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| author | pgww <pgww@lists.pglaf.org> | 2025-10-04 23:22:02 -0700 |
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Jahn in Rudolstadt + + + + + Inhalt + + + Vorwort VII + Ein kleiner Held 1 + Weihnacht und Hochzeit 67 + Njetotschka Neswanowa 83 + Der Bettelknabe 373 + + + + + Vorwort + + +Der Band bringt, als der letzte der Ausgabe, vier Geschichten, die +dadurch in einer gewissen abschließenden und versöhnenden Weise +verbunden sind, daß sie, wenn auch mehr oder weniger tragisch, von +Kindern und Kinderseelen handeln. Die drei ersten dieser Geschichten – +„Kleiner Held“, „Weihnacht und Hochzeit“, „Njetotschka Neswanowa“ – +stammen aus der frühesten Zeit Dostojewskis und gehören den Jahren 1848 +und 1849 an. Die größte von ihnen, „Njetotschka Neswanowa“, ist das +Bruchstück eines Romanes, in der Wirkung ein liegengebliebenes +Manuskript, ein unausgearbeiteter Entwurf, doch eben deshalb von einer +Größe der psychologischen Anlage und übrigens auch von einer +Großartigkeit der künstlerischen Erfassung, die ihn zu den tiefsten und +gewaltigsten Dingen zählen lassen, die wir von Dostojewski besitzen. Die +Dichtung erschien in den „Vaterländischen Annalen“, ihre Fortsetzung +wurde durch Dostojewskis Verhaftung im Jahre 1848 unterbrochen, und nach +der Rückkehr aus Sibirien ist das Fragment dann unausgeführt und +unvollendet geblieben. – Die vierte Geschichte des Bandes, der +„Bettelknabe“, gehört zu jenen „letzten Novellen“ von der Art der +„Kleinen“ in Band XX der Ausgabe, die dem „Tagebuch eines +Schriftstellers aus dem Jahre 1876“ entnommen sind und wohl von +unmittelbaren Tagesereignissen angeregt waren, wie Dostojewski sie in +den Zeitungen aufgezeichnet fand, oder selbst auf der Straße erlebte. + + E. K. R. + + + + + Ein kleiner Held + + +Damals war ich noch nicht volle elf Jahre alt. Im Juli schickte man mich +zum Besuch auf ein Gut in der Nähe von Moskau, zu meinem Verwandten +T–off. Bei diesem hatten sich zu der Zeit einige fünfzig Gäste +eingefunden, vielleicht sogar noch mehr ... genau weiß ich nicht, wie +viele es ihrer waren – gezählt habe ich sie nicht. Es ging hoch her und +man vergnügte sich nach Kräften. Fast hatte es den Anschein, als habe +man die Feste zu feiern begonnen, damit sie nie wieder aufhören sollten, +und der Hausherr schien sich geradezu geschworen zu haben, so schnell +wie möglich sein ganzes Riesenvermögen zu vergeuden, ein Ziel, das er +denn auch vor kurzem glücklich erreicht hat: er ist tatsächlich alles, +auch den letzten Quadratfuß Land losgeworden. + +Jeden Augenblick trafen neue Gäste ein. Moskau war ja so nahe, daß man +die Stadt vom Gute aus sehen konnte. Infolgedessen traten die +aufbrechenden Gäste den zuletzt eingetroffenen meist nur den Platz ab +und die Feste konnten schier endlos fortgesetzt werden. Vergnügungen +aller Art folgten einander ununterbrochen und ein Ende dieser +Reihenfolge war nicht abzusehen. Bald machte man hoch zu Roß Ausflüge in +die Umgegend, bald weite Spaziergänge längs dem Fluß oder in den Wald; +Picknicks und Diners im Freien gehörten zur Tagesordnung, und an schönen +Abenden wurde regelmäßig auf der großen Terrasse des Herrenhauses +gespeist. Diese war mit seltenen Blumen überreich geschmückt. Ihre +duftende Blütenfülle ließ, vereint mit der glänzenden Beleuchtung der +Tafel, unsere fast ausnahmslos hübschen jungen Damen noch viel schöner +erscheinen, wenn sie in ihren frischen Farben nach den Ausflügen am Tage +mit belebten Gesichtern und glänzenden schalkhaften Augen an der Tafel +saßen und ein keckes Wortgeplänkel hin und her mutwillig und geschickt +zu führen wußten, indes zwischen Scherz und Scherz ihr silberhelles +Lachen erklang. Es wurde getanzt, musiziert, gesungen; bei schlechtem +Wetter stellte man lebende Bilder, erfand Gesellschaftsspiele, bei denen +es allerlei zu raten gab, und natürlich wurde auch Theater gespielt. +Außerdem gab es manchmal Vorträge, die merkwürdigsten Erlebnisse wurden +erzählt, Anekdoten herumgetragen usw. + +Aus der Gästeschar traten einige wenige von persönlicherem Gepräge +ziemlich scharf hervor: und die waren denn auch anerkanntermaßen die +Hauptpersonen. Selbstverständlich fehlte es auch hier nicht an Neid, +Klatsch und den üblichen kleinen Verleumdungen, ohne die die Welt nun +einmal nicht bestehen kann und ohne die wohl Millionen von Personen an +ihrem Stumpfsinn sterben würden, wie die Fliegen im Herbst umkommen. Da +ich aber damals erst elf Jahre zählte, fehlte mir noch das Verständnis +für diese Menschensorte, und da meine Gedanken überdies mit ganz anderem +beschäftigt waren, so blieb nur ein Teil von dem, was ich hin und wieder +zufällig hörte, in meinem Gedächtnis haften. Später ist mir dann +allerdings manches wieder eingefallen, was ich damals überhört oder +nicht begriffen hatte. Sonst konnte sich nur das glänzende Äußere des +Bildes meinen Kinderaugen dauernd einprägen. Und die allgemeine +festliche Stimmung, die sorglose Fröhlichkeit, das heitere, glanzvolle +Leben – alles das, was ich bis dahin noch nie gesehen und gehört hatte, +konnte denn auch allerdings einen solchen Eindruck auf mich machen, daß +ich mich in den ersten Tagen förmlich verlor und mir mein junger Kopf +schwindlig wurde. + +Ich war natürlich noch ein Kind, nicht mehr als ein Kind, und die +schönen Damen, die mich liebkosten, machten sich weiter keine Gedanken +über mein Alter. Aber – merkwürdig! – trotz meiner elf Jahre bemächtigte +sich meiner zuweilen doch schon eine seltsame Empfindung, die ich +freilich selbst vorläufig noch nicht begreifen konnte: es war, als +streiche irgend etwas ganz leise und zart über mein Herz, etwas +Unbekanntes und Ungeahntes, wovon dann mein Herz wie nach einem heftigen +Schreck zu brennen und zu pochen begann und mir oft ganz plötzlich das +Blut heiß ins Gesicht trieb. Es kamen Augenblicke, in denen ich mich der +verschiedenen kindlichen Vorrechte, die ich genoß, geradezu schämte und +sie fast als persönliche Beleidigung empfand. Zuweilen aber bemächtigte +sich meiner wiederum so etwas wie Verwunderung und ich schlich mich dann +fort, irgendwohin, wo mich niemand sehen konnte, gleichsam nur, um +einmal Atem zu schöpfen und mich an etwas zu erinnern, an irgend etwas, +das da, wie mir schien, noch vor kurzem gewesen war ... wovon aber +gleichwohl und ganz plötzlich jede Spur in meinem Gedächtnis wie +ausgelöscht war ... – und ohne das ich doch, wie ich glaubte, nicht mehr +auskommen konnte, wenn ich es auch keinem Menschen zeigen durfte. + +Zu guter Letzt schien es mir, daß ich den Menschen allen irgend etwas +verheimlichte, wovon ich aber um keinen Preis auch nur ein Wort jemandem +gesagt hätte, da ich kleiner Bursche mich dessen bis zu Tränen schämte. +Bald aber begann ich in dem Trubel, der mich hier umgab, eine gewisse +Einsamkeit zu empfinden. Es waren wohl noch andere Kinder da, aber sie +waren alle entweder viel jünger oder viel älter als ich, und übrigens +war es mir auch gar nicht um Spielgefährten zu tun. Freilich wäre mit +mir nichts Besonderes geschehen, wenn ich nicht in der Gesellschaft eine +Ausnahmestellung eingenommen hätte. In den Augen aller dieser reizenden +Damen war ich noch das kleine unbestimmte Lebewesen, das sie liebkosten +und mit dem sie wie mit einer Puppe spielen zu dürfen glaubten. +Namentlich eine von ihnen, eine entzückende junge Blondine mit dem +schönsten und reichsten Haar, das ich je gesehen habe und sehen werde, +schien sich geradezu geschworen zu haben, mich nicht in Ruhe zu lassen. +Während mich das Lachen, das sie unter den Gästen durch ihre +ausgelassenen Scherze, die sie mit mir trieb, hervorrief, entschieden +verwirrte und ärgerte, schien es ihr im Gegenteil und ganz fraglos ein +riesiges Vergnügen zu bereiten. Sie benahm sich oft wie ein richtiges +Pensionsmädel, doch sah sie dafür entzückend aus und in ihrer Schönheit +war etwas, das sogleich in die Augen stach und einen einfach bestrickte. +Natürlich glich sie nicht jenen kleinen verschämten blonden Mädelchen, +die so zart und rosig sind und zutunlich wie weiße Mäuschen, oder die so +lieblich aussehen wie Pastorentöchterchen. Sie war nicht sehr groß von +Wuchs und ihre Gestalt ein wenig voll, ihr Gesicht aber hatte zarte, +feine Züge, die entzückend gezeichnet waren. Es lag eine Elektrizität in +diesem Gesicht, so daß es in ihm oft wie ein Blitz aufleuchten konnte, +und überhaupt war sie – ganz Feuer, wie man zu sagen pflegt, lebendig, +lebhaft, leicht. Aus ihren großen offenen Augen sprühten förmlich +Funken, als wären sie Edelsteine. Nie würde ich solche blauen, +strahlenden Augen gegen die schwarzen des Südens eintauschen, und +sollten sie auch noch hundertmal dunkler sein, als der dunkelste +andalusische Blick, denn meine Blondine war wirklich jener +Schwarzäugigen ebenbürtig, die ein berühmter Dichter in so schönen +Versen besingt, daß er zum Schluß dem ganzen Kastilien schwören konnte, +sein Leben freudig hingeben zu wollen, wenn man ihm dafür erlaube, nur +mit der Fingerspitze die Mantilla seiner Schönen zu berühren. Jetzt füge +man noch hinzu, daß _meine_ Schöne die lustigste aller Schönen war und +dazu das unvernünftigste, lachlustigste, unartigste Kind, und das alles, +obwohl sie schon seit etwa fünf Jahren verheiratet war. Das Lachen wich +fast nie von ihren Lippen, die so frisch und jung aussahen, wie die +zarten Blätter einer Rose, wenn sie unter den Strahlen der Morgensonne +kaum erst ihren duftenden Blütenkelch geöffnet und ihr die Sonne noch +nicht die kühlen glitzernden Tautropfen abgetrunken hat. + +Ich weiß noch, am zweiten Tage nach meiner Ankunft wurde Theater +gespielt. Der Saal war buchstäblich überfüllt: es gab keinen einzigen +freien Platz, und da ich mich zufällig etwas verspätet hatte, mußte ich +stehend der Aufführung zusehen. Aber das lustige Spiel zog mich immer +mehr nach vorn und bald hatte ich mich ganz unbemerkt bis zu den ersten +Reihen durchgearbeitet, wo ich dann endlich stehen blieb und mich auf +die Lehne eines Stuhles stützte, auf dem eine Dame saß. Diese Dame war +meine schöne Blondine. Ich muß aber hinzufügen, daß wir damals noch +nicht bekannt miteinander waren. Und da nun – ich weiß nicht, wie es kam +– begann ich ihre märchenhaft schönen Schultern zu betrachten, die so +zart und weiß aussahen wie Milchschaum: obgleich es mir damals gewiß +noch ganz gleichgültig war, ob ich die schönsten Frauenschultern sah +oder den Kopfputz mit feuerfarbenen Bändern, der das graue Haar einer +ehrwürdigen Dame in der ersten Reihe vor mir verdeckte. Neben der +blonden Schönheit saß aber ein älteres Fräulein, eine von jenen, die, +wie ich später beobachtet habe, sich immer möglichst in der Nähe junger +und hübscher Damen aufhalten, und in der Regel gerade diejenigen wählen, +die die männliche Jugend nicht zu verscheuchen pflegen. Doch dies nur +nebenbei; ich erwähnte es bloß deshalb, weil dieses ältere Fräulein +meine betrachtenden Blicke bemerkte, sich sogleich zu ihrer schönen +Nachbarin beugte und ihr mit maliziösem Lächeln etwas ins Ohr flüsterte. +Plötzlich sah sich diese nach mir um und ihr flammender Blick traf mich +im Halbdunkel, so daß ich, der ich darauf nicht vorbereitet war, +erschrocken zusammenfuhr. Da lächelte sie. + +„Gefällt dir das Stück?“ fragte sie mich und sah mir spöttisch mit +zuzwinkerndem Blick in die Augen. + +„Ja–a,“ antwortete ich und sah sie immer noch mit einer gewissen +Verwunderung an, an der wiederum sie Gefallen zu finden schien. + +„Warum stehst du denn? So wirst du doch müde. Oder sind alle Stühle +besetzt?“ + +„Ja, alle, es ist kein Platz mehr frei,“ sagte ich, diesmal mehr mit +meiner Sorge um einen Stuhl beschäftigt, als mit dem blitzenden Blick +der schönen Dame, und dabei herzlich froh darüber, daß sich endlich ein +gutes Herz fand, dem ich mein Leid mitteilen konnte. „Ich habe bereits +gesucht, aber auf jedem Stuhl sitzt schon jemand,“ fügte ich hinzu, als +wollte ich mich bei ihr darüber beklagen, daß alle Stühle besetzt waren. + +„Komm her!“ sagte sie schnell entschlossen, wie sie sich zu allem immer +blitzschnell entschloß, gleichviel was für eine tolle Idee ihr in den +Kopf kam. „Komm her zu mir, schnell, und setz’ dich auf meinen Schoß.“ + +„Auf den Schoß? ...“ wiederholte ich einigermaßen verwundert, und ich +wußte nicht recht, was ich tun sollte. + +Wie ich bereits sagte, fingen meine Kindervorrechte nachgerade an, mich +zu kränken und zu beschämen. Diese Blondine aber trieb es weit ärger als +alle anderen. Überdies begann ich, der ich schon von jeher ein etwas +schüchterner und verschämter Knabe war, mich gerade zu jener Zeit vor +Damen ganz besonders zu fürchten, und deshalb machte mich ihre +Aufforderung vollends unsicher. + +„Nun ja, auf den Schoß! Warum willst du denn nicht auf meinem Schoß +sitzen?“ Und sie lachte, lachte immer übermütiger, lachte Gott weiß +worüber – vielleicht über ihren eigenen Einfall oder vielleicht auch vor +Freude darüber, daß sie mich so verlegen gemacht hatte. + +Ich errötete und sah mich in meiner Verwirrung verstohlen um – wie um +eine Möglichkeit zu erspähen, irgendwohin zu entschlüpfen. Aber sie kam +mir zuvor, erwischte meine Hand, zog mich geschwind zu sich und +plötzlich – ganz unvermutet und zu meiner größten Verwunderung – preßte +sie meine Hand mit ihren heißen Fingern wie in einen Schraubstock. Es +tat schrecklich weh und ich mußte meine ganze Kraft zusammennehmen, um +nicht aufzuschreien. Da war es denn wohl kein Wunder, daß ich die +seltsamsten Gesichter schnitt. Hinzu kam noch, daß ich nicht nur +verwundert und erschrocken war, sondern einfach entsetzt, und zwar über +die Tatsache, die ich nun plötzlich am eigenen Körper erfahren mußte: +daß so schöne Damen zugleich so böse sein und sich so schlimm an kleinen +Jungen vergreifen konnten, die ihnen doch nichts getan hatten, und das +noch dazu vor so vielen fremden Menschen! Wahrscheinlich spiegelte aber +mein unglückliches Gesicht alle meine Seelenregungen wieder, denn die +unartige Dame lachte unbändig und preßte dabei meine armen Finger, als +wollte sie sie zerquetschen. Es schien ihr ein rasendes Vergnügen zu +bereiten, etwas recht Tolles anzustellen und einen armen Jungen recht +bis zur Verzweiflung zu peinigen und zum besten zu haben. Ich war in der +Tat der Verzweiflung nahe. Erstens verging ich fast vor Scham, da alle, +die in der Nähe saßen, sich nach uns umsahen, die einen erstaunt und +verständnislos, die anderen lachend, da sie sogleich begriffen, daß die +schöne Blondine wieder jemandem einen Streich spielte. Und zweitens +wollte ich schreien vor Schmerz, denn die Schöne schien ihren ganzen +Ehrgeiz darein zu setzen, meine Finger mit wahrem Ingrimm, gerade weil +ich nicht schrie, zusammenzupressen. Ich aber hielt wie ein kleiner +Spartaner stand und schrie nicht. Ich fürchtete, mit meinem Schrei das +Publikum zu erschrecken und die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu +lenken: was aber dann mit mir geschehen wäre, das vermochte ich nicht +einmal auszudenken! In meiner Verzweiflung begann ich einen erbitterten +Kampf mit ihr, um meine Hand aus ihren Fingern zu reißen, aber die +Grausame war ja viel, viel stärker als ich. Endlich hielt ich den +Schmerz nicht länger aus und schrie auf – aber nur darauf hatte sie +gewartet! Im Nu ließ sie meine Hand fahren und saß da, als wäre gar +nichts geschehen, als wäre sie das unschuldigste Geschöpf der Welt, das +nichts damit zu schaffen hat, wenn ein anderer unartig ist: kurz, wie es +ein echter Schulbube tut, der, kaum daß der Lehrer ihm den Rücken kehrt, +im Handumdrehen etwas anrichtet – und wäre es auch nur, daß er einem +kleinen Schwächling einen Rippenstoß versetzt oder ähnliches mit dem +Erfolg verbricht, daß der andere aufschreit – in der nächsten Sekunde +aber wieder stramm und artig auf seinem Platz sitzt und fromm die Augen +niederschlägt oder mit ungeteilter Aufmerksamkeit in seinem Buch liest +und somit den Herrn Lehrer, der auf den Lärm hin wie ein Habicht auf ihn +losschießt, mit einer langen Nase wieder abziehen läßt. + +Zu meinem Glück jedoch wurde gerade in diesem Augenblick die +Aufmerksamkeit der übrigen durch das meisterhafte Spiel unseres +Hausherrn in Anspruch genommen – er spielte nämlich in der Komödie die +Hauptrolle. Stürmischer Beifall erscholl und ich benutzte schnell die +Gelegenheit zur Flucht, drängte mich durch ein paar Reihen und lief in +die entgegengesetzte Ecke, von wo aus ich halbversteckt hinter einer +Säule mit Grauen dorthin spähte, wo mein grausamer Quälgeist saß. Sie +lachte so, daß sie das Taschentuch an die Lippen pressen mußte. Und +lange noch sah sie sich immer wieder nach mir um, jedoch ohne mich zu +entdecken. Allem Anscheine nach tat es ihr sehr leid, daß unsere +verrückte Balgerei so schnell ein Ende gefunden hatte, ja vielleicht +heckte sie schon einen neuen Streich aus. + +Damit begann also unsere Bekanntschaft, und seit jenem Abend war ich +meines Lebens nicht mehr sicher vor ihr. Sie verfolgte mich ohne Maß und +Gewissen. Sie wurde einfach zu meinem Schreckgespenst. Das Groteske +ihrer Scherze mit mir bestand hauptsächlich darin, daß sie beteuerte, +bis über die Ohren in mich verliebt zu sein – und zwar sagte sie das +ganz ungeniert in Gegenwart aller Gäste. Natürlich war das für mich, dem +ohnehin mehr als nötig verschämten Knaben, ungefähr das Fürchterlichste, +was ich mir denken konnte, und es ärgerte mich fast bis zu Tränen; ja +ein paarmal brachte sie mich in eine so unangenehme und bedenkliche +Lage, daß ich nahe daran war, mit dieser heimtückischen Anbeterin einen +regelrechten Faustkampf zu eröffnen. Aber meine naive Verwirrung, meine +Verzweiflung und Wut schienen sie nur anzustacheln, mich noch lebhafter +zu verfolgen. Sie kannte kein Erbarmen, ich aber wußte nicht, wo ich +mich vor ihr verbergen sollte, und zum Unglück wirkte noch das Gelächter +der anderen, das sie durch ihre Scherze mit mir hervorzurufen verstand, +anfeuernd auf sie, so daß man zu guter Letzt fand, sie gehe mit ihren +Scherzen denn doch zu weit. Und wirklich muß auch ich zugeben – ich +meine heute, denn damals konnte ich das noch nicht beurteilen –, daß sie +sich zu viel mit einem solchen Kinde erlaubte, wie ich es damals war. + +Aber so war nun einmal ihr Wesen, das ja deshalb noch nicht schlecht zu +sein brauchte: sie war eben auch noch ein richtiges verwöhntes Kind. Wie +ich nachher erfuhr, soll gerade ihr Mann sie am meisten verwöhnt haben – +ein dicker kleiner Herr mit einem frischen Gesicht, sehr reich und sehr +beschäftigt, letzteres wenigstens nach seiner Lebensweise zu urteilen: +ewig hatte er etwas vor, und keine zwei Stunden hielt er es an einem Ort +aus, jeden Tag fuhr er vom Gut nach Moskau, oft sogar zweimal am Tage, +und zwar, wie er behauptete, wegen geschäftlicher Angelegenheiten. Etwas +Lustigeres und Gutmütigeres als es seine komische, aber dabei doch immer +gesetzte Miene und Haltung war, hätte man schwerlich irgendwo finden +können. Seine Frau liebte er nicht nur bis zur Schwäche – nein, er +betete sie geradezu an wie seinen Abgott. + +Da versteht es sich wohl von selbst, daß er ihr nichts verbot, und daß +sie tun konnte, was ihr gerade einfiel. Freunde und Freundinnen besaß +sie eine Menge. Denn erstens gab es überhaupt wenige, die sie nicht +liebten, und zweitens war sie gar nicht wählerisch in der Wahl ihrer +guten Bekannten, obgleich auch ihrem Charakter viel mehr Ernst zugrunde +lag, als man nach dem, was ich soeben erzählt habe, annehmen könnte. +Aber von allen ihren Freundinnen liebte sie eigentlich nur eine junge +Frau, eine entfernte Verwandte von ihr, die gleichfalls als Gast auf +dem Gute weilte. Zwischen ihnen bestand ein ganz eigenes +Freundschaftsverhältnis, eines von jenen seltsam zarten, geistig +vornehmen, wie es sich zuweilen aus der Begegnung zweier sonst recht +verschiedener Charaktere ergibt, die vielleicht sogar einander ganz +entgegengesetzt sind, von denen aber der eine strenger und tiefer und +reiner ist als der andere, während dieser mit feinem Taktgefühl +ehrlicher Selbsteinschätzung und neidloser Liebe sich dem anderen +unterordnet, indem er dessen Überlegenheit anerkennt und seine +Freundschaft wie ein Glück und einen kostbaren Schatz im Herzen bewahrt. +Daraus entwickelt sich dann dieses zarte, innerlich vornehme Verhältnis +zueinander, das Güte und Nachsicht auf der einen Seite, auf der anderen +Liebe und Verehrung des Höherstehenden kennzeichnen – eine Verehrung, +der freilich eine gewisse Furcht nicht fehlt: die Furcht nämlich, sich +in den Augen desjenigen, der für einen so hoch steht, etwas zu vergeben, +was zugleich den glühenden Wunsch hervorruft, mit jedem Schritt und +jeder Tat dem Herzen des Freundes näher zu treten. Sie waren beide in +gleichem Alter, aber es war doch in allem ein schier unermeßlicher +Unterschied zwischen ihnen, vor allem auch in ihrer äußeren Erscheinung. +^M–me^ M. war gleichfalls sehr schön, aber ihre Schönheit hatte etwas +Eigenartiges, was sie auf den ersten Blick von der Schar der hübschen +Damen unterschied; und dieses nur schwer erklärbare Etwas wirkte mit +einer unwiderstehlichen Anziehungskraft auf Menschen oder richtiger, es +erweckte in jedem, der ihr begegnete, ein gutes, reines Gefühl, das +einen alsbald wie eine geheime, aber mächtige Sympathie zu ihr hinzog. +Es gibt solche Gesichter. In ihrer Nähe fühlt ein jeder sich irgendwie +besser, irgendwie freier und wärmer: und doch war der Blick ihrer +traurigen großen Augen, aus denen Geist und Kraft sprachen, zugleich +schüchtern und unruhig, wie in immerwährender Flucht vor etwas +Feindlichem und drohend Grausamem, und diese seltsame Scheu breitete +zuweilen solch eine Wehmut über ihre stillen Züge, die an die heiligen +Gesichter italienischer Madonnen gemahnten, daß man bald ebenso traurig +wurde, als hätte man selbst einen Kummer, vielleicht den gleichen wie +sie, deren Leid man so recht nachfühlen konnte. Aus ihrem bleichen, +schmalen Gesicht sah, trotz der vollendeten Schönheit seiner reinen, +regelmäßigen Züge und der wehmütigen Strenge einer dumpfen, verborgenen +Qual, doch noch das ursprüngliche klare Kinderantlitz hervor, das +Gesicht der noch nicht vergessenen, vertrauensseligen Jahre – der Jahre +eines vielleicht unbewußten Glücks. Und dazu kam dieses stille, etwas +scheue, unbestimmte Lächeln und alles das erweckte eine so unerklärliche +Teilnahme für diese Frau, daß im Herzen eines jeden unwillkürlich eine +süße, innige Sorge um sie erwachte, eine Sorge, die für sie noch aus der +Ferne sprach und einen über Zeit und Raum hinweg mit ihr verband. Sie +war vielleicht etwas schweigsam und verschlossen, obwohl es zugleich +schwerlich ein aufmerksameres und liebevolleres Wesen gab, als sie es +zeigen konnte, wenn jemand der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die +im Leben geradezu wie barmherzige Schwestern sind. Vor ihnen braucht man +nichts zu verbergen, nichts zu verschweigen, wenigstens nichts, was in +unserer Seele krank und verwundet ist. Wer leidet, der gehe getrost zu +ihnen und fürchte nicht, ihnen zur Last zu fallen, denn nur selten weiß +jemand von uns, wieviel unendlich geduldige Liebe, wieviel Mitgefühl und +welch ein Allverzeihen in manchem Frauenherzen sein kann. Ganze Schätze +an Mitempfinden, Trost und Hoffnung ruhen in diesen reinen Herzen, die +so oft selbst verwundet sind – Herzen, die viel trauern, mehr als andere +lieben, aber die Wunden behutsam vor jedem neugierigen Blick verbergen, +denn tiefes Leiden schweigt und verbirgt sich. Diese Frauen schreckt +weder die Tiefe der Wunde noch ihre Fäulnis: wer an sie mit seinem +Vertrauen herantritt, ist ihrer schon wert. Sie sind wie zum Helfen +geboren ... ^M–me^ M. war von hohem Wuchs, biegsam und schlank, aber ein +wenig mager. Ihre Bewegungen waren alle irgendwie ungleichmäßig, bald +langsam und sanft und nicht ohne eine gewisse Würde, bald wieder +kindlich schnell. Dabei sprach aus ihrer Geste zugleich so etwas wie ein +Bangen, wie eine Schutzlosigkeit, die aber doch wieder niemanden um +Schutz anflehte oder um Beistand bat. + +Ich sagte bereits, daß die bösen Bemerkungen der tückischen Blondine +mich beschämten, ärgerten, peinigten, daß mein Herz mir blutete. Aber +hierfür gab es noch einen anderen Grund, sogar einen recht seltsamen und +dummen, den ich jedoch wie ein Heiligtum vor allen geheimhielt, für den +ich wie ein Geizhals für seinen Schatz zitterte und der mir schon beim +bloßen Gedanken, auch wenn ich ganz allein mit meinem verwirrten Kopf +irgendwo in einer dunkeln Ecke saß, wo der forschende spöttische Blick +meines Plagegeistes mich nicht erreichen konnte und ich mich vor allen +blauen Augen sicher fühlte – der mir schon bei dem bloßen Gedanken an +den Gegenstand dieser Ursache das Herz vor lauter Verwirrung, Scham und +Furcht stille stehen machte. Mit einem Wort: ich war in ^M–me^ M. +verliebt. Und doch – muß ich nicht annehmen, daß ich soeben den größten +Unsinn gesagt habe: denn das war ja ganz undenkbar!? Trotzdem – warum +machte von allen Gesichtern, die ich sah, nur ihr Gesicht einen solchen +Eindruck auf mich? Weshalb folgte mein Blick nur ihr allein, wo sie ging +oder stand, weshalb _liebte_ ich es, sie zu betrachten, obschon doch +damals mein Sinn entschieden noch nicht danach stand, Frauen zu +entdecken und ihnen nahezutreten? Es geschah das namentlich abends, wenn +sich bei trübem oder kühlem Wetter die ganze Gesellschaft in den Sälen +versammelte und ich dann aus irgendeiner Saalecke, wo ich einsam und +verlassen saß, ziellos nach allen Seiten ausguckte – wohin die Augen +selbst gerade wollten, da ich keine andere Beschäftigung für sie zu +finden wußte. Außer meiner Verfolgerin sprach selten jemand ein Wort zu +mir, so daß ich mich an solchen Abenden gewöhnlich sträflich langweilte. +Dann betrachtete ich die Menschen und spitzte die Ohren, wenn ich +Gespräche hörte, von denen ich oft kein Wort begriff. Da kam es denn +ganz von selbst, daß die traurigen Augen und das stille Lächeln der +schönen ^M–me^ M. Gott weiß weshalb meine Aufmerksamkeit fesselten, und +dann konnte nichts mehr den seltsamen, unbestimmten und unfaßbar süßen +Eindruck verwischen, den sie auf mich machte. Oft saß ich stundenlang +und sah sie an und konnte meinen Blick nicht von ihr losreißen. Jede +Geste, jede Bewegung, jeder Ausdruck ihres Gesichts prägte sich meinem +Gedächtnis ein und ich lauschte auf jede Veränderung ihrer Stimme, die +nicht laut war, sondern von einer tieferen, dunkleren, etwas +verschleierten Klangfarbe – und merkwürdig! – aus diesen Beobachtungen +und ihren seltsamen süßen Eindrücken erwuchs in mir eine ganz +unerklärliche Neugier. Es war fast, als ahnte ich ein Geheimnis in ihr, +das ich alsbald unbedingt ergründen wollte. + +Am quälendsten war mir daher meine Lage in ihrer Gegenwart. Denn alle +diese Scherze und Neckereien erniedrigten mich in meinen Augen und waren +für mein Gefühl die schrecklichsten Beleidigungen. Und wenn nun gar bei +dem allgemeinen Gelächter über mich auch ^M–me^ M. zuweilen +unwillkürlich mitlachte, dann kannte meine Verzweiflung keine Grenzen: +ich war außer mir vor Schmerz und Scham und riß mich mit der Wut eines +Besessenen aus den Händen meiner Verfolgerin – rannte nach oben, in den +zweiten Stock, wo ich dann den ganzen Rest des Tages verbrachte, da ich +mich nicht mehr im Saal zu zeigen wagte. Übrigens war ich mir damals +weder über meine Scham noch über meine Erregung im klaren: der ganze +Prozeß spielte sich vollkommen unbewußt ab. Mit ^M–me^ M. hatte ich noch +keine zwei Worte gesprochen, und ich hätte natürlich nie den Mut gehabt, +sie anzureden. Eines Abends aber, nach einem für mich elend verlaufenen +Tage, blieb ich während des Spaziergangs hinter den anderen zurück und +da ich schrecklich müde geworden war, ging ich durch den Garten wieder +nach Hause. Ich wählte den kürzesten Weg – eine entlegene Allee – und da +erblickte ich auf einer Bank plötzlich ^M–me^ M. Sie saß dort ganz +allein, als habe sie diese Einsamkeit gesucht, saß zurückgelehnt, mit +gesenktem Kopf, und ihre Finger bewegten mechanisch das Taschentuch, das +sie in der Hand hielt. Sie war so in Nachdenken versunken, daß sie es +gar nicht hörte, wie ich mich ihr näherte. + +Als sie mich erblickte, erhob sie sich schnell von der Bank, wandte das +Gesicht fort und ich sah, wie sie das Taschentuch an die Augen führte, +um die Tränenspuren fortzuwischen. Sie hatte geweint. Dann tat sie, als +wäre nichts geschehen, lächelte mir zu und ging mit mir zum Hause. Ich +habe vergessen, wovon wir sprachen; nur schickte sie mich unterwegs +immer wieder unter verschiedenen Vorwänden von sich fort: bald bat sie +mich, eine Blume zu bringen – bald sollte ich ihr sagen, wer dort in der +nächsten Allee ritt. Sobald ich mich aber von ihr fortwandte, fuhr sie +wieder schnell mit dem Tuch über die Wangen, da die ungehorsamen Tränen +nicht versiegen wollten, vielmehr aus dem wehen, kämpfenden Herzen immer +wieder in ihre armen Augen traten. Ich begriff sehr wohl, daß ich ihr +lästig war, da sie mich so oft fortschickte. Sie aber sah doch, daß ich +schon alles bemerkt hatte, und trotzdem konnte sie sich nicht +beherrschen – das quälte mich für sie noch viel mehr! Ich ärgerte mich +über mich selbst fast bis zur Verzweiflung, ich verwünschte mein Unglück +und meine Dummheit, die mich keinen Vorwand finden ließ, unter dem ich +mich hätte entfernen können, ohne sie noch obendrein merken zu lassen, +daß ich um ihr Leid wußte. So ging ich denn betrübt und unglücklich, mit +meinem Zwiespalt im Herzen, neben ihr her und fand trotz aller +Anstrengung kein einziges Wort, mit dem ich unsere einsilbige +Unterhaltung hätte beleben können. + +Diese Begegnung machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich ^M–me^ +M. den ganzen Abend mit unersättlicher Neugier verstohlen betrachtete. +Aber ungeachtet meiner Vorsicht trafen unsere Blicke sich doch ein +paarmal, und als sie das zweite Mal diesen meinen Blick bemerkte, da +lächelte sie. Es war das an diesem Abend das einzige Mal, daß ich sie +lächeln sah. Die Trauer war jedoch noch nicht aus ihrem Gesicht gewichen +und sie war sogar noch bleicher als sonst. Die ganze Zeit unterhielt sie +sich mit einer alten Dame, die eigentlich, weil sie immer spionierte und +Klatschgeschichten verbreitete, niemand ausstehen konnte, die vielmehr +von allen gefürchtet wurde, weshalb man sich denn gewissermaßen +gezwungen fühlte, im Verkehr mit ihr liebenswürdig und aufmerksam zu +sein, ob man wollte oder nicht ... + +Gegen zehn Uhr traf plötzlich der Mann von ^M–me^ M. ein. Ich sah, wie +sie bei dem unerwarteten Erscheinen ihres Gatten zusammenzuckte und wie +ihr ohnehin schon so bleiches Gesicht noch um einen unheimlichen Grad +stärker erblaßte. Es war das so auffallend, daß auch andere es +bemerkten: wenigstens fing ich von einem leisen Gespräch in meiner Nähe +ein paar Bemerkungen auf, aus denen ungefähr hervorging, daß die arme +^M–me^ M. kein gerade beneidenswertes Leben habe. Ihr Mann sei, wie man +wisse, eifersüchtig wie ein Mohr, jedoch nicht aus Liebe zu ihr, sondern +nur aus Liebe zu sich selbst. Dieser Mensch war nämlich ... in erster +Linie ein „Europäer“, und zwar einer der neuzeitlichen, von modernen +Ideen angekränkelten, mit denen er gerne großtat. Was sein Äußeres +betraf, so war er ein brünetter, großer und sehr stämmiger Herr mit +europäisch geschnittenem Backenbart und einem selbstzufriedenen, +frischen Gesicht, mit zuckerweißen Zähnen und dem Auftreten eines +vollendeten Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen Menschen“. So nennt +man nämlich in gewissen Kreisen einen besonderen, auf Kosten anderer +fett gewordenen Menschenschlag, der so gut wie nichts tut und auch so +gut wie nichts tun will, der vielmehr vom ewigen Müßiggang und Nichtstun +anstatt des Herzens sozusagen nur ein Stück Speck im Leibe hat. Gerade +von diesen Leuten aber hört man jeden Augenblick, daß sie nur infolge +gewisser höchst verwickelter und ihnen feindlicher Umstände nichts zu +tun hätten, daß sie ihren „Genius ermüdeten“ und daß es deshalb „traurig +sei“, sie „unbeschäftigt zu sehen“. Das ist nun einmal ihre +schönklingende Phrase, ihr ^Mot d’ordre^, das diese satten Fettwänste +überall anbringen – weshalb sie einen denn auch schon längst langweilen, +um nicht mehr zu sagen; wie eben jede ausgesprochene Tartüfferie oder +jedes leere, alberne Wort. Übrigens scheinen einige dieser spaßigen +Käuze, die auf keinerlei Weise eine Arbeit für sich finden können – +zumal sie auch nie eine solche ernstlich suchen – gerade danach zu +trachten, alle davon zu überzeugen, daß sie an Stelle des Herzens nicht +ein Stück Speck, sondern im Gegenteil etwas sehr Tiefgründiges besäßen. +Was dies Etwas freilich sei, eigentlich und im letzten Grunde, das würde +auch der beste Chirurg nicht sagen können – nur aus Höflichkeit, +versteht sich, könnte er es nicht! Diese Herren bringen ihr Leben damit +zu, daß sie alle ihre Fähigkeiten zu billigem Spott, kurzsichtigster +Kritik und maßlos dünkelhaftem Auftreten verwerten. Da sie aber nichts +weiter zu tun haben, als die Fehler und Schwächen anderer zu entdecken +und ans Licht zu zerren, und da sie von Güte und Nachsicht genau nur so +viel besitzen, wie die Natur etwa einer Auster verliehen hat, so fällt +es ihnen auch nicht schwer, unter solchen Umständen ziemlich umsichtig +und mit viel Vorsicht unter den Menschen zu leben. Dessen rühmen sie +sich denn auch über alle Maßen. So sind sie zum Beispiel fest überzeugt, +daß womöglich die ganze Welt ihnen tributpflichtig sei, und sie +betrachten diese Welt nahezu als ihre Vorratskammer. Sie sehen in allen +anderen Menschen um sich her Dummköpfe und glauben, ein jeder gleiche +einer Apfelsine oder einem Schwamm, aus dem sie, sobald sie nur wollen, +auch den letzten Tropfen herauspressen können. Sie halten sich in +gewissem Sinne für die Herren der Welt und scheinen anzunehmen, daß +diese ganze löbliche Ordnung der Dinge einzig davon herrühre, daß sie so +kluge und gewichtige Menschen sind. In ihrem maßlosen Eigendünkel werden +sie nie eigene Mängel zugeben, sondern sich immer unter allen Umständen +und in jeder Beziehung für vollkommen halten. Sie gleichen jenem +besonderen Menschentyp, dessen Ahnherren Tartüffe und Falstaff sind, +jenen Schelmen, die so viel und so oft betrügen, daß sie selbst +schließlich glauben, alles was sie sagen, tun und lassen habe seine +Richtigkeit, d. h. es sei von ihnen durchaus richtig, so zu leben und zu +betrügen: sie haben eben ihre Beteuerungen, daß sie ehrlich und +uneigennützig seien, so oft gehört, daß sie zu guter Letzt selbst +glauben, sie seien uneigennützig und ihre Betrügereien zeugten von +aufrichtigster Ehrlichkeit. Zu einer unparteiischen Selbstkritik und +Selbsterkenntnis langt es bei ihnen nie. Zum Erfassen mancher Dinge sind +sie eben viel zu schwerfällig. Im Vordergrunde aller Dinge und +Geschehnisse steht ihnen immer die eigene goldene Person, der Moloch, +dem sie alles opfern, ihr herrliches „Ich“! Die ganze Natur, die ganze +Welt ist für sie nicht mehr als ein großer schöner Spiegel, der nur dazu +geschaffen scheint, damit ein kleiner Gott sich ununterbrochen in ihm +bewundern kann und außer seiner eigenen Person niemand und nichts zu +sehen braucht. Da ist es denn kein Wunder, wenn sie unter solchen +Umständen alle übrigen Erscheinungen der Welt immer irgendwie entstellt +sehen und nie so, wie sie wirklich sind. Für alles haben sie eine +fertige Phrase vorrätig und zwar – was übrigens äußerst geschickt von +ihnen ist – immer nur eine der allermodernsten. Ja, man kann sagen, daß +hauptsächlich sie es sind, die die Verbreitung der Phrase besorgen, +deren Erfolg sie beizeiten wittern. Jawohl, Spürsinn – das ist das +einzige, was man ihnen nachrühmen kann, denn in dieser Beziehung haben +sie wirklich eine feine Nase; wenigstens ist sie fein genug, um +derartige moderne Ausdrücke früher als andere herauszuschnüffeln und +sich rechtzeitig anzueignen, so daß es fast den Anschein hat, als +stammten sie von ihnen. Namentlich versehen sie sich mit solchen, die +ihrer tiefen Liebe zur Menschheit Ausdruck geben sollen und die +angeblich einzig richtige und vernunftgemäße Menschenfreundschaft +dartun, um dabei gleichzeitig rücksichtslos über die veraltete Romantik +herzufallen, mit ihr nicht selten alles Schöne und Erhabene zu +verurteilen, ohne zu begreifen, daß jedes kleinste Gefühl derselben +wertvoller ist, als ihre ganze Weichtierexistenz. In ihrer geistigen +Stumpfheit sind sie unfähig, die Wahrheit in einer noch unfertigen, von +der altbekannten abweichenden Form, in einem Übergangsstadium zu +erkennen, und so lehnen sie denn alles ab, was noch im Entstehen ist und +seine Form erst sucht und deshalb noch nicht ganz feststeht. Diese +wohlgenährten satten Menschen haben ihr Leben gewöhnlich gleichsam im +Zustande eines fortgesetzten Räuschchens heiter verbracht. Alles ist +ihnen von anderen zurecht gemacht worden, selbst aber haben sie noch nie +etwas geleistet und wissen natürlich nicht, wie schwer es ist, etwas zu +vollbringen. Wehe dem aber, der mit irgendeiner Rauheit ihre satten +Gefühle streift: das würde niemals verziehen, noch vergessen werden, +Rache üben sie aber dafür mit Wonne. In der Summe ergibt sich, daß ein +derartiger Held nichts mehr und nichts weniger ist als ein riesengroßer, +bis zur letzten Möglichkeit aufgeblasener Sack, voll von Sentenzen, +Modephrasen und Schlagwörtern aller Art. + +Übrigens war ^M–r^ M. doch ein etwas bemerkenswerterer Herr, zumal er +eine Gabe besaß, die ihn immerhin durch eine gewisse Eigenart +auszeichnete: er war nämlich ein guter Erzähler, war witzig und +redselig, so daß in der Gesellschaft sich immer ein Kreis um ihn +versammelte. An jenem Abend war er besonders gut aufgelegt; er riß die +Unterhaltung an sich, war schlagfertig, beinahe geistvoll, gut gelaunt +und brachte es so weit, daß alle nur ihm zuhörten und ihn anstaunten. +Dagegen war ^M–me^ M. die ganze Zeit schweigsam und litt sichtlich: sie +sah so traurig aus, daß ich fürchtete, jeden Augenblick wieder Tränen an +ihren Wimpern erglänzen zu sehen. Alles das machte, wie gesagt, einen +tiefen Eindruck auf mich. Ich war bestürzt und verwundert und eine +seltsame Neugier erfaßte mich. Die ganze Nacht träumte mir von ^M–r^ M., +während ich bis dahin selten von so peinigenden und aufregenden Träumen +heimgesucht worden war. + +Am anderen Morgen wurde ich schon früh nach unten in den Saal gerufen, +wo die Proben zu den lebenden Bildern, zu denen auch ich mich hergeben +mußte, stattfanden. Diese lebenden Bilder, ferner eine Theateraufführung +und ein großer Ball, alles an einem Abend, sollten zur Feier des +Geburtstages der jüngsten Tochter unseres verschwenderischen Hausherrn +stattfinden. Wir hatten im ganzen nur noch etwa fünf Tage Zeit. Zu +diesem Fest waren aus Moskau und von den benachbarten Landgütern nicht +viel weniger als hundert Personen eingeladen, so daß große +Vorbereitungen getroffen werden mußten, die natürlich den Trubel noch +erhöhten. Die Proben oder richtiger die Durchsicht der vorhandenen +Kostüme fand zu einer so ungelegenen Zeit statt, weil der bekannte +Künstler R., ein Freund und Gast unseres Hausherrn, der aus Gefälligkeit +sich bereit erklärt hatte, die Bilder zu stellen, noch nach Moskau +fahren wollte, um die fehlenden Requisiten einzukaufen. So hieß es denn: +sich beeilen. Mich hatte man für ein lebendes Bild zusammen mit ^M–me^ +M. ausersehen. Das Bild stellte eine Szene aus dem mittelalterlichen +Leben dar und hieß: „Die Schloßherrin und ihr Page“. + +Ich war entsetzlich verwirrt, als ich mit ^M–me^ M. auf der Probe +zusammentraf. Natürlich war ich überzeugt, daß sie sogleich alle meine +Gedanken, Zweifel und Vermutungen, die mir seit dem letzten Abend durch +den Kopf gefahren waren, aus meinen Augen erraten würde. Und überdies +bedrückte mich noch so etwas wie ein Schuldgefühl ihr gegenüber, weil +ich sie in ihrem Leid überrascht und ihre Tränen bemerkt hatte. Wußte +ich denn, ob sie nicht vielleicht sogar sehr ärgerlich über mich war? +Aber, Gott sei Dank, es verlief alles ohne irgendwelche +Unannehmlichkeiten: ich wurde von ihr ganz einfach – gar nicht bemerkt. +Ihre Gedanken waren offenbar mit etwas ganz anderem beschäftigt und sie +schien weder mich noch sonst etwas von der Probe zu sehen. Sie machte +den Eindruck, als laste eine große quälende Sorge auf ihr. Nach +beendeter Probe lief ich schnell fort und kleidete mich um. Etwa zehn +Minuten später trat ich auf die Terrasse, um in den Garten zu gehen. In +demselben Augenblick trat aus einer anderen Tür auch ^M–me^ M. auf die +Terrasse und zugleich erblickten wir beide vor uns ihren +selbstzufriedenen Herrn Gemahl, der aus dem Garten heraufkam, wohin er +gerade eine Schar junger Damen begleitet hatte. Die Begegnung mit seiner +Frau kam auch für ihn ganz unerwartet. ^M–me^ M. errötete plötzlich und +in ihrer hastigen Bewegung drückte sich ein gewisser Unmut aus. Der Herr +Gemahl, der sorglos eine Arie vor sich hingepfiffen und unausgesetzt mit +tiefsinniger Miene seinen schönen Backenbart geglättet hatte, runzelte +ein wenig die Stirn, als er seine Frau erblickte und betrachtete sie, +wie ich mich jetzt entsinne, mit entschieden inquisitorischem Blick. + +„Sie gehen in den Garten?“ fragte er, da er in ihrer Hand einen +Sonnenschirm und ein Buch bemerkte. + +„Nein, in den Wald,“ sagte sie und errötete leicht. + +„Allein?“ + +„Mit ihm ...“ Sie wies auf mich. „Ich gehe morgens immer allein +spazieren,“ fügte sie wie zur Erklärung hinzu, aber mit einer etwas +unsicheren Stimme, die wohl gleichgültig klingen sollte, statt dessen +aber genau so klang, wie wenn man zum erstenmal im Leben bewußt lügt. + +„Hm ... Ich habe soeben eine ganze Gesellschaft hinbegleitet. Sie +versammeln sich dort alle bei der Rosenlaube, um N. das Geleit zu geben. +Er verläßt uns, wie Sie wissen ... Es ist ihm da irgendwo in Odessa ein +Malheur passiert ... Ihre Kusine (das war mein blonder Plagegeist) lacht +und weint, beides zugleich, so daß man nicht aus ihr klug werden kann. +Übrigens sagte sie mir, daß Sie aus irgendeinem Grunde auf N. böse seien +und ihn deshalb nicht begleiten wollten. Natürlich ein Unsinn?“ + +„Sie scherzt nur,“ sagte ^M–me^ M. und stieg die Stufen der Terrasse +hinab. + +„Also das ist jetzt Ihr täglicher ^Cavalier servant^?“ fragte er noch +beiläufig mit spöttisch zuckenden Mundwinkeln und musterte mich durch +sein Monokel. + +„Page!“ rief ich, wütend über seinen Blick, über seinen Spott, und dann +lachte ich ihm gerade ins Gesicht und sprang mit einem Satz über drei +Stufen ... + +„Nun, viel Vergnügen,“ brummte ^M–r^ M. und ging weiter. + +Ich war natürlich gleich zu ^M–me^ M. getreten, als sie auf mich wies, +und hatte mir den Anschein gegeben, als hätten wir uns schon vor einer +Stunde verabredet, und ich tat so, als sei ich schon einen ganzen Monat +jeden Morgen mit ihr spazierengegangen. Nur konnte ich nicht begreifen, +weshalb diese Begegnung sie so verwirrte, und was sie eigentlich im +Sinne hatte, als sie sich zu der kleinen Lüge entschloß. Warum hatte sie +nicht ganz einfach gesagt, daß sie allein gehe? So aber wußte ich nicht, +was ich davon denken sollte. Dennoch begann ich allmählich, trotz meiner +Unsicherheit und aller Befürchtungen, mit naiver Neugier verstohlen zu +ihr aufzusehen: doch ganz wie vor einer Stunde in der Probe bemerkte sie +auch jetzt weder meine Blicke noch meine stumme Frage. Nur dieselbe +quälende Sorge spiegelte sich noch deutlicher, noch tiefer in ihren +erregten Zügen wieder und sprach aus jeder Bewegung, sprach vor allem +aus ihrem schnellen Gang. Sie mußte Eile haben, denn sie beschleunigte +ihre Schritte und unruhig blickte sie in jede Allee, in jeden Durchhau +im Walde, und zwar immer nach der Seite des Gartens hin. Auch ich begann +etwas zu erwarten. Da vernahmen wir Pferdegetrappel hinter uns. Es war +eine ganze Kavalkade, Damen und Herren, hoch zu Roß, die alle jenen N., +der uns so plötzlich verließ, begleiteten. + +Unter den Reiterinnen erblickte ich auch meine Blondine, von der ^M–r^ +M. uns erzählt hatte, daß sie gelacht und geweint habe, beides zugleich. +Ihrer Gewohnheit gemäß lachte sie nun wieder wie ein Kind und war so +mutwillig und lustig wie nur je. Sie ritt einen prächtigen Schimmel. Als +die Gesellschaft uns erreichte, zog N. den Hut, hielt aber weder sein +Pferd an, noch sagte er ein Wort zu ^M–me^ M. Bald waren sie alle hinter +einer Wegbiegung verschwunden. Ich blickte zu ^M–me^ M. auf und – +beinahe hätte ich aufgeschrien vor Überraschung: sie war totenbleich und +rührte sich nicht, nur große Tränen standen in ihren Augen. Unsere +Blicke trafen sich: ^M–me^ M. errötete jäh, wandte sich für einen +Augenblick fort und ich las Unruhe und Ärger in ihrem Gesicht, obschon +sie sich schnell und mit aller Gewalt zusammennahm. Ich war überflüssig, +war lästiger noch als tags zuvor: das war mir klar. Aber wie sollte ich +mich entfernen, unter welchem Vorwande? + +Da schlug ^M–me^ M. plötzlich, als habe sie meine Gedanken erraten, das +Buch auf, das sie mitgenommen hatte, und, indem ihr wieder das Blut in +die Wangen stieg, sagte sie – sichtlich bemüht, mich dabei nicht +anzusehen – als habe sie es soeben erst bemerkt: + +„Ach! Das ist ja der zweite Band, ich habe mich versehen! Bitte, bring +mir den ersten!“ + +Es war nicht mißzuverstehen! Ich hatte meine Rolle ausgespielt und auf +einem geraderen Wege hätte man mich schwerlich fortschicken können. + +Ich lief mit dem Buche fort und kehrte nicht zurück. Der erste Band +blieb an diesem Morgen unberührt auf dem Tische liegen ... + +Aber seitdem war ich so verändert, daß ich mir selbst ganz fremd vorkam: +mein Herz pochte wie in fortwährender Angst. Ich wandte die größte +Vorsicht an, um nicht irgendwie ^M–me^ M. zu begegnen. Dafür aber +betrachtete ich von nun an mit einer nahezu wilden Neugier ihren +selbstzufriedenen Herrn Gemahl, als wollte ich an ihm etwas Besonderes +entdecken. Ich begreife jetzt selbst nicht, wie ich damals zu dieser +lächerlichen Neugier kam, doch entsinne ich mich, daß alles, was ich an +jenem Morgen erlebt, mich in ein ganz eigenartiges Erstaunen versetzt +hatte. Und doch war es nur erst ein Anfang an diesem Tage gewesen, an +dem mir noch ganz andere und noch viel größere Erlebnisse bevorstanden. + +Es wurde ausnahmsweise früher als sonst zu Mittag gespeist. Am +Nachmittage sollten wir eine Ausfahrt nach einem Nachbardorf machen, um +einmal ein richtiges Dorffest, das dort gefeiert wurde, kennen zu lernen +– deshalb speisten wir früher. Ich hatte mich schon drei Tage auf dieses +Fest gefreut, von dem ich Gott weiß wie viel erwartete. Den Kaffee +tranken alle auf der Terrasse. Vorsichtig folgte ich den anderen aus dem +Speisesaal und verbarg mich hinter mehreren Sesseln. Mich zog wieder +meine Neugier dorthin: und die war so groß, daß ich ihr sogar auf die +Gefahr hin folgte, von ^M–me^ M. bemerkt zu werden. Der Zufall fügte es +jedoch anders: ich geriet in die Nähe meiner blonden Verfolgerin. An dem +Tage war mit ihr ein Wunder geschehen, etwas schier Unglaubliches: sie +sah plötzlich noch einmal so schön aus, als sie bis dahin ausgesehen +hatte. Wie und warum das gekommen war – das weiß ich nicht, aber mit +Frauen geschieht dieses Wunder ja recht oft! Unter uns befand sich ein +neuer Gast, ein langer, blonder, junger Mann, der gerade aus Moskau +eingetroffen war, fast wie um N. zu ersetzen, der uns am Morgen +verlassen hatte, und von dem das Gerücht ging, daß er in unsere blonde +Schönheit sterblich verliebt gewesen sei. Der neue Gast aber stand schon +seit langer Zeit in einem Verhältnis zu ihr, wie Benedikt zu Beatrice in +Shakespeares „Viel Lärm um nichts“. Kurz, unsere Schönheit fand an +diesem Tage ungeheuren Beifall. Ihre Scherze und ihre Unterhaltung waren +so entzückend, so zutraulich naiv, so verzeihlich unvorsichtig, sie war +dabei selbst mit einer so graziösen Sicherheit vom allgemeinen Beifall +überzeugt, daß sie die ganze Zeit über von allen Anwesenden tatsächlich +nur bewundert wurde. Um sie herum bildete sich ein dreifacher Kreis von +überraschten, verwunderten und entzückten Zuhörern, denn so bezaubernd +hatte man sie noch nie gesehen. Jedes Wort von ihr ward wie ein +verführerisches Wunderding erhascht und weitergegeben, jeder Scherz, +jede schlagfertige Antwort erregte Begeisterung. Wie es schien, hatte +niemand soviel Geschmack, Geist und Verstand an ihr vermutet. Ihre +besten Eigenschaften wurden durch ihre täglichen kindischen Tollheiten, +die oft fast zu Narrheiten ausarteten, in den Schatten gestellt und +selten von jemand bemerkt – oder wer sie zwischen jenen Kindereien +bemerkte, der hielt sie für Zufall, so daß ihr plötzlicher Erfolg mit +einem allgemein verwunderten Geflüster aufgenommen wurde. + +Übrigens trug zu diesem Erfolg noch ein besonderer, etwas kitzliger +Umstand bei – kitzlig wenigstens im Hinblick auf die Rolle, die der Herr +Gemahl der ^M–me^ M. dabei spielte. Der Wildfang hatte sich nämlich +vorgenommen – und wie ich bemerken muß: zu allseitigem Gaudium oder zum +mindesten doch zu dem der goldenen Jugend – wahrhaft unbarmherzig ^M–r^ +M., immer nur M., anzugreifen, und dies wohl aus verschiedenen Gründen, +die in ihren Augen wahrscheinlich alle sehr gewichtig waren. Sie +eröffnete im Kampf mit ihm ein richtiges Schnellfeuer von spöttischen +Herausforderungen, Seitenhieben und Sarkasmen von der boshaftesten Art, +die von allen Seiten so geschlossen, glatt und rund waren, daß man sie +nirgends fassen konnte, um sie der gütigen Spenderin zurückzuwerfen, +Sarkasmen, denen der Gegner nahezu wehrlos ausgeliefert war, die nie ihr +Ziel verfehlten und ihr Opfer, das sich in vergeblichen Anstrengungen +erschöpfte, schließlich in die wildeste Wut versetzten und zur +komischsten Verzweiflung brachten. + +Ich weiß es zwar nicht genau, aber ich glaube doch sagen zu dürfen, daß +dieser Zweikampf nicht zufällig entbrannte, sondern von ihr mit Absicht +herbeigeführt wurde. Eigentlich begann der verzweifelte Kampf schon bei +Tisch. Ich nenne ihn „verzweifelt“, denn M. streckte die Waffen nicht so +bald. Er mußte mit Aufbietung seiner ganzen Geistesgegenwart all seinen +Scharfsinn und seine allerdings recht geringe Gewandtheit +zusammennehmen, um nicht eine Schlappe sondergleichen davonzutragen – um +nicht mit Schmach und Schande das Feld räumen zu müssen. Der Kampf +verlief unter fast unaufhörlichem Gelächter aller Zeugen und Teilnehmer. +Jedenfalls hatte sich das Blatt für ihn an diesem zweiten Tage völlig +gewendet und mit dem Beifall, den er am ersten Abend eingeerntet, war es +zu Ende. Wie ich und auch andere bemerkten, war ^M–me^ M. mehrmals im +Begriff, ihrer unvorsichtigen Freundin ins Wort zu fallen. Diese aber +schien ihrerseits dem eifersüchtigen Gatten unbedingt eine Narrenkappe +aufsetzen oder ihn wenigstens eine lächerliche Rolle spielen lassen zu +wollen – etwa diejenige eines Blaubart, wenigstens nach dem zu urteilen, +was ich noch behalten habe, und nach der Rolle, die ich selbst durch +einen Zufall in dieser Komödie spielen sollte. + +Es geschah ganz plötzlich und so unvorhergesehen, daß ich kaum zur +Besinnung kam. Ich stand und hörte zu, ohne etwas Böses zu ahnen, und +hatte sogar meine Vorsicht vergessen, als ich mich mit einemmal mitten +in den Streit hineingezogen sah: sie stellte mich plötzlich als den +Todfeind und natürlichen Gegner des ^M–r^ M. vor, als den sterblich bis +zur Verzweiflung verliebten Anbeter seiner Frau. Mit ihrem Ehrenwort +verbürgte sich die Schreckliche für die Wahrheit ihrer Behauptungen, und +sie beteuerte hoch und heilig, daß sie die sichersten Beweise besitze, +z. B. habe sie noch an diesem Morgen im Walde gesehen ... – + +Doch sie konnte den Satz nicht beenden: ich unterbrach sie in dem für +mich entscheidenden Augenblick. Aber dieser Augenblick wiederum war von +ihr so geschickt abgepaßt, der Knoten war so genial geschürzt und die +scherzhafte Lösung so wohl vorbereitet, und dabei alles so unnachahmlich +wiedergegeben, daß eine schallende Lachsalve diesen letzten Trumpf +begrüßte. Und obschon ich damals gleich erriet, daß die lächerlichste +Rolle gar nicht mir zufiel, war ich doch so verwirrt, aufgebracht und +erschrocken, daß ich mit Tränen in den Augen, mit dem Schmerz und der +Erschütterung der Verzweiflung und Scham mich zwischen den Stühlen im Nu +durchgedrängt hatte, mitten im Kreise stand und mit vor Tränen +stockender Stimme empört meiner Feindin zurief: + +„Und Sie schämen sich nicht ... ganz laut ... und vor allen Damen ... +eine solche Unwahrheit zu sagen!? ... Sie gebärden sich wie ein dummes +Mädchen ... und das noch dazu vor Männern! Was werden die dazu sagen? +Sie sind doch schon groß und ... verheiratet! ...“ + +Ohrenbetäubender Beifall unterbrach meine kindlichen Vorwürfe. Meine +Standrede machte Furore. Es war aber nicht meine Geste, es waren auch +nicht die Tränen in meinen Augen, die so erheiternd wirkten, sondern es +war vor allem das, daß ich quasi als Verteidiger des ^M–r^ M. auftrat, +was ein so unbändiges Gelächter hervorrief. In der Erinnerung muß ich +jetzt gleichfalls lachen ... Damals aber erstarrte ich beinahe und +verlor fast die Besinnung vor Entsetzen über diese Menschen – ich +erbebte, bedeckte das Gesicht mit den Händen und stürzte fort, stieß in +der Tür mit einem Diener zusammen, dem das Teebrett aus den Händen fiel, +und lief wie der Wind nach oben in mein Zimmer. Ich riß den Schlüssel +heraus, der von außen in der Tür stak, und schloß mich ein. Das war aber +auch mein Glück, denn schon folgte mir eine wilde Jagd: eine halbe +Minute später lief eine ganze Bande Sturm gegen meine Tür. Es waren alle +unsere jungen Damen: ich hörte ihr Lachen, ihr Geschwätz, tausend +Stimmen durcheinander, eine schneller als die andere – wie ein +Schwalbenvolk zwitscherten sie durcheinander. Alle, alle ausnahmslos +baten sie, flehten sie mich an, die Tür wenigstens auf einen Augenblick +zu öffnen; sie schwuren, daß mir nichts Böses widerfahren werde, sie +wollten mich nur totküssen, wie sie versicherten. Welche Drohung hätte +fürchterlicher sein können? Ich verging vor Scham und preßte das Gesicht +in die Kissen und hätte um keinen Preis die Tür geöffnet oder auch nur +mit einer Silbe geantwortet. Sie lärmten und bettelten noch lange hinter +der Tür, ich aber blieb gefühllos und taub, wie nur ein Elfjähriger sein +kann. + +Was sollte ich jetzt tun? alles war aufgedeckt, alles verraten, was ich +so eifersüchtig geheimgehalten und vor allen Blicken verborgen hatte! +... Ich war für ewig mit Schmach und Schande bedeckt! In Wirklichkeit +hätte ich freilich nicht zu sagen gewußt, was ich so ängstlich +geheimhalten wollte; immerhin aber hatte ich doch vor der Entdeckung +dieses geheimgehaltenen Etwas wie ein Blättchen gezittert. Auch war ich +mir bis dahin durchaus nicht klar darüber gewesen, ob es etwas Gutes +oder Schlechtes, etwas Rühmliches oder Schmähliches sei. Nun aber kam +mir, plötzlich, zu meinem großen Kummer unter Qualen die Erkenntnis, daß +dies alles _komisch_ und _beschämend_ war! Mein Instinkt sagte mir zwar +gleichzeitig, daß eine solche Auffassung falsch, unnatürlich und roh +sei; aber ich war geschlagen, vernichtet; das Denkvermögen, oder +vielmehr die Erkenntnisfähigkeit war in mir gleichsam gelähmt und schien +sich irgendwie verwickelt und verwirrt zu haben. Es war mir unmöglich, +mich gegen dieses Urteil aufzulehnen oder es auch nur gründlich zu +untersuchen: ich war wie betäubt und fühlte nur, daß man mein Herz +unmenschlich und schamlos verwundet hatte. Ich weinte ohnmächtige +Tränen. Zugleich war ich gereizt: machtlose Wut kochte in mir und +alsbald stieg sogar Haß auf, den ich zum erstenmal in meinem Leben +empfand, denn zum erstenmal in meinem Leben hatte ich ernstes Leid und +eine wirkliche Kränkung erfahren. In mir, dem unwissenden Kinde, war das +erste noch unbewußte, noch unentwickelte Gefühl mit roher Hand berührt, +das erste scheue mädchenhaft zarte Schamgefühl entblößt und entheiligt +und der erste und vielleicht sehr ernste ästhetische Eindruck ins +Lächerliche gezogen worden. Allerdings konnten die Lacher vieles nicht +wissen und meine Qualen nicht voraussehen. Hinzu kam noch ein besonderer +Umstand, über den ich mir selbst noch nicht ganz klar geworden war, oder +richtiger: den zu untersuchen ich mich bis dahin nicht recht getraut +hatte. In Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bett liegen und +verbarg das Gesicht in den Kissen. Frostschauer überliefen meinen Körper +und ich fieberte. Zwei Fragen quälten mich: was hatte diese +nichtsnutzige Blondine am Morgen im Walde zwischen mir und ^M–me^ M. +gesehen, was hatte sie sehen können? Und die zweite Frage: wie, auf +welche Weise, mit welchen Augen konnte ich jetzt noch ^M–me^ M. ins +Gesicht sehen, ohne auf der Stelle in demselben Augenblick vor Scham und +Verzweiflung zu vergehen? + +Ein ungewohnter Lärm auf dem Hof weckte mich aus der halben +Bewußtlosigkeit, in der ich mich befand. Ich stand auf und trat ans +Fenster. Der Hof war voll von Equipagen, Reitpferden, Stallknechten und +Kutschern: es sah aus, als wollten alle Gäste uns verlassen. Ein paar +Reiter saßen schon auf den Pferden, die übrigen Gäste nahmen in den +verschiedenen Wagen Platz ... – Da fiel mir ein, daß wir ja nach dem +Nachbardorf fahren sollten und eine gewisse Unruhe erfaßte mich: ich +begann, mit den Augen meinen Klepper zu suchen, aber der war nicht zu +sehen – folglich hatte man mich vergessen. Da hielt ich es nicht aus und +lief Hals über Kopf nach unten, ohne an alle unangenehmen Folgen und den +ganzen Vorfall noch weiter zu denken ... + +Unten erwartete mich eine vernichtende Nachricht: es gab für mich +diesmal weder ein Pferd, noch einen Platz in einem Wagen – alle waren +bereits besetzt und ich mußte das Vergnügen anderen abtreten. + +Von neuem Leid betroffen blieb ich an der Freitreppe stehen und blickte +traurig auf die lange Wagenreihe und die Reiter und Reiterinnen, deren +Tiere bereits unruhig tänzelten. + +Man wartete nur noch auf einen der Herren, der sich wohl etwas verspätet +hatte. Unten vor der Freitreppe stand ein Reitpferd, schäumte ins Gebiß, +scharrte mit dem Huf und zuckte bei jeder Kleinigkeit zusammen, wobei es +große Lust verriet, sich zu bäumen. Zwei Stallknechte hielten das Tier +am Zaum und zugleich sich selbst etwas bänglich nach Möglichkeit außer +dem Bereich seiner Hufe, wie denn überhaupt alle in achtungsvoller +Entfernung von ihm standen. + +Es hatte in der Tat seinen Grund, und einen sehr unangenehmen dazu, +weshalb ich nicht mitkonnte. Abgesehen davon, daß noch neue Gäste +angekommen waren, die die freien Plätze in den Wagen einnahmen, wollte +es das Unglück, daß zwei Reitpferde erkrankten, von denen das eine mein +Klepper war. Durch dieses Unglück wurde aber nicht ich allein betroffen: +auch für unseren neuen Gast, den blassen, jungen Mann, von dem ich +bereits gesprochen, stand kein Reitpferd mehr zur Verfügung. +Infolgedessen hatte sich unser Hausherr gezwungen gesehen, seinen +wilden, noch nicht ganz zugerittenen jungen Hengst dem Gast anzubieten, +wobei er freilich zur Beruhigung seines Gewissens hinzufügte, daß es ein +Ding der Unmöglichkeit sei, auf dem Tier zu reiten, und daß er schon +längst beschlossen habe, den Hengst wegen seiner Wildheit zu verkaufen, +sobald er nur einen Käufer finden würde. Doch der junge Mann erklärte +trotz der Warnung, daß er sich im Sattel sicher genug fühle, und im +übrigen auch völlig bereit sei, sich gleichviel auf was für einen +Pferderücken zu setzen, wenn er nur mitreiten könne. Da schwieg denn der +Hausherr – doch wie mir schien, spielte ein etwas zweideutiges +verschmitztes Lächeln um seine Lippen: er stand in Erwartung des +Reiters, der sich im Sattel so sicher wähnte, auf der Treppe, ließ auch +sein Pferd noch warten, rieb sich die Hände und blickte immer wieder +nach der Tür. Ähnliche Gedanken wie ihr Herr schienen auch die beiden +Stallburschen zu haben, die den Hengst hielten und sehr stolz darauf +waren, sich vor soviel Zuschauern als die Bändiger eines wilden Tieres +zeigen zu können, das jeden Augenblick einen Menschen totzutrampeln +vermochte. In ihren Augen aber schien das verschmitzte Lächeln des Herrn +sich widerzuspiegeln und sie guckten gleichfalls immer wieder nach der +Tür, in der der kühne Reiter doch bald erscheinen mußte. Übrigens +verhielt auch das Tier sich nicht anders, als habe es sich mit seinem +Besitzer samt den Stallburschen verabredet: es stand stolz und bis auf +weiteres ruhig mit hocherhobenem Kopf da, wie wenn es fühle, daß einige +Dutzend neugieriger Blicke auf ihm ruhten, und wie wenn es gerade auf +seinen schlechten Ruf stolz sei – tat also ganz so wie mancher +unverbesserliche Galgenstrick, der mit seinen Galgenstreichen prahlt. +Und es war, als wollte das Tier den Kühnen herausfordern, der es wagen +würde, ihm seine Freiheit zu nehmen. + +Dieser Kühne erschien endlich. Es war ihm peinlich, daß er die +Gesellschaft so lange hatte warten lassen, und indem er sich eilig die +Handschuh anzog, stieg er die Stufen hinab und sah erst auf, als er +schon die Hand nach dem Pferdehals ausstreckte und ein wildes Bäumen des +Tieres, begleitet von einem warnenden Schrei der Zuschauer, ihn +verblüfften. Der junge Mann trat einen Schritt zurück und betrachtete +verwundert den Hengst, der jetzt am ganzen Körper zitterte, wütend +schnaufte und wild die blutunterlaufenen Augen rollte, wobei er sich +immer wieder auf die Hinterbeine setzte und die Vorderbeine hob, als +wäre er im Begriff, sich im nächsten Augenblick loszureißen und in +wilden Sätzen davonzujagen – die Stallburschen womöglich hinter sich +herschleifend. Der junge Mann betrachtete ihn immer noch mit einem +gewissen Befremden: dann errötete er leicht, wie in einer kleinen +Verwirrung – sah auf, sah sich im Kreise um und sah die erschreckten +Damen ... + +„Es ist ein schönes Tier,“ sagte er, wie zu sich selbst, „und meiner +Meinung nach muß es prächtig sein, darauf zu reiten, – aber ... aber +wissen Sie was? _Ich_ werde es doch nicht versuchen,“ schloß er, sich +mit seinem stillen, freundlichen Lächeln, das seinem guten und klugen +Gesicht so vortrefflich stand, an unseren Hausherrn wendend. + +„Und dennoch halte ich Sie für einen vorzüglichen Reiter, mein Wort +darauf,“ versetzte dieser sichtlich erfreut und drückte unwillkürlich +und dankbar seinem Gast die Hand, „eben weil Sie auf den ersten Blick +erkannt haben, was für ein Tier es ist,“ fügte er stolz hinzu. „Werden +Sie es mir glauben, daß ich, der ich dreiundzwanzig Jahre lang Husar +gewesen bin, schon dreimal das Vergnügen hatte, dank seiner Gnaden auf +der Erde zu liegen, nämlich genau so oft, wie ich mich auf diesen ... +nichtsnutzigen Satan gesetzt habe. – Tankred, he! mein Freund, hier ist +man dir nicht gewachsen! Dein Reiter muß offenbar ein zweiter Ilja von +Murom[1] sein, der vorläufig noch in seinem uns unbekannten Dorf +Karatscharowo sitzt und wartet, bis dir die Zähne ausfallen. Na, führt +ihn fort! Wir haben genug von ihm! Habt ihn umsonst herausgeführt!“ rief +er den Stallburschen zu und rieb sich wieder selbstzufrieden die Hände. + +Ich muß hier bemerken, daß Tankred ihm nicht den geringsten Nutzen +brachte und ganz umsonst seinen Hafer fraß. Überdies hatte er, der alte +Husar, mit dem Ankauf dieses Pferdes seinen Ruhm als Pferdekenner +eingebüßt, da er für dieses Tier, das außer seiner Schönheit gar keinen +Wert besaß, eine märchenhafte Summe bezahlt hatte ... Nichtsdestoweniger +war er jetzt sehr zufrieden mit dem Tier, das seinen schlimmen Ruf +bewährte und sich somit immerhin einen gewissen Ruhm erwarb, gleichviel +welcher Art dieser auch war. + +„Wie, Sie wollen nicht mit uns reiten?“ rief die Blondine, der es sehr +darum zu tun war, daß ihr ^Cavalier servant^ gerade diesmal sie +begleitete, „haben Sie denn wirklich keinen Mut?“ + +„Bei Gott, diesmal hab’ ich ihn nicht!“ antwortete der junge Mann +lachend. + +„Und Sie sagen das im Ernst?“ + +„So wollen Sie denn wirklich, daß ich mir den Hals breche?“ + +„So setzen Sie sich schnell auf mein Pferd: fürchten Sie sich nicht, es +ist lammfromm. Wir halten nicht auf – im Nu ist umgesattelt! Ich werde +es auf Ihrem Pferde versuchen. Tankred kann doch nicht immer so +unhöflich sein!“ + +Gesagt – getan. Sie sprang aus dem Sattel und stand schon vor uns, noch +bevor sie zu Ende gesprochen. + +„Oh, da kennen Sie meinen Tankred schlecht, wenn Sie glauben, er werde +Ihren Damensattel sich auflegen lassen! Und übrigens kann ich auf keinen +Fall gestatten, daß Sie sich das Genick brechen – das wäre doch zu +jammerschade!“ versetzte unser Hausherr seiner Gewohnheit gemäß mit +affektierter Galanterie, die seiner Ansicht nach, gepaart mit einer +gewissen Derbheit, wenn nicht mitunter gar verfänglichen Ungeniertheit, +den alten Soldaten und „guten Kerl“ markierte, der, wie er sich +einbildete, besonders den Damen gefallen müsse. Das war nun einmal eine +seiner Marotten, die wir alle kannten. + +„Na, du, Schreihals – willst du’s nicht versuchen? Du wolltest doch so +gern mitkommen,“ wandte sich die unerschrockene Reiterin plötzlich an +mich, auf Tankred deutend. Sie meinte es mit ihrem Vorschlag wohl selber +nicht sonderlich ernst, sondern sprach ihn nur aus, um nicht so ganz +ohne weiteres das eigene Reitpferd wieder besteigen zu müssen, nachdem +sie nun doch schon unnütz abgesprungen war, und ferner, um auch mich +nicht „ungerupft“ zu lassen, der ich so vorwitzig gewesen war, mich +wieder vor ihr zu zeigen. + +„Du bist gewiß nicht so, wie ... na, wozu Namen nennen – wie ein +bekannter Held, und wirst dich nicht schämen, den Mut zu verlieren ... +noch dazu, wenn ‚man‘ dir zuschaut, schöner Page,“ fügte sie hinzu, mit +einem flüchtigen Blick auf ^M–me^ M., deren Wagen der Treppe am nächsten +hielt. + +Haß und Rachedurst hatten mein Herz erfüllt, als sie, in der Absicht, +Tankred gegen ihr Reitpferd einzutauschen, zu uns getreten war ... Wie +aber soll ich das wiedergeben, was ich bei dieser plötzlichen +Herausforderung empfand? Es wurde dunkel vor meinen Augen, als ich den +Blick bemerkte, den sie ^M–me^ M. zuwarf. Wie ein Blitz durchzuckte mich +die Idee ... ja, in einer Sekunde, in dem Bruchteil einer Sekunde, war +die Idee schon Wille geworden ... Ihr Blick wirkte auf mich wie ein +Funke auf ein Pulverfaß – oder war das Maß schon so zum Überlaufen voll, +daß ich bei diesem letzten Tropfen plötzlich wie mit einem Schlage +wieder ich selbst war und alles sich in mir aufbäumte – daß ich mit +einer einzigen Tat alle meine Feinde schlagen und mich vor allen Zeugen +an ihnen rächen wollte, indem ich zeigte, was für ein Held ich sei? Oder +war es vielleicht das, daß jemand mir in diesem Augenblick, von dem ich +noch nichts wußte, ein Stück Mittelalter durch irgendein Wunder oder +eine Zauberei offenbarte und ich in meinem erhitzten Kopfe Turniere, +Paladine, Knappen, schöne Edelfrauen, brechende Lanzen sah und +Schwertergeklirr, Geschrei und Beifallruf der Menge hörte und zwischen +all dem den schüchternen Schrei eines erschrockenen Herzens, der dem +Stolzen auf dem Kampfplatz süßer klingt als alle Siegesfanfaren? ... +Nein, ich weiß wirklich nicht, ob dieser Unsinn mir schon damals den +Kopf verwirrte, oder ob ich, wie mir scheint, nichts anderes dachte und +fühlte, als daß meine Stunde geschlagen hatte! Mein Herz stand still, +und dann gab ich mir einen Ruck und mit einem Sprunge war ich von der +Treppe und stand neben Tankred. + +„Ach, Sie glauben, ich fürchte mich?“ rief ich frech und stolz zugleich, +in einer Erregung, die mir die Sinne benahm und das Blut ins Gesicht +trieb. „Dann sollen Sie sehen!“ ... Und noch bevor jemand mich +zurückhalten konnte, hatte ich schon eine Hand in Tankreds Mähne und +einen Fuß im Steigbügel: Tankred bäumte sich, warf wild den Kopf in die +Luft, riß sich mit einem Ruck und Satz von den Stallknechten los und +raste vom Hof – ein Schrei des Entsetzens entrang sich allen Zuschauern. + +Gott weiß, wie es mir gelang, im Fluge noch den anderen Steigbügel zu +finden; ebensowenig begreife ich, wie ich nicht den Zaum verlor. Tankred +raste mit mir durch das offene Gittertor, bog scharf nach rechts zur +Seite und jagte mit hochgestrecktem Kopf blindlings längs dem Gitterzaun +weiter. Erst in diesem Augenblick hörte ich hinter mir das Geschrei der +fünfzig Stimmen: und dieser Schrei erweckte in meiner Brust soviel +Freude und Stolz, daß ich diesen verrückten Augenblick meiner Kindheit +nie vergessen werde. Das Blut stieg mir zu Kopf und betäubte, erstickte +meine Angst. Ich war mir meiner selbst nicht bewußt. Übrigens hatte das +alles, soweit ich mich erinnere, wirklich etwas Ritterliches. + +Indessen begann und endete mein Rittertum in kaum einer Minute – +anderenfalls wäre es dem Ritter auch sehr schlecht bekommen. Und auch so +verdanke ich meine Rettung nur einem Wunder. Zu reiten verstand ich +freilich, aber mein gewohnter Klepper erinnerte doch weit eher an ein +Lamm als an ein Reitpferd. Selbstverständlich wäre ich von Tankred aus +dem Sattel geworfen worden, wenn er dazu nur Zeit gehabt hätte. Am Ende +des Hofzaunes scheute er aber vor einem großen Stein am Wege, bäumte +sich und warf sich so wild herum, daß es mir noch jetzt ein Rätsel ist, +wie ich im Sattel blieb und nicht wie ein Ball drei Klafter weit zu +Boden flog, um zerschmettert liegen zu bleiben, und wie Tankred selbst +bei dieser plötzlichen wilden Wendung sich nicht einfach überschlug. So +aber jagte er zurück zum Gittertor, schüttelte wild den Kopf, warf die +Beine scheinbar wie sie wollten in die Luft und schien mit jedem Satz +und Seitensprung nur eines zu wollen: mich abzuschütteln, als wäre ich +ein Tiger, der ihm auf den Rücken gesprungen und sich mit allen Zähnen +und Pranken in sein Fleisch einkrallte. Noch ein Augenblick – und ich +wäre geflogen –! Doch schon sprengten mehrere Reiter zu meiner Rettung +herbei. Zwei von ihnen versperrten den Weg, zwei andere drängten ihre +Tiere so dicht heran, daß sie mir fast die Beine zerdrückten, und schon +hielten sie Tankred fest am Zaum. In wenigen Augenblicken waren wir +wieder vor der Freitreppe. + +Ich wurde aus dem Sattel gehoben, bleich und an allen Gliedern zitternd. +Tankred stand unbeweglich mit sich hebenden und senkenden Flanken, mit +bebenden roten Nüstern und schnaufendem Atem; dabei zitterten alle seine +Nerven wie vor Wut und Empörung über die ungestrafte Frechheit eines +Kindes, das ihn so beleidigt hatte! Ringsum ertönten noch immer Ausrufe +der Angst und des Schrecks und der Verwunderung. + +Da begegnete mein irrender Blick dem der ^M–me^ M., die erregt und +bleich aussah, und – nie werde ich diesen Augenblick vergessen! – in dem +Augenblick wurde ich feuerrot. Ich weiß nicht, was in mir vorging, aber +verwirrt und erschreckt durch eine neue Empfindung senkte ich beschämt +den Blick zu Boden. Doch mein Blick war bemerkt, war aufgefangen, war +mir wieder gestohlen worden! Aller Augen wandten sich ^M–me^ M. zu, und +als diese so plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet +sah, erschrak sie und errötete plötzlich selbst wie ein Kind, gleichsam +infolge einer Empfindung, die gegen ihren Willen über sie kam, obgleich +sie sich ganz unschuldig fühlte. Und in ihrer Verlegenheit zwang sie +sich zu einem Lachen ... Doch half ihr auch das nicht, ihr Erröten zu +verbergen ... + +Alles dies hätte einem unbeteiligten Beobachter natürlich sehr komisch +erscheinen müssen – aber da bewahrte mich ein höchst naiver und +unerwarteter neuer Ausfall der Ungezogenen vor dem allgemeinen +Gelächter, indem er den ganzen Zwischenfall in ein besonderes Licht +rückte. Sie, die mich zu meiner Tollkühnheit herausgefordert hatte und +die ganze Zeit über mein unversöhnlichster Feind gewesen war, stürzte +plötzlich zu mir, umschlang mich mit beiden Armen und bedeckte mich mit +Küssen. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, als ich ihre +Herausforderung annahm und den Handschuh aufhob, den sie mir mit ihrem +Blick auf ^M–me^ M. zuwarf. Und als ich auf Tankred dahinjagte, da war +sie vor Angst und Gewissensbissen schier ohnmächtig geworden. Jetzt +aber, nachdem alles überstanden war und sie wie alle anderen meinen +Blick auf ^M–me^ M. bemerkte, dazu meine Verwirrung und mein plötzliches +Erröten wahrnahm – jetzt, da sie dem Vorfall mit einer romantischen +Deutung einen ganz anderen Sinn beilegen konnte – jetzt geriet sie in +solches Entzücken ob meiner „Rittertat“, daß sie zu mir eilte und mich +in ihre Arme schloß, gerührt, stolz, begeistert! Einen Augenblick später +richtete sie sich schnell auf und wandte den übrigen, die sich um uns +drängten, ihr Gesicht mit der ernsthaftesten Miene zu, in der unendlich +viel kindlich naiver Stolz lag, und sagte, indes zwei kristallklare +Tränen an ihren Wimpern hingen, mit einer so ernsten, wichtigen Stimme, +wie ich sie von ihr noch nie gehört hatte: + +„^Mais c’est très sérieux, messieurs, ne riez pas!^“ Und sie deutete auf +mich, ohne zu gewahren, daß alle wie bezaubert vor ihr standen und nur +sie ansahen. Diese ihre unerwartete schnelle Bewegung, ihr ernstes +liebes Gesicht, ihre offenherzige Naivität und diese aufrichtigen Tränen +in ihren ewig lachenden Augen – alles das erschien ihnen als ein so +unerwartetes Wunder, daß alle sie ansahen, wie gebannt durch diesen +Zauber ihrer Leidenschaftlichkeit, ihres Blickes und ihrer Stimme. +Niemand konnte die Augen von ihr abwenden, so schön war sie in ihrer +Rührung und Begeisterung. Sogar unser alter Hausherr wurde rot wie eine +Tulpe. Und wie man später behauptete, soll er gesagt haben: „Zu seiner +Schande müsse er gestehen, daß er mindestens eine ganze Minute lang in +seinen schönen Gast verliebt gewesen sei.“ Ich aber war jetzt natürlich +ein Ritter, war ein Held! + +„Delorges! Toggenburg!“ ertönte es aus dem Kreise. + +Viele applaudierten. + +„Ja, ja, die junge Generation!“ bemerkte unser Hausherr. + +„Aber jetzt kommt er mit, jetzt muß er unbedingt mit uns mitkommen!“ +rief die Blondine schnell, „wir müssen ihm einen Platz verschaffen! Oder +er setzt sich zu mir aufs Pferd, auf meinen Schoß ... ach, nein, nein! +Das geht ja nicht!“ ... unterbrach sie sich, auflachend, und konnte +dabei ihr Lachen nicht bezwingen bei der Erinnerung an unsere erste +Bekanntschaft. Doch während sie lachte, streichelte sie zärtlich meine +Hand, sichtlich von Herzen bemüht, meine Freundschaft zu gewinnen und +die Kränkung vergessen zu machen. + +„Unbedingt! Unbedingt!“ riefen gleich mehrere Stimmen, „den Platz hat er +sich erobert!“ + +Und im Augenblick war alles besorgt: jenes selbe ältere Fräulein, das +mich mit ihrer schönen Freundin bekannt gemacht hatte, wurde sogleich +von der ganzen Jugend mit Bitten bestürmt, ihren Platz mir abzutreten +und statt meiner zu Haus zu bleiben. Zu ihrem größten Ärger blieb ihr +denn auch nichts anderes übrig, als den Bitten Gehör zu geben und mit +sauersüßem Lächeln auszusteigen – innerlich wohl dem Bersten nahe vor +Wut über mich. Ihre Beschützerin, meine gewesene Feindin und nun größte +Freundin, rief ihr jedoch, als sie an ihr vorüberritt, wie ein Kind +lachend zu, daß sie sie beneide und gern mit ihr tauschen wollte, denn +es werde gleich regnen und dann würden wir alle naß. + +Ihre Prophezeiung traf wirklich ein. Etwa eine Stunde später überraschte +uns ein Platzregen und wir mußten mehrere Stunden in den Bauernhäusern +warten. Erst gegen zehn Uhr kehrten wir zurück, in feuchter, +frisch-kühler Regenluft. Kurz bevor wir aufbrachen, trat ^M–me^ M. zu +mir und fragte mich verwundert, warum ich nichts weiter angezogen hätte, +als meine leichte Matrosenbluse. Ich sagte, ich hätte keine Zeit gehabt, +meinen Mantel mitzunehmen. Da nahm sie eine Nadel und steckte meinen +Kragen höher fest und nahm von ihrem Halse ein kleines, seidenes Tuch, +das sie mir um den Hals band. Sie beeilte sich dabei aber so sehr, daß +ich ihr nicht einmal danken konnte. + +Zu Haus angekommen, suchte ich sie und fand sie schließlich im kleinen +Salon, im Gespräch mit der Blondine und dem freundlichen jungen Mann, +der den Ruf eines guten Reiters damit eingebüßt hatte, daß er Tankred +nicht zu reiten wagte. Ich trat an sie heran, bedankte mich und gab ihr +das Halstuch zurück. Ich schämte mich jetzt des Vorgefallenen und wollte +schnell fortgehen, nach oben auf mein Zimmer, um dort in aller Ruhe und +Muße über irgend etwas, was ich im Augenblick selbst nicht zu nennen +vermocht hätte, nachzudenken und mir darüber Klarheit zu verschaffen. +Ich war so voll von neuen Eindrücken. Indem ich das Tuch zurückgab, +errötete ich natürlich wieder bis über die Ohren. + +„Ich wette, der Junge hat das Ding behalten wollen,“ bemerkte der junge +Mann lachend, „man sieht es ja seinen Augen an, wie leid es ihm tut, +sich von Ihrem Tuch trennen zu müssen ...“ + +„Natürlich, natürlich doch!“ fiel ihm die Blondine ins Wort. „So ein +Schlingel! Ach du!“ ... sagte sie scheinbar sehr angehalten und +schüttelte mißbilligend den blonden Kopf, verstummte aber sogleich unter +dem ernsten Blick der ^M–me^ M., der sie bat, ihre Scherze mit mir nicht +wieder zu weit zu treiben. + +Ich ging schnell fort. + +„Wohin läufst du denn! So lauf doch nicht weg!“ – damit holte sie mich +im Nebenzimmer ein und erfaßte freundschaftlich meine beiden Hände – +„hättest du es doch einfach nicht zurückgegeben, wenn du’s so gern +behalten wolltest! Hättest doch sagen können, daß du es verloren hast +oder irgendwohin gelegt, und damit basta! Und das hast du nicht +verstanden? Du bist mir mal ein Tor!“ + +Und sie gab mir mit dem Finger einen leichten Backenstreich und lachte, +weil ich wieder feuerrot wurde. + +„Jetzt sind wir doch gute Freunde, nicht wahr? Hat unsere Feindschaft +ein Ende, sag’!? Ja oder nein?“ + +Ich lachte und drückte ihr ohne ein Wort die Hand. + +„Nun, das ist gut! ... Aber warum bist du so bleich geworden und warum +zitterst du? Hast du dich erkältet?“ + +„Ja, ich fühle mich nicht ganz wohl ...“ + +„Ach, du Armer! Das kommt von der Aufregung! Weißt du was? Geh jetzt +lieber gleich ins Bett, warte nicht erst auf das Abendessen, und wenn du +dich gut ausschläfst, wird es vergehen. Komm!“ + +Sie führte mich nach oben, und wie es schien, konnte sie mir nicht genug +Liebes erweisen. Während sie mich zum Auskleiden allein ließ, lief sie +nach unten in die Küche und brachte mir heißen Tee, den ich, als ich +schon im Bett lag, trinken mußte. Dann brachte sie mir noch eine warme +Decke und deckte mich sorgfältig zu. Ihre liebevolle Sorge wunderte und +rührte mich nicht wenig, – oder vielleicht waren auch meine Nerven nach +allen Erlebnissen an diesem Tage und obendrein noch durch das Fieber +besonders empfänglich dafür. Ich schlang plötzlich meine Arme um ihren +Hals, als wäre sie mein liebster und bester Freund, und mit einem Male +kamen alle Eindrücke des Tages wieder und stürmten auf mein ermattetes +Herz: ich war den Tränen nahe und schmiegte mich fest an ihre Brust. Sie +erriet meine überwallende Empfindung und ich glaube, mein Wildfang war +selbst beinahe gerührt. + +„Du bist ein guter Junge,“ flüsterte sie mir zu und sah mich mit stillen +Augen an, „so sei mir nun nicht mehr böse, ja? wirst mir nicht mehr böse +sein?“ + +Mit einem Wort: uns verband von nun an die treueste, zärtlichste +Freundschaft. + +Es war ziemlich früh am Morgen, als ich erwachte, aber die Sonne +erfüllte das Zimmer schon mit goldigem Licht. Ich sprang gesund und +munter aus dem Bett, von der Erkältung empfand ich nichts mehr, statt +dessen aber eine unendliche, unerklärliche Freude. Ich dachte an den +ereignisreichen letzten Tag und Abend und ich hätte ein ganzes Glück +dafür hingegeben, wenn ich in diesem Augenblick wieder meinen neuen +Freund, unsere blondlockige Schönheit hätte umarmen können. Aber es war +noch zu früh und sie schliefen wohl noch alle. Ich kleidete mich schnell +an, ging in den Garten und von dort in den Wald. Ich schlug die Richtung +ein, in der der Wald am dichtesten war, der Duft der Bäume harziger, und +wo die Sonnenstrahlen neckisch und nur wie verstohlen hier und da durch +das dichte Blattgewirr lugten. Es war ein wundervoller Morgen. + +Ich ging weiter und weiter, bis ich schließlich am anderen Waldrande +anlangte, auf einem Bergabhange nicht weit vom Fluß. Die Moskwa ist dort +keine zweihundert Schritte vom Waldesrande entfernt, wenn man den Abhang +hinabgeht. Auf dem anderen Ufer wurde Heu gemäht. Ich blieb stehen und +schaute hinüber: ich sah, wie ganze Reihen scharfer Sensen bei jedem +Ausholen der Schnitter in der Sonne aufblitzten und dann wieder +verschwanden, gleich kleinen glänzenden Schlangen, die schnell immer von +neuem ins Gras huschten, als wollten sie sich verstecken, und wie das +gemähte Gras in dicken bauschigen Büscheln zur Seite flog und in langen +geraden Streifen liegen blieb. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so +hinübergeschaut haben mochte, als ich plötzlich aus meinen Träumen zur +Besinnung kam: aus dem Walde, ungefähr aus der Richtung des Durchhaus, +der sich zwischen dem Fahrweg und dem Herrenhause hinzog, vernahm ich +Pferdegeschnauf und ungeduldiges Scharren mit dem Huf. Ich konnte jedoch +nicht sagen, ob der Reiter sein Tier gerade erst anhielt, oder ob schon +längere Zeit das Stampfen und Schnaufen zu hören gewesen war, das ich – +in mich selbst versunken, wie ich, während ich den Schnittern zusah, +dagestanden – nur nicht gehört hatte. Neugierig kehrte ich zurück in den +Wald und schon nach wenigen Schritten vernahm ich Stimmen, die schnell, +aber leise durch die Stille erklangen. Ich ging noch näher und bog die +Äste der letzten Büsche zur Seite und – erschrocken wich ich zurück – +durch die Zweige schimmerte ein weißes Kleid: eine weiche Frauenstimme +schlug an mein Ohr und ließ mein Herz erzittern. Es war ^M–me^ M. Sie +stand neben einem Reiter, der vom Pferde herab schnell auf sie +einsprach, und zu meiner Verwunderung erkannte ich in ihm N., jenen +jungen Mann, der uns tags zuvor verlassen hatte, begleitet von allen +jungen Damen und auch von ^M–r^ M. Hatte man nicht gesagt, er müsse +irgendwohin, weit nach dem Süden Rußlands reisen? Wahrlich, es war nur +zu erklärlich, daß ich mich recht verwunderte, als ich ihn wieder bei +uns und noch dazu so früh am Morgen und allein mit ^M–me^ M. im Walde +erblickte! + +Sie schien geweint zu haben und sah erregt aus, aber so schön hatte ich +sie noch nie gesehen. Der junge Mann hielt ihre Hand in der seinen und +führte sie, im Sattel sich herabneigend, an seine Lippen. Ich hatte sie +beim Abschied überrascht. Ich glaube, sie beeilten sich. Endlich zog er +aus der Brusttasche einen Brief, reichte ihn ^M–me^ M., umfing sie mit +dem einen Arm, sich wie vorher im Sattel herabbeugend, und küßte sie – +fest und lange. Einen Augenblick später wippte die Peitsche und er +sprengte schnell an mir vorüber, auf und davon. Sie aber stand noch eine +Weile und blickte ihm nach, dann wandte sie sich um und kehrte langsam, +nachdenklich und traurig zum Hause zurück. Nach wenigen Schritten schien +sie plötzlich zu sich zu kommen, wie aus einem Traum zu erwachen – und +sie bog schnell die Zweige der Büsche am Durchhau zur Seite und ging +durch den Wald. + +Ich folgte ihr, erstaunt und verwirrt durch das, was ich gesehen hatte. +Mein Herz pochte laut, wie nach einem großen Schreck. Und dennoch war +ich wie erstarrt und betäubt: meine Gedanken waren zerstreut und ich +konnte sie nicht sammeln; aber ich erinnere mich, daß ich furchtbar +traurig war. Hin und wieder sah ich ihr weißes Kleid durch das Grün +schimmern. Ich folgte ihr ganz willenlos, fast mechanisch, und hatte +dabei nur den einen Gedanken, sie nicht aus dem Auge zu verlieren und +doch selbst nicht von ihr gesehen zu werden. Endlich trat sie auf den +Weg, der aus dem Walde in den Garten führte. Ich wartete eine Weile, +dann trat ich gleichfalls aus dem Walde. In demselben Augenblick +bemerkte ich auf dem gelben Kies des Weges ein geschlossenes Kuvert, das +ich auf den ersten Blick erkannte – es war dasselbe, das vor etwa zehn +Minuten N. ^M–me^ M. eingehändigt hatte. + +Ich hob es auf, betrachtete es von allen Seiten: ein weißes Kuvert ohne +Aufschrift, ohne ein Zeichen, dem Format nach nicht sehr groß, aber +recht dick und schwer, wie wenn mindestens drei Bogen Postpapier in ihm +waren. + +Was enthielt dieser Brief? Vielleicht das ganze Geheimnis! Vielleicht +war in ihm alles das ausgesprochen, was N. in den wenigen Minuten des +kurzen Wiedersehens nicht zu sagen gewagt hatte. Er war ja dem Anscheine +nach nicht einmal abgestiegen ... Sollte er sowenig Zeit gehabt haben +oder fürchtete er vielleicht bei einem längeren Abschied seinem +gegebenen Wort nicht treu bleiben zu können – Gott mag es wissen ... + +Ich blieb stehen, legte den Brief mitten auf den Weg, gerade auf die +sichtbarste Stelle und versteckte mich hinter einem Baum, so daß ich den +Brief im Auge behalten konnte, denn ich dachte, ^M–me^ M. werde bald +bemerken, daß sie ihn verloren hatte, und dann, um ihn zu suchen, auf +demselben Wege in den Wald zurückkehren. Ich hielt aber das Warten nicht +lange aus, hob den Brief wieder auf, steckte ihn in die Tasche und lief +ihr nach. Sie war aber schon im Garten und ging in der großen Allee +geradeswegs zum Hause, ging schnell, doch mit gesenktem Kopf. Da wußte +ich nicht, was ich tun sollte. Sie einholen und ihr den Brief geben? Das +hätte verraten, daß ich alles gesehen, daß ich alles wußte. Wie sollte +ich ihr dann noch in die Augen blicken? und was würde sie von mir +denken? Ich hoffte immer noch, daß sie zu sich kommen, sich des Briefes +erinnern und dann bemerken werde, daß sie ihn verloren hatte. In dem +Falle hätte ich ihn unbemerkt fallen lassen: und sie würde ihn sogleich +gefunden haben. Aber nein, sie dachte offenbar nicht an den Brief! Sie +näherte sich schon dem Hause, und auf der Terrasse hatte man sie bereits +erblickt. + +An diesem Morgen waren alle viel früher aufgestanden, denn am Abend nach +der mißlungenen Ausfahrt hatte man sogleich einen neuen Ausflug +verabredet, wovon ich noch nichts wußte. Alle hatten sich schon zur +Abfahrt bereitgemacht und saßen gerade beim Frühstück auf der Terrasse. +Ich wartete gute zehn Minuten, damit man mich nicht zusammen mit ^M–me^ +M. aus dem Garten kommen sah, machte einen Umweg und näherte mich von +einer anderen Seite dem Hause. Sie ging auf der Terrasse unruhig hin und +her, sah bleich und erregt aus und aus allem war zu ersehen, daß sie +sich Gewalt antat, um ihre Erregung und Angst nicht zu verraten; dennoch +sprach aus ihren Augen, ihrem unruhigen Gang, aus jeder Bewegung soviel +Qual und Pein, daß sie wohl jedem, der sie beobachtet hätte, aufgefallen +wäre. Sie stieg die Stufen hinab und ging ein paar Schritte auf dem Wege +in den Garten; ihre Augen suchten angstvoll und sogar unvorsichtig und +auffällig auf dem Kies und dem Fußboden der Terrasse. Da wußte ich: +jetzt endlich vermißte sie den Brief und fürchtete wohl, ihn in der Nähe +des Hauses verloren zu haben – ja, sie schien davon überzeugt zu sein. + +Jemand machte die Bemerkung, und nach ihm wiederholten sie alle anderen, +daß sie bleich und nervös aussehe. Es folgten Fragen nach ihrer +Gesundheit, lästige Ratschläge. Sie mußte beruhigen, scherzen, lachen, +mußte eine heiter gelassene Miene zur Schau tragen. Zuweilen flog ihr +Blick zu ihrem Mann hinüber, der am anderen Ende der Terrasse sich mit +zwei Damen unterhielt, und dann überlief wieder jenes Zittern ihren +Körper und jene große Befangenheit kam über sie, wie an dem Abend, als +er unerwartet hier eingetroffen war. Ich stand, die Hand in der Tasche, +in der ich den Brief krampfhaft festhielt, etwas abseits auf der +Terrasse und flehte das Schicksal an, daß sie mich endlich bemerken +möge. Ich wollte sie beruhigen, trösten, und war’s auch nur mit einem +Blick, oder ihr, wenn es anging, heimlich ein paar Worte zuflüstern. +Doch als sie mich dann zufällig ansah, da zuckte ich zusammen und senkte +den Blick. + +Ich sah ihre Qual und täuschte mich nicht in meiner Annahme. Auch jetzt +weiß ich von ihrem Geheimnis nicht mehr als damals, nichts weiter als +das, was ich soeben wiedergegeben. Aber ihr Verhältnis zu N. war +vielleicht doch nicht von der Art, wie man es auf den ersten Blick +vermuten könnte. Vielleicht war dieser Kuß ein letzter Abschiedskuß, ein +dürftiger Lohn für ein Opfer, das er ihrer Ruhe und Ehre brachte? Er +verließ sie. Er reiste irgendwohin, weit fort, vielleicht fürs ganze +Leben, um sie nie wiederzusehen. Und schließlich, dieser Brief, den ich +kampfhaft umklammerte – wer weiß, was er enthielt? Wer konnte da +urteilen? Zweifellos wäre die plötzliche Aufdeckung ihres Geheimnisses +ein entsetzlicher, ein vernichtender Schlag für sie gewesen. Ich sehe +noch heute ihr Gesicht vor mir, wie sie dort ging und stand: nein, mehr +konnte man nicht leiden! Fühlen, wissen, überzeugt sein, und wie auf +seine Hinrichtung darauf warten, daß in einer Viertelstunde oder schon +in der nächsten Minute alles der Öffentlichkeit preisgegeben sein würde +– der Brief konnte doch jeden Augenblick von jemandem gefunden werden! +Er war ohne Aufschrift, man würde ihn erbrechen und dann ... was dann? +Welche Hinrichtung könnte furchtbarer sein, als die, die sie erwartete? +Sie stand und ging hier mitten unter ihren zukünftigen Richtern. Nach +wenigen Minuten würden alle diese lächelnden, schmeichelnden Gesichter +streng und unerbittlich aussehen. Spott, Bosheit und eisige Verachtung +würde sie in ihnen lesen und dann würde ewige, hoffnungslos dunkle Nacht +ihr Leben abschließen ... Damals freilich begriff ich das alles noch +nicht so, wie jetzt. Ich konnte es nur ahnen und Mitleid mit ihr +empfinden, tiefes, unsagbares Mitleid mit ihrer Angst, die ich nicht +einmal ganz verstand. Doch was auch immer ihr Geheimnis gewesen sein mag +– durch jene qualvolle Stunde, deren Zeuge ich war und die ich niemals +vergessen werde, hat sie viel gesühnt, wenn hier überhaupt etwas zu +sühnen war. + +Plötzlich erscholl der fröhliche Ruf zur Abfahrt. Ein lautes +Stimmengewirr war die Antwort, und unter Scherzen und Lachen brach man +auf. In wenigen Minuten hatten alle die Terrasse verlassen. ^M–me^ M. +weigerte sich, mitzufahren und gestand schließlich, daß sie sich nicht +wohl fühle. Doch Gott sei Dank, alle beeilten sich und niemand +belästigte sie weiter mit Fragen oder Ratschlägen: dazu hatten sie jetzt +keine Zeit. Nur wenige blieben zu Haus. Ihr Mann war zu ihr getreten und +sagte ihr irgend etwas: sie erwiderte, daß ihr Unwohlsein schnell +vergehen werde, er solle sich deshalb nicht beunruhigen; hinlegen wolle +sie sich nicht, sie werde in den Garten gehen, allein ... oder mit mir +... Dabei sah sie sich nach mir um. Ich errötete vor Freude: das war ja +die beste Gelegenheit, die sie mir damit bot! Einen Augenblick später +machten wir uns auf den Weg. + +Sie ging denselben Weg, den sie gekommen war, sie schien sich +unwillkürlich jeder Allee, jedes Umweges im Garten, jedes Fußsteiges zu +erinnern, und sie ging, ohne den Blick vom Boden zu erheben, ohne mich +zu beachten – vielleicht hatte sie es schon vergessen, daß ich mit ihr +ging. + +Als wir an den Waldrand kamen, wo ich den Brief gefunden hatte und wo +der Kiesweg aufhörte, blieb sie plötzlich müde stehen und sagte mit +einer Stimme, die mir ins Herz schnitt, so verzweifelt und hoffnungslos +traurig klang sie, daß sie sich schlecht fühle und zurückkehren wolle. +Doch kaum waren wir wieder beim Gartenzaun angelangt, da blieb sie von +neuem stehen und starrte vor sich hin. Ein wehes, qualvolles Lächeln +zuckte um ihre Lippen und wie erschöpft und wie aus Erschöpfung sich +allem ergebend, sich in alles fügend, was auch über sie hereinbrechen +sollte, kehrte sie stumm zum Walde zurück, diesmal ohne mir ein Wort zu +sagen, ohne mich zu beachten ... + +Ich hätte mich selbst zerreißen mögen, und doch verfiel ich nicht auf +einen Ausweg ... + +Wir gingen, oder richtiger, ich führte sie an jene Stelle, wo ich vor +etwa einer Stunde gestanden und plötzlich den Hufschlag gehört hatte. +Nicht weit von dort war am Fuß einer alten Ulme ein bankartig gehauener +großer Feldstein, von Hagebutten, wildem Jasmin und Efeu umgeben. (Der +Wald hatte eine Menge solcher „Überraschungen“, wie Bänke, Grotten, +kleine Brücken und ähnliches.) Sie setzte sich auf die Bank und sah +geistesabwesend auf das entzückende Landschaftsbild, das sich uns bot. +Nach einer Weile schlug sie das Buch auf und tat, als läse sie, aber sie +saß reglos, wandte weder ein Blatt, noch las sie: sie wußte wohl selbst +nicht, was sie tat. Es war gegen halb zehn Uhr. Die Sonne stand schon +hoch am klaren, endlos hohen blauen Sonnenhimmel und schien in ihrem +eigenen Feuer zu verbrennen. Die Schnitter waren bereits weit, man +konnte sie von unserem Ufer kaum noch sehen. Ununterbrochen folgten +ihnen die langen Streifen des gemähten Grases und wenn die Luft sich ab +und zu wie in einem leisen Wehen regte, dann trug sie frischen Heuduft. +Ringsum aber ertönte unermüdlich das Zwitschern jener, die „weder säen, +noch ernten“ und frei sind wie die Luft, in der sie fliegen. Es lag +solch ein seliges Wohlsein in der ganzen Natur! + +Ich blickte scheu auf die arme Frau, die allein wie eine Tote inmitten +dieses frohen Lebens war: an ihren Wimpern hingen Tränen, die ihr das +Leid aus den Augen gepreßt. In meiner Macht war es, diese arme, traurige +Seele aufzurichten und zu beglücken, und doch wußte ich nicht, wie ich +es anfangen sollte, und ich quälte mich entsetzlich. Hundertmal war ich +schon im Begriff, zu ihr zu treten, um ihr den Brief zu übergeben, und +jedesmal stieg mir dann die Röte wie Feuer ins Gesicht. + +Plötzlich erleuchtete mich ein guter Gedanke: ich war auf ein Mittel +verfallen und wie erlöst! + +„Ich werde Ihnen Blumen pflücken! Wollen Sie?“ fragte ich sie so froh, +daß sie aufsah und mich anblickte. + +„Gut,“ sagte sie endlich mit müder Stimme, kaum merkbar lächelnd, und +wieder sah sie ins Buch. + +„Sonst wird hier auch das Gras gemäht und dann mähen sie alle Blumen +nieder!“ rief ich fröhlich und sprang davon. + +Bald hatte ich schon eine ganze Menge gepflückt, wenn es auch nur ein +Strauß einfacher, unscheinbarer Feldblumen war, die man wohl kaum in +einer Vase ins Zimmer stellen würde. Und doch, wie froh schlug mein +Herz, als ich die Blumen suchte und zum Strauße zusammenband! +Heckenrosen und wilden Jasmin brach ich. Dann lief ich zu einem nahen +Kornfeld. Dort, das wußte ich, blühten Kornblumen. Die pflückte ich, und +dazu lange goldgelbe Ähren, die schönsten suchte ich aus. Am Wegrande +fand ich auch ein ganzes Büschel Vergißmeinnicht und mein Strauß konnte +sich eigentlich schon sehr wohl sehen lassen. Weiter im Felde fand ich +hellblaue Glockenblumen und wilde Nelken und unten am Flußufer gelbe +Wasserrosen. Endlich, schon auf dem Rückwege, als ich noch auf einen +Augenblick in den Wald trat, um einige Silberahornzweige zu brechen und +sie unten kranzartig um die Blumen zu legen, fand ich wilde +Stiefmütterchen und in ihrer Nähe, durch ihren Geruch aufmerksam +gemacht, im Grase ganz versteckt, süß duftende Veilchen, die vom Tau +noch feucht waren. Mein Strauß war fertig. Mit dünnen langen Gräsern +umwand ich die Stiele und zwischen die Blumen, ganz vorsichtig, steckte +ich den Brief, so daß man ihn deutlich sehen konnte, wenn man dem Bukett +nur einige Beachtung schenkte. + +So brachte ich es ^M–me^ M. + +Unterwegs schien es mir, daß der Brief doch gar zu auffallend +hervorragte: deshalb verdeckte ich ihn etwas mehr mit den Blüten. Als +ich mich ihr schon näherte, schob ich ihn noch etwas tiefer hinein, und +als ich schon ganz nahe bei ihr war, stieß ich ihn so tief in den +Strauß, daß man von ihm nichts mehr sehen konnte. Das Blut schoß mir +wieder ins Gesicht, ich wollte es mit den Händen bedecken und sogleich +fortlaufen, aber sie sah nur so zerstreut auf meine Blumen, als habe sie +ganz vergessen, daß ich sie für sie gepflückt hatte. Mechanisch hob sie +die Hand, nahm, fast ohne aufzusehen, mein Geschenk in Empfang und legte +es achtlos auf die Bank – und wieder sah sie ins Buch, wie in Gedanken +verloren. Ich hätte weinen mögen vor lauter Ärger über den Mißerfolg +meines Planes. „Wenn der Strauß nur bei ihr bleibt,“ dachte ich, „wenn +sie ihn nur nicht vergißt!“ Ich legte mich in der Nähe der Bank ins +Gras, schob die rechte Hand unter den Kopf und schloß die Augen, als +wollte ich schlafen. Dabei aber beobachtete ich sie heimlich +unausgesetzt. + +Es verging eine geraume Zeit, vielleicht zehn Minuten; wie mir schien, +wurde ihr Gesicht immer bleicher ... Plötzlich kam ein glücklicher +Zufall mir zu Hilfe. + +Es war das eine große goldbraune Hummel, die ein freundliches Lüftchen +zu uns führte. Sie summte zuerst über meinem Kopf, dann flog sie zu +^M–me^ M. Diese schlug mit der Hand nach ihr, schlug noch einmal, aber +die Hummel wurde wie zum Trotz nur noch zudringlicher. Da griff ^M–me^ +M. nach meinem Strauß, um mit ihm das Tier zu verscheuchen. In dem +Augenblick löste sich aus den Blumen der Brief und fiel gerade auf das +aufgeschlagene Buch. Ich zuckte zusammen. Sie blickte, stumm vor +Verwunderung, bald auf den Brief, bald auf die Blumen und schien ihren +Augen nicht zu trauen. Plötzlich wurde sie feuerrot, erhob schnell den +Blick und sah sich nach mir um. Doch schon hatte ich die Augen +geschlossen und tat, als schliefe ich fest: für keinen Preis hätte ich +ihr jetzt offen in die Augen geschaut. Mein Herz pochte laut und schien +doch stillstehen zu wollen – ich hielt den Atem an. Ich weiß nicht, wie +lange ich so lag: zwei bis drei Minuten vielleicht. Endlich wagte ich +es, ganz, ganz vorsichtig die Augen zu öffnen. Sie saß und las den +Brief, und an ihren glühenden Wangen und glänzenden Augen, die +tränenfeucht waren, ihrem verklärten Gesicht, in dem jeder Zug vor +freudiger Erregung zu beben schien, erriet ich, daß der Brief ihr Glück +gab und ihr Kummer wie eine trübe Wolke verscheucht wurde. Ein +schmerzlich süßes Gefühl schlich in mein Herz und es fiel mir schwer, +mich noch weiter schlafend zu stellen ... + +Niemals werde ich diese Stunde vergessen! + +Plötzlich hörte ich rufen, nicht weit von uns erklangen Stimmen: + +„^M–me^ M.! ^Natalie! Natalie!^“ + +Sie antwortete nicht, stand aber schnell auf, trat zu mir und beugte +sich über mich. Ich fühlte es, daß sie mir gerade ins Gesicht sah. Meine +Lider wollten schon zucken, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen und +rührte mich nicht. Ich versuchte, möglichst gleichmäßig und ruhig zu +atmen, aber das Herz wollte mich ersticken mit seinen ungestümen +Schlägen. Da brannten plötzlich Tränen und ein Kuß auf meiner Hand, die +auf meiner Brust lag. Und noch einmal, zweimal küßte sie mir die Hand. + +„^Natalie! Natalie!^ Wo bist du?“ klang es wieder. + +„Gleich!“ sagte ^M–me^ M. mit ihrer weichen, dunklen, von Tränen +durchzitterten Stimme, und so leise, daß nur ich es hören konnte. + +Da stockte mein Herz und verriet mich: heiß trieb es mir all mein Blut +ins Gesicht. Im nächsten Augenblick glühte ein schneller heißer Kuß auf +meinen Lippen. Ich schlug vor Schreck mit einem schwachen Schrei die +Augen auf, doch da fiel auf sie etwas seidig Weiches – es war jenes +kleine Tuch –, als sollte es meine Augen vor der Sonne schützen. Einen +Augenblick später war sie schon fort. Ich vernahm nur noch das Geräusch +eilig sich entfernender Schritte. Dann war ich allein ... + +Ich riß das Tuch vom Gesicht und küßte es außer mir vor Entzücken. Ich +war wie fassungslos! ... Lange lag ich im Grase, hatte die Ellbogen +aufgestützt und schaute sinnverloren und ohne mich zu rühren geradeaus +auf die Hügel, die Felder und Wiesen, den Fluß, der sich zwischen ihnen +in großen Biegungen hinwand und weit, soweit das Auge nur folgen konnte, +sich hinschlängelte, zwischen neuen Bergen und Gütern und Dörfern, deren +Häuser in der sonnenhellen Ferne wie kleine Punkte vom Grün sich +abhoben, schaute auf die blauen kaum sichtbaren Wälder, die wie in Rauch +gehüllt am Horizonte sich hinzogen: und eine seltsam süße Stille, die +aus der feierlichen Ruhe der Landschaft hervorzugehen schien, beruhigte +allmählich mit einer unendlichen Sanftheit mein erregtes Herz. Wie eine +Erleichterung war es, ich atmete freier ... Aber meine ganze Seele +begann, sich seltsam dumpf und süß zu sehnen, als sähe sie etwas, was +sie noch nie gesehen, als wäre plötzlich ein Ahnen in ihr erwacht. +Furchtsam und doch voll Freude begann mein Herz etwas Geheimnisvolles zu +erraten, leicht bebend vor Erwartung ... Und plötzlich weitete sich +meine Brust, und in ihr wogte und schmerzte es, als wäre sie durchbohrt +– und Tränen, selige Tränen entströmten meinen Augen. Ich bedeckte das +Gesicht mit den Händen und zitternd wie ein Grashalm gab ich mich +wehrlos der ersten Erkenntnis und Offenbarung des Herzens hin, dem +ersten noch unklaren Einblick in meine Menschennatur. Mit diesem +Augenblick endete meine Kindheit. – – – – – – – – – – – – – – – + + * * * * * + +Als ich zwei Stunden später ins Haus zurückkehrte, befand ^M–me^ M. sich +nicht mehr unter den Gästen. Sie war mit ihrem Mann nach Moskau +gefahren, wie es hieß, auf irgendeine plötzlich eingetroffene Nachricht +hin. Ich habe sie nie wiedergesehen. + + + + + Weihnacht und Hochzeit + + +Vor ein paar Tagen sah ich einer Trauung zu ... oder nein! Ich werde +Ihnen zuerst von einer Weihnachtsfeier erzählen. Eine Trauung ist ja an +sich sehr schön und auch diese gefiel mir sehr ... aber das andere +Erlebnis ergriff mich doch noch mehr. Als ich der Trauung zusah, wurde +ich an jene Weihnachtsfeier erinnert. Doch ich will erzählen, wie das +zuging. + +Vor etwa fünf Jahren erhielt ich eines Tages zwischen Weihnacht und +Neujahr eine Einladung zu einem Kinderball, der in dem Hause einer mir +bekannten, angesehenen Familie stattfinden sollte. Der Hausherr war eine +einflußreiche Persönlichkeit, die gute Verbindungen besaß, einen großen +Bekanntenkreis hatte, eine gewichtige Rolle in der Gesellschaft spielte +und alle möglichen Intrigen zu spinnen pflegte, so daß man ohne weiteres +annehmen konnte, dieser Kinderball sei nur ein Vorwand für die Eltern, +namentlich für die Herren Väter, einmal ganz harmlos in größerer Anzahl +zusammenzukommen und bei der Gelegenheit ganz zufällig über allerlei +bemerkenswerte Dinge und Ereignisse zu reden. Da mich aber besagte Dinge +und Ereignisse nichts angingen und ich unter den Anwesenden so gut wie +gar keine Bekannten vorfand, verbrachte ich den Abend in der +Gesellschaft ziemlich ungestört und mir selbst überlassen. Dasselbe tat +auch noch ein anderer Herr, der, wie mir schien, sich weder durch Rang +noch Namen auszeichnete und wohl gleich mir nur durch einen Zufall auf +diesen Kinderball geraten war ... Er fiel mir sofort auf. Sein Äußeres +machte einen guten Eindruck: er war groß von Wuchs, hager, auffallend +ernst und sehr gut gekleidet. Man sah ihm deutlich an, daß es ihn nicht +nach Zerstreuung und fröhlicher Unterhaltung verlangte. Wenn er sich in +einen stilleren Winkel zurückzog, nahm sein Gesicht, dessen dichte +schwarze Brauen sich zusammenzogen, einen harten, fast finsteren +Ausdruck an. Bekannt war er offenbar, außer mit dem Hausherrn, mit +keinem einzigen Anwesenden. Und es war wohl unschwer zu erraten, daß das +ganze Fest ihn entsetzlich langweilte. Gleichwohl spielte er bis zum +Schluß mutig die Rolle eines angenehm unterhaltenen, glücklichen +Menschen. Nachher erfuhr ich, daß er aus der Provinz stammte und nur auf +kurze Zeit nach Petersburg gekommen war, wo sich ein verwickelter +Prozeß, von dem für ihn alles abhing, in den nächsten Tagen entscheiden +sollte. Zu unserem Hausherrn hatte ihn ein Empfehlungsschreiben +gebracht, infolgedessen er von diesem höflichkeitshalber zu dem Abend +eingeladen worden war – doch durfte er, wie es hieß, durchaus nicht +darauf rechnen, daß sich der einflußreiche Mann deshalb für ihn +verwenden werde. Und da man nicht Karten spielte, dem unbekannten +Fremden keine Zigarren anbot und auch sonst niemand ein Gespräch mit ihm +anknüpfte – wahrscheinlich erkannte man den Vogel schon von weitem an +den Federn –, so war der Mann gezwungen, um doch irgendwo seine Hände zu +lassen, sich den ganzen Abend über den Backenbart zu streichen. Freilich +war dieser Bart sehr schön, nur strich er ihn doch etwas gar zu viel, so +daß man tatsächlich glauben konnte, zuerst sei der Backenbart erschaffen +worden und dann erst zu diesem Bart, und auch nur, um ihn zu streichen, +der ganze Mann. + +Außer diesem Herrn, der sich um das Fest der fünf dicken kleinen Söhne +des Hausherrn wenig kümmerte, fiel mir noch ein zweiter Herr auf. Doch +der war eine ganz andere Erscheinung. Der war nämlich eine +Persönlichkeit! + +Er hieß Julian Mastakowitsch. Auf den ersten Blick erriet man, daß er +ein Ehrengast war und zum Hausherrn in ungefähr demselben Verhältnis +stand, wie dieser zu jenem Unbekannten, der sich den Backenbart strich. +Der Hausherr und die Hausfrau sagten ihm unendlich viele +Liebenswürdigkeiten, machten ihm geradezu den Hof, führten alle ihre +Gäste zu ihm, um sie ihm vorzustellen, ihn selbst aber stellten sie +keinem vor. Wie ich bemerkte, erglänzte im Auge des Hausherrn sogar eine +Träne der Rührung, als Julian Mastakowitsch zum Lobe des Festes +versicherte, er habe selten so angenehm die Zeit verbracht. Mir ward +ordentlich unheimlich in der Gegenwart eines solchen Menschen: und so +zog ich mich denn, als ich mich am Anblick der Kinder genugsam ergötzt +hatte, in ein kleines Boudoir zurück, in dem zufällig kein Mensch war, +und setzte mich dort in die Blumenlaube der Hausherrin, die fast das +halbe Zimmer einnahm. + +Die Kinder waren alle unglaublich nett und lieb und echt kindlich und +wollten unter keiner Bedingung den „Großen“ gleichen, ungeachtet aller +Ermahnungen der Gouvernanten und Mütter. Im Nu hatten sie den ganzen +Weihnachtsbaum bis auf das letzte Anhängsel geplündert und auch schon +Zeit gehabt, die Hälfte der Spielsachen zu zerbrechen, noch bevor sie +festgestellt hatten, für wen ein jedes Spielzeug überhaupt bestimmt war. +Ein kleiner Knabe mit dunklen Augen und braunen Locken gefiel mir ganz +besonders: er wollte mich unbedingt erschießen, denn er hatte ein +hölzernes Gewehr bekommen. Doch am meisten lenkte seine kleine Schwester +die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich. Sie war etwa elf Jahre alt, zart +und bleich, mit großen, nachdenklichen Augen. Die anderen Kinder hatten +sie irgendwie gekränkt, und da kam sie denn in das Zimmer, in dem ich +saß, setzte sich in einen Winkel und beschäftigte sich mit ihrer Puppe. +Die Gäste deuteten unter sich respektvoll auf einen reichen Kaufmann, +den Vater der Kleinen, und jemand wußte flüsternd mitzuteilen, daß an +barem Gelde bereits jetzt dreihunderttausend Rubel für sie als Mitgift +beiseite gelegt seien. Ich sah mich unwillkürlich nach der Gruppe um, +die ein so interessantes Gespräch führte, und mein Blick fiel auf Julian +Mastakowitsch, der, die Hände auf dem Rücken gekreuzt und den Kopf ein +wenig zur Seite geneigt, sehr aufmerksam dem müßigen Gespräch zuzuhören +schien. Gleichzeitig mußte ich mich über die Weisheit der Gastgeber, die +diese in der Verteilung der Geschenke zu bezeugen gewußt hatten, nicht +wenig wundern. Das kleine Mädchen z. B., das bereits dreihunderttausend +Rubel besaß, hatte die schönste und teuerste Puppe erhalten. Der Wert +der anderen Geschenke dagegen sank von Stufe zu Stufe herab, je nach dem +Range der Eltern dieser Kinder. Das letzte Kind, ein kleiner Knabe von +etwa zehn Jahren, ein mageres, rötlichblondes Kerlchen mit +Sommersprossen, bekam nur ein Buch, das belehrende Geschichten enthielt +und von der Größe der Natur, von Tränen der Rührung und ähnlichem +handelte, ein nüchternes Buch, ohne Bild, ohne eine Verzierung. + +Er war der Sohn einer armen Witwe, die die Kinder des Hausherrn +unterrichtete und kurzweg die Gouvernante hieß. Er selbst war ein +ängstlicher, verschüchterter Knabe. Er trug eine kleine russische Bluse +aus billigem Nanking. Nachdem ihm sein Buch eingehändigt worden war, +ging er lange Zeit um die Spielsachen der anderen Kinder herum; er hätte +wohl furchtbar gern mit diesen anderen gespielt, aber er wagte es nicht +– man sah es ihm an, daß er seine gesellschaftliche Stellung bereits +vollkommen begriff. Ich beobachte gern Kinder beim Spiel. Ungeheuer +interessant ist ihre erste selbständige Äußerung im Leben. Es fiel mir +auf, daß der kleine arme Knabe sich von den reichen Geschenken der +anderen so hinreißen ließ, namentlich von einem Puppentheater, in dem er +gewiß gern eine Rolle übernommen hätte, daß er sich zu einer +Schmeichelei entschloß. Er lächelte und suchte sich angenehm zu machen, +er gab seinen Apfel einem kleinen pausbackigen Jungen, der bereits einen +ganzen Sack voll Naschwerk hatte, und er entschloß sich sogar, einen von +ihnen huckepack zu tragen, nur damit man ihn nicht vom Theater fortjage. +Doch im nächsten Augenblick wurde er von einem Erwachsenen, der +gewissermaßen den Oberaufseher spielte, mit Püffen und Stößen +fortgetrieben. Der Junge wagte nicht, zu weinen. Sogleich erschien auch +schon die Gouvernante, seine Mutter, und sagte ihm, er solle die anderen +nicht stören. Da kam denn der Kleine in jenes Zimmer, in dem das Mädchen +saß. Sie ließ ihn zu sich kommen und beide begannen eifrig, die schöne +Puppe anzukleiden. + +Ich hatte schon über eine halbe Stunde in der Efeulaube gesessen und war +fast eingeschlummert, unbewußt eingelullt durch das Kindergespräch des +kleinen rotblonden Jungen und der zukünftigen Schönheit mit der Mitgift +von dreihunderttausend Rubeln, als plötzlich Julian Mastakowitsch ins +Zimmer trat. Er benutzte die Gelegenheit, die ihm ein großer Streit +unter den Kindern im Saale bot, unbemerkt zu verschwinden. Vor wenigen +Minuten hatte ich ihn noch an der Seite des reichen Kaufmannes, des +Vaters der Kleinen, in lebhaftem Gespräch gesehen, und aus einzelnen +Worten, die ich auffing, erriet ich, daß er die Vorzüge der einen +Stellung im Vergleich mit einer anderen pries. Jetzt stand er +nachdenklich an der Efeulaube, ohne mich zu sehen, und schien zu +überlegen. + +„Dreihundert ... dreihundert ...“ murmelte er. „Elf ... zwölf, dreizehn +– sechzehn. Fünf Jahre! Nehmen wir an, zu vier Prozent – zwölf mal fünf +... das macht sechzig. Ja, von diesen sechzig ... nun, sagen wir, im +ganzen nach fünf Jahren – vierhundert. Ja! ... tja! ... Aber der wird +doch nicht bloß vier Prozent nehmen, dieser Hund! Mindestens acht, wenn +nicht sogar zehn. Na, sagen wir – fünfhunderttausend! Hm! eine halbe +Million Rubel, das ist schon besser – nun, und dann noch die Aussteuer +... hm ...“ + +Sein Entschluß stand fest. Er räusperte sich und wollte das Zimmer +bereits verlassen – da sah er plötzlich die Kleine im Winkel mit ihrer +Puppe neben dem armen Jungen, und blieb stehen. Mich bemerkte er hinter +dem dichten Efeu nicht. Wie mir schien, war er sehr erregt. Ob diese +Erregung nun auf die Berechnung, die er soeben angestellt hatte, oder +auf etwas anderes zurückzuführen war, das ist schwer zu sagen, doch rieb +er sich lächelnd die Hände und schien kaum ruhig stehen zu können. Die +Erregung wuchs noch bis ins ganz Unbegreifliche, als er einen zweiten +entschlossenen Blick auf die reiche Erbin warf. Er wollte einen Schritt +vortreten, blieb aber wieder stehen und blickte sich zuerst nach allen +Seiten um. Dann näherte er sich auf den Fußspitzen, als sei er sich +einer Schuld bewußt, langsam und ganz leise dem Kinde. Er lächelte. Als +er dicht hinter der Kleinen stand, beugte er sich zu ihr nieder und +küßte sie auf den Kopf. Die Kleine schrie vor Schreck auf, denn sie +hatte ihn bis dahin nicht bemerkt. + +„Was tust du denn hier, mein liebes Kind?“ fragte er leise, blickte sich +um und klopfte ihr dann die Wange. + +„Wir spielen ...“ + +„Ah? Mit ihm?“ Julian Mastakowitsch warf einen Blick auf den Knaben. + +„Du könntest, mein Lieber, in den Saal gehen,“ riet er ihm. + +Der Knabe schwieg und blickte ihn groß an. Julian Mastakowitsch sah sich +wieder schnell nach allen Seiten um und beugte sich von neuem zu der +Kleinen. + +„Was hast du denn da, mein liebes Kind? Ein Püppchen?“ fragte er. + +„Ein Püppchen ...“ antwortete die Kleine etwas zaghaft und runzelte +leicht die Stirn. + +„Ein Püppchen ... Aber weißt du auch, mein liebes Kind, woraus diese +Puppe gemacht ist?“ + +„N–nein ...“ antwortete die Kleine flüsternd und senkte das Köpfchen +noch tiefer. + +„Nun, aus alten Läppchen, mein Herzchen. Aber du könntest doch in den +Saal gehen, Junge, zu den anderen Kindern,“ wandte sich Julian +Mastakowitsch mit einem strengen Blick abermals an den Knaben. Doch das +Mädchen und der Kleine runzelten die Stirn und faßten sich gegenseitig +an. Sie wollten sich offenbar nicht voneinander trennen. + +„Aber weißt du auch, wofür man dir dieses Püppchen geschenkt hat? ...“ +fragte Julian Mastakowitsch, dessen Stimme immer einschmeichelnder +wurde. + +„N–nein ...“ + +„Nun, dafür, daß du ein liebes und artiges Kind gewesen bist.“ + +Hier blickte sich Julian Mastakowitsch wieder nach der Tür um und fragte +dann mit kaum hörbarer, vor Erregung und Ungeduld zitternder Stimme: + +„Aber wirst du mich auch lieben, kleines Mädchen, wenn ich zu deinen +Eltern zum Besuch komme?“ + +Bei diesen Worten wollte Julian Mastakowitsch noch einmal das Mädchen +küssen, doch als der kleine Knabe sah, daß sie dem Weinen schon ganz +nahe war, umklammerte er sie plötzlich angstvoll und begann vor lauter +Teilnahme und Mitleid mit ihr selbst laut zu weinen. Julian +Mastakowitsch wurde ernstlich böse. + +„Geh, geh fort, geh fort von hier!“ sagte er ärgerlich. „Geh in den +Saal! Geh zu deinen Kameraden!“ + +„Nein, nicht, nicht! Er soll nicht gehn! Gehen Sie fort,“ sagte das +kleine Mädchen, „er aber soll hier bleiben, lassen Sie ihn hier!“ fügte +sie fast weinend hinzu. + +Da ertönten laute Stimmen an der Tür und Julian Mastakowitschs +gewichtiger Oberkörper schnellte empor. Er war sichtlich erschrocken. +Doch der kleine Knabe erschrak noch mehr als Julian Mastakowitsch, gab +das kleine Mädchen frei und schlich geduckt längs der Wand ins Eßzimmer +zurück. Auch Julian Mastakowitsch ging ins Eßzimmer, ganz als wäre +nichts vorgefallen. Er war purpurrot im Gesicht, und als er im +Vorübergehen einen Blick in den Spiegel warf, schien sein Aussehen ihn +selbst zu verwirren. Vielleicht ärgerte er sich darüber, daß er so +erregt war, und daß er so unvorsichtig gesprochen hatte. Offenbar hatte +ihn seine Berechnung selbst so bestrickt und begeistert, daß er trotz +seiner ganzen Würde und Klugheit recht wie ein Knabe handelte und schon +jetzt und unbedacht genug auf sein Ziel geradeswegs loszusteuern begann. +Ich folgte ihm alsbald in das andere Zimmer – und wahrlich, was ich dort +erblickte, war ein seltsames Schauspiel! Ich sah nämlich, wie Julian +Mastakowitsch, der hochangesehene würdevolle Julian Mastakowitsch, den +kleinen Knaben einschüchterte, der immer weiter vor ihm zurückwich und +nicht wußte, wo er sich vor Angst lassen sollte. + +„Marsch, wirst du wohl! Was tust du hier, Taugenichts? Geh! Geh! Du +stiehlst hier Früchte, wie? Du willst hier Früchte stehlen? Marsch, +mach’, daß du fortkommst, wirst du wohl, ich werd’ dir zeigen!“ + +Der eingeschüchterte Knabe entschloß sich schließlich zu einem +verzweifelten Rettungsversuch: er kroch unter den Tisch. Das rief aber +in seinem Verfolger noch größere Wut hervor. Zornig riß er sein langes +Batisttaschentuch aus der Tasche und begann damit den Kleinen unter dem +Tisch zu peitschen, damit er von dort hervorkrieche. Doch der Kleine war +mäuschenstill vor Angst und rührte sich nicht. Ich muß bemerken, daß +Julian Mastakowitsch ein wenig korpulent war. Er war, was man so nennt, +ein satter Mensch, mit roten Wänglein, einem kleinen Schmerbäuchlein, +untersetzt und mit dicken Schenkeln, – kurz, ein stämmiger Bursche, an +dem alles so rund war wie an einer Nuß. Schweißtropfen standen ihm schon +auf der Stirn, er atmete schwer und fast röchelnd. Das Blut drang ihm +vom Bücken rot und heiß zu Kopf. Er wurde jähzornig, so groß war sein +Unwille oder – wer kann es wissen? – seine Eifersucht. Ich lachte +schallend auf. Julian Mastakowitsch wandte sich blitzschnell nach mir um +und wurde ungeachtet seines gesellschaftlichen Ansehens, seiner +einflußreichen Stellung und seiner Jahre geradezu fassungslos verlegen. +In dem Augenblick trat durch die gegenüberliegende Tür der Hausherr ins +Zimmer. Der kleine Junge kroch unter dem Tisch hervor und rieb sich den +Staub von den Knien und Ellenbogen. Julian Mastakowitsch kam zu sich und +führte schnell das Taschentuch, das er noch an einem Zipfel hielt, an +die Nase und schnaubte sich. + +Der Hausherr blickte uns drei etwas verwundert an, doch als lebenskluger +Mensch, der das Leben ernst auffaßte, wußte er sogleich die Gelegenheit, +mit seinem Gast unter vier Augen sprechen zu können, auszunutzen. + +„Ach, sehen Sie, das ist jener Knabe, für den ich die Ehre hatte, zu +bitten ...“ begann er, auf den armen Kleinen weisend. + +„Ah!“ versetzte Julian Mastakowitsch, noch immer nicht ganz auf der Höhe +der Situation. + +„Er ist der Sohn der Gouvernante meiner Kinder,“ fuhr der Hausherr +erklärend und in verbindlichem Tone fort, „einer armen Frau. Sie ist die +Witwe eines ehrlichen Beamten. Ginge es nicht irgendwie, Julian +Mastakowitsch ...“ + +„Ach, ich entsinne mich! Nein, nein!“ unterbrach dieser ihn eilig. +„Nehmen Sie es mir nicht übel, mein bester Philipp Alexejewitsch, aber +es geht ganz und gar nicht. Ich habe mich erkundigt: Vakanzen gibt es +nicht und selbst wenn eine bestünde, so kämen doch zehn Kandidaten eher +in Betracht als dieser, da sie eben ein größeres Anrecht darauf hätten +... Es tut mir sehr leid, aber ...“ + +„Schade,“ sagte der Hausherr nachdenklich, „es ist ein stiller, +bescheidener Knabe ...“ + +„Scheint mir eher ein richtiger Bengel zu sein, soweit ich sehe,“ +bemerkte Julian Mastakowitsch mit verzogenem Lächeln. „Geh, was stehst +du hier, mach’ dich fort! Geh zu deinen Spielkameraden,“ wandte er sich +an den Kleinen. + +Dann konnte er offenbar der Versuchung nicht widerstehen, auch mir einen +Blick zuzuwerfen. Ich aber hielt nicht an mich, sondern lachte ihm offen +ins Gesicht. Julian Mastakowitsch wandte sich sogleich ab und fragte +sehr vernehmlich den Hausherrn, wer dieser sonderbare junge Mann +eigentlich sei. Sie begannen miteinander zu flüstern und verließen das +Zimmer. Ich sah nur noch durch die offene Tür wie Julian Mastakowitsch, +der dem Hausherrn aufmerksam zuhörte, verwundert und mißtrauisch den +Kopf schüttelte. + +Als ich genügend gelacht hatte, begab ich mich gleichfalls in den Saal. +Dort stand jetzt der einflußreiche Mann, umringt von Vätern, Müttern und +den Festgebern und sprach lebhaft auf eine Dame ein, der man ihn soeben +vorgestellt hatte. Die Dame hielt das kleine Mädchen an der Hand, das +Julian Mastakowitsch vor zehn Minuten geküßt hatte. Er lobte die Kleine +bis in den siebenten Himmel, pries ihre Schönheit, ihre Grazie, ihre +Wohlerzogenheit, und die Mutter hörte ihm fast mit Tränen in den Augen +zu. Die Lippen des Vaters lächelten. Der Hausherr nahm mit sichtlichem +Wohlgefallen teil an der allgemeinen Freude. Die übrigen Gäste waren +gleichfalls angenehm berührt und selbst die Spiele der Kinder wurden +unterbrochen, damit sie durch ihr Geschrei nicht störten. Die ganze Luft +war voll von gehobener Stimmung. Später hörte ich, wie die tiefgerührte +Mutter der Kleinen in ausgesucht höflichen Redewendungen Julian +Mastakowitsch bat, ihrem Hause die besondere Ehre zu erweisen und sie zu +besuchen, und ich hörte weiter, mit wie ungefälschtem Entzücken Julian +Mastakowitsch der liebenswürdigen Aufforderung unfehlbar nachzukommen +versprach, und wie die Gäste, als sie darauf, so wie es der +gesellschaftliche Brauch verlangte, nach allen Seiten auseinandergingen, +sich in geradezu gerührten Lobpreisungen ergingen, die den Kaufmann, +dessen Frau und Töchterchen, namentlich aber Julian Mastakowitsch hoch +über sie selbst erhoben. + +„Ist dieser Herr verheiratet?“ fragte ich hörbar laut einen meiner +Bekannten, der neben Julian Mastakowitsch stand. + +Julian Mastakowitsch warf mir einen zornigen Blick zu, der wohl seinen +Gefühlen entsprach. + +„Nein!“ antwortete mein Bekannter, offenbar höchst peinlich berührt +durch meine ungeschickte Frage, die ich absichtlich so laut an ihn +gerichtet hatte ... + + * * * * * + +Vor ein paar Tagen ging ich an der –schen Kirche vorüber. Die +Menschenmenge, die sich vor dem Portal drängte, und der reiche Schmuck +desselben fielen mir auf. Ringsum sprach man von einer Hochzeit. Es war +ein trüber Herbsttag und es begann zu frieren. Ich drängte mich mit den +anderen in die Kirche und erblickte den Bräutigam. Es war das ein +kleiner, rundlicher Herr mit einem Schmerbauch und vielen Orden auf der +Brust. Er war überaus beschäftigt, eilte hin und her, traf Anordnungen +und schien sehr aufgeregt zu sein. Endlich verbreitete sich von der Tür +her lautes Gemurmel: die Braut war erschienen. Ich drängte mich weiter +durch die Menge und erblickte eine wunderbare Schönheit, für die kaum +der erste Lenz angebrochen war. Sie war aber bleich und traurig. Ihre +Augen blickten zerstreut. Es schien mir sogar, daß diese Augen noch +gerötet waren von vergossenen Tränen. Die strenge Schönheit ihrer +Gesichtszüge verlieh ihrer ganzen jungen Erscheinung eine gewisse +hoheitsvolle Würde und Feierlichkeit. Und doch schimmerte durch diese +Strenge und Würde und diese Trauer noch das unschuldige unberührte +Kindergemüt – und es verriet sich darin etwas unsäglich Unerfahrenes, +Unbewußtes, Kindliches, das, wie es schien, ohne eine Bitte wortlos für +sich um Schonung flehte. + +Man sagte, sie sei kaum erst sechzehn Jahre alt geworden. Ich blickte +aufmerksamer auf den Bräutigam und plötzlich erkannte ich in ihm Julian +Mastakowitsch, den ich seit fünf Jahren nicht wiedergesehen hatte. Ich +blickte nochmals auf die Braut ... Mein Gott! Ich drängte mich durch die +Gaffenden zum Ausgang, um schneller aus der Kirche zu kommen. In der +Menge erzählte man sich, daß die Braut reich sei: sie bekäme allein an +barem Kapital eine halbe Million Rubel mit und eine Aussteuer im Werte +von soundsoviel ... + +„Dann stimmte also die Berechnung!“ dachte ich bei mir und trat auf die +Straße hinaus ... + + + + + Njetotschka Neswanowa + + + I. + +Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Er starb, als ich zwei Jahre alt +war. Dann heiratete meine Mutter zum zweitenmal. Diese zweite Ehe +brachte ihr viel Leid, obgleich es eine Liebesheirat war. Mein +Stiefvater war Musiker. Er hatte ein sehr merkwürdiges Schicksal, und +überhaupt war er der seltsamste und wunderlichste Mensch, den ich bisher +kennen gelernt habe. Sein Einfluß auf mich war groß und die Eindrücke, +die ich von ihm empfing, waren so stark, daß ich sie mein Leben lang +nicht vergessen werde. Doch muß ich zunächst, damit meine Erzählung +verständlicher sei, seine Lebensgeschichte wiedergeben. Alles was sich +auf dieselbe bezieht, habe ich von dem berühmten Geigenvirtuosen B. +erfahren, der in seiner Jugend ein guter Freund meines Stiefvaters +gewesen ist. + +Der Familienname meines Stiefvaters lautete Jefimoff. Geboren wurde er +auf dem Gute eines reichen Großgrundbesitzers als Sohn eines armen +Musikers, der nach langen Irrfahrten sich dort niedergelassen hatte und +in das Orchester des Gutsherrn eingetreten war. Sein Brotherr lebte auf +großem Fuß und liebte Musik bis zur Leidenschaft. Man erzählte von ihm, +daß er, der sich nie von seinem Gute rührte und nicht einmal nach Moskau +fuhr, sich plötzlich aufgemacht habe und ins Ausland gereist sei, in +irgendeinen Kurort, nur um einen berühmten Geigenvirtuosen zu hören, der +dort, wie die Zeitungen berichteten, drei Konzerte geben sollte. Auf +seinem Gut unterhielt er ein großes Orchester und gab fast seine ganzen +Einkünfte für die Besoldung und den Unterhalt der Musiker aus. In dieses +Orchester nun trat mein Stiefvater als Klarinettist ein. Als er +zweiundzwanzig Jahre alt war, machte er die Bekanntschaft eines +eigenartigen Menschen. In demselben Gouvernementskreise lebte ein +reicher Graf, der sich durch den Unterhalt eines Haustheaters ruinierte. +Dieser Graf hatte den Kapellmeister seines Orchesters, einen Italiener, +wegen seiner schlechten Aufführung entlassen. Der Kapellmeister war in +der Tat ein schlechter Mensch. Als er seine Stellung verloren, kam er +bald ganz herunter, trieb sich in den Dorfschenken umher, betrank sich, +ja er bettelte sogar, und da hatte natürlich niemand mehr Lust, ihm eine +Anstellung zu geben. Mit diesem Menschen befreundete sich nun mein +Stiefvater. Ihre Freundschaft war aber von einer ganz besonderen Art, +denn niemand konnte behaupten, daß der Jüngere sich durch diesen Umgang +irgendwie zu seinem Nachteil veränderte, und selbst der Gutsbesitzer, +der ihm anfangs verboten hatte, mit dem Italiener zu verkehren, ließ +schließlich diese sonderbare Freundschaft gewähren. Da starb plötzlich +der Italiener. Bauern fanden ihn eines Morgens im Graben an einem Zaun +liegen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet und ergab, daß er am +Herzschlage gestorben war. Sein ganzes Hab und Gut befand sich bei +meinem Stiefvater, der sogleich an der Hand von Dokumenten nachwies, daß +er das volle Recht hatte, die Sachen zu behalten: er besaß ein +eigenhändiges Schreiben des Verstorbenen, in dem dieser Jefimoff zu +seinem Erben erklärte, falls er, der Italiener, früher sterben sollte, +als Jefimoff. Die Hinterlassenschaft bestand aus einem schwarzen Frack, +den er sorgfältig aufbewahrt hatte, in der Hoffnung, doch noch einmal +eine Anstellung zu finden, und einer Geige, an der nichts Sonderliches +auffiel. Dieses Erbe machte denn auch niemand dem Klarinettisten +streitig. Da erschien nach einiger Zeit ein Musiker, der im Orchester +des Grafen die erste Geige spielte, bei dem Gutsbesitzer und überreichte +ihm einen Brief vom Grafen. In diesem Brief bat der Graf den +Gutsbesitzer, seinen Klarinettisten Jefimoff zu bereden, ihm, dem +Grafen, die Geige des verstorbenen Italieners zu verkaufen. Er bot für +dieselbe dreitausend Rubel und schrieb, daß er den Jegor Jefimoff schon +mehrmals zu sich habe bitten lassen, um den Kauf persönlich +abzuschließen, doch dieser Mensch sei leider zu nichts zu bewegen. Der +Graf schloß seinen Brief mit der Bemerkung, daß er für die Geige das +biete, was sie wert sei: deshalb sehe er in der hartnäckigen Weigerung +Jefimoffs, sie ihm dafür abzutreten, den beleidigenden Verdacht, er, der +Graf, wolle bei diesem Kauf die Unkenntnis des Klarinettisten ausnutzen. +Aus diesem Grunde bäte er jetzt um seine, des Gutsbesitzers, +Vermittelung. + +Dieser ließ Jefimoff sogleich zu sich rufen. + +„Weshalb willst du die Geige nicht verkaufen?“ fragte er ihn, „du +brauchst sie doch nicht. Man bietet dir dreitausend Rubel, gerade so +viel, wie sie wert ist, und du irrst dich, wenn du glaubst, daß dir +jemand mehr für sie zahlen wird. Der Graf will dich doch nicht +übervorteilen.“ + +Jefimoff erwiderte, daß er aus freien Stücken zu dem Grafen nicht gehen +werde, doch wenn man ihn zwingen wolle, so müsse er sich eben dem Willen +seines Herrn fügen. Dem Grafen werde er aber die Geige nicht verkaufen, +und wenn man sie ihm mit Gewalt nehmen werde, so hinge auch das wiederum +nur von dem Willen seines Herrn ab. + +Natürlich verletzte er mit einer solchen Antwort die empfindlichste +Charakterseite des Gutsbesitzers. Dieser pflegte nämlich immer mit Stolz +von sich zu sagen, daß er wisse, wie er mit seinen Musikern umzugehen +habe, denn sie seien alle bis auf den letzten wirkliche Künstler, und +deshalb sei sein Orchester nicht nur besser als dasjenige des Grafen, +sondern besser sogar als eines in der Hauptstadt! + +„Nun, schön,“ entgegnete der Gutsbesitzer, „ich werde dem Grafen +schreiben, daß du die Geige nicht verkaufen willst, weil du eben nicht – +willst ... basta! weil du das volle Recht hast, sie zu verkaufen oder +nicht zu verkaufen, wie es dir beliebt, hast du mich verstanden? Aber +ich frage dich jetzt selber: was machst du mit der Geige? Dein +Instrument ist die Klarinette, die du leider noch recht mittelmäßig +spielst. Verkauf’ die Geige mir. Ich gebe dir dreitausend.“ (Wer wußte +denn, daß es ein solches Instrument war!) + +Jefimoff lächelte. + +„Nein, Herr, ich werde sie Ihnen nicht verkaufen,“ sagte er, „aber +versteht sich, wenn Sie mit Gewalt ...“ + +„Ja, zwinge ich dich denn, will ich dir denn Gewalt antun!“ rief der +Gutsbesitzer empört – um so mehr empört, als es sich in Gegenwart des +gräflichen Musikers zutrug und dieser nach solchen Antworten eine recht +unvorteilhafte Vorstellung von der Stellung der Musiker des +Gutsbesitzers gewinnen mußte. „Mach’, daß du fortkommst, du Undankbarer! +Geh mir aus den Augen! Was würdest du ohne mich überhaupt anfangen mit +deiner Klarinette, auf der du nicht einmal zu spielen verstehst? Bei mir +aber wirst du satt, wirst du bekleidet und erhältst dein Gehalt; du +lebst hier in einem vornehmen Hause, spielst nur hier die Rolle eines +Künstlers, aber du willst das nicht einsehen! Geh mir aus den Augen und +reiz’ mich nicht durch deine Anwesenheit!“ + +Der Gutsbesitzer pflegte denjenigen immer fortzuschicken, über den er +sich ärgerte, denn er fürchtete seine eigene Heftigkeit. Mit einem +„Künstler“, wie er seine Musiker nannte, wollte er aber unter keinen +Umständen streng ins Gericht gehen. + +Der Kauf kam nicht zustande und damit schien die Sache abgetan zu sein – +als plötzlich, etwa einen Monat nach jener Auseinandersetzung, der erste +Violinist des Grafen etwas Unerhörtes angab: auf eigene Verantwortung +nämlich reichte er eine Anzeige ein, nach der Jefimoff die Schuld am +Tode des Italieners trug, den er umgebracht habe, um in den Besitz der +Hinterlassenschaft zu gelangen. Ferner beschuldigte er ihn, jenes +Schriftstück, in dem der Italiener Jefimoff zu seinem Erben einsetzte, +mit List und Gewalt dem Verstorbenen abgerungen zu haben, was er durch +Zeugen beweisen zu können vorgab. Weder die Bitten des Gutsbesitzers, +der für Jefimoff eintrat, noch die Vorhaltungen des Grafen konnten ihn +von seinem Vorhaben abbringen. Man gab ihm zu bedenken, daß gegen die +ärztliche Untersuchung der Leiche sich nichts einwenden lasse, daß er +gegen sein Gewissen handle, vielleicht aus persönlicher Rache, weil +jener ihm das kostbare Instrument nicht abgetreten hatte. Der Musiker +blieb aber bei seiner Behauptung, schwur sogar, daß er im Recht sei und +der Herzschlag nicht infolge des Trunkes eingetreten wäre, sondern als +Folge einer Vergiftung, weshalb er eine nochmalige Untersuchung der +Leiche verlangte. Auf den ersten Blick konnte man seine Beweise sehr +wohl ernst nehmen. Natürlich wurde das Verfahren sogleich eingeleitet. +Jefimoff wurde verhaftet und nach dem Stadtgefängnis abgeführt. Die +Gerichtsverhandlungen, die das ganze Gouvernement mit Spannung +verfolgte, nahmen einen sehr schnellen Verlauf und endeten damit, daß +der Musiker der falschen Anklage überführt wurde. Man verurteilte ihn zu +einer gerechten Strafe, ungeachtet dessen, daß er bei seiner Behauptung +beharrte. Endlich gestand er, daß er zwar keine positiven Beweise besaß +und die angeführten selbst erfunden hatte, jedoch habe er sich dabei von +seinen Vermutungen leiten lassen, die schließlich zu seiner festen +Überzeugung geworden seien, und deshalb bliebe er auch jetzt – nachdem +die Unschuld Jefimoffs vom Gericht bereits unzweifelhaft festgestellt +worden war – bei seiner Überzeugung, daß die Ursache des Todes jenes +italienischen Kapellmeisters einzig und allein Jefimoff gewesen, der +ihn, wenn nicht gerade vergiftet, dann eben auf irgendeine andere Weise +umgebracht habe. Es blieb ihm übrigens erspart, seine Strafe abzubüßen: +er erkrankte plötzlich an einer Gehirnentzündung, verfiel in Wahnsinn +und starb im Krankenhause. + +Während dieser ganzen Zeit sorgte der Gutsbesitzer für Jefimoff wie ein +Vater für seinen Sohn. Er, der sonst nie sein Gut verließ, fuhr mehrmals +in die Stadt, um den Armen im Gefängnis zu besuchen und ihn zu trösten; +er schenkte ihm Geld, und als er erfuhr, daß Jefimoff gern rauchte, +brachte er ihm die besten Zigaretten; und als dann mein Stiefvater +endlich freigesprochen wurde, veranstaltete er für sein ganzes Orchester +ein großes Freudenfest. Er betrachtete die gegen Jefimoff erhobene +Anklage als etwas, was sein gesamtes Orchester anging, denn auf die gute +Aufführung seiner Musiker legte er wenn nicht mehr, so doch ebensoviel +Wert, wie auf ihr musikalisches Können. + +Es verging ein Jahr, als man eines Tages auf dem Gute erfuhr, daß in der +Gouvernementsstadt ein bekannter französischer Violinvirtuose +eingetroffen sei und daselbst konzertieren werde. Als der Gutsbesitzer +dies hörte, bot er sogleich alles auf, um diesen Künstler als Gast bei +sich auf dem Gute zu sehen. Zu seiner Freude nahm der Franzose die +Einladung an. Schon war alles zu seinem Empfang bereit, die ganze +Gesellschaft der Umgegend eingeladen, als plötzlich etwas Überraschendes +geschah. + +Eines Morgens wurde dem Gutsbesitzer gemeldet, Jefimoff sei nirgends zu +finden. Man suchte, forschte, schickte Boten aus – er war und blieb +spurlos verschwunden. Das Orchester befand sich in einer verzweifelten +Lage: der Klarinettist fehlte, was tun? Da erhielt der Gutsbesitzer am +dritten Tage nach der Flucht Jefimoffs einen Brief von dem Franzosen, in +dem dieser mit verletzendem Hochmut absagte und hinzufügte, er werde +hinfort sehr vorsichtig sein müssen mit solchen Herren, die ein eigenes +Orchester hielten: es sei so „deprimierend“, ein großes Talent im Dienst +eines Menschen zu sehen, der es nicht zu schätzen wisse. Er brauche als +Beispiel nur Jefimoff zu nennen, den genialsten Künstler und besten +Violinisten, den er in Rußland gehört habe! + +Der Gutsbesitzer las den Brief mit wachsender Verwunderung. Wie? +Jefimoff, derselbe Jefimoff, um den er sich so gesorgt hatte, dem er +soviel Gutes erwiesen, derselbe Jefimoff hatte es fertiggebracht, ihn so +gewissenlos, so unverschämt zu verleumden, und das noch bei einem +berühmten Künstler, auf dessen gute Meinung von seinem Orchester er +soviel Wert legte! Und dann – der Brief enthielt noch ein anderes +Rätsel: der Franzose nannte Jefimoff den genialsten Künstler und besten +Violinisten, den er in Rußland gehört, und aus seiner Schlußbemerkung +ging hervor, daß er dachte, man wolle Jefimoffs Talent nicht anerkennen, +und zwinge ihn, ein anderes Instrument zu spielen, als dasjenige, +welches ihm zukam. Dies überraschte den Gutsbesitzer dermaßen, daß er +beschloß, sogleich in die Stadt zu fahren, um mündlich mit dem Franzosen +zu sprechen. Da traf kurz vor seiner Abfahrt ein Schreiben vom Grafen +ein, in dem dieser ihn zu sich aufforderte und ihm mitteilte, daß der +französische Künstler und Jefimoff beide bei ihm seien und der Franzose +ihm den Fall erzählt habe. Er, der Graf, sei über die Frechheit der +Verleumdung Jefimoffs so empört, daß er ihn vorläufig nicht aus dem +Hause lasse, und außerdem sei die Anwesenheit des Gutsbesitzers auch +deshalb notwendig, weil die Verleumdungen Jefimoffs auch ihn, den Grafen +selbst, beträfen. Kurz, man müsse in der Sache Klarheit schaffen, und +zwar je eher, desto besser. + +Da begab sich denn der Gutsbesitzer unverzüglich zum Grafen, ließ sich +dem Franzosen vorstellen und erklärte ihm den Sachverhalt. Er sagte, er +habe es nicht geahnt, daß in Jefimoff ein so großes Talent stecke: er +kenne ihn nur als einen recht mittelmäßigen Klarinettisten – daß der +Mensch auch die Geige spiele, habe er erst aus dem Brief erfahren. +Außerdem, fügte er hinzu, sei Jefimoff ein freier Mensch gewesen und +hätte ihn zu jeder Zeit verlassen können, wenn er wirklich so unzulässig +behandelt worden wäre. Der Franzose war sehr verwundert. Man ließ +Jefimoff kommen. Der war aber in seinem Benehmen kaum wiederzuerkennen: +hochmütig trat er ein, antwortete spöttisch und hatte die Frechheit, zu +behaupten, daß alles wahr sei, was er dem Franzosen gesagt. Diese +Unverschämtheit ärgerte den Grafen dermaßen, daß er meinem Stiefvater +ins Gesicht sagte, er sei ein Lump und Lügner und habe verdient, daß man +ihn schonungslos bestrafe. + +„Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf,“ versetzte mein Stiefvater +höhnisch, „dank Ew. Gnaden bin ich nur mit genauer Not der Strafe für +ein Kriminalverbrechen entgangen. Ich weiß ja doch nur zu gut, auf +wessen Veranlassung hin Alexei Nikiforytsch, Ihr ehemaliger Musiker, die +Anzeige gegen mich erstattet hat.“ + +Das war zu viel für den Grafen. Er geriet außer sich vor Wut über diese +empörende Beschuldigung. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. Und +ein Polizeibeamter, der sich gleichfalls im Saal befand und wegen einer +Rücksprache mit dem Grafen kurz zuvor eingetroffen war, erklärte +hierauf, daß die beleidigende Frechheit Jefimoffs eine böswillige +Verleumdung sei, weshalb er höflichst um die Erlaubnis bäte, ihn +sogleich und ohne weiteres hier im Hause des Grafen arretieren zu +dürfen. Auch der Franzose äußerte seinen größten Unwillen und sagte, +eine solche Undankbarkeit hätte er nie für möglich gehalten. Da brauste +mein Stiefvater jähzornig auf und rief aus, selbst Gefängnishaft unter +dem Verdacht eines Kriminalverbrechens und alle Gerichtsverhandlungen +der Welt ziehe er jenem Leben vor, das er bisher erduldet, da er als +Musiker im Orchester des Gutsbesitzers sein Brot habe verdienen müssen +und in seiner Armut keine Mittel und folglich keine Möglichkeit gehabt +habe, sich früher freizumachen. Er wurde aus dem Saal geführt. Man +schloß ihn in einem entlegenen Zimmer ein und sagte ihm, daß man ihn am +nächsten Tage nach der Stadt bringen werde. + +Gegen Mitternacht öffnete sich die Tür des Zimmers, in dem Jefimoff +gefangen saß. Es war der Gutsbesitzer. Er war im Schlafrock und in +Morgenschuhen und hielt eine brennende Laterne in der Hand. Offenbar +hatte er nicht einschlafen können, hatte wach gelegen, bis er +schließlich, um den quälenden Gedanken ein Ende zu machen, trotz der +späten Stunde wieder aufgestanden war. Jefimoff schlief nicht: mit +Verwunderung sah er den späten Gast eintreten. Der stellte die Laterne +auf den Tisch und setzte sich in schwerer Erregung ihm gegenüber auf +einen Stuhl. + +„Jegor,“ sagte er, „warum hast du mir das angetan?“ + +Jefimoff antwortete nicht. Der Gutsbesitzer wiederholte die Frage und +ein seltsam tiefes Gefühl, ein seltsamer Kummer klang aus seinen Worten. + +„Ja, das mag Gott wissen, warum!“ entgegnete endlich mein Stiefvater und +wandte das Gesicht fort. „Da muß schon der Teufel seine Hand im Spiel +gehabt haben! Ich weiß es selber nicht, wer mich zu all dem treibt! Nun +ja, ich kann nicht mehr bei Ihnen bleiben, ich kann nicht ... Der Teufel +sitzt mir auf dem Halse!“ + +„Jegor!“ hub der Gutsbesitzer an, „komm zu mir zurück! Ich werde alles +vergessen, werde dir alles verzeihen. Höre: du wirst der Erste unter +meinen Musikern sein, ich werde dich unvergleichlich besser stellen ...“ + +„Nein, Herr, nein, reden Sie nicht weiter – ich gehöre nicht mehr zu +Ihnen! Ich sagte Ihnen schon, der Teufel sitzt mir auf dem Halse. Ich +würde Ihr Haus anzünden, wenn ich bliebe. Es kommt so über mich – und +zuweilen ist es solch eine Qual, daß es besser wäre, ich wär’ nicht +geboren! Jetzt kann ich nicht mehr für mich einstehen, also lassen Sie +mich schon lieber in Ruh, Herr. Das ist alles über mich gekommen, +seitdem dieser Teufel mit mir Freundschaft schloß ...“ + +„Wer das?“ fragte der Gutsbesitzer. + +„Nun, jener doch, der dort wie ein Hund am Zaun krepierte, von dem +keiner mehr was wissen wollte, der Italiener!“ + +„Hat _er_ dich, Jegoruschka, im Geigenspiel unterrichtet?“ + +„Ja. Er. Vieles habe ich von ihm gelernt – zu meinem Verderben. Hätt’ +ich ihn doch lieber nie gesehn!“ + +„Aber spielte er denn auch so meisterhaft die Geige, Jegoruschka?“ + +„Nein, er selbst spielte schlecht, aber er unterrichtete gut. Gelernt +habe ich allein, er hat mich nur geleitet – und eher könnte mir die Hand +verdorren, als daß ich diese Kunst verlernte! Ich weiß jetzt selbst +nicht, was ich will. Versuchen Sie es, fragen Sie mich: ‚Jegorka! was +willst du? Ich kann dir alles geben!‘ – Ich würde gewiß, so wahr ich +lebe, Ihnen kein Wort zu antworten wissen, denn ich weiß selbst nicht, +was ich will. Nein, Herr, lassen Sie mich lieber in Ruh. Ich werde doch +unbedingt so etwas mit mir anstellen, daß man mich ... etwas weiter +fortschickt, und damit Punktum!“ + +„Jegor!“ begann der Gutsbesitzer nach einer Weile wieder, „so ohne +weiteres werde ich dich nicht verlassen. Willst du nicht bei mir +bleiben, dann geh; du bist ein freier Mensch, halten kann ich dich +nicht. So einfach aber werde ich jetzt doch nicht von dir fortgehen, +Jegor. Spiel’ mir etwas vor, auf deiner Geige, tu mir den Gefallen, +Jegor. Ich bitte dich, spiel’! – um Christi willen! Ich befehle dir +nicht, verstehe mich nicht falsch, ich will dich nicht zwingen; aber ich +bitte dich von Herzen: spiel’ mir, Jegoruschka, spiel’ mir das vor, was +du dem Franzosen vorgespielt hast! Erleichtere mein Herz! Du bist +halsstarrig – gut, ich bin’s auch. Du siehst, ich habe gleichfalls +meinen Dickschädel, Jegoruschka. Ich kann dir nachfühlen, so fühl’ auch +du, wie ich fühle. Ich will nicht leben, wenn du mir nicht aus eigenem +freiem Willen das vorspielst, was du dem Franzosen vorgespielt hast!“ + +„Nun gut, es sei!“ sagte Jefimoff. „Ich hatte mir wohl geschworen, Ihnen +niemals vorzuspielen, gerade Ihnen nicht, aber mein Herz entbindet mich +jetzt von meinem Schwur. Ich werde Ihnen vorspielen, doch, damit Sie’s +wissen, zum ersten und zum letzten Mal, Herr, Sie sollen mich nie wieder +hören, niemals, und sollten Sie mir auch – tausend Rubel bieten.“ + +Er nahm seine Geige und begann, seine Variationen russischer Lieder zu +spielen. B. sagte mir, nichts habe er mit solcher Leidenschaft und so +wundervoll gespielt, wie diese Variationen – sie wären sein erstes und +bestes Können gewesen. Dem Gutsbesitzer, der ohnehin Musik nicht +gleichmütig anhören konnte, rannen die hellen Tränen über die Wangen. +Als das Spiel zu Ende war, stand er auf, nahm dreihundert Rubel aus +seiner Brieftasche, reichte sie meinem Stiefvater und sagte: + +„Jetzt geh, Jegor. Ich werde dich von hier hinauslassen, und deine +Beleidigung des Grafen – auch das laß meine Sorge sein: ich werde alles +beilegen. Aber nun höre: komme mir nie wieder in den Weg. Die Welt steht +dir offen, und wenn wir uns begegnen sollten, so wird es sowohl mir wie +dir peinlich sein. Nun, leb’ wohl! ... Wart’! Noch einen Rat gebe ich +dir auf den Weg, nur einen: trink nicht und lerne, lerne unermüdlich. +Auch bilde dir nicht zu viel ein! Das sage ich dir, sage es dir wie dein +leiblicher Vater es dir sagen würde. Also gib acht, ich wiederhole es: +lerne und rühre das Glas nicht an, greifst du aber einmal nach ihm und +trinkst einen Schluck aus Kummer (und den wirst du reichlich kennen +lernen!) – dann ist alles verloren, das wisse, dann geht dir alles zum +Teufel und dann wirst auch du vielleicht genau so, wie dein Italiener, +irgendwo in einem Graben verrecken. Jetzt lebe wohl! ... wart’, küss’ +mich.“ + +Sie küßten sich, und darauf erhielt er seine Freiheit. + +Doch kaum war er frei, da begann er damit, daß er in der nächsten +Kreisstadt seine dreihundert Rubel verjubelte, und zwar in Gesellschaft +heruntergekommener, ganz verwahrloster Menschen, worauf er sich +gezwungen sah, in das jämmerliche Orchester einer wandernden +Theatertruppe einzutreten, wo er die erste und wahrscheinlich einzige +Geige spielte. Das stimmte nun freilich nicht ganz überein mit seinen +anfänglichen Absichten: so bald als möglich nach Petersburg zu fahren, +dort in ein gutes Orchester einzutreten, um seinen Lebensunterhalt zu +verdienen, und die übrige Zeit des Tages ausschließlich dazu zu +benutzen, um sich zu einem vollendeten Künstler auszubilden. In jener +kleinen Musikkapelle hielt er es denn auch nicht lange aus: er geriet +mit dem Unternehmer in Streit, kündigte ihm und verließ die +Gesellschaft. Dann brach für ihn eine Zeit an, in der er schließlich +seinen Mut so weit verlor, daß er sich zu einer verzweifelten Tat +entschloß, die seinen Stolz tief erniedrigte. Er schrieb an den +Gutsbesitzer, seinen früheren Brotherrn, schilderte seine Lage und bat +um Geld. Der Brief war noch in ziemlich selbstbewußtem Tone geschrieben, +eine Antwort aber erhielt er auf ihn nicht. Dann schrieb er einen +zweiten, diesmal einen erniedrigend schmeichelhaften Brief, in dem er +den Gutsbesitzer seinen Wohltäter und einen wirklichen Kunstkenner +nannte, um ihn zum Schluß wieder um eine Unterstützung zu bitten. Auf +diesen Brief erhielt er endlich eine Antwort. Der Gutsbesitzer sandte +ihm hundert Rubel mit ein paar von der Hand seines Kammerdieners +geschriebenen Zeilen, in denen er erklärte, daß er hinfort mit Ähnlichem +verschont zu bleiben wünsche. Nach Empfang dieses Geldes wollte mein +Stiefvater sogleich nach Petersburg reisen, als er aber seine Schulden +bezahlt hatte, blieb ihm nur noch so wenig von dem Gelde übrig, daß er +an die Ausführung der geplanten Reise nicht mehr denken konnte. Er blieb +also in der Provinz, trat wieder in irgendeine Musikkapelle ein, geriet +dort wieder in Streit mit den anderen, und indem er sich so durchschlug, +immer in der Hoffnung, bald nach Petersburg reisen zu können, verlebte +er ganze sechs Jahre in der Provinz – bis ihn eines Tages Entsetzen +erfaßte. Mit Verzweiflung sah er ein, wie viel seine Kunst durch dieses +bedrückende und ungeordnete Bettlerleben bereits eingebüßt hatte. So +ließ er eines Morgens seine Kapelle im Stich, nahm seine Geige und +machte sich auf den Weg nach Petersburg, wo er nahezu als Strolch ankam. +Er mietete sich irgendwo in einer elenden Dachkammer ein: und dort traf +er zum erstenmal mit B. zusammen, der damals gerade erst aus Deutschland +herübergekommen war und gleichfalls hier Karriere machen wollte. Sie +schlossen bald Freundschaft miteinander. B. denkt jetzt noch mit tiefer +Rührung an jene Zeit. Sie waren beide jung, beide hatten sie dieselben +Hoffnungen und dasselbe Ziel, dem sie zustrebten. Nur war B. noch jünger +und hatte von Armut und Leid und Künstlerelend erst wenig erfahren: +überdies war er vor allen Dingen Deutscher und strebte zu seinem Ziel +gewissermaßen systematisch und starrköpfig hin, mit ganz objektiver +Einschätzung seiner Begabung, nachdem er schon im voraus genau berechnet +hatte, wie weit er es bringen würde. Sein neuer Freund dagegen war +immerhin schon dreißig Jahre alt, hatte sich durch das Elend bereits +ermüden lassen, hatte schon an Geduld und Spannkraft verloren und seine +ersten Kräfte eingebüßt, da er ganze sieben Jahre für sein täglich Brot +in Provinztheatern und kleinen Orchestern auf verschiedenen Gütern hatte +fiedeln müssen. Was ihn in dieser Zeit aufrechterhalten, war der ewige +unverrückbare Gedanke, sich endlich aus seiner Misere herauszuarbeiten, +Geld zu sparen und dann nach Petersburg zu reisen. Aber der Gedanke war +unklar, dunkel, fast nur wie ein innerliches „Sich zu etwas berufen +fühlen“, so daß er denn auch mit den Jahren viel von der anfänglichen +Klarheit verlor. Als er nun endlich in Petersburg eintraf, da war +eigentlich alles gleichsam unbewußt geschehen, wie aus einer alten +Gewohnheit an einen ewigen Wunsch und ein ewiges Sichausmalen dieser +Reise, so daß er beinahe selbst nicht mehr wußte, was er hier eigentlich +suchte. Sein Enthusiasmus war konvulsivisch, sprunghaft, oft mit +geradezu galliger Bitterkeit gepaart, oft sinnverwirrend, als wollte er +mit diesem Enthusiasmus sich selbst betrügen und glauben machen, daß +seine Kraft noch ungebrochen, daß seine erste Glut, seine erste +Begeisterung noch ungeschwächt seien. Diese immerwährende Begeisterung +machte auf den kühlen, mehr wissenschaftlich veranlagten B. den größten +Eindruck. Sie blendete ihn und er sah in meinem Stiefvater geradezu ein +zukünftiges Weltgenie. Anders konnte er sich die Zukunft seines +Gefährten gar nicht vorstellen. Doch bald wurden ihm die Augen geöffnet +und er erkannte, mit wem er es zu tun hatte. Er sah und begriff, daß +diese ganze gewaltsame Begeisterung, diese Hitze und Ungeduld nichts +anderes waren, als eine unbewußte Verzweiflung in der Erinnerung an die +verlorene Zeit, in der er seine Begabung nicht auszuentwickeln vermocht +hatte, begriff, daß schließlich sogar das Talent an sich, vielleicht +sogar auch in den Anfangsjahren, gar nicht so groß gewesen war, fühlte +heraus, daß da viel Verblendung mitspielte, unnützes Selbstgefühl, +ursprünglicher Ehrgeiz und eine unausgesetzt arbeitende Phantasie, die +sich immer nur mit dem eigenen Genie beschäftigt hatte. + +„Aber trotzdem,“ erzählte B., „muß ich die eigenartige Natur meines +Freundes immer wieder bewundern. Vor meinen Augen spielte sich ein +steter Kampf ab – der verzweifelte, fieberhafte Kampf eines krampfhaft +angespannten Willens mit einer inneren Kraftlosigkeit. Der Unglückliche +hatte sich bis dahin ganze sieben Jahre mit den bloßen Gedanken an +seinen zukünftigen Ruhm begnügt und über diesen Zukunftsträumen gar +nicht bemerkt, wie ihm mit der Zeit die Grundlage der Kunst immer mehr +abhanden kam, wie er nach und nach seine Technik verlor und damit das +Werkzeug seiner Kunst. Währenddessen aber entstanden in seiner wirren +Phantasie jeden Augenblick die großartigsten Zukunftspläne. Er wollte +nicht etwa nur ein erstklassiges Genie sein, der größte aller +Violinvirtuosen der Welt, für den er sich bereits allen Ernstes hielt, – +nein, er wollte überdies noch Komponist werden, – ohne vom Kontrapunkt +auch nur eine Ahnung zu haben. Am meisten jedoch wunderte mich,“ fuhr B. +fort, „daß dieser Mensch bei seinen geringen Kenntnissen von der Theorie +der Kunst ein so tiefes, klares und man kann wohl sagen instinktives +Kunstverständnis hatte. Er erfaßte und fühlte die Kunst so tief, daß es +schließlich kein Wunder war, wenn er sich in seiner Selbsterkenntnis +verirrte und sich, anstatt für einen tief nachempfindenden Kunstkritiker +zu halten, für einen Kunstschöpfer, für ein Genie hielt. Zuweilen konnte +er in seiner ungeschliffenen einfachen Ausdrucksweise, ohne, wie gesagt, +etwas von einer Theorie oder Musikwissenschaft zu ahnen, so tiefe +Wahrheiten sagen, daß ich ihn ganz verblüfft ansah und nicht begriff, +wie er das alles erraten hatte, er, der nie etwas las, nie etwas lernte! +Ich verdanke ihm viel,“ gestand B. freimütig, „denn er hat mit seinen +Ratschlägen mir nicht wenig bei meiner Selbstvervollkommnung geholfen. +Was nun mich betrifft,“ fuhr B. fort, „so war ich über meine Zukunft +ganz ruhig. Auch ich liebte meine Kunst leidenschaftlich, obwohl ich von +Anfang an wußte, was aus mir werden konnte, eben, daß ich im Grunde doch +nur so etwas wie ein Handwerker in der Kunst bleiben würde. + +Ich bin aber doch stolz darauf, daß ich das, was die Natur mir gegeben, +nicht wie ein fauler Knecht verscharrt, sondern hundertfältig vergrößert +habe. Und wenn man jetzt die Reinheit meines Spiels hervorhebt und meine +ausgearbeitete Technik bewundert, so verdanke ich das nur meiner +ununterbrochenen, unermüdlichen Arbeit, der vollen Erkenntnis, d. h. der +sachlichen Einschätzung meiner Kräfte, meiner freiwilligen +Selbstverleugnung und meinem ewigen Kampf gegen Eigendünkel, gegen +Zufriedenheit mit dem eigenen Können, gegen die Faulheit, der +natürlichen Folge dieser Zufriedenheit.