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diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes new file mode 100644 index 0000000..6833f05 --- /dev/null +++ b/.gitattributes @@ -0,0 +1,3 @@ +* text=auto +*.txt text +*.md text diff --git a/76661-0.txt b/76661-0.txt new file mode 100644 index 0000000..bd9b9c5 --- /dev/null +++ b/76661-0.txt @@ -0,0 +1,1983 @@ + +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76661 *** + + + + + + Zu stark für dies Leben. + + + Von Iwan Heilbut. + + + + + Erstes Kapitel. + + +„Ich mache Schluß, Herr Grahl.“ + +„Guten Abend denn, Herr Uri.“ + +Grahl zog die elektrische Birne, die von einem grüngläsernen Schirm +umgeben, über seinem Graukopf hing, tiefer zu sich herab. Er beugte sich +näher aufs Buch und zeichnete mit dem Lineal zwei sorgfältige Linien, +eine dicke und dicht unter dieser die dünne. Seine Augen hinter den +Brillengläsern verfolgten mit Sorgfalt die Feder, und die Lippen waren +mit einem Ausdruck von Behutsamkeit gespitzt. Die Hände, von schweren +Adern durchlaufen, zitterten leise. Als er mit den Linien fertig war, +wischte er mit einem Ausdruck von Zufriedenheit über den grauen +Schnurrbart. + +Uri, ein dreißigjähriger Mann, breitschultrig, mit einem dicken +braunblonden Bart auf der Oberlippe, hatte inzwischen in der Garderobe +die Hände mit Bimsstein gesäubert, das Jackett gewechselt. Er kam nun +durch die lange Reihe zwischen den leeren Pulten an dem Platz vorbei, wo +Grahl vor dem Buch stand, leise murmelnd addierte und schrieb. + +„Wir wären wieder die letzten ...“ sagte Herr Uri mit einem Seufzer. Der +Alte nickte und murmelte fort. „Kommen Sie mit mir,“ forderte Uri auf, +„Sie versäumen sonst gewiß noch die Zeit. Und Sie wissen, von welcher +Wichtigkeit die Versammlung ist, die heute abend zu den geplanten +Entlassungen Stellung nimmt. Nicht _ein_ Mann von unserer +Fakturenabteilung darf fehlen.“ + +„Kann ich denn?“ fragte Grahl und ein Lächeln, das beinahe schmerzlich +zu nennen war, zog seinen schmalen Mund in die Breite. „Ich bin so +entsetzlich im Rückstand mit meiner Arbeit. Sehen Sie, jenen Haufen +Fakturen habe ich geprüft – und dieser Haufen bleibt mir zu prüfen +übrig. Sie bemerken, daß dieser der größere von beiden ist. Ich soll bis +zum dritten Oktober die Arbeit beendet haben, Sie wissen, bis dahin +müssen die Rechnungen fertig zur Zahlung sein. Also vier Tage ... Aber +wie soll ich – wie kann ich – wie werde ich fertig – wenn eben kein +Wunder eintritt ...“ + +„Unmöglich, Herr Grahl,“ sagte Uri entschieden, „unmöglich, daß Sie, als +Mitglied der Angestelltenvertretung fehlen.“ + +„Ich kann aber ... ich kann aber nicht ... Sie sehen doch selber ... +Mein Gott, ich will ja nicht leugnen, daß ich den Kollegen durch das +Mandat, das ich habe, verpflichtet bin. Aber bin ich nicht noch fester +an meine Verpflichtung zur _Arbeit_ gebunden, die mir die Firma bezahlt? +Sehen Sie, ich gehe demnächst in die Sechzig. Und während meiner ganzen +Laufbahn an diesen Pulten, länger als sechsundzwanzig Jahre, hat noch +niemand Grund gefunden, zu sagen: Dieser Grahl ist nicht so verläßlich +als man es wünschte. – Soll mir das nun mit grauen Haaren zum ersten +Male passieren?“ Er machte eine Bewegung, um die Brille besser vor’s +Auge zu rücken, und schrieb. Nach einer kleinen Weile, indessen Uri ihm +stumm zugesehen hatte, sagte Grahl, als ob er alles, was er gesprochen, +noch einmal bei sich wiederholt hätte, gleichsam abschließend: „Na ja. +Das ist doch erklärlich –?“ + +Darauf sagte Uri – und er versuchte deutlich, seinen Worten Wichtigkeit +zu verleihen: „Erklärlich? Erklärlich wäre es mir, Herr Grahl, wenn Sie +eine halbe Stunde vor Beginn der Versammlung zur Stelle wären. _Das_ +wäre erklärlich.“ + +Grahl blickte ihn an. + +„Nicht ich allein meine,“ fuhr Uri fort, „daß Sie, lieber Kollege Grahl, +mehr noch als irgendein anderer, Vorteil finden, wenn heute Abend unsere +Resolution stark und einig herauskommt.“ + +„Ich?“ Grahl riß die Brille herunter und starrte den Sprecher +erschrocken an. „Ich? Meinen Sie ... ich?“ Und mit einemmal flog das +schmerzliche Lächeln um den Mund, es wollte sich unter dem grauen +hängenden Schnurrbart verstecken – aber Uri wußte bereits, daß Grahl ihn +verstanden hatte. + +„Ja,“ sagte er, mit ein wenig schauspielerischem Affekt, „Sie und kein +anderer.“ Und scheinbar, um seinen werdenden Sieg recht zu genießen, +fügte er hinzu: „Kommen Sie _nun_ mit?“ + +Er hätte das nicht zu fragen brauchen, denn er sah, daß Grahl in +nervöser Eile die Papiere zusammenschob, das Buch auf dem Boden gegen +die Pultseite lehnte und schnell seine Utensilien im Innern verschloß. +Er lief, vornübergebeugt, zur Garderobe, und als er in Hut und +Ueberrock, aber mit ungewaschenen Händen und ein wenig schnaufend, +zurückkam, rief er – es sollte Humor sein: „So ist der Mensch! Mich +hätte nichts vermocht, mein Pult zu verlassen, als dieser Gedanke an +meine eigene Existenz. Meinen Sie wirklich,“ fügte er leiser hinzu, +„meinen Sie wirklich, ich ... ich befände mich in Gefahr? Aber, mein +Gott, das ist doch unmöglich zu denken! Bin ich nicht siebenundzwanzig +Jahre im Dienst? – Wir müssen den anderen Ausgang nehmen, um diese Zeit +hat der Hauswart das große Portal schon geschlossen. – Und dazu bin ich +Obmann der Angestellten. Es ist doch unmöglich. Ich bin nicht zu +kündigen, wissen Sie? Dafür sorgt unser Ausschuß, nicht wahr – ich bin +doch im Ausschuß, ich bin doch immun!“ + +„Um so wichtiger ist,“ sagte Uri, „daß Sie Ihr Amt nicht versäumen. – Da +kommt eine Bahn!“ + +Sie befanden sich auf der Straße, im Regen. Das mächtige weite Haus, das +nichts weniger als das Kontor eines der größten Warenhäuser der Stadt +vorstellte, lag wie ein Schiff, in dem nur wenige Lichter brennen, mit +seiner Front in einer belebten Straße der Handelsstadt – aber die Beiden +waren durch die andere Ausgangstür in eine abseitige Straße gekommen. +Sie hätten nötig gehabt, die Trambahn zu nehmen, auch wenn der +Herbsthimmel freundlicher und das Pflaster weniger sprühend gewesen wäre +– denn von der Sankt-Petri-Kirche schlug es achtmal. Auf acht Uhr war +der Beginn der Versammlung in einem Vorstadtlokal, in der „Krone“ +bestimmt. Das Innere des Wagens war ziemlich leer, im Herzen der Stadt +schläft das Leben um diese Zeit. + +Grahl war vom Laufen noch außer Atem. + +„Es ist eine Schande,“ fing Uri an, „acht hat es geschlagen. Statt unser +Recht, unser Arbeitsstundengesetz zu schützen, brechen wir es aus freien +Stücken.“ + +„Was mich betrifft,“ antwortete Grahl, während hinter ihm an den +Scheiben der Regen lief, „ich gestehe, daß ich mich trotz meiner +Immunität nicht sicher fühle. Ich kann nicht umhin, die Unzufriedenheit +meiner Vorgesetzten recht gut zu begreifen.“ + +„Sie haben den schwierigsten Posten in unserer Abteilung,“ warf Uri ein. + +Grahl schwieg und blickte mit seinen nachdenklichen Augen auf die +Stiefelspitzen. „Heute morgen kam ich wieder um einige Minuten zu spät. +In der letzten Zeit passiert mir das oft, und unten am Eingang vermerkt +die Kontrolle sogar die Zahl der Minuten. Ich bin gewiß, daß unser +Bureauchef, Herr Karst, schon längst unserem Chef über mich einen +gewissen Bericht erstattet hat? – Meinen Sie auch?“ + +„Es wäre leicht zu denken,“ antwortete Uri, „Karst sucht förmlich +Vorkommnisse, an denen er seine Ergebenheit für Firma und Chef +demonstrieren kann. – Aber bitte, erklären Sie mir, Herr Grahl – warum +verhindern Sie nicht solche Unregelmäßigkeiten, da Sie doch wissen, wie +Ihr Ruf unter ihnen leidet?“ + +„Ja, ja,“ sagte Grahl. Er lächelte wieder. „Sehen Sie, da ist eine +Sache, die nimmt mich so sehr in Anspruch, daß ich so ziemlich den +ganzen Tag daran denke. Daher auch lahmt meine Arbeit ein wenig. Die +Konzentration ist nicht so billig zu haben, wenn solch ein Gedanke, der +sich nicht auflösen läßt, in einem steckt. Aber laß!“ unterbrach er sich +plötzlich mit einer abwehrenden Bewegung der Hand. Dann blickte er +wieder wortlos auf seine Stiefel. Uri, der nicht ohne weiteres auf die +erwünschte Erklärung verzichten wollte, stellte noch eine bezügliche +Frage. Grahl hörte ihn nicht, wie es schien. Gleich darauf rief der +Schaffner die Haltestation, an der sie den Wagen verlassen mußten. Sie +gingen mit eiligen Schritten zur „Krone“. + + + + + Zweites Kapitel. + + +Als Grahl und Uri im Klubzimmer der „Krone“ anlangten, war der Raum von +Biergeruch, Zigarettendunst und Durcheinandergewirr der Stimmen +durchwirbelt; aus einer Ecke, wo übrigens einige Jünglinge untereinander +tanzten, klang das Gehämmer auf einem Klavier. Sie haben noch nicht +begonnen? dachte Grahl und biß ärgerlich auf den hängenden Schnurrbart, +denn er hatte gehofft, die Formalitäten schon erledigt zu finden, um +sofort an der Resolution teilnehmen zu können. Er begab sich sofort an +den Sofaplatz vor der Mitte des Tisches und eröffnete seinerseits eilig, +mit gewohnten Worten, den Abend, verlas die Bekanntmachungen in einem +Zuge und brachte die Hauptfrage zur Besprechung, während der junge Mann +am Klavier mit gelangweiltem Ausdruck seinen Bock eine nachlässige +Drehung beschreiben ließ. + +„Bekannt ist worden, daß seitens der Personalabteilung der Firma ein +Plan in Vorschlag gebracht worden ist, das Personal zu verringern. +Da die Durchführung dieses Vorschlags nur auf Kosten des +Arbeitsstundengesetzes erfolgen kann, ersucht der Ausschuß um eine +Resolution des Personals, um im gegebenen Fall zum Handeln bereit zu +sein.“ + +Obgleich allen Anwesenden der Inhalt, wenn auch nicht der Wortlaut +dieser von Grahl verlesenen Eingabe schon vorher bekannt gewesen war, da +dieser Antrag das eigentliche Ereignis des Abends bildete, erhob sich +dennoch ein Lärm, ähnlich dem vorigen – der kaum mit Mühe verebbt war. +Ironische Rufe flogen durcheinander, jeder Bemerkung folgte mit doppelt +verstärkter Stimme die nächste, so daß eine Steigerung des +Durcheinanders am Ende schlechthin nicht zu denken war. Am lebhaftesten +gebärdete sich aber der junge Mann, der sich vom Klavierbock erhoben +hatte, mit überschwenglichen Gebärden die rechte Hand über dem Kopfe +schüttelnd. „Ich weiß,“ schrie er mit so maßloser Anstrengung, daß die +Adern an seinem hageren Halse, die der niedere Kragen ohnehin stark +hervortreten ließ, bedeutend schwollen, „ich weiß, wer der erste ist, +der hinausfliegt. Das bin ich!“ Er rief es mit einer Art +Siegesgewißheit. Sein Haar war blond wie Getreidestiele, seine Augen +kindlich und offen. Er war achtzehn Jahre und hieß „der Geiger“, weil er +abends mit Geigenspiel in Cafés sein Monatseinkommen erhöhte. Hier ist +der Platz, eine Begebenheit zu erzählen, die dem „Geiger“ an einem +Spätsommervormittag geschehen ist. + +Der „Geiger“, den sein Violinspiel in Kaffeehäusern nicht nur mit Geld, +sondern in gleichem Maße mit jungen Damen bekannt gemacht hatte, war am +Tage des betreffenden Tages von einem Brief in rosa Umschlag überrascht +und sozusagen tödlich verwundet worden. Als er das Kontor betrat, lag in +seinen sonst so lustigen Augen der ergreifendste Ausdruck von +Gleichgültigkeit gegen die Dinge des Lebens. Er setzte sich auf seinen +Bock, starrte mit einem schrägen Blick trübselig ins Leere, und zog +endlich das rosa Kuvert aus der Brusttasche seines Jacketts, um es dicht +vor die Nase zu bringen. Er atmete so wahrscheinlich das feine Parfüm +des Papiers ein ... er steckte sogar die Nase ins Innere des Umschlags, +und es war als sog er sich voll von Schmerz. Denn es stieg ihm blank +über die Augen. Auf diesen Augenblick hatte sein Schicksal gewartet. Der +Chef, ein furchtbarer Mann auch für solche, die sich in keiner Beziehung +schuldig fühlten – sein Blick traf alle Angestellten mit einer Schärfe, +mit welcher ein Stein durch das Fenster ins Innere einer friedlichen +Wohnung einschlägt – dieser Herr Winter, der mehrere Male am Tag durch +die Pultreihen streifte, plötzlich auftauchend und unvermittelt die +Stimme erhebend, ein jähes Geschrei in der Nacht – er befand sich nun +hinter dem „Geiger“, der nichts davon ahnte, und beobachtete seinen +Angestellten, der, seine Nase tief in den rosa Umschlag gesenkt, in der +schmerzlichsten Haltung dasaß. Zu einer Rettungsaktion seitens seiner +Kollegen war es zu spät – und übrigens platzten die anderen an ihren +Pulten vor innerlicher Erwartung, wie es begänne, wie es geschähe ... + +„Wie alt sind Sie?“ krachte es förmlich los. + +Der „Geiger“ fuhr herum. Er sah aus, als wollte er sagen: Ja, wenn du +auf Zehenspitzen heranschleichst, du Gauner, da kann ich dich wohl nicht +hören. Dann richtete er sein vorwurfsvolles Gesicht auf sein Gegenüber. +Warum habt ihr mich nicht gewarnt, ihr Filous ...! sollte das heißen. + +Da krachte es neben ihm noch einmal: „Ich frage, wie alt Sie sind.“ + +Der „Geiger“ konnte sich immer noch nicht zur Antwort entschließen. Er +empfand so natürlich! Na, na ...! hätte er leicht gesagt, halb erstaunt, +halb verächtlich – es fehlte nicht viel. Als er aber bemerkte, daß das +tiefrote Gesicht, in das er hineinsah, wahrhaftig bis in die Stirne +erbleichte, beeilte er sich. + +„Achtzehn Jahre, Herr Winter.“ + +„Achtzehn Jahre ... hmhm ...