitete, „haben Sie denn wirklich keinen Mut?“
+
+„Bei Gott, diesmal hab’ ich ihn nicht!“ antwortete der junge Mann
+lachend.
+
+„Und Sie sagen das im Ernst?“
+
+„So wollen Sie denn wirklich, daß ich mir den Hals breche?“
+
+„So setzen Sie sich schnell auf mein Pferd: fürchten Sie sich nicht, es
+ist lammfromm. Wir halten nicht auf – im Nu ist umgesattelt! Ich werde
+es auf Ihrem Pferde versuchen. Tankred kann doch nicht immer so
+unhöflich sein!“
+
+Gesagt – getan. Sie sprang aus dem Sattel und stand schon vor uns, noch
+bevor sie zu Ende gesprochen.
+
+„Oh, da kennen Sie meinen Tankred schlecht, wenn Sie glauben, er werde
+Ihren Damensattel sich auflegen lassen! Und übrigens kann ich auf keinen
+Fall gestatten, daß Sie sich das Genick brechen – das wäre doch zu
+jammerschade!“ versetzte unser Hausherr seiner Gewohnheit gemäß mit
+affektierter Galanterie, die seiner Ansicht nach, gepaart mit einer
+gewissen Derbheit, wenn nicht mitunter gar verfänglichen Ungeniertheit,
+den alten Soldaten und „guten Kerl“ markierte, der, wie er sich
+einbildete, besonders den Damen gefallen müsse. Das war nun einmal eine
+seiner Marotten, die wir alle kannten.
+
+„Na, du, Schreihals – willst du’s nicht versuchen? Du wolltest doch so
+gern mitkommen,“ wandte sich die unerschrockene Reiterin plötzlich an
+mich, auf Tankred deutend. Sie meinte es mit ihrem Vorschlag wohl selber
+nicht sonderlich ernst, sondern sprach ihn nur aus, um nicht so ganz
+ohne weiteres das eigene Reitpferd wieder besteigen zu müssen, nachdem
+sie nun doch schon unnütz abgesprungen war, und ferner, um auch mich
+nicht „ungerupft“ zu lassen, der ich so vorwitzig gewesen war, mich
+wieder vor ihr zu zeigen.
+
+„Du bist gewiß nicht so, wie ... na, wozu Namen nennen – wie ein
+bekannter Held, und wirst dich nicht schämen, den Mut zu verlieren ...
+noch dazu, wenn ‚man‘ dir zuschaut, schöner Page,“ fügte sie hinzu, mit
+einem flüchtigen Blick auf ^M–me^ M., deren Wagen der Treppe am nächsten
+hielt.
+
+Haß und Rachedurst hatten mein Herz erfüllt, als sie, in der Absicht,
+Tankred gegen ihr Reitpferd einzutauschen, zu uns getreten war ... Wie
+aber soll ich das wiedergeben, was ich bei dieser plötzlichen
+Herausforderung empfand? Es wurde dunkel vor meinen Augen, als ich den
+Blick bemerkte, den sie ^M–me^ M. zuwarf. Wie ein Blitz durchzuckte mich
+die Idee ... ja, in einer Sekunde, in dem Bruchteil einer Sekunde, war
+die Idee schon Wille geworden ... Ihr Blick wirkte auf mich wie ein
+Funke auf ein Pulverfaß – oder war das Maß schon so zum Überlaufen voll,
+daß ich bei diesem letzten Tropfen plötzlich wie mit einem Schlage
+wieder ich selbst war und alles sich in mir aufbäumte – daß ich mit
+einer einzigen Tat alle meine Feinde schlagen und mich vor allen Zeugen
+an ihnen rächen wollte, indem ich zeigte, was für ein Held ich sei? Oder
+war es vielleicht das, daß jemand mir in diesem Augenblick, von dem ich
+noch nichts wußte, ein Stück Mittelalter durch irgendein Wunder oder
+eine Zauberei offenbarte und ich in meinem erhitzten Kopfe Turniere,
+Paladine, Knappen, schöne Edelfrauen, brechende Lanzen sah und
+Schwertergeklirr, Geschrei und Beifallruf der Menge hörte und zwischen
+all dem den schüchternen Schrei eines erschrockenen Herzens, der dem
+Stolzen auf dem Kampfplatz süßer klingt als alle Siegesfanfaren? ...
+Nein, ich weiß wirklich nicht, ob dieser Unsinn mir schon damals den
+Kopf verwirrte, oder ob ich, wie mir scheint, nichts anderes dachte und
+fühlte, als daß meine Stunde geschlagen hatte! Mein Herz stand still,
+und dann gab ich mir einen Ruck und mit einem Sprunge war ich von der
+Treppe und stand neben Tankred.
+
+„Ach, Sie glauben, ich fürchte mich?“ rief ich frech und stolz zugleich,
+in einer Erregung, die mir die Sinne benahm und das Blut ins Gesicht
+trieb. „Dann sollen Sie sehen!“ ... Und noch bevor jemand mich
+zurückhalten konnte, hatte ich schon eine Hand in Tankreds Mähne und
+einen Fuß im Steigbügel: Tankred bäumte sich, warf wild den Kopf in die
+Luft, riß sich mit einem Ruck und Satz von den Stallknechten los und
+raste vom Hof – ein Schrei des Entsetzens entrang sich allen Zuschauern.
+
+Gott weiß, wie es mir gelang, im Fluge noch den anderen Steigbügel zu
+finden; ebensowenig begreife ich, wie ich nicht den Zaum verlor. Tankred
+raste mit mir durch das offene Gittertor, bog scharf nach rechts zur
+Seite und jagte mit hochgestrecktem Kopf blindlings längs dem Gitterzaun
+weiter. Erst in diesem Augenblick hörte ich hinter mir das Geschrei der
+fünfzig Stimmen: und dieser Schrei erweckte in meiner Brust soviel
+Freude und Stolz, daß ich diesen verrückten Augenblick meiner Kindheit
+nie vergessen werde. Das Blut stieg mir zu Kopf und betäubte, erstickte
+meine Angst. Ich war mir meiner selbst nicht bewußt. Übrigens hatte das
+alles, soweit ich mich erinnere, wirklich etwas Ritterliches.
+
+Indessen begann und endete mein Rittertum in kaum einer Minute –
+anderenfalls wäre es dem Ritter auch sehr schlecht bekommen. Und auch so
+verdanke ich meine Rettung nur einem Wunder. Zu reiten verstand ich
+freilich, aber mein gewohnter Klepper erinnerte doch weit eher an ein
+Lamm als an ein Reitpferd. Selbstverständlich wäre ich von Tankred aus
+dem Sattel geworfen worden, wenn er dazu nur Zeit gehabt hätte. Am Ende
+des Hofzaunes scheute er aber vor einem großen Stein am Wege, bäumte
+sich und warf sich so wild herum, daß es mir noch jetzt ein Rätsel ist,
+wie ich im Sattel blieb und nicht wie ein Ball drei Klafter weit zu
+Boden flog, um zerschmettert liegen zu bleiben, und wie Tankred selbst
+bei dieser plötzlichen wilden Wendung sich nicht einfach überschlug. So
+aber jagte er zurück zum Gittertor, schüttelte wild den Kopf, warf die
+Beine scheinbar wie sie wollten in die Luft und schien mit jedem Satz
+und Seitensprung nur eines zu wollen: mich abzuschütteln, als wäre ich
+ein Tiger, der ihm auf den Rücken gesprungen und sich mit allen Zähnen
+und Pranken in sein Fleisch einkrallte. Noch ein Augenblick – und ich
+wäre geflogen –! Doch schon sprengten mehrere Reiter zu meiner Rettung
+herbei. Zwei von ihnen versperrten den Weg, zwei andere drängten ihre
+Tiere so dicht heran, daß sie mir fast die Beine zerdrückten, und schon
+hielten sie Tankred fest am Zaum. In wenigen Augenblicken waren wir
+wieder vor der Freitreppe.
+
+Ich wurde aus dem Sattel gehoben, bleich und an allen Gliedern zitternd.
+Tankred stand unbeweglich mit sich hebenden und senkenden Flanken, mit
+bebenden roten Nüstern und schnaufendem Atem; dabei zitterten alle seine
+Nerven wie vor Wut und Empörung über die ungestrafte Frechheit eines
+Kindes, das ihn so beleidigt hatte! Ringsum ertönten noch immer Ausrufe
+der Angst und des Schrecks und der Verwunderung.
+
+Da begegnete mein irrender Blick dem der ^M–me^ M., die erregt und
+bleich aussah, und – nie werde ich diesen Augenblick vergessen! – in dem
+Augenblick wurde ich feuerrot. Ich weiß nicht, was in mir vorging, aber
+verwirrt und erschreckt durch eine neue Empfindung senkte ich beschämt
+den Blick zu Boden. Doch mein Blick war bemerkt, war aufgefangen, war
+mir wieder gestohlen worden! Aller Augen wandten sich ^M–me^ M. zu, und
+als diese so plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet
+sah, erschrak sie und errötete plötzlich selbst wie ein Kind, gleichsam
+infolge einer Empfindung, die gegen ihren Willen über sie kam, obgleich
+sie sich ganz unschuldig fühlte. Und in ihrer Verlegenheit zwang sie
+sich zu einem Lachen ... Doch half ihr auch das nicht, ihr Erröten zu
+verbergen ...
+
+Alles dies hätte einem unbeteiligten Beobachter natürlich sehr komisch
+erscheinen müssen – aber da bewahrte mich ein höchst naiver und
+unerwarteter neuer Ausfall der Ungezogenen vor dem allgemeinen
+Gelächter, indem er den ganzen Zwischenfall in ein besonderes Licht
+rückte. Sie, die mich zu meiner Tollkühnheit herausgefordert hatte und
+die ganze Zeit über mein unversöhnlichster Feind gewesen war, stürzte
+plötzlich zu mir, umschlang mich mit beiden Armen und bedeckte mich mit
+Küssen. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, als ich ihre
+Herausforderung annahm und den Handschuh aufhob, den sie mir mit ihrem
+Blick auf ^M–me^ M. zuwarf. Und als ich auf Tankred dahinjagte, da war
+sie vor Angst und Gewissensbissen schier ohnmächtig geworden. Jetzt
+aber, nachdem alles überstanden war und sie wie alle anderen meinen
+Blick auf ^M–me^ M. bemerkte, dazu meine Verwirrung und mein plötzliches
+Erröten wahrnahm – jetzt, da sie dem Vorfall mit einer romantischen
+Deutung einen ganz anderen Sinn beilegen konnte – jetzt geriet sie in
+solches Entzücken ob meiner „Rittertat“, daß sie zu mir eilte und mich
+in ihre Arme schloß, gerührt, stolz, begeistert! Einen Augenblick später
+richtete sie sich schnell auf und wandte den übrigen, die sich um uns
+drängten, ihr Gesicht mit der ernsthaftesten Miene zu, in der unendlich
+viel kindlich naiver Stolz lag, und sagte, indes zwei kristallklare
+Tränen an ihren Wimpern hingen, mit einer so ernsten, wichtigen Stimme,
+wie ich sie von ihr noch nie gehört hatte:
+
+„^Mais c’est très sérieux, messieurs, ne riez pas!^“ Und sie deutete auf
+mich, ohne zu gewahren, daß alle wie bezaubert vor ihr standen und nur
+sie ansahen. Diese ihre unerwartete schnelle Bewegung, ihr ernstes
+liebes Gesicht, ihre offenherzige Naivität und diese aufrichtigen Tränen
+in ihren ewig lachenden Augen – alles das erschien ihnen als ein so
+unerwartetes Wunder, daß alle sie ansahen, wie gebannt durch diesen
+Zauber ihrer Leidenschaftlichkeit, ihres Blickes und ihrer Stimme.
+Niemand konnte die Augen von ihr abwenden, so schön war sie in ihrer
+Rührung und Begeisterung. Sogar unser alter Hausherr wurde rot wie eine
+Tulpe. Und wie man später behauptete, soll er gesagt haben: „Zu seiner
+Schande müsse er gestehen, daß er mindestens eine ganze Minute lang in
+seinen schönen Gast verliebt gewesen sei.“ Ich aber war jetzt natürlich
+ein Ritter, war ein Held!
+
+„Delorges! Toggenburg!“ ertönte es aus dem Kreise.
+
+Viele applaudierten.
+
+„Ja, ja, die junge Generation!“ bemerkte unser Hausherr.
+
+„Aber jetzt kommt er mit, jetzt muß er unbedingt mit uns mitkommen!“
+rief die Blondine schnell, „wir müssen ihm einen Platz verschaffen! Oder
+er setzt sich zu mir aufs Pferd, auf meinen Schoß ... ach, nein, nein!
+Das geht ja nicht!“ ... unterbrach sie sich, auflachend, und konnte
+dabei ihr Lachen nicht bezwingen bei der Erinnerung an unsere erste
+Bekanntschaft. Doch während sie lachte, streichelte sie zärtlich meine
+Hand, sichtlich von Herzen bemüht, meine Freundschaft zu gewinnen und
+die Kränkung vergessen zu machen.
+
+„Unbedingt! Unbedingt!“ riefen gleich mehrere Stimmen, „den Platz hat er
+sich erobert!“
+
+Und im Augenblick war alles besorgt: jenes selbe ältere Fräulein, das
+mich mit ihrer schönen Freundin bekannt gemacht hatte, wurde sogleich
+von der ganzen Jugend mit Bitten bestürmt, ihren Platz mir abzutreten
+und statt meiner zu Haus zu bleiben. Zu ihrem größten Ärger blieb ihr
+denn auch nichts anderes übrig, als den Bitten Gehör zu geben und mit
+sauersüßem Lächeln auszusteigen – innerlich wohl dem Bersten nahe vor
+Wut über mich. Ihre Beschützerin, meine gewesene Feindin und nun größte
+Freundin, rief ihr jedoch, als sie an ihr vorüberritt, wie ein Kind
+lachend zu, daß sie sie beneide und gern mit ihr tauschen wollte, denn
+es werde gleich regnen und dann würden wir alle naß.
+
+Ihre Prophezeiung traf wirklich ein. Etwa eine Stunde später überraschte
+uns ein Platzregen und wir mußten mehrere Stunden in den Bauernhäusern
+warten. Erst gegen zehn Uhr kehrten wir zurück, in feuchter,
+frisch-kühler Regenluft. Kurz bevor wir aufbrachen, trat ^M–me^ M. zu
+mir und fragte mich verwundert, warum ich nichts weiter angezogen hätte,
+als meine leichte Matrosenbluse. Ich sagte, ich hätte keine Zeit gehabt,
+meinen Mantel mitzunehmen. Da nahm sie eine Nadel und steckte meinen
+Kragen höher fest und nahm von ihrem Halse ein kleines, seidenes Tuch,
+das sie mir um den Hals band. Sie beeilte sich dabei aber so sehr, daß
+ich ihr nicht einmal danken konnte.
+
+Zu Haus angekommen, suchte ich sie und fand sie schließlich im kleinen
+Salon, im Gespräch mit der Blondine und dem freundlichen jungen Mann,
+der den Ruf eines guten Reiters damit eingebüßt hatte, daß er Tankred
+nicht zu reiten wagte. Ich trat an sie heran, bedankte mich und gab ihr
+das Halstuch zurück. Ich schämte mich jetzt des Vorgefallenen und wollte
+schnell fortgehen, nach oben auf mein Zimmer, um dort in aller Ruhe und
+Muße über irgend etwas, was ich im Augenblick selbst nicht zu nennen
+vermocht hätte, nachzudenken und mir darüber Klarheit zu verschaffen.
+Ich war so voll von neuen Eindrücken. Indem ich das Tuch zurückgab,
+errötete ich natürlich wieder bis über die Ohren.
+
+„Ich wette, der Junge hat das Ding behalten wollen,“ bemerkte der junge
+Mann lachend, „man sieht es ja seinen Augen an, wie leid es ihm tut,
+sich von Ihrem Tuch trennen zu müssen ...“
+
+„Natürlich, natürlich doch!“ fiel ihm die Blondine ins Wort. „So ein
+Schlingel! Ach du!“ ... sagte sie scheinbar sehr angehalten und
+schüttelte mißbilligend den blonden Kopf, verstummte aber sogleich unter
+dem ernsten Blick der ^M–me^ M., der sie bat, ihre Scherze mit mir nicht
+wieder zu weit zu treiben.
+
+Ich ging schnell fort.
+
+„Wohin läufst du denn! So lauf doch nicht weg!“ – damit holte sie mich
+im Nebenzimmer ein und erfaßte freundschaftlich meine beiden Hände –
+„hättest du es doch einfach nicht zurückgegeben, wenn du’s so gern
+behalten wolltest! Hättest doch sagen können, daß du es verloren hast
+oder irgendwohin gelegt, und damit basta! Und das hast du nicht
+verstanden? Du bist mir mal ein Tor!“
+
+Und sie gab mir mit dem Finger einen leichten Backenstreich und lachte,
+weil ich wieder feuerrot wurde.
+
+„Jetzt sind wir doch gute Freunde, nicht wahr? Hat unsere Feindschaft
+ein Ende, sag’!? Ja oder nein?“
+
+Ich lachte und drückte ihr ohne ein Wort die Hand.
+
+„Nun, das ist gut! ... Aber warum bist du so bleich geworden und warum
+zitterst du? Hast du dich erkältet?“
+
+„Ja, ich fühle mich nicht ganz wohl ...“
+
+„Ach, du Armer! Das kommt von der Aufregung! Weißt du was? Geh jetzt
+lieber gleich ins Bett, warte nicht erst auf das Abendessen, und wenn du
+dich gut ausschläfst, wird es vergehen. Komm!“
+
+Sie führte mich nach oben, und wie es schien, konnte sie mir nicht genug
+Liebes erweisen. Während sie mich zum Auskleiden allein ließ, lief sie
+nach unten in die Küche und brachte mir heißen Tee, den ich, als ich
+schon im Bett lag, trinken mußte. Dann brachte sie mir noch eine warme
+Decke und deckte mich sorgfältig zu. Ihre liebevolle Sorge wunderte und
+rührte mich nicht wenig, – oder vielleicht waren auch meine Nerven nach
+allen Erlebnissen an diesem Tage und obendrein noch durch das Fieber
+besonders empfänglich dafür. Ich schlang plötzlich meine Arme um ihren
+Hals, als wäre sie mein liebster und bester Freund, und mit einem Male
+kamen alle Eindrücke des Tages wieder und stürmten auf mein ermattetes
+Herz: ich war den Tränen nahe und schmiegte mich fest an ihre Brust. Sie
+erriet meine überwallende Empfindung und ich glaube, mein Wildfang war
+selbst beinahe gerührt.
+
+„Du bist ein guter Junge,“ flüsterte sie mir zu und sah mich mit stillen
+Augen an, „so sei mir nun nicht mehr böse, ja? wirst mir nicht mehr böse
+sein?“
+
+Mit einem Wort: uns verband von nun an die treueste, zärtlichste
+Freundschaft.
+
+Es war ziemlich früh am Morgen, als ich erwachte, aber die Sonne
+erfüllte das Zimmer schon mit goldigem Licht. Ich sprang gesund und
+munter aus dem Bett, von der Erkältung empfand ich nichts mehr, statt
+dessen aber eine unendliche, unerklärliche Freude. Ich dachte an den
+ereignisreichen letzten Tag und Abend und ich hätte ein ganzes Glück
+dafür hingegeben, wenn ich in diesem Augenblick wieder meinen neuen
+Freund, unsere blondlockige Schönheit hätte umarmen können. Aber es war
+noch zu früh und sie schliefen wohl noch alle. Ich kleidete mich schnell
+an, ging in den Garten und von dort in den Wald. Ich schlug die Richtung
+ein, in der der Wald am dichtesten war, der Duft der Bäume harziger, und
+wo die Sonnenstrahlen neckisch und nur wie verstohlen hier und da durch
+das dichte Blattgewirr lugten. Es war ein wundervoller Morgen.
+
+Ich ging weiter und weiter, bis ich schließlich am anderen Waldrande
+anlangte, auf einem Bergabhange nicht weit vom Fluß. Die Moskwa ist dort
+keine zweihundert Schritte vom Waldesrande entfernt, wenn man den Abhang
+hinabgeht. Auf dem anderen Ufer wurde Heu gemäht. Ich blieb stehen und
+schaute hinüber: ich sah, wie ganze Reihen scharfer Sensen bei jedem
+Ausholen der Schnitter in der Sonne aufblitzten und dann wieder
+verschwanden, gleich kleinen glänzenden Schlangen, die schnell immer von
+neuem ins Gras huschten, als wollten sie sich verstecken, und wie das
+gemähte Gras in dicken bauschigen Büscheln zur Seite flog und in langen
+geraden Streifen liegen blieb. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so
+hinübergeschaut haben mochte, als ich plötzlich aus meinen Träumen zur
+Besinnung kam: aus dem Walde, ungefähr aus der Richtung des Durchhaus,
+der sich zwischen dem Fahrweg und dem Herrenhause hinzog, vernahm ich
+Pferdegeschnauf und ungeduldiges Scharren mit dem Huf. Ich konnte jedoch
+nicht sagen, ob der Reiter sein Tier gerade erst anhielt, oder ob schon
+längere Zeit das Stampfen und Schnaufen zu hören gewesen war, das ich –
+in mich selbst versunken, wie ich, während ich den Schnittern zusah,
+dagestanden – nur nicht gehört hatte. Neugierig kehrte ich zurück in den
+Wald und schon nach wenigen Schritten vernahm ich Stimmen, die schnell,
+aber leise durch die Stille erklangen. Ich ging noch näher und bog die
+Äste der letzten Büsche zur Seite und – erschrocken wich ich zurück –
+durch die Zweige schimmerte ein weißes Kleid: eine weiche Frauenstimme
+schlug an mein Ohr und ließ mein Herz erzittern. Es war ^M–me^ M. Sie
+stand neben einem Reiter, der vom Pferde herab schnell auf sie
+einsprach, und zu meiner Verwunderung erkannte ich in ihm N., jenen
+jungen Mann, der uns tags zuvor verlassen hatte, begleitet von allen
+jungen Damen und auch von ^M–r^ M. Hatte man nicht gesagt, er müsse
+irgendwohin, weit nach dem Süden Rußlands reisen? Wahrlich, es war nur
+zu erklärlich, daß ich mich recht verwunderte, als ich ihn wieder bei
+uns und noch dazu so früh am Morgen und allein mit ^M–me^ M. im Walde
+erblickte!
+
+Sie schien geweint zu haben und sah erregt aus, aber so schön hatte ich
+sie noch nie gesehen. Der junge Mann hielt ihre Hand in der seinen und
+führte sie, im Sattel sich herabneigend, an seine Lippen. Ich hatte sie
+beim Abschied überrascht. Ich glaube, sie beeilten sich. Endlich zog er
+aus der Brusttasche einen Brief, reichte ihn ^M–me^ M., umfing sie mit
+dem einen Arm, sich wie vorher im Sattel herabbeugend, und küßte sie –
+fest und lange. Einen Augenblick später wippte die Peitsche und er
+sprengte schnell an mir vorüber, auf und davon. Sie aber stand noch eine
+Weile und blickte ihm nach, dann wandte sie sich um und kehrte langsam,
+nachdenklich und traurig zum Hause zurück. Nach wenigen Schritten schien
+sie plötzlich zu sich zu kommen, wie aus einem Traum zu erwachen – und
+sie bog schnell die Zweige der Büsche am Durchhau zur Seite und ging
+durch den Wald.
+
+Ich folgte ihr, erstaunt und verwirrt durch das, was ich gesehen hatte.
+Mein Herz pochte laut, wie nach einem großen Schreck. Und dennoch war
+ich wie erstarrt und betäubt: meine Gedanken waren zerstreut und ich
+konnte sie nicht sammeln; aber ich erinnere mich, daß ich furchtbar
+traurig war. Hin und wieder sah ich ihr weißes Kleid durch das Grün
+schimmern. Ich folgte ihr ganz willenlos, fast mechanisch, und hatte
+dabei nur den einen Gedanken, sie nicht aus dem Auge zu verlieren und
+doch selbst nicht von ihr gesehen zu werden. Endlich trat sie auf den
+Weg, der aus dem Walde in den Garten führte. Ich wartete eine Weile,
+dann trat ich gleichfalls aus dem Walde. In demselben Augenblick
+bemerkte ich auf dem gelben Kies des Weges ein geschlossenes Kuvert, das
+ich auf den ersten Blick erkannte – es war dasselbe, das vor etwa zehn
+Minuten N. ^M–me^ M. eingehändigt hatte.
+
+Ich hob es auf, betrachtete es von allen Seiten: ein weißes Kuvert ohne
+Aufschrift, ohne ein Zeichen, dem Format nach nicht sehr groß, aber
+recht dick und schwer, wie wenn mindestens drei Bogen Postpapier in ihm
+waren.
+
+Was enthielt dieser Brief? Vielleicht das ganze Geheimnis! Vielleicht
+war in ihm alles das ausgesprochen, was N. in den wenigen Minuten des
+kurzen Wiedersehens nicht zu sagen gewagt hatte. Er war ja dem Anscheine
+nach nicht einmal abgestiegen ... Sollte er sowenig Zeit gehabt haben
+oder fürchtete er vielleicht bei einem längeren Abschied seinem
+gegebenen Wort nicht treu bleiben zu können – Gott mag es wissen ...
+
+Ich blieb stehen, legte den Brief mitten auf den Weg, gerade auf die
+sichtbarste Stelle und versteckte mich hinter einem Baum, so daß ich den
+Brief im Auge behalten konnte, denn ich dachte, ^M–me^ M. werde bald
+bemerken, daß sie ihn verloren hatte, und dann, um ihn zu suchen, auf
+demselben Wege in den Wald zurückkehren. Ich hielt aber das Warten nicht
+lange aus, hob den Brief wieder auf, steckte ihn in die Tasche und lief
+ihr nach. Sie war aber schon im Garten und ging in der großen Allee
+geradeswegs zum Hause, ging schnell, doch mit gesenktem Kopf. Da wußte
+ich nicht, was ich tun sollte. Sie einholen und ihr den Brief geben? Das
+hätte verraten, daß ich alles gesehen, daß ich alles wußte. Wie sollte
+ich ihr dann noch in die Augen blicken? und was würde sie von mir
+denken? Ich hoffte immer noch, daß sie zu sich kommen, sich des Briefes
+erinnern und dann bemerken werde, daß sie ihn verloren hatte. In dem
+Falle hätte ich ihn unbemerkt fallen lassen: und sie würde ihn sogleich
+gefunden haben. Aber nein, sie dachte offenbar nicht an den Brief! Sie
+näherte sich schon dem Hause, und auf der Terrasse hatte man sie bereits
+erblickt.
+
+An diesem Morgen waren alle viel früher aufgestanden, denn am Abend nach
+der mißlungenen Ausfahrt hatte man sogleich einen neuen Ausflug
+verabredet, wovon ich noch nichts wußte. Alle hatten sich schon zur
+Abfahrt bereitgemacht und saßen gerade beim Frühstück auf der Terrasse.
+Ich wartete gute zehn Minuten, damit man mich nicht zusammen mit ^M–me^
+M. aus dem Garten kommen sah, machte einen Umweg und näherte mich von
+einer anderen Seite dem Hause. Sie ging auf der Terrasse unruhig hin und
+her, sah bleich und erregt aus und aus allem war zu ersehen, daß sie
+sich Gewalt antat, um ihre Erregung und Angst nicht zu verraten; dennoch
+sprach aus ihren Augen, ihrem unruhigen Gang, aus jeder Bewegung soviel
+Qual und Pein, daß sie wohl jedem, der sie beobachtet hätte, aufgefallen
+wäre. Sie stieg die Stufen hinab und ging ein paar Schritte auf dem Wege
+in den Garten; ihre Augen suchten angstvoll und sogar unvorsichtig und
+auffällig auf dem Kies und dem Fußboden der Terrasse. Da wußte ich:
+jetzt endlich vermißte sie den Brief und fürchtete wohl, ihn in der Nähe
+des Hauses verloren zu haben – ja, sie schien davon überzeugt zu sein.
+
+Jemand machte die Bemerkung, und nach ihm wiederholten sie alle anderen,
+daß sie bleich und nervös aussehe. Es folgten Fragen nach ihrer
+Gesundheit, lästige Ratschläge. Sie mußte beruhigen, scherzen, lachen,
+mußte eine heiter gelassene Miene zur Schau tragen. Zuweilen flog ihr
+Blick zu ihrem Mann hinüber, der am anderen Ende der Terrasse sich mit
+zwei Damen unterhielt, und dann überlief wieder jenes Zittern ihren
+Körper und jene große Befangenheit kam über sie, wie an dem Abend, als
+er unerwartet hier eingetroffen war. Ich stand, die Hand in der Tasche,
+in der ich den Brief krampfhaft festhielt, etwas abseits auf der
+Terrasse und flehte das Schicksal an, daß sie mich endlich bemerken
+möge. Ich wollte sie beruhigen, trösten, und war’s auch nur mit einem
+Blick, oder ihr, wenn es anging, heimlich ein paar Worte zuflüstern.
+Doch als sie mich dann zufällig ansah, da zuckte ich zusammen und senkte
+den Blick.
+
+Ich sah ihre Qual und täuschte mich nicht in meiner Annahme. Auch jetzt
+weiß ich von ihrem Geheimnis nicht mehr als damals, nichts weiter als
+das, was ich soeben wiedergegeben. Aber ihr Verhältnis zu N. war
+vielleicht doch nicht von der Art, wie man es auf den ersten Blick
+vermuten könnte. Vielleicht war dieser Kuß ein letzter Abschiedskuß, ein
+dürftiger Lohn für ein Opfer, das er ihrer Ruhe und Ehre brachte? Er
+verließ sie. Er reiste irgendwohin, weit fort, vielleicht fürs ganze
+Leben, um sie nie wiederzusehen. Und schließlich, dieser Brief, den ich
+kampfhaft umklammerte – wer weiß, was er enthielt? Wer konnte da
+urteilen? Zweifellos wäre die plötzliche Aufdeckung ihres Geheimnisses
+ein entsetzlicher, ein vernichtender Schlag für sie gewesen. Ich sehe
+noch heute ihr Gesicht vor mir, wie sie dort ging und stand: nein, mehr
+konnte man nicht leiden! Fühlen, wissen, überzeugt sein, und wie auf
+seine Hinrichtung darauf warten, daß in einer Viertelstunde oder schon
+in der nächsten Minute alles der Öffentlichkeit preisgegeben sein würde
+– der Brief konnte doch jeden Augenblick von jemandem gefunden werden!
+Er war ohne Aufschrift, man würde ihn erbrechen und dann ... was dann?
+Welche Hinrichtung könnte furchtbarer sein, als die, die sie erwartete?
+Sie stand und ging hier mitten unter ihren zukünftigen Richtern. Nach
+wenigen Minuten würden alle diese lächelnden, schmeichelnden Gesichter
+streng und unerbittlich aussehen. Spott, Bosheit und eisige Verachtung
+würde sie in ihnen lesen und dann würde ewige, hoffnungslos dunkle Nacht
+ihr Leben abschließen ... Damals freilich begriff ich das alles noch
+nicht so, wie jetzt. Ich konnte es nur ahnen und Mitleid mit ihr
+empfinden, tiefes, unsagbares Mitleid mit ihrer Angst, die ich nicht
+einmal ganz verstand. Doch was auch immer ihr Geheimnis gewesen sein mag
+– durch jene qualvolle Stunde, deren Zeuge ich war und die ich niemals
+vergessen werde, hat sie viel gesühnt, wenn hier überhaupt etwas zu
+sühnen war.
+
+Plötzlich erscholl der fröhliche Ruf zur Abfahrt. Ein lautes
+Stimmengewirr war die Antwort, und unter Scherzen und Lachen brach man
+auf. In wenigen Minuten hatten alle die Terrasse verlassen. ^M–me^ M.
+weigerte sich, mitzufahren und gestand schließlich, daß sie sich nicht
+wohl fühle. Doch Gott sei Dank, alle beeilten sich und niemand
+belästigte sie weiter mit Fragen oder Ratschlägen: dazu hatten sie jetzt
+keine Zeit. Nur wenige blieben zu Haus. Ihr Mann war zu ihr getreten und
+sagte ihr irgend etwas: sie erwiderte, daß ihr Unwohlsein schnell
+vergehen werde, er solle sich deshalb nicht beunruhigen; hinlegen wolle
+sie sich nicht, sie werde in den Garten gehen, allein ... oder mit mir
+... Dabei sah sie sich nach mir um. Ich errötete vor Freude: das war ja
+die beste Gelegenheit, die sie mir damit bot! Einen Augenblick später
+machten wir uns auf den Weg.
+
+Sie ging denselben Weg, den sie gekommen war, sie schien sich
+unwillkürlich jeder Allee, jedes Umweges im Garten, jedes Fußsteiges zu
+erinnern, und sie ging, ohne den Blick vom Boden zu erheben, ohne mich
+zu beachten – vielleicht hatte sie es schon vergessen, daß ich mit ihr
+ging.
+
+Als wir an den Waldrand kamen, wo ich den Brief gefunden hatte und wo
+der Kiesweg aufhörte, blieb sie plötzlich müde stehen und sagte mit
+einer Stimme, die mir ins Herz schnitt, so verzweifelt und hoffnungslos
+traurig klang sie, daß sie sich schlecht fühle und zurückkehren wolle.
+Doch kaum waren wir wieder beim Gartenzaun angelangt, da blieb sie von
+neuem stehen und starrte vor sich hin. Ein wehes, qualvolles Lächeln
+zuckte um ihre Lippen und wie erschöpft und wie aus Erschöpfung sich
+allem ergebend, sich in alles fügend, was auch über sie hereinbrechen
+sollte, kehrte sie stumm zum Walde zurück, diesmal ohne mir ein Wort zu
+sagen, ohne mich zu beachten ...
+
+Ich hätte mich selbst zerreißen mögen, und doch verfiel ich nicht auf
+einen Ausweg ...
+
+Wir gingen, oder richtiger, ich führte sie an jene Stelle, wo ich vor
+etwa einer Stunde gestanden und plötzlich den Hufschlag gehört hatte.
+Nicht weit von dort war am Fuß einer alten Ulme ein bankartig gehauener
+großer Feldstein, von Hagebutten, wildem Jasmin und Efeu umgeben. (Der
+Wald hatte eine Menge solcher „Überraschungen“, wie Bänke, Grotten,
+kleine Brücken und ähnliches.) Sie setzte sich auf die Bank und sah
+geistesabwesend auf das entzückende Landschaftsbild, das sich uns bot.
+Nach einer Weile schlug sie das Buch auf und tat, als läse sie, aber sie
+saß reglos, wandte weder ein Blatt, noch las sie: sie wußte wohl selbst
+nicht, was sie tat. Es war gegen halb zehn Uhr. Die Sonne stand schon
+hoch am klaren, endlos hohen blauen Sonnenhimmel und schien in ihrem
+eigenen Feuer zu verbrennen. Die Schnitter waren bereits weit, man
+konnte sie von unserem Ufer kaum noch sehen. Ununterbrochen folgten
+ihnen die langen Streifen des gemähten Grases und wenn die Luft sich ab
+und zu wie in einem leisen Wehen regte, dann trug sie frischen Heuduft.
+Ringsum aber ertönte unermüdlich das Zwitschern jener, die „weder säen,
+noch ernten“ und frei sind wie die Luft, in der sie fliegen. Es lag
+solch ein seliges Wohlsein in der ganzen Natur!
+
+Ich blickte scheu auf die arme Frau, die allein wie eine Tote inmitten
+dieses frohen Lebens war: an ihren Wimpern hingen Tränen, die ihr das
+Leid aus den Augen gepreßt. In meiner Macht war es, diese arme, traurige
+Seele aufzurichten und zu beglücken, und doch wußte ich nicht, wie ich
+es anfangen sollte, und ich quälte mich entsetzlich. Hundertmal war ich
+schon im Begriff, zu ihr zu treten, um ihr den Brief zu übergeben, und
+jedesmal stieg mir dann die Röte wie Feuer ins Gesicht.
+
+Plötzlich erleuchtete mich ein guter Gedanke: ich war auf ein Mittel
+verfallen und wie erlöst!
+
+„Ich werde Ihnen Blumen pflücken! Wollen Sie?“ fragte ich sie so froh,
+daß sie aufsah und mich anblickte.
+
+„Gut,“ sagte sie endlich mit müder Stimme, kaum merkbar lächelnd, und
+wieder sah sie ins Buch.
+
+„Sonst wird hier auch das Gras gemäht und dann mähen sie alle Blumen
+nieder!“ rief ich fröhlich und sprang davon.
+
+Bald hatte ich schon eine ganze Menge gepflückt, wenn es auch nur ein
+Strauß einfacher, unscheinbarer Feldblumen war, die man wohl kaum in
+einer Vase ins Zimmer stellen würde. Und doch, wie froh schlug mein
+Herz, als ich die Blumen suchte und zum Strauße zusammenband!
+Heckenrosen und wilden Jasmin brach ich. Dann lief ich zu einem nahen
+Kornfeld. Dort, das wußte ich, blühten Kornblumen. Die pflückte ich, und
+dazu lange goldgelbe Ähren, die schönsten suchte ich aus. Am Wegrande
+fand ich auch ein ganzes Büschel Vergißmeinnicht und mein Strauß konnte
+sich eigentlich schon sehr wohl sehen lassen. Weiter im Felde fand ich
+hellblaue Glockenblumen und wilde Nelken und unten am Flußufer gelbe
+Wasserrosen. Endlich, schon auf dem Rückwege, als ich noch auf einen
+Augenblick in den Wald trat, um einige Silberahornzweige zu brechen und
+sie unten kranzartig um die Blumen zu legen, fand ich wilde
+Stiefmütterchen und in ihrer Nähe, durch ihren Geruch aufmerksam
+gemacht, im Grase ganz versteckt, süß duftende Veilchen, die vom Tau
+noch feucht waren. Mein Strauß war fertig. Mit dünnen langen Gräsern
+umwand ich die Stiele und zwischen die Blumen, ganz vorsichtig, steckte
+ich den Brief, so daß man ihn deutlich sehen konnte, wenn man dem Bukett
+nur einige Beachtung schenkte.
+
+So brachte ich es ^M–me^ M.
+
+Unterwegs schien es mir, daß der Brief doch gar zu auffallend
+hervorragte: deshalb verdeckte ich ihn etwas mehr mit den Blüten. Als
+ich mich ihr schon näherte, schob ich ihn noch etwas tiefer hinein, und
+als ich schon ganz nahe bei ihr war, stieß ich ihn so tief in den
+Strauß, daß man von ihm nichts mehr sehen konnte. Das Blut schoß mir
+wieder ins Gesicht, ich wollte es mit den Händen bedecken und sogleich
+fortlaufen, aber sie sah nur so zerstreut auf meine Blumen, als habe sie
+ganz vergessen, daß ich sie für sie gepflückt hatte. Mechanisch hob sie
+die Hand, nahm, fast ohne aufzusehen, mein Geschenk in Empfang und legte
+es achtlos auf die Bank – und wieder sah sie ins Buch, wie in Gedanken
+verloren. Ich hätte weinen mögen vor lauter Ärger über den Mißerfolg
+meines Planes. „Wenn der Strauß nur bei ihr bleibt,“ dachte ich, „wenn
+sie ihn nur nicht vergißt!“ Ich legte mich in der Nähe der Bank ins
+Gras, schob die rechte Hand unter den Kopf und schloß die Augen, als
+wollte ich schlafen. Dabei aber beobachtete ich sie heimlich
+unausgesetzt.
+
+Es verging eine geraume Zeit, vielleicht zehn Minuten; wie mir schien,
+wurde ihr Gesicht immer bleicher ... Plötzlich kam ein glücklicher
+Zufall mir zu Hilfe.
+
+Es war das eine große goldbraune Hummel, die ein freundliches Lüftchen
+zu uns führte. Sie summte zuerst über meinem Kopf, dann flog sie zu
+^M–me^ M. Diese schlug mit der Hand nach ihr, schlug noch einmal, aber
+die Hummel wurde wie zum Trotz nur noch zudringlicher. Da griff ^M–me^
+M. nach meinem Strauß, um mit ihm das Tier zu verscheuchen. In dem
+Augenblick löste sich aus den Blumen der Brief und fiel gerade auf das
+aufgeschlagene Buch. Ich zuckte zusammen. Sie blickte, stumm vor
+Verwunderung, bald auf den Brief, bald auf die Blumen und schien ihren
+Augen nicht zu trauen. Plötzlich wurde sie feuerrot, erhob schnell den
+Blick und sah sich nach mir um. Doch schon hatte ich die Augen
+geschlossen und tat, als schliefe ich fest: für keinen Preis hätte ich
+ihr jetzt offen in die Augen geschaut. Mein Herz pochte laut und schien
+doch stillstehen zu wollen – ich hielt den Atem an. Ich weiß nicht, wie
+lange ich so lag: zwei bis drei Minuten vielleicht. Endlich wagte ich
+es, ganz, ganz vorsichtig die Augen zu öffnen. Sie saß und las den
+Brief, und an ihren glühenden Wangen und glänzenden Augen, die
+tränenfeucht waren, ihrem verklärten Gesicht, in dem jeder Zug vor
+freudiger Erregung zu beben schien, erriet ich, daß der Brief ihr Glück
+gab und ihr Kummer wie eine trübe Wolke verscheucht wurde. Ein
+schmerzlich süßes Gefühl schlich in mein Herz und es fiel mir schwer,
+mich noch weiter schlafend zu stellen ...
+
+Niemals werde ich diese Stunde vergessen!
+
+Plötzlich hörte ich rufen, nicht weit von uns erklangen Stimmen:
+
+„^M–me^ M.! ^Natalie! Natalie!^“
+
+Sie antwortete nicht, stand aber schnell auf, trat zu mir und beugte
+sich über mich. Ich fühlte es, daß sie mir gerade ins Gesicht sah. Meine
+Lider wollten schon zucken, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen und
+rührte mich nicht. Ich versuchte, möglichst gleichmäßig und ruhig zu
+atmen, aber das Herz wollte mich ersticken mit seinen ungestümen
+Schlägen. Da brannten plötzlich Tränen und ein Kuß auf meiner Hand, die
+auf meiner Brust lag. Und noch einmal, zweimal küßte sie mir die Hand.
+
+„^Natalie! Natalie!^ Wo bist du?“ klang es wieder.
+
+„Gleich!“ sagte ^M–me^ M. mit ihrer weichen, dunklen, von Tränen
+durchzitterten Stimme, und so leise, daß nur ich es hören konnte.
+
+Da stockte mein Herz und verriet mich: heiß trieb es mir all mein Blut
+ins Gesicht. Im nächsten Augenblick glühte ein schneller heißer Kuß auf
+meinen Lippen. Ich schlug vor Schreck mit einem schwachen Schrei die
+Augen auf, doch da fiel auf sie etwas seidig Weiches – es war jenes
+kleine Tuch –, als sollte es meine Augen vor der Sonne schützen. Einen
+Augenblick später war sie schon fort. Ich vernahm nur noch das Geräusch
+eilig sich entfernender Schritte. Dann war ich allein ...
+
+Ich riß das Tuch vom Gesicht und küßte es außer mir vor Entzücken. Ich
+war wie fassungslos! ... Lange lag ich im Grase, hatte die Ellbogen
+aufgestützt und schaute sinnverloren und ohne mich zu rühren geradeaus
+auf die Hügel, die Felder und Wiesen, den Fluß, der sich zwischen ihnen
+in großen Biegungen hinwand und weit, soweit das Auge nur folgen konnte,
+sich hinschlängelte, zwischen neuen Bergen und Gütern und Dörfern, deren
+Häuser in der sonnenhellen Ferne wie kleine Punkte vom Grün sich
+abhoben, schaute auf die blauen kaum sichtbaren Wälder, die wie in Rauch
+gehüllt am Horizonte sich hinzogen: und eine seltsam süße Stille, die
+aus der feierlichen Ruhe der Landschaft hervorzugehen schien, beruhigte
+allmählich mit einer unendlichen Sanftheit mein erregtes Herz. Wie eine
+Erleichterung war es, ich atmete freier ... Aber meine ganze Seele
+begann, sich seltsam dumpf und süß zu sehnen, als sähe sie etwas, was
+sie noch nie gesehen, als wäre plötzlich ein Ahnen in ihr erwacht.
+Furchtsam und doch voll Freude begann mein Herz etwas Geheimnisvolles zu
+erraten, leicht bebend vor Erwartung ... Und plötzlich weitete sich
+meine Brust, und in ihr wogte und schmerzte es, als wäre sie durchbohrt
+– und Tränen, selige Tränen entströmten meinen Augen. Ich bedeckte das
+Gesicht mit den Händen und zitternd wie ein Grashalm gab ich mich
+wehrlos der ersten Erkenntnis und Offenbarung des Herzens hin, dem
+ersten noch unklaren Einblick in meine Menschennatur. Mit diesem
+Augenblick endete meine Kindheit. – – – – – – – – – – – – – – –
+
+ * * * * *
+
+Als ich zwei Stunden später ins Haus zurückkehrte, befand ^M–me^ M. sich
+nicht mehr unter den Gästen. Sie war mit ihrem Mann nach Moskau
+gefahren, wie es hieß, auf irgendeine plötzlich eingetroffene Nachricht
+hin. Ich habe sie nie wiedergesehen.
+
+
+
+
+ Weihnacht und Hochzeit
+
+
+Vor ein paar Tagen sah ich einer Trauung zu ... oder nein! Ich werde
+Ihnen zuerst von einer Weihnachtsfeier erzählen. Eine Trauung ist ja an
+sich sehr schön und auch diese gefiel mir sehr ... aber das andere
+Erlebnis ergriff mich doch noch mehr. Als ich der Trauung zusah, wurde
+ich an jene Weihnachtsfeier erinnert. Doch ich will erzählen, wie das
+zuging.
+
+Vor etwa fünf Jahren erhielt ich eines Tages zwischen Weihnacht und
+Neujahr eine Einladung zu einem Kinderball, der in dem Hause einer mir
+bekannten, angesehenen Familie stattfinden sollte. Der Hausherr war eine
+einflußreiche Persönlichkeit, die gute Verbindungen besaß, einen großen
+Bekanntenkreis hatte, eine gewichtige Rolle in der Gesellschaft spielte
+und alle möglichen Intrigen zu spinnen pflegte, so daß man ohne weiteres
+annehmen konnte, dieser Kinderball sei nur ein Vorwand für die Eltern,
+namentlich für die Herren Väter, einmal ganz harmlos in größerer Anzahl
+zusammenzukommen und bei der Gelegenheit ganz zufällig über allerlei
+bemerkenswerte Dinge und Ereignisse zu reden. Da mich aber besagte Dinge
+und Ereignisse nichts angingen und ich unter den Anwesenden so gut wie
+gar keine Bekannten vorfand, verbrachte ich den Abend in der
+Gesellschaft ziemlich ungestört und mir selbst überlassen. Dasselbe tat
+auch noch ein anderer Herr, der, wie mir schien, sich weder durch Rang
+noch Namen auszeichnete und wohl gleich mir nur durch einen Zufall auf
+diesen Kinderball geraten war ... Er fiel mir sofort auf. Sein Äußeres
+machte einen guten Eindruck: er war groß von Wuchs, hager, auffallend
+ernst und sehr gut gekleidet. Man sah ihm deutlich an, daß es ihn nicht
+nach Zerstreuung und fröhlicher Unterhaltung verlangte. Wenn er sich in
+einen stilleren Winkel zurückzog, nahm sein Gesicht, dessen dichte
+schwarze Brauen sich zusammenzogen, einen harten, fast finsteren
+Ausdruck an. Bekannt war er offenbar, außer mit dem Hausherrn, mit
+keinem einzigen Anwesenden. Und es war wohl unschwer zu erraten, daß das
+ganze Fest ihn entsetzlich langweilte. Gleichwohl spielte er bis zum
+Schluß mutig die Rolle eines angenehm unterhaltenen, glücklichen
+Menschen. Nachher erfuhr ich, daß er aus der Provinz stammte und nur auf
+kurze Zeit nach Petersburg gekommen war, wo sich ein verwickelter
+Prozeß, von dem für ihn alles abhing, in den nächsten Tagen entscheiden
+sollte. Zu unserem Hausherrn hatte ihn ein Empfehlungsschreiben
+gebracht, infolgedessen er von diesem höflichkeitshalber zu dem Abend
+eingeladen worden war – doch durfte er, wie es hieß, durchaus nicht
+darauf rechnen, daß sich der einflußreiche Mann deshalb für ihn
+verwenden werde. Und da man nicht Karten spielte, dem unbekannten
+Fremden keine Zigarren anbot und auch sonst niemand ein Gespräch mit ihm
+anknüpfte – wahrscheinlich erkannte man den Vogel schon von weitem an
+den Federn –, so war der Mann gezwungen, um doch irgendwo seine Hände zu
+lassen, sich den ganzen Abend über den Backenbart zu streichen. Freilich
+war dieser Bart sehr schön, nur strich er ihn doch etwas gar zu viel, so
+daß man tatsächlich glauben konnte, zuerst sei der Backenbart erschaffen
+worden und dann erst zu diesem Bart, und auch nur, um ihn zu streichen,
+der ganze Mann.
+
+Außer diesem Herrn, der sich um das Fest der fünf dicken kleinen Söhne
+des Hausherrn wenig kümmerte, fiel mir noch ein zweiter Herr auf. Doch
+der war eine ganz andere Erscheinung. Der war nämlich eine
+Persönlichkeit!
+
+Er hieß Julian Mastakowitsch. Auf den ersten Blick erriet man, daß er
+ein Ehrengast war und zum Hausherrn in ungefähr demselben Verhältnis
+stand, wie dieser zu jenem Unbekannten, der sich den Backenbart strich.
+Der Hausherr und die Hausfrau sagten ihm unendlich viele
+Liebenswürdigkeiten, machten ihm geradezu den Hof, führten alle ihre
+Gäste zu ihm, um sie ihm vorzustellen, ihn selbst aber stellten sie
+keinem vor. Wie ich bemerkte, erglänzte im Auge des Hausherrn sogar eine
+Träne der Rührung, als Julian Mastakowitsch zum Lobe des Festes
+versicherte, er habe selten so angenehm die Zeit verbracht. Mir ward
+ordentlich unheimlich in der Gegenwart eines solchen Menschen: und so
+zog ich mich denn, als ich mich am Anblick der Kinder genugsam ergötzt
+hatte, in ein kleines Boudoir zurück, in dem zufällig kein Mensch war,
+und setzte mich dort in die Blumenlaube der Hausherrin, die fast das
+halbe Zimmer einnahm.
+
+Die Kinder waren alle unglaublich nett und lieb und echt kindlich und
+wollten unter keiner Bedingung den „Großen“ gleichen, ungeachtet aller
+Ermahnungen der Gouvernanten und Mütter. Im Nu hatten sie den ganzen
+Weihnachtsbaum bis auf das letzte Anhängsel geplündert und auch schon
+Zeit gehabt, die Hälfte der Spielsachen zu zerbrechen, noch bevor sie
+festgestellt hatten, für wen ein jedes Spielzeug überhaupt bestimmt war.
+Ein kleiner Knabe mit dunklen Augen und braunen Locken gefiel mir ganz
+besonders: er wollte mich unbedingt erschießen, denn er hatte ein
+hölzernes Gewehr bekommen. Doch am meisten lenkte seine kleine Schwester
+die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich. Sie war etwa elf Jahre alt, zart
+und bleich, mit großen, nachdenklichen Augen. Die anderen Kinder hatten
+sie irgendwie gekränkt, und da kam sie denn in das Zimmer, in dem ich
+saß, setzte sich in einen Winkel und beschäftigte sich mit ihrer Puppe.
+Die Gäste deuteten unter sich respektvoll auf einen reichen Kaufmann,
+den Vater der Kleinen, und jemand wußte flüsternd mitzuteilen, daß an
+barem Gelde bereits jetzt dreihunderttausend Rubel für sie als Mitgift
+beiseite gelegt seien. Ich sah mich unwillkürlich nach der Gruppe um,
+die ein so interessantes Gespräch führte, und mein Blick fiel auf Julian
+Mastakowitsch, der, die Hände auf dem Rücken gekreuzt und den Kopf ein
+wenig zur Seite geneigt, sehr aufmerksam dem müßigen Gespräch zuzuhören
+schien. Gleichzeitig mußte ich mich über die Weisheit der Gastgeber, die
+diese in der Verteilung der Geschenke zu bezeugen gewußt hatten, nicht
+wenig wundern. Das kleine Mädchen z. B., das bereits dreihunderttausend
+Rubel besaß, hatte die schönste und teuerste Puppe erhalten. Der Wert
+der anderen Geschenke dagegen sank von Stufe zu Stufe herab, je nach dem
+Range der Eltern dieser Kinder. Das letzte Kind, ein kleiner Knabe von
+etwa zehn Jahren, ein mageres, rötlichblondes Kerlchen mit
+Sommersprossen, bekam nur ein Buch, das belehrende Geschichten enthielt
+und von der Größe der Natur, von Tränen der Rührung und ähnlichem
+handelte, ein nüchternes Buch, ohne Bild, ohne eine Verzierung.
+
+Er war der Sohn einer armen Witwe, die die Kinder des Hausherrn
+unterrichtete und kurzweg die Gouvernante hieß. Er selbst war ein
+ängstlicher, verschüchterter Knabe. Er trug eine kleine russische Bluse
+aus billigem Nanking. Nachdem ihm sein Buch eingehändigt worden war,
+ging er lange Zeit um die Spielsachen der anderen Kinder herum; er hätte
+wohl furchtbar gern mit diesen anderen gespielt, aber er wagte es nicht
+– man sah es ihm an, daß er seine gesellschaftliche Stellung bereits
+vollkommen begriff. Ich beobachte gern Kinder beim Spiel. Ungeheuer
+interessant ist ihre erste selbständige Äußerung im Leben. Es fiel mir
+auf, daß der kleine arme Knabe sich von den reichen Geschenken der
+anderen so hinreißen ließ, namentlich von einem Puppentheater, in dem er
+gewiß gern eine Rolle übernommen hätte, daß er sich zu einer
+Schmeichelei entschloß. Er lächelte und suchte sich angenehm zu machen,
+er gab seinen Apfel einem kleinen pausbackigen Jungen, der bereits einen
+ganzen Sack voll Naschwerk hatte, und er entschloß sich sogar, einen von
+ihnen huckepack zu tragen, nur damit man ihn nicht vom Theater fortjage.
+Doch im nächsten Augenblick wurde er von einem Erwachsenen, der
+gewissermaßen den Oberaufseher spielte, mit Püffen und Stößen
+fortgetrieben. Der Junge wagte nicht, zu weinen. Sogleich erschien auch
+schon die Gouvernante, seine Mutter, und sagte ihm, er solle die anderen
+nicht stören. Da kam denn der Kleine in jenes Zimmer, in dem das Mädchen
+saß. Sie ließ ihn zu sich kommen und beide begannen eifrig, die schöne
+Puppe anzukleiden.
+
+Ich hatte schon über eine halbe Stunde in der Efeulaube gesessen und war
+fast eingeschlummert, unbewußt eingelullt durch das Kindergespräch des
+kleinen rotblonden Jungen und der zukünftigen Schönheit mit der Mitgift
+von dreihunderttausend Rubeln, als plötzlich Julian Mastakowitsch ins
+Zimmer trat. Er benutzte die Gelegenheit, die ihm ein großer Streit
+unter den Kindern im Saale bot, unbemerkt zu verschwinden. Vor wenigen
+Minuten hatte ich ihn noch an der Seite des reichen Kaufmannes, des
+Vaters der Kleinen, in lebhaftem Gespräch gesehen, und aus einzelnen
+Worten, die ich auffing, erriet ich, daß er die Vorzüge der einen
+Stellung im Vergleich mit einer anderen pries. Jetzt stand er
+nachdenklich an der Efeulaube, ohne mich zu sehen, und schien zu
+überlegen.
+
+„Dreihundert ... dreihundert ...“ murmelte er. „Elf ... zwölf, dreizehn
+– sechzehn. Fünf Jahre! Nehmen wir an, zu vier Prozent – zwölf mal fünf
+... das macht sechzig. Ja, von diesen sechzig ... nun, sagen wir, im
+ganzen nach fünf Jahren – vierhundert. Ja! ... tja! ... Aber der wird
+doch nicht bloß vier Prozent nehmen, dieser Hund! Mindestens acht, wenn
+nicht sogar zehn. Na, sagen wir – fünfhunderttausend! Hm! eine halbe
+Million Rubel, das ist schon besser – nun, und dann noch die Aussteuer
+... hm ...“
+
+Sein Entschluß stand fest. Er räusperte sich und wollte das Zimmer
+bereits verlassen – da sah er plötzlich die Kleine im Winkel mit ihrer
+Puppe neben dem armen Jungen, und blieb stehen. Mich bemerkte er hinter
+dem dichten Efeu nicht. Wie mir schien, war er sehr erregt. Ob diese
+Erregung nun auf die Berechnung, die er soeben angestellt hatte, oder
+auf etwas anderes zurückzuführen war, das ist schwer zu sagen, doch rieb
+er sich lächelnd die Hände und schien kaum ruhig stehen zu können. Die
+Erregung wuchs noch bis ins ganz Unbegreifliche, als er einen zweiten
+entschlossenen Blick auf die reiche Erbin warf. Er wollte einen Schritt
+vortreten, blieb aber wieder stehen und blickte sich zuerst nach allen
+Seiten um. Dann näherte er sich auf den Fußspitzen, als sei er sich
+einer Schuld bewußt, langsam und ganz leise dem Kinde. Er lächelte. Als
+er dicht hinter der Kleinen stand, beugte er sich zu ihr nieder und
+küßte sie auf den Kopf. Die Kleine schrie vor Schreck auf, denn sie
+hatte ihn bis dahin nicht bemerkt.
+
+„Was tust du denn hier, mein liebes Kind?“ fragte er leise, blickte sich
+um und klopfte ihr dann die Wange.
+
+„Wir spielen ...“
+
+„Ah? Mit ihm?“ Julian Mastakowitsch warf einen Blick auf den Knaben.
+
+„Du könntest, mein Lieber, in den Saal gehen,“ riet er ihm.
+
+Der Knabe schwieg und blickte ihn groß an. Julian Mastakowitsch sah sich
+wieder schnell nach allen Seiten um und beugte sich von neuem zu der
+Kleinen.
+
+„Was hast du denn da, mein liebes Kind? Ein Püppchen?“ fragte er.
+
+„Ein Püppchen ...“ antwortete die Kleine etwas zaghaft und runzelte
+leicht die Stirn.
+
+„Ein Püppchen ... Aber weißt du auch, mein liebes Kind, woraus diese
+Puppe gemacht ist?“
+
+„N–nein ...“ antwortete die Kleine flüsternd und senkte das Köpfchen
+noch tiefer.
+
+„Nun, aus alten Läppchen, mein Herzchen. Aber du könntest doch in den
+Saal gehen, Junge, zu den anderen Kindern,“ wandte sich Julian
+Mastakowitsch mit einem strengen Blick abermals an den Knaben. Doch das
+Mädchen und der Kleine runzelten die Stirn und faßten sich gegenseitig
+an. Sie wollten sich offenbar nicht voneinander trennen.
+
+„Aber weißt du auch, wofür man dir dieses Püppchen geschenkt hat? ...“
+fragte Julian Mastakowitsch, dessen Stimme immer einschmeichelnder
+wurde.
+
+„N–nein ...“
+
+„Nun, dafür, daß du ein liebes und artiges Kind gewesen bist.“
+
+Hier blickte sich Julian Mastakowitsch wieder nach der Tür um und fragte
+dann mit kaum hörbarer, vor Erregung und Ungeduld zitternder Stimme:
+
+„Aber wirst du mich auch lieben, kleines Mädchen, wenn ich zu deinen
+Eltern zum Besuch komme?“
+
+Bei diesen Worten wollte Julian Mastakowitsch noch einmal das Mädchen
+küssen, doch als der kleine Knabe sah, daß sie dem Weinen schon ganz
+nahe war, umklammerte er sie plötzlich angstvoll und begann vor lauter
+Teilnahme und Mitleid mit ihr selbst laut zu weinen. Julian
+Mastakowitsch wurde ernstlich böse.
+
+„Geh, geh fort, geh fort von hier!“ sagte er ärgerlich. „Geh in den
+Saal! Geh zu deinen Kameraden!“
+
+„Nein, nicht, nicht! Er soll nicht gehn! Gehen Sie fort,“ sagte das
+kleine Mädchen, „er aber soll hier bleiben, lassen Sie ihn hier!“ fügte
+sie fast weinend hinzu.
+
+Da ertönten laute Stimmen an der Tür und Julian Mastakowitschs
+gewichtiger Oberkörper schnellte empor. Er war sichtlich erschrocken.
+Doch der kleine Knabe erschrak noch mehr als Julian Mastakowitsch, gab
+das kleine Mädchen frei und schlich geduckt längs der Wand ins Eßzimmer
+zurück. Auch Julian Mastakowitsch ging ins Eßzimmer, ganz als wäre
+nichts vorgefallen. Er war purpurrot im Gesicht, und als er im
+Vorübergehen einen Blick in den Spiegel warf, schien sein Aussehen ihn
+selbst zu verwirren. Vielleicht ärgerte er sich darüber, daß er so
+erregt war, und daß er so unvorsichtig gesprochen hatte. Offenbar hatte
+ihn seine Berechnung selbst so bestrickt und begeistert, daß er trotz
+seiner ganzen Würde und Klugheit recht wie ein Knabe handelte und schon
+jetzt und unbedacht genug auf sein Ziel geradeswegs loszusteuern begann.
+Ich folgte ihm alsbald in das andere Zimmer – und wahrlich, was ich dort
+erblickte, war ein seltsames Schauspiel! Ich sah nämlich, wie Julian
+Mastakowitsch, der hochangesehene würdevolle Julian Mastakowitsch, den
+kleinen Knaben einschüchterte, der immer weiter vor ihm zurückwich und
+nicht wußte, wo er sich vor Angst lassen sollte.
+
+„Marsch, wirst du wohl! Was tust du hier, Taugenichts? Geh! Geh! Du
+stiehlst hier Früchte, wie? Du willst hier Früchte stehlen? Marsch,
+mach’, daß du fortkommst, wirst du wohl, ich werd’ dir zeigen!“
+
+Der eingeschüchterte Knabe entschloß sich schließlich zu einem
+verzweifelten Rettungsversuch: er kroch unter den Tisch. Das rief aber
+in seinem Verfolger noch größere Wut hervor. Zornig riß er sein langes
+Batisttaschentuch aus der Tasche und begann damit den Kleinen unter dem
+Tisch zu peitschen, damit er von dort hervorkrieche. Doch der Kleine war
+mäuschenstill vor Angst und rührte sich nicht. Ich muß bemerken, daß
+Julian Mastakowitsch ein wenig korpulent war. Er war, was man so nennt,
+ein satter Mensch, mit roten Wänglein, einem kleinen Schmerbäuchlein,
+untersetzt und mit dicken Schenkeln, – kurz, ein stämmiger Bursche, an
+dem alles so rund war wie an einer Nuß. Schweißtropfen standen ihm schon
+auf der Stirn, er atmete schwer und fast röchelnd. Das Blut drang ihm
+vom Bücken rot und heiß zu Kopf. Er wurde jähzornig, so groß war sein
+Unwille oder – wer kann es wissen? – seine Eifersucht. Ich lachte
+schallend auf. Julian Mastakowitsch wandte sich blitzschnell nach mir um
+und wurde ungeachtet seines gesellschaftlichen Ansehens, seiner
+einflußreichen Stellung und seiner Jahre geradezu fassungslos verlegen.
+In dem Augenblick trat durch die gegenüberliegende Tür der Hausherr ins
+Zimmer. Der kleine Junge kroch unter dem Tisch hervor und rieb sich den
+Staub von den Knien und Ellenbogen. Julian Mastakowitsch kam zu sich und
+führte schnell das Taschentuch, das er noch an einem Zipfel hielt, an
+die Nase und schnaubte sich.
+
+Der Hausherr blickte uns drei etwas verwundert an, doch als lebenskluger
+Mensch, der das Leben ernst auffaßte, wußte er sogleich die Gelegenheit,
+mit seinem Gast unter vier Augen sprechen zu können, auszunutzen.
+
+„Ach, sehen Sie, das ist jener Knabe, für den ich die Ehre hatte, zu
+bitten ...“ begann er, auf den armen Kleinen weisend.
+
+„Ah!“ versetzte Julian Mastakowitsch, noch immer nicht ganz auf der Höhe
+der Situation.
+
+„Er ist der Sohn der Gouvernante meiner Kinder,“ fuhr der Hausherr
+erklärend und in verbindlichem Tone fort, „einer armen Frau. Sie ist die
+Witwe eines ehrlichen Beamten. Ginge es nicht irgendwie, Julian
+Mastakowitsch ...“
+
+„Ach, ich entsinne mich! Nein, nein!“ unterbrach dieser ihn eilig.
+„Nehmen Sie es mir nicht übel, mein bester Philipp Alexejewitsch, aber
+es geht ganz und gar nicht. Ich habe mich erkundigt: Vakanzen gibt es
+nicht und selbst wenn eine bestünde, so kämen doch zehn Kandidaten eher
+in Betracht als dieser, da sie eben ein größeres Anrecht darauf hätten
+... Es tut mir sehr leid, aber ...“
+
+„Schade,“ sagte der Hausherr nachdenklich, „es ist ein stiller,
+bescheidener Knabe ...“
+
+„Scheint mir eher ein richtiger Bengel zu sein, soweit ich sehe,“
+bemerkte Julian Mastakowitsch mit verzogenem Lächeln. „Geh, was stehst
+du hier, mach’ dich fort! Geh zu deinen Spielkameraden,“ wandte er sich
+an den Kleinen.
+
+Dann konnte er offenbar der Versuchung nicht widerstehen, auch mir einen
+Blick zuzuwerfen. Ich aber hielt nicht an mich, sondern lachte ihm offen
+ins Gesicht. Julian Mastakowitsch wandte sich sogleich ab und fragte
+sehr vernehmlich den Hausherrn, wer dieser sonderbare junge Mann
+eigentlich sei. Sie begannen miteinander zu flüstern und verließen das
+Zimmer. Ich sah nur noch durch die offene Tür wie Julian Mastakowitsch,
+der dem Hausherrn aufmerksam zuhörte, verwundert und mißtrauisch den
+Kopf schüttelte.
+
+Als ich genügend gelacht hatte, begab ich mich gleichfalls in den Saal.
+Dort stand jetzt der einflußreiche Mann, umringt von Vätern, Müttern und
+den Festgebern und sprach lebhaft auf eine Dame ein, der man ihn soeben
+vorgestellt hatte. Die Dame hielt das kleine Mädchen an der Hand, das
+Julian Mastakowitsch vor zehn Minuten geküßt hatte. Er lobte die Kleine
+bis in den siebenten Himmel, pries ihre Schönheit, ihre Grazie, ihre
+Wohlerzogenheit, und die Mutter hörte ihm fast mit Tränen in den Augen
+zu. Die Lippen des Vaters lächelten. Der Hausherr nahm mit sichtlichem
+Wohlgefallen teil an der allgemeinen Freude. Die übrigen Gäste waren
+gleichfalls angenehm berührt und selbst die Spiele der Kinder wurden
+unterbrochen, damit sie durch ihr Geschrei nicht störten. Die ganze Luft
+war voll von gehobener Stimmung. Später hörte ich, wie die tiefgerührte
+Mutter der Kleinen in ausgesucht höflichen Redewendungen Julian
+Mastakowitsch bat, ihrem Hause die besondere Ehre zu erweisen und sie zu
+besuchen, und ich hörte weiter, mit wie ungefälschtem Entzücken Julian
+Mastakowitsch der liebenswürdigen Aufforderung unfehlbar nachzukommen
+versprach, und wie die Gäste, als sie darauf, so wie es der
+gesellschaftliche Brauch verlangte, nach allen Seiten auseinandergingen,
+sich in geradezu gerührten Lobpreisungen ergingen, die den Kaufmann,
+dessen Frau und Töchterchen, namentlich aber Julian Mastakowitsch hoch
+über sie selbst erhoben.
+
+„Ist dieser Herr verheiratet?“ fragte ich hörbar laut einen meiner
+Bekannten, der neben Julian Mastakowitsch stand.
+
+Julian Mastakowitsch warf mir einen zornigen Blick zu, der wohl seinen
+Gefühlen entsprach.
+
+„Nein!“ antwortete mein Bekannter, offenbar höchst peinlich berührt
+durch meine ungeschickte Frage, die ich absichtlich so laut an ihn
+gerichtet hatte ...
+
+ * * * * *
+
+Vor ein paar Tagen ging ich an der –schen Kirche vorüber. Die
+Menschenmenge, die sich vor dem Portal drängte, und der reiche Schmuck
+desselben fielen mir auf. Ringsum sprach man von einer Hochzeit. Es war
+ein trüber Herbsttag und es begann zu frieren. Ich drängte mich mit den
+anderen in die Kirche und erblickte den Bräutigam. Es war das ein
+kleiner, rundlicher Herr mit einem Schmerbauch und vielen Orden auf der
+Brust. Er war überaus beschäftigt, eilte hin und her, traf Anordnungen
+und schien sehr aufgeregt zu sein. Endlich verbreitete sich von der Tür
+her lautes Gemurmel: die Braut war erschienen. Ich drängte mich weiter
+durch die Menge und erblickte eine wunderbare Schönheit, für die kaum
+der erste Lenz angebrochen war. Sie war aber bleich und traurig. Ihre
+Augen blickten zerstreut. Es schien mir sogar, daß diese Augen noch
+gerötet waren von vergossenen Tränen. Die strenge Schönheit ihrer
+Gesichtszüge verlieh ihrer ganzen jungen Erscheinung eine gewisse
+hoheitsvolle Würde und Feierlichkeit. Und doch schimmerte durch diese
+Strenge und Würde und diese Trauer noch das unschuldige unberührte
+Kindergemüt – und es verriet sich darin etwas unsäglich Unerfahrenes,
+Unbewußtes, Kindliches, das, wie es schien, ohne eine Bitte wortlos für
+sich um Schonung flehte.
+
+Man sagte, sie sei kaum erst sechzehn Jahre alt geworden. Ich blickte
+aufmerksamer auf den Bräutigam und plötzlich erkannte ich in ihm Julian
+Mastakowitsch, den ich seit fünf Jahren nicht wiedergesehen hatte. Ich
+blickte nochmals auf die Braut ... Mein Gott! Ich drängte mich durch die
+Gaffenden zum Ausgang, um schneller aus der Kirche zu kommen. In der
+Menge erzählte man sich, daß die Braut reich sei: sie bekäme allein an
+barem Kapital eine halbe Million Rubel mit und eine Aussteuer im Werte
+von soundsoviel ...
+
+„Dann stimmte also die Berechnung!“ dachte ich bei mir und trat auf die
+Straße hinaus ...
+
+
+
+
+ Njetotschka Neswanowa
+
+
+ I.
+
+Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Er starb, als ich zwei Jahre alt
+war. Dann heiratete meine Mutter zum zweitenmal. Diese zweite Ehe
+brachte ihr viel Leid, obgleich es eine Liebesheirat war. Mein
+Stiefvater war Musiker. Er hatte ein sehr merkwürdiges Schicksal, und
+überhaupt war er der seltsamste und wunderlichste Mensch, den ich bisher
+kennen gelernt habe. Sein Einfluß auf mich war groß und die Eindrücke,
+die ich von ihm empfing, waren so stark, daß ich sie mein Leben lang
+nicht vergessen werde. Doch muß ich zunächst, damit meine Erzählung
+verständlicher sei, seine Lebensgeschichte wiedergeben. Alles was sich
+auf dieselbe bezieht, habe ich von dem berühmten Geigenvirtuosen B.
+erfahren, der in seiner Jugend ein guter Freund meines Stiefvaters
+gewesen ist.
+
+Der Familienname meines Stiefvaters lautete Jefimoff. Geboren wurde er
+auf dem Gute eines reichen Großgrundbesitzers als Sohn eines armen
+Musikers, der nach langen Irrfahrten sich dort niedergelassen hatte und
+in das Orchester des Gutsherrn eingetreten war. Sein Brotherr lebte auf
+großem Fuß und liebte Musik bis zur Leidenschaft. Man erzählte von ihm,
+daß er, der sich nie von seinem Gute rührte und nicht einmal nach Moskau
+fuhr, sich plötzlich aufgemacht habe und ins Ausland gereist sei, in
+irgendeinen Kurort, nur um einen berühmten Geigenvirtuosen zu hören, der
+dort, wie die Zeitungen berichteten, drei Konzerte geben sollte. Auf
+seinem Gut unterhielt er ein großes Orchester und gab fast seine ganzen
+Einkünfte für die Besoldung und den Unterhalt der Musiker aus. In dieses
+Orchester nun trat mein Stiefvater als Klarinettist ein. Als er
+zweiundzwanzig Jahre alt war, machte er die Bekanntschaft eines
+eigenartigen Menschen. In demselben Gouvernementskreise lebte ein
+reicher Graf, der sich durch den Unterhalt eines Haustheaters ruinierte.
+Dieser Graf hatte den Kapellmeister seines Orchesters, einen Italiener,
+wegen seiner schlechten Aufführung entlassen. Der Kapellmeister war in
+der Tat ein schlechter Mensch. Als er seine Stellung verloren, kam er
+bald ganz herunter, trieb sich in den Dorfschenken umher, betrank sich,
+ja er bettelte sogar, und da hatte natürlich niemand mehr Lust, ihm eine
+Anstellung zu geben. Mit diesem Menschen befreundete sich nun mein
+Stiefvater. Ihre Freundschaft war aber von einer ganz besonderen Art,
+denn niemand konnte behaupten, daß der Jüngere sich durch diesen Umgang
+irgendwie zu seinem Nachteil veränderte, und selbst der Gutsbesitzer,
+der ihm anfangs verboten hatte, mit dem Italiener zu verkehren, ließ
+schließlich diese sonderbare Freundschaft gewähren. Da starb plötzlich
+der Italiener. Bauern fanden ihn eines Morgens im Graben an einem Zaun
+liegen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet und ergab, daß er am
+Herzschlage gestorben war. Sein ganzes Hab und Gut befand sich bei
+meinem Stiefvater, der sogleich an der Hand von Dokumenten nachwies, daß
+er das volle Recht hatte, die Sachen zu behalten: er besaß ein
+eigenhändiges Schreiben des Verstorbenen, in dem dieser Jefimoff zu
+seinem Erben erklärte, falls er, der Italiener, früher sterben sollte,
+als Jefimoff. Die Hinterlassenschaft bestand aus einem schwarzen Frack,
+den er sorgfältig aufbewahrt hatte, in der Hoffnung, doch noch einmal
+eine Anstellung zu finden, und einer Geige, an der nichts Sonderliches
+auffiel. Dieses Erbe machte denn auch niemand dem Klarinettisten
+streitig. Da erschien nach einiger Zeit ein Musiker, der im Orchester
+des Grafen die erste Geige spielte, bei dem Gutsbesitzer und überreichte
+ihm einen Brief vom Grafen. In diesem Brief bat der Graf den
+Gutsbesitzer, seinen Klarinettisten Jefimoff zu bereden, ihm, dem
+Grafen, die Geige des verstorbenen Italieners zu verkaufen. Er bot für
+dieselbe dreitausend Rubel und schrieb, daß er den Jegor Jefimoff schon
+mehrmals zu sich habe bitten lassen, um den Kauf persönlich
+abzuschließen, doch dieser Mensch sei leider zu nichts zu bewegen. Der
+Graf schloß seinen Brief mit der Bemerkung, daß er für die Geige das
+biete, was sie wert sei: deshalb sehe er in der hartnäckigen Weigerung
+Jefimoffs, sie ihm dafür abzutreten, den beleidigenden Verdacht, er, der
+Graf, wolle bei diesem Kauf die Unkenntnis des Klarinettisten ausnutzen.
+Aus diesem Grunde bäte er jetzt um seine, des Gutsbesitzers,
+Vermittelung.
+
+Dieser ließ Jefimoff sogleich zu sich rufen.
+
+„Weshalb willst du die Geige nicht verkaufen?“ fragte er ihn, „du
+brauchst sie doch nicht. Man bietet dir dreitausend Rubel, gerade so
+viel, wie sie wert ist, und du irrst dich, wenn du glaubst, daß dir
+jemand mehr für sie zahlen wird. Der Graf will dich doch nicht
+übervorteilen.“
+
+Jefimoff erwiderte, daß er aus freien Stücken zu dem Grafen nicht gehen
+werde, doch wenn man ihn zwingen wolle, so müsse er sich eben dem Willen
+seines Herrn fügen. Dem Grafen werde er aber die Geige nicht verkaufen,
+und wenn man sie ihm mit Gewalt nehmen werde, so hinge auch das wiederum
+nur von dem Willen seines Herrn ab.
+
+Natürlich verletzte er mit einer solchen Antwort die empfindlichste
+Charakterseite des Gutsbesitzers. Dieser pflegte nämlich immer mit Stolz
+von sich zu sagen, daß er wisse, wie er mit seinen Musikern umzugehen
+habe, denn sie seien alle bis auf den letzten wirkliche Künstler, und
+deshalb sei sein Orchester nicht nur besser als dasjenige des Grafen,
+sondern besser sogar als eines in der Hauptstadt!
+
+„Nun, schön,“ entgegnete der Gutsbesitzer, „ich werde dem Grafen
+schreiben, daß du die Geige nicht verkaufen willst, weil du eben nicht –
+willst ... basta! weil du das volle Recht hast, sie zu verkaufen oder
+nicht zu verkaufen, wie es dir beliebt, hast du mich verstanden? Aber
+ich frage dich jetzt selber: was machst du mit der Geige? Dein
+Instrument ist die Klarinette, die du leider noch recht mittelmäßig
+spielst. Verkauf’ die Geige mir. Ich gebe dir dreitausend.“ (Wer wußte
+denn, daß es ein solches Instrument war!)
+
+Jefimoff lächelte.
+
+„Nein, Herr, ich werde sie Ihnen nicht verkaufen,“ sagte er, „aber
+versteht sich, wenn Sie mit Gewalt ...“
+
+„Ja, zwinge ich dich denn, will ich dir denn Gewalt antun!“ rief der
+Gutsbesitzer empört – um so mehr empört, als es sich in Gegenwart des
+gräflichen Musikers zutrug und dieser nach solchen Antworten eine recht
+unvorteilhafte Vorstellung von der Stellung der Musiker des
+Gutsbesitzers gewinnen mußte. „Mach’, daß du fortkommst, du Undankbarer!
+Geh mir aus den Augen! Was würdest du ohne mich überhaupt anfangen mit
+deiner Klarinette, auf der du nicht einmal zu spielen verstehst? Bei mir
+aber wirst du satt, wirst du bekleidet und erhältst dein Gehalt; du
+lebst hier in einem vornehmen Hause, spielst nur hier die Rolle eines
+Künstlers, aber du willst das nicht einsehen! Geh mir aus den Augen und
+reiz’ mich nicht durch deine Anwesenheit!“
+
+Der Gutsbesitzer pflegte denjenigen immer fortzuschicken, über den er
+sich ärgerte, denn er fürchtete seine eigene Heftigkeit. Mit einem
+„Künstler“, wie er seine Musiker nannte, wollte er aber unter keinen
+Umständen streng ins Gericht gehen.
+
+Der Kauf kam nicht zustande und damit schien die Sache abgetan zu sein –
+als plötzlich, etwa einen Monat nach jener Auseinandersetzung, der erste
+Violinist des Grafen etwas Unerhörtes angab: auf eigene Verantwortung
+nämlich reichte er eine Anzeige ein, nach der Jefimoff die Schuld am
+Tode des Italieners trug, den er umgebracht habe, um in den Besitz der
+Hinterlassenschaft zu gelangen. Ferner beschuldigte er ihn, jenes
+Schriftstück, in dem der Italiener Jefimoff zu seinem Erben einsetzte,
+mit List und Gewalt dem Verstorbenen abgerungen zu haben, was er durch
+Zeugen beweisen zu können vorgab. Weder die Bitten des Gutsbesitzers,
+der für Jefimoff eintrat, noch die Vorhaltungen des Grafen konnten ihn
+von seinem Vorhaben abbringen. Man gab ihm zu bedenken, daß gegen die
+ärztliche Untersuchung der Leiche sich nichts einwenden lasse, daß er
+gegen sein Gewissen handle, vielleicht aus persönlicher Rache, weil
+jener ihm das kostbare Instrument nicht abgetreten hatte. Der Musiker
+blieb aber bei seiner Behauptung, schwur sogar, daß er im Recht sei und
+der Herzschlag nicht infolge des Trunkes eingetreten wäre, sondern als
+Folge einer Vergiftung, weshalb er eine nochmalige Untersuchung der
+Leiche verlangte. Auf den ersten Blick konnte man seine Beweise sehr
+wohl ernst nehmen. Natürlich wurde das Verfahren sogleich eingeleitet.
+Jefimoff wurde verhaftet und nach dem Stadtgefängnis abgeführt. Die
+Gerichtsverhandlungen, die das ganze Gouvernement mit Spannung
+verfolgte, nahmen einen sehr schnellen Verlauf und endeten damit, daß
+der Musiker der falschen Anklage überführt wurde. Man verurteilte ihn zu
+einer gerechten Strafe, ungeachtet dessen, daß er bei seiner Behauptung
+beharrte. Endlich gestand er, daß er zwar keine positiven Beweise besaß
+und die angeführten selbst erfunden hatte, jedoch habe er sich dabei von
+seinen Vermutungen leiten lassen, die schließlich zu seiner festen
+Überzeugung geworden seien, und deshalb bliebe er auch jetzt – nachdem
+die Unschuld Jefimoffs vom Gericht bereits unzweifelhaft festgestellt
+worden war – bei seiner Überzeugung, daß die Ursache des Todes jenes
+italienischen Kapellmeisters einzig und allein Jefimoff gewesen, der
+ihn, wenn nicht gerade vergiftet, dann eben auf irgendeine andere Weise
+umgebracht habe. Es blieb ihm übrigens erspart, seine Strafe abzubüßen:
+er erkrankte plötzlich an einer Gehirnentzündung, verfiel in Wahnsinn
+und starb im Krankenhause.
+
+Während dieser ganzen Zeit sorgte der Gutsbesitzer für Jefimoff wie ein
+Vater für seinen Sohn. Er, der sonst nie sein Gut verließ, fuhr mehrmals
+in die Stadt, um den Armen im Gefängnis zu besuchen und ihn zu trösten;
+er schenkte ihm Geld, und als er erfuhr, daß Jefimoff gern rauchte,
+brachte er ihm die besten Zigaretten; und als dann mein Stiefvater
+endlich freigesprochen wurde, veranstaltete er für sein ganzes Orchester
+ein großes Freudenfest. Er betrachtete die gegen Jefimoff erhobene
+Anklage als etwas, was sein gesamtes Orchester anging, denn auf die gute
+Aufführung seiner Musiker legte er wenn nicht mehr, so doch ebensoviel
+Wert, wie auf ihr musikalisches Können.
+
+Es verging ein Jahr, als man eines Tages auf dem Gute erfuhr, daß in der
+Gouvernementsstadt ein bekannter französischer Violinvirtuose
+eingetroffen sei und daselbst konzertieren werde. Als der Gutsbesitzer
+dies hörte, bot er sogleich alles auf, um diesen Künstler als Gast bei
+sich auf dem Gute zu sehen. Zu seiner Freude nahm der Franzose die
+Einladung an. Schon war alles zu seinem Empfang bereit, die ganze
+Gesellschaft der Umgegend eingeladen, als plötzlich etwas Überraschendes
+geschah.
+
+Eines Morgens wurde dem Gutsbesitzer gemeldet, Jefimoff sei nirgends zu
+finden. Man suchte, forschte, schickte Boten aus – er war und blieb
+spurlos verschwunden. Das Orchester befand sich in einer verzweifelten
+Lage: der Klarinettist fehlte, was tun? Da erhielt der Gutsbesitzer am
+dritten Tage nach der Flucht Jefimoffs einen Brief von dem Franzosen, in
+dem dieser mit verletzendem Hochmut absagte und hinzufügte, er werde
+hinfort sehr vorsichtig sein müssen mit solchen Herren, die ein eigenes
+Orchester hielten: es sei so „deprimierend“, ein großes Talent im Dienst
+eines Menschen zu sehen, der es nicht zu schätzen wisse. Er brauche als
+Beispiel nur Jefimoff zu nennen, den genialsten Künstler und besten
+Violinisten, den er in Rußland gehört habe!
+
+Der Gutsbesitzer las den Brief mit wachsender Verwunderung. Wie?
+Jefimoff, derselbe Jefimoff, um den er sich so gesorgt hatte, dem er
+soviel Gutes erwiesen, derselbe Jefimoff hatte es fertiggebracht, ihn so
+gewissenlos, so unverschämt zu verleumden, und das noch bei einem
+berühmten Künstler, auf dessen gute Meinung von seinem Orchester er
+soviel Wert legte! Und dann – der Brief enthielt noch ein anderes
+Rätsel: der Franzose nannte Jefimoff den genialsten Künstler und besten
+Violinisten, den er in Rußland gehört, und aus seiner Schlußbemerkung
+ging hervor, daß er dachte, man wolle Jefimoffs Talent nicht anerkennen,
+und zwinge ihn, ein anderes Instrument zu spielen, als dasjenige,
+welches ihm zukam. Dies überraschte den Gutsbesitzer dermaßen, daß er
+beschloß, sogleich in die Stadt zu fahren, um mündlich mit dem Franzosen
+zu sprechen. Da traf kurz vor seiner Abfahrt ein Schreiben vom Grafen
+ein, in dem dieser ihn zu sich aufforderte und ihm mitteilte, daß der
+französische Künstler und Jefimoff beide bei ihm seien und der Franzose
+ihm den Fall erzählt habe. Er, der Graf, sei über die Frechheit der
+Verleumdung Jefimoffs so empört, daß er ihn vorläufig nicht aus dem
+Hause lasse, und außerdem sei die Anwesenheit des Gutsbesitzers auch
+deshalb notwendig, weil die Verleumdungen Jefimoffs auch ihn, den Grafen
+selbst, beträfen. Kurz, man müsse in der Sache Klarheit schaffen, und
+zwar je eher, desto besser.
+
+Da begab sich denn der Gutsbesitzer unverzüglich zum Grafen, ließ sich
+dem Franzosen vorstellen und erklärte ihm den Sachverhalt. Er sagte, er
+habe es nicht geahnt, daß in Jefimoff ein so großes Talent stecke: er
+kenne ihn nur als einen recht mittelmäßigen Klarinettisten – daß der
+Mensch auch die Geige spiele, habe er erst aus dem Brief erfahren.
+Außerdem, fügte er hinzu, sei Jefimoff ein freier Mensch gewesen und
+hätte ihn zu jeder Zeit verlassen können, wenn er wirklich so unzulässig
+behandelt worden wäre. Der Franzose war sehr verwundert. Man ließ
+Jefimoff kommen. Der war aber in seinem Benehmen kaum wiederzuerkennen:
+hochmütig trat er ein, antwortete spöttisch und hatte die Frechheit, zu
+behaupten, daß alles wahr sei, was er dem Franzosen gesagt. Diese
+Unverschämtheit ärgerte den Grafen dermaßen, daß er meinem Stiefvater
+ins Gesicht sagte, er sei ein Lump und Lügner und habe verdient, daß man
+ihn schonungslos bestrafe.
+
+„Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf,“ versetzte mein Stiefvater
+höhnisch, „dank Ew. Gnaden bin ich nur mit genauer Not der Strafe für
+ein Kriminalverbrechen entgangen. Ich weiß ja doch nur zu gut, auf
+wessen Veranlassung hin Alexei Nikiforytsch, Ihr ehemaliger Musiker, die
+Anzeige gegen mich erstattet hat.“
+
+Das war zu viel für den Grafen. Er geriet außer sich vor Wut über diese
+empörende Beschuldigung. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. Und
+ein Polizeibeamter, der sich gleichfalls im Saal befand und wegen einer
+Rücksprache mit dem Grafen kurz zuvor eingetroffen war, erklärte
+hierauf, daß die beleidigende Frechheit Jefimoffs eine böswillige
+Verleumdung sei, weshalb er höflichst um die Erlaubnis bäte, ihn
+sogleich und ohne weiteres hier im Hause des Grafen arretieren zu
+dürfen. Auch der Franzose äußerte seinen größten Unwillen und sagte,
+eine solche Undankbarkeit hätte er nie für möglich gehalten. Da brauste
+mein Stiefvater jähzornig auf und rief aus, selbst Gefängnishaft unter
+dem Verdacht eines Kriminalverbrechens und alle Gerichtsverhandlungen
+der Welt ziehe er jenem Leben vor, das er bisher erduldet, da er als
+Musiker im Orchester des Gutsbesitzers sein Brot habe verdienen müssen
+und in seiner Armut keine Mittel und folglich keine Möglichkeit gehabt
+habe, sich früher freizumachen. Er wurde aus dem Saal geführt. Man
+schloß ihn in einem entlegenen Zimmer ein und sagte ihm, daß man ihn am
+nächsten Tage nach der Stadt bringen werde.
+
+Gegen Mitternacht öffnete sich die Tür des Zimmers, in dem Jefimoff
+gefangen saß. Es war der Gutsbesitzer. Er war im Schlafrock und in
+Morgenschuhen und hielt eine brennende Laterne in der Hand. Offenbar
+hatte er nicht einschlafen können, hatte wach gelegen, bis er
+schließlich, um den quälenden Gedanken ein Ende zu machen, trotz der
+späten Stunde wieder aufgestanden war. Jefimoff schlief nicht: mit
+Verwunderung sah er den späten Gast eintreten. Der stellte die Laterne
+auf den Tisch und setzte sich in schwerer Erregung ihm gegenüber auf
+einen Stuhl.
+
+„Jegor,“ sagte er, „warum hast du mir das angetan?“
+
+Jefimoff antwortete nicht. Der Gutsbesitzer wiederholte die Frage und
+ein seltsam tiefes Gefühl, ein seltsamer Kummer klang aus seinen Worten.
+
+„Ja, das mag Gott wissen, warum!“ entgegnete endlich mein Stiefvater und
+wandte das Gesicht fort. „Da muß schon der Teufel seine Hand im Spiel
+gehabt haben! Ich weiß es selber nicht, wer mich zu all dem treibt! Nun
+ja, ich kann nicht mehr bei Ihnen bleiben, ich kann nicht ... Der Teufel
+sitzt mir auf dem Halse!“
+
+„Jegor!“ hub der Gutsbesitzer an, „komm zu mir zurück! Ich werde alles
+vergessen, werde dir alles verzeihen. Höre: du wirst der Erste unter
+meinen Musikern sein, ich werde dich unvergleichlich besser stellen ...“
+
+„Nein, Herr, nein, reden Sie nicht weiter – ich gehöre nicht mehr zu
+Ihnen! Ich sagte Ihnen schon, der Teufel sitzt mir auf dem Halse. Ich
+würde Ihr Haus anzünden, wenn ich bliebe. Es kommt so über mich – und
+zuweilen ist es solch eine Qual, daß es besser wäre, ich wär’ nicht
+geboren! Jetzt kann ich nicht mehr für mich einstehen, also lassen Sie
+mich schon lieber in Ruh, Herr. Das ist alles über mich gekommen,
+seitdem dieser Teufel mit mir Freundschaft schloß ...“
+
+„Wer das?“ fragte der Gutsbesitzer.
+
+„Nun, jener doch, der dort wie ein Hund am Zaun krepierte, von dem
+keiner mehr was wissen wollte, der Italiener!“
+
+„Hat _er_ dich, Jegoruschka, im Geigenspiel unterrichtet?“
+
+„Ja. Er. Vieles habe ich von ihm gelernt – zu meinem Verderben. Hätt’
+ich ihn doch lieber nie gesehn!“
+
+„Aber spielte er denn auch so meisterhaft die Geige, Jegoruschka?“
+
+„Nein, er selbst spielte schlecht, aber er unterrichtete gut. Gelernt
+habe ich allein, er hat mich nur geleitet – und eher könnte mir die Hand
+verdorren, als daß ich diese Kunst verlernte! Ich weiß jetzt selbst
+nicht, was ich will. Versuchen Sie es, fragen Sie mich: ‚Jegorka! was
+willst du? Ich kann dir alles geben!‘ – Ich würde gewiß, so wahr ich
+lebe, Ihnen kein Wort zu antworten wissen, denn ich weiß selbst nicht,
+was ich will. Nein, Herr, lassen Sie mich lieber in Ruh. Ich werde doch
+unbedingt so etwas mit mir anstellen, daß man mich ... etwas weiter
+fortschickt, und damit Punktum!“
+
+„Jegor!“ begann der Gutsbesitzer nach einer Weile wieder, „so ohne
+weiteres werde ich dich nicht verlassen. Willst du nicht bei mir
+bleiben, dann geh; du bist ein freier Mensch, halten kann ich dich
+nicht. So einfach aber werde ich jetzt doch nicht von dir fortgehen,
+Jegor. Spiel’ mir etwas vor, auf deiner Geige, tu mir den Gefallen,
+Jegor. Ich bitte dich, spiel’! – um Christi willen! Ich befehle dir
+nicht, verstehe mich nicht falsch, ich will dich nicht zwingen; aber ich
+bitte dich von Herzen: spiel’ mir, Jegoruschka, spiel’ mir das vor, was
+du dem Franzosen vorgespielt hast! Erleichtere mein Herz! Du bist
+halsstarrig – gut, ich bin’s auch. Du siehst, ich habe gleichfalls
+meinen Dickschädel, Jegoruschka. Ich kann dir nachfühlen, so fühl’ auch
+du, wie ich fühle. Ich will nicht leben, wenn du mir nicht aus eigenem
+freiem Willen das vorspielst, was du dem Franzosen vorgespielt hast!“
+
+„Nun gut, es sei!“ sagte Jefimoff. „Ich hatte mir wohl geschworen, Ihnen
+niemals vorzuspielen, gerade Ihnen nicht, aber mein Herz entbindet mich
+jetzt von meinem Schwur. Ich werde Ihnen vorspielen, doch, damit Sie’s
+wissen, zum ersten und zum letzten Mal, Herr, Sie sollen mich nie wieder
+hören, niemals, und sollten Sie mir auch – tausend Rubel bieten.“
+
+Er nahm seine Geige und begann, seine Variationen russischer Lieder zu
+spielen. B. sagte mir, nichts habe er mit solcher Leidenschaft und so
+wundervoll gespielt, wie diese Variationen – sie wären sein erstes und
+bestes Können gewesen. Dem Gutsbesitzer, der ohnehin Musik nicht
+gleichmütig anhören konnte, rannen die hellen Tränen über die Wangen.
+Als das Spiel zu Ende war, stand er auf, nahm dreihundert Rubel aus
+seiner Brieftasche, reichte sie meinem Stiefvater und sagte:
+
+„Jetzt geh, Jegor. Ich werde dich von hier hinauslassen, und deine
+Beleidigung des Grafen – auch das laß meine Sorge sein: ich werde alles
+beilegen. Aber nun höre: komme mir nie wieder in den Weg. Die Welt steht
+dir offen, und wenn wir uns begegnen sollten, so wird es sowohl mir wie
+dir peinlich sein. Nun, leb’ wohl! ... Wart’! Noch einen Rat gebe ich
+dir auf den Weg, nur einen: trink nicht und lerne, lerne unermüdlich.
+Auch bilde dir nicht zu viel ein! Das sage ich dir, sage es dir wie dein
+leiblicher Vater es dir sagen würde. Also gib acht, ich wiederhole es:
+lerne und rühre das Glas nicht an, greifst du aber einmal nach ihm und
+trinkst einen Schluck aus Kummer (und den wirst du reichlich kennen
+lernen!) – dann ist alles verloren, das wisse, dann geht dir alles zum
+Teufel und dann wirst auch du vielleicht genau so, wie dein Italiener,
+irgendwo in einem Graben verrecken. Jetzt lebe wohl! ... wart’, küss’
+mich.“
+
+Sie küßten sich, und darauf erhielt er seine Freiheit.
+
+Doch kaum war er frei, da begann er damit, daß er in der nächsten
+Kreisstadt seine dreihundert Rubel verjubelte, und zwar in Gesellschaft
+heruntergekommener, ganz verwahrloster Menschen, worauf er sich
+gezwungen sah, in das jämmerliche Orchester einer wandernden
+Theatertruppe einzutreten, wo er die erste und wahrscheinlich einzige
+Geige spielte. Das stimmte nun freilich nicht ganz überein mit seinen
+anfänglichen Absichten: so bald als möglich nach Petersburg zu fahren,
+dort in ein gutes Orchester einzutreten, um seinen Lebensunterhalt zu
+verdienen, und die übrige Zeit des Tages ausschließlich dazu zu
+benutzen, um sich zu einem vollendeten Künstler auszubilden. In jener
+kleinen Musikkapelle hielt er es denn auch nicht lange aus: er geriet
+mit dem Unternehmer in Streit, kündigte ihm und verließ die
+Gesellschaft. Dann brach für ihn eine Zeit an, in der er schließlich
+seinen Mut so weit verlor, daß er sich zu einer verzweifelten Tat
+entschloß, die seinen Stolz tief erniedrigte. Er schrieb an den
+Gutsbesitzer, seinen früheren Brotherrn, schilderte seine Lage und bat
+um Geld. Der Brief war noch in ziemlich selbstbewußtem Tone geschrieben,
+eine Antwort aber erhielt er auf ihn nicht. Dann schrieb er einen
+zweiten, diesmal einen erniedrigend schmeichelhaften Brief, in dem er
+den Gutsbesitzer seinen Wohltäter und einen wirklichen Kunstkenner
+nannte, um ihn zum Schluß wieder um eine Unterstützung zu bitten. Auf
+diesen Brief erhielt er endlich eine Antwort. Der Gutsbesitzer sandte
+ihm hundert Rubel mit ein paar von der Hand seines Kammerdieners
+geschriebenen Zeilen, in denen er erklärte, daß er hinfort mit Ähnlichem
+verschont zu bleiben wünsche. Nach Empfang dieses Geldes wollte mein
+Stiefvater sogleich nach Petersburg reisen, als er aber seine Schulden
+bezahlt hatte, blieb ihm nur noch so wenig von dem Gelde übrig, daß er
+an die Ausführung der geplanten Reise nicht mehr denken konnte. Er blieb
+also in der Provinz, trat wieder in irgendeine Musikkapelle ein, geriet
+dort wieder in Streit mit den anderen, und indem er sich so durchschlug,
+immer in der Hoffnung, bald nach Petersburg reisen zu können, verlebte
+er ganze sechs Jahre in der Provinz – bis ihn eines Tages Entsetzen
+erfaßte. Mit Verzweiflung sah er ein, wie viel seine Kunst durch dieses
+bedrückende und ungeordnete Bettlerleben bereits eingebüßt hatte. So
+ließ er eines Morgens seine Kapelle im Stich, nahm seine Geige und
+machte sich auf den Weg nach Petersburg, wo er nahezu als Strolch ankam.
+Er mietete sich irgendwo in einer elenden Dachkammer ein: und dort traf
+er zum erstenmal mit B. zusammen, der damals gerade erst aus Deutschland
+herübergekommen war und gleichfalls hier Karriere machen wollte. Sie
+schlossen bald Freundschaft miteinander. B. denkt jetzt noch mit tiefer
+Rührung an jene Zeit. Sie waren beide jung, beide hatten sie dieselben
+Hoffnungen und dasselbe Ziel, dem sie zustrebten. Nur war B. noch jünger
+und hatte von Armut und Leid und Künstlerelend erst wenig erfahren:
+überdies war er vor allen Dingen Deutscher und strebte zu seinem Ziel
+gewissermaßen systematisch und starrköpfig hin, mit ganz objektiver
+Einschätzung seiner Begabung, nachdem er schon im voraus genau berechnet
+hatte, wie weit er es bringen würde. Sein neuer Freund dagegen war
+immerhin schon dreißig Jahre alt, hatte sich durch das Elend bereits
+ermüden lassen, hatte schon an Geduld und Spannkraft verloren und seine
+ersten Kräfte eingebüßt, da er ganze sieben Jahre für sein täglich Brot
+in Provinztheatern und kleinen Orchestern auf verschiedenen Gütern hatte
+fiedeln müssen. Was ihn in dieser Zeit aufrechterhalten, war der ewige
+unverrückbare Gedanke, sich endlich aus seiner Misere herauszuarbeiten,
+Geld zu sparen und dann nach Petersburg zu reisen. Aber der Gedanke war
+unklar, dunkel, fast nur wie ein innerliches „Sich zu etwas berufen
+fühlen“, so daß er denn auch mit den Jahren viel von der anfänglichen
+Klarheit verlor. Als er nun endlich in Petersburg eintraf, da war
+eigentlich alles gleichsam unbewußt geschehen, wie aus einer alten
+Gewohnheit an einen ewigen Wunsch und ein ewiges Sichausmalen dieser
+Reise, so daß er beinahe selbst nicht mehr wußte, was er hier eigentlich
+suchte. Sein Enthusiasmus war konvulsivisch, sprunghaft, oft mit
+geradezu galliger Bitterkeit gepaart, oft sinnverwirrend, als wollte er
+mit diesem Enthusiasmus sich selbst betrügen und glauben machen, daß
+seine Kraft noch ungebrochen, daß seine erste Glut, seine erste
+Begeisterung noch ungeschwächt seien. Diese immerwährende Begeisterung
+machte auf den kühlen, mehr wissenschaftlich veranlagten B. den größten
+Eindruck. Sie blendete ihn und er sah in meinem Stiefvater geradezu ein
+zukünftiges Weltgenie. Anders konnte er sich die Zukunft seines
+Gefährten gar nicht vorstellen. Doch bald wurden ihm die Augen geöffnet
+und er erkannte, mit wem er es zu tun hatte. Er sah und begriff, daß
+diese ganze gewaltsame Begeisterung, diese Hitze und Ungeduld nichts
+anderes waren, als eine unbewußte Verzweiflung in der Erinnerung an die
+verlorene Zeit, in der er seine Begabung nicht auszuentwickeln vermocht
+hatte, begriff, daß schließlich sogar das Talent an sich, vielleicht
+sogar auch in den Anfangsjahren, gar nicht so groß gewesen war, fühlte
+heraus, daß da viel Verblendung mitspielte, unnützes Selbstgefühl,
+ursprünglicher Ehrgeiz und eine unausgesetzt arbeitende Phantasie, die
+sich immer nur mit dem eigenen Genie beschäftigt hatte.
+
+„Aber trotzdem,“ erzählte B., „muß ich die eigenartige Natur meines
+Freundes immer wieder bewundern. Vor meinen Augen spielte sich ein
+steter Kampf ab – der verzweifelte, fieberhafte Kampf eines krampfhaft
+angespannten Willens mit einer inneren Kraftlosigkeit. Der Unglückliche
+hatte sich bis dahin ganze sieben Jahre mit den bloßen Gedanken an
+seinen zukünftigen Ruhm begnügt und über diesen Zukunftsträumen gar
+nicht bemerkt, wie ihm mit der Zeit die Grundlage der Kunst immer mehr
+abhanden kam, wie er nach und nach seine Technik verlor und damit das
+Werkzeug seiner Kunst. Währenddessen aber entstanden in seiner wirren
+Phantasie jeden Augenblick die großartigsten Zukunftspläne. Er wollte
+nicht etwa nur ein erstklassiges Genie sein, der größte aller
+Violinvirtuosen der Welt, für den er sich bereits allen Ernstes hielt, –
+nein, er wollte überdies noch Komponist werden, – ohne vom Kontrapunkt
+auch nur eine Ahnung zu haben. Am meisten jedoch wunderte mich,“ fuhr B.
+fort, „daß dieser Mensch bei seinen geringen Kenntnissen von der Theorie
+der Kunst ein so tiefes, klares und man kann wohl sagen instinktives
+Kunstverständnis hatte. Er erfaßte und fühlte die Kunst so tief, daß es
+schließlich kein Wunder war, wenn er sich in seiner Selbsterkenntnis
+verirrte und sich, anstatt für einen tief nachempfindenden Kunstkritiker
+zu halten, für einen Kunstschöpfer, für ein Genie hielt. Zuweilen konnte
+er in seiner ungeschliffenen einfachen Ausdrucksweise, ohne, wie gesagt,
+etwas von einer Theorie oder Musikwissenschaft zu ahnen, so tiefe
+Wahrheiten sagen, daß ich ihn ganz verblüfft ansah und nicht begriff,
+wie er das alles erraten hatte, er, der nie etwas las, nie etwas lernte!
+Ich verdanke ihm viel,“ gestand B. freimütig, „denn er hat mit seinen
+Ratschlägen mir nicht wenig bei meiner Selbstvervollkommnung geholfen.
+Was nun mich betrifft,“ fuhr B. fort, „so war ich über meine Zukunft
+ganz ruhig. Auch ich liebte meine Kunst leidenschaftlich, obwohl ich von
+Anfang an wußte, was aus mir werden konnte, eben, daß ich im Grunde doch
+nur so etwas wie ein Handwerker in der Kunst bleiben würde.
+
+Ich bin aber doch stolz darauf, daß ich das, was die Natur mir gegeben,
+nicht wie ein fauler Knecht verscharrt, sondern hundertfältig vergrößert
+habe. Und wenn man jetzt die Reinheit meines Spiels hervorhebt und meine
+ausgearbeitete Technik bewundert, so verdanke ich das nur meiner
+ununterbrochenen, unermüdlichen Arbeit, der vollen Erkenntnis, d. h. der
+sachlichen Einschätzung meiner Kräfte, meiner freiwilligen
+Selbstverleugnung und meinem ewigen Kampf gegen Eigendünkel, gegen
+Zufriedenheit mit dem eigenen Können, gegen die Faulheit, der
+natürlichen Folge dieser Zufriedenheit.“
+
+B. hatte dann versucht, auch seinerseits auf den Gefährten einzuwirken,
+nachdem er sich ihm anfangs ganz untergeordnet, aber sein gutgemeinter
+Rat hatte den anderen nur geärgert. Die Folge davon war eine langsam
+zunehmende Entfremdung. Bald bemerkte B., daß sein Genosse sich immer
+häufiger einer gewissen Apathie hingab, verstimmt und gelangweilt war,
+daß die Ausbrüche seiner Begeisterung immer seltener wurden, und sich
+statt dessen eine trostlose Mutlosigkeit bemerkbar machte. Zu guter
+Letzt schien Jefimoff auch seine Geige zu vergessen und rührte sie oft
+wochenlang nicht an. Da war es denn nicht mehr weit bis zum endgültigen
+Verkommen – und bald gab der Arme sich allen Lastern hin. Wovor ihn der
+Gutsbesitzer gewarnt hatte, gerade das geschah: er ergab sich dem Trunk.
+B. beobachtete ihn mit Entsetzen. Raterteilen und Zureden half nichts,
+das wußte er, und übrigens getraute er sich kaum noch, dem anderen ein
+Wort zu sagen. Allmählich verfiel Jefimoff in den größten Zynismus und
+verlor offenbar jedes Ehrgefühl. So, zum Beispiel, schämte er sich nicht
+im geringsten, auf B.s Kosten zu leben, und zwar tat er das in einer
+Art, als habe er das volle Recht dazu. Dabei waren die Mittel knapp. B.
+schlug sich noch irgendwie durch, erteilte Unterricht, spielte bei
+Kaufleuten, Deutschen und geringeren Beamten, wenn diese ihre Kränzchen
+und Tanzabende hatten, bekam dafür zwar nicht viel, aber immerhin genug,
+nun, um sich eben durchzuschlagen. Jefimoff dagegen wollte, wie es
+schien, die Notlage seines Freundes überhaupt nicht bemerken. Er nahm
+nicht die geringste Rücksicht auf ihn, sprach mit ihm in strengem Tone
+oder würdigte ihn mehrere Tage lang keines Wortes. Einmal äußerte B. mit
+aller Rücksicht und Vorsicht zugleich, daß es nicht schlecht wäre, wenn
+er sein Geigenspiel nicht gar zu sehr vernachlässigte, da er sonst ganz
+aus der Übung kommen könnte. Darüber ärgerte sich Jefimoff sehr und
+erklärte, er werde seine Geige hinfort überhaupt nicht mehr anrühren, –
+ganz als erwartete er, daß jemand ihn kniefällig darum bitte. Ein
+anderes Mal forderte B. ihn auf, mit ihm auf einem jener Bälle zu
+spielen: es sei ein größeres Fest, eine Geige genüge nicht. Diese
+Aufforderung versetzte Jefimoff in helle Wut. Empört erklärte er, er sei
+kein Straßenfiedler und könne nicht so gemein sein wie B. und die edle
+Kunst dermaßen erniedrigen, daß er simplen Spießbürgern, die von seinem
+Spiel und Talent doch nichts begriffen, zum Tanze aufspielte. B.
+erwiderte darauf kein Wort, Jefimoff aber begann in der Abwesenheit des
+Genossen, der fortgegangen war, um zu spielen, über den Zwischenfall
+nachzudenken und kam zu dem Schluß, B. habe ihm damit nur sagen wollen,
+daß er, Jefimoff, auf seine Rechnung lebe, und mit dieser Andeutung habe
+er ihm den Gedanken nahelegen wollen, gleichfalls Geld zu verdienen. Als
+B. zurückkehrte, begann Jefimoff plötzlich, ihm wegen seiner gemeinen
+Handlungsweise Vorwürfe zu machen, und schloß damit, daß er keine Minute
+länger mit ihm unter einem Dach bleiben werde. Er verschwand auch
+wirklich auf zwei Tage, am dritten aber erschien er wieder bei B., als
+wäre nichts geschehen, und setzte ruhig seine alte Lebensweise bei ihm
+fort.
+
+Nur die frühere Freundschaft und die alte Gewohnheit, und überdies wohl
+auch noch das Mitleid, das B. mit dem verlorenen Menschen empfand,
+hielten ihn davon ab, dieser schmählichen Lebensweise ein Ende zu machen
+und sich endgültig von seinem Stubengenossen loszusagen. Schließlich
+trennten sie sich aber doch. B. hatte Glück: er gewann die Protektion
+eines hohen Würdenträgers und bald darauf gab er sein erstes Konzert,
+das glänzend ausfiel. Damals war er schon ein vorzüglicher Künstler und
+bald verschaffte ihm seine schnell zunehmende Berühmtheit eine Stellung
+im Orchester der Kaiserlichen Oper, wo er vollauf verdienten Erfolg
+errang. Beim Abschied gab er Jefimoff noch Geld und beschwor ihn, doch
+wieder auf den rechten Weg zurückzukehren. Auch jetzt kann B. nicht ohne
+ein inniges Mitgefühl an ihn zurückdenken. Seine Bekanntschaft mit
+Jefimoff ist eben eines der größten Erlebnisse seiner Jugend gewesen und
+hat den tiefsten Eindruck in ihm hinterlassen. Gemeinsam hatten sie das
+gleiche Ziel erreichen wollen, wie sollten sie sich da nicht einander
+anschließen. Einerseits kam es, wie es nicht anders kommen konnte;
+anderseits waren es vielleicht gerade die Seltsamkeiten und die
+gröbsten, unangenehmsten Mängel Jefimoffs, die B. noch mehr an ihn
+fesselten. B. begriff ihn vollkommen. Er durchschaute ihn völlig und
+ahnte, wie das ganze enden mußte. Beim Abschied umarmten sie sich und
+ihre Augen wurden feucht. Da sagte Jefimoff unter Tränen mit versagender
+Stimme, daß er ein verlorener Mensch sei, er wisse es ja schon längst,
+aber jetzt erst habe er die ganze Größe seines Elends erfaßt.
+
+„Ich habe kein Talent!“ stieß er hervor, totenblaß.
+
+B. war erschüttert.
+
+„Höre, Jegor Petrowitsch,“ begann er, „was machst du aus dir? Du
+richtest dich mit deiner Verzweiflung nur zugrunde, hab’ doch nur ein
+bißchen Ausdauer und Mannhaftigkeit! Jetzt sagst du in einer Anwandlung
+von Mutlosigkeit, du hättest kein Talent. Das ist aber doch nicht wahr!
+Du hast Talent, ich versichere dich! Gerade _du_ hast es! Ich ersehe das
+schon daraus, wie du Kunst fühlst und begreifst. Und ein Beweis dafür
+ist auch schon dein ganzes früheres Leben. Du hast mir doch alles
+erzählt, und auch damals schon hat dich unbewußt dieselbe Verzweiflung
+ergriffen. Damals hat dein erster Lehrer, jener seltsame Mensch, von dem
+du mir so oft gesprochen hast, deine Liebe zur Kunst geweckt und dein
+Talent erraten. Du fühltest das damals ebenso stark und schwer, wie du
+es auch jetzt wieder fühlst. Damals wußtest du selbst nicht, was in dir
+vorging. Du hieltest es nicht aus bei deinem Gutsbesitzer und du
+wolltest fort von ihm, du wolltest etwas anderes, – aber was eigentlich,
+das wußtest du nicht. Dein Lehrer starb viel zu früh. Er ließ dich mit
+einem unklaren Streben zurück und vor allen Dingen erklärte er dir nicht
+dich selbst. Du fühltest, daß jener Weg nichts für dich war, du
+brauchtest einen anderen, einen breiteren, du fühltest, daß dir anderes
+zu erreichen bestimmt war, aber du begriffst nicht, wie dieses andere zu
+erreichen sei, und in deiner Sehnsucht und Qual ward dir deine ganze
+Umgebung zuwider und verhaßt. Deine sechs Jahre Armut und Elend hast du
+nicht umsonst durchgemacht: du hast in der Zeit gelernt, du hast
+gedacht, du hast dich selbst, hast deine Kraft erkannt. Jetzt kennst du
+die Kunst und zugleich deine Bestimmung. Mein Freund, glaub’ mir, jetzt
+tut dir nur noch Ausdauer und Mannhaftigkeit not. Dir steht Größeres
+bevor, als mir: du bist hundertmal mehr Künstler, als ich, doch gäbe
+Gott dir wenigstens ein Zehntel von meiner Ausdauer. Lerne und trink
+nicht, wie dir dein prächtiger alter Gutsbesitzer bereits sagte, und die
+Hauptsache – fange von neuem an, fang von Anfang an, fang mit dem
+Alphabet an, wenn du willst. Was quält dich denn jetzt? Armut? Hunger?
+Aber Armut und Hunger entwickeln doch den Künstler. Sie gehören zum
+Anfang, sind sogar untrennbar mit ihm verbunden. Vorläufig kennt dich
+noch niemand, und es will dich auch niemand kennen, so ist nun einmal
+die Welt. Das wird anders werden, sobald man erfährt, daß du Talent
+hast. Dann werden dich wieder Neid, kleinliche Gemeinheit, vor allem
+aber Dummheit viel mehr bedrücken, als Armut es je vermag. Ein Talent
+bedarf der Teilnahme, es will verstanden sein. Du aber wirst dann erst
+sehen, wie die Leute sind, die dich umgeben, sobald du nur annähernd
+etwas erreicht hast. Was sich in dir durch mühevolle Arbeit,
+Entbehrungen, Hunger und schlaflose Nächte herausgearbeitet hat, das
+werden sie geringschätzen, verachten oder überhaupt nicht beachten. Sie
+werden dich nicht ermutigen, dich nicht trösten, diese deine zukünftigen
+Freunde. Sie werden dir auch nicht sagen, was in dir gut und echt ist,
+wohl aber werden sie mit boshafter Freude deine Fehler hervorheben,
+werden gerade darauf hinweisen, was an dir schlecht ist, und darauf,
+worin du irrst, und unter dem äußeren Anschein der Kaltblütigkeit und
+der Gleichgültigkeit oder gar Verachtung deiner Person werden sie über
+jeden deiner Fehler frohlocken, als hätten sie ein Fest zu feiern – und
+Fehler hat doch wohl ein jeder! Du aber bist hochmütig, bist oft am
+unrechten Platz stolz, du könntest leicht einen dünkelhaften Wicht
+kränken, und dann wehe dir! Du bist allein und ein einziger, sie aber
+sind viele – sie werden dich mit Stecknadeln zu Tode quälen. Sogar ich
+fange schon an, das kennen zu lernen. So nimm dich doch jetzt endlich
+zusammen! Du bist noch längst nicht so arm, daß du nicht leben könntest,
+nur mißachte die Arbeit nicht, säge Holz, wie ich Holz gesägt habe bei
+den Bürgern und Beamten, wenn sie tanzten. Aber du bist ungeduldig, du
+bist krank vor Ungeduld, es ist zu wenig Einfachheit in dir, du
+verstellst dich zu viel, du denkst zu viel, du gibst deinem Kopf zu viel
+Arbeit. In Worten bist du dreist, sobald du aber den Violinbogen in die
+Hand nehmen mußt, wirst du mutlos. Du bist eigenliebig und es steckt in
+dir wenig Tapferkeit. So sei doch mutiger, warte ab, lerne, und wenn du
+auch deinen Kräften nicht traust, so arbeite nur. Es steckt Glut in dir,
+du hast etwas Elementares! Vielleicht erreichst du dein Ziel, oder wenn
+nicht, so laß es doch immerhin auf das Vielleicht ankommen. Verlieren
+kannst du dabei auf keinen Fall etwas, um so größer aber ist der
+mögliche Gewinn. Hier, Freund, ist euer russisches ‚Vielleicht‘ eine
+große Sache!“
+
+Jefimoff hörte seinen einstigen Genossen mit tief aufgewühlten Gefühlen
+an. Während jener noch sprach, trat allmählich wieder Farbe in seine
+bleichen Wangen, seine Augen leuchteten auf und Mut und Hoffnung
+erglänzte in ihnen. Aber der gute Mut wurde schnell zum Selbstgefühl und
+dann zu der bei ihm üblichen Anmaßung: als B. sich dem Schluß seiner
+Standrede näherte, da hörte Jefimoff nur noch zerstreut und schon
+ungeduldig zu. Trotzdem drückte er ihm zum Schluß kräftig die Hand,
+dankte und – schnell wie immer in seinen Übergängen von tiefster
+Mutlosigkeit und Selbstverurteilung zum größten Hochmut, wenn nicht gar
+zur frechsten Vermessenheit – erklärte er selbstbewußt, der Freund möge
+sich nicht um ihn sorgen, er wisse, wie er seine Zukunft zu gestalten
+habe. Er hoffe, bald gleichfalls Protektion zu finden, dann werde er ein
+Konzert geben und mit einem Schlage Ruhm und Geld erwerben. – B. zuckte
+mit den Achseln, erwiderte nichts darauf und sie schieden voneinander,
+natürlich nicht auf lange. Jefimoff verjubelte sogleich das empfangene
+Geld und suchte ihn dann auf, um ihn wieder um Geld anzugehen. Dasselbe
+tat er zum dritten-, vierten- und bald zum zehntenmal, bis endlich die
+Geduld B.s erschöpft war und er ihm sagen ließ, er sei nicht zu Hause.
+Von da an verlor er ihn ganz aus den Augen ...
+
+Es vergingen ein paar Jahre. Da stieß B. eines Tages auf dem Heimwege
+aus der Probe in einer Gasse vor einer schmutzigen Trinkstube mit einem
+schlecht gekleideten, betrunkenen Menschen zusammen, der ihn plötzlich
+beim Namen nannte. Es war Jefimoff. Er hatte sich sehr verändert, sein
+Gesicht war gelb und aufgedunsen. Man sah es ihm auf den ersten Blick
+an, daß das liederliche Leben bereits seinen Zügen einen unverwischbaren
+Stempel aufgedrückt hatte. B. war trotzdem sehr erfreut, ihn
+wiederzusehen, und folgte ihm in die Trinkstube, wohin Jefimoff ihn
+schon nach den ersten zwei Worten zog. Dort, in einer abgelegenen
+kleinen verräucherten Stube, musterte er etwas eingehender seinen
+ehemaligen Stubengenossen. Da erst sah er, daß jener ganz zerlumpt war
+und daß seine Stiefel zerrissen waren. Die zerknüllte Hemdbrust hatte
+Weinflecke. Sein Haar fing schon an zu ergrauen und sich zu lichten.
+
+„Wie geht es dir jetzt? Wo lebst du?“ fragte B.
+
+Jefimoff schaute etwas betreten darein, im ersten Augenblick sogar
+beinahe eingeschüchtert, und antwortete so unzusammenhängend und
+stockend, daß B. nahe daran war, ihn für halbwegs verrückt zu halten.
+Endlich gestand Jefimoff, er könne nicht sprechen, bevor er nicht einen
+Schnaps getrunken, hier aber habe er schon lange keinen Kredit mehr. Er
+errötete, als er das sagte, wollte sich aber mit einem gewissen flotten
+Gehaben darüber hinweghelfen, was ihm jedoch mißlang: es wurde daraus
+etwas aufdringlich Gemeines, Unnatürliches, so daß der ganze Eindruck
+ein recht trauriger war und in dem gutmütigen B. aufrichtiges Mitleid
+erweckte. Er sah, daß alle seine Befürchtungen eingetroffen waren. Er
+bestellte also Schnaps. Jefimoffs Gesicht veränderte sich vor
+Dankbarkeit und er geriet so aus dem Gleichgewicht, daß er mit Tränen in
+den Augen fast im Begriffe war, B. die Hand zu küssen. Während des
+Essens erfuhr dann B. zu seiner größten Verwunderung, daß der
+Unglückliche inzwischen geheiratet hatte. Aber seine Verwunderung nahm
+noch zu, als er gleich darauf hören mußte, daß die Frau an seinem ganzen
+Unglück und Elend schuld sei, daß die Heirat sein ganzes Können
+vernichtet habe.
+
+„Aber wie denn das?“ fragte B.
+
+„Ja, Freund, seit zwei Jahren nehme ich meine Geige nicht mehr in die
+Hand,“ antwortete Jefimoff. „Sie ist eben ein ungebildetes, rohes Weib,
+eine richtige Köchin. Daß sie der ...! Na ja. Wir liegen uns nur in den
+Haaren, das ist alles, was wir tun.“
+
+„Aber warum hast du sie denn geheiratet, wenn sie so ist?“
+
+„Hatte nichts zu essen. Da machte ich ihre Bekanntschaft. Sie besaß etwa
+tausend Rubel ... da heiratete ich sie denn. Sie aber hatte sich in mich
+verliebt. Hat sich selbst mir an den Hals gehängt. Wer hatte sie drum
+gebeten! Das Geld ist verlebt, vertrunken, Freund, und – was Kunst! Es
+ist alles zum Teufel gegangen!“
+
+B. hatte die Empfindung, als wolle Jefimoff sich gewissermaßen
+rechtfertigen, und zwar schien er sich damit sehr zu beeilen, wie um
+einer Bemerkung oder einer Frage zuvorzukommen.
+
+„Habe alles an den Nagel gehängt, alles,“ fuhr er fort und erzählte
+dann, daß er es in der letzten Zeit im Spiel fast bis zur Vollendung
+gebracht habe, so daß ... nun ja, B. sei zwar einer der ersten
+Violinspieler in Petersburg, aber ihm, Jefimoff, könne er doch nicht
+einmal das Wasser reichen, wenn er, Jefimoff, mal spielen wollte.
+
+„Ja, aber wie steht es denn jetzt mit dir?“ fragte B., dem der ganze
+Sachverhalt noch unklar war. „Warum suchst du dir dann nicht einen
+Verdienst?“
+
+„Äh! – lohnt nicht!“ bemerkte Jefimoff mit wegwerfender Gebärde. „Wer
+versteht denn bei euch etwas von wirklicher Kunst! Was wißt ihr
+überhaupt? Nicht so viel, gar nichts wißt ihr! Irgend so einen
+Hopserwalzer den Ballettspringern vorzufiedeln – das könnt ihr
+allenfalls noch. Aber das ist auch alles. Wirkliche Künstler habt ihr ja
+überhaupt noch nicht gesehn, noch viel weniger gehört. Wozu euch
+aufrütteln! Bleibt, was ihr seid!“
+
+Hierbei machte Jefimoff wieder eine geringschätzige Bewegung – geriet
+aber ins Wanken, da er schon ziemlich viel getrunken hatte. Dann
+forderte er B. auf, zu ihm zu kommen. Dieser lehnte das vorläufig ab,
+fragte ihn aber nach seiner Adresse und versprach, ihn am nächsten Tage
+aufzusuchen. Jefimoff, der nun schon genug gegessen und getrunken hatte,
+blickte spöttisch seinen früheren Genossen an und schien die größte Lust
+zu verspüren, ihn irgendwie zu verletzen. Als sie aufbrachen, griff er
+schnell nach B.s kostbarem Pelz und hielt ihn, wie ein Geringerer einem
+Höherstehenden, dem er beim Anziehen behilflich sein will. Und als sie
+durch das vordere Zimmer, die eigentliche Schenkstube, gingen, blieb er
+stehen und stellte B. den Wirtsleuten und dem Publikum als den ersten
+und einzigen Violinvirtuosen der ganzen Hauptstadt vor. Kurz, er benahm
+sich schmutzig.
+
+Nichtsdestoweniger suchte B. ihn am anderen Morgen in der Dachkammer
+auf, wo wir in größter Armut lebten. Ich war damals vier Jahre alt und
+meine Mutter war schon seit zwei Jahren mit Jefimoff verheiratet. Meine
+arme Mutter! Als völlig unbemittelte Gouvernante hatte sie, die eine
+vortreffliche Bildung besaß und schön war, einen älteren Bekannten
+geheiratet, meinen Vater, um aus der Armut herauszukommen. Aber die Ehe
+dauerte kaum drei Jahre. Mein Vater starb ganz plötzlich. Und als sein
+geringer Nachlaß unter seinen Erben verteilt wurde, blieb meine Mutter
+mit mir und einer nur kleinen Summe zurück, die von der
+Hinterlassenschaft ihres Mannes ihr zufiel. Wieder eine
+Gouvernantenstelle anzunehmen, wäre kaum möglich gewesen, jetzt, wo sie
+ein kleines Kind hatte. In dieser Zeit machte sie durch einen Zufall die
+Bekanntschaft Jefimoffs und verliebte sich tatsächlich in ihn. Auch sie
+war eine Enthusiastin, eine phantastische Träumerin. Auch sie sah in ihm
+ein großes Genie und glaubte seinen stolzen Worten, wenn er von seiner
+glänzenden Zukunft sprach. Ihrer Phantasie schmeichelte die Vorstellung
+von dem beneidenswerten Los, die Stütze und Gefährtin eines genialen
+Künstlers zu sein, und so heiratete sie ihn. Schon im ersten Monat
+schwanden alle ihre Hoffnungen und Träume: vor ihr blieb nichts, als die
+armselige Wirklichkeit. Jefimoff, der sie vielleicht nur aus dem Grunde
+geheiratet hatte, weil sie etwa tausend Rubel besaß, legte, als das Geld
+zu Ende war, sogleich die Hände in den Schoß und erklärte allen und
+jedem – es war geradezu, als hätte er sich über den Vorwand gefreut –,
+daß die Heirat sein Talent vernichtet habe, daß er in einer dumpfen
+Stube nicht arbeiten könne, unter den Augen einer hungrigen Familie ...
+da könne der Verstand weder Noten noch Melodien fassen, und schließlich:
+dieses Unglück sei ihm eben offenbar von Anfang an bestimmt gewesen. Wie
+es scheint, hat er bald selbst an die Richtigkeit seiner Klagen geglaubt
+und sich vermutlich über diese neue Rechtfertigungsmöglichkeit wirklich
+gefreut. Dieser unselige, trotz aller Begabung verlorene Mensch hatte
+wohl schon lange nach einem äußeren Vorwand gesucht, dem er alles
+Unglück und alle Mißerfolge zuschreiben konnte. An den furchtbaren
+Gedanken, daß er für die Kunst schon längst und unrettbar verloren war,
+an den konnte er sich natürlich nicht gewöhnen. Er kämpfte krampfhaft
+gegen diese unheimliche Erkenntnis an, kämpfte wie mit einem Alb, der
+auf ihm lastete, und als die Wirklichkeit ihn endlich zu besiegen begann
+und seine Augen für Sekunden öffnete, da war es ihm, als müßte er vor
+Entsetzen den Verstand verlieren. Wie sollte er auch auf das verzichten,
+was so lange Ziel und Zweck seines Lebens gewesen war, und so glaubte er
+bis zur letzten Minute, oder redete es sich wenigstens ein, daß noch
+nichts verloren sei. Kamen aber Stunden des Zweifels, dann gab er sich
+wieder dem Trunk hin, um vom Rausch die Qual verdrängen zu lassen. Zu
+guter Letzt wußte er vielleicht selbst nicht, wie unentbehrlich ihm die
+Frau in dieser Zeit war. Sie war ja für ihn eine lebendige
+Rechtfertigung, wie es denn fast zu seiner fixen Idee wurde, daß erst
+dann alles wieder gut werden würde, wenn er seine Frau, _die an allem
+Schuldige_, begraben habe. Meine arme Mutter verstand ihn aber nicht.
+Als geborene Träumerin ertrug sie nicht einmal den ersten Schritt in der
+feindlichen Wirklichkeit. Sie wurde heftig, böse, zänkisch, geriet jeden
+Augenblick in Streit mit dem Mann, dem es geradezu ein Vergnügen zu sein
+schien, sie zu quälen, und immer wieder sagte sie ihm, er solle doch
+arbeiten, sonst verlerne er ja alles. Aber die Verblendung und die fixe
+Idee meines Stiefvaters, überhaupt seine ganze Überspanntheit machten
+ihn gefühllos und fast unmenschlich grausam gegen sie. Er lachte nur und
+schwor, die Geige vor ihrem Tode nicht wieder in die Hand zu nehmen,
+ohne sich über seine grausame Rücksichtslosigkeit auch nur Gedanken zu
+machen, wenn er ihr dies ganz unumwunden ins Gesicht sagte. Meine
+Mutter, die ihn trotz allem bis zu ihrem Tode leidenschaftlich liebte,
+war einem solchen Leben nicht gewachsen. Sie wurde kränklich und zuletzt
+wirklich krank, und da sie sich nie erholen konnte, lebte sie, leidend
+wie sie war, nur unter ewigen Qualen. Und überdies mußte sie ganz allein
+für den Unterhalt der Familie sorgen. Sie begann zu kochen und richtete
+einen Mittagstisch für Fremde ein, aber ihr Mann entwand ihr heimlich
+alles Geld, und da kam es denn nicht selten vor, daß sie diejenigen, die
+das Essen abholen wollten, mit leerem Geschirr zurückschicken mußte. Als
+B. uns aufsuchte, hatte sie das Kochen schon aufgegeben; sie
+beschäftigte sich damals mit dem Färben alter Kleider und wusch außerdem
+Wäsche. So fristeten wir unser Leben dort oben in der Dachstube.
+
+Unsere Armut überraschte B.
+
+„Hör’ mal, was redest du denn da von deiner vernichteten Kunst?“ wandte
+er sich an meinen Stiefvater. „Sie ernährt dich doch, und was tust du?“
+
+„Nichts!“ versetzte mein Stiefvater.
+
+Doch B. kannte noch nicht das ganze Unglück meiner Mutter. Ihr Mann
+brachte oft, wenn er nach Hause kam, eine ganze Bande der
+verschiedensten Kumpane mit und dann – was gab es dann nicht alles!
+
+B. redete lange Zeit auf seinen früheren Genossen ein. Er sagte ihm
+auch, daß er ihm in keiner Beziehung helfen werde, wenn er sich nicht
+besserte, auch Geld werde er ihm nicht geben, da er es doch nur
+vertrinke. Zum Schluß bat er ihn, ihm etwas vorzuspielen, damit er
+beurteilen könne, was sich für ihn tun ließ. Während mein Stiefvater die
+Geige hervorholte, wollte B. meiner Mutter heimlich Geld zustecken, aber
+sie nahm es nicht. Zum erstenmal sollte sie Almosen annehmen! Da gab B.
+das Geld mir, und die arme Frau brach in Tränen aus. Mein Stiefvater
+nahm die Geige aus dem Kasten, besah sie, sagte aber dann, daß er zuerst
+Schnaps trinken müsse, ohne den könne er nicht spielen. Der Schnaps
+wurde geholt. Er trank und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
+
+„Ich werde dir aus alter Freundschaft etwas von meinen eigenen
+Kompositionen vorspielen,“ sagte er B. und zog unter der Kommode ein
+dickes, verstaubtes Heft hervor.
+
+„Alles dies habe ich selbst geschrieben,“ sagte er, auf das Heft
+deutend. „Nun, du wirst ja sehen ... Das, Freund, ist etwas anderes als
+eure Ballettstückchen!“
+
+B. blätterte schweigend ein paar Seiten um; dann schlug er die Noten
+auf, die er bei sich hatte, und bat ihn, daraus etwas vorzuspielen.
+
+Es kränkte Jefimoff, daß seine Kompositionen so zur Seite geschoben
+wurden, aber er kam doch der Aufforderung nach, wohl in der Furcht, B.s
+Gunst und Anteilnahme zu verlieren.
+
+Er spielte. B. erkannte, daß er in der Zeit nach ihrer Trennung viel
+zugelernt, also auch viel gearbeitet haben mußte, obgleich er damit
+geprahlt, daß er die Geige seit seiner Heirat nicht mehr angerührt habe.
+Da hätte man die Freude meiner armen Mutter sehen sollen! Sie sah ihren
+Mann an und war wieder stolz auf ihn. Der gute B. war aufrichtig erfreut
+und wollte unbedingt meinem Stiefvater helfen. Er hatte schon damals
+gute Beziehungen und so tat er denn auch alles mögliche für seinen armen
+Studiengenossen, nachdem er von diesem das ehrenwörtliche Versprechen
+gefordert und erhalten hatte, daß er sich gut aufführen werde. Zunächst
+kleidete er ihn besser ein, natürlich auf seine Rechnung, dann ging er
+mit ihm zu ein paar bekannten Persönlichkeiten, von denen es abhing, ob
+Jefimoff in dem Orchester ankam, wo B. ihn unterbringen wollte. Was nun
+die Annahme einer Stellung betraf, so hatte Jefimoff natürlich nur
+großgetan, wie gewöhnlich, wenn es sich bloß um Worte handelte.
+Wenigstens nahm er das Anerbieten seines alten Freundes mit der größten
+Bereitwilligkeit an. B. erzählte mir, er habe sich für ihn geschämt
+wegen der Schmeicheleien und der geheuchelten Bewunderung, mit denen
+mein Stiefvater seine Dankbarkeit habe bezeugen wollen, wahrscheinlich
+in der Absicht, sich dadurch B.s Wohlwollen zu sichern. Er begriff
+endlich, daß man ihn auf den rechten Weg stellen wollte und er hörte
+sogar auf, zu trinken. Schließlich erhielt er auch wirklich eine
+Anstellung im Orchester eines Theaters. Die Prüfung bestand er gut, denn
+in einem Monat hatte er sich durch Fleiß und guten Willen alles wieder
+angeeignet, was er in anderthalb Jahren des Nichtstuns verlernt hatte.
+Er versprach, auch hinfort gut zu üben, seinen neuen Pflichten getreu
+nachzukommen und pünktlich und nüchtern zu sein. Unsere Verhältnisse
+besserten sich jedoch deshalb noch keineswegs. Mein Stiefvater gab
+nämlich von seinem Monatsgehalt meiner Mutter nicht einen Kopeken, er
+verlebte alles allein, vertrank und verjubelte das Geld mit seinen neuen
+Freunden, von denen er sich sogleich eine ganze Schar anlegte. Es waren
+das größtenteils am Theater Angestellte, Choristen, Statisten, mit einem
+Wort Leute, unter denen er der Erste sein konnte, während er alle
+Talentvolleren geflissentlich mied. Diesen dagegen konnte er imponieren
+und eine ganz besondere Achtung einflößen, was ihm schon gleich zu
+Anfang gelungen war, indem er ihnen sofort erklärt und sie durch seine
+Überzeugung gleichfalls überzeugt hatte, daß er eine verkannte Größe,
+ein Genie sei, daß seine Frau ihn zugrunde gerichtet und daß ihr
+Kapellmeister von der ganzen Musik keine Ahnung habe. Er machte sich
+über alle Solisten des Orchesters lustig, ebenso über die Wahl der
+Stücke, die gespielt wurden, wie auch über die Komponisten der Opern.
+Schließlich fing er an, eine ganz neue Theorie der Musik zu erklären.
+Kurz, er wurde dem ganzen Orchester lästig, geriet mit allen in Streit,
+nicht zuletzt auch mit dem Kapellmeister, wurde seinen Vorgesetzten
+gegenüber grob, erwarb sich den Ruf, der unruhigste, verdrehteste und
+zugleich der nichtsnutzigste Mensch zu sein, und brachte es so weit, daß
+er allen unerträglich wurde.
+
+Und in der Tat, es war doch recht seltsam anzusehen, daß ein so
+unansehnlicher Mensch, ein so schlechter und fahrlässiger Musiker so
+riesige Ansprüche stellte und in einem so selbstbewußten Ton prahlte.
+
+Es endete damit, daß er sich mit B. verfeindete: er erfand eine häßliche
+Klatschgeschichte, eine ganz niederträchtige Verleumdung seines
+Wohltäters und gab sie als selbsterlebte Wirklichkeit zum besten. Nach
+einem halben Jahr wurde er aus diesem Orchester wegen Nachlässigkeit und
+unzulässiger Aufführung in nicht nüchternem Zustande ausgeschlossen.
+Doch damit hatte man ihn noch nicht abgeschüttelt. Bald sah man ihn
+wieder in zerlumpten Kleidern, denn die guten waren verkauft oder
+versetzt, und in diesen Kleidern suchte er seine gewesenen Kollegen vom
+Orchester auf, ohne darauf zu achten, ob diese davon erbaut waren oder
+nicht, erzählte Klatschgeschichten, schwätzte Unsinn, klagte über sein
+Leben und forderte alle auf, zu ihm zu kommen, um seinen Hausdrachen zu
+sehen. Natürlich fanden sich Zuhörer, es fanden sich auch solche, denen
+es Spaß machte, dem an die Luft gesetzten Kollegen mittels Alkohol die
+Zunge zu lösen und sich durch sein Geschwätz erheitern zu lassen.
+Übrigens sprach er dann immer mit Geist und Witz, untermischte seine
+Reden mit beißendem Spott und diversen Zynismen, die namentlich bei
+gewissen Zuhörern stets des Beifalls sicher sind. Man nahm ihn für einen
+etwas verschrobenen Narren, den plaudern zu hören in müßigen Stunden
+ganz amüsant war. Auch zogen die Kollegen ihn gern auf, indem sie in
+seiner Gegenwart von einem neuen großen Violinvirtuosen zu sprechen
+anfingen, der sich angeblich auf einer Konzertreise in Rußland befinden
+sollte und auch nach Petersburg kommen werde. Sobald er das hörte,
+veränderte sich sein Gesicht, er wurde kleinlauter, erkundigte sich, wie
+der Künstler hieß, wo er konzertierte, wie groß denn sein Talent sei,
+und war offenbar eifersüchtig auf den Ruhm der ihm unbekannten Größe. Es
+scheint, daß erst in dieser Zeit sein systematischer Wahnsinn, sein
+Größenwahnsinn begann, diese fixe Idee, daß er der erste Geigenvirtuose,
+mindestens in Petersburg sei, daß aber das Schicksal ihn verfolge und er
+dank verschiedenen Intrigen natürlich nicht verstanden werde und deshalb
+in seiner Unbekanntheit verbleibe. Letzteres schmeichelte ihm sogar,
+denn es gibt solche Charaktere, die sich mit Vorliebe für verfolgt und
+unverstanden halten und sich laut darüber beschweren, oder im stillen
+zur Sättigung ihres Ehrgeizes wenigstens selber ihre nicht anerkannte
+Größe anbeten. Jefimoff kannte alle Petersburger Violinvirtuosen und
+konnte sie an den Fingern herzählen, doch war von ihnen allen, nach
+seiner Ansicht, kein einziger ihm gewachsen. Seine Kollegen aber und
+andere Sachverständige, auch manche Laien, die seinen Größenwahn
+kannten, brachten das Gespräch gerade deshalb auf die angebliche neue
+Größe, um ihn zu veranlassen, den vermeintlichen Rivalen im voraus zu
+kritisieren. Ihnen gefiel sein Grimm, seine boshaften Einfälle, es
+gefielen vor allen Dingen die sachlichen, klugen Bemerkungen, die er
+machte, wenn er das Spiel der anderen kritisierte. Oft verstanden sie
+ihn nicht, doch dafür waren sie überzeugt, daß kein zweiter auf der Welt
+so geschickt und in so packenden Karikaturen die Größen unter den
+zeitgenössischen Musikern darzustellen und herunterzureißen wußte. Und
+sogar diese Künstler, über die er so schonungslos spottete, fürchteten
+ihn ein wenig, denn sie kannten nicht nur seinen beißenden Witz, sondern
+erkannten auch die Richtigkeit seiner Angriffe und Urteile. Man hatte
+sich gewissermaßen schon daran gewöhnt, ihn in den Korridoren und hinter
+den Kulissen des Theaters zu sehen. Die Bedienten gewährten ihm
+widerspruchslos den Zutritt, wie einer unentbehrlichen Person. So wurde
+er im Theater zu einer Figur, etwa von der Art eines musikalischen
+Thersites. Das dauerte etwa zwei bis drei Jahre. Endlich aber fiel er
+allen auch in dieser seiner letzten Rolle lästig. Man setzte ihn formell
+vor die Tür und in den zwei letzten Jahren seines Lebens war mein
+Stiefvater für diese Leute wie verschollen, keiner von ihnen sah ihn je
+wieder. Übrigens – B. ist ihm doch noch zweimal begegnet, und zwar sah
+er ihn in einer so elenden Verfassung, daß noch einmal das Mitleid
+seinen Ekel besiegte. Er rief ihn an, aber das kränkte Jefimoff und er
+tat, als hätte er nichts gehört, zog seinen alten verbeulten Filz noch
+mehr über die Augen und ging vorüber. Es verging einige Zeit, da wurde
+B. am Morgen eines großen Festtages gemeldet, daß sein ehemaliger
+Kollege Jefimoff ihm zum Fest zu gratulieren wünsche. B. ging ihm
+entgegen. Jefimoff stand berauscht im Vorzimmer, verbeugte sich äußerst
+tief, fast bis zur Erde, seine Lippen murmelten etwas Unverständliches,
+doch weigerte er sich hartnäckig, näherzutreten. Der Sinn seines
+Besuches war ungefähr der: „Wie können wir unbegabten Leute mit so
+großen und vornehmen Berühmtheiten wie Euer Wohlgeboren Umgang pflegen?
+Für uns Geringe genügt auch ein Dienerplatz, wenn wir zum Fest
+gratulieren kommen: wir machen unseren Bückling und gehen wieder.“ Mit
+einem Wort, er war schmutzig, dumm und widerlich gemein. Seit jenem
+Morgen sah ihn B. lange Zeit nicht mehr, bis – bis zu der Katastrophe,
+mit der dieses ganze traurige, erstickend trostlose, kranke Leben
+endete. Es geschah das auf eine furchtbare Weise. Diese Katastrophe ist
+nicht nur das erschütterndste Erlebnis meiner Kindheit, sie ist sogar
+für mein ganzes Leben entscheidend gewesen. Doch zuvor muß ich noch
+erzählen, wie meine Kindheit war, und erklären, welche Bedeutung dieser
+Mensch für mich hatte, dieser Mensch, der einen so qualvollen Eindruck
+auf mein Kindergemüt machte und der die Ursache des Todes meiner armen
+Mutter gewesen.
+
+
+ II.
+
+Meine Erinnerung an meine Kindheit reicht nicht sehr weit zurück,
+eigentlich nur bis zu meinem zehnten Jahr. Ich weiß nicht, wie es zu
+erklären ist, daß alles, was ich bis dahin erlebt habe, keinen einzigen
+klaren Eindruck in mir hinterlassen hat, an den ich mich jetzt noch
+erinnern könnte. Aber ungefähr von der Mitte meines neunten Jahres an,
+da erinnere ich mich des Erlebten fast Tag für Tag: es ist wie eine
+laufende Kette von Erinnerungen, ganz als wäre das alles erst gestern
+geschehen ... Allerdings kann ich mich auch noch einiger früherer
+Erlebnisse entsinnen, aber doch nur wie im Traum. So erinnere ich mich
+z. B. des immer brennenden Lämpchens in der dunklen Ecke vor einem
+altertümlichen Heiligenbilde; dann, wie ich einmal auf der Straße einem
+Pferde unter die Beine geriet, worauf ich, wie man mir später erzählt
+hat, drei Monate lang krank gelegen habe; ferner, wie ich während dieser
+Krankheit einmal in der Nacht neben meiner Mutter, in deren Bett ich
+schlief, plötzlich im Traum aufschrak und vom Schreck erwachte, und wie
+ich mich dann vor der nächtlichen Stille und Dunkelheit und den in der
+Ecke raschelnden und knabbernden Mäusen fürchtete; Ich zitterte die
+ganze Nacht vor Angst, ich zog mir sogar die Decke über den Kopf, aber
+ich wagte trotzdem nicht, meine Mutter zu wecken, woraus ich schließe,
+daß meine Furcht vor ihr noch größer war als vor den Mäusen und der
+Dunkelheit. Aber von der Stunde an, wo plötzlich das Bewußtsein in mir
+erwachte, entwickelte ich mich schnell, wider Erwarten schnell, und
+viele nichts weniger als kindliche Geschehnisse wurden mir mit einemmal
+in geradezu unheimlicher Weise faßbar. Alles klärte sich vor mir auf,
+alles wurde mir in kürzester Zeit verständlich. Und diese Zeit, in der
+ich bewußt zu leben anfing, an die ich mich, im Gegensatz zu den
+vorhergegangenen Jahren, mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erinnere, hat
+in mir einen tiefen und traurigen Eindruck hinterlassen. Dieser Eindruck
+wiederholte sich dann jeden Tag und wuchs mit jedem Tag; er verlieh der
+ganzen Zeit meines Zusammenlebens mit meinen Eltern und somit meiner
+ganzen Kindheit eine dunkle und eigenartige Farbe.
+
+Jetzt scheint es mir, daß ich damals ganz plötzlich wie aus einem tiefen
+Traum erwachte (obschon dies mir, als es geschah, natürlich gar nicht
+weiter auffiel). Ich fand mich in einem großen Zimmer mit einer
+niedrigen Decke. Es war unsauber und die Luft darin dumpf. Die
+getünchten Wände waren von schmutziggrüner Farbe, in einer Ecke stand
+ein riesiger russischer Ofen. Durch die Fenster sah man auf die Straße,
+oder richtiger auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses, und diese
+Fenster waren breit und niedrig, fast nur wie horizontale Spalten in der
+Wand. Die Fensterbretter waren so hoch vom Fußboden, daß ich auf einen
+Stuhl und eine Fußbank klettern mußte, um mich, und auch noch immer mit
+Mühe, auf meinen Lieblingsplatz hinaufschwingen zu können – wenn niemand
+zu Hause war, der es mir verbot. Aus unserer Wohnung konnte man fast die
+halbe Stadt sehen, denn wir wohnten unter dem Dach in einem
+sechsstöckigen, sehr, sehr großen Hause. Unsere ganze Einrichtung
+bestand aus der Ruine eines alten zerrissenen Ledersofas, das ganz
+verstaubt war und aus dem überall der Bast der Polsterung hervorsah,
+ferner einem einfachen, ungestrichenen Tisch, zwei Stühlen, einem Bett,
+in dem meine Mutter schlief, einem Schränkchen in der Ecke, einer
+Kommode, die immer schief stand, und einem zerrissenen papierenen
+Wandschirm.
+
+Ich erinnere mich, es war einmal in der Dämmerung: das ganze Zimmer
+befand sich in Unordnung, auf der Diele lag alles durcheinander, Bürsten
+und Lappen, unser hölzernes Eßgeschirr, eine zerschlagene Flasche und
+ich weiß nicht was noch. Ich erinnere mich, meine Mutter war sehr
+aufgeregt und aus irgendeinem Grunde weinte sie. Mein Stiefvater saß in
+der Ecke, wie immer in einem zerrissenen Rock. Er antwortete ihr irgend
+etwas, antwortete unter einem höhnischen Auflachen, was meine Mutter
+noch mehr ärgerte, und dann flogen wieder Bürsten und Teller auf den
+Boden. Ich begann zu weinen und zu schreien und stürzte zu ihnen beiden.
+Ich war entsetzlich erschrocken und umklammerte wie verzweifelt meinen
+Vater, um ihn mit meinem Körper zu schützen. Gott mag wissen, weshalb es
+mir schien, daß der Ärger meiner Mutter grundlos und mein Vater
+unschuldig sei. Ich wollte für ihn um Verzeihung bitten, gleichviel was
+für eine Strafe an seiner Stelle auf mich nehmen. Ich fürchtete mich
+entsetzlich vor meiner Mutter und glaubte, daß alle sie ebenso
+fürchteten. Meine Mutter sah mich im ersten Augenblick ganz verwundert
+an, dann faßte sie mich an der Hand und zog mich hinter den Schirm. Ich
+beschädigte meine Hand am Bett – es schmerzte sehr –, aber der Schreck
+war doch größer als der Schmerz, und ich wagte nicht mal zu mucksen. Ich
+weiß noch, meine Mutter machte darauf meinem Vater bittere Vorwürfe,
+indem sie auf mich deutete. (Übrigens nenne ich ihn hier meinen Vater,
+obgleich er doch nur mein Stiefvater war, aber ich habe es erst viel
+später erfahren, daß zwischen uns überhaupt keine Verwandtschaft
+bestand.) Diese ganze Szene dauerte etwa zwei Stunden und zitternd vor
+Spannung bemühte ich mich, zu erraten, womit das alles enden werde.
+Endlich verstummte der Streit und die Mutter ging irgendwohin fort. Da
+rief mich der Vater zu sich, küßte mich, streichelte mein Haar, nahm
+mich auf den Schoß und ich schmiegte mich fest und süß an seine Brust.
+Es war die erste väterliche Zärtlichkeit, die ich empfand, und
+vielleicht kann ich mich deshalb von der Zeit an so gut alles Erlebten
+erinnern. Auch begriff ich, daß ich mir diese Liebe des Vaters durch
+meine Parteinahme für ihn verdient hatte, und da kam mir, ich glaube,
+zum erstenmal der Gedanke, daß er von der Mutter viel zu erdulden und
+viel Leid zu ertragen habe. Seit der Zeit konnte ich mich von dieser
+Vorstellung nicht mehr befreien und mit jedem Tag erregte und empörte
+sie mich mehr.
+
+In jener Stunde erwachte in mir eine grenzenlose Liebe zum Vater, aber
+es war eine wunderliche, gleichsam gar nicht kindliche Liebe. Ich würde
+sagen, daß es eher ein gewisses mitleidvolles _mütterliches_ Gefühl war,
+wenn eine solche Bezeichnung nicht komisch wäre – für ein Kind! Der
+Vater erschien mir immer dermaßen bedauernswert, so ungerecht verfolgt,
+so tyrannisiert, kurz, ich sah in ihm einen solchen Märtyrer, daß es für
+mich etwas ganz Unmögliches gewesen wäre, ihn nicht bis zur
+Besinnungslosigkeit zu lieben, zu trösten, nicht zärtlich zu ihm zu
+sein, mich nicht aus allen Kräften zu bemühen, für ihn zu sorgen und ihm
+Gutes zu tun. Ich verstehe bis jetzt noch nicht, woher mir gerade das in
+den Kopf gekommen sein mag, daß er ein solcher Märtyrer, ein so
+unglücklicher Mensch sei! Wer hat mir das eingegeben? Wie konnte ich,
+ein Kind, von seinen persönlichen Mißerfolgen und Enttäuschungen
+überhaupt etwas verstehen? Und doch verstand ich sie, wenn ich mir auch
+alles nach meiner Art zurechtlegte. Aber vorzustellen vermag ich mir
+trotzdem nicht, wie ich zu einer solchen Auffassung gelangen konnte.
+Vielleicht kam das daher, daß meine Mutter gar zu streng mit mir umging,
+weshalb ich mich denn an den Vater hielt, als an einen Menschen, der,
+wie ich glaubte, ebenso ungerecht von ihr behandelt wurde und in dem ich
+deshalb meinen Leidensgenossen sah.
+
+Ich erzählte bereits von meinem ersten Erwachen aus dem Kindheitsschlaf,
+von meiner ersten Regung in einem bewußten Leben. Mein Herz war von dem
+Augenblick an verwundet, meine Entwicklung setzte ein und vollzog sich
+mit unglaublicher, sich überhastender, ermüdender Schnelligkeit. Jetzt
+konnte ich mich nicht mehr mit bloßen äußeren Eindrücken zufriedengeben.
+Ich begann nachzudenken, zu überlegen, zu beobachten; aber dieses
+Beobachten geschah meinerseits so unnatürlich früh, daß mein Verstand
+nicht umhin konnte, alles nach eigenen Begriffen und Vorstellungen sich
+zurechtzulegen, und so befand ich mich denn plötzlich in einer anderen
+nur mir eigenen Welt. Alles um mich herum wurde immer ähnlicher jenem
+Wundermärchen, das der Vater mir oft erzählt hatte und das ich damals
+natürlich für lauterste Wahrheit hielt. So entstanden in mir seltsame
+Vorstellungen. Ich begriff sehr gut – aber wie das geschah, vermag ich
+nicht zu sagen –, daß ich in einer sonderbaren Familie lebte und daß
+meine Eltern irgendwie ganz und gar nicht den anderen Menschen glichen,
+die ich in dieser Zeit kennen lernte. Ich fragte mich, weshalb sind die
+anderen Menschen, die ich sehe, meinen Eltern auch äußerlich so
+unähnlich? Weshalb sah ich andere lachen und warum fiel es mir plötzlich
+auf, daß in unserem Winkel niemals gelacht wurde und niemand sich
+freute? Welche Macht zwang mich, das neunjährige Kind, so aufmerksam
+meine Umgebung zu beobachten und auf jedes Wort zu achten, das ich
+zufällig von den Leuten vernahm, die mir auf der Treppe oder auf der
+Straße begegneten, wenn ich abends meine Lumpen mit der alten Jacke
+meiner Mutter bedeckte, um in den nächsten Krämerladen zu gehen und für
+einige wenige Kupferlinge Zucker, Tee oder Brot zu kaufen? Ich begriff,
+und ich weiß nicht wie, daß in unserem Winkel irgendein ewiger Kummer,
+ein unerträgliches Leid herrschte. Ich zerbrach mir den Kopf, um zu
+erraten, warum das so war, und ich weiß nicht, wer mir dabei half, das
+Rätsel auf meine Art zu deuten: ich beschuldigte meine Mutter, ich hielt
+sie für die Todfeindin meines Vaters, aber ich wiederhole – ich verstehe
+es selber nicht, wie eine so ungeheuerliche Auffassung in meiner
+Phantasie entstehen konnte. Und je mehr ich mich dem Vater anschloß, um
+so mehr mußte ich meine arme Mutter hassen. Die Erinnerung an all das
+quält mich noch jetzt schmerzlich. Doch da gab es noch einen anderen
+Zwischenfall, der noch mehr als jener erste meine seltsame Annäherung an
+den Vater bewirkte.
+
+Einmal, es war gegen zehn Uhr abends, schickte mich meine Mutter in den
+Laden nach Hefe. Der Vater war nicht zu Hause. Auf dem Rückwege
+stolperte ich versehentlich und fiel hin, mitten auf dem Trottoir, und
+verschüttete den ganzen Inhalt der Tasse. Mein erster Gedanke war, wie
+sehr sich die Mutter ärgern werde. Da fühlte ich einen schrecklichen
+Schmerz im linken Arm, und zugleich merkte ich, daß ich mich nicht
+aufrichten konnte. Die Menschen blieben stehen. Ein altes Frauchen
+versuchte, mich aufzuheben, ein Knabe aber, der vorüberlief, schlug mit
+einem Schlüssel auf meinen Kopf. Endlich wurde ich wieder auf die Füße
+gestellt, ich hob die Scherben der zerschlagenen Tasse auf und ging
+wankend weiter, kaum fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
+Plötzlich sah ich den Vater. Er stand in der Volksmenge vor einem
+schönen Hause, das dem unsrigen gegenüberlag. Dieses Haus gehörte
+irgendwelchen vornehmen Leuten und war an jenem Abend herrlich
+erleuchtet. Vor dem Portal standen viele Equipagen und aus dem Inneren
+hörte man Orchestermusik. Ich faßte den Vater am Rockschoß, zeigte ihm
+die zerschlagene Tasse und sagte unter Tränen, daß ich vor Angst nicht
+wagte, zur Mutter zu gehen. Ich war plötzlich ohne weiteres überzeugt,
+daß er mich beschützen werde. Aber weshalb ich davon überzeugt war und
+wer es mir gesagt oder mich sonst irgendwie darauf gebracht hatte, daß
+ich von ihm mehr geliebt wurde, als von meiner Mutter, das weiß ich
+nicht. Warum ging ich zu ihm ganz furchtlos, während ich mich vor der
+Mutter aus lauter Furcht nicht zu zeigen wagte? Er nahm mich an der
+Hand, tröstete mich, und dann sagte er, er wolle mir etwas Schönes
+zeigen, und er hob mich auf und nahm mich auf den Arm. Ich konnte
+freilich nichts sehen vor Schmerz, denn er hatte meinen Arm gerade an
+der Stelle angefaßt, wo ich ihn mir beim Fall verletzt hatte, und das
+tat entsetzlich weh, aber ich schrie nicht, nur um ihn nicht zu
+beunruhigen. Er fragte mich mehrmals, ob ich etwas sähe. Und ich bemühte
+mich mit allen Fibern, ihm so zu antworten, daß es ihm recht wäre, und
+ich sagte, ich sähe rote Vorhänge hinter den Fenstern. Als er mich aber
+über die Straße auf das andere Trottoir tragen wollte, näher zum Hause,
+da fing ich plötzlich an zu weinen – ich weiß nicht, weshalb – umarmte
+seinen Hals und bat ihn, schneller nach Haus zur Mutter zu gehen. Ich
+weiß noch, seine Zärtlichkeit bedrückte mich und ich konnte es nicht
+mehr ertragen, daß der eine von ihnen, der Vater, – während ich doch
+beide so lieben wollte – gut und lieb zu mir war, und ich zur anderen,
+zur Mutter nicht zu gehen mich getraute und mich vor ihr nur fürchtete.
+Sie war übrigens fast gar nicht böse und sagte nur, ich solle schlafen
+gehen. Ich weiß noch, der Schmerz im Arm wurde immer heftiger, ich
+begann zu fiebern, doch war ich trotzdem ganz besonders glücklich und
+froh darüber, daß alles so gut verlaufen, und die ganze Nacht träumte
+mir von dem Hause gegenüber und von den schönen roten Vorhängen.
+
+Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein erster Gedanke, meine
+erste Sorge das Haus mit den roten Vorhängen. Kaum hatte die Mutter das
+Zimmer verlassen, da kletterte ich gleich auf das Fensterbrett, um das
+schöne Haus zu betrachten. Eigentlich hatte dieses Haus auch früher
+schon meine kindliche Neugier erregt. Am besten gefiel es mir abends,
+wenn auf der Straße die Laternen angezündet wurden und wenn dann aus dem
+Hause und in einem nahezu blutigen Licht die purpurroten Gardinen hinter
+den großen Scheiben zu leuchten begannen. Vor dem Portal hielten meist
+vornehme Equipagen, oder die Leute kamen gerade mit schönen, stolzen
+Pferden angefahren, und alles das fesselte mich sehr: das Geräusch und
+das Rufen der Kutscher und Diener, das ganze Hin und Her vor dem Hause
+und die farbigen Laternen an den Wagen und die geputzten Damen, die dann
+ausstiegen. Das ganze wurde in meiner kindlichen Phantasie zu etwas
+kaiserlich Großartigem und märchenhaft Wundervollem. Und gar nach meiner
+Begegnung mit dem Vater vor diesem reichen Hause, da wurde es in meinen
+Augen noch einmal so schon und beachtenswert. Nun entstanden in meiner
+erwachten Phantasie seltsame Vorstellungen und Vermutungen. Es ist wohl
+auch kein Wunder, daß ich unter so eigentümlichen Menschen, wie meine
+Eltern waren, gleichfalls zu einem eigentümlichen, zu einem
+leidenschaftlich phantastischen Kinde wurde. Was mich ganz besonders
+betroffen machte, war der Kontrast der Charaktere meiner Eltern. So z.
+B. wunderte es mich, daß die Mutter sich beständig um unsere armselige
+Wirtschaft sorgte und mühte und fortwährend dem Vater darüber Vorwürfe
+machte, daß sie allein für alle arbeiten und alle ernähren müsse, – ich
+fragte mich deshalb unwillkürlich, warum denn der Vater ihr gar nicht
+half, warum er fast wie ein Fremder bei uns wohnte? Einzelne Worte
+meiner Mutter gaben mir hierüber eine gewisse Aufklärung. So vernahm ich
+mit Verwunderung, daß Papa ein Künstler sei (dieses Wort merkte ich mir
+sogleich), ein Mensch mit einem großen Talent. Meine Vorstellungskraft
+schuf nun sofort den Begriff für das neue Wort, eben daß ein „Künstler“
+etwas ganz Besonderes, jedenfalls ein außergewöhnlicher Mensch, also
+etwas ganz anderes als die übrigen Menschen sein müsse. Vielleicht war
+es zum Teil auch das Verhalten meines Vaters, das gerade diese
+Auffassung begünstigte; oder vielleicht hatte ich auch vorher schon das
+eine oder das andere gehört, was ich jetzt vergessen habe. Seltsam
+verständlich war mir der Sinn der Worte, die der Vater einmal in meiner
+Gegenwart mit einem ganz besonderen Gefühl sagte: „Es werde eine Zeit
+kommen, wo auch er nicht mehr arm, sondern gleichfalls ein reicher Herr
+sein werde, und erst wenn die Mutter gestorben sei, würde er endlich
+aufleben.“
+
+Ich weiß noch, ich erschrak entsetzlich, als ich diese Worte hörte. Mein
+Schreck und Entsetzen waren so groß, daß ich nicht im Zimmer bleiben
+konnte und auf unseren kalten Flur hinauslief, wo ich in Tränen
+ausbrach: und ich weinte dort herzbrechend, die Ellenbogen auf das
+Fensterbrett gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Dann aber,
+als ich fortwährend darüber nachdachte und mich allmählich an diese
+schreckliche Hoffnung des Vaters gewöhnte – kam mir bald meine eigene
+Phantasie zu Hilfe. Wenigstens ertrug ich diese Qual der Ungewißheit
+nicht lange und mußte wohl naturgemäß zu irgendeiner Vermutung gekommen
+sein. Und da – ich weiß nicht, wie es anfing, aber zu guter Letzt
+glaubte ich wirklich, daß der Vater, wenn erst die Mutter gestorben sei,
+alsbald diese langweilige Wohnung verlassen und mit mir irgendwohin
+fortziehen werde. Aber wohin? – das konnte ich mir auch bis zuletzt
+nicht klar vorstellen. Ich erinnere mich nur, daß alles, womit ich jenen
+Ort, wohin wir beide gehen würden (daß wir zwei unbedingt zusammen gehen
+würden, stand für mich außer Frage), schmücken konnte, daß alles, was
+ich mir an Schönheit und Glanz und Großartigkeit vorzustellen vermochte
+– daß all das Verwendung in meinen Träumen von jener Zukunft fand. Ich
+glaubte, wir würden dann sofort reich sein und ich brauchte nicht mehr
+in den kleinen Laden zu gehen, um für die Mutter etwas zu besorgen, was
+mir immer sehr schwer fiel, da die Kinder aus dem Nachbarhause mich nie
+in Ruhe ließen, sobald ich aus dem Hause trat – und davor fürchtete ich
+mich sehr, namentlich wenn ich Milch trug oder Eier, denn ich wußte, daß
+ich fürs Verschütten oder Zerschlagen strenge Strafe zu erwarten hatte.
+Und dann malte ich mir aus, wie der Vater sich sogleich schöne Kleider
+bestellen und wir in ein glänzendes Haus ziehen würden, und da – da kam
+nun jenes reiche Haus mit den roten Vorhängen, meine Begegnung mit dem
+Vater vor demselben und der Umstand, daß er mir dort etwas zeigen
+wollte, meiner Phantasie sehr zu Hilfe. In meinen Zukunftsträumen war es
+ganz selbstverständlich, daß wir gerade in dieses Haus zogen, um dort
+wie in ewiger Seligkeit zu leben. Seit der Zeit sah ich täglich,
+namentlich abends, mit angespannter Neugier und Teilnahme aus unserem
+Fenster nach diesem für mich gleichsam verzauberten Hause, dachte an die
+Vorfahrt der Equipagen an jenem Abend und an die Gäste in den festlichen
+Gewändern, wie ich sie vorher noch nie gesehen. Und dann bildete ich mir
+ein, wieder die weichen Töne der Musik zu hören, die gedämpft aus dem
+Hause drang, und ich beobachtete die Schattenbilder der Gestalten, die
+sich auf den Vorhängen bewegten, und ich bemühte mich, zu erraten, was
+dort hinter den Fenstern vorging, – und immer schien es mir, daß dort
+das Paradies sei und ein ewiger Feiertag. Ich fing an, unsere armselige
+Dachstube und die zerlumpten Kleider, die ich trug, zu hassen. Und als
+einmal die Mutter mich schalt und mir befahl, vom Fensterbrett
+herabzuklettern, wo ich gerade wie gewöhnlich saß, da kam mir sogleich
+der Gedanke, sie sei eifersüchtig und wünsche nicht, daß ich dieses Haus
+betrachtete oder an dasselbe auch nur dachte, unser Glück sei ihr
+unangenehm und deshalb wolle sie es hintertreiben, wenigstens so lange,
+wie sie noch lebte ... Und den ganzen Abend beobachtete ich sie
+mißtrauisch.
+
+Wie konnte mein Herz sich nur so verstocken gegen ein so armes,
+unglückliches Wesen, wie es meine Mutter war! Jetzt erst begreife ich
+die ganze Qual ihres Lebens und kann nicht ohne stechenden Schmerz im
+Herzen an ihr Martyrium denken. Ja selbst damals schon, in jener dunkeln
+Zeit meiner wunderlichen Kindheit, während meiner unnatürlich schnellen
+Entwicklung, krampfte sich mein Herz oft zusammen vor Schmerz und
+Mitleid – und Unruhe, Verwirrung und Zweifel drängten sich in meine
+Seele. Auch damals schon lehnte sich mein Gewissen gegen mich selbst auf
+und ich empfand es sehr wohl, daß ich ungerecht gegen sie war. Aber es
+war, als scheuten und mieden wir einander. Ich entsinne mich nicht,
+jemals zärtlich zu ihr gewesen zu sein. Jetzt sind es oft die
+geringfügigsten Erinnerungen, die meine Seele nachträglich erschüttern
+und martern. Einmal, ich weiß noch (natürlich ist das, was ich jetzt
+erzählen werde, nichtig, fast belanglos, aber gerade solche Erinnerungen
+quälen mich nun am meisten und haben sich am tiefsten meinem Gedächtnis
+eingeprägt), – einmal, an einem Abend, als der Vater nicht zu Hause war,
+wollte die Mutter mich in den kleinen Laden schicken, um für sie etwas
+Tee und Zucker zu kaufen. Aber sie dachte lange nach und konnte sich
+immer nicht entschließen und zählte halblaut die Kupferstücke – ein
+Bettelsümmchen, über das sie noch verfügen konnte. Sie zählte und
+rechnete, wenn ich nicht irre, wohl eine halbe Stunde lang und konnte
+doch nicht die Rechnung beenden. Zudem verfiel sie in manchen
+Augenblicken, wahrscheinlich vom Leid, gleichsam in einen Zustand
+vollkommener Gedankenversunkenheit. Als sähe ich sie vor mir, so
+deutlich erinnere ich mich, wie sie vor sich hin sprach, langsam, dazu
+die Geldstücke einzeln zählend, als wäre jedes Wort ein wichtiges Ding.
+Ihre Wangen und Lippen waren blaß, ihre Hände zitterten beständig und
+wenn sie allein dasaß und nachdachte, dann bewegte sie immer den Kopf
+dazu.
+
+„Nein, nicht nötig,“ sagte sie endlich mit einem Blick auf mich, „ich
+werde lieber zu Bett gehen und schlafen. Wie? Willst du schlafen,
+Njetotschka?“ Ich schwieg; da hob sie ein wenig mein Kinn und sah mich
+so still und freundlich an, und ihr trauriges Antlitz klärte sich auf
+und verklärte sich in einem so mütterlichen und stillen Lächeln, daß
+mein Herz weich wurde und zu pochen begann. Überdies hatte sie mich
+„Njetotschka“ genannt, was bedeutete, daß sie mich in diesem Augenblick
+besonders lieb hatte. Diese Koseform meines Namens hatte sie selbst
+erfunden, indem sie meinen eigentlichen Namen Anna in ihn umwandelte.
+Wenn sie mich so nannte, „Njetotschka“, dann wußte ich, daß sie damit
+zärtlich zu mir sein wollte. Das rührte mich: ich hätte sie umarmen,
+mich an sie schmiegen, zusammen mit ihr weinen mögen. Sie, die Arme,
+streichelte dann lange meinen Kopf – vielleicht schon ganz mechanisch,
+ohne daran zu denken, daß sie mich streichelte, und dazu sagte sie
+immer: „Mein Kind, Annjeta, Njetotschka!“ Tränen wollten mir über die
+Wangen rollen, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen und beherrschte
+mich. Ich widersetzte mich gewissermaßen sogar ihrer Zärtlichkeit, indem
+ich ihr gegenüber nicht das geringste Empfinden äußerte, obschon ich
+mich damit selber quälte. Nein, diese Verstocktheit konnte nichts
+Natürliches sein! Der Mutter Strenge allein hätte mich nicht so gegen
+sie einnehmen können. Aber ich weiß, was es war: es war diese
+meine phantastische Liebe zu meinem Vater, die mich in ihrer
+Ausschließlichkeit verdarb. Zuweilen, wenn ich nachts auf meiner harten
+Unterlage in meinem Schlafwinkel unter der dünnen Decke erwachte, dann
+wandelte mich immer eine gewisse Furcht an. Halb im Schlaf erinnerte ich
+mich, wie ich bis vor kurzem, als ich noch etwas jünger und kleiner war,
+mit der Mutter in einem Bett geschlafen und mich dann nachts beim
+Erwachen weniger gefürchtet hatte: da brauchte ich mich nur fest an sie
+zu schmiegen, die Augen zu schließen und ich schlief sofort wieder ein.