“ + +B. hatte dann versucht, auch seinerseits auf den Gefährten einzuwirken, +nachdem er sich ihm anfangs ganz untergeordnet, aber sein gutgemeinter +Rat hatte den anderen nur geärgert. Die Folge davon war eine langsam +zunehmende Entfremdung. Bald bemerkte B., daß sein Genosse sich immer +häufiger einer gewissen Apathie hingab, verstimmt und gelangweilt war, +daß die Ausbrüche seiner Begeisterung immer seltener wurden, und sich +statt dessen eine trostlose Mutlosigkeit bemerkbar machte. Zu guter +Letzt schien Jefimoff auch seine Geige zu vergessen und rührte sie oft +wochenlang nicht an. Da war es denn nicht mehr weit bis zum endgültigen +Verkommen – und bald gab der Arme sich allen Lastern hin. Wovor ihn der +Gutsbesitzer gewarnt hatte, gerade das geschah: er ergab sich dem Trunk. +B. beobachtete ihn mit Entsetzen. Raterteilen und Zureden half nichts, +das wußte er, und übrigens getraute er sich kaum noch, dem anderen ein +Wort zu sagen. Allmählich verfiel Jefimoff in den größten Zynismus und +verlor offenbar jedes Ehrgefühl. So, zum Beispiel, schämte er sich nicht +im geringsten, auf B.s Kosten zu leben, und zwar tat er das in einer +Art, als habe er das volle Recht dazu. Dabei waren die Mittel knapp. B. +schlug sich noch irgendwie durch, erteilte Unterricht, spielte bei +Kaufleuten, Deutschen und geringeren Beamten, wenn diese ihre Kränzchen +und Tanzabende hatten, bekam dafür zwar nicht viel, aber immerhin genug, +nun, um sich eben durchzuschlagen. Jefimoff dagegen wollte, wie es +schien, die Notlage seines Freundes überhaupt nicht bemerken. Er nahm +nicht die geringste Rücksicht auf ihn, sprach mit ihm in strengem Tone +oder würdigte ihn mehrere Tage lang keines Wortes. Einmal äußerte B. mit +aller Rücksicht und Vorsicht zugleich, daß es nicht schlecht wäre, wenn +er sein Geigenspiel nicht gar zu sehr vernachlässigte, da er sonst ganz +aus der Übung kommen könnte. Darüber ärgerte sich Jefimoff sehr und +erklärte, er werde seine Geige hinfort überhaupt nicht mehr anrühren, – +ganz als erwartete er, daß jemand ihn kniefällig darum bitte. Ein +anderes Mal forderte B. ihn auf, mit ihm auf einem jener Bälle zu +spielen: es sei ein größeres Fest, eine Geige genüge nicht. Diese +Aufforderung versetzte Jefimoff in helle Wut. Empört erklärte er, er sei +kein Straßenfiedler und könne nicht so gemein sein wie B. und die edle +Kunst dermaßen erniedrigen, daß er simplen Spießbürgern, die von seinem +Spiel und Talent doch nichts begriffen, zum Tanze aufspielte. B. +erwiderte darauf kein Wort, Jefimoff aber begann in der Abwesenheit des +Genossen, der fortgegangen war, um zu spielen, über den Zwischenfall +nachzudenken und kam zu dem Schluß, B. habe ihm damit nur sagen wollen, +daß er, Jefimoff, auf seine Rechnung lebe, und mit dieser Andeutung habe +er ihm den Gedanken nahelegen wollen, gleichfalls Geld zu verdienen. Als +B. zurückkehrte, begann Jefimoff plötzlich, ihm wegen seiner gemeinen +Handlungsweise Vorwürfe zu machen, und schloß damit, daß er keine Minute +länger mit ihm unter einem Dach bleiben werde. Er verschwand auch +wirklich auf zwei Tage, am dritten aber erschien er wieder bei B., als +wäre nichts geschehen, und setzte ruhig seine alte Lebensweise bei ihm +fort. + +Nur die frühere Freundschaft und die alte Gewohnheit, und überdies wohl +auch noch das Mitleid, das B. mit dem verlorenen Menschen empfand, +hielten ihn davon ab, dieser schmählichen Lebensweise ein Ende zu machen +und sich endgültig von seinem Stubengenossen loszusagen. Schließlich +trennten sie sich aber doch. B. hatte Glück: er gewann die Protektion +eines hohen Würdenträgers und bald darauf gab er sein erstes Konzert, +das glänzend ausfiel. Damals war er schon ein vorzüglicher Künstler und +bald verschaffte ihm seine schnell zunehmende Berühmtheit eine Stellung +im Orchester der Kaiserlichen Oper, wo er vollauf verdienten Erfolg +errang. Beim Abschied gab er Jefimoff noch Geld und beschwor ihn, doch +wieder auf den rechten Weg zurückzukehren. Auch jetzt kann B. nicht ohne +ein inniges Mitgefühl an ihn zurückdenken. Seine Bekanntschaft mit +Jefimoff ist eben eines der größten Erlebnisse seiner Jugend gewesen und +hat den tiefsten Eindruck in ihm hinterlassen. Gemeinsam hatten sie das +gleiche Ziel erreichen wollen, wie sollten sie sich da nicht einander +anschließen. Einerseits kam es, wie es nicht anders kommen konnte; +anderseits waren es vielleicht gerade die Seltsamkeiten und die +gröbsten, unangenehmsten Mängel Jefimoffs, die B. noch mehr an ihn +fesselten. B. begriff ihn vollkommen. Er durchschaute ihn völlig und +ahnte, wie das ganze enden mußte. Beim Abschied umarmten sie sich und +ihre Augen wurden feucht. Da sagte Jefimoff unter Tränen mit versagender +Stimme, daß er ein verlorener Mensch sei, er wisse es ja schon längst, +aber jetzt erst habe er die ganze Größe seines Elends erfaßt. + +„Ich habe kein Talent!“ stieß er hervor, totenblaß. + +B. war erschüttert. + +„Höre, Jegor Petrowitsch,“ begann er, „was machst du aus dir? Du +richtest dich mit deiner Verzweiflung nur zugrunde, hab’ doch nur ein +bißchen Ausdauer und Mannhaftigkeit! Jetzt sagst du in einer Anwandlung +von Mutlosigkeit, du hättest kein Talent. Das ist aber doch nicht wahr! +Du hast Talent, ich versichere dich! Gerade _du_ hast es! Ich ersehe das +schon daraus, wie du Kunst fühlst und begreifst. Und ein Beweis dafür +ist auch schon dein ganzes früheres Leben. Du hast mir doch alles +erzählt, und auch damals schon hat dich unbewußt dieselbe Verzweiflung +ergriffen. Damals hat dein erster Lehrer, jener seltsame Mensch, von dem +du mir so oft gesprochen hast, deine Liebe zur Kunst geweckt und dein +Talent erraten. Du fühltest das damals ebenso stark und schwer, wie du +es auch jetzt wieder fühlst. Damals wußtest du selbst nicht, was in dir +vorging. Du hieltest es nicht aus bei deinem Gutsbesitzer und du +wolltest fort von ihm, du wolltest etwas anderes, – aber was eigentlich, +das wußtest du nicht. Dein Lehrer starb viel zu früh. Er ließ dich mit +einem unklaren Streben zurück und vor allen Dingen erklärte er dir nicht +dich selbst. Du fühltest, daß jener Weg nichts für dich war, du +brauchtest einen anderen, einen breiteren, du fühltest, daß dir anderes +zu erreichen bestimmt war, aber du begriffst nicht, wie dieses andere zu +erreichen sei, und in deiner Sehnsucht und Qual ward dir deine ganze +Umgebung zuwider und verhaßt. Deine sechs Jahre Armut und Elend hast du +nicht umsonst durchgemacht: du hast in der Zeit gelernt, du hast +gedacht, du hast dich selbst, hast deine Kraft erkannt. Jetzt kennst du +die Kunst und zugleich deine Bestimmung. Mein Freund, glaub’ mir, jetzt +tut dir nur noch Ausdauer und Mannhaftigkeit not. Dir steht Größeres +bevor, als mir: du bist hundertmal mehr Künstler, als ich, doch gäbe +Gott dir wenigstens ein Zehntel von meiner Ausdauer. Lerne und trink +nicht, wie dir dein prächtiger alter Gutsbesitzer bereits sagte, und die +Hauptsache – fange von neuem an, fang von Anfang an, fang mit dem +Alphabet an, wenn du willst. Was quält dich denn jetzt? Armut? Hunger? +Aber Armut und Hunger entwickeln doch den Künstler. Sie gehören zum +Anfang, sind sogar untrennbar mit ihm verbunden. Vorläufig kennt dich +noch niemand, und es will dich auch niemand kennen, so ist nun einmal +die Welt. Das wird anders werden, sobald man erfährt, daß du Talent +hast. Dann werden dich wieder Neid, kleinliche Gemeinheit, vor allem +aber Dummheit viel mehr bedrücken, als Armut es je vermag. Ein Talent +bedarf der Teilnahme, es will verstanden sein. Du aber wirst dann erst +sehen, wie die Leute sind, die dich umgeben, sobald du nur annähernd +etwas erreicht hast. Was sich in dir durch mühevolle Arbeit, +Entbehrungen, Hunger und schlaflose Nächte herausgearbeitet hat, das +werden sie geringschätzen, verachten oder überhaupt nicht beachten. Sie +werden dich nicht ermutigen, dich nicht trösten, diese deine zukünftigen +Freunde. Sie werden dir auch nicht sagen, was in dir gut und echt ist, +wohl aber werden sie mit boshafter Freude deine Fehler hervorheben, +werden gerade darauf hinweisen, was an dir schlecht ist, und darauf, +worin du irrst, und unter dem äußeren Anschein der Kaltblütigkeit und +der Gleichgültigkeit oder gar Verachtung deiner Person werden sie über +jeden deiner Fehler frohlocken, als hätten sie ein Fest zu feiern – und +Fehler hat doch wohl ein jeder! Du aber bist hochmütig, bist oft am +unrechten Platz stolz, du könntest leicht einen dünkelhaften Wicht +kränken, und dann wehe dir! Du bist allein und ein einziger, sie aber +sind viele – sie werden dich mit Stecknadeln zu Tode quälen. Sogar ich +fange schon an, das kennen zu lernen. So nimm dich doch jetzt endlich +zusammen! Du bist noch längst nicht so arm, daß du nicht leben könntest, +nur mißachte die Arbeit nicht, säge Holz, wie ich Holz gesägt habe bei +den Bürgern und Beamten, wenn sie tanzten. Aber du bist ungeduldig, du +bist krank vor Ungeduld, es ist zu wenig Einfachheit in dir, du +verstellst dich zu viel, du denkst zu viel, du gibst deinem Kopf zu viel +Arbeit. In Worten bist du dreist, sobald du aber den Violinbogen in die +Hand nehmen mußt, wirst du mutlos. Du bist eigenliebig und es steckt in +dir wenig Tapferkeit. So sei doch mutiger, warte ab, lerne, und wenn du +auch deinen Kräften nicht traust, so arbeite nur. Es steckt Glut in dir, +du hast etwas Elementares! Vielleicht erreichst du dein Ziel, oder wenn +nicht, so laß es doch immerhin auf das Vielleicht ankommen. Verlieren +kannst du dabei auf keinen Fall etwas, um so größer aber ist der +mögliche Gewinn. Hier, Freund, ist euer russisches ‚Vielleicht‘ eine +große Sache!“ + +Jefimoff hörte seinen einstigen Genossen mit tief aufgewühlten Gefühlen +an. Während jener noch sprach, trat allmählich wieder Farbe in seine +bleichen Wangen, seine Augen leuchteten auf und Mut und Hoffnung +erglänzte in ihnen. Aber der gute Mut wurde schnell zum Selbstgefühl und +dann zu der bei ihm üblichen Anmaßung: als B. sich dem Schluß seiner +Standrede näherte, da hörte Jefimoff nur noch zerstreut und schon +ungeduldig zu. Trotzdem drückte er ihm zum Schluß kräftig die Hand, +dankte und – schnell wie immer in seinen Übergängen von tiefster +Mutlosigkeit und Selbstverurteilung zum größten Hochmut, wenn nicht gar +zur frechsten Vermessenheit – erklärte er selbstbewußt, der Freund möge +sich nicht um ihn sorgen, er wisse, wie er seine Zukunft zu gestalten +habe. Er hoffe, bald gleichfalls Protektion zu finden, dann werde er ein +Konzert geben und mit einem Schlage Ruhm und Geld erwerben. – B. zuckte +mit den Achseln, erwiderte nichts darauf und sie schieden voneinander, +natürlich nicht auf lange. Jefimoff verjubelte sogleich das empfangene +Geld und suchte ihn dann auf, um ihn wieder um Geld anzugehen. Dasselbe +tat er zum dritten-, vierten- und bald zum zehntenmal, bis endlich die +Geduld B.s erschöpft war und er ihm sagen ließ, er sei nicht zu Hause. +Von da an verlor er ihn ganz aus den Augen ... + +Es vergingen ein paar Jahre. Da stieß B. eines Tages auf dem Heimwege +aus der Probe in einer Gasse vor einer schmutzigen Trinkstube mit einem +schlecht gekleideten, betrunkenen Menschen zusammen, der ihn plötzlich +beim Namen nannte. Es war Jefimoff. Er hatte sich sehr verändert, sein +Gesicht war gelb und aufgedunsen. Man sah es ihm auf den ersten Blick +an, daß das liederliche Leben bereits seinen Zügen einen unverwischbaren +Stempel aufgedrückt hatte. B. war trotzdem sehr erfreut, ihn +wiederzusehen, und folgte ihm in die Trinkstube, wohin Jefimoff ihn +schon nach den ersten zwei Worten zog. Dort, in einer abgelegenen +kleinen verräucherten Stube, musterte er etwas eingehender seinen +ehemaligen Stubengenossen. Da erst sah er, daß jener ganz zerlumpt war +und daß seine Stiefel zerrissen waren. Die zerknüllte Hemdbrust hatte +Weinflecke. Sein Haar fing schon an zu ergrauen und sich zu lichten. + +„Wie geht es dir jetzt? Wo lebst du?“ fragte B. + +Jefimoff schaute etwas betreten darein, im ersten Augenblick sogar +beinahe eingeschüchtert, und antwortete so unzusammenhängend und +stockend, daß B. nahe daran war, ihn für halbwegs verrückt zu halten. +Endlich gestand Jefimoff, er könne nicht sprechen, bevor er nicht einen +Schnaps getrunken, hier aber habe er schon lange keinen Kredit mehr. Er +errötete, als er das sagte, wollte sich aber mit einem gewissen flotten +Gehaben darüber hinweghelfen, was ihm jedoch mißlang: es wurde daraus +etwas aufdringlich Gemeines, Unnatürliches, so daß der ganze Eindruck +ein recht trauriger war und in dem gutmütigen B. aufrichtiges Mitleid +erweckte. Er sah, daß alle seine Befürchtungen eingetroffen waren. Er +bestellte also Schnaps. Jefimoffs Gesicht veränderte sich vor +Dankbarkeit und er geriet so aus dem Gleichgewicht, daß er mit Tränen in +den Augen fast im Begriffe war, B. die Hand zu küssen. Während des +Essens erfuhr dann B. zu seiner größten Verwunderung, daß der +Unglückliche inzwischen geheiratet hatte. Aber seine Verwunderung nahm +noch zu, als er gleich darauf hören mußte, daß die Frau an seinem ganzen +Unglück und Elend schuld sei, daß die Heirat sein ganzes Können +vernichtet habe. + +„Aber wie denn das?“ fragte B. + +„Ja, Freund, seit zwei Jahren nehme ich meine Geige nicht mehr in die +Hand,“ antwortete Jefimoff. „Sie ist eben ein ungebildetes, rohes Weib, +eine richtige Köchin. Daß sie der ...! Na ja. Wir liegen uns nur in den +Haaren, das ist alles, was wir tun.“ + +„Aber warum hast du sie denn geheiratet, wenn sie so ist?“ + +„Hatte nichts zu essen. Da machte ich ihre Bekanntschaft. Sie besaß etwa +tausend Rubel ... da heiratete ich sie denn. Sie aber hatte sich in mich +verliebt. Hat sich selbst mir an den Hals gehängt. Wer hatte sie drum +gebeten! Das Geld ist verlebt, vertrunken, Freund, und – was Kunst! Es +ist alles zum Teufel gegangen!“ + +B. hatte die Empfindung, als wolle Jefimoff sich gewissermaßen +rechtfertigen, und zwar schien er sich damit sehr zu beeilen, wie um +einer Bemerkung oder einer Frage zuvorzukommen. + +„Habe alles an den Nagel gehängt, alles,“ fuhr er fort und erzählte +dann, daß er es in der letzten Zeit im Spiel fast bis zur Vollendung +gebracht habe, so daß ... nun ja, B. sei zwar einer der ersten +Violinspieler in Petersburg, aber ihm, Jefimoff, könne er doch nicht +einmal das Wasser reichen, wenn er, Jefimoff, mal spielen wollte. + +„Ja, aber wie steht es denn jetzt mit dir?“ fragte B., dem der ganze +Sachverhalt noch unklar war. „Warum suchst du dir dann nicht einen +Verdienst?“ + +„Äh! – lohnt nicht!“ bemerkte Jefimoff mit wegwerfender Gebärde. „Wer +versteht denn bei euch etwas von wirklicher Kunst! Was wißt ihr +überhaupt? Nicht so viel, gar nichts wißt ihr! Irgend so einen +Hopserwalzer den Ballettspringern vorzufiedeln – das könnt ihr +allenfalls noch. Aber das ist auch alles. Wirkliche Künstler habt ihr ja +überhaupt noch nicht gesehn, noch viel weniger gehört. Wozu euch +aufrütteln! Bleibt, was ihr seid!“ + +Hierbei machte Jefimoff wieder eine geringschätzige Bewegung – geriet +aber ins Wanken, da er schon ziemlich viel getrunken hatte. Dann +forderte er B. auf, zu ihm zu kommen. Dieser lehnte das vorläufig ab, +fragte ihn aber nach seiner Adresse und versprach, ihn am nächsten Tage +aufzusuchen. Jefimoff, der nun schon genug gegessen und getrunken hatte, +blickte spöttisch seinen früheren Genossen an und schien die größte Lust +zu verspüren, ihn irgendwie zu verletzen. Als sie aufbrachen, griff er +schnell nach B.s kostbarem Pelz und hielt ihn, wie ein Geringerer einem +Höherstehenden, dem er beim Anziehen behilflich sein will. Und als sie +durch das vordere Zimmer, die eigentliche Schenkstube, gingen, blieb er +stehen und stellte B. den Wirtsleuten und dem Publikum als den ersten +und einzigen Violinvirtuosen der ganzen Hauptstadt vor. Kurz, er benahm +sich schmutzig. + +Nichtsdestoweniger suchte B. ihn am anderen Morgen in der Dachkammer +auf, wo wir in größter Armut lebten. Ich war damals vier Jahre alt und +meine Mutter war schon seit zwei Jahren mit Jefimoff verheiratet. Meine +arme Mutter! Als völlig unbemittelte Gouvernante hatte sie, die eine +vortreffliche Bildung besaß und schön war, einen älteren Bekannten +geheiratet, meinen Vater, um aus der Armut herauszukommen. Aber die Ehe +dauerte kaum drei Jahre. Mein Vater starb ganz plötzlich. Und als sein +geringer Nachlaß unter seinen Erben verteilt wurde, blieb meine Mutter +mit mir und einer nur kleinen Summe zurück, die von der +Hinterlassenschaft ihres Mannes ihr zufiel. Wieder eine +Gouvernantenstelle anzunehmen, wäre kaum möglich gewesen, jetzt, wo sie +ein kleines Kind hatte. In dieser Zeit machte sie durch einen Zufall die +Bekanntschaft Jefimoffs und verliebte sich tatsächlich in ihn. Auch sie +war eine Enthusiastin, eine phantastische Träumerin. Auch sie sah in ihm +ein großes Genie und glaubte seinen stolzen Worten, wenn er von seiner +glänzenden Zukunft sprach. Ihrer Phantasie schmeichelte die Vorstellung +von dem beneidenswerten Los, die Stütze und Gefährtin eines genialen +Künstlers zu sein, und so heiratete sie ihn. Schon im ersten Monat +schwanden alle ihre Hoffnungen und Träume: vor ihr blieb nichts, als die +armselige Wirklichkeit. Jefimoff, der sie vielleicht nur aus dem Grunde +geheiratet hatte, weil sie etwa tausend Rubel besaß, legte, als das Geld +zu Ende war, sogleich die Hände in den Schoß und erklärte allen und +jedem – es war geradezu, als hätte er sich über den Vorwand gefreut –, +daß die Heirat sein Talent vernichtet habe, daß er in einer dumpfen +Stube nicht arbeiten könne, unter den Augen einer hungrigen Familie ... +da könne der Verstand weder Noten noch Melodien fassen, und schließlich: +dieses Unglück sei ihm eben offenbar von Anfang an bestimmt gewesen. Wie +es scheint, hat er bald selbst an die Richtigkeit seiner Klagen geglaubt +und sich vermutlich über diese neue Rechtfertigungsmöglichkeit wirklich +gefreut. Dieser unselige, trotz aller Begabung verlorene Mensch hatte +wohl schon lange nach einem äußeren Vorwand gesucht, dem er alles +Unglück und alle Mißerfolge zuschreiben konnte. An den furchtbaren +Gedanken, daß er für die Kunst schon längst und unrettbar verloren war, +an den konnte er sich natürlich nicht gewöhnen. Er kämpfte krampfhaft +gegen diese unheimliche Erkenntnis an, kämpfte wie mit einem Alb, der +auf ihm lastete, und als die Wirklichkeit ihn endlich zu besiegen begann +und seine Augen für Sekunden öffnete, da war es ihm, als müßte er vor +Entsetzen den Verstand verlieren. Wie sollte er auch auf das verzichten, +was so lange Ziel und Zweck seines Lebens gewesen war, und so glaubte er +bis zur letzten Minute, oder redete es sich wenigstens ein, daß noch +nichts verloren sei. Kamen aber Stunden des Zweifels, dann gab er sich +wieder dem Trunk hin, um vom Rausch die Qual verdrängen zu lassen. Zu +guter Letzt wußte er vielleicht selbst nicht, wie unentbehrlich ihm die +Frau in dieser Zeit war. Sie war ja für ihn eine lebendige +Rechtfertigung, wie es denn fast zu seiner fixen Idee wurde, daß erst +dann alles wieder gut werden würde, wenn er seine Frau, _die an allem +Schuldige_, begraben habe. Meine arme Mutter verstand ihn aber nicht. +Als geborene Träumerin ertrug sie nicht einmal den ersten Schritt in der +feindlichen Wirklichkeit. Sie wurde heftig, böse, zänkisch, geriet jeden +Augenblick in Streit mit dem Mann, dem es geradezu ein Vergnügen zu sein +schien, sie zu quälen, und immer wieder sagte sie ihm, er solle doch +arbeiten, sonst verlerne er ja alles. Aber die Verblendung und die fixe +Idee meines Stiefvaters, überhaupt seine ganze Überspanntheit machten +ihn gefühllos und fast unmenschlich grausam gegen sie. Er lachte nur und +schwor, die Geige vor ihrem Tode nicht wieder in die Hand zu nehmen, +ohne sich über seine grausame Rücksichtslosigkeit auch nur Gedanken zu +machen, wenn er ihr dies ganz unumwunden ins Gesicht sagte. Meine +Mutter, die ihn trotz allem bis zu ihrem Tode leidenschaftlich liebte, +war einem solchen Leben nicht gewachsen. Sie wurde kränklich und zuletzt +wirklich krank, und da sie sich nie erholen konnte, lebte sie, leidend +wie sie war, nur unter ewigen Qualen. Und überdies mußte sie ganz allein +für den Unterhalt der Familie sorgen. Sie begann zu kochen und richtete +einen Mittagstisch für Fremde ein, aber ihr Mann entwand ihr heimlich +alles Geld, und da kam es denn nicht selten vor, daß sie diejenigen, die +das Essen abholen wollten, mit leerem Geschirr zurückschicken mußte. Als +B. uns aufsuchte, hatte sie das Kochen schon aufgegeben; sie +beschäftigte sich damals mit dem Färben alter Kleider und wusch außerdem +Wäsche. So fristeten wir unser Leben dort oben in der Dachstube. + +Unsere Armut überraschte B. + +„Hör’ mal, was redest du denn da von deiner vernichteten Kunst?“ wandte +er sich an meinen Stiefvater. „Sie ernährt dich doch, und was tust du?“ + +„Nichts!“ versetzte mein Stiefvater. + +Doch B. kannte noch nicht das ganze Unglück meiner Mutter. Ihr Mann +brachte oft, wenn er nach Hause kam, eine ganze Bande der +verschiedensten Kumpane mit und dann – was gab es dann nicht alles! + +B. redete lange Zeit auf seinen früheren Genossen ein. Er sagte ihm +auch, daß er ihm in keiner Beziehung helfen werde, wenn er sich nicht +besserte, auch Geld werde er ihm nicht geben, da er es doch nur +vertrinke. Zum Schluß bat er ihn, ihm etwas vorzuspielen, damit er +beurteilen könne, was sich für ihn tun ließ. Während mein Stiefvater die +Geige hervorholte, wollte B. meiner Mutter heimlich Geld zustecken, aber +sie nahm es nicht. Zum erstenmal sollte sie Almosen annehmen! Da gab B. +das Geld mir, und die arme Frau brach in Tränen aus. Mein Stiefvater +nahm die Geige aus dem Kasten, besah sie, sagte aber dann, daß er zuerst +Schnaps trinken müsse, ohne den könne er nicht spielen. Der Schnaps +wurde geholt. Er trank und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. + +„Ich werde dir aus alter Freundschaft etwas von meinen eigenen +Kompositionen vorspielen,“ sagte er B. und zog unter der Kommode ein +dickes, verstaubtes Heft hervor. + +„Alles dies habe ich selbst geschrieben,“ sagte er, auf das Heft +deutend. „Nun, du wirst ja sehen ... Das, Freund, ist etwas anderes als +eure Ballettstückchen!“ + +B. blätterte schweigend ein paar Seiten um; dann schlug er die Noten +auf, die er bei sich hatte, und bat ihn, daraus etwas vorzuspielen. + +Es kränkte Jefimoff, daß seine Kompositionen so zur Seite geschoben +wurden, aber er kam doch der Aufforderung nach, wohl in der Furcht, B.s +Gunst und Anteilnahme zu verlieren. + +Er spielte. B. erkannte, daß er in der Zeit nach ihrer Trennung viel +zugelernt, also auch viel gearbeitet haben mußte, obgleich er damit +geprahlt, daß er die Geige seit seiner Heirat nicht mehr angerührt habe. +Da hätte man die Freude meiner armen Mutter sehen sollen! Sie sah ihren +Mann an und war wieder stolz auf ihn. Der gute B. war aufrichtig erfreut +und wollte unbedingt meinem Stiefvater helfen. Er hatte schon damals +gute Beziehungen und so tat er denn auch alles mögliche für seinen armen +Studiengenossen, nachdem er von diesem das ehrenwörtliche Versprechen +gefordert und erhalten hatte, daß er sich gut aufführen werde. Zunächst +kleidete er ihn besser ein, natürlich auf seine Rechnung, dann ging er +mit ihm zu ein paar bekannten Persönlichkeiten, von denen es abhing, ob +Jefimoff in dem Orchester ankam, wo B. ihn unterbringen wollte. Was nun +die Annahme einer Stellung betraf, so hatte Jefimoff natürlich nur +großgetan, wie gewöhnlich, wenn es sich bloß um Worte handelte. +Wenigstens nahm er das Anerbieten seines alten Freundes mit der größten +Bereitwilligkeit an. B. erzählte mir, er habe sich für ihn geschämt +wegen der Schmeicheleien und der geheuchelten Bewunderung, mit denen +mein Stiefvater seine Dankbarkeit habe bezeugen wollen, wahrscheinlich +in der Absicht, sich dadurch B.s Wohlwollen zu sichern. Er begriff +endlich, daß man ihn auf den rechten Weg stellen wollte und er hörte +sogar auf, zu trinken. Schließlich erhielt er auch wirklich eine +Anstellung im Orchester eines Theaters. Die Prüfung bestand er gut, denn +in einem Monat hatte er sich durch Fleiß und guten Willen alles wieder +angeeignet, was er in anderthalb Jahren des Nichtstuns verlernt hatte. +Er versprach, auch hinfort gut zu üben, seinen neuen Pflichten getreu +nachzukommen und pünktlich und nüchtern zu sein. Unsere Verhältnisse +besserten sich jedoch deshalb noch keineswegs. Mein Stiefvater gab +nämlich von seinem Monatsgehalt meiner Mutter nicht einen Kopeken, er +verlebte alles allein, vertrank und verjubelte das Geld mit seinen neuen +Freunden, von denen er sich sogleich eine ganze Schar anlegte. Es waren +das größtenteils am Theater Angestellte, Choristen, Statisten, mit einem +Wort Leute, unter denen er der Erste sein konnte, während er alle +Talentvolleren geflissentlich mied. Diesen dagegen konnte er imponieren +und eine ganz besondere Achtung einflößen, was ihm schon gleich zu +Anfang gelungen war, indem er ihnen sofort erklärt und sie durch seine +Überzeugung gleichfalls überzeugt hatte, daß er eine verkannte Größe, +ein Genie sei, daß seine Frau ihn zugrunde gerichtet und daß ihr +Kapellmeister von der ganzen Musik keine Ahnung habe. Er machte sich +über alle Solisten des Orchesters lustig, ebenso über die Wahl der +Stücke, die gespielt wurden, wie auch über die Komponisten der Opern. +Schließlich fing er an, eine ganz neue Theorie der Musik zu erklären. +Kurz, er wurde dem ganzen Orchester lästig, geriet mit allen in Streit, +nicht zuletzt auch mit dem Kapellmeister, wurde seinen Vorgesetzten +gegenüber grob, erwarb sich den Ruf, der unruhigste, verdrehteste und +zugleich der nichtsnutzigste Mensch zu sein, und brachte es so weit, daß +er allen unerträglich wurde. + +Und in der Tat, es war doch recht seltsam anzusehen, daß ein so +unansehnlicher Mensch, ein so schlechter und fahrlässiger Musiker so +riesige Ansprüche stellte und in einem so selbstbewußten Ton prahlte. + +Es endete damit, daß er sich mit B. verfeindete: er erfand eine häßliche +Klatschgeschichte, eine ganz niederträchtige Verleumdung seines +Wohltäters und gab sie als selbsterlebte Wirklichkeit zum besten. Nach +einem halben Jahr wurde er aus diesem Orchester wegen Nachlässigkeit und +unzulässiger Aufführung in nicht nüchternem Zustande ausgeschlossen. +Doch damit hatte man ihn noch nicht abgeschüttelt. Bald sah man ihn +wieder in zerlumpten Kleidern, denn die guten waren verkauft oder +versetzt, und in diesen Kleidern suchte er seine gewesenen Kollegen vom +Orchester auf, ohne darauf zu achten, ob diese davon erbaut waren oder +nicht, erzählte Klatschgeschichten, schwätzte Unsinn, klagte über sein +Leben und forderte alle auf, zu ihm zu kommen, um seinen Hausdrachen zu +sehen. Natürlich fanden sich Zuhörer, es fanden sich auch solche, denen +es Spaß machte, dem an die Luft gesetzten Kollegen mittels Alkohol die +Zunge zu lösen und sich durch sein Geschwätz erheitern zu lassen. +Übrigens sprach er dann immer mit Geist und Witz, untermischte seine +Reden mit beißendem Spott und diversen Zynismen, die namentlich bei +gewissen Zuhörern stets des Beifalls sicher sind. Man nahm ihn für einen +etwas verschrobenen Narren, den plaudern zu hören in müßigen Stunden +ganz amüsant war. Auch zogen die Kollegen ihn gern auf, indem sie in +seiner Gegenwart von einem neuen großen Violinvirtuosen zu sprechen +anfingen, der sich angeblich auf einer Konzertreise in Rußland befinden +sollte und auch nach Petersburg kommen werde. Sobald er das hörte, +veränderte sich sein Gesicht, er wurde kleinlauter, erkundigte sich, wie +der Künstler hieß, wo er konzertierte, wie groß denn sein Talent sei, +und war offenbar eifersüchtig auf den Ruhm der ihm unbekannten Größe. Es +scheint, daß erst in dieser Zeit sein systematischer Wahnsinn, sein +Größenwahnsinn begann, diese fixe Idee, daß er der erste Geigenvirtuose, +mindestens in Petersburg sei, daß aber das Schicksal ihn verfolge und er +dank verschiedenen Intrigen natürlich nicht verstanden werde und deshalb +in seiner Unbekanntheit verbleibe. Letzteres schmeichelte ihm sogar, +denn es gibt solche Charaktere, die sich mit Vorliebe für verfolgt und +unverstanden halten und sich laut darüber beschweren, oder im stillen +zur Sättigung ihres Ehrgeizes wenigstens selber ihre nicht anerkannte +Größe anbeten. Jefimoff kannte alle Petersburger Violinvirtuosen und +konnte sie an den Fingern herzählen, doch war von ihnen allen, nach +seiner Ansicht, kein einziger ihm gewachsen. Seine Kollegen aber und +andere Sachverständige, auch manche Laien, die seinen Größenwahn +kannten, brachten das Gespräch gerade deshalb auf die angebliche neue +Größe, um ihn zu veranlassen, den vermeintlichen Rivalen im voraus zu +kritisieren. Ihnen gefiel sein Grimm, seine boshaften Einfälle, es +gefielen vor allen Dingen die sachlichen, klugen Bemerkungen, die er +machte, wenn er das Spiel der anderen kritisierte. Oft verstanden sie +ihn nicht, doch dafür waren sie überzeugt, daß kein zweiter auf der Welt +so geschickt und in so packenden Karikaturen die Größen unter den +zeitgenössischen Musikern darzustellen und herunterzureißen wußte. Und +sogar diese Künstler, über die er so schonungslos spottete, fürchteten +ihn ein wenig, denn sie kannten nicht nur seinen beißenden Witz, sondern +erkannten auch die Richtigkeit seiner Angriffe und Urteile. Man hatte +sich gewissermaßen schon daran gewöhnt, ihn in den Korridoren und hinter +den Kulissen des Theaters zu sehen. Die Bedienten gewährten ihm +widerspruchslos den Zutritt, wie einer unentbehrlichen Person. So wurde +er im Theater zu einer Figur, etwa von der Art eines musikalischen +Thersites. Das dauerte etwa zwei bis drei Jahre. Endlich aber fiel er +allen auch in dieser seiner letzten Rolle lästig. Man setzte ihn formell +vor die Tür und in den zwei letzten Jahren seines Lebens war mein +Stiefvater für diese Leute wie verschollen, keiner von ihnen sah ihn je +wieder. Übrigens – B. ist ihm doch noch zweimal begegnet, und zwar sah +er ihn in einer so elenden Verfassung, daß noch einmal das Mitleid +seinen Ekel besiegte. Er rief ihn an, aber das kränkte Jefimoff und er +tat, als hätte er nichts gehört, zog seinen alten verbeulten Filz noch +mehr über die Augen und ging vorüber. Es verging einige Zeit, da wurde +B. am Morgen eines großen Festtages gemeldet, daß sein ehemaliger +Kollege Jefimoff ihm zum Fest zu gratulieren wünsche. B. ging ihm +entgegen. Jefimoff stand berauscht im Vorzimmer, verbeugte sich äußerst +tief, fast bis zur Erde, seine Lippen murmelten etwas Unverständliches, +doch weigerte er sich hartnäckig, näherzutreten. Der Sinn seines +Besuches war ungefähr der: „Wie können wir unbegabten Leute mit so +großen und vornehmen Berühmtheiten wie Euer Wohlgeboren Umgang pflegen? +Für uns Geringe genügt auch ein Dienerplatz, wenn wir zum Fest +gratulieren kommen: wir machen unseren Bückling und gehen wieder.“ Mit +einem Wort, er war schmutzig, dumm und widerlich gemein. Seit jenem +Morgen sah ihn B. lange Zeit nicht mehr, bis – bis zu der Katastrophe, +mit der dieses ganze traurige, erstickend trostlose, kranke Leben +endete. Es geschah das auf eine furchtbare Weise. Diese Katastrophe ist +nicht nur das erschütterndste Erlebnis meiner Kindheit, sie ist sogar +für mein ganzes Leben entscheidend gewesen. Doch zuvor muß ich noch +erzählen, wie meine Kindheit war, und erklären, welche Bedeutung dieser +Mensch für mich hatte, dieser Mensch, der einen so qualvollen Eindruck +auf mein Kindergemüt machte und der die Ursache des Todes meiner armen +Mutter gewesen. + + + II. + +Meine Erinnerung an meine Kindheit reicht nicht sehr weit zurück, +eigentlich nur bis zu meinem zehnten Jahr. Ich weiß nicht, wie es zu +erklären ist, daß alles, was ich bis dahin erlebt habe, keinen einzigen +klaren Eindruck in mir hinterlassen hat, an den ich mich jetzt noch +erinnern könnte. Aber ungefähr von der Mitte meines neunten Jahres an, +da erinnere ich mich des Erlebten fast Tag für Tag: es ist wie eine +laufende Kette von Erinnerungen, ganz als wäre das alles erst gestern +geschehen ... Allerdings kann ich mich auch noch einiger früherer +Erlebnisse entsinnen, aber doch nur wie im Traum. So erinnere ich mich +z. B. des immer brennenden Lämpchens in der dunklen Ecke vor einem +altertümlichen Heiligenbilde; dann, wie ich einmal auf der Straße einem +Pferde unter die Beine geriet, worauf ich, wie man mir später erzählt +hat, drei Monate lang krank gelegen habe; ferner, wie ich während dieser +Krankheit einmal in der Nacht neben meiner Mutter, in deren Bett ich +schlief, plötzlich im Traum aufschrak und vom Schreck erwachte, und wie +ich mich dann vor der nächtlichen Stille und Dunkelheit und den in der +Ecke raschelnden und knabbernden Mäusen fürchtete; Ich zitterte die +ganze Nacht vor Angst, ich zog mir sogar die Decke über den Kopf, aber +ich wagte trotzdem nicht, meine Mutter zu wecken, woraus ich schließe, +daß meine Furcht vor ihr noch größer war als vor den Mäusen und der +Dunkelheit. Aber von der Stunde an, wo plötzlich das Bewußtsein in mir +erwachte, entwickelte ich mich schnell, wider Erwarten schnell, und +viele nichts weniger als kindliche Geschehnisse wurden mir mit einemmal +in geradezu unheimlicher Weise faßbar. Alles klärte sich vor mir auf, +alles wurde mir in kürzester Zeit verständlich. Und diese Zeit, in der +ich bewußt zu leben anfing, an die ich mich, im Gegensatz zu den +vorhergegangenen Jahren, mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erinnere, hat +in mir einen tiefen und traurigen Eindruck hinterlassen. Dieser Eindruck +wiederholte sich dann jeden Tag und wuchs mit jedem Tag; er verlieh der +ganzen Zeit meines Zusammenlebens mit meinen Eltern und somit meiner +ganzen Kindheit eine dunkle und eigenartige Farbe. + +Jetzt scheint es mir, daß ich damals ganz plötzlich wie aus einem tiefen +Traum erwachte (obschon dies mir, als es geschah, natürlich gar nicht +weiter auffiel). Ich fand mich in einem großen Zimmer mit einer +niedrigen Decke. Es war unsauber und die Luft darin dumpf. Die +getünchten Wände waren von schmutziggrüner Farbe, in einer Ecke stand +ein riesiger russischer Ofen. Durch die Fenster sah man auf die Straße, +oder richtiger auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses, und diese +Fenster waren breit und niedrig, fast nur wie horizontale Spalten in der +Wand. Die Fensterbretter waren so hoch vom Fußboden, daß ich auf einen +Stuhl und eine Fußbank klettern mußte, um mich, und auch noch immer mit +Mühe, auf meinen Lieblingsplatz hinaufschwingen zu können – wenn niemand +zu Hause war, der es mir verbot. Aus unserer Wohnung konnte man fast die +halbe Stadt sehen, denn wir wohnten unter dem Dach in einem +sechsstöckigen, sehr, sehr großen Hause. Unsere ganze Einrichtung +bestand aus der Ruine eines alten zerrissenen Ledersofas, das ganz +verstaubt war und aus dem überall der Bast der Polsterung hervorsah, +ferner einem einfachen, ungestrichenen Tisch, zwei Stühlen, einem Bett, +in dem meine Mutter schlief, einem Schränkchen in der Ecke, einer +Kommode, die immer schief stand, und einem zerrissenen papierenen +Wandschirm. + +Ich erinnere mich, es war einmal in der Dämmerung: das ganze Zimmer +befand sich in Unordnung, auf der Diele lag alles durcheinander, Bürsten +und Lappen, unser hölzernes Eßgeschirr, eine zerschlagene Flasche und +ich weiß nicht was noch. Ich erinnere mich, meine Mutter war sehr +aufgeregt und aus irgendeinem Grunde weinte sie. Mein Stiefvater saß in +der Ecke, wie immer in einem zerrissenen Rock. Er antwortete ihr irgend +etwas, antwortete unter einem höhnischen Auflachen, was meine Mutter +noch mehr ärgerte, und dann flogen wieder Bürsten und Teller auf den +Boden. Ich begann zu weinen und zu schreien und stürzte zu ihnen beiden. +Ich war entsetzlich erschrocken und umklammerte wie verzweifelt meinen +Vater, um ihn mit meinem Körper zu schützen. Gott mag wissen, weshalb es +mir schien, daß der Ärger meiner Mutter grundlos und mein Vater +unschuldig sei. Ich wollte für ihn um Verzeihung bitten, gleichviel was +für eine Strafe an seiner Stelle auf mich nehmen. Ich fürchtete mich +entsetzlich vor meiner Mutter und glaubte, daß alle sie ebenso +fürchteten. Meine Mutter sah mich im ersten Augenblick ganz verwundert +an, dann faßte sie mich an der Hand und zog mich hinter den Schirm. Ich +beschädigte meine Hand am Bett – es schmerzte sehr –, aber der Schreck +war doch größer als der Schmerz, und ich wagte nicht mal zu mucksen. Ich +weiß noch, meine Mutter machte darauf meinem Vater bittere Vorwürfe, +indem sie auf mich deutete. (Übrigens nenne ich ihn hier meinen Vater, +obgleich er doch nur mein Stiefvater war, aber ich habe es erst viel +später erfahren, daß zwischen uns überhaupt keine Verwandtschaft +bestand.) Diese ganze Szene dauerte etwa zwei Stunden und zitternd vor +Spannung bemühte ich mich, zu erraten, womit das alles enden werde. +Endlich verstummte der Streit und die Mutter ging irgendwohin fort. Da +rief mich der Vater zu sich, küßte mich, streichelte mein Haar, nahm +mich auf den Schoß und ich schmiegte mich fest und süß an seine Brust. +Es war die erste väterliche Zärtlichkeit, die ich empfand, und +vielleicht kann ich mich deshalb von der Zeit an so gut alles Erlebten +erinnern. Auch begriff ich, daß ich mir diese Liebe des Vaters durch +meine Parteinahme für ihn verdient hatte, und da kam mir, ich glaube, +zum erstenmal der Gedanke, daß er von der Mutter viel zu erdulden und +viel Leid zu ertragen habe. Seit der Zeit konnte ich mich von dieser +Vorstellung nicht mehr befreien und mit jedem Tag erregte und empörte +sie mich mehr. + +In jener Stunde erwachte in mir eine grenzenlose Liebe zum Vater, aber +es war eine wunderliche, gleichsam gar nicht kindliche Liebe. Ich würde +sagen, daß es eher ein gewisses mitleidvolles _mütterliches_ Gefühl war, +wenn eine solche Bezeichnung nicht komisch wäre – für ein Kind! Der +Vater erschien mir immer dermaßen bedauernswert, so ungerecht verfolgt, +so tyrannisiert, kurz, ich sah in ihm einen solchen Märtyrer, daß es für +mich etwas ganz Unmögliches gewesen wäre, ihn nicht bis zur +Besinnungslosigkeit zu lieben, zu trösten, nicht zärtlich zu ihm zu +sein, mich nicht aus allen Kräften zu bemühen, für ihn zu sorgen und ihm +Gutes zu tun. Ich verstehe bis jetzt noch nicht, woher mir gerade das in +den Kopf gekommen sein mag, daß er ein solcher Märtyrer, ein so +unglücklicher Mensch sei! Wer hat mir das eingegeben? Wie konnte ich, +ein Kind, von seinen persönlichen Mißerfolgen und Enttäuschungen +überhaupt etwas verstehen? Und doch verstand ich sie, wenn ich mir auch +alles nach meiner Art zurechtlegte. Aber vorzustellen vermag ich mir +trotzdem nicht, wie ich zu einer solchen Auffassung gelangen konnte. +Vielleicht kam das daher, daß meine Mutter gar zu streng mit mir umging, +weshalb ich mich denn an den Vater hielt, als an einen Menschen, der, +wie ich glaubte, ebenso ungerecht von ihr behandelt wurde und in dem ich +deshalb meinen Leidensgenossen sah. + +Ich erzählte bereits von meinem ersten Erwachen aus dem Kindheitsschlaf, +von meiner ersten Regung in einem bewußten Leben. Mein Herz war von dem +Augenblick an verwundet, meine Entwicklung setzte ein und vollzog sich +mit unglaublicher, sich überhastender, ermüdender Schnelligkeit. Jetzt +konnte ich mich nicht mehr mit bloßen äußeren Eindrücken zufriedengeben. +Ich begann nachzudenken, zu überlegen, zu beobachten; aber dieses +Beobachten geschah meinerseits so unnatürlich früh, daß mein Verstand +nicht umhin konnte, alles nach eigenen Begriffen und Vorstellungen sich +zurechtzulegen, und so befand ich mich denn plötzlich in einer anderen +nur mir eigenen Welt. Alles um mich herum wurde immer ähnlicher jenem +Wundermärchen, das der Vater mir oft erzählt hatte und das ich damals +natürlich für lauterste Wahrheit hielt. So entstanden in mir seltsame +Vorstellungen. Ich begriff sehr gut – aber wie das geschah, vermag ich +nicht zu sagen –, daß ich in einer sonderbaren Familie lebte und daß +meine Eltern irgendwie ganz und gar nicht den anderen Menschen glichen, +die ich in dieser Zeit kennen lernte. Ich fragte mich, weshalb sind die +anderen Menschen, die ich sehe, meinen Eltern auch äußerlich so +unähnlich? Weshalb sah ich andere lachen und warum fiel es mir plötzlich +auf, daß in unserem Winkel niemals gelacht wurde und niemand sich +freute? Welche Macht zwang mich, das neunjährige Kind, so aufmerksam +meine Umgebung zu beobachten und auf jedes Wort zu achten, das ich +zufällig von den Leuten vernahm, die mir auf der Treppe oder auf der +Straße begegneten, wenn ich abends meine Lumpen mit der alten Jacke +meiner Mutter bedeckte, um in den nächsten Krämerladen zu gehen und für +einige wenige Kupferlinge Zucker, Tee oder Brot zu kaufen? Ich begriff, +und ich weiß nicht wie, daß in unserem Winkel irgendein ewiger Kummer, +ein unerträgliches Leid herrschte. Ich zerbrach mir den Kopf, um zu +erraten, warum das so war, und ich weiß nicht, wer mir dabei half, das +Rätsel auf meine Art zu deuten: ich beschuldigte meine Mutter, ich hielt +sie für die Todfeindin meines Vaters, aber ich wiederhole – ich verstehe +es selber nicht, wie eine so ungeheuerliche Auffassung in meiner +Phantasie entstehen konnte. Und je mehr ich mich dem Vater anschloß, um +so mehr mußte ich meine arme Mutter hassen. Die Erinnerung an all das +quält mich noch jetzt schmerzlich. Doch da gab es noch einen anderen +Zwischenfall, der noch mehr als jener erste meine seltsame Annäherung an +den Vater bewirkte. + +Einmal, es war gegen zehn Uhr abends, schickte mich meine Mutter in den +Laden nach Hefe. Der Vater war nicht zu Hause. Auf dem Rückwege +stolperte ich versehentlich und fiel hin, mitten auf dem Trottoir, und +verschüttete den ganzen Inhalt der Tasse. Mein erster Gedanke war, wie +sehr sich die Mutter ärgern werde. Da fühlte ich einen schrecklichen +Schmerz im linken Arm, und zugleich merkte ich, daß ich mich nicht +aufrichten konnte. Die Menschen blieben stehen. Ein altes Frauchen +versuchte, mich aufzuheben, ein Knabe aber, der vorüberlief, schlug mit +einem Schlüssel auf meinen Kopf. Endlich wurde ich wieder auf die Füße +gestellt, ich hob die Scherben der zerschlagenen Tasse auf und ging +wankend weiter, kaum fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. +Plötzlich sah ich den Vater. Er stand in der Volksmenge vor einem +schönen Hause, das dem unsrigen gegenüberlag. Dieses Haus gehörte +irgendwelchen vornehmen Leuten und war an jenem Abend herrlich +erleuchtet. Vor dem Portal standen viele Equipagen und aus dem Inneren +hörte man Orchestermusik. Ich faßte den Vater am Rockschoß, zeigte ihm +die zerschlagene Tasse und sagte unter Tränen, daß ich vor Angst nicht +wagte, zur Mutter zu gehen. Ich war plötzlich ohne weiteres überzeugt, +daß er mich beschützen werde. Aber weshalb ich davon überzeugt war und +wer es mir gesagt oder mich sonst irgendwie darauf gebracht hatte, daß +ich von ihm mehr geliebt wurde, als von meiner Mutter, das weiß ich +nicht. Warum ging ich zu ihm ganz furchtlos, während ich mich vor der +Mutter aus lauter Furcht nicht zu zeigen wagte? Er nahm mich an der +Hand, tröstete mich, und dann sagte er, er wolle mir etwas Schönes +zeigen, und er hob mich auf und nahm mich auf den Arm. Ich konnte +freilich nichts sehen vor Schmerz, denn er hatte meinen Arm gerade an +der Stelle angefaßt, wo ich ihn mir beim Fall verletzt hatte, und das +tat entsetzlich weh, aber ich schrie nicht, nur um ihn nicht zu +beunruhigen. Er fragte mich mehrmals, ob ich etwas sähe. Und ich bemühte +mich mit allen Fibern, ihm so zu antworten, daß es ihm recht wäre, und +ich sagte, ich sähe rote Vorhänge hinter den Fenstern. Als er mich aber +über die Straße auf das andere Trottoir tragen wollte, näher zum Hause, +da fing ich plötzlich an zu weinen – ich weiß nicht, weshalb – umarmte +seinen Hals und bat ihn, schneller nach Haus zur Mutter zu gehen. Ich +weiß noch, seine Zärtlichkeit bedrückte mich und ich konnte es nicht +mehr ertragen, daß der eine von ihnen, der Vater, – während ich doch +beide so lieben wollte – gut und lieb zu mir war, und ich zur anderen, +zur Mutter nicht zu gehen mich getraute und mich vor ihr nur fürchtete. +Sie war übrigens fast gar nicht böse und sagte nur, ich solle schlafen +gehen. Ich weiß noch, der Schmerz im Arm wurde immer heftiger, ich +begann zu fiebern, doch war ich trotzdem ganz besonders glücklich und +froh darüber, daß alles so gut verlaufen, und die ganze Nacht träumte +mir von dem Hause gegenüber und von den schönen roten Vorhängen. + +Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein erster Gedanke, meine +erste Sorge das Haus mit den roten Vorhängen. Kaum hatte die Mutter das +Zimmer verlassen, da kletterte ich gleich auf das Fensterbrett, um das +schöne Haus zu betrachten. Eigentlich hatte dieses Haus auch früher +schon meine kindliche Neugier erregt. Am besten gefiel es mir abends, +wenn auf der Straße die Laternen angezündet wurden und wenn dann aus dem +Hause und in einem nahezu blutigen Licht die purpurroten Gardinen hinter +den großen Scheiben zu leuchten begannen. Vor dem Portal hielten meist +vornehme Equipagen, oder die Leute kamen gerade mit schönen, stolzen +Pferden angefahren, und alles das fesselte mich sehr: das Geräusch und +das Rufen der Kutscher und Diener, das ganze Hin und Her vor dem Hause +und die farbigen Laternen an den Wagen und die geputzten Damen, die dann +ausstiegen. Das ganze wurde in meiner kindlichen Phantasie zu etwas +kaiserlich Großartigem und märchenhaft Wundervollem. Und gar nach meiner +Begegnung mit dem Vater vor diesem reichen Hause, da wurde es in meinen +Augen noch einmal so schon und beachtenswert. Nun entstanden in meiner +erwachten Phantasie seltsame Vorstellungen und Vermutungen. Es ist wohl +auch kein Wunder, daß ich unter so eigentümlichen Menschen, wie meine +Eltern waren, gleichfalls zu einem eigentümlichen, zu einem +leidenschaftlich phantastischen Kinde wurde. Was mich ganz besonders +betroffen machte, war der Kontrast der Charaktere meiner Eltern. So z. +B. wunderte es mich, daß die Mutter sich beständig um unsere armselige +Wirtschaft sorgte und mühte und fortwährend dem Vater darüber Vorwürfe +machte, daß sie allein für alle arbeiten und alle ernähren müsse, – ich +fragte mich deshalb unwillkürlich, warum denn der Vater ihr gar nicht +half, warum er fast wie ein Fremder bei uns wohnte? Einzelne Worte +meiner Mutter gaben mir hierüber eine gewisse Aufklärung. So vernahm ich +mit Verwunderung, daß Papa ein Künstler sei (dieses Wort merkte ich mir +sogleich), ein Mensch mit einem großen Talent. Meine Vorstellungskraft +schuf nun sofort den Begriff für das neue Wort, eben daß ein „Künstler“ +etwas ganz Besonderes, jedenfalls ein außergewöhnlicher Mensch, also +etwas ganz anderes als die übrigen Menschen sein müsse. Vielleicht war +es zum Teil auch das Verhalten meines Vaters, das gerade diese +Auffassung begünstigte; oder vielleicht hatte ich auch vorher schon das +eine oder das andere gehört, was ich jetzt vergessen habe. Seltsam +verständlich war mir der Sinn der Worte, die der Vater einmal in meiner +Gegenwart mit einem ganz besonderen Gefühl sagte: „Es werde eine Zeit +kommen, wo auch er nicht mehr arm, sondern gleichfalls ein reicher Herr +sein werde, und erst wenn die Mutter gestorben sei, würde er endlich +aufleben.“ + +Ich weiß noch, ich erschrak entsetzlich, als ich diese Worte hörte. Mein +Schreck und Entsetzen waren so groß, daß ich nicht im Zimmer bleiben +konnte und auf unseren kalten Flur hinauslief, wo ich in Tränen +ausbrach: und ich weinte dort herzbrechend, die Ellenbogen auf das +Fensterbrett gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Dann aber, +als ich fortwährend darüber nachdachte und mich allmählich an diese +schreckliche Hoffnung des Vaters gewöhnte – kam mir bald meine eigene +Phantasie zu Hilfe. Wenigstens ertrug ich diese Qual der Ungewißheit +nicht lange und mußte wohl naturgemäß zu irgendeiner Vermutung gekommen +sein. Und da – ich weiß nicht, wie es anfing, aber zu guter Letzt +glaubte ich wirklich, daß der Vater, wenn erst die Mutter gestorben sei, +alsbald diese langweilige Wohnung verlassen und mit mir irgendwohin +fortziehen werde. Aber wohin? – das konnte ich mir auch bis zuletzt +nicht klar vorstellen. Ich erinnere mich nur, daß alles, womit ich jenen +Ort, wohin wir beide gehen würden (daß wir zwei unbedingt zusammen gehen +würden, stand für mich außer Frage), schmücken konnte, daß alles, was +ich mir an Schönheit und Glanz und Großartigkeit vorzustellen vermochte +– daß all das Verwendung in meinen Träumen von jener Zukunft fand. Ich +glaubte, wir würden dann sofort reich sein und ich brauchte nicht mehr +in den kleinen Laden zu gehen, um für die Mutter etwas zu besorgen, was +mir immer sehr schwer fiel, da die Kinder aus dem Nachbarhause mich nie +in Ruhe ließen, sobald ich aus dem Hause trat – und davor fürchtete ich +mich sehr, namentlich wenn ich Milch trug oder Eier, denn ich wußte, daß +ich fürs Verschütten oder Zerschlagen strenge Strafe zu erwarten hatte. +Und dann malte ich mir aus, wie der Vater sich sogleich schöne Kleider +bestellen und wir in ein glänzendes Haus ziehen würden, und da – da kam +nun jenes reiche Haus mit den roten Vorhängen, meine Begegnung mit dem +Vater vor demselben und der Umstand, daß er mir dort etwas zeigen +wollte, meiner Phantasie sehr zu Hilfe. In meinen Zukunftsträumen war es +ganz selbstverständlich, daß wir gerade in dieses Haus zogen, um dort +wie in ewiger Seligkeit zu leben. Seit der Zeit sah ich täglich, +namentlich abends, mit angespannter Neugier und Teilnahme aus unserem +Fenster nach diesem für mich gleichsam verzauberten Hause, dachte an die +Vorfahrt der Equipagen an jenem Abend und an die Gäste in den festlichen +Gewändern, wie ich sie vorher noch nie gesehen. Und dann bildete ich mir +ein, wieder die weichen Töne der Musik zu hören, die gedämpft aus dem +Hause drang, und ich beobachtete die Schattenbilder der Gestalten, die +sich auf den Vorhängen bewegten, und ich bemühte mich, zu erraten, was +dort hinter den Fenstern vorging, – und immer schien es mir, daß dort +das Paradies sei und ein ewiger Feiertag. Ich fing an, unsere armselige +Dachstube und die zerlumpten Kleider, die ich trug, zu hassen. Und als +einmal die Mutter mich schalt und mir befahl, vom Fensterbrett +herabzuklettern, wo ich gerade wie gewöhnlich saß, da kam mir sogleich +der Gedanke, sie sei eifersüchtig und wünsche nicht, daß ich dieses Haus +betrachtete oder an dasselbe auch nur dachte, unser Glück sei ihr +unangenehm und deshalb wolle sie es hintertreiben, wenigstens so lange, +wie sie noch lebte ... Und den ganzen Abend beobachtete ich sie +mißtrauisch. + +Wie konnte mein Herz sich nur so verstocken gegen ein so armes, +unglückliches Wesen, wie es meine Mutter war! Jetzt erst begreife ich +die ganze Qual ihres Lebens und kann nicht ohne stechenden Schmerz im +Herzen an ihr Martyrium denken. Ja selbst damals schon, in jener dunkeln +Zeit meiner wunderlichen Kindheit, während meiner unnatürlich schnellen +Entwicklung, krampfte sich mein Herz oft zusammen vor Schmerz und +Mitleid – und Unruhe, Verwirrung und Zweifel drängten sich in meine +Seele. Auch damals schon lehnte sich mein Gewissen gegen mich selbst auf +und ich empfand es sehr wohl, daß ich ungerecht gegen sie war. Aber es +war, als scheuten und mieden wir einander. Ich entsinne mich nicht, +jemals zärtlich zu ihr gewesen zu sein. Jetzt sind es oft die +geringfügigsten Erinnerungen, die meine Seele nachträglich erschüttern +und martern. Einmal, ich weiß noch (natürlich ist das, was ich jetzt +erzählen werde, nichtig, fast belanglos, aber gerade solche Erinnerungen +quälen mich nun am meisten und haben sich am tiefsten meinem Gedächtnis +eingeprägt), – einmal, an einem Abend, als der Vater nicht zu Hause war, +wollte die Mutter mich in den kleinen Laden schicken, um für sie etwas +Tee und Zucker zu kaufen. Aber sie dachte lange nach und konnte sich +immer nicht entschließen und zählte halblaut die Kupferstücke – ein +Bettelsümmchen, über das sie noch verfügen konnte. Sie zählte und +rechnete, wenn ich nicht irre, wohl eine halbe Stunde lang und konnte +doch nicht die Rechnung beenden. Zudem verfiel sie in manchen +Augenblicken, wahrscheinlich vom Leid, gleichsam in einen Zustand +vollkommener Gedankenversunkenheit. Als sähe ich sie vor mir, so +deutlich erinnere ich mich, wie sie vor sich hin sprach, langsam, dazu +die Geldstücke einzeln zählend, als wäre jedes Wort ein wichtiges Ding. +Ihre Wangen und Lippen waren blaß, ihre Hände zitterten beständig und +wenn sie allein dasaß und nachdachte, dann bewegte sie immer den Kopf +dazu. + +„Nein, nicht nötig,“ sagte sie endlich mit einem Blick auf mich, „ich +werde lieber zu Bett gehen und schlafen. Wie? Willst du schlafen, +Njetotschka?“ Ich schwieg; da hob sie ein wenig mein Kinn und sah mich +so still und freundlich an, und ihr trauriges Antlitz klärte sich auf +und verklärte sich in einem so mütterlichen und stillen Lächeln, daß +mein Herz weich wurde und zu pochen begann. Überdies hatte sie mich +„Njetotschka“ genannt, was bedeutete, daß sie mich in diesem Augenblick +besonders lieb hatte. Diese Koseform meines Namens hatte sie selbst +erfunden, indem sie meinen eigentlichen Namen Anna in ihn umwandelte. +Wenn sie mich so nannte, „Njetotschka“, dann wußte ich, daß sie damit +zärtlich zu mir sein wollte. Das rührte mich: ich hätte sie umarmen, +mich an sie schmiegen, zusammen mit ihr weinen mögen. Sie, die Arme, +streichelte dann lange meinen Kopf – vielleicht schon ganz mechanisch, +ohne daran zu denken, daß sie mich streichelte, und dazu sagte sie +immer: „Mein Kind, Annjeta, Njetotschka!“ Tränen wollten mir über die +Wangen rollen, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen und beherrschte +mich. Ich widersetzte mich gewissermaßen sogar ihrer Zärtlichkeit, indem +ich ihr gegenüber nicht das geringste Empfinden äußerte, obschon ich +mich damit selber quälte. Nein, diese Verstocktheit konnte nichts +Natürliches sein! Der Mutter Strenge allein hätte mich nicht so gegen +sie einnehmen können. Aber ich weiß, was es war: es war diese +meine phantastische Liebe zu meinem Vater, die mich in ihrer +Ausschließlichkeit verdarb. Zuweilen, wenn ich nachts auf meiner harten +Unterlage in meinem Schlafwinkel unter der dünnen Decke erwachte, dann +wandelte mich immer eine gewisse Furcht an. Halb im Schlaf erinnerte ich +mich, wie ich bis vor kurzem, als ich noch etwas jünger und kleiner war, +mit der Mutter in einem Bett geschlafen und mich dann nachts beim +Erwachen weniger gefürchtet hatte: da brauchte ich mich nur fest an sie +zu schmiegen, die Augen zu schließen und ich schlief sofort wieder ein. +Ich fühlte, daß ich sie, ob ich nun wollte oder nicht, im geheimen doch +lieben mußte. In meinem späteren Leben habe ich die Beobachtung gemacht, +daß viele Kinder oft entsetzlich gefühllos sind, und daß sie, wenn sie +jemand liebgewinnen, diesen einen Menschen ganz ausschließlich lieben, +und selbstverständlich auf Kosten anderer. So war’s auch mit mir. + +Bisweilen herrschte in unserer Dachstube ganze Wochen lang Totenstille. +Der Vater und die Mutter waren dann müde vom Streiten und ich lebte +zwischen ihnen wie gewöhnlich, immer schweigend, immer denkend, +träumend, mich sehnend, und stets in meinem Denken irgendwie bestrebt, +irgend etwas mir Unbekanntes zu enträtseln. Indem ich sie beide +beobachtete, begriff ich vollkommen, wie sie zueinander standen: ich +begriff diese ihre dumpfe ewige Feindschaft, begriff das ganze Leid und +diesen beklemmenden Druck des unordentlichen Lebens, das sich in unserer +Dachstube eingenistet hatte, – begriff sie natürlich ohne ihre Ursachen +und ihre ganze Tragweite, begriff sie eben nur so weit, wie ich sie +damals begreifen konnte. An langen, stillen Winterabenden beobachtete +ich sie aus meinem Winkel oft ganze Stunden ungestört, verfolgte jede +Bewegung, studierte förmlich das Gesicht des Vaters, und gab mir die +größte Mühe, zu erraten, woran er wohl denken mochte, und was ihn +geistig so beschäftigte. Und dann war es wieder die Mutter, die mich +betroffen machte und ängstigte. Sie konnte unermüdlich im Zimmer hin und +her gehen, stundenlang, oft ging sie sogar mitten in der Nacht, wenn sie +nicht schlafen konnte – sie litt überhaupt an Schlaflosigkeit – dabei +flüsterte sie vor sich hin, als wäre außer ihr niemand im Zimmer, bald +streckte sie die Arme aus, bald kreuzte sie sie über der Brust, bald +rang sie die Hände wie in Verzweiflung oder unendlichem Weh und Kummer. +Bisweilen rollten ihr Tränen aus den Augen, Tränen, die sie vielleicht +selbst nicht verstand, denn es kam vor, daß sie zeitweilig wie in ein +vollständiges Sich-selbst-vergessen versank. Sie hatte, zudem, außer +ihren Sorgen, irgendein sehr schweres körperliches Leiden, das sie aber +gar nicht beachtete. + +Die Einsamkeit und das Schweigen, das ich nicht zu brechen wagte, fingen +an, immer schwerer auf mir zu lasten. Schon ein ganzes Jahr hatte ich +mit erwachtem Geiste gelebt, immer gedacht, gegrübelt, geträumt und im +geheimen mich mit unbekannten, unklaren Wünschen gequält, die plötzlich +auftauchten. Ich war wie in einem Walde verirrt. Da war es der Vater, +der mich zuerst bemerkte, mich zu sich rief und mich fragte, warum ich +ihn so unverwandt ansähe. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete: +ich weiß nur noch, daß er nachdenklich wurde und zum Schluß sagte, er +werde ein Abc-Buch bringen und mich im Lesen unterrichten. Mit Ungeduld +erwartete ich nun dieses sonderbare Buch und baute die ganze Nacht +phantastische Träume auf – denn meine Vorstellung von einem Abc war +nichts weniger als klar. Endlich, d. h. am nächsten Tage, begann der +Vater auch wirklich mit dem Unterricht. Ich begriff sogleich, was von +mir verlangt wurde, und lernte schnell und gut, denn ich wußte, daß ich +ihm damit etwas zu Gefallen tat. Das war die glücklichste Zeit meines +damaligen Lebens. Wenn er mich lobte, meinen Kopf streichelte und mich +küßte, traten mir vor Freude sogleich Tränen in die Augen. So gewann +mich der Vater allmählich lieb. Bald wagte ich denn auch schon, ihn +anzureden, und dann sprachen wir oft ganze Stunden unermüdlich +miteinander, obschon ich mitunter kaum ein Wort von dem, was er mir da +erzählte, verstand. Aber ich fürchtete ihn doch noch irgendwie, +fürchtete vor allem, er könnte denken, daß ich mich mit ihm langweilte, +und deshalb bemühte ich mich nach Kräften, so zu tun, als verstünde ich +alles. Zu guter Letzt wurde es ihm zur Gewohnheit, abends mit mir zu +sitzen und zu sprechen. Sobald er mit sinkender Dämmerung nach Haus +zurückkehrte, kam ich unverzüglich mit meinem Abc-Buch. Er setzte mich +sich gegenüber auf die Bank und nach der Stunde las er mir gewöhnlich +noch aus einem Buch irgend etwas vor. Davon verstand ich in der Regel +fast nichts, aber ich lachte soviel ich konnte, denn ich glaubte, ihm +damit Vergnügen zu bereiten. Und in der Tat, ich unterhielt ihn und mein +Lachen schien ihn zu belustigen. Einmal aber erzählte er mir nach der +Stunde ein Märchen. Es war das erste Märchen, das ich hörte. Ich saß wie +verzaubert, fieberte vor Spannung, fühlte mich wie in ein Paradies +versetzt, während ich ihm zuhörte, und zum Schluß wußte ich kaum noch, +wo ich mich lassen sollte vor Begeisterung. Nicht, daß das Märchen an +sich mir dermaßen gefallen hätte – nein, das war es nicht; aber das +Unmöglichste war nun plötzlich möglich geworden, denn ich nahm doch +alles für bare Münze. Natürlich ließ ich sogleich meiner eigenen +Phantasie die Zügel schießen und im Nu waren alle meine phantastischen +Träume für mich ebensogut wie bereits verwirklicht. Da stand natürlich +gleich an erster Stelle das Haus mit den roten Vorhängen, die handelnde +Person aber war – aus unbekannten Gründen – der Vater, obwohl er selbst +das Märchen erzählte; dann kam die Mutter, die uns hinderte, ich weiß +nicht wohin fortzuziehen; ferner – oder richtiger – ganz zuerst ich +selbst mit meinen wunderschönen Träumen, mit allen meinen +phantastischen, meinen tollen, meinen ganz unmöglichen Zukunftsbildern: +alles das verwirrte sich dermaßen in meinem Kopf, daß es bald ein +unentwirrbares Chaos bildete und mir für eine Zeitlang den Eltern +gegenüber jedes Zartgefühl, sowie den Dingen gegenüber jedes +Unterscheidungsvermögen für das, was Wirklichkeit und das, was +Einbildung war, abhanden kam und ich Gott weiß wo lebte. In dieser Zeit +verging ich fast vor Verlangen, mit dem Vater darüber zu sprechen, was +uns bevorstand, was er selber erwartete und wohin er mich führen werde, +wenn wir endlich unsere Dachstube verließen. Ich war meinerseits +überzeugt, daß alles dies irgendwie sehr schnell in Erfüllung gehen +werde, wie aber und in welcher Art – das wußte ich nicht, und gerade +damit quälte ich mich so, daß ich mir beständig den Kopf darüber +zerbrach. Bisweilen – und zwar vornehmlich abends – schien es mir, daß +der Vater mir nun gleich heimlich zuzwinkern und mich auf den Flur +hinausrufen werde, und ich nahm schon heimlich, so daß die Mutter es +nicht sah, mein Abc-Buch und dann noch unser Bild, das seit undenklichen +Zeiten uneingerahmt an der Wand hing und das unbedingt mitzunehmen ich +in meinem Sinn fest beschlossen hatte – und dann liefen wir heimlich +irgendwohin fort und kehrten nie wieder zur Mutter zurück. Und eines +Tages, als die Mutter nicht zu Haus und der Vater gerade bei besonders +guter Laune war – das aber war er regelmäßig, wenn er etwas getrunken +hatte – da faßte ich mir ein Herz und ging zu ihm und fing an, von +irgend etwas zu sprechen, in der Absicht, bei der ersten Gelegenheit auf +mein geliebtes Thema überzugehen. Endlich erreichte ich es auch, daß er +belustigt auflachte und da – da umschlang ich ihn fest und begann mit +bebendem Herzen ganz angstvoll, als wäre ich im Begriff, von etwas +Geheimnisvollem und Furchtbarem zu sprechen, verwirrt und +zusammenhanglos und stockend ihn auszufragen: wohin wir denn eigentlich +gehen sollten und wann denn und was wir mitnehmen und wo wir wohnen +wollten und schließlich, ob wir denn nicht in das Haus mit den roten +Vorhängen einziehen würden? + +„Was für ein Haus? Rote Vorhänge? Was soll das? Was phantasierst du, +dummes Kind?“ + +Ich erschrak und versuchte angstvoll, ihm zu erklären, daß wir beide, +wenn die Mutter einmal gestorben sei, doch nicht mehr hier auf dem +Dachboden bleiben würden, daß er mich dann doch irgendwohin fortführen +müsse, wo wir zwei reich und glücklich leben könnten. Und zu guter Letzt +versicherte ich ihm noch, daß er selbst mir das alles versprochen habe. +Dabei war ich vollkommen überzeugt, daß er mir wirklich früher einmal so +etwas gesagt hatte, wenigstens schien es mir in dem Augenblick so. + +„Die Mutter? Gestorben? Wenn sie gestorben sein wird? ...“ wiederholte +er und er sah mich verwundert an, während sich zwischen seinen +buschigen, graumelierten Brauen eine Falte bildete und sein Gesicht sich +ein wenig veränderte. „Was phantasierst du, Kind, dummes, armes Ding +...“ + +Und dann schalt er mich, und schalt mich sogar sehr und sagte, ich sei +ein dummes Kind, ich könne nichts begreifen ... und ich weiß nicht, was +er noch alles sagte, – sicher war er sehr betrübt. + +Ich begriff allerdings kein Wort von seinen Vorwürfen, begriff vor allem +nicht, wie schmerzlich es für ihn sein mußte, daß ich seine Worte, die +er der Mutter im Zorn und unter dem Druck des Elends gesagt, aufgefangen +und behalten, sie womöglich auswendig gelernt und schon viel über sie +nachgedacht hatte. Aber was es auch sein mochte und so groß auch seine +eigene Überspanntheit war, dieser Zwischenfall mußte ihm doch zu denken +geben. Ich aber konnte gar nicht verstehen, weshalb er sich über mich +ärgerte, und ich fühlte eine gewisse Bitterkeit und Trauer in mir +aufsteigen, immer höher und höher, bis ich zu weinen anfing. Dann dachte +ich, daß alles, was uns dort in dem schönen Leben erwartete, wohl so +wichtig sei, daß ich dummes Kind weder davon sprechen noch daran denken +durfte. Nebenbei aber fühlte ich doch, obwohl ich ihn nicht sogleich +verstand, daß ich die Mutter gekränkt hatte. Darob erfaßten mich Angst +und Entsetzen und dann schlichen sich auch leise Zweifel in meine Seele +und machten dort alles in mir unsicher. Als er jedoch sah, daß ich +weinte und mich quälte, versuchte er mich wieder zu trösten, wischte mir +mit dem Ärmel die Tränen ab und bat mich, ich solle nicht mehr weinen. +So saßen wir denn eine Zeitlang schweigend. Er machte ein finsteres +Gesicht und schien nachzudenken; dann fing er von neuem zu sprechen an; +aber wie sehr ich mich auch anstrengte, es war mir doch alles, was er da +sagte, zum mindesten unklar. Ich schließe aus einzelnen Worten, die ich +noch behalten habe, daß er mir damals erklärte, wer er sei, was für ein +großer Künstler er wäre; ferner, wie ihn niemand verstehe, und zuletzt, +daß er ein ungeheures Talent habe. Ich weiß noch, daß er mich dann +fragte, ob ich auch alles verstanden und daß er nach meiner +selbstverständlich bejahenden Antwort die Frage wiederholte: „Also hat +er Talent?“ Und ich antwortete: „Ja, er hat Talent,“ worüber er leise +auflachen mußte, wahrscheinlich weil es ihm selbst zuletzt lächerlich +erschien, daß er über einen für ihn so ernsten Gegenstand mit einem +Kinde sprach. Unsere Unterhaltung unterbrach Karl Fedorytsch, der ganz +unerwartet bei uns eintrat, und der Vater wies auf ihn und sagte: + +„Dieser dagegen, der Karl Fedorytsch, der hat zum Beispiel für keine +fünf Kopeken Talent.“ + +Darüber mußte ich lachen, denn das kam mir, Gott weiß weshalb, sehr +komisch vor und ich war wieder ganz froh und glücklich. + +Dieser Karl Fedorytsch war eine äußerst merkwürdige Erscheinung. Ich sah +damals so wenige Menschen, daß ich mich seiner noch lebhaft erinnere. +Ja: als stände er hier, so deutlich sehe ich ihn vor mir. Er war ein +Deutscher, Meyer mit Namen, der nach Rußland gekommen war, weil er nur +den einen Wunsch hatte: zum Petersburger kaiserlichen Ballett zu +gehören. Leider war er aber ein so schlechter Tänzer, daß man ihn nicht +einmal unter die Chortänzer, die den Hintergrund der Bühne ausfüllen +mußten, aufnehmen konnte und ihn nur als Statisten verwandte. So spielte +er stumme Rollen, etwa in der Suite des Fortinbras oder als einer der +Ritter von Verona, die alle zwanzig mit einem Male ihre gepappten +Klingen ziehen und ^unisono^ ausrufen: „Wir sterben für den König!“ + +Nichtsdestoweniger gab es wohl keinen einzigen Künstler auf Erden, der +an seinen Rollen so leidenschaftlich hing wie Karl Fedorytsch. Sein +größtes Unglück und Lebensleid war, daß er nicht ins Ballettkorps +aufgenommen wurde. Die Tanzkunst stellte er über jede andere Kunst und +in seiner Art hing er an ihr ebensosehr, wie der Vater an seiner Geige. +Sie waren beide an demselben Theater angestellt gewesen, dort hatten sie +sich kennen gelernt, und seit der Zeit besuchte der Statist, der nun +auch schon außer Diensten war, seinen ehemaligen Kollegen vom Orchester +und blieb ihm als einziger von allen bis zuletzt treu. Sie sahen sich +sogar recht oft und beklagten dann beide ihr trauriges Los, das ihnen +den Fluch auferlegt hatte, von den Menschen nicht verstanden zu werden. +Der Deutsche war der gefühlvollste, der liebevollste Mensch der Welt und +meinem Stiefvater in glühendster, uneigennützigster Freundschaft +zugetan. Der Vater dagegen hatte, glaube ich, keine gerade besondere +Zuneigung zu ihm, er duldete ihn eben nur als seinen Bekannten in +Ermangelung anderer. Leider konnte der Vater in seiner Einseitigkeit +durchaus nicht begreifen, daß die Tanzkunst auch eine Kunst sei, womit +er den armen Deutschen bis zu Tränen kränkte. Da er nun diese schwache +Seite des anderen kannte, machte es ihm Spaß, sie immer wieder wie von +ungefähr zu berühren, um sich dann an dem Eifer des armen Karl +Fedorytsch zu ergötzen, der fast aus der Haut fuhr vor Empörung und +Leidenschaft in seinem Bemühen, für seine geliebte Tanzkunst das +Gegenteil zu beweisen. Von diesem Karl Fedorytsch und seiner +Freundschaft mit meinem Stiefvater hat mir nachher noch manches derselbe +B. erzählt, der diesen begeisterten Ballettänzer immer den Nürnberger +Springkäfer nannte. Unter anderem entsinne ich mich noch lebhaft ihrer +Zusammenkünfte, wenn sie beide etwas getrunken hatten und dann als +verkannte Größen ihr Schicksal betrauerten. Auch ich, die ich diese +beiden Sonderlinge still für mich betrachtete, trauerte mit ihnen, und +wenn sie Tränen vergossen, so heulte ich mit, wenn ich auch selber nicht +wußte, worüber und warum. Das trug sich aber immer in der Abwesenheit +der Mutter zu, denn der Deutsche fürchtete sie sehr und wartete deshalb, +wenn er kam, gewöhnlich so lange auf dem Treppenflur, bis jemand aus dem +Zimmer trat: erfuhr er dann, daß die Mutter zu Hause war, so machte er +schleunigst kehrt und lief die Treppe hinunter. Jedesmal brachte er +deutsche Gedichte mit, begeisterte sich an ihnen, indem er sie uns laut +vorlas, und dann deklamierte er mit Gesten, wobei er zwischendurch die +Sätze mit Müh und Not in ein zum mindesten eigenartiges Russisch +übersetzte, damit auch wir den Sinn verstanden. Das belustigte den +Vater, ich aber lachte oft Tränen. Einmal hatten sie sich irgendein +russisches Werk verschafft, das sie beide ungeheuer begeisterte, in +einem solchen Maße begeisterte, daß sie es nachher fast bei jeder +Zusammenkunft immer wieder von neuem lasen. Ich erinnere mich, es war +ein Drama in Versen von irgendeinem vorübergehend berühmten russischen +Schriftsteller. Die ersten Strophen hatte ich so gut behalten, daß ich +später nach mehreren Jahren dieses Drama gleich wiedererkannte, als ich +das Buch einmal zufällig in die Hände bekam. Es handelte von dem Unglück +eines großen Künstlers, irgendeines Jacopo, der auf der einen Seite +ausruft: „Ich bin verkannt!“ und auf der folgenden: „Ich bin erkannt!“ – +oder war es: „Ich bin talentlos!“ und dann: „Ich habe Talent!“? Kurz, +etwas Ähnliches war es jedenfalls. Es endete natürlich höchst tragisch. +Das Drama war freilich an sich ganz wertlos. Nur auf diese beiden Leser, +die in dem Helden viel Ähnlichkeit mit sich selbst entdeckten, wirkte es +in der naivsten und zugleich tragischsten Weise. Ich weiß noch, Karl +Fedorytsch geriet dann zuweilen in solche Ekstase, daß er aufsprang, zur +anderen Wand des Zimmers eilte und den Vater und mich, die er +„Madmuasell“ nannte, unabweisbar beschwörend, mit Tränen in den Augen +und im heiligen Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit bat, +„sogleich hierselbst“ zwischen ihm, seinem Schicksal und dem Publikum +die Schiedsrichter zu sein. Darauf begann er zu tanzen, und während der +verschiedenen Pas, die er uns nun vortanzte, schrie er uns zu, wir +sollten ihm sogleich sagen, was er sei, ein Künstler oder nicht, und ob +man wohl das Gegenteil sagen könne, d. h. daß er etwa kein Talent habe? +Der Vater war dann sofort höchst aufgeräumt, gab mir heimlich Winke, als +wollte er sagen, ich solle nur aufpassen, wie vorzüglich er sich gleich +über den Armen lustig machen werde. Mich wandelte die Lachlust an, aber +der Vater drohte heimlich mit dem Finger und ich nahm mich aus allen +Kräften zusammen, um mir das Lachen zu verbeißen. Auch jetzt noch, bei +der bloßen Vorstellung jenes Bildes, ist es mir unmöglich, nicht zu +lachen. Ich sehe ihn so deutlich vor mir, diesen armen Karl Fedorytsch! +Er war äußerst klein von Wuchs, dazu spindeldünn, das Haar schon grau, +die Nase gebogen und rot und immer mit Tabakspuren geschmückt. Seine +Beine hatten eine ganz absonderlich krumme Form; trotzdem schien er auf +ihren Bau noch stolz zu sein und trug Beinkleider, die so eng wie Trikot +anlagen. Wenn er dann endlich nach dem letzten Sprunge stehen blieb, mit +zu uns ausgestreckten Armen und uns zulächelnd – in der Pose und mit dem +Lächeln der Ballettänzer auf der Bühne – da wahrte der Vater noch eine +gute Weile das Schweigen, als könne er sich nicht entschließen, das +Urteil zu fällen, und ließ absichtlich den verkannten Tänzer in dieser +schwierigen Pose verharren, bis jener auf seinem einen dünnen Bein schon +zu schwanken begann, trotz seiner krampfhaften Anstrengung, das +Gleichgewicht nicht zu verlieren. Schließlich erbarmte sich der Vater: +zunächst sah er nur mit ernster Miene mich an, als wolle er mich fragen: +„Was sagen wir ihm nun?“ – und gleichzeitig richtete sich auch der +furchtsam flehende Blick des Tänzers auf mich. + +„Nein, Karl Fedorytsch, man sieht, es ist verlorene Liebesmüh, du +triffst doch nicht das Richtige!“ sagte der Vater dann endlich in einem +Ton, als fiele es ihm schwer, die bittere Wahrheit sagen zu müssen. Dann +entrang sich der Brust Karl Fedorytschs ein richtiges Stöhnen, aber im +Nu faßte er wieder Mut, erbat mit beschleunigten Gesten von neuem unsere +Aufmerksamkeit, versicherte, er habe nicht nach dem betreffenden System +getanzt, und flehte uns an, nochmals die Schiedsrichter zu sein. Und +wieder eilte er zur anderen Wand und sprang dann zuweilen mit solchem +Eifer umher, daß er mit dem Kopf an die Stubendecke stieß, und zwar +schmerzhaft stark – aber er verwand den Schmerz wie ein Spartaner, stand +dann wieder in der schwierigen Pose, streckte wieder mit einem Lächeln +die zitternden Arme aus und erwartete wieder unser Urteil. Doch der +Vater war unerbittlich und wiederholte nur ebenso düster: + +„Nein, Karl Fedorytsch, das scheint nun einmal dein Schicksal zu sein: +du triffst es nicht!“ + +Dann versagte gewöhnlich meine letzte Selbstbeherrschung und ich brach +in erlösendes Lachen aus, und der Vater desgleichen. Karl Fedorytsch, +der nun endlich den Scherz begriff, wurde rot vor Zorn und sagte mit +Tränen in den Augen und mit einem tiefen, wenn auch komischen Gefühl, +das mich später quälte, weil es mein aufrichtiges Mitleid mit diesem +armen Unglücklichen erweckte, zum Vater gewandt: + +„Du bist ein treuloser Freund!“ + +Und er griff nach seinem Hut und lief von uns fort, mit allen Schwüren +schwörend, daß er nie wieder zu uns kommen werde. + +Aber der Schatten dieses Streites pflegte nie lang zu sein. Nach ein +paar Tagen erschien er wieder bei uns, wieder wurde das berühmte Drama +gelesen, wieder wurden Tränen vergossen und zum Schluß bat uns der naive +Karl Fedorytsch abermals, die Schiedsrichter zwischen ihm, den Menschen +und dem Schicksal zu sein, bat flehentlich, diesmal aber wirklich im +Ernst über ihn zu urteilen, wie es sich wahren Freunden gezieme, und +nicht wieder unseren Spott mit ihm zu treiben. + +Einmal schickte mich die Mutter in den kleinen Laden, wo ich etwas +Notwendiges kaufen sollte, und als ich zurückkehrte, hielt ich hübsch +achtsam das silberne Kleingeld in der Hand, das man mir herausgegeben +hatte. Auf der Treppe traf ich den Vater, der im Begriff war, +auszugehen. Ich lachte ihn an, denn ich konnte mein Gefühl der Freude +nicht verbergen, wenn ich ihn sah. Als er sich zu mir herabbeugte, um +mich zu küssen, bemerkte er das silberne Geldstück in meiner Hand ... +Ich habe noch nicht erwähnt, daß ich jeden Ausdruck seines Gesichts so +gut kannte, daß ich seine Wünsche gewöhnlich auf den ersten Blick +erriet. Sah ich ihn bedrückt und traurig, so hätte ich vergehen mögen +vor Leid. Am niedergeschlagensten war er, wenn er gar kein Geld hatte +und sich nichts zu trinken kaufen konnte – denn das Trinken hatte er +sich schon zur Gewohnheit gemacht. In jenem Augenblick nun, als wir +einander auf der Treppe begegneten, schien es mir, daß in ihm etwas +Besonderes vorgehe. Seine trüben Augen irrten eigentümlich unruhig +umher, ja, ich glaube, im ersten Augenblick sah er mich gar nicht. Als +er aber dann das Geld in meiner Hand bemerkte, da wurde er plötzlich rot +und gleich darauf sehr bleich, dann streckte er die Hand aus, wie um das +Geld von mir zu nehmen, zog sie aber sofort wieder zurück. Offenbar +kämpfte er mit sich. Endlich war es, als habe er sich überwunden und er +sagte, ich solle nur zur Mutter hinaufgehen; er selbst aber ging schnell +ein paar Stufen hinab – bis er plötzlich von neuem stehen blieb und mich +zurückrief. + +Er sah sehr verlegen aus. + +„Hör mal, Njetotschka,“ sagte er hastig, „gib mir dieses Geld, ich werde +es dir zurückgeben. Nicht? Du gibst es doch deinem Papa? Du bist doch +ein gutes Kindchen, Njetotschka?“ + +Ich hatte das fast vorausgefühlt. Aber im ersten Augenblick ließen mich +doch der Gedanke, wie böse die Mutter sein werde, meine Ängstlichkeit +und vor allem die instinktive Scham für mich und für den Vater +unwillkürlich zögern und hielten mich davon ab, ihm das Geld zu geben. +Er bemerkte es sofort und sagte rasch: + +„Nein, nein, nicht nötig, ist nicht nötig! ...“ + +„Nein, nein, Papa, da, nimm! Ich werde sagen, ich habe es verloren oder +die Nachbarkinder haben es mir fortgenommen.“ + +„Nun gut, gut; ich wußte doch, daß du ein kluges Mädchen bist,“ sagte +er. Und er lächelte mit zitternden Lippen, ohne sein Entzücken zu +verbergen, als er das Geld in seiner Hand fühlte. „Du bist ein gutes +Mädchen, bist ja mein Engelchen! Gib her, ich werde dir dein Händchen +küssen!“ + +Und er griff nach meiner Hand, aber ich zog sie schnell zurück. Ein +gewisses Mitleid mit ihm bemächtigte sich meiner und die Scham stieg in +mir immer höher und wurde qualvoll. Ich hielt es nicht aus und lief in +meinem Schreck nach oben, ohne mich nach dem Vater weiter umzusehen, den +ich stehen ließ, wo er stand. Als ich ins Zimmer trat, glühten meine +Wangen und mein Herz schlug laut in einer quälenden, mir bis dahin noch +unbekannten Empfindung. Dennoch sagte ich der Mutter ganz furchtlos, ich +hätte das Geld im Schnee verloren und lange gesucht, trotzdem aber nicht +wiederfinden können. Ich hatte mindestens Schläge erwartet, doch die +bekam ich nicht. Die Mutter war anfangs allerdings außer sich, denn wir +waren damals furchtbar arm. Sie schrie mich an, aber schon im nächsten +Augenblick schien sie sich zu besinnen und hörte auf, mich zu schelten; +sie sagte nur, ich sei ein ungeschicktes, nachlässiges Mädchen und +offenbar liebte ich sie nicht, da ich mit ihrem schwer erworbenen Gelde +so unachtsam umginge. Diese Bemerkung betrübte mich mehr, als Schläge es +vermocht hätten. Denn meine Mutter kannte mich bereits: meine +Empfindsamkeit, die oft schon an eine krankhafte Reizbarkeit grenzte, +war von ihr nicht unbemerkt geblieben, und so glaubte sie gerade mit +diesen bitteren Vorwürfen – wie dem, daß ich sie wohl nicht liebte – +mich mehr zu strafen und eher zu größerer Achtsamkeit erziehen zu +können, als mit den sonst üblichen Strafmitteln. + +In der Dämmerung, um die Zeit, wo der Vater gewöhnlich zurückkehrte, +erwartete ich ihn wie immer auf dem Flur. Ich war in großer Verwirrung. +Meine Gefühle waren aufgepeitscht durch etwas, das auch mein Gewissen +geradezu krankhaft peinigte. Endlich kam der Vater und ich war sehr froh +über sein Kommen, ganz als hätte ich gehofft, daß es mir dadurch +leichter werden würde. Er war heiterer Laune, aber als er mich +erblickte, nahm sein Gesicht sofort einen geheimnisvollen, ein wenig +verzerrten Ausdruck an. Er blickte ängstlich nach unserer Tür und zog +mich in den verstecktesten Winkel, blickte wieder scheu nach der Tür, +nahm dann aus der Tasche einen von ihm gekauften Pfefferkuchen und +begann nun flüsternd, jedoch in ermahnendem Tone mir zu erklären, daß +ich der Mutter niemals mehr Geld entwenden und es ihr verheimlichen +dürfe: das sei häßlich und eine Schande und überhaupt sehr schlecht. +Diesmal sei es nur deshalb so gekommen, weil er das Geld gerade sehr +notwendig gebraucht habe, aber er werde es zurückgeben und dann könne +ich sagen, ich hätte das Geld wiedergefunden; es der Mutter abzunehmen +sei jedoch eine Schande, und ich solle in Zukunft nicht einmal mehr +daran denken, so etwas wieder zu tun, er aber werde mir, wenn ich auf +ihn hörte, noch mehr solcher Pfefferkuchen kaufen. Zum Schluß sagte er +sogar, ich möchte mit der Mutter Mitleid haben, sie sei so krank, die +Arme, und sie allein arbeite für uns alle und ernähre uns. Ich hörte in +großer Angst zu, ja ich zitterte am ganzen Körper und die Tränen wollten +mich fast überwältigen. Ich war so bestürzt, daß ich kein Wort zu sagen +wußte und mich nicht von der Stelle rührte. Endlich ging er ins Zimmer, +nachdem er mir vorher noch verboten hatte, zu weinen oder der Mutter +etwas davon zu sagen – letzteres schärfte er mir ganz besonders ein. Wie +ich bemerkte, war auch er sehr verwirrt. Den ganzen Abend verbrachte ich +wie unter einem entsetzlichen Bann und zum erstenmal wagte ich nicht, +ihn anzusehen oder zu ihm zu gehen. Und auch er mied sichtlich meinen +Blick. Die Mutter ging im Zimmer auf und ab und sprach vor sich hin, wie +sie es gewöhnlich in ihrer Gedankenversunkenheit tat. An jenem Tage +fühlte sie sich bedeutend schlechter und hatte auch schon die Anzeichen +von einem Anfall zu überstehen gehabt. Kurz, infolge dieser ganzen +inneren Qual stellte sich bei mir Fieber ein. Krankhafte, wirre Träume +peinigten mich – bis ich es schließlich nicht mehr aushielt und zu +weinen anfing. Mein Weinen weckte die Mutter; sie rief mich leise an und +fragte, ob mir etwas fehle. Ich antwortete nicht, weinte aber noch +verzweifelter. Da zündete sie das Licht an, kam zu mir und versuchte +mich zu beruhigen, im Glauben, ein Traum habe mich erschreckt. + +„Ach, du kleines, dummes Kind!“ sagte sie, „immer noch weinst du, wenn +dir etwas träumt. Nun, schon gut, sei ruhig!“ Und sie küßte mich und +sagte, ich solle in ihr Bett kommen und bei ihr schlafen. Aber ich +wollte nicht, denn ich wagte nicht, sie zu umarmen und zu ihr zu gehen. +Ich wand mich innerlich vor Qual. Ich wollte ihr alles erzählen. Ich war +schon im Begriff anzufangen, aber da fiel mir wieder der Vater ein und +sein Verbot, und ich sagte nichts. + +„Mein armes Kindchen ... Njetotschka ...“ hörte ich die Mutter leise +sprechen, während sie mich noch mit ihrer alten Jacke zudeckte, da sie +bemerkt hatte, daß ich wie von Schüttelfrost am ganzen Körper zitterte, +„du wirst wohl ebenso krank werden wie ich.“ Und sie sah mich dabei so +traurig an, daß ich ihren Blick nicht ertragen konnte, krampfhaft die +Augen schloß und mich fortwandte. Ich erinnere mich nicht mehr, daß ich +einschlief, aber noch lange hörte ich im Halbschlaf, wie die arme Mutter +mich leise beruhigte, um mich in den Schlaf zu lullen. Noch nie hatte +ich eine schwerere Qual zu erdulden gehabt. Mein Herz krampfte sich bis +zum körperlichen Schmerz zusammen. Am nächsten Tage ward mir etwas +leichter zumut. Ich fing wieder an mit dem Vater zu sprechen, aber ohne +des Vorgefallenen zu erwähnen, denn ich erriet, daß ihm das sehr +unangenehm sein müsse. Ich täuschte mich nicht: er war sogleich zur +Unterhaltung bereit und sofort guter Dinge, denn auch er schien die +Spannung zwischen uns als ungemütlich empfunden zu haben, wenigstens +hatte er immer ein finsteres Gesicht gemacht, wenn unsere Blicke sich +trafen. Jetzt bemächtigte sich seiner eine seltsame Freude, eine fast +kindliche Zufriedenheit, als er mich wieder ganz arglos und munter sah. +Die Mutter ging wie gewöhnlich bald fort und dann tat er sich keinen +Zwang mehr an. Er küßte mich so, daß ich in ein nahezu übertriebenes +Entzücken geriet und weinte und lachte – beides zugleich. Schließlich +sagte er, er wolle mir etwas Schönes zeigen, das zu sehen mich sehr +freuen werde – als Belohnung dafür, daß ich ein so kluges und gutes +kleines Mädchen bin. Damit knöpfte er seine Weste auf und nahm einen +Schlüssel, den er an einer schwarzen Schnur am Halse trug, sah mich +geheimnisvoll bedeutsam an, als wolle er in meinen Augen das ganze +Vergnügen sehen, das ich seiner Meinung nach empfinden mußte, öffnete +unseren großen Koffer und entnahm ihm behutsam einen länglichen +schwarzen Kasten, den ich bis dahin noch niemals gesehen hatte. Diesen +Kasten berührte er mit einer gewissen Zaghaftigkeit – überhaupt war er +plötzlich ganz verändert: das Lachen war aus seinem Gesicht +verschwunden, das nun einen wahrhaft feierlichen Ausdruck annahm. Diesen +geheimnisvollen Kasten also öffnete er ganz behutsam und entnahm ihm +einen absonderlichen Gegenstand, den ich bis dahin auch noch nicht +gesehen hatte – ein Ding von äußerlich recht seltsamer Form. Er nahm es +gleichfalls mit großer Vorsicht und nahezu mit Andacht in die Hand und +sagte, das sei seine Geige, sein Instrument. Hierauf fing er an mit +leiser, feierlicher Stimme zu mir zu sprechen – und er redete sehr +lange, aber ich verstand ihn nicht. Ich behielt nur die mir bereits +bekannten Ausdrücke, daß er ein Künstler sei, daß er Talent habe, daß er +einmal auf dieser Geige spielen werde und zu guter Letzt, daß wir dann +alle reich sein werden und daß uns schließlich irgendein großes Glück +blühen werde. Tränen traten ihm in die Augen und rollten über seine +Wangen. Ich war sehr ergriffen. Zum Schluß küßte er seine Geige und ließ +auch mich sie küssen. Als er sah, daß ich sie gern näher betrachtet +hätte, führte er mich zum Bett der Mutter und gab mir die Geige in die +Hand; aber ich sah wohl, daß er zitterte vor Angst, ich könnte sie +vielleicht irgendwie zerschlagen oder zerbrechen. Ich nahm die Geige und +berührte die Saiten, die in einem leisen schwingenden Ton erklangen. + +„Das ist Musik!“ sagte ich, indem ich zu ihm aufsah. + +„Ja, ja, das ist Musik,“ wiederholte er, sich freudig die Hände reibend, +„du bist ein kluges Kind, bist ein gutes Kind!“ + +Aber trotz seines Lobes und Entzückens sah ich doch, daß er sich um +seine Geige ängstigte, und da ergriff mich gleichfalls eine Angst, – ich +gab sie ihm schnell zurück. Sie wurde mit derselben Behutsamkeit wieder +eingepackt, der Kasten verschlossen und in den Koffer zurückgelegt; der +Vater aber, der nochmals meinen Kopf streichelte, versprach, mir +jedesmal die Geige zu zeigen, wenn ich wieder so klug, brav und gehorsam +sein würde wie jetzt. So hatte die Geige unseren gemeinsamen Kummer +vertrieben. Erst am Abend flüsterte er mir im Fortgehen heimlich zu, ich +solle nicht vergessen, was er mir tags zuvor auf dem Treppenflur gesagt +habe. + +So wuchs ich in unserer Dachstube auf, und allmählich steigerte sich +meine Liebe, – nein, richtiger gesagt, meine Leidenschaft, denn ich +kenne kein anderes Wort, das ein so unbezwingbares, mich selbst +quälendes Gefühl, wie ich es für den Vater empfand, ausdrücken könnte – +steigerte sich bis zu einer krankhaft ausgearteten Empfindsamkeit. Ich +kannte nur noch eine einzige Lust: an ihn zu denken, von ihm zu träumen, +nur noch einen Wunsch und Willen – alles zu tun, nur um ihm eine Freude +oder sei es auch ein noch so kleines Vergnügen zu bereiten. Wie oft +erwartete ich ihn, zitternd und blau vor Kälte, auf der zugigen Treppe, +nur um wenigstens ein paar Augenblicke früher sein Kommen zu hören und +ihn zu sehen. Streichelte er mich, wenn er bisweilen zärtlich zu mir +war, so wurde ich ganz wirr vor Freude. Und doch peinigte es mich oft +bis zum körperlichen Schmerz, daß ich in meinem Verhalten zu meiner +armen Mutter so hartnäckig kühl blieb. Es gab Augenblicke, wo ich hätte +vergehen mögen vor Qual und Mitleid, wenn ich sie ansah. Bei dem ewigen +Streit der Eltern konnte ich nicht gleichmütig bleiben und unparteiisch +zusehen, ich mußte zwischen ihnen wählen und mich für einen von ihnen +entscheiden. Und so stellte ich mich denn auf die Seite dieses halb +wahnsinnigen Menschen, nur weil er in meinen Augen so mitleiderregend, +so erniedrigt war und ganz zu Anfang einen so unauslöschlichen Eindruck +auf mich gemacht, meine Phantasie entfesselt hatte. Doch schließlich – +wer könnte das so genau sagen, weshalb ich gerade seine Partei ergriff? +Vielleicht fühlte ich mich gerade deshalb so zu ihm hingezogen, weil er +so eigenartig war, sogar in seiner äußeren Erscheinung eigenartig, und +nicht so ernst und unwirsch wie die Mutter, weil er fast wahnsinnig, +weil an ihm hin und wieder so etwas von Gauklerart war, und schließlich, +weil ich ihn weniger fürchtete und sogar weniger achtete als die Mutter. +Er war irgendwie – mehr meinesgleichen. Ja allmählich bemächtigte sich +meiner das Gefühl, daß ich ihm sogar überlegen sei, daß ich ihn mir +unmerklich unterwarf, und daß ich ihm unentbehrlich wurde, ja zuweilen +kokettierte ich geradezu mit ihm. In der Tat, diese wunderliche +Anhänglichkeit meinerseits erinnerte in etwas an einen Roman ... Doch +dieser Roman sollte nicht von langer Dauer sein: ich verlor bald meine +Mutter und meinen Vater. Ihr Leben fand ein schreckliches Ende, das sich +schwer und qualvoll meiner Erinnerung eingeprägt hat. Wie sich das +zutrug, will ich jetzt erzählen. + + + III. + +Zu jener Zeit wurde ganz Petersburg alarmiert durch eine große +Neuigkeit: es verbreitete sich das Gerücht von der bevorstehenden +Ankunft des berühmten S–z. Alles, was musikalisch war in Petersburg, +geriet in Aufregung. Sänger, Schauspieler, Dichter, Maler, sämtliche +Musiknarren, aber auch solche, die niemals Musiknarren gewesen waren und +mit bescheidenem Stolz gestanden, daß sie keinen Ton von der ganzen +Musik begriffen, jagten nun alle mit wahrer Gier nach den Billetten zu +diesem Konzert. Der Saal konnte kaum den zehnten Teil der Enthusiasten +fassen, die die Möglichkeit hatten oder sich schufen, fünfundzwanzig +Rubel Eintrittsgeld zu zahlen. Doch die europäische Berühmtheit dieses +S–z, sein lorbeerumkränztes hohes Alter, dabei die unverwüstliche +Frische seines Talentes, sowie die Tatsache, daß er in letzter Zeit nur +noch äußerst selten öffentlich spielte, und ferner die Versicherung, daß +er zum letztenmal eine europäische Konzertreise unternehme, dann aber +das Spielen endgültig aufgeben werde, erregten die Gemüter und die +Neugier der Menschen. Mit einem Wort, die Spannung war eine ungeheuere. + +Ich erzählte bereits, daß die Ankunft jedes neuen Violinvirtuosen, jeder +auch noch so kleinen „Berühmtheit“, auf meinen Stiefvater stets den +unangenehmsten Eindruck machte. Er war dann immer einer der ersten, die +sich beeilten, den angereisten Künstler zu hören, um möglichst bald die +Größe seiner Kunst beurteilen zu können. Nicht selten wurde er geradezu +krank, nur dadurch, daß er das Lob anhören mußte, das irgendeinem neuen +Stern gespendet wurde, und er beruhigte sich nicht eher, als bis er an +dem Spiel des Gelobten irgend etwas auszusetzen fand, was er dann als +seine „unmaßgebliche Meinung“ mit beißendem Spott überall, wo er nur +konnte, zum besten gab. Der arme Wahnsinnige glaubte, daß es nur ein +einziges Genie in der ganzen Welt gäbe, nur einen einzigen Künstler, und +dieser Künstler war natürlich er selbst. Das Gerücht nun, und alsbald +die Gewißheit, daß das Weltgenie S–z in Petersburg konzertieren werde, +wirkte auf ihn geradezu wie eine Erschütterung. Übrigens muß ich +bemerken, daß Petersburg in den letzten zehn Jahren kein einziges +größeres Talent gehört hatte, geschweige denn ein Genie gleich S–z. +Deshalb hatte auch mein Stiefvater von dem Spiel wirklich erstrangiger +europäischer Künstler noch gar keine richtige Vorstellung. + +Man hat mir erzählt, mein Vater habe sich damals schon nach dem ersten +unsicheren Gerücht wieder hinter den Kulissen eingefunden. Er sei sehr +aufgeregt gewesen und habe sich mit größter Unruhe nach S–z und dessen +bevorstehendem Konzert erkundigt. Da man ihn lange nicht gesehen, soll +sein plötzliches Wiederauftauchen sogar einen gewissen Effekt gemacht +haben. Jemand habe ihn reizen wollen und herausfordernd gemeint: „Ja, +mein lieber Jegor Petrowitsch, jetzt werden Sie nicht mehr Ballettmusik +zu hören bekommen, sondern eine, die Sie nicht mehr leben lassen wird +auf Erden!“ Er soll erbleicht sein, als er diesen Spott hörte, habe aber +doch noch ruhig geantwortet, wenn auch mit verzerrtem Lächeln: + +„Warten wir ab. Aus der Ferne hält man oft für einen Berg, was sich in +der Nähe als ein Kamel entpuppt. Dieser S–z ist ja doch nur in Paris +gewesen, da haben eben die Franzosen seinen Ruhm ausgeschrien, aber – +nun ja, man weiß doch, was Franzosen sind!“ usw. + +Alles lachte. Der Arme fühlte sich gekränkt, aber er bezwang sich und +fügte nur hinzu, daß er übrigens gar nichts sagen wolle, man werde es ja +bald erleben, vorläufig müsse man abwarten, bis übermorgen sei nicht +lange, die Wunder würden schon an den Tag kommen. + +B. erzählte mir, an demselben Tage, kurz vor der Dämmerung, sei ihm auf +der Straße Fürst H. begegnet – ein Dilettant als ausübender Künstler, +als Mensch jedoch ein unvergleichlicher Kunstkenner und Kunstliebhaber. +Sie setzten gemeinsam ihren Weg fort, sprachen natürlich auch von dem +bereits eingetroffenen großen Virtuosen, als B. plötzlich meinen Vater +erblickte, der vor dem Fenster einer Musikalienhandlung stand und +aufmerksam ein Konzertprogramm studierte, das in großen Lettern das +Konzert des berühmten Geigenvirtuosen S–z ankündigte. + +„Sehen Sie dort diesen Menschen, der vor dem Fenster steht?“ wandte sich +B. schnell an den Fürsten. + +„Wer ist das?“ fragte der Fürst. + +„Sie haben von ihm schon gehört. Das ist derselbe Jefimoff, von dem ich +Ihnen mehrmals erzählt habe, und der einmal durch Ihre Protektion eine +Anstellung erhielt.“ + +„Ach ja, ich entsinne mich!“ sagte der Fürst. „Sie haben mir viel von +ihm erzählt. Er soll ja sehr interessant sein, sagt man. Könnte ich ihn +nicht mal spielen hören?“ + +„Lohnt nicht,“ versetzte B. kurz. „Und es ist auch so niederdrückend. +Das heißt, ich weiß nicht, wie es auf Sie wirkt, aber auf mich macht es +immer einen schrecklichen Eindruck. Sein Leben ist – eine einzige +entsetzliche Tragödie. Eine Hölle. Ich habe tiefes Mitgefühl mit ihm, +wie schmutzig er auch sein mag, immer wieder nehme ich Anteil an ihm. +Sie sagten, er müsse interessant sein. Das ist er wirklich, aber der +Eindruck, den er in einem hinterläßt, ist gar zu schmerzhaft und schwer. +Erstens ist er ein Wahnsinniger, und zweitens hat dieser Wahnsinnige +drei Verbrechen auf dem Gewissen, denn außer seinem eigenen Leben hat er +noch zwei andere Menschenleben zugrunde gerichtet: das seiner Frau und +seiner Tochter. Wie ich ihn kenne, würde es ihn auf der Stelle töten, +wenn er sich von seinem Verbrechen überzeugte. Aber das ganze Entsetzen +besteht ja gerade darin, daß er es sich nun schon acht Jahre lang _fast_ +eingesteht und daß er acht Jahre lang mit seinem Gewissen ringt, um es +sich nicht nur ‚fast‘, sondern vollkommen einzugestehen.“ + +„Sie sagten, er sei arm?“ fragte der Fürst. + +„Ja; aber die Armut ist für ihn jetzt eher ein Glück, denn sie ist in +seinen Augen seine Rechtfertigung. Solange er arm ist, kann er einem +jeden versichern, daß nur die Armut ihn zurückhalte und daß er, wenn er +reich wäre, dann auch genügend Zeit hätte, und vor allem keine Sorgen, +um zeigen zu können, was für ein Künstler er sei. Er hat mit der +sonderbaren Hoffnung geheiratet, daß tausend Rubel, die seine Frau +damals besaß, ihm helfen würden, sein Ziel zu erreichen. Er handelte wie +ein Phantast, wie ein Dichter, und so hat er stets gehandelt. Wissen +Sie, was er in diesen acht Jahren immer behauptet hat und auch jetzt +noch zu behaupten nicht müde wird? – Daß die Ursache seines ganzen +Elends seine Frau sei: die hindere ihn an allem. Und er selbst tut dabei +nichts: denkt nicht einmal daran, zu arbeiten. Nehmen Sie ihm aber diese +Frau – da wäre er der unglücklichste Mensch der Welt. Jetzt hat er schon +mehrere Jahre lang die Geige nicht angerührt – und wissen Sie, warum +nicht? Weil er jedesmal, sobald er den Bogen in die Hand nimmt, sich +innerlich doch gestehen muß, daß er nichts ist, eine Null, aber kein +Künstler. So dagegen, wenn er den Bogen nicht anrührt, kann er sich noch +dem schönen Glauben hingeben, daß es doch wieder nicht wahr sei. Er ist +ein Träumer. Er glaubt, daß er mit einemmal, wie durch ein Wunder, +plötzlich der berühmteste Mensch der Welt sein werde. Sein Wahlspruch +ist: ^aut Caesar, aut nihil^, als könnte man so einfach und in einem +Augenblick ein Cäsar werden. Sein ganzes Verlangen, seine einzige +Begierde ist – Ruhm. Wenn aber ein solches Gefühl zum ersten und +einzigen Antrieb eines Künstlers wird, so ist der Betreffende schon +nicht mehr Künstler, da er dann den Grundtrieb des Künstlers eingebüßt +hat, nämlich die Liebe zur Kunst einzig um der Kunst willen, und nicht +aus anderen Gründen, wie etwa, weil sie Ruhm verschafft. Da nehmen Sie +zum Beispiel diesen S–z: wenn er den Bogen in die Hand nimmt, dann gibt +es für ihn in der ganzen Welt nichts mehr außer seiner Musik. Nach der +Musik ist für ihn das Geld die Hauptsache, und erst an dritter Stelle, +glaube ich, steht für ihn der Ruhm. Aber er hat sich wenig um ihn +gesorgt ... Wissen Sie, was dagegen diesen Unglücklichen jetzt am +meisten beschäftigt,“ fuhr B. fort, mit einer Kopfbewegung auf Jefimoff +deutend. „Ihn beschäftigt jetzt nur eine allerdümmste, nichtigste, ja +sogar erbärmlichste und lächerlichste Sorge, und zwar die: ist er, +Jefimoff, größer als S–z oder ist S–z größer als er – und nichts weiter, +denn er ist auch jetzt noch überzeugt, daß er der erste Künstler der +Welt sei. Versuchen Sie ihn zu überzeugen, daß er kein Künstler ist, und +ich versichere Sie, er wird tot hinfallen – es wäre zu schwer, zu +schrecklich für ihn, auf seine fixe Idee zu verzichten, der er schon +sein ganzes Leben geopfert hat und deren Grundlage immerhin tief und +ernst war, denn anfangs gehörte er wirklich zu den Berufenen.“ + +„Dann kann das ja interessant werden, wenn er jetzt S–z zu hören +bekommt,“ bemerkte der Fürst. + +„Ja,“ sagte B. nachdenklich. „Doch nein: er wird sich auch dann wieder +mit sich zurechtfinden. Seine Einbildung ist stärker als die Wahrheit, +die er erfahren könnte: deshalb würde er auch sicherlich gleich +irgendeine neue Erklärung für sie finden.“ + +„Meinen Sie?“ fragte der Fürst. + +Sie hatten sich inzwischen meinem Vater genähert. Dieser wollte, als er +sie erblickte, unbemerkt an ihnen vorübergehen, doch B. hielt ihn auf +und redete ihn an. Er fragte ihn, ob er das Konzert des berühmten S–z +besuchen werde. Jefimoff antwortete gleichmütig, er wisse das noch +nicht, er habe da etwas vor, was wichtiger sei als Konzerte und alle +angereisten Virtuosen: doch übrigens, er werde sehen, bestimmt könne er +es noch nicht sagen, aber wenn sich gerade ein freies Stündchen +erübrigen sollte – warum dann schließlich nicht? – vielleicht, wie +gesagt, werde er sich die Mühe nehmen. Ein schneller, etwas unruhiger +Blick streifte B. und den Fürsten, ein mißtrauisches, flüchtiges +Lächeln, dann hob er den Hut, nickte B. zu und ging weiter, unter dem +Vorwand, daß er keine Zeit habe. + +Doch ich wußte schon seit einem Tage um die Sorge des Vaters. Was es nun +gerade war, was ihn quälte, das wußte ich freilich nicht, aber meiner +Beobachtung war natürlich nicht entgangen, daß er in der letzten Zeit +etwas auf dem Herzen hatte. Sogar die Mutter schien dies bemerkt zu +haben. Sie war in diesen Tagen sehr krank und konnte kaum die Füße +bewegen, was ihr das Gehen fast unmöglich machte. Der Vater kam bald +nach Haus, bald ging er wieder fort. Am Morgen erschienen bei uns drei +oder vier Gäste, seine ehemaligen Freunde, worüber ich mich sehr +wunderte, da sonst außer Karl Fedorytsch so gut wie kein Mensch zu uns +kam. Die anderen hatten ja alle schon längst ihre Besuche bei uns +eingestellt, eben seitdem der Vater nicht mehr am Theater angestellt +war. Schließlich erschien auch noch Karl Fedorytsch ganz außer Atem und +in höchster Eile und brachte ein Konzertprogramm. Ich hörte ihren +Gesprächen zu und beobachtete sie aufmerksam: alles das peinigte mich +so, daß ich mich gewissermaßen schuld fühlte an dieser ganzen Aufregung +und Unruhe, die ich im Gesicht des Vaters las. Ich wollte unbedingt +wissen, wollte verstehen, wovon sie sprachen: und da hörte ich denn zum +erstenmal den Namen S–z. Aus den weiteren Gesprächen erfuhr ich, daß man +mindestens fünfzehn Rubel zahlen mußte, wenn man diesen S–z hören +wollte. Ferner entsinne ich mich noch, wie der Vater plötzlich irgendwie +die Geduld verlor, mit der Hand geringschätzig durch die Luft schlug und +halb spöttisch sagte, er kenne diese fremdländischen Wunder, die +angeblich unerreichbaren Größen mit ihren fabelhaften Talenten, kenne +auch diesen S–z. Das seien alles Juden, die auf russisches Geld Jagd +machten, was ihnen hier besonders leicht fiele, da die Russen in ihrer +Einfalt sowieso schon jeden Unsinn bewunderten, um wieviel mehr noch +das, was der Franzose aus Chauvinismus in den Himmel höbe, ohne +beurteilen zu können, was Talent sei und was nicht. Damals wußte ich +bereits, was das bedeutete: kein Talent haben. Die Gäste lachten und +bald gingen sie alle wieder fort, während der Vater ganz verstimmt +zurückblieb. Ich erriet, daß er aus irgendeinem Grunde auf diesen S–z +böse war, und so trat ich, um ihm zu gefallen und seinen Kummer zu +zerstreuen, an den Tisch, nahm das Programm, versuchte das Gedruckte zu +buchstabieren und las laut den Namen S–z. Dann lachte ich, sah den Vater +an, der in Nachdenken versunken auf dem Stuhl saß, und sagte: „Ach, das +ist gewiß auch so einer wie Karl Fedorytsch, der wird’s auch nie zu +etwas bringen!“ Der Vater zuckte zusammen, als hätte ich ihn erschreckt, +entriß mir das Programm, schrie mich an und trampelte mit den Füßen, +ergriff seinen Hut und wollte schon aus dem Zimmer gehen, kehrte aber +sogleich zurück und rief mich auf den Flur hinaus. Dort küßte er mich, +sagte mir, ich sei ein gutes Kind, ein kluges Kind, und ich würde ihn +deshalb bestimmt nicht betrüben wollen, er erwarte von mir einen großen +Dienst – worin dieser aber bestehen sollte, das sagte er nicht. Zudem +bedrückte es mich, ihn anzuhören: ich sah und fühlte, daß seine +Freundlichkeit nicht aufrichtig war – und das erschütterte mich +geradezu. Ich fing an, mich um seinetwillen zu quälen. + +Am folgenden Tage beim Mittagessen – d. h. am Tage vor dem Konzert – war +der Vater wie zerschlagen. Er war so ganz anders und sah immer wieder +nach der Mutter hin. Schließlich – ich wunderte mich nicht wenig – fing +er sogar an, mit ihr zu sprechen (ich wunderte mich deshalb, weil er +sonst fast nie mit ihr sprach). Nach dem Essen aber ließ er es sich +plötzlich angelegen sein, um meine Gunst zu werben: jeden Augenblick +rief er mich, bald unter diesem, bald unter jenem Vorwand auf den +Treppenflur und nachdem er sich vorher umgesehen, als hätte er +gefürchtet, daß jemand kommen könnte, streichelte und küßte er mich, +nannte mich ein gutes Kind und ein folgsames Kind, ganz gewiß, sagte er, +liebte ich meinen Papa und deshalb würde ich auch bestimmt das tun, +worum er mich bitten werde. Alles das versetzte mich in eine höchste +Spannung, die schließlich unerträglich wurde. Endlich, als er mich zum +zehntenmal auf den Treppenflur gerufen hatte, fand die Sache ihre +Erklärung. Mit schuldbewußter, gequälter Miene, sich fortwährend unruhig +nach allen Seiten umsehend, fragte er mich, ob ich wisse, wo die Mutter +jene fünfundzwanzig Rubel aufbewahrte, die sie vor einem Tage nach Haus +gebracht. Ich erstarrte vor Schreck, als ich diese Frage vernahm. Da +hörten wir plötzlich ein Geräusch auf der Treppe, der Vater erschrak, +ließ mich stehen und eilte fort. Er kam erst gegen Abend zurück, +verwirrt, betreten, niedergeschlagen und besorgt, setzte sich schweigend +auf einen Stuhl und seine Blicke suchten nun wieder mich, ja er sah mich +geradezu frohen Mutes an. Da erfaßte mich wieder eine sonderbare Angst +und ich wich absichtlich seinem Blick aus. Als es schon ganz dunkel +geworden war, rief mich die Mutter, die den ganzen Tag im Bett gelegen, +zu sich und gab mir etwas Kupfergeld, für das ich ihr aus dem kleinen +Laden ein wenig Tee und Zucker kaufen sollte. Tee wurde bei uns sehr +selten getrunken. Die Mutter erlaubte sich diesen Luxus – denn das war +er bei unseren beschränkten Mitteln – nur dann, wenn sie sich krank +fühlte und fieberte. Ich nahm das Geld und kaum war ich auf dem Flur, da +lief ich, was ich laufen konnte, lief in der Furcht, daß man mir +nachkommen könnte. Meine Vorahnung täuschte mich auch nicht: der Vater +holte mich auf der Straße ein und zog mich ins Haus zurück. + +„Njetotschka!“ begann er mit unsicherer Stimme. „Mein Täubchen! Höre: +gib mir dieses Geld, ich werde es dir gleich morgen ...“ + +„Papa! Papachen!“ rief ich flehend und zitternd und ich warf mich vor +ihm auf die Knie, um ihn zu beschwören, „Papachen! Ich kann nicht! Ich +darf nicht! Mama ist krank, sie muß Tee trinken ... Man kann das Geld +doch nicht Mama nehmen, wirklich nicht, glaub mir! Ein anderes Mal, +nächstens werde ich dir ...“ + +„Du willst nicht? Du willst nicht?“ flüsterte er wie in rasender Wut. +„Also du willst mich nicht mehr lieben? Nun gut! Jetzt verlasse ich +dich! Bleib denn allein bei Mama, ich werde von euch fortgehen und dich +nehme ich nicht mit. Hörst du, böses Mädchen, hörst du, was ich sage?“ + +„Papachen!“ rief ich entsetzt, „nimm das Geld, nimm! Was soll ich jetzt +tun?“ stammelte ich, mich an seinen Rockschoß klammernd, „Mama wird doch +weinen, sie ist doch krank, sie wird mich doch wieder schelten!“ + +Ich glaube, er hatte diesen Widerstand nicht erwartet, aber das Geld +nahm er; dann – wohl in der Furcht, meinem Jammern und Weinen nicht +standhalten zu können – verließ er mich schnell und lief auf die Straße. +Ich stieg die Treppen hinauf, aber vor unserer Stubentür verließen mich +meine Kräfte. Ich wagte nicht, einzutreten, ich konnte nicht eintreten; +alles, was an Herz in mir war, war erschüttert und in Aufruhr gebracht. +Ich vergrub das Gesicht in den Händen und wankte zum Fenster, wie +damals, als ich den Vater hatte sagen hören, er wünsche, die Mutter +stürbe bald. So stand ich, die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt, +wie benommen und erstarrt, und doch lauschte ich und gab acht auf jedes +noch so leise Geräusch unten auf der Treppe. Endlich hörte ich jemand +schnell heraufkommen. Das war er; ich erkannte ihn am Gang. + +„Bist du hier?“ flüsterte er, als er mich erblickte. + +Ich warf mich ihm entgegen. + +„Da!“ stieß er rauh hervor und steckte mir das Geld in die Hand, „nimm +es! Nimm es zurück! Ich bin jetzt nicht mehr dein Vater, hörst du? Ich +will nicht mehr dein Vater sein! Du liebst Mama mehr als mich! So geh zu +Mama! Ich will von dir nichts mehr wissen!“ Damit stieß er mich fort und +eilte wieder die Treppe hinunter. Ich lief ihm weinend nach. + +„Papa! Papa! lieber Papa! Ich werde gehorchen!“ rief ich schluchzend, +„ich liebe dich mehr als Mama! Nimm das Geld, behalt es! – Papa! ...“ + +Er hörte mich nicht mehr – ich sah nur, daß er verschwunden war. + +Diesen ganzen Abend war ich wie krank und zitterte in Fieberschauern. +Ich weiß noch, die Mutter sagte mir irgend etwas, rief mich zu sich: ich +war aber nicht bei Besinnung, ich hörte nichts und sah nichts. Es endete +mit einem Anfall: ich fing an zu weinen, zu schreien – Mama erschrak +sehr und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie nahm mich zu sich ins Bett +und ich umschlang ihren Hals und schlief denn auch allmählich ein, doch +zuckte ich im Schlaf noch jeden Augenblick zusammen oder erschrak über +irgend etwas. So verging die Nacht. Am anderen Morgen erwachte ich erst +sehr spät, als die Mutter schon fortgegangen war. Sie ging um diese Zeit +immer ihrer Arbeit nach. Der Vater und ein Unbekannter saßen im Zimmer +und beide sprachen sehr laut. Ich konnte es kaum abwarten, bis der +Fremde endlich aufbrach, und als wir allein waren, lief ich zum Vater +und bat ihn leise, unter Tränen, mir doch zu verzeihen. + +„Und wirst du auch wieder ein gutes Kind sein wie früher?“ fragte er +mich streng. + +„Ja, Papa, ja!“ stammelte ich. „Ich werde dir sagen, wo Mamas Geld +liegt. Sie hat es in ihrem Kasten, in der Schatulle, dort lag es +wenigstens gestern.“ + +„Gestern? Wo?!“ rief er und sprang auf. „Wo lag es?“ + +„Aber der Kasten ist verschlossen, Papa!“ sagte ich schnell. „Du mußt +warten, bis Mama mich am Abend schickt, um das Geld zu wechseln, denn +das Kupfergeld, das habe ich gesehen, ist ausgegangen.“ + +„Ich brauche fünfzehn Rubel, Njetotschka! Hörst du? Nur fünfzehn Rubel! +Verschaff’ sie mir heute; morgen werde ich dir alles zurückgeben. Ich +werde gleich gehen und dir Bonbons bringen, Nüsse auch ... auch eine +Puppe werde ich dir kaufen ... und morgen wieder eine ... und jeden Tag +werde ich dir Naschwerk bringen, wenn du ein gutes und folgsames Kind +sein wirst!“ + +„Ach nein, das ist nicht nötig, Papa, das ist nicht nötig! Ich will kein +Naschwerk, ich werde es nicht essen, ich werde es dir zurückgeben!“ rief +ich, während die Tränen mich fast erstickten, denn mein Herz krampfte +sich zusammen und wollte vergehen. Ich fühlte in diesem Augenblick, daß +ich ihm nicht leid tat und daß er mich auch gar nicht liebte, da er doch +nicht sah, wie ich ihn liebte, und sogar glauben konnte, daß ich für +Naschwerk ihm dienen werde. In diesem Augenblick begriff ich +zehnjähriges Kind ihn vollkommen, ich durchschaute ihn ganz und gar und +schon fühlte ich, daß diese Erkenntnis mich nun für immer durchdrungen +hatte, daß ich ihn nicht mehr lieben konnte, daß ich meinen früheren +Papa für immer verloren. Er aber war geradezu begeistert von der +Aussicht, durch mich das Geld zu bekommen. Er sah nun, daß ich für ihn +zu allem bereit war, daß ich alles für ihn tun werde, aber nur Gott weiß +es wie viel dieses „alles“ damals für mich war. Ich wußte, was dieses +Geld für meine arme Mutter bedeutete; ich wußte, daß sie krank werden +konnte vor Aufregung und Sorge, wenn ihr dieses Geld abhanden kam, und +meine Reue schrie in mir. Er aber sah nichts davon, er hielt mich immer +noch für ein dreijähriges Kind, während ich schon alles begriff. Seine +Freude kannte keine Grenzen: er küßte mich, redete mir zu, nicht zu +weinen, versprach mir, heute noch mit mir von der Mutter fortzugehen – +wahrscheinlich um meiner in dieser Richtung unermüdlich arbeitenden +Phantasie zu schmeicheln. Schließlich zog er aus seiner Tasche ein +Konzertprogramm: und nun erzählte er und beteuerte, daß dieser Mensch, +zu dem er am Abend gehen werde, sein Feind sei, sein Todfeind, aber +seinen Feinden werde der Anschlag gegen ihn nicht gelingen. Er glich +entschieden selber einem Kinde, während er von seinen Feinden sprach. +Als er dann aber bemerkte, daß ich nicht wie gewöhnlich während seiner +Erzählungen lächelte, sondern ernst und schweigend zuhörte, da nahm er +seinen Hut und ging aus dem Zimmer, da er noch irgendeinen eiligen Gang +vorhatte, wie er sagte, aber im Fortgehen küßte er mich noch einmal und +nickte mir mit einem ungewissen Lächeln zu, als hätte er sich meiner +doch nicht ganz sicher gefühlt, und wie um der Möglichkeit vorzubeugen, +daß ich meine Absicht etwa wieder änderte. + +Ich sagte bereits, daß er wie ein Wahnsinniger war: das fühlte ich schon +am Tage vor dem Konzert. Das Geld brauchte er, um ein Billett zu diesem +Konzert kaufen zu können – als wenn sein Vorgefühl ihm ganz richtig die +Ahnung eingegeben hätte, daß dieses Konzert sein ganzes Schicksal +entscheiden mußte! Darüber verlor er so den Kopf, daß er am Vorabend das +bißchen Kupfergeld von mir nehmen wollte, als hätte er sich schon damit +das Billett verschaffen können. Noch stärker machte sich sein seltsames +Wesen bei Tisch bemerkbar, als wir wie gewöhnlich spät am Nachmittag zu +Mittag aßen. Er konnte einfach nicht stillsitzen und aß keinen Bissen, +jeden Augenblick stand er auf und setzte sich, wie sich besinnend, +wieder hin; bald griff er nach dem Hut, als wollte er fortgehen, bald +war er seltsam zerstreut, bald flüsterte er vor sich hin, bald sah er +plötzlich auf und suchte mich mit den Augen, um mir dann zuzuzwinkern +und verschiedene Zeichen zu machen, vor lauter Ungeduld, endlich in den +Besitz des Geldes zu gelangen, und als ärgere er sich über mich, daß ich +es noch immer nicht der Mutter entwendet hatte. Sogar der Mutter fiel +sein fremdes Wesen auf und sie sah ihn verwundert an. Ich aber war wie +zum Tode verurteilt. Nach dem Essen zog ich mich in meinen Winkel zurück +und zitternd vor Fieber zählte ich die Sekunden bis zu der Zeit, wo die +Mutter mich gewöhnlich nach Kleinigkeiten in den Laden schickte. In +meinem Leben habe ich nicht qualvollere Stunden verbracht: sie werden +ewig und unverwischbar in meiner Erinnerung stehen. Was durchfühlte ich +da nicht alles in Gedanken! Es gibt Zeitspannen – man könnte sie mit +einer Anzahl Minuten beziffern –, wo man in seiner Erkenntnis viel mehr +erlebt, als in ganzen Jahren. Mein Gefühl wußte, daß ich etwas +Schlechtes und Häßliches zu tun im Begriff war; er selbst hatte ja noch +meine guten Instinkte bestärkt, als er mich das erstemal kleinmütig zum +Schlechten verleitet, um mir dann, vielleicht erschrocken, jedenfalls +aber das Geschehene bereuend, zu erklären, daß ich sehr schlecht +gehandelt hatte. Begriff er denn nicht, wie schwer es ist, eine Natur zu +betrügen, die begierig ist, ihre Eindrücke ganz zu erfassen und die +schon viel Schlechtes und Gutes durchfühlt und durchdacht hat? Ich +begriff doch, daß es die äußerste Not war, die ihn bewog, mich nochmals +ins Laster zu stoßen und somit meine arme, schutzlose Kindheit zu opfern +– die ihn bewog, es nochmals zu wagen, meinem noch ungefestigten +Gewissen diesen Stoß zu versetzen. Und während ich dort in meinem Winkel +kauerte, fing ich an, bei mir darüber nachzudenken: warum versprach er +mir noch eine Belohnung für das, was ich schon aus eigenem freiem Willen +tun wollte? Neue Empfindungen, neue, bis dahin noch nie empfundene +Triebe, neue Fragen erhoben sich scharenweis in mir, und ich quälte mich +mit ihnen. Dann mußte ich plötzlich an die Mutter denken. Ich stellte +mir ihre Verzweiflung vor, wenn ihr dieser mühselig erarbeitete Lohn +genommen würde. Endlich legte die Mutter die Arbeit, die sie schon über +ihre Kräfte verrichtete, aus der Hand und rief mich. Ich erbebte und +ging zu ihr. Sie nahm aus der Kommode das Geld und indem sie es mir gab, +sagte sie: + +„Geh, Njetotschka. Nur laß dir um Gottes willen nicht falsch +zurückgeben, wie neulich, und sieh dich vor, daß du auch nichts +verlierst.“ + +Ich sah flehend zum Vater hinüber, aber er nickte mir zu, lächelte +zustimmend und rieb sich die Hände vor Ungeduld. Die Uhr schlug sechs, +das Konzert sollte um acht beginnen. Auch er muß während dieses Wartens +viel erduldet haben. + +Ich blieb auf der Treppe stehen, um auf ihn zu warten. Er war aber so +aufgeregt und ungeduldig, daß er alle Vorsicht vergaß und mir hastig und +fast auf dem Fuß folgte. Ich gab ihm das Geld: auf der Treppe war es +dunkel, sein Gesicht konnte ich nicht sehen; aber ich fühlte, daß er am +ganzen Körper zitterte, als er das Geld empfing. Ich stand erstarrt wie +im Krampf, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich kam erst zu mir, als er +mich nach oben schickte, um ihm seinen Hut aus dem Zimmer zu holen. Er +wollte nicht einmal mehr hineingehen. + +„Papa! Wirst du ... denn nicht mitkommen ins Zimmer?“ fragte ich mit +versagender Stimme, mich noch an meine letzte Hoffnung klammernd – an +seinen Beistand. + +„Nein ... du geh lieber allein ... was? Wart’ wart’!“ rief er, sich +schnell besinnend, „wart’, ich werde dir gleich Naschwerk bringen – aber +du geh nur erst ins Zimmer und bring mir meinen Hut her.“ + +Mir war, als presse eine eiskalte Hand mein Herz zusammen. Plötzlich – +stieß ich ihn fort und eilte wie gejagt die Treppe hinauf. Als ich ins +Zimmer trat – sah ich verstört aus, und wenn ich damals gesagt hätte, +daß man mir das Geld genommen, da hätte die Mutter es mir wohl geglaubt. +Aber ich konnte keinen Laut hervorbringen. In einem Anfall der +Verzweiflung, die mich plötzlich wie ein Krampf packte, warf ich mich +über das Bett der Mutter und vergrub das Gesicht in den Händen. Nach +einer Weile hörte ich die Tür leise kreischen und der Vater trat ins +Zimmer. Er kam, um sich seinen Hut zu holen. + +„Wo ist das Geld?!“ rief plötzlich die Mutter, die jetzt blitzartig +erriet, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. „Wo ist das Geld? +Sprich! Sprich!“ Und sie riß mich vom Bett und stellte mich vor sich +hin, mitten ins Zimmer. + +Ich schwieg, den Blick zu Boden gesenkt; ich wußte kaum, was in mir +vorging und was man mit mir tat. + +„Wo ist das Geld?!“ schrie sie mich an und plötzlich – sah sie sich nach +dem Vater um, der schon nach dem Hut griff. „Wo ist das Geld?“ +wiederholte sie. „Ah! Dir hat sie es gegeben? Du Verruchter! Mein Mörder +du! Mein Henker! So willst du auch sie verderben! Das Kind! sie, sie?! +Nein doch! So gehst du mir nicht fort!“ + +Und schon war sie bei der Tür, verschloß sie und steckte den Schlüssel +zu sich. + +„Sprich! Gestehe!“ wandte sie sich an mich – mit einer Stimme, die vor +Erregung kaum hörbar war, „gestehe mir alles! So sprich doch, sprich! +Oder ... ich weiß nicht, was ich mit dir mache!“ + +Sie ergriff meine Hände und zerdrückte sie beinahe, um mich zum +Geständnis zu zwingen. Sie war außer sich und sich gewiß nicht +vollkommen bewußt dessen, was sie tat. Ich aber schwor mir, zu +schweigen, kein Wort vom Vater zu sagen, – doch schlug ich schüchtern +zum letzten Male die Augen zu ihm auf ... Ein Blick von ihm, nur ein +Wort, irgend etwas, was ich von ihm erwartete und worum ich bei mir im +stillen betete – und ich wäre glücklich gewesen trotz aller Schmerzen, +trotz jeder Folter ... Doch – mein Gott! Mit einer gefühllosen, +drohenden Geste befahl er mir, zu schweigen, als hätte ich in diesem +Augenblick noch irgendeines anderen Drohung fürchten können. Es schnürte +mir die Kehle zu, benahm mir den Atem, meine Füße – ich fühlte sie nicht +mehr ... bewußtlos fiel ich hin ... Der Anfall, den ich tags zuvor +gehabt, wiederholte sich. + +Ich erwachte, als plötzlich an unsere Tür geklopft wurde. Die Mutter +öffnete sie und erblickte einen Menschen in einer Livree, der etwas +zögernd ins Zimmer trat, sich verwundert umsah und nach dem Musiker +Jefimoff fragte. Der Vater sagte, daß er derjenige sei, den er suche. Da +überreichte ihm der Diener ein Kuvert und erklärte, Herr B., der +augenblicklich beim Fürsten H. weile, habe ihn geschickt. Das Kuvert +enthielt ein Billett zum Konzert des berühmten S–z. + +Das Erscheinen dieses Dieners in der glänzenden Livree, dieses +Abgesandten vom Fürsten H., der ihn zu dem armen Musiker schickte – all +das machte im ersten Augenblick einen großen Eindruck auf die Mutter. +Ich sagte bereits, daß die arme Frau meinen Vater immer noch liebte. +Selbst nach ganzen acht Jahren der Enttäuschungen, des Kummers und Leids +hatte ihr Herz sich noch nicht verändert: ja, sie konnte ihn immer noch +lieben! Weiß Gott, vielleicht sah sie nun wieder eine Veränderung in +seinem Leben bevorstehen. Sogar der Schatten einer Hoffnung konnte sie +schon beeinflussen. Wer weiß, vielleicht hatte er sie in seiner +Verschrobenheit einfach angesteckt mit seinem unerschütterlichen +Selbstbewußtsein! Und es wäre doch auch gar nicht anders möglich +gewesen, als daß dieses Selbstbewußtsein auf sie, die schwache Frau, +nicht einen gewissen Einfluß gehabt hätte – was Wunder, wenn sie da auf +diese Aufmerksamkeit des Fürsten gleich tausend Pläne für ihn baute. +Sofort war sie bereit, wieder gut zu ihm zu sein, ihm alles zu +verzeihen, die Qual der ganzen Zeit ihres gemeinsamen Lebens, sogar +diese letzte Schandtat miteinbegriffen, – daß er ihr einziges Kind zu +opfern sich nicht scheute – war bereit, getragen von der Flut ihrer +wieder hervorbrechenden Hoffnung, diese Schandtat als ein einfaches, +kleines Vergehen aufzufassen, als einen Kleinmut, wenn man will, den die +Armut, das elende Leben und seine verzweifelte Lage entschuldigen +konnten. So verzieh sie ihm, und empfand in diesem Augenblick +unendliches Mitleid für den verkommenen Mann. + +Der Vater geriet in Aufregung. Auch ihn überraschte die Aufmerksamkeit +B.s und des Fürsten. Er wandte sich ohne weiteres an die Mutter, +flüsterte ihr etwas zu und sie verließ das Zimmer. Nach etwa zwei +Minuten kehrte sie zurück, brachte das gewechselte Geld und der Vater +gab dem Diener sogleich einen Silberrubel, worauf dieser nach einer +höflichen Verbeugung fortging. Die Mutter verließ nun wieder für einen +Augenblick das Zimmer und kehrte mit einem Bügeleisen zurück, suchte das +beste Vorhemd ihres Mannes heraus und bügelte es auf. Sie band ihm +eigenhändig die weiße Batistkrawatte um den Hals, die sich seit +undenklichen Zeiten noch erhalten hatte samt einem schwarzen, schon +recht abgetragenen Frack, der für ihn noch vor seinem Eintritt ins +Orchester angefertigt worden war. Nachdem er die Toilette beendet hatte, +nahm er den Hut, doch vor dem Fortgehen bat er noch um ein Glas Wasser. +Er war bleich und setzte sich in vollkommener Erschöpfung auf einen +Stuhl. Das Wasser mußte ich ihm übrigens reichen – vielleicht hatte sich +schon ein feindseliges Gefühl ins Herz der Mutter geschlichen und ihre +erste Aufwallung abgekühlt? + +Dann ging der Vater. Wir waren allein. Ich zog mich wieder in meinen +Winkel zurück und von dort aus sah ich lange schweigend auf die Mutter. +Zum erstenmal sah ich sie in einer solchen inneren Aufregung: ihre +Lippen bebten, die bleichen Wangen hatten sich gerötet und von Zeit zu +Zeit bemerkte ich an ihr nervöse Zuckungen. Zuletzt brach ihre Qual das +Schweigen und ihr ganzes Elend drängte sich in Klagen unter dumpfem, +verzweifeltem Aufschluchzen hervor. + +„Ich, ich allein bin an allem schuld, ich Unselige!“ klagte sie sich an. +„Und was soll aus ihr werden? Was wird aus ihr, wenn ich sterbe?“ Sie +blieb plötzlich mitten im Zimmer stehen wie getroffen durch diesen einen +Gedanken. „Njetotschka! Mein Kind! Mein armes Kind! Du Unglückliche, du +Arme!“ sagte sie, meine Hände erfassend und mich krampfhaft umarmend. +„Bei wem lasse ich dich, wenn ich dich nun nicht mehr erziehen, dich +nicht mehr hegen und pflegen kann? Mein armer Liebling! Oh, du verstehst +mich nicht! Oder doch? Wirst du behalten, was ich dir jetzt sage, +Njetotschka? Wirst du dich später noch dessen erinnern?“ + +„Ja, Mamachen, ja!“ beteuerte ich und faltete die Hände, wie um es zu +beschwören. + +Lange und fest hielt sie mich in ihren Armen, als bangte ihr vor dem +Gedanken, daß sie sich von mir trennen mußte. Mein Herz wollte brechen. + +„Mamachen! Mama ...“ stammelte ich stockend, denn das Schluchzen saß mir +in der Kehle, „warum ... warum liebst du Papa nicht?“ Und die +unterdrückten Tränen liefen mir über die Wangen. + +Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Und wieder, von neuer Qual +gepeinigt, setzte sie ihre Wanderung durch das Zimmer fort. + +„Die Arme, die Arme! Und ich hab’ es nicht einmal bemerkt, wie sie +herangewachsen ist! Sie weiß, sie weiß alles! Mein Gott! Und was waren +das hier für Eindrücke, welch ein Beispiel!“ Und sie rang die Hände in +ihrer Verzweiflung. + +Dann kam sie wieder zu mir und küßte mich in wahnsinniger Liebe, küßte +meine Hände, auf die ihre Tränen fielen, bat, flehte um Verzeihung ... +Ich hatte noch nie soviel Leid, noch nie einen Menschen so vor Leid +zusammenbrechen gesehen ... Schließlich versank sie gleichsam ermattet +in stumpfes Brüten. So verging wohl eine ganze Stunde. Endlich stand sie +müde auf, sichtlich erschöpft, und sagte mir, ich solle schlafen gehen. +Ich ging in meinen Winkel, tat wie sie geheißen, wickelte mich fest in +die Decke – aber einschlafen konnte ich nicht. Mich quälten die Gedanken +an sie und die Gedanken an den Vater. Mit Ungeduld erwartete ich seine +Rückkehr. Entsetzen erfaßte mich bei dem Gedanken an ihn. Ungefähr nach +einer halben Stunde nahm die Mutter das Licht und trat leise an mein +Bett, um zu sehen, ob ich schlafe. Ich schloß schnell die Augen und +stellte mich schlafend, damit sie sich beruhigte. Als sie sich dann von +meinem Schlaf überzeugt hatte, ging sie leise zum Schrank, öffnete ihn +und schenkte sich ein Glas Wein ein. Sie trank und legte sich dann +schlafen. Das brennende Licht blieb auf dem Tisch und die Tür +unverschlossen, wie das immer geschah, wenn der Vater spät nach Hause +kam. + +Ich lag in halber Bewußtlosigkeit, doch kein Schlaf schloß meine Augen. +Kaum sank ich in Schlummer, da wachte ich auch schon wieder auf, +erschreckt durch furchtbare Traumgesichte. Die Beklemmung wuchs und +wurde immer bedrückender. Ich wollte schreien, doch der Schrei erstarb +in meiner Brust. Endlich – schon spät in der Nacht – hörte ich, wie +unsere Tür geöffnet wurde. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit darüber +verstrich, als ich aber die Augen plötzlich ganz aufschlug, da erblickte +ich den Vater. Wie es mir schien, war er sehr bleich. Er saß auf dem +Stuhl gleich neben der Tür und war in Gedanken versunken. Im Zimmer +herrschte Totenstille. Das tropfende Talglicht erhellte traurig unser +Heim. + +Ich sah lange auf den Vater, aber er rührte sich noch immer nicht. Er +saß unbeweglich, immer in derselben Stellung, den Kopf auf die Brust +gesenkt und die Hände starr auf die Knie gestützt. Zwei-, dreimal wollte +ich ihn anrufen, aber ich konnte es nicht. Meine Erstarrung wich nicht +von mir. Plötzlich erwachte er gleichsam aus seiner Versunkenheit, sah +auf und erhob sich vom Stuhl. Eine Weile stand er mitten im Zimmer – es +war, als suchte er nach einem Entschluß. Dann trat er plötzlich ans Bett +der Mutter, horchte, und nachdem er sich überzeugt, daß sie schlief, +ging er zum Koffer, in dem seine Geige lag. + +Er öffnete den Verschluß, nahm den schwarzen Violinkasten und stellte +ihn auf den Tisch; dann sah er sich wieder um; sein Blick war trüb und +unstet, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. + +Er nahm die Violine, legte sie aber gleich wieder hin, kehrte zurück zur +Tür und verschloß sie. Dann, als er den offenstehenden Schrank bemerkte, +ging er leise hin, sah dort das Glas und den Wein stehen, schenkte sich +ein und trank. Darauf griff er zum drittenmal zur Geige, legte sie aber +zum drittenmal wieder hin und ging nochmals zum Bett der Mutter. Starr +vor Angst erwartete ich, was nun geschehen werde. + +Er stand lange horchend, zu lange, wie mir schien. Dann schlug er +plötzlich die Decke von ihrem Gesicht zurück und befühlte es mit der +Hand. Ich zuckte zusammen. Er beugte sich nochmals über sie, ganz tief, +sein Kopf berührte sie fast, als er sich aber zum letztenmal +aufrichtete, da glitt es wie ein Lächeln über sein unheimlich bleiches +Gesicht. Leise und behutsam breitete er die Decke wieder über die +Schlafende, bedeckte den Kopf, die Füße ... ich aber begann zu zittern, +in einer dunklen, unklaren Angst: ich fürchtete für die Mutter, +fürchtete ihren tiefen Schlaf, mit bangem Herzklopfen sah ich unverwandt +auf diese unbewegliche Linie der Decke, die in eckigen Umrissen über den +Gliedmaßen ihres Körpers lag ... Wie ein Blitz durchzuckte plötzlich ein +furchtbarer Gedanke mein Gehirn! + +Nachdem er alle Vorbereitungen beendet, ging er wieder zum Schrank und +trank den Rest des Weines aus. Er zitterte am ganzen Körper, als er an +den Tisch trat. Man konnte ihn kaum wiedererkennen – so totenblaß war +er. Wieder nahm er die Geige. Ich hatte sie schon gesehen und wußte, daß +sie ein Instrument zum Spielen war, aber jetzt erwartete ich von ihr +etwas Schreckliches, Unheimliches, Wunderbares ... und ich fuhr zusammen +unter ihren ersten Tönen. Der Vater begann zu spielen. Doch die Töne +sprangen seltsam und unterbrochen durcheinander; auch hielt er jeden +Augenblick inne, wie um sich an etwas zu erinnern; – bis er mit +zerquältem Antlitz den Bogen hinlegte und so eigentümlich auf das Bett +sah. Dort schien ihn etwas immer noch zu beunruhigen. Wieder ging er zum +Bett ... Jede seiner Bewegungen verfolgte ich und ließ ihn nicht aus den +Augen, obgleich mir das Herz stillstand vor Angst. + +Plötzlich begann er eilig nach irgend etwas zu suchen – und wieder +durchzuckte mich jener furchtbare Gedanke. Ich fragte mich: warum wachte +sie denn nicht auf, als er ihr Gesicht befühlte? Dann sah ich, daß er +alles zusammenschleppte, was es an Kleidern bei uns gab: er nahm die +Jacke der Mutter, seinen alten Rock und seinen Schlafrock, sogar mein +Kleid, das ich über eine Stuhllehne geworfen hatte, und mit all dem +deckte er sie zu, so daß von ihr unter dem Kleiderhaufen nichts mehr zu +sehen war. Sie lag immer noch regungslos, ohne ein Glied zu rühren. + +Sie schlief einen tiefen Schlaf. + +Es war mir, als atmete er freier auf, sobald auch diese Arbeit getan +war. Jetzt störte ihn nichts mehr, nur irgend etwas beunruhigte ihn +noch: er rückte das Licht von seinem Platz und setzte es etwas weiter, +und sich selbst stellte er mit dem Gesicht zur Tür, um vom Bett nichts +mehr zu sehen. Dann nahm er die Geige und wie mit einer Geste der +Verzweiflung schlug er mit dem Bogen auf die Saiten ... Die Musik +begann. + +Doch das war nicht Musik ... Ich erinnere mich deutlich jener Nacht, +erinnere mich alles dessen, was ich damals sah und hörte, und um wieviel +mehr noch dessen, was einen so erschütternd tiefen Eindruck auf mich +machte. Nein, das war nicht Musik, wie ich sie später zu hören +Gelegenheit gehabt habe! Das waren nicht Töne einer Geige, sondern es +war, als wenn zum erstenmal in unserer dunklen Wohnung jemandes +grauenhafte Stimme donnernd erscholl. Oder waren meine Empfindungen +falsch, vielleicht krankhaft und überreizt, oder hatte das, was ich +bereits erlebt und gesehn, meine Gefühle auf diese erschütternden und +erlösungslos qualvollen Eindrücke schon derartig vorbereitet – +gleichviel! – ich bin trotzdem fest überzeugt, daß ich Gestöhn, eines +Menschen Schreie und Schluchzen hörte. Tiefste Verzweiflung ergoß sich +in diesen Tönen, und als es schließlich zum furchtbaren Finale kam, in +dem alles hervorbrach, was es an schluchzendem Weh, was es an Qual in +zerquälten Herzen und an Sehnsucht in hoffnungslosem Sehnen gibt, und +als all das sich plötzlich wie zu einem einzigen Ausdruck vereinigte ... +da konnte ich es nicht mehr aushalten – ich erbebte, Tränen entströmten +meinen Augen und mit einem verzweifelten Schrei stürzte ich zum Vater +und umklammerte ihn mit meinen Armen. Er schrie auf und ließ seine Geige +sinken. + +Eine Weile stand er betäubt, wie verloren. Dann begannen seine Augen +nach allen Seiten hin zu springen und zu laufen, als suche er etwas – +plötzlich erfaßte er die Geige, holte mit ihr über meinem Kopfe aus ... +noch ein Augenblick, und er hätte mich wohl auf der Stelle erschlagen. + +„Papa!“ schrie ich auf, „Papachen!“ + +Er erzitterte am ganzen Körper und trat taumelnd zwei Schritte zurück. + +„Ach! Da bist ja auch du noch! So ist noch nicht alles aus! So bist du +mir noch geblieben!“ schrie er, mich an den Schultern mit Wucht +emporhebend. + +„Papachen!“ rief ich, in der Luft von ihm gehalten, „nicht, nicht! Ich +fürchte mich! Ach, bitte, nicht!“ + +Mein Weinen schien Eindruck auf ihn zu machen. Er stellte mich +vorsichtig wieder hin und sah mich eine Weile stumm an, als erkenne er +mich – und erinnere er sich nach und nach an etwas Vergessenes. Und +plötzlich war es, als drehe ihn innerlich irgend etwas um, als träfe ihn +plötzlich ein furchtbarer Gedanke – aus seinen trüben Augen brach ein +Strom von Tränen, und er beugte sich zu mir nieder und begann mir +aufmerksam ins Gesicht zu sehen. + +„Papachen!“ bettelte ich angstvoll, „sieh mich nicht so an, Papachen! +Laß uns von hier fortgehen! Komm schnell! Komm, wir wollen laufen!“ + +„Ja, laufen wir, laufen wir! Es ist Zeit! gehen wir, Njetotschka! +Schnell, schnell!“ Und eine Hast kam über ihn, als sei er erst jetzt +drauf verfallen, was er zu tun hatte. Geschäftig sah er sich nach allen +Seiten um, – ein Taschentuch der Mutter, das auf dem Fußboden lag, hob +er schnell auf und steckte es zu sich, dann erblickte er noch eine +Kopfbedeckung und auch diese hob er auf und verbarg sie bei sich, als +rüste er sich zu einer weiten Reise und wolle sich nun mit allem +versorgen, was er vielleicht brauchen konnte. + +Ich zog mir im Nu mein Kleid an und begann gleichfalls in großer Eile +zusammenzuraffen, was mir für die Reise notwendig erschien. + +„Hast du alles? hast du alles?“ fragte er, mich zur Eile antreibend, +„ist alles fertig? Dann schnell, schnell!“ + +Ich machte eilig mein Bündel fertig, warf mir ein Tuch um den Kopf und +schon waren wir im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als es mir +plötzlich einfiel, daß ich ja auch noch das Bild, das an der Wand hing, +mitnehmen mußte. Der Vater war damit sogleich einverstanden. Er war +jetzt ganz still, sprach nur flüsternd und trieb mich nur zur Eile an. +So holten wir beide einen Stuhl herbei, stellten auf ihn die Bank – und +dann erst gelang es uns, als wir endlich mit Mühe und Not auf dieses +wackelige Gestell hinaufgeturnt waren, das Bild zu erreichen. Damit +hatten wir alle Vorbereitungen getroffen. Er nahm mich an der Hand und +wir wollten schon gehen – aber plötzlich blieb er stehen. Er rieb sich +lange die Stirn, als müsse er sich auf irgend etwas besinnen, was wir +noch vergessen hatten. Endlich fiel es ihm ein: er suchte unter dem +Kopfkissen der Mutter nach dem Schlüsselbund, schloß die Kommode auf und +begann eilig nach etwas zu kramen und zu wühlen. Endlich kehrte er zu +mir zurück und brachte mir einiges Geld, das er in der Schatulle +gefunden hatte. + +„Hier, nimm, nimm das, verwahre es,“ flüsterte er, „verlier’s nicht, und +vergiß es nicht, vergiß es nicht!“ + +Er gab mir zuerst das Geld in die Hand, nahm es aber wieder zurück und +steckte es mir in das Leibchen. Ich weiß noch, daß ich zusammenzuckte, +als dieses Silber meinen Körper berührte, und es war, als begriffe ich +jetzt zum erstenmal, was Geld ist. Wir waren nun wieder fertig zum +Aufbruch, doch plötzlich hielt er mich nochmals zurück. + +„Njetotschka!“ – er dachte ersichtlich mit großer Anstrengung nach. +„Mein Kindchen, ich ... ich vergaß ... Ja was denn? ... was war’s doch? +... Ich weiß nicht mehr ... Ja, ja richtig! da fällt’s mir ein! ... Komm +her, Njetotschka!“ + +Er führte mich nach dem Winkel, wo das Heiligenbild hing und sagte, ich +solle niederknien. + +„Bete, mein Kind, bete! Es wird dir besser sein! ... Ja, wirklich, es +wird besser sein,“ flüsterte er mir zu, auf das Heiligenbild deutend, +und dabei sah er mich so seltsam an. „Bete, Njetotschka, bete, bete!“ +sagte er mit eigentümlich flehender, beschwörender Stimme. + +Ich warf mich auf die Knie, faltete die Hände, und, erfüllt von +Entsetzen, von Verzweiflung, die sich meiner bemächtigt hatten, schlug +ich mit der Stirn auf den Boden und lag minutenlang wie erstarrt. Ich +nahm krampfhaft alle meine Gedanken zusammen, sammelte alle meine +Gefühle in meinem Gebet – aber die Angst überwältigte mich. Ich erhob +mich wie gemartert von Leid. Ich wollte nicht mehr mit ihm gehen; ich +fürchtete ihn; ich wollte dableiben. Schließlich brach das, was mich so +quälte und bedrückte, mit Gewalt aus mir hervor. + +„Papa!“ rief ich unter strömenden Tränen, „aber Mama? ... – Was wird mit +Mama? Wo ist sie? Wo ist meine Mama?“ ... + +Die Tränen erstickten meine Stimme, ich brachte nichts mehr hervor. + +Auch er sah mich unter Tränen an. Dann faßte er mich an der Hand, führte +mich zum Bett, schob den draufgeworfenen Haufen Kleider fort und schlug +die Decke zurück. Mein Gott! Sie lag tot, schon erkaltet und erstarrt. +Das Gesicht hatte bereits bläuliche Leichenfarbe. Da warf ich mich, als +wäre mir jede Empfindung abhanden gekommen, über sie und umklammerte +ihre Leiche. Der Vater stellte mich auf die Knie. + +„Verneige dich vor ihr, Kind!“ sagte er, „nimm Abschied von ihr ...“ + +Ich neigte mich tief. Der Vater tat es zugleich mit mir ... Er war +unheimlich bleich; seine Lippen bewegten sich und schienen zu flüstern. + +„_Ich_ war es _nicht_, Njetotschka, _ich nicht_,“ sagte er zu mir, mit +zitternder Hand auf die Leiche deutend. „Hörst du, _ich nicht_: _ich bin +nicht schuld daran_. Behalt das, Njetotschka.“ + +„Papa, laß uns jetzt gehen,“ flüsterte ich angstvoll. „Es ist Zeit!“ + +„Ja, jetzt ist’s Zeit, schon längst Zeit!“ sagte er schnell, faßte fest +meine Hand und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen. „So, jetzt brechen +wir auf! Gott sei Dank, Gott sei Dank, jetzt hat alles ein Ende!“ + +Wir stiegen die Treppen hinunter. Der verschlafene Hausknecht öffnete +uns die Tür, während er uns etwas mißtrauisch musterte und sich fragen +mochte, weshalb der Vater sich so beeilte, daß ich ihm kaum nachkam. Wir +gingen unsere Straße bis zum Ende und gelangten auf den Kai des Kanals. +In der Nacht war Schnee gefallen, der lag weiß auf der Straße, und es +schneite auch jetzt noch in feinen Flöckchen. Es war kalt; mich fror bis +ins Mark und ich lief dem Vater nach, mich krampfhaft an seinem +Frackschoß festhaltend. Die Geige hatte er unterm Arm und immer wieder +blieb er stehen, um das Futteral, das zurückglitt, nach vorn zu ziehen. + +Wir gingen etwa eine Viertelstunde. Da bog er vom Trottoir auf den +abschüssigen Weg, der zum Kanal hinabführt, und setzte sich auf den +letzten Prellstein. Zwei Schritte von uns war ein Durchgang. Ringsum war +keine Menschenseele zu sehen. Gott! Als erlebte ich es noch in diesem +Augenblick, so deutlich erinnere ich mich jenes furchtbaren Gefühls, das +mich dort plötzlich erfaßte! Endlich also ging das in Erfüllung, wovon +ich schon ein Jahr lang geträumt: wir hatten unser armseliges Heim +verlassen ... Aber war es denn das, was ich ersehnt, was ich erträumt +und erhofft, was meine Kinderphantasie sich aufgebaut, wenn ich mir das +Glück desjenigen, den ich so unkindlich liebte, vorzustellen versucht +hatte? Doch am meisten quälte mich plötzlich der Gedanke an die Mutter. +Warum hatten wir sie verlassen? fragte ich mich, – so ganz allein? Warum +hatten wir ihren Leib wie eine unnütze Sache dort liegen lassen? Und ich +weiß noch, das quälte und beunruhigte mich mehr als alles andere. + +„Papachen,“ begann ich, unfähig, meine qualvolle Sorge länger zu +ertragen, „Papachen!“ + +„Was willst du?“ fragte er rauh. + +„Warum haben wir, Papa, warum haben wir Mama dort gelassen? Warum +verließen wir sie?“ fragte ich weinend. „Papachen! Laß uns nach Haus +zurückkehren! Laß uns jemand zu ihr rufen.“ + +„Ja, ja!“ rief er plötzlich auffahrend und er erhob sich vom Prellstein, +als sei ihm etwas Neues eingefallen, das alle seine Zweifel aufhob. „Ja, +Njetotschka, so geht das nicht: wir müssen zur Mama zurückkehren; sie +hat es dort kalt! Geh zu ihr, Njetotschka, dort ist ein Licht, du weißt +doch! Fürchte dich nicht, ruf jemand zu ihr und dann komm wieder her zu +mir. Geh allein, ich werde dich hier erwarten ... Ich werde nirgendwohin +fortgehen ...“ + +Ich ging, aber kaum war ich wieder auf dem Trottoir, als plötzlich ein +Etwas durch mein Herz fuhr ... Jäh blickte ich mich um und da – sah ich +ihn laufen, schon auf der anderen Seite, sah ihn von mir fortlaufen! Er +verließ mich also, verließ mich in diesem Augenblick! Ich schrie aus +aller Kraft und lief ihm in furchtbarer Angst nach. Ich war außer Atem, +er aber lief immer schneller, immer schneller ... ich verlor ihn schon +aus den Augen. Ich fand seinen Hut, den er im Laufen verloren hatte. Ich +hob ihn auf und lief wieder weiter. Ich rang nach Atem und meine Füße +wollten mir versagen. Ich hatte die Empfindung, daß etwas Schreckliches +mit mir geschah: es schien mir die ganze Zeit, daß das ein Traum sei, +und zuweilen hatte ich sogar dasselbe Gefühl wie in einem Traum, wenn +mir träumte, daß ich von irgend jemand fortlief, meine Füße aber brechen +wollten, während meine Verfolger mich bereits erreichten – und ich +selbst jäh in einen Abgrund stürzte. Qual wollte mich zerreißen: er tat +mir so leid, mein Herz schrie nach ihm und es wollte brechen, als ich +mir vorstellte, wie er lief, so ohne Mantel, ohne Hut, und noch dazu von +mir fort, von mir, seinem geliebten Kinde ... Ich wollte ihn schließlich +nur erreichen, um ihn noch einmal mit meinen Armen fest zu umschlingen +und ihn zu küssen und ihm zu sagen, daß er mich nicht fürchten solle: um +ihn meiner Liebe zu versichern, ihn zu beruhigen, um ihm zu sagen, daß +ich ihm ja nicht weiter nachlaufen wolle, wenn er das nicht wünsche, daß +ich vielmehr allein zur Mutter zurückgehen werde. Ich sah, wie er in +eine Straße einbog. Als ich gleichfalls an diese Ecke kam und auch in +die Straße einbog, sah ich ihn noch einmal, doch weit vor mir, +dahinlaufen ... Dann verließen mich meine Kräfte: ich fing an zu weinen, +zu schreien. Ich weiß noch, daß ich während des Laufens mit zwei Männern +zusammenstieß, die mitten auf dem Trottoir stehenblieben und verwundert +uns beiden nachschauten. + +„Papa! Papachen!