“ wiegte Winter den spitzen Kahlkopf. Er war +so klein; er blickte zu dem langaufgeschossenen „Geiger“ hinauf, der +sich nun sogar respektvoll erhob. + +„Haben Sie einen Vater?“ fragte Herr Winter, unheimlich tief, und so +laut, daß man die Stimme noch an den letzten Pulten am Ausgang vernahm. +Es war so still im Kontor – man hätte eine Bureaunadel fallen hören. + +„Einen Vater? – Jawohl,“ gab der „Geiger“ zur Antwort. + +„Und“, fragte der Chef, „er erzieht Sie nicht besser?“ + +Darauf wußte der junge „Geiger“ keine Antwort mehr. Er sah seinem Chef +zuerst in die seegrünen Augen, dann auf die Geiernase und endlich auf +die Brillantnadel in der Krawatte. + +„Zeigen Sie mir diesen Brief,“ sagte Winter. + +„Mit nichten,“ sagte der „Geiger“ entschlossen. „Dieser Brief ist an +mich.“ + +„Zeigen Sie ihn,“ sagte Winter lauter. + +„Wie kann ich!“ rief der „Geiger“ entrüstet, „ich kann nicht die Dame, +die mir dies schreibt, kompromittieren.“ + +Damit wußte Herr Winter immerhin etwas und es sah aus, als wollte er +gehen. Plötzlich schrie er: „Wieviel verdienen Sie aber im Monat?“ + +Der „Geiger“ nannte sein lächerliches Anfangsgehalt. + +„Und für mein Geld ...!“ schrie Herr Winter und schnappte. „Sie +bestehlen mich!“ + +Und er ging mit langsamen schallenden Schritten davon. Der „Geiger“, +dessen Gehirn an diesem Morgen mehr tragen mußte, als es imstande war, +murmelte noch: „Meinetwegen!“ und „Nun tue ich den ganzen Tag nichts +mehr – es komme, was mag,“ ging hinaus zur Garderobe und schloß sich in +seine gewohnte Kabine ein, um ein wenig zu rauchen. + +Daher war der „Geiger“ an diesem Abend so fest überzeugt davon, daß auf +der Liste der zu entlassenden Angestellten sein Name zu oberst stünde. + +Von den Ausschußmitgliedern, die sich um den großen Tisch +zusammengezogen hatten, war inzwischen eine Entschließung verfaßt +worden. Sie wurde nun den Versammelten vorgelegt. + +„Der Ausschuß versagt seine notwendige Zustimmung zur Entlassung eines +Angestellten in jedem Fall, wenn die Entlassung nicht anders als mit der +Absicht einer Personalverringerung begründet erscheint. Eine derartige +Absicht kann durch den Gang des Betriebes durchaus nicht gerechtfertigt +werden. Die Befugnis des Ausschusses zum Einschreiten gegen Entlassungen +wie die bezeichneten ergibt sich aus dem Paragraph drei im zweiten +Abschnitt des Arbeitsgesetzes.“ + +Als diese Resolution, trotz den Zwischenrufen des „Geigers“, der noch +eine Klausel verlangte, im übrigen einstimmig angenommen war, drehte +sich dieser auf seinem Klavierbock und behämmerte wieder die Tasten. Die +Anfangsstimmung drang durch. Einige Herren vom Ausschuß verabschiedeten +sich, die Ausschußmitglieder waren alle reiferen Alters. Mehrere +Angestellte wollten nicht bleiben, da sie unmöglich am vorletzten Tage +des Monats – es war der neunundzwanzigste September des Jahres +neunzehnhundertundvierundzwanzig – ein Vergnügen sich vorstellen +imstande waren. Es hatte kaum zu den beiden Gläsern hellen Bieres +gereicht ... + +Der mit höflichem, dennoch sehr hastigem Gruß, das Zimmer als erster +verließ, war Grahl. + + + + + Drittes Kapitel. + + +Als er nach Hause kam, fand er sein Essen in einer innerlich +gepolsterten Kiste, die er an einem Sonntag mit seinem Sohne Hermann +verfertigt hatte, warmgestellt. Hermann, der Arzt werden wollte, und +über den Tag in Instituten, Vorlesungen oder in Bibliotheken war, las in +der Zeitung, die er mit beiden Händen ausgebreitet vor dem Gesichte +hielt. + +„Hermann,“ sagte Grahl gedämpft, indem er mechanisch den Suppenlöffel +zum Munde hob, „sind sie schon schlafen gegangen?“ + +„Ja, beide,“ gab Hermann ebenso leise zurück. + +Diese „beiden, die bereits schlafen gegangen,“ waren Anna, die Frau +Jakob Grahls, und Gertrud, seine achtzehnjährige Tochter. Hermann war +nur fünfeinhalb Jahre älter als seine Schwester. Die Aehnlichkeit mit +dem Vater war deutlich erkennbar. Er hatte dieselben vernünftigen Augen, +in welchen nur dieser eine Ausdruck von sachlich beherrschter +Innerlichkeit lag. Seine Lippen dagegen, die meistenteils wie die seines +Vaters als ein schmales Bändchen gezogen waren, konnten sich manchmal, +wenn er lebhaft mit einem Gedanken beschäftigt schien, trotzig nach +außen werfen. + +„Weißt du vielleicht,“ fragte Grahl nach einer Weile, während der nur +das leise Schlürfen der Lippen vom Löffel zu hören gewesen, „weißt du, +Hermann, ob jemand im Laufe des Tages das Vorderzimmer besichtigt hat?“ + +„Nein,“ sagte Hermann, „es war niemand da.“ Sein Gesicht war auch beim +Sprechen von der Zeitung verdeckt. + +„So,“ sagte Grahl. „Hmhm. Merkwürdig ... Als ob das Unglück mit diesem +Mörk in das Zimmer gezogen wäre. Noch niemand war da, um es zu +besichtigen.“ + +Er hatte den Namen Mörk leise hervorgestoßen, als hinderten ihn +Verlegenheit oder Wut, mit offener Stimme zu sprechen. Hermann hatte die +Zeitung dichter zu sich herangezogen. + +„Vielleicht,“ sagte er ruhig, „sind den suchenden Einlogierern unsere +vier Treppen eine Bemühung, die sie nicht lieben.“ + +„Aber die jungen Studenten!“ entgegnete Grahl. „Ich hatte damit +gerechnet. Wir sind nicht so weit von der Akademie.“ + +„Ja, ja,“ sagte Hermann. + +„Was steht in der Zeitung?“ + +„Nichts Interessantes.“ + +„Aber du liest sehr interessiert.“ Beide schwiegen. Plötzlich begann +Grahl, noch leiser, aber ungleich lebhafter als zuvor: „Du mußt morgen +zur Zeitung gehen, den Redakteur des lokalen Teiles besuchen und ihm +eine Sache nahelegen. Du weißt wohl schon, hm, was ich meine?“ Das +Lächeln, das ihn immer vor der Preisgabe eines Gesichtes, das er zu +verbergen gewillt war, beschützte, zog seinen linken Mundwinkel +aufwärts. + +„Den Namen nicht nennen?“ sagte Hermann sachlich, fast ohne Ausdruck. + +„Das ist es, ja,“ sagte Grahl noch leiser. Er häufelte einen Rest von +Suppenkraut auf dem Teller. „Höchstwahrscheinlich wird ein Bericht über +die Verhandlung erscheinen. Bitte den Redakteur, er möge sich mit den +Anfangsbuchstaben begnügen. Statt des vollen Namens deiner Mutter setze +er „G.“, zum Schlimmsten „A. G.“. Aber auch nicht den vollen Namen von +... Mörk. Oder vielleicht nur: Die Angeklagte ... der Kläger. Ich denke, +der Zeitungsmann wird sich, auf deine besondere Bitte, ohne Weigern +solch einer Art von Bezeichnung bedienen. Meinst du nicht auch?“ + +„Kann sein.“ + +„Du willst es versuchen?“ + +„Natürlich. – Uebrigens – ich müßte zu sämtlichen Zeitungen gehen. Kann +Gertrud nicht einen Weg übernehmen?“ + +„Ich möchte, daß Gertrud nicht nur deine Mutter auf diesem entsetzlichen +Wege morgen begleitet, sondern auch über den ganzen Tag bei ihr bleibt.“ + +„Ich werde es besorgen.“ + +„Gehe zu den drei großen Blättern: Anzeiger, Nachrichten, Städtisches +Blatt. – Was für einen Eindruck hast du von deiner Mutter am Abend +gehabt? Glaubst du, sie wird überleben, wenn –“ + +„Ich habe sie nur flüchtig gesehen,“ unterbrach ihn Hermann. „Sie ging +schlafen, bald nachdem ich gekommen war. Und in der halben Stunde, daß +sie im Sofa saß, konnte ich, wenn ich über den Löffel blickte, ihr +Lächeln bemerken, dies unerklärliche Lächeln, das an dem Tage begann, +als das Gericht uns die Anklageschrift auf den Rücken schickte.“ + +„Und was hat sie mit dir geredet?“ + +„Kein Wort.“ + +„O dieser Mörk, dieser Mörk,“ stöhnte Grahl, „hätte er niemals das +Zimmer bewohnt.“ + +„Ist sonst noch etwas, Papa,“ fragte Hermann, der aufstand und alle +Beilagen nach ihren Nummern zusammenlegte. + +„Nein, nichts, mein Junge ... außer den Zeitungsberichten, weißt du.“ + +„Gute Nacht.“ + +„Gute Nacht, mein Junge.“ + +„Noch eins,“ sagte Hermann und wandte, schon an der Tür, den Kopf um ein +kleines rückwärts. „Ich werde morgen sehr früh aus dem Hause müssen. Ich +sage dir also schon heute für morgen Adieu.“ + +Grahl hörte noch seine festen Schritte, wie er über den Flur in das +Zimmer hinüberging, wo Gertrud lag und wahrscheinlich noch wachte. Dann +ging er selber behutsam ins Nebenzimmer. Dort, in dem Bette neben dem +seinen, bei einem Lämpchen, das neben der Uhr stand, mit +festverschlossenem Munde lag Anna, von ergrauendem Haar das glühende +Gesicht umrahmt, aber ohne Bewegung und unhörbar atmend. + + + + + Viertes Kapitel. + + +Am nächsten Morgen beim Kaffeetrinken saß Anna im Sofa. Grahl begann, +wie in den letzten Tagen gewohnt, eine Unterhaltung von nebensächlichen +Dingen, auf welche Anna mit kargen Worten, dazu mit ihrem beständigen +Lächeln einging. Grahl fühlte die Zeiger weiterrücken, er vergewisserte +sich, daß seine Zeit schon knapp überschritten war – aber er wollte +seine Frau nicht verlassen, ohne ein bestimmtes Wort gefunden zu haben. +Er suchte danach. Wie jeden Morgen empfand er es als Unmöglichkeit, Anna +in ihrem einsamen Unglück für sich zu lassen. An diesem, dem +entscheidenden Tage, erschien ihm das als Verrat, als der Bruch einer +Pflicht. Er saß und blickte vor sich in die Tasse – bis Anna aufstand +und schweigend die Stube verließ. + +Der Morgen war dunkel. Regen sprang auf den blanken Straßen, an den +Sielen schäumten die Strudel. Bei der Haltestelle, die in der Nähe der +Wohnung gelegen war, hielt Grahl im Laufen inne. Aber die Trambahnen +waren bei solchem Wetter kurz vor Beginn der Geschäftszeit so überladen, +daß sie die Stationen ohne zu halten durchfuhren. Und Grahl, unfähig auf +einem Ort zu verharren, begann zu laufen – aus Furcht vor versäumter +Zeit und aus dem Bedürfnis, das Denken in seinem Gehirn zu zerstreuen – +in einem Tempo, wie es ein eiliger Schuljunge anschlägt. Er hätte bei +tüchtigem Schritt weit länger als eine halbe Stunde für seinen Weg +gebraucht – nun lief er mit langen Beinen über die Straße, der Schmutz +des Pflasters spritzte an seinen Hosen hinauf, und die Füße, in +undichten Stiefeln, wurden vom Wasser gebadet. Er kämpfte um jede +Sekunde und erledigte seinen Lauf in siebenundzwanzig Minuten – aber es +war mithin doch dreizehn Minuten nach neun geworden. + +Als Grahl in die Nähe des Kontorhauses kam, zog er den Hut sehr tief ins +Gesicht und ging nahe an den Häusern. Er fürchtete nichts so sehr, als +seinem Chef, der selber erst eine Viertelstunde nach neun zu kommen +pflegte, hier zu begegnen. Er wußte bereits aus Erfahrung, daß Winters +Automobil von der anderen Seite auffuhr – daher hielt er das Auge +spähend vorwärts gerichtet, indem er mit kleinen Anläufen dem großen +Portal näher kam. Aber noch etwa zehn Schritt vom Eingang entfernt, +bemerkte er das blaue Automobil, wie es hielt ... und schon erschien die +zum Aussteigen etwas gebückte Gestalt seines Chefs. Grahl, überrascht +von diesem Ereignis, stand einen Augenblick still, wie an die Stelle +gezwungen. Er wollte zurück. Aber die Vorstellung: wie Winter an seinem +leeren Pulte vorbeischreitend, stutzen würde und fragen ... trieb ihn +auf’s Geratewohl vorwärts. Wäre er blind gewesen – genauer hätte er +nicht ins Verderben hineintappen können. Am Portal war er seinem Chef um +einige Schritte voraus, er stieß die Türe auf, aber nur einen schmalen +Spalt, durch welchen er selber allein hindurchschlüpfen konnte ... Daß +Winter, der nun vor der zugefallenen Tür stand, schon allein wegen der +Unhöflichkeit auf den vor ihm Gekommenen aufmerksam werden mußte, sagte +Grahl sich nicht. Er kämpfte nur, wie ein Sterbender, um den Augenblick, +und wollte nichts weiter denken. Er jagte mit eingezogenem Kopf, an der +Kontrolle vorbei, die Treppen hinauf. Indessen fuhr Winter, vom Hauswart +höflich bedient, in einem nur für Chefs und höhere Angestellte +bestimmten Aufzug die Höhe dreier Etagen aufwärts. Als er durch die +Pultreihen kam, langsamen Schritts, um alle Plätze eingehend zu mustern, +war Grahl, noch im Straßenjackett, statt wie gewohnt in der schwarzen +Lüsterjacke, mit einer Rechnung beschäftigt. Grahls Stirne war +dunkelrot. Winter blieb neben ihm stehen ... so lange, bis Grahl seine +Augen hob. + +„Und Sie schämen sich nicht?“ schrie Winter so laut, daß alle Köpfe im +Nacken zuckten. Grahl starrte ihn an. Winter ging um den Bock herum, +blickte unter das Pult, zog mit den Händen Mantel und Hut hervor, die +Grahl dort in Eile verborgen hatte, schleuderte sie zur Erde und schrie +noch einmal: „Sie schämen sich nicht?