+Ich fühlte, daß ich sie, ob ich nun wollte oder nicht, im geheimen doch
+lieben mußte. In meinem späteren Leben habe ich die Beobachtung gemacht,
+daß viele Kinder oft entsetzlich gefühllos sind, und daß sie, wenn sie
+jemand liebgewinnen, diesen einen Menschen ganz ausschließlich lieben,
+und selbstverständlich auf Kosten anderer. So war’s auch mit mir.
+
+Bisweilen herrschte in unserer Dachstube ganze Wochen lang Totenstille.
+Der Vater und die Mutter waren dann müde vom Streiten und ich lebte
+zwischen ihnen wie gewöhnlich, immer schweigend, immer denkend,
+träumend, mich sehnend, und stets in meinem Denken irgendwie bestrebt,
+irgend etwas mir Unbekanntes zu enträtseln. Indem ich sie beide
+beobachtete, begriff ich vollkommen, wie sie zueinander standen: ich
+begriff diese ihre dumpfe ewige Feindschaft, begriff das ganze Leid und
+diesen beklemmenden Druck des unordentlichen Lebens, das sich in unserer
+Dachstube eingenistet hatte, – begriff sie natürlich ohne ihre Ursachen
+und ihre ganze Tragweite, begriff sie eben nur so weit, wie ich sie
+damals begreifen konnte. An langen, stillen Winterabenden beobachtete
+ich sie aus meinem Winkel oft ganze Stunden ungestört, verfolgte jede
+Bewegung, studierte förmlich das Gesicht des Vaters, und gab mir die
+größte Mühe, zu erraten, woran er wohl denken mochte, und was ihn
+geistig so beschäftigte. Und dann war es wieder die Mutter, die mich
+betroffen machte und ängstigte. Sie konnte unermüdlich im Zimmer hin und
+her gehen, stundenlang, oft ging sie sogar mitten in der Nacht, wenn sie
+nicht schlafen konnte – sie litt überhaupt an Schlaflosigkeit – dabei
+flüsterte sie vor sich hin, als wäre außer ihr niemand im Zimmer, bald
+streckte sie die Arme aus, bald kreuzte sie sie über der Brust, bald
+rang sie die Hände wie in Verzweiflung oder unendlichem Weh und Kummer.
+Bisweilen rollten ihr Tränen aus den Augen, Tränen, die sie vielleicht
+selbst nicht verstand, denn es kam vor, daß sie zeitweilig wie in ein
+vollständiges Sich-selbst-vergessen versank. Sie hatte, zudem, außer
+ihren Sorgen, irgendein sehr schweres körperliches Leiden, das sie aber
+gar nicht beachtete.
+
+Die Einsamkeit und das Schweigen, das ich nicht zu brechen wagte, fingen
+an, immer schwerer auf mir zu lasten. Schon ein ganzes Jahr hatte ich
+mit erwachtem Geiste gelebt, immer gedacht, gegrübelt, geträumt und im
+geheimen mich mit unbekannten, unklaren Wünschen gequält, die plötzlich
+auftauchten. Ich war wie in einem Walde verirrt. Da war es der Vater,
+der mich zuerst bemerkte, mich zu sich rief und mich fragte, warum ich
+ihn so unverwandt ansähe. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete:
+ich weiß nur noch, daß er nachdenklich wurde und zum Schluß sagte, er
+werde ein Abc-Buch bringen und mich im Lesen unterrichten. Mit Ungeduld
+erwartete ich nun dieses sonderbare Buch und baute die ganze Nacht
+phantastische Träume auf – denn meine Vorstellung von einem Abc war
+nichts weniger als klar. Endlich, d. h. am nächsten Tage, begann der
+Vater auch wirklich mit dem Unterricht. Ich begriff sogleich, was von
+mir verlangt wurde, und lernte schnell und gut, denn ich wußte, daß ich
+ihm damit etwas zu Gefallen tat. Das war die glücklichste Zeit meines
+damaligen Lebens. Wenn er mich lobte, meinen Kopf streichelte und mich
+küßte, traten mir vor Freude sogleich Tränen in die Augen. So gewann
+mich der Vater allmählich lieb. Bald wagte ich denn auch schon, ihn
+anzureden, und dann sprachen wir oft ganze Stunden unermüdlich
+miteinander, obschon ich mitunter kaum ein Wort von dem, was er mir da
+erzählte, verstand. Aber ich fürchtete ihn doch noch irgendwie,
+fürchtete vor allem, er könnte denken, daß ich mich mit ihm langweilte,
+und deshalb bemühte ich mich nach Kräften, so zu tun, als verstünde ich
+alles. Zu guter Letzt wurde es ihm zur Gewohnheit, abends mit mir zu
+sitzen und zu sprechen. Sobald er mit sinkender Dämmerung nach Haus
+zurückkehrte, kam ich unverzüglich mit meinem Abc-Buch. Er setzte mich
+sich gegenüber auf die Bank und nach der Stunde las er mir gewöhnlich
+noch aus einem Buch irgend etwas vor. Davon verstand ich in der Regel
+fast nichts, aber ich lachte soviel ich konnte, denn ich glaubte, ihm
+damit Vergnügen zu bereiten. Und in der Tat, ich unterhielt ihn und mein
+Lachen schien ihn zu belustigen. Einmal aber erzählte er mir nach der
+Stunde ein Märchen. Es war das erste Märchen, das ich hörte. Ich saß wie
+verzaubert, fieberte vor Spannung, fühlte mich wie in ein Paradies
+versetzt, während ich ihm zuhörte, und zum Schluß wußte ich kaum noch,
+wo ich mich lassen sollte vor Begeisterung. Nicht, daß das Märchen an
+sich mir dermaßen gefallen hätte – nein, das war es nicht; aber das
+Unmöglichste war nun plötzlich möglich geworden, denn ich nahm doch
+alles für bare Münze. Natürlich ließ ich sogleich meiner eigenen
+Phantasie die Zügel schießen und im Nu waren alle meine phantastischen
+Träume für mich ebensogut wie bereits verwirklicht. Da stand natürlich
+gleich an erster Stelle das Haus mit den roten Vorhängen, die handelnde
+Person aber war – aus unbekannten Gründen – der Vater, obwohl er selbst
+das Märchen erzählte; dann kam die Mutter, die uns hinderte, ich weiß
+nicht wohin fortzuziehen; ferner – oder richtiger – ganz zuerst ich
+selbst mit meinen wunderschönen Träumen, mit allen meinen
+phantastischen, meinen tollen, meinen ganz unmöglichen Zukunftsbildern:
+alles das verwirrte sich dermaßen in meinem Kopf, daß es bald ein
+unentwirrbares Chaos bildete und mir für eine Zeitlang den Eltern
+gegenüber jedes Zartgefühl, sowie den Dingen gegenüber jedes
+Unterscheidungsvermögen für das, was Wirklichkeit und das, was
+Einbildung war, abhanden kam und ich Gott weiß wo lebte. In dieser Zeit
+verging ich fast vor Verlangen, mit dem Vater darüber zu sprechen, was
+uns bevorstand, was er selber erwartete und wohin er mich führen werde,
+wenn wir endlich unsere Dachstube verließen. Ich war meinerseits
+überzeugt, daß alles dies irgendwie sehr schnell in Erfüllung gehen
+werde, wie aber und in welcher Art – das wußte ich nicht, und gerade
+damit quälte ich mich so, daß ich mir beständig den Kopf darüber
+zerbrach. Bisweilen – und zwar vornehmlich abends – schien es mir, daß
+der Vater mir nun gleich heimlich zuzwinkern und mich auf den Flur
+hinausrufen werde, und ich nahm schon heimlich, so daß die Mutter es
+nicht sah, mein Abc-Buch und dann noch unser Bild, das seit undenklichen
+Zeiten uneingerahmt an der Wand hing und das unbedingt mitzunehmen ich
+in meinem Sinn fest beschlossen hatte – und dann liefen wir heimlich
+irgendwohin fort und kehrten nie wieder zur Mutter zurück. Und eines
+Tages, als die Mutter nicht zu Haus und der Vater gerade bei besonders
+guter Laune war – das aber war er regelmäßig, wenn er etwas getrunken
+hatte – da faßte ich mir ein Herz und ging zu ihm und fing an, von
+irgend etwas zu sprechen, in der Absicht, bei der ersten Gelegenheit auf
+mein geliebtes Thema überzugehen. Endlich erreichte ich es auch, daß er
+belustigt auflachte und da – da umschlang ich ihn fest und begann mit
+bebendem Herzen ganz angstvoll, als wäre ich im Begriff, von etwas
+Geheimnisvollem und Furchtbarem zu sprechen, verwirrt und
+zusammenhanglos und stockend ihn auszufragen: wohin wir denn eigentlich
+gehen sollten und wann denn und was wir mitnehmen und wo wir wohnen
+wollten und schließlich, ob wir denn nicht in das Haus mit den roten
+Vorhängen einziehen würden?
+
+„Was für ein Haus? Rote Vorhänge? Was soll das? Was phantasierst du,
+dummes Kind?“
+
+Ich erschrak und versuchte angstvoll, ihm zu erklären, daß wir beide,
+wenn die Mutter einmal gestorben sei, doch nicht mehr hier auf dem
+Dachboden bleiben würden, daß er mich dann doch irgendwohin fortführen
+müsse, wo wir zwei reich und glücklich leben könnten. Und zu guter Letzt
+versicherte ich ihm noch, daß er selbst mir das alles versprochen habe.
+Dabei war ich vollkommen überzeugt, daß er mir wirklich früher einmal so
+etwas gesagt hatte, wenigstens schien es mir in dem Augenblick so.
+
+„Die Mutter? Gestorben? Wenn sie gestorben sein wird? ...“ wiederholte
+er und er sah mich verwundert an, während sich zwischen seinen
+buschigen, graumelierten Brauen eine Falte bildete und sein Gesicht sich
+ein wenig veränderte. „Was phantasierst du, Kind, dummes, armes Ding
+...“
+
+Und dann schalt er mich, und schalt mich sogar sehr und sagte, ich sei
+ein dummes Kind, ich könne nichts begreifen ... und ich weiß nicht, was
+er noch alles sagte, – sicher war er sehr betrübt.
+
+Ich begriff allerdings kein Wort von seinen Vorwürfen, begriff vor allem
+nicht, wie schmerzlich es für ihn sein mußte, daß ich seine Worte, die
+er der Mutter im Zorn und unter dem Druck des Elends gesagt, aufgefangen
+und behalten, sie womöglich auswendig gelernt und schon viel über sie
+nachgedacht hatte. Aber was es auch sein mochte und so groß auch seine
+eigene Überspanntheit war, dieser Zwischenfall mußte ihm doch zu denken
+geben. Ich aber konnte gar nicht verstehen, weshalb er sich über mich
+ärgerte, und ich fühlte eine gewisse Bitterkeit und Trauer in mir
+aufsteigen, immer höher und höher, bis ich zu weinen anfing. Dann dachte
+ich, daß alles, was uns dort in dem schönen Leben erwartete, wohl so
+wichtig sei, daß ich dummes Kind weder davon sprechen noch daran denken
+durfte. Nebenbei aber fühlte ich doch, obwohl ich ihn nicht sogleich
+verstand, daß ich die Mutter gekränkt hatte. Darob erfaßten mich Angst
+und Entsetzen und dann schlichen sich auch leise Zweifel in meine Seele
+und machten dort alles in mir unsicher. Als er jedoch sah, daß ich
+weinte und mich quälte, versuchte er mich wieder zu trösten, wischte mir
+mit dem Ärmel die Tränen ab und bat mich, ich solle nicht mehr weinen.
+So saßen wir denn eine Zeitlang schweigend. Er machte ein finsteres
+Gesicht und schien nachzudenken; dann fing er von neuem zu sprechen an;
+aber wie sehr ich mich auch anstrengte, es war mir doch alles, was er da
+sagte, zum mindesten unklar. Ich schließe aus einzelnen Worten, die ich
+noch behalten habe, daß er mir damals erklärte, wer er sei, was für ein
+großer Künstler er wäre; ferner, wie ihn niemand verstehe, und zuletzt,
+daß er ein ungeheures Talent habe. Ich weiß noch, daß er mich dann
+fragte, ob ich auch alles verstanden und daß er nach meiner
+selbstverständlich bejahenden Antwort die Frage wiederholte: „Also hat
+er Talent?“ Und ich antwortete: „Ja, er hat Talent,“ worüber er leise
+auflachen mußte, wahrscheinlich weil es ihm selbst zuletzt lächerlich
+erschien, daß er über einen für ihn so ernsten Gegenstand mit einem
+Kinde sprach. Unsere Unterhaltung unterbrach Karl Fedorytsch, der ganz
+unerwartet bei uns eintrat, und der Vater wies auf ihn und sagte:
+
+„Dieser dagegen, der Karl Fedorytsch, der hat zum Beispiel für keine
+fünf Kopeken Talent.“
+
+Darüber mußte ich lachen, denn das kam mir, Gott weiß weshalb, sehr
+komisch vor und ich war wieder ganz froh und glücklich.
+
+Dieser Karl Fedorytsch war eine äußerst merkwürdige Erscheinung. Ich sah
+damals so wenige Menschen, daß ich mich seiner noch lebhaft erinnere.
+Ja: als stände er hier, so deutlich sehe ich ihn vor mir. Er war ein
+Deutscher, Meyer mit Namen, der nach Rußland gekommen war, weil er nur
+den einen Wunsch hatte: zum Petersburger kaiserlichen Ballett zu
+gehören. Leider war er aber ein so schlechter Tänzer, daß man ihn nicht
+einmal unter die Chortänzer, die den Hintergrund der Bühne ausfüllen
+mußten, aufnehmen konnte und ihn nur als Statisten verwandte. So spielte
+er stumme Rollen, etwa in der Suite des Fortinbras oder als einer der
+Ritter von Verona, die alle zwanzig mit einem Male ihre gepappten
+Klingen ziehen und ^unisono^ ausrufen: „Wir sterben für den König!“
+
+Nichtsdestoweniger gab es wohl keinen einzigen Künstler auf Erden, der
+an seinen Rollen so leidenschaftlich hing wie Karl Fedorytsch. Sein
+größtes Unglück und Lebensleid war, daß er nicht ins Ballettkorps
+aufgenommen wurde. Die Tanzkunst stellte er über jede andere Kunst und
+in seiner Art hing er an ihr ebensosehr, wie der Vater an seiner Geige.
+Sie waren beide an demselben Theater angestellt gewesen, dort hatten sie
+sich kennen gelernt, und seit der Zeit besuchte der Statist, der nun
+auch schon außer Diensten war, seinen ehemaligen Kollegen vom Orchester
+und blieb ihm als einziger von allen bis zuletzt treu. Sie sahen sich
+sogar recht oft und beklagten dann beide ihr trauriges Los, das ihnen
+den Fluch auferlegt hatte, von den Menschen nicht verstanden zu werden.
+Der Deutsche war der gefühlvollste, der liebevollste Mensch der Welt und
+meinem Stiefvater in glühendster, uneigennützigster Freundschaft
+zugetan. Der Vater dagegen hatte, glaube ich, keine gerade besondere
+Zuneigung zu ihm, er duldete ihn eben nur als seinen Bekannten in
+Ermangelung anderer. Leider konnte der Vater in seiner Einseitigkeit
+durchaus nicht begreifen, daß die Tanzkunst auch eine Kunst sei, womit
+er den armen Deutschen bis zu Tränen kränkte. Da er nun diese schwache
+Seite des anderen kannte, machte es ihm Spaß, sie immer wieder wie von
+ungefähr zu berühren, um sich dann an dem Eifer des armen Karl
+Fedorytsch zu ergötzen, der fast aus der Haut fuhr vor Empörung und
+Leidenschaft in seinem Bemühen, für seine geliebte Tanzkunst das
+Gegenteil zu beweisen. Von diesem Karl Fedorytsch und seiner
+Freundschaft mit meinem Stiefvater hat mir nachher noch manches derselbe
+B. erzählt, der diesen begeisterten Ballettänzer immer den Nürnberger
+Springkäfer nannte. Unter anderem entsinne ich mich noch lebhaft ihrer
+Zusammenkünfte, wenn sie beide etwas getrunken hatten und dann als
+verkannte Größen ihr Schicksal betrauerten. Auch ich, die ich diese
+beiden Sonderlinge still für mich betrachtete, trauerte mit ihnen, und
+wenn sie Tränen vergossen, so heulte ich mit, wenn ich auch selber nicht
+wußte, worüber und warum. Das trug sich aber immer in der Abwesenheit
+der Mutter zu, denn der Deutsche fürchtete sie sehr und wartete deshalb,
+wenn er kam, gewöhnlich so lange auf dem Treppenflur, bis jemand aus dem
+Zimmer trat: erfuhr er dann, daß die Mutter zu Hause war, so machte er
+schleunigst kehrt und lief die Treppe hinunter. Jedesmal brachte er
+deutsche Gedichte mit, begeisterte sich an ihnen, indem er sie uns laut
+vorlas, und dann deklamierte er mit Gesten, wobei er zwischendurch die
+Sätze mit Müh und Not in ein zum mindesten eigenartiges Russisch
+übersetzte, damit auch wir den Sinn verstanden. Das belustigte den
+Vater, ich aber lachte oft Tränen. Einmal hatten sie sich irgendein
+russisches Werk verschafft, das sie beide ungeheuer begeisterte, in
+einem solchen Maße begeisterte, daß sie es nachher fast bei jeder
+Zusammenkunft immer wieder von neuem lasen. Ich erinnere mich, es war
+ein Drama in Versen von irgendeinem vorübergehend berühmten russischen
+Schriftsteller. Die ersten Strophen hatte ich so gut behalten, daß ich
+später nach mehreren Jahren dieses Drama gleich wiedererkannte, als ich
+das Buch einmal zufällig in die Hände bekam. Es handelte von dem Unglück
+eines großen Künstlers, irgendeines Jacopo, der auf der einen Seite
+ausruft: „Ich bin verkannt!“ und auf der folgenden: „Ich bin erkannt!“ –
+oder war es: „Ich bin talentlos!“ und dann: „Ich habe Talent!“? Kurz,
+etwas Ähnliches war es jedenfalls. Es endete natürlich höchst tragisch.
+Das Drama war freilich an sich ganz wertlos. Nur auf diese beiden Leser,
+die in dem Helden viel Ähnlichkeit mit sich selbst entdeckten, wirkte es
+in der naivsten und zugleich tragischsten Weise. Ich weiß noch, Karl
+Fedorytsch geriet dann zuweilen in solche Ekstase, daß er aufsprang, zur
+anderen Wand des Zimmers eilte und den Vater und mich, die er
+„Madmuasell“ nannte, unabweisbar beschwörend, mit Tränen in den Augen
+und im heiligen Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit bat,
+„sogleich hierselbst“ zwischen ihm, seinem Schicksal und dem Publikum
+die Schiedsrichter zu sein. Darauf begann er zu tanzen, und während der
+verschiedenen Pas, die er uns nun vortanzte, schrie er uns zu, wir
+sollten ihm sogleich sagen, was er sei, ein Künstler oder nicht, und ob
+man wohl das Gegenteil sagen könne, d. h. daß er etwa kein Talent habe?
+Der Vater war dann sofort höchst aufgeräumt, gab mir heimlich Winke, als
+wollte er sagen, ich solle nur aufpassen, wie vorzüglich er sich gleich
+über den Armen lustig machen werde. Mich wandelte die Lachlust an, aber
+der Vater drohte heimlich mit dem Finger und ich nahm mich aus allen
+Kräften zusammen, um mir das Lachen zu verbeißen. Auch jetzt noch, bei
+der bloßen Vorstellung jenes Bildes, ist es mir unmöglich, nicht zu
+lachen. Ich sehe ihn so deutlich vor mir, diesen armen Karl Fedorytsch!
+Er war äußerst klein von Wuchs, dazu spindeldünn, das Haar schon grau,
+die Nase gebogen und rot und immer mit Tabakspuren geschmückt. Seine
+Beine hatten eine ganz absonderlich krumme Form; trotzdem schien er auf
+ihren Bau noch stolz zu sein und trug Beinkleider, die so eng wie Trikot
+anlagen. Wenn er dann endlich nach dem letzten Sprunge stehen blieb, mit
+zu uns ausgestreckten Armen und uns zulächelnd – in der Pose und mit dem
+Lächeln der Ballettänzer auf der Bühne – da wahrte der Vater noch eine
+gute Weile das Schweigen, als könne er sich nicht entschließen, das
+Urteil zu fällen, und ließ absichtlich den verkannten Tänzer in dieser
+schwierigen Pose verharren, bis jener auf seinem einen dünnen Bein schon
+zu schwanken begann, trotz seiner krampfhaften Anstrengung, das
+Gleichgewicht nicht zu verlieren. Schließlich erbarmte sich der Vater:
+zunächst sah er nur mit ernster Miene mich an, als wolle er mich fragen:
+„Was sagen wir ihm nun?“ – und gleichzeitig richtete sich auch der
+furchtsam flehende Blick des Tänzers auf mich.
+
+„Nein, Karl Fedorytsch, man sieht, es ist verlorene Liebesmüh, du
+triffst doch nicht das Richtige!“ sagte der Vater dann endlich in einem
+Ton, als fiele es ihm schwer, die bittere Wahrheit sagen zu müssen. Dann
+entrang sich der Brust Karl Fedorytschs ein richtiges Stöhnen, aber im
+Nu faßte er wieder Mut, erbat mit beschleunigten Gesten von neuem unsere
+Aufmerksamkeit, versicherte, er habe nicht nach dem betreffenden System
+getanzt, und flehte uns an, nochmals die Schiedsrichter zu sein. Und
+wieder eilte er zur anderen Wand und sprang dann zuweilen mit solchem
+Eifer umher, daß er mit dem Kopf an die Stubendecke stieß, und zwar
+schmerzhaft stark – aber er verwand den Schmerz wie ein Spartaner, stand
+dann wieder in der schwierigen Pose, streckte wieder mit einem Lächeln
+die zitternden Arme aus und erwartete wieder unser Urteil. Doch der
+Vater war unerbittlich und wiederholte nur ebenso düster:
+
+„Nein, Karl Fedorytsch, das scheint nun einmal dein Schicksal zu sein:
+du triffst es nicht!“
+
+Dann versagte gewöhnlich meine letzte Selbstbeherrschung und ich brach
+in erlösendes Lachen aus, und der Vater desgleichen. Karl Fedorytsch,
+der nun endlich den Scherz begriff, wurde rot vor Zorn und sagte mit
+Tränen in den Augen und mit einem tiefen, wenn auch komischen Gefühl,
+das mich später quälte, weil es mein aufrichtiges Mitleid mit diesem
+armen Unglücklichen erweckte, zum Vater gewandt:
+
+„Du bist ein treuloser Freund!“
+
+Und er griff nach seinem Hut und lief von uns fort, mit allen Schwüren
+schwörend, daß er nie wieder zu uns kommen werde.
+
+Aber der Schatten dieses Streites pflegte nie lang zu sein. Nach ein
+paar Tagen erschien er wieder bei uns, wieder wurde das berühmte Drama
+gelesen, wieder wurden Tränen vergossen und zum Schluß bat uns der naive
+Karl Fedorytsch abermals, die Schiedsrichter zwischen ihm, den Menschen
+und dem Schicksal zu sein, bat flehentlich, diesmal aber wirklich im
+Ernst über ihn zu urteilen, wie es sich wahren Freunden gezieme, und
+nicht wieder unseren Spott mit ihm zu treiben.
+
+Einmal schickte mich die Mutter in den kleinen Laden, wo ich etwas
+Notwendiges kaufen sollte, und als ich zurückkehrte, hielt ich hübsch
+achtsam das silberne Kleingeld in der Hand, das man mir herausgegeben
+hatte. Auf der Treppe traf ich den Vater, der im Begriff war,
+auszugehen. Ich lachte ihn an, denn ich konnte mein Gefühl der Freude
+nicht verbergen, wenn ich ihn sah. Als er sich zu mir herabbeugte, um
+mich zu küssen, bemerkte er das silberne Geldstück in meiner Hand ...
+Ich habe noch nicht erwähnt, daß ich jeden Ausdruck seines Gesichts so
+gut kannte, daß ich seine Wünsche gewöhnlich auf den ersten Blick
+erriet. Sah ich ihn bedrückt und traurig, so hätte ich vergehen mögen
+vor Leid. Am niedergeschlagensten war er, wenn er gar kein Geld hatte
+und sich nichts zu trinken kaufen konnte – denn das Trinken hatte er
+sich schon zur Gewohnheit gemacht. In jenem Augenblick nun, als wir
+einander auf der Treppe begegneten, schien es mir, daß in ihm etwas
+Besonderes vorgehe. Seine trüben Augen irrten eigentümlich unruhig
+umher, ja, ich glaube, im ersten Augenblick sah er mich gar nicht. Als
+er aber dann das Geld in meiner Hand bemerkte, da wurde er plötzlich rot
+und gleich darauf sehr bleich, dann streckte er die Hand aus, wie um das
+Geld von mir zu nehmen, zog sie aber sofort wieder zurück. Offenbar
+kämpfte er mit sich. Endlich war es, als habe er sich überwunden und er
+sagte, ich solle nur zur Mutter hinaufgehen; er selbst aber ging schnell
+ein paar Stufen hinab – bis er plötzlich von neuem stehen blieb und mich
+zurückrief.
+
+Er sah sehr verlegen aus.
+
+„Hör mal, Njetotschka,“ sagte er hastig, „gib mir dieses Geld, ich werde
+es dir zurückgeben. Nicht? Du gibst es doch deinem Papa? Du bist doch
+ein gutes Kindchen, Njetotschka?“
+
+Ich hatte das fast vorausgefühlt. Aber im ersten Augenblick ließen mich
+doch der Gedanke, wie böse die Mutter sein werde, meine Ängstlichkeit
+und vor allem die instinktive Scham für mich und für den Vater
+unwillkürlich zögern und hielten mich davon ab, ihm das Geld zu geben.
+Er bemerkte es sofort und sagte rasch:
+
+„Nein, nein, nicht nötig, ist nicht nötig! ...“
+
+„Nein, nein, Papa, da, nimm! Ich werde sagen, ich habe es verloren oder
+die Nachbarkinder haben es mir fortgenommen.“
+
+„Nun gut, gut; ich wußte doch, daß du ein kluges Mädchen bist,“ sagte
+er. Und er lächelte mit zitternden Lippen, ohne sein Entzücken zu
+verbergen, als er das Geld in seiner Hand fühlte. „Du bist ein gutes
+Mädchen, bist ja mein Engelchen! Gib her, ich werde dir dein Händchen
+küssen!“
+
+Und er griff nach meiner Hand, aber ich zog sie schnell zurück. Ein
+gewisses Mitleid mit ihm bemächtigte sich meiner und die Scham stieg in
+mir immer höher und wurde qualvoll. Ich hielt es nicht aus und lief in
+meinem Schreck nach oben, ohne mich nach dem Vater weiter umzusehen, den
+ich stehen ließ, wo er stand. Als ich ins Zimmer trat, glühten meine
+Wangen und mein Herz schlug laut in einer quälenden, mir bis dahin noch
+unbekannten Empfindung. Dennoch sagte ich der Mutter ganz furchtlos, ich
+hätte das Geld im Schnee verloren und lange gesucht, trotzdem aber nicht
+wiederfinden können. Ich hatte mindestens Schläge erwartet, doch die
+bekam ich nicht. Die Mutter war anfangs allerdings außer sich, denn wir
+waren damals furchtbar arm. Sie schrie mich an, aber schon im nächsten
+Augenblick schien sie sich zu besinnen und hörte auf, mich zu schelten;
+sie sagte nur, ich sei ein ungeschicktes, nachlässiges Mädchen und
+offenbar liebte ich sie nicht, da ich mit ihrem schwer erworbenen Gelde
+so unachtsam umginge. Diese Bemerkung betrübte mich mehr, als Schläge es
+vermocht hätten. Denn meine Mutter kannte mich bereits: meine
+Empfindsamkeit, die oft schon an eine krankhafte Reizbarkeit grenzte,
+war von ihr nicht unbemerkt geblieben, und so glaubte sie gerade mit
+diesen bitteren Vorwürfen – wie dem, daß ich sie wohl nicht liebte –
+mich mehr zu strafen und eher zu größerer Achtsamkeit erziehen zu
+können, als mit den sonst üblichen Strafmitteln.
+
+In der Dämmerung, um die Zeit, wo der Vater gewöhnlich zurückkehrte,
+erwartete ich ihn wie immer auf dem Flur. Ich war in großer Verwirrung.
+Meine Gefühle waren aufgepeitscht durch etwas, das auch mein Gewissen
+geradezu krankhaft peinigte. Endlich kam der Vater und ich war sehr froh
+über sein Kommen, ganz als hätte ich gehofft, daß es mir dadurch
+leichter werden würde. Er war heiterer Laune, aber als er mich
+erblickte, nahm sein Gesicht sofort einen geheimnisvollen, ein wenig
+verzerrten Ausdruck an. Er blickte ängstlich nach unserer Tür und zog
+mich in den verstecktesten Winkel, blickte wieder scheu nach der Tür,
+nahm dann aus der Tasche einen von ihm gekauften Pfefferkuchen und
+begann nun flüsternd, jedoch in ermahnendem Tone mir zu erklären, daß
+ich der Mutter niemals mehr Geld entwenden und es ihr verheimlichen
+dürfe: das sei häßlich und eine Schande und überhaupt sehr schlecht.
+Diesmal sei es nur deshalb so gekommen, weil er das Geld gerade sehr
+notwendig gebraucht habe, aber er werde es zurückgeben und dann könne
+ich sagen, ich hätte das Geld wiedergefunden; es der Mutter abzunehmen
+sei jedoch eine Schande, und ich solle in Zukunft nicht einmal mehr
+daran denken, so etwas wieder zu tun, er aber werde mir, wenn ich auf
+ihn hörte, noch mehr solcher Pfefferkuchen kaufen. Zum Schluß sagte er
+sogar, ich möchte mit der Mutter Mitleid haben, sie sei so krank, die
+Arme, und sie allein arbeite für uns alle und ernähre uns. Ich hörte in
+großer Angst zu, ja ich zitterte am ganzen Körper und die Tränen wollten
+mich fast überwältigen. Ich war so bestürzt, daß ich kein Wort zu sagen
+wußte und mich nicht von der Stelle rührte. Endlich ging er ins Zimmer,
+nachdem er mir vorher noch verboten hatte, zu weinen oder der Mutter
+etwas davon zu sagen – letzteres schärfte er mir ganz besonders ein. Wie
+ich bemerkte, war auch er sehr verwirrt. Den ganzen Abend verbrachte ich
+wie unter einem entsetzlichen Bann und zum erstenmal wagte ich nicht,
+ihn anzusehen oder zu ihm zu gehen. Und auch er mied sichtlich meinen
+Blick. Die Mutter ging im Zimmer auf und ab und sprach vor sich hin, wie
+sie es gewöhnlich in ihrer Gedankenversunkenheit tat. An jenem Tage
+fühlte sie sich bedeutend schlechter und hatte auch schon die Anzeichen
+von einem Anfall zu überstehen gehabt. Kurz, infolge dieser ganzen
+inneren Qual stellte sich bei mir Fieber ein. Krankhafte, wirre Träume
+peinigten mich – bis ich es schließlich nicht mehr aushielt und zu
+weinen anfing. Mein Weinen weckte die Mutter; sie rief mich leise an und
+fragte, ob mir etwas fehle. Ich antwortete nicht, weinte aber noch
+verzweifelter. Da zündete sie das Licht an, kam zu mir und versuchte
+mich zu beruhigen, im Glauben, ein Traum habe mich erschreckt.
+
+„Ach, du kleines, dummes Kind!“ sagte sie, „immer noch weinst du, wenn
+dir etwas träumt. Nun, schon gut, sei ruhig!“ Und sie küßte mich und
+sagte, ich solle in ihr Bett kommen und bei ihr schlafen. Aber ich
+wollte nicht, denn ich wagte nicht, sie zu umarmen und zu ihr zu gehen.
+Ich wand mich innerlich vor Qual. Ich wollte ihr alles erzählen. Ich war
+schon im Begriff anzufangen, aber da fiel mir wieder der Vater ein und
+sein Verbot, und ich sagte nichts.
+
+„Mein armes Kindchen ... Njetotschka ...“ hörte ich die Mutter leise
+sprechen, während sie mich noch mit ihrer alten Jacke zudeckte, da sie
+bemerkt hatte, daß ich wie von Schüttelfrost am ganzen Körper zitterte,
+„du wirst wohl ebenso krank werden wie ich.“ Und sie sah mich dabei so
+traurig an, daß ich ihren Blick nicht ertragen konnte, krampfhaft die
+Augen schloß und mich fortwandte. Ich erinnere mich nicht mehr, daß ich
+einschlief, aber noch lange hörte ich im Halbschlaf, wie die arme Mutter
+mich leise beruhigte, um mich in den Schlaf zu lullen. Noch nie hatte
+ich eine schwerere Qual zu erdulden gehabt. Mein Herz krampfte sich bis
+zum körperlichen Schmerz zusammen. Am nächsten Tage ward mir etwas
+leichter zumut. Ich fing wieder an mit dem Vater zu sprechen, aber ohne
+des Vorgefallenen zu erwähnen, denn ich erriet, daß ihm das sehr
+unangenehm sein müsse. Ich täuschte mich nicht: er war sogleich zur
+Unterhaltung bereit und sofort guter Dinge, denn auch er schien die
+Spannung zwischen uns als ungemütlich empfunden zu haben, wenigstens
+hatte er immer ein finsteres Gesicht gemacht, wenn unsere Blicke sich
+trafen. Jetzt bemächtigte sich seiner eine seltsame Freude, eine fast
+kindliche Zufriedenheit, als er mich wieder ganz arglos und munter sah.
+Die Mutter ging wie gewöhnlich bald fort und dann tat er sich keinen
+Zwang mehr an. Er küßte mich so, daß ich in ein nahezu übertriebenes
+Entzücken geriet und weinte und lachte – beides zugleich. Schließlich
+sagte er, er wolle mir etwas Schönes zeigen, das zu sehen mich sehr
+freuen werde – als Belohnung dafür, daß ich ein so kluges und gutes
+kleines Mädchen bin. Damit knöpfte er seine Weste auf und nahm einen
+Schlüssel, den er an einer schwarzen Schnur am Halse trug, sah mich
+geheimnisvoll bedeutsam an, als wolle er in meinen Augen das ganze
+Vergnügen sehen, das ich seiner Meinung nach empfinden mußte, öffnete
+unseren großen Koffer und entnahm ihm behutsam einen länglichen
+schwarzen Kasten, den ich bis dahin noch niemals gesehen hatte. Diesen
+Kasten berührte er mit einer gewissen Zaghaftigkeit – überhaupt war er
+plötzlich ganz verändert: das Lachen war aus seinem Gesicht
+verschwunden, das nun einen wahrhaft feierlichen Ausdruck annahm. Diesen
+geheimnisvollen Kasten also öffnete er ganz behutsam und entnahm ihm
+einen absonderlichen Gegenstand, den ich bis dahin auch noch nicht
+gesehen hatte – ein Ding von äußerlich recht seltsamer Form. Er nahm es
+gleichfalls mit großer Vorsicht und nahezu mit Andacht in die Hand und
+sagte, das sei seine Geige, sein Instrument. Hierauf fing er an mit
+leiser, feierlicher Stimme zu mir zu sprechen – und er redete sehr
+lange, aber ich verstand ihn nicht. Ich behielt nur die mir bereits
+bekannten Ausdrücke, daß er ein Künstler sei, daß er Talent habe, daß er
+einmal auf dieser Geige spielen werde und zu guter Letzt, daß wir dann
+alle reich sein werden und daß uns schließlich irgendein großes Glück
+blühen werde. Tränen traten ihm in die Augen und rollten über seine
+Wangen. Ich war sehr ergriffen. Zum Schluß küßte er seine Geige und ließ
+auch mich sie küssen. Als er sah, daß ich sie gern näher betrachtet
+hätte, führte er mich zum Bett der Mutter und gab mir die Geige in die
+Hand; aber ich sah wohl, daß er zitterte vor Angst, ich könnte sie
+vielleicht irgendwie zerschlagen oder zerbrechen. Ich nahm die Geige und
+berührte die Saiten, die in einem leisen schwingenden Ton erklangen.
+
+„Das ist Musik!“ sagte ich, indem ich zu ihm aufsah.
+
+„Ja, ja, das ist Musik,“ wiederholte er, sich freudig die Hände reibend,
+„du bist ein kluges Kind, bist ein gutes Kind!“
+
+Aber trotz seines Lobes und Entzückens sah ich doch, daß er sich um
+seine Geige ängstigte, und da ergriff mich gleichfalls eine Angst, – ich
+gab sie ihm schnell zurück. Sie wurde mit derselben Behutsamkeit wieder
+eingepackt, der Kasten verschlossen und in den Koffer zurückgelegt; der
+Vater aber, der nochmals meinen Kopf streichelte, versprach, mir
+jedesmal die Geige zu zeigen, wenn ich wieder so klug, brav und gehorsam
+sein würde wie jetzt. So hatte die Geige unseren gemeinsamen Kummer
+vertrieben. Erst am Abend flüsterte er mir im Fortgehen heimlich zu, ich
+solle nicht vergessen, was er mir tags zuvor auf dem Treppenflur gesagt
+habe.
+
+So wuchs ich in unserer Dachstube auf, und allmählich steigerte sich
+meine Liebe, – nein, richtiger gesagt, meine Leidenschaft, denn ich
+kenne kein anderes Wort, das ein so unbezwingbares, mich selbst
+quälendes Gefühl, wie ich es für den Vater empfand, ausdrücken könnte –
+steigerte sich bis zu einer krankhaft ausgearteten Empfindsamkeit. Ich
+kannte nur noch eine einzige Lust: an ihn zu denken, von ihm zu träumen,
+nur noch einen Wunsch und Willen – alles zu tun, nur um ihm eine Freude
+oder sei es auch ein noch so kleines Vergnügen zu bereiten. Wie oft
+erwartete ich ihn, zitternd und blau vor Kälte, auf der zugigen Treppe,
+nur um wenigstens ein paar Augenblicke früher sein Kommen zu hören und
+ihn zu sehen. Streichelte er mich, wenn er bisweilen zärtlich zu mir
+war, so wurde ich ganz wirr vor Freude. Und doch peinigte es mich oft
+bis zum körperlichen Schmerz, daß ich in meinem Verhalten zu meiner
+armen Mutter so hartnäckig kühl blieb. Es gab Augenblicke, wo ich hätte
+vergehen mögen vor Qual und Mitleid, wenn ich sie ansah. Bei dem ewigen
+Streit der Eltern konnte ich nicht gleichmütig bleiben und unparteiisch
+zusehen, ich mußte zwischen ihnen wählen und mich für einen von ihnen
+entscheiden. Und so stellte ich mich denn auf die Seite dieses halb
+wahnsinnigen Menschen, nur weil er in meinen Augen so mitleiderregend,
+so erniedrigt war und ganz zu Anfang einen so unauslöschlichen Eindruck
+auf mich gemacht, meine Phantasie entfesselt hatte. Doch schließlich –
+wer könnte das so genau sagen, weshalb ich gerade seine Partei ergriff?
+Vielleicht fühlte ich mich gerade deshalb so zu ihm hingezogen, weil er
+so eigenartig war, sogar in seiner äußeren Erscheinung eigenartig, und
+nicht so ernst und unwirsch wie die Mutter, weil er fast wahnsinnig,
+weil an ihm hin und wieder so etwas von Gauklerart war, und schließlich,
+weil ich ihn weniger fürchtete und sogar weniger achtete als die Mutter.
+Er war irgendwie – mehr meinesgleichen. Ja allmählich bemächtigte sich
+meiner das Gefühl, daß ich ihm sogar überlegen sei, daß ich ihn mir
+unmerklich unterwarf, und daß ich ihm unentbehrlich wurde, ja zuweilen
+kokettierte ich geradezu mit ihm. In der Tat, diese wunderliche
+Anhänglichkeit meinerseits erinnerte in etwas an einen Roman ... Doch
+dieser Roman sollte nicht von langer Dauer sein: ich verlor bald meine
+Mutter und meinen Vater. Ihr Leben fand ein schreckliches Ende, das sich
+schwer und qualvoll meiner Erinnerung eingeprägt hat. Wie sich das
+zutrug, will ich jetzt erzählen.
+
+
+ III.
+
+Zu jener Zeit wurde ganz Petersburg alarmiert durch eine große
+Neuigkeit: es verbreitete sich das Gerücht von der bevorstehenden
+Ankunft des berühmten S–z. Alles, was musikalisch war in Petersburg,
+geriet in Aufregung. Sänger, Schauspieler, Dichter, Maler, sämtliche
+Musiknarren, aber auch solche, die niemals Musiknarren gewesen waren und
+mit bescheidenem Stolz gestanden, daß sie keinen Ton von der ganzen
+Musik begriffen, jagten nun alle mit wahrer Gier nach den Billetten zu
+diesem Konzert. Der Saal konnte kaum den zehnten Teil der Enthusiasten
+fassen, die die Möglichkeit hatten oder sich schufen, fünfundzwanzig
+Rubel Eintrittsgeld zu zahlen. Doch die europäische Berühmtheit dieses
+S–z, sein lorbeerumkränztes hohes Alter, dabei die unverwüstliche
+Frische seines Talentes, sowie die Tatsache, daß er in letzter Zeit nur
+noch äußerst selten öffentlich spielte, und ferner die Versicherung, daß
+er zum letztenmal eine europäische Konzertreise unternehme, dann aber
+das Spielen endgültig aufgeben werde, erregten die Gemüter und die
+Neugier der Menschen. Mit einem Wort, die Spannung war eine ungeheuere.
+
+Ich erzählte bereits, daß die Ankunft jedes neuen Violinvirtuosen, jeder
+auch noch so kleinen „Berühmtheit“, auf meinen Stiefvater stets den
+unangenehmsten Eindruck machte. Er war dann immer einer der ersten, die
+sich beeilten, den angereisten Künstler zu hören, um möglichst bald die
+Größe seiner Kunst beurteilen zu können. Nicht selten wurde er geradezu
+krank, nur dadurch, daß er das Lob anhören mußte, das irgendeinem neuen
+Stern gespendet wurde, und er beruhigte sich nicht eher, als bis er an
+dem Spiel des Gelobten irgend etwas auszusetzen fand, was er dann als
+seine „unmaßgebliche Meinung“ mit beißendem Spott überall, wo er nur
+konnte, zum besten gab. Der arme Wahnsinnige glaubte, daß es nur ein
+einziges Genie in der ganzen Welt gäbe, nur einen einzigen Künstler, und
+dieser Künstler war natürlich er selbst. Das Gerücht nun, und alsbald
+die Gewißheit, daß das Weltgenie S–z in Petersburg konzertieren werde,
+wirkte auf ihn geradezu wie eine Erschütterung. Übrigens muß ich
+bemerken, daß Petersburg in den letzten zehn Jahren kein einziges
+größeres Talent gehört hatte, geschweige denn ein Genie gleich S–z.
+Deshalb hatte auch mein Stiefvater von dem Spiel wirklich erstrangiger
+europäischer Künstler noch gar keine richtige Vorstellung.
+
+Man hat mir erzählt, mein Vater habe sich damals schon nach dem ersten
+unsicheren Gerücht wieder hinter den Kulissen eingefunden. Er sei sehr
+aufgeregt gewesen und habe sich mit größter Unruhe nach S–z und dessen
+bevorstehendem Konzert erkundigt. Da man ihn lange nicht gesehen, soll
+sein plötzliches Wiederauftauchen sogar einen gewissen Effekt gemacht
+haben. Jemand habe ihn reizen wollen und herausfordernd gemeint: „Ja,
+mein lieber Jegor Petrowitsch, jetzt werden Sie nicht mehr Ballettmusik
+zu hören bekommen, sondern eine, die Sie nicht mehr leben lassen wird
+auf Erden!“ Er soll erbleicht sein, als er diesen Spott hörte, habe aber
+doch noch ruhig geantwortet, wenn auch mit verzerrtem Lächeln:
+
+„Warten wir ab. Aus der Ferne hält man oft für einen Berg, was sich in
+der Nähe als ein Kamel entpuppt. Dieser S–z ist ja doch nur in Paris
+gewesen, da haben eben die Franzosen seinen Ruhm ausgeschrien, aber –
+nun ja, man weiß doch, was Franzosen sind!“ usw.
+
+Alles lachte. Der Arme fühlte sich gekränkt, aber er bezwang sich und
+fügte nur hinzu, daß er übrigens gar nichts sagen wolle, man werde es ja
+bald erleben, vorläufig müsse man abwarten, bis übermorgen sei nicht
+lange, die Wunder würden schon an den Tag kommen.
+
+B. erzählte mir, an demselben Tage, kurz vor der Dämmerung, sei ihm auf
+der Straße Fürst H. begegnet – ein Dilettant als ausübender Künstler,
+als Mensch jedoch ein unvergleichlicher Kunstkenner und Kunstliebhaber.
+Sie setzten gemeinsam ihren Weg fort, sprachen natürlich auch von dem
+bereits eingetroffenen großen Virtuosen, als B. plötzlich meinen Vater
+erblickte, der vor dem Fenster einer Musikalienhandlung stand und
+aufmerksam ein Konzertprogramm studierte, das in großen Lettern das
+Konzert des berühmten Geigenvirtuosen S–z ankündigte.
+
+„Sehen Sie dort diesen Menschen, der vor dem Fenster steht?“ wandte sich
+B. schnell an den Fürsten.
+
+„Wer ist das?“ fragte der Fürst.
+
+„Sie haben von ihm schon gehört. Das ist derselbe Jefimoff, von dem ich
+Ihnen mehrmals erzählt habe, und der einmal durch Ihre Protektion eine
+Anstellung erhielt.“
+
+„Ach ja, ich entsinne mich!“ sagte der Fürst. „Sie haben mir viel von
+ihm erzählt. Er soll ja sehr interessant sein, sagt man. Könnte ich ihn
+nicht mal spielen hören?“
+
+„Lohnt nicht,“ versetzte B. kurz. „Und es ist auch so niederdrückend.
+Das heißt, ich weiß nicht, wie es auf Sie wirkt, aber auf mich macht es
+immer einen schrecklichen Eindruck. Sein Leben ist – eine einzige
+entsetzliche Tragödie. Eine Hölle. Ich habe tiefes Mitgefühl mit ihm,
+wie schmutzig er auch sein mag, immer wieder nehme ich Anteil an ihm.
+Sie sagten, er müsse interessant sein. Das ist er wirklich, aber der
+Eindruck, den er in einem hinterläßt, ist gar zu schmerzhaft und schwer.
+Erstens ist er ein Wahnsinniger, und zweitens hat dieser Wahnsinnige
+drei Verbrechen auf dem Gewissen, denn außer seinem eigenen Leben hat er
+noch zwei andere Menschenleben zugrunde gerichtet: das seiner Frau und
+seiner Tochter. Wie ich ihn kenne, würde es ihn auf der Stelle töten,
+wenn er sich von seinem Verbrechen überzeugte. Aber das ganze Entsetzen
+besteht ja gerade darin, daß er es sich nun schon acht Jahre lang _fast_
+eingesteht und daß er acht Jahre lang mit seinem Gewissen ringt, um es
+sich nicht nur ‚fast‘, sondern vollkommen einzugestehen.“
+
+„Sie sagten, er sei arm?“ fragte der Fürst.
+
+„Ja; aber die Armut ist für ihn jetzt eher ein Glück, denn sie ist in
+seinen Augen seine Rechtfertigung. Solange er arm ist, kann er einem
+jeden versichern, daß nur die Armut ihn zurückhalte und daß er, wenn er
+reich wäre, dann auch genügend Zeit hätte, und vor allem keine Sorgen,
+um zeigen zu können, was für ein Künstler er sei. Er hat mit der
+sonderbaren Hoffnung geheiratet, daß tausend Rubel, die seine Frau
+damals besaß, ihm helfen würden, sein Ziel zu erreichen. Er handelte wie
+ein Phantast, wie ein Dichter, und so hat er stets gehandelt. Wissen
+Sie, was er in diesen acht Jahren immer behauptet hat und auch jetzt
+noch zu behaupten nicht müde wird? – Daß die Ursache seines ganzen
+Elends seine Frau sei: die hindere ihn an allem. Und er selbst tut dabei
+nichts: denkt nicht einmal daran, zu arbeiten. Nehmen Sie ihm aber diese
+Frau – da wäre er der unglücklichste Mensch der Welt. Jetzt hat er schon
+mehrere Jahre lang die Geige nicht angerührt – und wissen Sie, warum
+nicht? Weil er jedesmal, sobald er den Bogen in die Hand nimmt, sich
+innerlich doch gestehen muß, daß er nichts ist, eine Null, aber kein
+Künstler. So dagegen, wenn er den Bogen nicht anrührt, kann er sich noch
+dem schönen Glauben hingeben, daß es doch wieder nicht wahr sei. Er ist
+ein Träumer. Er glaubt, daß er mit einemmal, wie durch ein Wunder,
+plötzlich der berühmteste Mensch der Welt sein werde. Sein Wahlspruch
+ist: ^aut Caesar, aut nihil^, als könnte man so einfach und in einem
+Augenblick ein Cäsar werden. Sein ganzes Verlangen, seine einzige
+Begierde ist – Ruhm. Wenn aber ein solches Gefühl zum ersten und
+einzigen Antrieb eines Künstlers wird, so ist der Betreffende schon
+nicht mehr Künstler, da er dann den Grundtrieb des Künstlers eingebüßt
+hat, nämlich die Liebe zur Kunst einzig um der Kunst willen, und nicht
+aus anderen Gründen, wie etwa, weil sie Ruhm verschafft. Da nehmen Sie
+zum Beispiel diesen S–z: wenn er den Bogen in die Hand nimmt, dann gibt
+es für ihn in der ganzen Welt nichts mehr außer seiner Musik. Nach der
+Musik ist für ihn das Geld die Hauptsache, und erst an dritter Stelle,
+glaube ich, steht für ihn der Ruhm. Aber er hat sich wenig um ihn
+gesorgt ... Wissen Sie, was dagegen diesen Unglücklichen jetzt am
+meisten beschäftigt,“ fuhr B. fort, mit einer Kopfbewegung auf Jefimoff
+deutend. „Ihn beschäftigt jetzt nur eine allerdümmste, nichtigste, ja
+sogar erbärmlichste und lächerlichste Sorge, und zwar die: ist er,
+Jefimoff, größer als S–z oder ist S–z größer als er – und nichts weiter,
+denn er ist auch jetzt noch überzeugt, daß er der erste Künstler der
+Welt sei. Versuchen Sie ihn zu überzeugen, daß er kein Künstler ist, und
+ich versichere Sie, er wird tot hinfallen – es wäre zu schwer, zu
+schrecklich für ihn, auf seine fixe Idee zu verzichten, der er schon
+sein ganzes Leben geopfert hat und deren Grundlage immerhin tief und
+ernst war, denn anfangs gehörte er wirklich zu den Berufenen.“
+
+„Dann kann das ja interessant werden, wenn er jetzt S–z zu hören
+bekommt,“ bemerkte der Fürst.
+
+„Ja,“ sagte B. nachdenklich. „Doch nein: er wird sich auch dann wieder
+mit sich zurechtfinden. Seine Einbildung ist stärker als die Wahrheit,
+die er erfahren könnte: deshalb würde er auch sicherlich gleich
+irgendeine neue Erklärung für sie finden.“
+
+„Meinen Sie?“ fragte der Fürst.
+
+Sie hatten sich inzwischen meinem Vater genähert. Dieser wollte, als er
+sie erblickte, unbemerkt an ihnen vorübergehen, doch B. hielt ihn auf
+und redete ihn an. Er fragte ihn, ob er das Konzert des berühmten S–z
+besuchen werde. Jefimoff antwortete gleichmütig, er wisse das noch
+nicht, er habe da etwas vor, was wichtiger sei als Konzerte und alle
+angereisten Virtuosen: doch übrigens, er werde sehen, bestimmt könne er
+es noch nicht sagen, aber wenn sich gerade ein freies Stündchen
+erübrigen sollte – warum dann schließlich nicht? – vielleicht, wie
+gesagt, werde er sich die Mühe nehmen. Ein schneller, etwas unruhiger
+Blick streifte B. und den Fürsten, ein mißtrauisches, flüchtiges
+Lächeln, dann hob er den Hut, nickte B. zu und ging weiter, unter dem
+Vorwand, daß er keine Zeit habe.
+
+Doch ich wußte schon seit einem Tage um die Sorge des Vaters. Was es nun
+gerade war, was ihn quälte, das wußte ich freilich nicht, aber meiner
+Beobachtung war natürlich nicht entgangen, daß er in der letzten Zeit
+etwas auf dem Herzen hatte. Sogar die Mutter schien dies bemerkt zu
+haben. Sie war in diesen Tagen sehr krank und konnte kaum die Füße
+bewegen, was ihr das Gehen fast unmöglich machte. Der Vater kam bald
+nach Haus, bald ging er wieder fort. Am Morgen erschienen bei uns drei
+oder vier Gäste, seine ehemaligen Freunde, worüber ich mich sehr
+wunderte, da sonst außer Karl Fedorytsch so gut wie kein Mensch zu uns
+kam. Die anderen hatten ja alle schon längst ihre Besuche bei uns
+eingestellt, eben seitdem der Vater nicht mehr am Theater angestellt
+war. Schließlich erschien auch noch Karl Fedorytsch ganz außer Atem und
+in höchster Eile und brachte ein Konzertprogramm. Ich hörte ihren
+Gesprächen zu und beobachtete sie aufmerksam: alles das peinigte mich
+so, daß ich mich gewissermaßen schuld fühlte an dieser ganzen Aufregung
+und Unruhe, die ich im Gesicht des Vaters las. Ich wollte unbedingt
+wissen, wollte verstehen, wovon sie sprachen: und da hörte ich denn zum
+erstenmal den Namen S–z. Aus den weiteren Gesprächen erfuhr ich, daß man
+mindestens fünfzehn Rubel zahlen mußte, wenn man diesen S–z hören
+wollte. Ferner entsinne ich mich noch, wie der Vater plötzlich irgendwie
+die Geduld verlor, mit der Hand geringschätzig durch die Luft schlug und
+halb spöttisch sagte, er kenne diese fremdländischen Wunder, die
+angeblich unerreichbaren Größen mit ihren fabelhaften Talenten, kenne
+auch diesen S–z. Das seien alles Juden, die auf russisches Geld Jagd
+machten, was ihnen hier besonders leicht fiele, da die Russen in ihrer
+Einfalt sowieso schon jeden Unsinn bewunderten, um wieviel mehr noch
+das, was der Franzose aus Chauvinismus in den Himmel höbe, ohne
+beurteilen zu können, was Talent sei und was nicht. Damals wußte ich
+bereits, was das bedeutete: kein Talent haben. Die Gäste lachten und
+bald gingen sie alle wieder fort, während der Vater ganz verstimmt
+zurückblieb. Ich erriet, daß er aus irgendeinem Grunde auf diesen S–z
+böse war, und so trat ich, um ihm zu gefallen und seinen Kummer zu
+zerstreuen, an den Tisch, nahm das Programm, versuchte das Gedruckte zu
+buchstabieren und las laut den Namen S–z. Dann lachte ich, sah den Vater
+an, der in Nachdenken versunken auf dem Stuhl saß, und sagte: „Ach, das
+ist gewiß auch so einer wie Karl Fedorytsch, der wird’s auch nie zu
+etwas bringen!“ Der Vater zuckte zusammen, als hätte ich ihn erschreckt,
+entriß mir das Programm, schrie mich an und trampelte mit den Füßen,
+ergriff seinen Hut und wollte schon aus dem Zimmer gehen, kehrte aber
+sogleich zurück und rief mich auf den Flur hinaus. Dort küßte er mich,
+sagte mir, ich sei ein gutes Kind, ein kluges Kind, und ich würde ihn
+deshalb bestimmt nicht betrüben wollen, er erwarte von mir einen großen
+Dienst – worin dieser aber bestehen sollte, das sagte er nicht. Zudem
+bedrückte es mich, ihn anzuhören: ich sah und fühlte, daß seine
+Freundlichkeit nicht aufrichtig war – und das erschütterte mich
+geradezu. Ich fing an, mich um seinetwillen zu quälen.
+
+Am folgenden Tage beim Mittagessen – d. h. am Tage vor dem Konzert – war
+der Vater wie zerschlagen. Er war so ganz anders und sah immer wieder
+nach der Mutter hin. Schließlich – ich wunderte mich nicht wenig – fing
+er sogar an, mit ihr zu sprechen (ich wunderte mich deshalb, weil er
+sonst fast nie mit ihr sprach). Nach dem Essen aber ließ er es sich
+plötzlich angelegen sein, um meine Gunst zu werben: jeden Augenblick
+rief er mich, bald unter diesem, bald unter jenem Vorwand auf den
+Treppenflur und nachdem er sich vorher umgesehen, als hätte er
+gefürchtet, daß jemand kommen könnte, streichelte und küßte er mich,
+nannte mich ein gutes Kind und ein folgsames Kind, ganz gewiß, sagte er,
+liebte ich meinen Papa und deshalb würde ich auch bestimmt das tun,
+worum er mich bitten werde. Alles das versetzte mich in eine höchste
+Spannung, die schließlich unerträglich wurde. Endlich, als er mich zum
+zehntenmal auf den Treppenflur gerufen hatte, fand die Sache ihre
+Erklärung. Mit schuldbewußter, gequälter Miene, sich fortwährend unruhig
+nach allen Seiten umsehend, fragte er mich, ob ich wisse, wo die Mutter
+jene fünfundzwanzig Rubel aufbewahrte, die sie vor einem Tage nach Haus
+gebracht. Ich erstarrte vor Schreck, als ich diese Frage vernahm. Da
+hörten wir plötzlich ein Geräusch auf der Treppe, der Vater erschrak,
+ließ mich stehen und eilte fort. Er kam erst gegen Abend zurück,
+verwirrt, betreten, niedergeschlagen und besorgt, setzte sich schweigend
+auf einen Stuhl und seine Blicke suchten nun wieder mich, ja er sah mich
+geradezu frohen Mutes an. Da erfaßte mich wieder eine sonderbare Angst
+und ich wich absichtlich seinem Blick aus. Als es schon ganz dunkel
+geworden war, rief mich die Mutter, die den ganzen Tag im Bett gelegen,
+zu sich und gab mir etwas Kupfergeld, für das ich ihr aus dem kleinen
+Laden ein wenig Tee und Zucker kaufen sollte. Tee wurde bei uns sehr
+selten getrunken. Die Mutter erlaubte sich diesen Luxus – denn das war
+er bei unseren beschränkten Mitteln – nur dann, wenn sie sich krank
+fühlte und fieberte. Ich nahm das Geld und kaum war ich auf dem Flur, da
+lief ich, was ich laufen konnte, lief in der Furcht, daß man mir
+nachkommen könnte. Meine Vorahnung täuschte mich auch nicht: der Vater
+holte mich auf der Straße ein und zog mich ins Haus zurück.
+
+„Njetotschka!“ begann er mit unsicherer Stimme. „Mein Täubchen! Höre:
+gib mir dieses Geld, ich werde es dir gleich morgen ...“
+
+„Papa! Papachen!“ rief ich flehend und zitternd und ich warf mich vor
+ihm auf die Knie, um ihn zu beschwören, „Papachen! Ich kann nicht! Ich
+darf nicht! Mama ist krank, sie muß Tee trinken ... Man kann das Geld
+doch nicht Mama nehmen, wirklich nicht, glaub mir! Ein anderes Mal,
+nächstens werde ich dir ...“
+
+„Du willst nicht? Du willst nicht?“ flüsterte er wie in rasender Wut.
+„Also du willst mich nicht mehr lieben? Nun gut! Jetzt verlasse ich
+dich! Bleib denn allein bei Mama, ich werde von euch fortgehen und dich
+nehme ich nicht mit. Hörst du, böses Mädchen, hörst du, was ich sage?“
+
+„Papachen!“ rief ich entsetzt, „nimm das Geld, nimm! Was soll ich jetzt
+tun?“ stammelte ich, mich an seinen Rockschoß klammernd, „Mama wird doch
+weinen, sie ist doch krank, sie wird mich doch wieder schelten!“
+
+Ich glaube, er hatte diesen Widerstand nicht erwartet, aber das Geld
+nahm er; dann – wohl in der Furcht, meinem Jammern und Weinen nicht
+standhalten zu können – verließ er mich schnell und lief auf die Straße.
+Ich stieg die Treppen hinauf, aber vor unserer Stubentür verließen mich
+meine Kräfte. Ich wagte nicht, einzutreten, ich konnte nicht eintreten;
+alles, was an Herz in mir war, war erschüttert und in Aufruhr gebracht.
+Ich vergrub das Gesicht in den Händen und wankte zum Fenster, wie
+damals, als ich den Vater hatte sagen hören, er wünsche, die Mutter
+stürbe bald. So stand ich, die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt,
+wie benommen und erstarrt, und doch lauschte ich und gab acht auf jedes
+noch so leise Geräusch unten auf der Treppe. Endlich hörte ich jemand
+schnell heraufkommen. Das war er; ich erkannte ihn am Gang.
+
+„Bist du hier?“ flüsterte er, als er mich erblickte.
+
+Ich warf mich ihm entgegen.
+
+„Da!“ stieß er rauh hervor und steckte mir das Geld in die Hand, „nimm
+es! Nimm es zurück! Ich bin jetzt nicht mehr dein Vater, hörst du? Ich
+will nicht mehr dein Vater sein! Du liebst Mama mehr als mich! So geh zu
+Mama! Ich will von dir nichts mehr wissen!“ Damit stieß er mich fort und
+eilte wieder die Treppe hinunter. Ich lief ihm weinend nach.
+
+„Papa! Papa! lieber Papa! Ich werde gehorchen!“ rief ich schluchzend,
+„ich liebe dich mehr als Mama! Nimm das Geld, behalt es! – Papa! ...“
+
+Er hörte mich nicht mehr – ich sah nur, daß er verschwunden war.
+
+Diesen ganzen Abend war ich wie krank und zitterte in Fieberschauern.
+Ich weiß noch, die Mutter sagte mir irgend etwas, rief mich zu sich: ich
+war aber nicht bei Besinnung, ich hörte nichts und sah nichts. Es endete
+mit einem Anfall: ich fing an zu weinen, zu schreien – Mama erschrak
+sehr und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie nahm mich zu sich ins Bett
+und ich umschlang ihren Hals und schlief denn auch allmählich ein, doch
+zuckte ich im Schlaf noch jeden Augenblick zusammen oder erschrak über
+irgend etwas. So verging die Nacht. Am anderen Morgen erwachte ich erst
+sehr spät, als die Mutter schon fortgegangen war. Sie ging um diese Zeit
+immer ihrer Arbeit nach. Der Vater und ein Unbekannter saßen im Zimmer
+und beide sprachen sehr laut. Ich konnte es kaum abwarten, bis der
+Fremde endlich aufbrach, und als wir allein waren, lief ich zum Vater
+und bat ihn leise, unter Tränen, mir doch zu verzeihen.
+
+„Und wirst du auch wieder ein gutes Kind sein wie früher?“ fragte er
+mich streng.
+
+„Ja, Papa, ja!“ stammelte ich. „Ich werde dir sagen, wo Mamas Geld
+liegt. Sie hat es in ihrem Kasten, in der Schatulle, dort lag es
+wenigstens gestern.“
+
+„Gestern? Wo?!“ rief er und sprang auf. „Wo lag es?“
+
+„Aber der Kasten ist verschlossen, Papa!“ sagte ich schnell. „Du mußt
+warten, bis Mama mich am Abend schickt, um das Geld zu wechseln, denn
+das Kupfergeld, das habe ich gesehen, ist ausgegangen.“
+
+„Ich brauche fünfzehn Rubel, Njetotschka! Hörst du? Nur fünfzehn Rubel!
+Verschaff’ sie mir heute; morgen werde ich dir alles zurückgeben. Ich
+werde gleich gehen und dir Bonbons bringen, Nüsse auch ... auch eine
+Puppe werde ich dir kaufen ... und morgen wieder eine ... und jeden Tag
+werde ich dir Naschwerk bringen, wenn du ein gutes und folgsames Kind
+sein wirst!“
+
+„Ach nein, das ist nicht nötig, Papa, das ist nicht nötig! Ich will kein
+Naschwerk, ich werde es nicht essen, ich werde es dir zurückgeben!“ rief
+ich, während die Tränen mich fast erstickten, denn mein Herz krampfte
+sich zusammen und wollte vergehen. Ich fühlte in diesem Augenblick, daß
+ich ihm nicht leid tat und daß er mich auch gar nicht liebte, da er doch
+nicht sah, wie ich ihn liebte, und sogar glauben konnte, daß ich für
+Naschwerk ihm dienen werde. In diesem Augenblick begriff ich
+zehnjähriges Kind ihn vollkommen, ich durchschaute ihn ganz und gar und
+schon fühlte ich, daß diese Erkenntnis mich nun für immer durchdrungen
+hatte, daß ich ihn nicht mehr lieben konnte, daß ich meinen früheren
+Papa für immer verloren. Er aber war geradezu begeistert von der
+Aussicht, durch mich das Geld zu bekommen. Er sah nun, daß ich für ihn
+zu allem bereit war, daß ich alles für ihn tun werde, aber nur Gott weiß
+es wie viel dieses „alles“ damals für mich war. Ich wußte, was dieses
+Geld für meine arme Mutter bedeutete; ich wußte, daß sie krank werden
+konnte vor Aufregung und Sorge, wenn ihr dieses Geld abhanden kam, und
+meine Reue schrie in mir. Er aber sah nichts davon, er hielt mich immer
+noch für ein dreijähriges Kind, während ich schon alles begriff. Seine
+Freude kannte keine Grenzen: er küßte mich, redete mir zu, nicht zu
+weinen, versprach mir, heute noch mit mir von der Mutter fortzugehen –
+wahrscheinlich um meiner in dieser Richtung unermüdlich arbeitenden
+Phantasie zu schmeicheln. Schließlich zog er aus seiner Tasche ein
+Konzertprogramm: und nun erzählte er und beteuerte, daß dieser Mensch,
+zu dem er am Abend gehen werde, sein Feind sei, sein Todfeind, aber
+seinen Feinden werde der Anschlag gegen ihn nicht gelingen. Er glich
+entschieden selber einem Kinde, während er von seinen Feinden sprach.
+Als er dann aber bemerkte, daß ich nicht wie gewöhnlich während seiner
+Erzählungen lächelte, sondern ernst und schweigend zuhörte, da nahm er
+seinen Hut und ging aus dem Zimmer, da er noch irgendeinen eiligen Gang
+vorhatte, wie er sagte, aber im Fortgehen küßte er mich noch einmal und
+nickte mir mit einem ungewissen Lächeln zu, als hätte er sich meiner
+doch nicht ganz sicher gefühlt, und wie um der Möglichkeit vorzubeugen,
+daß ich meine Absicht etwa wieder änderte.
+
+Ich sagte bereits, daß er wie ein Wahnsinniger war: das fühlte ich schon
+am Tage vor dem Konzert. Das Geld brauchte er, um ein Billett zu diesem
+Konzert kaufen zu können – als wenn sein Vorgefühl ihm ganz richtig die
+Ahnung eingegeben hätte, daß dieses Konzert sein ganzes Schicksal
+entscheiden mußte! Darüber verlor er so den Kopf, daß er am Vorabend das
+bißchen Kupfergeld von mir nehmen wollte, als hätte er sich schon damit
+das Billett verschaffen können. Noch stärker machte sich sein seltsames
+Wesen bei Tisch bemerkbar, als wir wie gewöhnlich spät am Nachmittag zu
+Mittag aßen. Er konnte einfach nicht stillsitzen und aß keinen Bissen,
+jeden Augenblick stand er auf und setzte sich, wie sich besinnend,
+wieder hin; bald griff er nach dem Hut, als wollte er fortgehen, bald
+war er seltsam zerstreut, bald flüsterte er vor sich hin, bald sah er
+plötzlich auf und suchte mich mit den Augen, um mir dann zuzuzwinkern
+und verschiedene Zeichen zu machen, vor lauter Ungeduld, endlich in den
+Besitz des Geldes zu gelangen, und als ärgere er sich über mich, daß ich
+es noch immer nicht der Mutter entwendet hatte. Sogar der Mutter fiel
+sein fremdes Wesen auf und sie sah ihn verwundert an. Ich aber war wie
+zum Tode verurteilt. Nach dem Essen zog ich mich in meinen Winkel zurück
+und zitternd vor Fieber zählte ich die Sekunden bis zu der Zeit, wo die
+Mutter mich gewöhnlich nach Kleinigkeiten in den Laden schickte. In
+meinem Leben habe ich nicht qualvollere Stunden verbracht: sie werden
+ewig und unverwischbar in meiner Erinnerung stehen. Was durchfühlte ich
+da nicht alles in Gedanken! Es gibt Zeitspannen – man könnte sie mit
+einer Anzahl Minuten beziffern –, wo man in seiner Erkenntnis viel mehr
+erlebt, als in ganzen Jahren. Mein Gefühl wußte, daß ich etwas
+Schlechtes und Häßliches zu tun im Begriff war; er selbst hatte ja noch
+meine guten Instinkte bestärkt, als er mich das erstemal kleinmütig zum
+Schlechten verleitet, um mir dann, vielleicht erschrocken, jedenfalls
+aber das Geschehene bereuend, zu erklären, daß ich sehr schlecht
+gehandelt hatte. Begriff er denn nicht, wie schwer es ist, eine Natur zu
+betrügen, die begierig ist, ihre Eindrücke ganz zu erfassen und die
+schon viel Schlechtes und Gutes durchfühlt und durchdacht hat? Ich
+begriff doch, daß es die äußerste Not war, die ihn bewog, mich nochmals
+ins Laster zu stoßen und somit meine arme, schutzlose Kindheit zu opfern
+– die ihn bewog, es nochmals zu wagen, meinem noch ungefestigten
+Gewissen diesen Stoß zu versetzen. Und während ich dort in meinem Winkel
+kauerte, fing ich an, bei mir darüber nachzudenken: warum versprach er
+mir noch eine Belohnung für das, was ich schon aus eigenem freiem Willen
+tun wollte? Neue Empfindungen, neue, bis dahin noch nie empfundene
+Triebe, neue Fragen erhoben sich scharenweis in mir, und ich quälte mich
+mit ihnen. Dann mußte ich plötzlich an die Mutter denken. Ich stellte
+mir ihre Verzweiflung vor, wenn ihr dieser mühselig erarbeitete Lohn
+genommen würde. Endlich legte die Mutter die Arbeit, die sie schon über
+ihre Kräfte verrichtete, aus der Hand und rief mich. Ich erbebte und
+ging zu ihr. Sie nahm aus der Kommode das Geld und indem sie es mir gab,
+sagte sie:
+
+„Geh, Njetotschka. Nur laß dir um Gottes willen nicht falsch
+zurückgeben, wie neulich, und sieh dich vor, daß du auch nichts
+verlierst.“
+
+Ich sah flehend zum Vater hinüber, aber er nickte mir zu, lächelte
+zustimmend und rieb sich die Hände vor Ungeduld. Die Uhr schlug sechs,
+das Konzert sollte um acht beginnen. Auch er muß während dieses Wartens
+viel erduldet haben.
+
+Ich blieb auf der Treppe stehen, um auf ihn zu warten. Er war aber so
+aufgeregt und ungeduldig, daß er alle Vorsicht vergaß und mir hastig und
+fast auf dem Fuß folgte. Ich gab ihm das Geld: auf der Treppe war es
+dunkel, sein Gesicht konnte ich nicht sehen; aber ich fühlte, daß er am
+ganzen Körper zitterte, als er das Geld empfing. Ich stand erstarrt wie
+im Krampf, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich kam erst zu mir, als er
+mich nach oben schickte, um ihm seinen Hut aus dem Zimmer zu holen. Er
+wollte nicht einmal mehr hineingehen.
+
+„Papa! Wirst du ... denn nicht mitkommen ins Zimmer?“ fragte ich mit
+versagender Stimme, mich noch an meine letzte Hoffnung klammernd – an
+seinen Beistand.
+
+„Nein ... du geh lieber allein ... was? Wart’ wart’!“ rief er, sich
+schnell besinnend, „wart’, ich werde dir gleich Naschwerk bringen – aber
+du geh nur erst ins Zimmer und bring mir meinen Hut her.“
+
+Mir war, als presse eine eiskalte Hand mein Herz zusammen. Plötzlich –
+stieß ich ihn fort und eilte wie gejagt die Treppe hinauf. Als ich ins
+Zimmer trat – sah ich verstört aus, und wenn ich damals gesagt hätte,
+daß man mir das Geld genommen, da hätte die Mutter es mir wohl geglaubt.
+Aber ich konnte keinen Laut hervorbringen. In einem Anfall der
+Verzweiflung, die mich plötzlich wie ein Krampf packte, warf ich mich
+über das Bett der Mutter und vergrub das Gesicht in den Händen. Nach
+einer Weile hörte ich die Tür leise kreischen und der Vater trat ins
+Zimmer. Er kam, um sich seinen Hut zu holen.
+
+„Wo ist das Geld?!“ rief plötzlich die Mutter, die jetzt blitzartig
+erriet, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. „Wo ist das Geld?
+Sprich! Sprich!“ Und sie riß mich vom Bett und stellte mich vor sich
+hin, mitten ins Zimmer.
+
+Ich schwieg, den Blick zu Boden gesenkt; ich wußte kaum, was in mir
+vorging und was man mit mir tat.
+
+„Wo ist das Geld?!“ schrie sie mich an und plötzlich – sah sie sich nach
+dem Vater um, der schon nach dem Hut griff. „Wo ist das Geld?“
+wiederholte sie. „Ah! Dir hat sie es gegeben? Du Verruchter! Mein Mörder
+du! Mein Henker! So willst du auch sie verderben! Das Kind! sie, sie?!
+Nein doch! So gehst du mir nicht fort!“
+
+Und schon war sie bei der Tür, verschloß sie und steckte den Schlüssel
+zu sich.
+
+„Sprich! Gestehe!“ wandte sie sich an mich – mit einer Stimme, die vor
+Erregung kaum hörbar war, „gestehe mir alles! So sprich doch, sprich!
+Oder ... ich weiß nicht, was ich mit dir mache!“
+
+Sie ergriff meine Hände und zerdrückte sie beinahe, um mich zum
+Geständnis zu zwingen. Sie war außer sich und sich gewiß nicht
+vollkommen bewußt dessen, was sie tat. Ich aber schwor mir, zu
+schweigen, kein Wort vom Vater zu sagen, – doch schlug ich schüchtern
+zum letzten Male die Augen zu ihm auf ... Ein Blick von ihm, nur ein
+Wort, irgend etwas, was ich von ihm erwartete und worum ich bei mir im
+stillen betete – und ich wäre glücklich gewesen trotz aller Schmerzen,
+trotz jeder Folter ... Doch – mein Gott! Mit einer gefühllosen,
+drohenden Geste befahl er mir, zu schweigen, als hätte ich in diesem
+Augenblick noch irgendeines anderen Drohung fürchten können. Es schnürte
+mir die Kehle zu, benahm mir den Atem, meine Füße – ich fühlte sie nicht
+mehr ... bewußtlos fiel ich hin ... Der Anfall, den ich tags zuvor
+gehabt, wiederholte sich.
+
+Ich erwachte, als plötzlich an unsere Tür geklopft wurde. Die Mutter
+öffnete sie und erblickte einen Menschen in einer Livree, der etwas
+zögernd ins Zimmer trat, sich verwundert umsah und nach dem Musiker
+Jefimoff fragte. Der Vater sagte, daß er derjenige sei, den er suche. Da
+überreichte ihm der Diener ein Kuvert und erklärte, Herr B., der
+augenblicklich beim Fürsten H. weile, habe ihn geschickt. Das Kuvert
+enthielt ein Billett zum Konzert des berühmten S–z.
+
+Das Erscheinen dieses Dieners in der glänzenden Livree, dieses
+Abgesandten vom Fürsten H., der ihn zu dem armen Musiker schickte – all
+das machte im ersten Augenblick einen großen Eindruck auf die Mutter.
+Ich sagte bereits, daß die arme Frau meinen Vater immer noch liebte.
+Selbst nach ganzen acht Jahren der Enttäuschungen, des Kummers und Leids
+hatte ihr Herz sich noch nicht verändert: ja, sie konnte ihn immer noch
+lieben! Weiß Gott, vielleicht sah sie nun wieder eine Veränderung in
+seinem Leben bevorstehen. Sogar der Schatten einer Hoffnung konnte sie
+schon beeinflussen. Wer weiß, vielleicht hatte er sie in seiner
+Verschrobenheit einfach angesteckt mit seinem unerschütterlichen
+Selbstbewußtsein! Und es wäre doch auch gar nicht anders möglich
+gewesen, als daß dieses Selbstbewußtsein auf sie, die schwache Frau,
+nicht einen gewissen Einfluß gehabt hätte – was Wunder, wenn sie da auf
+diese Aufmerksamkeit des Fürsten gleich tausend Pläne für ihn baute.
+Sofort war sie bereit, wieder gut zu ihm zu sein, ihm alles zu
+verzeihen, die Qual der ganzen Zeit ihres gemeinsamen Lebens, sogar
+diese letzte Schandtat miteinbegriffen, – daß er ihr einziges Kind zu
+opfern sich nicht scheute – war bereit, getragen von der Flut ihrer
+wieder hervorbrechenden Hoffnung, diese Schandtat als ein einfaches,
+kleines Vergehen aufzufassen, als einen Kleinmut, wenn man will, den die
+Armut, das elende Leben und seine verzweifelte Lage entschuldigen
+konnten. So verzieh sie ihm, und empfand in diesem Augenblick
+unendliches Mitleid für den verkommenen Mann.
+
+Der Vater geriet in Aufregung. Auch ihn überraschte die Aufmerksamkeit
+B.s und des Fürsten. Er wandte sich ohne weiteres an die Mutter,
+flüsterte ihr etwas zu und sie verließ das Zimmer. Nach etwa zwei
+Minuten kehrte sie zurück, brachte das gewechselte Geld und der Vater
+gab dem Diener sogleich einen Silberrubel, worauf dieser nach einer
+höflichen Verbeugung fortging. Die Mutter verließ nun wieder für einen
+Augenblick das Zimmer und kehrte mit einem Bügeleisen zurück, suchte das
+beste Vorhemd ihres Mannes heraus und bügelte es auf. Sie band ihm
+eigenhändig die weiße Batistkrawatte um den Hals, die sich seit
+undenklichen Zeiten noch erhalten hatte samt einem schwarzen, schon
+recht abgetragenen Frack, der für ihn noch vor seinem Eintritt ins
+Orchester angefertigt worden war. Nachdem er die Toilette beendet hatte,
+nahm er den Hut, doch vor dem Fortgehen bat er noch um ein Glas Wasser.
+Er war bleich und setzte sich in vollkommener Erschöpfung auf einen
+Stuhl. Das Wasser mußte ich ihm übrigens reichen – vielleicht hatte sich
+schon ein feindseliges Gefühl ins Herz der Mutter geschlichen und ihre
+erste Aufwallung abgekühlt?
+
+Dann ging der Vater. Wir waren allein. Ich zog mich wieder in meinen
+Winkel zurück und von dort aus sah ich lange schweigend auf die Mutter.
+Zum erstenmal sah ich sie in einer solchen inneren Aufregung: ihre
+Lippen bebten, die bleichen Wangen hatten sich gerötet und von Zeit zu
+Zeit bemerkte ich an ihr nervöse Zuckungen. Zuletzt brach ihre Qual das
+Schweigen und ihr ganzes Elend drängte sich in Klagen unter dumpfem,
+verzweifeltem Aufschluchzen hervor.
+
+„Ich, ich allein bin an allem schuld, ich Unselige!“ klagte sie sich an.
+„Und was soll aus ihr werden? Was wird aus ihr, wenn ich sterbe?“ Sie
+blieb plötzlich mitten im Zimmer stehen wie getroffen durch diesen einen
+Gedanken. „Njetotschka! Mein Kind! Mein armes Kind! Du Unglückliche, du
+Arme!“ sagte sie, meine Hände erfassend und mich krampfhaft umarmend.
+„Bei wem lasse ich dich, wenn ich dich nun nicht mehr erziehen, dich
+nicht mehr hegen und pflegen kann? Mein armer Liebling! Oh, du verstehst
+mich nicht! Oder doch? Wirst du behalten, was ich dir jetzt sage,
+Njetotschka? Wirst du dich später noch dessen erinnern?“
+
+„Ja, Mamachen, ja!“ beteuerte ich und faltete die Hände, wie um es zu
+beschwören.
+
+Lange und fest hielt sie mich in ihren Armen, als bangte ihr vor dem
+Gedanken, daß sie sich von mir trennen mußte. Mein Herz wollte brechen.
+
+„Mamachen! Mama ...“ stammelte ich stockend, denn das Schluchzen saß mir
+in der Kehle, „warum ... warum liebst du Papa nicht?“ Und die
+unterdrückten Tränen liefen mir über die Wangen.
+
+Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Und wieder, von neuer Qual
+gepeinigt, setzte sie ihre Wanderung durch das Zimmer fort.
+
+„Die Arme, die Arme! Und ich hab’ es nicht einmal bemerkt, wie sie
+herangewachsen ist! Sie weiß, sie weiß alles! Mein Gott! Und was waren
+das hier für Eindrücke, welch ein Beispiel!“ Und sie rang die Hände in
+ihrer Verzweiflung.
+
+Dann kam sie wieder zu mir und küßte mich in wahnsinniger Liebe, küßte
+meine Hände, auf die ihre Tränen fielen, bat, flehte um Verzeihung ...
+Ich hatte noch nie soviel Leid, noch nie einen Menschen so vor Leid
+zusammenbrechen gesehen ... Schließlich versank sie gleichsam ermattet
+in stumpfes Brüten. So verging wohl eine ganze Stunde. Endlich stand sie
+müde auf, sichtlich erschöpft, und sagte mir, ich solle schlafen gehen.
+Ich ging in meinen Winkel, tat wie sie geheißen, wickelte mich fest in
+die Decke – aber einschlafen konnte ich nicht. Mich quälten die Gedanken
+an sie und die Gedanken an den Vater. Mit Ungeduld erwartete ich seine
+Rückkehr. Entsetzen erfaßte mich bei dem Gedanken an ihn. Ungefähr nach
+einer halben Stunde nahm die Mutter das Licht und trat leise an mein
+Bett, um zu sehen, ob ich schlafe. Ich schloß schnell die Augen und
+stellte mich schlafend, damit sie sich beruhigte. Als sie sich dann von
+meinem Schlaf überzeugt hatte, ging sie leise zum Schrank, öffnete ihn
+und schenkte sich ein Glas Wein ein. Sie trank und legte sich dann
+schlafen. Das brennende Licht blieb auf dem Tisch und die Tür
+unverschlossen, wie das immer geschah, wenn der Vater spät nach Hause
+kam.
+
+Ich lag in halber Bewußtlosigkeit, doch kein Schlaf schloß meine Augen.
+Kaum sank ich in Schlummer, da wachte ich auch schon wieder auf,
+erschreckt durch furchtbare Traumgesichte. Die Beklemmung wuchs und
+wurde immer bedrückender. Ich wollte schreien, doch der Schrei erstarb
+in meiner Brust. Endlich – schon spät in der Nacht – hörte ich, wie
+unsere Tür geöffnet wurde. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit darüber
+verstrich, als ich aber die Augen plötzlich ganz aufschlug, da erblickte
+ich den Vater. Wie es mir schien, war er sehr bleich. Er saß auf dem
+Stuhl gleich neben der Tür und war in Gedanken versunken. Im Zimmer
+herrschte Totenstille. Das tropfende Talglicht erhellte traurig unser
+Heim.
+
+Ich sah lange auf den Vater, aber er rührte sich noch immer nicht. Er
+saß unbeweglich, immer in derselben Stellung, den Kopf auf die Brust
+gesenkt und die Hände starr auf die Knie gestützt. Zwei-, dreimal wollte
+ich ihn anrufen, aber ich konnte es nicht. Meine Erstarrung wich nicht
+von mir. Plötzlich erwachte er gleichsam aus seiner Versunkenheit, sah
+auf und erhob sich vom Stuhl. Eine Weile stand er mitten im Zimmer – es
+war, als suchte er nach einem Entschluß. Dann trat er plötzlich ans Bett
+der Mutter, horchte, und nachdem er sich überzeugt, daß sie schlief,
+ging er zum Koffer, in dem seine Geige lag.
+
+Er öffnete den Verschluß, nahm den schwarzen Violinkasten und stellte
+ihn auf den Tisch; dann sah er sich wieder um; sein Blick war trüb und
+unstet, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.
+
+Er nahm die Violine, legte sie aber gleich wieder hin, kehrte zurück zur
+Tür und verschloß sie. Dann, als er den offenstehenden Schrank bemerkte,
+ging er leise hin, sah dort das Glas und den Wein stehen, schenkte sich
+ein und trank. Darauf griff er zum drittenmal zur Geige, legte sie aber
+zum drittenmal wieder hin und ging nochmals zum Bett der Mutter. Starr
+vor Angst erwartete ich, was nun geschehen werde.
+
+Er stand lange horchend, zu lange, wie mir schien. Dann schlug er
+plötzlich die Decke von ihrem Gesicht zurück und befühlte es mit der
+Hand. Ich zuckte zusammen. Er beugte sich nochmals über sie, ganz tief,
+sein Kopf berührte sie fast, als er sich aber zum letztenmal
+aufrichtete, da glitt es wie ein Lächeln über sein unheimlich bleiches
+Gesicht. Leise und behutsam breitete er die Decke wieder über die
+Schlafende, bedeckte den Kopf, die Füße ... ich aber begann zu zittern,
+in einer dunklen, unklaren Angst: ich fürchtete für die Mutter,
+fürchtete ihren tiefen Schlaf, mit bangem Herzklopfen sah ich unverwandt
+auf diese unbewegliche Linie der Decke, die in eckigen Umrissen über den
+Gliedmaßen ihres Körpers lag ... Wie ein Blitz durchzuckte plötzlich ein
+furchtbarer Gedanke mein Gehirn!
+
+Nachdem er alle Vorbereitungen beendet, ging er wieder zum Schrank und
+trank den Rest des Weines aus. Er zitterte am ganzen Körper, als er an
+den Tisch trat. Man konnte ihn kaum wiedererkennen – so totenblaß war
+er. Wieder nahm er die Geige. Ich hatte sie schon gesehen und wußte, daß
+sie ein Instrument zum Spielen war, aber jetzt erwartete ich von ihr
+etwas Schreckliches, Unheimliches, Wunderbares ... und ich fuhr zusammen
+unter ihren ersten Tönen. Der Vater begann zu spielen. Doch die Töne
+sprangen seltsam und unterbrochen durcheinander; auch hielt er jeden
+Augenblick inne, wie um sich an etwas zu erinnern; – bis er mit
+zerquältem Antlitz den Bogen hinlegte und so eigentümlich auf das Bett
+sah. Dort schien ihn etwas immer noch zu beunruhigen. Wieder ging er zum
+Bett ... Jede seiner Bewegungen verfolgte ich und ließ ihn nicht aus den
+Augen, obgleich mir das Herz stillstand vor Angst.
+
+Plötzlich begann er eilig nach irgend etwas zu suchen – und wieder
+durchzuckte mich jener furchtbare Gedanke. Ich fragte mich: warum wachte
+sie denn nicht auf, als er ihr Gesicht befühlte? Dann sah ich, daß er
+alles zusammenschleppte, was es an Kleidern bei uns gab: er nahm die
+Jacke der Mutter, seinen alten Rock und seinen Schlafrock, sogar mein
+Kleid, das ich über eine Stuhllehne geworfen hatte, und mit all dem
+deckte er sie zu, so daß von ihr unter dem Kleiderhaufen nichts mehr zu
+sehen war. Sie lag immer noch regungslos, ohne ein Glied zu rühren.
+
+Sie schlief einen tiefen Schlaf.
+
+Es war mir, als atmete er freier auf, sobald auch diese Arbeit getan
+war. Jetzt störte ihn nichts mehr, nur irgend etwas beunruhigte ihn
+noch: er rückte das Licht von seinem Platz und setzte es etwas weiter,
+und sich selbst stellte er mit dem Gesicht zur Tür, um vom Bett nichts
+mehr zu sehen. Dann nahm er die Geige und wie mit einer Geste der
+Verzweiflung schlug er mit dem Bogen auf die Saiten ... Die Musik
+begann.
+
+Doch das war nicht Musik ... Ich erinnere mich deutlich jener Nacht,
+erinnere mich alles dessen, was ich damals sah und hörte, und um wieviel
+mehr noch dessen, was einen so erschütternd tiefen Eindruck auf mich
+machte. Nein, das war nicht Musik, wie ich sie später zu hören
+Gelegenheit gehabt habe! Das waren nicht Töne einer Geige, sondern es
+war, als wenn zum erstenmal in unserer dunklen Wohnung jemandes
+grauenhafte Stimme donnernd erscholl. Oder waren meine Empfindungen
+falsch, vielleicht krankhaft und überreizt, oder hatte das, was ich
+bereits erlebt und gesehn, meine Gefühle auf diese erschütternden und
+erlösungslos qualvollen Eindrücke schon derartig vorbereitet –
+gleichviel! – ich bin trotzdem fest überzeugt, daß ich Gestöhn, eines
+Menschen Schreie und Schluchzen hörte. Tiefste Verzweiflung ergoß sich
+in diesen Tönen, und als es schließlich zum furchtbaren Finale kam, in
+dem alles hervorbrach, was es an schluchzendem Weh, was es an Qual in
+zerquälten Herzen und an Sehnsucht in hoffnungslosem Sehnen gibt, und
+als all das sich plötzlich wie zu einem einzigen Ausdruck vereinigte ...
+da konnte ich es nicht mehr aushalten – ich erbebte, Tränen entströmten
+meinen Augen und mit einem verzweifelten Schrei stürzte ich zum Vater
+und umklammerte ihn mit meinen Armen. Er schrie auf und ließ seine Geige
+sinken.
+
+Eine Weile stand er betäubt, wie verloren. Dann begannen seine Augen
+nach allen Seiten hin zu springen und zu laufen, als suche er etwas –
+plötzlich erfaßte er die Geige, holte mit ihr über meinem Kopfe aus ...
+noch ein Augenblick, und er hätte mich wohl auf der Stelle erschlagen.
+
+„Papa!“ schrie ich auf, „Papachen!“
+
+Er erzitterte am ganzen Körper und trat taumelnd zwei Schritte zurück.
+
+„Ach! Da bist ja auch du noch! So ist noch nicht alles aus! So bist du
+mir noch geblieben!“ schrie er, mich an den Schultern mit Wucht
+emporhebend.
+
+„Papachen!“ rief ich, in der Luft von ihm gehalten, „nicht, nicht! Ich
+fürchte mich! Ach, bitte, nicht!“
+
+Mein Weinen schien Eindruck auf ihn zu machen. Er stellte mich
+vorsichtig wieder hin und sah mich eine Weile stumm an, als erkenne er
+mich – und erinnere er sich nach und nach an etwas Vergessenes. Und
+plötzlich war es, als drehe ihn innerlich irgend etwas um, als träfe ihn
+plötzlich ein furchtbarer Gedanke – aus seinen trüben Augen brach ein
+Strom von Tränen, und er beugte sich zu mir nieder und begann mir
+aufmerksam ins Gesicht zu sehen.
+
+„Papachen!“ bettelte ich angstvoll, „sieh mich nicht so an, Papachen!
+Laß uns von hier fortgehen! Komm schnell! Komm, wir wollen laufen!“
+
+„Ja, laufen wir, laufen wir! Es ist Zeit! gehen wir, Njetotschka!
+Schnell, schnell!“ Und eine Hast kam über ihn, als sei er erst jetzt
+drauf verfallen, was er zu tun hatte. Geschäftig sah er sich nach allen
+Seiten um, – ein Taschentuch der Mutter, das auf dem Fußboden lag, hob
+er schnell auf und steckte es zu sich, dann erblickte er noch eine
+Kopfbedeckung und auch diese hob er auf und verbarg sie bei sich, als
+rüste er sich zu einer weiten Reise und wolle sich nun mit allem
+versorgen, was er vielleicht brauchen konnte.
+
+Ich zog mir im Nu mein Kleid an und begann gleichfalls in großer Eile
+zusammenzuraffen, was mir für die Reise notwendig erschien.
+
+„Hast du alles? hast du alles?“ fragte er, mich zur Eile antreibend,
+„ist alles fertig? Dann schnell, schnell!“
+
+Ich machte eilig mein Bündel fertig, warf mir ein Tuch um den Kopf und
+schon waren wir im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als es mir
+plötzlich einfiel, daß ich ja auch noch das Bild, das an der Wand hing,
+mitnehmen mußte. Der Vater war damit sogleich einverstanden. Er war
+jetzt ganz still, sprach nur flüsternd und trieb mich nur zur Eile an.
+So holten wir beide einen Stuhl herbei, stellten auf ihn die Bank – und
+dann erst gelang es uns, als wir endlich mit Mühe und Not auf dieses
+wackelige Gestell hinaufgeturnt waren, das Bild zu erreichen. Damit
+hatten wir alle Vorbereitungen getroffen. Er nahm mich an der Hand und
+wir wollten schon gehen – aber plötzlich blieb er stehen. Er rieb sich
+lange die Stirn, als müsse er sich auf irgend etwas besinnen, was wir
+noch vergessen hatten. Endlich fiel es ihm ein: er suchte unter dem
+Kopfkissen der Mutter nach dem Schlüsselbund, schloß die Kommode auf und
+begann eilig nach etwas zu kramen und zu wühlen. Endlich kehrte er zu
+mir zurück und brachte mir einiges Geld, das er in der Schatulle
+gefunden hatte.
+
+„Hier, nimm, nimm das, verwahre es,“ flüsterte er, „verlier’s nicht, und
+vergiß es nicht, vergiß es nicht!“
+
+Er gab mir zuerst das Geld in die Hand, nahm es aber wieder zurück und
+steckte es mir in das Leibchen. Ich weiß noch, daß ich zusammenzuckte,
+als dieses Silber meinen Körper berührte, und es war, als begriffe ich
+jetzt zum erstenmal, was Geld ist. Wir waren nun wieder fertig zum
+Aufbruch, doch plötzlich hielt er mich nochmals zurück.
+
+„Njetotschka!“ – er dachte ersichtlich mit großer Anstrengung nach.
+„Mein Kindchen, ich ... ich vergaß ... Ja was denn? ... was war’s doch?
+... Ich weiß nicht mehr ... Ja, ja richtig! da fällt’s mir ein! ... Komm
+her, Njetotschka!“
+
+Er führte mich nach dem Winkel, wo das Heiligenbild hing und sagte, ich
+solle niederknien.
+
+„Bete, mein Kind, bete! Es wird dir besser sein! ... Ja, wirklich, es
+wird besser sein,“ flüsterte er mir zu, auf das Heiligenbild deutend,
+und dabei sah er mich so seltsam an. „Bete, Njetotschka, bete, bete!“
+sagte er mit eigentümlich flehender, beschwörender Stimme.
+
+Ich warf mich auf die Knie, faltete die Hände, und, erfüllt von
+Entsetzen, von Verzweiflung, die sich meiner bemächtigt hatten, schlug
+ich mit der Stirn auf den Boden und lag minutenlang wie erstarrt. Ich
+nahm krampfhaft alle meine Gedanken zusammen, sammelte alle meine
+Gefühle in meinem Gebet – aber die Angst überwältigte mich. Ich erhob
+mich wie gemartert von Leid. Ich wollte nicht mehr mit ihm gehen; ich
+fürchtete ihn; ich wollte dableiben. Schließlich brach das, was mich so
+quälte und bedrückte, mit Gewalt aus mir hervor.
+
+„Papa!“ rief ich unter strömenden Tränen, „aber Mama? ... – Was wird mit
+Mama? Wo ist sie? Wo ist meine Mama?“ ...
+
+Die Tränen erstickten meine Stimme, ich brachte nichts mehr hervor.
+
+Auch er sah mich unter Tränen an. Dann faßte er mich an der Hand, führte
+mich zum Bett, schob den draufgeworfenen Haufen Kleider fort und schlug
+die Decke zurück. Mein Gott! Sie lag tot, schon erkaltet und erstarrt.
+Das Gesicht hatte bereits bläuliche Leichenfarbe. Da warf ich mich, als
+wäre mir jede Empfindung abhanden gekommen, über sie und umklammerte
+ihre Leiche. Der Vater stellte mich auf die Knie.
+
+„Verneige dich vor ihr, Kind!“ sagte er, „nimm Abschied von ihr ...“
+
+Ich neigte mich tief. Der Vater tat es zugleich mit mir ... Er war
+unheimlich bleich; seine Lippen bewegten sich und schienen zu flüstern.
+
+„_Ich_ war es _nicht_, Njetotschka, _ich nicht_,“ sagte er zu mir, mit
+zitternder Hand auf die Leiche deutend. „Hörst du, _ich nicht_: _ich bin
+nicht schuld daran_. Behalt das, Njetotschka.“
+
+„Papa, laß uns jetzt gehen,“ flüsterte ich angstvoll. „Es ist Zeit!“
+
+„Ja, jetzt ist’s Zeit, schon längst Zeit!“ sagte er schnell, faßte fest
+meine Hand und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen. „So, jetzt brechen
+wir auf! Gott sei Dank, Gott sei Dank, jetzt hat alles ein Ende!“
+
+Wir stiegen die Treppen hinunter. Der verschlafene Hausknecht öffnete
+uns die Tür, während er uns etwas mißtrauisch musterte und sich fragen
+mochte, weshalb der Vater sich so beeilte, daß ich ihm kaum nachkam. Wir
+gingen unsere Straße bis zum Ende und gelangten auf den Kai des Kanals.
+In der Nacht war Schnee gefallen, der lag weiß auf der Straße, und es
+schneite auch jetzt noch in feinen Flöckchen. Es war kalt; mich fror bis
+ins Mark und ich lief dem Vater nach, mich krampfhaft an seinem
+Frackschoß festhaltend. Die Geige hatte er unterm Arm und immer wieder
+blieb er stehen, um das Futteral, das zurückglitt, nach vorn zu ziehen.
+
+Wir gingen etwa eine Viertelstunde. Da bog er vom Trottoir auf den
+abschüssigen Weg, der zum Kanal hinabführt, und setzte sich auf den
+letzten Prellstein. Zwei Schritte von uns war ein Durchgang. Ringsum war
+keine Menschenseele zu sehen. Gott! Als erlebte ich es noch in diesem
+Augenblick, so deutlich erinnere ich mich jenes furchtbaren Gefühls, das
+mich dort plötzlich erfaßte! Endlich also ging das in Erfüllung, wovon
+ich schon ein Jahr lang geträumt: wir hatten unser armseliges Heim
+verlassen ... Aber war es denn das, was ich ersehnt, was ich erträumt
+und erhofft, was meine Kinderphantasie sich aufgebaut, wenn ich mir das
+Glück desjenigen, den ich so unkindlich liebte, vorzustellen versucht
+hatte? Doch am meisten quälte mich plötzlich der Gedanke an die Mutter.
+Warum hatten wir sie verlassen? fragte ich mich, – so ganz allein? Warum
+hatten wir ihren Leib wie eine unnütze Sache dort liegen lassen? Und ich
+weiß noch, das quälte und beunruhigte mich mehr als alles andere.
+
+„Papachen,“ begann ich, unfähig, meine qualvolle Sorge länger zu
+ertragen, „Papachen!“
+
+„Was willst du?“ fragte er rauh.
+
+„Warum haben wir, Papa, warum haben wir Mama dort gelassen? Warum
+verließen wir sie?“ fragte ich weinend. „Papachen! Laß uns nach Haus
+zurückkehren! Laß uns jemand zu ihr rufen.“
+
+„Ja, ja!“ rief er plötzlich auffahrend und er erhob sich vom Prellstein,
+als sei ihm etwas Neues eingefallen, das alle seine Zweifel aufhob. „Ja,
+Njetotschka, so geht das nicht: wir müssen zur Mama zurückkehren; sie
+hat es dort kalt! Geh zu ihr, Njetotschka, dort ist ein Licht, du weißt
+doch! Fürchte dich nicht, ruf jemand zu ihr und dann komm wieder her zu
+mir. Geh allein, ich werde dich hier erwarten ... Ich werde nirgendwohin
+fortgehen ...“
+
+Ich ging, aber kaum war ich wieder auf dem Trottoir, als plötzlich ein
+Etwas durch mein Herz fuhr ... Jäh blickte ich mich um und da – sah ich
+ihn laufen, schon auf der anderen Seite, sah ihn von mir fortlaufen! Er
+verließ mich also, verließ mich in diesem Augenblick! Ich schrie aus
+aller Kraft und lief ihm in furchtbarer Angst nach. Ich war außer Atem,
+er aber lief immer schneller, immer schneller ... ich verlor ihn schon
+aus den Augen. Ich fand seinen Hut, den er im Laufen verloren hatte. Ich
+hob ihn auf und lief wieder weiter. Ich rang nach Atem und meine Füße
+wollten mir versagen. Ich hatte die Empfindung, daß etwas Schreckliches
+mit mir geschah: es schien mir die ganze Zeit, daß das ein Traum sei,
+und zuweilen hatte ich sogar dasselbe Gefühl wie in einem Traum, wenn
+mir träumte, daß ich von irgend jemand fortlief, meine Füße aber brechen
+wollten, während meine Verfolger mich bereits erreichten – und ich
+selbst jäh in einen Abgrund stürzte. Qual wollte mich zerreißen: er tat
+mir so leid, mein Herz schrie nach ihm und es wollte brechen, als ich
+mir vorstellte, wie er lief, so ohne Mantel, ohne Hut, und noch dazu von
+mir fort, von mir, seinem geliebten Kinde ... Ich wollte ihn schließlich
+nur erreichen, um ihn noch einmal mit meinen Armen fest zu umschlingen
+und ihn zu küssen und ihm zu sagen, daß er mich nicht fürchten solle: um
+ihn meiner Liebe zu versichern, ihn zu beruhigen, um ihm zu sagen, daß
+ich ihm ja nicht weiter nachlaufen wolle, wenn er das nicht wünsche, daß
+ich vielmehr allein zur Mutter zurückgehen werde. Ich sah, wie er in
+eine Straße einbog. Als ich gleichfalls an diese Ecke kam und auch in
+die Straße einbog, sah ich ihn noch einmal, doch weit vor mir,
+dahinlaufen ... Dann verließen mich meine Kräfte: ich fing an zu weinen,
+zu schreien. Ich weiß noch, daß ich während des Laufens mit zwei Männern
+zusammenstieß, die mitten auf dem Trottoir stehenblieben und verwundert
+uns beiden nachschauten.
+
+„Papa! Papachen!“ rief ich zum letztenmal, doch plötzlich glitt ich aus
+auf dem Trottoir und fiel hin, gerade vor dem Portal eines Hauses. Ich
+fühlte, wie Blut mein ganzes Gesicht überströmte. Im nächsten Augenblick
+verlor ich die Besinnung. – – – –
+
+ * * * * *
+
+Ich erwachte in einem weichen, warmen Bett und erblickte vor mir
+freundliche, liebevolle Gesichter, die über mein Erwachen sehr froh zu
+sein schienen. Ich sah eine alte kleine Frau mit einer Brille auf der
+Nase, einen großen Herrn, der mit tiefem Mitleid auf mich blickte, dann
+eine wunderschöne junge Dame und zuletzt einen grauen alten Herrn, der
+meine Hand am Gelenk festhielt und auf seine Uhr sah. Ich war zu einem
+neuen Leben erwacht. Der eine von den beiden Männern, die mir begegnet
+waren, während ich dem Vater nachlief, war Fürst H. gewesen, und gerade
+vor dem Portal seines Hauses war ich hingefallen. Als man nach vieler
+Mühe endlich erfuhr, wer ich war, entschloß sich der Fürst, der meinem
+Vater das Billett geschickt hatte und nun nicht wenig bestürzt war über
+den seltsamen Zufall, mich in sein Haus zu nehmen und mich zusammen mit
+seinen Kindern zu erziehen. Nachforschungen nach dem Vater ergaben, daß
+er irgendwo außerhalb der Stadt angehalten und festgenommen worden war,
+wobei er sich in einem Anfall von Tobsucht wie rasend gewehrt hatte. Er
+wurde in die Irrenabteilung eines Hospitals geschafft, wo er nach zwei
+Tagen starb.
+
+Er starb, weil ein solcher Tod die natürliche Folge seines Lebens war.
+Er mußte so sterben, als alles, was ihn im Leben bis dahin
+aufrechterhalten hatte, mit einemmal zusammengebrochen, als es wie ein
+Phantom, wie ein Traum vergangen war, wie ein körperloses leeres
+Phantasiegebilde. Er starb, als auch seine letzte Hoffnung verschwunden,
+als wie mit einem einzigen Schlage vor seinen eigenen Augen das ganze
+Werk seiner Einbildung zerspellt worden war und ihm plötzlich alles das
+klar zur Erkenntnis kam, womit er sich sein Leben lang betrogen und
+worauf er sich sein Leben lang gestützt hatte. Die Wahrheit blendete ihn
+mit ihrem unerträglichen Licht, und das, was Irrtum gewesen war, wurde
+nun auch für ihn selbst Lüge. An jenem Abend hörte er die Kunst eines
+wirklichen Genies, das unmittelbar zu ihm von sich sprach und das ihn
+zugleich auf ewig verurteilte. Mit dem letzten Ton, der den Saiten der
+Geige des großen S–z entflog, tat sich vor ihm das ganze Geheimnis der
+Kunst auf, und das Genie, das ewig junge, mächtige und echte, erdrückte
+ihn mit seiner Wahrheit. Als ob alles, was ihn sein ganzes Leben lang
+nur in geheimen, ungreifbaren Qualen gepeinigt, alles, was ihn bis dahin
+nur wie ein Spuk geschreckt und in seinen Träumen unfühlbar,
+unerhaschbar gequält hatte, was sich ihm, wenn auch nur von Zeit zu
+Zeit, ins Bewußtsein gedrängt, doch wovor er stets mit Entsetzen
+geflohen war, wovor er sich hinter der Lüge seines ganzen Lebens zu
+verschanzen gesucht, und alles, was ihm sein Vorgefühl gesagt, aber was
+er bis dahin nicht hatte einsehen wollen, – als ob all das plötzlich
+strahlend hell vor ihm aufleuchtete und sich seinen Augen offenbarte,
+die sich bis dahin so eigensinnig geweigert hatten, das Licht als Licht
+anzuerkennen, und die Finsternis als Finsternis! Doch die Wahrheit war
+unerträglich für seine Augen, die zum erstenmal in all das hineinsahen,
+was gewesen, in das, was war und in das, was ihn erwartete: sie blendete
+ihn und verbrannte seine Vernunft. Sie traf ihn jäh wie ein Blitz, und
+sie zündete auch wie ein Blitz. So war denn das geschehen, was er sein
+Leben lang mit Bangen und Schauder erwartet hatte. Das Richtschwert, das
+schon immer über seinem Kopf gehangen, als habe er zeit seines Lebens in
+unsagbaren Qualen jeden Augenblick erwartet, daß es auf ihn fallen
+werde, – nun endlich war es wirklich gefallen! Der Schlag war tödlich.
+Er wollte fliehen vor dem Gericht über sich, aber es gab für ihn kein
+Wohin, denn seine letzte Hoffnung war verschwunden, seine letzte
+Entschuldigung ihm genommen. Diejenige, deren Leben so viele Jahre auf
+ihm gelastet, die ihn angeblich nicht leben ließ, die, nach deren Tode
+er seinem blinden Glauben nach plötzlich aufleben, ja gewissermaßen
+auferstehen würde, – die war nun tot. Jetzt war er endlich allein,
+nichts bedrückte ihn mehr, nichts fesselte ihn mehr: jetzt war er
+endlich frei! Da wollte er zum letztenmal in krampfhafter Verzweiflung
+über sich ein Urteil fällen, wollte wie ein unparteiischer Richter ohne
+Ansehen der Person unerbittlich streng und gerecht über sich selbst
+Gericht halten. Doch sein entkräfteter Bogen war unfähig, seinen
+innersten musikalischen Willen zu gestalten ... Und in dem Augenblick,
+in dem er das erkannte, ergriff der Wahnsinn, der schon zehn Jahre lang
+auf ihn gelauert hatte, von ihm Besitz.
+
+
+ IV.
+
+Meine Genesung machte nur langsame Fortschritte; doch auch dann noch,
+als ich schon nicht mehr zu Bett lag, waren meine Sinne noch lange Zeit
+wie gelähmt und ich konnte nicht begreifen, was nun eigentlich mit mir
+geschehen war. Es gab Augenblicke, in denen es mir schien, daß ich
+träumte, und ich weiß noch, wie sehr ich wünschte, daß alles Geschehene
+wirklich nur ein Traum gewesen sein möge! Wenn ich abends einschlief,
+dann hoffte ich, plötzlich wieder in unserer ärmlichen Dachstube zu
+erwachen und den Vater und die Mutter zu erblicken ... Allmählich aber
+wurde mir doch meine neue Lage klarer und ich begriff nach und nach, daß
+ich ganz allein zurückgeblieben war und bei fremden Menschen lebte. Da
+fühlte ich es denn zum erstenmal, daß ich eine Waise war.
+
+Wißbegierig begann ich, all das Neue, das mich nun umgab, zu betrachten
+und zu beobachten. Anfangs erschien mir das Ganze so seltsam und
+märchenhaft, alles verwirrte mich: sowohl die neuen Gesichter wie die
+neue Lebensart und die Gemächer des alten fürstlichen Hauses, die mir
+noch heute so deutlich vor Augen stehen, – so groß und hoch und
+prächtig, aber auch so düster und dunkel waren sie, daß ich, ich weiß es
+noch wie heute, im Ernst fürchtete, durch irgendeinen langen, langen
+Saal gehen zu müssen, in dem ich mich, wie mir schien, vollständig zu
+verlieren glaubte. Meine Krankheit war noch nicht ganz überstanden und
+deshalb waren auch meine Eindrücke so lastend, wie es bei meiner
+Stimmung und dem Düster-Feierlichen dieses Hauses wohl eben nicht anders
+sein konnte. Hinzukam, daß eine mir selbst unklare Sehnsucht und
+Bangigkeit in meinem kleinen Kinderherzen immer größer wurde. Mit
+Verwunderung blieb ich zuweilen vor einem Gemälde, einem Spiegel, einem
+Kamin von kunstvoller Arbeit stehen, oder vor einer Statue, die sich
+gleichsam nur zu dem Zweck in einer tiefen Nische versteckt hatte, um
+von dort aus mich besser beobachten zu können oder mich irgendwie zu
+erschrecken. – Ich blieb stehen und dann wußte ich plötzlich selbst
+nicht mehr, weshalb ich stand, was ich wollte, woran ich dachte, und
+nach diesem Erwachen befiel mich immer eine gewisse Angst und Verwirrung
+und mein Herz schlug laut.
+
+Von den Menschen, die ich während meiner Krankheit außer dem alten
+kleinen Hausarzt hin und wieder zu sehen bekam, machte ein schon
+ältlicher Herr den größten Eindruck auf mich. Er war immer ernst, aber
+zugleich war er so gütig, und er konnte mich bisweilen mit so tiefem,
+aufrichtigem Mitleid ansehen! Sein Gesicht war mir bald das liebste von
+allen. Gern hätte ich mit ihm gesprochen, aber ich wagte nicht
+anzufangen: er sah fast immer niedergeschlagen aus, auch sprach er
+wenig, meist nur ein paar Worte, und niemals erschien ein Lächeln auf
+seinen Lippen. Das war der Fürst H., der mich gefunden und in seinem
+Hause aufgenommen hatte. Als ich mich schon auf dem Wege der Besserung
+befand, wurden seine Besuche seltener. Und als er, wie es hieß, zum
+letztenmal kam, brachte er mir Konfekt, ferner ein Kinderbuch mit
+Bildern mit und küßte und bekreuzte mich und bat mich, doch nicht mehr
+so traurig zu sein. Während er mir tröstend zuredete, sagte er mir, daß
+ich bald eine Freundin haben werde, ein kleines Mädchen wie ich, seine
+Tochter Katjä, die vorläufig noch in Moskau sei. Darauf sprach er mit
+einer ältlichen Französin, der Erzieherin seiner Kinder, und mit dem
+mich pflegenden Mädchen, wies auf mich und verließ uns. Seitdem sah ich
+ihn ganze drei Wochen nicht. Der Fürst lebte in seinem Hause sehr
+einsam. Die größere Hälfte des Hauses bewohnte die Fürstin, doch sah sie
+ihren Mann oft wochenlang nicht ein einziges Mal. Mit der Zeit fiel es
+mir auf, daß auch die Dienstboten, daß überhaupt alle Hausbewohner
+selten von ihm sprachen, als hätte er gar nicht im Hause gelebt. Alle
+achteten ihn und augenscheinlich liebten sie ihn sogar, indessen
+schienen sie ihn doch für so etwas wie einen Sonderling zu halten. Und
+es war, als wisse auch er, daß er sehr seltsam erschien, irgendwie
+unähnlich den anderen Menschen, und als vermeide er es deshalb nach
+Möglichkeit, sich zu zeigen ... Ich werde an einer anderen Stelle noch
+auf ihn zurückkommen und sehr viel und recht ausführlich von ihm
+erzählen müssen.
+
+Eines Morgens zog man mir reine, feine Wäsche an und ein schwarzes
+wollenes Kleid mit weißem Trauerbesatz – ein Kleid, auf das ich mit
+trauriger Verwunderung sah; mein Haar wurde sorgfältig gebürstet, und
+dann führte man mich aus den oberen Zimmern nach unten in die Gemächer
+der Fürstin. Ich stand wie gebannt, als die mich Führende schließlich
+meine Hand freigab: eine solche Pracht, solch einen Reichtum ringsum
+hatte ich noch nie gesehen. Doch dieser Eindruck währte nur einen
+Augenblick und ich erbleichte, als ich die Stimme der Fürstin vernahm,
+die mich näher herantreten hieß. Schon während des Ankleidens hatte ich
+gefühlt und gefürchtet, daß mich irgendeine Qual erwartete, obschon ich
+selber nicht begreife, wie ich auf diesen Gedanken kam. Überhaupt trat
+ich mit einem seltsamen Mißtrauen in die Welt meines neuen Lebens und
+dieses Mißtrauen brachte ich ohne Ausnahme allem entgegen, was an mich
+an Neuem herankam.
+
+Die Fürstin war sehr freundlich zu mir und küßte mich. Da wagte ich
+denn, sie etwas weniger befangen anzusehen. Sie war dieselbe schöne
+Dame, die ich schon an meinem Bett gesehen hatte, als ich aus meiner
+Bewußtlosigkeit zu mir kam. Ich küßte ihre Hand, zitterte aber dabei
+doch so sehr, daß ich auf ihre Fragen keine einzige Antwort zu geben
+vermochte – ich konnte mich einfach nicht so weit sammeln. Sie ließ mich
+auf einem niedrigen Taburett neben sich hinsetzen. Ich glaube, dieser
+Platz war schon im voraus für mich bestimmt. Allem Anschein nach hatte
+die Fürstin nur den einen Wunsch, mich mit ganzer Seele an sich zu
+schließen, mich ganz zu gewinnen und mir vollständig die Mutter zu
+ersetzen. Ich dagegen konnte nicht begreifen, daß ich bereits in ihrer
+Gunst stand, durch mein Verhalten aber in ihrer Einschätzung nichts
+gewann. Man gab mir ein schönes Bilderbuch und sagte, ich solle die
+Bilder betrachten. Die Fürstin selbst schrieb an einem Brief, hielt aber
+hin und wieder im Schreiben inne, um verschiedene Fragen an mich zu
+stellen, auf die ich jedoch nichts Gescheites zu antworten wußte – ich
+war verwirrt, stockte, verlor den Faden und wagte nicht, von neuem
+anzufangen. Kurz, obschon mein früheres Leben ein recht ungewöhnliches
+gewesen war und die größere Rolle das Schicksal in ihm gespielt hatte,
+das die Wege der Eltern, man kann wohl sagen, mystisch verbunden, und
+obgleich es überhaupt viel Interessantes und Unerklärliches, ja sogar
+etwas Phantastisches gehabt, so erschien ich doch in diesem Augenblick –
+es wirkte ordentlich komisch inmitten der ganzen melodramatischen
+Situation, in der ich mich befand – als ein ganz gewöhnliches,
+schüchternes oder eingeschüchtertes und genau genommen sogar dummes
+Kind. Namentlich letzteres gefiel der Fürstin äußerst wenig, und ich
+glaube, sie hatte mich sehr bald satt, was natürlich nur meine Schuld
+war. Gegen drei Uhr kamen die ersten Gäste – es war der Empfangstag der
+Fürstin – und sie war nun wieder sehr freundlich und lieb zu mir. Auf
+die Fragen der Fremden nach mir, antwortete sie: oh, das sei ein sehr
+interessanter Fall – und dann erzählte sie auf französisch alles
+Weitere. Während ihrer Erzählung sahen mich alle an, man schüttelte die
+Köpfe, Ausrufe des Bedauerns wurden laut. Ein junger Herr richtete seine
+Lorgnette auf mich und musterte mich eingehend; ein wohlriechender alter
+kleiner Herr wollte mich küssen, ich aber saß erbleichend und errötend,
+mit niedergeschlagenen Augen, wagte mich nicht zu rühren und zitterte am
+ganzen Körper. Mein Herz schlug dumpf und tat mir zum Brechen weh. Ich
+versetzte mich in mein früheres Leben, in unsere ärmliche Dachkammer,
+ich dachte an den Vater, an unsere langen, schweigsamen Abende, an die
+Mutter, und als ich an die Mutter dachte – da schwammen meine Augen
+plötzlich in Tränen und die Kehle war mir wie zugeschnürt. Ach, und ich
+wäre so gern fortgelaufen, verschwunden, allein geblieben ... Dann, als
+der letzte Besuch gegangen war, wurde das Gesicht der Fürstin wieder
+merklich strenger. Sie sah mich jetzt nichts weniger als freundlich an,
+sprach trocken zu mir, indes ihre durchdringend blickenden fast
+schwarzen Augen auf mir ruhten, die bisweilen wohl eine Viertelstunde
+lang auf mich gerichtet waren, und ihre fest zusammengepreßten schmalen
+Lippen mich ganz besonders einschüchterten. Am Abend wurde ich nach oben
+zurückgeführt. Ich fieberte im Einschlafen, erwachte in der Nacht aus
+wirren Träumen, weinte und war so unglücklich! Am nächsten Tage aber
+begann wieder dasselbe Spiel, d. h. man brachte mich wieder zur Fürstin.
+Schließlich wurde es ihr langweilig, ihren Gästen von mir zu erzählen,
+und den Gästen – ihr Mitleid und Bedauern zu äußern. Überdies war ich
+auch noch ein so gewöhnliches Kind, „ohne jegliche Naivität“, wie, ich
+weiß noch, die Fürstin sich in einem Gespräch mit einer älteren Dame
+unter vier Augen auf deren Frage ausdrückte, ob es sie denn wirklich
+nicht langweile, sich mit mir „abzugeben“? Da wurde ich denn am Abend
+fortgeführt und brauchte nicht wieder zu ihr zurückzukehren. Ich hatte
+meine Rolle in ihrer Gunst ausgespielt. Übrigens durfte ich überall
+hingehen und mich aufhalten wo ich wollte. Und ich konnte auch nicht
+stillsitzen: eine tiefe, krankhafte Unruhe, die wohl aus dem Heimweh und
+einer unbestimmten Sehnsucht irgendwohin entstand, peinigte mich und ich
+war froh, wenn ich endlich von allen fortgehen konnte, nach unten in die
+großen Räume. Ich weiß noch, ich hätte so gern mit den Dienstboten
+gesprochen, aber ich fürchtete, sie könnten böse werden, und so schwieg
+ich lieber und blieb einsam. Mein liebster Zeitvertreib war: mich
+irgendwo in einem Winkel zu verstecken, wo es möglichst unauffällig war
+– hinter einem Stuhl oder einem anderen Gegenstand, der mich vollständig
+verbarg – und mich dann dort gleich in die Erinnerung zu versenken und
+über alles, was mit mir geschehen war, nachzudenken. Doch sonderbar! –
+Das Ende meines Zusammenseins mit den Eltern, diese furchtbaren letzten
+Tage unseres gemeinsamen Lebens, die hatte ich wie vergessen, wenigstens
+als lebendige Vorgänge lebten sie nicht mehr in mir. Freilich wußte ich
+noch alles – entsann mich der Nacht und der Geige und des Vaters, ich
+wußte, wie ich ihm das Geld verschafft hatte; aber alle diese Vorgänge,
+sagen wir, begreifen, sie mir erklären – das konnte ich nicht ... Es
+wurde mir nur noch schwerer ums Herz, und wenn ich in der Erinnerung zu
+jenem Augenblick gelangte, in dem der Vater mich vor der toten Mutter
+niederknien hieß, dann erschauerte ich plötzlich vor Kälte. Ich zitterte
+und hätte schreien mögen. Das Atmen wurde mir schwer, so eng wurde mir
+die Brust und so laut pochte mein Herz, daß ich schließlich erschrocken
+aus meinem Winkel hinausstrebte und wieder nach oben lief. Übrigens –
+ich sagte, daß man mich allein ließ, doch ist das nicht ganz wörtlich zu
+nehmen: ich wurde die ganze Zeit mit peinlicher Gewissenhaftigkeit
+beaufsichtigt, denn der Fürst hatte es so angeordnet, daß man mir volle
+Freiheit geben, jedoch mich gleichzeitig nie aus den Augen lassen solle.
+Es fiel mir auf, daß von Zeit zu Zeit jemand von den Dienstboten oder
+von den anderen, die im Hause lebten, in das Zimmer sah, wo ich mich
+gerade aufhielt, und dann wieder fortging, ohne mir ein Wort zu sagen.
+Diese Aufmerksamkeit wunderte mich und zum Teil beängstigte sie mich
+sogar. Ich begriff nicht, warum man das tat. So dachte ich mir denn, man
+wolle mich zu irgendeinem Zweck aufbewahren und dann später Gott weiß
+was mit mir angeben. Ich weiß noch, deshalb wollte ich auch das Haus
+immer weiter durchsuchen, um ein Versteck auszukundschaften, in dem ich
+mich im Notfall verbergen konnte.
+
+So verirrte ich mich einmal und kam ganz unvermutet ins Treppenhaus. Da
+war alles aus weißem Marmor, die Treppe selbst mit Läufern bedeckt und
+mit Blumen und Vasen geschmückt. Auf jedem Absatz der Treppe saßen je
+zwei große Menschen, die sehr bunt gekleidet waren, in Handschuhen und
+blendend weißen Halsbinden. Ich sah sie in höchster Verwunderung an und
+konnte trotz eifrigen Nachdenkens nicht begreifen, warum sie dort saßen,
+schwiegen und nur einander ansahen, sonst aber nichts taten.
+
+An diesen einsamen Streifzügen durch das fürstliche Palais fand ich mit
+der Zeit immer mehr Gefallen. Aber es gab da noch einen anderen Grund,
+weshalb ich so gern aus den oberen Zimmern fortlief. Dort oben lebte
+eine alte Tante des Fürsten, ein altes Fräulein, das so gut wie nie das
+Haus, ja fast nicht einmal ihre Zimmer verließ. Diese alte Dame war
+womöglich die wichtigste Person im Hause und ich fürchtete sie sehr. Im
+Verkehr mit ihr beobachteten alle eine geradezu feierliche Etikette und
+sogar die Fürstin, die so stolz und selbstbewußt auf alle herabsah,
+mußte genau zweimal wöchentlich, an bestimmten Tagen, der Tante
+persönlich ihren Besuch machen. Sie kam gewöhnlich vormittags; es
+entspann sich ein trockenes Gespräch, das häufig von feierlichem
+Schweigen unterbrochen wurde, während die Alte ein Gebet flüsterte oder
+den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten ließ. Der Besuch dauerte so
+lange, wie die Tante es gerade für gut befand: sie erhob sich dann von
+ihrem Platz und küßte die Fürstin auf den Mund, womit sie zu verstehen
+gab, daß die Fürstin sie nun verlassen konnte. Anfangs hatte die Fürstin
+diese Tante sogar jeden Tag besuchen müssen, doch war in der Folge auf
+Wunsch der alten Dame eine Änderung und Erleichterung erfolgt: und zwar
+brauchte die Fürstin hinfort an den übrigen fünf Tagen der Woche nicht
+mehr persönlich zu erscheinen, sondern mußte sich nur an jedem Morgen
+durch einen Diener nach dem Befinden des alten fürstlichen Fräuleins
+erkundigen. Überhaupt verbrachte sie ihr Leben fast wie in einer
+Klosterzelle. Mit fünfunddreißig Jahren hatte sie sich auch wirklich
+einmal in ein Kloster zurückgezogen und siebzehn Jahre daselbst verlebt,
+jedoch nicht den Schleier genommen. Dann hatte sie das Kloster wieder
+verlassen und war nach Moskau gezogen, um bei ihrer Schwester, einer
+verwitweten Gräfin L., deren Gesundheit mit jedem Jahr mehr zu wünschen
+übrigließ, zu wohnen und sich auch mit der älteren Schwester, einer
+gleichfalls unverheirateten Fürstin H., zu versöhnen, nachdem sie etwa
+zwanzig Jahre lang in Feindschaft mit ihr gelebt hatte. Man sagt aber,
+die drei alten Damen sollen keinen Tag in Eintracht verbracht haben,
+tausendmal seien sie schon im Begriff gewesen, auseinanderzugehen, was
+sie dann aber doch nicht taten, da schließlich eine jede von ihnen den
+beiden anderen unentbehrlich geworden war, eben weil die Streitigkeiten
+die Langeweile und damit die trüben Stunden des Alterns verscheuchten.
+Doch ungeachtet dieses ihres wenig anziehenden Lebens und des
+feierlichen Stumpfsinns, der in ihrem Moskauer Palais herrschte, hielt
+es doch die ganze Moskauer Gesellschaft für ihre Pflicht, die Besuche
+bei den drei alten Damen fortzusetzen. Man sah in ihnen einfach die
+Hüterinnen aller aristokratischen Überlieferungen und Gesetze des alten
+Bojarentums. Die Gräfin soll übrigens eine prächtige Frau gewesen sein,
+wenigstens lebte sie noch nach ihrem Tode in vielen guten Erinnerungen
+fort. Petersburger, die nach Moskau kamen, machten bei ihnen ihre ersten
+Besuche. Wer in ihrem Hause empfangen wurde, der wurde überall
+empfangen. Nach dem Tode der Gräfin trennten sich die unverheirateten
+Schwestern: die ältere blieb in Moskau und trat dort ihren Teil von der
+Hinterlassenschaft der kinderlosen Gräfin an, und die jüngere, die
+zeitweilige Klosterfrau, siedelte nach Petersburg zu ihrem Neffen, dem
+Fürsten H., über. Dafür mußten die beiden Kinder des Fürsten, Katjä und
+Alexander, nach dem Tode der Gräfin in Moskau bei der Großtante bleiben,
+zu ihrer Zerstreuung und zu ihrem Trost in der Einsamkeit. Die Fürstin,
+die ihre Kinder leidenschaftlich liebte, durfte kein Wort dawider reden
+und mußte für die ganze Zeit der Trauer auf ihre Kinder verzichten. Ich
+vergaß zu sagen, daß das ganze Haus noch Trauer trug als ich hinkam,
+aber die Frist nahte sich schon ihrem Ende.
+
+Die alte kleine Dame kleidete sich nur in Schwarz und die Kleider waren
+alle von gewöhnlichem schwarzem Wollenstoff. Dazu trug sie fein
+gefältelte und gesteifte weiße Krägelchen, die ihr das Aussehen einer
+Stiftsdame verliehen. Der Rosenkranz kam nie aus ihrer Hand, und
+feierlich fuhr sie regelmäßig zum Morgengottesdienst, fastete nahezu
+täglich, empfing verschiedene höhere Geistliche und andere ehrbare
+Personen und las in frommen Büchern. Sie führte, mit einem Wort, ein
+richtiges Klosterleben. Deshalb herrschte auch in den oberen Zimmern
+eine unheimliche Stille; nicht einmal eine Tür durfte kreischen: die
+Alte hatte ein Gehör wie eine fünfzehnjährige und ließ sogleich nach der
+Ursache des geringsten Geräusches fragen. Deshalb sprachen dort alle nur
+flüsternd und schlichen auf den Fußspitzen, ja die arme Französin, auch
+ein altes Dämchen, mußte sogar auf ihr geliebtes Schuhwerk verzichten –
+auf Stiefel mit hohen Absätzen! Denn: Absätze waren verpönt. Zwei Wochen
+nach meiner Aufnahme im Hause, ließ die alte Dame sich plötzlich nach
+mir erkundigen: wer ich sei, was ich tue, wie ich ins Haus gekommen
+usw., usw. Ihre Wißbegier wurde sogleich mit größter Diensteifrigkeit
+befriedigt. Darauf erschien der zweite Abgesandte bei der Französin, um
+zu fragen, warum die Prinzessin mich bis jetzt noch nicht zu Gesicht
+bekommen habe. Da war die Aufregung groß: mir wurde schnell das Haar
+gekämmt, wurden Gesicht und Hände gewaschen, obschon sie ganz rein
+waren, man zeigte mir, wie ich mich verbeugen, wie ich die Hand küssen
+mußte, auch sollte ich freundlich dreinschauen und munter sprechen –
+kurz, man brachte mich vollständig aus dem Gleichgewicht. Darauf machte
+sich von uns aus eine Abgesandte auf den Weg, um die Prinzessin zu
+fragen, ob sie nicht das Waisenkindchen zu sehen wünsche? Die Antwort
+lautete zunächst verneinend, doch gab sie dann eine andere Stunde an:
+man solle mich am nächsten Tage nach der Morgenandacht zu ihr bringen.
+Ich schlief die ganze Nacht nicht und man sagte mir später, ich hätte
+viel phantasiert, wohl weil ich im Traum schon zu ihr gegangen sei, denn
+ich habe sie aus Gott weiß welchem Grunde immer wieder um Verzeihung
+gebeten. Endlich erfolgte meine Vorstellung. Ich erblickte eine hagere,
+kleine Dame, die auf einem riesengroßen Lehnstuhle saß. Sie nickte mir
+zu und setzte sich die Brille auf, um mich besser betrachten zu können.
+Ich weiß noch, daß ich ihr gar nicht gefiel. Sie machte die Bemerkung,
+ich sei ganz verwildert, verstände weder die Hand zu küssen, noch zu
+knixen. Es folgten Fragen, auf die ich keine Silbe zu antworten wußte;
+als sie mich aber nach meinen Eltern zu fragen anfing, da begann ich zu
+weinen. Das war der alten Dame sehr unangenehm. Übrigens versuchte sie
+mich zu trösten und sagte mir, ich solle auf Gott vertrauen. Darauf
+fragte sie, wann ich zum letztenmal in der Kirche gewesen sei, und da
+ich ihre Frage kaum verstand – denn in der Beziehung wußte ich noch so
+gut wie nichts – geriet sie in Entsetzen über meine bisherige Erziehung.
+Sie ließ die Fürstin zu sich bitten. Es folgte eine ernste Beratung, die
+damit endete, daß man beschloß, mich sogleich am nächsten Sonntag in die
+Kirche zu führen. Bis dahin wollte die alte Dame für mich beten.
+Zugleich sagte sie, man solle mich wegbringen, ich hätte einen sehr
+ungünstigen Eindruck auf sie gemacht. Das war freilich kein Wunder,
+anders hätte es wohl gar nicht sein können. Aber ihr Mißfallen war doch
+schon mehr als augenscheinlich. Am selben Tage noch ließ sie sagen, ich
+sei zu unartig, man höre mich im ganzen Hause – während ich die Zeit
+über mäuschenstill gesessen hatte. Natürlich hatte es der alten Dame nur
+so geschienen. Indes erfolgte diese Bemerkung auch am nächsten Tage. Zum
+Unglück ließ ich noch eine Tasse fallen, die auf dem Parkett zerschlug.
+Darüber gerieten die Französin und alle Dienerinnen fast außer sich, und
+ich wurde sogleich ins entlegenste Zimmer gebracht, wohin mir alle
+händeringend und kopfschüttelnd folgten.
+
+Ich erinnere mich nicht mehr, wie die Sache schließlich auslief.
+Jedenfalls lag hier der andere Grund, weshalb ich mich so viel lieber
+unten in den großen Räumen aufhielt, denn dort, das wußte ich,
+beunruhigte ich keinen Menschen.
+
+Einmal saß ich unten in einem Saal ganz allein. Ich saß, das Gesicht
+wieder in den Händen vergraben, den Kopf gesenkt, und rührte mich nicht.
+Ich weiß nicht, wie viele Stunden darüber vergingen. Ich dachte und
+dachte vergeblich, denn mein junger unreifer Verstand konnte meinen Gram
+nicht bewältigen und es wurde mir immer schwerer ums Herz und mein
+Kummer wurde immer größer. Da vernahm ich plötzlich eine leise Stimme
+über mir:
+
+„Was fehlt dir, meine Arme?“
+
+Ich sah auf: es war der Fürst. Aus seinem gütigen Gesicht sprach soviel
+tiefes Mitleid, so aufrichtige Teilnahme! Aber ich sah ihn so
+unglücklich, so traurig an, daß seine großen blauen Augen feucht wurden.
+
+„Arme kleine Waise!“ sagte er leise und streichelte meinen Kopf.
+
+„Nein, nein, nicht Waise! Nein!“ stammelte ich – und ich stöhnte, denn
+alles erhob sich in mir und ich wollte mich gleichsam losringen von
+etwas Ungreifbarem, das mich zu umklammern drohte. Ich glitt vom Stuhl,
+hielt seine Hand umfaßt, küßte sie, daß meine Tränen sie benetzten, und
+wiederholte nur flehend:
+
+„Nein, nein, nicht Waise! Nicht!“
+
+„Mein Kind, – was hast du nur, meine arme Kleine? Was fehlt dir,
+Njetotschka?“
+
+„Wo ist Mama? Wo ist meine Mama?“ rief ich laut weinend, unfähig, meinen
+Kummer noch länger zu verbergen – und kraftlos sank ich vor ihm auf die
+Knie. „Wo ist meine Mama? Sag’ mir, wo ist meine Mama?“
+
+„Verzeih mir, mein Kind! ... Ach, du arme Kleine, da habe ich sie daran
+erinnert ... Mein Gott, was habe ich getan! Komm, komm mit mir,
+Njetotschka, komm!“
+
+Er faßte mich an der Hand und führte mich mit sich fort. Er war
+sichtlich erschüttert. Wir gelangten in einen Raum, in dem ich noch nie
+gewesen war.
+
+Es war das Betzimmer. Draußen herrschte bereits Dämmerung. Im Licht der
+Lämpchen strahlten hell die goldenen Einfassungen und die Edelsteine der
+Heiligenbilder. Aus all diesem Glanz und Gold schauten dunkel und matt
+die Antlitze der Heiligen. Alles erinnerte hier so wenig an die anderen
+Zimmer, war so unähnlich dem, was ich bis dahin überhaupt gesehen hatte,
+war so geheimnisvoll und ernst, daß ich bestürzt stillstand und der
+Schreck sich meines Herzens bemächtigte. Meine Nerven waren ja ohnehin
+schon in krankhafter Erregung.
+
+Der Fürst ließ mich vor dem Muttergottesbilde niederknien und blieb
+neben mir stehen.
+
+„Bete, Kind, bete hier; oder laß uns gemeinsam beten,“ sagte er mit
+leiser, stockender Stimme.
+
+Doch ich konnte nicht beten: ich war zu bestürzt, zu erschrocken – mir
+fielen die Worte des Vaters ein, in jener letzten Nacht, an der Leiche
+der Mutter, und ich bekam einen neuen Nervenanfall. Ich mußte wieder das
+Bett hüten, und während dieser zweiten Periode meiner Krankheit wäre ich
+fast gestorben. Die Ursache dieser Verschlimmerung war folgende:
+
+Eines Morgens schlug ein bekannter Name an mein Ohr: S–z. Eines von den
+Dienstmädchen hatte den Namen an meinem Bett genannt. Ich fuhr zusammen:
+die Erinnerungen stürzten über mich, und sinnend, träumend und mich
+quälend lag ich in Fieberphantasien, ich weiß nicht wie viele Stunden.
+Als ich erwachte, mußte es schon sehr spät sein: im Zimmer war es
+dunkel. Die Nachtlampe war erloschen, das Mädchen, das im Zimmer
+gesessen hatte, war nicht da. Plötzlich hörte ich ferne Musik. Bisweilen
+verstummten die Töne ganz, dann aber wurden sie wieder deutlicher und
+deutlicher, als näherten sie sich mir. Ich weiß nicht, welch ein Gefühl
+sich meiner bemächtigte, noch welch eine Absicht in meinem fiebernden
+Kopf plötzlich entstand. Ich erhob mich, stieg aus dem Bett – woher ich
+die Kraft dazu nahm, weiß ich nicht – zog mir schnell mein
+Trauerkleidchen an und verließ tastend das Zimmer. Im zweiten und
+dritten Zimmer traf ich auch keinen Menschen. Endlich erreichte ich den
+Korridor. Die Musik wurde lauter und lauter. In der Mitte des Korridors
+war die Treppe; auf diesem Wege hatte ich mich immer nach unten in die
+großen Säle geschlichen. Die Treppe war hell erleuchtet; unten hörte ich
+Schritte. Ich verbarg mich in einem Winkel, um nicht gesehen zu werden,
+und bei der ersten Möglichkeit schlich ich nach unten in den großen
+Korridor. Die Musik tönte aus dem angrenzenden großen Saal; von dorther
+kam auch Geräusch und ein Stimmengewirr, als hätten sich an tausend
+Menschen dort versammelt. Die große Tür, die aus dem Korridor in den
+Saal führte, war verhängt mit doppelten purpurroten Sammetportieren. Ich
+hob die erste auf, die auf der Korridorseite hing, und stellte mich
+zwischen beide Portieren. Mein Herz schlug so stark, daß ich mich kaum
+auf den Füßen hielt. Nach ein paar Minuten hatte ich meine Aufregung so
+weit bezwungen, daß ich schon wagte, den Rand der anderen Portiere, die
+an der Saalseite der Tür hing, ein wenig umzubiegen ... Mein Gott!
+Dieser riesengroße düstere Saal, den am Tage zu betreten ich mich kaum
+getraut hatte, flimmerte jetzt im Licht von tausend Kerzen. Wie ein Meer
+von Licht strahlte es mir entgegen, so daß meine Augen, die sich an das
+Dunkel gewöhnt hatten, im ersten Moment bis zum Schmerz geblendet waren.
+Aromatische Luft schlug mir wie ein heißer duftender Wind entgegen. Eine
+Unmenge Menschen wogte dort durcheinander und alle sahen, wie mir
+schien, froh, heiter, glücklich aus. Die Damen hatten so schöne, so
+helle Toiletten, überall sah ich vor Vergnügen leuchtende Augen. Ich
+stand wie bezaubert. Doch war es mir, als hätte ich das alles schon
+irgendwo, irgendwann wie im Traum gesehen ... Mir fielen die Stunden der
+Dämmerung ein, unsere Dachstube, das hohe Fenster, tief unten die Straße
+mit den strahlenden Laternen, die Fenster des gegenüberliegenden Hauses
+mit den roten Vorhängen, die Equipagen vor dem Portal, der Hufschlag und
+das Schnaufen der stolzen Pferde, das Rufen und Durcheinander auf der
+Straße, die Schattenbilder hinter den Fenstern auf den leuchtend roten
+seidenen Vorhängen, und dazu eine gedämpfte ferne Musik ... Also hier
+war dieses Paradies! fuhr es mir durch den Sinn, hierher also wollte ich
+mit dem armen Vater gehen ... So war denn das alles kein Traum? ... Ja,
+ich hatte das alles in meinen Träumen schon gesehen! ... Hellauf lohte
+meine Phantasie, deren Feuer von der Krankheit bereits doppelt geschürt
+sein mochte, und Tränen einer geradezu schrankenlosen Seligkeit rollten
+mir über die Wangen. Ich suchte mit den Augen den Vater in dieser
+Gesellschaft: „der muß hier sein, er ist gewiß hier,“ dachte ich und
+mein Herz schlug so vor Erwartung und Spannung, daß mir der Atem stockte
+... Die Musik verstummte, doch gleich darauf erhob sich ein großes
+Getöse, und dann ging es durch den ganzen Saal wie ein Geflüster. Ich
+betrachtete voll Neugier und Unruhe die Gesichter, die ich sehen konnte,
+und bemühte mich, jemanden zu erkennen. Plötzlich ging eine neue große
+Erregung durch den Saal. Ich erblickte auf einer Erhöhung einen großen,
+hageren Greis. Sein bleiches Gesicht lächelte, er verbeugte sich etwas
+steif und grüßte nach allen Seiten. In der Hand hatte er eine Geige.
+Tiefes Schweigen trat ein, es war, als hielten alle den Atem an, alle
+sahen auf den Greis, alle schienen etwas zu erwarten. Da nahm er die
+Geige, hob den Arm und berührte mit dem Bogen die Saiten. Die Musik
+begann, und ich fühlte, wie etwas mir das Herz zusammenpreßte. Mit einem
+Gefühl von unsagbarer Angst und mit zurückgehaltenem Atem horchte ich
+auf diese Töne: etwas Bekanntes erklang in meinen Ohren, als hätte ich
+das schon irgendwo gehört: – und wie eine Vorahnung stieg es in mir auf,
+wie eine Erwartung von etwas Furchtbarem, etwas Entsetzlichem, das sich
+auch in meinem Herzen entscheiden sollte. Schon klang die Geige lauter,
+schneller und greller folgten die Töne. Da klang es bereits wie eines
+Menschen Gestöhn, darauf wie klagendes Schluchzen, wie jemandes
+vergebliches Flehen, doch die Menge blieb stumm, während die Töne über
+sie hinklangen – dann stöhnten sie auf und versagten wie in
+Verzweiflung. Immer bekannter, immer bekannter wurde mir etwas im
+Herzen. Aber das Herz weigerte sich noch, daran zu glauben ... Ich biß
+die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen vor Schmerz, ich klammerte
+mich an die Portiere, um nicht hinzufallen ... Ich schloß die Augen, und
+schlug sie plötzlich wieder auf: ich glaubte nichts anderes, als daß es
+ein Traum sei, aus dem ich in einem furchtbaren, mir aber schon
+bekannten Augenblick erwachen werde, und ich sah wie im Traum wieder
+jene letzte Nacht, ich hörte dieselben Töne ... Ich schlug wieder die
+Augen auf, um mich zu überzeugen – sah die Menschenmenge ... Nein, das
+waren andere Menschen, andere Gesichter ... Und doch war es mir, als ob
+alle ganz wie ich etwas erwarteten, ganz wie ich sich in tiefer
+Sehnsucht quälten, wie ich diesen Tönen der Verzweiflung
+entgegenschreien wollten: doch aufzuhören, nicht ihre Seelen zu
+zerreißen – aber das zitternde Beschwören und Flehen der Töne wurde nur
+noch herzzerreißender, verzweifelter und haltloser ... bis plötzlich der
+letzte furchtbare, rasende Schrei ertönte und mir fast die Sinne nahm
+... Kein Zweifel! das war derselbe, derselbe Schrei! Ich erkannte ihn,
+ich hatte ihn schon einmal gehört, wie damals in jener Nacht durchbohrte
+er mich. „Der Vater! der Vater!“ durchzuckte es mich wie ein Blitz, „er
+ist hier, das ist er, er ruft mich, das ist seine Geige!“ Und wie ein
+Stöhnen erhob es sich aus dieser Menschenmasse, ohrenbetäubendes Getöse
+erschütterte den Saal. Lautes, verzweifeltes Weinen brach aus meiner
+Brust. Ich hielt es nicht mehr aus, ich schlug die Portiere zurück und
+stürzte in den Saal.
+
+„Papa! Papa! das bist du! Wo bist du?“ rief ich wie von Sinnen.
+
+Ich weiß nicht, wie ich zu ihm hinkam: man ließ mich durch, man trat vor
+mir auseinander, und ich warf mich mit einem gequälten Schrei ihm
+entgegen – ich glaubte, den Vater zu umarmen ... Plötzlich sah ich, daß
+mich jemandes lange, hagere Hände erfaßten und hoch in die Luft hoben.
+Jemandes schwarze Augen sahen mich an und schienen mich verbrennen zu
+wollen mit ihrem Feuer. Ich starrte ihn an: „Nein! Das ist nicht der
+Vater! Das ist sein Mörder!“ fuhr es mir durch den Sinn. Da geriet ich
+so außer mir, eine so rasende Verzweiflung erfaßte mich – und plötzlich
+schien es mir, daß über mir ein Lachen erklang und dieses Lachen vom
+ganzen Saal widerhallte, wie ein einziger brausender Beifall ... Ich
+verlor das Bewußtsein.
+
+
+ V.
+
+Das war die zweite und letzte Periode meiner Krankheit.
+
+Als ich wieder zu Bewußtsein erwachte, erblickte ich das Gesicht eines
+Kindes vor mir, eines Mädchens von ungefähr meinem Alter, und
+unwillkürlich streckte ich ihr die Hände entgegen. Schon der erste Blick
+auf diese Altersgenossin hatte meine Seele wie mit einem Glücksgefühl,
+wie mit einer süßen Vorahnung erfüllt. Es war ein ideal schönes
+Gesichtchen, eine geradezu ergreifende, eine strahlende Schönheit – von
+jener Schönheit, vor der man plötzlich stehen bleibt, wie durchbohrt in
+süßer Verwirrung, wie erschrocken vor Entzücken, und der man dankbar ist
+allein schon für ihr Vorhandensein, dafür, daß unsere Augen sie schauen
+dürfen, und daß sie uns begegnet ist. Es war die Tochter des Fürsten,
+Katjä, die während meiner Krankheit aus Moskau zurückgekehrt war. Sie
+lächelte mir zu, als sie meine unwillkürliche Bewegung sah, und meine
+geschwächten Nerven erbebten bei diesem Lächeln in süßem Entzücken.
+
+Die kleine Prinzeß rief sogleich ihren Vater, der keine zwei Schritte
+vom Bett mit dem Arzt sprach.
+
+„Nun, gottlob! Endlich! Nun, Gott sei Dank!“ rief der Fürst, meine Hand
+erfassend, und sein Gesicht verriet aufrichtige Freude. „Das freut mich,
+das freut mich, das ist doch ein Glück!“ fuhr er schnell zu sprechen
+fort – es war seine Art, schnell, wenn auch meist leise zu sprechen.
+„Und dies kleine Mädchen hier ist meine Katjä, mein Töchterchen. Nun
+könnt ihr Freundschaft schließen – jetzt hast du eine Spielgefährtin.
+Aber du mußt nun auch schnell gesund werden, Njetotschka. Du böses
+kleines Mädchen, wie wir uns um dich geängstigt haben! ...“
+
+Meine Genesung machte auch wirklich sehr schnelle Fortschritte. Nach ein
+paar Tagen konnte ich schon das Bett verlassen. Jeden Morgen kam Katjä
+an mein Bett, immer mit einem Lächeln oder gar Lachen, das nicht von
+ihren Lippen wich. Auf ihr Erscheinen wartete ich wie auf ein Glück. Ich
+hätte sie so gern geküßt! Aber das mutwillige Prinzeßchen kam immer nur
+auf ganz kurze Zeit, sie konnte fast überhaupt nicht stillsitzen. Ewige
+Unruhe, laufen, springen, lachen und tollen, daß man es im ganzen Hause
+hörte – das war für sie einfach Lebensbedingung. Deshalb erklärte sie
+mir auch gleich am ersten Tage, daß es sie furchtbar langweile, bei mir
+zu sitzen: sie werde daher nur sehr selten zu mir kommen, und auch das
+nur deshalb, weil ich ihr leid täte – da ginge es eben nicht anders,
+denn gar nicht kommen, das ginge wiederum auch nicht. Aber wenn ich
+gesund sein würde, dann sollten wir – so versprach sie – sehr gut
+miteinander auskommen. Es war denn auch jeden Morgen ihr erstes Wort:
+
+„Nu, bist du jetzt gesund?“
+
+Da ich aber immer noch mager und bleich war und das Lächeln sich nur
+schüchtern, mit zaghafter Angst gepaart, in meinem traurigen Gesicht
+hervorwagte, so runzelte das Prinzeßchen die Stirn, schüttelte
+mißbilligend das Köpfchen und ihr kleiner Fuß stampfte oft ungeduldig
+auf.
+
+„Aber ich sagte dir doch gestern, daß du heute gesund sein sollst! Was?
+Man gibt dir wohl nichts zu essen?“
+
+„Ja, wenig,“ antwortete ich schüchtern, denn ich fürchtete mich schon
+vor ihr. Ich hatte nur den einen Wunsch: ihr zu gefallen, und deshalb
+fürchtete ich für jedes Wort, für jede Bewegung. Ihr Kommen entzückte
+mich mit jedem Tage mehr. Solange sie bei mir saß, ließ ich sie nicht
+aus den Augen, und wenn sie fortgegangen war, sah ich immer noch
+dorthin, wo sie zuletzt gestanden oder gesessen hatte. Ja, in der Nacht
+sah ich sie sogar schon in meinen Träumen. Im Wachen aber, wenn sie
+nicht bei mir war, ersann ich ganze Gespräche mit ihr, war ihr Freund,
+tollte, spielte und weinte mit ihr, wenn man uns schalt oder für
+irgendeine besondere Tollheit bestrafen wollte. Kurz, ich dachte an sie
+und sah sie im Traum und träumte von ihr, als wäre ich in sie verliebt
+gewesen. Ich wollte um jeden Preis bald gesund werden und schnell
+zunehmen, wie sie es wünschte. Wenn sie zuweilen morgens in mein Zimmer
+gestürmt kam und ich dann wieder ihre ungeduldige Frage hörte: „Bist
+noch nicht gesund? Ach Gott, immer noch bist du so mager!“ dann wurde
+ich ängstlich, als wäre dies meine Schuld. Es konnte aber auch
+schwerlich etwas Ernsteres geben, als die Verwunderung Katjäs darüber,
+daß ich nicht binnen vierundzwanzig Stunden genas, worüber sie sich
+bereits allen Ernstes zu ärgern anfing.
+
+„Nu, dann – willst du, ich bringe dir heute eine Pastete?“ sagte sie mir
+einmal. „Iß sie, davon wirst du bald wieder dick.“
+
+„Bring,“ sagte ich, froh darüber, daß ich sie nochmals zu sehen bekommen
+würde.
+
+Nach der Erkundigung, ob ich schon gesund sei, setzte sich das
+Prinzeßchen gewöhnlich mir gegenüber und begann mich mit ihren dunklen
+Augen ernsthaft zu betrachten. Und auch jedesmal, wenn sie mir etwas
+sagte oder mich fragte, betrachtete sie mich zuvor von oben bis unten
+mit der naivsten Verwunderung. Aber unsere Unterhaltung kam nie so recht
+in Gang. Ich fürchtete mich vor Katjä und ihren schroffen Ausfällen,
+während ich anderseits fast verging vor Verlangen, mit ihr zu sprechen.
+
+„Warum schweigst du?“ begann sie, nachdem wir uns eine Zeitlang stumm
+betrachtet hatten.
+
+„Was macht dein Papa?“ fragte ich, froh über die plötzlich gefundene
+Frage, mit der ich nun jedesmal ein Gespräch anfangen konnte.
+
+„Nichts. Es geht ihm gut. Ich habe heute zwei Tassen Tee getrunken,
+nicht eine. Und du wieviel?“
+
+„Eine.“
+
+Wieder Schweigen.
+
+„Heute hätte mich Falstaff beinahe gebissen.“
+
+„Ist das ein Hund?“
+
+„Ja, ein Hund. Hast du ihn denn noch nicht gesehen?“
+
+„Nein, ich hab’ ihn wohl nicht gesehen.“
+
+Ich wußte nichts mehr zu sagen und das Prinzeßchen sah mich wieder mit
+Verwunderung an.
+
+„Sag? Gefällt es dir, wenn ich mit dir spreche?“
+
+„Ja, sehr: komm öfter, wenn du kannst.“
+
+„Das hat man mir auch gesagt, daß es dich freuen werde, wenn ich zu dir
+komme, aber du, steh schneller auf. Die Pastete werde ich dir heute ganz
+bestimmt bringen ... Aber warum schweigst du denn immer?“
+
+„So.“
+
+„Du denkst wohl viel?“
+
+„Ja, ich denke viel.“
+
+„Mir aber sagt man immer, daß ich viel spreche und wenig denke. Ist es
+denn schlecht, wenn man spricht?“
+
+„Nein. Ich bin froh, wenn du sprichst.“
+
+„Hm! ich werde Madame Léotard fragen, die weiß alles. Aber woran denkst
+du denn?“
+
+„Ich denke an dich,“ sagte ich nach kurzem Schweigen.
+
+„Und das macht dir Spaß?“
+
+„Ja.“
+
+„Dann liebst du mich wohl?“
+
+„Ja.“
+
+„Aber ich liebe dich noch nicht. Du bist so mager! Wart’, ich werde dir
+gleich die Pastete bringen! Nu, adieu!“
+
+Und das Prinzeßchen, das mich fast im Fluge abküßte, war schon
+verschwunden.
+
+Nach dem Essen brachte sie mir auch wirklich die Pastete. Sie kam
+hereingelaufen, ausgelassen wie ein Kobold, lachend und jauchzend vor
+Freude, daß sie mir etwas zu essen brachte, was mir zu essen verboten
+worden war.
+
+„Iß, iß mehr, iß recht viel, das ist nämlich meine eigene Pastete, ich
+habe selbst nicht gegessen. Nu, adieu!“ Und schon war sie fort.
+
+Ein anderes Mal kam sie wie ein Wirbelwind ins Zimmer, gleichfalls nach
+dem Essen. Ihre schwarzen Locken waren wie vom Sturm verwirrt, ihre
+Augen blitzten und die Bäckchen glühten wie Purpur: sie mußte nach ihren
+Lernstunden schon etliche Stunden gelaufen und gesprungen sein.
+
+„Kannst du Federball spielen?“ rief sie atemlos, übersprudelnd und in
+größter Eile.
+
+„Nein,“ sagte ich, und es tat mir schrecklich leid, daß ich nicht „ja“
+sagen konnte.
+
+„Ach, wie du bist! Nu, werd schnell gesund, dann zeig’ ich es dir. Ich
+kam nur deshalb. Ich spiele jetzt mit Madame Léotard. Adieu, man wartet
+auf mich!“
+
+Endlich durfte ich das Bett verlassen, obschon ich mich noch immer
+schwach und kraftlos fühlte. Mein erster Gedanke war, mich jetzt nie
+mehr von Katjä zu trennen. An ihr war etwas, was mich unwiderstehlich zu
+ihr hinzog. Ich konnte mich kaum sattsehen an ihr, worüber Katjä sich
+sehr zu verwundern schien. Dieser Drang zu ihr war so stark und ich gab
+mich diesem neuen Gefühl so leidenschaftlich hin, daß es von ihr
+natürlich nicht unbemerkt bleiben konnte, und anfangs erschien es ihr
+denn auch unerhört seltsam. Ich weiß noch, einmal während eines
+gemeinsamen Spiels hielt ich es plötzlich nicht mehr aus und warf mich
+ihr an den Hals, um sie zu küssen. Sie befreite sich aus meiner
+Umarmung, erfaßte meine Hände – und mit zusammengezogenen Brauen, als
+hätte ich sie beleidigt, fragte sie mich:
+
+„Was fällt dir ein? Warum küßt du mich?“
+
+Ich fuhr schuldbewußt zusammen bei ihrer schnellen Frage und sagte kein
+Wort. Die Prinzeß zuckte mit ihren kleinen Schultern, zum Zeichen ihres
+Nichtbegreifenkönnens (dieses Achselzucken war ihr schon zur
+Angewohnheit geworden), dann preßte sie überernst ihre kleinen weichen
+Lippen zusammen, ließ die Spielsachen liegen und setzte sich auf den
+Diwan, von wo aus sie mich sehr lange betrachtete – wobei sie
+anscheinend tief und ernsthaft über etwas nachdachte, ganz als habe sie
+da ein schwieriges Problem zu lösen, das plötzlich in ihren Gedanken
+aufgetaucht war. Es war dies gleichfalls so ihre Angewohnheit in allen
+unklaren Fällen. Ich aber konnte mich an diese schroffen Äußerungen
+ihres Charakters lange nicht gewöhnen.
+
+In der ersten Zeit beschuldigte ich nur mich allein und dachte, daß ich
+wirklich sehr viele Eigenheiten haben mußte. Aber wenn dies auch zum
+Teil zutreffen mochte, so quälte ich mich doch in einer gewissen
+Ungewißheit mit der einen Frage: warum ich mit Katjä nicht gleich
+Freundschaft schließen und ihr ein für allemal gefallen konnte? Meine
+Mißerfolge in der Beziehung kränkten mich bis zum körperlichen Schmerz
+und ich hätte über jedes unbedachte Wort Katjäs, über jeden
+mißtrauischen Blick von ihr weinen mögen. Mein Leid wuchs nicht nur mit
+jedem Tage, sondern sogar mit jeder Stunde, denn mit Katjä ging alles
+sehr schnell. Schon nach ein paar Tagen merkte ich, daß sie mich gar
+nicht mehr leiden konnte, ja daß ich ihr schon verhaßt wurde. In der
+Seele dieses kleinen Mädchens geschah alles schnell, schroff, – manch
+einer würde sagen brutal, und vielleicht mit Recht, wenn in allen diesen
+blitzschnellen Veränderungen eines geraden, naiv-offenherzigen
+Charakters nicht zugleich eine angeborene, eine gewisse vornehme Grazie
+gewesen wäre. Unsere Entfremdung begann damit, daß zuerst Zweifel in ihr
+aufstiegen und aus den Zweifeln wurde Verachtung, und zwar wie ich
+glaube, deshalb, weil ich kein einziges Spiel zu spielen verstand. Die
+Prinzeß liebte zu tollen, zu laufen, sie war stark, lebhaft, gewandt,
+ich aber – gerade das Gegenteil. Ich war noch von der Krankheit her
+schwach, war still und nachdenklich: Kinderspiele machten mir kein
+Vergnügen. Mit einem Wort, mir fehlten alle Eigenschaften, deren ich
+bedurft hätte, um Katjä zu gefallen. Außerdem konnte ich es nicht
+ertragen, andere mit mir unzufrieden zu sehen: dann wurde ich traurig,
+verlor allen Mut und hatte erst recht nicht mehr die Kraft, das
+Verfehlte wieder gutzumachen und den schlechten Eindruck zu verwischen,
+– kurz, ich verfiel dem Unglück ganz. Das war nun etwas, was Katjä nicht
+begreifen konnte. Anfangs schien es sie eher zu verblüffen, sie sah mich
+dann, wie es ihre Art war, mit stummer Verwunderung an, nachdem sie
+sich, wie es zuweilen vorkam, eine ganze Stunde mit mir abgemüht hatte,
+um mich z. B. das Reifenspiel zu lehren, das ich immer noch nicht
+begreifen wollte. Und da ich gleich traurig wurde und Tränen mir in die
+Augen traten, so wandte sie sich, nachdem sie über mich nachgedacht und
+doch weder durch ihr Denken noch durch mich selbst einen Aufschluß
+erhalten hatte, einfach von mir ab und spielte allein weiter, ohne mich
+noch zum Mitspielen aufzufordern, ja sogar ohne überhaupt noch mit mir
+zu sprechen, – und das nicht nur an diesem einen Tage, sondern gleich
+ein paar Tage lang. Von diesem Verhalten war ich so betroffen, daß ich
+ihre Geringschätzung kaum ertragen konnte. Meine neue Einsamkeit wurde
+nun fast noch bedrückender als die frühere in der Dachstube, und ich
+begann wieder zu trauern und zu grübeln: wieder bedrückten dunkle
+Gedanken mein Herz.
+
+Madame Léotard, die uns beaufsichtigte, bemerkte schließlich diese
+Veränderung in unserem Verhalten zueinander. Und da ihr natürlich mein
+fremdes Wesen zuerst auffiel, vor allem meine Verlassenheit, so wandte
+sie sich ohne weiteres an die Prinzeß und schalt sie sehr, weil sie mit
+mir nicht umzugehen verstünde. Die Prinzeß runzelte die Stirn, zuckte
+mit den Schultern und erklärte darauf, sie könne mit mir nichts
+anfangen, zu spielen verstände ich nicht, ich dächte immer Gott weiß
+woran, sie aber werde lieber auf den Bruder warten, der bald aus Moskau
+zurückkehren müsse, dann könne sie mit ihm ganz anders spielen, mit ihm
+sei es viel lustiger.
+
+Doch Madame Léotard begnügte sich nicht mit dieser Antwort, sie hielt
+ihr vor, daß sie mich allein sitzen lasse und nicht bedenke, daß ich
+noch krank wäre, deshalb könne ich auch nicht so lustig und ausgelassen
+sein wie sie, Katjä, was übrigens auch viel besser sei, denn das, was
+Katjä anrichte, sei unerhört, sie habe dies verbrochen und jenes
+angestiftet und vorvorgestern hätte die Bulldogge sie deshalb zur Strafe
+fast aufgefressen. Kurz, Madame Léotard schalt ohne Nachsicht und schloß
+ihre Strafpredigt damit, daß sie sie zu mir schickte, mit der Weisung,
+sich sogleich mit mir zu versöhnen.
+
+Katjä hatte die Standrede mit großer Aufmerksamkeit angehört, als sage
+man ihr nun wirklich etwas Neues, und es schien ihr einzuleuchten, daß
+in diesem Neuen etwas richtig und gerecht war. Sie ließ ihren Reifen,
+den sie durch das Zimmer gerollt hatte, liegen, trat auf mich zu, sah
+mich ernst an und fragte etwas ungläubig:
+
+„Willst du denn spielen?“
+
+„Nein,“ sagte ich schnell, noch erschrocken von der Standrede der Madame
+Léotard.
+
+„Was willst du denn?“
+
+„Ich werde hier sitzen, denn mir fällt das Laufen schwer. Nur sei mir
+deshalb nicht böse, Katjä, ich habe dich sehr lieb.“
+
+„Nun gut, dann werde ich allein spielen,“ sagte sie langsam, gleichsam
+überlegend und als wundere sie sich darüber, wenn sich jetzt beinahe
+herausstellte, daß sie an gar nichts schuld wäre. „Nun denn, adieu, ich
+werde dir nicht böse sein.“
+
+„Adieu,“ sagte ich, stand auf und reichte ihr die Hand.
+
+„Vielleicht wollen wir uns küssen?“ fragte sie nach kurzem Nachdenken –
+wohl in der Erinnerung an jenen Kußzwischenfall und zugleich, um mir
+etwas Angenehmes zu erweisen und dadurch schneller den Zwist mit mir
+beizulegen.
+
+„Wie du willst,“ sagte ich in scheuer Hoffnung.
+
+Sie trat an mich heran und küßte mich todernst, ohne auch nur im
+geringsten zu lächeln. Und als sie so alles getan, was man von ihr
+verlangte, ja sogar noch mehr als das, nur um einem armen Mädchen ein
+Vergnügen zu bereiten, da lief sie zufrieden und froh von mir fort, und
+bald hörte man wieder in allen Zimmern ihr Lachen und Tollen, bis sie
+sich erschöpft und atemlos auf einen Diwan warf, um sich zu erholen und
+neue Kräfte zu sammeln. Dann sah sie mich aber doch die ganze Zeit
+mißtrauisch an, da ich ihr offenbar wunderlich erschien. Es war, als
+hätte sie gern mit mir gesprochen, als hätte sie gern gewisse Fragen,
+die ihr in bezug auf mich durch den Sinn fuhren, beantwortet, aber ich
+weiß nicht, weshalb sie diesmal nicht fragte und sich bezwang.
+
+Katjä lernte gewöhnlich morgens. Madame Léotard unterrichtete sie nur in
+der französischen Sprache. Der ganze Unterricht bestand im Wiederholen
+der Grammatik und im Lesen der Fabeln von Lafontaine. Man unterrichtete
+sie deshalb nur in diesem Fach, weil es ohnehin schon schwer gewesen
+war, sie dazu zu bewegen, wenigstens zwei Stunden täglich zu lernen. Auf
+diesen Ausgleich war sie schließlich nur auf Bitten des Vaters
+eingegangen, und auf Befehl der Mutter. Ihr Versprechen aber erfüllte
+sie sehr gewissenhaft. Sie war außerordentlich begabt, sie begriff
+leicht und behielt das Begriffene. Aber auch in der Art ihres Lernens
+hatte sie ihre kleinen Eigenheiten: wenn sie z. B. irgend etwas einmal
+nicht sofort begriff, dann begann sie gleich selbst nachzudenken, denn
+eher tat sie alles Mögliche, als daß sie andere um eine Erklärung dessen
+bat, was sie sich selbst mit eigenem Verstande nicht zu erklären
+vermochte, – sie schien sich dann einfach zu schämen. Ja, es soll sogar
+vorgekommen sein, daß sie sich tagelang mit einer Frage gequält und über
+sich selbst geärgert hatte, weil sie sie nicht ohne fremde Hilfe
+beantworten konnte: denn nur im äußersten Fall, wenn sie schon ganz müde
+geworden war vom Denken, ging sie zu Madame Léotard und bat sie, ihr die
+Sache zu erklären, der ihr eigener Verstand noch nicht gewachsen war.
+Und so war sie in allem. Sie hatte schon viel nachgedacht, was man ihr
+freilich auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hätte. Und doch konnte
+sie mitunter noch furchtbar naiv sein: zuweilen stellte sie für ihr
+Alter unglaublich dumme Fragen, und zuweilen wiederum verrieten ihre
+Antworten die spitzfindigste Schlauheit und das weitsichtigste, feinste
+Verständnis.
+
+Da ich mit der Zeit auch zu lernen anfangen konnte, so nahm mich Madame
+Léotard eines Tages gewissermaßen ins Verhör, und nachdem sie
+festgestellt, daß ich schon sehr gut las, aber noch sehr schlecht
+schrieb, erklärte sie, es sei nun die höchste Zeit und die größte
+Notwendigkeit, daß ich mit dem Französischen anfinge.
+
+Ich widersprach natürlich nicht und am nächsten Vormittage setzten wir
+uns, Katjä und ich, an den Lerntisch zu beiden Seiten von Madame
+Léotard. Unglücklicherweise war Katjä gerade an diesem Tage so zerstreut
+und auch schwerfällig im Begreifen, daß Madame Léotard sie gar nicht
+wiedererkannte. Ich aber lernte im Nu das französische Alphabet, denn
+ich hatte nur den einen Wunsch, es Madame Léotard recht zu machen. Sie
+aber ärgerte sich die ganze Zeit über Katjä und zum Schluß wurde sie so
+böse, daß sie sie heftig schalt:
+
+„Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel,“ sagte sie, auf mich weisend, „ein
+noch halbkrankes Kind lernt zum erstenmal und hat in einer Stunde
+zehnmal mehr begriffen als Sie. Schämen Sie sich!“
+
+„Sie weiß mehr als ich?“ fragte Katjä verwundert, „aber sie lernt doch
+erst das Alphabet!“
+
+„In wieviel Stunden haben Sie das Alphabet gelernt?“
+
+„In drei.“
+
+„Und sie in einer einzigen. Folglich begreift sie dreimal schneller als
+Sie und wird Sie im Nu überholen. Das sehen Sie doch ein?“
+
+Katjä dachte einen Augenblick nach und plötzlich wurde sie feuerrot.
+Überhaupt war Erröten, Beschämtsein – das erste bei ihr, gleichviel ob
+es sich um einen Mißerfolg, einen Ärger, um eine Kränkung handelte oder
+ob man sie bei einer Unart ertappte und schalt. Diesmal traten ihr fast
+Tränen in die Augen, aber sie schwieg und sah mich nur einmal so an, als
+wolle sie mich verbrennen mit ihrem Blick. Da erriet ich, was sie
+empfand. Die Arme war über alle Maßen stolz und ehrgeizig!
+
+Als wir Madame Léotard verließen, versuchte ich, ein Gespräch mit ihr
+anzuknüpfen, um ihren Ärger zu verscheuchen und zu zeigen, daß es mich
+nichts anging, was die Französin sagte, aber Katjä schwieg, als hätte
+sie mich überhaupt nicht gehört.
+
+Etwa nach einer Stunde kam sie in das Zimmer, wo ich mit einem Buch saß,
+jedoch ohne zu lesen, denn ich dachte die ganze Zeit nur an Katjä – ich
+war doch noch zu bestürzt und erschrocken bei dem Gedanken, der nicht
+von mir wich, daß Katjä nun wieder nicht mit mir sprechen wollte.
+
+Sie sah mich finster an, setzte sich wie gewöhnlich auf den Diwan und
+betrachtete mich eine gute halbe Stunde. Länger hielt ich es nicht aus:
+ich hob den Kopf und sah sie fragend an.