“ rief ich zum letztenmal, doch plötzlich glitt ich aus +auf dem Trottoir und fiel hin, gerade vor dem Portal eines Hauses. Ich +fühlte, wie Blut mein ganzes Gesicht überströmte. Im nächsten Augenblick +verlor ich die Besinnung. – – – – + + * * * * * + +Ich erwachte in einem weichen, warmen Bett und erblickte vor mir +freundliche, liebevolle Gesichter, die über mein Erwachen sehr froh zu +sein schienen. Ich sah eine alte kleine Frau mit einer Brille auf der +Nase, einen großen Herrn, der mit tiefem Mitleid auf mich blickte, dann +eine wunderschöne junge Dame und zuletzt einen grauen alten Herrn, der +meine Hand am Gelenk festhielt und auf seine Uhr sah. Ich war zu einem +neuen Leben erwacht. Der eine von den beiden Männern, die mir begegnet +waren, während ich dem Vater nachlief, war Fürst H. gewesen, und gerade +vor dem Portal seines Hauses war ich hingefallen. Als man nach vieler +Mühe endlich erfuhr, wer ich war, entschloß sich der Fürst, der meinem +Vater das Billett geschickt hatte und nun nicht wenig bestürzt war über +den seltsamen Zufall, mich in sein Haus zu nehmen und mich zusammen mit +seinen Kindern zu erziehen. Nachforschungen nach dem Vater ergaben, daß +er irgendwo außerhalb der Stadt angehalten und festgenommen worden war, +wobei er sich in einem Anfall von Tobsucht wie rasend gewehrt hatte. Er +wurde in die Irrenabteilung eines Hospitals geschafft, wo er nach zwei +Tagen starb. + +Er starb, weil ein solcher Tod die natürliche Folge seines Lebens war. +Er mußte so sterben, als alles, was ihn im Leben bis dahin +aufrechterhalten hatte, mit einemmal zusammengebrochen, als es wie ein +Phantom, wie ein Traum vergangen war, wie ein körperloses leeres +Phantasiegebilde. Er starb, als auch seine letzte Hoffnung verschwunden, +als wie mit einem einzigen Schlage vor seinen eigenen Augen das ganze +Werk seiner Einbildung zerspellt worden war und ihm plötzlich alles das +klar zur Erkenntnis kam, womit er sich sein Leben lang betrogen und +worauf er sich sein Leben lang gestützt hatte. Die Wahrheit blendete ihn +mit ihrem unerträglichen Licht, und das, was Irrtum gewesen war, wurde +nun auch für ihn selbst Lüge. An jenem Abend hörte er die Kunst eines +wirklichen Genies, das unmittelbar zu ihm von sich sprach und das ihn +zugleich auf ewig verurteilte. Mit dem letzten Ton, der den Saiten der +Geige des großen S–z entflog, tat sich vor ihm das ganze Geheimnis der +Kunst auf, und das Genie, das ewig junge, mächtige und echte, erdrückte +ihn mit seiner Wahrheit. Als ob alles, was ihn sein ganzes Leben lang +nur in geheimen, ungreifbaren Qualen gepeinigt, alles, was ihn bis dahin +nur wie ein Spuk geschreckt und in seinen Träumen unfühlbar, +unerhaschbar gequält hatte, was sich ihm, wenn auch nur von Zeit zu +Zeit, ins Bewußtsein gedrängt, doch wovor er stets mit Entsetzen +geflohen war, wovor er sich hinter der Lüge seines ganzen Lebens zu +verschanzen gesucht, und alles, was ihm sein Vorgefühl gesagt, aber was +er bis dahin nicht hatte einsehen wollen, – als ob all das plötzlich +strahlend hell vor ihm aufleuchtete und sich seinen Augen offenbarte, +die sich bis dahin so eigensinnig geweigert hatten, das Licht als Licht +anzuerkennen, und die Finsternis als Finsternis! Doch die Wahrheit war +unerträglich für seine Augen, die zum erstenmal in all das hineinsahen, +was gewesen, in das, was war und in das, was ihn erwartete: sie blendete +ihn und verbrannte seine Vernunft. Sie traf ihn jäh wie ein Blitz, und +sie zündete auch wie ein Blitz. So war denn das geschehen, was er sein +Leben lang mit Bangen und Schauder erwartet hatte. Das Richtschwert, das +schon immer über seinem Kopf gehangen, als habe er zeit seines Lebens in +unsagbaren Qualen jeden Augenblick erwartet, daß es auf ihn fallen +werde, – nun endlich war es wirklich gefallen! Der Schlag war tödlich. +Er wollte fliehen vor dem Gericht über sich, aber es gab für ihn kein +Wohin, denn seine letzte Hoffnung war verschwunden, seine letzte +Entschuldigung ihm genommen. Diejenige, deren Leben so viele Jahre auf +ihm gelastet, die ihn angeblich nicht leben ließ, die, nach deren Tode +er seinem blinden Glauben nach plötzlich aufleben, ja gewissermaßen +auferstehen würde, – die war nun tot. Jetzt war er endlich allein, +nichts bedrückte ihn mehr, nichts fesselte ihn mehr: jetzt war er +endlich frei! Da wollte er zum letztenmal in krampfhafter Verzweiflung +über sich ein Urteil fällen, wollte wie ein unparteiischer Richter ohne +Ansehen der Person unerbittlich streng und gerecht über sich selbst +Gericht halten. Doch sein entkräfteter Bogen war unfähig, seinen +innersten musikalischen Willen zu gestalten ... Und in dem Augenblick, +in dem er das erkannte, ergriff der Wahnsinn, der schon zehn Jahre lang +auf ihn gelauert hatte, von ihm Besitz. + + + IV. + +Meine Genesung machte nur langsame Fortschritte; doch auch dann noch, +als ich schon nicht mehr zu Bett lag, waren meine Sinne noch lange Zeit +wie gelähmt und ich konnte nicht begreifen, was nun eigentlich mit mir +geschehen war. Es gab Augenblicke, in denen es mir schien, daß ich +träumte, und ich weiß noch, wie sehr ich wünschte, daß alles Geschehene +wirklich nur ein Traum gewesen sein möge! Wenn ich abends einschlief, +dann hoffte ich, plötzlich wieder in unserer ärmlichen Dachstube zu +erwachen und den Vater und die Mutter zu erblicken ... Allmählich aber +wurde mir doch meine neue Lage klarer und ich begriff nach und nach, daß +ich ganz allein zurückgeblieben war und bei fremden Menschen lebte. Da +fühlte ich es denn zum erstenmal, daß ich eine Waise war. + +Wißbegierig begann ich, all das Neue, das mich nun umgab, zu betrachten +und zu beobachten. Anfangs erschien mir das Ganze so seltsam und +märchenhaft, alles verwirrte mich: sowohl die neuen Gesichter wie die +neue Lebensart und die Gemächer des alten fürstlichen Hauses, die mir +noch heute so deutlich vor Augen stehen, – so groß und hoch und +prächtig, aber auch so düster und dunkel waren sie, daß ich, ich weiß es +noch wie heute, im Ernst fürchtete, durch irgendeinen langen, langen +Saal gehen zu müssen, in dem ich mich, wie mir schien, vollständig zu +verlieren glaubte. Meine Krankheit war noch nicht ganz überstanden und +deshalb waren auch meine Eindrücke so lastend, wie es bei meiner +Stimmung und dem Düster-Feierlichen dieses Hauses wohl eben nicht anders +sein konnte. Hinzukam, daß eine mir selbst unklare Sehnsucht und +Bangigkeit in meinem kleinen Kinderherzen immer größer wurde. Mit +Verwunderung blieb ich zuweilen vor einem Gemälde, einem Spiegel, einem +Kamin von kunstvoller Arbeit stehen, oder vor einer Statue, die sich +gleichsam nur zu dem Zweck in einer tiefen Nische versteckt hatte, um +von dort aus mich besser beobachten zu können oder mich irgendwie zu +erschrecken. – Ich blieb stehen und dann wußte ich plötzlich selbst +nicht mehr, weshalb ich stand, was ich wollte, woran ich dachte, und +nach diesem Erwachen befiel mich immer eine gewisse Angst und Verwirrung +und mein Herz schlug laut. + +Von den Menschen, die ich während meiner Krankheit außer dem alten +kleinen Hausarzt hin und wieder zu sehen bekam, machte ein schon +ältlicher Herr den größten Eindruck auf mich. Er war immer ernst, aber +zugleich war er so gütig, und er konnte mich bisweilen mit so tiefem, +aufrichtigem Mitleid ansehen! Sein Gesicht war mir bald das liebste von +allen. Gern hätte ich mit ihm gesprochen, aber ich wagte nicht +anzufangen: er sah fast immer niedergeschlagen aus, auch sprach er +wenig, meist nur ein paar Worte, und niemals erschien ein Lächeln auf +seinen Lippen. Das war der Fürst H., der mich gefunden und in seinem +Hause aufgenommen hatte. Als ich mich schon auf dem Wege der Besserung +befand, wurden seine Besuche seltener. Und als er, wie es hieß, zum +letztenmal kam, brachte er mir Konfekt, ferner ein Kinderbuch mit +Bildern mit und küßte und bekreuzte mich und bat mich, doch nicht mehr +so traurig zu sein. Während er mir tröstend zuredete, sagte er mir, daß +ich bald eine Freundin haben werde, ein kleines Mädchen wie ich, seine +Tochter Katjä, die vorläufig noch in Moskau sei. Darauf sprach er mit +einer ältlichen Französin, der Erzieherin seiner Kinder, und mit dem +mich pflegenden Mädchen, wies auf mich und verließ uns. Seitdem sah ich +ihn ganze drei Wochen nicht. Der Fürst lebte in seinem Hause sehr +einsam. Die größere Hälfte des Hauses bewohnte die Fürstin, doch sah sie +ihren Mann oft wochenlang nicht ein einziges Mal. Mit der Zeit fiel es +mir auf, daß auch die Dienstboten, daß überhaupt alle Hausbewohner +selten von ihm sprachen, als hätte er gar nicht im Hause gelebt. Alle +achteten ihn und augenscheinlich liebten sie ihn sogar, indessen +schienen sie ihn doch für so etwas wie einen Sonderling zu halten. Und +es war, als wisse auch er, daß er sehr seltsam erschien, irgendwie +unähnlich den anderen Menschen, und als vermeide er es deshalb nach +Möglichkeit, sich zu zeigen ... Ich werde an einer anderen Stelle noch +auf ihn zurückkommen und sehr viel und recht ausführlich von ihm +erzählen müssen. + +Eines Morgens zog man mir reine, feine Wäsche an und ein schwarzes +wollenes Kleid mit weißem Trauerbesatz – ein Kleid, auf das ich mit +trauriger Verwunderung sah; mein Haar wurde sorgfältig gebürstet, und +dann führte man mich aus den oberen Zimmern nach unten in die Gemächer +der Fürstin. Ich stand wie gebannt, als die mich Führende schließlich +meine Hand freigab: eine solche Pracht, solch einen Reichtum ringsum +hatte ich noch nie gesehen. Doch dieser Eindruck währte nur einen +Augenblick und ich erbleichte, als ich die Stimme der Fürstin vernahm, +die mich näher herantreten hieß. Schon während des Ankleidens hatte ich +gefühlt und gefürchtet, daß mich irgendeine Qual erwartete, obschon ich +selber nicht begreife, wie ich auf diesen Gedanken kam. Überhaupt trat +ich mit einem seltsamen Mißtrauen in die Welt meines neuen Lebens und +dieses Mißtrauen brachte ich ohne Ausnahme allem entgegen, was an mich +an Neuem herankam. + +Die Fürstin war sehr freundlich zu mir und küßte mich. Da wagte ich +denn, sie etwas weniger befangen anzusehen. Sie war dieselbe schöne +Dame, die ich schon an meinem Bett gesehen hatte, als ich aus meiner +Bewußtlosigkeit zu mir kam. Ich küßte ihre Hand, zitterte aber dabei +doch so sehr, daß ich auf ihre Fragen keine einzige Antwort zu geben +vermochte – ich konnte mich einfach nicht so weit sammeln. Sie ließ mich +auf einem niedrigen Taburett neben sich hinsetzen. Ich glaube, dieser +Platz war schon im voraus für mich bestimmt. Allem Anschein nach hatte +die Fürstin nur den einen Wunsch, mich mit ganzer Seele an sich zu +schließen, mich ganz zu gewinnen und mir vollständig die Mutter zu +ersetzen. Ich dagegen konnte nicht begreifen, daß ich bereits in ihrer +Gunst stand, durch mein Verhalten aber in ihrer Einschätzung nichts +gewann. Man gab mir ein schönes Bilderbuch und sagte, ich solle die +Bilder betrachten. Die Fürstin selbst schrieb an einem Brief, hielt aber +hin und wieder im Schreiben inne, um verschiedene Fragen an mich zu +stellen, auf die ich jedoch nichts Gescheites zu antworten wußte – ich +war verwirrt, stockte, verlor den Faden und wagte nicht, von neuem +anzufangen. Kurz, obschon mein früheres Leben ein recht ungewöhnliches +gewesen war und die größere Rolle das Schicksal in ihm gespielt hatte, +das die Wege der Eltern, man kann wohl sagen, mystisch verbunden, und +obgleich es überhaupt viel Interessantes und Unerklärliches, ja sogar +etwas Phantastisches gehabt, so erschien ich doch in diesem Augenblick – +es wirkte ordentlich komisch inmitten der ganzen melodramatischen +Situation, in der ich mich befand – als ein ganz gewöhnliches, +schüchternes oder eingeschüchtertes und genau genommen sogar dummes +Kind. Namentlich letzteres gefiel der Fürstin äußerst wenig, und ich +glaube, sie hatte mich sehr bald satt, was natürlich nur meine Schuld +war. Gegen drei Uhr kamen die ersten Gäste – es war der Empfangstag der +Fürstin – und sie war nun wieder sehr freundlich und lieb zu mir. Auf +die Fragen der Fremden nach mir, antwortete sie: oh, das sei ein sehr +interessanter Fall – und dann erzählte sie auf französisch alles +Weitere. Während ihrer Erzählung sahen mich alle an, man schüttelte die +Köpfe, Ausrufe des Bedauerns wurden laut. Ein junger Herr richtete seine +Lorgnette auf mich und musterte mich eingehend; ein wohlriechender alter +kleiner Herr wollte mich küssen, ich aber saß erbleichend und errötend, +mit niedergeschlagenen Augen, wagte mich nicht zu rühren und zitterte am +ganzen Körper. Mein Herz schlug dumpf und tat mir zum Brechen weh. Ich +versetzte mich in mein früheres Leben, in unsere ärmliche Dachkammer, +ich dachte an den Vater, an unsere langen, schweigsamen Abende, an die +Mutter, und als ich an die Mutter dachte – da schwammen meine Augen +plötzlich in Tränen und die Kehle war mir wie zugeschnürt. Ach, und ich +wäre so gern fortgelaufen, verschwunden, allein geblieben ... Dann, als +der letzte Besuch gegangen war, wurde das Gesicht der Fürstin wieder +merklich strenger. Sie sah mich jetzt nichts weniger als freundlich an, +sprach trocken zu mir, indes ihre durchdringend blickenden fast +schwarzen Augen auf mir ruhten, die bisweilen wohl eine Viertelstunde +lang auf mich gerichtet waren, und ihre fest zusammengepreßten schmalen +Lippen mich ganz besonders einschüchterten. Am Abend wurde ich nach oben +zurückgeführt. Ich fieberte im Einschlafen, erwachte in der Nacht aus +wirren Träumen, weinte und war so unglücklich! Am nächsten Tage aber +begann wieder dasselbe Spiel, d. h. man brachte mich wieder zur Fürstin. +Schließlich wurde es ihr langweilig, ihren Gästen von mir zu erzählen, +und den Gästen – ihr Mitleid und Bedauern zu äußern. Überdies war ich +auch noch ein so gewöhnliches Kind, „ohne jegliche Naivität“, wie, ich +weiß noch, die Fürstin sich in einem Gespräch mit einer älteren Dame +unter vier Augen auf deren Frage ausdrückte, ob es sie denn wirklich +nicht langweile, sich mit mir „abzugeben“? Da wurde ich denn am Abend +fortgeführt und brauchte nicht wieder zu ihr zurückzukehren. Ich hatte +meine Rolle in ihrer Gunst ausgespielt. Übrigens durfte ich überall +hingehen und mich aufhalten wo ich wollte. Und ich konnte auch nicht +stillsitzen: eine tiefe, krankhafte Unruhe, die wohl aus dem Heimweh und +einer unbestimmten Sehnsucht irgendwohin entstand, peinigte mich und ich +war froh, wenn ich endlich von allen fortgehen konnte, nach unten in die +großen Räume. Ich weiß noch, ich hätte so gern mit den Dienstboten +gesprochen, aber ich fürchtete, sie könnten böse werden, und so schwieg +ich lieber und blieb einsam. Mein liebster Zeitvertreib war: mich +irgendwo in einem Winkel zu verstecken, wo es möglichst unauffällig war +– hinter einem Stuhl oder einem anderen Gegenstand, der mich vollständig +verbarg – und mich dann dort gleich in die Erinnerung zu versenken und +über alles, was mit mir geschehen war, nachzudenken. Doch sonderbar! – +Das Ende meines Zusammenseins mit den Eltern, diese furchtbaren letzten +Tage unseres gemeinsamen Lebens, die hatte ich wie vergessen, wenigstens +als lebendige Vorgänge lebten sie nicht mehr in mir. Freilich wußte ich +noch alles – entsann mich der Nacht und der Geige und des Vaters, ich +wußte, wie ich ihm das Geld verschafft hatte; aber alle diese Vorgänge, +sagen wir, begreifen, sie mir erklären – das konnte ich nicht ... Es +wurde mir nur noch schwerer ums Herz, und wenn ich in der Erinnerung zu +jenem Augenblick gelangte, in dem der Vater mich vor der toten Mutter +niederknien hieß, dann erschauerte ich plötzlich vor Kälte. Ich zitterte +und hätte schreien mögen. Das Atmen wurde mir schwer, so eng wurde mir +die Brust und so laut pochte mein Herz, daß ich schließlich erschrocken +aus meinem Winkel hinausstrebte und wieder nach oben lief. Übrigens – +ich sagte, daß man mich allein ließ, doch ist das nicht ganz wörtlich zu +nehmen: ich wurde die ganze Zeit mit peinlicher Gewissenhaftigkeit +beaufsichtigt, denn der Fürst hatte es so angeordnet, daß man mir volle +Freiheit geben, jedoch mich gleichzeitig nie aus den Augen lassen solle. +Es fiel mir auf, daß von Zeit zu Zeit jemand von den Dienstboten oder +von den anderen, die im Hause lebten, in das Zimmer sah, wo ich mich +gerade aufhielt, und dann wieder fortging, ohne mir ein Wort zu sagen. +Diese Aufmerksamkeit wunderte mich und zum Teil beängstigte sie mich +sogar. Ich begriff nicht, warum man das tat. So dachte ich mir denn, man +wolle mich zu irgendeinem Zweck aufbewahren und dann später Gott weiß +was mit mir angeben. Ich weiß noch, deshalb wollte ich auch das Haus +immer weiter durchsuchen, um ein Versteck auszukundschaften, in dem ich +mich im Notfall verbergen konnte. + +So verirrte ich mich einmal und kam ganz unvermutet ins Treppenhaus. Da +war alles aus weißem Marmor, die Treppe selbst mit Läufern bedeckt und +mit Blumen und Vasen geschmückt. Auf jedem Absatz der Treppe saßen je +zwei große Menschen, die sehr bunt gekleidet waren, in Handschuhen und +blendend weißen Halsbinden. Ich sah sie in höchster Verwunderung an und +konnte trotz eifrigen Nachdenkens nicht begreifen, warum sie dort saßen, +schwiegen und nur einander ansahen, sonst aber nichts taten. + +An diesen einsamen Streifzügen durch das fürstliche Palais fand ich mit +der Zeit immer mehr Gefallen. Aber es gab da noch einen anderen Grund, +weshalb ich so gern aus den oberen Zimmern fortlief. Dort oben lebte +eine alte Tante des Fürsten, ein altes Fräulein, das so gut wie nie das +Haus, ja fast nicht einmal ihre Zimmer verließ. Diese alte Dame war +womöglich die wichtigste Person im Hause und ich fürchtete sie sehr. Im +Verkehr mit ihr beobachteten alle eine geradezu feierliche Etikette und +sogar die Fürstin, die so stolz und selbstbewußt auf alle herabsah, +mußte genau zweimal wöchentlich, an bestimmten Tagen, der Tante +persönlich ihren Besuch machen. Sie kam gewöhnlich vormittags; es +entspann sich ein trockenes Gespräch, das häufig von feierlichem +Schweigen unterbrochen wurde, während die Alte ein Gebet flüsterte oder +den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten ließ. Der Besuch dauerte so +lange, wie die Tante es gerade für gut befand: sie erhob sich dann von +ihrem Platz und küßte die Fürstin auf den Mund, womit sie zu verstehen +gab, daß die Fürstin sie nun verlassen konnte. Anfangs hatte die Fürstin +diese Tante sogar jeden Tag besuchen müssen, doch war in der Folge auf +Wunsch der alten Dame eine Änderung und Erleichterung erfolgt: und zwar +brauchte die Fürstin hinfort an den übrigen fünf Tagen der Woche nicht +mehr persönlich zu erscheinen, sondern mußte sich nur an jedem Morgen +durch einen Diener nach dem Befinden des alten fürstlichen Fräuleins +erkundigen. Überhaupt verbrachte sie ihr Leben fast wie in einer +Klosterzelle. Mit fünfunddreißig Jahren hatte sie sich auch wirklich +einmal in ein Kloster zurückgezogen und siebzehn Jahre daselbst verlebt, +jedoch nicht den Schleier genommen. Dann hatte sie das Kloster wieder +verlassen und war nach Moskau gezogen, um bei ihrer Schwester, einer +verwitweten Gräfin L., deren Gesundheit mit jedem Jahr mehr zu wünschen +übrigließ, zu wohnen und sich auch mit der älteren Schwester, einer +gleichfalls unverheirateten Fürstin H., zu versöhnen, nachdem sie etwa +zwanzig Jahre lang in Feindschaft mit ihr gelebt hatte. Man sagt aber, +die drei alten Damen sollen keinen Tag in Eintracht verbracht haben, +tausendmal seien sie schon im Begriff gewesen, auseinanderzugehen, was +sie dann aber doch nicht taten, da schließlich eine jede von ihnen den +beiden anderen unentbehrlich geworden war, eben weil die Streitigkeiten +die Langeweile und damit die trüben Stunden des Alterns verscheuchten. +Doch ungeachtet dieses ihres wenig anziehenden Lebens und des +feierlichen Stumpfsinns, der in ihrem Moskauer Palais herrschte, hielt +es doch die ganze Moskauer Gesellschaft für ihre Pflicht, die Besuche +bei den drei alten Damen fortzusetzen. Man sah in ihnen einfach die +Hüterinnen aller aristokratischen Überlieferungen und Gesetze des alten +Bojarentums. Die Gräfin soll übrigens eine prächtige Frau gewesen sein, +wenigstens lebte sie noch nach ihrem Tode in vielen guten Erinnerungen +fort. Petersburger, die nach Moskau kamen, machten bei ihnen ihre ersten +Besuche. Wer in ihrem Hause empfangen wurde, der wurde überall +empfangen. Nach dem Tode der Gräfin trennten sich die unverheirateten +Schwestern: die ältere blieb in Moskau und trat dort ihren Teil von der +Hinterlassenschaft der kinderlosen Gräfin an, und die jüngere, die +zeitweilige Klosterfrau, siedelte nach Petersburg zu ihrem Neffen, dem +Fürsten H., über. Dafür mußten die beiden Kinder des Fürsten, Katjä und +Alexander, nach dem Tode der Gräfin in Moskau bei der Großtante bleiben, +zu ihrer Zerstreuung und zu ihrem Trost in der Einsamkeit. Die Fürstin, +die ihre Kinder leidenschaftlich liebte, durfte kein Wort dawider reden +und mußte für die ganze Zeit der Trauer auf ihre Kinder verzichten. Ich +vergaß zu sagen, daß das ganze Haus noch Trauer trug als ich hinkam, +aber die Frist nahte sich schon ihrem Ende. + +Die alte kleine Dame kleidete sich nur in Schwarz und die Kleider waren +alle von gewöhnlichem schwarzem Wollenstoff. Dazu trug sie fein +gefältelte und gesteifte weiße Krägelchen, die ihr das Aussehen einer +Stiftsdame verliehen. Der Rosenkranz kam nie aus ihrer Hand, und +feierlich fuhr sie regelmäßig zum Morgengottesdienst, fastete nahezu +täglich, empfing verschiedene höhere Geistliche und andere ehrbare +Personen und las in frommen Büchern. Sie führte, mit einem Wort, ein +richtiges Klosterleben. Deshalb herrschte auch in den oberen Zimmern +eine unheimliche Stille; nicht einmal eine Tür durfte kreischen: die +Alte hatte ein Gehör wie eine fünfzehnjährige und ließ sogleich nach der +Ursache des geringsten Geräusches fragen. Deshalb sprachen dort alle nur +flüsternd und schlichen auf den Fußspitzen, ja die arme Französin, auch +ein altes Dämchen, mußte sogar auf ihr geliebtes Schuhwerk verzichten – +auf Stiefel mit hohen Absätzen! Denn: Absätze waren verpönt. Zwei Wochen +nach meiner Aufnahme im Hause, ließ die alte Dame sich plötzlich nach +mir erkundigen: wer ich sei, was ich tue, wie ich ins Haus gekommen +usw., usw. Ihre Wißbegier wurde sogleich mit größter Diensteifrigkeit +befriedigt. Darauf erschien der zweite Abgesandte bei der Französin, um +zu fragen, warum die Prinzessin mich bis jetzt noch nicht zu Gesicht +bekommen habe. Da war die Aufregung groß: mir wurde schnell das Haar +gekämmt, wurden Gesicht und Hände gewaschen, obschon sie ganz rein +waren, man zeigte mir, wie ich mich verbeugen, wie ich die Hand küssen +mußte, auch sollte ich freundlich dreinschauen und munter sprechen – +kurz, man brachte mich vollständig aus dem Gleichgewicht. Darauf machte +sich von uns aus eine Abgesandte auf den Weg, um die Prinzessin zu +fragen, ob sie nicht das Waisenkindchen zu sehen wünsche? Die Antwort +lautete zunächst verneinend, doch gab sie dann eine andere Stunde an: +man solle mich am nächsten Tage nach der Morgenandacht zu ihr bringen. +Ich schlief die ganze Nacht nicht und man sagte mir später, ich hätte +viel phantasiert, wohl weil ich im Traum schon zu ihr gegangen sei, denn +ich habe sie aus Gott weiß welchem Grunde immer wieder um Verzeihung +gebeten. Endlich erfolgte meine Vorstellung. Ich erblickte eine hagere, +kleine Dame, die auf einem riesengroßen Lehnstuhle saß. Sie nickte mir +zu und setzte sich die Brille auf, um mich besser betrachten zu können. +Ich weiß noch, daß ich ihr gar nicht gefiel. Sie machte die Bemerkung, +ich sei ganz verwildert, verstände weder die Hand zu küssen, noch zu +knixen. Es folgten Fragen, auf die ich keine Silbe zu antworten wußte; +als sie mich aber nach meinen Eltern zu fragen anfing, da begann ich zu +weinen. Das war der alten Dame sehr unangenehm. Übrigens versuchte sie +mich zu trösten und sagte mir, ich solle auf Gott vertrauen. Darauf +fragte sie, wann ich zum letztenmal in der Kirche gewesen sei, und da +ich ihre Frage kaum verstand – denn in der Beziehung wußte ich noch so +gut wie nichts – geriet sie in Entsetzen über meine bisherige Erziehung. +Sie ließ die Fürstin zu sich bitten. Es folgte eine ernste Beratung, die +damit endete, daß man beschloß, mich sogleich am nächsten Sonntag in die +Kirche zu führen. Bis dahin wollte die alte Dame für mich beten. +Zugleich sagte sie, man solle mich wegbringen, ich hätte einen sehr +ungünstigen Eindruck auf sie gemacht. Das war freilich kein Wunder, +anders hätte es wohl gar nicht sein können. Aber ihr Mißfallen war doch +schon mehr als augenscheinlich. Am selben Tage noch ließ sie sagen, ich +sei zu unartig, man höre mich im ganzen Hause – während ich die Zeit +über mäuschenstill gesessen hatte. Natürlich hatte es der alten Dame nur +so geschienen. Indes erfolgte diese Bemerkung auch am nächsten Tage. Zum +Unglück ließ ich noch eine Tasse fallen, die auf dem Parkett zerschlug. +Darüber gerieten die Französin und alle Dienerinnen fast außer sich, und +ich wurde sogleich ins entlegenste Zimmer gebracht, wohin mir alle +händeringend und kopfschüttelnd folgten. + +Ich erinnere mich nicht mehr, wie die Sache schließlich auslief. +Jedenfalls lag hier der andere Grund, weshalb ich mich so viel lieber +unten in den großen Räumen aufhielt, denn dort, das wußte ich, +beunruhigte ich keinen Menschen. + +Einmal saß ich unten in einem Saal ganz allein. Ich saß, das Gesicht +wieder in den Händen vergraben, den Kopf gesenkt, und rührte mich nicht. +Ich weiß nicht, wie viele Stunden darüber vergingen. Ich dachte und +dachte vergeblich, denn mein junger unreifer Verstand konnte meinen Gram +nicht bewältigen und es wurde mir immer schwerer ums Herz und mein +Kummer wurde immer größer. Da vernahm ich plötzlich eine leise Stimme +über mir: + +„Was fehlt dir, meine Arme?“ + +Ich sah auf: es war der Fürst. Aus seinem gütigen Gesicht sprach soviel +tiefes Mitleid, so aufrichtige Teilnahme! Aber ich sah ihn so +unglücklich, so traurig an, daß seine großen blauen Augen feucht wurden. + +„Arme kleine Waise!“ sagte er leise und streichelte meinen Kopf. + +„Nein, nein, nicht Waise! Nein!“ stammelte ich – und ich stöhnte, denn +alles erhob sich in mir und ich wollte mich gleichsam losringen von +etwas Ungreifbarem, das mich zu umklammern drohte. Ich glitt vom Stuhl, +hielt seine Hand umfaßt, küßte sie, daß meine Tränen sie benetzten, und +wiederholte nur flehend: + +„Nein, nein, nicht Waise! Nicht!“ + +„Mein Kind, – was hast du nur, meine arme Kleine? Was fehlt dir, +Njetotschka?“ + +„Wo ist Mama? Wo ist meine Mama?“ rief ich laut weinend, unfähig, meinen +Kummer noch länger zu verbergen – und kraftlos sank ich vor ihm auf die +Knie. „Wo ist meine Mama? Sag’ mir, wo ist meine Mama?“ + +„Verzeih mir, mein Kind! ... Ach, du arme Kleine, da habe ich sie daran +erinnert ... Mein Gott, was habe ich getan! Komm, komm mit mir, +Njetotschka, komm!“ + +Er faßte mich an der Hand und führte mich mit sich fort. Er war +sichtlich erschüttert. Wir gelangten in einen Raum, in dem ich noch nie +gewesen war. + +Es war das Betzimmer. Draußen herrschte bereits Dämmerung. Im Licht der +Lämpchen strahlten hell die goldenen Einfassungen und die Edelsteine der +Heiligenbilder. Aus all diesem Glanz und Gold schauten dunkel und matt +die Antlitze der Heiligen. Alles erinnerte hier so wenig an die anderen +Zimmer, war so unähnlich dem, was ich bis dahin überhaupt gesehen hatte, +war so geheimnisvoll und ernst, daß ich bestürzt stillstand und der +Schreck sich meines Herzens bemächtigte. Meine Nerven waren ja ohnehin +schon in krankhafter Erregung. + +Der Fürst ließ mich vor dem Muttergottesbilde niederknien und blieb +neben mir stehen. + +„Bete, Kind, bete hier; oder laß uns gemeinsam beten,“ sagte er mit +leiser, stockender Stimme. + +Doch ich konnte nicht beten: ich war zu bestürzt, zu erschrocken – mir +fielen die Worte des Vaters ein, in jener letzten Nacht, an der Leiche +der Mutter, und ich bekam einen neuen Nervenanfall. Ich mußte wieder das +Bett hüten, und während dieser zweiten Periode meiner Krankheit wäre ich +fast gestorben. Die Ursache dieser Verschlimmerung war folgende: + +Eines Morgens schlug ein bekannter Name an mein Ohr: S–z. Eines von den +Dienstmädchen hatte den Namen an meinem Bett genannt. Ich fuhr zusammen: +die Erinnerungen stürzten über mich, und sinnend, träumend und mich +quälend lag ich in Fieberphantasien, ich weiß nicht wie viele Stunden. +Als ich erwachte, mußte es schon sehr spät sein: im Zimmer war es +dunkel. Die Nachtlampe war erloschen, das Mädchen, das im Zimmer +gesessen hatte, war nicht da. Plötzlich hörte ich ferne Musik. Bisweilen +verstummten die Töne ganz, dann aber wurden sie wieder deutlicher und +deutlicher, als näherten sie sich mir. Ich weiß nicht, welch ein Gefühl +sich meiner bemächtigte, noch welch eine Absicht in meinem fiebernden +Kopf plötzlich entstand. Ich erhob mich, stieg aus dem Bett – woher ich +die Kraft dazu nahm, weiß ich nicht – zog mir schnell mein +Trauerkleidchen an und verließ tastend das Zimmer. Im zweiten und +dritten Zimmer traf ich auch keinen Menschen. Endlich erreichte ich den +Korridor. Die Musik wurde lauter und lauter. In der Mitte des Korridors +war die Treppe; auf diesem Wege hatte ich mich immer nach unten in die +großen Säle geschlichen. Die Treppe war hell erleuchtet; unten hörte ich +Schritte. Ich verbarg mich in einem Winkel, um nicht gesehen zu werden, +und bei der ersten Möglichkeit schlich ich nach unten in den großen +Korridor. Die Musik tönte aus dem angrenzenden großen Saal; von dorther +kam auch Geräusch und ein Stimmengewirr, als hätten sich an tausend +Menschen dort versammelt. Die große Tür, die aus dem Korridor in den +Saal führte, war verhängt mit doppelten purpurroten Sammetportieren. Ich +hob die erste auf, die auf der Korridorseite hing, und stellte mich +zwischen beide Portieren. Mein Herz schlug so stark, daß ich mich kaum +auf den Füßen hielt. Nach ein paar Minuten hatte ich meine Aufregung so +weit bezwungen, daß ich schon wagte, den Rand der anderen Portiere, die +an der Saalseite der Tür hing, ein wenig umzubiegen ... Mein Gott! +Dieser riesengroße düstere Saal, den am Tage zu betreten ich mich kaum +getraut hatte, flimmerte jetzt im Licht von tausend Kerzen. Wie ein Meer +von Licht strahlte es mir entgegen, so daß meine Augen, die sich an das +Dunkel gewöhnt hatten, im ersten Moment bis zum Schmerz geblendet waren. +Aromatische Luft schlug mir wie ein heißer duftender Wind entgegen. Eine +Unmenge Menschen wogte dort durcheinander und alle sahen, wie mir +schien, froh, heiter, glücklich aus. Die Damen hatten so schöne, so +helle Toiletten, überall sah ich vor Vergnügen leuchtende Augen. Ich +stand wie bezaubert. Doch war es mir, als hätte ich das alles schon +irgendwo, irgendwann wie im Traum gesehen ... Mir fielen die Stunden der +Dämmerung ein, unsere Dachstube, das hohe Fenster, tief unten die Straße +mit den strahlenden Laternen, die Fenster des gegenüberliegenden Hauses +mit den roten Vorhängen, die Equipagen vor dem Portal, der Hufschlag und +das Schnaufen der stolzen Pferde, das Rufen und Durcheinander auf der +Straße, die Schattenbilder hinter den Fenstern auf den leuchtend roten +seidenen Vorhängen, und dazu eine gedämpfte ferne Musik ... Also hier +war dieses Paradies! fuhr es mir durch den Sinn, hierher also wollte ich +mit dem armen Vater gehen ... So war denn das alles kein Traum? ... Ja, +ich hatte das alles in meinen Träumen schon gesehen! ... Hellauf lohte +meine Phantasie, deren Feuer von der Krankheit bereits doppelt geschürt +sein mochte, und Tränen einer geradezu schrankenlosen Seligkeit rollten +mir über die Wangen. Ich suchte mit den Augen den Vater in dieser +Gesellschaft: „der muß hier sein, er ist gewiß hier,“ dachte ich und +mein Herz schlug so vor Erwartung und Spannung, daß mir der Atem stockte +... Die Musik verstummte, doch gleich darauf erhob sich ein großes +Getöse, und dann ging es durch den ganzen Saal wie ein Geflüster. Ich +betrachtete voll Neugier und Unruhe die Gesichter, die ich sehen konnte, +und bemühte mich, jemanden zu erkennen. Plötzlich ging eine neue große +Erregung durch den Saal. Ich erblickte auf einer Erhöhung einen großen, +hageren Greis. Sein bleiches Gesicht lächelte, er verbeugte sich etwas +steif und grüßte nach allen Seiten. In der Hand hatte er eine Geige. +Tiefes Schweigen trat ein, es war, als hielten alle den Atem an, alle +sahen auf den Greis, alle schienen etwas zu erwarten. Da nahm er die +Geige, hob den Arm und berührte mit dem Bogen die Saiten. Die Musik +begann, und ich fühlte, wie etwas mir das Herz zusammenpreßte. Mit einem +Gefühl von unsagbarer Angst und mit zurückgehaltenem Atem horchte ich +auf diese Töne: etwas Bekanntes erklang in meinen Ohren, als hätte ich +das schon irgendwo gehört: – und wie eine Vorahnung stieg es in mir auf, +wie eine Erwartung von etwas Furchtbarem, etwas Entsetzlichem, das sich +auch in meinem Herzen entscheiden sollte. Schon klang die Geige lauter, +schneller und greller folgten die Töne. Da klang es bereits wie eines +Menschen Gestöhn, darauf wie klagendes Schluchzen, wie jemandes +vergebliches Flehen, doch die Menge blieb stumm, während die Töne über +sie hinklangen – dann stöhnten sie auf und versagten wie in +Verzweiflung. Immer bekannter, immer bekannter wurde mir etwas im +Herzen. Aber das Herz weigerte sich noch, daran zu glauben ... Ich biß +die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen vor Schmerz, ich klammerte +mich an die Portiere, um nicht hinzufallen ... Ich schloß die Augen, und +schlug sie plötzlich wieder auf: ich glaubte nichts anderes, als daß es +ein Traum sei, aus dem ich in einem furchtbaren, mir aber schon +bekannten Augenblick erwachen werde, und ich sah wie im Traum wieder +jene letzte Nacht, ich hörte dieselben Töne ... Ich schlug wieder die +Augen auf, um mich zu überzeugen – sah die Menschenmenge ... Nein, das +waren andere Menschen, andere Gesichter ... Und doch war es mir, als ob +alle ganz wie ich etwas erwarteten, ganz wie ich sich in tiefer +Sehnsucht quälten, wie ich diesen Tönen der Verzweiflung +entgegenschreien wollten: doch aufzuhören, nicht ihre Seelen zu +zerreißen – aber das zitternde Beschwören und Flehen der Töne wurde nur +noch herzzerreißender, verzweifelter und haltloser ... bis plötzlich der +letzte furchtbare, rasende Schrei ertönte und mir fast die Sinne nahm +... Kein Zweifel! das war derselbe, derselbe Schrei! Ich erkannte ihn, +ich hatte ihn schon einmal gehört, wie damals in jener Nacht durchbohrte +er mich. „Der Vater! der Vater!“ durchzuckte es mich wie ein Blitz, „er +ist hier, das ist er, er ruft mich, das ist seine Geige!“ Und wie ein +Stöhnen erhob es sich aus dieser Menschenmasse, ohrenbetäubendes Getöse +erschütterte den Saal. Lautes, verzweifeltes Weinen brach aus meiner +Brust. Ich hielt es nicht mehr aus, ich schlug die Portiere zurück und +stürzte in den Saal. + +„Papa! Papa! das bist du! Wo bist du?“ rief ich wie von Sinnen. + +Ich weiß nicht, wie ich zu ihm hinkam: man ließ mich durch, man trat vor +mir auseinander, und ich warf mich mit einem gequälten Schrei ihm +entgegen – ich glaubte, den Vater zu umarmen ... Plötzlich sah ich, daß +mich jemandes lange, hagere Hände erfaßten und hoch in die Luft hoben. +Jemandes schwarze Augen sahen mich an und schienen mich verbrennen zu +wollen mit ihrem Feuer. Ich starrte ihn an: „Nein! Das ist nicht der +Vater! Das ist sein Mörder!“ fuhr es mir durch den Sinn. Da geriet ich +so außer mir, eine so rasende Verzweiflung erfaßte mich – und plötzlich +schien es mir, daß über mir ein Lachen erklang und dieses Lachen vom +ganzen Saal widerhallte, wie ein einziger brausender Beifall ... Ich +verlor das Bewußtsein. + + + V. + +Das war die zweite und letzte Periode meiner Krankheit. + +Als ich wieder zu Bewußtsein erwachte, erblickte ich das Gesicht eines +Kindes vor mir, eines Mädchens von ungefähr meinem Alter, und +unwillkürlich streckte ich ihr die Hände entgegen. Schon der erste Blick +auf diese Altersgenossin hatte meine Seele wie mit einem Glücksgefühl, +wie mit einer süßen Vorahnung erfüllt. Es war ein ideal schönes +Gesichtchen, eine geradezu ergreifende, eine strahlende Schönheit – von +jener Schönheit, vor der man plötzlich stehen bleibt, wie durchbohrt in +süßer Verwirrung, wie erschrocken vor Entzücken, und der man dankbar ist +allein schon für ihr Vorhandensein, dafür, daß unsere Augen sie schauen +dürfen, und daß sie uns begegnet ist. Es war die Tochter des Fürsten, +Katjä, die während meiner Krankheit aus Moskau zurückgekehrt war. Sie +lächelte mir zu, als sie meine unwillkürliche Bewegung sah, und meine +geschwächten Nerven erbebten bei diesem Lächeln in süßem Entzücken. + +Die kleine Prinzeß rief sogleich ihren Vater, der keine zwei Schritte +vom Bett mit dem Arzt sprach. + +„Nun, gottlob! Endlich! Nun, Gott sei Dank!“ rief der Fürst, meine Hand +erfassend, und sein Gesicht verriet aufrichtige Freude. „Das freut mich, +das freut mich, das ist doch ein Glück!“ fuhr er schnell zu sprechen +fort – es war seine Art, schnell, wenn auch meist leise zu sprechen. +„Und dies kleine Mädchen hier ist meine Katjä, mein Töchterchen. Nun +könnt ihr Freundschaft schließen – jetzt hast du eine Spielgefährtin. +Aber du mußt nun auch schnell gesund werden, Njetotschka. Du böses +kleines Mädchen, wie wir uns um dich geängstigt haben! ...“ + +Meine Genesung machte auch wirklich sehr schnelle Fortschritte. Nach ein +paar Tagen konnte ich schon das Bett verlassen. Jeden Morgen kam Katjä +an mein Bett, immer mit einem Lächeln oder gar Lachen, das nicht von +ihren Lippen wich. Auf ihr Erscheinen wartete ich wie auf ein Glück. Ich +hätte sie so gern geküßt! Aber das mutwillige Prinzeßchen kam immer nur +auf ganz kurze Zeit, sie konnte fast überhaupt nicht stillsitzen. Ewige +Unruhe, laufen, springen, lachen und tollen, daß man es im ganzen Hause +hörte – das war für sie einfach Lebensbedingung. Deshalb erklärte sie +mir auch gleich am ersten Tage, daß es sie furchtbar langweile, bei mir +zu sitzen: sie werde daher nur sehr selten zu mir kommen, und auch das +nur deshalb, weil ich ihr leid täte – da ginge es eben nicht anders, +denn gar nicht kommen, das ginge wiederum auch nicht. Aber wenn ich +gesund sein würde, dann sollten wir – so versprach sie – sehr gut +miteinander auskommen. Es war denn auch jeden Morgen ihr erstes Wort: + +„Nu, bist du jetzt gesund?“ + +Da ich aber immer noch mager und bleich war und das Lächeln sich nur +schüchtern, mit zaghafter Angst gepaart, in meinem traurigen Gesicht +hervorwagte, so runzelte das Prinzeßchen die Stirn, schüttelte +mißbilligend das Köpfchen und ihr kleiner Fuß stampfte oft ungeduldig +auf. + +„Aber ich sagte dir doch gestern, daß du heute gesund sein sollst! Was? +Man gibt dir wohl nichts zu essen?“ + +„Ja, wenig,“ antwortete ich schüchtern, denn ich fürchtete mich schon +vor ihr. Ich hatte nur den einen Wunsch: ihr zu gefallen, und deshalb +fürchtete ich für jedes Wort, für jede Bewegung. Ihr Kommen entzückte +mich mit jedem Tage mehr. Solange sie bei mir saß, ließ ich sie nicht +aus den Augen, und wenn sie fortgegangen war, sah ich immer noch +dorthin, wo sie zuletzt gestanden oder gesessen hatte. Ja, in der Nacht +sah ich sie sogar schon in meinen Träumen. Im Wachen aber, wenn sie +nicht bei mir war, ersann ich ganze Gespräche mit ihr, war ihr Freund, +tollte, spielte und weinte mit ihr, wenn man uns schalt oder für +irgendeine besondere Tollheit bestrafen wollte. Kurz, ich dachte an sie +und sah sie im Traum und träumte von ihr, als wäre ich in sie verliebt +gewesen. Ich wollte um jeden Preis bald gesund werden und schnell +zunehmen, wie sie es wünschte. Wenn sie zuweilen morgens in mein Zimmer +gestürmt kam und ich dann wieder ihre ungeduldige Frage hörte: „Bist +noch nicht gesund? Ach Gott, immer noch bist du so mager!“ dann wurde +ich ängstlich, als wäre dies meine Schuld. Es konnte aber auch +schwerlich etwas Ernsteres geben, als die Verwunderung Katjäs darüber, +daß ich nicht binnen vierundzwanzig Stunden genas, worüber sie sich +bereits allen Ernstes zu ärgern anfing. + +„Nu, dann – willst du, ich bringe dir heute eine Pastete?“ sagte sie mir +einmal. „Iß sie, davon wirst du bald wieder dick.“ + +„Bring,“ sagte ich, froh darüber, daß ich sie nochmals zu sehen bekommen +würde. + +Nach der Erkundigung, ob ich schon gesund sei, setzte sich das +Prinzeßchen gewöhnlich mir gegenüber und begann mich mit ihren dunklen +Augen ernsthaft zu betrachten. Und auch jedesmal, wenn sie mir etwas +sagte oder mich fragte, betrachtete sie mich zuvor von oben bis unten +mit der naivsten Verwunderung. Aber unsere Unterhaltung kam nie so recht +in Gang. Ich fürchtete mich vor Katjä und ihren schroffen Ausfällen, +während ich anderseits fast verging vor Verlangen, mit ihr zu sprechen. + +„Warum schweigst du?“ begann sie, nachdem wir uns eine Zeitlang stumm +betrachtet hatten. + +„Was macht dein Papa?“ fragte ich, froh über die plötzlich gefundene +Frage, mit der ich nun jedesmal ein Gespräch anfangen konnte. + +„Nichts. Es geht ihm gut. Ich habe heute zwei Tassen Tee getrunken, +nicht eine. Und du wieviel?“ + +„Eine.“ + +Wieder Schweigen. + +„Heute hätte mich Falstaff beinahe gebissen.“ + +„Ist das ein Hund?“ + +„Ja, ein Hund. Hast du ihn denn noch nicht gesehen?“ + +„Nein, ich hab’ ihn wohl nicht gesehen.“ + +Ich wußte nichts mehr zu sagen und das Prinzeßchen sah mich wieder mit +Verwunderung an. + +„Sag? Gefällt es dir, wenn ich mit dir spreche?“ + +„Ja, sehr: komm öfter, wenn du kannst.“ + +„Das hat man mir auch gesagt, daß es dich freuen werde, wenn ich zu dir +komme, aber du, steh schneller auf. Die Pastete werde ich dir heute ganz +bestimmt bringen ... Aber warum schweigst du denn immer?“ + +„So.“ + +„Du denkst wohl viel?“ + +„Ja, ich denke viel.“ + +„Mir aber sagt man immer, daß ich viel spreche und wenig denke. Ist es +denn schlecht, wenn man spricht?“ + +„Nein. Ich bin froh, wenn du sprichst.“ + +„Hm! ich werde Madame Léotard fragen, die weiß alles. Aber woran denkst +du denn?“ + +„Ich denke an dich,“ sagte ich nach kurzem Schweigen. + +„Und das macht dir Spaß?“ + +„Ja.“ + +„Dann liebst du mich wohl?“ + +„Ja.“ + +„Aber ich liebe dich noch nicht. Du bist so mager! Wart’, ich werde dir +gleich die Pastete bringen! Nu, adieu!“ + +Und das Prinzeßchen, das mich fast im Fluge abküßte, war schon +verschwunden. + +Nach dem Essen brachte sie mir auch wirklich die Pastete. Sie kam +hereingelaufen, ausgelassen wie ein Kobold, lachend und jauchzend vor +Freude, daß sie mir etwas zu essen brachte, was mir zu essen verboten +worden war. + +„Iß, iß mehr, iß recht viel, das ist nämlich meine eigene Pastete, ich +habe selbst nicht gegessen. Nu, adieu!“ Und schon war sie fort. + +Ein anderes Mal kam sie wie ein Wirbelwind ins Zimmer, gleichfalls nach +dem Essen. Ihre schwarzen Locken waren wie vom Sturm verwirrt, ihre +Augen blitzten und die Bäckchen glühten wie Purpur: sie mußte nach ihren +Lernstunden schon etliche Stunden gelaufen und gesprungen sein. + +„Kannst du Federball spielen?“ rief sie atemlos, übersprudelnd und in +größter Eile. + +„Nein,“ sagte ich, und es tat mir schrecklich leid, daß ich nicht „ja“ +sagen konnte. + +„Ach, wie du bist! Nu, werd schnell gesund, dann zeig’ ich es dir. Ich +kam nur deshalb. Ich spiele jetzt mit Madame Léotard. Adieu, man wartet +auf mich!“ + +Endlich durfte ich das Bett verlassen, obschon ich mich noch immer +schwach und kraftlos fühlte. Mein erster Gedanke war, mich jetzt nie +mehr von Katjä zu trennen. An ihr war etwas, was mich unwiderstehlich zu +ihr hinzog. Ich konnte mich kaum sattsehen an ihr, worüber Katjä sich +sehr zu verwundern schien. Dieser Drang zu ihr war so stark und ich gab +mich diesem neuen Gefühl so leidenschaftlich hin, daß es von ihr +natürlich nicht unbemerkt bleiben konnte, und anfangs erschien es ihr +denn auch unerhört seltsam. Ich weiß noch, einmal während eines +gemeinsamen Spiels hielt ich es plötzlich nicht mehr aus und warf mich +ihr an den Hals, um sie zu küssen. Sie befreite sich aus meiner +Umarmung, erfaßte meine Hände – und mit zusammengezogenen Brauen, als +hätte ich sie beleidigt, fragte sie mich: + +„Was fällt dir ein? Warum küßt du mich?“ + +Ich fuhr schuldbewußt zusammen bei ihrer schnellen Frage und sagte kein +Wort. Die Prinzeß zuckte mit ihren kleinen Schultern, zum Zeichen ihres +Nichtbegreifenkönnens (dieses Achselzucken war ihr schon zur +Angewohnheit geworden), dann preßte sie überernst ihre kleinen weichen +Lippen zusammen, ließ die Spielsachen liegen und setzte sich auf den +Diwan, von wo aus sie mich sehr lange betrachtete – wobei sie +anscheinend tief und ernsthaft über etwas nachdachte, ganz als habe sie +da ein schwieriges Problem zu lösen, das plötzlich in ihren Gedanken +aufgetaucht war. Es war dies gleichfalls so ihre Angewohnheit in allen +unklaren Fällen. Ich aber konnte mich an diese schroffen Äußerungen +ihres Charakters lange nicht gewöhnen. + +In der ersten Zeit beschuldigte ich nur mich allein und dachte, daß ich +wirklich sehr viele Eigenheiten haben mußte. Aber wenn dies auch zum +Teil zutreffen mochte, so quälte ich mich doch in einer gewissen +Ungewißheit mit der einen Frage: warum ich mit Katjä nicht gleich +Freundschaft schließen und ihr ein für allemal gefallen konnte? Meine +Mißerfolge in der Beziehung kränkten mich bis zum körperlichen Schmerz +und ich hätte über jedes unbedachte Wort Katjäs, über jeden +mißtrauischen Blick von ihr weinen mögen. Mein Leid wuchs nicht nur mit +jedem Tage, sondern sogar mit jeder Stunde, denn mit Katjä ging alles +sehr schnell. Schon nach ein paar Tagen merkte ich, daß sie mich gar +nicht mehr leiden konnte, ja daß ich ihr schon verhaßt wurde. In der +Seele dieses kleinen Mädchens geschah alles schnell, schroff, – manch +einer würde sagen brutal, und vielleicht mit Recht, wenn in allen diesen +blitzschnellen Veränderungen eines geraden, naiv-offenherzigen +Charakters nicht zugleich eine angeborene, eine gewisse vornehme Grazie +gewesen wäre. Unsere Entfremdung begann damit, daß zuerst Zweifel in ihr +aufstiegen und aus den Zweifeln wurde Verachtung, und zwar wie ich +glaube, deshalb, weil ich kein einziges Spiel zu spielen verstand. Die +Prinzeß liebte zu tollen, zu laufen, sie war stark, lebhaft, gewandt, +ich aber – gerade das Gegenteil. Ich war noch von der Krankheit her +schwach, war still und nachdenklich: Kinderspiele machten mir kein +Vergnügen. Mit einem Wort, mir fehlten alle Eigenschaften, deren ich +bedurft hätte, um Katjä zu gefallen. Außerdem konnte ich es nicht +ertragen, andere mit mir unzufrieden zu sehen: dann wurde ich traurig, +verlor allen Mut und hatte erst recht nicht mehr die Kraft, das +Verfehlte wieder gutzumachen und den schlechten Eindruck zu verwischen, +– kurz, ich verfiel dem Unglück ganz. Das war nun etwas, was Katjä nicht +begreifen konnte. Anfangs schien es sie eher zu verblüffen, sie sah mich +dann, wie es ihre Art war, mit stummer Verwunderung an, nachdem sie +sich, wie es zuweilen vorkam, eine ganze Stunde mit mir abgemüht hatte, +um mich z. B. das Reifenspiel zu lehren, das ich immer noch nicht +begreifen wollte. Und da ich gleich traurig wurde und Tränen mir in die +Augen traten, so wandte sie sich, nachdem sie über mich nachgedacht und +doch weder durch ihr Denken noch durch mich selbst einen Aufschluß +erhalten hatte, einfach von mir ab und spielte allein weiter, ohne mich +noch zum Mitspielen aufzufordern, ja sogar ohne überhaupt noch mit mir +zu sprechen, – und das nicht nur an diesem einen Tage, sondern gleich +ein paar Tage lang. Von diesem Verhalten war ich so betroffen, daß ich +ihre Geringschätzung kaum ertragen konnte. Meine neue Einsamkeit wurde +nun fast noch bedrückender als die frühere in der Dachstube, und ich +begann wieder zu trauern und zu grübeln: wieder bedrückten dunkle +Gedanken mein Herz. + +Madame Léotard, die uns beaufsichtigte, bemerkte schließlich diese +Veränderung in unserem Verhalten zueinander. Und da ihr natürlich mein +fremdes Wesen zuerst auffiel, vor allem meine Verlassenheit, so wandte +sie sich ohne weiteres an die Prinzeß und schalt sie sehr, weil sie mit +mir nicht umzugehen verstünde. Die Prinzeß runzelte die Stirn, zuckte +mit den Schultern und erklärte darauf, sie könne mit mir nichts +anfangen, zu spielen verstände ich nicht, ich dächte immer Gott weiß +woran, sie aber werde lieber auf den Bruder warten, der bald aus Moskau +zurückkehren müsse, dann könne sie mit ihm ganz anders spielen, mit ihm +sei es viel lustiger. + +Doch Madame Léotard begnügte sich nicht mit dieser Antwort, sie hielt +ihr vor, daß sie mich allein sitzen lasse und nicht bedenke, daß ich +noch krank wäre, deshalb könne ich auch nicht so lustig und ausgelassen +sein wie sie, Katjä, was übrigens auch viel besser sei, denn das, was +Katjä anrichte, sei unerhört, sie habe dies verbrochen und jenes +angestiftet und vorvorgestern hätte die Bulldogge sie deshalb zur Strafe +fast aufgefressen. Kurz, Madame Léotard schalt ohne Nachsicht und schloß +ihre Strafpredigt damit, daß sie sie zu mir schickte, mit der Weisung, +sich sogleich mit mir zu versöhnen. + +Katjä hatte die Standrede mit großer Aufmerksamkeit angehört, als sage +man ihr nun wirklich etwas Neues, und es schien ihr einzuleuchten, daß +in diesem Neuen etwas richtig und gerecht war. Sie ließ ihren Reifen, +den sie durch das Zimmer gerollt hatte, liegen, trat auf mich zu, sah +mich ernst an und fragte etwas ungläubig: + +„Willst du denn spielen?“ + +„Nein,“ sagte ich schnell, noch erschrocken von der Standrede der Madame +Léotard. + +„Was willst du denn?“ + +„Ich werde hier sitzen, denn mir fällt das Laufen schwer. Nur sei mir +deshalb nicht böse, Katjä, ich habe dich sehr lieb.“ + +„Nun gut, dann werde ich allein spielen,“ sagte sie langsam, gleichsam +überlegend und als wundere sie sich darüber, wenn sich jetzt beinahe +herausstellte, daß sie an gar nichts schuld wäre. „Nun denn, adieu, ich +werde dir nicht böse sein.“ + +„Adieu,“ sagte ich, stand auf und reichte ihr die Hand. + +„Vielleicht wollen wir uns küssen?“ fragte sie nach kurzem Nachdenken – +wohl in der Erinnerung an jenen Kußzwischenfall und zugleich, um mir +etwas Angenehmes zu erweisen und dadurch schneller den Zwist mit mir +beizulegen. + +„Wie du willst,“ sagte ich in scheuer Hoffnung. + +Sie trat an mich heran und küßte mich todernst, ohne auch nur im +geringsten zu lächeln. Und als sie so alles getan, was man von ihr +verlangte, ja sogar noch mehr als das, nur um einem armen Mädchen ein +Vergnügen zu bereiten, da lief sie zufrieden und froh von mir fort, und +bald hörte man wieder in allen Zimmern ihr Lachen und Tollen, bis sie +sich erschöpft und atemlos auf einen Diwan warf, um sich zu erholen und +neue Kräfte zu sammeln. Dann sah sie mich aber doch die ganze Zeit +mißtrauisch an, da ich ihr offenbar wunderlich erschien. Es war, als +hätte sie gern mit mir gesprochen, als hätte sie gern gewisse Fragen, +die ihr in bezug auf mich durch den Sinn fuhren, beantwortet, aber ich +weiß nicht, weshalb sie diesmal nicht fragte und sich bezwang. + +Katjä lernte gewöhnlich morgens. Madame Léotard unterrichtete sie nur in +der französischen Sprache. Der ganze Unterricht bestand im Wiederholen +der Grammatik und im Lesen der Fabeln von Lafontaine. Man unterrichtete +sie deshalb nur in diesem Fach, weil es ohnehin schon schwer gewesen +war, sie dazu zu bewegen, wenigstens zwei Stunden täglich zu lernen. Auf +diesen Ausgleich war sie schließlich nur auf Bitten des Vaters +eingegangen, und auf Befehl der Mutter. Ihr Versprechen aber erfüllte +sie sehr gewissenhaft. Sie war außerordentlich begabt, sie begriff +leicht und behielt das Begriffene. Aber auch in der Art ihres Lernens +hatte sie ihre kleinen Eigenheiten: wenn sie z. B. irgend etwas einmal +nicht sofort begriff, dann begann sie gleich selbst nachzudenken, denn +eher tat sie alles Mögliche, als daß sie andere um eine Erklärung dessen +bat, was sie sich selbst mit eigenem Verstande nicht zu erklären +vermochte, – sie schien sich dann einfach zu schämen. Ja, es soll sogar +vorgekommen sein, daß sie sich tagelang mit einer Frage gequält und über +sich selbst geärgert hatte, weil sie sie nicht ohne fremde Hilfe +beantworten konnte: denn nur im äußersten Fall, wenn sie schon ganz müde +geworden war vom Denken, ging sie zu Madame Léotard und bat sie, ihr die +Sache zu erklären, der ihr eigener Verstand noch nicht gewachsen war. +Und so war sie in allem. Sie hatte schon viel nachgedacht, was man ihr +freilich auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hätte. Und doch konnte +sie mitunter noch furchtbar naiv sein: zuweilen stellte sie für ihr +Alter unglaublich dumme Fragen, und zuweilen wiederum verrieten ihre +Antworten die spitzfindigste Schlauheit und das weitsichtigste, feinste +Verständnis. + +Da ich mit der Zeit auch zu lernen anfangen konnte, so nahm mich Madame +Léotard eines Tages gewissermaßen ins Verhör, und nachdem sie +festgestellt, daß ich schon sehr gut las, aber noch sehr schlecht +schrieb, erklärte sie, es sei nun die höchste Zeit und die größte +Notwendigkeit, daß ich mit dem Französischen anfinge. + +Ich widersprach natürlich nicht und am nächsten Vormittage setzten wir +uns, Katjä und ich, an den Lerntisch zu beiden Seiten von Madame +Léotard. Unglücklicherweise war Katjä gerade an diesem Tage so zerstreut +und auch schwerfällig im Begreifen, daß Madame Léotard sie gar nicht +wiedererkannte. Ich aber lernte im Nu das französische Alphabet, denn +ich hatte nur den einen Wunsch, es Madame Léotard recht zu machen. Sie +aber ärgerte sich die ganze Zeit über Katjä und zum Schluß wurde sie so +böse, daß sie sie heftig schalt: + +„Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel,“ sagte sie, auf mich weisend, „ein +noch halbkrankes Kind lernt zum erstenmal und hat in einer Stunde +zehnmal mehr begriffen als Sie. Schämen Sie sich!“ + +„Sie weiß mehr als ich?“ fragte Katjä verwundert, „aber sie lernt doch +erst das Alphabet!“ + +„In wieviel Stunden haben Sie das Alphabet gelernt?“ + +„In drei.“ + +„Und sie in einer einzigen. Folglich begreift sie dreimal schneller als +Sie und wird Sie im Nu überholen. Das sehen Sie doch ein?“ + +Katjä dachte einen Augenblick nach und plötzlich wurde sie feuerrot. +Überhaupt war Erröten, Beschämtsein – das erste bei ihr, gleichviel ob +es sich um einen Mißerfolg, einen Ärger, um eine Kränkung handelte oder +ob man sie bei einer Unart ertappte und schalt. Diesmal traten ihr fast +Tränen in die Augen, aber sie schwieg und sah mich nur einmal so an, als +wolle sie mich verbrennen mit ihrem Blick. Da erriet ich, was sie +empfand. Die Arme war über alle Maßen stolz und ehrgeizig! + +Als wir Madame Léotard verließen, versuchte ich, ein Gespräch mit ihr +anzuknüpfen, um ihren Ärger zu verscheuchen und zu zeigen, daß es mich +nichts anging, was die Französin sagte, aber Katjä schwieg, als hätte +sie mich überhaupt nicht gehört. + +Etwa nach einer Stunde kam sie in das Zimmer, wo ich mit einem Buch saß, +jedoch ohne zu lesen, denn ich dachte die ganze Zeit nur an Katjä – ich +war doch noch zu bestürzt und erschrocken bei dem Gedanken, der nicht +von mir wich, daß Katjä nun wieder nicht mit mir sprechen wollte. + +Sie sah mich finster an, setzte sich wie gewöhnlich auf den Diwan und +betrachtete mich eine gute halbe Stunde. Länger hielt ich es nicht aus: +ich hob den Kopf und sah sie fragend an. + +„Kannst du tanzen?“ fragte sie mich darauf. + +„Nein.“ + +„Aber ich.“ + +Schweigen. + +„Kannst du denn Klavier spielen?“ + +„Nein, auch nicht.“ + +„Aber ich spiele. Das ist sehr schwer zu erlernen.“ + +Ich schwieg. + +„Madame Léotard sagt, du seist klüger als ich.“ + +„Madame Léotard war nur böse auf dich,“ sagte ich. + +„Wird Papa auch böse sein?“ + +„Das weiß ich nicht,“ antwortete ich. + +Wieder Schweigen. Plötzlich stampfte die Prinzeß ungeduldig mit dem Fuß +auf. + +„So wirst du jetzt über mich lachen, weil du schneller begreifen kannst +als ich?“ rief sie, unfähig ihren Ärger zu verbergen. + +„Ach nein, nein!“ Ich sprang auf, um zu ihr zu laufen und sie zu +umarmen. + +„Und Sie schämen sich nicht, so etwas zu denken und so zu fragen, +Prinzeß?“ ertönte plötzlich die Stimme der Madame Léotard, die uns schon +eine Weile aus dem anderen Zimmer beobachtet und das Gespräch gehört +hatte. „Schämen Sie sich! Sie beneiden das arme Kind und prahlen vor +ihr, daß Sie tanzen und Klavier spielen können. Wie häßlich von Ihnen! +Ich werde alles dem Fürsten erzählen.“ + +Die Prinzeß errötete. + +„Das war schlecht von Ihnen. Sie haben Sie mit Ihren Fragen absichtlich +gekränkt. Ihre Eltern waren arm und konnten keine Gouvernanten für sie +halten; sie hat alles aus sich selbst gelernt, weil sie ein kluges Kind +ist. Sie sollten Sie lieben und gut zu ihr sein, Sie aber wollen mit ihr +nur streiten und sie kränken. Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Sie +ist doch eine Waise! Sie hat keinen Menschen, der ihr nahe steht. Es +fehlte nur noch, daß Sie auch damit zu prahlen anfangen, daß Sie eine +Prinzeß sind und sie nicht. Ich lasse Sie allein. Denken Sie darüber +nach, was ich Ihnen gesagt habe und bessern Sie sich.“ + +Die Prinzeß dachte genau zwei Tage nach. Zwei Tage lang hörte man sie +weder lachen noch tollen. In der Nacht hörte ich, wie sie sogar im Traum +mit Madame Léotard stritt. Ja, es schien fast, als magere sie ein wenig +ab in diesen zwei Tagen, wenigstens wurde ihr zartes Gesichtchen +merklich bleicher. Am dritten Tage begegneten wir uns zufällig unten in +den großen Räumen. Die Prinzeß kam von der Mutter und als sie mich +erblickte, blieb sie stehen und setzte sich nicht weit von mir auf einen +Stuhl. Ich erwartete mit Bangen, was nun kommen würde. + +„Njetotschka, weshalb hat man mich deinetwegen gescholten?“ fragte sie +plötzlich. + +„Oh, das geschah nicht meinetwegen, Katenjka[2],“ sagte ich schnell, wie +um mich zu rechtfertigen. + +„Aber Madame Léotard sagt doch, ich hätte dich beleidigt.“ + +„Nein, Katenjka, du hast mich nicht beleidigt.“ + +Die Prinzeß zuckte mit der Achsel – ein Zeichen, daß sie mich nicht +verstand. + +„Warum weinst du denn immer?“ fragte sie nach kurzem Schweigen. + +„Ich werde nicht mehr ... wenn du es nicht willst,“ sagte ich und die +Tränen traten mir schon in die Augen. + +Sie hatte dafür wieder nur ein Achselzucken. + +„Hast du auch früher immer geweint?“ + +Ich antwortete nicht. + +„Warum lebst du bei uns?“ fragte sie plötzlich, wieder nach neuem kurzem +Schweigen. + +Ich sah sie verwundert an und fühlte so etwas wie einen Stich ins Herz. + +„Weil ich eine Waise bin,“ sagte ich schließlich, nachdem ich mich +zusammengenommen. + +„Hattest du Eltern?“ + +„Ja.“ + +„Nun, und – die haben dich nicht geliebt?“ + +„Nein ... sie liebten mich,“ antwortete ich mit Mühe. + +„Sie waren aber arm?“ + +„Ja.“ + +„Sehr arm?“ + +„Ja.“ + +„Und bei denen hast du nichts gelernt?“ + +„Nur lesen.“ + +„Hattest du Spielsachen?“ + +„Nein.“ + +„Hattest du Kuchen?“ + +„Nein.“ + +„Wieviel Zimmer hattet ihr?“ + +„Ein Zimmer.“ + +„Nur ein Zimmer?“ + +„Ja.“ + +„Und hattet ihr Dienstboten?“ + +„Nein, wir hatten keine Dienstboten.“ + +„Aber wer hat euch denn bedient?“ + +„Ich ging selbst ... einkaufen ...“ + +Die Fragen der Prinzeß zerrissen mir immer mehr das Herz. Dazu kamen die +Erinnerungen ... und meine Verlassenheit und die Verwunderung der +Prinzeß – all das traf und verletzte mein Herz, daß es wie aus Wunden +blutete. Ich zitterte fieberhaft vor Erregung und die Tränen drohten +mich zu ersticken. + +„Dann bist du wohl froh, daß du bei uns wohnst?“ + +Ich schwieg. + +„Hattest du schöne Kleider?“ + +„Nein.“ + +„Schlechte?“ + +„Ja.“ + +„Ich habe dein Kleid gesehn, man hat es mir gezeigt.“ + +„Warum fragst du mich dann noch?“ rief ich aufstehend, erschüttert von +einem neuen, noch nie empfundenen Gefühl, „warum fragst du dann noch?“ +fuhr ich fort, und das Blut stieg mir vor Unwillen heiß ins Gesicht. +„Warum lachst du über mich?“ + +Die Prinzeß war gleichfalls errötet und erhob sich auch, aber sie +beherrschte sich schnell. + +„Nein ... ich lache nicht,“ sagte sie. „Ich wollte nur wissen, ob es +wahr ist, daß deine Eltern arm waren?“ + +„Warum fragst du mich nach meinen Eltern?“ rief ich und Tränen rollten +mir über die Wangen vor Seelenschmerz. „Warum fragst du mich _so_ nach +ihnen? Was haben sie dir getan, Katjä?“ + +Katjä stand betreten vor ihrem Stuhl und wußte nicht, was sie antworten +sollte. Da trat der Fürst ins Zimmer. + +„Was fehlt dir, Njetotschka?“ fragte er, als er meine Tränen bemerkte. +„Was fehlt dir, weshalb weinst du?“ fragte er nochmals und sah Katjä an, +die feuerrot geworden war. „Wovon spracht ihr? Worüber habt ihr +gestritten? Njetotschka, worüber weinst du?“ + +Ich konnte nicht antworten, aber ich ergriff die Hand des Fürsten und +küßte sie unter Tränen. + +„Katjä, sag du, und sprich die Wahrheit: was ist hier vorgefallen?“ + +Katjä verstand nicht zu lügen. + +„Ich sagte ihr, daß ich gesehen habe, was für ein schlechtes Kleid sie +trug, als sie noch bei ihrem Papa und ihrer Mama lebte.“ + +„Wer hat es dir gezeigt? Wer hat es dir zu zeigen gewagt?“ + +„Ich habe es selbst gesehen!“ sagte Katjä in bestimmtem Tone. + +„Nun gut! Ich kenne dich, du willst niemanden angeben. Und was weiter?“ + +„Und dann fing sie an zu weinen und fragte: warum ich mich über ihren +Papa und ihre Mama lustig gemacht?“ + +Das hatte sie zwar nicht getan, aber offenbar war es ihre Absicht +gewesen, da auch ich es nach der ersten Frage so aufgefaßt hatte. Sie +antwortete dem Vater keine Silbe: und dies war ebenso gut wie ein +Geständnis. + +„Du gehst sofort zu ihr und bittest sie um Verzeihung,“ befahl der +Fürst, auf mich weisend. + +Die Prinzeß stand bleich und stumm und rührte sich nicht. + +„Nun,“ sagte der Fürst. + +„Ich will nicht,“ sagte Katjä schließlich halblaut, aber mit fest +entschlossener Miene. + +„Katjä!“ + +„Nein, ich will nicht, ich will nicht!“ schrie sie plötzlich mit +blitzenden Augen und stampfte mit beiden Füßchen. „Ich will nicht, Papa, +ich will nicht um Verzeihung bitten. Ich liebe sie nicht. Ich will nicht +mit ihr zusammenwohnen ... Ich bin nicht schuld, daß sie den ganzen Tag +weint. Ich will nicht, ich will nicht!“ + +„Komm mit,“ sagte der Fürst, sie an der Hand fassend, um sie in sein +Kabinett zu führen. „Njetotschka, geh nach oben,“ wandte er sich zu mir. + +Ich wollte ihn zurückhalten, wollte für Katjä um Verzeihung bitten, doch +der Fürst wiederholte streng seinen Befehl und ich ging nach oben, +eiskalt vor Schreck, wie eine Tote. In unserem Zimmer sank ich auf den +Diwan und umklammerte meinen Kopf mit den Händen. Ich zählte die +Minuten. Ich erwartete Katjä mit fiebernder Ungeduld, ich wollte mich +ihr zu Füßen werfen. Endlich kam sie: sie ging ohne ein Wort an mir +vorüber und setzte sich in den fernsten Winkel; Ihre Augen waren rot und +die Wangen geschwollen von Tränen. Da schwand meine ganze +Entschlossenheit. Ich sah sie angstvoll an und meine Angst lähmte mich. + +Ich beschuldigte mich mit allen Fibern, ich mühte mich krampfhaft, mir +vor mir selbst zu beweisen, daß ich allein an allem schuld sei. +Tausendmal wollte ich zu Katjä gehen und tausendmal sank mir der Mut, da +ich nicht wußte, wie sie sich zu mir verhalten würde. So verging ein Tag +und noch einer. Am Abend dieses zweiten Tages wurde Katjä wieder +munterer und nahm sogar ihr Reifenspiel vor, doch bald ließ sie den +Reifen liegen und zog sich wieder in ihren Winkel zurück. Kurz bevor wir +zu Bett gingen, wandte sie sich plötzlich zu mir und kam sogar zwei +Schritte auf mich zu: ihre weichen Lippen zuckten, als setze sie zum +Sprechen an, aber sie blieb stehen, wandte sich wieder fort und ging zu +Bett. Nach diesem Tage verging noch ein Tag, und die erstaunte Madame +Léotard nahm Katjä zu guter Letzt ins Verhör: ob sie krank sei oder was +mit ihr geschehen, daß sie sich mit einemmal so still verhalte? Katjä +antwortete ausweichend irgend etwas, was ich nicht hören konnte, doch +kaum hatte Madame Léotard ihr den Rücken gekehrt, da wurde sie rot und +begann zu weinen. Sie lief aus dem Zimmer, um von mir nicht weinend +gesehen zu werden. Einmal aber mußte doch die Erlösung kommen; und dies +geschah denn auch am dritten Tage nach unserem Streit: nach dem Essen +kam sie in mein Zimmer und näherte sich mir zaghaft. + +„Papa hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten,“ sagte sie. „Wirst +du mir verzeihen?“ + +Ich erfaßte schnell ihre beiden Hände und stieß in atemloser Hast +hervor: + +„Ja! Ja!“ + +„Papa befahl mir, dich zu küssen, – wirst du mich küssen?“ + +Als Erwiderung auf ihre Frage küßte ich ihre Hände. Als ich aufsah, +bemerkte ich in ihrem Gesicht eine seltsame Bewegung. Ihre Lippen und +ihr Kinn bebten, in ihren Augen standen Tränen, aber sie unterdrückte +schnell ihre Erregung und flüchtig erschien sogar ein Lächeln auf ihren +Lippen. + +„Ich werde gehen und Papa sagen, daß ich dich geküßt und um Verzeihung +gebeten habe,“ sagte sie leise, fast wie zu sich selbst. „Ich habe ihn +schon drei Tage nicht gesehen. Er sagte, ich dürfe nicht eher zu ihm +kommen, als bis ich sein Gebot erfüllt habe,“ fügte sie nach kurzem +Nachdenken hinzu. + +Und sie ging zögernd und mit nachdenklichem Gesichtchen zum Vater, als +wäre sie selbst noch nicht sicher, wie nun der Empfang beim Vater +ausfallen würde. + +Eine Stunde später hörte ich oben wieder den alten Lärm, Katjäs Lachen +und Laufen, Falstaffs Gebell, ja irgend etwas wurde umgeworfen und +zerschlagen, Bücher fielen von einem Tisch, der Reifen rollte wieder +federleicht durch alle Räume – kurz, ich hörte, daß Katjä sich mit dem +Vater versöhnt hatte, und mein Herz erbebte vor Freude. + +Doch zu mir kam sie nicht und vermied es sichtlich, mit mir zu sprechen. +Dafür hatte ich die Ehre, in hohem Maße ihre Neugier zu erregen. Immer +öfter setzte sie sich mir gegenüber, um mich in Ruhe zu betrachten. Und +ihre Beobachtungen wurden immer naiver. Das verwöhnte, eigenwillige +Kind, das von allen im Hause verzogen und gehätschelt und wie ein +kostbarer Schatz gehegt wurde, konnte es nicht begreifen, wie es kam, +daß ich schon ein paarmal auf ihrem Wege mit ihr zusammengestoßen war, +während sie das gar nicht gewollt hatte. Sie hatte aber ein gutes, +prächtiges Herzchen, das allein schon mit seinem guten Instinkt immer +den richtigen Weg fand. Den größten Einfluß auf sie hatte der Vater, den +sie geradezu vergötterte. Von der Mutter wurde sie bis zum Wahnsinn +geliebt, nur war die Mutter gleichzeitig unglaublich streng, und von ihr +hatte Katjä den Eigensinn, den Stolz und die Charakterfestigkeit geerbt, +dafür aber mußte sie auch alle Launen der Mutter ertragen, obschon diese +oft in moralische Tyrannei ausarteten. Doch – sie ertrug sie. Die +Fürstin hatte eine sonderbare Auffassung von dem, was Erziehung ist, und +so war Katjäs Erziehung eine eigenartige Mischung von grenzenloser +Verwöhnung und unerbittlicher Strenge. Was gestern erlaubt war, war +heute plötzlich verboten, und zwar ganz grundlos, so daß das +Gerechtigkeitsgefühl im Kinde völlig mißachtet und ständig verletzt +wurde ... Doch davon später. Ich will hier nur bemerken, daß das Kind +sein Verhalten zu den Eltern danach richtete. Dem Vater gegenüber war +sie ganz so, wie sie war, sie gab sich ihm rückhaltlos, mit vollen +Händen: da war in ihrem Wesen nichts Verborgenes, nichts +Zurückhaltendes. Im Verkehr mit der Mutter dagegen war sie das gerade +Gegenteil: verschlossen, mißtrauisch und widerspruchslos gehorsam. Aber +ihr Gehorsam war nicht aufrichtig, sie gehorchte nicht aus Überzeugung, +sondern sozusagen einem notwendigen System gemäß. Ich werde später noch +darauf zurückkommen und mich dann klarer auszudrücken versuchen. +Übrigens sei es hier noch zur besonderen Ehre meiner Katjä gesagt, daß +sie schließlich ihre Mutter vollkommen verstand, und wenn sie ihr +gehorchte, so tat sie das schon mit der vollen Erkenntnis der +grenzenlosen Mutterliebe, die die Fürstin zu ihr hatte und die sich bis +zur krankhaften Exaltation steigern konnte – dem aber trug die Prinzeß +in nachsichtiger Großmut Rechnung. Leider sollte dies später ihrem +heißen Köpfchen wenig helfen! + +Doch ich habe fast noch gar nicht erwähnt, was in mir vorging. + +Ein neues, mir unerklärliches Gefühl erregte mich damals in einer ganz +ungewohnten Weise und ich übertreibe wohl nicht, wenn ich sage, daß ich +unter diesem neuen Gefühl wie unter einer Pein litt. Kurz – man verzeihe +mir das Wort, aber – ich war in meine Katjä verliebt. Ja, das war +Verliebtheit, richtige Verliebtheit, Verliebtheit mit Tränen und +Entzücken, leidenschaftliche Verliebtheit! Was zog mich so zu ihr? +Woraus entstand diese meine Liebe? Sie begann mit dem ersten Blick auf +Katjä, als alle meine Sinne plötzlich so – so süß betroffen wurden von +dieser Schönheit. Alles an ihr war schön: keine einzige ihrer schlechten +Eigenschaften war angeboren, – alle waren sie nur angenommen und alle +standen sie mit ihrem Instinkt auf Kriegsfuß. Aus allem ersah man die +gute Veranlagung, die nur zeitweilig eine falsche Form annehmen konnte, +doch alles an ihr, angefangen mit jenem inneren Kampf, leuchtete in +froher Zuversicht, alles versprach, in Zukunft Schönheit zu sein. Alle +Menschen hatten Freude an ihr, alle liebten sie, verwöhnten sie. Wenn +man uns spazieren führte – gewöhnlich gegen drei Uhr – blieben die +Menschen, die uns begegneten und sie erblickten, beinahe betroffen +stehen, und nicht selten hörten wir hinter uns einen Ausruf der +Bewunderung. Sie war zum Glücklichsein geboren, sie mußte dazu geboren +sein – das war die erste Empfindung eines jeden, der sie sah. Vielleicht +hatte sich damals, als ich aus tiefem Schlaf erwachte und sie erblickte, +zum erstenmal mein ästhetisches Empfinden geregt, war mein Gefühl für +das Schöne durch ihre Schönheit erweckt worden, – und dies wird wohl die +ganze Ursache meiner Liebe gewesen sein. + +Der größte Fehler der Prinzeß – oder richtiger der Grundzug ihres +Charakters, der sich gewaltsam in seine natürliche Form prägen wollte +und sich deshalb naturgemäß in einem unnormalen, eben in einem +Kampfzustand befand – war _Stolz_. Dieser Stolz erstreckte sich bis in +naive Kleinigkeiten, schlug oft in Eigenliebe um und wurde zu einer +unbewußten Überhebung, so daß z. B. Widerspruch, gleichviel welcher Art, +sie nicht kränkte und auch nicht einmal ärgerte, sondern nur in +Verwunderung setzte. Sie begriff nicht, wie etwas anders sein konnte, +als wie sie es wünschte. Aber das Gerechtigkeitsgefühl siegte doch immer +in ihrem Herzen. Wenn sie sich einmal überzeugt hatte, daß sie wirklich +unrecht getan, dann fügte sie sich ohne zu murren und mit fester +Entschlossenheit dem Urteilsspruch ihrer Erzieher. Daß sie aber anfangs +im Verkehr mit mir sich selbst nicht immer ganz treu blieb, erkläre ich +mir mit ihrer unüberwindlichen Abneigung, die zeitweilig die Geradheit +und Einheit ihres ganzen Wesens störte. Anders aber konnte es wohl gar +nicht sein: sie war viel zu leidenschaftlich in ihren Empfindungen, und +so waren es immer erst die Zusammenstöße mit der Wirklichkeit, die ihr +allmählich die Augen öffneten und sie auf den richtigen Weg +zurückführten. Alles, was sie unternahm und anfing, hatte ein gutes +Endergebnis, doch wurden diese Endergebnisse regelmäßig mit +fortwährenden Abweichungen und unter ständigen Verirrungen erkauft. + +Katjä hatte mich bald genügend beobachtet und entschloß sich deshalb, +mich fortab in Ruhe zu lassen. Sie tat, als wäre ich überhaupt nicht da. +Sie sprach mit mir kein überflüssiges Wort, ja fast nicht einmal das +Notwendige. An ihren Spielen beteiligte ich mich nicht mehr – doch hatte +sie mich nicht etwa mit Gewalt verdrängt, sondern es so geschickt +einzurichten verstanden, daß es den Anschein hatte, als wäre ich selbst +damit einverstanden gewesen. Der Unterricht wurde fortgesetzt, aber wenn +man mich ihr noch wegen meiner Aufmerksamkeit und meines schnellen +Begreifens als Beispiel vorhielt, so würdigte sie mich nicht mehr der +Ehre, sich dadurch in ihrer Eigenliebe gekränkt zu fühlen, obschon diese +Eigenliebe eine höchst peinlich ausgeprägte war – eine so heikele, daß +sogar unsere Bulldogge, Sir John Falstaff, sie verletzen konnte. +Falstaff war ein kaltblütiger Phlegmatiker, dabei aber böse wie ein +Tiger, ja wenn man ihn reizte, ging er sogar so weit, daß er nicht +einmal mehr seinem Herrn gehorchte. Und noch ein bedeutsamer +Charakterzug: er liebte entschieden keinen einzigen Menschen im ganzen +Hause; sein größter Feind aber war zweifellos die alte Prinzessin, die +Tante des Fürsten ... Doch davon später. Die ehrgeizige Katjä gelüstete +es nun eines Tages, den unfreundlichen Falstaff zu besiegen. Es war ihr +unangenehm, daß es ein Wesen gab, sei es auch nur ein vierbeiniges, das +ihre Autorität nicht anerkannte, sich ihr nicht unterwarf, ja, sie nicht +einmal liebte. So beschloß denn die Prinzeß, Falstaff anzugreifen. Sie +wollte über alle herrschen – warum sollte nun Falstaff allein ungestört +seine Freiheit genießen dürfen? Aber die unbeugsame Bulldogge ergab sich +ihr doch nicht. + +Es war einmal nach dem Essen, wir saßen beide unten im großen Saal, +während Falstaff mitten im Saal auf der Diele lag und faul seine +Nachmittagssiesta genoß. Da fiel es der Prinzeß plötzlich ein, ihn sich +unterwerfen zu wollen. Sie ließ ihr Spiel liegen und begann sogleich mit +dem Versuch, sich Falstaff zu nähern: vorsichtig, auf den Fußspitzen +schleichend, umschmeichelte sie Falstaff mit den zärtlichsten Kosenamen, +winkte liebevoll beschwichtigend mit der Hand und ging immer näher, +immer näher. Falstaff aber zeigte schon von ferne seine furchtbaren +Zähne. Prinzeßchen blieb stehen. Ihr ganzes Vorhaben bestand ja nur +darin, zu Falstaff zu gelangen und ihn einmal zu streicheln – eine +Kühnheit, die er bisher noch keinem gestattet hatte, außer der Fürstin – +und ihn dazu zu bringen, daß er ihr folge. Das war nun eine schwere +Aufgabe, verbunden mit einer ernsten Gefahr, denn Falstaff hätte sich +keineswegs gescheut, ihr eine Hand abzubeißen oder auch das ganze +Prinzeßchen zu zerfleischen. Er war stark wie ein Bär und ich verfolgte +von meinem Platze aus nicht grundlos mit angstvoller Spannung Katjäs +Vorgehen. Ich wußte, wie schwer es war, sie zum Verzicht auf eine +Absicht, wenn sie sich eine solche einmal in den Kopf gesetzt, zu +bewegen, und selbst das Gebiß Falstaffs, das dieser ihr in äußerst +unmanierlicher Weise zeigte, war für sie noch kein genügendes Argument. +Sie begriff nur, daß sie sich doch nicht so geradeswegs ihm nähern +konnte und änderte nach kurzem Zögern ihre Taktik, indem sie nun im +Kreise um ihn herumging und diese Kreise immer enger machte. Als sie +aber bei der dritten Umkreisung der Grenze zu nahe kam, die Falstaff als +nächste und eben noch erlaubte Distanz zu sich nicht überschritten +wissen wollte, da zeigte er wieder die Zähne. Die Prinzeß stampfte mit +den Füßchen auf, kehrte ihm geärgert den Rücken und setzte sich aufs +Sofa, um nachzudenken. + +Da fiel ihr nach einigen Minuten ein neues Mittel ein; sie verließ +sofort den Saal und kehrte mit einem ganzen Vorrat von Kringeln, Kuchen +und Pasteten zurück – kurz, sie änderte die Waffen. Doch auch die neuen +Waffen ließen Falstaff völlig kalt, wohl weil er ohnehin schon viel zu +satt war. Den Kringel, den sie ihm zuwarf, würdigte er nicht einmal +eines Blickes; und als die Prinzeß wieder an der besagten äußersten +Grenze anlangte, erfolgte ein diesmal noch energischerer Protest: er +erhob den Kopf, zeigte die Zähne, knurrte und machte eine Bewegung, als +wolle er gleich aufspringen. Die Prinzeß wurde rot vor Zorn, ließ den +ganzen Vorrat liegen und setzte sich wieder auf ihren Platz. + +Sie war sichtlich sehr erregt. Ihr kleiner Fuß schlug ununterbrochen auf +den Teppich, ihre Wangen glühten und in die Augen traten fast Tränen vor +Ärger. Da geschah es, daß sie plötzlich meinen Blick auffing – alles +Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. Sie sprang auf und ging mit +entschlossenen Schritten gerade auf die furchtbare Dogge zu. + +Vielleicht war es diesmal die Überraschung, die Falstaff lähmte. Er ließ +den Feind die Grenze überschreiten, und erst als sie nur noch zwei +Schritte von ihm entfernt war, empfing er die Unbedachte mit dem +unheimlichsten Knurren. Katjä blieb für eine Sekunde stehen –, aber nur +für eine Sekunde –: dann trat sie entschlossen vorwärts. Ich erstarb vor +Schreck. Sie war aber so beseelt von ihrem Entschluß, wie ich sie noch +nie gesehen hatte: ihre Augen blitzten in trotziger Siegesgewißheit. Sie +hätte ein entzückendes Modell für einen Künstler abgegeben. Mutig +widerstand sie dem drohenden Blick des bösen Tieres, und auch sein +unheimliches Gebiß schreckte sie nicht ab. Die Dogge hob den Kopf. Aus +der breiten Brust kam ein unheildrohendes Knurren – im nächsten Moment, +so schien es, werde das Tier sie zerfleischen. Doch die Prinzeß legte +stolz ihre kleine Hand auf seinen Rücken und streichelte ihm +dreimal über das Fell. Einen Augenblick verharrte Falstaff in +Unentschlossenheit. Dieser Augenblick war der furchtbarste: dann stand +das Tier schwerfällig auf, streckte sich und verließ in phlegmatischer +Ruhe den Saal, vermutlich in der Erwägung, daß mit Kindern zu kämpfen +sich doch nicht lohne. Die Prinzeß blieb triumphierend auf dem eroberten +Platz stehen und warf mir nur einen unbeschreiblichen Blick zu, einen +siegesgesättigten, siegesberauschten Blick. Ich war noch bleich wie ein +Handtuch. Sie bemerkte das und lächelte. Aber da breitete sich mit +einemmal auch über ihr Gesichtchen Totenblässe. Kaum konnte sie noch bis +zum Sofa gehen, auf das sie nahezu ohnmächtig niedersank. + +Doch meine Liebe zu ihr kannte keine Grenzen. Seit diesem Tage, wo ich +eine solche Angst um sie ausgestanden, konnte ich mich nur noch mit Mühe +beherrschen. Ich verging vor Sehnsucht, tausendmal wollte ich mich ihr +an den Hals werfen, aber eine unerklärliche Scheu hielt mich regungslos +und wie gebannt auf meinem Platz zurück. Ich erinnere mich noch, daß ich +ein Zusammensein mit ihr absichtlich zu vermeiden suchte, damit sie +meine Erregung nicht sähe; trat sie aber zufällig in das Zimmer, in das +ich mich zurückgezogen hatte, dann fuhr ich zusammen und mein Herz +begann so stark zu pochen, daß ich wie von einem Schwindel erfaßt wurde. +Ich glaube, dies alles entging Katjä nicht, und nachdem sie es bemerkt +hatte, war sie die nächsten zwei Tage, wie mir schien, etwas verwirrt. +Bald aber hatte sie sich auch damit abgefunden. So verging ein ganzer +Monat, in dem ich einsam litt. Meine Gefühle besitzen eine gewisse +unerklärliche Dehnbarkeit, wenn man sich so ausdrücken kann; meine Natur +ist bis zur letzten Möglichkeit geduldig, so daß ein plötzlicher +Ausbruch der Gefühle nur im wirklich äußersten Fall eintritt. Man muß +nämlich wissen, daß Katjä und ich in dieser ganzen Zeit kaum fünf Worte +miteinander gewechselt haben. Nach und nach wurde es mir aber infolge +gewisser Anzeichen immer klarer, daß ihr Verhalten zu mir nicht auf +Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit zurückzuführen sei, sondern daß es +nur eine absichtliche Fernhaltung ihrerseits war: ganz als habe sie sich +das Wort gegeben, mich in gewissen Schranken zu halten. Doch ich schlief +schon nicht mehr in den Nächten und am Tage konnte ich meine Verwirrung +selbst vor Madame Léotard nicht verbergen. Meine Liebe zu Katjä verstieg +sich bis zu Seltsamkeiten: so nahm ich einmal heimlich ihr Taschentuch, +ein anderes Mal ihr Haarband an mich, und diese Gegenstände küßte ich +dann nachts unter Tränen. Anfangs kränkte mich ihre Gleichgültigkeit so +sehr, daß ich mich wirklich verletzt fühlte; hernach aber war alles in +mir verwirrt und ich konnte mir selbst nicht mehr über meine +Empfindungen Rechenschaft geben. So kam es, daß meine alten Eindrücke +allmählich von den neuen verdrängt wurden, und die Erinnerung an mein +früheres trauriges Leben verlor mit der Zeit ihre krankhafte Intensität, +da sie der neuen Wirklichkeit weichen mußte. + +Ich weiß noch, wenn ich in der Nacht erwachte, stand ich bisweilen leise +auf und schlich auf den Fußspitzen zum Bett der Prinzeß. Stundenlang +konnte ich dann stehen und die Schlafende in dem milden Licht unserer +Nachtlampe betrachten. Manchmal setzte ich mich sogar auf ihr Bett und +beugte mich über ihr Gesicht, und ihr warmer regelmäßiger Atem berührte +mich wie ein traumhaft sanftes Wehen. Leise, bebend vor Unsicherheit, +küßte ich dann wohl oft ihre Händchen, ihre kleinen Schultern, Wangen, +auch ihr Füßchen küßte ich, wenn die Decke sich verschoben hatte und das +Füßchen hervorsah. Bald glaubte ich zu bemerken – ich beobachtete sie +doch unausgesetzt, wenn auch heimlich – daß sie von Tag zu Tag mehr +nachsann und ihr Charakter seine frühere gefestigte Gleichmäßigkeit +eingebüßt hatte: es kam vor, daß wir sie oft einen ganzen Tag nicht +tollen hörten, dann aber machte sie wieder solchen Lärm, wie ich ihn +zuvor noch nie gehört. Sie wurde reizbar, anmaßend, sie wurde +abwechselnd bleich und rot und trieb es mit mir oft bis zu kleinen +Grausamkeiten: bald wollte sie plötzlich nicht gleichzeitig mit mir +essen und nicht neben mir sitzen, ganz als flöße ich ihr Abscheu ein; +bald ging sie zur Mutter und saß dort fast ganze Tage, obschon sie genau +wußte, wie sehr die Sehnsucht nach ihr mich verzehrte; bald wiederum +setzte sie sich mir gegenüber und betrachtete mich stundenlang, so daß +ich vor tödlicher Verwirrung nicht wußte, wo ich mich lassen sollte, nur +immer errötete und erbleichte und doch nicht aus dem Zimmer zu gehen +wagte. Zweimal hatte Katjä sich bereits über Fieber beklagt, während man +sie früher nie krank gesehen hatte. Da erfolgte eines Morgens eine +besondere und bedeutungsvolle Wandlung: auf unbedingten Wunsch der +Prinzeß zog sie nämlich nach unten zur Mutter, die fast ohnmächtig wurde +vor Angst, als Katjä über Erkältung klagte. Ich muß bemerken, daß die +Fürstin mit mir sehr unzufrieden war und die ganze Veränderung, die sie +an Katjä bemerkte, meinem schädlichen Einfluß zuschrieb, oder doch dem +Einfluß meines „düsteren Charakters“, wie sie sich ausdrückte. Sie hätte +uns schon viel früher getrennt, doch hielt sie es für ratsamer, die +Trennung noch aufzuschieben, da sie damit, wie sie wußte, beim Fürsten +auf hartnäckigen Widerstand gestoßen wäre. Obschon der Fürst ihr in +allem ihren Willen ließ, konnte er bisweilen doch mit geradezu +eigensinniger Starrheit auf seinem Willen bestehen. Sie kannte den +Fürsten gut. + +Dieser Umzug der Prinzeß machte mich so betroffen, daß ich eine ganze +Woche in der schrecklichsten Gemütsverfassung zubrachte. Ich quälte mich +mit meiner Sehnsucht nach ihr und zerbrach mir den Kopf über der Frage, +weshalb ich Katjä wohl solchen Abscheu einflößte. Meine Trauer darob +zerriß mir die Seele und das Gerechtigkeitsgefühl und ein bitterer +Unwille begann sich in meinem gekränkten Herzen zu erheben. Es entstand +plötzlich ein gewisser Stolz in mir, und wenn ich mit Katjä vor unserem +Spaziergang zusammentraf, dann sah ich sie so frei, so ernst an, so +anders als früher, daß es sie offenbar betroffen machte. Natürlich trat +diese meine Veränderung nur hin und wieder zutage, wie in sich +durchdringenden Ausbrüchen, dann aber tat mir das Herz von neuem weh und +der Schmerz wuchs und wuchs und ich wurde noch schwächer, noch +kleinmütiger als ich vorher gewesen war. Da, eines Morgens, zu meiner +größten, mich freudig verwirrenden Überraschung, kehrte die Prinzeß zu +uns nach oben zurück. Ihr erstes war, daß sie gleich unter unbändigem +Lachen Madame Léotard an den Hals flog und lachend erklärte, nun werde +sie wieder bei uns wohnen – dann grüßte sie mich mit einem Nicken, sah +aber schnell wieder fort und erbettelte sich die Erlaubnis, an diesem +Tage nichts lernen zu brauchen. Den ganzen Vormittag tollte sie umher. +Ich habe sie nie lebhafter und ausgelassener gesehen. Doch gegen Abend +wurde sie still, nachdenklich und wieder breitete eine gewisse +Traurigkeit einen Schatten über ihr reizendes Gesichtchen. Als die +Fürstin am Abend bei uns erschien, um nachzufragen, wie es ihr gehe, da +sah ich, daß Katjä sich aus allen Kräften bemühen mußte, froh und lustig +zu scheinen. Nachher aber, als wir allein zurückblieben, brach sie +plötzlich in Tränen aus. Ich war bestürzt. Die Prinzeß bemerkte, daß ich +sie beobachtete, und verließ das Zimmer. Es waren Anzeichen, daß eine +unerwartete Krisis sich in ihr vorbereitete. Die Fürstin beriet mit den +Ärzten, ließ sich von Madame Léotard jeden Tag ausführlich Bericht +erstatten, und wünschte, daß sie Katjä nicht aus den Augen ließ. Nur ich +ahnte den wahren Grund dieser Veränderung. Mein Herz begann vor Hoffnung +laut zu pochen. + +In der Tat, unser kleiner Roman näherte sich der entscheidenden Wendung. +Am dritten Tage nach Katjäs Rückkehr zu uns nach oben fiel es mir auf, +daß sie mich den ganzen Vormittag mit so guten Augen ansah und so lange +ihre Blicke auf mir ruhen ließ ... Ein paarmal trafen sich unsere Blicke +und jedesmal erröteten wir und schlugen die Augen nieder, als schämten +wir uns. Da lachte zu guter Letzt Prinzeßchen auf und ging fort. Um drei +Uhr kleidete man uns für den Spaziergang an. Plötzlich trat Katjä an +mich heran. + +„Dein Schuhband hat sich gelöst,“ sagte sie zu mir, „komm, ich werde es +zubinden.“ + +Ich wollte mich bücken, um selber die Schleife zu binden, tief errötend +darüber, daß Katjä nun endlich wieder etwas zu mir sprach, doch sie kam +mir zuvor. + +„Gib her!“ sagte sie in lachender Ungeduld und kniete schnell nieder, +zog meinen Fuß zu sich und band die Schleife von neuem. Mir stockte der +Atem; ich wußte nicht, was tun, und ich empfand nur eine süße Wonne in +meiner Erschrockenheit. Als die Schleife fertig war, stand sie auf und +musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen. + +„Da ist auch das Hälschen bloß,“ sagte sie, mit dem Finger an meinen +Hals tippend. „Nein, laß nur, ich werde es dir schon richtig binden.“ + +Ich widersprach nicht. Sie löste die Schleife meines Halstüchleins und +band es von neuem nach ihrem Geschmack. + +„So kann man sich ja einen Husten holen,“ sagte sie mit einem +schelmischen Lächeln und aus ihren dunklen feuchten Augen streifte mich +ein spitzbübischer Blick. + +Ich war wie von Sinnen: ich wußte nicht, wie mir geschah, noch was in +Katjä vorging. Zum Glück dauerte unser Spaziergang nicht lange, sonst +hätte ich es nicht ausgehalten und sie auf der Straße geküßt. Als wir +aber die Treppe hinaufstiegen, gelang es mir, sie heimlich auf die +Schulter zu küssen. Sie bemerkte es, zuckte zusammen, sagte jedoch kein +Wort. Am Abend wurde sie festlich angekleidet und nach unten geführt. +Bei der Fürstin waren Gäste. Doch noch am selben Abend stand dem ganzen +Hause eine große Aufregung bevor. + +Katjä bekam einen Nervenanfall. Die Fürstin war außer sich vor Schreck. +Der Arzt kam und wußte nicht, was er sagen sollte. Man schrieb alles den +üblichen Kinderkrankheiten zu, auch dem Alter Katjäs, ich aber dachte +darüber ganz anders. Am nächsten Morgen erschien Katjä wieder so wie +immer, rosig, lustig, von unerschöpflicher Gesundheit, dafür aber mit +solchen Launen und Eigenheiten, wie sie noch niemand an ihr beobachtet +hatte. + +Erstens wollte sie den ganzen Vormittag Madame Léotard nicht gehorchen. +Darauf erklärte sie mit einemmal, zur Großtante, der alten Prinzessin, +gehen zu wollen. Und richtig, diesmal wurde der Prinzeß der Zutritt zu +den Gemächern der Großtante gewährt, freilich ganz gegen die +Gepflogenheit der alten Dame, die ihre Großnichte gar nicht leiden +konnte, ewig an ihr etwas auszusetzen fand und sie gewöhnlich überhaupt +nicht sehen wollte – diesmal aber, wie gesagt, entschloß sie sich, Gott +weiß weshalb, sie zu empfangen. Anfangs ging auch alles gut, die erste +Stunde verlief im schönsten Frieden, denn dem Schelm war es plötzlich +eingefallen, für alle ihre Ungezogenheiten, den verursachten Lärm und +alle Störungen freiwillig um Verzeihung zu bitten. Und die Großtante +verzieh ihr auch feierlich und sichtlich tief gerührt. Das war aber der +Spitzbübin noch zu wenig. Und es fiel ihr ein, auch solche Streiche zu +beichten, die sie noch gar nicht verbrochen hatte, die vorerst nur als +Pläne in ihrem Köpfchen lebten. So nahm sie den Ausdruck einer +reumütigen Büßerin an und beichtete, daß die fromme Dame ob solchen +Insichgehens anfangs ganz verzückt war, denn es schmeichelte ihrer +Eigenliebe nicht wenig, über Katjä diesen Sieg davonzutragen, über +Katjä, den Abgott des ganzen Hauses, den Liebling aller Menschen, deren +Launen gegenüber sogar die Fürstin machtlos war. + +Katjä gestand also, daß sie die Absicht gehabt habe, eine Visitenkarte +an das Kleid der Großtante zu kleben; dann – Falstaff unter ihrem Bett +zu verbergen; dann – ihre Brille zu zerbrechen; dann – alle ihre frommen +Bücher fortzuschleppen und an deren Stelle die französischen Romane der +Mama zu legen; dann – Knallerbsen in ihren Zimmern auszustreuen; dann – +ein Spiel Karten in ihre Tasche zu stecken, usw., usw. Kurz, eine Sünde +war schlimmer als die andere. Die Großtante wurde starr und bleich und +schließlich gelb vor Ärger – bis Katjä zuletzt doch nicht mehr an sich +halten konnte, in tolles Lachen ausbrach und wie ein Wirbelwind +davonlief. Die alte Prinzessin ließ sogleich die Fürstin zu sich bitten, +und aus dem Vorfall wurde eine große Geschichte, in deren Verlauf die +Fürstin ihre Anverwandte fast unter Tränen bat, Katjä diese Unart zu +verzeihen und nicht auf einer Strafe zu bestehen, schon wegen ihres +krankhaften Zustandes nicht. Die Prinzessin jedoch wollte davon nichts +wissen und erklärte, am nächsten Tage noch das Haus zu verlassen, welche +Drohung sie erst dann zurückzog, als die Fürstin ihr auf ihr Ehrenwort +versprach, die Bestrafung nur bis zur völligen Genesung der Tochter +hinauszuschieben, dann aber dem gerechten Wunsch der alten Dame +gewissenhaft nachzukommen. Dennoch erhielt Katjä sogleich einen strengen +Verweis und mußte unten bei der Fürstin bleiben. Aber der Schelm blieb +dort nicht lange. + +Als ich etwas später gleichfalls nach unten ging, traf ich sie bereits +auf der Treppe. Sie hatte die Tür aufgesperrt und rief Falstaff. Ich +aber erriet sofort, daß sie eine furchtbare Rache plante. Und wirklich: +die Sache verhielt sich folgendermaßen. + +Unter allen Feinden der alten Dame gab es entschieden keinen +unversöhnlicheren als Falstaff. Er war zwar gegen niemand freundlich, +liebte die Menschen grundsätzlich nicht, war hochmütig, stolz, ja sogar +bis zur Rücksichtslosigkeit anmaßend. Er liebte, wie gesagt, niemanden, +verlangte aber von allen den schuldigen Respekt, den ihm denn auch alle +pflichtschuldigst und möglichst von weitem entgegenbrachten, wobei sie +dem Respekt noch eine Dosis Furcht beizumischen pflegten. Da traf nun +eines Tages die alte Prinzessin ein und mit einemmal veränderte sich +seine ganze Lebenslage – ihm ward schnödes Unrecht angetan: man verbot +ihm formell den Zutritt zur oberen Etage. + +In der ersten Zeit war Falstaff außer sich vor Empörung über diese +Beleidigung und kratzte eine ganze Woche an der Tür, die ihm am Ende der +Treppe den Zugang versperrte. Bald jedoch erriet er, wer und was die +Veranlassung zu dieser Maßregel gewesen war, und als am nächsten Sonntag +die alte Prinzessin ihre Gemächer verließ, um sich zum Gottesdienst in +die Kirche zu begeben, da stürzte sich Falstaff mit einem Wutgeheul auf +die Arme. Nur dem glücklichen Zufall, daß mehrere Diener anwesend waren, +hatte sie es zu verdanken, daß sie der schrecklichen Rache des +gekränkten Köters entging. Falstaff wurde schmählich hinausgejagt und +von dem Tage an wurde er jedesmal ins entfernteste Zimmer gezerrt, bevor +die alte Dame ihre Gemächer verließ. Sämtliche Dienstboten erhielten die +strengsten Vorschriften. Aber dennoch fand das rachedurstige Tier zwei- +oder dreimal Gelegenheit, in das verbotene Gebiet einzubrechen. War er +erst auf der Treppe, so raste er wie der Blitz durch die ganze +Zimmerflucht bis zum Schlafgemach der Alten. Kein Dienertroß konnte ihn +dann mehr zurückhalten. Zum Glück war die Tür zu dem Schlafzimmer immer +verschlossen und Falstaff konnte weiter nichts tun, als so lange +fürchterlich heulen, bis die Diener ihn wieder fortgeschafft hatten. Die +alte Dame aber, die während des Geheuls so schrie, als werde sie von +Falstaff schon lebendig aufgefressen, wurde jedesmal krank von dem +Schreck und von der ausgestandenen Angst. Mehrmals schon hatte sie ihr +Ultimatum an die Fürstin gestellt und einmal war sie sogar so weit +gegangen – in einem Moment der Kopflosigkeit vermutlich – daß sie +erklärt hatte, entweder sie oder Falstaff müsse das Haus verlassen; aber +die Fürstin hatte in eine Trennung von Falstaff nicht eingewilligt. + +Die Fürstin hatte im allgemeinen für andere nicht gerade viel Liebe +übrig, aber diesen Falstaff liebte sie, nächst den Kindern, mehr als +alles auf der Welt. Vor etwa sechs Jahren war der Fürst einmal von einem +Spaziergang mit einem kleinen jungen Hunde zurückgekehrt, einem +schmutzigen, kranken Wesen von wahrhaft mitleiderregendem Aussehen, der +aber nichtsdestoweniger eine Bulldogge reinster Rasse war. Der Fürst +hatte ihn irgendwie gerettet. Der Hund freilich benahm sich äußerst +unmanierlich und deshalb wurde er auf Wunsch der Fürstin auf den +Hinterhof geschafft und dort an die Kette gelegt. Der Fürst hatte nichts +dagegen einzuwenden. Zwei Jahre darauf nun, als die Familie den Frühling +in einem Landhause an der Newa verbrachte, fiel der kleine Alexander – +Katjäs jüngerer Bruder, gewöhnlich Ssascha genannt – in den Fluß. Die +Fürstin sah es, schrie auf und wollte sich sogleich in die Fluten +stürzen, nur mit Gewalt konnte man sie davon abhalten, denn es wäre ihr +Tod gewesen. Die Strömung aber riß schon das Kind mit sich fort und nur +das Kleidchen sah man noch an einer Stelle an der Oberfläche auftauchen. +In größter Hast versuchte man ein Boot loszubinden, aber eine Rettung +des Kindes wäre ein Wunder gewesen. Da jagte plötzlich in großen Sätzen +die riesige Bulldogge ans Ufer und sprang ins Wasser, schwamm in +mächtigen Stößen dem ertrinkenden Knaben nach, packte ihn mit dem Gebiß +und schwamm im Triumph ans Ufer zurück. Die Fürstin stürzte vor ihm +nieder, umarmte den schmutzigen, nassen Hund und küßte ihn wie von +Sinnen. Doch Falstaff, der übrigens damals noch auf den prosaischen, ja +sogar höchst plebejischen Namen „Frix“ hörte, war ein ausgesprochener +Feind aller Zärtlichkeiten und erwiderte die Liebe der Fürstin damit, +daß er sie in die Schulter biß, soweit sein Rachen nur fassen konnte. +Die Fürstin litt bis an ihr Lebensende an der Narbe, aber ihre +Dankbarkeit für die Rettung des Sohnes kannte trotzdem keine Grenzen. +Falstaff mußte in die Gemächer der fürstlichen Familie übersiedeln, +wurde gereinigt, gewaschen und bekam ein Halsband aus getriebenem +Silber. Er hielt sich fortan zumeist im Boudoir der Fürstin auf, lag +dort auf einem prachtvollen Bärenfell, und bald brachte es die Fürstin +so weit, daß sie ihn ungestraft streicheln durfte. Als sie erfuhr, daß +ihr Liebling „Frix“ hieß, war sie entsetzt über diese Geschmacklosigkeit +und sogleich mußten alle helfen, einen anderen passenderen Namen +ausfindig zu machen, wenn möglich einen klassischen, recht +altertümlichen. Hektor und Cerberus waren leider schon zu abgedroschen, +es mußte ein ganz besonderer Name sein, wie er dem Günstling der Fürstin +zukam. Nach langer vergeblicher Liebesmüh’ schlug der Fürst zu guter +Letzt, im Hinblick auf die ungeheure Gefräßigkeit der Dogge, den Namen +Falstaff vor. Der Name fand den größten Beifall und wurde gewählt. +Falstaff führte sich hinfort auch weit besser auf. Als reinblütiger +Engländer war er naturgemäß schweigsam und ernst, griff niemanden als +erster an, sondern verlangte nur, daß man sein Ruhelager auf dem +Bärenfell achtete, und ihm überhaupt die schuldige Ehrfurcht bezeuge. +Von Zeit zu Zeit jedoch bemächtigte sich seiner so etwas wie ein Spleen +und Falstaff gedachte mit bitteren Gefühlen der Tatsache, daß sein +unversöhnlicher Feind, der ihm seine souveränen Rechte genommen, immer +noch unbestraft weiterlebte. Dann schlich er heimlich bis zur Treppe, +die nach oben führte, und da er diese gewöhnlich verschlossen fand, +legte er sich dort in ihrer Nähe irgendwohin, möglichst unbemerkbar in +einen Winkel, oder wo er sonst am wenigsten auffiel, und nun wartete er +arglistig auf einen vergeßlichen Dienstboten, der die Tür vielleicht zu +schließen vergaß. Bisweilen wartete er in seiner Rachsucht drei Tage +lang vergeblich, denn es war allen aufs strengste eingeschärft, die Tür +nicht offen stehen zu lassen. Auf diese Weise hatte er zuletzt seine Wut +schon zwei Monate verbeißen müssen – vor zwei Monaten nämlich war er zum +letztenmal nach oben gerast. + +„Falstaff, Falstaff!“ rief die Prinzeß, die Tür offen haltend, in den +freundlichsten Tönen Falstaff auf die Treppe bittend. + +In diesem Augenblick hatte Falstaff bereits gewittert, daß die +Treppentür aufgemacht wurde und war schon im Begriff, über seinen +Rubikon zu springen. Aber die Aufforderung dazu von seiten der kleinen +Prinzeß erschien ihm dermaßen unbegreiflich, daß er im ersten Moment +entschieden seinen Ohren nicht traute. Er war schlau wie eine Katze, und +um sich den Anschein zu geben, als habe er die Fahrlässigkeit, die die +Tür offen stehen ließ, gar nicht bemerkt, ging er zum Fenster, legte die +Vorderpfoten auf das Fensterbrett und begann, das Haus gegenüber zu +betrachten ... Kurz, er benahm sich wie die argloseste Seele der Welt, +etwa wie ein gleichgültiger Spaziergänger, der für einen Augenblick +stehenbleibt, um die Architektur eines schönen Gebäudes zu bewundern. +Indessen schlug aber und wiegte sich sein Herz schon in süßester +Hoffnung. Wie groß war daher seine Überraschung, seine Freude, wie +geriet er förmlich außer sich vor Übermut, als die Tür vor ihm sogar +sperrangelweit aufgemacht wurde und er überdies noch gerufen, gebeten, +angefleht wurde, das verbotene Gebiet zu betreten und seinen gerechten +Rachedurst unverzüglich zu stillen! Er heulte auf vor Freude, zeigte die +Zähne, und raste, es war unheimlich anzuschauen, in wahrem Siegesrausch +wie der Wind an uns vorüber. + +Er raste mit solcher Wucht, daß der Diener, der ihm oben in den Weg kam, +vom Stoß reichlich eine Klafter weit zur Seite flog und sich nach dem +entsprechenden Naturgesetz noch einmal in die Runde drehte. Falstaff +flog wie eine Kanonenkugel. Madame Léotard kreischte auf vor Schreck. +Doch Falstaff prallte schon an die verschlossene Tür, richtete sich hoch +auf und heulte los, daß Gott erbarm’. Als Antwort ertönte ein +fürchterliches Geschrei des alten Fräuleins. Und schon stürmte von allen +Seiten die Legion der Feinde herbei, das ganze Haus lief nach oben, und +das Ende war, daß Falstaff, der wilde Falstaff, gefesselt an allen vier +Beinen, mit einem geschickt über seinen Kopf geworfenen Maulkorb +unschädlich gemacht und schmachvoll am Lasso geschleift, wie ein +besiegter Sieger vom Felde des Kampfes nach unten zurückkehrte. + +Ein Bote wurde zur Fürstin entsandt. + +Diesmal war die Fürstin nicht mehr zum Entschuldigen und Begnadigen +geneigt. Aber wer sollte nun bestraft werden? Sie erriet natürlich +sofort, wer die Schuldige war, – ihr Blick fiel auf Katjä ... Die stand +bleich und schuldbewußt da. Die Arme dachte erst jetzt an die Folgen +ihres Streiches. Der Verdacht konnte aber auch auf die unschuldigen +Dienstboten fallen, und deshalb war Katjä schon im Begriff, die Wahrheit +zu gestehen. + +„Du hast es getan?“ fragte die Fürstin streng. + +Ich sah, wie Katjä totenblaß wurde – da trat ich schnell einen Schritt +vor und sagte mit fester Stimme: + +„Ich habe Falstaff heraufgelassen ... Aus Versehen,“ fügte ich hinzu, +denn mein ganzer Mut sank zusammen vor dem drohenden Blick der Fürstin. + +„Madame Léotard, bestrafen Sie sie. Aber ich wünsche, daß Sie mit dieser +Strafe ein Exempel statuieren!“ sagte die Fürstin und verließ das +Zimmer. + +Ich sah Katjä an: sie stand wie getroffen, wie betäubt, ihre Arme hingen +schlaff herab, ihr erbleichtes Gesichtchen sah zu Boden. + +Die einzige Strafe, die man in der Erziehung der Kinder des Fürsten +anwandte, war, daß man sie in einem leeren Zimmer einschloß. In einem +leeren Zimmer zwei Stunden allein zu sein – das ist wohl weiter nicht +schlimm. Wenn aber das Kind mit Gewalt, gegen seinen Willen, +eingeschlossen wird und man ihm erklärt, daß ihm die Freiheit genommen +ist, so ist die Strafe gar nicht so unbedeutend. Gewöhnlich wurde Katjä +oder ihr Bruder auf zwei Stunden eingesperrt. Mich sperrte man, in +Anbetracht der ganzen Ungeheuerlichkeit meines Vergehens, auf vier +Stunden ein. Ich verging fast vor Freude, als ich in mein Gefängnis +trat. Ich dachte an Katjä. Ich wußte, daß ich gesiegt hatte. Doch +anstatt der vier Stunden saß ich dort bis vier Uhr morgens. Und das +geschah auf folgende Weise. + +Zwei Stunden nach meiner Einkerkerung erhielt Madame Léotard die +Nachricht, daß ihre Tochter aus Moskau eingetroffen und erkrankt sei und +sie zu sprechen wünsche. Sie fuhr sogleich hin und natürlich vergaß sie +mich darüber ganz und gar. Das Mädchen, welches nach uns zu sehen hatte, +nahm an, ich sei von Madame Léotard schon vor ihrer Abfahrt aus der Haft +entlassen worden. Katjä wurde bald darauf nach unten zur Mutter gerufen +und mußte dort bis elf Uhr abends sitzen. Als sie nach oben +zurückkehrte, war sie sehr erstaunt, mich nicht in meinem Bett zu sehen. +Nastjä half ihr beim Auskleiden, doch die Prinzeß hatte ihre Gründe, +weshalb sie sie nicht nach mir fragte. Sie legte sich hin und wartete +auf mich, denn obschon sie wußte, daß ich nur auf vier Stunden +eingesperrt war, dachte sie doch, das Kindermädchen werde mich sogleich +bringen. Nastjä aber hatte mich ganz vergessen, um so mehr, als ich mich +immer allein auskleidete. So kam es, daß ich in meinem Gefängnis +nächtigen mußte. + +Es war gegen vier Uhr morgens, als mich plötzlich Lärm und Gepolter +aufweckten. Ich hatte mich auf die Diele gelegt und war eingeschlafen. +Im ersten Augenblick schrie ich auf vor Angst, doch dann unterschied ich +Katjäs Stimme, die von allen anderen am lautesten ertönte, darauf die +Stimmen von Madame Léotard, Nastjä und der Beschließerin. Endlich wurde +die Tür aufgemacht und Madame Léotard umarmte und drückte mich unter +Tränen an ihr Herz, und bat mich, ihr zu verzeihen, daß sie mich +vergessen hatte. Ich schlang meine Arme um ihren Hals und zerfloß in +Tränen. Dabei zitterte ich vor Kälte und alle Knochen taten mir weh von +der harten Diele. Ich suchte mit den Augen Katjä, sie lief aber schon in +unser Schlafzimmer zurück, und als ich hinkam, lag sie schon im Bett und +schlief oder stellte sich schlafend. Am Abend hatte sie anfangs +allerdings auf mich gewartet, war aber dann unwillkürlich und +unversehens eingeschlummert und hatte bis vier Uhr morgens geschlafen. +Nach ihrem plötzlichen Erwachen hatte sie dann alle aus den Federn +gebracht, zunächst die zurückgekehrte Madame Léotard, darauf Nastjä, +alle weiblichen Dienstboten – und zusammen mit diesen befreite sie mich. + +Am nächsten Morgen wußte schon das ganze Haus von meinem Abenteuer. +Sogar die Fürstin soll gesagt haben, man sei gar zu streng mit mir +verfahren. Den Fürsten aber sah ich damals zum erstenmal wirklich +aufgebracht. Er kam in sichtlich großer Erregung gegen zehn Uhr zu uns +nach oben. + +„Ich bitte Sie, Madame,“ wandte er sich an die Französin, „was soll denn +das für eine Methode sein? Wie sind Sie mit dem armen Kinde umgegangen? +Das ist ja barbarisch, wahrhaft barbarisch! einfach skythisch! Ein +armes, schwächliches Kind, und noch dazu solch ein verträumtes, +eingeschüchtertes, kleines Mädchen – und das sperren Sie in ein dunkles +Zimmer für die ganze Nacht ein! Das heißt doch das Kind geradezu dem +Verderben ausliefern! Wissen Sie denn nicht, was sie in ihrem jungen +Leben schon erlebt hat? Nein, das war von Ihnen einfach unmenschlich, +ich versichere Sie, Madame! Und wie ist eine solche Strafe überhaupt +möglich? Wer hat sich nur so etwas ausdenken können?“ + +Die arme Madame Léotard begann unter Tränen und in großer Verwirrung den +Sachverhalt zu erklären. Sie sagte, daß ihre Tochter angekommen sei, und +darüber habe sie mich vergessen, die Strafe an sich sei gut, wenn sie +nicht zu lange dauere, und sogar Jean Jacques Rousseau sage etwas +Ähnliches. + +„Jean Jacques Rousseau, Madame! Was geht mich Jean Jacques an! Der ist +keine Autorität. Und übrigens hat Rousseau kein Recht, von Erziehung zu +sprechen, denn er hat sich von seinen eigenen Kindern losgesagt, Madame! +Jean Jacques Rousseau war ein unsittlicher Mensch, Madame!“ + +„Jean Jacques Rousseau! Jean Jacques ein unsittlicher Mensch! ^Prince! +Prince!^ Was sagen Sie!“ + +Und Madame Léotard wurde rot vor Entsetzen. + +Sie war im Grunde eine prächtige Frau und nahm nicht gern etwas übel; +wenn man sich aber unterfing, an ihren Lieblingen etwas auszusetzen, +etwa den klassischen Schatten eines Corneille oder Racine im Jenseits zu +beunruhigen, oder Voltaire zu beleidigen oder Jean Jacques Rousseau +einen unsittlichen Menschen zu nennen – oh Gott! Tränen entstürzten den +Augen der guten alten Dame und sie bebte vor Erregung. + +„Sie vergessen sich, ^mon prince^!“ rief sie außer sich, mit vor +Aufregung unsicherer Stimme. + +Der Fürst besann sich denn auch sofort und entschuldigte sich, dann trat +er zu mir, küßte mich mit tiefem Gefühl, bekreuzte mich und verließ uns. + +„^Pauvre prince!^“ seufzte Madame Léotard, die nun ihrerseits weich +wurde. Darauf setzten wir uns an den Lerntisch und der Unterricht +begann. + +Die Prinzeß war aber sehr zerstreut. Bevor wir hernach zum Essen nach +unten gingen, kam sie auf mich zu, mit glühendem Gesichtchen, doch +lachenden Lippen, blieb vor mir stehen, faßte mich an den Schultern und +sagte schnell, als schäme sie sich Gott weiß aus welchem Grunde: + +„Was? Hast du gestern lang genug für mich gesessen? Nach dem Essen +wollen wir heute in den Saal gehen und spielen.“ + +Jemand kam und die Prinzeß wandte sich blitzschnell von mir fort. + +Nach dem Essen, in der Dämmerung, gingen wir beide Hand in Hand in den +großen Saal. Die Prinzeß war sehr aufgeregt und atmete schwer. Ich +dagegen war froh und glücklich wie nie zuvor. + +„Willst du Ball spielen?“ fragte sie mich. „Stell’ dich hierhin!“ + +Sie stellte mich in die eine Saalecke, doch anstatt nun von mir +fortzugehen und den Ball mir zuzuwerfen, blieb sie drei Schritte vor mir +stehen, sah mich an, errötete, schlug die Hände vors Gesicht und warf +sich aufs Sofa. Ich machte eine Bewegung zu ihr hin – sie dachte aber, +ich wolle fortgehen. + +„Geh nicht fort, Njetotschka, bleib bei mir,“ sagte sie schnell, „das +wird gleich vergehen.“ + +Da sprang sie auch schon auf, und über und über erglühend, mit Tränen in +den Augen, warf sie sich an meine Brust. Ihre Wangen waren feucht, ihre +Lippen wie Kirschen so rot – und die Locken in wirrem Durcheinander. Sie +küßte mich wie von Sinnen, küßte mein Gesicht, meine Augen, Lippen, den +Hals, die Hände, und dabei weinte sie, wie in einem Nervenanfall; ich +schmiegte mich fest an sie und wir umarmten uns süß und selig, wie zwei +gute Freunde oder – wie ein Liebespaar, das sich nach langer, langer +Trennung wiedersieht. Katjäs Herz pochte so stark, daß ich jeden Schlag +spürte. + +Im Nebenzimmer ertönte eine Stimme: Katjä wurde zur Fürstin gerufen. + +„Ach Njetotschka! Nu! Auf Wiedersehen – bis zum Abend! bis zur Nacht! +Geh jetzt nach oben und wart’ auf mich!“ + +Sie küßte mich noch ein letztes Mal leise, unhörbar, fest, und dann +eilte sie dem Ruf nach. Ich lief nach oben, sinnlos, trunken, wie +erlöst, warf mich auf den Diwan, preßte das Gesicht ins Kissen und +weinte vor Entzücken. Mein Herz schlug so heftig, als wolle es die Brust +sprengen. Ich weiß nicht, wie die Stunden bis zum Abend vergingen. +Endlich schlug es elf und ich ging zu Bett. Die Prinzeß kehrte erst um +zwölf zurück; sie lächelte mir von ferne zu, sagte aber kein Wort. +Nastjä entkleidete sie und schien es wie absichtlich langsam zu tun. + +„Schneller, schneller, Nastjä!“ drängte Katjä. + +„Was ist denn das, Prinzeßchen, sind wohl die Treppe heraufgelaufen, daß +das Herzchen so schlägt?“ fragte Nastjä. + +„Ach, mein Gott, Nastjä! Wie kann man so langweilig sein! Schneller, +schneller doch!“ Und Prinzeßchen stampfte geärgert mit dem Fuß auf. + +„Ach, was für’n Herzchen!“ sagte Nastjä und küßte das Füßchen der +Prinzeß, von dem sie gerade den Strumpf abzog. + +Endlich war alles beendet, die Prinzeß lag im Bett und Nastjä verließ +uns. Im Nu sprang Katjä aus dem Bett und eilte zu mir. Ich empfing sie +mit einem Freudenschrei. + +„Komm zu mir, komm in mein Bett!“ sagte sie schnell und selbst schon im +Begriff, mich aus dem Bett zu heben. Einen Augenblick später lagen wir +beide in ihrem Bett, umschlangen uns fest und schmiegten uns aneinander. +Die Prinzeß erstickte mich fast mit ihren Küssen. + +„Ich weiß doch, wie du mich geküßt hast, wenn du glaubtest ich +schliefe!“ flüsterte sie, über und über errötend. + +Ich weinte. + +„Njetotschka!“ flüsterte Katjä unter Tränen, „du mein Engel, ich hab’ +dich doch schon so lange, so lange schon lieb! Weißt du, seit wann?“ + +„Nein, seit wann?“ + +„Als Papa mir befahl, dich um Verzeihung zu bitten, nachdem du deinen +Papa verteidigt hattest, Njetotschka ... Du mein Wai–sen–kindchen!“ +sagte sie gedehnt und wieder bedeckte sie mich mit Küssen. Sie weinte +und lachte zugleich. + +„Ach, Katjä!“ + +„Nu was? – nu – was?“ + +„Warum hast du so lange ... so lange ...“ ich sprach nicht zu Ende. Wir +hielten uns krampfhaft umschlungen und sprachen wohl drei Minuten lang +kein Wort. + +„Hör’ mal, was hast du denn alles von mir gedacht?“ fragte die Prinzeß. + +„Ach, ich hab’ so vieles gedacht, Katjä! Ich habe nur an dich gedacht, +Tag und Nacht.“ + +„Und in der Nacht von mir gesprochen, das habe ich gehört.“ + +„Wirklich?“ + +„Und sogar geweint!“ + +„Siehst du! – warum warst du denn so stolz?“ + +„Ich war doch dumm, Njetotschka! Das kommt so zuweilen über mich und +dann bin ich machtlos. Ich war die ganze Zeit böse auf dich.“ + +„Weshalb?“ + +„Weil ich selber schlecht war. Anfangs deshalb, weil du besser warst als +ich. Dann deshalb, weil Papa dich mehr liebte! Papa aber ist ein guter +Mensch, Njetotschka. Nicht wahr?“ + +„Ach ja, das ist er!“ rief ich ganz begeistert. + +„Ja, ein guter Mensch,“ wiederholte Katjä ernsthaft. „Aber was soll ich +mit ihm anfangen? Er ist immer so ... Nun, und dann bat ich dich um +Verzeihung und begann dabei fast zu weinen, und darüber ärgerte ich mich +wieder.“ + +„Das sah ich, das sah ich, daß du dem Weinen nahe warst.“ + +„Schweig, Dummchen, weinst selbst jeden Augenblick!“ rief Katjä und +hielt mir den Mund zu. „Weißt du, ich wollte dich furchtbar lieben, dann +aber wollte ich dich plötzlich wieder so hassen und ich haßte dich, +haßte dich so!“ ... + +„Weswegen denn?“ + +„Ja so – ich war bös auf dich. Ich weiß nicht, weshalb! Dann aber sah +ich, daß du ohne mich nicht mehr leben konntest, und da dacht’ ich: +wart’, ich werde sie doch noch quälen, die Schändliche!“ + +„Ach, Katjä!“ + +„Mein Seelchen!“ rief sie, meine Hand küssend, „und dann, weißt du, +wollte ich mit dir nicht mehr sprechen, ich wollte nicht, für keinen +Preis! Und weißt du noch, wie ich Falstaff streichelte?“ + +„Ach du, du Unerschrockene!“ + +„Aber wie ich mich _fürchtete_!“ sagte sie und schüttelte sich. „Doch +weißt du auch, warum ich zu ihm ging?“ + +„Warum?“ + +„Ja, weil du zuschautest. Als ich sah, daß du mich ansahst ... Ach! – da +war mir alles andere gleich – ich ging! Hab’ ich dich erschreckt, was? +Fürchtetest du dich für mich?“ + +„Entsetzlich!“ + +„Ich weiß. Aber wie ich dann froh war, daß Falstaff abtrollte! Mein +Gott, und wie mich dann plötzlich die Angst packte, als er aus dem +Zimmer war! Solch ein Scheu–sal!“ + +Und die Prinzeß schüttelte sich wieder und lachte nervös, indes ein +Gruseln sie faßte. Plötzlich erhob sie ihr heißes Köpfchen und sah mich +lange aufmerksam an. Zwei Tränchen glänzten noch wie Diamanten an ihren +langen Wimpern. + +„Nu, was ist denn eigentlich an dir, daß ich dich so liebgewonnen habe? +Du! – bleich bist du, die Haare blond, selbst solch ein Dummchen, das +immer gleich weint, die Augen blau ... Du mein Wai–sen–kindchen!“ + +Und Katjä umfing mich wieder, um mich von neuem mit Küssen zu bedecken. +Einige ihrer Tränen fielen auf meine Wangen. Sie war tief gerührt. + +„Und wie ich dich doch liebte! – aber immer dachte ich: nein und nein, +ich sag’s ihr doch nicht! Ich war ja so eigensinnig! Was fürchtete ich +denn eigentlich, weshalb schämte ich mich vor dir? Sieh doch, wie gut +wir es jetzt haben!“ + +„Katjä! Es schmerzt mich so!“ sagte ich außer mir vor Freude. „Es bricht +mir das Herz entzwei!“ + +„Ja, Njetotschka! Hör’ weiter ... Ja aber, wart’, sag’ zuerst, wer hat +dir den Namen Njetotschka gegeben?“ + +„Mama!“ + +„Wirst du mir von deiner Mama erzählen?“ + +„Alles, alles!“ versprach ich begeistert. + +„Aber wohin hast du meine zwei Taschentücher gesteckt, die mit den +Spitzen? Und mein Haarband, warum hast du das versteckt? Ach du, schämst +du dich nicht! Ich weiß doch alles!“ + +Ich lachte und errötete tief. + +„Nein, da dachte ich doch: wart’, da werd’ ich sie noch ein bißchen +quälen, mag sie warten. Manchmal aber dachte ich wieder: aber ich lieb’ +sie ja gar nicht, ich kann sie nicht ausstehen! Du aber warst immer so +still, wie so ein frommes Lämmchen! Und wie ich fürchtete, daß du mich +für dumm halten könntest! Du bist klug, Njetotschka, du bist doch sehr +klug, nicht?“ + +„Ach, pfui Katjä, was fällt dir ein!“ rief ich fast beleidigt. + +„Nein, du bist klug,“ sagte Katjä in bestimmtem und ernstem Ton, „das +weiß ich. Nur, weißt du, eines Morgens stand ich auf und hatte dich +plötzlich so lieb, ganz furchtbar lieb! Die ganze Nacht hatte mir nur +von dir geträumt. Da dachte ich: ich werde zu Mama übersiedeln und ganz +dort wohnen. Ich will sie nicht lieben, ich will nicht! Als ich aber +dann am Abend unten bei Mama einschlief, da dachte ich: wenn sie jetzt +käme, wie in der vorigen Nacht – doch du kamst nicht. Und wieviel Mühe +es mich da kostete, zu tun als schlafe ich ganz ruhig! Ach, wie dumm wir +waren, Njetotschka!“ + +„Aber warum wolltest du mich denn nicht lieben?“ + +„So ... Ach, was sage ich! – ich hab’ dich doch die ganze Zeit geliebt! +Immer hab’ ich dich geliebt. Erst später kam das – daß ich dich nicht +ausstehen konnte. Ich dachte, ach, ich werde sie einmal totküssen oder +totkneifen! Da hast du’s nun, du Dummchen!“ + +Und sie kniff mich. + +„Aber erinnerst du dich noch, wie ich dir deine Schuhschleife band?“ + +„O ja!“ + +„O ja! – war’s dir angenehm? Weißt du, ich sah dich an: wie lieb sie +doch ist, dachte ich, halt, ich werd’ ihr die Schleife binden – was sie +dann wohl denken wird? Und da hatte ich gleich selbst solch ein gutes +Gefühl. Und wirklich, ich wollte dich auf der Stelle abküssen ... Aber +ich küßte dich doch nicht. Dann aber fand ich das alles so komisch, so +schrecklich komisch! Und auf dem ganzen Wege, während unseres +Spazierganges, glaubte ich, jetzt, im nächsten Augenblick nicht mehr an +mich halten zu können und laut auflachen zu müssen. Ich konnte dich +nicht ansehen, so komisch war’s. Und wie froh ich doch war, daß du für +mich ins Gefängnis gingst!“ – Das leere Zimmer wurde „das Gefängnis“ +genannt. – „Und hattest du Angst?“ + +„Ach, fürchterlich!“ + +„Ja, und weißt du, ich freute mich nicht nur darüber, daß du vor Mama +meine Schuld auf dich genommen hattest, sondern noch viel mehr darüber, +daß du für mich im Gefängnis sitzen mußtest! Ich dachte: jetzt sitzt sie +da und weint, ich aber – wie habe ich sie lieb! Morgen werde ich sie so +küssen, so küssen! Und du tatest mir doch kein bißchen leid, bei Gott, +du tatest mir gar nicht leid, obschon ich auch etwas weinte.“ + +„Ich aber, siehst du, habe nicht geweint, ich war dir zum Trotz gerade +sehr froh!“ + +„Hast nicht geweint? Ach, du Böse!“ rief die Prinzeß und saugte sich an +mir fest mit ihren weichen Lippen. + +„Katjä, Katjä! Mein Gott, wie bist du reizend!“ + +„Nicht wahr? Aber jetzt mach’ mit mir, was du willst! Schlag mich, kneif +mich! Bitte, kneif mich! Täubchen, ach, nu, so kneif mich doch!“ + +„Wildfang!“ + +„Nu, und was noch?“ + +„Dummchen ...“ + +„Und was noch?“ + +„Küss’ mich!“ + +Und wir küßten uns, weinten, lachten, unsere Lippen waren schon +geschwollen vom Küssen. + +„Njetotschka! Erstens, höre: du wirst jetzt immer zu mir schlafen +kommen. Küßt du gern? Dann werden wir uns auch küssen. Und dann: ich +will nicht, daß du so langweilig bist. Warum langweiltest du dich? Wirst +du mir das erzählen, ja?“ + +„Alles werde ich dir erzählen. Aber jetzt bin ich nicht mehr traurig, +sondern lustig!“ + +„Nein, wart’ nur, bald wirst du auch so rote Wangen haben wie ich! Ach, +wenn doch der Morgen schneller käme! Willst du schon schlafen, +Njetotschka?“ + +„Nein.“ + +„Nu, dann, laß uns erzählen!“ + +Und wir sprachen wohl gute zwei Stunden. Gott weiß was wir da alles +zusammenphantasierten. Zuerst entrollte Katjä alle ihre Zukunftspläne +und teilte mir mit, daß sie ihren Papa am meisten von allen liebte, fast +sogar mehr als mich. Dann kamen wir überein, daß Madame Léotard eine +gute Frau und gar nicht streng war. Dann setzten wir sogleich fest, was +wir am nächsten und übernächsten Tage tun würden, und überhaupt +bestimmten wir unser Leben etwa schon für zwanzig Jahre im voraus. Für +die allernächste Zukunft entwarf Katjä folgenden Plan: an einem Tage +würde sie mir befehlen und ich alles ausführen, und am nächsten Tage +umgekehrt, dann würde ich befehlen und sie widerspruchslos gehorchen; +und dann würden wir beides zugleich tun, also uns gegenseitig Befehle +erteilen; und dann würden wir es einmal absichtlich so machen, daß wir +in Streit gerieten, nur so zum Schein, und dann uns schnell wieder +versöhnen. Mit einem Wort, uns erwartete schier unendliches Glück. +Schließlich wurden wir aber doch müde. Meine Augen fielen mir schon zu. +Katjä lachte mich aus, nannte mich eine Schlafmütze und – schlief selbst +noch vor mir ein. + +Am nächsten Morgen erwachten wir beide zugleich, küßten uns schnell, +denn wir hörten Schritte, und ich konnte gerade noch rechtzeitig in mein +Bett schlüpfen, bevor Nastjä ins Zimmer trat. + +Den ganzen Tag wußten wir nicht, was wir miteinander anfangen sollten +vor Freude. Wir liefen aus einem Zimmer ins andere und versteckten uns +fast die ganze Zeit vor den anderen, denn fremde Augen fürchteten wir am +meisten. Zu guter Letzt begann ich ihr meine Lebensgeschichte zu +erzählen. Katjä war geradezu erschüttert. + +„Du, du Böse! Warum hast du mir das alles nicht früher erzählt? Ich +hätte dich dann gleich so lieb gehabt, so lieb! Doch sag’: haben dich +die Jungen auf der Straße schmerzhaft geschlagen?“ + +„O ja. Und ich hatte schreckliche Angst vor ihnen!“ + +„Pfui, die schändlichen! Weißt du, Njetotschka, ich habe selbst einmal +gesehen, wie ein Knabe einen anderen auf der Straße schlug. Weißt du, +morgen werde ich heimlich Falstaffkas Hundepeitsche mitnehmen und wenn +mir noch solch einer begegnet, dann werde ich ihn so hauen, so hauen!“ + +Ihre Augen blitzten vor Zorn. + +Wir erschraken, wenn jemand ins Zimmer trat; wir fürchteten, beim Küssen +überrascht zu werden, denn wir küßten uns an jenem Tage wenigstens +hundertmal. So vergingen der erste und der zweite Tag. Ich fürchtete +schon, zu sterben vor Entzücken. Das Glücksgefühl war so mächtig, daß es +mir den Atem raubte. Doch unser Glück sollte nicht von langer Dauer +sein. + +Madame Léotard, die Katjä auf Wunsch der besorgten Fürstin nicht aus den +Augen lassen sollte, beobachtete uns drei Tage mit wachsender +Verwunderung und in dieser Zeit bemerkte sie manches, was ihr zu denken +gab. Am dritten Tage ging sie zur Fürstin und berichtete gewissenhaft, +was ihr an uns aufgefallen war: daß wir beide wie außer Rand und Band +seien, schon drei Tage uns nicht voneinander trennten – uns jeden +Augenblick küßten, weinten, lachten und unaufhörlich plauderten, was sie +früher nie bemerkt habe: sie wisse gar nicht, welchem Einfluß das +zuzuschreiben sei; aber es wolle ihr scheinen, daß die Prinzeß sich in +einem krankhaften Zustande befinde, und deshalb meine sie, es wäre +vielleicht besser, wir kämen seltener zusammen. + +„Das habe ich schon längst gedacht,“ versetzte die Fürstin. „Ich ahnte +es, daß man von dieser sonderbaren Waise nur Scherereien haben werde! +Was man mir von ihr erzählt hat, von ihrem früheren Leben, – ist +geradezu haarsträubend, ist einfach entsetzlich! Sie hat augenscheinlich +Einfluß auf Katjä. Sie sagen, Katjä liebe sie sehr?“ + +„Ich glaube, sogar unsinnig!“ + +Die Fürstin errötete vor Ärger. Sie war schon damals eifersüchtig auf +die Liebe ihrer Tochter zu mir. + +„Das ist mir doch zu unnatürlich,“ sagte sie. „Früher waren sie einander +so fremd, und ich muß gestehen, das freute mich. So klein dieses Mädchen +auch noch ist, aber ich bin vor nichts sicher. Sie verstehen mich? Sie +hat schon mit der Muttermilch alles das eingesogen, ihre Angewohnheiten +oder vielleicht sogar ihre Neigungen. Ich begreife nicht, was der Fürst +an ihr gefunden hat! Tausendmal habe ich ihm schon den Vorschlag +gemacht, sie in einer Pension unterzubringen.“ + +Madame Léotard versuchte nun, mich zu verteidigen, aber die Fürstin +hatte ihren Entschluß bereits gefaßt. Katjä wurde nach unten gerufen und +dort sagte man ihr, daß sie mich nicht vor dem nächsten Sonntag +wiedersehen dürfe, also erst nach einer ganzen Woche. + +Ich erfuhr das erst am späten Abend und Entsetzen erfaßte mich. Ich +dachte an Katjä und fürchtete, sie werde unsere Trennung nicht +überleben. Ich geriet außer mir und meine Verzweiflung war so groß, daß +ich in der Nacht krank wurde. Am nächsten Morgen kam der Fürst zu mir +und sagte mir leise, als wir allein blieben, ich solle ruhig auf ein +baldiges Wiedersehen hoffen. Leider waren aber seine Bemühungen +vergeblich, denn die Fürstin blieb bei ihrem Entschluß. Meine +Verzweiflung dagegen wuchs mit jeder Stunde und der Schmerz würgte mich, +daß ich an ihm zu ersticken glaubte. + +Am dritten Morgen brachte mir Nastjä einen Zettel von Katjä. Sie schrieb +mir mit dem Bleistift auf einem abgerissenen Stück Papier in +fürchterlichen Krähenfüßen folgendes: + +„Ich liebe dich unsinnig. Ich sitze bei ^maman^ und denke nur darüber +nach, wie ich fortlaufen könnte. Ich werde unbedingt fortlaufen, das +schwöre ich dir, und deshalb weine nicht. Schreib’ mir, wie du mich +liebst. Ich aber umarme dich die ganze Nacht im Schlaf, und habe +furchtbar gelitten, Njetotschka. Ich schicke dir Konfekt. Adieu.“ + +Ich antwortete auf demselben Wege. Den ganzen Tag las ich immer wieder +Katjäs Brief und weinte. Madame Léotard quälte mich mit ihrer +Zärtlichkeit. Am Abend erfuhr ich, daß sie zum Fürsten gegangen war und +gesagt hatte, daß ich sicherlich zum drittenmal krank werden würde, wenn +ich Katjä nicht wiedersähe, und daß sie es bereue, die Fürstin +beunruhigt zu haben. Ich fragte Nastjä, was Katjä mache. Sie sagte, +Katjä weine nicht, sei aber sehr bleich. + +Am nächsten Morgen flüsterte Nastjä mir zu: + +„Gehen Sie ins Kabinett des Fürsten. Aber gehen Sie über die Treppe, die +rechts nach unten führt.“ + +Alles in mir wurde lebendig in froher Vorahnung. Atemlos vor Erwartung +lief ich nach unten und klinkte die Tür auf zum Kabinett. Es war niemand +da. Plötzlich wurde ich hinterrücks krampfhaft umschlungen und Katjä +küßte mich leidenschaftlich. Lachen, Tränen ... Im Nu riß sie sich aus +meinen Armen, lief zum Vater, kletterte wie eine Eichkatze an ihm empor +bis auf seine Schulter, konnte sich aber dort nicht halten und sprang +auf den Diwan. Das brachte auch den Fürsten so aus dem Gleichgewicht, +daß er sich setzen mußte. Katjä lachte unter Tränen. + +„Papa, was bist du für ein guter Papa!“ + +„Wildfang! Ihr seid mir beide gut! Was ist denn mit euch geschehen? +Woher diese Freundschaft? Woher diese Liebe?“ + +„Ach, frag’ nicht, Papa, davon verstehst du nichts!“ + +Und wir hielten uns wieder fest umschlungen. + +Ich betrachtete sie bang: sie hatte abgenommen in den drei Tagen. Die +frische Farbe ihres Gesichtchens war einer zarten Blässe gewichen. Da +mußte ich weinen vor Leid. + +Nastjä klopfte an die Tür – ein Zeichen, daß Katjäs Abwesenheit der +Fürstin aufgefallen war. Katjä wurde leichenblaß. + +„Laßt es jetzt genug sein, Kinder. Wir werden hier jeden Tag +zusammenkommen. Nehmt jetzt Abschied für heute und Gott mit euch!“ sagte +der Fürst. + +Er war sichtlich gerührt, da er unseren Schmerz sah; doch es sollte +anders kommen. Am Abend desselben Tages kam aus Moskau die Nachricht, +daß der kleine Ssascha schwer erkrankt sei und fast schon in den letzten +Zügen liege. Die Fürstin beschloß sofort, am nächsten Morgen die Reise +anzutreten. Das geschah alles so schnell, daß ich es erst eine Minute +vor ihrer Abfahrt erfuhr. Daß wir uns überhaupt noch verabschieden +konnten, Katjä und ich, hatten wir nur dem Fürsten zu danken, denn die +Fürstin hatte davon nichts wissen wollen. Die Prinzeß war wie +zerschlagen. Ich lief wie von Sinnen nach unten und warf mich an ihre +Brust. Der Reisewagen wartete schon vor dem Portal. Katjä sah mich an +und plötzlich wurde sie ohnmächtig. Ich bedeckte sie mit Küssen. Die +Fürstin bemühte sich erschrocken um sie und gab ihr Essenzen zu riechen. +Endlich schlug sie die Augen auf und ihre erste Bewegung war, daß sie +mich wieder umarmte. + +„Leb’ wohl, Njetotschka!“ sagte sie plötzlich und sie versuchte zu +lächeln, aber es sprach nur eine unsagbare Rührung aus ihrem +Gesichtchen. „Du, sieh nicht auf mich; das ist nur so; ich bin nicht +krank, nach einem Monat komme ich wieder. Dann werden wir uns nie mehr +trennen.“ + +„Genug, Katjä,“ sagte die Fürstin ruhig, „fahren wir!“ + +Aber die Prinzeß kehrte noch einmal zurück. Noch einmal umfing sie mich +krampfhaft. + +„Mein Leben!“ konnte sie mir noch zuflüstern, „auf Wiedersehen!“ + +Wir küßten uns zum letztenmal und die Prinzeß verließ mich – für lange, +sogar für sehr lange Zeit. Es vergingen acht Jahre, bis wir uns +wiedersahen! + + * * * * * + +Ich habe von dieser Episode meiner Kindheit mit Absicht so ausführlich +erzählt. Unsere Lebensgeschichten sind eben untrennbar verbunden. Ihr +Roman – ist auch mein Roman. Es war mir wie vom Schicksal bestimmt, sie +kennen zu lernen, und ebenso ihr, mich zu finden. Und überdies konnte +ich der Lust nicht widerstehen, mich nochmals in meine Kindheit zu +versetzen ... Jetzt wird meine Erzählung schneller fortschreiten. Mein +Dasein sank damals wie in eine große Stille und erst als ich mein +sechzehntes Jahr bereits vollendet hatte, war es mir, als erwachte ich +wieder zu einem wirklichen Leben ... + +Doch zuvor muß ich noch ein paar Worte über die erste Zeit nach der +Abfahrt der fürstlichen Familie sagen. + +Ich blieb mit Madame Léotard zurück. + +So vergingen zwei Wochen. Dann traf aus Moskau ein Abgesandter des +Fürsten ein und brachte die Nachricht, daß die Rückkehr nach Petersburg +auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben worden sei. Da nun Madame Léotard +aus Gründen, die ihre eigene Familie angingen, nicht nach Moskau +übersiedeln konnte, so hatte sie im Hause des Fürsten nichts mehr zu +tun. Sie blieb aber in derselben Familie, indem sie zur ältesten Tochter +der Fürstin übersiedelte. + +Ich bin bisher noch nicht auf Alexandra Michailowna zu sprechen gekommen +– wohl deshalb, weil ich sie bis dahin nur ein einziges Mal gesehen +hatte. Sie war die Tochter der Fürstin aus deren erster Ehe. Die +Herkunft und Verwandtschaft der Fürstin waren etwas dunkel. Ihr erster +Mann war ein Gutspächter gewesen. Als sie dann zum zweitenmal geheiratet +hatte, wußte sie nicht, was sie mit ihrer ältesten Tochter anfangen +sollte. Auf eine glänzende Partie konnte sie nicht hoffen. Die Mitgift +war mäßig; aber schließlich, vier Jahre vor meiner Aufnahme, hatte man +für sie dennoch einen reichen Mann, der schon einen bedeutenden Posten +bekleidete, gefunden. Alexandra Michailowna kam in neue +Gesellschaftskreise und sah um sich eine andere Welt. Die Fürstin +besuchte ihre Tochter im ganzen nur zweimal im Jahre. Der Fürst, ihr +Stiefvater, besuchte sie dagegen in jeder Woche und nahm dann auch Katjä +mit. In der letzten Zeit sah die Fürstin es sehr ungern, daß Katjä zur +Schwester ging; da brachte der Fürst sie oft heimlich hin. Katjä +vergötterte die Schwester, obwohl sie ganz entgegengesetzte Charaktere +waren. + +Alexandra Michailowna war damals zweiundzwanzig Jahre alt, still, zart, +sehr liebreich. Ja es war, wie wenn ein heimlicher Kummer, ein +verborgener Schmerz ihre schönen Züge verklärte. Und dennoch hatte ich +die Empfindung, als paßten der Ernst und die Trauer nicht gut zu ihrem +schönen lieben Antlitz, ganz wie etwa einem Kinde Trauer nicht steht. +Man konnte sie nicht ansehen, ohne sogleich tiefe Sympathie für sie zu +empfinden. Sie war fast durchsichtig bleich und wie es hieß, zur +Schwindsucht geneigt. Sie lebte sehr zurückgezogen und liebte weder bei +sich viele Gäste zu empfangen, noch selbst Besuche zu machen. Ihr Leben +war das einer Einsiedlerin. Kinder hatte sie zunächst nicht. Ich weiß +noch, sie kam einmal zu uns gefahren, um mit Madame Léotard zu sprechen, +und sie trat damals zu mir und küßte mich mit tiefem Gefühl. Mit ihr war +ein hagerer, schon älterer Herr gekommen. Ihm traten die hellen Tränen +in die Augen, als er mich sah. Das war der Geigenvirtuose B. ... +Alexandra Michailowna legte den Arm um mich und fragte, ob ich bei ihr +leben und ihr Töchterchen sein wolle. Ich sah ihr ins Gesicht und +erkannte in ihr die Schwester meiner Katjä, und ich umarmte sie mit +einem dumpfen Schmerz im Herzen und empfand wieder, wie groß meine +Einsamkeit war ... Ganz, als hätte mir wieder jemand gesagt: „Du bist +eine Waise!“ Darauf gab mir Alexandra Michailowna einen Brief des +Fürsten, den ich mit unterdrücktem Schluchzen las. Der Fürst schrieb in +Liebe und Güte, Gottes Segen möge auf mir ruhen und ich möge in dem +langen Leben, das mir noch bevorstehe, glücklich sein. Zum Schluß bat er +mich noch, auch seine andere Tochter zu lieben. Katjä schrieb mir +gleichfalls einige Zeilen. Sie schrieb, daß sie sich nun gar nicht mehr +von der Mutter trenne. + +Bevor dieser Tag zu Ende ging, kam ich also wieder in ein anderes Haus, +zu anderen Menschen, nachdem ich mein Herz von neuem von allem hatte +losreißen müssen, was mir schon lieb und traut geworden war. Müde, wie +zerschlagen, betrat ich das neue Heim. Mein Herz blutete ... + +Und so beginnt in meiner Erzählung denn jetzt ein neuer Abschnitt meines +Lebens. + + + VI. + +Mein neues Leben verlief so still und ruhig, als hätte ich unter +Einsiedlern gelebt ... Ich brachte bei ihnen mehr als acht Jahre zu und +erinnere mich nicht, daß in dieser Zeit, abgesehen von einigen wenigen +pflichtschuldigen Diners, jemals eine größere Gesellschaft im Hause +gewesen wäre oder daß Verwandte, Freunde und Bekannte sich bei uns +zusammengefunden hätten. Mit Ausnahme von zwei oder drei Personen, die +hin und wieder einmal vorsprachen – z. B. der Künstler B., der ein guter +Freund des Fürsten H. und auch seiner Stieftochter Alexandra Michailowna +war, und die Herren, die fast ausschließlich in Amtsangelegenheiten zu +dem Gemahl Alexandra Michailownas kamen – kam so gut wie niemand zu uns. +Alexandra Michailownas Mann war beständig von seinem Dienst in Anspruch +genommen, und konnte sich nur selten für eine kurze Zeit freimachen, +die er dann gleichmäßig zwischen dem Familienleben und den +gesellschaftlichen Pflichten teilte. Hervorragende Verbindungen, die er +unmöglich vernachlässigen konnte, zwangen ihn ziemlich oft, die +Gesellschaft an sich zu erinnern. Fast überall hielt sich das Gerücht +von seinem schrankenlosen Ehrgeiz, doch da er sich gleichzeitig des +Rufes erfreute, ein tüchtiger, ernster Mensch zu sein, da er überdies, +wie bereits erwähnt, schon ein hohes Amt bekleidete, und Glück und +Erfolg ihn wie es schien von selbst aufsuchten, so war die Gesellschaft +weit davon entfernt, ihm ihre Sympathie zu entziehen. Ja, noch mehr als +das: man brachte ihm beständig und ganz allgemein eine gewisse besondere +Teilnahme entgegen, die man dagegen seiner Frau vollständig versagte. +Alexandra Michailowna lebte in völliger Einsamkeit: aber es war, als sei +ihr das nur angenehm, ja als freue sie sich sogar darüber. Ihr stiller +Charakter war gleichsam geschaffen für dieses stille Leben. + +An mir hing sie mit ganzer Seele, sie liebte mich wie ihr eigenes Kind, +und ich, deren Tränen ob der Trennung von Katjä noch nicht versiegt +waren, – ich, mit meinem wehen Herzen, ich warf mich wie erlöst in ihre +mütterlich zärtliche Umarmung. Und vom ersten Tage an hat meine glühende +Liebe zu ihr nie aufgehört, noch jemals etwas von ihrer Glut eingebüßt. +Sie war mir Mutter, Schwester, Freund, sie ersetzte mir alles und hegte +und pflegte meine Jugend. Hinzu kam, daß ich bald erriet und +herausfühlte, daß ihr Geschick durchaus nicht so glücklich war, wie man +es auf den ersten Blick wohl glauben konnte, wenn man nach ihrem stillen +und ruhigen äußeren Leben urteilte, nach ihrer scheinbaren Freiheit und +ihrem guten, stillen Lächeln, das so oft ihr liebes Gesicht verklärte. +Ich entdeckte vielmehr im Laufe meiner Entwicklung fast täglich etwas +Neues im Leben meiner Wohltäterin, etwas, das in langsamer Qual von +meinem Herzen erraten wurde, und mit dieser traurigen Erkenntnis wuchs +zugleich meine Liebe zu ihr und mit der Liebe meine Anhänglichkeit. + +Ihr Charakter war schüchtern und weich. Wenn man ihre reinen, klaren +Gesichtszüge sah, die förmlich Ruhe ausströmten, dann hätte man es auf +den ersten Blick nicht für möglich gehalten, daß irgendeine Unruhe in +ihrem reinen Herzen wohnen konnte. Es war undenkbar, daß sie auch nur +irgendeinen Menschen nicht hätte lieben können; das Mitleid siegte stets +in ihrem Herzen, selbst über Ekel und Abscheu – indes war sie aber nur +sehr wenigen Freunden zugetan und lebte auch innerlich in vollständiger +Einsamkeit ... Ihrer Natur nach war sie leidenschaftlich und empfänglich +für alle Eindrücke, gleichzeitig aber war’s, als sei ihr selbst bange +vor ihrer Empfänglichkeit und als bewache sie deshalb ihr Herz jeden +Augenblick, damit es sich nicht vergäße – und wär’s auch nur in Träumen. +Es fiel mir auf, daß ihr bisweilen in den lichtesten Stunden mit einem +Male Tränen in die Augen traten: als sei plötzlich eine Erinnerung in +ihrer Seele aufgetaucht, die Erinnerung an etwas, was ihr Gewissen +qualvoll peinigen mochte und ewig wie auf der Lauer lag, um im +Augenblick des Glücks plötzlich hervorzuspringen und das Glück feindlich +zu verscheuchen. Und je ruhiger, glücklicher, zufriedener sie war, um so +näher, schien es, war der Kummer, um so unfehlbarer erschienen plötzlich +die Tränen – wie ein Anfall, der über sie kam. Ich entsinne mich keines +einzigen vollkommen ruhigen Monats in den ganzen acht Jahren. Ihr Mann +liebte sie anscheinend sehr, und sie – sie vergötterte ihn. Aber schon +auf den ersten Blick schien es einem, als gäbe es etwas +Unausgesprochenes zwischen ihnen. Es mußte da irgendein Geheimnis walten +– ein Geheimnis in ihrer Vergangenheit – wenigstens geschah es, daß ich +schon vom ersten Tage an etwas Ähnliches vermutete ... + +Ihr Mann machte auf mich, als ich ihn zum erstenmal sah, den Eindruck +eines finsteren Menschen. Diesen ersten Eindruck empfing ich noch als +Kind und deshalb konnte ihn auch nichts verwischen. Äußerlich war er ein +hagerer Mensch von hohem Wuchs, und man hatte die Empfindung, als +verberge er mit Absicht seinen Blick hinter den großen, grünen Gläsern +seiner Brille. Er war trocken, nichts weniger als mitteilsam, und selbst +unter vier Augen im Verkehr mit seiner Frau fand er sozusagen niemals +ein rechtes Thema zur Unterhaltung. Offenbar war ihm die Gegenwart von +Menschen lästig. Mich beachtete er überhaupt nicht; dagegen fühlte ich +mich jedesmal, wenn wir abends im Salon Alexandra Michailownas zum Tee +zusammenkamen, während seiner Anwesenheit äußerst ungemütlich. Heimlich +beobachtete ich Alexandra Michailowna, und zu meinem Kummer bemerkte +ich, daß sie dann jedes ihrer Worte erwog und über jede Bewegung +nachdachte. Sie aber erbleichte, wenn sie sah, daß ihr Mann schroffer +oder unfreundlicher wurde; oder sie errötete auch wohl plötzlich, als +habe sie aus einem seiner Worte irgendeine Anspielung oder einen Vorwurf +herausgehört. Ich fühlte es, daß ihr das Zusammensein mit ihm schwer +fiel, und doch schien sie, wenigstens soweit sich das nach äußeren +Anzeichen beurteilen ließ, keinen Augenblick ohne ihn leben zu können. +Mir fiel besonders ihre ungeheure Aufmerksamkeit ihm gegenüber auf: kein +Wort, keine Bewegung wurde von ihr überhört oder übersehen. Es war, als +wolle sie nach allen Kräften es ihm recht machen und als fühle sie, daß +ihr das dennoch nicht gelang. Ja, es war fast, als erbettele sie von ihm +seinen Beifall: ein flüchtiges Lächeln, ein halbes freundliches Wort von +ihm – und sie war glücklich ... glücklich wie ein Mädchen in der ersten +Zeit einer noch schüchternen, noch hoffnungslosen Liebe. Sie ging mit +ihrem Manne um, so vorsichtig, wie mit einem Schwerkranken. Er aber sah +auf sie, wie mir schien, mit einem sie drückenden und quälenden Mitleid +herab. Sobald er mit einem Händedruck von ihr Abschied genommen und sich +wieder in sein Kabinett zurückgezogen hatte, war sie gleich wie +verwandelt. Ihre Bewegungen, ihre Unterhaltung, alles an ihr wurde +sofort viel freier, heiterer, sicherer. Nur eine gewisse Verwirrung war +an ihr noch lange nach jedem Wiedersehen mit ihm bemerkbar. Sie fing +dann gleich an, sich jedes von ihm gesprochene Wort ins Gedächtnis +zurückzurufen, wie um es nochmals zu prüfen. Oft wandte sie sich dann +auch an mich mit der Frage, ob sie sich nicht verhört habe: hatte Pjotr +Alexandrowitsch sich so oder so ausgedrückt? – und als suche sie noch +nach einem anderen Sinn in dem, was er gesagt! Erst nach etwa einer +Stunde wurde sie dann wieder sie selbst, als habe sie sich nun endlich +davon überzeugt, daß er mit ihr vollkommen zufrieden sei und daß sie +sich grundlos beunruhige. Dann wurde sie plötzlich froh und heiter und +gut, küßte mich, lachte mit mir oder setzte sich an den Flügel und +spielte, was ihr gerade einfiel. Oft spielte und improvisierte sie dann, +ohne es zu gewahren, wie zwei Stunden darüber verstrichen. Dann kam es +wohl auch vor, daß das Spiel plötzlich verstummte und ich sie weinen +sah. Sobald sie aber meine Aufregung bemerkte, versicherte sie mir +schnell und flüsternd – als fürchte sie, daß man uns hören könnte –, es +sei nichts, wirklich, es sei nichts, diese Tränen kämen nur so von +selbst, sie hätten nichts zu bedeuten, sie sei, im Gegenteil, sehr froh +und glücklich und ich solle mich nur nicht aufregen. War ihr Mann +abwesend, so geschah es oft, daß sie sich um ihn plötzlich beunruhigt +fühlte und sich nach ihm zu erkundigen begann: wohin er gefahren, warum, +wann, zu wann er die Pferde bestellt, ob er krank oder gesund, bei guter +oder schlechter Laune gewesen, was er gesagt usw., usw. Von seinen +Dienstangelegenheiten und seiner Arbeit mit ihm zu sprechen – das wagte +sie grundsätzlich nicht. Wenn er ihr einmal etwas riet oder sie um etwas +bat, dann hörte sie ihn ergeben an und schien sich in acht zu nehmen, +wie eine Sklavin vor ihrem Gebieter. Sie hatte es sehr gern, wenn er +irgend etwas von ihren Sachen lobte, etwa ein Buch, einen +Kunstgegenstand oder eine ihrer Handarbeiten. Sie war dann gleichsam +stolz darauf, und sah sofort glücklich aus. Ihr Glück aber kannte keine +Grenzen, wenn er einmal – es geschah freilich nur sehr selten und auch +dann fast wie aus Versehen – zu den beiden kleinen Kindern ein wenig +Zärtlichkeit äußerte. Ihr Gesicht verklärte sich dann geradezu, es +strahlte vor Glück, und in diesen Augenblicken gab sie sich in ihrem +Verhalten dem Mann gegenüber manchmal vielleicht etwas zu sehr ihrer +Freude hin. Z. B. trieb sie dann die Kühnheit bisweilen sogar so weit, +daß sie plötzlich selbst und unaufgefordert ihn bat – allerdings immer +noch zaghaft und mit schüchterner Stimme – irgendeine neue Komposition, +die ihr der Musikalienhändler zugesandt, anzuhören, oder seine Meinung +über ein Buch zu sagen, oder ihr gar zu erlauben, ihm ein bis zwei +Seiten daraus vorzulesen, wenn diese einen großen Eindruck auf sie +gemacht hatten. Gewöhnlich kam der Gatte gnädig allen ihren Wünschen +nach und lächelte, wie man über ein Kind nachsichtig lächelt, wenn man +ihm irgendein seltsames Spiel nicht verbieten will, um ihm nicht +vorzeitig seine Naivität zu rauben. Ich weiß nicht, weshalb mich dieses +Lächeln, diese hochmütige Nachsicht, diese Ungleichheit zwischen ihnen +immer so empörte! Ich schwieg aber, bezwang mich und beobachtete sie nur +aufmerksam mit kindlicher Neugier, jedoch mit frühreifen ernsten +Gedanken. Bisweilen bemerkte ich, daß ihm plötzlich etwas einzufallen +schien: es war, als besinne er sich, als erinnere er sich gegen seinen +Willen an etwas Schweres, Furchtbares, Unabwendbares, und im Nu +verschwand das nachsichtig herablassende Lächeln aus seinen Zügen und +seine Augen sahen plötzlich mit solchem Mitleid auf die Frau, daß es wie +eine Lähmung über sie kam und ich von diesem Mitleid förmlich +körperlichen Schmerz verspürte: hätte es mir gegolten – ich glaube, es +hätte mich zu Tode gequält. Im Augenblick verschwand dann auch alle +Freude aus dem Gesicht Alexandra Michailownas. Die Musik, wenn sie +gerade spielte, oder ihre Stimme, wenn sie gerade vorlas, brach ab. Sie +erbleichte, nahm sich krampfhaft zusammen und schwieg. Es folgte ein +peinliches, drückendes Schweigen, das bisweilen lange andauerte. Endlich +versuchte ihr Mann das Schweigen zu brechen. Er erhob sich, um wie mit +Gewalt den Ärger und die Erregung in sich niederzuzwingen, und nachdem +er ein paarmal in finsterem Schweigen durch das Zimmer geschritten war, +drückte er seiner Frau die Hand, atmete tief auf, preßte sichtlich +betreten ein paar abgerissene Worte hervor, die sie beruhigen sollten, +und verließ das Zimmer; Alexandra Michailowna aber brach in Tränen aus +und eine tiefe, qualvolle Traurigkeit kam über sie. Oft segnete und +bekreuzte er sie vor dem Fortgehen, wie ein Kind, abends beim Abschied, +und sie empfing den Segen mit Tränen der Dankbarkeit in stiller +Ehrfurcht. Aber es gab da ein paar Abende (nur zwei oder drei in den +ganzen acht Jahren), die ich nicht vergessen kann ... Dann war Alexandra +Michailowna plötzlich ganz verändert. In ihrem sonst so stillen Gesicht +spiegelten sich dann plötzlich anstatt der beständigen Unterwerfung und +Selbsterniedrigung vor dem Manne – Zorn und Empörung. Das Gewitter zog +langsam herauf. Der Mann wurde schweigsamer, schroffer und sein Gesicht +noch finsterer als sonst. Schließlich hielt es das wunde Herz der armen +Frau nicht mehr aus. Mit vor Aufregung stockender Stimme begann sie ein +Gespräch, anfangs in abgerissenen, unzusammenhängenden Sätzen voll von +Andeutungen und bitter verschwiegenen Worten; bis sie plötzlich, als +könne sie ihr Leid nicht mehr ertragen, in Tränen ausbrach – und dann +folgte ein Zornesausbruch mit Vorwürfen, Klagen und Verzweiflung wie in +einer schweren Krisis. Aber man hätte sehen müssen, mit welcher Geduld +ihr Mann das alles ertrug, mit welcher Teilnahme er sie zu beruhigen +suchte und wie er ihr die Hände küßte, bis schließlich auch ihm die +Tränen in die Augen traten: dann war’s als rufe ihr Gewissen ihr +plötzlich etwas zu und werfe ihr ein Verschulden vor. Die Tränen ihres +Mannes erschütterten sie und händeringend in neuer Verzweiflung warf sie +sich zu seinen Füßen nieder und flehte unter Schluchzen und Weinen um +seine Verzeihung, die er ihr denn auch sofort gewährte. Doch ihr +Gewissen ließ ihr noch lange keine Ruhe und sie fuhr fort, ihn unter +Tränen um Verzeihung zu bitten. Nach diesen Ausbrüchen war sie dann die +ganzen folgenden Monate noch schüchterner, noch ängstlicher vor ihrem +Mann als zuvor. Mir blieben alle diese Klagen und Vorwürfe vollkommen +unverständlich; überdies wurde ich dann immer unter irgendeinem Vorwande +aus dem Zimmer geschickt, aber ganz konnten sie dies alles doch nicht +vor mir verbergen. Ich beobachtete und sah ... und was ich nicht sah, +das erriet ich, und so schöpfte ich schon gleich zu Anfang den Verdacht, +daß es sich dabei um ein Geheimnis handeln mußte, daß diese plötzlichen +Ausbrüche eines wunden Herzens nicht gewöhnliche Nervenkrisen waren, daß +ihr Mann nicht ohne Grund immer so finster aussah und dieses zweideutige +Mitleid mit der armen kranken Frau hatte, daß auch ihre Schüchternheit +und Ängstlichkeit und auch diese bescheidene sonderbare Liebe, die sie +ihrem Manne kaum zu zeigen wagte, ihren besonderen Grund haben mußten, +und ebenso ihre Einsamkeit, ihre nahezu klösterliche Zurückgezogenheit, +sowie ihr plötzliches Erröten und Erbleichen in der Gegenwart ihres +Gatten, das mir immer wieder auffiel und immer wieder zu denken gab. + +Doch solche Szenen kamen, wie gesagt, nur sehr, sehr selten vor, und da +unser Leben ohnehin so überaus eintönig verlief und Alexandra +Michailowna mir auch schon so nahe stand, als hätte ich sie mein Leben +lang gekannt, und ich andererseits mich schnell entwickelte und viel +Neues in mir erwachte –, wenn es mir auch noch nicht zu Bewußtsein kam +–, immerhin, ein Neues, das mich von meinen Beobachtungen ablenkte – so +gewöhnte ich mich eben an dieses Leben und an die Eigenheiten der +Menschen, die mich umgaben. Freilich dachte ich, wenn ich sie mitunter +betrachtete, über sie dennoch nach, das war wohl anders auch nicht gut +möglich, aber mein Denken führte vorläufig noch zu keinem Ergebnis. +Hinzu kam, daß ich sie glühend liebte und mich unwillkürlich hütete, mit +meiner Neugier ihre Wunde zu berühren – dazu achtete ich ihr Leid viel +zu sehr. Sie aber verstand mich vielleicht noch besser als ich selbst +mich verstand, und wie oft sagte sie mir für meine Liebe und +Anhänglichkeit ihren stummen Dank! Wie oft, wenn sie meine Sorge um sie +sah, lächelte sie mir unter Tränen zu oder sie scherzte selbst über ihr +häufiges Weinen, oder sie begann mir auch wohl zu erzählen, daß sie sehr +zufrieden, sehr glücklich sei, alle seien so gut zu ihr, alle hätten sie +lieb, nur quäle es sie sehr, daß Pjotr Alexandrowitsch sich ihretwegen +gräme und sich um ihre Seelenruhe sorge, während sie im Gegenteil so +glücklich sei, so glücklich ...! Und sie schloß mich mit tiefem Gefühl +in ihre Arme, innige Liebe verklärte ihr Gesicht, so daß mein Herz, wenn +man dies sagen kann, vor lauter Mitempfinden schmerzte. + +Nie werde ich ihr Gesicht vergessen. Es waren regelmäßige Züge, und ihre +Magerkeit und Blässe, schien es, erhöhten nur noch den Reiz ihrer +strengen Schönheit. Das reiche schwarze Haar, das – in der Art wie es +damals getragen wurde – vom Scheitel glatt nach unten gekämmt war, warf +tiefe Schatten auf das Oval der Wangen; um so liebreizender aber war der +frappierende Kontrast ihrer großen kindlich klaren blauen Augen, aus +denen einen soviel Zärtlichkeit, Liebe und Güte ansah, und in denen +bisweilen auch soviel Naivität lag und soviel Zaghaftigkeit und +Schutzbedürftigkeit. Es waren Augen, die jede Empfindung zu scheuen +schienen, die jede Herzensregung fürchteten, gleichviel ob es flüchtige +Freude oder stille Trauer war. Doch in glücklichen ruhigen Stunden lag +in diesem Blick, der so tief ins Herz drang, soviel Klarheit und Wärme, +soviel ruhige Reinheit, dann schauten diese blauen Augen so zärtlich, so +süß einen an, dann spiegelte sich in ihnen soviel Sympathie mit allem, +was edel und gut war, was um Liebe oder um Mitleid bat, daß man sich ihr +mit ganzer Seele hingab, daß die Seele sich ihr vollkommen unterwarf und +zu ihr hinstrebte und von ihr, wie man meinte, dieselbe Klarheit und +Ruhe und Versöhnung und Liebe erhielt. So schaut man bisweilen hinauf in +den blauen Himmel und fühlt, daß man Stunden und Stunden in diesem süßen +Schauen verbringen könnte und daß die Seele freier und ruhiger wird, +ganz als spiegele sich in ihr wie in einem stillen Wasser die große +weite Himmelskuppel. Wenn aber – und das geschah so oft – die +Begeisterung ihr Farbe ins Gesicht trieb und ihre Brust sich vor +Erregung hob und senkte, dann sprühten ihre Augen in dunklem Feuer, als +wenn ihre Seele, die keusch die reine Flamme des sie so begeisternden +Schönen hütete, sich ganz in ihre Augensterne versetzt hätte. Dann war +sie geradezu wie vom Heiligen Geist erfüllt. Und in diesem plötzlichen +Aufschwung der Seele mitten aus stiller ruhiger Stimmung zu glühendster +Begeisterung und reiner strenger Vergeistigung lag so viel von naivem +kindlichen Glauben, daß ein Künstler wohl sein halbes Leben dafür +hingeben würde, wenn er dieses Frauenantlitz in einem solchen Augenblick +hätte sehen und diese Begeisterung auf der Leinwand hätte wiedergeben +können. + +Schon in den ersten Tagen nach meiner Übersiedelung merkte ich, daß sie +sich in ihrer Einsamkeit über meine Anwesenheit freute. Damals hatte sie +nur ein Kind und war erst seit einem Jahre Mutter. Doch zu mir war sie +stets wie zu einer leiblichen Tochter und niemals machte sie einen +Unterschied zwischen mir und ihren eigenen Kindern. Und mit welchem +Eifer sie sich an meine Erziehung machte! Madame Léotard mußte oftmals +lächeln, wenn sie in der ersten Zeit ihren Übereifer sah. Und in der +Tat, wir fingen mit einem Mal so ziemlich alles an, wir begannen mit so +vielen Fächern, daß wir uns bald ganz verloren. Sie wollte mir auf ein +Mal so viel beibringen, daß es sie zu liebevoller Ungeduld trieb, ich +aber oder vielmehr mein Wissen keinen großen Nutzen daraus ziehen +konnte. Anfangs betrübte sie meine Hilflosigkeit; dann mußte sie aber +lachen und dann fingen wir nochmals von vorn an – doch trotz des ersten +Mißerfolges erklärte sich Alexandra Michailowna kühn gegen das +altbewährte System der Madame Léotard. Sie stritten lachend um ihre +Methoden, aber meine neue Lehrerin blieb kategorisch bei ihrer +Feindschaft gegen jegliches System und behauptete, wir würden nach +etlichen Versuchen den richtigen Weg schon finden und es habe keinen +Sinn, mir den Kopf mit toten Regeln vollzustopfen: der ganze Erfolg +hinge nur davon ab, daß man meine natürlichen Fähigkeiten erkannte und +weckte und davon, daß man auf meinen guten Willen zu wirken vermochte. +Darin aber hatte sie zweifellos recht, denn ihre Methode siegte mit +glänzendem Erfolg. Erstens fielen bei uns die Rollen der Lehrerin und +Schülerin ganz fort. Wir lernten wie zwei Freundinnen, und nicht selten +machte es sich so, daß ich Alexandra Michailowna belehrte, ohne ihre +kleine List zu bemerken. Und wir gerieten nicht selten sogar in Streit +und mit glühendem Eifer suchte ich die Sache ihr so zu erklären, wie ich +sie begriff, bis Alexandra Michailowna mich unmerklich auf den richtigen +Weg führte. Das endete dann gewöhnlich damit, daß ich, wenn mir endlich +ein Licht aufging und ich plötzlich ihre List erriet und einsah, daß +sie, was oft genug geschah, ganze Stunden zu meinem Nutzen geopfert +hatte – daß ich mich dann an ihren Hals warf und sie krampfhaft umarmte. +Später tat ich das nach jeder Stunde. Meine Empfindsamkeit überraschte +und rührte sie so, daß sie mich immer ganz verwundert ansah. Sie begann +mich nach meinem früheren Leben zu fragen, und nach meinen Erzählungen +wurde sie jedesmal zärtlicher zu mir und ernster – ernster, weil ich ihr +mit meiner traurigen Kindheit außer dem Mitleid auch noch eine gewisse +Achtung einflößte. Nach meinen Geständnissen führten wir gewöhnlich noch +lange Gespräche, in denen sie mir meine Erlebnisse zu erklären +versuchte, so daß es mir vorkam, als erlebe ich das alles nochmals und +als lerne ich dabei viel. Madame Léotard fand diese Gespräche viel zu +ernst für mein Alter, und wenn sie meine unwillkürlichen Tränen +bemerkte, sagte sie oft, sie seien gar nicht am Platz. Ich aber dachte +darüber ganz anders, denn nach _diesem_ Unterricht wurde es mir immer so +leicht und frei und süß ums Herz, ganz als hätte es in meinem Schicksal +nichts Dunkles und Trauriges gegeben. Und ich war auch Alexandra +Michailowna viel zu dankbar dafür, daß sie mich veranlaßte, sie mit +jedem Tage mehr zu lieben. Madame Léotard war natürlich nicht darauf +verfallen, daß auf diese Weise allmählich alles in mir sich glätten und +ordnen und seine Harmonie finden mußte, was sich früher wirr und +vorzeitig stürmisch in meiner Seele erhoben hatte, alles, wovor mein +wundes Kinderherz in seinem bitteren Schmerz so ratlos gestanden, daß es +hätte verstocken müssen, da es nur den Schmerz fühlte, aber nicht +begriff, warum und woher die Schläge es trafen. + +Unsere Tage fingen damit an, daß wir uns im Kinderzimmer zusammenfanden, +ihr Kindchen weckten, es ankleideten, wuschen, fütterten, mit ihm +spielten und ihm das Sprechen beizubringen versuchten. Hatten wir uns +mit ihm genug abgegeben, dann begann das Lernen. Dies Lernen erstreckte +sich eigentlich auf alles und war doch an nichts gebunden. Wir lasen, +erzählten einander unsere Eindrücke und Gedanken während der Lektüre; +dann, wenn wir davon genug hatten, gingen wir zur Musik über, und die +Zeit verging wie im Fluge. Die Abende verbrachten wir meist sehr +gemütlich, zuweilen kam B., Alexandra Michailownas Freund, und auch +Madame Léotard gesellte sich zu uns. Oft wurde dann aus der Unterhaltung +ein eifriger Disput über die Kunst oder über das Leben (das wir fast +alle nur vom Hörensagen kannten) oder über die Wirklichkeit und das +Ideal, über Vergangenes und Zukünftiges, und es wurde darüber +Mitternacht und noch später, ohne daß wir es merkten. Ich hörte mit +allen Fibern zu, ich begeisterte mich mit ihnen, ich lachte oder ich war +ergriffen, und an diesen Abenden erfuhr ich denn auch nach und nach +alles Nähere, was meinen Stiefvater und meine erste Kindheit betraf. + +Inzwischen wuchs ich heran; man nahm für mich Lehrer an, doch hätte ich +von diesen ohne Alexandra Michailownas Hilfe so gut wie nichts gelernt. +Bei meinem Geographielehrer hätte ich von dem ewigen Suchen der Städte +und Flüsse auf den Karten nur erblinden können! Mit Alexandra +Michailowna dagegen unternahm ich wahre Weltreisen, wir durchstreiften +so märchenhafte Länder, sahen so viele Wunder, verbrachten so viele +phantasieerfüllte Stunden miteinander, und unser Eifer war in der +Begeisterung so groß, daß alle Bücher, die sie gelesen hatte, nicht mehr +genügten und wir uns neue Bücher verschaffen mußten. Bald konnte ich +meinen Geographielehrer belehren, wenn er auch, das muß man ihm um der +Gerechtigkeit willen lassen, bis zum Schluß seine Überlegenheit insofern +bewahrte, als er die Lage jedes Städtchens mit peinlichster Genauigkeit +in Längen- und Breitengraden anzugeben wußte, sowie die Zahl der +Einwohner in Tausenden, Hunderten und Zehnern. Dem Geschichtslehrer +wurden die Stunden gleichfalls pünktlich bezahlt, aber erst nachdem er +gegangen war, fingen wir, Alexandra Michailowna und ich, mit der +Geschichte an: dann holten wir unsere Bücher hervor und lasen – lasen +bis tief in die Nacht. Nie habe ich größere Begeisterung empfunden als +bei diesem Lesen. Wir waren dann beide so begeistert, als wären wir +selber die Helden, die jene großen Taten vollbrachten. Natürlich lasen +wir zwischen den Zeilen noch mehr heraus als aus den Zeilen; überdies +verstand Alexandra Michailowna meisterhaft zu erzählen oder eine +Begebenheit zu erläutern, so daß man das Geschehnis förmlich miterlebte, +als geschähe es eben jetzt. Mag es nun auch meinetwegen komisch anmuten, +daß wir uns so begeisterten und bis nach Mitternacht saßen und lasen, +ich ein Kind, und sie eine Frau mit einem wunden Herzen, das so schwer +am Leben trug! – Aber es war so. Ich wußte, daß sie sich neben und mit +mir gleichsam erholte. Soweit ich mich erinnere, machte ich mir schon +damals seltsame Gedanken, wenn ich sie still betrachtete, und noch bevor +ich etwas aus ihrem Leben erfuhr, hatte ich schon vieles erraten. + +Ich wurde dreizehn Jahre alt. Mit Alexandra Michailownas Gesundheit ging +es mehr und mehr bergab. Sie wurde reizbarer und die hoffnungslose +Trauer kam immer öfter über sie. Ihr Gatte verbrachte nun gewöhnlich +längere Zeit bei ihr, wenn er auch ebenso schweigsam und finster blieb +wie früher. Da begann ich denn, immer lebhafteren Anteil an ihrem +Schicksal zu nehmen. Ich entwuchs bereits der Kindheit, viele neue +Eindrücke, Beobachtungen und Vermutungen hatten in mir schon bestimmtere +Formen angenommen, und das Geheimnis, das so schwer auf dieser Familie +lag, begann mich immer mehr zu quälen. Es gab Augenblicke, wo es mir +schien, daß ich dieses Rätsel fast schon erriet. Doch dann kam auch +wieder eine gewisse Gleichgültigkeit, eine Apathie über mich, ja sogar +ein gewisser Ärger konnte mich erfassen, und ich vergaß meine +Anteilnahme, da ich auf die eine Frage doch keine Antwort erhielt. +Bisweilen – und das kam immer häufiger vor – hatte ich das seltsame +Bedürfnis, allein zu bleiben und zu denken, immer nur zu denken. Das war +ganz wie zu jener Zeit, als ich noch bei den Eltern lebte und damals – +noch vor meiner Freundschaft mit meinem Stiefvater – ein ganzes Jahr +lang nachdachte und aus meinem Winkel die Welt Gottes betrachtete, so +daß ich zu guter Letzt unter den von meiner eigenen Phantasie +geschaffenen Phantomen ganz vereinsamte. Der Unterschied bestand nur +darin, daß jetzt mehr neue unbewußte Triebe in mir waren und größere +Ungeduld, stärkere Sehnsucht, mächtigeres Verlangen nach Bewegung, nach +Auflehnung mich quälte, so daß ich nicht mehr wie früher meine Spannung +und Sammlung ausschließlich auf eine einzige Sache hinlenken konnte. +Aber auch Alexandra Michailowna fing an, sich von mir zu entfernen. In +diesem Alter konnte ich ihr fast nicht mehr Freundin sein. Ich war kein +Kind mehr, ich fragte nach gar zu vielem, und zuweilen sah ich sie so +an, daß sie ihre Augen vor mir niederschlagen mußte. Es gab sonderbare +Minuten. Ich konnte ihre Tränen nicht ertragen und oft traten bei ihrem +Anblick auch mir Tränen in die Augen. Ich warf mich an ihre Brust und +umfing sie leidenschaftlich. Was konnte sie mir antworten? Ich fühlte +es, daß ich ihr eine Last war. Bisweilen aber – und das waren dann +schwere traurige Minuten – war sie es, die mich plötzlich wie in innerer +Verzweiflung umarmte, als suche sie meine Teilnahme, als könne sie ihre +Einsamkeit nicht länger ertragen, als hätte ich sie schon ganz +verstanden, als hätten wir schon gemeinsam gelitten. Doch trotz alledem +blieb zwischen uns ein Geheimnis, das fühlten wir, und da war ich es, +die sich in diesen Minuten von ihr zu entfernen begann. Es wurde mir +schwer, mit ihr zusammen zu sein. Überdies verband uns fast nichts mehr, +außer der Musik. Doch auch die wurde ihr von den Ärzten schon verboten. +Bücher? Das war schließlich sogar das gefährlichste Gebiet. Sie wußte +entschieden nicht, was und wie sie mit mir lesen sollte. Wir wären nicht +einmal über die erste Seite hinausgekommen: jedes Wort hätte man als +Andeutung, jeden belanglosen Satz als Rätsel auffassen können. Gespräche +zu zweien, wie früher, in glühender Offenheit – mieden wir schon. + +Gerade in dieser Zeit gab das Schicksal meinem Leben plötzlich und in +ganz unvorhergesehener Weise eine andere Richtung. Meine Aufmerksamkeit, +meine Gefühle, mein Herz, mein Kopf – alles wandte sich mit einem Mal +und mit ganzer angespannter Kraft, die bis zur Begeisterung stieg, +plötzlich einer anderen, mir bis dahin noch ganz unbekannten Tätigkeit +zu und ich versetzte mich, fast ohne dessen gewahr zu werden, in eine +neue Welt; ich hatte keine Zeit, zurückzusehen, mich umzuschauen, mich +zu besinnen; es konnte ja leicht mein Verderben sein, was ich auch +deutlich selbst fühlte; doch die Versuchung war größer als die Angst und +ich ging weiter aufs Geratewohl, mit geschlossenen Augen. Und auf lange +Zeit ließ ich mich so ablenken von jener Wirklichkeit, die mir bereits +so lästig geworden war und in der ich schon so durstig und doch +vergeblich einen Ausweg gesucht. Was das war, will ich jetzt erzählen. + +Von den drei Ausgängen aus dem Eßzimmer führte der eine in die großen +Empfangsräume, der andere in mein Zimmer und in die Kinderzimmer, und +der dritte in die Bibliothek. In die Bibliothek führte aber noch eine +andere Tür, die von meinem Zimmer nur durch ein Arbeitskabinett getrennt +war, in dem gewöhnlich der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs saß. Der war +zugleich sein Sekretär und gewissermaßen seine rechte Hand. Den +Schlüssel zur Bibliothek und zu den Bücherschränken hatte er. Eines +Tages nach dem Essen, als er nicht zu Hause war, fand ich diesen +Schlüssel auf dem Teppich im Kabinett. Ich wurde neugierig, behielt den +Schlüssel und versuchte, ob sich mit ihm die Tür aufschließen ließ. Ich +trat in die Bibliothek. Es war das ein ziemlich großes, sehr helles +Zimmer, in dem an den Wänden acht große Bücherschränke standen. Die +vielen Bücher waren Pjotr Alexandrowitsch einmal mit einer Erbschaft +zugefallen, oder wenigstens ein großer Teil derselben. Die anderen +Bücher hatten sich nach und nach angesammelt, da Alexandra Michailowna +beständig welche kaufte. Mir hatte man bis dahin nur mit großer Vorsicht +Bücher zum Lesen gegeben, so daß es für mich unschwer zu erraten war, +daß man mich vieles nicht lesen lassen wollte, also vieles für mich noch +ein Geheimnis blieb. Dies nun erweckte in mir unbezwingbare Neugier, und +in einer Anwandlung von Furcht und Freude und mit einem ganz besonderen +Gefühl, über das ich mir keine Rechenschaft gab, schloß ich den ersten +Schrank auf und nahm das erste Buch aus der Reihe. In diesem Schrank +waren nur Romane. Ich behielt den Band, verschloß den Schrank und +brachte das Buch mit einem so eigentümlichen Empfinden, mit klopfendem +und doch wieder stillstehendem Herzen zu mir, auf mein Zimmer, als hätte +ich geahnt, daß damit eine große Umwälzung in meinem Leben eintreten +sollte. Erst als ich in meinem Zimmer in Sicherheit war und auch die Tür +verschlossen hatte, schlug ich das Buch auf. Doch zu lesen wagte ich +noch nicht – eine andere Sorge beschäftigte mich: zunächst mußte ich mir +ein für allemal den freien Zutritt zur Bibliothek sichern, und zwar so, +daß niemand etwas davon merkte, damit ich mir zu jeder Zeit jedes +beliebige Buch verschaffen und bei mir behalten konnte. Ich beschloß +daher, auf das Vergnügen, das entwendete Buch sogleich zu lesen, +vorläufig zu verzichten: statt dessen brachte ich das Buch zurück, aber +den Schlüssel behielt ich dafür bei mir. Ich behielt ihn und +verheimlichte es – das war die erste schlechte Tat in meinem Leben. Nun +wartete ich auf die Folgen, doch die waren nicht schlimm: nachdem der +Sekretär den Schlüssel einen ganzen Abend vergeblich gesucht hatte, ließ +er am nächsten Morgen einen Schlosser rufen und der fand nach kurzem +Suchen in einem mitgebrachten großen Schlüsselbund einen passenden neuen +Schlüssel. Damit war die Sache erledigt und niemand erfuhr, daß er den +alten Schlüssel verloren hatte. Trotzdem war ich vorsichtig und ging mit +List erst nach einer Woche in die Bibliothek, nachdem ich mich überzeugt +hatte, daß nicht der geringste Verdacht gegen mich bestand. Anfangs +wählte ich immer die Zeit, wenn der Sekretär nicht zu Hause war, und +ging dann durch sein Arbeitszimmer; später aber ging ich ruhig aus dem +Eßzimmer in die Bibliothek, denn der Sekretär hatte zwar den Schlüssel +in der Tasche, doch um die Bücher kümmerte er sich so wenig, daß er das +Zimmer überhaupt nicht betrat. + +Mit wahrem Heißhunger begann ich zu lesen und das Gelesene nahm mich +ganz in seinen Bann. Alle meine neuen Bedürfnisse, alle unklaren Wünsche +meines Entwicklungsalters, die sich so unruhig und rebellisch in meiner +Seele erhoben hatten, vorzeitig durch meine Frühreife erweckt – all das +strömte von jetzt ab dem neuen Ausweg zu, als hätte es mit ihm den +richtigen Weg gefunden. Bald waren mir Herz und Sinne so bezaubert und +meine Phantasie entwickelte sich so schrankenlos, daß die ganze Welt, +die mich bis dahin umgeben hatte, für mich wie vergessen, irgendwo fern +versunken lag. Es war, als hielte mich das Schicksal selbst an der +Schwelle des neuen Lebens – nach dem es mich schon so stürmisch +verlangte, über das ich bereits Tag und Nacht wie über ein Rätsel +nachgedacht – bevor es mich in dieses Leben eintreten ließ, noch einen +Augenblick zurück, um mich auf eine Höhe zu führen und mir von dort aus +die Zukunft in einem Zauberpanorama zu zeigen, und als eine lockende, +glänzende Perspektive. Es war mir gewiß bestimmt, diese ganze Zukunft +gleichsam im voraus kennen zu lernen, sie zuerst in den Büchern zu lesen +und dann in Träumen, in Hoffnungen und leidenschaftlicher Sehnsucht, in +süßer Erregung meines jungen Geistes zu durchleben. Ich las ohne +Auswahl, wie mir die Bücher in die Hände kamen, doch das Schicksal +behütete mich: das, was ich bis dahin erfahren und empfunden hatte, war +alles so rein, so herb, daß die einzelnen, heimtückischen und +schmutzigen Seiten mir nichts mehr anhaben konnten. Mein guter +Kinderinstinkt, meine Jugend und meine ganze Vergangenheit beschützten +mich, und es war mir nur, als sähe ich plötzlich mein ganzes früheres +Leben bewußt in heller Beleuchtung. Tatsächlich erweckte jede Seite, die +ich las, gleichsam Erinnerungen in mir, als hätte ich das alles oder +doch etwas Ähnliches schon irgendeinmal selbst erlebt; ja gerade diese +Leidenschaften, dieses ganze Leben mit seinen märchenhaften Bildern +kamen mir so bekannt vor. Und wie hätte es denn auch anders sein können: +wie hätte ich darüber die Wirklichkeit nicht bis zur Entfremdung +vergessen sollen, da doch in jedem Buch vor mir die Gesetze desselben +Schicksals verkörpert waren, desselben Geistes, der über dem +Menschenleben thront, alle jedoch wie aus einem obersten Gesetz des +Menschenlebens fließend, das zugleich die Rettung und Erlösung der +Menschheit enthielt. Eben dieses oberste Gesetz, dessen Bestehen ich +schon vermutete, suchte ich nun aus allen Kräften, mit allen Instinkten, +die eine Art Selbsterhaltungstrieb in mir aufgeweckt hatte, zu erraten. +Es war, als sei ich schon im voraus durch irgendwen darauf aufmerksam +gemacht worden, weshalb meine Aufmerksamkeit sich mit einer solchen +Selbstverständlichkeit gerade darauf richtete. Es war, als dränge sich +ein Hellsehen in meine Seele, und mit jedem Tage wuchs und erstarkte in +ihr eine eigene Sehnsucht, obschon gleichzeitig mein Verlangen nach +dieser Zukunft, nach diesem Leben, von dem ich täglich las und das mich +täglich mit der ganzen nur der Kunst eigenen Gewalt und allen Reizen der +Dichtung erschütterte und lockte, immer mächtiger wurde. Doch wie +gesagt, meine Phantasie beherrschte auch meine Ungeduld und ich war, um +die Wahrheit zu gestehen, nur in meinen Träumen kühn, in Wirklichkeit +aber fürchtete ich mich instinktiv vor der Zukunft. Und deshalb, wie +nach geheimer Verabredung mit mir selbst, hatte ich es mir unbewußt zum +Vorsatz gemacht, mich vorläufig mit diesem Leben in der Phantasie zu +begnügen, in dem ich dafür die unbehinderte Selbstherrscherin sein +konnte und in dem es nur Glück und Freude gab; das Unglück aber, wenn es +auch zugelassen war, spielte dort nur eine passive Rolle, eine Art +Übergangsrolle, die notwendig war nur um der Kontraste willen: damit das +Schicksal sich in meinen begeistert erträumten Romanen zum Guten wenden +und zu einem glücklichen Schluß führen konnte. So deute ich mir jetzt +meine damalige Stimmung. + +Und dieses Leben, dieses Leben ausschließlich in der Phantasie, dieses +Leben in schroffer Abkehr von allem, was mich umgab, konnte sich ganze +drei Jahre lang fortsetzen! + +Dieses Leben war mein Geheimnis, und selbst nach ganzen drei Jahren +wußte ich noch nicht, ob ich mich vor einer plötzlichen Aufdeckung +desselben fürchten sollte oder nicht. Das, was ich in diesen drei Jahren +erlebt hatte, stand mir gar zu nah, war schon zu sehr verwachsen mit +mir! In allen diesen Träumen spiegelte ich mich selbst viel zu deutlich +wider, so daß fremde Augen, gleichviel wessen Augen, durch einen +unvorsichtigen Blick in meine Seele mich verwirrt und erschreckt hätten. +Hinzu kam, daß wir alle im Hause so einsam lebten, so außerhalb der +Gesellschaft, so klösterlich still, daß sich unwillkürlich in jedem von +uns ein Innenleben, eine Konzentration auf sich selbst entwickeln mußte. +Und das geschah denn auch mit mir. In diesen drei Jahren sah ich in +meiner Umgebung nicht die geringste Veränderung: nach wie vor herrschte +das farblose Einerlei, das, wie ich mir jetzt gestehe, wenn ich nicht +von meinem geheimen Leben erfüllt gewesen wäre, ganz entschieden meine +Seele zerrissen und mich aus diesem traurigen Kreise Gott weiß auf +welchen Ausweg getrieben hätte. Madame Léotard alterte merklich und zog +sich fast ganz in ihr Zimmer zurück; die Kinder waren noch so klein, daß +sie nicht in Frage kamen; B. war gar zu einseitig und Alexandra +Michailownas Gatte gar zu ernst, gar zu unnahbar und verschlossen. +Zwischen ihm und seiner Frau herrschte immer noch dasselbe rätselhafte +Verhältnis, das mich wie ein unheilvolles, düsteres Geheimnis immer mehr +bedrückte und meine angstvolle Sorge um Alexandra Michailowna von Tag zu +Tag vergrößerte. Ihr Leben, das so freudlos und farblos war, begann +schon zu erlöschen. Ihr Zustand verschlimmerte sich mit jedem Tage. Von +ihrer Seele hatte allmählich eine Art Verzweiflung Besitz ergriffen; +etwas Unbestimmtes, worüber wohl auch sie keine Rechenschaft zu geben +vermochte, schien lähmend auf ihr zu lasten, und sie trug es still, wie +ein unvermeidliches Kreuz, das zu tragen sie für die kurze Zeit ihres +Lebens nun einmal verurteilt war. Und doch schien es mir, als verstocke +allmählich ihr Herz in dieser dumpfen Qual; ja selbst ihr ganzes Denken +nahm eine andere Richtung und wurde düster, traurig, trostlos. +Namentlich eine Beobachtung traf mich: es schien mir, daß sie, je älter +ich wurde, sich um so mehr von mir entferne, so daß ihre +Verschlossenheit mir gegenüber schließlich die Form einer gewissen +Reizbarkeit annahm, die sich wie Ärger äußerte. Ja es gab Augenblicke, +wo ich die Empfindung hatte, sie liebe mich überhaupt nicht mehr; ich +schien ihr lästig zu sein. Deshalb begann auch ich mich von ihr +zurückzuziehen, und nachdem das einmal geschehen, wurde ich von ihrer +Verschlossenheit gleichsam angesteckt. So kam es denn, daß alles, was +ich in diesen drei Jahren erlebte und was allmählich in mir reifte, mein +Geheimnis blieb. Und da wir uns einmal voreinander verschlossen hatten, +konnte ich ihr später nie mehr ganz offen mein Innerstes zeigen, obschon +ich sie immer noch mehr lieben lernte. Ich kann jetzt nicht ohne Tränen +daran denken, wie sehr sie an mir hing, wie sie sich in ihrem Herzen +gelobt, ihren ganzen großen Liebesreichtum an mich zu verschwenden und +wie sie ihrem Gelübde, mir eine Mutter zu sein, bis zum Tode treu blieb. +Es ist wahr, das eigene Leid lenkte sie zuweilen für eine Zeitlang von +mir ab und ich glaube, daß sie mich dann einfach vergaß – um so mehr, +als ich mich nach Möglichkeit bemühte, sie nicht an mich zu erinnern. +Inzwischen wurde ich sechzehn Jahre alt, ohne daß sie mein Heranwachsen +gemerkt hätte. Aber in klareren Stunden, wenn sie bewußter um sich sah, +war es doch, als erschrecke sie plötzlich: und sie ließ mich dann eilig +aus meinem Zimmer, wo ich gewöhnlich gerade lernte, zu sich rufen, und +überschüttete mich mit Fragen, wie um mich zu prüfen, zu ergründen – +tagelang mußte ich dann bei ihr sitzen. Sie gab sich Mühe, alle meine +Wünsche, alle meine Gefühlsregungen zu erraten und war offenbar in Sorge +um mein Alter. Und wie sie sich um meine Gegenwart sorgte, so sorgte sie +sich auch um meine Zukunft, und mit unerschöpflicher Liebe, ja geradezu +mit Ehrfurcht vor meinem Leben suchte sie mich für alle Zeiten mit ihrer +Hilfe auszurüsten. Doch wir waren uns innerlich schon fremd geworden und +deshalb merkte sie es nicht, daß sie mitunter gar zu naiv vorging und +ich ihre Absicht viel zu sehr durchschaute. So z. B., als sie einmal – +das war schon nach meinem sechzehnten Geburtstag – in meinen Büchern +gekramt hatte, fragte sie mich plötzlich, was ich lese, und als sie sah, +daß es nur kleine Geschichten für etwa zwölfjährige Kinder waren, da +erschrak sie. Ich erriet sofort, was sie erschreckt hatte, und +beobachtete sie aufmerksam. Ganze zwei Wochen ließ sie es sich nun +angelegen sein, mich vorzubereiten und zu prüfen und vor allem meinen +Reifegrad festzustellen. Endlich entschloß sie sich: und auf unserem +Tisch erschien „Ivanhoe“ von Walter Scott, ein Roman, den ich schon +längst und mindestens dreimal gelesen hatte. Anfangs verfolgte sie mit +ängstlicher Erwartung, welcher Art der Eindruck war, den ich empfing; +bald jedoch wich diese Gespanntheit zwischen uns und wir begeisterten +uns beide, und ich war froh, so froh, daß ich mich jetzt nicht mehr vor +ihr zu verstellen brauchte! Als wir den Roman beendet hatten, war sie +entzückt von mir. Jede Bemerkung, die ich während der Lektüre gemacht, +jede Äußerung und Auffassung war richtig gewesen. Ja ihrer Meinung nach +war ich sogar schon zu weit entwickelt. Überrascht und entzückt davon, +machte sie sich nun wieder freudig daran, meine Entwicklung zu leiten; +sie wollte sich nie mehr von mir trennen; doch das lag nicht in ihrer +Macht. Das Schicksal trat sehr bald wieder trennend zwischen uns und +verhinderte eine beiderseitige Annäherung. Dazu bedurfte es nur der +ersten leisen Anwandlung ihrer Krankheit und ihr Leid siegte in ihrer +Seele; und dann folgte wieder eine Entfremdung, wieder stand ihr +Geheimnis, stand Mißtrauen zwischen uns, und vielleicht war es sogar +wieder wie eine Verstockung von ihrer wie von meiner Seite, die sich +zwischen uns schob. + +Doch selbst dann gab es Augenblicke, die nicht in unserer Macht standen. +Spannende Lektüre, ein sympathisches Wort, die Macht der Musik – und wir +vergaßen uns, sprachen uns aus, oft sogar mehr als nötig, und dann +fühlten wir uns bedrückt voreinander. Es war dann immer wie ein +plötzliches Sichbesinnen und wir sahen uns wie erschrocken über uns +selbst mit argwöhnischer Neugier und mit Mißtrauen an. Jede von uns +hatte ihre Grenze, bis zu der sie sich der anderen nähern konnte; diese +Grenze zu überschreiten wagten wir nicht, auch wenn wir es gewollt +hätten. + +Eines Nachmittags vor der Dämmerung las ich im Salon Alexandra +Michailownas zerstreut in einem Buch. Sie saß am Flügel und +improvisierte nach Motiven italienischer Musik. Als sie schließlich auf +die Melodie einer bekannten Arie überging, begann ich, von der Musik, +die mich gefangennahm, gleichsam dazu aufgefordert, leise die Melodie +mitzusingen. Die Musik bezauberte mich und ich stand plötzlich auf und +trat an den Flügel. Alexandra Michailowna schien meinen Wunsch zu +erraten und ging auf die Begleitung über, liebevoll jedem Ton meiner +Stimme folgend. Es war, als sei sie durch die Stärke meiner Stimme +überrascht. Ich hatte bis dahin noch nie in ihrer Gegenwart gesungen, ja +und auch ich wußte noch nicht, ob ich überhaupt irgendwelche Stimmittel +besaß. Jetzt aber waren wir plötzlich beide wie von einem Geist erfüllt. +Ich hob die Stimme mehr und mehr, eine mir bis dahin unbekannte Energie +erwachte in mir, eine Leidenschaft, die von Alexandra Michailownas +freudiger Verwunderung, die ich aus jedem Takt ihrer Begleitung +heraushörte, noch geschürt wurde. Und der Schluß der Arie gelang mir so +gut, ich war so beseelt, so hingerissen von dem Lied, daß sie ganz +begeistert meine Hände ergriff und mich strahlend ansah: + +„Annjeta! Aber du hast ja eine wundervolle Stimme!