“ + +Grahl, der bis in den Vorderkopf, wo seine dünnen Haare klebten, +erbleicht war, machte eine Bewegung mit Daumen und Zeigefinger zum +Brillenglas – aber diese Bewegung war so, als griff er sich an das Herz. +Winter betrachtete ihn mit seegrünen, zynisch lachenden Augen. – + +Warum demütigt er mich dermaßen? dachte Grahl, wofern es Denken zu +nennen war, was in ihm vorging. Endlich, endlich ging Winter weiter. Er +ging langsam wie stets. Einem Lehrling befahl er, den Personalchef Herrn +Karst zu rufen, der am anderen Ende des Ganges in einem mit Glaswänden +geschlossenen Raum die Abteilung ganz überblicken konnte. Wenige +Augenblicke später schon sah man Karst, eine große, breitschulterige +Erscheinung, den Gang zum Privatkontor durchschreiten. Sein Gesicht, in +dem nach Muster der alten Militärs ein Schnurrbart stand, war voll und +breit, von gesunder Farbe, wie das eines Landmanns. Der Ausdruck der +Augen, wenngleich nicht Klugheit, so doch ein Geschick zur Diplomatie +verratend, dazu der wiegend elastische Gang – dies alles in einem +verriet die Brutalität eines Mannes, der sich vom Pult des +Kontokorrentbuchhalters bis in den „Glaskasten“ hinaufgearbeitet, und +nun nicht vergessen hatte, wie schwer der Aufstieg gewesen wäre, und wie +leicht nun der Vorteil an Macht zu ziehen ... Jetzt betrat Karst mit +einer Verbeugung und klingendem „Guten Morgen, Herr Winter,“ den Raum +seines Prinzipals, um gleich darauf die Tür zu schließen. + +In der folgenden Stunde versuchte Grahl, sich zur Arbeit zu sammeln. +Aber er raschelte nur unter Fakturen, blätterte in dem Journal hin und +her. Seine Hände zitterten, hinter der Stirn führten zwei Stimmen +Fiebergespräche. Als der Personalchef nach mehr als dreiviertel Stunden +zurück durch den Gang gekommen war, um in seinem Glasraum die Morgenpost +zu sichten, bemühte sich Grahl, den Augenblick zu bemerken, wenn Karst, +mit dem Lesen des letzten Briefes zu Ende, für eine kurze Pause, die +zwischen dieser und seiner nächsten Beschäftigung eintreten mußte, müßig +am Schreibtisch saß. Als dieser Zeitpunkt gekommen war, ging Grahl in +den „Glaskasten“, verbeugte sich, wünschte Guten Morgen, und bat mit +leiser Stimme um Urlaub für einige Stunden, von halb zwölf gerechnet bis +etwa um zwei. Karst, der nie den Ausdruck der Mienen veränderte, fragte +nach einer Begründung. Grahl gab einen nicht aufzusparenden Weg, eine +Altersversorgung betreffend, vor. Karst konnte ein leises Lächeln nicht +unterdrücken als er nach einer Pause erwiderte, Grahl möge diese +Besorgung seiner Interessen noch um einige Zeit verschieben, später sei +ihm der Urlaub gerne gestattet. Bei dieser Antwort erbleichte Grahl. +Zusammen mit dem verschwiegenen Lächeln drückten die Worte aus, was +seinen Herzschlag stocken machte. Er betonte noch einmal die +Dringlichkeit seines Weges – aber nun eigentlich nur noch zur +Entschuldigung seiner Bitte. Er war ganz verwirrt. Dazu fragte Karst, in +dessen Augen nun keine Spur mehr von Lächeln lag, nach dem Stande der +Arbeit. Und Grahl konnte nicht anders, als die Wahrheit gestehen. Karst +nickte – er hätte nicht grausamer antworten können – als ob ihm dies und +nichts anderes erwartet käme. Doch, ergänzte Grahl, hoffte er durch +vermehrte Stunden der Tagesarbeit mit der Prüfung seiner Fakturen noch +bis zum rechten Termine fertig zu werden. Das hoffe er auch, sagte +Karst, indem er nun auch den Ton zu dem vorigen Lächeln fand. Damit +wandte er sich einer Liste zu, die inzwischen von einem Lehrling +gebracht worden war. + +Grahl befand sich wieder allein vor dem Pulte. Arbeiten war ihm +unmöglich. Seine Gedanken waren bei Anna und Gertrud. Sie standen nun +vor dem Richter, er aber, der zwar mit seiner Zeugenaussage auf keinem +Fall dem Geschick eine Wendung zu geben vermochte, fehlte in dieser +Stunde. In einer Stunde, wo Anna, die glühende Angst der Erwartung, und +im furchtbarsten Fall der Entscheidung, ein Gewicht auf dem Herzen +erdulden mußte, für das die bürgerliche Gesellschaft in ihrer kompakten +Masse die Wage bestimmt hat. Grahl wütete gegen sich selber. Er durfte +sich nicht den Weg von der Arbeitsstätte zu Anna um den Preis der +preiszugebenden Wahrheit erzwingen – aber die erfundene Begründung für +seinen erwünschten Urlaub war schwach, lächerlich schwach gewesen. +Dennoch hatte er plötzlich den Einfall, mit dieser selben Begründung +direkt bei dem Chef den Antrag zu wiederholen. Er ist ein Mensch, sagte +er vor sich hin, indem er mit seinen Händen die grauen Strähnen strich, +die seinen Vorderkopf leicht überdeckten. Er ging in die Garderobe, um +die Hände zu waschen. Als er eintrat, verstummte sofort das Gespräch der +dort versammelten jungen Leute. Es blieb still, bis er den Raum verließ. +Sein Gemüt war bedrückt. Er stand an der Tür zum Privatkontor seines +Chefs. Er klopfte, trat ein und wartete auf eine einladende Geste, ehe +er begann. Aber Winter, nachdem er sich unterrichtet hatte wer an der +Tür stand, senkte die Augen hinter dem mit gelben Hornreifen umrandeten +Kneifer auf die Lektüre, die vor ihm lag. + +„Ich möchte Sie bitten ...“ begann Jakob Grahl. + +„Sie wenden sich wohl an Ihren Bureauchef!“ + +Und Grahl wendete sich mit gebogenen Knien und ging. + +Sein nächster Gedanke war, ohne Erlaubnis das Haus zu verlassen. Dieser +Vorsatz war schon so stark befestigt, daß Grahl bis an die Garderobe +kam. Aber dort, vor der Türe, den eckigen Schlüssel bereits in der Hand, +schlug ihm die Ueberzeugung, daß dieser Entschluß die wohlbegründete +Lösung des Arbeitsverhältnisses seitens der Firma zur Folge haben mußte, +mit solcher Heftigkeit vor die Stirn, daß er aus seinem in sich selber +versunkenen Denken wie durch den Anblick einer drohenden Tiefe +erschreckt, zu der Wirklichkeit seiner Lage erwachte. Er sah sich schon +jetzt dem Willen sämtlicher Vorgesetzten, der Gleichgültigkeit oder +Spottlust und Klatschsucht seiner Kollegen preisgegeben. Er wußte nichts +Besseres zu tun, als in Unterordnung die Pflicht zu erfüllen und in +Demut zu hoffen, daß alle Anzeichen, die seine Entlassung +vorauszuverkünden schienen – das Lächeln Herrn Karsts, das verstummte +Gespräch der Kollegen, die Ereignisse dieses Morgens, die verachtende +Haltung des Chefs – dennoch nichts mehr als Täuschungen wären, die den +schreckhaften Vater, der seine Familie zu jeder Minute bewußt als den +Antrieb im Innern spürte, zu leicht übermannten. Die Hoffnung und bange +Erwartung vermochten sogar, ihm für einige Zeit vergessen zu machen, was +Anna in dieser Stunde erleben mußte. + +Man muß bedenken, daß der Gedanke, als Mann mit ergrautem Haar aus dem +Dienste entlassen zu werden, schon am dreißigsten September, das will +heißen: am Termin der Kündigung auf den ersten November desselben +Jahres, die Perspektive auf Schrecknisse einer Zeit eröffnen konnte, wie +der vor einigen Jahren beendete Krieg sie an einem gewissen Wendepunkt +mit grausamen Händen gezeichnet; wie sie eben erst – aber dies +trifft nicht einmal auf alle Familien zu – von den ungleich +menschenfreundlichen Händen des Friedens verwischt worden war. Die +Wirkung – die seelische wie die körperliche – der Kohlrübenjahre war +damals und ist noch in unseren Tagen so mächtig, daß die Furcht vor der +Situation des Stellungslosen in einer Zeit, da Massenentlassungen Mode +wurden, keiner besonderen Begründung bedarf. Grahl – noch vor wenigen +Stunden von einer ganz anderen Sorge gepeinigt – kannte jetzt nur noch +_eine_ Bitte an die schicksalsfügende Macht, an welche er glaubte, ohne +sich dessen bewußt zu sein: Daß bis um die sechste Stunde der drohende +Schlag der Entlassung ihn nicht treffen möge. Denn um jene Zeit +verließen der Chef und die Mehrzahl der Angestellten das Haus. Hatte +sich bis dahin die Gefahr nicht entladen, so war sie über ihm +weitergezogen. + +Aber noch war diese sechste Stunde nicht da. Nach drei rief ihn die +Telephonistin in eine Zelle. „Anna,“ sagte er, und mit lautschlagendem +Herzen nahm er den Hörer. Es war die Bitte um Aufschub eines +zahlungssäumigen Kunden, dessen Konto Grahl in den Büchern führte. + +Von nun an erschrak er jedesmal, wenn die Klingel des Telephons zu +schrillen begann. Der Termin des Prozesses war um zwölf Uhr gewesen, +aller Berechnung nach war nun das Urteil schon lange gesprochen. Sie +wußten es, Gertrud wußte es, Hermann wahrscheinlich auch ... Und Anna +... Er aber saß hier und rang seine Finger, von Kümmernissen zu beiden +Seiten des Herzens benagt. Mußten sie nicht schon längst eine Nachricht +durchs Telephon für ihn haben? Und wäre es nur aus Besorgnis um ihn, +warum er, seinem Versprechen entgegen, nicht im Gerichtsgebäude +erschienen war ... Daß dieser erwartete Anruf nicht kam, erfüllte ihn +mit brennender Angst, die in plötzlichen Wogen bis in die Augen stieg. + +Die Zeiger waren bis fünf geschlichen, aus dem Privatkontor vernahm man +die langhinsummenden Töne der Uhr. Grahl tat einen Atemzug der +Erleichterung, aber indem seine Brust sich senken wollte, fiel auf das +Buch, das mit offenen Seiten auf seinem Pult lag – ein Brief! Sein Kopf +fuhr herum. Er sah den sechzehnjährigen Lehrling Menzel, der sich eben +auf seinem Absatz drehte – übrigens nicht mit der Absicht, das mokante +Lächeln auf seinem Gesicht zu verheimlichen. Grahl berührte den Brief +noch nicht. Kein Brief mit der Post, keine Marke, kein Stempel. „Herrn +Jakob Grahl, im Hause,“ stand auf dem Kuvert. Er faßte es an – er +brauchte es nicht zu öffnen. Er schob es in seine Hosentasche. Sein +Gesicht war aschgrau. Er fühlte den Halt seines Körpers verlorengehen, +gleichsam ein notwendiges Gewicht aus dem Kopfe fallen. Es blieb eine +Leere. Er stützte die hohe zerbrechliche Stirn zwischen Daumen und +Zeigefinger der Linken, während die Rechte noch in der Tasche am +Umschlag tastete. Ein zitternder Seufzer ging unbewußt aus seinem +bebenden Munde hervor. In diesem Augenblick durchschritt Winter mit +seinen schallenden Schritten die Reihe der Pulte, er trug den schwarzen +Hut tief auf die Geiernase gerückt. Ein gelber Rock hing von seinem +gekrümmten Rücken herunter, er trug ein paar brauner Lederhandschuhe mit +einem schweren Handstock mit silberner Krücke in Händen. Vor dem Hause +erwartete ihn sein Automobil. + + + + + Fünftes Kapitel. + + +Außer dem Kontenführer Grahl war noch dem „Geiger“ gekündigt worden, der +erst kürzlich über den Lehrlingsgrad hinaus, in die Stellung eines +Kommis geklettert war. Während aber der Kündigung Grahls ein Bemerken, +das auf Ueberzähligkeit hinwies, als Begründung zugefügt war, entbehrte +das Schreiben, welches der „Geiger“ erhalten hatte, einer entsprechenden +Angabe ganz und gar. Der „Geiger“ empörte sich auch durchaus nicht +dagegen. Er hatte in einem seiner Cafés, wo er abends spielte, ein +Mädchen kennen gelernt, mit welchem er ohnehin schon einige Male über +den Tag spazieren gegangen war, obgleich diese Tage weder als Fest- noch +als Sonntage auf dem bürgerlichen Kalender standen. Das Geigenspiel +konnte ihn über dem Abgrund vollkommenen Geldmangels halten. Dazu hatte +der „Geiger“ einen Vater, der ebenso jovial war wie er. Der Vater hatte +die Mittel, sich jedes Vergnügen zu leisten. Aus Gewissenszwang wollte +er, was er sich selber gönnte, seinem Sohn nicht versagen. + +Seide Freunde neckten den „Geiger“ mit einem unter den Angestellten +beliebten Spruch. Einer rief: + + „Du wirst Kommis –“ + +worauf der Chorus einfiel: + + „Aber nich bi mi!“ + +Wenn sie in der Garderobe in der Nähe des Fensters standen und „durch +die Nase rauchen“ probierten, neckten sie ihn. Er pfiff den Rauch weg +und sagte: „Egal!“ + +Die innere Verfassung des anderen Gekündigten war anders. Der +anfängliche Sturz der Empfindungen hatte die Denkkraft gelähmt. Und als +er am Abend niemanden in der gleichwohl erleuchteten Wohnstube fand, +aber Anna mit ihrem selbstvernichtenden Lächeln im Bett – nun nicht mehr +glühend von innerlicher Erregung und Präparation für die Stunde am +Richtertisch, sondern weiß bis in die schweigenden Lippen – da sah der +Alte nur noch die Kurve des Untergangs, er fühlte die Hand eines +Schicksals, der zu entrinnen vergeblich wäre. Diese Familie war ihr +verfallen. Ich weiß nicht warum, sagte Grahl, ich weiß nur: es ist so. +Er konnte sich keine Rettung mehr denken. Er wünschte einen +beschleunigten Schluß. Er hoffte wirklich im Schlaf dies Ende zu finden. +Indem er, beinahe stumpf von Leiden, in sein Bett, neben der verbissenen +schweigenden Anna, hineinstieg, wanderten seine Gedanken zu Hermann und +Gertrud, die nur die Hälfte des Schicksals kannten – nur das Teil, das +ihre _Mutter_ betroffen hatte. Ich wünsche euch eine andere Seele, als +ich sie besitze, sagte er wie zum Nachtgebet. Mehr Kraft, mehr Härte des +Herzens, Kinder ... + +Er fand keinen Anfang für eine Frage, welche die Bestätigung dessen +verlangte, was er schon wußte. Er fühlte, daß mit gebrochenem Schweigen +der Schmerz, der dieser Frau wie ein eisiger Block die Tränen +versperrte, sich lösen mußte. Von den Gedanken aufs neue bewegt, +verbreitete sich innerlich eine Erleuchtung – als ob hier Schuld und +Verfehlung keinerlei Rolle spielten. Und all das wäre das Schicksal, wie +ein Jeder das Seine gesondert empfängt. Die Erkenntnis, daß seine vom +Leben gefurchte Seele es war, die ihn die Niederlage des heutigen Tages +und endlich den Untergang leiden ließ – dies Gefühl erfüllte ihn, ohne +daß er nach einer Begründung fragte, gleichwie ein Glück. Er war stolz, +sein Schicksal, je schwerer, je lieber, zu tragen. Da sagte er: „Anna!“ +Der Glauben, der in ihm zu herrschen begann, machte ihn mächtig, die +Wirklichkeit in dem heiteren Lichte der Unschuld zu sehen und er meinte +diese Gabe des Sehens teilen zu können, mit wem er es wünschte. + +Anna aber sagte nicht mehr als _ein_ Wort, in dem sich eine Lippe +rührte, sonst nichts: „Gefängnis.“ + +„Habe darum keinen Gram. Ueberwinde das mit dem Stolz deines Herzens, +wie ich.