+
+„Kannst du tanzen?“ fragte sie mich darauf.
+
+„Nein.“
+
+„Aber ich.“
+
+Schweigen.
+
+„Kannst du denn Klavier spielen?“
+
+„Nein, auch nicht.“
+
+„Aber ich spiele. Das ist sehr schwer zu erlernen.“
+
+Ich schwieg.
+
+„Madame Léotard sagt, du seist klüger als ich.“
+
+„Madame Léotard war nur böse auf dich,“ sagte ich.
+
+„Wird Papa auch böse sein?“
+
+„Das weiß ich nicht,“ antwortete ich.
+
+Wieder Schweigen. Plötzlich stampfte die Prinzeß ungeduldig mit dem Fuß
+auf.
+
+„So wirst du jetzt über mich lachen, weil du schneller begreifen kannst
+als ich?“ rief sie, unfähig ihren Ärger zu verbergen.
+
+„Ach nein, nein!“ Ich sprang auf, um zu ihr zu laufen und sie zu
+umarmen.
+
+„Und Sie schämen sich nicht, so etwas zu denken und so zu fragen,
+Prinzeß?“ ertönte plötzlich die Stimme der Madame Léotard, die uns schon
+eine Weile aus dem anderen Zimmer beobachtet und das Gespräch gehört
+hatte. „Schämen Sie sich! Sie beneiden das arme Kind und prahlen vor
+ihr, daß Sie tanzen und Klavier spielen können. Wie häßlich von Ihnen!
+Ich werde alles dem Fürsten erzählen.“
+
+Die Prinzeß errötete.
+
+„Das war schlecht von Ihnen. Sie haben Sie mit Ihren Fragen absichtlich
+gekränkt. Ihre Eltern waren arm und konnten keine Gouvernanten für sie
+halten; sie hat alles aus sich selbst gelernt, weil sie ein kluges Kind
+ist. Sie sollten Sie lieben und gut zu ihr sein, Sie aber wollen mit ihr
+nur streiten und sie kränken. Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Sie
+ist doch eine Waise! Sie hat keinen Menschen, der ihr nahe steht. Es
+fehlte nur noch, daß Sie auch damit zu prahlen anfangen, daß Sie eine
+Prinzeß sind und sie nicht. Ich lasse Sie allein. Denken Sie darüber
+nach, was ich Ihnen gesagt habe und bessern Sie sich.“
+
+Die Prinzeß dachte genau zwei Tage nach. Zwei Tage lang hörte man sie
+weder lachen noch tollen. In der Nacht hörte ich, wie sie sogar im Traum
+mit Madame Léotard stritt. Ja, es schien fast, als magere sie ein wenig
+ab in diesen zwei Tagen, wenigstens wurde ihr zartes Gesichtchen
+merklich bleicher. Am dritten Tage begegneten wir uns zufällig unten in
+den großen Räumen. Die Prinzeß kam von der Mutter und als sie mich
+erblickte, blieb sie stehen und setzte sich nicht weit von mir auf einen
+Stuhl. Ich erwartete mit Bangen, was nun kommen würde.
+
+„Njetotschka, weshalb hat man mich deinetwegen gescholten?“ fragte sie
+plötzlich.
+
+„Oh, das geschah nicht meinetwegen, Katenjka[2],“ sagte ich schnell, wie
+um mich zu rechtfertigen.
+
+„Aber Madame Léotard sagt doch, ich hätte dich beleidigt.“
+
+„Nein, Katenjka, du hast mich nicht beleidigt.“
+
+Die Prinzeß zuckte mit der Achsel – ein Zeichen, daß sie mich nicht
+verstand.
+
+„Warum weinst du denn immer?“ fragte sie nach kurzem Schweigen.
+
+„Ich werde nicht mehr ... wenn du es nicht willst,“ sagte ich und die
+Tränen traten mir schon in die Augen.
+
+Sie hatte dafür wieder nur ein Achselzucken.
+
+„Hast du auch früher immer geweint?“
+
+Ich antwortete nicht.
+
+„Warum lebst du bei uns?“ fragte sie plötzlich, wieder nach neuem kurzem
+Schweigen.
+
+Ich sah sie verwundert an und fühlte so etwas wie einen Stich ins Herz.
+
+„Weil ich eine Waise bin,“ sagte ich schließlich, nachdem ich mich
+zusammengenommen.
+
+„Hattest du Eltern?“
+
+„Ja.“
+
+„Nun, und – die haben dich nicht geliebt?“
+
+„Nein ... sie liebten mich,“ antwortete ich mit Mühe.
+
+„Sie waren aber arm?“
+
+„Ja.“
+
+„Sehr arm?“
+
+„Ja.“
+
+„Und bei denen hast du nichts gelernt?“
+
+„Nur lesen.“
+
+„Hattest du Spielsachen?“
+
+„Nein.“
+
+„Hattest du Kuchen?“
+
+„Nein.“
+
+„Wieviel Zimmer hattet ihr?“
+
+„Ein Zimmer.“
+
+„Nur ein Zimmer?“
+
+„Ja.“
+
+„Und hattet ihr Dienstboten?“
+
+„Nein, wir hatten keine Dienstboten.“
+
+„Aber wer hat euch denn bedient?“
+
+„Ich ging selbst ... einkaufen ...“
+
+Die Fragen der Prinzeß zerrissen mir immer mehr das Herz. Dazu kamen die
+Erinnerungen ... und meine Verlassenheit und die Verwunderung der
+Prinzeß – all das traf und verletzte mein Herz, daß es wie aus Wunden
+blutete. Ich zitterte fieberhaft vor Erregung und die Tränen drohten
+mich zu ersticken.
+
+„Dann bist du wohl froh, daß du bei uns wohnst?“
+
+Ich schwieg.
+
+„Hattest du schöne Kleider?“
+
+„Nein.“
+
+„Schlechte?“
+
+„Ja.“
+
+„Ich habe dein Kleid gesehn, man hat es mir gezeigt.“
+
+„Warum fragst du mich dann noch?“ rief ich aufstehend, erschüttert von
+einem neuen, noch nie empfundenen Gefühl, „warum fragst du dann noch?“
+fuhr ich fort, und das Blut stieg mir vor Unwillen heiß ins Gesicht.
+„Warum lachst du über mich?“
+
+Die Prinzeß war gleichfalls errötet und erhob sich auch, aber sie
+beherrschte sich schnell.
+
+„Nein ... ich lache nicht,“ sagte sie. „Ich wollte nur wissen, ob es
+wahr ist, daß deine Eltern arm waren?“
+
+„Warum fragst du mich nach meinen Eltern?“ rief ich und Tränen rollten
+mir über die Wangen vor Seelenschmerz. „Warum fragst du mich _so_ nach
+ihnen? Was haben sie dir getan, Katjä?“
+
+Katjä stand betreten vor ihrem Stuhl und wußte nicht, was sie antworten
+sollte. Da trat der Fürst ins Zimmer.
+
+„Was fehlt dir, Njetotschka?“ fragte er, als er meine Tränen bemerkte.
+„Was fehlt dir, weshalb weinst du?“ fragte er nochmals und sah Katjä an,
+die feuerrot geworden war. „Wovon spracht ihr? Worüber habt ihr
+gestritten? Njetotschka, worüber weinst du?“
+
+Ich konnte nicht antworten, aber ich ergriff die Hand des Fürsten und
+küßte sie unter Tränen.
+
+„Katjä, sag du, und sprich die Wahrheit: was ist hier vorgefallen?“
+
+Katjä verstand nicht zu lügen.
+
+„Ich sagte ihr, daß ich gesehen habe, was für ein schlechtes Kleid sie
+trug, als sie noch bei ihrem Papa und ihrer Mama lebte.“
+
+„Wer hat es dir gezeigt? Wer hat es dir zu zeigen gewagt?“
+
+„Ich habe es selbst gesehen!“ sagte Katjä in bestimmtem Tone.
+
+„Nun gut! Ich kenne dich, du willst niemanden angeben. Und was weiter?“
+
+„Und dann fing sie an zu weinen und fragte: warum ich mich über ihren
+Papa und ihre Mama lustig gemacht?“
+
+Das hatte sie zwar nicht getan, aber offenbar war es ihre Absicht
+gewesen, da auch ich es nach der ersten Frage so aufgefaßt hatte. Sie
+antwortete dem Vater keine Silbe: und dies war ebenso gut wie ein
+Geständnis.
+
+„Du gehst sofort zu ihr und bittest sie um Verzeihung,“ befahl der
+Fürst, auf mich weisend.
+
+Die Prinzeß stand bleich und stumm und rührte sich nicht.
+
+„Nun,“ sagte der Fürst.
+
+„Ich will nicht,“ sagte Katjä schließlich halblaut, aber mit fest
+entschlossener Miene.
+
+„Katjä!“
+
+„Nein, ich will nicht, ich will nicht!“ schrie sie plötzlich mit
+blitzenden Augen und stampfte mit beiden Füßchen. „Ich will nicht, Papa,
+ich will nicht um Verzeihung bitten. Ich liebe sie nicht. Ich will nicht
+mit ihr zusammenwohnen ... Ich bin nicht schuld, daß sie den ganzen Tag
+weint. Ich will nicht, ich will nicht!“
+
+„Komm mit,“ sagte der Fürst, sie an der Hand fassend, um sie in sein
+Kabinett zu führen. „Njetotschka, geh nach oben,“ wandte er sich zu mir.
+
+Ich wollte ihn zurückhalten, wollte für Katjä um Verzeihung bitten, doch
+der Fürst wiederholte streng seinen Befehl und ich ging nach oben,
+eiskalt vor Schreck, wie eine Tote. In unserem Zimmer sank ich auf den
+Diwan und umklammerte meinen Kopf mit den Händen. Ich zählte die
+Minuten. Ich erwartete Katjä mit fiebernder Ungeduld, ich wollte mich
+ihr zu Füßen werfen. Endlich kam sie: sie ging ohne ein Wort an mir
+vorüber und setzte sich in den fernsten Winkel; Ihre Augen waren rot und
+die Wangen geschwollen von Tränen. Da schwand meine ganze
+Entschlossenheit. Ich sah sie angstvoll an und meine Angst lähmte mich.
+
+Ich beschuldigte mich mit allen Fibern, ich mühte mich krampfhaft, mir
+vor mir selbst zu beweisen, daß ich allein an allem schuld sei.
+Tausendmal wollte ich zu Katjä gehen und tausendmal sank mir der Mut, da
+ich nicht wußte, wie sie sich zu mir verhalten würde. So verging ein Tag
+und noch einer. Am Abend dieses zweiten Tages wurde Katjä wieder
+munterer und nahm sogar ihr Reifenspiel vor, doch bald ließ sie den
+Reifen liegen und zog sich wieder in ihren Winkel zurück. Kurz bevor wir
+zu Bett gingen, wandte sie sich plötzlich zu mir und kam sogar zwei
+Schritte auf mich zu: ihre weichen Lippen zuckten, als setze sie zum
+Sprechen an, aber sie blieb stehen, wandte sich wieder fort und ging zu
+Bett. Nach diesem Tage verging noch ein Tag, und die erstaunte Madame
+Léotard nahm Katjä zu guter Letzt ins Verhör: ob sie krank sei oder was
+mit ihr geschehen, daß sie sich mit einemmal so still verhalte? Katjä
+antwortete ausweichend irgend etwas, was ich nicht hören konnte, doch
+kaum hatte Madame Léotard ihr den Rücken gekehrt, da wurde sie rot und
+begann zu weinen. Sie lief aus dem Zimmer, um von mir nicht weinend
+gesehen zu werden. Einmal aber mußte doch die Erlösung kommen; und dies
+geschah denn auch am dritten Tage nach unserem Streit: nach dem Essen
+kam sie in mein Zimmer und näherte sich mir zaghaft.
+
+„Papa hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten,“ sagte sie. „Wirst
+du mir verzeihen?“
+
+Ich erfaßte schnell ihre beiden Hände und stieß in atemloser Hast
+hervor:
+
+„Ja! Ja!“
+
+„Papa befahl mir, dich zu küssen, – wirst du mich küssen?“
+
+Als Erwiderung auf ihre Frage küßte ich ihre Hände. Als ich aufsah,
+bemerkte ich in ihrem Gesicht eine seltsame Bewegung. Ihre Lippen und
+ihr Kinn bebten, in ihren Augen standen Tränen, aber sie unterdrückte
+schnell ihre Erregung und flüchtig erschien sogar ein Lächeln auf ihren
+Lippen.
+
+„Ich werde gehen und Papa sagen, daß ich dich geküßt und um Verzeihung
+gebeten habe,“ sagte sie leise, fast wie zu sich selbst. „Ich habe ihn
+schon drei Tage nicht gesehen. Er sagte, ich dürfe nicht eher zu ihm
+kommen, als bis ich sein Gebot erfüllt habe,“ fügte sie nach kurzem
+Nachdenken hinzu.
+
+Und sie ging zögernd und mit nachdenklichem Gesichtchen zum Vater, als
+wäre sie selbst noch nicht sicher, wie nun der Empfang beim Vater
+ausfallen würde.
+
+Eine Stunde später hörte ich oben wieder den alten Lärm, Katjäs Lachen
+und Laufen, Falstaffs Gebell, ja irgend etwas wurde umgeworfen und
+zerschlagen, Bücher fielen von einem Tisch, der Reifen rollte wieder
+federleicht durch alle Räume – kurz, ich hörte, daß Katjä sich mit dem
+Vater versöhnt hatte, und mein Herz erbebte vor Freude.
+
+Doch zu mir kam sie nicht und vermied es sichtlich, mit mir zu sprechen.
+Dafür hatte ich die Ehre, in hohem Maße ihre Neugier zu erregen. Immer
+öfter setzte sie sich mir gegenüber, um mich in Ruhe zu betrachten. Und
+ihre Beobachtungen wurden immer naiver. Das verwöhnte, eigenwillige
+Kind, das von allen im Hause verzogen und gehätschelt und wie ein
+kostbarer Schatz gehegt wurde, konnte es nicht begreifen, wie es kam,
+daß ich schon ein paarmal auf ihrem Wege mit ihr zusammengestoßen war,
+während sie das gar nicht gewollt hatte. Sie hatte aber ein gutes,
+prächtiges Herzchen, das allein schon mit seinem guten Instinkt immer
+den richtigen Weg fand. Den größten Einfluß auf sie hatte der Vater, den
+sie geradezu vergötterte. Von der Mutter wurde sie bis zum Wahnsinn
+geliebt, nur war die Mutter gleichzeitig unglaublich streng, und von ihr
+hatte Katjä den Eigensinn, den Stolz und die Charakterfestigkeit geerbt,
+dafür aber mußte sie auch alle Launen der Mutter ertragen, obschon diese
+oft in moralische Tyrannei ausarteten. Doch – sie ertrug sie. Die
+Fürstin hatte eine sonderbare Auffassung von dem, was Erziehung ist, und
+so war Katjäs Erziehung eine eigenartige Mischung von grenzenloser
+Verwöhnung und unerbittlicher Strenge. Was gestern erlaubt war, war
+heute plötzlich verboten, und zwar ganz grundlos, so daß das
+Gerechtigkeitsgefühl im Kinde völlig mißachtet und ständig verletzt
+wurde ... Doch davon später. Ich will hier nur bemerken, daß das Kind
+sein Verhalten zu den Eltern danach richtete. Dem Vater gegenüber war
+sie ganz so, wie sie war, sie gab sich ihm rückhaltlos, mit vollen
+Händen: da war in ihrem Wesen nichts Verborgenes, nichts
+Zurückhaltendes. Im Verkehr mit der Mutter dagegen war sie das gerade
+Gegenteil: verschlossen, mißtrauisch und widerspruchslos gehorsam. Aber
+ihr Gehorsam war nicht aufrichtig, sie gehorchte nicht aus Überzeugung,
+sondern sozusagen einem notwendigen System gemäß. Ich werde später noch
+darauf zurückkommen und mich dann klarer auszudrücken versuchen.
+Übrigens sei es hier noch zur besonderen Ehre meiner Katjä gesagt, daß
+sie schließlich ihre Mutter vollkommen verstand, und wenn sie ihr
+gehorchte, so tat sie das schon mit der vollen Erkenntnis der
+grenzenlosen Mutterliebe, die die Fürstin zu ihr hatte und die sich bis
+zur krankhaften Exaltation steigern konnte – dem aber trug die Prinzeß
+in nachsichtiger Großmut Rechnung. Leider sollte dies später ihrem
+heißen Köpfchen wenig helfen!
+
+Doch ich habe fast noch gar nicht erwähnt, was in mir vorging.
+
+Ein neues, mir unerklärliches Gefühl erregte mich damals in einer ganz
+ungewohnten Weise und ich übertreibe wohl nicht, wenn ich sage, daß ich
+unter diesem neuen Gefühl wie unter einer Pein litt. Kurz – man verzeihe
+mir das Wort, aber – ich war in meine Katjä verliebt. Ja, das war
+Verliebtheit, richtige Verliebtheit, Verliebtheit mit Tränen und
+Entzücken, leidenschaftliche Verliebtheit! Was zog mich so zu ihr?
+Woraus entstand diese meine Liebe? Sie begann mit dem ersten Blick auf
+Katjä, als alle meine Sinne plötzlich so – so süß betroffen wurden von
+dieser Schönheit. Alles an ihr war schön: keine einzige ihrer schlechten
+Eigenschaften war angeboren, – alle waren sie nur angenommen und alle
+standen sie mit ihrem Instinkt auf Kriegsfuß. Aus allem ersah man die
+gute Veranlagung, die nur zeitweilig eine falsche Form annehmen konnte,
+doch alles an ihr, angefangen mit jenem inneren Kampf, leuchtete in
+froher Zuversicht, alles versprach, in Zukunft Schönheit zu sein. Alle
+Menschen hatten Freude an ihr, alle liebten sie, verwöhnten sie. Wenn
+man uns spazieren führte – gewöhnlich gegen drei Uhr – blieben die
+Menschen, die uns begegneten und sie erblickten, beinahe betroffen
+stehen, und nicht selten hörten wir hinter uns einen Ausruf der
+Bewunderung. Sie war zum Glücklichsein geboren, sie mußte dazu geboren
+sein – das war die erste Empfindung eines jeden, der sie sah. Vielleicht
+hatte sich damals, als ich aus tiefem Schlaf erwachte und sie erblickte,
+zum erstenmal mein ästhetisches Empfinden geregt, war mein Gefühl für
+das Schöne durch ihre Schönheit erweckt worden, – und dies wird wohl die
+ganze Ursache meiner Liebe gewesen sein.
+
+Der größte Fehler der Prinzeß – oder richtiger der Grundzug ihres
+Charakters, der sich gewaltsam in seine natürliche Form prägen wollte
+und sich deshalb naturgemäß in einem unnormalen, eben in einem
+Kampfzustand befand – war _Stolz_. Dieser Stolz erstreckte sich bis in
+naive Kleinigkeiten, schlug oft in Eigenliebe um und wurde zu einer
+unbewußten Überhebung, so daß z. B. Widerspruch, gleichviel welcher Art,
+sie nicht kränkte und auch nicht einmal ärgerte, sondern nur in
+Verwunderung setzte. Sie begriff nicht, wie etwas anders sein konnte,
+als wie sie es wünschte. Aber das Gerechtigkeitsgefühl siegte doch immer
+in ihrem Herzen. Wenn sie sich einmal überzeugt hatte, daß sie wirklich
+unrecht getan, dann fügte sie sich ohne zu murren und mit fester
+Entschlossenheit dem Urteilsspruch ihrer Erzieher. Daß sie aber anfangs
+im Verkehr mit mir sich selbst nicht immer ganz treu blieb, erkläre ich
+mir mit ihrer unüberwindlichen Abneigung, die zeitweilig die Geradheit
+und Einheit ihres ganzen Wesens störte. Anders aber konnte es wohl gar
+nicht sein: sie war viel zu leidenschaftlich in ihren Empfindungen, und
+so waren es immer erst die Zusammenstöße mit der Wirklichkeit, die ihr
+allmählich die Augen öffneten und sie auf den richtigen Weg
+zurückführten. Alles, was sie unternahm und anfing, hatte ein gutes
+Endergebnis, doch wurden diese Endergebnisse regelmäßig mit
+fortwährenden Abweichungen und unter ständigen Verirrungen erkauft.
+
+Katjä hatte mich bald genügend beobachtet und entschloß sich deshalb,
+mich fortab in Ruhe zu lassen. Sie tat, als wäre ich überhaupt nicht da.
+Sie sprach mit mir kein überflüssiges Wort, ja fast nicht einmal das
+Notwendige. An ihren Spielen beteiligte ich mich nicht mehr – doch hatte
+sie mich nicht etwa mit Gewalt verdrängt, sondern es so geschickt
+einzurichten verstanden, daß es den Anschein hatte, als wäre ich selbst
+damit einverstanden gewesen. Der Unterricht wurde fortgesetzt, aber wenn
+man mich ihr noch wegen meiner Aufmerksamkeit und meines schnellen
+Begreifens als Beispiel vorhielt, so würdigte sie mich nicht mehr der
+Ehre, sich dadurch in ihrer Eigenliebe gekränkt zu fühlen, obschon diese
+Eigenliebe eine höchst peinlich ausgeprägte war – eine so heikele, daß
+sogar unsere Bulldogge, Sir John Falstaff, sie verletzen konnte.
+Falstaff war ein kaltblütiger Phlegmatiker, dabei aber böse wie ein
+Tiger, ja wenn man ihn reizte, ging er sogar so weit, daß er nicht
+einmal mehr seinem Herrn gehorchte. Und noch ein bedeutsamer
+Charakterzug: er liebte entschieden keinen einzigen Menschen im ganzen
+Hause; sein größter Feind aber war zweifellos die alte Prinzessin, die
+Tante des Fürsten ... Doch davon später. Die ehrgeizige Katjä gelüstete
+es nun eines Tages, den unfreundlichen Falstaff zu besiegen. Es war ihr
+unangenehm, daß es ein Wesen gab, sei es auch nur ein vierbeiniges, das
+ihre Autorität nicht anerkannte, sich ihr nicht unterwarf, ja, sie nicht
+einmal liebte. So beschloß denn die Prinzeß, Falstaff anzugreifen. Sie
+wollte über alle herrschen – warum sollte nun Falstaff allein ungestört
+seine Freiheit genießen dürfen? Aber die unbeugsame Bulldogge ergab sich
+ihr doch nicht.
+
+Es war einmal nach dem Essen, wir saßen beide unten im großen Saal,
+während Falstaff mitten im Saal auf der Diele lag und faul seine
+Nachmittagssiesta genoß. Da fiel es der Prinzeß plötzlich ein, ihn sich
+unterwerfen zu wollen. Sie ließ ihr Spiel liegen und begann sogleich mit
+dem Versuch, sich Falstaff zu nähern: vorsichtig, auf den Fußspitzen
+schleichend, umschmeichelte sie Falstaff mit den zärtlichsten Kosenamen,
+winkte liebevoll beschwichtigend mit der Hand und ging immer näher,
+immer näher. Falstaff aber zeigte schon von ferne seine furchtbaren
+Zähne. Prinzeßchen blieb stehen. Ihr ganzes Vorhaben bestand ja nur
+darin, zu Falstaff zu gelangen und ihn einmal zu streicheln – eine
+Kühnheit, die er bisher noch keinem gestattet hatte, außer der Fürstin –
+und ihn dazu zu bringen, daß er ihr folge. Das war nun eine schwere
+Aufgabe, verbunden mit einer ernsten Gefahr, denn Falstaff hätte sich
+keineswegs gescheut, ihr eine Hand abzubeißen oder auch das ganze
+Prinzeßchen zu zerfleischen. Er war stark wie ein Bär und ich verfolgte
+von meinem Platze aus nicht grundlos mit angstvoller Spannung Katjäs
+Vorgehen. Ich wußte, wie schwer es war, sie zum Verzicht auf eine
+Absicht, wenn sie sich eine solche einmal in den Kopf gesetzt, zu
+bewegen, und selbst das Gebiß Falstaffs, das dieser ihr in äußerst
+unmanierlicher Weise zeigte, war für sie noch kein genügendes Argument.
+Sie begriff nur, daß sie sich doch nicht so geradeswegs ihm nähern
+konnte und änderte nach kurzem Zögern ihre Taktik, indem sie nun im
+Kreise um ihn herumging und diese Kreise immer enger machte. Als sie
+aber bei der dritten Umkreisung der Grenze zu nahe kam, die Falstaff als
+nächste und eben noch erlaubte Distanz zu sich nicht überschritten
+wissen wollte, da zeigte er wieder die Zähne. Die Prinzeß stampfte mit
+den Füßchen auf, kehrte ihm geärgert den Rücken und setzte sich aufs
+Sofa, um nachzudenken.
+
+Da fiel ihr nach einigen Minuten ein neues Mittel ein; sie verließ
+sofort den Saal und kehrte mit einem ganzen Vorrat von Kringeln, Kuchen
+und Pasteten zurück – kurz, sie änderte die Waffen. Doch auch die neuen
+Waffen ließen Falstaff völlig kalt, wohl weil er ohnehin schon viel zu
+satt war. Den Kringel, den sie ihm zuwarf, würdigte er nicht einmal
+eines Blickes; und als die Prinzeß wieder an der besagten äußersten
+Grenze anlangte, erfolgte ein diesmal noch energischerer Protest: er
+erhob den Kopf, zeigte die Zähne, knurrte und machte eine Bewegung, als
+wolle er gleich aufspringen. Die Prinzeß wurde rot vor Zorn, ließ den
+ganzen Vorrat liegen und setzte sich wieder auf ihren Platz.
+
+Sie war sichtlich sehr erregt. Ihr kleiner Fuß schlug ununterbrochen auf
+den Teppich, ihre Wangen glühten und in die Augen traten fast Tränen vor
+Ärger. Da geschah es, daß sie plötzlich meinen Blick auffing – alles
+Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. Sie sprang auf und ging mit
+entschlossenen Schritten gerade auf die furchtbare Dogge zu.
+
+Vielleicht war es diesmal die Überraschung, die Falstaff lähmte. Er ließ
+den Feind die Grenze überschreiten, und erst als sie nur noch zwei
+Schritte von ihm entfernt war, empfing er die Unbedachte mit dem
+unheimlichsten Knurren. Katjä blieb für eine Sekunde stehen –, aber nur
+für eine Sekunde –: dann trat sie entschlossen vorwärts. Ich erstarb vor
+Schreck. Sie war aber so beseelt von ihrem Entschluß, wie ich sie noch
+nie gesehen hatte: ihre Augen blitzten in trotziger Siegesgewißheit. Sie
+hätte ein entzückendes Modell für einen Künstler abgegeben. Mutig
+widerstand sie dem drohenden Blick des bösen Tieres, und auch sein
+unheimliches Gebiß schreckte sie nicht ab. Die Dogge hob den Kopf. Aus
+der breiten Brust kam ein unheildrohendes Knurren – im nächsten Moment,
+so schien es, werde das Tier sie zerfleischen. Doch die Prinzeß legte
+stolz ihre kleine Hand auf seinen Rücken und streichelte ihm
+dreimal über das Fell. Einen Augenblick verharrte Falstaff in
+Unentschlossenheit. Dieser Augenblick war der furchtbarste: dann stand
+das Tier schwerfällig auf, streckte sich und verließ in phlegmatischer
+Ruhe den Saal, vermutlich in der Erwägung, daß mit Kindern zu kämpfen
+sich doch nicht lohne. Die Prinzeß blieb triumphierend auf dem eroberten
+Platz stehen und warf mir nur einen unbeschreiblichen Blick zu, einen
+siegesgesättigten, siegesberauschten Blick. Ich war noch bleich wie ein
+Handtuch. Sie bemerkte das und lächelte. Aber da breitete sich mit
+einemmal auch über ihr Gesichtchen Totenblässe. Kaum konnte sie noch bis
+zum Sofa gehen, auf das sie nahezu ohnmächtig niedersank.
+
+Doch meine Liebe zu ihr kannte keine Grenzen. Seit diesem Tage, wo ich
+eine solche Angst um sie ausgestanden, konnte ich mich nur noch mit Mühe
+beherrschen. Ich verging vor Sehnsucht, tausendmal wollte ich mich ihr
+an den Hals werfen, aber eine unerklärliche Scheu hielt mich regungslos
+und wie gebannt auf meinem Platz zurück. Ich erinnere mich noch, daß ich
+ein Zusammensein mit ihr absichtlich zu vermeiden suchte, damit sie
+meine Erregung nicht sähe; trat sie aber zufällig in das Zimmer, in das
+ich mich zurückgezogen hatte, dann fuhr ich zusammen und mein Herz
+begann so stark zu pochen, daß ich wie von einem Schwindel erfaßt wurde.
+Ich glaube, dies alles entging Katjä nicht, und nachdem sie es bemerkt
+hatte, war sie die nächsten zwei Tage, wie mir schien, etwas verwirrt.
+Bald aber hatte sie sich auch damit abgefunden. So verging ein ganzer
+Monat, in dem ich einsam litt. Meine Gefühle besitzen eine gewisse
+unerklärliche Dehnbarkeit, wenn man sich so ausdrücken kann; meine Natur
+ist bis zur letzten Möglichkeit geduldig, so daß ein plötzlicher
+Ausbruch der Gefühle nur im wirklich äußersten Fall eintritt. Man muß
+nämlich wissen, daß Katjä und ich in dieser ganzen Zeit kaum fünf Worte
+miteinander gewechselt haben. Nach und nach wurde es mir aber infolge
+gewisser Anzeichen immer klarer, daß ihr Verhalten zu mir nicht auf
+Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit zurückzuführen sei, sondern daß es
+nur eine absichtliche Fernhaltung ihrerseits war: ganz als habe sie sich
+das Wort gegeben, mich in gewissen Schranken zu halten. Doch ich schlief
+schon nicht mehr in den Nächten und am Tage konnte ich meine Verwirrung
+selbst vor Madame Léotard nicht verbergen. Meine Liebe zu Katjä verstieg
+sich bis zu Seltsamkeiten: so nahm ich einmal heimlich ihr Taschentuch,
+ein anderes Mal ihr Haarband an mich, und diese Gegenstände küßte ich
+dann nachts unter Tränen. Anfangs kränkte mich ihre Gleichgültigkeit so
+sehr, daß ich mich wirklich verletzt fühlte; hernach aber war alles in
+mir verwirrt und ich konnte mir selbst nicht mehr über meine
+Empfindungen Rechenschaft geben. So kam es, daß meine alten Eindrücke
+allmählich von den neuen verdrängt wurden, und die Erinnerung an mein
+früheres trauriges Leben verlor mit der Zeit ihre krankhafte Intensität,
+da sie der neuen Wirklichkeit weichen mußte.
+
+Ich weiß noch, wenn ich in der Nacht erwachte, stand ich bisweilen leise
+auf und schlich auf den Fußspitzen zum Bett der Prinzeß. Stundenlang
+konnte ich dann stehen und die Schlafende in dem milden Licht unserer
+Nachtlampe betrachten. Manchmal setzte ich mich sogar auf ihr Bett und
+beugte mich über ihr Gesicht, und ihr warmer regelmäßiger Atem berührte
+mich wie ein traumhaft sanftes Wehen. Leise, bebend vor Unsicherheit,
+küßte ich dann wohl oft ihre Händchen, ihre kleinen Schultern, Wangen,
+auch ihr Füßchen küßte ich, wenn die Decke sich verschoben hatte und das
+Füßchen hervorsah. Bald glaubte ich zu bemerken – ich beobachtete sie
+doch unausgesetzt, wenn auch heimlich – daß sie von Tag zu Tag mehr
+nachsann und ihr Charakter seine frühere gefestigte Gleichmäßigkeit
+eingebüßt hatte: es kam vor, daß wir sie oft einen ganzen Tag nicht
+tollen hörten, dann aber machte sie wieder solchen Lärm, wie ich ihn
+zuvor noch nie gehört. Sie wurde reizbar, anmaßend, sie wurde
+abwechselnd bleich und rot und trieb es mit mir oft bis zu kleinen
+Grausamkeiten: bald wollte sie plötzlich nicht gleichzeitig mit mir
+essen und nicht neben mir sitzen, ganz als flöße ich ihr Abscheu ein;
+bald ging sie zur Mutter und saß dort fast ganze Tage, obschon sie genau
+wußte, wie sehr die Sehnsucht nach ihr mich verzehrte; bald wiederum
+setzte sie sich mir gegenüber und betrachtete mich stundenlang, so daß
+ich vor tödlicher Verwirrung nicht wußte, wo ich mich lassen sollte, nur
+immer errötete und erbleichte und doch nicht aus dem Zimmer zu gehen
+wagte. Zweimal hatte Katjä sich bereits über Fieber beklagt, während man
+sie früher nie krank gesehen hatte. Da erfolgte eines Morgens eine
+besondere und bedeutungsvolle Wandlung: auf unbedingten Wunsch der
+Prinzeß zog sie nämlich nach unten zur Mutter, die fast ohnmächtig wurde
+vor Angst, als Katjä über Erkältung klagte. Ich muß bemerken, daß die
+Fürstin mit mir sehr unzufrieden war und die ganze Veränderung, die sie
+an Katjä bemerkte, meinem schädlichen Einfluß zuschrieb, oder doch dem
+Einfluß meines „düsteren Charakters“, wie sie sich ausdrückte. Sie hätte
+uns schon viel früher getrennt, doch hielt sie es für ratsamer, die
+Trennung noch aufzuschieben, da sie damit, wie sie wußte, beim Fürsten
+auf hartnäckigen Widerstand gestoßen wäre. Obschon der Fürst ihr in
+allem ihren Willen ließ, konnte er bisweilen doch mit geradezu
+eigensinniger Starrheit auf seinem Willen bestehen. Sie kannte den
+Fürsten gut.
+
+Dieser Umzug der Prinzeß machte mich so betroffen, daß ich eine ganze
+Woche in der schrecklichsten Gemütsverfassung zubrachte. Ich quälte mich
+mit meiner Sehnsucht nach ihr und zerbrach mir den Kopf über der Frage,
+weshalb ich Katjä wohl solchen Abscheu einflößte. Meine Trauer darob
+zerriß mir die Seele und das Gerechtigkeitsgefühl und ein bitterer
+Unwille begann sich in meinem gekränkten Herzen zu erheben. Es entstand
+plötzlich ein gewisser Stolz in mir, und wenn ich mit Katjä vor unserem
+Spaziergang zusammentraf, dann sah ich sie so frei, so ernst an, so
+anders als früher, daß es sie offenbar betroffen machte. Natürlich trat
+diese meine Veränderung nur hin und wieder zutage, wie in sich
+durchdringenden Ausbrüchen, dann aber tat mir das Herz von neuem weh und
+der Schmerz wuchs und wuchs und ich wurde noch schwächer, noch
+kleinmütiger als ich vorher gewesen war. Da, eines Morgens, zu meiner
+größten, mich freudig verwirrenden Überraschung, kehrte die Prinzeß zu
+uns nach oben zurück. Ihr erstes war, daß sie gleich unter unbändigem
+Lachen Madame Léotard an den Hals flog und lachend erklärte, nun werde
+sie wieder bei uns wohnen – dann grüßte sie mich mit einem Nicken, sah
+aber schnell wieder fort und erbettelte sich die Erlaubnis, an diesem
+Tage nichts lernen zu brauchen. Den ganzen Vormittag tollte sie umher.
+Ich habe sie nie lebhafter und ausgelassener gesehen. Doch gegen Abend
+wurde sie still, nachdenklich und wieder breitete eine gewisse
+Traurigkeit einen Schatten über ihr reizendes Gesichtchen. Als die
+Fürstin am Abend bei uns erschien, um nachzufragen, wie es ihr gehe, da
+sah ich, daß Katjä sich aus allen Kräften bemühen mußte, froh und lustig
+zu scheinen. Nachher aber, als wir allein zurückblieben, brach sie
+plötzlich in Tränen aus. Ich war bestürzt. Die Prinzeß bemerkte, daß ich
+sie beobachtete, und verließ das Zimmer. Es waren Anzeichen, daß eine
+unerwartete Krisis sich in ihr vorbereitete. Die Fürstin beriet mit den
+Ärzten, ließ sich von Madame Léotard jeden Tag ausführlich Bericht
+erstatten, und wünschte, daß sie Katjä nicht aus den Augen ließ. Nur ich
+ahnte den wahren Grund dieser Veränderung. Mein Herz begann vor Hoffnung
+laut zu pochen.
+
+In der Tat, unser kleiner Roman näherte sich der entscheidenden Wendung.
+Am dritten Tage nach Katjäs Rückkehr zu uns nach oben fiel es mir auf,
+daß sie mich den ganzen Vormittag mit so guten Augen ansah und so lange
+ihre Blicke auf mir ruhen ließ ... Ein paarmal trafen sich unsere Blicke
+und jedesmal erröteten wir und schlugen die Augen nieder, als schämten
+wir uns. Da lachte zu guter Letzt Prinzeßchen auf und ging fort. Um drei
+Uhr kleidete man uns für den Spaziergang an. Plötzlich trat Katjä an
+mich heran.
+
+„Dein Schuhband hat sich gelöst,“ sagte sie zu mir, „komm, ich werde es
+zubinden.“
+
+Ich wollte mich bücken, um selber die Schleife zu binden, tief errötend
+darüber, daß Katjä nun endlich wieder etwas zu mir sprach, doch sie kam
+mir zuvor.
+
+„Gib her!“ sagte sie in lachender Ungeduld und kniete schnell nieder,
+zog meinen Fuß zu sich und band die Schleife von neuem. Mir stockte der
+Atem; ich wußte nicht, was tun, und ich empfand nur eine süße Wonne in
+meiner Erschrockenheit. Als die Schleife fertig war, stand sie auf und
+musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen.
+
+„Da ist auch das Hälschen bloß,“ sagte sie, mit dem Finger an meinen
+Hals tippend. „Nein, laß nur, ich werde es dir schon richtig binden.“
+
+Ich widersprach nicht. Sie löste die Schleife meines Halstüchleins und
+band es von neuem nach ihrem Geschmack.
+
+„So kann man sich ja einen Husten holen,“ sagte sie mit einem
+schelmischen Lächeln und aus ihren dunklen feuchten Augen streifte mich
+ein spitzbübischer Blick.
+
+Ich war wie von Sinnen: ich wußte nicht, wie mir geschah, noch was in
+Katjä vorging. Zum Glück dauerte unser Spaziergang nicht lange, sonst
+hätte ich es nicht ausgehalten und sie auf der Straße geküßt. Als wir
+aber die Treppe hinaufstiegen, gelang es mir, sie heimlich auf die
+Schulter zu küssen. Sie bemerkte es, zuckte zusammen, sagte jedoch kein
+Wort. Am Abend wurde sie festlich angekleidet und nach unten geführt.
+Bei der Fürstin waren Gäste. Doch noch am selben Abend stand dem ganzen
+Hause eine große Aufregung bevor.
+
+Katjä bekam einen Nervenanfall. Die Fürstin war außer sich vor Schreck.
+Der Arzt kam und wußte nicht, was er sagen sollte. Man schrieb alles den
+üblichen Kinderkrankheiten zu, auch dem Alter Katjäs, ich aber dachte
+darüber ganz anders. Am nächsten Morgen erschien Katjä wieder so wie
+immer, rosig, lustig, von unerschöpflicher Gesundheit, dafür aber mit
+solchen Launen und Eigenheiten, wie sie noch niemand an ihr beobachtet
+hatte.
+
+Erstens wollte sie den ganzen Vormittag Madame Léotard nicht gehorchen.
+Darauf erklärte sie mit einemmal, zur Großtante, der alten Prinzessin,
+gehen zu wollen. Und richtig, diesmal wurde der Prinzeß der Zutritt zu
+den Gemächern der Großtante gewährt, freilich ganz gegen die
+Gepflogenheit der alten Dame, die ihre Großnichte gar nicht leiden
+konnte, ewig an ihr etwas auszusetzen fand und sie gewöhnlich überhaupt
+nicht sehen wollte – diesmal aber, wie gesagt, entschloß sie sich, Gott
+weiß weshalb, sie zu empfangen. Anfangs ging auch alles gut, die erste
+Stunde verlief im schönsten Frieden, denn dem Schelm war es plötzlich
+eingefallen, für alle ihre Ungezogenheiten, den verursachten Lärm und
+alle Störungen freiwillig um Verzeihung zu bitten. Und die Großtante
+verzieh ihr auch feierlich und sichtlich tief gerührt. Das war aber der
+Spitzbübin noch zu wenig. Und es fiel ihr ein, auch solche Streiche zu
+beichten, die sie noch gar nicht verbrochen hatte, die vorerst nur als
+Pläne in ihrem Köpfchen lebten. So nahm sie den Ausdruck einer
+reumütigen Büßerin an und beichtete, daß die fromme Dame ob solchen
+Insichgehens anfangs ganz verzückt war, denn es schmeichelte ihrer
+Eigenliebe nicht wenig, über Katjä diesen Sieg davonzutragen, über
+Katjä, den Abgott des ganzen Hauses, den Liebling aller Menschen, deren
+Launen gegenüber sogar die Fürstin machtlos war.
+
+Katjä gestand also, daß sie die Absicht gehabt habe, eine Visitenkarte
+an das Kleid der Großtante zu kleben; dann – Falstaff unter ihrem Bett
+zu verbergen; dann – ihre Brille zu zerbrechen; dann – alle ihre frommen
+Bücher fortzuschleppen und an deren Stelle die französischen Romane der
+Mama zu legen; dann – Knallerbsen in ihren Zimmern auszustreuen; dann –
+ein Spiel Karten in ihre Tasche zu stecken, usw., usw. Kurz, eine Sünde
+war schlimmer als die andere. Die Großtante wurde starr und bleich und
+schließlich gelb vor Ärger – bis Katjä zuletzt doch nicht mehr an sich
+halten konnte, in tolles Lachen ausbrach und wie ein Wirbelwind
+davonlief. Die alte Prinzessin ließ sogleich die Fürstin zu sich bitten,
+und aus dem Vorfall wurde eine große Geschichte, in deren Verlauf die
+Fürstin ihre Anverwandte fast unter Tränen bat, Katjä diese Unart zu
+verzeihen und nicht auf einer Strafe zu bestehen, schon wegen ihres
+krankhaften Zustandes nicht. Die Prinzessin jedoch wollte davon nichts
+wissen und erklärte, am nächsten Tage noch das Haus zu verlassen, welche
+Drohung sie erst dann zurückzog, als die Fürstin ihr auf ihr Ehrenwort
+versprach, die Bestrafung nur bis zur völligen Genesung der Tochter
+hinauszuschieben, dann aber dem gerechten Wunsch der alten Dame
+gewissenhaft nachzukommen. Dennoch erhielt Katjä sogleich einen strengen
+Verweis und mußte unten bei der Fürstin bleiben. Aber der Schelm blieb
+dort nicht lange.
+
+Als ich etwas später gleichfalls nach unten ging, traf ich sie bereits
+auf der Treppe. Sie hatte die Tür aufgesperrt und rief Falstaff. Ich
+aber erriet sofort, daß sie eine furchtbare Rache plante. Und wirklich:
+die Sache verhielt sich folgendermaßen.
+
+Unter allen Feinden der alten Dame gab es entschieden keinen
+unversöhnlicheren als Falstaff. Er war zwar gegen niemand freundlich,
+liebte die Menschen grundsätzlich nicht, war hochmütig, stolz, ja sogar
+bis zur Rücksichtslosigkeit anmaßend. Er liebte, wie gesagt, niemanden,
+verlangte aber von allen den schuldigen Respekt, den ihm denn auch alle
+pflichtschuldigst und möglichst von weitem entgegenbrachten, wobei sie
+dem Respekt noch eine Dosis Furcht beizumischen pflegten. Da traf nun
+eines Tages die alte Prinzessin ein und mit einemmal veränderte sich
+seine ganze Lebenslage – ihm ward schnödes Unrecht angetan: man verbot
+ihm formell den Zutritt zur oberen Etage.
+
+In der ersten Zeit war Falstaff außer sich vor Empörung über diese
+Beleidigung und kratzte eine ganze Woche an der Tür, die ihm am Ende der
+Treppe den Zugang versperrte. Bald jedoch erriet er, wer und was die
+Veranlassung zu dieser Maßregel gewesen war, und als am nächsten Sonntag
+die alte Prinzessin ihre Gemächer verließ, um sich zum Gottesdienst in
+die Kirche zu begeben, da stürzte sich Falstaff mit einem Wutgeheul auf
+die Arme. Nur dem glücklichen Zufall, daß mehrere Diener anwesend waren,
+hatte sie es zu verdanken, daß sie der schrecklichen Rache des
+gekränkten Köters entging. Falstaff wurde schmählich hinausgejagt und
+von dem Tage an wurde er jedesmal ins entfernteste Zimmer gezerrt, bevor
+die alte Dame ihre Gemächer verließ. Sämtliche Dienstboten erhielten die
+strengsten Vorschriften. Aber dennoch fand das rachedurstige Tier zwei-
+oder dreimal Gelegenheit, in das verbotene Gebiet einzubrechen. War er
+erst auf der Treppe, so raste er wie der Blitz durch die ganze
+Zimmerflucht bis zum Schlafgemach der Alten. Kein Dienertroß konnte ihn
+dann mehr zurückhalten. Zum Glück war die Tür zu dem Schlafzimmer immer
+verschlossen und Falstaff konnte weiter nichts tun, als so lange
+fürchterlich heulen, bis die Diener ihn wieder fortgeschafft hatten. Die
+alte Dame aber, die während des Geheuls so schrie, als werde sie von
+Falstaff schon lebendig aufgefressen, wurde jedesmal krank von dem
+Schreck und von der ausgestandenen Angst. Mehrmals schon hatte sie ihr
+Ultimatum an die Fürstin gestellt und einmal war sie sogar so weit
+gegangen – in einem Moment der Kopflosigkeit vermutlich – daß sie
+erklärt hatte, entweder sie oder Falstaff müsse das Haus verlassen; aber
+die Fürstin hatte in eine Trennung von Falstaff nicht eingewilligt.
+
+Die Fürstin hatte im allgemeinen für andere nicht gerade viel Liebe
+übrig, aber diesen Falstaff liebte sie, nächst den Kindern, mehr als
+alles auf der Welt. Vor etwa sechs Jahren war der Fürst einmal von einem
+Spaziergang mit einem kleinen jungen Hunde zurückgekehrt, einem
+schmutzigen, kranken Wesen von wahrhaft mitleiderregendem Aussehen, der
+aber nichtsdestoweniger eine Bulldogge reinster Rasse war. Der Fürst
+hatte ihn irgendwie gerettet. Der Hund freilich benahm sich äußerst
+unmanierlich und deshalb wurde er auf Wunsch der Fürstin auf den
+Hinterhof geschafft und dort an die Kette gelegt. Der Fürst hatte nichts
+dagegen einzuwenden. Zwei Jahre darauf nun, als die Familie den Frühling
+in einem Landhause an der Newa verbrachte, fiel der kleine Alexander –
+Katjäs jüngerer Bruder, gewöhnlich Ssascha genannt – in den Fluß. Die
+Fürstin sah es, schrie auf und wollte sich sogleich in die Fluten
+stürzen, nur mit Gewalt konnte man sie davon abhalten, denn es wäre ihr
+Tod gewesen. Die Strömung aber riß schon das Kind mit sich fort und nur
+das Kleidchen sah man noch an einer Stelle an der Oberfläche auftauchen.
+In größter Hast versuchte man ein Boot loszubinden, aber eine Rettung
+des Kindes wäre ein Wunder gewesen. Da jagte plötzlich in großen Sätzen
+die riesige Bulldogge ans Ufer und sprang ins Wasser, schwamm in
+mächtigen Stößen dem ertrinkenden Knaben nach, packte ihn mit dem Gebiß
+und schwamm im Triumph ans Ufer zurück. Die Fürstin stürzte vor ihm
+nieder, umarmte den schmutzigen, nassen Hund und küßte ihn wie von
+Sinnen. Doch Falstaff, der übrigens damals noch auf den prosaischen, ja
+sogar höchst plebejischen Namen „Frix“ hörte, war ein ausgesprochener
+Feind aller Zärtlichkeiten und erwiderte die Liebe der Fürstin damit,
+daß er sie in die Schulter biß, soweit sein Rachen nur fassen konnte.
+Die Fürstin litt bis an ihr Lebensende an der Narbe, aber ihre
+Dankbarkeit für die Rettung des Sohnes kannte trotzdem keine Grenzen.
+Falstaff mußte in die Gemächer der fürstlichen Familie übersiedeln,
+wurde gereinigt, gewaschen und bekam ein Halsband aus getriebenem
+Silber. Er hielt sich fortan zumeist im Boudoir der Fürstin auf, lag
+dort auf einem prachtvollen Bärenfell, und bald brachte es die Fürstin
+so weit, daß sie ihn ungestraft streicheln durfte. Als sie erfuhr, daß
+ihr Liebling „Frix“ hieß, war sie entsetzt über diese Geschmacklosigkeit
+und sogleich mußten alle helfen, einen anderen passenderen Namen
+ausfindig zu machen, wenn möglich einen klassischen, recht
+altertümlichen. Hektor und Cerberus waren leider schon zu abgedroschen,
+es mußte ein ganz besonderer Name sein, wie er dem Günstling der Fürstin
+zukam. Nach langer vergeblicher Liebesmüh’ schlug der Fürst zu guter
+Letzt, im Hinblick auf die ungeheure Gefräßigkeit der Dogge, den Namen
+Falstaff vor. Der Name fand den größten Beifall und wurde gewählt.
+Falstaff führte sich hinfort auch weit besser auf. Als reinblütiger
+Engländer war er naturgemäß schweigsam und ernst, griff niemanden als
+erster an, sondern verlangte nur, daß man sein Ruhelager auf dem
+Bärenfell achtete, und ihm überhaupt die schuldige Ehrfurcht bezeuge.
+Von Zeit zu Zeit jedoch bemächtigte sich seiner so etwas wie ein Spleen
+und Falstaff gedachte mit bitteren Gefühlen der Tatsache, daß sein
+unversöhnlicher Feind, der ihm seine souveränen Rechte genommen, immer
+noch unbestraft weiterlebte. Dann schlich er heimlich bis zur Treppe,
+die nach oben führte, und da er diese gewöhnlich verschlossen fand,
+legte er sich dort in ihrer Nähe irgendwohin, möglichst unbemerkbar in
+einen Winkel, oder wo er sonst am wenigsten auffiel, und nun wartete er
+arglistig auf einen vergeßlichen Dienstboten, der die Tür vielleicht zu
+schließen vergaß. Bisweilen wartete er in seiner Rachsucht drei Tage
+lang vergeblich, denn es war allen aufs strengste eingeschärft, die Tür
+nicht offen stehen zu lassen. Auf diese Weise hatte er zuletzt seine Wut
+schon zwei Monate verbeißen müssen – vor zwei Monaten nämlich war er zum
+letztenmal nach oben gerast.
+
+„Falstaff, Falstaff!“ rief die Prinzeß, die Tür offen haltend, in den
+freundlichsten Tönen Falstaff auf die Treppe bittend.
+
+In diesem Augenblick hatte Falstaff bereits gewittert, daß die
+Treppentür aufgemacht wurde und war schon im Begriff, über seinen
+Rubikon zu springen. Aber die Aufforderung dazu von seiten der kleinen
+Prinzeß erschien ihm dermaßen unbegreiflich, daß er im ersten Moment
+entschieden seinen Ohren nicht traute. Er war schlau wie eine Katze, und
+um sich den Anschein zu geben, als habe er die Fahrlässigkeit, die die
+Tür offen stehen ließ, gar nicht bemerkt, ging er zum Fenster, legte die
+Vorderpfoten auf das Fensterbrett und begann, das Haus gegenüber zu
+betrachten ... Kurz, er benahm sich wie die argloseste Seele der Welt,
+etwa wie ein gleichgültiger Spaziergänger, der für einen Augenblick
+stehenbleibt, um die Architektur eines schönen Gebäudes zu bewundern.
+Indessen schlug aber und wiegte sich sein Herz schon in süßester
+Hoffnung. Wie groß war daher seine Überraschung, seine Freude, wie
+geriet er förmlich außer sich vor Übermut, als die Tür vor ihm sogar
+sperrangelweit aufgemacht wurde und er überdies noch gerufen, gebeten,
+angefleht wurde, das verbotene Gebiet zu betreten und seinen gerechten
+Rachedurst unverzüglich zu stillen! Er heulte auf vor Freude, zeigte die
+Zähne, und raste, es war unheimlich anzuschauen, in wahrem Siegesrausch
+wie der Wind an uns vorüber.
+
+Er raste mit solcher Wucht, daß der Diener, der ihm oben in den Weg kam,
+vom Stoß reichlich eine Klafter weit zur Seite flog und sich nach dem
+entsprechenden Naturgesetz noch einmal in die Runde drehte. Falstaff
+flog wie eine Kanonenkugel. Madame Léotard kreischte auf vor Schreck.
+Doch Falstaff prallte schon an die verschlossene Tür, richtete sich hoch
+auf und heulte los, daß Gott erbarm’. Als Antwort ertönte ein
+fürchterliches Geschrei des alten Fräuleins. Und schon stürmte von allen
+Seiten die Legion der Feinde herbei, das ganze Haus lief nach oben, und
+das Ende war, daß Falstaff, der wilde Falstaff, gefesselt an allen vier
+Beinen, mit einem geschickt über seinen Kopf geworfenen Maulkorb
+unschädlich gemacht und schmachvoll am Lasso geschleift, wie ein
+besiegter Sieger vom Felde des Kampfes nach unten zurückkehrte.
+
+Ein Bote wurde zur Fürstin entsandt.
+
+Diesmal war die Fürstin nicht mehr zum Entschuldigen und Begnadigen
+geneigt. Aber wer sollte nun bestraft werden? Sie erriet natürlich
+sofort, wer die Schuldige war, – ihr Blick fiel auf Katjä ... Die stand
+bleich und schuldbewußt da. Die Arme dachte erst jetzt an die Folgen
+ihres Streiches. Der Verdacht konnte aber auch auf die unschuldigen
+Dienstboten fallen, und deshalb war Katjä schon im Begriff, die Wahrheit
+zu gestehen.
+
+„Du hast es getan?“ fragte die Fürstin streng.
+
+Ich sah, wie Katjä totenblaß wurde – da trat ich schnell einen Schritt
+vor und sagte mit fester Stimme:
+
+„Ich habe Falstaff heraufgelassen ... Aus Versehen,“ fügte ich hinzu,
+denn mein ganzer Mut sank zusammen vor dem drohenden Blick der Fürstin.
+
+„Madame Léotard, bestrafen Sie sie. Aber ich wünsche, daß Sie mit dieser
+Strafe ein Exempel statuieren!“ sagte die Fürstin und verließ das
+Zimmer.
+
+Ich sah Katjä an: sie stand wie getroffen, wie betäubt, ihre Arme hingen
+schlaff herab, ihr erbleichtes Gesichtchen sah zu Boden.
+
+Die einzige Strafe, die man in der Erziehung der Kinder des Fürsten
+anwandte, war, daß man sie in einem leeren Zimmer einschloß. In einem
+leeren Zimmer zwei Stunden allein zu sein – das ist wohl weiter nicht
+schlimm. Wenn aber das Kind mit Gewalt, gegen seinen Willen,
+eingeschlossen wird und man ihm erklärt, daß ihm die Freiheit genommen
+ist, so ist die Strafe gar nicht so unbedeutend. Gewöhnlich wurde Katjä
+oder ihr Bruder auf zwei Stunden eingesperrt. Mich sperrte man, in
+Anbetracht der ganzen Ungeheuerlichkeit meines Vergehens, auf vier
+Stunden ein. Ich verging fast vor Freude, als ich in mein Gefängnis
+trat. Ich dachte an Katjä. Ich wußte, daß ich gesiegt hatte. Doch
+anstatt der vier Stunden saß ich dort bis vier Uhr morgens. Und das
+geschah auf folgende Weise.
+
+Zwei Stunden nach meiner Einkerkerung erhielt Madame Léotard die
+Nachricht, daß ihre Tochter aus Moskau eingetroffen und erkrankt sei und
+sie zu sprechen wünsche. Sie fuhr sogleich hin und natürlich vergaß sie
+mich darüber ganz und gar. Das Mädchen, welches nach uns zu sehen hatte,
+nahm an, ich sei von Madame Léotard schon vor ihrer Abfahrt aus der Haft
+entlassen worden. Katjä wurde bald darauf nach unten zur Mutter gerufen
+und mußte dort bis elf Uhr abends sitzen. Als sie nach oben
+zurückkehrte, war sie sehr erstaunt, mich nicht in meinem Bett zu sehen.
+Nastjä half ihr beim Auskleiden, doch die Prinzeß hatte ihre Gründe,
+weshalb sie sie nicht nach mir fragte. Sie legte sich hin und wartete
+auf mich, denn obschon sie wußte, daß ich nur auf vier Stunden
+eingesperrt war, dachte sie doch, das Kindermädchen werde mich sogleich
+bringen. Nastjä aber hatte mich ganz vergessen, um so mehr, als ich mich
+immer allein auskleidete. So kam es, daß ich in meinem Gefängnis
+nächtigen mußte.
+
+Es war gegen vier Uhr morgens, als mich plötzlich Lärm und Gepolter
+aufweckten. Ich hatte mich auf die Diele gelegt und war eingeschlafen.
+Im ersten Augenblick schrie ich auf vor Angst, doch dann unterschied ich
+Katjäs Stimme, die von allen anderen am lautesten ertönte, darauf die
+Stimmen von Madame Léotard, Nastjä und der Beschließerin. Endlich wurde
+die Tür aufgemacht und Madame Léotard umarmte und drückte mich unter
+Tränen an ihr Herz, und bat mich, ihr zu verzeihen, daß sie mich
+vergessen hatte. Ich schlang meine Arme um ihren Hals und zerfloß in
+Tränen. Dabei zitterte ich vor Kälte und alle Knochen taten mir weh von
+der harten Diele. Ich suchte mit den Augen Katjä, sie lief aber schon in
+unser Schlafzimmer zurück, und als ich hinkam, lag sie schon im Bett und
+schlief oder stellte sich schlafend. Am Abend hatte sie anfangs
+allerdings auf mich gewartet, war aber dann unwillkürlich und
+unversehens eingeschlummert und hatte bis vier Uhr morgens geschlafen.
+Nach ihrem plötzlichen Erwachen hatte sie dann alle aus den Federn
+gebracht, zunächst die zurückgekehrte Madame Léotard, darauf Nastjä,
+alle weiblichen Dienstboten – und zusammen mit diesen befreite sie mich.
+
+Am nächsten Morgen wußte schon das ganze Haus von meinem Abenteuer.
+Sogar die Fürstin soll gesagt haben, man sei gar zu streng mit mir
+verfahren. Den Fürsten aber sah ich damals zum erstenmal wirklich
+aufgebracht. Er kam in sichtlich großer Erregung gegen zehn Uhr zu uns
+nach oben.
+
+„Ich bitte Sie, Madame,“ wandte er sich an die Französin, „was soll denn
+das für eine Methode sein? Wie sind Sie mit dem armen Kinde umgegangen?
+Das ist ja barbarisch, wahrhaft barbarisch! einfach skythisch! Ein
+armes, schwächliches Kind, und noch dazu solch ein verträumtes,
+eingeschüchtertes, kleines Mädchen – und das sperren Sie in ein dunkles
+Zimmer für die ganze Nacht ein! Das heißt doch das Kind geradezu dem
+Verderben ausliefern! Wissen Sie denn nicht, was sie in ihrem jungen
+Leben schon erlebt hat? Nein, das war von Ihnen einfach unmenschlich,
+ich versichere Sie, Madame! Und wie ist eine solche Strafe überhaupt
+möglich? Wer hat sich nur so etwas ausdenken können?“
+
+Die arme Madame Léotard begann unter Tränen und in großer Verwirrung den
+Sachverhalt zu erklären. Sie sagte, daß ihre Tochter angekommen sei, und
+darüber habe sie mich vergessen, die Strafe an sich sei gut, wenn sie
+nicht zu lange dauere, und sogar Jean Jacques Rousseau sage etwas
+Ähnliches.
+
+„Jean Jacques Rousseau, Madame! Was geht mich Jean Jacques an! Der ist
+keine Autorität. Und übrigens hat Rousseau kein Recht, von Erziehung zu
+sprechen, denn er hat sich von seinen eigenen Kindern losgesagt, Madame!
+Jean Jacques Rousseau war ein unsittlicher Mensch, Madame!“
+
+„Jean Jacques Rousseau! Jean Jacques ein unsittlicher Mensch! ^Prince!
+Prince!^ Was sagen Sie!“
+
+Und Madame Léotard wurde rot vor Entsetzen.
+
+Sie war im Grunde eine prächtige Frau und nahm nicht gern etwas übel;
+wenn man sich aber unterfing, an ihren Lieblingen etwas auszusetzen,
+etwa den klassischen Schatten eines Corneille oder Racine im Jenseits zu
+beunruhigen, oder Voltaire zu beleidigen oder Jean Jacques Rousseau
+einen unsittlichen Menschen zu nennen – oh Gott! Tränen entstürzten den
+Augen der guten alten Dame und sie bebte vor Erregung.
+
+„Sie vergessen sich, ^mon prince^!“ rief sie außer sich, mit vor
+Aufregung unsicherer Stimme.
+
+Der Fürst besann sich denn auch sofort und entschuldigte sich, dann trat
+er zu mir, küßte mich mit tiefem Gefühl, bekreuzte mich und verließ uns.
+
+„^Pauvre prince!^“ seufzte Madame Léotard, die nun ihrerseits weich
+wurde. Darauf setzten wir uns an den Lerntisch und der Unterricht
+begann.
+
+Die Prinzeß war aber sehr zerstreut. Bevor wir hernach zum Essen nach
+unten gingen, kam sie auf mich zu, mit glühendem Gesichtchen, doch
+lachenden Lippen, blieb vor mir stehen, faßte mich an den Schultern und
+sagte schnell, als schäme sie sich Gott weiß aus welchem Grunde:
+
+„Was? Hast du gestern lang genug für mich gesessen? Nach dem Essen
+wollen wir heute in den Saal gehen und spielen.“
+
+Jemand kam und die Prinzeß wandte sich blitzschnell von mir fort.
+
+Nach dem Essen, in der Dämmerung, gingen wir beide Hand in Hand in den
+großen Saal. Die Prinzeß war sehr aufgeregt und atmete schwer. Ich
+dagegen war froh und glücklich wie nie zuvor.
+
+„Willst du Ball spielen?“ fragte sie mich. „Stell’ dich hierhin!“
+
+Sie stellte mich in die eine Saalecke, doch anstatt nun von mir
+fortzugehen und den Ball mir zuzuwerfen, blieb sie drei Schritte vor mir
+stehen, sah mich an, errötete, schlug die Hände vors Gesicht und warf
+sich aufs Sofa. Ich machte eine Bewegung zu ihr hin – sie dachte aber,
+ich wolle fortgehen.
+
+„Geh nicht fort, Njetotschka, bleib bei mir,“ sagte sie schnell, „das
+wird gleich vergehen.“
+
+Da sprang sie auch schon auf, und über und über erglühend, mit Tränen in
+den Augen, warf sie sich an meine Brust. Ihre Wangen waren feucht, ihre
+Lippen wie Kirschen so rot – und die Locken in wirrem Durcheinander. Sie
+küßte mich wie von Sinnen, küßte mein Gesicht, meine Augen, Lippen, den
+Hals, die Hände, und dabei weinte sie, wie in einem Nervenanfall; ich
+schmiegte mich fest an sie und wir umarmten uns süß und selig, wie zwei
+gute Freunde oder – wie ein Liebespaar, das sich nach langer, langer
+Trennung wiedersieht. Katjäs Herz pochte so stark, daß ich jeden Schlag
+spürte.
+
+Im Nebenzimmer ertönte eine Stimme: Katjä wurde zur Fürstin gerufen.
+
+„Ach Njetotschka! Nu! Auf Wiedersehen – bis zum Abend! bis zur Nacht!
+Geh jetzt nach oben und wart’ auf mich!“
+
+Sie küßte mich noch ein letztes Mal leise, unhörbar, fest, und dann
+eilte sie dem Ruf nach. Ich lief nach oben, sinnlos, trunken, wie
+erlöst, warf mich auf den Diwan, preßte das Gesicht ins Kissen und
+weinte vor Entzücken. Mein Herz schlug so heftig, als wolle es die Brust
+sprengen. Ich weiß nicht, wie die Stunden bis zum Abend vergingen.
+Endlich schlug es elf und ich ging zu Bett. Die Prinzeß kehrte erst um
+zwölf zurück; sie lächelte mir von ferne zu, sagte aber kein Wort.
+Nastjä entkleidete sie und schien es wie absichtlich langsam zu tun.
+
+„Schneller, schneller, Nastjä!“ drängte Katjä.
+
+„Was ist denn das, Prinzeßchen, sind wohl die Treppe heraufgelaufen, daß
+das Herzchen so schlägt?“ fragte Nastjä.
+
+„Ach, mein Gott, Nastjä! Wie kann man so langweilig sein! Schneller,
+schneller doch!“ Und Prinzeßchen stampfte geärgert mit dem Fuß auf.
+
+„Ach, was für’n Herzchen!“ sagte Nastjä und küßte das Füßchen der
+Prinzeß, von dem sie gerade den Strumpf abzog.
+
+Endlich war alles beendet, die Prinzeß lag im Bett und Nastjä verließ
+uns. Im Nu sprang Katjä aus dem Bett und eilte zu mir. Ich empfing sie
+mit einem Freudenschrei.
+
+„Komm zu mir, komm in mein Bett!“ sagte sie schnell und selbst schon im
+Begriff, mich aus dem Bett zu heben. Einen Augenblick später lagen wir
+beide in ihrem Bett, umschlangen uns fest und schmiegten uns aneinander.
+Die Prinzeß erstickte mich fast mit ihren Küssen.
+
+„Ich weiß doch, wie du mich geküßt hast, wenn du glaubtest ich
+schliefe!“ flüsterte sie, über und über errötend.
+
+Ich weinte.
+
+„Njetotschka!“ flüsterte Katjä unter Tränen, „du mein Engel, ich hab’
+dich doch schon so lange, so lange schon lieb! Weißt du, seit wann?“
+
+„Nein, seit wann?“
+
+„Als Papa mir befahl, dich um Verzeihung zu bitten, nachdem du deinen
+Papa verteidigt hattest, Njetotschka ... Du mein Wai–sen–kindchen!“
+sagte sie gedehnt und wieder bedeckte sie mich mit Küssen. Sie weinte
+und lachte zugleich.
+
+„Ach, Katjä!“
+
+„Nu was? – nu – was?“
+
+„Warum hast du so lange ... so lange ...“ ich sprach nicht zu Ende. Wir
+hielten uns krampfhaft umschlungen und sprachen wohl drei Minuten lang
+kein Wort.
+
+„Hör’ mal, was hast du denn alles von mir gedacht?“ fragte die Prinzeß.
+
+„Ach, ich hab’ so vieles gedacht, Katjä! Ich habe nur an dich gedacht,
+Tag und Nacht.“
+
+„Und in der Nacht von mir gesprochen, das habe ich gehört.“
+
+„Wirklich?“
+
+„Und sogar geweint!“
+
+„Siehst du! – warum warst du denn so stolz?“
+
+„Ich war doch dumm, Njetotschka! Das kommt so zuweilen über mich und
+dann bin ich machtlos. Ich war die ganze Zeit böse auf dich.“
+
+„Weshalb?“
+
+„Weil ich selber schlecht war. Anfangs deshalb, weil du besser warst als
+ich. Dann deshalb, weil Papa dich mehr liebte! Papa aber ist ein guter
+Mensch, Njetotschka. Nicht wahr?“
+
+„Ach ja, das ist er!“ rief ich ganz begeistert.
+
+„Ja, ein guter Mensch,“ wiederholte Katjä ernsthaft. „Aber was soll ich
+mit ihm anfangen? Er ist immer so ... Nun, und dann bat ich dich um
+Verzeihung und begann dabei fast zu weinen, und darüber ärgerte ich mich
+wieder.“
+
+„Das sah ich, das sah ich, daß du dem Weinen nahe warst.“
+
+„Schweig, Dummchen, weinst selbst jeden Augenblick!“ rief Katjä und
+hielt mir den Mund zu. „Weißt du, ich wollte dich furchtbar lieben, dann
+aber wollte ich dich plötzlich wieder so hassen und ich haßte dich,
+haßte dich so!“ ...
+
+„Weswegen denn?“
+
+„Ja so – ich war bös auf dich. Ich weiß nicht, weshalb! Dann aber sah
+ich, daß du ohne mich nicht mehr leben konntest, und da dacht’ ich:
+wart’, ich werde sie doch noch quälen, die Schändliche!“
+
+„Ach, Katjä!“
+
+„Mein Seelchen!“ rief sie, meine Hand küssend, „und dann, weißt du,
+wollte ich mit dir nicht mehr sprechen, ich wollte nicht, für keinen
+Preis! Und weißt du noch, wie ich Falstaff streichelte?“
+
+„Ach du, du Unerschrockene!“
+
+„Aber wie ich mich _fürchtete_!“ sagte sie und schüttelte sich. „Doch
+weißt du auch, warum ich zu ihm ging?“
+
+„Warum?“
+
+„Ja, weil du zuschautest. Als ich sah, daß du mich ansahst ... Ach! – da
+war mir alles andere gleich – ich ging! Hab’ ich dich erschreckt, was?
+Fürchtetest du dich für mich?“
+
+„Entsetzlich!“
+
+„Ich weiß. Aber wie ich dann froh war, daß Falstaff abtrollte! Mein
+Gott, und wie mich dann plötzlich die Angst packte, als er aus dem
+Zimmer war! Solch ein Scheu–sal!“
+
+Und die Prinzeß schüttelte sich wieder und lachte nervös, indes ein
+Gruseln sie faßte. Plötzlich erhob sie ihr heißes Köpfchen und sah mich
+lange aufmerksam an. Zwei Tränchen glänzten noch wie Diamanten an ihren
+langen Wimpern.
+
+„Nu, was ist denn eigentlich an dir, daß ich dich so liebgewonnen habe?
+Du! – bleich bist du, die Haare blond, selbst solch ein Dummchen, das
+immer gleich weint, die Augen blau ... Du mein Wai–sen–kindchen!“
+
+Und Katjä umfing mich wieder, um mich von neuem mit Küssen zu bedecken.
+Einige ihrer Tränen fielen auf meine Wangen. Sie war tief gerührt.
+
+„Und wie ich dich doch liebte! – aber immer dachte ich: nein und nein,
+ich sag’s ihr doch nicht! Ich war ja so eigensinnig! Was fürchtete ich
+denn eigentlich, weshalb schämte ich mich vor dir? Sieh doch, wie gut
+wir es jetzt haben!“
+
+„Katjä! Es schmerzt mich so!“ sagte ich außer mir vor Freude. „Es bricht
+mir das Herz entzwei!“
+
+„Ja, Njetotschka! Hör’ weiter ... Ja aber, wart’, sag’ zuerst, wer hat
+dir den Namen Njetotschka gegeben?“
+
+„Mama!“
+
+„Wirst du mir von deiner Mama erzählen?“
+
+„Alles, alles!“ versprach ich begeistert.
+
+„Aber wohin hast du meine zwei Taschentücher gesteckt, die mit den
+Spitzen? Und mein Haarband, warum hast du das versteckt? Ach du, schämst
+du dich nicht! Ich weiß doch alles!“
+
+Ich lachte und errötete tief.
+
+„Nein, da dachte ich doch: wart’, da werd’ ich sie noch ein bißchen
+quälen, mag sie warten. Manchmal aber dachte ich wieder: aber ich lieb’
+sie ja gar nicht, ich kann sie nicht ausstehen! Du aber warst immer so
+still, wie so ein frommes Lämmchen! Und wie ich fürchtete, daß du mich
+für dumm halten könntest! Du bist klug, Njetotschka, du bist doch sehr
+klug, nicht?“
+
+„Ach, pfui Katjä, was fällt dir ein!“ rief ich fast beleidigt.
+
+„Nein, du bist klug,“ sagte Katjä in bestimmtem und ernstem Ton, „das
+weiß ich. Nur, weißt du, eines Morgens stand ich auf und hatte dich
+plötzlich so lieb, ganz furchtbar lieb! Die ganze Nacht hatte mir nur
+von dir geträumt. Da dachte ich: ich werde zu Mama übersiedeln und ganz
+dort wohnen. Ich will sie nicht lieben, ich will nicht! Als ich aber
+dann am Abend unten bei Mama einschlief, da dachte ich: wenn sie jetzt
+käme, wie in der vorigen Nacht – doch du kamst nicht. Und wieviel Mühe
+es mich da kostete, zu tun als schlafe ich ganz ruhig! Ach, wie dumm wir
+waren, Njetotschka!“
+
+„Aber warum wolltest du mich denn nicht lieben?“
+
+„So ... Ach, was sage ich! – ich hab’ dich doch die ganze Zeit geliebt!
+Immer hab’ ich dich geliebt. Erst später kam das – daß ich dich nicht
+ausstehen konnte. Ich dachte, ach, ich werde sie einmal totküssen oder
+totkneifen! Da hast du’s nun, du Dummchen!“
+
+Und sie kniff mich.
+
+„Aber erinnerst du dich noch, wie ich dir deine Schuhschleife band?“
+
+„O ja!“
+
+„O ja! – war’s dir angenehm? Weißt du, ich sah dich an: wie lieb sie
+doch ist, dachte ich, halt, ich werd’ ihr die Schleife binden – was sie
+dann wohl denken wird? Und da hatte ich gleich selbst solch ein gutes
+Gefühl. Und wirklich, ich wollte dich auf der Stelle abküssen ... Aber
+ich küßte dich doch nicht. Dann aber fand ich das alles so komisch, so
+schrecklich komisch! Und auf dem ganzen Wege, während unseres
+Spazierganges, glaubte ich, jetzt, im nächsten Augenblick nicht mehr an
+mich halten zu können und laut auflachen zu müssen. Ich konnte dich
+nicht ansehen, so komisch war’s. Und wie froh ich doch war, daß du für
+mich ins Gefängnis gingst!“ – Das leere Zimmer wurde „das Gefängnis“
+genannt. – „Und hattest du Angst?“
+
+„Ach, fürchterlich!“
+
+„Ja, und weißt du, ich freute mich nicht nur darüber, daß du vor Mama
+meine Schuld auf dich genommen hattest, sondern noch viel mehr darüber,
+daß du für mich im Gefängnis sitzen mußtest! Ich dachte: jetzt sitzt sie
+da und weint, ich aber – wie habe ich sie lieb! Morgen werde ich sie so
+küssen, so küssen! Und du tatest mir doch kein bißchen leid, bei Gott,
+du tatest mir gar nicht leid, obschon ich auch etwas weinte.“
+
+„Ich aber, siehst du, habe nicht geweint, ich war dir zum Trotz gerade
+sehr froh!“
+
+„Hast nicht geweint? Ach, du Böse!“ rief die Prinzeß und saugte sich an
+mir fest mit ihren weichen Lippen.
+
+„Katjä, Katjä! Mein Gott, wie bist du reizend!“
+
+„Nicht wahr? Aber jetzt mach’ mit mir, was du willst! Schlag mich, kneif
+mich! Bitte, kneif mich! Täubchen, ach, nu, so kneif mich doch!“
+
+„Wildfang!“
+
+„Nu, und was noch?“
+
+„Dummchen ...“
+
+„Und was noch?“
+
+„Küss’ mich!“
+
+Und wir küßten uns, weinten, lachten, unsere Lippen waren schon
+geschwollen vom Küssen.
+
+„Njetotschka! Erstens, höre: du wirst jetzt immer zu mir schlafen
+kommen. Küßt du gern? Dann werden wir uns auch küssen. Und dann: ich
+will nicht, daß du so langweilig bist. Warum langweiltest du dich? Wirst
+du mir das erzählen, ja?“
+
+„Alles werde ich dir erzählen. Aber jetzt bin ich nicht mehr traurig,
+sondern lustig!“
+
+„Nein, wart’ nur, bald wirst du auch so rote Wangen haben wie ich! Ach,
+wenn doch der Morgen schneller käme! Willst du schon schlafen,
+Njetotschka?“
+
+„Nein.“
+
+„Nu, dann, laß uns erzählen!“
+
+Und wir sprachen wohl gute zwei Stunden. Gott weiß was wir da alles
+zusammenphantasierten. Zuerst entrollte Katjä alle ihre Zukunftspläne
+und teilte mir mit, daß sie ihren Papa am meisten von allen liebte, fast
+sogar mehr als mich. Dann kamen wir überein, daß Madame Léotard eine
+gute Frau und gar nicht streng war. Dann setzten wir sogleich fest, was
+wir am nächsten und übernächsten Tage tun würden, und überhaupt
+bestimmten wir unser Leben etwa schon für zwanzig Jahre im voraus. Für
+die allernächste Zukunft entwarf Katjä folgenden Plan: an einem Tage
+würde sie mir befehlen und ich alles ausführen, und am nächsten Tage
+umgekehrt, dann würde ich befehlen und sie widerspruchslos gehorchen;
+und dann würden wir beides zugleich tun, also uns gegenseitig Befehle
+erteilen; und dann würden wir es einmal absichtlich so machen, daß wir
+in Streit gerieten, nur so zum Schein, und dann uns schnell wieder
+versöhnen. Mit einem Wort, uns erwartete schier unendliches Glück.
+Schließlich wurden wir aber doch müde. Meine Augen fielen mir schon zu.
+Katjä lachte mich aus, nannte mich eine Schlafmütze und – schlief selbst
+noch vor mir ein.
+
+Am nächsten Morgen erwachten wir beide zugleich, küßten uns schnell,
+denn wir hörten Schritte, und ich konnte gerade noch rechtzeitig in mein
+Bett schlüpfen, bevor Nastjä ins Zimmer trat.
+
+Den ganzen Tag wußten wir nicht, was wir miteinander anfangen sollten
+vor Freude. Wir liefen aus einem Zimmer ins andere und versteckten uns
+fast die ganze Zeit vor den anderen, denn fremde Augen fürchteten wir am
+meisten. Zu guter Letzt begann ich ihr meine Lebensgeschichte zu
+erzählen. Katjä war geradezu erschüttert.
+
+„Du, du Böse! Warum hast du mir das alles nicht früher erzählt? Ich
+hätte dich dann gleich so lieb gehabt, so lieb! Doch sag’: haben dich
+die Jungen auf der Straße schmerzhaft geschlagen?“
+
+„O ja. Und ich hatte schreckliche Angst vor ihnen!“
+
+„Pfui, die schändlichen! Weißt du, Njetotschka, ich habe selbst einmal
+gesehen, wie ein Knabe einen anderen auf der Straße schlug. Weißt du,
+morgen werde ich heimlich Falstaffkas Hundepeitsche mitnehmen und wenn
+mir noch solch einer begegnet, dann werde ich ihn so hauen, so hauen!“
+
+Ihre Augen blitzten vor Zorn.
+
+Wir erschraken, wenn jemand ins Zimmer trat; wir fürchteten, beim Küssen
+überrascht zu werden, denn wir küßten uns an jenem Tage wenigstens
+hundertmal. So vergingen der erste und der zweite Tag. Ich fürchtete
+schon, zu sterben vor Entzücken. Das Glücksgefühl war so mächtig, daß es
+mir den Atem raubte. Doch unser Glück sollte nicht von langer Dauer
+sein.
+
+Madame Léotard, die Katjä auf Wunsch der besorgten Fürstin nicht aus den
+Augen lassen sollte, beobachtete uns drei Tage mit wachsender
+Verwunderung und in dieser Zeit bemerkte sie manches, was ihr zu denken
+gab. Am dritten Tage ging sie zur Fürstin und berichtete gewissenhaft,
+was ihr an uns aufgefallen war: daß wir beide wie außer Rand und Band
+seien, schon drei Tage uns nicht voneinander trennten – uns jeden
+Augenblick küßten, weinten, lachten und unaufhörlich plauderten, was sie
+früher nie bemerkt habe: sie wisse gar nicht, welchem Einfluß das
+zuzuschreiben sei; aber es wolle ihr scheinen, daß die Prinzeß sich in
+einem krankhaften Zustande befinde, und deshalb meine sie, es wäre
+vielleicht besser, wir kämen seltener zusammen.
+
+„Das habe ich schon längst gedacht,“ versetzte die Fürstin. „Ich ahnte
+es, daß man von dieser sonderbaren Waise nur Scherereien haben werde!
+Was man mir von ihr erzählt hat, von ihrem früheren Leben, – ist
+geradezu haarsträubend, ist einfach entsetzlich! Sie hat augenscheinlich
+Einfluß auf Katjä. Sie sagen, Katjä liebe sie sehr?“
+
+„Ich glaube, sogar unsinnig!“
+
+Die Fürstin errötete vor Ärger. Sie war schon damals eifersüchtig auf
+die Liebe ihrer Tochter zu mir.
+
+„Das ist mir doch zu unnatürlich,“ sagte sie. „Früher waren sie einander
+so fremd, und ich muß gestehen, das freute mich. So klein dieses Mädchen
+auch noch ist, aber ich bin vor nichts sicher. Sie verstehen mich? Sie
+hat schon mit der Muttermilch alles das eingesogen, ihre Angewohnheiten
+oder vielleicht sogar ihre Neigungen. Ich begreife nicht, was der Fürst
+an ihr gefunden hat! Tausendmal habe ich ihm schon den Vorschlag
+gemacht, sie in einer Pension unterzubringen.“
+
+Madame Léotard versuchte nun, mich zu verteidigen, aber die Fürstin
+hatte ihren Entschluß bereits gefaßt. Katjä wurde nach unten gerufen und
+dort sagte man ihr, daß sie mich nicht vor dem nächsten Sonntag
+wiedersehen dürfe, also erst nach einer ganzen Woche.
+
+Ich erfuhr das erst am späten Abend und Entsetzen erfaßte mich. Ich
+dachte an Katjä und fürchtete, sie werde unsere Trennung nicht
+überleben. Ich geriet außer mir und meine Verzweiflung war so groß, daß
+ich in der Nacht krank wurde. Am nächsten Morgen kam der Fürst zu mir
+und sagte mir leise, als wir allein blieben, ich solle ruhig auf ein
+baldiges Wiedersehen hoffen. Leider waren aber seine Bemühungen
+vergeblich, denn die Fürstin blieb bei ihrem Entschluß. Meine
+Verzweiflung dagegen wuchs mit jeder Stunde und der Schmerz würgte mich,
+daß ich an ihm zu ersticken glaubte.
+
+Am dritten Morgen brachte mir Nastjä einen Zettel von Katjä. Sie schrieb
+mir mit dem Bleistift auf einem abgerissenen Stück Papier in
+fürchterlichen Krähenfüßen folgendes:
+
+„Ich liebe dich unsinnig. Ich sitze bei ^maman^ und denke nur darüber
+nach, wie ich fortlaufen könnte. Ich werde unbedingt fortlaufen, das
+schwöre ich dir, und deshalb weine nicht. Schreib’ mir, wie du mich
+liebst. Ich aber umarme dich die ganze Nacht im Schlaf, und habe
+furchtbar gelitten, Njetotschka. Ich schicke dir Konfekt. Adieu.“
+
+Ich antwortete auf demselben Wege. Den ganzen Tag las ich immer wieder
+Katjäs Brief und weinte. Madame Léotard quälte mich mit ihrer
+Zärtlichkeit. Am Abend erfuhr ich, daß sie zum Fürsten gegangen war und
+gesagt hatte, daß ich sicherlich zum drittenmal krank werden würde, wenn
+ich Katjä nicht wiedersähe, und daß sie es bereue, die Fürstin
+beunruhigt zu haben. Ich fragte Nastjä, was Katjä mache. Sie sagte,
+Katjä weine nicht, sei aber sehr bleich.
+
+Am nächsten Morgen flüsterte Nastjä mir zu:
+
+„Gehen Sie ins Kabinett des Fürsten. Aber gehen Sie über die Treppe, die
+rechts nach unten führt.“
+
+Alles in mir wurde lebendig in froher Vorahnung. Atemlos vor Erwartung
+lief ich nach unten und klinkte die Tür auf zum Kabinett. Es war niemand
+da. Plötzlich wurde ich hinterrücks krampfhaft umschlungen und Katjä
+küßte mich leidenschaftlich. Lachen, Tränen ... Im Nu riß sie sich aus
+meinen Armen, lief zum Vater, kletterte wie eine Eichkatze an ihm empor
+bis auf seine Schulter, konnte sich aber dort nicht halten und sprang
+auf den Diwan. Das brachte auch den Fürsten so aus dem Gleichgewicht,
+daß er sich setzen mußte. Katjä lachte unter Tränen.
+
+„Papa, was bist du für ein guter Papa!“
+
+„Wildfang! Ihr seid mir beide gut! Was ist denn mit euch geschehen?
+Woher diese Freundschaft? Woher diese Liebe?“
+
+„Ach, frag’ nicht, Papa, davon verstehst du nichts!“
+
+Und wir hielten uns wieder fest umschlungen.
+
+Ich betrachtete sie bang: sie hatte abgenommen in den drei Tagen. Die
+frische Farbe ihres Gesichtchens war einer zarten Blässe gewichen. Da
+mußte ich weinen vor Leid.
+
+Nastjä klopfte an die Tür – ein Zeichen, daß Katjäs Abwesenheit der
+Fürstin aufgefallen war. Katjä wurde leichenblaß.
+
+„Laßt es jetzt genug sein, Kinder. Wir werden hier jeden Tag
+zusammenkommen. Nehmt jetzt Abschied für heute und Gott mit euch!“ sagte
+der Fürst.
+
+Er war sichtlich gerührt, da er unseren Schmerz sah; doch es sollte
+anders kommen. Am Abend desselben Tages kam aus Moskau die Nachricht,
+daß der kleine Ssascha schwer erkrankt sei und fast schon in den letzten
+Zügen liege. Die Fürstin beschloß sofort, am nächsten Morgen die Reise
+anzutreten. Das geschah alles so schnell, daß ich es erst eine Minute
+vor ihrer Abfahrt erfuhr. Daß wir uns überhaupt noch verabschieden
+konnten, Katjä und ich, hatten wir nur dem Fürsten zu danken, denn die
+Fürstin hatte davon nichts wissen wollen. Die Prinzeß war wie
+zerschlagen. Ich lief wie von Sinnen nach unten und warf mich an ihre
+Brust. Der Reisewagen wartete schon vor dem Portal. Katjä sah mich an
+und plötzlich wurde sie ohnmächtig. Ich bedeckte sie mit Küssen. Die
+Fürstin bemühte sich erschrocken um sie und gab ihr Essenzen zu riechen.
+Endlich schlug sie die Augen auf und ihre erste Bewegung war, daß sie
+mich wieder umarmte.
+
+„Leb’ wohl, Njetotschka!“ sagte sie plötzlich und sie versuchte zu
+lächeln, aber es sprach nur eine unsagbare Rührung aus ihrem
+Gesichtchen. „Du, sieh nicht auf mich; das ist nur so; ich bin nicht
+krank, nach einem Monat komme ich wieder. Dann werden wir uns nie mehr
+trennen.“
+
+„Genug, Katjä,“ sagte die Fürstin ruhig, „fahren wir!“
+
+Aber die Prinzeß kehrte noch einmal zurück. Noch einmal umfing sie mich
+krampfhaft.
+
+„Mein Leben!“ konnte sie mir noch zuflüstern, „auf Wiedersehen!“
+
+Wir küßten uns zum letztenmal und die Prinzeß verließ mich – für lange,
+sogar für sehr lange Zeit. Es vergingen acht Jahre, bis wir uns
+wiedersahen!
+
+ * * * * *
+
+Ich habe von dieser Episode meiner Kindheit mit Absicht so ausführlich
+erzählt. Unsere Lebensgeschichten sind eben untrennbar verbunden. Ihr
+Roman – ist auch mein Roman. Es war mir wie vom Schicksal bestimmt, sie
+kennen zu lernen, und ebenso ihr, mich zu finden. Und überdies konnte
+ich der Lust nicht widerstehen, mich nochmals in meine Kindheit zu
+versetzen ... Jetzt wird meine Erzählung schneller fortschreiten. Mein
+Dasein sank damals wie in eine große Stille und erst als ich mein
+sechzehntes Jahr bereits vollendet hatte, war es mir, als erwachte ich
+wieder zu einem wirklichen Leben ...
+
+Doch zuvor muß ich noch ein paar Worte über die erste Zeit nach der
+Abfahrt der fürstlichen Familie sagen.
+
+Ich blieb mit Madame Léotard zurück.
+
+So vergingen zwei Wochen. Dann traf aus Moskau ein Abgesandter des
+Fürsten ein und brachte die Nachricht, daß die Rückkehr nach Petersburg
+auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben worden sei. Da nun Madame Léotard
+aus Gründen, die ihre eigene Familie angingen, nicht nach Moskau
+übersiedeln konnte, so hatte sie im Hause des Fürsten nichts mehr zu
+tun. Sie blieb aber in derselben Familie, indem sie zur ältesten Tochter
+der Fürstin übersiedelte.
+
+Ich bin bisher noch nicht auf Alexandra Michailowna zu sprechen gekommen
+– wohl deshalb, weil ich sie bis dahin nur ein einziges Mal gesehen
+hatte. Sie war die Tochter der Fürstin aus deren erster Ehe. Die
+Herkunft und Verwandtschaft der Fürstin waren etwas dunkel. Ihr erster
+Mann war ein Gutspächter gewesen. Als sie dann zum zweitenmal geheiratet
+hatte, wußte sie nicht, was sie mit ihrer ältesten Tochter anfangen
+sollte. Auf eine glänzende Partie konnte sie nicht hoffen. Die Mitgift
+war mäßig; aber schließlich, vier Jahre vor meiner Aufnahme, hatte man
+für sie dennoch einen reichen Mann, der schon einen bedeutenden Posten
+bekleidete, gefunden. Alexandra Michailowna kam in neue
+Gesellschaftskreise und sah um sich eine andere Welt. Die Fürstin
+besuchte ihre Tochter im ganzen nur zweimal im Jahre. Der Fürst, ihr
+Stiefvater, besuchte sie dagegen in jeder Woche und nahm dann auch Katjä
+mit. In der letzten Zeit sah die Fürstin es sehr ungern, daß Katjä zur
+Schwester ging; da brachte der Fürst sie oft heimlich hin. Katjä
+vergötterte die Schwester, obwohl sie ganz entgegengesetzte Charaktere
+waren.
+
+Alexandra Michailowna war damals zweiundzwanzig Jahre alt, still, zart,
+sehr liebreich. Ja es war, wie wenn ein heimlicher Kummer, ein
+verborgener Schmerz ihre schönen Züge verklärte. Und dennoch hatte ich
+die Empfindung, als paßten der Ernst und die Trauer nicht gut zu ihrem
+schönen lieben Antlitz, ganz wie etwa einem Kinde Trauer nicht steht.
+Man konnte sie nicht ansehen, ohne sogleich tiefe Sympathie für sie zu
+empfinden. Sie war fast durchsichtig bleich und wie es hieß, zur
+Schwindsucht geneigt. Sie lebte sehr zurückgezogen und liebte weder bei
+sich viele Gäste zu empfangen, noch selbst Besuche zu machen. Ihr Leben
+war das einer Einsiedlerin. Kinder hatte sie zunächst nicht. Ich weiß
+noch, sie kam einmal zu uns gefahren, um mit Madame Léotard zu sprechen,
+und sie trat damals zu mir und küßte mich mit tiefem Gefühl. Mit ihr war
+ein hagerer, schon älterer Herr gekommen. Ihm traten die hellen Tränen
+in die Augen, als er mich sah. Das war der Geigenvirtuose B. ...
+Alexandra Michailowna legte den Arm um mich und fragte, ob ich bei ihr
+leben und ihr Töchterchen sein wolle. Ich sah ihr ins Gesicht und
+erkannte in ihr die Schwester meiner Katjä, und ich umarmte sie mit
+einem dumpfen Schmerz im Herzen und empfand wieder, wie groß meine
+Einsamkeit war ... Ganz, als hätte mir wieder jemand gesagt: „Du bist
+eine Waise!“ Darauf gab mir Alexandra Michailowna einen Brief des
+Fürsten, den ich mit unterdrücktem Schluchzen las. Der Fürst schrieb in
+Liebe und Güte, Gottes Segen möge auf mir ruhen und ich möge in dem
+langen Leben, das mir noch bevorstehe, glücklich sein. Zum Schluß bat er
+mich noch, auch seine andere Tochter zu lieben. Katjä schrieb mir
+gleichfalls einige Zeilen. Sie schrieb, daß sie sich nun gar nicht mehr
+von der Mutter trenne.
+
+Bevor dieser Tag zu Ende ging, kam ich also wieder in ein anderes Haus,
+zu anderen Menschen, nachdem ich mein Herz von neuem von allem hatte
+losreißen müssen, was mir schon lieb und traut geworden war. Müde, wie
+zerschlagen, betrat ich das neue Heim. Mein Herz blutete ...
+
+Und so beginnt in meiner Erzählung denn jetzt ein neuer Abschnitt meines
+Lebens.
+
+
+ VI.
+
+Mein neues Leben verlief so still und ruhig, als hätte ich unter
+Einsiedlern gelebt ... Ich brachte bei ihnen mehr als acht Jahre zu und
+erinnere mich nicht, daß in dieser Zeit, abgesehen von einigen wenigen
+pflichtschuldigen Diners, jemals eine größere Gesellschaft im Hause
+gewesen wäre oder daß Verwandte, Freunde und Bekannte sich bei uns
+zusammengefunden hätten. Mit Ausnahme von zwei oder drei Personen, die
+hin und wieder einmal vorsprachen – z. B. der Künstler B., der ein guter
+Freund des Fürsten H. und auch seiner Stieftochter Alexandra Michailowna
+war, und die Herren, die fast ausschließlich in Amtsangelegenheiten zu
+dem Gemahl Alexandra Michailownas kamen – kam so gut wie niemand zu uns.
+Alexandra Michailownas Mann war beständig von seinem Dienst in Anspruch
+genommen, und konnte sich nur selten für eine kurze Zeit freimachen,
+die er dann gleichmäßig zwischen dem Familienleben und den
+gesellschaftlichen Pflichten teilte. Hervorragende Verbindungen, die er
+unmöglich vernachlässigen konnte, zwangen ihn ziemlich oft, die
+Gesellschaft an sich zu erinnern. Fast überall hielt sich das Gerücht
+von seinem schrankenlosen Ehrgeiz, doch da er sich gleichzeitig des
+Rufes erfreute, ein tüchtiger, ernster Mensch zu sein, da er überdies,
+wie bereits erwähnt, schon ein hohes Amt bekleidete, und Glück und
+Erfolg ihn wie es schien von selbst aufsuchten, so war die Gesellschaft
+weit davon entfernt, ihm ihre Sympathie zu entziehen. Ja, noch mehr als
+das: man brachte ihm beständig und ganz allgemein eine gewisse besondere
+Teilnahme entgegen, die man dagegen seiner Frau vollständig versagte.
+Alexandra Michailowna lebte in völliger Einsamkeit: aber es war, als sei
+ihr das nur angenehm, ja als freue sie sich sogar darüber. Ihr stiller
+Charakter war gleichsam geschaffen für dieses stille Leben.
+
+An mir hing sie mit ganzer Seele, sie liebte mich wie ihr eigenes Kind,
+und ich, deren Tränen ob der Trennung von Katjä noch nicht versiegt
+waren, – ich, mit meinem wehen Herzen, ich warf mich wie erlöst in ihre
+mütterlich zärtliche Umarmung. Und vom ersten Tage an hat meine glühende
+Liebe zu ihr nie aufgehört, noch jemals etwas von ihrer Glut eingebüßt.
+Sie war mir Mutter, Schwester, Freund, sie ersetzte mir alles und hegte
+und pflegte meine Jugend. Hinzu kam, daß ich bald erriet und
+herausfühlte, daß ihr Geschick durchaus nicht so glücklich war, wie man
+es auf den ersten Blick wohl glauben konnte, wenn man nach ihrem stillen
+und ruhigen äußeren Leben urteilte, nach ihrer scheinbaren Freiheit und
+ihrem guten, stillen Lächeln, das so oft ihr liebes Gesicht verklärte.
+Ich entdeckte vielmehr im Laufe meiner Entwicklung fast täglich etwas
+Neues im Leben meiner Wohltäterin, etwas, das in langsamer Qual von
+meinem Herzen erraten wurde, und mit dieser traurigen Erkenntnis wuchs
+zugleich meine Liebe zu ihr und mit der Liebe meine Anhänglichkeit.
+
+Ihr Charakter war schüchtern und weich. Wenn man ihre reinen, klaren
+Gesichtszüge sah, die förmlich Ruhe ausströmten, dann hätte man es auf
+den ersten Blick nicht für möglich gehalten, daß irgendeine Unruhe in
+ihrem reinen Herzen wohnen konnte. Es war undenkbar, daß sie auch nur
+irgendeinen Menschen nicht hätte lieben können; das Mitleid siegte stets
+in ihrem Herzen, selbst über Ekel und Abscheu – indes war sie aber nur
+sehr wenigen Freunden zugetan und lebte auch innerlich in vollständiger
+Einsamkeit ... Ihrer Natur nach war sie leidenschaftlich und empfänglich
+für alle Eindrücke, gleichzeitig aber war’s, als sei ihr selbst bange
+vor ihrer Empfänglichkeit und als bewache sie deshalb ihr Herz jeden
+Augenblick, damit es sich nicht vergäße – und wär’s auch nur in Träumen.
+Es fiel mir auf, daß ihr bisweilen in den lichtesten Stunden mit einem
+Male Tränen in die Augen traten: als sei plötzlich eine Erinnerung in
+ihrer Seele aufgetaucht, die Erinnerung an etwas, was ihr Gewissen
+qualvoll peinigen mochte und ewig wie auf der Lauer lag, um im
+Augenblick des Glücks plötzlich hervorzuspringen und das Glück feindlich
+zu verscheuchen. Und je ruhiger, glücklicher, zufriedener sie war, um so
+näher, schien es, war der Kummer, um so unfehlbarer erschienen plötzlich
+die Tränen – wie ein Anfall, der über sie kam. Ich entsinne mich keines
+einzigen vollkommen ruhigen Monats in den ganzen acht Jahren. Ihr Mann
+liebte sie anscheinend sehr, und sie – sie vergötterte ihn. Aber schon
+auf den ersten Blick schien es einem, als gäbe es etwas
+Unausgesprochenes zwischen ihnen. Es mußte da irgendein Geheimnis walten
+– ein Geheimnis in ihrer Vergangenheit – wenigstens geschah es, daß ich
+schon vom ersten Tage an etwas Ähnliches vermutete ...
+
+Ihr Mann machte auf mich, als ich ihn zum erstenmal sah, den Eindruck
+eines finsteren Menschen. Diesen ersten Eindruck empfing ich noch als
+Kind und deshalb konnte ihn auch nichts verwischen. Äußerlich war er ein
+hagerer Mensch von hohem Wuchs, und man hatte die Empfindung, als
+verberge er mit Absicht seinen Blick hinter den großen, grünen Gläsern
+seiner Brille. Er war trocken, nichts weniger als mitteilsam, und selbst
+unter vier Augen im Verkehr mit seiner Frau fand er sozusagen niemals
+ein rechtes Thema zur Unterhaltung. Offenbar war ihm die Gegenwart von
+Menschen lästig. Mich beachtete er überhaupt nicht; dagegen fühlte ich
+mich jedesmal, wenn wir abends im Salon Alexandra Michailownas zum Tee
+zusammenkamen, während seiner Anwesenheit äußerst ungemütlich. Heimlich
+beobachtete ich Alexandra Michailowna, und zu meinem Kummer bemerkte
+ich, daß sie dann jedes ihrer Worte erwog und über jede Bewegung
+nachdachte. Sie aber erbleichte, wenn sie sah, daß ihr Mann schroffer
+oder unfreundlicher wurde; oder sie errötete auch wohl plötzlich, als
+habe sie aus einem seiner Worte irgendeine Anspielung oder einen Vorwurf
+herausgehört. Ich fühlte es, daß ihr das Zusammensein mit ihm schwer
+fiel, und doch schien sie, wenigstens soweit sich das nach äußeren
+Anzeichen beurteilen ließ, keinen Augenblick ohne ihn leben zu können.
+Mir fiel besonders ihre ungeheure Aufmerksamkeit ihm gegenüber auf: kein
+Wort, keine Bewegung wurde von ihr überhört oder übersehen. Es war, als
+wolle sie nach allen Kräften es ihm recht machen und als fühle sie, daß
+ihr das dennoch nicht gelang. Ja, es war fast, als erbettele sie von ihm
+seinen Beifall: ein flüchtiges Lächeln, ein halbes freundliches Wort von
+ihm – und sie war glücklich ... glücklich wie ein Mädchen in der ersten
+Zeit einer noch schüchternen, noch hoffnungslosen Liebe. Sie ging mit
+ihrem Manne um, so vorsichtig, wie mit einem Schwerkranken. Er aber sah
+auf sie, wie mir schien, mit einem sie drückenden und quälenden Mitleid
+herab. Sobald er mit einem Händedruck von ihr Abschied genommen und sich
+wieder in sein Kabinett zurückgezogen hatte, war sie gleich wie
+verwandelt. Ihre Bewegungen, ihre Unterhaltung, alles an ihr wurde
+sofort viel freier, heiterer, sicherer. Nur eine gewisse Verwirrung war
+an ihr noch lange nach jedem Wiedersehen mit ihm bemerkbar. Sie fing
+dann gleich an, sich jedes von ihm gesprochene Wort ins Gedächtnis
+zurückzurufen, wie um es nochmals zu prüfen. Oft wandte sie sich dann
+auch an mich mit der Frage, ob sie sich nicht verhört habe: hatte Pjotr
+Alexandrowitsch sich so oder so ausgedrückt? – und als suche sie noch
+nach einem anderen Sinn in dem, was er gesagt! Erst nach etwa einer
+Stunde wurde sie dann wieder sie selbst, als habe sie sich nun endlich
+davon überzeugt, daß er mit ihr vollkommen zufrieden sei und daß sie
+sich grundlos beunruhige. Dann wurde sie plötzlich froh und heiter und
+gut, küßte mich, lachte mit mir oder setzte sich an den Flügel und
+spielte, was ihr gerade einfiel. Oft spielte und improvisierte sie dann,
+ohne es zu gewahren, wie zwei Stunden darüber verstrichen. Dann kam es
+wohl auch vor, daß das Spiel plötzlich verstummte und ich sie weinen
+sah. Sobald sie aber meine Aufregung bemerkte, versicherte sie mir
+schnell und flüsternd – als fürchte sie, daß man uns hören könnte –, es
+sei nichts, wirklich, es sei nichts, diese Tränen kämen nur so von
+selbst, sie hätten nichts zu bedeuten, sie sei, im Gegenteil, sehr froh
+und glücklich und ich solle mich nur nicht aufregen. War ihr Mann
+abwesend, so geschah es oft, daß sie sich um ihn plötzlich beunruhigt
+fühlte und sich nach ihm zu erkundigen begann: wohin er gefahren, warum,
+wann, zu wann er die Pferde bestellt, ob er krank oder gesund, bei guter
+oder schlechter Laune gewesen, was er gesagt usw., usw. Von seinen
+Dienstangelegenheiten und seiner Arbeit mit ihm zu sprechen – das wagte
+sie grundsätzlich nicht. Wenn er ihr einmal etwas riet oder sie um etwas
+bat, dann hörte sie ihn ergeben an und schien sich in acht zu nehmen,
+wie eine Sklavin vor ihrem Gebieter. Sie hatte es sehr gern, wenn er
+irgend etwas von ihren Sachen lobte, etwa ein Buch, einen
+Kunstgegenstand oder eine ihrer Handarbeiten. Sie war dann gleichsam
+stolz darauf, und sah sofort glücklich aus. Ihr Glück aber kannte keine
+Grenzen, wenn er einmal – es geschah freilich nur sehr selten und auch
+dann fast wie aus Versehen – zu den beiden kleinen Kindern ein wenig
+Zärtlichkeit äußerte. Ihr Gesicht verklärte sich dann geradezu, es
+strahlte vor Glück, und in diesen Augenblicken gab sie sich in ihrem
+Verhalten dem Mann gegenüber manchmal vielleicht etwas zu sehr ihrer
+Freude hin. Z. B. trieb sie dann die Kühnheit bisweilen sogar so weit,
+daß sie plötzlich selbst und unaufgefordert ihn bat – allerdings immer
+noch zaghaft und mit schüchterner Stimme – irgendeine neue Komposition,
+die ihr der Musikalienhändler zugesandt, anzuhören, oder seine Meinung
+über ein Buch zu sagen, oder ihr gar zu erlauben, ihm ein bis zwei
+Seiten daraus vorzulesen, wenn diese einen großen Eindruck auf sie
+gemacht hatten. Gewöhnlich kam der Gatte gnädig allen ihren Wünschen
+nach und lächelte, wie man über ein Kind nachsichtig lächelt, wenn man
+ihm irgendein seltsames Spiel nicht verbieten will, um ihm nicht
+vorzeitig seine Naivität zu rauben. Ich weiß nicht, weshalb mich dieses
+Lächeln, diese hochmütige Nachsicht, diese Ungleichheit zwischen ihnen
+immer so empörte! Ich schwieg aber, bezwang mich und beobachtete sie nur
+aufmerksam mit kindlicher Neugier, jedoch mit frühreifen ernsten
+Gedanken. Bisweilen bemerkte ich, daß ihm plötzlich etwas einzufallen
+schien: es war, als besinne er sich, als erinnere er sich gegen seinen
+Willen an etwas Schweres, Furchtbares, Unabwendbares, und im Nu
+verschwand das nachsichtig herablassende Lächeln aus seinen Zügen und
+seine Augen sahen plötzlich mit solchem Mitleid auf die Frau, daß es wie
+eine Lähmung über sie kam und ich von diesem Mitleid förmlich
+körperlichen Schmerz verspürte: hätte es mir gegolten – ich glaube, es
+hätte mich zu Tode gequält. Im Augenblick verschwand dann auch alle
+Freude aus dem Gesicht Alexandra Michailownas. Die Musik, wenn sie
+gerade spielte, oder ihre Stimme, wenn sie gerade vorlas, brach ab. Sie
+erbleichte, nahm sich krampfhaft zusammen und schwieg. Es folgte ein
+peinliches, drückendes Schweigen, das bisweilen lange andauerte. Endlich
+versuchte ihr Mann das Schweigen zu brechen. Er erhob sich, um wie mit
+Gewalt den Ärger und die Erregung in sich niederzuzwingen, und nachdem
+er ein paarmal in finsterem Schweigen durch das Zimmer geschritten war,
+drückte er seiner Frau die Hand, atmete tief auf, preßte sichtlich
+betreten ein paar abgerissene Worte hervor, die sie beruhigen sollten,
+und verließ das Zimmer; Alexandra Michailowna aber brach in Tränen aus
+und eine tiefe, qualvolle Traurigkeit kam über sie. Oft segnete und
+bekreuzte er sie vor dem Fortgehen, wie ein Kind, abends beim Abschied,
+und sie empfing den Segen mit Tränen der Dankbarkeit in stiller
+Ehrfurcht. Aber es gab da ein paar Abende (nur zwei oder drei in den
+ganzen acht Jahren), die ich nicht vergessen kann ... Dann war Alexandra
+Michailowna plötzlich ganz verändert. In ihrem sonst so stillen Gesicht
+spiegelten sich dann plötzlich anstatt der beständigen Unterwerfung und
+Selbsterniedrigung vor dem Manne – Zorn und Empörung. Das Gewitter zog
+langsam herauf. Der Mann wurde schweigsamer, schroffer und sein Gesicht
+noch finsterer als sonst. Schließlich hielt es das wunde Herz der armen
+Frau nicht mehr aus. Mit vor Aufregung stockender Stimme begann sie ein
+Gespräch, anfangs in abgerissenen, unzusammenhängenden Sätzen voll von
+Andeutungen und bitter verschwiegenen Worten; bis sie plötzlich, als
+könne sie ihr Leid nicht mehr ertragen, in Tränen ausbrach – und dann
+folgte ein Zornesausbruch mit Vorwürfen, Klagen und Verzweiflung wie in
+einer schweren Krisis. Aber man hätte sehen müssen, mit welcher Geduld
+ihr Mann das alles ertrug, mit welcher Teilnahme er sie zu beruhigen
+suchte und wie er ihr die Hände küßte, bis schließlich auch ihm die
+Tränen in die Augen traten: dann war’s als rufe ihr Gewissen ihr
+plötzlich etwas zu und werfe ihr ein Verschulden vor. Die Tränen ihres
+Mannes erschütterten sie und händeringend in neuer Verzweiflung warf sie
+sich zu seinen Füßen nieder und flehte unter Schluchzen und Weinen um
+seine Verzeihung, die er ihr denn auch sofort gewährte. Doch ihr
+Gewissen ließ ihr noch lange keine Ruhe und sie fuhr fort, ihn unter
+Tränen um Verzeihung zu bitten. Nach diesen Ausbrüchen war sie dann die
+ganzen folgenden Monate noch schüchterner, noch ängstlicher vor ihrem
+Mann als zuvor. Mir blieben alle diese Klagen und Vorwürfe vollkommen
+unverständlich; überdies wurde ich dann immer unter irgendeinem Vorwande
+aus dem Zimmer geschickt, aber ganz konnten sie dies alles doch nicht
+vor mir verbergen. Ich beobachtete und sah ... und was ich nicht sah,
+das erriet ich, und so schöpfte ich schon gleich zu Anfang den Verdacht,
+daß es sich dabei um ein Geheimnis handeln mußte, daß diese plötzlichen
+Ausbrüche eines wunden Herzens nicht gewöhnliche Nervenkrisen waren, daß
+ihr Mann nicht ohne Grund immer so finster aussah und dieses zweideutige
+Mitleid mit der armen kranken Frau hatte, daß auch ihre Schüchternheit
+und Ängstlichkeit und auch diese bescheidene sonderbare Liebe, die sie
+ihrem Manne kaum zu zeigen wagte, ihren besonderen Grund haben mußten,
+und ebenso ihre Einsamkeit, ihre nahezu klösterliche Zurückgezogenheit,
+sowie ihr plötzliches Erröten und Erbleichen in der Gegenwart ihres
+Gatten, das mir immer wieder auffiel und immer wieder zu denken gab.
+
+Doch solche Szenen kamen, wie gesagt, nur sehr, sehr selten vor, und da
+unser Leben ohnehin so überaus eintönig verlief und Alexandra
+Michailowna mir auch schon so nahe stand, als hätte ich sie mein Leben
+lang gekannt, und ich andererseits mich schnell entwickelte und viel
+Neues in mir erwachte –, wenn es mir auch noch nicht zu Bewußtsein kam
+–, immerhin, ein Neues, das mich von meinen Beobachtungen ablenkte – so
+gewöhnte ich mich eben an dieses Leben und an die Eigenheiten der
+Menschen, die mich umgaben. Freilich dachte ich, wenn ich sie mitunter
+betrachtete, über sie dennoch nach, das war wohl anders auch nicht gut
+möglich, aber mein Denken führte vorläufig noch zu keinem Ergebnis.
+Hinzu kam, daß ich sie glühend liebte und mich unwillkürlich hütete, mit
+meiner Neugier ihre Wunde zu berühren – dazu achtete ich ihr Leid viel
+zu sehr. Sie aber verstand mich vielleicht noch besser als ich selbst
+mich verstand, und wie oft sagte sie mir für meine Liebe und
+Anhänglichkeit ihren stummen Dank! Wie oft, wenn sie meine Sorge um sie
+sah, lächelte sie mir unter Tränen zu oder sie scherzte selbst über ihr
+häufiges Weinen, oder sie begann mir auch wohl zu erzählen, daß sie sehr
+zufrieden, sehr glücklich sei, alle seien so gut zu ihr, alle hätten sie
+lieb, nur quäle es sie sehr, daß Pjotr Alexandrowitsch sich ihretwegen
+gräme und sich um ihre Seelenruhe sorge, während sie im Gegenteil so
+glücklich sei, so glücklich ...! Und sie schloß mich mit tiefem Gefühl
+in ihre Arme, innige Liebe verklärte ihr Gesicht, so daß mein Herz, wenn
+man dies sagen kann, vor lauter Mitempfinden schmerzte.
+
+Nie werde ich ihr Gesicht vergessen. Es waren regelmäßige Züge, und ihre
+Magerkeit und Blässe, schien es, erhöhten nur noch den Reiz ihrer
+strengen Schönheit. Das reiche schwarze Haar, das – in der Art wie es
+damals getragen wurde – vom Scheitel glatt nach unten gekämmt war, warf
+tiefe Schatten auf das Oval der Wangen; um so liebreizender aber war der
+frappierende Kontrast ihrer großen kindlich klaren blauen Augen, aus
+denen einen soviel Zärtlichkeit, Liebe und Güte ansah, und in denen
+bisweilen auch soviel Naivität lag und soviel Zaghaftigkeit und
+Schutzbedürftigkeit. Es waren Augen, die jede Empfindung zu scheuen
+schienen, die jede Herzensregung fürchteten, gleichviel ob es flüchtige
+Freude oder stille Trauer war. Doch in glücklichen ruhigen Stunden lag
+in diesem Blick, der so tief ins Herz drang, soviel Klarheit und Wärme,
+soviel ruhige Reinheit, dann schauten diese blauen Augen so zärtlich, so
+süß einen an, dann spiegelte sich in ihnen soviel Sympathie mit allem,
+was edel und gut war, was um Liebe oder um Mitleid bat, daß man sich ihr
+mit ganzer Seele hingab, daß die Seele sich ihr vollkommen unterwarf und
+zu ihr hinstrebte und von ihr, wie man meinte, dieselbe Klarheit und
+Ruhe und Versöhnung und Liebe erhielt. So schaut man bisweilen hinauf in
+den blauen Himmel und fühlt, daß man Stunden und Stunden in diesem süßen
+Schauen verbringen könnte und daß die Seele freier und ruhiger wird,
+ganz als spiegele sich in ihr wie in einem stillen Wasser die große
+weite Himmelskuppel. Wenn aber – und das geschah so oft – die
+Begeisterung ihr Farbe ins Gesicht trieb und ihre Brust sich vor
+Erregung hob und senkte, dann sprühten ihre Augen in dunklem Feuer, als
+wenn ihre Seele, die keusch die reine Flamme des sie so begeisternden
+Schönen hütete, sich ganz in ihre Augensterne versetzt hätte. Dann war
+sie geradezu wie vom Heiligen Geist erfüllt. Und in diesem plötzlichen
+Aufschwung der Seele mitten aus stiller ruhiger Stimmung zu glühendster
+Begeisterung und reiner strenger Vergeistigung lag so viel von naivem
+kindlichen Glauben, daß ein Künstler wohl sein halbes Leben dafür
+hingeben würde, wenn er dieses Frauenantlitz in einem solchen Augenblick
+hätte sehen und diese Begeisterung auf der Leinwand hätte wiedergeben
+können.
+
+Schon in den ersten Tagen nach meiner Übersiedelung merkte ich, daß sie
+sich in ihrer Einsamkeit über meine Anwesenheit freute. Damals hatte sie
+nur ein Kind und war erst seit einem Jahre Mutter. Doch zu mir war sie
+stets wie zu einer leiblichen Tochter und niemals machte sie einen
+Unterschied zwischen mir und ihren eigenen Kindern. Und mit welchem
+Eifer sie sich an meine Erziehung machte! Madame Léotard mußte oftmals
+lächeln, wenn sie in der ersten Zeit ihren Übereifer sah. Und in der
+Tat, wir fingen mit einem Mal so ziemlich alles an, wir begannen mit so
+vielen Fächern, daß wir uns bald ganz verloren. Sie wollte mir auf ein
+Mal so viel beibringen, daß es sie zu liebevoller Ungeduld trieb, ich
+aber oder vielmehr mein Wissen keinen großen Nutzen daraus ziehen
+konnte. Anfangs betrübte sie meine Hilflosigkeit; dann mußte sie aber
+lachen und dann fingen wir nochmals von vorn an – doch trotz des ersten
+Mißerfolges erklärte sich Alexandra Michailowna kühn gegen das
+altbewährte System der Madame Léotard. Sie stritten lachend um ihre
+Methoden, aber meine neue Lehrerin blieb kategorisch bei ihrer
+Feindschaft gegen jegliches System und behauptete, wir würden nach
+etlichen Versuchen den richtigen Weg schon finden und es habe keinen
+Sinn, mir den Kopf mit toten Regeln vollzustopfen: der ganze Erfolg
+hinge nur davon ab, daß man meine natürlichen Fähigkeiten erkannte und
+weckte und davon, daß man auf meinen guten Willen zu wirken vermochte.
+Darin aber hatte sie zweifellos recht, denn ihre Methode siegte mit
+glänzendem Erfolg. Erstens fielen bei uns die Rollen der Lehrerin und
+Schülerin ganz fort. Wir lernten wie zwei Freundinnen, und nicht selten
+machte es sich so, daß ich Alexandra Michailowna belehrte, ohne ihre
+kleine List zu bemerken. Und wir gerieten nicht selten sogar in Streit
+und mit glühendem Eifer suchte ich die Sache ihr so zu erklären, wie ich
+sie begriff, bis Alexandra Michailowna mich unmerklich auf den richtigen
+Weg führte. Das endete dann gewöhnlich damit, daß ich, wenn mir endlich
+ein Licht aufging und ich plötzlich ihre List erriet und einsah, daß
+sie, was oft genug geschah, ganze Stunden zu meinem Nutzen geopfert
+hatte – daß ich mich dann an ihren Hals warf und sie krampfhaft umarmte.
+Später tat ich das nach jeder Stunde. Meine Empfindsamkeit überraschte
+und rührte sie so, daß sie mich immer ganz verwundert ansah. Sie begann
+mich nach meinem früheren Leben zu fragen, und nach meinen Erzählungen
+wurde sie jedesmal zärtlicher zu mir und ernster – ernster, weil ich ihr
+mit meiner traurigen Kindheit außer dem Mitleid auch noch eine gewisse
+Achtung einflößte. Nach meinen Geständnissen führten wir gewöhnlich noch
+lange Gespräche, in denen sie mir meine Erlebnisse zu erklären
+versuchte, so daß es mir vorkam, als erlebe ich das alles nochmals und
+als lerne ich dabei viel. Madame Léotard fand diese Gespräche viel zu
+ernst für mein Alter, und wenn sie meine unwillkürlichen Tränen
+bemerkte, sagte sie oft, sie seien gar nicht am Platz. Ich aber dachte
+darüber ganz anders, denn nach _diesem_ Unterricht wurde es mir immer so
+leicht und frei und süß ums Herz, ganz als hätte es in meinem Schicksal
+nichts Dunkles und Trauriges gegeben. Und ich war auch Alexandra
+Michailowna viel zu dankbar dafür, daß sie mich veranlaßte, sie mit
+jedem Tage mehr zu lieben. Madame Léotard war natürlich nicht darauf
+verfallen, daß auf diese Weise allmählich alles in mir sich glätten und
+ordnen und seine Harmonie finden mußte, was sich früher wirr und
+vorzeitig stürmisch in meiner Seele erhoben hatte, alles, wovor mein
+wundes Kinderherz in seinem bitteren Schmerz so ratlos gestanden, daß es
+hätte verstocken müssen, da es nur den Schmerz fühlte, aber nicht
+begriff, warum und woher die Schläge es trafen.
+
+Unsere Tage fingen damit an, daß wir uns im Kinderzimmer zusammenfanden,
+ihr Kindchen weckten, es ankleideten, wuschen, fütterten, mit ihm
+spielten und ihm das Sprechen beizubringen versuchten. Hatten wir uns
+mit ihm genug abgegeben, dann begann das Lernen. Dies Lernen erstreckte
+sich eigentlich auf alles und war doch an nichts gebunden. Wir lasen,
+erzählten einander unsere Eindrücke und Gedanken während der Lektüre;
+dann, wenn wir davon genug hatten, gingen wir zur Musik über, und die
+Zeit verging wie im Fluge. Die Abende verbrachten wir meist sehr
+gemütlich, zuweilen kam B., Alexandra Michailownas Freund, und auch
+Madame Léotard gesellte sich zu uns. Oft wurde dann aus der Unterhaltung
+ein eifriger Disput über die Kunst oder über das Leben (das wir fast
+alle nur vom Hörensagen kannten) oder über die Wirklichkeit und das
+Ideal, über Vergangenes und Zukünftiges, und es wurde darüber
+Mitternacht und noch später, ohne daß wir es merkten. Ich hörte mit
+allen Fibern zu, ich begeisterte mich mit ihnen, ich lachte oder ich war
+ergriffen, und an diesen Abenden erfuhr ich denn auch nach und nach
+alles Nähere, was meinen Stiefvater und meine erste Kindheit betraf.
+
+Inzwischen wuchs ich heran; man nahm für mich Lehrer an, doch hätte ich
+von diesen ohne Alexandra Michailownas Hilfe so gut wie nichts gelernt.
+Bei meinem Geographielehrer hätte ich von dem ewigen Suchen der Städte
+und Flüsse auf den Karten nur erblinden können! Mit Alexandra
+Michailowna dagegen unternahm ich wahre Weltreisen, wir durchstreiften
+so märchenhafte Länder, sahen so viele Wunder, verbrachten so viele
+phantasieerfüllte Stunden miteinander, und unser Eifer war in der
+Begeisterung so groß, daß alle Bücher, die sie gelesen hatte, nicht mehr
+genügten und wir uns neue Bücher verschaffen mußten. Bald konnte ich
+meinen Geographielehrer belehren, wenn er auch, das muß man ihm um der
+Gerechtigkeit willen lassen, bis zum Schluß seine Überlegenheit insofern
+bewahrte, als er die Lage jedes Städtchens mit peinlichster Genauigkeit
+in Längen- und Breitengraden anzugeben wußte, sowie die Zahl der
+Einwohner in Tausenden, Hunderten und Zehnern. Dem Geschichtslehrer
+wurden die Stunden gleichfalls pünktlich bezahlt, aber erst nachdem er
+gegangen war, fingen wir, Alexandra Michailowna und ich, mit der
+Geschichte an: dann holten wir unsere Bücher hervor und lasen – lasen
+bis tief in die Nacht. Nie habe ich größere Begeisterung empfunden als
+bei diesem Lesen. Wir waren dann beide so begeistert, als wären wir
+selber die Helden, die jene großen Taten vollbrachten. Natürlich lasen
+wir zwischen den Zeilen noch mehr heraus als aus den Zeilen; überdies
+verstand Alexandra Michailowna meisterhaft zu erzählen oder eine
+Begebenheit zu erläutern, so daß man das Geschehnis förmlich miterlebte,
+als geschähe es eben jetzt. Mag es nun auch meinetwegen komisch anmuten,
+daß wir uns so begeisterten und bis nach Mitternacht saßen und lasen,
+ich ein Kind, und sie eine Frau mit einem wunden Herzen, das so schwer
+am Leben trug! – Aber es war so. Ich wußte, daß sie sich neben und mit
+mir gleichsam erholte. Soweit ich mich erinnere, machte ich mir schon
+damals seltsame Gedanken, wenn ich sie still betrachtete, und noch bevor
+ich etwas aus ihrem Leben erfuhr, hatte ich schon vieles erraten.
+
+Ich wurde dreizehn Jahre alt. Mit Alexandra Michailownas Gesundheit ging
+es mehr und mehr bergab. Sie wurde reizbarer und die hoffnungslose
+Trauer kam immer öfter über sie. Ihr Gatte verbrachte nun gewöhnlich
+längere Zeit bei ihr, wenn er auch ebenso schweigsam und finster blieb
+wie früher. Da begann ich denn, immer lebhafteren Anteil an ihrem
+Schicksal zu nehmen. Ich entwuchs bereits der Kindheit, viele neue
+Eindrücke, Beobachtungen und Vermutungen hatten in mir schon bestimmtere
+Formen angenommen, und das Geheimnis, das so schwer auf dieser Familie
+lag, begann mich immer mehr zu quälen. Es gab Augenblicke, wo es mir
+schien, daß ich dieses Rätsel fast schon erriet. Doch dann kam auch
+wieder eine gewisse Gleichgültigkeit, eine Apathie über mich, ja sogar
+ein gewisser Ärger konnte mich erfassen, und ich vergaß meine
+Anteilnahme, da ich auf die eine Frage doch keine Antwort erhielt.
+Bisweilen – und das kam immer häufiger vor – hatte ich das seltsame
+Bedürfnis, allein zu bleiben und zu denken, immer nur zu denken. Das war
+ganz wie zu jener Zeit, als ich noch bei den Eltern lebte und damals –
+noch vor meiner Freundschaft mit meinem Stiefvater – ein ganzes Jahr
+lang nachdachte und aus meinem Winkel die Welt Gottes betrachtete, so
+daß ich zu guter Letzt unter den von meiner eigenen Phantasie
+geschaffenen Phantomen ganz vereinsamte. Der Unterschied bestand nur
+darin, daß jetzt mehr neue unbewußte Triebe in mir waren und größere
+Ungeduld, stärkere Sehnsucht, mächtigeres Verlangen nach Bewegung, nach
+Auflehnung mich quälte, so daß ich nicht mehr wie früher meine Spannung
+und Sammlung ausschließlich auf eine einzige Sache hinlenken konnte.
+Aber auch Alexandra Michailowna fing an, sich von mir zu entfernen. In
+diesem Alter konnte ich ihr fast nicht mehr Freundin sein. Ich war kein
+Kind mehr, ich fragte nach gar zu vielem, und zuweilen sah ich sie so
+an, daß sie ihre Augen vor mir niederschlagen mußte. Es gab sonderbare
+Minuten. Ich konnte ihre Tränen nicht ertragen und oft traten bei ihrem
+Anblick auch mir Tränen in die Augen. Ich warf mich an ihre Brust und
+umfing sie leidenschaftlich. Was konnte sie mir antworten? Ich fühlte
+es, daß ich ihr eine Last war. Bisweilen aber – und das waren dann
+schwere traurige Minuten – war sie es, die mich plötzlich wie in innerer
+Verzweiflung umarmte, als suche sie meine Teilnahme, als könne sie ihre
+Einsamkeit nicht länger ertragen, als hätte ich sie schon ganz
+verstanden, als hätten wir schon gemeinsam gelitten. Doch trotz alledem
+blieb zwischen uns ein Geheimnis, das fühlten wir, und da war ich es,
+die sich in diesen Minuten von ihr zu entfernen begann. Es wurde mir
+schwer, mit ihr zusammen zu sein. Überdies verband uns fast nichts mehr,
+außer der Musik. Doch auch die wurde ihr von den Ärzten schon verboten.
+Bücher? Das war schließlich sogar das gefährlichste Gebiet. Sie wußte
+entschieden nicht, was und wie sie mit mir lesen sollte. Wir wären nicht
+einmal über die erste Seite hinausgekommen: jedes Wort hätte man als
+Andeutung, jeden belanglosen Satz als Rätsel auffassen können. Gespräche
+zu zweien, wie früher, in glühender Offenheit – mieden wir schon.
+
+Gerade in dieser Zeit gab das Schicksal meinem Leben plötzlich und in
+ganz unvorhergesehener Weise eine andere Richtung. Meine Aufmerksamkeit,
+meine Gefühle, mein Herz, mein Kopf – alles wandte sich mit einem Mal
+und mit ganzer angespannter Kraft, die bis zur Begeisterung stieg,
+plötzlich einer anderen, mir bis dahin noch ganz unbekannten Tätigkeit
+zu und ich versetzte mich, fast ohne dessen gewahr zu werden, in eine
+neue Welt; ich hatte keine Zeit, zurückzusehen, mich umzuschauen, mich
+zu besinnen; es konnte ja leicht mein Verderben sein, was ich auch
+deutlich selbst fühlte; doch die Versuchung war größer als die Angst und
+ich ging weiter aufs Geratewohl, mit geschlossenen Augen. Und auf lange
+Zeit ließ ich mich so ablenken von jener Wirklichkeit, die mir bereits
+so lästig geworden war und in der ich schon so durstig und doch
+vergeblich einen Ausweg gesucht. Was das war, will ich jetzt erzählen.
+
+Von den drei Ausgängen aus dem Eßzimmer führte der eine in die großen
+Empfangsräume, der andere in mein Zimmer und in die Kinderzimmer, und
+der dritte in die Bibliothek. In die Bibliothek führte aber noch eine
+andere Tür, die von meinem Zimmer nur durch ein Arbeitskabinett getrennt
+war, in dem gewöhnlich der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs saß. Der war
+zugleich sein Sekretär und gewissermaßen seine rechte Hand. Den
+Schlüssel zur Bibliothek und zu den Bücherschränken hatte er. Eines
+Tages nach dem Essen, als er nicht zu Hause war, fand ich diesen
+Schlüssel auf dem Teppich im Kabinett. Ich wurde neugierig, behielt den
+Schlüssel und versuchte, ob sich mit ihm die Tür aufschließen ließ. Ich
+trat in die Bibliothek. Es war das ein ziemlich großes, sehr helles
+Zimmer, in dem an den Wänden acht große Bücherschränke standen. Die
+vielen Bücher waren Pjotr Alexandrowitsch einmal mit einer Erbschaft
+zugefallen, oder wenigstens ein großer Teil derselben. Die anderen
+Bücher hatten sich nach und nach angesammelt, da Alexandra Michailowna
+beständig welche kaufte. Mir hatte man bis dahin nur mit großer Vorsicht
+Bücher zum Lesen gegeben, so daß es für mich unschwer zu erraten war,
+daß man mich vieles nicht lesen lassen wollte, also vieles für mich noch
+ein Geheimnis blieb. Dies nun erweckte in mir unbezwingbare Neugier, und
+in einer Anwandlung von Furcht und Freude und mit einem ganz besonderen
+Gefühl, über das ich mir keine Rechenschaft gab, schloß ich den ersten
+Schrank auf und nahm das erste Buch aus der Reihe. In diesem Schrank
+waren nur Romane. Ich behielt den Band, verschloß den Schrank und
+brachte das Buch mit einem so eigentümlichen Empfinden, mit klopfendem
+und doch wieder stillstehendem Herzen zu mir, auf mein Zimmer, als hätte
+ich geahnt, daß damit eine große Umwälzung in meinem Leben eintreten
+sollte. Erst als ich in meinem Zimmer in Sicherheit war und auch die Tür
+verschlossen hatte, schlug ich das Buch auf. Doch zu lesen wagte ich
+noch nicht – eine andere Sorge beschäftigte mich: zunächst mußte ich mir
+ein für allemal den freien Zutritt zur Bibliothek sichern, und zwar so,
+daß niemand etwas davon merkte, damit ich mir zu jeder Zeit jedes
+beliebige Buch verschaffen und bei mir behalten konnte. Ich beschloß
+daher, auf das Vergnügen, das entwendete Buch sogleich zu lesen,
+vorläufig zu verzichten: statt dessen brachte ich das Buch zurück, aber
+den Schlüssel behielt ich dafür bei mir. Ich behielt ihn und
+verheimlichte es – das war die erste schlechte Tat in meinem Leben. Nun
+wartete ich auf die Folgen, doch die waren nicht schlimm: nachdem der
+Sekretär den Schlüssel einen ganzen Abend vergeblich gesucht hatte, ließ
+er am nächsten Morgen einen Schlosser rufen und der fand nach kurzem
+Suchen in einem mitgebrachten großen Schlüsselbund einen passenden neuen
+Schlüssel. Damit war die Sache erledigt und niemand erfuhr, daß er den
+alten Schlüssel verloren hatte. Trotzdem war ich vorsichtig und ging mit
+List erst nach einer Woche in die Bibliothek, nachdem ich mich überzeugt
+hatte, daß nicht der geringste Verdacht gegen mich bestand. Anfangs
+wählte ich immer die Zeit, wenn der Sekretär nicht zu Hause war, und
+ging dann durch sein Arbeitszimmer; später aber ging ich ruhig aus dem
+Eßzimmer in die Bibliothek, denn der Sekretär hatte zwar den Schlüssel
+in der Tasche, doch um die Bücher kümmerte er sich so wenig, daß er das
+Zimmer überhaupt nicht betrat.
+
+Mit wahrem Heißhunger begann ich zu lesen und das Gelesene nahm mich
+ganz in seinen Bann. Alle meine neuen Bedürfnisse, alle unklaren Wünsche
+meines Entwicklungsalters, die sich so unruhig und rebellisch in meiner
+Seele erhoben hatten, vorzeitig durch meine Frühreife erweckt – all das
+strömte von jetzt ab dem neuen Ausweg zu, als hätte es mit ihm den
+richtigen Weg gefunden. Bald waren mir Herz und Sinne so bezaubert und
+meine Phantasie entwickelte sich so schrankenlos, daß die ganze Welt,
+die mich bis dahin umgeben hatte, für mich wie vergessen, irgendwo fern
+versunken lag. Es war, als hielte mich das Schicksal selbst an der
+Schwelle des neuen Lebens – nach dem es mich schon so stürmisch
+verlangte, über das ich bereits Tag und Nacht wie über ein Rätsel
+nachgedacht – bevor es mich in dieses Leben eintreten ließ, noch einen
+Augenblick zurück, um mich auf eine Höhe zu führen und mir von dort aus
+die Zukunft in einem Zauberpanorama zu zeigen, und als eine lockende,
+glänzende Perspektive. Es war mir gewiß bestimmt, diese ganze Zukunft
+gleichsam im voraus kennen zu lernen, sie zuerst in den Büchern zu lesen
+und dann in Träumen, in Hoffnungen und leidenschaftlicher Sehnsucht, in
+süßer Erregung meines jungen Geistes zu durchleben. Ich las ohne
+Auswahl, wie mir die Bücher in die Hände kamen, doch das Schicksal
+behütete mich: das, was ich bis dahin erfahren und empfunden hatte, war
+alles so rein, so herb, daß die einzelnen, heimtückischen und
+schmutzigen Seiten mir nichts mehr anhaben konnten. Mein guter
+Kinderinstinkt, meine Jugend und meine ganze Vergangenheit beschützten
+mich, und es war mir nur, als sähe ich plötzlich mein ganzes früheres
+Leben bewußt in heller Beleuchtung. Tatsächlich erweckte jede Seite, die
+ich las, gleichsam Erinnerungen in mir, als hätte ich das alles oder
+doch etwas Ähnliches schon irgendeinmal selbst erlebt; ja gerade diese
+Leidenschaften, dieses ganze Leben mit seinen märchenhaften Bildern
+kamen mir so bekannt vor. Und wie hätte es denn auch anders sein können:
+wie hätte ich darüber die Wirklichkeit nicht bis zur Entfremdung
+vergessen sollen, da doch in jedem Buch vor mir die Gesetze desselben
+Schicksals verkörpert waren, desselben Geistes, der über dem
+Menschenleben thront, alle jedoch wie aus einem obersten Gesetz des
+Menschenlebens fließend, das zugleich die Rettung und Erlösung der
+Menschheit enthielt. Eben dieses oberste Gesetz, dessen Bestehen ich
+schon vermutete, suchte ich nun aus allen Kräften, mit allen Instinkten,
+die eine Art Selbsterhaltungstrieb in mir aufgeweckt hatte, zu erraten.
+Es war, als sei ich schon im voraus durch irgendwen darauf aufmerksam
+gemacht worden, weshalb meine Aufmerksamkeit sich mit einer solchen
+Selbstverständlichkeit gerade darauf richtete. Es war, als dränge sich
+ein Hellsehen in meine Seele, und mit jedem Tage wuchs und erstarkte in
+ihr eine eigene Sehnsucht, obschon gleichzeitig mein Verlangen nach
+dieser Zukunft, nach diesem Leben, von dem ich täglich las und das mich
+täglich mit der ganzen nur der Kunst eigenen Gewalt und allen Reizen der
+Dichtung erschütterte und lockte, immer mächtiger wurde. Doch wie
+gesagt, meine Phantasie beherrschte auch meine Ungeduld und ich war, um
+die Wahrheit zu gestehen, nur in meinen Träumen kühn, in Wirklichkeit
+aber fürchtete ich mich instinktiv vor der Zukunft. Und deshalb, wie
+nach geheimer Verabredung mit mir selbst, hatte ich es mir unbewußt zum
+Vorsatz gemacht, mich vorläufig mit diesem Leben in der Phantasie zu
+begnügen, in dem ich dafür die unbehinderte Selbstherrscherin sein
+konnte und in dem es nur Glück und Freude gab; das Unglück aber, wenn es
+auch zugelassen war, spielte dort nur eine passive Rolle, eine Art
+Übergangsrolle, die notwendig war nur um der Kontraste willen: damit das
+Schicksal sich in meinen begeistert erträumten Romanen zum Guten wenden
+und zu einem glücklichen Schluß führen konnte. So deute ich mir jetzt
+meine damalige Stimmung.
+
+Und dieses Leben, dieses Leben ausschließlich in der Phantasie, dieses
+Leben in schroffer Abkehr von allem, was mich umgab, konnte sich ganze
+drei Jahre lang fortsetzen!
+
+Dieses Leben war mein Geheimnis, und selbst nach ganzen drei Jahren
+wußte ich noch nicht, ob ich mich vor einer plötzlichen Aufdeckung
+desselben fürchten sollte oder nicht. Das, was ich in diesen drei Jahren
+erlebt hatte, stand mir gar zu nah, war schon zu sehr verwachsen mit
+mir! In allen diesen Träumen spiegelte ich mich selbst viel zu deutlich
+wider, so daß fremde Augen, gleichviel wessen Augen, durch einen
+unvorsichtigen Blick in meine Seele mich verwirrt und erschreckt hätten.
+Hinzu kam, daß wir alle im Hause so einsam lebten, so außerhalb der
+Gesellschaft, so klösterlich still, daß sich unwillkürlich in jedem von
+uns ein Innenleben, eine Konzentration auf sich selbst entwickeln mußte.
+Und das geschah denn auch mit mir. In diesen drei Jahren sah ich in
+meiner Umgebung nicht die geringste Veränderung: nach wie vor herrschte
+das farblose Einerlei, das, wie ich mir jetzt gestehe, wenn ich nicht
+von meinem geheimen Leben erfüllt gewesen wäre, ganz entschieden meine
+Seele zerrissen und mich aus diesem traurigen Kreise Gott weiß auf
+welchen Ausweg getrieben hätte. Madame Léotard alterte merklich und zog
+sich fast ganz in ihr Zimmer zurück; die Kinder waren noch so klein, daß
+sie nicht in Frage kamen; B. war gar zu einseitig und Alexandra
+Michailownas Gatte gar zu ernst, gar zu unnahbar und verschlossen.
+Zwischen ihm und seiner Frau herrschte immer noch dasselbe rätselhafte
+Verhältnis, das mich wie ein unheilvolles, düsteres Geheimnis immer mehr
+bedrückte und meine angstvolle Sorge um Alexandra Michailowna von Tag zu
+Tag vergrößerte. Ihr Leben, das so freudlos und farblos war, begann
+schon zu erlöschen. Ihr Zustand verschlimmerte sich mit jedem Tage. Von
+ihrer Seele hatte allmählich eine Art Verzweiflung Besitz ergriffen;
+etwas Unbestimmtes, worüber wohl auch sie keine Rechenschaft zu geben
+vermochte, schien lähmend auf ihr zu lasten, und sie trug es still, wie
+ein unvermeidliches Kreuz, das zu tragen sie für die kurze Zeit ihres
+Lebens nun einmal verurteilt war. Und doch schien es mir, als verstocke
+allmählich ihr Herz in dieser dumpfen Qual; ja selbst ihr ganzes Denken
+nahm eine andere Richtung und wurde düster, traurig, trostlos.
+Namentlich eine Beobachtung traf mich: es schien mir, daß sie, je älter
+ich wurde, sich um so mehr von mir entferne, so daß ihre
+Verschlossenheit mir gegenüber schließlich die Form einer gewissen
+Reizbarkeit annahm, die sich wie Ärger äußerte. Ja es gab Augenblicke,
+wo ich die Empfindung hatte, sie liebe mich überhaupt nicht mehr; ich
+schien ihr lästig zu sein. Deshalb begann auch ich mich von ihr
+zurückzuziehen, und nachdem das einmal geschehen, wurde ich von ihrer
+Verschlossenheit gleichsam angesteckt. So kam es denn, daß alles, was
+ich in diesen drei Jahren erlebte und was allmählich in mir reifte, mein
+Geheimnis blieb. Und da wir uns einmal voreinander verschlossen hatten,
+konnte ich ihr später nie mehr ganz offen mein Innerstes zeigen, obschon
+ich sie immer noch mehr lieben lernte. Ich kann jetzt nicht ohne Tränen
+daran denken, wie sehr sie an mir hing, wie sie sich in ihrem Herzen
+gelobt, ihren ganzen großen Liebesreichtum an mich zu verschwenden und
+wie sie ihrem Gelübde, mir eine Mutter zu sein, bis zum Tode treu blieb.
+Es ist wahr, das eigene Leid lenkte sie zuweilen für eine Zeitlang von
+mir ab und ich glaube, daß sie mich dann einfach vergaß – um so mehr,
+als ich mich nach Möglichkeit bemühte, sie nicht an mich zu erinnern.
+Inzwischen wurde ich sechzehn Jahre alt, ohne daß sie mein Heranwachsen
+gemerkt hätte. Aber in klareren Stunden, wenn sie bewußter um sich sah,
+war es doch, als erschrecke sie plötzlich: und sie ließ mich dann eilig
+aus meinem Zimmer, wo ich gewöhnlich gerade lernte, zu sich rufen, und
+überschüttete mich mit Fragen, wie um mich zu prüfen, zu ergründen –
+tagelang mußte ich dann bei ihr sitzen. Sie gab sich Mühe, alle meine
+Wünsche, alle meine Gefühlsregungen zu erraten und war offenbar in Sorge
+um mein Alter. Und wie sie sich um meine Gegenwart sorgte, so sorgte sie
+sich auch um meine Zukunft, und mit unerschöpflicher Liebe, ja geradezu
+mit Ehrfurcht vor meinem Leben suchte sie mich für alle Zeiten mit ihrer
+Hilfe auszurüsten. Doch wir waren uns innerlich schon fremd geworden und
+deshalb merkte sie es nicht, daß sie mitunter gar zu naiv vorging und
+ich ihre Absicht viel zu sehr durchschaute. So z. B., als sie einmal –
+das war schon nach meinem sechzehnten Geburtstag – in meinen Büchern
+gekramt hatte, fragte sie mich plötzlich, was ich lese, und als sie sah,
+daß es nur kleine Geschichten für etwa zwölfjährige Kinder waren, da
+erschrak sie. Ich erriet sofort, was sie erschreckt hatte, und
+beobachtete sie aufmerksam. Ganze zwei Wochen ließ sie es sich nun
+angelegen sein, mich vorzubereiten und zu prüfen und vor allem meinen
+Reifegrad festzustellen. Endlich entschloß sie sich: und auf unserem
+Tisch erschien „Ivanhoe“ von Walter Scott, ein Roman, den ich schon
+längst und mindestens dreimal gelesen hatte. Anfangs verfolgte sie mit
+ängstlicher Erwartung, welcher Art der Eindruck war, den ich empfing;
+bald jedoch wich diese Gespanntheit zwischen uns und wir begeisterten
+uns beide, und ich war froh, so froh, daß ich mich jetzt nicht mehr vor
+ihr zu verstellen brauchte! Als wir den Roman beendet hatten, war sie
+entzückt von mir. Jede Bemerkung, die ich während der Lektüre gemacht,
+jede Äußerung und Auffassung war richtig gewesen. Ja ihrer Meinung nach
+war ich sogar schon zu weit entwickelt. Überrascht und entzückt davon,
+machte sie sich nun wieder freudig daran, meine Entwicklung zu leiten;
+sie wollte sich nie mehr von mir trennen; doch das lag nicht in ihrer
+Macht. Das Schicksal trat sehr bald wieder trennend zwischen uns und
+verhinderte eine beiderseitige Annäherung. Dazu bedurfte es nur der
+ersten leisen Anwandlung ihrer Krankheit und ihr Leid siegte in ihrer
+Seele; und dann folgte wieder eine Entfremdung, wieder stand ihr
+Geheimnis, stand Mißtrauen zwischen uns, und vielleicht war es sogar
+wieder wie eine Verstockung von ihrer wie von meiner Seite, die sich
+zwischen uns schob.
+
+Doch selbst dann gab es Augenblicke, die nicht in unserer Macht standen.
+Spannende Lektüre, ein sympathisches Wort, die Macht der Musik – und wir
+vergaßen uns, sprachen uns aus, oft sogar mehr als nötig, und dann
+fühlten wir uns bedrückt voreinander. Es war dann immer wie ein
+plötzliches Sichbesinnen und wir sahen uns wie erschrocken über uns
+selbst mit argwöhnischer Neugier und mit Mißtrauen an. Jede von uns
+hatte ihre Grenze, bis zu der sie sich der anderen nähern konnte; diese
+Grenze zu überschreiten wagten wir nicht, auch wenn wir es gewollt
+hätten.
+
+Eines Nachmittags vor der Dämmerung las ich im Salon Alexandra
+Michailownas zerstreut in einem Buch. Sie saß am Flügel und
+improvisierte nach Motiven italienischer Musik. Als sie schließlich auf
+die Melodie einer bekannten Arie überging, begann ich, von der Musik,
+die mich gefangennahm, gleichsam dazu aufgefordert, leise die Melodie
+mitzusingen. Die Musik bezauberte mich und ich stand plötzlich auf und
+trat an den Flügel. Alexandra Michailowna schien meinen Wunsch zu
+erraten und ging auf die Begleitung über, liebevoll jedem Ton meiner
+Stimme folgend. Es war, als sei sie durch die Stärke meiner Stimme
+überrascht. Ich hatte bis dahin noch nie in ihrer Gegenwart gesungen, ja
+und auch ich wußte noch nicht, ob ich überhaupt irgendwelche Stimmittel
+besaß. Jetzt aber waren wir plötzlich beide wie von einem Geist erfüllt.
+Ich hob die Stimme mehr und mehr, eine mir bis dahin unbekannte Energie
+erwachte in mir, eine Leidenschaft, die von Alexandra Michailownas
+freudiger Verwunderung, die ich aus jedem Takt ihrer Begleitung
+heraushörte, noch geschürt wurde. Und der Schluß der Arie gelang mir so
+gut, ich war so beseelt, so hingerissen von dem Lied, daß sie ganz
+begeistert meine Hände ergriff und mich strahlend ansah:
+
+„Annjeta! Aber du hast ja eine wundervolle Stimme!“ rief sie entzückt.
+„Mein Gott! und ich habe davon nichts gewußt!“
+
+„Ja, ich habe es ja selbst jetzt erst bemerkt!“ versicherte ich,
+gleichfalls ganz erschüttert vor Freude.
+
+„Ach, Gott segne dich, Gott segne dich, mein liebes, unschätzbares Kind!
+Danke Gott für diese Gabe! Wer weiß ... Ach, mein Gott, mein Gott!“ ...
+
+Sie war so ergriffen von der Überraschung, so außer sich vor Freude, daß
+sie nicht wußte, was sie mir sagen, wie sie mir ihre Liebe zeigen
+sollte. Das war eine jener Stunden der Aufrichtigkeit, der Zuneigung und
+Annäherung, die es in der letzten Zeit schon lange nicht mehr zwischen
+uns gegeben hatte. Eine Stunde später war es wie ein Fest im Hause. Sie
+schickte sogleich zu B. und ließ ihn zu sich bitten. In der Erwartung
+seiner nahmen wir ein anderes Lied vor, das mir bekannter war. Diesmal
+zitterte ich vor Angst. Ich wollte nicht durch einen Mißerfolg den
+ersten Eindruck zerstören. Doch bald gab mir meine Stimme selbst wieder
+Mut und machte mich sicher. Ich sang und wunderte, wunderte mich über
+den Umfang meiner Stimme. Dieser zweite Versuch verscheuchte jeden
+Zweifel. Alexandra Michailowna wußte vor Freude nicht, wo sie sich
+lassen sollte, sie schickte nach den Kindern, sogar nach der Kinderfrau,
+und schließlich – ließ sie sich so weit hinreißen, daß sie zu ihrem Mann
+ging und ihn aus seinem Kabinett zu uns rief – eine Kühnheit, an die sie
+zu jeder anderen Zeit nicht einmal zu denken gewagt hätte. Pjotr
+Alexandrowitsch nahm die Neuigkeit wohlwollend auf, gratulierte mir und
+war der erste, der da sagte, man müsse meine Stimme ausbilden. Alexandra
+Michailowna, die vor Dankbarkeit so glücklich war, als hätte er für sie
+Gott weiß was getan, wollte ihm dafür fast die Hände küssen. Endlich kam
+B. Seine Freude war groß. Er liebte mich sehr und gedachte meines
+Stiefvaters, der Vergangenheit, und als ich ihnen zwei oder drei Lieder
+vorgesungen, erklärte er mit ernster und sogar besorgter Miene, ja sogar
+mit einer gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit, daß ich zweifellos
+gute Stimmittel hätte, vielleicht auch sogar Talent, und deshalb sei es
+natürlich ganz unmöglich, meine Stimme etwa nicht auszubilden ... –
+jedoch ... Und nun war es, als besinne er sich, und er wie auch
+Alexandra Michailowna schienen sich zu sagen, daß es gefährlich sei,
+mich schon zu Anfang so zu loben, und ich bemerkte, wie sie sich nun mit
+einigen Blicken schnell verständigten und sich später noch flüsternd
+verabredeten, so daß ihre kleine Verschwörung gegen mich recht
+ungeschickt und naiv ausfiel. Ich lachte im stillen den ganzen Abend,
+denn als ich wieder gesungen hatte, sah ich, wie sie sich Mühe gaben,
+gleichgültig zu bleiben und wie sie sogar einige Mängel mit Absicht
+hervorheben und laut besprachen. Ihre Selbstbeherrschung währte aber
+nicht lange und B. war der erste, der von der Freude übermannt, sich
+untreu wurde. Ich hatte nicht vermutet, daß er mich so gern hatte. Den
+ganzen Abend herrschte eine frohe Stimmung und die lebhafte Unterhaltung
+war so freundschaftlich wie nie zuvor. B. gab die Lebensgeschichten
+einiger Künstler zum besten und erzählte von der Kunst der berühmten
+Größen mit der Begeisterung des Künstlers, oft sogar fast ehrfurchtsvoll
+und ergriffen.
+
+Es war auch die Rede von meinem Stiefvater, und dann ging die
+Unterhaltung auf mich über, auf meine Kindheit, dann auf den Fürsten und
+die Familie des Fürsten, von der ich nach der Trennung so wenig gehört
+hatte. Auch Alexandra Michailowna wußte wenig von ihnen, B. dagegen am
+meisten, da er mehrmals in Moskau gewesen war. Doch hier bekam das
+Gespräch etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes, und zwei oder drei
+Umstände, die hauptsächlich den Fürsten betrafen, blieben mir ganz
+unverständlich. Alexandra Michailowna erkundigte sich nach Katjä, doch
+B. wußte von ihr nichts Besonderes zu berichten oder schien vielmehr
+absichtlich nichts berichten zu wollen. Das machte mich stutzig. Ich
+hatte Katjä nicht nur nicht vergessen, sondern meine frühere Liebe zu
+ihr hatte sich eher noch vertieft; aber es war mir nie in den Sinn
+gekommen, daß mit ihr irgendeine Veränderung vor sich gegangen sein
+könnte. Ich hatte weder an die langen Jahre der Trennung, noch an die
+Verschiedenheit unserer Erziehung und unserer Charaktere gedacht. Sie
+hatte mich in meinen Gedanken nie verlassen, sie lebte immer noch so,
+wie ich sie als Kind gesehen, neben mir, und in meiner Phantasie gingen
+wir stets Hand in Hand. Da ich mich selbst immer als Heldin jedes von
+mir gelesenen Romanes sah, so ersann ich für meine Freundin, die
+Prinzeß, immer eine Rolle neben mir und verdoppelte somit den Roman, von
+dem dann der zweite Teil ausschließlich von mir handeln sollte, ersann
+ihn mit Hilfe aller meiner Lieblingsautoren, die ich natürlich
+erbarmungslos bestahl.
+
+An jenem Abend wurde auch gleich im Familienrat beschlossen, welchem
+Professor meine Ausbildung nun übertragen werden sollte. B. empfahl den
+allerbesten. So fuhr denn schon am nächsten Tage der berühmte Italiener
+D. bei uns vor, prüfte meine Stimme, sagte ungefähr dasselbe, was sein
+Freund B. gesagt hatte, meinte aber, es wäre für mich von viel größerem
+Nutzen, wenn ich zusammen mit seinen anderen Schülerinnen bei ihm
+lernte, der Ehrgeiz und das gute Beispiel wären vortreffliche
+Hilfsmittel usw., usw. Alexandra Michailowna war damit einverstanden,
+und so ging ich von diesem Tage an regelmäßig dreimal wöchentlich früh
+morgens um 8 Uhr in Begleitung eines Dienstmädchens ins Konservatorium.
+
+Jetzt muß ich von einem sonderbaren Erlebnis erzählen, das auf mich
+einen großen, nachhaltigen Eindruck machte und nach welchem ich wie nach
+einem schroffen Bruch in ein anderes Alter eintrat. Ich war damals noch
+nicht ganze siebzehn Jahre alt, als plötzlich eine mir selbst ganz
+unverständliche Apathie von meiner Seele Besitz zu ergreifen begann;
+eine eigentümliche, unerträgliche, schwermütige Stille, die ich selbst
+nicht begriff, kam über mich. Alle meine Erwartungen, mein ganzes
+Streben und Wollen war verstummt, sogar meine Phantasie schwieg wie vor
+Kraftlosigkeit. Eine kalte Gleichgültigkeit war in mir an die Stelle der
+früheren unbeholfenen drangvollen Glut getreten. Sogar für mein Talent,
+das doch von allen, die ich mit ganzer Seele lieb hatte, so bewundert
+wurde, konnte ich keine Neigung und Liebe bei mir mehr aufbringen und
+ich mißachtete es gefühllos. An nichts nahm ich Anteil, und selbst für
+Alexandra Michailowna empfand ich nur dieselbe kalte Gleichgültigkeit,
+obschon ich mir deshalb Vorwürfe machte. Meine Apathie wurde nur von
+grundloser Traurigkeit oder von plötzlichen Tränen unterbrochen. Ich
+hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Und in dieser eigentümlichen Zeit
+wurde durch ein seltsames Erlebnis meine ganze Seele bis auf den Grund
+erschüttert und diese Stille in einen wahren Sturm verwandelt. Mein Herz
+wurde getroffen und verwundet. Und das geschah folgendermaßen.
+
+
+ VII.
+
+Ich trat in die Bibliothek (diese Stunde werde ich nie vergessen) und
+nahm den letzten Roman von Walter Scott, den ich noch nicht gelesen
+hatte. Ich weiß noch, daß ein gegenstandloser Kummer mich fast wie mit
+einer Vorahnung quälte. Ich wollte weinen. Im Zimmer war es noch goldig
+hell von den letzten schrägen Strahlen der sinkenden Sonne, die mit
+einer Lichtfülle durch die hohen Fenster auf das glänzende Parkett
+fielen. Es war still. Auch in den Nebenzimmern war keine Menschenseele.
+Pjotr Alexandrowitsch war nicht zu Hause und Alexandra Michailowna war
+krank und lag zu Bett. Ich weinte auch wirklich, und während ich im
+zweiten Teil des Romans blätterte, versuchte ich, aus den einzelnen
+abgerissenen Sätzen, die ich hier und da las, den Zusammenhang des
+Ganzen zu erraten. Es war fast, wie wenn man ein Buch aufs Geratewohl
+aufschlägt und den ersten besten Satz wie einen Orakelspruch liest. Es
+gibt solche Augenblicke, wo alle geistigen und seelischen Kräfte sich
+krankhaft anstrengen und plötzlich wie in einer hellen Flamme des
+Bewußtseins aufflammen, und in diesem Augenblick wird dann die
+erschütterte Seele, die sich gleichsam im Vorgefühl, ja vielleicht sogar
+schon im Vorgenuß des Zukünftigen quält, wie von einem prophetischen
+Traum erfüllt. Und man will so leben, so leben, und das Herz, das in
+heißester, blindester Hoffnung aufflammt, will mit einemmal gleichsam
+die Zukunft herausfordern – die Zukunft mit ihrer ganzen geheimnisvollen
+Unbekanntheit, auch mit Stürmen und Ungewittern, wofern sie nur Leben
+ist, wirkliches Leben! Gerade das war es, was ich empfand.
+
+Ich erinnere mich, daß ich gerade das Buch schloß, um es dann aufs
+Geratewohl wieder aufzuschlagen und mit dem Gedanken an meine Zukunft
+einen Satz als Orakelspruch zu lesen. Doch als ich die Buchdeckel
+aufklappte und die Blätter sich teilten, lag vor mir auf dem
+aufgeschlagenen Buch ein beschriebener Bogen Postpapier, zweimal
+gefaltet und so zusammengepreßt, als sei er schon vor Jahren in dieses
+Buch gelegt und dann vergessen worden. Neugierig untersuchte ich meinen
+Fund. Es war ein Brief, jedoch ohne Adresse, ohne Anrede und als
+Unterschrift standen nur zwei Buchstaben: S. O. Meine Neugier
+verdoppelte sich, ich entfaltete das fast zusammengeklebte Papier, das
+vom langen Liegen auf den Blättern eine helle Stelle von der Größe
+seines Formats hinterlassen hatte. An den Faltstellen war das Papier
+schon stark mitgenommen: man hatte den Brief wohl oft gelesen. Die Tinte
+war verblaßt – er mußte schon vor langer, langer Zeit geschrieben worden
+sein. Einzelne Wörter stachen mir in die Augen und mein Herz begann zu
+klopfen vor Erwartung. Verwirrt besah ich den Brief von allen Seiten,
+wie um das Lesen noch hinauszuschieben. Zufällig sah ich näher hin und
+hob ihn zum Licht: ja! es waren deutliche Tränenspuren zu sehen,
+stellenweise waren sogar ganze Buchstaben verwischt. Wessen Tränen
+mochten das sein? Und schließlich las ich mit stockendem Herzschlag die
+erste halbe Seite und – fast hätte ich aufgeschrien. Ich stellte das
+Buch zurück, schloß den Schrank, verbarg den Brief in meinem Kleide und
+lief auf mein Zimmer, dessen Tür ich verschloß, und dann machte ich mich
+daran, den Brief nochmals vom Anfang an zu lesen. Mein Herz schlug so
+laut, daß die Buchstaben vor meinen Augen tanzten und ich lange nicht
+begriff, was ich las. Der Brief war eine Aufklärung, für mich eine
+Lösung des Geheimnisses, – wie ein Blitz durchzuckte es mich, denn ich
+erriet sogleich, an wen er gerichtet war. Ich wußte, daß ich nahezu ein
+Verbrechen beging, wenn ich diesen Brief las, doch der Augenblick war
+stärker als ich! der Brief war an Alexandra Michailowna gerichtet.
+
+Hier ist er: ich schreibe ihn wortgetreu ab. Unklar begriff ich, was er
+enthielt und noch lange nachher habe ich über das Rätsel nachgedacht und
+mich grübelnd zerquält. Mit diesem Augenblick brach mein früheres Leben
+ab. Mein Herz war für lange Zeit erschüttert, fast für immer, denn
+dieser Brief hatte viele Folgen. Die Vorahnung, mit der ich das Orakel
+nach meiner Zukunft befragen gewollt, hatte mich nicht getäuscht.
+
+Dieser Brief war das Letzte, war ein letzter, furchtbarer Abschied.
+Während ich ihn las, krampfte sich mein Herz so schmerzhaft zusammen,
+als verlöre ich selbst damit alles, als würden mir auf ewig sogar meine
+Träume und Hoffnungen genommen, als bliebe mir nichts mehr als ein
+unnötiges, überflüssiges Leben. Wer war er, der diesen Brief
+geschrieben? Wie war nachher sein Leben? Dieser Brief enthielt so viele
+Andeutungen, so viele Beweisstücke, daß man sich nicht täuschen konnte,
+und doch auch so viele Rätsel, daß es unmöglich war, sich nicht in den
+Vermutungen zu verlieren. Dennoch kann ich sagen, daß ich mich kaum
+irrte; übrigens offenbarte allein schon der Stil des Briefes, der auch
+sonst noch vieles verriet, den ganzen Charakter dieses Verhältnisses,
+über dem zwei Herzen gebrochen sind. Die Gedanken und Gefühle des
+Schreibenden lagen offen zutage. Doch hier ist der Brief – ich schreibe
+ihn Wort für Wort ab:
+
+„Du wirst mich nicht vergessen, sagtest Du – und ich glaube Dir, und von
+nun an ist mein ganzes Leben in diesen Deinen Worten. Wir müssen uns
+trennen, unsere Stunde hat geschlagen. Das wußte ich längst, meine
+stille, meine traurige Schönheit, aber erst jetzt habe ich es begriffen.
+Während der ganzen Zeit, die _uns_ gehörte, seitdem Du mich liebtest,
+hat mein Herz mich geschmerzt und gezittert um unsere Liebe, und – wirst
+Du’s glauben? – jetzt ist mir leichter! Ich wußte es schon längst, daß
+es so enden werde, so war es schon vor uns bestimmt. Das ist Schicksal.
+Und weißt Du, laß es mich Dir sagen, Alexandra: wir waren _nicht
+ebenbürtig_; das habe ich immer, _immer_ gefühlt! Ich war Deiner nicht
+wert, und ich, ich allein müßte die Strafe für mein durchlebtes Glück
+tragen! Sag’, was war ich im Vergleich mit Dir, bevor ich Dich kennen
+lernte? Gott! nun sind schon zwei Jahre darüber vergangen und ich bin
+immer noch wie von Sinnen; ich kann es bis jetzt noch nicht begreifen,
+daß _Du mich_ lieben konntest! Ich verstehe nicht, wie es zwischen uns
+so weit kam, womit es begann. Erinnerst Du Dich noch, was ich war im
+Vergleich mit Dir? War ich denn Deiner wert, was war an mir, wodurch
+zeichnete ich mich aus? Bevor ich Dich kennen lernte, war ich roh und
+einfältig, und mein Aussehen traurig und düster. Ein anderes Leben
+wünschte ich nicht, ich rief es weder, noch wollte ich es rufen. Alles
+in mir war niedergedrückt und ich kannte in der ganzen Welt nichts
+Wichtigeres, als meine tägliche Arbeit. Ich hatte nur eine Sorge – das
+war der nächste Tag; doch selbst zu dieser verhielt ich mich
+gleichmütig. Früher, ja, einmal vor langer Zeit, da hatte ich wohl etwas
+Ähnliches erträumt und wie ein Narr phantastische Schlösser gebaut.
+Seitdem aber war viel, viel Zeit vergangen und ich richtete mich so gut
+es ging in meinem Leben ein, lebte einsam, verschlossen, ruhig und sogar
+ohne die Kälte zu fühlen, die mein Herz erstarren ließ. Und so
+verstummte es. Ich wußte doch, daß für mich nie eine andere Sonne
+aufgehen werde, und ich glaubte daran und murrte nicht, denn ich
+begriff, daß es _so sein mußte_. Als Du an mir vorübergingst, wußte ich
+nicht, daß ich es wagen durfte, meine Augen zu Dir zu erheben. Ich war
+wie ein Sklave vor Dir. Mein Herz bebte nicht neben Dir, es sehnte sich
+nicht und verhieß mir nichts von Dir: es war ruhig. Meine Seele erkannte
+die Deine nicht, wenn es in ihr auch leicht war neben ihrer schönen
+Schwester. Das weiß ich; das fühlte ich dumpf. Das konnte ich fühlen,
+denn selbst in das letzte Stäubchen dringt Gottes Sonnenlicht und wärmt
+und liebkost es ebenso wie die schönste Blume, neben der es in
+wunschloser Demut fröstelt. Als ich aber alles erfuhr, weißt Du noch,
+nach jenem Abend, nach jenen Worten, die meine Seele bis auf den Grund
+erschütterten – da war ich wie geblendet, bestürzt, alles verwirrte sich
+in mir, und – was glaubst Du? – ich war so betroffen, ich traute mir so
+wenig, daß ich Dich nicht verstand! Davon habe ich Dir nie etwas gesagt.
+Du wußtest nichts; nicht so war ich früher, wie Du mich kennen lerntest.
+Wenn ich gekonnt hätte, wenn ich gewagt hätte, zu sprechen, so hätte ich
+Dir längst alles gestanden. Doch ich schwieg, jetzt aber werde ich Dir
+alles sagen, denn Du sollst wissen, wen Du verlierst, von was für einem
+Menschen Du Dich trennst. Weißt Du auch, wie ich Dich anfangs verstand?
+Die Leidenschaft erfaßte mich wie ein Feuer, wie ein Gift ergoß sie sich
+in mein Blut; sie verwirrte alle meine Gedanken und Gefühle, ich war wie
+von schwerem Wein berauscht, wie im Dunst ging ich umher und auf Deine
+reine _mitleidige_ Liebe antwortete ich nicht wie ein Ebenbürtiger einer
+Ebenbürtigen, nicht wie einer, der Deiner reinen Liebe wert wäre,
+sondern besinnungslos, herzlos. Ich erkannte Dich nicht. Ich antwortete
+Dir wie einer, die sich in meinen Augen _bis zu mir vergaß_, und nicht
+wie einer, die mich bis zu sich erheben wollte. Weißt Du, was ich von
+Dir dachte, was das für mich bedeutete: _die sich bis zu mir vergaß_?
+Doch nein, ich werde Dich nicht mit meinem Geständnis beleidigen; nur
+eines will ich Dir sagen: Du hast Dich bitter in mir getäuscht! Niemals,
+niemals konnte ich mich bis zu Dir erheben. Ich konnte Dich nur unnahbar
+anschauen, Dein Wesen geistig erfassen in meiner schrankenlosen Liebe.
+Meine Leidenschaft aber war nicht Liebe. Liebe fürchtete ich; ich wagte
+nicht, Dich zu lieben. In der Liebe – ist Gemeinsamkeit, Gleichheit,
+ihrer aber war ich nicht wert ... Oder ich weiß nicht, was mit mir war!
+Oh! wie soll ich mich nur ausdrücken, um von Dir verstanden zu werden
+... Ich glaubte anfangs nicht ... Oh! weißt Du noch, als meine erste
+Erregung sich gelegt und mein Blick sich geklärt hatte, als mir nur ein
+reines, makelloses Gefühl geblieben war – da war meine erste Empfindung
+Verwunderung, Verwirrung, Furcht und – weißt Du noch – wie ich mich
+plötzlich aufschluchzend Dir zu Füßen warf? Weißt Du noch, wie Du
+verwirrt, erschrocken, mit Tränen in den Augen mich fragtest, was mit
+mir sei? Ich schwieg, ich konnte Dir nicht antworten; aber meine Seele
+zerriß sich in Stücke. Mein Glück bedrückte mich wie eine unerträgliche
+Last und mein Schluchzen sprach: „Wofür das? Womit habe ich das
+verdient? Wofür mir dieses Glück? Meine Schwester, meine Schwester!“ Oh!
+und wie oft – Du merktest es nicht – wie oft habe ich heimlich Dein
+Kleid geküßt, heimlich, denn ich wußte, daß ich Deiner nicht wert war, –
+und es benahm mir den Atem, mein Herz schlug langsam und stark, als
+wolle es stehenbleiben und das – für immer. Wenn ich Deine Hand nahm,
+erbleichte ich und zitterte; Du verwirrtest mich mit Deiner Reinheit.
+Nein, ich verstehe nicht – das alles auszudrücken, wovon meine Seele
+erfüllt war und was sich so mächtig in Worten aus ihr herausdrängen
+will! Weißt Du auch, daß es mir oft schwer war, Deine mitleidige,
+gleichmäßige Zärtlichkeit zu ertragen, daß sie mir eine Qual war? Als Du
+mich küßtest (das tatest Du einmal, und ich werde es nie vergessen), da
+umflorte sich mein Blick und mein Geist versank wie in einem dunklen
+Nebel. Warum starb ich nicht in diesem Augenblick zu Deinen Füßen? Sieh,
+ich sage zum erstenmal „Du“ zu Dir, und doch hast Du es schon so oft von
+mir verlangt, schon vor langer Zeit. Wirst Du verstehen, was ich sagen
+will? Ich will Dir _alles_ sagen und sage Dir dies: ja, Du liebst mich,
+mit einer großen Liebe, Du liebtest mich wie eine Schwester ihren
+Bruder; Du liebtest mich wie Dein Geschöpf, denn durch Dich ist mein
+Herz auferstanden, Du hast meinen Geist aus dem Schlaf geweckt und ihn
+mit süßer Hoffnung erfüllt; ich aber konnte es nicht, wagte es nicht ...
+ich habe Dich nie meine Schwester genannt, weil ich nicht Dein Bruder
+sein konnte, weil wir ungleich waren, weil Du Dich in mir täuschtest!
+
+Doch Du siehst, ich schreibe nur von mir; selbst jetzt in dieser Stunde
+des Elends, denke ich nur an mich, obschon ich weiß, daß Du Dich um mich
+quälst. Oh, quäle Dich nicht meinetwegen, meine liebe Freundin! Wenn Du
+wüßtest, wie ich jetzt in meinen eigenen Augen erniedrigt bin! All das
+ist an den Tag gekommen und – wieviel Lärm um nichts! Du wirst statt
+meiner verstoßen, Dich straft man mit Verachtung, mit Spott, denn ich
+stehe ja so niedrig in den Augen der Menschen! Oh, wie groß ist meine
+Schuld, daß ich Deiner nicht wert war! Hätte ich Rang und Titel oder
+persönlichen Wert in ihren Augen, wenn ich ihnen mehr Achtung einflößte
+– dann würden sie Dir verzeihen! Ich aber bin nichts, bin wertlos, bin
+lächerlich, noch Niederigeres aber als das Lächerliche gibt es nicht.