“ rief sie entzückt. +„Mein Gott! und ich habe davon nichts gewußt!“ + +„Ja, ich habe es ja selbst jetzt erst bemerkt!“ versicherte ich, +gleichfalls ganz erschüttert vor Freude. + +„Ach, Gott segne dich, Gott segne dich, mein liebes, unschätzbares Kind! +Danke Gott für diese Gabe! Wer weiß ... Ach, mein Gott, mein Gott!“ ... + +Sie war so ergriffen von der Überraschung, so außer sich vor Freude, daß +sie nicht wußte, was sie mir sagen, wie sie mir ihre Liebe zeigen +sollte. Das war eine jener Stunden der Aufrichtigkeit, der Zuneigung und +Annäherung, die es in der letzten Zeit schon lange nicht mehr zwischen +uns gegeben hatte. Eine Stunde später war es wie ein Fest im Hause. Sie +schickte sogleich zu B. und ließ ihn zu sich bitten. In der Erwartung +seiner nahmen wir ein anderes Lied vor, das mir bekannter war. Diesmal +zitterte ich vor Angst. Ich wollte nicht durch einen Mißerfolg den +ersten Eindruck zerstören. Doch bald gab mir meine Stimme selbst wieder +Mut und machte mich sicher. Ich sang und wunderte, wunderte mich über +den Umfang meiner Stimme. Dieser zweite Versuch verscheuchte jeden +Zweifel. Alexandra Michailowna wußte vor Freude nicht, wo sie sich +lassen sollte, sie schickte nach den Kindern, sogar nach der Kinderfrau, +und schließlich – ließ sie sich so weit hinreißen, daß sie zu ihrem Mann +ging und ihn aus seinem Kabinett zu uns rief – eine Kühnheit, an die sie +zu jeder anderen Zeit nicht einmal zu denken gewagt hätte. Pjotr +Alexandrowitsch nahm die Neuigkeit wohlwollend auf, gratulierte mir und +war der erste, der da sagte, man müsse meine Stimme ausbilden. Alexandra +Michailowna, die vor Dankbarkeit so glücklich war, als hätte er für sie +Gott weiß was getan, wollte ihm dafür fast die Hände küssen. Endlich kam +B. Seine Freude war groß. Er liebte mich sehr und gedachte meines +Stiefvaters, der Vergangenheit, und als ich ihnen zwei oder drei Lieder +vorgesungen, erklärte er mit ernster und sogar besorgter Miene, ja sogar +mit einer gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit, daß ich zweifellos +gute Stimmittel hätte, vielleicht auch sogar Talent, und deshalb sei es +natürlich ganz unmöglich, meine Stimme etwa nicht auszubilden ... – +jedoch ... Und nun war es, als besinne er sich, und er wie auch +Alexandra Michailowna schienen sich zu sagen, daß es gefährlich sei, +mich schon zu Anfang so zu loben, und ich bemerkte, wie sie sich nun mit +einigen Blicken schnell verständigten und sich später noch flüsternd +verabredeten, so daß ihre kleine Verschwörung gegen mich recht +ungeschickt und naiv ausfiel. Ich lachte im stillen den ganzen Abend, +denn als ich wieder gesungen hatte, sah ich, wie sie sich Mühe gaben, +gleichgültig zu bleiben und wie sie sogar einige Mängel mit Absicht +hervorheben und laut besprachen. Ihre Selbstbeherrschung währte aber +nicht lange und B. war der erste, der von der Freude übermannt, sich +untreu wurde. Ich hatte nicht vermutet, daß er mich so gern hatte. Den +ganzen Abend herrschte eine frohe Stimmung und die lebhafte Unterhaltung +war so freundschaftlich wie nie zuvor. B. gab die Lebensgeschichten +einiger Künstler zum besten und erzählte von der Kunst der berühmten +Größen mit der Begeisterung des Künstlers, oft sogar fast ehrfurchtsvoll +und ergriffen. + +Es war auch die Rede von meinem Stiefvater, und dann ging die +Unterhaltung auf mich über, auf meine Kindheit, dann auf den Fürsten und +die Familie des Fürsten, von der ich nach der Trennung so wenig gehört +hatte. Auch Alexandra Michailowna wußte wenig von ihnen, B. dagegen am +meisten, da er mehrmals in Moskau gewesen war. Doch hier bekam das +Gespräch etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes, und zwei oder drei +Umstände, die hauptsächlich den Fürsten betrafen, blieben mir ganz +unverständlich. Alexandra Michailowna erkundigte sich nach Katjä, doch +B. wußte von ihr nichts Besonderes zu berichten oder schien vielmehr +absichtlich nichts berichten zu wollen. Das machte mich stutzig. Ich +hatte Katjä nicht nur nicht vergessen, sondern meine frühere Liebe zu +ihr hatte sich eher noch vertieft; aber es war mir nie in den Sinn +gekommen, daß mit ihr irgendeine Veränderung vor sich gegangen sein +könnte. Ich hatte weder an die langen Jahre der Trennung, noch an die +Verschiedenheit unserer Erziehung und unserer Charaktere gedacht. Sie +hatte mich in meinen Gedanken nie verlassen, sie lebte immer noch so, +wie ich sie als Kind gesehen, neben mir, und in meiner Phantasie gingen +wir stets Hand in Hand. Da ich mich selbst immer als Heldin jedes von +mir gelesenen Romanes sah, so ersann ich für meine Freundin, die +Prinzeß, immer eine Rolle neben mir und verdoppelte somit den Roman, von +dem dann der zweite Teil ausschließlich von mir handeln sollte, ersann +ihn mit Hilfe aller meiner Lieblingsautoren, die ich natürlich +erbarmungslos bestahl. + +An jenem Abend wurde auch gleich im Familienrat beschlossen, welchem +Professor meine Ausbildung nun übertragen werden sollte. B. empfahl den +allerbesten. So fuhr denn schon am nächsten Tage der berühmte Italiener +D. bei uns vor, prüfte meine Stimme, sagte ungefähr dasselbe, was sein +Freund B. gesagt hatte, meinte aber, es wäre für mich von viel größerem +Nutzen, wenn ich zusammen mit seinen anderen Schülerinnen bei ihm +lernte, der Ehrgeiz und das gute Beispiel wären vortreffliche +Hilfsmittel usw., usw. Alexandra Michailowna war damit einverstanden, +und so ging ich von diesem Tage an regelmäßig dreimal wöchentlich früh +morgens um 8 Uhr in Begleitung eines Dienstmädchens ins Konservatorium. + +Jetzt muß ich von einem sonderbaren Erlebnis erzählen, das auf mich +einen großen, nachhaltigen Eindruck machte und nach welchem ich wie nach +einem schroffen Bruch in ein anderes Alter eintrat. Ich war damals noch +nicht ganze siebzehn Jahre alt, als plötzlich eine mir selbst ganz +unverständliche Apathie von meiner Seele Besitz zu ergreifen begann; +eine eigentümliche, unerträgliche, schwermütige Stille, die ich selbst +nicht begriff, kam über mich. Alle meine Erwartungen, mein ganzes +Streben und Wollen war verstummt, sogar meine Phantasie schwieg wie vor +Kraftlosigkeit. Eine kalte Gleichgültigkeit war in mir an die Stelle der +früheren unbeholfenen drangvollen Glut getreten. Sogar für mein Talent, +das doch von allen, die ich mit ganzer Seele lieb hatte, so bewundert +wurde, konnte ich keine Neigung und Liebe bei mir mehr aufbringen und +ich mißachtete es gefühllos. An nichts nahm ich Anteil, und selbst für +Alexandra Michailowna empfand ich nur dieselbe kalte Gleichgültigkeit, +obschon ich mir deshalb Vorwürfe machte. Meine Apathie wurde nur von +grundloser Traurigkeit oder von plötzlichen Tränen unterbrochen. Ich +hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Und in dieser eigentümlichen Zeit +wurde durch ein seltsames Erlebnis meine ganze Seele bis auf den Grund +erschüttert und diese Stille in einen wahren Sturm verwandelt. Mein Herz +wurde getroffen und verwundet. Und das geschah folgendermaßen. + + + VII. + +Ich trat in die Bibliothek (diese Stunde werde ich nie vergessen) und +nahm den letzten Roman von Walter Scott, den ich noch nicht gelesen +hatte. Ich weiß noch, daß ein gegenstandloser Kummer mich fast wie mit +einer Vorahnung quälte. Ich wollte weinen. Im Zimmer war es noch goldig +hell von den letzten schrägen Strahlen der sinkenden Sonne, die mit +einer Lichtfülle durch die hohen Fenster auf das glänzende Parkett +fielen. Es war still. Auch in den Nebenzimmern war keine Menschenseele. +Pjotr Alexandrowitsch war nicht zu Hause und Alexandra Michailowna war +krank und lag zu Bett. Ich weinte auch wirklich, und während ich im +zweiten Teil des Romans blätterte, versuchte ich, aus den einzelnen +abgerissenen Sätzen, die ich hier und da las, den Zusammenhang des +Ganzen zu erraten. Es war fast, wie wenn man ein Buch aufs Geratewohl +aufschlägt und den ersten besten Satz wie einen Orakelspruch liest. Es +gibt solche Augenblicke, wo alle geistigen und seelischen Kräfte sich +krankhaft anstrengen und plötzlich wie in einer hellen Flamme des +Bewußtseins aufflammen, und in diesem Augenblick wird dann die +erschütterte Seele, die sich gleichsam im Vorgefühl, ja vielleicht sogar +schon im Vorgenuß des Zukünftigen quält, wie von einem prophetischen +Traum erfüllt. Und man will so leben, so leben, und das Herz, das in +heißester, blindester Hoffnung aufflammt, will mit einemmal gleichsam +die Zukunft herausfordern – die Zukunft mit ihrer ganzen geheimnisvollen +Unbekanntheit, auch mit Stürmen und Ungewittern, wofern sie nur Leben +ist, wirkliches Leben! Gerade das war es, was ich empfand. + +Ich erinnere mich, daß ich gerade das Buch schloß, um es dann aufs +Geratewohl wieder aufzuschlagen und mit dem Gedanken an meine Zukunft +einen Satz als Orakelspruch zu lesen. Doch als ich die Buchdeckel +aufklappte und die Blätter sich teilten, lag vor mir auf dem +aufgeschlagenen Buch ein beschriebener Bogen Postpapier, zweimal +gefaltet und so zusammengepreßt, als sei er schon vor Jahren in dieses +Buch gelegt und dann vergessen worden. Neugierig untersuchte ich meinen +Fund. Es war ein Brief, jedoch ohne Adresse, ohne Anrede und als +Unterschrift standen nur zwei Buchstaben: S. O. Meine Neugier +verdoppelte sich, ich entfaltete das fast zusammengeklebte Papier, das +vom langen Liegen auf den Blättern eine helle Stelle von der Größe +seines Formats hinterlassen hatte. An den Faltstellen war das Papier +schon stark mitgenommen: man hatte den Brief wohl oft gelesen. Die Tinte +war verblaßt – er mußte schon vor langer, langer Zeit geschrieben worden +sein. Einzelne Wörter stachen mir in die Augen und mein Herz begann zu +klopfen vor Erwartung. Verwirrt besah ich den Brief von allen Seiten, +wie um das Lesen noch hinauszuschieben. Zufällig sah ich näher hin und +hob ihn zum Licht: ja! es waren deutliche Tränenspuren zu sehen, +stellenweise waren sogar ganze Buchstaben verwischt. Wessen Tränen +mochten das sein? Und schließlich las ich mit stockendem Herzschlag die +erste halbe Seite und – fast hätte ich aufgeschrien. Ich stellte das +Buch zurück, schloß den Schrank, verbarg den Brief in meinem Kleide und +lief auf mein Zimmer, dessen Tür ich verschloß, und dann machte ich mich +daran, den Brief nochmals vom Anfang an zu lesen. Mein Herz schlug so +laut, daß die Buchstaben vor meinen Augen tanzten und ich lange nicht +begriff, was ich las. Der Brief war eine Aufklärung, für mich eine +Lösung des Geheimnisses, – wie ein Blitz durchzuckte es mich, denn ich +erriet sogleich, an wen er gerichtet war. Ich wußte, daß ich nahezu ein +Verbrechen beging, wenn ich diesen Brief las, doch der Augenblick war +stärker als ich! der Brief war an Alexandra Michailowna gerichtet. + +Hier ist er: ich schreibe ihn wortgetreu ab. Unklar begriff ich, was er +enthielt und noch lange nachher habe ich über das Rätsel nachgedacht und +mich grübelnd zerquält. Mit diesem Augenblick brach mein früheres Leben +ab. Mein Herz war für lange Zeit erschüttert, fast für immer, denn +dieser Brief hatte viele Folgen. Die Vorahnung, mit der ich das Orakel +nach meiner Zukunft befragen gewollt, hatte mich nicht getäuscht. + +Dieser Brief war das Letzte, war ein letzter, furchtbarer Abschied. +Während ich ihn las, krampfte sich mein Herz so schmerzhaft zusammen, +als verlöre ich selbst damit alles, als würden mir auf ewig sogar meine +Träume und Hoffnungen genommen, als bliebe mir nichts mehr als ein +unnötiges, überflüssiges Leben. Wer war er, der diesen Brief +geschrieben? Wie war nachher sein Leben? Dieser Brief enthielt so viele +Andeutungen, so viele Beweisstücke, daß man sich nicht täuschen konnte, +und doch auch so viele Rätsel, daß es unmöglich war, sich nicht in den +Vermutungen zu verlieren. Dennoch kann ich sagen, daß ich mich kaum +irrte; übrigens offenbarte allein schon der Stil des Briefes, der auch +sonst noch vieles verriet, den ganzen Charakter dieses Verhältnisses, +über dem zwei Herzen gebrochen sind. Die Gedanken und Gefühle des +Schreibenden lagen offen zutage. Doch hier ist der Brief – ich schreibe +ihn Wort für Wort ab: + +„Du wirst mich nicht vergessen, sagtest Du – und ich glaube Dir, und von +nun an ist mein ganzes Leben in diesen Deinen Worten. Wir müssen uns +trennen, unsere Stunde hat geschlagen. Das wußte ich längst, meine +stille, meine traurige Schönheit, aber erst jetzt habe ich es begriffen. +Während der ganzen Zeit, die _uns_ gehörte, seitdem Du mich liebtest, +hat mein Herz mich geschmerzt und gezittert um unsere Liebe, und – wirst +Du’s glauben? – jetzt ist mir leichter! Ich wußte es schon längst, daß +es so enden werde, so war es schon vor uns bestimmt. Das ist Schicksal. +Und weißt Du, laß es mich Dir sagen, Alexandra: wir waren _nicht +ebenbürtig_; das habe ich immer, _immer_ gefühlt! Ich war Deiner nicht +wert, und ich, ich allein müßte die Strafe für mein durchlebtes Glück +tragen! Sag’, was war ich im Vergleich mit Dir, bevor ich Dich kennen +lernte? Gott! nun sind schon zwei Jahre darüber vergangen und ich bin +immer noch wie von Sinnen; ich kann es bis jetzt noch nicht begreifen, +daß _Du mich_ lieben konntest! Ich verstehe nicht, wie es zwischen uns +so weit kam, womit es begann. Erinnerst Du Dich noch, was ich war im +Vergleich mit Dir? War ich denn Deiner wert, was war an mir, wodurch +zeichnete ich mich aus? Bevor ich Dich kennen lernte, war ich roh und +einfältig, und mein Aussehen traurig und düster. Ein anderes Leben +wünschte ich nicht, ich rief es weder, noch wollte ich es rufen. Alles +in mir war niedergedrückt und ich kannte in der ganzen Welt nichts +Wichtigeres, als meine tägliche Arbeit. Ich hatte nur eine Sorge – das +war der nächste Tag; doch selbst zu dieser verhielt ich mich +gleichmütig. Früher, ja, einmal vor langer Zeit, da hatte ich wohl etwas +Ähnliches erträumt und wie ein Narr phantastische Schlösser gebaut. +Seitdem aber war viel, viel Zeit vergangen und ich richtete mich so gut +es ging in meinem Leben ein, lebte einsam, verschlossen, ruhig und sogar +ohne die Kälte zu fühlen, die mein Herz erstarren ließ. Und so +verstummte es. Ich wußte doch, daß für mich nie eine andere Sonne +aufgehen werde, und ich glaubte daran und murrte nicht, denn ich +begriff, daß es _so sein mußte_. Als Du an mir vorübergingst, wußte ich +nicht, daß ich es wagen durfte, meine Augen zu Dir zu erheben. Ich war +wie ein Sklave vor Dir. Mein Herz bebte nicht neben Dir, es sehnte sich +nicht und verhieß mir nichts von Dir: es war ruhig. Meine Seele erkannte +die Deine nicht, wenn es in ihr auch leicht war neben ihrer schönen +Schwester. Das weiß ich; das fühlte ich dumpf. Das konnte ich fühlen, +denn selbst in das letzte Stäubchen dringt Gottes Sonnenlicht und wärmt +und liebkost es ebenso wie die schönste Blume, neben der es in +wunschloser Demut fröstelt. Als ich aber alles erfuhr, weißt Du noch, +nach jenem Abend, nach jenen Worten, die meine Seele bis auf den Grund +erschütterten – da war ich wie geblendet, bestürzt, alles verwirrte sich +in mir, und – was glaubst Du? – ich war so betroffen, ich traute mir so +wenig, daß ich Dich nicht verstand! Davon habe ich Dir nie etwas gesagt. +Du wußtest nichts; nicht so war ich früher, wie Du mich kennen lerntest. +Wenn ich gekonnt hätte, wenn ich gewagt hätte, zu sprechen, so hätte ich +Dir längst alles gestanden. Doch ich schwieg, jetzt aber werde ich Dir +alles sagen, denn Du sollst wissen, wen Du verlierst, von was für einem +Menschen Du Dich trennst. Weißt Du auch, wie ich Dich anfangs verstand? +Die Leidenschaft erfaßte mich wie ein Feuer, wie ein Gift ergoß sie sich +in mein Blut; sie verwirrte alle meine Gedanken und Gefühle, ich war wie +von schwerem Wein berauscht, wie im Dunst ging ich umher und auf Deine +reine _mitleidige_ Liebe antwortete ich nicht wie ein Ebenbürtiger einer +Ebenbürtigen, nicht wie einer, der Deiner reinen Liebe wert wäre, +sondern besinnungslos, herzlos. Ich erkannte Dich nicht. Ich antwortete +Dir wie einer, die sich in meinen Augen _bis zu mir vergaß_, und nicht +wie einer, die mich bis zu sich erheben wollte. Weißt Du, was ich von +Dir dachte, was das für mich bedeutete: _die sich bis zu mir vergaß_? +Doch nein, ich werde Dich nicht mit meinem Geständnis beleidigen; nur +eines will ich Dir sagen: Du hast Dich bitter in mir getäuscht! Niemals, +niemals konnte ich mich bis zu Dir erheben. Ich konnte Dich nur unnahbar +anschauen, Dein Wesen geistig erfassen in meiner schrankenlosen Liebe. +Meine Leidenschaft aber war nicht Liebe. Liebe fürchtete ich; ich wagte +nicht, Dich zu lieben. In der Liebe – ist Gemeinsamkeit, Gleichheit, +ihrer aber war ich nicht wert ... Oder ich weiß nicht, was mit mir war! +Oh! wie soll ich mich nur ausdrücken, um von Dir verstanden zu werden +... Ich glaubte anfangs nicht ... Oh! weißt Du noch, als meine erste +Erregung sich gelegt und mein Blick sich geklärt hatte, als mir nur ein +reines, makelloses Gefühl geblieben war – da war meine erste Empfindung +Verwunderung, Verwirrung, Furcht und – weißt Du noch – wie ich mich +plötzlich aufschluchzend Dir zu Füßen warf? Weißt Du noch, wie Du +verwirrt, erschrocken, mit Tränen in den Augen mich fragtest, was mit +mir sei? Ich schwieg, ich konnte Dir nicht antworten; aber meine Seele +zerriß sich in Stücke. Mein Glück bedrückte mich wie eine unerträgliche +Last und mein Schluchzen sprach: „Wofür das? Womit habe ich das +verdient? Wofür mir dieses Glück? Meine Schwester, meine Schwester!“ Oh! +und wie oft – Du merktest es nicht – wie oft habe ich heimlich Dein +Kleid geküßt, heimlich, denn ich wußte, daß ich Deiner nicht wert war, – +und es benahm mir den Atem, mein Herz schlug langsam und stark, als +wolle es stehenbleiben und das – für immer. Wenn ich Deine Hand nahm, +erbleichte ich und zitterte; Du verwirrtest mich mit Deiner Reinheit. +Nein, ich verstehe nicht – das alles auszudrücken, wovon meine Seele +erfüllt war und was sich so mächtig in Worten aus ihr herausdrängen +will! Weißt Du auch, daß es mir oft schwer war, Deine mitleidige, +gleichmäßige Zärtlichkeit zu ertragen, daß sie mir eine Qual war? Als Du +mich küßtest (das tatest Du einmal, und ich werde es nie vergessen), da +umflorte sich mein Blick und mein Geist versank wie in einem dunklen +Nebel. Warum starb ich nicht in diesem Augenblick zu Deinen Füßen? Sieh, +ich sage zum erstenmal „Du“ zu Dir, und doch hast Du es schon so oft von +mir verlangt, schon vor langer Zeit. Wirst Du verstehen, was ich sagen +will? Ich will Dir _alles_ sagen und sage Dir dies: ja, Du liebst mich, +mit einer großen Liebe, Du liebtest mich wie eine Schwester ihren +Bruder; Du liebtest mich wie Dein Geschöpf, denn durch Dich ist mein +Herz auferstanden, Du hast meinen Geist aus dem Schlaf geweckt und ihn +mit süßer Hoffnung erfüllt; ich aber konnte es nicht, wagte es nicht ... +ich habe Dich nie meine Schwester genannt, weil ich nicht Dein Bruder +sein konnte, weil wir ungleich waren, weil Du Dich in mir täuschtest! + +Doch Du siehst, ich schreibe nur von mir; selbst jetzt in dieser Stunde +des Elends, denke ich nur an mich, obschon ich weiß, daß Du Dich um mich +quälst. Oh, quäle Dich nicht meinetwegen, meine liebe Freundin! Wenn Du +wüßtest, wie ich jetzt in meinen eigenen Augen erniedrigt bin! All das +ist an den Tag gekommen und – wieviel Lärm um nichts! Du wirst statt +meiner verstoßen, Dich straft man mit Verachtung, mit Spott, denn ich +stehe ja so niedrig in den Augen der Menschen! Oh, wie groß ist meine +Schuld, daß ich Deiner nicht wert war! Hätte ich Rang und Titel oder +persönlichen Wert in ihren Augen, wenn ich ihnen mehr Achtung einflößte +– dann würden sie Dir verzeihen! Ich aber bin nichts, bin wertlos, bin +lächerlich, noch Niederigeres aber als das Lächerliche gibt es nicht. +Denn – _wer_ sind sie, die da schreien? Gerade deshalb, weil _diese_ +schon schrien, verlor ich den Mut – ich war von jeher schwach. Weißt Du, +in welch einer Stimmung ich jetzt bin? – ich lache über mich selbst und +ich glaube, sie haben recht, wenn sie sagen, ich sei mir selbst verhaßt +und in meinen eigenen Augen lächerlich. Ich hasse sogar mein Gesicht, +meine Gestalt, alle meine Angewohnheiten, alle meine ungeschickten +Bewegungen; ich habe sie immer gehaßt! Oh, vergib mir meine rohe +Verzweiflung! Aber Du selbst hast mich gelehrt, Dir alles zu sagen. Ich +habe Dich ins Unglück gestürzt, durch mich bist Du ihrem Spott und +Gelächter verfallen – weil ich Deiner nicht wert war! + +Und dieser eine Gedanke quält mich; er klopft unaufhörlich in meinem +Gehirn und foltert und zerreißt mein Herz. Und immer scheint es mir, daß +Du gar nicht _den_ Menschen geliebt hast, der ich war, sondern einen, +den nur Du in mir sahst –: daß Du Dich getäuscht hast in mir. Das ist +es, was mich schmerzt, das ist es, was mich jetzt quält, was mich zu +Tode quälen wird: oder aber – ich werde darüber wahnsinnig! + +Ich muß Abschied von Dir nehmen, Abschied! Jetzt, wo alle es wissen, wo +ihr Geschrei und ihr scharfes Urteil ertönt (ich habe es gehört!), +jetzt, wo ich klein und erniedrigt bin in meinen eigenen Augen und mich +vor mir selber schäme, ja wo ich mich sogar für Dich schäme, wegen +Deiner Wahl, wo ich mich verflucht habe, – jetzt muß ich verschwinden um +Deiner Ruhe willen. So verlangt man es, und Du wirst mich nie mehr +wiedersehen, nie mehr. So muß es auch sein, so ist es vom Schicksal +bestimmt! Es hat mir gar zu viel gegeben; wohl aus Versehen; und jetzt +macht es seinen Irrtum gut, indem es mir alles wieder nimmt. Unsere Wege +haben sich gekreuzt, wir lernten uns kennen, und nun gehen wir +auseinander bis zu einem neuen Wiedersehen! Wo wird das sein, wann wird +das sein? Oh, sag’ mir, Du Liebe, wo werden wir uns wiedersehen, wo kann +ich Dich finden, wie kann ich Dich verstehen lernen – und wirst auch Du +mich dann verstehen? Meine Seele ist so voll von Dir! Oh, wofür, wofür +das uns? Warum gehen wir auseinander? Belehre mich – ich begreife das +nicht, ich werde es nie begreifen, ich kann es nicht – lehre Du mich, +wie man das Leben in zwei Hälften brechen, wie man das Herz sich aus der +Brust reißen und ohne Herz leben kann! Wenn ich daran denke, daß ich +Dich nie mehr sehen werde, nie mehr, nie mehr! ... + +Gott, was für ein Geschrei sie erhoben haben! wie ich jetzt für Dich +fürchte! Vor einer Stunde habe ich mit Deinem Mann gesprochen: wir sind +beide seiner nicht wert, obschon wir schuldlos vor ihm sind. Er weiß +alles; er sieht uns so, wie wir sind, und er begreift alles, auch früher +schon ist ihm alles klar gewesen. Und jetzt ist er wie ein Held für Dich +eingetreten. Er wird Dich gegen ihr Geschrei verteidigen und beschützen; +er liebt und achtet Dich grenzenlos; er ist Dein Retter, während ich +verschwinde! ... Ich wollte ihm die Hände küssen! ... Er sagte mir, ich +solle unverzüglich verreisen. Es ist schon beschlossen! Es heißt, er +habe Deinetwegen mit ihnen allen gebrochen; dort sind ja alle gegen +Dich. Man wirft ihm zu große Nachsicht und Schwäche vor. Mein Gott! Was +sie nicht alles von Dir reden! Und dabei wissen sie nichts! _Sie können +ja nicht, sie sind nicht fähig_, die Wahrheit zu begreifen! Vergib, +vergib ihnen, Du Arme, wie auch ich ihnen vergebe. Mir aber haben sie +mehr genommen als Dir! + +Ich weiß nicht – nein, ich weiß nicht, was ich Dir schreibe. Was sagte +ich Dir gestern beim Abschied? Ich habe doch alles vergessen. Ich war +wie von Sinnen – Du weintest ... Vergib mir diese Tränen! Ich bin so +schwach, so kleinmütig! + +Ich wollte Dir noch etwas sagen ... Oh! Noch einmal Deine Hände küssen, +mit diesen Tränen benetzen, die hier auf dem Papier meine Worte +verwischen! Noch einmal zu Deinen Füßen sitzen! Wenn _sie_ nur wüßten, +wie rein und gut Dein Gefühl war! Aber sie sind ja blind; ihre Herzen +sind stolz und hochmütig; sie sehen nicht und werden das niemals sehen. +Denn _sie haben das nicht, womit man sieht_! Sie werden es nie glauben, +daß Du schuldlos bist, auch wenn die ganze Welt es ihnen schwören +sollte. Wie sollten sie auch das begreifen! Und doch werden sie mit +Steinen nach Dir werfen! Wessen Hand wird die erste sein? Oh, die werden +nicht zaudern, tausend Steine werden sie aufheben! Ja, sie werden sich +dazu erdreisten, weil sie wissen, wie man das macht. Sie werfen alle +zugleich und sagen, sie selber seien schuldlos, deshalb dürften sie es! +Oh, wenn sie wüßten, was sie tun! Wenn man ihnen nur alles sagen könnte, +alles, rückhaltlos alles, damit sie es hören, sehen, begreifen und sich +überzeugen könnten! Doch nein, sie sind nicht so schlecht ... Ich rede +in meiner Verzweiflung ... – vielleicht verleumde ich sie! Vielleicht +stecke ich Dich mit meiner Angst um Dich an! Nein, fürchte sie nicht, +fürchte sie nicht, Du Liebe! Man wird Dich verstehen lernen; wenigstens +hat einer Dich schon begriffen: Dein Mann. Also hoffe! + +Leb’ – leb’ wohl! _Ich danke Dir nicht!_ Für immer leb’ wohl. + + S. O.“ + +Meine Verwirrung war so groß, daß ich lange Zeit nicht wußte, was in mir +vorging. Ich war erschüttert, erschrocken. Die Wirklichkeit traf mich +gar zu plötzlich, gar zu unerwartet mitten in dem lustigen Leben meiner +Träumereien, wie ich es schon drei Jahre lang lebte. Mit Schrecken wurde +ich gewahr, daß ich ein großes Geheimnis in meinen Händen hielt und daß +dieses Geheimnis mein ganzes Leben in Fesseln schlug ... wie? – das +wußte ich selbst noch nicht. Ich fühlte, daß in diesem Augenblick eine +neue Zukunft für mich begann. Jetzt war ich ungewollt eine nahe, gar zu +nahe Teilhaberin an dem Leben und den Beziehungen jener Menschen, die +noch die ganze mich umgebende Welt ausmachten, und ich fürchtete für +mich. Als was würde ich in ihr Leben eintreten, ich, die Ungerufene, +ich, die ihnen Fremde? Was würde ich ihnen bringen? Was wird jemals +diese Fessel lösen können, die mich so plötzlich an ein fremdes +Geheimnis kettete? Wer konnte das wissen? Vielleicht wird meine neue +Rolle sowohl für sie wie für mich qualvoll sein? Ich konnte nicht +schweigen oder diese Rolle nicht annehmen oder das, was ich erfahren, +für alle Zeit in meinem Herzen verschließen. Aber was erwartete mich? +Was sollte ich tun? Und schließlich – was hatte ich denn eigentlich +erfahren? Tausend Fragen, alle noch unbestimmt und unklar, erhoben sich +vor mir und bedrückten mein Herz unerträglich. Ich war wie verloren. + +Dann kamen, erinnere ich mich, andere Minuten mit neuen, seltsamen, von +mir noch nie empfundenen Eindrücken. Es war mir, als löse sich etwas in +meiner Brust, als fiele die frühere Sehnsucht plötzlich von mir ab und +als werde mein Herz langsam von etwas Neuem erfüllt, von dem ich noch +nicht wußte, ob ich darüber trauern oder mich freuen sollte. Meine +Stimmung in dem Augenblick glich derjenigen eines Menschen, der auf ewig +sein Haus, sein früheres, ruhiges, sorgenloses Leben verläßt, um sich +auf einen weiten unbekannten Weg zu begeben, und der sich nun zum +letztenmal im Kreise umschaut und in Gedanken von allem Abschied nimmt, +während es dem Herzen bitter weh ist in einer bangen Vorahnung all des +Unbekannten und Traurigen und vielleicht auch Feindseligen der Zukunft, +in die ihn sein neuer weiter Weg hineinführt. Zuletzt brach ich in +Tränen aus und das krampfhafte Weinen erleichterte mein Herz. Ich hatte +das Bedürfnis, jemanden zu sehen, zu hören, ihn fest, krampfhaft zu +umarmen. Jetzt konnte, jetzt wollte ich nicht mehr allein bleiben; ich +lief zu Alexandra Michailowna und verbrachte den ganzen Abend bei ihr. +Wir waren allein. Ich bat sie, nicht zu spielen, und weigerte mich, +trotz ihrer Bitten, ihr etwas vorzusingen. Ich fühlte mich bedrückt und +konnte mich zu nichts sammeln. Ich glaube, wir weinten beide. Wenigstens +soweit ich mich erinnere, erschrak sie über meine Stimmung und redete +mir in Sorge zu, mich doch zu beruhigen, und mich nicht aufzuregen. Sie +beobachtete mich angstvoll und versicherte mir, ich sei krank und müsse +mich mehr schonen. Ich verließ sie gequält und wie mit mir selbst +zerfallen. Ich war halb bewußtlos und fieberte, als ich zu Bett ging. + +Es vergingen mehrere Tage, bevor ich aus diesem Zustande mich +herausfand, gleichsam erwachte und meine Lage klarer übersehen konnte. +Damals lebten wir ganz einsam, denn Pjotr Alexandrowitsch war in einer +besonderen Angelegenheit nach Moskau gereist und blieb dort drei Wochen. +Alexandra Michailowna hatte aber trotz dieser kurzen Zeit der Trennung +schreckliche Sehnsucht nach ihm. Zuweilen war sie innerlich ruhiger, +schloß sich aber dennoch in ihr Zimmer ein, woraus ich ersah, daß ich +ihr lästig war. Aber auch ich hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Meine +Gedanken arbeiteten mit geradezu krankhafter Angespanntheit und doch kam +ich wie aus einem Nebel nicht heraus. Dann verfiel ich wiederum für +ganze lange Stunden einem quälenden, nicht abzuschüttelnden Sinnen, das +wie ein Traum über mich kam. Und es war mir dann, als lache jemand leise +über mich, als habe sich etwas in mir niedergelassen, was mir jeden +Gedanken verwirrte und vergiftete. Ich konnte die quälenden Bilder nicht +loswerden, die jeden Augenblick vor mir auftauchten und mir keine Ruhe +gaben. Ich sah ein langes, trostloses Martyrium, ein Opfer, das still +und ruhig und klaglos und – umsonst gebracht wurde. Es schien mir, daß +derjenige, dem dieses Opfer galt, sie verachtete und über sie lachte. Es +schien mir, daß ich einen Sünder sah, der einem Gerechten Sünden vergab, +und mein Herz riß in Stücke! Gleichzeitig aber wollte ich mich mit aller +Gewalt von meinem Verdacht befreien; ich verfluchte diesen Verdacht und +haßte mich selbst, weil alle meine Überzeugungen keine Überzeugungen +waren, sondern nur Vorahnungen, und weil ich meine Eindrücke und +Empfindungen vor mir selber nicht rechtfertigen konnte. + +Dann wieder erinnerte ich mich all jener Sätze, dieser letzten +hervorgestoßenen Worte des furchtbaren Abschieds. Ich stellte mir diesen +Abschied vor, den – _unebenbürtigen_; ich bemühte mich, den ganzen +qualvollen Sinn dieses Wortes zu erfassen: „unebenbürtig“. Und furchtbar +erschütterte mich dieser letzte verzweifelte Abschiedsgruß: „Ich bin +lächerlich und schäme mich selber Deiner Wahl.“ Was war das? Was sind +das für Menschen? Wonach sehnen sie sich, was quält sie, was haben sie +verloren? Und ich überwand mich und las nochmals mit angespannter +Aufmerksamkeit diesen Brief, der soviel Verzweiflung enthielt, dessen +Sinn mir aber so fremd war, so unbegreiflich. Doch der Brief sank mir +aus der Hand und eine aufrührerische Erregung bemächtigte sich meines +Herzens ... Das alles mußte ja einmal seine Lösung finden, aber ich sah +den Ausweg nicht oder ich fürchtete ihn! + +Ich war fast krank, als eines Tages die Reiseequipage Pjotr +Alexandrowitschs in den Hof fuhr. Er war aus Moskau zurückgekehrt. +Alexandra Michailowna eilte außer sich vor Freude ihrem Mann entgegen, +ich aber blieb wie gelähmt stehen. Ich weiß noch, daß ich selber bis zum +Schreck über meine plötzliche Erregung betroffen war. Ich hielt das +nicht lange aus und lief auf mein Zimmer. Ich begriff nicht, was mich so +erschreckt hatte, aber die Tatsache, daß ich erschrocken war, flößte mir +Furcht ein. Nach einer Viertelstunde wurde ich gerufen und ich erhielt +einen Brief vom Fürsten. Im Salon erblickte ich noch einen Unbekannten, +der mit Pjotr Alexandrowitsch aus Moskau angekommen war, und aus +einzelnen Worten, die ich aus dem Gespräch auffing, verstand ich nur so +viel, daß er für lange Zeit bei uns bleiben werde. Das war der +Bevollmächtigte des Fürsten, der in irgendwelchen wichtigen +Angelegenheiten der fürstlichen Familie, die bis dahin in den Händen +Pjotr Alexandrowitschs geruht hatten, nunmehr nach Petersburg +übersiedelte. Er war es, der mir den Brief des Fürsten übergab und +sagte, die Prinzeß habe mir gleichfalls schreiben wollen und noch bis +zum letzten Augenblick versichert, daß sie den Brief unbedingt schreiben +werde, aber zu guter Letzt habe sie ihn doch mit leeren Händen abreisen +lassen und ihn gebeten, mir mündlich folgendes zu sagen: daß sie mir +entschieden nichts zu schreiben habe, sie habe ganze fünf Briefbogen +zerrissen, und sei zu der Überzeugung gekommen, daß in einem Brief sich +doch nichts sagen ließe, wir müßten eben von neuem Freundschaft +schließen; und ferner solle er mich versichern, daß uns ein baldiges +Wiedersehen bevorstehe. Auf meine ungeduldige Frage, wann das sein +werde, antwortete mir der fremde Herr, daß die ganze fürstliche Familie +allerdings die Absicht habe, bald nach Petersburg zurückzukehren, und +vermutlich werde das auch geschehen. Meine Freude darüber war so groß, +daß ich nicht wußte, was ich tun oder sagen sollte, und ich ging schnell +nach oben auf mein Zimmer, schloß mich ein und erbrach unter Tränen den +Brief des Fürsten. Der Fürst verhieß mir ein baldiges Wiedersehen mit +ihm und Katjä und gratulierte mir tief gerührt zu meinem Talent; zum +Schluß gab er mir seinen Segen und versprach, für meine Zukunft zu +sorgen. Ich weinte, während ich den Brief las; doch zu den Tränen +gesellte sich eine so unerträgliche Traurigkeit, daß ich, wie ich mich +erinnere, um mich selber in Angst geriet. Ich wußte nicht, was mit mir +geschah. + +Es vergingen ein paar Tage. In dem Zimmer zwischen dem meinigen und der +Bibliothek, wo früher Pjotr Alexandrowitschs Sekretär und Gehilfe +gearbeitet hatte, arbeitete jetzt jeden Vormittag und häufig auch abends +bis nach Mitternacht der neuangekommene Herr. Oft schlossen er und Pjotr +Alexandrowitsch sich im Kabinett des letzteren ein und arbeiteten +zusammen. An einem Nachmittage bat mich Alexandra Michailowna, zu ihrem +Mann ins Kabinett zu gehen und ihn zu fragen, ob er zum Tee zu uns +kommen werde. Im Kabinett war niemand, doch in der Annahme, daß er bald +zurückkehren werde, blieb ich dort und wartete. An der Wand hing sein +Porträt. Ich erinnere mich noch, daß ich zusammenfuhr, als ich plötzlich +dieses Bild erblickte, um es dann mit einer mir selbst unbegreiflichen +Erregung zu betrachten. Es hing ziemlich hoch und die Dämmerung machte +es noch undeutlicher; um es nun besser zu sehen, zog ich einen Stuhl +heran und stieg auf ihn hinauf. Ich wollte etwas aufdecken, ja es war, +als hoffte ich, eine Antwort auf meine Zweifel und Fragen zu finden, und +ich weiß noch, daß mir vor allem die Augen an diesem Porträt auffielen. +Zugleich fiel es mir auch ein, daß ich noch niemals die Augen dieses +Menschen gesehen hatte: er verbarg sie immer hinter den Brillengläsern. + +Schon als Kind hatte ich seinen Blick nicht gemocht, und zwar infolge +eines unerklärlichen, seltsamen Vorurteils, das ich aber jetzt gleichsam +als gerechtfertigt empfand. Meine Phantasie war beeinflußt. Plötzlich +schien es mir, daß die Augen des Bildes sich verwirrt abwandten, um +meinem forschenden, prüfenden Blick auszuweichen, daß sie ihn krampfhaft +mieden, und daß Lüge und Betrug in diesen Augen waren; es schien mir, +daß ich es erraten hatte, und eine geheime Freude, die ich selbst nicht +begriff, antwortete in mir auf dieses Erraten. Ein halblautes „Ach!“ +entschlüpfte mir unwillkürlich. Da war’s mir plötzlich, als sei noch +jemand im Zimmer. Ich sah mich um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch +und betrachtete mich aufmerksam. Plötzlich errötete er. Ich wurde +feuerrot und sprang vom Stuhl herab. + +„Was tun Sie hier?“ fragte er mich streng. „Warum sind Sie hier?“ + +Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Doch ich nahm mich zusammen +und brachte so gut es ging die Aufforderung Alexandra Michailownas +hervor. Ich weiß nicht, was er mir antwortete; ich weiß auch nicht, wie +ich das Kabinett verließ; als ich aber zu Alexandra Michailowna kam, da +hatte ich die Antwort, auf die sie wartete, spurlos vergessen, und ich +sagte aufs Geratewohl, ja, er werde kommen. + +„Aber was ist mit dir, Njetotschka?“ fragte sie, „du bist ja ganz rot; +sieh doch im Spiegel, wie du aussiehst ... Was fehlt dir, Kind?“ + +„Ich weiß nicht, ich bin schnell gegangen ...“ sagte ich. + +„Und was hat denn Pjotr Alexandrowitsch gesagt?“ unterbrach sie mich +etwas verwirrt. + +Ich antwortete nicht. Da hörten wir Schritte, er kam schon, und ich ging +schnell hinaus. Ganze zwei Stunden wartete ich in großem Kummer. Endlich +wurde ich zu Alexandra Michailowna gerufen. Sie war schweigsam und +bekümmert. Als ich eintrat, traf mich nur ein schneller forschender +Blick von ihr und sie schlug die Augen nieder. Ich glaubte, eine gewisse +Verwirrung in ihrem Gesicht zu bemerken. Bald sah ich, daß sie bei +schlechter Laune war; sie sprach wenig, vermied mich anzusehen und als +Antwort auf die besorgten Fragen B.’s klagte sie über Kopfschmerz. Pjotr +Alexandrowitsch war dagegen gesprächiger als sonst, unterhielt sich aber +nur mit B. + +Alexandra Michailowna trat zerstreut an den Flügel. + +„Singen Sie uns etwas vor,“ bat B., sich an mich wendend. + +„Ja, Annjeta, singe deine neue Arie,“ sagte Alexandra Michailowna +schnell, als freue sie sich über den Vorwand. + +Ich blickte zu ihr auf: sie sah mich in unruhiger Erwartung an. + +Doch ich konnte mich nicht überwinden. Statt an den Flügel zu treten, um +wenigstens irgend etwas zu singen, geriet ich in Verwirrung, wurde +verlegen und wußte nicht, zu welcher Ausrede ich meine Zuflucht nehmen +sollte; schließlich ärgerte ich mich und schlug die Bitte rund ab. + +„Warum willst du denn nicht singen?“ fragte Alexandra Michailowna, dabei +sah sie mich an und dann, für den Bruchteil einer Sekunde, ihren Gatten. + +Diese zwei Blicke brachten mich um meine ganze Selbstbeherrschung. Ich +erhob mich in größter Verwirrung, die ich nicht mehr zu verbergen +vermochte, und zitternd von einer Empfindung, die wie Ärger und Ungeduld +war, wiederholte ich heftiger als angebracht, daß ich nicht wolle, nicht +könne – ich sei krank. Indem ich das sagte, sah ich alle offen an, doch +Gott weiß, wie gern ich mich in diesem Augenblick in meinem Zimmer vor +allen versteckt hätte. + +B. war erstaunt und Alexandra Michailowna sichtlich bekümmert, doch +sagte sie kein Wort. Pjotr Alexandrowitsch aber erhob sich plötzlich von +seinem Platz, sagte, er habe etwas Wichtiges vergessen, und wie im Ärger +darüber, daß er soviel kostbare Zeit vergeudet, verließ er eilig das +Zimmer, nachdem er vorausgeschickt, daß er später vielleicht noch +vorsprechen werde – doch drückte er auf alle Fälle B. schon zum Abschied +die Hand. + +„Aber was fehlt Ihnen nur?“ fragte mich B., „Sie sehen auch wirklich +krank aus.“ + +„Ja, ich bin nicht ganz wohl, wirklich nicht,“ versetzte ich ungeduldig. + +„Du bist bleich, vorhin aber warst du so rot,“ sagte Alexandra +Michailowna und plötzlich stockte sie. + +„Ach, das ist doch nichts!“ suchte ich sie zu beruhigen und ging +schnurstracks zu ihr. Ich sah ihr offen in die Augen. Die Arme hielt +meinen Blick nicht aus, senkte ihren Blick wie eine Schuldige und eine +leichte Röte stieg in ihre blassen Wangen. Ich nahm ihre Hand und küßte +sie. Sie sah mich – das fühlte ich – mit erheuchelter Freude an. + +„Verzeihen Sie, daß ich heute ein so schlechtes, böses Kind war,“ bat +ich sie herzlich, „aber wirklich, ich bin krank. So seien Sie mir nicht +böse und erlauben Sie, daß ich jetzt auf mein Zimmer gehe ...“ + +„Wir sind alle Kinder,“ sagte sie mit einem schüchternen Lächeln, „auch +ich bin ein Kind, und schlechter, viel schlechter als du,“ flüsterte sie +mir leise ins Ohr. „Dann gute Nacht und bleibe gesund. Nur, um Gottes +willen, sei mir nicht böse.“ + +„Weswegen?“ fragte ich, so sehr traf mich dieses naive Geständnis. + +„Weswegen?“ wiederholte sie in plötzlicher Verwirrung, ja sogar als +erschrecke sie über sich selbst. „Ja weswegen? Nun siehst du, wie ich +bin, Njetotschka. Was habe ich dir da gesagt? Gute Nacht! Du bist klüger +als ich ... Ich aber bin schlimmer als ein Kind.“ + +„Nun, schon gut!“ Ich war gerührt und wußte nicht, was ich ihr darauf +sagen sollte. Ich küßte sie nochmals und ging aus dem Zimmer. + +Mein Unmut galt hauptsächlich mir selbst, denn ich fühlte, daß ich zu +unvorsichtig war und mich nicht zu benehmen verstand. Es war da etwas, +dessen ich mich bis zu Tränen schämte, und mit großem Leid im Herzen +schlief ich ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein erster +Gedanke, daß der ganze letzte Abend – nur eine Gespensterseherei gewesen +sei, daß wir uns gegenseitig nur mystifiziert hatten, indem wir solchen +Nichtigkeiten die Bedeutung von Gott weiß was für Begebenheiten +beilegten, daß wir uns einfach übereilt hatten, und zwar alles das nur +infolge unserer Unerfahrenheit im Leben und unserer Ungewohntheit, +äußere Eindrücke zu empfangen. Ich fühlte es, daß dieser Brief an allem +schuld war, daß er mich gar zu sehr beunruhigte, daß meine +Einbildungskraft durch ihn aus ihrem gewöhnlichen Geleise gehoben war +und daß ich deshalb am besten tat, wenn ich in Zukunft überhaupt nicht +mehr an ihn dachte. Nachdem ich so meinen ganzen Kummer verscheucht +hatte, wurde ich – in der Überzeugung, daß ich den Entschluß, überhaupt +nicht mehr an den Brief zu denken, ebenso leicht werde ausführen können +– langsam ruhiger, ja fast sogar heiter, und begab mich in die +Gesangsstunde. Die Morgenluft erfrischte meinen Kopf endgültig. Diese +Wanderungen frühmorgens zu meinem Lehrer waren mir zu einer wahren +Erquickung geworden und ich liebte sie sehr. Es war so lustig, durch die +Stadt zu wandern, die sich schon zu beleben anfing und wie ein Uhrwerk +ihre tägliche Arbeit begann. Wir gingen gewöhnlich durch die +Hauptstraßen, die natürlich am belebtesten waren, und mir gefiel dieser +Anfang meiner Künstlerlaufbahn, eben dieser Kontrast zwischen der +alltäglichen Kleinlichkeit, der engen, doch lebendig pulsierenden Sorge, +und der Kunst, die mich zwei Schritte von diesem Leben entfernt +erwartete, im dritten Stock eines riesigen Hauses, das von oben bis +unten von Menschen bewohnt war, die die Kunst, wie mir schien, so gut +wie überhaupt nichts anging. Ich mit meinen Noten unterm Arm inmitten +dieser geschäftigen, besorgten Menschen – neben mir die alte Natalja, +die mich begleitete und mir jedesmal ahnungslos das Rätsel zu erraten +gab: woran sie eigentlich und vornehmlich denken mochte – und +schließlich mein Lehrer, halb Italiener, halb Franzose, ein ganzer +Sonderling, in manchen Augenblicken ein richtiger Enthusiast, viel öfter +aber ein Pedant und am meisten und vor allem ein Geizhals – alles das +zerstreute mich, brachte mich zum Lachen oder zum Nachdenken. Hinzu kam, +daß ich, so zaghaft ich in der Beziehung auch noch war, doch schon mit +leidenschaftlicher Hoffnung meine Kunst liebte. Ich baute mir schon +Luftschlösser, malte mir die schönste Zukunft aus, und nicht selten kam +ich nach Haus – glühend von meinen Phantasien! Kurz, in diesen Stunden +war ich fast glücklich. + +Dasselbe empfand ich auch damals, als ich gegen zehn Uhr zurückkehrte. +Ich hatte alle Sorgen vergessen und war, wie ich mich noch deutlich +erinnere, so froh gelaunt, so ganz erfüllt von irgendwelchen +Zukunftsträumen. Doch plötzlich, wie ich die Treppe hinaufstieg, zuckte +ich zusammen, als hätte ich mich verbrannt. Über mir hörte ich die +Stimme Pjotr Alexandrowitschs, der in diesem Augenblick die Treppe +herabstieg. Das unangenehme Gefühl, das sich meiner bemächtigte, war so +stark, die Erinnerung an den letzten Abend traf mich so plötzlich und so +feindselig, daß ich meine Empfindung wirklich nicht verbergen konnte. +Ich verbeugte mich leicht vor ihm, doch mein Gesicht drückte wohl so +deutlich alles aus, daß er einen Augenblick verwundert vor mir stehen +blieb. Da errötete ich und ging schnell hinauf. Er brummte mir noch +etwas nach und ging dann seiner Wege. + +Ich hätte weinen mögen vor Ärger und konnte doch nicht begreifen, was +eigentlich vorgegangen war. Den ganzen Tag war ich wie verwirrt und +wußte nicht, zu was ich mich entschließen sollte, um dieser ganzen Qual +ein Ende zu machen und sie endlich loszuwerden. Tausendmal nahm ich mir +vor, fortan vernünftiger zu sein, und tausendmal nahm mich die Angst +doch wieder gefangen. Ich fühlte, daß ich diesen Menschen haßte, und war +gleichzeitig in Verzweiflung über mich selbst. Ich wurde krank von der +ewigen Aufregung und verlor alle Gewalt über mich. Ich ärgerte mich +schließlich über alle, und verbrachte den ganzen langen Tag auf meinem +Zimmer. Auch zu Alexandra Michailowna ging ich nicht. Sie kam selbst zu +mir. Als sie mich erblickte, schrie sie fast auf. Ich war so bleich, daß +ich, als ich in den Spiegel sah, vor mir selber erschrak. Alexandra +Michailowna blieb eine ganze Stunde bei mir und ging mit mir um wie mit +einem kranken Kinde. + +Ihre Aufopferung und Liebe machten mich aber so traurig und ihre +Zärtlichkeit war für mich so schwer zu ertragen und es war mir so +qualvoll, sie anzusehen, daß ich sie bat, mich allein zu lassen. Sie +verließ mich in großer Sorge um meinen Zustand. Endlich brach ich in +Tränen aus und weinte wie in einem richtigen Weinkrampf. Danach wurde +mir bedeutend leichter ... + +... Leichter, weil ich mich entschlossen hatte, zu ihr zu gehen. Ich +wollte vor ihr niederknien, ihr den Brief geben, den sie verloren hatte, +und ihr alles gestehen: alle Qualen, die ich ausgestanden, meine +Zweifel, und wollte sie mit der ganzen schrankenlosen Liebe, die in mir +für sie glühte, umfangen, wollte ihr sagen, daß ich ihr Kind, ihr Freund +sei, daß ich mein ganzes Herz vor ihr öffne, damit sie hineinschaue und +sähe, wieviel glühende Liebe und unerschütterliches Vertrauen zu ihr in +ihm waren. Mein Gott! Ich wußte, ich fühlte ja, daß ich die letzte war, +der sie ihr Herz aufdecken konnte, doch um so eher, so schien es mir, +wäre dann eine Rettung möglich, um so gewichtiger wäre dann mein Wort +... Ich erriet, ich begriff ihren Schmerz, wenn auch dunkel und unklar, +und mein Herz bebte vor Entrüstung bei dem Gedanken, daß sie vor mir +erröten könnte, _sie_ vor _meinem_ Richterstuhl ... „Du Arme, du Arme, +_du_ solltest jene Sünderin sein, für die du dich hältst?“ – das wollte +ich ihr sagen, wenn ich vor ihr kniete. Mein Gerechtigkeitsgefühl +empörte sich in mir, ich war meiner selbst nicht mehr mächtig. Ich weiß +nicht, was ich noch alles gesagt hätte – erst später kam ich zur +Besinnung, nachdem ein Zufall mich und sie vor dem Verderben bewahrt, +indem er mich fast beim ersten Schritt zurückhielt. Entsetzen erfaßte +mich. Hätte denn ihr zu Tode gequältes Herz überhaupt noch in neuer +Hoffnung auferstehen können? Ich hätte sie nur auf der Stelle getötet! + +Es geschah aber folgendes: Als ich auf dem Wege zu ihr gerade durch das +vorletzte Zimmer vor ihrem Salon gehen wollte, trat plötzlich durch eine +andere Tür in dasselbe Zimmer Pjotr Alexandrowitsch und ging, ohne mich +zu bemerken, wenige Schritte vor mir gleichfalls zu ihr. Ich blieb wie +gelähmt stehen; er war der Letzte, den ich in diesem Augenblick hätte +sehen mögen. Ich wollte schon zurückkehren, doch plötzlich bannte mich +die Neugier regungslos an den Fleck. + +Er durchschritt das Zimmer, blieb einen Augenblick vor dem Spiegel +stehen, ordnete mit der Hand das Haar, und mit einem Male – zu meiner +sprachlosen Verwunderung – hörte ich ihn irgendeine muntere Melodie +summen. Wie ein Blitz durchzuckte eine dunkle, ferne Erinnerung aus den +Kinderjahren mein Gedächtnis. Doch damit die seltsame Empfindung, die +ich in diesem Augenblick hatte, verständlicher wird, will ich jene +Erinnerung mitteilen. Noch im ersten Jahre meines Aufenthaltes in diesem +Hause machte mich einmal eine gleichfalls zufällige Beobachtung ganz +betroffen, die mir aber erst jetzt voll zu Bewußtsein kam, denn erst +jetzt, erst in diesem Augenblick begriff ich die Ursache meiner +unerklärlichen Abneigung gegen diesen Menschen! Ich erwähnte bereits, +daß ich mich schon damals in seiner Gegenwart immer bedrückt fühlte. +Auch habe ich bereits erzählt, was für einen Eindruck sein finsteres, +bedrückendes Wesen auf mich machte, sein oft trauriges, geradezu +gramvolles Gesicht; wie schwer es mir ums Herz war nach jenen Stunden, +die wir zusammen am Teetischchen Alexandra Michailownas verbrachten, und +dann – was für ein peinvolles Gefühl mein Herz erfüllte, als ich – was +nur zwei- oder dreimal geschah – fast Zeugin war jener niederdrückenden, +mir so ganz unklaren Szenen. + +Es war in demselben Zimmer und um dieselbe Zeit, als er, ganz wie ich, +zu Alexandra Michailowna ging. Mich erfaßte eine rein kindliche Scheu, +als ich allein mit ihm zusammentraf, und ich versteckte mich gleichsam +schuldbewußt im Winkel und betete, daß er mich nicht bemerken möge. +Geradeso wie damals, blieb er vor dem Spiegel stehen und ich zuckte +zusammen von einer unbestimmten, gar nicht kindlichen Empfindung: es +schien mir, daß er sein Gesicht plötzlich verändere. Wenigstens hatte +ich vorher, als er zum Spiegel trat, deutlich ein Lächeln in seinem +Gesicht gesehen – ein Lächeln, während ich ihn früher noch niemals +lächeln gesehen hatte, denn (ich erinnere mich, das machte mich noch am +meisten betroffen) – er lachte nie in Alexandra Michailownas Gegenwart. +Und nun plötzlich, kaum daß er einen Blick in den Spiegel geworfen, +veränderte sich sein ganzes Gesicht: das Lächeln verschwand wie auf +Befehl und an seine Stelle trat der Ausdruck eines unsäglich bitteren +Gefühls, das sich anscheinend mit Gewalt aus dem Herzen drängte, eines +Gefühls, das zu verbergen scheinbar nicht mehr in menschlicher Macht +stand, wie groß auch immer jeder edelmütige Versuch dazu sein mochte, +und es zuckte um seine Lippen – ein anscheinend konvulsivischer Schmerz +ließ seine Stirn sich runzeln und zog die Brauen zusammen. Der Blick +verbarg sich düster hinter den Brillengläsern – kurz, sein Gesicht wurde +wie auf Kommando zum Gesicht eines ganz anderen Menschen. Ich erinnere +mich, daß ich, als ohnehin ängstliches Kind, vor Furcht erzitterte, vor +Furcht, das zu begreifen, das ganz zu erfassen und zu durchschauen, was +ich sah, und seit jenem Augenblick saß die bedrückende, unangenehme +Empfindung unausrottbar in meinem Herzen. Und nach dem Blick in den +Spiegel senkte er den Kopf, nahm eine müdere Haltung an, jene, in der er +gewöhnlich bei Alexandra Michailowna erschien, und ging leise in ihr +Boudoir. Diese Erinnerung war es, die mich nun plötzlich wie ein Blitz +durchzuckte. + +Auch jetzt glaubte er, ganz wie damals, daß er allein im Zimmer sei und +blieb vor demselben Spiegel stehen. Ganz wie damals stand ich dort, von +ihm unbemerkt, mit einem feindseligen unangenehmen Gefühl. Als ich ihn +aber dieses Liedchen summen hörte (ein Lied von ihm, von dem man alles +eher als das hätte erwarten können!) und vor Überraschung wie gelähmt +stehenblieb, als mir in diesem Augenblicke blitzartig die Ähnlichkeit +mit dem einen von mir als Kind erlebten Augenblick einfiel – da, ich +kann es nicht wiedergeben, was für eine Empfindung mir plötzlich +messerscharf ins Herz schnitt. Alle meine Nerven zuckten davon zusammen +und als Antwort auf dieses unglückselige Liedchen brach ich in ein +solches Gelächter aus, daß der arme Sänger mit einem Aufschrei zwei +Schritte weit vom Spiegel fortsprang und, bleich wie der Tod, wie ein +schmachvoll auf frischer Tat ertappter Verbrecher, mich ansah, außer +sich vor Schreck, vor Verblüffung und vor Wut. Sein Blick reizte mich +krankhaft und ich antwortete auf ihn mit nervenschüttelndem, +unersättlichem Lachen – ihm gerade ins Gesicht. Dann ging ich lachend an +ihm vorüber und trat, ohne mit dem Lachen aufzuhören, bei Alexandra +Michailowna ein. Ich wußte, daß er hinter der Portiere stand, daß er +vielleicht unschlüssig war, ob er gleichfalls eintreten sollte oder +nicht, daß Wut und Feigheit ihn an den Fleck bannten, wo er stand – und +mit einer seltsam gereizten, herausfordernden Ungeduld erwartete ich, +wozu er sich entschließen werde. Ich hätte wetten können, daß er nicht +eintreten werde, und ich hätte meine Wette gewonnen. Er kam erst nach +einer halben Stunde. Alexandra Michailowna sah mich lange Zeit mit +größter Verwunderung an, doch sie fragte mich vergeblich nach der +Ursache meiner Erregung. Ich konnte nicht antworten, ich war zu atemlos. +Endlich begriff sie, daß ich einen Nervenanfall gehabt hatte, und ihre +Augen folgten mir beunruhigt. Als ich mich etwas erholt hatte, erfaßte +ich ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen. Jetzt erst besann ich mich +und jetzt erst sagte ich mir, daß ich sie getötet hätte, wenn das +zufällige Zusammentreffen mit ihrem Mann nicht gewesen wäre. Ich sah sie +an, als sähe ich in ihr eine Auferstandene. + +Pjotr Alexandrowitsch trat herein. + +Ich blickte flüchtig zu ihm hin: er sah aus, als sei nichts geschehen, +also düster und verschlossen wie gewöhnlich. Es fiel mir nur auf, daß er +sehr bleich war und ich sah seine Mundwinkel zucken: da erriet ich, daß +er seine Erregung nur mit Mühe verbarg. Kühl grüßte er Alexandra +Michailowna und setzte sich schweigend auf seinen Platz. Seine Hand +zitterte ein wenig, als er die Tasse in Empfang nahm. Ich erwartete +einen Zornesausbruch und eine stumme Angst erfaßte mich. Ich wollte +schon hinausgehen, konnte mich aber nicht entschließen, Alexandra +Michailowna, deren Gesicht sich beim Anblick ihres Mannes verändert +hatte, zu verlassen. Sie hatte gleichfalls ein Vorgefühl, das ihr nichts +Gutes verhieß. Und das, was ich mit solcher Angst erwartete, geschah +denn auch endlich. + +Inmitten des tiefsten Schweigens sah ich auf und mein Blick begegnete +den Brillengläsern Pjotr Alexandrowitschs, die geradeaus auf mich +gerichtet waren. Das war so überraschend, weil so ungewohnt, daß ich +zusammenzuckte, fast einen Schrei ausstieß, und die Augen niederschlug. +Alexandra Michailowna bemerkte meinen Schreck. + +„Was ist mit Ihnen? Warum erröten Sie?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch +schroff und fast grob. + +Ich schwieg; mein Herz klopfte so stark, daß ich kein Wort hätte +hervorbringen können. + +„Weshalb ist sie errötet? Weshalb errötet sie immer?“ fragte er, sich an +Alexandra Michailowna wendend, indem er frech auf mich wies. + +Mein Unwille benahm mir den Atem. Ich warf einen flehenden Blick +Alexandra Michailowna zu. Sie verstand mich. In ihre bleichen Wangen +stieg edle Röte. + +„Annjeta,“ sagte sie zu mir mit so fester Stimme, wie ich sie von ihr +unter keinen Umständen erwartet hatte, „geh auf dein Zimmer, ich werde +sogleich zu dir kommen; den Abend werden wir zusammen verbringen ...“ + +„Ich frage Sie, haben Sie mich gehört oder nicht?“ unterbrach Pjotr +Alexandrowitsch mit erhobener Stimme, als höre er gar nicht, was seine +Frau sagte. „Weshalb erröten Sie, wenn Sie mir begegnen? Antworten Sie!“ + +„Weil Sie sie erröten machen und mich gleichfalls,“ antwortete statt +meiner Alexandra Michailowna, vor Aufregung stockend. + +Ich blickte erstaunt zu ihr auf. Die Schärfe ihrer Entgegnung schon +gleich zu Anfang war mir ganz unverständlich. + +„_Ich_ mache Sie erröten, _ich_?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch, wie es +schien auch über alle Maßen erstaunt und das „Ich“ stark betonend. „Für +_mich_ sind _Sie_ errötet? Ja kann _ich_ denn überhaupt _Sie_ für _mich_ +erröten machen? An wem ist es, an _mir_ oder an _Ihnen_, zu erröten, was +meinen Sie?“ + +Diese Frage war so deutlich, auch für mich, und mit so gehässigem +beißenden Spott gesagt, daß ich vor Entsetzen aufschrie und zu Alexandra +Michailowna stürzte. Überraschung, Schmerz, Vorwurf und Entsetzen +sprachen aus ihrem todbleichen Gesicht. Ich blickte flehend auf Pjotr +Alexandrowitsch und faltete die Hände, um ihn zu beschwören. Wie es +schien, war er selber etwas erschrocken, doch die Wut, die ihm diese +Worte entrissen, war noch nicht vergangen. Aber meine stumme Bitte +schien ihn doch einigermaßen zu verwirren. Meine Geste mußte verraten, +daß ich schon vieles von dem wußte, was zwischen ihnen ein Geheimnis +gewesen war und daß ich den Sinn seiner Worte sehr gut verstanden hatte. + +„Annjeta, geh auf dein Zimmer,“ wiederholte Alexandra Michailowna mit +schwacher, jedoch fester Stimme und sie erhob sich vom Stuhl, „ich habe +dringend mit Pjotr Alexandrowitsch zu sprechen ...“ + +Sie war anscheinend ruhig; doch diese Ruhe beängstigte mich mehr als +jede Aufregung es vermocht hätte. Ich stand, als habe ich ihre Worte +nicht gehört, und rührte mich nicht vom Fleck. Ich sah sie an und +versuchte mit Anspannung aller Kräfte aus ihrem Gesicht zu erraten, was +in ihrer Seele vorging. Es schien mir, daß sie weder meinen Ausruf, noch +meine Geste richtig verstanden hatte. + +„Da sehen Sie jetzt Ihr Werk!“ sagte Pjotr Alexandrowitsch, auf seine +Frau weisend. + +Mein Gott! Noch niemals hatte ich eine solche Verzweiflung gesehen, wie +ich sie jetzt in diesem vor Gram todmüden, gleichsam erstorbenen +Gesicht, sah. Er faßte mich am Handgelenk und führte mich zur Tür. Im +Hinausgehen blickte ich mich noch einmal nach ihnen um. Alexandra +Michailowna stand am Kamin, die Ellenbogen aufgestützt, den Kopf +zwischen beiden Händen, mit denen sie ihn krampfhaft zusammenpreßte. Die +ganze Stellung ihres Körpers drückte unerträgliche Qual aus. Ich griff +nach Pjotr Alexandrowitschs Hand und drückte sie flehend. + +„Um Gottes willen! Um Gottes willen!“ flüsterte ich stockend, „haben Sie +Erbarmen mit ihr!“ + +„Fürchten Sie sich nicht, fürchten Sie sich nicht!“ sagte er und sah +mich dabei eigentümlich an. „Das ist nichts, nur ein Anfall. Gehen Sie, +gehen Sie.“ + +In meinem Zimmer warf ich mich auf das Sofa und vergrub das Gesicht in +den Händen. Ganze drei Stunden verblieb ich in dieser Stellung und in +der Zeit stand ich Höllenqualen aus. Schließlich konnte ich mich doch +nicht mehr bezwingen und ließ fragen, ob ich zu Alexandra Michailowna +kommen dürfe. Die Antwort brachte mir Madame Léotard. Pjotr +Alexandrowitsch ließ mir durch sie sagen, daß der Anfall überstanden und +eine Gefahr nicht vorhanden sei, doch bedürfe sie noch der Ruhe. Ich +blieb aber trotzdem bis drei Uhr nachts auf und ging ruhelos in meinem +Zimmer hin und her. Meine Gedanken arbeiteten. Ich befand mich in einer +Lage, die mir rätselhafter als jemals war, aber ich fühlte mich +gewissermaßen ruhiger – vielleicht deshalb, weil ich mich am +schuldigsten von allen fühlte. In ungeduldiger Erwartung des nächsten +Morgens ging ich zu Bett. + +Am anderen Tage bemerkte ich zu meinem großen Kummer eine mir +unerklärliche Kälte im Wesen Alexandra Michailownas. Zuerst glaubte ich, +das sei nur deswegen, weil es ihrem reinen, vornehmen Herzen schwer +werde, nach der Szene mit ihrem Mann, deren Zeugin ich gewesen war, mit +mir zusammen zu sein. Ich wußte, daß dieses Kind imstande war, vor mir +zu erröten und _mich_ womöglich noch um Verzeihung zu bitten, weil diese +unglückliche Szene _meinem_ Herzen weh getan. Bald aber bemerkte ich an +ihr so etwas wie eine bestimmte Sorge, wie einen Unwillen, der einen +einzigen bestimmten Grund zu haben schien und sich nun in verschiedenen +Formen äußerte: bald antwortete sie trocken und kühl, bald klang aus +ihren Worten ein gewisser Doppelsinn, als wolle sie etwas Besonderes +andeuten; dann wurde sie wiederum sehr lieb und gut zu mir, als bereue +sie diese Schroffheit und Kälte, die ihr Herz ja doch nicht lange für +mich empfinden konnte, und ihre freundlichen leisen Worte suchten den +Eindruck zu verwischen und verrieten, daß ihre Unfreundlichkeit ihr von +Herzen leid tat. Schließlich fragte ich sie ganz offen, was mit ihr sei +und ob sie mir vielleicht etwas zu sagen habe. Meine plötzliche schnelle +Frage verwirrte sie ein wenig, doch sofort sah sie wieder auf, sah mich +mit großen, stillen Augen und einem zarten Lächeln an und fragte mich: + +„Nichts, Njetotschka; nur, weißt du, als du mich so plötzlich fragtest, +da geriet ich in Verwirrung. Aber das geschah nur deshalb, weil es so +plötzlich kam ... ich versichere dir. Doch höre, sage mir die Wahrheit, +mein Kind: hast du nicht so etwas auf dem Herzen, wovon du ebenso +verwirrt werden könntest, wenn man dich ebenso plötzlich und unerwartet +danach fragen würde?“ + +„Nein,“ antwortete ich, und sah sie mit hellen Augen offen an. + +„Nun, dann ist es ja gut! Wenn du wüßtest, mein Kind, wie ich dir +dankbar bin für diese schöne und offene Antwort. Nicht, daß ich dich +irgendeines Schlechten verdächtigt hätte, – niemals! Einen solchen +Gedanken würde ich mir nie verzeihen. Doch höre: ich nahm dich als Kind +zu mir und jetzt bist du siebzehn Jahre alt. Du hast ja selbst gesehen: +ich bin leidend; ich bin selbst wie ein Kind, das Nachsicht beansprucht. +Ich konnte dir die leibliche Mutter nicht vollständig ersetzen, obgleich +mein Herz für dich überreich an Liebe war. Wenn mich jetzt Sorgen um +dich quälen, so bin ich selbstverständlich schuld daran und nicht du. +Verzeihe daher meine Frage und vergib mir, wenn ich mein Versprechen +nicht erfüllt habe, das ich dir und dem Vater gegeben, als ich dich in +mein Haus nahm. Das quält mich sehr und hat mich immer gequält, mein +Kind.“ + +Ich umarmte sie und brach in Tränen aus. + +„Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen für alles!“ sagte ich, und +benetzte ihre Hände mit meinen Tränen. „Sprechen Sie nicht so zu mir, +zerreißen Sie mir nicht das Herz. Sie sind mir mehr denn eine Mutter +gewesen, Gott segne Sie für alles, was Sie an mir getan haben, Sie und +der Fürst, an mir Armen, Verlassenen! meine Liebe, meine Gütige!“ + +„Genug, Njetotschka, genug! Umarme mich lieber, so, von Herzen! Denn, +siehe, Gott weiß, warum es mir scheint, daß du mich zum letztenmal +umarmen wirst.“ + +„Nein, nein,“ rief ich laut aufschluchzend wie ein Kind, „nein, nur das +nicht! Sie werden noch glücklich sein! ... Noch vieles steht Ihnen +bevor. Glauben Sie mir, wir werden alle noch glücklich sein.“ + +„Ich danke dir, ich danke dir für deine Liebe, Njetotschka. Nur wenige +lieben mich; sie haben mich alle verlassen!“ + +„Wer hat Sie denn verlassen? Wer denn?“ + +„Früher waren es ihrer mehr; du weißt es nicht, Njetotschka. Sie haben +mich alle verlassen, sie sind fortgegangen, als wären Zeichen geschehen. +Und ich habe auf sie gewartet, mein ganzes Leben lang gewartet; nun Gott +mit ihnen! Sieh Njetotschka, wie spät schon der Herbst ist; bald gibt es +Schnee: und mit dem ersten Schnee sterbe ich, – doch ich will nicht +klagen. Lebt alle wohl!“ + +Ihr Gesicht war schmal und durchsichtig; auf ihren Wangen brannten rote +Flecke; ihre Lippen bebten und waren wie von einem inneren Feuer +verbrannt. + +Sie ging ans Klavier und schlug ein paar Akkorde an; in dem Augenblick +riß eine Seite und ein langer zitternder Ton heulte auf ... + +„Hörst du, Njetotschka, hörst du?“ fragte sie mit verlöschender Stimme, +und wies auf das Klavier. „Diese Saite hat man zu sehr angespannt: sie +hielt’s nicht aus und zerriß. Hörst du, wie der Ton klagend erstirbt!“ + +Sie sprach mühevoll. Ein stumpfer, seelischer Schmerz lag auf ihrem +Gesicht, ihre Augen standen voll Tränen. + +„Genug davon, Njetotschka, meine Liebe, genug; bringe die Kinder her.“ + +Ich führte sie herbei. Ihre Gegenwart schien sie zu beruhigen und sie +erholte sich. Nach einer Stunde aber mußten alle sie wieder verlassen. + +„Wenn ich sterbe, so bleibst du bei ihnen, Annjeta? Ja?“ sagte sie +flüsternd, als fürchte sie, gehört zu werden. + +„Haben Sie Erbarmen, Sie töten mich!“ konnte ich ihr nur antworten. + +„Ich habe ja bloß gescherzt,“ sagte sie und verstummte lächelnd. „Und du +hast daran geglaubt? Ich sage doch manchmal, Gott weiß was! Ich bin wie +ein Kind, mir muß man alles verzeihen.“ + +Dabei sah sie mich ganz schüchtern an, als fürchtete sie sich, etwas +auszusprechen, was ihr auf dem Herzen lag. Ich wartete. + +„Sieh zu, erschrick ihn nicht,“ sagte sie endlich mit niedergeschlagenen +Augen und mit heller Röte im Gesicht, so leise, daß ich es kaum hören +konnte. + +„Wen?“ fragte ich verwundert. + +„Meinen Mann. Du erzählst ihm am Ende alles wieder.“ + +„Wieso, warum denn?“ wiederholte ich meine Frage mit immer wachsendem +Erstaunen. + +„Nun, vielleicht erzählst du es ihm auch nicht, wer kann es wissen!“ +antwortete sie und sie versuchte offenbar, mich schlau anzusehen, und +ein gutmütiges Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln und die Farbe stieg +ihr mehr und mehr zu Gesicht. „Lassen wir das; ich scherze ja nur.“ + +Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. + +„Nur höre, du wirst sie aber lieben, wenn ich sterbe, – ja?“ fügte sie +ernst hinzu und wieder mit einem geheimnisvollen Gesicht, „so, als +liebtest du deine eigenen Kinder, – ja? Denke daran: ich habe dich immer +wie eine mir Verwandte behandelt und geliebt.“ + +„Ja, ja,“ antwortete ich, ohne zu wissen, was ich vor Tränen und +Erregung sagte. + +Ein heißer Kuß brannte auf meiner Hand – es gelang mir nicht, sie ihr +rechtzeitig zu entziehen. Verwunderung lähmte meine Zunge. + +„Was geht in ihr vor? Was denkt sie sich? Was war gestern mit ihr?“ ging +es mir durch den Kopf. + +Dann klagte sie über Müdigkeit. + +„Ich fühle mich schon längst krank, ich wollte euch nur nicht +ängstigen,“ sagte sie. „Ihr liebt mich doch beide, – nicht wahr? ... Auf +Wiedersehen, Njetotschka; verlaß mich jetzt, am Abend komme bestimmt +wieder?! Wirst du kommen?“ + +Ich gab ihr mein Wort, und freute mich, nur fort zu kommen. Länger +konnte ich es nicht mehr ertragen. + +„Du Arme, Arme! Welch ein Verdacht treibt dich ins Grab?“ schluchzte ich +auf: „was für ein neuer Kummer zernagt und zerreißt dein Herz, ein +Kummer, den du nicht einmal auszusprechen wagst? Mein Gott! Dieses Leid, +das ich an ihr schon so lange kannte, dieses Leben ohne Freude, diese +bescheidene Liebe, die nichts fordert. Und noch dazu jetzt, jetzt, vor +dem Tode, da ihr Herz müde ist, fühlt sie sich als Schuldige, die nicht +einmal zu murren wagt, und nicht zu klagen – und jetzt überfällt sie +noch ein neues Leid, dem sie sich widerstandslos ergeben muß!“ + +Am Abend, in der Dämmerstunde, benutzte ich die Abwesenheit Owroffs +(desselben, der aus Moskau gekommen war), ging in die Bibliothek, +öffnete einen Schrank und suchte in den Büchern etwas, um es Alexandra +Michailowna vorzulesen. Ich wollte sie von ihren schweren Gedanken +ablenken und sie durch etwas Lustiges, Leichtes aufheitern ... Ich +suchte lange. Die Dunkelheit trat ein und mit ihr wuchs mein Leid. In +meine Hände fiel wieder dieses Buch, in dem sich der Brief befand, +dessen Folgen mich bis jetzt nicht mehr verlassen hatten – dessen +Geheimnisse mein Dasein von neuem zerbrachen, und es wehte aus ihm so +kalt, so unbekannt und geheimnisvoll, wehte noch jetzt aus der Ferne des +Gewesenen so drohend zu mir herüber ... Was wird mit uns, dachte ich: +der Winkel, in dem mir so warm war, so leicht und frei – verödet. Der +reine, helle Geist, der meine Jugend hütete, verläßt mich. Was steht mir +bevor? Ich stand in Versunkenheit, nachdenkend über alles Vergangene, +das meinem Herzen so teuer war, stand da, als fühlte ich das +Bevorstehende, Unbekannte und mir Drohende ... Ich erinnere mich dieses +Augenblicks so deutlich, als erlebte ich ihn noch einmal: so tief hat er +sich mir ins Gedächtnis eingeschnitten. + +Ich hielt in meinen Händen den Brief und das aufgeschlagene Buch, meine +Wangen waren feucht von Tränen. Plötzlich fuhr ich zusammen: über mir +ertönte eine mir bekannte Stimme. In demselben Augenblick fühlte ich, +daß man mir den Brief aus den Händen riß. Ich schrie auf und wandte mich +um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch. Er packte mich an der Hand und +zwang mich, auf dem Platz zu bleiben; mit der rechten Hand hielt er den +Brief ans Licht und mühte sich, die ersten Zeilen zu entziffern ... Ich +wäre bereit gewesen, eher zu sterben, als ihm den Brief zu überlassen. +An seinem triumphierenden Lächeln sah ich, daß es ihm gelungen war, den +Anfang des Briefes zu lesen. Ich verlor meine Sinne ... + +Einen Augenblick später, ohne mir bewußt zu sein, was ich tat, stürzte +ich auf ihn und riß ihm den Brief aus der Hand. Das geschah so +unerwartet, daß ich selbst nicht mehr begreife, wie es mir gelingen +konnte, mich des Briefes zu bemächtigen. Doch, als ich bemerkte, daß +auch er wieder den Brief mir entwenden wollte, steckte ich ihn schnell +in meine Bluse und wich einige Schritte zurück. + +Einen Augenblick sahen wir einander schweigend an. Mich schauerte, er – +bleich, mit zitternden, blau angelaufenen Lippen, – brach zuerst das +Schweigen. + +„Nun wohl!“ sagte er mit einer Stimme, die vor Erregung schwach war – +„ich hoffe, Sie wollen selbst nicht, daß ich hier Gewalt anwende – geben +Sie mir also freiwillig den Brief.“ + +Erst jetzt kam ich zu mir. Scham und Unwille ob eines so groben +Überfalls überwältigten mich. Heiße Tränen stürzten mir aus den Augen. +Ich zitterte vor Aufregung und eine Zeitlang war ich nicht imstande, ein +Wort hervorzubringen. + +„Haben Sie gehört?“ sagte er und trat einen Schritt auf mich zu. + +„Lassen Sie mich, lassen Sie!“ rief ich und ich wich vor ihm zurück, +„Sie handeln niedrig an mir, unedel. Sie haben sich vergessen! ... +Lassen Sie mich gehen! ...“ + +„Wie? Was heißt das? Wie wagen Sie es noch, einen solchen Ton +anzuschlagen ... nach alledem, was Sie ... Geben Sie ihn mir zurück, +sage ich Ihnen!“ + +Er trat noch einen Schritt auf mich zu, doch als er in meinen Augen +soviel kalte Entschlossenheit sah, da blieb er stehen und überlegte ... + +„Gut!“ sagte er endlich trocken, als hätte er einen Entschluß gefaßt, +wenn er sich auch immer noch mühsam beherrschte. „Eines nach dem andern, +doch zuerst ...“ + +Er sah sich im Zimmer um. + +„Wer ... hat Sie in die Bibliothek gelassen? Warum steht dieser Schrank +offen? Wie kommt es, daß Sie den Schlüssel dazu haben?“ + +„Ich werde Ihnen darauf nicht antworten,“ sagte ich, „ich kann mit Ihnen +nicht darüber sprechen. Lassen Sie mich gehen!“ + +Ich ging zur Tür. + +„Erlauben Sie,“ sagte er, und faßte mich an der Hand – „so werden Sie +nicht davonkommen!“ + +Ich entzog ihm schweigend meine Hand und wandte mich wieder zur Tür. + +„Wie Sie wollen. Aber ich kann es Ihnen nicht gestatten, daß Sie in +meinem Hause Briefe von Liebhabern empfangen ...“ + +Ich schrie auf und sah ihn entsetzt an ... + +„Und darum ...“ + +„Halten Sie ein!“ rief ich aus. „Wie können Sie das? ... Wie können Sie +mir das sagen? ... Mein Gott! Mein Gott! ...“ + +„Wie? Was! Sie drohen mir noch! ...“ + +Ich sah ihn verzweifelt an, wie zerschmettert. Der Kampf zwischen uns +stieg bis zur höchsten Erbitterung. Doch ich konnte nicht begreifen. Ich +flehte ihn mit einem Blick an, nicht weiter zu gehen. Ich war bereit, +ihm jede Beleidigung zu verzeihen, wenn er nur jetzt innehielt. Er sah +mich durchbohrend an und schien zu überlegen. + +„Bringen Sie mich nicht zum Äußersten,“ flüsterte ich erschrocken. + +„Nein, damit muß ein Ende gemacht werden!“ sagte er schließlich, als +besinne er sich wieder. „Ich muß Ihnen gestehen, ich wankte einen +Augenblick vor diesem Blick,“ fügte er mit eigentümlichem Lächeln hinzu. +„Doch unglücklicherweise spricht die Sache für sich selbst. Es ist mir +gelungen, den Anfang des Briefes zu lesen. Das war ein Liebesbrief! Sie +werden mich nicht davon abbringen! Nein, lassen Sie alles! Und wenn ich +einen Augenblick zögerte, so geschah es nur, weil ich zu Ihren übrigen +schönen Eigenschaften auch Ihre Fähigkeit zu lügen hinzufügen mußte, und +darum wiederhole ich ...“ + +Mit jedem Wort, das er sprach, füllte er sich mit Bosheit an. Er war +bleich; seine Lippen verzogen sich und zitterten und nur mit Mühe konnte +er die letzten Worte hervorbringen. Es war vollkommen dunkel geworden. +Ich stand schutzlos da, vor einem Menschen, der fähig war, einer Frau +das Schlimmste anzutun. Und im Grunde war alle Wahrscheinlichkeit gegen +mich; ich wand mich vor Scham, alles verwirrte sich in mir, ich konnte +die Wut dieses Menschen nicht verstehen. Ohne ihm zu antworten, außer +mir vor Angst, stürzte ich aus dem Zimmer, und ich kam erst zu mir, als +ich vor der Zimmertür Alexandra Michailownas stand. In dem Augenblicke +hörte ich seine Schritte; und schon wollte ich ins Zimmer stürzen, als +ich plötzlich wie vom Schlag gerührt stehen blieb. + +„Was wird mit ihr geschehen?“ ging es mir durch den Kopf ... „Diesen +Brief ...! Nein, lieber alles auf der Welt, als diesen Stoß in ihr Herz +–“ und ich stürzte zurück. Doch schon war es zu spät: er stand neben +mir. + +„Wohin wollen Sie, kommen Sie ... nur nicht hier, nicht hier!“ flüsterte +ich ihm zu und griff nach seiner Hand ... „Schonen Sie sie ...! Ich +komme zurück in die Bibliothek, oder ... wohin Sie wollen?! Sie werden +sie vernichten!“ + +„Sie sind es, die sie vernichtet!“ antwortete er, und trat von mir +zurück. + +Alle meine Hoffnungen schienen verloren. Ich begriff, daß er die ganze +Szene vor Alexandra Michailowna tragen wollte. + +„Um Gottes willen!“ rief ich und hielt ihn aus aller Kraft zurück. Doch +in diesem Augenblick hob sich die Portiere und Alexandra Michailowna +stand vor uns. Sie sah uns verwundert an. Ihr Gesicht wurde noch +bleicher. Mit Mühe hielt sie sich auf den Füßen. Es hatte sie viel +gekostet, bis zu uns zu kommen, als sie unsere Stimme gehört. + +„Wer ist da? Wovon redet ihr hier?“ fragte sie, in großer Verwunderung. + +Es trat Schweigen ein und sie erbleichte wie ein Leinentuch. Ich stürzte +auf sie zu, umarmte sie und führte sie zurück in ihr Kabinett. Pjotr +Alexandrowitsch folgte uns. Ich drückte mein Gesicht an ihre Brust und +umschlang sie immer fester und fester, ersterbend in Erwartung. + +„Was ist mit dir, was ist mit euch?“ fragte noch einmal Alexandra +Michailowna. + +„Fragen Sie sie. Sie haben sie noch gestern so verteidigt,“ sagte Pjotr +Alexandrowitsch und ließ sich schwer auf einem Sessel nieder. + +Ich umklammerte sie immer fester und fester in meiner Umarmung. + +„Aber, mein Gott, was bedeutet denn das?“ rief Alexandra Michailowna in +großem Schrecken angstvoll aus. „Sie zittert ja und ist in Tränen +aufgelöst. Annjeta sag’ mir doch, was ist zwischen euch geschehen.“ + +„Nein, erlauben Sie mir zuerst das Wort,“ sagte Pjotr Alexandrowitsch +und näherte sich uns. Er ergriff mich an der Hand und zog mich von ihr +fort. „Bleiben Sie dort stehen,“ sagte er und wies in die Mitte des +Zimmers. „Ich werde Sie richten vor derjenigen, die Ihnen die Mutter +ersetzte. Und Sie, bitte, beruhigen Sie sich, Alexandra Michailowna, und +setzen Sie sich in den Lehnstuhl. Mir tut es bitter leid, daß ich Sie +nicht mit dieser unangenehmen Aufklärung verschonen kann. Denn sie ist +nötig –!“ + +„Mein Gott! Was wird das sein?“ murmelte Alexandra Michailowna und sah +mit qualvollen Augen erst mich, dann ihren Mann an. Ich rang die Hände +vor diesem verhängnisvollen Augenblick. Von ihm erwartete ich keine +Schonung. + +„Kurz,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch fort, ... „ich wünsche, daß Sie in +der Sache urteilen. Sie haben immer (und ich weiß nicht warum, das ist +so eine Ihrer Phantasien), Sie haben immer – noch gestern, zum Beispiel, +gedacht, gesagt ... ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... ich +schäme mich dieser Voraussetzungen ... Kurz, Sie haben sie immer +verteidigt, und mich angegriffen, Sie warfen mir ungerechtfertigte +Strenge vor; Sie haben dabei noch auf ein anderes Gefühl hingewiesen, +das mich zu dieser unerlaubten Strenge beeinflusse; Sie ... ja, ich +begreife nicht, warum ich meiner Aufregung nicht Herr werden kann, warum +ich erröte bei dem Gedanken an Ihre Anspielungen, warum ich sie nicht +offen vor ihr auszusprechen vermag ... Kurz, Sie ...“ + +„Oh, das werden Sie nicht tun! Nein, Sie werden das nicht sagen!“ rief +Alexandra Michailowna aus, errötend vor Scham. „Nein, Sie werden sie +schonen. Das habe ich, ich, alles ausgedacht! Ich habe jetzt keinen +Verdacht mehr. Verzeihen Sie es mir, verzeihen Sie. Ich bin krank, man +muß mir verzeihen, nur sagen Sie ihr nichts, nein ... Annjeta, gehe fort +von hier, schnell, schnell! Er scherzt; an alledem bin ich schuld; oh, +das ist ein böser Scherz ...“ + +„Kurz, Sie sind auf sie eifersüchtig gewesen,“ warf Pjotr +Alexandrowitsch erbarmungslos ihr zur Antwort hin. + +Sie schrie auf, erbleichte und stützte sich auf den Sessel, kaum noch +imstande, sich auf den Füßen zu halten. + +„Möge Gott Ihnen verzeihen!“ murmelte sie endlich mit schwacher Stimme. +„Vergib mir für ihn, Njetotschka, vergib; ich bin an allem schuld. Ich +war krank, ich ...“ + +„Das ist Grausamkeit, Schamlosigkeit, Niedrigkeit!“ rief ich, außer mir, +denn ich begriff jetzt alles, alles, begriff vor allem, warum er mich +vor den Augen seiner Frau richten wollte. „Das ist nur verachtungswürdig +– Sie ...“ + +„Annjeta!“ rief Alexandra Michailowna, vor Schreck nach mir greifend. + +„Komödie! Komödie und weiter nichts,“ Pjotr Alexandrowitsch trat in +unbeschreiblicher Erregung auf uns zu. „Komödie, sage ich Ihnen,“ +während er ununterbrochen mit hämischem Lächeln seine Frau ansah, „und +die Betrogene in dieser ganzen Komödie sind nur – Sie. Glauben Sie, daß +wir,“ stieß er atemlos hervor und wies auf mich – „solche Erklärungen +fürchten; glauben Sie, daß wir noch so dumm sind, beleidigt zu sein und +bis an die Ohren zu erröten, wenn man uns von ähnlichen Dingen redet. +Entschuldigen Sie bitte, ich drücke mich vielleicht zu einfach, zu +aufrichtig, zu grob aus, doch – das muß geschehen. Sind Sie denn noch +immer überzeugt, meine Dame, von der ordentlichen Aufführung dieses ... +Mädchens?“ + +„Mein Gott! Was ist Ihnen? Sie vergessen sich!“ murmelte Alexandra +Michailowna, halb erstarrt vor Schreck. + +„Bitte, nicht diese großen Worte!“ unterbrach sie verächtlich Pjotr +Alexandrowitsch. „Ich liebe das nicht. Hier liegt die Sache sehr +einfach: gemein bis zur höchsten Gemeinheit. Ich frage Sie nach ihrem +Betragen: wissen Sie ...“ + +Doch ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen, ich ergriff ihn an der Hand +und zog ihn zur Seite. Nur ein Augenblick und – alles war verloren. + +„Sagen Sie nichts von dem Brief!“ flüsterte ich ihm zu, „Sie werden sie +auf der Stelle vernichten. Ein Vorwurf über mich, wird zugleich ein +Vorwurf für sie sein. Sie kann mich nicht verurteilen, denn ich weiß +alles ... verstehen Sie, _ich weiß alles_!“ + +Er sah mich scharf mit durchbohrender Neugier an und – das Blut trat ihm +ins Gesicht. + +„Ich weiß _alles, alles_!“ wiederholte ich. + +Er schien noch zu zögern. Auf seinen Lippen lag eine Frage. Ich griff +vor: + +„An allem, was geschehen ist –“ sagte ich laut, mich zu Alexandra +Michailowna wendend, die uns mit schüchterner, mit trauriger +Verwunderung ansah, „bin ich allein schuld. Bereits seit vier Jahren +habe ich Sie betrogen. Ich habe den Schlüssel zur Bibliothek genommen +und seit vier Jahren lese ich heimlich Bücher. Pjotr Alexandrowitsch hat +mich überrascht – bei einem Buch ... das sich nicht in meinen Händen +befinden durfte. Aus Sorge um mich hat er die Gefahr vor Ihnen +vergrößert! ... Doch, ich will mich nicht verteidigen“ (beeilte ich mich +hinzuzufügen, als ich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen +bemerkte): „ich bin an allem schuld. Die Versuchung war stärker als ich, +und da es einmal geschehen war, schämte ich mich, es Ihnen zu gestehen +... Das ist alles, fast alles, was zwischen uns vorgefallen ist.“ + +„O – ho, das ist aber kühn!“ flüsterte neben mir Pjotr Alexandrowitsch. + +Alexandra Michailowna hörte mir mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Auf +ihrem Gesicht spiegelte sich ein Mißtrauen. Sie sah abwechselnd erst +mich, dann ihren Mann an. Es trat Schweigen ein. Ich wagte kaum zu +atmen. Sie senkte ihren Kopf auf die Brust und bedeckte die Augen mit +der Hand, offenbar um jedes Wort zu erwägen, das ich gesprochen hatte. +Endlich hob sie den Kopf und sah mich forschend an. + +„Njetotschka, mein Kind, ich weiß, du verstehst nicht zu lügen,“ sagte +sie. „Ist das nun alles, was geschehen, wirklich alles?“ + +„Alles,“ antwortete ich. + +„Alles?“ wandte sie sich fragend an ihren Mann. + +„Ja, alles,“ antwortete er mit großer Überwindung, „alles!“ + +Ich atmete auf. + +„Du gibst mir das Wort, Njetotschka?“ + +„Ja,“ antwortete ich, ohne mit der Wimper zu zucken. + +Aber ich konnte mich doch nicht beherrschen und blickte auf Pjotr +Alexandrowitsch. Er lachte, als er hörte, wie ich mein Wort gab. Ich +wurde über und über rot und meine Verwirrung konnte der armen Alexandra +Michailowna nicht entgehn. Ein qualvolles Leid drückte sich auf ihrem +Gesicht aus. + +„Genug,“ sagte sie traurig. „Ich glaube euch. Wie sollte ich euch nicht +glauben?“ + +„Ich denke, ein solches Geständnis genügt,“ bemerkte Pjotr +Alexandrowitsch. „Sie haben’s gehört? Was glauben Sie wohl?“ + +Alexandra Michailowna schwieg. Die Situation wurde immer unerträglicher +und unerträglicher. + +„Ich werde morgen alle Bücher durchsehen,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch +fort. „Ich weiß nicht, um was es sich dort noch handelte; aber ...“ + +„Welches Buch las sie denn?“ fragte Alexandra Michailowna. + +„Welches Buch? Antworten Sie doch,“ wandte er sich an mich. „Sie +verstehen es ja besser, die Sache zu erläutern,“ fügte er mit +verhaltenem Spott hinzu. + +Ich verlor meine Fassung und konnte kein Wort mehr hervorbringen. +Alexandra Michailowna errötete und schlug die Augen nieder. Es folgte +ein langes Schweigen. Pjotr Alexandrowitsch ging geärgert im Zimmer auf +und ab. + +„Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorging,“ begann endlich Alexandra +Michailowna, zaghaft jedes Wort aussprechend – „doch wenn das wirklich +alles gewesen ist,“ fuhr sie fort, bemüht, jedem Wort einen besonderen +Nachdruck zu geben, während sie gleichzeitig vermied, ihn anzusehen, da +der unbewegliche Blick ihres Mannes sie immer mehr verwirrte, „wenn es +nur das _gewesen ist_, dann weiß ich nicht, warum wir uns so quälen und +darüber fast verzweifeln wollen. Schuld daran bin nur ich, ich allein, +und das schmerzt mich sehr. Ich habe ihre Erziehung auf mich genommen, +ich muß auch für sie verantworten. Sie muß mir daher meine +Nachlässigkeit verzeihen. Ich wage es nicht, sie zu verurteilen. Und +doch, worüber sollen wir uns jetzt noch aufregen? Die Gefahr ist ja +vorüber. Sehen Sie sie doch an: hat ihre unvorsichtige Handlungsweise +auch nur irgendwelche Folgen hinterlassen? Als ob ich mein Kind, meine +geliebte Tochter nicht kennte? Weiß ich denn nicht, daß ihr Herz rein +und edel ist, und daß in diesem lieben Köpfchen,“ fuhr sie fort, indem +sie mich zu sich heranzog und mich streichelte, „der Verstand rein und +hell ist ... Laßt gut sein, meine Lieben! Hören wir damit auf! Offenbar +liegt etwas anderes in unserem Kummer, vielleicht lag auf uns allen nur +ein vorübergehender Schatten. Aber wir wollen durch Liebe und durch +unser gutes Einvernehmen alle Mißverständnisse zerstreuen. Vielleicht +ist vieles unausgesprochen zwischen uns und ich bin vor allem schuld +daran. In mir sind zuerst, weiß Gott was für Verdächtigungen +aufgestiegen, an denen nur mein armer kranker Kopf schuld ist ... Und +... und, wenn ich sie auch zum Teil schon ausgesprochen habe, so müßt +ihr sie mir beide verzeihen, weil ... weil die Sünde doch nicht so groß +ist, wenn ich vermutete ...“ + +Sie errötete und sah schüchtern ihren Mann an und erwartete mit Bangen +ein Wort von ihm. Während sie sprach, lag ein spöttisches Lächeln auf +seinen Lippen. Er brach seinen Gang durch das Zimmer ab und stellte sich +gerade vor sie hin, die Hände auf dem Rücken. Er betrachtete sie in +ihrer Erregung und ergötzte sich an ihr; als sie aber seinen +unverwandten Blick auf sich ruhen fühlte, wurde sie verwirrt. Er blieb +ruhig stehen, als erwartete er noch irgend etwas. Ihre Erregung +verdoppelte sich. Endlich unterbrach er diese erdrückende Szene durch +ein leises, anhaltendes boshaftes Lachen: + +„Mir tun Sie leid, arme Frau!“ sagte er endlich, bitter und ernst, +nachdem er zu lachen aufgehört hatte. „Sie spielen eine Rolle, der Sie +nicht gewachsen sind. Was wollen Sie im Grunde genommen? Sie wollen mir +wieder neue Verdächtigungen unterschieben, oder, besser gesagt, die +alten Verdächtigungen, die Sie nur mangelhaft in ihren Worten verbergen +können. Der Sinn Ihrer Worte ist der, daß kein Grund vorhanden sei, ihr +böse zu sein, daß sie rein und gut sei auch nach der Lektüre +unsittlicher Bücher, deren Moral – das sage ich von mir aus – bereits +etliche Früchte gezeitigt zu haben scheint; und schließlich, daß Sie +selber für sie einständen; war es nicht so? Und dann – nachdem Sie das +erklärt, deuten Sie noch etwas anderes an. Sie denken, mein Argwohn und +meine Feindseligkeit entsprängen einem gewissen anderen Gefühl. Sie +deuteten mir gestern sogar an – bitte, unterbrechen Sie mich nicht, ich +liebe es, alles offen auszusprechen – Sie deuteten gestern an, daß bei +manchen Menschen (nach Ihrer Bemerkung, wenn ich mich recht erinnere, +wären diese Leute in der Regel gesetzte, ernste, gerade, kluge, starke +Menschen und Gott weiß was für Vorzüge Sie Ihnen in einer Anwandlung von +Großmut noch gaben!), daß bei gewissen Menschen also, sage ich, die +Liebe (und Gott weiß wozu Sie sich das ersannen!) sich auch gar nicht +anders äußern könne, als eben schroff, heftig, verletzend, oft mit +Argwohn und Feindseligkeit gepaart. Übrigens entsinne ich mich nicht +mehr genau, ob Sie sich gerade mit diesen Worten ausdrückten ... Bitte, +unterbrechen Sie mich nicht; ich kenne Ihren Zögling ausgezeichnet: sie +darf bereits alles hören, alles, wiederhole ich Ihnen zum hundertsten +Mal, – alles! Sie sind betrogen. Doch ich begreife nicht, warum es Ihnen +beliebt, auf der Behauptung zu bestehen, daß gerade ich solch ein Mensch +sei! – weshalb Sie gerade mich mit diesem Narrenhemd aufputzen wollen! +Liebe zu diesem jungen Mädchen steht meinen Jahren nicht mehr an; ja und +schließlich kann ich Sie versichern, meine Gnädigste, daß _ich weiß, was +meine Pflicht ist_, und wie großmütig Sie mich auch entschuldigen +wollten, ich bleibe dabei, was ich gesagt habe: _daß ein Verbrechen +immer ein Verbrechen, eine Sünde immer eine Sünde, immer eine +schmutzige, ehrlose Schandtat sein wird, auf welche Stufe der Größe und +Herrlichkeit Sie das lasterhafte Gefühl auch erheben mögen_! Doch genug! +Genug davon! Und daß mir nichts mehr von diesen Schändlichkeiten zu +Ohren kommt!“ + +Alexandra Michailowna weinte. + +„Mag das mir gesagt sein, mag ich das verdient haben und tragen – ich +will’s ja!“ sagte sie, indem sie mich unter Schluchzen umarmte. „Mögen +meine Vermutungen schlecht und schändlich gewesen sein, daß Sie so +grausam über sie spotten können! Aber du, mein armes Kind, wofür bist du +verurteilt, solche Kränkungen zu hören? Und ich kann dich nicht einmal +beschützen! Ich muß stumm sein! Mein Gott! – nein! ich kann nicht +schweigen, das können Sie nicht von mir verlangen! Ich ertrage es nicht +... Ihr Benehmen ist widersinnig! ...“ + +„Lassen Sie, lassen Sie, beruhigen Sie sich nur!“ redete ich ihr +flüsternd zu, um sie in ihrer Aufregung zu beschwichtigen, denn ich +fürchtete, daß Vorwürfe von ihr ihn um seine letzte Beherrschung bringen +würden. + +„Aber Sie blindes Weib! ...“ rief er denn auch heftig, „Sie wissen ja +nicht, Sie sehen ja nicht ...“ + +Er stockte einen Augenblick. + +„Fort von ihr!“ befahl er heftig und riß meine Hand aus den Händen +Alexandra Michailownas. „Ich gestatte Ihnen nicht, meine Frau zu +berühren! Ihre Berührung besudelt! Ihre Anwesenheit ist eine Beleidigung +für sie! Aber ... ja aus welchem Grunde soll ich schweigen, wo doch +alles ausgesprochen werden muß!“ rief er, mit dem Fuß stampfend. „Und +ich werde es sagen, ich werde alles sagen. Ich weiß nicht, was Sie da +_wissen_, mein gnädiges Fräulein, und womit Sie mir drohen wollten, und +ich will es auch nicht wissen. So hören Sie denn ...“ fuhr er fort, sich +an Alexandra Michailowna wendend. + +„Schweigen Sie!“ rief ich, und ich hätte mich fast auf ihn gestürzt, +„schweigen Sie! Sie sagen kein Wort!“ + +„So hören Sie denn ...“ + +„Schweigen Sie!! Im Namen ...“ + +„Im Namen wessen, mein Fräulein?“ griff er das Wort blitzschnell auf und +sah mir eine Sekunde lang durchdringend in die Augen. „Im Namen wessen? +... So hören Sie denn – ich habe ihr einen Brief ihres Geliebten +entrissen! Jetzt wissen Sie, was in unserem Hause geschieht! Nun haben +Sie es gehört, was unmittelbar neben Ihnen sich zuträgt! Das war es, was +Sie nicht gesehen, nicht bemerkt haben!“ + +Ich hielt mich kaum auf den Füßen. Alexandra Michailowna wurde +totenblaß. + +„Das kann nicht sein,“ stammelte sie, kaum hörbar. + +„Ich habe diesen Brief gesehen, ich habe ihn in der Hand gehabt und die +ersten Zeilen gelesen – von einer Täuschung kann also keine Rede sein. +Der Brief war von einem Geliebten. Sie entriß ihn mir und jetzt ist er +wieder in ihrem Besitz. Die Sache ist so klar, sie liegt ja auf der +Hand! Und wenn Sie noch zweifeln, so sehen Sie sie doch nur an und dann +versuchen Sie, auch nur auf den Schatten eines Zweifels noch zu hoffen!“ + +„Njetotschka!“ schrie Alexandra Michailowna plötzlich auf. „Nein, nein, +sag’ nichts, sprich nichts! Ich weiß nicht, was gewesen ist, was ... wie +... mein Gott, mein Gott!“ + +Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte. + +„Nein! Das ist nicht möglich!“ rief sie wieder. „Sie haben sich geirrt. +Das ... das ... ich weiß, was das bedeutet!“ sagte sie plötzlich +langsam, während sie ihren Mann mit unverwandtem Blick ansah. „Sie ... +ich ... konnte nicht, – nein, du wirst mich nicht betrügen, du kannst +mich nicht betrügen! Erzähl’ mir alles, sag’ mir alles: er hat sich doch +geirrt? Ja, nicht wahr, er hat sich geirrt? Er hat etwas anderes +gesehen, er war verblendet? Ja, nicht wahr? Nicht wahr? Höre: warum +solltest du mir nicht alles sagen, Annjeta, mein Kind, mein liebes +Kind?“ + +„Antworten Sie, antworten Sie schnell!“ ertönte über mir die Stimme +Pjotr Alexandrowitschs. „Antworten Sie: habe ich oder habe ich nicht den +Brief in Ihren Händen gesehen?“ + +„Ja!“ antwortete ich atemlos vor Aufregung. + +„Dieser Brief war von Ihrem Geliebten?“ + +„Ja!“ + +„Mit dem Sie auch jetzt in Verbindung stehen?“ + +„Ja, ja, ja!“ sagte ich schon außer mir, bestätigte alles blindlings, +nur um unserer Qual ein Ende zu machen. + +„Haben Sie gehört? Nun, und was sagen Sie jetzt! Glauben Sie mir, Sie +mit Ihrem guten, allzu vertrauensseligen Herzen,“ fügte er hinzu und +nahm die Hand seiner Frau, „glauben Sie mir und sehen Sie Ihren Irrtum +ein, – Ihren Irrtum in allem, was Ihre kranke Phantasie Ihnen +vorgegaukelt hat. Sie sehen jetzt, wer dieses ... Mädchen ist. Ich +wollte nur Ihre Vermutungen ^ad absurdum^ führen. Ich habe das alles +schon längst bemerkt und es freut mich, daß ich sie endlich vor Ihnen +entlarvt habe. Es war mir schwer, sie neben Ihnen zu sehen, in Ihren +Armen, an einem Tisch mit uns, ja, in meinem Hause. Und Ihre Blindheit +empörte mich. Deshalb, und zwar nur deshalb, schenkte ich ihr überhaupt +meine Aufmerksamkeit und beobachtete sie; und diese Aufmerksamkeit haben +Sie bemerkt; und nachdem Sie Gott weiß was für einen Verdacht als Grund +angenommen, haben Sie dann auf dieser Grundlage in Ihrer Einbildung +weitergebaut. Doch jetzt ist die Sache aufgeklärt, alle Zweifel sind +widerlegt, und morgen, mein Fräulein, morgen noch werden Sie nicht mehr +in meinem Hause sein!“ schloß er, sich an mich wendend. + +„Halten Sie ein!“ sagte Alexandra Michailowna und sie erhob sich. „Ich +traue dieser ganzen Szene nicht. Sehen Sie mich nicht so zornig an, +lachen Sie nicht über mich. Ich rufe Sie selbst zum Richter auf, ich +will nur meine Meinung sagen. Annjeta, mein Kind, komm zu mir, gib mir +deine Hand, so. Niemand ist ohne Fehl, wir sind alle sündig!“ sagte sie +mit einer Stimme, in der Tränen zitterten, und sie sah gleichsam demütig +zu ihrem Mann auf. „Und wer von uns darf jemandes Hand von sich stoßen? +Gib mir doch deine Hand, Annjeta, mein liebes Kind! Ich bin nicht +würdiger, nicht besser als du; du kannst mich nicht durch deine +Gegenwart kränken, denn ich bin gleichfalls, _gleichfalls eine +Sünderin_.“ + +„Meine Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch betroffen. „Was reden Sie! +Vergessen Sie nicht! ...“ + +„Ich vergesse nichts. Unterbrechen Sie mich nicht, lassen Sie mich zu +Ende sprechen. Sie haben in ihren Händen einen Brief gesehen, Sie haben +ihn sogar gelesen; Sie sagen – und sie ... hat gestanden, daß dieser +Brief von demjenigen sei, den sie liebt. Aber beweist denn das, daß sie +sich vergangen habe? Gibt Ihnen denn das schon das Recht, sie so zu +behandeln, sie so in Gegenwart Ihrer Frau zu beleidigen? Ja, mein Herr, +in Gegenwart Ihrer Frau? Haben Sie denn schon alles ergründet? Wissen +Sie denn schon, wie sich das alles verhält?“ + +„Ja was! – jetzt soll ich sie wohl noch um Verzeihung bitten? Ist es +das, was Sie wollen?“ rief Pjotr Alexandrowitsch wütend. „Ich danke, ich +habe die Geduld verloren über Ihrem Gerede! Und wissen Sie überhaupt, +von wem Sie reden, was und _wen_ Sie verteidigen? Ich durchschaue doch +alles ...“ + +„Und sehen doch nicht einmal die Hauptsache, weil Ihr Zorn und Ihr Stolz +Sie blenden. Sie sehen das nicht, was ich verteidige und wovon ich rede. +Nicht das Laster verteidige ich. Doch haben Sie auch bedacht – und das +werden Sie einsehen, sobald Sie nachdenken – haben Sie bedacht, daß sie +vielleicht wie ein Kind unschuldig und unwissend ist! Noch einmal, nicht +das Laster verteidige ich! Ich beeile mich, mich zu rechtfertigen, wenn +Ihnen das erwünscht ist. Ja, wenn sie Gattin, wenn sie Mutter wäre und +ihre Pflichten vergessen hätte –, dann würde ich Ihnen beistimmen ... +Sie sehen, ich rechtfertige mich. So vergessen Sie das nicht und machen +Sie mir keine Vorwürfe! Wenn sie aber diesen Brief erhalten hat, ohne +etwas Böses zu ahnen? Wenn sie sich in ihrer Unerfahrenheit nur von +einem großen Gefühl hat verleiten lassen und weil sie keinen Menschen +fand, der sie zurückgehalten hätte? Wenn vielleicht gerade mich die +größte Schuld trifft, weil ich ihr Herz nicht behütet habe? Wenn dieser +Brief der erste war? Wenn Sie mit Ihrem rohen Verdacht ihr mädchenhaft +reines Empfinden verletzt haben? Wenn Sie ihre jugendliche Phantasie mit +Ihren zynischen Reden und Bemerkungen über diesen Brief beschmutzt +haben? – wenn Sie nicht sehen oder nicht sehen wollen, daß in diesem +keuschen mädchenhaften Antlitz nichts als Reinheit und Unschuld ist und +bange mädchenhafte Scham, – die Scham, die ich jetzt erkenne, die ich +auch dann erkannte, als sie wie verloren in dieser Pein nicht wußte, was +sie sagte, und in ihrer Herzensangst auf alle Ihre unmenschlichen Fragen +mit diesem ‚Ja, ja, ja!‘ antwortete. Das war unmenschlich von Ihnen, das +war grausam; ich erkenne Sie nicht wieder; das werde ich Ihnen niemals, +niemals verzeihen!“ + +„Ach, erbarmen Sie sich, erbarmen Sie sich!“ rief ich beschwörend, und +ich drückte sie mit meinen Armen fest an mich. „Hören Sie auf, glauben +Sie mir, verstoßen Sie mich nicht ...“ + +Ich fiel vor ihr auf die Knie. + +„Und wenn,“ fuhr sie atemlos fort, „wenn nun ich nicht bei ihr wäre, +wenn Sie sie mit Ihren Worten erschreckt hätten und die Arme jetzt +selbst glaubte, sie sei schuldig, wenn Sie ihr Gewissen, ihre Seele +verwirrt, die Ruhe ihres Herzens zerstört hätten ... Mein Gott! Und Sie +wollten sie aus dem Hause jagen! Aber wissen Sie denn nicht, mit wem man +das tut? Sie wissen, daß Sie, wenn Sie sie aus dem Hause jagen, dann uns +beide, uns zusammen fortjagen, – mich gleichfalls. Haben Sie gehört, +mein Herr?“ + +Ihre Augen blitzten, ihre Brust arbeitete schwer; ihre krankhafte +Erregung steigerte sich bis zur letzten Krisis ... + +„Jetzt habe ich aber wahrlich genug gehört, meine Gnädigste!“ rief Pjotr +Alexandrowitsch, „genug davon! Ich weiß, es gibt platonische +Leidenschaften – und weiß das zu meinem Verderben, meine Gnädigste! +Hören Sie? – zu meinem Verderben! Aber ich bedanke mich dafür, mit +diesem vergoldeten Laster unter einem Dach zu leben! Ich verstehe es +nicht. Und deshalb – fort mit ihm! Und wenn Sie sich schuldig fühlen, +wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt sind (nicht an mir ist es, Sie +zu erinnern, meine Gnädigste), wenn Ihnen der Gedanke gefällt, mein Haus +zu verlassen ... so bleibt mir nichts weiter übrig, als zu sagen, als +Sie daran zu erinnern, daß Sie bedauerlicherweise vergessen haben, Ihre +Absicht auszuführen, als es die rechte Zeit war, die eigentliche Zeit, +vor Jahren, schon vor ... sollten Sie das Datum vergessen haben, so kann +ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen ...“ + +Ich sah sie an. Sie stützte sich krampfhaft auf mich, vergehend vor +Seelenschmerz, die Augen halb geschlossen, in unmenschlicher Qual. Noch +ein Moment – und sie wäre hingefallen. + +„Oh, um’s Himmels willen, haben Sie wenigstens diesmal Erbarmen! Sagen +Sie nicht das letzte Wort!“ rief ich außer mir und warf mich Pjotr +Alexandrowitsch zu Füßen, ohne daran zu denken, was ich tat: doch – es +war schon zu spät. Nur ein leiser Schrei ertönte als Antwort auf meine +Worte und die Arme fiel bewußtlos hin. + +„Da! Sie haben sie getötet!“ sagte ich. „Rufen Sie zu Hilfe, retten Sie +sie! – Ich erwarte Sie in Ihrem Kabinett. Ich muß mit Ihnen sprechen: +ich werde Ihnen alles sagen ...“ + +„Ja, was? Ja, was denn?“ + +„Später!“ + +Die Ohnmacht dauerte zwei Stunden. Das ganze Haus war in Aufregung. Der +Arzt schüttelte zweifelnd das Haupt. Nach zwei Stunden ging ich ins +Kabinett zu Pjotr Alexandrowitsch. Er war soeben erst von seiner Frau +gekommen. Jetzt ging er im Zimmer auf und ab, biß sich die Lippen fast +blutig und sah bleich und verstört aus. Ich hatte ihn noch nie so +gesehen. + +„Was wollen Sie mir denn sagen?“ fragte er mich schroff. „Sie sagten +vorhin ...!“ + +„Hier ist der Brief, den Sie mir entrissen. Sie erkennen ihn doch?“ + +„Ja.“ + +„Nehmen Sie ihn.“ + +Er nahm den Brief und führte ihn ans Licht. Ich beobachtete ihn +aufmerksam. Nach wenigen Sekunden drehte er den Brief hastig um und sah +nach der Unterschrift. Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. + +„Was ist das?“ fragte er mich starr vor Betroffenheit. + +Ich blieb ihm die Antwort nicht schuldig. + +„Vor drei Jahren fand ich diesen Brief in einem Buch. Ich erriet, daß er +vergessen war, las ihn und – erfuhr alles. Ich behielt ihn, denn ich +wußte niemanden, dem ich ihn hätte geben können. Ihr konnte ich ihn +nicht geben. Ihnen? Doch Ihnen konnte der Inhalt dieses Briefes nicht +unbekannt sein, er aber enthält die ganze traurige Lebensgeschichte ... +Welchen Zweck nun Ihre Verstellung hatte – das weiß ich nicht –, das ist +mir vorläufig noch unklar. Noch durchschaue ich Ihre dunkle Seele nicht +ganz. Sie wollten Ihre Überlegenheit bewahren – und das ist Ihnen denn +auch gelungen. Aber wozu? Um über ein Wahnbild den Sieg davonzutragen, +um über eine Kranke zu herrschen, um ihr zu beweisen, daß sie sich +verirrt habe und daß Sie dagegen _sündlos_ vor ihr ständen! Und Sie +haben Ihren Zweck erreicht, denn dieser Verdacht ist – zur fixen Idee +eines erlöschenden Geistes geworden, ist vielleicht die letzte Klage +eines gebrochenen Herzens über die Ungerechtigkeit des Urteils der +Menschen, mit dem Sie übereinstimmten. ‚Was ist denn dabei Schlimmes, +daß Sie mich liebten?‘ Das war es, was sie sagte, das wollte sie Ihnen +beweisen. Aber Ihr Stolz, Ihr eifersüchtiger Egoismus waren +unbarmherzig. Leben Sie wohl. Weitere Erklärungen sind nicht nötig! Aber +nehmen Sie sich in acht, ich kenne Sie jetzt, ich durchschaue Sie, +vergessen Sie das nicht!“ + +Ich ging auf mein Zimmer – fast bewußtlos. An der Türe hielt mich +Owroff, der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs, auf. + +„Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ sagte er mit einer höflichen +Verbeugung. + +Ich sah ihn an und begriff nicht gleich, was er sagte. + +„Später, entschuldigen Sie mich, ich fühle mich nicht wohl,“ sagte ich +schließlich und ging an ihm vorbei. + +„Also dann morgen,“ sagte er und machte seine Verbeugung mit einem +zweideutigen Lächeln. + +Vielleicht schien es mir aber auch nur so? Es war fast wie eine Vision, +die vor meinen Augen flüchtig auftauchte ... + + + + + Der Bettelknabe + + +Kinder sind ein seltsames Volk: sie drängen sich in Träume und Gedanken. +Vor Weihnachten und dann wieder am Christabend selbst begegnete mir +regelmäßig an einer bestimmten Straßenecke ein kleiner Knabe, der gewiß +nicht älter war als, sagen wir, etwa siebenjährig. Trotz der grimmigen +Kälte war er fast sommermäßig gekleidet, doch um den Hals war ihm +irgendein altes abgetragenes Zeug gewickelt – also mußte ihn doch jemand +ausrüsten, bevor er hinausgeschickt wurde. – Er ging „mit dem Händchen“: +so lautet der technische Ausdruck und er bedeutet – betteln. Den +Ausdruck haben diese Knaben selbst erfunden. Solcher Knaben, wie er, +gibt es eine Menge, sie laufen einem überall in den Weg und jammern +etwas Auswendiggelerntes; dieser aber jammerte nicht und sprach auch +gewissermaßen unschuldig und außergewöhnlich, und seine Augen sahen mich +voll Vertrauen an – also mußte er noch ein Anfänger sein. Auf meine +Fragen antwortete er, daß er eine Schwester habe; sie sitze ohne Arbeit +und sei krank. Vielleicht sagte er die Wahrheit, nur erfuhr ich später, +daß es solcher Knaben unzählige gibt; sie werden „mit dem Händchen“ auf +die Straße geschickt, auch in der fürchterlichsten Kälte, und wenn sie +nichts erbetteln, so setzt es natürlich Hiebe. Hat der Knabe ein paar +Kopeken eingesammelt, dann kehrt er mit frosterstarrten Händen in +irgendeinen Kellerraum zurück, wo irgendeine Bande säuft – eine von +jenen, die, wie es heißt, „Sonnabends nach Arbeitschluß in den Fabriken +den Sonntag zu feiern anfangen und nicht vor dem Mittwochabend zur +Arbeit zurückkehren“. Dort, in den Kellern, trinken mit ihnen auch ihre +hungernden und geprügelten Weiber, dort schreien auch ihre hungrigen +kleinen Kinder nach der Mutterbrust. Schnaps und Schmutz und +Ausschweifung, aber vor allem – Schnaps: die sind dort zu finden. Mit +den erbettelten Kopeken wird der Knabe sogleich in die nächste Schenke +geschickt und muß ihnen noch mehr Schnaps bringen. Zum Scherz gießen sie +dann auch ihm das Feuerwasser in den Mund und gröhlen vor Lachen, wenn +es ihm den Atem verschlägt und er in die Knie bricht und fast erstickt +an der Abscheulichkeit, über der ihm Hören und Sehen vergeht. + + „... und in den Mund das Greuliche + Erbarmungslos mir goß ...“[3] + +Ist er ein wenig herangewachsen, so wird er in eine Fabrik gesteckt, +doch alles, was er erarbeitet, muß er wieder in den Keller bringen, und +jene setzen das Geld weiter in Branntwein um. Doch schon bevor sie in +die Fabrik kommen, sind diese Kinder kleine Verbrecher. Sie +durchstreifen die Stadt und kennen die verschiedensten Schlupfwinkel in +Kellern und Schuppen und auf Höfen, wo man unbemerkt nächtigen kann. Hat +doch ein Kleiner bei einem Hofknecht mehrere Nächte in einem Holzkorb +geschlafen, ohne daß der Knecht es gewahr wurde. In erster Linie sind +sie natürlich kleine Diebe. Das Stehlen wird bei ihnen zur Leidenschaft, +sogar bei Achtjährigen, und nicht selten ohne jedes Bewußtsein von dem +Verbrecherischen der Tat. Zu guter Letzt lernen sie alles ertragen – +Hunger, Kälte, Schläge – nur für das eine: für ihre Freiheit, und bald +laufen sie von ihren Aussaugern fort, um dann schon von sich aus, aus +eigenem Antriebe und zum eigenen Vergnügen zu vagabundieren. Solch ein +junger Wildling weiß oft so gut wie nichts, weder in welchem Lande er +wohnt, zu welcher Nation er gehört, ob es einen Gott gibt, einen Zaren; +ja man erzählt sogar solche Unwissenheit von ihnen, daß man es nicht +glauben will – und dennoch sind dies alles Tatsachen. + + + Der Knabe im Himmel zum Christfest. + +Doch ich bin ein Schriftsteller, und ich glaube, diese „Geschichte“ habe +ich selbst erfunden. Da schreibe ich: „ich glaube“, und weiß doch genau, +daß ich sie selber erfunden habe; aber es scheint mir die ganze Zeit, +daß sie irgendwo irgendwann wirklich geschehen sei und zwar gerade am +Christabend in _irgendeiner_ großen, großen Stadt und bei grimmiger +Kälte. + +Ich sehe einen Knaben, aber einen noch ganz kleinen, etwa von sechs +Jahren oder noch jünger. Dieser kleine Knabe erwachte an jenem Tage in +einem feuchten und kalten Keller. Er hatte nur ein altes Kittelchen an +und zitterte vor Kälte. Er sah seinen Atem, der wie weißer Dampf seinem +Munde entströmte, und da es langweilig war, auf dem Koffer im Winkel zu +sitzen, so hauchte er absichtlich diesen Atem recht stark heraus und sah +dann zu, wie der Dampf sich ballte und verschwand. Aber er hatte Hunger +und wollte etwas essen. Er war seit dem Morgen schon mehrmals zu der +Lagerstätte gegangen, wo auf einem alten, wie eine Hand dünnen +Schlafsack, irgendein Bündel als Kissen unter dem Kopf, seine kranke +Mutter lag. Wie sie hierher kam? Vermutlich war sie mit ihrem Knaben aus +einer anderen Stadt gekommen und hier erkrankt. Die Winkelvermieterin +des Kellers war schon vor zwei Tagen von der Polizei abgeführt worden; +und die anderen Winkelmieter hatten sich verlaufen, nur einer von ihnen +lag dort seit vierundzwanzig Stunden, noch bevor die Feiertage anbrachen +– schon stocksteif besoffen. In einem anderen Winkel ächzte vor +Rheumatismus eine Achtzigjährige, die irgendeinmal irgendwo als +Kinderfrau gelebt hatte, jetzt aber einsam und stöhnend auf den Tod +wartete; sie brummte und schalt immer auf den Knaben, so daß dieser sich +fürchtete, ihrem Winkel zu nah zu kommen. Auf dem Flur fand er etwas zu +trinken, aber eine Brotkruste war nirgends zu finden, und wohl zum +zehnten Mal versuchte er, seine Mutter aufzuwecken. Ihm wurde +schließlich bange in der Dunkelheit: es war schon längst dunkel +geworden, doch niemand machte Licht. Als seine Hand das Gesicht seiner +Mutter berührte, wunderte er sich, daß es so kalt war wie die Wand. „Das +ist hier aber mal kalt!“ dachte er, sann ein Weilchen, während seine +Hand unbewußt auf der Schulter der Toten ruhte, dann hauchte er auf +seine Fingerchen, um sie zu wärmen, und dabei fiel ihm sein Mützchen +ein, das auf seinem Lager lag; das setzte er sich auf den Kopf – und +plötzlich kam es ihm in den Sinn, den Kellerraum zu verlassen, und er +ging tastend zur Tür. Er wäre vielleicht sogar schon früher aus dem +Keller gegangen, aber er fürchtete den großen Hund, der ihm oben den +Ausgang versperrte und die ganze Zeit kläffte. Jetzt war es still, der +Hund war nicht zu sehen, und eh’ er sich dessen versah, stand der Kleine +auf der Straße. + +O Gott! Was war das für eine Stadt! Noch nie hatte er Ähnliches gesehen! +Dort, von wo er mit der Mutter gekommen war, war es so finster in der +Nacht: auf eine ganze Straße kam nur eine einzige Laterne. Die Fenster +der niedrigen Häuser wurden abends mit Läden verschlossen; auf der +Straße war, sobald nur die Dämmerung sank, niemand mehr zu sehen, alle +schlossen sich in den Häusern ein und nur die Hunde, die es zu Hunderten +und Tausenden gab, bellten und heulten die ganze Nacht. Doch dafür war +es dort warm und man gab ihm zu essen, hier aber – ach, wenn er nur +etwas zu essen bekäme! Und was ist das nur für ein Lärm und Gesumm, und +wieviel Licht und Menschen und Pferde und Wagen – und die Kälte, die +Kälte! Aus den Nüstern der heißgejagten Tiere strömt weißer Dampf, durch +den weichen lockeren Schnee schlagen die Hufe zuweilen hellklingend auf +das Steinpflaster, und wie die Menschen sich alle drängen, und, lieber +Gott, wie gern er etwas essen würde, wenn auch nur ein kleines +Stückchen, gleichviel was, und die Fingerchen schmerzten so sehr. An ihm +vorbei ging ein Hüter der Ordnung und wandte sich ab, um den Knaben +nicht zu bemerken. + +Und da ist wieder eine andere Straße – oh, und wie breit sie ist! Hier +ist es aber wirklich schön! Wie sie doch alle lärmen und laufen und +fahren, und Licht, wieviel Licht hier ist! Aber was ist denn das? Oh – +was für ein großes Fenster, und hinter dem Fenster ist ein Zimmer, ein +großes Zimmer, und in diesem Zimmer ist ein Baum bis an die Decke, ein +Christbaum, eine große Tanne, und an der flimmern so viele Flämmchen, so +viele goldene Sachen, und hängen Äpfel, und ringsum sind lauter Püppchen +und Pferdchen, und Kinder laufen im Zimmer umher und alle sind sie so +festlich angekleidet, so sauber und schön, und sie lachen und spielen +und trinken und essen schönes, schönes Naschwerk. Und dort tanzt jetzt +ein kleines Mädchen mit einem kleinen Knaben – was für ein schönes +kleines Mädchen! Und da hört man auch Musik, durch das Fenster mit den +großen Scheiben hört man sie ganz deutlich. Und der kleine Junge schaut +und wundert sich und schon lacht er, und doch schmerzen ihm schon seine +Füßchen und Zehen, und die Fingerchen an den Händen sind schon ganz rot, +schon wollen sich die Gelenke nicht mehr biegen und das Bewegen tut weh, +nur denkt er jetzt nicht daran. Aber dann spürt er plötzlich doch +wieder, daß ihm die Händchen so schmerzen, und er fängt an zu weinen und +läuft weiter, und wieder sieht er durch ein Fenster ein Zimmer und dort +sind mehrere solcher Bäume, aber nicht so große, und auf den Tischen +sind lauter Kuchen und Kuchen, rote und gelbe und weiße und braune und +hinter dem langen Tisch stehen vier reich gekleidete Damen, und jedem, +der an den Tisch kommt, geben sie von ihren schönen Kuchen, die Tür aber +öffnet sich jeden Augenblick und viele Menschen gehen von der Straße zu +ihnen hinein. Der Knabe steht und guckt, und wie die Tür sich wieder +öffnet, da schlüpft auch er hinein. Ach! wie man ihm böse ist, ihn +anschreit und fortjagt! Eine von den Damen kommt schnell auf ihn zu, +gibt ihm eine Kopeke und dann öffnet sie selbst die Tür und schickt ihn +hinaus auf die Straße. Wie er erschrak! Die Kopeke aber fiel ihm gleich +aus der Hand, und schlug klingend auf die Treppenstufe: er konnte seine +blauroten Fingerchen nicht mehr biegen, um das Geld zu halten. Und der +Knabe läuft auf die Straße und geht schnell weiter – so schnell er kann, +aber wohin, das weiß er nicht. Er möchte auch wieder weinen, aber er +wagt es nicht, und er läuft und läuft und haucht auf die Fingerchen. Und +so traurig wird er, so bitter traurig darüber, daß er sich so allein und +verlassen fühlt, und eine Bangigkeit will über ihn kommen, doch +plötzlich – ja was ist das? was ist denn da wieder zu sehen? Da stehen +die Menschen dicht gedrängt und staunen: hinter den Scheiben eines +großen Fensters stehen drei kleine Puppen in roten und grünen Kleidchen +und sind ganz, ganz wie lebendig! Und ein alter kleiner Mann sitzt dort +und spielt auf einer großen Geige, oder es sieht wenigstens so aus, als +spiele er, und noch zwei andere stehen dort und spielen auf kleinen +Geigen und nicken dazu im Takt mit den Köpfen und sehen einander an, und +ihre Lippen bewegen sich, als ob sie sprächen – nur hört man das eben +nicht durch die Fensterscheiben. Zuerst dachte der Knabe, daß sie alle +wirklich lebendig seien, als er aber dann erriet und sich überzeugte, +daß es „nur Püppchen“ waren – da mußte er lachen. Er hatte so etwas noch +nie gesehen und gar nicht gewußt, daß es solche Püppchen gab! Und er +will doch auch weinen, aber zugleich muß er lachen – lachen über die +Püppchen. Plötzlich fühlt er, daß ihn jemand hinterrücks am +Schlafittchen packt: ein großer böser Bube steht hinter ihm und haut ihn +plötzlich auf den Kopf, reißt ihm das Mützchen ab und versetzt ihm von +unten einen Stoß mit dem Fuß. Der Kleine fällt hin, doch da schreit +schon alles und schilt, daß ihm angst und bange wird und er aufspringt +und fortläuft und läuft – bis er gar nicht mehr weiß, wo er ist. Und da +kriecht er unter einem Hoftor auf einen fremden Hof und hockt dort +hinter einem Holzstapel hin: „Hier wird man mich nicht finden und es ist +auch dunkel!“ denkt er. + +Und so hockt er ganz still und kauert sich zusammen und kann kaum noch +atmen vor Angst, und plötzlich, ganz plötzlich wird ihm so wohl: die +Füßchen und Händchen schmerzen nicht mehr und ihm wird so warm, so warm +wie auf dem Ofenbänkchen. Da fährt er auf einmal zusammen: ach, er wäre +ja fast eingeschlafen! Wie gut es hier einzuschlafen ist: „Ich werd’ +hier noch ein Weilchen sitzen und dann gehe ich wieder zu den Püppchen,“ +denkt er und lächelt bei dem Gedanken an sie: „ganz wie lebendig sind +sie ...!“ Und dann ist es ihm, als höre er auf einmal seine Mutter +singen, ganz leise, daß er es kaum hören kann, aber er hört es doch. +„Mama, ich schlafe! – ach, wie ist es hier schön zu schlafen!“ + +„Komm zu mir, mein Knabe, zum Christbaum, es ist Weihnacht, Kind,“ +flüsterte über ihm eine leise Stimme. + +Er denkt, das wäre nun seine Mama, aber nein, das ist nicht sie! Doch +wer rief ihn denn? – das sieht er nicht, aber jemand beugt sich über ihn +und umfängt ihn in der Dunkelheit; und er streckt ihm die Hand entgegen +und ... und plötzlich – oh, wieviel Licht! Oh, welch ein Christbaum! Das +war – oh, solche Bäume hatte er noch gar nicht gesehen! Wo ist er jetzt +– es leuchtet und strahlt alles um ihn und soviel schöne Puppen überall +– doch nein, das sind ja alles kleine Knaben und Mädchen, nur sind sie +alle so leicht, alle umringen sie ihn, sie schweben, sie küssen ihn, sie +nehmen und tragen ihn mit sich fort, und da fühlt er, daß er auch schon +schwebt und dort: ja dort ist seine Mama und sie nickt und lächelt ihm +selig zu. + +„Mama! Mama! Ach, wie ist es hier schön, Mama!“ ruft der Knabe und er +umarmt die Kinder und will ihnen schnell alles von den Püppchen, die er +hinter dem Fenster gesehen, erzählen. „Ach, wer seid ihr, Jungen? und +wer seid ihr, Mädchen?“ fragt er sie lachend und hat sie alle schon so +lieb. + +„Es ist hier Weihnacht beim Christkind,“ antworteten sie ihm, „dann ist +hier im Himmel immer ein Christfest für all die kleinen Kinder, die auf +Erden keinen Christbaum haben ...“ Und er erfährt, daß alle die Knaben +und Mädchen einst auf Erden ebensolche Kinder waren, wie er, nur daß die +einen schon kaum geboren als Findlinge in den Körben starben, in denen +sie auf die steinernen Treppen vor den Türen der Petersburger Beamten +ausgesetzt wurden, daß die anderen bei finnischen Bäuerinnen erstickten, +an die sie vom Findelhaus zur Erziehung gegeben waren; daß wieder andere +an den ausgezehrten Brüsten ihrer Mütter starben (während der Hungersnot +in Ssamara), und wieder andere in Waggons dritter Klasse an der +verpesteten Luft, und alle waren sie jetzt hier, alle waren sie jetzt +Engel beim Christkind und er selbst war unter ihnen und hieß sie zu ihm +kommen und segnete sie und ihre sündigen Mütter ... Die Mütter aber +dieser Kinder stehen auch dort, nur abseits, und weinen: und eine jede +erkennt ihren Knaben oder ihr Mädchen, und die schweben zu ihnen und +küssen sie, wischen ihnen die Tränen mit ihren Händchen von den Wangen +und bitten sie, nicht zu weinen, denn sie hätten es jetzt so gut ... + + * * * * * + +Unten auf Erden aber fanden am nächsten Morgen Hofknechte hinter einem +Holzstapel die kleine Leiche eines erfrorenen Knaben. Man fand auch +seine Mutter. Die war schon vor ihm gestorben. Im Himmel sahen sie +einander wieder. + +Wozu ich eine solche Geschichte nur erfunden habe, die so gar nicht in +das gewöhnliche, vernünftige „Tagebuch“ paßt! Zudem habe ich +versprochen, ausschließlich oder doch fast nur von wirklichen +Begebenheiten zu erzählen! Aber – nun ja, das ist es eben: es scheint +mir, es ist mir doch, als hätte das wirklich alles so sein können – ich +meine das, was im Keller und hinter dem Holzstapel geschah, jenes andere +aber, von der Christnacht im Himmel –, ja da weiß ich nun nicht, was ich +Ihnen sagen soll, ob das auch wirklich so hätte sein können oder – +nicht? Doch dazu bin ich ja Dichter, um es zu wissen. + + + + + Fußnoten + + +[1] Der größte Held der russischen Volksdichtung, ein Bauernsohn aus dem +Dorf Karatscharowo, wo er gelähmt in der Hütte der Eltern sitzt, bis +vorüberziehende Bettler (mythische Gestalten) ihn durch Zauber heilen. +E. K. R. + +[2] Diminutiv von Katjä. E. K. R. + +[3] Strophe aus einem Gedicht von Nekrassoff, das das Leben eines +ähnlichen Knaben zum Gegenstand hat. E. K. R. + + + Anmerkungen zur Transkription. + +Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen +Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und +Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert +nach: + + F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. + Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band + R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912. + +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen +Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den +ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, +Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt +nach der Titelseite eingefügt. + +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. + +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen +(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von +Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. + +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der +Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben +„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde +vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): + + Katjä (Kätja) + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 275]: + ... Tages kaum aus Moskau die Nachricht, daß der ... + ... Tages kam aus Moskau die Nachricht, daß der ... + + [S. 286]: + ... atmetet tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar + abgerissene ... + ... atmete tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar + abgerissene ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76986 *** diff --git a/76986-h/76986-h.htm b/76986-h/76986-h.htm new file mode 100644 index 0000000..6d99799 --- /dev/null +++ b/76986-h/76986-h.htm @@ -0,0 +1,15447 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Sämtliche Werke 22: Ein kleiner Held | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Sämtliche Werke 22: Ein kleiner Held" --> + <!-- AUTHOR="Fjodor Dostojewski" --> + <!-- TRANSLATOR="E. K. 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M. Dostojewski: Sämtliche Werke +</p> + +<p class="ed"> +<span class="line1">Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,</span><br> +<span class="line2">Dmitri Philossophoff und anderen</span><br> +<span class="line3">herausgegeben von Moeller van den Bruck</span> +</p> + +<p class="trn"> +Übertragen von E. K. Rahsin +</p> + +<p class="division"> +Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="aut"> +F. M. Dostojewski +</p> + +<h1 class="title"> +Ein kleiner Held +</h1> + +<p class="subt"> +Vier Novellen +</p> + +<div class="centerpic logo"> +<img src="images/logo.jpg" alt=""></div> + +<p class="pub"> +<span class="line1">München und Leipzig</span><br> +<span class="line2">R. Piper & Co.</span><br> +<span class="line3">1912</span> +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="impr"> +R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912 +</p> + +<p class="printer"> +Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt +</p> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="toc" id="part-1"> +Inhalt +</h2> + +</div> + +<div class="table"> +<table class="toc"> +<tbody> + <tr> + <td class="col1">Vorwort</td> + <td class="col_page"><a href="#page-VII">VII</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Ein kleiner Held</td> + <td class="col_page"><a href="#page-1">1</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Weihnacht und Hochzeit</td> + <td class="col_page"><a href="#page-67">67</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Njetotschka Neswanowa</td> + <td class="col_page"><a href="#page-83">83</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Der Bettelknabe</td> + <td class="col_page"><a href="#page-373">373</a></td> + </tr> +</tbody> +</table> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="intro" id="part-2"> +<a id="page-VII" class="pagenum" title="VII"></a> +Vorwort +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Band bringt, als der letzte der Ausgabe, vier +Geschichten, die dadurch in einer gewissen abschließenden +und versöhnenden Weise verbunden sind, daß sie, +wenn auch mehr oder weniger tragisch, von Kindern +und Kinderseelen handeln. Die drei ersten dieser Geschichten +– „Kleiner Held“, „Weihnacht und Hochzeit“, +„Njetotschka Neswanowa“ – stammen aus der +frühesten Zeit Dostojewskis und gehören den Jahren +1848 und 1849 an. Die größte von ihnen, „Njetotschka +Neswanowa“, ist das Bruchstück eines Romanes, +in der Wirkung ein liegengebliebenes Manuskript, ein +unausgearbeiteter Entwurf, doch eben deshalb von einer +Größe der psychologischen Anlage und übrigens +auch von einer Großartigkeit der künstlerischen Erfassung, +die ihn zu den tiefsten und gewaltigsten Dingen +zählen lassen, die wir von Dostojewski besitzen. Die +Dichtung erschien in den „Vaterländischen Annalen“, +ihre Fortsetzung wurde durch Dostojewskis Verhaftung +im Jahre 1848 unterbrochen, und nach der Rückkehr +aus Sibirien ist das Fragment dann unausgeführt +und unvollendet geblieben. – Die vierte Geschichte +des Bandes, der „Bettelknabe“, gehört zu jenen +<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a> +„letzten Novellen“ von der Art der „Kleinen“ in +Band XX der Ausgabe, die dem „Tagebuch eines +Schriftstellers aus dem Jahre 1876“ entnommen sind +und wohl von unmittelbaren Tagesereignissen angeregt +waren, wie Dostojewski sie in den Zeitungen aufgezeichnet +fand, oder selbst auf der Straße erlebte. +</p> + +<p class="sign"> +E. K. R. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="novella" id="part-3"> +<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a> +Ein kleiner Held +</h2> + +</div> + +<p class="first pbb"> +<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">amals</span> war ich noch nicht volle elf Jahre alt. Im +Juli schickte man mich zum Besuch auf ein Gut in der +Nähe von Moskau, zu meinem Verwandten T–off. +Bei diesem hatten sich zu der Zeit einige fünfzig Gäste +eingefunden, vielleicht sogar noch mehr ... genau +weiß ich nicht, wie viele es ihrer waren – gezählt habe +ich sie nicht. Es ging hoch her und man vergnügte sich +nach Kräften. Fast hatte es den Anschein, als habe +man die Feste zu feiern begonnen, damit sie nie wieder +aufhören sollten, und der Hausherr schien sich geradezu +geschworen zu haben, so schnell wie möglich sein ganzes +Riesenvermögen zu vergeuden, ein Ziel, das er denn +auch vor kurzem glücklich erreicht hat: er ist tatsächlich +alles, auch den letzten Quadratfuß Land losgeworden. +</p> + +<p> +Jeden Augenblick trafen neue Gäste ein. Moskau +war ja so nahe, daß man die Stadt vom Gute aus +sehen konnte. Infolgedessen traten die aufbrechenden +Gäste den zuletzt eingetroffenen meist nur den Platz ab +und die Feste konnten schier endlos fortgesetzt werden. +Vergnügungen aller Art folgten einander ununterbrochen +und ein Ende dieser Reihenfolge war nicht abzusehen. +Bald machte man hoch zu Roß Ausflüge in +die Umgegend, bald weite Spaziergänge längs dem +Fluß oder in den Wald; Picknicks und Diners im +<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a> +Freien gehörten zur Tagesordnung, und an schönen +Abenden wurde regelmäßig auf der großen Terrasse +des Herrenhauses gespeist. Diese war mit seltenen +Blumen überreich geschmückt. Ihre duftende Blütenfülle +ließ, vereint mit der glänzenden Beleuchtung der +Tafel, unsere fast ausnahmslos hübschen jungen Damen +noch viel schöner erscheinen, wenn sie in ihren +frischen Farben nach den Ausflügen am Tage mit belebten +Gesichtern und glänzenden schalkhaften Augen +an der Tafel saßen und ein keckes Wortgeplänkel hin +und her mutwillig und geschickt zu führen wußten, indes +zwischen Scherz und Scherz ihr silberhelles Lachen erklang. +Es wurde getanzt, musiziert, gesungen; bei +schlechtem Wetter stellte man lebende Bilder, erfand +Gesellschaftsspiele, bei denen es allerlei zu raten gab, +und natürlich wurde auch Theater gespielt. Außerdem +gab es manchmal Vorträge, die merkwürdigsten Erlebnisse +wurden erzählt, Anekdoten herumgetragen usw. +</p> + +<p> +Aus der Gästeschar traten einige wenige von persönlicherem +Gepräge ziemlich scharf hervor: und die +waren denn auch anerkanntermaßen die Hauptpersonen. +Selbstverständlich fehlte es auch hier nicht an +Neid, Klatsch und den üblichen kleinen Verleumdungen, +ohne die die Welt nun einmal nicht bestehen kann +und ohne die wohl Millionen von Personen an ihrem +Stumpfsinn sterben würden, wie die Fliegen im +Herbst umkommen. Da ich aber damals erst elf Jahre +zählte, fehlte mir noch das Verständnis für diese Menschensorte, +und da meine Gedanken überdies mit ganz +anderem beschäftigt waren, so blieb nur ein Teil von +dem, was ich hin und wieder zufällig hörte, in meinem +<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> +Gedächtnis haften. Später ist mir dann allerdings +manches wieder eingefallen, was ich damals überhört +oder nicht begriffen hatte. Sonst konnte sich nur das +glänzende Äußere des Bildes meinen Kinderaugen +dauernd einprägen. Und die allgemeine festliche Stimmung, +die sorglose Fröhlichkeit, das heitere, glanzvolle +Leben – alles das, was ich bis dahin noch nie gesehen +und gehört hatte, konnte denn auch allerdings einen +solchen Eindruck auf mich machen, daß ich mich in den +ersten Tagen förmlich verlor und mir mein junger +Kopf schwindlig wurde. +</p> + +<p> +Ich war natürlich noch ein Kind, nicht mehr als +ein Kind, und die schönen Damen, die mich liebkosten, +machten sich weiter keine Gedanken über mein Alter. +Aber – merkwürdig! – trotz meiner elf Jahre bemächtigte +sich meiner zuweilen doch schon eine seltsame +Empfindung, die ich freilich selbst vorläufig noch nicht +begreifen konnte: es war, als streiche irgend etwas ganz +leise und zart über mein Herz, etwas Unbekanntes +und Ungeahntes, wovon dann mein Herz wie nach +einem heftigen Schreck zu brennen und zu pochen begann +und mir oft ganz plötzlich das Blut heiß ins Gesicht +trieb. Es kamen Augenblicke, in denen ich mich der +verschiedenen kindlichen Vorrechte, die ich genoß, geradezu +schämte und sie fast als persönliche Beleidigung +empfand. Zuweilen aber bemächtigte sich meiner wiederum +so etwas wie Verwunderung und ich schlich mich +dann fort, irgendwohin, wo mich niemand sehen konnte, +gleichsam nur, um einmal Atem zu schöpfen und +mich an etwas zu erinnern, an irgend etwas, das da, +wie mir schien, noch vor kurzem gewesen war ... wovon +<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> +aber gleichwohl und ganz plötzlich jede Spur in +meinem Gedächtnis wie ausgelöscht war ... – und +ohne das ich doch, wie ich glaubte, nicht mehr auskommen +konnte, wenn ich es auch keinem Menschen +zeigen durfte. +</p> + +<p> +Zu guter Letzt schien es mir, daß ich den Menschen +allen irgend etwas verheimlichte, wovon ich aber um +keinen Preis auch nur ein Wort jemandem gesagt hätte, +da ich kleiner Bursche mich dessen bis zu Tränen +schämte. Bald aber begann ich in dem Trubel, der +mich hier umgab, eine gewisse Einsamkeit zu empfinden. +Es waren wohl noch andere Kinder da, aber sie +waren alle entweder viel jünger oder viel älter als ich, +und übrigens war es mir auch gar nicht um Spielgefährten +zu tun. Freilich wäre mit mir nichts Besonderes +geschehen, wenn ich nicht in der Gesellschaft +eine Ausnahmestellung eingenommen hätte. In den +Augen aller dieser reizenden Damen war ich noch das +kleine unbestimmte Lebewesen, das sie liebkosten und +mit dem sie wie mit einer Puppe spielen zu dürfen +glaubten. Namentlich eine von ihnen, eine entzückende +junge Blondine mit dem schönsten und reichsten Haar, +das ich je gesehen habe und sehen werde, schien sich +geradezu geschworen zu haben, mich nicht in Ruhe zu +lassen. Während mich das Lachen, das sie unter den +Gästen durch ihre ausgelassenen Scherze, die sie mit +mir trieb, hervorrief, entschieden verwirrte und ärgerte, +schien es ihr im Gegenteil und ganz fraglos ein +riesiges Vergnügen zu bereiten. Sie benahm sich oft +wie ein richtiges Pensionsmädel, doch sah sie dafür +entzückend aus und in ihrer Schönheit war etwas, das +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +sogleich in die Augen stach und einen einfach bestrickte. +Natürlich glich sie nicht jenen kleinen verschämten +blonden Mädelchen, die so zart und rosig sind und zutunlich +wie weiße Mäuschen, oder die so lieblich aussehen +wie Pastorentöchterchen. Sie war nicht sehr +groß von Wuchs und ihre Gestalt ein wenig voll, ihr +Gesicht aber hatte zarte, feine Züge, die entzückend gezeichnet +waren. Es lag eine Elektrizität in diesem Gesicht, +so daß es in ihm oft wie ein Blitz aufleuchten +konnte, und überhaupt war sie – ganz Feuer, wie man +zu sagen pflegt, lebendig, lebhaft, leicht. Aus ihren +großen offenen Augen sprühten förmlich Funken, als +wären sie Edelsteine. Nie würde ich solche blauen, +strahlenden Augen gegen die schwarzen des Südens +eintauschen, und sollten sie auch noch hundertmal dunkler +sein, als der dunkelste andalusische Blick, denn meine +Blondine war wirklich jener Schwarzäugigen ebenbürtig, +die ein berühmter Dichter in so schönen Versen +besingt, daß er zum Schluß dem ganzen Kastilien +schwören konnte, sein Leben freudig hingeben zu wollen, +wenn man ihm dafür erlaube, nur mit der Fingerspitze +die Mantilla seiner Schönen zu berühren. Jetzt füge +man noch hinzu, daß <em>meine</em> Schöne die lustigste aller +Schönen war und dazu das unvernünftigste, lachlustigste, +unartigste Kind, und das alles, obwohl sie +schon seit etwa fünf Jahren verheiratet war. Das +Lachen wich fast nie von ihren Lippen, die so frisch und +jung aussahen, wie die zarten Blätter einer Rose, wenn +sie unter den Strahlen der Morgensonne kaum erst ihren +duftenden Blütenkelch geöffnet und ihr die Sonne noch +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +nicht die kühlen glitzernden Tautropfen abgetrunken +hat. +</p> + +<p> +Ich weiß noch, am zweiten Tage nach meiner Ankunft +wurde Theater gespielt. Der Saal war buchstäblich +überfüllt: es gab keinen einzigen freien Platz, +und da ich mich zufällig etwas verspätet hatte, mußte +ich stehend der Aufführung zusehen. Aber das lustige +Spiel zog mich immer mehr nach vorn und bald hatte +ich mich ganz unbemerkt bis zu den ersten Reihen durchgearbeitet, +wo ich dann endlich stehen blieb und mich +auf die Lehne eines Stuhles stützte, auf dem eine +Dame saß. Diese Dame war meine schöne Blondine. +Ich muß aber hinzufügen, daß wir damals noch nicht +bekannt miteinander waren. Und da nun – ich weiß +nicht, wie es kam – begann ich ihre märchenhaft schönen +Schultern zu betrachten, die so zart und weiß +aussahen wie Milchschaum: obgleich es mir damals +gewiß noch ganz gleichgültig war, ob ich die schönsten +Frauenschultern sah oder den Kopfputz mit feuerfarbenen +Bändern, der das graue Haar einer ehrwürdigen +Dame in der ersten Reihe vor mir verdeckte. Neben +der blonden Schönheit saß aber ein älteres Fräulein, +eine von jenen, die, wie ich später beobachtet habe, sich +immer möglichst in der Nähe junger und hübscher Damen +aufhalten, und in der Regel gerade diejenigen +wählen, die die männliche Jugend nicht zu verscheuchen +pflegen. Doch dies nur nebenbei; ich erwähnte +es bloß deshalb, weil dieses ältere Fräulein meine betrachtenden +Blicke bemerkte, sich sogleich zu ihrer schönen +Nachbarin beugte und ihr mit maliziösem Lächeln +etwas ins Ohr flüsterte. Plötzlich sah sich diese nach +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +mir um und ihr flammender Blick traf mich im Halbdunkel, +so daß ich, der ich darauf nicht vorbereitet war, +erschrocken zusammenfuhr. Da lächelte sie. +</p> + +<p> +„Gefällt dir das Stück?“ fragte sie mich und sah +mir spöttisch mit zuzwinkerndem Blick in die Augen. +</p> + +<p> +„Ja–a,“ antwortete ich und sah sie immer noch +mit einer gewissen Verwunderung an, an der wiederum +sie Gefallen zu finden schien. +</p> + +<p> +„Warum stehst du denn? So wirst du doch müde. +Oder sind alle Stühle besetzt?“ +</p> + +<p> +„Ja, alle, es ist kein Platz mehr frei,“ sagte ich, +diesmal mehr mit meiner Sorge um einen Stuhl beschäftigt, +als mit dem blitzenden Blick der schönen +Dame, und dabei herzlich froh darüber, daß sich endlich +ein gutes Herz fand, dem ich mein Leid mitteilen konnte. +„Ich habe bereits gesucht, aber auf jedem Stuhl +sitzt schon jemand,“ fügte ich hinzu, als wollte ich mich +bei ihr darüber beklagen, daß alle Stühle besetzt waren. +</p> + +<p> +„Komm her!“ sagte sie schnell entschlossen, wie sie +sich zu allem immer blitzschnell entschloß, gleichviel was +für eine tolle Idee ihr in den Kopf kam. „Komm her +zu mir, schnell, und setz’ dich auf meinen Schoß.“ +</p> + +<p> +„Auf den Schoß? ...“ wiederholte ich einigermaßen +verwundert, und ich wußte nicht recht, was ich +tun sollte. +</p> + +<p> +Wie ich bereits sagte, fingen meine Kindervorrechte +nachgerade an, mich zu kränken und zu beschämen. +Diese Blondine aber trieb es weit ärger als +alle anderen. Überdies begann ich, der ich schon von +jeher ein etwas schüchterner und verschämter Knabe +war, mich gerade zu jener Zeit vor Damen ganz besonders +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +zu fürchten, und deshalb machte mich ihre Aufforderung +vollends unsicher. +</p> + +<p> +„Nun ja, auf den Schoß! Warum willst du denn +nicht auf meinem Schoß sitzen?