“ Er blickte sie an. + +Sie hob die blasse Hand von der Decke und drehte den Docht der kleinen +Lampe so tief, daß sie verlöschte. Er nahm ihre Hand, sie entzog sie ihm +nicht. Aber sie weinte auch nicht und sie sprach kein Wort. Auch er +wußte nichts mehr zu sagen. Die Helligkeit in ihm war plötzlich +erloschen. Er ließ ihre Hand los und bohrte den Kopf in die Kissen. + + * * * * * + +Gertruds Stimme weckte den Vater am folgenden Morgen. Er lag einige +Minuten mit offenen Augen, ohne daß eine Erinnerung an die Dinge von +gestern kam. Das Bett neben ihm war leer. Er hob sich erschreckt auf den +Ellenbogen – in einer Sekunde standen die Tatsachen um ihn herum. +Verwundert, wie das Gedächtnis an den verhängnisvollsten Tag seines +Lebens, um soviel später in ihm erwachen konnte, als er selbst – und +grübelnd, ob nicht die Fähigkeit, zu vergessen, was zu vergessen von +Nutzen sei, ein zu erkämpfendes Können des Innern wäre ... so stand er +auf, sah in den grauen, rieselnden Morgen, durch leckenden Regen, und +kleidete sich langsam an. Eine Schwermut, körperlich, schien ihn zu +lähmen. + +Mit seinem Sohne ging er ein Stück des Weges. Er hatte sich von dem +Anblick der leidenden Frau mit Gewalt getrennt. Hermann unterrichtete +ihn mit leiser, von sachlichem Ausdruck beherrschter Stimme, von den +Ereignissen des vergangenen Tages. Frau Anna Grahl war zu einer +Gefängnisstrafe von dreiundeinhalb Monaten verurteilt worden. Sie war +nicht einmal dazu gekommen, die wohlvorbereitete Verteidigung, alle die +in schlaflosen Nächten eingeschärften und oft wiederholten Wendungen, am +Richtertisch vorzutragen. Der Vorsitzende hatte ihr inneres Bekenntnis, +zu dem sie nicht aufgefordert war, mit einem herrischen Ausbruch der +Ueberlegenheit, die sich offenbar mit besonderer Anerkennung respektiert +sehen wollte, unterdrückt, und die Angeklagte in die einzige Haltung +gedrängt, die ihr in ihren eigenen Augen nun noch gemäß war: in stolzen, +schweigenden Trotz. So hat sie also den Kampf aufgegeben, und ließ es +gehen, ohne hinzuhören – schloß Hermann mit einem flüchtigen +Seitenblick. „Ich biege hier ab. Guten Morgen, Vater.“ + +Grahl hatte die Kündigung sorglich verschwiegen. Sein Wunsch war, die +bedrückten Herzen der Seinen durch die Form, die er selber hielt, zu +erleichtern. Nichtsdestoweniger waren in ihm der leidensbereite Wille, +die stolze Demut unter das Schicksal, die am vorigen Abend in +eigenartiger Kraft aus der Schwäche erstanden waren – verstummt und +vergessen. Aber das gleiche Gefühl für die Pflicht, das ihn am +Kontorpult beherrschte, war in der Sorge um seine Familie wieder +erwacht; es lenkte seine Entschlüsse in völliger Unbekümmertheit um die +geschehenen Verstöße, mit welchen ein Vorgesetzter die Führung des +Angestellten belasten konnte. + +Er berief auf den selbigen Abend die Ausschußversammlung ein. Die +Ausschußmitglieder bestanden aus sechs Vertretern des Personals, von +denen Grahl der älteste war. Sie trafen am Abend in einer Restauration, +die „Himmelspforte“ genannt, zusammen. Grahl forderte auf, seiner +Entlassung den Ausschußwillen entgegenzusetzen, da er, als Mitglied des +Ausschusses, in einem Verhältnis zur Firma stände, das bei erloschenem +Mandat erst zu lösen wäre, nicht früher. + +Aber zu seinem Erstaunen waren die übrigen Ausschußmitglieder durchaus +nicht einig in ihrer Meinung. Es ergab sich, daß drei unter ihnen in +ihrem Gewissen Bedenken empfanden, das Interesse ihres Kollegen zu +schützen, ohne den Standpunkt der Firma in Rücksicht zu ziehen. Diesen +Standpunkt, hieß es, kenne man wohl, obgleich er – wohl aus einer +gewissen Milde – in dem Entlassungsschreiben verschwiegen war. Der +eigentliche Grund zur Entlassung Grahls – darin waren diese drei Herren +sicher – wäre natürlich der Mangel an Arbeitskraft und Zuverlässigkeit, +der in den letzten Wochen vermocht hatte, den guten Kredit seiner +siebenundzwanzig Arbeitsjahre zu annullieren. Wie sollten sich also +diese gewissenhaften Ausschußmitglieder für Grahl entscheiden? + +Widerrede wurde dagegen laut. Grahl selber erklärte, daß _die_ +Begründung, die das Kündigungsschreiben enthielt, maßgebend wäre – nicht +eine verschwiegene. Wer nähme wohl an, die Firma wäre in ihrer Erklärung +von zarter Rücksicht geleitet? Im übrigen hielt der Einwand, die +mangelnden Qualitäten betreffend, nicht Stich. Wenn im Verlauf von mehr +als einem Vierteljahrhundert ein Mann mit niemals lahmendem Willen die +Kraft seines Denkens und Tuns in den Dienst einer Firma gestellt habe, +so sei er nicht davonzujagen gleich einem ungebärdigen Hunde, wenn ihn +in einem gefährlichen Augenblicke seines Familienlebens die Kraft für +eine Spanne verlasse. Er setzte sich wieder und stützte den Kopf in die +zitternde Hand. + +Man fragte ihn, ob er nicht dies persönliche Schicksal als Begründung +seiner offenbaren Veränderung vortragen wollte. Er schüttelte mit dem +Kopf, ohne die Hand von den Augen zu lösen. + +Den drei Vorsichtigen wurde noch andershin widersprochen. Wiewohl es +auch möglich sei – führte ein Obmann aus –, daß die Entlassung des +Kollegen Grahl aus den vorhin genannten Gründen erfolgt sei, so bestehe +die Tatsache dennoch fort, daß Entlassungen zu Zwecken von Ersparnis +einiger Angestelltensaläre ohnehin in Aussicht genommen waren. Mehrere +Posten mit geringerer Arbeitsbelastung sollten, je zwei, vereinigt an +einen der beiden Postenverwalter übertragen werden, um den zweiten zur +Uebernahme anderer Tätigkeit freizumachen. Hätte das Schicksal also +nicht Grahl getroffen, so wäre ihm gleichwohl ein anderer zum Opfer +gefallen. Derjenige nämlich, der nach der Geschäftsleitung Ansicht am +wenigsten Nutzen der Firma bringe. – Das sehe man ein, nicht wahr? Man +müsse also _dagegen_ sein, im Prinzip. Stände im Falle des „Geigers“ die +unanfechtbare Begründung mit seiner Faulheit nicht fest zu erwarten, so +wäre auch dieser Kündigung die notwendige Beistimmung des Ausschusses zu +versagen. Es handle sich um Entscheidungen, die für Jeden einmal +Bedeutung erlangen könnten. Ueber allem aber dies: Zu was bestände denn +das Gesetz, das die Entlassung des Obmanns verbietet? Wer könnte bürgen, +daß nicht eben sein Amt im Ausschuß es war, das ihn zum Fallen gereift +hätte? Und wer von den Ausschußmitgliedern dächte hierbei nicht an sich +selber? Er verlangte die Unterschriften. + +Die drei Widerstrebenden dachten wahrscheinlich sehr intensiv an sich +selber. Sie hielten die Macht ihres Mandats für gering im Verhältnis zur +Macht eines Leiters der Personalabteilung, gegen dessen Beschlüsse man +wohl am besten nicht knurrt. Ein Mandat hat auch einmal ein Ende, +dachten sie wohl ... Und sie konnten sich nicht für ihren Kollegen +entscheiden. Sie meinten, etwaige Mängel der Führung seien durchaus +nicht durch ein im übrigen unantastbares Amt als gedeckt zu +betrachten. Darauf berief sich Grahl erneut auf die Begründung des +Kündigungsschreibens, in welchem mit keinem Worte irgendeines Mangels +gedacht war. Es gelang ihm nicht, sie auf seine Seite zu ziehen. Und +obgleich dem gegebenen Rechte nach kein Ausschußmitglied seine +Unterschrift unter das Einspruchsschreiben, das inzwischen gefertigt +war, hätte verweigern können, so zeigte es sich dennoch, daß die drei +Nichtgewillten bis zum Ende in ihrer Opposition verharrten. Ihre Furcht +vor dem Eindruck, den ihre Unterschrift unter ein dem Willen der +Geschäftsleitung entgegengesetztes Schriftstück hervorrufen mußte, war +begreiflich groß. Nach langem Widerstande bemerkte Grahl, daß sein +beharrliches Dringen aufs Recht ihm dennoch keinen Vorteil brachte, und +er ergab sich darein, seinen Fall als den Fall eines einfachen +Angestellten zu führen. Noch bei einem Stimmenverhältnis von drei zu +drei war _für_ den Angestellten entschieden. Das Schriftstück, in +welchem der Ausschuß die Einwilligung zur Entlassung des Buchhalters +Grahl versagte, trug die folgenden Unterschriften: Baaß, Ehrlich, Grahl. + +Grahl ging in bedrückter Stimmung nach Hause. Die Unzulänglichkeit +dieser an sich so verläßlichen Institution hatte ihn überrascht und +erschüttert. Er war für den Tag, für den Monat und für den +nächstfolgenden auch, gerettet. Aber gewöhnt, bei der Bilanz seiner +Lebenshaltung nicht nur die Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und +Zukunft in Betrachtung zu ziehen, bangte ihm vor den kommenden Zeiten, +die ihn zwingen würden, die Hilfe der Ausschußmitglieder erneut +anzurufen. Wenn sie ihm dann sein Recht versagten? Gewiß, er würde es +von höherer Stelle erhalten. Das Recht schützt der Staat ... + +Als er nach Hause kam, fand er wieder die Stube erleuchtet und leer. Er +ging schweigend durch alle Zimmer; Hermann und Gertrud fand er in ihrer +gemeinsamen Stube lesend. Als er ihre hochgezogenen roten Stirnen +wahrnahm, unterdrückte er seine Frage. + +Frau Anna Grahl war bereits ins Gefängnis gegangen. + + + + + Sechstes Kapitel. + + +Am zweiten Oktober wurde das Schriftstück, das der Ausschuß am +vorhergehenden Abend beraten hatte, dem Personalchef Herrn Karst +übergeben. Dies geschah gegen Mittag. Nachmittags ging Herr Karst in das +Kontor des Chefs, und die Türe wurde nachdrücklich geschlossen. Aber bis +zum Abend geschah durchaus nichts. + +Grahl blieb an diesem Tage bis fast in die Nacht am Pulte, um die +Fakturenkontrolle, wie erforderlich, am nächsten Tage beenden zu können. +Mitunter gelang es ihm, wohl eine Viertelstunde lang ruhig und +aufmerksam die Salden der Konteninhaber zu prüfen, – dann plötzlich fuhr +er sich mit der Hand über Stirn und Augen, blickte um sich, um zu +bemerken, daß selbst Herr Uri schon fortgegangen war, und daß außer dem +hellgrünen Licht, das auf sein Pult von der Lampe über ihm strahlte, das +ganze Kontor im Dunkel lag. Dann konnte er zehn Minuten lang mit +verdeckten Augen sitzen und denken. Er dachte an Anna. Die Notwendigkeit +trieb ihn wieder zur Arbeit. Wenn er die Menge des noch zu bewältigenden +Materials vor sich sah, fühlte er, wie sein Herz sich krampfte, ein +Schwindel begann seinen Kopf zu verwirren. Mit einem stöhnenden Laut, +gewaltsam, setzte er seine Rechnungen fort. + +Grahl hatte einen der lastendsten Posten, er führte die Konten der +Firmen, deren Titel mit M, N oder R begannen. Auf diesen Platz, das +„Konto MR“, war er, als ein zuverlässiger Buchführer, im Laufe der Jahre +– noch unter dem Vater des jetzigen Chefs und unter wechselnden +Personalvorgesetzten – gelangt. Aehnlich umfangreichen Arbeitsstoff +hatte höchstens der Kontenführer des „Konto ST“ zu bewältigen. Für diese +Erscheinung eine Erklärung zu finden, ist leicht, wenn man die Statistik +der vorkommenden Namen in unserem Lande betrachtet; eine solche +Statistik bietet zum Beispiel das Adreßbuch der Stadt. + +Am nächsten Tage mußte Grahl statt fertiger Arbeit die Erklärung +abgeben, daß er in einigen Tagen bestimmt alle von ihm geführten Konten +zum Abschluß gebracht haben würde. Nicht lange nachdem diese Mitteilung +seinerseits geschehen war, befahl ihm der Personalchef Karst, sich +unverzüglich in eine andere Abteilung, das Revisionsbureau, zu begeben. +Der Dienst dieses Ressorts bestand darin, die Arbeit der Kontenführer zu +prüfen, ihre Fehler zu finden und richtigzustellen. Zwar erforderte +diese kontrollierende Tätigkeit Ausdauer und ein gewisses Talent, das +mit dem Spürsinn zu tun hat – aber dennoch wurden die Posten dort meist +mit jungen Angestellten und Kontoristinnen besetzt, deren Monatsgehälter +einem der niedersten Sätze des Angestelltentarifs entsprachen. Kaum +hatte Grahl seinen Dienst in dieser Abteilung begonnen, als der Lehrling +Menzel den Raum betrat, um ein verschlossenes Kuvert auf seinen Platz zu +legen. Grahl öffnete und fand nun in deutlichen Worten die Begründung zu +seiner Entlassung ausgesprochen – dies war die Antwort auf die gestern +erfolgte Eingabe des Ausschusses. Als Grahl jenes Wort, das, alles in +einem, den Grund zur Entlassung aussprach, las – suchte er tastend nach +einem Halt. Im übrigen wurde ihm dringend geraten, freiwillig aus diesem +unerquicklichen Dienstverhältnis auszuscheiden, das, je weiter er es in +die Länge zu dehnen versuche, desto mehr an Schaden ihm bringen würde. +Das Wort, die Begründung, hieß: Unfähigkeit. + +Wäre Grahl seiner ersten Regung gefolgt, hätte er sich um eine +Unterredung mit Karst oder gar mit Winter bemüht. Aber gewarnt durch den +letzten Bescheid, den er von Winter hatte entgegennehmen müssen, hielt +er sich fest vor dem Pult, und es gelang ihm notdürftig, sich zu seiner +neuen Arbeit zu sammeln. Als die Kontorzeit vorüber war, begab er sich +eilig zur Post, um dort einen Brief, einen schmerzerfüllten Protest, +aufzusetzen. Später strich er die innerlichst gefühlten Worte heraus und +als er das Schreiben in sauberer Abschrift an einem der Schalter gegen +Quittung aufgab, da war es ein sachlich gestraffter Widerspruch. „Man +hätte mir eine Frist zur Verfügung stellen sollen,“ schrieb Grahl, „zum +Beweisen, daß das Nachlassen meiner Arbeitskraft nur auf äußere +Einflüsse ohne Dauer zurückzuführen war. Man hätte mit mir verhandeln +sollen“ (das Wort „menschlich handeln“ hatte zuvor an dieser Stelle +gestanden), „statt dessen hat man mich schweigend beobachtet und in +Unkenntnis meiner Lage mir gekündigt.