+Denn – _wer_ sind sie, die da schreien? Gerade deshalb, weil _diese_
+schon schrien, verlor ich den Mut – ich war von jeher schwach. Weißt Du,
+in welch einer Stimmung ich jetzt bin? – ich lache über mich selbst und
+ich glaube, sie haben recht, wenn sie sagen, ich sei mir selbst verhaßt
+und in meinen eigenen Augen lächerlich. Ich hasse sogar mein Gesicht,
+meine Gestalt, alle meine Angewohnheiten, alle meine ungeschickten
+Bewegungen; ich habe sie immer gehaßt! Oh, vergib mir meine rohe
+Verzweiflung! Aber Du selbst hast mich gelehrt, Dir alles zu sagen. Ich
+habe Dich ins Unglück gestürzt, durch mich bist Du ihrem Spott und
+Gelächter verfallen – weil ich Deiner nicht wert war!
+
+Und dieser eine Gedanke quält mich; er klopft unaufhörlich in meinem
+Gehirn und foltert und zerreißt mein Herz. Und immer scheint es mir, daß
+Du gar nicht _den_ Menschen geliebt hast, der ich war, sondern einen,
+den nur Du in mir sahst –: daß Du Dich getäuscht hast in mir. Das ist
+es, was mich schmerzt, das ist es, was mich jetzt quält, was mich zu
+Tode quälen wird: oder aber – ich werde darüber wahnsinnig!
+
+Ich muß Abschied von Dir nehmen, Abschied! Jetzt, wo alle es wissen, wo
+ihr Geschrei und ihr scharfes Urteil ertönt (ich habe es gehört!),
+jetzt, wo ich klein und erniedrigt bin in meinen eigenen Augen und mich
+vor mir selber schäme, ja wo ich mich sogar für Dich schäme, wegen
+Deiner Wahl, wo ich mich verflucht habe, – jetzt muß ich verschwinden um
+Deiner Ruhe willen. So verlangt man es, und Du wirst mich nie mehr
+wiedersehen, nie mehr. So muß es auch sein, so ist es vom Schicksal
+bestimmt! Es hat mir gar zu viel gegeben; wohl aus Versehen; und jetzt
+macht es seinen Irrtum gut, indem es mir alles wieder nimmt. Unsere Wege
+haben sich gekreuzt, wir lernten uns kennen, und nun gehen wir
+auseinander bis zu einem neuen Wiedersehen! Wo wird das sein, wann wird
+das sein? Oh, sag’ mir, Du Liebe, wo werden wir uns wiedersehen, wo kann
+ich Dich finden, wie kann ich Dich verstehen lernen – und wirst auch Du
+mich dann verstehen? Meine Seele ist so voll von Dir! Oh, wofür, wofür
+das uns? Warum gehen wir auseinander? Belehre mich – ich begreife das
+nicht, ich werde es nie begreifen, ich kann es nicht – lehre Du mich,
+wie man das Leben in zwei Hälften brechen, wie man das Herz sich aus der
+Brust reißen und ohne Herz leben kann! Wenn ich daran denke, daß ich
+Dich nie mehr sehen werde, nie mehr, nie mehr! ...
+
+Gott, was für ein Geschrei sie erhoben haben! wie ich jetzt für Dich
+fürchte! Vor einer Stunde habe ich mit Deinem Mann gesprochen: wir sind
+beide seiner nicht wert, obschon wir schuldlos vor ihm sind. Er weiß
+alles; er sieht uns so, wie wir sind, und er begreift alles, auch früher
+schon ist ihm alles klar gewesen. Und jetzt ist er wie ein Held für Dich
+eingetreten. Er wird Dich gegen ihr Geschrei verteidigen und beschützen;
+er liebt und achtet Dich grenzenlos; er ist Dein Retter, während ich
+verschwinde! ... Ich wollte ihm die Hände küssen! ... Er sagte mir, ich
+solle unverzüglich verreisen. Es ist schon beschlossen! Es heißt, er
+habe Deinetwegen mit ihnen allen gebrochen; dort sind ja alle gegen
+Dich. Man wirft ihm zu große Nachsicht und Schwäche vor. Mein Gott! Was
+sie nicht alles von Dir reden! Und dabei wissen sie nichts! _Sie können
+ja nicht, sie sind nicht fähig_, die Wahrheit zu begreifen! Vergib,
+vergib ihnen, Du Arme, wie auch ich ihnen vergebe. Mir aber haben sie
+mehr genommen als Dir!
+
+Ich weiß nicht – nein, ich weiß nicht, was ich Dir schreibe. Was sagte
+ich Dir gestern beim Abschied? Ich habe doch alles vergessen. Ich war
+wie von Sinnen – Du weintest ... Vergib mir diese Tränen! Ich bin so
+schwach, so kleinmütig!
+
+Ich wollte Dir noch etwas sagen ... Oh! Noch einmal Deine Hände küssen,
+mit diesen Tränen benetzen, die hier auf dem Papier meine Worte
+verwischen! Noch einmal zu Deinen Füßen sitzen! Wenn _sie_ nur wüßten,
+wie rein und gut Dein Gefühl war! Aber sie sind ja blind; ihre Herzen
+sind stolz und hochmütig; sie sehen nicht und werden das niemals sehen.
+Denn _sie haben das nicht, womit man sieht_! Sie werden es nie glauben,
+daß Du schuldlos bist, auch wenn die ganze Welt es ihnen schwören
+sollte. Wie sollten sie auch das begreifen! Und doch werden sie mit
+Steinen nach Dir werfen! Wessen Hand wird die erste sein? Oh, die werden
+nicht zaudern, tausend Steine werden sie aufheben! Ja, sie werden sich
+dazu erdreisten, weil sie wissen, wie man das macht. Sie werfen alle
+zugleich und sagen, sie selber seien schuldlos, deshalb dürften sie es!
+Oh, wenn sie wüßten, was sie tun! Wenn man ihnen nur alles sagen könnte,
+alles, rückhaltlos alles, damit sie es hören, sehen, begreifen und sich
+überzeugen könnten! Doch nein, sie sind nicht so schlecht ... Ich rede
+in meiner Verzweiflung ... – vielleicht verleumde ich sie! Vielleicht
+stecke ich Dich mit meiner Angst um Dich an! Nein, fürchte sie nicht,
+fürchte sie nicht, Du Liebe! Man wird Dich verstehen lernen; wenigstens
+hat einer Dich schon begriffen: Dein Mann. Also hoffe!
+
+Leb’ – leb’ wohl! _Ich danke Dir nicht!_ Für immer leb’ wohl.
+
+ S. O.“
+
+Meine Verwirrung war so groß, daß ich lange Zeit nicht wußte, was in mir
+vorging. Ich war erschüttert, erschrocken. Die Wirklichkeit traf mich
+gar zu plötzlich, gar zu unerwartet mitten in dem lustigen Leben meiner
+Träumereien, wie ich es schon drei Jahre lang lebte. Mit Schrecken wurde
+ich gewahr, daß ich ein großes Geheimnis in meinen Händen hielt und daß
+dieses Geheimnis mein ganzes Leben in Fesseln schlug ... wie? – das
+wußte ich selbst noch nicht. Ich fühlte, daß in diesem Augenblick eine
+neue Zukunft für mich begann. Jetzt war ich ungewollt eine nahe, gar zu
+nahe Teilhaberin an dem Leben und den Beziehungen jener Menschen, die
+noch die ganze mich umgebende Welt ausmachten, und ich fürchtete für
+mich. Als was würde ich in ihr Leben eintreten, ich, die Ungerufene,
+ich, die ihnen Fremde? Was würde ich ihnen bringen? Was wird jemals
+diese Fessel lösen können, die mich so plötzlich an ein fremdes
+Geheimnis kettete? Wer konnte das wissen? Vielleicht wird meine neue
+Rolle sowohl für sie wie für mich qualvoll sein? Ich konnte nicht
+schweigen oder diese Rolle nicht annehmen oder das, was ich erfahren,
+für alle Zeit in meinem Herzen verschließen. Aber was erwartete mich?
+Was sollte ich tun? Und schließlich – was hatte ich denn eigentlich
+erfahren? Tausend Fragen, alle noch unbestimmt und unklar, erhoben sich
+vor mir und bedrückten mein Herz unerträglich. Ich war wie verloren.
+
+Dann kamen, erinnere ich mich, andere Minuten mit neuen, seltsamen, von
+mir noch nie empfundenen Eindrücken. Es war mir, als löse sich etwas in
+meiner Brust, als fiele die frühere Sehnsucht plötzlich von mir ab und
+als werde mein Herz langsam von etwas Neuem erfüllt, von dem ich noch
+nicht wußte, ob ich darüber trauern oder mich freuen sollte. Meine
+Stimmung in dem Augenblick glich derjenigen eines Menschen, der auf ewig
+sein Haus, sein früheres, ruhiges, sorgenloses Leben verläßt, um sich
+auf einen weiten unbekannten Weg zu begeben, und der sich nun zum
+letztenmal im Kreise umschaut und in Gedanken von allem Abschied nimmt,
+während es dem Herzen bitter weh ist in einer bangen Vorahnung all des
+Unbekannten und Traurigen und vielleicht auch Feindseligen der Zukunft,
+in die ihn sein neuer weiter Weg hineinführt. Zuletzt brach ich in
+Tränen aus und das krampfhafte Weinen erleichterte mein Herz. Ich hatte
+das Bedürfnis, jemanden zu sehen, zu hören, ihn fest, krampfhaft zu
+umarmen. Jetzt konnte, jetzt wollte ich nicht mehr allein bleiben; ich
+lief zu Alexandra Michailowna und verbrachte den ganzen Abend bei ihr.
+Wir waren allein. Ich bat sie, nicht zu spielen, und weigerte mich,
+trotz ihrer Bitten, ihr etwas vorzusingen. Ich fühlte mich bedrückt und
+konnte mich zu nichts sammeln. Ich glaube, wir weinten beide. Wenigstens
+soweit ich mich erinnere, erschrak sie über meine Stimmung und redete
+mir in Sorge zu, mich doch zu beruhigen, und mich nicht aufzuregen. Sie
+beobachtete mich angstvoll und versicherte mir, ich sei krank und müsse
+mich mehr schonen. Ich verließ sie gequält und wie mit mir selbst
+zerfallen. Ich war halb bewußtlos und fieberte, als ich zu Bett ging.
+
+Es vergingen mehrere Tage, bevor ich aus diesem Zustande mich
+herausfand, gleichsam erwachte und meine Lage klarer übersehen konnte.
+Damals lebten wir ganz einsam, denn Pjotr Alexandrowitsch war in einer
+besonderen Angelegenheit nach Moskau gereist und blieb dort drei Wochen.
+Alexandra Michailowna hatte aber trotz dieser kurzen Zeit der Trennung
+schreckliche Sehnsucht nach ihm. Zuweilen war sie innerlich ruhiger,
+schloß sich aber dennoch in ihr Zimmer ein, woraus ich ersah, daß ich
+ihr lästig war. Aber auch ich hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Meine
+Gedanken arbeiteten mit geradezu krankhafter Angespanntheit und doch kam
+ich wie aus einem Nebel nicht heraus. Dann verfiel ich wiederum für
+ganze lange Stunden einem quälenden, nicht abzuschüttelnden Sinnen, das
+wie ein Traum über mich kam. Und es war mir dann, als lache jemand leise
+über mich, als habe sich etwas in mir niedergelassen, was mir jeden
+Gedanken verwirrte und vergiftete. Ich konnte die quälenden Bilder nicht
+loswerden, die jeden Augenblick vor mir auftauchten und mir keine Ruhe
+gaben. Ich sah ein langes, trostloses Martyrium, ein Opfer, das still
+und ruhig und klaglos und – umsonst gebracht wurde. Es schien mir, daß
+derjenige, dem dieses Opfer galt, sie verachtete und über sie lachte. Es
+schien mir, daß ich einen Sünder sah, der einem Gerechten Sünden vergab,
+und mein Herz riß in Stücke! Gleichzeitig aber wollte ich mich mit aller
+Gewalt von meinem Verdacht befreien; ich verfluchte diesen Verdacht und
+haßte mich selbst, weil alle meine Überzeugungen keine Überzeugungen
+waren, sondern nur Vorahnungen, und weil ich meine Eindrücke und
+Empfindungen vor mir selber nicht rechtfertigen konnte.
+
+Dann wieder erinnerte ich mich all jener Sätze, dieser letzten
+hervorgestoßenen Worte des furchtbaren Abschieds. Ich stellte mir diesen
+Abschied vor, den – _unebenbürtigen_; ich bemühte mich, den ganzen
+qualvollen Sinn dieses Wortes zu erfassen: „unebenbürtig“. Und furchtbar
+erschütterte mich dieser letzte verzweifelte Abschiedsgruß: „Ich bin
+lächerlich und schäme mich selber Deiner Wahl.“ Was war das? Was sind
+das für Menschen? Wonach sehnen sie sich, was quält sie, was haben sie
+verloren? Und ich überwand mich und las nochmals mit angespannter
+Aufmerksamkeit diesen Brief, der soviel Verzweiflung enthielt, dessen
+Sinn mir aber so fremd war, so unbegreiflich. Doch der Brief sank mir
+aus der Hand und eine aufrührerische Erregung bemächtigte sich meines
+Herzens ... Das alles mußte ja einmal seine Lösung finden, aber ich sah
+den Ausweg nicht oder ich fürchtete ihn!
+
+Ich war fast krank, als eines Tages die Reiseequipage Pjotr
+Alexandrowitschs in den Hof fuhr. Er war aus Moskau zurückgekehrt.
+Alexandra Michailowna eilte außer sich vor Freude ihrem Mann entgegen,
+ich aber blieb wie gelähmt stehen. Ich weiß noch, daß ich selber bis zum
+Schreck über meine plötzliche Erregung betroffen war. Ich hielt das
+nicht lange aus und lief auf mein Zimmer. Ich begriff nicht, was mich so
+erschreckt hatte, aber die Tatsache, daß ich erschrocken war, flößte mir
+Furcht ein. Nach einer Viertelstunde wurde ich gerufen und ich erhielt
+einen Brief vom Fürsten. Im Salon erblickte ich noch einen Unbekannten,
+der mit Pjotr Alexandrowitsch aus Moskau angekommen war, und aus
+einzelnen Worten, die ich aus dem Gespräch auffing, verstand ich nur so
+viel, daß er für lange Zeit bei uns bleiben werde. Das war der
+Bevollmächtigte des Fürsten, der in irgendwelchen wichtigen
+Angelegenheiten der fürstlichen Familie, die bis dahin in den Händen
+Pjotr Alexandrowitschs geruht hatten, nunmehr nach Petersburg
+übersiedelte. Er war es, der mir den Brief des Fürsten übergab und
+sagte, die Prinzeß habe mir gleichfalls schreiben wollen und noch bis
+zum letzten Augenblick versichert, daß sie den Brief unbedingt schreiben
+werde, aber zu guter Letzt habe sie ihn doch mit leeren Händen abreisen
+lassen und ihn gebeten, mir mündlich folgendes zu sagen: daß sie mir
+entschieden nichts zu schreiben habe, sie habe ganze fünf Briefbogen
+zerrissen, und sei zu der Überzeugung gekommen, daß in einem Brief sich
+doch nichts sagen ließe, wir müßten eben von neuem Freundschaft
+schließen; und ferner solle er mich versichern, daß uns ein baldiges
+Wiedersehen bevorstehe. Auf meine ungeduldige Frage, wann das sein
+werde, antwortete mir der fremde Herr, daß die ganze fürstliche Familie
+allerdings die Absicht habe, bald nach Petersburg zurückzukehren, und
+vermutlich werde das auch geschehen. Meine Freude darüber war so groß,
+daß ich nicht wußte, was ich tun oder sagen sollte, und ich ging schnell
+nach oben auf mein Zimmer, schloß mich ein und erbrach unter Tränen den
+Brief des Fürsten. Der Fürst verhieß mir ein baldiges Wiedersehen mit
+ihm und Katjä und gratulierte mir tief gerührt zu meinem Talent; zum
+Schluß gab er mir seinen Segen und versprach, für meine Zukunft zu
+sorgen. Ich weinte, während ich den Brief las; doch zu den Tränen
+gesellte sich eine so unerträgliche Traurigkeit, daß ich, wie ich mich
+erinnere, um mich selber in Angst geriet. Ich wußte nicht, was mit mir
+geschah.
+
+Es vergingen ein paar Tage. In dem Zimmer zwischen dem meinigen und der
+Bibliothek, wo früher Pjotr Alexandrowitschs Sekretär und Gehilfe
+gearbeitet hatte, arbeitete jetzt jeden Vormittag und häufig auch abends
+bis nach Mitternacht der neuangekommene Herr. Oft schlossen er und Pjotr
+Alexandrowitsch sich im Kabinett des letzteren ein und arbeiteten
+zusammen. An einem Nachmittage bat mich Alexandra Michailowna, zu ihrem
+Mann ins Kabinett zu gehen und ihn zu fragen, ob er zum Tee zu uns
+kommen werde. Im Kabinett war niemand, doch in der Annahme, daß er bald
+zurückkehren werde, blieb ich dort und wartete. An der Wand hing sein
+Porträt. Ich erinnere mich noch, daß ich zusammenfuhr, als ich plötzlich
+dieses Bild erblickte, um es dann mit einer mir selbst unbegreiflichen
+Erregung zu betrachten. Es hing ziemlich hoch und die Dämmerung machte
+es noch undeutlicher; um es nun besser zu sehen, zog ich einen Stuhl
+heran und stieg auf ihn hinauf. Ich wollte etwas aufdecken, ja es war,
+als hoffte ich, eine Antwort auf meine Zweifel und Fragen zu finden, und
+ich weiß noch, daß mir vor allem die Augen an diesem Porträt auffielen.
+Zugleich fiel es mir auch ein, daß ich noch niemals die Augen dieses
+Menschen gesehen hatte: er verbarg sie immer hinter den Brillengläsern.
+
+Schon als Kind hatte ich seinen Blick nicht gemocht, und zwar infolge
+eines unerklärlichen, seltsamen Vorurteils, das ich aber jetzt gleichsam
+als gerechtfertigt empfand. Meine Phantasie war beeinflußt. Plötzlich
+schien es mir, daß die Augen des Bildes sich verwirrt abwandten, um
+meinem forschenden, prüfenden Blick auszuweichen, daß sie ihn krampfhaft
+mieden, und daß Lüge und Betrug in diesen Augen waren; es schien mir,
+daß ich es erraten hatte, und eine geheime Freude, die ich selbst nicht
+begriff, antwortete in mir auf dieses Erraten. Ein halblautes „Ach!“
+entschlüpfte mir unwillkürlich. Da war’s mir plötzlich, als sei noch
+jemand im Zimmer. Ich sah mich um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch
+und betrachtete mich aufmerksam. Plötzlich errötete er. Ich wurde
+feuerrot und sprang vom Stuhl herab.
+
+„Was tun Sie hier?“ fragte er mich streng. „Warum sind Sie hier?“
+
+Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Doch ich nahm mich zusammen
+und brachte so gut es ging die Aufforderung Alexandra Michailownas
+hervor. Ich weiß nicht, was er mir antwortete; ich weiß auch nicht, wie
+ich das Kabinett verließ; als ich aber zu Alexandra Michailowna kam, da
+hatte ich die Antwort, auf die sie wartete, spurlos vergessen, und ich
+sagte aufs Geratewohl, ja, er werde kommen.
+
+„Aber was ist mit dir, Njetotschka?“ fragte sie, „du bist ja ganz rot;
+sieh doch im Spiegel, wie du aussiehst ... Was fehlt dir, Kind?“
+
+„Ich weiß nicht, ich bin schnell gegangen ...“ sagte ich.
+
+„Und was hat denn Pjotr Alexandrowitsch gesagt?“ unterbrach sie mich
+etwas verwirrt.
+
+Ich antwortete nicht. Da hörten wir Schritte, er kam schon, und ich ging
+schnell hinaus. Ganze zwei Stunden wartete ich in großem Kummer. Endlich
+wurde ich zu Alexandra Michailowna gerufen. Sie war schweigsam und
+bekümmert. Als ich eintrat, traf mich nur ein schneller forschender
+Blick von ihr und sie schlug die Augen nieder. Ich glaubte, eine gewisse
+Verwirrung in ihrem Gesicht zu bemerken. Bald sah ich, daß sie bei
+schlechter Laune war; sie sprach wenig, vermied mich anzusehen und als
+Antwort auf die besorgten Fragen B.’s klagte sie über Kopfschmerz. Pjotr
+Alexandrowitsch war dagegen gesprächiger als sonst, unterhielt sich aber
+nur mit B.
+
+Alexandra Michailowna trat zerstreut an den Flügel.
+
+„Singen Sie uns etwas vor,“ bat B., sich an mich wendend.
+
+„Ja, Annjeta, singe deine neue Arie,“ sagte Alexandra Michailowna
+schnell, als freue sie sich über den Vorwand.
+
+Ich blickte zu ihr auf: sie sah mich in unruhiger Erwartung an.
+
+Doch ich konnte mich nicht überwinden. Statt an den Flügel zu treten, um
+wenigstens irgend etwas zu singen, geriet ich in Verwirrung, wurde
+verlegen und wußte nicht, zu welcher Ausrede ich meine Zuflucht nehmen
+sollte; schließlich ärgerte ich mich und schlug die Bitte rund ab.
+
+„Warum willst du denn nicht singen?“ fragte Alexandra Michailowna, dabei
+sah sie mich an und dann, für den Bruchteil einer Sekunde, ihren Gatten.
+
+Diese zwei Blicke brachten mich um meine ganze Selbstbeherrschung. Ich
+erhob mich in größter Verwirrung, die ich nicht mehr zu verbergen
+vermochte, und zitternd von einer Empfindung, die wie Ärger und Ungeduld
+war, wiederholte ich heftiger als angebracht, daß ich nicht wolle, nicht
+könne – ich sei krank. Indem ich das sagte, sah ich alle offen an, doch
+Gott weiß, wie gern ich mich in diesem Augenblick in meinem Zimmer vor
+allen versteckt hätte.
+
+B. war erstaunt und Alexandra Michailowna sichtlich bekümmert, doch
+sagte sie kein Wort. Pjotr Alexandrowitsch aber erhob sich plötzlich von
+seinem Platz, sagte, er habe etwas Wichtiges vergessen, und wie im Ärger
+darüber, daß er soviel kostbare Zeit vergeudet, verließ er eilig das
+Zimmer, nachdem er vorausgeschickt, daß er später vielleicht noch
+vorsprechen werde – doch drückte er auf alle Fälle B. schon zum Abschied
+die Hand.
+
+„Aber was fehlt Ihnen nur?“ fragte mich B., „Sie sehen auch wirklich
+krank aus.“
+
+„Ja, ich bin nicht ganz wohl, wirklich nicht,“ versetzte ich ungeduldig.
+
+„Du bist bleich, vorhin aber warst du so rot,“ sagte Alexandra
+Michailowna und plötzlich stockte sie.
+
+„Ach, das ist doch nichts!“ suchte ich sie zu beruhigen und ging
+schnurstracks zu ihr. Ich sah ihr offen in die Augen. Die Arme hielt
+meinen Blick nicht aus, senkte ihren Blick wie eine Schuldige und eine
+leichte Röte stieg in ihre blassen Wangen. Ich nahm ihre Hand und küßte
+sie. Sie sah mich – das fühlte ich – mit erheuchelter Freude an.
+
+„Verzeihen Sie, daß ich heute ein so schlechtes, böses Kind war,“ bat
+ich sie herzlich, „aber wirklich, ich bin krank. So seien Sie mir nicht
+böse und erlauben Sie, daß ich jetzt auf mein Zimmer gehe ...“
+
+„Wir sind alle Kinder,“ sagte sie mit einem schüchternen Lächeln, „auch
+ich bin ein Kind, und schlechter, viel schlechter als du,“ flüsterte sie
+mir leise ins Ohr. „Dann gute Nacht und bleibe gesund. Nur, um Gottes
+willen, sei mir nicht böse.“
+
+„Weswegen?“ fragte ich, so sehr traf mich dieses naive Geständnis.
+
+„Weswegen?“ wiederholte sie in plötzlicher Verwirrung, ja sogar als
+erschrecke sie über sich selbst. „Ja weswegen? Nun siehst du, wie ich
+bin, Njetotschka. Was habe ich dir da gesagt? Gute Nacht! Du bist klüger
+als ich ... Ich aber bin schlimmer als ein Kind.“
+
+„Nun, schon gut!“ Ich war gerührt und wußte nicht, was ich ihr darauf
+sagen sollte. Ich küßte sie nochmals und ging aus dem Zimmer.
+
+Mein Unmut galt hauptsächlich mir selbst, denn ich fühlte, daß ich zu
+unvorsichtig war und mich nicht zu benehmen verstand. Es war da etwas,
+dessen ich mich bis zu Tränen schämte, und mit großem Leid im Herzen
+schlief ich ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein erster
+Gedanke, daß der ganze letzte Abend – nur eine Gespensterseherei gewesen
+sei, daß wir uns gegenseitig nur mystifiziert hatten, indem wir solchen
+Nichtigkeiten die Bedeutung von Gott weiß was für Begebenheiten
+beilegten, daß wir uns einfach übereilt hatten, und zwar alles das nur
+infolge unserer Unerfahrenheit im Leben und unserer Ungewohntheit,
+äußere Eindrücke zu empfangen. Ich fühlte es, daß dieser Brief an allem
+schuld war, daß er mich gar zu sehr beunruhigte, daß meine
+Einbildungskraft durch ihn aus ihrem gewöhnlichen Geleise gehoben war
+und daß ich deshalb am besten tat, wenn ich in Zukunft überhaupt nicht
+mehr an ihn dachte. Nachdem ich so meinen ganzen Kummer verscheucht
+hatte, wurde ich – in der Überzeugung, daß ich den Entschluß, überhaupt
+nicht mehr an den Brief zu denken, ebenso leicht werde ausführen können
+– langsam ruhiger, ja fast sogar heiter, und begab mich in die
+Gesangsstunde. Die Morgenluft erfrischte meinen Kopf endgültig. Diese
+Wanderungen frühmorgens zu meinem Lehrer waren mir zu einer wahren
+Erquickung geworden und ich liebte sie sehr. Es war so lustig, durch die
+Stadt zu wandern, die sich schon zu beleben anfing und wie ein Uhrwerk
+ihre tägliche Arbeit begann. Wir gingen gewöhnlich durch die
+Hauptstraßen, die natürlich am belebtesten waren, und mir gefiel dieser
+Anfang meiner Künstlerlaufbahn, eben dieser Kontrast zwischen der
+alltäglichen Kleinlichkeit, der engen, doch lebendig pulsierenden Sorge,
+und der Kunst, die mich zwei Schritte von diesem Leben entfernt
+erwartete, im dritten Stock eines riesigen Hauses, das von oben bis
+unten von Menschen bewohnt war, die die Kunst, wie mir schien, so gut
+wie überhaupt nichts anging. Ich mit meinen Noten unterm Arm inmitten
+dieser geschäftigen, besorgten Menschen – neben mir die alte Natalja,
+die mich begleitete und mir jedesmal ahnungslos das Rätsel zu erraten
+gab: woran sie eigentlich und vornehmlich denken mochte – und
+schließlich mein Lehrer, halb Italiener, halb Franzose, ein ganzer
+Sonderling, in manchen Augenblicken ein richtiger Enthusiast, viel öfter
+aber ein Pedant und am meisten und vor allem ein Geizhals – alles das
+zerstreute mich, brachte mich zum Lachen oder zum Nachdenken. Hinzu kam,
+daß ich, so zaghaft ich in der Beziehung auch noch war, doch schon mit
+leidenschaftlicher Hoffnung meine Kunst liebte. Ich baute mir schon
+Luftschlösser, malte mir die schönste Zukunft aus, und nicht selten kam
+ich nach Haus – glühend von meinen Phantasien! Kurz, in diesen Stunden
+war ich fast glücklich.
+
+Dasselbe empfand ich auch damals, als ich gegen zehn Uhr zurückkehrte.
+Ich hatte alle Sorgen vergessen und war, wie ich mich noch deutlich
+erinnere, so froh gelaunt, so ganz erfüllt von irgendwelchen
+Zukunftsträumen. Doch plötzlich, wie ich die Treppe hinaufstieg, zuckte
+ich zusammen, als hätte ich mich verbrannt. Über mir hörte ich die
+Stimme Pjotr Alexandrowitschs, der in diesem Augenblick die Treppe
+herabstieg. Das unangenehme Gefühl, das sich meiner bemächtigte, war so
+stark, die Erinnerung an den letzten Abend traf mich so plötzlich und so
+feindselig, daß ich meine Empfindung wirklich nicht verbergen konnte.
+Ich verbeugte mich leicht vor ihm, doch mein Gesicht drückte wohl so
+deutlich alles aus, daß er einen Augenblick verwundert vor mir stehen
+blieb. Da errötete ich und ging schnell hinauf. Er brummte mir noch
+etwas nach und ging dann seiner Wege.
+
+Ich hätte weinen mögen vor Ärger und konnte doch nicht begreifen, was
+eigentlich vorgegangen war. Den ganzen Tag war ich wie verwirrt und
+wußte nicht, zu was ich mich entschließen sollte, um dieser ganzen Qual
+ein Ende zu machen und sie endlich loszuwerden. Tausendmal nahm ich mir
+vor, fortan vernünftiger zu sein, und tausendmal nahm mich die Angst
+doch wieder gefangen. Ich fühlte, daß ich diesen Menschen haßte, und war
+gleichzeitig in Verzweiflung über mich selbst. Ich wurde krank von der
+ewigen Aufregung und verlor alle Gewalt über mich. Ich ärgerte mich
+schließlich über alle, und verbrachte den ganzen langen Tag auf meinem
+Zimmer. Auch zu Alexandra Michailowna ging ich nicht. Sie kam selbst zu
+mir. Als sie mich erblickte, schrie sie fast auf. Ich war so bleich, daß
+ich, als ich in den Spiegel sah, vor mir selber erschrak. Alexandra
+Michailowna blieb eine ganze Stunde bei mir und ging mit mir um wie mit
+einem kranken Kinde.
+
+Ihre Aufopferung und Liebe machten mich aber so traurig und ihre
+Zärtlichkeit war für mich so schwer zu ertragen und es war mir so
+qualvoll, sie anzusehen, daß ich sie bat, mich allein zu lassen. Sie
+verließ mich in großer Sorge um meinen Zustand. Endlich brach ich in
+Tränen aus und weinte wie in einem richtigen Weinkrampf. Danach wurde
+mir bedeutend leichter ...
+
+... Leichter, weil ich mich entschlossen hatte, zu ihr zu gehen. Ich
+wollte vor ihr niederknien, ihr den Brief geben, den sie verloren hatte,
+und ihr alles gestehen: alle Qualen, die ich ausgestanden, meine
+Zweifel, und wollte sie mit der ganzen schrankenlosen Liebe, die in mir
+für sie glühte, umfangen, wollte ihr sagen, daß ich ihr Kind, ihr Freund
+sei, daß ich mein ganzes Herz vor ihr öffne, damit sie hineinschaue und
+sähe, wieviel glühende Liebe und unerschütterliches Vertrauen zu ihr in
+ihm waren. Mein Gott! Ich wußte, ich fühlte ja, daß ich die letzte war,
+der sie ihr Herz aufdecken konnte, doch um so eher, so schien es mir,
+wäre dann eine Rettung möglich, um so gewichtiger wäre dann mein Wort
+... Ich erriet, ich begriff ihren Schmerz, wenn auch dunkel und unklar,
+und mein Herz bebte vor Entrüstung bei dem Gedanken, daß sie vor mir
+erröten könnte, _sie_ vor _meinem_ Richterstuhl ... „Du Arme, du Arme,
+_du_ solltest jene Sünderin sein, für die du dich hältst?“ – das wollte
+ich ihr sagen, wenn ich vor ihr kniete. Mein Gerechtigkeitsgefühl
+empörte sich in mir, ich war meiner selbst nicht mehr mächtig. Ich weiß
+nicht, was ich noch alles gesagt hätte – erst später kam ich zur
+Besinnung, nachdem ein Zufall mich und sie vor dem Verderben bewahrt,
+indem er mich fast beim ersten Schritt zurückhielt. Entsetzen erfaßte
+mich. Hätte denn ihr zu Tode gequältes Herz überhaupt noch in neuer
+Hoffnung auferstehen können? Ich hätte sie nur auf der Stelle getötet!
+
+Es geschah aber folgendes: Als ich auf dem Wege zu ihr gerade durch das
+vorletzte Zimmer vor ihrem Salon gehen wollte, trat plötzlich durch eine
+andere Tür in dasselbe Zimmer Pjotr Alexandrowitsch und ging, ohne mich
+zu bemerken, wenige Schritte vor mir gleichfalls zu ihr. Ich blieb wie
+gelähmt stehen; er war der Letzte, den ich in diesem Augenblick hätte
+sehen mögen. Ich wollte schon zurückkehren, doch plötzlich bannte mich
+die Neugier regungslos an den Fleck.
+
+Er durchschritt das Zimmer, blieb einen Augenblick vor dem Spiegel
+stehen, ordnete mit der Hand das Haar, und mit einem Male – zu meiner
+sprachlosen Verwunderung – hörte ich ihn irgendeine muntere Melodie
+summen. Wie ein Blitz durchzuckte eine dunkle, ferne Erinnerung aus den
+Kinderjahren mein Gedächtnis. Doch damit die seltsame Empfindung, die
+ich in diesem Augenblick hatte, verständlicher wird, will ich jene
+Erinnerung mitteilen. Noch im ersten Jahre meines Aufenthaltes in diesem
+Hause machte mich einmal eine gleichfalls zufällige Beobachtung ganz
+betroffen, die mir aber erst jetzt voll zu Bewußtsein kam, denn erst
+jetzt, erst in diesem Augenblick begriff ich die Ursache meiner
+unerklärlichen Abneigung gegen diesen Menschen! Ich erwähnte bereits,
+daß ich mich schon damals in seiner Gegenwart immer bedrückt fühlte.
+Auch habe ich bereits erzählt, was für einen Eindruck sein finsteres,
+bedrückendes Wesen auf mich machte, sein oft trauriges, geradezu
+gramvolles Gesicht; wie schwer es mir ums Herz war nach jenen Stunden,
+die wir zusammen am Teetischchen Alexandra Michailownas verbrachten, und
+dann – was für ein peinvolles Gefühl mein Herz erfüllte, als ich – was
+nur zwei- oder dreimal geschah – fast Zeugin war jener niederdrückenden,
+mir so ganz unklaren Szenen.
+
+Es war in demselben Zimmer und um dieselbe Zeit, als er, ganz wie ich,
+zu Alexandra Michailowna ging. Mich erfaßte eine rein kindliche Scheu,
+als ich allein mit ihm zusammentraf, und ich versteckte mich gleichsam
+schuldbewußt im Winkel und betete, daß er mich nicht bemerken möge.
+Geradeso wie damals, blieb er vor dem Spiegel stehen und ich zuckte
+zusammen von einer unbestimmten, gar nicht kindlichen Empfindung: es
+schien mir, daß er sein Gesicht plötzlich verändere. Wenigstens hatte
+ich vorher, als er zum Spiegel trat, deutlich ein Lächeln in seinem
+Gesicht gesehen – ein Lächeln, während ich ihn früher noch niemals
+lächeln gesehen hatte, denn (ich erinnere mich, das machte mich noch am
+meisten betroffen) – er lachte nie in Alexandra Michailownas Gegenwart.
+Und nun plötzlich, kaum daß er einen Blick in den Spiegel geworfen,
+veränderte sich sein ganzes Gesicht: das Lächeln verschwand wie auf
+Befehl und an seine Stelle trat der Ausdruck eines unsäglich bitteren
+Gefühls, das sich anscheinend mit Gewalt aus dem Herzen drängte, eines
+Gefühls, das zu verbergen scheinbar nicht mehr in menschlicher Macht
+stand, wie groß auch immer jeder edelmütige Versuch dazu sein mochte,
+und es zuckte um seine Lippen – ein anscheinend konvulsivischer Schmerz
+ließ seine Stirn sich runzeln und zog die Brauen zusammen. Der Blick
+verbarg sich düster hinter den Brillengläsern – kurz, sein Gesicht wurde
+wie auf Kommando zum Gesicht eines ganz anderen Menschen. Ich erinnere
+mich, daß ich, als ohnehin ängstliches Kind, vor Furcht erzitterte, vor
+Furcht, das zu begreifen, das ganz zu erfassen und zu durchschauen, was
+ich sah, und seit jenem Augenblick saß die bedrückende, unangenehme
+Empfindung unausrottbar in meinem Herzen. Und nach dem Blick in den
+Spiegel senkte er den Kopf, nahm eine müdere Haltung an, jene, in der er
+gewöhnlich bei Alexandra Michailowna erschien, und ging leise in ihr
+Boudoir. Diese Erinnerung war es, die mich nun plötzlich wie ein Blitz
+durchzuckte.
+
+Auch jetzt glaubte er, ganz wie damals, daß er allein im Zimmer sei und
+blieb vor demselben Spiegel stehen. Ganz wie damals stand ich dort, von
+ihm unbemerkt, mit einem feindseligen unangenehmen Gefühl. Als ich ihn
+aber dieses Liedchen summen hörte (ein Lied von ihm, von dem man alles
+eher als das hätte erwarten können!) und vor Überraschung wie gelähmt
+stehenblieb, als mir in diesem Augenblicke blitzartig die Ähnlichkeit
+mit dem einen von mir als Kind erlebten Augenblick einfiel – da, ich
+kann es nicht wiedergeben, was für eine Empfindung mir plötzlich
+messerscharf ins Herz schnitt. Alle meine Nerven zuckten davon zusammen
+und als Antwort auf dieses unglückselige Liedchen brach ich in ein
+solches Gelächter aus, daß der arme Sänger mit einem Aufschrei zwei
+Schritte weit vom Spiegel fortsprang und, bleich wie der Tod, wie ein
+schmachvoll auf frischer Tat ertappter Verbrecher, mich ansah, außer
+sich vor Schreck, vor Verblüffung und vor Wut. Sein Blick reizte mich
+krankhaft und ich antwortete auf ihn mit nervenschüttelndem,
+unersättlichem Lachen – ihm gerade ins Gesicht. Dann ging ich lachend an
+ihm vorüber und trat, ohne mit dem Lachen aufzuhören, bei Alexandra
+Michailowna ein. Ich wußte, daß er hinter der Portiere stand, daß er
+vielleicht unschlüssig war, ob er gleichfalls eintreten sollte oder
+nicht, daß Wut und Feigheit ihn an den Fleck bannten, wo er stand – und
+mit einer seltsam gereizten, herausfordernden Ungeduld erwartete ich,
+wozu er sich entschließen werde. Ich hätte wetten können, daß er nicht
+eintreten werde, und ich hätte meine Wette gewonnen. Er kam erst nach
+einer halben Stunde. Alexandra Michailowna sah mich lange Zeit mit
+größter Verwunderung an, doch sie fragte mich vergeblich nach der
+Ursache meiner Erregung. Ich konnte nicht antworten, ich war zu atemlos.
+Endlich begriff sie, daß ich einen Nervenanfall gehabt hatte, und ihre
+Augen folgten mir beunruhigt. Als ich mich etwas erholt hatte, erfaßte
+ich ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen. Jetzt erst besann ich mich
+und jetzt erst sagte ich mir, daß ich sie getötet hätte, wenn das
+zufällige Zusammentreffen mit ihrem Mann nicht gewesen wäre. Ich sah sie
+an, als sähe ich in ihr eine Auferstandene.
+
+Pjotr Alexandrowitsch trat herein.
+
+Ich blickte flüchtig zu ihm hin: er sah aus, als sei nichts geschehen,
+also düster und verschlossen wie gewöhnlich. Es fiel mir nur auf, daß er
+sehr bleich war und ich sah seine Mundwinkel zucken: da erriet ich, daß
+er seine Erregung nur mit Mühe verbarg. Kühl grüßte er Alexandra
+Michailowna und setzte sich schweigend auf seinen Platz. Seine Hand
+zitterte ein wenig, als er die Tasse in Empfang nahm. Ich erwartete
+einen Zornesausbruch und eine stumme Angst erfaßte mich. Ich wollte
+schon hinausgehen, konnte mich aber nicht entschließen, Alexandra
+Michailowna, deren Gesicht sich beim Anblick ihres Mannes verändert
+hatte, zu verlassen. Sie hatte gleichfalls ein Vorgefühl, das ihr nichts
+Gutes verhieß. Und das, was ich mit solcher Angst erwartete, geschah
+denn auch endlich.
+
+Inmitten des tiefsten Schweigens sah ich auf und mein Blick begegnete
+den Brillengläsern Pjotr Alexandrowitschs, die geradeaus auf mich
+gerichtet waren. Das war so überraschend, weil so ungewohnt, daß ich
+zusammenzuckte, fast einen Schrei ausstieß, und die Augen niederschlug.
+Alexandra Michailowna bemerkte meinen Schreck.
+
+„Was ist mit Ihnen? Warum erröten Sie?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch
+schroff und fast grob.
+
+Ich schwieg; mein Herz klopfte so stark, daß ich kein Wort hätte
+hervorbringen können.
+
+„Weshalb ist sie errötet? Weshalb errötet sie immer?“ fragte er, sich an
+Alexandra Michailowna wendend, indem er frech auf mich wies.
+
+Mein Unwille benahm mir den Atem. Ich warf einen flehenden Blick
+Alexandra Michailowna zu. Sie verstand mich. In ihre bleichen Wangen
+stieg edle Röte.
+
+„Annjeta,“ sagte sie zu mir mit so fester Stimme, wie ich sie von ihr
+unter keinen Umständen erwartet hatte, „geh auf dein Zimmer, ich werde
+sogleich zu dir kommen; den Abend werden wir zusammen verbringen ...“
+
+„Ich frage Sie, haben Sie mich gehört oder nicht?“ unterbrach Pjotr
+Alexandrowitsch mit erhobener Stimme, als höre er gar nicht, was seine
+Frau sagte. „Weshalb erröten Sie, wenn Sie mir begegnen? Antworten Sie!“
+
+„Weil Sie sie erröten machen und mich gleichfalls,“ antwortete statt
+meiner Alexandra Michailowna, vor Aufregung stockend.
+
+Ich blickte erstaunt zu ihr auf. Die Schärfe ihrer Entgegnung schon
+gleich zu Anfang war mir ganz unverständlich.
+
+„_Ich_ mache Sie erröten, _ich_?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch, wie es
+schien auch über alle Maßen erstaunt und das „Ich“ stark betonend. „Für
+_mich_ sind _Sie_ errötet? Ja kann _ich_ denn überhaupt _Sie_ für _mich_
+erröten machen? An wem ist es, an _mir_ oder an _Ihnen_, zu erröten, was
+meinen Sie?“
+
+Diese Frage war so deutlich, auch für mich, und mit so gehässigem
+beißenden Spott gesagt, daß ich vor Entsetzen aufschrie und zu Alexandra
+Michailowna stürzte. Überraschung, Schmerz, Vorwurf und Entsetzen
+sprachen aus ihrem todbleichen Gesicht. Ich blickte flehend auf Pjotr
+Alexandrowitsch und faltete die Hände, um ihn zu beschwören. Wie es
+schien, war er selber etwas erschrocken, doch die Wut, die ihm diese
+Worte entrissen, war noch nicht vergangen. Aber meine stumme Bitte
+schien ihn doch einigermaßen zu verwirren. Meine Geste mußte verraten,
+daß ich schon vieles von dem wußte, was zwischen ihnen ein Geheimnis
+gewesen war und daß ich den Sinn seiner Worte sehr gut verstanden hatte.
+
+„Annjeta, geh auf dein Zimmer,“ wiederholte Alexandra Michailowna mit
+schwacher, jedoch fester Stimme und sie erhob sich vom Stuhl, „ich habe
+dringend mit Pjotr Alexandrowitsch zu sprechen ...“
+
+Sie war anscheinend ruhig; doch diese Ruhe beängstigte mich mehr als
+jede Aufregung es vermocht hätte. Ich stand, als habe ich ihre Worte
+nicht gehört, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich sah sie an und
+versuchte mit Anspannung aller Kräfte aus ihrem Gesicht zu erraten, was
+in ihrer Seele vorging. Es schien mir, daß sie weder meinen Ausruf, noch
+meine Geste richtig verstanden hatte.
+
+„Da sehen Sie jetzt Ihr Werk!“ sagte Pjotr Alexandrowitsch, auf seine
+Frau weisend.
+
+Mein Gott! Noch niemals hatte ich eine solche Verzweiflung gesehen, wie
+ich sie jetzt in diesem vor Gram todmüden, gleichsam erstorbenen
+Gesicht, sah. Er faßte mich am Handgelenk und führte mich zur Tür. Im
+Hinausgehen blickte ich mich noch einmal nach ihnen um. Alexandra
+Michailowna stand am Kamin, die Ellenbogen aufgestützt, den Kopf
+zwischen beiden Händen, mit denen sie ihn krampfhaft zusammenpreßte. Die
+ganze Stellung ihres Körpers drückte unerträgliche Qual aus. Ich griff
+nach Pjotr Alexandrowitschs Hand und drückte sie flehend.
+
+„Um Gottes willen! Um Gottes willen!“ flüsterte ich stockend, „haben Sie
+Erbarmen mit ihr!“
+
+„Fürchten Sie sich nicht, fürchten Sie sich nicht!“ sagte er und sah
+mich dabei eigentümlich an. „Das ist nichts, nur ein Anfall. Gehen Sie,
+gehen Sie.“
+
+In meinem Zimmer warf ich mich auf das Sofa und vergrub das Gesicht in
+den Händen. Ganze drei Stunden verblieb ich in dieser Stellung und in
+der Zeit stand ich Höllenqualen aus. Schließlich konnte ich mich doch
+nicht mehr bezwingen und ließ fragen, ob ich zu Alexandra Michailowna
+kommen dürfe. Die Antwort brachte mir Madame Léotard. Pjotr
+Alexandrowitsch ließ mir durch sie sagen, daß der Anfall überstanden und
+eine Gefahr nicht vorhanden sei, doch bedürfe sie noch der Ruhe. Ich
+blieb aber trotzdem bis drei Uhr nachts auf und ging ruhelos in meinem
+Zimmer hin und her. Meine Gedanken arbeiteten. Ich befand mich in einer
+Lage, die mir rätselhafter als jemals war, aber ich fühlte mich
+gewissermaßen ruhiger – vielleicht deshalb, weil ich mich am
+schuldigsten von allen fühlte. In ungeduldiger Erwartung des nächsten
+Morgens ging ich zu Bett.
+
+Am anderen Tage bemerkte ich zu meinem großen Kummer eine mir
+unerklärliche Kälte im Wesen Alexandra Michailownas. Zuerst glaubte ich,
+das sei nur deswegen, weil es ihrem reinen, vornehmen Herzen schwer
+werde, nach der Szene mit ihrem Mann, deren Zeugin ich gewesen war, mit
+mir zusammen zu sein. Ich wußte, daß dieses Kind imstande war, vor mir
+zu erröten und _mich_ womöglich noch um Verzeihung zu bitten, weil diese
+unglückliche Szene _meinem_ Herzen weh getan. Bald aber bemerkte ich an
+ihr so etwas wie eine bestimmte Sorge, wie einen Unwillen, der einen
+einzigen bestimmten Grund zu haben schien und sich nun in verschiedenen
+Formen äußerte: bald antwortete sie trocken und kühl, bald klang aus
+ihren Worten ein gewisser Doppelsinn, als wolle sie etwas Besonderes
+andeuten; dann wurde sie wiederum sehr lieb und gut zu mir, als bereue
+sie diese Schroffheit und Kälte, die ihr Herz ja doch nicht lange für
+mich empfinden konnte, und ihre freundlichen leisen Worte suchten den
+Eindruck zu verwischen und verrieten, daß ihre Unfreundlichkeit ihr von
+Herzen leid tat. Schließlich fragte ich sie ganz offen, was mit ihr sei
+und ob sie mir vielleicht etwas zu sagen habe. Meine plötzliche schnelle
+Frage verwirrte sie ein wenig, doch sofort sah sie wieder auf, sah mich
+mit großen, stillen Augen und einem zarten Lächeln an und fragte mich:
+
+„Nichts, Njetotschka; nur, weißt du, als du mich so plötzlich fragtest,
+da geriet ich in Verwirrung. Aber das geschah nur deshalb, weil es so
+plötzlich kam ... ich versichere dir. Doch höre, sage mir die Wahrheit,
+mein Kind: hast du nicht so etwas auf dem Herzen, wovon du ebenso
+verwirrt werden könntest, wenn man dich ebenso plötzlich und unerwartet
+danach fragen würde?“
+
+„Nein,“ antwortete ich, und sah sie mit hellen Augen offen an.
+
+„Nun, dann ist es ja gut! Wenn du wüßtest, mein Kind, wie ich dir
+dankbar bin für diese schöne und offene Antwort. Nicht, daß ich dich
+irgendeines Schlechten verdächtigt hätte, – niemals! Einen solchen
+Gedanken würde ich mir nie verzeihen. Doch höre: ich nahm dich als Kind
+zu mir und jetzt bist du siebzehn Jahre alt. Du hast ja selbst gesehen:
+ich bin leidend; ich bin selbst wie ein Kind, das Nachsicht beansprucht.
+Ich konnte dir die leibliche Mutter nicht vollständig ersetzen, obgleich
+mein Herz für dich überreich an Liebe war. Wenn mich jetzt Sorgen um
+dich quälen, so bin ich selbstverständlich schuld daran und nicht du.
+Verzeihe daher meine Frage und vergib mir, wenn ich mein Versprechen
+nicht erfüllt habe, das ich dir und dem Vater gegeben, als ich dich in
+mein Haus nahm. Das quält mich sehr und hat mich immer gequält, mein
+Kind.“
+
+Ich umarmte sie und brach in Tränen aus.
+
+„Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen für alles!“ sagte ich, und
+benetzte ihre Hände mit meinen Tränen. „Sprechen Sie nicht so zu mir,
+zerreißen Sie mir nicht das Herz. Sie sind mir mehr denn eine Mutter
+gewesen, Gott segne Sie für alles, was Sie an mir getan haben, Sie und
+der Fürst, an mir Armen, Verlassenen! meine Liebe, meine Gütige!“
+
+„Genug, Njetotschka, genug! Umarme mich lieber, so, von Herzen! Denn,
+siehe, Gott weiß, warum es mir scheint, daß du mich zum letztenmal
+umarmen wirst.“
+
+„Nein, nein,“ rief ich laut aufschluchzend wie ein Kind, „nein, nur das
+nicht! Sie werden noch glücklich sein! ... Noch vieles steht Ihnen
+bevor. Glauben Sie mir, wir werden alle noch glücklich sein.“
+
+„Ich danke dir, ich danke dir für deine Liebe, Njetotschka. Nur wenige
+lieben mich; sie haben mich alle verlassen!“
+
+„Wer hat Sie denn verlassen? Wer denn?“
+
+„Früher waren es ihrer mehr; du weißt es nicht, Njetotschka. Sie haben
+mich alle verlassen, sie sind fortgegangen, als wären Zeichen geschehen.
+Und ich habe auf sie gewartet, mein ganzes Leben lang gewartet; nun Gott
+mit ihnen! Sieh Njetotschka, wie spät schon der Herbst ist; bald gibt es
+Schnee: und mit dem ersten Schnee sterbe ich, – doch ich will nicht
+klagen. Lebt alle wohl!“
+
+Ihr Gesicht war schmal und durchsichtig; auf ihren Wangen brannten rote
+Flecke; ihre Lippen bebten und waren wie von einem inneren Feuer
+verbrannt.
+
+Sie ging ans Klavier und schlug ein paar Akkorde an; in dem Augenblick
+riß eine Seite und ein langer zitternder Ton heulte auf ...
+
+„Hörst du, Njetotschka, hörst du?“ fragte sie mit verlöschender Stimme,
+und wies auf das Klavier. „Diese Saite hat man zu sehr angespannt: sie
+hielt’s nicht aus und zerriß. Hörst du, wie der Ton klagend erstirbt!“
+
+Sie sprach mühevoll. Ein stumpfer, seelischer Schmerz lag auf ihrem
+Gesicht, ihre Augen standen voll Tränen.
+
+„Genug davon, Njetotschka, meine Liebe, genug; bringe die Kinder her.“
+
+Ich führte sie herbei. Ihre Gegenwart schien sie zu beruhigen und sie
+erholte sich. Nach einer Stunde aber mußten alle sie wieder verlassen.
+
+„Wenn ich sterbe, so bleibst du bei ihnen, Annjeta? Ja?“ sagte sie
+flüsternd, als fürchte sie, gehört zu werden.
+
+„Haben Sie Erbarmen, Sie töten mich!“ konnte ich ihr nur antworten.
+
+„Ich habe ja bloß gescherzt,“ sagte sie und verstummte lächelnd. „Und du
+hast daran geglaubt? Ich sage doch manchmal, Gott weiß was! Ich bin wie
+ein Kind, mir muß man alles verzeihen.“
+
+Dabei sah sie mich ganz schüchtern an, als fürchtete sie sich, etwas
+auszusprechen, was ihr auf dem Herzen lag. Ich wartete.
+
+„Sieh zu, erschrick ihn nicht,“ sagte sie endlich mit niedergeschlagenen
+Augen und mit heller Röte im Gesicht, so leise, daß ich es kaum hören
+konnte.
+
+„Wen?“ fragte ich verwundert.
+
+„Meinen Mann. Du erzählst ihm am Ende alles wieder.“
+
+„Wieso, warum denn?“ wiederholte ich meine Frage mit immer wachsendem
+Erstaunen.
+
+„Nun, vielleicht erzählst du es ihm auch nicht, wer kann es wissen!“
+antwortete sie und sie versuchte offenbar, mich schlau anzusehen, und
+ein gutmütiges Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln und die Farbe stieg
+ihr mehr und mehr zu Gesicht. „Lassen wir das; ich scherze ja nur.“
+
+Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
+
+„Nur höre, du wirst sie aber lieben, wenn ich sterbe, – ja?“ fügte sie
+ernst hinzu und wieder mit einem geheimnisvollen Gesicht, „so, als
+liebtest du deine eigenen Kinder, – ja? Denke daran: ich habe dich immer
+wie eine mir Verwandte behandelt und geliebt.“
+
+„Ja, ja,“ antwortete ich, ohne zu wissen, was ich vor Tränen und
+Erregung sagte.
+
+Ein heißer Kuß brannte auf meiner Hand – es gelang mir nicht, sie ihr
+rechtzeitig zu entziehen. Verwunderung lähmte meine Zunge.
+
+„Was geht in ihr vor? Was denkt sie sich? Was war gestern mit ihr?“ ging
+es mir durch den Kopf.
+
+Dann klagte sie über Müdigkeit.
+
+„Ich fühle mich schon längst krank, ich wollte euch nur nicht
+ängstigen,“ sagte sie. „Ihr liebt mich doch beide, – nicht wahr? ... Auf
+Wiedersehen, Njetotschka; verlaß mich jetzt, am Abend komme bestimmt
+wieder?! Wirst du kommen?“
+
+Ich gab ihr mein Wort, und freute mich, nur fort zu kommen. Länger
+konnte ich es nicht mehr ertragen.
+
+„Du Arme, Arme! Welch ein Verdacht treibt dich ins Grab?“ schluchzte ich
+auf: „was für ein neuer Kummer zernagt und zerreißt dein Herz, ein
+Kummer, den du nicht einmal auszusprechen wagst? Mein Gott! Dieses Leid,
+das ich an ihr schon so lange kannte, dieses Leben ohne Freude, diese
+bescheidene Liebe, die nichts fordert. Und noch dazu jetzt, jetzt, vor
+dem Tode, da ihr Herz müde ist, fühlt sie sich als Schuldige, die nicht
+einmal zu murren wagt, und nicht zu klagen – und jetzt überfällt sie
+noch ein neues Leid, dem sie sich widerstandslos ergeben muß!“
+
+Am Abend, in der Dämmerstunde, benutzte ich die Abwesenheit Owroffs
+(desselben, der aus Moskau gekommen war), ging in die Bibliothek,
+öffnete einen Schrank und suchte in den Büchern etwas, um es Alexandra
+Michailowna vorzulesen. Ich wollte sie von ihren schweren Gedanken
+ablenken und sie durch etwas Lustiges, Leichtes aufheitern ... Ich
+suchte lange. Die Dunkelheit trat ein und mit ihr wuchs mein Leid. In
+meine Hände fiel wieder dieses Buch, in dem sich der Brief befand,
+dessen Folgen mich bis jetzt nicht mehr verlassen hatten – dessen
+Geheimnisse mein Dasein von neuem zerbrachen, und es wehte aus ihm so
+kalt, so unbekannt und geheimnisvoll, wehte noch jetzt aus der Ferne des
+Gewesenen so drohend zu mir herüber ... Was wird mit uns, dachte ich:
+der Winkel, in dem mir so warm war, so leicht und frei – verödet. Der
+reine, helle Geist, der meine Jugend hütete, verläßt mich. Was steht mir
+bevor? Ich stand in Versunkenheit, nachdenkend über alles Vergangene,
+das meinem Herzen so teuer war, stand da, als fühlte ich das
+Bevorstehende, Unbekannte und mir Drohende ... Ich erinnere mich dieses
+Augenblicks so deutlich, als erlebte ich ihn noch einmal: so tief hat er
+sich mir ins Gedächtnis eingeschnitten.
+
+Ich hielt in meinen Händen den Brief und das aufgeschlagene Buch, meine
+Wangen waren feucht von Tränen. Plötzlich fuhr ich zusammen: über mir
+ertönte eine mir bekannte Stimme. In demselben Augenblick fühlte ich,
+daß man mir den Brief aus den Händen riß. Ich schrie auf und wandte mich
+um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch. Er packte mich an der Hand und
+zwang mich, auf dem Platz zu bleiben; mit der rechten Hand hielt er den
+Brief ans Licht und mühte sich, die ersten Zeilen zu entziffern ... Ich
+wäre bereit gewesen, eher zu sterben, als ihm den Brief zu überlassen.
+An seinem triumphierenden Lächeln sah ich, daß es ihm gelungen war, den
+Anfang des Briefes zu lesen. Ich verlor meine Sinne ...
+
+Einen Augenblick später, ohne mir bewußt zu sein, was ich tat, stürzte
+ich auf ihn und riß ihm den Brief aus der Hand. Das geschah so
+unerwartet, daß ich selbst nicht mehr begreife, wie es mir gelingen
+konnte, mich des Briefes zu bemächtigen. Doch, als ich bemerkte, daß
+auch er wieder den Brief mir entwenden wollte, steckte ich ihn schnell
+in meine Bluse und wich einige Schritte zurück.
+
+Einen Augenblick sahen wir einander schweigend an. Mich schauerte, er –
+bleich, mit zitternden, blau angelaufenen Lippen, – brach zuerst das
+Schweigen.
+
+„Nun wohl!“ sagte er mit einer Stimme, die vor Erregung schwach war –
+„ich hoffe, Sie wollen selbst nicht, daß ich hier Gewalt anwende – geben
+Sie mir also freiwillig den Brief.“
+
+Erst jetzt kam ich zu mir. Scham und Unwille ob eines so groben
+Überfalls überwältigten mich. Heiße Tränen stürzten mir aus den Augen.
+Ich zitterte vor Aufregung und eine Zeitlang war ich nicht imstande, ein
+Wort hervorzubringen.
+
+„Haben Sie gehört?“ sagte er und trat einen Schritt auf mich zu.
+
+„Lassen Sie mich, lassen Sie!“ rief ich und ich wich vor ihm zurück,
+„Sie handeln niedrig an mir, unedel. Sie haben sich vergessen! ...
+Lassen Sie mich gehen! ...“
+
+„Wie? Was heißt das? Wie wagen Sie es noch, einen solchen Ton
+anzuschlagen ... nach alledem, was Sie ... Geben Sie ihn mir zurück,
+sage ich Ihnen!“
+
+Er trat noch einen Schritt auf mich zu, doch als er in meinen Augen
+soviel kalte Entschlossenheit sah, da blieb er stehen und überlegte ...
+
+„Gut!“ sagte er endlich trocken, als hätte er einen Entschluß gefaßt,
+wenn er sich auch immer noch mühsam beherrschte. „Eines nach dem andern,
+doch zuerst ...“
+
+Er sah sich im Zimmer um.
+
+„Wer ... hat Sie in die Bibliothek gelassen? Warum steht dieser Schrank
+offen? Wie kommt es, daß Sie den Schlüssel dazu haben?“
+
+„Ich werde Ihnen darauf nicht antworten,“ sagte ich, „ich kann mit Ihnen
+nicht darüber sprechen. Lassen Sie mich gehen!“
+
+Ich ging zur Tür.
+
+„Erlauben Sie,“ sagte er, und faßte mich an der Hand – „so werden Sie
+nicht davonkommen!“
+
+Ich entzog ihm schweigend meine Hand und wandte mich wieder zur Tür.
+
+„Wie Sie wollen. Aber ich kann es Ihnen nicht gestatten, daß Sie in
+meinem Hause Briefe von Liebhabern empfangen ...“
+
+Ich schrie auf und sah ihn entsetzt an ...
+
+„Und darum ...“
+
+„Halten Sie ein!“ rief ich aus. „Wie können Sie das? ... Wie können Sie
+mir das sagen? ... Mein Gott! Mein Gott! ...“
+
+„Wie? Was! Sie drohen mir noch! ...“
+
+Ich sah ihn verzweifelt an, wie zerschmettert. Der Kampf zwischen uns
+stieg bis zur höchsten Erbitterung. Doch ich konnte nicht begreifen. Ich
+flehte ihn mit einem Blick an, nicht weiter zu gehen. Ich war bereit,
+ihm jede Beleidigung zu verzeihen, wenn er nur jetzt innehielt. Er sah
+mich durchbohrend an und schien zu überlegen.
+
+„Bringen Sie mich nicht zum Äußersten,“ flüsterte ich erschrocken.
+
+„Nein, damit muß ein Ende gemacht werden!“ sagte er schließlich, als
+besinne er sich wieder. „Ich muß Ihnen gestehen, ich wankte einen
+Augenblick vor diesem Blick,“ fügte er mit eigentümlichem Lächeln hinzu.
+„Doch unglücklicherweise spricht die Sache für sich selbst. Es ist mir
+gelungen, den Anfang des Briefes zu lesen. Das war ein Liebesbrief! Sie
+werden mich nicht davon abbringen! Nein, lassen Sie alles! Und wenn ich
+einen Augenblick zögerte, so geschah es nur, weil ich zu Ihren übrigen
+schönen Eigenschaften auch Ihre Fähigkeit zu lügen hinzufügen mußte, und
+darum wiederhole ich ...“
+
+Mit jedem Wort, das er sprach, füllte er sich mit Bosheit an. Er war
+bleich; seine Lippen verzogen sich und zitterten und nur mit Mühe konnte
+er die letzten Worte hervorbringen. Es war vollkommen dunkel geworden.
+Ich stand schutzlos da, vor einem Menschen, der fähig war, einer Frau
+das Schlimmste anzutun. Und im Grunde war alle Wahrscheinlichkeit gegen
+mich; ich wand mich vor Scham, alles verwirrte sich in mir, ich konnte
+die Wut dieses Menschen nicht verstehen. Ohne ihm zu antworten, außer
+mir vor Angst, stürzte ich aus dem Zimmer, und ich kam erst zu mir, als
+ich vor der Zimmertür Alexandra Michailownas stand. In dem Augenblicke
+hörte ich seine Schritte; und schon wollte ich ins Zimmer stürzen, als
+ich plötzlich wie vom Schlag gerührt stehen blieb.
+
+„Was wird mit ihr geschehen?“ ging es mir durch den Kopf ... „Diesen
+Brief ...! Nein, lieber alles auf der Welt, als diesen Stoß in ihr Herz
+–“ und ich stürzte zurück. Doch schon war es zu spät: er stand neben
+mir.
+
+„Wohin wollen Sie, kommen Sie ... nur nicht hier, nicht hier!“ flüsterte
+ich ihm zu und griff nach seiner Hand ... „Schonen Sie sie ...! Ich
+komme zurück in die Bibliothek, oder ... wohin Sie wollen?! Sie werden
+sie vernichten!“
+
+„Sie sind es, die sie vernichtet!“ antwortete er, und trat von mir
+zurück.
+
+Alle meine Hoffnungen schienen verloren. Ich begriff, daß er die ganze
+Szene vor Alexandra Michailowna tragen wollte.
+
+„Um Gottes willen!“ rief ich und hielt ihn aus aller Kraft zurück. Doch
+in diesem Augenblick hob sich die Portiere und Alexandra Michailowna
+stand vor uns. Sie sah uns verwundert an. Ihr Gesicht wurde noch
+bleicher. Mit Mühe hielt sie sich auf den Füßen. Es hatte sie viel
+gekostet, bis zu uns zu kommen, als sie unsere Stimme gehört.
+
+„Wer ist da? Wovon redet ihr hier?“ fragte sie, in großer Verwunderung.
+
+Es trat Schweigen ein und sie erbleichte wie ein Leinentuch. Ich stürzte
+auf sie zu, umarmte sie und führte sie zurück in ihr Kabinett. Pjotr
+Alexandrowitsch folgte uns. Ich drückte mein Gesicht an ihre Brust und
+umschlang sie immer fester und fester, ersterbend in Erwartung.
+
+„Was ist mit dir, was ist mit euch?“ fragte noch einmal Alexandra
+Michailowna.
+
+„Fragen Sie sie. Sie haben sie noch gestern so verteidigt,“ sagte Pjotr
+Alexandrowitsch und ließ sich schwer auf einem Sessel nieder.
+
+Ich umklammerte sie immer fester und fester in meiner Umarmung.
+
+„Aber, mein Gott, was bedeutet denn das?“ rief Alexandra Michailowna in
+großem Schrecken angstvoll aus. „Sie zittert ja und ist in Tränen
+aufgelöst. Annjeta sag’ mir doch, was ist zwischen euch geschehen.“
+
+„Nein, erlauben Sie mir zuerst das Wort,“ sagte Pjotr Alexandrowitsch
+und näherte sich uns. Er ergriff mich an der Hand und zog mich von ihr
+fort. „Bleiben Sie dort stehen,“ sagte er und wies in die Mitte des
+Zimmers. „Ich werde Sie richten vor derjenigen, die Ihnen die Mutter
+ersetzte. Und Sie, bitte, beruhigen Sie sich, Alexandra Michailowna, und
+setzen Sie sich in den Lehnstuhl. Mir tut es bitter leid, daß ich Sie
+nicht mit dieser unangenehmen Aufklärung verschonen kann. Denn sie ist
+nötig –!“
+
+„Mein Gott! Was wird das sein?“ murmelte Alexandra Michailowna und sah
+mit qualvollen Augen erst mich, dann ihren Mann an. Ich rang die Hände
+vor diesem verhängnisvollen Augenblick. Von ihm erwartete ich keine
+Schonung.
+
+„Kurz,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch fort, ... „ich wünsche, daß Sie in
+der Sache urteilen. Sie haben immer (und ich weiß nicht warum, das ist
+so eine Ihrer Phantasien), Sie haben immer – noch gestern, zum Beispiel,
+gedacht, gesagt ... ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... ich
+schäme mich dieser Voraussetzungen ... Kurz, Sie haben sie immer
+verteidigt, und mich angegriffen, Sie warfen mir ungerechtfertigte
+Strenge vor; Sie haben dabei noch auf ein anderes Gefühl hingewiesen,
+das mich zu dieser unerlaubten Strenge beeinflusse; Sie ... ja, ich
+begreife nicht, warum ich meiner Aufregung nicht Herr werden kann, warum
+ich erröte bei dem Gedanken an Ihre Anspielungen, warum ich sie nicht
+offen vor ihr auszusprechen vermag ... Kurz, Sie ...“
+
+„Oh, das werden Sie nicht tun! Nein, Sie werden das nicht sagen!“ rief
+Alexandra Michailowna aus, errötend vor Scham. „Nein, Sie werden sie
+schonen. Das habe ich, ich, alles ausgedacht! Ich habe jetzt keinen
+Verdacht mehr. Verzeihen Sie es mir, verzeihen Sie. Ich bin krank, man
+muß mir verzeihen, nur sagen Sie ihr nichts, nein ... Annjeta, gehe fort
+von hier, schnell, schnell! Er scherzt; an alledem bin ich schuld; oh,
+das ist ein böser Scherz ...“
+
+„Kurz, Sie sind auf sie eifersüchtig gewesen,“ warf Pjotr
+Alexandrowitsch erbarmungslos ihr zur Antwort hin.
+
+Sie schrie auf, erbleichte und stützte sich auf den Sessel, kaum noch
+imstande, sich auf den Füßen zu halten.
+
+„Möge Gott Ihnen verzeihen!“ murmelte sie endlich mit schwacher Stimme.
+„Vergib mir für ihn, Njetotschka, vergib; ich bin an allem schuld. Ich
+war krank, ich ...“
+
+„Das ist Grausamkeit, Schamlosigkeit, Niedrigkeit!“ rief ich, außer mir,
+denn ich begriff jetzt alles, alles, begriff vor allem, warum er mich
+vor den Augen seiner Frau richten wollte. „Das ist nur verachtungswürdig
+– Sie ...“
+
+„Annjeta!“ rief Alexandra Michailowna, vor Schreck nach mir greifend.
+
+„Komödie! Komödie und weiter nichts,“ Pjotr Alexandrowitsch trat in
+unbeschreiblicher Erregung auf uns zu. „Komödie, sage ich Ihnen,“
+während er ununterbrochen mit hämischem Lächeln seine Frau ansah, „und
+die Betrogene in dieser ganzen Komödie sind nur – Sie. Glauben Sie, daß
+wir,“ stieß er atemlos hervor und wies auf mich – „solche Erklärungen
+fürchten; glauben Sie, daß wir noch so dumm sind, beleidigt zu sein und
+bis an die Ohren zu erröten, wenn man uns von ähnlichen Dingen redet.
+Entschuldigen Sie bitte, ich drücke mich vielleicht zu einfach, zu
+aufrichtig, zu grob aus, doch – das muß geschehen. Sind Sie denn noch
+immer überzeugt, meine Dame, von der ordentlichen Aufführung dieses ...
+Mädchens?“
+
+„Mein Gott! Was ist Ihnen? Sie vergessen sich!“ murmelte Alexandra
+Michailowna, halb erstarrt vor Schreck.
+
+„Bitte, nicht diese großen Worte!“ unterbrach sie verächtlich Pjotr
+Alexandrowitsch. „Ich liebe das nicht. Hier liegt die Sache sehr
+einfach: gemein bis zur höchsten Gemeinheit. Ich frage Sie nach ihrem
+Betragen: wissen Sie ...“
+
+Doch ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen, ich ergriff ihn an der Hand
+und zog ihn zur Seite. Nur ein Augenblick und – alles war verloren.
+
+„Sagen Sie nichts von dem Brief!“ flüsterte ich ihm zu, „Sie werden sie
+auf der Stelle vernichten. Ein Vorwurf über mich, wird zugleich ein
+Vorwurf für sie sein. Sie kann mich nicht verurteilen, denn ich weiß
+alles ... verstehen Sie, _ich weiß alles_!“
+
+Er sah mich scharf mit durchbohrender Neugier an und – das Blut trat ihm
+ins Gesicht.
+
+„Ich weiß _alles, alles_!“ wiederholte ich.
+
+Er schien noch zu zögern. Auf seinen Lippen lag eine Frage. Ich griff
+vor:
+
+„An allem, was geschehen ist –“ sagte ich laut, mich zu Alexandra
+Michailowna wendend, die uns mit schüchterner, mit trauriger
+Verwunderung ansah, „bin ich allein schuld. Bereits seit vier Jahren
+habe ich Sie betrogen. Ich habe den Schlüssel zur Bibliothek genommen
+und seit vier Jahren lese ich heimlich Bücher. Pjotr Alexandrowitsch hat
+mich überrascht – bei einem Buch ... das sich nicht in meinen Händen
+befinden durfte. Aus Sorge um mich hat er die Gefahr vor Ihnen
+vergrößert! ... Doch, ich will mich nicht verteidigen“ (beeilte ich mich
+hinzuzufügen, als ich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen
+bemerkte): „ich bin an allem schuld. Die Versuchung war stärker als ich,
+und da es einmal geschehen war, schämte ich mich, es Ihnen zu gestehen
+... Das ist alles, fast alles, was zwischen uns vorgefallen ist.“
+
+„O – ho, das ist aber kühn!“ flüsterte neben mir Pjotr Alexandrowitsch.
+
+Alexandra Michailowna hörte mir mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Auf
+ihrem Gesicht spiegelte sich ein Mißtrauen. Sie sah abwechselnd erst
+mich, dann ihren Mann an. Es trat Schweigen ein. Ich wagte kaum zu
+atmen. Sie senkte ihren Kopf auf die Brust und bedeckte die Augen mit
+der Hand, offenbar um jedes Wort zu erwägen, das ich gesprochen hatte.
+Endlich hob sie den Kopf und sah mich forschend an.
+
+„Njetotschka, mein Kind, ich weiß, du verstehst nicht zu lügen,“ sagte
+sie. „Ist das nun alles, was geschehen, wirklich alles?“
+
+„Alles,“ antwortete ich.
+
+„Alles?“ wandte sie sich fragend an ihren Mann.
+
+„Ja, alles,“ antwortete er mit großer Überwindung, „alles!“
+
+Ich atmete auf.
+
+„Du gibst mir das Wort, Njetotschka?“
+
+„Ja,“ antwortete ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
+
+Aber ich konnte mich doch nicht beherrschen und blickte auf Pjotr
+Alexandrowitsch. Er lachte, als er hörte, wie ich mein Wort gab. Ich
+wurde über und über rot und meine Verwirrung konnte der armen Alexandra
+Michailowna nicht entgehn. Ein qualvolles Leid drückte sich auf ihrem
+Gesicht aus.
+
+„Genug,“ sagte sie traurig. „Ich glaube euch. Wie sollte ich euch nicht
+glauben?“
+
+„Ich denke, ein solches Geständnis genügt,“ bemerkte Pjotr
+Alexandrowitsch. „Sie haben’s gehört? Was glauben Sie wohl?“
+
+Alexandra Michailowna schwieg. Die Situation wurde immer unerträglicher
+und unerträglicher.
+
+„Ich werde morgen alle Bücher durchsehen,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch
+fort. „Ich weiß nicht, um was es sich dort noch handelte; aber ...“
+
+„Welches Buch las sie denn?“ fragte Alexandra Michailowna.
+
+„Welches Buch? Antworten Sie doch,“ wandte er sich an mich. „Sie
+verstehen es ja besser, die Sache zu erläutern,“ fügte er mit
+verhaltenem Spott hinzu.
+
+Ich verlor meine Fassung und konnte kein Wort mehr hervorbringen.
+Alexandra Michailowna errötete und schlug die Augen nieder. Es folgte
+ein langes Schweigen. Pjotr Alexandrowitsch ging geärgert im Zimmer auf
+und ab.
+
+„Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorging,“ begann endlich Alexandra
+Michailowna, zaghaft jedes Wort aussprechend – „doch wenn das wirklich
+alles gewesen ist,“ fuhr sie fort, bemüht, jedem Wort einen besonderen
+Nachdruck zu geben, während sie gleichzeitig vermied, ihn anzusehen, da
+der unbewegliche Blick ihres Mannes sie immer mehr verwirrte, „wenn es
+nur das _gewesen ist_, dann weiß ich nicht, warum wir uns so quälen und
+darüber fast verzweifeln wollen. Schuld daran bin nur ich, ich allein,
+und das schmerzt mich sehr. Ich habe ihre Erziehung auf mich genommen,
+ich muß auch für sie verantworten. Sie muß mir daher meine
+Nachlässigkeit verzeihen. Ich wage es nicht, sie zu verurteilen. Und
+doch, worüber sollen wir uns jetzt noch aufregen? Die Gefahr ist ja
+vorüber. Sehen Sie sie doch an: hat ihre unvorsichtige Handlungsweise
+auch nur irgendwelche Folgen hinterlassen? Als ob ich mein Kind, meine
+geliebte Tochter nicht kennte? Weiß ich denn nicht, daß ihr Herz rein
+und edel ist, und daß in diesem lieben Köpfchen,“ fuhr sie fort, indem
+sie mich zu sich heranzog und mich streichelte, „der Verstand rein und
+hell ist ... Laßt gut sein, meine Lieben! Hören wir damit auf! Offenbar
+liegt etwas anderes in unserem Kummer, vielleicht lag auf uns allen nur
+ein vorübergehender Schatten. Aber wir wollen durch Liebe und durch
+unser gutes Einvernehmen alle Mißverständnisse zerstreuen. Vielleicht
+ist vieles unausgesprochen zwischen uns und ich bin vor allem schuld
+daran. In mir sind zuerst, weiß Gott was für Verdächtigungen
+aufgestiegen, an denen nur mein armer kranker Kopf schuld ist ... Und
+... und, wenn ich sie auch zum Teil schon ausgesprochen habe, so müßt
+ihr sie mir beide verzeihen, weil ... weil die Sünde doch nicht so groß
+ist, wenn ich vermutete ...“
+
+Sie errötete und sah schüchtern ihren Mann an und erwartete mit Bangen
+ein Wort von ihm. Während sie sprach, lag ein spöttisches Lächeln auf
+seinen Lippen. Er brach seinen Gang durch das Zimmer ab und stellte sich
+gerade vor sie hin, die Hände auf dem Rücken. Er betrachtete sie in
+ihrer Erregung und ergötzte sich an ihr; als sie aber seinen
+unverwandten Blick auf sich ruhen fühlte, wurde sie verwirrt. Er blieb
+ruhig stehen, als erwartete er noch irgend etwas. Ihre Erregung
+verdoppelte sich. Endlich unterbrach er diese erdrückende Szene durch
+ein leises, anhaltendes boshaftes Lachen:
+
+„Mir tun Sie leid, arme Frau!“ sagte er endlich, bitter und ernst,
+nachdem er zu lachen aufgehört hatte. „Sie spielen eine Rolle, der Sie
+nicht gewachsen sind. Was wollen Sie im Grunde genommen? Sie wollen mir
+wieder neue Verdächtigungen unterschieben, oder, besser gesagt, die
+alten Verdächtigungen, die Sie nur mangelhaft in ihren Worten verbergen
+können. Der Sinn Ihrer Worte ist der, daß kein Grund vorhanden sei, ihr
+böse zu sein, daß sie rein und gut sei auch nach der Lektüre
+unsittlicher Bücher, deren Moral – das sage ich von mir aus – bereits
+etliche Früchte gezeitigt zu haben scheint; und schließlich, daß Sie
+selber für sie einständen; war es nicht so? Und dann – nachdem Sie das
+erklärt, deuten Sie noch etwas anderes an. Sie denken, mein Argwohn und
+meine Feindseligkeit entsprängen einem gewissen anderen Gefühl. Sie
+deuteten mir gestern sogar an – bitte, unterbrechen Sie mich nicht, ich
+liebe es, alles offen auszusprechen – Sie deuteten gestern an, daß bei
+manchen Menschen (nach Ihrer Bemerkung, wenn ich mich recht erinnere,
+wären diese Leute in der Regel gesetzte, ernste, gerade, kluge, starke
+Menschen und Gott weiß was für Vorzüge Sie Ihnen in einer Anwandlung von
+Großmut noch gaben!), daß bei gewissen Menschen also, sage ich, die
+Liebe (und Gott weiß wozu Sie sich das ersannen!) sich auch gar nicht
+anders äußern könne, als eben schroff, heftig, verletzend, oft mit
+Argwohn und Feindseligkeit gepaart. Übrigens entsinne ich mich nicht
+mehr genau, ob Sie sich gerade mit diesen Worten ausdrückten ... Bitte,
+unterbrechen Sie mich nicht; ich kenne Ihren Zögling ausgezeichnet: sie
+darf bereits alles hören, alles, wiederhole ich Ihnen zum hundertsten
+Mal, – alles! Sie sind betrogen. Doch ich begreife nicht, warum es Ihnen
+beliebt, auf der Behauptung zu bestehen, daß gerade ich solch ein Mensch
+sei! – weshalb Sie gerade mich mit diesem Narrenhemd aufputzen wollen!
+Liebe zu diesem jungen Mädchen steht meinen Jahren nicht mehr an; ja und
+schließlich kann ich Sie versichern, meine Gnädigste, daß _ich weiß, was
+meine Pflicht ist_, und wie großmütig Sie mich auch entschuldigen
+wollten, ich bleibe dabei, was ich gesagt habe: _daß ein Verbrechen
+immer ein Verbrechen, eine Sünde immer eine Sünde, immer eine
+schmutzige, ehrlose Schandtat sein wird, auf welche Stufe der Größe und
+Herrlichkeit Sie das lasterhafte Gefühl auch erheben mögen_! Doch genug!
+Genug davon! Und daß mir nichts mehr von diesen Schändlichkeiten zu
+Ohren kommt!“
+
+Alexandra Michailowna weinte.
+
+„Mag das mir gesagt sein, mag ich das verdient haben und tragen – ich
+will’s ja!“ sagte sie, indem sie mich unter Schluchzen umarmte. „Mögen
+meine Vermutungen schlecht und schändlich gewesen sein, daß Sie so
+grausam über sie spotten können! Aber du, mein armes Kind, wofür bist du
+verurteilt, solche Kränkungen zu hören? Und ich kann dich nicht einmal
+beschützen! Ich muß stumm sein! Mein Gott! – nein! ich kann nicht
+schweigen, das können Sie nicht von mir verlangen! Ich ertrage es nicht
+... Ihr Benehmen ist widersinnig! ...“
+
+„Lassen Sie, lassen Sie, beruhigen Sie sich nur!“ redete ich ihr
+flüsternd zu, um sie in ihrer Aufregung zu beschwichtigen, denn ich
+fürchtete, daß Vorwürfe von ihr ihn um seine letzte Beherrschung bringen
+würden.
+
+„Aber Sie blindes Weib! ...“ rief er denn auch heftig, „Sie wissen ja
+nicht, Sie sehen ja nicht ...“
+
+Er stockte einen Augenblick.
+
+„Fort von ihr!“ befahl er heftig und riß meine Hand aus den Händen
+Alexandra Michailownas. „Ich gestatte Ihnen nicht, meine Frau zu
+berühren! Ihre Berührung besudelt! Ihre Anwesenheit ist eine Beleidigung
+für sie! Aber ... ja aus welchem Grunde soll ich schweigen, wo doch
+alles ausgesprochen werden muß!“ rief er, mit dem Fuß stampfend. „Und
+ich werde es sagen, ich werde alles sagen. Ich weiß nicht, was Sie da
+_wissen_, mein gnädiges Fräulein, und womit Sie mir drohen wollten, und
+ich will es auch nicht wissen. So hören Sie denn ...“ fuhr er fort, sich
+an Alexandra Michailowna wendend.
+
+„Schweigen Sie!“ rief ich, und ich hätte mich fast auf ihn gestürzt,
+„schweigen Sie! Sie sagen kein Wort!“
+
+„So hören Sie denn ...“
+
+„Schweigen Sie!! Im Namen ...“
+
+„Im Namen wessen, mein Fräulein?“ griff er das Wort blitzschnell auf und
+sah mir eine Sekunde lang durchdringend in die Augen. „Im Namen wessen?
+... So hören Sie denn – ich habe ihr einen Brief ihres Geliebten
+entrissen! Jetzt wissen Sie, was in unserem Hause geschieht! Nun haben
+Sie es gehört, was unmittelbar neben Ihnen sich zuträgt! Das war es, was
+Sie nicht gesehen, nicht bemerkt haben!“
+
+Ich hielt mich kaum auf den Füßen. Alexandra Michailowna wurde
+totenblaß.
+
+„Das kann nicht sein,“ stammelte sie, kaum hörbar.
+
+„Ich habe diesen Brief gesehen, ich habe ihn in der Hand gehabt und die
+ersten Zeilen gelesen – von einer Täuschung kann also keine Rede sein.
+Der Brief war von einem Geliebten. Sie entriß ihn mir und jetzt ist er
+wieder in ihrem Besitz. Die Sache ist so klar, sie liegt ja auf der
+Hand! Und wenn Sie noch zweifeln, so sehen Sie sie doch nur an und dann
+versuchen Sie, auch nur auf den Schatten eines Zweifels noch zu hoffen!“
+
+„Njetotschka!“ schrie Alexandra Michailowna plötzlich auf. „Nein, nein,
+sag’ nichts, sprich nichts! Ich weiß nicht, was gewesen ist, was ... wie
+... mein Gott, mein Gott!“
+
+Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte.
+
+„Nein! Das ist nicht möglich!“ rief sie wieder. „Sie haben sich geirrt.
+Das ... das ... ich weiß, was das bedeutet!“ sagte sie plötzlich
+langsam, während sie ihren Mann mit unverwandtem Blick ansah. „Sie ...
+ich ... konnte nicht, – nein, du wirst mich nicht betrügen, du kannst
+mich nicht betrügen! Erzähl’ mir alles, sag’ mir alles: er hat sich doch
+geirrt? Ja, nicht wahr, er hat sich geirrt? Er hat etwas anderes
+gesehen, er war verblendet? Ja, nicht wahr? Nicht wahr? Höre: warum
+solltest du mir nicht alles sagen, Annjeta, mein Kind, mein liebes
+Kind?“
+
+„Antworten Sie, antworten Sie schnell!“ ertönte über mir die Stimme
+Pjotr Alexandrowitschs. „Antworten Sie: habe ich oder habe ich nicht den
+Brief in Ihren Händen gesehen?“
+
+„Ja!“ antwortete ich atemlos vor Aufregung.
+
+„Dieser Brief war von Ihrem Geliebten?“
+
+„Ja!“
+
+„Mit dem Sie auch jetzt in Verbindung stehen?“
+
+„Ja, ja, ja!“ sagte ich schon außer mir, bestätigte alles blindlings,
+nur um unserer Qual ein Ende zu machen.
+
+„Haben Sie gehört? Nun, und was sagen Sie jetzt! Glauben Sie mir, Sie
+mit Ihrem guten, allzu vertrauensseligen Herzen,“ fügte er hinzu und
+nahm die Hand seiner Frau, „glauben Sie mir und sehen Sie Ihren Irrtum
+ein, – Ihren Irrtum in allem, was Ihre kranke Phantasie Ihnen
+vorgegaukelt hat. Sie sehen jetzt, wer dieses ... Mädchen ist. Ich
+wollte nur Ihre Vermutungen ^ad absurdum^ führen. Ich habe das alles
+schon längst bemerkt und es freut mich, daß ich sie endlich vor Ihnen
+entlarvt habe. Es war mir schwer, sie neben Ihnen zu sehen, in Ihren
+Armen, an einem Tisch mit uns, ja, in meinem Hause. Und Ihre Blindheit
+empörte mich. Deshalb, und zwar nur deshalb, schenkte ich ihr überhaupt
+meine Aufmerksamkeit und beobachtete sie; und diese Aufmerksamkeit haben
+Sie bemerkt; und nachdem Sie Gott weiß was für einen Verdacht als Grund
+angenommen, haben Sie dann auf dieser Grundlage in Ihrer Einbildung
+weitergebaut. Doch jetzt ist die Sache aufgeklärt, alle Zweifel sind
+widerlegt, und morgen, mein Fräulein, morgen noch werden Sie nicht mehr
+in meinem Hause sein!“ schloß er, sich an mich wendend.
+
+„Halten Sie ein!“ sagte Alexandra Michailowna und sie erhob sich. „Ich
+traue dieser ganzen Szene nicht. Sehen Sie mich nicht so zornig an,
+lachen Sie nicht über mich. Ich rufe Sie selbst zum Richter auf, ich
+will nur meine Meinung sagen. Annjeta, mein Kind, komm zu mir, gib mir
+deine Hand, so. Niemand ist ohne Fehl, wir sind alle sündig!“ sagte sie
+mit einer Stimme, in der Tränen zitterten, und sie sah gleichsam demütig
+zu ihrem Mann auf. „Und wer von uns darf jemandes Hand von sich stoßen?
+Gib mir doch deine Hand, Annjeta, mein liebes Kind! Ich bin nicht
+würdiger, nicht besser als du; du kannst mich nicht durch deine
+Gegenwart kränken, denn ich bin gleichfalls, _gleichfalls eine
+Sünderin_.“
+
+„Meine Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch betroffen. „Was reden Sie!
+Vergessen Sie nicht! ...“
+
+„Ich vergesse nichts. Unterbrechen Sie mich nicht, lassen Sie mich zu
+Ende sprechen. Sie haben in ihren Händen einen Brief gesehen, Sie haben
+ihn sogar gelesen; Sie sagen – und sie ... hat gestanden, daß dieser
+Brief von demjenigen sei, den sie liebt. Aber beweist denn das, daß sie
+sich vergangen habe? Gibt Ihnen denn das schon das Recht, sie so zu
+behandeln, sie so in Gegenwart Ihrer Frau zu beleidigen? Ja, mein Herr,
+in Gegenwart Ihrer Frau? Haben Sie denn schon alles ergründet? Wissen
+Sie denn schon, wie sich das alles verhält?“
+
+„Ja was! – jetzt soll ich sie wohl noch um Verzeihung bitten? Ist es
+das, was Sie wollen?“ rief Pjotr Alexandrowitsch wütend. „Ich danke, ich
+habe die Geduld verloren über Ihrem Gerede! Und wissen Sie überhaupt,
+von wem Sie reden, was und _wen_ Sie verteidigen? Ich durchschaue doch
+alles ...“
+
+„Und sehen doch nicht einmal die Hauptsache, weil Ihr Zorn und Ihr Stolz
+Sie blenden. Sie sehen das nicht, was ich verteidige und wovon ich rede.
+Nicht das Laster verteidige ich. Doch haben Sie auch bedacht – und das
+werden Sie einsehen, sobald Sie nachdenken – haben Sie bedacht, daß sie
+vielleicht wie ein Kind unschuldig und unwissend ist! Noch einmal, nicht
+das Laster verteidige ich! Ich beeile mich, mich zu rechtfertigen, wenn
+Ihnen das erwünscht ist. Ja, wenn sie Gattin, wenn sie Mutter wäre und
+ihre Pflichten vergessen hätte –, dann würde ich Ihnen beistimmen ...
+Sie sehen, ich rechtfertige mich. So vergessen Sie das nicht und machen
+Sie mir keine Vorwürfe! Wenn sie aber diesen Brief erhalten hat, ohne
+etwas Böses zu ahnen? Wenn sie sich in ihrer Unerfahrenheit nur von
+einem großen Gefühl hat verleiten lassen und weil sie keinen Menschen
+fand, der sie zurückgehalten hätte? Wenn vielleicht gerade mich die
+größte Schuld trifft, weil ich ihr Herz nicht behütet habe? Wenn dieser
+Brief der erste war? Wenn Sie mit Ihrem rohen Verdacht ihr mädchenhaft
+reines Empfinden verletzt haben? Wenn Sie ihre jugendliche Phantasie mit
+Ihren zynischen Reden und Bemerkungen über diesen Brief beschmutzt
+haben? – wenn Sie nicht sehen oder nicht sehen wollen, daß in diesem
+keuschen mädchenhaften Antlitz nichts als Reinheit und Unschuld ist und
+bange mädchenhafte Scham, – die Scham, die ich jetzt erkenne, die ich
+auch dann erkannte, als sie wie verloren in dieser Pein nicht wußte, was
+sie sagte, und in ihrer Herzensangst auf alle Ihre unmenschlichen Fragen
+mit diesem ‚Ja, ja, ja!‘ antwortete. Das war unmenschlich von Ihnen, das
+war grausam; ich erkenne Sie nicht wieder; das werde ich Ihnen niemals,
+niemals verzeihen!“
+
+„Ach, erbarmen Sie sich, erbarmen Sie sich!“ rief ich beschwörend, und
+ich drückte sie mit meinen Armen fest an mich. „Hören Sie auf, glauben
+Sie mir, verstoßen Sie mich nicht ...“
+
+Ich fiel vor ihr auf die Knie.
+
+„Und wenn,“ fuhr sie atemlos fort, „wenn nun ich nicht bei ihr wäre,
+wenn Sie sie mit Ihren Worten erschreckt hätten und die Arme jetzt
+selbst glaubte, sie sei schuldig, wenn Sie ihr Gewissen, ihre Seele
+verwirrt, die Ruhe ihres Herzens zerstört hätten ... Mein Gott! Und Sie
+wollten sie aus dem Hause jagen! Aber wissen Sie denn nicht, mit wem man
+das tut? Sie wissen, daß Sie, wenn Sie sie aus dem Hause jagen, dann uns
+beide, uns zusammen fortjagen, – mich gleichfalls. Haben Sie gehört,
+mein Herr?“
+
+Ihre Augen blitzten, ihre Brust arbeitete schwer; ihre krankhafte
+Erregung steigerte sich bis zur letzten Krisis ...
+
+„Jetzt habe ich aber wahrlich genug gehört, meine Gnädigste!“ rief Pjotr
+Alexandrowitsch, „genug davon! Ich weiß, es gibt platonische
+Leidenschaften – und weiß das zu meinem Verderben, meine Gnädigste!
+Hören Sie? – zu meinem Verderben! Aber ich bedanke mich dafür, mit
+diesem vergoldeten Laster unter einem Dach zu leben! Ich verstehe es
+nicht. Und deshalb – fort mit ihm! Und wenn Sie sich schuldig fühlen,
+wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt sind (nicht an mir ist es, Sie
+zu erinnern, meine Gnädigste), wenn Ihnen der Gedanke gefällt, mein Haus
+zu verlassen ... so bleibt mir nichts weiter übrig, als zu sagen, als
+Sie daran zu erinnern, daß Sie bedauerlicherweise vergessen haben, Ihre
+Absicht auszuführen, als es die rechte Zeit war, die eigentliche Zeit,
+vor Jahren, schon vor ... sollten Sie das Datum vergessen haben, so kann
+ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen ...“
+
+Ich sah sie an. Sie stützte sich krampfhaft auf mich, vergehend vor
+Seelenschmerz, die Augen halb geschlossen, in unmenschlicher Qual. Noch
+ein Moment – und sie wäre hingefallen.
+
+„Oh, um’s Himmels willen, haben Sie wenigstens diesmal Erbarmen! Sagen
+Sie nicht das letzte Wort!“ rief ich außer mir und warf mich Pjotr
+Alexandrowitsch zu Füßen, ohne daran zu denken, was ich tat: doch – es
+war schon zu spät. Nur ein leiser Schrei ertönte als Antwort auf meine
+Worte und die Arme fiel bewußtlos hin.
+
+„Da! Sie haben sie getötet!“ sagte ich. „Rufen Sie zu Hilfe, retten Sie
+sie! – Ich erwarte Sie in Ihrem Kabinett. Ich muß mit Ihnen sprechen:
+ich werde Ihnen alles sagen ...“
+
+„Ja, was? Ja, was denn?“
+
+„Später!“
+
+Die Ohnmacht dauerte zwei Stunden. Das ganze Haus war in Aufregung. Der
+Arzt schüttelte zweifelnd das Haupt. Nach zwei Stunden ging ich ins
+Kabinett zu Pjotr Alexandrowitsch. Er war soeben erst von seiner Frau
+gekommen. Jetzt ging er im Zimmer auf und ab, biß sich die Lippen fast
+blutig und sah bleich und verstört aus. Ich hatte ihn noch nie so
+gesehen.
+
+„Was wollen Sie mir denn sagen?“ fragte er mich schroff. „Sie sagten
+vorhin ...!“
+
+„Hier ist der Brief, den Sie mir entrissen. Sie erkennen ihn doch?“
+
+„Ja.“
+
+„Nehmen Sie ihn.“
+
+Er nahm den Brief und führte ihn ans Licht. Ich beobachtete ihn
+aufmerksam. Nach wenigen Sekunden drehte er den Brief hastig um und sah
+nach der Unterschrift. Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß.
+
+„Was ist das?“ fragte er mich starr vor Betroffenheit.
+
+Ich blieb ihm die Antwort nicht schuldig.
+
+„Vor drei Jahren fand ich diesen Brief in einem Buch. Ich erriet, daß er
+vergessen war, las ihn und – erfuhr alles. Ich behielt ihn, denn ich
+wußte niemanden, dem ich ihn hätte geben können. Ihr konnte ich ihn
+nicht geben. Ihnen? Doch Ihnen konnte der Inhalt dieses Briefes nicht
+unbekannt sein, er aber enthält die ganze traurige Lebensgeschichte ...
+Welchen Zweck nun Ihre Verstellung hatte – das weiß ich nicht –, das ist
+mir vorläufig noch unklar. Noch durchschaue ich Ihre dunkle Seele nicht
+ganz. Sie wollten Ihre Überlegenheit bewahren – und das ist Ihnen denn
+auch gelungen. Aber wozu? Um über ein Wahnbild den Sieg davonzutragen,
+um über eine Kranke zu herrschen, um ihr zu beweisen, daß sie sich
+verirrt habe und daß Sie dagegen _sündlos_ vor ihr ständen! Und Sie
+haben Ihren Zweck erreicht, denn dieser Verdacht ist – zur fixen Idee
+eines erlöschenden Geistes geworden, ist vielleicht die letzte Klage
+eines gebrochenen Herzens über die Ungerechtigkeit des Urteils der
+Menschen, mit dem Sie übereinstimmten. ‚Was ist denn dabei Schlimmes,
+daß Sie mich liebten?‘ Das war es, was sie sagte, das wollte sie Ihnen
+beweisen. Aber Ihr Stolz, Ihr eifersüchtiger Egoismus waren
+unbarmherzig. Leben Sie wohl. Weitere Erklärungen sind nicht nötig! Aber
+nehmen Sie sich in acht, ich kenne Sie jetzt, ich durchschaue Sie,
+vergessen Sie das nicht!“
+
+Ich ging auf mein Zimmer – fast bewußtlos. An der Türe hielt mich
+Owroff, der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs, auf.
+
+„Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ sagte er mit einer höflichen
+Verbeugung.
+
+Ich sah ihn an und begriff nicht gleich, was er sagte.
+
+„Später, entschuldigen Sie mich, ich fühle mich nicht wohl,“ sagte ich
+schließlich und ging an ihm vorbei.
+
+„Also dann morgen,“ sagte er und machte seine Verbeugung mit einem
+zweideutigen Lächeln.
+
+Vielleicht schien es mir aber auch nur so? Es war fast wie eine Vision,
+die vor meinen Augen flüchtig auftauchte ...
+
+
+
+
+ Der Bettelknabe
+
+
+Kinder sind ein seltsames Volk: sie drängen sich in Träume und Gedanken.
+Vor Weihnachten und dann wieder am Christabend selbst begegnete mir
+regelmäßig an einer bestimmten Straßenecke ein kleiner Knabe, der gewiß
+nicht älter war als, sagen wir, etwa siebenjährig. Trotz der grimmigen
+Kälte war er fast sommermäßig gekleidet, doch um den Hals war ihm
+irgendein altes abgetragenes Zeug gewickelt – also mußte ihn doch jemand
+ausrüsten, bevor er hinausgeschickt wurde. – Er ging „mit dem Händchen“:
+so lautet der technische Ausdruck und er bedeutet – betteln. Den
+Ausdruck haben diese Knaben selbst erfunden. Solcher Knaben, wie er,
+gibt es eine Menge, sie laufen einem überall in den Weg und jammern
+etwas Auswendiggelerntes; dieser aber jammerte nicht und sprach auch
+gewissermaßen unschuldig und außergewöhnlich, und seine Augen sahen mich
+voll Vertrauen an – also mußte er noch ein Anfänger sein. Auf meine
+Fragen antwortete er, daß er eine Schwester habe; sie sitze ohne Arbeit
+und sei krank. Vielleicht sagte er die Wahrheit, nur erfuhr ich später,
+daß es solcher Knaben unzählige gibt; sie werden „mit dem Händchen“ auf
+die Straße geschickt, auch in der fürchterlichsten Kälte, und wenn sie
+nichts erbetteln, so setzt es natürlich Hiebe. Hat der Knabe ein paar
+Kopeken eingesammelt, dann kehrt er mit frosterstarrten Händen in
+irgendeinen Kellerraum zurück, wo irgendeine Bande säuft – eine von
+jenen, die, wie es heißt, „Sonnabends nach Arbeitschluß in den Fabriken
+den Sonntag zu feiern anfangen und nicht vor dem Mittwochabend zur
+Arbeit zurückkehren“. Dort, in den Kellern, trinken mit ihnen auch ihre
+hungernden und geprügelten Weiber, dort schreien auch ihre hungrigen
+kleinen Kinder nach der Mutterbrust. Schnaps und Schmutz und
+Ausschweifung, aber vor allem – Schnaps: die sind dort zu finden. Mit
+den erbettelten Kopeken wird der Knabe sogleich in die nächste Schenke
+geschickt und muß ihnen noch mehr Schnaps bringen. Zum Scherz gießen sie
+dann auch ihm das Feuerwasser in den Mund und gröhlen vor Lachen, wenn
+es ihm den Atem verschlägt und er in die Knie bricht und fast erstickt
+an der Abscheulichkeit, über der ihm Hören und Sehen vergeht.
+
+ „... und in den Mund das Greuliche
+ Erbarmungslos mir goß ...“[3]
+
+Ist er ein wenig herangewachsen, so wird er in eine Fabrik gesteckt,
+doch alles, was er erarbeitet, muß er wieder in den Keller bringen, und
+jene setzen das Geld weiter in Branntwein um. Doch schon bevor sie in
+die Fabrik kommen, sind diese Kinder kleine Verbrecher. Sie
+durchstreifen die Stadt und kennen die verschiedensten Schlupfwinkel in
+Kellern und Schuppen und auf Höfen, wo man unbemerkt nächtigen kann. Hat
+doch ein Kleiner bei einem Hofknecht mehrere Nächte in einem Holzkorb
+geschlafen, ohne daß der Knecht es gewahr wurde. In erster Linie sind
+sie natürlich kleine Diebe. Das Stehlen wird bei ihnen zur Leidenschaft,
+sogar bei Achtjährigen, und nicht selten ohne jedes Bewußtsein von dem
+Verbrecherischen der Tat. Zu guter Letzt lernen sie alles ertragen –
+Hunger, Kälte, Schläge – nur für das eine: für ihre Freiheit, und bald
+laufen sie von ihren Aussaugern fort, um dann schon von sich aus, aus
+eigenem Antriebe und zum eigenen Vergnügen zu vagabundieren. Solch ein
+junger Wildling weiß oft so gut wie nichts, weder in welchem Lande er
+wohnt, zu welcher Nation er gehört, ob es einen Gott gibt, einen Zaren;
+ja man erzählt sogar solche Unwissenheit von ihnen, daß man es nicht
+glauben will – und dennoch sind dies alles Tatsachen.
+
+
+ Der Knabe im Himmel zum Christfest.
+
+Doch ich bin ein Schriftsteller, und ich glaube, diese „Geschichte“ habe
+ich selbst erfunden. Da schreibe ich: „ich glaube“, und weiß doch genau,
+daß ich sie selber erfunden habe; aber es scheint mir die ganze Zeit,
+daß sie irgendwo irgendwann wirklich geschehen sei und zwar gerade am
+Christabend in _irgendeiner_ großen, großen Stadt und bei grimmiger
+Kälte.
+
+Ich sehe einen Knaben, aber einen noch ganz kleinen, etwa von sechs
+Jahren oder noch jünger. Dieser kleine Knabe erwachte an jenem Tage in
+einem feuchten und kalten Keller. Er hatte nur ein altes Kittelchen an
+und zitterte vor Kälte. Er sah seinen Atem, der wie weißer Dampf seinem
+Munde entströmte, und da es langweilig war, auf dem Koffer im Winkel zu
+sitzen, so hauchte er absichtlich diesen Atem recht stark heraus und sah
+dann zu, wie der Dampf sich ballte und verschwand. Aber er hatte Hunger
+und wollte etwas essen. Er war seit dem Morgen schon mehrmals zu der
+Lagerstätte gegangen, wo auf einem alten, wie eine Hand dünnen
+Schlafsack, irgendein Bündel als Kissen unter dem Kopf, seine kranke
+Mutter lag. Wie sie hierher kam? Vermutlich war sie mit ihrem Knaben aus
+einer anderen Stadt gekommen und hier erkrankt. Die Winkelvermieterin
+des Kellers war schon vor zwei Tagen von der Polizei abgeführt worden;
+und die anderen Winkelmieter hatten sich verlaufen, nur einer von ihnen
+lag dort seit vierundzwanzig Stunden, noch bevor die Feiertage anbrachen
+– schon stocksteif besoffen. In einem anderen Winkel ächzte vor
+Rheumatismus eine Achtzigjährige, die irgendeinmal irgendwo als
+Kinderfrau gelebt hatte, jetzt aber einsam und stöhnend auf den Tod
+wartete; sie brummte und schalt immer auf den Knaben, so daß dieser sich
+fürchtete, ihrem Winkel zu nah zu kommen. Auf dem Flur fand er etwas zu
+trinken, aber eine Brotkruste war nirgends zu finden, und wohl zum
+zehnten Mal versuchte er, seine Mutter aufzuwecken. Ihm wurde
+schließlich bange in der Dunkelheit: es war schon längst dunkel
+geworden, doch niemand machte Licht. Als seine Hand das Gesicht seiner
+Mutter berührte, wunderte er sich, daß es so kalt war wie die Wand. „Das
+ist hier aber mal kalt!“ dachte er, sann ein Weilchen, während seine
+Hand unbewußt auf der Schulter der Toten ruhte, dann hauchte er auf
+seine Fingerchen, um sie zu wärmen, und dabei fiel ihm sein Mützchen
+ein, das auf seinem Lager lag; das setzte er sich auf den Kopf – und
+plötzlich kam es ihm in den Sinn, den Kellerraum zu verlassen, und er
+ging tastend zur Tür. Er wäre vielleicht sogar schon früher aus dem
+Keller gegangen, aber er fürchtete den großen Hund, der ihm oben den
+Ausgang versperrte und die ganze Zeit kläffte. Jetzt war es still, der
+Hund war nicht zu sehen, und eh’ er sich dessen versah, stand der Kleine
+auf der Straße.
+
+O Gott! Was war das für eine Stadt! Noch nie hatte er Ähnliches gesehen!
+Dort, von wo er mit der Mutter gekommen war, war es so finster in der
+Nacht: auf eine ganze Straße kam nur eine einzige Laterne. Die Fenster
+der niedrigen Häuser wurden abends mit Läden verschlossen; auf der
+Straße war, sobald nur die Dämmerung sank, niemand mehr zu sehen, alle
+schlossen sich in den Häusern ein und nur die Hunde, die es zu Hunderten
+und Tausenden gab, bellten und heulten die ganze Nacht. Doch dafür war
+es dort warm und man gab ihm zu essen, hier aber – ach, wenn er nur
+etwas zu essen bekäme! Und was ist das nur für ein Lärm und Gesumm, und
+wieviel Licht und Menschen und Pferde und Wagen – und die Kälte, die
+Kälte! Aus den Nüstern der heißgejagten Tiere strömt weißer Dampf, durch
+den weichen lockeren Schnee schlagen die Hufe zuweilen hellklingend auf
+das Steinpflaster, und wie die Menschen sich alle drängen, und, lieber
+Gott, wie gern er etwas essen würde, wenn auch nur ein kleines
+Stückchen, gleichviel was, und die Fingerchen schmerzten so sehr. An ihm
+vorbei ging ein Hüter der Ordnung und wandte sich ab, um den Knaben
+nicht zu bemerken.
+
+Und da ist wieder eine andere Straße – oh, und wie breit sie ist! Hier
+ist es aber wirklich schön! Wie sie doch alle lärmen und laufen und
+fahren, und Licht, wieviel Licht hier ist! Aber was ist denn das? Oh –
+was für ein großes Fenster, und hinter dem Fenster ist ein Zimmer, ein
+großes Zimmer, und in diesem Zimmer ist ein Baum bis an die Decke, ein
+Christbaum, eine große Tanne, und an der flimmern so viele Flämmchen, so
+viele goldene Sachen, und hängen Äpfel, und ringsum sind lauter Püppchen
+und Pferdchen, und Kinder laufen im Zimmer umher und alle sind sie so
+festlich angekleidet, so sauber und schön, und sie lachen und spielen
+und trinken und essen schönes, schönes Naschwerk. Und dort tanzt jetzt
+ein kleines Mädchen mit einem kleinen Knaben – was für ein schönes
+kleines Mädchen! Und da hört man auch Musik, durch das Fenster mit den
+großen Scheiben hört man sie ganz deutlich. Und der kleine Junge schaut
+und wundert sich und schon lacht er, und doch schmerzen ihm schon seine
+Füßchen und Zehen, und die Fingerchen an den Händen sind schon ganz rot,
+schon wollen sich die Gelenke nicht mehr biegen und das Bewegen tut weh,
+nur denkt er jetzt nicht daran. Aber dann spürt er plötzlich doch
+wieder, daß ihm die Händchen so schmerzen, und er fängt an zu weinen und
+läuft weiter, und wieder sieht er durch ein Fenster ein Zimmer und dort
+sind mehrere solcher Bäume, aber nicht so große, und auf den Tischen
+sind lauter Kuchen und Kuchen, rote und gelbe und weiße und braune und
+hinter dem langen Tisch stehen vier reich gekleidete Damen, und jedem,
+der an den Tisch kommt, geben sie von ihren schönen Kuchen, die Tür aber
+öffnet sich jeden Augenblick und viele Menschen gehen von der Straße zu
+ihnen hinein. Der Knabe steht und guckt, und wie die Tür sich wieder
+öffnet, da schlüpft auch er hinein. Ach! wie man ihm böse ist, ihn
+anschreit und fortjagt! Eine von den Damen kommt schnell auf ihn zu,
+gibt ihm eine Kopeke und dann öffnet sie selbst die Tür und schickt ihn
+hinaus auf die Straße. Wie er erschrak! Die Kopeke aber fiel ihm gleich
+aus der Hand, und schlug klingend auf die Treppenstufe: er konnte seine
+blauroten Fingerchen nicht mehr biegen, um das Geld zu halten. Und der
+Knabe läuft auf die Straße und geht schnell weiter – so schnell er kann,
+aber wohin, das weiß er nicht. Er möchte auch wieder weinen, aber er
+wagt es nicht, und er läuft und läuft und haucht auf die Fingerchen. Und
+so traurig wird er, so bitter traurig darüber, daß er sich so allein und
+verlassen fühlt, und eine Bangigkeit will über ihn kommen, doch
+plötzlich – ja was ist das? was ist denn da wieder zu sehen? Da stehen
+die Menschen dicht gedrängt und staunen: hinter den Scheiben eines
+großen Fensters stehen drei kleine Puppen in roten und grünen Kleidchen
+und sind ganz, ganz wie lebendig! Und ein alter kleiner Mann sitzt dort
+und spielt auf einer großen Geige, oder es sieht wenigstens so aus, als
+spiele er, und noch zwei andere stehen dort und spielen auf kleinen
+Geigen und nicken dazu im Takt mit den Köpfen und sehen einander an, und
+ihre Lippen bewegen sich, als ob sie sprächen – nur hört man das eben
+nicht durch die Fensterscheiben. Zuerst dachte der Knabe, daß sie alle
+wirklich lebendig seien, als er aber dann erriet und sich überzeugte,
+daß es „nur Püppchen“ waren – da mußte er lachen. Er hatte so etwas noch
+nie gesehen und gar nicht gewußt, daß es solche Püppchen gab! Und er
+will doch auch weinen, aber zugleich muß er lachen – lachen über die
+Püppchen. Plötzlich fühlt er, daß ihn jemand hinterrücks am
+Schlafittchen packt: ein großer böser Bube steht hinter ihm und haut ihn
+plötzlich auf den Kopf, reißt ihm das Mützchen ab und versetzt ihm von
+unten einen Stoß mit dem Fuß. Der Kleine fällt hin, doch da schreit
+schon alles und schilt, daß ihm angst und bange wird und er aufspringt
+und fortläuft und läuft – bis er gar nicht mehr weiß, wo er ist. Und da
+kriecht er unter einem Hoftor auf einen fremden Hof und hockt dort
+hinter einem Holzstapel hin: „Hier wird man mich nicht finden und es ist
+auch dunkel!“ denkt er.
+
+Und so hockt er ganz still und kauert sich zusammen und kann kaum noch
+atmen vor Angst, und plötzlich, ganz plötzlich wird ihm so wohl: die
+Füßchen und Händchen schmerzen nicht mehr und ihm wird so warm, so warm
+wie auf dem Ofenbänkchen. Da fährt er auf einmal zusammen: ach, er wäre
+ja fast eingeschlafen! Wie gut es hier einzuschlafen ist: „Ich werd’
+hier noch ein Weilchen sitzen und dann gehe ich wieder zu den Püppchen,“
+denkt er und lächelt bei dem Gedanken an sie: „ganz wie lebendig sind
+sie ...!“ Und dann ist es ihm, als höre er auf einmal seine Mutter
+singen, ganz leise, daß er es kaum hören kann, aber er hört es doch.
+„Mama, ich schlafe! – ach, wie ist es hier schön zu schlafen!“
+
+„Komm zu mir, mein Knabe, zum Christbaum, es ist Weihnacht, Kind,“
+flüsterte über ihm eine leise Stimme.
+
+Er denkt, das wäre nun seine Mama, aber nein, das ist nicht sie! Doch
+wer rief ihn denn? – das sieht er nicht, aber jemand beugt sich über ihn
+und umfängt ihn in der Dunkelheit; und er streckt ihm die Hand entgegen
+und ... und plötzlich – oh, wieviel Licht! Oh, welch ein Christbaum! Das
+war – oh, solche Bäume hatte er noch gar nicht gesehen! Wo ist er jetzt
+– es leuchtet und strahlt alles um ihn und soviel schöne Puppen überall
+– doch nein, das sind ja alles kleine Knaben und Mädchen, nur sind sie
+alle so leicht, alle umringen sie ihn, sie schweben, sie küssen ihn, sie
+nehmen und tragen ihn mit sich fort, und da fühlt er, daß er auch schon
+schwebt und dort: ja dort ist seine Mama und sie nickt und lächelt ihm
+selig zu.
+
+„Mama! Mama! Ach, wie ist es hier schön, Mama!“ ruft der Knabe und er
+umarmt die Kinder und will ihnen schnell alles von den Püppchen, die er
+hinter dem Fenster gesehen, erzählen. „Ach, wer seid ihr, Jungen? und
+wer seid ihr, Mädchen?“ fragt er sie lachend und hat sie alle schon so
+lieb.
+
+„Es ist hier Weihnacht beim Christkind,“ antworteten sie ihm, „dann ist
+hier im Himmel immer ein Christfest für all die kleinen Kinder, die auf
+Erden keinen Christbaum haben ...“ Und er erfährt, daß alle die Knaben
+und Mädchen einst auf Erden ebensolche Kinder waren, wie er, nur daß die
+einen schon kaum geboren als Findlinge in den Körben starben, in denen
+sie auf die steinernen Treppen vor den Türen der Petersburger Beamten
+ausgesetzt wurden, daß die anderen bei finnischen Bäuerinnen erstickten,
+an die sie vom Findelhaus zur Erziehung gegeben waren; daß wieder andere
+an den ausgezehrten Brüsten ihrer Mütter starben (während der Hungersnot
+in Ssamara), und wieder andere in Waggons dritter Klasse an der
+verpesteten Luft, und alle waren sie jetzt hier, alle waren sie jetzt
+Engel beim Christkind und er selbst war unter ihnen und hieß sie zu ihm
+kommen und segnete sie und ihre sündigen Mütter ... Die Mütter aber
+dieser Kinder stehen auch dort, nur abseits, und weinen: und eine jede
+erkennt ihren Knaben oder ihr Mädchen, und die schweben zu ihnen und
+küssen sie, wischen ihnen die Tränen mit ihren Händchen von den Wangen
+und bitten sie, nicht zu weinen, denn sie hätten es jetzt so gut ...
+
+ * * * * *
+
+Unten auf Erden aber fanden am nächsten Morgen Hofknechte hinter einem
+Holzstapel die kleine Leiche eines erfrorenen Knaben. Man fand auch
+seine Mutter. Die war schon vor ihm gestorben. Im Himmel sahen sie
+einander wieder.
+
+Wozu ich eine solche Geschichte nur erfunden habe, die so gar nicht in
+das gewöhnliche, vernünftige „Tagebuch“ paßt! Zudem habe ich
+versprochen, ausschließlich oder doch fast nur von wirklichen
+Begebenheiten zu erzählen! Aber – nun ja, das ist es eben: es scheint
+mir, es ist mir doch, als hätte das wirklich alles so sein können – ich
+meine das, was im Keller und hinter dem Holzstapel geschah, jenes andere
+aber, von der Christnacht im Himmel –, ja da weiß ich nun nicht, was ich
+Ihnen sagen soll, ob das auch wirklich so hätte sein können oder –
+nicht? Doch dazu bin ich ja Dichter, um es zu wissen.
+
+
+
+
+ Fußnoten
+
+
+[1] Der größte Held der russischen Volksdichtung, ein Bauernsohn aus dem
+Dorf Karatscharowo, wo er gelähmt in der Hütte der Eltern sitzt, bis
+vorüberziehende Bettler (mythische Gestalten) ihn durch Zauber heilen.
+E. K. R.
+
+[2] Diminutiv von Katjä. E. K. R.
+
+[3] Strophe aus einem Gedicht von Nekrassoff, das das Leben eines
+ähnlichen Knaben zum Gegenstand hat. E. K. R.
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription.
+
+Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
+Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
+Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
+nach:
+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
+ Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band
+ R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912.
+
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
+Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
+ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
+Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
+nach der Titelseite eingefügt.
+
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
+(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
+Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
+
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
+Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
+„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde
+vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
+
+ Katjä (Kätja)
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
+Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 275]:
+ ... Tages kaum aus Moskau die Nachricht, daß der ...
+ ... Tages kam aus Moskau die Nachricht, daß der ...
+
+ [S. 286]:
+ ... atmetet tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar
+ abgerissene ...
+ ... atmete tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar
+ abgerissene ...
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76986 ***
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+ <!-- TITLE="Sämtliche Werke 22: Ein kleiner Held" -->
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+<p class="ser">
+F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
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+<p class="ed">
+<span class="line1">Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,</span><br>
+<span class="line2">Dmitri Philossophoff und anderen</span><br>
+<span class="line3">herausgegeben von Moeller van den Bruck</span>
+</p>
+
+<p class="trn">
+Übertragen von E. K. Rahsin
+</p>
+
+<p class="division">
+Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="aut">
+F. M. Dostojewski
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+<h1 class="title">
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+</h1>
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+Vier Novellen
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+<p class="pub">
+<span class="line1">München und Leipzig</span><br>
+<span class="line2">R. Piper &amp; Co.</span><br>
+<span class="line3">1912</span>
+</p>
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="impr">
+R. Piper &amp; Co. Verlag, München und Leipzig, 1912
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+<p class="printer">
+Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt
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+<div class="chapter">
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+Inhalt
+</h2>
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+<div class="table">
+<table class="toc">
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+ <tr>
+ <td class="col1">Vorwort</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-VII">VII</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Ein kleiner Held</td>
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+ <tr>
+ <td class="col1">Weihnacht und Hochzeit</td>
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+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Njetotschka Neswanowa</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-83">83</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Der Bettelknabe</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-373">373</a></td>
+ </tr>
+</tbody>
+</table>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="intro" id="part-2">
+<a id="page-VII" class="pagenum" title="VII"></a>
+Vorwort
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Band bringt, als der letzte der Ausgabe, vier
+Geschichten, die dadurch in einer gewissen abschließenden
+und versöhnenden Weise verbunden sind, daß sie,
+wenn auch mehr oder weniger tragisch, von Kindern
+und Kinderseelen handeln. Die drei ersten dieser Geschichten
+– „Kleiner Held“, „Weihnacht und Hochzeit“,
+„Njetotschka Neswanowa“ – stammen aus der
+frühesten Zeit Dostojewskis und gehören den Jahren
+1848 und 1849 an. Die größte von ihnen, „Njetotschka
+Neswanowa“, ist das Bruchstück eines Romanes,
+in der Wirkung ein liegengebliebenes Manuskript, ein
+unausgearbeiteter Entwurf, doch eben deshalb von einer
+Größe der psychologischen Anlage und übrigens
+auch von einer Großartigkeit der künstlerischen Erfassung,
+die ihn zu den tiefsten und gewaltigsten Dingen
+zählen lassen, die wir von Dostojewski besitzen. Die
+Dichtung erschien in den „Vaterländischen Annalen“,
+ihre Fortsetzung wurde durch Dostojewskis Verhaftung
+im Jahre 1848 unterbrochen, und nach der Rückkehr
+aus Sibirien ist das Fragment dann unausgeführt
+und unvollendet geblieben. – Die vierte Geschichte
+des Bandes, der „Bettelknabe“, gehört zu jenen
+<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a>
+„letzten Novellen“ von der Art der „Kleinen“ in
+Band XX der Ausgabe, die dem „Tagebuch eines
+Schriftstellers aus dem Jahre 1876“ entnommen sind
+und wohl von unmittelbaren Tagesereignissen angeregt
+waren, wie Dostojewski sie in den Zeitungen aufgezeichnet
+fand, oder selbst auf der Straße erlebte.
+</p>
+
+<p class="sign">
+E. K. R.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="novella" id="part-3">
+<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a>
+Ein kleiner Held
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first pbb">
+<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a>
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">amals</span> war ich noch nicht volle elf Jahre alt. Im
+Juli schickte man mich zum Besuch auf ein Gut in der
+Nähe von Moskau, zu meinem Verwandten T–off.
+Bei diesem hatten sich zu der Zeit einige fünfzig Gäste
+eingefunden, vielleicht sogar noch mehr ... genau
+weiß ich nicht, wie viele es ihrer waren – gezählt habe
+ich sie nicht. Es ging hoch her und man vergnügte sich
+nach Kräften. Fast hatte es den Anschein, als habe
+man die Feste zu feiern begonnen, damit sie nie wieder
+aufhören sollten, und der Hausherr schien sich geradezu
+geschworen zu haben, so schnell wie möglich sein ganzes
+Riesenvermögen zu vergeuden, ein Ziel, das er denn
+auch vor kurzem glücklich erreicht hat: er ist tatsächlich
+alles, auch den letzten Quadratfuß Land losgeworden.
+</p>
+
+<p>
+Jeden Augenblick trafen neue Gäste ein. Moskau
+war ja so nahe, daß man die Stadt vom Gute aus
+sehen konnte. Infolgedessen traten die aufbrechenden
+Gäste den zuletzt eingetroffenen meist nur den Platz ab
+und die Feste konnten schier endlos fortgesetzt werden.
+Vergnügungen aller Art folgten einander ununterbrochen
+und ein Ende dieser Reihenfolge war nicht abzusehen.
+Bald machte man hoch zu Roß Ausflüge in
+die Umgegend, bald weite Spaziergänge längs dem
+Fluß oder in den Wald; Picknicks und Diners im
+<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a>
+Freien gehörten zur Tagesordnung, und an schönen
+Abenden wurde regelmäßig auf der großen Terrasse
+des Herrenhauses gespeist. Diese war mit seltenen
+Blumen überreich geschmückt. Ihre duftende Blütenfülle
+ließ, vereint mit der glänzenden Beleuchtung der
+Tafel, unsere fast ausnahmslos hübschen jungen Damen
+noch viel schöner erscheinen, wenn sie in ihren
+frischen Farben nach den Ausflügen am Tage mit belebten
+Gesichtern und glänzenden schalkhaften Augen
+an der Tafel saßen und ein keckes Wortgeplänkel hin
+und her mutwillig und geschickt zu führen wußten, indes
+zwischen Scherz und Scherz ihr silberhelles Lachen erklang.
+Es wurde getanzt, musiziert, gesungen; bei
+schlechtem Wetter stellte man lebende Bilder, erfand
+Gesellschaftsspiele, bei denen es allerlei zu raten gab,
+und natürlich wurde auch Theater gespielt. Außerdem
+gab es manchmal Vorträge, die merkwürdigsten Erlebnisse
+wurden erzählt, Anekdoten herumgetragen usw.
+</p>
+
+<p>
+Aus der Gästeschar traten einige wenige von persönlicherem
+Gepräge ziemlich scharf hervor: und die
+waren denn auch anerkanntermaßen die Hauptpersonen.
+Selbstverständlich fehlte es auch hier nicht an
+Neid, Klatsch und den üblichen kleinen Verleumdungen,
+ohne die die Welt nun einmal nicht bestehen kann
+und ohne die wohl Millionen von Personen an ihrem
+Stumpfsinn sterben würden, wie die Fliegen im
+Herbst umkommen. Da ich aber damals erst elf Jahre
+zählte, fehlte mir noch das Verständnis für diese Menschensorte,
+und da meine Gedanken überdies mit ganz
+anderem beschäftigt waren, so blieb nur ein Teil von
+dem, was ich hin und wieder zufällig hörte, in meinem
+<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
+Gedächtnis haften. Später ist mir dann allerdings
+manches wieder eingefallen, was ich damals überhört
+oder nicht begriffen hatte. Sonst konnte sich nur das
+glänzende Äußere des Bildes meinen Kinderaugen
+dauernd einprägen. Und die allgemeine festliche Stimmung,
+die sorglose Fröhlichkeit, das heitere, glanzvolle
+Leben – alles das, was ich bis dahin noch nie gesehen
+und gehört hatte, konnte denn auch allerdings einen
+solchen Eindruck auf mich machen, daß ich mich in den
+ersten Tagen förmlich verlor und mir mein junger
+Kopf schwindlig wurde.
+</p>
+
+<p>
+Ich war natürlich noch ein Kind, nicht mehr als
+ein Kind, und die schönen Damen, die mich liebkosten,
+machten sich weiter keine Gedanken über mein Alter.
+Aber – merkwürdig! – trotz meiner elf Jahre bemächtigte
+sich meiner zuweilen doch schon eine seltsame
+Empfindung, die ich freilich selbst vorläufig noch nicht
+begreifen konnte: es war, als streiche irgend etwas ganz
+leise und zart über mein Herz, etwas Unbekanntes
+und Ungeahntes, wovon dann mein Herz wie nach
+einem heftigen Schreck zu brennen und zu pochen begann
+und mir oft ganz plötzlich das Blut heiß ins Gesicht
+trieb. Es kamen Augenblicke, in denen ich mich der
+verschiedenen kindlichen Vorrechte, die ich genoß, geradezu
+schämte und sie fast als persönliche Beleidigung
+empfand. Zuweilen aber bemächtigte sich meiner wiederum
+so etwas wie Verwunderung und ich schlich mich
+dann fort, irgendwohin, wo mich niemand sehen konnte,
+gleichsam nur, um einmal Atem zu schöpfen und
+mich an etwas zu erinnern, an irgend etwas, das da,
+wie mir schien, noch vor kurzem gewesen war ... wovon
+<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
+aber gleichwohl und ganz plötzlich jede Spur in
+meinem Gedächtnis wie ausgelöscht war ... – und
+ohne das ich doch, wie ich glaubte, nicht mehr auskommen
+konnte, wenn ich es auch keinem Menschen
+zeigen durfte.
+</p>
+
+<p>
+Zu guter Letzt schien es mir, daß ich den Menschen
+allen irgend etwas verheimlichte, wovon ich aber um
+keinen Preis auch nur ein Wort jemandem gesagt hätte,
+da ich kleiner Bursche mich dessen bis zu Tränen
+schämte. Bald aber begann ich in dem Trubel, der
+mich hier umgab, eine gewisse Einsamkeit zu empfinden.
+Es waren wohl noch andere Kinder da, aber sie
+waren alle entweder viel jünger oder viel älter als ich,
+und übrigens war es mir auch gar nicht um Spielgefährten
+zu tun. Freilich wäre mit mir nichts Besonderes
+geschehen, wenn ich nicht in der Gesellschaft
+eine Ausnahmestellung eingenommen hätte. In den
+Augen aller dieser reizenden Damen war ich noch das
+kleine unbestimmte Lebewesen, das sie liebkosten und
+mit dem sie wie mit einer Puppe spielen zu dürfen
+glaubten. Namentlich eine von ihnen, eine entzückende
+junge Blondine mit dem schönsten und reichsten Haar,
+das ich je gesehen habe und sehen werde, schien sich
+geradezu geschworen zu haben, mich nicht in Ruhe zu
+lassen. Während mich das Lachen, das sie unter den
+Gästen durch ihre ausgelassenen Scherze, die sie mit
+mir trieb, hervorrief, entschieden verwirrte und ärgerte,
+schien es ihr im Gegenteil und ganz fraglos ein
+riesiges Vergnügen zu bereiten. Sie benahm sich oft
+wie ein richtiges Pensionsmädel, doch sah sie dafür
+entzückend aus und in ihrer Schönheit war etwas, das
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+sogleich in die Augen stach und einen einfach bestrickte.
+Natürlich glich sie nicht jenen kleinen verschämten
+blonden Mädelchen, die so zart und rosig sind und zutunlich
+wie weiße Mäuschen, oder die so lieblich aussehen
+wie Pastorentöchterchen. Sie war nicht sehr
+groß von Wuchs und ihre Gestalt ein wenig voll, ihr
+Gesicht aber hatte zarte, feine Züge, die entzückend gezeichnet
+waren. Es lag eine Elektrizität in diesem Gesicht,
+so daß es in ihm oft wie ein Blitz aufleuchten
+konnte, und überhaupt war sie – ganz Feuer, wie man
+zu sagen pflegt, lebendig, lebhaft, leicht. Aus ihren
+großen offenen Augen sprühten förmlich Funken, als
+wären sie Edelsteine. Nie würde ich solche blauen,
+strahlenden Augen gegen die schwarzen des Südens
+eintauschen, und sollten sie auch noch hundertmal dunkler
+sein, als der dunkelste andalusische Blick, denn meine
+Blondine war wirklich jener Schwarzäugigen ebenbürtig,
+die ein berühmter Dichter in so schönen Versen
+besingt, daß er zum Schluß dem ganzen Kastilien
+schwören konnte, sein Leben freudig hingeben zu wollen,
+wenn man ihm dafür erlaube, nur mit der Fingerspitze
+die Mantilla seiner Schönen zu berühren. Jetzt füge
+man noch hinzu, daß <em>meine</em> Schöne die lustigste aller
+Schönen war und dazu das unvernünftigste, lachlustigste,
+unartigste Kind, und das alles, obwohl sie
+schon seit etwa fünf Jahren verheiratet war. Das
+Lachen wich fast nie von ihren Lippen, die so frisch und
+jung aussahen, wie die zarten Blätter einer Rose, wenn
+sie unter den Strahlen der Morgensonne kaum erst ihren
+duftenden Blütenkelch geöffnet und ihr die Sonne noch
+<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
+nicht die kühlen glitzernden Tautropfen abgetrunken
+hat.
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß noch, am zweiten Tage nach meiner Ankunft
+wurde Theater gespielt. Der Saal war buchstäblich
+überfüllt: es gab keinen einzigen freien Platz,
+und da ich mich zufällig etwas verspätet hatte, mußte
+ich stehend der Aufführung zusehen. Aber das lustige
+Spiel zog mich immer mehr nach vorn und bald hatte
+ich mich ganz unbemerkt bis zu den ersten Reihen durchgearbeitet,
+wo ich dann endlich stehen blieb und mich
+auf die Lehne eines Stuhles stützte, auf dem eine
+Dame saß. Diese Dame war meine schöne Blondine.
+Ich muß aber hinzufügen, daß wir damals noch nicht
+bekannt miteinander waren. Und da nun – ich weiß
+nicht, wie es kam – begann ich ihre märchenhaft schönen
+Schultern zu betrachten, die so zart und weiß
+aussahen wie Milchschaum: obgleich es mir damals
+gewiß noch ganz gleichgültig war, ob ich die schönsten
+Frauenschultern sah oder den Kopfputz mit feuerfarbenen
+Bändern, der das graue Haar einer ehrwürdigen
+Dame in der ersten Reihe vor mir verdeckte. Neben
+der blonden Schönheit saß aber ein älteres Fräulein,
+eine von jenen, die, wie ich später beobachtet habe, sich
+immer möglichst in der Nähe junger und hübscher Damen
+aufhalten, und in der Regel gerade diejenigen
+wählen, die die männliche Jugend nicht zu verscheuchen
+pflegen. Doch dies nur nebenbei; ich erwähnte
+es bloß deshalb, weil dieses ältere Fräulein meine betrachtenden
+Blicke bemerkte, sich sogleich zu ihrer schönen
+Nachbarin beugte und ihr mit maliziösem Lächeln
+etwas ins Ohr flüsterte. Plötzlich sah sich diese nach
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+mir um und ihr flammender Blick traf mich im Halbdunkel,
+so daß ich, der ich darauf nicht vorbereitet war,
+erschrocken zusammenfuhr. Da lächelte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Gefällt dir das Stück?“ fragte sie mich und sah
+mir spöttisch mit zuzwinkerndem Blick in die Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja–a,“ antwortete ich und sah sie immer noch
+mit einer gewissen Verwunderung an, an der wiederum
+sie Gefallen zu finden schien.
+</p>
+
+<p>
+„Warum stehst du denn? So wirst du doch müde.
+Oder sind alle Stühle besetzt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, alle, es ist kein Platz mehr frei,“ sagte ich,
+diesmal mehr mit meiner Sorge um einen Stuhl beschäftigt,
+als mit dem blitzenden Blick der schönen
+Dame, und dabei herzlich froh darüber, daß sich endlich
+ein gutes Herz fand, dem ich mein Leid mitteilen konnte.
+„Ich habe bereits gesucht, aber auf jedem Stuhl
+sitzt schon jemand,“ fügte ich hinzu, als wollte ich mich
+bei ihr darüber beklagen, daß alle Stühle besetzt waren.
+</p>
+
+<p>
+„Komm her!“ sagte sie schnell entschlossen, wie sie
+sich zu allem immer blitzschnell entschloß, gleichviel was
+für eine tolle Idee ihr in den Kopf kam. „Komm her
+zu mir, schnell, und setz’ dich auf meinen Schoß.“
+</p>
+
+<p>
+„Auf den Schoß? ...“ wiederholte ich einigermaßen
+verwundert, und ich wußte nicht recht, was ich
+tun sollte.
+</p>
+
+<p>
+Wie ich bereits sagte, fingen meine Kindervorrechte
+nachgerade an, mich zu kränken und zu beschämen.
+Diese Blondine aber trieb es weit ärger als
+alle anderen. Überdies begann ich, der ich schon von
+jeher ein etwas schüchterner und verschämter Knabe
+war, mich gerade zu jener Zeit vor Damen ganz besonders
+<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
+zu fürchten, und deshalb machte mich ihre Aufforderung
+vollends unsicher.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, auf den Schoß! Warum willst du denn
+nicht auf meinem Schoß sitzen?“ Und sie lachte, lachte
+immer übermütiger, lachte Gott weiß worüber – vielleicht
+über ihren eigenen Einfall oder vielleicht auch vor
+Freude darüber, daß sie mich so verlegen gemacht hatte.
+</p>
+
+<p>
+Ich errötete und sah mich in meiner Verwirrung
+verstohlen um – wie um eine Möglichkeit zu erspähen,
+irgendwohin zu entschlüpfen. Aber sie kam mir zuvor,
+erwischte meine Hand, zog mich geschwind zu sich
+und plötzlich – ganz unvermutet und zu meiner größten
+Verwunderung – preßte sie meine Hand mit ihren
+heißen Fingern wie in einen Schraubstock. Es tat
+schrecklich weh und ich mußte meine ganze Kraft zusammennehmen,
+um nicht aufzuschreien. Da war es
+denn wohl kein Wunder, daß ich die seltsamsten Gesichter
+schnitt. Hinzu kam noch, daß ich nicht nur verwundert
+und erschrocken war, sondern einfach entsetzt,
+und zwar über die Tatsache, die ich nun plötzlich am
+eigenen Körper erfahren mußte: daß so schöne Damen
+zugleich so böse sein und sich so schlimm an kleinen
+Jungen vergreifen konnten, die ihnen doch nichts getan
+hatten, und das noch dazu vor so vielen fremden
+Menschen! Wahrscheinlich spiegelte aber mein unglückliches
+Gesicht alle meine Seelenregungen wieder,
+denn die unartige Dame lachte unbändig und preßte
+dabei meine armen Finger, als wollte sie sie zerquetschen.
+Es schien ihr ein rasendes Vergnügen zu bereiten,
+etwas recht Tolles anzustellen und einen armen
+Jungen recht bis zur Verzweiflung zu peinigen und
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+zum besten zu haben. Ich war in der Tat der Verzweiflung
+nahe. Erstens verging ich fast vor Scham,
+da alle, die in der Nähe saßen, sich nach uns umsahen,
+die einen erstaunt und verständnislos, die anderen lachend,
+da sie sogleich begriffen, daß die schöne Blondine
+wieder jemandem einen Streich spielte. Und
+zweitens wollte ich schreien vor Schmerz, denn die
+Schöne schien ihren ganzen Ehrgeiz darein zu setzen,
+meine Finger mit wahrem Ingrimm, gerade weil ich
+nicht schrie, zusammenzupressen. Ich aber hielt wie
+ein kleiner Spartaner stand und schrie nicht. Ich
+fürchtete, mit meinem Schrei das Publikum zu erschrecken
+und die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich
+zu lenken: was aber dann mit mir geschehen wäre, das
+vermochte ich nicht einmal auszudenken! In meiner
+Verzweiflung begann ich einen erbitterten Kampf mit
+ihr, um meine Hand aus ihren Fingern zu reißen, aber
+die Grausame war ja viel, viel stärker als ich. Endlich
+hielt ich den Schmerz nicht länger aus und schrie
+auf – aber nur darauf hatte sie gewartet! Im Nu
+ließ sie meine Hand fahren und saß da, als wäre gar
+nichts geschehen, als wäre sie das unschuldigste Geschöpf
+der Welt, das nichts damit zu schaffen hat, wenn
+ein anderer unartig ist: kurz, wie es ein echter Schulbube
+tut, der, kaum daß der Lehrer ihm den Rücken
+kehrt, im Handumdrehen etwas anrichtet – und wäre
+es auch nur, daß er einem kleinen Schwächling einen
+Rippenstoß versetzt oder ähnliches mit dem Erfolg verbricht,
+daß der andere aufschreit – in der nächsten Sekunde
+aber wieder stramm und artig auf seinem Platz
+sitzt und fromm die Augen niederschlägt oder mit ungeteilter
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+Aufmerksamkeit in seinem Buch liest und somit
+den Herrn Lehrer, der auf den Lärm hin wie ein
+Habicht auf ihn losschießt, mit einer langen Nase wieder
+abziehen läßt.
+</p>
+
+<p>
+Zu meinem Glück jedoch wurde gerade in diesem
+Augenblick die Aufmerksamkeit der übrigen durch das
+meisterhafte Spiel unseres Hausherrn in Anspruch genommen
+– er spielte nämlich in der Komödie die
+Hauptrolle. Stürmischer Beifall erscholl und ich benutzte
+schnell die Gelegenheit zur Flucht, drängte mich
+durch ein paar Reihen und lief in die entgegengesetzte
+Ecke, von wo aus ich halbversteckt hinter einer Säule
+mit Grauen dorthin spähte, wo mein grausamer Quälgeist
+saß. Sie lachte so, daß sie das Taschentuch an
+die Lippen pressen mußte. Und lange noch sah sie sich
+immer wieder nach mir um, jedoch ohne mich zu entdecken.
+Allem Anscheine nach tat es ihr sehr leid, daß
+unsere verrückte Balgerei so schnell ein Ende gefunden
+hatte, ja vielleicht heckte sie schon einen neuen Streich
+aus.
+</p>
+
+<p>
+Damit begann also unsere Bekanntschaft, und seit
+jenem Abend war ich meines Lebens nicht mehr sicher
+vor ihr. Sie verfolgte mich ohne Maß und Gewissen.
+Sie wurde einfach zu meinem Schreckgespenst. Das
+Groteske ihrer Scherze mit mir bestand hauptsächlich
+darin, daß sie beteuerte, bis über die Ohren in mich
+verliebt zu sein – und zwar sagte sie das ganz ungeniert
+in Gegenwart aller Gäste. Natürlich war das
+für mich, dem ohnehin mehr als nötig verschämten
+Knaben, ungefähr das Fürchterlichste, was ich mir denken
+konnte, und es ärgerte mich fast bis zu Tränen; ja
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+ein paarmal brachte sie mich in eine so unangenehme
+und bedenkliche Lage, daß ich nahe daran war, mit
+dieser heimtückischen Anbeterin einen regelrechten
+Faustkampf zu eröffnen. Aber meine naive Verwirrung,
+meine Verzweiflung und Wut schienen sie nur anzustacheln,
+mich noch lebhafter zu verfolgen. Sie kannte
+kein Erbarmen, ich aber wußte nicht, wo ich mich vor
+ihr verbergen sollte, und zum Unglück wirkte noch das
+Gelächter der anderen, das sie durch ihre Scherze mit
+mir hervorzurufen verstand, anfeuernd auf sie, so daß
+man zu guter Letzt fand, sie gehe mit ihren Scherzen
+denn doch zu weit. Und wirklich muß auch ich zugeben
+– ich meine heute, denn damals konnte ich das
+noch nicht beurteilen –, daß sie sich zu viel mit einem
+solchen Kinde erlaubte, wie ich es damals war.
+</p>
+
+<p>
+Aber so war nun einmal ihr Wesen, das ja deshalb
+noch nicht schlecht zu sein brauchte: sie war eben
+auch noch ein richtiges verwöhntes Kind. Wie ich nachher
+erfuhr, soll gerade ihr Mann sie am meisten verwöhnt
+haben – ein dicker kleiner Herr mit einem frischen
+Gesicht, sehr reich und sehr beschäftigt, letzteres
+wenigstens nach seiner Lebensweise zu urteilen: ewig
+hatte er etwas vor, und keine zwei Stunden hielt er es
+an einem Ort aus, jeden Tag fuhr er vom Gut nach
+Moskau, oft sogar zweimal am Tage, und zwar, wie
+er behauptete, wegen geschäftlicher Angelegenheiten.
+Etwas Lustigeres und Gutmütigeres als es seine komische,
+aber dabei doch immer gesetzte Miene und
+Haltung war, hätte man schwerlich irgendwo finden
+können. Seine Frau liebte er nicht nur bis zur Schwäche
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+– nein, er betete sie geradezu an wie seinen Abgott.
+</p>
+
+<p>
+Da versteht es sich wohl von selbst, daß er ihr nichts
+verbot, und daß sie tun konnte, was ihr gerade einfiel.
+Freunde und Freundinnen besaß sie eine Menge. Denn
+erstens gab es überhaupt wenige, die sie nicht liebten,
+und zweitens war sie gar nicht wählerisch in der Wahl
+ihrer guten Bekannten, obgleich auch ihrem Charakter
+viel mehr Ernst zugrunde lag, als man nach dem, was
+ich soeben erzählt habe, annehmen könnte. Aber von
+allen ihren Freundinnen liebte sie eigentlich nur eine
+junge Frau, eine entfernte Verwandte von ihr, die
+gleichfalls als Gast auf dem Gute weilte. Zwischen
+ihnen bestand ein ganz eigenes Freundschaftsverhältnis,
+eines von jenen seltsam zarten, geistig vornehmen,
+wie es sich zuweilen aus der Begegnung zweier sonst
+recht verschiedener Charaktere ergibt, die vielleicht sogar
+einander ganz entgegengesetzt sind, von denen aber
+der eine strenger und tiefer und reiner ist als der andere,
+während dieser mit feinem Taktgefühl ehrlicher
+Selbsteinschätzung und neidloser Liebe sich dem anderen
+unterordnet, indem er dessen Überlegenheit anerkennt
+und seine Freundschaft wie ein Glück und einen kostbaren
+Schatz im Herzen bewahrt. Daraus entwickelt sich
+dann dieses zarte, innerlich vornehme Verhältnis zueinander,
+das Güte und Nachsicht auf der einen Seite,
+auf der anderen Liebe und Verehrung des Höherstehenden
+kennzeichnen – eine Verehrung, der freilich
+eine gewisse Furcht nicht fehlt: die Furcht nämlich,
+sich in den Augen desjenigen, der für einen
+so hoch steht, etwas zu vergeben, was zugleich den
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+glühenden Wunsch hervorruft, mit jedem Schritt und
+jeder Tat dem Herzen des Freundes näher zu treten.
+Sie waren beide in gleichem Alter, aber es war doch
+in allem ein schier unermeßlicher Unterschied zwischen
+ihnen, vor allem auch in ihrer äußeren Erscheinung.
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. war gleichfalls sehr schön, aber ihre
+Schönheit hatte etwas Eigenartiges, was sie auf den
+ersten Blick von der Schar der hübschen Damen unterschied;
+und dieses nur schwer erklärbare Etwas wirkte
+mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft auf Menschen
+oder richtiger, es erweckte in jedem, der ihr begegnete,
+ein gutes, reines Gefühl, das einen alsbald
+wie eine geheime, aber mächtige Sympathie zu ihr hinzog.
+Es gibt solche Gesichter. In ihrer Nähe fühlt ein
+jeder sich irgendwie besser, irgendwie freier und wärmer:
+und doch war der Blick ihrer traurigen großen
+Augen, aus denen Geist und Kraft sprachen, zugleich
+schüchtern und unruhig, wie in immerwährender Flucht
+vor etwas Feindlichem und drohend Grausamem, und
+diese seltsame Scheu breitete zuweilen solch eine Wehmut
+über ihre stillen Züge, die an die heiligen Gesichter
+italienischer Madonnen gemahnten, daß man bald
+ebenso traurig wurde, als hätte man selbst einen Kummer,
+vielleicht den gleichen wie sie, deren Leid man so
+recht nachfühlen konnte. Aus ihrem bleichen, schmalen
+Gesicht sah, trotz der vollendeten Schönheit seiner reinen,
+regelmäßigen Züge und der wehmütigen Strenge
+einer dumpfen, verborgenen Qual, doch noch das ursprüngliche
+klare Kinderantlitz hervor, das Gesicht der
+noch nicht vergessenen, vertrauensseligen Jahre –
+der Jahre eines vielleicht unbewußten Glücks. Und dazu
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+kam dieses stille, etwas scheue, unbestimmte Lächeln
+und alles das erweckte eine so unerklärliche Teilnahme
+für diese Frau, daß im Herzen eines jeden unwillkürlich
+eine süße, innige Sorge um sie erwachte, eine Sorge,
+die für sie noch aus der Ferne sprach und einen
+über Zeit und Raum hinweg mit ihr verband. Sie war
+vielleicht etwas schweigsam und verschlossen, obwohl
+es zugleich schwerlich ein aufmerksameres und liebevolleres
+Wesen gab, als sie es zeigen konnte, wenn jemand
+der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die im
+Leben geradezu wie barmherzige Schwestern sind.
+Vor ihnen braucht man nichts zu verbergen, nichts
+zu verschweigen, wenigstens nichts, was in unserer
+Seele krank und verwundet ist. Wer leidet, der gehe
+getrost zu ihnen und fürchte nicht, ihnen zur Last zu
+fallen, denn nur selten weiß jemand von uns, wieviel
+unendlich geduldige Liebe, wieviel Mitgefühl und welch
+ein Allverzeihen in manchem Frauenherzen sein kann.
+Ganze Schätze an Mitempfinden, Trost und Hoffnung
+ruhen in diesen reinen Herzen, die so oft selbst verwundet
+sind – Herzen, die viel trauern, mehr als andere
+lieben, aber die Wunden behutsam vor jedem
+neugierigen Blick verbergen, denn tiefes Leiden
+schweigt und verbirgt sich. Diese Frauen schreckt weder
+die Tiefe der Wunde noch ihre Fäulnis: wer an sie mit
+seinem Vertrauen herantritt, ist ihrer schon wert. Sie
+sind wie zum Helfen geboren ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. war
+von hohem Wuchs, biegsam und schlank, aber ein wenig
+mager. Ihre Bewegungen waren alle irgendwie
+ungleichmäßig, bald langsam und sanft und nicht ohne
+eine gewisse Würde, bald wieder kindlich schnell. Dabei
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+sprach aus ihrer Geste zugleich so etwas wie ein
+Bangen, wie eine Schutzlosigkeit, die aber doch wieder
+niemanden um Schutz anflehte oder um Beistand bat.
+</p>
+
+<p>
+Ich sagte bereits, daß die bösen Bemerkungen der
+tückischen Blondine mich beschämten, ärgerten, peinigten,
+daß mein Herz mir blutete. Aber hierfür gab es
+noch einen anderen Grund, sogar einen recht seltsamen
+und dummen, den ich jedoch wie ein Heiligtum vor
+allen geheimhielt, für den ich wie ein Geizhals für seinen
+Schatz zitterte und der mir schon beim bloßen Gedanken,
+auch wenn ich ganz allein mit meinem verwirrten
+Kopf irgendwo in einer dunkeln Ecke saß, wo der
+forschende spöttische Blick meines Plagegeistes mich nicht
+erreichen konnte und ich mich vor allen blauen Augen
+sicher fühlte – der mir schon bei dem bloßen Gedanken
+an den Gegenstand dieser Ursache das Herz vor lauter
+Verwirrung, Scham und Furcht stille stehen machte.
+Mit einem Wort: ich war in <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. verliebt.
+Und doch – muß ich nicht annehmen, daß ich
+soeben den größten Unsinn gesagt habe: denn das war
+ja ganz undenkbar!? Trotzdem – warum machte von
+allen Gesichtern, die ich sah, nur ihr Gesicht einen solchen
+Eindruck auf mich? Weshalb folgte mein Blick
+nur ihr allein, wo sie ging oder stand, weshalb <em>liebte</em>
+ich es, sie zu betrachten, obschon doch damals mein
+Sinn entschieden noch nicht danach stand, Frauen zu
+entdecken und ihnen nahezutreten? Es geschah das
+namentlich abends, wenn sich bei trübem oder kühlem
+Wetter die ganze Gesellschaft in den Sälen versammelte
+und ich dann aus irgendeiner Saalecke, wo ich
+einsam und verlassen saß, ziellos nach allen Seiten
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+ausguckte – wohin die Augen selbst gerade wollten,
+da ich keine andere Beschäftigung für sie zu finden
+wußte. Außer meiner Verfolgerin sprach selten jemand
+ein Wort zu mir, so daß ich mich an solchen
+Abenden gewöhnlich sträflich langweilte. Dann betrachtete
+ich die Menschen und spitzte die Ohren, wenn
+ich Gespräche hörte, von denen ich oft kein Wort begriff.
+Da kam es denn ganz von selbst, daß die traurigen
+Augen und das stille Lächeln der schönen
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. Gott weiß weshalb meine Aufmerksamkeit
+fesselten, und dann konnte nichts mehr den seltsamen,
+unbestimmten und unfaßbar süßen Eindruck verwischen,
+den sie auf mich machte. Oft saß ich stundenlang
+und sah sie an und konnte meinen Blick nicht von ihr
+losreißen. Jede Geste, jede Bewegung, jeder Ausdruck
+ihres Gesichts prägte sich meinem Gedächtnis ein
+und ich lauschte auf jede Veränderung ihrer Stimme,
+die nicht laut war, sondern von einer tieferen, dunkleren,
+etwas verschleierten Klangfarbe – und merkwürdig!
+– aus diesen Beobachtungen und ihren seltsamen
+süßen Eindrücken erwuchs in mir eine ganz unerklärliche
+Neugier. Es war fast, als ahnte ich ein Geheimnis
+in ihr, das ich alsbald unbedingt ergründen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Am quälendsten war mir daher meine Lage in ihrer
+Gegenwart. Denn alle diese Scherze und Neckereien
+erniedrigten mich in meinen Augen und waren für
+mein Gefühl die schrecklichsten Beleidigungen. Und
+wenn nun gar bei dem allgemeinen Gelächter über mich
+auch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zuweilen unwillkürlich mitlachte,
+dann kannte meine Verzweiflung keine Grenzen:
+ich war außer mir vor Schmerz und Scham und riß
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+mich mit der Wut eines Besessenen aus den Händen
+meiner Verfolgerin – rannte nach oben, in den
+zweiten Stock, wo ich dann den ganzen Rest des Tages
+verbrachte, da ich mich nicht mehr im Saal zu zeigen
+wagte. Übrigens war ich mir damals weder
+über meine Scham noch über meine Erregung im
+klaren: der ganze Prozeß spielte sich vollkommen unbewußt
+ab. Mit <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. hatte ich noch keine
+zwei Worte gesprochen, und ich hätte natürlich nie den
+Mut gehabt, sie anzureden. Eines Abends aber, nach
+einem für mich elend verlaufenen Tage, blieb ich während
+des Spaziergangs hinter den anderen zurück und
+da ich schrecklich müde geworden war, ging ich durch
+den Garten wieder nach Hause. Ich wählte den kürzesten
+Weg – eine entlegene Allee – und da erblickte
+ich auf einer Bank plötzlich <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. Sie saß
+dort ganz allein, als habe sie diese Einsamkeit gesucht,
+saß zurückgelehnt, mit gesenktem Kopf, und ihre Finger
+bewegten mechanisch das Taschentuch, das sie in
+der Hand hielt. Sie war so in Nachdenken versunken,
+daß sie es gar nicht hörte, wie ich mich ihr näherte.
+</p>
+
+<p>
+Als sie mich erblickte, erhob sie sich schnell von der
+Bank, wandte das Gesicht fort und ich sah, wie sie das
+Taschentuch an die Augen führte, um die Tränenspuren
+fortzuwischen. Sie hatte geweint. Dann tat
+sie, als wäre nichts geschehen, lächelte mir zu und ging
+mit mir zum Hause. Ich habe vergessen, wovon wir
+sprachen; nur schickte sie mich unterwegs immer wieder
+unter verschiedenen Vorwänden von sich fort: bald bat
+sie mich, eine Blume zu bringen – bald sollte ich ihr
+sagen, wer dort in der nächsten Allee ritt. Sobald ich
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+mich aber von ihr fortwandte, fuhr sie wieder schnell
+mit dem Tuch über die Wangen, da die ungehorsamen
+Tränen nicht versiegen wollten, vielmehr aus dem
+wehen, kämpfenden Herzen immer wieder in ihre armen
+Augen traten. Ich begriff sehr wohl, daß ich ihr
+lästig war, da sie mich so oft fortschickte. Sie aber
+sah doch, daß ich schon alles bemerkt hatte, und trotzdem
+konnte sie sich nicht beherrschen – das quälte mich
+für sie noch viel mehr! Ich ärgerte mich über mich
+selbst fast bis zur Verzweiflung, ich verwünschte mein
+Unglück und meine Dummheit, die mich keinen Vorwand
+finden ließ, unter dem ich mich hätte entfernen
+können, ohne sie noch obendrein merken zu lassen,
+daß ich um ihr Leid wußte. So ging ich denn betrübt
+und unglücklich, mit meinem Zwiespalt im Herzen,
+neben ihr her und fand trotz aller Anstrengung
+kein einziges Wort, mit dem ich unsere einsilbige Unterhaltung
+hätte beleben können.
+</p>
+
+<p>
+Diese Begegnung machte einen so tiefen Eindruck
+auf mich, daß ich <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. den ganzen Abend mit
+unersättlicher Neugier verstohlen betrachtete. Aber ungeachtet
+meiner Vorsicht trafen unsere Blicke sich doch
+ein paarmal, und als sie das zweite Mal diesen meinen
+Blick bemerkte, da lächelte sie. Es war das an
+diesem Abend das einzige Mal, daß ich sie lächeln sah.
+Die Trauer war jedoch noch nicht aus ihrem Gesicht
+gewichen und sie war sogar noch bleicher als sonst. Die
+ganze Zeit unterhielt sie sich mit einer alten Dame,
+die eigentlich, weil sie immer spionierte und Klatschgeschichten
+verbreitete, niemand ausstehen konnte, die
+vielmehr von allen gefürchtet wurde, weshalb man sich
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+denn gewissermaßen gezwungen fühlte, im Verkehr mit
+ihr liebenswürdig und aufmerksam zu sein, ob man
+wollte oder nicht ...
+</p>
+
+<p>
+Gegen zehn Uhr traf plötzlich der Mann von
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. ein. Ich sah, wie sie bei dem unerwarteten
+Erscheinen ihres Gatten zusammenzuckte und wie ihr
+ohnehin schon so bleiches Gesicht noch um einen unheimlichen
+Grad stärker erblaßte. Es war das so
+auffallend, daß auch andere es bemerkten: wenigstens
+fing ich von einem leisen Gespräch in meiner Nähe
+ein paar Bemerkungen auf, aus denen ungefähr hervorging,
+daß die arme <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. kein gerade beneidenswertes
+Leben habe. Ihr Mann sei, wie man
+wisse, eifersüchtig wie ein Mohr, jedoch nicht aus Liebe
+zu ihr, sondern nur aus Liebe zu sich selbst. Dieser
+Mensch war nämlich ... in erster Linie ein „Europäer“,
+und zwar einer der neuzeitlichen, von modernen Ideen
+angekränkelten, mit denen er gerne großtat. Was sein
+Äußeres betraf, so war er ein brünetter, großer und
+sehr stämmiger Herr mit europäisch geschnittenem
+Backenbart und einem selbstzufriedenen, frischen Gesicht,
+mit zuckerweißen Zähnen und dem Auftreten eines vollendeten
+Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen
+Menschen“. So nennt man nämlich in gewissen Kreisen
+einen besonderen, auf Kosten anderer fett gewordenen
+Menschenschlag, der so gut wie nichts tut und auch
+so gut wie nichts tun will, der vielmehr vom ewigen
+Müßiggang und Nichtstun anstatt des Herzens sozusagen
+nur ein Stück Speck im Leibe hat. Gerade von
+diesen Leuten aber hört man jeden Augenblick, daß sie
+nur infolge gewisser höchst verwickelter und ihnen
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+feindlicher Umstände nichts zu tun hätten, daß sie ihren
+„Genius ermüdeten“ und daß es deshalb „traurig sei“,
+sie „unbeschäftigt zu sehen“. Das ist nun einmal ihre
+schönklingende Phrase, ihr <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mot d’ordre</span>, das diese satten
+Fettwänste überall anbringen – weshalb sie einen
+denn auch schon längst langweilen, um nicht mehr zu sagen;
+wie eben jede ausgesprochene Tartüfferie oder jedes
+leere, alberne Wort. Übrigens scheinen einige dieser
+spaßigen Käuze, die auf keinerlei Weise eine Arbeit
+für sich finden können – zumal sie auch nie eine solche
+ernstlich suchen – gerade danach zu trachten, alle davon
+zu überzeugen, daß sie an Stelle des Herzens nicht
+ein Stück Speck, sondern im Gegenteil etwas sehr Tiefgründiges
+besäßen. Was dies Etwas freilich sei, eigentlich
+und im letzten Grunde, das würde auch der beste
+Chirurg nicht sagen können – nur aus Höflichkeit,
+versteht sich, könnte er es nicht! Diese Herren bringen
+ihr Leben damit zu, daß sie alle ihre Fähigkeiten
+zu billigem Spott, kurzsichtigster Kritik und maßlos
+dünkelhaftem Auftreten verwerten. Da sie aber nichts
+weiter zu tun haben, als die Fehler und Schwächen
+anderer zu entdecken und ans Licht zu zerren, und da sie
+von Güte und Nachsicht genau nur so viel besitzen, wie
+die Natur etwa einer Auster verliehen hat, so fällt es
+ihnen auch nicht schwer, unter solchen Umständen ziemlich
+umsichtig und mit viel Vorsicht unter den Menschen
+zu leben. Dessen rühmen sie sich denn auch über
+alle Maßen. So sind sie zum Beispiel fest überzeugt,
+daß womöglich die ganze Welt ihnen tributpflichtig
+sei, und sie betrachten diese Welt nahezu als ihre Vorratskammer.
+Sie sehen in allen anderen Menschen um
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+sich her Dummköpfe und glauben, ein jeder gleiche
+einer Apfelsine oder einem Schwamm, aus dem sie, sobald
+sie nur wollen, auch den letzten Tropfen herauspressen
+können. Sie halten sich in gewissem Sinne für
+die Herren der Welt und scheinen anzunehmen, daß
+diese ganze löbliche Ordnung der Dinge einzig davon
+herrühre, daß sie so kluge und gewichtige Menschen
+sind. In ihrem maßlosen Eigendünkel werden sie nie
+eigene Mängel zugeben, sondern sich immer unter allen
+Umständen und in jeder Beziehung für vollkommen
+halten. Sie gleichen jenem besonderen Menschentyp,
+dessen Ahnherren Tartüffe und Falstaff sind, jenen
+Schelmen, die so viel und so oft betrügen, daß sie selbst
+schließlich glauben, alles was sie sagen, tun und lassen
+habe seine Richtigkeit, d. h. es sei von ihnen durchaus
+richtig, so zu leben und zu betrügen: sie haben eben
+ihre Beteuerungen, daß sie ehrlich und uneigennützig
+seien, so oft gehört, daß sie zu guter Letzt selbst glauben,
+sie seien uneigennützig und ihre Betrügereien zeugten
+von aufrichtigster Ehrlichkeit. Zu einer unparteiischen
+Selbstkritik und Selbsterkenntnis langt es bei
+ihnen nie. Zum Erfassen mancher Dinge sind sie eben
+viel zu schwerfällig. Im Vordergrunde aller Dinge
+und Geschehnisse steht ihnen immer die eigene goldene
+Person, der Moloch, dem sie alles opfern, ihr herrliches
+„Ich“! Die ganze Natur, die ganze Welt ist für sie
+nicht mehr als ein großer schöner Spiegel, der nur dazu
+geschaffen scheint, damit ein kleiner Gott sich ununterbrochen
+in ihm bewundern kann und außer seiner eigenen
+Person niemand und nichts zu sehen braucht. Da
+ist es denn kein Wunder, wenn sie unter solchen Umständen
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+alle übrigen Erscheinungen der Welt immer
+irgendwie entstellt sehen und nie so, wie sie wirklich
+sind. Für alles haben sie eine fertige Phrase vorrätig
+und zwar – was übrigens äußerst geschickt von ihnen
+ist – immer nur eine der allermodernsten. Ja, man
+kann sagen, daß hauptsächlich sie es sind, die die Verbreitung
+der Phrase besorgen, deren Erfolg sie beizeiten
+wittern. Jawohl, Spürsinn – das ist das einzige,
+was man ihnen nachrühmen kann, denn in dieser
+Beziehung haben sie wirklich eine feine Nase; wenigstens
+ist sie fein genug, um derartige moderne Ausdrücke
+früher als andere herauszuschnüffeln und sich
+rechtzeitig anzueignen, so daß es fast den Anschein hat,
+als stammten sie von ihnen. Namentlich versehen sie
+sich mit solchen, die ihrer tiefen Liebe zur Menschheit
+Ausdruck geben sollen und die angeblich einzig richtige
+und vernunftgemäße Menschenfreundschaft dartun, um
+dabei gleichzeitig rücksichtslos über die veraltete Romantik
+herzufallen, mit ihr nicht selten alles Schöne und
+Erhabene zu verurteilen, ohne zu begreifen, daß jedes
+kleinste Gefühl derselben wertvoller ist, als ihre ganze
+Weichtierexistenz. In ihrer geistigen Stumpfheit sind
+sie unfähig, die Wahrheit in einer noch unfertigen, von
+der altbekannten abweichenden Form, in einem Übergangsstadium
+zu erkennen, und so lehnen sie denn alles
+ab, was noch im Entstehen ist und seine Form erst
+sucht und deshalb noch nicht ganz feststeht. Diese wohlgenährten
+satten Menschen haben ihr Leben gewöhnlich
+gleichsam im Zustande eines fortgesetzten Räuschchens
+heiter verbracht. Alles ist ihnen von anderen zurecht
+gemacht worden, selbst aber haben sie noch nie
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+etwas geleistet und wissen natürlich nicht, wie schwer es
+ist, etwas zu vollbringen. Wehe dem aber, der mit irgendeiner
+Rauheit ihre satten Gefühle streift: das
+würde niemals verziehen, noch vergessen werden, Rache
+üben sie aber dafür mit Wonne. In der Summe
+ergibt sich, daß ein derartiger Held nichts mehr und
+nichts weniger ist als ein riesengroßer, bis zur letzten
+Möglichkeit aufgeblasener Sack, voll von Sentenzen,
+Modephrasen und Schlagwörtern aller Art.
+</p>
+
+<p>
+Übrigens war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. doch ein etwas bemerkenswerterer
+Herr, zumal er eine Gabe besaß, die ihn
+immerhin durch eine gewisse Eigenart auszeichnete: er
+war nämlich ein guter Erzähler, war witzig und redselig,
+so daß in der Gesellschaft sich immer ein Kreis
+um ihn versammelte. An jenem Abend war er besonders
+gut aufgelegt; er riß die Unterhaltung an sich,
+war schlagfertig, beinahe geistvoll, gut gelaunt und
+brachte es so weit, daß alle nur ihm zuhörten und ihn
+anstaunten. Dagegen war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. die ganze Zeit
+schweigsam und litt sichtlich: sie sah so traurig aus, daß
+ich fürchtete, jeden Augenblick wieder Tränen an ihren
+Wimpern erglänzen zu sehen. Alles das machte, wie gesagt,
+einen tiefen Eindruck auf mich. Ich war bestürzt
+und verwundert und eine seltsame Neugier erfaßte
+mich. Die ganze Nacht träumte mir von <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M.,
+während ich bis dahin selten von so peinigenden und
+aufregenden Träumen heimgesucht worden war.
+</p>
+
+<p>
+Am anderen Morgen wurde ich schon früh nach
+unten in den Saal gerufen, wo die Proben zu den lebenden
+Bildern, zu denen auch ich mich hergeben
+mußte, stattfanden. Diese lebenden Bilder, ferner eine
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+Theateraufführung und ein großer Ball, alles an
+einem Abend, sollten zur Feier des Geburtstages der
+jüngsten Tochter unseres verschwenderischen Hausherrn
+stattfinden. Wir hatten im ganzen nur noch etwa fünf
+Tage Zeit. Zu diesem Fest waren aus Moskau und von
+den benachbarten Landgütern nicht viel weniger als
+hundert Personen eingeladen, so daß große Vorbereitungen
+getroffen werden mußten, die natürlich den
+Trubel noch erhöhten. Die Proben oder richtiger die
+Durchsicht der vorhandenen Kostüme fand zu einer so
+ungelegenen Zeit statt, weil der bekannte Künstler R.,
+ein Freund und Gast unseres Hausherrn, der aus Gefälligkeit
+sich bereit erklärt hatte, die Bilder zu stellen,
+noch nach Moskau fahren wollte, um die fehlenden
+Requisiten einzukaufen. So hieß es denn: sich beeilen.
+Mich hatte man für ein lebendes Bild zusammen
+mit <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. ausersehen. Das Bild stellte eine
+Szene aus dem mittelalterlichen Leben dar und hieß:
+„Die Schloßherrin und ihr Page“.
+</p>
+
+<p>
+Ich war entsetzlich verwirrt, als ich mit <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span>
+M. auf der Probe zusammentraf. Natürlich war ich
+überzeugt, daß sie sogleich alle meine Gedanken, Zweifel
+und Vermutungen, die mir seit dem letzten Abend
+durch den Kopf gefahren waren, aus meinen Augen
+erraten würde. Und überdies bedrückte mich noch so
+etwas wie ein Schuldgefühl ihr gegenüber, weil ich
+sie in ihrem Leid überrascht und ihre Tränen bemerkt
+hatte. Wußte ich denn, ob sie nicht vielleicht sogar sehr
+ärgerlich über mich war? Aber, Gott sei Dank, es verlief
+alles ohne irgendwelche Unannehmlichkeiten: ich
+wurde von ihr ganz einfach – gar nicht bemerkt. Ihre
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+Gedanken waren offenbar mit etwas ganz anderem
+beschäftigt und sie schien weder mich noch sonst etwas
+von der Probe zu sehen. Sie machte den Eindruck, als
+laste eine große quälende Sorge auf ihr. Nach beendeter
+Probe lief ich schnell fort und kleidete mich um. Etwa
+zehn Minuten später trat ich auf die Terrasse, um
+in den Garten zu gehen. In demselben Augenblick trat
+aus einer anderen Tür auch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. auf die Terrasse
+und zugleich erblickten wir beide vor uns ihren
+selbstzufriedenen Herrn Gemahl, der aus dem Garten
+heraufkam, wohin er gerade eine Schar junger Damen
+begleitet hatte. Die Begegnung mit seiner Frau kam
+auch für ihn ganz unerwartet. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. errötete
+plötzlich und in ihrer hastigen Bewegung drückte sich
+ein gewisser Unmut aus. Der Herr Gemahl, der sorglos
+eine Arie vor sich hingepfiffen und unausgesetzt
+mit tiefsinniger Miene seinen schönen Backenbart geglättet
+hatte, runzelte ein wenig die Stirn, als er seine
+Frau erblickte und betrachtete sie, wie ich mich jetzt entsinne,
+mit entschieden inquisitorischem Blick.
+</p>
+
+<p>
+„Sie gehen in den Garten?“ fragte er, da er in
+ihrer Hand einen Sonnenschirm und ein Buch bemerkte.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, in den Wald,“ sagte sie und errötete leicht.
+</p>
+
+<p>
+„Allein?“
+</p>
+
+<p>
+„Mit ihm ...“ Sie wies auf mich. „Ich gehe morgens
+immer allein spazieren,“ fügte sie wie zur Erklärung
+hinzu, aber mit einer etwas unsicheren Stimme,
+die wohl gleichgültig klingen sollte, statt dessen aber genau
+so klang, wie wenn man zum erstenmal im Leben
+bewußt lügt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+„Hm ... Ich habe soeben eine ganze Gesellschaft
+hinbegleitet. Sie versammeln sich dort alle bei der Rosenlaube,
+um N. das Geleit zu geben. Er verläßt uns,
+wie Sie wissen ... Es ist ihm da irgendwo in Odessa
+ein Malheur passiert ... Ihre Kusine (das war mein
+blonder Plagegeist) lacht und weint, beides zugleich,
+so daß man nicht aus ihr klug werden kann. Übrigens
+sagte sie mir, daß Sie aus irgendeinem Grunde auf N.