“ Und sie lachte, lachte +immer übermütiger, lachte Gott weiß worüber – vielleicht +über ihren eigenen Einfall oder vielleicht auch vor +Freude darüber, daß sie mich so verlegen gemacht hatte. +</p> + +<p> +Ich errötete und sah mich in meiner Verwirrung +verstohlen um – wie um eine Möglichkeit zu erspähen, +irgendwohin zu entschlüpfen. Aber sie kam mir zuvor, +erwischte meine Hand, zog mich geschwind zu sich +und plötzlich – ganz unvermutet und zu meiner größten +Verwunderung – preßte sie meine Hand mit ihren +heißen Fingern wie in einen Schraubstock. Es tat +schrecklich weh und ich mußte meine ganze Kraft zusammennehmen, +um nicht aufzuschreien. Da war es +denn wohl kein Wunder, daß ich die seltsamsten Gesichter +schnitt. Hinzu kam noch, daß ich nicht nur verwundert +und erschrocken war, sondern einfach entsetzt, +und zwar über die Tatsache, die ich nun plötzlich am +eigenen Körper erfahren mußte: daß so schöne Damen +zugleich so böse sein und sich so schlimm an kleinen +Jungen vergreifen konnten, die ihnen doch nichts getan +hatten, und das noch dazu vor so vielen fremden +Menschen! Wahrscheinlich spiegelte aber mein unglückliches +Gesicht alle meine Seelenregungen wieder, +denn die unartige Dame lachte unbändig und preßte +dabei meine armen Finger, als wollte sie sie zerquetschen. +Es schien ihr ein rasendes Vergnügen zu bereiten, +etwas recht Tolles anzustellen und einen armen +Jungen recht bis zur Verzweiflung zu peinigen und +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +zum besten zu haben. Ich war in der Tat der Verzweiflung +nahe. Erstens verging ich fast vor Scham, +da alle, die in der Nähe saßen, sich nach uns umsahen, +die einen erstaunt und verständnislos, die anderen lachend, +da sie sogleich begriffen, daß die schöne Blondine +wieder jemandem einen Streich spielte. Und +zweitens wollte ich schreien vor Schmerz, denn die +Schöne schien ihren ganzen Ehrgeiz darein zu setzen, +meine Finger mit wahrem Ingrimm, gerade weil ich +nicht schrie, zusammenzupressen. Ich aber hielt wie +ein kleiner Spartaner stand und schrie nicht. Ich +fürchtete, mit meinem Schrei das Publikum zu erschrecken +und die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich +zu lenken: was aber dann mit mir geschehen wäre, das +vermochte ich nicht einmal auszudenken! In meiner +Verzweiflung begann ich einen erbitterten Kampf mit +ihr, um meine Hand aus ihren Fingern zu reißen, aber +die Grausame war ja viel, viel stärker als ich. Endlich +hielt ich den Schmerz nicht länger aus und schrie +auf – aber nur darauf hatte sie gewartet! Im Nu +ließ sie meine Hand fahren und saß da, als wäre gar +nichts geschehen, als wäre sie das unschuldigste Geschöpf +der Welt, das nichts damit zu schaffen hat, wenn +ein anderer unartig ist: kurz, wie es ein echter Schulbube +tut, der, kaum daß der Lehrer ihm den Rücken +kehrt, im Handumdrehen etwas anrichtet – und wäre +es auch nur, daß er einem kleinen Schwächling einen +Rippenstoß versetzt oder ähnliches mit dem Erfolg verbricht, +daß der andere aufschreit – in der nächsten Sekunde +aber wieder stramm und artig auf seinem Platz +sitzt und fromm die Augen niederschlägt oder mit ungeteilter +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +Aufmerksamkeit in seinem Buch liest und somit +den Herrn Lehrer, der auf den Lärm hin wie ein +Habicht auf ihn losschießt, mit einer langen Nase wieder +abziehen läßt. +</p> + +<p> +Zu meinem Glück jedoch wurde gerade in diesem +Augenblick die Aufmerksamkeit der übrigen durch das +meisterhafte Spiel unseres Hausherrn in Anspruch genommen +– er spielte nämlich in der Komödie die +Hauptrolle. Stürmischer Beifall erscholl und ich benutzte +schnell die Gelegenheit zur Flucht, drängte mich +durch ein paar Reihen und lief in die entgegengesetzte +Ecke, von wo aus ich halbversteckt hinter einer Säule +mit Grauen dorthin spähte, wo mein grausamer Quälgeist +saß. Sie lachte so, daß sie das Taschentuch an +die Lippen pressen mußte. Und lange noch sah sie sich +immer wieder nach mir um, jedoch ohne mich zu entdecken. +Allem Anscheine nach tat es ihr sehr leid, daß +unsere verrückte Balgerei so schnell ein Ende gefunden +hatte, ja vielleicht heckte sie schon einen neuen Streich +aus. +</p> + +<p> +Damit begann also unsere Bekanntschaft, und seit +jenem Abend war ich meines Lebens nicht mehr sicher +vor ihr. Sie verfolgte mich ohne Maß und Gewissen. +Sie wurde einfach zu meinem Schreckgespenst. Das +Groteske ihrer Scherze mit mir bestand hauptsächlich +darin, daß sie beteuerte, bis über die Ohren in mich +verliebt zu sein – und zwar sagte sie das ganz ungeniert +in Gegenwart aller Gäste. Natürlich war das +für mich, dem ohnehin mehr als nötig verschämten +Knaben, ungefähr das Fürchterlichste, was ich mir denken +konnte, und es ärgerte mich fast bis zu Tränen; ja +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +ein paarmal brachte sie mich in eine so unangenehme +und bedenkliche Lage, daß ich nahe daran war, mit +dieser heimtückischen Anbeterin einen regelrechten +Faustkampf zu eröffnen. Aber meine naive Verwirrung, +meine Verzweiflung und Wut schienen sie nur anzustacheln, +mich noch lebhafter zu verfolgen. Sie kannte +kein Erbarmen, ich aber wußte nicht, wo ich mich vor +ihr verbergen sollte, und zum Unglück wirkte noch das +Gelächter der anderen, das sie durch ihre Scherze mit +mir hervorzurufen verstand, anfeuernd auf sie, so daß +man zu guter Letzt fand, sie gehe mit ihren Scherzen +denn doch zu weit. Und wirklich muß auch ich zugeben +– ich meine heute, denn damals konnte ich das +noch nicht beurteilen –, daß sie sich zu viel mit einem +solchen Kinde erlaubte, wie ich es damals war. +</p> + +<p> +Aber so war nun einmal ihr Wesen, das ja deshalb +noch nicht schlecht zu sein brauchte: sie war eben +auch noch ein richtiges verwöhntes Kind. Wie ich nachher +erfuhr, soll gerade ihr Mann sie am meisten verwöhnt +haben – ein dicker kleiner Herr mit einem frischen +Gesicht, sehr reich und sehr beschäftigt, letzteres +wenigstens nach seiner Lebensweise zu urteilen: ewig +hatte er etwas vor, und keine zwei Stunden hielt er es +an einem Ort aus, jeden Tag fuhr er vom Gut nach +Moskau, oft sogar zweimal am Tage, und zwar, wie +er behauptete, wegen geschäftlicher Angelegenheiten. +Etwas Lustigeres und Gutmütigeres als es seine komische, +aber dabei doch immer gesetzte Miene und +Haltung war, hätte man schwerlich irgendwo finden +können. Seine Frau liebte er nicht nur bis zur Schwäche +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +– nein, er betete sie geradezu an wie seinen Abgott. +</p> + +<p> +Da versteht es sich wohl von selbst, daß er ihr nichts +verbot, und daß sie tun konnte, was ihr gerade einfiel. +Freunde und Freundinnen besaß sie eine Menge. Denn +erstens gab es überhaupt wenige, die sie nicht liebten, +und zweitens war sie gar nicht wählerisch in der Wahl +ihrer guten Bekannten, obgleich auch ihrem Charakter +viel mehr Ernst zugrunde lag, als man nach dem, was +ich soeben erzählt habe, annehmen könnte. Aber von +allen ihren Freundinnen liebte sie eigentlich nur eine +junge Frau, eine entfernte Verwandte von ihr, die +gleichfalls als Gast auf dem Gute weilte. Zwischen +ihnen bestand ein ganz eigenes Freundschaftsverhältnis, +eines von jenen seltsam zarten, geistig vornehmen, +wie es sich zuweilen aus der Begegnung zweier sonst +recht verschiedener Charaktere ergibt, die vielleicht sogar +einander ganz entgegengesetzt sind, von denen aber +der eine strenger und tiefer und reiner ist als der andere, +während dieser mit feinem Taktgefühl ehrlicher +Selbsteinschätzung und neidloser Liebe sich dem anderen +unterordnet, indem er dessen Überlegenheit anerkennt +und seine Freundschaft wie ein Glück und einen kostbaren +Schatz im Herzen bewahrt. Daraus entwickelt sich +dann dieses zarte, innerlich vornehme Verhältnis zueinander, +das Güte und Nachsicht auf der einen Seite, +auf der anderen Liebe und Verehrung des Höherstehenden +kennzeichnen – eine Verehrung, der freilich +eine gewisse Furcht nicht fehlt: die Furcht nämlich, +sich in den Augen desjenigen, der für einen +so hoch steht, etwas zu vergeben, was zugleich den +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +glühenden Wunsch hervorruft, mit jedem Schritt und +jeder Tat dem Herzen des Freundes näher zu treten. +Sie waren beide in gleichem Alter, aber es war doch +in allem ein schier unermeßlicher Unterschied zwischen +ihnen, vor allem auch in ihrer äußeren Erscheinung. +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. war gleichfalls sehr schön, aber ihre +Schönheit hatte etwas Eigenartiges, was sie auf den +ersten Blick von der Schar der hübschen Damen unterschied; +und dieses nur schwer erklärbare Etwas wirkte +mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft auf Menschen +oder richtiger, es erweckte in jedem, der ihr begegnete, +ein gutes, reines Gefühl, das einen alsbald +wie eine geheime, aber mächtige Sympathie zu ihr hinzog. +Es gibt solche Gesichter. In ihrer Nähe fühlt ein +jeder sich irgendwie besser, irgendwie freier und wärmer: +und doch war der Blick ihrer traurigen großen +Augen, aus denen Geist und Kraft sprachen, zugleich +schüchtern und unruhig, wie in immerwährender Flucht +vor etwas Feindlichem und drohend Grausamem, und +diese seltsame Scheu breitete zuweilen solch eine Wehmut +über ihre stillen Züge, die an die heiligen Gesichter +italienischer Madonnen gemahnten, daß man bald +ebenso traurig wurde, als hätte man selbst einen Kummer, +vielleicht den gleichen wie sie, deren Leid man so +recht nachfühlen konnte. Aus ihrem bleichen, schmalen +Gesicht sah, trotz der vollendeten Schönheit seiner reinen, +regelmäßigen Züge und der wehmütigen Strenge +einer dumpfen, verborgenen Qual, doch noch das ursprüngliche +klare Kinderantlitz hervor, das Gesicht der +noch nicht vergessenen, vertrauensseligen Jahre – +der Jahre eines vielleicht unbewußten Glücks. Und dazu +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +kam dieses stille, etwas scheue, unbestimmte Lächeln +und alles das erweckte eine so unerklärliche Teilnahme +für diese Frau, daß im Herzen eines jeden unwillkürlich +eine süße, innige Sorge um sie erwachte, eine Sorge, +die für sie noch aus der Ferne sprach und einen +über Zeit und Raum hinweg mit ihr verband. Sie war +vielleicht etwas schweigsam und verschlossen, obwohl +es zugleich schwerlich ein aufmerksameres und liebevolleres +Wesen gab, als sie es zeigen konnte, wenn jemand +der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die im +Leben geradezu wie barmherzige Schwestern sind. +Vor ihnen braucht man nichts zu verbergen, nichts +zu verschweigen, wenigstens nichts, was in unserer +Seele krank und verwundet ist. Wer leidet, der gehe +getrost zu ihnen und fürchte nicht, ihnen zur Last zu +fallen, denn nur selten weiß jemand von uns, wieviel +unendlich geduldige Liebe, wieviel Mitgefühl und welch +ein Allverzeihen in manchem Frauenherzen sein kann. +Ganze Schätze an Mitempfinden, Trost und Hoffnung +ruhen in diesen reinen Herzen, die so oft selbst verwundet +sind – Herzen, die viel trauern, mehr als andere +lieben, aber die Wunden behutsam vor jedem +neugierigen Blick verbergen, denn tiefes Leiden +schweigt und verbirgt sich. Diese Frauen schreckt weder +die Tiefe der Wunde noch ihre Fäulnis: wer an sie mit +seinem Vertrauen herantritt, ist ihrer schon wert. Sie +sind wie zum Helfen geboren ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. war +von hohem Wuchs, biegsam und schlank, aber ein wenig +mager. Ihre Bewegungen waren alle irgendwie +ungleichmäßig, bald langsam und sanft und nicht ohne +eine gewisse Würde, bald wieder kindlich schnell. Dabei +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +sprach aus ihrer Geste zugleich so etwas wie ein +Bangen, wie eine Schutzlosigkeit, die aber doch wieder +niemanden um Schutz anflehte oder um Beistand bat. +</p> + +<p> +Ich sagte bereits, daß die bösen Bemerkungen der +tückischen Blondine mich beschämten, ärgerten, peinigten, +daß mein Herz mir blutete. Aber hierfür gab es +noch einen anderen Grund, sogar einen recht seltsamen +und dummen, den ich jedoch wie ein Heiligtum vor +allen geheimhielt, für den ich wie ein Geizhals für seinen +Schatz zitterte und der mir schon beim bloßen Gedanken, +auch wenn ich ganz allein mit meinem verwirrten +Kopf irgendwo in einer dunkeln Ecke saß, wo der +forschende spöttische Blick meines Plagegeistes mich nicht +erreichen konnte und ich mich vor allen blauen Augen +sicher fühlte – der mir schon bei dem bloßen Gedanken +an den Gegenstand dieser Ursache das Herz vor lauter +Verwirrung, Scham und Furcht stille stehen machte. +Mit einem Wort: ich war in <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. verliebt. +Und doch – muß ich nicht annehmen, daß ich +soeben den größten Unsinn gesagt habe: denn das war +ja ganz undenkbar!? Trotzdem – warum machte von +allen Gesichtern, die ich sah, nur ihr Gesicht einen solchen +Eindruck auf mich? Weshalb folgte mein Blick +nur ihr allein, wo sie ging oder stand, weshalb <em>liebte</em> +ich es, sie zu betrachten, obschon doch damals mein +Sinn entschieden noch nicht danach stand, Frauen zu +entdecken und ihnen nahezutreten? Es geschah das +namentlich abends, wenn sich bei trübem oder kühlem +Wetter die ganze Gesellschaft in den Sälen versammelte +und ich dann aus irgendeiner Saalecke, wo ich +einsam und verlassen saß, ziellos nach allen Seiten +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +ausguckte – wohin die Augen selbst gerade wollten, +da ich keine andere Beschäftigung für sie zu finden +wußte. Außer meiner Verfolgerin sprach selten jemand +ein Wort zu mir, so daß ich mich an solchen +Abenden gewöhnlich sträflich langweilte. Dann betrachtete +ich die Menschen und spitzte die Ohren, wenn +ich Gespräche hörte, von denen ich oft kein Wort begriff. +Da kam es denn ganz von selbst, daß die traurigen +Augen und das stille Lächeln der schönen +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. Gott weiß weshalb meine Aufmerksamkeit +fesselten, und dann konnte nichts mehr den seltsamen, +unbestimmten und unfaßbar süßen Eindruck verwischen, +den sie auf mich machte. Oft saß ich stundenlang +und sah sie an und konnte meinen Blick nicht von ihr +losreißen. Jede Geste, jede Bewegung, jeder Ausdruck +ihres Gesichts prägte sich meinem Gedächtnis ein +und ich lauschte auf jede Veränderung ihrer Stimme, +die nicht laut war, sondern von einer tieferen, dunkleren, +etwas verschleierten Klangfarbe – und merkwürdig! +– aus diesen Beobachtungen und ihren seltsamen +süßen Eindrücken erwuchs in mir eine ganz unerklärliche +Neugier. Es war fast, als ahnte ich ein Geheimnis +in ihr, das ich alsbald unbedingt ergründen wollte. +</p> + +<p> +Am quälendsten war mir daher meine Lage in ihrer +Gegenwart. Denn alle diese Scherze und Neckereien +erniedrigten mich in meinen Augen und waren für +mein Gefühl die schrecklichsten Beleidigungen. Und +wenn nun gar bei dem allgemeinen Gelächter über mich +auch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zuweilen unwillkürlich mitlachte, +dann kannte meine Verzweiflung keine Grenzen: +ich war außer mir vor Schmerz und Scham und riß +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +mich mit der Wut eines Besessenen aus den Händen +meiner Verfolgerin – rannte nach oben, in den +zweiten Stock, wo ich dann den ganzen Rest des Tages +verbrachte, da ich mich nicht mehr im Saal zu zeigen +wagte. Übrigens war ich mir damals weder +über meine Scham noch über meine Erregung im +klaren: der ganze Prozeß spielte sich vollkommen unbewußt +ab. Mit <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. hatte ich noch keine +zwei Worte gesprochen, und ich hätte natürlich nie den +Mut gehabt, sie anzureden. Eines Abends aber, nach +einem für mich elend verlaufenen Tage, blieb ich während +des Spaziergangs hinter den anderen zurück und +da ich schrecklich müde geworden war, ging ich durch +den Garten wieder nach Hause. Ich wählte den kürzesten +Weg – eine entlegene Allee – und da erblickte +ich auf einer Bank plötzlich <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. Sie saß +dort ganz allein, als habe sie diese Einsamkeit gesucht, +saß zurückgelehnt, mit gesenktem Kopf, und ihre Finger +bewegten mechanisch das Taschentuch, das sie in +der Hand hielt. Sie war so in Nachdenken versunken, +daß sie es gar nicht hörte, wie ich mich ihr näherte. +</p> + +<p> +Als sie mich erblickte, erhob sie sich schnell von der +Bank, wandte das Gesicht fort und ich sah, wie sie das +Taschentuch an die Augen führte, um die Tränenspuren +fortzuwischen. Sie hatte geweint. Dann tat +sie, als wäre nichts geschehen, lächelte mir zu und ging +mit mir zum Hause. Ich habe vergessen, wovon wir +sprachen; nur schickte sie mich unterwegs immer wieder +unter verschiedenen Vorwänden von sich fort: bald bat +sie mich, eine Blume zu bringen – bald sollte ich ihr +sagen, wer dort in der nächsten Allee ritt. Sobald ich +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +mich aber von ihr fortwandte, fuhr sie wieder schnell +mit dem Tuch über die Wangen, da die ungehorsamen +Tränen nicht versiegen wollten, vielmehr aus dem +wehen, kämpfenden Herzen immer wieder in ihre armen +Augen traten. Ich begriff sehr wohl, daß ich ihr +lästig war, da sie mich so oft fortschickte. Sie aber +sah doch, daß ich schon alles bemerkt hatte, und trotzdem +konnte sie sich nicht beherrschen – das quälte mich +für sie noch viel mehr! Ich ärgerte mich über mich +selbst fast bis zur Verzweiflung, ich verwünschte mein +Unglück und meine Dummheit, die mich keinen Vorwand +finden ließ, unter dem ich mich hätte entfernen +können, ohne sie noch obendrein merken zu lassen, +daß ich um ihr Leid wußte. So ging ich denn betrübt +und unglücklich, mit meinem Zwiespalt im Herzen, +neben ihr her und fand trotz aller Anstrengung +kein einziges Wort, mit dem ich unsere einsilbige Unterhaltung +hätte beleben können. +</p> + +<p> +Diese Begegnung machte einen so tiefen Eindruck +auf mich, daß ich <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. den ganzen Abend mit +unersättlicher Neugier verstohlen betrachtete. Aber ungeachtet +meiner Vorsicht trafen unsere Blicke sich doch +ein paarmal, und als sie das zweite Mal diesen meinen +Blick bemerkte, da lächelte sie. Es war das an +diesem Abend das einzige Mal, daß ich sie lächeln sah. +Die Trauer war jedoch noch nicht aus ihrem Gesicht +gewichen und sie war sogar noch bleicher als sonst. Die +ganze Zeit unterhielt sie sich mit einer alten Dame, +die eigentlich, weil sie immer spionierte und Klatschgeschichten +verbreitete, niemand ausstehen konnte, die +vielmehr von allen gefürchtet wurde, weshalb man sich +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +denn gewissermaßen gezwungen fühlte, im Verkehr mit +ihr liebenswürdig und aufmerksam zu sein, ob man +wollte oder nicht ... +</p> + +<p> +Gegen zehn Uhr traf plötzlich der Mann von +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. ein. Ich sah, wie sie bei dem unerwarteten +Erscheinen ihres Gatten zusammenzuckte und wie ihr +ohnehin schon so bleiches Gesicht noch um einen unheimlichen +Grad stärker erblaßte. Es war das so +auffallend, daß auch andere es bemerkten: wenigstens +fing ich von einem leisen Gespräch in meiner Nähe +ein paar Bemerkungen auf, aus denen ungefähr hervorging, +daß die arme <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. kein gerade beneidenswertes +Leben habe. Ihr Mann sei, wie man +wisse, eifersüchtig wie ein Mohr, jedoch nicht aus Liebe +zu ihr, sondern nur aus Liebe zu sich selbst. Dieser +Mensch war nämlich ... in erster Linie ein „Europäer“, +und zwar einer der neuzeitlichen, von modernen Ideen +angekränkelten, mit denen er gerne großtat. Was sein +Äußeres betraf, so war er ein brünetter, großer und +sehr stämmiger Herr mit europäisch geschnittenem +Backenbart und einem selbstzufriedenen, frischen Gesicht, +mit zuckerweißen Zähnen und dem Auftreten eines vollendeten +Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen +Menschen“. So nennt man nämlich in gewissen Kreisen +einen besonderen, auf Kosten anderer fett gewordenen +Menschenschlag, der so gut wie nichts tut und auch +so gut wie nichts tun will, der vielmehr vom ewigen +Müßiggang und Nichtstun anstatt des Herzens sozusagen +nur ein Stück Speck im Leibe hat. Gerade von +diesen Leuten aber hört man jeden Augenblick, daß sie +nur infolge gewisser höchst verwickelter und ihnen +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +feindlicher Umstände nichts zu tun hätten, daß sie ihren +„Genius ermüdeten“ und daß es deshalb „traurig sei“, +sie „unbeschäftigt zu sehen“. Das ist nun einmal ihre +schönklingende Phrase, ihr <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mot d’ordre</span>, das diese satten +Fettwänste überall anbringen – weshalb sie einen +denn auch schon längst langweilen, um nicht mehr zu sagen; +wie eben jede ausgesprochene Tartüfferie oder jedes +leere, alberne Wort. Übrigens scheinen einige dieser +spaßigen Käuze, die auf keinerlei Weise eine Arbeit +für sich finden können – zumal sie auch nie eine solche +ernstlich suchen – gerade danach zu trachten, alle davon +zu überzeugen, daß sie an Stelle des Herzens nicht +ein Stück Speck, sondern im Gegenteil etwas sehr Tiefgründiges +besäßen. Was dies Etwas freilich sei, eigentlich +und im letzten Grunde, das würde auch der beste +Chirurg nicht sagen können – nur aus Höflichkeit, +versteht sich, könnte er es nicht! Diese Herren bringen +ihr Leben damit zu, daß sie alle ihre Fähigkeiten +zu billigem Spott, kurzsichtigster Kritik und maßlos +dünkelhaftem Auftreten verwerten. Da sie aber nichts +weiter zu tun haben, als die Fehler und Schwächen +anderer zu entdecken und ans Licht zu zerren, und da sie +von Güte und Nachsicht genau nur so viel besitzen, wie +die Natur etwa einer Auster verliehen hat, so fällt es +ihnen auch nicht schwer, unter solchen Umständen ziemlich +umsichtig und mit viel Vorsicht unter den Menschen +zu leben. Dessen rühmen sie sich denn auch über +alle Maßen. So sind sie zum Beispiel fest überzeugt, +daß womöglich die ganze Welt ihnen tributpflichtig +sei, und sie betrachten diese Welt nahezu als ihre Vorratskammer. +Sie sehen in allen anderen Menschen um +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +sich her Dummköpfe und glauben, ein jeder gleiche +einer Apfelsine oder einem Schwamm, aus dem sie, sobald +sie nur wollen, auch den letzten Tropfen herauspressen +können. Sie halten sich in gewissem Sinne für +die Herren der Welt und scheinen anzunehmen, daß +diese ganze löbliche Ordnung der Dinge einzig davon +herrühre, daß sie so kluge und gewichtige Menschen +sind. In ihrem maßlosen Eigendünkel werden sie nie +eigene Mängel zugeben, sondern sich immer unter allen +Umständen und in jeder Beziehung für vollkommen +halten. Sie gleichen jenem besonderen Menschentyp, +dessen Ahnherren Tartüffe und Falstaff sind, jenen +Schelmen, die so viel und so oft betrügen, daß sie selbst +schließlich glauben, alles was sie sagen, tun und lassen +habe seine Richtigkeit, d. h. es sei von ihnen durchaus +richtig, so zu leben und zu betrügen: sie haben eben +ihre Beteuerungen, daß sie ehrlich und uneigennützig +seien, so oft gehört, daß sie zu guter Letzt selbst glauben, +sie seien uneigennützig und ihre Betrügereien zeugten +von aufrichtigster Ehrlichkeit. Zu einer unparteiischen +Selbstkritik und Selbsterkenntnis langt es bei +ihnen nie. Zum Erfassen mancher Dinge sind sie eben +viel zu schwerfällig. Im Vordergrunde aller Dinge +und Geschehnisse steht ihnen immer die eigene goldene +Person, der Moloch, dem sie alles opfern, ihr herrliches +„Ich“! Die ganze Natur, die ganze Welt ist für sie +nicht mehr als ein großer schöner Spiegel, der nur dazu +geschaffen scheint, damit ein kleiner Gott sich ununterbrochen +in ihm bewundern kann und außer seiner eigenen +Person niemand und nichts zu sehen braucht. Da +ist es denn kein Wunder, wenn sie unter solchen Umständen +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +alle übrigen Erscheinungen der Welt immer +irgendwie entstellt sehen und nie so, wie sie wirklich +sind. Für alles haben sie eine fertige Phrase vorrätig +und zwar – was übrigens äußerst geschickt von ihnen +ist – immer nur eine der allermodernsten. Ja, man +kann sagen, daß hauptsächlich sie es sind, die die Verbreitung +der Phrase besorgen, deren Erfolg sie beizeiten +wittern. Jawohl, Spürsinn – das ist das einzige, +was man ihnen nachrühmen kann, denn in dieser +Beziehung haben sie wirklich eine feine Nase; wenigstens +ist sie fein genug, um derartige moderne Ausdrücke +früher als andere herauszuschnüffeln und sich +rechtzeitig anzueignen, so daß es fast den Anschein hat, +als stammten sie von ihnen. Namentlich versehen sie +sich mit solchen, die ihrer tiefen Liebe zur Menschheit +Ausdruck geben sollen und die angeblich einzig richtige +und vernunftgemäße Menschenfreundschaft dartun, um +dabei gleichzeitig rücksichtslos über die veraltete Romantik +herzufallen, mit ihr nicht selten alles Schöne und +Erhabene zu verurteilen, ohne zu begreifen, daß jedes +kleinste Gefühl derselben wertvoller ist, als ihre ganze +Weichtierexistenz. In ihrer geistigen Stumpfheit sind +sie unfähig, die Wahrheit in einer noch unfertigen, von +der altbekannten abweichenden Form, in einem Übergangsstadium +zu erkennen, und so lehnen sie denn alles +ab, was noch im Entstehen ist und seine Form erst +sucht und deshalb noch nicht ganz feststeht. Diese wohlgenährten +satten Menschen haben ihr Leben gewöhnlich +gleichsam im Zustande eines fortgesetzten Räuschchens +heiter verbracht. Alles ist ihnen von anderen zurecht +gemacht worden, selbst aber haben sie noch nie +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +etwas geleistet und wissen natürlich nicht, wie schwer es +ist, etwas zu vollbringen. Wehe dem aber, der mit irgendeiner +Rauheit ihre satten Gefühle streift: das +würde niemals verziehen, noch vergessen werden, Rache +üben sie aber dafür mit Wonne. In der Summe +ergibt sich, daß ein derartiger Held nichts mehr und +nichts weniger ist als ein riesengroßer, bis zur letzten +Möglichkeit aufgeblasener Sack, voll von Sentenzen, +Modephrasen und Schlagwörtern aller Art. +</p> + +<p> +Übrigens war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. doch ein etwas bemerkenswerterer +Herr, zumal er eine Gabe besaß, die ihn +immerhin durch eine gewisse Eigenart auszeichnete: er +war nämlich ein guter Erzähler, war witzig und redselig, +so daß in der Gesellschaft sich immer ein Kreis +um ihn versammelte. An jenem Abend war er besonders +gut aufgelegt; er riß die Unterhaltung an sich, +war schlagfertig, beinahe geistvoll, gut gelaunt und +brachte es so weit, daß alle nur ihm zuhörten und ihn +anstaunten. Dagegen war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. die ganze Zeit +schweigsam und litt sichtlich: sie sah so traurig aus, daß +ich fürchtete, jeden Augenblick wieder Tränen an ihren +Wimpern erglänzen zu sehen. Alles das machte, wie gesagt, +einen tiefen Eindruck auf mich. Ich war bestürzt +und verwundert und eine seltsame Neugier erfaßte +mich. Die ganze Nacht träumte mir von <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M., +während ich bis dahin selten von so peinigenden und +aufregenden Träumen heimgesucht worden war. +</p> + +<p> +Am anderen Morgen wurde ich schon früh nach +unten in den Saal gerufen, wo die Proben zu den lebenden +Bildern, zu denen auch ich mich hergeben +mußte, stattfanden. Diese lebenden Bilder, ferner eine +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +Theateraufführung und ein großer Ball, alles an +einem Abend, sollten zur Feier des Geburtstages der +jüngsten Tochter unseres verschwenderischen Hausherrn +stattfinden. Wir hatten im ganzen nur noch etwa fünf +Tage Zeit. Zu diesem Fest waren aus Moskau und von +den benachbarten Landgütern nicht viel weniger als +hundert Personen eingeladen, so daß große Vorbereitungen +getroffen werden mußten, die natürlich den +Trubel noch erhöhten. Die Proben oder richtiger die +Durchsicht der vorhandenen Kostüme fand zu einer so +ungelegenen Zeit statt, weil der bekannte Künstler R., +ein Freund und Gast unseres Hausherrn, der aus Gefälligkeit +sich bereit erklärt hatte, die Bilder zu stellen, +noch nach Moskau fahren wollte, um die fehlenden +Requisiten einzukaufen. So hieß es denn: sich beeilen. +Mich hatte man für ein lebendes Bild zusammen +mit <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. ausersehen. Das Bild stellte eine +Szene aus dem mittelalterlichen Leben dar und hieß: +„Die Schloßherrin und ihr Page“. +</p> + +<p> +Ich war entsetzlich verwirrt, als ich mit <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> +M. auf der Probe zusammentraf. Natürlich war ich +überzeugt, daß sie sogleich alle meine Gedanken, Zweifel +und Vermutungen, die mir seit dem letzten Abend +durch den Kopf gefahren waren, aus meinen Augen +erraten würde. Und überdies bedrückte mich noch so +etwas wie ein Schuldgefühl ihr gegenüber, weil ich +sie in ihrem Leid überrascht und ihre Tränen bemerkt +hatte. Wußte ich denn, ob sie nicht vielleicht sogar sehr +ärgerlich über mich war? Aber, Gott sei Dank, es verlief +alles ohne irgendwelche Unannehmlichkeiten: ich +wurde von ihr ganz einfach – gar nicht bemerkt. Ihre +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +Gedanken waren offenbar mit etwas ganz anderem +beschäftigt und sie schien weder mich noch sonst etwas +von der Probe zu sehen. Sie machte den Eindruck, als +laste eine große quälende Sorge auf ihr. Nach beendeter +Probe lief ich schnell fort und kleidete mich um. Etwa +zehn Minuten später trat ich auf die Terrasse, um +in den Garten zu gehen. In demselben Augenblick trat +aus einer anderen Tür auch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. auf die Terrasse +und zugleich erblickten wir beide vor uns ihren +selbstzufriedenen Herrn Gemahl, der aus dem Garten +heraufkam, wohin er gerade eine Schar junger Damen +begleitet hatte. Die Begegnung mit seiner Frau kam +auch für ihn ganz unerwartet. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. errötete +plötzlich und in ihrer hastigen Bewegung drückte sich +ein gewisser Unmut aus. Der Herr Gemahl, der sorglos +eine Arie vor sich hingepfiffen und unausgesetzt +mit tiefsinniger Miene seinen schönen Backenbart geglättet +hatte, runzelte ein wenig die Stirn, als er seine +Frau erblickte und betrachtete sie, wie ich mich jetzt entsinne, +mit entschieden inquisitorischem Blick. +</p> + +<p> +„Sie gehen in den Garten?“ fragte er, da er in +ihrer Hand einen Sonnenschirm und ein Buch bemerkte. +</p> + +<p> +„Nein, in den Wald,“ sagte sie und errötete leicht. +</p> + +<p> +„Allein?“ +</p> + +<p> +„Mit ihm ...“ Sie wies auf mich. „Ich gehe morgens +immer allein spazieren,“ fügte sie wie zur Erklärung +hinzu, aber mit einer etwas unsicheren Stimme, +die wohl gleichgültig klingen sollte, statt dessen aber genau +so klang, wie wenn man zum erstenmal im Leben +bewußt lügt. +</p> + +<p> +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +„Hm ... Ich habe soeben eine ganze Gesellschaft +hinbegleitet. Sie versammeln sich dort alle bei der Rosenlaube, +um N. das Geleit zu geben. Er verläßt uns, +wie Sie wissen ... Es ist ihm da irgendwo in Odessa +ein Malheur passiert ... Ihre Kusine (das war mein +blonder Plagegeist) lacht und weint, beides zugleich, +so daß man nicht aus ihr klug werden kann. Übrigens +sagte sie mir, daß Sie aus irgendeinem Grunde auf N. +böse seien und ihn deshalb nicht begleiten wollten. Natürlich +ein Unsinn?“ +</p> + +<p> +„Sie scherzt nur,“ sagte <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. und stieg die +Stufen der Terrasse hinab. +</p> + +<p> +„Also das ist jetzt Ihr täglicher <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Cavalier servant</span>?“ +fragte er noch beiläufig mit spöttisch zuckenden +Mundwinkeln und musterte mich durch sein Monokel. +</p> + +<p> +„Page!“ rief ich, wütend über seinen Blick, über +seinen Spott, und dann lachte ich ihm gerade ins Gesicht +und sprang mit einem Satz über drei Stufen ... +</p> + +<p> +„Nun, viel Vergnügen,“ brummte <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. und +ging weiter. +</p> + +<p> +Ich war natürlich gleich zu <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. getreten, +als sie auf mich wies, und hatte mir den Anschein gegeben, +als hätten wir uns schon vor einer Stunde verabredet, +und ich tat so, als sei ich schon einen ganzen +Monat jeden Morgen mit ihr spazierengegangen. Nur +konnte ich nicht begreifen, weshalb diese Begegnung +sie so verwirrte, und was sie eigentlich im Sinne hatte, +als sie sich zu der kleinen Lüge entschloß. Warum hatte +sie nicht ganz einfach gesagt, daß sie allein gehe? So +aber wußte ich nicht, was ich davon denken sollte. Dennoch +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +begann ich allmählich, trotz meiner Unsicherheit +und aller Befürchtungen, mit naiver Neugier verstohlen +zu ihr aufzusehen: doch ganz wie vor einer Stunde +in der Probe bemerkte sie auch jetzt weder meine Blicke +noch meine stumme Frage. Nur dieselbe quälende +Sorge spiegelte sich noch deutlicher, noch tiefer in ihren +erregten Zügen wieder und sprach aus jeder Bewegung, +sprach vor allem aus ihrem schnellen Gang. Sie +mußte Eile haben, denn sie beschleunigte ihre Schritte +und unruhig blickte sie in jede Allee, in jeden Durchhau +im Walde, und zwar immer nach der Seite des Gartens +hin. Auch ich begann etwas zu erwarten. Da +vernahmen wir Pferdegetrappel hinter uns. Es war +eine ganze Kavalkade, Damen und Herren, hoch zu +Roß, die alle jenen N., der uns so plötzlich verließ, begleiteten. +</p> + +<p> +Unter den Reiterinnen erblickte ich auch meine Blondine, +von der <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. uns erzählt hatte, daß sie gelacht +und geweint habe, beides zugleich. Ihrer Gewohnheit +gemäß lachte sie nun wieder wie ein Kind +und war so mutwillig und lustig wie nur je. Sie ritt +einen prächtigen Schimmel. Als die Gesellschaft uns +erreichte, zog N. den Hut, hielt aber weder sein Pferd +an, noch sagte er ein Wort zu <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. Bald waren +sie alle hinter einer Wegbiegung verschwunden. +Ich blickte zu <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. auf und – beinahe hätte +ich aufgeschrien vor Überraschung: sie war totenbleich +und rührte sich nicht, nur große Tränen standen in ihren +Augen. Unsere Blicke trafen sich: <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. errötete +jäh, wandte sich für einen Augenblick fort und ich las +Unruhe und Ärger in ihrem Gesicht, obschon sie sich +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +schnell und mit aller Gewalt zusammennahm. Ich war +überflüssig, war lästiger noch als tags zuvor: das war +mir klar. Aber wie sollte ich mich entfernen, unter welchem +Vorwande? +</p> + +<p> +Da schlug <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. plötzlich, als habe sie meine +Gedanken erraten, das Buch auf, das sie mitgenommen +hatte, und, indem ihr wieder das Blut in die +Wangen stieg, sagte sie – sichtlich bemüht, mich dabei +nicht anzusehen – als habe sie es soeben erst bemerkt: +</p> + +<p> +„Ach! Das ist ja der zweite Band, ich habe mich +versehen! Bitte, bring mir den ersten!“ +</p> + +<p> +Es war nicht mißzuverstehen! Ich hatte meine Rolle +ausgespielt und auf einem geraderen Wege hätte man +mich schwerlich fortschicken können. +</p> + +<p> +Ich lief mit dem Buche fort und kehrte nicht zurück. +Der erste Band blieb an diesem Morgen unberührt +auf dem Tische liegen ... +</p> + +<p> +Aber seitdem war ich so verändert, daß ich mir +selbst ganz fremd vorkam: mein Herz pochte wie in +fortwährender Angst. Ich wandte die größte Vorsicht an, +um nicht irgendwie <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zu begegnen. Dafür +aber betrachtete ich von nun an mit einer nahezu wilden +Neugier ihren selbstzufriedenen Herrn Gemahl, als +wollte ich an ihm etwas Besonderes entdecken. Ich begreife +jetzt selbst nicht, wie ich damals zu dieser lächerlichen +Neugier kam, doch entsinne ich mich, daß alles, +was ich an jenem Morgen erlebt, mich in ein ganz +eigenartiges Erstaunen versetzt hatte. Und doch war es +nur erst ein Anfang an diesem Tage gewesen, an dem +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +mir noch ganz andere und noch viel größere Erlebnisse +bevorstanden. +</p> + +<p> +Es wurde ausnahmsweise früher als sonst zu Mittag +gespeist. Am Nachmittage sollten wir eine Ausfahrt +nach einem Nachbardorf machen, um einmal ein richtiges +Dorffest, das dort gefeiert wurde, kennen zu lernen +– deshalb speisten wir früher. Ich hatte mich schon +drei Tage auf dieses Fest gefreut, von dem ich Gott +weiß wie viel erwartete. Den Kaffee tranken alle auf +der Terrasse. Vorsichtig folgte ich den anderen aus dem +Speisesaal und verbarg mich hinter mehreren Sesseln. +Mich zog wieder meine Neugier dorthin: und die war +so groß, daß ich ihr sogar auf die Gefahr hin folgte, +von <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. bemerkt zu werden. Der Zufall fügte +es jedoch anders: ich geriet in die Nähe meiner blonden +Verfolgerin. An dem Tage war mit ihr ein Wunder +geschehen, etwas schier Unglaubliches: sie sah plötzlich +noch einmal so schön aus, als sie bis dahin ausgesehen +hatte. Wie und warum das gekommen war – +das weiß ich nicht, aber mit Frauen geschieht dieses +Wunder ja recht oft! Unter uns befand sich ein neuer +Gast, ein langer, blonder, junger Mann, der gerade +aus Moskau eingetroffen war, fast wie um N. zu ersetzen, +der uns am Morgen verlassen hatte, und von +dem das Gerücht ging, daß er in unsere blonde Schönheit +sterblich verliebt gewesen sei. Der neue Gast aber +stand schon seit langer Zeit in einem Verhältnis zu +ihr, wie Benedikt zu Beatrice in Shakespeares „Viel +Lärm um nichts“. Kurz, unsere Schönheit fand an diesem +Tage ungeheuren Beifall. Ihre Scherze und ihre +Unterhaltung waren so entzückend, so zutraulich naiv, +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +so verzeihlich unvorsichtig, sie war dabei selbst mit einer +so graziösen Sicherheit vom allgemeinen Beifall +überzeugt, daß sie die ganze Zeit über von allen Anwesenden +tatsächlich nur bewundert wurde. Um sie +herum bildete sich ein dreifacher Kreis von überraschten, +verwunderten und entzückten Zuhörern, denn so +bezaubernd hatte man sie noch nie gesehen. Jedes +Wort von ihr ward wie ein verführerisches Wunderding +erhascht und weitergegeben, jeder Scherz, jede +schlagfertige Antwort erregte Begeisterung. Wie es +schien, hatte niemand soviel Geschmack, Geist und +Verstand an ihr vermutet. Ihre besten Eigenschaften +wurden durch ihre täglichen kindischen Tollheiten, die +oft fast zu Narrheiten ausarteten, in den Schatten gestellt +und selten von jemand bemerkt – oder wer sie +zwischen jenen Kindereien bemerkte, der hielt sie für +Zufall, so daß ihr plötzlicher Erfolg mit einem allgemein +verwunderten Geflüster aufgenommen wurde. +</p> + +<p> +Übrigens trug zu diesem Erfolg noch ein besonderer, +etwas kitzliger Umstand bei – kitzlig wenigstens +im Hinblick auf die Rolle, die der Herr Gemahl der +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. dabei spielte. Der Wildfang hatte sich +nämlich vorgenommen – und wie ich bemerken muß: +zu allseitigem Gaudium oder zum mindesten doch zu +dem der goldenen Jugend – wahrhaft unbarmherzig +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M., immer nur M., anzugreifen, und dies +wohl aus verschiedenen Gründen, die in ihren Augen +wahrscheinlich alle sehr gewichtig waren. Sie eröffnete +im Kampf mit ihm ein richtiges Schnellfeuer von +spöttischen Herausforderungen, Seitenhieben und +Sarkasmen von der boshaftesten Art, die von allen +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +Seiten so geschlossen, glatt und rund waren, daß man +sie nirgends fassen konnte, um sie der gütigen Spenderin +zurückzuwerfen, Sarkasmen, denen der Gegner +nahezu wehrlos ausgeliefert war, die nie ihr Ziel verfehlten +und ihr Opfer, das sich in vergeblichen Anstrengungen +erschöpfte, schließlich in die wildeste Wut +versetzten und zur komischsten Verzweiflung brachten. +</p> + +<p> +Ich weiß es zwar nicht genau, aber ich glaube +doch sagen zu dürfen, daß dieser Zweikampf nicht zufällig +entbrannte, sondern von ihr mit Absicht herbeigeführt +wurde. Eigentlich begann der verzweifelte +Kampf schon bei Tisch. Ich nenne ihn „verzweifelt“, +denn M. streckte die Waffen nicht so bald. Er mußte +mit Aufbietung seiner ganzen Geistesgegenwart all seinen +Scharfsinn und seine allerdings recht geringe Gewandtheit +zusammennehmen, um nicht eine Schlappe +sondergleichen davonzutragen – um nicht mit +Schmach und Schande das Feld räumen zu müssen. +Der Kampf verlief unter fast unaufhörlichem Gelächter +aller Zeugen und Teilnehmer. Jedenfalls hatte sich +das Blatt für ihn an diesem zweiten Tage völlig gewendet +und mit dem Beifall, den er am ersten Abend +eingeerntet, war es zu Ende. Wie ich und auch andere +bemerkten, war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. mehrmals im Begriff, +ihrer unvorsichtigen Freundin ins Wort zu fallen. +Diese aber schien ihrerseits dem eifersüchtigen Gatten +unbedingt eine Narrenkappe aufsetzen oder ihn wenigstens +eine lächerliche Rolle spielen lassen zu wollen – +etwa diejenige eines Blaubart, wenigstens nach dem +zu urteilen, was ich noch behalten habe, und nach der +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +Rolle, die ich selbst durch einen Zufall in dieser Komödie +spielen sollte. +</p> + +<p> +Es geschah ganz plötzlich und so unvorhergesehen, +daß ich kaum zur Besinnung kam. Ich stand und +hörte zu, ohne etwas Böses zu ahnen, und hatte sogar +meine Vorsicht vergessen, als ich mich mit einemmal +mitten in den Streit hineingezogen sah: sie stellte mich +plötzlich als den Todfeind und natürlichen Gegner des +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. vor, als den sterblich bis zur Verzweiflung verliebten +Anbeter seiner Frau. Mit ihrem Ehrenwort verbürgte +sich die Schreckliche für die Wahrheit ihrer Behauptungen, +und sie beteuerte hoch und heilig, daß sie +die sichersten Beweise besitze, z. B. habe sie noch an +diesem Morgen im Walde gesehen ... – +</p> + +<p> +Doch sie konnte den Satz nicht beenden: ich +unterbrach sie in dem für mich entscheidenden Augenblick. +Aber dieser Augenblick wiederum war von ihr +so geschickt abgepaßt, der Knoten war so genial geschürzt +und die scherzhafte Lösung so wohl vorbereitet, +und dabei alles so unnachahmlich wiedergegeben, daß +eine schallende Lachsalve diesen letzten Trumpf begrüßte. +Und obschon ich damals gleich erriet, daß die lächerlichste +Rolle gar nicht mir zufiel, war ich doch so verwirrt, +aufgebracht und erschrocken, daß ich mit Tränen +in den Augen, mit dem Schmerz und der Erschütterung +der Verzweiflung und Scham mich zwischen +den Stühlen im Nu durchgedrängt hatte, mitten im +Kreise stand und mit vor Tränen stockender Stimme +empört meiner Feindin zurief: +</p> + +<p> +„Und Sie schämen sich nicht ... ganz laut ... +und vor allen Damen ... eine solche Unwahrheit zu +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +sagen!? ... Sie gebärden sich wie ein dummes Mädchen +... und das noch dazu vor Männern! Was werden +die dazu sagen? Sie sind doch schon groß und ... +verheiratet! ...“ +</p> + +<p> +Ohrenbetäubender Beifall unterbrach meine kindlichen +Vorwürfe. Meine Standrede machte Furore. +Es war aber nicht meine Geste, es waren auch nicht +die Tränen in meinen Augen, die so erheiternd wirkten, +sondern es war vor allem das, daß ich quasi als +Verteidiger des <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. auftrat, was ein so unbändiges +Gelächter hervorrief. In der Erinnerung muß ich +jetzt gleichfalls lachen ... Damals aber erstarrte ich +beinahe und verlor fast die Besinnung vor Entsetzen +über diese Menschen – ich erbebte, bedeckte das Gesicht +mit den Händen und stürzte fort, stieß in der Tür +mit einem Diener zusammen, dem das Teebrett aus +den Händen fiel, und lief wie der Wind nach oben in +mein Zimmer. Ich riß den Schlüssel heraus, der von +außen in der Tür stak, und schloß mich ein. Das war +aber auch mein Glück, denn schon folgte mir eine wilde +Jagd: eine halbe Minute später lief eine ganze Bande +Sturm gegen meine Tür. Es waren alle unsere jungen +Damen: ich hörte ihr Lachen, ihr Geschwätz, tausend +Stimmen durcheinander, eine schneller als die +andere – wie ein Schwalbenvolk zwitscherten sie +durcheinander. Alle, alle ausnahmslos baten sie, flehten +sie mich an, die Tür wenigstens auf einen Augenblick +zu öffnen; sie schwuren, daß mir nichts Böses +widerfahren werde, sie wollten mich nur totküssen, wie +sie versicherten. Welche Drohung hätte fürchterlicher +sein können? Ich verging vor Scham und preßte das +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +Gesicht in die Kissen und hätte um keinen Preis die +Tür geöffnet oder auch nur mit einer Silbe geantwortet. +Sie lärmten und bettelten noch lange hinter der +Tür, ich aber blieb gefühllos und taub, wie nur ein +Elfjähriger sein kann. +</p> + +<p> +Was sollte ich jetzt tun? alles war aufgedeckt, alles +verraten, was ich so eifersüchtig geheimgehalten und +vor allen Blicken verborgen hatte! ... Ich war für +ewig mit Schmach und Schande bedeckt! In Wirklichkeit +hätte ich freilich nicht zu sagen gewußt, was +ich so ängstlich geheimhalten wollte; immerhin aber +hatte ich doch vor der Entdeckung dieses geheimgehaltenen +Etwas wie ein Blättchen gezittert. Auch war ich +mir bis dahin durchaus nicht klar darüber gewesen, +ob es etwas Gutes oder Schlechtes, etwas Rühmliches +oder Schmähliches sei. Nun aber kam mir, plötzlich, zu +meinem großen Kummer unter Qualen die Erkenntnis, +daß dies alles <em>komisch</em> und <em>beschämend</em> war! +Mein Instinkt sagte mir zwar gleichzeitig, daß eine solche +Auffassung falsch, unnatürlich und roh sei; aber ich +war geschlagen, vernichtet; das Denkvermögen, oder +vielmehr die Erkenntnisfähigkeit war in mir gleichsam +gelähmt und schien sich irgendwie verwickelt und verwirrt +zu haben. Es war mir unmöglich, mich gegen +dieses Urteil aufzulehnen oder es auch nur gründlich +zu untersuchen: ich war wie betäubt und fühlte nur, +daß man mein Herz unmenschlich und schamlos verwundet +hatte. Ich weinte ohnmächtige Tränen. +Zugleich war ich gereizt: machtlose Wut kochte in +mir und alsbald stieg sogar Haß auf, den ich zum erstenmal +in meinem Leben empfand, denn zum erstenmal +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +in meinem Leben hatte ich ernstes Leid und eine +wirkliche Kränkung erfahren. In mir, dem unwissenden +Kinde, war das erste noch unbewußte, noch unentwickelte +Gefühl mit roher Hand berührt, das erste +scheue mädchenhaft zarte Schamgefühl entblößt und +entheiligt und der erste und vielleicht sehr ernste ästhetische +Eindruck ins Lächerliche gezogen worden. Allerdings +konnten die Lacher vieles nicht wissen und meine +Qualen nicht voraussehen. Hinzu kam noch ein besonderer +Umstand, über den ich mir selbst noch nicht +ganz klar geworden war, oder richtiger: den zu untersuchen +ich mich bis dahin nicht recht getraut hatte. In +Kummer und Verzweiflung blieb ich auf meinem Bett +liegen und verbarg das Gesicht in den Kissen. Frostschauer +überliefen meinen Körper und ich fieberte. +Zwei Fragen quälten mich: was hatte diese nichtsnutzige +Blondine am Morgen im Walde zwischen mir +und <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. gesehen, was hatte sie sehen können? +Und die zweite Frage: wie, auf welche Weise, mit +welchen Augen konnte ich jetzt noch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. ins +Gesicht sehen, ohne auf der Stelle in demselben Augenblick +vor Scham und Verzweiflung zu vergehen? +</p> + +<p> +Ein ungewohnter Lärm auf dem Hof weckte mich +aus der halben Bewußtlosigkeit, in der ich mich befand. +Ich stand auf und trat ans Fenster. Der Hof +war voll von Equipagen, Reitpferden, Stallknechten +und Kutschern: es sah aus, als wollten alle Gäste uns +verlassen. Ein paar Reiter saßen schon auf den Pferden, +die übrigen Gäste nahmen in den verschiedenen +Wagen Platz ... – Da fiel mir ein, daß wir ja nach +dem Nachbardorf fahren sollten und eine gewisse Unruhe +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +erfaßte mich: ich begann, mit den Augen meinen +Klepper zu suchen, aber der war nicht zu sehen – +folglich hatte man mich vergessen. Da hielt ich es nicht +aus und lief Hals über Kopf nach unten, ohne an +alle unangenehmen Folgen und den ganzen Vorfall +noch weiter zu denken ... +</p> + +<p> +Unten erwartete mich eine vernichtende Nachricht: +es gab für mich diesmal weder ein Pferd, noch einen +Platz in einem Wagen – alle waren bereits besetzt +und ich mußte das Vergnügen anderen abtreten. +</p> + +<p> +Von neuem Leid betroffen blieb ich an der Freitreppe +stehen und blickte traurig auf die lange Wagenreihe +und die Reiter und Reiterinnen, deren Tiere bereits +unruhig tänzelten. +</p> + +<p> +Man wartete nur noch auf einen der Herren, der +sich wohl etwas verspätet hatte. Unten vor der Freitreppe +stand ein Reitpferd, schäumte ins Gebiß, +scharrte mit dem Huf und zuckte bei jeder Kleinigkeit +zusammen, wobei es große Lust verriet, sich zu bäumen. +Zwei Stallknechte hielten das Tier am Zaum +und zugleich sich selbst etwas bänglich nach Möglichkeit +außer dem Bereich seiner Hufe, wie denn überhaupt +alle in achtungsvoller Entfernung von ihm standen. +</p> + +<p> +Es hatte in der Tat seinen Grund, und einen sehr +unangenehmen dazu, weshalb ich nicht mitkonnte. +Abgesehen davon, daß noch neue Gäste angekommen +waren, die die freien Plätze in den Wagen einnahmen, +wollte es das Unglück, daß zwei Reitpferde erkrankten, +von denen das eine mein Klepper war. Durch +dieses Unglück wurde aber nicht ich allein betroffen: +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +auch für unseren neuen Gast, den blassen, jungen +Mann, von dem ich bereits gesprochen, stand kein Reitpferd +mehr zur Verfügung. Infolgedessen hatte sich +unser Hausherr gezwungen gesehen, seinen wilden, +noch nicht ganz zugerittenen jungen Hengst dem Gast +anzubieten, wobei er freilich zur Beruhigung seines +Gewissens hinzufügte, daß es ein Ding der Unmöglichkeit +sei, auf dem Tier zu reiten, und daß er schon längst +beschlossen habe, den Hengst wegen seiner Wildheit zu +verkaufen, sobald er nur einen Käufer finden würde. +Doch der junge Mann erklärte trotz der Warnung, daß +er sich im Sattel sicher genug fühle, und im übrigen +auch völlig bereit sei, sich gleichviel auf was für einen +Pferderücken zu setzen, wenn er nur mitreiten könne. +Da schwieg denn der Hausherr – doch wie mir schien, +spielte ein etwas zweideutiges verschmitztes Lächeln +um seine Lippen: er stand in Erwartung des Reiters, +der sich im Sattel so sicher wähnte, auf der Treppe, +ließ auch sein Pferd noch warten, rieb sich die Hände +und blickte immer wieder nach der Tür. Ähnliche Gedanken +wie ihr Herr schienen auch die beiden Stallburschen +zu haben, die den Hengst hielten und sehr +stolz darauf waren, sich vor soviel Zuschauern als die +Bändiger eines wilden Tieres zeigen zu können, das +jeden Augenblick einen Menschen totzutrampeln vermochte. +In ihren Augen aber schien das verschmitzte +Lächeln des Herrn sich widerzuspiegeln und sie guckten +gleichfalls immer wieder nach der Tür, in der der +kühne Reiter doch bald erscheinen mußte. Übrigens +verhielt auch das Tier sich nicht anders, als habe es +sich mit seinem Besitzer samt den Stallburschen verabredet: +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +es stand stolz und bis auf weiteres ruhig mit +hocherhobenem Kopf da, wie wenn es fühle, daß einige +Dutzend neugieriger Blicke auf ihm ruhten, und wie +wenn es gerade auf seinen schlechten Ruf stolz sei – +tat also ganz so wie mancher unverbesserliche Galgenstrick, +der mit seinen Galgenstreichen prahlt. Und es +war, als wollte das Tier den Kühnen herausfordern, +der es wagen würde, ihm seine Freiheit zu nehmen. +</p> + +<p> +Dieser Kühne erschien endlich. Es war ihm peinlich, +daß er die Gesellschaft so lange hatte warten lassen, +und indem er sich eilig die Handschuh anzog, stieg +er die Stufen hinab und sah erst auf, als er schon die +Hand nach dem Pferdehals ausstreckte und ein wildes +Bäumen des Tieres, begleitet von einem warnenden +Schrei der Zuschauer, ihn verblüfften. Der junge +Mann trat einen Schritt zurück und betrachtete verwundert +den Hengst, der jetzt am ganzen Körper zitterte, +wütend schnaufte und wild die blutunterlaufenen +Augen rollte, wobei er sich immer wieder auf die +Hinterbeine setzte und die Vorderbeine hob, als wäre +er im Begriff, sich im nächsten Augenblick loszureißen +und in wilden Sätzen davonzujagen – die Stallburschen +womöglich hinter sich herschleifend. Der junge +Mann betrachtete ihn immer noch mit einem gewissen +Befremden: dann errötete er leicht, wie in einer kleinen +Verwirrung – sah auf, sah sich im Kreise um und +sah die erschreckten Damen ... +</p> + +<p> +„Es ist ein schönes Tier,“ sagte er, wie zu sich selbst, +„und meiner Meinung nach muß es prächtig sein, +darauf zu reiten, – aber ... aber wissen Sie was? +<em>Ich</em> werde es doch nicht versuchen,“ schloß er, sich mit +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +seinem stillen, freundlichen Lächeln, das seinem guten +und klugen Gesicht so vortrefflich stand, an unseren +Hausherrn wendend. +</p> + +<p> +„Und dennoch halte ich Sie für einen vorzüglichen +Reiter, mein Wort darauf,“ versetzte dieser sichtlich erfreut +und drückte unwillkürlich und dankbar seinem +Gast die Hand, „eben weil Sie auf den ersten Blick +erkannt haben, was für ein Tier es ist,“ fügte er stolz +hinzu. „Werden Sie es mir glauben, daß ich, der ich +dreiundzwanzig Jahre lang Husar gewesen bin, schon +dreimal das Vergnügen hatte, dank seiner Gnaden auf +der Erde zu liegen, nämlich genau so oft, wie ich mich +auf diesen ... nichtsnutzigen Satan gesetzt habe. – +Tankred, he! mein Freund, hier ist man dir nicht gewachsen! +Dein Reiter muß offenbar ein zweiter Ilja +von Murom<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> sein, der vorläufig noch in seinem uns +unbekannten Dorf Karatscharowo sitzt und wartet, bis +dir die Zähne ausfallen. Na, führt ihn fort! Wir haben +genug von ihm! Habt ihn umsonst herausgeführt!“ +rief er den Stallburschen zu und rieb +sich wieder selbstzufrieden die Hände. +</p> + +<p> +Ich muß hier bemerken, daß Tankred ihm nicht den +geringsten Nutzen brachte und ganz umsonst seinen +Hafer fraß. Überdies hatte er, der alte Husar, mit +dem Ankauf dieses Pferdes seinen Ruhm als Pferdekenner +eingebüßt, da er für dieses Tier, das außer +seiner Schönheit gar keinen Wert besaß, eine märchenhafte +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +Summe bezahlt hatte ... Nichtsdestoweniger +war er jetzt sehr zufrieden mit dem Tier, das seinen +schlimmen Ruf bewährte und sich somit immerhin +einen gewissen Ruhm erwarb, gleichviel welcher +Art dieser auch war. +</p> + +<p> +„Wie, Sie wollen nicht mit uns reiten?“ rief +die Blondine, der es sehr darum zu tun war, daß ihr +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Cavalier servant</span> gerade diesmal sie begleitete, „haben +Sie denn wirklich keinen Mut?“ +</p> + +<p> +„Bei Gott, diesmal hab’ ich ihn nicht!“ antwortete +der junge Mann lachend. +</p> + +<p> +„Und Sie sagen das im Ernst?“ +</p> + +<p> +„So wollen Sie denn wirklich, daß ich mir den +Hals breche?“ +</p> + +<p> +„So setzen Sie sich schnell auf mein Pferd: fürchten +Sie sich nicht, es ist lammfromm. Wir halten +nicht auf – im Nu ist umgesattelt! Ich werde es auf +Ihrem Pferde versuchen. Tankred kann doch nicht immer +so unhöflich sein!“ +</p> + +<p> +Gesagt – getan. Sie sprang aus dem Sattel +und stand schon vor uns, noch bevor sie zu Ende gesprochen. +</p> + +<p> +„Oh, da kennen Sie meinen Tankred schlecht, +wenn Sie glauben, er werde Ihren Damensattel sich +auflegen lassen! Und übrigens kann ich auf keinen +Fall gestatten, daß Sie sich das Genick brechen – +das wäre doch zu jammerschade!“ versetzte unser +Hausherr seiner Gewohnheit gemäß mit affektierter +Galanterie, die seiner Ansicht nach, gepaart mit einer +gewissen Derbheit, wenn nicht mitunter gar verfänglichen +Ungeniertheit, den alten Soldaten und „guten +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +Kerl“ markierte, der, wie er sich einbildete, besonders +den Damen gefallen müsse. Das war nun einmal +eine seiner Marotten, die wir alle kannten. +</p> + +<p> +„Na, du, Schreihals – willst du’s nicht versuchen? +Du wolltest doch so gern mitkommen,“ wandte +sich die unerschrockene Reiterin plötzlich an mich, auf +Tankred deutend. Sie meinte es mit ihrem Vorschlag +wohl selber nicht sonderlich ernst, sondern sprach ihn +nur aus, um nicht so ganz ohne weiteres das eigene +Reitpferd wieder besteigen zu müssen, nachdem sie +nun doch schon unnütz abgesprungen war, und ferner, +um auch mich nicht „ungerupft“ zu lassen, der ich so +vorwitzig gewesen war, mich wieder vor ihr zu zeigen. +</p> + +<p> +„Du bist gewiß nicht so, wie ... na, wozu Namen +nennen – wie ein bekannter Held, und wirst dich +nicht schämen, den Mut zu verlieren ... noch dazu, +wenn ‚man‘ dir zuschaut, schöner Page,“ fügte sie hinzu, +mit einem flüchtigen Blick auf <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M., deren +Wagen der Treppe am nächsten hielt. +</p> + +<p> +Haß und Rachedurst hatten mein Herz erfüllt, als +sie, in der Absicht, Tankred gegen ihr Reitpferd einzutauschen, +zu uns getreten war ... Wie aber soll ich +das wiedergeben, was ich bei dieser plötzlichen Herausforderung +empfand? Es wurde dunkel vor meinen +Augen, als ich den Blick bemerkte, den sie <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> +M. zuwarf. Wie ein Blitz durchzuckte mich die Idee +... ja, in einer Sekunde, in dem Bruchteil einer Sekunde, +war die Idee schon Wille geworden ... Ihr +Blick wirkte auf mich wie ein Funke auf ein Pulverfaß +– oder war das Maß schon so zum Überlaufen +voll, daß ich bei diesem letzten Tropfen plötzlich wie +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +mit einem Schlage wieder ich selbst war und alles +sich in mir aufbäumte – daß ich mit einer einzigen +Tat alle meine Feinde schlagen und mich vor allen +Zeugen an ihnen rächen wollte, indem ich zeigte, was +für ein Held ich sei? Oder war es vielleicht das, +daß jemand mir in diesem Augenblick, von dem ich +noch nichts wußte, ein Stück Mittelalter durch irgendein +Wunder oder eine Zauberei offenbarte und +ich in meinem erhitzten Kopfe Turniere, Paladine, +Knappen, schöne Edelfrauen, brechende Lanzen sah +und Schwertergeklirr, Geschrei und Beifallruf der +Menge hörte und zwischen all dem den schüchternen +Schrei eines erschrockenen Herzens, der dem Stolzen +auf dem Kampfplatz süßer klingt als alle Siegesfanfaren? +... Nein, ich weiß wirklich nicht, ob dieser +Unsinn mir schon damals den Kopf verwirrte, oder +ob ich, wie mir scheint, nichts anderes dachte und +fühlte, als daß meine Stunde geschlagen hatte! Mein +Herz stand still, und dann gab ich mir einen Ruck +und mit einem Sprunge war ich von der Treppe und +stand neben Tankred. +</p> + +<p> +„Ach, Sie glauben, ich fürchte mich?“ rief ich +frech und stolz zugleich, in einer Erregung, die mir die +Sinne benahm und das Blut ins Gesicht trieb. „Dann +sollen Sie sehen!“ ... Und noch bevor jemand mich +zurückhalten konnte, hatte ich schon eine Hand in +Tankreds Mähne und einen Fuß im Steigbügel: +Tankred bäumte sich, warf wild den Kopf in die Luft, +riß sich mit einem Ruck und Satz von den Stallknechten +los und raste vom Hof – ein Schrei des Entsetzens +entrang sich allen Zuschauern. +</p> + +<p> +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +Gott weiß, wie es mir gelang, im Fluge noch den +anderen Steigbügel zu finden; ebensowenig begreife +ich, wie ich nicht den Zaum verlor. Tankred raste mit +mir durch das offene Gittertor, bog scharf nach rechts +zur Seite und jagte mit hochgestrecktem Kopf blindlings +längs dem Gitterzaun weiter. Erst in diesem Augenblick +hörte ich hinter mir das Geschrei der fünfzig Stimmen: +und dieser Schrei erweckte in meiner Brust soviel +Freude und Stolz, daß ich diesen verrückten Augenblick +meiner Kindheit nie vergessen werde. Das +Blut stieg mir zu Kopf und betäubte, erstickte meine +Angst. Ich war mir meiner selbst nicht bewußt. Übrigens +hatte das alles, soweit ich mich erinnere, wirklich +etwas Ritterliches. +</p> + +<p> +Indessen begann und endete mein Rittertum in +kaum einer Minute – anderenfalls wäre es dem +Ritter auch sehr schlecht bekommen. Und auch so verdanke +ich meine Rettung nur einem Wunder. Zu reiten +verstand ich freilich, aber mein gewohnter Klepper +erinnerte doch weit eher an ein Lamm als an ein Reitpferd. +Selbstverständlich wäre ich von Tankred aus +dem Sattel geworfen worden, wenn er dazu nur Zeit +gehabt hätte. Am Ende des Hofzaunes scheute er aber +vor einem großen Stein am Wege, bäumte sich und +warf sich so wild herum, daß es mir noch jetzt ein +Rätsel ist, wie ich im Sattel blieb und nicht wie ein +Ball drei Klafter weit zu Boden flog, um zerschmettert +liegen zu bleiben, und wie Tankred selbst bei dieser +plötzlichen wilden Wendung sich nicht einfach überschlug. +So aber jagte er zurück zum Gittertor, schüttelte +wild den Kopf, warf die Beine scheinbar wie sie +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +wollten in die Luft und schien mit jedem Satz und +Seitensprung nur eines zu wollen: mich abzuschütteln, +als wäre ich ein Tiger, der ihm auf den Rücken +gesprungen und sich mit allen Zähnen und Pranken +in sein Fleisch einkrallte. Noch ein Augenblick – und +ich wäre geflogen –! Doch schon sprengten mehrere +Reiter zu meiner Rettung herbei. Zwei von ihnen versperrten +den Weg, zwei andere drängten ihre Tiere +so dicht heran, daß sie mir fast die Beine zerdrückten, +und schon hielten sie Tankred fest am Zaum. In wenigen +Augenblicken waren wir wieder vor der Freitreppe. +</p> + +<p> +Ich wurde aus dem Sattel gehoben, bleich und an +allen Gliedern zitternd. Tankred stand unbeweglich +mit sich hebenden und senkenden Flanken, mit bebenden +roten Nüstern und schnaufendem Atem; dabei zitterten +alle seine Nerven wie vor Wut und Empörung +über die ungestrafte Frechheit eines Kindes, das ihn +so beleidigt hatte! Ringsum ertönten noch immer Ausrufe +der Angst und des Schrecks und der Verwunderung. +</p> + +<p> +Da begegnete mein irrender Blick dem der <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> +M., die erregt und bleich aussah, und – nie werde +ich diesen Augenblick vergessen! – in dem Augenblick +wurde ich feuerrot. Ich weiß nicht, was in mir vorging, +aber verwirrt und erschreckt durch eine neue +Empfindung senkte ich beschämt den Blick zu Boden. +Doch mein Blick war bemerkt, war aufgefangen, war +mir wieder gestohlen worden! Aller Augen wandten +sich <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zu, und als diese so plötzlich die allgemeine +Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah, erschrak +sie und errötete plötzlich selbst wie ein Kind, gleichsam +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +infolge einer Empfindung, die gegen ihren Willen +über sie kam, obgleich sie sich ganz unschuldig fühlte. +Und in ihrer Verlegenheit zwang sie sich zu einem +Lachen ... Doch half ihr auch das nicht, ihr Erröten +zu verbergen ... +</p> + +<p> +Alles dies hätte einem unbeteiligten Beobachter +natürlich sehr komisch erscheinen müssen – aber da +bewahrte mich ein höchst naiver und unerwarteter +neuer Ausfall der Ungezogenen vor dem allgemeinen +Gelächter, indem er den ganzen Zwischenfall in ein +besonderes Licht rückte. Sie, die mich zu meiner Tollkühnheit +herausgefordert hatte und die ganze Zeit über +mein unversöhnlichster Feind gewesen war, stürzte +plötzlich zu mir, umschlang mich mit beiden Armen +und bedeckte mich mit Küssen. Sie hatte ihren Augen +nicht getraut, als ich ihre Herausforderung annahm +und den Handschuh aufhob, den sie mir mit ihrem Blick +auf <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zuwarf. Und als ich auf Tankred +dahinjagte, da war sie vor Angst und Gewissensbissen +schier ohnmächtig geworden. Jetzt aber, nachdem +alles überstanden war und sie wie alle anderen meinen +Blick auf <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. bemerkte, dazu meine Verwirrung +und mein plötzliches Erröten wahrnahm – jetzt, +da sie dem Vorfall mit einer romantischen Deutung +einen ganz anderen Sinn beilegen konnte – jetzt geriet +sie in solches Entzücken ob meiner „Rittertat“, +daß sie zu mir eilte und mich in ihre Arme schloß, +gerührt, stolz, begeistert! Einen Augenblick später richtete +sie sich schnell auf und wandte den übrigen, die +sich um uns drängten, ihr Gesicht mit der ernsthaftesten +Miene zu, in der unendlich viel kindlich naiver Stolz +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +lag, und sagte, indes zwei kristallklare Tränen an ihren +Wimpern hingen, mit einer so ernsten, wichtigen +Stimme, wie ich sie von ihr noch nie gehört hatte: +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais c’est très sérieux, messieurs, ne riez +pas!</span>“ Und sie deutete auf mich, ohne zu gewahren, +daß alle wie bezaubert vor ihr standen und nur sie +ansahen. Diese ihre unerwartete schnelle Bewegung, +ihr ernstes liebes Gesicht, ihre offenherzige Naivität +und diese aufrichtigen Tränen in ihren ewig lachenden +Augen – alles das erschien ihnen als ein so unerwartetes +Wunder, daß alle sie ansahen, wie gebannt +durch diesen Zauber ihrer Leidenschaftlichkeit, ihres +Blickes und ihrer Stimme. Niemand konnte die Augen +von ihr abwenden, so schön war sie in ihrer Rührung +und Begeisterung. Sogar unser alter Hausherr wurde +rot wie eine Tulpe. Und wie man später behauptete, +soll er gesagt haben: „Zu seiner Schande müsse er gestehen, +daß er mindestens eine ganze Minute lang in +seinen schönen Gast verliebt gewesen sei.“ Ich aber +war jetzt natürlich ein Ritter, war ein Held! +</p> + +<p> +„Delorges! Toggenburg!“ ertönte es aus dem +Kreise. +</p> + +<p> +Viele applaudierten. +</p> + +<p> +„Ja, ja, die junge Generation!“ bemerkte unser +Hausherr. +</p> + +<p> +„Aber jetzt kommt er mit, jetzt muß er unbedingt +mit uns mitkommen!“ rief die Blondine schnell, „wir +müssen ihm einen Platz verschaffen! Oder er setzt sich +zu mir aufs Pferd, auf meinen Schoß ... ach, nein, +nein! Das geht ja nicht!“ ... unterbrach sie sich, auflachend, +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +und konnte dabei ihr Lachen nicht bezwingen bei +der Erinnerung an unsere erste Bekanntschaft. Doch +während sie lachte, streichelte sie zärtlich meine Hand, +sichtlich von Herzen bemüht, meine Freundschaft zu +gewinnen und die Kränkung vergessen zu machen. +</p> + +<p> +„Unbedingt! Unbedingt!“ riefen gleich mehrere +Stimmen, „den Platz hat er sich erobert!“ +</p> + +<p> +Und im Augenblick war alles besorgt: jenes selbe +ältere Fräulein, das mich mit ihrer schönen Freundin +bekannt gemacht hatte, wurde sogleich von der ganzen +Jugend mit Bitten bestürmt, ihren Platz mir abzutreten +und statt meiner zu Haus zu bleiben. Zu +ihrem größten Ärger blieb ihr denn auch nichts anderes +übrig, als den Bitten Gehör zu geben und mit +sauersüßem Lächeln auszusteigen – innerlich wohl +dem Bersten nahe vor Wut über mich. Ihre Beschützerin, +meine gewesene Feindin und nun größte Freundin, +rief ihr jedoch, als sie an ihr vorüberritt, wie ein +Kind lachend zu, daß sie sie beneide und gern mit ihr +tauschen wollte, denn es werde gleich regnen und +dann würden wir alle naß. +</p> + +<p> +Ihre Prophezeiung traf wirklich ein. Etwa eine +Stunde später überraschte uns ein Platzregen und wir +mußten mehrere Stunden in den Bauernhäusern warten. +Erst gegen zehn Uhr kehrten wir zurück, in feuchter, +frisch-kühler Regenluft. Kurz bevor wir aufbrachen, +trat <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. zu mir und fragte mich verwundert, +warum ich nichts weiter angezogen hätte, als +meine leichte Matrosenbluse. Ich sagte, ich hätte keine +Zeit gehabt, meinen Mantel mitzunehmen. Da nahm +sie eine Nadel und steckte meinen Kragen höher fest +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +und nahm von ihrem Halse ein kleines, seidenes Tuch, +das sie mir um den Hals band. Sie beeilte sich dabei +aber so sehr, daß ich ihr nicht einmal danken konnte. +</p> + +<p> +Zu Haus angekommen, suchte ich sie und fand sie +schließlich im kleinen Salon, im Gespräch mit der +Blondine und dem freundlichen jungen Mann, der +den Ruf eines guten Reiters damit eingebüßt hatte, +daß er Tankred nicht zu reiten wagte. Ich trat an +sie heran, bedankte mich und gab ihr das Halstuch +zurück. Ich schämte mich jetzt des Vorgefallenen und +wollte schnell fortgehen, nach oben auf mein Zimmer, +um dort in aller Ruhe und Muße über irgend etwas, +was ich im Augenblick selbst nicht zu nennen vermocht +hätte, nachzudenken und mir darüber Klarheit zu verschaffen. +Ich war so voll von neuen Eindrücken. Indem +ich das Tuch zurückgab, errötete ich natürlich wieder +bis über die Ohren. +</p> + +<p> +„Ich wette, der Junge hat das Ding behalten +wollen,“ bemerkte der junge Mann lachend, „man +sieht es ja seinen Augen an, wie leid es ihm tut, sich +von Ihrem Tuch trennen zu müssen ...“ +</p> + +<p> +„Natürlich, natürlich doch!“ fiel ihm die Blondine +ins Wort. „So ein Schlingel! Ach du!“ ... +sagte sie scheinbar sehr angehalten und schüttelte mißbilligend +den blonden Kopf, verstummte aber sogleich +unter dem ernsten Blick der <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M., der sie bat, +ihre Scherze mit mir nicht wieder zu weit zu treiben. +</p> + +<p> +Ich ging schnell fort. +</p> + +<p> +„Wohin läufst du denn! So lauf doch nicht weg!“ +– damit holte sie mich im Nebenzimmer ein und erfaßte +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +freundschaftlich meine beiden Hände – „hättest +du es doch einfach nicht zurückgegeben, wenn du’s so +gern behalten wolltest! Hättest doch sagen können, daß +du es verloren hast oder irgendwohin gelegt, und damit +basta! Und das hast du nicht verstanden? Du bist +mir mal ein Tor!“ +</p> + +<p> +Und sie gab mir mit dem Finger einen leichten +Backenstreich und lachte, weil ich wieder feuerrot +wurde. +</p> + +<p> +„Jetzt sind wir doch gute Freunde, nicht wahr? +Hat unsere Feindschaft ein Ende, sag’!? Ja oder +nein?“ +</p> + +<p> +Ich lachte und drückte ihr ohne ein Wort die +Hand. +</p> + +<p> +„Nun, das ist gut! ... Aber warum bist du so +bleich geworden und warum zitterst du? Hast du dich +erkältet?“ +</p> + +<p> +„Ja, ich fühle mich nicht ganz wohl ...“ +</p> + +<p> +„Ach, du Armer! Das kommt von der Aufregung! +Weißt du was? Geh jetzt lieber gleich ins +Bett, warte nicht erst auf das Abendessen, und wenn +du dich gut ausschläfst, wird es vergehen. Komm!“ +</p> + +<p> +Sie führte mich nach oben, und wie es schien, +konnte sie mir nicht genug Liebes erweisen. Während +sie mich zum Auskleiden allein ließ, lief sie nach unten +in die Küche und brachte mir heißen Tee, den ich, +als ich schon im Bett lag, trinken mußte. Dann brachte +sie mir noch eine warme Decke und deckte mich sorgfältig +zu. Ihre liebevolle Sorge wunderte und rührte +mich nicht wenig, – oder vielleicht waren auch meine +Nerven nach allen Erlebnissen an diesem Tage und +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +obendrein noch durch das Fieber besonders empfänglich +dafür. Ich schlang plötzlich meine Arme um ihren +Hals, als wäre sie mein liebster und bester Freund, +und mit einem Male kamen alle Eindrücke des Tages +wieder und stürmten auf mein ermattetes Herz: ich +war den Tränen nahe und schmiegte mich fest an ihre +Brust. Sie erriet meine überwallende Empfindung +und ich glaube, mein Wildfang war selbst beinahe +gerührt. +</p> + +<p> +„Du bist ein guter Junge,“ flüsterte sie mir zu und +sah mich mit stillen Augen an, „so sei mir nun nicht +mehr böse, ja? wirst mir nicht mehr böse sein?“ +</p> + +<p> +Mit einem Wort: uns verband von nun an die +treueste, zärtlichste Freundschaft. +</p> + +<p> +Es war ziemlich früh am Morgen, als ich erwachte, +aber die Sonne erfüllte das Zimmer schon +mit goldigem Licht. Ich sprang gesund und munter +aus dem Bett, von der Erkältung empfand ich nichts +mehr, statt dessen aber eine unendliche, unerklärliche +Freude. Ich dachte an den ereignisreichen letzten Tag +und Abend und ich hätte ein ganzes Glück dafür hingegeben, +wenn ich in diesem Augenblick wieder meinen +neuen Freund, unsere blondlockige Schönheit hätte +umarmen können. Aber es war noch zu früh und sie +schliefen wohl noch alle. Ich kleidete mich schnell an, +ging in den Garten und von dort in den Wald. Ich +schlug die Richtung ein, in der der Wald am dichtesten +war, der Duft der Bäume harziger, und wo die +Sonnenstrahlen neckisch und nur wie verstohlen hier +und da durch das dichte Blattgewirr lugten. Es war +ein wundervoller Morgen. +</p> + +<p> +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +Ich ging weiter und weiter, bis ich schließlich +am anderen Waldrande anlangte, auf einem Bergabhange +nicht weit vom Fluß. Die Moskwa ist dort +keine zweihundert Schritte vom Waldesrande entfernt, +wenn man den Abhang hinabgeht. Auf dem anderen +Ufer wurde Heu gemäht. Ich blieb stehen und schaute +hinüber: ich sah, wie ganze Reihen scharfer Sensen +bei jedem Ausholen der Schnitter in der Sonne aufblitzten +und dann wieder verschwanden, gleich kleinen +glänzenden Schlangen, die schnell immer von neuem +ins Gras huschten, als wollten sie sich verstecken, und +wie das gemähte Gras in dicken bauschigen Büscheln +zur Seite flog und in langen geraden Streifen liegen +blieb. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich so hinübergeschaut +haben mochte, als ich plötzlich aus meinen +Träumen zur Besinnung kam: aus dem Walde, +ungefähr aus der Richtung des Durchhaus, der sich +zwischen dem Fahrweg und dem Herrenhause hinzog, +vernahm ich Pferdegeschnauf und ungeduldiges Scharren +mit dem Huf. Ich konnte jedoch nicht sagen, ob der +Reiter sein Tier gerade erst anhielt, oder ob schon längere +Zeit das Stampfen und Schnaufen zu hören gewesen +war, das ich – in mich selbst versunken, wie ich, während +ich den Schnittern zusah, dagestanden – nur nicht +gehört hatte. Neugierig kehrte ich zurück in den Wald +und schon nach wenigen Schritten vernahm ich Stimmen, +die schnell, aber leise durch die Stille erklangen. +Ich ging noch näher und bog die Äste der letzten Büsche +zur Seite und – erschrocken wich ich zurück – +durch die Zweige schimmerte ein weißes Kleid: +eine weiche Frauenstimme schlug an mein Ohr und +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +ließ mein Herz erzittern. Es war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. Sie +stand neben einem Reiter, der vom Pferde herab +schnell auf sie einsprach, und zu meiner Verwunderung +erkannte ich in ihm N., jenen jungen Mann, der +uns tags zuvor verlassen hatte, begleitet von allen +jungen Damen und auch von <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–r</span> M. Hatte man +nicht gesagt, er müsse irgendwohin, weit nach dem +Süden Rußlands reisen? Wahrlich, es war nur zu +erklärlich, daß ich mich recht verwunderte, als ich ihn +wieder bei uns und noch dazu so früh am Morgen und +allein mit <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. im Walde erblickte! +</p> + +<p> +Sie schien geweint zu haben und sah erregt aus, +aber so schön hatte ich sie noch nie gesehen. Der junge +Mann hielt ihre Hand in der seinen und führte sie, +im Sattel sich herabneigend, an seine Lippen. Ich +hatte sie beim Abschied überrascht. Ich glaube, sie beeilten +sich. Endlich zog er aus der Brusttasche einen +Brief, reichte ihn <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M., umfing sie mit dem +einen Arm, sich wie vorher im Sattel herabbeugend, +und küßte sie – fest und lange. Einen Augenblick später +wippte die Peitsche und er sprengte schnell an mir +vorüber, auf und davon. Sie aber stand noch eine +Weile und blickte ihm nach, dann wandte sie sich um +und kehrte langsam, nachdenklich und traurig zum +Hause zurück. Nach wenigen Schritten schien sie plötzlich +zu sich zu kommen, wie aus einem Traum zu erwachen +– und sie bog schnell die Zweige der Büsche +am Durchhau zur Seite und ging durch den Wald. +</p> + +<p> +Ich folgte ihr, erstaunt und verwirrt durch das, +was ich gesehen hatte. Mein Herz pochte laut, wie +nach einem großen Schreck. Und dennoch war ich wie +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +erstarrt und betäubt: meine Gedanken waren zerstreut +und ich konnte sie nicht sammeln; aber ich erinnere +mich, daß ich furchtbar traurig war. Hin und +wieder sah ich ihr weißes Kleid durch das Grün +schimmern. Ich folgte ihr ganz willenlos, fast mechanisch, +und hatte dabei nur den einen Gedanken, sie +nicht aus dem Auge zu verlieren und doch selbst nicht +von ihr gesehen zu werden. Endlich trat sie auf den +Weg, der aus dem Walde in den Garten führte. Ich +wartete eine Weile, dann trat ich gleichfalls aus dem +Walde. In demselben Augenblick bemerkte ich auf +dem gelben Kies des Weges ein geschlossenes Kuvert, +das ich auf den ersten Blick erkannte – es war dasselbe, +das vor etwa zehn Minuten N. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. +eingehändigt hatte. +</p> + +<p> +Ich hob es auf, betrachtete es von allen Seiten: +ein weißes Kuvert ohne Aufschrift, ohne ein Zeichen, +dem Format nach nicht sehr groß, aber recht dick und +schwer, wie wenn mindestens drei Bogen Postpapier in +ihm waren. +</p> + +<p> +Was enthielt dieser Brief? Vielleicht das ganze +Geheimnis! Vielleicht war in ihm alles das ausgesprochen, +was N. in den wenigen Minuten des kurzen +Wiedersehens nicht zu sagen gewagt hatte. Er +war ja dem Anscheine nach nicht einmal abgestiegen +... Sollte er sowenig Zeit gehabt haben oder +fürchtete er vielleicht bei einem längeren Abschied seinem +gegebenen Wort nicht treu bleiben zu können – +Gott mag es wissen ... +</p> + +<p> +Ich blieb stehen, legte den Brief mitten auf den +Weg, gerade auf die sichtbarste Stelle und versteckte +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +mich hinter einem Baum, so daß ich den Brief im +Auge behalten konnte, denn ich dachte, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. +werde bald bemerken, daß sie ihn verloren hatte, und +dann, um ihn zu suchen, auf demselben Wege in den +Wald zurückkehren. Ich hielt aber das Warten nicht +lange aus, hob den Brief wieder auf, steckte ihn in die +Tasche und lief ihr nach. Sie war aber schon im Garten +und ging in der großen Allee geradeswegs zum +Hause, ging schnell, doch mit gesenktem Kopf. Da +wußte ich nicht, was ich tun sollte. Sie einholen und +ihr den Brief geben? Das hätte verraten, daß ich alles +gesehen, daß ich alles wußte. Wie sollte ich ihr +dann noch in die Augen blicken? und was würde sie +von mir denken? Ich hoffte immer noch, daß sie zu sich +kommen, sich des Briefes erinnern und dann bemerken +werde, daß sie ihn verloren hatte. In dem Falle +hätte ich ihn unbemerkt fallen lassen: und sie würde +ihn sogleich gefunden haben. Aber nein, sie dachte offenbar +nicht an den Brief! Sie näherte sich schon dem +Hause, und auf der Terrasse hatte man sie bereits erblickt. +</p> + +<p> +An diesem Morgen waren alle viel früher aufgestanden, +denn am Abend nach der mißlungenen Ausfahrt +hatte man sogleich einen neuen Ausflug verabredet, +wovon ich noch nichts wußte. Alle hatten sich +schon zur Abfahrt bereitgemacht und saßen gerade +beim Frühstück auf der Terrasse. Ich wartete gute zehn +Minuten, damit man mich nicht zusammen mit +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. aus dem Garten kommen sah, machte +einen Umweg und näherte mich von einer anderen +Seite dem Hause. Sie ging auf der Terrasse unruhig +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +hin und her, sah bleich und erregt aus und aus allem +war zu ersehen, daß sie sich Gewalt antat, um ihre +Erregung und Angst nicht zu verraten; dennoch sprach +aus ihren Augen, ihrem unruhigen Gang, aus jeder +Bewegung soviel Qual und Pein, daß sie wohl jedem, +der sie beobachtet hätte, aufgefallen wäre. Sie +stieg die Stufen hinab und ging ein paar Schritte auf +dem Wege in den Garten; ihre Augen suchten angstvoll +und sogar unvorsichtig und auffällig auf dem Kies +und dem Fußboden der Terrasse. Da wußte ich: jetzt +endlich vermißte sie den Brief und fürchtete wohl, +ihn in der Nähe des Hauses verloren zu haben – +ja, sie schien davon überzeugt zu sein. +</p> + +<p> +Jemand machte die Bemerkung, und nach ihm +wiederholten sie alle anderen, daß sie bleich und nervös +aussehe. Es folgten Fragen nach ihrer Gesundheit, +lästige Ratschläge. Sie mußte beruhigen, scherzen, +lachen, mußte eine heiter gelassene Miene zur +Schau tragen. Zuweilen flog ihr Blick zu ihrem +Mann hinüber, der am anderen Ende der Terrasse +sich mit zwei Damen unterhielt, und dann überlief +wieder jenes Zittern ihren Körper und jene große Befangenheit +kam über sie, wie an dem Abend, als er +unerwartet hier eingetroffen war. Ich stand, die Hand +in der Tasche, in der ich den Brief krampfhaft festhielt, +etwas abseits auf der Terrasse und flehte das +Schicksal an, daß sie mich endlich bemerken möge. Ich +wollte sie beruhigen, trösten, und war’s auch nur mit +einem Blick, oder ihr, wenn es anging, heimlich ein +paar Worte zuflüstern. Doch als sie mich dann zufällig +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +ansah, da zuckte ich zusammen und senkte den +Blick. +</p> + +<p> +Ich sah ihre Qual und täuschte mich nicht in meiner +Annahme. Auch jetzt weiß ich von ihrem Geheimnis +nicht mehr als damals, nichts weiter als das, +was ich soeben wiedergegeben. Aber ihr Verhältnis +zu N. war vielleicht doch nicht von der Art, wie man +es auf den ersten Blick vermuten könnte. Vielleicht +war dieser Kuß ein letzter Abschiedskuß, ein dürftiger +Lohn für ein Opfer, das er ihrer Ruhe und Ehre +brachte? Er verließ sie. Er reiste irgendwohin, weit +fort, vielleicht fürs ganze Leben, um sie nie wiederzusehen. +Und schließlich, dieser Brief, den ich kampfhaft +umklammerte – wer weiß, was er enthielt? Wer +konnte da urteilen? Zweifellos wäre die plötzliche Aufdeckung +ihres Geheimnisses ein entsetzlicher, ein vernichtender +Schlag für sie gewesen. Ich sehe noch heute +ihr Gesicht vor mir, wie sie dort ging und stand: nein, +mehr konnte man nicht leiden! Fühlen, wissen, überzeugt +sein, und wie auf seine Hinrichtung darauf warten, +daß in einer Viertelstunde oder schon in der nächsten +Minute alles der Öffentlichkeit preisgegeben +sein würde – der Brief konnte doch jeden Augenblick +von jemandem gefunden werden! Er war ohne Aufschrift, +man würde ihn erbrechen und dann ... was +dann? Welche Hinrichtung könnte furchtbarer sein, +als die, die sie erwartete? Sie stand und ging hier +mitten unter ihren zukünftigen Richtern. Nach wenigen +Minuten würden alle diese lächelnden, schmeichelnden +Gesichter streng und unerbittlich aussehen. +Spott, Bosheit und eisige Verachtung würde sie in +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +ihnen lesen und dann würde ewige, hoffnungslos +dunkle Nacht ihr Leben abschließen ... Damals freilich +begriff ich das alles noch nicht so, wie jetzt. Ich +konnte es nur ahnen und Mitleid mit ihr empfinden, +tiefes, unsagbares Mitleid mit ihrer Angst, die ich +nicht einmal ganz verstand. Doch was auch immer ihr +Geheimnis gewesen sein mag – durch jene qualvolle +Stunde, deren Zeuge ich war und die ich niemals vergessen +werde, hat sie viel gesühnt, wenn hier überhaupt +etwas zu sühnen war. +</p> + +<p> +Plötzlich erscholl der fröhliche Ruf zur Abfahrt. +Ein lautes Stimmengewirr war die Antwort, und +unter Scherzen und Lachen brach man auf. In wenigen +Minuten hatten alle die Terrasse verlassen. +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. weigerte sich, mitzufahren und gestand +schließlich, daß sie sich nicht wohl fühle. Doch Gott sei +Dank, alle beeilten sich und niemand belästigte sie weiter +mit Fragen oder Ratschlägen: dazu hatten sie jetzt +keine Zeit. Nur wenige blieben zu Haus. Ihr Mann +war zu ihr getreten und sagte ihr irgend etwas: sie erwiderte, +daß ihr Unwohlsein schnell vergehen werde, +er solle sich deshalb nicht beunruhigen; hinlegen wolle +sie sich nicht, sie werde in den Garten gehen, allein ... +oder mit mir ... Dabei sah sie sich nach mir um. Ich +errötete vor Freude: das war ja die beste Gelegenheit, +die sie mir damit bot! Einen Augenblick später machten +wir uns auf den Weg. +</p> + +<p> +Sie ging denselben Weg, den sie gekommen war, +sie schien sich unwillkürlich jeder Allee, jedes Umweges +im Garten, jedes Fußsteiges zu erinnern, und +sie ging, ohne den Blick vom Boden zu erheben, ohne +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +mich zu beachten – vielleicht hatte sie es schon vergessen, +daß ich mit ihr ging. +</p> + +<p> +Als wir an den Waldrand kamen, wo ich den +Brief gefunden hatte und wo der Kiesweg aufhörte, +blieb sie plötzlich müde stehen und sagte mit einer +Stimme, die mir ins Herz schnitt, so verzweifelt und +hoffnungslos traurig klang sie, daß sie sich schlecht +fühle und zurückkehren wolle. Doch kaum waren wir +wieder beim Gartenzaun angelangt, da blieb sie von +neuem stehen und starrte vor sich hin. Ein wehes, +qualvolles Lächeln zuckte um ihre Lippen und wie erschöpft +und wie aus Erschöpfung sich allem ergebend, +sich in alles fügend, was auch über sie hereinbrechen +sollte, kehrte sie stumm zum Walde zurück, diesmal +ohne mir ein Wort zu sagen, ohne mich zu beachten ... +</p> + +<p> +Ich hätte mich selbst zerreißen mögen, und doch +verfiel ich nicht auf einen Ausweg ... +</p> + +<p> +Wir gingen, oder richtiger, ich führte sie an jene +Stelle, wo ich vor etwa einer Stunde gestanden und +plötzlich den Hufschlag gehört hatte. Nicht weit von +dort war am Fuß einer alten Ulme ein bankartig gehauener +großer Feldstein, von Hagebutten, wildem +Jasmin und Efeu umgeben. (Der Wald hatte eine +Menge solcher „Überraschungen“, wie Bänke, Grotten, +kleine Brücken und ähnliches.) Sie setzte sich auf +die Bank und sah geistesabwesend auf das entzückende +Landschaftsbild, das sich uns bot. Nach einer Weile +schlug sie das Buch auf und tat, als läse sie, aber sie saß +reglos, wandte weder ein Blatt, noch las sie: sie +wußte wohl selbst nicht, was sie tat. Es war gegen +halb zehn Uhr. Die Sonne stand schon hoch am klaren, +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +endlos hohen blauen Sonnenhimmel und schien in +ihrem eigenen Feuer zu verbrennen. Die Schnitter +waren bereits weit, man konnte sie von unserem Ufer +kaum noch sehen. Ununterbrochen folgten ihnen die +langen Streifen des gemähten Grases und wenn die +Luft sich ab und zu wie in einem leisen Wehen regte, +dann trug sie frischen Heuduft. Ringsum aber ertönte +unermüdlich das Zwitschern jener, die „weder +säen, noch ernten“ und frei sind wie die Luft, in der +sie fliegen. Es lag solch ein seliges Wohlsein in der +ganzen Natur! +</p> + +<p> +Ich blickte scheu auf die arme Frau, die allein wie +eine Tote inmitten dieses frohen Lebens war: an ihren +Wimpern hingen Tränen, die ihr das Leid aus den +Augen gepreßt. In meiner Macht war es, diese arme, +traurige Seele aufzurichten und zu beglücken, und doch +wußte ich nicht, wie ich es anfangen sollte, und ich +quälte mich entsetzlich. Hundertmal war ich schon im +Begriff, zu ihr zu treten, um ihr den Brief zu übergeben, +und jedesmal stieg mir dann die Röte wie Feuer +ins Gesicht. +</p> + +<p> +Plötzlich erleuchtete mich ein guter Gedanke: ich +war auf ein Mittel verfallen und wie erlöst! +</p> + +<p> +„Ich werde Ihnen Blumen pflücken! Wollen +Sie?“ fragte ich sie so froh, daß sie aufsah und mich +anblickte. +</p> + +<p> +„Gut,“ sagte sie endlich mit müder Stimme, kaum +merkbar lächelnd, und wieder sah sie ins Buch. +</p> + +<p> +„Sonst wird hier auch das Gras gemäht und dann +mähen sie alle Blumen nieder!“ rief ich fröhlich und +sprang davon. +</p> + +<p> +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +Bald hatte ich schon eine ganze Menge gepflückt, +wenn es auch nur ein Strauß einfacher, unscheinbarer +Feldblumen war, die man wohl kaum in einer Vase +ins Zimmer stellen würde. Und doch, wie froh schlug +mein Herz, als ich die Blumen suchte und zum +Strauße zusammenband! Heckenrosen und wilden +Jasmin brach ich. Dann lief ich zu einem nahen Kornfeld. +Dort, das wußte ich, blühten Kornblumen. Die +pflückte ich, und dazu lange goldgelbe Ähren, die +schönsten suchte ich aus. Am Wegrande fand ich auch +ein ganzes Büschel Vergißmeinnicht und mein Strauß +konnte sich eigentlich schon sehr wohl sehen lassen. Weiter +im Felde fand ich hellblaue Glockenblumen und +wilde Nelken und unten am Flußufer gelbe Wasserrosen. +Endlich, schon auf dem Rückwege, als ich noch +auf einen Augenblick in den Wald trat, um einige Silberahornzweige +zu brechen und sie unten kranzartig +um die Blumen zu legen, fand ich wilde Stiefmütterchen +und in ihrer Nähe, durch ihren Geruch aufmerksam +gemacht, im Grase ganz versteckt, süß duftende +Veilchen, die vom Tau noch feucht waren. Mein +Strauß war fertig. Mit dünnen langen Gräsern umwand +ich die Stiele und zwischen die Blumen, ganz +vorsichtig, steckte ich den Brief, so daß man ihn deutlich +sehen konnte, wenn man dem Bukett nur einige +Beachtung schenkte. +</p> + +<p> +So brachte ich es <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. +</p> + +<p> +Unterwegs schien es mir, daß der Brief doch gar +zu auffallend hervorragte: deshalb verdeckte ich ihn +etwas mehr mit den Blüten. Als ich mich ihr schon +näherte, schob ich ihn noch etwas tiefer hinein, und +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +als ich schon ganz nahe bei ihr war, stieß ich ihn so +tief in den Strauß, daß man von ihm nichts mehr sehen +konnte. Das Blut schoß mir wieder ins Gesicht, ich +wollte es mit den Händen bedecken und sogleich fortlaufen, +aber sie sah nur so zerstreut auf meine Blumen, +als habe sie ganz vergessen, daß ich sie für sie +gepflückt hatte. Mechanisch hob sie die Hand, nahm, +fast ohne aufzusehen, mein Geschenk in Empfang und +legte es achtlos auf die Bank – und wieder sah sie +ins Buch, wie in Gedanken verloren. Ich hätte weinen +mögen vor lauter Ärger über den Mißerfolg meines +Planes. „Wenn der Strauß nur bei ihr bleibt,“ +dachte ich, „wenn sie ihn nur nicht vergißt!“ Ich legte +mich in der Nähe der Bank ins Gras, schob die rechte +Hand unter den Kopf und schloß die Augen, als wollte +ich schlafen. Dabei aber beobachtete ich sie heimlich +unausgesetzt. +</p> + +<p> +Es verging eine geraume Zeit, vielleicht zehn Minuten; +wie mir schien, wurde ihr Gesicht immer bleicher +... Plötzlich kam ein glücklicher Zufall mir zu +Hilfe. +</p> + +<p> +Es war das eine große goldbraune Hummel, die +ein freundliches Lüftchen zu uns führte. Sie summte +zuerst über meinem Kopf, dann flog sie zu <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> +M. Diese schlug mit der Hand nach ihr, schlug noch +einmal, aber die Hummel wurde wie zum Trotz nur +noch zudringlicher. Da griff <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. nach meinem +Strauß, um mit ihm das Tier zu verscheuchen. In dem +Augenblick löste sich aus den Blumen der Brief und +fiel gerade auf das aufgeschlagene Buch. Ich zuckte +zusammen. Sie blickte, stumm vor Verwunderung, bald +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +auf den Brief, bald auf die Blumen und schien ihren +Augen nicht zu trauen. Plötzlich wurde sie feuerrot, +erhob schnell den Blick und sah sich nach mir um. Doch +schon hatte ich die Augen geschlossen und tat, als +schliefe ich fest: für keinen Preis hätte ich ihr jetzt offen +in die Augen geschaut. Mein Herz pochte laut und +schien doch stillstehen zu wollen – ich hielt den Atem +an. Ich weiß nicht, wie lange ich so lag: zwei bis drei +Minuten vielleicht. Endlich wagte ich es, ganz, ganz +vorsichtig die Augen zu öffnen. Sie saß und las den +Brief, und an ihren glühenden Wangen und glänzenden +Augen, die tränenfeucht waren, ihrem verklärten +Gesicht, in dem jeder Zug vor freudiger Erregung +zu beben schien, erriet ich, daß der Brief ihr Glück gab +und ihr Kummer wie eine trübe Wolke verscheucht +wurde. Ein schmerzlich süßes Gefühl schlich in mein +Herz und es fiel mir schwer, mich noch weiter schlafend +zu stellen ... +</p> + +<p> +Niemals werde ich diese Stunde vergessen! +</p> + +<p> +Plötzlich hörte ich rufen, nicht weit von uns erklangen +Stimmen: +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M.! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Natalie! Natalie!</span>“ +</p> + +<p> +Sie antwortete nicht, stand aber schnell auf, trat +zu mir und beugte sich über mich. Ich fühlte es, daß +sie mir gerade ins Gesicht sah. Meine Lider wollten +schon zucken, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen +und rührte mich nicht. Ich versuchte, möglichst +gleichmäßig und ruhig zu atmen, aber das Herz wollte +mich ersticken mit seinen ungestümen Schlägen. Da +brannten plötzlich Tränen und ein Kuß auf meiner +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +Hand, die auf meiner Brust lag. Und noch einmal, +zweimal küßte sie mir die Hand. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Natalie! Natalie!</span> Wo bist du?“ klang es wieder. +</p> + +<p> +„Gleich!“ sagte <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. mit ihrer weichen, +dunklen, von Tränen durchzitterten Stimme, und so +leise, daß nur ich es hören konnte. +</p> + +<p> +Da stockte mein Herz und verriet mich: heiß trieb +es mir all mein Blut ins Gesicht. Im nächsten Augenblick +glühte ein schneller heißer Kuß auf meinen Lippen. +Ich schlug vor Schreck mit einem schwachen +Schrei die Augen auf, doch da fiel auf sie etwas seidig +Weiches – es war jenes kleine Tuch –, als sollte es +meine Augen vor der Sonne schützen. Einen Augenblick +später war sie schon fort. Ich vernahm nur noch +das Geräusch eilig sich entfernender Schritte. Dann +war ich allein ... +</p> + +<p> +Ich riß das Tuch vom Gesicht und küßte es außer +mir vor Entzücken. Ich war wie fassungslos! ... +Lange lag ich im Grase, hatte die Ellbogen aufgestützt +und schaute sinnverloren und ohne mich zu rühren geradeaus +auf die Hügel, die Felder und Wiesen, den +Fluß, der sich zwischen ihnen in großen Biegungen +hinwand und weit, soweit das Auge nur folgen +konnte, sich hinschlängelte, zwischen neuen Bergen und +Gütern und Dörfern, deren Häuser in der sonnenhellen +Ferne wie kleine Punkte vom Grün sich abhoben, +schaute auf die blauen kaum sichtbaren Wälder, die wie +in Rauch gehüllt am Horizonte sich hinzogen: und eine +seltsam süße Stille, die aus der feierlichen Ruhe der +Landschaft hervorzugehen schien, beruhigte allmählich +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +mit einer unendlichen Sanftheit mein erregtes Herz. +Wie eine Erleichterung war es, ich atmete freier ... +Aber meine ganze Seele begann, sich seltsam dumpf +und süß zu sehnen, als sähe sie etwas, was sie noch nie +gesehen, als wäre plötzlich ein Ahnen in ihr erwacht. +Furchtsam und doch voll Freude begann mein Herz +etwas Geheimnisvolles zu erraten, leicht bebend vor +Erwartung ... Und plötzlich weitete sich meine Brust, +und in ihr wogte und schmerzte es, als wäre sie durchbohrt +– und Tränen, selige Tränen entströmten meinen +Augen. Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen und +zitternd wie ein Grashalm gab ich mich wehrlos der +ersten Erkenntnis und Offenbarung des Herzens hin, +dem ersten noch unklaren Einblick in meine Menschennatur. +Mit diesem Augenblick endete meine Kindheit. +– – – – – – – – – – – – – – – +</p> + +<hr class="tb"> + +<p class="noindent"> +Als ich zwei Stunden später ins Haus zurückkehrte, +befand <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">M–me</span> M. sich nicht mehr unter den Gästen. +Sie war mit ihrem Mann nach Moskau gefahren, wie +es hieß, auf irgendeine plötzlich eingetroffene Nachricht +hin. Ich habe sie nie wiedergesehen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="novella" id="part-4"> +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +Weihnacht und Hochzeit +</h2> + +</div> + +<p class="first pbb"> +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +<span class="firstchar">V</span><span class="postfirstchar">or</span> ein paar Tagen sah ich einer Trauung zu ... +oder nein! Ich werde Ihnen zuerst von einer Weihnachtsfeier +erzählen. Eine Trauung ist ja an sich sehr +schön und auch diese gefiel mir sehr ... aber das andere +Erlebnis ergriff mich doch noch mehr. Als ich +der Trauung zusah, wurde ich an jene Weihnachtsfeier +erinnert. Doch ich will erzählen, wie das zuging. +</p> + +<p> +Vor etwa fünf Jahren erhielt ich eines Tages zwischen +Weihnacht und Neujahr eine Einladung zu einem +Kinderball, der in dem Hause einer mir bekannten, +angesehenen Familie stattfinden sollte. Der Hausherr +war eine einflußreiche Persönlichkeit, die gute Verbindungen +besaß, einen großen Bekanntenkreis hatte, eine +gewichtige Rolle in der Gesellschaft spielte und alle +möglichen Intrigen zu spinnen pflegte, so daß man +ohne weiteres annehmen konnte, dieser Kinderball sei +nur ein Vorwand für die Eltern, namentlich für die +Herren Väter, einmal ganz harmlos in größerer Anzahl +zusammenzukommen und bei der Gelegenheit ganz +zufällig über allerlei bemerkenswerte Dinge und Ereignisse +zu reden. Da mich aber besagte Dinge und Ereignisse +nichts angingen und ich unter den Anwesenden +so gut wie gar keine Bekannten vorfand, verbrachte +ich den Abend in der Gesellschaft ziemlich ungestört +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +und mir selbst überlassen. Dasselbe tat auch noch ein +anderer Herr, der, wie mir schien, sich weder durch +Rang noch Namen auszeichnete und wohl gleich mir +nur durch einen Zufall auf diesen Kinderball geraten +war ... Er fiel mir sofort auf. Sein Äußeres machte +einen guten Eindruck: er war groß von Wuchs, hager, +auffallend ernst und sehr gut gekleidet. Man sah +ihm deutlich an, daß es ihn nicht nach Zerstreuung +und fröhlicher Unterhaltung verlangte. Wenn er sich +in einen stilleren Winkel zurückzog, nahm sein Gesicht, +dessen dichte schwarze Brauen sich zusammenzogen, +einen harten, fast finsteren Ausdruck an. Bekannt war +er offenbar, außer mit dem Hausherrn, mit keinem +einzigen Anwesenden. Und es war wohl unschwer zu +erraten, daß das ganze Fest ihn entsetzlich langweilte. +Gleichwohl spielte er bis zum Schluß mutig die Rolle +eines angenehm unterhaltenen, glücklichen Menschen. +Nachher erfuhr ich, daß er aus der Provinz stammte +und nur auf kurze Zeit nach Petersburg gekommen +war, wo sich ein verwickelter Prozeß, von dem für ihn +alles abhing, in den nächsten Tagen entscheiden sollte. +Zu unserem Hausherrn hatte ihn ein Empfehlungsschreiben +gebracht, infolgedessen er von diesem höflichkeitshalber +zu dem Abend eingeladen worden war – doch +durfte er, wie es hieß, durchaus nicht darauf rechnen, +daß sich der einflußreiche Mann deshalb für ihn verwenden +werde. Und da man nicht Karten spielte, dem +unbekannten Fremden keine Zigarren anbot und auch +sonst niemand ein Gespräch mit ihm anknüpfte – +wahrscheinlich erkannte man den Vogel schon von weitem +an den Federn –, so war der Mann gezwungen, +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +um doch irgendwo seine Hände zu lassen, sich den ganzen +Abend über den Backenbart zu streichen. Freilich +war dieser Bart sehr schön, nur strich er ihn doch etwas +gar zu viel, so daß man tatsächlich glauben konnte, +zuerst sei der Backenbart erschaffen worden und dann +erst zu diesem Bart, und auch nur, um ihn zu streichen, +der ganze Mann. +</p> + +<p> +Außer diesem Herrn, der sich um das Fest der fünf +dicken kleinen Söhne des Hausherrn wenig kümmerte, +fiel mir noch ein zweiter Herr auf. Doch der war eine +ganz andere Erscheinung. Der war nämlich eine Persönlichkeit! +</p> + +<p> +Er hieß Julian Mastakowitsch. Auf den ersten Blick +erriet man, daß er ein Ehrengast war und zum Hausherrn +in ungefähr demselben Verhältnis stand, wie +dieser zu jenem Unbekannten, der sich den Backenbart +strich. Der Hausherr und die Hausfrau sagten ihm +unendlich viele Liebenswürdigkeiten, machten ihm geradezu +den Hof, führten alle ihre Gäste zu ihm, um +sie ihm vorzustellen, ihn selbst aber stellten sie keinem +vor. Wie ich bemerkte, erglänzte im Auge des Hausherrn +sogar eine Träne der Rührung, als Julian Mastakowitsch +zum Lobe des Festes versicherte, er habe +selten so angenehm die Zeit verbracht. Mir ward ordentlich +unheimlich in der Gegenwart eines solchen +Menschen: und so zog ich mich denn, als ich mich am +Anblick der Kinder genugsam ergötzt hatte, in ein kleines +Boudoir zurück, in dem zufällig kein Mensch war, +und setzte mich dort in die Blumenlaube der Hausherrin, +die fast das halbe Zimmer einnahm. +</p> + +<p> +Die Kinder waren alle unglaublich nett und lieb +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +und echt kindlich und wollten unter keiner Bedingung +den „Großen“ gleichen, ungeachtet aller Ermahnungen +der Gouvernanten und Mütter. Im Nu hatten sie den +ganzen Weihnachtsbaum bis auf das letzte Anhängsel +geplündert und auch schon Zeit gehabt, die Hälfte der +Spielsachen zu zerbrechen, noch bevor sie festgestellt +hatten, für wen ein jedes Spielzeug überhaupt bestimmt +war. Ein kleiner Knabe mit dunklen Augen +und braunen Locken gefiel mir ganz besonders: er +wollte mich unbedingt erschießen, denn er hatte ein hölzernes +Gewehr bekommen. Doch am meisten lenkte +seine kleine Schwester die Aufmerksamkeit der Gäste +auf sich. Sie war etwa elf Jahre alt, zart und bleich, +mit großen, nachdenklichen Augen. Die anderen Kinder +hatten sie irgendwie gekränkt, und da kam sie denn +in das Zimmer, in dem ich saß, setzte sich in einen Winkel +und beschäftigte sich mit ihrer Puppe. Die Gäste +deuteten unter sich respektvoll auf einen reichen Kaufmann, +den Vater der Kleinen, und jemand wußte +flüsternd mitzuteilen, daß an barem Gelde bereits jetzt +dreihunderttausend Rubel für sie als Mitgift beiseite +gelegt seien. Ich sah mich unwillkürlich nach der +Gruppe um, die ein so interessantes Gespräch führte, +und mein Blick fiel auf Julian Mastakowitsch, der, die +Hände auf dem Rücken gekreuzt und den Kopf ein +wenig zur Seite geneigt, sehr aufmerksam dem müßigen +Gespräch zuzuhören schien. Gleichzeitig mußte +ich mich über die Weisheit der Gastgeber, die diese in +der Verteilung der Geschenke zu bezeugen gewußt hatten, +nicht wenig wundern. Das kleine Mädchen +z. B., das bereits dreihunderttausend Rubel besaß, +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +hatte die schönste und teuerste Puppe erhalten. Der +Wert der anderen Geschenke dagegen sank von Stufe +zu Stufe herab, je nach dem Range der Eltern dieser +Kinder. Das letzte Kind, ein kleiner Knabe von etwa +zehn Jahren, ein mageres, rötlichblondes Kerlchen mit +Sommersprossen, bekam nur ein Buch, das belehrende +Geschichten enthielt und von der Größe der Natur, +von Tränen der Rührung und ähnlichem handelte, ein +nüchternes Buch, ohne Bild, ohne eine Verzierung. +</p> + +<p> +Er war der Sohn einer armen Witwe, die die Kinder +des Hausherrn unterrichtete und kurzweg die +Gouvernante hieß. Er selbst war ein ängstlicher, verschüchterter +Knabe. Er trug eine kleine russische +Bluse aus billigem Nanking. Nachdem ihm sein +Buch eingehändigt worden war, ging er lange Zeit +um die Spielsachen der anderen Kinder herum; er +hätte wohl furchtbar gern mit diesen anderen gespielt, +aber er wagte es nicht – man sah es ihm an, daß er +seine gesellschaftliche Stellung bereits vollkommen begriff. +Ich beobachte gern Kinder beim Spiel. Ungeheuer +interessant ist ihre erste selbständige Äußerung +im Leben. Es fiel mir auf, daß der kleine arme Knabe +sich von den reichen Geschenken der anderen so hinreißen +ließ, namentlich von einem Puppentheater, in +dem er gewiß gern eine Rolle übernommen hätte, daß +er sich zu einer Schmeichelei entschloß. Er lächelte und +suchte sich angenehm zu machen, er gab seinen Apfel +einem kleinen pausbackigen Jungen, der bereits einen +ganzen Sack voll Naschwerk hatte, und er entschloß sich +sogar, einen von ihnen huckepack zu tragen, nur damit +man ihn nicht vom Theater fortjage. Doch im nächsten +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +Augenblick wurde er von einem Erwachsenen, +der gewissermaßen den Oberaufseher spielte, mit Püffen +und Stößen fortgetrieben. Der Junge wagte nicht, +zu weinen. Sogleich erschien auch schon die Gouvernante, +seine Mutter, und sagte ihm, er solle die anderen +nicht stören. Da kam denn der Kleine in jenes +Zimmer, in dem das Mädchen saß. Sie ließ ihn zu sich +kommen und beide begannen eifrig, die schöne Puppe +anzukleiden. +</p> + +<p> +Ich hatte schon über eine halbe Stunde in der +Efeulaube gesessen und war fast eingeschlummert, unbewußt +eingelullt durch das Kindergespräch des kleinen +rotblonden Jungen und der zukünftigen Schönheit +mit der Mitgift von dreihunderttausend Rubeln, als +plötzlich Julian Mastakowitsch ins Zimmer trat. Er +benutzte die Gelegenheit, die ihm ein großer Streit unter +den Kindern im Saale bot, unbemerkt zu verschwinden. +Vor wenigen Minuten hatte ich ihn noch an der +Seite des reichen Kaufmannes, des Vaters der Kleinen, +in lebhaftem Gespräch gesehen, und aus einzelnen +Worten, die ich auffing, erriet ich, daß er die Vorzüge +der einen Stellung im Vergleich mit einer anderen +pries. Jetzt stand er nachdenklich an der Efeulaube, +ohne mich zu sehen, und schien zu überlegen. +</p> + +<p> +„Dreihundert ... dreihundert ...“ murmelte er. +„Elf ... zwölf, dreizehn – sechzehn. Fünf Jahre! +Nehmen wir an, zu vier Prozent – zwölf mal fünf +... das macht sechzig. Ja, von diesen sechzig ... +nun, sagen wir, im ganzen nach fünf Jahren – vierhundert. +Ja! ... tja! ... Aber der wird doch nicht +bloß vier Prozent nehmen, dieser Hund! Mindestens +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +acht, wenn nicht sogar zehn. Na, sagen wir – fünfhunderttausend! +Hm! eine halbe Million Rubel, das +ist schon besser – nun, und dann noch die Aussteuer +... hm ...“ +</p> + +<p> +Sein Entschluß stand fest. Er räusperte sich und wollte +das Zimmer bereits verlassen – da sah er plötzlich die +Kleine im Winkel mit ihrer Puppe neben dem armen +Jungen, und blieb stehen. Mich bemerkte er hinter +dem dichten Efeu nicht. Wie mir schien, war er sehr +erregt. Ob diese Erregung nun auf die Berechnung, +die er soeben angestellt hatte, oder auf etwas anderes +zurückzuführen war, das ist schwer zu sagen, doch rieb +er sich lächelnd die Hände und schien kaum ruhig stehen +zu können. Die Erregung wuchs noch bis ins ganz Unbegreifliche, +als er einen zweiten entschlossenen Blick +auf die reiche Erbin warf. Er wollte einen Schritt +vortreten, blieb aber wieder stehen und blickte sich zuerst +nach allen Seiten um. Dann näherte er sich auf +den Fußspitzen, als sei er sich einer Schuld bewußt, +langsam und ganz leise dem Kinde. Er lächelte. Als +er dicht hinter der Kleinen stand, beugte er sich zu ihr +nieder und küßte sie auf den Kopf. Die Kleine schrie vor +Schreck auf, denn sie hatte ihn bis dahin nicht bemerkt. +</p> + +<p> +„Was tust du denn hier, mein liebes Kind?“ fragte +er leise, blickte sich um und klopfte ihr dann die Wange. +</p> + +<p> +„Wir spielen ...“ +</p> + +<p> +„Ah? Mit ihm?“ Julian Mastakowitsch warf +einen Blick auf den Knaben. +</p> + +<p> +„Du könntest, mein Lieber, in den Saal gehen,“ +riet er ihm. +</p> + +<p> +Der Knabe schwieg und blickte ihn groß an. Julian +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +Mastakowitsch sah sich wieder schnell nach allen +Seiten um und beugte sich von neuem zu der Kleinen. +</p> + +<p> +„Was hast du denn da, mein liebes Kind? Ein +Püppchen?“ fragte er. +</p> + +<p> +„Ein Püppchen ...“ antwortete die Kleine etwas +zaghaft und runzelte leicht die Stirn. +</p> + +<p> +„Ein Püppchen ... Aber weißt du auch, mein liebes +Kind, woraus diese Puppe gemacht ist?“ +</p> + +<p> +„N–nein ...“ antwortete die Kleine flüsternd +und senkte das Köpfchen noch tiefer. +</p> + +<p> +„Nun, aus alten Läppchen, mein Herzchen. Aber +du könntest doch in den Saal gehen, Junge, zu den +anderen Kindern,“ wandte sich Julian Mastakowitsch +mit einem strengen Blick abermals an den Knaben. +Doch das Mädchen und der Kleine runzelten die +Stirn und faßten sich gegenseitig an. Sie wollten sich +offenbar nicht voneinander trennen. +</p> + +<p> +„Aber weißt du auch, wofür man dir dieses Püppchen +geschenkt hat? ...“ fragte Julian Mastakowitsch, +dessen Stimme immer einschmeichelnder wurde. +</p> + +<p> +„N–nein ...“ +</p> + +<p> +„Nun, dafür, daß du ein liebes und artiges Kind +gewesen bist.“ +</p> + +<p> +Hier blickte sich Julian Mastakowitsch wieder nach +der Tür um und fragte dann mit kaum hörbarer, vor +Erregung und Ungeduld zitternder Stimme: +</p> + +<p> +„Aber wirst du mich auch lieben, kleines Mädchen, +wenn ich zu deinen Eltern zum Besuch komme?“ +</p> + +<p> +Bei diesen Worten wollte Julian Mastakowitsch +noch einmal das Mädchen küssen, doch als der kleine +Knabe sah, daß sie dem Weinen schon ganz nahe war, +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +umklammerte er sie plötzlich angstvoll und begann vor +lauter Teilnahme und Mitleid mit ihr selbst laut zu +weinen. Julian Mastakowitsch wurde ernstlich böse. +</p> + +<p> +„Geh, geh fort, geh fort von hier!“ sagte er ärgerlich. +„Geh in den Saal! Geh zu deinen Kameraden!“ +</p> + +<p> +„Nein, nicht, nicht! Er soll nicht gehn! Gehen Sie +fort,“ sagte das kleine Mädchen, „er aber soll hier +bleiben, lassen Sie ihn hier!“ fügte sie fast weinend +hinzu. +</p> + +<p> +Da ertönten laute Stimmen an der Tür und Julian +Mastakowitschs gewichtiger Oberkörper schnellte +empor. Er war sichtlich erschrocken. Doch der +kleine Knabe erschrak noch mehr als Julian Mastakowitsch, +gab das kleine Mädchen frei und schlich +geduckt längs der Wand ins Eßzimmer zurück. Auch +Julian Mastakowitsch ging ins Eßzimmer, ganz als +wäre nichts vorgefallen. Er war purpurrot im Gesicht, +und als er im Vorübergehen einen Blick in den +Spiegel warf, schien sein Aussehen ihn selbst zu verwirren. +Vielleicht ärgerte er sich darüber, daß er so +erregt war, und daß er so unvorsichtig gesprochen +hatte. Offenbar hatte ihn seine Berechnung selbst so +bestrickt und begeistert, daß er trotz seiner ganzen +Würde und Klugheit recht wie ein Knabe handelte und +schon jetzt und unbedacht genug auf sein Ziel geradeswegs +loszusteuern begann. Ich folgte ihm alsbald in +das andere Zimmer – und wahrlich, was ich dort erblickte, +war ein seltsames Schauspiel! Ich sah nämlich, +wie Julian Mastakowitsch, der hochangesehene würdevolle +Julian Mastakowitsch, den kleinen Knaben einschüchterte, +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +der immer weiter vor ihm zurückwich und +nicht wußte, wo er sich vor Angst lassen sollte. +</p> + +<p> +„Marsch, wirst du wohl! Was tust du hier, Taugenichts? +Geh! Geh! Du stiehlst hier Früchte, wie? +Du willst hier Früchte stehlen? Marsch, mach’, daß du +fortkommst, wirst du wohl, ich werd’ dir zeigen!“ +</p> + +<p> +Der eingeschüchterte Knabe entschloß sich schließlich +zu einem verzweifelten Rettungsversuch: er kroch +unter den Tisch. Das rief aber in seinem Verfolger +noch größere Wut hervor. Zornig riß er sein langes +Batisttaschentuch aus der Tasche und begann damit +den Kleinen unter dem Tisch zu peitschen, damit er +von dort hervorkrieche. Doch der Kleine war mäuschenstill +vor Angst und rührte sich nicht. Ich muß bemerken, +daß Julian Mastakowitsch ein wenig korpulent +war. Er war, was man so nennt, ein satter +Mensch, mit roten Wänglein, einem kleinen Schmerbäuchlein, +untersetzt und mit dicken Schenkeln, – +kurz, ein stämmiger Bursche, an dem alles so rund war +wie an einer Nuß. Schweißtropfen standen ihm schon +auf der Stirn, er atmete schwer und fast röchelnd. Das +Blut drang ihm vom Bücken rot und heiß zu Kopf. Er +wurde jähzornig, so groß war sein Unwille oder – +wer kann es wissen? – seine Eifersucht. Ich lachte +schallend auf. Julian Mastakowitsch wandte sich blitzschnell +nach mir um und wurde ungeachtet seines gesellschaftlichen +Ansehens, seiner einflußreichen Stellung +und seiner Jahre geradezu fassungslos verlegen. +In dem Augenblick trat durch die gegenüberliegende +Tür der Hausherr ins Zimmer. Der kleine Junge kroch +unter dem Tisch hervor und rieb sich den Staub von +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +den Knien und Ellenbogen. Julian Mastakowitsch +kam zu sich und führte schnell das Taschentuch, das er +noch an einem Zipfel hielt, an die Nase und schnaubte +sich. +</p> + +<p> +Der Hausherr blickte uns drei etwas verwundert +an, doch als lebenskluger Mensch, der das Leben ernst +auffaßte, wußte er sogleich die Gelegenheit, mit seinem +Gast unter vier Augen sprechen zu können, auszunutzen. +</p> + +<p> +„Ach, sehen Sie, das ist jener Knabe, für den ich +die Ehre hatte, zu bitten ...“ begann er, auf den armen +Kleinen weisend. +</p> + +<p> +„Ah!“ versetzte Julian Mastakowitsch, noch immer +nicht ganz auf der Höhe der Situation. +</p> + +<p> +„Er ist der Sohn der Gouvernante meiner Kinder,“ +fuhr der Hausherr erklärend und in verbindlichem +Tone fort, „einer armen Frau. Sie ist die Witwe +eines ehrlichen Beamten. Ginge es nicht irgendwie, +Julian Mastakowitsch ...“ +</p> + +<p> +„Ach, ich entsinne mich! Nein, nein!“ unterbrach +dieser ihn eilig. „Nehmen Sie es mir nicht übel, mein +bester Philipp Alexejewitsch, aber es geht ganz und gar +nicht. Ich habe mich erkundigt: Vakanzen gibt es nicht +und selbst wenn eine bestünde, so kämen doch zehn Kandidaten +eher in Betracht als dieser, da sie eben ein +größeres Anrecht darauf hätten ... Es tut mir sehr +leid, aber ...“ +</p> + +<p> +„Schade,“ sagte der Hausherr nachdenklich, „es +ist ein stiller, bescheidener Knabe ...“ +</p> + +<p> +„Scheint mir eher ein richtiger Bengel zu sein, soweit +ich sehe,“ bemerkte Julian Mastakowitsch mit verzogenem +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +Lächeln. „Geh, was stehst du hier, mach’ dich +fort! Geh zu deinen Spielkameraden,“ wandte er sich +an den Kleinen. +</p> + +<p> +Dann konnte er offenbar der Versuchung nicht widerstehen, +auch mir einen Blick zuzuwerfen. Ich aber hielt +nicht an mich, sondern lachte ihm offen ins Gesicht. Julian +Mastakowitsch wandte sich sogleich ab und fragte +sehr vernehmlich den Hausherrn, wer dieser sonderbare +junge Mann eigentlich sei. Sie begannen miteinander +zu flüstern und verließen das Zimmer. Ich sah nur +noch durch die offene Tür wie Julian Mastakowitsch, +der dem Hausherrn aufmerksam zuhörte, verwundert +und mißtrauisch den Kopf schüttelte. +</p> + +<p> +Als ich genügend gelacht hatte, begab ich mich +gleichfalls in den Saal. Dort stand jetzt der einflußreiche +Mann, umringt von Vätern, Müttern und den +Festgebern und sprach lebhaft auf eine Dame ein, der +man ihn soeben vorgestellt hatte. Die Dame hielt das +kleine Mädchen an der Hand, das Julian Mastakowitsch +vor zehn Minuten geküßt hatte. Er lobte die +Kleine bis in den siebenten Himmel, pries ihre Schönheit, +ihre Grazie, ihre Wohlerzogenheit, und die Mutter +hörte ihm fast mit Tränen in den Augen zu. Die Lippen +des Vaters lächelten. Der Hausherr nahm mit +sichtlichem Wohlgefallen teil an der allgemeinen Freude. +Die übrigen Gäste waren gleichfalls angenehm +berührt und selbst die Spiele der Kinder wurden unterbrochen, +damit sie durch ihr Geschrei nicht störten. +Die ganze Luft war voll von gehobener Stimmung. +Später hörte ich, wie die tiefgerührte Mutter der Kleinen +in ausgesucht höflichen Redewendungen Julian +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +Mastakowitsch bat, ihrem Hause die besondere Ehre +zu erweisen und sie zu besuchen, und ich hörte weiter, +mit wie ungefälschtem Entzücken Julian Mastakowitsch +der liebenswürdigen Aufforderung unfehlbar nachzukommen +versprach, und wie die Gäste, als sie darauf, +so wie es der gesellschaftliche Brauch verlangte, nach +allen Seiten auseinandergingen, sich in geradezu gerührten +Lobpreisungen ergingen, die den Kaufmann, +dessen Frau und Töchterchen, namentlich aber Julian +Mastakowitsch hoch über sie selbst erhoben. +</p> + +<p> +„Ist dieser Herr verheiratet?“ fragte ich hörbar +laut einen meiner Bekannten, der neben Julian Mastakowitsch +stand. +</p> + +<p> +Julian Mastakowitsch warf mir einen zornigen +Blick zu, der wohl seinen Gefühlen entsprach. +</p> + +<p> +„Nein!“ antwortete mein Bekannter, offenbar +höchst peinlich berührt durch meine ungeschickte Frage, +die ich absichtlich so laut an ihn gerichtet hatte ... +</p> + +<hr class="tb"> + +<p class="noindent"> +Vor ein paar Tagen ging ich an der –schen Kirche +vorüber. Die Menschenmenge, die sich vor dem Portal +drängte, und der reiche Schmuck desselben fielen +mir auf. Ringsum sprach man von einer Hochzeit. +Es war ein trüber Herbsttag und es begann zu frieren. +Ich drängte mich mit den anderen in die Kirche +und erblickte den Bräutigam. Es war das ein kleiner, +rundlicher Herr mit einem Schmerbauch und vielen +Orden auf der Brust. Er war überaus beschäftigt, +eilte hin und her, traf Anordnungen und schien sehr +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +aufgeregt zu sein. Endlich verbreitete sich von der +Tür her lautes Gemurmel: die Braut war erschienen. +Ich drängte mich weiter durch die Menge und erblickte +eine wunderbare Schönheit, für die kaum der erste +Lenz angebrochen war. Sie war aber bleich und +traurig. Ihre Augen blickten zerstreut. Es schien mir +sogar, daß diese Augen noch gerötet waren von vergossenen +Tränen. Die strenge Schönheit ihrer Gesichtszüge +verlieh ihrer ganzen jungen Erscheinung eine gewisse +hoheitsvolle Würde und Feierlichkeit. Und doch +schimmerte durch diese Strenge und Würde und diese +Trauer noch das unschuldige unberührte Kindergemüt – +und es verriet sich darin etwas unsäglich Unerfahrenes, +Unbewußtes, Kindliches, das, wie es schien, ohne eine +Bitte wortlos für sich um Schonung flehte. +</p> + +<p> +Man sagte, sie sei kaum erst sechzehn Jahre alt geworden. +Ich blickte aufmerksamer auf den Bräutigam +und plötzlich erkannte ich in ihm Julian Mastakowitsch, +den ich seit fünf Jahren nicht wiedergesehen hatte. +Ich blickte nochmals auf die Braut ... Mein Gott! +Ich drängte mich durch die Gaffenden zum Ausgang, +um schneller aus der Kirche zu kommen. In der Menge +erzählte man sich, daß die Braut reich sei: sie bekäme +allein an barem Kapital eine halbe Million Rubel mit +und eine Aussteuer im Werte von soundsoviel ... +</p> + +<p> +„Dann stimmte also die Berechnung!“ dachte ich +bei mir und trat auf die Straße hinaus ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="novella" id="part-5"> +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +Njetotschka Neswanowa +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-1"> +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +I. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">einen</span> Vater habe ich nicht gekannt. Er starb, als +ich zwei Jahre alt war. Dann heiratete meine Mutter +zum zweitenmal. Diese zweite Ehe brachte ihr viel +Leid, obgleich es eine Liebesheirat war. Mein Stiefvater +war Musiker. Er hatte ein sehr merkwürdiges +Schicksal, und überhaupt war er der seltsamste und +wunderlichste Mensch, den ich bisher kennen gelernt +habe. Sein Einfluß auf mich war groß und die Eindrücke, +die ich von ihm empfing, waren so stark, daß +ich sie mein Leben lang nicht vergessen werde. Doch +muß ich zunächst, damit meine Erzählung verständlicher +sei, seine Lebensgeschichte wiedergeben. Alles +was sich auf dieselbe bezieht, habe ich von dem berühmten +Geigenvirtuosen B. erfahren, der in seiner +Jugend ein guter Freund meines Stiefvaters gewesen +ist. +</p> + +<p> +Der Familienname meines Stiefvaters lautete Jefimoff. +Geboren wurde er auf dem Gute eines reichen +Großgrundbesitzers als Sohn eines armen Musikers, +der nach langen Irrfahrten sich dort niedergelassen +hatte und in das Orchester des Gutsherrn eingetreten +war. Sein Brotherr lebte auf großem Fuß und liebte +Musik bis zur Leidenschaft. Man erzählte von ihm, daß +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +er, der sich nie von seinem Gute rührte und nicht einmal +nach Moskau fuhr, sich plötzlich aufgemacht habe +und ins Ausland gereist sei, in irgendeinen Kurort, nur +um einen berühmten Geigenvirtuosen zu hören, der +dort, wie die Zeitungen berichteten, drei Konzerte geben +sollte. Auf seinem Gut unterhielt er ein großes +Orchester und gab fast seine ganzen Einkünfte für die +Besoldung und den Unterhalt der Musiker aus. In +dieses Orchester nun trat mein Stiefvater als Klarinettist +ein. Als er zweiundzwanzig Jahre alt war, +machte er die Bekanntschaft eines eigenartigen Menschen. +In demselben Gouvernementskreise lebte ein +reicher Graf, der sich durch den Unterhalt eines Haustheaters +ruinierte. Dieser Graf hatte den Kapellmeister +seines Orchesters, einen Italiener, wegen seiner +schlechten Aufführung entlassen. Der Kapellmeister +war in der Tat ein schlechter Mensch. Als er seine +Stellung verloren, kam er bald ganz herunter, trieb +sich in den Dorfschenken umher, betrank sich, ja er bettelte +sogar, und da hatte natürlich niemand mehr Lust, +ihm eine Anstellung zu geben. Mit diesem Menschen +befreundete sich nun mein Stiefvater. Ihre Freundschaft +war aber von einer ganz besonderen Art, denn +niemand konnte behaupten, daß der Jüngere sich durch +diesen Umgang irgendwie zu seinem Nachteil veränderte, +und selbst der Gutsbesitzer, der ihm anfangs verboten +hatte, mit dem Italiener zu verkehren, ließ schließlich +diese sonderbare Freundschaft gewähren. Da starb +plötzlich der Italiener. Bauern fanden ihn eines Morgens +im Graben an einem Zaun liegen. Eine Untersuchung +wurde eingeleitet und ergab, daß er am Herzschlage +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +gestorben war. Sein ganzes Hab und Gut befand +sich bei meinem Stiefvater, der sogleich an der +Hand von Dokumenten nachwies, daß er das volle +Recht hatte, die Sachen zu behalten: er besaß ein eigenhändiges +Schreiben des Verstorbenen, in dem dieser +Jefimoff zu seinem Erben erklärte, falls er, der Italiener, +früher sterben sollte, als Jefimoff. Die Hinterlassenschaft +bestand aus einem schwarzen Frack, den +er sorgfältig aufbewahrt hatte, in der Hoffnung, doch +noch einmal eine Anstellung zu finden, und einer +Geige, an der nichts Sonderliches auffiel. Dieses Erbe +machte denn auch niemand dem Klarinettisten streitig. +Da erschien nach einiger Zeit ein Musiker, der im Orchester +des Grafen die erste Geige spielte, bei dem +Gutsbesitzer und überreichte ihm einen Brief vom Grafen. +In diesem Brief bat der Graf den Gutsbesitzer, +seinen Klarinettisten Jefimoff zu bereden, ihm, dem +Grafen, die Geige des verstorbenen Italieners zu verkaufen. +Er bot für dieselbe dreitausend Rubel und +schrieb, daß er den Jegor Jefimoff schon mehrmals zu +sich habe bitten lassen, um den Kauf persönlich abzuschließen, +doch dieser Mensch sei leider zu nichts zu bewegen. +Der Graf schloß seinen Brief mit der Bemerkung, +daß er für die Geige das biete, was sie wert sei: +deshalb sehe er in der hartnäckigen Weigerung Jefimoffs, +sie ihm dafür abzutreten, den beleidigenden Verdacht, +er, der Graf, wolle bei diesem Kauf die Unkenntnis +des Klarinettisten ausnutzen. Aus diesem +Grunde bäte er jetzt um seine, des Gutsbesitzers, Vermittelung. +</p> + +<p> +Dieser ließ Jefimoff sogleich zu sich rufen. +</p> + +<p> +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +„Weshalb willst du die Geige nicht verkaufen?“ +fragte er ihn, „du brauchst sie doch nicht. Man bietet +dir dreitausend Rubel, gerade so viel, wie sie wert +ist, und du irrst dich, wenn du glaubst, daß dir jemand +mehr für sie zahlen wird. Der Graf will dich doch +nicht übervorteilen.“ +</p> + +<p> +Jefimoff erwiderte, daß er aus freien Stücken zu +dem Grafen nicht gehen werde, doch wenn man ihn +zwingen wolle, so müsse er sich eben dem Willen seines +Herrn fügen. Dem Grafen werde er aber die Geige +nicht verkaufen, und wenn man sie ihm mit Gewalt +nehmen werde, so hinge auch das wiederum nur von +dem Willen seines Herrn ab. +</p> + +<p> +Natürlich verletzte er mit einer solchen Antwort die +empfindlichste Charakterseite des Gutsbesitzers. Dieser +pflegte nämlich immer mit Stolz von sich zu sagen, daß +er wisse, wie er mit seinen Musikern umzugehen habe, +denn sie seien alle bis auf den letzten wirkliche Künstler, +und deshalb sei sein Orchester nicht nur besser als +dasjenige des Grafen, sondern besser sogar als eines in +der Hauptstadt! +</p> + +<p> +„Nun, schön,“ entgegnete der Gutsbesitzer, „ich +werde dem Grafen schreiben, daß du die Geige nicht +verkaufen willst, weil du eben nicht – willst ... +basta! weil du das volle Recht hast, sie zu verkaufen +oder nicht zu verkaufen, wie es dir beliebt, hast du mich +verstanden? Aber ich frage dich jetzt selber: was machst +du mit der Geige? Dein Instrument ist die Klarinette, +die du leider noch recht mittelmäßig spielst. Verkauf’ die +Geige mir. Ich gebe dir dreitausend.“ (Wer wußte +denn, daß es ein solches Instrument war!) +</p> + +<p> +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +Jefimoff lächelte. +</p> + +<p> +„Nein, Herr, ich werde sie Ihnen nicht verkaufen,“ +sagte er, „aber versteht sich, wenn Sie mit Gewalt ...“ +</p> + +<p> +„Ja, zwinge ich dich denn, will ich dir denn Gewalt +antun!“ rief der Gutsbesitzer empört – um so +mehr empört, als es sich in Gegenwart des gräflichen +Musikers zutrug und dieser nach solchen Antworten +eine recht unvorteilhafte Vorstellung von der Stellung +der Musiker des Gutsbesitzers gewinnen mußte. „Mach’, +daß du fortkommst, du Undankbarer! Geh mir aus den +Augen! Was würdest du ohne mich überhaupt anfangen +mit deiner Klarinette, auf der du nicht einmal zu +spielen verstehst? Bei mir aber wirst du satt, wirst du +bekleidet und erhältst dein Gehalt; du lebst hier in +einem vornehmen Hause, spielst nur hier die Rolle eines +Künstlers, aber du willst das nicht einsehen! Geh mir +aus den Augen und reiz’ mich nicht durch deine Anwesenheit!“ +</p> + +<p> +Der Gutsbesitzer pflegte denjenigen immer fortzuschicken, +über den er sich ärgerte, denn er fürchtete seine +eigene Heftigkeit. Mit einem „Künstler“, wie er seine +Musiker nannte, wollte er aber unter keinen Umständen +streng ins Gericht gehen. +</p> + +<p> +Der Kauf kam nicht zustande und damit schien die +Sache abgetan zu sein – als plötzlich, etwa einen +Monat nach jener Auseinandersetzung, der erste Violinist +des Grafen etwas Unerhörtes angab: auf eigene +Verantwortung nämlich reichte er eine Anzeige ein, +nach der Jefimoff die Schuld am Tode des Italieners +trug, den er umgebracht habe, um in den Besitz der +Hinterlassenschaft zu gelangen. Ferner beschuldigte er +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +ihn, jenes Schriftstück, in dem der Italiener Jefimoff +zu seinem Erben einsetzte, mit List und Gewalt dem +Verstorbenen abgerungen zu haben, was er durch Zeugen +beweisen zu können vorgab. Weder die Bitten des +Gutsbesitzers, der für Jefimoff eintrat, noch die Vorhaltungen +des Grafen konnten ihn von seinem Vorhaben +abbringen. Man gab ihm zu bedenken, daß gegen +die ärztliche Untersuchung der Leiche sich nichts einwenden +lasse, daß er gegen sein Gewissen handle, vielleicht +aus persönlicher Rache, weil jener ihm das kostbare +Instrument nicht abgetreten hatte. Der Musiker +blieb aber bei seiner Behauptung, schwur sogar, daß er +im Recht sei und der Herzschlag nicht infolge des Trunkes +eingetreten wäre, sondern als Folge einer Vergiftung, +weshalb er eine nochmalige Untersuchung der +Leiche verlangte. Auf den ersten Blick konnte man seine +Beweise sehr wohl ernst nehmen. Natürlich wurde das +Verfahren sogleich eingeleitet. Jefimoff wurde verhaftet +und nach dem Stadtgefängnis abgeführt. Die Gerichtsverhandlungen, +die das ganze Gouvernement mit +Spannung verfolgte, nahmen einen sehr schnellen Verlauf +und endeten damit, daß der Musiker der falschen +Anklage überführt wurde. Man verurteilte ihn zu +einer gerechten Strafe, ungeachtet dessen, daß er bei +seiner Behauptung beharrte. Endlich gestand er, daß +er zwar keine positiven Beweise besaß und die angeführten +selbst erfunden hatte, jedoch habe er sich dabei +von seinen Vermutungen leiten lassen, die schließlich +zu seiner festen Überzeugung geworden seien, und +deshalb bliebe er auch jetzt – nachdem die Unschuld +Jefimoffs vom Gericht bereits unzweifelhaft festgestellt +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +worden war – bei seiner Überzeugung, daß +die Ursache des Todes jenes italienischen Kapellmeisters +einzig und allein Jefimoff gewesen, der ihn, +wenn nicht gerade vergiftet, dann eben auf irgendeine +andere Weise umgebracht habe. Es blieb ihm übrigens +erspart, seine Strafe abzubüßen: er erkrankte plötzlich +an einer Gehirnentzündung, verfiel in Wahnsinn +und starb im Krankenhause. +</p> + +<p> +Während dieser ganzen Zeit sorgte der Gutsbesitzer +für Jefimoff wie ein Vater für seinen Sohn. +Er, der sonst nie sein Gut verließ, fuhr mehrmals in +die Stadt, um den Armen im Gefängnis zu besuchen +und ihn zu trösten; er schenkte ihm Geld, und als er +erfuhr, daß Jefimoff gern rauchte, brachte er ihm die +besten Zigaretten; und als dann mein Stiefvater endlich +freigesprochen wurde, veranstaltete er für sein +ganzes Orchester ein großes Freudenfest. Er betrachtete +die gegen Jefimoff erhobene Anklage als etwas, +was sein gesamtes Orchester anging, denn auf die gute +Aufführung seiner Musiker legte er wenn nicht mehr, +so doch ebensoviel Wert, wie auf ihr musikalisches +Können. +</p> + +<p> +Es verging ein Jahr, als man eines Tages auf +dem Gute erfuhr, daß in der Gouvernementsstadt ein +bekannter französischer Violinvirtuose eingetroffen sei +und daselbst konzertieren werde. Als der Gutsbesitzer +dies hörte, bot er sogleich alles auf, um diesen Künstler +als Gast bei sich auf dem Gute zu sehen. Zu seiner +Freude nahm der Franzose die Einladung an. +Schon war alles zu seinem Empfang bereit, die ganze +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +Gesellschaft der Umgegend eingeladen, als plötzlich +etwas Überraschendes geschah. +</p> + +<p> +Eines Morgens wurde dem Gutsbesitzer gemeldet, +Jefimoff sei nirgends zu finden. Man suchte, +forschte, schickte Boten aus – er war und blieb spurlos +verschwunden. Das Orchester befand sich in einer +verzweifelten Lage: der Klarinettist fehlte, was tun? +Da erhielt der Gutsbesitzer am dritten Tage nach der +Flucht Jefimoffs einen Brief von dem Franzosen, in +dem dieser mit verletzendem Hochmut absagte und hinzufügte, +er werde hinfort sehr vorsichtig sein müssen mit +solchen Herren, die ein eigenes Orchester hielten: es +sei so „deprimierend“, ein großes Talent im Dienst +eines Menschen zu sehen, der es nicht zu schätzen wisse. +Er brauche als Beispiel nur Jefimoff zu nennen, +den genialsten Künstler und besten Violinisten, den +er in Rußland gehört habe! +</p> + +<p> +Der Gutsbesitzer las den Brief mit wachsender +Verwunderung. Wie? Jefimoff, derselbe Jefimoff, +um den er sich so gesorgt hatte, dem er soviel Gutes +erwiesen, derselbe Jefimoff hatte es fertiggebracht, +ihn so gewissenlos, so unverschämt zu verleumden, und +das noch bei einem berühmten Künstler, auf dessen +gute Meinung von seinem Orchester er soviel Wert +legte! Und dann – der Brief enthielt noch ein anderes +Rätsel: der Franzose nannte Jefimoff den genialsten +Künstler und besten Violinisten, den er in Rußland +gehört, und aus seiner Schlußbemerkung ging +hervor, daß er dachte, man wolle Jefimoffs Talent +nicht anerkennen, und zwinge ihn, ein anderes Instrument +zu spielen, als dasjenige, welches ihm zukam. +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +Dies überraschte den Gutsbesitzer dermaßen, daß +er beschloß, sogleich in die Stadt zu fahren, um mündlich +mit dem Franzosen zu sprechen. Da traf kurz vor +seiner Abfahrt ein Schreiben vom Grafen ein, in dem +dieser ihn zu sich aufforderte und ihm mitteilte, daß +der französische Künstler und Jefimoff beide bei ihm +seien und der Franzose ihm den Fall erzählt habe. +Er, der Graf, sei über die Frechheit der Verleumdung +Jefimoffs so empört, daß er ihn vorläufig nicht aus +dem Hause lasse, und außerdem sei die Anwesenheit +des Gutsbesitzers auch deshalb notwendig, weil die +Verleumdungen Jefimoffs auch ihn, den Grafen +selbst, beträfen. Kurz, man müsse in der Sache Klarheit +schaffen, und zwar je eher, desto besser. +</p> + +<p> +Da begab sich denn der Gutsbesitzer unverzüglich +zum Grafen, ließ sich dem Franzosen vorstellen und +erklärte ihm den Sachverhalt. Er sagte, er habe es +nicht geahnt, daß in Jefimoff ein so großes Talent +stecke: er kenne ihn nur als einen recht mittelmäßigen +Klarinettisten – daß der Mensch auch die Geige +spiele, habe er erst aus dem Brief erfahren. Außerdem, +fügte er hinzu, sei Jefimoff ein freier Mensch gewesen +und hätte ihn zu jeder Zeit verlassen können, wenn +er wirklich so unzulässig behandelt worden wäre. Der +Franzose war sehr verwundert. Man ließ Jefimoff +kommen. Der war aber in seinem Benehmen kaum +wiederzuerkennen: hochmütig trat er ein, antwortete +spöttisch und hatte die Frechheit, zu behaupten, daß +alles wahr sei, was er dem Franzosen gesagt. Diese +Unverschämtheit ärgerte den Grafen dermaßen, daß +er meinem Stiefvater ins Gesicht sagte, er sei ein +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +Lump und Lügner und habe verdient, daß man ihn +schonungslos bestrafe. +</p> + +<p> +„Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf,“ versetzte +mein Stiefvater höhnisch, „dank Ew. Gnaden bin ich +nur mit genauer Not der Strafe für ein Kriminalverbrechen +entgangen. Ich weiß ja doch nur zu gut, +auf wessen Veranlassung hin Alexei Nikiforytsch, Ihr +ehemaliger Musiker, die Anzeige gegen mich erstattet +hat.“ +</p> + +<p> +Das war zu viel für den Grafen. Er geriet außer +sich vor Wut über diese empörende Beschuldigung. +Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. Und ein +Polizeibeamter, der sich gleichfalls im Saal befand +und wegen einer Rücksprache mit dem Grafen kurz zuvor +eingetroffen war, erklärte hierauf, daß die beleidigende +Frechheit Jefimoffs eine böswillige Verleumdung +sei, weshalb er höflichst um die Erlaubnis bäte, +ihn sogleich und ohne weiteres hier im Hause des Grafen +arretieren zu dürfen. Auch der Franzose äußerte +seinen größten Unwillen und sagte, eine solche Undankbarkeit +hätte er nie für möglich gehalten. Da brauste +mein Stiefvater jähzornig auf und rief aus, selbst Gefängnishaft +unter dem Verdacht eines Kriminalverbrechens +und alle Gerichtsverhandlungen der Welt +ziehe er jenem Leben vor, das er bisher erduldet, da +er als Musiker im Orchester des Gutsbesitzers sein +Brot habe verdienen müssen und in seiner Armut keine +Mittel und folglich keine Möglichkeit gehabt habe, +sich früher freizumachen. Er wurde aus dem Saal +geführt. Man schloß ihn in einem entlegenen Zimmer +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +ein und sagte ihm, daß man ihn am nächsten +Tage nach der Stadt bringen werde. +</p> + +<p> +Gegen Mitternacht öffnete sich die Tür des Zimmers, +in dem Jefimoff gefangen saß. Es war der +Gutsbesitzer. Er war im Schlafrock und in Morgenschuhen +und hielt eine brennende Laterne in der +Hand. Offenbar hatte er nicht einschlafen können, +hatte wach gelegen, bis er schließlich, um den quälenden +Gedanken ein Ende zu machen, trotz der späten +Stunde wieder aufgestanden war. Jefimoff schlief nicht: +mit Verwunderung sah er den späten Gast eintreten. +Der stellte die Laterne auf den Tisch und setzte sich in +schwerer Erregung ihm gegenüber auf einen Stuhl. +</p> + +<p> +„Jegor,“ sagte er, „warum hast du mir das angetan?“ +</p> + +<p> +Jefimoff antwortete nicht. Der Gutsbesitzer wiederholte +die Frage und ein seltsam tiefes Gefühl, ein +seltsamer Kummer klang aus seinen Worten. +</p> + +<p> +„Ja, das mag Gott wissen, warum!“ entgegnete +endlich mein Stiefvater und wandte das Gesicht fort. +„Da muß schon der Teufel seine Hand im Spiel gehabt +haben! Ich weiß es selber nicht, wer mich zu all +dem treibt! Nun ja, ich kann nicht mehr bei Ihnen +bleiben, ich kann nicht ... Der Teufel sitzt mir auf +dem Halse!“ +</p> + +<p> +„Jegor!“ hub der Gutsbesitzer an, „komm zu mir +zurück! Ich werde alles vergessen, werde dir alles verzeihen. +Höre: du wirst der Erste unter meinen Musikern +sein, ich werde dich unvergleichlich besser stellen +...“ +</p> + +<p> +„Nein, Herr, nein, reden Sie nicht weiter – ich +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +gehöre nicht mehr zu Ihnen! Ich sagte Ihnen schon, +der Teufel sitzt mir auf dem Halse. Ich würde Ihr +Haus anzünden, wenn ich bliebe. Es kommt so über +mich – und zuweilen ist es solch eine Qual, daß es +besser wäre, ich wär’ nicht geboren! Jetzt kann ich +nicht mehr für mich einstehen, also lassen Sie mich +schon lieber in Ruh, Herr. Das ist alles über mich gekommen, +seitdem dieser Teufel mit mir Freundschaft +schloß ...“ +</p> + +<p> +„Wer das?“ fragte der Gutsbesitzer. +</p> + +<p> +„Nun, jener doch, der dort wie ein Hund am +Zaun krepierte, von dem keiner mehr was wissen wollte, +der Italiener!“ +</p> + +<p> +„Hat <em>er</em> dich, Jegoruschka, im Geigenspiel unterrichtet?“ +</p> + +<p> +„Ja. Er. Vieles habe ich von ihm gelernt – zu +meinem Verderben. Hätt’ ich ihn doch lieber nie gesehn!“ +</p> + +<p> +„Aber spielte er denn auch so meisterhaft die Geige, +Jegoruschka?“ +</p> + +<p> +„Nein, er selbst spielte schlecht, aber er unterrichtete +gut. Gelernt habe ich allein, er hat mich nur geleitet +– und eher könnte mir die Hand verdorren, als +daß ich diese Kunst verlernte! Ich weiß jetzt selbst +nicht, was ich will. Versuchen Sie es, fragen Sie mich: +‚Jegorka! was willst du? Ich kann dir alles geben!‘ – +Ich würde gewiß, so wahr ich lebe, Ihnen kein Wort +zu antworten wissen, denn ich weiß selbst nicht, was +ich will. Nein, Herr, lassen Sie mich lieber in Ruh. +Ich werde doch unbedingt so etwas mit mir anstellen, +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +daß man mich ... etwas weiter fortschickt, und damit +Punktum!“ +</p> + +<p> +„Jegor!“ begann der Gutsbesitzer nach einer Weile +wieder, „so ohne weiteres werde ich dich nicht verlassen. +Willst du nicht bei mir bleiben, dann geh; du +bist ein freier Mensch, halten kann ich dich nicht. So +einfach aber werde ich jetzt doch nicht von dir fortgehen, +Jegor. Spiel’ mir etwas vor, auf deiner Geige, +tu mir den Gefallen, Jegor. Ich bitte dich, spiel’! – +um Christi willen! Ich befehle dir nicht, verstehe mich +nicht falsch, ich will dich nicht zwingen; aber ich bitte +dich von Herzen: spiel’ mir, Jegoruschka, spiel’ mir +das vor, was du dem Franzosen vorgespielt hast! Erleichtere +mein Herz! Du bist halsstarrig – gut, ich +bin’s auch. Du siehst, ich habe gleichfalls meinen Dickschädel, +Jegoruschka. Ich kann dir nachfühlen, so fühl’ +auch du, wie ich fühle. Ich will nicht leben, wenn +du mir nicht aus eigenem freiem Willen das vorspielst, +was du dem Franzosen vorgespielt hast!“ +</p> + +<p> +„Nun gut, es sei!“ sagte Jefimoff. „Ich hatte mir +wohl geschworen, Ihnen niemals vorzuspielen, gerade +Ihnen nicht, aber mein Herz entbindet mich jetzt von +meinem Schwur. Ich werde Ihnen vorspielen, doch, +damit Sie’s wissen, zum ersten und zum letzten Mal, +Herr, Sie sollen mich nie wieder hören, niemals, und +sollten Sie mir auch – tausend Rubel bieten.“ +</p> + +<p> +Er nahm seine Geige und begann, seine Variationen +russischer Lieder zu spielen. B. sagte mir, nichts +habe er mit solcher Leidenschaft und so wundervoll +gespielt, wie diese Variationen – sie wären sein erstes +und bestes Können gewesen. Dem Gutsbesitzer, +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +der ohnehin Musik nicht gleichmütig anhören konnte, +rannen die hellen Tränen über die Wangen. Als das +Spiel zu Ende war, stand er auf, nahm dreihundert +Rubel aus seiner Brieftasche, reichte sie meinem Stiefvater +und sagte: +</p> + +<p> +„Jetzt geh, Jegor. Ich werde dich von hier hinauslassen, +und deine Beleidigung des Grafen – auch +das laß meine Sorge sein: ich werde alles beilegen. +Aber nun höre: komme mir nie wieder in den Weg. +Die Welt steht dir offen, und wenn wir uns begegnen +sollten, so wird es sowohl mir wie dir peinlich sein. +Nun, leb’ wohl! ... Wart’! Noch einen Rat gebe ich +dir auf den Weg, nur einen: trink nicht und lerne, +lerne unermüdlich. Auch bilde dir nicht zu viel ein! Das +sage ich dir, sage es dir wie dein leiblicher Vater es +dir sagen würde. Also gib acht, ich wiederhole es: +lerne und rühre das Glas nicht an, greifst du aber +einmal nach ihm und trinkst einen Schluck aus Kummer +(und den wirst du reichlich kennen lernen!) – +dann ist alles verloren, das wisse, dann geht dir alles +zum Teufel und dann wirst auch du vielleicht genau +so, wie dein Italiener, irgendwo in einem Graben +verrecken. Jetzt lebe wohl! ... wart’, küss’ mich.“ +</p> + +<p> +Sie küßten sich, und darauf erhielt er seine Freiheit. +</p> + +<p> +Doch kaum war er frei, da begann er damit, daß +er in der nächsten Kreisstadt seine dreihundert Rubel +verjubelte, und zwar in Gesellschaft heruntergekommener, +ganz verwahrloster Menschen, worauf er sich +gezwungen sah, in das jämmerliche Orchester einer +wandernden Theatertruppe einzutreten, wo er die erste +und wahrscheinlich einzige Geige spielte. Das stimmte +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +nun freilich nicht ganz überein mit seinen anfänglichen +Absichten: so bald als möglich nach Petersburg +zu fahren, dort in ein gutes Orchester einzutreten, um +seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und die übrige +Zeit des Tages ausschließlich dazu zu benutzen, um sich +zu einem vollendeten Künstler auszubilden. In jener +kleinen Musikkapelle hielt er es denn auch nicht lange +aus: er geriet mit dem Unternehmer in Streit, kündigte +ihm und verließ die Gesellschaft. Dann brach +für ihn eine Zeit an, in der er schließlich seinen Mut +so weit verlor, daß er sich zu einer verzweifelten Tat +entschloß, die seinen Stolz tief erniedrigte. Er schrieb +an den Gutsbesitzer, seinen früheren Brotherrn, schilderte +seine Lage und bat um Geld. Der Brief war +noch in ziemlich selbstbewußtem Tone geschrieben, eine +Antwort aber erhielt er auf ihn nicht. Dann schrieb +er einen zweiten, diesmal einen erniedrigend schmeichelhaften +Brief, in dem er den Gutsbesitzer seinen +Wohltäter und einen wirklichen Kunstkenner nannte, +um ihn zum Schluß wieder um eine Unterstützung zu +bitten. Auf diesen Brief erhielt er endlich eine Antwort. +Der Gutsbesitzer sandte ihm hundert Rubel mit +ein paar von der Hand seines Kammerdieners geschriebenen +Zeilen, in denen er erklärte, daß er hinfort mit +Ähnlichem verschont zu bleiben wünsche. Nach Empfang +dieses Geldes wollte mein Stiefvater sogleich +nach Petersburg reisen, als er aber seine Schulden +bezahlt hatte, blieb ihm nur noch so wenig von dem +Gelde übrig, daß er an die Ausführung der geplanten +Reise nicht mehr denken konnte. Er blieb also in der +Provinz, trat wieder in irgendeine Musikkapelle ein, +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +geriet dort wieder in Streit mit den anderen, und indem +er sich so durchschlug, immer in der Hoffnung, +bald nach Petersburg reisen zu können, verlebte er +ganze sechs Jahre in der Provinz – bis ihn eines Tages +Entsetzen erfaßte. Mit Verzweiflung sah er ein, +wie viel seine Kunst durch dieses bedrückende und +ungeordnete Bettlerleben bereits eingebüßt hatte. So +ließ er eines Morgens seine Kapelle im Stich, nahm +seine Geige und machte sich auf den Weg nach Petersburg, +wo er nahezu als Strolch ankam. Er mietete +sich irgendwo in einer elenden Dachkammer ein: und +dort traf er zum erstenmal mit B. zusammen, der damals +gerade erst aus Deutschland herübergekommen +war und gleichfalls hier Karriere machen wollte. Sie +schlossen bald Freundschaft miteinander. B. denkt jetzt +noch mit tiefer Rührung an jene Zeit. Sie waren beide +jung, beide hatten sie dieselben Hoffnungen und +dasselbe Ziel, dem sie zustrebten. Nur war B. noch +jünger und hatte von Armut und Leid und Künstlerelend +erst wenig erfahren: überdies war er vor allen +Dingen Deutscher und strebte zu seinem Ziel gewissermaßen +systematisch und starrköpfig hin, mit ganz objektiver +Einschätzung seiner Begabung, nachdem er +schon im voraus genau berechnet hatte, wie weit er es +bringen würde. Sein neuer Freund dagegen war immerhin +schon dreißig Jahre alt, hatte sich durch das +Elend bereits ermüden lassen, hatte schon an Geduld +und Spannkraft verloren und seine ersten Kräfte eingebüßt, +da er ganze sieben Jahre für sein täglich Brot +in Provinztheatern und kleinen Orchestern auf verschiedenen +Gütern hatte fiedeln müssen. Was ihn in +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +dieser Zeit aufrechterhalten, war der ewige unverrückbare +Gedanke, sich endlich aus seiner Misere herauszuarbeiten, +Geld zu sparen und dann nach Petersburg +zu reisen. Aber der Gedanke war unklar, dunkel, +fast nur wie ein innerliches „Sich zu etwas berufen +fühlen“, so daß er denn auch mit den Jahren +viel von der anfänglichen Klarheit verlor. Als er nun +endlich in Petersburg eintraf, da war eigentlich alles +gleichsam unbewußt geschehen, wie aus einer alten +Gewohnheit an einen ewigen Wunsch und ein ewiges +Sichausmalen dieser Reise, so daß er beinahe selbst +nicht mehr wußte, was er hier eigentlich suchte. Sein +Enthusiasmus war konvulsivisch, sprunghaft, oft mit +geradezu galliger Bitterkeit gepaart, oft sinnverwirrend, +als wollte er mit diesem Enthusiasmus sich selbst +betrügen und glauben machen, daß seine Kraft noch +ungebrochen, daß seine erste Glut, seine erste Begeisterung +noch ungeschwächt seien. Diese immerwährende +Begeisterung machte auf den kühlen, mehr wissenschaftlich +veranlagten B. den größten Eindruck. Sie blendete +ihn und er sah in meinem Stiefvater geradezu ein +zukünftiges Weltgenie. Anders konnte er sich die Zukunft +seines Gefährten gar nicht vorstellen. Doch bald +wurden ihm die Augen geöffnet und er erkannte, mit +wem er es zu tun hatte. Er sah und begriff, daß diese +ganze gewaltsame Begeisterung, diese Hitze und Ungeduld +nichts anderes waren, als eine unbewußte Verzweiflung +in der Erinnerung an die verlorene Zeit, +in der er seine Begabung nicht auszuentwickeln vermocht +hatte, begriff, daß schließlich sogar das Talent +an sich, vielleicht sogar auch in den Anfangsjahren, +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +gar nicht so groß gewesen war, fühlte heraus, daß da +viel Verblendung mitspielte, unnützes Selbstgefühl, ursprünglicher +Ehrgeiz und eine unausgesetzt arbeitende +Phantasie, die sich immer nur mit dem eigenen Genie +beschäftigt hatte. +</p> + +<p> +„Aber trotzdem,“ erzählte B., „muß ich die eigenartige +Natur meines Freundes immer wieder bewundern. +Vor meinen Augen spielte sich ein steter Kampf +ab – der verzweifelte, fieberhafte Kampf eines +krampfhaft angespannten Willens mit einer inneren +Kraftlosigkeit. Der Unglückliche hatte sich bis dahin +ganze sieben Jahre mit den bloßen Gedanken an seinen +zukünftigen Ruhm begnügt und über diesen Zukunftsträumen +gar nicht bemerkt, wie ihm mit der Zeit die +Grundlage der Kunst immer mehr abhanden kam, wie +er nach und nach seine Technik verlor und damit das +Werkzeug seiner Kunst. Währenddessen aber entstanden +in seiner wirren Phantasie jeden Augenblick die großartigsten +Zukunftspläne. Er wollte nicht etwa nur ein +erstklassiges Genie sein, der größte aller Violinvirtuosen +der Welt, für den er sich bereits allen Ernstes +hielt, – nein, er wollte überdies noch Komponist werden, +– ohne vom Kontrapunkt auch nur eine Ahnung +zu haben. Am meisten jedoch wunderte mich,“ fuhr B. +fort, „daß dieser Mensch bei seinen geringen Kenntnissen +von der Theorie der Kunst ein so tiefes, klares +und man kann wohl sagen instinktives Kunstverständnis +hatte. Er erfaßte und fühlte die Kunst so tief, daß +es schließlich kein Wunder war, wenn er sich in seiner +Selbsterkenntnis verirrte und sich, anstatt für einen +tief nachempfindenden Kunstkritiker zu halten, für einen +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +Kunstschöpfer, für ein Genie hielt. Zuweilen konnte +er in seiner ungeschliffenen einfachen Ausdrucksweise, +ohne, wie gesagt, etwas von einer Theorie oder +Musikwissenschaft zu ahnen, so tiefe Wahrheiten sagen, +daß ich ihn ganz verblüfft ansah und nicht begriff, wie +er das alles erraten hatte, er, der nie etwas las, nie +etwas lernte! Ich verdanke ihm viel,“ gestand B. freimütig, +„denn er hat mit seinen Ratschlägen mir nicht +wenig bei meiner Selbstvervollkommnung geholfen. +Was nun mich betrifft,“ fuhr B. fort, „so war ich über +meine Zukunft ganz ruhig. Auch ich liebte meine Kunst +leidenschaftlich, obwohl ich von Anfang an wußte, was +aus mir werden konnte, eben, daß ich im Grunde doch +nur so etwas wie ein Handwerker in der Kunst bleiben +würde. +</p> + +<p> +Ich bin aber doch stolz darauf, daß ich das, was +die Natur mir gegeben, nicht wie ein fauler Knecht +verscharrt, sondern hundertfältig vergrößert habe. Und +wenn man jetzt die Reinheit meines Spiels hervorhebt +und meine ausgearbeitete Technik bewundert, so verdanke +ich das nur meiner ununterbrochenen, unermüdlichen +Arbeit, der vollen Erkenntnis, d. h. der sachlichen +Einschätzung meiner Kräfte, meiner freiwilligen +Selbstverleugnung und meinem ewigen Kampf gegen +Eigendünkel, gegen Zufriedenheit mit dem eigenen +Können, gegen die Faulheit, der natürlichen Folge +dieser Zufriedenheit.“ +</p> + +<p> +B. hatte dann versucht, auch seinerseits auf den +Gefährten einzuwirken, nachdem er sich ihm anfangs +ganz untergeordnet, aber sein gutgemeinter Rat hatte +den anderen nur geärgert. Die Folge davon war eine +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +langsam zunehmende Entfremdung. Bald bemerkte B., +daß sein Genosse sich immer häufiger einer gewissen +Apathie hingab, verstimmt und gelangweilt war, daß +die Ausbrüche seiner Begeisterung immer seltener wurden, +und sich statt dessen eine trostlose Mutlosigkeit +bemerkbar machte. Zu guter Letzt schien Jefimoff auch +seine Geige zu vergessen und rührte sie oft wochenlang +nicht an. Da war es denn nicht mehr weit bis +zum endgültigen Verkommen – und bald gab der +Arme sich allen Lastern hin. Wovor ihn der Gutsbesitzer +gewarnt hatte, gerade das geschah: er ergab sich +dem Trunk. B. beobachtete ihn mit Entsetzen. Raterteilen +und Zureden half nichts, das wußte er, und +übrigens getraute er sich kaum noch, dem anderen ein +Wort zu sagen. Allmählich verfiel Jefimoff in den +größten Zynismus und verlor offenbar jedes Ehrgefühl. +So, zum Beispiel, schämte er sich nicht im geringsten, +auf B.s Kosten zu leben, und zwar tat er das +in einer Art, als habe er das volle Recht dazu. Dabei +waren die Mittel knapp. B. schlug sich noch irgendwie +durch, erteilte Unterricht, spielte bei Kaufleuten, +Deutschen und geringeren Beamten, wenn diese ihre +Kränzchen und Tanzabende hatten, bekam dafür zwar +nicht viel, aber immerhin genug, nun, um sich eben +durchzuschlagen. Jefimoff dagegen wollte, wie es +schien, die Notlage seines Freundes überhaupt nicht +bemerken. Er nahm nicht die geringste Rücksicht auf +ihn, sprach mit ihm in strengem Tone oder würdigte +ihn mehrere Tage lang keines Wortes. Einmal äußerte +B. mit aller Rücksicht und Vorsicht zugleich, daß es +nicht schlecht wäre, wenn er sein Geigenspiel nicht gar +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +zu sehr vernachlässigte, da er sonst ganz aus der Übung +kommen könnte. Darüber ärgerte sich Jefimoff sehr und +erklärte, er werde seine Geige hinfort überhaupt nicht +mehr anrühren, – ganz als erwartete er, daß jemand +ihn kniefällig darum bitte. Ein anderes Mal forderte +B. ihn auf, mit ihm auf einem jener Bälle zu spielen: +es sei ein größeres Fest, eine Geige genüge nicht. +Diese Aufforderung versetzte Jefimoff in helle Wut. +Empört erklärte er, er sei kein Straßenfiedler und könne +nicht so gemein sein wie B. und die edle Kunst dermaßen +erniedrigen, daß er simplen Spießbürgern, die +von seinem Spiel und Talent doch nichts begriffen, +zum Tanze aufspielte. B. erwiderte darauf kein Wort, +Jefimoff aber begann in der Abwesenheit des Genossen, +der fortgegangen war, um zu spielen, über den +Zwischenfall nachzudenken und kam zu dem Schluß, +B. habe ihm damit nur sagen wollen, daß er, Jefimoff, +auf seine Rechnung lebe, und mit dieser Andeutung +habe er ihm den Gedanken nahelegen wollen, +gleichfalls Geld zu verdienen. Als B. zurückkehrte, begann +Jefimoff plötzlich, ihm wegen seiner gemeinen +Handlungsweise Vorwürfe zu machen, und schloß damit, +daß er keine Minute länger mit ihm unter einem +Dach bleiben werde. Er verschwand auch wirklich auf +zwei Tage, am dritten aber erschien er wieder bei B., +als wäre nichts geschehen, und setzte ruhig seine alte +Lebensweise bei ihm fort. +</p> + +<p> +Nur die frühere Freundschaft und die alte Gewohnheit, +und überdies wohl auch noch das Mitleid, +das B. mit dem verlorenen Menschen empfand, hielten +ihn davon ab, dieser schmählichen Lebensweise ein +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +Ende zu machen und sich endgültig von seinem Stubengenossen +loszusagen. Schließlich trennten sie sich +aber doch. B. hatte Glück: er gewann die Protektion +eines hohen Würdenträgers und bald darauf gab er +sein erstes Konzert, das glänzend ausfiel. Damals war +er schon ein vorzüglicher Künstler und bald verschaffte +ihm seine schnell zunehmende Berühmtheit eine Stellung +im Orchester der Kaiserlichen Oper, wo er vollauf +verdienten Erfolg errang. Beim Abschied gab er Jefimoff +noch Geld und beschwor ihn, doch wieder auf den +rechten Weg zurückzukehren. Auch jetzt kann B. nicht +ohne ein inniges Mitgefühl an ihn zurückdenken. Seine +Bekanntschaft mit Jefimoff ist eben eines der größten +Erlebnisse seiner Jugend gewesen und hat den tiefsten +Eindruck in ihm hinterlassen. Gemeinsam hatten sie +das gleiche Ziel erreichen wollen, wie sollten sie sich +da nicht einander anschließen. Einerseits kam es, wie +es nicht anders kommen konnte; anderseits waren es +vielleicht gerade die Seltsamkeiten und die gröbsten, unangenehmsten +Mängel Jefimoffs, die B. noch mehr an +ihn fesselten. B. begriff ihn vollkommen. Er durchschaute +ihn völlig und ahnte, wie das ganze enden mußte. +Beim Abschied umarmten sie sich und ihre Augen +wurden feucht. Da sagte Jefimoff unter Tränen mit +versagender Stimme, daß er ein verlorener Mensch +sei, er wisse es ja schon längst, aber jetzt erst habe er +die ganze Größe seines Elends erfaßt. +</p> + +<p> +„Ich habe kein Talent!“ stieß er hervor, totenblaß. +</p> + +<p> +B. war erschüttert. +</p> + +<p> +„Höre, Jegor Petrowitsch,“ begann er, „was +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +machst du aus dir? Du richtest dich mit deiner Verzweiflung +nur zugrunde, hab’ doch nur ein bißchen +Ausdauer und Mannhaftigkeit! Jetzt sagst du in einer +Anwandlung von Mutlosigkeit, du hättest kein Talent. +Das ist aber doch nicht wahr! Du hast Talent, ich versichere +dich! Gerade <em>du</em> hast es! Ich ersehe das schon +daraus, wie du Kunst fühlst und begreifst. Und ein +Beweis dafür ist auch schon dein ganzes früheres Leben. +Du hast mir doch alles erzählt, und auch damals +schon hat dich unbewußt dieselbe Verzweiflung ergriffen. +Damals hat dein erster Lehrer, jener seltsame +Mensch, von dem du mir so oft gesprochen hast, deine +Liebe zur Kunst geweckt und dein Talent erraten. Du +fühltest das damals ebenso stark und schwer, wie du es +auch jetzt wieder fühlst. Damals wußtest du selbst nicht, +was in dir vorging. Du hieltest es nicht aus bei deinem +Gutsbesitzer und du wolltest fort von ihm, du wolltest +etwas anderes, – aber was eigentlich, das wußtest +du nicht. Dein Lehrer starb viel zu früh. Er ließ +dich mit einem unklaren Streben zurück und vor allen +Dingen erklärte er dir nicht dich selbst. Du fühltest, +daß jener Weg nichts für dich war, du brauchtest +einen anderen, einen breiteren, du fühltest, daß +dir anderes zu erreichen bestimmt war, aber du begriffst +nicht, wie dieses andere zu erreichen sei, und in +deiner Sehnsucht und Qual ward dir deine ganze +Umgebung zuwider und verhaßt. Deine sechs Jahre +Armut und Elend hast du nicht umsonst durchgemacht: +du hast in der Zeit gelernt, du hast gedacht, du hast +dich selbst, hast deine Kraft erkannt. Jetzt kennst du +die Kunst und zugleich deine Bestimmung. Mein +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +Freund, glaub’ mir, jetzt tut dir nur noch Ausdauer +und Mannhaftigkeit not. Dir steht Größeres bevor, +als mir: du bist hundertmal mehr Künstler, als ich, +doch gäbe Gott dir wenigstens ein Zehntel von meiner +Ausdauer. Lerne und trink nicht, wie dir dein +prächtiger alter Gutsbesitzer bereits sagte, und die +Hauptsache – fange von neuem an, fang von Anfang +an, fang mit dem Alphabet an, wenn du willst. Was +quält dich denn jetzt? Armut? Hunger? Aber Armut +und Hunger entwickeln doch den Künstler. Sie gehören +zum Anfang, sind sogar untrennbar mit ihm verbunden. +Vorläufig kennt dich noch niemand, und es will +dich auch niemand kennen, so ist nun einmal die Welt. +Das wird anders werden, sobald man erfährt, daß du +Talent hast. Dann werden dich wieder Neid, kleinliche +Gemeinheit, vor allem aber Dummheit viel mehr +bedrücken, als Armut es je vermag. Ein Talent bedarf +der Teilnahme, es will verstanden sein. Du aber +wirst dann erst sehen, wie die Leute sind, die dich umgeben, +sobald du nur annähernd etwas erreicht hast. +Was sich in dir durch mühevolle Arbeit, Entbehrungen, +Hunger und schlaflose Nächte herausgearbeitet hat, +das werden sie geringschätzen, verachten oder überhaupt +nicht beachten. Sie werden dich nicht ermutigen, +dich nicht trösten, diese deine zukünftigen Freunde. +Sie werden dir auch nicht sagen, was in dir gut und +echt ist, wohl aber werden sie mit boshafter Freude +deine Fehler hervorheben, werden gerade darauf hinweisen, +was an dir schlecht ist, und darauf, worin du +irrst, und unter dem äußeren Anschein der Kaltblütigkeit +und der Gleichgültigkeit oder gar Verachtung +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +deiner Person werden sie über jeden deiner Fehler +frohlocken, als hätten sie ein Fest zu feiern – und +Fehler hat doch wohl ein jeder! Du aber bist hochmütig, +bist oft am unrechten Platz stolz, du könntest +leicht einen dünkelhaften Wicht kränken, und dann +wehe dir! Du bist allein und ein einziger, sie aber sind +viele – sie werden dich mit Stecknadeln zu Tode quälen. +Sogar ich fange schon an, das kennen zu lernen. So +nimm dich doch jetzt endlich zusammen! Du bist noch +längst nicht so arm, daß du nicht leben könntest, nur +mißachte die Arbeit nicht, säge Holz, wie ich Holz gesägt +habe bei den Bürgern und Beamten, wenn sie +tanzten. Aber du bist ungeduldig, du bist krank vor +Ungeduld, es ist zu wenig Einfachheit in dir, du verstellst +dich zu viel, du denkst zu viel, du gibst deinem Kopf +zu viel Arbeit. In Worten bist du dreist, sobald du +aber den Violinbogen in die Hand nehmen mußt, wirst +du mutlos. Du bist eigenliebig und es steckt in dir wenig +Tapferkeit. So sei doch mutiger, warte ab, lerne, +und wenn du auch deinen Kräften nicht traust, so arbeite +nur. Es steckt Glut in dir, du hast etwas Elementares! +Vielleicht erreichst du dein Ziel, oder wenn +nicht, so laß es doch immerhin auf das Vielleicht ankommen. +Verlieren kannst du dabei auf keinen Fall +etwas, um so größer aber ist der mögliche Gewinn. +Hier, Freund, ist euer russisches ‚Vielleicht‘ eine große +Sache!