“ + +Er merkte es wohl – an dem nächsten wie an allen folgenden Tagen: Von +seinen Vorgesetzten als Arbeitskraft völlig verachtet, ward er von +seinen Kollegen im Rücken verspottet. Diese seltsamen Kreaturen, die ihn +so lange als arbeitsamen, rechtschaffenen Buchhalter kannten, schoben +die Oberzähne über die Unterlippe, fast bis aufs Kinn, als wollten sie +sagen: Du Verräter der Firma, der gegen die Autorität opponiert, – hebe +dich fort, wir haben mit dir nichts zu tun. Der Einzige, der ihn +freundlich ansprach, war Uri. Sie waren während einiger Jahre +Pultgenossen gewesen. + +Der Leiter der Revisionsabteilung war Baaß, derselbe, der im Ausschuß +für Grahl gegen seine Entlassung gehandelt hatte. Aber nun erschien dem +biederen Manne die Stellung, in die er sich selber begeben hatte, nicht +mehr ungefährlich – auch war ihm vielleicht von höherer Stelle die +Initiative, die er jetzt ergriff, nahegelegt. Er besah sich öfters am +Tage seinen Revisionsangestellten Grahl, indem er sich mit der roten, +fleischigen Hand über den goldblonden Borstenschnurrbart strich. Und +endlich erklärte er Grahl – er brauchte zu dieser Erklärung sechs Worte: +er wisse mit ihm nichts anzufangen. + +Ueber diese Erklärung war Grahl so verdutzt, daß er die Augenlider +zusammenzog, als blinzelte er gegen Rauch. Er fragte seinen +Ausschußkollegen nach dem Anlaß, den er zu solchen Worten gegeben: und +er erfuhr, daß er, Jakob Grahl, der Arbeit, die man ihm gab, sich +augenscheinlich durchaus nicht gewachsen zeigte. + +„Erledige ich nicht, was man mir zu erledigen gibt?“ + +„Schon recht,“ sagte Baaß und rieb mit dem Zeigefinger über den Borst +unter der Nase – „aber man kann Ihnen leider nur wenig geben. Sie +arbeiten langsam, Herr Grahl.“ + +Unfähigkeit! sagte Grahl für sich, obgleich er wußte, daß Baaß all dies +sagte, um ihn aus irgendeinem Grunde, den er nicht kannte, zu verderben. +Er biß die Zähne gegeneinander und machte jene Bewegung zur Brille, wie +um sie besser vors Auge zu setzen – und schwieg. + +Was kümmert mich dies, sagte er sich später, mir bleibt mein Mandat, das +mich schützt. Er war entschlossen, in diesem Kampfe nicht nachzugeben. +Ich sehe keine Veranlassung, dachte er in kaltem Trotz, mich aus freien +Stücken auf die Straße zu setzen. Ermordet mich und schafft mich hinaus +... lebendig bringt ihr mich nicht vor die Türe. + +Aber während dieser Zeit schweigenden Kampfes wurde er äußerlich und +auch innerlich anders. Hatte er früher mit Hermann die Tagesereignisse +gern und lebhaft besprochen – so saß er jetzt schweigend, bleich, mit +aufgewälztem Stirnbein und verdeckten Augen seinen Kindern gegenüber +beim Abendbrot. Sie dachten, es wäre das Unglück der Mutter, das seine +Gestalt so mager erscheinen ließ. Und in Wirklichkeit – _war_ es nicht +dies? Ja, _auch_ dies. – Mitunter meinte er nachdenklich bei sich +selber, daß diese _beiden_ Kümmernisse _auf einmal_ nicht ohne heilsamen +Vorteil wären, da dem einen Kummer, sobald er stärker zum Herzen +vorstieß, der andere zur Ablösung kam. + +Zwei Tage später aber, als Baaß seiner Unzufriedenheit Ausdruck gegeben +hatte, wurde Grahl auch von dem neuen Posten im Revisionsbureau enthoben +und in die Paketannahme versetzt. Er übernahm dort den Posten eines +Herrn, der an diesem Tage aus unbekanntem Grunde nicht wieder zur Arbeit +erschienen war. Grahls Tätigkeit war mit einigen Boten zusammen, die +sehr verwundert waren, den Herrn Buchhalter Grahl, den sie noch vor +kurzem mit tiefgezogener Mütze gegrüßt hatten, nun als ihresgleichen +beim Quittieren, Sortieren und bei der Verteilung eingehender Pakete zu +sehen. Er selber fand diese Verwunderung seiner neuen Kollegen +natürlich, und er behandelte sie mit der gleichen Achtung, die er nicht +nur für Menschen, sondern vielmehr für jedes lebende Wesen empfand. + +Wenn er abends über die dunklen Straßen den Heimweg ging, wagte er es, +seine Mienen abzuspannen, und sein über den Tag aufrecht getragener +Körper gab sich nun Erschlaffung hin. Seine Lider lagen schwer über dem +trostlosen Blick; seine Mundwinkel, von dem struppigen Schnurrbart wirr +überhangen, waren tief bis ins Kinn gefurcht. Es war in solchen +Augenblicken ein Ausdruck des Grams schon vermischt mit den Mienen +verächtlicher Gleichgültigkeit – Gleichgültigkeit gegen die flackernden +Blicke, den hitzigen Atem der Welt. + +Einmal traf er am Ausgang mit Uri zusammen. Sie gingen ein Stück des +Weges miteinander. Uri erzählte, der erste Nachfolger Grahls auf dem +„Konto MR“ sei schon am dritten Tage an ein anderes Pult zu anderer +Arbeit versetzt worden. Der nächste aber, ein junger Mann, der sich viel +auf seine Gewandtheit zugute tat – hatte während eines einzigen Tages +des Amtes gewaltet, um am nächsten und allen folgenden Tagen überhaupt +nicht mehr im Hause sichtbar zu werden. Er zog es vor, mit gutem Mut +eine Stellung bei einer anderen Firma zu suchen. Das „Konto MR“ hatte +seitdem den Namen erhalten: „Konto Ueber die Kraft“. + +Grahl schwieg dazu. Uri seufzte einige Male. „Sie wissen doch, Grahl,“ +begann er, „daß nun auch gegen den Ausschußwillen beim Arbeitsgericht +Einspruch erhoben worden ist?“ + +„Was ... sagen Sie da?“ sagte Grahl leichenblaß. Seine Stimme war rauh. +Er zog die Augenlider zusammen. Plötzlich stolperte er seitwärts einige +Schritte und hielt sich schwer atmend an einem Baum. + +„Nicht erschrecken, Grahl,“ sagte Uri und nahm seinen Arm. „Meiner +Meinung nach erwartet Sie Kampf ... Kampf und Sieg. Das Arbeitsgericht +wird, in gerechter Betrachtung, sich für den Ausschußwillen entscheiden +müssen.“ + +„Das Arbeitsgericht, soso ...“ sagte Grahl mit einem Ausdruck von +Gleichgültigkeit. + +Als er aber in seiner Stube hinter der Zeitung die leidenden Mienen vor +den Kindern versteckte, erwachte der Anfangstrotz wieder auf, der dem +Gefühl für die Seinen entsprang. Hermann las in dem kleinen Band einer +volkstümlichen Bibliothek – es war eine Einführung in die Philosophie –, +Gertrud, indem sie an einem Kleide nähte, beachtete jede Bewegung des +Vaters, jeden Blick – um ihm das Teeglas aufs neue zu füllen oder die +Teller vom Tische zu tragen oder das Gaslicht zu regulieren. Sie war es +auch, die ihre Mutter in ihrer jetzigen Wohnung besuchte. Niemanden +anders wollte die Frau zu Besuch haben. Mitunter sah Grahl seine Tochter +mit einem kurzen dankbaren Ausdruck an, als hätte er all seine +Zärtlichkeit, die er in der denkbar verschwiegensten Weise zu äußern +imstande war, auf das Kind zu übertragen. + + + + + Siebentes Kapitel. + + +Am 21. Oktober, dem Termin der Arbeitsgerichtsverhandlung in Sachen der +Firma Winter, Kommanditgesellschaft, gegen den Buchhalter Jakob Grahl, +befanden sich vor dem Vorsitzenden: als der Vertreter der +antragstellenden Firma der Personalchef Karst, als seine Zeugen Herr +Baaß nebst einem andern Ausschußmitgliede – welches übrigens eines der +drei widerspenstigen war –; ihm gegenüber: der Angestellte Grahl mit +seinen Zeugen: Uri, langjährigem Pultgenossen von Grahl, und +Rottmann, dem früheren Personalchef, der vor Jahresfrist als ein +sechsundsiebzigjähriger Mann nach mehr als drei Jahrzehnten die Arbeit +endgültig aus den Händen gelegt hatte. Er widersprach mit leiser fester +Stimme der Meinung Herrn Karsts, der in dem Buchhalter Grahl das Prinzip +der Unzuverlässigkeit _in corpore_ erblickte. Rottmann vermochte mit +gutem Gedächtnis aus Redewendungen Grahls, die er zitierte, und +charakteristischer Handlungsweise, die er lebhaft zu schildern wußte, +dem Vorsitzenden und seinen Beisitzern ein lebendiges Bild zu +vermitteln. – Nach ihm wurde der Leiter der Revisionsabteilung, Herr +Baaß, um seine Zeugenaussage befragt. Herr Baaß, indem er sich über den +Schnurrbart rieb, begann im Tone der echtesten Ueberzeugung die Worte +Herrn Karsts zu wiederholen. Aber er hatte kaum einige Sätze +vorgebracht, als Grahl, der mit graublassem Gesicht und geschwollenen +Schläfen am Tische stand, in unhemmbarer Erregung, mit hastig gestoßener +heller Stimme zu widersprechen begann. Der Vorsitzende rief ihn zur +Ruhe, er vermahnte ihn, bis die Aufforderung zur Rede an ihn erginge, +stille zu schweigen. Aber Grahl, mit beschwörend vorgestreckten Armen, +rief mit dringlichstem Ausdruck: + +„Ihn treibt im besten Falle die Furcht, mit einem günstigen Wort über +meine Leistung die Gunst seiner Obern zu verlieren. Ihn hindert +Feigheit, ehrlich zu sein – nicht Feigheit, nein, ich verzeihe ihm das, +weil ich weiß, wie es tut, um das Brot der Zukunft zu bangen.“ + +Darauf schwieg er still. Und es war eine Stille im Saal. Der Vorsitzende +und seine Nebenmänner, von dem echten Klang dieser Stimme erschüttert, +vergaßen den kühlen Ausdruck, dessen sie sich sonsthin bedienten. Die +übrigen, die vor dem Tische standen, verhielten den Atem. Nur Karst, +zuerst überrascht und mit ängstlichen Mienen – gab sich nun den +verächtlichsten Ausdruck, dessen er fähig war. – Das Gericht ging nun +zur Beratung über. + +Dies Arbeitsgericht war vormals eine Funktion des Kaufmannsgerichts +gewesen. Infolge vieler willkürlicher Entlassungen hatte es sich zur +besonderen Instanz ausgebildet, und sein Zweck war die Schlichtung von +Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Angestellten. Die Entscheidung +dieses Gerichts war der „Beschluß“, gegen den ein Einspruch nicht +möglich war. – Grahl stand mit gesenkten Augen am Tisch. Seine stummen +Lippen drückten den Ueberdruß eines Mannes aus, der am Ende des Kampfes, +ob Sieg oder Niederlage, mit der Empfindung unbegrenzter Verachtung den +Platz verlassen wird. Dennoch wurde er noch um eine Nuance bleicher, als +der Vorsitzende den Beschluß zu verkünden begann. + +Der Beschluß hatte folgenden Wortlaut: + +„In der Sache der Firma Winter, Komm.-Ges., Antragstellerin, gegen den +Buchhalter Jakob Grahl, Antragträger, die Erwirkung der Erlaubnis zur +Entlassung des Antragträgers betreffend, erkennt das Arbeitsgericht +durch Richter und Beisitzer für Recht: Die beantragte Zustimmung zur +Kündigung Grahls wird versagt. – Die Begründung folgt schriftlich.“ + +„Sehen Sie,“ sagte Herr Uri, der gar nicht zur Zeugenaussage gekommen +war, „sehen Sie, Grahl, nun haben Sie doch nicht umsonst ihr gutes Zeug +angelegt.“ + +Grahl bewegte die Lippen. Gertrud und Hermann, sagte er lautlos. Er +lachte über Herrn Uris Spaß. Auf den Abend lud er ihn in die Wohnung +ein. Herr Uri, der nicht verheiratet war, bewohnte ein kleines Zimmer +und saß an den Abenden, die schon winterlich waren, in Cafés oder +Restaurants. – Vorerst begaben sich die beiden zurück an die Arbeit, +denn erst war Mittag vorbei. Grahl ging gebeugt, mit schüchtern +gebogenen Knien neben der aufrechten breiten Gestalt seines Zeugen. +Schon am Eingang zum Kontorhause, wo sie einige Bekannte trafen, rief +Uri das Ergebnis mit schallender Stimme aus. Er drehte an seinem +kräftigen Schnurrbart und lachte. Er ging an sein Pult, Grahl in die +Paketannahme. + +Abends bewirtete Grahl, der nun erleichterten Herzens seinen Kindern +alle Erlebnisse der letzten Woche mitteilen konnte, den Gast. Zwar mußte +er sich diesen Posten in der Paketannahme gefallen lassen ... mußte, +noch mehr, bei Ablauf seines Mandats der Entlassung gewärtig sein – an +eine Mandatsverlängerung war schwer zu glauben ... „Aber, mein Gott, +hieße es nicht eigentlich undankbar sein, an diesem Tage der sicheren +Gegenwart zu vergessen?“ fragte Uri, „um einer nicht unbedenklichen +Zukunft willen?“ + +„Ja, ja,“ sagte Grahl. Aber er faßte nervös an die Brille und sah seine +Kinder an. + +„Und übrigens,“ meinte Uri, „stehen das Fräulein Tochter wie der Herr +Sohn auf eigenen Füßen?“ + +Nein, Hermann studierte und brauchte nun einmal die Unterstützung des +Vaters. + +„Und Fräulein Gertrud?“ fragte Herr Uri. „Gehen Sie nicht nach dem +Beispiel so vieler Frauen in berufliche Konkurrenz mit uns Männern?“ + +Grahls Tochter wurde rot, als Herr Uri, dieser Mann mit seinem großen +Schnurrbart und den offenen blauen Augen, sich direkt an sie wandte. Sie +schüttelte nur den Kopf. + +„Das gefällt mir,“ sagte Herr Uri lachend, „und auch, daß Sie, was Ihre +Kopfzier betrifft, nicht im Wettbewerb mit den Männern stehen.“ + +Hier mußten alle lachen. Herr Uri machte auf seine Art Komplimente. +Gertrud hatte zwei goldblonde Zöpfe dicht und breit im Nacken gewunden. +Sie bedeckten die Ohren – die sicherlich so dunkel erröteten wie Wangen +und Stirn, als Herr Uri das Glas, mit einem leichten Rotwein gefüllt, +ihr entgegenhielt, und mit seinem galantesten Lächeln sagte: „Zuerst auf +Wohl und Genesung Ihrer Mutter im Krankenhause – und nun auf das Ihre!