+böse seien und ihn deshalb nicht begleiten wollten. Natürlich
+ein Unsinn?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie scherzt nur,“ sagte <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. und stieg die
+Stufen der Terrasse hinab.
+</p>
+
+<p>
+„Also das ist jetzt Ihr täglicher <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Cavalier servant</span>?“
+fragte er noch beiläufig mit spöttisch zuckenden
+Mundwinkeln und musterte mich durch sein Monokel.
+</p>
+
+<p>
+„Page!“ rief ich, wütend über seinen Blick, über
+seinen Spott, und dann lachte ich ihm gerade ins Gesicht
+und sprang mit einem Satz über drei Stufen ...
+</p>
+
+<p>
+„Nun, viel Vergnügen,“ brummte <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. und
+ging weiter.
+</p>
+
+<p>
+Ich war natürlich gleich zu <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. getreten,
+als sie auf mich wies, und hatte mir den Anschein gegeben,
+als hätten wir uns schon vor einer Stunde verabredet,
+und ich tat so, als sei ich schon einen ganzen
+Monat jeden Morgen mit ihr spazierengegangen. Nur
+konnte ich nicht begreifen, weshalb diese Begegnung
+sie so verwirrte, und was sie eigentlich im Sinne hatte,
+als sie sich zu der kleinen Lüge entschloß. Warum hatte
+sie nicht ganz einfach gesagt, daß sie allein gehe? So
+aber wußte ich nicht, was ich davon denken sollte. Dennoch
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+begann ich allmählich, trotz meiner Unsicherheit
+und aller Befürchtungen, mit naiver Neugier verstohlen
+zu ihr aufzusehen: doch ganz wie vor einer Stunde
+in der Probe bemerkte sie auch jetzt weder meine Blicke
+noch meine stumme Frage. Nur dieselbe quälende
+Sorge spiegelte sich noch deutlicher, noch tiefer in ihren
+erregten Zügen wieder und sprach aus jeder Bewegung,
+sprach vor allem aus ihrem schnellen Gang. Sie
+mußte Eile haben, denn sie beschleunigte ihre Schritte
+und unruhig blickte sie in jede Allee, in jeden Durchhau
+im Walde, und zwar immer nach der Seite des Gartens
+hin. Auch ich begann etwas zu erwarten. Da
+vernahmen wir Pferdegetrappel hinter uns. Es war
+eine ganze Kavalkade, Damen und Herren, hoch zu
+Roß, die alle jenen N., der uns so plötzlich verließ, begleiteten.
+</p>
+
+<p>
+Unter den Reiterinnen erblickte ich auch meine Blondine,
+von der <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. uns erzählt hatte, daß sie gelacht
+und geweint habe, beides zugleich. Ihrer Gewohnheit
+gemäß lachte sie nun wieder wie ein Kind
+und war so mutwillig und lustig wie nur je. Sie ritt
+einen prächtigen Schimmel. Als die Gesellschaft uns
+erreichte, zog N. den Hut, hielt aber weder sein Pferd
+an, noch sagte er ein Wort zu <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. Bald waren
+sie alle hinter einer Wegbiegung verschwunden.
+Ich blickte zu <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. auf und – beinahe hätte
+ich aufgeschrien vor Überraschung: sie war totenbleich
+und rührte sich nicht, nur große Tränen standen in ihren
+Augen. Unsere Blicke trafen sich: <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. errötete
+jäh, wandte sich für einen Augenblick fort und ich las
+Unruhe und Ärger in ihrem Gesicht, obschon sie sich
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+schnell und mit aller Gewalt zusammennahm. Ich war
+überflüssig, war lästiger noch als tags zuvor: das war
+mir klar. Aber wie sollte ich mich entfernen, unter welchem
+Vorwande?
+</p>
+
+<p>
+Da schlug <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. plötzlich, als habe sie meine
+Gedanken erraten, das Buch auf, das sie mitgenommen
+hatte, und, indem ihr wieder das Blut in die
+Wangen stieg, sagte sie – sichtlich bemüht, mich dabei
+nicht anzusehen – als habe sie es soeben erst bemerkt:
+</p>
+
+<p>
+„Ach! Das ist ja der zweite Band, ich habe mich
+versehen! Bitte, bring mir den ersten!“
+</p>
+
+<p>
+Es war nicht mißzuverstehen! Ich hatte meine Rolle
+ausgespielt und auf einem geraderen Wege hätte man
+mich schwerlich fortschicken können.
+</p>
+
+<p>
+Ich lief mit dem Buche fort und kehrte nicht zurück.
+Der erste Band blieb an diesem Morgen unberührt
+auf dem Tische liegen ...
+</p>
+
+<p>
+Aber seitdem war ich so verändert, daß ich mir
+selbst ganz fremd vorkam: mein Herz pochte wie in
+fortwährender Angst. Ich wandte die größte Vorsicht an,
+um nicht irgendwie <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zu begegnen. Dafür
+aber betrachtete ich von nun an mit einer nahezu wilden
+Neugier ihren selbstzufriedenen Herrn Gemahl, als
+wollte ich an ihm etwas Besonderes entdecken. Ich begreife
+jetzt selbst nicht, wie ich damals zu dieser lächerlichen
+Neugier kam, doch entsinne ich mich, daß alles,
+was ich an jenem Morgen erlebt, mich in ein ganz
+eigenartiges Erstaunen versetzt hatte. Und doch war es
+nur erst ein Anfang an diesem Tage gewesen, an dem
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+mir noch ganz andere und noch viel größere Erlebnisse
+bevorstanden.
+</p>
+
+<p>
+Es wurde ausnahmsweise früher als sonst zu Mittag
+gespeist. Am Nachmittage sollten wir eine Ausfahrt
+nach einem Nachbardorf machen, um einmal ein richtiges
+Dorffest, das dort gefeiert wurde, kennen zu lernen
+– deshalb speisten wir früher. Ich hatte mich schon
+drei Tage auf dieses Fest gefreut, von dem ich Gott
+weiß wie viel erwartete. Den Kaffee tranken alle auf
+der Terrasse. Vorsichtig folgte ich den anderen aus dem
+Speisesaal und verbarg mich hinter mehreren Sesseln.
+Mich zog wieder meine Neugier dorthin: und die war
+so groß, daß ich ihr sogar auf die Gefahr hin folgte,
+von <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. bemerkt zu werden. Der Zufall fügte
+es jedoch anders: ich geriet in die Nähe meiner blonden
+Verfolgerin. An dem Tage war mit ihr ein Wunder
+geschehen, etwas schier Unglaubliches: sie sah plötzlich
+noch einmal so schön aus, als sie bis dahin ausgesehen
+hatte. Wie und warum das gekommen war –
+das weiß ich nicht, aber mit Frauen geschieht dieses
+Wunder ja recht oft! Unter uns befand sich ein neuer
+Gast, ein langer, blonder, junger Mann, der gerade
+aus Moskau eingetroffen war, fast wie um N. zu ersetzen,
+der uns am Morgen verlassen hatte, und von
+dem das Gerücht ging, daß er in unsere blonde Schönheit
+sterblich verliebt gewesen sei. Der neue Gast aber
+stand schon seit langer Zeit in einem Verhältnis zu
+ihr, wie Benedikt zu Beatrice in Shakespeares „Viel
+Lärm um nichts“. Kurz, unsere Schönheit fand an diesem
+Tage ungeheuren Beifall. Ihre Scherze und ihre
+Unterhaltung waren so entzückend, so zutraulich naiv,
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+so verzeihlich unvorsichtig, sie war dabei selbst mit einer
+so graziösen Sicherheit vom allgemeinen Beifall
+überzeugt, daß sie die ganze Zeit über von allen Anwesenden
+tatsächlich nur bewundert wurde. Um sie
+herum bildete sich ein dreifacher Kreis von überraschten,
+verwunderten und entzückten Zuhörern, denn so
+bezaubernd hatte man sie noch nie gesehen. Jedes
+Wort von ihr ward wie ein verführerisches Wunderding
+erhascht und weitergegeben, jeder Scherz, jede
+schlagfertige Antwort erregte Begeisterung. Wie es
+schien, hatte niemand soviel Geschmack, Geist und
+Verstand an ihr vermutet. Ihre besten Eigenschaften
+wurden durch ihre täglichen kindischen Tollheiten, die
+oft fast zu Narrheiten ausarteten, in den Schatten gestellt
+und selten von jemand bemerkt – oder wer sie
+zwischen jenen Kindereien bemerkte, der hielt sie für
+Zufall, so daß ihr plötzlicher Erfolg mit einem allgemein
+verwunderten Geflüster aufgenommen wurde.
+</p>
+
+<p>
+Übrigens trug zu diesem Erfolg noch ein besonderer,
+etwas kitzliger Umstand bei – kitzlig wenigstens
+im Hinblick auf die Rolle, die der Herr Gemahl der
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. dabei spielte. Der Wildfang hatte sich
+nämlich vorgenommen – und wie ich bemerken muß:
+zu allseitigem Gaudium oder zum mindesten doch zu
+dem der goldenen Jugend – wahrhaft unbarmherzig
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M., immer nur M., anzugreifen, und dies
+wohl aus verschiedenen Gründen, die in ihren Augen
+wahrscheinlich alle sehr gewichtig waren. Sie eröffnete
+im Kampf mit ihm ein richtiges Schnellfeuer von
+spöttischen Herausforderungen, Seitenhieben und
+Sarkasmen von der boshaftesten Art, die von allen
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+Seiten so geschlossen, glatt und rund waren, daß man
+sie nirgends fassen konnte, um sie der gütigen Spenderin
+zurückzuwerfen, Sarkasmen, denen der Gegner
+nahezu wehrlos ausgeliefert war, die nie ihr Ziel verfehlten
+und ihr Opfer, das sich in vergeblichen Anstrengungen
+erschöpfte, schließlich in die wildeste Wut
+versetzten und zur komischsten Verzweiflung brachten.
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß es zwar nicht genau, aber ich glaube
+doch sagen zu dürfen, daß dieser Zweikampf nicht zufällig
+entbrannte, sondern von ihr mit Absicht herbeigeführt
+wurde. Eigentlich begann der verzweifelte
+Kampf schon bei Tisch. Ich nenne ihn „verzweifelt“,
+denn M. streckte die Waffen nicht so bald. Er mußte
+mit Aufbietung seiner ganzen Geistesgegenwart all seinen
+Scharfsinn und seine allerdings recht geringe Gewandtheit
+zusammennehmen, um nicht eine Schlappe
+sondergleichen davonzutragen – um nicht mit
+Schmach und Schande das Feld räumen zu müssen.
+Der Kampf verlief unter fast unaufhörlichem Gelächter
+aller Zeugen und Teilnehmer. Jedenfalls hatte sich
+das Blatt für ihn an diesem zweiten Tage völlig gewendet
+und mit dem Beifall, den er am ersten Abend
+eingeerntet, war es zu Ende. Wie ich und auch andere
+bemerkten, war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. mehrmals im Begriff,
+ihrer unvorsichtigen Freundin ins Wort zu fallen.
+Diese aber schien ihrerseits dem eifersüchtigen Gatten
+unbedingt eine Narrenkappe aufsetzen oder ihn wenigstens
+eine lächerliche Rolle spielen lassen zu wollen –
+etwa diejenige eines Blaubart, wenigstens nach dem
+zu urteilen, was ich noch behalten habe, und nach der
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+Rolle, die ich selbst durch einen Zufall in dieser Komödie
+spielen sollte.
+</p>
+
+<p>
+Es geschah ganz plötzlich und so unvorhergesehen,
+daß ich kaum zur Besinnung kam. Ich stand und
+hörte zu, ohne etwas Böses zu ahnen, und hatte sogar
+meine Vorsicht vergessen, als ich mich mit einemmal
+mitten in den Streit hineingezogen sah: sie stellte mich
+plötzlich als den Todfeind und natürlichen Gegner des
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. vor, als den sterblich bis zur Verzweiflung verliebten
+Anbeter seiner Frau. Mit ihrem Ehrenwort verbürgte
+sich die Schreckliche für die Wahrheit ihrer Behauptungen,
+und sie beteuerte hoch und heilig, daß sie
+die sichersten Beweise besitze, z. B. habe sie noch an
+diesem Morgen im Walde gesehen ... –
+</p>
+
+<p>
+Doch sie konnte den Satz nicht beenden: ich
+unterbrach sie in dem für mich entscheidenden Augenblick.
+Aber dieser Augenblick wiederum war von ihr
+so geschickt abgepaßt, der Knoten war so genial geschürzt
+und die scherzhafte Lösung so wohl vorbereitet,
+und dabei alles so unnachahmlich wiedergegeben, daß
+eine schallende Lachsalve diesen letzten Trumpf begrüßte.
+Und obschon ich damals gleich erriet, daß die lächerlichste
+Rolle gar nicht mir zufiel, war ich doch so verwirrt,
+aufgebracht und erschrocken, daß ich mit Tränen
+in den Augen, mit dem Schmerz und der Erschütterung
+der Verzweiflung und Scham mich zwischen
+den Stühlen im Nu durchgedrängt hatte, mitten im
+Kreise stand und mit vor Tränen stockender Stimme
+empört meiner Feindin zurief:
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie schämen sich nicht ... ganz laut ...
+und vor allen Damen ... eine solche Unwahrheit zu
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+sagen!? ... Sie gebärden sich wie ein dummes Mädchen
+... und das noch dazu vor Männern! Was werden
+die dazu sagen? Sie sind doch schon groß und ...
+verheiratet! ...“
+</p>
+
+<p>
+Ohrenbetäubender Beifall unterbrach meine kindlichen
+Vorwürfe. Meine Standrede machte Furore.
+Es war aber nicht meine Geste, es waren auch nicht
+die Tränen in meinen Augen, die so erheiternd wirkten,
+sondern es war vor allem das, daß ich quasi als
+Verteidiger des <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. auftrat, was ein so unbändiges
+Gelächter hervorrief. In der Erinnerung muß ich
+jetzt gleichfalls lachen ... Damals aber erstarrte ich
+beinahe und verlor fast die Besinnung vor Entsetzen
+über diese Menschen – ich erbebte, bedeckte das Gesicht
+mit den Händen und stürzte fort, stieß in der Tür
+mit einem Diener zusammen, dem das Teebrett aus
+den Händen fiel, und lief wie der Wind nach oben in
+mein Zimmer. Ich riß den Schlüssel heraus, der von
+außen in der Tür stak, und schloß mich ein. Das war
+aber auch mein Glück, denn schon folgte mir eine wilde
+Jagd: eine halbe Minute später lief eine ganze Bande
+Sturm gegen meine Tür. Es waren alle unsere jungen
+Damen: ich hörte ihr Lachen, ihr Geschwätz, tausend
+Stimmen durcheinander, eine schneller als die
+andere – wie ein Schwalbenvolk zwitscherten sie
+durcheinander. Alle, alle ausnahmslos baten sie, flehten
+sie mich an, die Tür wenigstens auf einen Augenblick
+zu öffnen; sie schwuren, daß mir nichts Böses
+widerfahren werde, sie wollten mich nur totküssen, wie
+sie versicherten. Welche Drohung hätte fürchterlicher
+sein können? Ich verging vor Scham und preßte das
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+Gesicht in die Kissen und hätte um keinen Preis die
+Tür geöffnet oder auch nur mit einer Silbe geantwortet.
+Sie lärmten und bettelten noch lange hinter der
+Tür, ich aber blieb gefühllos und taub, wie nur ein
+Elfjähriger sein kann.
+</p>
+
+<p>
+Was sollte ich jetzt tun? alles war aufgedeckt, alles
+verraten, was ich so eifersüchtig geheimgehalten und
+vor allen Blicken verborgen hatte! ... Ich war für
+ewig mit Schmach und Schande bedeckt! In Wirklichkeit
+hätte ich freilich nicht zu sagen gewußt, was
+ich so ängstlich geheimhalten wollte; immerhin aber
+hatte ich doch vor der Entdeckung dieses geheimgehaltenen
+Etwas wie ein Blättchen gezittert. Auch war ich
+mir bis dahin durchaus nicht klar darüber gewesen,
+ob es etwas Gutes oder Schlechtes, etwas Rühmliches
+oder Schmähliches sei. Nun aber kam mir, plötzlich, zu
+meinem großen Kummer unter Qualen die Erkenntnis,
+daß dies alles <em>komisch</em> und <em>beschämend</em> war!
+Mein Instinkt sagte mir zwar gleichzeitig, daß eine solche
+Auffassung falsch, unnatürlich und roh sei; aber ich
+war geschlagen, vernichtet; das Denkvermögen, oder
+vielmehr die Erkenntnisfähigkeit war in mir gleichsam
+gelähmt und schien sich irgendwie verwickelt und verwirrt
+zu haben. Es war mir unmöglich, mich gegen
+dieses Urteil aufzulehnen oder es auch nur gründlich
+zu untersuchen: ich war wie betäubt und fühlte nur,
+daß man mein Herz unmenschlich und schamlos verwundet
+hatte. Ich weinte ohnmächtige Tränen.
+Zugleich war ich gereizt: machtlose Wut kochte in
+mir und alsbald stieg sogar Haß auf, den ich zum erstenmal
+in meinem Leben empfand, denn zum erstenmal
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+in meinem Leben hatte ich ernstes Leid und eine
+wirkliche Kränkung erfahren. In mir, dem unwissenden
+Kinde, war das erste noch unbewußte, noch unentwickelte
+Gefühl mit roher Hand berührt, das erste
+scheue mädchenhaft zarte Schamgefühl entblößt und
+entheiligt und der erste und vielleicht sehr ernste ästhetische
+Eindruck ins Lächerliche gezogen worden. Allerdings
+konnten die Lacher vieles nicht wissen und meine
+Qualen nicht voraussehen. Hinzu kam noch ein besonderer
+Umstand, über den ich mir selbst noch nicht
+ganz klar geworden war, oder richtiger: den zu untersuchen
+ich mich bis dahin nicht recht getraut hatte. In
+Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bett
+liegen und verbarg das Gesicht in den Kissen. Frostschauer
+überliefen meinen Körper und ich fieberte.
+Zwei Fragen quälten mich: was hatte diese nichtsnutzige
+Blondine am Morgen im Walde zwischen mir
+und <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. gesehen, was hatte sie sehen können?
+Und die zweite Frage: wie, auf welche Weise, mit
+welchen Augen konnte ich jetzt noch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. ins
+Gesicht sehen, ohne auf der Stelle in demselben Augenblick
+vor Scham und Verzweiflung zu vergehen?
+</p>
+
+<p>
+Ein ungewohnter Lärm auf dem Hof weckte mich
+aus der halben Bewußtlosigkeit, in der ich mich befand.
+Ich stand auf und trat ans Fenster. Der Hof
+war voll von Equipagen, Reitpferden, Stallknechten
+und Kutschern: es sah aus, als wollten alle Gäste uns
+verlassen. Ein paar Reiter saßen schon auf den Pferden,
+die übrigen Gäste nahmen in den verschiedenen
+Wagen Platz ... – Da fiel mir ein, daß wir ja nach
+dem Nachbardorf fahren sollten und eine gewisse Unruhe
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+erfaßte mich: ich begann, mit den Augen meinen
+Klepper zu suchen, aber der war nicht zu sehen –
+folglich hatte man mich vergessen. Da hielt ich es nicht
+aus und lief Hals über Kopf nach unten, ohne an
+alle unangenehmen Folgen und den ganzen Vorfall
+noch weiter zu denken ...
+</p>
+
+<p>
+Unten erwartete mich eine vernichtende Nachricht:
+es gab für mich diesmal weder ein Pferd, noch einen
+Platz in einem Wagen – alle waren bereits besetzt
+und ich mußte das Vergnügen anderen abtreten.
+</p>
+
+<p>
+Von neuem Leid betroffen blieb ich an der Freitreppe
+stehen und blickte traurig auf die lange Wagenreihe
+und die Reiter und Reiterinnen, deren Tiere bereits
+unruhig tänzelten.
+</p>
+
+<p>
+Man wartete nur noch auf einen der Herren, der
+sich wohl etwas verspätet hatte. Unten vor der Freitreppe
+stand ein Reitpferd, schäumte ins Gebiß,
+scharrte mit dem Huf und zuckte bei jeder Kleinigkeit
+zusammen, wobei es große Lust verriet, sich zu bäumen.
+Zwei Stallknechte hielten das Tier am Zaum
+und zugleich sich selbst etwas bänglich nach Möglichkeit
+außer dem Bereich seiner Hufe, wie denn überhaupt
+alle in achtungsvoller Entfernung von ihm standen.
+</p>
+
+<p>
+Es hatte in der Tat seinen Grund, und einen sehr
+unangenehmen dazu, weshalb ich nicht mitkonnte.
+Abgesehen davon, daß noch neue Gäste angekommen
+waren, die die freien Plätze in den Wagen einnahmen,
+wollte es das Unglück, daß zwei Reitpferde erkrankten,
+von denen das eine mein Klepper war. Durch
+dieses Unglück wurde aber nicht ich allein betroffen:
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+auch für unseren neuen Gast, den blassen, jungen
+Mann, von dem ich bereits gesprochen, stand kein Reitpferd
+mehr zur Verfügung. Infolgedessen hatte sich
+unser Hausherr gezwungen gesehen, seinen wilden,
+noch nicht ganz zugerittenen jungen Hengst dem Gast
+anzubieten, wobei er freilich zur Beruhigung seines
+Gewissens hinzufügte, daß es ein Ding der Unmöglichkeit
+sei, auf dem Tier zu reiten, und daß er schon längst
+beschlossen habe, den Hengst wegen seiner Wildheit zu
+verkaufen, sobald er nur einen Käufer finden würde.
+Doch der junge Mann erklärte trotz der Warnung, daß
+er sich im Sattel sicher genug fühle, und im übrigen
+auch völlig bereit sei, sich gleichviel auf was für einen
+Pferderücken zu setzen, wenn er nur mitreiten könne.
+Da schwieg denn der Hausherr – doch wie mir schien,
+spielte ein etwas zweideutiges verschmitztes Lächeln
+um seine Lippen: er stand in Erwartung des Reiters,
+der sich im Sattel so sicher wähnte, auf der Treppe,
+ließ auch sein Pferd noch warten, rieb sich die Hände
+und blickte immer wieder nach der Tür. Ähnliche Gedanken
+wie ihr Herr schienen auch die beiden Stallburschen
+zu haben, die den Hengst hielten und sehr
+stolz darauf waren, sich vor soviel Zuschauern als die
+Bändiger eines wilden Tieres zeigen zu können, das
+jeden Augenblick einen Menschen totzutrampeln vermochte.
+In ihren Augen aber schien das verschmitzte
+Lächeln des Herrn sich widerzuspiegeln und sie guckten
+gleichfalls immer wieder nach der Tür, in der der
+kühne Reiter doch bald erscheinen mußte. Übrigens
+verhielt auch das Tier sich nicht anders, als habe es
+sich mit seinem Besitzer samt den Stallburschen verabredet:
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+es stand stolz und bis auf weiteres ruhig mit
+hocherhobenem Kopf da, wie wenn es fühle, daß einige
+Dutzend neugieriger Blicke auf ihm ruhten, und wie
+wenn es gerade auf seinen schlechten Ruf stolz sei –
+tat also ganz so wie mancher unverbesserliche Galgenstrick,
+der mit seinen Galgenstreichen prahlt. Und es
+war, als wollte das Tier den Kühnen herausfordern,
+der es wagen würde, ihm seine Freiheit zu nehmen.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Kühne erschien endlich. Es war ihm peinlich,
+daß er die Gesellschaft so lange hatte warten lassen,
+und indem er sich eilig die Handschuh anzog, stieg
+er die Stufen hinab und sah erst auf, als er schon die
+Hand nach dem Pferdehals ausstreckte und ein wildes
+Bäumen des Tieres, begleitet von einem warnenden
+Schrei der Zuschauer, ihn verblüfften. Der junge
+Mann trat einen Schritt zurück und betrachtete verwundert
+den Hengst, der jetzt am ganzen Körper zitterte,
+wütend schnaufte und wild die blutunterlaufenen
+Augen rollte, wobei er sich immer wieder auf die
+Hinterbeine setzte und die Vorderbeine hob, als wäre
+er im Begriff, sich im nächsten Augenblick loszureißen
+und in wilden Sätzen davonzujagen – die Stallburschen
+womöglich hinter sich herschleifend. Der junge
+Mann betrachtete ihn immer noch mit einem gewissen
+Befremden: dann errötete er leicht, wie in einer kleinen
+Verwirrung – sah auf, sah sich im Kreise um und
+sah die erschreckten Damen ...
+</p>
+
+<p>
+„Es ist ein schönes Tier,“ sagte er, wie zu sich selbst,
+„und meiner Meinung nach muß es prächtig sein,
+darauf zu reiten, – aber ... aber wissen Sie was?
+<em>Ich</em> werde es doch nicht versuchen,“ schloß er, sich mit
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+seinem stillen, freundlichen Lächeln, das seinem guten
+und klugen Gesicht so vortrefflich stand, an unseren
+Hausherrn wendend.
+</p>
+
+<p>
+„Und dennoch halte ich Sie für einen vorzüglichen
+Reiter, mein Wort darauf,“ versetzte dieser sichtlich erfreut
+und drückte unwillkürlich und dankbar seinem
+Gast die Hand, „eben weil Sie auf den ersten Blick
+erkannt haben, was für ein Tier es ist,“ fügte er stolz
+hinzu. „Werden Sie es mir glauben, daß ich, der ich
+dreiundzwanzig Jahre lang Husar gewesen bin, schon
+dreimal das Vergnügen hatte, dank seiner Gnaden auf
+der Erde zu liegen, nämlich genau so oft, wie ich mich
+auf diesen ... nichtsnutzigen Satan gesetzt habe. –
+Tankred, he! mein Freund, hier ist man dir nicht gewachsen!
+Dein Reiter muß offenbar ein zweiter Ilja
+von Murom<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> sein, der vorläufig noch in seinem uns
+unbekannten Dorf Karatscharowo sitzt und wartet, bis
+dir die Zähne ausfallen. Na, führt ihn fort! Wir haben
+genug von ihm! Habt ihn umsonst herausgeführt!“
+rief er den Stallburschen zu und rieb
+sich wieder selbstzufrieden die Hände.
+</p>
+
+<p>
+Ich muß hier bemerken, daß Tankred ihm nicht den
+geringsten Nutzen brachte und ganz umsonst seinen
+Hafer fraß. Überdies hatte er, der alte Husar, mit
+dem Ankauf dieses Pferdes seinen Ruhm als Pferdekenner
+eingebüßt, da er für dieses Tier, das außer
+seiner Schönheit gar keinen Wert besaß, eine märchenhafte
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+Summe bezahlt hatte ... Nichtsdestoweniger
+war er jetzt sehr zufrieden mit dem Tier, das seinen
+schlimmen Ruf bewährte und sich somit immerhin
+einen gewissen Ruhm erwarb, gleichviel welcher
+Art dieser auch war.
+</p>
+
+<p>
+„Wie, Sie wollen nicht mit uns reiten?“ rief
+die Blondine, der es sehr darum zu tun war, daß ihr
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Cavalier servant</span> gerade diesmal sie begleitete, „haben
+Sie denn wirklich keinen Mut?“
+</p>
+
+<p>
+„Bei Gott, diesmal hab’ ich ihn nicht!“ antwortete
+der junge Mann lachend.
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie sagen das im Ernst?“
+</p>
+
+<p>
+„So wollen Sie denn wirklich, daß ich mir den
+Hals breche?“
+</p>
+
+<p>
+„So setzen Sie sich schnell auf mein Pferd: fürchten
+Sie sich nicht, es ist lammfromm. Wir halten
+nicht auf – im Nu ist umgesattelt! Ich werde es auf
+Ihrem Pferde versuchen. Tankred kann doch nicht immer
+so unhöflich sein!“
+</p>
+
+<p>
+Gesagt – getan. Sie sprang aus dem Sattel
+und stand schon vor uns, noch bevor sie zu Ende gesprochen.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, da kennen Sie meinen Tankred schlecht,
+wenn Sie glauben, er werde Ihren Damensattel sich
+auflegen lassen! Und übrigens kann ich auf keinen
+Fall gestatten, daß Sie sich das Genick brechen –
+das wäre doch zu jammerschade!“ versetzte unser
+Hausherr seiner Gewohnheit gemäß mit affektierter
+Galanterie, die seiner Ansicht nach, gepaart mit einer
+gewissen Derbheit, wenn nicht mitunter gar verfänglichen
+Ungeniertheit, den alten Soldaten und „guten
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+Kerl“ markierte, der, wie er sich einbildete, besonders
+den Damen gefallen müsse. Das war nun einmal
+eine seiner Marotten, die wir alle kannten.
+</p>
+
+<p>
+„Na, du, Schreihals – willst du’s nicht versuchen?
+Du wolltest doch so gern mitkommen,“ wandte
+sich die unerschrockene Reiterin plötzlich an mich, auf
+Tankred deutend. Sie meinte es mit ihrem Vorschlag
+wohl selber nicht sonderlich ernst, sondern sprach ihn
+nur aus, um nicht so ganz ohne weiteres das eigene
+Reitpferd wieder besteigen zu müssen, nachdem sie
+nun doch schon unnütz abgesprungen war, und ferner,
+um auch mich nicht „ungerupft“ zu lassen, der ich so
+vorwitzig gewesen war, mich wieder vor ihr zu zeigen.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist gewiß nicht so, wie ... na, wozu Namen
+nennen – wie ein bekannter Held, und wirst dich
+nicht schämen, den Mut zu verlieren ... noch dazu,
+wenn ‚man‘ dir zuschaut, schöner Page,“ fügte sie hinzu,
+mit einem flüchtigen Blick auf <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M., deren
+Wagen der Treppe am nächsten hielt.
+</p>
+
+<p>
+Haß und Rachedurst hatten mein Herz erfüllt, als
+sie, in der Absicht, Tankred gegen ihr Reitpferd einzutauschen,
+zu uns getreten war ... Wie aber soll ich
+das wiedergeben, was ich bei dieser plötzlichen Herausforderung
+empfand? Es wurde dunkel vor meinen
+Augen, als ich den Blick bemerkte, den sie <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span>
+M. zuwarf. Wie ein Blitz durchzuckte mich die Idee
+... ja, in einer Sekunde, in dem Bruchteil einer Sekunde,
+war die Idee schon Wille geworden ... Ihr
+Blick wirkte auf mich wie ein Funke auf ein Pulverfaß
+– oder war das Maß schon so zum Überlaufen
+voll, daß ich bei diesem letzten Tropfen plötzlich wie
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+mit einem Schlage wieder ich selbst war und alles
+sich in mir aufbäumte – daß ich mit einer einzigen
+Tat alle meine Feinde schlagen und mich vor allen
+Zeugen an ihnen rächen wollte, indem ich zeigte, was
+für ein Held ich sei? Oder war es vielleicht das,
+daß jemand mir in diesem Augenblick, von dem ich
+noch nichts wußte, ein Stück Mittelalter durch irgendein
+Wunder oder eine Zauberei offenbarte und
+ich in meinem erhitzten Kopfe Turniere, Paladine,
+Knappen, schöne Edelfrauen, brechende Lanzen sah
+und Schwertergeklirr, Geschrei und Beifallruf der
+Menge hörte und zwischen all dem den schüchternen
+Schrei eines erschrockenen Herzens, der dem Stolzen
+auf dem Kampfplatz süßer klingt als alle Siegesfanfaren?
+... Nein, ich weiß wirklich nicht, ob dieser
+Unsinn mir schon damals den Kopf verwirrte, oder
+ob ich, wie mir scheint, nichts anderes dachte und
+fühlte, als daß meine Stunde geschlagen hatte! Mein
+Herz stand still, und dann gab ich mir einen Ruck
+und mit einem Sprunge war ich von der Treppe und
+stand neben Tankred.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Sie glauben, ich fürchte mich?“ rief ich
+frech und stolz zugleich, in einer Erregung, die mir die
+Sinne benahm und das Blut ins Gesicht trieb. „Dann
+sollen Sie sehen!“ ... Und noch bevor jemand mich
+zurückhalten konnte, hatte ich schon eine Hand in
+Tankreds Mähne und einen Fuß im Steigbügel:
+Tankred bäumte sich, warf wild den Kopf in die Luft,
+riß sich mit einem Ruck und Satz von den Stallknechten
+los und raste vom Hof – ein Schrei des Entsetzens
+entrang sich allen Zuschauern.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+Gott weiß, wie es mir gelang, im Fluge noch den
+anderen Steigbügel zu finden; ebensowenig begreife
+ich, wie ich nicht den Zaum verlor. Tankred raste mit
+mir durch das offene Gittertor, bog scharf nach rechts
+zur Seite und jagte mit hochgestrecktem Kopf blindlings
+längs dem Gitterzaun weiter. Erst in diesem Augenblick
+hörte ich hinter mir das Geschrei der fünfzig Stimmen:
+und dieser Schrei erweckte in meiner Brust soviel
+Freude und Stolz, daß ich diesen verrückten Augenblick
+meiner Kindheit nie vergessen werde. Das
+Blut stieg mir zu Kopf und betäubte, erstickte meine
+Angst. Ich war mir meiner selbst nicht bewußt. Übrigens
+hatte das alles, soweit ich mich erinnere, wirklich
+etwas Ritterliches.
+</p>
+
+<p>
+Indessen begann und endete mein Rittertum in
+kaum einer Minute – anderenfalls wäre es dem
+Ritter auch sehr schlecht bekommen. Und auch so verdanke
+ich meine Rettung nur einem Wunder. Zu reiten
+verstand ich freilich, aber mein gewohnter Klepper
+erinnerte doch weit eher an ein Lamm als an ein Reitpferd.
+Selbstverständlich wäre ich von Tankred aus
+dem Sattel geworfen worden, wenn er dazu nur Zeit
+gehabt hätte. Am Ende des Hofzaunes scheute er aber
+vor einem großen Stein am Wege, bäumte sich und
+warf sich so wild herum, daß es mir noch jetzt ein
+Rätsel ist, wie ich im Sattel blieb und nicht wie ein
+Ball drei Klafter weit zu Boden flog, um zerschmettert
+liegen zu bleiben, und wie Tankred selbst bei dieser
+plötzlichen wilden Wendung sich nicht einfach überschlug.
+So aber jagte er zurück zum Gittertor, schüttelte
+wild den Kopf, warf die Beine scheinbar wie sie
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+wollten in die Luft und schien mit jedem Satz und
+Seitensprung nur eines zu wollen: mich abzuschütteln,
+als wäre ich ein Tiger, der ihm auf den Rücken
+gesprungen und sich mit allen Zähnen und Pranken
+in sein Fleisch einkrallte. Noch ein Augenblick – und
+ich wäre geflogen –! Doch schon sprengten mehrere
+Reiter zu meiner Rettung herbei. Zwei von ihnen versperrten
+den Weg, zwei andere drängten ihre Tiere
+so dicht heran, daß sie mir fast die Beine zerdrückten,
+und schon hielten sie Tankred fest am Zaum. In wenigen
+Augenblicken waren wir wieder vor der Freitreppe.
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde aus dem Sattel gehoben, bleich und an
+allen Gliedern zitternd. Tankred stand unbeweglich
+mit sich hebenden und senkenden Flanken, mit bebenden
+roten Nüstern und schnaufendem Atem; dabei zitterten
+alle seine Nerven wie vor Wut und Empörung
+über die ungestrafte Frechheit eines Kindes, das ihn
+so beleidigt hatte! Ringsum ertönten noch immer Ausrufe
+der Angst und des Schrecks und der Verwunderung.
+</p>
+
+<p>
+Da begegnete mein irrender Blick dem der <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span>
+M., die erregt und bleich aussah, und – nie werde
+ich diesen Augenblick vergessen! – in dem Augenblick
+wurde ich feuerrot. Ich weiß nicht, was in mir vorging,
+aber verwirrt und erschreckt durch eine neue
+Empfindung senkte ich beschämt den Blick zu Boden.
+Doch mein Blick war bemerkt, war aufgefangen, war
+mir wieder gestohlen worden! Aller Augen wandten
+sich <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zu, und als diese so plötzlich die allgemeine
+Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah, erschrak
+sie und errötete plötzlich selbst wie ein Kind, gleichsam
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+infolge einer Empfindung, die gegen ihren Willen
+über sie kam, obgleich sie sich ganz unschuldig fühlte.
+Und in ihrer Verlegenheit zwang sie sich zu einem
+Lachen ... Doch half ihr auch das nicht, ihr Erröten
+zu verbergen ...
+</p>
+
+<p>
+Alles dies hätte einem unbeteiligten Beobachter
+natürlich sehr komisch erscheinen müssen – aber da
+bewahrte mich ein höchst naiver und unerwarteter
+neuer Ausfall der Ungezogenen vor dem allgemeinen
+Gelächter, indem er den ganzen Zwischenfall in ein
+besonderes Licht rückte. Sie, die mich zu meiner Tollkühnheit
+herausgefordert hatte und die ganze Zeit über
+mein unversöhnlichster Feind gewesen war, stürzte
+plötzlich zu mir, umschlang mich mit beiden Armen
+und bedeckte mich mit Küssen. Sie hatte ihren Augen
+nicht getraut, als ich ihre Herausforderung annahm
+und den Handschuh aufhob, den sie mir mit ihrem Blick
+auf <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zuwarf. Und als ich auf Tankred
+dahinjagte, da war sie vor Angst und Gewissensbissen
+schier ohnmächtig geworden. Jetzt aber, nachdem
+alles überstanden war und sie wie alle anderen meinen
+Blick auf <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. bemerkte, dazu meine Verwirrung
+und mein plötzliches Erröten wahrnahm – jetzt,
+da sie dem Vorfall mit einer romantischen Deutung
+einen ganz anderen Sinn beilegen konnte – jetzt geriet
+sie in solches Entzücken ob meiner „Rittertat“,
+daß sie zu mir eilte und mich in ihre Arme schloß,
+gerührt, stolz, begeistert! Einen Augenblick später richtete
+sie sich schnell auf und wandte den übrigen, die
+sich um uns drängten, ihr Gesicht mit der ernsthaftesten
+Miene zu, in der unendlich viel kindlich naiver Stolz
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+lag, und sagte, indes zwei kristallklare Tränen an ihren
+Wimpern hingen, mit einer so ernsten, wichtigen
+Stimme, wie ich sie von ihr noch nie gehört hatte:
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais c’est très sérieux, messieurs, ne riez
+pas!</span>“ Und sie deutete auf mich, ohne zu gewahren,
+daß alle wie bezaubert vor ihr standen und nur sie
+ansahen. Diese ihre unerwartete schnelle Bewegung,
+ihr ernstes liebes Gesicht, ihre offenherzige Naivität
+und diese aufrichtigen Tränen in ihren ewig lachenden
+Augen – alles das erschien ihnen als ein so unerwartetes
+Wunder, daß alle sie ansahen, wie gebannt
+durch diesen Zauber ihrer Leidenschaftlichkeit, ihres
+Blickes und ihrer Stimme. Niemand konnte die Augen
+von ihr abwenden, so schön war sie in ihrer Rührung
+und Begeisterung. Sogar unser alter Hausherr wurde
+rot wie eine Tulpe. Und wie man später behauptete,
+soll er gesagt haben: „Zu seiner Schande müsse er gestehen,
+daß er mindestens eine ganze Minute lang in
+seinen schönen Gast verliebt gewesen sei.“ Ich aber
+war jetzt natürlich ein Ritter, war ein Held!
+</p>
+
+<p>
+„Delorges! Toggenburg!“ ertönte es aus dem
+Kreise.
+</p>
+
+<p>
+Viele applaudierten.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja, die junge Generation!“ bemerkte unser
+Hausherr.
+</p>
+
+<p>
+„Aber jetzt kommt er mit, jetzt muß er unbedingt
+mit uns mitkommen!“ rief die Blondine schnell, „wir
+müssen ihm einen Platz verschaffen! Oder er setzt sich
+zu mir aufs Pferd, auf meinen Schoß ... ach, nein,
+nein! Das geht ja nicht!“ ... unterbrach sie sich, auflachend,
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+und konnte dabei ihr Lachen nicht bezwingen bei
+der Erinnerung an unsere erste Bekanntschaft. Doch
+während sie lachte, streichelte sie zärtlich meine Hand,
+sichtlich von Herzen bemüht, meine Freundschaft zu
+gewinnen und die Kränkung vergessen zu machen.
+</p>
+
+<p>
+„Unbedingt! Unbedingt!“ riefen gleich mehrere
+Stimmen, „den Platz hat er sich erobert!“
+</p>
+
+<p>
+Und im Augenblick war alles besorgt: jenes selbe
+ältere Fräulein, das mich mit ihrer schönen Freundin
+bekannt gemacht hatte, wurde sogleich von der ganzen
+Jugend mit Bitten bestürmt, ihren Platz mir abzutreten
+und statt meiner zu Haus zu bleiben. Zu
+ihrem größten Ärger blieb ihr denn auch nichts anderes
+übrig, als den Bitten Gehör zu geben und mit
+sauersüßem Lächeln auszusteigen – innerlich wohl
+dem Bersten nahe vor Wut über mich. Ihre Beschützerin,
+meine gewesene Feindin und nun größte Freundin,
+rief ihr jedoch, als sie an ihr vorüberritt, wie ein
+Kind lachend zu, daß sie sie beneide und gern mit ihr
+tauschen wollte, denn es werde gleich regnen und
+dann würden wir alle naß.
+</p>
+
+<p>
+Ihre Prophezeiung traf wirklich ein. Etwa eine
+Stunde später überraschte uns ein Platzregen und wir
+mußten mehrere Stunden in den Bauernhäusern warten.
+Erst gegen zehn Uhr kehrten wir zurück, in feuchter,
+frisch-kühler Regenluft. Kurz bevor wir aufbrachen,
+trat <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zu mir und fragte mich verwundert,
+warum ich nichts weiter angezogen hätte, als
+meine leichte Matrosenbluse. Ich sagte, ich hätte keine
+Zeit gehabt, meinen Mantel mitzunehmen. Da nahm
+sie eine Nadel und steckte meinen Kragen höher fest
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+und nahm von ihrem Halse ein kleines, seidenes Tuch,
+das sie mir um den Hals band. Sie beeilte sich dabei
+aber so sehr, daß ich ihr nicht einmal danken konnte.
+</p>
+
+<p>
+Zu Haus angekommen, suchte ich sie und fand sie
+schließlich im kleinen Salon, im Gespräch mit der
+Blondine und dem freundlichen jungen Mann, der
+den Ruf eines guten Reiters damit eingebüßt hatte,
+daß er Tankred nicht zu reiten wagte. Ich trat an
+sie heran, bedankte mich und gab ihr das Halstuch
+zurück. Ich schämte mich jetzt des Vorgefallenen und
+wollte schnell fortgehen, nach oben auf mein Zimmer,
+um dort in aller Ruhe und Muße über irgend etwas,
+was ich im Augenblick selbst nicht zu nennen vermocht
+hätte, nachzudenken und mir darüber Klarheit zu verschaffen.
+Ich war so voll von neuen Eindrücken. Indem
+ich das Tuch zurückgab, errötete ich natürlich wieder
+bis über die Ohren.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wette, der Junge hat das Ding behalten
+wollen,“ bemerkte der junge Mann lachend, „man
+sieht es ja seinen Augen an, wie leid es ihm tut, sich
+von Ihrem Tuch trennen zu müssen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich, natürlich doch!“ fiel ihm die Blondine
+ins Wort. „So ein Schlingel! Ach du!“ ...
+sagte sie scheinbar sehr angehalten und schüttelte mißbilligend
+den blonden Kopf, verstummte aber sogleich
+unter dem ernsten Blick der <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M., der sie bat,
+ihre Scherze mit mir nicht wieder zu weit zu treiben.
+</p>
+
+<p>
+Ich ging schnell fort.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin läufst du denn! So lauf doch nicht weg!“
+– damit holte sie mich im Nebenzimmer ein und erfaßte
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+freundschaftlich meine beiden Hände – „hättest
+du es doch einfach nicht zurückgegeben, wenn du’s so
+gern behalten wolltest! Hättest doch sagen können, daß
+du es verloren hast oder irgendwohin gelegt, und damit
+basta! Und das hast du nicht verstanden? Du bist
+mir mal ein Tor!“
+</p>
+
+<p>
+Und sie gab mir mit dem Finger einen leichten
+Backenstreich und lachte, weil ich wieder feuerrot
+wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt sind wir doch gute Freunde, nicht wahr?
+Hat unsere Feindschaft ein Ende, sag’!? Ja oder
+nein?“
+</p>
+
+<p>
+Ich lachte und drückte ihr ohne ein Wort die
+Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, das ist gut! ... Aber warum bist du so
+bleich geworden und warum zitterst du? Hast du dich
+erkältet?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich fühle mich nicht ganz wohl ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, du Armer! Das kommt von der Aufregung!
+Weißt du was? Geh jetzt lieber gleich ins
+Bett, warte nicht erst auf das Abendessen, und wenn
+du dich gut ausschläfst, wird es vergehen. Komm!“
+</p>
+
+<p>
+Sie führte mich nach oben, und wie es schien,
+konnte sie mir nicht genug Liebes erweisen. Während
+sie mich zum Auskleiden allein ließ, lief sie nach unten
+in die Küche und brachte mir heißen Tee, den ich,
+als ich schon im Bett lag, trinken mußte. Dann brachte
+sie mir noch eine warme Decke und deckte mich sorgfältig
+zu. Ihre liebevolle Sorge wunderte und rührte
+mich nicht wenig, – oder vielleicht waren auch meine
+Nerven nach allen Erlebnissen an diesem Tage und
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+obendrein noch durch das Fieber besonders empfänglich
+dafür. Ich schlang plötzlich meine Arme um ihren
+Hals, als wäre sie mein liebster und bester Freund,
+und mit einem Male kamen alle Eindrücke des Tages
+wieder und stürmten auf mein ermattetes Herz: ich
+war den Tränen nahe und schmiegte mich fest an ihre
+Brust. Sie erriet meine überwallende Empfindung
+und ich glaube, mein Wildfang war selbst beinahe
+gerührt.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ein guter Junge,“ flüsterte sie mir zu und
+sah mich mit stillen Augen an, „so sei mir nun nicht
+mehr böse, ja? wirst mir nicht mehr böse sein?“
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Wort: uns verband von nun an die
+treueste, zärtlichste Freundschaft.
+</p>
+
+<p>
+Es war ziemlich früh am Morgen, als ich erwachte,
+aber die Sonne erfüllte das Zimmer schon
+mit goldigem Licht. Ich sprang gesund und munter
+aus dem Bett, von der Erkältung empfand ich nichts
+mehr, statt dessen aber eine unendliche, unerklärliche
+Freude. Ich dachte an den ereignisreichen letzten Tag
+und Abend und ich hätte ein ganzes Glück dafür hingegeben,
+wenn ich in diesem Augenblick wieder meinen
+neuen Freund, unsere blondlockige Schönheit hätte
+umarmen können. Aber es war noch zu früh und sie
+schliefen wohl noch alle. Ich kleidete mich schnell an,
+ging in den Garten und von dort in den Wald. Ich
+schlug die Richtung ein, in der der Wald am dichtesten
+war, der Duft der Bäume harziger, und wo die
+Sonnenstrahlen neckisch und nur wie verstohlen hier
+und da durch das dichte Blattgewirr lugten. Es war
+ein wundervoller Morgen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+Ich ging weiter und weiter, bis ich schließlich
+am anderen Waldrande anlangte, auf einem Bergabhange
+nicht weit vom Fluß. Die Moskwa ist dort
+keine zweihundert Schritte vom Waldesrande entfernt,
+wenn man den Abhang hinabgeht. Auf dem anderen
+Ufer wurde Heu gemäht. Ich blieb stehen und schaute
+hinüber: ich sah, wie ganze Reihen scharfer Sensen
+bei jedem Ausholen der Schnitter in der Sonne aufblitzten
+und dann wieder verschwanden, gleich kleinen
+glänzenden Schlangen, die schnell immer von neuem
+ins Gras huschten, als wollten sie sich verstecken, und
+wie das gemähte Gras in dicken bauschigen Büscheln
+zur Seite flog und in langen geraden Streifen liegen
+blieb. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so hinübergeschaut
+haben mochte, als ich plötzlich aus meinen
+Träumen zur Besinnung kam: aus dem Walde,
+ungefähr aus der Richtung des Durchhaus, der sich
+zwischen dem Fahrweg und dem Herrenhause hinzog,
+vernahm ich Pferdegeschnauf und ungeduldiges Scharren
+mit dem Huf. Ich konnte jedoch nicht sagen, ob der
+Reiter sein Tier gerade erst anhielt, oder ob schon längere
+Zeit das Stampfen und Schnaufen zu hören gewesen
+war, das ich – in mich selbst versunken, wie ich, während
+ich den Schnittern zusah, dagestanden – nur nicht
+gehört hatte. Neugierig kehrte ich zurück in den Wald
+und schon nach wenigen Schritten vernahm ich Stimmen,
+die schnell, aber leise durch die Stille erklangen.
+Ich ging noch näher und bog die Äste der letzten Büsche
+zur Seite und – erschrocken wich ich zurück –
+durch die Zweige schimmerte ein weißes Kleid:
+eine weiche Frauenstimme schlug an mein Ohr und
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+ließ mein Herz erzittern. Es war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. Sie
+stand neben einem Reiter, der vom Pferde herab
+schnell auf sie einsprach, und zu meiner Verwunderung
+erkannte ich in ihm N., jenen jungen Mann, der
+uns tags zuvor verlassen hatte, begleitet von allen
+jungen Damen und auch von <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. Hatte man
+nicht gesagt, er müsse irgendwohin, weit nach dem
+Süden Rußlands reisen? Wahrlich, es war nur zu
+erklärlich, daß ich mich recht verwunderte, als ich ihn
+wieder bei uns und noch dazu so früh am Morgen und
+allein mit <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. im Walde erblickte!
+</p>
+
+<p>
+Sie schien geweint zu haben und sah erregt aus,
+aber so schön hatte ich sie noch nie gesehen. Der junge
+Mann hielt ihre Hand in der seinen und führte sie,
+im Sattel sich herabneigend, an seine Lippen. Ich
+hatte sie beim Abschied überrascht. Ich glaube, sie beeilten
+sich. Endlich zog er aus der Brusttasche einen
+Brief, reichte ihn <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M., umfing sie mit dem
+einen Arm, sich wie vorher im Sattel herabbeugend,
+und küßte sie – fest und lange. Einen Augenblick später
+wippte die Peitsche und er sprengte schnell an mir
+vorüber, auf und davon. Sie aber stand noch eine
+Weile und blickte ihm nach, dann wandte sie sich um
+und kehrte langsam, nachdenklich und traurig zum
+Hause zurück. Nach wenigen Schritten schien sie plötzlich
+zu sich zu kommen, wie aus einem Traum zu erwachen
+– und sie bog schnell die Zweige der Büsche
+am Durchhau zur Seite und ging durch den Wald.
+</p>
+
+<p>
+Ich folgte ihr, erstaunt und verwirrt durch das,
+was ich gesehen hatte. Mein Herz pochte laut, wie
+nach einem großen Schreck. Und dennoch war ich wie
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+erstarrt und betäubt: meine Gedanken waren zerstreut
+und ich konnte sie nicht sammeln; aber ich erinnere
+mich, daß ich furchtbar traurig war. Hin und
+wieder sah ich ihr weißes Kleid durch das Grün
+schimmern. Ich folgte ihr ganz willenlos, fast mechanisch,
+und hatte dabei nur den einen Gedanken, sie
+nicht aus dem Auge zu verlieren und doch selbst nicht
+von ihr gesehen zu werden. Endlich trat sie auf den
+Weg, der aus dem Walde in den Garten führte. Ich
+wartete eine Weile, dann trat ich gleichfalls aus dem
+Walde. In demselben Augenblick bemerkte ich auf
+dem gelben Kies des Weges ein geschlossenes Kuvert,
+das ich auf den ersten Blick erkannte – es war dasselbe,
+das vor etwa zehn Minuten N. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M.
+eingehändigt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Ich hob es auf, betrachtete es von allen Seiten:
+ein weißes Kuvert ohne Aufschrift, ohne ein Zeichen,
+dem Format nach nicht sehr groß, aber recht dick und
+schwer, wie wenn mindestens drei Bogen Postpapier in
+ihm waren.
+</p>
+
+<p>
+Was enthielt dieser Brief? Vielleicht das ganze
+Geheimnis! Vielleicht war in ihm alles das ausgesprochen,
+was N. in den wenigen Minuten des kurzen
+Wiedersehens nicht zu sagen gewagt hatte. Er
+war ja dem Anscheine nach nicht einmal abgestiegen
+... Sollte er sowenig Zeit gehabt haben oder
+fürchtete er vielleicht bei einem längeren Abschied seinem
+gegebenen Wort nicht treu bleiben zu können –
+Gott mag es wissen ...
+</p>
+
+<p>
+Ich blieb stehen, legte den Brief mitten auf den
+Weg, gerade auf die sichtbarste Stelle und versteckte
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+mich hinter einem Baum, so daß ich den Brief im
+Auge behalten konnte, denn ich dachte, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M.
+werde bald bemerken, daß sie ihn verloren hatte, und
+dann, um ihn zu suchen, auf demselben Wege in den
+Wald zurückkehren. Ich hielt aber das Warten nicht
+lange aus, hob den Brief wieder auf, steckte ihn in die
+Tasche und lief ihr nach. Sie war aber schon im Garten
+und ging in der großen Allee geradeswegs zum
+Hause, ging schnell, doch mit gesenktem Kopf. Da
+wußte ich nicht, was ich tun sollte. Sie einholen und
+ihr den Brief geben? Das hätte verraten, daß ich alles
+gesehen, daß ich alles wußte. Wie sollte ich ihr
+dann noch in die Augen blicken? und was würde sie
+von mir denken? Ich hoffte immer noch, daß sie zu sich
+kommen, sich des Briefes erinnern und dann bemerken
+werde, daß sie ihn verloren hatte. In dem Falle
+hätte ich ihn unbemerkt fallen lassen: und sie würde
+ihn sogleich gefunden haben. Aber nein, sie dachte offenbar
+nicht an den Brief! Sie näherte sich schon dem
+Hause, und auf der Terrasse hatte man sie bereits erblickt.
+</p>
+
+<p>
+An diesem Morgen waren alle viel früher aufgestanden,
+denn am Abend nach der mißlungenen Ausfahrt
+hatte man sogleich einen neuen Ausflug verabredet,
+wovon ich noch nichts wußte. Alle hatten sich
+schon zur Abfahrt bereitgemacht und saßen gerade
+beim Frühstück auf der Terrasse. Ich wartete gute zehn
+Minuten, damit man mich nicht zusammen mit
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. aus dem Garten kommen sah, machte
+einen Umweg und näherte mich von einer anderen
+Seite dem Hause. Sie ging auf der Terrasse unruhig
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+hin und her, sah bleich und erregt aus und aus allem
+war zu ersehen, daß sie sich Gewalt antat, um ihre
+Erregung und Angst nicht zu verraten; dennoch sprach
+aus ihren Augen, ihrem unruhigen Gang, aus jeder
+Bewegung soviel Qual und Pein, daß sie wohl jedem,
+der sie beobachtet hätte, aufgefallen wäre. Sie
+stieg die Stufen hinab und ging ein paar Schritte auf
+dem Wege in den Garten; ihre Augen suchten angstvoll
+und sogar unvorsichtig und auffällig auf dem Kies
+und dem Fußboden der Terrasse. Da wußte ich: jetzt
+endlich vermißte sie den Brief und fürchtete wohl,
+ihn in der Nähe des Hauses verloren zu haben –
+ja, sie schien davon überzeugt zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Jemand machte die Bemerkung, und nach ihm
+wiederholten sie alle anderen, daß sie bleich und nervös
+aussehe. Es folgten Fragen nach ihrer Gesundheit,
+lästige Ratschläge. Sie mußte beruhigen, scherzen,
+lachen, mußte eine heiter gelassene Miene zur
+Schau tragen. Zuweilen flog ihr Blick zu ihrem
+Mann hinüber, der am anderen Ende der Terrasse
+sich mit zwei Damen unterhielt, und dann überlief
+wieder jenes Zittern ihren Körper und jene große Befangenheit
+kam über sie, wie an dem Abend, als er
+unerwartet hier eingetroffen war. Ich stand, die Hand
+in der Tasche, in der ich den Brief krampfhaft festhielt,
+etwas abseits auf der Terrasse und flehte das
+Schicksal an, daß sie mich endlich bemerken möge. Ich
+wollte sie beruhigen, trösten, und war’s auch nur mit
+einem Blick, oder ihr, wenn es anging, heimlich ein
+paar Worte zuflüstern. Doch als sie mich dann zufällig
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+ansah, da zuckte ich zusammen und senkte den
+Blick.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah ihre Qual und täuschte mich nicht in meiner
+Annahme. Auch jetzt weiß ich von ihrem Geheimnis
+nicht mehr als damals, nichts weiter als das,
+was ich soeben wiedergegeben. Aber ihr Verhältnis
+zu N. war vielleicht doch nicht von der Art, wie man
+es auf den ersten Blick vermuten könnte. Vielleicht
+war dieser Kuß ein letzter Abschiedskuß, ein dürftiger
+Lohn für ein Opfer, das er ihrer Ruhe und Ehre
+brachte? Er verließ sie. Er reiste irgendwohin, weit
+fort, vielleicht fürs ganze Leben, um sie nie wiederzusehen.
+Und schließlich, dieser Brief, den ich kampfhaft
+umklammerte – wer weiß, was er enthielt? Wer
+konnte da urteilen? Zweifellos wäre die plötzliche Aufdeckung
+ihres Geheimnisses ein entsetzlicher, ein vernichtender
+Schlag für sie gewesen. Ich sehe noch heute
+ihr Gesicht vor mir, wie sie dort ging und stand: nein,
+mehr konnte man nicht leiden! Fühlen, wissen, überzeugt
+sein, und wie auf seine Hinrichtung darauf warten,
+daß in einer Viertelstunde oder schon in der nächsten
+Minute alles der Öffentlichkeit preisgegeben
+sein würde – der Brief konnte doch jeden Augenblick
+von jemandem gefunden werden! Er war ohne Aufschrift,
+man würde ihn erbrechen und dann ... was
+dann? Welche Hinrichtung könnte furchtbarer sein,
+als die, die sie erwartete? Sie stand und ging hier
+mitten unter ihren zukünftigen Richtern. Nach wenigen
+Minuten würden alle diese lächelnden, schmeichelnden
+Gesichter streng und unerbittlich aussehen.
+Spott, Bosheit und eisige Verachtung würde sie in
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+ihnen lesen und dann würde ewige, hoffnungslos
+dunkle Nacht ihr Leben abschließen ... Damals freilich
+begriff ich das alles noch nicht so, wie jetzt. Ich
+konnte es nur ahnen und Mitleid mit ihr empfinden,
+tiefes, unsagbares Mitleid mit ihrer Angst, die ich
+nicht einmal ganz verstand. Doch was auch immer ihr
+Geheimnis gewesen sein mag – durch jene qualvolle
+Stunde, deren Zeuge ich war und die ich niemals vergessen
+werde, hat sie viel gesühnt, wenn hier überhaupt
+etwas zu sühnen war.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich erscholl der fröhliche Ruf zur Abfahrt.
+Ein lautes Stimmengewirr war die Antwort, und
+unter Scherzen und Lachen brach man auf. In wenigen
+Minuten hatten alle die Terrasse verlassen.
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. weigerte sich, mitzufahren und gestand
+schließlich, daß sie sich nicht wohl fühle. Doch Gott sei
+Dank, alle beeilten sich und niemand belästigte sie weiter
+mit Fragen oder Ratschlägen: dazu hatten sie jetzt
+keine Zeit. Nur wenige blieben zu Haus. Ihr Mann
+war zu ihr getreten und sagte ihr irgend etwas: sie erwiderte,
+daß ihr Unwohlsein schnell vergehen werde,
+er solle sich deshalb nicht beunruhigen; hinlegen wolle
+sie sich nicht, sie werde in den Garten gehen, allein ...
+oder mit mir ... Dabei sah sie sich nach mir um. Ich
+errötete vor Freude: das war ja die beste Gelegenheit,
+die sie mir damit bot! Einen Augenblick später machten
+wir uns auf den Weg.
+</p>
+
+<p>
+Sie ging denselben Weg, den sie gekommen war,
+sie schien sich unwillkürlich jeder Allee, jedes Umweges
+im Garten, jedes Fußsteiges zu erinnern, und
+sie ging, ohne den Blick vom Boden zu erheben, ohne
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+mich zu beachten – vielleicht hatte sie es schon vergessen,
+daß ich mit ihr ging.
+</p>
+
+<p>
+Als wir an den Waldrand kamen, wo ich den
+Brief gefunden hatte und wo der Kiesweg aufhörte,
+blieb sie plötzlich müde stehen und sagte mit einer
+Stimme, die mir ins Herz schnitt, so verzweifelt und
+hoffnungslos traurig klang sie, daß sie sich schlecht
+fühle und zurückkehren wolle. Doch kaum waren wir
+wieder beim Gartenzaun angelangt, da blieb sie von
+neuem stehen und starrte vor sich hin. Ein wehes,
+qualvolles Lächeln zuckte um ihre Lippen und wie erschöpft
+und wie aus Erschöpfung sich allem ergebend,
+sich in alles fügend, was auch über sie hereinbrechen
+sollte, kehrte sie stumm zum Walde zurück, diesmal
+ohne mir ein Wort zu sagen, ohne mich zu beachten ...
+</p>
+
+<p>
+Ich hätte mich selbst zerreißen mögen, und doch
+verfiel ich nicht auf einen Ausweg ...
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen, oder richtiger, ich führte sie an jene
+Stelle, wo ich vor etwa einer Stunde gestanden und
+plötzlich den Hufschlag gehört hatte. Nicht weit von
+dort war am Fuß einer alten Ulme ein bankartig gehauener
+großer Feldstein, von Hagebutten, wildem
+Jasmin und Efeu umgeben. (Der Wald hatte eine
+Menge solcher „Überraschungen“, wie Bänke, Grotten,
+kleine Brücken und ähnliches.) Sie setzte sich auf
+die Bank und sah geistesabwesend auf das entzückende
+Landschaftsbild, das sich uns bot. Nach einer Weile
+schlug sie das Buch auf und tat, als läse sie, aber sie saß
+reglos, wandte weder ein Blatt, noch las sie: sie
+wußte wohl selbst nicht, was sie tat. Es war gegen
+halb zehn Uhr. Die Sonne stand schon hoch am klaren,
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+endlos hohen blauen Sonnenhimmel und schien in
+ihrem eigenen Feuer zu verbrennen. Die Schnitter
+waren bereits weit, man konnte sie von unserem Ufer
+kaum noch sehen. Ununterbrochen folgten ihnen die
+langen Streifen des gemähten Grases und wenn die
+Luft sich ab und zu wie in einem leisen Wehen regte,
+dann trug sie frischen Heuduft. Ringsum aber ertönte
+unermüdlich das Zwitschern jener, die „weder
+säen, noch ernten“ und frei sind wie die Luft, in der
+sie fliegen. Es lag solch ein seliges Wohlsein in der
+ganzen Natur!
+</p>
+
+<p>
+Ich blickte scheu auf die arme Frau, die allein wie
+eine Tote inmitten dieses frohen Lebens war: an ihren
+Wimpern hingen Tränen, die ihr das Leid aus den
+Augen gepreßt. In meiner Macht war es, diese arme,
+traurige Seele aufzurichten und zu beglücken, und doch
+wußte ich nicht, wie ich es anfangen sollte, und ich
+quälte mich entsetzlich. Hundertmal war ich schon im
+Begriff, zu ihr zu treten, um ihr den Brief zu übergeben,
+und jedesmal stieg mir dann die Röte wie Feuer
+ins Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich erleuchtete mich ein guter Gedanke: ich
+war auf ein Mittel verfallen und wie erlöst!
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde Ihnen Blumen pflücken! Wollen
+Sie?“ fragte ich sie so froh, daß sie aufsah und mich
+anblickte.
+</p>
+
+<p>
+„Gut,“ sagte sie endlich mit müder Stimme, kaum
+merkbar lächelnd, und wieder sah sie ins Buch.
+</p>
+
+<p>
+„Sonst wird hier auch das Gras gemäht und dann
+mähen sie alle Blumen nieder!“ rief ich fröhlich und
+sprang davon.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+Bald hatte ich schon eine ganze Menge gepflückt,
+wenn es auch nur ein Strauß einfacher, unscheinbarer
+Feldblumen war, die man wohl kaum in einer Vase
+ins Zimmer stellen würde. Und doch, wie froh schlug
+mein Herz, als ich die Blumen suchte und zum
+Strauße zusammenband! Heckenrosen und wilden
+Jasmin brach ich. Dann lief ich zu einem nahen Kornfeld.
+Dort, das wußte ich, blühten Kornblumen. Die
+pflückte ich, und dazu lange goldgelbe Ähren, die
+schönsten suchte ich aus. Am Wegrande fand ich auch
+ein ganzes Büschel Vergißmeinnicht und mein Strauß
+konnte sich eigentlich schon sehr wohl sehen lassen. Weiter
+im Felde fand ich hellblaue Glockenblumen und
+wilde Nelken und unten am Flußufer gelbe Wasserrosen.
+Endlich, schon auf dem Rückwege, als ich noch
+auf einen Augenblick in den Wald trat, um einige Silberahornzweige
+zu brechen und sie unten kranzartig
+um die Blumen zu legen, fand ich wilde Stiefmütterchen
+und in ihrer Nähe, durch ihren Geruch aufmerksam
+gemacht, im Grase ganz versteckt, süß duftende
+Veilchen, die vom Tau noch feucht waren. Mein
+Strauß war fertig. Mit dünnen langen Gräsern umwand
+ich die Stiele und zwischen die Blumen, ganz
+vorsichtig, steckte ich den Brief, so daß man ihn deutlich
+sehen konnte, wenn man dem Bukett nur einige
+Beachtung schenkte.
+</p>
+
+<p>
+So brachte ich es <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M.
+</p>
+
+<p>
+Unterwegs schien es mir, daß der Brief doch gar
+zu auffallend hervorragte: deshalb verdeckte ich ihn
+etwas mehr mit den Blüten. Als ich mich ihr schon
+näherte, schob ich ihn noch etwas tiefer hinein, und
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+als ich schon ganz nahe bei ihr war, stieß ich ihn so
+tief in den Strauß, daß man von ihm nichts mehr sehen
+konnte. Das Blut schoß mir wieder ins Gesicht, ich
+wollte es mit den Händen bedecken und sogleich fortlaufen,
+aber sie sah nur so zerstreut auf meine Blumen,
+als habe sie ganz vergessen, daß ich sie für sie
+gepflückt hatte. Mechanisch hob sie die Hand, nahm,
+fast ohne aufzusehen, mein Geschenk in Empfang und
+legte es achtlos auf die Bank – und wieder sah sie
+ins Buch, wie in Gedanken verloren. Ich hätte weinen
+mögen vor lauter Ärger über den Mißerfolg meines
+Planes. „Wenn der Strauß nur bei ihr bleibt,“
+dachte ich, „wenn sie ihn nur nicht vergißt!“ Ich legte
+mich in der Nähe der Bank ins Gras, schob die rechte
+Hand unter den Kopf und schloß die Augen, als wollte
+ich schlafen. Dabei aber beobachtete ich sie heimlich
+unausgesetzt.
+</p>
+
+<p>
+Es verging eine geraume Zeit, vielleicht zehn Minuten;
+wie mir schien, wurde ihr Gesicht immer bleicher
+... Plötzlich kam ein glücklicher Zufall mir zu
+Hilfe.
+</p>
+
+<p>
+Es war das eine große goldbraune Hummel, die
+ein freundliches Lüftchen zu uns führte. Sie summte
+zuerst über meinem Kopf, dann flog sie zu <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span>
+M. Diese schlug mit der Hand nach ihr, schlug noch
+einmal, aber die Hummel wurde wie zum Trotz nur
+noch zudringlicher. Da griff <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. nach meinem
+Strauß, um mit ihm das Tier zu verscheuchen. In dem
+Augenblick löste sich aus den Blumen der Brief und
+fiel gerade auf das aufgeschlagene Buch. Ich zuckte
+zusammen. Sie blickte, stumm vor Verwunderung, bald
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+auf den Brief, bald auf die Blumen und schien ihren
+Augen nicht zu trauen. Plötzlich wurde sie feuerrot,
+erhob schnell den Blick und sah sich nach mir um. Doch
+schon hatte ich die Augen geschlossen und tat, als
+schliefe ich fest: für keinen Preis hätte ich ihr jetzt offen
+in die Augen geschaut. Mein Herz pochte laut und
+schien doch stillstehen zu wollen – ich hielt den Atem
+an. Ich weiß nicht, wie lange ich so lag: zwei bis drei
+Minuten vielleicht. Endlich wagte ich es, ganz, ganz
+vorsichtig die Augen zu öffnen. Sie saß und las den
+Brief, und an ihren glühenden Wangen und glänzenden
+Augen, die tränenfeucht waren, ihrem verklärten
+Gesicht, in dem jeder Zug vor freudiger Erregung
+zu beben schien, erriet ich, daß der Brief ihr Glück gab
+und ihr Kummer wie eine trübe Wolke verscheucht
+wurde. Ein schmerzlich süßes Gefühl schlich in mein
+Herz und es fiel mir schwer, mich noch weiter schlafend
+zu stellen ...
+</p>
+
+<p>
+Niemals werde ich diese Stunde vergessen!
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich hörte ich rufen, nicht weit von uns erklangen
+Stimmen:
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M.! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Natalie! Natalie!</span>“
+</p>
+
+<p>
+Sie antwortete nicht, stand aber schnell auf, trat
+zu mir und beugte sich über mich. Ich fühlte es, daß
+sie mir gerade ins Gesicht sah. Meine Lider wollten
+schon zucken, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen
+und rührte mich nicht. Ich versuchte, möglichst
+gleichmäßig und ruhig zu atmen, aber das Herz wollte
+mich ersticken mit seinen ungestümen Schlägen. Da
+brannten plötzlich Tränen und ein Kuß auf meiner
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+Hand, die auf meiner Brust lag. Und noch einmal,
+zweimal küßte sie mir die Hand.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Natalie! Natalie!</span> Wo bist du?“ klang es wieder.
+</p>
+
+<p>
+„Gleich!“ sagte <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. mit ihrer weichen,
+dunklen, von Tränen durchzitterten Stimme, und so
+leise, daß nur ich es hören konnte.
+</p>
+
+<p>
+Da stockte mein Herz und verriet mich: heiß trieb
+es mir all mein Blut ins Gesicht. Im nächsten Augenblick
+glühte ein schneller heißer Kuß auf meinen Lippen.
+Ich schlug vor Schreck mit einem schwachen
+Schrei die Augen auf, doch da fiel auf sie etwas seidig
+Weiches – es war jenes kleine Tuch –, als sollte es
+meine Augen vor der Sonne schützen. Einen Augenblick
+später war sie schon fort. Ich vernahm nur noch
+das Geräusch eilig sich entfernender Schritte. Dann
+war ich allein ...
+</p>
+
+<p>
+Ich riß das Tuch vom Gesicht und küßte es außer
+mir vor Entzücken. Ich war wie fassungslos! ...
+Lange lag ich im Grase, hatte die Ellbogen aufgestützt
+und schaute sinnverloren und ohne mich zu rühren geradeaus
+auf die Hügel, die Felder und Wiesen, den
+Fluß, der sich zwischen ihnen in großen Biegungen
+hinwand und weit, soweit das Auge nur folgen
+konnte, sich hinschlängelte, zwischen neuen Bergen und
+Gütern und Dörfern, deren Häuser in der sonnenhellen
+Ferne wie kleine Punkte vom Grün sich abhoben,
+schaute auf die blauen kaum sichtbaren Wälder, die wie
+in Rauch gehüllt am Horizonte sich hinzogen: und eine
+seltsam süße Stille, die aus der feierlichen Ruhe der
+Landschaft hervorzugehen schien, beruhigte allmählich
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+mit einer unendlichen Sanftheit mein erregtes Herz.
+Wie eine Erleichterung war es, ich atmete freier ...
+Aber meine ganze Seele begann, sich seltsam dumpf
+und süß zu sehnen, als sähe sie etwas, was sie noch nie
+gesehen, als wäre plötzlich ein Ahnen in ihr erwacht.
+Furchtsam und doch voll Freude begann mein Herz
+etwas Geheimnisvolles zu erraten, leicht bebend vor
+Erwartung ... Und plötzlich weitete sich meine Brust,
+und in ihr wogte und schmerzte es, als wäre sie durchbohrt
+– und Tränen, selige Tränen entströmten meinen
+Augen. Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen und
+zitternd wie ein Grashalm gab ich mich wehrlos der
+ersten Erkenntnis und Offenbarung des Herzens hin,
+dem ersten noch unklaren Einblick in meine Menschennatur.
+Mit diesem Augenblick endete meine Kindheit.
+– – – – – – – – – – – – – – –
+</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p class="noindent">
+Als ich zwei Stunden später ins Haus zurückkehrte,
+befand <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. sich nicht mehr unter den Gästen.
+Sie war mit ihrem Mann nach Moskau gefahren, wie
+es hieß, auf irgendeine plötzlich eingetroffene Nachricht
+hin. Ich habe sie nie wiedergesehen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="novella" id="part-4">
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+Weihnacht und Hochzeit
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first pbb">
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+<span class="firstchar">V</span><span class="postfirstchar">or</span> ein paar Tagen sah ich einer Trauung zu ...
+oder nein! Ich werde Ihnen zuerst von einer Weihnachtsfeier
+erzählen. Eine Trauung ist ja an sich sehr
+schön und auch diese gefiel mir sehr ... aber das andere
+Erlebnis ergriff mich doch noch mehr. Als ich
+der Trauung zusah, wurde ich an jene Weihnachtsfeier
+erinnert. Doch ich will erzählen, wie das zuging.
+</p>
+
+<p>
+Vor etwa fünf Jahren erhielt ich eines Tages zwischen
+Weihnacht und Neujahr eine Einladung zu einem
+Kinderball, der in dem Hause einer mir bekannten,
+angesehenen Familie stattfinden sollte. Der Hausherr
+war eine einflußreiche Persönlichkeit, die gute Verbindungen
+besaß, einen großen Bekanntenkreis hatte, eine
+gewichtige Rolle in der Gesellschaft spielte und alle
+möglichen Intrigen zu spinnen pflegte, so daß man
+ohne weiteres annehmen konnte, dieser Kinderball sei
+nur ein Vorwand für die Eltern, namentlich für die
+Herren Väter, einmal ganz harmlos in größerer Anzahl
+zusammenzukommen und bei der Gelegenheit ganz
+zufällig über allerlei bemerkenswerte Dinge und Ereignisse
+zu reden. Da mich aber besagte Dinge und Ereignisse
+nichts angingen und ich unter den Anwesenden
+so gut wie gar keine Bekannten vorfand, verbrachte
+ich den Abend in der Gesellschaft ziemlich ungestört
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+und mir selbst überlassen. Dasselbe tat auch noch ein
+anderer Herr, der, wie mir schien, sich weder durch
+Rang noch Namen auszeichnete und wohl gleich mir
+nur durch einen Zufall auf diesen Kinderball geraten
+war ... Er fiel mir sofort auf. Sein Äußeres machte
+einen guten Eindruck: er war groß von Wuchs, hager,
+auffallend ernst und sehr gut gekleidet. Man sah
+ihm deutlich an, daß es ihn nicht nach Zerstreuung
+und fröhlicher Unterhaltung verlangte. Wenn er sich
+in einen stilleren Winkel zurückzog, nahm sein Gesicht,
+dessen dichte schwarze Brauen sich zusammenzogen,
+einen harten, fast finsteren Ausdruck an. Bekannt war
+er offenbar, außer mit dem Hausherrn, mit keinem
+einzigen Anwesenden. Und es war wohl unschwer zu
+erraten, daß das ganze Fest ihn entsetzlich langweilte.
+Gleichwohl spielte er bis zum Schluß mutig die Rolle
+eines angenehm unterhaltenen, glücklichen Menschen.
+Nachher erfuhr ich, daß er aus der Provinz stammte
+und nur auf kurze Zeit nach Petersburg gekommen
+war, wo sich ein verwickelter Prozeß, von dem für ihn
+alles abhing, in den nächsten Tagen entscheiden sollte.
+Zu unserem Hausherrn hatte ihn ein Empfehlungsschreiben
+gebracht, infolgedessen er von diesem höflichkeitshalber
+zu dem Abend eingeladen worden war – doch
+durfte er, wie es hieß, durchaus nicht darauf rechnen,
+daß sich der einflußreiche Mann deshalb für ihn verwenden
+werde. Und da man nicht Karten spielte, dem
+unbekannten Fremden keine Zigarren anbot und auch
+sonst niemand ein Gespräch mit ihm anknüpfte –
+wahrscheinlich erkannte man den Vogel schon von weitem
+an den Federn –, so war der Mann gezwungen,
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+um doch irgendwo seine Hände zu lassen, sich den ganzen
+Abend über den Backenbart zu streichen. Freilich
+war dieser Bart sehr schön, nur strich er ihn doch etwas
+gar zu viel, so daß man tatsächlich glauben konnte,
+zuerst sei der Backenbart erschaffen worden und dann
+erst zu diesem Bart, und auch nur, um ihn zu streichen,
+der ganze Mann.
+</p>
+
+<p>
+Außer diesem Herrn, der sich um das Fest der fünf
+dicken kleinen Söhne des Hausherrn wenig kümmerte,
+fiel mir noch ein zweiter Herr auf. Doch der war eine
+ganz andere Erscheinung. Der war nämlich eine Persönlichkeit!
+</p>
+
+<p>
+Er hieß Julian Mastakowitsch. Auf den ersten Blick
+erriet man, daß er ein Ehrengast war und zum Hausherrn
+in ungefähr demselben Verhältnis stand, wie
+dieser zu jenem Unbekannten, der sich den Backenbart
+strich. Der Hausherr und die Hausfrau sagten ihm
+unendlich viele Liebenswürdigkeiten, machten ihm geradezu
+den Hof, führten alle ihre Gäste zu ihm, um
+sie ihm vorzustellen, ihn selbst aber stellten sie keinem
+vor. Wie ich bemerkte, erglänzte im Auge des Hausherrn
+sogar eine Träne der Rührung, als Julian Mastakowitsch
+zum Lobe des Festes versicherte, er habe
+selten so angenehm die Zeit verbracht. Mir ward ordentlich
+unheimlich in der Gegenwart eines solchen
+Menschen: und so zog ich mich denn, als ich mich am
+Anblick der Kinder genugsam ergötzt hatte, in ein kleines
+Boudoir zurück, in dem zufällig kein Mensch war,
+und setzte mich dort in die Blumenlaube der Hausherrin,
+die fast das halbe Zimmer einnahm.
+</p>
+
+<p>
+Die Kinder waren alle unglaublich nett und lieb
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+und echt kindlich und wollten unter keiner Bedingung
+den „Großen“ gleichen, ungeachtet aller Ermahnungen
+der Gouvernanten und Mütter. Im Nu hatten sie den
+ganzen Weihnachtsbaum bis auf das letzte Anhängsel
+geplündert und auch schon Zeit gehabt, die Hälfte der
+Spielsachen zu zerbrechen, noch bevor sie festgestellt
+hatten, für wen ein jedes Spielzeug überhaupt bestimmt
+war. Ein kleiner Knabe mit dunklen Augen
+und braunen Locken gefiel mir ganz besonders: er
+wollte mich unbedingt erschießen, denn er hatte ein hölzernes
+Gewehr bekommen. Doch am meisten lenkte
+seine kleine Schwester die Aufmerksamkeit der Gäste
+auf sich. Sie war etwa elf Jahre alt, zart und bleich,
+mit großen, nachdenklichen Augen. Die anderen Kinder
+hatten sie irgendwie gekränkt, und da kam sie denn
+in das Zimmer, in dem ich saß, setzte sich in einen Winkel
+und beschäftigte sich mit ihrer Puppe. Die Gäste
+deuteten unter sich respektvoll auf einen reichen Kaufmann,
+den Vater der Kleinen, und jemand wußte
+flüsternd mitzuteilen, daß an barem Gelde bereits jetzt
+dreihunderttausend Rubel für sie als Mitgift beiseite
+gelegt seien. Ich sah mich unwillkürlich nach der
+Gruppe um, die ein so interessantes Gespräch führte,
+und mein Blick fiel auf Julian Mastakowitsch, der, die
+Hände auf dem Rücken gekreuzt und den Kopf ein
+wenig zur Seite geneigt, sehr aufmerksam dem müßigen
+Gespräch zuzuhören schien. Gleichzeitig mußte
+ich mich über die Weisheit der Gastgeber, die diese in
+der Verteilung der Geschenke zu bezeugen gewußt hatten,
+nicht wenig wundern. Das kleine Mädchen
+z. B., das bereits dreihunderttausend Rubel besaß,
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+hatte die schönste und teuerste Puppe erhalten. Der
+Wert der anderen Geschenke dagegen sank von Stufe
+zu Stufe herab, je nach dem Range der Eltern dieser
+Kinder. Das letzte Kind, ein kleiner Knabe von etwa
+zehn Jahren, ein mageres, rötlichblondes Kerlchen mit
+Sommersprossen, bekam nur ein Buch, das belehrende
+Geschichten enthielt und von der Größe der Natur,
+von Tränen der Rührung und ähnlichem handelte, ein
+nüchternes Buch, ohne Bild, ohne eine Verzierung.
+</p>
+
+<p>
+Er war der Sohn einer armen Witwe, die die Kinder
+des Hausherrn unterrichtete und kurzweg die
+Gouvernante hieß. Er selbst war ein ängstlicher, verschüchterter
+Knabe. Er trug eine kleine russische
+Bluse aus billigem Nanking. Nachdem ihm sein
+Buch eingehändigt worden war, ging er lange Zeit
+um die Spielsachen der anderen Kinder herum; er
+hätte wohl furchtbar gern mit diesen anderen gespielt,
+aber er wagte es nicht – man sah es ihm an, daß er
+seine gesellschaftliche Stellung bereits vollkommen begriff.
+Ich beobachte gern Kinder beim Spiel. Ungeheuer
+interessant ist ihre erste selbständige Äußerung
+im Leben. Es fiel mir auf, daß der kleine arme Knabe
+sich von den reichen Geschenken der anderen so hinreißen
+ließ, namentlich von einem Puppentheater, in
+dem er gewiß gern eine Rolle übernommen hätte, daß
+er sich zu einer Schmeichelei entschloß. Er lächelte und
+suchte sich angenehm zu machen, er gab seinen Apfel
+einem kleinen pausbackigen Jungen, der bereits einen
+ganzen Sack voll Naschwerk hatte, und er entschloß sich
+sogar, einen von ihnen huckepack zu tragen, nur damit
+man ihn nicht vom Theater fortjage. Doch im nächsten
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+Augenblick wurde er von einem Erwachsenen,
+der gewissermaßen den Oberaufseher spielte, mit Püffen
+und Stößen fortgetrieben. Der Junge wagte nicht,
+zu weinen. Sogleich erschien auch schon die Gouvernante,
+seine Mutter, und sagte ihm, er solle die anderen
+nicht stören. Da kam denn der Kleine in jenes
+Zimmer, in dem das Mädchen saß. Sie ließ ihn zu sich
+kommen und beide begannen eifrig, die schöne Puppe
+anzukleiden.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte schon über eine halbe Stunde in der
+Efeulaube gesessen und war fast eingeschlummert, unbewußt
+eingelullt durch das Kindergespräch des kleinen
+rotblonden Jungen und der zukünftigen Schönheit
+mit der Mitgift von dreihunderttausend Rubeln, als
+plötzlich Julian Mastakowitsch ins Zimmer trat. Er
+benutzte die Gelegenheit, die ihm ein großer Streit unter
+den Kindern im Saale bot, unbemerkt zu verschwinden.
+Vor wenigen Minuten hatte ich ihn noch an der
+Seite des reichen Kaufmannes, des Vaters der Kleinen,
+in lebhaftem Gespräch gesehen, und aus einzelnen
+Worten, die ich auffing, erriet ich, daß er die Vorzüge
+der einen Stellung im Vergleich mit einer anderen
+pries. Jetzt stand er nachdenklich an der Efeulaube,
+ohne mich zu sehen, und schien zu überlegen.
+</p>
+
+<p>
+„Dreihundert ... dreihundert ...“ murmelte er.
+„Elf ... zwölf, dreizehn – sechzehn. Fünf Jahre!
+Nehmen wir an, zu vier Prozent – zwölf mal fünf
+... das macht sechzig. Ja, von diesen sechzig ...
+nun, sagen wir, im ganzen nach fünf Jahren – vierhundert.
+Ja! ... tja! ... Aber der wird doch nicht
+bloß vier Prozent nehmen, dieser Hund! Mindestens
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+acht, wenn nicht sogar zehn. Na, sagen wir – fünfhunderttausend!
+Hm! eine halbe Million Rubel, das
+ist schon besser – nun, und dann noch die Aussteuer
+... hm ...“
+</p>
+
+<p>
+Sein Entschluß stand fest. Er räusperte sich und wollte
+das Zimmer bereits verlassen – da sah er plötzlich die
+Kleine im Winkel mit ihrer Puppe neben dem armen
+Jungen, und blieb stehen. Mich bemerkte er hinter
+dem dichten Efeu nicht. Wie mir schien, war er sehr
+erregt. Ob diese Erregung nun auf die Berechnung,
+die er soeben angestellt hatte, oder auf etwas anderes
+zurückzuführen war, das ist schwer zu sagen, doch rieb
+er sich lächelnd die Hände und schien kaum ruhig stehen
+zu können. Die Erregung wuchs noch bis ins ganz Unbegreifliche,
+als er einen zweiten entschlossenen Blick
+auf die reiche Erbin warf. Er wollte einen Schritt
+vortreten, blieb aber wieder stehen und blickte sich zuerst
+nach allen Seiten um. Dann näherte er sich auf
+den Fußspitzen, als sei er sich einer Schuld bewußt,
+langsam und ganz leise dem Kinde. Er lächelte. Als
+er dicht hinter der Kleinen stand, beugte er sich zu ihr
+nieder und küßte sie auf den Kopf. Die Kleine schrie vor
+Schreck auf, denn sie hatte ihn bis dahin nicht bemerkt.
+</p>
+
+<p>
+„Was tust du denn hier, mein liebes Kind?“ fragte
+er leise, blickte sich um und klopfte ihr dann die Wange.
+</p>
+
+<p>
+„Wir spielen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ah? Mit ihm?“ Julian Mastakowitsch warf
+einen Blick auf den Knaben.
+</p>
+
+<p>
+„Du könntest, mein Lieber, in den Saal gehen,“
+riet er ihm.
+</p>
+
+<p>
+Der Knabe schwieg und blickte ihn groß an. Julian
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+Mastakowitsch sah sich wieder schnell nach allen
+Seiten um und beugte sich von neuem zu der Kleinen.
+</p>
+
+<p>
+„Was hast du denn da, mein liebes Kind? Ein
+Püppchen?“ fragte er.
+</p>
+
+<p>
+„Ein Püppchen ...“ antwortete die Kleine etwas
+zaghaft und runzelte leicht die Stirn.
+</p>
+
+<p>
+„Ein Püppchen ... Aber weißt du auch, mein liebes
+Kind, woraus diese Puppe gemacht ist?“
+</p>
+
+<p>
+„N–nein ...“ antwortete die Kleine flüsternd
+und senkte das Köpfchen noch tiefer.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, aus alten Läppchen, mein Herzchen. Aber
+du könntest doch in den Saal gehen, Junge, zu den
+anderen Kindern,“ wandte sich Julian Mastakowitsch
+mit einem strengen Blick abermals an den Knaben.
+Doch das Mädchen und der Kleine runzelten die
+Stirn und faßten sich gegenseitig an. Sie wollten sich
+offenbar nicht voneinander trennen.
+</p>
+
+<p>
+„Aber weißt du auch, wofür man dir dieses Püppchen
+geschenkt hat? ...“ fragte Julian Mastakowitsch,
+dessen Stimme immer einschmeichelnder wurde.
+</p>
+
+<p>
+„N–nein ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, dafür, daß du ein liebes und artiges Kind
+gewesen bist.“
+</p>
+
+<p>
+Hier blickte sich Julian Mastakowitsch wieder nach
+der Tür um und fragte dann mit kaum hörbarer, vor
+Erregung und Ungeduld zitternder Stimme:
+</p>
+
+<p>
+„Aber wirst du mich auch lieben, kleines Mädchen,
+wenn ich zu deinen Eltern zum Besuch komme?“
+</p>
+
+<p>
+Bei diesen Worten wollte Julian Mastakowitsch
+noch einmal das Mädchen küssen, doch als der kleine
+Knabe sah, daß sie dem Weinen schon ganz nahe war,
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+umklammerte er sie plötzlich angstvoll und begann vor
+lauter Teilnahme und Mitleid mit ihr selbst laut zu
+weinen. Julian Mastakowitsch wurde ernstlich böse.
+</p>
+
+<p>
+„Geh, geh fort, geh fort von hier!“ sagte er ärgerlich.
+„Geh in den Saal! Geh zu deinen Kameraden!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht, nicht! Er soll nicht gehn! Gehen Sie
+fort,“ sagte das kleine Mädchen, „er aber soll hier
+bleiben, lassen Sie ihn hier!“ fügte sie fast weinend
+hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Da ertönten laute Stimmen an der Tür und Julian
+Mastakowitschs gewichtiger Oberkörper schnellte
+empor. Er war sichtlich erschrocken. Doch der
+kleine Knabe erschrak noch mehr als Julian Mastakowitsch,
+gab das kleine Mädchen frei und schlich
+geduckt längs der Wand ins Eßzimmer zurück. Auch
+Julian Mastakowitsch ging ins Eßzimmer, ganz als
+wäre nichts vorgefallen. Er war purpurrot im Gesicht,
+und als er im Vorübergehen einen Blick in den
+Spiegel warf, schien sein Aussehen ihn selbst zu verwirren.
+Vielleicht ärgerte er sich darüber, daß er so
+erregt war, und daß er so unvorsichtig gesprochen
+hatte. Offenbar hatte ihn seine Berechnung selbst so
+bestrickt und begeistert, daß er trotz seiner ganzen
+Würde und Klugheit recht wie ein Knabe handelte und
+schon jetzt und unbedacht genug auf sein Ziel geradeswegs
+loszusteuern begann. Ich folgte ihm alsbald in
+das andere Zimmer – und wahrlich, was ich dort erblickte,
+war ein seltsames Schauspiel! Ich sah nämlich,
+wie Julian Mastakowitsch, der hochangesehene würdevolle
+Julian Mastakowitsch, den kleinen Knaben einschüchterte,
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+der immer weiter vor ihm zurückwich und
+nicht wußte, wo er sich vor Angst lassen sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Marsch, wirst du wohl! Was tust du hier, Taugenichts?
+Geh! Geh! Du stiehlst hier Früchte, wie?
+Du willst hier Früchte stehlen? Marsch, mach’, daß du
+fortkommst, wirst du wohl, ich werd’ dir zeigen!“
+</p>
+
+<p>
+Der eingeschüchterte Knabe entschloß sich schließlich
+zu einem verzweifelten Rettungsversuch: er kroch
+unter den Tisch. Das rief aber in seinem Verfolger
+noch größere Wut hervor. Zornig riß er sein langes
+Batisttaschentuch aus der Tasche und begann damit
+den Kleinen unter dem Tisch zu peitschen, damit er
+von dort hervorkrieche. Doch der Kleine war mäuschenstill
+vor Angst und rührte sich nicht. Ich muß bemerken,
+daß Julian Mastakowitsch ein wenig korpulent
+war. Er war, was man so nennt, ein satter
+Mensch, mit roten Wänglein, einem kleinen Schmerbäuchlein,
+untersetzt und mit dicken Schenkeln, –
+kurz, ein stämmiger Bursche, an dem alles so rund war
+wie an einer Nuß. Schweißtropfen standen ihm schon
+auf der Stirn, er atmete schwer und fast röchelnd. Das
+Blut drang ihm vom Bücken rot und heiß zu Kopf. Er
+wurde jähzornig, so groß war sein Unwille oder –
+wer kann es wissen? – seine Eifersucht. Ich lachte
+schallend auf. Julian Mastakowitsch wandte sich blitzschnell
+nach mir um und wurde ungeachtet seines gesellschaftlichen
+Ansehens, seiner einflußreichen Stellung
+und seiner Jahre geradezu fassungslos verlegen.
+In dem Augenblick trat durch die gegenüberliegende
+Tür der Hausherr ins Zimmer. Der kleine Junge kroch
+unter dem Tisch hervor und rieb sich den Staub von
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+den Knien und Ellenbogen. Julian Mastakowitsch
+kam zu sich und führte schnell das Taschentuch, das er
+noch an einem Zipfel hielt, an die Nase und schnaubte
+sich.
+</p>
+
+<p>
+Der Hausherr blickte uns drei etwas verwundert
+an, doch als lebenskluger Mensch, der das Leben ernst
+auffaßte, wußte er sogleich die Gelegenheit, mit seinem
+Gast unter vier Augen sprechen zu können, auszunutzen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, sehen Sie, das ist jener Knabe, für den ich
+die Ehre hatte, zu bitten ...“ begann er, auf den armen
+Kleinen weisend.
+</p>
+
+<p>
+„Ah!“ versetzte Julian Mastakowitsch, noch immer
+nicht ganz auf der Höhe der Situation.
+</p>
+
+<p>
+„Er ist der Sohn der Gouvernante meiner Kinder,“
+fuhr der Hausherr erklärend und in verbindlichem
+Tone fort, „einer armen Frau. Sie ist die Witwe
+eines ehrlichen Beamten. Ginge es nicht irgendwie,
+Julian Mastakowitsch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, ich entsinne mich! Nein, nein!“ unterbrach
+dieser ihn eilig. „Nehmen Sie es mir nicht übel, mein
+bester Philipp Alexejewitsch, aber es geht ganz und gar
+nicht. Ich habe mich erkundigt: Vakanzen gibt es nicht
+und selbst wenn eine bestünde, so kämen doch zehn Kandidaten
+eher in Betracht als dieser, da sie eben ein
+größeres Anrecht darauf hätten ... Es tut mir sehr
+leid, aber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schade,“ sagte der Hausherr nachdenklich, „es
+ist ein stiller, bescheidener Knabe ...“
+</p>
+
+<p>
+„Scheint mir eher ein richtiger Bengel zu sein, soweit
+ich sehe,“ bemerkte Julian Mastakowitsch mit verzogenem
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+Lächeln. „Geh, was stehst du hier, mach’ dich
+fort! Geh zu deinen Spielkameraden,“ wandte er sich
+an den Kleinen.
+</p>
+
+<p>
+Dann konnte er offenbar der Versuchung nicht widerstehen,
+auch mir einen Blick zuzuwerfen. Ich aber hielt
+nicht an mich, sondern lachte ihm offen ins Gesicht. Julian
+Mastakowitsch wandte sich sogleich ab und fragte
+sehr vernehmlich den Hausherrn, wer dieser sonderbare
+junge Mann eigentlich sei. Sie begannen miteinander
+zu flüstern und verließen das Zimmer. Ich sah nur
+noch durch die offene Tür wie Julian Mastakowitsch,
+der dem Hausherrn aufmerksam zuhörte, verwundert
+und mißtrauisch den Kopf schüttelte.
+</p>
+
+<p>
+Als ich genügend gelacht hatte, begab ich mich
+gleichfalls in den Saal. Dort stand jetzt der einflußreiche
+Mann, umringt von Vätern, Müttern und den
+Festgebern und sprach lebhaft auf eine Dame ein, der
+man ihn soeben vorgestellt hatte. Die Dame hielt das
+kleine Mädchen an der Hand, das Julian Mastakowitsch
+vor zehn Minuten geküßt hatte. Er lobte die
+Kleine bis in den siebenten Himmel, pries ihre Schönheit,
+ihre Grazie, ihre Wohlerzogenheit, und die Mutter
+hörte ihm fast mit Tränen in den Augen zu. Die Lippen
+des Vaters lächelten. Der Hausherr nahm mit
+sichtlichem Wohlgefallen teil an der allgemeinen Freude.
+Die übrigen Gäste waren gleichfalls angenehm
+berührt und selbst die Spiele der Kinder wurden unterbrochen,
+damit sie durch ihr Geschrei nicht störten.
+Die ganze Luft war voll von gehobener Stimmung.
+Später hörte ich, wie die tiefgerührte Mutter der Kleinen
+in ausgesucht höflichen Redewendungen Julian
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+Mastakowitsch bat, ihrem Hause die besondere Ehre
+zu erweisen und sie zu besuchen, und ich hörte weiter,
+mit wie ungefälschtem Entzücken Julian Mastakowitsch
+der liebenswürdigen Aufforderung unfehlbar nachzukommen
+versprach, und wie die Gäste, als sie darauf,
+so wie es der gesellschaftliche Brauch verlangte, nach
+allen Seiten auseinandergingen, sich in geradezu gerührten
+Lobpreisungen ergingen, die den Kaufmann,
+dessen Frau und Töchterchen, namentlich aber Julian
+Mastakowitsch hoch über sie selbst erhoben.
+</p>
+
+<p>
+„Ist dieser Herr verheiratet?“ fragte ich hörbar
+laut einen meiner Bekannten, der neben Julian Mastakowitsch
+stand.
+</p>
+
+<p>
+Julian Mastakowitsch warf mir einen zornigen
+Blick zu, der wohl seinen Gefühlen entsprach.
+</p>
+
+<p>
+„Nein!“ antwortete mein Bekannter, offenbar
+höchst peinlich berührt durch meine ungeschickte Frage,
+die ich absichtlich so laut an ihn gerichtet hatte ...
+</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p class="noindent">
+Vor ein paar Tagen ging ich an der –schen Kirche
+vorüber. Die Menschenmenge, die sich vor dem Portal
+drängte, und der reiche Schmuck desselben fielen
+mir auf. Ringsum sprach man von einer Hochzeit.
+Es war ein trüber Herbsttag und es begann zu frieren.
+Ich drängte mich mit den anderen in die Kirche
+und erblickte den Bräutigam. Es war das ein kleiner,
+rundlicher Herr mit einem Schmerbauch und vielen
+Orden auf der Brust. Er war überaus beschäftigt,
+eilte hin und her, traf Anordnungen und schien sehr
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+aufgeregt zu sein. Endlich verbreitete sich von der
+Tür her lautes Gemurmel: die Braut war erschienen.
+Ich drängte mich weiter durch die Menge und erblickte
+eine wunderbare Schönheit, für die kaum der erste
+Lenz angebrochen war. Sie war aber bleich und
+traurig. Ihre Augen blickten zerstreut. Es schien mir
+sogar, daß diese Augen noch gerötet waren von vergossenen
+Tränen. Die strenge Schönheit ihrer Gesichtszüge
+verlieh ihrer ganzen jungen Erscheinung eine gewisse
+hoheitsvolle Würde und Feierlichkeit. Und doch
+schimmerte durch diese Strenge und Würde und diese
+Trauer noch das unschuldige unberührte Kindergemüt –
+und es verriet sich darin etwas unsäglich Unerfahrenes,
+Unbewußtes, Kindliches, das, wie es schien, ohne eine
+Bitte wortlos für sich um Schonung flehte.
+</p>
+
+<p>
+Man sagte, sie sei kaum erst sechzehn Jahre alt geworden.
+Ich blickte aufmerksamer auf den Bräutigam
+und plötzlich erkannte ich in ihm Julian Mastakowitsch,
+den ich seit fünf Jahren nicht wiedergesehen hatte.
+Ich blickte nochmals auf die Braut ... Mein Gott!
+Ich drängte mich durch die Gaffenden zum Ausgang,
+um schneller aus der Kirche zu kommen. In der Menge
+erzählte man sich, daß die Braut reich sei: sie bekäme
+allein an barem Kapital eine halbe Million Rubel mit
+und eine Aussteuer im Werte von soundsoviel ...
+</p>
+
+<p>
+„Dann stimmte also die Berechnung!“ dachte ich
+bei mir und trat auf die Straße hinaus ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="novella" id="part-5">
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+Njetotschka Neswanowa
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-1">
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+I.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">einen</span> Vater habe ich nicht gekannt. Er starb, als
+ich zwei Jahre alt war. Dann heiratete meine Mutter
+zum zweitenmal. Diese zweite Ehe brachte ihr viel
+Leid, obgleich es eine Liebesheirat war. Mein Stiefvater
+war Musiker. Er hatte ein sehr merkwürdiges
+Schicksal, und überhaupt war er der seltsamste und
+wunderlichste Mensch, den ich bisher kennen gelernt
+habe. Sein Einfluß auf mich war groß und die Eindrücke,
+die ich von ihm empfing, waren so stark, daß
+ich sie mein Leben lang nicht vergessen werde. Doch
+muß ich zunächst, damit meine Erzählung verständlicher
+sei, seine Lebensgeschichte wiedergeben. Alles
+was sich auf dieselbe bezieht, habe ich von dem berühmten
+Geigenvirtuosen B. erfahren, der in seiner
+Jugend ein guter Freund meines Stiefvaters gewesen
+ist.
+</p>
+
+<p>
+Der Familienname meines Stiefvaters lautete Jefimoff.
+Geboren wurde er auf dem Gute eines reichen
+Großgrundbesitzers als Sohn eines armen Musikers,
+der nach langen Irrfahrten sich dort niedergelassen
+hatte und in das Orchester des Gutsherrn eingetreten
+war. Sein Brotherr lebte auf großem Fuß und liebte
+Musik bis zur Leidenschaft. Man erzählte von ihm, daß
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+er, der sich nie von seinem Gute rührte und nicht einmal
+nach Moskau fuhr, sich plötzlich aufgemacht habe
+und ins Ausland gereist sei, in irgendeinen Kurort, nur
+um einen berühmten Geigenvirtuosen zu hören, der
+dort, wie die Zeitungen berichteten, drei Konzerte geben
+sollte. Auf seinem Gut unterhielt er ein großes
+Orchester und gab fast seine ganzen Einkünfte für die
+Besoldung und den Unterhalt der Musiker aus. In
+dieses Orchester nun trat mein Stiefvater als Klarinettist
+ein. Als er zweiundzwanzig Jahre alt war,
+machte er die Bekanntschaft eines eigenartigen Menschen.
+In demselben Gouvernementskreise lebte ein
+reicher Graf, der sich durch den Unterhalt eines Haustheaters
+ruinierte. Dieser Graf hatte den Kapellmeister
+seines Orchesters, einen Italiener, wegen seiner
+schlechten Aufführung entlassen. Der Kapellmeister
+war in der Tat ein schlechter Mensch. Als er seine
+Stellung verloren, kam er bald ganz herunter, trieb
+sich in den Dorfschenken umher, betrank sich, ja er bettelte
+sogar, und da hatte natürlich niemand mehr Lust,
+ihm eine Anstellung zu geben. Mit diesem Menschen
+befreundete sich nun mein Stiefvater. Ihre Freundschaft
+war aber von einer ganz besonderen Art, denn
+niemand konnte behaupten, daß der Jüngere sich durch
+diesen Umgang irgendwie zu seinem Nachteil veränderte,
+und selbst der Gutsbesitzer, der ihm anfangs verboten
+hatte, mit dem Italiener zu verkehren, ließ schließlich
+diese sonderbare Freundschaft gewähren. Da starb
+plötzlich der Italiener. Bauern fanden ihn eines Morgens
+im Graben an einem Zaun liegen. Eine Untersuchung
+wurde eingeleitet und ergab, daß er am Herzschlage
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+gestorben war. Sein ganzes Hab und Gut befand
+sich bei meinem Stiefvater, der sogleich an der
+Hand von Dokumenten nachwies, daß er das volle
+Recht hatte, die Sachen zu behalten: er besaß ein eigenhändiges
+Schreiben des Verstorbenen, in dem dieser
+Jefimoff zu seinem Erben erklärte, falls er, der Italiener,
+früher sterben sollte, als Jefimoff. Die Hinterlassenschaft
+bestand aus einem schwarzen Frack, den
+er sorgfältig aufbewahrt hatte, in der Hoffnung, doch
+noch einmal eine Anstellung zu finden, und einer
+Geige, an der nichts Sonderliches auffiel. Dieses Erbe
+machte denn auch niemand dem Klarinettisten streitig.
+Da erschien nach einiger Zeit ein Musiker, der im Orchester
+des Grafen die erste Geige spielte, bei dem
+Gutsbesitzer und überreichte ihm einen Brief vom Grafen.
+In diesem Brief bat der Graf den Gutsbesitzer,
+seinen Klarinettisten Jefimoff zu bereden, ihm, dem
+Grafen, die Geige des verstorbenen Italieners zu verkaufen.
+Er bot für dieselbe dreitausend Rubel und
+schrieb, daß er den Jegor Jefimoff schon mehrmals zu
+sich habe bitten lassen, um den Kauf persönlich abzuschließen,
+doch dieser Mensch sei leider zu nichts zu bewegen.
+Der Graf schloß seinen Brief mit der Bemerkung,
+daß er für die Geige das biete, was sie wert sei:
+deshalb sehe er in der hartnäckigen Weigerung Jefimoffs,
+sie ihm dafür abzutreten, den beleidigenden Verdacht,
+er, der Graf, wolle bei diesem Kauf die Unkenntnis
+des Klarinettisten ausnutzen. Aus diesem
+Grunde bäte er jetzt um seine, des Gutsbesitzers, Vermittelung.
+</p>
+
+<p>
+Dieser ließ Jefimoff sogleich zu sich rufen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+„Weshalb willst du die Geige nicht verkaufen?“
+fragte er ihn, „du brauchst sie doch nicht. Man bietet
+dir dreitausend Rubel, gerade so viel, wie sie wert
+ist, und du irrst dich, wenn du glaubst, daß dir jemand
+mehr für sie zahlen wird. Der Graf will dich doch
+nicht übervorteilen.“
+</p>
+
+<p>
+Jefimoff erwiderte, daß er aus freien Stücken zu
+dem Grafen nicht gehen werde, doch wenn man ihn
+zwingen wolle, so müsse er sich eben dem Willen seines
+Herrn fügen. Dem Grafen werde er aber die Geige
+nicht verkaufen, und wenn man sie ihm mit Gewalt
+nehmen werde, so hinge auch das wiederum nur von
+dem Willen seines Herrn ab.
+</p>
+
+<p>
+Natürlich verletzte er mit einer solchen Antwort die
+empfindlichste Charakterseite des Gutsbesitzers. Dieser
+pflegte nämlich immer mit Stolz von sich zu sagen, daß
+er wisse, wie er mit seinen Musikern umzugehen habe,
+denn sie seien alle bis auf den letzten wirkliche Künstler,
+und deshalb sei sein Orchester nicht nur besser als
+dasjenige des Grafen, sondern besser sogar als eines in
+der Hauptstadt!
+</p>
+
+<p>
+„Nun, schön,“ entgegnete der Gutsbesitzer, „ich
+werde dem Grafen schreiben, daß du die Geige nicht
+verkaufen willst, weil du eben nicht – willst ...
+basta! weil du das volle Recht hast, sie zu verkaufen
+oder nicht zu verkaufen, wie es dir beliebt, hast du mich
+verstanden? Aber ich frage dich jetzt selber: was machst
+du mit der Geige? Dein Instrument ist die Klarinette,
+die du leider noch recht mittelmäßig spielst. Verkauf’ die
+Geige mir. Ich gebe dir dreitausend.“ (Wer wußte
+denn, daß es ein solches Instrument war!)
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+Jefimoff lächelte.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Herr, ich werde sie Ihnen nicht verkaufen,“
+sagte er, „aber versteht sich, wenn Sie mit Gewalt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, zwinge ich dich denn, will ich dir denn Gewalt
+antun!“ rief der Gutsbesitzer empört – um so
+mehr empört, als es sich in Gegenwart des gräflichen
+Musikers zutrug und dieser nach solchen Antworten
+eine recht unvorteilhafte Vorstellung von der Stellung
+der Musiker des Gutsbesitzers gewinnen mußte. „Mach’,
+daß du fortkommst, du Undankbarer! Geh mir aus den
+Augen! Was würdest du ohne mich überhaupt anfangen
+mit deiner Klarinette, auf der du nicht einmal zu
+spielen verstehst? Bei mir aber wirst du satt, wirst du
+bekleidet und erhältst dein Gehalt; du lebst hier in
+einem vornehmen Hause, spielst nur hier die Rolle eines
+Künstlers, aber du willst das nicht einsehen! Geh mir
+aus den Augen und reiz’ mich nicht durch deine Anwesenheit!“
+</p>
+
+<p>
+Der Gutsbesitzer pflegte denjenigen immer fortzuschicken,
+über den er sich ärgerte, denn er fürchtete seine
+eigene Heftigkeit. Mit einem „Künstler“, wie er seine
+Musiker nannte, wollte er aber unter keinen Umständen
+streng ins Gericht gehen.
+</p>
+
+<p>
+Der Kauf kam nicht zustande und damit schien die
+Sache abgetan zu sein – als plötzlich, etwa einen
+Monat nach jener Auseinandersetzung, der erste Violinist
+des Grafen etwas Unerhörtes angab: auf eigene
+Verantwortung nämlich reichte er eine Anzeige ein,
+nach der Jefimoff die Schuld am Tode des Italieners
+trug, den er umgebracht habe, um in den Besitz der
+Hinterlassenschaft zu gelangen. Ferner beschuldigte er
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+ihn, jenes Schriftstück, in dem der Italiener Jefimoff
+zu seinem Erben einsetzte, mit List und Gewalt dem
+Verstorbenen abgerungen zu haben, was er durch Zeugen
+beweisen zu können vorgab. Weder die Bitten des
+Gutsbesitzers, der für Jefimoff eintrat, noch die Vorhaltungen
+des Grafen konnten ihn von seinem Vorhaben
+abbringen. Man gab ihm zu bedenken, daß gegen
+die ärztliche Untersuchung der Leiche sich nichts einwenden
+lasse, daß er gegen sein Gewissen handle, vielleicht
+aus persönlicher Rache, weil jener ihm das kostbare
+Instrument nicht abgetreten hatte. Der Musiker
+blieb aber bei seiner Behauptung, schwur sogar, daß er
+im Recht sei und der Herzschlag nicht infolge des Trunkes
+eingetreten wäre, sondern als Folge einer Vergiftung,
+weshalb er eine nochmalige Untersuchung der
+Leiche verlangte. Auf den ersten Blick konnte man seine
+Beweise sehr wohl ernst nehmen. Natürlich wurde das
+Verfahren sogleich eingeleitet. Jefimoff wurde verhaftet
+und nach dem Stadtgefängnis abgeführt. Die Gerichtsverhandlungen,
+die das ganze Gouvernement mit
+Spannung verfolgte, nahmen einen sehr schnellen Verlauf
+und endeten damit, daß der Musiker der falschen
+Anklage überführt wurde. Man verurteilte ihn zu
+einer gerechten Strafe, ungeachtet dessen, daß er bei
+seiner Behauptung beharrte. Endlich gestand er, daß
+er zwar keine positiven Beweise besaß und die angeführten
+selbst erfunden hatte, jedoch habe er sich dabei
+von seinen Vermutungen leiten lassen, die schließlich
+zu seiner festen Überzeugung geworden seien, und
+deshalb bliebe er auch jetzt – nachdem die Unschuld
+Jefimoffs vom Gericht bereits unzweifelhaft festgestellt
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+worden war – bei seiner Überzeugung, daß
+die Ursache des Todes jenes italienischen Kapellmeisters
+einzig und allein Jefimoff gewesen, der ihn,
+wenn nicht gerade vergiftet, dann eben auf irgendeine
+andere Weise umgebracht habe. Es blieb ihm übrigens
+erspart, seine Strafe abzubüßen: er erkrankte plötzlich
+an einer Gehirnentzündung, verfiel in Wahnsinn
+und starb im Krankenhause.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser ganzen Zeit sorgte der Gutsbesitzer
+für Jefimoff wie ein Vater für seinen Sohn.
+Er, der sonst nie sein Gut verließ, fuhr mehrmals in
+die Stadt, um den Armen im Gefängnis zu besuchen
+und ihn zu trösten; er schenkte ihm Geld, und als er
+erfuhr, daß Jefimoff gern rauchte, brachte er ihm die
+besten Zigaretten; und als dann mein Stiefvater endlich
+freigesprochen wurde, veranstaltete er für sein
+ganzes Orchester ein großes Freudenfest. Er betrachtete
+die gegen Jefimoff erhobene Anklage als etwas,
+was sein gesamtes Orchester anging, denn auf die gute
+Aufführung seiner Musiker legte er wenn nicht mehr,
+so doch ebensoviel Wert, wie auf ihr musikalisches
+Können.
+</p>
+
+<p>
+Es verging ein Jahr, als man eines Tages auf
+dem Gute erfuhr, daß in der Gouvernementsstadt ein
+bekannter französischer Violinvirtuose eingetroffen sei
+und daselbst konzertieren werde. Als der Gutsbesitzer
+dies hörte, bot er sogleich alles auf, um diesen Künstler
+als Gast bei sich auf dem Gute zu sehen. Zu seiner
+Freude nahm der Franzose die Einladung an.
+Schon war alles zu seinem Empfang bereit, die ganze
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+Gesellschaft der Umgegend eingeladen, als plötzlich
+etwas Überraschendes geschah.
+</p>
+
+<p>
+Eines Morgens wurde dem Gutsbesitzer gemeldet,
+Jefimoff sei nirgends zu finden. Man suchte,
+forschte, schickte Boten aus – er war und blieb spurlos
+verschwunden. Das Orchester befand sich in einer
+verzweifelten Lage: der Klarinettist fehlte, was tun?
+Da erhielt der Gutsbesitzer am dritten Tage nach der
+Flucht Jefimoffs einen Brief von dem Franzosen, in
+dem dieser mit verletzendem Hochmut absagte und hinzufügte,
+er werde hinfort sehr vorsichtig sein müssen mit
+solchen Herren, die ein eigenes Orchester hielten: es
+sei so „deprimierend“, ein großes Talent im Dienst
+eines Menschen zu sehen, der es nicht zu schätzen wisse.
+Er brauche als Beispiel nur Jefimoff zu nennen,
+den genialsten Künstler und besten Violinisten, den
+er in Rußland gehört habe!
+</p>
+
+<p>
+Der Gutsbesitzer las den Brief mit wachsender
+Verwunderung. Wie? Jefimoff, derselbe Jefimoff,
+um den er sich so gesorgt hatte, dem er soviel Gutes
+erwiesen, derselbe Jefimoff hatte es fertiggebracht,
+ihn so gewissenlos, so unverschämt zu verleumden, und
+das noch bei einem berühmten Künstler, auf dessen
+gute Meinung von seinem Orchester er soviel Wert
+legte! Und dann – der Brief enthielt noch ein anderes
+Rätsel: der Franzose nannte Jefimoff den genialsten
+Künstler und besten Violinisten, den er in Rußland
+gehört, und aus seiner Schlußbemerkung ging
+hervor, daß er dachte, man wolle Jefimoffs Talent
+nicht anerkennen, und zwinge ihn, ein anderes Instrument
+zu spielen, als dasjenige, welches ihm zukam.
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+Dies überraschte den Gutsbesitzer dermaßen, daß
+er beschloß, sogleich in die Stadt zu fahren, um mündlich
+mit dem Franzosen zu sprechen. Da traf kurz vor
+seiner Abfahrt ein Schreiben vom Grafen ein, in dem
+dieser ihn zu sich aufforderte und ihm mitteilte, daß
+der französische Künstler und Jefimoff beide bei ihm
+seien und der Franzose ihm den Fall erzählt habe.
+Er, der Graf, sei über die Frechheit der Verleumdung
+Jefimoffs so empört, daß er ihn vorläufig nicht aus
+dem Hause lasse, und außerdem sei die Anwesenheit
+des Gutsbesitzers auch deshalb notwendig, weil die
+Verleumdungen Jefimoffs auch ihn, den Grafen
+selbst, beträfen. Kurz, man müsse in der Sache Klarheit
+schaffen, und zwar je eher, desto besser.
+</p>
+
+<p>
+Da begab sich denn der Gutsbesitzer unverzüglich
+zum Grafen, ließ sich dem Franzosen vorstellen und
+erklärte ihm den Sachverhalt. Er sagte, er habe es
+nicht geahnt, daß in Jefimoff ein so großes Talent
+stecke: er kenne ihn nur als einen recht mittelmäßigen
+Klarinettisten – daß der Mensch auch die Geige
+spiele, habe er erst aus dem Brief erfahren. Außerdem,
+fügte er hinzu, sei Jefimoff ein freier Mensch gewesen
+und hätte ihn zu jeder Zeit verlassen können, wenn
+er wirklich so unzulässig behandelt worden wäre. Der
+Franzose war sehr verwundert. Man ließ Jefimoff
+kommen. Der war aber in seinem Benehmen kaum
+wiederzuerkennen: hochmütig trat er ein, antwortete
+spöttisch und hatte die Frechheit, zu behaupten, daß
+alles wahr sei, was er dem Franzosen gesagt. Diese
+Unverschämtheit ärgerte den Grafen dermaßen, daß
+er meinem Stiefvater ins Gesicht sagte, er sei ein
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+Lump und Lügner und habe verdient, daß man ihn
+schonungslos bestrafe.
+</p>
+
+<p>
+„Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf,“ versetzte
+mein Stiefvater höhnisch, „dank Ew. Gnaden bin ich
+nur mit genauer Not der Strafe für ein Kriminalverbrechen
+entgangen. Ich weiß ja doch nur zu gut,
+auf wessen Veranlassung hin Alexei Nikiforytsch, Ihr
+ehemaliger Musiker, die Anzeige gegen mich erstattet
+hat.“
+</p>
+
+<p>
+Das war zu viel für den Grafen. Er geriet außer
+sich vor Wut über diese empörende Beschuldigung.
+Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. Und ein
+Polizeibeamter, der sich gleichfalls im Saal befand
+und wegen einer Rücksprache mit dem Grafen kurz zuvor
+eingetroffen war, erklärte hierauf, daß die beleidigende
+Frechheit Jefimoffs eine böswillige Verleumdung
+sei, weshalb er höflichst um die Erlaubnis bäte,
+ihn sogleich und ohne weiteres hier im Hause des Grafen
+arretieren zu dürfen. Auch der Franzose äußerte
+seinen größten Unwillen und sagte, eine solche Undankbarkeit
+hätte er nie für möglich gehalten. Da brauste
+mein Stiefvater jähzornig auf und rief aus, selbst Gefängnishaft
+unter dem Verdacht eines Kriminalverbrechens
+und alle Gerichtsverhandlungen der Welt
+ziehe er jenem Leben vor, das er bisher erduldet, da
+er als Musiker im Orchester des Gutsbesitzers sein
+Brot habe verdienen müssen und in seiner Armut keine
+Mittel und folglich keine Möglichkeit gehabt habe,
+sich früher freizumachen. Er wurde aus dem Saal
+geführt. Man schloß ihn in einem entlegenen Zimmer
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+ein und sagte ihm, daß man ihn am nächsten
+Tage nach der Stadt bringen werde.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Mitternacht öffnete sich die Tür des Zimmers,
+in dem Jefimoff gefangen saß. Es war der
+Gutsbesitzer. Er war im Schlafrock und in Morgenschuhen
+und hielt eine brennende Laterne in der
+Hand. Offenbar hatte er nicht einschlafen können,
+hatte wach gelegen, bis er schließlich, um den quälenden
+Gedanken ein Ende zu machen, trotz der späten
+Stunde wieder aufgestanden war. Jefimoff schlief nicht:
+mit Verwunderung sah er den späten Gast eintreten.
+Der stellte die Laterne auf den Tisch und setzte sich in
+schwerer Erregung ihm gegenüber auf einen Stuhl.
+</p>
+
+<p>
+„Jegor,“ sagte er, „warum hast du mir das angetan?“
+</p>
+
+<p>
+Jefimoff antwortete nicht. Der Gutsbesitzer wiederholte
+die Frage und ein seltsam tiefes Gefühl, ein
+seltsamer Kummer klang aus seinen Worten.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das mag Gott wissen, warum!“ entgegnete
+endlich mein Stiefvater und wandte das Gesicht fort.
+„Da muß schon der Teufel seine Hand im Spiel gehabt
+haben! Ich weiß es selber nicht, wer mich zu all
+dem treibt! Nun ja, ich kann nicht mehr bei Ihnen
+bleiben, ich kann nicht ... Der Teufel sitzt mir auf
+dem Halse!“
+</p>
+
+<p>
+„Jegor!“ hub der Gutsbesitzer an, „komm zu mir
+zurück! Ich werde alles vergessen, werde dir alles verzeihen.
+Höre: du wirst der Erste unter meinen Musikern
+sein, ich werde dich unvergleichlich besser stellen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Herr, nein, reden Sie nicht weiter – ich
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+gehöre nicht mehr zu Ihnen! Ich sagte Ihnen schon,
+der Teufel sitzt mir auf dem Halse. Ich würde Ihr
+Haus anzünden, wenn ich bliebe. Es kommt so über
+mich – und zuweilen ist es solch eine Qual, daß es
+besser wäre, ich wär’ nicht geboren! Jetzt kann ich
+nicht mehr für mich einstehen, also lassen Sie mich
+schon lieber in Ruh, Herr. Das ist alles über mich gekommen,
+seitdem dieser Teufel mit mir Freundschaft
+schloß ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wer das?“ fragte der Gutsbesitzer.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, jener doch, der dort wie ein Hund am
+Zaun krepierte, von dem keiner mehr was wissen wollte,
+der Italiener!“
+</p>
+
+<p>
+„Hat <em>er</em> dich, Jegoruschka, im Geigenspiel unterrichtet?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja. Er. Vieles habe ich von ihm gelernt – zu
+meinem Verderben. Hätt’ ich ihn doch lieber nie gesehn!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber spielte er denn auch so meisterhaft die Geige,
+Jegoruschka?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, er selbst spielte schlecht, aber er unterrichtete
+gut. Gelernt habe ich allein, er hat mich nur geleitet
+– und eher könnte mir die Hand verdorren, als
+daß ich diese Kunst verlernte! Ich weiß jetzt selbst
+nicht, was ich will. Versuchen Sie es, fragen Sie mich:
+‚Jegorka! was willst du? Ich kann dir alles geben!‘ –
+Ich würde gewiß, so wahr ich lebe, Ihnen kein Wort
+zu antworten wissen, denn ich weiß selbst nicht, was
+ich will. Nein, Herr, lassen Sie mich lieber in Ruh.
+Ich werde doch unbedingt so etwas mit mir anstellen,
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+daß man mich ... etwas weiter fortschickt, und damit
+Punktum!“
+</p>
+
+<p>
+„Jegor!“ begann der Gutsbesitzer nach einer Weile
+wieder, „so ohne weiteres werde ich dich nicht verlassen.
+Willst du nicht bei mir bleiben, dann geh; du
+bist ein freier Mensch, halten kann ich dich nicht. So
+einfach aber werde ich jetzt doch nicht von dir fortgehen,
+Jegor. Spiel’ mir etwas vor, auf deiner Geige,
+tu mir den Gefallen, Jegor. Ich bitte dich, spiel’! –
+um Christi willen! Ich befehle dir nicht, verstehe mich
+nicht falsch, ich will dich nicht zwingen; aber ich bitte
+dich von Herzen: spiel’ mir, Jegoruschka, spiel’ mir
+das vor, was du dem Franzosen vorgespielt hast! Erleichtere
+mein Herz! Du bist halsstarrig – gut, ich
+bin’s auch. Du siehst, ich habe gleichfalls meinen Dickschädel,
+Jegoruschka. Ich kann dir nachfühlen, so fühl’
+auch du, wie ich fühle. Ich will nicht leben, wenn
+du mir nicht aus eigenem freiem Willen das vorspielst,
+was du dem Franzosen vorgespielt hast!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun gut, es sei!“ sagte Jefimoff. „Ich hatte mir
+wohl geschworen, Ihnen niemals vorzuspielen, gerade
+Ihnen nicht, aber mein Herz entbindet mich jetzt von
+meinem Schwur. Ich werde Ihnen vorspielen, doch,
+damit Sie’s wissen, zum ersten und zum letzten Mal,
+Herr, Sie sollen mich nie wieder hören, niemals, und
+sollten Sie mir auch – tausend Rubel bieten.“
+</p>
+
+<p>
+Er nahm seine Geige und begann, seine Variationen
+russischer Lieder zu spielen. B. sagte mir, nichts
+habe er mit solcher Leidenschaft und so wundervoll
+gespielt, wie diese Variationen – sie wären sein erstes
+und bestes Können gewesen. Dem Gutsbesitzer,
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+der ohnehin Musik nicht gleichmütig anhören konnte,
+rannen die hellen Tränen über die Wangen. Als das
+Spiel zu Ende war, stand er auf, nahm dreihundert
+Rubel aus seiner Brieftasche, reichte sie meinem Stiefvater
+und sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt geh, Jegor. Ich werde dich von hier hinauslassen,
+und deine Beleidigung des Grafen – auch
+das laß meine Sorge sein: ich werde alles beilegen.
+Aber nun höre: komme mir nie wieder in den Weg.
+Die Welt steht dir offen, und wenn wir uns begegnen
+sollten, so wird es sowohl mir wie dir peinlich sein.
+Nun, leb’ wohl! ... Wart’! Noch einen Rat gebe ich
+dir auf den Weg, nur einen: trink nicht und lerne,
+lerne unermüdlich. Auch bilde dir nicht zu viel ein! Das
+sage ich dir, sage es dir wie dein leiblicher Vater es
+dir sagen würde. Also gib acht, ich wiederhole es:
+lerne und rühre das Glas nicht an, greifst du aber
+einmal nach ihm und trinkst einen Schluck aus Kummer
+(und den wirst du reichlich kennen lernen!) –
+dann ist alles verloren, das wisse, dann geht dir alles
+zum Teufel und dann wirst auch du vielleicht genau
+so, wie dein Italiener, irgendwo in einem Graben
+verrecken. Jetzt lebe wohl! ... wart’, küss’ mich.“
+</p>
+
+<p>
+Sie küßten sich, und darauf erhielt er seine Freiheit.
+</p>
+
+<p>
+Doch kaum war er frei, da begann er damit, daß
+er in der nächsten Kreisstadt seine dreihundert Rubel
+verjubelte, und zwar in Gesellschaft heruntergekommener,
+ganz verwahrloster Menschen, worauf er sich
+gezwungen sah, in das jämmerliche Orchester einer
+wandernden Theatertruppe einzutreten, wo er die erste
+und wahrscheinlich einzige Geige spielte. Das stimmte
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+nun freilich nicht ganz überein mit seinen anfänglichen
+Absichten: so bald als möglich nach Petersburg
+zu fahren, dort in ein gutes Orchester einzutreten, um
+seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und die übrige
+Zeit des Tages ausschließlich dazu zu benutzen, um sich
+zu einem vollendeten Künstler auszubilden. In jener
+kleinen Musikkapelle hielt er es denn auch nicht lange
+aus: er geriet mit dem Unternehmer in Streit, kündigte
+ihm und verließ die Gesellschaft. Dann brach
+für ihn eine Zeit an, in der er schließlich seinen Mut
+so weit verlor, daß er sich zu einer verzweifelten Tat
+entschloß, die seinen Stolz tief erniedrigte. Er schrieb
+an den Gutsbesitzer, seinen früheren Brotherrn, schilderte
+seine Lage und bat um Geld. Der Brief war
+noch in ziemlich selbstbewußtem Tone geschrieben, eine
+Antwort aber erhielt er auf ihn nicht. Dann schrieb
+er einen zweiten, diesmal einen erniedrigend schmeichelhaften
+Brief, in dem er den Gutsbesitzer seinen
+Wohltäter und einen wirklichen Kunstkenner nannte,
+um ihn zum Schluß wieder um eine Unterstützung zu
+bitten. Auf diesen Brief erhielt er endlich eine Antwort.
+Der Gutsbesitzer sandte ihm hundert Rubel mit
+ein paar von der Hand seines Kammerdieners geschriebenen
+Zeilen, in denen er erklärte, daß er hinfort mit
+Ähnlichem verschont zu bleiben wünsche. Nach Empfang
+dieses Geldes wollte mein Stiefvater sogleich
+nach Petersburg reisen, als er aber seine Schulden
+bezahlt hatte, blieb ihm nur noch so wenig von dem
+Gelde übrig, daß er an die Ausführung der geplanten
+Reise nicht mehr denken konnte. Er blieb also in der
+Provinz, trat wieder in irgendeine Musikkapelle ein,
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+geriet dort wieder in Streit mit den anderen, und indem
+er sich so durchschlug, immer in der Hoffnung,
+bald nach Petersburg reisen zu können, verlebte er
+ganze sechs Jahre in der Provinz – bis ihn eines Tages
+Entsetzen erfaßte. Mit Verzweiflung sah er ein,
+wie viel seine Kunst durch dieses bedrückende und
+ungeordnete Bettlerleben bereits eingebüßt hatte. So
+ließ er eines Morgens seine Kapelle im Stich, nahm
+seine Geige und machte sich auf den Weg nach Petersburg,
+wo er nahezu als Strolch ankam. Er mietete
+sich irgendwo in einer elenden Dachkammer ein: und
+dort traf er zum erstenmal mit B. zusammen, der damals
+gerade erst aus Deutschland herübergekommen
+war und gleichfalls hier Karriere machen wollte. Sie
+schlossen bald Freundschaft miteinander. B. denkt jetzt
+noch mit tiefer Rührung an jene Zeit. Sie waren beide
+jung, beide hatten sie dieselben Hoffnungen und
+dasselbe Ziel, dem sie zustrebten. Nur war B. noch
+jünger und hatte von Armut und Leid und Künstlerelend
+erst wenig erfahren: überdies war er vor allen
+Dingen Deutscher und strebte zu seinem Ziel gewissermaßen
+systematisch und starrköpfig hin, mit ganz objektiver
+Einschätzung seiner Begabung, nachdem er
+schon im voraus genau berechnet hatte, wie weit er es
+bringen würde. Sein neuer Freund dagegen war immerhin
+schon dreißig Jahre alt, hatte sich durch das
+Elend bereits ermüden lassen, hatte schon an Geduld
+und Spannkraft verloren und seine ersten Kräfte eingebüßt,
+da er ganze sieben Jahre für sein täglich Brot
+in Provinztheatern und kleinen Orchestern auf verschiedenen
+Gütern hatte fiedeln müssen. Was ihn in
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+dieser Zeit aufrechterhalten, war der ewige unverrückbare
+Gedanke, sich endlich aus seiner Misere herauszuarbeiten,
+Geld zu sparen und dann nach Petersburg
+zu reisen. Aber der Gedanke war unklar, dunkel,
+fast nur wie ein innerliches „Sich zu etwas berufen
+fühlen“, so daß er denn auch mit den Jahren
+viel von der anfänglichen Klarheit verlor. Als er nun
+endlich in Petersburg eintraf, da war eigentlich alles
+gleichsam unbewußt geschehen, wie aus einer alten
+Gewohnheit an einen ewigen Wunsch und ein ewiges
+Sichausmalen dieser Reise, so daß er beinahe selbst
+nicht mehr wußte, was er hier eigentlich suchte. Sein
+Enthusiasmus war konvulsivisch, sprunghaft, oft mit
+geradezu galliger Bitterkeit gepaart, oft sinnverwirrend,
+als wollte er mit diesem Enthusiasmus sich selbst
+betrügen und glauben machen, daß seine Kraft noch
+ungebrochen, daß seine erste Glut, seine erste Begeisterung
+noch ungeschwächt seien. Diese immerwährende
+Begeisterung machte auf den kühlen, mehr wissenschaftlich
+veranlagten B. den größten Eindruck. Sie blendete
+ihn und er sah in meinem Stiefvater geradezu ein
+zukünftiges Weltgenie. Anders konnte er sich die Zukunft
+seines Gefährten gar nicht vorstellen. Doch bald
+wurden ihm die Augen geöffnet und er erkannte, mit
+wem er es zu tun hatte. Er sah und begriff, daß diese
+ganze gewaltsame Begeisterung, diese Hitze und Ungeduld
+nichts anderes waren, als eine unbewußte Verzweiflung
+in der Erinnerung an die verlorene Zeit,
+in der er seine Begabung nicht auszuentwickeln vermocht
+hatte, begriff, daß schließlich sogar das Talent
+an sich, vielleicht sogar auch in den Anfangsjahren,
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+gar nicht so groß gewesen war, fühlte heraus, daß da
+viel Verblendung mitspielte, unnützes Selbstgefühl, ursprünglicher
+Ehrgeiz und eine unausgesetzt arbeitende
+Phantasie, die sich immer nur mit dem eigenen Genie
+beschäftigt hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber trotzdem,“ erzählte B., „muß ich die eigenartige
+Natur meines Freundes immer wieder bewundern.
+Vor meinen Augen spielte sich ein steter Kampf
+ab – der verzweifelte, fieberhafte Kampf eines
+krampfhaft angespannten Willens mit einer inneren
+Kraftlosigkeit. Der Unglückliche hatte sich bis dahin
+ganze sieben Jahre mit den bloßen Gedanken an seinen
+zukünftigen Ruhm begnügt und über diesen Zukunftsträumen
+gar nicht bemerkt, wie ihm mit der Zeit die
+Grundlage der Kunst immer mehr abhanden kam, wie
+er nach und nach seine Technik verlor und damit das
+Werkzeug seiner Kunst. Währenddessen aber entstanden
+in seiner wirren Phantasie jeden Augenblick die großartigsten
+Zukunftspläne. Er wollte nicht etwa nur ein
+erstklassiges Genie sein, der größte aller Violinvirtuosen
+der Welt, für den er sich bereits allen Ernstes
+hielt, – nein, er wollte überdies noch Komponist werden,
+– ohne vom Kontrapunkt auch nur eine Ahnung
+zu haben. Am meisten jedoch wunderte mich,“ fuhr B.
+fort, „daß dieser Mensch bei seinen geringen Kenntnissen
+von der Theorie der Kunst ein so tiefes, klares
+und man kann wohl sagen instinktives Kunstverständnis
+hatte. Er erfaßte und fühlte die Kunst so tief, daß
+es schließlich kein Wunder war, wenn er sich in seiner
+Selbsterkenntnis verirrte und sich, anstatt für einen
+tief nachempfindenden Kunstkritiker zu halten, für einen
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+Kunstschöpfer, für ein Genie hielt. Zuweilen konnte
+er in seiner ungeschliffenen einfachen Ausdrucksweise,
+ohne, wie gesagt, etwas von einer Theorie oder
+Musikwissenschaft zu ahnen, so tiefe Wahrheiten sagen,
+daß ich ihn ganz verblüfft ansah und nicht begriff, wie
+er das alles erraten hatte, er, der nie etwas las, nie
+etwas lernte! Ich verdanke ihm viel,“ gestand B. freimütig,
+„denn er hat mit seinen Ratschlägen mir nicht
+wenig bei meiner Selbstvervollkommnung geholfen.
+Was nun mich betrifft,“ fuhr B. fort, „so war ich über
+meine Zukunft ganz ruhig. Auch ich liebte meine Kunst
+leidenschaftlich, obwohl ich von Anfang an wußte, was
+aus mir werden konnte, eben, daß ich im Grunde doch
+nur so etwas wie ein Handwerker in der Kunst bleiben
+würde.
+</p>
+
+<p>
+Ich bin aber doch stolz darauf, daß ich das, was
+die Natur mir gegeben, nicht wie ein fauler Knecht
+verscharrt, sondern hundertfältig vergrößert habe. Und
+wenn man jetzt die Reinheit meines Spiels hervorhebt
+und meine ausgearbeitete Technik bewundert, so verdanke
+ich das nur meiner ununterbrochenen, unermüdlichen
+Arbeit, der vollen Erkenntnis, d. h. der sachlichen
+Einschätzung meiner Kräfte, meiner freiwilligen
+Selbstverleugnung und meinem ewigen Kampf gegen
+Eigendünkel, gegen Zufriedenheit mit dem eigenen
+Können, gegen die Faulheit, der natürlichen Folge
+dieser Zufriedenheit.“
+</p>
+
+<p>
+B. hatte dann versucht, auch seinerseits auf den
+Gefährten einzuwirken, nachdem er sich ihm anfangs
+ganz untergeordnet, aber sein gutgemeinter Rat hatte
+den anderen nur geärgert. Die Folge davon war eine
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+langsam zunehmende Entfremdung. Bald bemerkte B.,
+daß sein Genosse sich immer häufiger einer gewissen
+Apathie hingab, verstimmt und gelangweilt war, daß
+die Ausbrüche seiner Begeisterung immer seltener wurden,
+und sich statt dessen eine trostlose Mutlosigkeit
+bemerkbar machte. Zu guter Letzt schien Jefimoff auch
+seine Geige zu vergessen und rührte sie oft wochenlang
+nicht an. Da war es denn nicht mehr weit bis
+zum endgültigen Verkommen – und bald gab der
+Arme sich allen Lastern hin. Wovor ihn der Gutsbesitzer
+gewarnt hatte, gerade das geschah: er ergab sich
+dem Trunk. B. beobachtete ihn mit Entsetzen. Raterteilen
+und Zureden half nichts, das wußte er, und
+übrigens getraute er sich kaum noch, dem anderen ein
+Wort zu sagen. Allmählich verfiel Jefimoff in den
+größten Zynismus und verlor offenbar jedes Ehrgefühl.
+So, zum Beispiel, schämte er sich nicht im geringsten,
+auf B.s Kosten zu leben, und zwar tat er das
+in einer Art, als habe er das volle Recht dazu. Dabei
+waren die Mittel knapp. B. schlug sich noch irgendwie
+durch, erteilte Unterricht, spielte bei Kaufleuten,
+Deutschen und geringeren Beamten, wenn diese ihre
+Kränzchen und Tanzabende hatten, bekam dafür zwar
+nicht viel, aber immerhin genug, nun, um sich eben
+durchzuschlagen. Jefimoff dagegen wollte, wie es
+schien, die Notlage seines Freundes überhaupt nicht
+bemerken. Er nahm nicht die geringste Rücksicht auf
+ihn, sprach mit ihm in strengem Tone oder würdigte
+ihn mehrere Tage lang keines Wortes. Einmal äußerte
+B. mit aller Rücksicht und Vorsicht zugleich, daß es
+nicht schlecht wäre, wenn er sein Geigenspiel nicht gar
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+zu sehr vernachlässigte, da er sonst ganz aus der Übung
+kommen könnte. Darüber ärgerte sich Jefimoff sehr und
+erklärte, er werde seine Geige hinfort überhaupt nicht
+mehr anrühren, – ganz als erwartete er, daß jemand
+ihn kniefällig darum bitte. Ein anderes Mal forderte
+B. ihn auf, mit ihm auf einem jener Bälle zu spielen:
+es sei ein größeres Fest, eine Geige genüge nicht.
+Diese Aufforderung versetzte Jefimoff in helle Wut.
+Empört erklärte er, er sei kein Straßenfiedler und könne
+nicht so gemein sein wie B. und die edle Kunst dermaßen
+erniedrigen, daß er simplen Spießbürgern, die
+von seinem Spiel und Talent doch nichts begriffen,
+zum Tanze aufspielte. B. erwiderte darauf kein Wort,
+Jefimoff aber begann in der Abwesenheit des Genossen,
+der fortgegangen war, um zu spielen, über den
+Zwischenfall nachzudenken und kam zu dem Schluß,
+B. habe ihm damit nur sagen wollen, daß er, Jefimoff,
+auf seine Rechnung lebe, und mit dieser Andeutung
+habe er ihm den Gedanken nahelegen wollen,
+gleichfalls Geld zu verdienen. Als B. zurückkehrte, begann
+Jefimoff plötzlich, ihm wegen seiner gemeinen
+Handlungsweise Vorwürfe zu machen, und schloß damit,
+daß er keine Minute länger mit ihm unter einem
+Dach bleiben werde. Er verschwand auch wirklich auf
+zwei Tage, am dritten aber erschien er wieder bei B.,
+als wäre nichts geschehen, und setzte ruhig seine alte
+Lebensweise bei ihm fort.
+</p>
+
+<p>
+Nur die frühere Freundschaft und die alte Gewohnheit,
+und überdies wohl auch noch das Mitleid,
+das B. mit dem verlorenen Menschen empfand, hielten
+ihn davon ab, dieser schmählichen Lebensweise ein
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+Ende zu machen und sich endgültig von seinem Stubengenossen
+loszusagen. Schließlich trennten sie sich
+aber doch. B. hatte Glück: er gewann die Protektion
+eines hohen Würdenträgers und bald darauf gab er
+sein erstes Konzert, das glänzend ausfiel. Damals war
+er schon ein vorzüglicher Künstler und bald verschaffte
+ihm seine schnell zunehmende Berühmtheit eine Stellung
+im Orchester der Kaiserlichen Oper, wo er vollauf
+verdienten Erfolg errang. Beim Abschied gab er Jefimoff
+noch Geld und beschwor ihn, doch wieder auf den
+rechten Weg zurückzukehren. Auch jetzt kann B. nicht
+ohne ein inniges Mitgefühl an ihn zurückdenken. Seine
+Bekanntschaft mit Jefimoff ist eben eines der größten
+Erlebnisse seiner Jugend gewesen und hat den tiefsten
+Eindruck in ihm hinterlassen. Gemeinsam hatten sie
+das gleiche Ziel erreichen wollen, wie sollten sie sich
+da nicht einander anschließen. Einerseits kam es, wie
+es nicht anders kommen konnte; anderseits waren es
+vielleicht gerade die Seltsamkeiten und die gröbsten, unangenehmsten
+Mängel Jefimoffs, die B. noch mehr an
+ihn fesselten. B. begriff ihn vollkommen. Er durchschaute
+ihn völlig und ahnte, wie das ganze enden mußte.
+Beim Abschied umarmten sie sich und ihre Augen
+wurden feucht. Da sagte Jefimoff unter Tränen mit
+versagender Stimme, daß er ein verlorener Mensch
+sei, er wisse es ja schon längst, aber jetzt erst habe er
+die ganze Größe seines Elends erfaßt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe kein Talent!“ stieß er hervor, totenblaß.
+</p>
+
+<p>
+B. war erschüttert.
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Jegor Petrowitsch,“ begann er, „was
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+machst du aus dir? Du richtest dich mit deiner Verzweiflung
+nur zugrunde, hab’ doch nur ein bißchen
+Ausdauer und Mannhaftigkeit! Jetzt sagst du in einer
+Anwandlung von Mutlosigkeit, du hättest kein Talent.
+Das ist aber doch nicht wahr! Du hast Talent, ich versichere
+dich! Gerade <em>du</em> hast es! Ich ersehe das schon
+daraus, wie du Kunst fühlst und begreifst. Und ein
+Beweis dafür ist auch schon dein ganzes früheres Leben.
+Du hast mir doch alles erzählt, und auch damals
+schon hat dich unbewußt dieselbe Verzweiflung ergriffen.
+Damals hat dein erster Lehrer, jener seltsame
+Mensch, von dem du mir so oft gesprochen hast, deine
+Liebe zur Kunst geweckt und dein Talent erraten. Du
+fühltest das damals ebenso stark und schwer, wie du es
+auch jetzt wieder fühlst. Damals wußtest du selbst nicht,
+was in dir vorging. Du hieltest es nicht aus bei deinem
+Gutsbesitzer und du wolltest fort von ihm, du wolltest
+etwas anderes, – aber was eigentlich, das wußtest
+du nicht. Dein Lehrer starb viel zu früh. Er ließ
+dich mit einem unklaren Streben zurück und vor allen
+Dingen erklärte er dir nicht dich selbst. Du fühltest,
+daß jener Weg nichts für dich war, du brauchtest
+einen anderen, einen breiteren, du fühltest, daß
+dir anderes zu erreichen bestimmt war, aber du begriffst
+nicht, wie dieses andere zu erreichen sei, und in
+deiner Sehnsucht und Qual ward dir deine ganze
+Umgebung zuwider und verhaßt. Deine sechs Jahre
+Armut und Elend hast du nicht umsonst durchgemacht:
+du hast in der Zeit gelernt, du hast gedacht, du hast
+dich selbst, hast deine Kraft erkannt. Jetzt kennst du
+die Kunst und zugleich deine Bestimmung. Mein
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+Freund, glaub’ mir, jetzt tut dir nur noch Ausdauer
+und Mannhaftigkeit not. Dir steht Größeres bevor,
+als mir: du bist hundertmal mehr Künstler, als ich,
+doch gäbe Gott dir wenigstens ein Zehntel von meiner
+Ausdauer. Lerne und trink nicht, wie dir dein
+prächtiger alter Gutsbesitzer bereits sagte, und die
+Hauptsache – fange von neuem an, fang von Anfang
+an, fang mit dem Alphabet an, wenn du willst. Was
+quält dich denn jetzt? Armut? Hunger? Aber Armut
+und Hunger entwickeln doch den Künstler. Sie gehören
+zum Anfang, sind sogar untrennbar mit ihm verbunden.
+Vorläufig kennt dich noch niemand, und es will
+dich auch niemand kennen, so ist nun einmal die Welt.
+Das wird anders werden, sobald man erfährt, daß du
+Talent hast. Dann werden dich wieder Neid, kleinliche
+Gemeinheit, vor allem aber Dummheit viel mehr
+bedrücken, als Armut es je vermag. Ein Talent bedarf
+der Teilnahme, es will verstanden sein. Du aber
+wirst dann erst sehen, wie die Leute sind, die dich umgeben,
+sobald du nur annähernd etwas erreicht hast.
+Was sich in dir durch mühevolle Arbeit, Entbehrungen,
+Hunger und schlaflose Nächte herausgearbeitet hat,
+das werden sie geringschätzen, verachten oder überhaupt
+nicht beachten. Sie werden dich nicht ermutigen,
+dich nicht trösten, diese deine zukünftigen Freunde.
+Sie werden dir auch nicht sagen, was in dir gut und
+echt ist, wohl aber werden sie mit boshafter Freude
+deine Fehler hervorheben, werden gerade darauf hinweisen,
+was an dir schlecht ist, und darauf, worin du
+irrst, und unter dem äußeren Anschein der Kaltblütigkeit
+und der Gleichgültigkeit oder gar Verachtung
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+deiner Person werden sie über jeden deiner Fehler
+frohlocken, als hätten sie ein Fest zu feiern – und
+Fehler hat doch wohl ein jeder! Du aber bist hochmütig,
+bist oft am unrechten Platz stolz, du könntest
+leicht einen dünkelhaften Wicht kränken, und dann
+wehe dir! Du bist allein und ein einziger, sie aber sind
+viele – sie werden dich mit Stecknadeln zu Tode quälen.
+Sogar ich fange schon an, das kennen zu lernen. So
+nimm dich doch jetzt endlich zusammen! Du bist noch
+längst nicht so arm, daß du nicht leben könntest, nur
+mißachte die Arbeit nicht, säge Holz, wie ich Holz gesägt
+habe bei den Bürgern und Beamten, wenn sie
+tanzten. Aber du bist ungeduldig, du bist krank vor
+Ungeduld, es ist zu wenig Einfachheit in dir, du verstellst
+dich zu viel, du denkst zu viel, du gibst deinem Kopf
+zu viel Arbeit. In Worten bist du dreist, sobald du
+aber den Violinbogen in die Hand nehmen mußt, wirst
+du mutlos. Du bist eigenliebig und es steckt in dir wenig
+Tapferkeit. So sei doch mutiger, warte ab, lerne,
+und wenn du auch deinen Kräften nicht traust, so arbeite
+nur. Es steckt Glut in dir, du hast etwas Elementares!
+Vielleicht erreichst du dein Ziel, oder wenn
+nicht, so laß es doch immerhin auf das Vielleicht ankommen.
+Verlieren kannst du dabei auf keinen Fall
+etwas, um so größer aber ist der mögliche Gewinn.
+Hier, Freund, ist euer russisches ‚Vielleicht‘ eine große
+Sache!“
+</p>
+
+<p>
+Jefimoff hörte seinen einstigen Genossen mit tief
+aufgewühlten Gefühlen an. Während jener noch
+sprach, trat allmählich wieder Farbe in seine bleichen
+Wangen, seine Augen leuchteten auf und Mut und
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+Hoffnung erglänzte in ihnen. Aber der gute Mut
+wurde schnell zum Selbstgefühl und dann zu der bei
+ihm üblichen Anmaßung: als B. sich dem Schluß
+seiner Standrede näherte, da hörte Jefimoff nur noch
+zerstreut und schon ungeduldig zu. Trotzdem drückte er
+ihm zum Schluß kräftig die Hand, dankte und –
+schnell wie immer in seinen Übergängen von tiefster
+Mutlosigkeit und Selbstverurteilung zum größten
+Hochmut, wenn nicht gar zur frechsten Vermessenheit
+– erklärte er selbstbewußt, der Freund möge sich nicht
+um ihn sorgen, er wisse, wie er seine Zukunft zu gestalten
+habe. Er hoffe, bald gleichfalls Protektion zu
+finden, dann werde er ein Konzert geben und mit
+einem Schlage Ruhm und Geld erwerben. – B.
+zuckte mit den Achseln, erwiderte nichts darauf und
+sie schieden voneinander, natürlich nicht auf lange.
+Jefimoff verjubelte sogleich das empfangene Geld und
+suchte ihn dann auf, um ihn wieder um Geld anzugehen.
+Dasselbe tat er zum dritten-, vierten- und bald
+zum zehntenmal, bis endlich die Geduld B.s erschöpft
+war und er ihm sagen ließ, er sei nicht zu Hause. Von
+da an verlor er ihn ganz aus den Augen ...
+</p>
+
+<p>
+Es vergingen ein paar Jahre. Da stieß B. eines
+Tages auf dem Heimwege aus der Probe in einer
+Gasse vor einer schmutzigen Trinkstube mit einem
+schlecht gekleideten, betrunkenen Menschen zusammen,
+der ihn plötzlich beim Namen nannte. Es war Jefimoff.
+Er hatte sich sehr verändert, sein Gesicht war
+gelb und aufgedunsen. Man sah es ihm auf den ersten
+Blick an, daß das liederliche Leben bereits seinen Zügen
+einen unverwischbaren Stempel aufgedrückt hatte.
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+B. war trotzdem sehr erfreut, ihn wiederzusehen, und
+folgte ihm in die Trinkstube, wohin Jefimoff ihn schon
+nach den ersten zwei Worten zog. Dort, in einer abgelegenen
+kleinen verräucherten Stube, musterte er
+etwas eingehender seinen ehemaligen Stubengenossen.
+Da erst sah er, daß jener ganz zerlumpt war und daß
+seine Stiefel zerrissen waren. Die zerknüllte Hemdbrust
+hatte Weinflecke. Sein Haar fing schon an zu ergrauen
+und sich zu lichten.
+</p>
+
+<p>
+„Wie geht es dir jetzt? Wo lebst du?“ fragte B.
+</p>
+
+<p>
+Jefimoff schaute etwas betreten darein, im ersten
+Augenblick sogar beinahe eingeschüchtert, und antwortete
+so unzusammenhängend und stockend, daß B. nahe
+daran war, ihn für halbwegs verrückt zu halten. Endlich
+gestand Jefimoff, er könne nicht sprechen, bevor
+er nicht einen Schnaps getrunken, hier aber habe er
+schon lange keinen Kredit mehr. Er errötete, als er
+das sagte, wollte sich aber mit einem gewissen flotten
+Gehaben darüber hinweghelfen, was ihm jedoch
+mißlang: es wurde daraus etwas aufdringlich Gemeines,
+Unnatürliches, so daß der ganze Eindruck ein
+recht trauriger war und in dem gutmütigen B. aufrichtiges
+Mitleid erweckte. Er sah, daß alle seine Befürchtungen
+eingetroffen waren. Er bestellte also Schnaps.
+Jefimoffs Gesicht veränderte sich vor Dankbarkeit und
+er geriet so aus dem Gleichgewicht, daß er mit Tränen
+in den Augen fast im Begriffe war, B. die Hand
+zu küssen. Während des Essens erfuhr dann B. zu seiner
+größten Verwunderung, daß der Unglückliche inzwischen
+geheiratet hatte. Aber seine Verwunderung
+nahm noch zu, als er gleich darauf hören mußte, daß
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+die Frau an seinem ganzen Unglück und Elend schuld
+sei, daß die Heirat sein ganzes Können vernichtet
+habe.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie denn das?“ fragte B.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Freund, seit zwei Jahren nehme ich meine
+Geige nicht mehr in die Hand,“ antwortete Jefimoff.
+„Sie ist eben ein ungebildetes, rohes Weib, eine richtige
+Köchin. Daß sie der ...! Na ja. Wir liegen uns
+nur in den Haaren, das ist alles, was wir tun.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber warum hast du sie denn geheiratet, wenn
+sie so ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Hatte nichts zu essen. Da machte ich ihre Bekanntschaft.
+Sie besaß etwa tausend Rubel ... da
+heiratete ich sie denn. Sie aber hatte sich in mich verliebt.
+Hat sich selbst mir an den Hals gehängt. Wer
+hatte sie drum gebeten! Das Geld ist verlebt, vertrunken,
+Freund, und – was Kunst! Es ist alles zum Teufel
+gegangen!“
+</p>
+
+<p>
+B. hatte die Empfindung, als wolle Jefimoff sich
+gewissermaßen rechtfertigen, und zwar schien er sich
+damit sehr zu beeilen, wie um einer Bemerkung oder
+einer Frage zuvorzukommen.
+</p>
+
+<p>
+„Habe alles an den Nagel gehängt, alles,“ fuhr er
+fort und erzählte dann, daß er es in der letzten Zeit
+im Spiel fast bis zur Vollendung gebracht habe, so
+daß ... nun ja, B. sei zwar einer der ersten Violinspieler
+in Petersburg, aber ihm, Jefimoff, könne er
+doch nicht einmal das Wasser reichen, wenn er, Jefimoff,
+mal spielen wollte.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber wie steht es denn jetzt mit dir?“ fragte
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+B., dem der ganze Sachverhalt noch unklar war.
+„Warum suchst du dir dann nicht einen Verdienst?“
+</p>
+
+<p>
+„Äh! – lohnt nicht!“ bemerkte Jefimoff mit wegwerfender
+Gebärde. „Wer versteht denn bei euch etwas
+von wirklicher Kunst! Was wißt ihr überhaupt?
+Nicht so viel, gar nichts wißt ihr! Irgend so einen
+Hopserwalzer den Ballettspringern vorzufiedeln –
+das könnt ihr allenfalls noch. Aber das ist auch alles.
+Wirkliche Künstler habt ihr ja überhaupt noch nicht
+gesehn, noch viel weniger gehört. Wozu euch aufrütteln!
+Bleibt, was ihr seid!“
+</p>
+
+<p>
+Hierbei machte Jefimoff wieder eine geringschätzige
+Bewegung – geriet aber ins Wanken, da er schon
+ziemlich viel getrunken hatte. Dann forderte er B.
+auf, zu ihm zu kommen. Dieser lehnte das vorläufig
+ab, fragte ihn aber nach seiner Adresse und versprach,
+ihn am nächsten Tage aufzusuchen. Jefimoff, der nun
+schon genug gegessen und getrunken hatte, blickte spöttisch
+seinen früheren Genossen an und schien die größte
+Lust zu verspüren, ihn irgendwie zu verletzen. Als sie
+aufbrachen, griff er schnell nach B.s kostbarem Pelz
+und hielt ihn, wie ein Geringerer einem Höherstehenden,
+dem er beim Anziehen behilflich sein will.
+Und als sie durch das vordere Zimmer, die eigentliche
+Schenkstube, gingen, blieb er stehen und stellte B. den
+Wirtsleuten und dem Publikum als den ersten und einzigen
+Violinvirtuosen der ganzen Hauptstadt vor. Kurz,
+er benahm sich schmutzig.
+</p>
+
+<p>
+Nichtsdestoweniger suchte B. ihn am anderen Morgen
+in der Dachkammer auf, wo wir in größter Armut
+lebten. Ich war damals vier Jahre alt und meine
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+Mutter war schon seit zwei Jahren mit Jefimoff verheiratet.
+Meine arme Mutter! Als völlig unbemittelte
+Gouvernante hatte sie, die eine vortreffliche Bildung
+besaß und schön war, einen älteren Bekannten geheiratet,
+meinen Vater, um aus der Armut herauszukommen.
+Aber die Ehe dauerte kaum drei Jahre. Mein
+Vater starb ganz plötzlich. Und als sein geringer Nachlaß
+unter seinen Erben verteilt wurde, blieb meine
+Mutter mit mir und einer nur kleinen Summe zurück,
+die von der Hinterlassenschaft ihres Mannes ihr
+zufiel. Wieder eine Gouvernantenstelle anzunehmen,
+wäre kaum möglich gewesen, jetzt, wo sie ein kleines
+Kind hatte. In dieser Zeit machte sie durch einen Zufall
+die Bekanntschaft Jefimoffs und verliebte sich
+tatsächlich in ihn. Auch sie war eine Enthusiastin, eine
+phantastische Träumerin. Auch sie sah in ihm ein großes
+Genie und glaubte seinen stolzen Worten, wenn
+er von seiner glänzenden Zukunft sprach. Ihrer Phantasie
+schmeichelte die Vorstellung von dem beneidenswerten
+Los, die Stütze und Gefährtin eines genialen
+Künstlers zu sein, und so heiratete sie ihn. Schon im
+ersten Monat schwanden alle ihre Hoffnungen und
+Träume: vor ihr blieb nichts, als die armselige Wirklichkeit.
+Jefimoff, der sie vielleicht nur aus dem Grunde
+geheiratet hatte, weil sie etwa tausend Rubel besaß,
+legte, als das Geld zu Ende war, sogleich die Hände
+in den Schoß und erklärte allen und jedem – es war
+geradezu, als hätte er sich über den Vorwand gefreut
+–, daß die Heirat sein Talent vernichtet habe, daß
+er in einer dumpfen Stube nicht arbeiten könne, unter
+den Augen einer hungrigen Familie ... da könne der
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+Verstand weder Noten noch Melodien fassen, und
+schließlich: dieses Unglück sei ihm eben offenbar von
+Anfang an bestimmt gewesen. Wie es scheint, hat er
+bald selbst an die Richtigkeit seiner Klagen geglaubt
+und sich vermutlich über diese neue Rechtfertigungsmöglichkeit
+wirklich gefreut. Dieser unselige, trotz aller
+Begabung verlorene Mensch hatte wohl schon lange
+nach einem äußeren Vorwand gesucht, dem er alles
+Unglück und alle Mißerfolge zuschreiben konnte. An
+den furchtbaren Gedanken, daß er für die Kunst schon
+längst und unrettbar verloren war, an den konnte er
+sich natürlich nicht gewöhnen. Er kämpfte krampfhaft
+gegen diese unheimliche Erkenntnis an, kämpfte wie
+mit einem Alb, der auf ihm lastete, und als die Wirklichkeit
+ihn endlich zu besiegen begann und seine Augen
+für Sekunden öffnete, da war es ihm, als müßte
+er vor Entsetzen den Verstand verlieren. Wie sollte er
+auch auf das verzichten, was so lange Ziel und Zweck
+seines Lebens gewesen war, und so glaubte er bis zur
+letzten Minute, oder redete es sich wenigstens ein, daß
+noch nichts verloren sei. Kamen aber Stunden des
+Zweifels, dann gab er sich wieder dem Trunk hin,
+um vom Rausch die Qual verdrängen zu lassen. Zu
+guter Letzt wußte er vielleicht selbst nicht, wie unentbehrlich
+ihm die Frau in dieser Zeit war. Sie war ja
+für ihn eine lebendige Rechtfertigung, wie es denn
+fast zu seiner fixen Idee wurde, daß erst dann alles
+wieder gut werden würde, wenn er seine Frau, <em>die
+an allem Schuldige</em>, begraben habe. Meine
+arme Mutter verstand ihn aber nicht. Als geborene
+Träumerin ertrug sie nicht einmal den ersten Schritt
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+in der feindlichen Wirklichkeit. Sie wurde heftig, böse,
+zänkisch, geriet jeden Augenblick in Streit mit dem
+Mann, dem es geradezu ein Vergnügen zu sein schien,
+sie zu quälen, und immer wieder sagte sie ihm, er solle
+doch arbeiten, sonst verlerne er ja alles. Aber die Verblendung
+und die fixe Idee meines Stiefvaters, überhaupt
+seine ganze Überspanntheit machten ihn gefühllos
+und fast unmenschlich grausam gegen sie. Er
+lachte nur und schwor, die Geige vor ihrem Tode nicht
+wieder in die Hand zu nehmen, ohne sich über seine
+grausame Rücksichtslosigkeit auch nur Gedanken zu
+machen, wenn er ihr dies ganz unumwunden ins Gesicht
+sagte. Meine Mutter, die ihn trotz allem bis zu
+ihrem Tode leidenschaftlich liebte, war einem solchen
+Leben nicht gewachsen. Sie wurde kränklich und zuletzt
+wirklich krank, und da sie sich nie erholen konnte,
+lebte sie, leidend wie sie war, nur unter ewigen Qualen.
+Und überdies mußte sie ganz allein für den Unterhalt
+der Familie sorgen. Sie begann zu kochen und
+richtete einen Mittagstisch für Fremde ein, aber ihr
+Mann entwand ihr heimlich alles Geld, und da kam es
+denn nicht selten vor, daß sie diejenigen, die das Essen
+abholen wollten, mit leerem Geschirr zurückschicken mußte.
+Als B. uns aufsuchte, hatte sie das Kochen schon aufgegeben;
+sie beschäftigte sich damals mit dem Färben
+alter Kleider und wusch außerdem Wäsche. So fristeten
+wir unser Leben dort oben in der Dachstube.
+</p>
+
+<p>
+Unsere Armut überraschte B.
+</p>
+
+<p>
+„Hör’ mal, was redest du denn da von deiner vernichteten
+Kunst?“ wandte er sich an meinen Stiefvater.
+„Sie ernährt dich doch, und was tust du?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+„Nichts!“ versetzte mein Stiefvater.
+</p>
+
+<p>
+Doch B. kannte noch nicht das ganze Unglück meiner
+Mutter. Ihr Mann brachte oft, wenn er nach
+Hause kam, eine ganze Bande der verschiedensten Kumpane
+mit und dann – was gab es dann nicht alles!
+</p>
+
+<p>
+B. redete lange Zeit auf seinen früheren Genossen
+ein. Er sagte ihm auch, daß er ihm in keiner Beziehung
+helfen werde, wenn er sich nicht besserte, auch
+Geld werde er ihm nicht geben, da er es doch nur vertrinke.
+Zum Schluß bat er ihn, ihm etwas vorzuspielen,
+damit er beurteilen könne, was sich für ihn tun
+ließ. Während mein Stiefvater die Geige hervorholte,
+wollte B. meiner Mutter heimlich Geld zustecken, aber
+sie nahm es nicht. Zum erstenmal sollte sie Almosen
+annehmen! Da gab B. das Geld mir, und die arme
+Frau brach in Tränen aus. Mein Stiefvater nahm
+die Geige aus dem Kasten, besah sie, sagte aber dann,
+daß er zuerst Schnaps trinken müsse, ohne den könne
+er nicht spielen. Der Schnaps wurde geholt. Er trank
+und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde dir aus alter Freundschaft etwas von
+meinen eigenen Kompositionen vorspielen,“ sagte er
+B. und zog unter der Kommode ein dickes, verstaubtes
+Heft hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Alles dies habe ich selbst geschrieben,“ sagte er,
+auf das Heft deutend. „Nun, du wirst ja sehen ...
+Das, Freund, ist etwas anderes als eure Ballettstückchen!“
+</p>
+
+<p>
+B. blätterte schweigend ein paar Seiten um; dann
+schlug er die Noten auf, die er bei sich hatte, und bat
+ihn, daraus etwas vorzuspielen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+Es kränkte Jefimoff, daß seine Kompositionen so
+zur Seite geschoben wurden, aber er kam doch der
+Aufforderung nach, wohl in der Furcht, B.s Gunst und
+Anteilnahme zu verlieren.
+</p>
+
+<p>
+Er spielte. B. erkannte, daß er in der Zeit nach
+ihrer Trennung viel zugelernt, also auch viel gearbeitet
+haben mußte, obgleich er damit geprahlt, daß er die
+Geige seit seiner Heirat nicht mehr angerührt habe.
+Da hätte man die Freude meiner armen Mutter sehen
+sollen! Sie sah ihren Mann an und war wieder stolz
+auf ihn. Der gute B. war aufrichtig erfreut und wollte
+unbedingt meinem Stiefvater helfen. Er hatte schon
+damals gute Beziehungen und so tat er denn auch alles
+mögliche für seinen armen Studiengenossen, nachdem
+er von diesem das ehrenwörtliche Versprechen gefordert
+und erhalten hatte, daß er sich gut aufführen
+werde. Zunächst kleidete er ihn besser ein, natürlich
+auf seine Rechnung, dann ging er mit ihm zu ein paar
+bekannten Persönlichkeiten, von denen es abhing, ob
+Jefimoff in dem Orchester ankam, wo B. ihn unterbringen
+wollte. Was nun die Annahme einer Stellung
+betraf, so hatte Jefimoff natürlich nur großgetan,
+wie gewöhnlich, wenn es sich bloß um Worte handelte.
+Wenigstens nahm er das Anerbieten seines alten
+Freundes mit der größten Bereitwilligkeit an. B.
+erzählte mir, er habe sich für ihn geschämt wegen der
+Schmeicheleien und der geheuchelten Bewunderung,
+mit denen mein Stiefvater seine Dankbarkeit habe bezeugen
+wollen, wahrscheinlich in der Absicht, sich dadurch
+B.s Wohlwollen zu sichern. Er begriff endlich,
+daß man ihn auf den rechten Weg stellen wollte
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+und er hörte sogar auf, zu trinken. Schließlich erhielt er
+auch wirklich eine Anstellung im Orchester eines Theaters.
+Die Prüfung bestand er gut, denn in einem Monat
+hatte er sich durch Fleiß und guten Willen alles
+wieder angeeignet, was er in anderthalb Jahren des
+Nichtstuns verlernt hatte. Er versprach, auch hinfort
+gut zu üben, seinen neuen Pflichten getreu nachzukommen
+und pünktlich und nüchtern zu sein. Unsere Verhältnisse
+besserten sich jedoch deshalb noch keineswegs.
+Mein Stiefvater gab nämlich von seinem Monatsgehalt
+meiner Mutter nicht einen Kopeken, er verlebte
+alles allein, vertrank und verjubelte das Geld mit seinen
+neuen Freunden, von denen er sich sogleich eine
+ganze Schar anlegte. Es waren das größtenteils am
+Theater Angestellte, Choristen, Statisten, mit einem
+Wort Leute, unter denen er der Erste sein konnte, während
+er alle Talentvolleren geflissentlich mied. Diesen
+dagegen konnte er imponieren und eine ganz besondere
+Achtung einflößen, was ihm schon gleich zu Anfang
+gelungen war, indem er ihnen sofort erklärt und sie
+durch seine Überzeugung gleichfalls überzeugt hatte,
+daß er eine verkannte Größe, ein Genie sei, daß seine
+Frau ihn zugrunde gerichtet und daß ihr Kapellmeister
+von der ganzen Musik keine Ahnung habe. Er machte
+sich über alle Solisten des Orchesters lustig, ebenso
+über die Wahl der Stücke, die gespielt wurden, wie
+auch über die Komponisten der Opern. Schließlich fing
+er an, eine ganz neue Theorie der Musik zu erklären.
+Kurz, er wurde dem ganzen Orchester lästig, geriet mit
+allen in Streit, nicht zuletzt auch mit dem Kapellmeister,
+wurde seinen Vorgesetzten gegenüber grob, erwarb
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+sich den Ruf, der unruhigste, verdrehteste und zugleich
+der nichtsnutzigste Mensch zu sein, und brachte
+es so weit, daß er allen unerträglich wurde.
+</p>
+
+<p>
+Und in der Tat, es war doch recht seltsam anzusehen,
+daß ein so unansehnlicher Mensch, ein so
+schlechter und fahrlässiger Musiker so riesige Ansprüche
+stellte und in einem so selbstbewußten Ton prahlte.