“ +</p> + +<p> +Jefimoff hörte seinen einstigen Genossen mit tief +aufgewühlten Gefühlen an. Während jener noch +sprach, trat allmählich wieder Farbe in seine bleichen +Wangen, seine Augen leuchteten auf und Mut und +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +Hoffnung erglänzte in ihnen. Aber der gute Mut +wurde schnell zum Selbstgefühl und dann zu der bei +ihm üblichen Anmaßung: als B. sich dem Schluß +seiner Standrede näherte, da hörte Jefimoff nur noch +zerstreut und schon ungeduldig zu. Trotzdem drückte er +ihm zum Schluß kräftig die Hand, dankte und – +schnell wie immer in seinen Übergängen von tiefster +Mutlosigkeit und Selbstverurteilung zum größten +Hochmut, wenn nicht gar zur frechsten Vermessenheit +– erklärte er selbstbewußt, der Freund möge sich nicht +um ihn sorgen, er wisse, wie er seine Zukunft zu gestalten +habe. Er hoffe, bald gleichfalls Protektion zu +finden, dann werde er ein Konzert geben und mit +einem Schlage Ruhm und Geld erwerben. – B. +zuckte mit den Achseln, erwiderte nichts darauf und +sie schieden voneinander, natürlich nicht auf lange. +Jefimoff verjubelte sogleich das empfangene Geld und +suchte ihn dann auf, um ihn wieder um Geld anzugehen. +Dasselbe tat er zum dritten-, vierten- und bald +zum zehntenmal, bis endlich die Geduld B.s erschöpft +war und er ihm sagen ließ, er sei nicht zu Hause. Von +da an verlor er ihn ganz aus den Augen ... +</p> + +<p> +Es vergingen ein paar Jahre. Da stieß B. eines +Tages auf dem Heimwege aus der Probe in einer +Gasse vor einer schmutzigen Trinkstube mit einem +schlecht gekleideten, betrunkenen Menschen zusammen, +der ihn plötzlich beim Namen nannte. Es war Jefimoff. +Er hatte sich sehr verändert, sein Gesicht war +gelb und aufgedunsen. Man sah es ihm auf den ersten +Blick an, daß das liederliche Leben bereits seinen Zügen +einen unverwischbaren Stempel aufgedrückt hatte. +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +B. war trotzdem sehr erfreut, ihn wiederzusehen, und +folgte ihm in die Trinkstube, wohin Jefimoff ihn schon +nach den ersten zwei Worten zog. Dort, in einer abgelegenen +kleinen verräucherten Stube, musterte er +etwas eingehender seinen ehemaligen Stubengenossen. +Da erst sah er, daß jener ganz zerlumpt war und daß +seine Stiefel zerrissen waren. Die zerknüllte Hemdbrust +hatte Weinflecke. Sein Haar fing schon an zu ergrauen +und sich zu lichten. +</p> + +<p> +„Wie geht es dir jetzt? Wo lebst du?“ fragte B. +</p> + +<p> +Jefimoff schaute etwas betreten darein, im ersten +Augenblick sogar beinahe eingeschüchtert, und antwortete +so unzusammenhängend und stockend, daß B. nahe +daran war, ihn für halbwegs verrückt zu halten. Endlich +gestand Jefimoff, er könne nicht sprechen, bevor +er nicht einen Schnaps getrunken, hier aber habe er +schon lange keinen Kredit mehr. Er errötete, als er +das sagte, wollte sich aber mit einem gewissen flotten +Gehaben darüber hinweghelfen, was ihm jedoch +mißlang: es wurde daraus etwas aufdringlich Gemeines, +Unnatürliches, so daß der ganze Eindruck ein +recht trauriger war und in dem gutmütigen B. aufrichtiges +Mitleid erweckte. Er sah, daß alle seine Befürchtungen +eingetroffen waren. Er bestellte also Schnaps. +Jefimoffs Gesicht veränderte sich vor Dankbarkeit und +er geriet so aus dem Gleichgewicht, daß er mit Tränen +in den Augen fast im Begriffe war, B. die Hand +zu küssen. Während des Essens erfuhr dann B. zu seiner +größten Verwunderung, daß der Unglückliche inzwischen +geheiratet hatte. Aber seine Verwunderung +nahm noch zu, als er gleich darauf hören mußte, daß +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +die Frau an seinem ganzen Unglück und Elend schuld +sei, daß die Heirat sein ganzes Können vernichtet +habe. +</p> + +<p> +„Aber wie denn das?“ fragte B. +</p> + +<p> +„Ja, Freund, seit zwei Jahren nehme ich meine +Geige nicht mehr in die Hand,“ antwortete Jefimoff. +„Sie ist eben ein ungebildetes, rohes Weib, eine richtige +Köchin. Daß sie der ...! Na ja. Wir liegen uns +nur in den Haaren, das ist alles, was wir tun.“ +</p> + +<p> +„Aber warum hast du sie denn geheiratet, wenn +sie so ist?“ +</p> + +<p> +„Hatte nichts zu essen. Da machte ich ihre Bekanntschaft. +Sie besaß etwa tausend Rubel ... da +heiratete ich sie denn. Sie aber hatte sich in mich verliebt. +Hat sich selbst mir an den Hals gehängt. Wer +hatte sie drum gebeten! Das Geld ist verlebt, vertrunken, +Freund, und – was Kunst! Es ist alles zum Teufel +gegangen!“ +</p> + +<p> +B. hatte die Empfindung, als wolle Jefimoff sich +gewissermaßen rechtfertigen, und zwar schien er sich +damit sehr zu beeilen, wie um einer Bemerkung oder +einer Frage zuvorzukommen. +</p> + +<p> +„Habe alles an den Nagel gehängt, alles,“ fuhr er +fort und erzählte dann, daß er es in der letzten Zeit +im Spiel fast bis zur Vollendung gebracht habe, so +daß ... nun ja, B. sei zwar einer der ersten Violinspieler +in Petersburg, aber ihm, Jefimoff, könne er +doch nicht einmal das Wasser reichen, wenn er, Jefimoff, +mal spielen wollte. +</p> + +<p> +„Ja, aber wie steht es denn jetzt mit dir?“ fragte +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +B., dem der ganze Sachverhalt noch unklar war. +„Warum suchst du dir dann nicht einen Verdienst?“ +</p> + +<p> +„Äh! – lohnt nicht!“ bemerkte Jefimoff mit wegwerfender +Gebärde. „Wer versteht denn bei euch etwas +von wirklicher Kunst! Was wißt ihr überhaupt? +Nicht so viel, gar nichts wißt ihr! Irgend so einen +Hopserwalzer den Ballettspringern vorzufiedeln – +das könnt ihr allenfalls noch. Aber das ist auch alles. +Wirkliche Künstler habt ihr ja überhaupt noch nicht +gesehn, noch viel weniger gehört. Wozu euch aufrütteln! +Bleibt, was ihr seid!“ +</p> + +<p> +Hierbei machte Jefimoff wieder eine geringschätzige +Bewegung – geriet aber ins Wanken, da er schon +ziemlich viel getrunken hatte. Dann forderte er B. +auf, zu ihm zu kommen. Dieser lehnte das vorläufig +ab, fragte ihn aber nach seiner Adresse und versprach, +ihn am nächsten Tage aufzusuchen. Jefimoff, der nun +schon genug gegessen und getrunken hatte, blickte spöttisch +seinen früheren Genossen an und schien die größte +Lust zu verspüren, ihn irgendwie zu verletzen. Als sie +aufbrachen, griff er schnell nach B.s kostbarem Pelz +und hielt ihn, wie ein Geringerer einem Höherstehenden, +dem er beim Anziehen behilflich sein will. +Und als sie durch das vordere Zimmer, die eigentliche +Schenkstube, gingen, blieb er stehen und stellte B. den +Wirtsleuten und dem Publikum als den ersten und einzigen +Violinvirtuosen der ganzen Hauptstadt vor. Kurz, +er benahm sich schmutzig. +</p> + +<p> +Nichtsdestoweniger suchte B. ihn am anderen Morgen +in der Dachkammer auf, wo wir in größter Armut +lebten. Ich war damals vier Jahre alt und meine +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +Mutter war schon seit zwei Jahren mit Jefimoff verheiratet. +Meine arme Mutter! Als völlig unbemittelte +Gouvernante hatte sie, die eine vortreffliche Bildung +besaß und schön war, einen älteren Bekannten geheiratet, +meinen Vater, um aus der Armut herauszukommen. +Aber die Ehe dauerte kaum drei Jahre. Mein +Vater starb ganz plötzlich. Und als sein geringer Nachlaß +unter seinen Erben verteilt wurde, blieb meine +Mutter mit mir und einer nur kleinen Summe zurück, +die von der Hinterlassenschaft ihres Mannes ihr +zufiel. Wieder eine Gouvernantenstelle anzunehmen, +wäre kaum möglich gewesen, jetzt, wo sie ein kleines +Kind hatte. In dieser Zeit machte sie durch einen Zufall +die Bekanntschaft Jefimoffs und verliebte sich +tatsächlich in ihn. Auch sie war eine Enthusiastin, eine +phantastische Träumerin. Auch sie sah in ihm ein großes +Genie und glaubte seinen stolzen Worten, wenn +er von seiner glänzenden Zukunft sprach. Ihrer Phantasie +schmeichelte die Vorstellung von dem beneidenswerten +Los, die Stütze und Gefährtin eines genialen +Künstlers zu sein, und so heiratete sie ihn. Schon im +ersten Monat schwanden alle ihre Hoffnungen und +Träume: vor ihr blieb nichts, als die armselige Wirklichkeit. +Jefimoff, der sie vielleicht nur aus dem Grunde +geheiratet hatte, weil sie etwa tausend Rubel besaß, +legte, als das Geld zu Ende war, sogleich die Hände +in den Schoß und erklärte allen und jedem – es war +geradezu, als hätte er sich über den Vorwand gefreut +–, daß die Heirat sein Talent vernichtet habe, daß +er in einer dumpfen Stube nicht arbeiten könne, unter +den Augen einer hungrigen Familie ... da könne der +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +Verstand weder Noten noch Melodien fassen, und +schließlich: dieses Unglück sei ihm eben offenbar von +Anfang an bestimmt gewesen. Wie es scheint, hat er +bald selbst an die Richtigkeit seiner Klagen geglaubt +und sich vermutlich über diese neue Rechtfertigungsmöglichkeit +wirklich gefreut. Dieser unselige, trotz aller +Begabung verlorene Mensch hatte wohl schon lange +nach einem äußeren Vorwand gesucht, dem er alles +Unglück und alle Mißerfolge zuschreiben konnte. An +den furchtbaren Gedanken, daß er für die Kunst schon +längst und unrettbar verloren war, an den konnte er +sich natürlich nicht gewöhnen. Er kämpfte krampfhaft +gegen diese unheimliche Erkenntnis an, kämpfte wie +mit einem Alb, der auf ihm lastete, und als die Wirklichkeit +ihn endlich zu besiegen begann und seine Augen +für Sekunden öffnete, da war es ihm, als müßte +er vor Entsetzen den Verstand verlieren. Wie sollte er +auch auf das verzichten, was so lange Ziel und Zweck +seines Lebens gewesen war, und so glaubte er bis zur +letzten Minute, oder redete es sich wenigstens ein, daß +noch nichts verloren sei. Kamen aber Stunden des +Zweifels, dann gab er sich wieder dem Trunk hin, +um vom Rausch die Qual verdrängen zu lassen. Zu +guter Letzt wußte er vielleicht selbst nicht, wie unentbehrlich +ihm die Frau in dieser Zeit war. Sie war ja +für ihn eine lebendige Rechtfertigung, wie es denn +fast zu seiner fixen Idee wurde, daß erst dann alles +wieder gut werden würde, wenn er seine Frau, <em>die +an allem Schuldige</em>, begraben habe. Meine +arme Mutter verstand ihn aber nicht. Als geborene +Träumerin ertrug sie nicht einmal den ersten Schritt +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +in der feindlichen Wirklichkeit. Sie wurde heftig, böse, +zänkisch, geriet jeden Augenblick in Streit mit dem +Mann, dem es geradezu ein Vergnügen zu sein schien, +sie zu quälen, und immer wieder sagte sie ihm, er solle +doch arbeiten, sonst verlerne er ja alles. Aber die Verblendung +und die fixe Idee meines Stiefvaters, überhaupt +seine ganze Überspanntheit machten ihn gefühllos +und fast unmenschlich grausam gegen sie. Er +lachte nur und schwor, die Geige vor ihrem Tode nicht +wieder in die Hand zu nehmen, ohne sich über seine +grausame Rücksichtslosigkeit auch nur Gedanken zu +machen, wenn er ihr dies ganz unumwunden ins Gesicht +sagte. Meine Mutter, die ihn trotz allem bis zu +ihrem Tode leidenschaftlich liebte, war einem solchen +Leben nicht gewachsen. Sie wurde kränklich und zuletzt +wirklich krank, und da sie sich nie erholen konnte, +lebte sie, leidend wie sie war, nur unter ewigen Qualen. +Und überdies mußte sie ganz allein für den Unterhalt +der Familie sorgen. Sie begann zu kochen und +richtete einen Mittagstisch für Fremde ein, aber ihr +Mann entwand ihr heimlich alles Geld, und da kam es +denn nicht selten vor, daß sie diejenigen, die das Essen +abholen wollten, mit leerem Geschirr zurückschicken mußte. +Als B. uns aufsuchte, hatte sie das Kochen schon aufgegeben; +sie beschäftigte sich damals mit dem Färben +alter Kleider und wusch außerdem Wäsche. So fristeten +wir unser Leben dort oben in der Dachstube. +</p> + +<p> +Unsere Armut überraschte B. +</p> + +<p> +„Hör’ mal, was redest du denn da von deiner vernichteten +Kunst?“ wandte er sich an meinen Stiefvater. +„Sie ernährt dich doch, und was tust du?“ +</p> + +<p> +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +„Nichts!“ versetzte mein Stiefvater. +</p> + +<p> +Doch B. kannte noch nicht das ganze Unglück meiner +Mutter. Ihr Mann brachte oft, wenn er nach +Hause kam, eine ganze Bande der verschiedensten Kumpane +mit und dann – was gab es dann nicht alles! +</p> + +<p> +B. redete lange Zeit auf seinen früheren Genossen +ein. Er sagte ihm auch, daß er ihm in keiner Beziehung +helfen werde, wenn er sich nicht besserte, auch +Geld werde er ihm nicht geben, da er es doch nur vertrinke. +Zum Schluß bat er ihn, ihm etwas vorzuspielen, +damit er beurteilen könne, was sich für ihn tun +ließ. Während mein Stiefvater die Geige hervorholte, +wollte B. meiner Mutter heimlich Geld zustecken, aber +sie nahm es nicht. Zum erstenmal sollte sie Almosen +annehmen! Da gab B. das Geld mir, und die arme +Frau brach in Tränen aus. Mein Stiefvater nahm +die Geige aus dem Kasten, besah sie, sagte aber dann, +daß er zuerst Schnaps trinken müsse, ohne den könne +er nicht spielen. Der Schnaps wurde geholt. Er trank +und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. +</p> + +<p> +„Ich werde dir aus alter Freundschaft etwas von +meinen eigenen Kompositionen vorspielen,“ sagte er +B. und zog unter der Kommode ein dickes, verstaubtes +Heft hervor. +</p> + +<p> +„Alles dies habe ich selbst geschrieben,“ sagte er, +auf das Heft deutend. „Nun, du wirst ja sehen ... +Das, Freund, ist etwas anderes als eure Ballettstückchen!“ +</p> + +<p> +B. blätterte schweigend ein paar Seiten um; dann +schlug er die Noten auf, die er bei sich hatte, und bat +ihn, daraus etwas vorzuspielen. +</p> + +<p> +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +Es kränkte Jefimoff, daß seine Kompositionen so +zur Seite geschoben wurden, aber er kam doch der +Aufforderung nach, wohl in der Furcht, B.s Gunst und +Anteilnahme zu verlieren. +</p> + +<p> +Er spielte. B. erkannte, daß er in der Zeit nach +ihrer Trennung viel zugelernt, also auch viel gearbeitet +haben mußte, obgleich er damit geprahlt, daß er die +Geige seit seiner Heirat nicht mehr angerührt habe. +Da hätte man die Freude meiner armen Mutter sehen +sollen! Sie sah ihren Mann an und war wieder stolz +auf ihn. Der gute B. war aufrichtig erfreut und wollte +unbedingt meinem Stiefvater helfen. Er hatte schon +damals gute Beziehungen und so tat er denn auch alles +mögliche für seinen armen Studiengenossen, nachdem +er von diesem das ehrenwörtliche Versprechen gefordert +und erhalten hatte, daß er sich gut aufführen +werde. Zunächst kleidete er ihn besser ein, natürlich +auf seine Rechnung, dann ging er mit ihm zu ein paar +bekannten Persönlichkeiten, von denen es abhing, ob +Jefimoff in dem Orchester ankam, wo B. ihn unterbringen +wollte. Was nun die Annahme einer Stellung +betraf, so hatte Jefimoff natürlich nur großgetan, +wie gewöhnlich, wenn es sich bloß um Worte handelte. +Wenigstens nahm er das Anerbieten seines alten +Freundes mit der größten Bereitwilligkeit an. B. +erzählte mir, er habe sich für ihn geschämt wegen der +Schmeicheleien und der geheuchelten Bewunderung, +mit denen mein Stiefvater seine Dankbarkeit habe bezeugen +wollen, wahrscheinlich in der Absicht, sich dadurch +B.s Wohlwollen zu sichern. Er begriff endlich, +daß man ihn auf den rechten Weg stellen wollte +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +und er hörte sogar auf, zu trinken. Schließlich erhielt er +auch wirklich eine Anstellung im Orchester eines Theaters. +Die Prüfung bestand er gut, denn in einem Monat +hatte er sich durch Fleiß und guten Willen alles +wieder angeeignet, was er in anderthalb Jahren des +Nichtstuns verlernt hatte. Er versprach, auch hinfort +gut zu üben, seinen neuen Pflichten getreu nachzukommen +und pünktlich und nüchtern zu sein. Unsere Verhältnisse +besserten sich jedoch deshalb noch keineswegs. +Mein Stiefvater gab nämlich von seinem Monatsgehalt +meiner Mutter nicht einen Kopeken, er verlebte +alles allein, vertrank und verjubelte das Geld mit seinen +neuen Freunden, von denen er sich sogleich eine +ganze Schar anlegte. Es waren das größtenteils am +Theater Angestellte, Choristen, Statisten, mit einem +Wort Leute, unter denen er der Erste sein konnte, während +er alle Talentvolleren geflissentlich mied. Diesen +dagegen konnte er imponieren und eine ganz besondere +Achtung einflößen, was ihm schon gleich zu Anfang +gelungen war, indem er ihnen sofort erklärt und sie +durch seine Überzeugung gleichfalls überzeugt hatte, +daß er eine verkannte Größe, ein Genie sei, daß seine +Frau ihn zugrunde gerichtet und daß ihr Kapellmeister +von der ganzen Musik keine Ahnung habe. Er machte +sich über alle Solisten des Orchesters lustig, ebenso +über die Wahl der Stücke, die gespielt wurden, wie +auch über die Komponisten der Opern. Schließlich fing +er an, eine ganz neue Theorie der Musik zu erklären. +Kurz, er wurde dem ganzen Orchester lästig, geriet mit +allen in Streit, nicht zuletzt auch mit dem Kapellmeister, +wurde seinen Vorgesetzten gegenüber grob, erwarb +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +sich den Ruf, der unruhigste, verdrehteste und zugleich +der nichtsnutzigste Mensch zu sein, und brachte +es so weit, daß er allen unerträglich wurde. +</p> + +<p> +Und in der Tat, es war doch recht seltsam anzusehen, +daß ein so unansehnlicher Mensch, ein so +schlechter und fahrlässiger Musiker so riesige Ansprüche +stellte und in einem so selbstbewußten Ton prahlte. +</p> + +<p> +Es endete damit, daß er sich mit B. verfeindete: er +erfand eine häßliche Klatschgeschichte, eine ganz niederträchtige +Verleumdung seines Wohltäters und gab sie +als selbsterlebte Wirklichkeit zum besten. Nach einem +halben Jahr wurde er aus diesem Orchester wegen +Nachlässigkeit und unzulässiger Aufführung in nicht +nüchternem Zustande ausgeschlossen. Doch damit hatte +man ihn noch nicht abgeschüttelt. Bald sah man ihn +wieder in zerlumpten Kleidern, denn die guten waren +verkauft oder versetzt, und in diesen Kleidern suchte +er seine gewesenen Kollegen vom Orchester auf, ohne +darauf zu achten, ob diese davon erbaut waren oder +nicht, erzählte Klatschgeschichten, schwätzte Unsinn, +klagte über sein Leben und forderte alle auf, zu ihm +zu kommen, um seinen Hausdrachen zu sehen. Natürlich +fanden sich Zuhörer, es fanden sich auch solche, +denen es Spaß machte, dem an die Luft gesetzten Kollegen +mittels Alkohol die Zunge zu lösen und sich durch +sein Geschwätz erheitern zu lassen. Übrigens sprach +er dann immer mit Geist und Witz, untermischte seine +Reden mit beißendem Spott und diversen Zynismen, +die namentlich bei gewissen Zuhörern stets des Beifalls +sicher sind. Man nahm ihn für einen etwas verschrobenen +Narren, den plaudern zu hören in müßigen +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +Stunden ganz amüsant war. Auch zogen die Kollegen +ihn gern auf, indem sie in seiner Gegenwart von einem +neuen großen Violinvirtuosen zu sprechen anfingen, +der sich angeblich auf einer Konzertreise in Rußland +befinden sollte und auch nach Petersburg kommen +werde. Sobald er das hörte, veränderte sich sein Gesicht, +er wurde kleinlauter, erkundigte sich, wie der +Künstler hieß, wo er konzertierte, wie groß denn sein +Talent sei, und war offenbar eifersüchtig auf den +Ruhm der ihm unbekannten Größe. Es scheint, daß erst +in dieser Zeit sein systematischer Wahnsinn, sein Größenwahnsinn +begann, diese fixe Idee, daß er der erste +Geigenvirtuose, mindestens in Petersburg sei, daß +aber das Schicksal ihn verfolge und er dank verschiedenen +Intrigen natürlich nicht verstanden werde und +deshalb in seiner Unbekanntheit verbleibe. Letzteres +schmeichelte ihm sogar, denn es gibt solche Charaktere, +die sich mit Vorliebe für verfolgt und unverstanden +halten und sich laut darüber beschweren, oder im stillen +zur Sättigung ihres Ehrgeizes wenigstens selber +ihre nicht anerkannte Größe anbeten. Jefimoff kannte +alle Petersburger Violinvirtuosen und konnte sie an +den Fingern herzählen, doch war von ihnen allen, nach +seiner Ansicht, kein einziger ihm gewachsen. Seine Kollegen +aber und andere Sachverständige, auch manche +Laien, die seinen Größenwahn kannten, brachten das +Gespräch gerade deshalb auf die angebliche neue Größe, +um ihn zu veranlassen, den vermeintlichen Rivalen +im voraus zu kritisieren. Ihnen gefiel sein Grimm, +seine boshaften Einfälle, es gefielen vor allen Dingen die +sachlichen, klugen Bemerkungen, die er machte, wenn er +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +das Spiel der anderen kritisierte. Oft verstanden sie +ihn nicht, doch dafür waren sie überzeugt, daß kein +zweiter auf der Welt so geschickt und in so packenden +Karikaturen die Größen unter den zeitgenössischen +Musikern darzustellen und herunterzureißen wußte. +Und sogar diese Künstler, über die er so schonungslos +spottete, fürchteten ihn ein wenig, denn sie kannten +nicht nur seinen beißenden Witz, sondern erkannten +auch die Richtigkeit seiner Angriffe und Urteile. Man +hatte sich gewissermaßen schon daran gewöhnt, ihn in +den Korridoren und hinter den Kulissen des Theaters +zu sehen. Die Bedienten gewährten ihm widerspruchslos +den Zutritt, wie einer unentbehrlichen Person. So +wurde er im Theater zu einer Figur, etwa von der Art +eines musikalischen Thersites. Das dauerte etwa zwei +bis drei Jahre. Endlich aber fiel er allen auch in dieser +seiner letzten Rolle lästig. Man setzte ihn formell vor +die Tür und in den zwei letzten Jahren seines Lebens +war mein Stiefvater für diese Leute wie verschollen, +keiner von ihnen sah ihn je wieder. Übrigens – B. +ist ihm doch noch zweimal begegnet, und zwar sah er ihn +in einer so elenden Verfassung, daß noch einmal das +Mitleid seinen Ekel besiegte. Er rief ihn an, aber das +kränkte Jefimoff und er tat, als hätte er nichts gehört, +zog seinen alten verbeulten Filz noch mehr über die +Augen und ging vorüber. Es verging einige Zeit, da +wurde B. am Morgen eines großen Festtages gemeldet, +daß sein ehemaliger Kollege Jefimoff ihm zum +Fest zu gratulieren wünsche. B. ging ihm entgegen. +Jefimoff stand berauscht im Vorzimmer, verbeugte sich +äußerst tief, fast bis zur Erde, seine Lippen murmelten +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +etwas Unverständliches, doch weigerte er sich hartnäckig, +näherzutreten. Der Sinn seines Besuches war +ungefähr der: „Wie können wir unbegabten Leute mit +so großen und vornehmen Berühmtheiten wie Euer +Wohlgeboren Umgang pflegen? Für uns Geringe genügt +auch ein Dienerplatz, wenn wir zum Fest gratulieren +kommen: wir machen unseren Bückling und gehen +wieder.“ Mit einem Wort, er war schmutzig, +dumm und widerlich gemein. Seit jenem Morgen sah +ihn B. lange Zeit nicht mehr, bis – bis zu der Katastrophe, +mit der dieses ganze traurige, erstickend trostlose, +kranke Leben endete. Es geschah das auf eine +furchtbare Weise. Diese Katastrophe ist nicht nur das +erschütterndste Erlebnis meiner Kindheit, sie ist sogar +für mein ganzes Leben entscheidend gewesen. Doch zuvor +muß ich noch erzählen, wie meine Kindheit war, und +erklären, welche Bedeutung dieser Mensch für mich +hatte, dieser Mensch, der einen so qualvollen Eindruck +auf mein Kindergemüt machte und der die Ursache des +Todes meiner armen Mutter gewesen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-2"> +II. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Meine Erinnerung an meine Kindheit reicht nicht +sehr weit zurück, eigentlich nur bis zu meinem zehnten +Jahr. Ich weiß nicht, wie es zu erklären ist, daß alles, +was ich bis dahin erlebt habe, keinen einzigen klaren +Eindruck in mir hinterlassen hat, an den ich mich jetzt +noch erinnern könnte. Aber ungefähr von der Mitte +meines neunten Jahres an, da erinnere ich mich des +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +Erlebten fast Tag für Tag: es ist wie eine laufende +Kette von Erinnerungen, ganz als wäre das alles erst +gestern geschehen ... Allerdings kann ich mich auch +noch einiger früherer Erlebnisse entsinnen, aber doch +nur wie im Traum. So erinnere ich mich z. B. des +immer brennenden Lämpchens in der dunklen Ecke vor +einem altertümlichen Heiligenbilde; dann, wie ich einmal +auf der Straße einem Pferde unter die Beine +geriet, worauf ich, wie man mir später erzählt hat, +drei Monate lang krank gelegen habe; ferner, wie ich +während dieser Krankheit einmal in der Nacht neben +meiner Mutter, in deren Bett ich schlief, plötzlich im +Traum aufschrak und vom Schreck erwachte, und wie +ich mich dann vor der nächtlichen Stille und Dunkelheit +und den in der Ecke raschelnden und knabbernden +Mäusen fürchtete; Ich zitterte die ganze Nacht vor +Angst, ich zog mir sogar die Decke über den Kopf, aber +ich wagte trotzdem nicht, meine Mutter zu wecken, +woraus ich schließe, daß meine Furcht vor ihr noch +größer war als vor den Mäusen und der Dunkelheit. +Aber von der Stunde an, wo plötzlich das Bewußtsein +in mir erwachte, entwickelte ich mich schnell, wider Erwarten +schnell, und viele nichts weniger als kindliche +Geschehnisse wurden mir mit einemmal in geradezu +unheimlicher Weise faßbar. Alles klärte sich vor mir +auf, alles wurde mir in kürzester Zeit verständlich. Und +diese Zeit, in der ich bewußt zu leben anfing, an die +ich mich, im Gegensatz zu den vorhergegangenen Jahren, +mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erinnere, hat in +mir einen tiefen und traurigen Eindruck hinterlassen. +Dieser Eindruck wiederholte sich dann jeden Tag und +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +wuchs mit jedem Tag; er verlieh der ganzen Zeit meines +Zusammenlebens mit meinen Eltern und somit +meiner ganzen Kindheit eine dunkle und eigenartige +Farbe. +</p> + +<p> +Jetzt scheint es mir, daß ich damals ganz plötzlich +wie aus einem tiefen Traum erwachte (obschon dies +mir, als es geschah, natürlich gar nicht weiter auffiel). +Ich fand mich in einem großen Zimmer mit einer +niedrigen Decke. Es war unsauber und die Luft darin +dumpf. Die getünchten Wände waren von schmutziggrüner +Farbe, in einer Ecke stand ein riesiger russischer +Ofen. Durch die Fenster sah man auf die Straße, oder +richtiger auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses, +und diese Fenster waren breit und niedrig, fast nur +wie horizontale Spalten in der Wand. Die Fensterbretter +waren so hoch vom Fußboden, daß ich auf einen +Stuhl und eine Fußbank klettern mußte, um mich, +und auch noch immer mit Mühe, auf meinen Lieblingsplatz +hinaufschwingen zu können – wenn niemand zu +Hause war, der es mir verbot. Aus unserer Wohnung +konnte man fast die halbe Stadt sehen, denn wir wohnten +unter dem Dach in einem sechsstöckigen, sehr, sehr +großen Hause. Unsere ganze Einrichtung bestand aus +der Ruine eines alten zerrissenen Ledersofas, das ganz +verstaubt war und aus dem überall der Bast der Polsterung +hervorsah, ferner einem einfachen, ungestrichenen +Tisch, zwei Stühlen, einem Bett, in dem meine +Mutter schlief, einem Schränkchen in der Ecke, einer +Kommode, die immer schief stand, und einem zerrissenen +papierenen Wandschirm. +</p> + +<p> +Ich erinnere mich, es war einmal in der Dämmerung: +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +das ganze Zimmer befand sich in Unordnung, +auf der Diele lag alles durcheinander, Bürsten und +Lappen, unser hölzernes Eßgeschirr, eine zerschlagene +Flasche und ich weiß nicht was noch. Ich erinnere +mich, meine Mutter war sehr aufgeregt und aus irgendeinem +Grunde weinte sie. Mein Stiefvater saß in +der Ecke, wie immer in einem zerrissenen Rock. Er antwortete +ihr irgend etwas, antwortete unter einem höhnischen +Auflachen, was meine Mutter noch mehr ärgerte, +und dann flogen wieder Bürsten und Teller auf +den Boden. Ich begann zu weinen und zu schreien und +stürzte zu ihnen beiden. Ich war entsetzlich erschrocken +und umklammerte wie verzweifelt meinen Vater, um +ihn mit meinem Körper zu schützen. Gott mag wissen, +weshalb es mir schien, daß der Ärger meiner Mutter +grundlos und mein Vater unschuldig sei. Ich wollte +für ihn um Verzeihung bitten, gleichviel was für eine +Strafe an seiner Stelle auf mich nehmen. Ich fürchtete +mich entsetzlich vor meiner Mutter und glaubte, daß +alle sie ebenso fürchteten. Meine Mutter sah mich im +ersten Augenblick ganz verwundert an, dann faßte +sie mich an der Hand und zog mich hinter den Schirm. +Ich beschädigte meine Hand am Bett – es schmerzte +sehr –, aber der Schreck war doch größer als der +Schmerz, und ich wagte nicht mal zu mucksen. Ich +weiß noch, meine Mutter machte darauf meinem Vater +bittere Vorwürfe, indem sie auf mich deutete. (Übrigens +nenne ich ihn hier meinen Vater, obgleich er +doch nur mein Stiefvater war, aber ich habe es erst +viel später erfahren, daß zwischen uns überhaupt keine +Verwandtschaft bestand.) Diese ganze Szene dauerte +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +etwa zwei Stunden und zitternd vor Spannung bemühte +ich mich, zu erraten, womit das alles enden +werde. Endlich verstummte der Streit und die Mutter +ging irgendwohin fort. Da rief mich der Vater zu sich, +küßte mich, streichelte mein Haar, nahm mich auf den +Schoß und ich schmiegte mich fest und süß an seine +Brust. Es war die erste väterliche Zärtlichkeit, die ich +empfand, und vielleicht kann ich mich deshalb von +der Zeit an so gut alles Erlebten erinnern. Auch begriff +ich, daß ich mir diese Liebe des Vaters durch meine +Parteinahme für ihn verdient hatte, und da kam mir, +ich glaube, zum erstenmal der Gedanke, daß er von +der Mutter viel zu erdulden und viel Leid zu ertragen +habe. Seit der Zeit konnte ich mich von dieser Vorstellung +nicht mehr befreien und mit jedem Tag erregte +und empörte sie mich mehr. +</p> + +<p> +In jener Stunde erwachte in mir eine grenzenlose +Liebe zum Vater, aber es war eine wunderliche, gleichsam +gar nicht kindliche Liebe. Ich würde sagen, daß +es eher ein gewisses mitleidvolles <em>mütterliches</em> +Gefühl war, wenn eine solche Bezeichnung nicht komisch +wäre – für ein Kind! Der Vater erschien mir +immer dermaßen bedauernswert, so ungerecht verfolgt, +so tyrannisiert, kurz, ich sah in ihm einen solchen +Märtyrer, daß es für mich etwas ganz Unmögliches +gewesen wäre, ihn nicht bis zur Besinnungslosigkeit +zu lieben, zu trösten, nicht zärtlich zu ihm zu sein, +mich nicht aus allen Kräften zu bemühen, für ihn zu +sorgen und ihm Gutes zu tun. Ich verstehe bis jetzt +noch nicht, woher mir gerade das in den Kopf gekommen +sein mag, daß er ein solcher Märtyrer, ein so +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +unglücklicher Mensch sei! Wer hat mir das eingegeben? +Wie konnte ich, ein Kind, von seinen persönlichen +Mißerfolgen und Enttäuschungen überhaupt etwas +verstehen? Und doch verstand ich sie, wenn ich mir auch +alles nach meiner Art zurechtlegte. Aber vorzustellen vermag +ich mir trotzdem nicht, wie ich zu einer solchen +Auffassung gelangen konnte. Vielleicht kam das daher, +daß meine Mutter gar zu streng mit mir umging, +weshalb ich mich denn an den Vater hielt, als an einen +Menschen, der, wie ich glaubte, ebenso ungerecht von +ihr behandelt wurde und in dem ich deshalb meinen +Leidensgenossen sah. +</p> + +<p> +Ich erzählte bereits von meinem ersten Erwachen +aus dem Kindheitsschlaf, von meiner ersten Regung +in einem bewußten Leben. Mein Herz war von dem +Augenblick an verwundet, meine Entwicklung setzte ein +und vollzog sich mit unglaublicher, sich überhastender, +ermüdender Schnelligkeit. Jetzt konnte ich mich nicht +mehr mit bloßen äußeren Eindrücken zufriedengeben. +Ich begann nachzudenken, zu überlegen, zu beobachten; +aber dieses Beobachten geschah meinerseits so unnatürlich +früh, daß mein Verstand nicht umhin konnte, +alles nach eigenen Begriffen und Vorstellungen sich +zurechtzulegen, und so befand ich mich denn plötzlich in +einer anderen nur mir eigenen Welt. Alles um mich +herum wurde immer ähnlicher jenem Wundermärchen, +das der Vater mir oft erzählt hatte und das ich damals +natürlich für lauterste Wahrheit hielt. So entstanden +in mir seltsame Vorstellungen. Ich begriff sehr gut – +aber wie das geschah, vermag ich nicht zu sagen –, +daß ich in einer sonderbaren Familie lebte und daß +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +meine Eltern irgendwie ganz und gar nicht den anderen +Menschen glichen, die ich in dieser Zeit kennen +lernte. Ich fragte mich, weshalb sind die anderen Menschen, +die ich sehe, meinen Eltern auch äußerlich so unähnlich? +Weshalb sah ich andere lachen und warum +fiel es mir plötzlich auf, daß in unserem Winkel niemals +gelacht wurde und niemand sich freute? Welche +Macht zwang mich, das neunjährige Kind, so aufmerksam +meine Umgebung zu beobachten und auf jedes +Wort zu achten, das ich zufällig von den Leuten vernahm, +die mir auf der Treppe oder auf der Straße begegneten, +wenn ich abends meine Lumpen mit der alten +Jacke meiner Mutter bedeckte, um in den nächsten +Krämerladen zu gehen und für einige wenige Kupferlinge +Zucker, Tee oder Brot zu kaufen? Ich begriff, und +ich weiß nicht wie, daß in unserem Winkel irgendein +ewiger Kummer, ein unerträgliches Leid herrschte. Ich +zerbrach mir den Kopf, um zu erraten, warum das so +war, und ich weiß nicht, wer mir dabei half, das Rätsel +auf meine Art zu deuten: ich beschuldigte meine +Mutter, ich hielt sie für die Todfeindin meines Vaters, +aber ich wiederhole – ich verstehe es selber nicht, wie +eine so ungeheuerliche Auffassung in meiner Phantasie +entstehen konnte. Und je mehr ich mich dem Vater anschloß, +um so mehr mußte ich meine arme Mutter +hassen. Die Erinnerung an all das quält mich noch +jetzt schmerzlich. Doch da gab es noch einen anderen +Zwischenfall, der noch mehr als jener erste meine seltsame +Annäherung an den Vater bewirkte. +</p> + +<p> +Einmal, es war gegen zehn Uhr abends, schickte +mich meine Mutter in den Laden nach Hefe. Der Vater +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +war nicht zu Hause. Auf dem Rückwege stolperte +ich versehentlich und fiel hin, mitten auf dem Trottoir, +und verschüttete den ganzen Inhalt der Tasse. +Mein erster Gedanke war, wie sehr sich die Mutter +ärgern werde. Da fühlte ich einen schrecklichen Schmerz +im linken Arm, und zugleich merkte ich, daß ich mich +nicht aufrichten konnte. Die Menschen blieben stehen. +Ein altes Frauchen versuchte, mich aufzuheben, ein +Knabe aber, der vorüberlief, schlug mit einem Schlüssel +auf meinen Kopf. Endlich wurde ich wieder auf +die Füße gestellt, ich hob die Scherben der zerschlagenen +Tasse auf und ging wankend weiter, kaum fähig, +einen Fuß vor den anderen zu setzen. Plötzlich sah ich +den Vater. Er stand in der Volksmenge vor einem +schönen Hause, das dem unsrigen gegenüberlag. Dieses +Haus gehörte irgendwelchen vornehmen Leuten und +war an jenem Abend herrlich erleuchtet. Vor dem +Portal standen viele Equipagen und aus dem Inneren +hörte man Orchestermusik. Ich faßte den Vater +am Rockschoß, zeigte ihm die zerschlagene Tasse und +sagte unter Tränen, daß ich vor Angst nicht wagte, zur +Mutter zu gehen. Ich war plötzlich ohne weiteres überzeugt, +daß er mich beschützen werde. Aber weshalb ich +davon überzeugt war und wer es mir gesagt oder mich +sonst irgendwie darauf gebracht hatte, daß ich von ihm +mehr geliebt wurde, als von meiner Mutter, das weiß +ich nicht. Warum ging ich zu ihm ganz furchtlos, während +ich mich vor der Mutter aus lauter Furcht nicht +zu zeigen wagte? Er nahm mich an der Hand, tröstete +mich, und dann sagte er, er wolle mir etwas Schönes +zeigen, und er hob mich auf und nahm mich auf den +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +Arm. Ich konnte freilich nichts sehen vor Schmerz, +denn er hatte meinen Arm gerade an der Stelle angefaßt, +wo ich ihn mir beim Fall verletzt hatte, und das +tat entsetzlich weh, aber ich schrie nicht, nur um ihn +nicht zu beunruhigen. Er fragte mich mehrmals, ob ich +etwas sähe. Und ich bemühte mich mit allen Fibern, +ihm so zu antworten, daß es ihm recht wäre, und ich +sagte, ich sähe rote Vorhänge hinter den Fenstern. Als +er mich aber über die Straße auf das andere Trottoir +tragen wollte, näher zum Hause, da fing ich plötzlich +an zu weinen – ich weiß nicht, weshalb – umarmte +seinen Hals und bat ihn, schneller nach Haus zur +Mutter zu gehen. Ich weiß noch, seine Zärtlichkeit bedrückte +mich und ich konnte es nicht mehr ertragen, daß +der eine von ihnen, der Vater, – während ich doch +beide so lieben wollte – gut und lieb zu mir war, und +ich zur anderen, zur Mutter nicht zu gehen mich getraute +und mich vor ihr nur fürchtete. Sie war +übrigens fast gar nicht böse und sagte nur, ich solle +schlafen gehen. Ich weiß noch, der Schmerz im Arm +wurde immer heftiger, ich begann zu fiebern, doch +war ich trotzdem ganz besonders glücklich und froh darüber, +daß alles so gut verlaufen, und die ganze Nacht +träumte mir von dem Hause gegenüber und von den +schönen roten Vorhängen. +</p> + +<p> +Als ich am nächsten Morgen erwachte, war mein +erster Gedanke, meine erste Sorge das Haus mit den +roten Vorhängen. Kaum hatte die Mutter das Zimmer +verlassen, da kletterte ich gleich auf das Fensterbrett, +um das schöne Haus zu betrachten. Eigentlich hatte +dieses Haus auch früher schon meine kindliche Neugier +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +erregt. Am besten gefiel es mir abends, wenn auf der +Straße die Laternen angezündet wurden und wenn +dann aus dem Hause und in einem nahezu blutigen +Licht die purpurroten Gardinen hinter den großen +Scheiben zu leuchten begannen. Vor dem Portal hielten +meist vornehme Equipagen, oder die Leute kamen +gerade mit schönen, stolzen Pferden angefahren, und +alles das fesselte mich sehr: das Geräusch und das +Rufen der Kutscher und Diener, das ganze Hin und +Her vor dem Hause und die farbigen Laternen an den +Wagen und die geputzten Damen, die dann ausstiegen. +Das ganze wurde in meiner kindlichen Phantasie zu +etwas kaiserlich Großartigem und märchenhaft Wundervollem. +Und gar nach meiner Begegnung mit +dem Vater vor diesem reichen Hause, da wurde es in +meinen Augen noch einmal so schon und beachtenswert. +Nun entstanden in meiner erwachten Phantasie seltsame +Vorstellungen und Vermutungen. Es ist wohl +auch kein Wunder, daß ich unter so eigentümlichen +Menschen, wie meine Eltern waren, gleichfalls zu +einem eigentümlichen, zu einem leidenschaftlich phantastischen +Kinde wurde. Was mich ganz besonders +betroffen machte, war der Kontrast der Charaktere +meiner Eltern. So z. B. wunderte es mich, daß die +Mutter sich beständig um unsere armselige Wirtschaft +sorgte und mühte und fortwährend dem Vater darüber +Vorwürfe machte, daß sie allein für alle arbeiten und +alle ernähren müsse, – ich fragte mich deshalb unwillkürlich, +warum denn der Vater ihr gar nicht half, +warum er fast wie ein Fremder bei uns wohnte? Einzelne +Worte meiner Mutter gaben mir hierüber eine +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +gewisse Aufklärung. So vernahm ich mit Verwunderung, +daß Papa ein Künstler sei (dieses Wort merkte +ich mir sogleich), ein Mensch mit einem großen Talent. +Meine Vorstellungskraft schuf nun sofort den Begriff +für das neue Wort, eben daß ein „Künstler“ etwas +ganz Besonderes, jedenfalls ein außergewöhnlicher +Mensch, also etwas ganz anderes als die übrigen Menschen +sein müsse. Vielleicht war es zum Teil auch das +Verhalten meines Vaters, das gerade diese Auffassung +begünstigte; oder vielleicht hatte ich auch vorher schon +das eine oder das andere gehört, was ich jetzt vergessen +habe. Seltsam verständlich war mir der Sinn der +Worte, die der Vater einmal in meiner Gegenwart +mit einem ganz besonderen Gefühl sagte: „Es werde +eine Zeit kommen, wo auch er nicht mehr arm, sondern +gleichfalls ein reicher Herr sein werde, und erst wenn +die Mutter gestorben sei, würde er endlich aufleben.“ +</p> + +<p> +Ich weiß noch, ich erschrak entsetzlich, als ich diese +Worte hörte. Mein Schreck und Entsetzen waren so +groß, daß ich nicht im Zimmer bleiben konnte und auf +unseren kalten Flur hinauslief, wo ich in Tränen ausbrach: +und ich weinte dort herzbrechend, die Ellenbogen +auf das Fensterbrett gestützt, das Gesicht in den Händen +vergraben. Dann aber, als ich fortwährend darüber +nachdachte und mich allmählich an diese schreckliche +Hoffnung des Vaters gewöhnte – kam mir bald +meine eigene Phantasie zu Hilfe. Wenigstens ertrug +ich diese Qual der Ungewißheit nicht lange und mußte +wohl naturgemäß zu irgendeiner Vermutung gekommen +sein. Und da – ich weiß nicht, wie es anfing, aber +zu guter Letzt glaubte ich wirklich, daß der Vater, wenn +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +erst die Mutter gestorben sei, alsbald diese langweilige +Wohnung verlassen und mit mir irgendwohin fortziehen +werde. Aber wohin? – das konnte ich mir auch +bis zuletzt nicht klar vorstellen. Ich erinnere mich nur, +daß alles, womit ich jenen Ort, wohin wir beide gehen +würden (daß wir zwei unbedingt zusammen gehen würden, +stand für mich außer Frage), schmücken konnte, +daß alles, was ich mir an Schönheit und Glanz und +Großartigkeit vorzustellen vermochte – daß all das +Verwendung in meinen Träumen von jener Zukunft +fand. Ich glaubte, wir würden dann sofort reich sein +und ich brauchte nicht mehr in den kleinen Laden zu +gehen, um für die Mutter etwas zu besorgen, was mir +immer sehr schwer fiel, da die Kinder aus dem Nachbarhause +mich nie in Ruhe ließen, sobald ich aus dem +Hause trat – und davor fürchtete ich mich sehr, namentlich +wenn ich Milch trug oder Eier, denn ich +wußte, daß ich fürs Verschütten oder Zerschlagen +strenge Strafe zu erwarten hatte. Und dann malte ich +mir aus, wie der Vater sich sogleich schöne Kleider bestellen +und wir in ein glänzendes Haus ziehen würden, +und da – da kam nun jenes reiche Haus mit +den roten Vorhängen, meine Begegnung mit dem Vater +vor demselben und der Umstand, daß er mir dort +etwas zeigen wollte, meiner Phantasie sehr zu Hilfe. +In meinen Zukunftsträumen war es ganz selbstverständlich, +daß wir gerade in dieses Haus zogen, um +dort wie in ewiger Seligkeit zu leben. Seit der Zeit +sah ich täglich, namentlich abends, mit angespannter +Neugier und Teilnahme aus unserem Fenster nach +diesem für mich gleichsam verzauberten Hause, dachte +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +an die Vorfahrt der Equipagen an jenem Abend und +an die Gäste in den festlichen Gewändern, wie ich sie +vorher noch nie gesehen. Und dann bildete ich mir ein, +wieder die weichen Töne der Musik zu hören, die gedämpft +aus dem Hause drang, und ich beobachtete die +Schattenbilder der Gestalten, die sich auf den Vorhängen +bewegten, und ich bemühte mich, zu erraten, was +dort hinter den Fenstern vorging, – und immer schien +es mir, daß dort das Paradies sei und ein ewiger Feiertag. +Ich fing an, unsere armselige Dachstube und die +zerlumpten Kleider, die ich trug, zu hassen. Und als +einmal die Mutter mich schalt und mir befahl, vom +Fensterbrett herabzuklettern, wo ich gerade wie gewöhnlich +saß, da kam mir sogleich der Gedanke, sie sei eifersüchtig +und wünsche nicht, daß ich dieses Haus betrachtete +oder an dasselbe auch nur dachte, unser Glück sei +ihr unangenehm und deshalb wolle sie es hintertreiben, +wenigstens so lange, wie sie noch lebte ... Und den +ganzen Abend beobachtete ich sie mißtrauisch. +</p> + +<p> +Wie konnte mein Herz sich nur so verstocken gegen +ein so armes, unglückliches Wesen, wie es meine Mutter +war! Jetzt erst begreife ich die ganze Qual ihres +Lebens und kann nicht ohne stechenden Schmerz im +Herzen an ihr Martyrium denken. Ja selbst damals +schon, in jener dunkeln Zeit meiner wunderlichen Kindheit, +während meiner unnatürlich schnellen Entwicklung, +krampfte sich mein Herz oft zusammen vor +Schmerz und Mitleid – und Unruhe, Verwirrung und +Zweifel drängten sich in meine Seele. Auch damals schon +lehnte sich mein Gewissen gegen mich selbst auf und ich +empfand es sehr wohl, daß ich ungerecht gegen sie war. +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +Aber es war, als scheuten und mieden wir einander. +Ich entsinne mich nicht, jemals zärtlich zu ihr gewesen +zu sein. Jetzt sind es oft die geringfügigsten Erinnerungen, +die meine Seele nachträglich erschüttern und +martern. Einmal, ich weiß noch (natürlich ist das, was +ich jetzt erzählen werde, nichtig, fast belanglos, aber +gerade solche Erinnerungen quälen mich nun am meisten +und haben sich am tiefsten meinem Gedächtnis eingeprägt), +– einmal, an einem Abend, als der Vater +nicht zu Hause war, wollte die Mutter mich in den +kleinen Laden schicken, um für sie etwas Tee und +Zucker zu kaufen. Aber sie dachte lange nach und konnte +sich immer nicht entschließen und zählte halblaut die +Kupferstücke – ein Bettelsümmchen, über das sie noch +verfügen konnte. Sie zählte und rechnete, wenn ich +nicht irre, wohl eine halbe Stunde lang und konnte doch +nicht die Rechnung beenden. Zudem verfiel sie in +manchen Augenblicken, wahrscheinlich vom Leid, gleichsam +in einen Zustand vollkommener Gedankenversunkenheit. +Als sähe ich sie vor mir, so deutlich erinnere +ich mich, wie sie vor sich hin sprach, langsam, dazu die +Geldstücke einzeln zählend, als wäre jedes Wort ein +wichtiges Ding. Ihre Wangen und Lippen waren +blaß, ihre Hände zitterten beständig und wenn sie allein +dasaß und nachdachte, dann bewegte sie immer den +Kopf dazu. +</p> + +<p> +„Nein, nicht nötig,“ sagte sie endlich mit einem +Blick auf mich, „ich werde lieber zu Bett gehen und +schlafen. Wie? Willst du schlafen, Njetotschka?“ Ich +schwieg; da hob sie ein wenig mein Kinn und sah mich +so still und freundlich an, und ihr trauriges Antlitz +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +klärte sich auf und verklärte sich in einem so mütterlichen +und stillen Lächeln, daß mein Herz weich wurde +und zu pochen begann. Überdies hatte sie mich „Njetotschka“ +genannt, was bedeutete, daß sie mich in diesem +Augenblick besonders lieb hatte. Diese Koseform +meines Namens hatte sie selbst erfunden, indem sie +meinen eigentlichen Namen Anna in ihn umwandelte. +Wenn sie mich so nannte, „Njetotschka“, dann wußte +ich, daß sie damit zärtlich zu mir sein wollte. Das +rührte mich: ich hätte sie umarmen, mich an sie schmiegen, +zusammen mit ihr weinen mögen. Sie, die Arme, +streichelte dann lange meinen Kopf – vielleicht schon +ganz mechanisch, ohne daran zu denken, daß sie mich +streichelte, und dazu sagte sie immer: „Mein Kind, +Annjeta, Njetotschka!“ Tränen wollten mir über die +Wangen rollen, aber ich nahm mich krampfhaft zusammen +und beherrschte mich. Ich widersetzte mich gewissermaßen +sogar ihrer Zärtlichkeit, indem ich ihr gegenüber +nicht das geringste Empfinden äußerte, obschon +ich mich damit selber quälte. Nein, diese Verstocktheit +konnte nichts Natürliches sein! Der Mutter +Strenge allein hätte mich nicht so gegen sie einnehmen +können. Aber ich weiß, was es war: es war diese +meine phantastische Liebe zu meinem Vater, die mich in +ihrer Ausschließlichkeit verdarb. Zuweilen, wenn ich +nachts auf meiner harten Unterlage in meinem Schlafwinkel +unter der dünnen Decke erwachte, dann wandelte +mich immer eine gewisse Furcht an. Halb im Schlaf +erinnerte ich mich, wie ich bis vor kurzem, als ich +noch etwas jünger und kleiner war, mit der Mutter +in einem Bett geschlafen und mich dann nachts beim +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +Erwachen weniger gefürchtet hatte: da brauchte ich +mich nur fest an sie zu schmiegen, die Augen zu schließen +und ich schlief sofort wieder ein. Ich fühlte, daß ich +sie, ob ich nun wollte oder nicht, im geheimen doch lieben +mußte. In meinem späteren Leben habe ich die +Beobachtung gemacht, daß viele Kinder oft entsetzlich +gefühllos sind, und daß sie, wenn sie jemand liebgewinnen, +diesen einen Menschen ganz ausschließlich lieben, +und selbstverständlich auf Kosten anderer. So war’s +auch mit mir. +</p> + +<p> +Bisweilen herrschte in unserer Dachstube ganze +Wochen lang Totenstille. Der Vater und die Mutter +waren dann müde vom Streiten und ich lebte zwischen +ihnen wie gewöhnlich, immer schweigend, immer denkend, +träumend, mich sehnend, und stets in meinem +Denken irgendwie bestrebt, irgend etwas mir Unbekanntes +zu enträtseln. Indem ich sie beide beobachtete, +begriff ich vollkommen, wie sie zueinander standen: ich +begriff diese ihre dumpfe ewige Feindschaft, begriff +das ganze Leid und diesen beklemmenden Druck des +unordentlichen Lebens, das sich in unserer Dachstube +eingenistet hatte, – begriff sie natürlich ohne ihre Ursachen +und ihre ganze Tragweite, begriff sie eben nur +so weit, wie ich sie damals begreifen konnte. An langen, +stillen Winterabenden beobachtete ich sie aus meinem +Winkel oft ganze Stunden ungestört, verfolgte +jede Bewegung, studierte förmlich das Gesicht des Vaters, +und gab mir die größte Mühe, zu erraten, woran +er wohl denken mochte, und was ihn geistig so beschäftigte. +Und dann war es wieder die Mutter, die mich +betroffen machte und ängstigte. Sie konnte unermüdlich +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +im Zimmer hin und her gehen, stundenlang, oft +ging sie sogar mitten in der Nacht, wenn sie nicht +schlafen konnte – sie litt überhaupt an Schlaflosigkeit +– dabei flüsterte sie vor sich hin, als wäre außer ihr +niemand im Zimmer, bald streckte sie die Arme +aus, bald kreuzte sie sie über der Brust, bald rang sie +die Hände wie in Verzweiflung oder unendlichem Weh +und Kummer. Bisweilen rollten ihr Tränen aus den +Augen, Tränen, die sie vielleicht selbst nicht verstand, +denn es kam vor, daß sie zeitweilig wie in ein vollständiges +Sich-selbst-vergessen versank. Sie hatte, zudem, +außer ihren Sorgen, irgendein sehr schweres +körperliches Leiden, das sie aber gar nicht beachtete. +</p> + +<p> +Die Einsamkeit und das Schweigen, das ich nicht zu +brechen wagte, fingen an, immer schwerer auf mir zu +lasten. Schon ein ganzes Jahr hatte ich mit erwachtem +Geiste gelebt, immer gedacht, gegrübelt, geträumt und +im geheimen mich mit unbekannten, unklaren Wünschen +gequält, die plötzlich auftauchten. Ich war wie in einem +Walde verirrt. Da war es der Vater, der mich zuerst +bemerkte, mich zu sich rief und mich fragte, warum ich +ihn so unverwandt ansähe. Ich weiß nicht mehr, was +ich ihm antwortete: ich weiß nur noch, daß er nachdenklich +wurde und zum Schluß sagte, er werde ein Abc-Buch +bringen und mich im Lesen unterrichten. Mit +Ungeduld erwartete ich nun dieses sonderbare Buch +und baute die ganze Nacht phantastische Träume auf – +denn meine Vorstellung von einem Abc war nichts +weniger als klar. Endlich, d. h. am nächsten Tage, +begann der Vater auch wirklich mit dem Unterricht. +Ich begriff sogleich, was von mir verlangt wurde, und +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +lernte schnell und gut, denn ich wußte, daß ich ihm damit +etwas zu Gefallen tat. Das war die glücklichste +Zeit meines damaligen Lebens. Wenn er mich lobte, +meinen Kopf streichelte und mich küßte, traten mir +vor Freude sogleich Tränen in die Augen. So gewann +mich der Vater allmählich lieb. Bald wagte ich denn +auch schon, ihn anzureden, und dann sprachen wir oft +ganze Stunden unermüdlich miteinander, obschon ich +mitunter kaum ein Wort von dem, was er mir da +erzählte, verstand. Aber ich fürchtete ihn doch noch +irgendwie, fürchtete vor allem, er könnte denken, daß +ich mich mit ihm langweilte, und deshalb bemühte ich +mich nach Kräften, so zu tun, als verstünde ich alles. +Zu guter Letzt wurde es ihm zur Gewohnheit, abends +mit mir zu sitzen und zu sprechen. Sobald er mit sinkender +Dämmerung nach Haus zurückkehrte, kam ich +unverzüglich mit meinem Abc-Buch. Er setzte mich sich +gegenüber auf die Bank und nach der Stunde las er +mir gewöhnlich noch aus einem Buch irgend etwas vor. +Davon verstand ich in der Regel fast nichts, aber ich +lachte soviel ich konnte, denn ich glaubte, ihm damit +Vergnügen zu bereiten. Und in der Tat, ich unterhielt +ihn und mein Lachen schien ihn zu belustigen. Einmal +aber erzählte er mir nach der Stunde ein Märchen. +Es war das erste Märchen, das ich hörte. Ich saß +wie verzaubert, fieberte vor Spannung, fühlte mich +wie in ein Paradies versetzt, während ich ihm zuhörte, +und zum Schluß wußte ich kaum noch, wo ich mich lassen +sollte vor Begeisterung. Nicht, daß das Märchen +an sich mir dermaßen gefallen hätte – nein, das war +es nicht; aber das Unmöglichste war nun plötzlich möglich +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +geworden, denn ich nahm doch alles für bare Münze. +Natürlich ließ ich sogleich meiner eigenen Phantasie +die Zügel schießen und im Nu waren alle meine +phantastischen Träume für mich ebensogut wie bereits +verwirklicht. Da stand natürlich gleich an erster Stelle +das Haus mit den roten Vorhängen, die handelnde Person +aber war – aus unbekannten Gründen – der Vater, +obwohl er selbst das Märchen erzählte; dann kam die +Mutter, die uns hinderte, ich weiß nicht wohin fortzuziehen; +ferner – oder richtiger – ganz zuerst ich +selbst mit meinen wunderschönen Träumen, mit allen +meinen phantastischen, meinen tollen, meinen ganz unmöglichen +Zukunftsbildern: alles das verwirrte sich +dermaßen in meinem Kopf, daß es bald ein unentwirrbares +Chaos bildete und mir für eine Zeitlang den +Eltern gegenüber jedes Zartgefühl, sowie den Dingen +gegenüber jedes Unterscheidungsvermögen für das, was +Wirklichkeit und das, was Einbildung war, abhanden +kam und ich Gott weiß wo lebte. In dieser Zeit verging +ich fast vor Verlangen, mit dem Vater darüber zu +sprechen, was uns bevorstand, was er selber erwartete +und wohin er mich führen werde, wenn wir endlich +unsere Dachstube verließen. Ich war meinerseits überzeugt, +daß alles dies irgendwie sehr schnell in Erfüllung +gehen werde, wie aber und in welcher Art – das +wußte ich nicht, und gerade damit quälte ich mich so, +daß ich mir beständig den Kopf darüber zerbrach. Bisweilen +– und zwar vornehmlich abends – schien es +mir, daß der Vater mir nun gleich heimlich zuzwinkern +und mich auf den Flur hinausrufen werde, und ich nahm +schon heimlich, so daß die Mutter es nicht sah, mein +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +Abc-Buch und dann noch unser Bild, das seit undenklichen +Zeiten uneingerahmt an der Wand hing und +das unbedingt mitzunehmen ich in meinem Sinn fest +beschlossen hatte – und dann liefen wir heimlich irgendwohin +fort und kehrten nie wieder zur Mutter +zurück. Und eines Tages, als die Mutter nicht zu +Haus und der Vater gerade bei besonders guter Laune +war – das aber war er regelmäßig, wenn er etwas +getrunken hatte – da faßte ich mir ein Herz und ging +zu ihm und fing an, von irgend etwas zu sprechen, in +der Absicht, bei der ersten Gelegenheit auf mein geliebtes +Thema überzugehen. Endlich erreichte ich es +auch, daß er belustigt auflachte und da – da umschlang +ich ihn fest und begann mit bebendem Herzen ganz +angstvoll, als wäre ich im Begriff, von etwas Geheimnisvollem +und Furchtbarem zu sprechen, verwirrt und +zusammenhanglos und stockend ihn auszufragen: wohin +wir denn eigentlich gehen sollten und wann denn +und was wir mitnehmen und wo wir wohnen wollten +und schließlich, ob wir denn nicht in das Haus mit den +roten Vorhängen einziehen würden? +</p> + +<p> +„Was für ein Haus? Rote Vorhänge? Was soll +das? Was phantasierst du, dummes Kind?“ +</p> + +<p> +Ich erschrak und versuchte angstvoll, ihm zu erklären, +daß wir beide, wenn die Mutter einmal gestorben +sei, doch nicht mehr hier auf dem Dachboden bleiben +würden, daß er mich dann doch irgendwohin fortführen +müsse, wo wir zwei reich und glücklich leben +könnten. Und zu guter Letzt versicherte ich ihm noch, +daß er selbst mir das alles versprochen habe. Dabei +war ich vollkommen überzeugt, daß er mir wirklich +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +früher einmal so etwas gesagt hatte, wenigstens schien +es mir in dem Augenblick so. +</p> + +<p> +„Die Mutter? Gestorben? Wenn sie gestorben +sein wird? ...“ wiederholte er und er sah mich verwundert +an, während sich zwischen seinen buschigen, +graumelierten Brauen eine Falte bildete und sein Gesicht +sich ein wenig veränderte. „Was phantasierst du, +Kind, dummes, armes Ding ...“ +</p> + +<p> +Und dann schalt er mich, und schalt mich sogar +sehr und sagte, ich sei ein dummes Kind, ich könne +nichts begreifen ... und ich weiß nicht, was er noch +alles sagte, – sicher war er sehr betrübt. +</p> + +<p> +Ich begriff allerdings kein Wort von seinen Vorwürfen, +begriff vor allem nicht, wie schmerzlich es für +ihn sein mußte, daß ich seine Worte, die er der Mutter +im Zorn und unter dem Druck des Elends gesagt, aufgefangen +und behalten, sie womöglich auswendig gelernt +und schon viel über sie nachgedacht hatte. Aber +was es auch sein mochte und so groß auch seine eigene +Überspanntheit war, dieser Zwischenfall mußte ihm +doch zu denken geben. Ich aber konnte gar nicht verstehen, +weshalb er sich über mich ärgerte, und ich fühlte +eine gewisse Bitterkeit und Trauer in mir aufsteigen, +immer höher und höher, bis ich zu weinen anfing. Dann +dachte ich, daß alles, was uns dort in dem schönen Leben +erwartete, wohl so wichtig sei, daß ich dummes +Kind weder davon sprechen noch daran denken durfte. +Nebenbei aber fühlte ich doch, obwohl ich ihn nicht sogleich +verstand, daß ich die Mutter gekränkt hatte. +Darob erfaßten mich Angst und Entsetzen und dann +schlichen sich auch leise Zweifel in meine Seele und +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +machten dort alles in mir unsicher. Als er jedoch sah, +daß ich weinte und mich quälte, versuchte er mich wieder +zu trösten, wischte mir mit dem Ärmel die Tränen +ab und bat mich, ich solle nicht mehr weinen. So saßen +wir denn eine Zeitlang schweigend. Er machte ein finsteres +Gesicht und schien nachzudenken; dann fing er +von neuem zu sprechen an; aber wie sehr ich mich auch +anstrengte, es war mir doch alles, was er da sagte, zum +mindesten unklar. Ich schließe aus einzelnen Worten, +die ich noch behalten habe, daß er mir damals erklärte, +wer er sei, was für ein großer Künstler er wäre; ferner, +wie ihn niemand verstehe, und zuletzt, daß er ein +ungeheures Talent habe. Ich weiß noch, daß er mich +dann fragte, ob ich auch alles verstanden und daß er +nach meiner selbstverständlich bejahenden Antwort die +Frage wiederholte: „Also hat er Talent?“ Und ich antwortete: +„Ja, er hat Talent,“ worüber er leise auflachen +mußte, wahrscheinlich weil es ihm selbst zuletzt lächerlich +erschien, daß er über einen für ihn so ernsten +Gegenstand mit einem Kinde sprach. Unsere Unterhaltung +unterbrach Karl Fedorytsch, der ganz unerwartet +bei uns eintrat, und der Vater wies auf ihn und sagte: +</p> + +<p> +„Dieser dagegen, der Karl Fedorytsch, der hat zum +Beispiel für keine fünf Kopeken Talent.“ +</p> + +<p> +Darüber mußte ich lachen, denn das kam mir, Gott +weiß weshalb, sehr komisch vor und ich war wieder +ganz froh und glücklich. +</p> + +<p> +Dieser Karl Fedorytsch war eine äußerst merkwürdige +Erscheinung. Ich sah damals so wenige Menschen, +daß ich mich seiner noch lebhaft erinnere. Ja: als stände +er hier, so deutlich sehe ich ihn vor mir. Er war ein +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +Deutscher, Meyer mit Namen, der nach Rußland gekommen +war, weil er nur den einen Wunsch hatte: zum +Petersburger kaiserlichen Ballett zu gehören. Leider +war er aber ein so schlechter Tänzer, daß man ihn nicht +einmal unter die Chortänzer, die den Hintergrund der +Bühne ausfüllen mußten, aufnehmen konnte und ihn +nur als Statisten verwandte. So spielte er stumme +Rollen, etwa in der Suite des Fortinbras oder als +einer der Ritter von Verona, die alle zwanzig mit einem +Male ihre gepappten Klingen ziehen und <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">unisono</span> ausrufen: +„Wir sterben für den König!“ +</p> + +<p> +Nichtsdestoweniger gab es wohl keinen einzigen +Künstler auf Erden, der an seinen Rollen so leidenschaftlich +hing wie Karl Fedorytsch. Sein größtes Unglück +und Lebensleid war, daß er nicht ins Ballettkorps +aufgenommen wurde. Die Tanzkunst stellte er über jede +andere Kunst und in seiner Art hing er an ihr ebensosehr, +wie der Vater an seiner Geige. Sie waren beide +an demselben Theater angestellt gewesen, dort hatten +sie sich kennen gelernt, und seit der Zeit besuchte der +Statist, der nun auch schon außer Diensten war, seinen +ehemaligen Kollegen vom Orchester und blieb ihm als +einziger von allen bis zuletzt treu. Sie sahen sich sogar +recht oft und beklagten dann beide ihr trauriges Los, +das ihnen den Fluch auferlegt hatte, von den Menschen +nicht verstanden zu werden. Der Deutsche war der gefühlvollste, +der liebevollste Mensch der Welt und meinem +Stiefvater in glühendster, uneigennützigster +Freundschaft zugetan. Der Vater dagegen hatte, glaube +ich, keine gerade besondere Zuneigung zu ihm, er +duldete ihn eben nur als seinen Bekannten in Ermangelung +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +anderer. Leider konnte der Vater in seiner Einseitigkeit +durchaus nicht begreifen, daß die Tanzkunst +auch eine Kunst sei, womit er den armen Deutschen +bis zu Tränen kränkte. Da er nun diese schwache Seite +des anderen kannte, machte es ihm Spaß, sie immer wieder +wie von ungefähr zu berühren, um sich dann an +dem Eifer des armen Karl Fedorytsch zu ergötzen, der +fast aus der Haut fuhr vor Empörung und Leidenschaft +in seinem Bemühen, für seine geliebte Tanzkunst +das Gegenteil zu beweisen. Von diesem Karl Fedorytsch +und seiner Freundschaft mit meinem Stiefvater hat +mir nachher noch manches derselbe B. erzählt, der diesen +begeisterten Ballettänzer immer den Nürnberger +Springkäfer nannte. Unter anderem entsinne ich mich +noch lebhaft ihrer Zusammenkünfte, wenn sie beide +etwas getrunken hatten und dann als verkannte Größen +ihr Schicksal betrauerten. Auch ich, die ich diese +beiden Sonderlinge still für mich betrachtete, trauerte +mit ihnen, und wenn sie Tränen vergossen, so heulte ich +mit, wenn ich auch selber nicht wußte, worüber und +warum. Das trug sich aber immer in der Abwesenheit +der Mutter zu, denn der Deutsche fürchtete sie sehr und +wartete deshalb, wenn er kam, gewöhnlich so lange auf +dem Treppenflur, bis jemand aus dem Zimmer trat: +erfuhr er dann, daß die Mutter zu Hause war, so +machte er schleunigst kehrt und lief die Treppe hinunter. +Jedesmal brachte er deutsche Gedichte mit, begeisterte +sich an ihnen, indem er sie uns laut vorlas, +und dann deklamierte er mit Gesten, wobei er zwischendurch +die Sätze mit Müh und Not in ein zum mindesten +eigenartiges Russisch übersetzte, damit auch wir +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +den Sinn verstanden. Das belustigte den Vater, ich +aber lachte oft Tränen. Einmal hatten sie sich irgendein +russisches Werk verschafft, das sie beide ungeheuer +begeisterte, in einem solchen Maße begeisterte, +daß sie es nachher fast bei jeder Zusammenkunft immer +wieder von neuem lasen. Ich erinnere mich, es war ein +Drama in Versen von irgendeinem vorübergehend berühmten +russischen Schriftsteller. Die ersten Strophen +hatte ich so gut behalten, daß ich später nach mehreren +Jahren dieses Drama gleich wiedererkannte, als ich das +Buch einmal zufällig in die Hände bekam. Es handelte +von dem Unglück eines großen Künstlers, irgendeines +Jacopo, der auf der einen Seite ausruft: „Ich +bin verkannt!“ und auf der folgenden: „Ich bin erkannt!“ +– oder war es: „Ich bin talentlos!“ und +dann: „Ich habe Talent!“? Kurz, etwas Ähnliches +war es jedenfalls. Es endete natürlich höchst tragisch. +Das Drama war freilich an sich ganz wertlos. Nur +auf diese beiden Leser, die in dem Helden viel Ähnlichkeit +mit sich selbst entdeckten, wirkte es in der naivsten +und zugleich tragischsten Weise. Ich weiß noch, +Karl Fedorytsch geriet dann zuweilen in solche Ekstase, +daß er aufsprang, zur anderen Wand des Zimmers +eilte und den Vater und mich, die er „Madmuasell“ +nannte, unabweisbar beschwörend, mit Tränen in den +Augen und im heiligen Verlangen nach ausgleichender +Gerechtigkeit bat, „sogleich hierselbst“ zwischen ihm, +seinem Schicksal und dem Publikum die Schiedsrichter +zu sein. Darauf begann er zu tanzen, und während der +verschiedenen Pas, die er uns nun vortanzte, schrie er +uns zu, wir sollten ihm sogleich sagen, was er sei, ein +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +Künstler oder nicht, und ob man wohl das Gegenteil +sagen könne, d. h. daß er etwa kein Talent habe? Der +Vater war dann sofort höchst aufgeräumt, gab mir +heimlich Winke, als wollte er sagen, ich solle nur aufpassen, +wie vorzüglich er sich gleich über den Armen +lustig machen werde. Mich wandelte die Lachlust an, +aber der Vater drohte heimlich mit dem Finger und +ich nahm mich aus allen Kräften zusammen, um mir +das Lachen zu verbeißen. Auch jetzt noch, bei der bloßen +Vorstellung jenes Bildes, ist es mir unmöglich, nicht +zu lachen. Ich sehe ihn so deutlich vor mir, diesen armen +Karl Fedorytsch! Er war äußerst klein von Wuchs, +dazu spindeldünn, das Haar schon grau, die Nase gebogen +und rot und immer mit Tabakspuren geschmückt. +Seine Beine hatten eine ganz absonderlich krumme +Form; trotzdem schien er auf ihren Bau noch stolz zu +sein und trug Beinkleider, die so eng wie Trikot anlagen. +Wenn er dann endlich nach dem letzten Sprunge +stehen blieb, mit zu uns ausgestreckten Armen und uns +zulächelnd – in der Pose und mit dem Lächeln der Ballettänzer +auf der Bühne – da wahrte der Vater noch +eine gute Weile das Schweigen, als könne er sich nicht +entschließen, das Urteil zu fällen, und ließ absichtlich +den verkannten Tänzer in dieser schwierigen Pose verharren, +bis jener auf seinem einen dünnen Bein schon +zu schwanken begann, trotz seiner krampfhaften Anstrengung, +das Gleichgewicht nicht zu verlieren. +Schließlich erbarmte sich der Vater: zunächst sah er +nur mit ernster Miene mich an, als wolle er mich fragen: +„Was sagen wir ihm nun?“ – und gleichzeitig +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +richtete sich auch der furchtsam flehende Blick des Tänzers +auf mich. +</p> + +<p> +„Nein, Karl Fedorytsch, man sieht, es ist verlorene +Liebesmüh, du triffst doch nicht das Richtige!“ sagte +der Vater dann endlich in einem Ton, als fiele es ihm +schwer, die bittere Wahrheit sagen zu müssen. Dann +entrang sich der Brust Karl Fedorytschs ein richtiges +Stöhnen, aber im Nu faßte er wieder Mut, erbat mit +beschleunigten Gesten von neuem unsere Aufmerksamkeit, +versicherte, er habe nicht nach dem betreffenden +System getanzt, und flehte uns an, nochmals die +Schiedsrichter zu sein. Und wieder eilte er zur anderen +Wand und sprang dann zuweilen mit solchem Eifer +umher, daß er mit dem Kopf an die Stubendecke stieß, +und zwar schmerzhaft stark – aber er verwand den +Schmerz wie ein Spartaner, stand dann wieder in der +schwierigen Pose, streckte wieder mit einem Lächeln die +zitternden Arme aus und erwartete wieder unser Urteil. +Doch der Vater war unerbittlich und wiederholte +nur ebenso düster: +</p> + +<p> +„Nein, Karl Fedorytsch, das scheint nun einmal +dein Schicksal zu sein: du triffst es nicht!“ +</p> + +<p> +Dann versagte gewöhnlich meine letzte Selbstbeherrschung +und ich brach in erlösendes Lachen aus, und +der Vater desgleichen. Karl Fedorytsch, der nun endlich +den Scherz begriff, wurde rot vor Zorn und sagte +mit Tränen in den Augen und mit einem tiefen, wenn +auch komischen Gefühl, das mich später quälte, weil es +mein aufrichtiges Mitleid mit diesem armen Unglücklichen +erweckte, zum Vater gewandt: +</p> + +<p> +„Du bist ein treuloser Freund!“ +</p> + +<p> +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +Und er griff nach seinem Hut und lief von uns +fort, mit allen Schwüren schwörend, daß er nie wieder +zu uns kommen werde. +</p> + +<p> +Aber der Schatten dieses Streites pflegte nie lang +zu sein. Nach ein paar Tagen erschien er wieder bei +uns, wieder wurde das berühmte Drama gelesen, wieder +wurden Tränen vergossen und zum Schluß bat uns +der naive Karl Fedorytsch abermals, die Schiedsrichter +zwischen ihm, den Menschen und dem Schicksal zu +sein, bat flehentlich, diesmal aber wirklich im Ernst +über ihn zu urteilen, wie es sich wahren Freunden gezieme, +und nicht wieder unseren Spott mit ihm zu +treiben. +</p> + +<p> +Einmal schickte mich die Mutter in den kleinen +Laden, wo ich etwas Notwendiges kaufen sollte, und +als ich zurückkehrte, hielt ich hübsch achtsam das silberne +Kleingeld in der Hand, das man mir herausgegeben +hatte. Auf der Treppe traf ich den Vater, der +im Begriff war, auszugehen. Ich lachte ihn an, denn +ich konnte mein Gefühl der Freude nicht verbergen, +wenn ich ihn sah. Als er sich zu mir herabbeugte, um +mich zu küssen, bemerkte er das silberne Geldstück in +meiner Hand ... Ich habe noch nicht erwähnt, daß +ich jeden Ausdruck seines Gesichts so gut kannte, daß +ich seine Wünsche gewöhnlich auf den ersten Blick erriet. +Sah ich ihn bedrückt und traurig, so hätte ich vergehen +mögen vor Leid. Am niedergeschlagensten war +er, wenn er gar kein Geld hatte und sich nichts zu trinken +kaufen konnte – denn das Trinken hatte er sich +schon zur Gewohnheit gemacht. In jenem Augenblick +nun, als wir einander auf der Treppe begegneten, schien +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +es mir, daß in ihm etwas Besonderes vorgehe. Seine +trüben Augen irrten eigentümlich unruhig umher, ja, +ich glaube, im ersten Augenblick sah er mich gar nicht. +Als er aber dann das Geld in meiner Hand bemerkte, +da wurde er plötzlich rot und gleich darauf sehr bleich, +dann streckte er die Hand aus, wie um das Geld von +mir zu nehmen, zog sie aber sofort wieder zurück. Offenbar +kämpfte er mit sich. Endlich war es, als habe er +sich überwunden und er sagte, ich solle nur zur Mutter +hinaufgehen; er selbst aber ging schnell ein paar +Stufen hinab – bis er plötzlich von neuem stehen +blieb und mich zurückrief. +</p> + +<p> +Er sah sehr verlegen aus. +</p> + +<p> +„Hör mal, Njetotschka,“ sagte er hastig, „gib mir +dieses Geld, ich werde es dir zurückgeben. Nicht? Du +gibst es doch deinem Papa? Du bist doch ein gutes +Kindchen, Njetotschka?“ +</p> + +<p> +Ich hatte das fast vorausgefühlt. Aber im ersten +Augenblick ließen mich doch der Gedanke, wie böse die +Mutter sein werde, meine Ängstlichkeit und vor allem +die instinktive Scham für mich und für den Vater unwillkürlich +zögern und hielten mich davon ab, ihm das +Geld zu geben. Er bemerkte es sofort und sagte +rasch: +</p> + +<p> +„Nein, nein, nicht nötig, ist nicht nötig! ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, Papa, da, nimm! Ich werde sagen, +ich habe es verloren oder die Nachbarkinder haben es +mir fortgenommen.“ +</p> + +<p> +„Nun gut, gut; ich wußte doch, daß du ein kluges +Mädchen bist,“ sagte er. Und er lächelte mit zitternden +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +Lippen, ohne sein Entzücken zu verbergen, als er +das Geld in seiner Hand fühlte. „Du bist ein gutes +Mädchen, bist ja mein Engelchen! Gib her, ich werde +dir dein Händchen küssen!“ +</p> + +<p> +Und er griff nach meiner Hand, aber ich zog sie +schnell zurück. Ein gewisses Mitleid mit ihm bemächtigte +sich meiner und die Scham stieg in mir immer +höher und wurde qualvoll. Ich hielt es nicht aus und +lief in meinem Schreck nach oben, ohne mich nach dem +Vater weiter umzusehen, den ich stehen ließ, wo er +stand. Als ich ins Zimmer trat, glühten meine Wangen +und mein Herz schlug laut in einer quälenden, +mir bis dahin noch unbekannten Empfindung. Dennoch +sagte ich der Mutter ganz furchtlos, ich hätte das +Geld im Schnee verloren und lange gesucht, trotzdem +aber nicht wiederfinden können. Ich hatte mindestens +Schläge erwartet, doch die bekam ich nicht. Die Mutter +war anfangs allerdings außer sich, denn wir waren +damals furchtbar arm. Sie schrie mich an, aber +schon im nächsten Augenblick schien sie sich zu besinnen +und hörte auf, mich zu schelten; sie sagte nur, ich sei +ein ungeschicktes, nachlässiges Mädchen und offenbar +liebte ich sie nicht, da ich mit ihrem schwer erworbenen +Gelde so unachtsam umginge. Diese Bemerkung +betrübte mich mehr, als Schläge es vermocht hätten. +Denn meine Mutter kannte mich bereits: meine Empfindsamkeit, +die oft schon an eine krankhafte Reizbarkeit +grenzte, war von ihr nicht unbemerkt geblieben, +und so glaubte sie gerade mit diesen bitteren Vorwürfen +– wie dem, daß ich sie wohl nicht liebte – mich +mehr zu strafen und eher zu größerer Achtsamkeit erziehen +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +zu können, als mit den sonst üblichen Strafmitteln. +</p> + +<p> +In der Dämmerung, um die Zeit, wo der Vater gewöhnlich +zurückkehrte, erwartete ich ihn wie immer auf +dem Flur. Ich war in großer Verwirrung. Meine +Gefühle waren aufgepeitscht durch etwas, das auch +mein Gewissen geradezu krankhaft peinigte. Endlich +kam der Vater und ich war sehr froh über sein Kommen, +ganz als hätte ich gehofft, daß es mir dadurch +leichter werden würde. Er war heiterer Laune, aber +als er mich erblickte, nahm sein Gesicht sofort einen +geheimnisvollen, ein wenig verzerrten Ausdruck an. +Er blickte ängstlich nach unserer Tür und zog mich in +den verstecktesten Winkel, blickte wieder scheu nach der +Tür, nahm dann aus der Tasche einen von ihm gekauften +Pfefferkuchen und begann nun flüsternd, jedoch +in ermahnendem Tone mir zu erklären, daß ich +der Mutter niemals mehr Geld entwenden und es ihr +verheimlichen dürfe: das sei häßlich und eine Schande +und überhaupt sehr schlecht. Diesmal sei es nur deshalb +so gekommen, weil er das Geld gerade sehr notwendig +gebraucht habe, aber er werde es zurückgeben +und dann könne ich sagen, ich hätte das Geld wiedergefunden; +es der Mutter abzunehmen sei jedoch eine +Schande, und ich solle in Zukunft nicht einmal mehr +daran denken, so etwas wieder zu tun, er aber werde +mir, wenn ich auf ihn hörte, noch mehr solcher Pfefferkuchen +kaufen. Zum Schluß sagte er sogar, ich +möchte mit der Mutter Mitleid haben, sie sei so krank, +die Arme, und sie allein arbeite für uns alle und ernähre +uns. Ich hörte in großer Angst zu, ja ich zitterte +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +am ganzen Körper und die Tränen wollten mich +fast überwältigen. Ich war so bestürzt, daß ich kein +Wort zu sagen wußte und mich nicht von der Stelle +rührte. Endlich ging er ins Zimmer, nachdem er mir +vorher noch verboten hatte, zu weinen oder der Mutter +etwas davon zu sagen – letzteres schärfte er mir +ganz besonders ein. Wie ich bemerkte, war auch er +sehr verwirrt. Den ganzen Abend verbrachte ich wie +unter einem entsetzlichen Bann und zum erstenmal +wagte ich nicht, ihn anzusehen oder zu ihm zu gehen. +Und auch er mied sichtlich meinen Blick. Die Mutter +ging im Zimmer auf und ab und sprach vor sich hin, +wie sie es gewöhnlich in ihrer Gedankenversunkenheit +tat. An jenem Tage fühlte sie sich bedeutend schlechter +und hatte auch schon die Anzeichen von einem Anfall +zu überstehen gehabt. Kurz, infolge dieser ganzen +inneren Qual stellte sich bei mir Fieber ein. Krankhafte, +wirre Träume peinigten mich – bis ich es +schließlich nicht mehr aushielt und zu weinen anfing. +Mein Weinen weckte die Mutter; sie rief mich leise +an und fragte, ob mir etwas fehle. Ich antwortete +nicht, weinte aber noch verzweifelter. Da zündete sie +das Licht an, kam zu mir und versuchte mich zu beruhigen, +im Glauben, ein Traum habe mich erschreckt. +</p> + +<p> +„Ach, du kleines, dummes Kind!“ sagte sie, „immer +noch weinst du, wenn dir etwas träumt. Nun, schon +gut, sei ruhig!“ Und sie küßte mich und sagte, ich +solle in ihr Bett kommen und bei ihr schlafen. Aber ich +wollte nicht, denn ich wagte nicht, sie zu umarmen und +zu ihr zu gehen. Ich wand mich innerlich vor Qual. +Ich wollte ihr alles erzählen. Ich war schon im Begriff +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +anzufangen, aber da fiel mir wieder der Vater +ein und sein Verbot, und ich sagte nichts. +</p> + +<p> +„Mein armes Kindchen ... Njetotschka ...“ +hörte ich die Mutter leise sprechen, während sie mich +noch mit ihrer alten Jacke zudeckte, da sie bemerkt +hatte, daß ich wie von Schüttelfrost am ganzen Körper +zitterte, „du wirst wohl ebenso krank werden wie ich.“ +Und sie sah mich dabei so traurig an, daß ich ihren +Blick nicht ertragen konnte, krampfhaft die Augen +schloß und mich fortwandte. Ich erinnere mich nicht +mehr, daß ich einschlief, aber noch lange hörte ich im +Halbschlaf, wie die arme Mutter mich leise beruhigte, +um mich in den Schlaf zu lullen. Noch nie hatte ich +eine schwerere Qual zu erdulden gehabt. Mein Herz +krampfte sich bis zum körperlichen Schmerz zusammen. +Am nächsten Tage ward mir etwas leichter +zumut. Ich fing wieder an mit dem Vater zu +sprechen, aber ohne des Vorgefallenen zu erwähnen, +denn ich erriet, daß ihm das sehr unangenehm sein +müsse. Ich täuschte mich nicht: er war sogleich zur +Unterhaltung bereit und sofort guter Dinge, denn auch +er schien die Spannung zwischen uns als ungemütlich +empfunden zu haben, wenigstens hatte er immer ein +finsteres Gesicht gemacht, wenn unsere Blicke sich trafen. +Jetzt bemächtigte sich seiner eine seltsame Freude, +eine fast kindliche Zufriedenheit, als er mich wieder +ganz arglos und munter sah. Die Mutter ging wie +gewöhnlich bald fort und dann tat er sich keinen +Zwang mehr an. Er küßte mich so, daß ich in ein +nahezu übertriebenes Entzücken geriet und weinte und +lachte – beides zugleich. Schließlich sagte er, er wolle +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +mir etwas Schönes zeigen, das zu sehen mich sehr +freuen werde – als Belohnung dafür, daß ich ein so +kluges und gutes kleines Mädchen bin. Damit knöpfte +er seine Weste auf und nahm einen Schlüssel, den er +an einer schwarzen Schnur am Halse trug, sah mich +geheimnisvoll bedeutsam an, als wolle er in meinen +Augen das ganze Vergnügen sehen, das ich seiner Meinung +nach empfinden mußte, öffnete unseren großen +Koffer und entnahm ihm behutsam einen länglichen +schwarzen Kasten, den ich bis dahin noch niemals gesehen +hatte. Diesen Kasten berührte er mit einer gewissen +Zaghaftigkeit – überhaupt war er plötzlich +ganz verändert: das Lachen war aus seinem Gesicht +verschwunden, das nun einen wahrhaft feierlichen +Ausdruck annahm. Diesen geheimnisvollen Kasten +also öffnete er ganz behutsam und entnahm ihm einen +absonderlichen Gegenstand, den ich bis dahin auch +noch nicht gesehen hatte – ein Ding von äußerlich +recht seltsamer Form. Er nahm es gleichfalls mit +großer Vorsicht und nahezu mit Andacht in die Hand +und sagte, das sei seine Geige, sein Instrument. Hierauf +fing er an mit leiser, feierlicher Stimme zu mir +zu sprechen – und er redete sehr lange, aber ich verstand +ihn nicht. Ich behielt nur die mir bereits bekannten +Ausdrücke, daß er ein Künstler sei, daß er Talent +habe, daß er einmal auf dieser Geige spielen +werde und zu guter Letzt, daß wir dann alle reich sein +werden und daß uns schließlich irgendein großes +Glück blühen werde. Tränen traten ihm in die Augen +und rollten über seine Wangen. Ich war sehr ergriffen. +Zum Schluß küßte er seine Geige und ließ auch +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +mich sie küssen. Als er sah, daß ich sie gern näher betrachtet +hätte, führte er mich zum Bett der Mutter +und gab mir die Geige in die Hand; aber ich sah +wohl, daß er zitterte vor Angst, ich könnte sie vielleicht +irgendwie zerschlagen oder zerbrechen. Ich nahm die +Geige und berührte die Saiten, die in einem leisen +schwingenden Ton erklangen. +</p> + +<p> +„Das ist Musik!“ sagte ich, indem ich zu ihm aufsah. +</p> + +<p> +„Ja, ja, das ist Musik,“ wiederholte er, sich freudig +die Hände reibend, „du bist ein kluges Kind, bist ein +gutes Kind!“ +</p> + +<p> +Aber trotz seines Lobes und Entzückens sah ich doch, +daß er sich um seine Geige ängstigte, und da ergriff +mich gleichfalls eine Angst, – ich gab sie ihm schnell +zurück. Sie wurde mit derselben Behutsamkeit wieder +eingepackt, der Kasten verschlossen und in den Koffer +zurückgelegt; der Vater aber, der nochmals meinen +Kopf streichelte, versprach, mir jedesmal die Geige +zu zeigen, wenn ich wieder so klug, brav und gehorsam +sein würde wie jetzt. So hatte die Geige unseren gemeinsamen +Kummer vertrieben. Erst am Abend flüsterte +er mir im Fortgehen heimlich zu, ich solle nicht +vergessen, was er mir tags zuvor auf dem Treppenflur +gesagt habe. +</p> + +<p> +So wuchs ich in unserer Dachstube auf, und allmählich +steigerte sich meine Liebe, – nein, richtiger +gesagt, meine Leidenschaft, denn ich kenne kein anderes +Wort, das ein so unbezwingbares, mich selbst quälendes +Gefühl, wie ich es für den Vater empfand, +ausdrücken könnte – steigerte sich bis zu einer krankhaft +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +ausgearteten Empfindsamkeit. Ich kannte nur noch +eine einzige Lust: an ihn zu denken, von ihm zu träumen, +nur noch einen Wunsch und Willen – alles zu +tun, nur um ihm eine Freude oder sei es auch ein +noch so kleines Vergnügen zu bereiten. Wie oft erwartete +ich ihn, zitternd und blau vor Kälte, auf der zugigen +Treppe, nur um wenigstens ein paar Augenblicke +früher sein Kommen zu hören und ihn zu sehen. Streichelte +er mich, wenn er bisweilen zärtlich zu mir war, +so wurde ich ganz wirr vor Freude. Und doch peinigte +es mich oft bis zum körperlichen Schmerz, daß +ich in meinem Verhalten zu meiner armen Mutter so +hartnäckig kühl blieb. Es gab Augenblicke, wo ich +hätte vergehen mögen vor Qual und Mitleid, wenn +ich sie ansah. Bei dem ewigen Streit der Eltern konnte +ich nicht gleichmütig bleiben und unparteiisch zusehen, +ich mußte zwischen ihnen wählen und mich für einen +von ihnen entscheiden. Und so stellte ich mich denn +auf die Seite dieses halb wahnsinnigen Menschen, nur +weil er in meinen Augen so mitleiderregend, so erniedrigt +war und ganz zu Anfang einen so unauslöschlichen +Eindruck auf mich gemacht, meine Phantasie +entfesselt hatte. Doch schließlich – wer könnte das +so genau sagen, weshalb ich gerade seine Partei ergriff? +Vielleicht fühlte ich mich gerade deshalb so zu +ihm hingezogen, weil er so eigenartig war, sogar in +seiner äußeren Erscheinung eigenartig, und nicht so +ernst und unwirsch wie die Mutter, weil er fast wahnsinnig, +weil an ihm hin und wieder so etwas von +Gauklerart war, und schließlich, weil ich ihn +weniger fürchtete und sogar weniger achtete als die +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +Mutter. Er war irgendwie – mehr meinesgleichen. +Ja allmählich bemächtigte sich meiner das Gefühl, daß +ich ihm sogar überlegen sei, daß ich ihn mir unmerklich +unterwarf, und daß ich ihm unentbehrlich wurde, ja +zuweilen kokettierte ich geradezu mit ihm. In der Tat, +diese wunderliche Anhänglichkeit meinerseits erinnerte +in etwas an einen Roman ... Doch dieser Roman +sollte nicht von langer Dauer sein: ich verlor bald +meine Mutter und meinen Vater. Ihr Leben fand ein +schreckliches Ende, das sich schwer und qualvoll meiner +Erinnerung eingeprägt hat. Wie sich das zutrug, will +ich jetzt erzählen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-3"> +III. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Zu jener Zeit wurde ganz Petersburg alarmiert +durch eine große Neuigkeit: es verbreitete sich das +Gerücht von der bevorstehenden Ankunft des berühmten +S–z. Alles, was musikalisch war in Petersburg, +geriet in Aufregung. Sänger, Schauspieler, Dichter, +Maler, sämtliche Musiknarren, aber auch solche, die +niemals Musiknarren gewesen waren und mit bescheidenem +Stolz gestanden, daß sie keinen Ton von der +ganzen Musik begriffen, jagten nun alle mit wahrer +Gier nach den Billetten zu diesem Konzert. Der Saal +konnte kaum den zehnten Teil der Enthusiasten fassen, +die die Möglichkeit hatten oder sich schufen, fünfundzwanzig +Rubel Eintrittsgeld zu zahlen. Doch die europäische +Berühmtheit dieses S–z, sein lorbeerumkränztes +hohes Alter, dabei die unverwüstliche Frische seines +Talentes, sowie die Tatsache, daß er in letzter Zeit nur +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +noch äußerst selten öffentlich spielte, und ferner die +Versicherung, daß er zum letztenmal eine europäische +Konzertreise unternehme, dann aber das Spielen endgültig +aufgeben werde, erregten die Gemüter und die +Neugier der Menschen. Mit einem Wort, die Spannung +war eine ungeheuere. +</p> + +<p> +Ich erzählte bereits, daß die Ankunft jedes neuen +Violinvirtuosen, jeder auch noch so kleinen „Berühmtheit“, +auf meinen Stiefvater stets den unangenehmsten +Eindruck machte. Er war dann immer einer der ersten, +die sich beeilten, den angereisten Künstler zu hören, +um möglichst bald die Größe seiner Kunst beurteilen +zu können. Nicht selten wurde er geradezu krank, nur +dadurch, daß er das Lob anhören mußte, das irgendeinem +neuen Stern gespendet wurde, und er beruhigte +sich nicht eher, als bis er an dem Spiel des Gelobten +irgend etwas auszusetzen fand, was er dann als seine +„unmaßgebliche Meinung“ mit beißendem Spott überall, +wo er nur konnte, zum besten gab. Der arme +Wahnsinnige glaubte, daß es nur ein einziges Genie +in der ganzen Welt gäbe, nur einen einzigen Künstler, +und dieser Künstler war natürlich er selbst. Das Gerücht +nun, und alsbald die Gewißheit, daß das Weltgenie +S–z in Petersburg konzertieren werde, wirkte +auf ihn geradezu wie eine Erschütterung. Übrigens +muß ich bemerken, daß Petersburg in den letzten zehn +Jahren kein einziges größeres Talent gehört hatte, +geschweige denn ein Genie gleich S–z. Deshalb hatte +auch mein Stiefvater von dem Spiel wirklich erstrangiger +europäischer Künstler noch gar keine richtige +Vorstellung. +</p> + +<p> +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +Man hat mir erzählt, mein Vater habe sich damals +schon nach dem ersten unsicheren Gerücht wieder +hinter den Kulissen eingefunden. Er sei sehr aufgeregt +gewesen und habe sich mit größter Unruhe nach +S–z und dessen bevorstehendem Konzert erkundigt. +Da man ihn lange nicht gesehen, soll sein plötzliches +Wiederauftauchen sogar einen gewissen Effekt gemacht +haben. Jemand habe ihn reizen wollen und herausfordernd +gemeint: „Ja, mein lieber Jegor Petrowitsch, +jetzt werden Sie nicht mehr Ballettmusik zu +hören bekommen, sondern eine, die Sie nicht mehr +leben lassen wird auf Erden!“ Er soll erbleicht sein, +als er diesen Spott hörte, habe aber doch noch ruhig +geantwortet, wenn auch mit verzerrtem Lächeln: +</p> + +<p> +„Warten wir ab. Aus der Ferne hält man oft für +einen Berg, was sich in der Nähe als ein Kamel entpuppt. +Dieser S–z ist ja doch nur in Paris gewesen, +da haben eben die Franzosen seinen Ruhm ausgeschrien, +aber – nun ja, man weiß doch, was Franzosen +sind!“ usw. +</p> + +<p> +Alles lachte. Der Arme fühlte sich gekränkt, aber +er bezwang sich und fügte nur hinzu, daß er übrigens +gar nichts sagen wolle, man werde es ja bald +erleben, vorläufig müsse man abwarten, bis übermorgen +sei nicht lange, die Wunder würden schon an den +Tag kommen. +</p> + +<p> +B. erzählte mir, an demselben Tage, kurz vor der +Dämmerung, sei ihm auf der Straße Fürst H. begegnet +– ein Dilettant als ausübender Künstler, als +Mensch jedoch ein unvergleichlicher Kunstkenner und +Kunstliebhaber. Sie setzten gemeinsam ihren Weg fort, +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +sprachen natürlich auch von dem bereits eingetroffenen +großen Virtuosen, als B. plötzlich meinen Vater erblickte, +der vor dem Fenster einer Musikalienhandlung +stand und aufmerksam ein Konzertprogramm studierte, +das in großen Lettern das Konzert des berühmten +Geigenvirtuosen S–z ankündigte. +</p> + +<p> +„Sehen Sie dort diesen Menschen, der vor dem +Fenster steht?“ wandte sich B. schnell an den Fürsten. +</p> + +<p> +„Wer ist das?“ fragte der Fürst. +</p> + +<p> +„Sie haben von ihm schon gehört. Das ist derselbe +Jefimoff, von dem ich Ihnen mehrmals erzählt +habe, und der einmal durch Ihre Protektion eine Anstellung +erhielt.“ +</p> + +<p> +„Ach ja, ich entsinne mich!“ sagte der Fürst. „Sie +haben mir viel von ihm erzählt. Er soll ja sehr interessant +sein, sagt man. Könnte ich ihn nicht mal +spielen hören?“ +</p> + +<p> +„Lohnt nicht,“ versetzte B. kurz. „Und es ist auch so +niederdrückend. Das heißt, ich weiß nicht, wie es auf Sie +wirkt, aber auf mich macht es immer einen schrecklichen +Eindruck. Sein Leben ist – eine einzige entsetzliche +Tragödie. Eine Hölle. Ich habe tiefes Mitgefühl mit +ihm, wie schmutzig er auch sein mag, immer wieder +nehme ich Anteil an ihm. Sie sagten, er müsse interessant +sein. Das ist er wirklich, aber der Eindruck, +den er in einem hinterläßt, ist gar zu schmerzhaft und +schwer. Erstens ist er ein Wahnsinniger, und zweitens +hat dieser Wahnsinnige drei Verbrechen auf dem +Gewissen, denn außer seinem eigenen Leben hat er noch +zwei andere Menschenleben zugrunde gerichtet: das +seiner Frau und seiner Tochter. Wie ich ihn kenne, +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +würde es ihn auf der Stelle töten, wenn er sich von +seinem Verbrechen überzeugte. Aber das ganze Entsetzen +besteht ja gerade darin, daß er es sich nun schon +acht Jahre lang <em>fast</em> eingesteht und daß er acht Jahre +lang mit seinem Gewissen ringt, um es sich nicht nur +‚fast‘, sondern vollkommen einzugestehen.“ +</p> + +<p> +„Sie sagten, er sei arm?“ fragte der Fürst. +</p> + +<p> +„Ja; aber die Armut ist für ihn jetzt eher ein +Glück, denn sie ist in seinen Augen seine Rechtfertigung. +Solange er arm ist, kann er einem jeden versichern, +daß nur die Armut ihn zurückhalte und daß er, +wenn er reich wäre, dann auch genügend Zeit hätte, +und vor allem keine Sorgen, um zeigen zu können, +was für ein Künstler er sei. Er hat mit der sonderbaren +Hoffnung geheiratet, daß tausend Rubel, die +seine Frau damals besaß, ihm helfen würden, sein +Ziel zu erreichen. Er handelte wie ein Phantast, wie +ein Dichter, und so hat er stets gehandelt. Wissen Sie, +was er in diesen acht Jahren immer behauptet hat +und auch jetzt noch zu behaupten nicht müde wird? +– Daß die Ursache seines ganzen Elends seine Frau +sei: die hindere ihn an allem. Und er selbst tut dabei +nichts: denkt nicht einmal daran, zu arbeiten. +Nehmen Sie ihm aber diese Frau – da wäre er +der unglücklichste Mensch der Welt. Jetzt hat er schon +mehrere Jahre lang die Geige nicht angerührt – und +wissen Sie, warum nicht? Weil er jedesmal, sobald +er den Bogen in die Hand nimmt, sich innerlich +doch gestehen muß, daß er nichts ist, eine Null, aber +kein Künstler. So dagegen, wenn er den Bogen nicht +anrührt, kann er sich noch dem schönen Glauben hingeben, +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +daß es doch wieder nicht wahr sei. Er ist ein +Träumer. Er glaubt, daß er mit einemmal, wie +durch ein Wunder, plötzlich der berühmteste Mensch +der Welt sein werde. Sein Wahlspruch ist: <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">aut +Caesar, aut nihil</span>, als könnte man so einfach und in +einem Augenblick ein Cäsar werden. Sein ganzes Verlangen, +seine einzige Begierde ist – Ruhm. Wenn +aber ein solches Gefühl zum ersten und einzigen Antrieb +eines Künstlers wird, so ist der Betreffende +schon nicht mehr Künstler, da er dann den Grundtrieb +des Künstlers eingebüßt hat, nämlich die Liebe +zur Kunst einzig um der Kunst willen, und nicht aus +anderen Gründen, wie etwa, weil sie Ruhm verschafft. +Da nehmen Sie zum Beispiel diesen S–z: wenn er +den Bogen in die Hand nimmt, dann gibt es für ihn +in der ganzen Welt nichts mehr außer seiner Musik. +Nach der Musik ist für ihn das Geld die Hauptsache, +und erst an dritter Stelle, glaube ich, steht für ihn der +Ruhm. Aber er hat sich wenig um ihn gesorgt ... +Wissen Sie, was dagegen diesen Unglücklichen jetzt +am meisten beschäftigt,“ fuhr B. fort, mit einer Kopfbewegung +auf Jefimoff deutend. „Ihn beschäftigt jetzt +nur eine allerdümmste, nichtigste, ja sogar erbärmlichste +und lächerlichste Sorge, und zwar die: ist er, +Jefimoff, größer als S–z oder ist S–z größer als +er – und nichts weiter, denn er ist auch jetzt noch +überzeugt, daß er der erste Künstler der Welt sei. Versuchen +Sie ihn zu überzeugen, daß er kein Künstler +ist, und ich versichere Sie, er wird tot hinfallen – es +wäre zu schwer, zu schrecklich für ihn, auf seine +fixe Idee zu verzichten, der er schon sein ganzes +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +Leben geopfert hat und deren Grundlage immerhin +tief und ernst war, denn anfangs gehörte er wirklich +zu den Berufenen.“ +</p> + +<p> +„Dann kann das ja interessant werden, wenn er +jetzt S–z zu hören bekommt,“ bemerkte der Fürst. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte B. nachdenklich. „Doch nein: er wird +sich auch dann wieder mit sich zurechtfinden. Seine +Einbildung ist stärker als die Wahrheit, die er erfahren +könnte: deshalb würde er auch sicherlich gleich +irgendeine neue Erklärung für sie finden.“ +</p> + +<p> +„Meinen Sie?“ fragte der Fürst. +</p> + +<p> +Sie hatten sich inzwischen meinem Vater genähert. +Dieser wollte, als er sie erblickte, unbemerkt an ihnen +vorübergehen, doch B. hielt ihn auf und redete ihn +an. Er fragte ihn, ob er das Konzert des berühmten +S–z besuchen werde. Jefimoff antwortete gleichmütig, +er wisse das noch nicht, er habe da etwas vor, +was wichtiger sei als Konzerte und alle angereisten +Virtuosen: doch übrigens, er werde sehen, bestimmt +könne er es noch nicht sagen, aber wenn sich gerade +ein freies Stündchen erübrigen sollte – warum dann +schließlich nicht? – vielleicht, wie gesagt, werde er +sich die Mühe nehmen. Ein schneller, etwas unruhiger +Blick streifte B. und den Fürsten, ein mißtrauisches, +flüchtiges Lächeln, dann hob er den Hut, nickte B. zu +und ging weiter, unter dem Vorwand, daß er keine +Zeit habe. +</p> + +<p> +Doch ich wußte schon seit einem Tage um die Sorge +des Vaters. Was es nun gerade war, was ihn quälte, +das wußte ich freilich nicht, aber meiner Beobachtung +war natürlich nicht entgangen, daß er in der letzten +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +Zeit etwas auf dem Herzen hatte. Sogar die Mutter +schien dies bemerkt zu haben. Sie war in diesen Tagen +sehr krank und konnte kaum die Füße bewegen, +was ihr das Gehen fast unmöglich machte. Der Vater +kam bald nach Haus, bald ging er wieder fort. +Am Morgen erschienen bei uns drei oder vier Gäste, +seine ehemaligen Freunde, worüber ich mich sehr wunderte, +da sonst außer Karl Fedorytsch so gut wie kein +Mensch zu uns kam. Die anderen hatten ja alle schon +längst ihre Besuche bei uns eingestellt, eben seitdem +der Vater nicht mehr am Theater angestellt war. +Schließlich erschien auch noch Karl Fedorytsch ganz +außer Atem und in höchster Eile und brachte ein Konzertprogramm. +Ich hörte ihren Gesprächen zu und +beobachtete sie aufmerksam: alles das peinigte mich +so, daß ich mich gewissermaßen schuld fühlte an dieser +ganzen Aufregung und Unruhe, die ich im Gesicht des +Vaters las. Ich wollte unbedingt wissen, wollte verstehen, +wovon sie sprachen: und da hörte ich denn zum +erstenmal den Namen S–z. Aus den weiteren Gesprächen +erfuhr ich, daß man mindestens fünfzehn +Rubel zahlen mußte, wenn man diesen S–z hören +wollte. Ferner entsinne ich mich noch, wie der Vater +plötzlich irgendwie die Geduld verlor, mit der Hand +geringschätzig durch die Luft schlug und halb spöttisch +sagte, er kenne diese fremdländischen Wunder, die angeblich +unerreichbaren Größen mit ihren fabelhaften +Talenten, kenne auch diesen S–z. Das seien alles +Juden, die auf russisches Geld Jagd machten, was +ihnen hier besonders leicht fiele, da die Russen in +ihrer Einfalt sowieso schon jeden Unsinn bewunderten, +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +um wieviel mehr noch das, was der Franzose aus +Chauvinismus in den Himmel höbe, ohne beurteilen +zu können, was Talent sei und was nicht. Damals +wußte ich bereits, was das bedeutete: kein Talent haben. +Die Gäste lachten und bald gingen sie alle wieder +fort, während der Vater ganz verstimmt zurückblieb. +Ich erriet, daß er aus irgendeinem Grunde auf +diesen S–z böse war, und so trat ich, um ihm zu gefallen +und seinen Kummer zu zerstreuen, an den Tisch, +nahm das Programm, versuchte das Gedruckte zu buchstabieren +und las laut den Namen S–z. Dann lachte +ich, sah den Vater an, der in Nachdenken versunken +auf dem Stuhl saß, und sagte: „Ach, das ist gewiß +auch so einer wie Karl Fedorytsch, der wird’s auch +nie zu etwas bringen!“ Der Vater zuckte zusammen, +als hätte ich ihn erschreckt, entriß mir das Programm, +schrie mich an und trampelte mit den Füßen, ergriff +seinen Hut und wollte schon aus dem Zimmer gehen, +kehrte aber sogleich zurück und rief mich auf den Flur +hinaus. Dort küßte er mich, sagte mir, ich sei ein +gutes Kind, ein kluges Kind, und ich würde ihn deshalb +bestimmt nicht betrüben wollen, er erwarte von +mir einen großen Dienst – worin dieser aber bestehen +sollte, das sagte er nicht. Zudem bedrückte es mich, +ihn anzuhören: ich sah und fühlte, daß seine Freundlichkeit +nicht aufrichtig war – und das erschütterte +mich geradezu. Ich fing an, mich um seinetwillen zu +quälen. +</p> + +<p> +Am folgenden Tage beim Mittagessen – d. h. am +Tage vor dem Konzert – war der Vater wie zerschlagen. +Er war so ganz anders und sah immer wieder +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +nach der Mutter hin. Schließlich – ich wunderte +mich nicht wenig – fing er sogar an, mit ihr zu sprechen +(ich wunderte mich deshalb, weil er sonst fast nie +mit ihr sprach). Nach dem Essen aber ließ er es sich +plötzlich angelegen sein, um meine Gunst zu werben: +jeden Augenblick rief er mich, bald unter diesem, bald +unter jenem Vorwand auf den Treppenflur und nachdem +er sich vorher umgesehen, als hätte er gefürchtet, +daß jemand kommen könnte, streichelte und küßte er +mich, nannte mich ein gutes Kind und ein folgsames +Kind, ganz gewiß, sagte er, liebte ich meinen Papa +und deshalb würde ich auch bestimmt das tun, worum +er mich bitten werde. Alles das versetzte mich in eine +höchste Spannung, die schließlich unerträglich wurde. +Endlich, als er mich zum zehntenmal auf den Treppenflur +gerufen hatte, fand die Sache ihre Erklärung. +Mit schuldbewußter, gequälter Miene, sich fortwährend +unruhig nach allen Seiten umsehend, fragte er +mich, ob ich wisse, wo die Mutter jene fünfundzwanzig +Rubel aufbewahrte, die sie vor einem Tage nach Haus +gebracht. Ich erstarrte vor Schreck, als ich diese +Frage vernahm. Da hörten wir plötzlich ein Geräusch +auf der Treppe, der Vater erschrak, ließ mich stehen +und eilte fort. Er kam erst gegen Abend zurück, verwirrt, +betreten, niedergeschlagen und besorgt, setzte sich +schweigend auf einen Stuhl und seine Blicke suchten +nun wieder mich, ja er sah mich geradezu frohen Mutes +an. Da erfaßte mich wieder eine sonderbare Angst +und ich wich absichtlich seinem Blick aus. Als es +schon ganz dunkel geworden war, rief mich die Mutter, +die den ganzen Tag im Bett gelegen, zu sich und gab +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +mir etwas Kupfergeld, für das ich ihr aus dem kleinen +Laden ein wenig Tee und Zucker kaufen sollte. Tee +wurde bei uns sehr selten getrunken. Die Mutter erlaubte +sich diesen Luxus – denn das war er bei unseren +beschränkten Mitteln – nur dann, wenn sie sich +krank fühlte und fieberte. Ich nahm das Geld und +kaum war ich auf dem Flur, da lief ich, was ich laufen +konnte, lief in der Furcht, daß man mir nachkommen +könnte. Meine Vorahnung täuschte mich auch nicht: +der Vater holte mich auf der Straße ein und zog mich +ins Haus zurück. +</p> + +<p> +„Njetotschka!“ begann er mit unsicherer Stimme. +„Mein Täubchen! Höre: gib mir dieses Geld, ich +werde es dir gleich morgen ...“ +</p> + +<p> +„Papa! Papachen!“ rief ich flehend und zitternd +und ich warf mich vor ihm auf die Knie, um ihn zu +beschwören, „Papachen! Ich kann nicht! Ich darf +nicht! Mama ist krank, sie muß Tee trinken ... Man +kann das Geld doch nicht Mama nehmen, wirklich +nicht, glaub mir! Ein anderes Mal, nächstens werde +ich dir ...“ +</p> + +<p> +„Du willst nicht? Du willst nicht?“ flüsterte er +wie in rasender Wut. „Also du willst mich nicht mehr +lieben? Nun gut! Jetzt verlasse ich dich! Bleib denn +allein bei Mama, ich werde von euch fortgehen und +dich nehme ich nicht mit. Hörst du, böses Mädchen, +hörst du, was ich sage?“ +</p> + +<p> +„Papachen!“ rief ich entsetzt, „nimm das Geld, +nimm! Was soll ich jetzt tun?“ stammelte ich, mich an +seinen Rockschoß klammernd, „Mama wird doch weinen, +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +sie ist doch krank, sie wird mich doch wieder schelten!“ +</p> + +<p> +Ich glaube, er hatte diesen Widerstand nicht erwartet, +aber das Geld nahm er; dann – wohl in der +Furcht, meinem Jammern und Weinen nicht standhalten +zu können – verließ er mich schnell und lief auf +die Straße. Ich stieg die Treppen hinauf, aber vor +unserer Stubentür verließen mich meine Kräfte. Ich +wagte nicht, einzutreten, ich konnte nicht eintreten; +alles, was an Herz in mir war, war erschüttert und in +Aufruhr gebracht. Ich vergrub das Gesicht in den +Händen und wankte zum Fenster, wie damals, als ich +den Vater hatte sagen hören, er wünsche, die Mutter +stürbe bald. So stand ich, die Ellenbogen auf das +Fensterbrett gestützt, wie benommen und erstarrt, und +doch lauschte ich und gab acht auf jedes noch so leise +Geräusch unten auf der Treppe. Endlich hörte ich jemand +schnell heraufkommen. Das war er; ich erkannte +ihn am Gang. +</p> + +<p> +„Bist du hier?“ flüsterte er, als er mich erblickte. +</p> + +<p> +Ich warf mich ihm entgegen. +</p> + +<p> +„Da!“ stieß er rauh hervor und steckte mir das +Geld in die Hand, „nimm es! Nimm es zurück! Ich +bin jetzt nicht mehr dein Vater, hörst du? Ich will +nicht mehr dein Vater sein! Du liebst Mama mehr +als mich! So geh zu Mama! Ich will von dir nichts +mehr wissen!“ Damit stieß er mich fort und eilte wieder +die Treppe hinunter. Ich lief ihm weinend nach. +</p> + +<p> +„Papa! Papa! lieber Papa! Ich werde gehorchen!“ +rief ich schluchzend, „ich liebe dich mehr als Mama! +Nimm das Geld, behalt es! – Papa! ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +Er hörte mich nicht mehr – ich sah nur, daß er +verschwunden war. +</p> + +<p> +Diesen ganzen Abend war ich wie krank und zitterte +in Fieberschauern. Ich weiß noch, die Mutter +sagte mir irgend etwas, rief mich zu sich: ich war aber +nicht bei Besinnung, ich hörte nichts und sah nichts. +Es endete mit einem Anfall: ich fing an zu weinen, +zu schreien – Mama erschrak sehr und wußte nicht, +was sie tun sollte. Sie nahm mich zu sich ins Bett +und ich umschlang ihren Hals und schlief denn auch +allmählich ein, doch zuckte ich im Schlaf noch jeden +Augenblick zusammen oder erschrak über irgend etwas. +So verging die Nacht. Am anderen Morgen erwachte +ich erst sehr spät, als die Mutter schon fortgegangen +war. Sie ging um diese Zeit immer ihrer Arbeit nach. +Der Vater und ein Unbekannter saßen im Zimmer und +beide sprachen sehr laut. Ich konnte es kaum abwarten, +bis der Fremde endlich aufbrach, und als wir +allein waren, lief ich zum Vater und bat ihn leise, +unter Tränen, mir doch zu verzeihen. +</p> + +<p> +„Und wirst du auch wieder ein gutes Kind sein wie +früher?“ fragte er mich streng. +</p> + +<p> +„Ja, Papa, ja!“ stammelte ich. „Ich werde +dir sagen, wo Mamas Geld liegt. Sie hat es in +ihrem Kasten, in der Schatulle, dort lag es wenigstens +gestern.“ +</p> + +<p> +„Gestern? Wo?!“ rief er und sprang auf. „Wo +lag es?“ +</p> + +<p> +„Aber der Kasten ist verschlossen, Papa!“ sagte ich +schnell. „Du mußt warten, bis Mama mich am Abend +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +schickt, um das Geld zu wechseln, denn das Kupfergeld, +das habe ich gesehen, ist ausgegangen.“ +</p> + +<p> +„Ich brauche fünfzehn Rubel, Njetotschka! Hörst +du? Nur fünfzehn Rubel! Verschaff’ sie mir heute; +morgen werde ich dir alles zurückgeben. Ich werde +gleich gehen und dir Bonbons bringen, Nüsse auch +... auch eine Puppe werde ich dir kaufen ... und +morgen wieder eine ... und jeden Tag werde ich dir +Naschwerk bringen, wenn du ein gutes und folgsames +Kind sein wirst!“ +</p> + +<p> +„Ach nein, das ist nicht nötig, Papa, das ist nicht +nötig! Ich will kein Naschwerk, ich werde es nicht essen, +ich werde es dir zurückgeben!“ rief ich, während +die Tränen mich fast erstickten, denn mein Herz +krampfte sich zusammen und wollte vergehen. Ich fühlte +in diesem Augenblick, daß ich ihm nicht leid tat und +daß er mich auch gar nicht liebte, da er doch nicht sah, +wie ich ihn liebte, und sogar glauben konnte, daß ich +für Naschwerk ihm dienen werde. In diesem Augenblick +begriff ich zehnjähriges Kind ihn vollkommen, ich +durchschaute ihn ganz und gar und schon fühlte ich, +daß diese Erkenntnis mich nun für immer durchdrungen +hatte, daß ich ihn nicht mehr lieben konnte, daß +ich meinen früheren Papa für immer verloren. Er +aber war geradezu begeistert von der Aussicht, durch +mich das Geld zu bekommen. Er sah nun, daß ich für +ihn zu allem bereit war, daß ich alles für ihn tun +werde, aber nur Gott weiß es wie viel dieses „alles“ +damals für mich war. Ich wußte, was dieses Geld für +meine arme Mutter bedeutete; ich wußte, daß sie krank +werden konnte vor Aufregung und Sorge, wenn ihr +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +dieses Geld abhanden kam, und meine Reue schrie in +mir. Er aber sah nichts davon, er hielt mich immer +noch für ein dreijähriges Kind, während ich schon +alles begriff. Seine Freude kannte keine Grenzen: er +küßte mich, redete mir zu, nicht zu weinen, versprach +mir, heute noch mit mir von der Mutter fortzugehen +– wahrscheinlich um meiner in dieser Richtung unermüdlich +arbeitenden Phantasie zu schmeicheln. Schließlich +zog er aus seiner Tasche ein Konzertprogramm: +und nun erzählte er und beteuerte, daß dieser Mensch, +zu dem er am Abend gehen werde, sein Feind sei, sein +Todfeind, aber seinen Feinden werde der Anschlag gegen +ihn nicht gelingen. Er glich entschieden selber +einem Kinde, während er von seinen Feinden sprach. +Als er dann aber bemerkte, daß ich nicht wie gewöhnlich +während seiner Erzählungen lächelte, sondern +ernst und schweigend zuhörte, da nahm er seinen Hut +und ging aus dem Zimmer, da er noch irgendeinen +eiligen Gang vorhatte, wie er sagte, aber im Fortgehen +küßte er mich noch einmal und nickte mir mit einem +ungewissen Lächeln zu, als hätte er sich meiner doch +nicht ganz sicher gefühlt, und wie um der Möglichkeit +vorzubeugen, daß ich meine Absicht etwa wieder änderte. +</p> + +<p> +Ich sagte bereits, daß er wie ein Wahnsinniger +war: das fühlte ich schon am Tage vor dem Konzert. +Das Geld brauchte er, um ein Billett zu diesem Konzert +kaufen zu können – als wenn sein Vorgefühl ihm +ganz richtig die Ahnung eingegeben hätte, daß dieses +Konzert sein ganzes Schicksal entscheiden mußte! Darüber +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +verlor er so den Kopf, daß er am Vorabend das +bißchen Kupfergeld von mir nehmen wollte, als hätte +er sich schon damit das Billett verschaffen können. Noch +stärker machte sich sein seltsames Wesen bei Tisch bemerkbar, +als wir wie gewöhnlich spät am Nachmittag +zu Mittag aßen. Er konnte einfach nicht stillsitzen +und aß keinen Bissen, jeden Augenblick stand er auf +und setzte sich, wie sich besinnend, wieder hin; bald +griff er nach dem Hut, als wollte er fortgehen, bald +war er seltsam zerstreut, bald flüsterte er vor sich +hin, bald sah er plötzlich auf und suchte mich mit den +Augen, um mir dann zuzuzwinkern und verschiedene +Zeichen zu machen, vor lauter Ungeduld, endlich in den +Besitz des Geldes zu gelangen, und als ärgere er sich +über mich, daß ich es noch immer nicht der Mutter +entwendet hatte. Sogar der Mutter fiel sein fremdes +Wesen auf und sie sah ihn verwundert an. Ich aber +war wie zum Tode verurteilt. Nach dem Essen zog ich +mich in meinen Winkel zurück und zitternd vor Fieber +zählte ich die Sekunden bis zu der Zeit, wo die +Mutter mich gewöhnlich nach Kleinigkeiten in den Laden +schickte. In meinem Leben habe ich nicht qualvollere +Stunden verbracht: sie werden ewig und unverwischbar +in meiner Erinnerung stehen. Was durchfühlte +ich da nicht alles in Gedanken! Es gibt Zeitspannen +– man könnte sie mit einer Anzahl Minuten +beziffern –, wo man in seiner Erkenntnis viel mehr +erlebt, als in ganzen Jahren. Mein Gefühl wußte, daß +ich etwas Schlechtes und Häßliches zu tun im Begriff +war; er selbst hatte ja noch meine guten Instinkte bestärkt, +als er mich das erstemal kleinmütig zum +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +Schlechten verleitet, um mir dann, vielleicht erschrocken, +jedenfalls aber das Geschehene bereuend, zu erklären, +daß ich sehr schlecht gehandelt hatte. Begriff er denn +nicht, wie schwer es ist, eine Natur zu betrügen, die +begierig ist, ihre Eindrücke ganz zu erfassen und die +schon viel Schlechtes und Gutes durchfühlt und durchdacht +hat? Ich begriff doch, daß es die äußerste Not +war, die ihn bewog, mich nochmals ins Laster zu stoßen +und somit meine arme, schutzlose Kindheit zu opfern +– die ihn bewog, es nochmals zu wagen, meinem +noch ungefestigten Gewissen diesen Stoß zu versetzen. +Und während ich dort in meinem Winkel kauerte, fing +ich an, bei mir darüber nachzudenken: warum versprach +er mir noch eine Belohnung für das, was ich schon +aus eigenem freiem Willen tun wollte? Neue Empfindungen, +neue, bis dahin noch nie empfundene Triebe, +neue Fragen erhoben sich scharenweis in mir, und ich +quälte mich mit ihnen. Dann mußte ich plötzlich an die +Mutter denken. Ich stellte mir ihre Verzweiflung vor, +wenn ihr dieser mühselig erarbeitete Lohn genommen +würde. Endlich legte die Mutter die Arbeit, die sie +schon über ihre Kräfte verrichtete, aus der Hand und +rief mich. Ich erbebte und ging zu ihr. Sie nahm aus +der Kommode das Geld und indem sie es mir gab, +sagte sie: +</p> + +<p> +„Geh, Njetotschka. Nur laß dir um Gottes willen +nicht falsch zurückgeben, wie neulich, und sieh dich vor, +daß du auch nichts verlierst.“ +</p> + +<p> +Ich sah flehend zum Vater hinüber, aber er nickte +mir zu, lächelte zustimmend und rieb sich die Hände +vor Ungeduld. Die Uhr schlug sechs, das Konzert sollte +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +um acht beginnen. Auch er muß während dieses Wartens +viel erduldet haben. +</p> + +<p> +Ich blieb auf der Treppe stehen, um auf ihn zu +warten. Er war aber so aufgeregt und ungeduldig, daß +er alle Vorsicht vergaß und mir hastig und fast auf dem +Fuß folgte. Ich gab ihm das Geld: auf der Treppe +war es dunkel, sein Gesicht konnte ich nicht sehen; aber +ich fühlte, daß er am ganzen Körper zitterte, als er +das Geld empfing. Ich stand erstarrt wie im Krampf, +und rührte mich nicht vom Fleck. Ich kam erst zu mir, +als er mich nach oben schickte, um ihm seinen Hut aus +dem Zimmer zu holen. Er wollte nicht einmal mehr +hineingehen. +</p> + +<p> +„Papa! Wirst du ... denn nicht mitkommen ins +Zimmer?“ fragte ich mit versagender Stimme, mich +noch an meine letzte Hoffnung klammernd – an seinen +Beistand. +</p> + +<p> +„Nein ... du geh lieber allein ... was? Wart’ +wart’!“ rief er, sich schnell besinnend, „wart’, ich werde +dir gleich Naschwerk bringen – aber du geh nur erst +ins Zimmer und bring mir meinen Hut her.“ +</p> + +<p> +Mir war, als presse eine eiskalte Hand mein Herz +zusammen. Plötzlich – stieß ich ihn fort und eilte wie +gejagt die Treppe hinauf. Als ich ins Zimmer trat – +sah ich verstört aus, und wenn ich damals gesagt hätte, +daß man mir das Geld genommen, da hätte die Mutter +es mir wohl geglaubt. Aber ich konnte keinen Laut +hervorbringen. In einem Anfall der Verzweiflung, die +mich plötzlich wie ein Krampf packte, warf ich mich +über das Bett der Mutter und vergrub das Gesicht +in den Händen. Nach einer Weile hörte ich die Tür +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +leise kreischen und der Vater trat ins Zimmer. Er kam, +um sich seinen Hut zu holen. +</p> + +<p> +„Wo ist das Geld?!“ rief plötzlich die Mutter, die +jetzt blitzartig erriet, daß etwas Ungewöhnliches geschehen +war. „Wo ist das Geld? Sprich! Sprich!“ +Und sie riß mich vom Bett und stellte mich vor sich hin, +mitten ins Zimmer. +</p> + +<p> +Ich schwieg, den Blick zu Boden gesenkt; ich wußte +kaum, was in mir vorging und was man mit mir +tat. +</p> + +<p> +„Wo ist das Geld?!“ schrie sie mich an und plötzlich +– sah sie sich nach dem Vater um, der schon nach +dem Hut griff. „Wo ist das Geld?“ wiederholte sie. +„Ah! Dir hat sie es gegeben? Du Verruchter! Mein +Mörder du! Mein Henker! So willst du auch sie verderben! +Das Kind! sie, sie?! Nein doch! So gehst du +mir nicht fort!“ +</p> + +<p> +Und schon war sie bei der Tür, verschloß sie und +steckte den Schlüssel zu sich. +</p> + +<p> +„Sprich! Gestehe!“ wandte sie sich an mich – mit +einer Stimme, die vor Erregung kaum hörbar war, +„gestehe mir alles! So sprich doch, sprich! Oder ... +ich weiß nicht, was ich mit dir mache!“ +</p> + +<p> +Sie ergriff meine Hände und zerdrückte sie beinahe, +um mich zum Geständnis zu zwingen. Sie war außer sich +und sich gewiß nicht vollkommen bewußt dessen, was sie +tat. Ich aber schwor mir, zu schweigen, kein Wort vom +Vater zu sagen, – doch schlug ich schüchtern zum letzten +Male die Augen zu ihm auf ... Ein Blick von ihm, +nur ein Wort, irgend etwas, was ich von ihm erwartete +und worum ich bei mir im stillen betete – und +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +ich wäre glücklich gewesen trotz aller Schmerzen, trotz +jeder Folter ... Doch – mein Gott! Mit einer gefühllosen, +drohenden Geste befahl er mir, zu schweigen, +als hätte ich in diesem Augenblick noch irgendeines +anderen Drohung fürchten können. Es schnürte +mir die Kehle zu, benahm mir den Atem, meine Füße +– ich fühlte sie nicht mehr ... bewußtlos fiel ich +hin ... Der Anfall, den ich tags zuvor gehabt, wiederholte +sich. +</p> + +<p> +Ich erwachte, als plötzlich an unsere Tür geklopft +wurde. Die Mutter öffnete sie und erblickte einen Menschen +in einer Livree, der etwas zögernd ins Zimmer +trat, sich verwundert umsah und nach dem Musiker Jefimoff +fragte. Der Vater sagte, daß er derjenige sei, +den er suche. Da überreichte ihm der Diener ein Kuvert +und erklärte, Herr B., der augenblicklich beim +Fürsten H. weile, habe ihn geschickt. Das Kuvert enthielt +ein Billett zum Konzert des berühmten S–z. +</p> + +<p> +Das Erscheinen dieses Dieners in der glänzenden +Livree, dieses Abgesandten vom Fürsten H., der ihn zu +dem armen Musiker schickte – all das machte im ersten +Augenblick einen großen Eindruck auf die Mutter. Ich +sagte bereits, daß die arme Frau meinen Vater immer +noch liebte. Selbst nach ganzen acht Jahren der +Enttäuschungen, des Kummers und Leids hatte ihr +Herz sich noch nicht verändert: ja, sie konnte ihn immer +noch lieben! Weiß Gott, vielleicht sah sie nun wieder +eine Veränderung in seinem Leben bevorstehen. Sogar +der Schatten einer Hoffnung konnte sie schon beeinflussen. +Wer weiß, vielleicht hatte er sie in seiner Verschrobenheit +einfach angesteckt mit seinem unerschütterlichen +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +Selbstbewußtsein! Und es wäre doch auch gar +nicht anders möglich gewesen, als daß dieses Selbstbewußtsein +auf sie, die schwache Frau, nicht einen gewissen +Einfluß gehabt hätte – was Wunder, wenn sie +da auf diese Aufmerksamkeit des Fürsten gleich tausend +Pläne für ihn baute. Sofort war sie bereit, wieder gut +zu ihm zu sein, ihm alles zu verzeihen, die Qual der +ganzen Zeit ihres gemeinsamen Lebens, sogar diese +letzte Schandtat miteinbegriffen, – daß er ihr einziges +Kind zu opfern sich nicht scheute – war bereit, +getragen von der Flut ihrer wieder hervorbrechenden +Hoffnung, diese Schandtat als ein einfaches, kleines +Vergehen aufzufassen, als einen Kleinmut, wenn man +will, den die Armut, das elende Leben und seine verzweifelte +Lage entschuldigen konnten. So verzieh sie +ihm, und empfand in diesem Augenblick unendliches +Mitleid für den verkommenen Mann. +</p> + +<p> +Der Vater geriet in Aufregung. Auch ihn überraschte +die Aufmerksamkeit B.s und des Fürsten. Er wandte +sich ohne weiteres an die Mutter, flüsterte ihr etwas +zu und sie verließ das Zimmer. Nach etwa zwei Minuten +kehrte sie zurück, brachte das gewechselte Geld +und der Vater gab dem Diener sogleich einen Silberrubel, +worauf dieser nach einer höflichen Verbeugung +fortging. Die Mutter verließ nun wieder für einen +Augenblick das Zimmer und kehrte mit einem Bügeleisen +zurück, suchte das beste Vorhemd ihres Mannes +heraus und bügelte es auf. Sie band ihm eigenhändig +die weiße Batistkrawatte um den Hals, die sich seit +undenklichen Zeiten noch erhalten hatte samt einem +schwarzen, schon recht abgetragenen Frack, der für ihn +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +noch vor seinem Eintritt ins Orchester angefertigt worden +war. Nachdem er die Toilette beendet hatte, nahm +er den Hut, doch vor dem Fortgehen bat er noch um +ein Glas Wasser. Er war bleich und setzte sich in vollkommener +Erschöpfung auf einen Stuhl. Das Wasser +mußte ich ihm übrigens reichen – vielleicht hatte sich +schon ein feindseliges Gefühl ins Herz der Mutter geschlichen +und ihre erste Aufwallung abgekühlt? +</p> + +<p> +Dann ging der Vater. Wir waren allein. Ich zog +mich wieder in meinen Winkel zurück und von dort aus +sah ich lange schweigend auf die Mutter. Zum erstenmal +sah ich sie in einer solchen inneren Aufregung: +ihre Lippen bebten, die bleichen Wangen hatten sich +gerötet und von Zeit zu Zeit bemerkte ich an ihr nervöse +Zuckungen. Zuletzt brach ihre Qual das Schweigen +und ihr ganzes Elend drängte sich in Klagen unter +dumpfem, verzweifeltem Aufschluchzen hervor. +</p> + +<p> +„Ich, ich allein bin an allem schuld, ich Unselige!“ +klagte sie sich an. „Und was soll aus ihr werden? Was +wird aus ihr, wenn ich sterbe?“ Sie blieb plötzlich mitten +im Zimmer stehen wie getroffen durch diesen einen +Gedanken. „Njetotschka! Mein Kind! Mein armes +Kind! Du Unglückliche, du Arme!“ sagte sie, meine +Hände erfassend und mich krampfhaft umarmend. „Bei +wem lasse ich dich, wenn ich dich nun nicht mehr erziehen, +dich nicht mehr hegen und pflegen kann? Mein +armer Liebling! Oh, du verstehst mich nicht! Oder doch? +Wirst du behalten, was ich dir jetzt sage, Njetotschka? +Wirst du dich später noch dessen erinnern?“ +</p> + +<p> +„Ja, Mamachen, ja!“ beteuerte ich und faltete die +Hände, wie um es zu beschwören. +</p> + +<p> +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +Lange und fest hielt sie mich in ihren Armen, als +bangte ihr vor dem Gedanken, daß sie sich von mir +trennen mußte. Mein Herz wollte brechen. +</p> + +<p> +„Mamachen! Mama ...“ stammelte ich stockend, +denn das Schluchzen saß mir in der Kehle, „warum +... warum liebst du Papa nicht?“ Und die unterdrückten +Tränen liefen mir über die Wangen. +</p> + +<p> +Ein Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Und wieder, +von neuer Qual gepeinigt, setzte sie ihre Wanderung +durch das Zimmer fort. +</p> + +<p> +„Die Arme, die Arme! Und ich hab’ es nicht einmal +bemerkt, wie sie herangewachsen ist! Sie weiß, sie +weiß alles! Mein Gott! Und was waren das hier für +Eindrücke, welch ein Beispiel!“ Und sie rang die Hände +in ihrer Verzweiflung. +</p> + +<p> +Dann kam sie wieder zu mir und küßte mich in +wahnsinniger Liebe, küßte meine Hände, auf die ihre +Tränen fielen, bat, flehte um Verzeihung ... Ich hatte +noch nie soviel Leid, noch nie einen Menschen so vor +Leid zusammenbrechen gesehen ... Schließlich versank +sie gleichsam ermattet in stumpfes Brüten. So verging +wohl eine ganze Stunde. Endlich stand sie müde auf, +sichtlich erschöpft, und sagte mir, ich solle schlafen gehen. +Ich ging in meinen Winkel, tat wie sie geheißen, +wickelte mich fest in die Decke – aber einschlafen konnte +ich nicht. Mich quälten die Gedanken an sie und die +Gedanken an den Vater. Mit Ungeduld erwartete ich +seine Rückkehr. Entsetzen erfaßte mich bei dem Gedanken +an ihn. Ungefähr nach einer halben Stunde nahm +die Mutter das Licht und trat leise an mein Bett, um +zu sehen, ob ich schlafe. Ich schloß schnell die Augen +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +und stellte mich schlafend, damit sie sich beruhigte. Als +sie sich dann von meinem Schlaf überzeugt hatte, ging +sie leise zum Schrank, öffnete ihn und schenkte sich ein +Glas Wein ein. Sie trank und legte sich dann schlafen. +Das brennende Licht blieb auf dem Tisch und +die Tür unverschlossen, wie das immer geschah, wenn +der Vater spät nach Hause kam. +</p> + +<p> +Ich lag in halber Bewußtlosigkeit, doch kein +Schlaf schloß meine Augen. Kaum sank ich in Schlummer, +da wachte ich auch schon wieder auf, erschreckt +durch furchtbare Traumgesichte. Die Beklemmung +wuchs und wurde immer bedrückender. Ich wollte +schreien, doch der Schrei erstarb in meiner Brust. Endlich +– schon spät in der Nacht – hörte ich, wie unsere +Tür geöffnet wurde. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit +darüber verstrich, als ich aber die Augen plötzlich ganz +aufschlug, da erblickte ich den Vater. Wie es mir +schien, war er sehr bleich. Er saß auf dem Stuhl gleich +neben der Tür und war in Gedanken versunken. Im +Zimmer herrschte Totenstille. Das tropfende Talglicht +erhellte traurig unser Heim. +</p> + +<p> +Ich sah lange auf den Vater, aber er rührte sich +noch immer nicht. Er saß unbeweglich, immer in derselben +Stellung, den Kopf auf die Brust gesenkt und +die Hände starr auf die Knie gestützt. Zwei-, dreimal +wollte ich ihn anrufen, aber ich konnte es nicht. Meine +Erstarrung wich nicht von mir. Plötzlich erwachte er +gleichsam aus seiner Versunkenheit, sah auf und erhob +sich vom Stuhl. Eine Weile stand er mitten im +Zimmer – es war, als suchte er nach einem Entschluß. +Dann trat er plötzlich ans Bett der Mutter, horchte, +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +und nachdem er sich überzeugt, daß sie schlief, ging er +zum Koffer, in dem seine Geige lag. +</p> + +<p> +Er öffnete den Verschluß, nahm den schwarzen Violinkasten +und stellte ihn auf den Tisch; dann sah er +sich wieder um; sein Blick war trüb und unstet, wie +ich ihn noch nie gesehen hatte. +</p> + +<p> +Er nahm die Violine, legte sie aber gleich wieder +hin, kehrte zurück zur Tür und verschloß sie. Dann, als +er den offenstehenden Schrank bemerkte, ging er leise +hin, sah dort das Glas und den Wein stehen, schenkte +sich ein und trank. Darauf griff er zum drittenmal zur +Geige, legte sie aber zum drittenmal wieder hin und +ging nochmals zum Bett der Mutter. Starr vor Angst +erwartete ich, was nun geschehen werde. +</p> + +<p> +Er stand lange horchend, zu lange, wie mir schien. +Dann schlug er plötzlich die Decke von ihrem Gesicht +zurück und befühlte es mit der Hand. Ich zuckte zusammen. +Er beugte sich nochmals über sie, ganz tief, +sein Kopf berührte sie fast, als er sich aber zum letztenmal +aufrichtete, da glitt es wie ein Lächeln über sein +unheimlich bleiches Gesicht. Leise und behutsam breitete +er die Decke wieder über die Schlafende, bedeckte +den Kopf, die Füße ... ich aber begann zu zittern, +in einer dunklen, unklaren Angst: ich fürchtete für die +Mutter, fürchtete ihren tiefen Schlaf, mit bangem +Herzklopfen sah ich unverwandt auf diese unbewegliche +Linie der Decke, die in eckigen Umrissen über den +Gliedmaßen ihres Körpers lag ... Wie ein Blitz +durchzuckte plötzlich ein furchtbarer Gedanke mein Gehirn! +</p> + +<p> +Nachdem er alle Vorbereitungen beendet, ging er +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +wieder zum Schrank und trank den Rest des Weines +aus. Er zitterte am ganzen Körper, als er an den Tisch +trat. Man konnte ihn kaum wiedererkennen – so totenblaß +war er. Wieder nahm er die Geige. Ich hatte +sie schon gesehen und wußte, daß sie ein Instrument +zum Spielen war, aber jetzt erwartete ich von ihr +etwas Schreckliches, Unheimliches, Wunderbares ... +und ich fuhr zusammen unter ihren ersten Tönen. Der +Vater begann zu spielen. Doch die Töne sprangen seltsam +und unterbrochen durcheinander; auch hielt er jeden +Augenblick inne, wie um sich an etwas zu erinnern; +– bis er mit zerquältem Antlitz den Bogen hinlegte +und so eigentümlich auf das Bett sah. Dort schien +ihn etwas immer noch zu beunruhigen. Wieder ging er +zum Bett ... Jede seiner Bewegungen verfolgte ich +und ließ ihn nicht aus den Augen, obgleich mir das +Herz stillstand vor Angst. +</p> + +<p> +Plötzlich begann er eilig nach irgend etwas zu suchen +– und wieder durchzuckte mich jener furchtbare +Gedanke. Ich fragte mich: warum wachte sie denn nicht +auf, als er ihr Gesicht befühlte? Dann sah ich, daß +er alles zusammenschleppte, was es an Kleidern bei +uns gab: er nahm die Jacke der Mutter, seinen alten +Rock und seinen Schlafrock, sogar mein Kleid, das ich +über eine Stuhllehne geworfen hatte, und mit all dem +deckte er sie zu, so daß von ihr unter dem Kleiderhaufen +nichts mehr zu sehen war. Sie lag immer noch regungslos, +ohne ein Glied zu rühren. +</p> + +<p> +Sie schlief einen tiefen Schlaf. +</p> + +<p> +Es war mir, als atmete er freier auf, sobald auch +diese Arbeit getan war. Jetzt störte ihn nichts mehr, +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +nur irgend etwas beunruhigte ihn noch: er rückte das +Licht von seinem Platz und setzte es etwas weiter, und +sich selbst stellte er mit dem Gesicht zur Tür, um vom +Bett nichts mehr zu sehen. Dann nahm er die Geige +und wie mit einer Geste der Verzweiflung schlug er +mit dem Bogen auf die Saiten ... Die Musik begann. +</p> + +<p> +Doch das war nicht Musik ... Ich erinnere mich +deutlich jener Nacht, erinnere mich alles dessen, was +ich damals sah und hörte, und um wieviel mehr noch +dessen, was einen so erschütternd tiefen Eindruck auf +mich machte. Nein, das war nicht Musik, wie ich sie +später zu hören Gelegenheit gehabt habe! Das waren +nicht Töne einer Geige, sondern es war, als wenn zum +erstenmal in unserer dunklen Wohnung jemandes +grauenhafte Stimme donnernd erscholl. Oder waren +meine Empfindungen falsch, vielleicht krankhaft und +überreizt, oder hatte das, was ich bereits erlebt +und gesehn, meine Gefühle auf diese erschütternden +und erlösungslos qualvollen Eindrücke schon derartig +vorbereitet – gleichviel! – ich bin trotzdem fest +überzeugt, daß ich Gestöhn, eines Menschen Schreie +und Schluchzen hörte. Tiefste Verzweiflung ergoß +sich in diesen Tönen, und als es schließlich zum furchtbaren +Finale kam, in dem alles hervorbrach, was es +an schluchzendem Weh, was es an Qual in zerquälten +Herzen und an Sehnsucht in hoffnungslosem Sehnen +gibt, und als all das sich plötzlich wie zu einem einzigen +Ausdruck vereinigte ... da konnte ich es nicht +mehr aushalten – ich erbebte, Tränen entströmten +meinen Augen und mit einem verzweifelten Schrei +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +stürzte ich zum Vater und umklammerte ihn mit meinen +Armen. Er schrie auf und ließ seine Geige sinken. +</p> + +<p> +Eine Weile stand er betäubt, wie verloren. Dann +begannen seine Augen nach allen Seiten hin zu springen +und zu laufen, als suche er etwas – plötzlich erfaßte +er die Geige, holte mit ihr über meinem Kopfe +aus ... noch ein Augenblick, und er hätte mich wohl +auf der Stelle erschlagen. +</p> + +<p> +„Papa!“ schrie ich auf, „Papachen!“ +</p> + +<p> +Er erzitterte am ganzen Körper und trat taumelnd +zwei Schritte zurück. +</p> + +<p> +„Ach! Da bist ja auch du noch! So ist noch nicht +alles aus! So bist du mir noch geblieben!“ schrie er, +mich an den Schultern mit Wucht emporhebend. +</p> + +<p> +„Papachen!“ rief ich, in der Luft von ihm gehalten, +„nicht, nicht! Ich fürchte mich! Ach, bitte, nicht!“ +</p> + +<p> +Mein Weinen schien Eindruck auf ihn zu machen. +Er stellte mich vorsichtig wieder hin und sah mich eine +Weile stumm an, als erkenne er mich – und erinnere +er sich nach und nach an etwas Vergessenes. Und +plötzlich war es, als drehe ihn innerlich irgend etwas +um, als träfe ihn plötzlich ein furchtbarer Gedanke – +aus seinen trüben Augen brach ein Strom von Tränen, +und er beugte sich zu mir nieder und begann mir +aufmerksam ins Gesicht zu sehen. +</p> + +<p> +„Papachen!“ bettelte ich angstvoll, „sieh mich nicht +so an, Papachen! Laß uns von hier fortgehen! Komm +schnell! Komm, wir wollen laufen!“ +</p> + +<p> +„Ja, laufen wir, laufen wir! Es ist Zeit! gehen +wir, Njetotschka! Schnell, schnell!“ Und eine Hast +kam über ihn, als sei er erst jetzt drauf verfallen, was +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +er zu tun hatte. Geschäftig sah er sich nach allen +Seiten um, – ein Taschentuch der Mutter, das auf +dem Fußboden lag, hob er schnell auf und steckte es +zu sich, dann erblickte er noch eine Kopfbedeckung und +auch diese hob er auf und verbarg sie bei sich, als +rüste er sich zu einer weiten Reise und wolle sich nun +mit allem versorgen, was er vielleicht brauchen konnte. +</p> + +<p> +Ich zog mir im Nu mein Kleid an und begann +gleichfalls in großer Eile zusammenzuraffen, was mir +für die Reise notwendig erschien. +</p> + +<p> +„Hast du alles? hast du alles?“ fragte er, mich +zur Eile antreibend, „ist alles fertig? Dann schnell, +schnell!“ +</p> + +<p> +Ich machte eilig mein Bündel fertig, warf mir ein +Tuch um den Kopf und schon waren wir im Begriff, +das Zimmer zu verlassen, als es mir plötzlich einfiel, +daß ich ja auch noch das Bild, das an der Wand hing, +mitnehmen mußte. Der Vater war damit sogleich einverstanden. +Er war jetzt ganz still, sprach nur flüsternd +und trieb mich nur zur Eile an. So holten wir beide +einen Stuhl herbei, stellten auf ihn die Bank – und dann +erst gelang es uns, als wir endlich mit Mühe und Not +auf dieses wackelige Gestell hinaufgeturnt waren, das +Bild zu erreichen. Damit hatten wir alle Vorbereitungen +getroffen. Er nahm mich an der Hand und wir +wollten schon gehen – aber plötzlich blieb er stehen. +Er rieb sich lange die Stirn, als müsse er sich auf +irgend etwas besinnen, was wir noch vergessen hatten. +Endlich fiel es ihm ein: er suchte unter dem Kopfkissen +der Mutter nach dem Schlüsselbund, schloß die Kommode +auf und begann eilig nach etwas zu kramen und +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +zu wühlen. Endlich kehrte er zu mir zurück und brachte +mir einiges Geld, das er in der Schatulle gefunden +hatte. +</p> + +<p> +„Hier, nimm, nimm das, verwahre es,“ flüsterte +er, „verlier’s nicht, und vergiß es nicht, vergiß es +nicht!“ +</p> + +<p> +Er gab mir zuerst das Geld in die Hand, nahm +es aber wieder zurück und steckte es mir in das Leibchen. +Ich weiß noch, daß ich zusammenzuckte, als dieses +Silber meinen Körper berührte, und es war, als begriffe +ich jetzt zum erstenmal, was Geld ist. Wir waren +nun wieder fertig zum Aufbruch, doch plötzlich +hielt er mich nochmals zurück. +</p> + +<p> +„Njetotschka!“ – er dachte ersichtlich mit großer +Anstrengung nach. „Mein Kindchen, ich ... ich vergaß +... Ja was denn? ... was war’s doch? ... Ich +weiß nicht mehr ... Ja, ja richtig! da fällt’s mir ein! +... Komm her, Njetotschka!“ +</p> + +<p> +Er führte mich nach dem Winkel, wo das Heiligenbild +hing und sagte, ich solle niederknien. +</p> + +<p> +„Bete, mein Kind, bete! Es wird dir besser sein! +... Ja, wirklich, es wird besser sein,“ flüsterte er mir +zu, auf das Heiligenbild deutend, und dabei sah er +mich so seltsam an. „Bete, Njetotschka, bete, bete!“ +sagte er mit eigentümlich flehender, beschwörender +Stimme. +</p> + +<p> +Ich warf mich auf die Knie, faltete die Hände, +und, erfüllt von Entsetzen, von Verzweiflung, die sich +meiner bemächtigt hatten, schlug ich mit der Stirn auf +den Boden und lag minutenlang wie erstarrt. Ich +nahm krampfhaft alle meine Gedanken zusammen, sammelte +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +alle meine Gefühle in meinem Gebet – aber +die Angst überwältigte mich. Ich erhob mich wie gemartert +von Leid. Ich wollte nicht mehr mit ihm gehen; +ich fürchtete ihn; ich wollte dableiben. Schließlich brach +das, was mich so quälte und bedrückte, mit Gewalt aus +mir hervor. +</p> + +<p> +„Papa!“ rief ich unter strömenden Tränen, „aber +Mama? ... – Was wird mit Mama? Wo ist sie? +Wo ist meine Mama?“ ... +</p> + +<p> +Die Tränen erstickten meine Stimme, ich brachte +nichts mehr hervor. +</p> + +<p> +Auch er sah mich unter Tränen an. Dann faßte +er mich an der Hand, führte mich zum Bett, schob den +draufgeworfenen Haufen Kleider fort und schlug die +Decke zurück. Mein Gott! Sie lag tot, schon erkaltet +und erstarrt. Das Gesicht hatte bereits bläuliche Leichenfarbe. +Da warf ich mich, als wäre mir jede Empfindung +abhanden gekommen, über sie und umklammerte +ihre Leiche. Der Vater stellte mich auf die +Knie. +</p> + +<p> +„Verneige dich vor ihr, Kind!“ sagte er, „nimm +Abschied von ihr ...“ +</p> + +<p> +Ich neigte mich tief. Der Vater tat es zugleich +mit mir ... Er war unheimlich bleich; seine Lippen +bewegten sich und schienen zu flüstern. +</p> + +<p> +„<em>Ich</em> war es <em>nicht</em>, Njetotschka, <em>ich nicht</em>,“ +sagte er zu mir, mit zitternder Hand auf die Leiche +deutend. „Hörst du, <em>ich nicht</em>: <em>ich bin nicht +schuld daran</em>. Behalt das, Njetotschka.“ +</p> + +<p> +„Papa, laß uns jetzt gehen,“ flüsterte ich angstvoll. +„Es ist Zeit!“ +</p> + +<p> +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +„Ja, jetzt ist’s Zeit, schon längst Zeit!“ sagte er +schnell, faßte fest meine Hand und beeilte sich, das +Zimmer zu verlassen. „So, jetzt brechen wir auf! +Gott sei Dank, Gott sei Dank, jetzt hat alles ein Ende!“ +</p> + +<p> +Wir stiegen die Treppen hinunter. Der verschlafene +Hausknecht öffnete uns die Tür, während er uns +etwas mißtrauisch musterte und sich fragen mochte, +weshalb der Vater sich so beeilte, daß ich ihm kaum +nachkam. Wir gingen unsere Straße bis zum Ende und +gelangten auf den Kai des Kanals. In der Nacht war +Schnee gefallen, der lag weiß auf der Straße, und +es schneite auch jetzt noch in feinen Flöckchen. Es war +kalt; mich fror bis ins Mark und ich lief dem Vater +nach, mich krampfhaft an seinem Frackschoß festhaltend. +Die Geige hatte er unterm Arm und immer wieder +blieb er stehen, um das Futteral, das zurückglitt, nach +vorn zu ziehen. +</p> + +<p> +Wir gingen etwa eine Viertelstunde. Da bog er +vom Trottoir auf den abschüssigen Weg, der zum Kanal +hinabführt, und setzte sich auf den letzten Prellstein. +Zwei Schritte von uns war ein Durchgang. +Ringsum war keine Menschenseele zu sehen. Gott! +Als erlebte ich es noch in diesem Augenblick, so deutlich +erinnere ich mich jenes furchtbaren Gefühls, das +mich dort plötzlich erfaßte! Endlich also ging das in +Erfüllung, wovon ich schon ein Jahr lang geträumt: +wir hatten unser armseliges Heim verlassen ... Aber +war es denn das, was ich ersehnt, was ich erträumt +und erhofft, was meine Kinderphantasie sich aufgebaut, +wenn ich mir das Glück desjenigen, den ich so unkindlich +liebte, vorzustellen versucht hatte? Doch am meisten +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +quälte mich plötzlich der Gedanke an die Mutter. +Warum hatten wir sie verlassen? fragte ich mich, – +so ganz allein? Warum hatten wir ihren Leib wie +eine unnütze Sache dort liegen lassen? Und ich weiß +noch, das quälte und beunruhigte mich mehr als alles +andere. +</p> + +<p> +„Papachen,“ begann ich, unfähig, meine qualvolle +Sorge länger zu ertragen, „Papachen!“ +</p> + +<p> +„Was willst du?“ fragte er rauh. +</p> + +<p> +„Warum haben wir, Papa, warum haben wir +Mama dort gelassen? Warum verließen wir sie?“ +fragte ich weinend. „Papachen! Laß uns nach Haus +zurückkehren! Laß uns jemand zu ihr rufen.“ +</p> + +<p> +„Ja, ja!“ rief er plötzlich auffahrend und er erhob +sich vom Prellstein, als sei ihm etwas Neues eingefallen, +das alle seine Zweifel aufhob. „Ja, Njetotschka, +so geht das nicht: wir müssen zur Mama zurückkehren; +sie hat es dort kalt! Geh zu ihr, Njetotschka, dort ist +ein Licht, du weißt doch! Fürchte dich nicht, ruf jemand +zu ihr und dann komm wieder her zu mir. Geh +allein, ich werde dich hier erwarten ... Ich werde +nirgendwohin fortgehen ...“ +</p> + +<p> +Ich ging, aber kaum war ich wieder auf dem +Trottoir, als plötzlich ein Etwas durch mein Herz fuhr +... Jäh blickte ich mich um und da – sah ich ihn laufen, +schon auf der anderen Seite, sah ihn von mir fortlaufen! +Er verließ mich also, verließ mich in diesem +Augenblick! Ich schrie aus aller Kraft und lief ihm +in furchtbarer Angst nach. Ich war außer Atem, er +aber lief immer schneller, immer schneller ... ich verlor +ihn schon aus den Augen. Ich fand seinen Hut, +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +den er im Laufen verloren hatte. Ich hob ihn auf +und lief wieder weiter. Ich rang nach Atem und +meine Füße wollten mir versagen. Ich hatte die Empfindung, +daß etwas Schreckliches mit mir geschah: es +schien mir die ganze Zeit, daß das ein Traum sei, und +zuweilen hatte ich sogar dasselbe Gefühl wie in einem +Traum, wenn mir träumte, daß ich von irgend jemand +fortlief, meine Füße aber brechen wollten, während +meine Verfolger mich bereits erreichten – und ich +selbst jäh in einen Abgrund stürzte. Qual wollte mich +zerreißen: er tat mir so leid, mein Herz schrie nach +ihm und es wollte brechen, als ich mir vorstellte, wie +er lief, so ohne Mantel, ohne Hut, und noch dazu von +mir fort, von mir, seinem geliebten Kinde ... Ich +wollte ihn schließlich nur erreichen, um ihn noch einmal +mit meinen Armen fest zu umschlingen und ihn +zu küssen und ihm zu sagen, daß er mich nicht fürchten +solle: um ihn meiner Liebe zu versichern, ihn zu beruhigen, +um ihm zu sagen, daß ich ihm ja nicht weiter +nachlaufen wolle, wenn er das nicht wünsche, daß +ich vielmehr allein zur Mutter zurückgehen werde. Ich +sah, wie er in eine Straße einbog. Als ich gleichfalls +an diese Ecke kam und auch in die Straße einbog, +sah ich ihn noch einmal, doch weit vor mir, dahinlaufen +... Dann verließen mich meine Kräfte: ich +fing an zu weinen, zu schreien. Ich weiß noch, daß ich +während des Laufens mit zwei Männern zusammenstieß, +die mitten auf dem Trottoir stehenblieben und +verwundert uns beiden nachschauten. +</p> + +<p> +„Papa! Papachen!“ rief ich zum letztenmal, doch +plötzlich glitt ich aus auf dem Trottoir und fiel hin, +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +gerade vor dem Portal eines Hauses. Ich fühlte, wie +Blut mein ganzes Gesicht überströmte. Im nächsten +Augenblick verlor ich die Besinnung. – – – – +</p> + +<hr class="tb"> + +<p class="noindent"> +Ich erwachte in einem weichen, warmen Bett und +erblickte vor mir freundliche, liebevolle Gesichter, die +über mein Erwachen sehr froh zu sein schienen. Ich +sah eine alte kleine Frau mit einer Brille auf der +Nase, einen großen Herrn, der mit tiefem Mitleid auf +mich blickte, dann eine wunderschöne junge Dame und +zuletzt einen grauen alten Herrn, der meine Hand am +Gelenk festhielt und auf seine Uhr sah. Ich war zu einem +neuen Leben erwacht. Der eine von den beiden Männern, +die mir begegnet waren, während ich dem Vater nachlief, +war Fürst H. gewesen, und gerade vor dem Portal +seines Hauses war ich hingefallen. Als man nach +vieler Mühe endlich erfuhr, wer ich war, entschloß sich +der Fürst, der meinem Vater das Billett geschickt hatte +und nun nicht wenig bestürzt war über den seltsamen +Zufall, mich in sein Haus zu nehmen und mich zusammen +mit seinen Kindern zu erziehen. Nachforschungen +nach dem Vater ergaben, daß er irgendwo außerhalb +der Stadt angehalten und festgenommen worden war, +wobei er sich in einem Anfall von Tobsucht wie rasend +gewehrt hatte. Er wurde in die Irrenabteilung eines +Hospitals geschafft, wo er nach zwei Tagen starb. +</p> + +<p> +Er starb, weil ein solcher Tod die natürliche +Folge seines Lebens war. Er mußte so sterben, als +alles, was ihn im Leben bis dahin aufrechterhalten +hatte, mit einemmal zusammengebrochen, als es wie ein +Phantom, wie ein Traum vergangen war, wie ein körperloses +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +leeres Phantasiegebilde. Er starb, als auch +seine letzte Hoffnung verschwunden, als wie mit einem +einzigen Schlage vor seinen eigenen Augen das ganze +Werk seiner Einbildung zerspellt worden war und +ihm plötzlich alles das klar zur Erkenntnis kam, womit +er sich sein Leben lang betrogen und worauf er sich +sein Leben lang gestützt hatte. Die Wahrheit blendete +ihn mit ihrem unerträglichen Licht, und das, was +Irrtum gewesen war, wurde nun auch für ihn selbst Lüge. +An jenem Abend hörte er die Kunst eines wirklichen +Genies, das unmittelbar zu ihm von sich sprach und +das ihn zugleich auf ewig verurteilte. Mit dem letzten +Ton, der den Saiten der Geige des großen S–z +entflog, tat sich vor ihm das ganze Geheimnis der +Kunst auf, und das Genie, das ewig junge, mächtige +und echte, erdrückte ihn mit seiner Wahrheit. Als +ob alles, was ihn sein ganzes Leben lang nur in geheimen, +ungreifbaren Qualen gepeinigt, alles, was +ihn bis dahin nur wie ein Spuk geschreckt und in seinen +Träumen unfühlbar, unerhaschbar gequält hatte, +was sich ihm, wenn auch nur von Zeit zu Zeit, ins +Bewußtsein gedrängt, doch wovor er stets mit Entsetzen +geflohen war, wovor er sich hinter der Lüge +seines ganzen Lebens zu verschanzen gesucht, und alles, +was ihm sein Vorgefühl gesagt, aber was er bis dahin +nicht hatte einsehen wollen, – als ob all das plötzlich +strahlend hell vor ihm aufleuchtete und sich seinen +Augen offenbarte, die sich bis dahin so eigensinnig geweigert +hatten, das Licht als Licht anzuerkennen, und +die Finsternis als Finsternis! Doch die Wahrheit war +unerträglich für seine Augen, die zum erstenmal in all +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +das hineinsahen, was gewesen, in das, was war und in +das, was ihn erwartete: sie blendete ihn und verbrannte +seine Vernunft. Sie traf ihn jäh wie ein Blitz, +und sie zündete auch wie ein Blitz. So war denn das +geschehen, was er sein Leben lang mit Bangen und +Schauder erwartet hatte. Das Richtschwert, das +schon immer über seinem Kopf gehangen, als habe +er zeit seines Lebens in unsagbaren Qualen jeden +Augenblick erwartet, daß es auf ihn fallen werde, +– nun endlich war es wirklich gefallen! Der Schlag +war tödlich. Er wollte fliehen vor dem Gericht über +sich, aber es gab für ihn kein Wohin, denn seine letzte +Hoffnung war verschwunden, seine letzte Entschuldigung +ihm genommen. Diejenige, deren Leben so viele +Jahre auf ihm gelastet, die ihn angeblich nicht leben +ließ, die, nach deren Tode er seinem blinden Glauben +nach plötzlich aufleben, ja gewissermaßen auferstehen +würde, – die war nun tot. Jetzt war er endlich allein, +nichts bedrückte ihn mehr, nichts fesselte ihn mehr: +jetzt war er endlich frei! Da wollte er zum letztenmal +in krampfhafter Verzweiflung über sich ein Urteil fällen, +wollte wie ein unparteiischer Richter ohne Ansehen +der Person unerbittlich streng und gerecht über +sich selbst Gericht halten. Doch sein entkräfteter Bogen +war unfähig, seinen innersten musikalischen Willen +zu gestalten ... Und in dem Augenblick, in dem er das +erkannte, ergriff der Wahnsinn, der schon zehn Jahre +lang auf ihn gelauert hatte, von ihm Besitz. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-4"> +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +IV. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Meine Genesung machte nur langsame Fortschritte; +doch auch dann noch, als ich schon nicht mehr +zu Bett lag, waren meine Sinne noch lange Zeit wie +gelähmt und ich konnte nicht begreifen, was nun +eigentlich mit mir geschehen war. Es gab Augenblicke, +in denen es mir schien, daß ich träumte, und ich weiß +noch, wie sehr ich wünschte, daß alles Geschehene +wirklich nur ein Traum gewesen sein möge! Wenn ich +abends einschlief, dann hoffte ich, plötzlich wieder in +unserer ärmlichen Dachstube zu erwachen und den Vater +und die Mutter zu erblicken ... Allmählich aber +wurde mir doch meine neue Lage klarer und ich begriff +nach und nach, daß ich ganz allein zurückgeblieben +war und bei fremden Menschen lebte. Da fühlte +ich es denn zum erstenmal, daß ich eine Waise war. +</p> + +<p> +Wißbegierig begann ich, all das Neue, das mich +nun umgab, zu betrachten und zu beobachten. Anfangs +erschien mir das Ganze so seltsam und märchenhaft, +alles verwirrte mich: sowohl die neuen Gesichter +wie die neue Lebensart und die Gemächer des alten +fürstlichen Hauses, die mir noch heute so deutlich vor +Augen stehen, – so groß und hoch und prächtig, aber +auch so düster und dunkel waren sie, daß ich, ich weiß +es noch wie heute, im Ernst fürchtete, durch irgendeinen +langen, langen Saal gehen zu müssen, in dem +ich mich, wie mir schien, vollständig zu verlieren glaubte. +Meine Krankheit war noch nicht ganz überstanden und +deshalb waren auch meine Eindrücke so lastend, wie es +bei meiner Stimmung und dem Düster-Feierlichen dieses +Hauses wohl eben nicht anders sein konnte. Hinzukam, +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +daß eine mir selbst unklare Sehnsucht und Bangigkeit +in meinem kleinen Kinderherzen immer größer +wurde. Mit Verwunderung blieb ich zuweilen vor +einem Gemälde, einem Spiegel, einem Kamin von +kunstvoller Arbeit stehen, oder vor einer Statue, die +sich gleichsam nur zu dem Zweck in einer tiefen Nische +versteckt hatte, um von dort aus mich besser beobachten +zu können oder mich irgendwie zu erschrecken. – Ich +blieb stehen und dann wußte ich plötzlich selbst nicht +mehr, weshalb ich stand, was ich wollte, woran ich +dachte, und nach diesem Erwachen befiel mich immer +eine gewisse Angst und Verwirrung und mein Herz +schlug laut. +</p> + +<p> +Von den Menschen, die ich während meiner Krankheit +außer dem alten kleinen Hausarzt hin und wieder +zu sehen bekam, machte ein schon ältlicher Herr den +größten Eindruck auf mich. Er war immer ernst, aber +zugleich war er so gütig, und er konnte mich bisweilen +mit so tiefem, aufrichtigem Mitleid ansehen! Sein +Gesicht war mir bald das liebste von allen. Gern +hätte ich mit ihm gesprochen, aber ich wagte nicht anzufangen: +er sah fast immer niedergeschlagen aus, +auch sprach er wenig, meist nur ein paar Worte, und +niemals erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. Das +war der Fürst H., der mich gefunden und in seinem +Hause aufgenommen hatte. Als ich mich schon auf +dem Wege der Besserung befand, wurden seine Besuche +seltener. Und als er, wie es hieß, zum letztenmal +kam, brachte er mir Konfekt, ferner ein Kinderbuch +mit Bildern mit und küßte und bekreuzte mich und +bat mich, doch nicht mehr so traurig zu sein. Während +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +er mir tröstend zuredete, sagte er mir, daß ich bald +eine Freundin haben werde, ein kleines Mädchen wie +ich, seine Tochter Katjä, die vorläufig noch in Moskau +sei. Darauf sprach er mit einer ältlichen Französin, +der Erzieherin seiner Kinder, und mit dem mich +pflegenden Mädchen, wies auf mich und verließ uns. +Seitdem sah ich ihn ganze drei Wochen nicht. Der +Fürst lebte in seinem Hause sehr einsam. Die größere +Hälfte des Hauses bewohnte die Fürstin, doch sah sie +ihren Mann oft wochenlang nicht ein einziges Mal. +Mit der Zeit fiel es mir auf, daß auch die Dienstboten, +daß überhaupt alle Hausbewohner selten von +ihm sprachen, als hätte er gar nicht im Hause gelebt. +Alle achteten ihn und augenscheinlich liebten sie ihn +sogar, indessen schienen sie ihn doch für so etwas wie +einen Sonderling zu halten. Und es war, als wisse +auch er, daß er sehr seltsam erschien, irgendwie unähnlich +den anderen Menschen, und als vermeide er es +deshalb nach Möglichkeit, sich zu zeigen ... Ich werde +an einer anderen Stelle noch auf ihn zurückkommen +und sehr viel und recht ausführlich von ihm erzählen +müssen. +</p> + +<p> +Eines Morgens zog man mir reine, feine Wäsche +an und ein schwarzes wollenes Kleid mit weißem +Trauerbesatz – ein Kleid, auf das ich mit trauriger +Verwunderung sah; mein Haar wurde sorgfältig gebürstet, +und dann führte man mich aus den oberen +Zimmern nach unten in die Gemächer der Fürstin. +Ich stand wie gebannt, als die mich Führende schließlich +meine Hand freigab: eine solche Pracht, solch +einen Reichtum ringsum hatte ich noch nie gesehen. +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +Doch dieser Eindruck währte nur einen Augenblick und +ich erbleichte, als ich die Stimme der Fürstin vernahm, +die mich näher herantreten hieß. Schon während +des Ankleidens hatte ich gefühlt und gefürchtet, +daß mich irgendeine Qual erwartete, obschon ich selber +nicht begreife, wie ich auf diesen Gedanken kam. Überhaupt +trat ich mit einem seltsamen Mißtrauen in die +Welt meines neuen Lebens und dieses Mißtrauen +brachte ich ohne Ausnahme allem entgegen, was an +mich an Neuem herankam. +</p> + +<p> +Die Fürstin war sehr freundlich zu mir und küßte +mich. Da wagte ich denn, sie etwas weniger befangen +anzusehen. Sie war dieselbe schöne Dame, die ich +schon an meinem Bett gesehen hatte, als ich aus meiner +Bewußtlosigkeit zu mir kam. Ich küßte ihre +Hand, zitterte aber dabei doch so sehr, daß ich auf ihre +Fragen keine einzige Antwort zu geben vermochte – +ich konnte mich einfach nicht so weit sammeln. Sie +ließ mich auf einem niedrigen Taburett neben sich +hinsetzen. Ich glaube, dieser Platz war schon im voraus +für mich bestimmt. Allem Anschein nach hatte +die Fürstin nur den einen Wunsch, mich mit ganzer +Seele an sich zu schließen, mich ganz zu gewinnen und +mir vollständig die Mutter zu ersetzen. Ich dagegen +konnte nicht begreifen, daß ich bereits in ihrer Gunst +stand, durch mein Verhalten aber in ihrer Einschätzung +nichts gewann. Man gab mir ein schönes Bilderbuch +und sagte, ich solle die Bilder betrachten. Die Fürstin +selbst schrieb an einem Brief, hielt aber hin und +wieder im Schreiben inne, um verschiedene Fragen +an mich zu stellen, auf die ich jedoch nichts Gescheites +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +zu antworten wußte – ich war verwirrt, stockte, verlor +den Faden und wagte nicht, von neuem anzufangen. +Kurz, obschon mein früheres Leben ein recht ungewöhnliches +gewesen war und die größere Rolle das +Schicksal in ihm gespielt hatte, das die Wege der Eltern, +man kann wohl sagen, mystisch verbunden, und +obgleich es überhaupt viel Interessantes und Unerklärliches, +ja sogar etwas Phantastisches gehabt, so erschien +ich doch in diesem Augenblick – es wirkte ordentlich +komisch inmitten der ganzen melodramatischen +Situation, in der ich mich befand – als ein ganz gewöhnliches, +schüchternes oder eingeschüchtertes und genau +genommen sogar dummes Kind. Namentlich letzteres +gefiel der Fürstin äußerst wenig, und ich glaube, +sie hatte mich sehr bald satt, was natürlich nur meine +Schuld war. Gegen drei Uhr kamen die ersten Gäste +– es war der Empfangstag der Fürstin – und sie +war nun wieder sehr freundlich und lieb zu mir. Auf +die Fragen der Fremden nach mir, antwortete sie: oh, +das sei ein sehr interessanter Fall – und dann erzählte +sie auf französisch alles Weitere. Während ihrer Erzählung +sahen mich alle an, man schüttelte die Köpfe, +Ausrufe des Bedauerns wurden laut. Ein junger +Herr richtete seine Lorgnette auf mich und musterte +mich eingehend; ein wohlriechender alter kleiner Herr +wollte mich küssen, ich aber saß erbleichend und errötend, +mit niedergeschlagenen Augen, wagte mich +nicht zu rühren und zitterte am ganzen Körper. Mein +Herz schlug dumpf und tat mir zum Brechen weh. Ich +versetzte mich in mein früheres Leben, in unsere ärmliche +Dachkammer, ich dachte an den Vater, an unsere +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +langen, schweigsamen Abende, an die Mutter, und als +ich an die Mutter dachte – da schwammen meine +Augen plötzlich in Tränen und die Kehle war mir wie +zugeschnürt. Ach, und ich wäre so gern fortgelaufen, +verschwunden, allein geblieben ... Dann, als der +letzte Besuch gegangen war, wurde das Gesicht der +Fürstin wieder merklich strenger. Sie sah mich jetzt +nichts weniger als freundlich an, sprach trocken zu mir, +indes ihre durchdringend blickenden fast schwarzen +Augen auf mir ruhten, die bisweilen wohl eine Viertelstunde +lang auf mich gerichtet waren, und ihre fest +zusammengepreßten schmalen Lippen mich ganz besonders +einschüchterten. Am Abend wurde ich nach oben +zurückgeführt. Ich fieberte im Einschlafen, erwachte in +der Nacht aus wirren Träumen, weinte und war so +unglücklich! Am nächsten Tage aber begann wieder dasselbe +Spiel, d. h. man brachte mich wieder zur Fürstin. +Schließlich wurde es ihr langweilig, ihren Gästen von +mir zu erzählen, und den Gästen – ihr Mitleid und +Bedauern zu äußern. Überdies war ich auch noch +ein so gewöhnliches Kind, „ohne jegliche Naivität“, +wie, ich weiß noch, die Fürstin sich in einem Gespräch +mit einer älteren Dame unter vier Augen auf deren +Frage ausdrückte, ob es sie denn wirklich nicht langweile, +sich mit mir „abzugeben“? Da wurde ich denn +am Abend fortgeführt und brauchte nicht wieder zu ihr +zurückzukehren. Ich hatte meine Rolle in ihrer Gunst +ausgespielt. Übrigens durfte ich überall hingehen und +mich aufhalten wo ich wollte. Und ich konnte auch +nicht stillsitzen: eine tiefe, krankhafte Unruhe, die wohl +aus dem Heimweh und einer unbestimmten Sehnsucht +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +irgendwohin entstand, peinigte mich und ich war froh, +wenn ich endlich von allen fortgehen konnte, nach unten +in die großen Räume. Ich weiß noch, ich hätte so +gern mit den Dienstboten gesprochen, aber ich fürchtete, +sie könnten böse werden, und so schwieg ich lieber +und blieb einsam. Mein liebster Zeitvertreib war: +mich irgendwo in einem Winkel zu verstecken, wo es +möglichst unauffällig war – hinter einem Stuhl oder +einem anderen Gegenstand, der mich vollständig verbarg +– und mich dann dort gleich in die Erinnerung +zu versenken und über alles, was mit mir geschehen +war, nachzudenken. Doch sonderbar! – Das Ende +meines Zusammenseins mit den Eltern, diese furchtbaren +letzten Tage unseres gemeinsamen Lebens, die +hatte ich wie vergessen, wenigstens als lebendige Vorgänge +lebten sie nicht mehr in mir. Freilich wußte ich +noch alles – entsann mich der Nacht und der Geige +und des Vaters, ich wußte, wie ich ihm das Geld verschafft +hatte; aber alle diese Vorgänge, sagen wir, begreifen, +sie mir erklären – das konnte ich nicht ... +Es wurde mir nur noch schwerer ums Herz, und wenn +ich in der Erinnerung zu jenem Augenblick gelangte, +in dem der Vater mich vor der toten Mutter niederknien +hieß, dann erschauerte ich plötzlich vor Kälte. Ich +zitterte und hätte schreien mögen. Das Atmen wurde +mir schwer, so eng wurde mir die Brust und so laut +pochte mein Herz, daß ich schließlich erschrocken aus +meinem Winkel hinausstrebte und wieder nach oben +lief. Übrigens – ich sagte, daß man mich allein ließ, +doch ist das nicht ganz wörtlich zu nehmen: ich wurde +die ganze Zeit mit peinlicher Gewissenhaftigkeit beaufsichtigt, +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +denn der Fürst hatte es so angeordnet, daß +man mir volle Freiheit geben, jedoch mich gleichzeitig +nie aus den Augen lassen solle. Es fiel mir auf, daß +von Zeit zu Zeit jemand von den Dienstboten oder +von den anderen, die im Hause lebten, in das Zimmer +sah, wo ich mich gerade aufhielt, und dann wieder +fortging, ohne mir ein Wort zu sagen. Diese Aufmerksamkeit +wunderte mich und zum Teil beängstigte +sie mich sogar. Ich begriff nicht, warum man das tat. +So dachte ich mir denn, man wolle mich zu irgendeinem +Zweck aufbewahren und dann später Gott weiß +was mit mir angeben. Ich weiß noch, deshalb wollte +ich auch das Haus immer weiter durchsuchen, um +ein Versteck auszukundschaften, in dem ich mich im +Notfall verbergen konnte. +</p> + +<p> +So verirrte ich mich einmal und kam ganz unvermutet +ins Treppenhaus. Da war alles aus weißem +Marmor, die Treppe selbst mit Läufern bedeckt und +mit Blumen und Vasen geschmückt. Auf jedem Absatz +der Treppe saßen je zwei große Menschen, die sehr +bunt gekleidet waren, in Handschuhen und blendend +weißen Halsbinden. Ich sah sie in höchster Verwunderung +an und konnte trotz eifrigen Nachdenkens nicht +begreifen, warum sie dort saßen, schwiegen und nur +einander ansahen, sonst aber nichts taten. +</p> + +<p> +An diesen einsamen Streifzügen durch das fürstliche +Palais fand ich mit der Zeit immer mehr Gefallen. +Aber es gab da noch einen anderen Grund, +weshalb ich so gern aus den oberen Zimmern fortlief. +Dort oben lebte eine alte Tante des Fürsten, ein altes +Fräulein, das so gut wie nie das Haus, ja fast nicht +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +einmal ihre Zimmer verließ. Diese alte Dame war +womöglich die wichtigste Person im Hause und ich +fürchtete sie sehr. Im Verkehr mit ihr beobachteten alle +eine geradezu feierliche Etikette und sogar die Fürstin, +die so stolz und selbstbewußt auf alle herabsah, +mußte genau zweimal wöchentlich, an bestimmten Tagen, +der Tante persönlich ihren Besuch machen. Sie +kam gewöhnlich vormittags; es entspann sich ein trockenes +Gespräch, das häufig von feierlichem Schweigen +unterbrochen wurde, während die Alte ein Gebet flüsterte +oder den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten +ließ. Der Besuch dauerte so lange, wie die Tante es +gerade für gut befand: sie erhob sich dann von ihrem +Platz und küßte die Fürstin auf den Mund, womit sie +zu verstehen gab, daß die Fürstin sie nun verlassen +konnte. Anfangs hatte die Fürstin diese Tante sogar +jeden Tag besuchen müssen, doch war in der Folge auf +Wunsch der alten Dame eine Änderung und Erleichterung +erfolgt: und zwar brauchte die Fürstin hinfort an den +übrigen fünf Tagen der Woche nicht mehr persönlich +zu erscheinen, sondern mußte sich nur an jedem Morgen +durch einen Diener nach dem Befinden des alten +fürstlichen Fräuleins erkundigen. Überhaupt verbrachte +sie ihr Leben fast wie in einer Klosterzelle. Mit +fünfunddreißig Jahren hatte sie sich auch wirklich einmal +in ein Kloster zurückgezogen und siebzehn Jahre +daselbst verlebt, jedoch nicht den Schleier genommen. +Dann hatte sie das Kloster wieder verlassen und war +nach Moskau gezogen, um bei ihrer Schwester, einer +verwitweten Gräfin L., deren Gesundheit mit jedem +Jahr mehr zu wünschen übrigließ, zu wohnen und sich +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +auch mit der älteren Schwester, einer gleichfalls unverheirateten +Fürstin H., zu versöhnen, nachdem sie +etwa zwanzig Jahre lang in Feindschaft mit ihr gelebt +hatte. Man sagt aber, die drei alten Damen sollen +keinen Tag in Eintracht verbracht haben, tausendmal +seien sie schon im Begriff gewesen, auseinanderzugehen, +was sie dann aber doch nicht taten, da schließlich +eine jede von ihnen den beiden anderen unentbehrlich +geworden war, eben weil die Streitigkeiten +die Langeweile und damit die trüben Stunden des Alterns +verscheuchten. Doch ungeachtet dieses ihres wenig +anziehenden Lebens und des feierlichen Stumpfsinns, +der in ihrem Moskauer Palais herrschte, hielt +es doch die ganze Moskauer Gesellschaft für ihre +Pflicht, die Besuche bei den drei alten Damen fortzusetzen. +Man sah in ihnen einfach die Hüterinnen aller +aristokratischen Überlieferungen und Gesetze des alten +Bojarentums. Die Gräfin soll übrigens eine prächtige +Frau gewesen sein, wenigstens lebte sie noch nach +ihrem Tode in vielen guten Erinnerungen fort. Petersburger, +die nach Moskau kamen, machten bei ihnen +ihre ersten Besuche. Wer in ihrem Hause empfangen +wurde, der wurde überall empfangen. Nach dem Tode +der Gräfin trennten sich die unverheirateten Schwestern: +die ältere blieb in Moskau und trat dort ihren +Teil von der Hinterlassenschaft der kinderlosen Gräfin +an, und die jüngere, die zeitweilige Klosterfrau, +siedelte nach Petersburg zu ihrem Neffen, dem Fürsten +H., über. Dafür mußten die beiden Kinder des +Fürsten, Katjä und Alexander, nach dem Tode der +Gräfin in Moskau bei der Großtante bleiben, zu +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +ihrer Zerstreuung und zu ihrem Trost in der Einsamkeit. +Die Fürstin, die ihre Kinder leidenschaftlich +liebte, durfte kein Wort dawider reden und mußte für +die ganze Zeit der Trauer auf ihre Kinder verzichten. +Ich vergaß zu sagen, daß das ganze Haus noch Trauer +trug als ich hinkam, aber die Frist nahte sich schon +ihrem Ende. +</p> + +<p> +Die alte kleine Dame kleidete sich nur in Schwarz +und die Kleider waren alle von gewöhnlichem schwarzem +Wollenstoff. Dazu trug sie fein gefältelte und gesteifte +weiße Krägelchen, die ihr das Aussehen einer +Stiftsdame verliehen. Der Rosenkranz kam nie aus +ihrer Hand, und feierlich fuhr sie regelmäßig zum +Morgengottesdienst, fastete nahezu täglich, empfing +verschiedene höhere Geistliche und andere ehrbare Personen +und las in frommen Büchern. Sie führte, mit +einem Wort, ein richtiges Klosterleben. Deshalb +herrschte auch in den oberen Zimmern eine unheimliche +Stille; nicht einmal eine Tür durfte kreischen: die +Alte hatte ein Gehör wie eine fünfzehnjährige und ließ +sogleich nach der Ursache des geringsten Geräusches +fragen. Deshalb sprachen dort alle nur flüsternd und +schlichen auf den Fußspitzen, ja die arme Französin, +auch ein altes Dämchen, mußte sogar auf ihr geliebtes +Schuhwerk verzichten – auf Stiefel mit hohen +Absätzen! Denn: Absätze waren verpönt. Zwei Wochen +nach meiner Aufnahme im Hause, ließ die alte +Dame sich plötzlich nach mir erkundigen: wer ich sei, +was ich tue, wie ich ins Haus gekommen usw., usw. +Ihre Wißbegier wurde sogleich mit größter Diensteifrigkeit +befriedigt. Darauf erschien der zweite Abgesandte +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +bei der Französin, um zu fragen, warum die +Prinzessin mich bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen +habe. Da war die Aufregung groß: mir wurde +schnell das Haar gekämmt, wurden Gesicht und Hände +gewaschen, obschon sie ganz rein waren, man zeigte mir, +wie ich mich verbeugen, wie ich die Hand küssen mußte, +auch sollte ich freundlich dreinschauen und munter sprechen +– kurz, man brachte mich vollständig aus dem +Gleichgewicht. Darauf machte sich von uns aus eine +Abgesandte auf den Weg, um die Prinzessin zu fragen, +ob sie nicht das Waisenkindchen zu sehen wünsche? +Die Antwort lautete zunächst verneinend, doch gab sie +dann eine andere Stunde an: man solle mich am nächsten +Tage nach der Morgenandacht zu ihr bringen. Ich +schlief die ganze Nacht nicht und man sagte mir später, +ich hätte viel phantasiert, wohl weil ich im Traum +schon zu ihr gegangen sei, denn ich habe sie aus Gott +weiß welchem Grunde immer wieder um Verzeihung +gebeten. Endlich erfolgte meine Vorstellung. Ich erblickte +eine hagere, kleine Dame, die auf einem riesengroßen +Lehnstuhle saß. Sie nickte mir zu und setzte sich +die Brille auf, um mich besser betrachten zu können. +Ich weiß noch, daß ich ihr gar nicht gefiel. Sie machte +die Bemerkung, ich sei ganz verwildert, verstände weder +die Hand zu küssen, noch zu knixen. Es folgten Fragen, +auf die ich keine Silbe zu antworten wußte; als +sie mich aber nach meinen Eltern zu fragen anfing, da +begann ich zu weinen. Das war der alten Dame sehr +unangenehm. Übrigens versuchte sie mich zu trösten +und sagte mir, ich solle auf Gott vertrauen. Darauf +fragte sie, wann ich zum letztenmal in der Kirche gewesen +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +sei, und da ich ihre Frage kaum verstand – +denn in der Beziehung wußte ich noch so gut wie +nichts – geriet sie in Entsetzen über meine bisherige +Erziehung. Sie ließ die Fürstin zu sich bitten. Es +folgte eine ernste Beratung, die damit endete, daß man +beschloß, mich sogleich am nächsten Sonntag in die +Kirche zu führen. Bis dahin wollte die alte Dame für +mich beten. Zugleich sagte sie, man solle mich wegbringen, +ich hätte einen sehr ungünstigen Eindruck auf +sie gemacht. Das war freilich kein Wunder, anders +hätte es wohl gar nicht sein können. Aber ihr Mißfallen +war doch schon mehr als augenscheinlich. Am +selben Tage noch ließ sie sagen, ich sei zu unartig, +man höre mich im ganzen Hause – während ich die Zeit +über mäuschenstill gesessen hatte. Natürlich hatte es +der alten Dame nur so geschienen. Indes erfolgte diese +Bemerkung auch am nächsten Tage. Zum Unglück ließ +ich noch eine Tasse fallen, die auf dem Parkett zerschlug. +Darüber gerieten die Französin und alle Dienerinnen +fast außer sich, und ich wurde sogleich ins entlegenste +Zimmer gebracht, wohin mir alle händeringend +und kopfschüttelnd folgten. +</p> + +<p> +Ich erinnere mich nicht mehr, wie die Sache schließlich +auslief. Jedenfalls lag hier der andere Grund, +weshalb ich mich so viel lieber unten in den großen +Räumen aufhielt, denn dort, das wußte ich, beunruhigte +ich keinen Menschen. +</p> + +<p> +Einmal saß ich unten in einem Saal ganz allein. +Ich saß, das Gesicht wieder in den Händen vergraben, +den Kopf gesenkt, und rührte mich nicht. Ich weiß +nicht, wie viele Stunden darüber vergingen. Ich dachte +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +und dachte vergeblich, denn mein junger unreifer Verstand +konnte meinen Gram nicht bewältigen und es +wurde mir immer schwerer ums Herz und mein Kummer +wurde immer größer. Da vernahm ich plötzlich +eine leise Stimme über mir: +</p> + +<p> +„Was fehlt dir, meine Arme?“ +</p> + +<p> +Ich sah auf: es war der Fürst. Aus seinem gütigen +Gesicht sprach soviel tiefes Mitleid, so aufrichtige +Teilnahme! Aber ich sah ihn so unglücklich, so traurig +an, daß seine großen blauen Augen feucht wurden. +</p> + +<p> +„Arme kleine Waise!“ sagte er leise und streichelte +meinen Kopf. +</p> + +<p> +„Nein, nein, nicht Waise! Nein!“ stammelte ich – +und ich stöhnte, denn alles erhob sich in mir und ich +wollte mich gleichsam losringen von etwas Ungreifbarem, +das mich zu umklammern drohte. Ich glitt vom +Stuhl, hielt seine Hand umfaßt, küßte sie, daß meine +Tränen sie benetzten, und wiederholte nur flehend: +</p> + +<p> +„Nein, nein, nicht Waise! Nicht!“ +</p> + +<p> +„Mein Kind, – was hast du nur, meine arme +Kleine? Was fehlt dir, Njetotschka?“ +</p> + +<p> +„Wo ist Mama? Wo ist meine Mama?“ rief ich +laut weinend, unfähig, meinen Kummer noch länger +zu verbergen – und kraftlos sank ich vor ihm auf die +Knie. „Wo ist meine Mama? Sag’ mir, wo ist meine +Mama?“ +</p> + +<p> +„Verzeih mir, mein Kind! ... Ach, du arme Kleine, +da habe ich sie daran erinnert ... Mein Gott, was +habe ich getan! Komm, komm mit mir, Njetotschka, +komm!“ +</p> + +<p> +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +Er faßte mich an der Hand und führte mich mit +sich fort. Er war sichtlich erschüttert. Wir gelangten +in einen Raum, in dem ich noch nie gewesen war. +</p> + +<p> +Es war das Betzimmer. Draußen herrschte bereits +Dämmerung. Im Licht der Lämpchen strahlten +hell die goldenen Einfassungen und die Edelsteine der +Heiligenbilder. Aus all diesem Glanz und Gold schauten +dunkel und matt die Antlitze der Heiligen. Alles +erinnerte hier so wenig an die anderen Zimmer, war +so unähnlich dem, was ich bis dahin überhaupt gesehen +hatte, war so geheimnisvoll und ernst, daß ich +bestürzt stillstand und der Schreck sich meines Herzens +bemächtigte. Meine Nerven waren ja ohnehin schon +in krankhafter Erregung. +</p> + +<p> +Der Fürst ließ mich vor dem Muttergottesbilde +niederknien und blieb neben mir stehen. +</p> + +<p> +„Bete, Kind, bete hier; oder laß uns gemeinsam +beten,“ sagte er mit leiser, stockender Stimme. +</p> + +<p> +Doch ich konnte nicht beten: ich war zu bestürzt, zu +erschrocken – mir fielen die Worte des Vaters ein, +in jener letzten Nacht, an der Leiche der Mutter, und +ich bekam einen neuen Nervenanfall. Ich mußte wieder +das Bett hüten, und während dieser zweiten Periode +meiner Krankheit wäre ich fast gestorben. Die +Ursache dieser Verschlimmerung war folgende: +</p> + +<p> +Eines Morgens schlug ein bekannter Name an +mein Ohr: S–z. Eines von den Dienstmädchen hatte +den Namen an meinem Bett genannt. Ich fuhr zusammen: +die Erinnerungen stürzten über mich, und +sinnend, träumend und mich quälend lag ich in Fieberphantasien, +ich weiß nicht wie viele Stunden. Als ich +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +erwachte, mußte es schon sehr spät sein: im Zimmer +war es dunkel. Die Nachtlampe war erloschen, das +Mädchen, das im Zimmer gesessen hatte, war nicht da. +Plötzlich hörte ich ferne Musik. Bisweilen verstummten +die Töne ganz, dann aber wurden sie wieder deutlicher +und deutlicher, als näherten sie sich mir. Ich weiß +nicht, welch ein Gefühl sich meiner bemächtigte, noch +welch eine Absicht in meinem fiebernden Kopf plötzlich +entstand. Ich erhob mich, stieg aus dem Bett – +woher ich die Kraft dazu nahm, weiß ich nicht – zog +mir schnell mein Trauerkleidchen an und verließ tastend +das Zimmer. Im zweiten und dritten Zimmer traf ich +auch keinen Menschen. Endlich erreichte ich den Korridor. +Die Musik wurde lauter und lauter. In der +Mitte des Korridors war die Treppe; auf diesem Wege +hatte ich mich immer nach unten in die großen Säle +geschlichen. Die Treppe war hell erleuchtet; unten +hörte ich Schritte. Ich verbarg mich in einem Winkel, +um nicht gesehen zu werden, und bei der ersten +Möglichkeit schlich ich nach unten in den großen Korridor. +Die Musik tönte aus dem angrenzenden großen +Saal; von dorther kam auch Geräusch und ein Stimmengewirr, +als hätten sich an tausend Menschen dort +versammelt. Die große Tür, die aus dem Korridor +in den Saal führte, war verhängt mit doppelten purpurroten +Sammetportieren. Ich hob die erste auf, die +auf der Korridorseite hing, und stellte mich zwischen +beide Portieren. Mein Herz schlug so stark, daß ich +mich kaum auf den Füßen hielt. Nach ein paar Minuten +hatte ich meine Aufregung so weit bezwungen, daß +ich schon wagte, den Rand der anderen Portiere, die +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +an der Saalseite der Tür hing, ein wenig umzubiegen +... Mein Gott! Dieser riesengroße düstere Saal, den +am Tage zu betreten ich mich kaum getraut hatte, +flimmerte jetzt im Licht von tausend Kerzen. Wie ein +Meer von Licht strahlte es mir entgegen, so daß meine +Augen, die sich an das Dunkel gewöhnt hatten, im ersten +Moment bis zum Schmerz geblendet waren. Aromatische +Luft schlug mir wie ein heißer duftender Wind +entgegen. Eine Unmenge Menschen wogte dort durcheinander +und alle sahen, wie mir schien, froh, heiter, +glücklich aus. Die Damen hatten so schöne, so helle +Toiletten, überall sah ich vor Vergnügen leuchtende +Augen. Ich stand wie bezaubert. Doch war es mir, +als hätte ich das alles schon irgendwo, irgendwann +wie im Traum gesehen ... Mir fielen die Stunden +der Dämmerung ein, unsere Dachstube, das hohe Fenster, +tief unten die Straße mit den strahlenden Laternen, +die Fenster des gegenüberliegenden Hauses mit +den roten Vorhängen, die Equipagen vor dem Portal, +der Hufschlag und das Schnaufen der stolzen Pferde, +das Rufen und Durcheinander auf der Straße, die +Schattenbilder hinter den Fenstern auf den leuchtend +roten seidenen Vorhängen, und dazu eine gedämpfte +ferne Musik ... Also hier war dieses Paradies! fuhr +es mir durch den Sinn, hierher also wollte ich mit dem +armen Vater gehen ... So war denn das alles kein +Traum? ... Ja, ich hatte das alles in meinen Träumen +schon gesehen! ... Hellauf lohte meine Phantasie, +deren Feuer von der Krankheit bereits doppelt geschürt +sein mochte, und Tränen einer geradezu schrankenlosen +Seligkeit rollten mir über die Wangen. Ich +<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> +suchte mit den Augen den Vater in dieser Gesellschaft: +„der muß hier sein, er ist gewiß hier,“ dachte ich und +mein Herz schlug so vor Erwartung und Spannung, +daß mir der Atem stockte ... Die Musik verstummte, +doch gleich darauf erhob sich ein großes Getöse, und +dann ging es durch den ganzen Saal wie ein Geflüster. +Ich betrachtete voll Neugier und Unruhe die Gesichter, +die ich sehen konnte, und bemühte mich, jemanden zu +erkennen. Plötzlich ging eine neue große Erregung +durch den Saal. Ich erblickte auf einer Erhöhung +einen großen, hageren Greis. Sein bleiches Gesicht +lächelte, er verbeugte sich etwas steif und grüßte nach +allen Seiten. In der Hand hatte er eine Geige. Tiefes +Schweigen trat ein, es war, als hielten alle den +Atem an, alle sahen auf den Greis, alle schienen etwas +zu erwarten. Da nahm er die Geige, hob den Arm +und berührte mit dem Bogen die Saiten. Die Musik +begann, und ich fühlte, wie etwas mir das Herz zusammenpreßte. +Mit einem Gefühl von unsagbarer Angst +und mit zurückgehaltenem Atem horchte ich auf diese +Töne: etwas Bekanntes erklang in meinen Ohren, als +hätte ich das schon irgendwo gehört: – und wie eine +Vorahnung stieg es in mir auf, wie eine Erwartung +von etwas Furchtbarem, etwas Entsetzlichem, das sich +auch in meinem Herzen entscheiden sollte. Schon klang +die Geige lauter, schneller und greller folgten die +Töne. Da klang es bereits wie eines Menschen Gestöhn, +darauf wie klagendes Schluchzen, wie jemandes +vergebliches Flehen, doch die Menge blieb stumm, +während die Töne über sie hinklangen – dann stöhnten +sie auf und versagten wie in Verzweiflung. Immer +<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> +bekannter, immer bekannter wurde mir etwas im +Herzen. Aber das Herz weigerte sich noch, daran zu +glauben ... Ich biß die Zähne zusammen, um nicht +aufzustöhnen vor Schmerz, ich klammerte mich an die +Portiere, um nicht hinzufallen ... Ich schloß die +Augen, und schlug sie plötzlich wieder auf: ich glaubte +nichts anderes, als daß es ein Traum sei, aus dem ich +in einem furchtbaren, mir aber schon bekannten Augenblick +erwachen werde, und ich sah wie im Traum +wieder jene letzte Nacht, ich hörte dieselben Töne ... +Ich schlug wieder die Augen auf, um mich zu überzeugen +– sah die Menschenmenge ... Nein, das waren +andere Menschen, andere Gesichter ... Und doch +war es mir, als ob alle ganz wie ich etwas erwarteten, +ganz wie ich sich in tiefer Sehnsucht quälten, wie +ich diesen Tönen der Verzweiflung entgegenschreien +wollten: doch aufzuhören, nicht ihre Seelen zu zerreißen +– aber das zitternde Beschwören und Flehen der +Töne wurde nur noch herzzerreißender, verzweifelter +und haltloser ... bis plötzlich der letzte furchtbare, +rasende Schrei ertönte und mir fast die Sinne nahm +... Kein Zweifel! das war derselbe, derselbe Schrei! +Ich erkannte ihn, ich hatte ihn schon einmal gehört, wie +damals in jener Nacht durchbohrte er mich. „Der +Vater! der Vater!“ durchzuckte es mich wie ein Blitz, +„er ist hier, das ist er, er ruft mich, das ist seine +Geige!“ Und wie ein Stöhnen erhob es sich aus +dieser Menschenmasse, ohrenbetäubendes Getöse erschütterte +den Saal. Lautes, verzweifeltes Weinen +brach aus meiner Brust. Ich hielt es nicht mehr aus, +ich schlug die Portiere zurück und stürzte in den Saal. +</p> + +<p> +<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> +„Papa! Papa! das bist du! Wo bist du?“ rief +ich wie von Sinnen. +</p> + +<p> +Ich weiß nicht, wie ich zu ihm hinkam: man ließ +mich durch, man trat vor mir auseinander, und ich +warf mich mit einem gequälten Schrei ihm entgegen +– ich glaubte, den Vater zu umarmen ... Plötzlich +sah ich, daß mich jemandes lange, hagere Hände erfaßten +und hoch in die Luft hoben. Jemandes schwarze +Augen sahen mich an und schienen mich verbrennen zu +wollen mit ihrem Feuer. Ich starrte ihn an: „Nein! +Das ist nicht der Vater! Das ist sein Mörder!“ fuhr +es mir durch den Sinn. Da geriet ich so außer mir, +eine so rasende Verzweiflung erfaßte mich – und +plötzlich schien es mir, daß über mir ein Lachen erklang +und dieses Lachen vom ganzen Saal widerhallte, +wie ein einziger brausender Beifall ... Ich +verlor das Bewußtsein. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-5"> +V. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Das war die zweite und letzte Periode meiner +Krankheit. +</p> + +<p> +Als ich wieder zu Bewußtsein erwachte, erblickte +ich das Gesicht eines Kindes vor mir, eines Mädchens +von ungefähr meinem Alter, und unwillkürlich +streckte ich ihr die Hände entgegen. Schon der erste +Blick auf diese Altersgenossin hatte meine Seele wie +mit einem Glücksgefühl, wie mit einer süßen Vorahnung +erfüllt. Es war ein ideal schönes Gesichtchen, +eine geradezu ergreifende, eine strahlende Schönheit +– von jener Schönheit, vor der man plötzlich stehen +<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> +bleibt, wie durchbohrt in süßer Verwirrung, wie erschrocken +vor Entzücken, und der man dankbar ist allein +schon für ihr Vorhandensein, dafür, daß unsere Augen +sie schauen dürfen, und daß sie uns begegnet ist. Es war +die Tochter des Fürsten, Katjä, die während meiner +Krankheit aus Moskau zurückgekehrt war. Sie lächelte +mir zu, als sie meine unwillkürliche Bewegung sah, +und meine geschwächten Nerven erbebten bei diesem +Lächeln in süßem Entzücken. +</p> + +<p> +Die kleine Prinzeß rief sogleich ihren Vater, der +keine zwei Schritte vom Bett mit dem Arzt sprach. +</p> + +<p> +„Nun, gottlob! Endlich! Nun, Gott sei Dank!“ +rief der Fürst, meine Hand erfassend, und sein Gesicht +verriet aufrichtige Freude. „Das freut mich, das +freut mich, das ist doch ein Glück!“ fuhr er schnell zu +sprechen fort – es war seine Art, schnell, wenn auch +meist leise zu sprechen. „Und dies kleine Mädchen +hier ist meine Katjä, mein Töchterchen. Nun könnt ihr +Freundschaft schließen – jetzt hast du eine Spielgefährtin. +Aber du mußt nun auch schnell gesund werden, +Njetotschka. Du böses kleines Mädchen, wie wir +uns um dich geängstigt haben! ...“ +</p> + +<p> +Meine Genesung machte auch wirklich sehr schnelle +Fortschritte. Nach ein paar Tagen konnte ich schon +das Bett verlassen. Jeden Morgen kam Katjä an mein +Bett, immer mit einem Lächeln oder gar Lachen, das +nicht von ihren Lippen wich. Auf ihr Erscheinen wartete +ich wie auf ein Glück. Ich hätte sie so gern geküßt! +Aber das mutwillige Prinzeßchen kam immer +nur auf ganz kurze Zeit, sie konnte fast überhaupt +nicht stillsitzen. Ewige Unruhe, laufen, springen, lachen +<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> +und tollen, daß man es im ganzen Hause hörte – +das war für sie einfach Lebensbedingung. Deshalb +erklärte sie mir auch gleich am ersten Tage, daß es +sie furchtbar langweile, bei mir zu sitzen: sie werde +daher nur sehr selten zu mir kommen, und auch +das nur deshalb, weil ich ihr leid täte – da ginge es +eben nicht anders, denn gar nicht kommen, das ginge +wiederum auch nicht. Aber wenn ich gesund sein +würde, dann sollten wir – so versprach sie – sehr +gut miteinander auskommen. Es war denn auch jeden +Morgen ihr erstes Wort: +</p> + +<p> +„Nu, bist du jetzt gesund?“ +</p> + +<p> +Da ich aber immer noch mager und bleich war +und das Lächeln sich nur schüchtern, mit zaghafter +Angst gepaart, in meinem traurigen Gesicht hervorwagte, +so runzelte das Prinzeßchen die Stirn, schüttelte +mißbilligend das Köpfchen und ihr kleiner Fuß +stampfte oft ungeduldig auf. +</p> + +<p> +„Aber ich sagte dir doch gestern, daß du heute gesund +sein sollst! Was? Man gibt dir wohl nichts zu +essen?“ +</p> + +<p> +„Ja, wenig,“ antwortete ich schüchtern, denn ich +fürchtete mich schon vor ihr. Ich hatte nur den einen +Wunsch: ihr zu gefallen, und deshalb fürchtete ich für +jedes Wort, für jede Bewegung. Ihr Kommen entzückte +mich mit jedem Tage mehr. Solange sie bei +mir saß, ließ ich sie nicht aus den Augen, und wenn +sie fortgegangen war, sah ich immer noch dorthin, wo +sie zuletzt gestanden oder gesessen hatte. Ja, in der +Nacht sah ich sie sogar schon in meinen Träumen. Im +Wachen aber, wenn sie nicht bei mir war, ersann ich +<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> +ganze Gespräche mit ihr, war ihr Freund, tollte, +spielte und weinte mit ihr, wenn man uns schalt oder +für irgendeine besondere Tollheit bestrafen wollte. +Kurz, ich dachte an sie und sah sie im Traum und +träumte von ihr, als wäre ich in sie verliebt gewesen. +Ich wollte um jeden Preis bald gesund werden und +schnell zunehmen, wie sie es wünschte. Wenn sie zuweilen +morgens in mein Zimmer gestürmt kam und +ich dann wieder ihre ungeduldige Frage hörte: „Bist +noch nicht gesund? Ach Gott, immer noch bist du +so mager!“ dann wurde ich ängstlich, als wäre dies +meine Schuld. Es konnte aber auch schwerlich +etwas Ernsteres geben, als die Verwunderung +Katjäs darüber, daß ich nicht binnen vierundzwanzig +Stunden genas, worüber sie sich bereits allen Ernstes +zu ärgern anfing. +</p> + +<p> +„Nu, dann – willst du, ich bringe dir heute eine +Pastete?“ sagte sie mir einmal. „Iß sie, davon wirst +du bald wieder dick.“ +</p> + +<p> +„Bring,“ sagte ich, froh darüber, daß ich sie nochmals +zu sehen bekommen würde. +</p> + +<p> +Nach der Erkundigung, ob ich schon gesund sei, +setzte sich das Prinzeßchen gewöhnlich mir gegenüber +und begann mich mit ihren dunklen Augen ernsthaft zu +betrachten. Und auch jedesmal, wenn sie mir etwas +sagte oder mich fragte, betrachtete sie mich zuvor von +oben bis unten mit der naivsten Verwunderung. Aber +unsere Unterhaltung kam nie so recht in Gang. Ich +fürchtete mich vor Katjä und ihren schroffen Ausfällen, +während ich anderseits fast verging vor Verlangen, +mit ihr zu sprechen. +</p> + +<p> +<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> +„Warum schweigst du?“ begann sie, nachdem wir +uns eine Zeitlang stumm betrachtet hatten. +</p> + +<p> +„Was macht dein Papa?“ fragte ich, froh über +die plötzlich gefundene Frage, mit der ich nun jedesmal +ein Gespräch anfangen konnte. +</p> + +<p> +„Nichts. Es geht ihm gut. Ich habe heute zwei +Tassen Tee getrunken, nicht eine. Und du wieviel?“ +</p> + +<p> +„Eine.“ +</p> + +<p> +Wieder Schweigen. +</p> + +<p> +„Heute hätte mich Falstaff beinahe gebissen.“ +</p> + +<p> +„Ist das ein Hund?“ +</p> + +<p> +„Ja, ein Hund. Hast du ihn denn noch nicht gesehen?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich hab’ ihn wohl nicht gesehen.“ +</p> + +<p> +Ich wußte nichts mehr zu sagen und das Prinzeßchen +sah mich wieder mit Verwunderung an. +</p> + +<p> +„Sag? Gefällt es dir, wenn ich mit dir spreche?“ +</p> + +<p> +„Ja, sehr: komm öfter, wenn du kannst.“ +</p> + +<p> +„Das hat man mir auch gesagt, daß es dich freuen +werde, wenn ich zu dir komme, aber du, steh schneller +auf. Die Pastete werde ich dir heute ganz bestimmt +bringen ... Aber warum schweigst du denn immer?“ +</p> + +<p> +„So.“ +</p> + +<p> +„Du denkst wohl viel?“ +</p> + +<p> +„Ja, ich denke viel.“ +</p> + +<p> +„Mir aber sagt man immer, daß ich viel spreche +und wenig denke. Ist es denn schlecht, wenn man +spricht?“ +</p> + +<p> +„Nein. Ich bin froh, wenn du sprichst.“ +</p> + +<p> +„Hm! ich werde Madame Léotard fragen, die +weiß alles. Aber woran denkst du denn?“ +</p> + +<p> +<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> +„Ich denke an dich,“ sagte ich nach kurzem Schweigen. +</p> + +<p> +„Und das macht dir Spaß?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Dann liebst du mich wohl?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Aber ich liebe dich noch nicht. Du bist so mager! +Wart’, ich werde dir gleich die Pastete bringen! Nu, +adieu!“ +</p> + +<p> +Und das Prinzeßchen, das mich fast im Fluge abküßte, +war schon verschwunden. +</p> + +<p> +Nach dem Essen brachte sie mir auch wirklich die +Pastete. Sie kam hereingelaufen, ausgelassen wie ein +Kobold, lachend und jauchzend vor Freude, daß sie +mir etwas zu essen brachte, was mir zu essen verboten +worden war. +</p> + +<p> +„Iß, iß mehr, iß recht viel, das ist nämlich meine +eigene Pastete, ich habe selbst nicht gegessen. Nu, +adieu!“ Und schon war sie fort. +</p> + +<p> +Ein anderes Mal kam sie wie ein Wirbelwind ins +Zimmer, gleichfalls nach dem Essen. Ihre schwarzen +Locken waren wie vom Sturm verwirrt, ihre Augen +blitzten und die Bäckchen glühten wie Purpur: sie +mußte nach ihren Lernstunden schon etliche Stunden +gelaufen und gesprungen sein. +</p> + +<p> +„Kannst du Federball spielen?“ rief sie atemlos, +übersprudelnd und in größter Eile. +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte ich, und es tat mir schrecklich leid, +daß ich nicht „ja“ sagen konnte. +</p> + +<p> +„Ach, wie du bist! Nu, werd schnell gesund, dann +<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> +zeig’ ich es dir. Ich kam nur deshalb. Ich spiele jetzt +mit Madame Léotard. Adieu, man wartet auf mich!“ +</p> + +<p> +Endlich durfte ich das Bett verlassen, obschon ich +mich noch immer schwach und kraftlos fühlte. Mein +erster Gedanke war, mich jetzt nie mehr von Katjä zu +trennen. An ihr war etwas, was mich unwiderstehlich +zu ihr hinzog. Ich konnte mich kaum sattsehen an +ihr, worüber Katjä sich sehr zu verwundern schien. +Dieser Drang zu ihr war so stark und ich gab mich +diesem neuen Gefühl so leidenschaftlich hin, daß es +von ihr natürlich nicht unbemerkt bleiben konnte, und +anfangs erschien es ihr denn auch unerhört seltsam. +Ich weiß noch, einmal während eines gemeinsamen +Spiels hielt ich es plötzlich nicht mehr aus und warf +mich ihr an den Hals, um sie zu küssen. Sie befreite +sich aus meiner Umarmung, erfaßte meine Hände – +und mit zusammengezogenen Brauen, als hätte ich sie +beleidigt, fragte sie mich: +</p> + +<p> +„Was fällt dir ein? Warum küßt du mich?“ +</p> + +<p> +Ich fuhr schuldbewußt zusammen bei ihrer schnellen +Frage und sagte kein Wort. Die Prinzeß zuckte +mit ihren kleinen Schultern, zum Zeichen ihres Nichtbegreifenkönnens +(dieses Achselzucken war ihr schon zur +Angewohnheit geworden), dann preßte sie überernst ihre +kleinen weichen Lippen zusammen, ließ die Spielsachen +liegen und setzte sich auf den Diwan, von wo aus sie +mich sehr lange betrachtete – wobei sie anscheinend +tief und ernsthaft über etwas nachdachte, ganz als habe +sie da ein schwieriges Problem zu lösen, das plötzlich +in ihren Gedanken aufgetaucht war. Es war dies +gleichfalls so ihre Angewohnheit in allen unklaren Fällen. +<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> +Ich aber konnte mich an diese schroffen Äußerungen +ihres Charakters lange nicht gewöhnen. +</p> + +<p> +In der ersten Zeit beschuldigte ich nur mich allein +und dachte, daß ich wirklich sehr viele Eigenheiten haben +mußte. Aber wenn dies auch zum Teil zutreffen +mochte, so quälte ich mich doch in einer gewissen Ungewißheit +mit der einen Frage: warum ich mit Katjä +nicht gleich Freundschaft schließen und ihr ein für allemal +gefallen konnte? Meine Mißerfolge in der Beziehung +kränkten mich bis zum körperlichen Schmerz und +ich hätte über jedes unbedachte Wort Katjäs, über jeden +mißtrauischen Blick von ihr weinen mögen. Mein +Leid wuchs nicht nur mit jedem Tage, sondern sogar +mit jeder Stunde, denn mit Katjä ging alles sehr schnell. +Schon nach ein paar Tagen merkte ich, daß sie mich gar +nicht mehr leiden konnte, ja daß ich ihr schon verhaßt +wurde. In der Seele dieses kleinen Mädchens geschah +alles schnell, schroff, – manch einer würde sagen brutal, +und vielleicht mit Recht, wenn in allen diesen blitzschnellen +Veränderungen eines geraden, naiv-offenherzigen +Charakters nicht zugleich eine angeborene, eine gewisse +vornehme Grazie gewesen wäre. Unsere Entfremdung +begann damit, daß zuerst Zweifel in ihr aufstiegen +und aus den Zweifeln wurde Verachtung, und zwar +wie ich glaube, deshalb, weil ich kein einziges Spiel zu +spielen verstand. Die Prinzeß liebte zu tollen, zu laufen, +sie war stark, lebhaft, gewandt, ich aber – gerade das +Gegenteil. Ich war noch von der Krankheit her schwach, +war still und nachdenklich: Kinderspiele machten mir +kein Vergnügen. Mit einem Wort, mir fehlten alle Eigenschaften, +deren ich bedurft hätte, um Katjä zu gefallen. +<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> +Außerdem konnte ich es nicht ertragen, andere +mit mir unzufrieden zu sehen: dann wurde ich traurig, +verlor allen Mut und hatte erst recht nicht mehr die +Kraft, das Verfehlte wieder gutzumachen und den +schlechten Eindruck zu verwischen, – kurz, ich verfiel +dem Unglück ganz. Das war nun etwas, was Katjä +nicht begreifen konnte. Anfangs schien es sie eher +zu verblüffen, sie sah mich dann, wie es ihre Art war, +mit stummer Verwunderung an, nachdem sie sich, wie es +zuweilen vorkam, eine ganze Stunde mit mir abgemüht +hatte, um mich z. B. das Reifenspiel zu lehren, das ich +immer noch nicht begreifen wollte. Und da ich gleich +traurig wurde und Tränen mir in die Augen traten, so +wandte sie sich, nachdem sie über mich nachgedacht und +doch weder durch ihr Denken noch durch mich selbst +einen Aufschluß erhalten hatte, einfach von mir ab und +spielte allein weiter, ohne mich noch zum Mitspielen +aufzufordern, ja sogar ohne überhaupt noch mit mir +zu sprechen, – und das nicht nur an diesem einen +Tage, sondern gleich ein paar Tage lang. Von diesem +Verhalten war ich so betroffen, daß ich ihre Geringschätzung +kaum ertragen konnte. Meine neue Einsamkeit +wurde nun fast noch bedrückender als die frühere +in der Dachstube, und ich begann wieder zu trauern +und zu grübeln: wieder bedrückten dunkle Gedanken +mein Herz. +</p> + +<p> +Madame Léotard, die uns beaufsichtigte, bemerkte +schließlich diese Veränderung in unserem Verhalten zueinander. +Und da ihr natürlich mein fremdes Wesen zuerst +auffiel, vor allem meine Verlassenheit, so wandte +sie sich ohne weiteres an die Prinzeß und schalt sie +<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> +sehr, weil sie mit mir nicht umzugehen verstünde. Die +Prinzeß runzelte die Stirn, zuckte mit den Schultern +und erklärte darauf, sie könne mit mir nichts anfangen, +zu spielen verstände ich nicht, ich dächte immer Gott +weiß woran, sie aber werde lieber auf den Bruder +warten, der bald aus Moskau zurückkehren müsse, dann +könne sie mit ihm ganz anders spielen, mit ihm sei es +viel lustiger. +</p> + +<p> +Doch Madame Léotard begnügte sich nicht mit dieser +Antwort, sie hielt ihr vor, daß sie mich allein sitzen +lasse und nicht bedenke, daß ich noch krank wäre, deshalb +könne ich auch nicht so lustig und ausgelassen sein +wie sie, Katjä, was übrigens auch viel besser sei, denn +das, was Katjä anrichte, sei unerhört, sie habe dies +verbrochen und jenes angestiftet und vorvorgestern +hätte die Bulldogge sie deshalb zur Strafe fast aufgefressen. +Kurz, Madame Léotard schalt ohne Nachsicht +und schloß ihre Strafpredigt damit, daß sie sie zu mir +schickte, mit der Weisung, sich sogleich mit mir zu +versöhnen. +</p> + +<p> +Katjä hatte die Standrede mit großer Aufmerksamkeit +angehört, als sage man ihr nun wirklich etwas +Neues, und es schien ihr einzuleuchten, daß in diesem +Neuen etwas richtig und gerecht war. Sie ließ ihren +Reifen, den sie durch das Zimmer gerollt hatte, liegen, +trat auf mich zu, sah mich ernst an und fragte etwas +ungläubig: +</p> + +<p> +„Willst du denn spielen?“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte ich schnell, noch erschrocken von +der Standrede der Madame Léotard. +</p> + +<p> +„Was willst du denn?“ +</p> + +<p> +<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> +„Ich werde hier sitzen, denn mir fällt das Laufen +schwer. Nur sei mir deshalb nicht böse, Katjä, ich +habe dich sehr lieb.“ +</p> + +<p> +„Nun gut, dann werde ich allein spielen,“ sagte +sie langsam, gleichsam überlegend und als wundere sie +sich darüber, wenn sich jetzt beinahe herausstellte, daß +sie an gar nichts schuld wäre. „Nun denn, adieu, ich +werde dir nicht böse sein.“ +</p> + +<p> +„Adieu,“ sagte ich, stand auf und reichte ihr die +Hand. +</p> + +<p> +„Vielleicht wollen wir uns küssen?“ fragte sie +nach kurzem Nachdenken – wohl in der Erinnerung +an jenen Kußzwischenfall und zugleich, um mir etwas +Angenehmes zu erweisen und dadurch schneller den +Zwist mit mir beizulegen. +</p> + +<p> +„Wie du willst,“ sagte ich in scheuer Hoffnung. +</p> + +<p> +Sie trat an mich heran und küßte mich todernst, +ohne auch nur im geringsten zu lächeln. Und als sie so +alles getan, was man von ihr verlangte, ja sogar noch +mehr als das, nur um einem armen Mädchen ein Vergnügen +zu bereiten, da lief sie zufrieden und froh von +mir fort, und bald hörte man wieder in allen Zimmern +ihr Lachen und Tollen, bis sie sich erschöpft und +atemlos auf einen Diwan warf, um sich zu erholen und +neue Kräfte zu sammeln. Dann sah sie mich aber doch +die ganze Zeit mißtrauisch an, da ich ihr offenbar wunderlich +erschien. Es war, als hätte sie gern mit mir +gesprochen, als hätte sie gern gewisse Fragen, die ihr +in bezug auf mich durch den Sinn fuhren, beantwortet, +aber ich weiß nicht, weshalb sie diesmal nicht fragte +und sich bezwang. +</p> + +<p> +<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> +Katjä lernte gewöhnlich morgens. Madame Léotard +unterrichtete sie nur in der französischen Sprache. +Der ganze Unterricht bestand im Wiederholen der +Grammatik und im Lesen der Fabeln von Lafontaine. +Man unterrichtete sie deshalb nur in diesem Fach, weil +es ohnehin schon schwer gewesen war, sie dazu zu bewegen, +wenigstens zwei Stunden täglich zu lernen. Auf +diesen Ausgleich war sie schließlich nur auf Bitten des +Vaters eingegangen, und auf Befehl der Mutter. Ihr +Versprechen aber erfüllte sie sehr gewissenhaft. Sie +war außerordentlich begabt, sie begriff leicht und behielt +das Begriffene. Aber auch in der Art ihres Lernens +hatte sie ihre kleinen Eigenheiten: wenn sie z. B. +irgend etwas einmal nicht sofort begriff, dann begann +sie gleich selbst nachzudenken, denn eher tat sie alles +Mögliche, als daß sie andere um eine Erklärung dessen +bat, was sie sich selbst mit eigenem Verstande nicht +zu erklären vermochte, – sie schien sich dann einfach +zu schämen. Ja, es soll sogar vorgekommen sein, daß +sie sich tagelang mit einer Frage gequält und über sich +selbst geärgert hatte, weil sie sie nicht ohne fremde +Hilfe beantworten konnte: denn nur im äußersten Fall, +wenn sie schon ganz müde geworden war vom Denken, +ging sie zu Madame Léotard und bat sie, ihr die Sache +zu erklären, der ihr eigener Verstand noch nicht gewachsen +war. Und so war sie in allem. Sie hatte schon +viel nachgedacht, was man ihr freilich auf den ersten +Blick gar nicht zugetraut hätte. Und doch konnte sie +mitunter noch furchtbar naiv sein: zuweilen stellte sie +für ihr Alter unglaublich dumme Fragen, und zuweilen +wiederum verrieten ihre Antworten die spitzfindigste +<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> +Schlauheit und das weitsichtigste, feinste Verständnis. +</p> + +<p> +Da ich mit der Zeit auch zu lernen anfangen konnte, +so nahm mich Madame Léotard eines Tages gewissermaßen +ins Verhör, und nachdem sie festgestellt, daß +ich schon sehr gut las, aber noch sehr schlecht schrieb, +erklärte sie, es sei nun die höchste Zeit und die größte +Notwendigkeit, daß ich mit dem Französischen anfinge. +</p> + +<p> +Ich widersprach natürlich nicht und am nächsten +Vormittage setzten wir uns, Katjä und ich, an den +Lerntisch zu beiden Seiten von Madame Léotard. Unglücklicherweise +war Katjä gerade an diesem Tage so +zerstreut und auch schwerfällig im Begreifen, daß Madame +Léotard sie gar nicht wiedererkannte. Ich aber +lernte im Nu das französische Alphabet, denn ich hatte +nur den einen Wunsch, es Madame Léotard recht zu +machen. Sie aber ärgerte sich die ganze Zeit über +Katjä und zum Schluß wurde sie so böse, daß sie sie +heftig schalt: +</p> + +<p> +„Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel,“ sagte sie, +auf mich weisend, „ein noch halbkrankes Kind lernt +zum erstenmal und hat in einer Stunde zehnmal mehr +begriffen als Sie. Schämen Sie sich!“ +</p> + +<p> +„Sie weiß mehr als ich?“ fragte Katjä verwundert, +„aber sie lernt doch erst das Alphabet!“ +</p> + +<p> +„In wieviel Stunden haben Sie das Alphabet gelernt?“ +</p> + +<p> +„In drei.“ +</p> + +<p> +„Und sie in einer einzigen. Folglich begreift sie +dreimal schneller als Sie und wird Sie im Nu überholen. +Das sehen Sie doch ein?“ +</p> + +<p> +<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> +Katjä dachte einen Augenblick nach und plötzlich +wurde sie feuerrot. Überhaupt war Erröten, Beschämtsein +– das erste bei ihr, gleichviel ob es sich +um einen Mißerfolg, einen Ärger, um eine Kränkung +handelte oder ob man sie bei einer Unart ertappte und +schalt. Diesmal traten ihr fast Tränen in die Augen, +aber sie schwieg und sah mich nur einmal so an, als +wolle sie mich verbrennen mit ihrem Blick. Da +erriet ich, was sie empfand. Die Arme war über alle +Maßen stolz und ehrgeizig! +</p> + +<p> +Als wir Madame Léotard verließen, versuchte ich, +ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, um ihren Ärger +zu verscheuchen und zu zeigen, daß es mich nichts anging, +was die Französin sagte, aber Katjä schwieg, als +hätte sie mich überhaupt nicht gehört. +</p> + +<p> +Etwa nach einer Stunde kam sie in das Zimmer, +wo ich mit einem Buch saß, jedoch ohne zu lesen, denn +ich dachte die ganze Zeit nur an Katjä – ich war doch +noch zu bestürzt und erschrocken bei dem Gedanken, der +nicht von mir wich, daß Katjä nun wieder nicht mit +mir sprechen wollte. +</p> + +<p> +Sie sah mich finster an, setzte sich wie gewöhnlich +auf den Diwan und betrachtete mich eine gute halbe +Stunde. Länger hielt ich es nicht aus: ich hob den Kopf +und sah sie fragend an. +</p> + +<p> +„Kannst du tanzen?“ fragte sie mich darauf. +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Aber ich.“ +</p> + +<p> +Schweigen. +</p> + +<p> +„Kannst du denn Klavier spielen?“ +</p> + +<p> +„Nein, auch nicht.“ +</p> + +<p> +<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> +„Aber ich spiele. Das ist sehr schwer zu erlernen.“ +</p> + +<p> +Ich schwieg. +</p> + +<p> +„Madame Léotard sagt, du seist klüger als ich.“ +</p> + +<p> +„Madame Léotard war nur böse auf dich,“ sagte +ich. +</p> + +<p> +„Wird Papa auch böse sein?“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich nicht,“ antwortete ich. +</p> + +<p> +Wieder Schweigen. Plötzlich stampfte die Prinzeß +ungeduldig mit dem Fuß auf. +</p> + +<p> +„So wirst du jetzt über mich lachen, weil du schneller +begreifen kannst als ich?“ rief sie, unfähig ihren +Ärger zu verbergen. +</p> + +<p> +„Ach nein, nein!“ Ich sprang auf, um zu ihr zu +laufen und sie zu umarmen. +</p> + +<p> +„Und Sie schämen sich nicht, so etwas zu denken +und so zu fragen, Prinzeß?“ ertönte plötzlich die Stimme +der Madame Léotard, die uns schon eine Weile aus +dem anderen Zimmer beobachtet und das Gespräch gehört +hatte. „Schämen Sie sich! Sie beneiden das arme +Kind und prahlen vor ihr, daß Sie tanzen und Klavier +spielen können. Wie häßlich von Ihnen! Ich +werde alles dem Fürsten erzählen.“ +</p> + +<p> +Die Prinzeß errötete. +</p> + +<p> +„Das war schlecht von Ihnen. Sie haben Sie mit +Ihren Fragen absichtlich gekränkt. Ihre Eltern waren +arm und konnten keine Gouvernanten für sie halten; +sie hat alles aus sich selbst gelernt, weil sie ein +kluges Kind ist. Sie sollten Sie lieben und gut zu ihr +sein, Sie aber wollen mit ihr nur streiten und sie kränken. +Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! Sie ist doch +eine Waise! Sie hat keinen Menschen, der ihr nahe +<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> +steht. Es fehlte nur noch, daß Sie auch damit zu +prahlen anfangen, daß Sie eine Prinzeß sind und sie +nicht. Ich lasse Sie allein. Denken Sie darüber nach, +was ich Ihnen gesagt habe und bessern Sie sich.“ +</p> + +<p> +Die Prinzeß dachte genau zwei Tage nach. Zwei +Tage lang hörte man sie weder lachen noch tollen. In +der Nacht hörte ich, wie sie sogar im Traum mit +Madame Léotard stritt. Ja, es schien fast, als magere +sie ein wenig ab in diesen zwei Tagen, wenigstens +wurde ihr zartes Gesichtchen merklich bleicher. Am +dritten Tage begegneten wir uns zufällig unten in den +großen Räumen. Die Prinzeß kam von der Mutter +und als sie mich erblickte, blieb sie stehen und setzte sich +nicht weit von mir auf einen Stuhl. Ich erwartete +mit Bangen, was nun kommen würde. +</p> + +<p> +„Njetotschka, weshalb hat man mich deinetwegen +gescholten?“ fragte sie plötzlich. +</p> + +<p> +„Oh, das geschah nicht meinetwegen, Katenjka<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>,“ +sagte ich schnell, wie um mich zu rechtfertigen. +</p> + +<p> +„Aber Madame Léotard sagt doch, ich hätte dich +beleidigt.“ +</p> + +<p> +„Nein, Katenjka, du hast mich nicht beleidigt.“ +</p> + +<p> +Die Prinzeß zuckte mit der Achsel – ein Zeichen, +daß sie mich nicht verstand. +</p> + +<p> +„Warum weinst du denn immer?“ fragte sie nach +kurzem Schweigen. +</p> + +<p> +„Ich werde nicht mehr ... wenn du es nicht willst,“ +sagte ich und die Tränen traten mir schon in die Augen. +</p> + +<p> +Sie hatte dafür wieder nur ein Achselzucken. +</p> + +<p> +„Hast du auch früher immer geweint?“ +</p> + +<p> +<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> +Ich antwortete nicht. +</p> + +<p> +„Warum lebst du bei uns?“ fragte sie plötzlich, +wieder nach neuem kurzem Schweigen. +</p> + +<p> +Ich sah sie verwundert an und fühlte so etwas +wie einen Stich ins Herz. +</p> + +<p> +„Weil ich eine Waise bin,“ sagte ich schließlich, +nachdem ich mich zusammengenommen. +</p> + +<p> +„Hattest du Eltern?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Nun, und – die haben dich nicht geliebt?“ +</p> + +<p> +„Nein ... sie liebten mich,“ antwortete ich mit +Mühe. +</p> + +<p> +„Sie waren aber arm?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Sehr arm?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Und bei denen hast du nichts gelernt?“ +</p> + +<p> +„Nur lesen.“ +</p> + +<p> +„Hattest du Spielsachen?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Hattest du Kuchen?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Wieviel Zimmer hattet ihr?“ +</p> + +<p> +„Ein Zimmer.“ +</p> + +<p> +„Nur ein Zimmer?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Und hattet ihr Dienstboten?“ +</p> + +<p> +„Nein, wir hatten keine Dienstboten.“ +</p> + +<p> +„Aber wer hat euch denn bedient?“ +</p> + +<p> +„Ich ging selbst ... einkaufen ...“ +</p> + +<p> +Die Fragen der Prinzeß zerrissen mir immer mehr +<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a> +das Herz. Dazu kamen die Erinnerungen ... und meine +Verlassenheit und die Verwunderung der Prinzeß – all +das traf und verletzte mein Herz, daß es wie aus Wunden +blutete. Ich zitterte fieberhaft vor Erregung und +die Tränen drohten mich zu ersticken. +</p> + +<p> +„Dann bist du wohl froh, daß du bei uns wohnst?“ +</p> + +<p> +Ich schwieg. +</p> + +<p> +„Hattest du schöne Kleider?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Schlechte?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Ich habe dein Kleid gesehn, man hat es mir gezeigt.“ +</p> + +<p> +„Warum fragst du mich dann noch?“ rief ich aufstehend, +erschüttert von einem neuen, noch nie empfundenen +Gefühl, „warum fragst du dann noch?“ fuhr +ich fort, und das Blut stieg mir vor Unwillen heiß ins +Gesicht. „Warum lachst du über mich?“ +</p> + +<p> +Die Prinzeß war gleichfalls errötet und erhob sich +auch, aber sie beherrschte sich schnell. +</p> + +<p> +„Nein ... ich lache nicht,“ sagte sie. „Ich wollte +nur wissen, ob es wahr ist, daß deine Eltern arm waren?“ +</p> + +<p> +„Warum fragst du mich nach meinen Eltern?“ rief +ich und Tränen rollten mir über die Wangen vor Seelenschmerz. +„Warum fragst du mich <em>so</em> nach ihnen? +Was haben sie dir getan, Katjä?“ +</p> + +<p> +Katjä stand betreten vor ihrem Stuhl und wußte +nicht, was sie antworten sollte. Da trat der Fürst ins +Zimmer. +</p> + +<p> +„Was fehlt dir, Njetotschka?“ fragte er, als er +<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> +meine Tränen bemerkte. „Was fehlt dir, weshalb +weinst du?“ fragte er nochmals und sah Katjä an, die +feuerrot geworden war. „Wovon spracht ihr? Worüber +habt ihr gestritten? Njetotschka, worüber weinst du?“ +</p> + +<p> +Ich konnte nicht antworten, aber ich ergriff die +Hand des Fürsten und küßte sie unter Tränen. +</p> + +<p> +„Katjä, sag du, und sprich die Wahrheit: was ist +hier vorgefallen?“ +</p> + +<p> +Katjä verstand nicht zu lügen. +</p> + +<p> +„Ich sagte ihr, daß ich gesehen habe, was für ein +schlechtes Kleid sie trug, als sie noch bei ihrem Papa +und ihrer Mama lebte.“ +</p> + +<p> +„Wer hat es dir gezeigt? Wer hat es dir zu zeigen +gewagt?“ +</p> + +<p> +„Ich habe es selbst gesehen!“ sagte Katjä in bestimmtem +Tone. +</p> + +<p> +„Nun gut! Ich kenne dich, du willst niemanden +angeben. Und was weiter?“ +</p> + +<p> +„Und dann fing sie an zu weinen und fragte: warum +ich mich über ihren Papa und ihre Mama lustig +gemacht?“ +</p> + +<p> +Das hatte sie zwar nicht getan, aber offenbar war +es ihre Absicht gewesen, da auch ich es nach der ersten +Frage so aufgefaßt hatte. Sie antwortete dem Vater +keine Silbe: und dies war ebenso gut wie ein Geständnis. +</p> + +<p> +„Du gehst sofort zu ihr und bittest sie um Verzeihung,“ +befahl der Fürst, auf mich weisend. +</p> + +<p> +Die Prinzeß stand bleich und stumm und rührte sich +nicht. +</p> + +<p> +„Nun,“ sagte der Fürst. +</p> + +<p> +<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> +„Ich will nicht,“ sagte Katjä schließlich halblaut, +aber mit fest entschlossener Miene. +</p> + +<p> +„Katjä!“ +</p> + +<p> +„Nein, ich will nicht, ich will nicht!“ schrie sie plötzlich +mit blitzenden Augen und stampfte mit beiden Füßchen. +„Ich will nicht, Papa, ich will nicht um Verzeihung +bitten. Ich liebe sie nicht. Ich will nicht mit ihr +zusammenwohnen ... Ich bin nicht schuld, daß sie den +ganzen Tag weint. Ich will nicht, ich will nicht!“ +</p> + +<p> +„Komm mit,“ sagte der Fürst, sie an der Hand fassend, +um sie in sein Kabinett zu führen. „Njetotschka, +geh nach oben,“ wandte er sich zu mir. +</p> + +<p> +Ich wollte ihn zurückhalten, wollte für Katjä um +Verzeihung bitten, doch der Fürst wiederholte streng seinen +Befehl und ich ging nach oben, eiskalt vor Schreck, +wie eine Tote. In unserem Zimmer sank ich auf den +Diwan und umklammerte meinen Kopf mit den Händen. +Ich zählte die Minuten. Ich erwartete Katjä mit +fiebernder Ungeduld, ich wollte mich ihr zu Füßen werfen. +Endlich kam sie: sie ging ohne ein Wort an mir +vorüber und setzte sich in den fernsten Winkel; Ihre Augen +waren rot und die Wangen geschwollen von Tränen. +Da schwand meine ganze Entschlossenheit. Ich +sah sie angstvoll an und meine Angst lähmte mich. +</p> + +<p> +Ich beschuldigte mich mit allen Fibern, ich mühte +mich krampfhaft, mir vor mir selbst zu beweisen, daß ich +allein an allem schuld sei. Tausendmal wollte ich zu +Katjä gehen und tausendmal sank mir der Mut, da ich +nicht wußte, wie sie sich zu mir verhalten würde. So +verging ein Tag und noch einer. Am Abend dieses zweiten +Tages wurde Katjä wieder munterer und nahm sogar +<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> +ihr Reifenspiel vor, doch bald ließ sie den Reifen +liegen und zog sich wieder in ihren Winkel zurück. Kurz +bevor wir zu Bett gingen, wandte sie sich plötzlich zu +mir und kam sogar zwei Schritte auf mich zu: ihre weichen +Lippen zuckten, als setze sie zum Sprechen an, aber +sie blieb stehen, wandte sich wieder fort und ging zu +Bett. Nach diesem Tage verging noch ein Tag, und die +erstaunte Madame Léotard nahm Katjä zu guter Letzt +ins Verhör: ob sie krank sei oder was mit ihr geschehen, +daß sie sich mit einemmal so still verhalte? Katjä antwortete +ausweichend irgend etwas, was ich nicht hören +konnte, doch kaum hatte Madame Léotard ihr den Rücken +gekehrt, da wurde sie rot und begann zu weinen. Sie +lief aus dem Zimmer, um von mir nicht weinend gesehen +zu werden. Einmal aber mußte doch die Erlösung +kommen; und dies geschah denn auch am dritten Tage +nach unserem Streit: nach dem Essen kam sie in mein +Zimmer und näherte sich mir zaghaft. +</p> + +<p> +„Papa hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu +bitten,“ sagte sie. „Wirst du mir verzeihen?“ +</p> + +<p> +Ich erfaßte schnell ihre beiden Hände und stieß in +atemloser Hast hervor: +</p> + +<p> +„Ja! Ja!“ +</p> + +<p> +„Papa befahl mir, dich zu küssen, – wirst du mich +küssen?“ +</p> + +<p> +Als Erwiderung auf ihre Frage küßte ich ihre +Hände. Als ich aufsah, bemerkte ich in ihrem Gesicht +eine seltsame Bewegung. Ihre Lippen und ihr Kinn +bebten, in ihren Augen standen Tränen, aber sie unterdrückte +schnell ihre Erregung und flüchtig erschien sogar +ein Lächeln auf ihren Lippen. +</p> + +<p> +<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> +„Ich werde gehen und Papa sagen, daß ich dich geküßt +und um Verzeihung gebeten habe,“ sagte sie leise, +fast wie zu sich selbst. „Ich habe ihn schon drei Tage +nicht gesehen. Er sagte, ich dürfe nicht eher zu ihm +kommen, als bis ich sein Gebot erfüllt habe,“ fügte sie +nach kurzem Nachdenken hinzu. +</p> + +<p> +Und sie ging zögernd und mit nachdenklichem Gesichtchen +zum Vater, als wäre sie selbst noch nicht +sicher, wie nun der Empfang beim Vater ausfallen +würde. +</p> + +<p> +Eine Stunde später hörte ich oben wieder den alten +Lärm, Katjäs Lachen und Laufen, Falstaffs Gebell, +ja irgend etwas wurde umgeworfen und zerschlagen, +Bücher fielen von einem Tisch, der Reifen rollte +wieder federleicht durch alle Räume – kurz, ich hörte, +daß Katjä sich mit dem Vater versöhnt hatte, und mein +Herz erbebte vor Freude. +</p> + +<p> +Doch zu mir kam sie nicht und vermied es sichtlich, +mit mir zu sprechen. Dafür hatte ich die Ehre, in +hohem Maße ihre Neugier zu erregen. Immer öfter +setzte sie sich mir gegenüber, um mich in Ruhe zu betrachten. +Und ihre Beobachtungen wurden immer naiver. +Das verwöhnte, eigenwillige Kind, das von allen +im Hause verzogen und gehätschelt und wie ein kostbarer +Schatz gehegt wurde, konnte es nicht begreifen, +wie es kam, daß ich schon ein paarmal auf ihrem Wege +mit ihr zusammengestoßen war, während sie das +gar nicht gewollt hatte. Sie hatte aber ein gutes, +prächtiges Herzchen, das allein schon mit seinem guten +Instinkt immer den richtigen Weg fand. Den größten +Einfluß auf sie hatte der Vater, den sie geradezu vergötterte. +<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> +Von der Mutter wurde sie bis zum Wahnsinn +geliebt, nur war die Mutter gleichzeitig unglaublich +streng, und von ihr hatte Katjä den Eigensinn, den +Stolz und die Charakterfestigkeit geerbt, dafür aber +mußte sie auch alle Launen der Mutter ertragen, obschon +diese oft in moralische Tyrannei ausarteten. +Doch – sie ertrug sie. Die Fürstin hatte eine sonderbare +Auffassung von dem, was Erziehung ist, und so +war Katjäs Erziehung eine eigenartige Mischung von +grenzenloser Verwöhnung und unerbittlicher Strenge. +Was gestern erlaubt war, war heute plötzlich verboten, +und zwar ganz grundlos, so daß das Gerechtigkeitsgefühl +im Kinde völlig mißachtet und ständig verletzt +wurde ... Doch davon später. Ich will hier nur +bemerken, daß das Kind sein Verhalten zu den Eltern +danach richtete. Dem Vater gegenüber war sie ganz +so, wie sie war, sie gab sich ihm rückhaltlos, mit vollen +Händen: da war in ihrem Wesen nichts Verborgenes, +nichts Zurückhaltendes. Im Verkehr mit der Mutter dagegen +war sie das gerade Gegenteil: verschlossen, mißtrauisch +und widerspruchslos gehorsam. Aber ihr Gehorsam +war nicht aufrichtig, sie gehorchte nicht aus Überzeugung, +sondern sozusagen einem notwendigen System +gemäß. Ich werde später noch darauf zurückkommen +und mich dann klarer auszudrücken versuchen. Übrigens +sei es hier noch zur besonderen Ehre meiner +Katjä gesagt, daß sie schließlich ihre Mutter vollkommen +verstand, und wenn sie ihr gehorchte, so tat sie das +schon mit der vollen Erkenntnis der grenzenlosen Mutterliebe, +die die Fürstin zu ihr hatte und die sich bis zur +krankhaften Exaltation steigern konnte – dem aber +<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> +trug die Prinzeß in nachsichtiger Großmut Rechnung. +Leider sollte dies später ihrem heißen Köpfchen wenig +helfen! +</p> + +<p> +Doch ich habe fast noch gar nicht erwähnt, was in +mir vorging. +</p> + +<p> +Ein neues, mir unerklärliches Gefühl erregte mich +damals in einer ganz ungewohnten Weise und ich +übertreibe wohl nicht, wenn ich sage, daß ich unter +diesem neuen Gefühl wie unter einer Pein litt. Kurz +– man verzeihe mir das Wort, aber – ich war in +meine Katjä verliebt. Ja, das war Verliebtheit, richtige +Verliebtheit, Verliebtheit mit Tränen und Entzücken, +leidenschaftliche Verliebtheit! Was zog mich +so zu ihr? Woraus entstand diese meine Liebe? Sie +begann mit dem ersten Blick auf Katjä, als alle meine +Sinne plötzlich so – so süß betroffen wurden von dieser +Schönheit. Alles an ihr war schön: keine einzige +ihrer schlechten Eigenschaften war angeboren, – alle +waren sie nur angenommen und alle standen sie mit +ihrem Instinkt auf Kriegsfuß. Aus allem ersah man +die gute Veranlagung, die nur zeitweilig eine falsche +Form annehmen konnte, doch alles an ihr, angefangen +mit jenem inneren Kampf, leuchtete in froher Zuversicht, +alles versprach, in Zukunft Schönheit zu sein. +Alle Menschen hatten Freude an ihr, alle liebten sie, +verwöhnten sie. Wenn man uns spazieren führte – +gewöhnlich gegen drei Uhr – blieben die Menschen, +die uns begegneten und sie erblickten, beinahe betroffen +stehen, und nicht selten hörten wir hinter uns einen +Ausruf der Bewunderung. Sie war zum Glücklichsein +geboren, sie mußte dazu geboren sein – das war die +<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> +erste Empfindung eines jeden, der sie sah. Vielleicht +hatte sich damals, als ich aus tiefem Schlaf erwachte +und sie erblickte, zum erstenmal mein ästhetisches Empfinden +geregt, war mein Gefühl für das Schöne durch +ihre Schönheit erweckt worden, – und dies wird wohl +die ganze Ursache meiner Liebe gewesen sein. +</p> + +<p> +Der größte Fehler der Prinzeß – oder richtiger der +Grundzug ihres Charakters, der sich gewaltsam in +seine natürliche Form prägen wollte und sich deshalb +naturgemäß in einem unnormalen, eben in einem +Kampfzustand befand – war <em>Stolz</em>. Dieser Stolz +erstreckte sich bis in naive Kleinigkeiten, schlug oft in +Eigenliebe um und wurde zu einer unbewußten Überhebung, +so daß z. B. Widerspruch, gleichviel welcher +Art, sie nicht kränkte und auch nicht einmal ärgerte, +sondern nur in Verwunderung setzte. Sie begriff nicht, +wie etwas anders sein konnte, als wie sie es wünschte. +Aber das Gerechtigkeitsgefühl siegte doch immer in +ihrem Herzen. Wenn sie sich einmal überzeugt hatte, +daß sie wirklich unrecht getan, dann fügte sie sich ohne +zu murren und mit fester Entschlossenheit dem Urteilsspruch +ihrer Erzieher. Daß sie aber anfangs im +Verkehr mit mir sich selbst nicht immer ganz treu blieb, +erkläre ich mir mit ihrer unüberwindlichen Abneigung, +die zeitweilig die Geradheit und Einheit ihres ganzen +Wesens störte. Anders aber konnte es wohl gar nicht +sein: sie war viel zu leidenschaftlich in ihren Empfindungen, +und so waren es immer erst die Zusammenstöße +mit der Wirklichkeit, die ihr allmählich die Augen +öffneten und sie auf den richtigen Weg zurückführten. +Alles, was sie unternahm und anfing, hatte +<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> +ein gutes Endergebnis, doch wurden diese Endergebnisse +regelmäßig mit fortwährenden Abweichungen und +unter ständigen Verirrungen erkauft. +</p> + +<p> +Katjä hatte mich bald genügend beobachtet und +entschloß sich deshalb, mich fortab in Ruhe zu lassen. +Sie tat, als wäre ich überhaupt nicht da. Sie sprach +mit mir kein überflüssiges Wort, ja fast nicht einmal +das Notwendige. An ihren Spielen beteiligte ich mich +nicht mehr – doch hatte sie mich nicht etwa mit Gewalt +verdrängt, sondern es so geschickt einzurichten +verstanden, daß es den Anschein hatte, als wäre ich +selbst damit einverstanden gewesen. Der Unterricht +wurde fortgesetzt, aber wenn man mich ihr noch wegen +meiner Aufmerksamkeit und meines schnellen Begreifens +als Beispiel vorhielt, so würdigte sie mich +nicht mehr der Ehre, sich dadurch in ihrer Eigenliebe +gekränkt zu fühlen, obschon diese Eigenliebe eine höchst +peinlich ausgeprägte war – eine so heikele, daß sogar +unsere Bulldogge, Sir John Falstaff, sie verletzen +konnte. Falstaff war ein kaltblütiger Phlegmatiker, +dabei aber böse wie ein Tiger, ja wenn man ihn reizte, +ging er sogar so weit, daß er nicht einmal mehr seinem +Herrn gehorchte. Und noch ein bedeutsamer Charakterzug: +er liebte entschieden keinen einzigen Menschen +im ganzen Hause; sein größter Feind aber war +zweifellos die alte Prinzessin, die Tante des Fürsten ... +Doch davon später. Die ehrgeizige Katjä gelüstete +es nun eines Tages, den unfreundlichen Falstaff zu +besiegen. Es war ihr unangenehm, daß es ein Wesen +gab, sei es auch nur ein vierbeiniges, das ihre Autorität +nicht anerkannte, sich ihr nicht unterwarf, ja, sie +<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> +nicht einmal liebte. So beschloß denn die Prinzeß, Falstaff +anzugreifen. Sie wollte über alle herrschen – +warum sollte nun Falstaff allein ungestört seine Freiheit +genießen dürfen? Aber die unbeugsame Bulldogge +ergab sich ihr doch nicht. +</p> + +<p> +Es war einmal nach dem Essen, wir saßen beide +unten im großen Saal, während Falstaff mitten im +Saal auf der Diele lag und faul seine Nachmittagssiesta +genoß. Da fiel es der Prinzeß plötzlich ein, ihn sich +unterwerfen zu wollen. Sie ließ ihr Spiel liegen und +begann sogleich mit dem Versuch, sich Falstaff zu nähern: +vorsichtig, auf den Fußspitzen schleichend, umschmeichelte +sie Falstaff mit den zärtlichsten Kosenamen, +winkte liebevoll beschwichtigend mit der Hand +und ging immer näher, immer näher. Falstaff aber +zeigte schon von ferne seine furchtbaren Zähne. Prinzeßchen +blieb stehen. Ihr ganzes Vorhaben bestand ja +nur darin, zu Falstaff zu gelangen und ihn einmal zu +streicheln – eine Kühnheit, die er bisher noch keinem +gestattet hatte, außer der Fürstin – und ihn dazu +zu bringen, daß er ihr folge. Das war nun eine +schwere Aufgabe, verbunden mit einer ernsten Gefahr, +denn Falstaff hätte sich keineswegs gescheut, ihr eine +Hand abzubeißen oder auch das ganze Prinzeßchen zu +zerfleischen. Er war stark wie ein Bär und ich verfolgte +von meinem Platze aus nicht grundlos mit angstvoller +Spannung Katjäs Vorgehen. Ich wußte, wie +schwer es war, sie zum Verzicht auf eine Absicht, wenn +sie sich eine solche einmal in den Kopf gesetzt, zu bewegen, +und selbst das Gebiß Falstaffs, das dieser ihr in +äußerst unmanierlicher Weise zeigte, war für sie noch +<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a> +kein genügendes Argument. Sie begriff nur, daß sie +sich doch nicht so geradeswegs ihm nähern konnte und +änderte nach kurzem Zögern ihre Taktik, indem sie +nun im Kreise um ihn herumging und diese Kreise immer +enger machte. Als sie aber bei der dritten Umkreisung +der Grenze zu nahe kam, die Falstaff als nächste +und eben noch erlaubte Distanz zu sich nicht überschritten +wissen wollte, da zeigte er wieder die Zähne. Die +Prinzeß stampfte mit den Füßchen auf, kehrte ihm geärgert +den Rücken und setzte sich aufs Sofa, um nachzudenken. +</p> + +<p> +Da fiel ihr nach einigen Minuten ein neues Mittel +ein; sie verließ sofort den Saal und kehrte mit einem +ganzen Vorrat von Kringeln, Kuchen und Pasteten +zurück – kurz, sie änderte die Waffen. Doch auch +die neuen Waffen ließen Falstaff völlig kalt, wohl +weil er ohnehin schon viel zu satt war. Den Kringel, +den sie ihm zuwarf, würdigte er nicht einmal eines +Blickes; und als die Prinzeß wieder an der besagten +äußersten Grenze anlangte, erfolgte ein diesmal noch +energischerer Protest: er erhob den Kopf, zeigte die +Zähne, knurrte und machte eine Bewegung, als wolle +er gleich aufspringen. Die Prinzeß wurde rot vor +Zorn, ließ den ganzen Vorrat liegen und setzte sich +wieder auf ihren Platz. +</p> + +<p> +Sie war sichtlich sehr erregt. Ihr kleiner Fuß +schlug ununterbrochen auf den Teppich, ihre Wangen +glühten und in die Augen traten fast Tränen vor Ärger. +Da geschah es, daß sie plötzlich meinen Blick auffing +– alles Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. Sie +<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> +sprang auf und ging mit entschlossenen Schritten gerade +auf die furchtbare Dogge zu. +</p> + +<p> +Vielleicht war es diesmal die Überraschung, die +Falstaff lähmte. Er ließ den Feind die Grenze überschreiten, +und erst als sie nur noch zwei Schritte von +ihm entfernt war, empfing er die Unbedachte mit dem +unheimlichsten Knurren. Katjä blieb für eine Sekunde +stehen –, aber nur für eine Sekunde –: dann trat +sie entschlossen vorwärts. Ich erstarb vor Schreck. Sie +war aber so beseelt von ihrem Entschluß, wie ich sie +noch nie gesehen hatte: ihre Augen blitzten in trotziger +Siegesgewißheit. Sie hätte ein entzückendes Modell +für einen Künstler abgegeben. Mutig widerstand sie +dem drohenden Blick des bösen Tieres, und auch sein +unheimliches Gebiß schreckte sie nicht ab. Die Dogge +hob den Kopf. Aus der breiten Brust kam ein unheildrohendes +Knurren – im nächsten Moment, so schien +es, werde das Tier sie zerfleischen. Doch die Prinzeß +legte stolz ihre kleine Hand auf seinen Rücken und +streichelte ihm dreimal über das Fell. Einen Augenblick +verharrte Falstaff in Unentschlossenheit. Dieser +Augenblick war der furchtbarste: dann stand das Tier +schwerfällig auf, streckte sich und verließ in phlegmatischer +Ruhe den Saal, vermutlich in der Erwägung, +daß mit Kindern zu kämpfen sich doch nicht lohne. Die +Prinzeß blieb triumphierend auf dem eroberten Platz +stehen und warf mir nur einen unbeschreiblichen Blick +zu, einen siegesgesättigten, siegesberauschten Blick. +Ich war noch bleich wie ein Handtuch. Sie bemerkte +das und lächelte. Aber da breitete sich mit einemmal +auch über ihr Gesichtchen Totenblässe. Kaum +<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a> +konnte sie noch bis zum Sofa gehen, auf das sie nahezu +ohnmächtig niedersank. +</p> + +<p> +Doch meine Liebe zu ihr kannte keine Grenzen. +Seit diesem Tage, wo ich eine solche Angst um sie +ausgestanden, konnte ich mich nur noch mit Mühe +beherrschen. Ich verging vor Sehnsucht, tausendmal +wollte ich mich ihr an den Hals werfen, aber eine +unerklärliche Scheu hielt mich regungslos und wie +gebannt auf meinem Platz zurück. Ich erinnere mich +noch, daß ich ein Zusammensein mit ihr absichtlich zu +vermeiden suchte, damit sie meine Erregung nicht sähe; +trat sie aber zufällig in das Zimmer, in das ich mich +zurückgezogen hatte, dann fuhr ich zusammen und mein +Herz begann so stark zu pochen, daß ich wie von einem +Schwindel erfaßt wurde. Ich glaube, dies alles entging +Katjä nicht, und nachdem sie es bemerkt hatte, +war sie die nächsten zwei Tage, wie mir schien, etwas +verwirrt. Bald aber hatte sie sich auch damit abgefunden. +So verging ein ganzer Monat, in dem ich +einsam litt. Meine Gefühle besitzen eine gewisse unerklärliche +Dehnbarkeit, wenn man sich so ausdrücken +kann; meine Natur ist bis zur letzten Möglichkeit geduldig, +so daß ein plötzlicher Ausbruch der Gefühle +nur im wirklich äußersten Fall eintritt. Man muß +nämlich wissen, daß Katjä und ich in dieser ganzen +Zeit kaum fünf Worte miteinander gewechselt haben. +Nach und nach wurde es mir aber infolge gewisser +Anzeichen immer klarer, daß ihr Verhalten zu +mir nicht auf Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit zurückzuführen +sei, sondern daß es nur eine absichtliche +Fernhaltung ihrerseits war: ganz als habe sie sich das +<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> +Wort gegeben, mich in gewissen Schranken zu halten. +Doch ich schlief schon nicht mehr in den Nächten und +am Tage konnte ich meine Verwirrung selbst vor Madame +Léotard nicht verbergen. Meine Liebe zu Katjä +verstieg sich bis zu Seltsamkeiten: so nahm ich einmal +heimlich ihr Taschentuch, ein anderes Mal ihr +Haarband an mich, und diese Gegenstände küßte ich +dann nachts unter Tränen. Anfangs kränkte mich ihre +Gleichgültigkeit so sehr, daß ich mich wirklich verletzt +fühlte; hernach aber war alles in mir verwirrt und +ich konnte mir selbst nicht mehr über meine Empfindungen +Rechenschaft geben. So kam es, daß meine +alten Eindrücke allmählich von den neuen verdrängt +wurden, und die Erinnerung an mein früheres trauriges +Leben verlor mit der Zeit ihre krankhafte Intensität, +da sie der neuen Wirklichkeit weichen mußte. +</p> + +<p> +Ich weiß noch, wenn ich in der Nacht erwachte, +stand ich bisweilen leise auf und schlich auf den Fußspitzen +zum Bett der Prinzeß. Stundenlang konnte ich +dann stehen und die Schlafende in dem milden Licht +unserer Nachtlampe betrachten. Manchmal setzte ich +mich sogar auf ihr Bett und beugte mich über ihr Gesicht, +und ihr warmer regelmäßiger Atem berührte +mich wie ein traumhaft sanftes Wehen. Leise, bebend +vor Unsicherheit, küßte ich dann wohl oft ihre Händchen, +ihre kleinen Schultern, Wangen, auch ihr Füßchen +küßte ich, wenn die Decke sich verschoben hatte +und das Füßchen hervorsah. Bald glaubte ich zu bemerken +– ich beobachtete sie doch unausgesetzt, wenn +auch heimlich – daß sie von Tag zu Tag mehr nachsann +und ihr Charakter seine frühere gefestigte Gleichmäßigkeit +<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> +eingebüßt hatte: es kam vor, daß wir sie +oft einen ganzen Tag nicht tollen hörten, dann aber +machte sie wieder solchen Lärm, wie ich ihn zuvor noch +nie gehört. Sie wurde reizbar, anmaßend, sie wurde +abwechselnd bleich und rot und trieb es mit mir oft +bis zu kleinen Grausamkeiten: bald wollte sie plötzlich +nicht gleichzeitig mit mir essen und nicht neben +mir sitzen, ganz als flöße ich ihr Abscheu ein; bald +ging sie zur Mutter und saß dort fast ganze Tage, obschon +sie genau wußte, wie sehr die Sehnsucht nach ihr +mich verzehrte; bald wiederum setzte sie sich mir gegenüber +und betrachtete mich stundenlang, so daß ich +vor tödlicher Verwirrung nicht wußte, wo ich mich +lassen sollte, nur immer errötete und erbleichte und +doch nicht aus dem Zimmer zu gehen wagte. Zweimal +hatte Katjä sich bereits über Fieber beklagt, +während man sie früher nie krank gesehen hatte. Da +erfolgte eines Morgens eine besondere und bedeutungsvolle +Wandlung: auf unbedingten Wunsch der +Prinzeß zog sie nämlich nach unten zur Mutter, die +fast ohnmächtig wurde vor Angst, als Katjä über Erkältung +klagte. Ich muß bemerken, daß die Fürstin +mit mir sehr unzufrieden war und die ganze Veränderung, +die sie an Katjä bemerkte, meinem schädlichen +Einfluß zuschrieb, oder doch dem Einfluß meines +„düsteren Charakters“, wie sie sich ausdrückte. Sie +hätte uns schon viel früher getrennt, doch hielt sie es +für ratsamer, die Trennung noch aufzuschieben, da sie +damit, wie sie wußte, beim Fürsten auf hartnäckigen +Widerstand gestoßen wäre. Obschon der Fürst ihr in +allem ihren Willen ließ, konnte er bisweilen doch mit +<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> +geradezu eigensinniger Starrheit auf seinem Willen +bestehen. Sie kannte den Fürsten gut. +</p> + +<p> +Dieser Umzug der Prinzeß machte mich so betroffen, +daß ich eine ganze Woche in der schrecklichsten +Gemütsverfassung zubrachte. Ich quälte mich mit meiner +Sehnsucht nach ihr und zerbrach mir den Kopf +über der Frage, weshalb ich Katjä wohl solchen Abscheu +einflößte. Meine Trauer darob zerriß mir die +Seele und das Gerechtigkeitsgefühl und ein bitterer +Unwille begann sich in meinem gekränkten Herzen zu +erheben. Es entstand plötzlich ein gewisser Stolz in +mir, und wenn ich mit Katjä vor unserem Spaziergang +zusammentraf, dann sah ich sie so frei, so ernst +an, so anders als früher, daß es sie offenbar betroffen +machte. Natürlich trat diese meine Veränderung nur +hin und wieder zutage, wie in sich durchdringenden +Ausbrüchen, dann aber tat mir das Herz von neuem +weh und der Schmerz wuchs und wuchs und ich +wurde noch schwächer, noch kleinmütiger als ich vorher +gewesen war. Da, eines Morgens, zu meiner +größten, mich freudig verwirrenden Überraschung, +kehrte die Prinzeß zu uns nach oben zurück. Ihr erstes +war, daß sie gleich unter unbändigem Lachen Madame +Léotard an den Hals flog und lachend erklärte, +nun werde sie wieder bei uns wohnen – dann grüßte +sie mich mit einem Nicken, sah aber schnell wieder +fort und erbettelte sich die Erlaubnis, an diesem +Tage nichts lernen zu brauchen. Den ganzen Vormittag +tollte sie umher. Ich habe sie nie lebhafter und +ausgelassener gesehen. Doch gegen Abend wurde sie +still, nachdenklich und wieder breitete eine gewisse +<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> +Traurigkeit einen Schatten über ihr reizendes Gesichtchen. +Als die Fürstin am Abend bei uns erschien, +um nachzufragen, wie es ihr gehe, da sah ich, daß +Katjä sich aus allen Kräften bemühen mußte, froh +und lustig zu scheinen. Nachher aber, als wir allein +zurückblieben, brach sie plötzlich in Tränen aus. Ich +war bestürzt. Die Prinzeß bemerkte, daß ich sie beobachtete, +und verließ das Zimmer. Es waren Anzeichen, daß +eine unerwartete Krisis sich in ihr vorbereitete. Die +Fürstin beriet mit den Ärzten, ließ sich von Madame +Léotard jeden Tag ausführlich Bericht erstatten, und +wünschte, daß sie Katjä nicht aus den Augen ließ. Nur +ich ahnte den wahren Grund dieser Veränderung. Mein +Herz begann vor Hoffnung laut zu pochen. +</p> + +<p> +In der Tat, unser kleiner Roman näherte sich der +entscheidenden Wendung. Am dritten Tage nach Katjäs +Rückkehr zu uns nach oben fiel es mir auf, daß +sie mich den ganzen Vormittag mit so guten Augen ansah +und so lange ihre Blicke auf mir ruhen ließ ... +Ein paarmal trafen sich unsere Blicke und jedesmal +erröteten wir und schlugen die Augen nieder, als +schämten wir uns. Da lachte zu guter Letzt Prinzeßchen +auf und ging fort. Um drei Uhr kleidete man uns +für den Spaziergang an. Plötzlich trat Katjä an mich +heran. +</p> + +<p> +„Dein Schuhband hat sich gelöst,“ sagte sie zu mir, +„komm, ich werde es zubinden.“ +</p> + +<p> +Ich wollte mich bücken, um selber die Schleife zu +binden, tief errötend darüber, daß Katjä nun endlich +wieder etwas zu mir sprach, doch sie kam mir zuvor. +</p> + +<p> +„Gib her!“ sagte sie in lachender Ungeduld und +<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> +kniete schnell nieder, zog meinen Fuß zu sich und band +die Schleife von neuem. Mir stockte der Atem; ich +wußte nicht, was tun, und ich empfand nur eine süße +Wonne in meiner Erschrockenheit. Als die Schleife fertig +war, stand sie auf und musterte mich vom Kopf bis +zu den Füßen. +</p> + +<p> +„Da ist auch das Hälschen bloß,“ sagte sie, mit +dem Finger an meinen Hals tippend. „Nein, laß nur, +ich werde es dir schon richtig binden.“ +</p> + +<p> +Ich widersprach nicht. Sie löste die Schleife meines +Halstüchleins und band es von neuem nach ihrem +Geschmack. +</p> + +<p> +„So kann man sich ja einen Husten holen,“ sagte +sie mit einem schelmischen Lächeln und aus ihren dunklen +feuchten Augen streifte mich ein spitzbübischer Blick. +</p> + +<p> +Ich war wie von Sinnen: ich wußte nicht, wie +mir geschah, noch was in Katjä vorging. Zum Glück +dauerte unser Spaziergang nicht lange, sonst hätte ich +es nicht ausgehalten und sie auf der Straße geküßt. +Als wir aber die Treppe hinaufstiegen, gelang es mir, +sie heimlich auf die Schulter zu küssen. Sie bemerkte +es, zuckte zusammen, sagte jedoch kein Wort. Am +Abend wurde sie festlich angekleidet und nach unten +geführt. Bei der Fürstin waren Gäste. Doch noch am +selben Abend stand dem ganzen Hause eine große Aufregung +bevor. +</p> + +<p> +Katjä bekam einen Nervenanfall. Die Fürstin war +außer sich vor Schreck. Der Arzt kam und wußte nicht, +was er sagen sollte. Man schrieb alles den üblichen +Kinderkrankheiten zu, auch dem Alter Katjäs, ich aber +dachte darüber ganz anders. Am nächsten Morgen erschien +<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> +Katjä wieder so wie immer, rosig, lustig, von +unerschöpflicher Gesundheit, dafür aber mit solchen +Launen und Eigenheiten, wie sie noch niemand an ihr +beobachtet hatte. +</p> + +<p> +Erstens wollte sie den ganzen Vormittag Madame +Léotard nicht gehorchen. Darauf erklärte sie mit einemmal, +zur Großtante, der alten Prinzessin, gehen +zu wollen. Und richtig, diesmal wurde der Prinzeß der +Zutritt zu den Gemächern der Großtante gewährt, +freilich ganz gegen die Gepflogenheit der alten Dame, +die ihre Großnichte gar nicht leiden konnte, ewig an ihr +etwas auszusetzen fand und sie gewöhnlich überhaupt +nicht sehen wollte – diesmal aber, wie gesagt, entschloß +sie sich, Gott weiß weshalb, sie zu empfangen. Anfangs +ging auch alles gut, die erste Stunde verlief im +schönsten Frieden, denn dem Schelm war es plötzlich +eingefallen, für alle ihre Ungezogenheiten, den verursachten +Lärm und alle Störungen freiwillig um Verzeihung +zu bitten. Und die Großtante verzieh ihr auch +feierlich und sichtlich tief gerührt. Das war aber der +Spitzbübin noch zu wenig. Und es fiel ihr ein, auch +solche Streiche zu beichten, die sie noch gar nicht verbrochen +hatte, die vorerst nur als Pläne in ihrem +Köpfchen lebten. So nahm sie den Ausdruck einer reumütigen +Büßerin an und beichtete, daß die fromme +Dame ob solchen Insichgehens anfangs ganz verzückt +war, denn es schmeichelte ihrer Eigenliebe nicht wenig, +über Katjä diesen Sieg davonzutragen, über Katjä, +den Abgott des ganzen Hauses, den Liebling aller +Menschen, deren Launen gegenüber sogar die Fürstin +machtlos war. +</p> + +<p> +<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> +Katjä gestand also, daß sie die Absicht gehabt habe, +eine Visitenkarte an das Kleid der Großtante zu +kleben; dann – Falstaff unter ihrem Bett zu verbergen; +dann – ihre Brille zu zerbrechen; dann – alle ihre +frommen Bücher fortzuschleppen und an deren Stelle +die französischen Romane der Mama zu legen; dann +– Knallerbsen in ihren Zimmern auszustreuen; dann +– ein Spiel Karten in ihre Tasche zu stecken, usw., +usw. Kurz, eine Sünde war schlimmer als die andere. +Die Großtante wurde starr und bleich und schließlich +gelb vor Ärger – bis Katjä zuletzt doch nicht mehr +an sich halten konnte, in tolles Lachen ausbrach und +wie ein Wirbelwind davonlief. Die alte Prinzessin +ließ sogleich die Fürstin zu sich bitten, und aus dem +Vorfall wurde eine große Geschichte, in deren Verlauf +die Fürstin ihre Anverwandte fast unter Tränen +bat, Katjä diese Unart zu verzeihen und nicht auf einer +Strafe zu bestehen, schon wegen ihres krankhaften Zustandes +nicht. Die Prinzessin jedoch wollte davon nichts +wissen und erklärte, am nächsten Tage noch das Haus +zu verlassen, welche Drohung sie erst dann zurückzog, +als die Fürstin ihr auf ihr Ehrenwort versprach, +die Bestrafung nur bis zur völligen Genesung der +Tochter hinauszuschieben, dann aber dem gerechten +Wunsch der alten Dame gewissenhaft nachzukommen. +Dennoch erhielt Katjä sogleich einen strengen Verweis +und mußte unten bei der Fürstin bleiben. Aber +der Schelm blieb dort nicht lange. +</p> + +<p> +Als ich etwas später gleichfalls nach unten ging, +traf ich sie bereits auf der Treppe. Sie hatte die Tür +aufgesperrt und rief Falstaff. Ich aber erriet sofort, +<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> +daß sie eine furchtbare Rache plante. Und wirklich: +die Sache verhielt sich folgendermaßen. +</p> + +<p> +Unter allen Feinden der alten Dame gab es entschieden +keinen unversöhnlicheren als Falstaff. Er war +zwar gegen niemand freundlich, liebte die Menschen +grundsätzlich nicht, war hochmütig, stolz, ja sogar bis +zur Rücksichtslosigkeit anmaßend. Er liebte, wie gesagt, +niemanden, verlangte aber von allen den schuldigen +Respekt, den ihm denn auch alle pflichtschuldigst +und möglichst von weitem entgegenbrachten, wobei sie +dem Respekt noch eine Dosis Furcht beizumischen +pflegten. Da traf nun eines Tages die alte Prinzessin +ein und mit einemmal veränderte sich seine ganze Lebenslage +– ihm ward schnödes Unrecht angetan: man +verbot ihm formell den Zutritt zur oberen Etage. +</p> + +<p> +In der ersten Zeit war Falstaff außer sich vor Empörung +über diese Beleidigung und kratzte eine ganze +Woche an der Tür, die ihm am Ende der Treppe den +Zugang versperrte. Bald jedoch erriet er, wer und was +die Veranlassung zu dieser Maßregel gewesen war, +und als am nächsten Sonntag die alte Prinzessin ihre +Gemächer verließ, um sich zum Gottesdienst in die +Kirche zu begeben, da stürzte sich Falstaff mit einem +Wutgeheul auf die Arme. Nur dem glücklichen Zufall, +daß mehrere Diener anwesend waren, hatte sie +es zu verdanken, daß sie der schrecklichen Rache des +gekränkten Köters entging. Falstaff wurde schmählich +hinausgejagt und von dem Tage an wurde er jedesmal +ins entfernteste Zimmer gezerrt, bevor die alte +Dame ihre Gemächer verließ. Sämtliche Dienstboten +erhielten die strengsten Vorschriften. Aber dennoch fand +<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> +das rachedurstige Tier zwei- oder dreimal Gelegenheit, +in das verbotene Gebiet einzubrechen. War er erst auf +der Treppe, so raste er wie der Blitz durch die ganze +Zimmerflucht bis zum Schlafgemach der Alten. Kein +Dienertroß konnte ihn dann mehr zurückhalten. Zum +Glück war die Tür zu dem Schlafzimmer immer verschlossen +und Falstaff konnte weiter nichts tun, als so +lange fürchterlich heulen, bis die Diener ihn wieder +fortgeschafft hatten. Die alte Dame aber, die während +des Geheuls so schrie, als werde sie von Falstaff schon +lebendig aufgefressen, wurde jedesmal krank von dem +Schreck und von der ausgestandenen Angst. Mehrmals +schon hatte sie ihr Ultimatum an die Fürstin gestellt +und einmal war sie sogar so weit gegangen – in einem +Moment der Kopflosigkeit vermutlich – daß sie +erklärt hatte, entweder sie oder Falstaff müsse das +Haus verlassen; aber die Fürstin hatte in eine Trennung +von Falstaff nicht eingewilligt. +</p> + +<p> +Die Fürstin hatte im allgemeinen für andere nicht +gerade viel Liebe übrig, aber diesen Falstaff liebte +sie, nächst den Kindern, mehr als alles auf der Welt. +Vor etwa sechs Jahren war der Fürst einmal von einem +Spaziergang mit einem kleinen jungen Hunde +zurückgekehrt, einem schmutzigen, kranken Wesen von +wahrhaft mitleiderregendem Aussehen, der aber nichtsdestoweniger +eine Bulldogge reinster Rasse war. Der +Fürst hatte ihn irgendwie gerettet. Der Hund +freilich benahm sich äußerst unmanierlich und deshalb +wurde er auf Wunsch der Fürstin auf den +Hinterhof geschafft und dort an die Kette gelegt. Der +Fürst hatte nichts dagegen einzuwenden. Zwei Jahre +<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> +darauf nun, als die Familie den Frühling in einem +Landhause an der Newa verbrachte, fiel der kleine +Alexander – Katjäs jüngerer Bruder, gewöhnlich +Ssascha genannt – in den Fluß. Die Fürstin sah es, +schrie auf und wollte sich sogleich in die Fluten stürzen, +nur mit Gewalt konnte man sie davon abhalten, +denn es wäre ihr Tod gewesen. Die Strömung aber +riß schon das Kind mit sich fort und nur das Kleidchen +sah man noch an einer Stelle an der Oberfläche +auftauchen. In größter Hast versuchte man ein Boot +loszubinden, aber eine Rettung des Kindes wäre ein +Wunder gewesen. Da jagte plötzlich in großen Sätzen +die riesige Bulldogge ans Ufer und sprang ins Wasser, +schwamm in mächtigen Stößen dem ertrinkenden Knaben +nach, packte ihn mit dem Gebiß und schwamm im +Triumph ans Ufer zurück. Die Fürstin stürzte vor ihm +nieder, umarmte den schmutzigen, nassen Hund und +küßte ihn wie von Sinnen. Doch Falstaff, der übrigens +damals noch auf den prosaischen, ja sogar höchst +plebejischen Namen „Frix“ hörte, war ein ausgesprochener +Feind aller Zärtlichkeiten und erwiderte die +Liebe der Fürstin damit, daß er sie in die Schulter biß, +soweit sein Rachen nur fassen konnte. Die Fürstin litt +bis an ihr Lebensende an der Narbe, aber ihre Dankbarkeit +für die Rettung des Sohnes kannte trotzdem +keine Grenzen. Falstaff mußte in die Gemächer der +fürstlichen Familie übersiedeln, wurde gereinigt, gewaschen +und bekam ein Halsband aus getriebenem +Silber. Er hielt sich fortan zumeist im Boudoir der +Fürstin auf, lag dort auf einem prachtvollen Bärenfell, +und bald brachte es die Fürstin so weit, daß sie +<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> +ihn ungestraft streicheln durfte. Als sie erfuhr, daß ihr +Liebling „Frix“ hieß, war sie entsetzt über diese Geschmacklosigkeit +und sogleich mußten alle helfen, einen +anderen passenderen Namen ausfindig zu machen, +wenn möglich einen klassischen, recht altertümlichen. +Hektor und Cerberus waren leider schon zu abgedroschen, +es mußte ein ganz besonderer Name sein, wie +er dem Günstling der Fürstin zukam. Nach langer +vergeblicher Liebesmüh’ schlug der Fürst zu guter Letzt, +im Hinblick auf die ungeheure Gefräßigkeit der Dogge, +den Namen Falstaff vor. Der Name fand den +größten Beifall und wurde gewählt. Falstaff führte +sich hinfort auch weit besser auf. Als reinblütiger +Engländer war er naturgemäß schweigsam und ernst, +griff niemanden als erster an, sondern verlangte nur, +daß man sein Ruhelager auf dem Bärenfell achtete, +und ihm überhaupt die schuldige Ehrfurcht bezeuge. +Von Zeit zu Zeit jedoch bemächtigte sich seiner so etwas +wie ein Spleen und Falstaff gedachte mit bitteren +Gefühlen der Tatsache, daß sein unversöhnlicher +Feind, der ihm seine souveränen Rechte genommen, +immer noch unbestraft weiterlebte. Dann schlich er +heimlich bis zur Treppe, die nach oben führte, und da +er diese gewöhnlich verschlossen fand, legte er sich +dort in ihrer Nähe irgendwohin, möglichst unbemerkbar +in einen Winkel, oder wo er sonst am wenigsten +auffiel, und nun wartete er arglistig auf einen vergeßlichen +Dienstboten, der die Tür vielleicht zu schließen +vergaß. Bisweilen wartete er in seiner Rachsucht +drei Tage lang vergeblich, denn es war allen aufs +strengste eingeschärft, die Tür nicht offen stehen zu +<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> +lassen. Auf diese Weise hatte er zuletzt seine Wut schon +zwei Monate verbeißen müssen – vor zwei Monaten +nämlich war er zum letztenmal nach oben gerast. +</p> + +<p> +„Falstaff, Falstaff!“ rief die Prinzeß, die Tür +offen haltend, in den freundlichsten Tönen Falstaff auf +die Treppe bittend. +</p> + +<p> +In diesem Augenblick hatte Falstaff bereits gewittert, +daß die Treppentür aufgemacht wurde und +war schon im Begriff, über seinen Rubikon zu springen. +Aber die Aufforderung dazu von seiten der kleinen +Prinzeß erschien ihm dermaßen unbegreiflich, daß +er im ersten Moment entschieden seinen Ohren nicht +traute. Er war schlau wie eine Katze, und um sich +den Anschein zu geben, als habe er die Fahrlässigkeit, +die die Tür offen stehen ließ, gar nicht bemerkt, ging +er zum Fenster, legte die Vorderpfoten auf das Fensterbrett +und begann, das Haus gegenüber zu betrachten +... Kurz, er benahm sich wie die argloseste +Seele der Welt, etwa wie ein gleichgültiger Spaziergänger, +der für einen Augenblick stehenbleibt, um die +Architektur eines schönen Gebäudes zu bewundern. +Indessen schlug aber und wiegte sich sein Herz schon +in süßester Hoffnung. Wie groß war daher seine Überraschung, +seine Freude, wie geriet er förmlich außer sich +vor Übermut, als die Tür vor ihm sogar sperrangelweit +aufgemacht wurde und er überdies noch gerufen, gebeten, +angefleht wurde, das verbotene Gebiet zu betreten +und seinen gerechten Rachedurst unverzüglich +zu stillen! Er heulte auf vor Freude, zeigte die Zähne, +und raste, es war unheimlich anzuschauen, in wahrem +Siegesrausch wie der Wind an uns vorüber. +</p> + +<p> +<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a> +Er raste mit solcher Wucht, daß der Diener, der +ihm oben in den Weg kam, vom Stoß reichlich eine +Klafter weit zur Seite flog und sich nach dem entsprechenden +Naturgesetz noch einmal in die Runde +drehte. Falstaff flog wie eine Kanonenkugel. Madame +Léotard kreischte auf vor Schreck. Doch Falstaff prallte +schon an die verschlossene Tür, richtete sich hoch auf +und heulte los, daß Gott erbarm’. Als Antwort ertönte +ein fürchterliches Geschrei des alten Fräuleins. +Und schon stürmte von allen Seiten die Legion der +Feinde herbei, das ganze Haus lief nach oben, und das +Ende war, daß Falstaff, der wilde Falstaff, gefesselt +an allen vier Beinen, mit einem geschickt über seinen +Kopf geworfenen Maulkorb unschädlich gemacht und +schmachvoll am Lasso geschleift, wie ein besiegter Sieger +vom Felde des Kampfes nach unten zurückkehrte. +</p> + +<p> +Ein Bote wurde zur Fürstin entsandt. +</p> + +<p> +Diesmal war die Fürstin nicht mehr zum Entschuldigen +und Begnadigen geneigt. Aber wer sollte nun +bestraft werden? Sie erriet natürlich sofort, wer die +Schuldige war, – ihr Blick fiel auf Katjä ... Die +stand bleich und schuldbewußt da. Die Arme dachte +erst jetzt an die Folgen ihres Streiches. Der Verdacht +konnte aber auch auf die unschuldigen Dienstboten +fallen, und deshalb war Katjä schon im Begriff, die +Wahrheit zu gestehen. +</p> + +<p> +„Du hast es getan?“ fragte die Fürstin streng. +</p> + +<p> +Ich sah, wie Katjä totenblaß wurde – da trat ich +schnell einen Schritt vor und sagte mit fester Stimme: +</p> + +<p> +„Ich habe Falstaff heraufgelassen ... Aus Versehen,“ +<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a> +fügte ich hinzu, denn mein ganzer Mut sank +zusammen vor dem drohenden Blick der Fürstin. +</p> + +<p> +„Madame Léotard, bestrafen Sie sie. Aber ich +wünsche, daß Sie mit dieser Strafe ein Exempel statuieren!“ +sagte die Fürstin und verließ das Zimmer. +</p> + +<p> +Ich sah Katjä an: sie stand wie getroffen, wie betäubt, +ihre Arme hingen schlaff herab, ihr erbleichtes +Gesichtchen sah zu Boden. +</p> + +<p> +Die einzige Strafe, die man in der Erziehung der +Kinder des Fürsten anwandte, war, daß man sie in +einem leeren Zimmer einschloß. In einem leeren Zimmer +zwei Stunden allein zu sein – das ist wohl weiter +nicht schlimm. Wenn aber das Kind mit Gewalt, +gegen seinen Willen, eingeschlossen wird und man +ihm erklärt, daß ihm die Freiheit genommen ist, so ist +die Strafe gar nicht so unbedeutend. Gewöhnlich wurde +Katjä oder ihr Bruder auf zwei Stunden eingesperrt. +Mich sperrte man, in Anbetracht der ganzen +Ungeheuerlichkeit meines Vergehens, auf vier Stunden +ein. Ich verging fast vor Freude, als ich in mein +Gefängnis trat. Ich dachte an Katjä. Ich wußte, daß +ich gesiegt hatte. Doch anstatt der vier Stunden saß +ich dort bis vier Uhr morgens. Und das geschah auf +folgende Weise. +</p> + +<p> +Zwei Stunden nach meiner Einkerkerung erhielt +Madame Léotard die Nachricht, daß ihre Tochter aus +Moskau eingetroffen und erkrankt sei und sie zu sprechen +wünsche. Sie fuhr sogleich hin und natürlich vergaß +sie mich darüber ganz und gar. Das Mädchen, +welches nach uns zu sehen hatte, nahm an, ich sei von +Madame Léotard schon vor ihrer Abfahrt aus der +<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a> +Haft entlassen worden. Katjä wurde bald darauf nach +unten zur Mutter gerufen und mußte dort bis elf Uhr +abends sitzen. Als sie nach oben zurückkehrte, war sie +sehr erstaunt, mich nicht in meinem Bett zu sehen. +Nastjä half ihr beim Auskleiden, doch die Prinzeß +hatte ihre Gründe, weshalb sie sie nicht nach mir fragte. +Sie legte sich hin und wartete auf mich, denn obschon +sie wußte, daß ich nur auf vier Stunden eingesperrt +war, dachte sie doch, das Kindermädchen werde +mich sogleich bringen. Nastjä aber hatte mich ganz +vergessen, um so mehr, als ich mich immer allein auskleidete. +So kam es, daß ich in meinem Gefängnis +nächtigen mußte. +</p> + +<p> +Es war gegen vier Uhr morgens, als mich plötzlich +Lärm und Gepolter aufweckten. Ich hatte mich +auf die Diele gelegt und war eingeschlafen. Im ersten +Augenblick schrie ich auf vor Angst, doch dann unterschied +ich Katjäs Stimme, die von allen anderen +am lautesten ertönte, darauf die Stimmen von Madame +Léotard, Nastjä und der Beschließerin. Endlich +wurde die Tür aufgemacht und Madame Léotard umarmte +und drückte mich unter Tränen an ihr Herz, und +bat mich, ihr zu verzeihen, daß sie mich vergessen hatte. +Ich schlang meine Arme um ihren Hals und zerfloß +in Tränen. Dabei zitterte ich vor Kälte und alle Knochen +taten mir weh von der harten Diele. Ich suchte +mit den Augen Katjä, sie lief aber schon in unser +Schlafzimmer zurück, und als ich hinkam, lag sie schon +im Bett und schlief oder stellte sich schlafend. Am +Abend hatte sie anfangs allerdings auf mich gewartet, +war aber dann unwillkürlich und unversehens eingeschlummert +<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a> +und hatte bis vier Uhr morgens geschlafen. +Nach ihrem plötzlichen Erwachen hatte sie dann alle +aus den Federn gebracht, zunächst die zurückgekehrte +Madame Léotard, darauf Nastjä, alle weiblichen +Dienstboten – und zusammen mit diesen befreite sie +mich. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen wußte schon das ganze +Haus von meinem Abenteuer. Sogar die Fürstin soll +gesagt haben, man sei gar zu streng mit mir verfahren. +Den Fürsten aber sah ich damals zum erstenmal +wirklich aufgebracht. Er kam in sichtlich großer Erregung +gegen zehn Uhr zu uns nach oben. +</p> + +<p> +„Ich bitte Sie, Madame,“ wandte er sich an die +Französin, „was soll denn das für eine Methode sein? +Wie sind Sie mit dem armen Kinde umgegangen? Das +ist ja barbarisch, wahrhaft barbarisch! einfach skythisch! +Ein armes, schwächliches Kind, und noch dazu +solch ein verträumtes, eingeschüchtertes, kleines Mädchen +– und das sperren Sie in ein dunkles Zimmer +für die ganze Nacht ein! Das heißt doch das Kind +geradezu dem Verderben ausliefern! Wissen Sie denn +nicht, was sie in ihrem jungen Leben schon erlebt hat? +Nein, das war von Ihnen einfach unmenschlich, ich +versichere Sie, Madame! Und wie ist eine solche Strafe +überhaupt möglich? Wer hat sich nur so etwas ausdenken +können?“ +</p> + +<p> +Die arme Madame Léotard begann unter Tränen +und in großer Verwirrung den Sachverhalt zu erklären. +Sie sagte, daß ihre Tochter angekommen sei, +und darüber habe sie mich vergessen, die Strafe an sich +<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a> +sei gut, wenn sie nicht zu lange dauere, und sogar +Jean Jacques Rousseau sage etwas Ähnliches. +</p> + +<p> +„Jean Jacques Rousseau, Madame! Was geht +mich Jean Jacques an! Der ist keine Autorität. Und +übrigens hat Rousseau kein Recht, von Erziehung zu +sprechen, denn er hat sich von seinen eigenen Kindern +losgesagt, Madame! Jean Jacques Rousseau war +ein unsittlicher Mensch, Madame!“ +</p> + +<p> +„Jean Jacques Rousseau! Jean Jacques ein unsittlicher +Mensch! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Prince! Prince!</span> Was sagen Sie!“ +</p> + +<p> +Und Madame Léotard wurde rot vor Entsetzen. +</p> + +<p> +Sie war im Grunde eine prächtige Frau und nahm +nicht gern etwas übel; wenn man sich aber unterfing, +an ihren Lieblingen etwas auszusetzen, etwa den klassischen +Schatten eines Corneille oder Racine im Jenseits +zu beunruhigen, oder Voltaire zu beleidigen oder +Jean Jacques Rousseau einen unsittlichen Menschen +zu nennen – oh Gott! Tränen entstürzten den Augen +der guten alten Dame und sie bebte vor Erregung. +</p> + +<p> +„Sie vergessen sich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon prince</span>!“ rief sie außer +sich, mit vor Aufregung unsicherer Stimme. +</p> + +<p> +Der Fürst besann sich denn auch sofort und entschuldigte +sich, dann trat er zu mir, küßte mich mit tiefem +Gefühl, bekreuzte mich und verließ uns. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Pauvre prince!</span>“ seufzte Madame Léotard, die +nun ihrerseits weich wurde. Darauf setzten wir uns +an den Lerntisch und der Unterricht begann. +</p> + +<p> +Die Prinzeß war aber sehr zerstreut. Bevor wir +hernach zum Essen nach unten gingen, kam sie auf +mich zu, mit glühendem Gesichtchen, doch lachenden +Lippen, blieb vor mir stehen, faßte mich an den +<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a> +Schultern und sagte schnell, als schäme sie sich Gott +weiß aus welchem Grunde: +</p> + +<p> +„Was? Hast du gestern lang genug für mich gesessen? +Nach dem Essen wollen wir heute in den Saal +gehen und spielen.“ +</p> + +<p> +Jemand kam und die Prinzeß wandte sich blitzschnell +von mir fort. +</p> + +<p> +Nach dem Essen, in der Dämmerung, gingen wir +beide Hand in Hand in den großen Saal. Die Prinzeß +war sehr aufgeregt und atmete schwer. Ich dagegen +war froh und glücklich wie nie zuvor. +</p> + +<p> +„Willst du Ball spielen?“ fragte sie mich. „Stell’ +dich hierhin!“ +</p> + +<p> +Sie stellte mich in die eine Saalecke, doch anstatt +nun von mir fortzugehen und den Ball mir zuzuwerfen, +blieb sie drei Schritte vor mir stehen, sah mich +an, errötete, schlug die Hände vors Gesicht und warf +sich aufs Sofa. Ich machte eine Bewegung zu ihr hin +– sie dachte aber, ich wolle fortgehen. +</p> + +<p> +„Geh nicht fort, Njetotschka, bleib bei mir,“ sagte +sie schnell, „das wird gleich vergehen.“ +</p> + +<p> +Da sprang sie auch schon auf, und über und über +erglühend, mit Tränen in den Augen, warf sie sich +an meine Brust. Ihre Wangen waren feucht, ihre Lippen +wie Kirschen so rot – und die Locken in wirrem +Durcheinander. Sie küßte mich wie von Sinnen, küßte +mein Gesicht, meine Augen, Lippen, den Hals, die +Hände, und dabei weinte sie, wie in einem Nervenanfall; +ich schmiegte mich fest an sie und wir umarmten +uns süß und selig, wie zwei gute Freunde oder – +wie ein Liebespaar, das sich nach langer, langer Trennung +<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a> +wiedersieht. Katjäs Herz pochte so stark, daß ich +jeden Schlag spürte. +</p> + +<p> +Im Nebenzimmer ertönte eine Stimme: Katjä +wurde zur Fürstin gerufen. +</p> + +<p> +„Ach Njetotschka! Nu! Auf Wiedersehen – bis +zum Abend! bis zur Nacht! Geh jetzt nach oben und +wart’ auf mich!“ +</p> + +<p> +Sie küßte mich noch ein letztes Mal leise, unhörbar, +fest, und dann eilte sie dem Ruf nach. Ich lief +nach oben, sinnlos, trunken, wie erlöst, warf mich auf +den Diwan, preßte das Gesicht ins Kissen und weinte +vor Entzücken. Mein Herz schlug so heftig, als wolle es +die Brust sprengen. Ich weiß nicht, wie die Stunden +bis zum Abend vergingen. Endlich schlug es elf und +ich ging zu Bett. Die Prinzeß kehrte erst um zwölf zurück; +sie lächelte mir von ferne zu, sagte aber kein +Wort. Nastjä entkleidete sie und schien es wie absichtlich +langsam zu tun. +</p> + +<p> +„Schneller, schneller, Nastjä!“ drängte Katjä. +</p> + +<p> +„Was ist denn das, Prinzeßchen, sind wohl die +Treppe heraufgelaufen, daß das Herzchen so schlägt?“ +fragte Nastjä. +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott, Nastjä! Wie kann man so langweilig +sein! Schneller, schneller doch!“ Und Prinzeßchen +stampfte geärgert mit dem Fuß auf. +</p> + +<p> +„Ach, was für’n Herzchen!“ sagte Nastjä und küßte +das Füßchen der Prinzeß, von dem sie gerade den +Strumpf abzog. +</p> + +<p> +Endlich war alles beendet, die Prinzeß lag im Bett +und Nastjä verließ uns. Im Nu sprang Katjä aus +<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a> +dem Bett und eilte zu mir. Ich empfing sie mit einem +Freudenschrei. +</p> + +<p> +„Komm zu mir, komm in mein Bett!“ sagte sie +schnell und selbst schon im Begriff, mich aus dem Bett +zu heben. Einen Augenblick später lagen wir beide in +ihrem Bett, umschlangen uns fest und schmiegten uns +aneinander. Die Prinzeß erstickte mich fast mit ihren +Küssen. +</p> + +<p> +„Ich weiß doch, wie du mich geküßt hast, wenn du +glaubtest ich schliefe!“ flüsterte sie, über und über errötend. +</p> + +<p> +Ich weinte. +</p> + +<p> +„Njetotschka!“ flüsterte Katjä unter Tränen, „du +mein Engel, ich hab’ dich doch schon so lange, so lange +schon lieb! Weißt du, seit wann?“ +</p> + +<p> +„Nein, seit wann?“ +</p> + +<p> +„Als Papa mir befahl, dich um Verzeihung zu bitten, +nachdem du deinen Papa verteidigt hattest, Njetotschka +... Du mein Wai–sen–kindchen!“ sagte sie +gedehnt und wieder bedeckte sie mich mit Küssen. Sie +weinte und lachte zugleich. +</p> + +<p> +„Ach, Katjä!“ +</p> + +<p> +„Nu was? – nu – was?“ +</p> + +<p> +„Warum hast du so lange ... so lange ...“ ich +sprach nicht zu Ende. Wir hielten uns krampfhaft +umschlungen und sprachen wohl drei Minuten lang +kein Wort. +</p> + +<p> +„Hör’ mal, was hast du denn alles von mir gedacht?“ +fragte die Prinzeß. +</p> + +<p> +„Ach, ich hab’ so vieles gedacht, Katjä! Ich habe +nur an dich gedacht, Tag und Nacht.“ +</p> + +<p> +<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a> +„Und in der Nacht von mir gesprochen, das habe +ich gehört.“ +</p> + +<p> +„Wirklich?“ +</p> + +<p> +„Und sogar geweint!“ +</p> + +<p> +„Siehst du! – warum warst du denn so stolz?“ +</p> + +<p> +„Ich war doch dumm, Njetotschka! Das kommt so +zuweilen über mich und dann bin ich machtlos. Ich +war die ganze Zeit böse auf dich.“ +</p> + +<p> +„Weshalb?“ +</p> + +<p> +„Weil ich selber schlecht war. Anfangs deshalb, +weil du besser warst als ich. Dann deshalb, weil +Papa dich mehr liebte! Papa aber ist ein guter Mensch, +Njetotschka. Nicht wahr?“ +</p> + +<p> +„Ach ja, das ist er!“ rief ich ganz begeistert. +</p> + +<p> +„Ja, ein guter Mensch,“ wiederholte Katjä ernsthaft. +„Aber was soll ich mit ihm anfangen? Er ist +immer so ... Nun, und dann bat ich dich um Verzeihung +und begann dabei fast zu weinen, und darüber +ärgerte ich mich wieder.“ +</p> + +<p> +„Das sah ich, das sah ich, daß du dem Weinen +nahe warst.“ +</p> + +<p> +„Schweig, Dummchen, weinst selbst jeden Augenblick!“ +rief Katjä und hielt mir den Mund zu. „Weißt +du, ich wollte dich furchtbar lieben, dann aber wollte +ich dich plötzlich wieder so hassen und ich haßte dich, +haßte dich so!“ ... +</p> + +<p> +„Weswegen denn?“ +</p> + +<p> +„Ja so – ich war bös auf dich. Ich weiß nicht, +weshalb! Dann aber sah ich, daß du ohne mich nicht +mehr leben konntest, und da dacht’ ich: wart’, ich werde +sie doch noch quälen, die Schändliche!“ +</p> + +<p> +<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a> +„Ach, Katjä!“ +</p> + +<p> +„Mein Seelchen!“ rief sie, meine Hand küssend, +„und dann, weißt du, wollte ich mit dir nicht mehr +sprechen, ich wollte nicht, für keinen Preis! Und weißt +du noch, wie ich Falstaff streichelte?“ +</p> + +<p> +„Ach du, du Unerschrockene!“ +</p> + +<p> +„Aber wie ich mich <em>fürchtete</em>!“ sagte sie und +schüttelte sich. „Doch weißt du auch, warum ich zu ihm +ging?“ +</p> + +<p> +„Warum?“ +</p> + +<p> +„Ja, weil du zuschautest. Als ich sah, daß du +mich ansahst ... Ach! – da war mir alles andere +gleich – ich ging! Hab’ ich dich erschreckt, was? Fürchtetest +du dich für mich?“ +</p> + +<p> +„Entsetzlich!“ +</p> + +<p> +„Ich weiß. Aber wie ich dann froh war, daß +Falstaff abtrollte! Mein Gott, und wie mich dann +plötzlich die Angst packte, als er aus dem Zimmer war! +Solch ein Scheu–sal!“ +</p> + +<p> +Und die Prinzeß schüttelte sich wieder und lachte +nervös, indes ein Gruseln sie faßte. Plötzlich erhob +sie ihr heißes Köpfchen und sah mich lange aufmerksam +an. Zwei Tränchen glänzten noch wie Diamanten +an ihren langen Wimpern. +</p> + +<p> +„Nu, was ist denn eigentlich an dir, daß ich dich +so liebgewonnen habe? Du! – bleich bist du, die +Haare blond, selbst solch ein Dummchen, das immer +gleich weint, die Augen blau ... Du mein Wai–sen–kindchen!“ +</p> + +<p> +Und Katjä umfing mich wieder, um mich von neuem +<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a> +mit Küssen zu bedecken. Einige ihrer Tränen fielen +auf meine Wangen. Sie war tief gerührt. +</p> + +<p> +„Und wie ich dich doch liebte! – aber immer +dachte ich: nein und nein, ich sag’s ihr doch nicht! +Ich war ja so eigensinnig! Was fürchtete ich denn +eigentlich, weshalb schämte ich mich vor dir? Sieh +doch, wie gut wir es jetzt haben!“ +</p> + +<p> +„Katjä! Es schmerzt mich so!“ sagte ich außer mir +vor Freude. „Es bricht mir das Herz entzwei!“ +</p> + +<p> +„Ja, Njetotschka! Hör’ weiter ... Ja aber, wart’, +sag’ zuerst, wer hat dir den Namen Njetotschka gegeben?“ +</p> + +<p> +„Mama!“ +</p> + +<p> +„Wirst du mir von deiner Mama erzählen?“ +</p> + +<p> +„Alles, alles!“ versprach ich begeistert. +</p> + +<p> +„Aber wohin hast du meine zwei Taschentücher gesteckt, +die mit den Spitzen? Und mein Haarband, warum +hast du das versteckt? Ach du, schämst du dich nicht! +Ich weiß doch alles!“ +</p> + +<p> +Ich lachte und errötete tief. +</p> + +<p> +„Nein, da dachte ich doch: wart’, da werd’ ich sie +noch ein bißchen quälen, mag sie warten. Manchmal +aber dachte ich wieder: aber ich lieb’ sie ja gar nicht, +ich kann sie nicht ausstehen! Du aber warst immer so +still, wie so ein frommes Lämmchen! Und wie ich fürchtete, +daß du mich für dumm halten könntest! Du bist +klug, Njetotschka, du bist doch sehr klug, nicht?“ +</p> + +<p> +„Ach, pfui Katjä, was fällt dir ein!“ rief ich fast +beleidigt. +</p> + +<p> +„Nein, du bist klug,“ sagte Katjä in bestimmtem +und ernstem Ton, „das weiß ich. Nur, weißt du, +<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a> +eines Morgens stand ich auf und hatte dich plötzlich +so lieb, ganz furchtbar lieb! Die ganze Nacht hatte +mir nur von dir geträumt. Da dachte ich: ich werde +zu Mama übersiedeln und ganz dort wohnen. Ich +will sie nicht lieben, ich will nicht! Als ich aber dann +am Abend unten bei Mama einschlief, da dachte ich: +wenn sie jetzt käme, wie in der vorigen Nacht – doch +du kamst nicht. Und wieviel Mühe es mich da kostete, +zu tun als schlafe ich ganz ruhig! Ach, wie dumm wir +waren, Njetotschka!“ +</p> + +<p> +„Aber warum wolltest du mich denn nicht lieben?“ +</p> + +<p> +„So ... Ach, was sage ich! – ich hab’ dich doch +die ganze Zeit geliebt! Immer hab’ ich dich geliebt. +Erst später kam das – daß ich dich nicht ausstehen +konnte. Ich dachte, ach, ich werde sie einmal totküssen +oder totkneifen! Da hast du’s nun, du Dummchen!“ +</p> + +<p> +Und sie kniff mich. +</p> + +<p> +„Aber erinnerst du dich noch, wie ich dir deine +Schuhschleife band?“ +</p> + +<p> +„O ja!“ +</p> + +<p> +„O ja! – war’s dir angenehm? Weißt du, ich +sah dich an: wie lieb sie doch ist, dachte ich, halt, ich +werd’ ihr die Schleife binden – was sie dann wohl +denken wird? Und da hatte ich gleich selbst solch ein +gutes Gefühl. Und wirklich, ich wollte dich auf der +Stelle abküssen ... Aber ich küßte dich doch nicht. +Dann aber fand ich das alles so komisch, so schrecklich +komisch! Und auf dem ganzen Wege, während unseres +Spazierganges, glaubte ich, jetzt, im nächsten Augenblick +nicht mehr an mich halten zu können und laut auflachen +zu müssen. Ich konnte dich nicht ansehen, so komisch +<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a> +war’s. Und wie froh ich doch war, daß du für mich +ins Gefängnis gingst!“ – Das leere Zimmer wurde +„das Gefängnis“ genannt. – „Und hattest du Angst?“ +</p> + +<p> +„Ach, fürchterlich!“ +</p> + +<p> +„Ja, und weißt du, ich freute mich nicht nur darüber, +daß du vor Mama meine Schuld auf dich genommen +hattest, sondern noch viel mehr darüber, daß du +für mich im Gefängnis sitzen mußtest! Ich dachte: jetzt +sitzt sie da und weint, ich aber – wie habe ich sie lieb! +Morgen werde ich sie so küssen, so küssen! Und du +tatest mir doch kein bißchen leid, bei Gott, du tatest +mir gar nicht leid, obschon ich auch etwas weinte.“ +</p> + +<p> +„Ich aber, siehst du, habe nicht geweint, ich war +dir zum Trotz gerade sehr froh!“ +</p> + +<p> +„Hast nicht geweint? Ach, du Böse!“ rief die Prinzeß +und saugte sich an mir fest mit ihren weichen Lippen. +</p> + +<p> +„Katjä, Katjä! Mein Gott, wie bist du reizend!“ +</p> + +<p> +„Nicht wahr? Aber jetzt mach’ mit mir, was du +willst! Schlag mich, kneif mich! Bitte, kneif mich! +Täubchen, ach, nu, so kneif mich doch!“ +</p> + +<p> +„Wildfang!“ +</p> + +<p> +„Nu, und was noch?“ +</p> + +<p> +„Dummchen ...“ +</p> + +<p> +„Und was noch?“ +</p> + +<p> +„Küss’ mich!“ +</p> + +<p> +Und wir küßten uns, weinten, lachten, unsere Lippen +waren schon geschwollen vom Küssen. +</p> + +<p> +„Njetotschka! Erstens, höre: du wirst jetzt immer zu +mir schlafen kommen. Küßt du gern? Dann werden wir +uns auch küssen. Und dann: ich will nicht, daß du so +<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a> +langweilig bist. Warum langweiltest du dich? Wirst +du mir das erzählen, ja?“ +</p> + +<p> +„Alles werde ich dir erzählen. Aber jetzt bin ich +nicht mehr traurig, sondern lustig!“ +</p> + +<p> +„Nein, wart’ nur, bald wirst du auch so rote Wangen +haben wie ich! Ach, wenn doch der Morgen schneller +käme! Willst du schon schlafen, Njetotschka?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Nu, dann, laß uns erzählen!“ +</p> + +<p> +Und wir sprachen wohl gute zwei Stunden. Gott +weiß was wir da alles zusammenphantasierten. Zuerst +entrollte Katjä alle ihre Zukunftspläne und teilte mir +mit, daß sie ihren Papa am meisten von allen liebte, +fast sogar mehr als mich. Dann kamen wir überein, +daß Madame Léotard eine gute Frau und gar nicht +streng war. Dann setzten wir sogleich fest, was wir am +nächsten und übernächsten Tage tun würden, und überhaupt +bestimmten wir unser Leben etwa schon für +zwanzig Jahre im voraus. Für die allernächste Zukunft +entwarf Katjä folgenden Plan: an einem Tage würde +sie mir befehlen und ich alles ausführen, und am nächsten +Tage umgekehrt, dann würde ich befehlen und sie +widerspruchslos gehorchen; und dann würden wir beides +zugleich tun, also uns gegenseitig Befehle erteilen; +und dann würden wir es einmal absichtlich so machen, +daß wir in Streit gerieten, nur so zum Schein, und dann +uns schnell wieder versöhnen. Mit einem Wort, uns +erwartete schier unendliches Glück. Schließlich wurden +wir aber doch müde. Meine Augen fielen mir schon +zu. Katjä lachte mich aus, nannte mich eine Schlafmütze +und – schlief selbst noch vor mir ein. +</p> + +<p> +<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a> +Am nächsten Morgen erwachten wir beide zugleich, +küßten uns schnell, denn wir hörten Schritte, und ich +konnte gerade noch rechtzeitig in mein Bett schlüpfen, +bevor Nastjä ins Zimmer trat. +</p> + +<p> +Den ganzen Tag wußten wir nicht, was wir miteinander +anfangen sollten vor Freude. Wir liefen aus +einem Zimmer ins andere und versteckten uns fast die +ganze Zeit vor den anderen, denn fremde Augen fürchteten +wir am meisten. Zu guter Letzt begann ich ihr +meine Lebensgeschichte zu erzählen. Katjä war geradezu +erschüttert. +</p> + +<p> +„Du, du Böse! Warum hast du mir das alles nicht +früher erzählt? Ich hätte dich dann gleich so lieb gehabt, +so lieb! Doch sag’: haben dich die Jungen auf +der Straße schmerzhaft geschlagen?“ +</p> + +<p> +„O ja. Und ich hatte schreckliche Angst vor ihnen!“ +</p> + +<p> +„Pfui, die schändlichen! Weißt du, Njetotschka, ich +habe selbst einmal gesehen, wie ein Knabe einen anderen +auf der Straße schlug. Weißt du, morgen werde +ich heimlich Falstaffkas Hundepeitsche mitnehmen und +wenn mir noch solch einer begegnet, dann werde ich +ihn so hauen, so hauen!“ +</p> + +<p> +Ihre Augen blitzten vor Zorn. +</p> + +<p> +Wir erschraken, wenn jemand ins Zimmer trat; +wir fürchteten, beim Küssen überrascht zu werden, denn +wir küßten uns an jenem Tage wenigstens hundertmal. +So vergingen der erste und der zweite Tag. Ich fürchtete +schon, zu sterben vor Entzücken. Das Glücksgefühl +war so mächtig, daß es mir den Atem raubte. Doch +unser Glück sollte nicht von langer Dauer sein. +</p> + +<p> +<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a> +Madame Léotard, die Katjä auf Wunsch der besorgten +Fürstin nicht aus den Augen lassen sollte, beobachtete +uns drei Tage mit wachsender Verwunderung +und in dieser Zeit bemerkte sie manches, was ihr +zu denken gab. Am dritten Tage ging sie zur Fürstin +und berichtete gewissenhaft, was ihr an uns aufgefallen +war: daß wir beide wie außer Rand und Band +seien, schon drei Tage uns nicht voneinander trennten +– uns jeden Augenblick küßten, weinten, lachten +und unaufhörlich plauderten, was sie früher nie +bemerkt habe: sie wisse gar nicht, welchem Einfluß das +zuzuschreiben sei; aber es wolle ihr scheinen, daß die +Prinzeß sich in einem krankhaften Zustande befinde, +und deshalb meine sie, es wäre vielleicht besser, wir +kämen seltener zusammen. +</p> + +<p> +„Das habe ich schon längst gedacht,“ versetzte die +Fürstin. „Ich ahnte es, daß man von dieser sonderbaren +Waise nur Scherereien haben werde! Was man +mir von ihr erzählt hat, von ihrem früheren Leben, – +ist geradezu haarsträubend, ist einfach entsetzlich! Sie +hat augenscheinlich Einfluß auf Katjä. Sie sagen, Katjä +liebe sie sehr?“ +</p> + +<p> +„Ich glaube, sogar unsinnig!“ +</p> + +<p> +Die Fürstin errötete vor Ärger. Sie war schon damals +eifersüchtig auf die Liebe ihrer Tochter zu mir. +</p> + +<p> +„Das ist mir doch zu unnatürlich,“ sagte sie. +„Früher waren sie einander so fremd, und ich muß +gestehen, das freute mich. So klein dieses Mädchen +auch noch ist, aber ich bin vor nichts sicher. Sie verstehen +mich? Sie hat schon mit der Muttermilch alles +das eingesogen, ihre Angewohnheiten oder vielleicht sogar +<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a> +ihre Neigungen. Ich begreife nicht, was der Fürst +an ihr gefunden hat! Tausendmal habe ich ihm schon +den Vorschlag gemacht, sie in einer Pension unterzubringen.“ +</p> + +<p> +Madame Léotard versuchte nun, mich zu verteidigen, +aber die Fürstin hatte ihren Entschluß bereits +gefaßt. Katjä wurde nach unten gerufen und dort +sagte man ihr, daß sie mich nicht vor dem nächsten +Sonntag wiedersehen dürfe, also erst nach einer ganzen +Woche. +</p> + +<p> +Ich erfuhr das erst am späten Abend und Entsetzen +erfaßte mich. Ich dachte an Katjä und fürchtete, sie +werde unsere Trennung nicht überleben. Ich geriet +außer mir und meine Verzweiflung war so groß, daß +ich in der Nacht krank wurde. Am nächsten Morgen +kam der Fürst zu mir und sagte mir leise, als wir allein +blieben, ich solle ruhig auf ein baldiges Wiedersehen +hoffen. Leider waren aber seine Bemühungen vergeblich, +denn die Fürstin blieb bei ihrem Entschluß. Meine +Verzweiflung dagegen wuchs mit jeder Stunde und der +Schmerz würgte mich, daß ich an ihm zu ersticken +glaubte. +</p> + +<p> +Am dritten Morgen brachte mir Nastjä einen Zettel +von Katjä. Sie schrieb mir mit dem Bleistift auf +einem abgerissenen Stück Papier in fürchterlichen +Krähenfüßen folgendes: +</p> + +<p> +„Ich liebe dich unsinnig. Ich sitze bei <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">maman</span> und +denke nur darüber nach, wie ich fortlaufen könnte. +Ich werde unbedingt fortlaufen, das schwöre ich dir, +und deshalb weine nicht. Schreib’ mir, wie du mich +liebst. Ich aber umarme dich die ganze Nacht im +<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a> +Schlaf, und habe furchtbar gelitten, Njetotschka. Ich +schicke dir Konfekt. Adieu.“ +</p> + +<p> +Ich antwortete auf demselben Wege. Den ganzen +Tag las ich immer wieder Katjäs Brief und weinte. +Madame Léotard quälte mich mit ihrer Zärtlichkeit. +Am Abend erfuhr ich, daß sie zum Fürsten gegangen +war und gesagt hatte, daß ich sicherlich zum drittenmal +krank werden würde, wenn ich Katjä nicht wiedersähe, +und daß sie es bereue, die Fürstin beunruhigt zu haben. +Ich fragte Nastjä, was Katjä mache. Sie sagte, +Katjä weine nicht, sei aber sehr bleich. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen flüsterte Nastjä mir zu: +</p> + +<p> +„Gehen Sie ins Kabinett des Fürsten. Aber gehen +Sie über die Treppe, die rechts nach unten führt.“ +</p> + +<p> +Alles in mir wurde lebendig in froher Vorahnung. +Atemlos vor Erwartung lief ich nach unten und klinkte +die Tür auf zum Kabinett. Es war niemand da. Plötzlich +wurde ich hinterrücks krampfhaft umschlungen und +Katjä küßte mich leidenschaftlich. Lachen, Tränen ... +Im Nu riß sie sich aus meinen Armen, lief zum Vater, +kletterte wie eine Eichkatze an ihm empor bis auf seine +Schulter, konnte sich aber dort nicht halten und sprang +auf den Diwan. Das brachte auch den Fürsten so aus +dem Gleichgewicht, daß er sich setzen mußte. Katjä +lachte unter Tränen. +</p> + +<p> +„Papa, was bist du für ein guter Papa!“ +</p> + +<p> +„Wildfang! Ihr seid mir beide gut! Was ist denn +mit euch geschehen? Woher diese Freundschaft? Woher +diese Liebe?“ +</p> + +<p> +„Ach, frag’ nicht, Papa, davon verstehst du nichts!“ +</p> + +<p> +Und wir hielten uns wieder fest umschlungen. +</p> + +<p> +<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a> +Ich betrachtete sie bang: sie hatte abgenommen in +den drei Tagen. Die frische Farbe ihres Gesichtchens +war einer zarten Blässe gewichen. Da mußte ich weinen +vor Leid. +</p> + +<p> +Nastjä klopfte an die Tür – ein Zeichen, daß Katjäs +Abwesenheit der Fürstin aufgefallen war. Katjä +wurde leichenblaß. +</p> + +<p> +„Laßt es jetzt genug sein, Kinder. Wir werden +hier jeden Tag zusammenkommen. Nehmt jetzt Abschied +für heute und Gott mit euch!“ sagte der Fürst. +</p> + +<p> +Er war sichtlich gerührt, da er unseren Schmerz +sah; doch es sollte anders kommen. Am Abend desselben +Tages <a id="corr-5"></a>kam aus Moskau die Nachricht, daß der +kleine Ssascha schwer erkrankt sei und fast schon in den +letzten Zügen liege. Die Fürstin beschloß sofort, am +nächsten Morgen die Reise anzutreten. Das geschah +alles so schnell, daß ich es erst eine Minute vor ihrer +Abfahrt erfuhr. Daß wir uns überhaupt noch verabschieden +konnten, Katjä und ich, hatten wir nur dem +Fürsten zu danken, denn die Fürstin hatte davon nichts +wissen wollen. Die Prinzeß war wie zerschlagen. Ich +lief wie von Sinnen nach unten und warf mich an +ihre Brust. Der Reisewagen wartete schon vor dem +Portal. Katjä sah mich an und plötzlich wurde sie ohnmächtig. +Ich bedeckte sie mit Küssen. Die Fürstin bemühte +sich erschrocken um sie und gab ihr Essenzen zu +riechen. Endlich schlug sie die Augen auf und ihre erste +Bewegung war, daß sie mich wieder umarmte. +</p> + +<p> +„Leb’ wohl, Njetotschka!“ sagte sie plötzlich und +sie versuchte zu lächeln, aber es sprach nur eine unsagbare +Rührung aus ihrem Gesichtchen. „Du, sieh +<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a> +nicht auf mich; das ist nur so; ich bin nicht krank, nach +einem Monat komme ich wieder. Dann werden wir +uns nie mehr trennen.“ +</p> + +<p> +„Genug, Katjä,“ sagte die Fürstin ruhig, „fahren +wir!“ +</p> + +<p> +Aber die Prinzeß kehrte noch einmal zurück. Noch +einmal umfing sie mich krampfhaft. +</p> + +<p> +„Mein Leben!“ konnte sie mir noch zuflüstern, „auf +Wiedersehen!“ +</p> + +<p> +Wir küßten uns zum letztenmal und die Prinzeß +verließ mich – für lange, sogar für sehr lange Zeit. +Es vergingen acht Jahre, bis wir uns wiedersahen! +</p> + +<hr class="tb"> + +<p class="noindent"> +Ich habe von dieser Episode meiner Kindheit mit +Absicht so ausführlich erzählt. Unsere Lebensgeschichten +sind eben untrennbar verbunden. Ihr Roman – +ist auch mein Roman. Es war mir wie vom Schicksal +bestimmt, sie kennen zu lernen, und ebenso ihr, mich +zu finden. Und überdies konnte ich der Lust nicht widerstehen, +mich nochmals in meine Kindheit zu versetzen ... +Jetzt wird meine Erzählung schneller fortschreiten. +Mein Dasein sank damals wie in eine große Stille und +erst als ich mein sechzehntes Jahr bereits vollendet +hatte, war es mir, als erwachte ich wieder zu einem +wirklichen Leben ... +</p> + +<p> +Doch zuvor muß ich noch ein paar Worte über die +erste Zeit nach der Abfahrt der fürstlichen Familie +sagen. +</p> + +<p> +Ich blieb mit Madame Léotard zurück. +</p> + +<p> +So vergingen zwei Wochen. Dann traf aus Moskau +<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a> +ein Abgesandter des Fürsten ein und brachte die +Nachricht, daß die Rückkehr nach Petersburg auf unbestimmte +Zeit hinausgeschoben worden sei. Da nun +Madame Léotard aus Gründen, die ihre eigene Familie +angingen, nicht nach Moskau übersiedeln konnte, so +hatte sie im Hause des Fürsten nichts mehr zu tun. Sie +blieb aber in derselben Familie, indem sie zur ältesten +Tochter der Fürstin übersiedelte. +</p> + +<p> +Ich bin bisher noch nicht auf Alexandra Michailowna +zu sprechen gekommen – wohl deshalb, weil +ich sie bis dahin nur ein einziges Mal gesehen hatte. +Sie war die Tochter der Fürstin aus deren erster Ehe. +Die Herkunft und Verwandtschaft der Fürstin waren +etwas dunkel. Ihr erster Mann war ein Gutspächter +gewesen. Als sie dann zum zweitenmal geheiratet +hatte, wußte sie nicht, was sie mit ihrer ältesten Tochter +anfangen sollte. Auf eine glänzende Partie konnte +sie nicht hoffen. Die Mitgift war mäßig; aber schließlich, +vier Jahre vor meiner Aufnahme, hatte man für +sie dennoch einen reichen Mann, der schon einen bedeutenden +Posten bekleidete, gefunden. Alexandra Michailowna +kam in neue Gesellschaftskreise und sah um sich +eine andere Welt. Die Fürstin besuchte ihre Tochter +im ganzen nur zweimal im Jahre. Der Fürst, ihr Stiefvater, +besuchte sie dagegen in jeder Woche und nahm +dann auch Katjä mit. In der letzten Zeit sah die Fürstin +es sehr ungern, daß Katjä zur Schwester ging; da +brachte der Fürst sie oft heimlich hin. Katjä vergötterte +die Schwester, obwohl sie ganz entgegengesetzte +Charaktere waren. +</p> + +<p> +Alexandra Michailowna war damals zweiundzwanzig +<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a> +Jahre alt, still, zart, sehr liebreich. Ja es war, +wie wenn ein heimlicher Kummer, ein verborgener +Schmerz ihre schönen Züge verklärte. Und dennoch +hatte ich die Empfindung, als paßten der Ernst und die +Trauer nicht gut zu ihrem schönen lieben Antlitz, ganz +wie etwa einem Kinde Trauer nicht steht. Man konnte +sie nicht ansehen, ohne sogleich tiefe Sympathie für sie +zu empfinden. Sie war fast durchsichtig bleich und wie +es hieß, zur Schwindsucht geneigt. Sie lebte sehr zurückgezogen +und liebte weder bei sich viele Gäste zu +empfangen, noch selbst Besuche zu machen. Ihr Leben +war das einer Einsiedlerin. Kinder hatte sie zunächst +nicht. Ich weiß noch, sie kam einmal zu uns gefahren, +um mit Madame Léotard zu sprechen, und sie trat damals +zu mir und küßte mich mit tiefem Gefühl. Mit ihr +war ein hagerer, schon älterer Herr gekommen. Ihm +traten die hellen Tränen in die Augen, als er mich sah. +Das war der Geigenvirtuose B. ... Alexandra Michailowna +legte den Arm um mich und fragte, ob ich bei +ihr leben und ihr Töchterchen sein wolle. Ich sah ihr +ins Gesicht und erkannte in ihr die Schwester meiner +Katjä, und ich umarmte sie mit einem dumpfen +Schmerz im Herzen und empfand wieder, wie groß +meine Einsamkeit war ... Ganz, als hätte mir wieder +jemand gesagt: „Du bist eine Waise!“ Darauf gab +mir Alexandra Michailowna einen Brief des Fürsten, +den ich mit unterdrücktem Schluchzen las. Der Fürst +schrieb in Liebe und Güte, Gottes Segen möge auf mir +ruhen und ich möge in dem langen Leben, das mir noch +bevorstehe, glücklich sein. Zum Schluß bat er mich noch, +auch seine andere Tochter zu lieben. Katjä schrieb mir +<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a> +gleichfalls einige Zeilen. Sie schrieb, daß sie sich nun +gar nicht mehr von der Mutter trenne. +</p> + +<p> +Bevor dieser Tag zu Ende ging, kam ich also wieder +in ein anderes Haus, zu anderen Menschen, nachdem +ich mein Herz von neuem von allem hatte losreißen +müssen, was mir schon lieb und traut geworden war. +Müde, wie zerschlagen, betrat ich das neue Heim. Mein +Herz blutete ... +</p> + +<p> +Und so beginnt in meiner Erzählung denn jetzt ein +neuer Abschnitt meines Lebens. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-6"> +VI. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Mein neues Leben verlief so still und ruhig, als +hätte ich unter Einsiedlern gelebt ... Ich brachte bei +ihnen mehr als acht Jahre zu und erinnere mich nicht, +daß in dieser Zeit, abgesehen von einigen wenigen +pflichtschuldigen Diners, jemals eine größere Gesellschaft +im Hause gewesen wäre oder daß Verwandte, +Freunde und Bekannte sich bei uns zusammengefunden +hätten. Mit Ausnahme von zwei oder drei Personen, +die hin und wieder einmal vorsprachen – z. B. der +Künstler B., der ein guter Freund des Fürsten H. und +auch seiner Stieftochter Alexandra Michailowna war, +und die Herren, die fast ausschließlich in Amtsangelegenheiten +zu dem Gemahl Alexandra Michailownas +kamen – kam so gut wie niemand zu uns. Alexandra +Michailownas Mann war beständig von seinem Dienst +in Anspruch genommen, und konnte sich nur selten für +eine kurze Zeit freimachen, die er dann gleichmäßig +zwischen dem Familienleben und den gesellschaftlichen +<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a> +Pflichten teilte. Hervorragende Verbindungen, die er +unmöglich vernachlässigen konnte, zwangen ihn ziemlich +oft, die Gesellschaft an sich zu erinnern. Fast überall +hielt sich das Gerücht von seinem schrankenlosen Ehrgeiz, +doch da er sich gleichzeitig des Rufes erfreute, ein +tüchtiger, ernster Mensch zu sein, da er überdies, wie +bereits erwähnt, schon ein hohes Amt bekleidete, und +Glück und Erfolg ihn wie es schien von selbst aufsuchten, +so war die Gesellschaft weit davon entfernt, ihm +ihre Sympathie zu entziehen. Ja, noch mehr als das: +man brachte ihm beständig und ganz allgemein eine +gewisse besondere Teilnahme entgegen, die man dagegen +seiner Frau vollständig versagte. Alexandra Michailowna +lebte in völliger Einsamkeit: aber es war, +als sei ihr das nur angenehm, ja als freue sie sich sogar +darüber. Ihr stiller Charakter war gleichsam geschaffen +für dieses stille Leben. +</p> + +<p> +An mir hing sie mit ganzer Seele, sie liebte mich +wie ihr eigenes Kind, und ich, deren Tränen ob der +Trennung von Katjä noch nicht versiegt waren, – ich, +mit meinem wehen Herzen, ich warf mich wie erlöst +in ihre mütterlich zärtliche Umarmung. Und vom ersten +Tage an hat meine glühende Liebe zu ihr nie aufgehört, +noch jemals etwas von ihrer Glut eingebüßt. +Sie war mir Mutter, Schwester, Freund, sie ersetzte +mir alles und hegte und pflegte meine Jugend. Hinzu +kam, daß ich bald erriet und herausfühlte, daß ihr +Geschick durchaus nicht so glücklich war, wie man es +auf den ersten Blick wohl glauben konnte, wenn man +nach ihrem stillen und ruhigen äußeren Leben urteilte, +nach ihrer scheinbaren Freiheit und ihrem guten, stillen +<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a> +Lächeln, das so oft ihr liebes Gesicht verklärte. Ich +entdeckte vielmehr im Laufe meiner Entwicklung fast +täglich etwas Neues im Leben meiner Wohltäterin, +etwas, das in langsamer Qual von meinem Herzen +erraten wurde, und mit dieser traurigen Erkenntnis +wuchs zugleich meine Liebe zu ihr und mit der Liebe +meine Anhänglichkeit. +</p> + +<p> +Ihr Charakter war schüchtern und weich. Wenn +man ihre reinen, klaren Gesichtszüge sah, die förmlich +Ruhe ausströmten, dann hätte man es auf den ersten +Blick nicht für möglich gehalten, daß irgendeine Unruhe +in ihrem reinen Herzen wohnen konnte. Es war +undenkbar, daß sie auch nur irgendeinen Menschen +nicht hätte lieben können; das Mitleid siegte stets in +ihrem Herzen, selbst über Ekel und Abscheu – indes +war sie aber nur sehr wenigen Freunden zugetan und +lebte auch innerlich in vollständiger Einsamkeit ... +Ihrer Natur nach war sie leidenschaftlich und empfänglich +für alle Eindrücke, gleichzeitig aber war’s, als +sei ihr selbst bange vor ihrer Empfänglichkeit und als +bewache sie deshalb ihr Herz jeden Augenblick, damit +es sich nicht vergäße – und wär’s auch nur in Träumen. +Es fiel mir auf, daß ihr bisweilen in den lichtesten +Stunden mit einem Male Tränen in die Augen +traten: als sei plötzlich eine Erinnerung in ihrer Seele +aufgetaucht, die Erinnerung an etwas, was ihr Gewissen +qualvoll peinigen mochte und ewig wie auf der +Lauer lag, um im Augenblick des Glücks plötzlich hervorzuspringen +und das Glück feindlich zu verscheuchen. +Und je ruhiger, glücklicher, zufriedener sie war, um so +näher, schien es, war der Kummer, um so unfehlbarer +<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a> +erschienen plötzlich die Tränen – wie ein Anfall, der +über sie kam. Ich entsinne mich keines einzigen vollkommen +ruhigen Monats in den ganzen acht Jahren. +Ihr Mann liebte sie anscheinend sehr, und sie – sie +vergötterte ihn. Aber schon auf den ersten Blick schien +es einem, als gäbe es etwas Unausgesprochenes zwischen +ihnen. Es mußte da irgendein Geheimnis walten +– ein Geheimnis in ihrer Vergangenheit – wenigstens +geschah es, daß ich schon vom ersten Tage an +etwas Ähnliches vermutete ... +</p> + +<p> +Ihr Mann machte auf mich, als ich ihn zum erstenmal +sah, den Eindruck eines finsteren Menschen. Diesen +ersten Eindruck empfing ich noch als Kind und deshalb +konnte ihn auch nichts verwischen. Äußerlich war +er ein hagerer Mensch von hohem Wuchs, und man +hatte die Empfindung, als verberge er mit Absicht seinen +Blick hinter den großen, grünen Gläsern seiner +Brille. Er war trocken, nichts weniger als mitteilsam, +und selbst unter vier Augen im Verkehr mit seiner +Frau fand er sozusagen niemals ein rechtes Thema zur +Unterhaltung. Offenbar war ihm die Gegenwart von +Menschen lästig. Mich beachtete er überhaupt nicht; +dagegen fühlte ich mich jedesmal, wenn wir abends im +Salon Alexandra Michailownas zum Tee zusammenkamen, +während seiner Anwesenheit äußerst ungemütlich. +Heimlich beobachtete ich Alexandra Michailowna, +und zu meinem Kummer bemerkte ich, daß sie dann +jedes ihrer Worte erwog und über jede Bewegung +nachdachte. Sie aber erbleichte, wenn sie sah, daß ihr +Mann schroffer oder unfreundlicher wurde; oder sie +errötete auch wohl plötzlich, als habe sie aus einem seiner +<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a> +Worte irgendeine Anspielung oder einen Vorwurf +herausgehört. Ich fühlte es, daß ihr das Zusammensein +mit ihm schwer fiel, und doch schien sie, wenigstens +soweit sich das nach äußeren Anzeichen beurteilen +ließ, keinen Augenblick ohne ihn leben zu können. +Mir fiel besonders ihre ungeheure Aufmerksamkeit ihm +gegenüber auf: kein Wort, keine Bewegung wurde von +ihr überhört oder übersehen. Es war, als wolle sie nach +allen Kräften es ihm recht machen und als fühle sie, +daß ihr das dennoch nicht gelang. Ja, es war fast, als +erbettele sie von ihm seinen Beifall: ein flüchtiges +Lächeln, ein halbes freundliches Wort von ihm – und +sie war glücklich ... glücklich wie ein Mädchen in der +ersten Zeit einer noch schüchternen, noch hoffnungslosen +Liebe. Sie ging mit ihrem Manne um, so vorsichtig, +wie mit einem Schwerkranken. Er aber sah auf +sie, wie mir schien, mit einem sie drückenden und quälenden +Mitleid herab. Sobald er mit einem Händedruck +von ihr Abschied genommen und sich wieder in +sein Kabinett zurückgezogen hatte, war sie gleich wie +verwandelt. Ihre Bewegungen, ihre Unterhaltung, +alles an ihr wurde sofort viel freier, heiterer, sicherer. +Nur eine gewisse Verwirrung war an ihr noch lange +nach jedem Wiedersehen mit ihm bemerkbar. Sie fing +dann gleich an, sich jedes von ihm gesprochene Wort +ins Gedächtnis zurückzurufen, wie um es nochmals zu +prüfen. Oft wandte sie sich dann auch an mich mit +der Frage, ob sie sich nicht verhört habe: hatte Pjotr +Alexandrowitsch sich so oder so ausgedrückt? – und +als suche sie noch nach einem anderen Sinn in dem, +was er gesagt! Erst nach etwa einer Stunde wurde sie +<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a> +dann wieder sie selbst, als habe sie sich nun endlich +davon überzeugt, daß er mit ihr vollkommen zufrieden +sei und daß sie sich grundlos beunruhige. Dann +wurde sie plötzlich froh und heiter und gut, küßte mich, +lachte mit mir oder setzte sich an den Flügel und spielte, +was ihr gerade einfiel. Oft spielte und improvisierte +sie dann, ohne es zu gewahren, wie zwei Stunden darüber +verstrichen. Dann kam es wohl auch vor, daß das +Spiel plötzlich verstummte und ich sie weinen sah. Sobald +sie aber meine Aufregung bemerkte, versicherte sie +mir schnell und flüsternd – als fürchte sie, daß man +uns hören könnte –, es sei nichts, wirklich, es sei +nichts, diese Tränen kämen nur so von selbst, sie hätten +nichts zu bedeuten, sie sei, im Gegenteil, sehr froh +und glücklich und ich solle mich nur nicht aufregen. War +ihr Mann abwesend, so geschah es oft, daß sie sich um +ihn plötzlich beunruhigt fühlte und sich nach ihm zu +erkundigen begann: wohin er gefahren, warum, wann, +zu wann er die Pferde bestellt, ob er krank oder gesund, +bei guter oder schlechter Laune gewesen, was er gesagt +usw., usw. Von seinen Dienstangelegenheiten und seiner +Arbeit mit ihm zu sprechen – das wagte sie grundsätzlich +nicht. Wenn er ihr einmal etwas riet oder sie um +etwas bat, dann hörte sie ihn ergeben an und schien +sich in acht zu nehmen, wie eine Sklavin vor ihrem +Gebieter. Sie hatte es sehr gern, wenn er irgend etwas +von ihren Sachen lobte, etwa ein Buch, einen Kunstgegenstand +oder eine ihrer Handarbeiten. Sie war dann +gleichsam stolz darauf, und sah sofort glücklich aus. +Ihr Glück aber kannte keine Grenzen, wenn er einmal +– es geschah freilich nur sehr selten und auch dann +<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a> +fast wie aus Versehen – zu den beiden kleinen Kindern +ein wenig Zärtlichkeit äußerte. Ihr Gesicht verklärte +sich dann geradezu, es strahlte vor Glück, und +in diesen Augenblicken gab sie sich in ihrem Verhalten +dem Mann gegenüber manchmal vielleicht etwas +zu sehr ihrer Freude hin. Z. B. trieb sie dann die Kühnheit +bisweilen sogar so weit, daß sie plötzlich selbst und +unaufgefordert ihn bat – allerdings immer noch zaghaft +und mit schüchterner Stimme – irgendeine neue +Komposition, die ihr der Musikalienhändler zugesandt, +anzuhören, oder seine Meinung über ein Buch zu sagen, +oder ihr gar zu erlauben, ihm ein bis zwei Seiten daraus +vorzulesen, wenn diese einen großen Eindruck auf +sie gemacht hatten. Gewöhnlich kam der Gatte gnädig +allen ihren Wünschen nach und lächelte, wie man über +ein Kind nachsichtig lächelt, wenn man ihm irgendein +seltsames Spiel nicht verbieten will, um ihm nicht vorzeitig +seine Naivität zu rauben. Ich weiß nicht, weshalb +mich dieses Lächeln, diese hochmütige Nachsicht, +diese Ungleichheit zwischen ihnen immer so empörte! +Ich schwieg aber, bezwang mich und beobachtete sie +nur aufmerksam mit kindlicher Neugier, jedoch mit +frühreifen ernsten Gedanken. Bisweilen bemerkte ich, +daß ihm plötzlich etwas einzufallen schien: es war, als +besinne er sich, als erinnere er sich gegen seinen Willen +an etwas Schweres, Furchtbares, Unabwendbares, +und im Nu verschwand das nachsichtig herablassende +Lächeln aus seinen Zügen und seine Augen sahen plötzlich +mit solchem Mitleid auf die Frau, daß es wie eine +Lähmung über sie kam und ich von diesem Mitleid +förmlich körperlichen Schmerz verspürte: hätte es mir +<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a> +gegolten – ich glaube, es hätte mich zu Tode gequält. +Im Augenblick verschwand dann auch alle Freude aus +dem Gesicht Alexandra Michailownas. Die Musik, +wenn sie gerade spielte, oder ihre Stimme, wenn sie +gerade vorlas, brach ab. Sie erbleichte, nahm sich +krampfhaft zusammen und schwieg. Es folgte ein peinliches, +drückendes Schweigen, das bisweilen lange andauerte. +Endlich versuchte ihr Mann das Schweigen zu +brechen. Er erhob sich, um wie mit Gewalt den Ärger +und die Erregung in sich niederzuzwingen, und nachdem +er ein paarmal in finsterem Schweigen durch das Zimmer +geschritten war, drückte er seiner Frau die Hand, +<a id="corr-6"></a>atmete tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene +Worte hervor, die sie beruhigen sollten, und verließ +das Zimmer; Alexandra Michailowna aber brach +in Tränen aus und eine tiefe, qualvolle Traurigkeit +kam über sie. Oft segnete und bekreuzte er sie vor dem +Fortgehen, wie ein Kind, abends beim Abschied, und sie +empfing den Segen mit Tränen der Dankbarkeit in stiller +Ehrfurcht. Aber es gab da ein paar Abende (nur +zwei oder drei in den ganzen acht Jahren), die ich nicht +vergessen kann ... Dann war Alexandra Michailowna +plötzlich ganz verändert. In ihrem sonst so stillen Gesicht +spiegelten sich dann plötzlich anstatt der beständigen +Unterwerfung und Selbsterniedrigung vor dem Manne +– Zorn und Empörung. Das Gewitter zog langsam +herauf. Der Mann wurde schweigsamer, schroffer +und sein Gesicht noch finsterer als sonst. Schließlich +hielt es das wunde Herz der armen Frau nicht +mehr aus. Mit vor Aufregung stockender Stimme begann +sie ein Gespräch, anfangs in abgerissenen, unzusammenhängenden +<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a> +Sätzen voll von Andeutungen und +bitter verschwiegenen Worten; bis sie plötzlich, als +könne sie ihr Leid nicht mehr ertragen, in Tränen ausbrach +– und dann folgte ein Zornesausbruch mit Vorwürfen, +Klagen und Verzweiflung wie in einer schweren +Krisis. Aber man hätte sehen müssen, mit welcher +Geduld ihr Mann das alles ertrug, mit welcher Teilnahme +er sie zu beruhigen suchte und wie er ihr die +Hände küßte, bis schließlich auch ihm die Tränen in die +Augen traten: dann war’s als rufe ihr Gewissen ihr +plötzlich etwas zu und werfe ihr ein Verschulden vor. +Die Tränen ihres Mannes erschütterten sie und händeringend +in neuer Verzweiflung warf sie sich zu seinen +Füßen nieder und flehte unter Schluchzen und Weinen +um seine Verzeihung, die er ihr denn auch sofort gewährte. +Doch ihr Gewissen ließ ihr noch lange keine +Ruhe und sie fuhr fort, ihn unter Tränen um Verzeihung +zu bitten. Nach diesen Ausbrüchen war sie dann +die ganzen folgenden Monate noch schüchterner, noch +ängstlicher vor ihrem Mann als zuvor. Mir blieben +alle diese Klagen und Vorwürfe vollkommen unverständlich; +überdies wurde ich dann immer unter irgendeinem +Vorwande aus dem Zimmer geschickt, aber ganz +konnten sie dies alles doch nicht vor mir verbergen. Ich +beobachtete und sah ... und was ich nicht sah, das +erriet ich, und so schöpfte ich schon gleich zu Anfang +den Verdacht, daß es sich dabei um ein Geheimnis +handeln mußte, daß diese plötzlichen Ausbrüche eines +wunden Herzens nicht gewöhnliche Nervenkrisen waren, +daß ihr Mann nicht ohne Grund immer so finster +aussah und dieses zweideutige Mitleid mit der armen +<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a> +kranken Frau hatte, daß auch ihre Schüchternheit +und Ängstlichkeit und auch diese bescheidene sonderbare +Liebe, die sie ihrem Manne kaum zu zeigen wagte, +ihren besonderen Grund haben mußten, und ebenso +ihre Einsamkeit, ihre nahezu klösterliche Zurückgezogenheit, +sowie ihr plötzliches Erröten und Erbleichen +in der Gegenwart ihres Gatten, das mir immer +wieder auffiel und immer wieder zu denken gab. +</p> + +<p> +Doch solche Szenen kamen, wie gesagt, nur sehr, +sehr selten vor, und da unser Leben ohnehin so überaus +eintönig verlief und Alexandra Michailowna mir auch +schon so nahe stand, als hätte ich sie mein Leben lang +gekannt, und ich andererseits mich schnell entwickelte +und viel Neues in mir erwachte –, wenn es mir auch +noch nicht zu Bewußtsein kam –, immerhin, ein Neues, +das mich von meinen Beobachtungen ablenkte – so +gewöhnte ich mich eben an dieses Leben und an die +Eigenheiten der Menschen, die mich umgaben. Freilich +dachte ich, wenn ich sie mitunter betrachtete, über +sie dennoch nach, das war wohl anders auch nicht gut +möglich, aber mein Denken führte vorläufig noch zu +keinem Ergebnis. Hinzu kam, daß ich sie glühend liebte +und mich unwillkürlich hütete, mit meiner Neugier +ihre Wunde zu berühren – dazu achtete ich ihr Leid +viel zu sehr. Sie aber verstand mich vielleicht noch besser +als ich selbst mich verstand, und wie oft sagte sie +mir für meine Liebe und Anhänglichkeit ihren stummen +Dank! Wie oft, wenn sie meine Sorge um sie sah, lächelte +sie mir unter Tränen zu oder sie scherzte selbst +über ihr häufiges Weinen, oder sie begann mir auch +wohl zu erzählen, daß sie sehr zufrieden, sehr +<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a> +glücklich sei, alle seien so gut zu ihr, alle hätten sie +lieb, nur quäle es sie sehr, daß Pjotr Alexandrowitsch +sich ihretwegen gräme und sich um ihre Seelenruhe +sorge, während sie im Gegenteil so glücklich sei, so +glücklich ...! Und sie schloß mich mit tiefem Gefühl in +ihre Arme, innige Liebe verklärte ihr Gesicht, so daß +mein Herz, wenn man dies sagen kann, vor lauter Mitempfinden +schmerzte. +</p> + +<p> +Nie werde ich ihr Gesicht vergessen. Es waren regelmäßige +Züge, und ihre Magerkeit und Blässe, schien +es, erhöhten nur noch den Reiz ihrer strengen Schönheit. +Das reiche schwarze Haar, das – in der Art wie +es damals getragen wurde – vom Scheitel glatt nach +unten gekämmt war, warf tiefe Schatten auf das +Oval der Wangen; um so liebreizender aber war der +frappierende Kontrast ihrer großen kindlich klaren +blauen Augen, aus denen einen soviel Zärtlichkeit, +Liebe und Güte ansah, und in denen bisweilen auch +soviel Naivität lag und soviel Zaghaftigkeit und +Schutzbedürftigkeit. Es waren Augen, die jede Empfindung +zu scheuen schienen, die jede Herzensregung +fürchteten, gleichviel ob es flüchtige Freude oder stille +Trauer war. Doch in glücklichen ruhigen Stunden lag +in diesem Blick, der so tief ins Herz drang, soviel +Klarheit und Wärme, soviel ruhige Reinheit, dann +schauten diese blauen Augen so zärtlich, so süß einen +an, dann spiegelte sich in ihnen soviel Sympathie mit +allem, was edel und gut war, was um Liebe oder um +Mitleid bat, daß man sich ihr mit ganzer Seele hingab, +daß die Seele sich ihr vollkommen unterwarf und zu +ihr hinstrebte und von ihr, wie man meinte, dieselbe +<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a> +Klarheit und Ruhe und Versöhnung und Liebe erhielt. +So schaut man bisweilen hinauf in den blauen Himmel +und fühlt, daß man Stunden und Stunden in diesem +süßen Schauen verbringen könnte und daß die +Seele freier und ruhiger wird, ganz als spiegele sich +in ihr wie in einem stillen Wasser die große weite Himmelskuppel. +Wenn aber – und das geschah so oft – +die Begeisterung ihr Farbe ins Gesicht trieb und ihre +Brust sich vor Erregung hob und senkte, dann sprühten +ihre Augen in dunklem Feuer, als wenn ihre Seele, +die keusch die reine Flamme des sie so begeisternden +Schönen hütete, sich ganz in ihre Augensterne versetzt +hätte. Dann war sie geradezu wie vom Heiligen Geist +erfüllt. Und in diesem plötzlichen Aufschwung der +Seele mitten aus stiller ruhiger Stimmung zu glühendster +Begeisterung und reiner strenger Vergeistigung +lag so viel von naivem kindlichen Glauben, daß ein +Künstler wohl sein halbes Leben dafür hingeben würde, +wenn er dieses Frauenantlitz in einem solchen Augenblick +hätte sehen und diese Begeisterung auf der +Leinwand hätte wiedergeben können. +</p> + +<p> +Schon in den ersten Tagen nach meiner Übersiedelung +merkte ich, daß sie sich in ihrer Einsamkeit über +meine Anwesenheit freute. Damals hatte sie nur ein +Kind und war erst seit einem Jahre Mutter. Doch zu +mir war sie stets wie zu einer leiblichen Tochter und +niemals machte sie einen Unterschied zwischen mir und +ihren eigenen Kindern. Und mit welchem Eifer sie sich +an meine Erziehung machte! Madame Léotard mußte +oftmals lächeln, wenn sie in der ersten Zeit ihren +Übereifer sah. Und in der Tat, wir fingen +<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a> +mit einem Mal so ziemlich alles an, +wir begannen mit so vielen Fächern, daß wir uns bald +ganz verloren. Sie wollte mir auf ein Mal so viel beibringen, +daß es sie zu liebevoller Ungeduld trieb, ich +aber oder vielmehr mein Wissen keinen großen Nutzen +daraus ziehen konnte. Anfangs betrübte sie meine Hilflosigkeit; +dann mußte sie aber lachen und dann fingen +wir nochmals von vorn an – doch trotz des ersten +Mißerfolges erklärte sich Alexandra Michailowna kühn +gegen das altbewährte System der Madame Léotard. +Sie stritten lachend um ihre Methoden, aber meine +neue Lehrerin blieb kategorisch bei ihrer Feindschaft +gegen jegliches System und behauptete, wir würden +nach etlichen Versuchen den richtigen Weg schon finden +und es habe keinen Sinn, mir den Kopf mit toten Regeln +vollzustopfen: der ganze Erfolg hinge nur davon +ab, daß man meine natürlichen Fähigkeiten erkannte +und weckte und davon, daß man auf meinen guten Willen +zu wirken vermochte. Darin aber hatte sie zweifellos +recht, denn ihre Methode siegte mit glänzendem +Erfolg. Erstens fielen bei uns die Rollen der Lehrerin +und Schülerin ganz fort. Wir lernten wie zwei Freundinnen, +und nicht selten machte es sich so, daß ich +Alexandra Michailowna belehrte, ohne ihre kleine List +zu bemerken. Und wir gerieten nicht selten sogar in +Streit und mit glühendem Eifer suchte ich die Sache +ihr so zu erklären, wie ich sie begriff, bis Alexandra +Michailowna mich unmerklich auf den richtigen Weg +führte. Das endete dann gewöhnlich damit, daß ich, +wenn mir endlich ein Licht aufging und ich plötzlich +ihre List erriet und einsah, daß sie, was oft genug geschah, +<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a> +ganze Stunden zu meinem Nutzen geopfert hatte +– daß ich mich dann an ihren Hals warf und sie +krampfhaft umarmte. Später tat ich das nach jeder +Stunde. Meine Empfindsamkeit überraschte und +rührte sie so, daß sie mich immer ganz verwundert ansah. +Sie begann mich nach meinem früheren Leben zu +fragen, und nach meinen Erzählungen wurde sie jedesmal +zärtlicher zu mir und ernster – ernster, weil +ich ihr mit meiner traurigen Kindheit außer dem Mitleid +auch noch eine gewisse Achtung einflößte. Nach +meinen Geständnissen führten wir gewöhnlich noch +lange Gespräche, in denen sie mir meine Erlebnisse zu +erklären versuchte, so daß es mir vorkam, als erlebe ich +das alles nochmals und als lerne ich dabei viel. Madame +Léotard fand diese Gespräche viel zu ernst für +mein Alter, und wenn sie meine unwillkürlichen Tränen +bemerkte, sagte sie oft, sie seien gar nicht am Platz. +Ich aber dachte darüber ganz anders, denn nach <em>diesem</em> +Unterricht wurde es mir immer so leicht und +frei und süß ums Herz, ganz als hätte es in meinem +Schicksal nichts Dunkles und Trauriges gegeben. Und +ich war auch Alexandra Michailowna viel zu dankbar +dafür, daß sie mich veranlaßte, sie mit jedem Tage +mehr zu lieben. Madame Léotard war natürlich nicht +darauf verfallen, daß auf diese Weise allmählich alles +in mir sich glätten und ordnen und seine Harmonie +finden mußte, was sich früher wirr und vorzeitig stürmisch +in meiner Seele erhoben hatte, alles, wovor +mein wundes Kinderherz in seinem bitteren Schmerz +so ratlos gestanden, daß es hätte verstocken müssen, da +<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a> +es nur den Schmerz fühlte, aber nicht begriff, warum +und woher die Schläge es trafen. +</p> + +<p> +Unsere Tage fingen damit an, daß wir uns im +Kinderzimmer zusammenfanden, ihr Kindchen weckten, +es ankleideten, wuschen, fütterten, mit ihm spielten und +ihm das Sprechen beizubringen versuchten. Hatten wir +uns mit ihm genug abgegeben, dann begann das Lernen. +Dies Lernen erstreckte sich eigentlich auf alles und +war doch an nichts gebunden. Wir lasen, erzählten einander +unsere Eindrücke und Gedanken während der +Lektüre; dann, wenn wir davon genug hatten, gingen +wir zur Musik über, und die Zeit verging wie im +Fluge. Die Abende verbrachten wir meist sehr gemütlich, +zuweilen kam B., Alexandra Michailownas +Freund, und auch Madame Léotard gesellte sich zu +uns. Oft wurde dann aus der Unterhaltung ein eifriger +Disput über die Kunst oder über das Leben (das +wir fast alle nur vom Hörensagen kannten) oder +über die Wirklichkeit und das Ideal, über Vergangenes +und Zukünftiges, und es wurde darüber Mitternacht +und noch später, ohne daß wir es merkten. Ich +hörte mit allen Fibern zu, ich begeisterte mich mit ihnen, +ich lachte oder ich war ergriffen, und an diesen +Abenden erfuhr ich denn auch nach und nach alles Nähere, +was meinen Stiefvater und meine erste Kindheit +betraf. +</p> + +<p> +Inzwischen wuchs ich heran; man nahm für mich +Lehrer an, doch hätte ich von diesen ohne Alexandra +Michailownas Hilfe so gut wie nichts gelernt. Bei +meinem Geographielehrer hätte ich von dem ewigen +Suchen der Städte und Flüsse auf den Karten nur erblinden +<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a> +können! Mit Alexandra Michailowna dagegen +unternahm ich wahre Weltreisen, wir durchstreiften so +märchenhafte Länder, sahen so viele Wunder, verbrachten +so viele phantasieerfüllte Stunden miteinander, +und unser Eifer war in der Begeisterung so groß, daß +alle Bücher, die sie gelesen hatte, nicht mehr genügten +und wir uns neue Bücher verschaffen mußten. Bald +konnte ich meinen Geographielehrer belehren, wenn +er auch, das muß man ihm um der Gerechtigkeit willen +lassen, bis zum Schluß seine Überlegenheit insofern +bewahrte, als er die Lage jedes Städtchens mit +peinlichster Genauigkeit in Längen- und Breitengraden +anzugeben wußte, sowie die Zahl der Einwohner in +Tausenden, Hunderten und Zehnern. Dem Geschichtslehrer +wurden die Stunden gleichfalls pünktlich bezahlt, +aber erst nachdem er gegangen war, fingen +wir, Alexandra Michailowna und ich, mit der Geschichte +an: dann holten wir unsere Bücher hervor und +lasen – lasen bis tief in die Nacht. Nie habe ich größere +Begeisterung empfunden als bei diesem Lesen. +Wir waren dann beide so begeistert, als wären wir +selber die Helden, die jene großen Taten vollbrachten. +Natürlich lasen wir zwischen den Zeilen noch +mehr heraus als aus den Zeilen; überdies verstand +Alexandra Michailowna meisterhaft zu erzählen oder +eine Begebenheit zu erläutern, so daß man das Geschehnis +förmlich miterlebte, als geschähe es eben +jetzt. Mag es nun auch meinetwegen komisch anmuten, +daß wir uns so begeisterten und bis nach Mitternacht +saßen und lasen, ich ein Kind, und sie eine Frau mit +einem wunden Herzen, das so schwer am Leben trug! +<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a> +– Aber es war so. Ich wußte, daß sie sich neben und +mit mir gleichsam erholte. Soweit ich mich erinnere, +machte ich mir schon damals seltsame Gedanken, wenn +ich sie still betrachtete, und noch bevor ich etwas aus +ihrem Leben erfuhr, hatte ich schon vieles erraten. +</p> + +<p> +Ich wurde dreizehn Jahre alt. Mit Alexandra Michailownas +Gesundheit ging es mehr und mehr bergab. +Sie wurde reizbarer und die hoffnungslose Trauer kam +immer öfter über sie. Ihr Gatte verbrachte nun gewöhnlich +längere Zeit bei ihr, wenn er auch ebenso +schweigsam und finster blieb wie früher. Da begann +ich denn, immer lebhafteren Anteil an ihrem Schicksal +zu nehmen. Ich entwuchs bereits der Kindheit, +viele neue Eindrücke, Beobachtungen und Vermutungen +hatten in mir schon bestimmtere Formen angenommen, +und das Geheimnis, das so schwer auf dieser Familie +lag, begann mich immer mehr zu quälen. Es +gab Augenblicke, wo es mir schien, daß ich dieses Rätsel +fast schon erriet. Doch dann kam auch wieder eine +gewisse Gleichgültigkeit, eine Apathie über mich, ja sogar +ein gewisser Ärger konnte mich erfassen, und ich +vergaß meine Anteilnahme, da ich auf die eine Frage +doch keine Antwort erhielt. Bisweilen – und das kam +immer häufiger vor – hatte ich das seltsame Bedürfnis, +allein zu bleiben und zu denken, immer nur zu denken. +Das war ganz wie zu jener Zeit, als ich noch bei +den Eltern lebte und damals – noch vor meiner +Freundschaft mit meinem Stiefvater – ein ganzes +Jahr lang nachdachte und aus meinem Winkel die +Welt Gottes betrachtete, so daß ich zu guter Letzt unter +den von meiner eigenen Phantasie geschaffenen Phantomen +<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a> +ganz vereinsamte. Der Unterschied bestand nur +darin, daß jetzt mehr neue unbewußte Triebe in mir +waren und größere Ungeduld, stärkere Sehnsucht, +mächtigeres Verlangen nach Bewegung, nach Auflehnung +mich quälte, so daß ich nicht mehr wie früher +meine Spannung und Sammlung ausschließlich auf +eine einzige Sache hinlenken konnte. Aber auch Alexandra +Michailowna fing an, sich von mir zu entfernen. +In diesem Alter konnte ich ihr fast nicht mehr Freundin +sein. Ich war kein Kind mehr, ich fragte nach gar +zu vielem, und zuweilen sah ich sie so an, daß sie ihre +Augen vor mir niederschlagen mußte. Es gab sonderbare +Minuten. Ich konnte ihre Tränen nicht ertragen +und oft traten bei ihrem Anblick auch mir Tränen in +die Augen. Ich warf mich an ihre Brust und umfing +sie leidenschaftlich. Was konnte sie mir antworten? +Ich fühlte es, daß ich ihr eine Last war. Bisweilen +aber – und das waren dann schwere traurige Minuten +– war sie es, die mich plötzlich wie in innerer Verzweiflung +umarmte, als suche sie meine Teilnahme, als +könne sie ihre Einsamkeit nicht länger ertragen, als +hätte ich sie schon ganz verstanden, als hätten wir schon +gemeinsam gelitten. Doch trotz alledem blieb zwischen +uns ein Geheimnis, das fühlten wir, und da war ich +es, die sich in diesen Minuten von ihr zu entfernen begann. +Es wurde mir schwer, mit ihr zusammen zu sein. +Überdies verband uns fast nichts mehr, außer der +Musik. Doch auch die wurde ihr von den Ärzten schon +verboten. Bücher? Das war schließlich sogar das gefährlichste +Gebiet. Sie wußte entschieden nicht, was +und wie sie mit mir lesen sollte. Wir wären nicht einmal +<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a> +über die erste Seite hinausgekommen: jedes Wort +hätte man als Andeutung, jeden belanglosen Satz als +Rätsel auffassen können. Gespräche zu zweien, wie +früher, in glühender Offenheit – mieden wir +schon. +</p> + +<p> +Gerade in dieser Zeit gab das Schicksal meinem +Leben plötzlich und in ganz unvorhergesehener Weise +eine andere Richtung. Meine Aufmerksamkeit, meine +Gefühle, mein Herz, mein Kopf – alles wandte sich +mit einem Mal und mit ganzer angespannter Kraft, +die bis zur Begeisterung stieg, plötzlich einer anderen, +mir bis dahin noch ganz unbekannten Tätigkeit zu und +ich versetzte mich, fast ohne dessen gewahr zu werden, +in eine neue Welt; ich hatte keine Zeit, zurückzusehen, +mich umzuschauen, mich zu besinnen; es konnte ja leicht +mein Verderben sein, was ich auch deutlich selbst fühlte; +doch die Versuchung war größer als die Angst und +ich ging weiter aufs Geratewohl, mit geschlossenen +Augen. Und auf lange Zeit ließ ich mich so ablenken +von jener Wirklichkeit, die mir bereits so lästig geworden +war und in der ich schon so durstig und doch vergeblich +einen Ausweg gesucht. Was das war, will ich +jetzt erzählen. +</p> + +<p> +Von den drei Ausgängen aus dem Eßzimmer führte +der eine in die großen Empfangsräume, der andere in +mein Zimmer und in die Kinderzimmer, und der dritte +in die Bibliothek. In die Bibliothek führte aber noch +eine andere Tür, die von meinem Zimmer nur durch +ein Arbeitskabinett getrennt war, in dem gewöhnlich +der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs saß. Der war zugleich +sein Sekretär und gewissermaßen seine rechte +<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a> +Hand. Den Schlüssel zur Bibliothek und zu den Bücherschränken +hatte er. Eines Tages nach dem Essen, +als er nicht zu Hause war, fand ich diesen Schlüssel +auf dem Teppich im Kabinett. Ich wurde neugierig, +behielt den Schlüssel und versuchte, ob sich mit ihm +die Tür aufschließen ließ. Ich trat in die Bibliothek. +Es war das ein ziemlich großes, sehr helles Zimmer, +in dem an den Wänden acht große Bücherschränke +standen. Die vielen Bücher waren Pjotr Alexandrowitsch +einmal mit einer Erbschaft zugefallen, oder +wenigstens ein großer Teil derselben. Die anderen Bücher +hatten sich nach und nach angesammelt, da Alexandra +Michailowna beständig welche kaufte. Mir hatte +man bis dahin nur mit großer Vorsicht Bücher zum Lesen +gegeben, so daß es für mich unschwer zu erraten +war, daß man mich vieles nicht lesen lassen wollte, +also vieles für mich noch ein Geheimnis blieb. Dies +nun erweckte in mir unbezwingbare Neugier, und in +einer Anwandlung von Furcht und Freude und mit +einem ganz besonderen Gefühl, über das ich mir +keine Rechenschaft gab, schloß ich den ersten Schrank +auf und nahm das erste Buch aus der Reihe. In diesem +Schrank waren nur Romane. Ich behielt den +Band, verschloß den Schrank und brachte das Buch +mit einem so eigentümlichen Empfinden, mit klopfendem +und doch wieder stillstehendem Herzen zu mir, auf +mein Zimmer, als hätte ich geahnt, daß damit eine +große Umwälzung in meinem Leben eintreten sollte. +Erst als ich in meinem Zimmer in Sicherheit war und +auch die Tür verschlossen hatte, schlug ich das Buch +auf. Doch zu lesen wagte ich noch nicht – eine andere +<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a> +Sorge beschäftigte mich: zunächst mußte ich mir ein +für allemal den freien Zutritt zur Bibliothek sichern, +und zwar so, daß niemand etwas davon merkte, damit +ich mir zu jeder Zeit jedes beliebige Buch verschaffen +und bei mir behalten konnte. Ich beschloß daher, +auf das Vergnügen, das entwendete Buch sogleich zu +lesen, vorläufig zu verzichten: statt dessen brachte ich +das Buch zurück, aber den Schlüssel behielt ich dafür +bei mir. Ich behielt ihn und verheimlichte es – das +war die erste schlechte Tat in meinem Leben. Nun +wartete ich auf die Folgen, doch die waren nicht +schlimm: nachdem der Sekretär den Schlüssel einen +ganzen Abend vergeblich gesucht hatte, ließ er am +nächsten Morgen einen Schlosser rufen und der fand +nach kurzem Suchen in einem mitgebrachten großen +Schlüsselbund einen passenden neuen Schlüssel. Damit +war die Sache erledigt und niemand erfuhr, daß +er den alten Schlüssel verloren hatte. Trotzdem war +ich vorsichtig und ging mit List erst nach einer Woche in +die Bibliothek, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß +nicht der geringste Verdacht gegen mich bestand. Anfangs +wählte ich immer die Zeit, wenn der Sekretär +nicht zu Hause war, und ging dann durch sein Arbeitszimmer; +später aber ging ich ruhig aus dem Eßzimmer +in die Bibliothek, denn der Sekretär hatte zwar den +Schlüssel in der Tasche, doch um die Bücher kümmerte +er sich so wenig, daß er das Zimmer überhaupt nicht +betrat. +</p> + +<p> +Mit wahrem Heißhunger begann ich zu lesen und +das Gelesene nahm mich ganz in seinen Bann. Alle +meine neuen Bedürfnisse, alle unklaren Wünsche meines +<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a> +Entwicklungsalters, die sich so unruhig und rebellisch +in meiner Seele erhoben hatten, vorzeitig durch +meine Frühreife erweckt – all das strömte von jetzt +ab dem neuen Ausweg zu, als hätte es mit ihm +den richtigen Weg gefunden. Bald waren mir +Herz und Sinne so bezaubert und meine Phantasie +entwickelte sich so schrankenlos, daß die ganze Welt, +die mich bis dahin umgeben hatte, für mich wie vergessen, +irgendwo fern versunken lag. Es war, als hielte +mich das Schicksal selbst an der Schwelle des neuen +Lebens – nach dem es mich schon so stürmisch verlangte, +über das ich bereits Tag und Nacht wie über +ein Rätsel nachgedacht – bevor es mich in dieses Leben +eintreten ließ, noch einen Augenblick zurück, um +mich auf eine Höhe zu führen und mir von dort aus +die Zukunft in einem Zauberpanorama zu zeigen, und +als eine lockende, glänzende Perspektive. Es war mir +gewiß bestimmt, diese ganze Zukunft gleichsam im voraus +kennen zu lernen, sie zuerst in den Büchern zu lesen +und dann in Träumen, in Hoffnungen und leidenschaftlicher +Sehnsucht, in süßer Erregung meines jungen +Geistes zu durchleben. Ich las ohne Auswahl, wie +mir die Bücher in die Hände kamen, doch das Schicksal +behütete mich: das, was ich bis dahin erfahren und +empfunden hatte, war alles so rein, so herb, daß die +einzelnen, heimtückischen und schmutzigen Seiten mir +nichts mehr anhaben konnten. Mein guter Kinderinstinkt, +meine Jugend und meine ganze Vergangenheit +beschützten mich, und es war mir nur, als sähe ich +plötzlich mein ganzes früheres Leben bewußt in heller +Beleuchtung. Tatsächlich erweckte jede Seite, die ich +<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a> +las, gleichsam Erinnerungen in mir, als hätte ich das +alles oder doch etwas Ähnliches schon irgendeinmal +selbst erlebt; ja gerade diese Leidenschaften, dieses ganze +Leben mit seinen märchenhaften Bildern kamen mir +so bekannt vor. Und wie hätte es denn auch anders sein +können: wie hätte ich darüber die Wirklichkeit nicht bis +zur Entfremdung vergessen sollen, da doch in jedem +Buch vor mir die Gesetze desselben Schicksals verkörpert +waren, desselben Geistes, der über dem Menschenleben +thront, alle jedoch wie aus einem obersten Gesetz +des Menschenlebens fließend, das zugleich die Rettung +und Erlösung der Menschheit enthielt. Eben dieses +oberste Gesetz, dessen Bestehen ich schon vermutete, +suchte ich nun aus allen Kräften, mit allen +Instinkten, die eine Art Selbsterhaltungstrieb in mir +aufgeweckt hatte, zu erraten. Es war, als sei ich schon +im voraus durch irgendwen darauf aufmerksam gemacht +worden, weshalb meine Aufmerksamkeit sich mit +einer solchen Selbstverständlichkeit gerade darauf +richtete. Es war, als dränge sich ein Hellsehen +in meine Seele, und mit jedem Tage +wuchs und erstarkte in ihr eine eigene Sehnsucht, +obschon gleichzeitig mein Verlangen nach +dieser Zukunft, nach diesem Leben, von dem ich täglich +las und das mich täglich mit der ganzen nur der Kunst +eigenen Gewalt und allen Reizen der Dichtung erschütterte +und lockte, immer mächtiger wurde. Doch +wie gesagt, meine Phantasie beherrschte auch meine Ungeduld +und ich war, um die Wahrheit zu gestehen, nur +in meinen Träumen kühn, in Wirklichkeit aber fürchtete +ich mich instinktiv vor der Zukunft. Und deshalb, +<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a> +wie nach geheimer Verabredung mit mir selbst, hatte +ich es mir unbewußt zum Vorsatz gemacht, mich vorläufig +mit diesem Leben in der Phantasie zu begnügen, in +dem ich dafür die unbehinderte Selbstherrscherin sein +konnte und in dem es nur Glück und Freude gab; das +Unglück aber, wenn es auch zugelassen war, spielte dort +nur eine passive Rolle, eine Art Übergangsrolle, die +notwendig war nur um der Kontraste willen: damit +das Schicksal sich in meinen begeistert erträumten Romanen +zum Guten wenden und zu einem glücklichen +Schluß führen konnte. So deute ich mir jetzt meine damalige +Stimmung. +</p> + +<p> +Und dieses Leben, dieses Leben ausschließlich in der +Phantasie, dieses Leben in schroffer Abkehr von allem, +was mich umgab, konnte sich ganze drei Jahre lang +fortsetzen! +</p> + +<p> +Dieses Leben war mein Geheimnis, und selbst nach +ganzen drei Jahren wußte ich noch nicht, ob ich mich +vor einer plötzlichen Aufdeckung desselben fürchten +sollte oder nicht. Das, was ich in diesen drei Jahren +erlebt hatte, stand mir gar zu nah, war schon zu sehr +verwachsen mit mir! In allen diesen Träumen spiegelte +ich mich selbst viel zu deutlich wider, so daß fremde +Augen, gleichviel wessen Augen, durch einen unvorsichtigen +Blick in meine Seele mich verwirrt und erschreckt +hätten. Hinzu kam, daß wir alle im Hause so einsam +lebten, so außerhalb der Gesellschaft, so klösterlich still, +daß sich unwillkürlich in jedem von uns ein Innenleben, +eine Konzentration auf sich selbst entwickeln mußte. +Und das geschah denn auch mit mir. In diesen drei +Jahren sah ich in meiner Umgebung nicht die geringste +<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a> +Veränderung: nach wie vor herrschte das farblose Einerlei, +das, wie ich mir jetzt gestehe, wenn ich nicht +von meinem geheimen Leben erfüllt gewesen wäre, +ganz entschieden meine Seele zerrissen und mich aus +diesem traurigen Kreise Gott weiß auf welchen Ausweg +getrieben hätte. Madame Léotard alterte merklich +und zog sich fast ganz in ihr Zimmer zurück; die Kinder +waren noch so klein, daß sie nicht in Frage kamen; +B. war gar zu einseitig und Alexandra Michailownas +Gatte gar zu ernst, gar zu unnahbar und verschlossen. +Zwischen ihm und seiner Frau herrschte immer noch +dasselbe rätselhafte Verhältnis, das mich wie ein unheilvolles, +düsteres Geheimnis immer mehr bedrückte +und meine angstvolle Sorge um Alexandra Michailowna +von Tag zu Tag vergrößerte. Ihr Leben, das +so freudlos und farblos war, begann schon zu erlöschen. +Ihr Zustand verschlimmerte sich mit jedem Tage. +Von ihrer Seele hatte allmählich eine Art Verzweiflung +Besitz ergriffen; etwas Unbestimmtes, worüber wohl +auch sie keine Rechenschaft zu geben vermochte, schien +lähmend auf ihr zu lasten, und sie trug es still, wie ein +unvermeidliches Kreuz, das zu tragen sie für die kurze +Zeit ihres Lebens nun einmal verurteilt war. Und doch +schien es mir, als verstocke allmählich ihr Herz in dieser +dumpfen Qual; ja selbst ihr ganzes Denken nahm +eine andere Richtung und wurde düster, traurig, trostlos. +Namentlich eine Beobachtung traf mich: es schien +mir, daß sie, je älter ich wurde, sich um so mehr von mir +entferne, so daß ihre Verschlossenheit mir gegenüber +schließlich die Form einer gewissen Reizbarkeit annahm, +die sich wie Ärger äußerte. Ja es gab Augenblicke, +<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a> +wo ich die Empfindung hatte, sie liebe mich überhaupt +nicht mehr; ich schien ihr lästig zu sein. Deshalb +begann auch ich mich von ihr zurückzuziehen, und nachdem +das einmal geschehen, wurde ich von ihrer Verschlossenheit +gleichsam angesteckt. So kam es denn, daß +alles, was ich in diesen drei Jahren erlebte und was +allmählich in mir reifte, mein Geheimnis blieb. Und +da wir uns einmal voreinander verschlossen hatten, +konnte ich ihr später nie mehr ganz offen mein Innerstes +zeigen, obschon ich sie immer noch mehr lieben +lernte. Ich kann jetzt nicht ohne Tränen daran denken, +wie sehr sie an mir hing, wie sie sich in ihrem Herzen +gelobt, ihren ganzen großen Liebesreichtum an mich +zu verschwenden und wie sie ihrem Gelübde, mir eine +Mutter zu sein, bis zum Tode treu blieb. Es ist wahr, +das eigene Leid lenkte sie zuweilen für eine Zeitlang von +mir ab und ich glaube, daß sie mich dann einfach vergaß +– um so mehr, als ich mich nach Möglichkeit bemühte, +sie nicht an mich zu erinnern. Inzwischen wurde +ich sechzehn Jahre alt, ohne daß sie mein Heranwachsen +gemerkt hätte. Aber in klareren Stunden, wenn sie bewußter +um sich sah, war es doch, als erschrecke +sie plötzlich: und sie ließ mich dann eilig aus meinem +Zimmer, wo ich gewöhnlich gerade lernte, zu sich rufen, +und überschüttete mich mit Fragen, wie um mich +zu prüfen, zu ergründen – tagelang mußte ich dann +bei ihr sitzen. Sie gab sich Mühe, alle meine Wünsche, +alle meine Gefühlsregungen zu erraten und war offenbar +in Sorge um mein Alter. Und wie sie sich um +meine Gegenwart sorgte, so sorgte sie sich auch um +meine Zukunft, und mit unerschöpflicher Liebe, ja geradezu +<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a> +mit Ehrfurcht vor meinem Leben suchte sie mich +für alle Zeiten mit ihrer Hilfe auszurüsten. Doch wir +waren uns innerlich schon fremd geworden und deshalb +merkte sie es nicht, daß sie mitunter gar zu naiv +vorging und ich ihre Absicht viel zu sehr durchschaute. +So z. B., als sie einmal – das war schon nach meinem +sechzehnten Geburtstag – in meinen Büchern gekramt +hatte, fragte sie mich plötzlich, was ich lese, und +als sie sah, daß es nur kleine Geschichten für etwa +zwölfjährige Kinder waren, da erschrak sie. Ich erriet +sofort, was sie erschreckt hatte, und beobachtete sie aufmerksam. +Ganze zwei Wochen ließ sie es sich nun angelegen +sein, mich vorzubereiten und zu prüfen und vor +allem meinen Reifegrad festzustellen. Endlich entschloß +sie sich: und auf unserem Tisch erschien „Ivanhoe“ von +Walter Scott, ein Roman, den ich schon längst und +mindestens dreimal gelesen hatte. Anfangs verfolgte +sie mit ängstlicher Erwartung, welcher Art der Eindruck +war, den ich empfing; bald jedoch wich diese Gespanntheit +zwischen uns und wir begeisterten uns beide, +und ich war froh, so froh, daß ich mich jetzt nicht +mehr vor ihr zu verstellen brauchte! Als wir den Roman +beendet hatten, war sie entzückt von mir. Jede Bemerkung, +die ich während der Lektüre gemacht, jede +Äußerung und Auffassung war richtig gewesen. Ja +ihrer Meinung nach war ich sogar schon zu weit entwickelt. +Überrascht und entzückt davon, machte sie sich +nun wieder freudig daran, meine Entwicklung zu leiten; +sie wollte sich nie mehr von mir trennen; doch das +lag nicht in ihrer Macht. Das Schicksal trat sehr bald +wieder trennend zwischen uns und verhinderte eine beiderseitige +<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a> +Annäherung. Dazu bedurfte es nur der ersten +leisen Anwandlung ihrer Krankheit und ihr Leid siegte +in ihrer Seele; und dann folgte wieder eine Entfremdung, +wieder stand ihr Geheimnis, stand Mißtrauen +zwischen uns, und vielleicht war es sogar wieder wie +eine Verstockung von ihrer wie von meiner Seite, die +sich zwischen uns schob. +</p> + +<p> +Doch selbst dann gab es Augenblicke, die nicht in +unserer Macht standen. Spannende Lektüre, ein sympathisches +Wort, die Macht der Musik – und wir vergaßen +uns, sprachen uns aus, oft sogar mehr als nötig, +und dann fühlten wir uns bedrückt voreinander. +Es war dann immer wie ein plötzliches Sichbesinnen +und wir sahen uns wie erschrocken über uns selbst mit +argwöhnischer Neugier und mit Mißtrauen an. Jede +von uns hatte ihre Grenze, bis zu der sie sich der anderen +nähern konnte; diese Grenze zu überschreiten +wagten wir nicht, auch wenn wir es gewollt hätten. +</p> + +<p> +Eines Nachmittags vor der Dämmerung las ich im +Salon Alexandra Michailownas zerstreut in einem +Buch. Sie saß am Flügel und improvisierte nach Motiven +italienischer Musik. Als sie schließlich auf die +Melodie einer bekannten Arie überging, begann ich, +von der Musik, die mich gefangennahm, gleichsam dazu +aufgefordert, leise die Melodie mitzusingen. Die Musik +bezauberte mich und ich stand plötzlich auf und trat +an den Flügel. Alexandra Michailowna schien meinen +Wunsch zu erraten und ging auf die Begleitung +über, liebevoll jedem Ton meiner Stimme folgend. Es +war, als sei sie durch die Stärke meiner Stimme überrascht. +Ich hatte bis dahin noch nie in ihrer Gegenwart +<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a> +gesungen, ja und auch ich wußte noch nicht, ob ich überhaupt +irgendwelche Stimmittel besaß. Jetzt aber waren +wir plötzlich beide wie von einem Geist erfüllt. Ich hob +die Stimme mehr und mehr, eine mir bis dahin unbekannte +Energie erwachte in mir, eine Leidenschaft, die +von Alexandra Michailownas freudiger Verwunderung, +die ich aus jedem Takt ihrer Begleitung heraushörte, +noch geschürt wurde. Und der Schluß der Arie +gelang mir so gut, ich war so beseelt, so hingerissen +von dem Lied, daß sie ganz begeistert meine Hände ergriff +und mich strahlend ansah: +</p> + +<p> +„Annjeta! Aber du hast ja eine wundervolle Stimme!“ +rief sie entzückt. „Mein Gott! und ich habe davon +nichts gewußt!“ +</p> + +<p> +„Ja, ich habe es ja selbst jetzt erst bemerkt!“ versicherte +ich, gleichfalls ganz erschüttert vor Freude. +</p> + +<p> +„Ach, Gott segne dich, Gott segne dich, mein liebes, +unschätzbares Kind! Danke Gott für diese Gabe! +Wer weiß ... Ach, mein Gott, mein Gott!“ ... +</p> + +<p> +Sie war so ergriffen von der Überraschung, so +außer sich vor Freude, daß sie nicht wußte, was sie +mir sagen, wie sie mir ihre Liebe zeigen sollte. Das war +eine jener Stunden der Aufrichtigkeit, der Zuneigung +und Annäherung, die es in der letzten Zeit schon lange +nicht mehr zwischen uns gegeben hatte. Eine Stunde +später war es wie ein Fest im Hause. Sie schickte sogleich +zu B. und ließ ihn zu sich bitten. In der Erwartung +seiner nahmen wir ein anderes Lied vor, das mir +bekannter war. Diesmal zitterte ich vor Angst. Ich +wollte nicht durch einen Mißerfolg den ersten Eindruck +zerstören. Doch bald gab mir meine Stimme selbst wieder +<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a> +Mut und machte mich sicher. Ich sang und wunderte, +wunderte mich über den Umfang meiner Stimme. +Dieser zweite Versuch verscheuchte jeden Zweifel. Alexandra +Michailowna wußte vor Freude nicht, wo sie +sich lassen sollte, sie schickte nach den Kindern, sogar +nach der Kinderfrau, und schließlich – ließ sie sich so +weit hinreißen, daß sie zu ihrem Mann ging und ihn +aus seinem Kabinett zu uns rief – eine Kühnheit, an +die sie zu jeder anderen Zeit nicht einmal zu denken gewagt +hätte. Pjotr Alexandrowitsch nahm die Neuigkeit +wohlwollend auf, gratulierte mir und war der +erste, der da sagte, man müsse meine Stimme ausbilden. +Alexandra Michailowna, die vor Dankbarkeit +so glücklich war, als hätte er für sie Gott weiß was +getan, wollte ihm dafür fast die Hände küssen. Endlich +kam B. Seine Freude war groß. Er liebte mich sehr +und gedachte meines Stiefvaters, der Vergangenheit, +und als ich ihnen zwei oder drei Lieder vorgesungen, +erklärte er mit ernster und sogar besorgter Miene, ja +sogar mit einer gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit, +daß ich zweifellos gute Stimmittel hätte, vielleicht auch +sogar Talent, und deshalb sei es natürlich ganz unmöglich, +meine Stimme etwa nicht auszubilden ... – +jedoch ... Und nun war es, als besinne er sich, und er +wie auch Alexandra Michailowna schienen sich zu sagen, +daß es gefährlich sei, mich schon zu Anfang so zu +loben, und ich bemerkte, wie sie sich nun mit einigen +Blicken schnell verständigten und sich später noch flüsternd +verabredeten, so daß ihre kleine Verschwörung +gegen mich recht ungeschickt und naiv ausfiel. Ich lachte +im stillen den ganzen Abend, denn als ich wieder gesungen +<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a> +hatte, sah ich, wie sie sich Mühe gaben, gleichgültig +zu bleiben und wie sie sogar einige Mängel mit +Absicht hervorheben und laut besprachen. Ihre Selbstbeherrschung +währte aber nicht lange und B. war der +erste, der von der Freude übermannt, sich untreu wurde. +Ich hatte nicht vermutet, daß er mich so gern hatte. +Den ganzen Abend herrschte eine frohe Stimmung und +die lebhafte Unterhaltung war so freundschaftlich wie +nie zuvor. B. gab die Lebensgeschichten einiger Künstler +zum besten und erzählte von der Kunst der berühmten +Größen mit der Begeisterung des Künstlers, +oft sogar fast ehrfurchtsvoll und ergriffen. +</p> + +<p> +Es war auch die Rede von meinem Stiefvater, und +dann ging die Unterhaltung auf mich über, auf meine +Kindheit, dann auf den Fürsten und die Familie des +Fürsten, von der ich nach der Trennung so wenig gehört +hatte. Auch Alexandra Michailowna wußte wenig +von ihnen, B. dagegen am meisten, da er mehrmals in +Moskau gewesen war. Doch hier bekam das Gespräch +etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes, und zwei +oder drei Umstände, die hauptsächlich den Fürsten betrafen, +blieben mir ganz unverständlich. Alexandra +Michailowna erkundigte sich nach Katjä, doch B. wußte +von ihr nichts Besonderes zu berichten oder schien vielmehr +absichtlich nichts berichten zu wollen. Das machte +mich stutzig. Ich hatte Katjä nicht nur nicht vergessen, +sondern meine frühere Liebe zu ihr hatte sich eher noch +vertieft; aber es war mir nie in den Sinn gekommen, +daß mit ihr irgendeine Veränderung vor sich gegangen +sein könnte. Ich hatte weder an die langen Jahre der +Trennung, noch an die Verschiedenheit unserer Erziehung +<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a> +und unserer Charaktere gedacht. Sie hatte mich in +meinen Gedanken nie verlassen, sie lebte immer noch +so, wie ich sie als Kind gesehen, neben mir, und in meiner +Phantasie gingen wir stets Hand in Hand. Da ich +mich selbst immer als Heldin jedes von mir gelesenen +Romanes sah, so ersann ich für meine Freundin, die +Prinzeß, immer eine Rolle neben mir und verdoppelte +somit den Roman, von dem dann der zweite Teil ausschließlich +von mir handeln sollte, ersann ihn mit Hilfe +aller meiner Lieblingsautoren, die ich natürlich erbarmungslos +bestahl. +</p> + +<p> +An jenem Abend wurde auch gleich im Familienrat +beschlossen, welchem Professor meine Ausbildung +nun übertragen werden sollte. B. empfahl den allerbesten. +So fuhr denn schon am nächsten Tage der berühmte +Italiener D. bei uns vor, prüfte meine Stimme, +sagte ungefähr dasselbe, was sein Freund B. gesagt +hatte, meinte aber, es wäre für mich von viel +größerem Nutzen, wenn ich zusammen mit seinen anderen +Schülerinnen bei ihm lernte, der Ehrgeiz und das +gute Beispiel wären vortreffliche Hilfsmittel usw., usw. +Alexandra Michailowna war damit einverstanden, und +so ging ich von diesem Tage an regelmäßig dreimal +wöchentlich früh morgens um 8 Uhr in Begleitung eines +Dienstmädchens ins Konservatorium. +</p> + +<p> +Jetzt muß ich von einem sonderbaren Erlebnis erzählen, +das auf mich einen großen, nachhaltigen Eindruck +machte und nach welchem ich wie nach einem +schroffen Bruch in ein anderes Alter eintrat. Ich war +damals noch nicht ganze siebzehn Jahre alt, als plötzlich +eine mir selbst ganz unverständliche Apathie von +<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a> +meiner Seele Besitz zu ergreifen begann; eine eigentümliche, +unerträgliche, schwermütige Stille, die ich +selbst nicht begriff, kam über mich. Alle meine Erwartungen, +mein ganzes Streben und Wollen war verstummt, +sogar meine Phantasie schwieg wie vor Kraftlosigkeit. +Eine kalte Gleichgültigkeit war in mir an die +Stelle der früheren unbeholfenen drangvollen Glut getreten. +Sogar für mein Talent, das doch von allen, die +ich mit ganzer Seele lieb hatte, so bewundert wurde, +konnte ich keine Neigung und Liebe bei mir mehr aufbringen +und ich mißachtete es gefühllos. An nichts +nahm ich Anteil, und selbst für Alexandra Michailowna +empfand ich nur dieselbe kalte Gleichgültigkeit, obschon +ich mir deshalb Vorwürfe machte. Meine Apathie +wurde nur von grundloser Traurigkeit oder von +plötzlichen Tränen unterbrochen. Ich hatte das Verlangen +nach Einsamkeit. Und in dieser eigentümlichen Zeit +wurde durch ein seltsames Erlebnis meine ganze Seele +bis auf den Grund erschüttert und diese Stille in einen +wahren Sturm verwandelt. Mein Herz wurde getroffen +und verwundet. Und das geschah folgendermaßen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-7"> +VII. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Ich trat in die Bibliothek (diese Stunde werde ich +nie vergessen) und nahm den letzten Roman von Walter +Scott, den ich noch nicht gelesen hatte. Ich weiß +noch, daß ein gegenstandloser Kummer mich fast wie +mit einer Vorahnung quälte. Ich wollte weinen. Im +Zimmer war es noch goldig hell von den letzten schrägen +Strahlen der sinkenden Sonne, die mit einer Lichtfülle +<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a> +durch die hohen Fenster auf das glänzende Parkett +fielen. Es war still. Auch in den Nebenzimmern +war keine Menschenseele. Pjotr Alexandrowitsch war +nicht zu Hause und Alexandra Michailowna war krank +und lag zu Bett. Ich weinte auch wirklich, und während +ich im zweiten Teil des Romans blätterte, versuchte +ich, aus den einzelnen abgerissenen Sätzen, die +ich hier und da las, den Zusammenhang des Ganzen +zu erraten. Es war fast, wie wenn man ein Buch aufs +Geratewohl aufschlägt und den ersten besten Satz wie +einen Orakelspruch liest. Es gibt solche Augenblicke, +wo alle geistigen und seelischen Kräfte sich krankhaft +anstrengen und plötzlich wie in einer hellen Flamme des +Bewußtseins aufflammen, und in diesem Augenblick +wird dann die erschütterte Seele, die sich gleichsam +im Vorgefühl, ja vielleicht sogar schon im Vorgenuß +des Zukünftigen quält, wie von einem prophetischen +Traum erfüllt. Und man will so leben, so leben, und +das Herz, das in heißester, blindester Hoffnung aufflammt, +will mit einemmal gleichsam die Zukunft herausfordern +– die Zukunft mit ihrer ganzen geheimnisvollen +Unbekanntheit, auch mit Stürmen und Ungewittern, +wofern sie nur Leben ist, wirkliches Leben! Gerade +das war es, was ich empfand. +</p> + +<p> +Ich erinnere mich, daß ich gerade das Buch schloß, +um es dann aufs Geratewohl wieder aufzuschlagen und +mit dem Gedanken an meine Zukunft einen Satz als +Orakelspruch zu lesen. Doch als ich die Buchdeckel aufklappte +und die Blätter sich teilten, lag vor mir auf +dem aufgeschlagenen Buch ein beschriebener Bogen +Postpapier, zweimal gefaltet und so zusammengepreßt, +<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a> +als sei er schon vor Jahren in dieses Buch gelegt und +dann vergessen worden. Neugierig untersuchte ich meinen +Fund. Es war ein Brief, jedoch ohne Adresse, ohne +Anrede und als Unterschrift standen nur zwei Buchstaben: +S. O. Meine Neugier verdoppelte sich, ich entfaltete +das fast zusammengeklebte Papier, das vom +langen Liegen auf den Blättern eine helle Stelle von +der Größe seines Formats hinterlassen hatte. An den +Faltstellen war das Papier schon stark mitgenommen: +man hatte den Brief wohl oft gelesen. Die Tinte war +verblaßt – er mußte schon vor langer, langer Zeit geschrieben +worden sein. Einzelne Wörter stachen mir in +die Augen und mein Herz begann zu klopfen vor Erwartung. +Verwirrt besah ich den Brief von allen Seiten, +wie um das Lesen noch hinauszuschieben. Zufällig +sah ich näher hin und hob ihn zum Licht: ja! es waren +deutliche Tränenspuren zu sehen, stellenweise waren sogar +ganze Buchstaben verwischt. Wessen Tränen mochten +das sein? Und schließlich las ich mit stockendem +Herzschlag die erste halbe Seite und – fast hätte ich +aufgeschrien. Ich stellte das Buch zurück, schloß den +Schrank, verbarg den Brief in meinem Kleide und lief +auf mein Zimmer, dessen Tür ich verschloß, und dann +machte ich mich daran, den Brief nochmals vom Anfang +an zu lesen. Mein Herz schlug so laut, daß die +Buchstaben vor meinen Augen tanzten und ich lange +nicht begriff, was ich las. Der Brief war eine Aufklärung, +für mich eine Lösung des Geheimnisses, – +wie ein Blitz durchzuckte es mich, denn ich erriet sogleich, +an wen er gerichtet war. Ich wußte, daß ich +nahezu ein Verbrechen beging, wenn ich diesen Brief +<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a> +las, doch der Augenblick war stärker als ich! der Brief +war an Alexandra Michailowna gerichtet. +</p> + +<p> +Hier ist er: ich schreibe ihn wortgetreu ab. Unklar +begriff ich, was er enthielt und noch lange nachher habe +ich über das Rätsel nachgedacht und mich grübelnd +zerquält. Mit diesem Augenblick brach mein früheres +Leben ab. Mein Herz war für lange Zeit erschüttert, +fast für immer, denn dieser Brief hatte viele Folgen. +Die Vorahnung, mit der ich das Orakel nach meiner +Zukunft befragen gewollt, hatte mich nicht getäuscht. +</p> + +<p> +Dieser Brief war das Letzte, war ein letzter, furchtbarer +Abschied. Während ich ihn las, krampfte sich +mein Herz so schmerzhaft zusammen, als verlöre ich +selbst damit alles, als würden mir auf ewig sogar meine +Träume und Hoffnungen genommen, als bliebe mir +nichts mehr als ein unnötiges, überflüssiges Leben. +Wer war er, der diesen Brief geschrieben? Wie war +nachher sein Leben? Dieser Brief enthielt so viele Andeutungen, +so viele Beweisstücke, daß man sich nicht +täuschen konnte, und doch auch so viele Rätsel, daß es +unmöglich war, sich nicht in den Vermutungen zu verlieren. +Dennoch kann ich sagen, daß ich mich kaum irrte; +übrigens offenbarte allein schon der Stil des Briefes, +der auch sonst noch vieles verriet, den ganzen Charakter +dieses Verhältnisses, über dem zwei Herzen gebrochen +sind. Die Gedanken und Gefühle des Schreibenden +lagen offen zutage. Doch hier ist der Brief – +ich schreibe ihn Wort für Wort ab: +</p> + +<p> +„Du wirst mich nicht vergessen, sagtest Du – und +ich glaube Dir, und von nun an ist mein ganzes Leben +in diesen Deinen Worten. Wir müssen uns trennen, +<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a> +unsere Stunde hat geschlagen. Das wußte ich längst, +meine stille, meine traurige Schönheit, aber erst jetzt +habe ich es begriffen. Während der ganzen Zeit, die +<em>uns</em> gehörte, seitdem Du mich liebtest, hat mein Herz +mich geschmerzt und gezittert um unsere Liebe, und – +wirst Du’s glauben? – jetzt ist mir leichter! Ich wußte +es schon längst, daß es so enden werde, so war es schon +vor uns bestimmt. Das ist Schicksal. Und weißt Du, +laß es mich Dir sagen, Alexandra: wir waren <em>nicht +ebenbürtig</em>; das habe ich immer, <em>immer</em> gefühlt! +Ich war Deiner nicht wert, und ich, ich allein +müßte die Strafe für mein durchlebtes Glück tragen! +Sag’, was war ich im Vergleich mit Dir, bevor ich +Dich kennen lernte? Gott! nun sind schon zwei Jahre +darüber vergangen und ich bin immer noch wie von +Sinnen; ich kann es bis jetzt noch nicht begreifen, daß +<em>Du mich</em> lieben konntest! Ich verstehe nicht, wie es +zwischen uns so weit kam, womit es begann. Erinnerst +Du Dich noch, was ich war im Vergleich mit Dir? +War ich denn Deiner wert, was war an mir, wodurch +zeichnete ich mich aus? Bevor ich Dich kennen lernte, +war ich roh und einfältig, und mein Aussehen traurig +und düster. Ein anderes Leben wünschte ich nicht, ich +rief es weder, noch wollte ich es rufen. Alles in mir +war niedergedrückt und ich kannte in der ganzen Welt +nichts Wichtigeres, als meine tägliche Arbeit. Ich +hatte nur eine Sorge – das war der nächste Tag; +doch selbst zu dieser verhielt ich mich gleichmütig. Früher, +ja, einmal vor langer Zeit, da hatte ich wohl etwas +Ähnliches erträumt und wie ein Narr phantastische +Schlösser gebaut. Seitdem aber war viel, viel +<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a> +Zeit vergangen und ich richtete mich so gut es ging in +meinem Leben ein, lebte einsam, verschlossen, ruhig und +sogar ohne die Kälte zu fühlen, die mein Herz erstarren +ließ. Und so verstummte es. Ich wußte doch, daß für +mich nie eine andere Sonne aufgehen werde, und ich +glaubte daran und murrte nicht, denn ich begriff, daß +es <em>so sein mußte</em>. Als Du an mir vorübergingst, +wußte ich nicht, daß ich es wagen durfte, meine Augen +zu Dir zu erheben. Ich war wie ein Sklave vor +Dir. Mein Herz bebte nicht neben Dir, es sehnte sich +nicht und verhieß mir nichts von Dir: es war ruhig. +Meine Seele erkannte die Deine nicht, wenn es in ihr +auch leicht war neben ihrer schönen Schwester. Das +weiß ich; das fühlte ich dumpf. Das konnte ich fühlen, +denn selbst in das letzte Stäubchen dringt Gottes Sonnenlicht +und wärmt und liebkost es ebenso wie die schönste +Blume, neben der es in wunschloser Demut fröstelt. +Als ich aber alles erfuhr, weißt Du noch, nach +jenem Abend, nach jenen Worten, die meine Seele bis +auf den Grund erschütterten – da war ich wie geblendet, +bestürzt, alles verwirrte sich in mir, und – was +glaubst Du? – ich war so betroffen, ich traute mir so +wenig, daß ich Dich nicht verstand! Davon habe ich +Dir nie etwas gesagt. Du wußtest nichts; nicht so war +ich früher, wie Du mich kennen lerntest. Wenn ich gekonnt +hätte, wenn ich gewagt hätte, zu sprechen, so +hätte ich Dir längst alles gestanden. Doch ich schwieg, +jetzt aber werde ich Dir alles sagen, denn Du sollst wissen, +wen Du verlierst, von was für einem Menschen +Du Dich trennst. Weißt Du auch, wie ich Dich anfangs +verstand? Die Leidenschaft erfaßte mich wie ein Feuer, +<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a> +wie ein Gift ergoß sie sich in mein Blut; sie verwirrte +alle meine Gedanken und Gefühle, ich war wie von +schwerem Wein berauscht, wie im Dunst ging ich umher +und auf Deine reine <em>mitleidige</em> Liebe antwortete +ich nicht wie ein Ebenbürtiger einer Ebenbürtigen, +nicht wie einer, der Deiner reinen Liebe wert wäre, +sondern besinnungslos, herzlos. Ich erkannte Dich +nicht. Ich antwortete Dir wie einer, die sich in meinen +Augen <em>bis zu mir vergaß</em>, und nicht wie einer, +die mich bis zu sich erheben wollte. Weißt Du, was ich +von Dir dachte, was das für mich bedeutete: <em>die sich +bis zu mir vergaß</em>? Doch nein, ich werde Dich +nicht mit meinem Geständnis beleidigen; nur eines will +ich Dir sagen: Du hast Dich bitter in mir getäuscht! +Niemals, niemals konnte ich mich bis zu Dir erheben. +Ich konnte Dich nur unnahbar anschauen, Dein Wesen +geistig erfassen in meiner schrankenlosen Liebe. Meine +Leidenschaft aber war nicht Liebe. Liebe fürchtete ich; +ich wagte nicht, Dich zu lieben. In der Liebe – ist +Gemeinsamkeit, Gleichheit, ihrer aber war ich nicht +wert ... Oder ich weiß nicht, was mit mir war! Oh! +wie soll ich mich nur ausdrücken, um von Dir verstanden +zu werden ... Ich glaubte anfangs nicht ... Oh! +weißt Du noch, als meine erste Erregung sich gelegt +und mein Blick sich geklärt hatte, als mir nur ein reines, +makelloses Gefühl geblieben war – da war meine +erste Empfindung Verwunderung, Verwirrung, Furcht +und – weißt Du noch – wie ich mich plötzlich aufschluchzend +Dir zu Füßen warf? Weißt Du noch, wie +Du verwirrt, erschrocken, mit Tränen in den Augen +mich fragtest, was mit mir sei? Ich schwieg, ich konnte +<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a> +Dir nicht antworten; aber meine Seele zerriß sich in +Stücke. Mein Glück bedrückte mich wie eine unerträgliche +Last und mein Schluchzen sprach: „Wofür das? +Womit habe ich das verdient? Wofür mir dieses Glück? +Meine Schwester, meine Schwester!“ Oh! und wie +oft – Du merktest es nicht – wie oft habe ich heimlich +Dein Kleid geküßt, heimlich, denn ich wußte, daß +ich Deiner nicht wert war, – und es benahm mir den +Atem, mein Herz schlug langsam und stark, als wolle +es stehenbleiben und das – für immer. Wenn ich +Deine Hand nahm, erbleichte ich und zitterte; Du verwirrtest +mich mit Deiner Reinheit. Nein, ich verstehe +nicht – das alles auszudrücken, wovon meine Seele +erfüllt war und was sich so mächtig in Worten aus ihr +herausdrängen will! Weißt Du auch, daß es mir oft +schwer war, Deine mitleidige, gleichmäßige Zärtlichkeit +zu ertragen, daß sie mir eine Qual war? Als Du +mich küßtest (das tatest Du einmal, und ich werde es +nie vergessen), da umflorte sich mein Blick und mein +Geist versank wie in einem dunklen Nebel. Warum +starb ich nicht in diesem Augenblick zu Deinen Füßen? +Sieh, ich sage zum erstenmal „Du“ zu Dir, und doch +hast Du es schon so oft von mir verlangt, schon vor langer +Zeit. Wirst Du verstehen, was ich sagen will? Ich +will Dir <em>alles</em> sagen und sage Dir dies: ja, Du liebst +mich, mit einer großen Liebe, Du liebtest mich wie +eine Schwester ihren Bruder; Du liebtest mich wie +Dein Geschöpf, denn durch Dich ist mein Herz auferstanden, +Du hast meinen Geist aus dem Schlaf geweckt +und ihn mit süßer Hoffnung erfüllt; ich aber +konnte es nicht, wagte es nicht ... ich habe Dich nie +<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a> +meine Schwester genannt, weil ich nicht Dein Bruder +sein konnte, weil wir ungleich waren, weil Du Dich in +mir täuschtest! +</p> + +<p> +Doch Du siehst, ich schreibe nur von mir; selbst +jetzt in dieser Stunde des Elends, denke ich nur an mich, +obschon ich weiß, daß Du Dich um mich quälst. Oh, +quäle Dich nicht meinetwegen, meine liebe Freundin! +Wenn Du wüßtest, wie ich jetzt in meinen eigenen Augen +erniedrigt bin! All das ist an den Tag gekommen +und – wieviel Lärm um nichts! Du wirst statt meiner +verstoßen, Dich straft man mit Verachtung, mit Spott, +denn ich stehe ja so niedrig in den Augen der Menschen! +Oh, wie groß ist meine Schuld, daß ich Deiner +nicht wert war! Hätte ich Rang und Titel oder persönlichen +Wert in ihren Augen, wenn ich ihnen mehr Achtung +einflößte – dann würden sie Dir verzeihen! Ich +aber bin nichts, bin wertlos, bin lächerlich, noch Niederigeres +aber als das Lächerliche gibt es nicht. Denn +– <em>wer</em> sind sie, die da schreien? Gerade deshalb, weil +<em>diese</em> schon schrien, verlor ich den Mut – ich war +von jeher schwach. Weißt Du, in welch einer Stimmung +ich jetzt bin? – ich lache über mich selbst und ich glaube, +sie haben recht, wenn sie sagen, ich sei mir selbst +verhaßt und in meinen eigenen Augen lächerlich. Ich +hasse sogar mein Gesicht, meine Gestalt, alle meine Angewohnheiten, +alle meine ungeschickten Bewegungen; +ich habe sie immer gehaßt! Oh, vergib mir meine rohe +Verzweiflung! Aber Du selbst hast mich gelehrt, Dir +alles zu sagen. Ich habe Dich ins Unglück gestürzt, +durch mich bist Du ihrem Spott und Gelächter verfallen +– weil ich Deiner nicht wert war! +</p> + +<p> +<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a> +Und dieser eine Gedanke quält mich; er klopft unaufhörlich +in meinem Gehirn und foltert und zerreißt +mein Herz. Und immer scheint es mir, daß Du gar nicht +<em>den</em> Menschen geliebt hast, der ich war, sondern einen, +den nur Du in mir sahst –: daß Du Dich getäuscht +hast in mir. Das ist es, was mich schmerzt, das ist es, +was mich jetzt quält, was mich zu Tode quälen wird: +oder aber – ich werde darüber wahnsinnig! +</p> + +<p> +Ich muß Abschied von Dir nehmen, Abschied! Jetzt, +wo alle es wissen, wo ihr Geschrei und ihr scharfes Urteil +ertönt (ich habe es gehört!), jetzt, wo ich klein und +erniedrigt bin in meinen eigenen Augen und mich vor +mir selber schäme, ja wo ich mich sogar für Dich schäme, +wegen Deiner Wahl, wo ich mich verflucht habe, +– jetzt muß ich verschwinden um Deiner Ruhe willen. +So verlangt man es, und Du wirst mich nie mehr wiedersehen, +nie mehr. So muß es auch sein, so ist es vom +Schicksal bestimmt! Es hat mir gar zu viel gegeben; +wohl aus Versehen; und jetzt macht es seinen Irrtum +gut, indem es mir alles wieder nimmt. Unsere Wege +haben sich gekreuzt, wir lernten uns kennen, und nun +gehen wir auseinander bis zu einem neuen Wiedersehen! +Wo wird das sein, wann wird das sein? Oh, +sag’ mir, Du Liebe, wo werden wir uns wiedersehen, +wo kann ich Dich finden, wie kann ich Dich verstehen +lernen – und wirst auch Du mich dann verstehen? +Meine Seele ist so voll von Dir! Oh, wofür, wofür das +uns? Warum gehen wir auseinander? Belehre mich +– ich begreife das nicht, ich werde es nie begreifen, ich +kann es nicht – lehre Du mich, wie man das Leben in +zwei Hälften brechen, wie man das Herz sich aus der +<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a> +Brust reißen und ohne Herz leben kann! Wenn ich daran +denke, daß ich Dich nie mehr sehen werde, nie mehr, +nie mehr! ... +</p> + +<p> +Gott, was für ein Geschrei sie erhoben haben! wie +ich jetzt für Dich fürchte! Vor einer Stunde habe ich +mit Deinem Mann gesprochen: wir sind beide seiner +nicht wert, obschon wir schuldlos vor ihm sind. Er weiß +alles; er sieht uns so, wie wir sind, und er begreift +alles, auch früher schon ist ihm alles klar gewesen. Und +jetzt ist er wie ein Held für Dich eingetreten. Er wird +Dich gegen ihr Geschrei verteidigen und beschützen; er +liebt und achtet Dich grenzenlos; er ist Dein Retter, +während ich verschwinde! ... Ich wollte ihm die Hände +küssen! ... Er sagte mir, ich solle unverzüglich verreisen. +Es ist schon beschlossen! Es heißt, er habe Deinetwegen +mit ihnen allen gebrochen; dort sind ja alle +gegen Dich. Man wirft ihm zu große Nachsicht und +Schwäche vor. Mein Gott! Was sie nicht alles von +Dir reden! Und dabei wissen sie nichts! <em>Sie können +ja nicht, sie sind nicht fähig</em>, die Wahrheit zu +begreifen! Vergib, vergib ihnen, Du Arme, wie auch +ich ihnen vergebe. Mir aber haben sie mehr genommen +als Dir! +</p> + +<p> +Ich weiß nicht – nein, ich weiß nicht, was ich Dir +schreibe. Was sagte ich Dir gestern beim Abschied? +Ich habe doch alles vergessen. Ich war wie von Sinnen +– Du weintest ... Vergib mir diese Tränen! +Ich bin so schwach, so kleinmütig! +</p> + +<p> +Ich wollte Dir noch etwas sagen ... Oh! Noch +einmal Deine Hände küssen, mit diesen Tränen benetzen, +die hier auf dem Papier meine Worte verwischen! Noch +<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a> +einmal zu Deinen Füßen sitzen! Wenn <em>sie</em> nur wüßten, +wie rein und gut Dein Gefühl war! Aber sie sind ja +blind; ihre Herzen sind stolz und hochmütig; sie sehen +nicht und werden das niemals sehen. Denn <em>sie haben +das nicht, womit man sieht</em>! Sie werden +es nie glauben, daß Du schuldlos bist, auch wenn +die ganze Welt es ihnen schwören sollte. Wie sollten sie +auch das begreifen! Und doch werden sie mit Steinen +nach Dir werfen! Wessen Hand wird die erste sein? Oh, +die werden nicht zaudern, tausend Steine werden sie +aufheben! Ja, sie werden sich dazu erdreisten, weil sie +wissen, wie man das macht. Sie werfen alle zugleich +und sagen, sie selber seien schuldlos, deshalb dürften +sie es! Oh, wenn sie wüßten, was sie tun! Wenn man +ihnen nur alles sagen könnte, alles, rückhaltlos alles, +damit sie es hören, sehen, begreifen und sich überzeugen +könnten! Doch nein, sie sind nicht so schlecht ... Ich +rede in meiner Verzweiflung ... – vielleicht verleumde +ich sie! Vielleicht stecke ich Dich mit meiner Angst um +Dich an! Nein, fürchte sie nicht, fürchte sie nicht, Du +Liebe! Man wird Dich verstehen lernen; wenigstens +hat einer Dich schon begriffen: Dein Mann. Also +hoffe! +</p> + +<p> +Leb’ – leb’ wohl! <em>Ich danke Dir nicht!</em> +Für immer leb’ wohl. +</p> + +<p class="sign"> +S. O.“ +</p> + +<p class="noindent"> +Meine Verwirrung war so groß, daß ich lange Zeit +nicht wußte, was in mir vorging. Ich war erschüttert, +erschrocken. Die Wirklichkeit traf mich gar zu plötzlich, +gar zu unerwartet mitten in dem lustigen Leben +meiner Träumereien, wie ich es schon drei Jahre lang +<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a> +lebte. Mit Schrecken wurde ich gewahr, daß ich ein großes +Geheimnis in meinen Händen hielt und daß dieses +Geheimnis mein ganzes Leben in Fesseln schlug ... +wie? – das wußte ich selbst noch nicht. Ich fühlte, daß +in diesem Augenblick eine neue Zukunft für mich begann. +Jetzt war ich ungewollt eine nahe, gar zu nahe Teilhaberin +an dem Leben und den Beziehungen jener Menschen, +die noch die ganze mich umgebende Welt ausmachten, +und ich fürchtete für mich. Als was würde +ich in ihr Leben eintreten, ich, die Ungerufene, ich, die +ihnen Fremde? Was würde ich ihnen bringen? Was +wird jemals diese Fessel lösen können, die mich so +plötzlich an ein fremdes Geheimnis kettete? Wer konnte +das wissen? Vielleicht wird meine neue Rolle sowohl +für sie wie für mich qualvoll sein? Ich konnte nicht +schweigen oder diese Rolle nicht annehmen oder das, +was ich erfahren, für alle Zeit in meinem Herzen verschließen. +Aber was erwartete mich? Was sollte ich +tun? Und schließlich – was hatte ich denn eigentlich +erfahren? Tausend Fragen, alle noch unbestimmt und +unklar, erhoben sich vor mir und bedrückten mein Herz +unerträglich. Ich war wie verloren. +</p> + +<p> +Dann kamen, erinnere ich mich, andere Minuten +mit neuen, seltsamen, von mir noch nie empfundenen +Eindrücken. Es war mir, als löse sich etwas in meiner +Brust, als fiele die frühere Sehnsucht plötzlich von mir +ab und als werde mein Herz langsam von etwas Neuem +erfüllt, von dem ich noch nicht wußte, ob ich darüber +trauern oder mich freuen sollte. Meine Stimmung +in dem Augenblick glich derjenigen eines Menschen, +der auf ewig sein Haus, sein früheres, ruhiges, sorgenloses +<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a> +Leben verläßt, um sich auf einen weiten unbekannten +Weg zu begeben, und der sich nun zum letztenmal +im Kreise umschaut und in Gedanken von allem +Abschied nimmt, während es dem Herzen bitter weh +ist in einer bangen Vorahnung all des Unbekannten +und Traurigen und vielleicht auch Feindseligen der Zukunft, +in die ihn sein neuer weiter Weg hineinführt. +Zuletzt brach ich in Tränen aus und das krampfhafte +Weinen erleichterte mein Herz. Ich hatte das Bedürfnis, +jemanden zu sehen, zu hören, ihn fest, krampfhaft +zu umarmen. Jetzt konnte, jetzt wollte ich nicht mehr +allein bleiben; ich lief zu Alexandra Michailowna und +verbrachte den ganzen Abend bei ihr. Wir waren allein. +Ich bat sie, nicht zu spielen, und weigerte mich, +trotz ihrer Bitten, ihr etwas vorzusingen. Ich fühlte +mich bedrückt und konnte mich zu nichts sammeln. Ich +glaube, wir weinten beide. Wenigstens soweit ich mich +erinnere, erschrak sie über meine Stimmung und redete +mir in Sorge zu, mich doch zu beruhigen, und mich +nicht aufzuregen. Sie beobachtete mich angstvoll und +versicherte mir, ich sei krank und müsse mich mehr schonen. +Ich verließ sie gequält und wie mit mir selbst zerfallen. +Ich war halb bewußtlos und fieberte, als ich +zu Bett ging. +</p> + +<p> +Es vergingen mehrere Tage, bevor ich aus diesem +Zustande mich herausfand, gleichsam erwachte und +meine Lage klarer übersehen konnte. Damals lebten +wir ganz einsam, denn Pjotr Alexandrowitsch war in +einer besonderen Angelegenheit nach Moskau gereist +und blieb dort drei Wochen. Alexandra Michailowna +hatte aber trotz dieser kurzen Zeit der Trennung schreckliche +<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a> +Sehnsucht nach ihm. Zuweilen war sie innerlich +ruhiger, schloß sich aber dennoch in ihr Zimmer ein, +woraus ich ersah, daß ich ihr lästig war. Aber auch ich +hatte das Verlangen nach Einsamkeit. Meine Gedanken +arbeiteten mit geradezu krankhafter Angespanntheit und +doch kam ich wie aus einem Nebel nicht heraus. Dann +verfiel ich wiederum für ganze lange Stunden einem +quälenden, nicht abzuschüttelnden Sinnen, das wie ein +Traum über mich kam. Und es war mir dann, als lache +jemand leise über mich, als habe sich etwas in mir niedergelassen, +was mir jeden Gedanken verwirrte und +vergiftete. Ich konnte die quälenden Bilder nicht loswerden, +die jeden Augenblick vor mir auftauchten und +mir keine Ruhe gaben. Ich sah ein langes, trostloses +Martyrium, ein Opfer, das still und ruhig und klaglos +und – umsonst gebracht wurde. Es schien mir, +daß derjenige, dem dieses Opfer galt, sie verachtete und +über sie lachte. Es schien mir, daß ich einen Sünder sah, +der einem Gerechten Sünden vergab, und mein Herz +riß in Stücke! Gleichzeitig aber wollte ich mich mit +aller Gewalt von meinem Verdacht befreien; ich verfluchte +diesen Verdacht und haßte mich selbst, weil alle +meine Überzeugungen keine Überzeugungen waren, +sondern nur Vorahnungen, und weil ich meine Eindrücke +und Empfindungen vor mir selber nicht rechtfertigen +konnte. +</p> + +<p> +Dann wieder erinnerte ich mich all jener Sätze, +dieser letzten hervorgestoßenen Worte des furchtbaren +Abschieds. Ich stellte mir diesen Abschied vor, den – +<em>unebenbürtigen</em>; ich bemühte mich, den ganzen +qualvollen Sinn dieses Wortes zu erfassen: „unebenbürtig“. +<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a> +Und furchtbar erschütterte mich dieser letzte +verzweifelte Abschiedsgruß: „Ich bin lächerlich und +schäme mich selber Deiner Wahl.“ Was war das? +Was sind das für Menschen? Wonach sehnen sie sich, +was quält sie, was haben sie verloren? Und ich überwand +mich und las nochmals mit angespannter Aufmerksamkeit +diesen Brief, der soviel Verzweiflung enthielt, +dessen Sinn mir aber so fremd war, so unbegreiflich. +Doch der Brief sank mir aus der Hand und eine +aufrührerische Erregung bemächtigte sich meines Herzens +... Das alles mußte ja einmal seine Lösung finden, +aber ich sah den Ausweg nicht oder ich fürchtete +ihn! +</p> + +<p> +Ich war fast krank, als eines Tages die Reiseequipage +Pjotr Alexandrowitschs in den Hof fuhr. Er war +aus Moskau zurückgekehrt. Alexandra Michailowna +eilte außer sich vor Freude ihrem Mann entgegen, ich +aber blieb wie gelähmt stehen. Ich weiß noch, daß ich +selber bis zum Schreck über meine plötzliche Erregung +betroffen war. Ich hielt das nicht lange aus und lief +auf mein Zimmer. Ich begriff nicht, was mich so erschreckt +hatte, aber die Tatsache, daß ich erschrocken war, +flößte mir Furcht ein. Nach einer Viertelstunde wurde +ich gerufen und ich erhielt einen Brief vom Fürsten. +Im Salon erblickte ich noch einen Unbekannten, der +mit Pjotr Alexandrowitsch aus Moskau angekommen +war, und aus einzelnen Worten, die ich aus dem Gespräch +auffing, verstand ich nur so viel, daß er für lange +Zeit bei uns bleiben werde. Das war der Bevollmächtigte +des Fürsten, der in irgendwelchen wichtigen +Angelegenheiten der fürstlichen Familie, die bis dahin +<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a> +in den Händen Pjotr Alexandrowitschs geruht hatten, +nunmehr nach Petersburg übersiedelte. Er war es, der +mir den Brief des Fürsten übergab und sagte, die +Prinzeß habe mir gleichfalls schreiben wollen und noch +bis zum letzten Augenblick versichert, daß sie den Brief +unbedingt schreiben werde, aber zu guter Letzt habe sie +ihn doch mit leeren Händen abreisen lassen und ihn +gebeten, mir mündlich folgendes zu sagen: daß sie mir +entschieden nichts zu schreiben habe, sie habe ganze fünf +Briefbogen zerrissen, und sei zu der Überzeugung gekommen, +daß in einem Brief sich doch nichts sagen ließe, +wir müßten eben von neuem Freundschaft schließen; +und ferner solle er mich versichern, daß uns ein +baldiges Wiedersehen bevorstehe. Auf meine ungeduldige +Frage, wann das sein werde, antwortete mir der +fremde Herr, daß die ganze fürstliche Familie allerdings +die Absicht habe, bald nach Petersburg zurückzukehren, +und vermutlich werde das auch geschehen. Meine Freude +darüber war so groß, daß ich nicht wußte, was ich +tun oder sagen sollte, und ich ging schnell nach oben +auf mein Zimmer, schloß mich ein und erbrach unter +Tränen den Brief des Fürsten. Der Fürst verhieß mir +ein baldiges Wiedersehen mit ihm und Katjä und gratulierte +mir tief gerührt zu meinem Talent; zum Schluß +gab er mir seinen Segen und versprach, für meine Zukunft +zu sorgen. Ich weinte, während ich den Brief las; +doch zu den Tränen gesellte sich eine so unerträgliche +Traurigkeit, daß ich, wie ich mich erinnere, um mich +selber in Angst geriet. Ich wußte nicht, was mit mir +geschah. +</p> + +<p> +Es vergingen ein paar Tage. In dem Zimmer zwischen +<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a> +dem meinigen und der Bibliothek, wo früher +Pjotr Alexandrowitschs Sekretär und Gehilfe gearbeitet +hatte, arbeitete jetzt jeden Vormittag und häufig auch +abends bis nach Mitternacht der neuangekommene +Herr. Oft schlossen er und Pjotr Alexandrowitsch sich +im Kabinett des letzteren ein und arbeiteten zusammen. +An einem Nachmittage bat mich Alexandra Michailowna, +zu ihrem Mann ins Kabinett zu gehen und +ihn zu fragen, ob er zum Tee zu uns kommen werde. +Im Kabinett war niemand, doch in der Annahme, daß +er bald zurückkehren werde, blieb ich dort und wartete. +An der Wand hing sein Porträt. Ich erinnere mich +noch, daß ich zusammenfuhr, als ich plötzlich dieses +Bild erblickte, um es dann mit einer mir selbst unbegreiflichen +Erregung zu betrachten. Es hing ziemlich +hoch und die Dämmerung machte es noch undeutlicher; +um es nun besser zu sehen, zog ich einen Stuhl heran +und stieg auf ihn hinauf. Ich wollte etwas aufdecken, +ja es war, als hoffte ich, eine Antwort auf meine +Zweifel und Fragen zu finden, und ich weiß noch, daß +mir vor allem die Augen an diesem Porträt auffielen. +Zugleich fiel es mir auch ein, daß ich noch niemals +die Augen dieses Menschen gesehen hatte: er verbarg +sie immer hinter den Brillengläsern. +</p> + +<p> +Schon als Kind hatte ich seinen Blick nicht gemocht, +und zwar infolge eines unerklärlichen, seltsamen Vorurteils, +das ich aber jetzt gleichsam als gerechtfertigt +empfand. Meine Phantasie war beeinflußt. Plötzlich +schien es mir, daß die Augen des Bildes sich verwirrt +abwandten, um meinem forschenden, prüfenden Blick +auszuweichen, daß sie ihn krampfhaft mieden, und daß +<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a> +Lüge und Betrug in diesen Augen waren; es schien +mir, daß ich es erraten hatte, und eine geheime Freude, +die ich selbst nicht begriff, antwortete in mir auf dieses +Erraten. Ein halblautes „Ach!“ entschlüpfte mir unwillkürlich. +Da war’s mir plötzlich, als sei noch jemand +im Zimmer. Ich sah mich um: vor mir stand +Pjotr Alexandrowitsch und betrachtete mich aufmerksam. +Plötzlich errötete er. Ich wurde feuerrot und +sprang vom Stuhl herab. +</p> + +<p> +„Was tun Sie hier?“ fragte er mich streng. +„Warum sind Sie hier?“ +</p> + +<p> +Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Doch +ich nahm mich zusammen und brachte so gut es ging +die Aufforderung Alexandra Michailownas hervor. +Ich weiß nicht, was er mir antwortete; ich weiß auch +nicht, wie ich das Kabinett verließ; als ich aber zu +Alexandra Michailowna kam, da hatte ich die Antwort, +auf die sie wartete, spurlos vergessen, und ich sagte +aufs Geratewohl, ja, er werde kommen. +</p> + +<p> +„Aber was ist mit dir, Njetotschka?“ fragte sie, +„du bist ja ganz rot; sieh doch im Spiegel, wie du aussiehst +... Was fehlt dir, Kind?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht, ich bin schnell gegangen ...“ +sagte ich. +</p> + +<p> +„Und was hat denn Pjotr Alexandrowitsch gesagt?“ +unterbrach sie mich etwas verwirrt. +</p> + +<p> +Ich antwortete nicht. Da hörten wir Schritte, er +kam schon, und ich ging schnell hinaus. Ganze zwei +Stunden wartete ich in großem Kummer. Endlich wurde +ich zu Alexandra Michailowna gerufen. Sie war +schweigsam und bekümmert. Als ich eintrat, traf mich +<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a> +nur ein schneller forschender Blick von ihr und sie +schlug die Augen nieder. Ich glaubte, eine gewisse Verwirrung +in ihrem Gesicht zu bemerken. Bald sah ich, +daß sie bei schlechter Laune war; sie sprach wenig, vermied +mich anzusehen und als Antwort auf die besorgten +Fragen B.’s klagte sie über Kopfschmerz. Pjotr +Alexandrowitsch war dagegen gesprächiger als sonst, +unterhielt sich aber nur mit B. +</p> + +<p> +Alexandra Michailowna trat zerstreut an den +Flügel. +</p> + +<p> +„Singen Sie uns etwas vor,“ bat B., sich an mich +wendend. +</p> + +<p> +„Ja, Annjeta, singe deine neue Arie,“ sagte Alexandra +Michailowna schnell, als freue sie sich über den +Vorwand. +</p> + +<p> +Ich blickte zu ihr auf: sie sah mich in unruhiger Erwartung +an. +</p> + +<p> +Doch ich konnte mich nicht überwinden. Statt an +den Flügel zu treten, um wenigstens irgend etwas +zu singen, geriet ich in Verwirrung, wurde verlegen +und wußte nicht, zu welcher Ausrede ich meine Zuflucht +nehmen sollte; schließlich ärgerte ich mich und schlug die +Bitte rund ab. +</p> + +<p> +„Warum willst du denn nicht singen?“ fragte Alexandra +Michailowna, dabei sah sie mich an und dann, +für den Bruchteil einer Sekunde, ihren Gatten. +</p> + +<p> +Diese zwei Blicke brachten mich um meine ganze +Selbstbeherrschung. Ich erhob mich in größter Verwirrung, +die ich nicht mehr zu verbergen vermochte, +und zitternd von einer Empfindung, die wie Ärger und +Ungeduld war, wiederholte ich heftiger als angebracht, +<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a> +daß ich nicht wolle, nicht könne – ich sei krank. Indem +ich das sagte, sah ich alle offen an, doch Gott weiß, wie +gern ich mich in diesem Augenblick in meinem Zimmer +vor allen versteckt hätte. +</p> + +<p> +B. war erstaunt und Alexandra Michailowna sichtlich +bekümmert, doch sagte sie kein Wort. Pjotr Alexandrowitsch +aber erhob sich plötzlich von seinem Platz, +sagte, er habe etwas Wichtiges vergessen, und wie im +Ärger darüber, daß er soviel kostbare Zeit vergeudet, +verließ er eilig das Zimmer, nachdem er vorausgeschickt, +daß er später vielleicht noch vorsprechen werde – doch +drückte er auf alle Fälle B. schon zum Abschied die +Hand. +</p> + +<p> +„Aber was fehlt Ihnen nur?“ fragte mich B., +„Sie sehen auch wirklich krank aus.“ +</p> + +<p> +„Ja, ich bin nicht ganz wohl, wirklich nicht,“ versetzte +ich ungeduldig. +</p> + +<p> +„Du bist bleich, vorhin aber warst du so rot,“ sagte +Alexandra Michailowna und plötzlich stockte sie. +</p> + +<p> +„Ach, das ist doch nichts!“ suchte ich sie zu beruhigen +und ging schnurstracks zu ihr. Ich sah ihr offen +in die Augen. Die Arme hielt meinen Blick nicht aus, +senkte ihren Blick wie eine Schuldige und eine leichte +Röte stieg in ihre blassen Wangen. Ich nahm ihre Hand +und küßte sie. Sie sah mich – das fühlte ich – mit erheuchelter +Freude an. +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie, daß ich heute ein so schlechtes, +böses Kind war,“ bat ich sie herzlich, „aber wirklich, +ich bin krank. So seien Sie mir nicht böse und erlauben +Sie, daß ich jetzt auf mein Zimmer gehe ...“ +</p> + +<p> +„Wir sind alle Kinder,“ sagte sie mit einem schüchternen +<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a> +Lächeln, „auch ich bin ein Kind, und schlechter, +viel schlechter als du,“ flüsterte sie mir leise ins Ohr. +„Dann gute Nacht und bleibe gesund. Nur, um Gottes +willen, sei mir nicht böse.“ +</p> + +<p> +„Weswegen?“ fragte ich, so sehr traf mich dieses +naive Geständnis. +</p> + +<p> +„Weswegen?“ wiederholte sie in plötzlicher Verwirrung, +ja sogar als erschrecke sie über sich selbst. „Ja +weswegen? Nun siehst du, wie ich bin, Njetotschka. +Was habe ich dir da gesagt? Gute Nacht! Du bist +klüger als ich ... Ich aber bin schlimmer als ein +Kind.“ +</p> + +<p> +„Nun, schon gut!“ Ich war gerührt und wußte +nicht, was ich ihr darauf sagen sollte. Ich küßte sie +nochmals und ging aus dem Zimmer. +</p> + +<p> +Mein Unmut galt hauptsächlich mir selbst, denn +ich fühlte, daß ich zu unvorsichtig war und mich nicht +zu benehmen verstand. Es war da etwas, dessen ich +mich bis zu Tränen schämte, und mit großem Leid im +Herzen schlief ich ein. Als ich am nächsten Morgen +erwachte, war mein erster Gedanke, daß der ganze letzte +Abend – nur eine Gespensterseherei gewesen sei, daß +wir uns gegenseitig nur mystifiziert hatten, indem wir +solchen Nichtigkeiten die Bedeutung von Gott weiß was +für Begebenheiten beilegten, daß wir uns einfach übereilt +hatten, und zwar alles das nur infolge unserer Unerfahrenheit +im Leben und unserer Ungewohntheit, äußere +Eindrücke zu empfangen. Ich fühlte es, daß dieser +Brief an allem schuld war, daß er mich gar zu sehr beunruhigte, +daß meine Einbildungskraft durch ihn aus +ihrem gewöhnlichen Geleise gehoben war und daß ich +<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a> +deshalb am besten tat, wenn ich in Zukunft überhaupt +nicht mehr an ihn dachte. Nachdem ich so meinen ganzen +Kummer verscheucht hatte, wurde ich – in der Überzeugung, +daß ich den Entschluß, überhaupt nicht mehr +an den Brief zu denken, ebenso leicht werde ausführen +können – langsam ruhiger, ja fast sogar heiter, und +begab mich in die Gesangsstunde. Die Morgenluft erfrischte +meinen Kopf endgültig. Diese Wanderungen +frühmorgens zu meinem Lehrer waren mir zu einer +wahren Erquickung geworden und ich liebte sie sehr. +Es war so lustig, durch die Stadt zu wandern, die sich +schon zu beleben anfing und wie ein Uhrwerk ihre tägliche +Arbeit begann. Wir gingen gewöhnlich durch die +Hauptstraßen, die natürlich am belebtesten waren, und +mir gefiel dieser Anfang meiner Künstlerlaufbahn, +eben dieser Kontrast zwischen der alltäglichen Kleinlichkeit, +der engen, doch lebendig pulsierenden Sorge, +und der Kunst, die mich zwei Schritte von diesem Leben +entfernt erwartete, im dritten Stock eines riesigen +Hauses, das von oben bis unten von Menschen bewohnt +war, die die Kunst, wie mir schien, so gut wie überhaupt +nichts anging. Ich mit meinen Noten unterm +Arm inmitten dieser geschäftigen, besorgten Menschen +– neben mir die alte Natalja, die mich begleitete und +mir jedesmal ahnungslos das Rätsel zu erraten gab: +woran sie eigentlich und vornehmlich denken mochte – +und schließlich mein Lehrer, halb Italiener, halb Franzose, +ein ganzer Sonderling, in manchen Augenblicken +ein richtiger Enthusiast, viel öfter aber ein Pedant +und am meisten und vor allem ein Geizhals – alles das +zerstreute mich, brachte mich zum Lachen oder zum Nachdenken. +<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a> +Hinzu kam, daß ich, so zaghaft ich in der Beziehung +auch noch war, doch schon mit leidenschaftlicher +Hoffnung meine Kunst liebte. Ich baute mir schon +Luftschlösser, malte mir die schönste Zukunft aus, und +nicht selten kam ich nach Haus – glühend von meinen +Phantasien! Kurz, in diesen Stunden war ich fast +glücklich. +</p> + +<p> +Dasselbe empfand ich auch damals, als ich gegen +zehn Uhr zurückkehrte. Ich hatte alle Sorgen vergessen +und war, wie ich mich noch deutlich erinnere, so froh +gelaunt, so ganz erfüllt von irgendwelchen Zukunftsträumen. +Doch plötzlich, wie ich die Treppe hinaufstieg, +zuckte ich zusammen, als hätte ich mich verbrannt. +Über mir hörte ich die Stimme Pjotr Alexandrowitschs, +der in diesem Augenblick die Treppe herabstieg. +Das unangenehme Gefühl, das sich meiner bemächtigte, +war so stark, die Erinnerung an den letzten +Abend traf mich so plötzlich und so feindselig, daß ich +meine Empfindung wirklich nicht verbergen konnte. Ich +verbeugte mich leicht vor ihm, doch mein Gesicht drückte +wohl so deutlich alles aus, daß er einen Augenblick +verwundert vor mir stehen blieb. Da errötete ich und +ging schnell hinauf. Er brummte mir noch etwas nach +und ging dann seiner Wege. +</p> + +<p> +Ich hätte weinen mögen vor Ärger und konnte doch +nicht begreifen, was eigentlich vorgegangen war. Den +ganzen Tag war ich wie verwirrt und wußte nicht, zu +was ich mich entschließen sollte, um dieser ganzen Qual +ein Ende zu machen und sie endlich loszuwerden. Tausendmal +nahm ich mir vor, fortan vernünftiger zu sein, +und tausendmal nahm mich die Angst doch wieder gefangen. +<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a> +Ich fühlte, daß ich diesen Menschen haßte, und +war gleichzeitig in Verzweiflung über mich selbst. Ich +wurde krank von der ewigen Aufregung und verlor alle +Gewalt über mich. Ich ärgerte mich schließlich über alle, +und verbrachte den ganzen langen Tag auf meinem +Zimmer. Auch zu Alexandra Michailowna ging ich +nicht. Sie kam selbst zu mir. Als sie mich erblickte, +schrie sie fast auf. Ich war so bleich, daß ich, als ich +in den Spiegel sah, vor mir selber erschrak. Alexandra +Michailowna blieb eine ganze Stunde bei mir und +ging mit mir um wie mit einem kranken Kinde. +</p> + +<p> +Ihre Aufopferung und Liebe machten mich aber so +traurig und ihre Zärtlichkeit war für mich so schwer zu +ertragen und es war mir so qualvoll, sie anzusehen, +daß ich sie bat, mich allein zu lassen. Sie verließ mich +in großer Sorge um meinen Zustand. Endlich brach ich +in Tränen aus und weinte wie in einem richtigen +Weinkrampf. Danach wurde mir bedeutend leichter +... +</p> + +<p> +... Leichter, weil ich mich entschlossen hatte, zu ihr +zu gehen. Ich wollte vor ihr niederknien, ihr den Brief +geben, den sie verloren hatte, und ihr alles gestehen: +alle Qualen, die ich ausgestanden, meine Zweifel, und +wollte sie mit der ganzen schrankenlosen Liebe, die in +mir für sie glühte, umfangen, wollte ihr sagen, daß +ich ihr Kind, ihr Freund sei, daß ich mein ganzes Herz +vor ihr öffne, damit sie hineinschaue und sähe, wieviel +glühende Liebe und unerschütterliches Vertrauen zu ihr +in ihm waren. Mein Gott! Ich wußte, ich fühlte ja, +daß ich die letzte war, der sie ihr Herz aufdecken konnte, +doch um so eher, so schien es mir, wäre dann eine Rettung +<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a> +möglich, um so gewichtiger wäre dann mein +Wort ... Ich erriet, ich begriff ihren Schmerz, wenn +auch dunkel und unklar, und mein Herz bebte vor Entrüstung +bei dem Gedanken, daß sie vor mir erröten +könnte, <em>sie</em> vor <em>meinem</em> Richterstuhl ... „Du Arme, +du Arme, <em>du</em> solltest jene Sünderin sein, für die +du dich hältst?“ – das wollte ich ihr sagen, wenn ich +vor ihr kniete. Mein Gerechtigkeitsgefühl empörte sich +in mir, ich war meiner selbst nicht mehr mächtig. Ich +weiß nicht, was ich noch alles gesagt hätte – erst später +kam ich zur Besinnung, nachdem ein Zufall mich +und sie vor dem Verderben bewahrt, indem er mich fast +beim ersten Schritt zurückhielt. Entsetzen erfaßte mich. +Hätte denn ihr zu Tode gequältes Herz überhaupt noch +in neuer Hoffnung auferstehen können? Ich hätte sie +nur auf der Stelle getötet! +</p> + +<p> +Es geschah aber folgendes: Als ich auf dem Wege +zu ihr gerade durch das vorletzte Zimmer vor ihrem Salon +gehen wollte, trat plötzlich durch eine andere Tür in +dasselbe Zimmer Pjotr Alexandrowitsch und ging, ohne +mich zu bemerken, wenige Schritte vor mir gleichfalls +zu ihr. Ich blieb wie gelähmt stehen; er war der Letzte, +den ich in diesem Augenblick hätte sehen mögen. Ich +wollte schon zurückkehren, doch plötzlich bannte mich die +Neugier regungslos an den Fleck. +</p> + +<p> +Er durchschritt das Zimmer, blieb einen Augenblick +vor dem Spiegel stehen, ordnete mit der Hand das +Haar, und mit einem Male – zu meiner sprachlosen +Verwunderung – hörte ich ihn irgendeine muntere Melodie +summen. Wie ein Blitz durchzuckte eine dunkle, +ferne Erinnerung aus den Kinderjahren mein Gedächtnis. +<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a> +Doch damit die seltsame Empfindung, die ich in +diesem Augenblick hatte, verständlicher wird, will ich +jene Erinnerung mitteilen. Noch im ersten Jahre meines +Aufenthaltes in diesem Hause machte mich einmal +eine gleichfalls zufällige Beobachtung ganz betroffen, +die mir aber erst jetzt voll zu Bewußtsein kam, denn erst +jetzt, erst in diesem Augenblick begriff ich die Ursache +meiner unerklärlichen Abneigung gegen diesen Menschen! +Ich erwähnte bereits, daß ich mich schon damals +in seiner Gegenwart immer bedrückt fühlte. Auch habe +ich bereits erzählt, was für einen Eindruck sein finsteres, +bedrückendes Wesen auf mich machte, sein oft trauriges, +geradezu gramvolles Gesicht; wie schwer es mir +ums Herz war nach jenen Stunden, die wir zusammen +am Teetischchen Alexandra Michailownas verbrachten, +und dann – was für ein peinvolles Gefühl +mein Herz erfüllte, als ich – was nur zwei- oder dreimal +geschah – fast Zeugin war jener niederdrückenden, +mir so ganz unklaren Szenen. +</p> + +<p> +Es war in demselben Zimmer und um dieselbe Zeit, +als er, ganz wie ich, zu Alexandra Michailowna ging. +Mich erfaßte eine rein kindliche Scheu, als ich allein +mit ihm zusammentraf, und ich versteckte mich gleichsam +schuldbewußt im Winkel und betete, daß er mich +nicht bemerken möge. Geradeso wie damals, blieb er +vor dem Spiegel stehen und ich zuckte zusammen von einer +unbestimmten, gar nicht kindlichen Empfindung: es +schien mir, daß er sein Gesicht plötzlich verändere. Wenigstens +hatte ich vorher, als er zum Spiegel trat, deutlich +ein Lächeln in seinem Gesicht gesehen – ein Lächeln, +während ich ihn früher noch niemals lächeln gesehen +<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a> +hatte, denn (ich erinnere mich, das machte mich +noch am meisten betroffen) – er lachte nie in Alexandra +Michailownas Gegenwart. Und nun plötzlich, kaum +daß er einen Blick in den Spiegel geworfen, veränderte +sich sein ganzes Gesicht: das Lächeln verschwand +wie auf Befehl und an seine Stelle trat der Ausdruck +eines unsäglich bitteren Gefühls, das sich anscheinend +mit Gewalt aus dem Herzen drängte, eines Gefühls, +das zu verbergen scheinbar nicht mehr in menschlicher +Macht stand, wie groß auch immer jeder edelmütige +Versuch dazu sein mochte, und es zuckte um seine Lippen +– ein anscheinend konvulsivischer Schmerz ließ seine +Stirn sich runzeln und zog die Brauen zusammen. Der +Blick verbarg sich düster hinter den Brillengläsern – +kurz, sein Gesicht wurde wie auf Kommando zum Gesicht +eines ganz anderen Menschen. Ich erinnere mich, +daß ich, als ohnehin ängstliches Kind, vor Furcht erzitterte, +vor Furcht, das zu begreifen, das ganz zu erfassen +und zu durchschauen, was ich sah, und seit jenem +Augenblick saß die bedrückende, unangenehme Empfindung +unausrottbar in meinem Herzen. Und nach +dem Blick in den Spiegel senkte er den Kopf, nahm +eine müdere Haltung an, jene, in der er gewöhnlich +bei Alexandra Michailowna erschien, und ging leise in +ihr Boudoir. Diese Erinnerung war es, die mich nun +plötzlich wie ein Blitz durchzuckte. +</p> + +<p> +Auch jetzt glaubte er, ganz wie damals, daß er allein +im Zimmer sei und blieb vor demselben Spiegel +stehen. Ganz wie damals stand ich dort, von ihm unbemerkt, +mit einem feindseligen unangenehmen Gefühl. +Als ich ihn aber dieses Liedchen summen hörte (ein Lied +<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a> +von ihm, von dem man alles eher als das hätte erwarten +können!) und vor Überraschung wie gelähmt stehenblieb, +als mir in diesem Augenblicke blitzartig die Ähnlichkeit +mit dem einen von mir als Kind erlebten Augenblick +einfiel – da, ich kann es nicht wiedergeben, +was für eine Empfindung mir plötzlich messerscharf ins +Herz schnitt. Alle meine Nerven zuckten davon zusammen +und als Antwort auf dieses unglückselige Liedchen brach +ich in ein solches Gelächter aus, daß der arme Sänger +mit einem Aufschrei zwei Schritte weit vom Spiegel +fortsprang und, bleich wie der Tod, wie ein schmachvoll +auf frischer Tat ertappter Verbrecher, mich ansah, +außer sich vor Schreck, vor Verblüffung und vor +Wut. Sein Blick reizte mich krankhaft und ich antwortete +auf ihn mit nervenschüttelndem, unersättlichem Lachen +– ihm gerade ins Gesicht. Dann ging ich lachend +an ihm vorüber und trat, ohne mit dem Lachen aufzuhören, +bei Alexandra Michailowna ein. Ich wußte, daß +er hinter der Portiere stand, daß er vielleicht unschlüssig +war, ob er gleichfalls eintreten sollte oder nicht, daß +Wut und Feigheit ihn an den Fleck bannten, wo er +stand – und mit einer seltsam gereizten, herausfordernden +Ungeduld erwartete ich, wozu er sich entschließen +werde. Ich hätte wetten können, daß er nicht eintreten +werde, und ich hätte meine Wette gewonnen. Er +kam erst nach einer halben Stunde. Alexandra Michailowna +sah mich lange Zeit mit größter Verwunderung +an, doch sie fragte mich vergeblich nach der Ursache meiner +Erregung. Ich konnte nicht antworten, ich war zu +atemlos. Endlich begriff sie, daß ich einen Nervenanfall +gehabt hatte, und ihre Augen folgten mir beunruhigt. +<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a> +Als ich mich etwas erholt hatte, erfaßte ich ihre +Hände und bedeckte sie mit Küssen. Jetzt erst besann +ich mich und jetzt erst sagte ich mir, daß ich sie getötet +hätte, wenn das zufällige Zusammentreffen mit ihrem +Mann nicht gewesen wäre. Ich sah sie an, als sähe ich +in ihr eine Auferstandene. +</p> + +<p> +Pjotr Alexandrowitsch trat herein. +</p> + +<p> +Ich blickte flüchtig zu ihm hin: er sah aus, als sei +nichts geschehen, also düster und verschlossen wie gewöhnlich. +Es fiel mir nur auf, daß er sehr bleich war und +ich sah seine Mundwinkel zucken: da erriet ich, daß er +seine Erregung nur mit Mühe verbarg. Kühl grüßte +er Alexandra Michailowna und setzte sich schweigend +auf seinen Platz. Seine Hand zitterte ein wenig, als er +die Tasse in Empfang nahm. Ich erwartete einen Zornesausbruch +und eine stumme Angst erfaßte mich. Ich +wollte schon hinausgehen, konnte mich aber nicht entschließen, +Alexandra Michailowna, deren Gesicht sich +beim Anblick ihres Mannes verändert hatte, zu verlassen. +Sie hatte gleichfalls ein Vorgefühl, das ihr +nichts Gutes verhieß. Und das, was ich mit solcher +Angst erwartete, geschah denn auch endlich. +</p> + +<p> +Inmitten des tiefsten Schweigens sah ich auf und +mein Blick begegnete den Brillengläsern Pjotr Alexandrowitschs, +die geradeaus auf mich gerichtet waren. +Das war so überraschend, weil so ungewohnt, daß ich +zusammenzuckte, fast einen Schrei ausstieß, und die +Augen niederschlug. Alexandra Michailowna bemerkte +meinen Schreck. +</p> + +<p> +„Was ist mit Ihnen? Warum erröten Sie?“ fragte +Pjotr Alexandrowitsch schroff und fast grob. +</p> + +<p> +<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a> +Ich schwieg; mein Herz klopfte so stark, daß ich +kein Wort hätte hervorbringen können. +</p> + +<p> +„Weshalb ist sie errötet? Weshalb errötet sie immer?“ +fragte er, sich an Alexandra Michailowna wendend, +indem er frech auf mich wies. +</p> + +<p> +Mein Unwille benahm mir den Atem. Ich warf +einen flehenden Blick Alexandra Michailowna zu. Sie +verstand mich. In ihre bleichen Wangen stieg edle +Röte. +</p> + +<p> +„Annjeta,“ sagte sie zu mir mit so fester Stimme, +wie ich sie von ihr unter keinen Umständen erwartet +hatte, „geh auf dein Zimmer, ich werde sogleich zu dir +kommen; den Abend werden wir zusammen verbringen +...“ +</p> + +<p> +„Ich frage Sie, haben Sie mich gehört oder nicht?“ +unterbrach Pjotr Alexandrowitsch mit erhobener +Stimme, als höre er gar nicht, was seine Frau sagte. +„Weshalb erröten Sie, wenn Sie mir begegnen? Antworten +Sie!“ +</p> + +<p> +„Weil Sie sie erröten machen und mich gleichfalls,“ +antwortete statt meiner Alexandra Michailowna, +vor Aufregung stockend. +</p> + +<p> +Ich blickte erstaunt zu ihr auf. Die Schärfe ihrer +Entgegnung schon gleich zu Anfang war mir ganz unverständlich. +</p> + +<p> +„<em>Ich</em> mache Sie erröten, <em>ich</em>?“ fragte Pjotr Alexandrowitsch, +wie es schien auch über alle Maßen erstaunt +und das „Ich“ stark betonend. „Für <em>mich</em> sind +<em>Sie</em> errötet? Ja kann <em>ich</em> denn überhaupt <em>Sie</em> für +<em>mich</em> erröten machen? An wem ist es, an <em>mir</em> oder +an <em>Ihnen</em>, zu erröten, was meinen Sie?“ +</p> + +<p> +<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a> +Diese Frage war so deutlich, auch für mich, und +mit so gehässigem beißenden Spott gesagt, daß ich vor +Entsetzen aufschrie und zu Alexandra Michailowna +stürzte. Überraschung, Schmerz, Vorwurf und Entsetzen +sprachen aus ihrem todbleichen Gesicht. Ich blickte +flehend auf Pjotr Alexandrowitsch und faltete die +Hände, um ihn zu beschwören. Wie es schien, war er +selber etwas erschrocken, doch die Wut, die ihm diese +Worte entrissen, war noch nicht vergangen. Aber meine +stumme Bitte schien ihn doch einigermaßen zu verwirren. +Meine Geste mußte verraten, daß ich schon vieles +von dem wußte, was zwischen ihnen ein Geheimnis +gewesen war und daß ich den Sinn seiner Worte +sehr gut verstanden hatte. +</p> + +<p> +„Annjeta, geh auf dein Zimmer,“ wiederholte Alexandra +Michailowna mit schwacher, jedoch fester Stimme +und sie erhob sich vom Stuhl, „ich habe dringend +mit Pjotr Alexandrowitsch zu sprechen ...“ +</p> + +<p> +Sie war anscheinend ruhig; doch diese Ruhe beängstigte +mich mehr als jede Aufregung es vermocht hätte. +Ich stand, als habe ich ihre Worte nicht gehört, und +rührte mich nicht vom Fleck. Ich sah sie an und versuchte +mit Anspannung aller Kräfte aus ihrem Gesicht +zu erraten, was in ihrer Seele vorging. Es schien mir, +daß sie weder meinen Ausruf, noch meine Geste richtig +verstanden hatte. +</p> + +<p> +„Da sehen Sie jetzt Ihr Werk!“ sagte Pjotr Alexandrowitsch, +auf seine Frau weisend. +</p> + +<p> +Mein Gott! Noch niemals hatte ich eine solche +Verzweiflung gesehen, wie ich sie jetzt in diesem vor +Gram todmüden, gleichsam erstorbenen Gesicht, sah. +<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a> +Er faßte mich am Handgelenk und führte mich zur Tür. +Im Hinausgehen blickte ich mich noch einmal nach ihnen +um. Alexandra Michailowna stand am Kamin, die +Ellenbogen aufgestützt, den Kopf zwischen beiden Händen, +mit denen sie ihn krampfhaft zusammenpreßte. +Die ganze Stellung ihres Körpers drückte unerträgliche +Qual aus. Ich griff nach Pjotr Alexandrowitschs +Hand und drückte sie flehend. +</p> + +<p> +„Um Gottes willen! Um Gottes willen!“ flüsterte +ich stockend, „haben Sie Erbarmen mit ihr!“ +</p> + +<p> +„Fürchten Sie sich nicht, fürchten Sie sich nicht!“ +sagte er und sah mich dabei eigentümlich an. „Das ist +nichts, nur ein Anfall. Gehen Sie, gehen Sie.“ +</p> + +<p> +In meinem Zimmer warf ich mich auf das Sofa und +vergrub das Gesicht in den Händen. Ganze drei Stunden +verblieb ich in dieser Stellung und in der Zeit stand +ich Höllenqualen aus. Schließlich konnte ich mich doch +nicht mehr bezwingen und ließ fragen, ob ich zu Alexandra +Michailowna kommen dürfe. Die Antwort brachte +mir Madame Léotard. Pjotr Alexandrowitsch ließ mir +durch sie sagen, daß der Anfall überstanden und eine +Gefahr nicht vorhanden sei, doch bedürfe sie noch der +Ruhe. Ich blieb aber trotzdem bis drei Uhr nachts auf +und ging ruhelos in meinem Zimmer hin und her. +Meine Gedanken arbeiteten. Ich befand mich in einer +Lage, die mir rätselhafter als jemals war, aber ich +fühlte mich gewissermaßen ruhiger – vielleicht deshalb, +weil ich mich am schuldigsten von allen fühlte. +In ungeduldiger Erwartung des nächsten Morgens +ging ich zu Bett. +</p> + +<p> +Am anderen Tage bemerkte ich zu meinem großen +<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a> +Kummer eine mir unerklärliche Kälte im Wesen +Alexandra Michailownas. Zuerst glaubte ich, das sei +nur deswegen, weil es ihrem reinen, vornehmen Herzen +schwer werde, nach der Szene mit ihrem Mann, deren +Zeugin ich gewesen war, mit mir zusammen zu sein. +Ich wußte, daß dieses Kind imstande war, vor mir zu +erröten und <em>mich</em> womöglich noch um Verzeihung zu +bitten, weil diese unglückliche Szene <em>meinem</em> Herzen +weh getan. Bald aber bemerkte ich an ihr so etwas +wie eine bestimmte Sorge, wie einen Unwillen, der +einen einzigen bestimmten Grund zu haben schien und +sich nun in verschiedenen Formen äußerte: bald antwortete +sie trocken und kühl, bald klang aus ihren +Worten ein gewisser Doppelsinn, als wolle sie etwas +Besonderes andeuten; dann wurde sie wiederum sehr +lieb und gut zu mir, als bereue sie diese Schroffheit +und Kälte, die ihr Herz ja doch nicht lange für mich +empfinden konnte, und ihre freundlichen leisen Worte +suchten den Eindruck zu verwischen und verrieten, daß +ihre Unfreundlichkeit ihr von Herzen leid tat. Schließlich +fragte ich sie ganz offen, was mit ihr sei und ob +sie mir vielleicht etwas zu sagen habe. Meine plötzliche +schnelle Frage verwirrte sie ein wenig, doch sofort sah +sie wieder auf, sah mich mit großen, stillen Augen und +einem zarten Lächeln an und fragte mich: +</p> + +<p> +„Nichts, Njetotschka; nur, weißt du, als du mich +so plötzlich fragtest, da geriet ich in Verwirrung. Aber +das geschah nur deshalb, weil es so plötzlich kam ... +ich versichere dir. Doch höre, sage mir die Wahrheit, +mein Kind: hast du nicht so etwas auf dem Herzen, wovon +du ebenso verwirrt werden könntest, wenn man +<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a> +dich ebenso plötzlich und unerwartet danach fragen +würde?“ +</p> + +<p> +„Nein,“ antwortete ich, und sah sie mit hellen Augen +offen an. +</p> + +<p> +„Nun, dann ist es ja gut! Wenn du wüßtest, mein +Kind, wie ich dir dankbar bin für diese schöne und +offene Antwort. Nicht, daß ich dich irgendeines +Schlechten verdächtigt hätte, – niemals! Einen solchen +Gedanken würde ich mir nie verzeihen. Doch höre: ich +nahm dich als Kind zu mir und jetzt bist du siebzehn +Jahre alt. Du hast ja selbst gesehen: ich bin leidend; +ich bin selbst wie ein Kind, das Nachsicht beansprucht. +Ich konnte dir die leibliche Mutter nicht vollständig +ersetzen, obgleich mein Herz für dich überreich an Liebe +war. Wenn mich jetzt Sorgen um dich quälen, so bin +ich selbstverständlich schuld daran und nicht du. Verzeihe +daher meine Frage und vergib mir, wenn ich mein +Versprechen nicht erfüllt habe, das ich dir und dem Vater +gegeben, als ich dich in mein Haus nahm. Das quält +mich sehr und hat mich immer gequält, mein Kind.“ +</p> + +<p> +Ich umarmte sie und brach in Tränen aus. +</p> + +<p> +„Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen für alles!“ +sagte ich, und benetzte ihre Hände mit meinen Tränen. +„Sprechen Sie nicht so zu mir, zerreißen Sie mir nicht +das Herz. Sie sind mir mehr denn eine Mutter gewesen, +Gott segne Sie für alles, was Sie an mir getan +haben, Sie und der Fürst, an mir Armen, Verlassenen! +meine Liebe, meine Gütige!“ +</p> + +<p> +„Genug, Njetotschka, genug! Umarme mich lieber, +so, von Herzen! Denn, siehe, Gott weiß, warum es mir +scheint, daß du mich zum letztenmal umarmen wirst.“ +</p> + +<p> +<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a> +„Nein, nein,“ rief ich laut aufschluchzend wie ein +Kind, „nein, nur das nicht! Sie werden noch glücklich +sein! ... Noch vieles steht Ihnen bevor. Glauben +Sie mir, wir werden alle noch glücklich sein.“ +</p> + +<p> +„Ich danke dir, ich danke dir für deine Liebe, Njetotschka. +Nur wenige lieben mich; sie haben mich alle +verlassen!“ +</p> + +<p> +„Wer hat Sie denn verlassen? Wer denn?“ +</p> + +<p> +„Früher waren es ihrer mehr; du weißt es nicht, +Njetotschka. Sie haben mich alle verlassen, sie sind fortgegangen, +als wären Zeichen geschehen. Und ich habe +auf sie gewartet, mein ganzes Leben lang gewartet; +nun Gott mit ihnen! Sieh Njetotschka, wie spät schon +der Herbst ist; bald gibt es Schnee: und mit dem ersten +Schnee sterbe ich, – doch ich will nicht klagen. Lebt +alle wohl!“ +</p> + +<p> +Ihr Gesicht war schmal und durchsichtig; auf ihren +Wangen brannten rote Flecke; ihre Lippen bebten und +waren wie von einem inneren Feuer verbrannt. +</p> + +<p> +Sie ging ans Klavier und schlug ein paar Akkorde +an; in dem Augenblick riß eine Seite und ein langer +zitternder Ton heulte auf ... +</p> + +<p> +„Hörst du, Njetotschka, hörst du?“ fragte sie mit +verlöschender Stimme, und wies auf das Klavier. +„Diese Saite hat man zu sehr angespannt: sie hielt’s +nicht aus und zerriß. Hörst du, wie der Ton klagend erstirbt!“ +</p> + +<p> +Sie sprach mühevoll. Ein stumpfer, seelischer +Schmerz lag auf ihrem Gesicht, ihre Augen standen voll +Tränen. +</p> + +<p> +<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a> +„Genug davon, Njetotschka, meine Liebe, genug; +bringe die Kinder her.“ +</p> + +<p> +Ich führte sie herbei. Ihre Gegenwart schien sie zu +beruhigen und sie erholte sich. Nach einer Stunde aber +mußten alle sie wieder verlassen. +</p> + +<p> +„Wenn ich sterbe, so bleibst du bei ihnen, Annjeta? +Ja?“ sagte sie flüsternd, als fürchte sie, gehört zu werden. +</p> + +<p> +„Haben Sie Erbarmen, Sie töten mich!“ konnte +ich ihr nur antworten. +</p> + +<p> +„Ich habe ja bloß gescherzt,“ sagte sie und verstummte +lächelnd. „Und du hast daran geglaubt? Ich +sage doch manchmal, Gott weiß was! Ich bin wie ein +Kind, mir muß man alles verzeihen.“ +</p> + +<p> +Dabei sah sie mich ganz schüchtern an, als fürchtete +sie sich, etwas auszusprechen, was ihr auf dem +Herzen lag. Ich wartete. +</p> + +<p> +„Sieh zu, erschrick ihn nicht,“ sagte sie endlich mit +niedergeschlagenen Augen und mit heller Röte im Gesicht, +so leise, daß ich es kaum hören konnte. +</p> + +<p> +„Wen?“ fragte ich verwundert. +</p> + +<p> +„Meinen Mann. Du erzählst ihm am Ende alles +wieder.“ +</p> + +<p> +„Wieso, warum denn?“ wiederholte ich meine Frage +mit immer wachsendem Erstaunen. +</p> + +<p> +„Nun, vielleicht erzählst du es ihm auch nicht, wer +kann es wissen!“ antwortete sie und sie versuchte offenbar, +mich schlau anzusehen, und ein gutmütiges Lächeln +spielte in ihren Mundwinkeln und die Farbe stieg +ihr mehr und mehr zu Gesicht. „Lassen wir das; +ich scherze ja nur.“ +</p> + +<p> +<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a> +Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. +</p> + +<p> +„Nur höre, du wirst sie aber lieben, wenn ich sterbe, +– ja?“ fügte sie ernst hinzu und wieder mit einem +geheimnisvollen Gesicht, „so, als liebtest du deine eigenen +Kinder, – ja? Denke daran: ich habe dich immer +wie eine mir Verwandte behandelt und geliebt.“ +</p> + +<p> +„Ja, ja,“ antwortete ich, ohne zu wissen, was ich +vor Tränen und Erregung sagte. +</p> + +<p> +Ein heißer Kuß brannte auf meiner Hand – es +gelang mir nicht, sie ihr rechtzeitig zu entziehen. Verwunderung +lähmte meine Zunge. +</p> + +<p> +„Was geht in ihr vor? Was denkt sie sich? Was +war gestern mit ihr?“ ging es mir durch den Kopf. +</p> + +<p> +Dann klagte sie über Müdigkeit. +</p> + +<p> +„Ich fühle mich schon längst krank, ich wollte euch +nur nicht ängstigen,“ sagte sie. „Ihr liebt mich doch +beide, – nicht wahr? ... Auf Wiedersehen, Njetotschka; +verlaß mich jetzt, am Abend komme bestimmt wieder?! +Wirst du kommen?“ +</p> + +<p> +Ich gab ihr mein Wort, und freute mich, nur fort +zu kommen. Länger konnte ich es nicht mehr ertragen. +</p> + +<p> +„Du Arme, Arme! Welch ein Verdacht treibt dich +ins Grab?“ schluchzte ich auf: „was für ein neuer +Kummer zernagt und zerreißt dein Herz, ein Kummer, +den du nicht einmal auszusprechen wagst? Mein +Gott! Dieses Leid, das ich an ihr schon so lange kannte, +dieses Leben ohne Freude, diese bescheidene Liebe, +die nichts fordert. Und noch dazu jetzt, jetzt, vor dem +Tode, da ihr Herz müde ist, fühlt sie sich als Schuldige, +die nicht einmal zu murren wagt, und nicht zu +<a id="page-349" class="pagenum" title="349"></a> +klagen – und jetzt überfällt sie noch ein neues Leid, +dem sie sich widerstandslos ergeben muß!“ +</p> + +<p> +Am Abend, in der Dämmerstunde, benutzte ich die +Abwesenheit Owroffs (desselben, der aus Moskau gekommen +war), ging in die Bibliothek, öffnete einen +Schrank und suchte in den Büchern etwas, um es +Alexandra Michailowna vorzulesen. Ich wollte sie von +ihren schweren Gedanken ablenken und sie durch etwas +Lustiges, Leichtes aufheitern ... Ich suchte lange. Die +Dunkelheit trat ein und mit ihr wuchs mein Leid. In +meine Hände fiel wieder dieses Buch, in dem sich der +Brief befand, dessen Folgen mich bis jetzt nicht mehr +verlassen hatten – dessen Geheimnisse mein Dasein +von neuem zerbrachen, und es wehte aus ihm so kalt, +so unbekannt und geheimnisvoll, wehte noch jetzt aus +der Ferne des Gewesenen so drohend zu mir herüber +... Was wird mit uns, dachte ich: der Winkel, in dem +mir so warm war, so leicht und frei – verödet. Der +reine, helle Geist, der meine Jugend hütete, verläßt +mich. Was steht mir bevor? Ich stand in Versunkenheit, +nachdenkend über alles Vergangene, das meinem +Herzen so teuer war, stand da, als fühlte ich das Bevorstehende, +Unbekannte und mir Drohende ... Ich erinnere +mich dieses Augenblicks so deutlich, als erlebte +ich ihn noch einmal: so tief hat er sich mir ins Gedächtnis +eingeschnitten. +</p> + +<p> +Ich hielt in meinen Händen den Brief und das aufgeschlagene +Buch, meine Wangen waren feucht von +Tränen. Plötzlich fuhr ich zusammen: über mir ertönte +eine mir bekannte Stimme. In demselben Augenblick +fühlte ich, daß man mir den Brief aus den Händen +<a id="page-350" class="pagenum" title="350"></a> +riß. Ich schrie auf und wandte mich um: vor mir stand +Pjotr Alexandrowitsch. Er packte mich an der Hand +und zwang mich, auf dem Platz zu bleiben; mit der +rechten Hand hielt er den Brief ans Licht und mühte +sich, die ersten Zeilen zu entziffern ... Ich wäre bereit +gewesen, eher zu sterben, als ihm den Brief zu +überlassen. An seinem triumphierenden Lächeln sah +ich, daß es ihm gelungen war, den Anfang des Briefes +zu lesen. Ich verlor meine Sinne ... +</p> + +<p> +Einen Augenblick später, ohne mir bewußt zu +sein, was ich tat, stürzte ich auf ihn und riß ihm den +Brief aus der Hand. Das geschah so unerwartet, daß +ich selbst nicht mehr begreife, wie es mir gelingen +konnte, mich des Briefes zu bemächtigen. Doch, als ich +bemerkte, daß auch er wieder den Brief mir entwenden +wollte, steckte ich ihn schnell in meine Bluse und wich +einige Schritte zurück. +</p> + +<p> +Einen Augenblick sahen wir einander schweigend +an. Mich schauerte, er – bleich, mit zitternden, blau +angelaufenen Lippen, – brach zuerst das Schweigen. +</p> + +<p> +„Nun wohl!“ sagte er mit einer Stimme, die vor +Erregung schwach war – „ich hoffe, Sie wollen selbst +nicht, daß ich hier Gewalt anwende – geben Sie mir +also freiwillig den Brief.“ +</p> + +<p> +Erst jetzt kam ich zu mir. Scham und Unwille ob +eines so groben Überfalls überwältigten mich. Heiße +Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich zitterte vor +Aufregung und eine Zeitlang war ich nicht imstande, +ein Wort hervorzubringen. +</p> + +<p> +„Haben Sie gehört?“ sagte er und trat einen +Schritt auf mich zu. +</p> + +<p> +<a id="page-351" class="pagenum" title="351"></a> +„Lassen Sie mich, lassen Sie!“ rief ich und ich +wich vor ihm zurück, „Sie handeln niedrig an mir, unedel. +Sie haben sich vergessen! ... Lassen Sie mich +gehen! ...“ +</p> + +<p> +„Wie? Was heißt das? Wie wagen Sie es noch, +einen solchen Ton anzuschlagen ... nach alledem, was +Sie ... Geben Sie ihn mir zurück, sage ich Ihnen!“ +</p> + +<p> +Er trat noch einen Schritt auf mich zu, doch als +er in meinen Augen soviel kalte Entschlossenheit sah, +da blieb er stehen und überlegte ... +</p> + +<p> +„Gut!“ sagte er endlich trocken, als hätte er einen +Entschluß gefaßt, wenn er sich auch immer noch mühsam +beherrschte. „Eines nach dem andern, doch zuerst +...“ +</p> + +<p> +Er sah sich im Zimmer um. +</p> + +<p> +„Wer ... hat Sie in die Bibliothek gelassen? Warum +steht dieser Schrank offen? Wie kommt es, daß Sie +den Schlüssel dazu haben?“ +</p> + +<p> +„Ich werde Ihnen darauf nicht antworten,“ sagte +ich, „ich kann mit Ihnen nicht darüber sprechen. Lassen +Sie mich gehen!“ +</p> + +<p> +Ich ging zur Tür. +</p> + +<p> +„Erlauben Sie,“ sagte er, und faßte mich an der +Hand – „so werden Sie nicht davonkommen!“ +</p> + +<p> +Ich entzog ihm schweigend meine Hand und wandte +mich wieder zur Tür. +</p> + +<p> +„Wie Sie wollen. Aber ich kann es Ihnen nicht +gestatten, daß Sie in meinem Hause Briefe von Liebhabern +empfangen ...“ +</p> + +<p> +Ich schrie auf und sah ihn entsetzt an ... +</p> + +<p> +„Und darum ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-352" class="pagenum" title="352"></a> +„Halten Sie ein!“ rief ich aus. „Wie können Sie +das? ... Wie können Sie mir das sagen? ... Mein +Gott! Mein Gott! ...“ +</p> + +<p> +„Wie? Was! Sie drohen mir noch! ...“ +</p> + +<p> +Ich sah ihn verzweifelt an, wie zerschmettert. Der +Kampf zwischen uns stieg bis zur höchsten Erbitterung. +Doch ich konnte nicht begreifen. Ich flehte ihn mit einem +Blick an, nicht weiter zu gehen. Ich war bereit, ihm +jede Beleidigung zu verzeihen, wenn er nur jetzt innehielt. +Er sah mich durchbohrend an und schien zu überlegen. +</p> + +<p> +„Bringen Sie mich nicht zum Äußersten,“ flüsterte +ich erschrocken. +</p> + +<p> +„Nein, damit muß ein Ende gemacht werden!“ +sagte er schließlich, als besinne er sich wieder. „Ich muß +Ihnen gestehen, ich wankte einen Augenblick vor diesem +Blick,“ fügte er mit eigentümlichem Lächeln hinzu. „Doch +unglücklicherweise spricht die Sache für sich selbst. Es +ist mir gelungen, den Anfang des Briefes zu lesen. Das +war ein Liebesbrief! Sie werden mich nicht davon abbringen! +Nein, lassen Sie alles! Und wenn ich einen +Augenblick zögerte, so geschah es nur, weil ich zu Ihren +übrigen schönen Eigenschaften auch Ihre Fähigkeit zu +lügen hinzufügen mußte, und darum wiederhole +ich ...“ +</p> + +<p> +Mit jedem Wort, das er sprach, füllte er sich mit +Bosheit an. Er war bleich; seine Lippen verzogen sich +und zitterten und nur mit Mühe konnte er die letzten +Worte hervorbringen. Es war vollkommen dunkel geworden. +Ich stand schutzlos da, vor einem Menschen, +der fähig war, einer Frau das Schlimmste anzutun. +<a id="page-353" class="pagenum" title="353"></a> +Und im Grunde war alle Wahrscheinlichkeit gegen +mich; ich wand mich vor Scham, alles verwirrte sich in +mir, ich konnte die Wut dieses Menschen nicht verstehen. +Ohne ihm zu antworten, außer mir vor Angst, +stürzte ich aus dem Zimmer, und ich kam erst zu mir, +als ich vor der Zimmertür Alexandra Michailownas +stand. In dem Augenblicke hörte ich seine Schritte; +und schon wollte ich ins Zimmer stürzen, als ich plötzlich +wie vom Schlag gerührt stehen blieb. +</p> + +<p> +„Was wird mit ihr geschehen?“ ging es mir durch +den Kopf ... „Diesen Brief ...! Nein, lieber alles +auf der Welt, als diesen Stoß in ihr Herz –“ und +ich stürzte zurück. Doch schon war es zu spät: er stand +neben mir. +</p> + +<p> +„Wohin wollen Sie, kommen Sie ... nur nicht +hier, nicht hier!“ flüsterte ich ihm zu und griff nach +seiner Hand ... „Schonen Sie sie ...! Ich komme +zurück in die Bibliothek, oder ... wohin Sie wollen?! +Sie werden sie vernichten!“ +</p> + +<p> +„Sie sind es, die sie vernichtet!“ antwortete er, +und trat von mir zurück. +</p> + +<p> +Alle meine Hoffnungen schienen verloren. Ich begriff, +daß er die ganze Szene vor Alexandra Michailowna +tragen wollte. +</p> + +<p> +„Um Gottes willen!“ rief ich und hielt ihn aus +aller Kraft zurück. Doch in diesem Augenblick hob sich +die Portiere und Alexandra Michailowna stand vor +uns. Sie sah uns verwundert an. Ihr Gesicht wurde +noch bleicher. Mit Mühe hielt sie sich auf den Füßen. +Es hatte sie viel gekostet, bis zu uns zu kommen, als +sie unsere Stimme gehört. +</p> + +<p> +<a id="page-354" class="pagenum" title="354"></a> +„Wer ist da? Wovon redet ihr hier?“ fragte sie, in +großer Verwunderung. +</p> + +<p> +Es trat Schweigen ein und sie erbleichte wie ein +Leinentuch. Ich stürzte auf sie zu, umarmte sie und +führte sie zurück in ihr Kabinett. Pjotr Alexandrowitsch +folgte uns. Ich drückte mein Gesicht an ihre Brust und +umschlang sie immer fester und fester, ersterbend in +Erwartung. +</p> + +<p> +„Was ist mit dir, was ist mit euch?“ fragte noch +einmal Alexandra Michailowna. +</p> + +<p> +„Fragen Sie sie. Sie haben sie noch gestern so +verteidigt,“ sagte Pjotr Alexandrowitsch und ließ sich +schwer auf einem Sessel nieder. +</p> + +<p> +Ich umklammerte sie immer fester und fester in +meiner Umarmung. +</p> + +<p> +„Aber, mein Gott, was bedeutet denn das?“ rief +Alexandra Michailowna in großem Schrecken angstvoll +aus. „Sie zittert ja und ist in Tränen aufgelöst. Annjeta +sag’ mir doch, was ist zwischen euch geschehen.“ +</p> + +<p> +„Nein, erlauben Sie mir zuerst das Wort,“ +sagte Pjotr Alexandrowitsch und näherte sich uns. Er +ergriff mich an der Hand und zog mich von ihr fort. +„Bleiben Sie dort stehen,“ sagte er und wies in die +Mitte des Zimmers. „Ich werde Sie richten vor derjenigen, +die Ihnen die Mutter ersetzte. Und Sie, bitte, beruhigen +Sie sich, Alexandra Michailowna, und setzen +Sie sich in den Lehnstuhl. Mir tut es bitter leid, daß ich +Sie nicht mit dieser unangenehmen Aufklärung verschonen +kann. Denn sie ist nötig –!“ +</p> + +<p> +„Mein Gott! Was wird das sein?“ murmelte +Alexandra Michailowna und sah mit qualvollen Augen +<a id="page-355" class="pagenum" title="355"></a> +erst mich, dann ihren Mann an. Ich rang die Hände +vor diesem verhängnisvollen Augenblick. Von ihm erwartete +ich keine Schonung. +</p> + +<p> +„Kurz,“ fuhr Pjotr Alexandrowitsch fort, ... „ich +wünsche, daß Sie in der Sache urteilen. Sie haben +immer (und ich weiß nicht warum, das ist so eine Ihrer +Phantasien), Sie haben immer – noch gestern, zum +Beispiel, gedacht, gesagt ... ich weiß nicht, wie ich mich +ausdrücken soll ... ich schäme mich dieser Voraussetzungen +... Kurz, Sie haben sie immer verteidigt, und mich +angegriffen, Sie warfen mir ungerechtfertigte Strenge +vor; Sie haben dabei noch auf ein anderes Gefühl +hingewiesen, das mich zu dieser unerlaubten Strenge +beeinflusse; Sie ... ja, ich begreife nicht, warum ich +meiner Aufregung nicht Herr werden kann, warum +ich erröte bei dem Gedanken an Ihre Anspielungen, +warum ich sie nicht offen vor ihr auszusprechen vermag +... Kurz, Sie ...“ +</p> + +<p> +„Oh, das werden Sie nicht tun! Nein, Sie werden +das nicht sagen!“ rief Alexandra Michailowna +aus, errötend vor Scham. „Nein, Sie werden sie +schonen. Das habe ich, ich, alles ausgedacht! Ich +habe jetzt keinen Verdacht mehr. Verzeihen Sie es +mir, verzeihen Sie. Ich bin krank, man muß mir +verzeihen, nur sagen Sie ihr nichts, nein ... Annjeta, +gehe fort von hier, schnell, schnell! Er scherzt; an alledem +bin ich schuld; oh, das ist ein böser Scherz ...“ +</p> + +<p> +„Kurz, Sie sind auf sie eifersüchtig gewesen,“ warf +Pjotr Alexandrowitsch erbarmungslos ihr zur Antwort +hin. +</p> + +<p> +Sie schrie auf, erbleichte und stützte sich auf den +<a id="page-356" class="pagenum" title="356"></a> +Sessel, kaum noch imstande, sich auf den Füßen zu +halten. +</p> + +<p> +„Möge Gott Ihnen verzeihen!“ murmelte sie endlich +mit schwacher Stimme. „Vergib mir für ihn, +Njetotschka, vergib; ich bin an allem schuld. Ich war +krank, ich ...“ +</p> + +<p> +„Das ist Grausamkeit, Schamlosigkeit, Niedrigkeit!“ +rief ich, außer mir, denn ich begriff jetzt alles, +alles, begriff vor allem, warum er mich vor den Augen +seiner Frau richten wollte. „Das ist nur verachtungswürdig +– Sie ...“ +</p> + +<p> +„Annjeta!“ rief Alexandra Michailowna, vor +Schreck nach mir greifend. +</p> + +<p> +„Komödie! Komödie und weiter nichts,“ Pjotr +Alexandrowitsch trat in unbeschreiblicher Erregung +auf uns zu. „Komödie, sage ich Ihnen,“ während +er ununterbrochen mit hämischem Lächeln seine Frau +ansah, „und die Betrogene in dieser ganzen Komödie +sind nur – Sie. Glauben Sie, daß wir,“ stieß er +atemlos hervor und wies auf mich – „solche Erklärungen +fürchten; glauben Sie, daß wir noch so dumm +sind, beleidigt zu sein und bis an die Ohren zu erröten, +wenn man uns von ähnlichen Dingen redet. +Entschuldigen Sie bitte, ich drücke mich vielleicht zu +einfach, zu aufrichtig, zu grob aus, doch – das muß +geschehen. Sind Sie denn noch immer überzeugt, +meine Dame, von der ordentlichen Aufführung dieses +... Mädchens?“ +</p> + +<p> +„Mein Gott! Was ist Ihnen? Sie vergessen sich!“ +murmelte Alexandra Michailowna, halb erstarrt vor +Schreck. +</p> + +<p> +<a id="page-357" class="pagenum" title="357"></a> +„Bitte, nicht diese großen Worte!“ unterbrach sie +verächtlich Pjotr Alexandrowitsch. „Ich liebe das +nicht. Hier liegt die Sache sehr einfach: gemein bis +zur höchsten Gemeinheit. Ich frage Sie nach ihrem +Betragen: wissen Sie ...“ +</p> + +<p> +Doch ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen, ich ergriff +ihn an der Hand und zog ihn zur Seite. Nur +ein Augenblick und – alles war verloren. +</p> + +<p> +„Sagen Sie nichts von dem Brief!“ flüsterte ich ihm +zu, „Sie werden sie auf der Stelle vernichten. Ein +Vorwurf über mich, wird zugleich ein Vorwurf für sie +sein. Sie kann mich nicht verurteilen, denn ich weiß +alles ... verstehen Sie, <em>ich weiß alles</em>!“ +</p> + +<p> +Er sah mich scharf mit durchbohrender Neugier +an und – das Blut trat ihm ins Gesicht. +</p> + +<p> +„Ich weiß <em>alles, alles</em>!“ wiederholte ich. +</p> + +<p> +Er schien noch zu zögern. Auf seinen Lippen lag +eine Frage. Ich griff vor: +</p> + +<p> +„An allem, was geschehen ist –“ sagte ich laut, +mich zu Alexandra Michailowna wendend, die uns +mit schüchterner, mit trauriger Verwunderung ansah, +„bin ich allein schuld. Bereits seit vier Jahren habe +ich Sie betrogen. Ich habe den Schlüssel zur Bibliothek +genommen und seit vier Jahren lese ich heimlich +Bücher. Pjotr Alexandrowitsch hat mich überrascht +– bei einem Buch ... das sich nicht in meinen Händen +befinden durfte. Aus Sorge um mich hat er die +Gefahr vor Ihnen vergrößert! ... Doch, ich will mich +nicht verteidigen“ (beeilte ich mich hinzuzufügen, als +ich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen bemerkte): +„ich bin an allem schuld. Die Versuchung war stärker +<a id="page-358" class="pagenum" title="358"></a> +als ich, und da es einmal geschehen war, schämte +ich mich, es Ihnen zu gestehen ... Das ist alles, fast +alles, was zwischen uns vorgefallen ist.“ +</p> + +<p> +„O – ho, das ist aber kühn!“ flüsterte neben mir +Pjotr Alexandrowitsch. +</p> + +<p> +Alexandra Michailowna hörte mir mit gespannter +Aufmerksamkeit zu. Auf ihrem Gesicht spiegelte +sich ein Mißtrauen. Sie sah abwechselnd erst +mich, dann ihren Mann an. Es trat Schweigen ein. +Ich wagte kaum zu atmen. Sie senkte ihren Kopf auf +die Brust und bedeckte die Augen mit der Hand, offenbar +um jedes Wort zu erwägen, das ich gesprochen +hatte. Endlich hob sie den Kopf und sah mich forschend +an. +</p> + +<p> +„Njetotschka, mein Kind, ich weiß, du verstehst nicht +zu lügen,“ sagte sie. „Ist das nun alles, was geschehen, +wirklich alles?“ +</p> + +<p> +„Alles,“ antwortete ich. +</p> + +<p> +„Alles?“ wandte sie sich fragend an ihren Mann. +</p> + +<p> +„Ja, alles,“ antwortete er mit großer Überwindung, +„alles!“ +</p> + +<p> +Ich atmete auf. +</p> + +<p> +„Du gibst mir das Wort, Njetotschka?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ antwortete ich, ohne mit der Wimper zu +zucken. +</p> + +<p> +Aber ich konnte mich doch nicht beherrschen und +blickte auf Pjotr Alexandrowitsch. Er lachte, als er +hörte, wie ich mein Wort gab. Ich wurde über und +über rot und meine Verwirrung konnte der armen +Alexandra Michailowna nicht entgehn. Ein qualvolles +Leid drückte sich auf ihrem Gesicht aus. +</p> + +<p> +<a id="page-359" class="pagenum" title="359"></a> +„Genug,“ sagte sie traurig. „Ich glaube euch. +Wie sollte ich euch nicht glauben?“ +</p> + +<p> +„Ich denke, ein solches Geständnis genügt,“ bemerkte +Pjotr Alexandrowitsch. „Sie haben’s gehört? +Was glauben Sie wohl?“ +</p> + +<p> +Alexandra Michailowna schwieg. Die Situation +wurde immer unerträglicher und unerträglicher. +</p> + +<p> +„Ich werde morgen alle Bücher durchsehen,“ fuhr +Pjotr Alexandrowitsch fort. „Ich weiß nicht, um was +es sich dort noch handelte; aber ...“ +</p> + +<p> +„Welches Buch las sie denn?“ fragte Alexandra +Michailowna. +</p> + +<p> +„Welches Buch? Antworten Sie doch,“ wandte +er sich an mich. „Sie verstehen es ja besser, die Sache +zu erläutern,“ fügte er mit verhaltenem Spott hinzu. +</p> + +<p> +Ich verlor meine Fassung und konnte kein Wort +mehr hervorbringen. Alexandra Michailowna errötete +und schlug die Augen nieder. Es folgte ein langes +Schweigen. Pjotr Alexandrowitsch ging geärgert +im Zimmer auf und ab. +</p> + +<p> +„Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorging,“ +begann endlich Alexandra Michailowna, zaghaft jedes +Wort aussprechend – „doch wenn das wirklich alles +gewesen ist,“ fuhr sie fort, bemüht, jedem Wort einen +besonderen Nachdruck zu geben, während sie gleichzeitig +vermied, ihn anzusehen, da der unbewegliche +Blick ihres Mannes sie immer mehr verwirrte, „wenn +es nur das <em>gewesen ist</em>, dann weiß ich nicht, warum +wir uns so quälen und darüber fast verzweifeln +wollen. Schuld daran bin nur ich, ich allein, und +das schmerzt mich sehr. Ich habe ihre Erziehung auf +<a id="page-360" class="pagenum" title="360"></a> +mich genommen, ich muß auch für sie verantworten. +Sie muß mir daher meine Nachlässigkeit verzeihen. +Ich wage es nicht, sie zu verurteilen. Und doch, +worüber sollen wir uns jetzt noch aufregen? Die Gefahr +ist ja vorüber. Sehen Sie sie doch an: hat ihre +unvorsichtige Handlungsweise auch nur irgendwelche +Folgen hinterlassen? Als ob ich mein Kind, meine geliebte +Tochter nicht kennte? Weiß ich denn nicht, daß +ihr Herz rein und edel ist, und daß in diesem lieben +Köpfchen,“ fuhr sie fort, indem sie mich zu sich heranzog +und mich streichelte, „der Verstand rein und hell ist +... Laßt gut sein, meine Lieben! Hören wir damit auf! +Offenbar liegt etwas anderes in unserem Kummer, +vielleicht lag auf uns allen nur ein vorübergehender +Schatten. Aber wir wollen durch Liebe und durch unser +gutes Einvernehmen alle Mißverständnisse zerstreuen. +Vielleicht ist vieles unausgesprochen zwischen uns und +ich bin vor allem schuld daran. In mir sind zuerst, +weiß Gott was für Verdächtigungen aufgestiegen, an +denen nur mein armer kranker Kopf schuld ist ... Und +... und, wenn ich sie auch zum Teil schon ausgesprochen +habe, so müßt ihr sie mir beide verzeihen, weil +... weil die Sünde doch nicht so groß ist, wenn ich +vermutete ...“ +</p> + +<p> +Sie errötete und sah schüchtern ihren Mann an +und erwartete mit Bangen ein Wort von ihm. Während +sie sprach, lag ein spöttisches Lächeln auf seinen +Lippen. Er brach seinen Gang durch das Zimmer ab +und stellte sich gerade vor sie hin, die Hände auf dem +Rücken. Er betrachtete sie in ihrer Erregung und +ergötzte sich an ihr; als sie aber seinen unverwandten +<a id="page-361" class="pagenum" title="361"></a> +Blick auf sich ruhen fühlte, wurde sie verwirrt. Er +blieb ruhig stehen, als erwartete er noch irgend etwas. +Ihre Erregung verdoppelte sich. Endlich unterbrach +er diese erdrückende Szene durch ein leises, anhaltendes +boshaftes Lachen: +</p> + +<p> +„Mir tun Sie leid, arme Frau!“ sagte er endlich, +bitter und ernst, nachdem er zu lachen aufgehört hatte. +„Sie spielen eine Rolle, der Sie nicht gewachsen sind. +Was wollen Sie im Grunde genommen? Sie wollen +mir wieder neue Verdächtigungen unterschieben, oder, +besser gesagt, die alten Verdächtigungen, die Sie nur +mangelhaft in ihren Worten verbergen können. Der +Sinn Ihrer Worte ist der, daß kein Grund vorhanden +sei, ihr böse zu sein, daß sie rein und gut sei auch nach +der Lektüre unsittlicher Bücher, deren Moral – das +sage ich von mir aus – bereits etliche Früchte gezeitigt +zu haben scheint; und schließlich, daß Sie selber +für sie einständen; war es nicht so? Und dann – nachdem +Sie das erklärt, deuten Sie noch etwas anderes +an. Sie denken, mein Argwohn und meine Feindseligkeit +entsprängen einem gewissen anderen Gefühl. +Sie deuteten mir gestern sogar an – bitte, unterbrechen +Sie mich nicht, ich liebe es, alles offen auszusprechen +– Sie deuteten gestern an, daß bei manchen +Menschen (nach Ihrer Bemerkung, wenn ich mich +recht erinnere, wären diese Leute in der Regel gesetzte, +ernste, gerade, kluge, starke Menschen und Gott weiß +was für Vorzüge Sie Ihnen in einer Anwandlung von +Großmut noch gaben!), daß bei gewissen Menschen +also, sage ich, die Liebe (und Gott weiß wozu Sie sich +das ersannen!) sich auch gar nicht anders äußern +<a id="page-362" class="pagenum" title="362"></a> +könne, als eben schroff, heftig, verletzend, oft mit Argwohn +und Feindseligkeit gepaart. Übrigens entsinne +ich mich nicht mehr genau, ob Sie sich gerade mit diesen +Worten ausdrückten ... Bitte, unterbrechen Sie +mich nicht; ich kenne Ihren Zögling ausgezeichnet: sie +darf bereits alles hören, alles, wiederhole ich Ihnen +zum hundertsten Mal, – alles! Sie sind betrogen. +Doch ich begreife nicht, warum es Ihnen beliebt, auf +der Behauptung zu bestehen, daß gerade ich solch ein +Mensch sei! – weshalb Sie gerade mich mit diesem +Narrenhemd aufputzen wollen! Liebe zu diesem jungen +Mädchen steht meinen Jahren nicht mehr an; ja +und schließlich kann ich Sie versichern, meine Gnädigste, +daß <em>ich weiß, was meine Pflicht +ist</em>, und wie großmütig Sie mich auch entschuldigen +wollten, ich bleibe dabei, was ich gesagt habe: <em>daß +ein Verbrechen immer ein Verbrechen, +eine Sünde immer eine Sünde, immer +eine schmutzige, ehrlose Schandtat +sein wird, auf welche Stufe der Größe +und Herrlichkeit Sie das lasterhafte +Gefühl auch erheben mögen</em>! Doch genug! +Genug davon! Und daß mir nichts mehr von diesen +Schändlichkeiten zu Ohren kommt!“ +</p> + +<p> +Alexandra Michailowna weinte. +</p> + +<p> +„Mag das mir gesagt sein, mag ich das verdient +haben und tragen – ich will’s ja!“ sagte sie, indem +sie mich unter Schluchzen umarmte. „Mögen meine +Vermutungen schlecht und schändlich gewesen sein, daß +Sie so grausam über sie spotten können! Aber du, +mein armes Kind, wofür bist du verurteilt, solche +<a id="page-363" class="pagenum" title="363"></a> +Kränkungen zu hören? Und ich kann dich nicht einmal +beschützen! Ich muß stumm sein! Mein Gott! – nein! +ich kann nicht schweigen, das können Sie nicht von +mir verlangen! Ich ertrage es nicht ... Ihr Benehmen +ist widersinnig! ...“ +</p> + +<p> +„Lassen Sie, lassen Sie, beruhigen Sie sich nur!“ +redete ich ihr flüsternd zu, um sie in ihrer Aufregung +zu beschwichtigen, denn ich fürchtete, daß Vorwürfe +von ihr ihn um seine letzte Beherrschung bringen würden. +</p> + +<p> +„Aber Sie blindes Weib! ...“ rief er denn auch +heftig, „Sie wissen ja nicht, Sie sehen ja nicht ...“ +</p> + +<p> +Er stockte einen Augenblick. +</p> + +<p> +„Fort von ihr!“ befahl er heftig und riß meine +Hand aus den Händen Alexandra Michailownas. +„Ich gestatte Ihnen nicht, meine Frau zu berühren! +Ihre Berührung besudelt! Ihre Anwesenheit ist eine +Beleidigung für sie! Aber ... ja aus welchem Grunde +soll ich schweigen, wo doch alles ausgesprochen werden +muß!“ rief er, mit dem Fuß stampfend. „Und ich +werde es sagen, ich werde alles sagen. Ich weiß +nicht, was Sie da <em>wissen</em>, mein gnädiges Fräulein, +und womit Sie mir drohen wollten, und ich will +es auch nicht wissen. So hören Sie denn ...“ fuhr +er fort, sich an Alexandra Michailowna wendend. +</p> + +<p> +„Schweigen Sie!“ rief ich, und ich hätte mich fast +auf ihn gestürzt, „schweigen Sie! Sie sagen kein +Wort!“ +</p> + +<p> +„So hören Sie denn ...“ +</p> + +<p> +„Schweigen Sie!! Im Namen ...“ +</p> + +<p> +„Im Namen wessen, mein Fräulein?“ griff er das +<a id="page-364" class="pagenum" title="364"></a> +Wort blitzschnell auf und sah mir eine Sekunde lang +durchdringend in die Augen. „Im Namen wessen? +... So hören Sie denn – ich habe ihr einen Brief +ihres Geliebten entrissen! Jetzt wissen Sie, was in +unserem Hause geschieht! Nun haben Sie es gehört, +was unmittelbar neben Ihnen sich zuträgt! Das war +es, was Sie nicht gesehen, nicht bemerkt haben!“ +</p> + +<p> +Ich hielt mich kaum auf den Füßen. Alexandra +Michailowna wurde totenblaß. +</p> + +<p> +„Das kann nicht sein,“ stammelte sie, kaum hörbar. +</p> + +<p> +„Ich habe diesen Brief gesehen, ich habe ihn in +der Hand gehabt und die ersten Zeilen gelesen – von +einer Täuschung kann also keine Rede sein. Der Brief +war von einem Geliebten. Sie entriß ihn mir und +jetzt ist er wieder in ihrem Besitz. Die Sache ist so +klar, sie liegt ja auf der Hand! Und wenn Sie noch +zweifeln, so sehen Sie sie doch nur an und dann versuchen +Sie, auch nur auf den Schatten eines Zweifels +noch zu hoffen!“ +</p> + +<p> +„Njetotschka!“ schrie Alexandra Michailowna +plötzlich auf. „Nein, nein, sag’ nichts, sprich nichts! +Ich weiß nicht, was gewesen ist, was ... wie ... +mein Gott, mein Gott!“ +</p> + +<p> +Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und +weinte. +</p> + +<p> +„Nein! Das ist nicht möglich!“ rief sie wieder. +„Sie haben sich geirrt. Das ... das ... ich weiß, +was das bedeutet!“ sagte sie plötzlich langsam, während +sie ihren Mann mit unverwandtem Blick ansah. +„Sie ... ich ... konnte nicht, – nein, du wirst mich +nicht betrügen, du kannst mich nicht betrügen! Erzähl’ +<a id="page-365" class="pagenum" title="365"></a> +mir alles, sag’ mir alles: er hat sich doch geirrt? Ja, +nicht wahr, er hat sich geirrt? Er hat etwas anderes +gesehen, er war verblendet? Ja, nicht wahr? Nicht +wahr? Höre: warum solltest du mir nicht alles sagen, +Annjeta, mein Kind, mein liebes Kind?“ +</p> + +<p> +„Antworten Sie, antworten Sie schnell!“ ertönte +über mir die Stimme Pjotr Alexandrowitschs. „Antworten +Sie: habe ich oder habe ich nicht den Brief in +Ihren Händen gesehen?“ +</p> + +<p> +„Ja!“ antwortete ich atemlos vor Aufregung. +</p> + +<p> +„Dieser Brief war von Ihrem Geliebten?“ +</p> + +<p> +„Ja!“ +</p> + +<p> +„Mit dem Sie auch jetzt in Verbindung stehen?“ +</p> + +<p> +„Ja, ja, ja!“ sagte ich schon außer mir, bestätigte +alles blindlings, nur um unserer Qual ein Ende zu +machen. +</p> + +<p> +„Haben Sie gehört? Nun, und was sagen Sie +jetzt! Glauben Sie mir, Sie mit Ihrem guten, allzu +vertrauensseligen Herzen,“ fügte er hinzu und nahm +die Hand seiner Frau, „glauben Sie mir und sehen +Sie Ihren Irrtum ein, – Ihren Irrtum in allem, +was Ihre kranke Phantasie Ihnen vorgegaukelt hat. +Sie sehen jetzt, wer dieses ... Mädchen ist. Ich wollte +nur Ihre Vermutungen <span class="antiqua" lang="la" xml:lang="la">ad absurdum</span> führen. Ich +habe das alles schon längst bemerkt und es freut mich, +daß ich sie endlich vor Ihnen entlarvt habe. Es war +mir schwer, sie neben Ihnen zu sehen, in Ihren Armen, +an einem Tisch mit uns, ja, in meinem Hause. +Und Ihre Blindheit empörte mich. Deshalb, und +zwar nur deshalb, schenkte ich ihr überhaupt meine +Aufmerksamkeit und beobachtete sie; und diese Aufmerksamkeit +<a id="page-366" class="pagenum" title="366"></a> +haben Sie bemerkt; und nachdem Sie +Gott weiß was für einen Verdacht als Grund angenommen, +haben Sie dann auf dieser Grundlage in +Ihrer Einbildung weitergebaut. Doch jetzt ist die +Sache aufgeklärt, alle Zweifel sind widerlegt, und +morgen, mein Fräulein, morgen noch werden Sie +nicht mehr in meinem Hause sein!“ schloß er, sich an +mich wendend. +</p> + +<p> +„Halten Sie ein!“ sagte Alexandra Michailowna +und sie erhob sich. „Ich traue dieser ganzen Szene +nicht. Sehen Sie mich nicht so zornig an, lachen Sie +nicht über mich. Ich rufe Sie selbst zum Richter auf, +ich will nur meine Meinung sagen. Annjeta, mein +Kind, komm zu mir, gib mir deine Hand, so. Niemand +ist ohne Fehl, wir sind alle sündig!“ sagte sie mit einer +Stimme, in der Tränen zitterten, und sie sah gleichsam +demütig zu ihrem Mann auf. „Und wer von uns +darf jemandes Hand von sich stoßen? Gib mir doch +deine Hand, Annjeta, mein liebes Kind! Ich bin nicht +würdiger, nicht besser als du; du kannst mich nicht +durch deine Gegenwart kränken, denn ich bin gleichfalls, +<em>gleichfalls eine Sünderin</em>.“ +</p> + +<p> +„Meine Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch +betroffen. „Was reden Sie! Vergessen Sie nicht! ...“ +</p> + +<p> +„Ich vergesse nichts. Unterbrechen Sie mich nicht, +lassen Sie mich zu Ende sprechen. Sie haben in +ihren Händen einen Brief gesehen, Sie haben ihn +sogar gelesen; Sie sagen – und sie ... hat gestanden, +daß dieser Brief von demjenigen sei, den sie liebt. +Aber beweist denn das, daß sie sich vergangen habe? +Gibt Ihnen denn das schon das Recht, sie so zu behandeln, +<a id="page-367" class="pagenum" title="367"></a> +sie so in Gegenwart Ihrer Frau zu beleidigen? +Ja, mein Herr, in Gegenwart Ihrer Frau? Haben +Sie denn schon alles ergründet? Wissen Sie denn +schon, wie sich das alles verhält?“ +</p> + +<p> +„Ja was! – jetzt soll ich sie wohl noch um Verzeihung +bitten? Ist es das, was Sie wollen?“ rief +Pjotr Alexandrowitsch wütend. „Ich danke, ich habe +die Geduld verloren über Ihrem Gerede! Und wissen +Sie überhaupt, von wem Sie reden, was und <em>wen</em> +Sie verteidigen? Ich durchschaue doch alles ...“ +</p> + +<p> +„Und sehen doch nicht einmal die Hauptsache, +weil Ihr Zorn und Ihr Stolz Sie blenden. Sie sehen +das nicht, was ich verteidige und wovon ich rede. +Nicht das Laster verteidige ich. Doch haben Sie auch +bedacht – und das werden Sie einsehen, sobald Sie +nachdenken – haben Sie bedacht, daß sie vielleicht wie +ein Kind unschuldig und unwissend ist! Noch einmal, +nicht das Laster verteidige ich! Ich beeile mich, mich zu +rechtfertigen, wenn Ihnen das erwünscht ist. Ja, +wenn sie Gattin, wenn sie Mutter wäre und ihre +Pflichten vergessen hätte –, dann würde ich Ihnen +beistimmen ... Sie sehen, ich rechtfertige mich. So +vergessen Sie das nicht und machen Sie mir keine +Vorwürfe! Wenn sie aber diesen Brief erhalten hat, +ohne etwas Böses zu ahnen? Wenn sie sich in ihrer +Unerfahrenheit nur von einem großen Gefühl hat verleiten +lassen und weil sie keinen Menschen fand, der +sie zurückgehalten hätte? Wenn vielleicht gerade mich +die größte Schuld trifft, weil ich ihr Herz nicht behütet +habe? Wenn dieser Brief der erste war? Wenn Sie +mit Ihrem rohen Verdacht ihr mädchenhaft reines +<a id="page-368" class="pagenum" title="368"></a> +Empfinden verletzt haben? Wenn Sie ihre jugendliche +Phantasie mit Ihren zynischen Reden und Bemerkungen +über diesen Brief beschmutzt haben? – +wenn Sie nicht sehen oder nicht sehen wollen, daß in +diesem keuschen mädchenhaften Antlitz nichts als Reinheit +und Unschuld ist und bange mädchenhafte Scham, +– die Scham, die ich jetzt erkenne, die ich auch dann +erkannte, als sie wie verloren in dieser Pein nicht +wußte, was sie sagte, und in ihrer Herzensangst auf +alle Ihre unmenschlichen Fragen mit diesem ‚Ja, ja, +ja!‘ antwortete. Das war unmenschlich von Ihnen, +das war grausam; ich erkenne Sie nicht wieder; das +werde ich Ihnen niemals, niemals verzeihen!“ +</p> + +<p> +„Ach, erbarmen Sie sich, erbarmen Sie sich!“ rief +ich beschwörend, und ich drückte sie mit meinen Armen +fest an mich. „Hören Sie auf, glauben Sie mir, +verstoßen Sie mich nicht ...“ +</p> + +<p> +Ich fiel vor ihr auf die Knie. +</p> + +<p> +„Und wenn,“ fuhr sie atemlos fort, „wenn nun ich +nicht bei ihr wäre, wenn Sie sie mit Ihren Worten +erschreckt hätten und die Arme jetzt selbst glaubte, sie +sei schuldig, wenn Sie ihr Gewissen, ihre Seele verwirrt, +die Ruhe ihres Herzens zerstört hätten ... +Mein Gott! Und Sie wollten sie aus dem Hause jagen! +Aber wissen Sie denn nicht, mit wem man das +tut? Sie wissen, daß Sie, wenn Sie sie aus dem +Hause jagen, dann uns beide, uns zusammen fortjagen, +– mich gleichfalls. Haben Sie gehört, mein +Herr?“ +</p> + +<p> +Ihre Augen blitzten, ihre Brust arbeitete schwer; +<a id="page-369" class="pagenum" title="369"></a> +ihre krankhafte Erregung steigerte sich bis zur letzten +Krisis ... +</p> + +<p> +„Jetzt habe ich aber wahrlich genug gehört, meine +Gnädigste!“ rief Pjotr Alexandrowitsch, „genug davon! +Ich weiß, es gibt platonische Leidenschaften – +und weiß das zu meinem Verderben, meine Gnädigste! +Hören Sie? – zu meinem Verderben! Aber ich bedanke +mich dafür, mit diesem vergoldeten Laster unter +einem Dach zu leben! Ich verstehe es nicht. Und deshalb +– fort mit ihm! Und wenn Sie sich schuldig fühlen, +wenn Sie sich irgendeiner Schuld bewußt sind +(nicht an mir ist es, Sie zu erinnern, meine Gnädigste), +wenn Ihnen der Gedanke gefällt, mein Haus zu +verlassen ... so bleibt mir nichts weiter übrig, als +zu sagen, als Sie daran zu erinnern, daß Sie bedauerlicherweise +vergessen haben, Ihre Absicht auszuführen, +als es die rechte Zeit war, die eigentliche Zeit, +vor Jahren, schon vor ... sollten Sie das Datum vergessen +haben, so kann ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe +kommen ...“ +</p> + +<p> +Ich sah sie an. Sie stützte sich krampfhaft auf mich, +vergehend vor Seelenschmerz, die Augen halb geschlossen, +in unmenschlicher Qual. Noch ein Moment – +und sie wäre hingefallen. +</p> + +<p> +„Oh, um’s Himmels willen, haben Sie wenigstens +diesmal Erbarmen! Sagen Sie nicht das letzte Wort!“ +rief ich außer mir und warf mich Pjotr Alexandrowitsch +zu Füßen, ohne daran zu denken, was ich tat: +doch – es war schon zu spät. Nur ein leiser Schrei +ertönte als Antwort auf meine Worte und die Arme +fiel bewußtlos hin. +</p> + +<p> +<a id="page-370" class="pagenum" title="370"></a> +„Da! Sie haben sie getötet!“ sagte ich. „Rufen +Sie zu Hilfe, retten Sie sie! – Ich erwarte Sie in +Ihrem Kabinett. Ich muß mit Ihnen sprechen: ich +werde Ihnen alles sagen ...“ +</p> + +<p> +„Ja, was? Ja, was denn?“ +</p> + +<p> +„Später!“ +</p> + +<p> +Die Ohnmacht dauerte zwei Stunden. Das ganze +Haus war in Aufregung. Der Arzt schüttelte zweifelnd +das Haupt. Nach zwei Stunden ging ich ins Kabinett +zu Pjotr Alexandrowitsch. Er war soeben erst +von seiner Frau gekommen. Jetzt ging er im Zimmer auf +und ab, biß sich die Lippen fast blutig und sah bleich +und verstört aus. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. +</p> + +<p> +„Was wollen Sie mir denn sagen?“ fragte er +mich schroff. „Sie sagten vorhin ...!“ +</p> + +<p> +„Hier ist der Brief, den Sie mir entrissen. Sie +erkennen ihn doch?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Nehmen Sie ihn.“ +</p> + +<p> +Er nahm den Brief und führte ihn ans Licht. Ich +beobachtete ihn aufmerksam. Nach wenigen Sekunden +drehte er den Brief hastig um und sah nach der Unterschrift. +Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. +</p> + +<p> +„Was ist das?“ fragte er mich starr vor Betroffenheit. +</p> + +<p> +Ich blieb ihm die Antwort nicht schuldig. +</p> + +<p> +„Vor drei Jahren fand ich diesen Brief in einem +Buch. Ich erriet, daß er vergessen war, las ihn und – +erfuhr alles. Ich behielt ihn, denn ich wußte niemanden, +dem ich ihn hätte geben können. Ihr konnte ich +<a id="page-371" class="pagenum" title="371"></a> +ihn nicht geben. Ihnen? Doch Ihnen konnte der Inhalt +dieses Briefes nicht unbekannt sein, er aber enthält +die ganze traurige Lebensgeschichte ... Welchen +Zweck nun Ihre Verstellung hatte – das weiß ich +nicht –, das ist mir vorläufig noch unklar. Noch durchschaue +ich Ihre dunkle Seele nicht ganz. Sie wollten +Ihre Überlegenheit bewahren – und das ist Ihnen +denn auch gelungen. Aber wozu? Um über ein Wahnbild +den Sieg davonzutragen, um über eine Kranke +zu herrschen, um ihr zu beweisen, daß sie sich verirrt +habe und daß Sie dagegen <em>sündlos</em> vor ihr ständen! +Und Sie haben Ihren Zweck erreicht, denn dieser +Verdacht ist – zur fixen Idee eines erlöschenden +Geistes geworden, ist vielleicht die letzte Klage eines +gebrochenen Herzens über die Ungerechtigkeit des Urteils +der Menschen, mit dem Sie übereinstimmten. +‚Was ist denn dabei Schlimmes, daß Sie mich liebten?‘ +Das war es, was sie sagte, das wollte sie Ihnen +beweisen. Aber Ihr Stolz, Ihr eifersüchtiger Egoismus +waren unbarmherzig. Leben Sie wohl. Weitere +Erklärungen sind nicht nötig! Aber nehmen Sie sich +in acht, ich kenne Sie jetzt, ich durchschaue Sie, vergessen +Sie das nicht!“ +</p> + +<p> +Ich ging auf mein Zimmer – fast bewußtlos. An +der Türe hielt mich Owroff, der Gehilfe Pjotr Alexandrowitschs, +auf. +</p> + +<p> +„Ich habe mit Ihnen zu sprechen,“ sagte er mit +einer höflichen Verbeugung. +</p> + +<p> +Ich sah ihn an und begriff nicht gleich, was er +sagte. +</p> + +<p> +„Später, entschuldigen Sie mich, ich fühle mich +<a id="page-372" class="pagenum" title="372"></a> +nicht wohl,“ sagte ich schließlich und ging an ihm +vorbei. +</p> + +<p> +„Also dann morgen,“ sagte er und machte seine +Verbeugung mit einem zweideutigen Lächeln. +</p> + +<p> +Vielleicht schien es mir aber auch nur so? Es +war fast wie eine Vision, die vor meinen Augen flüchtig +auftauchte ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="novella" id="part-6"> +<a id="page-373" class="pagenum" title="373"></a> +Der Bettelknabe +</h2> + +</div> + +<p class="first pbb"> +<a id="page-375" class="pagenum" title="375"></a> +<span class="firstchar">K</span><span class="postfirstchar">inder</span> sind ein seltsames Volk: sie drängen sich in +Träume und Gedanken. Vor Weihnachten und dann +wieder am Christabend selbst begegnete mir regelmäßig +an einer bestimmten Straßenecke ein kleiner Knabe, der +gewiß nicht älter war als, sagen wir, etwa siebenjährig. +Trotz der grimmigen Kälte war er fast sommermäßig +gekleidet, doch um den Hals war ihm irgendein +altes abgetragenes Zeug gewickelt – also mußte +ihn doch jemand ausrüsten, bevor er hinausgeschickt +wurde. – Er ging „mit dem Händchen“: so lautet +der technische Ausdruck und er bedeutet – betteln. +Den Ausdruck haben diese Knaben selbst erfunden. +Solcher Knaben, wie er, gibt es eine Menge, sie laufen +einem überall in den Weg und jammern etwas +Auswendiggelerntes; dieser aber jammerte nicht und +sprach auch gewissermaßen unschuldig und außergewöhnlich, +und seine Augen sahen mich voll Vertrauen +an – also mußte er noch ein Anfänger sein. +Auf meine Fragen antwortete er, daß er eine Schwester +habe; sie sitze ohne Arbeit und sei krank. Vielleicht +sagte er die Wahrheit, nur erfuhr ich später, daß es solcher +Knaben unzählige gibt; sie werden „mit dem +Händchen“ auf die Straße geschickt, auch in der fürchterlichsten +Kälte, und wenn sie nichts erbetteln, so +<a id="page-376" class="pagenum" title="376"></a> +setzt es natürlich Hiebe. Hat der Knabe ein paar Kopeken +eingesammelt, dann kehrt er mit frosterstarrten +Händen in irgendeinen Kellerraum zurück, wo irgendeine +Bande säuft – eine von jenen, die, wie es heißt, +„Sonnabends nach Arbeitschluß in den Fabriken den +Sonntag zu feiern anfangen und nicht vor dem Mittwochabend +zur Arbeit zurückkehren“. Dort, in den Kellern, +trinken mit ihnen auch ihre hungernden und geprügelten +Weiber, dort schreien auch ihre hungrigen +kleinen Kinder nach der Mutterbrust. Schnaps und +Schmutz und Ausschweifung, aber vor allem – +Schnaps: die sind dort zu finden. Mit den erbettelten +Kopeken wird der Knabe sogleich in die nächste Schenke +geschickt und muß ihnen noch mehr Schnaps bringen. +Zum Scherz gießen sie dann auch ihm das Feuerwasser +in den Mund und gröhlen vor Lachen, wenn +es ihm den Atem verschlägt und er in die Knie bricht +und fast erstickt an der Abscheulichkeit, über der ihm +Hören und Sehen vergeht. +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„... und in den Mund das Greuliche</p> + <p class="verse">Erbarmungslos mir goß ...“<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a></p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +Ist er ein wenig herangewachsen, so wird er in eine +Fabrik gesteckt, doch alles, was er erarbeitet, muß er +wieder in den Keller bringen, und jene setzen das Geld +weiter in Branntwein um. Doch schon bevor sie in +die Fabrik kommen, sind diese Kinder kleine Verbrecher. +Sie durchstreifen die Stadt und kennen die verschiedensten +Schlupfwinkel in Kellern und Schuppen +und auf Höfen, wo man unbemerkt nächtigen kann. +<a id="page-377" class="pagenum" title="377"></a> +Hat doch ein Kleiner bei einem Hofknecht mehrere +Nächte in einem Holzkorb geschlafen, ohne daß der +Knecht es gewahr wurde. In erster Linie sind sie natürlich +kleine Diebe. Das Stehlen wird bei ihnen zur +Leidenschaft, sogar bei Achtjährigen, und nicht selten +ohne jedes Bewußtsein von dem Verbrecherischen der +Tat. Zu guter Letzt lernen sie alles ertragen – Hunger, +Kälte, Schläge – nur für das eine: für ihre +Freiheit, und bald laufen sie von ihren Aussaugern +fort, um dann schon von sich aus, aus eigenem Antriebe +und zum eigenen Vergnügen zu vagabundieren. +Solch ein junger Wildling weiß oft so gut wie nichts, +weder in welchem Lande er wohnt, zu welcher Nation +er gehört, ob es einen Gott gibt, einen Zaren; ja man +erzählt sogar solche Unwissenheit von ihnen, daß man +es nicht glauben will – und dennoch sind dies alles +Tatsachen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-6-1"> +Der Knabe im Himmel zum Christfest. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Doch ich bin ein Schriftsteller, und ich glaube, +diese „Geschichte“ habe ich selbst erfunden. Da schreibe +ich: „ich glaube“, und weiß doch genau, daß ich +sie selber erfunden habe; aber es scheint mir die ganze +Zeit, daß sie irgendwo irgendwann wirklich geschehen +<a id="page-378" class="pagenum" title="378"></a> +sei und zwar gerade am Christabend in <em>irgendeiner</em> +großen, großen Stadt und bei grimmiger +Kälte. +</p> + +<p> +Ich sehe einen Knaben, aber einen noch ganz kleinen, +etwa von sechs Jahren oder noch jünger. Dieser +kleine Knabe erwachte an jenem Tage in einem feuchten +und kalten Keller. Er hatte nur ein altes Kittelchen +an und zitterte vor Kälte. Er sah seinen Atem, +der wie weißer Dampf seinem Munde entströmte, und +da es langweilig war, auf dem Koffer im Winkel zu +sitzen, so hauchte er absichtlich diesen Atem recht stark +heraus und sah dann zu, wie der Dampf sich ballte +und verschwand. Aber er hatte Hunger und wollte etwas +essen. Er war seit dem Morgen schon mehrmals +zu der Lagerstätte gegangen, wo auf einem alten, wie +eine Hand dünnen Schlafsack, irgendein Bündel als +Kissen unter dem Kopf, seine kranke Mutter lag. Wie +sie hierher kam? Vermutlich war sie mit ihrem Knaben +aus einer anderen Stadt gekommen und hier erkrankt. +Die Winkelvermieterin des Kellers war schon vor zwei +Tagen von der Polizei abgeführt worden; und die anderen +Winkelmieter hatten sich verlaufen, nur einer +von ihnen lag dort seit vierundzwanzig Stunden, noch +bevor die Feiertage anbrachen – schon stocksteif besoffen. +In einem anderen Winkel ächzte vor Rheumatismus +eine Achtzigjährige, die irgendeinmal irgendwo als +Kinderfrau gelebt hatte, jetzt aber einsam und stöhnend +auf den Tod wartete; sie brummte und schalt immer +auf den Knaben, so daß dieser sich fürchtete, ihrem +Winkel zu nah zu kommen. Auf dem Flur fand +er etwas zu trinken, aber eine Brotkruste war nirgends +<a id="page-379" class="pagenum" title="379"></a> +zu finden, und wohl zum zehnten Mal versuchte er, +seine Mutter aufzuwecken. Ihm wurde schließlich +bange in der Dunkelheit: es war schon längst dunkel +geworden, doch niemand machte Licht. Als seine Hand +das Gesicht seiner Mutter berührte, wunderte er sich, +daß es so kalt war wie die Wand. „Das ist hier aber +mal kalt!“ dachte er, sann ein Weilchen, während seine +Hand unbewußt auf der Schulter der Toten ruhte, +dann hauchte er auf seine Fingerchen, um sie zu wärmen, +und dabei fiel ihm sein Mützchen ein, das auf +seinem Lager lag; das setzte er sich auf den Kopf – +und plötzlich kam es ihm in den Sinn, den Kellerraum +zu verlassen, und er ging tastend zur Tür. Er wäre +vielleicht sogar schon früher aus dem Keller gegangen, +aber er fürchtete den großen Hund, der ihm oben den +Ausgang versperrte und die ganze Zeit kläffte. Jetzt +war es still, der Hund war nicht zu sehen, und eh’ er +sich dessen versah, stand der Kleine auf der Straße. +</p> + +<p> +O Gott! Was war das für eine Stadt! Noch nie +hatte er Ähnliches gesehen! Dort, von wo er mit der +Mutter gekommen war, war es so finster in der Nacht: +auf eine ganze Straße kam nur eine einzige Laterne. +Die Fenster der niedrigen Häuser wurden abends mit +Läden verschlossen; auf der Straße war, sobald nur +die Dämmerung sank, niemand mehr zu sehen, alle +schlossen sich in den Häusern ein und nur die Hunde, +die es zu Hunderten und Tausenden gab, bellten und +heulten die ganze Nacht. Doch dafür war es dort +warm und man gab ihm zu essen, hier aber – ach, +wenn er nur etwas zu essen bekäme! Und was ist das +nur für ein Lärm und Gesumm, und wieviel Licht +<a id="page-380" class="pagenum" title="380"></a> +und Menschen und Pferde und Wagen – und die Kälte, +die Kälte! Aus den Nüstern der heißgejagten Tiere +strömt weißer Dampf, durch den weichen lockeren +Schnee schlagen die Hufe zuweilen hellklingend auf +das Steinpflaster, und wie die Menschen sich alle drängen, +und, lieber Gott, wie gern er etwas essen würde, +wenn auch nur ein kleines Stückchen, gleichviel was, +und die Fingerchen schmerzten so sehr. An ihm vorbei +ging ein Hüter der Ordnung und wandte sich ab, um +den Knaben nicht zu bemerken. +</p> + +<p> +Und da ist wieder eine andere Straße – oh, und +wie breit sie ist! Hier ist es aber wirklich schön! Wie +sie doch alle lärmen und laufen und fahren, +und Licht, wieviel Licht hier ist! Aber was ist denn +das? Oh – was für ein großes Fenster, und hinter +dem Fenster ist ein Zimmer, ein großes Zimmer, und +in diesem Zimmer ist ein Baum bis an die Decke, ein +Christbaum, eine große Tanne, und an der flimmern +so viele Flämmchen, so viele goldene Sachen, und +hängen Äpfel, und ringsum sind lauter Püppchen und +Pferdchen, und Kinder laufen im Zimmer umher und +alle sind sie so festlich angekleidet, so sauber und +schön, und sie lachen und spielen und trinken und essen +schönes, schönes Naschwerk. Und dort tanzt jetzt +ein kleines Mädchen mit einem kleinen Knaben – +was für ein schönes kleines Mädchen! Und da hört +man auch Musik, durch das Fenster mit den großen +Scheiben hört man sie ganz deutlich. Und der kleine +Junge schaut und wundert sich und schon lacht er, +und doch schmerzen ihm schon seine Füßchen und +Zehen, und die Fingerchen an den Händen sind schon +<a id="page-381" class="pagenum" title="381"></a> +ganz rot, schon wollen sich die Gelenke nicht mehr biegen +und das Bewegen tut weh, nur denkt er jetzt nicht +daran. Aber dann spürt er plötzlich doch wieder, +daß ihm die Händchen so schmerzen, und er fängt an +zu weinen und läuft weiter, und wieder sieht er durch +ein Fenster ein Zimmer und dort sind mehrere solcher +Bäume, aber nicht so große, und auf den Tischen sind +lauter Kuchen und Kuchen, rote und gelbe und weiße +und braune und hinter dem langen Tisch stehen vier +reich gekleidete Damen, und jedem, der an den Tisch +kommt, geben sie von ihren schönen Kuchen, die Tür +aber öffnet sich jeden Augenblick und viele Menschen +gehen von der Straße zu ihnen hinein. Der Knabe +steht und guckt, und wie die Tür sich wieder öffnet, +da schlüpft auch er hinein. Ach! wie man ihm böse ist, +ihn anschreit und fortjagt! Eine von den Damen +kommt schnell auf ihn zu, gibt ihm eine Kopeke und +dann öffnet sie selbst die Tür und schickt ihn hinaus +auf die Straße. Wie er erschrak! Die Kopeke aber fiel +ihm gleich aus der Hand, und schlug klingend auf die +Treppenstufe: er konnte seine blauroten Fingerchen +nicht mehr biegen, um das Geld zu halten. Und der +Knabe läuft auf die Straße und geht schnell weiter – +so schnell er kann, aber wohin, das weiß er nicht. Er +möchte auch wieder weinen, aber er wagt es nicht, und +er läuft und läuft und haucht auf die Fingerchen. Und +so traurig wird er, so bitter traurig darüber, daß er +sich so allein und verlassen fühlt, und eine Bangigkeit +will über ihn kommen, doch plötzlich – ja was +ist das? was ist denn da wieder zu sehen? Da stehen +die Menschen dicht gedrängt und staunen: hinter den +<a id="page-382" class="pagenum" title="382"></a> +Scheiben eines großen Fensters stehen drei kleine Puppen +in roten und grünen Kleidchen und sind ganz, +ganz wie lebendig! Und ein alter kleiner Mann +sitzt dort und spielt auf einer großen Geige, oder es +sieht wenigstens so aus, als spiele er, und noch zwei +andere stehen dort und spielen auf kleinen Geigen und +nicken dazu im Takt mit den Köpfen und sehen einander +an, und ihre Lippen bewegen sich, als ob sie +sprächen – nur hört man das eben nicht durch die +Fensterscheiben. Zuerst dachte der Knabe, daß sie alle +wirklich lebendig seien, als er aber dann erriet und +sich überzeugte, daß es „nur Püppchen“ waren – da +mußte er lachen. Er hatte so etwas noch nie gesehen +und gar nicht gewußt, daß es solche Püppchen gab! +Und er will doch auch weinen, aber zugleich muß er lachen +– lachen über die Püppchen. Plötzlich fühlt er, +daß ihn jemand hinterrücks am Schlafittchen packt: +ein großer böser Bube steht hinter ihm und haut ihn +plötzlich auf den Kopf, reißt ihm das Mützchen ab und +versetzt ihm von unten einen Stoß mit dem Fuß. Der +Kleine fällt hin, doch da schreit schon alles und schilt, +daß ihm angst und bange wird und er aufspringt und +fortläuft und läuft – bis er gar nicht mehr weiß, wo +er ist. Und da kriecht er unter einem Hoftor auf einen +fremden Hof und hockt dort hinter einem Holzstapel +hin: „Hier wird man mich nicht finden und es ist auch +dunkel!“ denkt er. +</p> + +<p> +Und so hockt er ganz still und kauert sich zusammen +und kann kaum noch atmen vor Angst, und plötzlich, +ganz plötzlich wird ihm so wohl: die Füßchen und +Händchen schmerzen nicht mehr und ihm wird so warm, +<a id="page-383" class="pagenum" title="383"></a> +so warm wie auf dem Ofenbänkchen. Da fährt er auf +einmal zusammen: ach, er wäre ja fast eingeschlafen! +Wie gut es hier einzuschlafen ist: „Ich werd’ hier noch +ein Weilchen sitzen und dann gehe ich wieder zu den +Püppchen,“ denkt er und lächelt bei dem Gedanken an +sie: „ganz wie lebendig sind sie ...!“ Und dann ist +es ihm, als höre er auf einmal seine Mutter singen, +ganz leise, daß er es kaum hören kann, aber er hört es +doch. „Mama, ich schlafe! – ach, wie ist es hier schön +zu schlafen!“ +</p> + +<p> +„Komm zu mir, mein Knabe, zum Christbaum, +es ist Weihnacht, Kind,“ flüsterte über ihm eine leise +Stimme. +</p> + +<p> +Er denkt, das wäre nun seine Mama, aber nein, +das ist nicht sie! Doch wer rief ihn denn? – das +sieht er nicht, aber jemand beugt sich über ihn und umfängt +ihn in der Dunkelheit; und er streckt ihm die +Hand entgegen und ... und plötzlich – oh, wieviel +Licht! Oh, welch ein Christbaum! Das war – oh, +solche Bäume hatte er noch gar nicht gesehen! Wo ist +er jetzt – es leuchtet und strahlt alles um ihn und soviel +schöne Puppen überall – doch nein, das sind ja +alles kleine Knaben und Mädchen, nur sind sie alle +so leicht, alle umringen sie ihn, sie schweben, sie küssen +ihn, sie nehmen und tragen ihn mit sich fort, und da +fühlt er, daß er auch schon schwebt und dort: ja dort ist +seine Mama und sie nickt und lächelt ihm selig zu. +</p> + +<p> +„Mama! Mama! Ach, wie ist es hier schön, Mama!“ +ruft der Knabe und er umarmt die Kinder und +will ihnen schnell alles von den Püppchen, die er hinter +<a id="page-384" class="pagenum" title="384"></a> +dem Fenster gesehen, erzählen. „Ach, wer seid ihr, +Jungen? und wer seid ihr, Mädchen?“ fragt er sie lachend +und hat sie alle schon so lieb. +</p> + +<p> +„Es ist hier Weihnacht beim Christkind,“ antworteten +sie ihm, „dann ist hier im Himmel immer ein +Christfest für all die kleinen Kinder, die auf Erden +keinen Christbaum haben ...“ Und er erfährt, daß alle +die Knaben und Mädchen einst auf Erden ebensolche +Kinder waren, wie er, nur daß die einen schon kaum +geboren als Findlinge in den Körben starben, in denen +sie auf die steinernen Treppen vor den Türen der Petersburger +Beamten ausgesetzt wurden, daß die anderen +bei finnischen Bäuerinnen erstickten, an die sie vom +Findelhaus zur Erziehung gegeben waren; daß wieder +andere an den ausgezehrten Brüsten ihrer Mütter starben +(während der Hungersnot in Ssamara), und +wieder andere in Waggons dritter Klasse an der verpesteten +Luft, und alle waren sie jetzt hier, alle waren +sie jetzt Engel beim Christkind und er selbst war unter +ihnen und hieß sie zu ihm kommen und segnete sie und +ihre sündigen Mütter ... Die Mütter aber dieser +Kinder stehen auch dort, nur abseits, und weinen: und +eine jede erkennt ihren Knaben oder ihr Mädchen, und +die schweben zu ihnen und küssen sie, wischen ihnen +die Tränen mit ihren Händchen von den Wangen und +bitten sie, nicht zu weinen, denn sie hätten es jetzt so +gut ... +</p> + +<hr class="tb"> + +<p class="noindent"> +Unten auf Erden aber fanden am nächsten Morgen +Hofknechte hinter einem Holzstapel die kleine Leiche +eines erfrorenen Knaben. Man fand auch seine +<a id="page-385" class="pagenum" title="385"></a> +Mutter. Die war schon vor ihm gestorben. Im Himmel +sahen sie einander wieder. +</p> + +<p> +Wozu ich eine solche Geschichte nur erfunden habe, +die so gar nicht in das gewöhnliche, vernünftige „Tagebuch“ +paßt! Zudem habe ich versprochen, ausschließlich +oder doch fast nur von wirklichen Begebenheiten zu erzählen! +Aber – nun ja, das ist es eben: es scheint mir, +es ist mir doch, als hätte das wirklich alles so sein können +– ich meine das, was im Keller und hinter dem +Holzstapel geschah, jenes andere aber, von der Christnacht +im Himmel –, ja da weiß ich nun nicht, was ich +Ihnen sagen soll, ob das auch wirklich so hätte sein +können oder – nicht? Doch dazu bin ich ja Dichter, +um es zu wissen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="footnotes" id="part-7"> +Fußnoten +</h2> + +</div> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Der größte Held der russischen Volksdichtung, ein Bauernsohn +aus dem Dorf Karatscharowo, wo er gelähmt in der Hütte +der Eltern sitzt, bis vorüberziehende Bettler (mythische Gestalten) +ihn durch Zauber heilen. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Diminutiv von Katjä. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Strophe aus einem Gedicht von Nekrassoff, das das Leben +eines ähnlichen Knaben zum Gegenstand hat. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription. +</p> + +<p> +Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung +der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren +Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde +transkribiert nach: +</p> + +<p class="nowrap center"> +F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.<br> +Zweite Abteilung: Zweiundzwanzigster Band<br> +R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1912. +</p> + +<p class="skip_in_txt"> +Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen +Bucheinbänden nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt. +</p> + +<p> +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ +vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen +Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. +sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt. +</p> + +<p> +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. +</p> + +<p> +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) +eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen +wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. +</p> + +<p> +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: +Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. +Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe +wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): +</p> + +<p class="list"> +Katjä (Kätja) +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... Tages <span class="underline">kaum</span> aus Moskau die Nachricht, daß der ...<br> +... Tages <a href="#corr-5"><span class="underline">kam</span></a> aus Moskau die Nachricht, daß der ...<br> +</li> + +<li> +... <span class="underline">atmetet</span> tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene ...<br> +... <a href="#corr-6"><span class="underline">atmete</span></a> tief auf, preßte sichtlich betreten ein paar abgerissene ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76986 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/76986-h/images/cover.jpg b/76986-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..9a452eb --- /dev/null +++ b/76986-h/images/cover.jpg diff --git a/76986-h/images/logo.jpg b/76986-h/images/logo.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..e569b5e --- /dev/null +++ b/76986-h/images/logo.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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