“ + +Er lachte und trank. + +Grahl legte seine weiße Stirn zwischen Daumen und Zeigefinger; Gertrud +bückte sich, um ein Fädchen vom Teppich zu geben; Hermann sprach einige +Silben, stand auf und entfernte sich aus der Stube. + + + + + Achtes Kapitel. + + +Am folgenden Tage wurde Grahl durch den Lehrling Menzel vor Herrn Karst +gerufen. Herr Karst las in einem Briefe ruhig bis zu Ende, ohne den Gruß +von Grahl erwidert zu haben, der nahe der Tür stehengeblieben war. Als +er mit dem Lesen fertig war, machte der Personalchef dem Angestellten +den Vorschlag, freiwillig zum Ende des Monats auszuscheiden. + +Grahl glaubte im Ernst, nicht richtig verstanden zu haben. Herr Karst +wiederholte den Vorschlag und Grahl konnte darauf nur fragen: Ob nicht +gestern ein Beschluß der Instanz in dieser Sache entschieden hätte? Herr +Karst überhörte diese Bemerkung. Es schien, als interessierten ihn nur +seine eigenen Worte – und außer diesen höchstens die Bestätigung, die +nach seinem Wunsch zu erfolgen hatte. Er wiederholte wörtlich das vorige +Verlangen. Grahl preßte die flache Hand an die Stirn. – Sie nehmen mich +hier beleidigend einfach, schien er zu denken. – „Wie soll ich auf das +mir zugesprochene Recht verzichten?“ sagte er laut. – „Sie wollen also +nicht?“ fragte Karst. – „Nein.“ – „Gehen Sie an Ihre Arbeit.“ – Grahl +ging in die Paketannahme zurück. + +Am nächsten Morgen wurde er wieder in das Glashaus des Herrn Karsts +gerufen. „Haben Sie sich meine Frage inzwischen bedacht?“ fragte Karst. +– „Ich hatte keine Veranlassung, dies zu tun.“ – „Was sollen wir also +mit Ihnen beginnen?“ – Grahl schwieg. Dann sagte er fest: „Ich bin +tauglich zur Arbeit, so gut wie ein anderer.“ – Mit einem Mal begann der +Personalchef zu lächeln. Er stand auf und ging in vertraulicher Art bis +dicht vor Grahl. Dann sagte er leise: „Ich will Ihnen einmal im geheimen +eine Andeutung machen. Sie haben sich an der höchsten Stelle +vorübergehend in Ungunst gebracht.“ – Grahl sagte kein Wort. Er blickte +sein Gegenüber wartend an. – „Bedenken Sie,“ fuhr der Personalchef +geheimnisvoll leise fort, „daß Ihr Mandat als Vertreter des Personals +Sie in eine feindliche Stellung zur Leitung gedrängt hat.“ – „Was soll +das heißen?“ fragte Grahl, indem er die Lider zusammenzog. – „Ihr Mandat +ist zum Schaden für Sie, wie es scheint.“ – Er bemerkte, daß Grahl zu +zittern und schwer zu atmen begann. Plötzlich verzog der Alte den Mund +zu spöttischem Lächeln. „Das Gesetz, das den Angestelltenvertreter gegen +die Leitung immun macht,“ sagte er langsam, „ist also nicht überflüssig, +wie’s scheint. Vor dem Arbeitsgericht war von anderen Mängeln die Rede.“ +– Karst biß die Lippen verärgert zusammen. – „Für Ihre Andeutung danke +ich, ja,“ vollendete Grahl mit vollkommen höflichem Tonfall. + +Karst sah seinen Plan gescheitert. Grahl durchschaute, daß man ihn von +dem Amt eines Ausschußmitgliedes ablocken wollte, um ihn der Immunität +zu berauben. Sein Gesicht verriet sein Verständnis davon. – „Gehen Sie +an Ihre Arbeit,“ sagte der Personalchef verdrießlich. + +Nach der Erregung und einer gewissen Wut, welche ihn überkam – ihm +schienen die Mittel, mit welchen man ihn übertölpeln wollte, gar zu +beleidigend – stellte sich eine Ruhe ein, aus dem Gefühl von +Geborgenheit unter dem Spruch, mit dem das Gericht ihn vor dem +furchtbaren Winter des Stellungslosen bewahrte. Morgens, wenn er die +Wohnung verließ, schlug ihm der Windstoß, ein Bote des nahen November, +kalt ins Gesicht. Grahl empfand seine Sicherheit mit triumphierender +Freude, und er bestärkte sich, allen Versuchen, die ihn zu törichten +Schritten verführen sollten, mit wortkarger Ablehnung oder +offensichtlicher Ironie zu begegnen. Sie hatten ihm seinen alten Posten +genommen – das mochten sie tun. Die Stellung, das Brot ihm zu nehmen, +sollte so leicht nicht fallen. Dazwischen stand ein Gesetz. + +Er war inzwischen auch in den Besitz der Urteilsbegründung gelangt. + +„Da die Klägerin“ – hieß es in der Begründung – „bei ihrem ausgedehnten +Betriebe vielerlei Verwendungsmöglichkeit für den Beklagten besitzt, so +ist in keiner Weise begreiflich, warum dem Beklagten, dessen +Tauglichkeit auf dem lange geführten Posten bestritten wird, nicht eine +andere Tätigkeit übertragen werden sollte. Beklagter scheint zurzeit, +unter dem Einfluß besonderer Verhältnisse, nicht voll dem gewohnten Amte +genügen zu können. + +„Das Gericht“ – hieß es weiter – „hält es für seine Pflicht, den +häufigen Wechsel im Ausschuß zu unterdrücken. Denn nur ein Ausschuß, der +die Verhältnisse der Firma und der Angestellten im einzelnen kennt, ist +seiner Aufgabe gewachsen. Nur dort, wo ein wirklich wohlbegründetes +Interesse des Arbeitgebers ersichtlich ist, wird er daher seine +Zustimmung zur Kündigung geben. An einem solchen wohl begründeten +Interesse fehlt es in diesem Falle durchaus.“ + +Da konnte Grahl also ruhig sein. – + +Am nächsten Tage wurde er abermals vor den Personalchef gerufen. – „Sie +wünschen gewiß ein Zeugnis zu erhalten?“ fragte ihn Karst – +Unwillkürlich erbleichte Grahl. Er führte Daumen und Zeigefinger zur +Brille. – „Nicht wahr?“ sagte der Personalchef lächelnd. Dies gutmütige +Lächeln in dem vollen brutalen Gesicht warnte den Alten. – „Warum sollte +ich wünschen, ein Zeugnis zu erhalten?“ stieß er gereizt hervor. – +„Halten Sie es nicht für besser,“ sagte Karst, mit ernster Miene im +Sessel lehnend, „daß Sie zum ersten November den Dienst hier +quittieren?“ – „Ich denke gar nicht daran,“ rief Grahl. – „Ueber kurz +oder lang werden Sie _doch_ Ihren Posten verlassen müssen,“ sagte Karst +mit überzeugter Stimme und gegeneinanderklopfenden Fingerspitzen; „es +kann Ihnen vielleicht gelingen, einen Monat länger bei uns +herumzuliegen. – Uebrigens, schämen Sie sich denn nicht, diesen Posten +da in der Paketannahme so ganz selbstverständlich innezuhalten?“ – „Ich +habe mir diesen Posten niemals gewünscht,“ rief Grahl entrüstet. – „Und +Sie hoffen,“ fuhr sein Gegner fort, ohne dem Ausruf Beachtung zu +schenken, „Sie hoffen nach Ihrem trotzigen Widerstand noch ein +brauchbares Zeugnis zu erhalten?“ – „Ich will kein Zeugnis,“ rief Grahl, +„ich habe Arbeit, ich habe Stellung – ich brauche kein Zeugnis.“ – „Sie +werden bald anderer Meinung sein.“ – Grahl lachte. – „Ich rate Ihnen, +sich klug zu verhalten. Geben Sie diese Stellung auf, wie man von Ihnen +verlangt – so werden Sie mittels des Zeugnisses, das wir Ihnen +ausstellen wollen, bald eine neue, besser geeignete Stellung gefunden +haben. Verharren Sie aber in Ihrem ungeschickten Verhalten, so bleibt +Ihnen, wenn Sie sich von den Tatsachen überflügelt finden, die Hilfe von +unserer Seite versagt.“ – „Mein gutes Schicksal erspart mir,“ schrie +Grahl, „sowohl das Los, eine Stellung suchen zu müssen – eine Stellung +in dieser Zeit! – als auch das Unglück, Ihr Zeugnis erwarten zu müssen. +Ich will nichts mehr hören!“ schrie Grahl. – „Gehen Sie an Ihre Arbeit,“ +sagte der Personalchef, ohne ihn anzublicken. + +„Hetzt mich, hetzt mich,“ murmelte Grahl, als er den langen Flur im +Kellergeschoß hinabging – dort war die Paketannahme –; „solange ihr mich +wie einen Hasen zu treiben versucht, merke ich doch, wie gern ihr mich +fangen möchtet.“ – + +Im Innern gereizt, aber äußerlich still, seinen Kummer sowie die +Ursachen heimlich verschweigend, saß Grahl in seiner Stube, wo Gertrud, +ihm gegenüber, mit langsamen regelmäßigen Zügen Brief um Brief und dazu +die Adressen schrieb. Neben ihr lag die Abendzeitung, in welcher sie +mehrere Inserate unter der „Zimmer“-Rubrik mit Kreuzen bezeichnet hatte. +– Hermann war wohl zu einem Vortrag gegangen. + +Plötzlich schellte es an der Wohnungstür. Beide erschraken. Gertrud +ging; Grahl preßte die Hand auf die Brust ... Es war Herr Uri. Er konnte +nicht umhin, gleich beim Eintritt einige sehr lustige, freundliche +Sachen zu Gertrud zu sagen. Er komplimentierte die Farbe des Kleides und +fand noch mehr zu bewundern. Gertrud legte eilig die fertigen Briefe +zusammen, sie begab sich in die Küche, um für den Gast ein Abendbrot zu +bereiten. + +Als Herr Uri sich mit Grahl allein in der Stube befand, wurde der +Ausdruck seines Gesichts nachdenklich ernst. Und dann – mit wenigen +Worten unterrichtete er Grahl von dem neuesten Schlag, zu welchem man +gegen ihn ausholte. Baaß und jenes Ausschußmitglied, das vor dem +Arbeitsgericht mit Baaß zusammen als Zeuge der Firma erschienen war – +diese beiden hatten in einer Versammlung, die eben beendigt war und +sowohl alle Ausschußmitglieder, mit Ausnahme von Grahl, als auch eine +Anzahl von Angestellten vereinigt hatte, den folgenden Antrag gestellt: +Nach den beleidigenden Ausfällen Grahls vor dem Arbeitsgericht gegen +eines der Ausschußmitglieder, Herrn Baaß, sei eine nutzbringende +Gemeinschaft zwischen Grahl einerseits und den übrigen Mitgliedern +andererseits zu bezweifeln. Unter Verzicht auf eine Entschuldigung +seitens Grahls werde dieser aufgefordert, von seinem Posten als +Ausschußmitglied zurückzutreten. + +Grahl sprang auf, fiel in den Stuhl zurück, stemmte eine Faust auf das +Herz und stöhnte. „Ich werde nicht!“ rief er aus, „ich habe keine +Veranlassung, von meinem Posten zurückzutreten. Wer kann mich zwingen? +Mich deckt nicht mein Recht allein – mich schützt das Gesetz auf +zweifache Weise.“ + +„Lieber Grahl,“ sagte Herr Uri, „ich habe Ihnen mit dieser Nachricht +nichts Gutes gebracht. Aber nun wird jene Aufforderung, welche Sie +höchstwahrscheinlich schon morgen treffen wird, nicht mehr vermögen, Sie +zu einem unbesonnenen Entschluß zu verleiten.“ + +„Mich verleiten?“ rief Grahl. „Zu einem Entschluß? Ich habe keine +Veranlassung ... Was? Halten mich meine Kollegen für schwachsinnig – +wie?“ + +Gertrud, ein Tablett vorsichtig in Händen tragend, kam an die Tür. Herr +Uri sprang auf, um ihr behilflich zu sein. Und während der Stunde, für +die Uri noch blieb, konnte er solch ein gutmütiges frohes Geplauder mit +der Tochter seines Kollegen treiben, als wäre an diesem Abend von gar +nichts Ernstem die Rede gewesen. + + + + + Neuntes Kapitel. + + +Am nächsten Morgen fand Grahl, wie erwartet, den Brief. Er hatte bereits +ein kurzgehaltenes Antwortschreiben verfaßt, in dem er erklärte, es gäbe +für ihn keine Veranlassung, von dem Amt, zu welchem die Stimmen der +Wähler ihn berufen hatten, zurückzutreten. – Er ersuchte einen Boten, +dies Schreiben zu überbringen, und blieb in einem Gefühl von +Befriedigung und Verzweiflung zurück. Um sein laut klopfendes Herz zu +beschwichtigen, wiederholte er sich mit gemurmelten Worten, daß das +Gesetz seine Stellung auf zweifache Weise schützte. Aber die innerliche +Empfindung von dennoch nagender Angst entsprang der Gewißheit von einem +dunkel sich näher gegen ihn wälzenden Ende. Er hörte die triumphierenden +Hörner der Jäger, das Kläffen der Hunde. Seine Stirne nickte kaum +merkbar, nickte unaufhörlich nach dem unaufhörlichen Takt seines +klopfenden Herzens. + +Am Nachmittage wurde ihm ein Schreiben gebracht, des Inhalts, daß +sämtliche Ausschußmitglieder von ihrem Amte zurückgetreten wären, um +einen vom Personal neu zu wählenden Ausschuß zu ermöglichen und somit +das unerwünschte Nebeneinander mit Grahl zu lösen. – Grahl, ohne merkbar +mit einer Miene zu zucken, steckte den Brief in die Tasche. Nun wußte er +auch, daß es eben diese Maßnahme war, die er gefürchtet hatte, als die +Empfindung von Angst in ihm zu klopfen begann. Für eine halbe Stunde und +länger war sein Denken gelähmt. Dann schrieb er mit fiebernder Hand +einen Brief: Er protestierte; er verlangte Gehör. + +Die Erregung in ihm, die nach entscheidender Aussprache drängte, trieb +ihn, mit eigenen Händen den Brief in die Revisionsabteilung Herrn Baaß +zu bringen. O, er kannte sie wohl, seine Kollegen vom Ausschuß. Sie +standen nun alle unter dem Einfluß von Karst, dem sie gut zu gefallen +suchten; der selber nun wohl eine Gunstbezeugung für die Vollstrecker +seines Willens daran wenden mußte, nachdem dieser sein Wille, in +unmittelbarem Angriff auf Grahl, sein Ziel nicht hatte erreichen können +... + +Als er in dem langen Flur, dicht bei der Kantine, an der Tafel +vorbeigehen wollte, wo für die Angestellten wichtige Mitteilungen zu +finden waren, blickte ihn die Ueberschrift eines Aufrufs an: „Neuwahl +zum Ausschuß am 29. Oktober“. – Grahl blieb stehen. Sein Herz stand +still. Es war schon zu spät. Nun hieß ein Versuch, die Gegner von ihrem +Unrecht zu überzeugen, sich vor ihnen zur Erde beugen ... umsonst sich +zur Erde beugen. – Er wendete sich mit schurrenden Sohlen und kehrte den +Weg über den langen Flur, sich nah an den getünchten Wänden haltend, +zurück. + +Das Oktoberwetter umpfiff ihn, als er den Weg nach Hause ging. War er +vogelfrei? Mit seinem Mandat ging seine Immunität verloren. Ein Versuch +zu erneuter Kandidatur wäre sinnlos. Aber dann blieb noch ein anderes +Recht. Er konnte noch als einfacher Angestellter den bald neugebildeten +Ausschuß zum Einspruch gegen die Kündigung aufrufen, die ihn +voraussichtlich am letzten Tage des Monats traf. Aber die Hoffnung, die +ihn auf diesem Wege begleiten konnte, war lächerlich winzig. Denn +sicherlich würde die Mehrzahl der alten Ausschußmitglieder den neu zu +wählenden Ausschuß bilden. Die Auflösung samt der folgenden Wahl – dies +war ein taktischer Zug, wahrscheinlich betrieben von Karst, den +Buchhalter Jakob Grahl aus dem Amt zu entfernen. War er nicht vogelfrei? +Am 29. Oktober wird ihn ein Brief von seinem erloschenen Mandat in +Kenntnis setzen, am 31. ein anderer von seiner Entlassung am 1. +Dezember. Dann kann er noch einmal zum neuen Ausschuß gehen, der sich im +besten Fall aus anderen Untertanen zusammensetzt als der alte – das kann +er, als der gekündigte Buchhalter Grahl ... aber er wird es nicht tun. + +Er hüpfte von einem Fuß auf den andern. Obgleich ihm der Wind ins +Gesicht pfiff, glühte die Stirn. Nur die Finger, in seinen +Manteltaschen, und die hüpfenden Füße waren eiskalt. + + * * * * * + +Aber es kam noch anders, als er erwartet hatte. Am Morgen des +Neunundzwanzigsten war an Stelle des Aufrufs zur Wahl eine Mitteilung an +die Tafel geheftet: Aus Mangel an Kandidaten konnte die Wahl nicht +vonstatten gehen. – Es gab also keinen Ausschuß mehr. – Niemand wünschte +durch die Eigenschaft als Führer des Personals in einen etwaigen +Konflikt mit der Leitung der Firma zu geraten. Man hatte ja wohl +bemerkt, wie wenig Sicherheit eine Immunität bedeutet, wenn sie Herrn +Karst nicht gefällt ... + +Mit der Kündigung, welche Grahl erwartungsgemäß am Vormittag des 31. +Oktober (zum 1. Dezember) erhielt, wurde ihm sein Gehalt für den +vergangenen Monat verabfolgt. An der Summe fehlte beinahe ein Drittel zu +seinem Monatssalär. Er wandte sich an den Kassierer, der ihm erklärte, +daß für den vergangenen Monat der Gehaltstarif für Boten und Packer, +nach welchem der Vorgänger auf seinem Posten gelohnt worden war, auch +für _ihn_ Geltung hätte. – Ohne zu merken, daß er gegen Böcke rannte, +und Menschen, die ihm im Wege standen, beiseite stieß, lief Grahl durchs +Kontor und trat in den „Glaskasten“ ein, wo Herr Karst, einen Brief +diktierend, am Schreibtisch saß. Ehe Grahl den ersten Satz mit hastiger, +oft versagender Kehle zu Ende gesprochen hatte, hielt ihm Karst einen +geschlossenen Umschlag entgegen. Er trug eine Aufschrift: „Zeugnis für +Jakob Grahl“. – Grahl hörte Herrn Karst noch die Worte sagen: „Sie +können nach Hause gehen. Die Firma verzichtet auf Ihre Tätigkeit, +obgleich das Dienstverhältnis bis zum 1. Dezember geht. Sie brauchen +nicht wiederzukommen. _Trotzdem_ wird Ihnen am Letzten des kommenden +Monats das Gehalt für einen Boten bezahlt. Adieu.