+</p>
+
+<p>
+Es endete damit, daß er sich mit B. verfeindete: er
+erfand eine häßliche Klatschgeschichte, eine ganz niederträchtige
+Verleumdung seines Wohltäters und gab sie
+als selbsterlebte Wirklichkeit zum besten. Nach einem
+halben Jahr wurde er aus diesem Orchester wegen
+Nachlässigkeit und unzulässiger Aufführung in nicht
+nüchternem Zustande ausgeschlossen. Doch damit hatte
+man ihn noch nicht abgeschüttelt. Bald sah man ihn
+wieder in zerlumpten Kleidern, denn die guten waren
+verkauft oder versetzt, und in diesen Kleidern suchte
+er seine gewesenen Kollegen vom Orchester auf, ohne
+darauf zu achten, ob diese davon erbaut waren oder
+nicht, erzählte Klatschgeschichten, schwätzte Unsinn,
+klagte über sein Leben und forderte alle auf, zu ihm
+zu kommen, um seinen Hausdrachen zu sehen. Natürlich
+fanden sich Zuhörer, es fanden sich auch solche,
+denen es Spaß machte, dem an die Luft gesetzten Kollegen
+mittels Alkohol die Zunge zu lösen und sich durch
+sein Geschwätz erheitern zu lassen. Übrigens sprach
+er dann immer mit Geist und Witz, untermischte seine
+Reden mit beißendem Spott und diversen Zynismen,
+die namentlich bei gewissen Zuhörern stets des Beifalls
+sicher sind. Man nahm ihn für einen etwas verschrobenen
+Narren, den plaudern zu hören in müßigen
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+Stunden ganz amüsant war. Auch zogen die Kollegen
+ihn gern auf, indem sie in seiner Gegenwart von einem
+neuen großen Violinvirtuosen zu sprechen anfingen,
+der sich angeblich auf einer Konzertreise in Rußland
+befinden sollte und auch nach Petersburg kommen
+werde. Sobald er das hörte, veränderte sich sein Gesicht,
+er wurde kleinlauter, erkundigte sich, wie der
+Künstler hieß, wo er konzertierte, wie groß denn sein
+Talent sei, und war offenbar eifersüchtig auf den
+Ruhm der ihm unbekannten Größe. Es scheint, daß erst
+in dieser Zeit sein systematischer Wahnsinn, sein Größenwahnsinn
+begann, diese fixe Idee, daß er der erste
+Geigenvirtuose, mindestens in Petersburg sei, daß
+aber das Schicksal ihn verfolge und er dank verschiedenen
+Intrigen natürlich nicht verstanden werde und
+deshalb in seiner Unbekanntheit verbleibe. Letzteres
+schmeichelte ihm sogar, denn es gibt solche Charaktere,
+die sich mit Vorliebe für verfolgt und unverstanden
+halten und sich laut darüber beschweren, oder im stillen
+zur Sättigung ihres Ehrgeizes wenigstens selber
+ihre nicht anerkannte Größe anbeten. Jefimoff kannte
+alle Petersburger Violinvirtuosen und konnte sie an
+den Fingern herzählen, doch war von ihnen allen, nach
+seiner Ansicht, kein einziger ihm gewachsen. Seine Kollegen
+aber und andere Sachverständige, auch manche
+Laien, die seinen Größenwahn kannten, brachten das
+Gespräch gerade deshalb auf die angebliche neue Größe,
+um ihn zu veranlassen, den vermeintlichen Rivalen
+im voraus zu kritisieren. Ihnen gefiel sein Grimm,
+seine boshaften Einfälle, es gefielen vor allen Dingen die
+sachlichen, klugen Bemerkungen, die er machte, wenn er
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+das Spiel der anderen kritisierte. Oft verstanden sie
+ihn nicht, doch dafür waren sie überzeugt, daß kein
+zweiter auf der Welt so geschickt und in so packenden
+Karikaturen die Größen unter den zeitgenössischen
+Musikern darzustellen und herunterzureißen wußte.
+Und sogar diese Künstler, über die er so schonungslos
+spottete, fürchteten ihn ein wenig, denn sie kannten
+nicht nur seinen beißenden Witz, sondern erkannten
+auch die Richtigkeit seiner Angriffe und Urteile. Man
+hatte sich gewissermaßen schon daran gewöhnt, ihn in
+den Korridoren und hinter den Kulissen des Theaters
+zu sehen. Die Bedienten gewährten ihm widerspruchslos
+den Zutritt, wie einer unentbehrlichen Person. So
+wurde er im Theater zu einer Figur, etwa von der Art
+eines musikalischen Thersites. Das dauerte etwa zwei
+bis drei Jahre. Endlich aber fiel er allen auch in dieser
+seiner letzten Rolle lästig. Man setzte ihn formell vor
+die Tür und in den zwei letzten Jahren seines Lebens
+war mein Stiefvater für diese Leute wie verschollen,
+keiner von ihnen sah ihn je wieder. Übrigens – B.
+ist ihm doch noch zweimal begegnet, und zwar sah er ihn
+in einer so elenden Verfassung, daß noch einmal das
+Mitleid seinen Ekel besiegte. Er rief ihn an, aber das
+kränkte Jefimoff und er tat, als hätte er nichts gehört,
+zog seinen alten verbeulten Filz noch mehr über die
+Augen und ging vorüber. Es verging einige Zeit, da
+wurde B. am Morgen eines großen Festtages gemeldet,
+daß sein ehemaliger Kollege Jefimoff ihm zum
+Fest zu gratulieren wünsche. B. ging ihm entgegen.
+Jefimoff stand berauscht im Vorzimmer, verbeugte sich
+äußerst tief, fast bis zur Erde, seine Lippen murmelten
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+etwas Unverständliches, doch weigerte er sich hartnäckig,
+näherzutreten. Der Sinn seines Besuches war
+ungefähr der: „Wie können wir unbegabten Leute mit
+so großen und vornehmen Berühmtheiten wie Euer
+Wohlgeboren Umgang pflegen? Für uns Geringe genügt
+auch ein Dienerplatz, wenn wir zum Fest gratulieren
+kommen: wir machen unseren Bückling und gehen
+wieder.“ Mit einem Wort, er war schmutzig,
+dumm und widerlich gemein. Seit jenem Morgen sah
+ihn B. lange Zeit nicht mehr, bis – bis zu der Katastrophe,
+mit der dieses ganze traurige, erstickend trostlose,
+kranke Leben endete. Es geschah das auf eine
+furchtbare Weise. Diese Katastrophe ist nicht nur das
+erschütterndste Erlebnis meiner Kindheit, sie ist sogar
+für mein ganzes Leben entscheidend gewesen. Doch zuvor
+muß ich noch erzählen, wie meine Kindheit war, und
+erklären, welche Bedeutung dieser Mensch für mich
+hatte, dieser Mensch, der einen so qualvollen Eindruck
+auf mein Kindergemüt machte und der die Ursache des
+Todes meiner armen Mutter gewesen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-2">
+II.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Meine Erinnerung an meine Kindheit reicht nicht
+sehr weit zurück, eigentlich nur bis zu meinem zehnten
+Jahr. Ich weiß nicht, wie es zu erklären ist, daß alles,
+was ich bis dahin erlebt habe, keinen einzigen klaren
+Eindruck in mir hinterlassen hat, an den ich mich jetzt
+noch erinnern könnte. Aber ungefähr von der Mitte
+meines neunten Jahres an, da erinnere ich mich des
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+Erlebten fast Tag für Tag: es ist wie eine laufende
+Kette von Erinnerungen, ganz als wäre das alles erst
+gestern geschehen ... Allerdings kann ich mich auch
+noch einiger früherer Erlebnisse entsinnen, aber doch
+nur wie im Traum. So erinnere ich mich z. B. des
+immer brennenden Lämpchens in der dunklen Ecke vor
+einem altertümlichen Heiligenbilde; dann, wie ich einmal
+auf der Straße einem Pferde unter die Beine
+geriet, worauf ich, wie man mir später erzählt hat,
+drei Monate lang krank gelegen habe; ferner, wie ich
+während dieser Krankheit einmal in der Nacht neben
+meiner Mutter, in deren Bett ich schlief, plötzlich im
+Traum aufschrak und vom Schreck erwachte, und wie
+ich mich dann vor der nächtlichen Stille und Dunkelheit
+und den in der Ecke raschelnden und knabbernden
+Mäusen fürchtete; Ich zitterte die ganze Nacht vor
+Angst, ich zog mir sogar die Decke über den Kopf, aber
+ich wagte trotzdem nicht, meine Mutter zu wecken,
+woraus ich schließe, daß meine Furcht vor ihr noch
+größer war als vor den Mäusen und der Dunkelheit.
+Aber von der Stunde an, wo plötzlich das Bewußtsein
+in mir erwachte, entwickelte ich mich schnell, wider Erwarten
+schnell, und viele nichts weniger als kindliche
+Geschehnisse wurden mir mit einemmal in geradezu
+unheimlicher Weise faßbar. Alles klärte sich vor mir
+auf, alles wurde mir in kürzester Zeit verständlich. Und
+diese Zeit, in der ich bewußt zu leben anfing, an die
+ich mich, im Gegensatz zu den vorhergegangenen Jahren,
+mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erinnere, hat in
+mir einen tiefen und traurigen Eindruck hinterlassen.
+Dieser Eindruck wiederholte sich dann jeden Tag und
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+wuchs mit jedem Tag; er verlieh der ganzen Zeit meines
+Zusammenlebens mit meinen Eltern und somit
+meiner ganzen Kindheit eine dunkle und eigenartige
+Farbe.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt scheint es mir, daß ich damals ganz plötzlich
+wie aus einem tiefen Traum erwachte (obschon dies
+mir, als es geschah, natürlich gar nicht weiter auffiel).
+Ich fand mich in einem großen Zimmer mit einer
+niedrigen Decke. Es war unsauber und die Luft darin
+dumpf. Die getünchten Wände waren von schmutziggrüner
+Farbe, in einer Ecke stand ein riesiger russischer
+Ofen. Durch die Fenster sah man auf die Straße, oder
+richtiger auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses,
+und diese Fenster waren breit und niedrig, fast nur
+wie horizontale Spalten in der Wand. Die Fensterbretter
+waren so hoch vom Fußboden, daß ich auf einen
+Stuhl und eine Fußbank klettern mußte, um mich,
+und auch noch immer mit Mühe, auf meinen Lieblingsplatz
+hinaufschwingen zu können – wenn niemand zu
+Hause war, der es mir verbot. Aus unserer Wohnung
+konnte man fast die halbe Stadt sehen, denn wir wohnten
+unter dem Dach in einem sechsstöckigen, sehr, sehr
+großen Hause. Unsere ganze Einrichtung bestand aus
+der Ruine eines alten zerrissenen Ledersofas, das ganz
+verstaubt war und aus dem überall der Bast der Polsterung
+hervorsah, ferner einem einfachen, ungestrichenen
+Tisch, zwei Stühlen, einem Bett, in dem meine
+Mutter schlief, einem Schränkchen in der Ecke, einer
+Kommode, die immer schief stand, und einem zerrissenen
+papierenen Wandschirm.
+</p>
+
+<p>
+Ich erinnere mich, es war einmal in der Dämmerung:
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+das ganze Zimmer befand sich in Unordnung,
+auf der Diele lag alles durcheinander, Bürsten und
+Lappen, unser hölzernes Eßgeschirr, eine zerschlagene
+Flasche und ich weiß nicht was noch. Ich erinnere
+mich, meine Mutter war sehr aufgeregt und aus irgendeinem
+Grunde weinte sie. Mein Stiefvater saß in
+der Ecke, wie immer in einem zerrissenen Rock. Er antwortete
+ihr irgend etwas, antwortete unter einem höhnischen
+Auflachen, was meine Mutter noch mehr ärgerte,
+und dann flogen wieder Bürsten und Teller auf
+den Boden. Ich begann zu weinen und zu schreien und
+stürzte zu ihnen beiden. Ich war entsetzlich erschrocken
+und umklammerte wie verzweifelt meinen Vater, um
+ihn mit meinem Körper zu schützen. Gott mag wissen,
+weshalb es mir schien, daß der Ärger meiner Mutter
+grundlos und mein Vater unschuldig sei. Ich wollte
+für ihn um Verzeihung bitten, gleichviel was für eine
+Strafe an seiner Stelle auf mich nehmen. Ich fürchtete
+mich entsetzlich vor meiner Mutter und glaubte, daß
+alle sie ebenso fürchteten. Meine Mutter sah mich im
+ersten Augenblick ganz verwundert an, dann faßte
+sie mich an der Hand und zog mich hinter den Schirm.
+Ich beschädigte meine Hand am Bett – es schmerzte
+sehr –, aber der Schreck war doch größer als der
+Schmerz, und ich wagte nicht mal zu mucksen. Ich
+weiß noch, meine Mutter machte darauf meinem Vater
+bittere Vorwürfe, indem sie auf mich deutete. (Übrigens
+nenne ich ihn hier meinen Vater, obgleich er
+doch nur mein Stiefvater war, aber ich habe es erst
+viel später erfahren, daß zwischen uns überhaupt keine
+Verwandtschaft bestand.) Diese ganze Szene dauerte
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+etwa zwei Stunden und zitternd vor Spannung bemühte
+ich mich, zu erraten, womit das alles enden
+werde. Endlich verstummte der Streit und die Mutter
+ging irgendwohin fort. Da rief mich der Vater zu sich,
+küßte mich, streichelte mein Haar, nahm mich auf den
+Schoß und ich schmiegte mich fest und süß an seine
+Brust. Es war die erste väterliche Zärtlichkeit, die ich
+empfand, und vielleicht kann ich mich deshalb von
+der Zeit an so gut alles Erlebten erinnern. Auch begriff
+ich, daß ich mir diese Liebe des Vaters durch meine
+Parteinahme für ihn verdient hatte, und da kam mir,
+ich glaube, zum erstenmal der Gedanke, daß er von
+der Mutter viel zu erdulden und viel Leid zu ertragen
+habe. Seit der Zeit konnte ich mich von dieser Vorstellung
+nicht mehr befreien und mit jedem Tag erregte
+und empörte sie mich mehr.
+</p>
+
+<p>
+In jener Stunde erwachte in mir eine grenzenlose
+Liebe zum Vater, aber es war eine wunderliche, gleichsam
+gar nicht kindliche Liebe. Ich würde sagen, daß
+es eher ein gewisses mitleidvolles <em>mütterliches</em>
+Gefühl war, wenn eine solche Bezeichnung nicht komisch
+wäre – für ein Kind! Der Vater erschien mir
+immer dermaßen bedauernswert, so ungerecht verfolgt,
+so tyrannisiert, kurz, ich sah in ihm einen solchen
+Märtyrer, daß es für mich etwas ganz Unmögliches
+gewesen wäre, ihn nicht bis zur Besinnungslosigkeit
+zu lieben, zu trösten, nicht zärtlich zu ihm zu sein,
+mich nicht aus allen Kräften zu bemühen, für ihn zu
+sorgen und ihm Gutes zu tun. Ich verstehe bis jetzt
+noch nicht, woher mir gerade das in den Kopf gekommen
+sein mag, daß er ein solcher Märtyrer, ein so
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+unglücklicher Mensch sei! Wer hat mir das eingegeben?
+Wie konnte ich, ein Kind, von seinen persönlichen
+Mißerfolgen und Enttäuschungen überhaupt etwas
+verstehen? Und doch verstand ich sie, wenn ich mir auch
+alles nach meiner Art zurechtlegte. Aber vorzustellen vermag
+ich mir trotzdem nicht, wie ich zu einer solchen
+Auffassung gelangen konnte. Vielleicht kam das daher,
+daß meine Mutter gar zu streng mit mir umging,
+weshalb ich mich denn an den Vater hielt, als an einen
+Menschen, der, wie ich glaubte, ebenso ungerecht von
+ihr behandelt wurde und in dem ich deshalb meinen
+Leidensgenossen sah.
+</p>
+
+<p>
+Ich erzählte bereits von meinem ersten Erwachen
+aus dem Kindheitsschlaf, von meiner ersten Regung
+in einem bewußten Leben. Mein Herz war von dem
+Augenblick an verwundet, meine Entwicklung setzte ein
+und vollzog sich mit unglaublicher, sich überhastender,
+ermüdender Schnelligkeit. Jetzt konnte ich mich nicht
+mehr mit bloßen äußeren Eindrücken zufriedengeben.
+Ich begann nachzudenken, zu überlegen, zu beobachten;
+aber dieses Beobachten geschah meinerseits so unnatürlich
+früh, daß mein Verstand nicht umhin konnte,
+alles nach eigenen Begriffen und Vorstellungen sich
+zurechtzulegen, und so befand ich mich denn plötzlich in
+einer anderen nur mir eigenen Welt. Alles um mich
+herum wurde immer ähnlicher jenem Wundermärchen,
+das der Vater mir oft erzählt hatte und das ich damals
+natürlich für lauterste Wahrheit hielt. So entstanden
+in mir seltsame Vorstellungen. Ich begriff sehr gut –
+aber wie das geschah, vermag ich nicht zu sagen –,
+daß ich in einer sonderbaren Familie lebte und daß
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+meine Eltern irgendwie ganz und gar nicht den anderen
+Menschen glichen, die ich in dieser Zeit kennen
+lernte. Ich fragte mich, weshalb sind die anderen Menschen,
+die ich sehe, meinen Eltern auch äußerlich so unähnlich?
+Weshalb sah ich andere lachen und warum
+fiel es mir plötzlich auf, daß in unserem Winkel niemals
+gelacht wurde und niemand sich freute? Welche
+Macht zwang mich, das neunjährige Kind, so aufmerksam
+meine Umgebung zu beobachten und auf jedes
+Wort zu achten, das ich zufällig von den Leuten vernahm,
+die mir auf der Treppe oder auf der Straße begegneten,
+wenn ich abends meine Lumpen mit der alten
+Jacke meiner Mutter bedeckte, um in den nächsten
+Krämerladen zu gehen und für einige wenige Kupferlinge
+Zucker, Tee oder Brot zu kaufen? Ich begriff, und
+ich weiß nicht wie, daß in unserem Winkel irgendein
+ewiger Kummer, ein unerträgliches Leid herrschte. Ich
+zerbrach mir den Kopf, um zu erraten, warum das so
+war, und ich weiß nicht, wer mir dabei half, das Rätsel
+auf meine Art zu deuten: ich beschuldigte meine
+Mutter, ich hielt sie für die Todfeindin meines Vaters,
+aber ich wiederhole – ich verstehe es selber nicht, wie
+eine so ungeheuerliche Auffassung in meiner Phantasie
+entstehen konnte. Und je mehr ich mich dem Vater anschloß,
+um so mehr mußte ich meine arme Mutter
+hassen. Die Erinnerung an all das quält mich noch
+jetzt schmerzlich. Doch da gab es noch einen anderen
+Zwischenfall, der noch mehr als jener erste meine seltsame
+Annäherung an den Vater bewirkte.
+</p>
+
+<p>
+Einmal, es war gegen zehn Uhr abends, schickte
+mich meine Mutter in den Laden nach Hefe. Der Vater
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+war nicht zu Hause. Auf dem Rückwege stolperte
+ich versehentlich und fiel hin, mitten auf dem Trottoir,
+und verschüttete den ganzen Inhalt der Tasse.
+Mein erster Gedanke war, wie sehr sich die Mutter
+ärgern werde. Da fühlte ich einen schrecklichen Schmerz
+im linken Arm, und zugleich merkte ich, daß ich mich
+nicht aufrichten konnte. Die Menschen blieben stehen.
+Ein altes Frauchen versuchte, mich aufzuheben, ein
+Knabe aber, der vorüberlief, schlug mit einem Schlüssel
+auf meinen Kopf. Endlich wurde ich wieder auf
+die Füße gestellt, ich hob die Scherben der zerschlagenen
+Tasse auf und ging wankend weiter, kaum fähig,
+einen Fuß vor den anderen zu setzen. Plötzlich sah ich
+den Vater. Er stand in der Volksmenge vor einem
+schönen Hause, das dem unsrigen gegenüberlag. Dieses
+Haus gehörte irgendwelchen vornehmen Leuten und
+war an jenem Abend herrlich erleuchtet. Vor dem
+Portal standen viele Equipagen und aus dem Inneren
+hörte man Orchestermusik. Ich faßte den Vater
+am Rockschoß, zeigte ihm die zerschlagene Tasse und
+sagte unter Tränen, daß ich vor Angst nicht wagte, zur
+Mutter zu gehen. Ich war plötzlich ohne weiteres überzeugt,
+daß er mich beschützen werde. Aber weshalb ich
+davon überzeugt war und wer es mir gesagt oder mich
+sonst irgendwie darauf gebracht hatte, daß ich von ihm
+mehr geliebt wurde, als von meiner Mutter, das weiß
+ich nicht. Warum ging ich zu ihm ganz furchtlos, während
+ich mich vor der Mutter aus lauter Furcht nicht
+zu zeigen wagte? Er nahm mich an der Hand, tröstete
+mich, und dann sagte er, er wolle mir etwas Schönes
+zeigen, und er hob mich auf und nahm mich auf den
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+Arm. Ich konnte freilich nichts sehen vor Schmerz,
+denn er hatte meinen Arm gerade an der Stelle angefaßt,
+wo ich ihn mir beim Fall verletzt hatte, und das
+tat entsetzlich weh, aber ich schrie nicht, nur um ihn
+nicht zu beunruhigen. Er fragte mich mehrmals, ob ich
+etwas sähe. Und ich bemühte mich mit allen Fibern,
+ihm so zu antworten, daß es ihm recht wäre, und ich
+sagte, ich sähe rote Vorhänge hinter den Fenstern. Als
+er mich aber über die Straße auf das andere Trottoir
+tragen wollte, näher zum Hause, da fing ich plötzlich
+an zu weinen – ich weiß nicht, weshalb – umarmte
+seinen Hals und bat ihn, schneller nach Haus zur
+Mutter zu gehen. Ich weiß noch, seine Zärtlichkeit bedrückte
+mich und ich konnte es nicht mehr ertragen, daß
+der eine von ihnen, der Vater, – während ich doch
+beide so lieben wollte – gut und lieb zu mir war, und
+ich zur anderen, zur Mutter nicht zu gehen mich getraute
+und mich vor ihr nur fürchtete. Sie war
+übrigens fast gar nicht böse und sagte nur, ich solle
+schlafen gehen. Ich weiß noch, der Schmerz im Arm
+wurde immer heftiger, ich begann zu fiebern, doch
+war ich trotzdem ganz besonders glücklich und froh darüber,
+daß alles so gut verlaufen, und die ganze Nacht
+träumte mir von dem Hause gegenüber und von den
+schönen roten Vorhängen.
+</p>
+
+<p>
+Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein
+erster Gedanke, meine erste Sorge das Haus mit den
+roten Vorhängen. Kaum hatte die Mutter das Zimmer
+verlassen, da kletterte ich gleich auf das Fensterbrett,
+um das schöne Haus zu betrachten. Eigentlich hatte
+dieses Haus auch früher schon meine kindliche Neugier
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+erregt. Am besten gefiel es mir abends, wenn auf der
+Straße die Laternen angezündet wurden und wenn
+dann aus dem Hause und in einem nahezu blutigen
+Licht die purpurroten Gardinen hinter den großen
+Scheiben zu leuchten begannen. Vor dem Portal hielten
+meist vornehme Equipagen, oder die Leute kamen
+gerade mit schönen, stolzen Pferden angefahren, und
+alles das fesselte mich sehr: das Geräusch und das
+Rufen der Kutscher und Diener, das ganze Hin und
+Her vor dem Hause und die farbigen Laternen an den
+Wagen und die geputzten Damen, die dann ausstiegen.
+Das ganze wurde in meiner kindlichen Phantasie zu
+etwas kaiserlich Großartigem und märchenhaft Wundervollem.
+Und gar nach meiner Begegnung mit
+dem Vater vor diesem reichen Hause, da wurde es in
+meinen Augen noch einmal so schon und beachtenswert.
+Nun entstanden in meiner erwachten Phantasie seltsame
+Vorstellungen und Vermutungen. Es ist wohl
+auch kein Wunder, daß ich unter so eigentümlichen
+Menschen, wie meine Eltern waren, gleichfalls zu
+einem eigentümlichen, zu einem leidenschaftlich phantastischen
+Kinde wurde. Was mich ganz besonders
+betroffen machte, war der Kontrast der Charaktere
+meiner Eltern. So z. B. wunderte es mich, daß die
+Mutter sich beständig um unsere armselige Wirtschaft
+sorgte und mühte und fortwährend dem Vater darüber
+Vorwürfe machte, daß sie allein für alle arbeiten und
+alle ernähren müsse, – ich fragte mich deshalb unwillkürlich,
+warum denn der Vater ihr gar nicht half,
+warum er fast wie ein Fremder bei uns wohnte? Einzelne
+Worte meiner Mutter gaben mir hierüber eine
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+gewisse Aufklärung. So vernahm ich mit Verwunderung,
+daß Papa ein Künstler sei (dieses Wort merkte
+ich mir sogleich), ein Mensch mit einem großen Talent.
+Meine Vorstellungskraft schuf nun sofort den Begriff
+für das neue Wort, eben daß ein „Künstler“ etwas
+ganz Besonderes, jedenfalls ein außergewöhnlicher
+Mensch, also etwas ganz anderes als die übrigen Menschen
+sein müsse. Vielleicht war es zum Teil auch das
+Verhalten meines Vaters, das gerade diese Auffassung
+begünstigte; oder vielleicht hatte ich auch vorher schon
+das eine oder das andere gehört, was ich jetzt vergessen
+habe. Seltsam verständlich war mir der Sinn der
+Worte, die der Vater einmal in meiner Gegenwart
+mit einem ganz besonderen Gefühl sagte: „Es werde
+eine Zeit kommen, wo auch er nicht mehr arm, sondern
+gleichfalls ein reicher Herr sein werde, und erst wenn
+die Mutter gestorben sei, würde er endlich aufleben.“
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß noch, ich erschrak entsetzlich, als ich diese
+Worte hörte. Mein Schreck und Entsetzen waren so
+groß, daß ich nicht im Zimmer bleiben konnte und auf
+unseren kalten Flur hinauslief, wo ich in Tränen ausbrach:
+und ich weinte dort herzbrechend, die Ellenbogen
+auf das Fensterbrett gestützt, das Gesicht in den Händen
+vergraben. Dann aber, als ich fortwährend darüber
+nachdachte und mich allmählich an diese schreckliche
+Hoffnung des Vaters gewöhnte – kam mir bald
+meine eigene Phantasie zu Hilfe. Wenigstens ertrug
+ich diese Qual der Ungewißheit nicht lange und mußte
+wohl naturgemäß zu irgendeiner Vermutung gekommen
+sein. Und da – ich weiß nicht, wie es anfing, aber
+zu guter Letzt glaubte ich wirklich, daß der Vater, wenn
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+erst die Mutter gestorben sei, alsbald diese langweilige
+Wohnung verlassen und mit mir irgendwohin fortziehen
+werde. Aber wohin? – das konnte ich mir auch
+bis zuletzt nicht klar vorstellen. Ich erinnere mich nur,
+daß alles, womit ich jenen Ort, wohin wir beide gehen
+würden (daß wir zwei unbedingt zusammen gehen würden,
+stand für mich außer Frage), schmücken konnte,
+daß alles, was ich mir an Schönheit und Glanz und
+Großartigkeit vorzustellen vermochte – daß all das
+Verwendung in meinen Träumen von jener Zukunft
+fand. Ich glaubte, wir würden dann sofort reich sein
+und ich brauchte nicht mehr in den kleinen Laden zu
+gehen, um für die Mutter etwas zu besorgen, was mir
+immer sehr schwer fiel, da die Kinder aus dem Nachbarhause
+mich nie in Ruhe ließen, sobald ich aus dem
+Hause trat – und davor fürchtete ich mich sehr, namentlich
+wenn ich Milch trug oder Eier, denn ich
+wußte, daß ich fürs Verschütten oder Zerschlagen
+strenge Strafe zu erwarten hatte. Und dann malte ich
+mir aus, wie der Vater sich sogleich schöne Kleider bestellen
+und wir in ein glänzendes Haus ziehen würden,
+und da – da kam nun jenes reiche Haus mit
+den roten Vorhängen, meine Begegnung mit dem Vater
+vor demselben und der Umstand, daß er mir dort
+etwas zeigen wollte, meiner Phantasie sehr zu Hilfe.
+In meinen Zukunftsträumen war es ganz selbstverständlich,
+daß wir gerade in dieses Haus zogen, um
+dort wie in ewiger Seligkeit zu leben. Seit der Zeit
+sah ich täglich, namentlich abends, mit angespannter
+Neugier und Teilnahme aus unserem Fenster nach
+diesem für mich gleichsam verzauberten Hause, dachte
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+an die Vorfahrt der Equipagen an jenem Abend und
+an die Gäste in den festlichen Gewändern, wie ich sie
+vorher noch nie gesehen. Und dann bildete ich mir ein,
+wieder die weichen Töne der Musik zu hören, die gedämpft
+aus dem Hause drang, und ich beobachtete die
+Schattenbilder der Gestalten, die sich auf den Vorhängen
+bewegten, und ich bemühte mich, zu erraten, was
+dort hinter den Fenstern vorging, – und immer schien
+es mir, daß dort das Paradies sei und ein ewiger Feiertag.
+Ich fing an, unsere armselige Dachstube und die
+zerlumpten Kleider, die ich trug, zu hassen. Und als
+einmal die Mutter mich schalt und mir befahl, vom
+Fensterbrett herabzuklettern, wo ich gerade wie gewöhnlich
+saß, da kam mir sogleich der Gedanke, sie sei eifersüchtig
+und wünsche nicht, daß ich dieses Haus betrachtete
+oder an dasselbe auch nur dachte, unser Glück sei
+ihr unangenehm und deshalb wolle sie es hintertreiben,
+wenigstens so lange, wie sie noch lebte ... Und den
+ganzen Abend beobachtete ich sie mißtrauisch.
+</p>
+
+<p>
+Wie konnte mein Herz sich nur so verstocken gegen
+ein so armes, unglückliches Wesen, wie es meine Mutter
+war! Jetzt erst begreife ich die ganze Qual ihres
+Lebens und kann nicht ohne stechenden Schmerz im
+Herzen an ihr Martyrium denken. Ja selbst damals
+schon, in jener dunkeln Zeit meiner wunderlichen Kindheit,
+während meiner unnatürlich schnellen Entwicklung,
+krampfte sich mein Herz oft zusammen vor
+Schmerz und Mitleid – und Unruhe, Verwirrung und
+Zweifel drängten sich in meine Seele. Auch damals schon
+lehnte sich mein Gewissen gegen mich selbst auf und ich
+empfand es sehr wohl, daß ich ungerecht gegen sie war.
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+Aber es war, als scheuten und mieden wir einander.
+Ich entsinne mich nicht, jemals zärtlich zu ihr gewesen
+zu sein. Jetzt sind es oft die geringfügigsten Erinnerungen,
+die meine Seele nachträglich erschüttern und
+martern. Einmal, ich weiß noch (natürlich ist das, was
+ich jetzt erzählen werde, nichtig, fast belanglos, aber
+gerade solche Erinnerungen quälen mich nun am meisten
+und haben sich am tiefsten meinem Gedächtnis eingeprägt),
+– einmal, an einem Abend, als der Vater
+nicht zu Hause war, wollte die Mutter mich in den
+kleinen Laden schicken, um für sie etwas Tee und
+Zucker zu kaufen. Aber sie dachte lange nach und konnte
+sich immer nicht entschließen und zählte halblaut die
+Kupferstücke – ein Bettelsümmchen, über das sie noch
+verfügen konnte. Sie zählte und rechnete, wenn ich
+nicht irre, wohl eine halbe Stunde lang und konnte doch
+nicht die Rechnung beenden. Zudem verfiel sie in
+manchen Augenblicken, wahrscheinlich vom Leid, gleichsam
+in einen Zustand vollkommener Gedankenversunkenheit.
+Als sähe ich sie vor mir, so deutlich erinnere
+ich mich, wie sie vor sich hin sprach, langsam, dazu die
+Geldstücke einzeln zählend, als wäre jedes Wort ein
+wichtiges Ding. Ihre Wangen und Lippen waren
+blaß, ihre Hände zitterten beständig und wenn sie allein
+dasaß und nachdachte, dann bewegte sie immer den
+Kopf dazu.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht nötig,“ sagte sie endlich mit einem
+Blick auf mich, „ich werde lieber zu Bett gehen und
+schlafen. Wie? Willst du schlafen, Njetotschka?“ Ich
+schwieg; da hob sie ein wenig mein Kinn und sah mich
+so still und freundlich an, und ihr trauriges Antlitz
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+klärte sich auf und verklärte sich in einem so mütterlichen
+und stillen Lächeln, daß mein Herz weich wurde
+und zu pochen begann. Überdies hatte sie mich „Njetotschka“
+genannt, was bedeutete, daß sie mich in diesem
+Augenblick besonders lieb hatte. Diese Koseform
+meines Namens hatte sie selbst erfunden, indem sie
+meinen eigentlichen Namen Anna in ihn umwandelte.
+Wenn sie mich so nannte, „Njetotschka“, dann wußte
+ich, daß sie damit zärtlich zu mir sein wollte. Das
+rührte mich: ich hätte sie umarmen, mich an sie schmiegen,
+zusammen mit ihr weinen mögen. Sie, die Arme,
+streichelte dann lange meinen Kopf – vielleicht schon
+ganz mechanisch, ohne daran zu denken, daß sie mich
+streichelte, und dazu sagte sie immer: „Mein Kind,
+Annjeta, Njetotschka!“ Tränen wollten mir über die
+Wangen rollen, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen
+und beherrschte mich. Ich widersetzte mich gewissermaßen
+sogar ihrer Zärtlichkeit, indem ich ihr gegenüber
+nicht das geringste Empfinden äußerte, obschon
+ich mich damit selber quälte. Nein, diese Verstocktheit
+konnte nichts Natürliches sein! Der Mutter
+Strenge allein hätte mich nicht so gegen sie einnehmen
+können. Aber ich weiß, was es war: es war diese
+meine phantastische Liebe zu meinem Vater, die mich in
+ihrer Ausschließlichkeit verdarb. Zuweilen, wenn ich
+nachts auf meiner harten Unterlage in meinem Schlafwinkel
+unter der dünnen Decke erwachte, dann wandelte
+mich immer eine gewisse Furcht an. Halb im Schlaf
+erinnerte ich mich, wie ich bis vor kurzem, als ich
+noch etwas jünger und kleiner war, mit der Mutter
+in einem Bett geschlafen und mich dann nachts beim
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+Erwachen weniger gefürchtet hatte: da brauchte ich
+mich nur fest an sie zu schmiegen, die Augen zu schließen
+und ich schlief sofort wieder ein. Ich fühlte, daß ich
+sie, ob ich nun wollte oder nicht, im geheimen doch lieben
+mußte. In meinem späteren Leben habe ich die
+Beobachtung gemacht, daß viele Kinder oft entsetzlich
+gefühllos sind, und daß sie, wenn sie jemand liebgewinnen,
+diesen einen Menschen ganz ausschließlich lieben,
+und selbstverständlich auf Kosten anderer. So war’s
+auch mit mir.
+</p>
+
+<p>
+Bisweilen herrschte in unserer Dachstube ganze
+Wochen lang Totenstille. Der Vater und die Mutter
+waren dann müde vom Streiten und ich lebte zwischen
+ihnen wie gewöhnlich, immer schweigend, immer denkend,
+träumend, mich sehnend, und stets in meinem
+Denken irgendwie bestrebt, irgend etwas mir Unbekanntes
+zu enträtseln. Indem ich sie beide beobachtete,
+begriff ich vollkommen, wie sie zueinander standen: ich
+begriff diese ihre dumpfe ewige Feindschaft, begriff
+das ganze Leid und diesen beklemmenden Druck des
+unordentlichen Lebens, das sich in unserer Dachstube
+eingenistet hatte, – begriff sie natürlich ohne ihre Ursachen
+und ihre ganze Tragweite, begriff sie eben nur
+so weit, wie ich sie damals begreifen konnte. An langen,
+stillen Winterabenden beobachtete ich sie aus meinem
+Winkel oft ganze Stunden ungestört, verfolgte
+jede Bewegung, studierte förmlich das Gesicht des Vaters,
+und gab mir die größte Mühe, zu erraten, woran
+er wohl denken mochte, und was ihn geistig so beschäftigte.
+Und dann war es wieder die Mutter, die mich
+betroffen machte und ängstigte. Sie konnte unermüdlich
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+im Zimmer hin und her gehen, stundenlang, oft
+ging sie sogar mitten in der Nacht, wenn sie nicht
+schlafen konnte – sie litt überhaupt an Schlaflosigkeit
+– dabei flüsterte sie vor sich hin, als wäre außer ihr
+niemand im Zimmer, bald streckte sie die Arme
+aus, bald kreuzte sie sie über der Brust, bald rang sie
+die Hände wie in Verzweiflung oder unendlichem Weh
+und Kummer. Bisweilen rollten ihr Tränen aus den
+Augen, Tränen, die sie vielleicht selbst nicht verstand,
+denn es kam vor, daß sie zeitweilig wie in ein vollständiges
+Sich-selbst-vergessen versank. Sie hatte, zudem,
+außer ihren Sorgen, irgendein sehr schweres
+körperliches Leiden, das sie aber gar nicht beachtete.
+</p>
+
+<p>
+Die Einsamkeit und das Schweigen, das ich nicht zu
+brechen wagte, fingen an, immer schwerer auf mir zu
+lasten. Schon ein ganzes Jahr hatte ich mit erwachtem
+Geiste gelebt, immer gedacht, gegrübelt, geträumt und
+im geheimen mich mit unbekannten, unklaren Wünschen
+gequält, die plötzlich auftauchten. Ich war wie in einem
+Walde verirrt. Da war es der Vater, der mich zuerst
+bemerkte, mich zu sich rief und mich fragte, warum ich
+ihn so unverwandt ansähe. Ich weiß nicht mehr, was
+ich ihm antwortete: ich weiß nur noch, daß er nachdenklich
+wurde und zum Schluß sagte, er werde ein Abc-Buch
+bringen und mich im Lesen unterrichten. Mit
+Ungeduld erwartete ich nun dieses sonderbare Buch
+und baute die ganze Nacht phantastische Träume auf –
+denn meine Vorstellung von einem Abc war nichts
+weniger als klar. Endlich, d. h. am nächsten Tage,
+begann der Vater auch wirklich mit dem Unterricht.
+Ich begriff sogleich, was von mir verlangt wurde, und
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+lernte schnell und gut, denn ich wußte, daß ich ihm damit
+etwas zu Gefallen tat. Das war die glücklichste
+Zeit meines damaligen Lebens. Wenn er mich lobte,
+meinen Kopf streichelte und mich küßte, traten mir
+vor Freude sogleich Tränen in die Augen. So gewann
+mich der Vater allmählich lieb. Bald wagte ich denn
+auch schon, ihn anzureden, und dann sprachen wir oft
+ganze Stunden unermüdlich miteinander, obschon ich
+mitunter kaum ein Wort von dem, was er mir da
+erzählte, verstand. Aber ich fürchtete ihn doch noch
+irgendwie, fürchtete vor allem, er könnte denken, daß
+ich mich mit ihm langweilte, und deshalb bemühte ich
+mich nach Kräften, so zu tun, als verstünde ich alles.
+Zu guter Letzt wurde es ihm zur Gewohnheit, abends
+mit mir zu sitzen und zu sprechen. Sobald er mit sinkender
+Dämmerung nach Haus zurückkehrte, kam ich
+unverzüglich mit meinem Abc-Buch. Er setzte mich sich
+gegenüber auf die Bank und nach der Stunde las er
+mir gewöhnlich noch aus einem Buch irgend etwas vor.
+Davon verstand ich in der Regel fast nichts, aber ich
+lachte soviel ich konnte, denn ich glaubte, ihm damit
+Vergnügen zu bereiten. Und in der Tat, ich unterhielt
+ihn und mein Lachen schien ihn zu belustigen. Einmal
+aber erzählte er mir nach der Stunde ein Märchen.
+Es war das erste Märchen, das ich hörte. Ich saß
+wie verzaubert, fieberte vor Spannung, fühlte mich
+wie in ein Paradies versetzt, während ich ihm zuhörte,
+und zum Schluß wußte ich kaum noch, wo ich mich lassen
+sollte vor Begeisterung. Nicht, daß das Märchen
+an sich mir dermaßen gefallen hätte – nein, das war
+es nicht; aber das Unmöglichste war nun plötzlich möglich
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+geworden, denn ich nahm doch alles für bare Münze.
+Natürlich ließ ich sogleich meiner eigenen Phantasie
+die Zügel schießen und im Nu waren alle meine
+phantastischen Träume für mich ebensogut wie bereits
+verwirklicht. Da stand natürlich gleich an erster Stelle
+das Haus mit den roten Vorhängen, die handelnde Person
+aber war – aus unbekannten Gründen – der Vater,
+obwohl er selbst das Märchen erzählte; dann kam die
+Mutter, die uns hinderte, ich weiß nicht wohin fortzuziehen;
+ferner – oder richtiger – ganz zuerst ich
+selbst mit meinen wunderschönen Träumen, mit allen
+meinen phantastischen, meinen tollen, meinen ganz unmöglichen
+Zukunftsbildern: alles das verwirrte sich
+dermaßen in meinem Kopf, daß es bald ein unentwirrbares
+Chaos bildete und mir für eine Zeitlang den
+Eltern gegenüber jedes Zartgefühl, sowie den Dingen
+gegenüber jedes Unterscheidungsvermögen für das, was
+Wirklichkeit und das, was Einbildung war, abhanden
+kam und ich Gott weiß wo lebte. In dieser Zeit verging
+ich fast vor Verlangen, mit dem Vater darüber zu
+sprechen, was uns bevorstand, was er selber erwartete
+und wohin er mich führen werde, wenn wir endlich
+unsere Dachstube verließen. Ich war meinerseits überzeugt,
+daß alles dies irgendwie sehr schnell in Erfüllung
+gehen werde, wie aber und in welcher Art – das
+wußte ich nicht, und gerade damit quälte ich mich so,
+daß ich mir beständig den Kopf darüber zerbrach. Bisweilen
+– und zwar vornehmlich abends – schien es
+mir, daß der Vater mir nun gleich heimlich zuzwinkern
+und mich auf den Flur hinausrufen werde, und ich nahm
+schon heimlich, so daß die Mutter es nicht sah, mein
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+Abc-Buch und dann noch unser Bild, das seit undenklichen
+Zeiten uneingerahmt an der Wand hing und
+das unbedingt mitzunehmen ich in meinem Sinn fest
+beschlossen hatte – und dann liefen wir heimlich irgendwohin
+fort und kehrten nie wieder zur Mutter
+zurück. Und eines Tages, als die Mutter nicht zu
+Haus und der Vater gerade bei besonders guter Laune
+war – das aber war er regelmäßig, wenn er etwas
+getrunken hatte – da faßte ich mir ein Herz und ging
+zu ihm und fing an, von irgend etwas zu sprechen, in
+der Absicht, bei der ersten Gelegenheit auf mein geliebtes
+Thema überzugehen. Endlich erreichte ich es
+auch, daß er belustigt auflachte und da – da umschlang
+ich ihn fest und begann mit bebendem Herzen ganz
+angstvoll, als wäre ich im Begriff, von etwas Geheimnisvollem
+und Furchtbarem zu sprechen, verwirrt und
+zusammenhanglos und stockend ihn auszufragen: wohin
+wir denn eigentlich gehen sollten und wann denn
+und was wir mitnehmen und wo wir wohnen wollten
+und schließlich, ob wir denn nicht in das Haus mit den
+roten Vorhängen einziehen würden?
+</p>
+
+<p>
+„Was für ein Haus? Rote Vorhänge? Was soll
+das? Was phantasierst du, dummes Kind?“
+</p>
+
+<p>
+Ich erschrak und versuchte angstvoll, ihm zu erklären,
+daß wir beide, wenn die Mutter einmal gestorben
+sei, doch nicht mehr hier auf dem Dachboden bleiben
+würden, daß er mich dann doch irgendwohin fortführen
+müsse, wo wir zwei reich und glücklich leben
+könnten. Und zu guter Letzt versicherte ich ihm noch,
+daß er selbst mir das alles versprochen habe. Dabei
+war ich vollkommen überzeugt, daß er mir wirklich
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+früher einmal so etwas gesagt hatte, wenigstens schien
+es mir in dem Augenblick so.
+</p>
+
+<p>
+„Die Mutter? Gestorben? Wenn sie gestorben
+sein wird? ...“ wiederholte er und er sah mich verwundert
+an, während sich zwischen seinen buschigen,
+graumelierten Brauen eine Falte bildete und sein Gesicht
+sich ein wenig veränderte. „Was phantasierst du,
+Kind, dummes, armes Ding ...“
+</p>
+
+<p>
+Und dann schalt er mich, und schalt mich sogar
+sehr und sagte, ich sei ein dummes Kind, ich könne
+nichts begreifen ... und ich weiß nicht, was er noch
+alles sagte, – sicher war er sehr betrübt.
+</p>
+
+<p>
+Ich begriff allerdings kein Wort von seinen Vorwürfen,
+begriff vor allem nicht, wie schmerzlich es für
+ihn sein mußte, daß ich seine Worte, die er der Mutter
+im Zorn und unter dem Druck des Elends gesagt, aufgefangen
+und behalten, sie womöglich auswendig gelernt
+und schon viel über sie nachgedacht hatte. Aber
+was es auch sein mochte und so groß auch seine eigene
+Überspanntheit war, dieser Zwischenfall mußte ihm
+doch zu denken geben. Ich aber konnte gar nicht verstehen,
+weshalb er sich über mich ärgerte, und ich fühlte
+eine gewisse Bitterkeit und Trauer in mir aufsteigen,
+immer höher und höher, bis ich zu weinen anfing. Dann
+dachte ich, daß alles, was uns dort in dem schönen Leben
+erwartete, wohl so wichtig sei, daß ich dummes
+Kind weder davon sprechen noch daran denken durfte.
+Nebenbei aber fühlte ich doch, obwohl ich ihn nicht sogleich
+verstand, daß ich die Mutter gekränkt hatte.
+Darob erfaßten mich Angst und Entsetzen und dann
+schlichen sich auch leise Zweifel in meine Seele und
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+machten dort alles in mir unsicher. Als er jedoch sah,
+daß ich weinte und mich quälte, versuchte er mich wieder
+zu trösten, wischte mir mit dem Ärmel die Tränen
+ab und bat mich, ich solle nicht mehr weinen. So saßen
+wir denn eine Zeitlang schweigend. Er machte ein finsteres
+Gesicht und schien nachzudenken; dann fing er
+von neuem zu sprechen an; aber wie sehr ich mich auch
+anstrengte, es war mir doch alles, was er da sagte, zum
+mindesten unklar. Ich schließe aus einzelnen Worten,
+die ich noch behalten habe, daß er mir damals erklärte,
+wer er sei, was für ein großer Künstler er wäre; ferner,
+wie ihn niemand verstehe, und zuletzt, daß er ein
+ungeheures Talent habe. Ich weiß noch, daß er mich
+dann fragte, ob ich auch alles verstanden und daß er
+nach meiner selbstverständlich bejahenden Antwort die
+Frage wiederholte: „Also hat er Talent?“ Und ich antwortete:
+„Ja, er hat Talent,“ worüber er leise auflachen
+mußte, wahrscheinlich weil es ihm selbst zuletzt lächerlich
+erschien, daß er über einen für ihn so ernsten
+Gegenstand mit einem Kinde sprach. Unsere Unterhaltung
+unterbrach Karl Fedorytsch, der ganz unerwartet
+bei uns eintrat, und der Vater wies auf ihn und sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Dieser dagegen, der Karl Fedorytsch, der hat zum
+Beispiel für keine fünf Kopeken Talent.“
+</p>
+
+<p>
+Darüber mußte ich lachen, denn das kam mir, Gott
+weiß weshalb, sehr komisch vor und ich war wieder
+ganz froh und glücklich.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Karl Fedorytsch war eine äußerst merkwürdige
+Erscheinung. Ich sah damals so wenige Menschen,
+daß ich mich seiner noch lebhaft erinnere. Ja: als stände
+er hier, so deutlich sehe ich ihn vor mir. Er war ein
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+Deutscher, Meyer mit Namen, der nach Rußland gekommen
+war, weil er nur den einen Wunsch hatte: zum
+Petersburger kaiserlichen Ballett zu gehören. Leider
+war er aber ein so schlechter Tänzer, daß man ihn nicht
+einmal unter die Chortänzer, die den Hintergrund der
+Bühne ausfüllen mußten, aufnehmen konnte und ihn
+nur als Statisten verwandte. So spielte er stumme
+Rollen, etwa in der Suite des Fortinbras oder als
+einer der Ritter von Verona, die alle zwanzig mit einem
+Male ihre gepappten Klingen ziehen und <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">unisono</span> ausrufen:
+„Wir sterben für den König!“
+</p>
+
+<p>
+Nichtsdestoweniger gab es wohl keinen einzigen
+Künstler auf Erden, der an seinen Rollen so leidenschaftlich
+hing wie Karl Fedorytsch. Sein größtes Unglück
+und Lebensleid war, daß er nicht ins Ballettkorps
+aufgenommen wurde. Die Tanzkunst stellte er über jede
+andere Kunst und in seiner Art hing er an ihr ebensosehr,
+wie der Vater an seiner Geige. Sie waren beide
+an demselben Theater angestellt gewesen, dort hatten
+sie sich kennen gelernt, und seit der Zeit besuchte der
+Statist, der nun auch schon außer Diensten war, seinen
+ehemaligen Kollegen vom Orchester und blieb ihm als
+einziger von allen bis zuletzt treu. Sie sahen sich sogar
+recht oft und beklagten dann beide ihr trauriges Los,
+das ihnen den Fluch auferlegt hatte, von den Menschen
+nicht verstanden zu werden. Der Deutsche war der gefühlvollste,
+der liebevollste Mensch der Welt und meinem
+Stiefvater in glühendster, uneigennützigster
+Freundschaft zugetan. Der Vater dagegen hatte, glaube
+ich, keine gerade besondere Zuneigung zu ihm, er
+duldete ihn eben nur als seinen Bekannten in Ermangelung
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+anderer. Leider konnte der Vater in seiner Einseitigkeit
+durchaus nicht begreifen, daß die Tanzkunst
+auch eine Kunst sei, womit er den armen Deutschen
+bis zu Tränen kränkte. Da er nun diese schwache Seite
+des anderen kannte, machte es ihm Spaß, sie immer wieder
+wie von ungefähr zu berühren, um sich dann an
+dem Eifer des armen Karl Fedorytsch zu ergötzen, der
+fast aus der Haut fuhr vor Empörung und Leidenschaft
+in seinem Bemühen, für seine geliebte Tanzkunst
+das Gegenteil zu beweisen. Von diesem Karl Fedorytsch
+und seiner Freundschaft mit meinem Stiefvater hat
+mir nachher noch manches derselbe B. erzählt, der diesen
+begeisterten Ballettänzer immer den Nürnberger
+Springkäfer nannte. Unter anderem entsinne ich mich
+noch lebhaft ihrer Zusammenkünfte, wenn sie beide
+etwas getrunken hatten und dann als verkannte Größen
+ihr Schicksal betrauerten. Auch ich, die ich diese
+beiden Sonderlinge still für mich betrachtete, trauerte
+mit ihnen, und wenn sie Tränen vergossen, so heulte ich
+mit, wenn ich auch selber nicht wußte, worüber und
+warum. Das trug sich aber immer in der Abwesenheit
+der Mutter zu, denn der Deutsche fürchtete sie sehr und
+wartete deshalb, wenn er kam, gewöhnlich so lange auf
+dem Treppenflur, bis jemand aus dem Zimmer trat:
+erfuhr er dann, daß die Mutter zu Hause war, so
+machte er schleunigst kehrt und lief die Treppe hinunter.
+Jedesmal brachte er deutsche Gedichte mit, begeisterte
+sich an ihnen, indem er sie uns laut vorlas,
+und dann deklamierte er mit Gesten, wobei er zwischendurch
+die Sätze mit Müh und Not in ein zum mindesten
+eigenartiges Russisch übersetzte, damit auch wir
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+den Sinn verstanden. Das belustigte den Vater, ich
+aber lachte oft Tränen. Einmal hatten sie sich irgendein
+russisches Werk verschafft, das sie beide ungeheuer
+begeisterte, in einem solchen Maße begeisterte,
+daß sie es nachher fast bei jeder Zusammenkunft immer
+wieder von neuem lasen. Ich erinnere mich, es war ein
+Drama in Versen von irgendeinem vorübergehend berühmten
+russischen Schriftsteller. Die ersten Strophen
+hatte ich so gut behalten, daß ich später nach mehreren
+Jahren dieses Drama gleich wiedererkannte, als ich das
+Buch einmal zufällig in die Hände bekam. Es handelte
+von dem Unglück eines großen Künstlers, irgendeines
+Jacopo, der auf der einen Seite ausruft: „Ich
+bin verkannt!“ und auf der folgenden: „Ich bin erkannt!“
+– oder war es: „Ich bin talentlos!“ und
+dann: „Ich habe Talent!“? Kurz, etwas Ähnliches
+war es jedenfalls. Es endete natürlich höchst tragisch.
+Das Drama war freilich an sich ganz wertlos. Nur
+auf diese beiden Leser, die in dem Helden viel Ähnlichkeit
+mit sich selbst entdeckten, wirkte es in der naivsten
+und zugleich tragischsten Weise. Ich weiß noch,
+Karl Fedorytsch geriet dann zuweilen in solche Ekstase,
+daß er aufsprang, zur anderen Wand des Zimmers
+eilte und den Vater und mich, die er „Madmuasell“
+nannte, unabweisbar beschwörend, mit Tränen in den
+Augen und im heiligen Verlangen nach ausgleichender
+Gerechtigkeit bat, „sogleich hierselbst“ zwischen ihm,
+seinem Schicksal und dem Publikum die Schiedsrichter
+zu sein. Darauf begann er zu tanzen, und während der
+verschiedenen Pas, die er uns nun vortanzte, schrie er
+uns zu, wir sollten ihm sogleich sagen, was er sei, ein
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+Künstler oder nicht, und ob man wohl das Gegenteil
+sagen könne, d. h. daß er etwa kein Talent habe? Der
+Vater war dann sofort höchst aufgeräumt, gab mir
+heimlich Winke, als wollte er sagen, ich solle nur aufpassen,
+wie vorzüglich er sich gleich über den Armen
+lustig machen werde. Mich wandelte die Lachlust an,
+aber der Vater drohte heimlich mit dem Finger und
+ich nahm mich aus allen Kräften zusammen, um mir
+das Lachen zu verbeißen. Auch jetzt noch, bei der bloßen
+Vorstellung jenes Bildes, ist es mir unmöglich, nicht
+zu lachen. Ich sehe ihn so deutlich vor mir, diesen armen
+Karl Fedorytsch! Er war äußerst klein von Wuchs,
+dazu spindeldünn, das Haar schon grau, die Nase gebogen
+und rot und immer mit Tabakspuren geschmückt.
+Seine Beine hatten eine ganz absonderlich krumme
+Form; trotzdem schien er auf ihren Bau noch stolz zu
+sein und trug Beinkleider, die so eng wie Trikot anlagen.
+Wenn er dann endlich nach dem letzten Sprunge
+stehen blieb, mit zu uns ausgestreckten Armen und uns
+zulächelnd – in der Pose und mit dem Lächeln der Ballettänzer
+auf der Bühne – da wahrte der Vater noch
+eine gute Weile das Schweigen, als könne er sich nicht
+entschließen, das Urteil zu fällen, und ließ absichtlich
+den verkannten Tänzer in dieser schwierigen Pose verharren,
+bis jener auf seinem einen dünnen Bein schon
+zu schwanken begann, trotz seiner krampfhaften Anstrengung,
+das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
+Schließlich erbarmte sich der Vater: zunächst sah er
+nur mit ernster Miene mich an, als wolle er mich fragen:
+„Was sagen wir ihm nun?“ – und gleichzeitig
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+richtete sich auch der furchtsam flehende Blick des Tänzers
+auf mich.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Karl Fedorytsch, man sieht, es ist verlorene
+Liebesmüh, du triffst doch nicht das Richtige!“ sagte
+der Vater dann endlich in einem Ton, als fiele es ihm
+schwer, die bittere Wahrheit sagen zu müssen. Dann
+entrang sich der Brust Karl Fedorytschs ein richtiges
+Stöhnen, aber im Nu faßte er wieder Mut, erbat mit
+beschleunigten Gesten von neuem unsere Aufmerksamkeit,
+versicherte, er habe nicht nach dem betreffenden
+System getanzt, und flehte uns an, nochmals die
+Schiedsrichter zu sein. Und wieder eilte er zur anderen
+Wand und sprang dann zuweilen mit solchem Eifer
+umher, daß er mit dem Kopf an die Stubendecke stieß,
+und zwar schmerzhaft stark – aber er verwand den
+Schmerz wie ein Spartaner, stand dann wieder in der
+schwierigen Pose, streckte wieder mit einem Lächeln die
+zitternden Arme aus und erwartete wieder unser Urteil.
+Doch der Vater war unerbittlich und wiederholte
+nur ebenso düster:
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Karl Fedorytsch, das scheint nun einmal
+dein Schicksal zu sein: du triffst es nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Dann versagte gewöhnlich meine letzte Selbstbeherrschung
+und ich brach in erlösendes Lachen aus, und
+der Vater desgleichen. Karl Fedorytsch, der nun endlich
+den Scherz begriff, wurde rot vor Zorn und sagte
+mit Tränen in den Augen und mit einem tiefen, wenn
+auch komischen Gefühl, das mich später quälte, weil es
+mein aufrichtiges Mitleid mit diesem armen Unglücklichen
+erweckte, zum Vater gewandt:
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ein treuloser Freund!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+Und er griff nach seinem Hut und lief von uns
+fort, mit allen Schwüren schwörend, daß er nie wieder
+zu uns kommen werde.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Schatten dieses Streites pflegte nie lang
+zu sein. Nach ein paar Tagen erschien er wieder bei
+uns, wieder wurde das berühmte Drama gelesen, wieder
+wurden Tränen vergossen und zum Schluß bat uns
+der naive Karl Fedorytsch abermals, die Schiedsrichter
+zwischen ihm, den Menschen und dem Schicksal zu
+sein, bat flehentlich, diesmal aber wirklich im Ernst
+über ihn zu urteilen, wie es sich wahren Freunden gezieme,
+und nicht wieder unseren Spott mit ihm zu
+treiben.
+</p>
+
+<p>
+Einmal schickte mich die Mutter in den kleinen
+Laden, wo ich etwas Notwendiges kaufen sollte, und
+als ich zurückkehrte, hielt ich hübsch achtsam das silberne
+Kleingeld in der Hand, das man mir herausgegeben
+hatte. Auf der Treppe traf ich den Vater, der
+im Begriff war, auszugehen. Ich lachte ihn an, denn
+ich konnte mein Gefühl der Freude nicht verbergen,
+wenn ich ihn sah. Als er sich zu mir herabbeugte, um
+mich zu küssen, bemerkte er das silberne Geldstück in
+meiner Hand ... Ich habe noch nicht erwähnt, daß
+ich jeden Ausdruck seines Gesichts so gut kannte, daß
+ich seine Wünsche gewöhnlich auf den ersten Blick erriet.
+Sah ich ihn bedrückt und traurig, so hätte ich vergehen
+mögen vor Leid. Am niedergeschlagensten war
+er, wenn er gar kein Geld hatte und sich nichts zu trinken
+kaufen konnte – denn das Trinken hatte er sich
+schon zur Gewohnheit gemacht. In jenem Augenblick
+nun, als wir einander auf der Treppe begegneten, schien
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+es mir, daß in ihm etwas Besonderes vorgehe. Seine
+trüben Augen irrten eigentümlich unruhig umher, ja,
+ich glaube, im ersten Augenblick sah er mich gar nicht.
+Als er aber dann das Geld in meiner Hand bemerkte,
+da wurde er plötzlich rot und gleich darauf sehr bleich,
+dann streckte er die Hand aus, wie um das Geld von
+mir zu nehmen, zog sie aber sofort wieder zurück. Offenbar
+kämpfte er mit sich. Endlich war es, als habe er
+sich überwunden und er sagte, ich solle nur zur Mutter
+hinaufgehen; er selbst aber ging schnell ein paar
+Stufen hinab – bis er plötzlich von neuem stehen
+blieb und mich zurückrief.
+</p>
+
+<p>
+Er sah sehr verlegen aus.
+</p>
+
+<p>
+„Hör mal, Njetotschka,“ sagte er hastig, „gib mir
+dieses Geld, ich werde es dir zurückgeben. Nicht? Du
+gibst es doch deinem Papa? Du bist doch ein gutes
+Kindchen, Njetotschka?“
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte das fast vorausgefühlt. Aber im ersten
+Augenblick ließen mich doch der Gedanke, wie böse die
+Mutter sein werde, meine Ängstlichkeit und vor allem
+die instinktive Scham für mich und für den Vater unwillkürlich
+zögern und hielten mich davon ab, ihm das
+Geld zu geben. Er bemerkte es sofort und sagte
+rasch:
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, nicht nötig, ist nicht nötig! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, Papa, da, nimm! Ich werde sagen,
+ich habe es verloren oder die Nachbarkinder haben es
+mir fortgenommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun gut, gut; ich wußte doch, daß du ein kluges
+Mädchen bist,“ sagte er. Und er lächelte mit zitternden
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+Lippen, ohne sein Entzücken zu verbergen, als er
+das Geld in seiner Hand fühlte. „Du bist ein gutes
+Mädchen, bist ja mein Engelchen! Gib her, ich werde
+dir dein Händchen küssen!“
+</p>
+
+<p>
+Und er griff nach meiner Hand, aber ich zog sie
+schnell zurück. Ein gewisses Mitleid mit ihm bemächtigte
+sich meiner und die Scham stieg in mir immer
+höher und wurde qualvoll. Ich hielt es nicht aus und
+lief in meinem Schreck nach oben, ohne mich nach dem
+Vater weiter umzusehen, den ich stehen ließ, wo er
+stand. Als ich ins Zimmer trat, glühten meine Wangen
+und mein Herz schlug laut in einer quälenden,
+mir bis dahin noch unbekannten Empfindung. Dennoch
+sagte ich der Mutter ganz furchtlos, ich hätte das
+Geld im Schnee verloren und lange gesucht, trotzdem
+aber nicht wiederfinden können. Ich hatte mindestens
+Schläge erwartet, doch die bekam ich nicht. Die Mutter
+war anfangs allerdings außer sich, denn wir waren
+damals furchtbar arm. Sie schrie mich an, aber
+schon im nächsten Augenblick schien sie sich zu besinnen
+und hörte auf, mich zu schelten; sie sagte nur, ich sei
+ein ungeschicktes, nachlässiges Mädchen und offenbar
+liebte ich sie nicht, da ich mit ihrem schwer erworbenen
+Gelde so unachtsam umginge. Diese Bemerkung
+betrübte mich mehr, als Schläge es vermocht hätten.
+Denn meine Mutter kannte mich bereits: meine Empfindsamkeit,
+die oft schon an eine krankhafte Reizbarkeit
+grenzte, war von ihr nicht unbemerkt geblieben,
+und so glaubte sie gerade mit diesen bitteren Vorwürfen
+– wie dem, daß ich sie wohl nicht liebte – mich
+mehr zu strafen und eher zu größerer Achtsamkeit erziehen
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+zu können, als mit den sonst üblichen Strafmitteln.
+</p>
+
+<p>
+In der Dämmerung, um die Zeit, wo der Vater gewöhnlich
+zurückkehrte, erwartete ich ihn wie immer auf
+dem Flur. Ich war in großer Verwirrung. Meine
+Gefühle waren aufgepeitscht durch etwas, das auch
+mein Gewissen geradezu krankhaft peinigte. Endlich
+kam der Vater und ich war sehr froh über sein Kommen,
+ganz als hätte ich gehofft, daß es mir dadurch
+leichter werden würde. Er war heiterer Laune, aber
+als er mich erblickte, nahm sein Gesicht sofort einen
+geheimnisvollen, ein wenig verzerrten Ausdruck an.
+Er blickte ängstlich nach unserer Tür und zog mich in
+den verstecktesten Winkel, blickte wieder scheu nach der
+Tür, nahm dann aus der Tasche einen von ihm gekauften
+Pfefferkuchen und begann nun flüsternd, jedoch
+in ermahnendem Tone mir zu erklären, daß ich
+der Mutter niemals mehr Geld entwenden und es ihr
+verheimlichen dürfe: das sei häßlich und eine Schande
+und überhaupt sehr schlecht. Diesmal sei es nur deshalb
+so gekommen, weil er das Geld gerade sehr notwendig
+gebraucht habe, aber er werde es zurückgeben
+und dann könne ich sagen, ich hätte das Geld wiedergefunden;
+es der Mutter abzunehmen sei jedoch eine
+Schande, und ich solle in Zukunft nicht einmal mehr
+daran denken, so etwas wieder zu tun, er aber werde
+mir, wenn ich auf ihn hörte, noch mehr solcher Pfefferkuchen
+kaufen. Zum Schluß sagte er sogar, ich
+möchte mit der Mutter Mitleid haben, sie sei so krank,
+die Arme, und sie allein arbeite für uns alle und ernähre
+uns. Ich hörte in großer Angst zu, ja ich zitterte
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+am ganzen Körper und die Tränen wollten mich
+fast überwältigen. Ich war so bestürzt, daß ich kein
+Wort zu sagen wußte und mich nicht von der Stelle
+rührte. Endlich ging er ins Zimmer, nachdem er mir
+vorher noch verboten hatte, zu weinen oder der Mutter
+etwas davon zu sagen – letzteres schärfte er mir
+ganz besonders ein. Wie ich bemerkte, war auch er
+sehr verwirrt. Den ganzen Abend verbrachte ich wie
+unter einem entsetzlichen Bann und zum erstenmal
+wagte ich nicht, ihn anzusehen oder zu ihm zu gehen.
+Und auch er mied sichtlich meinen Blick. Die Mutter
+ging im Zimmer auf und ab und sprach vor sich hin,
+wie sie es gewöhnlich in ihrer Gedankenversunkenheit
+tat. An jenem Tage fühlte sie sich bedeutend schlechter
+und hatte auch schon die Anzeichen von einem Anfall
+zu überstehen gehabt. Kurz, infolge dieser ganzen
+inneren Qual stellte sich bei mir Fieber ein. Krankhafte,
+wirre Träume peinigten mich – bis ich es
+schließlich nicht mehr aushielt und zu weinen anfing.
+Mein Weinen weckte die Mutter; sie rief mich leise
+an und fragte, ob mir etwas fehle. Ich antwortete
+nicht, weinte aber noch verzweifelter. Da zündete sie
+das Licht an, kam zu mir und versuchte mich zu beruhigen,
+im Glauben, ein Traum habe mich erschreckt.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, du kleines, dummes Kind!“ sagte sie, „immer
+noch weinst du, wenn dir etwas träumt. Nun, schon
+gut, sei ruhig!“ Und sie küßte mich und sagte, ich
+solle in ihr Bett kommen und bei ihr schlafen. Aber ich
+wollte nicht, denn ich wagte nicht, sie zu umarmen und
+zu ihr zu gehen. Ich wand mich innerlich vor Qual.
+Ich wollte ihr alles erzählen. Ich war schon im Begriff
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+anzufangen, aber da fiel mir wieder der Vater
+ein und sein Verbot, und ich sagte nichts.
+</p>
+
+<p>
+„Mein armes Kindchen ... Njetotschka ...“
+hörte ich die Mutter leise sprechen, während sie mich
+noch mit ihrer alten Jacke zudeckte, da sie bemerkt
+hatte, daß ich wie von Schüttelfrost am ganzen Körper
+zitterte, „du wirst wohl ebenso krank werden wie ich.“
+Und sie sah mich dabei so traurig an, daß ich ihren
+Blick nicht ertragen konnte, krampfhaft die Augen
+schloß und mich fortwandte. Ich erinnere mich nicht
+mehr, daß ich einschlief, aber noch lange hörte ich im
+Halbschlaf, wie die arme Mutter mich leise beruhigte,
+um mich in den Schlaf zu lullen. Noch nie hatte ich
+eine schwerere Qual zu erdulden gehabt. Mein Herz
+krampfte sich bis zum körperlichen Schmerz zusammen.
+Am nächsten Tage ward mir etwas leichter
+zumut. Ich fing wieder an mit dem Vater zu
+sprechen, aber ohne des Vorgefallenen zu erwähnen,
+denn ich erriet, daß ihm das sehr unangenehm sein
+müsse. Ich täuschte mich nicht: er war sogleich zur
+Unterhaltung bereit und sofort guter Dinge, denn auch
+er schien die Spannung zwischen uns als ungemütlich
+empfunden zu haben, wenigstens hatte er immer ein
+finsteres Gesicht gemacht, wenn unsere Blicke sich trafen.
+Jetzt bemächtigte sich seiner eine seltsame Freude,
+eine fast kindliche Zufriedenheit, als er mich wieder
+ganz arglos und munter sah. Die Mutter ging wie
+gewöhnlich bald fort und dann tat er sich keinen
+Zwang mehr an. Er küßte mich so, daß ich in ein
+nahezu übertriebenes Entzücken geriet und weinte und
+lachte – beides zugleich. Schließlich sagte er, er wolle
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+mir etwas Schönes zeigen, das zu sehen mich sehr
+freuen werde – als Belohnung dafür, daß ich ein so
+kluges und gutes kleines Mädchen bin. Damit knöpfte
+er seine Weste auf und nahm einen Schlüssel, den er
+an einer schwarzen Schnur am Halse trug, sah mich
+geheimnisvoll bedeutsam an, als wolle er in meinen
+Augen das ganze Vergnügen sehen, das ich seiner Meinung
+nach empfinden mußte, öffnete unseren großen
+Koffer und entnahm ihm behutsam einen länglichen
+schwarzen Kasten, den ich bis dahin noch niemals gesehen
+hatte. Diesen Kasten berührte er mit einer gewissen
+Zaghaftigkeit – überhaupt war er plötzlich
+ganz verändert: das Lachen war aus seinem Gesicht
+verschwunden, das nun einen wahrhaft feierlichen
+Ausdruck annahm. Diesen geheimnisvollen Kasten
+also öffnete er ganz behutsam und entnahm ihm einen
+absonderlichen Gegenstand, den ich bis dahin auch
+noch nicht gesehen hatte – ein Ding von äußerlich
+recht seltsamer Form. Er nahm es gleichfalls mit
+großer Vorsicht und nahezu mit Andacht in die Hand
+und sagte, das sei seine Geige, sein Instrument. Hierauf
+fing er an mit leiser, feierlicher Stimme zu mir
+zu sprechen – und er redete sehr lange, aber ich verstand
+ihn nicht. Ich behielt nur die mir bereits bekannten
+Ausdrücke, daß er ein Künstler sei, daß er Talent
+habe, daß er einmal auf dieser Geige spielen
+werde und zu guter Letzt, daß wir dann alle reich sein
+werden und daß uns schließlich irgendein großes
+Glück blühen werde. Tränen traten ihm in die Augen
+und rollten über seine Wangen. Ich war sehr ergriffen.
+Zum Schluß küßte er seine Geige und ließ auch
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+mich sie küssen. Als er sah, daß ich sie gern näher betrachtet
+hätte, führte er mich zum Bett der Mutter
+und gab mir die Geige in die Hand; aber ich sah
+wohl, daß er zitterte vor Angst, ich könnte sie vielleicht
+irgendwie zerschlagen oder zerbrechen. Ich nahm die
+Geige und berührte die Saiten, die in einem leisen
+schwingenden Ton erklangen.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist Musik!“ sagte ich, indem ich zu ihm aufsah.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja, das ist Musik,“ wiederholte er, sich freudig
+die Hände reibend, „du bist ein kluges Kind, bist ein
+gutes Kind!“
+</p>
+
+<p>
+Aber trotz seines Lobes und Entzückens sah ich doch,
+daß er sich um seine Geige ängstigte, und da ergriff
+mich gleichfalls eine Angst, – ich gab sie ihm schnell
+zurück. Sie wurde mit derselben Behutsamkeit wieder
+eingepackt, der Kasten verschlossen und in den Koffer
+zurückgelegt; der Vater aber, der nochmals meinen
+Kopf streichelte, versprach, mir jedesmal die Geige
+zu zeigen, wenn ich wieder so klug, brav und gehorsam
+sein würde wie jetzt. So hatte die Geige unseren gemeinsamen
+Kummer vertrieben. Erst am Abend flüsterte
+er mir im Fortgehen heimlich zu, ich solle nicht
+vergessen, was er mir tags zuvor auf dem Treppenflur
+gesagt habe.
+</p>
+
+<p>
+So wuchs ich in unserer Dachstube auf, und allmählich
+steigerte sich meine Liebe, – nein, richtiger
+gesagt, meine Leidenschaft, denn ich kenne kein anderes
+Wort, das ein so unbezwingbares, mich selbst quälendes
+Gefühl, wie ich es für den Vater empfand,
+ausdrücken könnte – steigerte sich bis zu einer krankhaft
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+ausgearteten Empfindsamkeit. Ich kannte nur noch
+eine einzige Lust: an ihn zu denken, von ihm zu träumen,
+nur noch einen Wunsch und Willen – alles zu
+tun, nur um ihm eine Freude oder sei es auch ein
+noch so kleines Vergnügen zu bereiten. Wie oft erwartete
+ich ihn, zitternd und blau vor Kälte, auf der zugigen
+Treppe, nur um wenigstens ein paar Augenblicke
+früher sein Kommen zu hören und ihn zu sehen. Streichelte
+er mich, wenn er bisweilen zärtlich zu mir war,
+so wurde ich ganz wirr vor Freude. Und doch peinigte
+es mich oft bis zum körperlichen Schmerz, daß
+ich in meinem Verhalten zu meiner armen Mutter so
+hartnäckig kühl blieb. Es gab Augenblicke, wo ich
+hätte vergehen mögen vor Qual und Mitleid, wenn
+ich sie ansah. Bei dem ewigen Streit der Eltern konnte
+ich nicht gleichmütig bleiben und unparteiisch zusehen,
+ich mußte zwischen ihnen wählen und mich für einen
+von ihnen entscheiden. Und so stellte ich mich denn
+auf die Seite dieses halb wahnsinnigen Menschen, nur
+weil er in meinen Augen so mitleiderregend, so erniedrigt
+war und ganz zu Anfang einen so unauslöschlichen
+Eindruck auf mich gemacht, meine Phantasie
+entfesselt hatte. Doch schließlich – wer könnte das
+so genau sagen, weshalb ich gerade seine Partei ergriff?
+Vielleicht fühlte ich mich gerade deshalb so zu
+ihm hingezogen, weil er so eigenartig war, sogar in
+seiner äußeren Erscheinung eigenartig, und nicht so
+ernst und unwirsch wie die Mutter, weil er fast wahnsinnig,
+weil an ihm hin und wieder so etwas von
+Gauklerart war, und schließlich, weil ich ihn
+weniger fürchtete und sogar weniger achtete als die
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+Mutter. Er war irgendwie – mehr meinesgleichen.
+Ja allmählich bemächtigte sich meiner das Gefühl, daß
+ich ihm sogar überlegen sei, daß ich ihn mir unmerklich
+unterwarf, und daß ich ihm unentbehrlich wurde, ja
+zuweilen kokettierte ich geradezu mit ihm. In der Tat,
+diese wunderliche Anhänglichkeit meinerseits erinnerte
+in etwas an einen Roman ... Doch dieser Roman
+sollte nicht von langer Dauer sein: ich verlor bald
+meine Mutter und meinen Vater. Ihr Leben fand ein
+schreckliches Ende, das sich schwer und qualvoll meiner
+Erinnerung eingeprägt hat. Wie sich das zutrug, will
+ich jetzt erzählen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-3">
+III.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Zu jener Zeit wurde ganz Petersburg alarmiert
+durch eine große Neuigkeit: es verbreitete sich das
+Gerücht von der bevorstehenden Ankunft des berühmten
+S–z. Alles, was musikalisch war in Petersburg,
+geriet in Aufregung. Sänger, Schauspieler, Dichter,
+Maler, sämtliche Musiknarren, aber auch solche, die
+niemals Musiknarren gewesen waren und mit bescheidenem
+Stolz gestanden, daß sie keinen Ton von der
+ganzen Musik begriffen, jagten nun alle mit wahrer
+Gier nach den Billetten zu diesem Konzert. Der Saal
+konnte kaum den zehnten Teil der Enthusiasten fassen,
+die die Möglichkeit hatten oder sich schufen, fünfundzwanzig
+Rubel Eintrittsgeld zu zahlen. Doch die europäische
+Berühmtheit dieses S–z, sein lorbeerumkränztes
+hohes Alter, dabei die unverwüstliche Frische seines
+Talentes, sowie die Tatsache, daß er in letzter Zeit nur
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+noch äußerst selten öffentlich spielte, und ferner die
+Versicherung, daß er zum letztenmal eine europäische
+Konzertreise unternehme, dann aber das Spielen endgültig
+aufgeben werde, erregten die Gemüter und die
+Neugier der Menschen. Mit einem Wort, die Spannung
+war eine ungeheuere.
+</p>
+
+<p>
+Ich erzählte bereits, daß die Ankunft jedes neuen
+Violinvirtuosen, jeder auch noch so kleinen „Berühmtheit“,
+auf meinen Stiefvater stets den unangenehmsten
+Eindruck machte. Er war dann immer einer der ersten,
+die sich beeilten, den angereisten Künstler zu hören,
+um möglichst bald die Größe seiner Kunst beurteilen
+zu können. Nicht selten wurde er geradezu krank, nur
+dadurch, daß er das Lob anhören mußte, das irgendeinem
+neuen Stern gespendet wurde, und er beruhigte
+sich nicht eher, als bis er an dem Spiel des Gelobten
+irgend etwas auszusetzen fand, was er dann als seine
+„unmaßgebliche Meinung“ mit beißendem Spott überall,
+wo er nur konnte, zum besten gab. Der arme
+Wahnsinnige glaubte, daß es nur ein einziges Genie
+in der ganzen Welt gäbe, nur einen einzigen Künstler,
+und dieser Künstler war natürlich er selbst. Das Gerücht
+nun, und alsbald die Gewißheit, daß das Weltgenie
+S–z in Petersburg konzertieren werde, wirkte
+auf ihn geradezu wie eine Erschütterung. Übrigens
+muß ich bemerken, daß Petersburg in den letzten zehn
+Jahren kein einziges größeres Talent gehört hatte,
+geschweige denn ein Genie gleich S–z. Deshalb hatte
+auch mein Stiefvater von dem Spiel wirklich erstrangiger
+europäischer Künstler noch gar keine richtige
+Vorstellung.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+Man hat mir erzählt, mein Vater habe sich damals
+schon nach dem ersten unsicheren Gerücht wieder
+hinter den Kulissen eingefunden. Er sei sehr aufgeregt
+gewesen und habe sich mit größter Unruhe nach
+S–z und dessen bevorstehendem Konzert erkundigt.
+Da man ihn lange nicht gesehen, soll sein plötzliches
+Wiederauftauchen sogar einen gewissen Effekt gemacht
+haben. Jemand habe ihn reizen wollen und herausfordernd
+gemeint: „Ja, mein lieber Jegor Petrowitsch,
+jetzt werden Sie nicht mehr Ballettmusik zu
+hören bekommen, sondern eine, die Sie nicht mehr
+leben lassen wird auf Erden!“ Er soll erbleicht sein,
+als er diesen Spott hörte, habe aber doch noch ruhig
+geantwortet, wenn auch mit verzerrtem Lächeln:
+</p>
+
+<p>
+„Warten wir ab. Aus der Ferne hält man oft für
+einen Berg, was sich in der Nähe als ein Kamel entpuppt.
+Dieser S–z ist ja doch nur in Paris gewesen,
+da haben eben die Franzosen seinen Ruhm ausgeschrien,
+aber – nun ja, man weiß doch, was Franzosen
+sind!“ usw.
+</p>
+
+<p>
+Alles lachte. Der Arme fühlte sich gekränkt, aber
+er bezwang sich und fügte nur hinzu, daß er übrigens
+gar nichts sagen wolle, man werde es ja bald
+erleben, vorläufig müsse man abwarten, bis übermorgen
+sei nicht lange, die Wunder würden schon an den
+Tag kommen.
+</p>
+
+<p>
+B. erzählte mir, an demselben Tage, kurz vor der
+Dämmerung, sei ihm auf der Straße Fürst H. begegnet
+– ein Dilettant als ausübender Künstler, als
+Mensch jedoch ein unvergleichlicher Kunstkenner und
+Kunstliebhaber. Sie setzten gemeinsam ihren Weg fort,
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+sprachen natürlich auch von dem bereits eingetroffenen
+großen Virtuosen, als B. plötzlich meinen Vater erblickte,
+der vor dem Fenster einer Musikalienhandlung
+stand und aufmerksam ein Konzertprogramm studierte,
+das in großen Lettern das Konzert des berühmten
+Geigenvirtuosen S–z ankündigte.
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie dort diesen Menschen, der vor dem
+Fenster steht?“ wandte sich B. schnell an den Fürsten.
+</p>
+
+<p>
+„Wer ist das?“ fragte der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben von ihm schon gehört. Das ist derselbe
+Jefimoff, von dem ich Ihnen mehrmals erzählt
+habe, und der einmal durch Ihre Protektion eine Anstellung
+erhielt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach ja, ich entsinne mich!“ sagte der Fürst. „Sie
+haben mir viel von ihm erzählt. Er soll ja sehr interessant
+sein, sagt man. Könnte ich ihn nicht mal
+spielen hören?“
+</p>
+
+<p>
+„Lohnt nicht,“ versetzte B. kurz. „Und es ist auch so
+niederdrückend. Das heißt, ich weiß nicht, wie es auf Sie
+wirkt, aber auf mich macht es immer einen schrecklichen
+Eindruck. Sein Leben ist – eine einzige entsetzliche
+Tragödie. Eine Hölle. Ich habe tiefes Mitgefühl mit
+ihm, wie schmutzig er auch sein mag, immer wieder
+nehme ich Anteil an ihm. Sie sagten, er müsse interessant
+sein. Das ist er wirklich, aber der Eindruck,
+den er in einem hinterläßt, ist gar zu schmerzhaft und
+schwer. Erstens ist er ein Wahnsinniger, und zweitens
+hat dieser Wahnsinnige drei Verbrechen auf dem
+Gewissen, denn außer seinem eigenen Leben hat er noch
+zwei andere Menschenleben zugrunde gerichtet: das
+seiner Frau und seiner Tochter. Wie ich ihn kenne,
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+würde es ihn auf der Stelle töten, wenn er sich von
+seinem Verbrechen überzeugte. Aber das ganze Entsetzen
+besteht ja gerade darin, daß er es sich nun schon
+acht Jahre lang <em>fast</em> eingesteht und daß er acht Jahre
+lang mit seinem Gewissen ringt, um es sich nicht nur
+‚fast‘, sondern vollkommen einzugestehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sagten, er sei arm?“ fragte der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+„Ja; aber die Armut ist für ihn jetzt eher ein
+Glück, denn sie ist in seinen Augen seine Rechtfertigung.
+Solange er arm ist, kann er einem jeden versichern,
+daß nur die Armut ihn zurückhalte und daß er,
+wenn er reich wäre, dann auch genügend Zeit hätte,
+und vor allem keine Sorgen, um zeigen zu können,
+was für ein Künstler er sei. Er hat mit der sonderbaren
+Hoffnung geheiratet, daß tausend Rubel, die
+seine Frau damals besaß, ihm helfen würden, sein
+Ziel zu erreichen. Er handelte wie ein Phantast, wie
+ein Dichter, und so hat er stets gehandelt. Wissen Sie,
+was er in diesen acht Jahren immer behauptet hat
+und auch jetzt noch zu behaupten nicht müde wird?
+– Daß die Ursache seines ganzen Elends seine Frau
+sei: die hindere ihn an allem. Und er selbst tut dabei
+nichts: denkt nicht einmal daran, zu arbeiten.
+Nehmen Sie ihm aber diese Frau – da wäre er
+der unglücklichste Mensch der Welt. Jetzt hat er schon
+mehrere Jahre lang die Geige nicht angerührt – und
+wissen Sie, warum nicht? Weil er jedesmal, sobald
+er den Bogen in die Hand nimmt, sich innerlich
+doch gestehen muß, daß er nichts ist, eine Null, aber
+kein Künstler. So dagegen, wenn er den Bogen nicht
+anrührt, kann er sich noch dem schönen Glauben hingeben,
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+daß es doch wieder nicht wahr sei. Er ist ein
+Träumer. Er glaubt, daß er mit einemmal, wie
+durch ein Wunder, plötzlich der berühmteste Mensch
+der Welt sein werde. Sein Wahlspruch ist: <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">aut
+Caesar, aut nihil</span>, als könnte man so einfach und in
+einem Augenblick ein Cäsar werden. Sein ganzes Verlangen,
+seine einzige Begierde ist – Ruhm. Wenn
+aber ein solches Gefühl zum ersten und einzigen Antrieb
+eines Künstlers wird, so ist der Betreffende
+schon nicht mehr Künstler, da er dann den Grundtrieb
+des Künstlers eingebüßt hat, nämlich die Liebe
+zur Kunst einzig um der Kunst willen, und nicht aus
+anderen Gründen, wie etwa, weil sie Ruhm verschafft.
+Da nehmen Sie zum Beispiel diesen S–z: wenn er
+den Bogen in die Hand nimmt, dann gibt es für ihn
+in der ganzen Welt nichts mehr außer seiner Musik.
+Nach der Musik ist für ihn das Geld die Hauptsache,
+und erst an dritter Stelle, glaube ich, steht für ihn der
+Ruhm. Aber er hat sich wenig um ihn gesorgt ...
+Wissen Sie, was dagegen diesen Unglücklichen jetzt
+am meisten beschäftigt,“ fuhr B. fort, mit einer Kopfbewegung
+auf Jefimoff deutend. „Ihn beschäftigt jetzt
+nur eine allerdümmste, nichtigste, ja sogar erbärmlichste
+und lächerlichste Sorge, und zwar die: ist er,
+Jefimoff, größer als S–z oder ist S–z größer als
+er – und nichts weiter, denn er ist auch jetzt noch
+überzeugt, daß er der erste Künstler der Welt sei. Versuchen
+Sie ihn zu überzeugen, daß er kein Künstler
+ist, und ich versichere Sie, er wird tot hinfallen – es
+wäre zu schwer, zu schrecklich für ihn, auf seine
+fixe Idee zu verzichten, der er schon sein ganzes
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+Leben geopfert hat und deren Grundlage immerhin
+tief und ernst war, denn anfangs gehörte er wirklich
+zu den Berufenen.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann kann das ja interessant werden, wenn er
+jetzt S–z zu hören bekommt,“ bemerkte der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte B. nachdenklich. „Doch nein: er wird
+sich auch dann wieder mit sich zurechtfinden. Seine
+Einbildung ist stärker als die Wahrheit, die er erfahren
+könnte: deshalb würde er auch sicherlich gleich
+irgendeine neue Erklärung für sie finden.“
+</p>
+
+<p>
+„Meinen Sie?“ fragte der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatten sich inzwischen meinem Vater genähert.
+Dieser wollte, als er sie erblickte, unbemerkt an ihnen
+vorübergehen, doch B. hielt ihn auf und redete ihn
+an. Er fragte ihn, ob er das Konzert des berühmten
+S–z besuchen werde. Jefimoff antwortete gleichmütig,
+er wisse das noch nicht, er habe da etwas vor,
+was wichtiger sei als Konzerte und alle angereisten
+Virtuosen: doch übrigens, er werde sehen, bestimmt
+könne er es noch nicht sagen, aber wenn sich gerade
+ein freies Stündchen erübrigen sollte – warum dann
+schließlich nicht? – vielleicht, wie gesagt, werde er
+sich die Mühe nehmen. Ein schneller, etwas unruhiger
+Blick streifte B. und den Fürsten, ein mißtrauisches,
+flüchtiges Lächeln, dann hob er den Hut, nickte B. zu
+und ging weiter, unter dem Vorwand, daß er keine
+Zeit habe.
+</p>
+
+<p>
+Doch ich wußte schon seit einem Tage um die Sorge
+des Vaters. Was es nun gerade war, was ihn quälte,
+das wußte ich freilich nicht, aber meiner Beobachtung
+war natürlich nicht entgangen, daß er in der letzten
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+Zeit etwas auf dem Herzen hatte. Sogar die Mutter
+schien dies bemerkt zu haben. Sie war in diesen Tagen
+sehr krank und konnte kaum die Füße bewegen,
+was ihr das Gehen fast unmöglich machte. Der Vater
+kam bald nach Haus, bald ging er wieder fort.
+Am Morgen erschienen bei uns drei oder vier Gäste,
+seine ehemaligen Freunde, worüber ich mich sehr wunderte,
+da sonst außer Karl Fedorytsch so gut wie kein
+Mensch zu uns kam. Die anderen hatten ja alle schon
+längst ihre Besuche bei uns eingestellt, eben seitdem
+der Vater nicht mehr am Theater angestellt war.
+Schließlich erschien auch noch Karl Fedorytsch ganz
+außer Atem und in höchster Eile und brachte ein Konzertprogramm.
+Ich hörte ihren Gesprächen zu und
+beobachtete sie aufmerksam: alles das peinigte mich
+so, daß ich mich gewissermaßen schuld fühlte an dieser
+ganzen Aufregung und Unruhe, die ich im Gesicht des
+Vaters las. Ich wollte unbedingt wissen, wollte verstehen,
+wovon sie sprachen: und da hörte ich denn zum
+erstenmal den Namen S–z. Aus den weiteren Gesprächen
+erfuhr ich, daß man mindestens fünfzehn
+Rubel zahlen mußte, wenn man diesen S–z hören
+wollte. Ferner entsinne ich mich noch, wie der Vater
+plötzlich irgendwie die Geduld verlor, mit der Hand
+geringschätzig durch die Luft schlug und halb spöttisch
+sagte, er kenne diese fremdländischen Wunder, die angeblich
+unerreichbaren Größen mit ihren fabelhaften
+Talenten, kenne auch diesen S–z. Das seien alles
+Juden, die auf russisches Geld Jagd machten, was
+ihnen hier besonders leicht fiele, da die Russen in
+ihrer Einfalt sowieso schon jeden Unsinn bewunderten,
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+um wieviel mehr noch das, was der Franzose aus
+Chauvinismus in den Himmel höbe, ohne beurteilen
+zu können, was Talent sei und was nicht. Damals
+wußte ich bereits, was das bedeutete: kein Talent haben.
+Die Gäste lachten und bald gingen sie alle wieder
+fort, während der Vater ganz verstimmt zurückblieb.
+Ich erriet, daß er aus irgendeinem Grunde auf
+diesen S–z böse war, und so trat ich, um ihm zu gefallen
+und seinen Kummer zu zerstreuen, an den Tisch,
+nahm das Programm, versuchte das Gedruckte zu buchstabieren
+und las laut den Namen S–z. Dann lachte
+ich, sah den Vater an, der in Nachdenken versunken
+auf dem Stuhl saß, und sagte: „Ach, das ist gewiß
+auch so einer wie Karl Fedorytsch, der wird’s auch
+nie zu etwas bringen!“ Der Vater zuckte zusammen,
+als hätte ich ihn erschreckt, entriß mir das Programm,
+schrie mich an und trampelte mit den Füßen, ergriff
+seinen Hut und wollte schon aus dem Zimmer gehen,
+kehrte aber sogleich zurück und rief mich auf den Flur
+hinaus. Dort küßte er mich, sagte mir, ich sei ein
+gutes Kind, ein kluges Kind, und ich würde ihn deshalb
+bestimmt nicht betrüben wollen, er erwarte von
+mir einen großen Dienst – worin dieser aber bestehen
+sollte, das sagte er nicht. Zudem bedrückte es mich,
+ihn anzuhören: ich sah und fühlte, daß seine Freundlichkeit
+nicht aufrichtig war – und das erschütterte
+mich geradezu. Ich fing an, mich um seinetwillen zu
+quälen.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Tage beim Mittagessen – d. h. am
+Tage vor dem Konzert – war der Vater wie zerschlagen.
+Er war so ganz anders und sah immer wieder
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+nach der Mutter hin. Schließlich – ich wunderte
+mich nicht wenig – fing er sogar an, mit ihr zu sprechen
+(ich wunderte mich deshalb, weil er sonst fast nie
+mit ihr sprach). Nach dem Essen aber ließ er es sich
+plötzlich angelegen sein, um meine Gunst zu werben:
+jeden Augenblick rief er mich, bald unter diesem, bald
+unter jenem Vorwand auf den Treppenflur und nachdem
+er sich vorher umgesehen, als hätte er gefürchtet,
+daß jemand kommen könnte, streichelte und küßte er
+mich, nannte mich ein gutes Kind und ein folgsames
+Kind, ganz gewiß, sagte er, liebte ich meinen Papa
+und deshalb würde ich auch bestimmt das tun, worum
+er mich bitten werde. Alles das versetzte mich in eine
+höchste Spannung, die schließlich unerträglich wurde.
+Endlich, als er mich zum zehntenmal auf den Treppenflur
+gerufen hatte, fand die Sache ihre Erklärung.
+Mit schuldbewußter, gequälter Miene, sich fortwährend
+unruhig nach allen Seiten umsehend, fragte er
+mich, ob ich wisse, wo die Mutter jene fünfundzwanzig
+Rubel aufbewahrte, die sie vor einem Tage nach Haus
+gebracht. Ich erstarrte vor Schreck, als ich diese
+Frage vernahm. Da hörten wir plötzlich ein Geräusch
+auf der Treppe, der Vater erschrak, ließ mich stehen
+und eilte fort. Er kam erst gegen Abend zurück, verwirrt,
+betreten, niedergeschlagen und besorgt, setzte sich
+schweigend auf einen Stuhl und seine Blicke suchten
+nun wieder mich, ja er sah mich geradezu frohen Mutes
+an. Da erfaßte mich wieder eine sonderbare Angst
+und ich wich absichtlich seinem Blick aus. Als es
+schon ganz dunkel geworden war, rief mich die Mutter,
+die den ganzen Tag im Bett gelegen, zu sich und gab
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+mir etwas Kupfergeld, für das ich ihr aus dem kleinen
+Laden ein wenig Tee und Zucker kaufen sollte. Tee
+wurde bei uns sehr selten getrunken. Die Mutter erlaubte
+sich diesen Luxus – denn das war er bei unseren
+beschränkten Mitteln – nur dann, wenn sie sich
+krank fühlte und fieberte. Ich nahm das Geld und
+kaum war ich auf dem Flur, da lief ich, was ich laufen
+konnte, lief in der Furcht, daß man mir nachkommen
+könnte. Meine Vorahnung täuschte mich auch nicht:
+der Vater holte mich auf der Straße ein und zog mich
+ins Haus zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Njetotschka!“ begann er mit unsicherer Stimme.
+„Mein Täubchen! Höre: gib mir dieses Geld, ich
+werde es dir gleich morgen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Papa! Papachen!“ rief ich flehend und zitternd
+und ich warf mich vor ihm auf die Knie, um ihn zu
+beschwören, „Papachen! Ich kann nicht! Ich darf
+nicht! Mama ist krank, sie muß Tee trinken ... Man
+kann das Geld doch nicht Mama nehmen, wirklich
+nicht, glaub mir! Ein anderes Mal, nächstens werde
+ich dir ...“
+</p>
+
+<p>
+„Du willst nicht? Du willst nicht?“ flüsterte er
+wie in rasender Wut. „Also du willst mich nicht mehr
+lieben? Nun gut! Jetzt verlasse ich dich! Bleib denn
+allein bei Mama, ich werde von euch fortgehen und
+dich nehme ich nicht mit. Hörst du, böses Mädchen,
+hörst du, was ich sage?“
+</p>
+
+<p>
+„Papachen!“ rief ich entsetzt, „nimm das Geld,
+nimm! Was soll ich jetzt tun?“ stammelte ich, mich an
+seinen Rockschoß klammernd, „Mama wird doch weinen,
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+sie ist doch krank, sie wird mich doch wieder schelten!“
+</p>
+
+<p>
+Ich glaube, er hatte diesen Widerstand nicht erwartet,
+aber das Geld nahm er; dann – wohl in der
+Furcht, meinem Jammern und Weinen nicht standhalten
+zu können – verließ er mich schnell und lief auf
+die Straße. Ich stieg die Treppen hinauf, aber vor
+unserer Stubentür verließen mich meine Kräfte. Ich
+wagte nicht, einzutreten, ich konnte nicht eintreten;
+alles, was an Herz in mir war, war erschüttert und in
+Aufruhr gebracht. Ich vergrub das Gesicht in den
+Händen und wankte zum Fenster, wie damals, als ich
+den Vater hatte sagen hören, er wünsche, die Mutter
+stürbe bald. So stand ich, die Ellenbogen auf das
+Fensterbrett gestützt, wie benommen und erstarrt, und
+doch lauschte ich und gab acht auf jedes noch so leise
+Geräusch unten auf der Treppe. Endlich hörte ich jemand
+schnell heraufkommen. Das war er; ich erkannte
+ihn am Gang.
+</p>
+
+<p>
+„Bist du hier?“ flüsterte er, als er mich erblickte.
+</p>
+
+<p>
+Ich warf mich ihm entgegen.
+</p>
+
+<p>
+„Da!“ stieß er rauh hervor und steckte mir das
+Geld in die Hand, „nimm es! Nimm es zurück! Ich
+bin jetzt nicht mehr dein Vater, hörst du? Ich will
+nicht mehr dein Vater sein! Du liebst Mama mehr
+als mich! So geh zu Mama! Ich will von dir nichts
+mehr wissen!“ Damit stieß er mich fort und eilte wieder
+die Treppe hinunter. Ich lief ihm weinend nach.
+</p>
+
+<p>
+„Papa! Papa! lieber Papa! Ich werde gehorchen!“
+rief ich schluchzend, „ich liebe dich mehr als Mama!
+Nimm das Geld, behalt es! – Papa! ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+Er hörte mich nicht mehr – ich sah nur, daß er
+verschwunden war.
+</p>
+
+<p>
+Diesen ganzen Abend war ich wie krank und zitterte
+in Fieberschauern. Ich weiß noch, die Mutter
+sagte mir irgend etwas, rief mich zu sich: ich war aber
+nicht bei Besinnung, ich hörte nichts und sah nichts.
+Es endete mit einem Anfall: ich fing an zu weinen,
+zu schreien – Mama erschrak sehr und wußte nicht,
+was sie tun sollte. Sie nahm mich zu sich ins Bett
+und ich umschlang ihren Hals und schlief denn auch
+allmählich ein, doch zuckte ich im Schlaf noch jeden
+Augenblick zusammen oder erschrak über irgend etwas.
+So verging die Nacht. Am anderen Morgen erwachte
+ich erst sehr spät, als die Mutter schon fortgegangen
+war. Sie ging um diese Zeit immer ihrer Arbeit nach.
+Der Vater und ein Unbekannter saßen im Zimmer und
+beide sprachen sehr laut. Ich konnte es kaum abwarten,
+bis der Fremde endlich aufbrach, und als wir
+allein waren, lief ich zum Vater und bat ihn leise,
+unter Tränen, mir doch zu verzeihen.
+</p>
+
+<p>
+„Und wirst du auch wieder ein gutes Kind sein wie
+früher?“ fragte er mich streng.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Papa, ja!“ stammelte ich. „Ich werde
+dir sagen, wo Mamas Geld liegt. Sie hat es in
+ihrem Kasten, in der Schatulle, dort lag es wenigstens
+gestern.“
+</p>
+
+<p>
+„Gestern? Wo?!“ rief er und sprang auf. „Wo
+lag es?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber der Kasten ist verschlossen, Papa!“ sagte ich
+schnell. „Du mußt warten, bis Mama mich am Abend
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+schickt, um das Geld zu wechseln, denn das Kupfergeld,
+das habe ich gesehen, ist ausgegangen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich brauche fünfzehn Rubel, Njetotschka! Hörst
+du? Nur fünfzehn Rubel! Verschaff’ sie mir heute;
+morgen werde ich dir alles zurückgeben. Ich werde
+gleich gehen und dir Bonbons bringen, Nüsse auch
+... auch eine Puppe werde ich dir kaufen ... und
+morgen wieder eine ... und jeden Tag werde ich dir
+Naschwerk bringen, wenn du ein gutes und folgsames
+Kind sein wirst!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach nein, das ist nicht nötig, Papa, das ist nicht
+nötig! Ich will kein Naschwerk, ich werde es nicht essen,
+ich werde es dir zurückgeben!“ rief ich, während
+die Tränen mich fast erstickten, denn mein Herz
+krampfte sich zusammen und wollte vergehen. Ich fühlte
+in diesem Augenblick, daß ich ihm nicht leid tat und
+daß er mich auch gar nicht liebte, da er doch nicht sah,
+wie ich ihn liebte, und sogar glauben konnte, daß ich
+für Naschwerk ihm dienen werde. In diesem Augenblick
+begriff ich zehnjähriges Kind ihn vollkommen, ich
+durchschaute ihn ganz und gar und schon fühlte ich,
+daß diese Erkenntnis mich nun für immer durchdrungen
+hatte, daß ich ihn nicht mehr lieben konnte, daß
+ich meinen früheren Papa für immer verloren. Er
+aber war geradezu begeistert von der Aussicht, durch
+mich das Geld zu bekommen. Er sah nun, daß ich für
+ihn zu allem bereit war, daß ich alles für ihn tun
+werde, aber nur Gott weiß es wie viel dieses „alles“
+damals für mich war. Ich wußte, was dieses Geld für
+meine arme Mutter bedeutete; ich wußte, daß sie krank
+werden konnte vor Aufregung und Sorge, wenn ihr
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+dieses Geld abhanden kam, und meine Reue schrie in
+mir. Er aber sah nichts davon, er hielt mich immer
+noch für ein dreijähriges Kind, während ich schon
+alles begriff. Seine Freude kannte keine Grenzen: er
+küßte mich, redete mir zu, nicht zu weinen, versprach
+mir, heute noch mit mir von der Mutter fortzugehen
+– wahrscheinlich um meiner in dieser Richtung unermüdlich
+arbeitenden Phantasie zu schmeicheln. Schließlich
+zog er aus seiner Tasche ein Konzertprogramm:
+und nun erzählte er und beteuerte, daß dieser Mensch,
+zu dem er am Abend gehen werde, sein Feind sei, sein
+Todfeind, aber seinen Feinden werde der Anschlag gegen
+ihn nicht gelingen. Er glich entschieden selber
+einem Kinde, während er von seinen Feinden sprach.
+Als er dann aber bemerkte, daß ich nicht wie gewöhnlich
+während seiner Erzählungen lächelte, sondern
+ernst und schweigend zuhörte, da nahm er seinen Hut
+und ging aus dem Zimmer, da er noch irgendeinen
+eiligen Gang vorhatte, wie er sagte, aber im Fortgehen
+küßte er mich noch einmal und nickte mir mit einem
+ungewissen Lächeln zu, als hätte er sich meiner doch
+nicht ganz sicher gefühlt, und wie um der Möglichkeit
+vorzubeugen, daß ich meine Absicht etwa wieder änderte.
+</p>
+
+<p>
+Ich sagte bereits, daß er wie ein Wahnsinniger
+war: das fühlte ich schon am Tage vor dem Konzert.
+Das Geld brauchte er, um ein Billett zu diesem Konzert
+kaufen zu können – als wenn sein Vorgefühl ihm
+ganz richtig die Ahnung eingegeben hätte, daß dieses
+Konzert sein ganzes Schicksal entscheiden mußte! Darüber
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+verlor er so den Kopf, daß er am Vorabend das
+bißchen Kupfergeld von mir nehmen wollte, als hätte
+er sich schon damit das Billett verschaffen können. Noch
+stärker machte sich sein seltsames Wesen bei Tisch bemerkbar,
+als wir wie gewöhnlich spät am Nachmittag
+zu Mittag aßen. Er konnte einfach nicht stillsitzen
+und aß keinen Bissen, jeden Augenblick stand er auf
+und setzte sich, wie sich besinnend, wieder hin; bald
+griff er nach dem Hut, als wollte er fortgehen, bald
+war er seltsam zerstreut, bald flüsterte er vor sich
+hin, bald sah er plötzlich auf und suchte mich mit den
+Augen, um mir dann zuzuzwinkern und verschiedene
+Zeichen zu machen, vor lauter Ungeduld, endlich in den
+Besitz des Geldes zu gelangen, und als ärgere er sich
+über mich, daß ich es noch immer nicht der Mutter
+entwendet hatte. Sogar der Mutter fiel sein fremdes
+Wesen auf und sie sah ihn verwundert an. Ich aber
+war wie zum Tode verurteilt. Nach dem Essen zog ich
+mich in meinen Winkel zurück und zitternd vor Fieber
+zählte ich die Sekunden bis zu der Zeit, wo die
+Mutter mich gewöhnlich nach Kleinigkeiten in den Laden
+schickte. In meinem Leben habe ich nicht qualvollere
+Stunden verbracht: sie werden ewig und unverwischbar
+in meiner Erinnerung stehen. Was durchfühlte
+ich da nicht alles in Gedanken! Es gibt Zeitspannen
+– man könnte sie mit einer Anzahl Minuten
+beziffern –, wo man in seiner Erkenntnis viel mehr
+erlebt, als in ganzen Jahren. Mein Gefühl wußte, daß
+ich etwas Schlechtes und Häßliches zu tun im Begriff
+war; er selbst hatte ja noch meine guten Instinkte bestärkt,
+als er mich das erstemal kleinmütig zum
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+Schlechten verleitet, um mir dann, vielleicht erschrocken,
+jedenfalls aber das Geschehene bereuend, zu erklären,
+daß ich sehr schlecht gehandelt hatte. Begriff er denn
+nicht, wie schwer es ist, eine Natur zu betrügen, die
+begierig ist, ihre Eindrücke ganz zu erfassen und die
+schon viel Schlechtes und Gutes durchfühlt und durchdacht
+hat? Ich begriff doch, daß es die äußerste Not
+war, die ihn bewog, mich nochmals ins Laster zu stoßen
+und somit meine arme, schutzlose Kindheit zu opfern
+– die ihn bewog, es nochmals zu wagen, meinem
+noch ungefestigten Gewissen diesen Stoß zu versetzen.
+Und während ich dort in meinem Winkel kauerte, fing
+ich an, bei mir darüber nachzudenken: warum versprach
+er mir noch eine Belohnung für das, was ich schon
+aus eigenem freiem Willen tun wollte? Neue Empfindungen,
+neue, bis dahin noch nie empfundene Triebe,
+neue Fragen erhoben sich scharenweis in mir, und ich
+quälte mich mit ihnen. Dann mußte ich plötzlich an die
+Mutter denken. Ich stellte mir ihre Verzweiflung vor,
+wenn ihr dieser mühselig erarbeitete Lohn genommen
+würde. Endlich legte die Mutter die Arbeit, die sie
+schon über ihre Kräfte verrichtete, aus der Hand und
+rief mich. Ich erbebte und ging zu ihr. Sie nahm aus
+der Kommode das Geld und indem sie es mir gab,
+sagte sie:
+</p>
+
+<p>
+„Geh, Njetotschka. Nur laß dir um Gottes willen
+nicht falsch zurückgeben, wie neulich, und sieh dich vor,
+daß du auch nichts verlierst.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah flehend zum Vater hinüber, aber er nickte
+mir zu, lächelte zustimmend und rieb sich die Hände
+vor Ungeduld. Die Uhr schlug sechs, das Konzert sollte
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+um acht beginnen. Auch er muß während dieses Wartens
+viel erduldet haben.
+</p>
+
+<p>
+Ich blieb auf der Treppe stehen, um auf ihn zu
+warten. Er war aber so aufgeregt und ungeduldig, daß
+er alle Vorsicht vergaß und mir hastig und fast auf dem
+Fuß folgte. Ich gab ihm das Geld: auf der Treppe
+war es dunkel, sein Gesicht konnte ich nicht sehen; aber
+ich fühlte, daß er am ganzen Körper zitterte, als er
+das Geld empfing. Ich stand erstarrt wie im Krampf,
+und rührte mich nicht vom Fleck. Ich kam erst zu mir,
+als er mich nach oben schickte, um ihm seinen Hut aus
+dem Zimmer zu holen. Er wollte nicht einmal mehr
+hineingehen.
+</p>
+
+<p>
+„Papa! Wirst du ... denn nicht mitkommen ins
+Zimmer?“ fragte ich mit versagender Stimme, mich
+noch an meine letzte Hoffnung klammernd – an seinen
+Beistand.
+</p>
+
+<p>
+„Nein ... du geh lieber allein ... was? Wart’
+wart’!“ rief er, sich schnell besinnend, „wart’, ich werde
+dir gleich Naschwerk bringen – aber du geh nur erst
+ins Zimmer und bring mir meinen Hut her.“
+</p>
+
+<p>
+Mir war, als presse eine eiskalte Hand mein Herz
+zusammen. Plötzlich – stieß ich ihn fort und eilte wie
+gejagt die Treppe hinauf. Als ich ins Zimmer trat –
+sah ich verstört aus, und wenn ich damals gesagt hätte,
+daß man mir das Geld genommen, da hätte die Mutter
+es mir wohl geglaubt. Aber ich konnte keinen Laut
+hervorbringen. In einem Anfall der Verzweiflung, die
+mich plötzlich wie ein Krampf packte, warf ich mich
+über das Bett der Mutter und vergrub das Gesicht
+in den Händen. Nach einer Weile hörte ich die Tür
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+leise kreischen und der Vater trat ins Zimmer. Er kam,
+um sich seinen Hut zu holen.
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist das Geld?!“ rief plötzlich die Mutter, die
+jetzt blitzartig erriet, daß etwas Ungewöhnliches geschehen
+war. „Wo ist das Geld? Sprich! Sprich!“
+Und sie riß mich vom Bett und stellte mich vor sich hin,
+mitten ins Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Ich schwieg, den Blick zu Boden gesenkt; ich wußte
+kaum, was in mir vorging und was man mit mir
+tat.
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist das Geld?!“ schrie sie mich an und plötzlich
+– sah sie sich nach dem Vater um, der schon nach
+dem Hut griff. „Wo ist das Geld?“ wiederholte sie.
+„Ah! Dir hat sie es gegeben? Du Verruchter! Mein
+Mörder du! Mein Henker! So willst du auch sie verderben!
+Das Kind! sie, sie?! Nein doch! So gehst du
+mir nicht fort!“
+</p>
+
+<p>
+Und schon war sie bei der Tür, verschloß sie und
+steckte den Schlüssel zu sich.
+</p>
+
+<p>
+„Sprich! Gestehe!“ wandte sie sich an mich – mit
+einer Stimme, die vor Erregung kaum hörbar war,
+„gestehe mir alles! So sprich doch, sprich! Oder ...
+ich weiß nicht, was ich mit dir mache!“
+</p>
+
+<p>
+Sie ergriff meine Hände und zerdrückte sie beinahe,
+um mich zum Geständnis zu zwingen. Sie war außer sich
+und sich gewiß nicht vollkommen bewußt dessen, was sie
+tat. Ich aber schwor mir, zu schweigen, kein Wort vom
+Vater zu sagen, – doch schlug ich schüchtern zum letzten
+Male die Augen zu ihm auf ... Ein Blick von ihm,
+nur ein Wort, irgend etwas, was ich von ihm erwartete
+und worum ich bei mir im stillen betete – und
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+ich wäre glücklich gewesen trotz aller Schmerzen, trotz
+jeder Folter ... Doch – mein Gott! Mit einer gefühllosen,
+drohenden Geste befahl er mir, zu schweigen,
+als hätte ich in diesem Augenblick noch irgendeines
+anderen Drohung fürchten können. Es schnürte
+mir die Kehle zu, benahm mir den Atem, meine Füße
+– ich fühlte sie nicht mehr ... bewußtlos fiel ich
+hin ... Der Anfall, den ich tags zuvor gehabt, wiederholte
+sich.
+</p>
+
+<p>
+Ich erwachte, als plötzlich an unsere Tür geklopft
+wurde. Die Mutter öffnete sie und erblickte einen Menschen
+in einer Livree, der etwas zögernd ins Zimmer
+trat, sich verwundert umsah und nach dem Musiker Jefimoff
+fragte. Der Vater sagte, daß er derjenige sei,
+den er suche. Da überreichte ihm der Diener ein Kuvert
+und erklärte, Herr B., der augenblicklich beim
+Fürsten H. weile, habe ihn geschickt. Das Kuvert enthielt
+ein Billett zum Konzert des berühmten S–z.
+</p>
+
+<p>
+Das Erscheinen dieses Dieners in der glänzenden
+Livree, dieses Abgesandten vom Fürsten H., der ihn zu
+dem armen Musiker schickte – all das machte im ersten
+Augenblick einen großen Eindruck auf die Mutter. Ich
+sagte bereits, daß die arme Frau meinen Vater immer
+noch liebte. Selbst nach ganzen acht Jahren der
+Enttäuschungen, des Kummers und Leids hatte ihr
+Herz sich noch nicht verändert: ja, sie konnte ihn immer
+noch lieben! Weiß Gott, vielleicht sah sie nun wieder
+eine Veränderung in seinem Leben bevorstehen. Sogar
+der Schatten einer Hoffnung konnte sie schon beeinflussen.
+Wer weiß, vielleicht hatte er sie in seiner Verschrobenheit
+einfach angesteckt mit seinem unerschütterlichen
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+Selbstbewußtsein! Und es wäre doch auch gar
+nicht anders möglich gewesen, als daß dieses Selbstbewußtsein
+auf sie, die schwache Frau, nicht einen gewissen
+Einfluß gehabt hätte – was Wunder, wenn sie
+da auf diese Aufmerksamkeit des Fürsten gleich tausend
+Pläne für ihn baute. Sofort war sie bereit, wieder gut
+zu ihm zu sein, ihm alles zu verzeihen, die Qual der
+ganzen Zeit ihres gemeinsamen Lebens, sogar diese
+letzte Schandtat miteinbegriffen, – daß er ihr einziges
+Kind zu opfern sich nicht scheute – war bereit,
+getragen von der Flut ihrer wieder hervorbrechenden
+Hoffnung, diese Schandtat als ein einfaches, kleines
+Vergehen aufzufassen, als einen Kleinmut, wenn man
+will, den die Armut, das elende Leben und seine verzweifelte
+Lage entschuldigen konnten. So verzieh sie
+ihm, und empfand in diesem Augenblick unendliches
+Mitleid für den verkommenen Mann.
+</p>
+
+<p>
+Der Vater geriet in Aufregung. Auch ihn überraschte
+die Aufmerksamkeit B.s und des Fürsten. Er wandte
+sich ohne weiteres an die Mutter, flüsterte ihr etwas
+zu und sie verließ das Zimmer. Nach etwa zwei Minuten
+kehrte sie zurück, brachte das gewechselte Geld
+und der Vater gab dem Diener sogleich einen Silberrubel,
+worauf dieser nach einer höflichen Verbeugung
+fortging. Die Mutter verließ nun wieder für einen
+Augenblick das Zimmer und kehrte mit einem Bügeleisen
+zurück, suchte das beste Vorhemd ihres Mannes
+heraus und bügelte es auf. Sie band ihm eigenhändig
+die weiße Batistkrawatte um den Hals, die sich seit
+undenklichen Zeiten noch erhalten hatte samt einem
+schwarzen, schon recht abgetragenen Frack, der für ihn
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+noch vor seinem Eintritt ins Orchester angefertigt worden
+war. Nachdem er die Toilette beendet hatte, nahm
+er den Hut, doch vor dem Fortgehen bat er noch um
+ein Glas Wasser. Er war bleich und setzte sich in vollkommener
+Erschöpfung auf einen Stuhl. Das Wasser
+mußte ich ihm übrigens reichen – vielleicht hatte sich
+schon ein feindseliges Gefühl ins Herz der Mutter geschlichen
+und ihre erste Aufwallung abgekühlt?
+</p>
+
+<p>
+Dann ging der Vater. Wir waren allein. Ich zog
+mich wieder in meinen Winkel zurück und von dort aus
+sah ich lange schweigend auf die Mutter. Zum erstenmal
+sah ich sie in einer solchen inneren Aufregung:
+ihre Lippen bebten, die bleichen Wangen hatten sich
+gerötet und von Zeit zu Zeit bemerkte ich an ihr nervöse
+Zuckungen. Zuletzt brach ihre Qual das Schweigen
+und ihr ganzes Elend drängte sich in Klagen unter
+dumpfem, verzweifeltem Aufschluchzen hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Ich, ich allein bin an allem schuld, ich Unselige!“
+klagte sie sich an. „Und was soll aus ihr werden? Was
+wird aus ihr, wenn ich sterbe?“ Sie blieb plötzlich mitten
+im Zimmer stehen wie getroffen durch diesen einen
+Gedanken. „Njetotschka! Mein Kind! Mein armes
+Kind! Du Unglückliche, du Arme!“ sagte sie, meine
+Hände erfassend und mich krampfhaft umarmend. „Bei
+wem lasse ich dich, wenn ich dich nun nicht mehr erziehen,
+dich nicht mehr hegen und pflegen kann? Mein
+armer Liebling! Oh, du verstehst mich nicht! Oder doch?
+Wirst du behalten, was ich dir jetzt sage, Njetotschka?
+Wirst du dich später noch dessen erinnern?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Mamachen, ja!“ beteuerte ich und faltete die
+Hände, wie um es zu beschwören.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+Lange und fest hielt sie mich in ihren Armen, als
+bangte ihr vor dem Gedanken, daß sie sich von mir
+trennen mußte. Mein Herz wollte brechen.
+</p>
+
+<p>
+„Mamachen! Mama ...“ stammelte ich stockend,
+denn das Schluchzen saß mir in der Kehle, „warum
+... warum liebst du Papa nicht?“ Und die unterdrückten
+Tränen liefen mir über die Wangen.
+</p>
+
+<p>
+Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Und wieder,
+von neuer Qual gepeinigt, setzte sie ihre Wanderung
+durch das Zimmer fort.
+</p>
+
+<p>
+„Die Arme, die Arme! Und ich hab’ es nicht einmal
+bemerkt, wie sie herangewachsen ist! Sie weiß, sie
+weiß alles! Mein Gott! Und was waren das hier für
+Eindrücke, welch ein Beispiel!“ Und sie rang die Hände
+in ihrer Verzweiflung.
+</p>
+
+<p>
+Dann kam sie wieder zu mir und küßte mich in
+wahnsinniger Liebe, küßte meine Hände, auf die ihre
+Tränen fielen, bat, flehte um Verzeihung ... Ich hatte
+noch nie soviel Leid, noch nie einen Menschen so vor
+Leid zusammenbrechen gesehen ... Schließlich versank
+sie gleichsam ermattet in stumpfes Brüten. So verging
+wohl eine ganze Stunde. Endlich stand sie müde auf,
+sichtlich erschöpft, und sagte mir, ich solle schlafen gehen.
+Ich ging in meinen Winkel, tat wie sie geheißen,
+wickelte mich fest in die Decke – aber einschlafen konnte
+ich nicht. Mich quälten die Gedanken an sie und die
+Gedanken an den Vater. Mit Ungeduld erwartete ich
+seine Rückkehr. Entsetzen erfaßte mich bei dem Gedanken
+an ihn. Ungefähr nach einer halben Stunde nahm
+die Mutter das Licht und trat leise an mein Bett, um
+zu sehen, ob ich schlafe. Ich schloß schnell die Augen
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+und stellte mich schlafend, damit sie sich beruhigte. Als
+sie sich dann von meinem Schlaf überzeugt hatte, ging
+sie leise zum Schrank, öffnete ihn und schenkte sich ein
+Glas Wein ein. Sie trank und legte sich dann schlafen.
+Das brennende Licht blieb auf dem Tisch und
+die Tür unverschlossen, wie das immer geschah, wenn
+der Vater spät nach Hause kam.
+</p>
+
+<p>
+Ich lag in halber Bewußtlosigkeit, doch kein
+Schlaf schloß meine Augen. Kaum sank ich in Schlummer,
+da wachte ich auch schon wieder auf, erschreckt
+durch furchtbare Traumgesichte. Die Beklemmung
+wuchs und wurde immer bedrückender. Ich wollte
+schreien, doch der Schrei erstarb in meiner Brust. Endlich
+– schon spät in der Nacht – hörte ich, wie unsere
+Tür geöffnet wurde. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit
+darüber verstrich, als ich aber die Augen plötzlich ganz
+aufschlug, da erblickte ich den Vater. Wie es mir
+schien, war er sehr bleich. Er saß auf dem Stuhl gleich
+neben der Tür und war in Gedanken versunken. Im
+Zimmer herrschte Totenstille. Das tropfende Talglicht
+erhellte traurig unser Heim.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah lange auf den Vater, aber er rührte sich
+noch immer nicht. Er saß unbeweglich, immer in derselben
+Stellung, den Kopf auf die Brust gesenkt und
+die Hände starr auf die Knie gestützt. Zwei-, dreimal
+wollte ich ihn anrufen, aber ich konnte es nicht. Meine
+Erstarrung wich nicht von mir. Plötzlich erwachte er
+gleichsam aus seiner Versunkenheit, sah auf und erhob
+sich vom Stuhl. Eine Weile stand er mitten im
+Zimmer – es war, als suchte er nach einem Entschluß.
+Dann trat er plötzlich ans Bett der Mutter, horchte,
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+und nachdem er sich überzeugt, daß sie schlief, ging er
+zum Koffer, in dem seine Geige lag.
+</p>
+
+<p>
+Er öffnete den Verschluß, nahm den schwarzen Violinkasten
+und stellte ihn auf den Tisch; dann sah er
+sich wieder um; sein Blick war trüb und unstet, wie
+ich ihn noch nie gesehen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Er nahm die Violine, legte sie aber gleich wieder
+hin, kehrte zurück zur Tür und verschloß sie. Dann, als
+er den offenstehenden Schrank bemerkte, ging er leise
+hin, sah dort das Glas und den Wein stehen, schenkte
+sich ein und trank. Darauf griff er zum drittenmal zur
+Geige, legte sie aber zum drittenmal wieder hin und
+ging nochmals zum Bett der Mutter. Starr vor Angst
+erwartete ich, was nun geschehen werde.
+</p>
+
+<p>
+Er stand lange horchend, zu lange, wie mir schien.
+Dann schlug er plötzlich die Decke von ihrem Gesicht
+zurück und befühlte es mit der Hand. Ich zuckte zusammen.
+Er beugte sich nochmals über sie, ganz tief,
+sein Kopf berührte sie fast, als er sich aber zum letztenmal
+aufrichtete, da glitt es wie ein Lächeln über sein
+unheimlich bleiches Gesicht. Leise und behutsam breitete
+er die Decke wieder über die Schlafende, bedeckte
+den Kopf, die Füße ... ich aber begann zu zittern,
+in einer dunklen, unklaren Angst: ich fürchtete für die
+Mutter, fürchtete ihren tiefen Schlaf, mit bangem
+Herzklopfen sah ich unverwandt auf diese unbewegliche
+Linie der Decke, die in eckigen Umrissen über den
+Gliedmaßen ihres Körpers lag ... Wie ein Blitz
+durchzuckte plötzlich ein furchtbarer Gedanke mein Gehirn!
+</p>
+
+<p>
+Nachdem er alle Vorbereitungen beendet, ging er
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+wieder zum Schrank und trank den Rest des Weines
+aus. Er zitterte am ganzen Körper, als er an den Tisch
+trat. Man konnte ihn kaum wiedererkennen – so totenblaß
+war er. Wieder nahm er die Geige. Ich hatte
+sie schon gesehen und wußte, daß sie ein Instrument
+zum Spielen war, aber jetzt erwartete ich von ihr
+etwas Schreckliches, Unheimliches, Wunderbares ...
+und ich fuhr zusammen unter ihren ersten Tönen. Der
+Vater begann zu spielen. Doch die Töne sprangen seltsam
+und unterbrochen durcheinander; auch hielt er jeden
+Augenblick inne, wie um sich an etwas zu erinnern;
+– bis er mit zerquältem Antlitz den Bogen hinlegte
+und so eigentümlich auf das Bett sah. Dort schien
+ihn etwas immer noch zu beunruhigen. Wieder ging er
+zum Bett ... Jede seiner Bewegungen verfolgte ich
+und ließ ihn nicht aus den Augen, obgleich mir das
+Herz stillstand vor Angst.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich begann er eilig nach irgend etwas zu suchen
+– und wieder durchzuckte mich jener furchtbare
+Gedanke. Ich fragte mich: warum wachte sie denn nicht
+auf, als er ihr Gesicht befühlte? Dann sah ich, daß
+er alles zusammenschleppte, was es an Kleidern bei
+uns gab: er nahm die Jacke der Mutter, seinen alten
+Rock und seinen Schlafrock, sogar mein Kleid, das ich
+über eine Stuhllehne geworfen hatte, und mit all dem
+deckte er sie zu, so daß von ihr unter dem Kleiderhaufen
+nichts mehr zu sehen war. Sie lag immer noch regungslos,
+ohne ein Glied zu rühren.
+</p>
+
+<p>
+Sie schlief einen tiefen Schlaf.
+</p>
+
+<p>
+Es war mir, als atmete er freier auf, sobald auch
+diese Arbeit getan war. Jetzt störte ihn nichts mehr,
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+nur irgend etwas beunruhigte ihn noch: er rückte das
+Licht von seinem Platz und setzte es etwas weiter, und
+sich selbst stellte er mit dem Gesicht zur Tür, um vom
+Bett nichts mehr zu sehen. Dann nahm er die Geige
+und wie mit einer Geste der Verzweiflung schlug er
+mit dem Bogen auf die Saiten ... Die Musik begann.
+</p>
+
+<p>
+Doch das war nicht Musik ... Ich erinnere mich
+deutlich jener Nacht, erinnere mich alles dessen, was
+ich damals sah und hörte, und um wieviel mehr noch
+dessen, was einen so erschütternd tiefen Eindruck auf
+mich machte. Nein, das war nicht Musik, wie ich sie
+später zu hören Gelegenheit gehabt habe! Das waren
+nicht Töne einer Geige, sondern es war, als wenn zum
+erstenmal in unserer dunklen Wohnung jemandes
+grauenhafte Stimme donnernd erscholl. Oder waren
+meine Empfindungen falsch, vielleicht krankhaft und
+überreizt, oder hatte das, was ich bereits erlebt
+und gesehn, meine Gefühle auf diese erschütternden
+und erlösungslos qualvollen Eindrücke schon derartig
+vorbereitet – gleichviel! – ich bin trotzdem fest
+überzeugt, daß ich Gestöhn, eines Menschen Schreie
+und Schluchzen hörte. Tiefste Verzweiflung ergoß
+sich in diesen Tönen, und als es schließlich zum furchtbaren
+Finale kam, in dem alles hervorbrach, was es
+an schluchzendem Weh, was es an Qual in zerquälten
+Herzen und an Sehnsucht in hoffnungslosem Sehnen
+gibt, und als all das sich plötzlich wie zu einem einzigen
+Ausdruck vereinigte ... da konnte ich es nicht
+mehr aushalten – ich erbebte, Tränen entströmten
+meinen Augen und mit einem verzweifelten Schrei
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+stürzte ich zum Vater und umklammerte ihn mit meinen
+Armen. Er schrie auf und ließ seine Geige sinken.
+</p>
+
+<p>
+Eine Weile stand er betäubt, wie verloren. Dann
+begannen seine Augen nach allen Seiten hin zu springen
+und zu laufen, als suche er etwas – plötzlich erfaßte
+er die Geige, holte mit ihr über meinem Kopfe
+aus ... noch ein Augenblick, und er hätte mich wohl
+auf der Stelle erschlagen.
+</p>
+
+<p>
+„Papa!“ schrie ich auf, „Papachen!“
+</p>
+
+<p>
+Er erzitterte am ganzen Körper und trat taumelnd
+zwei Schritte zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Ach! Da bist ja auch du noch! So ist noch nicht
+alles aus! So bist du mir noch geblieben!“ schrie er,
+mich an den Schultern mit Wucht emporhebend.
+</p>
+
+<p>
+„Papachen!“ rief ich, in der Luft von ihm gehalten,
+„nicht, nicht! Ich fürchte mich! Ach, bitte, nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Mein Weinen schien Eindruck auf ihn zu machen.
+Er stellte mich vorsichtig wieder hin und sah mich eine
+Weile stumm an, als erkenne er mich – und erinnere
+er sich nach und nach an etwas Vergessenes. Und
+plötzlich war es, als drehe ihn innerlich irgend etwas
+um, als träfe ihn plötzlich ein furchtbarer Gedanke –
+aus seinen trüben Augen brach ein Strom von Tränen,
+und er beugte sich zu mir nieder und begann mir
+aufmerksam ins Gesicht zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+„Papachen!“ bettelte ich angstvoll, „sieh mich nicht
+so an, Papachen! Laß uns von hier fortgehen! Komm
+schnell! Komm, wir wollen laufen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, laufen wir, laufen wir! Es ist Zeit! gehen
+wir, Njetotschka! Schnell, schnell!“ Und eine Hast
+kam über ihn, als sei er erst jetzt drauf verfallen, was
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+er zu tun hatte. Geschäftig sah er sich nach allen
+Seiten um, – ein Taschentuch der Mutter, das auf
+dem Fußboden lag, hob er schnell auf und steckte es
+zu sich, dann erblickte er noch eine Kopfbedeckung und
+auch diese hob er auf und verbarg sie bei sich, als
+rüste er sich zu einer weiten Reise und wolle sich nun
+mit allem versorgen, was er vielleicht brauchen konnte.
+</p>
+
+<p>
+Ich zog mir im Nu mein Kleid an und begann
+gleichfalls in großer Eile zusammenzuraffen, was mir
+für die Reise notwendig erschien.
+</p>
+
+<p>
+„Hast du alles? hast du alles?“ fragte er, mich
+zur Eile antreibend, „ist alles fertig? Dann schnell,
+schnell!“
+</p>
+
+<p>
+Ich machte eilig mein Bündel fertig, warf mir ein
+Tuch um den Kopf und schon waren wir im Begriff,
+das Zimmer zu verlassen, als es mir plötzlich einfiel,
+daß ich ja auch noch das Bild, das an der Wand hing,
+mitnehmen mußte. Der Vater war damit sogleich einverstanden.
+Er war jetzt ganz still, sprach nur flüsternd
+und trieb mich nur zur Eile an. So holten wir beide
+einen Stuhl herbei, stellten auf ihn die Bank – und dann
+erst gelang es uns, als wir endlich mit Mühe und Not
+auf dieses wackelige Gestell hinaufgeturnt waren, das
+Bild zu erreichen. Damit hatten wir alle Vorbereitungen
+getroffen. Er nahm mich an der Hand und wir
+wollten schon gehen – aber plötzlich blieb er stehen.
+Er rieb sich lange die Stirn, als müsse er sich auf
+irgend etwas besinnen, was wir noch vergessen hatten.
+Endlich fiel es ihm ein: er suchte unter dem Kopfkissen
+der Mutter nach dem Schlüsselbund, schloß die Kommode
+auf und begann eilig nach etwas zu kramen und
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+zu wühlen. Endlich kehrte er zu mir zurück und brachte
+mir einiges Geld, das er in der Schatulle gefunden
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Hier, nimm, nimm das, verwahre es,“ flüsterte
+er, „verlier’s nicht, und vergiß es nicht, vergiß es
+nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Er gab mir zuerst das Geld in die Hand, nahm
+es aber wieder zurück und steckte es mir in das Leibchen.
+Ich weiß noch, daß ich zusammenzuckte, als dieses
+Silber meinen Körper berührte, und es war, als begriffe
+ich jetzt zum erstenmal, was Geld ist. Wir waren
+nun wieder fertig zum Aufbruch, doch plötzlich
+hielt er mich nochmals zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Njetotschka!“ – er dachte ersichtlich mit großer
+Anstrengung nach. „Mein Kindchen, ich ... ich vergaß
+... Ja was denn? ... was war’s doch? ... Ich
+weiß nicht mehr ... Ja, ja richtig! da fällt’s mir ein!
+... Komm her, Njetotschka!“
+</p>
+
+<p>
+Er führte mich nach dem Winkel, wo das Heiligenbild
+hing und sagte, ich solle niederknien.
+</p>
+
+<p>
+„Bete, mein Kind, bete! Es wird dir besser sein!
+... Ja, wirklich, es wird besser sein,“ flüsterte er mir
+zu, auf das Heiligenbild deutend, und dabei sah er
+mich so seltsam an. „Bete, Njetotschka, bete, bete!“
+sagte er mit eigentümlich flehender, beschwörender
+Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Ich warf mich auf die Knie, faltete die Hände,
+und, erfüllt von Entsetzen, von Verzweiflung, die sich
+meiner bemächtigt hatten, schlug ich mit der Stirn auf
+den Boden und lag minutenlang wie erstarrt. Ich
+nahm krampfhaft alle meine Gedanken zusammen, sammelte
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+alle meine Gefühle in meinem Gebet – aber
+die Angst überwältigte mich. Ich erhob mich wie gemartert
+von Leid. Ich wollte nicht mehr mit ihm gehen;
+ich fürchtete ihn; ich wollte dableiben. Schließlich brach
+das, was mich so quälte und bedrückte, mit Gewalt aus
+mir hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Papa!“ rief ich unter strömenden Tränen, „aber
+Mama? ... – Was wird mit Mama? Wo ist sie?
+Wo ist meine Mama?“ ...
+</p>
+
+<p>
+Die Tränen erstickten meine Stimme, ich brachte
+nichts mehr hervor.
+</p>
+
+<p>
+Auch er sah mich unter Tränen an. Dann faßte
+er mich an der Hand, führte mich zum Bett, schob den
+draufgeworfenen Haufen Kleider fort und schlug die
+Decke zurück. Mein Gott! Sie lag tot, schon erkaltet
+und erstarrt. Das Gesicht hatte bereits bläuliche Leichenfarbe.
+Da warf ich mich, als wäre mir jede Empfindung
+abhanden gekommen, über sie und umklammerte
+ihre Leiche. Der Vater stellte mich auf die
+Knie.
+</p>
+
+<p>
+„Verneige dich vor ihr, Kind!“ sagte er, „nimm
+Abschied von ihr ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich neigte mich tief. Der Vater tat es zugleich
+mit mir ... Er war unheimlich bleich; seine Lippen
+bewegten sich und schienen zu flüstern.
+</p>
+
+<p>
+„<em>Ich</em> war es <em>nicht</em>, Njetotschka, <em>ich nicht</em>,“
+sagte er zu mir, mit zitternder Hand auf die Leiche
+deutend. „Hörst du, <em>ich nicht</em>: <em>ich bin nicht
+schuld daran</em>. Behalt das, Njetotschka.“
+</p>
+
+<p>
+„Papa, laß uns jetzt gehen,“ flüsterte ich angstvoll.
+„Es ist Zeit!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+„Ja, jetzt ist’s Zeit, schon längst Zeit!“ sagte er
+schnell, faßte fest meine Hand und beeilte sich, das
+Zimmer zu verlassen. „So, jetzt brechen wir auf!
+Gott sei Dank, Gott sei Dank, jetzt hat alles ein Ende!“
+</p>
+
+<p>
+Wir stiegen die Treppen hinunter. Der verschlafene
+Hausknecht öffnete uns die Tür, während er uns
+etwas mißtrauisch musterte und sich fragen mochte,
+weshalb der Vater sich so beeilte, daß ich ihm kaum
+nachkam. Wir gingen unsere Straße bis zum Ende und
+gelangten auf den Kai des Kanals. In der Nacht war
+Schnee gefallen, der lag weiß auf der Straße, und
+es schneite auch jetzt noch in feinen Flöckchen. Es war
+kalt; mich fror bis ins Mark und ich lief dem Vater
+nach, mich krampfhaft an seinem Frackschoß festhaltend.
+Die Geige hatte er unterm Arm und immer wieder
+blieb er stehen, um das Futteral, das zurückglitt, nach
+vorn zu ziehen.
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen etwa eine Viertelstunde. Da bog er
+vom Trottoir auf den abschüssigen Weg, der zum Kanal
+hinabführt, und setzte sich auf den letzten Prellstein.
+Zwei Schritte von uns war ein Durchgang.
+Ringsum war keine Menschenseele zu sehen. Gott!
+Als erlebte ich es noch in diesem Augenblick, so deutlich
+erinnere ich mich jenes furchtbaren Gefühls, das
+mich dort plötzlich erfaßte! Endlich also ging das in
+Erfüllung, wovon ich schon ein Jahr lang geträumt:
+wir hatten unser armseliges Heim verlassen ... Aber
+war es denn das, was ich ersehnt, was ich erträumt
+und erhofft, was meine Kinderphantasie sich aufgebaut,
+wenn ich mir das Glück desjenigen, den ich so unkindlich
+liebte, vorzustellen versucht hatte? Doch am meisten
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+quälte mich plötzlich der Gedanke an die Mutter.
+Warum hatten wir sie verlassen? fragte ich mich, –
+so ganz allein? Warum hatten wir ihren Leib wie
+eine unnütze Sache dort liegen lassen? Und ich weiß
+noch, das quälte und beunruhigte mich mehr als alles
+andere.
+</p>
+
+<p>
+„Papachen,“ begann ich, unfähig, meine qualvolle
+Sorge länger zu ertragen, „Papachen!“
+</p>
+
+<p>
+„Was willst du?“ fragte er rauh.
+</p>
+
+<p>
+„Warum haben wir, Papa, warum haben wir
+Mama dort gelassen? Warum verließen wir sie?“
+fragte ich weinend. „Papachen! Laß uns nach Haus
+zurückkehren! Laß uns jemand zu ihr rufen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja!“ rief er plötzlich auffahrend und er erhob
+sich vom Prellstein, als sei ihm etwas Neues eingefallen,
+das alle seine Zweifel aufhob. „Ja, Njetotschka,
+so geht das nicht: wir müssen zur Mama zurückkehren;
+sie hat es dort kalt! Geh zu ihr, Njetotschka, dort ist
+ein Licht, du weißt doch! Fürchte dich nicht, ruf jemand
+zu ihr und dann komm wieder her zu mir. Geh
+allein, ich werde dich hier erwarten ... Ich werde
+nirgendwohin fortgehen ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich ging, aber kaum war ich wieder auf dem
+Trottoir, als plötzlich ein Etwas durch mein Herz fuhr
+... Jäh blickte ich mich um und da – sah ich ihn laufen,
+schon auf der anderen Seite, sah ihn von mir fortlaufen!
+Er verließ mich also, verließ mich in diesem
+Augenblick! Ich schrie aus aller Kraft und lief ihm
+in furchtbarer Angst nach. Ich war außer Atem, er
+aber lief immer schneller, immer schneller ... ich verlor
+ihn schon aus den Augen. Ich fand seinen Hut,
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+den er im Laufen verloren hatte. Ich hob ihn auf
+und lief wieder weiter. Ich rang nach Atem und
+meine Füße wollten mir versagen. Ich hatte die Empfindung,
+daß etwas Schreckliches mit mir geschah: es
+schien mir die ganze Zeit, daß das ein Traum sei, und
+zuweilen hatte ich sogar dasselbe Gefühl wie in einem
+Traum, wenn mir träumte, daß ich von irgend jemand
+fortlief, meine Füße aber brechen wollten, während
+meine Verfolger mich bereits erreichten – und ich
+selbst jäh in einen Abgrund stürzte. Qual wollte mich
+zerreißen: er tat mir so leid, mein Herz schrie nach
+ihm und es wollte brechen, als ich mir vorstellte, wie
+er lief, so ohne Mantel, ohne Hut, und noch dazu von
+mir fort, von mir, seinem geliebten Kinde ... Ich
+wollte ihn schließlich nur erreichen, um ihn noch einmal
+mit meinen Armen fest zu umschlingen und ihn
+zu küssen und ihm zu sagen, daß er mich nicht fürchten
+solle: um ihn meiner Liebe zu versichern, ihn zu beruhigen,
+um ihm zu sagen, daß ich ihm ja nicht weiter
+nachlaufen wolle, wenn er das nicht wünsche, daß
+ich vielmehr allein zur Mutter zurückgehen werde. Ich
+sah, wie er in eine Straße einbog. Als ich gleichfalls
+an diese Ecke kam und auch in die Straße einbog,
+sah ich ihn noch einmal, doch weit vor mir, dahinlaufen
+... Dann verließen mich meine Kräfte: ich
+fing an zu weinen, zu schreien. Ich weiß noch, daß ich
+während des Laufens mit zwei Männern zusammenstieß,
+die mitten auf dem Trottoir stehenblieben und
+verwundert uns beiden nachschauten.
+</p>
+
+<p>
+„Papa! Papachen!“ rief ich zum letztenmal, doch
+plötzlich glitt ich aus auf dem Trottoir und fiel hin,
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+gerade vor dem Portal eines Hauses. Ich fühlte, wie
+Blut mein ganzes Gesicht überströmte. Im nächsten
+Augenblick verlor ich die Besinnung. – – – –
+</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p class="noindent">
+Ich erwachte in einem weichen, warmen Bett und
+erblickte vor mir freundliche, liebevolle Gesichter, die
+über mein Erwachen sehr froh zu sein schienen. Ich
+sah eine alte kleine Frau mit einer Brille auf der
+Nase, einen großen Herrn, der mit tiefem Mitleid auf
+mich blickte, dann eine wunderschöne junge Dame und
+zuletzt einen grauen alten Herrn, der meine Hand am
+Gelenk festhielt und auf seine Uhr sah. Ich war zu einem
+neuen Leben erwacht. Der eine von den beiden Männern,
+die mir begegnet waren, während ich dem Vater nachlief,
+war Fürst H. gewesen, und gerade vor dem Portal
+seines Hauses war ich hingefallen. Als man nach
+vieler Mühe endlich erfuhr, wer ich war, entschloß sich
+der Fürst, der meinem Vater das Billett geschickt hatte
+und nun nicht wenig bestürzt war über den seltsamen
+Zufall, mich in sein Haus zu nehmen und mich zusammen
+mit seinen Kindern zu erziehen. Nachforschungen
+nach dem Vater ergaben, daß er irgendwo außerhalb
+der Stadt angehalten und festgenommen worden war,
+wobei er sich in einem Anfall von Tobsucht wie rasend
+gewehrt hatte. Er wurde in die Irrenabteilung eines
+Hospitals geschafft, wo er nach zwei Tagen starb.
+</p>
+
+<p>
+Er starb, weil ein solcher Tod die natürliche
+Folge seines Lebens war. Er mußte so sterben, als
+alles, was ihn im Leben bis dahin aufrechterhalten
+hatte, mit einemmal zusammengebrochen, als es wie ein
+Phantom, wie ein Traum vergangen war, wie ein körperloses
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+leeres Phantasiegebilde. Er starb, als auch
+seine letzte Hoffnung verschwunden, als wie mit einem
+einzigen Schlage vor seinen eigenen Augen das ganze
+Werk seiner Einbildung zerspellt worden war und
+ihm plötzlich alles das klar zur Erkenntnis kam, womit
+er sich sein Leben lang betrogen und worauf er sich
+sein Leben lang gestützt hatte. Die Wahrheit blendete
+ihn mit ihrem unerträglichen Licht, und das, was
+Irrtum gewesen war, wurde nun auch für ihn selbst Lüge.
+An jenem Abend hörte er die Kunst eines wirklichen
+Genies, das unmittelbar zu ihm von sich sprach und
+das ihn zugleich auf ewig verurteilte. Mit dem letzten
+Ton, der den Saiten der Geige des großen S–z
+entflog, tat sich vor ihm das ganze Geheimnis der
+Kunst auf, und das Genie, das ewig junge, mächtige
+und echte, erdrückte ihn mit seiner Wahrheit. Als
+ob alles, was ihn sein ganzes Leben lang nur in geheimen,
+ungreifbaren Qualen gepeinigt, alles, was
+ihn bis dahin nur wie ein Spuk geschreckt und in seinen
+Träumen unfühlbar, unerhaschbar gequält hatte,
+was sich ihm, wenn auch nur von Zeit zu Zeit, ins
+Bewußtsein gedrängt, doch wovor er stets mit Entsetzen
+geflohen war, wovor er sich hinter der Lüge
+seines ganzen Lebens zu verschanzen gesucht, und alles,
+was ihm sein Vorgefühl gesagt, aber was er bis dahin
+nicht hatte einsehen wollen, – als ob all das plötzlich
+strahlend hell vor ihm aufleuchtete und sich seinen
+Augen offenbarte, die sich bis dahin so eigensinnig geweigert
+hatten, das Licht als Licht anzuerkennen, und
+die Finsternis als Finsternis! Doch die Wahrheit war
+unerträglich für seine Augen, die zum erstenmal in all
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+das hineinsahen, was gewesen, in das, was war und in
+das, was ihn erwartete: sie blendete ihn und verbrannte
+seine Vernunft. Sie traf ihn jäh wie ein Blitz,
+und sie zündete auch wie ein Blitz. So war denn das
+geschehen, was er sein Leben lang mit Bangen und
+Schauder erwartet hatte. Das Richtschwert, das
+schon immer über seinem Kopf gehangen, als habe
+er zeit seines Lebens in unsagbaren Qualen jeden
+Augenblick erwartet, daß es auf ihn fallen werde,
+– nun endlich war es wirklich gefallen! Der Schlag
+war tödlich. Er wollte fliehen vor dem Gericht über
+sich, aber es gab für ihn kein Wohin, denn seine letzte
+Hoffnung war verschwunden, seine letzte Entschuldigung
+ihm genommen. Diejenige, deren Leben so viele
+Jahre auf ihm gelastet, die ihn angeblich nicht leben
+ließ, die, nach deren Tode er seinem blinden Glauben
+nach plötzlich aufleben, ja gewissermaßen auferstehen
+würde, – die war nun tot. Jetzt war er endlich allein,
+nichts bedrückte ihn mehr, nichts fesselte ihn mehr:
+jetzt war er endlich frei! Da wollte er zum letztenmal
+in krampfhafter Verzweiflung über sich ein Urteil fällen,
+wollte wie ein unparteiischer Richter ohne Ansehen
+der Person unerbittlich streng und gerecht über
+sich selbst Gericht halten. Doch sein entkräfteter Bogen
+war unfähig, seinen innersten musikalischen Willen
+zu gestalten ... Und in dem Augenblick, in dem er das
+erkannte, ergriff der Wahnsinn, der schon zehn Jahre
+lang auf ihn gelauert hatte, von ihm Besitz.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-4">
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+IV.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Meine Genesung machte nur langsame Fortschritte;
+doch auch dann noch, als ich schon nicht mehr
+zu Bett lag, waren meine Sinne noch lange Zeit wie
+gelähmt und ich konnte nicht begreifen, was nun
+eigentlich mit mir geschehen war. Es gab Augenblicke,
+in denen es mir schien, daß ich träumte, und ich weiß
+noch, wie sehr ich wünschte, daß alles Geschehene
+wirklich nur ein Traum gewesen sein möge! Wenn ich
+abends einschlief, dann hoffte ich, plötzlich wieder in
+unserer ärmlichen Dachstube zu erwachen und den Vater
+und die Mutter zu erblicken ... Allmählich aber
+wurde mir doch meine neue Lage klarer und ich begriff
+nach und nach, daß ich ganz allein zurückgeblieben
+war und bei fremden Menschen lebte. Da fühlte
+ich es denn zum erstenmal, daß ich eine Waise war.
+</p>
+
+<p>
+Wißbegierig begann ich, all das Neue, das mich
+nun umgab, zu betrachten und zu beobachten. Anfangs
+erschien mir das Ganze so seltsam und märchenhaft,
+alles verwirrte mich: sowohl die neuen Gesichter
+wie die neue Lebensart und die Gemächer des alten
+fürstlichen Hauses, die mir noch heute so deutlich vor
+Augen stehen, – so groß und hoch und prächtig, aber
+auch so düster und dunkel waren sie, daß ich, ich weiß
+es noch wie heute, im Ernst fürchtete, durch irgendeinen
+langen, langen Saal gehen zu müssen, in dem
+ich mich, wie mir schien, vollständig zu verlieren glaubte.
+Meine Krankheit war noch nicht ganz überstanden und
+deshalb waren auch meine Eindrücke so lastend, wie es
+bei meiner Stimmung und dem Düster-Feierlichen dieses
+Hauses wohl eben nicht anders sein konnte. Hinzukam,
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+daß eine mir selbst unklare Sehnsucht und Bangigkeit
+in meinem kleinen Kinderherzen immer größer
+wurde. Mit Verwunderung blieb ich zuweilen vor
+einem Gemälde, einem Spiegel, einem Kamin von
+kunstvoller Arbeit stehen, oder vor einer Statue, die
+sich gleichsam nur zu dem Zweck in einer tiefen Nische
+versteckt hatte, um von dort aus mich besser beobachten
+zu können oder mich irgendwie zu erschrecken. – Ich
+blieb stehen und dann wußte ich plötzlich selbst nicht
+mehr, weshalb ich stand, was ich wollte, woran ich
+dachte, und nach diesem Erwachen befiel mich immer
+eine gewisse Angst und Verwirrung und mein Herz
+schlug laut.
+</p>
+
+<p>
+Von den Menschen, die ich während meiner Krankheit
+außer dem alten kleinen Hausarzt hin und wieder
+zu sehen bekam, machte ein schon ältlicher Herr den
+größten Eindruck auf mich. Er war immer ernst, aber
+zugleich war er so gütig, und er konnte mich bisweilen
+mit so tiefem, aufrichtigem Mitleid ansehen! Sein
+Gesicht war mir bald das liebste von allen. Gern
+hätte ich mit ihm gesprochen, aber ich wagte nicht anzufangen:
+er sah fast immer niedergeschlagen aus,
+auch sprach er wenig, meist nur ein paar Worte, und
+niemals erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. Das
+war der Fürst H., der mich gefunden und in seinem
+Hause aufgenommen hatte. Als ich mich schon auf
+dem Wege der Besserung befand, wurden seine Besuche
+seltener. Und als er, wie es hieß, zum letztenmal
+kam, brachte er mir Konfekt, ferner ein Kinderbuch
+mit Bildern mit und küßte und bekreuzte mich und
+bat mich, doch nicht mehr so traurig zu sein. Während
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+er mir tröstend zuredete, sagte er mir, daß ich bald
+eine Freundin haben werde, ein kleines Mädchen wie
+ich, seine Tochter Katjä, die vorläufig noch in Moskau
+sei. Darauf sprach er mit einer ältlichen Französin,
+der Erzieherin seiner Kinder, und mit dem mich
+pflegenden Mädchen, wies auf mich und verließ uns.
+Seitdem sah ich ihn ganze drei Wochen nicht. Der
+Fürst lebte in seinem Hause sehr einsam. Die größere
+Hälfte des Hauses bewohnte die Fürstin, doch sah sie
+ihren Mann oft wochenlang nicht ein einziges Mal.
+Mit der Zeit fiel es mir auf, daß auch die Dienstboten,
+daß überhaupt alle Hausbewohner selten von
+ihm sprachen, als hätte er gar nicht im Hause gelebt.
+Alle achteten ihn und augenscheinlich liebten sie ihn
+sogar, indessen schienen sie ihn doch für so etwas wie
+einen Sonderling zu halten. Und es war, als wisse
+auch er, daß er sehr seltsam erschien, irgendwie unähnlich
+den anderen Menschen, und als vermeide er es
+deshalb nach Möglichkeit, sich zu zeigen ... Ich werde
+an einer anderen Stelle noch auf ihn zurückkommen
+und sehr viel und recht ausführlich von ihm erzählen
+müssen.
+</p>
+
+<p>
+Eines Morgens zog man mir reine, feine Wäsche
+an und ein schwarzes wollenes Kleid mit weißem
+Trauerbesatz – ein Kleid, auf das ich mit trauriger
+Verwunderung sah; mein Haar wurde sorgfältig gebürstet,
+und dann führte man mich aus den oberen
+Zimmern nach unten in die Gemächer der Fürstin.
+Ich stand wie gebannt, als die mich Führende schließlich
+meine Hand freigab: eine solche Pracht, solch
+einen Reichtum ringsum hatte ich noch nie gesehen.
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+Doch dieser Eindruck währte nur einen Augenblick und
+ich erbleichte, als ich die Stimme der Fürstin vernahm,
+die mich näher herantreten hieß. Schon während
+des Ankleidens hatte ich gefühlt und gefürchtet,
+daß mich irgendeine Qual erwartete, obschon ich selber
+nicht begreife, wie ich auf diesen Gedanken kam. Überhaupt
+trat ich mit einem seltsamen Mißtrauen in die
+Welt meines neuen Lebens und dieses Mißtrauen
+brachte ich ohne Ausnahme allem entgegen, was an
+mich an Neuem herankam.
+</p>
+
+<p>
+Die Fürstin war sehr freundlich zu mir und küßte
+mich. Da wagte ich denn, sie etwas weniger befangen
+anzusehen. Sie war dieselbe schöne Dame, die ich
+schon an meinem Bett gesehen hatte, als ich aus meiner
+Bewußtlosigkeit zu mir kam. Ich küßte ihre
+Hand, zitterte aber dabei doch so sehr, daß ich auf ihre
+Fragen keine einzige Antwort zu geben vermochte –
+ich konnte mich einfach nicht so weit sammeln. Sie
+ließ mich auf einem niedrigen Taburett neben sich
+hinsetzen. Ich glaube, dieser Platz war schon im voraus
+für mich bestimmt. Allem Anschein nach hatte
+die Fürstin nur den einen Wunsch, mich mit ganzer
+Seele an sich zu schließen, mich ganz zu gewinnen und
+mir vollständig die Mutter zu ersetzen. Ich dagegen
+konnte nicht begreifen, daß ich bereits in ihrer Gunst
+stand, durch mein Verhalten aber in ihrer Einschätzung
+nichts gewann. Man gab mir ein schönes Bilderbuch
+und sagte, ich solle die Bilder betrachten. Die Fürstin
+selbst schrieb an einem Brief, hielt aber hin und
+wieder im Schreiben inne, um verschiedene Fragen
+an mich zu stellen, auf die ich jedoch nichts Gescheites
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+zu antworten wußte – ich war verwirrt, stockte, verlor
+den Faden und wagte nicht, von neuem anzufangen.
+Kurz, obschon mein früheres Leben ein recht ungewöhnliches
+gewesen war und die größere Rolle das
+Schicksal in ihm gespielt hatte, das die Wege der Eltern,
+man kann wohl sagen, mystisch verbunden, und
+obgleich es überhaupt viel Interessantes und Unerklärliches,
+ja sogar etwas Phantastisches gehabt, so erschien
+ich doch in diesem Augenblick – es wirkte ordentlich
+komisch inmitten der ganzen melodramatischen
+Situation, in der ich mich befand – als ein ganz gewöhnliches,
+schüchternes oder eingeschüchtertes und genau
+genommen sogar dummes Kind. Namentlich letzteres
+gefiel der Fürstin äußerst wenig, und ich glaube,
+sie hatte mich sehr bald satt, was natürlich nur meine
+Schuld war. Gegen drei Uhr kamen die ersten Gäste
+– es war der Empfangstag der Fürstin – und sie
+war nun wieder sehr freundlich und lieb zu mir. Auf
+die Fragen der Fremden nach mir, antwortete sie: oh,
+das sei ein sehr interessanter Fall – und dann erzählte
+sie auf französisch alles Weitere. Während ihrer Erzählung
+sahen mich alle an, man schüttelte die Köpfe,
+Ausrufe des Bedauerns wurden laut. Ein junger
+Herr richtete seine Lorgnette auf mich und musterte
+mich eingehend; ein wohlriechender alter kleiner Herr
+wollte mich küssen, ich aber saß erbleichend und errötend,
+mit niedergeschlagenen Augen, wagte mich
+nicht zu rühren und zitterte am ganzen Körper. Mein
+Herz schlug dumpf und tat mir zum Brechen weh. Ich
+versetzte mich in mein früheres Leben, in unsere ärmliche
+Dachkammer, ich dachte an den Vater, an unsere
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+langen, schweigsamen Abende, an die Mutter, und als
+ich an die Mutter dachte – da schwammen meine
+Augen plötzlich in Tränen und die Kehle war mir wie
+zugeschnürt. Ach, und ich wäre so gern fortgelaufen,
+verschwunden, allein geblieben ... Dann, als der
+letzte Besuch gegangen war, wurde das Gesicht der
+Fürstin wieder merklich strenger. Sie sah mich jetzt
+nichts weniger als freundlich an, sprach trocken zu mir,
+indes ihre durchdringend blickenden fast schwarzen
+Augen auf mir ruhten, die bisweilen wohl eine Viertelstunde
+lang auf mich gerichtet waren, und ihre fest
+zusammengepreßten schmalen Lippen mich ganz besonders
+einschüchterten. Am Abend wurde ich nach oben
+zurückgeführt. Ich fieberte im Einschlafen, erwachte in
+der Nacht aus wirren Träumen, weinte und war so
+unglücklich! Am nächsten Tage aber begann wieder dasselbe
+Spiel, d. h. man brachte mich wieder zur Fürstin.
+Schließlich wurde es ihr langweilig, ihren Gästen von
+mir zu erzählen, und den Gästen – ihr Mitleid und
+Bedauern zu äußern. Überdies war ich auch noch
+ein so gewöhnliches Kind, „ohne jegliche Naivität“,
+wie, ich weiß noch, die Fürstin sich in einem Gespräch
+mit einer älteren Dame unter vier Augen auf deren
+Frage ausdrückte, ob es sie denn wirklich nicht langweile,
+sich mit mir „abzugeben“? Da wurde ich denn
+am Abend fortgeführt und brauchte nicht wieder zu ihr
+zurückzukehren. Ich hatte meine Rolle in ihrer Gunst
+ausgespielt. Übrigens durfte ich überall hingehen und
+mich aufhalten wo ich wollte. Und ich konnte auch
+nicht stillsitzen: eine tiefe, krankhafte Unruhe, die wohl
+aus dem Heimweh und einer unbestimmten Sehnsucht
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+irgendwohin entstand, peinigte mich und ich war froh,
+wenn ich endlich von allen fortgehen konnte, nach unten
+in die großen Räume. Ich weiß noch, ich hätte so
+gern mit den Dienstboten gesprochen, aber ich fürchtete,
+sie könnten böse werden, und so schwieg ich lieber
+und blieb einsam. Mein liebster Zeitvertreib war:
+mich irgendwo in einem Winkel zu verstecken, wo es
+möglichst unauffällig war – hinter einem Stuhl oder
+einem anderen Gegenstand, der mich vollständig verbarg
+– und mich dann dort gleich in die Erinnerung
+zu versenken und über alles, was mit mir geschehen
+war, nachzudenken. Doch sonderbar! – Das Ende
+meines Zusammenseins mit den Eltern, diese furchtbaren
+letzten Tage unseres gemeinsamen Lebens, die
+hatte ich wie vergessen, wenigstens als lebendige Vorgänge
+lebten sie nicht mehr in mir. Freilich wußte ich
+noch alles – entsann mich der Nacht und der Geige
+und des Vaters, ich wußte, wie ich ihm das Geld verschafft
+hatte; aber alle diese Vorgänge, sagen wir, begreifen,
+sie mir erklären – das konnte ich nicht ...
+Es wurde mir nur noch schwerer ums Herz, und wenn
+ich in der Erinnerung zu jenem Augenblick gelangte,
+in dem der Vater mich vor der toten Mutter niederknien
+hieß, dann erschauerte ich plötzlich vor Kälte. Ich
+zitterte und hätte schreien mögen. Das Atmen wurde
+mir schwer, so eng wurde mir die Brust und so laut
+pochte mein Herz, daß ich schließlich erschrocken aus
+meinem Winkel hinausstrebte und wieder nach oben
+lief. Übrigens – ich sagte, daß man mich allein ließ,
+doch ist das nicht ganz wörtlich zu nehmen: ich wurde
+die ganze Zeit mit peinlicher Gewissenhaftigkeit beaufsichtigt,
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+denn der Fürst hatte es so angeordnet, daß
+man mir volle Freiheit geben, jedoch mich gleichzeitig
+nie aus den Augen lassen solle. Es fiel mir auf, daß
+von Zeit zu Zeit jemand von den Dienstboten oder
+von den anderen, die im Hause lebten, in das Zimmer
+sah, wo ich mich gerade aufhielt, und dann wieder
+fortging, ohne mir ein Wort zu sagen. Diese Aufmerksamkeit
+wunderte mich und zum Teil beängstigte
+sie mich sogar. Ich begriff nicht, warum man das tat.
+So dachte ich mir denn, man wolle mich zu irgendeinem
+Zweck aufbewahren und dann später Gott weiß
+was mit mir angeben. Ich weiß noch, deshalb wollte
+ich auch das Haus immer weiter durchsuchen, um
+ein Versteck auszukundschaften, in dem ich mich im
+Notfall verbergen konnte.
+</p>
+
+<p>
+So verirrte ich mich einmal und kam ganz unvermutet
+ins Treppenhaus. Da war alles aus weißem
+Marmor, die Treppe selbst mit Läufern bedeckt und
+mit Blumen und Vasen geschmückt. Auf jedem Absatz
+der Treppe saßen je zwei große Menschen, die sehr
+bunt gekleidet waren, in Handschuhen und blendend
+weißen Halsbinden. Ich sah sie in höchster Verwunderung
+an und konnte trotz eifrigen Nachdenkens nicht
+begreifen, warum sie dort saßen, schwiegen und nur
+einander ansahen, sonst aber nichts taten.
+</p>
+
+<p>
+An diesen einsamen Streifzügen durch das fürstliche
+Palais fand ich mit der Zeit immer mehr Gefallen.
+Aber es gab da noch einen anderen Grund,
+weshalb ich so gern aus den oberen Zimmern fortlief.
+Dort oben lebte eine alte Tante des Fürsten, ein altes
+Fräulein, das so gut wie nie das Haus, ja fast nicht
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+einmal ihre Zimmer verließ. Diese alte Dame war
+womöglich die wichtigste Person im Hause und ich
+fürchtete sie sehr. Im Verkehr mit ihr beobachteten alle
+eine geradezu feierliche Etikette und sogar die Fürstin,
+die so stolz und selbstbewußt auf alle herabsah,
+mußte genau zweimal wöchentlich, an bestimmten Tagen,
+der Tante persönlich ihren Besuch machen. Sie
+kam gewöhnlich vormittags; es entspann sich ein trockenes
+Gespräch, das häufig von feierlichem Schweigen
+unterbrochen wurde, während die Alte ein Gebet flüsterte
+oder den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten
+ließ. Der Besuch dauerte so lange, wie die Tante es
+gerade für gut befand: sie erhob sich dann von ihrem
+Platz und küßte die Fürstin auf den Mund, womit sie
+zu verstehen gab, daß die Fürstin sie nun verlassen
+konnte. Anfangs hatte die Fürstin diese Tante sogar
+jeden Tag besuchen müssen, doch war in der Folge auf
+Wunsch der alten Dame eine Änderung und Erleichterung
+erfolgt: und zwar brauchte die Fürstin hinfort an den
+übrigen fünf Tagen der Woche nicht mehr persönlich
+zu erscheinen, sondern mußte sich nur an jedem Morgen
+durch einen Diener nach dem Befinden des alten
+fürstlichen Fräuleins erkundigen. Überhaupt verbrachte
+sie ihr Leben fast wie in einer Klosterzelle. Mit
+fünfunddreißig Jahren hatte sie sich auch wirklich einmal
+in ein Kloster zurückgezogen und siebzehn Jahre
+daselbst verlebt, jedoch nicht den Schleier genommen.
+Dann hatte sie das Kloster wieder verlassen und war
+nach Moskau gezogen, um bei ihrer Schwester, einer
+verwitweten Gräfin L., deren Gesundheit mit jedem
+Jahr mehr zu wünschen übrigließ, zu wohnen und sich
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+auch mit der älteren Schwester, einer gleichfalls unverheirateten
+Fürstin H., zu versöhnen, nachdem sie
+etwa zwanzig Jahre lang in Feindschaft mit ihr gelebt
+hatte. Man sagt aber, die drei alten Damen sollen
+keinen Tag in Eintracht verbracht haben, tausendmal
+seien sie schon im Begriff gewesen, auseinanderzugehen,
+was sie dann aber doch nicht taten, da schließlich
+eine jede von ihnen den beiden anderen unentbehrlich
+geworden war, eben weil die Streitigkeiten
+die Langeweile und damit die trüben Stunden des Alterns
+verscheuchten. Doch ungeachtet dieses ihres wenig
+anziehenden Lebens und des feierlichen Stumpfsinns,
+der in ihrem Moskauer Palais herrschte, hielt
+es doch die ganze Moskauer Gesellschaft für ihre
+Pflicht, die Besuche bei den drei alten Damen fortzusetzen.
+Man sah in ihnen einfach die Hüterinnen aller
+aristokratischen Überlieferungen und Gesetze des alten
+Bojarentums. Die Gräfin soll übrigens eine prächtige
+Frau gewesen sein, wenigstens lebte sie noch nach
+ihrem Tode in vielen guten Erinnerungen fort. Petersburger,
+die nach Moskau kamen, machten bei ihnen
+ihre ersten Besuche. Wer in ihrem Hause empfangen
+wurde, der wurde überall empfangen. Nach dem Tode
+der Gräfin trennten sich die unverheirateten Schwestern:
+die ältere blieb in Moskau und trat dort ihren
+Teil von der Hinterlassenschaft der kinderlosen Gräfin
+an, und die jüngere, die zeitweilige Klosterfrau,
+siedelte nach Petersburg zu ihrem Neffen, dem Fürsten
+H., über. Dafür mußten die beiden Kinder des
+Fürsten, Katjä und Alexander, nach dem Tode der
+Gräfin in Moskau bei der Großtante bleiben, zu
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+ihrer Zerstreuung und zu ihrem Trost in der Einsamkeit.
+Die Fürstin, die ihre Kinder leidenschaftlich
+liebte, durfte kein Wort dawider reden und mußte für
+die ganze Zeit der Trauer auf ihre Kinder verzichten.
+Ich vergaß zu sagen, daß das ganze Haus noch Trauer
+trug als ich hinkam, aber die Frist nahte sich schon
+ihrem Ende.
+</p>
+
+<p>
+Die alte kleine Dame kleidete sich nur in Schwarz
+und die Kleider waren alle von gewöhnlichem schwarzem
+Wollenstoff. Dazu trug sie fein gefältelte und gesteifte
+weiße Krägelchen, die ihr das Aussehen einer
+Stiftsdame verliehen. Der Rosenkranz kam nie aus
+ihrer Hand, und feierlich fuhr sie regelmäßig zum
+Morgengottesdienst, fastete nahezu täglich, empfing
+verschiedene höhere Geistliche und andere ehrbare Personen
+und las in frommen Büchern. Sie führte, mit
+einem Wort, ein richtiges Klosterleben. Deshalb
+herrschte auch in den oberen Zimmern eine unheimliche
+Stille; nicht einmal eine Tür durfte kreischen: die
+Alte hatte ein Gehör wie eine fünfzehnjährige und ließ
+sogleich nach der Ursache des geringsten Geräusches
+fragen. Deshalb sprachen dort alle nur flüsternd und
+schlichen auf den Fußspitzen, ja die arme Französin,
+auch ein altes Dämchen, mußte sogar auf ihr geliebtes
+Schuhwerk verzichten – auf Stiefel mit hohen
+Absätzen! Denn: Absätze waren verpönt. Zwei Wochen
+nach meiner Aufnahme im Hause, ließ die alte
+Dame sich plötzlich nach mir erkundigen: wer ich sei,
+was ich tue, wie ich ins Haus gekommen usw., usw.
+Ihre Wißbegier wurde sogleich mit größter Diensteifrigkeit
+befriedigt. Darauf erschien der zweite Abgesandte
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+bei der Französin, um zu fragen, warum die
+Prinzessin mich bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen
+habe. Da war die Aufregung groß: mir wurde
+schnell das Haar gekämmt, wurden Gesicht und Hände
+gewaschen, obschon sie ganz rein waren, man zeigte mir,
+wie ich mich verbeugen, wie ich die Hand küssen mußte,
+auch sollte ich freundlich dreinschauen und munter sprechen
+– kurz, man brachte mich vollständig aus dem
+Gleichgewicht. Darauf machte sich von uns aus eine
+Abgesandte auf den Weg, um die Prinzessin zu fragen,
+ob sie nicht das Waisenkindchen zu sehen wünsche?
+Die Antwort lautete zunächst verneinend, doch gab sie
+dann eine andere Stunde an: man solle mich am nächsten
+Tage nach der Morgenandacht zu ihr bringen. Ich
+schlief die ganze Nacht nicht und man sagte mir später,
+ich hätte viel phantasiert, wohl weil ich im Traum
+schon zu ihr gegangen sei, denn ich habe sie aus Gott
+weiß welchem Grunde immer wieder um Verzeihung
+gebeten. Endlich erfolgte meine Vorstellung. Ich erblickte
+eine hagere, kleine Dame, die auf einem riesengroßen
+Lehnstuhle saß. Sie nickte mir zu und setzte sich
+die Brille auf, um mich besser betrachten zu können.
+Ich weiß noch, daß ich ihr gar nicht gefiel. Sie machte
+die Bemerkung, ich sei ganz verwildert, verstände weder
+die Hand zu küssen, noch zu knixen. Es folgten Fragen,
+auf die ich keine Silbe zu antworten wußte; als
+sie mich aber nach meinen Eltern zu fragen anfing, da
+begann ich zu weinen. Das war der alten Dame sehr
+unangenehm. Übrigens versuchte sie mich zu trösten
+und sagte mir, ich solle auf Gott vertrauen. Darauf
+fragte sie, wann ich zum letztenmal in der Kirche gewesen
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+sei, und da ich ihre Frage kaum verstand –
+denn in der Beziehung wußte ich noch so gut wie
+nichts – geriet sie in Entsetzen über meine bisherige
+Erziehung. Sie ließ die Fürstin zu sich bitten. Es
+folgte eine ernste Beratung, die damit endete, daß man
+beschloß, mich sogleich am nächsten Sonntag in die
+Kirche zu führen. Bis dahin wollte die alte Dame für
+mich beten. Zugleich sagte sie, man solle mich wegbringen,
+ich hätte einen sehr ungünstigen Eindruck auf
+sie gemacht. Das war freilich kein Wunder, anders
+hätte es wohl gar nicht sein können. Aber ihr Mißfallen
+war doch schon mehr als augenscheinlich. Am
+selben Tage noch ließ sie sagen, ich sei zu unartig,
+man höre mich im ganzen Hause – während ich die Zeit
+über mäuschenstill gesessen hatte. Natürlich hatte es
+der alten Dame nur so geschienen. Indes erfolgte diese
+Bemerkung auch am nächsten Tage. Zum Unglück ließ
+ich noch eine Tasse fallen, die auf dem Parkett zerschlug.
+Darüber gerieten die Französin und alle Dienerinnen
+fast außer sich, und ich wurde sogleich ins entlegenste
+Zimmer gebracht, wohin mir alle händeringend
+und kopfschüttelnd folgten.