“ + +Herr Karst fuhr fort, einen Brief zu diktieren. Grahl wollte entgegnen +... aber es schien ihm dann, als wäre es sinnlos, etwas zu sagen. – +„Vollkommen sinnlos,“ sagte er mit vernehmlicher Stimme und stand im +Regen vorm Haus. + + * * * * * + + „....., den 31. Oktober 1924. + + Herrn Jakob Grahl. + + Am 29. Oktober 1924 ist das Mandat des alten Angestelltenausschusses + erloschen. Ein neuer Ausschuß ist nicht gewählt worden. Es besteht + also seit diesem Tage kein Ausschuß mehr. + + Mit dem Erlöschen des Mandats des alten Angestelltenausschusses ist + auch Ihre Zugehörigkeit zum Angestelltenausschuß erloschen. + + Die Voraussetzungen, weswegen uns von seiten des Arbeitsgerichts + eine Kündigung versagt worden ist, sind somit in Fortfall gekommen. + + Wir kündigen Ihnen daher hiermit Ihre Stellung zum 1. Dezember 1924. + + Hochachtungsvoll + Winter, Komm.-Ges. (Personalleitung) + Karst.“ + + * * * * * + + „....., den 31. Oktober 1924. + + Zeugnis. + + Herr Jakob Grahl war vom 1. Mai 1898 bis 31. Oktober 1924 bei uns + beschäftigt. + + Er fand während dieser Zeit in verschiedenen Abteilungen Verwendung + und erledigte die leichteren Arbeiten zu unserer Zufriedenheit. + + Das Vertragsverhältnis wurde von uns zum 1. Dezember 1924 gelöst, + weil Herr Grahl sich den Anforderungen unserer Buchhaltung nicht + gewachsen zeigte und wir eine Beschäftigungsmöglichkeit für ihn in + anderen Abteilungen nicht fanden. + + Seine Führung war, abgesehen von den letzten drei Monaten, gut. + + ppa. Winter, Komm-Ges. + Karst.“ + + + + + Zehntes Kapitel. + + +Zu seiner Verwunderung fand er zu Hause weder Gertrud noch Hermann, +obgleich der Eingang zur Wohnung unverschlossen gewesen war. Es war ihm +recht, mit sich selber allein zu sein. Er legte sich, bleierne Schwere +in Kopf und Füßen, aufs Sofa. Er wünschte zu schlafen, um vor den +Gedanken, die hinter der Stirne eilig wie Mäuse durcheinanderflohen, +Ruhe zu haben. Er fand sich nicht fähig, den in seiner Sache notwendigen +Entschluß zu fassen. In Wirklichkeit – sagte er sich, wenn er die letzte +Kraft seines Denkens für einen Augenblick zu sammeln vermochte – in +Wirklichkeit muß die Verteidigung gegen das Unrecht, das mir getan +worden ist, einfach sein; obgleich diese Pflicht, mich zu wehren, wie +eine unabwälzbare Last auf mir kniend, mich lähmt ... + +Plötzlich wurde die Wohnungstür in nervöser Hast mit dem Schlüssel +geöffnet. Die Stubentür wurde aufgerissen; Hermann, bleich und mit +klebrigem Haar, rief verzweifelt: „Vater, komm mit.“ Grahl sprang auf. +In diesem Augenblick fühlte er nichts mehr von seinen Leiden, er +stolperte durch den Flur, und ohne den Hut aufzusetzen, folgte er seinem +Sohn die Treppen hinunter, indem er beständig sagte: „Was ist denn +geschehen? Ist deiner Mutter etwas geschehen?“ und Hermann mit seiner +abgehetzten heiseren Kehle hervorstieß: „Komm mit, ich erzähle dir +unterwegs.“ An der Haltestation der Straßenbahn blickte Hermann den Lauf +der Schienen hinunter. „Wir müssen laufen, es kommt keine Bahn,“ +flüsterte er, und ohne zu zögern, warf er den Körper herum und hastete +weiter. – „Hermann, ich folge nicht mehr – keinen Schritt“ – keuchte der +Vater, „wenn ich nicht nun erfahre ... Ist deiner Mutter ... oder ist +Gertrud ... Hermann ...“ + +„Gertrud,“ stieß Hermann im Laufen heraus, „ist heute früh zum Gefängnis +gegangen. Sie kam dann zurück und holte mich – wie ich dich. Als ich von +ihr erfuhr, was geschehen war, angeblich geschehen, lief ich zu dir ins +Bureau. Dort sagte man mir, du wärest nach Hause gegangen. So ist es +gewesen ...“ + +„Was ist denn geschehen?“ + +„Es ist vielleicht gar nicht geschehen, gar nicht so furchtbar, Vater +... aber du mußt denken, bei dir ... du mußt dir das Furchtbarste +denken. Dann bist du sicher ... vor jeder Nachricht, die uns erwartet. +Stelle dir vor ... das Schlimmste – es braucht darum nicht zu _sein_.“ + +„Ich stelle mir nun das Schlimmste vor – Hermann – ist es so?“ + +„Ich weiß es selber nicht, Vater. Ich weiß es nicht.“ + +So rannten sie bis zum Bahnhof, wo sie den Vorortzug, mit dem sie zur +Wette gelaufen waren, davonfahren sehen mußten. Sie hatten eine +Viertelstunde zu warten, sie gingen, jeder für sich, umher. Sie blickten +aneinander vorbei und schwiegen. + +Im Abteil führten sie eine Unterhaltung, die darin bestand, daß Grahl +seinen Sohn – und Hermann den Vater ermahnte, des Schlimmsten gewärtig +zu bleiben ... des Schlimmsten, das denn nichts anderes als ein +natürlicher Punkt des Lebens sei. + +„Ich denke meine Gedanken zu Ende, Vater, und bleibe ruhig. Bleibe auch +du ruhig, Vater.“ + +„Ich kann was vertragen, Hermann. Man muß auch mal zeigen, daß man sich +meistern kann. – Uebrigens ist es noch gar nicht gesagt ...“ + +„Natürlich ist es nur eine Sicherheit gegen den äußersten Fall, wenn wir +uns ...“ + +„Ganz ruhig bleiben, mein Junge, ganz ruhig ...“ + +Als sie aber in einer Räumlichkeit mit nackten Wänden an der Bahre +standen, auf welcher die Strafgefangene Anna Grahl mit ein wenig +geöffneten Augen lag, waren die Vorbereitungen gänzlich vergessen. +Hermann, mit dem Ausdruck eines skeptischen Philosophen, stand an der +langen Seite der Bahre, die Brauen herunter-, den Mundwinkel aufwärts +gezogen, als nähme er mit schlichter Nachdenklichkeit das Geschehnis zur +Kenntnis. Er nickte sogar in einer Weise, als fände er hier eine +naturwissenschaftliche Annahme bestätigt. Dann ging er hinaus. – Grahl +hatte zuerst überrascht geblickt. Dann betrachtete er mit einer Miene +von Grauen, Schrecken und schmerzlicher Verdrossenheit die durch einen +Spalt glänzend blickenden Augen in jenem bekannten unbekannten Gesicht, +auf welchem trotz der Verzerrtheit des Mundes die hohe Fremdheit +vollkommener Ruhe und unendlicher stiller Entferntheit schwieg. Dann +wich sein Blick zur Seite, wo, neben der Bahre, ein Halstuch lag, +zusammengerollt wie ein Strick. Er sah wieder die offenen Lippen, die +tiefe Färbung des Angesichts – seine Augen gingen langsam über die +fremde geöffnete Kleidung und langsam wieder hinauf bis zur Stirn ... +Mißtrauen und ängstliche Ahnung, wie sie sich eines Knaben in +unbekannter geheimnisvoller Umgebung bemächtigten, runzelten seine Haut +überm Brillensattel. „Anna,“ sagte er leise ... „lebst du nicht mehr?“ + +Es schien ihm, als zuckte die Unterlippe. – Kein Laut. + +Da stampfte Grahl mit dem Fuß. + +Es war aus. Und der Schmerz, der Kampf, die Arbeit ums Leben – was sie +beide gemeinsam gehabt und getragen ... + +Das war alles umsonst? War nur dies? + +Schon wieder besiegt? Schon wieder besiegt? Ja, ungerecht wie die +Menschen – so war auch der Tod. + + + + + Elftes Kapitel. + + +Am Abend saßen die Kinder Grahls, jedes für sich beschäftigt, am Tisch, +während ihr Vater mit blauen Schläfen regungslos auf dem Sofa lag. Es +klingelte an der Wohnungstür und Herr Uri kam. Beim Anblick der +gramdurchfurchten Gesichter legte Herr Uri für einen Augenblick den Kopf +auf die Seite, als sagte er bei sich selbst: Welch ein Unglück, ja, ja +... diese Kündigung. – Aber ehe er über die Ereignisse im Kontor hätte +beginnen können, sagte der Alte mit einer bedeutungsvollen Bewegung: +„Sie kommen zur rechten Zeit, mein Lieber. Ich möchte mit Ihnen ein +wenig spazieren gehen. Ich brauche Luft um die Stirn.“ + +Er erhob sich vom Sofa. Aber indem er merklich erbleichte, fiel er +zurück. „Es ist nichts,“ sagte er nach einer Pause mit schwachem +Lächeln, „draußen wird das vorübergehen.“ Er strich seinen Kindern mit +einer ruhigen Bewegung über die Scheitel. Gertrud neigte den Kopf noch +tiefer und brachte endlich ihr Nähzeug lautlos bis an die Augen. + +An der Treppe zögerte Grahl. „Geben Sie mir Ihren Arm, mein Lieber ... +ich weiß nicht ... die Treppe ...“ Herr Uri führte ihn langsam hinunter. +Die frische sternklare Straße machte ihn tiefer atmen, er seufzte. Es +war, als ob von Augenblick zu Augenblick Regungen eines hohen Schmerzes +zitternd vom Kopfe zum Herzen liefen, sein Gemüt mit jenem Frieden +erfüllend, den die Demut unter das Schicksal erzeugt. – Herr Uri +berichtete unterdessen, gleichsam zum Troste, von einigen Mißvergnügten +im Personal, die ihrer Empörung über den Abschied des Alten Ausdruck zu +geben begannen. Es hatte sich nun herausgestellt, daß der Nachfolger +Grahls in der Paketannahme – eben derselbe Angestellte war, der früher +den Posten gehalten hatte. Es war ein Bote, welchem die Firma den Urlaub +für das vorgehende Jahr noch schuldete. – In seiner Abwesenheit hatte +man Grahl auf den Posten gestellt, mit seinem Wiedererscheinen hatte man +ihn entlassen. + +„Glauben Sie denn,“ fragte Grahl, „daß diese Stimmen, die sich nun +einzeln für mich erheben, nachdem sie so lange geschwiegen haben – +glauben Sie, daß diese Stimmen etwas vermögen, nachdem die letzte +Vertretung des Personals unter der Macht des Geldherrn und unter der +Vorsichtigkeit der Angestellten vergangen ist?“ + +Herr Uri schwieg. Dann sagte er leiser: „Das ist wahr – unser Recht ist +dahin.“ + +„Wir wollen nicht davon reden, Uri,“ sagte der Alte; „wenn es so und +nicht anders auf Erden ist, kann man wohl schlecht was dagegen sagen. +Geben Sie mir bitte Ihren Arm. – – Heute vormittag, Uri, hat meine Frau +mittels eines Tuches, das sie sich etwas fest um den Hals wickelte, ihre +aristokratische Gleichgültigkeit gegen dies Leben öffentlich kundgetan. +Ich bin ganz verwirrt, muß ich sagen. Sie ist davon gegangen – sie hielt +es für gut – mich ließ sie beinahe beschämt zurück. Uri, einige sterben, +weil sie sich vor den Menschen fürchten; andere, weil sie sich +eingestehen, daß sie nicht ins rechte Milieu geraten sind, als sie in +die Menschenwelt eingelassen wurden. Ich weiß nicht recht ... ich habe +einen Respekt. Wenn ein Mensch nicht mehr weiter kann und daher umkehrt +– dann heißt man das: Schwäche. Meine Frau war stark, da ist gar kein +Zweifel. Sie hat sich bestimmt nicht zurückgezogen aus Furcht. Sie +konnte den Kopf so hoch wie sie wollte tragen. Das hätte sie auch in +dieser Sache vermocht. Sie hatte da eine Sache, Uri, müssen Sie wissen +... Gut, Anna war also stark. Aber ich? Ich habe um Anna, wenn ich sie +lächeln sah – ich verstand ihr Lächeln so gut, so ganz, daß ich mich +heute nicht hätte wundern sollen – ich habe um sie so gezittert und so +an der Seele geblutet, daß ich nichts mehr vom Leben wußte und sah, +außer ihr. Die äußere Welt, in der ich gebunden war, verlor ihre +Wirklichkeit, ich kannte in ihr meinen Platz nicht mehr, es gab für mich +keine Sorgen, noch Pflichten – ich lebte mit ihrem Leben, mit ihrem +Leiden hab ich gelitten, ich war über Tag und Nacht in der Seele der +Frau, die so lächeln konnte, daß ich mich für die Menschheit schämte, +die dies Lächeln herausgefordert hatte. Sie müssen wissen, man hat sie +verklagt und vor die Richter gebracht. Um einen Dreck und nichts ... +Aber weiter von mir. Sie sehen, das war meine Schwäche. Meine +wesentliche Verwandlung, deren Zeuge Sie waren, Uri, in deren Verlauf +meine Hände lahmten, und alle mich für stumpf und ermattet hielten – +diese Verwandlung führte mich ins heftigste innerste Leben. Aber ich +hätte da Einhalt gebieten müssen, nicht wahr ... Auf den Gedanken komme +ich erst jetzt. Es sollten einige ausgemustert werden – und weil ich der +Schwächste schien, griffen sie mich. Ich hätte auch, als sie im Ausschuß +begannen, mich an den Rand zu drängen, mit ganz anderen Mitteln mich +wehren müssen. Man kann sich ja wohl auch anders wehren, nicht wahr? Ich +hätte Baaß nicht beleidigen sollen, oder, nachdem ich es einmal getan, +hätte ich unternehmen sollen, ihn zu versöhnen. Ihn hätte ich auf den +Abend an meinen Tisch zu einer Flasche Wein bitten sollen – statt dessen +habe ich _Sie_ eingeladen. Ich hätte ein Machtmittel bei mir behalten +sollen, einen Austauschwert – statt dessen ließ ich mir alles nehmen und +behielt nur mein Recht. Ich war bis zum Schluß der irrigen Meinung, die +höchste Macht sei – das Recht. Uebrigens – und Sie können hieran meine +ganze Schwäche erkennen – dieser Meinung bin ich noch jetzt. Ich habe +keine Kraft, sie von mir zu tun, keine Gelegenheit – nämlich keinen +Wunsch. Wenn ich wünschte, im Unrecht zu sein, wünschte ich nicht mehr, +meine Sache zu gewinnen. Und wie ich nun einmal bin, rief ich nicht +einmal Beistand zu Hilfe – ich sah alles so einfach an, ich war ja im +Recht. Wenn die Natur mich für einen kurzen Abschnitt verwandelt, so daß +meine Kraft, wie in Krankheit, lahmt, so bin ich doch eben im Recht ... +und die Menschen müssen dies Recht respektieren, ohne Erklärung von +meiner Seite, ohne Preisgabe eines Gefühls, dessen Art es ist, stumm im +Leben zu bleiben. Gott sorgt für alle, heißt es zu unrecht, wie ich +bemerke; aber ein reicher Mann, das Haupt einer Kommanditgesellschaft, +kann für tausend sorgen, wenn er nur will. Unter den Tausenden einer +mußte hinaus – denn dieses einen Monatssalär wollte ein Sparsamer sparen +– dieser eine war ich – ich war schwach – _denn_ ich war schwach – dies +„denn“ ist sehr wichtig – verstehen Sie mich – es empört mich – ja ... +ja, ich bin schwach ...