+</p>
+
+<p>
+Ich erinnere mich nicht mehr, wie die Sache schließlich
+auslief. Jedenfalls lag hier der andere Grund,
+weshalb ich mich so viel lieber unten in den großen
+Räumen aufhielt, denn dort, das wußte ich, beunruhigte
+ich keinen Menschen.
+</p>
+
+<p>
+Einmal saß ich unten in einem Saal ganz allein.
+Ich saß, das Gesicht wieder in den Händen vergraben,
+den Kopf gesenkt, und rührte mich nicht. Ich weiß
+nicht, wie viele Stunden darüber vergingen. Ich dachte
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+und dachte vergeblich, denn mein junger unreifer Verstand
+konnte meinen Gram nicht bewältigen und es
+wurde mir immer schwerer ums Herz und mein Kummer
+wurde immer größer. Da vernahm ich plötzlich
+eine leise Stimme über mir:
+</p>
+
+<p>
+„Was fehlt dir, meine Arme?“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah auf: es war der Fürst. Aus seinem gütigen
+Gesicht sprach soviel tiefes Mitleid, so aufrichtige
+Teilnahme! Aber ich sah ihn so unglücklich, so traurig
+an, daß seine großen blauen Augen feucht wurden.
+</p>
+
+<p>
+„Arme kleine Waise!“ sagte er leise und streichelte
+meinen Kopf.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, nicht Waise! Nein!“ stammelte ich –
+und ich stöhnte, denn alles erhob sich in mir und ich
+wollte mich gleichsam losringen von etwas Ungreifbarem,
+das mich zu umklammern drohte. Ich glitt vom
+Stuhl, hielt seine Hand umfaßt, küßte sie, daß meine
+Tränen sie benetzten, und wiederholte nur flehend:
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, nicht Waise! Nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Kind, – was hast du nur, meine arme
+Kleine? Was fehlt dir, Njetotschka?“
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist Mama? Wo ist meine Mama?“ rief ich
+laut weinend, unfähig, meinen Kummer noch länger
+zu verbergen – und kraftlos sank ich vor ihm auf die
+Knie. „Wo ist meine Mama? Sag’ mir, wo ist meine
+Mama?“
+</p>
+
+<p>
+„Verzeih mir, mein Kind! ... Ach, du arme Kleine,
+da habe ich sie daran erinnert ... Mein Gott, was
+habe ich getan! Komm, komm mit mir, Njetotschka,
+komm!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+Er faßte mich an der Hand und führte mich mit
+sich fort. Er war sichtlich erschüttert. Wir gelangten
+in einen Raum, in dem ich noch nie gewesen war.
+</p>
+
+<p>
+Es war das Betzimmer. Draußen herrschte bereits
+Dämmerung. Im Licht der Lämpchen strahlten
+hell die goldenen Einfassungen und die Edelsteine der
+Heiligenbilder. Aus all diesem Glanz und Gold schauten
+dunkel und matt die Antlitze der Heiligen. Alles
+erinnerte hier so wenig an die anderen Zimmer, war
+so unähnlich dem, was ich bis dahin überhaupt gesehen
+hatte, war so geheimnisvoll und ernst, daß ich
+bestürzt stillstand und der Schreck sich meines Herzens
+bemächtigte. Meine Nerven waren ja ohnehin schon
+in krankhafter Erregung.
+</p>
+
+<p>
+Der Fürst ließ mich vor dem Muttergottesbilde
+niederknien und blieb neben mir stehen.
+</p>
+
+<p>
+„Bete, Kind, bete hier; oder laß uns gemeinsam
+beten,“ sagte er mit leiser, stockender Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Doch ich konnte nicht beten: ich war zu bestürzt, zu
+erschrocken – mir fielen die Worte des Vaters ein,
+in jener letzten Nacht, an der Leiche der Mutter, und
+ich bekam einen neuen Nervenanfall. Ich mußte wieder
+das Bett hüten, und während dieser zweiten Periode
+meiner Krankheit wäre ich fast gestorben. Die
+Ursache dieser Verschlimmerung war folgende:
+</p>
+
+<p>
+Eines Morgens schlug ein bekannter Name an
+mein Ohr: S–z. Eines von den Dienstmädchen hatte
+den Namen an meinem Bett genannt. Ich fuhr zusammen:
+die Erinnerungen stürzten über mich, und
+sinnend, träumend und mich quälend lag ich in Fieberphantasien,
+ich weiß nicht wie viele Stunden. Als ich
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+erwachte, mußte es schon sehr spät sein: im Zimmer
+war es dunkel. Die Nachtlampe war erloschen, das
+Mädchen, das im Zimmer gesessen hatte, war nicht da.
+Plötzlich hörte ich ferne Musik. Bisweilen verstummten
+die Töne ganz, dann aber wurden sie wieder deutlicher
+und deutlicher, als näherten sie sich mir. Ich weiß
+nicht, welch ein Gefühl sich meiner bemächtigte, noch
+welch eine Absicht in meinem fiebernden Kopf plötzlich
+entstand. Ich erhob mich, stieg aus dem Bett –
+woher ich die Kraft dazu nahm, weiß ich nicht – zog
+mir schnell mein Trauerkleidchen an und verließ tastend
+das Zimmer. Im zweiten und dritten Zimmer traf ich
+auch keinen Menschen. Endlich erreichte ich den Korridor.
+Die Musik wurde lauter und lauter. In der
+Mitte des Korridors war die Treppe; auf diesem Wege
+hatte ich mich immer nach unten in die großen Säle
+geschlichen. Die Treppe war hell erleuchtet; unten
+hörte ich Schritte. Ich verbarg mich in einem Winkel,
+um nicht gesehen zu werden, und bei der ersten
+Möglichkeit schlich ich nach unten in den großen Korridor.
+Die Musik tönte aus dem angrenzenden großen
+Saal; von dorther kam auch Geräusch und ein Stimmengewirr,
+als hätten sich an tausend Menschen dort
+versammelt. Die große Tür, die aus dem Korridor
+in den Saal führte, war verhängt mit doppelten purpurroten
+Sammetportieren. Ich hob die erste auf, die
+auf der Korridorseite hing, und stellte mich zwischen
+beide Portieren. Mein Herz schlug so stark, daß ich
+mich kaum auf den Füßen hielt. Nach ein paar Minuten
+hatte ich meine Aufregung so weit bezwungen, daß
+ich schon wagte, den Rand der anderen Portiere, die
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+an der Saalseite der Tür hing, ein wenig umzubiegen
+... Mein Gott! Dieser riesengroße düstere Saal, den
+am Tage zu betreten ich mich kaum getraut hatte,
+flimmerte jetzt im Licht von tausend Kerzen. Wie ein
+Meer von Licht strahlte es mir entgegen, so daß meine
+Augen, die sich an das Dunkel gewöhnt hatten, im ersten
+Moment bis zum Schmerz geblendet waren. Aromatische
+Luft schlug mir wie ein heißer duftender Wind
+entgegen. Eine Unmenge Menschen wogte dort durcheinander
+und alle sahen, wie mir schien, froh, heiter,
+glücklich aus. Die Damen hatten so schöne, so helle
+Toiletten, überall sah ich vor Vergnügen leuchtende
+Augen. Ich stand wie bezaubert. Doch war es mir,
+als hätte ich das alles schon irgendwo, irgendwann
+wie im Traum gesehen ... Mir fielen die Stunden
+der Dämmerung ein, unsere Dachstube, das hohe Fenster,
+tief unten die Straße mit den strahlenden Laternen,
+die Fenster des gegenüberliegenden Hauses mit
+den roten Vorhängen, die Equipagen vor dem Portal,
+der Hufschlag und das Schnaufen der stolzen Pferde,
+das Rufen und Durcheinander auf der Straße, die
+Schattenbilder hinter den Fenstern auf den leuchtend
+roten seidenen Vorhängen, und dazu eine gedämpfte
+ferne Musik ... Also hier war dieses Paradies! fuhr
+es mir durch den Sinn, hierher also wollte ich mit dem
+armen Vater gehen ... So war denn das alles kein
+Traum? ... Ja, ich hatte das alles in meinen Träumen
+schon gesehen! ... Hellauf lohte meine Phantasie,
+deren Feuer von der Krankheit bereits doppelt geschürt
+sein mochte, und Tränen einer geradezu schrankenlosen
+Seligkeit rollten mir über die Wangen. Ich
+<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
+suchte mit den Augen den Vater in dieser Gesellschaft:
+„der muß hier sein, er ist gewiß hier,“ dachte ich und
+mein Herz schlug so vor Erwartung und Spannung,
+daß mir der Atem stockte ... Die Musik verstummte,
+doch gleich darauf erhob sich ein großes Getöse, und
+dann ging es durch den ganzen Saal wie ein Geflüster.
+Ich betrachtete voll Neugier und Unruhe die Gesichter,
+die ich sehen konnte, und bemühte mich, jemanden zu
+erkennen. Plötzlich ging eine neue große Erregung
+durch den Saal. Ich erblickte auf einer Erhöhung
+einen großen, hageren Greis. Sein bleiches Gesicht
+lächelte, er verbeugte sich etwas steif und grüßte nach
+allen Seiten. In der Hand hatte er eine Geige. Tiefes
+Schweigen trat ein, es war, als hielten alle den
+Atem an, alle sahen auf den Greis, alle schienen etwas
+zu erwarten. Da nahm er die Geige, hob den Arm
+und berührte mit dem Bogen die Saiten. Die Musik
+begann, und ich fühlte, wie etwas mir das Herz zusammenpreßte.
+Mit einem Gefühl von unsagbarer Angst
+und mit zurückgehaltenem Atem horchte ich auf diese
+Töne: etwas Bekanntes erklang in meinen Ohren, als
+hätte ich das schon irgendwo gehört: – und wie eine
+Vorahnung stieg es in mir auf, wie eine Erwartung
+von etwas Furchtbarem, etwas Entsetzlichem, das sich
+auch in meinem Herzen entscheiden sollte. Schon klang
+die Geige lauter, schneller und greller folgten die
+Töne. Da klang es bereits wie eines Menschen Gestöhn,
+darauf wie klagendes Schluchzen, wie jemandes
+vergebliches Flehen, doch die Menge blieb stumm,
+während die Töne über sie hinklangen – dann stöhnten
+sie auf und versagten wie in Verzweiflung. Immer
+<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
+bekannter, immer bekannter wurde mir etwas im
+Herzen. Aber das Herz weigerte sich noch, daran zu
+glauben ... Ich biß die Zähne zusammen, um nicht
+aufzustöhnen vor Schmerz, ich klammerte mich an die
+Portiere, um nicht hinzufallen ... Ich schloß die
+Augen, und schlug sie plötzlich wieder auf: ich glaubte
+nichts anderes, als daß es ein Traum sei, aus dem ich
+in einem furchtbaren, mir aber schon bekannten Augenblick
+erwachen werde, und ich sah wie im Traum
+wieder jene letzte Nacht, ich hörte dieselben Töne ...
+Ich schlug wieder die Augen auf, um mich zu überzeugen
+– sah die Menschenmenge ... Nein, das waren
+andere Menschen, andere Gesichter ... Und doch
+war es mir, als ob alle ganz wie ich etwas erwarteten,
+ganz wie ich sich in tiefer Sehnsucht quälten, wie
+ich diesen Tönen der Verzweiflung entgegenschreien
+wollten: doch aufzuhören, nicht ihre Seelen zu zerreißen
+– aber das zitternde Beschwören und Flehen der
+Töne wurde nur noch herzzerreißender, verzweifelter
+und haltloser ... bis plötzlich der letzte furchtbare,
+rasende Schrei ertönte und mir fast die Sinne nahm
+... Kein Zweifel! das war derselbe, derselbe Schrei!
+Ich erkannte ihn, ich hatte ihn schon einmal gehört, wie
+damals in jener Nacht durchbohrte er mich. „Der
+Vater! der Vater!“ durchzuckte es mich wie ein Blitz,
+„er ist hier, das ist er, er ruft mich, das ist seine
+Geige!“ Und wie ein Stöhnen erhob es sich aus
+dieser Menschenmasse, ohrenbetäubendes Getöse erschütterte
+den Saal. Lautes, verzweifeltes Weinen
+brach aus meiner Brust. Ich hielt es nicht mehr aus,
+ich schlug die Portiere zurück und stürzte in den Saal.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
+„Papa! Papa! das bist du! Wo bist du?“ rief
+ich wie von Sinnen.
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß nicht, wie ich zu ihm hinkam: man ließ
+mich durch, man trat vor mir auseinander, und ich
+warf mich mit einem gequälten Schrei ihm entgegen
+– ich glaubte, den Vater zu umarmen ... Plötzlich
+sah ich, daß mich jemandes lange, hagere Hände erfaßten
+und hoch in die Luft hoben. Jemandes schwarze
+Augen sahen mich an und schienen mich verbrennen zu
+wollen mit ihrem Feuer. Ich starrte ihn an: „Nein!
+Das ist nicht der Vater! Das ist sein Mörder!“ fuhr
+es mir durch den Sinn. Da geriet ich so außer mir,
+eine so rasende Verzweiflung erfaßte mich – und
+plötzlich schien es mir, daß über mir ein Lachen erklang
+und dieses Lachen vom ganzen Saal widerhallte,
+wie ein einziger brausender Beifall ... Ich
+verlor das Bewußtsein.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-5">
+V.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Das war die zweite und letzte Periode meiner
+Krankheit.
+</p>
+
+<p>
+Als ich wieder zu Bewußtsein erwachte, erblickte
+ich das Gesicht eines Kindes vor mir, eines Mädchens
+von ungefähr meinem Alter, und unwillkürlich
+streckte ich ihr die Hände entgegen. Schon der erste
+Blick auf diese Altersgenossin hatte meine Seele wie
+mit einem Glücksgefühl, wie mit einer süßen Vorahnung
+erfüllt. Es war ein ideal schönes Gesichtchen,
+eine geradezu ergreifende, eine strahlende Schönheit
+– von jener Schönheit, vor der man plötzlich stehen
+<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
+bleibt, wie durchbohrt in süßer Verwirrung, wie erschrocken
+vor Entzücken, und der man dankbar ist allein
+schon für ihr Vorhandensein, dafür, daß unsere Augen
+sie schauen dürfen, und daß sie uns begegnet ist. Es war
+die Tochter des Fürsten, Katjä, die während meiner
+Krankheit aus Moskau zurückgekehrt war. Sie lächelte
+mir zu, als sie meine unwillkürliche Bewegung sah,
+und meine geschwächten Nerven erbebten bei diesem
+Lächeln in süßem Entzücken.
+</p>
+
+<p>
+Die kleine Prinzeß rief sogleich ihren Vater, der
+keine zwei Schritte vom Bett mit dem Arzt sprach.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, gottlob! Endlich! Nun, Gott sei Dank!“
+rief der Fürst, meine Hand erfassend, und sein Gesicht
+verriet aufrichtige Freude. „Das freut mich, das
+freut mich, das ist doch ein Glück!“ fuhr er schnell zu
+sprechen fort – es war seine Art, schnell, wenn auch
+meist leise zu sprechen. „Und dies kleine Mädchen
+hier ist meine Katjä, mein Töchterchen. Nun könnt ihr
+Freundschaft schließen – jetzt hast du eine Spielgefährtin.
+Aber du mußt nun auch schnell gesund werden,
+Njetotschka. Du böses kleines Mädchen, wie wir
+uns um dich geängstigt haben! ...“
+</p>
+
+<p>
+Meine Genesung machte auch wirklich sehr schnelle
+Fortschritte. Nach ein paar Tagen konnte ich schon
+das Bett verlassen. Jeden Morgen kam Katjä an mein
+Bett, immer mit einem Lächeln oder gar Lachen, das
+nicht von ihren Lippen wich. Auf ihr Erscheinen wartete
+ich wie auf ein Glück. Ich hätte sie so gern geküßt!
+Aber das mutwillige Prinzeßchen kam immer
+nur auf ganz kurze Zeit, sie konnte fast überhaupt
+nicht stillsitzen. Ewige Unruhe, laufen, springen, lachen
+<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
+und tollen, daß man es im ganzen Hause hörte –
+das war für sie einfach Lebensbedingung. Deshalb
+erklärte sie mir auch gleich am ersten Tage, daß es
+sie furchtbar langweile, bei mir zu sitzen: sie werde
+daher nur sehr selten zu mir kommen, und auch
+das nur deshalb, weil ich ihr leid täte – da ginge es
+eben nicht anders, denn gar nicht kommen, das ginge
+wiederum auch nicht. Aber wenn ich gesund sein
+würde, dann sollten wir – so versprach sie – sehr
+gut miteinander auskommen. Es war denn auch jeden
+Morgen ihr erstes Wort:
+</p>
+
+<p>
+„Nu, bist du jetzt gesund?“
+</p>
+
+<p>
+Da ich aber immer noch mager und bleich war
+und das Lächeln sich nur schüchtern, mit zaghafter
+Angst gepaart, in meinem traurigen Gesicht hervorwagte,
+so runzelte das Prinzeßchen die Stirn, schüttelte
+mißbilligend das Köpfchen und ihr kleiner Fuß
+stampfte oft ungeduldig auf.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich sagte dir doch gestern, daß du heute gesund
+sein sollst! Was? Man gibt dir wohl nichts zu
+essen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wenig,“ antwortete ich schüchtern, denn ich
+fürchtete mich schon vor ihr. Ich hatte nur den einen
+Wunsch: ihr zu gefallen, und deshalb fürchtete ich für
+jedes Wort, für jede Bewegung. Ihr Kommen entzückte
+mich mit jedem Tage mehr. Solange sie bei
+mir saß, ließ ich sie nicht aus den Augen, und wenn
+sie fortgegangen war, sah ich immer noch dorthin, wo
+sie zuletzt gestanden oder gesessen hatte. Ja, in der
+Nacht sah ich sie sogar schon in meinen Träumen. Im
+Wachen aber, wenn sie nicht bei mir war, ersann ich
+<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
+ganze Gespräche mit ihr, war ihr Freund, tollte,
+spielte und weinte mit ihr, wenn man uns schalt oder
+für irgendeine besondere Tollheit bestrafen wollte.
+Kurz, ich dachte an sie und sah sie im Traum und
+träumte von ihr, als wäre ich in sie verliebt gewesen.
+Ich wollte um jeden Preis bald gesund werden und
+schnell zunehmen, wie sie es wünschte. Wenn sie zuweilen
+morgens in mein Zimmer gestürmt kam und
+ich dann wieder ihre ungeduldige Frage hörte: „Bist
+noch nicht gesund? Ach Gott, immer noch bist du
+so mager!“ dann wurde ich ängstlich, als wäre dies
+meine Schuld. Es konnte aber auch schwerlich
+etwas Ernsteres geben, als die Verwunderung
+Katjäs darüber, daß ich nicht binnen vierundzwanzig
+Stunden genas, worüber sie sich bereits allen Ernstes
+zu ärgern anfing.
+</p>
+
+<p>
+„Nu, dann – willst du, ich bringe dir heute eine
+Pastete?“ sagte sie mir einmal. „Iß sie, davon wirst
+du bald wieder dick.“
+</p>
+
+<p>
+„Bring,“ sagte ich, froh darüber, daß ich sie nochmals
+zu sehen bekommen würde.
+</p>
+
+<p>
+Nach der Erkundigung, ob ich schon gesund sei,
+setzte sich das Prinzeßchen gewöhnlich mir gegenüber
+und begann mich mit ihren dunklen Augen ernsthaft zu
+betrachten. Und auch jedesmal, wenn sie mir etwas
+sagte oder mich fragte, betrachtete sie mich zuvor von
+oben bis unten mit der naivsten Verwunderung. Aber
+unsere Unterhaltung kam nie so recht in Gang. Ich
+fürchtete mich vor Katjä und ihren schroffen Ausfällen,
+während ich anderseits fast verging vor Verlangen,
+mit ihr zu sprechen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
+„Warum schweigst du?“ begann sie, nachdem wir
+uns eine Zeitlang stumm betrachtet hatten.
+</p>
+
+<p>
+„Was macht dein Papa?“ fragte ich, froh über
+die plötzlich gefundene Frage, mit der ich nun jedesmal
+ein Gespräch anfangen konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Nichts. Es geht ihm gut. Ich habe heute zwei
+Tassen Tee getrunken, nicht eine. Und du wieviel?“
+</p>
+
+<p>
+„Eine.“
+</p>
+
+<p>
+Wieder Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Heute hätte mich Falstaff beinahe gebissen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ist das ein Hund?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ein Hund. Hast du ihn denn noch nicht gesehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich hab’ ihn wohl nicht gesehen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich wußte nichts mehr zu sagen und das Prinzeßchen
+sah mich wieder mit Verwunderung an.
+</p>
+
+<p>
+„Sag? Gefällt es dir, wenn ich mit dir spreche?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, sehr: komm öfter, wenn du kannst.“
+</p>
+
+<p>
+„Das hat man mir auch gesagt, daß es dich freuen
+werde, wenn ich zu dir komme, aber du, steh schneller
+auf. Die Pastete werde ich dir heute ganz bestimmt
+bringen ... Aber warum schweigst du denn immer?“
+</p>
+
+<p>
+„So.“
+</p>
+
+<p>
+„Du denkst wohl viel?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich denke viel.“
+</p>
+
+<p>
+„Mir aber sagt man immer, daß ich viel spreche
+und wenig denke. Ist es denn schlecht, wenn man
+spricht?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Ich bin froh, wenn du sprichst.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! ich werde Madame Léotard fragen, die
+weiß alles. Aber woran denkst du denn?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
+„Ich denke an dich,“ sagte ich nach kurzem Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Und das macht dir Spaß?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann liebst du mich wohl?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich liebe dich noch nicht. Du bist so mager!
+Wart’, ich werde dir gleich die Pastete bringen! Nu,
+adieu!“
+</p>
+
+<p>
+Und das Prinzeßchen, das mich fast im Fluge abküßte,
+war schon verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Essen brachte sie mir auch wirklich die
+Pastete. Sie kam hereingelaufen, ausgelassen wie ein
+Kobold, lachend und jauchzend vor Freude, daß sie
+mir etwas zu essen brachte, was mir zu essen verboten
+worden war.
+</p>
+
+<p>
+„Iß, iß mehr, iß recht viel, das ist nämlich meine
+eigene Pastete, ich habe selbst nicht gegessen. Nu,
+adieu!“ Und schon war sie fort.
+</p>
+
+<p>
+Ein anderes Mal kam sie wie ein Wirbelwind ins
+Zimmer, gleichfalls nach dem Essen. Ihre schwarzen
+Locken waren wie vom Sturm verwirrt, ihre Augen
+blitzten und die Bäckchen glühten wie Purpur: sie
+mußte nach ihren Lernstunden schon etliche Stunden
+gelaufen und gesprungen sein.
+</p>
+
+<p>
+„Kannst du Federball spielen?“ rief sie atemlos,
+übersprudelnd und in größter Eile.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte ich, und es tat mir schrecklich leid,
+daß ich nicht „ja“ sagen konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, wie du bist! Nu, werd schnell gesund, dann
+<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
+zeig’ ich es dir. Ich kam nur deshalb. Ich spiele jetzt
+mit Madame Léotard. Adieu, man wartet auf mich!“
+</p>
+
+<p>
+Endlich durfte ich das Bett verlassen, obschon ich
+mich noch immer schwach und kraftlos fühlte. Mein
+erster Gedanke war, mich jetzt nie mehr von Katjä zu
+trennen. An ihr war etwas, was mich unwiderstehlich
+zu ihr hinzog. Ich konnte mich kaum sattsehen an
+ihr, worüber Katjä sich sehr zu verwundern schien.
+Dieser Drang zu ihr war so stark und ich gab mich
+diesem neuen Gefühl so leidenschaftlich hin, daß es
+von ihr natürlich nicht unbemerkt bleiben konnte, und
+anfangs erschien es ihr denn auch unerhört seltsam.
+Ich weiß noch, einmal während eines gemeinsamen
+Spiels hielt ich es plötzlich nicht mehr aus und warf
+mich ihr an den Hals, um sie zu küssen. Sie befreite
+sich aus meiner Umarmung, erfaßte meine Hände –
+und mit zusammengezogenen Brauen, als hätte ich sie
+beleidigt, fragte sie mich:
+</p>
+
+<p>
+„Was fällt dir ein? Warum küßt du mich?“
+</p>
+
+<p>
+Ich fuhr schuldbewußt zusammen bei ihrer schnellen
+Frage und sagte kein Wort. Die Prinzeß zuckte
+mit ihren kleinen Schultern, zum Zeichen ihres Nichtbegreifenkönnens
+(dieses Achselzucken war ihr schon zur
+Angewohnheit geworden), dann preßte sie überernst ihre
+kleinen weichen Lippen zusammen, ließ die Spielsachen
+liegen und setzte sich auf den Diwan, von wo aus sie
+mich sehr lange betrachtete – wobei sie anscheinend
+tief und ernsthaft über etwas nachdachte, ganz als habe
+sie da ein schwieriges Problem zu lösen, das plötzlich
+in ihren Gedanken aufgetaucht war. Es war dies
+gleichfalls so ihre Angewohnheit in allen unklaren Fällen.
+<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
+Ich aber konnte mich an diese schroffen Äußerungen
+ihres Charakters lange nicht gewöhnen.
+</p>
+
+<p>
+In der ersten Zeit beschuldigte ich nur mich allein
+und dachte, daß ich wirklich sehr viele Eigenheiten haben
+mußte. Aber wenn dies auch zum Teil zutreffen
+mochte, so quälte ich mich doch in einer gewissen Ungewißheit
+mit der einen Frage: warum ich mit Katjä
+nicht gleich Freundschaft schließen und ihr ein für allemal
+gefallen konnte? Meine Mißerfolge in der Beziehung
+kränkten mich bis zum körperlichen Schmerz und
+ich hätte über jedes unbedachte Wort Katjäs, über jeden
+mißtrauischen Blick von ihr weinen mögen. Mein
+Leid wuchs nicht nur mit jedem Tage, sondern sogar
+mit jeder Stunde, denn mit Katjä ging alles sehr schnell.
+Schon nach ein paar Tagen merkte ich, daß sie mich gar
+nicht mehr leiden konnte, ja daß ich ihr schon verhaßt
+wurde. In der Seele dieses kleinen Mädchens geschah
+alles schnell, schroff, – manch einer würde sagen brutal,
+und vielleicht mit Recht, wenn in allen diesen blitzschnellen
+Veränderungen eines geraden, naiv-offenherzigen
+Charakters nicht zugleich eine angeborene, eine gewisse
+vornehme Grazie gewesen wäre. Unsere Entfremdung
+begann damit, daß zuerst Zweifel in ihr aufstiegen
+und aus den Zweifeln wurde Verachtung, und zwar
+wie ich glaube, deshalb, weil ich kein einziges Spiel zu
+spielen verstand. Die Prinzeß liebte zu tollen, zu laufen,
+sie war stark, lebhaft, gewandt, ich aber – gerade das
+Gegenteil. Ich war noch von der Krankheit her schwach,
+war still und nachdenklich: Kinderspiele machten mir
+kein Vergnügen. Mit einem Wort, mir fehlten alle Eigenschaften,
+deren ich bedurft hätte, um Katjä zu gefallen.
+<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
+Außerdem konnte ich es nicht ertragen, andere
+mit mir unzufrieden zu sehen: dann wurde ich traurig,
+verlor allen Mut und hatte erst recht nicht mehr die
+Kraft, das Verfehlte wieder gutzumachen und den
+schlechten Eindruck zu verwischen, – kurz, ich verfiel
+dem Unglück ganz. Das war nun etwas, was Katjä
+nicht begreifen konnte. Anfangs schien es sie eher
+zu verblüffen, sie sah mich dann, wie es ihre Art war,
+mit stummer Verwunderung an, nachdem sie sich, wie es
+zuweilen vorkam, eine ganze Stunde mit mir abgemüht
+hatte, um mich z. B. das Reifenspiel zu lehren, das ich
+immer noch nicht begreifen wollte. Und da ich gleich
+traurig wurde und Tränen mir in die Augen traten, so
+wandte sie sich, nachdem sie über mich nachgedacht und
+doch weder durch ihr Denken noch durch mich selbst
+einen Aufschluß erhalten hatte, einfach von mir ab und
+spielte allein weiter, ohne mich noch zum Mitspielen
+aufzufordern, ja sogar ohne überhaupt noch mit mir
+zu sprechen, – und das nicht nur an diesem einen
+Tage, sondern gleich ein paar Tage lang. Von diesem
+Verhalten war ich so betroffen, daß ich ihre Geringschätzung
+kaum ertragen konnte. Meine neue Einsamkeit
+wurde nun fast noch bedrückender als die frühere
+in der Dachstube, und ich begann wieder zu trauern
+und zu grübeln: wieder bedrückten dunkle Gedanken
+mein Herz.
+</p>
+
+<p>
+Madame Léotard, die uns beaufsichtigte, bemerkte
+schließlich diese Veränderung in unserem Verhalten zueinander.
+Und da ihr natürlich mein fremdes Wesen zuerst
+auffiel, vor allem meine Verlassenheit, so wandte
+sie sich ohne weiteres an die Prinzeß und schalt sie
+<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
+sehr, weil sie mit mir nicht umzugehen verstünde. Die
+Prinzeß runzelte die Stirn, zuckte mit den Schultern
+und erklärte darauf, sie könne mit mir nichts anfangen,
+zu spielen verstände ich nicht, ich dächte immer Gott
+weiß woran, sie aber werde lieber auf den Bruder
+warten, der bald aus Moskau zurückkehren müsse, dann
+könne sie mit ihm ganz anders spielen, mit ihm sei es
+viel lustiger.
+</p>
+
+<p>
+Doch Madame Léotard begnügte sich nicht mit dieser
+Antwort, sie hielt ihr vor, daß sie mich allein sitzen
+lasse und nicht bedenke, daß ich noch krank wäre, deshalb
+könne ich auch nicht so lustig und ausgelassen sein
+wie sie, Katjä, was übrigens auch viel besser sei, denn
+das, was Katjä anrichte, sei unerhört, sie habe dies
+verbrochen und jenes angestiftet und vorvorgestern
+hätte die Bulldogge sie deshalb zur Strafe fast aufgefressen.
+Kurz, Madame Léotard schalt ohne Nachsicht
+und schloß ihre Strafpredigt damit, daß sie sie zu mir
+schickte, mit der Weisung, sich sogleich mit mir zu
+versöhnen.
+</p>
+
+<p>
+Katjä hatte die Standrede mit großer Aufmerksamkeit
+angehört, als sage man ihr nun wirklich etwas
+Neues, und es schien ihr einzuleuchten, daß in diesem
+Neuen etwas richtig und gerecht war. Sie ließ ihren
+Reifen, den sie durch das Zimmer gerollt hatte, liegen,
+trat auf mich zu, sah mich ernst an und fragte etwas
+ungläubig:
+</p>
+
+<p>
+„Willst du denn spielen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte ich schnell, noch erschrocken von
+der Standrede der Madame Léotard.
+</p>
+
+<p>
+„Was willst du denn?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
+„Ich werde hier sitzen, denn mir fällt das Laufen
+schwer. Nur sei mir deshalb nicht böse, Katjä, ich
+habe dich sehr lieb.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun gut, dann werde ich allein spielen,“ sagte
+sie langsam, gleichsam überlegend und als wundere sie
+sich darüber, wenn sich jetzt beinahe herausstellte, daß
+sie an gar nichts schuld wäre. „Nun denn, adieu, ich
+werde dir nicht böse sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Adieu,“ sagte ich, stand auf und reichte ihr die
+Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht wollen wir uns küssen?“ fragte sie
+nach kurzem Nachdenken – wohl in der Erinnerung
+an jenen Kußzwischenfall und zugleich, um mir etwas
+Angenehmes zu erweisen und dadurch schneller den
+Zwist mit mir beizulegen.
+</p>
+
+<p>
+„Wie du willst,“ sagte ich in scheuer Hoffnung.
+</p>
+
+<p>
+Sie trat an mich heran und küßte mich todernst,
+ohne auch nur im geringsten zu lächeln. Und als sie so
+alles getan, was man von ihr verlangte, ja sogar noch
+mehr als das, nur um einem armen Mädchen ein Vergnügen
+zu bereiten, da lief sie zufrieden und froh von
+mir fort, und bald hörte man wieder in allen Zimmern
+ihr Lachen und Tollen, bis sie sich erschöpft und
+atemlos auf einen Diwan warf, um sich zu erholen und
+neue Kräfte zu sammeln. Dann sah sie mich aber doch
+die ganze Zeit mißtrauisch an, da ich ihr offenbar wunderlich
+erschien. Es war, als hätte sie gern mit mir
+gesprochen, als hätte sie gern gewisse Fragen, die ihr
+in bezug auf mich durch den Sinn fuhren, beantwortet,
+aber ich weiß nicht, weshalb sie diesmal nicht fragte
+und sich bezwang.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
+Katjä lernte gewöhnlich morgens. Madame Léotard
+unterrichtete sie nur in der französischen Sprache.
+Der ganze Unterricht bestand im Wiederholen der
+Grammatik und im Lesen der Fabeln von Lafontaine.
+Man unterrichtete sie deshalb nur in diesem Fach, weil
+es ohnehin schon schwer gewesen war, sie dazu zu bewegen,
+wenigstens zwei Stunden täglich zu lernen. Auf
+diesen Ausgleich war sie schließlich nur auf Bitten des
+Vaters eingegangen, und auf Befehl der Mutter. Ihr
+Versprechen aber erfüllte sie sehr gewissenhaft. Sie
+war außerordentlich begabt, sie begriff leicht und behielt
+das Begriffene. Aber auch in der Art ihres Lernens
+hatte sie ihre kleinen Eigenheiten: wenn sie z. B.
+irgend etwas einmal nicht sofort begriff, dann begann
+sie gleich selbst nachzudenken, denn eher tat sie alles
+Mögliche, als daß sie andere um eine Erklärung dessen
+bat, was sie sich selbst mit eigenem Verstande nicht
+zu erklären vermochte, – sie schien sich dann einfach
+zu schämen. Ja, es soll sogar vorgekommen sein, daß
+sie sich tagelang mit einer Frage gequält und über sich
+selbst geärgert hatte, weil sie sie nicht ohne fremde
+Hilfe beantworten konnte: denn nur im äußersten Fall,
+wenn sie schon ganz müde geworden war vom Denken,
+ging sie zu Madame Léotard und bat sie, ihr die Sache
+zu erklären, der ihr eigener Verstand noch nicht gewachsen
+war. Und so war sie in allem. Sie hatte schon
+viel nachgedacht, was man ihr freilich auf den ersten
+Blick gar nicht zugetraut hätte. Und doch konnte sie
+mitunter noch furchtbar naiv sein: zuweilen stellte sie
+für ihr Alter unglaublich dumme Fragen, und zuweilen
+wiederum verrieten ihre Antworten die spitzfindigste
+<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
+Schlauheit und das weitsichtigste, feinste Verständnis.
+</p>
+
+<p>
+Da ich mit der Zeit auch zu lernen anfangen konnte,
+so nahm mich Madame Léotard eines Tages gewissermaßen
+ins Verhör, und nachdem sie festgestellt, daß
+ich schon sehr gut las, aber noch sehr schlecht schrieb,
+erklärte sie, es sei nun die höchste Zeit und die größte
+Notwendigkeit, daß ich mit dem Französischen anfinge.
+</p>
+
+<p>
+Ich widersprach natürlich nicht und am nächsten
+Vormittage setzten wir uns, Katjä und ich, an den
+Lerntisch zu beiden Seiten von Madame Léotard. Unglücklicherweise
+war Katjä gerade an diesem Tage so
+zerstreut und auch schwerfällig im Begreifen, daß Madame
+Léotard sie gar nicht wiedererkannte. Ich aber
+lernte im Nu das französische Alphabet, denn ich hatte
+nur den einen Wunsch, es Madame Léotard recht zu
+machen. Sie aber ärgerte sich die ganze Zeit über
+Katjä und zum Schluß wurde sie so böse, daß sie sie
+heftig schalt:
+</p>
+
+<p>
+„Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel,“ sagte sie,
+auf mich weisend, „ein noch halbkrankes Kind lernt
+zum erstenmal und hat in einer Stunde zehnmal mehr
+begriffen als Sie. Schämen Sie sich!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie weiß mehr als ich?“ fragte Katjä verwundert,
+„aber sie lernt doch erst das Alphabet!“
+</p>
+
+<p>
+„In wieviel Stunden haben Sie das Alphabet gelernt?“
+</p>
+
+<p>
+„In drei.“
+</p>
+
+<p>
+„Und sie in einer einzigen. Folglich begreift sie
+dreimal schneller als Sie und wird Sie im Nu überholen.
+Das sehen Sie doch ein?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
+Katjä dachte einen Augenblick nach und plötzlich
+wurde sie feuerrot. Überhaupt war Erröten, Beschämtsein
+– das erste bei ihr, gleichviel ob es sich
+um einen Mißerfolg, einen Ärger, um eine Kränkung
+handelte oder ob man sie bei einer Unart ertappte und
+schalt. Diesmal traten ihr fast Tränen in die Augen,
+aber sie schwieg und sah mich nur einmal so an, als
+wolle sie mich verbrennen mit ihrem Blick. Da
+erriet ich, was sie empfand. Die Arme war über alle
+Maßen stolz und ehrgeizig!
+</p>
+
+<p>
+Als wir Madame Léotard verließen, versuchte ich,
+ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, um ihren Ärger
+zu verscheuchen und zu zeigen, daß es mich nichts anging,
+was die Französin sagte, aber Katjä schwieg, als
+hätte sie mich überhaupt nicht gehört.
+</p>
+
+<p>
+Etwa nach einer Stunde kam sie in das Zimmer,
+wo ich mit einem Buch saß, jedoch ohne zu lesen, denn
+ich dachte die ganze Zeit nur an Katjä – ich war doch
+noch zu bestürzt und erschrocken bei dem Gedanken, der
+nicht von mir wich, daß Katjä nun wieder nicht mit
+mir sprechen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Sie sah mich finster an, setzte sich wie gewöhnlich
+auf den Diwan und betrachtete mich eine gute halbe
+Stunde. Länger hielt ich es nicht aus: ich hob den Kopf
+und sah sie fragend an.
+</p>
+
+<p>
+„Kannst du tanzen?“ fragte sie mich darauf.
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich.“
+</p>
+
+<p>
+Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Kannst du denn Klavier spielen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, auch nicht.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
+„Aber ich spiele. Das ist sehr schwer zu erlernen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich schwieg.
+</p>
+
+<p>
+„Madame Léotard sagt, du seist klüger als ich.“
+</p>
+
+<p>
+„Madame Léotard war nur böse auf dich,“ sagte
+ich.
+</p>
+
+<p>
+„Wird Papa auch böse sein?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich nicht,“ antwortete ich.
+</p>
+
+<p>
+Wieder Schweigen. Plötzlich stampfte die Prinzeß
+ungeduldig mit dem Fuß auf.
+</p>
+
+<p>
+„So wirst du jetzt über mich lachen, weil du schneller
+begreifen kannst als ich?“ rief sie, unfähig ihren
+Ärger zu verbergen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach nein, nein!“ Ich sprang auf, um zu ihr zu
+laufen und sie zu umarmen.
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie schämen sich nicht, so etwas zu denken
+und so zu fragen, Prinzeß?“ ertönte plötzlich die Stimme
+der Madame Léotard, die uns schon eine Weile aus
+dem anderen Zimmer beobachtet und das Gespräch gehört
+hatte. „Schämen Sie sich! Sie beneiden das arme
+Kind und prahlen vor ihr, daß Sie tanzen und Klavier
+spielen können. Wie häßlich von Ihnen! Ich
+werde alles dem Fürsten erzählen.“
+</p>
+
+<p>
+Die Prinzeß errötete.
+</p>
+
+<p>
+„Das war schlecht von Ihnen. Sie haben Sie mit
+Ihren Fragen absichtlich gekränkt. Ihre Eltern waren
+arm und konnten keine Gouvernanten für sie halten;
+sie hat alles aus sich selbst gelernt, weil sie ein
+kluges Kind ist. Sie sollten Sie lieben und gut zu ihr
+sein, Sie aber wollen mit ihr nur streiten und sie kränken.
+Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Sie ist doch
+eine Waise! Sie hat keinen Menschen, der ihr nahe
+<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
+steht. Es fehlte nur noch, daß Sie auch damit zu
+prahlen anfangen, daß Sie eine Prinzeß sind und sie
+nicht. Ich lasse Sie allein. Denken Sie darüber nach,
+was ich Ihnen gesagt habe und bessern Sie sich.“
+</p>
+
+<p>
+Die Prinzeß dachte genau zwei Tage nach. Zwei
+Tage lang hörte man sie weder lachen noch tollen. In
+der Nacht hörte ich, wie sie sogar im Traum mit
+Madame Léotard stritt. Ja, es schien fast, als magere
+sie ein wenig ab in diesen zwei Tagen, wenigstens
+wurde ihr zartes Gesichtchen merklich bleicher. Am
+dritten Tage begegneten wir uns zufällig unten in den
+großen Räumen. Die Prinzeß kam von der Mutter
+und als sie mich erblickte, blieb sie stehen und setzte sich
+nicht weit von mir auf einen Stuhl. Ich erwartete
+mit Bangen, was nun kommen würde.
+</p>
+
+<p>
+„Njetotschka, weshalb hat man mich deinetwegen
+gescholten?“ fragte sie plötzlich.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, das geschah nicht meinetwegen, Katenjka<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>,“
+sagte ich schnell, wie um mich zu rechtfertigen.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Madame Léotard sagt doch, ich hätte dich
+beleidigt.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Katenjka, du hast mich nicht beleidigt.“
+</p>
+
+<p>
+Die Prinzeß zuckte mit der Achsel – ein Zeichen,
+daß sie mich nicht verstand.
+</p>
+
+<p>
+„Warum weinst du denn immer?“ fragte sie nach
+kurzem Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde nicht mehr ... wenn du es nicht willst,“
+sagte ich und die Tränen traten mir schon in die Augen.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte dafür wieder nur ein Achselzucken.
+</p>
+
+<p>
+„Hast du auch früher immer geweint?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
+Ich antwortete nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Warum lebst du bei uns?“ fragte sie plötzlich,
+wieder nach neuem kurzem Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah sie verwundert an und fühlte so etwas
+wie einen Stich ins Herz.
+</p>
+
+<p>
+„Weil ich eine Waise bin,“ sagte ich schließlich,
+nachdem ich mich zusammengenommen.
+</p>
+
+<p>
+„Hattest du Eltern?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, und – die haben dich nicht geliebt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein ... sie liebten mich,“ antwortete ich mit
+Mühe.
+</p>
+
+<p>
+„Sie waren aber arm?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Sehr arm?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Und bei denen hast du nichts gelernt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nur lesen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hattest du Spielsachen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Hattest du Kuchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieviel Zimmer hattet ihr?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Zimmer.“
+</p>
+
+<p>
+„Nur ein Zimmer?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Und hattet ihr Dienstboten?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wir hatten keine Dienstboten.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wer hat euch denn bedient?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich ging selbst ... einkaufen ...“
+</p>
+
+<p>
+Die Fragen der Prinzeß zerrissen mir immer mehr
+<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a>
+das Herz. Dazu kamen die Erinnerungen ... und meine
+Verlassenheit und die Verwunderung der Prinzeß – all
+das traf und verletzte mein Herz, daß es wie aus Wunden
+blutete. Ich zitterte fieberhaft vor Erregung und
+die Tränen drohten mich zu ersticken.
+</p>
+
+<p>
+„Dann bist du wohl froh, daß du bei uns wohnst?“
+</p>
+
+<p>
+Ich schwieg.
+</p>
+
+<p>
+„Hattest du schöne Kleider?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Schlechte?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe dein Kleid gesehn, man hat es mir gezeigt.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum fragst du mich dann noch?“ rief ich aufstehend,
+erschüttert von einem neuen, noch nie empfundenen
+Gefühl, „warum fragst du dann noch?“ fuhr
+ich fort, und das Blut stieg mir vor Unwillen heiß ins
+Gesicht. „Warum lachst du über mich?“
+</p>
+
+<p>
+Die Prinzeß war gleichfalls errötet und erhob sich
+auch, aber sie beherrschte sich schnell.
+</p>
+
+<p>
+„Nein ... ich lache nicht,“ sagte sie. „Ich wollte
+nur wissen, ob es wahr ist, daß deine Eltern arm waren?“
+</p>
+
+<p>
+„Warum fragst du mich nach meinen Eltern?“ rief
+ich und Tränen rollten mir über die Wangen vor Seelenschmerz.
+„Warum fragst du mich <em>so</em> nach ihnen?
+Was haben sie dir getan, Katjä?“
+</p>
+
+<p>
+Katjä stand betreten vor ihrem Stuhl und wußte
+nicht, was sie antworten sollte. Da trat der Fürst ins
+Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+„Was fehlt dir, Njetotschka?“ fragte er, als er
+<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
+meine Tränen bemerkte. „Was fehlt dir, weshalb
+weinst du?“ fragte er nochmals und sah Katjä an, die
+feuerrot geworden war. „Wovon spracht ihr? Worüber
+habt ihr gestritten? Njetotschka, worüber weinst du?“
+</p>
+
+<p>
+Ich konnte nicht antworten, aber ich ergriff die
+Hand des Fürsten und küßte sie unter Tränen.
+</p>
+
+<p>
+„Katjä, sag du, und sprich die Wahrheit: was ist
+hier vorgefallen?“
+</p>
+
+<p>
+Katjä verstand nicht zu lügen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich sagte ihr, daß ich gesehen habe, was für ein
+schlechtes Kleid sie trug, als sie noch bei ihrem Papa
+und ihrer Mama lebte.“
+</p>
+
+<p>
+„Wer hat es dir gezeigt? Wer hat es dir zu zeigen
+gewagt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe es selbst gesehen!“ sagte Katjä in bestimmtem
+Tone.
+</p>
+
+<p>
+„Nun gut! Ich kenne dich, du willst niemanden
+angeben. Und was weiter?“
+</p>
+
+<p>
+„Und dann fing sie an zu weinen und fragte: warum
+ich mich über ihren Papa und ihre Mama lustig
+gemacht?“
+</p>
+
+<p>
+Das hatte sie zwar nicht getan, aber offenbar war
+es ihre Absicht gewesen, da auch ich es nach der ersten
+Frage so aufgefaßt hatte. Sie antwortete dem Vater
+keine Silbe: und dies war ebenso gut wie ein Geständnis.
+</p>
+
+<p>
+„Du gehst sofort zu ihr und bittest sie um Verzeihung,“
+befahl der Fürst, auf mich weisend.
+</p>
+
+<p>
+Die Prinzeß stand bleich und stumm und rührte sich
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Nun,“ sagte der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
+„Ich will nicht,“ sagte Katjä schließlich halblaut,
+aber mit fest entschlossener Miene.
+</p>
+
+<p>
+„Katjä!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich will nicht, ich will nicht!“ schrie sie plötzlich
+mit blitzenden Augen und stampfte mit beiden Füßchen.
+„Ich will nicht, Papa, ich will nicht um Verzeihung
+bitten. Ich liebe sie nicht. Ich will nicht mit ihr
+zusammenwohnen ... Ich bin nicht schuld, daß sie den
+ganzen Tag weint. Ich will nicht, ich will nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Komm mit,“ sagte der Fürst, sie an der Hand fassend,
+um sie in sein Kabinett zu führen. „Njetotschka,
+geh nach oben,“ wandte er sich zu mir.
+</p>
+
+<p>
+Ich wollte ihn zurückhalten, wollte für Katjä um
+Verzeihung bitten, doch der Fürst wiederholte streng seinen
+Befehl und ich ging nach oben, eiskalt vor Schreck,
+wie eine Tote. In unserem Zimmer sank ich auf den
+Diwan und umklammerte meinen Kopf mit den Händen.
+Ich zählte die Minuten. Ich erwartete Katjä mit
+fiebernder Ungeduld, ich wollte mich ihr zu Füßen werfen.
+Endlich kam sie: sie ging ohne ein Wort an mir
+vorüber und setzte sich in den fernsten Winkel; Ihre Augen
+waren rot und die Wangen geschwollen von Tränen.
+Da schwand meine ganze Entschlossenheit. Ich
+sah sie angstvoll an und meine Angst lähmte mich.
+</p>
+
+<p>
+Ich beschuldigte mich mit allen Fibern, ich mühte
+mich krampfhaft, mir vor mir selbst zu beweisen, daß ich
+allein an allem schuld sei. Tausendmal wollte ich zu
+Katjä gehen und tausendmal sank mir der Mut, da ich
+nicht wußte, wie sie sich zu mir verhalten würde. So
+verging ein Tag und noch einer. Am Abend dieses zweiten
+Tages wurde Katjä wieder munterer und nahm sogar
+<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
+ihr Reifenspiel vor, doch bald ließ sie den Reifen
+liegen und zog sich wieder in ihren Winkel zurück. Kurz
+bevor wir zu Bett gingen, wandte sie sich plötzlich zu
+mir und kam sogar zwei Schritte auf mich zu: ihre weichen
+Lippen zuckten, als setze sie zum Sprechen an, aber
+sie blieb stehen, wandte sich wieder fort und ging zu
+Bett. Nach diesem Tage verging noch ein Tag, und die
+erstaunte Madame Léotard nahm Katjä zu guter Letzt
+ins Verhör: ob sie krank sei oder was mit ihr geschehen,
+daß sie sich mit einemmal so still verhalte? Katjä antwortete
+ausweichend irgend etwas, was ich nicht hören
+konnte, doch kaum hatte Madame Léotard ihr den Rücken
+gekehrt, da wurde sie rot und begann zu weinen. Sie
+lief aus dem Zimmer, um von mir nicht weinend gesehen
+zu werden. Einmal aber mußte doch die Erlösung
+kommen; und dies geschah denn auch am dritten Tage
+nach unserem Streit: nach dem Essen kam sie in mein
+Zimmer und näherte sich mir zaghaft.
+</p>
+
+<p>
+„Papa hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu
+bitten,“ sagte sie. „Wirst du mir verzeihen?“
+</p>
+
+<p>
+Ich erfaßte schnell ihre beiden Hände und stieß in
+atemloser Hast hervor:
+</p>
+
+<p>
+„Ja! Ja!“
+</p>
+
+<p>
+„Papa befahl mir, dich zu küssen, – wirst du mich
+küssen?“
+</p>
+
+<p>
+Als Erwiderung auf ihre Frage küßte ich ihre
+Hände. Als ich aufsah, bemerkte ich in ihrem Gesicht
+eine seltsame Bewegung. Ihre Lippen und ihr Kinn
+bebten, in ihren Augen standen Tränen, aber sie unterdrückte
+schnell ihre Erregung und flüchtig erschien sogar
+ein Lächeln auf ihren Lippen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
+„Ich werde gehen und Papa sagen, daß ich dich geküßt
+und um Verzeihung gebeten habe,“ sagte sie leise,
+fast wie zu sich selbst. „Ich habe ihn schon drei Tage
+nicht gesehen. Er sagte, ich dürfe nicht eher zu ihm
+kommen, als bis ich sein Gebot erfüllt habe,“ fügte sie
+nach kurzem Nachdenken hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Und sie ging zögernd und mit nachdenklichem Gesichtchen
+zum Vater, als wäre sie selbst noch nicht
+sicher, wie nun der Empfang beim Vater ausfallen
+würde.
+</p>
+
+<p>
+Eine Stunde später hörte ich oben wieder den alten
+Lärm, Katjäs Lachen und Laufen, Falstaffs Gebell,
+ja irgend etwas wurde umgeworfen und zerschlagen,
+Bücher fielen von einem Tisch, der Reifen rollte
+wieder federleicht durch alle Räume – kurz, ich hörte,
+daß Katjä sich mit dem Vater versöhnt hatte, und mein
+Herz erbebte vor Freude.
+</p>
+
+<p>
+Doch zu mir kam sie nicht und vermied es sichtlich,
+mit mir zu sprechen. Dafür hatte ich die Ehre, in
+hohem Maße ihre Neugier zu erregen. Immer öfter
+setzte sie sich mir gegenüber, um mich in Ruhe zu betrachten.
+Und ihre Beobachtungen wurden immer naiver.
+Das verwöhnte, eigenwillige Kind, das von allen
+im Hause verzogen und gehätschelt und wie ein kostbarer
+Schatz gehegt wurde, konnte es nicht begreifen,
+wie es kam, daß ich schon ein paarmal auf ihrem Wege
+mit ihr zusammengestoßen war, während sie das
+gar nicht gewollt hatte. Sie hatte aber ein gutes,
+prächtiges Herzchen, das allein schon mit seinem guten
+Instinkt immer den richtigen Weg fand. Den größten
+Einfluß auf sie hatte der Vater, den sie geradezu vergötterte.
+<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
+Von der Mutter wurde sie bis zum Wahnsinn
+geliebt, nur war die Mutter gleichzeitig unglaublich
+streng, und von ihr hatte Katjä den Eigensinn, den
+Stolz und die Charakterfestigkeit geerbt, dafür aber
+mußte sie auch alle Launen der Mutter ertragen, obschon
+diese oft in moralische Tyrannei ausarteten.
+Doch – sie ertrug sie. Die Fürstin hatte eine sonderbare
+Auffassung von dem, was Erziehung ist, und so
+war Katjäs Erziehung eine eigenartige Mischung von
+grenzenloser Verwöhnung und unerbittlicher Strenge.
+Was gestern erlaubt war, war heute plötzlich verboten,
+und zwar ganz grundlos, so daß das Gerechtigkeitsgefühl
+im Kinde völlig mißachtet und ständig verletzt
+wurde ... Doch davon später. Ich will hier nur
+bemerken, daß das Kind sein Verhalten zu den Eltern
+danach richtete. Dem Vater gegenüber war sie ganz
+so, wie sie war, sie gab sich ihm rückhaltlos, mit vollen
+Händen: da war in ihrem Wesen nichts Verborgenes,
+nichts Zurückhaltendes. Im Verkehr mit der Mutter dagegen
+war sie das gerade Gegenteil: verschlossen, mißtrauisch
+und widerspruchslos gehorsam. Aber ihr Gehorsam
+war nicht aufrichtig, sie gehorchte nicht aus Überzeugung,
+sondern sozusagen einem notwendigen System
+gemäß. Ich werde später noch darauf zurückkommen
+und mich dann klarer auszudrücken versuchen. Übrigens
+sei es hier noch zur besonderen Ehre meiner
+Katjä gesagt, daß sie schließlich ihre Mutter vollkommen
+verstand, und wenn sie ihr gehorchte, so tat sie das
+schon mit der vollen Erkenntnis der grenzenlosen Mutterliebe,
+die die Fürstin zu ihr hatte und die sich bis zur
+krankhaften Exaltation steigern konnte – dem aber
+<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
+trug die Prinzeß in nachsichtiger Großmut Rechnung.
+Leider sollte dies später ihrem heißen Köpfchen wenig
+helfen!
+</p>
+
+<p>
+Doch ich habe fast noch gar nicht erwähnt, was in
+mir vorging.
+</p>
+
+<p>
+Ein neues, mir unerklärliches Gefühl erregte mich
+damals in einer ganz ungewohnten Weise und ich
+übertreibe wohl nicht, wenn ich sage, daß ich unter
+diesem neuen Gefühl wie unter einer Pein litt. Kurz
+– man verzeihe mir das Wort, aber – ich war in
+meine Katjä verliebt. Ja, das war Verliebtheit, richtige
+Verliebtheit, Verliebtheit mit Tränen und Entzücken,
+leidenschaftliche Verliebtheit! Was zog mich
+so zu ihr? Woraus entstand diese meine Liebe? Sie
+begann mit dem ersten Blick auf Katjä, als alle meine
+Sinne plötzlich so – so süß betroffen wurden von dieser
+Schönheit. Alles an ihr war schön: keine einzige
+ihrer schlechten Eigenschaften war angeboren, – alle
+waren sie nur angenommen und alle standen sie mit
+ihrem Instinkt auf Kriegsfuß. Aus allem ersah man
+die gute Veranlagung, die nur zeitweilig eine falsche
+Form annehmen konnte, doch alles an ihr, angefangen
+mit jenem inneren Kampf, leuchtete in froher Zuversicht,
+alles versprach, in Zukunft Schönheit zu sein.
+Alle Menschen hatten Freude an ihr, alle liebten sie,
+verwöhnten sie. Wenn man uns spazieren führte –
+gewöhnlich gegen drei Uhr – blieben die Menschen,
+die uns begegneten und sie erblickten, beinahe betroffen
+stehen, und nicht selten hörten wir hinter uns einen
+Ausruf der Bewunderung. Sie war zum Glücklichsein
+geboren, sie mußte dazu geboren sein – das war die
+<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
+erste Empfindung eines jeden, der sie sah. Vielleicht
+hatte sich damals, als ich aus tiefem Schlaf erwachte
+und sie erblickte, zum erstenmal mein ästhetisches Empfinden
+geregt, war mein Gefühl für das Schöne durch
+ihre Schönheit erweckt worden, – und dies wird wohl
+die ganze Ursache meiner Liebe gewesen sein.
+</p>
+
+<p>
+Der größte Fehler der Prinzeß – oder richtiger der
+Grundzug ihres Charakters, der sich gewaltsam in
+seine natürliche Form prägen wollte und sich deshalb
+naturgemäß in einem unnormalen, eben in einem
+Kampfzustand befand – war <em>Stolz</em>. Dieser Stolz
+erstreckte sich bis in naive Kleinigkeiten, schlug oft in
+Eigenliebe um und wurde zu einer unbewußten Überhebung,
+so daß z. B. Widerspruch, gleichviel welcher
+Art, sie nicht kränkte und auch nicht einmal ärgerte,
+sondern nur in Verwunderung setzte. Sie begriff nicht,
+wie etwas anders sein konnte, als wie sie es wünschte.
+Aber das Gerechtigkeitsgefühl siegte doch immer in
+ihrem Herzen. Wenn sie sich einmal überzeugt hatte,
+daß sie wirklich unrecht getan, dann fügte sie sich ohne
+zu murren und mit fester Entschlossenheit dem Urteilsspruch
+ihrer Erzieher. Daß sie aber anfangs im
+Verkehr mit mir sich selbst nicht immer ganz treu blieb,
+erkläre ich mir mit ihrer unüberwindlichen Abneigung,
+die zeitweilig die Geradheit und Einheit ihres ganzen
+Wesens störte. Anders aber konnte es wohl gar nicht
+sein: sie war viel zu leidenschaftlich in ihren Empfindungen,
+und so waren es immer erst die Zusammenstöße
+mit der Wirklichkeit, die ihr allmählich die Augen
+öffneten und sie auf den richtigen Weg zurückführten.
+Alles, was sie unternahm und anfing, hatte
+<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
+ein gutes Endergebnis, doch wurden diese Endergebnisse
+regelmäßig mit fortwährenden Abweichungen und
+unter ständigen Verirrungen erkauft.
+</p>
+
+<p>
+Katjä hatte mich bald genügend beobachtet und
+entschloß sich deshalb, mich fortab in Ruhe zu lassen.
+Sie tat, als wäre ich überhaupt nicht da. Sie sprach
+mit mir kein überflüssiges Wort, ja fast nicht einmal
+das Notwendige. An ihren Spielen beteiligte ich mich
+nicht mehr – doch hatte sie mich nicht etwa mit Gewalt
+verdrängt, sondern es so geschickt einzurichten
+verstanden, daß es den Anschein hatte, als wäre ich
+selbst damit einverstanden gewesen. Der Unterricht
+wurde fortgesetzt, aber wenn man mich ihr noch wegen
+meiner Aufmerksamkeit und meines schnellen Begreifens
+als Beispiel vorhielt, so würdigte sie mich
+nicht mehr der Ehre, sich dadurch in ihrer Eigenliebe
+gekränkt zu fühlen, obschon diese Eigenliebe eine höchst
+peinlich ausgeprägte war – eine so heikele, daß sogar
+unsere Bulldogge, Sir John Falstaff, sie verletzen
+konnte. Falstaff war ein kaltblütiger Phlegmatiker,
+dabei aber böse wie ein Tiger, ja wenn man ihn reizte,
+ging er sogar so weit, daß er nicht einmal mehr seinem
+Herrn gehorchte. Und noch ein bedeutsamer Charakterzug:
+er liebte entschieden keinen einzigen Menschen
+im ganzen Hause; sein größter Feind aber war
+zweifellos die alte Prinzessin, die Tante des Fürsten ...
+Doch davon später. Die ehrgeizige Katjä gelüstete
+es nun eines Tages, den unfreundlichen Falstaff zu
+besiegen. Es war ihr unangenehm, daß es ein Wesen
+gab, sei es auch nur ein vierbeiniges, das ihre Autorität
+nicht anerkannte, sich ihr nicht unterwarf, ja, sie
+<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
+nicht einmal liebte. So beschloß denn die Prinzeß, Falstaff
+anzugreifen. Sie wollte über alle herrschen –
+warum sollte nun Falstaff allein ungestört seine Freiheit
+genießen dürfen? Aber die unbeugsame Bulldogge
+ergab sich ihr doch nicht.
+</p>
+
+<p>
+Es war einmal nach dem Essen, wir saßen beide
+unten im großen Saal, während Falstaff mitten im
+Saal auf der Diele lag und faul seine Nachmittagssiesta
+genoß. Da fiel es der Prinzeß plötzlich ein, ihn sich
+unterwerfen zu wollen. Sie ließ ihr Spiel liegen und
+begann sogleich mit dem Versuch, sich Falstaff zu nähern:
+vorsichtig, auf den Fußspitzen schleichend, umschmeichelte
+sie Falstaff mit den zärtlichsten Kosenamen,
+winkte liebevoll beschwichtigend mit der Hand
+und ging immer näher, immer näher. Falstaff aber
+zeigte schon von ferne seine furchtbaren Zähne. Prinzeßchen
+blieb stehen. Ihr ganzes Vorhaben bestand ja
+nur darin, zu Falstaff zu gelangen und ihn einmal zu
+streicheln – eine Kühnheit, die er bisher noch keinem
+gestattet hatte, außer der Fürstin – und ihn dazu
+zu bringen, daß er ihr folge. Das war nun eine
+schwere Aufgabe, verbunden mit einer ernsten Gefahr,
+denn Falstaff hätte sich keineswegs gescheut, ihr eine
+Hand abzubeißen oder auch das ganze Prinzeßchen zu
+zerfleischen. Er war stark wie ein Bär und ich verfolgte
+von meinem Platze aus nicht grundlos mit angstvoller
+Spannung Katjäs Vorgehen. Ich wußte, wie
+schwer es war, sie zum Verzicht auf eine Absicht, wenn
+sie sich eine solche einmal in den Kopf gesetzt, zu bewegen,
+und selbst das Gebiß Falstaffs, das dieser ihr in
+äußerst unmanierlicher Weise zeigte, war für sie noch
+<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a>
+kein genügendes Argument. Sie begriff nur, daß sie
+sich doch nicht so geradeswegs ihm nähern konnte und
+änderte nach kurzem Zögern ihre Taktik, indem sie
+nun im Kreise um ihn herumging und diese Kreise immer
+enger machte. Als sie aber bei der dritten Umkreisung
+der Grenze zu nahe kam, die Falstaff als nächste
+und eben noch erlaubte Distanz zu sich nicht überschritten
+wissen wollte, da zeigte er wieder die Zähne. Die
+Prinzeß stampfte mit den Füßchen auf, kehrte ihm geärgert
+den Rücken und setzte sich aufs Sofa, um nachzudenken.
+</p>
+
+<p>
+Da fiel ihr nach einigen Minuten ein neues Mittel
+ein; sie verließ sofort den Saal und kehrte mit einem
+ganzen Vorrat von Kringeln, Kuchen und Pasteten
+zurück – kurz, sie änderte die Waffen. Doch auch
+die neuen Waffen ließen Falstaff völlig kalt, wohl
+weil er ohnehin schon viel zu satt war. Den Kringel,
+den sie ihm zuwarf, würdigte er nicht einmal eines
+Blickes; und als die Prinzeß wieder an der besagten
+äußersten Grenze anlangte, erfolgte ein diesmal noch
+energischerer Protest: er erhob den Kopf, zeigte die
+Zähne, knurrte und machte eine Bewegung, als wolle
+er gleich aufspringen. Die Prinzeß wurde rot vor
+Zorn, ließ den ganzen Vorrat liegen und setzte sich
+wieder auf ihren Platz.
+</p>
+
+<p>
+Sie war sichtlich sehr erregt. Ihr kleiner Fuß
+schlug ununterbrochen auf den Teppich, ihre Wangen
+glühten und in die Augen traten fast Tränen vor Ärger.
+Da geschah es, daß sie plötzlich meinen Blick auffing
+– alles Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. Sie
+<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
+sprang auf und ging mit entschlossenen Schritten gerade
+auf die furchtbare Dogge zu.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht war es diesmal die Überraschung, die
+Falstaff lähmte. Er ließ den Feind die Grenze überschreiten,
+und erst als sie nur noch zwei Schritte von
+ihm entfernt war, empfing er die Unbedachte mit dem
+unheimlichsten Knurren. Katjä blieb für eine Sekunde
+stehen –, aber nur für eine Sekunde –: dann trat
+sie entschlossen vorwärts. Ich erstarb vor Schreck. Sie
+war aber so beseelt von ihrem Entschluß, wie ich sie
+noch nie gesehen hatte: ihre Augen blitzten in trotziger
+Siegesgewißheit. Sie hätte ein entzückendes Modell
+für einen Künstler abgegeben. Mutig widerstand sie
+dem drohenden Blick des bösen Tieres, und auch sein
+unheimliches Gebiß schreckte sie nicht ab. Die Dogge
+hob den Kopf. Aus der breiten Brust kam ein unheildrohendes
+Knurren – im nächsten Moment, so schien
+es, werde das Tier sie zerfleischen. Doch die Prinzeß
+legte stolz ihre kleine Hand auf seinen Rücken und
+streichelte ihm dreimal über das Fell. Einen Augenblick
+verharrte Falstaff in Unentschlossenheit. Dieser
+Augenblick war der furchtbarste: dann stand das Tier
+schwerfällig auf, streckte sich und verließ in phlegmatischer
+Ruhe den Saal, vermutlich in der Erwägung,
+daß mit Kindern zu kämpfen sich doch nicht lohne. Die
+Prinzeß blieb triumphierend auf dem eroberten Platz
+stehen und warf mir nur einen unbeschreiblichen Blick
+zu, einen siegesgesättigten, siegesberauschten Blick.
+Ich war noch bleich wie ein Handtuch. Sie bemerkte
+das und lächelte. Aber da breitete sich mit einemmal
+auch über ihr Gesichtchen Totenblässe. Kaum
+<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a>
+konnte sie noch bis zum Sofa gehen, auf das sie nahezu
+ohnmächtig niedersank.
+</p>
+
+<p>
+Doch meine Liebe zu ihr kannte keine Grenzen.
+Seit diesem Tage, wo ich eine solche Angst um sie
+ausgestanden, konnte ich mich nur noch mit Mühe
+beherrschen. Ich verging vor Sehnsucht, tausendmal
+wollte ich mich ihr an den Hals werfen, aber eine
+unerklärliche Scheu hielt mich regungslos und wie
+gebannt auf meinem Platz zurück. Ich erinnere mich
+noch, daß ich ein Zusammensein mit ihr absichtlich zu
+vermeiden suchte, damit sie meine Erregung nicht sähe;
+trat sie aber zufällig in das Zimmer, in das ich mich
+zurückgezogen hatte, dann fuhr ich zusammen und mein
+Herz begann so stark zu pochen, daß ich wie von einem
+Schwindel erfaßt wurde. Ich glaube, dies alles entging
+Katjä nicht, und nachdem sie es bemerkt hatte,
+war sie die nächsten zwei Tage, wie mir schien, etwas
+verwirrt. Bald aber hatte sie sich auch damit abgefunden.
+So verging ein ganzer Monat, in dem ich
+einsam litt. Meine Gefühle besitzen eine gewisse unerklärliche
+Dehnbarkeit, wenn man sich so ausdrücken
+kann; meine Natur ist bis zur letzten Möglichkeit geduldig,
+so daß ein plötzlicher Ausbruch der Gefühle
+nur im wirklich äußersten Fall eintritt. Man muß
+nämlich wissen, daß Katjä und ich in dieser ganzen
+Zeit kaum fünf Worte miteinander gewechselt haben.
+Nach und nach wurde es mir aber infolge gewisser
+Anzeichen immer klarer, daß ihr Verhalten zu
+mir nicht auf Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit zurückzuführen
+sei, sondern daß es nur eine absichtliche
+Fernhaltung ihrerseits war: ganz als habe sie sich das
+<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
+Wort gegeben, mich in gewissen Schranken zu halten.
+Doch ich schlief schon nicht mehr in den Nächten und
+am Tage konnte ich meine Verwirrung selbst vor Madame
+Léotard nicht verbergen. Meine Liebe zu Katjä
+verstieg sich bis zu Seltsamkeiten: so nahm ich einmal
+heimlich ihr Taschentuch, ein anderes Mal ihr
+Haarband an mich, und diese Gegenstände küßte ich
+dann nachts unter Tränen. Anfangs kränkte mich ihre
+Gleichgültigkeit so sehr, daß ich mich wirklich verletzt
+fühlte; hernach aber war alles in mir verwirrt und
+ich konnte mir selbst nicht mehr über meine Empfindungen
+Rechenschaft geben. So kam es, daß meine
+alten Eindrücke allmählich von den neuen verdrängt
+wurden, und die Erinnerung an mein früheres trauriges
+Leben verlor mit der Zeit ihre krankhafte Intensität,
+da sie der neuen Wirklichkeit weichen mußte.
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß noch, wenn ich in der Nacht erwachte,
+stand ich bisweilen leise auf und schlich auf den Fußspitzen
+zum Bett der Prinzeß. Stundenlang konnte ich
+dann stehen und die Schlafende in dem milden Licht
+unserer Nachtlampe betrachten. Manchmal setzte ich
+mich sogar auf ihr Bett und beugte mich über ihr Gesicht,
+und ihr warmer regelmäßiger Atem berührte
+mich wie ein traumhaft sanftes Wehen. Leise, bebend
+vor Unsicherheit, küßte ich dann wohl oft ihre Händchen,
+ihre kleinen Schultern, Wangen, auch ihr Füßchen
+küßte ich, wenn die Decke sich verschoben hatte
+und das Füßchen hervorsah. Bald glaubte ich zu bemerken
+– ich beobachtete sie doch unausgesetzt, wenn
+auch heimlich – daß sie von Tag zu Tag mehr nachsann
+und ihr Charakter seine frühere gefestigte Gleichmäßigkeit
+<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
+eingebüßt hatte: es kam vor, daß wir sie
+oft einen ganzen Tag nicht tollen hörten, dann aber
+machte sie wieder solchen Lärm, wie ich ihn zuvor noch
+nie gehört. Sie wurde reizbar, anmaßend, sie wurde
+abwechselnd bleich und rot und trieb es mit mir oft
+bis zu kleinen Grausamkeiten: bald wollte sie plötzlich
+nicht gleichzeitig mit mir essen und nicht neben
+mir sitzen, ganz als flöße ich ihr Abscheu ein; bald
+ging sie zur Mutter und saß dort fast ganze Tage, obschon
+sie genau wußte, wie sehr die Sehnsucht nach ihr
+mich verzehrte; bald wiederum setzte sie sich mir gegenüber
+und betrachtete mich stundenlang, so daß ich
+vor tödlicher Verwirrung nicht wußte, wo ich mich
+lassen sollte, nur immer errötete und erbleichte und
+doch nicht aus dem Zimmer zu gehen wagte. Zweimal
+hatte Katjä sich bereits über Fieber beklagt,
+während man sie früher nie krank gesehen hatte. Da
+erfolgte eines Morgens eine besondere und bedeutungsvolle
+Wandlung: auf unbedingten Wunsch der
+Prinzeß zog sie nämlich nach unten zur Mutter, die
+fast ohnmächtig wurde vor Angst, als Katjä über Erkältung
+klagte. Ich muß bemerken, daß die Fürstin
+mit mir sehr unzufrieden war und die ganze Veränderung,
+die sie an Katjä bemerkte, meinem schädlichen
+Einfluß zuschrieb, oder doch dem Einfluß meines
+„düsteren Charakters“, wie sie sich ausdrückte. Sie
+hätte uns schon viel früher getrennt, doch hielt sie es
+für ratsamer, die Trennung noch aufzuschieben, da sie
+damit, wie sie wußte, beim Fürsten auf hartnäckigen
+Widerstand gestoßen wäre. Obschon der Fürst ihr in
+allem ihren Willen ließ, konnte er bisweilen doch mit
+<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
+geradezu eigensinniger Starrheit auf seinem Willen
+bestehen. Sie kannte den Fürsten gut.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Umzug der Prinzeß machte mich so betroffen,
+daß ich eine ganze Woche in der schrecklichsten
+Gemütsverfassung zubrachte. Ich quälte mich mit meiner
+Sehnsucht nach ihr und zerbrach mir den Kopf
+über der Frage, weshalb ich Katjä wohl solchen Abscheu
+einflößte. Meine Trauer darob zerriß mir die
+Seele und das Gerechtigkeitsgefühl und ein bitterer
+Unwille begann sich in meinem gekränkten Herzen zu
+erheben. Es entstand plötzlich ein gewisser Stolz in
+mir, und wenn ich mit Katjä vor unserem Spaziergang
+zusammentraf, dann sah ich sie so frei, so ernst
+an, so anders als früher, daß es sie offenbar betroffen
+machte. Natürlich trat diese meine Veränderung nur
+hin und wieder zutage, wie in sich durchdringenden
+Ausbrüchen, dann aber tat mir das Herz von neuem
+weh und der Schmerz wuchs und wuchs und ich
+wurde noch schwächer, noch kleinmütiger als ich vorher
+gewesen war. Da, eines Morgens, zu meiner
+größten, mich freudig verwirrenden Überraschung,
+kehrte die Prinzeß zu uns nach oben zurück. Ihr erstes
+war, daß sie gleich unter unbändigem Lachen Madame
+Léotard an den Hals flog und lachend erklärte,
+nun werde sie wieder bei uns wohnen – dann grüßte
+sie mich mit einem Nicken, sah aber schnell wieder
+fort und erbettelte sich die Erlaubnis, an diesem
+Tage nichts lernen zu brauchen. Den ganzen Vormittag
+tollte sie umher. Ich habe sie nie lebhafter und
+ausgelassener gesehen. Doch gegen Abend wurde sie
+still, nachdenklich und wieder breitete eine gewisse
+<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
+Traurigkeit einen Schatten über ihr reizendes Gesichtchen.
+Als die Fürstin am Abend bei uns erschien,
+um nachzufragen, wie es ihr gehe, da sah ich, daß
+Katjä sich aus allen Kräften bemühen mußte, froh
+und lustig zu scheinen. Nachher aber, als wir allein
+zurückblieben, brach sie plötzlich in Tränen aus. Ich
+war bestürzt. Die Prinzeß bemerkte, daß ich sie beobachtete,
+und verließ das Zimmer. Es waren Anzeichen, daß
+eine unerwartete Krisis sich in ihr vorbereitete. Die
+Fürstin beriet mit den Ärzten, ließ sich von Madame
+Léotard jeden Tag ausführlich Bericht erstatten, und
+wünschte, daß sie Katjä nicht aus den Augen ließ. Nur
+ich ahnte den wahren Grund dieser Veränderung. Mein
+Herz begann vor Hoffnung laut zu pochen.
+</p>
+
+<p>
+In der Tat, unser kleiner Roman näherte sich der
+entscheidenden Wendung. Am dritten Tage nach Katjäs
+Rückkehr zu uns nach oben fiel es mir auf, daß
+sie mich den ganzen Vormittag mit so guten Augen ansah
+und so lange ihre Blicke auf mir ruhen ließ ...
+Ein paarmal trafen sich unsere Blicke und jedesmal
+erröteten wir und schlugen die Augen nieder, als
+schämten wir uns. Da lachte zu guter Letzt Prinzeßchen
+auf und ging fort. Um drei Uhr kleidete man uns
+für den Spaziergang an. Plötzlich trat Katjä an mich
+heran.
+</p>
+
+<p>
+„Dein Schuhband hat sich gelöst,“ sagte sie zu mir,
+„komm, ich werde es zubinden.“
+</p>
+
+<p>
+Ich wollte mich bücken, um selber die Schleife zu
+binden, tief errötend darüber, daß Katjä nun endlich
+wieder etwas zu mir sprach, doch sie kam mir zuvor.
+</p>
+
+<p>
+„Gib her!“ sagte sie in lachender Ungeduld und
+<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
+kniete schnell nieder, zog meinen Fuß zu sich und band
+die Schleife von neuem. Mir stockte der Atem; ich
+wußte nicht, was tun, und ich empfand nur eine süße
+Wonne in meiner Erschrockenheit. Als die Schleife fertig
+war, stand sie auf und musterte mich vom Kopf bis
+zu den Füßen.
+</p>
+
+<p>
+„Da ist auch das Hälschen bloß,“ sagte sie, mit
+dem Finger an meinen Hals tippend. „Nein, laß nur,
+ich werde es dir schon richtig binden.“
+</p>
+
+<p>
+Ich widersprach nicht. Sie löste die Schleife meines
+Halstüchleins und band es von neuem nach ihrem
+Geschmack.
+</p>
+
+<p>
+„So kann man sich ja einen Husten holen,“ sagte
+sie mit einem schelmischen Lächeln und aus ihren dunklen
+feuchten Augen streifte mich ein spitzbübischer Blick.
+</p>
+
+<p>
+Ich war wie von Sinnen: ich wußte nicht, wie
+mir geschah, noch was in Katjä vorging. Zum Glück
+dauerte unser Spaziergang nicht lange, sonst hätte ich
+es nicht ausgehalten und sie auf der Straße geküßt.
+Als wir aber die Treppe hinaufstiegen, gelang es mir,
+sie heimlich auf die Schulter zu küssen. Sie bemerkte
+es, zuckte zusammen, sagte jedoch kein Wort. Am
+Abend wurde sie festlich angekleidet und nach unten
+geführt. Bei der Fürstin waren Gäste. Doch noch am
+selben Abend stand dem ganzen Hause eine große Aufregung
+bevor.
+</p>
+
+<p>
+Katjä bekam einen Nervenanfall. Die Fürstin war
+außer sich vor Schreck. Der Arzt kam und wußte nicht,
+was er sagen sollte. Man schrieb alles den üblichen
+Kinderkrankheiten zu, auch dem Alter Katjäs, ich aber
+dachte darüber ganz anders. Am nächsten Morgen erschien
+<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
+Katjä wieder so wie immer, rosig, lustig, von
+unerschöpflicher Gesundheit, dafür aber mit solchen
+Launen und Eigenheiten, wie sie noch niemand an ihr
+beobachtet hatte.
+</p>
+
+<p>
+Erstens wollte sie den ganzen Vormittag Madame
+Léotard nicht gehorchen. Darauf erklärte sie mit einemmal,
+zur Großtante, der alten Prinzessin, gehen
+zu wollen. Und richtig, diesmal wurde der Prinzeß der
+Zutritt zu den Gemächern der Großtante gewährt,
+freilich ganz gegen die Gepflogenheit der alten Dame,
+die ihre Großnichte gar nicht leiden konnte, ewig an ihr
+etwas auszusetzen fand und sie gewöhnlich überhaupt
+nicht sehen wollte – diesmal aber, wie gesagt, entschloß
+sie sich, Gott weiß weshalb, sie zu empfangen. Anfangs
+ging auch alles gut, die erste Stunde verlief im
+schönsten Frieden, denn dem Schelm war es plötzlich
+eingefallen, für alle ihre Ungezogenheiten, den verursachten
+Lärm und alle Störungen freiwillig um Verzeihung
+zu bitten. Und die Großtante verzieh ihr auch
+feierlich und sichtlich tief gerührt. Das war aber der
+Spitzbübin noch zu wenig. Und es fiel ihr ein, auch
+solche Streiche zu beichten, die sie noch gar nicht verbrochen
+hatte, die vorerst nur als Pläne in ihrem
+Köpfchen lebten. So nahm sie den Ausdruck einer reumütigen
+Büßerin an und beichtete, daß die fromme
+Dame ob solchen Insichgehens anfangs ganz verzückt
+war, denn es schmeichelte ihrer Eigenliebe nicht wenig,
+über Katjä diesen Sieg davonzutragen, über Katjä,
+den Abgott des ganzen Hauses, den Liebling aller
+Menschen, deren Launen gegenüber sogar die Fürstin
+machtlos war.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
+Katjä gestand also, daß sie die Absicht gehabt habe,
+eine Visitenkarte an das Kleid der Großtante zu
+kleben; dann – Falstaff unter ihrem Bett zu verbergen;
+dann – ihre Brille zu zerbrechen; dann – alle ihre
+frommen Bücher fortzuschleppen und an deren Stelle
+die französischen Romane der Mama zu legen; dann
+– Knallerbsen in ihren Zimmern auszustreuen; dann
+– ein Spiel Karten in ihre Tasche zu stecken, usw.,
+usw. Kurz, eine Sünde war schlimmer als die andere.
+Die Großtante wurde starr und bleich und schließlich
+gelb vor Ärger – bis Katjä zuletzt doch nicht mehr
+an sich halten konnte, in tolles Lachen ausbrach und
+wie ein Wirbelwind davonlief. Die alte Prinzessin
+ließ sogleich die Fürstin zu sich bitten, und aus dem
+Vorfall wurde eine große Geschichte, in deren Verlauf
+die Fürstin ihre Anverwandte fast unter Tränen
+bat, Katjä diese Unart zu verzeihen und nicht auf einer
+Strafe zu bestehen, schon wegen ihres krankhaften Zustandes
+nicht. Die Prinzessin jedoch wollte davon nichts
+wissen und erklärte, am nächsten Tage noch das Haus
+zu verlassen, welche Drohung sie erst dann zurückzog,
+als die Fürstin ihr auf ihr Ehrenwort versprach,
+die Bestrafung nur bis zur völligen Genesung der
+Tochter hinauszuschieben, dann aber dem gerechten
+Wunsch der alten Dame gewissenhaft nachzukommen.
+Dennoch erhielt Katjä sogleich einen strengen Verweis
+und mußte unten bei der Fürstin bleiben. Aber
+der Schelm blieb dort nicht lange.
+</p>
+
+<p>
+Als ich etwas später gleichfalls nach unten ging,
+traf ich sie bereits auf der Treppe. Sie hatte die Tür
+aufgesperrt und rief Falstaff. Ich aber erriet sofort,
+<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
+daß sie eine furchtbare Rache plante. Und wirklich:
+die Sache verhielt sich folgendermaßen.
+</p>
+
+<p>
+Unter allen Feinden der alten Dame gab es entschieden
+keinen unversöhnlicheren als Falstaff. Er war
+zwar gegen niemand freundlich, liebte die Menschen
+grundsätzlich nicht, war hochmütig, stolz, ja sogar bis
+zur Rücksichtslosigkeit anmaßend. Er liebte, wie gesagt,
+niemanden, verlangte aber von allen den schuldigen
+Respekt, den ihm denn auch alle pflichtschuldigst
+und möglichst von weitem entgegenbrachten, wobei sie
+dem Respekt noch eine Dosis Furcht beizumischen
+pflegten. Da traf nun eines Tages die alte Prinzessin
+ein und mit einemmal veränderte sich seine ganze Lebenslage
+– ihm ward schnödes Unrecht angetan: man
+verbot ihm formell den Zutritt zur oberen Etage.
+</p>
+
+<p>
+In der ersten Zeit war Falstaff außer sich vor Empörung
+über diese Beleidigung und kratzte eine ganze
+Woche an der Tür, die ihm am Ende der Treppe den
+Zugang versperrte. Bald jedoch erriet er, wer und was
+die Veranlassung zu dieser Maßregel gewesen war,
+und als am nächsten Sonntag die alte Prinzessin ihre
+Gemächer verließ, um sich zum Gottesdienst in die
+Kirche zu begeben, da stürzte sich Falstaff mit einem
+Wutgeheul auf die Arme. Nur dem glücklichen Zufall,
+daß mehrere Diener anwesend waren, hatte sie
+es zu verdanken, daß sie der schrecklichen Rache des
+gekränkten Köters entging. Falstaff wurde schmählich
+hinausgejagt und von dem Tage an wurde er jedesmal
+ins entfernteste Zimmer gezerrt, bevor die alte
+Dame ihre Gemächer verließ. Sämtliche Dienstboten
+erhielten die strengsten Vorschriften. Aber dennoch fand
+<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
+das rachedurstige Tier zwei- oder dreimal Gelegenheit,
+in das verbotene Gebiet einzubrechen. War er erst auf
+der Treppe, so raste er wie der Blitz durch die ganze
+Zimmerflucht bis zum Schlafgemach der Alten. Kein
+Dienertroß konnte ihn dann mehr zurückhalten. Zum
+Glück war die Tür zu dem Schlafzimmer immer verschlossen
+und Falstaff konnte weiter nichts tun, als so
+lange fürchterlich heulen, bis die Diener ihn wieder
+fortgeschafft hatten. Die alte Dame aber, die während
+des Geheuls so schrie, als werde sie von Falstaff schon
+lebendig aufgefressen, wurde jedesmal krank von dem
+Schreck und von der ausgestandenen Angst. Mehrmals
+schon hatte sie ihr Ultimatum an die Fürstin gestellt
+und einmal war sie sogar so weit gegangen – in einem
+Moment der Kopflosigkeit vermutlich – daß sie
+erklärt hatte, entweder sie oder Falstaff müsse das
+Haus verlassen; aber die Fürstin hatte in eine Trennung
+von Falstaff nicht eingewilligt.
+</p>
+
+<p>
+Die Fürstin hatte im allgemeinen für andere nicht
+gerade viel Liebe übrig, aber diesen Falstaff liebte
+sie, nächst den Kindern, mehr als alles auf der Welt.
+Vor etwa sechs Jahren war der Fürst einmal von einem
+Spaziergang mit einem kleinen jungen Hunde
+zurückgekehrt, einem schmutzigen, kranken Wesen von
+wahrhaft mitleiderregendem Aussehen, der aber nichtsdestoweniger
+eine Bulldogge reinster Rasse war. Der
+Fürst hatte ihn irgendwie gerettet. Der Hund
+freilich benahm sich äußerst unmanierlich und deshalb
+wurde er auf Wunsch der Fürstin auf den
+Hinterhof geschafft und dort an die Kette gelegt. Der
+Fürst hatte nichts dagegen einzuwenden. Zwei Jahre
+<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
+darauf nun, als die Familie den Frühling in einem
+Landhause an der Newa verbrachte, fiel der kleine
+Alexander – Katjäs jüngerer Bruder, gewöhnlich
+Ssascha genannt – in den Fluß. Die Fürstin sah es,
+schrie auf und wollte sich sogleich in die Fluten stürzen,
+nur mit Gewalt konnte man sie davon abhalten,
+denn es wäre ihr Tod gewesen. Die Strömung aber
+riß schon das Kind mit sich fort und nur das Kleidchen
+sah man noch an einer Stelle an der Oberfläche
+auftauchen. In größter Hast versuchte man ein Boot
+loszubinden, aber eine Rettung des Kindes wäre ein
+Wunder gewesen. Da jagte plötzlich in großen Sätzen
+die riesige Bulldogge ans Ufer und sprang ins Wasser,
+schwamm in mächtigen Stößen dem ertrinkenden Knaben
+nach, packte ihn mit dem Gebiß und schwamm im
+Triumph ans Ufer zurück. Die Fürstin stürzte vor ihm
+nieder, umarmte den schmutzigen, nassen Hund und
+küßte ihn wie von Sinnen. Doch Falstaff, der übrigens
+damals noch auf den prosaischen, ja sogar höchst
+plebejischen Namen „Frix“ hörte, war ein ausgesprochener
+Feind aller Zärtlichkeiten und erwiderte die
+Liebe der Fürstin damit, daß er sie in die Schulter biß,
+soweit sein Rachen nur fassen konnte. Die Fürstin litt
+bis an ihr Lebensende an der Narbe, aber ihre Dankbarkeit
+für die Rettung des Sohnes kannte trotzdem
+keine Grenzen. Falstaff mußte in die Gemächer der
+fürstlichen Familie übersiedeln, wurde gereinigt, gewaschen
+und bekam ein Halsband aus getriebenem
+Silber. Er hielt sich fortan zumeist im Boudoir der
+Fürstin auf, lag dort auf einem prachtvollen Bärenfell,
+und bald brachte es die Fürstin so weit, daß sie
+<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
+ihn ungestraft streicheln durfte. Als sie erfuhr, daß ihr
+Liebling „Frix“ hieß, war sie entsetzt über diese Geschmacklosigkeit
+und sogleich mußten alle helfen, einen
+anderen passenderen Namen ausfindig zu machen,
+wenn möglich einen klassischen, recht altertümlichen.
+Hektor und Cerberus waren leider schon zu abgedroschen,
+es mußte ein ganz besonderer Name sein, wie
+er dem Günstling der Fürstin zukam. Nach langer
+vergeblicher Liebesmüh’ schlug der Fürst zu guter Letzt,
+im Hinblick auf die ungeheure Gefräßigkeit der Dogge,
+den Namen Falstaff vor. Der Name fand den
+größten Beifall und wurde gewählt. Falstaff führte
+sich hinfort auch weit besser auf. Als reinblütiger
+Engländer war er naturgemäß schweigsam und ernst,
+griff niemanden als erster an, sondern verlangte nur,
+daß man sein Ruhelager auf dem Bärenfell achtete,
+und ihm überhaupt die schuldige Ehrfurcht bezeuge.
+Von Zeit zu Zeit jedoch bemächtigte sich seiner so etwas
+wie ein Spleen und Falstaff gedachte mit bitteren
+Gefühlen der Tatsache, daß sein unversöhnlicher
+Feind, der ihm seine souveränen Rechte genommen,
+immer noch unbestraft weiterlebte. Dann schlich er
+heimlich bis zur Treppe, die nach oben führte, und da
+er diese gewöhnlich verschlossen fand, legte er sich
+dort in ihrer Nähe irgendwohin, möglichst unbemerkbar
+in einen Winkel, oder wo er sonst am wenigsten
+auffiel, und nun wartete er arglistig auf einen vergeßlichen
+Dienstboten, der die Tür vielleicht zu schließen
+vergaß. Bisweilen wartete er in seiner Rachsucht
+drei Tage lang vergeblich, denn es war allen aufs
+strengste eingeschärft, die Tür nicht offen stehen zu
+<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
+lassen. Auf diese Weise hatte er zuletzt seine Wut schon
+zwei Monate verbeißen müssen – vor zwei Monaten
+nämlich war er zum letztenmal nach oben gerast.
+</p>
+
+<p>
+„Falstaff, Falstaff!“ rief die Prinzeß, die Tür
+offen haltend, in den freundlichsten Tönen Falstaff auf
+die Treppe bittend.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick hatte Falstaff bereits gewittert,
+daß die Treppentür aufgemacht wurde und
+war schon im Begriff, über seinen Rubikon zu springen.
+Aber die Aufforderung dazu von seiten der kleinen
+Prinzeß erschien ihm dermaßen unbegreiflich, daß
+er im ersten Moment entschieden seinen Ohren nicht
+traute. Er war schlau wie eine Katze, und um sich
+den Anschein zu geben, als habe er die Fahrlässigkeit,
+die die Tür offen stehen ließ, gar nicht bemerkt, ging
+er zum Fenster, legte die Vorderpfoten auf das Fensterbrett
+und begann, das Haus gegenüber zu betrachten
+... Kurz, er benahm sich wie die argloseste
+Seele der Welt, etwa wie ein gleichgültiger Spaziergänger,
+der für einen Augenblick stehenbleibt, um die
+Architektur eines schönen Gebäudes zu bewundern.
+Indessen schlug aber und wiegte sich sein Herz schon
+in süßester Hoffnung. Wie groß war daher seine Überraschung,
+seine Freude, wie geriet er förmlich außer sich
+vor Übermut, als die Tür vor ihm sogar sperrangelweit
+aufgemacht wurde und er überdies noch gerufen, gebeten,
+angefleht wurde, das verbotene Gebiet zu betreten
+und seinen gerechten Rachedurst unverzüglich
+zu stillen! Er heulte auf vor Freude, zeigte die Zähne,
+und raste, es war unheimlich anzuschauen, in wahrem
+Siegesrausch wie der Wind an uns vorüber.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a>
+Er raste mit solcher Wucht, daß der Diener, der
+ihm oben in den Weg kam, vom Stoß reichlich eine
+Klafter weit zur Seite flog und sich nach dem entsprechenden
+Naturgesetz noch einmal in die Runde
+drehte. Falstaff flog wie eine Kanonenkugel. Madame
+Léotard kreischte auf vor Schreck. Doch Falstaff prallte
+schon an die verschlossene Tür, richtete sich hoch auf
+und heulte los, daß Gott erbarm’. Als Antwort ertönte
+ein fürchterliches Geschrei des alten Fräuleins.
+Und schon stürmte von allen Seiten die Legion der
+Feinde herbei, das ganze Haus lief nach oben, und das
+Ende war, daß Falstaff, der wilde Falstaff, gefesselt
+an allen vier Beinen, mit einem geschickt über seinen
+Kopf geworfenen Maulkorb unschädlich gemacht und
+schmachvoll am Lasso geschleift, wie ein besiegter Sieger
+vom Felde des Kampfes nach unten zurückkehrte.
+</p>
+
+<p>
+Ein Bote wurde zur Fürstin entsandt.
+</p>
+
+<p>
+Diesmal war die Fürstin nicht mehr zum Entschuldigen
+und Begnadigen geneigt. Aber wer sollte nun
+bestraft werden? Sie erriet natürlich sofort, wer die
+Schuldige war, – ihr Blick fiel auf Katjä ... Die
+stand bleich und schuldbewußt da. Die Arme dachte
+erst jetzt an die Folgen ihres Streiches. Der Verdacht
+konnte aber auch auf die unschuldigen Dienstboten
+fallen, und deshalb war Katjä schon im Begriff, die
+Wahrheit zu gestehen.
+</p>
+
+<p>
+„Du hast es getan?“ fragte die Fürstin streng.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah, wie Katjä totenblaß wurde – da trat ich
+schnell einen Schritt vor und sagte mit fester Stimme:
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe Falstaff heraufgelassen ... Aus Versehen,“
+<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a>
+fügte ich hinzu, denn mein ganzer Mut sank
+zusammen vor dem drohenden Blick der Fürstin.
+</p>
+
+<p>
+„Madame Léotard, bestrafen Sie sie. Aber ich
+wünsche, daß Sie mit dieser Strafe ein Exempel statuieren!“
+sagte die Fürstin und verließ das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah Katjä an: sie stand wie getroffen, wie betäubt,
+ihre Arme hingen schlaff herab, ihr erbleichtes
+Gesichtchen sah zu Boden.
+</p>
+
+<p>
+Die einzige Strafe, die man in der Erziehung der
+Kinder des Fürsten anwandte, war, daß man sie in
+einem leeren Zimmer einschloß. In einem leeren Zimmer
+zwei Stunden allein zu sein – das ist wohl weiter
+nicht schlimm. Wenn aber das Kind mit Gewalt,
+gegen seinen Willen, eingeschlossen wird und man
+ihm erklärt, daß ihm die Freiheit genommen ist, so ist
+die Strafe gar nicht so unbedeutend. Gewöhnlich wurde
+Katjä oder ihr Bruder auf zwei Stunden eingesperrt.
+Mich sperrte man, in Anbetracht der ganzen
+Ungeheuerlichkeit meines Vergehens, auf vier Stunden
+ein. Ich verging fast vor Freude, als ich in mein
+Gefängnis trat. Ich dachte an Katjä. Ich wußte, daß
+ich gesiegt hatte. Doch anstatt der vier Stunden saß
+ich dort bis vier Uhr morgens. Und das geschah auf
+folgende Weise.
+</p>
+
+<p>
+Zwei Stunden nach meiner Einkerkerung erhielt
+Madame Léotard die Nachricht, daß ihre Tochter aus
+Moskau eingetroffen und erkrankt sei und sie zu sprechen
+wünsche. Sie fuhr sogleich hin und natürlich vergaß
+sie mich darüber ganz und gar. Das Mädchen,
+welches nach uns zu sehen hatte, nahm an, ich sei von
+Madame Léotard schon vor ihrer Abfahrt aus der
+<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a>
+Haft entlassen worden. Katjä wurde bald darauf nach
+unten zur Mutter gerufen und mußte dort bis elf Uhr
+abends sitzen. Als sie nach oben zurückkehrte, war sie
+sehr erstaunt, mich nicht in meinem Bett zu sehen.
+Nastjä half ihr beim Auskleiden, doch die Prinzeß
+hatte ihre Gründe, weshalb sie sie nicht nach mir fragte.
+Sie legte sich hin und wartete auf mich, denn obschon
+sie wußte, daß ich nur auf vier Stunden eingesperrt
+war, dachte sie doch, das Kindermädchen werde
+mich sogleich bringen. Nastjä aber hatte mich ganz
+vergessen, um so mehr, als ich mich immer allein auskleidete.
+So kam es, daß ich in meinem Gefängnis
+nächtigen mußte.
+</p>
+
+<p>
+Es war gegen vier Uhr morgens, als mich plötzlich
+Lärm und Gepolter aufweckten. Ich hatte mich
+auf die Diele gelegt und war eingeschlafen. Im ersten
+Augenblick schrie ich auf vor Angst, doch dann unterschied
+ich Katjäs Stimme, die von allen anderen
+am lautesten ertönte, darauf die Stimmen von Madame
+Léotard, Nastjä und der Beschließerin. Endlich
+wurde die Tür aufgemacht und Madame Léotard umarmte
+und drückte mich unter Tränen an ihr Herz, und
+bat mich, ihr zu verzeihen, daß sie mich vergessen hatte.
+Ich schlang meine Arme um ihren Hals und zerfloß
+in Tränen. Dabei zitterte ich vor Kälte und alle Knochen
+taten mir weh von der harten Diele. Ich suchte
+mit den Augen Katjä, sie lief aber schon in unser
+Schlafzimmer zurück, und als ich hinkam, lag sie schon
+im Bett und schlief oder stellte sich schlafend. Am
+Abend hatte sie anfangs allerdings auf mich gewartet,
+war aber dann unwillkürlich und unversehens eingeschlummert
+<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a>
+und hatte bis vier Uhr morgens geschlafen.
+Nach ihrem plötzlichen Erwachen hatte sie dann alle
+aus den Federn gebracht, zunächst die zurückgekehrte
+Madame Léotard, darauf Nastjä, alle weiblichen
+Dienstboten – und zusammen mit diesen befreite sie
+mich.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen wußte schon das ganze
+Haus von meinem Abenteuer. Sogar die Fürstin soll
+gesagt haben, man sei gar zu streng mit mir verfahren.
+Den Fürsten aber sah ich damals zum erstenmal
+wirklich aufgebracht. Er kam in sichtlich großer Erregung
+gegen zehn Uhr zu uns nach oben.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bitte Sie, Madame,“ wandte er sich an die
+Französin, „was soll denn das für eine Methode sein?
+Wie sind Sie mit dem armen Kinde umgegangen? Das
+ist ja barbarisch, wahrhaft barbarisch! einfach skythisch!
+Ein armes, schwächliches Kind, und noch dazu
+solch ein verträumtes, eingeschüchtertes, kleines Mädchen
+– und das sperren Sie in ein dunkles Zimmer
+für die ganze Nacht ein! Das heißt doch das Kind
+geradezu dem Verderben ausliefern! Wissen Sie denn
+nicht, was sie in ihrem jungen Leben schon erlebt hat?
+Nein, das war von Ihnen einfach unmenschlich, ich
+versichere Sie, Madame! Und wie ist eine solche Strafe
+überhaupt möglich? Wer hat sich nur so etwas ausdenken
+können?“
+</p>
+
+<p>
+Die arme Madame Léotard begann unter Tränen
+und in großer Verwirrung den Sachverhalt zu erklären.
+Sie sagte, daß ihre Tochter angekommen sei,
+und darüber habe sie mich vergessen, die Strafe an sich
+<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a>
+sei gut, wenn sie nicht zu lange dauere, und sogar
+Jean Jacques Rousseau sage etwas Ähnliches.
+</p>
+
+<p>
+„Jean Jacques Rousseau, Madame! Was geht
+mich Jean Jacques an! Der ist keine Autorität. Und
+übrigens hat Rousseau kein Recht, von Erziehung zu
+sprechen, denn er hat sich von seinen eigenen Kindern
+losgesagt, Madame! Jean Jacques Rousseau war
+ein unsittlicher Mensch, Madame!“
+</p>
+
+<p>
+„Jean Jacques Rousseau! Jean Jacques ein unsittlicher
+Mensch! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Prince! Prince!</span> Was sagen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+Und Madame Léotard wurde rot vor Entsetzen.
+</p>
+
+<p>
+Sie war im Grunde eine prächtige Frau und nahm
+nicht gern etwas übel; wenn man sich aber unterfing,
+an ihren Lieblingen etwas auszusetzen, etwa den klassischen
+Schatten eines Corneille oder Racine im Jenseits
+zu beunruhigen, oder Voltaire zu beleidigen oder
+Jean Jacques Rousseau einen unsittlichen Menschen
+zu nennen – oh Gott! Tränen entstürzten den Augen
+der guten alten Dame und sie bebte vor Erregung.
+</p>
+
+<p>
+„Sie vergessen sich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon prince</span>!“ rief sie außer
+sich, mit vor Aufregung unsicherer Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Der Fürst besann sich denn auch sofort und entschuldigte
+sich, dann trat er zu mir, küßte mich mit tiefem
+Gefühl, bekreuzte mich und verließ uns.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Pauvre prince!</span>“ seufzte Madame Léotard, die
+nun ihrerseits weich wurde. Darauf setzten wir uns
+an den Lerntisch und der Unterricht begann.
+</p>
+
+<p>
+Die Prinzeß war aber sehr zerstreut. Bevor wir
+hernach zum Essen nach unten gingen, kam sie auf
+mich zu, mit glühendem Gesichtchen, doch lachenden
+Lippen, blieb vor mir stehen, faßte mich an den
+<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a>
+Schultern und sagte schnell, als schäme sie sich Gott
+weiß aus welchem Grunde:
+</p>
+
+<p>
+„Was? Hast du gestern lang genug für mich gesessen?
+Nach dem Essen wollen wir heute in den Saal
+gehen und spielen.“
+</p>
+
+<p>
+Jemand kam und die Prinzeß wandte sich blitzschnell
+von mir fort.
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Essen, in der Dämmerung, gingen wir
+beide Hand in Hand in den großen Saal. Die Prinzeß
+war sehr aufgeregt und atmete schwer. Ich dagegen
+war froh und glücklich wie nie zuvor.
+</p>
+
+<p>
+„Willst du Ball spielen?“ fragte sie mich. „Stell’
+dich hierhin!“
+</p>
+
+<p>
+Sie stellte mich in die eine Saalecke, doch anstatt
+nun von mir fortzugehen und den Ball mir zuzuwerfen,
+blieb sie drei Schritte vor mir stehen, sah mich
+an, errötete, schlug die Hände vors Gesicht und warf
+sich aufs Sofa. Ich machte eine Bewegung zu ihr hin
+– sie dachte aber, ich wolle fortgehen.
+</p>
+
+<p>
+„Geh nicht fort, Njetotschka, bleib bei mir,“ sagte
+sie schnell, „das wird gleich vergehen.“
+</p>
+
+<p>
+Da sprang sie auch schon auf, und über und über
+erglühend, mit Tränen in den Augen, warf sie sich
+an meine Brust. Ihre Wangen waren feucht, ihre Lippen
+wie Kirschen so rot – und die Locken in wirrem
+Durcheinander. Sie küßte mich wie von Sinnen, küßte
+mein Gesicht, meine Augen, Lippen, den Hals, die
+Hände, und dabei weinte sie, wie in einem Nervenanfall;
+ich schmiegte mich fest an sie und wir umarmten
+uns süß und selig, wie zwei gute Freunde oder –
+wie ein Liebespaar, das sich nach langer, langer Trennung
+<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a>
+wiedersieht. Katjäs Herz pochte so stark, daß ich
+jeden Schlag spürte.
+</p>
+
+<p>
+Im Nebenzimmer ertönte eine Stimme: Katjä
+wurde zur Fürstin gerufen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach Njetotschka! Nu! Auf Wiedersehen – bis
+zum Abend! bis zur Nacht! Geh jetzt nach oben und
+wart’ auf mich!“
+</p>
+
+<p>
+Sie küßte mich noch ein letztes Mal leise, unhörbar,
+fest, und dann eilte sie dem Ruf nach. Ich lief
+nach oben, sinnlos, trunken, wie erlöst, warf mich auf
+den Diwan, preßte das Gesicht ins Kissen und weinte
+vor Entzücken. Mein Herz schlug so heftig, als wolle es
+die Brust sprengen. Ich weiß nicht, wie die Stunden
+bis zum Abend vergingen. Endlich schlug es elf und
+ich ging zu Bett. Die Prinzeß kehrte erst um zwölf zurück;
+sie lächelte mir von ferne zu, sagte aber kein
+Wort. Nastjä entkleidete sie und schien es wie absichtlich
+langsam zu tun.
+</p>
+
+<p>
+„Schneller, schneller, Nastjä!“ drängte Katjä.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn das, Prinzeßchen, sind wohl die
+Treppe heraufgelaufen, daß das Herzchen so schlägt?“
+fragte Nastjä.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott, Nastjä! Wie kann man so langweilig
+sein! Schneller, schneller doch!“ Und Prinzeßchen
+stampfte geärgert mit dem Fuß auf.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, was für’n Herzchen!“ sagte Nastjä und küßte
+das Füßchen der Prinzeß, von dem sie gerade den
+Strumpf abzog.
+</p>
+
+<p>
+Endlich war alles beendet, die Prinzeß lag im Bett
+und Nastjä verließ uns. Im Nu sprang Katjä aus
+<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a>
+dem Bett und eilte zu mir. Ich empfing sie mit einem
+Freudenschrei.
+</p>
+
+<p>
+„Komm zu mir, komm in mein Bett!“ sagte sie
+schnell und selbst schon im Begriff, mich aus dem Bett
+zu heben. Einen Augenblick später lagen wir beide in
+ihrem Bett, umschlangen uns fest und schmiegten uns
+aneinander. Die Prinzeß erstickte mich fast mit ihren
+Küssen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß doch, wie du mich geküßt hast, wenn du
+glaubtest ich schliefe!“ flüsterte sie, über und über errötend.
+</p>
+
+<p>
+Ich weinte.
+</p>
+
+<p>
+„Njetotschka!“ flüsterte Katjä unter Tränen, „du
+mein Engel, ich hab’ dich doch schon so lange, so lange
+schon lieb! Weißt du, seit wann?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, seit wann?“
+</p>
+
+<p>
+„Als Papa mir befahl, dich um Verzeihung zu bitten,
+nachdem du deinen Papa verteidigt hattest, Njetotschka
+... Du mein Wai–sen–kindchen!“ sagte sie
+gedehnt und wieder bedeckte sie mich mit Küssen. Sie
+weinte und lachte zugleich.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Katjä!“
+</p>
+
+<p>
+„Nu was? – nu – was?“
+</p>
+
+<p>
+„Warum hast du so lange ... so lange ...“ ich
+sprach nicht zu Ende. Wir hielten uns krampfhaft
+umschlungen und sprachen wohl drei Minuten lang
+kein Wort.
+</p>
+
+<p>
+„Hör’ mal, was hast du denn alles von mir gedacht?“
+fragte die Prinzeß.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, ich hab’ so vieles gedacht, Katjä! Ich habe
+nur an dich gedacht, Tag und Nacht.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a>
+„Und in der Nacht von mir gesprochen, das habe
+ich gehört.“
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich?“
+</p>
+
+<p>
+„Und sogar geweint!“
+</p>
+
+<p>
+„Siehst du! – warum warst du denn so stolz?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich war doch dumm, Njetotschka! Das kommt so
+zuweilen über mich und dann bin ich machtlos. Ich
+war die ganze Zeit böse auf dich.“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb?“
+</p>
+
+<p>
+„Weil ich selber schlecht war. Anfangs deshalb,
+weil du besser warst als ich. Dann deshalb, weil
+Papa dich mehr liebte! Papa aber ist ein guter Mensch,
+Njetotschka. Nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach ja, das ist er!“ rief ich ganz begeistert.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ein guter Mensch,“ wiederholte Katjä ernsthaft.
+„Aber was soll ich mit ihm anfangen? Er ist
+immer so ... Nun, und dann bat ich dich um Verzeihung
+und begann dabei fast zu weinen, und darüber
+ärgerte ich mich wieder.“
+</p>
+
+<p>
+„Das sah ich, das sah ich, daß du dem Weinen
+nahe warst.“
+</p>
+
+<p>
+„Schweig, Dummchen, weinst selbst jeden Augenblick!“
+rief Katjä und hielt mir den Mund zu. „Weißt
+du, ich wollte dich furchtbar lieben, dann aber wollte
+ich dich plötzlich wieder so hassen und ich haßte dich,
+haßte dich so!“ ...
+</p>
+
+<p>
+„Weswegen denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja so – ich war bös auf dich. Ich weiß nicht,
+weshalb! Dann aber sah ich, daß du ohne mich nicht
+mehr leben konntest, und da dacht’ ich: wart’, ich werde
+sie doch noch quälen, die Schändliche!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a>
+„Ach, Katjä!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Seelchen!“ rief sie, meine Hand küssend,
+„und dann, weißt du, wollte ich mit dir nicht mehr
+sprechen, ich wollte nicht, für keinen Preis! Und weißt
+du noch, wie ich Falstaff streichelte?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach du, du Unerschrockene!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie ich mich <em>fürchtete</em>!“ sagte sie und
+schüttelte sich. „Doch weißt du auch, warum ich zu ihm
+ging?“
+</p>
+
+<p>
+„Warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, weil du zuschautest. Als ich sah, daß du
+mich ansahst ... Ach! – da war mir alles andere
+gleich – ich ging! Hab’ ich dich erschreckt, was? Fürchtetest
+du dich für mich?“
+</p>
+
+<p>
+„Entsetzlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß. Aber wie ich dann froh war, daß
+Falstaff abtrollte! Mein Gott, und wie mich dann
+plötzlich die Angst packte, als er aus dem Zimmer war!
+Solch ein Scheu–sal!“
+</p>
+
+<p>
+Und die Prinzeß schüttelte sich wieder und lachte
+nervös, indes ein Gruseln sie faßte. Plötzlich erhob
+sie ihr heißes Köpfchen und sah mich lange aufmerksam
+an. Zwei Tränchen glänzten noch wie Diamanten
+an ihren langen Wimpern.
+</p>
+
+<p>
+„Nu, was ist denn eigentlich an dir, daß ich dich
+so liebgewonnen habe? Du! – bleich bist du, die
+Haare blond, selbst solch ein Dummchen, das immer
+gleich weint, die Augen blau ... Du mein Wai–sen–kindchen!“
+</p>
+
+<p>
+Und Katjä umfing mich wieder, um mich von neuem
+<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a>
+mit Küssen zu bedecken. Einige ihrer Tränen fielen
+auf meine Wangen. Sie war tief gerührt.
+</p>
+
+<p>
+„Und wie ich dich doch liebte! – aber immer
+dachte ich: nein und nein, ich sag’s ihr doch nicht!
+Ich war ja so eigensinnig! Was fürchtete ich denn
+eigentlich, weshalb schämte ich mich vor dir? Sieh
+doch, wie gut wir es jetzt haben!“
+</p>
+
+<p>
+„Katjä! Es schmerzt mich so!“ sagte ich außer mir
+vor Freude. „Es bricht mir das Herz entzwei!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Njetotschka! Hör’ weiter ... Ja aber, wart’,
+sag’ zuerst, wer hat dir den Namen Njetotschka gegeben?“
+</p>
+
+<p>
+„Mama!“
+</p>
+
+<p>
+„Wirst du mir von deiner Mama erzählen?“
+</p>
+
+<p>
+„Alles, alles!“ versprach ich begeistert.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wohin hast du meine zwei Taschentücher gesteckt,
+die mit den Spitzen? Und mein Haarband, warum
+hast du das versteckt? Ach du, schämst du dich nicht!
+Ich weiß doch alles!“
+</p>
+
+<p>
+Ich lachte und errötete tief.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, da dachte ich doch: wart’, da werd’ ich sie
+noch ein bißchen quälen, mag sie warten. Manchmal
+aber dachte ich wieder: aber ich lieb’ sie ja gar nicht,
+ich kann sie nicht ausstehen! Du aber warst immer so
+still, wie so ein frommes Lämmchen! Und wie ich fürchtete,
+daß du mich für dumm halten könntest! Du bist
+klug, Njetotschka, du bist doch sehr klug, nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, pfui Katjä, was fällt dir ein!“ rief ich fast
+beleidigt.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, du bist klug,“ sagte Katjä in bestimmtem
+und ernstem Ton, „das weiß ich. Nur, weißt du,
+<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a>
+eines Morgens stand ich auf und hatte dich plötzlich
+so lieb, ganz furchtbar lieb! Die ganze Nacht hatte
+mir nur von dir geträumt. Da dachte ich: ich werde
+zu Mama übersiedeln und ganz dort wohnen. Ich
+will sie nicht lieben, ich will nicht! Als ich aber dann
+am Abend unten bei Mama einschlief, da dachte ich:
+wenn sie jetzt käme, wie in der vorigen Nacht – doch
+du kamst nicht. Und wieviel Mühe es mich da kostete,
+zu tun als schlafe ich ganz ruhig! Ach, wie dumm wir
+waren, Njetotschka!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber warum wolltest du mich denn nicht lieben?“
+</p>
+
+<p>
+„So ... Ach, was sage ich! – ich hab’ dich doch
+die ganze Zeit geliebt! Immer hab’ ich dich geliebt.
+Erst später kam das – daß ich dich nicht ausstehen
+konnte. Ich dachte, ach, ich werde sie einmal totküssen
+oder totkneifen! Da hast du’s nun, du Dummchen!“
+</p>
+
+<p>
+Und sie kniff mich.
+</p>
+
+<p>
+„Aber erinnerst du dich noch, wie ich dir deine
+Schuhschleife band?“
+</p>
+
+<p>
+„O ja!“
+</p>
+
+<p>
+„O ja! – war’s dir angenehm? Weißt du, ich
+sah dich an: wie lieb sie doch ist, dachte ich, halt, ich
+werd’ ihr die Schleife binden – was sie dann wohl
+denken wird? Und da hatte ich gleich selbst solch ein
+gutes Gefühl. Und wirklich, ich wollte dich auf der
+Stelle abküssen ... Aber ich küßte dich doch nicht.
+Dann aber fand ich das alles so komisch, so schrecklich
+komisch! Und auf dem ganzen Wege, während unseres
+Spazierganges, glaubte ich, jetzt, im nächsten Augenblick
+nicht mehr an mich halten zu können und laut auflachen
+zu müssen. Ich konnte dich nicht ansehen, so komisch
+<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a>
+war’s. Und wie froh ich doch war, daß du für mich
+ins Gefängnis gingst!“ – Das leere Zimmer wurde
+„das Gefängnis“ genannt. – „Und hattest du Angst?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, fürchterlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, und weißt du, ich freute mich nicht nur darüber,
+daß du vor Mama meine Schuld auf dich genommen
+hattest, sondern noch viel mehr darüber, daß du
+für mich im Gefängnis sitzen mußtest! Ich dachte: jetzt
+sitzt sie da und weint, ich aber – wie habe ich sie lieb!
+Morgen werde ich sie so küssen, so küssen! Und du
+tatest mir doch kein bißchen leid, bei Gott, du tatest
+mir gar nicht leid, obschon ich auch etwas weinte.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich aber, siehst du, habe nicht geweint, ich war
+dir zum Trotz gerade sehr froh!“
+</p>
+
+<p>
+„Hast nicht geweint? Ach, du Böse!“ rief die Prinzeß
+und saugte sich an mir fest mit ihren weichen Lippen.
+</p>
+
+<p>
+„Katjä, Katjä! Mein Gott, wie bist du reizend!“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht wahr? Aber jetzt mach’ mit mir, was du
+willst! Schlag mich, kneif mich! Bitte, kneif mich!
+Täubchen, ach, nu, so kneif mich doch!“
+</p>
+
+<p>
+„Wildfang!“
+</p>
+
+<p>
+„Nu, und was noch?“
+</p>
+
+<p>
+„Dummchen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und was noch?“
+</p>
+
+<p>
+„Küss’ mich!“
+</p>
+
+<p>
+Und wir küßten uns, weinten, lachten, unsere Lippen
+waren schon geschwollen vom Küssen.
+</p>
+
+<p>
+„Njetotschka! Erstens, höre: du wirst jetzt immer zu
+mir schlafen kommen. Küßt du gern? Dann werden wir
+uns auch küssen. Und dann: ich will nicht, daß du so
+<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a>
+langweilig bist. Warum langweiltest du dich? Wirst
+du mir das erzählen, ja?“
+</p>
+
+<p>
+„Alles werde ich dir erzählen. Aber jetzt bin ich
+nicht mehr traurig, sondern lustig!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wart’ nur, bald wirst du auch so rote Wangen
+haben wie ich! Ach, wenn doch der Morgen schneller
+käme! Willst du schon schlafen, Njetotschka?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Nu, dann, laß uns erzählen!“
+</p>
+
+<p>
+Und wir sprachen wohl gute zwei Stunden. Gott
+weiß was wir da alles zusammenphantasierten. Zuerst
+entrollte Katjä alle ihre Zukunftspläne und teilte mir
+mit, daß sie ihren Papa am meisten von allen liebte,
+fast sogar mehr als mich. Dann kamen wir überein,
+daß Madame Léotard eine gute Frau und gar nicht
+streng war. Dann setzten wir sogleich fest, was wir am
+nächsten und übernächsten Tage tun würden, und überhaupt
+bestimmten wir unser Leben etwa schon für
+zwanzig Jahre im voraus. Für die allernächste Zukunft
+entwarf Katjä folgenden Plan: an einem Tage würde
+sie mir befehlen und ich alles ausführen, und am nächsten
+Tage umgekehrt, dann würde ich befehlen und sie
+widerspruchslos gehorchen; und dann würden wir beides
+zugleich tun, also uns gegenseitig Befehle erteilen;
+und dann würden wir es einmal absichtlich so machen,
+daß wir in Streit gerieten, nur so zum Schein, und dann
+uns schnell wieder versöhnen. Mit einem Wort, uns
+erwartete schier unendliches Glück. Schließlich wurden
+wir aber doch müde. Meine Augen fielen mir schon
+zu. Katjä lachte mich aus, nannte mich eine Schlafmütze
+und – schlief selbst noch vor mir ein.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a>
+Am nächsten Morgen erwachten wir beide zugleich,
+küßten uns schnell, denn wir hörten Schritte, und ich
+konnte gerade noch rechtzeitig in mein Bett schlüpfen,
+bevor Nastjä ins Zimmer trat.
+</p>
+
+<p>
+Den ganzen Tag wußten wir nicht, was wir miteinander
+anfangen sollten vor Freude. Wir liefen aus
+einem Zimmer ins andere und versteckten uns fast die
+ganze Zeit vor den anderen, denn fremde Augen fürchteten
+wir am meisten. Zu guter Letzt begann ich ihr
+meine Lebensgeschichte zu erzählen. Katjä war geradezu
+erschüttert.
+</p>
+
+<p>
+„Du, du Böse! Warum hast du mir das alles nicht
+früher erzählt? Ich hätte dich dann gleich so lieb gehabt,
+so lieb! Doch sag’: haben dich die Jungen auf
+der Straße schmerzhaft geschlagen?“
+</p>
+
+<p>
+„O ja. Und ich hatte schreckliche Angst vor ihnen!“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui, die schändlichen! Weißt du, Njetotschka, ich
+habe selbst einmal gesehen, wie ein Knabe einen anderen
+auf der Straße schlug. Weißt du, morgen werde
+ich heimlich Falstaffkas Hundepeitsche mitnehmen und
+wenn mir noch solch einer begegnet, dann werde ich
+ihn so hauen, so hauen!“
+</p>
+
+<p>
+Ihre Augen blitzten vor Zorn.
+</p>
+
+<p>
+Wir erschraken, wenn jemand ins Zimmer trat;
+wir fürchteten, beim Küssen überrascht zu werden, denn
+wir küßten uns an jenem Tage wenigstens hundertmal.
+So vergingen der erste und der zweite Tag. Ich fürchtete
+schon, zu sterben vor Entzücken. Das Glücksgefühl
+war so mächtig, daß es mir den Atem raubte. Doch
+unser Glück sollte nicht von langer Dauer sein.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a>
+Madame Léotard, die Katjä auf Wunsch der besorgten
+Fürstin nicht aus den Augen lassen sollte, beobachtete
+uns drei Tage mit wachsender Verwunderung
+und in dieser Zeit bemerkte sie manches, was ihr
+zu denken gab. Am dritten Tage ging sie zur Fürstin
+und berichtete gewissenhaft, was ihr an uns aufgefallen
+war: daß wir beide wie außer Rand und Band
+seien, schon drei Tage uns nicht voneinander trennten
+– uns jeden Augenblick küßten, weinten, lachten
+und unaufhörlich plauderten, was sie früher nie
+bemerkt habe: sie wisse gar nicht, welchem Einfluß das
+zuzuschreiben sei; aber es wolle ihr scheinen, daß die
+Prinzeß sich in einem krankhaften Zustande befinde,
+und deshalb meine sie, es wäre vielleicht besser, wir
+kämen seltener zusammen.
+</p>
+
+<p>
+„Das habe ich schon längst gedacht,“ versetzte die
+Fürstin. „Ich ahnte es, daß man von dieser sonderbaren
+Waise nur Scherereien haben werde! Was man
+mir von ihr erzählt hat, von ihrem früheren Leben, –
+ist geradezu haarsträubend, ist einfach entsetzlich! Sie
+hat augenscheinlich Einfluß auf Katjä. Sie sagen, Katjä
+liebe sie sehr?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, sogar unsinnig!“
+</p>
+
+<p>
+Die Fürstin errötete vor Ärger. Sie war schon damals
+eifersüchtig auf die Liebe ihrer Tochter zu mir.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist mir doch zu unnatürlich,“ sagte sie.
+„Früher waren sie einander so fremd, und ich muß
+gestehen, das freute mich. So klein dieses Mädchen
+auch noch ist, aber ich bin vor nichts sicher. Sie verstehen
+mich? Sie hat schon mit der Muttermilch alles
+das eingesogen, ihre Angewohnheiten oder vielleicht sogar
+<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a>
+ihre Neigungen. Ich begreife nicht, was der Fürst
+an ihr gefunden hat! Tausendmal habe ich ihm schon
+den Vorschlag gemacht, sie in einer Pension unterzubringen.“
+</p>
+
+<p>
+Madame Léotard versuchte nun, mich zu verteidigen,
+aber die Fürstin hatte ihren Entschluß bereits
+gefaßt. Katjä wurde nach unten gerufen und dort
+sagte man ihr, daß sie mich nicht vor dem nächsten
+Sonntag wiedersehen dürfe, also erst nach einer ganzen
+Woche.
+</p>
+
+<p>
+Ich erfuhr das erst am späten Abend und Entsetzen
+erfaßte mich. Ich dachte an Katjä und fürchtete, sie
+werde unsere Trennung nicht überleben. Ich geriet
+außer mir und meine Verzweiflung war so groß, daß
+ich in der Nacht krank wurde. Am nächsten Morgen
+kam der Fürst zu mir und sagte mir leise, als wir allein
+blieben, ich solle ruhig auf ein baldiges Wiedersehen
+hoffen. Leider waren aber seine Bemühungen vergeblich,
+denn die Fürstin blieb bei ihrem Entschluß. Meine
+Verzweiflung dagegen wuchs mit jeder Stunde und der
+Schmerz würgte mich, daß ich an ihm zu ersticken
+glaubte.
+</p>
+
+<p>
+Am dritten Morgen brachte mir Nastjä einen Zettel
+von Katjä. Sie schrieb mir mit dem Bleistift auf
+einem abgerissenen Stück Papier in fürchterlichen
+Krähenfüßen folgendes:
+</p>
+
+<p>
+„Ich liebe dich unsinnig. Ich sitze bei <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">maman</span> und
+denke nur darüber nach, wie ich fortlaufen könnte.
+Ich werde unbedingt fortlaufen, das schwöre ich dir,
+und deshalb weine nicht. Schreib’ mir, wie du mich
+liebst. Ich aber umarme dich die ganze Nacht im
+<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a>
+Schlaf, und habe furchtbar gelitten, Njetotschka. Ich
+schicke dir Konfekt. Adieu.“
+</p>
+
+<p>
+Ich antwortete auf demselben Wege. Den ganzen
+Tag las ich immer wieder Katjäs Brief und weinte.
+Madame Léotard quälte mich mit ihrer Zärtlichkeit.
+Am Abend erfuhr ich, daß sie zum Fürsten gegangen
+war und gesagt hatte, daß ich sicherlich zum drittenmal
+krank werden würde, wenn ich Katjä nicht wiedersähe,
+und daß sie es bereue, die Fürstin beunruhigt zu haben.
+Ich fragte Nastjä, was Katjä mache. Sie sagte,
+Katjä weine nicht, sei aber sehr bleich.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen flüsterte Nastjä mir zu:
+</p>
+
+<p>
+„Gehen Sie ins Kabinett des Fürsten. Aber gehen
+Sie über die Treppe, die rechts nach unten führt.“
+</p>
+
+<p>
+Alles in mir wurde lebendig in froher Vorahnung.
+Atemlos vor Erwartung lief ich nach unten und klinkte
+die Tür auf zum Kabinett. Es war niemand da. Plötzlich
+wurde ich hinterrücks krampfhaft umschlungen und
+Katjä küßte mich leidenschaftlich. Lachen, Tränen ...
+Im Nu riß sie sich aus meinen Armen, lief zum Vater,
+kletterte wie eine Eichkatze an ihm empor bis auf seine
+Schulter, konnte sich aber dort nicht halten und sprang
+auf den Diwan. Das brachte auch den Fürsten so aus
+dem Gleichgewicht, daß er sich setzen mußte. Katjä
+lachte unter Tränen.
+</p>
+
+<p>
+„Papa, was bist du für ein guter Papa!“
+</p>
+
+<p>
+„Wildfang! Ihr seid mir beide gut! Was ist denn
+mit euch geschehen? Woher diese Freundschaft? Woher
+diese Liebe?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, frag’ nicht, Papa, davon verstehst du nichts!“
+</p>
+
+<p>
+Und wir hielten uns wieder fest umschlungen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a>
+Ich betrachtete sie bang: sie hatte abgenommen in
+den drei Tagen. Die frische Farbe ihres Gesichtchens
+war einer zarten Blässe gewichen. Da mußte ich weinen
+vor Leid.
+</p>
+
+<p>
+Nastjä klopfte an die Tür – ein Zeichen, daß Katjäs
+Abwesenheit der Fürstin aufgefallen war. Katjä
+wurde leichenblaß.
+</p>
+
+<p>
+„Laßt es jetzt genug sein, Kinder. Wir werden
+hier jeden Tag zusammenkommen. Nehmt jetzt Abschied
+für heute und Gott mit euch!“ sagte der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+Er war sichtlich gerührt, da er unseren Schmerz
+sah; doch es sollte anders kommen. Am Abend desselben
+Tages <a id="corr-5"></a>kam aus Moskau die Nachricht, daß der
+kleine Ssascha schwer erkrankt sei und fast schon in den
+letzten Zügen liege. Die Fürstin beschloß sofort, am
+nächsten Morgen die Reise anzutreten. Das geschah
+alles so schnell, daß ich es erst eine Minute vor ihrer
+Abfahrt erfuhr. Daß wir uns überhaupt noch verabschieden
+konnten, Katjä und ich, hatten wir nur dem
+Fürsten zu danken, denn die Fürstin hatte davon nichts
+wissen wollen. Die Prinzeß war wie zerschlagen. Ich
+lief wie von Sinnen nach unten und warf mich an
+ihre Brust. Der Reisewagen wartete schon vor dem
+Portal. Katjä sah mich an und plötzlich wurde sie ohnmächtig.
+Ich bedeckte sie mit Küssen. Die Fürstin bemühte
+sich erschrocken um sie und gab ihr Essenzen zu
+riechen. Endlich schlug sie die Augen auf und ihre erste
+Bewegung war, daß sie mich wieder umarmte.
+</p>
+
+<p>
+„Leb’ wohl, Njetotschka!“ sagte sie plötzlich und
+sie versuchte zu lächeln, aber es sprach nur eine unsagbare
+Rührung aus ihrem Gesichtchen. „Du, sieh
+<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a>
+nicht auf mich; das ist nur so; ich bin nicht krank, nach
+einem Monat komme ich wieder. Dann werden wir
+uns nie mehr trennen.“
+</p>
+
+<p>
+„Genug, Katjä,“ sagte die Fürstin ruhig, „fahren
+wir!“
+</p>
+
+<p>
+Aber die Prinzeß kehrte noch einmal zurück. Noch
+einmal umfing sie mich krampfhaft.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Leben!“ konnte sie mir noch zuflüstern, „auf
+Wiedersehen!“
+</p>
+
+<p>
+Wir küßten uns zum letztenmal und die Prinzeß
+verließ mich – für lange, sogar für sehr lange Zeit.
+Es vergingen acht Jahre, bis wir uns wiedersahen!
+</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p class="noindent">
+Ich habe von dieser Episode meiner Kindheit mit
+Absicht so ausführlich erzählt. Unsere Lebensgeschichten
+sind eben untrennbar verbunden. Ihr Roman –
+ist auch mein Roman. Es war mir wie vom Schicksal
+bestimmt, sie kennen zu lernen, und ebenso ihr, mich
+zu finden. Und überdies konnte ich der Lust nicht widerstehen,
+mich nochmals in meine Kindheit zu versetzen ...
+Jetzt wird meine Erzählung schneller fortschreiten.
+Mein Dasein sank damals wie in eine große Stille und
+erst als ich mein sechzehntes Jahr bereits vollendet
+hatte, war es mir, als erwachte ich wieder zu einem
+wirklichen Leben ...
+</p>
+
+<p>
+Doch zuvor muß ich noch ein paar Worte über die
+erste Zeit nach der Abfahrt der fürstlichen Familie
+sagen.
+</p>
+
+<p>
+Ich blieb mit Madame Léotard zurück.
+</p>
+
+<p>
+So vergingen zwei Wochen. Dann traf aus Moskau
+<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a>
+ein Abgesandter des Fürsten ein und brachte die
+Nachricht, daß die Rückkehr nach Petersburg auf unbestimmte
+Zeit hinausgeschoben worden sei. Da nun
+Madame Léotard aus Gründen, die ihre eigene Familie
+angingen, nicht nach Moskau übersiedeln konnte, so
+hatte sie im Hause des Fürsten nichts mehr zu tun. Sie
+blieb aber in derselben Familie, indem sie zur ältesten
+Tochter der Fürstin übersiedelte.
+</p>
+
+<p>
+Ich bin bisher noch nicht auf Alexandra Michailowna
+zu sprechen gekommen – wohl deshalb, weil
+ich sie bis dahin nur ein einziges Mal gesehen hatte.
+Sie war die Tochter der Fürstin aus deren erster Ehe.
+Die Herkunft und Verwandtschaft der Fürstin waren
+etwas dunkel. Ihr erster Mann war ein Gutspächter
+gewesen. Als sie dann zum zweitenmal geheiratet
+hatte, wußte sie nicht, was sie mit ihrer ältesten Tochter
+anfangen sollte. Auf eine glänzende Partie konnte
+sie nicht hoffen. Die Mitgift war mäßig; aber schließlich,
+vier Jahre vor meiner Aufnahme, hatte man für
+sie dennoch einen reichen Mann, der schon einen bedeutenden
+Posten bekleidete, gefunden. Alexandra Michailowna
+kam in neue Gesellschaftskreise und sah um sich
+eine andere Welt. Die Fürstin besuchte ihre Tochter
+im ganzen nur zweimal im Jahre. Der Fürst, ihr Stiefvater,
+besuchte sie dagegen in jeder Woche und nahm
+dann auch Katjä mit. In der letzten Zeit sah die Fürstin
+es sehr ungern, daß Katjä zur Schwester ging; da
+brachte der Fürst sie oft heimlich hin. Katjä vergötterte
+die Schwester, obwohl sie ganz entgegengesetzte
+Charaktere waren.
+</p>
+
+<p>
+Alexandra Michailowna war damals zweiundzwanzig
+<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a>
+Jahre alt, still, zart, sehr liebreich. Ja es war,
+wie wenn ein heimlicher Kummer, ein verborgener
+Schmerz ihre schönen Züge verklärte. Und dennoch
+hatte ich die Empfindung, als paßten der Ernst und die
+Trauer nicht gut zu ihrem schönen lieben Antlitz, ganz
+wie etwa einem Kinde Trauer nicht steht. Man konnte
+sie nicht ansehen, ohne sogleich tiefe Sympathie für sie
+zu empfinden. Sie war fast durchsichtig bleich und wie
+es hieß, zur Schwindsucht geneigt. Sie lebte sehr zurückgezogen
+und liebte weder bei sich viele Gäste zu
+empfangen, noch selbst Besuche zu machen. Ihr Leben
+war das einer Einsiedlerin. Kinder hatte sie zunächst
+nicht. Ich weiß noch, sie kam einmal zu uns gefahren,
+um mit Madame Léotard zu sprechen, und sie trat damals
+zu mir und küßte mich mit tiefem Gefühl. Mit ihr
+war ein hagerer, schon älterer Herr gekommen. Ihm
+traten die hellen Tränen in die Augen, als er mich sah.
+Das war der Geigenvirtuose B. ... Alexandra Michailowna
+legte den Arm um mich und fragte, ob ich bei
+ihr leben und ihr Töchterchen sein wolle. Ich sah ihr
+ins Gesicht und erkannte in ihr die Schwester meiner
+Katjä, und ich umarmte sie mit einem dumpfen
+Schmerz im Herzen und empfand wieder, wie groß
+meine Einsamkeit war ... Ganz, als hätte mir wieder
+jemand gesagt: „Du bist eine Waise!“ Darauf gab
+mir Alexandra Michailowna einen Brief des Fürsten,
+den ich mit unterdrücktem Schluchzen las. Der Fürst
+schrieb in Liebe und Güte, Gottes Segen möge auf mir
+ruhen und ich möge in dem langen Leben, das mir noch
+bevorstehe, glücklich sein. Zum Schluß bat er mich noch,
+auch seine andere Tochter zu lieben. Katjä schrieb mir
+<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a>
+gleichfalls einige Zeilen. Sie schrieb, daß sie sich nun
+gar nicht mehr von der Mutter trenne.
+</p>
+
+<p>
+Bevor dieser Tag zu Ende ging, kam ich also wieder
+in ein anderes Haus, zu anderen Menschen, nachdem
+ich mein Herz von neuem von allem hatte losreißen
+müssen, was mir schon lieb und traut geworden war.
+Müde, wie zerschlagen, betrat ich das neue Heim. Mein
+Herz blutete ...
+</p>
+
+<p>
+Und so beginnt in meiner Erzählung denn jetzt ein
+neuer Abschnitt meines Lebens.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-6">
+VI.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Mein neues Leben verlief so still und ruhig, als
+hätte ich unter Einsiedlern gelebt ... Ich brachte bei
+ihnen mehr als acht Jahre zu und erinnere mich nicht,
+daß in dieser Zeit, abgesehen von einigen wenigen
+pflichtschuldigen Diners, jemals eine größere Gesellschaft
+im Hause gewesen wäre oder daß Verwandte,
+Freunde und Bekannte sich bei uns zusammengefunden
+hätten. Mit Ausnahme von zwei oder drei Personen,
+die hin und wieder einmal vorsprachen – z. B. der
+Künstler B., der ein guter Freund des Fürsten H. und
+auch seiner Stieftochter Alexandra Michailowna war,
+und die Herren, die fast ausschließlich in Amtsangelegenheiten
+zu dem Gemahl Alexandra Michailownas
+kamen – kam so gut wie niemand zu uns. Alexandra
+Michailownas Mann war beständig von seinem Dienst
+in Anspruch genommen, und konnte sich nur selten für
+eine kurze Zeit freimachen, die er dann gleichmäßig
+zwischen dem Familienleben und den gesellschaftlichen
+<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a>
+Pflichten teilte. Hervorragende Verbindungen, die er
+unmöglich vernachlässigen konnte, zwangen ihn ziemlich
+oft, die Gesellschaft an sich zu erinnern. Fast überall
+hielt sich das Gerücht von seinem schrankenlosen Ehrgeiz,
+doch da er sich gleichzeitig des Rufes erfreute, ein
+tüchtiger, ernster Mensch zu sein, da er überdies, wie
+bereits erwähnt, schon ein hohes Amt bekleidete, und
+Glück und Erfolg ihn wie es schien von selbst aufsuchten,
+so war die Gesellschaft weit davon entfernt, ihm
+ihre Sympathie zu entziehen. Ja, noch mehr als das:
+man brachte ihm beständig und ganz allgemein eine
+gewisse besondere Teilnahme entgegen, die man dagegen
+seiner Frau vollständig versagte. Alexandra Michailowna
+lebte in völliger Einsamkeit: aber es war,
+als sei ihr das nur angenehm, ja als freue sie sich sogar
+darüber. Ihr stiller Charakter war gleichsam geschaffen
+für dieses stille Leben.
+</p>
+
+<p>
+An mir hing sie mit ganzer Seele, sie liebte mich
+wie ihr eigenes Kind, und ich, deren Tränen ob der
+Trennung von Katjä noch nicht versiegt waren, – ich,
+mit meinem wehen Herzen, ich warf mich wie erlöst
+in ihre mütterlich zärtliche Umarmung. Und vom ersten
+Tage an hat meine glühende Liebe zu ihr nie aufgehört,
+noch jemals etwas von ihrer Glut eingebüßt.
+Sie war mir Mutter, Schwester, Freund, sie ersetzte
+mir alles und hegte und pflegte meine Jugend. Hinzu
+kam, daß ich bald erriet und herausfühlte, daß ihr
+Geschick durchaus nicht so glücklich war, wie man es
+auf den ersten Blick wohl glauben konnte, wenn man
+nach ihrem stillen und ruhigen äußeren Leben urteilte,
+nach ihrer scheinbaren Freiheit und ihrem guten, stillen
+<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a>
+Lächeln, das so oft ihr liebes Gesicht verklärte. Ich
+entdeckte vielmehr im Laufe meiner Entwicklung fast
+täglich etwas Neues im Leben meiner Wohltäterin,
+etwas, das in langsamer Qual von meinem Herzen
+erraten wurde, und mit dieser traurigen Erkenntnis
+wuchs zugleich meine Liebe zu ihr und mit der Liebe
+meine Anhänglichkeit.
+</p>
+
+<p>
+Ihr Charakter war schüchtern und weich. Wenn
+man ihre reinen, klaren Gesichtszüge sah, die förmlich
+Ruhe ausströmten, dann hätte man es auf den ersten
+Blick nicht für möglich gehalten, daß irgendeine Unruhe
+in ihrem reinen Herzen wohnen konnte. Es war
+undenkbar, daß sie auch nur irgendeinen Menschen
+nicht hätte lieben können; das Mitleid siegte stets in
+ihrem Herzen, selbst über Ekel und Abscheu – indes
+war sie aber nur sehr wenigen Freunden zugetan und
+lebte auch innerlich in vollständiger Einsamkeit ...
+Ihrer Natur nach war sie leidenschaftlich und empfänglich
+für alle Eindrücke, gleichzeitig aber war’s, als
+sei ihr selbst bange vor ihrer Empfänglichkeit und als
+bewache sie deshalb ihr Herz jeden Augenblick, damit
+es sich nicht vergäße – und wär’s auch nur in Träumen.
+Es fiel mir auf, daß ihr bisweilen in den lichtesten
+Stunden mit einem Male Tränen in die Augen
+traten: als sei plötzlich eine Erinnerung in ihrer Seele
+aufgetaucht, die Erinnerung an etwas, was ihr Gewissen
+qualvoll peinigen mochte und ewig wie auf der
+Lauer lag, um im Augenblick des Glücks plötzlich hervorzuspringen
+und das Glück feindlich zu verscheuchen.
+Und je ruhiger, glücklicher, zufriedener sie war, um so
+näher, schien es, war der Kummer, um so unfehlbarer
+<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a>
+erschienen plötzlich die Tränen – wie ein Anfall, der
+über sie kam. Ich entsinne mich keines einzigen vollkommen
+ruhigen Monats in den ganzen acht Jahren.
+Ihr Mann liebte sie anscheinend sehr, und sie – sie
+vergötterte ihn. Aber schon auf den ersten Blick schien
+es einem, als gäbe es etwas Unausgesprochenes zwischen
+ihnen. Es mußte da irgendein Geheimnis walten
+– ein Geheimnis in ihrer Vergangenheit – wenigstens
+geschah es, daß ich schon vom ersten Tage an
+etwas Ähnliches vermutete ...
+</p>
+
+<p>
+Ihr Mann machte auf mich, als ich ihn zum erstenmal
+sah, den Eindruck eines finsteren Menschen. Diesen
+ersten Eindruck empfing ich noch als Kind und deshalb
+konnte ihn auch nichts verwischen. Äußerlich war
+er ein hagerer Mensch von hohem Wuchs, und man
+hatte die Empfindung, als verberge er mit Absicht seinen
+Blick hinter den großen, grünen Gläsern seiner
+Brille. Er war trocken, nichts weniger als mitteilsam,
+und selbst unter vier Augen im Verkehr mit seiner
+Frau fand er sozusagen niemals ein rechtes Thema zur
+Unterhaltung. Offenbar war ihm die Gegenwart von
+Menschen lästig. Mich beachtete er überhaupt nicht;
+dagegen fühlte ich mich jedesmal, wenn wir abends im
+Salon Alexandra Michailownas zum Tee zusammenkamen,
+während seiner Anwesenheit äußerst ungemütlich.
+Heimlich beobachtete ich Alexandra Michailowna,
+und zu meinem Kummer bemerkte ich, daß sie dann
+jedes ihrer Worte erwog und über jede Bewegung
+nachdachte. Sie aber erbleichte, wenn sie sah, daß ihr
+Mann schroffer oder unfreundlicher wurde; oder sie
+errötete auch wohl plötzlich, als habe sie aus einem seiner
+<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a>
+Worte irgendeine Anspielung oder einen Vorwurf
+herausgehört. Ich fühlte es, daß ihr das Zusammensein
+mit ihm schwer fiel, und doch schien sie, wenigstens
+soweit sich das nach äußeren Anzeichen beurteilen
+ließ, keinen Augenblick ohne ihn leben zu können.
+Mir fiel besonders ihre ungeheure Aufmerksamkeit ihm
+gegenüber auf: kein Wort, keine Bewegung wurde von
+ihr überhört oder übersehen. Es war, als wolle sie nach
+allen Kräften es ihm recht machen und als fühle sie,
+daß ihr das dennoch nicht gelang. Ja, es war fast, als
+erbettele sie von ihm seinen Beifall: ein flüchtiges
+Lächeln, ein halbes freundliches Wort von ihm – und
+sie war glücklich ... glücklich wie ein Mädchen in der
+ersten Zeit einer noch schüchternen, noch hoffnungslosen
+Liebe. Sie ging mit ihrem Manne um, so vorsichtig,
+wie mit einem Schwerkranken. Er aber sah auf
+sie, wie mir schien, mit einem sie drückenden und quälenden
+Mitleid herab. Sobald er mit einem Händedruck
+von ihr Abschied genommen und sich wieder in
+sein Kabinett zurückgezogen hatte, war sie gleich wie
+verwandelt. Ihre Bewegungen, ihre Unterhaltung,
+alles an ihr wurde sofort viel freier, heiterer, sicherer.
+Nur eine gewisse Verwirrung war an ihr noch lange
+nach jedem Wiedersehen mit ihm bemerkbar. Sie fing
+dann gleich an, sich jedes von ihm gesprochene Wort
+ins Gedächtnis zurückzurufen, wie um es nochmals zu
+prüfen. Oft wandte sie sich dann auch an mich mit
+der Frage, ob sie sich nicht verhört habe: hatte Pjotr
+Alexandrowitsch sich so oder so ausgedrückt? – und
+als suche sie noch nach einem anderen Sinn in dem,
+was er gesagt! Erst nach etwa einer Stunde wurde sie
+<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a>
+dann wieder sie selbst, als habe sie sich nun endlich
+davon überzeugt, daß er mit ihr vollkommen zufrieden
+sei und daß sie sich grundlos beunruhige. Dann
+wurde sie plötzlich froh und heiter und gut, küßte mich,
+lachte mit mir oder setzte sich an den Flügel und spielte,
+was ihr gerade einfiel. Oft spielte und improvisierte
+sie dann, ohne es zu gewahren, wie zwei Stunden darüber
+verstrichen. Dann kam es wohl auch vor, daß das
+Spiel plötzlich verstummte und ich sie weinen sah. Sobald
+sie aber meine Aufregung bemerkte, versicherte sie
+mir schnell und flüsternd – als fürchte sie, daß man
+uns hören könnte –, es sei nichts, wirklich, es sei
+nichts, diese Tränen kämen nur so von selbst, sie hätten
+nichts zu bedeuten, sie sei, im Gegenteil, sehr froh
+und glücklich und ich solle mich nur nicht aufregen. War
+ihr Mann abwesend, so geschah es oft, daß sie sich um
+ihn plötzlich beunruhigt fühlte und sich nach ihm zu
+erkundigen begann: wohin er gefahren, warum, wann,
+zu wann er die Pferde bestellt, ob er krank oder gesund,
+bei guter oder schlechter Laune gewesen, was er gesagt
+usw., usw. Von seinen Dienstangelegenheiten und seiner
+Arbeit mit ihm zu sprechen – das wagte sie grundsätzlich
+nicht. Wenn er ihr einmal etwas riet oder sie um
+etwas bat, dann hörte sie ihn ergeben an und schien
+sich in acht zu nehmen, wie eine Sklavin vor ihrem
+Gebieter. Sie hatte es sehr gern, wenn er irgend etwas
+von ihren Sachen lobte, etwa ein Buch, einen Kunstgegenstand
+oder eine ihrer Handarbeiten. Sie war dann
+gleichsam stolz darauf, und sah sofort glücklich aus.
+Ihr Glück aber kannte keine Grenzen, wenn er einmal
+– es geschah freilich nur sehr selten und auch dann
+<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a>
+fast wie aus Versehen – zu den beiden kleinen Kindern
+ein wenig Zärtlichkeit äußerte. Ihr Gesicht verklärte
+sich dann geradezu, es strahlte vor Glück, und
+in diesen Augenblicken gab sie sich in ihrem Verhalten
+dem Mann gegenüber manchmal vielleicht etwas
+zu sehr ihrer Freude hin. Z. B. trieb sie dann die Kühnheit
+bisweilen sogar so weit, daß sie plötzlich selbst und
+unaufgefordert ihn bat – allerdings immer noch zaghaft
+und mit schüchterner Stimme – irgendeine neue
+Komposition, die ihr der Musikalienhändler zugesandt,
+anzuhören, oder seine Meinung über ein Buch zu sagen,
+oder ihr gar zu erlauben, ihm ein bis zwei Seiten daraus
+vorzulesen, wenn diese einen großen Eindruck auf
+sie gemacht hatten. Gewöhnlich kam der Gatte gnädig
+allen ihren Wünschen nach und lächelte, wie man über
+ein Kind nachsichtig lächelt, wenn man ihm irgendein
+seltsames Spiel nicht verbieten will, um ihm nicht vorzeitig
+seine Naivität zu rauben. Ich weiß nicht, weshalb
+mich dieses Lächeln, diese hochmütige Nachsicht,
+diese Ungleichheit zwischen ihnen immer so empörte!
+Ich schwieg aber, bezwang mich und beobachtete sie
+nur aufmerksam mit kindlicher Neugier, jedoch mit
+frühreifen ernsten Gedanken. Bisweilen bemerkte ich,
+daß ihm plötzlich etwas einzufallen schien: es war, als
+besinne er sich, als erinnere er sich gegen seinen Willen
+an etwas Schweres, Furchtbares, Unabwendbares,
+und im Nu verschwand das nachsichtig herablassende
+Lächeln aus seinen Zügen und seine Augen sahen plötzlich
+mit solchem Mitleid auf die Frau, daß es wie eine
+Lähmung über sie kam und ich von diesem Mitleid
+förmlich körperlichen Schmerz verspürte: hätte es mir
+<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a>
+gegolten – ich glaube, es hätte mich zu Tode gequält.
+Im Augenblick verschwand dann auch alle Freude aus
+dem Gesicht Alexandra Michailownas. Die Musik,
+wenn sie gerade spielte, oder ihre Stimme, wenn sie
+gerade vorlas, brach ab. Sie erbleichte, nahm sich
+krampfhaft zusammen und schwieg. Es folgte ein peinliches,
+drückendes Schweigen, das bisweilen lange andauerte.
+Endlich versuchte ihr Mann das Schweigen zu
+brechen. Er erhob sich, um wie mit Gewalt den Ärger
+und die Erregung in sich niederzuzwingen, und nachdem
+er ein paarmal in finsterem Schweigen durch das Zimmer
+geschritten war, drückte er seiner Frau die Hand,
+<a id="corr-6"></a>atmete tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene
+Worte hervor, die sie beruhigen sollten, und verließ
+das Zimmer; Alexandra Michailowna aber brach
+in Tränen aus und eine tiefe, qualvolle Traurigkeit
+kam über sie. Oft segnete und bekreuzte er sie vor dem
+Fortgehen, wie ein Kind, abends beim Abschied, und sie
+empfing den Segen mit Tränen der Dankbarkeit in stiller
+Ehrfurcht. Aber es gab da ein paar Abende (nur
+zwei oder drei in den ganzen acht Jahren), die ich nicht
+vergessen kann ... Dann war Alexandra Michailowna
+plötzlich ganz verändert. In ihrem sonst so stillen Gesicht
+spiegelten sich dann plötzlich anstatt der beständigen
+Unterwerfung und Selbsterniedrigung vor dem Manne
+– Zorn und Empörung. Das Gewitter zog langsam
+herauf. Der Mann wurde schweigsamer, schroffer
+und sein Gesicht noch finsterer als sonst. Schließlich
+hielt es das wunde Herz der armen Frau nicht
+mehr aus. Mit vor Aufregung stockender Stimme begann
+sie ein Gespräch, anfangs in abgerissenen, unzusammenhängenden
+<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a>
+Sätzen voll von Andeutungen und
+bitter verschwiegenen Worten; bis sie plötzlich, als
+könne sie ihr Leid nicht mehr ertragen, in Tränen ausbrach
+– und dann folgte ein Zornesausbruch mit Vorwürfen,
+Klagen und Verzweiflung wie in einer schweren
+Krisis. Aber man hätte sehen müssen, mit welcher
+Geduld ihr Mann das alles ertrug, mit welcher Teilnahme
+er sie zu beruhigen suchte und wie er ihr die
+Hände küßte, bis schließlich auch ihm die Tränen in die
+Augen traten: dann war’s als rufe ihr Gewissen ihr
+plötzlich etwas zu und werfe ihr ein Verschulden vor.
+Die Tränen ihres Mannes erschütterten sie und händeringend
+in neuer Verzweiflung warf sie sich zu seinen
+Füßen nieder und flehte unter Schluchzen und Weinen
+um seine Verzeihung, die er ihr denn auch sofort gewährte.
+Doch ihr Gewissen ließ ihr noch lange keine
+Ruhe und sie fuhr fort, ihn unter Tränen um Verzeihung
+zu bitten. Nach diesen Ausbrüchen war sie dann
+die ganzen folgenden Monate noch schüchterner, noch
+ängstlicher vor ihrem Mann als zuvor. Mir blieben
+alle diese Klagen und Vorwürfe vollkommen unverständlich;
+überdies wurde ich dann immer unter irgendeinem
+Vorwande aus dem Zimmer geschickt, aber ganz
+konnten sie dies alles doch nicht vor mir verbergen. Ich
+beobachtete und sah ... und was ich nicht sah, das
+erriet ich, und so schöpfte ich schon gleich zu Anfang
+den Verdacht, daß es sich dabei um ein Geheimnis
+handeln mußte, daß diese plötzlichen Ausbrüche eines
+wunden Herzens nicht gewöhnliche Nervenkrisen waren,
+daß ihr Mann nicht ohne Grund immer so finster
+aussah und dieses zweideutige Mitleid mit der armen
+<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a>
+kranken Frau hatte, daß auch ihre Schüchternheit
+und Ängstlichkeit und auch diese bescheidene sonderbare
+Liebe, die sie ihrem Manne kaum zu zeigen wagte,
+ihren besonderen Grund haben mußten, und ebenso
+ihre Einsamkeit, ihre nahezu klösterliche Zurückgezogenheit,
+sowie ihr plötzliches Erröten und Erbleichen
+in der Gegenwart ihres Gatten, das mir immer
+wieder auffiel und immer wieder zu denken gab.
+</p>
+
+<p>
+Doch solche Szenen kamen, wie gesagt, nur sehr,
+sehr selten vor, und da unser Leben ohnehin so überaus
+eintönig verlief und Alexandra Michailowna mir auch
+schon so nahe stand, als hätte ich sie mein Leben lang
+gekannt, und ich andererseits mich schnell entwickelte
+und viel Neues in mir erwachte –, wenn es mir auch
+noch nicht zu Bewußtsein kam –, immerhin, ein Neues,
+das mich von meinen Beobachtungen ablenkte – so
+gewöhnte ich mich eben an dieses Leben und an die
+Eigenheiten der Menschen, die mich umgaben. Freilich
+dachte ich, wenn ich sie mitunter betrachtete, über
+sie dennoch nach, das war wohl anders auch nicht gut
+möglich, aber mein Denken führte vorläufig noch zu
+keinem Ergebnis. Hinzu kam, daß ich sie glühend liebte
+und mich unwillkürlich hütete, mit meiner Neugier
+ihre Wunde zu berühren – dazu achtete ich ihr Leid
+viel zu sehr. Sie aber verstand mich vielleicht noch besser
+als ich selbst mich verstand, und wie oft sagte sie
+mir für meine Liebe und Anhänglichkeit ihren stummen
+Dank! Wie oft, wenn sie meine Sorge um sie sah, lächelte
+sie mir unter Tränen zu oder sie scherzte selbst
+über ihr häufiges Weinen, oder sie begann mir auch
+wohl zu erzählen, daß sie sehr zufrieden, sehr
+<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a>
+glücklich sei, alle seien so gut zu ihr, alle hätten sie
+lieb, nur quäle es sie sehr, daß Pjotr Alexandrowitsch
+sich ihretwegen gräme und sich um ihre Seelenruhe
+sorge, während sie im Gegenteil so glücklich sei, so
+glücklich ...! Und sie schloß mich mit tiefem Gefühl in
+ihre Arme, innige Liebe verklärte ihr Gesicht, so daß
+mein Herz, wenn man dies sagen kann, vor lauter Mitempfinden
+schmerzte.
+</p>
+
+<p>
+Nie werde ich ihr Gesicht vergessen. Es waren regelmäßige
+Züge, und ihre Magerkeit und Blässe, schien
+es, erhöhten nur noch den Reiz ihrer strengen Schönheit.
+Das reiche schwarze Haar, das – in der Art wie
+es damals getragen wurde – vom Scheitel glatt nach
+unten gekämmt war, warf tiefe Schatten auf das
+Oval der Wangen; um so liebreizender aber war der
+frappierende Kontrast ihrer großen kindlich klaren
+blauen Augen, aus denen einen soviel Zärtlichkeit,
+Liebe und Güte ansah, und in denen bisweilen auch
+soviel Naivität lag und soviel Zaghaftigkeit und
+Schutzbedürftigkeit. Es waren Augen, die jede Empfindung
+zu scheuen schienen, die jede Herzensregung
+fürchteten, gleichviel ob es flüchtige Freude oder stille
+Trauer war. Doch in glücklichen ruhigen Stunden lag
+in diesem Blick, der so tief ins Herz drang, soviel
+Klarheit und Wärme, soviel ruhige Reinheit, dann
+schauten diese blauen Augen so zärtlich, so süß einen
+an, dann spiegelte sich in ihnen soviel Sympathie mit
+allem, was edel und gut war, was um Liebe oder um
+Mitleid bat, daß man sich ihr mit ganzer Seele hingab,
+daß die Seele sich ihr vollkommen unterwarf und zu
+ihr hinstrebte und von ihr, wie man meinte, dieselbe
+<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a>
+Klarheit und Ruhe und Versöhnung und Liebe erhielt.
+So schaut man bisweilen hinauf in den blauen Himmel
+und fühlt, daß man Stunden und Stunden in diesem
+süßen Schauen verbringen könnte und daß die
+Seele freier und ruhiger wird, ganz als spiegele sich
+in ihr wie in einem stillen Wasser die große weite Himmelskuppel.
+Wenn aber – und das geschah so oft –
+die Begeisterung ihr Farbe ins Gesicht trieb und ihre
+Brust sich vor Erregung hob und senkte, dann sprühten
+ihre Augen in dunklem Feuer, als wenn ihre Seele,
+die keusch die reine Flamme des sie so begeisternden
+Schönen hütete, sich ganz in ihre Augensterne versetzt
+hätte. Dann war sie geradezu wie vom Heiligen Geist
+erfüllt. Und in diesem plötzlichen Aufschwung der
+Seele mitten aus stiller ruhiger Stimmung zu glühendster
+Begeisterung und reiner strenger Vergeistigung
+lag so viel von naivem kindlichen Glauben, daß ein
+Künstler wohl sein halbes Leben dafür hingeben würde,
+wenn er dieses Frauenantlitz in einem solchen Augenblick
+hätte sehen und diese Begeisterung auf der
+Leinwand hätte wiedergeben können.
+</p>
+
+<p>
+Schon in den ersten Tagen nach meiner Übersiedelung
+merkte ich, daß sie sich in ihrer Einsamkeit über
+meine Anwesenheit freute. Damals hatte sie nur ein
+Kind und war erst seit einem Jahre Mutter. Doch zu
+mir war sie stets wie zu einer leiblichen Tochter und
+niemals machte sie einen Unterschied zwischen mir und
+ihren eigenen Kindern. Und mit welchem Eifer sie sich
+an meine Erziehung machte! Madame Léotard mußte
+oftmals lächeln, wenn sie in der ersten Zeit ihren
+Übereifer sah. Und in der Tat, wir fingen
+<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a>
+mit einem Mal so ziemlich alles an,
+wir begannen mit so vielen Fächern, daß wir uns bald
+ganz verloren. Sie wollte mir auf ein Mal so viel beibringen,
+daß es sie zu liebevoller Ungeduld trieb, ich
+aber oder vielmehr mein Wissen keinen großen Nutzen
+daraus ziehen konnte. Anfangs betrübte sie meine Hilflosigkeit;
+dann mußte sie aber lachen und dann fingen
+wir nochmals von vorn an – doch trotz des ersten
+Mißerfolges erklärte sich Alexandra Michailowna kühn
+gegen das altbewährte System der Madame Léotard.
+Sie stritten lachend um ihre Methoden, aber meine
+neue Lehrerin blieb kategorisch bei ihrer Feindschaft
+gegen jegliches System und behauptete, wir würden
+nach etlichen Versuchen den richtigen Weg schon finden
+und es habe keinen Sinn, mir den Kopf mit toten Regeln
+vollzustopfen: der ganze Erfolg hinge nur davon
+ab, daß man meine natürlichen Fähigkeiten erkannte
+und weckte und davon, daß man auf meinen guten Willen
+zu wirken vermochte. Darin aber hatte sie zweifellos
+recht, denn ihre Methode siegte mit glänzendem
+Erfolg. Erstens fielen bei uns die Rollen der Lehrerin
+und Schülerin ganz fort. Wir lernten wie zwei Freundinnen,
+und nicht selten machte es sich so, daß ich
+Alexandra Michailowna belehrte, ohne ihre kleine List
+zu bemerken. Und wir gerieten nicht selten sogar in
+Streit und mit glühendem Eifer suchte ich die Sache
+ihr so zu erklären, wie ich sie begriff, bis Alexandra
+Michailowna mich unmerklich auf den richtigen Weg
+führte. Das endete dann gewöhnlich damit, daß ich,
+wenn mir endlich ein Licht aufging und ich plötzlich
+ihre List erriet und einsah, daß sie, was oft genug geschah,
+<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a>
+ganze Stunden zu meinem Nutzen geopfert hatte
+– daß ich mich dann an ihren Hals warf und sie
+krampfhaft umarmte. Später tat ich das nach jeder
+Stunde. Meine Empfindsamkeit überraschte und
+rührte sie so, daß sie mich immer ganz verwundert ansah.
+Sie begann mich nach meinem früheren Leben zu
+fragen, und nach meinen Erzählungen wurde sie jedesmal
+zärtlicher zu mir und ernster – ernster, weil
+ich ihr mit meiner traurigen Kindheit außer dem Mitleid
+auch noch eine gewisse Achtung einflößte. Nach
+meinen Geständnissen führten wir gewöhnlich noch
+lange Gespräche, in denen sie mir meine Erlebnisse zu
+erklären versuchte, so daß es mir vorkam, als erlebe ich
+das alles nochmals und als lerne ich dabei viel. Madame
+Léotard fand diese Gespräche viel zu ernst für
+mein Alter, und wenn sie meine unwillkürlichen Tränen
+bemerkte, sagte sie oft, sie seien gar nicht am Platz.
+Ich aber dachte darüber ganz anders, denn nach <em>diesem</em>
+Unterricht wurde es mir immer so leicht und
+frei und süß ums Herz, ganz als hätte es in meinem
+Schicksal nichts Dunkles und Trauriges gegeben. Und
+ich war auch Alexandra Michailowna viel zu dankbar
+dafür, daß sie mich veranlaßte, sie mit jedem Tage
+mehr zu lieben. Madame Léotard war natürlich nicht
+darauf verfallen, daß auf diese Weise allmählich alles
+in mir sich glätten und ordnen und seine Harmonie
+finden mußte, was sich früher wirr und vorzeitig stürmisch
+in meiner Seele erhoben hatte, alles, wovor
+mein wundes Kinderherz in seinem bitteren Schmerz
+so ratlos gestanden, daß es hätte verstocken müssen, da
+<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a>
+es nur den Schmerz fühlte, aber nicht begriff, warum
+und woher die Schläge es trafen.
+</p>
+
+<p>
+Unsere Tage fingen damit an, daß wir uns im
+Kinderzimmer zusammenfanden, ihr Kindchen weckten,
+es ankleideten, wuschen, fütterten, mit ihm spielten und
+ihm das Sprechen beizubringen versuchten. Hatten wir
+uns mit ihm genug abgegeben, dann begann das Lernen.
+Dies Lernen erstreckte sich eigentlich auf alles und
+war doch an nichts gebunden. Wir lasen, erzählten einander
+unsere Eindrücke und Gedanken während der
+Lektüre; dann, wenn wir davon genug hatten, gingen
+wir zur Musik über, und die Zeit verging wie im
+Fluge. Die Abende verbrachten wir meist sehr gemütlich,
+zuweilen kam B., Alexandra Michailownas
+Freund, und auch Madame Léotard gesellte sich zu
+uns. Oft wurde dann aus der Unterhaltung ein eifriger
+Disput über die Kunst oder über das Leben (das
+wir fast alle nur vom Hörensagen kannten) oder
+über die Wirklichkeit und das Ideal, über Vergangenes
+und Zukünftiges, und es wurde darüber Mitternacht
+und noch später, ohne daß wir es merkten. Ich
+hörte mit allen Fibern zu, ich begeisterte mich mit ihnen,
+ich lachte oder ich war ergriffen, und an diesen
+Abenden erfuhr ich denn auch nach und nach alles Nähere,
+was meinen Stiefvater und meine erste Kindheit
+betraf.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen wuchs ich heran; man nahm für mich
+Lehrer an, doch hätte ich von diesen ohne Alexandra
+Michailownas Hilfe so gut wie nichts gelernt. Bei
+meinem Geographielehrer hätte ich von dem ewigen
+Suchen der Städte und Flüsse auf den Karten nur erblinden
+<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a>
+können! Mit Alexandra Michailowna dagegen
+unternahm ich wahre Weltreisen, wir durchstreiften so
+märchenhafte Länder, sahen so viele Wunder, verbrachten
+so viele phantasieerfüllte Stunden miteinander,
+und unser Eifer war in der Begeisterung so groß, daß
+alle Bücher, die sie gelesen hatte, nicht mehr genügten
+und wir uns neue Bücher verschaffen mußten. Bald
+konnte ich meinen Geographielehrer belehren, wenn
+er auch, das muß man ihm um der Gerechtigkeit willen
+lassen, bis zum Schluß seine Überlegenheit insofern
+bewahrte, als er die Lage jedes Städtchens mit
+peinlichster Genauigkeit in Längen- und Breitengraden
+anzugeben wußte, sowie die Zahl der Einwohner in
+Tausenden, Hunderten und Zehnern. Dem Geschichtslehrer
+wurden die Stunden gleichfalls pünktlich bezahlt,
+aber erst nachdem er gegangen war, fingen
+wir, Alexandra Michailowna und ich, mit der Geschichte
+an: dann holten wir unsere Bücher hervor und
+lasen – lasen bis tief in die Nacht. Nie habe ich größere
+Begeisterung empfunden als bei diesem Lesen.
+Wir waren dann beide so begeistert, als wären wir
+selber die Helden, die jene großen Taten vollbrachten.
+Natürlich lasen wir zwischen den Zeilen noch
+mehr heraus als aus den Zeilen; überdies verstand
+Alexandra Michailowna meisterhaft zu erzählen oder
+eine Begebenheit zu erläutern, so daß man das Geschehnis
+förmlich miterlebte, als geschähe es eben
+jetzt. Mag es nun auch meinetwegen komisch anmuten,
+daß wir uns so begeisterten und bis nach Mitternacht
+saßen und lasen, ich ein Kind, und sie eine Frau mit
+einem wunden Herzen, das so schwer am Leben trug!
+<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a>
+– Aber es war so. Ich wußte, daß sie sich neben und
+mit mir gleichsam erholte. Soweit ich mich erinnere,
+machte ich mir schon damals seltsame Gedanken, wenn
+ich sie still betrachtete, und noch bevor ich etwas aus
+ihrem Leben erfuhr, hatte ich schon vieles erraten.
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde dreizehn Jahre alt. Mit Alexandra Michailownas
+Gesundheit ging es mehr und mehr bergab.
+Sie wurde reizbarer und die hoffnungslose Trauer kam
+immer öfter über sie. Ihr Gatte verbrachte nun gewöhnlich
+längere Zeit bei ihr, wenn er auch ebenso
+schweigsam und finster blieb wie früher. Da begann
+ich denn, immer lebhafteren Anteil an ihrem Schicksal
+zu nehmen. Ich entwuchs bereits der Kindheit,
+viele neue Eindrücke, Beobachtungen und Vermutungen
+hatten in mir schon bestimmtere Formen angenommen,
+und das Geheimnis, das so schwer auf dieser Familie
+lag, begann mich immer mehr zu quälen. Es
+gab Augenblicke, wo es mir schien, daß ich dieses Rätsel
+fast schon erriet. Doch dann kam auch wieder eine
+gewisse Gleichgültigkeit, eine Apathie über mich, ja sogar
+ein gewisser Ärger konnte mich erfassen, und ich
+vergaß meine Anteilnahme, da ich auf die eine Frage
+doch keine Antwort erhielt. Bisweilen – und das kam
+immer häufiger vor – hatte ich das seltsame Bedürfnis,
+allein zu bleiben und zu denken, immer nur zu denken.
+Das war ganz wie zu jener Zeit, als ich noch bei
+den Eltern lebte und damals – noch vor meiner
+Freundschaft mit meinem Stiefvater – ein ganzes
+Jahr lang nachdachte und aus meinem Winkel die
+Welt Gottes betrachtete, so daß ich zu guter Letzt unter
+den von meiner eigenen Phantasie geschaffenen Phantomen
+<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a>
+ganz vereinsamte. Der Unterschied bestand nur
+darin, daß jetzt mehr neue unbewußte Triebe in mir
+waren und größere Ungeduld, stärkere Sehnsucht,
+mächtigeres Verlangen nach Bewegung, nach Auflehnung
+mich quälte, so daß ich nicht mehr wie früher
+meine Spannung und Sammlung ausschließlich auf
+eine einzige Sache hinlenken konnte. Aber auch Alexandra
+Michailowna fing an, sich von mir zu entfernen.
+In diesem Alter konnte ich ihr fast nicht mehr Freundin
+sein. Ich war kein Kind mehr, ich fragte nach gar
+zu vielem, und zuweilen sah ich sie so an, daß sie ihre
+Augen vor mir niederschlagen mußte. Es gab sonderbare
+Minuten. Ich konnte ihre Tränen nicht ertragen
+und oft traten bei ihrem Anblick auch mir Tränen in
+die Augen. Ich warf mich an ihre Brust und umfing
+sie leidenschaftlich. Was konnte sie mir antworten?
+Ich fühlte es, daß ich ihr eine Last war. Bisweilen
+aber – und das waren dann schwere traurige Minuten
+– war sie es, die mich plötzlich wie in innerer Verzweiflung
+umarmte, als suche sie meine Teilnahme, als
+könne sie ihre Einsamkeit nicht länger ertragen, als
+hätte ich sie schon ganz verstanden, als hätten wir schon
+gemeinsam gelitten. Doch trotz alledem blieb zwischen
+uns ein Geheimnis, das fühlten wir, und da war ich
+es, die sich in diesen Minuten von ihr zu entfernen begann.
+Es wurde mir schwer, mit ihr zusammen zu sein.
+Überdies verband uns fast nichts mehr, außer der
+Musik. Doch auch die wurde ihr von den Ärzten schon
+verboten. Bücher? Das war schließlich sogar das gefährlichste
+Gebiet. Sie wußte entschieden nicht, was
+und wie sie mit mir lesen sollte. Wir wären nicht einmal
+<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a>
+über die erste Seite hinausgekommen: jedes Wort
+hätte man als Andeutung, jeden belanglosen Satz als
+Rätsel auffassen können. Gespräche zu zweien, wie
+früher, in glühender Offenheit – mieden wir
+schon.
+</p>
+
+<p>
+Gerade in dieser Zeit gab das Schicksal meinem
+Leben plötzlich und in ganz unvorhergesehener Weise
+eine andere Richtung. Meine Aufmerksamkeit, meine
+Gefühle, mein Herz, mein Kopf – alles wandte sich
+mit einem Mal und mit ganzer angespannter Kraft,
+die bis zur Begeisterung stieg, plötzlich einer anderen,
+mir bis dahin noch ganz unbekannten Tätigkeit zu und
+ich versetzte mich, fast ohne dessen gewahr zu werden,
+in eine neue Welt; ich hatte keine Zeit, zurückzusehen,
+mich umzuschauen, mich zu besinnen; es konnte ja leicht
+mein Verderben sein, was ich auch deutlich selbst fühlte;
+doch die Versuchung war größer als die Angst und
+ich ging weiter aufs Geratewohl, mit geschlossenen
+Augen. Und auf lange Zeit ließ ich mich so ablenken
+von jener Wirklichkeit, die mir bereits so lästig geworden
+war und in der ich schon so durstig und doch vergeblich
+einen Ausweg gesucht. Was das war, will ich
+jetzt erzählen.
+</p>
+
+<p>
+Von den drei Ausgängen aus dem Eßzimmer führte
+der eine in die großen Empfangsräume, der andere in
+mein Zimmer und in die Kinderzimmer, und der dritte
+in die Bibliothek. In die Bibliothek führte aber noch
+eine andere Tür, die von meinem Zimmer nur durch
+ein Arbeitskabinett getrennt war, in dem gewöhnlich
+der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs saß. Der war zugleich
+sein Sekretär und gewissermaßen seine rechte
+<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a>
+Hand. Den Schlüssel zur Bibliothek und zu den Bücherschränken
+hatte er. Eines Tages nach dem Essen,
+als er nicht zu Hause war, fand ich diesen Schlüssel
+auf dem Teppich im Kabinett. Ich wurde neugierig,
+behielt den Schlüssel und versuchte, ob sich mit ihm
+die Tür aufschließen ließ. Ich trat in die Bibliothek.
+Es war das ein ziemlich großes, sehr helles Zimmer,
+in dem an den Wänden acht große Bücherschränke
+standen. Die vielen Bücher waren Pjotr Alexandrowitsch
+einmal mit einer Erbschaft zugefallen, oder
+wenigstens ein großer Teil derselben. Die anderen Bücher
+hatten sich nach und nach angesammelt, da Alexandra
+Michailowna beständig welche kaufte. Mir hatte
+man bis dahin nur mit großer Vorsicht Bücher zum Lesen
+gegeben, so daß es für mich unschwer zu erraten
+war, daß man mich vieles nicht lesen lassen wollte,
+also vieles für mich noch ein Geheimnis blieb. Dies
+nun erweckte in mir unbezwingbare Neugier, und in
+einer Anwandlung von Furcht und Freude und mit
+einem ganz besonderen Gefühl, über das ich mir
+keine Rechenschaft gab, schloß ich den ersten Schrank
+auf und nahm das erste Buch aus der Reihe. In diesem
+Schrank waren nur Romane. Ich behielt den
+Band, verschloß den Schrank und brachte das Buch
+mit einem so eigentümlichen Empfinden, mit klopfendem
+und doch wieder stillstehendem Herzen zu mir, auf
+mein Zimmer, als hätte ich geahnt, daß damit eine
+große Umwälzung in meinem Leben eintreten sollte.
+Erst als ich in meinem Zimmer in Sicherheit war und
+auch die Tür verschlossen hatte, schlug ich das Buch
+auf. Doch zu lesen wagte ich noch nicht – eine andere
+<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a>
+Sorge beschäftigte mich: zunächst mußte ich mir ein
+für allemal den freien Zutritt zur Bibliothek sichern,
+und zwar so, daß niemand etwas davon merkte, damit
+ich mir zu jeder Zeit jedes beliebige Buch verschaffen
+und bei mir behalten konnte. Ich beschloß daher,
+auf das Vergnügen, das entwendete Buch sogleich zu
+lesen, vorläufig zu verzichten: statt dessen brachte ich
+das Buch zurück, aber den Schlüssel behielt ich dafür
+bei mir. Ich behielt ihn und verheimlichte es – das
+war die erste schlechte Tat in meinem Leben. Nun
+wartete ich auf die Folgen, doch die waren nicht
+schlimm: nachdem der Sekretär den Schlüssel einen
+ganzen Abend vergeblich gesucht hatte, ließ er am
+nächsten Morgen einen Schlosser rufen und der fand
+nach kurzem Suchen in einem mitgebrachten großen
+Schlüsselbund einen passenden neuen Schlüssel. Damit
+war die Sache erledigt und niemand erfuhr, daß
+er den alten Schlüssel verloren hatte. Trotzdem war
+ich vorsichtig und ging mit List erst nach einer Woche in
+die Bibliothek, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß
+nicht der geringste Verdacht gegen mich bestand. Anfangs
+wählte ich immer die Zeit, wenn der Sekretär
+nicht zu Hause war, und ging dann durch sein Arbeitszimmer;
+später aber ging ich ruhig aus dem Eßzimmer
+in die Bibliothek, denn der Sekretär hatte zwar den
+Schlüssel in der Tasche, doch um die Bücher kümmerte
+er sich so wenig, daß er das Zimmer überhaupt nicht
+betrat.
+</p>
+
+<p>
+Mit wahrem Heißhunger begann ich zu lesen und
+das Gelesene nahm mich ganz in seinen Bann. Alle
+meine neuen Bedürfnisse, alle unklaren Wünsche meines
+<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a>
+Entwicklungsalters, die sich so unruhig und rebellisch
+in meiner Seele erhoben hatten, vorzeitig durch
+meine Frühreife erweckt – all das strömte von jetzt
+ab dem neuen Ausweg zu, als hätte es mit ihm
+den richtigen Weg gefunden. Bald waren mir
+Herz und Sinne so bezaubert und meine Phantasie
+entwickelte sich so schrankenlos, daß die ganze Welt,
+die mich bis dahin umgeben hatte, für mich wie vergessen,
+irgendwo fern versunken lag. Es war, als hielte
+mich das Schicksal selbst an der Schwelle des neuen
+Lebens – nach dem es mich schon so stürmisch verlangte,
+über das ich bereits Tag und Nacht wie über
+ein Rätsel nachgedacht – bevor es mich in dieses Leben
+eintreten ließ, noch einen Augenblick zurück, um
+mich auf eine Höhe zu führen und mir von dort aus
+die Zukunft in einem Zauberpanorama zu zeigen, und
+als eine lockende, glänzende Perspektive. Es war mir
+gewiß bestimmt, diese ganze Zukunft gleichsam im voraus
+kennen zu lernen, sie zuerst in den Büchern zu lesen
+und dann in Träumen, in Hoffnungen und leidenschaftlicher
+Sehnsucht, in süßer Erregung meines jungen
+Geistes zu durchleben. Ich las ohne Auswahl, wie
+mir die Bücher in die Hände kamen, doch das Schicksal
+behütete mich: das, was ich bis dahin erfahren und
+empfunden hatte, war alles so rein, so herb, daß die
+einzelnen, heimtückischen und schmutzigen Seiten mir
+nichts mehr anhaben konnten. Mein guter Kinderinstinkt,
+meine Jugend und meine ganze Vergangenheit
+beschützten mich, und es war mir nur, als sähe ich
+plötzlich mein ganzes früheres Leben bewußt in heller
+Beleuchtung. Tatsächlich erweckte jede Seite, die ich
+<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a>
+las, gleichsam Erinnerungen in mir, als hätte ich das
+alles oder doch etwas Ähnliches schon irgendeinmal
+selbst erlebt; ja gerade diese Leidenschaften, dieses ganze
+Leben mit seinen märchenhaften Bildern kamen mir
+so bekannt vor. Und wie hätte es denn auch anders sein
+können: wie hätte ich darüber die Wirklichkeit nicht bis
+zur Entfremdung vergessen sollen, da doch in jedem
+Buch vor mir die Gesetze desselben Schicksals verkörpert
+waren, desselben Geistes, der über dem Menschenleben
+thront, alle jedoch wie aus einem obersten Gesetz
+des Menschenlebens fließend, das zugleich die Rettung
+und Erlösung der Menschheit enthielt. Eben dieses
+oberste Gesetz, dessen Bestehen ich schon vermutete,
+suchte ich nun aus allen Kräften, mit allen
+Instinkten, die eine Art Selbsterhaltungstrieb in mir
+aufgeweckt hatte, zu erraten. Es war, als sei ich schon
+im voraus durch irgendwen darauf aufmerksam gemacht
+worden, weshalb meine Aufmerksamkeit sich mit
+einer solchen Selbstverständlichkeit gerade darauf
+richtete. Es war, als dränge sich ein Hellsehen
+in meine Seele, und mit jedem Tage
+wuchs und erstarkte in ihr eine eigene Sehnsucht,
+obschon gleichzeitig mein Verlangen nach
+dieser Zukunft, nach diesem Leben, von dem ich täglich
+las und das mich täglich mit der ganzen nur der Kunst
+eigenen Gewalt und allen Reizen der Dichtung erschütterte
+und lockte, immer mächtiger wurde. Doch
+wie gesagt, meine Phantasie beherrschte auch meine Ungeduld
+und ich war, um die Wahrheit zu gestehen, nur
+in meinen Träumen kühn, in Wirklichkeit aber fürchtete
+ich mich instinktiv vor der Zukunft. Und deshalb,
+<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a>
+wie nach geheimer Verabredung mit mir selbst, hatte
+ich es mir unbewußt zum Vorsatz gemacht, mich vorläufig
+mit diesem Leben in der Phantasie zu begnügen, in
+dem ich dafür die unbehinderte Selbstherrscherin sein
+konnte und in dem es nur Glück und Freude gab; das
+Unglück aber, wenn es auch zugelassen war, spielte dort
+nur eine passive Rolle, eine Art Übergangsrolle, die
+notwendig war nur um der Kontraste willen: damit
+das Schicksal sich in meinen begeistert erträumten Romanen
+zum Guten wenden und zu einem glücklichen
+Schluß führen konnte. So deute ich mir jetzt meine damalige
+Stimmung.
+</p>
+
+<p>
+Und dieses Leben, dieses Leben ausschließlich in der
+Phantasie, dieses Leben in schroffer Abkehr von allem,
+was mich umgab, konnte sich ganze drei Jahre lang
+fortsetzen!
+</p>
+
+<p>
+Dieses Leben war mein Geheimnis, und selbst nach
+ganzen drei Jahren wußte ich noch nicht, ob ich mich
+vor einer plötzlichen Aufdeckung desselben fürchten
+sollte oder nicht. Das, was ich in diesen drei Jahren
+erlebt hatte, stand mir gar zu nah, war schon zu sehr
+verwachsen mit mir! In allen diesen Träumen spiegelte
+ich mich selbst viel zu deutlich wider, so daß fremde
+Augen, gleichviel wessen Augen, durch einen unvorsichtigen
+Blick in meine Seele mich verwirrt und erschreckt
+hätten. Hinzu kam, daß wir alle im Hause so einsam
+lebten, so außerhalb der Gesellschaft, so klösterlich still,
+daß sich unwillkürlich in jedem von uns ein Innenleben,
+eine Konzentration auf sich selbst entwickeln mußte.
+Und das geschah denn auch mit mir. In diesen drei
+Jahren sah ich in meiner Umgebung nicht die geringste
+<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a>
+Veränderung: nach wie vor herrschte das farblose Einerlei,
+das, wie ich mir jetzt gestehe, wenn ich nicht
+von meinem geheimen Leben erfüllt gewesen wäre,
+ganz entschieden meine Seele zerrissen und mich aus
+diesem traurigen Kreise Gott weiß auf welchen Ausweg
+getrieben hätte. Madame Léotard alterte merklich
+und zog sich fast ganz in ihr Zimmer zurück; die Kinder
+waren noch so klein, daß sie nicht in Frage kamen;
+B. war gar zu einseitig und Alexandra Michailownas
+Gatte gar zu ernst, gar zu unnahbar und verschlossen.
+Zwischen ihm und seiner Frau herrschte immer noch
+dasselbe rätselhafte Verhältnis, das mich wie ein unheilvolles,
+düsteres Geheimnis immer mehr bedrückte
+und meine angstvolle Sorge um Alexandra Michailowna
+von Tag zu Tag vergrößerte. Ihr Leben, das
+so freudlos und farblos war, begann schon zu erlöschen.
+Ihr Zustand verschlimmerte sich mit jedem Tage.
+Von ihrer Seele hatte allmählich eine Art Verzweiflung
+Besitz ergriffen; etwas Unbestimmtes, worüber wohl
+auch sie keine Rechenschaft zu geben vermochte, schien
+lähmend auf ihr zu lasten, und sie trug es still, wie ein
+unvermeidliches Kreuz, das zu tragen sie für die kurze
+Zeit ihres Lebens nun einmal verurteilt war. Und doch
+schien es mir, als verstocke allmählich ihr Herz in dieser
+dumpfen Qual; ja selbst ihr ganzes Denken nahm
+eine andere Richtung und wurde düster, traurig, trostlos.
+Namentlich eine Beobachtung traf mich: es schien
+mir, daß sie, je älter ich wurde, sich um so mehr von mir
+entferne, so daß ihre Verschlossenheit mir gegenüber
+schließlich die Form einer gewissen Reizbarkeit annahm,
+die sich wie Ärger äußerte. Ja es gab Augenblicke,
+<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a>
+wo ich die Empfindung hatte, sie liebe mich überhaupt
+nicht mehr; ich schien ihr lästig zu sein. Deshalb
+begann auch ich mich von ihr zurückzuziehen, und nachdem
+das einmal geschehen, wurde ich von ihrer Verschlossenheit
+gleichsam angesteckt. So kam es denn, daß
+alles, was ich in diesen drei Jahren erlebte und was
+allmählich in mir reifte, mein Geheimnis blieb. Und
+da wir uns einmal voreinander verschlossen hatten,
+konnte ich ihr später nie mehr ganz offen mein Innerstes
+zeigen, obschon ich sie immer noch mehr lieben
+lernte. Ich kann jetzt nicht ohne Tränen daran denken,
+wie sehr sie an mir hing, wie sie sich in ihrem Herzen
+gelobt, ihren ganzen großen Liebesreichtum an mich
+zu verschwenden und wie sie ihrem Gelübde, mir eine
+Mutter zu sein, bis zum Tode treu blieb. Es ist wahr,
+das eigene Leid lenkte sie zuweilen für eine Zeitlang von
+mir ab und ich glaube, daß sie mich dann einfach vergaß
+– um so mehr, als ich mich nach Möglichkeit bemühte,
+sie nicht an mich zu erinnern. Inzwischen wurde
+ich sechzehn Jahre alt, ohne daß sie mein Heranwachsen
+gemerkt hätte. Aber in klareren Stunden, wenn sie bewußter
+um sich sah, war es doch, als erschrecke
+sie plötzlich: und sie ließ mich dann eilig aus meinem
+Zimmer, wo ich gewöhnlich gerade lernte, zu sich rufen,
+und überschüttete mich mit Fragen, wie um mich
+zu prüfen, zu ergründen – tagelang mußte ich dann
+bei ihr sitzen. Sie gab sich Mühe, alle meine Wünsche,
+alle meine Gefühlsregungen zu erraten und war offenbar
+in Sorge um mein Alter. Und wie sie sich um
+meine Gegenwart sorgte, so sorgte sie sich auch um
+meine Zukunft, und mit unerschöpflicher Liebe, ja geradezu
+<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a>
+mit Ehrfurcht vor meinem Leben suchte sie mich
+für alle Zeiten mit ihrer Hilfe auszurüsten. Doch wir
+waren uns innerlich schon fremd geworden und deshalb
+merkte sie es nicht, daß sie mitunter gar zu naiv
+vorging und ich ihre Absicht viel zu sehr durchschaute.
+So z. B., als sie einmal – das war schon nach meinem
+sechzehnten Geburtstag – in meinen Büchern gekramt
+hatte, fragte sie mich plötzlich, was ich lese, und
+als sie sah, daß es nur kleine Geschichten für etwa
+zwölfjährige Kinder waren, da erschrak sie. Ich erriet
+sofort, was sie erschreckt hatte, und beobachtete sie aufmerksam.
+Ganze zwei Wochen ließ sie es sich nun angelegen
+sein, mich vorzubereiten und zu prüfen und vor
+allem meinen Reifegrad festzustellen. Endlich entschloß
+sie sich: und auf unserem Tisch erschien „Ivanhoe“ von
+Walter Scott, ein Roman, den ich schon längst und
+mindestens dreimal gelesen hatte. Anfangs verfolgte
+sie mit ängstlicher Erwartung, welcher Art der Eindruck
+war, den ich empfing; bald jedoch wich diese Gespanntheit
+zwischen uns und wir begeisterten uns beide,
+und ich war froh, so froh, daß ich mich jetzt nicht
+mehr vor ihr zu verstellen brauchte! Als wir den Roman
+beendet hatten, war sie entzückt von mir. Jede Bemerkung,
+die ich während der Lektüre gemacht, jede
+Äußerung und Auffassung war richtig gewesen. Ja
+ihrer Meinung nach war ich sogar schon zu weit entwickelt.
+Überrascht und entzückt davon, machte sie sich
+nun wieder freudig daran, meine Entwicklung zu leiten;
+sie wollte sich nie mehr von mir trennen; doch das
+lag nicht in ihrer Macht. Das Schicksal trat sehr bald
+wieder trennend zwischen uns und verhinderte eine beiderseitige
+<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a>
+Annäherung. Dazu bedurfte es nur der ersten
+leisen Anwandlung ihrer Krankheit und ihr Leid siegte
+in ihrer Seele; und dann folgte wieder eine Entfremdung,
+wieder stand ihr Geheimnis, stand Mißtrauen
+zwischen uns, und vielleicht war es sogar wieder wie
+eine Verstockung von ihrer wie von meiner Seite, die
+sich zwischen uns schob.
+</p>
+
+<p>
+Doch selbst dann gab es Augenblicke, die nicht in
+unserer Macht standen. Spannende Lektüre, ein sympathisches
+Wort, die Macht der Musik – und wir vergaßen
+uns, sprachen uns aus, oft sogar mehr als nötig,
+und dann fühlten wir uns bedrückt voreinander.
+Es war dann immer wie ein plötzliches Sichbesinnen
+und wir sahen uns wie erschrocken über uns selbst mit
+argwöhnischer Neugier und mit Mißtrauen an. Jede
+von uns hatte ihre Grenze, bis zu der sie sich der anderen
+nähern konnte; diese Grenze zu überschreiten
+wagten wir nicht, auch wenn wir es gewollt hätten.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachmittags vor der Dämmerung las ich im
+Salon Alexandra Michailownas zerstreut in einem
+Buch. Sie saß am Flügel und improvisierte nach Motiven
+italienischer Musik. Als sie schließlich auf die
+Melodie einer bekannten Arie überging, begann ich,
+von der Musik, die mich gefangennahm, gleichsam dazu
+aufgefordert, leise die Melodie mitzusingen. Die Musik
+bezauberte mich und ich stand plötzlich auf und trat
+an den Flügel. Alexandra Michailowna schien meinen
+Wunsch zu erraten und ging auf die Begleitung
+über, liebevoll jedem Ton meiner Stimme folgend. Es
+war, als sei sie durch die Stärke meiner Stimme überrascht.
+Ich hatte bis dahin noch nie in ihrer Gegenwart
+<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a>
+gesungen, ja und auch ich wußte noch nicht, ob ich überhaupt
+irgendwelche Stimmittel besaß. Jetzt aber waren
+wir plötzlich beide wie von einem Geist erfüllt. Ich hob
+die Stimme mehr und mehr, eine mir bis dahin unbekannte
+Energie erwachte in mir, eine Leidenschaft, die
+von Alexandra Michailownas freudiger Verwunderung,
+die ich aus jedem Takt ihrer Begleitung heraushörte,
+noch geschürt wurde. Und der Schluß der Arie
+gelang mir so gut, ich war so beseelt, so hingerissen
+von dem Lied, daß sie ganz begeistert meine Hände ergriff
+und mich strahlend ansah:
+</p>
+
+<p>
+„Annjeta! Aber du hast ja eine wundervolle Stimme!“
+rief sie entzückt. „Mein Gott! und ich habe davon
+nichts gewußt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich habe es ja selbst jetzt erst bemerkt!“ versicherte
+ich, gleichfalls ganz erschüttert vor Freude.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Gott segne dich, Gott segne dich, mein liebes,
+unschätzbares Kind! Danke Gott für diese Gabe!
+Wer weiß ... Ach, mein Gott, mein Gott!“ ...
+</p>
+
+<p>
+Sie war so ergriffen von der Überraschung, so
+außer sich vor Freude, daß sie nicht wußte, was sie
+mir sagen, wie sie mir ihre Liebe zeigen sollte. Das war
+eine jener Stunden der Aufrichtigkeit, der Zuneigung
+und Annäherung, die es in der letzten Zeit schon lange
+nicht mehr zwischen uns gegeben hatte. Eine Stunde
+später war es wie ein Fest im Hause. Sie schickte sogleich
+zu B. und ließ ihn zu sich bitten. In der Erwartung
+seiner nahmen wir ein anderes Lied vor, das mir
+bekannter war. Diesmal zitterte ich vor Angst. Ich
+wollte nicht durch einen Mißerfolg den ersten Eindruck
+zerstören. Doch bald gab mir meine Stimme selbst wieder
+<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a>
+Mut und machte mich sicher. Ich sang und wunderte,
+wunderte mich über den Umfang meiner Stimme.
+Dieser zweite Versuch verscheuchte jeden Zweifel. Alexandra
+Michailowna wußte vor Freude nicht, wo sie
+sich lassen sollte, sie schickte nach den Kindern, sogar
+nach der Kinderfrau, und schließlich – ließ sie sich so
+weit hinreißen, daß sie zu ihrem Mann ging und ihn
+aus seinem Kabinett zu uns rief – eine Kühnheit, an
+die sie zu jeder anderen Zeit nicht einmal zu denken gewagt
+hätte. Pjotr Alexandrowitsch nahm die Neuigkeit
+wohlwollend auf, gratulierte mir und war der
+erste, der da sagte, man müsse meine Stimme ausbilden.
+Alexandra Michailowna, die vor Dankbarkeit
+so glücklich war, als hätte er für sie Gott weiß was
+getan, wollte ihm dafür fast die Hände küssen. Endlich
+kam B. Seine Freude war groß. Er liebte mich sehr
+und gedachte meines Stiefvaters, der Vergangenheit,
+und als ich ihnen zwei oder drei Lieder vorgesungen,
+erklärte er mit ernster und sogar besorgter Miene, ja
+sogar mit einer gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit,
+daß ich zweifellos gute Stimmittel hätte, vielleicht auch
+sogar Talent, und deshalb sei es natürlich ganz unmöglich,
+meine Stimme etwa nicht auszubilden ... –
+jedoch ... Und nun war es, als besinne er sich, und er
+wie auch Alexandra Michailowna schienen sich zu sagen,
+daß es gefährlich sei, mich schon zu Anfang so zu
+loben, und ich bemerkte, wie sie sich nun mit einigen
+Blicken schnell verständigten und sich später noch flüsternd
+verabredeten, so daß ihre kleine Verschwörung
+gegen mich recht ungeschickt und naiv ausfiel. Ich lachte
+im stillen den ganzen Abend, denn als ich wieder gesungen
+<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a>
+hatte, sah ich, wie sie sich Mühe gaben, gleichgültig
+zu bleiben und wie sie sogar einige Mängel mit
+Absicht hervorheben und laut besprachen. Ihre Selbstbeherrschung
+währte aber nicht lange und B. war der
+erste, der von der Freude übermannt, sich untreu wurde.
+Ich hatte nicht vermutet, daß er mich so gern hatte.
+Den ganzen Abend herrschte eine frohe Stimmung und
+die lebhafte Unterhaltung war so freundschaftlich wie
+nie zuvor. B. gab die Lebensgeschichten einiger Künstler
+zum besten und erzählte von der Kunst der berühmten
+Größen mit der Begeisterung des Künstlers,
+oft sogar fast ehrfurchtsvoll und ergriffen.
+</p>
+
+<p>
+Es war auch die Rede von meinem Stiefvater, und
+dann ging die Unterhaltung auf mich über, auf meine
+Kindheit, dann auf den Fürsten und die Familie des
+Fürsten, von der ich nach der Trennung so wenig gehört
+hatte. Auch Alexandra Michailowna wußte wenig
+von ihnen, B. dagegen am meisten, da er mehrmals in
+Moskau gewesen war. Doch hier bekam das Gespräch
+etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes, und zwei
+oder drei Umstände, die hauptsächlich den Fürsten betrafen,
+blieben mir ganz unverständlich. Alexandra
+Michailowna erkundigte sich nach Katjä, doch B. wußte
+von ihr nichts Besonderes zu berichten oder schien vielmehr
+absichtlich nichts berichten zu wollen. Das machte
+mich stutzig. Ich hatte Katjä nicht nur nicht vergessen,
+sondern meine frühere Liebe zu ihr hatte sich eher noch
+vertieft; aber es war mir nie in den Sinn gekommen,
+daß mit ihr irgendeine Veränderung vor sich gegangen
+sein könnte. Ich hatte weder an die langen Jahre der
+Trennung, noch an die Verschiedenheit unserer Erziehung
+<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a>
+und unserer Charaktere gedacht. Sie hatte mich in
+meinen Gedanken nie verlassen, sie lebte immer noch
+so, wie ich sie als Kind gesehen, neben mir, und in meiner
+Phantasie gingen wir stets Hand in Hand. Da ich
+mich selbst immer als Heldin jedes von mir gelesenen
+Romanes sah, so ersann ich für meine Freundin, die
+Prinzeß, immer eine Rolle neben mir und verdoppelte
+somit den Roman, von dem dann der zweite Teil ausschließlich
+von mir handeln sollte, ersann ihn mit Hilfe
+aller meiner Lieblingsautoren, die ich natürlich erbarmungslos
+bestahl.
+</p>
+
+<p>
+An jenem Abend wurde auch gleich im Familienrat
+beschlossen, welchem Professor meine Ausbildung
+nun übertragen werden sollte. B. empfahl den allerbesten.
+So fuhr denn schon am nächsten Tage der berühmte
+Italiener D. bei uns vor, prüfte meine Stimme,
+sagte ungefähr dasselbe, was sein Freund B. gesagt
+hatte, meinte aber, es wäre für mich von viel
+größerem Nutzen, wenn ich zusammen mit seinen anderen
+Schülerinnen bei ihm lernte, der Ehrgeiz und das
+gute Beispiel wären vortreffliche Hilfsmittel usw., usw.
+Alexandra Michailowna war damit einverstanden, und
+so ging ich von diesem Tage an regelmäßig dreimal
+wöchentlich früh morgens um 8 Uhr in Begleitung eines
+Dienstmädchens ins Konservatorium.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt muß ich von einem sonderbaren Erlebnis erzählen,
+das auf mich einen großen, nachhaltigen Eindruck
+machte und nach welchem ich wie nach einem
+schroffen Bruch in ein anderes Alter eintrat. Ich war
+damals noch nicht ganze siebzehn Jahre alt, als plötzlich
+eine mir selbst ganz unverständliche Apathie von
+<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a>
+meiner Seele Besitz zu ergreifen begann; eine eigentümliche,
+unerträgliche, schwermütige Stille, die ich
+selbst nicht begriff, kam über mich. Alle meine Erwartungen,
+mein ganzes Streben und Wollen war verstummt,
+sogar meine Phantasie schwieg wie vor Kraftlosigkeit.
+Eine kalte Gleichgültigkeit war in mir an die
+Stelle der früheren unbeholfenen drangvollen Glut getreten.
+Sogar für mein Talent, das doch von allen, die
+ich mit ganzer Seele lieb hatte, so bewundert wurde,
+konnte ich keine Neigung und Liebe bei mir mehr aufbringen
+und ich mißachtete es gefühllos. An nichts
+nahm ich Anteil, und selbst für Alexandra Michailowna
+empfand ich nur dieselbe kalte Gleichgültigkeit, obschon
+ich mir deshalb Vorwürfe machte. Meine Apathie
+wurde nur von grundloser Traurigkeit oder von
+plötzlichen Tränen unterbrochen. Ich hatte das Verlangen
+nach Einsamkeit. Und in dieser eigentümlichen Zeit
+wurde durch ein seltsames Erlebnis meine ganze Seele
+bis auf den Grund erschüttert und diese Stille in einen
+wahren Sturm verwandelt. Mein Herz wurde getroffen
+und verwundet. Und das geschah folgendermaßen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-7">
+VII.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Ich trat in die Bibliothek (diese Stunde werde ich
+nie vergessen) und nahm den letzten Roman von Walter
+Scott, den ich noch nicht gelesen hatte. Ich weiß
+noch, daß ein gegenstandloser Kummer mich fast wie
+mit einer Vorahnung quälte. Ich wollte weinen. Im
+Zimmer war es noch goldig hell von den letzten schrägen
+Strahlen der sinkenden Sonne, die mit einer Lichtfülle
+<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a>
+durch die hohen Fenster auf das glänzende Parkett
+fielen. Es war still. Auch in den Nebenzimmern
+war keine Menschenseele. Pjotr Alexandrowitsch war
+nicht zu Hause und Alexandra Michailowna war krank
+und lag zu Bett. Ich weinte auch wirklich, und während
+ich im zweiten Teil des Romans blätterte, versuchte
+ich, aus den einzelnen abgerissenen Sätzen, die
+ich hier und da las, den Zusammenhang des Ganzen
+zu erraten. Es war fast, wie wenn man ein Buch aufs
+Geratewohl aufschlägt und den ersten besten Satz wie
+einen Orakelspruch liest. Es gibt solche Augenblicke,
+wo alle geistigen und seelischen Kräfte sich krankhaft
+anstrengen und plötzlich wie in einer hellen Flamme des
+Bewußtseins aufflammen, und in diesem Augenblick
+wird dann die erschütterte Seele, die sich gleichsam
+im Vorgefühl, ja vielleicht sogar schon im Vorgenuß
+des Zukünftigen quält, wie von einem prophetischen
+Traum erfüllt. Und man will so leben, so leben, und
+das Herz, das in heißester, blindester Hoffnung aufflammt,
+will mit einemmal gleichsam die Zukunft herausfordern
+– die Zukunft mit ihrer ganzen geheimnisvollen
+Unbekanntheit, auch mit Stürmen und Ungewittern,
+wofern sie nur Leben ist, wirkliches Leben! Gerade
+das war es, was ich empfand.
+</p>
+
+<p>
+Ich erinnere mich, daß ich gerade das Buch schloß,
+um es dann aufs Geratewohl wieder aufzuschlagen und
+mit dem Gedanken an meine Zukunft einen Satz als
+Orakelspruch zu lesen. Doch als ich die Buchdeckel aufklappte
+und die Blätter sich teilten, lag vor mir auf
+dem aufgeschlagenen Buch ein beschriebener Bogen
+Postpapier, zweimal gefaltet und so zusammengepreßt,
+<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a>
+als sei er schon vor Jahren in dieses Buch gelegt und
+dann vergessen worden. Neugierig untersuchte ich meinen
+Fund. Es war ein Brief, jedoch ohne Adresse, ohne
+Anrede und als Unterschrift standen nur zwei Buchstaben:
+S. O. Meine Neugier verdoppelte sich, ich entfaltete
+das fast zusammengeklebte Papier, das vom
+langen Liegen auf den Blättern eine helle Stelle von
+der Größe seines Formats hinterlassen hatte. An den
+Faltstellen war das Papier schon stark mitgenommen:
+man hatte den Brief wohl oft gelesen. Die Tinte war
+verblaßt – er mußte schon vor langer, langer Zeit geschrieben
+worden sein. Einzelne Wörter stachen mir in
+die Augen und mein Herz begann zu klopfen vor Erwartung.
+Verwirrt besah ich den Brief von allen Seiten,
+wie um das Lesen noch hinauszuschieben. Zufällig
+sah ich näher hin und hob ihn zum Licht: ja! es waren
+deutliche Tränenspuren zu sehen, stellenweise waren sogar
+ganze Buchstaben verwischt. Wessen Tränen mochten
+das sein? Und schließlich las ich mit stockendem
+Herzschlag die erste halbe Seite und – fast hätte ich
+aufgeschrien. Ich stellte das Buch zurück, schloß den
+Schrank, verbarg den Brief in meinem Kleide und lief
+auf mein Zimmer, dessen Tür ich verschloß, und dann
+machte ich mich daran, den Brief nochmals vom Anfang
+an zu lesen. Mein Herz schlug so laut, daß die
+Buchstaben vor meinen Augen tanzten und ich lange
+nicht begriff, was ich las. Der Brief war eine Aufklärung,
+für mich eine Lösung des Geheimnisses, –
+wie ein Blitz durchzuckte es mich, denn ich erriet sogleich,
+an wen er gerichtet war. Ich wußte, daß ich
+nahezu ein Verbrechen beging, wenn ich diesen Brief
+<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a>
+las, doch der Augenblick war stärker als ich! der Brief
+war an Alexandra Michailowna gerichtet.
+</p>
+
+<p>
+Hier ist er: ich schreibe ihn wortgetreu ab. Unklar
+begriff ich, was er enthielt und noch lange nachher habe
+ich über das Rätsel nachgedacht und mich grübelnd
+zerquält. Mit diesem Augenblick brach mein früheres
+Leben ab. Mein Herz war für lange Zeit erschüttert,
+fast für immer, denn dieser Brief hatte viele Folgen.
+Die Vorahnung, mit der ich das Orakel nach meiner
+Zukunft befragen gewollt, hatte mich nicht getäuscht.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Brief war das Letzte, war ein letzter, furchtbarer
+Abschied. Während ich ihn las, krampfte sich
+mein Herz so schmerzhaft zusammen, als verlöre ich
+selbst damit alles, als würden mir auf ewig sogar meine
+Träume und Hoffnungen genommen, als bliebe mir
+nichts mehr als ein unnötiges, überflüssiges Leben.
+Wer war er, der diesen Brief geschrieben? Wie war
+nachher sein Leben? Dieser Brief enthielt so viele Andeutungen,
+so viele Beweisstücke, daß man sich nicht
+täuschen konnte, und doch auch so viele Rätsel, daß es
+unmöglich war, sich nicht in den Vermutungen zu verlieren.
+Dennoch kann ich sagen, daß ich mich kaum irrte;
+übrigens offenbarte allein schon der Stil des Briefes,
+der auch sonst noch vieles verriet, den ganzen Charakter
+dieses Verhältnisses, über dem zwei Herzen gebrochen
+sind. Die Gedanken und Gefühle des Schreibenden
+lagen offen zutage. Doch hier ist der Brief –
+ich schreibe ihn Wort für Wort ab:
+</p>
+
+<p>
+„Du wirst mich nicht vergessen, sagtest Du – und
+ich glaube Dir, und von nun an ist mein ganzes Leben
+in diesen Deinen Worten. Wir müssen uns trennen,
+<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a>
+unsere Stunde hat geschlagen. Das wußte ich längst,
+meine stille, meine traurige Schönheit, aber erst jetzt
+habe ich es begriffen. Während der ganzen Zeit, die
+<em>uns</em> gehörte, seitdem Du mich liebtest, hat mein Herz
+mich geschmerzt und gezittert um unsere Liebe, und –
+wirst Du’s glauben? – jetzt ist mir leichter! Ich wußte
+es schon längst, daß es so enden werde, so war es schon
+vor uns bestimmt. Das ist Schicksal. Und weißt Du,
+laß es mich Dir sagen, Alexandra: wir waren <em>nicht
+ebenbürtig</em>; das habe ich immer, <em>immer</em> gefühlt!
+Ich war Deiner nicht wert, und ich, ich allein
+müßte die Strafe für mein durchlebtes Glück tragen!
+Sag’, was war ich im Vergleich mit Dir, bevor ich
+Dich kennen lernte? Gott! nun sind schon zwei Jahre
+darüber vergangen und ich bin immer noch wie von
+Sinnen; ich kann es bis jetzt noch nicht begreifen, daß
+<em>Du mich</em> lieben konntest! Ich verstehe nicht, wie es
+zwischen uns so weit kam, womit es begann. Erinnerst
+Du Dich noch, was ich war im Vergleich mit Dir?
+War ich denn Deiner wert, was war an mir, wodurch
+zeichnete ich mich aus? Bevor ich Dich kennen lernte,
+war ich roh und einfältig, und mein Aussehen traurig
+und düster. Ein anderes Leben wünschte ich nicht, ich
+rief es weder, noch wollte ich es rufen. Alles in mir
+war niedergedrückt und ich kannte in der ganzen Welt
+nichts Wichtigeres, als meine tägliche Arbeit. Ich
+hatte nur eine Sorge – das war der nächste Tag;
+doch selbst zu dieser verhielt ich mich gleichmütig. Früher,
+ja, einmal vor langer Zeit, da hatte ich wohl etwas
+Ähnliches erträumt und wie ein Narr phantastische
+Schlösser gebaut. Seitdem aber war viel, viel
+<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a>
+Zeit vergangen und ich richtete mich so gut es ging in
+meinem Leben ein, lebte einsam, verschlossen, ruhig und
+sogar ohne die Kälte zu fühlen, die mein Herz erstarren
+ließ. Und so verstummte es. Ich wußte doch, daß für
+mich nie eine andere Sonne aufgehen werde, und ich
+glaubte daran und murrte nicht, denn ich begriff, daß
+es <em>so sein mußte</em>. Als Du an mir vorübergingst,
+wußte ich nicht, daß ich es wagen durfte, meine Augen
+zu Dir zu erheben. Ich war wie ein Sklave vor
+Dir. Mein Herz bebte nicht neben Dir, es sehnte sich
+nicht und verhieß mir nichts von Dir: es war ruhig.
+Meine Seele erkannte die Deine nicht, wenn es in ihr
+auch leicht war neben ihrer schönen Schwester. Das
+weiß ich; das fühlte ich dumpf. Das konnte ich fühlen,
+denn selbst in das letzte Stäubchen dringt Gottes Sonnenlicht
+und wärmt und liebkost es ebenso wie die schönste
+Blume, neben der es in wunschloser Demut fröstelt.
+Als ich aber alles erfuhr, weißt Du noch, nach
+jenem Abend, nach jenen Worten, die meine Seele bis
+auf den Grund erschütterten – da war ich wie geblendet,
+bestürzt, alles verwirrte sich in mir, und – was
+glaubst Du? – ich war so betroffen, ich traute mir so
+wenig, daß ich Dich nicht verstand! Davon habe ich
+Dir nie etwas gesagt. Du wußtest nichts; nicht so war
+ich früher, wie Du mich kennen lerntest. Wenn ich gekonnt
+hätte, wenn ich gewagt hätte, zu sprechen, so
+hätte ich Dir längst alles gestanden. Doch ich schwieg,
+jetzt aber werde ich Dir alles sagen, denn Du sollst wissen,
+wen Du verlierst, von was für einem Menschen
+Du Dich trennst. Weißt Du auch, wie ich Dich anfangs
+verstand? Die Leidenschaft erfaßte mich wie ein Feuer,
+<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a>
+wie ein Gift ergoß sie sich in mein Blut; sie verwirrte
+alle meine Gedanken und Gefühle, ich war wie von
+schwerem Wein berauscht, wie im Dunst ging ich umher
+und auf Deine reine <em>mitleidige</em> Liebe antwortete
+ich nicht wie ein Ebenbürtiger einer Ebenbürtigen,
+nicht wie einer, der Deiner reinen Liebe wert wäre,
+sondern besinnungslos, herzlos. Ich erkannte Dich
+nicht. Ich antwortete Dir wie einer, die sich in meinen
+Augen <em>bis zu mir vergaß</em>, und nicht wie einer,
+die mich bis zu sich erheben wollte. Weißt Du, was ich
+von Dir dachte, was das für mich bedeutete: <em>die sich
+bis zu mir vergaß</em>? Doch nein, ich werde Dich
+nicht mit meinem Geständnis beleidigen; nur eines will
+ich Dir sagen: Du hast Dich bitter in mir getäuscht!
+Niemals, niemals konnte ich mich bis zu Dir erheben.
+Ich konnte Dich nur unnahbar anschauen, Dein Wesen
+geistig erfassen in meiner schrankenlosen Liebe. Meine
+Leidenschaft aber war nicht Liebe. Liebe fürchtete ich;
+ich wagte nicht, Dich zu lieben. In der Liebe – ist
+Gemeinsamkeit, Gleichheit, ihrer aber war ich nicht
+wert ... Oder ich weiß nicht, was mit mir war! Oh!
+wie soll ich mich nur ausdrücken, um von Dir verstanden
+zu werden ... Ich glaubte anfangs nicht ... Oh!
+weißt Du noch, als meine erste Erregung sich gelegt
+und mein Blick sich geklärt hatte, als mir nur ein reines,
+makelloses Gefühl geblieben war – da war meine
+erste Empfindung Verwunderung, Verwirrung, Furcht
+und – weißt Du noch – wie ich mich plötzlich aufschluchzend
+Dir zu Füßen warf? Weißt Du noch, wie
+Du verwirrt, erschrocken, mit Tränen in den Augen
+mich fragtest, was mit mir sei? Ich schwieg, ich konnte
+<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a>
+Dir nicht antworten; aber meine Seele zerriß sich in
+Stücke. Mein Glück bedrückte mich wie eine unerträgliche
+Last und mein Schluchzen sprach: „Wofür das?
+Womit habe ich das verdient? Wofür mir dieses Glück?
+Meine Schwester, meine Schwester!“ Oh! und wie
+oft – Du merktest es nicht – wie oft habe ich heimlich
+Dein Kleid geküßt, heimlich, denn ich wußte, daß
+ich Deiner nicht wert war, – und es benahm mir den
+Atem, mein Herz schlug langsam und stark, als wolle
+es stehenbleiben und das – für immer. Wenn ich
+Deine Hand nahm, erbleichte ich und zitterte; Du verwirrtest
+mich mit Deiner Reinheit. Nein, ich verstehe
+nicht – das alles auszudrücken, wovon meine Seele
+erfüllt war und was sich so mächtig in Worten aus ihr
+herausdrängen will! Weißt Du auch, daß es mir oft
+schwer war, Deine mitleidige, gleichmäßige Zärtlichkeit
+zu ertragen, daß sie mir eine Qual war? Als Du
+mich küßtest (das tatest Du einmal, und ich werde es
+nie vergessen), da umflorte sich mein Blick und mein
+Geist versank wie in einem dunklen Nebel. Warum
+starb ich nicht in diesem Augenblick zu Deinen Füßen?
+Sieh, ich sage zum erstenmal „Du“ zu Dir, und doch
+hast Du es schon so oft von mir verlangt, schon vor langer
+Zeit. Wirst Du verstehen, was ich sagen will? Ich
+will Dir <em>alles</em> sagen und sage Dir dies: ja, Du liebst
+mich, mit einer großen Liebe, Du liebtest mich wie
+eine Schwester ihren Bruder; Du liebtest mich wie
+Dein Geschöpf, denn durch Dich ist mein Herz auferstanden,
+Du hast meinen Geist aus dem Schlaf geweckt
+und ihn mit süßer Hoffnung erfüllt; ich aber
+konnte es nicht, wagte es nicht ... ich habe Dich nie
+<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a>
+meine Schwester genannt, weil ich nicht Dein Bruder
+sein konnte, weil wir ungleich waren, weil Du Dich in
+mir täuschtest!
+</p>
+
+<p>
+Doch Du siehst, ich schreibe nur von mir; selbst
+jetzt in dieser Stunde des Elends, denke ich nur an mich,
+obschon ich weiß, daß Du Dich um mich quälst. Oh,
+quäle Dich nicht meinetwegen, meine liebe Freundin!
+Wenn Du wüßtest, wie ich jetzt in meinen eigenen Augen
+erniedrigt bin! All das ist an den Tag gekommen
+und – wieviel Lärm um nichts! Du wirst statt meiner
+verstoßen, Dich straft man mit Verachtung, mit Spott,
+denn ich stehe ja so niedrig in den Augen der Menschen!
+Oh, wie groß ist meine Schuld, daß ich Deiner
+nicht wert war! Hätte ich Rang und Titel oder persönlichen
+Wert in ihren Augen, wenn ich ihnen mehr Achtung
+einflößte – dann würden sie Dir verzeihen! Ich
+aber bin nichts, bin wertlos, bin lächerlich, noch Niederigeres
+aber als das Lächerliche gibt es nicht. Denn
+– <em>wer</em> sind sie, die da schreien? Gerade deshalb, weil
+<em>diese</em> schon schrien, verlor ich den Mut – ich war
+von jeher schwach. Weißt Du, in welch einer Stimmung
+ich jetzt bin? – ich lache über mich selbst und ich glaube,
+sie haben recht, wenn sie sagen, ich sei mir selbst
+verhaßt und in meinen eigenen Augen lächerlich. Ich
+hasse sogar mein Gesicht, meine Gestalt, alle meine Angewohnheiten,
+alle meine ungeschickten Bewegungen;
+ich habe sie immer gehaßt! Oh, vergib mir meine rohe
+Verzweiflung! Aber Du selbst hast mich gelehrt, Dir
+alles zu sagen. Ich habe Dich ins Unglück gestürzt,
+durch mich bist Du ihrem Spott und Gelächter verfallen
+– weil ich Deiner nicht wert war!
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a>
+Und dieser eine Gedanke quält mich; er klopft unaufhörlich
+in meinem Gehirn und foltert und zerreißt
+mein Herz. Und immer scheint es mir, daß Du gar nicht
+<em>den</em> Menschen geliebt hast, der ich war, sondern einen,
+den nur Du in mir sahst –: daß Du Dich getäuscht
+hast in mir. Das ist es, was mich schmerzt, das ist es,
+was mich jetzt quält, was mich zu Tode quälen wird:
+oder aber – ich werde darüber wahnsinnig!
+</p>
+
+<p>
+Ich muß Abschied von Dir nehmen, Abschied! Jetzt,
+wo alle es wissen, wo ihr Geschrei und ihr scharfes Urteil
+ertönt (ich habe es gehört!), jetzt, wo ich klein und
+erniedrigt bin in meinen eigenen Augen und mich vor
+mir selber schäme, ja wo ich mich sogar für Dich schäme,
+wegen Deiner Wahl, wo ich mich verflucht habe,
+– jetzt muß ich verschwinden um Deiner Ruhe willen.
+So verlangt man es, und Du wirst mich nie mehr wiedersehen,
+nie mehr. So muß es auch sein, so ist es vom
+Schicksal bestimmt! Es hat mir gar zu viel gegeben;
+wohl aus Versehen; und jetzt macht es seinen Irrtum
+gut, indem es mir alles wieder nimmt. Unsere Wege
+haben sich gekreuzt, wir lernten uns kennen, und nun
+gehen wir auseinander bis zu einem neuen Wiedersehen!
+Wo wird das sein, wann wird das sein? Oh,
+sag’ mir, Du Liebe, wo werden wir uns wiedersehen,
+wo kann ich Dich finden, wie kann ich Dich verstehen
+lernen – und wirst auch Du mich dann verstehen?
+Meine Seele ist so voll von Dir! Oh, wofür, wofür das
+uns? Warum gehen wir auseinander? Belehre mich
+– ich begreife das nicht, ich werde es nie begreifen, ich
+kann es nicht – lehre Du mich, wie man das Leben in
+zwei Hälften brechen, wie man das Herz sich aus der
+<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a>
+Brust reißen und ohne Herz leben kann! Wenn ich daran
+denke, daß ich Dich nie mehr sehen werde, nie mehr,
+nie mehr! ...
+</p>
+
+<p>
+Gott, was für ein Geschrei sie erhoben haben! wie
+ich jetzt für Dich fürchte! Vor einer Stunde habe ich
+mit Deinem Mann gesprochen: wir sind beide seiner
+nicht wert, obschon wir schuldlos vor ihm sind. Er weiß
+alles; er sieht uns so, wie wir sind, und er begreift
+alles, auch früher schon ist ihm alles klar gewesen. Und
+jetzt ist er wie ein Held für Dich eingetreten. Er wird
+Dich gegen ihr Geschrei verteidigen und beschützen; er
+liebt und achtet Dich grenzenlos; er ist Dein Retter,
+während ich verschwinde! ... Ich wollte ihm die Hände
+küssen! ... Er sagte mir, ich solle unverzüglich verreisen.
+Es ist schon beschlossen! Es heißt, er habe Deinetwegen
+mit ihnen allen gebrochen; dort sind ja alle
+gegen Dich. Man wirft ihm zu große Nachsicht und
+Schwäche vor. Mein Gott! Was sie nicht alles von
+Dir reden! Und dabei wissen sie nichts! <em>Sie können
+ja nicht, sie sind nicht fähig</em>, die Wahrheit zu
+begreifen! Vergib, vergib ihnen, Du Arme, wie auch
+ich ihnen vergebe. Mir aber haben sie mehr genommen
+als Dir!
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß nicht – nein, ich weiß nicht, was ich Dir
+schreibe. Was sagte ich Dir gestern beim Abschied?
+Ich habe doch alles vergessen. Ich war wie von Sinnen
+– Du weintest ... Vergib mir diese Tränen!
+Ich bin so schwach, so kleinmütig!
+</p>
+
+<p>
+Ich wollte Dir noch etwas sagen ... Oh! Noch
+einmal Deine Hände küssen, mit diesen Tränen benetzen,
+die hier auf dem Papier meine Worte verwischen! Noch
+<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a>
+einmal zu Deinen Füßen sitzen! Wenn <em>sie</em> nur wüßten,
+wie rein und gut Dein Gefühl war! Aber sie sind ja
+blind; ihre Herzen sind stolz und hochmütig; sie sehen
+nicht und werden das niemals sehen. Denn <em>sie haben
+das nicht, womit man sieht</em>! Sie werden
+es nie glauben, daß Du schuldlos bist, auch wenn
+die ganze Welt es ihnen schwören sollte. Wie sollten sie
+auch das begreifen! Und doch werden sie mit Steinen
+nach Dir werfen! Wessen Hand wird die erste sein? Oh,
+die werden nicht zaudern, tausend Steine werden sie
+aufheben! Ja, sie werden sich dazu erdreisten, weil sie
+wissen, wie man das macht. Sie werfen alle zugleich
+und sagen, sie selber seien schuldlos, deshalb dürften
+sie es! Oh, wenn sie wüßten, was sie tun! Wenn man
+ihnen nur alles sagen könnte, alles, rückhaltlos alles,
+damit sie es hören, sehen, begreifen und sich überzeugen
+könnten! Doch nein, sie sind nicht so schlecht ... Ich
+rede in meiner Verzweiflung ... – vielleicht verleumde
+ich sie! Vielleicht stecke ich Dich mit meiner Angst um
+Dich an! Nein, fürchte sie nicht, fürchte sie nicht, Du
+Liebe! Man wird Dich verstehen lernen; wenigstens
+hat einer Dich schon begriffen: Dein Mann. Also
+hoffe!
+</p>
+
+<p>
+Leb’ – leb’ wohl! <em>Ich danke Dir nicht!</em>
+Für immer leb’ wohl.
+</p>
+
+<p class="sign">
+S. O.“
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Meine Verwirrung war so groß, daß ich lange Zeit
+nicht wußte, was in mir vorging. Ich war erschüttert,
+erschrocken. Die Wirklichkeit traf mich gar zu plötzlich,
+gar zu unerwartet mitten in dem lustigen Leben
+meiner Träumereien, wie ich es schon drei Jahre lang
+<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a>
+lebte. Mit Schrecken wurde ich gewahr, daß ich ein großes
+Geheimnis in meinen Händen hielt und daß dieses
+Geheimnis mein ganzes Leben in Fesseln schlug ...
+wie? – das wußte ich selbst noch nicht. Ich fühlte, daß
+in diesem Augenblick eine neue Zukunft für mich begann.
+Jetzt war ich ungewollt eine nahe, gar zu nahe Teilhaberin
+an dem Leben und den Beziehungen jener Menschen,
+die noch die ganze mich umgebende Welt ausmachten,
+und ich fürchtete für mich. Als was würde
+ich in ihr Leben eintreten, ich, die Ungerufene, ich, die
+ihnen Fremde? Was würde ich ihnen bringen? Was
+wird jemals diese Fessel lösen können, die mich so
+plötzlich an ein fremdes Geheimnis kettete? Wer konnte
+das wissen? Vielleicht wird meine neue Rolle sowohl
+für sie wie für mich qualvoll sein? Ich konnte nicht
+schweigen oder diese Rolle nicht annehmen oder das,
+was ich erfahren, für alle Zeit in meinem Herzen verschließen.
+Aber was erwartete mich? Was sollte ich
+tun? Und schließlich – was hatte ich denn eigentlich
+erfahren? Tausend Fragen, alle noch unbestimmt und
+unklar, erhoben sich vor mir und bedrückten mein Herz
+unerträglich. Ich war wie verloren.
+</p>
+
+<p>
+Dann kamen, erinnere ich mich, andere Minuten
+mit neuen, seltsamen, von mir noch nie empfundenen
+Eindrücken. Es war mir, als löse sich etwas in meiner
+Brust, als fiele die frühere Sehnsucht plötzlich von mir
+ab und als werde mein Herz langsam von etwas Neuem
+erfüllt, von dem ich noch nicht wußte, ob ich darüber
+trauern oder mich freuen sollte. Meine Stimmung
+in dem Augenblick glich derjenigen eines Menschen,
+der auf ewig sein Haus, sein früheres, ruhiges, sorgenloses
+<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a>
+Leben verläßt, um sich auf einen weiten unbekannten
+Weg zu begeben, und der sich nun zum letztenmal
+im Kreise umschaut und in Gedanken von allem
+Abschied nimmt, während es dem Herzen bitter weh
+ist in einer bangen Vorahnung all des Unbekannten
+und Traurigen und vielleicht auch Feindseligen der Zukunft,
+in die ihn sein neuer weiter Weg hineinführt.
+Zuletzt brach ich in Tränen aus und das krampfhafte
+Weinen erleichterte mein Herz. Ich hatte das Bedürfnis,
+jemanden zu sehen, zu hören, ihn fest, krampfhaft
+zu umarmen. Jetzt konnte, jetzt wollte ich nicht mehr
+allein bleiben; ich lief zu Alexandra Michailowna und
+verbrachte den ganzen Abend bei ihr. Wir waren allein.
+Ich bat sie, nicht zu spielen, und weigerte mich,
+trotz ihrer Bitten, ihr etwas vorzusingen. Ich fühlte
+mich bedrückt und konnte mich zu nichts sammeln. Ich
+glaube, wir weinten beide. Wenigstens soweit ich mich
+erinnere, erschrak sie über meine Stimmung und redete
+mir in Sorge zu, mich doch zu beruhigen, und mich
+nicht aufzuregen. Sie beobachtete mich angstvoll und
+versicherte mir, ich sei krank und müsse mich mehr schonen.
+Ich verließ sie gequält und wie mit mir selbst zerfallen.
+Ich war halb bewußtlos und fieberte, als ich
+zu Bett ging.
+</p>
+
+<p>
+Es vergingen mehrere Tage, bevor ich aus diesem
+Zustande mich herausfand, gleichsam erwachte und
+meine Lage klarer übersehen konnte. Damals lebten
+wir ganz einsam, denn Pjotr Alexandrowitsch war in
+einer besonderen Angelegenheit nach Moskau gereist
+und blieb dort drei Wochen. Alexandra Michailowna
+hatte aber trotz dieser kurzen Zeit der Trennung schreckliche
+<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a>
+Sehnsucht nach ihm. Zuweilen war sie innerlich
+ruhiger, schloß sich aber dennoch in ihr Zimmer ein,
+woraus ich ersah, daß ich ihr lästig war. Aber auch ich
+hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Meine Gedanken
+arbeiteten mit geradezu krankhafter Angespanntheit und
+doch kam ich wie aus einem Nebel nicht heraus. Dann
+verfiel ich wiederum für ganze lange Stunden einem
+quälenden, nicht abzuschüttelnden Sinnen, das wie ein
+Traum über mich kam. Und es war mir dann, als lache
+jemand leise über mich, als habe sich etwas in mir niedergelassen,
+was mir jeden Gedanken verwirrte und
+vergiftete. Ich konnte die quälenden Bilder nicht loswerden,
+die jeden Augenblick vor mir auftauchten und
+mir keine Ruhe gaben. Ich sah ein langes, trostloses
+Martyrium, ein Opfer, das still und ruhig und klaglos
+und – umsonst gebracht wurde. Es schien mir,
+daß derjenige, dem dieses Opfer galt, sie verachtete und
+über sie lachte. Es schien mir, daß ich einen Sünder sah,
+der einem Gerechten Sünden vergab, und mein Herz
+riß in Stücke! Gleichzeitig aber wollte ich mich mit
+aller Gewalt von meinem Verdacht befreien; ich verfluchte
+diesen Verdacht und haßte mich selbst, weil alle
+meine Überzeugungen keine Überzeugungen waren,
+sondern nur Vorahnungen, und weil ich meine Eindrücke
+und Empfindungen vor mir selber nicht rechtfertigen
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Dann wieder erinnerte ich mich all jener Sätze,
+dieser letzten hervorgestoßenen Worte des furchtbaren
+Abschieds. Ich stellte mir diesen Abschied vor, den –
+<em>unebenbürtigen</em>; ich bemühte mich, den ganzen
+qualvollen Sinn dieses Wortes zu erfassen: „unebenbürtig“.
+<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a>
+Und furchtbar erschütterte mich dieser letzte
+verzweifelte Abschiedsgruß: „Ich bin lächerlich und
+schäme mich selber Deiner Wahl.“ Was war das?
+Was sind das für Menschen? Wonach sehnen sie sich,
+was quält sie, was haben sie verloren? Und ich überwand
+mich und las nochmals mit angespannter Aufmerksamkeit
+diesen Brief, der soviel Verzweiflung enthielt,
+dessen Sinn mir aber so fremd war, so unbegreiflich.
+Doch der Brief sank mir aus der Hand und eine
+aufrührerische Erregung bemächtigte sich meines Herzens
+... Das alles mußte ja einmal seine Lösung finden,
+aber ich sah den Ausweg nicht oder ich fürchtete
+ihn!
+</p>
+
+<p>
+Ich war fast krank, als eines Tages die Reiseequipage
+Pjotr Alexandrowitschs in den Hof fuhr. Er war
+aus Moskau zurückgekehrt. Alexandra Michailowna
+eilte außer sich vor Freude ihrem Mann entgegen, ich
+aber blieb wie gelähmt stehen. Ich weiß noch, daß ich
+selber bis zum Schreck über meine plötzliche Erregung
+betroffen war. Ich hielt das nicht lange aus und lief
+auf mein Zimmer. Ich begriff nicht, was mich so erschreckt
+hatte, aber die Tatsache, daß ich erschrocken war,
+flößte mir Furcht ein. Nach einer Viertelstunde wurde
+ich gerufen und ich erhielt einen Brief vom Fürsten.
+Im Salon erblickte ich noch einen Unbekannten, der
+mit Pjotr Alexandrowitsch aus Moskau angekommen
+war, und aus einzelnen Worten, die ich aus dem Gespräch
+auffing, verstand ich nur so viel, daß er für lange
+Zeit bei uns bleiben werde. Das war der Bevollmächtigte
+des Fürsten, der in irgendwelchen wichtigen
+Angelegenheiten der fürstlichen Familie, die bis dahin
+<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a>
+in den Händen Pjotr Alexandrowitschs geruht hatten,
+nunmehr nach Petersburg übersiedelte. Er war es, der
+mir den Brief des Fürsten übergab und sagte, die
+Prinzeß habe mir gleichfalls schreiben wollen und noch
+bis zum letzten Augenblick versichert, daß sie den Brief
+unbedingt schreiben werde, aber zu guter Letzt habe sie
+ihn doch mit leeren Händen abreisen lassen und ihn
+gebeten, mir mündlich folgendes zu sagen: daß sie mir
+entschieden nichts zu schreiben habe, sie habe ganze fünf
+Briefbogen zerrissen, und sei zu der Überzeugung gekommen,
+daß in einem Brief sich doch nichts sagen ließe,
+wir müßten eben von neuem Freundschaft schließen;
+und ferner solle er mich versichern, daß uns ein
+baldiges Wiedersehen bevorstehe. Auf meine ungeduldige
+Frage, wann das sein werde, antwortete mir der
+fremde Herr, daß die ganze fürstliche Familie allerdings
+die Absicht habe, bald nach Petersburg zurückzukehren,
+und vermutlich werde das auch geschehen. Meine Freude
+darüber war so groß, daß ich nicht wußte, was ich
+tun oder sagen sollte, und ich ging schnell nach oben
+auf mein Zimmer, schloß mich ein und erbrach unter
+Tränen den Brief des Fürsten. Der Fürst verhieß mir
+ein baldiges Wiedersehen mit ihm und Katjä und gratulierte
+mir tief gerührt zu meinem Talent; zum Schluß
+gab er mir seinen Segen und versprach, für meine Zukunft
+zu sorgen. Ich weinte, während ich den Brief las;
+doch zu den Tränen gesellte sich eine so unerträgliche
+Traurigkeit, daß ich, wie ich mich erinnere, um mich
+selber in Angst geriet. Ich wußte nicht, was mit mir
+geschah.
+</p>
+
+<p>
+Es vergingen ein paar Tage. In dem Zimmer zwischen
+<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a>
+dem meinigen und der Bibliothek, wo früher
+Pjotr Alexandrowitschs Sekretär und Gehilfe gearbeitet
+hatte, arbeitete jetzt jeden Vormittag und häufig auch
+abends bis nach Mitternacht der neuangekommene
+Herr. Oft schlossen er und Pjotr Alexandrowitsch sich
+im Kabinett des letzteren ein und arbeiteten zusammen.
+An einem Nachmittage bat mich Alexandra Michailowna,
+zu ihrem Mann ins Kabinett zu gehen und
+ihn zu fragen, ob er zum Tee zu uns kommen werde.
+Im Kabinett war niemand, doch in der Annahme, daß
+er bald zurückkehren werde, blieb ich dort und wartete.
+An der Wand hing sein Porträt. Ich erinnere mich
+noch, daß ich zusammenfuhr, als ich plötzlich dieses
+Bild erblickte, um es dann mit einer mir selbst unbegreiflichen
+Erregung zu betrachten. Es hing ziemlich
+hoch und die Dämmerung machte es noch undeutlicher;
+um es nun besser zu sehen, zog ich einen Stuhl heran
+und stieg auf ihn hinauf. Ich wollte etwas aufdecken,
+ja es war, als hoffte ich, eine Antwort auf meine
+Zweifel und Fragen zu finden, und ich weiß noch, daß
+mir vor allem die Augen an diesem Porträt auffielen.
+Zugleich fiel es mir auch ein, daß ich noch niemals
+die Augen dieses Menschen gesehen hatte: er verbarg
+sie immer hinter den Brillengläsern.
+</p>
+
+<p>
+Schon als Kind hatte ich seinen Blick nicht gemocht,
+und zwar infolge eines unerklärlichen, seltsamen Vorurteils,
+das ich aber jetzt gleichsam als gerechtfertigt
+empfand. Meine Phantasie war beeinflußt. Plötzlich
+schien es mir, daß die Augen des Bildes sich verwirrt
+abwandten, um meinem forschenden, prüfenden Blick
+auszuweichen, daß sie ihn krampfhaft mieden, und daß
+<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a>
+Lüge und Betrug in diesen Augen waren; es schien
+mir, daß ich es erraten hatte, und eine geheime Freude,
+die ich selbst nicht begriff, antwortete in mir auf dieses
+Erraten. Ein halblautes „Ach!“ entschlüpfte mir unwillkürlich.
+Da war’s mir plötzlich, als sei noch jemand
+im Zimmer. Ich sah mich um: vor mir stand
+Pjotr Alexandrowitsch und betrachtete mich aufmerksam.
+Plötzlich errötete er. Ich wurde feuerrot und
+sprang vom Stuhl herab.
+</p>
+
+<p>
+„Was tun Sie hier?“ fragte er mich streng.
+„Warum sind Sie hier?“
+</p>
+
+<p>
+Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Doch
+ich nahm mich zusammen und brachte so gut es ging
+die Aufforderung Alexandra Michailownas hervor.
+Ich weiß nicht, was er mir antwortete; ich weiß auch
+nicht, wie ich das Kabinett verließ; als ich aber zu
+Alexandra Michailowna kam, da hatte ich die Antwort,
+auf die sie wartete, spurlos vergessen, und ich sagte
+aufs Geratewohl, ja, er werde kommen.
+</p>
+
+<p>
+„Aber was ist mit dir, Njetotschka?“ fragte sie,
+„du bist ja ganz rot; sieh doch im Spiegel, wie du aussiehst
+... Was fehlt dir, Kind?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht, ich bin schnell gegangen ...“
+sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Und was hat denn Pjotr Alexandrowitsch gesagt?“
+unterbrach sie mich etwas verwirrt.
+</p>
+
+<p>
+Ich antwortete nicht. Da hörten wir Schritte, er
+kam schon, und ich ging schnell hinaus. Ganze zwei
+Stunden wartete ich in großem Kummer. Endlich wurde
+ich zu Alexandra Michailowna gerufen. Sie war
+schweigsam und bekümmert. Als ich eintrat, traf mich
+<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a>
+nur ein schneller forschender Blick von ihr und sie
+schlug die Augen nieder. Ich glaubte, eine gewisse Verwirrung
+in ihrem Gesicht zu bemerken. Bald sah ich,
+daß sie bei schlechter Laune war; sie sprach wenig, vermied
+mich anzusehen und als Antwort auf die besorgten
+Fragen B.’s klagte sie über Kopfschmerz. Pjotr
+Alexandrowitsch war dagegen gesprächiger als sonst,
+unterhielt sich aber nur mit B.
+</p>
+
+<p>
+Alexandra Michailowna trat zerstreut an den
+Flügel.
+</p>
+
+<p>
+„Singen Sie uns etwas vor,“ bat B., sich an mich
+wendend.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Annjeta, singe deine neue Arie,“ sagte Alexandra
+Michailowna schnell, als freue sie sich über den
+Vorwand.
+</p>
+
+<p>
+Ich blickte zu ihr auf: sie sah mich in unruhiger Erwartung
+an.
+</p>
+
+<p>
+Doch ich konnte mich nicht überwinden. Statt an
+den Flügel zu treten, um wenigstens irgend etwas
+zu singen, geriet ich in Verwirrung, wurde verlegen
+und wußte nicht, zu welcher Ausrede ich meine Zuflucht
+nehmen sollte; schließlich ärgerte ich mich und schlug die
+Bitte rund ab.
+</p>
+
+<p>
+„Warum willst du denn nicht singen?“ fragte Alexandra
+Michailowna, dabei sah sie mich an und dann,
+für den Bruchteil einer Sekunde, ihren Gatten.
+</p>
+
+<p>
+Diese zwei Blicke brachten mich um meine ganze
+Selbstbeherrschung. Ich erhob mich in größter Verwirrung,
+die ich nicht mehr zu verbergen vermochte,
+und zitternd von einer Empfindung, die wie Ärger und
+Ungeduld war, wiederholte ich heftiger als angebracht,
+<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a>
+daß ich nicht wolle, nicht könne – ich sei krank. Indem
+ich das sagte, sah ich alle offen an, doch Gott weiß, wie
+gern ich mich in diesem Augenblick in meinem Zimmer
+vor allen versteckt hätte.
+</p>
+
+<p>
+B. war erstaunt und Alexandra Michailowna sichtlich
+bekümmert, doch sagte sie kein Wort. Pjotr Alexandrowitsch
+aber erhob sich plötzlich von seinem Platz,
+sagte, er habe etwas Wichtiges vergessen, und wie im
+Ärger darüber, daß er soviel kostbare Zeit vergeudet,
+verließ er eilig das Zimmer, nachdem er vorausgeschickt,
+daß er später vielleicht noch vorsprechen werde – doch
+drückte er auf alle Fälle B. schon zum Abschied die
+Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Aber was fehlt Ihnen nur?“ fragte mich B.,
+„Sie sehen auch wirklich krank aus.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich bin nicht ganz wohl, wirklich nicht,“ versetzte
+ich ungeduldig.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist bleich, vorhin aber warst du so rot,“ sagte
+Alexandra Michailowna und plötzlich stockte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das ist doch nichts!“ suchte ich sie zu beruhigen
+und ging schnurstracks zu ihr. Ich sah ihr offen
+in die Augen. Die Arme hielt meinen Blick nicht aus,
+senkte ihren Blick wie eine Schuldige und eine leichte
+Röte stieg in ihre blassen Wangen. Ich nahm ihre Hand
+und küßte sie. Sie sah mich – das fühlte ich – mit erheuchelter
+Freude an.
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie, daß ich heute ein so schlechtes,
+böses Kind war,“ bat ich sie herzlich, „aber wirklich,
+ich bin krank. So seien Sie mir nicht böse und erlauben
+Sie, daß ich jetzt auf mein Zimmer gehe ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wir sind alle Kinder,“ sagte sie mit einem schüchternen
+<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a>
+Lächeln, „auch ich bin ein Kind, und schlechter,
+viel schlechter als du,“ flüsterte sie mir leise ins Ohr.
+„Dann gute Nacht und bleibe gesund. Nur, um Gottes
+willen, sei mir nicht böse.“
+</p>
+
+<p>
+„Weswegen?“ fragte ich, so sehr traf mich dieses
+naive Geständnis.
+</p>
+
+<p>
+„Weswegen?“ wiederholte sie in plötzlicher Verwirrung,
+ja sogar als erschrecke sie über sich selbst. „Ja
+weswegen? Nun siehst du, wie ich bin, Njetotschka.
+Was habe ich dir da gesagt? Gute Nacht! Du bist
+klüger als ich ... Ich aber bin schlimmer als ein
+Kind.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, schon gut!“ Ich war gerührt und wußte
+nicht, was ich ihr darauf sagen sollte. Ich küßte sie
+nochmals und ging aus dem Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Mein Unmut galt hauptsächlich mir selbst, denn
+ich fühlte, daß ich zu unvorsichtig war und mich nicht
+zu benehmen verstand. Es war da etwas, dessen ich
+mich bis zu Tränen schämte, und mit großem Leid im
+Herzen schlief ich ein. Als ich am nächsten Morgen
+erwachte, war mein erster Gedanke, daß der ganze letzte
+Abend – nur eine Gespensterseherei gewesen sei, daß
+wir uns gegenseitig nur mystifiziert hatten, indem wir
+solchen Nichtigkeiten die Bedeutung von Gott weiß was
+für Begebenheiten beilegten, daß wir uns einfach übereilt
+hatten, und zwar alles das nur infolge unserer Unerfahrenheit
+im Leben und unserer Ungewohntheit, äußere
+Eindrücke zu empfangen. Ich fühlte es, daß dieser
+Brief an allem schuld war, daß er mich gar zu sehr beunruhigte,
+daß meine Einbildungskraft durch ihn aus
+ihrem gewöhnlichen Geleise gehoben war und daß ich
+<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a>
+deshalb am besten tat, wenn ich in Zukunft überhaupt
+nicht mehr an ihn dachte. Nachdem ich so meinen ganzen
+Kummer verscheucht hatte, wurde ich – in der Überzeugung,
+daß ich den Entschluß, überhaupt nicht mehr
+an den Brief zu denken, ebenso leicht werde ausführen
+können – langsam ruhiger, ja fast sogar heiter, und
+begab mich in die Gesangsstunde. Die Morgenluft erfrischte
+meinen Kopf endgültig. Diese Wanderungen
+frühmorgens zu meinem Lehrer waren mir zu einer
+wahren Erquickung geworden und ich liebte sie sehr.
+Es war so lustig, durch die Stadt zu wandern, die sich
+schon zu beleben anfing und wie ein Uhrwerk ihre tägliche
+Arbeit begann. Wir gingen gewöhnlich durch die
+Hauptstraßen, die natürlich am belebtesten waren, und
+mir gefiel dieser Anfang meiner Künstlerlaufbahn,
+eben dieser Kontrast zwischen der alltäglichen Kleinlichkeit,
+der engen, doch lebendig pulsierenden Sorge,
+und der Kunst, die mich zwei Schritte von diesem Leben
+entfernt erwartete, im dritten Stock eines riesigen
+Hauses, das von oben bis unten von Menschen bewohnt
+war, die die Kunst, wie mir schien, so gut wie überhaupt
+nichts anging. Ich mit meinen Noten unterm
+Arm inmitten dieser geschäftigen, besorgten Menschen
+– neben mir die alte Natalja, die mich begleitete und
+mir jedesmal ahnungslos das Rätsel zu erraten gab:
+woran sie eigentlich und vornehmlich denken mochte –
+und schließlich mein Lehrer, halb Italiener, halb Franzose,
+ein ganzer Sonderling, in manchen Augenblicken
+ein richtiger Enthusiast, viel öfter aber ein Pedant
+und am meisten und vor allem ein Geizhals – alles das
+zerstreute mich, brachte mich zum Lachen oder zum Nachdenken.
+<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a>
+Hinzu kam, daß ich, so zaghaft ich in der Beziehung
+auch noch war, doch schon mit leidenschaftlicher
+Hoffnung meine Kunst liebte. Ich baute mir schon
+Luftschlösser, malte mir die schönste Zukunft aus, und
+nicht selten kam ich nach Haus – glühend von meinen
+Phantasien! Kurz, in diesen Stunden war ich fast
+glücklich.
+</p>
+
+<p>
+Dasselbe empfand ich auch damals, als ich gegen
+zehn Uhr zurückkehrte. Ich hatte alle Sorgen vergessen
+und war, wie ich mich noch deutlich erinnere, so froh
+gelaunt, so ganz erfüllt von irgendwelchen Zukunftsträumen.
+Doch plötzlich, wie ich die Treppe hinaufstieg,
+zuckte ich zusammen, als hätte ich mich verbrannt.
+Über mir hörte ich die Stimme Pjotr Alexandrowitschs,
+der in diesem Augenblick die Treppe herabstieg.
+Das unangenehme Gefühl, das sich meiner bemächtigte,
+war so stark, die Erinnerung an den letzten
+Abend traf mich so plötzlich und so feindselig, daß ich
+meine Empfindung wirklich nicht verbergen konnte. Ich
+verbeugte mich leicht vor ihm, doch mein Gesicht drückte
+wohl so deutlich alles aus, daß er einen Augenblick
+verwundert vor mir stehen blieb. Da errötete ich und
+ging schnell hinauf. Er brummte mir noch etwas nach
+und ging dann seiner Wege.
+</p>
+
+<p>
+Ich hätte weinen mögen vor Ärger und konnte doch
+nicht begreifen, was eigentlich vorgegangen war. Den
+ganzen Tag war ich wie verwirrt und wußte nicht, zu
+was ich mich entschließen sollte, um dieser ganzen Qual
+ein Ende zu machen und sie endlich loszuwerden. Tausendmal
+nahm ich mir vor, fortan vernünftiger zu sein,
+und tausendmal nahm mich die Angst doch wieder gefangen.
+<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a>
+Ich fühlte, daß ich diesen Menschen haßte, und
+war gleichzeitig in Verzweiflung über mich selbst. Ich
+wurde krank von der ewigen Aufregung und verlor alle
+Gewalt über mich. Ich ärgerte mich schließlich über alle,
+und verbrachte den ganzen langen Tag auf meinem
+Zimmer. Auch zu Alexandra Michailowna ging ich
+nicht. Sie kam selbst zu mir. Als sie mich erblickte,
+schrie sie fast auf. Ich war so bleich, daß ich, als ich
+in den Spiegel sah, vor mir selber erschrak. Alexandra
+Michailowna blieb eine ganze Stunde bei mir und
+ging mit mir um wie mit einem kranken Kinde.
+</p>
+
+<p>
+Ihre Aufopferung und Liebe machten mich aber so
+traurig und ihre Zärtlichkeit war für mich so schwer zu
+ertragen und es war mir so qualvoll, sie anzusehen,
+daß ich sie bat, mich allein zu lassen. Sie verließ mich
+in großer Sorge um meinen Zustand. Endlich brach ich
+in Tränen aus und weinte wie in einem richtigen
+Weinkrampf. Danach wurde mir bedeutend leichter
+...
+</p>
+
+<p>
+... Leichter, weil ich mich entschlossen hatte, zu ihr
+zu gehen. Ich wollte vor ihr niederknien, ihr den Brief
+geben, den sie verloren hatte, und ihr alles gestehen:
+alle Qualen, die ich ausgestanden, meine Zweifel, und
+wollte sie mit der ganzen schrankenlosen Liebe, die in
+mir für sie glühte, umfangen, wollte ihr sagen, daß
+ich ihr Kind, ihr Freund sei, daß ich mein ganzes Herz
+vor ihr öffne, damit sie hineinschaue und sähe, wieviel
+glühende Liebe und unerschütterliches Vertrauen zu ihr
+in ihm waren. Mein Gott! Ich wußte, ich fühlte ja,
+daß ich die letzte war, der sie ihr Herz aufdecken konnte,
+doch um so eher, so schien es mir, wäre dann eine Rettung
+<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a>
+möglich, um so gewichtiger wäre dann mein
+Wort ... Ich erriet, ich begriff ihren Schmerz, wenn
+auch dunkel und unklar, und mein Herz bebte vor Entrüstung
+bei dem Gedanken, daß sie vor mir erröten
+könnte, <em>sie</em> vor <em>meinem</em> Richterstuhl ... „Du Arme,
+du Arme, <em>du</em> solltest jene Sünderin sein, für die
+du dich hältst?“ – das wollte ich ihr sagen, wenn ich
+vor ihr kniete. Mein Gerechtigkeitsgefühl empörte sich
+in mir, ich war meiner selbst nicht mehr mächtig. Ich
+weiß nicht, was ich noch alles gesagt hätte – erst später
+kam ich zur Besinnung, nachdem ein Zufall mich
+und sie vor dem Verderben bewahrt, indem er mich fast
+beim ersten Schritt zurückhielt. Entsetzen erfaßte mich.
+Hätte denn ihr zu Tode gequältes Herz überhaupt noch
+in neuer Hoffnung auferstehen können? Ich hätte sie
+nur auf der Stelle getötet!
+</p>
+
+<p>
+Es geschah aber folgendes: Als ich auf dem Wege
+zu ihr gerade durch das vorletzte Zimmer vor ihrem Salon
+gehen wollte, trat plötzlich durch eine andere Tür in
+dasselbe Zimmer Pjotr Alexandrowitsch und ging, ohne
+mich zu bemerken, wenige Schritte vor mir gleichfalls
+zu ihr. Ich blieb wie gelähmt stehen; er war der Letzte,
+den ich in diesem Augenblick hätte sehen mögen. Ich
+wollte schon zurückkehren, doch plötzlich bannte mich die
+Neugier regungslos an den Fleck.
+</p>
+
+<p>
+Er durchschritt das Zimmer, blieb einen Augenblick
+vor dem Spiegel stehen, ordnete mit der Hand das
+Haar, und mit einem Male – zu meiner sprachlosen
+Verwunderung – hörte ich ihn irgendeine muntere Melodie
+summen. Wie ein Blitz durchzuckte eine dunkle,
+ferne Erinnerung aus den Kinderjahren mein Gedächtnis.
+<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a>
+Doch damit die seltsame Empfindung, die ich in
+diesem Augenblick hatte, verständlicher wird, will ich
+jene Erinnerung mitteilen. Noch im ersten Jahre meines
+Aufenthaltes in diesem Hause machte mich einmal
+eine gleichfalls zufällige Beobachtung ganz betroffen,
+die mir aber erst jetzt voll zu Bewußtsein kam, denn erst
+jetzt, erst in diesem Augenblick begriff ich die Ursache
+meiner unerklärlichen Abneigung gegen diesen Menschen!
+Ich erwähnte bereits, daß ich mich schon damals
+in seiner Gegenwart immer bedrückt fühlte. Auch habe
+ich bereits erzählt, was für einen Eindruck sein finsteres,
+bedrückendes Wesen auf mich machte, sein oft trauriges,
+geradezu gramvolles Gesicht; wie schwer es mir
+ums Herz war nach jenen Stunden, die wir zusammen
+am Teetischchen Alexandra Michailownas verbrachten,
+und dann – was für ein peinvolles Gefühl
+mein Herz erfüllte, als ich – was nur zwei- oder dreimal
+geschah – fast Zeugin war jener niederdrückenden,
+mir so ganz unklaren Szenen.
+</p>
+
+<p>
+Es war in demselben Zimmer und um dieselbe Zeit,
+als er, ganz wie ich, zu Alexandra Michailowna ging.
+Mich erfaßte eine rein kindliche Scheu, als ich allein
+mit ihm zusammentraf, und ich versteckte mich gleichsam
+schuldbewußt im Winkel und betete, daß er mich
+nicht bemerken möge. Geradeso wie damals, blieb er
+vor dem Spiegel stehen und ich zuckte zusammen von einer
+unbestimmten, gar nicht kindlichen Empfindung: es
+schien mir, daß er sein Gesicht plötzlich verändere. Wenigstens
+hatte ich vorher, als er zum Spiegel trat, deutlich
+ein Lächeln in seinem Gesicht gesehen – ein Lächeln,
+während ich ihn früher noch niemals lächeln gesehen
+<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a>
+hatte, denn (ich erinnere mich, das machte mich
+noch am meisten betroffen) – er lachte nie in Alexandra
+Michailownas Gegenwart. Und nun plötzlich, kaum
+daß er einen Blick in den Spiegel geworfen, veränderte
+sich sein ganzes Gesicht: das Lächeln verschwand
+wie auf Befehl und an seine Stelle trat der Ausdruck
+eines unsäglich bitteren Gefühls, das sich anscheinend
+mit Gewalt aus dem Herzen drängte, eines Gefühls,
+das zu verbergen scheinbar nicht mehr in menschlicher
+Macht stand, wie groß auch immer jeder edelmütige
+Versuch dazu sein mochte, und es zuckte um seine Lippen
+– ein anscheinend konvulsivischer Schmerz ließ seine
+Stirn sich runzeln und zog die Brauen zusammen. Der
+Blick verbarg sich düster hinter den Brillengläsern –
+kurz, sein Gesicht wurde wie auf Kommando zum Gesicht
+eines ganz anderen Menschen. Ich erinnere mich,
+daß ich, als ohnehin ängstliches Kind, vor Furcht erzitterte,
+vor Furcht, das zu begreifen, das ganz zu erfassen
+und zu durchschauen, was ich sah, und seit jenem
+Augenblick saß die bedrückende, unangenehme Empfindung
+unausrottbar in meinem Herzen. Und nach
+dem Blick in den Spiegel senkte er den Kopf, nahm
+eine müdere Haltung an, jene, in der er gewöhnlich
+bei Alexandra Michailowna erschien, und ging leise in
+ihr Boudoir. Diese Erinnerung war es, die mich nun
+plötzlich wie ein Blitz durchzuckte.
+</p>
+
+<p>
+Auch jetzt glaubte er, ganz wie damals, daß er allein
+im Zimmer sei und blieb vor demselben Spiegel
+stehen. Ganz wie damals stand ich dort, von ihm unbemerkt,
+mit einem feindseligen unangenehmen Gefühl.
+Als ich ihn aber dieses Liedchen summen hörte (ein Lied
+<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a>
+von ihm, von dem man alles eher als das hätte erwarten
+können!) und vor Überraschung wie gelähmt stehenblieb,
+als mir in diesem Augenblicke blitzartig die Ähnlichkeit
+mit dem einen von mir als Kind erlebten Augenblick
+einfiel – da, ich kann es nicht wiedergeben,
+was für eine Empfindung mir plötzlich messerscharf ins
+Herz schnitt. Alle meine Nerven zuckten davon zusammen
+und als Antwort auf dieses unglückselige Liedchen brach
+ich in ein solches Gelächter aus, daß der arme Sänger
+mit einem Aufschrei zwei Schritte weit vom Spiegel
+fortsprang und, bleich wie der Tod, wie ein schmachvoll
+auf frischer Tat ertappter Verbrecher, mich ansah,
+außer sich vor Schreck, vor Verblüffung und vor
+Wut. Sein Blick reizte mich krankhaft und ich antwortete
+auf ihn mit nervenschüttelndem, unersättlichem Lachen
+– ihm gerade ins Gesicht. Dann ging ich lachend
+an ihm vorüber und trat, ohne mit dem Lachen aufzuhören,
+bei Alexandra Michailowna ein. Ich wußte, daß
+er hinter der Portiere stand, daß er vielleicht unschlüssig
+war, ob er gleichfalls eintreten sollte oder nicht, daß
+Wut und Feigheit ihn an den Fleck bannten, wo er
+stand – und mit einer seltsam gereizten, herausfordernden
+Ungeduld erwartete ich, wozu er sich entschließen
+werde. Ich hätte wetten können, daß er nicht eintreten
+werde, und ich hätte meine Wette gewonnen. Er
+kam erst nach einer halben Stunde. Alexandra Michailowna
+sah mich lange Zeit mit größter Verwunderung
+an, doch sie fragte mich vergeblich nach der Ursache meiner
+Erregung. Ich konnte nicht antworten, ich war zu
+atemlos. Endlich begriff sie, daß ich einen Nervenanfall
+gehabt hatte, und ihre Augen folgten mir beunruhigt.
+<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a>
+Als ich mich etwas erholt hatte, erfaßte ich ihre
+Hände und bedeckte sie mit Küssen. Jetzt erst besann
+ich mich und jetzt erst sagte ich mir, daß ich sie getötet
+hätte, wenn das zufällige Zusammentreffen mit ihrem
+Mann nicht gewesen wäre. Ich sah sie an, als sähe ich
+in ihr eine Auferstandene.
+</p>
+
+<p>
+Pjotr Alexandrowitsch trat herein.
+</p>
+
+<p>
+Ich blickte flüchtig zu ihm hin: er sah aus, als sei
+nichts geschehen, also düster und verschlossen wie gewöhnlich.
+Es fiel mir nur auf, daß er sehr bleich war und
+ich sah seine Mundwinkel zucken: da erriet ich, daß er
+seine Erregung nur mit Mühe verbarg. Kühl grüßte
+er Alexandra Michailowna und setzte sich schweigend
+auf seinen Platz. Seine Hand zitterte ein wenig, als er
+die Tasse in Empfang nahm. Ich erwartete einen Zornesausbruch
+und eine stumme Angst erfaßte mich. Ich
+wollte schon hinausgehen, konnte mich aber nicht entschließen,
+Alexandra Michailowna, deren Gesicht sich
+beim Anblick ihres Mannes verändert hatte, zu verlassen.
+Sie hatte gleichfalls ein Vorgefühl, das ihr
+nichts Gutes verhieß. Und das, was ich mit solcher
+Angst erwartete, geschah denn auch endlich.
+</p>
+
+<p>
+Inmitten des tiefsten Schweigens sah ich auf und
+mein Blick begegnete den Brillengläsern Pjotr Alexandrowitschs,
+die geradeaus auf mich gerichtet waren.
+Das war so überraschend, weil so ungewohnt, daß ich
+zusammenzuckte, fast einen Schrei ausstieß, und die
+Augen niederschlug. Alexandra Michailowna bemerkte
+meinen Schreck.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist mit Ihnen? Warum erröten Sie?“ fragte
+Pjotr Alexandrowitsch schroff und fast grob.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a>
+Ich schwieg; mein Herz klopfte so stark, daß ich
+kein Wort hätte hervorbringen können.
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb ist sie errötet? Weshalb errötet sie immer?“
+fragte er, sich an Alexandra Michailowna wendend,
+indem er frech auf mich wies.
+</p>
+
+<p>
+Mein Unwille benahm mir den Atem. Ich warf
+einen flehenden Blick Alexandra Michailowna zu. Sie
+verstand mich. In ihre bleichen Wangen stieg edle
+Röte.
+</p>
+
+<p>
+„Annjeta,“ sagte sie zu mir mit so fester Stimme,
+wie ich sie von ihr unter keinen Umständen erwartet
+hatte, „geh auf dein Zimmer, ich werde sogleich zu dir
+kommen; den Abend werden wir zusammen verbringen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich frage Sie, haben Sie mich gehört oder nicht?“
+unterbrach Pjotr Alexandrowitsch mit erhobener
+Stimme, als höre er gar nicht, was seine Frau sagte.
+„Weshalb erröten Sie, wenn Sie mir begegnen? Antworten
+Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Weil Sie sie erröten machen und mich gleichfalls,“
+antwortete statt meiner Alexandra Michailowna,
+vor Aufregung stockend.
+</p>
+
+<p>
+Ich blickte erstaunt zu ihr auf. Die Schärfe ihrer
+Entgegnung schon gleich zu Anfang war mir ganz unverständlich.
+</p>
+
+<p>
+„<em>Ich</em> mache Sie erröten, <em>ich</em>?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch,
+wie es schien auch über alle Maßen erstaunt
+und das „Ich“ stark betonend. „Für <em>mich</em> sind
+<em>Sie</em> errötet? Ja kann <em>ich</em> denn überhaupt <em>Sie</em> für
+<em>mich</em> erröten machen? An wem ist es, an <em>mir</em> oder
+an <em>Ihnen</em>, zu erröten, was meinen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a>
+Diese Frage war so deutlich, auch für mich, und
+mit so gehässigem beißenden Spott gesagt, daß ich vor
+Entsetzen aufschrie und zu Alexandra Michailowna
+stürzte. Überraschung, Schmerz, Vorwurf und Entsetzen
+sprachen aus ihrem todbleichen Gesicht. Ich blickte
+flehend auf Pjotr Alexandrowitsch und faltete die
+Hände, um ihn zu beschwören. Wie es schien, war er
+selber etwas erschrocken, doch die Wut, die ihm diese
+Worte entrissen, war noch nicht vergangen. Aber meine
+stumme Bitte schien ihn doch einigermaßen zu verwirren.
+Meine Geste mußte verraten, daß ich schon vieles
+von dem wußte, was zwischen ihnen ein Geheimnis
+gewesen war und daß ich den Sinn seiner Worte
+sehr gut verstanden hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Annjeta, geh auf dein Zimmer,“ wiederholte Alexandra
+Michailowna mit schwacher, jedoch fester Stimme
+und sie erhob sich vom Stuhl, „ich habe dringend
+mit Pjotr Alexandrowitsch zu sprechen ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie war anscheinend ruhig; doch diese Ruhe beängstigte
+mich mehr als jede Aufregung es vermocht hätte.
+Ich stand, als habe ich ihre Worte nicht gehört, und
+rührte mich nicht vom Fleck. Ich sah sie an und versuchte
+mit Anspannung aller Kräfte aus ihrem Gesicht
+zu erraten, was in ihrer Seele vorging. Es schien mir,
+daß sie weder meinen Ausruf, noch meine Geste richtig
+verstanden hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Da sehen Sie jetzt Ihr Werk!“ sagte Pjotr Alexandrowitsch,
+auf seine Frau weisend.
+</p>
+
+<p>
+Mein Gott! Noch niemals hatte ich eine solche
+Verzweiflung gesehen, wie ich sie jetzt in diesem vor
+Gram todmüden, gleichsam erstorbenen Gesicht, sah.
+<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a>
+Er faßte mich am Handgelenk und führte mich zur Tür.
+Im Hinausgehen blickte ich mich noch einmal nach ihnen
+um. Alexandra Michailowna stand am Kamin, die
+Ellenbogen aufgestützt, den Kopf zwischen beiden Händen,
+mit denen sie ihn krampfhaft zusammenpreßte.
+Die ganze Stellung ihres Körpers drückte unerträgliche
+Qual aus. Ich griff nach Pjotr Alexandrowitschs
+Hand und drückte sie flehend.
+</p>
+
+<p>
+„Um Gottes willen! Um Gottes willen!“ flüsterte
+ich stockend, „haben Sie Erbarmen mit ihr!“
+</p>
+
+<p>
+„Fürchten Sie sich nicht, fürchten Sie sich nicht!“
+sagte er und sah mich dabei eigentümlich an. „Das ist
+nichts, nur ein Anfall. Gehen Sie, gehen Sie.“
+</p>
+
+<p>
+In meinem Zimmer warf ich mich auf das Sofa und
+vergrub das Gesicht in den Händen. Ganze drei Stunden
+verblieb ich in dieser Stellung und in der Zeit stand
+ich Höllenqualen aus. Schließlich konnte ich mich doch
+nicht mehr bezwingen und ließ fragen, ob ich zu Alexandra
+Michailowna kommen dürfe. Die Antwort brachte
+mir Madame Léotard. Pjotr Alexandrowitsch ließ mir
+durch sie sagen, daß der Anfall überstanden und eine
+Gefahr nicht vorhanden sei, doch bedürfe sie noch der
+Ruhe. Ich blieb aber trotzdem bis drei Uhr nachts auf
+und ging ruhelos in meinem Zimmer hin und her.
+Meine Gedanken arbeiteten. Ich befand mich in einer
+Lage, die mir rätselhafter als jemals war, aber ich
+fühlte mich gewissermaßen ruhiger – vielleicht deshalb,
+weil ich mich am schuldigsten von allen fühlte.
+In ungeduldiger Erwartung des nächsten Morgens
+ging ich zu Bett.
+</p>
+
+<p>
+Am anderen Tage bemerkte ich zu meinem großen
+<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a>
+Kummer eine mir unerklärliche Kälte im Wesen
+Alexandra Michailownas. Zuerst glaubte ich, das sei
+nur deswegen, weil es ihrem reinen, vornehmen Herzen
+schwer werde, nach der Szene mit ihrem Mann, deren
+Zeugin ich gewesen war, mit mir zusammen zu sein.
+Ich wußte, daß dieses Kind imstande war, vor mir zu
+erröten und <em>mich</em> womöglich noch um Verzeihung zu
+bitten, weil diese unglückliche Szene <em>meinem</em> Herzen
+weh getan. Bald aber bemerkte ich an ihr so etwas
+wie eine bestimmte Sorge, wie einen Unwillen, der
+einen einzigen bestimmten Grund zu haben schien und
+sich nun in verschiedenen Formen äußerte: bald antwortete
+sie trocken und kühl, bald klang aus ihren
+Worten ein gewisser Doppelsinn, als wolle sie etwas
+Besonderes andeuten; dann wurde sie wiederum sehr
+lieb und gut zu mir, als bereue sie diese Schroffheit
+und Kälte, die ihr Herz ja doch nicht lange für mich
+empfinden konnte, und ihre freundlichen leisen Worte
+suchten den Eindruck zu verwischen und verrieten, daß
+ihre Unfreundlichkeit ihr von Herzen leid tat. Schließlich
+fragte ich sie ganz offen, was mit ihr sei und ob
+sie mir vielleicht etwas zu sagen habe. Meine plötzliche
+schnelle Frage verwirrte sie ein wenig, doch sofort sah
+sie wieder auf, sah mich mit großen, stillen Augen und
+einem zarten Lächeln an und fragte mich:
+</p>
+
+<p>
+„Nichts, Njetotschka; nur, weißt du, als du mich
+so plötzlich fragtest, da geriet ich in Verwirrung. Aber
+das geschah nur deshalb, weil es so plötzlich kam ...
+ich versichere dir. Doch höre, sage mir die Wahrheit,
+mein Kind: hast du nicht so etwas auf dem Herzen, wovon
+du ebenso verwirrt werden könntest, wenn man
+<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a>
+dich ebenso plötzlich und unerwartet danach fragen
+würde?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ antwortete ich, und sah sie mit hellen Augen
+offen an.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, dann ist es ja gut! Wenn du wüßtest, mein
+Kind, wie ich dir dankbar bin für diese schöne und
+offene Antwort. Nicht, daß ich dich irgendeines
+Schlechten verdächtigt hätte, – niemals! Einen solchen
+Gedanken würde ich mir nie verzeihen. Doch höre: ich
+nahm dich als Kind zu mir und jetzt bist du siebzehn
+Jahre alt. Du hast ja selbst gesehen: ich bin leidend;
+ich bin selbst wie ein Kind, das Nachsicht beansprucht.
+Ich konnte dir die leibliche Mutter nicht vollständig
+ersetzen, obgleich mein Herz für dich überreich an Liebe
+war. Wenn mich jetzt Sorgen um dich quälen, so bin
+ich selbstverständlich schuld daran und nicht du. Verzeihe
+daher meine Frage und vergib mir, wenn ich mein
+Versprechen nicht erfüllt habe, das ich dir und dem Vater
+gegeben, als ich dich in mein Haus nahm. Das quält
+mich sehr und hat mich immer gequält, mein Kind.“
+</p>
+
+<p>
+Ich umarmte sie und brach in Tränen aus.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen für alles!“
+sagte ich, und benetzte ihre Hände mit meinen Tränen.
+„Sprechen Sie nicht so zu mir, zerreißen Sie mir nicht
+das Herz. Sie sind mir mehr denn eine Mutter gewesen,
+Gott segne Sie für alles, was Sie an mir getan
+haben, Sie und der Fürst, an mir Armen, Verlassenen!
+meine Liebe, meine Gütige!“
+</p>
+
+<p>
+„Genug, Njetotschka, genug! Umarme mich lieber,
+so, von Herzen! Denn, siehe, Gott weiß, warum es mir
+scheint, daß du mich zum letztenmal umarmen wirst.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a>
+„Nein, nein,“ rief ich laut aufschluchzend wie ein
+Kind, „nein, nur das nicht! Sie werden noch glücklich
+sein! ... Noch vieles steht Ihnen bevor. Glauben
+Sie mir, wir werden alle noch glücklich sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich danke dir, ich danke dir für deine Liebe, Njetotschka.
+Nur wenige lieben mich; sie haben mich alle
+verlassen!“
+</p>
+
+<p>
+„Wer hat Sie denn verlassen? Wer denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Früher waren es ihrer mehr; du weißt es nicht,
+Njetotschka. Sie haben mich alle verlassen, sie sind fortgegangen,
+als wären Zeichen geschehen. Und ich habe
+auf sie gewartet, mein ganzes Leben lang gewartet;
+nun Gott mit ihnen! Sieh Njetotschka, wie spät schon
+der Herbst ist; bald gibt es Schnee: und mit dem ersten
+Schnee sterbe ich, – doch ich will nicht klagen. Lebt
+alle wohl!“
+</p>
+
+<p>
+Ihr Gesicht war schmal und durchsichtig; auf ihren
+Wangen brannten rote Flecke; ihre Lippen bebten und
+waren wie von einem inneren Feuer verbrannt.
+</p>
+
+<p>
+Sie ging ans Klavier und schlug ein paar Akkorde
+an; in dem Augenblick riß eine Seite und ein langer
+zitternder Ton heulte auf ...
+</p>
+
+<p>
+„Hörst du, Njetotschka, hörst du?“ fragte sie mit
+verlöschender Stimme, und wies auf das Klavier.
+„Diese Saite hat man zu sehr angespannt: sie hielt’s
+nicht aus und zerriß. Hörst du, wie der Ton klagend erstirbt!“
+</p>
+
+<p>
+Sie sprach mühevoll. Ein stumpfer, seelischer
+Schmerz lag auf ihrem Gesicht, ihre Augen standen voll
+Tränen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a>
+„Genug davon, Njetotschka, meine Liebe, genug;
+bringe die Kinder her.“
+</p>
+
+<p>
+Ich führte sie herbei. Ihre Gegenwart schien sie zu
+beruhigen und sie erholte sich. Nach einer Stunde aber
+mußten alle sie wieder verlassen.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn ich sterbe, so bleibst du bei ihnen, Annjeta?
+Ja?“ sagte sie flüsternd, als fürchte sie, gehört zu werden.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie Erbarmen, Sie töten mich!“ konnte
+ich ihr nur antworten.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe ja bloß gescherzt,“ sagte sie und verstummte
+lächelnd. „Und du hast daran geglaubt? Ich
+sage doch manchmal, Gott weiß was! Ich bin wie ein
+Kind, mir muß man alles verzeihen.“
+</p>
+
+<p>
+Dabei sah sie mich ganz schüchtern an, als fürchtete
+sie sich, etwas auszusprechen, was ihr auf dem
+Herzen lag. Ich wartete.
+</p>
+
+<p>
+„Sieh zu, erschrick ihn nicht,“ sagte sie endlich mit
+niedergeschlagenen Augen und mit heller Röte im Gesicht,
+so leise, daß ich es kaum hören konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Wen?“ fragte ich verwundert.
+</p>
+
+<p>
+„Meinen Mann. Du erzählst ihm am Ende alles
+wieder.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso, warum denn?“ wiederholte ich meine Frage
+mit immer wachsendem Erstaunen.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, vielleicht erzählst du es ihm auch nicht, wer
+kann es wissen!“ antwortete sie und sie versuchte offenbar,
+mich schlau anzusehen, und ein gutmütiges Lächeln
+spielte in ihren Mundwinkeln und die Farbe stieg
+ihr mehr und mehr zu Gesicht. „Lassen wir das;
+ich scherze ja nur.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a>
+Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
+</p>
+
+<p>
+„Nur höre, du wirst sie aber lieben, wenn ich sterbe,
+– ja?“ fügte sie ernst hinzu und wieder mit einem
+geheimnisvollen Gesicht, „so, als liebtest du deine eigenen
+Kinder, – ja? Denke daran: ich habe dich immer
+wie eine mir Verwandte behandelt und geliebt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja,“ antwortete ich, ohne zu wissen, was ich
+vor Tränen und Erregung sagte.
+</p>
+
+<p>
+Ein heißer Kuß brannte auf meiner Hand – es
+gelang mir nicht, sie ihr rechtzeitig zu entziehen. Verwunderung
+lähmte meine Zunge.
+</p>
+
+<p>
+„Was geht in ihr vor? Was denkt sie sich? Was
+war gestern mit ihr?“ ging es mir durch den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+Dann klagte sie über Müdigkeit.
+</p>
+
+<p>
+„Ich fühle mich schon längst krank, ich wollte euch
+nur nicht ängstigen,“ sagte sie. „Ihr liebt mich doch
+beide, – nicht wahr? ... Auf Wiedersehen, Njetotschka;
+verlaß mich jetzt, am Abend komme bestimmt wieder?!
+Wirst du kommen?“
+</p>
+
+<p>
+Ich gab ihr mein Wort, und freute mich, nur fort
+zu kommen. Länger konnte ich es nicht mehr ertragen.
+</p>
+
+<p>
+„Du Arme, Arme! Welch ein Verdacht treibt dich
+ins Grab?“ schluchzte ich auf: „was für ein neuer
+Kummer zernagt und zerreißt dein Herz, ein Kummer,
+den du nicht einmal auszusprechen wagst? Mein
+Gott! Dieses Leid, das ich an ihr schon so lange kannte,
+dieses Leben ohne Freude, diese bescheidene Liebe,
+die nichts fordert. Und noch dazu jetzt, jetzt, vor dem
+Tode, da ihr Herz müde ist, fühlt sie sich als Schuldige,
+die nicht einmal zu murren wagt, und nicht zu
+<a id="page-349" class="pagenum" title="349"></a>
+klagen – und jetzt überfällt sie noch ein neues Leid,
+dem sie sich widerstandslos ergeben muß!“
+</p>
+
+<p>
+Am Abend, in der Dämmerstunde, benutzte ich die
+Abwesenheit Owroffs (desselben, der aus Moskau gekommen
+war), ging in die Bibliothek, öffnete einen
+Schrank und suchte in den Büchern etwas, um es
+Alexandra Michailowna vorzulesen. Ich wollte sie von
+ihren schweren Gedanken ablenken und sie durch etwas
+Lustiges, Leichtes aufheitern ... Ich suchte lange. Die
+Dunkelheit trat ein und mit ihr wuchs mein Leid. In
+meine Hände fiel wieder dieses Buch, in dem sich der
+Brief befand, dessen Folgen mich bis jetzt nicht mehr
+verlassen hatten – dessen Geheimnisse mein Dasein
+von neuem zerbrachen, und es wehte aus ihm so kalt,
+so unbekannt und geheimnisvoll, wehte noch jetzt aus
+der Ferne des Gewesenen so drohend zu mir herüber
+... Was wird mit uns, dachte ich: der Winkel, in dem
+mir so warm war, so leicht und frei – verödet. Der
+reine, helle Geist, der meine Jugend hütete, verläßt
+mich. Was steht mir bevor? Ich stand in Versunkenheit,
+nachdenkend über alles Vergangene, das meinem
+Herzen so teuer war, stand da, als fühlte ich das Bevorstehende,
+Unbekannte und mir Drohende ... Ich erinnere
+mich dieses Augenblicks so deutlich, als erlebte
+ich ihn noch einmal: so tief hat er sich mir ins Gedächtnis
+eingeschnitten.
+</p>
+
+<p>
+Ich hielt in meinen Händen den Brief und das aufgeschlagene
+Buch, meine Wangen waren feucht von
+Tränen. Plötzlich fuhr ich zusammen: über mir ertönte
+eine mir bekannte Stimme. In demselben Augenblick
+fühlte ich, daß man mir den Brief aus den Händen
+<a id="page-350" class="pagenum" title="350"></a>
+riß. Ich schrie auf und wandte mich um: vor mir stand
+Pjotr Alexandrowitsch. Er packte mich an der Hand
+und zwang mich, auf dem Platz zu bleiben; mit der
+rechten Hand hielt er den Brief ans Licht und mühte
+sich, die ersten Zeilen zu entziffern ... Ich wäre bereit
+gewesen, eher zu sterben, als ihm den Brief zu
+überlassen. An seinem triumphierenden Lächeln sah
+ich, daß es ihm gelungen war, den Anfang des Briefes
+zu lesen. Ich verlor meine Sinne ...
+</p>
+
+<p>
+Einen Augenblick später, ohne mir bewußt zu
+sein, was ich tat, stürzte ich auf ihn und riß ihm den
+Brief aus der Hand. Das geschah so unerwartet, daß
+ich selbst nicht mehr begreife, wie es mir gelingen
+konnte, mich des Briefes zu bemächtigen. Doch, als ich
+bemerkte, daß auch er wieder den Brief mir entwenden
+wollte, steckte ich ihn schnell in meine Bluse und wich
+einige Schritte zurück.
+</p>
+
+<p>
+Einen Augenblick sahen wir einander schweigend
+an. Mich schauerte, er – bleich, mit zitternden, blau
+angelaufenen Lippen, – brach zuerst das Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Nun wohl!“ sagte er mit einer Stimme, die vor
+Erregung schwach war – „ich hoffe, Sie wollen selbst
+nicht, daß ich hier Gewalt anwende – geben Sie mir
+also freiwillig den Brief.“
+</p>
+
+<p>
+Erst jetzt kam ich zu mir. Scham und Unwille ob
+eines so groben Überfalls überwältigten mich. Heiße
+Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich zitterte vor
+Aufregung und eine Zeitlang war ich nicht imstande,
+ein Wort hervorzubringen.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie gehört?“ sagte er und trat einen
+Schritt auf mich zu.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-351" class="pagenum" title="351"></a>
+„Lassen Sie mich, lassen Sie!“ rief ich und ich
+wich vor ihm zurück, „Sie handeln niedrig an mir, unedel.
+Sie haben sich vergessen! ... Lassen Sie mich
+gehen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wie? Was heißt das? Wie wagen Sie es noch,
+einen solchen Ton anzuschlagen ... nach alledem, was
+Sie ... Geben Sie ihn mir zurück, sage ich Ihnen!“
+</p>
+
+<p>
+Er trat noch einen Schritt auf mich zu, doch als
+er in meinen Augen soviel kalte Entschlossenheit sah,
+da blieb er stehen und überlegte ...
+</p>
+
+<p>
+„Gut!“ sagte er endlich trocken, als hätte er einen
+Entschluß gefaßt, wenn er sich auch immer noch mühsam
+beherrschte. „Eines nach dem andern, doch zuerst
+...“
+</p>
+
+<p>
+Er sah sich im Zimmer um.
+</p>
+
+<p>
+„Wer ... hat Sie in die Bibliothek gelassen? Warum
+steht dieser Schrank offen? Wie kommt es, daß Sie
+den Schlüssel dazu haben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde Ihnen darauf nicht antworten,“ sagte
+ich, „ich kann mit Ihnen nicht darüber sprechen. Lassen
+Sie mich gehen!“
+</p>
+
+<p>
+Ich ging zur Tür.
+</p>
+
+<p>
+„Erlauben Sie,“ sagte er, und faßte mich an der
+Hand – „so werden Sie nicht davonkommen!“
+</p>
+
+<p>
+Ich entzog ihm schweigend meine Hand und wandte
+mich wieder zur Tür.
+</p>
+
+<p>
+„Wie Sie wollen. Aber ich kann es Ihnen nicht
+gestatten, daß Sie in meinem Hause Briefe von Liebhabern
+empfangen ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich schrie auf und sah ihn entsetzt an ...
+</p>
+
+<p>
+„Und darum ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-352" class="pagenum" title="352"></a>
+„Halten Sie ein!“ rief ich aus. „Wie können Sie
+das? ... Wie können Sie mir das sagen? ... Mein
+Gott! Mein Gott! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wie? Was! Sie drohen mir noch! ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah ihn verzweifelt an, wie zerschmettert. Der
+Kampf zwischen uns stieg bis zur höchsten Erbitterung.
+Doch ich konnte nicht begreifen. Ich flehte ihn mit einem
+Blick an, nicht weiter zu gehen. Ich war bereit, ihm
+jede Beleidigung zu verzeihen, wenn er nur jetzt innehielt.
+Er sah mich durchbohrend an und schien zu überlegen.
+</p>
+
+<p>
+„Bringen Sie mich nicht zum Äußersten,“ flüsterte
+ich erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, damit muß ein Ende gemacht werden!“
+sagte er schließlich, als besinne er sich wieder. „Ich muß
+Ihnen gestehen, ich wankte einen Augenblick vor diesem
+Blick,“ fügte er mit eigentümlichem Lächeln hinzu. „Doch
+unglücklicherweise spricht die Sache für sich selbst. Es
+ist mir gelungen, den Anfang des Briefes zu lesen. Das
+war ein Liebesbrief! Sie werden mich nicht davon abbringen!
+Nein, lassen Sie alles! Und wenn ich einen
+Augenblick zögerte, so geschah es nur, weil ich zu Ihren
+übrigen schönen Eigenschaften auch Ihre Fähigkeit zu
+lügen hinzufügen mußte, und darum wiederhole
+ich ...“
+</p>
+
+<p>
+Mit jedem Wort, das er sprach, füllte er sich mit
+Bosheit an. Er war bleich; seine Lippen verzogen sich
+und zitterten und nur mit Mühe konnte er die letzten
+Worte hervorbringen. Es war vollkommen dunkel geworden.
+Ich stand schutzlos da, vor einem Menschen,
+der fähig war, einer Frau das Schlimmste anzutun.
+<a id="page-353" class="pagenum" title="353"></a>
+Und im Grunde war alle Wahrscheinlichkeit gegen
+mich; ich wand mich vor Scham, alles verwirrte sich in
+mir, ich konnte die Wut dieses Menschen nicht verstehen.
+Ohne ihm zu antworten, außer mir vor Angst,
+stürzte ich aus dem Zimmer, und ich kam erst zu mir,
+als ich vor der Zimmertür Alexandra Michailownas
+stand. In dem Augenblicke hörte ich seine Schritte;
+und schon wollte ich ins Zimmer stürzen, als ich plötzlich
+wie vom Schlag gerührt stehen blieb.
+</p>
+
+<p>
+„Was wird mit ihr geschehen?“ ging es mir durch
+den Kopf ... „Diesen Brief ...! Nein, lieber alles
+auf der Welt, als diesen Stoß in ihr Herz –“ und
+ich stürzte zurück. Doch schon war es zu spät: er stand
+neben mir.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin wollen Sie, kommen Sie ... nur nicht
+hier, nicht hier!“ flüsterte ich ihm zu und griff nach
+seiner Hand ... „Schonen Sie sie ...! Ich komme
+zurück in die Bibliothek, oder ... wohin Sie wollen?!
+Sie werden sie vernichten!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind es, die sie vernichtet!“ antwortete er,
+und trat von mir zurück.
+</p>
+
+<p>
+Alle meine Hoffnungen schienen verloren. Ich begriff,
+daß er die ganze Szene vor Alexandra Michailowna
+tragen wollte.
+</p>
+
+<p>
+„Um Gottes willen!“ rief ich und hielt ihn aus
+aller Kraft zurück. Doch in diesem Augenblick hob sich
+die Portiere und Alexandra Michailowna stand vor
+uns. Sie sah uns verwundert an. Ihr Gesicht wurde
+noch bleicher. Mit Mühe hielt sie sich auf den Füßen.
+Es hatte sie viel gekostet, bis zu uns zu kommen, als
+sie unsere Stimme gehört.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-354" class="pagenum" title="354"></a>
+„Wer ist da? Wovon redet ihr hier?“ fragte sie, in
+großer Verwunderung.
+</p>
+
+<p>
+Es trat Schweigen ein und sie erbleichte wie ein
+Leinentuch. Ich stürzte auf sie zu, umarmte sie und
+führte sie zurück in ihr Kabinett. Pjotr Alexandrowitsch
+folgte uns. Ich drückte mein Gesicht an ihre Brust und
+umschlang sie immer fester und fester, ersterbend in
+Erwartung.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist mit dir, was ist mit euch?“ fragte noch
+einmal Alexandra Michailowna.
+</p>
+
+<p>
+„Fragen Sie sie. Sie haben sie noch gestern so
+verteidigt,“ sagte Pjotr Alexandrowitsch und ließ sich
+schwer auf einem Sessel nieder.
+</p>
+
+<p>
+Ich umklammerte sie immer fester und fester in
+meiner Umarmung.
+</p>
+
+<p>
+„Aber, mein Gott, was bedeutet denn das?“ rief
+Alexandra Michailowna in großem Schrecken angstvoll
+aus. „Sie zittert ja und ist in Tränen aufgelöst. Annjeta
+sag’ mir doch, was ist zwischen euch geschehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, erlauben Sie mir zuerst das Wort,“
+sagte Pjotr Alexandrowitsch und näherte sich uns. Er
+ergriff mich an der Hand und zog mich von ihr fort.
+„Bleiben Sie dort stehen,“ sagte er und wies in die
+Mitte des Zimmers. „Ich werde Sie richten vor derjenigen,
+die Ihnen die Mutter ersetzte. Und Sie, bitte, beruhigen
+Sie sich, Alexandra Michailowna, und setzen
+Sie sich in den Lehnstuhl. Mir tut es bitter leid, daß ich
+Sie nicht mit dieser unangenehmen Aufklärung verschonen
+kann. Denn sie ist nötig –!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott! Was wird das sein?“ murmelte
+Alexandra Michailowna und sah mit qualvollen Augen
+<a id="page-355" class="pagenum" title="355"></a>
+erst mich, dann ihren Mann an. Ich rang die Hände
+vor diesem verhängnisvollen Augenblick. Von ihm erwartete
+ich keine Schonung.
+</p>
+
+<p>
+„Kurz,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch fort, ... „ich
+wünsche, daß Sie in der Sache urteilen. Sie haben
+immer (und ich weiß nicht warum, das ist so eine Ihrer
+Phantasien), Sie haben immer – noch gestern, zum
+Beispiel, gedacht, gesagt ... ich weiß nicht, wie ich mich
+ausdrücken soll ... ich schäme mich dieser Voraussetzungen
+... Kurz, Sie haben sie immer verteidigt, und mich
+angegriffen, Sie warfen mir ungerechtfertigte Strenge
+vor; Sie haben dabei noch auf ein anderes Gefühl
+hingewiesen, das mich zu dieser unerlaubten Strenge
+beeinflusse; Sie ... ja, ich begreife nicht, warum ich
+meiner Aufregung nicht Herr werden kann, warum
+ich erröte bei dem Gedanken an Ihre Anspielungen,
+warum ich sie nicht offen vor ihr auszusprechen vermag
+... Kurz, Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, das werden Sie nicht tun! Nein, Sie werden
+das nicht sagen!“ rief Alexandra Michailowna
+aus, errötend vor Scham. „Nein, Sie werden sie
+schonen. Das habe ich, ich, alles ausgedacht! Ich
+habe jetzt keinen Verdacht mehr. Verzeihen Sie es
+mir, verzeihen Sie. Ich bin krank, man muß mir
+verzeihen, nur sagen Sie ihr nichts, nein ... Annjeta,
+gehe fort von hier, schnell, schnell! Er scherzt; an alledem
+bin ich schuld; oh, das ist ein böser Scherz ...“
+</p>
+
+<p>
+„Kurz, Sie sind auf sie eifersüchtig gewesen,“ warf
+Pjotr Alexandrowitsch erbarmungslos ihr zur Antwort
+hin.
+</p>
+
+<p>
+Sie schrie auf, erbleichte und stützte sich auf den
+<a id="page-356" class="pagenum" title="356"></a>
+Sessel, kaum noch imstande, sich auf den Füßen zu
+halten.
+</p>
+
+<p>
+„Möge Gott Ihnen verzeihen!“ murmelte sie endlich
+mit schwacher Stimme. „Vergib mir für ihn,
+Njetotschka, vergib; ich bin an allem schuld. Ich war
+krank, ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist Grausamkeit, Schamlosigkeit, Niedrigkeit!“
+rief ich, außer mir, denn ich begriff jetzt alles,
+alles, begriff vor allem, warum er mich vor den Augen
+seiner Frau richten wollte. „Das ist nur verachtungswürdig
+– Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Annjeta!“ rief Alexandra Michailowna, vor
+Schreck nach mir greifend.
+</p>
+
+<p>
+„Komödie! Komödie und weiter nichts,“ Pjotr
+Alexandrowitsch trat in unbeschreiblicher Erregung
+auf uns zu. „Komödie, sage ich Ihnen,“ während
+er ununterbrochen mit hämischem Lächeln seine Frau
+ansah, „und die Betrogene in dieser ganzen Komödie
+sind nur – Sie. Glauben Sie, daß wir,“ stieß er
+atemlos hervor und wies auf mich – „solche Erklärungen
+fürchten; glauben Sie, daß wir noch so dumm
+sind, beleidigt zu sein und bis an die Ohren zu erröten,
+wenn man uns von ähnlichen Dingen redet.
+Entschuldigen Sie bitte, ich drücke mich vielleicht zu
+einfach, zu aufrichtig, zu grob aus, doch – das muß
+geschehen. Sind Sie denn noch immer überzeugt,
+meine Dame, von der ordentlichen Aufführung dieses
+... Mädchens?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott! Was ist Ihnen? Sie vergessen sich!“
+murmelte Alexandra Michailowna, halb erstarrt vor
+Schreck.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-357" class="pagenum" title="357"></a>
+„Bitte, nicht diese großen Worte!“ unterbrach sie
+verächtlich Pjotr Alexandrowitsch. „Ich liebe das
+nicht. Hier liegt die Sache sehr einfach: gemein bis
+zur höchsten Gemeinheit. Ich frage Sie nach ihrem
+Betragen: wissen Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen, ich ergriff
+ihn an der Hand und zog ihn zur Seite. Nur
+ein Augenblick und – alles war verloren.
+</p>
+
+<p>
+„Sagen Sie nichts von dem Brief!“ flüsterte ich ihm
+zu, „Sie werden sie auf der Stelle vernichten. Ein
+Vorwurf über mich, wird zugleich ein Vorwurf für sie
+sein. Sie kann mich nicht verurteilen, denn ich weiß
+alles ... verstehen Sie, <em>ich weiß alles</em>!“
+</p>
+
+<p>
+Er sah mich scharf mit durchbohrender Neugier
+an und – das Blut trat ihm ins Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß <em>alles, alles</em>!“ wiederholte ich.
+</p>
+
+<p>
+Er schien noch zu zögern. Auf seinen Lippen lag
+eine Frage. Ich griff vor:
+</p>
+
+<p>
+„An allem, was geschehen ist –“ sagte ich laut,
+mich zu Alexandra Michailowna wendend, die uns
+mit schüchterner, mit trauriger Verwunderung ansah,
+„bin ich allein schuld. Bereits seit vier Jahren habe
+ich Sie betrogen. Ich habe den Schlüssel zur Bibliothek
+genommen und seit vier Jahren lese ich heimlich
+Bücher. Pjotr Alexandrowitsch hat mich überrascht
+– bei einem Buch ... das sich nicht in meinen Händen
+befinden durfte. Aus Sorge um mich hat er die
+Gefahr vor Ihnen vergrößert! ... Doch, ich will mich
+nicht verteidigen“ (beeilte ich mich hinzuzufügen, als
+ich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen bemerkte):
+„ich bin an allem schuld. Die Versuchung war stärker
+<a id="page-358" class="pagenum" title="358"></a>
+als ich, und da es einmal geschehen war, schämte
+ich mich, es Ihnen zu gestehen ... Das ist alles, fast
+alles, was zwischen uns vorgefallen ist.“
+</p>
+
+<p>
+„O – ho, das ist aber kühn!“ flüsterte neben mir
+Pjotr Alexandrowitsch.
+</p>
+
+<p>
+Alexandra Michailowna hörte mir mit gespannter
+Aufmerksamkeit zu. Auf ihrem Gesicht spiegelte
+sich ein Mißtrauen. Sie sah abwechselnd erst
+mich, dann ihren Mann an. Es trat Schweigen ein.
+Ich wagte kaum zu atmen. Sie senkte ihren Kopf auf
+die Brust und bedeckte die Augen mit der Hand, offenbar
+um jedes Wort zu erwägen, das ich gesprochen
+hatte. Endlich hob sie den Kopf und sah mich forschend
+an.
+</p>
+
+<p>
+„Njetotschka, mein Kind, ich weiß, du verstehst nicht
+zu lügen,“ sagte sie. „Ist das nun alles, was geschehen,
+wirklich alles?“
+</p>
+
+<p>
+„Alles,“ antwortete ich.
+</p>
+
+<p>
+„Alles?“ wandte sie sich fragend an ihren Mann.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, alles,“ antwortete er mit großer Überwindung,
+„alles!“
+</p>
+
+<p>
+Ich atmete auf.
+</p>
+
+<p>
+„Du gibst mir das Wort, Njetotschka?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ antwortete ich, ohne mit der Wimper zu
+zucken.
+</p>
+
+<p>
+Aber ich konnte mich doch nicht beherrschen und
+blickte auf Pjotr Alexandrowitsch. Er lachte, als er
+hörte, wie ich mein Wort gab. Ich wurde über und
+über rot und meine Verwirrung konnte der armen
+Alexandra Michailowna nicht entgehn. Ein qualvolles
+Leid drückte sich auf ihrem Gesicht aus.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-359" class="pagenum" title="359"></a>
+„Genug,“ sagte sie traurig. „Ich glaube euch.
+Wie sollte ich euch nicht glauben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich denke, ein solches Geständnis genügt,“ bemerkte
+Pjotr Alexandrowitsch. „Sie haben’s gehört?
+Was glauben Sie wohl?“
+</p>
+
+<p>
+Alexandra Michailowna schwieg. Die Situation
+wurde immer unerträglicher und unerträglicher.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde morgen alle Bücher durchsehen,“ fuhr
+Pjotr Alexandrowitsch fort. „Ich weiß nicht, um was
+es sich dort noch handelte; aber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Welches Buch las sie denn?“ fragte Alexandra
+Michailowna.
+</p>
+
+<p>
+„Welches Buch? Antworten Sie doch,“ wandte
+er sich an mich. „Sie verstehen es ja besser, die Sache
+zu erläutern,“ fügte er mit verhaltenem Spott hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Ich verlor meine Fassung und konnte kein Wort
+mehr hervorbringen. Alexandra Michailowna errötete
+und schlug die Augen nieder. Es folgte ein langes
+Schweigen. Pjotr Alexandrowitsch ging geärgert
+im Zimmer auf und ab.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorging,“
+begann endlich Alexandra Michailowna, zaghaft jedes
+Wort aussprechend – „doch wenn das wirklich alles
+gewesen ist,“ fuhr sie fort, bemüht, jedem Wort einen
+besonderen Nachdruck zu geben, während sie gleichzeitig
+vermied, ihn anzusehen, da der unbewegliche
+Blick ihres Mannes sie immer mehr verwirrte, „wenn
+es nur das <em>gewesen ist</em>, dann weiß ich nicht, warum
+wir uns so quälen und darüber fast verzweifeln
+wollen. Schuld daran bin nur ich, ich allein, und
+das schmerzt mich sehr. Ich habe ihre Erziehung auf
+<a id="page-360" class="pagenum" title="360"></a>
+mich genommen, ich muß auch für sie verantworten.
+Sie muß mir daher meine Nachlässigkeit verzeihen.
+Ich wage es nicht, sie zu verurteilen. Und doch,
+worüber sollen wir uns jetzt noch aufregen? Die Gefahr
+ist ja vorüber. Sehen Sie sie doch an: hat ihre
+unvorsichtige Handlungsweise auch nur irgendwelche
+Folgen hinterlassen? Als ob ich mein Kind, meine geliebte
+Tochter nicht kennte? Weiß ich denn nicht, daß
+ihr Herz rein und edel ist, und daß in diesem lieben
+Köpfchen,“ fuhr sie fort, indem sie mich zu sich heranzog
+und mich streichelte, „der Verstand rein und hell ist
+... Laßt gut sein, meine Lieben! Hören wir damit auf!
+Offenbar liegt etwas anderes in unserem Kummer,
+vielleicht lag auf uns allen nur ein vorübergehender
+Schatten. Aber wir wollen durch Liebe und durch unser
+gutes Einvernehmen alle Mißverständnisse zerstreuen.
+Vielleicht ist vieles unausgesprochen zwischen uns und
+ich bin vor allem schuld daran. In mir sind zuerst,
+weiß Gott was für Verdächtigungen aufgestiegen, an
+denen nur mein armer kranker Kopf schuld ist ... Und
+... und, wenn ich sie auch zum Teil schon ausgesprochen
+habe, so müßt ihr sie mir beide verzeihen, weil
+... weil die Sünde doch nicht so groß ist, wenn ich
+vermutete ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie errötete und sah schüchtern ihren Mann an
+und erwartete mit Bangen ein Wort von ihm. Während
+sie sprach, lag ein spöttisches Lächeln auf seinen
+Lippen. Er brach seinen Gang durch das Zimmer ab
+und stellte sich gerade vor sie hin, die Hände auf dem
+Rücken. Er betrachtete sie in ihrer Erregung und
+ergötzte sich an ihr; als sie aber seinen unverwandten
+<a id="page-361" class="pagenum" title="361"></a>
+Blick auf sich ruhen fühlte, wurde sie verwirrt. Er
+blieb ruhig stehen, als erwartete er noch irgend etwas.
+Ihre Erregung verdoppelte sich. Endlich unterbrach
+er diese erdrückende Szene durch ein leises, anhaltendes
+boshaftes Lachen:
+</p>
+
+<p>
+„Mir tun Sie leid, arme Frau!“ sagte er endlich,
+bitter und ernst, nachdem er zu lachen aufgehört hatte.
+„Sie spielen eine Rolle, der Sie nicht gewachsen sind.
+Was wollen Sie im Grunde genommen? Sie wollen
+mir wieder neue Verdächtigungen unterschieben, oder,
+besser gesagt, die alten Verdächtigungen, die Sie nur
+mangelhaft in ihren Worten verbergen können. Der
+Sinn Ihrer Worte ist der, daß kein Grund vorhanden
+sei, ihr böse zu sein, daß sie rein und gut sei auch nach
+der Lektüre unsittlicher Bücher, deren Moral – das
+sage ich von mir aus – bereits etliche Früchte gezeitigt
+zu haben scheint; und schließlich, daß Sie selber
+für sie einständen; war es nicht so? Und dann – nachdem
+Sie das erklärt, deuten Sie noch etwas anderes
+an. Sie denken, mein Argwohn und meine Feindseligkeit
+entsprängen einem gewissen anderen Gefühl.
+Sie deuteten mir gestern sogar an – bitte, unterbrechen
+Sie mich nicht, ich liebe es, alles offen auszusprechen
+– Sie deuteten gestern an, daß bei manchen
+Menschen (nach Ihrer Bemerkung, wenn ich mich
+recht erinnere, wären diese Leute in der Regel gesetzte,
+ernste, gerade, kluge, starke Menschen und Gott weiß
+was für Vorzüge Sie Ihnen in einer Anwandlung von
+Großmut noch gaben!), daß bei gewissen Menschen
+also, sage ich, die Liebe (und Gott weiß wozu Sie sich
+das ersannen!) sich auch gar nicht anders äußern
+<a id="page-362" class="pagenum" title="362"></a>
+könne, als eben schroff, heftig, verletzend, oft mit Argwohn
+und Feindseligkeit gepaart. Übrigens entsinne
+ich mich nicht mehr genau, ob Sie sich gerade mit diesen
+Worten ausdrückten ... Bitte, unterbrechen Sie
+mich nicht; ich kenne Ihren Zögling ausgezeichnet: sie
+darf bereits alles hören, alles, wiederhole ich Ihnen
+zum hundertsten Mal, – alles! Sie sind betrogen.
+Doch ich begreife nicht, warum es Ihnen beliebt, auf
+der Behauptung zu bestehen, daß gerade ich solch ein
+Mensch sei! – weshalb Sie gerade mich mit diesem
+Narrenhemd aufputzen wollen! Liebe zu diesem jungen
+Mädchen steht meinen Jahren nicht mehr an; ja
+und schließlich kann ich Sie versichern, meine Gnädigste,
+daß <em>ich weiß, was meine Pflicht
+ist</em>, und wie großmütig Sie mich auch entschuldigen
+wollten, ich bleibe dabei, was ich gesagt habe: <em>daß
+ein Verbrechen immer ein Verbrechen,
+eine Sünde immer eine Sünde, immer
+eine schmutzige, ehrlose Schandtat
+sein wird, auf welche Stufe der Größe
+und Herrlichkeit Sie das lasterhafte
+Gefühl auch erheben mögen</em>! Doch genug!
+Genug davon! Und daß mir nichts mehr von diesen
+Schändlichkeiten zu Ohren kommt!“
+</p>
+
+<p>
+Alexandra Michailowna weinte.
+</p>
+
+<p>
+„Mag das mir gesagt sein, mag ich das verdient
+haben und tragen – ich will’s ja!“ sagte sie, indem
+sie mich unter Schluchzen umarmte. „Mögen meine
+Vermutungen schlecht und schändlich gewesen sein, daß
+Sie so grausam über sie spotten können! Aber du,
+mein armes Kind, wofür bist du verurteilt, solche
+<a id="page-363" class="pagenum" title="363"></a>
+Kränkungen zu hören? Und ich kann dich nicht einmal
+beschützen! Ich muß stumm sein! Mein Gott! – nein!
+ich kann nicht schweigen, das können Sie nicht von
+mir verlangen! Ich ertrage es nicht ... Ihr Benehmen
+ist widersinnig! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Lassen Sie, lassen Sie, beruhigen Sie sich nur!“
+redete ich ihr flüsternd zu, um sie in ihrer Aufregung
+zu beschwichtigen, denn ich fürchtete, daß Vorwürfe
+von ihr ihn um seine letzte Beherrschung bringen würden.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Sie blindes Weib! ...“ rief er denn auch
+heftig, „Sie wissen ja nicht, Sie sehen ja nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+Er stockte einen Augenblick.
+</p>
+
+<p>
+„Fort von ihr!“ befahl er heftig und riß meine
+Hand aus den Händen Alexandra Michailownas.
+„Ich gestatte Ihnen nicht, meine Frau zu berühren!
+Ihre Berührung besudelt! Ihre Anwesenheit ist eine
+Beleidigung für sie! Aber ... ja aus welchem Grunde
+soll ich schweigen, wo doch alles ausgesprochen werden
+muß!“ rief er, mit dem Fuß stampfend. „Und ich
+werde es sagen, ich werde alles sagen. Ich weiß
+nicht, was Sie da <em>wissen</em>, mein gnädiges Fräulein,
+und womit Sie mir drohen wollten, und ich will
+es auch nicht wissen. So hören Sie denn ...“ fuhr
+er fort, sich an Alexandra Michailowna wendend.
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie!“ rief ich, und ich hätte mich fast
+auf ihn gestürzt, „schweigen Sie! Sie sagen kein
+Wort!“
+</p>
+
+<p>
+„So hören Sie denn ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie!! Im Namen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Im Namen wessen, mein Fräulein?“ griff er das
+<a id="page-364" class="pagenum" title="364"></a>
+Wort blitzschnell auf und sah mir eine Sekunde lang
+durchdringend in die Augen. „Im Namen wessen?
+... So hören Sie denn – ich habe ihr einen Brief
+ihres Geliebten entrissen! Jetzt wissen Sie, was in
+unserem Hause geschieht! Nun haben Sie es gehört,
+was unmittelbar neben Ihnen sich zuträgt! Das war
+es, was Sie nicht gesehen, nicht bemerkt haben!“
+</p>
+
+<p>
+Ich hielt mich kaum auf den Füßen. Alexandra
+Michailowna wurde totenblaß.
+</p>
+
+<p>
+„Das kann nicht sein,“ stammelte sie, kaum hörbar.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe diesen Brief gesehen, ich habe ihn in
+der Hand gehabt und die ersten Zeilen gelesen – von
+einer Täuschung kann also keine Rede sein. Der Brief
+war von einem Geliebten. Sie entriß ihn mir und
+jetzt ist er wieder in ihrem Besitz. Die Sache ist so
+klar, sie liegt ja auf der Hand! Und wenn Sie noch
+zweifeln, so sehen Sie sie doch nur an und dann versuchen
+Sie, auch nur auf den Schatten eines Zweifels
+noch zu hoffen!“
+</p>
+
+<p>
+„Njetotschka!“ schrie Alexandra Michailowna
+plötzlich auf. „Nein, nein, sag’ nichts, sprich nichts!
+Ich weiß nicht, was gewesen ist, was ... wie ...
+mein Gott, mein Gott!“
+</p>
+
+<p>
+Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und
+weinte.
+</p>
+
+<p>
+„Nein! Das ist nicht möglich!“ rief sie wieder.
+„Sie haben sich geirrt. Das ... das ... ich weiß,
+was das bedeutet!“ sagte sie plötzlich langsam, während
+sie ihren Mann mit unverwandtem Blick ansah.
+„Sie ... ich ... konnte nicht, – nein, du wirst mich
+nicht betrügen, du kannst mich nicht betrügen! Erzähl’
+<a id="page-365" class="pagenum" title="365"></a>
+mir alles, sag’ mir alles: er hat sich doch geirrt? Ja,
+nicht wahr, er hat sich geirrt? Er hat etwas anderes
+gesehen, er war verblendet? Ja, nicht wahr? Nicht
+wahr? Höre: warum solltest du mir nicht alles sagen,
+Annjeta, mein Kind, mein liebes Kind?“
+</p>
+
+<p>
+„Antworten Sie, antworten Sie schnell!“ ertönte
+über mir die Stimme Pjotr Alexandrowitschs. „Antworten
+Sie: habe ich oder habe ich nicht den Brief in
+Ihren Händen gesehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja!“ antwortete ich atemlos vor Aufregung.
+</p>
+
+<p>
+„Dieser Brief war von Ihrem Geliebten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja!“
+</p>
+
+<p>
+„Mit dem Sie auch jetzt in Verbindung stehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja, ja!“ sagte ich schon außer mir, bestätigte
+alles blindlings, nur um unserer Qual ein Ende zu
+machen.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie gehört? Nun, und was sagen Sie
+jetzt! Glauben Sie mir, Sie mit Ihrem guten, allzu
+vertrauensseligen Herzen,“ fügte er hinzu und nahm
+die Hand seiner Frau, „glauben Sie mir und sehen
+Sie Ihren Irrtum ein, – Ihren Irrtum in allem,
+was Ihre kranke Phantasie Ihnen vorgegaukelt hat.
+Sie sehen jetzt, wer dieses ... Mädchen ist. Ich wollte
+nur Ihre Vermutungen <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">ad absurdum</span> führen. Ich
+habe das alles schon längst bemerkt und es freut mich,
+daß ich sie endlich vor Ihnen entlarvt habe. Es war
+mir schwer, sie neben Ihnen zu sehen, in Ihren Armen,
+an einem Tisch mit uns, ja, in meinem Hause.
+Und Ihre Blindheit empörte mich. Deshalb, und
+zwar nur deshalb, schenkte ich ihr überhaupt meine
+Aufmerksamkeit und beobachtete sie; und diese Aufmerksamkeit
+<a id="page-366" class="pagenum" title="366"></a>
+haben Sie bemerkt; und nachdem Sie
+Gott weiß was für einen Verdacht als Grund angenommen,
+haben Sie dann auf dieser Grundlage in
+Ihrer Einbildung weitergebaut. Doch jetzt ist die
+Sache aufgeklärt, alle Zweifel sind widerlegt, und
+morgen, mein Fräulein, morgen noch werden Sie
+nicht mehr in meinem Hause sein!“ schloß er, sich an
+mich wendend.
+</p>
+
+<p>
+„Halten Sie ein!“ sagte Alexandra Michailowna
+und sie erhob sich. „Ich traue dieser ganzen Szene
+nicht. Sehen Sie mich nicht so zornig an, lachen Sie
+nicht über mich. Ich rufe Sie selbst zum Richter auf,
+ich will nur meine Meinung sagen. Annjeta, mein
+Kind, komm zu mir, gib mir deine Hand, so. Niemand
+ist ohne Fehl, wir sind alle sündig!“ sagte sie mit einer
+Stimme, in der Tränen zitterten, und sie sah gleichsam
+demütig zu ihrem Mann auf. „Und wer von uns
+darf jemandes Hand von sich stoßen? Gib mir doch
+deine Hand, Annjeta, mein liebes Kind! Ich bin nicht
+würdiger, nicht besser als du; du kannst mich nicht
+durch deine Gegenwart kränken, denn ich bin gleichfalls,
+<em>gleichfalls eine Sünderin</em>.“
+</p>
+
+<p>
+„Meine Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch
+betroffen. „Was reden Sie! Vergessen Sie nicht! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich vergesse nichts. Unterbrechen Sie mich nicht,
+lassen Sie mich zu Ende sprechen. Sie haben in
+ihren Händen einen Brief gesehen, Sie haben ihn
+sogar gelesen; Sie sagen – und sie ... hat gestanden,
+daß dieser Brief von demjenigen sei, den sie liebt.
+Aber beweist denn das, daß sie sich vergangen habe?
+Gibt Ihnen denn das schon das Recht, sie so zu behandeln,
+<a id="page-367" class="pagenum" title="367"></a>
+sie so in Gegenwart Ihrer Frau zu beleidigen?
+Ja, mein Herr, in Gegenwart Ihrer Frau? Haben
+Sie denn schon alles ergründet? Wissen Sie denn
+schon, wie sich das alles verhält?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja was! – jetzt soll ich sie wohl noch um Verzeihung
+bitten? Ist es das, was Sie wollen?“ rief
+Pjotr Alexandrowitsch wütend. „Ich danke, ich habe
+die Geduld verloren über Ihrem Gerede! Und wissen
+Sie überhaupt, von wem Sie reden, was und <em>wen</em>
+Sie verteidigen? Ich durchschaue doch alles ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und sehen doch nicht einmal die Hauptsache,
+weil Ihr Zorn und Ihr Stolz Sie blenden. Sie sehen
+das nicht, was ich verteidige und wovon ich rede.
+Nicht das Laster verteidige ich. Doch haben Sie auch
+bedacht – und das werden Sie einsehen, sobald Sie
+nachdenken – haben Sie bedacht, daß sie vielleicht wie
+ein Kind unschuldig und unwissend ist! Noch einmal,
+nicht das Laster verteidige ich! Ich beeile mich, mich zu
+rechtfertigen, wenn Ihnen das erwünscht ist. Ja,
+wenn sie Gattin, wenn sie Mutter wäre und ihre
+Pflichten vergessen hätte –, dann würde ich Ihnen
+beistimmen ... Sie sehen, ich rechtfertige mich. So
+vergessen Sie das nicht und machen Sie mir keine
+Vorwürfe! Wenn sie aber diesen Brief erhalten hat,
+ohne etwas Böses zu ahnen? Wenn sie sich in ihrer
+Unerfahrenheit nur von einem großen Gefühl hat verleiten
+lassen und weil sie keinen Menschen fand, der
+sie zurückgehalten hätte? Wenn vielleicht gerade mich
+die größte Schuld trifft, weil ich ihr Herz nicht behütet
+habe? Wenn dieser Brief der erste war? Wenn Sie
+mit Ihrem rohen Verdacht ihr mädchenhaft reines
+<a id="page-368" class="pagenum" title="368"></a>
+Empfinden verletzt haben? Wenn Sie ihre jugendliche
+Phantasie mit Ihren zynischen Reden und Bemerkungen
+über diesen Brief beschmutzt haben? –
+wenn Sie nicht sehen oder nicht sehen wollen, daß in
+diesem keuschen mädchenhaften Antlitz nichts als Reinheit
+und Unschuld ist und bange mädchenhafte Scham,
+– die Scham, die ich jetzt erkenne, die ich auch dann
+erkannte, als sie wie verloren in dieser Pein nicht
+wußte, was sie sagte, und in ihrer Herzensangst auf
+alle Ihre unmenschlichen Fragen mit diesem ‚Ja, ja,
+ja!‘ antwortete. Das war unmenschlich von Ihnen,
+das war grausam; ich erkenne Sie nicht wieder; das
+werde ich Ihnen niemals, niemals verzeihen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, erbarmen Sie sich, erbarmen Sie sich!“ rief
+ich beschwörend, und ich drückte sie mit meinen Armen
+fest an mich. „Hören Sie auf, glauben Sie mir,
+verstoßen Sie mich nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich fiel vor ihr auf die Knie.
+</p>
+
+<p>
+„Und wenn,“ fuhr sie atemlos fort, „wenn nun ich
+nicht bei ihr wäre, wenn Sie sie mit Ihren Worten
+erschreckt hätten und die Arme jetzt selbst glaubte, sie
+sei schuldig, wenn Sie ihr Gewissen, ihre Seele verwirrt,
+die Ruhe ihres Herzens zerstört hätten ...
+Mein Gott! Und Sie wollten sie aus dem Hause jagen!
+Aber wissen Sie denn nicht, mit wem man das
+tut? Sie wissen, daß Sie, wenn Sie sie aus dem
+Hause jagen, dann uns beide, uns zusammen fortjagen,
+– mich gleichfalls. Haben Sie gehört, mein
+Herr?“
+</p>
+
+<p>
+Ihre Augen blitzten, ihre Brust arbeitete schwer;
+<a id="page-369" class="pagenum" title="369"></a>
+ihre krankhafte Erregung steigerte sich bis zur letzten
+Krisis ...
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt habe ich aber wahrlich genug gehört, meine
+Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch, „genug davon!
+Ich weiß, es gibt platonische Leidenschaften –
+und weiß das zu meinem Verderben, meine Gnädigste!
+Hören Sie? – zu meinem Verderben! Aber ich bedanke
+mich dafür, mit diesem vergoldeten Laster unter
+einem Dach zu leben! Ich verstehe es nicht. Und deshalb
+– fort mit ihm! Und wenn Sie sich schuldig fühlen,
+wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt sind
+(nicht an mir ist es, Sie zu erinnern, meine Gnädigste),
+wenn Ihnen der Gedanke gefällt, mein Haus zu
+verlassen ... so bleibt mir nichts weiter übrig, als
+zu sagen, als Sie daran zu erinnern, daß Sie bedauerlicherweise
+vergessen haben, Ihre Absicht auszuführen,
+als es die rechte Zeit war, die eigentliche Zeit,
+vor Jahren, schon vor ... sollten Sie das Datum vergessen
+haben, so kann ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe
+kommen ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah sie an. Sie stützte sich krampfhaft auf mich,
+vergehend vor Seelenschmerz, die Augen halb geschlossen,
+in unmenschlicher Qual. Noch ein Moment –
+und sie wäre hingefallen.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, um’s Himmels willen, haben Sie wenigstens
+diesmal Erbarmen! Sagen Sie nicht das letzte Wort!“
+rief ich außer mir und warf mich Pjotr Alexandrowitsch
+zu Füßen, ohne daran zu denken, was ich tat:
+doch – es war schon zu spät. Nur ein leiser Schrei
+ertönte als Antwort auf meine Worte und die Arme
+fiel bewußtlos hin.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-370" class="pagenum" title="370"></a>
+„Da! Sie haben sie getötet!“ sagte ich. „Rufen
+Sie zu Hilfe, retten Sie sie! – Ich erwarte Sie in
+Ihrem Kabinett. Ich muß mit Ihnen sprechen: ich
+werde Ihnen alles sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was? Ja, was denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Später!“
+</p>
+
+<p>
+Die Ohnmacht dauerte zwei Stunden. Das ganze
+Haus war in Aufregung. Der Arzt schüttelte zweifelnd
+das Haupt. Nach zwei Stunden ging ich ins Kabinett
+zu Pjotr Alexandrowitsch. Er war soeben erst
+von seiner Frau gekommen. Jetzt ging er im Zimmer auf
+und ab, biß sich die Lippen fast blutig und sah bleich
+und verstört aus. Ich hatte ihn noch nie so gesehen.
+</p>
+
+<p>
+„Was wollen Sie mir denn sagen?“ fragte er
+mich schroff. „Sie sagten vorhin ...!“
+</p>
+
+<p>
+„Hier ist der Brief, den Sie mir entrissen. Sie
+erkennen ihn doch?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Nehmen Sie ihn.“
+</p>
+
+<p>
+Er nahm den Brief und führte ihn ans Licht. Ich
+beobachtete ihn aufmerksam. Nach wenigen Sekunden
+drehte er den Brief hastig um und sah nach der Unterschrift.
+Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das?“ fragte er mich starr vor Betroffenheit.
+</p>
+
+<p>
+Ich blieb ihm die Antwort nicht schuldig.
+</p>
+
+<p>
+„Vor drei Jahren fand ich diesen Brief in einem
+Buch. Ich erriet, daß er vergessen war, las ihn und –
+erfuhr alles. Ich behielt ihn, denn ich wußte niemanden,
+dem ich ihn hätte geben können. Ihr konnte ich
+<a id="page-371" class="pagenum" title="371"></a>
+ihn nicht geben. Ihnen? Doch Ihnen konnte der Inhalt
+dieses Briefes nicht unbekannt sein, er aber enthält
+die ganze traurige Lebensgeschichte ... Welchen
+Zweck nun Ihre Verstellung hatte – das weiß ich
+nicht –, das ist mir vorläufig noch unklar. Noch durchschaue
+ich Ihre dunkle Seele nicht ganz. Sie wollten
+Ihre Überlegenheit bewahren – und das ist Ihnen
+denn auch gelungen. Aber wozu? Um über ein Wahnbild
+den Sieg davonzutragen, um über eine Kranke
+zu herrschen, um ihr zu beweisen, daß sie sich verirrt
+habe und daß Sie dagegen <em>sündlos</em> vor ihr ständen!
+Und Sie haben Ihren Zweck erreicht, denn dieser
+Verdacht ist – zur fixen Idee eines erlöschenden
+Geistes geworden, ist vielleicht die letzte Klage eines
+gebrochenen Herzens über die Ungerechtigkeit des Urteils
+der Menschen, mit dem Sie übereinstimmten.
+‚Was ist denn dabei Schlimmes, daß Sie mich liebten?‘
+Das war es, was sie sagte, das wollte sie Ihnen
+beweisen. Aber Ihr Stolz, Ihr eifersüchtiger Egoismus
+waren unbarmherzig. Leben Sie wohl. Weitere
+Erklärungen sind nicht nötig! Aber nehmen Sie sich
+in acht, ich kenne Sie jetzt, ich durchschaue Sie, vergessen
+Sie das nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Ich ging auf mein Zimmer – fast bewußtlos. An
+der Türe hielt mich Owroff, der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs,
+auf.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ sagte er mit
+einer höflichen Verbeugung.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah ihn an und begriff nicht gleich, was er
+sagte.
+</p>
+
+<p>
+„Später, entschuldigen Sie mich, ich fühle mich
+<a id="page-372" class="pagenum" title="372"></a>
+nicht wohl,“ sagte ich schließlich und ging an ihm
+vorbei.
+</p>
+
+<p>
+„Also dann morgen,“ sagte er und machte seine
+Verbeugung mit einem zweideutigen Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht schien es mir aber auch nur so? Es
+war fast wie eine Vision, die vor meinen Augen flüchtig
+auftauchte ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="novella" id="part-6">
+<a id="page-373" class="pagenum" title="373"></a>
+Der Bettelknabe
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first pbb">
+<a id="page-375" class="pagenum" title="375"></a>
+<span class="firstchar">K</span><span class="postfirstchar">inder</span> sind ein seltsames Volk: sie drängen sich in
+Träume und Gedanken. Vor Weihnachten und dann
+wieder am Christabend selbst begegnete mir regelmäßig
+an einer bestimmten Straßenecke ein kleiner Knabe, der
+gewiß nicht älter war als, sagen wir, etwa siebenjährig.
+Trotz der grimmigen Kälte war er fast sommermäßig
+gekleidet, doch um den Hals war ihm irgendein
+altes abgetragenes Zeug gewickelt – also mußte
+ihn doch jemand ausrüsten, bevor er hinausgeschickt
+wurde. – Er ging „mit dem Händchen“: so lautet
+der technische Ausdruck und er bedeutet – betteln.
+Den Ausdruck haben diese Knaben selbst erfunden.
+Solcher Knaben, wie er, gibt es eine Menge, sie laufen
+einem überall in den Weg und jammern etwas
+Auswendiggelerntes; dieser aber jammerte nicht und
+sprach auch gewissermaßen unschuldig und außergewöhnlich,
+und seine Augen sahen mich voll Vertrauen
+an – also mußte er noch ein Anfänger sein.
+Auf meine Fragen antwortete er, daß er eine Schwester
+habe; sie sitze ohne Arbeit und sei krank. Vielleicht
+sagte er die Wahrheit, nur erfuhr ich später, daß es solcher
+Knaben unzählige gibt; sie werden „mit dem
+Händchen“ auf die Straße geschickt, auch in der fürchterlichsten
+Kälte, und wenn sie nichts erbetteln, so
+<a id="page-376" class="pagenum" title="376"></a>
+setzt es natürlich Hiebe. Hat der Knabe ein paar Kopeken
+eingesammelt, dann kehrt er mit frosterstarrten
+Händen in irgendeinen Kellerraum zurück, wo irgendeine
+Bande säuft – eine von jenen, die, wie es heißt,
+„Sonnabends nach Arbeitschluß in den Fabriken den
+Sonntag zu feiern anfangen und nicht vor dem Mittwochabend
+zur Arbeit zurückkehren“. Dort, in den Kellern,
+trinken mit ihnen auch ihre hungernden und geprügelten
+Weiber, dort schreien auch ihre hungrigen
+kleinen Kinder nach der Mutterbrust. Schnaps und
+Schmutz und Ausschweifung, aber vor allem –
+Schnaps: die sind dort zu finden. Mit den erbettelten
+Kopeken wird der Knabe sogleich in die nächste Schenke
+geschickt und muß ihnen noch mehr Schnaps bringen.
+Zum Scherz gießen sie dann auch ihm das Feuerwasser
+in den Mund und gröhlen vor Lachen, wenn
+es ihm den Atem verschlägt und er in die Knie bricht
+und fast erstickt an der Abscheulichkeit, über der ihm
+Hören und Sehen vergeht.
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„... und in den Mund das Greuliche</p>
+ <p class="verse">Erbarmungslos mir goß ...“<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a></p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Ist er ein wenig herangewachsen, so wird er in eine
+Fabrik gesteckt, doch alles, was er erarbeitet, muß er
+wieder in den Keller bringen, und jene setzen das Geld
+weiter in Branntwein um. Doch schon bevor sie in
+die Fabrik kommen, sind diese Kinder kleine Verbrecher.
+Sie durchstreifen die Stadt und kennen die verschiedensten
+Schlupfwinkel in Kellern und Schuppen
+und auf Höfen, wo man unbemerkt nächtigen kann.
+<a id="page-377" class="pagenum" title="377"></a>
+Hat doch ein Kleiner bei einem Hofknecht mehrere
+Nächte in einem Holzkorb geschlafen, ohne daß der
+Knecht es gewahr wurde. In erster Linie sind sie natürlich
+kleine Diebe. Das Stehlen wird bei ihnen zur
+Leidenschaft, sogar bei Achtjährigen, und nicht selten
+ohne jedes Bewußtsein von dem Verbrecherischen der
+Tat. Zu guter Letzt lernen sie alles ertragen – Hunger,
+Kälte, Schläge – nur für das eine: für ihre
+Freiheit, und bald laufen sie von ihren Aussaugern
+fort, um dann schon von sich aus, aus eigenem Antriebe
+und zum eigenen Vergnügen zu vagabundieren.
+Solch ein junger Wildling weiß oft so gut wie nichts,
+weder in welchem Lande er wohnt, zu welcher Nation
+er gehört, ob es einen Gott gibt, einen Zaren; ja man
+erzählt sogar solche Unwissenheit von ihnen, daß man
+es nicht glauben will – und dennoch sind dies alles
+Tatsachen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-6-1">
+Der Knabe im Himmel zum Christfest.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Doch ich bin ein Schriftsteller, und ich glaube,
+diese „Geschichte“ habe ich selbst erfunden. Da schreibe
+ich: „ich glaube“, und weiß doch genau, daß ich
+sie selber erfunden habe; aber es scheint mir die ganze
+Zeit, daß sie irgendwo irgendwann wirklich geschehen
+<a id="page-378" class="pagenum" title="378"></a>
+sei und zwar gerade am Christabend in <em>irgendeiner</em>
+großen, großen Stadt und bei grimmiger
+Kälte.
+</p>
+
+<p>
+Ich sehe einen Knaben, aber einen noch ganz kleinen,
+etwa von sechs Jahren oder noch jünger. Dieser
+kleine Knabe erwachte an jenem Tage in einem feuchten
+und kalten Keller. Er hatte nur ein altes Kittelchen
+an und zitterte vor Kälte. Er sah seinen Atem,
+der wie weißer Dampf seinem Munde entströmte, und
+da es langweilig war, auf dem Koffer im Winkel zu
+sitzen, so hauchte er absichtlich diesen Atem recht stark
+heraus und sah dann zu, wie der Dampf sich ballte
+und verschwand. Aber er hatte Hunger und wollte etwas
+essen. Er war seit dem Morgen schon mehrmals
+zu der Lagerstätte gegangen, wo auf einem alten, wie
+eine Hand dünnen Schlafsack, irgendein Bündel als
+Kissen unter dem Kopf, seine kranke Mutter lag. Wie
+sie hierher kam? Vermutlich war sie mit ihrem Knaben
+aus einer anderen Stadt gekommen und hier erkrankt.
+Die Winkelvermieterin des Kellers war schon vor zwei
+Tagen von der Polizei abgeführt worden; und die anderen
+Winkelmieter hatten sich verlaufen, nur einer
+von ihnen lag dort seit vierundzwanzig Stunden, noch
+bevor die Feiertage anbrachen – schon stocksteif besoffen.
+In einem anderen Winkel ächzte vor Rheumatismus
+eine Achtzigjährige, die irgendeinmal irgendwo als
+Kinderfrau gelebt hatte, jetzt aber einsam und stöhnend
+auf den Tod wartete; sie brummte und schalt immer
+auf den Knaben, so daß dieser sich fürchtete, ihrem
+Winkel zu nah zu kommen. Auf dem Flur fand
+er etwas zu trinken, aber eine Brotkruste war nirgends
+<a id="page-379" class="pagenum" title="379"></a>
+zu finden, und wohl zum zehnten Mal versuchte er,
+seine Mutter aufzuwecken. Ihm wurde schließlich
+bange in der Dunkelheit: es war schon längst dunkel
+geworden, doch niemand machte Licht. Als seine Hand
+das Gesicht seiner Mutter berührte, wunderte er sich,
+daß es so kalt war wie die Wand. „Das ist hier aber
+mal kalt!“ dachte er, sann ein Weilchen, während seine
+Hand unbewußt auf der Schulter der Toten ruhte,
+dann hauchte er auf seine Fingerchen, um sie zu wärmen,
+und dabei fiel ihm sein Mützchen ein, das auf
+seinem Lager lag; das setzte er sich auf den Kopf –
+und plötzlich kam es ihm in den Sinn, den Kellerraum
+zu verlassen, und er ging tastend zur Tür. Er wäre
+vielleicht sogar schon früher aus dem Keller gegangen,
+aber er fürchtete den großen Hund, der ihm oben den
+Ausgang versperrte und die ganze Zeit kläffte. Jetzt
+war es still, der Hund war nicht zu sehen, und eh’ er
+sich dessen versah, stand der Kleine auf der Straße.
+</p>
+
+<p>
+O Gott! Was war das für eine Stadt! Noch nie
+hatte er Ähnliches gesehen! Dort, von wo er mit der
+Mutter gekommen war, war es so finster in der Nacht:
+auf eine ganze Straße kam nur eine einzige Laterne.
+Die Fenster der niedrigen Häuser wurden abends mit
+Läden verschlossen; auf der Straße war, sobald nur
+die Dämmerung sank, niemand mehr zu sehen, alle
+schlossen sich in den Häusern ein und nur die Hunde,
+die es zu Hunderten und Tausenden gab, bellten und
+heulten die ganze Nacht. Doch dafür war es dort
+warm und man gab ihm zu essen, hier aber – ach,
+wenn er nur etwas zu essen bekäme! Und was ist das
+nur für ein Lärm und Gesumm, und wieviel Licht
+<a id="page-380" class="pagenum" title="380"></a>
+und Menschen und Pferde und Wagen – und die Kälte,
+die Kälte! Aus den Nüstern der heißgejagten Tiere
+strömt weißer Dampf, durch den weichen lockeren
+Schnee schlagen die Hufe zuweilen hellklingend auf
+das Steinpflaster, und wie die Menschen sich alle drängen,
+und, lieber Gott, wie gern er etwas essen würde,
+wenn auch nur ein kleines Stückchen, gleichviel was,
+und die Fingerchen schmerzten so sehr. An ihm vorbei
+ging ein Hüter der Ordnung und wandte sich ab, um
+den Knaben nicht zu bemerken.
+</p>
+
+<p>
+Und da ist wieder eine andere Straße – oh, und
+wie breit sie ist! Hier ist es aber wirklich schön! Wie
+sie doch alle lärmen und laufen und fahren,
+und Licht, wieviel Licht hier ist! Aber was ist denn
+das? Oh – was für ein großes Fenster, und hinter
+dem Fenster ist ein Zimmer, ein großes Zimmer, und
+in diesem Zimmer ist ein Baum bis an die Decke, ein
+Christbaum, eine große Tanne, und an der flimmern
+so viele Flämmchen, so viele goldene Sachen, und
+hängen Äpfel, und ringsum sind lauter Püppchen und
+Pferdchen, und Kinder laufen im Zimmer umher und
+alle sind sie so festlich angekleidet, so sauber und
+schön, und sie lachen und spielen und trinken und essen
+schönes, schönes Naschwerk. Und dort tanzt jetzt
+ein kleines Mädchen mit einem kleinen Knaben –
+was für ein schönes kleines Mädchen! Und da hört
+man auch Musik, durch das Fenster mit den großen
+Scheiben hört man sie ganz deutlich. Und der kleine
+Junge schaut und wundert sich und schon lacht er,
+und doch schmerzen ihm schon seine Füßchen und
+Zehen, und die Fingerchen an den Händen sind schon
+<a id="page-381" class="pagenum" title="381"></a>
+ganz rot, schon wollen sich die Gelenke nicht mehr biegen
+und das Bewegen tut weh, nur denkt er jetzt nicht
+daran. Aber dann spürt er plötzlich doch wieder,
+daß ihm die Händchen so schmerzen, und er fängt an
+zu weinen und läuft weiter, und wieder sieht er durch
+ein Fenster ein Zimmer und dort sind mehrere solcher
+Bäume, aber nicht so große, und auf den Tischen sind
+lauter Kuchen und Kuchen, rote und gelbe und weiße
+und braune und hinter dem langen Tisch stehen vier
+reich gekleidete Damen, und jedem, der an den Tisch
+kommt, geben sie von ihren schönen Kuchen, die Tür
+aber öffnet sich jeden Augenblick und viele Menschen
+gehen von der Straße zu ihnen hinein. Der Knabe
+steht und guckt, und wie die Tür sich wieder öffnet,
+da schlüpft auch er hinein. Ach! wie man ihm böse ist,
+ihn anschreit und fortjagt! Eine von den Damen
+kommt schnell auf ihn zu, gibt ihm eine Kopeke und
+dann öffnet sie selbst die Tür und schickt ihn hinaus
+auf die Straße. Wie er erschrak! Die Kopeke aber fiel
+ihm gleich aus der Hand, und schlug klingend auf die
+Treppenstufe: er konnte seine blauroten Fingerchen
+nicht mehr biegen, um das Geld zu halten. Und der
+Knabe läuft auf die Straße und geht schnell weiter –
+so schnell er kann, aber wohin, das weiß er nicht. Er
+möchte auch wieder weinen, aber er wagt es nicht, und
+er läuft und läuft und haucht auf die Fingerchen. Und
+so traurig wird er, so bitter traurig darüber, daß er
+sich so allein und verlassen fühlt, und eine Bangigkeit
+will über ihn kommen, doch plötzlich – ja was
+ist das? was ist denn da wieder zu sehen? Da stehen
+die Menschen dicht gedrängt und staunen: hinter den
+<a id="page-382" class="pagenum" title="382"></a>
+Scheiben eines großen Fensters stehen drei kleine Puppen
+in roten und grünen Kleidchen und sind ganz,
+ganz wie lebendig! Und ein alter kleiner Mann
+sitzt dort und spielt auf einer großen Geige, oder es
+sieht wenigstens so aus, als spiele er, und noch zwei
+andere stehen dort und spielen auf kleinen Geigen und
+nicken dazu im Takt mit den Köpfen und sehen einander
+an, und ihre Lippen bewegen sich, als ob sie
+sprächen – nur hört man das eben nicht durch die
+Fensterscheiben. Zuerst dachte der Knabe, daß sie alle
+wirklich lebendig seien, als er aber dann erriet und
+sich überzeugte, daß es „nur Püppchen“ waren – da
+mußte er lachen. Er hatte so etwas noch nie gesehen
+und gar nicht gewußt, daß es solche Püppchen gab!
+Und er will doch auch weinen, aber zugleich muß er lachen
+– lachen über die Püppchen. Plötzlich fühlt er,
+daß ihn jemand hinterrücks am Schlafittchen packt:
+ein großer böser Bube steht hinter ihm und haut ihn
+plötzlich auf den Kopf, reißt ihm das Mützchen ab und
+versetzt ihm von unten einen Stoß mit dem Fuß. Der
+Kleine fällt hin, doch da schreit schon alles und schilt,
+daß ihm angst und bange wird und er aufspringt und
+fortläuft und läuft – bis er gar nicht mehr weiß, wo
+er ist. Und da kriecht er unter einem Hoftor auf einen
+fremden Hof und hockt dort hinter einem Holzstapel
+hin: „Hier wird man mich nicht finden und es ist auch
+dunkel!“ denkt er.
+</p>
+
+<p>
+Und so hockt er ganz still und kauert sich zusammen
+und kann kaum noch atmen vor Angst, und plötzlich,
+ganz plötzlich wird ihm so wohl: die Füßchen und
+Händchen schmerzen nicht mehr und ihm wird so warm,
+<a id="page-383" class="pagenum" title="383"></a>
+so warm wie auf dem Ofenbänkchen. Da fährt er auf
+einmal zusammen: ach, er wäre ja fast eingeschlafen!
+Wie gut es hier einzuschlafen ist: „Ich werd’ hier noch
+ein Weilchen sitzen und dann gehe ich wieder zu den
+Püppchen,“ denkt er und lächelt bei dem Gedanken an
+sie: „ganz wie lebendig sind sie ...!“ Und dann ist
+es ihm, als höre er auf einmal seine Mutter singen,
+ganz leise, daß er es kaum hören kann, aber er hört es
+doch. „Mama, ich schlafe! – ach, wie ist es hier schön
+zu schlafen!“
+</p>
+
+<p>
+„Komm zu mir, mein Knabe, zum Christbaum,
+es ist Weihnacht, Kind,“ flüsterte über ihm eine leise
+Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Er denkt, das wäre nun seine Mama, aber nein,
+das ist nicht sie! Doch wer rief ihn denn? – das
+sieht er nicht, aber jemand beugt sich über ihn und umfängt
+ihn in der Dunkelheit; und er streckt ihm die
+Hand entgegen und ... und plötzlich – oh, wieviel
+Licht! Oh, welch ein Christbaum! Das war – oh,
+solche Bäume hatte er noch gar nicht gesehen! Wo ist
+er jetzt – es leuchtet und strahlt alles um ihn und soviel
+schöne Puppen überall – doch nein, das sind ja
+alles kleine Knaben und Mädchen, nur sind sie alle
+so leicht, alle umringen sie ihn, sie schweben, sie küssen
+ihn, sie nehmen und tragen ihn mit sich fort, und da
+fühlt er, daß er auch schon schwebt und dort: ja dort ist
+seine Mama und sie nickt und lächelt ihm selig zu.
+</p>
+
+<p>
+„Mama! Mama! Ach, wie ist es hier schön, Mama!“
+ruft der Knabe und er umarmt die Kinder und
+will ihnen schnell alles von den Püppchen, die er hinter
+<a id="page-384" class="pagenum" title="384"></a>
+dem Fenster gesehen, erzählen. „Ach, wer seid ihr,
+Jungen? und wer seid ihr, Mädchen?“ fragt er sie lachend
+und hat sie alle schon so lieb.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist hier Weihnacht beim Christkind,“ antworteten
+sie ihm, „dann ist hier im Himmel immer ein
+Christfest für all die kleinen Kinder, die auf Erden
+keinen Christbaum haben ...“ Und er erfährt, daß alle
+die Knaben und Mädchen einst auf Erden ebensolche
+Kinder waren, wie er, nur daß die einen schon kaum
+geboren als Findlinge in den Körben starben, in denen
+sie auf die steinernen Treppen vor den Türen der Petersburger
+Beamten ausgesetzt wurden, daß die anderen
+bei finnischen Bäuerinnen erstickten, an die sie vom
+Findelhaus zur Erziehung gegeben waren; daß wieder
+andere an den ausgezehrten Brüsten ihrer Mütter starben
+(während der Hungersnot in Ssamara), und
+wieder andere in Waggons dritter Klasse an der verpesteten
+Luft, und alle waren sie jetzt hier, alle waren
+sie jetzt Engel beim Christkind und er selbst war unter
+ihnen und hieß sie zu ihm kommen und segnete sie und
+ihre sündigen Mütter ... Die Mütter aber dieser
+Kinder stehen auch dort, nur abseits, und weinen: und
+eine jede erkennt ihren Knaben oder ihr Mädchen, und
+die schweben zu ihnen und küssen sie, wischen ihnen
+die Tränen mit ihren Händchen von den Wangen und
+bitten sie, nicht zu weinen, denn sie hätten es jetzt so
+gut ...
+</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p class="noindent">
+Unten auf Erden aber fanden am nächsten Morgen
+Hofknechte hinter einem Holzstapel die kleine Leiche
+eines erfrorenen Knaben. Man fand auch seine
+<a id="page-385" class="pagenum" title="385"></a>
+Mutter. Die war schon vor ihm gestorben. Im Himmel
+sahen sie einander wieder.
+</p>
+
+<p>
+Wozu ich eine solche Geschichte nur erfunden habe,
+die so gar nicht in das gewöhnliche, vernünftige „Tagebuch“
+paßt! Zudem habe ich versprochen, ausschließlich
+oder doch fast nur von wirklichen Begebenheiten zu erzählen!
+Aber – nun ja, das ist es eben: es scheint mir,
+es ist mir doch, als hätte das wirklich alles so sein können
+– ich meine das, was im Keller und hinter dem
+Holzstapel geschah, jenes andere aber, von der Christnacht
+im Himmel –, ja da weiß ich nun nicht, was ich
+Ihnen sagen soll, ob das auch wirklich so hätte sein
+können oder – nicht? Doch dazu bin ich ja Dichter,
+um es zu wissen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="footnotes" id="part-7">
+Fußnoten
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Der größte Held der russischen Volksdichtung, ein Bauernsohn
+aus dem Dorf Karatscharowo, wo er gelähmt in der Hütte
+der Eltern sitzt, bis vorüberziehende Bettler (mythische Gestalten)
+ihn durch Zauber heilen. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Diminutiv von Katjä. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Strophe aus einem Gedicht von Nekrassoff, das das Leben
+eines ähnlichen Knaben zum Gegenstand hat. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<div class="trnote chapter">
+<p class="transnote">
+Anmerkungen zur Transkription.
+</p>
+
+<p>
+Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung
+der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren
+Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde
+transkribiert nach:
+</p>
+
+<p class="nowrap center">
+F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.<br>
+Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band<br>
+R. Piper &amp; Co. Verlag, München und Leipzig, 1912.
+</p>
+
+<p class="skip_in_txt">
+Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen
+Bucheinbänden nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt.
+</p>
+
+<p>
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“
+vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen
+Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw.
+sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.
+</p>
+
+<p>
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+</p>
+
+<p>
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“)
+eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen
+wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen:
+Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“.
+Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe
+wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
+</p>
+
+<p class="list">
+Katjä (Kätja)
+</p>
+
+<p>
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+
+
+<ul>
+
+<li>
+... Tages <span class="underline">kaum</span> aus Moskau die Nachricht, daß der ...<br>
+... Tages <a href="#corr-5"><span class="underline">kam</span></a> aus Moskau die Nachricht, daß der ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... <span class="underline">atmetet</span> tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene ...<br>
+... <a href="#corr-6"><span class="underline">atmete</span></a> tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene ...<br>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76986 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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