“ + +Er hatte sich aus dem Arm Uris gerissen. Etwa zehn Schritte noch ging er +fort. Dann wurde sein Gang ein Torkeln vornüber. Er torkelte auf die +Seite, wo eine Laterne stand. Mit der Absicht, sich anzuklammern, hob er +den rechten Arm. Aber plötzlich fiel der Arm herab. Grahl sank in die +Knie, schlug zur Seite, machte noch eine kurze Bewegung und lag +regungslos auf dem Pflaster. + +„Was ist Ihnen ... Grahl ...“ sagte Uri, indem er die zerbrochene Brille +hinter den Ohren des Liegenden löste. Dann wendete er ihn mühsam in das +Licht der Laterne, blickte ihm in die Augen und schwieg. + + + + + Zwölftes Kapitel. + + +Einige Tage nach dem Begräbnis ihrer Eltern saß Gertrud abends allein am +Tisch, die Augen auf beide Arme gelegt. Ueber ihr zischte leise das +Gaslicht. Vor ihr stand die Lade einer Kommode, deren Inhalt zum Teil +auf dem Tisch ausgebreitet war. Mit ihren Armen lag Gertrud auf einigen +Blättern beschriebenen Briefpapiers. Neben ihr krümmte sich ein +besonderes Blatt, welches wahrscheinlich zerknüllt in dem Schubfach +gelegen hatte, denn es bog sich mit vielen Falten und knackte, als +wollte es sich nicht in die neue Lage gewöhnen. Dies Fach, das Gertrud +an diesem Abend zu sichten unternommen hatte, war Frau Annas Privatfach +gewesen, in welches noch keines der Kinder Einblick genommen hatte. +Gertrud, um sie ihrem Bruder zu ersparen, hatte entschlossen die +gefürchtete Arbeit begonnen. Aber nun stockte sie schon, von der +Gegenwart dieser lebendigen Schrift übermannt, unter aufsteigenden +Erinnerungen. + +Plötzlich klopfte es an die Tür und Herr Uri war da. Gertrud sprang auf. +Herr Uri mußte von Hermann, der eben die Wohnung verlassen hatte, +eingelassen worden sein. Auf seinen Gruß erhielt er ein schmerzliches +Lächeln zur Antwort, er hörte den hellen Ton unterdrückten Schluchzens – +und befand sich, ehe er noch zu Worte gekommen war, allein in der Stube. + +Mit dem dringenden Wunsche, diesem Mädchen, dem von ihren Eltern +geblieben war, was sich auf einem Tische ausbreiten ließ, Trost, Hilfe +und – wenn es die Konstellation ergäbe – mehr noch zu bringen, ließ sich +Herr Uri auf dem Sofa nieder. Es gingen Minuten vorbei. Die Wanduhr +schlug. Endlich bemerkte er das Blatt, das offensichtlich einmal +zerknüllt gewesen war, und las. + + „Sehr geehrter Herr Mörk! + + Sie haben mich beim Gericht verklagt. Sie denken wahrscheinlich bei + sich: Diese Frau ist eine Verbrecherin, es ist gut, sie vor die + Richter zu bringen. Wenn ich Ihnen aber dagegen sage, daß ich in + meinem Leben bis heute – da mir von meinen blonden Haaren das letzte + ergraut ist – noch niemals versuchte, irgend jemandem mit Bedacht zu + schaden, und daß mein Unrecht, wenn es nun einmal zu existieren + scheint, ein Spiel des Unglücks mit meinem ehrlichen Namen ist – so + ziehen Sie vielleicht die Anklage, die Sie gegen mich führen, + zurück? Was mir auch vom Gericht aus geschehen möge, ich werde nicht + vor Schande und auch nicht vom Hohn meiner Nachbarn sterben. Aber + der Gedanke, ein falsches Urteil entgegennehmen zu müssen, das ist + für mich ein Todesgedanke. Ich weiß, daß vieles gegen mich zeugt, + und ich sage Ihnen: Ich bin _doch_ nicht schuldig. Und ich werde es + _nicht_ ertragen.“ + +An Stelle der Unterschrift standen folgende Worte: + + „Nie im Leben schick ich dies ab.“ + +Herr Uri nahm die Blätter von Gertruds Platz. + + „Abschrift. + + Herr Mörk! + + Wäre ich Ihre Mutter, und ich würde von meines dreißigjährigen + Sohnes Bosheit erfahren, von seiner schamlosen Art – ich würde + vergessen, daß dies giftige Wesen mein Sohn ist. Wir kennen alle den + Grund zu diesem Prozeß, mit dem Sie uns einige Monate drohten, ehe + Sie ihn zur Ausführung brachten. Da die Drohungen mein Kind nicht zu + Ihrer Verfügung willfährig machten, so wollen Sie doch Ihre Rache + haben! Die haben Sie jetzt. Aber Sie haben auch einen Schlag ins + Gesicht erhalten, von der Hand meiner Tochter! Ich glaube, Sie + denken länger daran, als ich an die armselige Rache von Ihnen. Ich + gehe singend ins Gefängnis hinein, mir ist das eine kleine Erholung. + + Ich speie Sie an! + + Anna Grahl.“ + + „(Für den Gerichtstag.) + + Herr Richter! + + Jetzt will _ich_ einmal diese Sache berichten. Es handelt sich um + einen Stuhl. Dieser Stuhl, der kostbarste in meinem Hause, war ein + Sessel mit rotem Seidenplüschbezug. Weil er war der schönste Sessel, + den ich hatte, stand er im Vorderzimmer, wo alle guten Möbel stehen. + Dies Vorderzimmer bewohnte Herr Mörk. Er hat meinen Sessel so + schlecht behandelt, als wäre der Stuhl eine Waschtischplatte. Flecke + im Stoff und Schrammen am Holz fand ich immer neu. Endlich verlangte + ich, daß Herr Mörk meinen Stuhl reparieren lasse. Herr Mörk sagte: + ja. Und ich denke mir, Herr Mörk hat gewußt, warum er nicht gern von + dem Sessel sprach. (Bei dieser Stelle sehe ich Mörk an, mit einem + vielbedeutenden Blick, so daß die Richter sich denken können, bei + welchen Gelegenheiten mein Sessel zu Schaden kam.) Der Tapezierer + holte den Sessel und behielt ihn einige Wochen. Nun hatte ich aber + inzwischen die Wohnungsmiete zu bezahlen. Ich brauchte Geld. Herr + Mörk ist der einzige Mieter in meiner Wohnung gewesen. Mein Sohn ist + Student, meine Tochter lernt Schneiderei, nur der Vater verdient für + uns alle. Ich verlangte Herrn Mörk nun die Summe ab, die mir der + Tapezierer als Kosten für seine Arbeit zum Voraus genannt hat. Das + waren fünfzehn Mark. Denn der Stuhl war verschandelt. Herr Mörk hat + gefragt, wo der Stuhl denn nun wäre. Der Stuhl war damals beim + Tapezierer. Ich gab ihm zur Antwort: Den Sessel bekäme er niemals + wieder. Weil nun Herr Mörk nicht gern von dem Sessel spricht (hier + seh ich Mörk wieder an), bezahlte er mir die fünfzehn Mark und war + still. Aber einige Wochen später, als der Stuhl schon wieder im + Hause war und bei uns in der Stube stand, wollte Herr Mörk die + Quittung des Tapezierers sehen. Ich hatte nun eine Rechnung, die + lautete über acht Mark und fünfzig. Diese Summe hab ich bezahlt, als + der Tapezierer den Sessel zurück in die Wohnung brachte. Ich hatte + damals bei mir gedacht: Eigentlich sollte das teurer werden. – Aber + weiter nichts. Wie Herr Mörk nun die Rechnung zu sehen verlangte, + merkte ich, daß ich ins Unrecht kam. Darum ging ich zum Tapezierer, + er sollte mir eine Rechnung geben von fünfzehn Mark, und ich wollte + ihm sechs Mark und fünfzig dazu bezahlen. Der Tapezierer fragte, + weshalb ich es teurer haben wollte, und ich erzählte ihm das. Da + wollte der Tapezierer nicht. Ich sagte ihm aber, er _müsse_ – weil + er mir doch zum Voraus _fünfzehn_ Mark, aber nicht acht Mark und + fünfzig gesagt hat. Er antwortete mir, es hätte weniger Arbeit + gemacht als er dachte. Und es bliebe dabei. Da habe ich ihm erklärt, + was er täte, und habe ihm auch gesagt, wie Herr Mörk es nicht gut + mit uns meinte. Der Tapezierer wollte trotzdem nicht. Da bin ich + nach Hause gegangen und habe mir ein Stück Rechenpapier genommen und + habe die Rechnung des Tapezierers darauf geschrieben und am Ende die + Zahl, die der Tapezierer im Anfang genannt hat. Herr Mörk ist zum + Tapezierer gegangen, der erzählte ihm dann den Sachverhalt. Nun hat + mich Herr Mörk vor Gericht gebracht, obgleich er wohl wußte, wie + einfach die sechs Mark und fünfzig auf gütlichem Wege von mir zu + haben waren. Herr Mörk war aber nicht auf sein Geld, sondern auf + seine Rache bedacht –“ + +„Diese Rede hat meine unglückliche Mutter fest im Gedächtnis gehabt,“ +sagte Gertrud, die vor Herrn Uri stand, „und schon im ersten Satz +unterbrach sie der Richter so schroff, daß sie für die folgende +Verhandlung fast gänzlich verstummte. Lesen Sie diesen Zeitungsbericht. +Sagen Sie mir, weshalb sind die Richter und Zeitungsleute so grausam? +Ist es nicht _so_ genug?“ + +„Warum denn nicht?“ hieß die Ueberschrift des Artikels. – Warum denn +nicht, sagte Frau Anna Grahl, die sich gestern vor dem Richter zu +verantworten hatte, warum soll ich nicht sechs Mark und fünfzig +verdienen? Und sie ahmte mit emsigem Fleiß die Handschrift es +Tapezierers nach, um die vollendete Abschrift dem Untermieter Herrn +Mörk, der seinerseits die Reparatur für einen zuschanden gerittenen +Sessel zu zahlen hatte, mit dem kleinen Aufschlag von achtzig Prozent zu +präsentieren. Herr Mörk aber sagte nun umgekehrt: Warum denn ja? und +besuchte einmal den Tapezierer Herrn Bethge – + +„Dieser Schreiberhund gehört vor Gericht,“ brummte Herr Uri, dem der +Zorn das Blut in die Stirne getrieben hatte. „Er lebt von dem Schicksal +der vor den Richter Geladenen und ist ihnen dankbar, indem er seinen +erbärmlichen Witz daran wendet, sie zu verhöhnen.“ + +„Ja, es war genug, um zwei Menschen davonzujagen!“ + +Herr Uri erhob sich und stand gerade vor Gertrud. „Nein,“ sagte er +ruhig, „sie sind Beide an einem Tage gegangen, mit einem schlechten +Geschmack vom Leben, aber durchaus nicht gejagt. Ihre Mutter war +konsequent genug, dies ihr Erlebnis ins allgemeine zu übertragen. Sie +sah den Menschen den Zähnen der Hunde ausgesetzt, – er braucht sich nur +eine Blöße zu geben. Sie wünschte nicht solchen dauernden Zustand, für +den ihr nicht Mut, aber Knechtseligkeit, Unterwürfigkeit, Listigkeit +fehlte – und vor allem die Schwäche, ein sinnloses Leben zu Ende zu +führen. Ein vor Gewalt ungesichertes Dasein war sinnlos für sie, ihr +fehlte die Müdigkeit, unfrei zu leben. Sie war noch nicht zahm. So war +auch Grahl. Er lebte verständig, gerecht – und an dem Tage, als er +bemerkte, man müsse das Beste im Leben freiwillig vernichten, um unter +den Menschen im Kampf zu bestehen, da ging sein Dasein von selber zu +Ende. Es ist nicht Stärke – wie die Leute so gerne behaupten, um sich +selbst zu bemänteln –, sondern Schwäche, wenn sie ein Leben, das sie für +sinnlos halten, doch weiter führen. Alle bemühen sich, zahm zu sein. +Sehen Sie Ihren Bruder Hermann. Er ist wie Ihr Vater. Aber er fürchtet +sich, er will nicht so sein, er kennt seinen Untergang mit seinem +starken, trotzigen Herzen als Steuer. Darum zieht er sich lieber vor +sich selber zurück, er ist sich gefährlich. – Er taucht in die Tiefe, um +mit den anderen zu leben, zu handeln und ihre Sprache zu sprechen. Man +nennt die Sieger im Kampf unter Menschen die Starken – aber die wahren +Starken sind zu stark für dies Leben.“ + +Es entstand eine Pause. + +„Noch eins,“ sagte Uri, und zog seinen braunblonden Schnurrbart. „Noch +eins“ – und er wurde fast rot – „ist das Zimmer von diesem Mörk noch +leer?“ + +„Ja,“ sagte Gertrud. + +„Ich möchte da wohnen,“ sagte Herr Uri. + +„Sie –?“ fragte Gertrud und stockte. + +„Morgen,“ fragte Herr Uri, „ziehe ich ein?“ + + + Anmerkungen zur Transkription + +Die einzige Veröffentlichung von „Zu stark für dies Leben“ wurde vom 21. +Juni bis zum 10. Juli 1927 im „Vorwärts“, Berlin, in 14 Folgen gedruckt: + + 1. 25. Juni, S. 5 + 2. 26. Juni, S. 5 + 3. 28. Juni, S. 5 + 4. 29. Juni, S. 5 + 5. 30. Juni, S. 5 + 6. 1. Juli, S. 5 + 7. 2. Juli, S. 5 + 8. 3. Juli, S. 5 + 9. 5. Juli, S. 5 + 10. 6. Juli, S. 5 + 11. 7. Juli, S. 5 + 12. 8. Juli, S. 5 + 13. 9. Juli, S. 5 + 14. 10. Juli, S. 5 + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [Folge 2]: + ... Der „Geiger“, dem sein Violinspiel in Kaffeehäusern + nicht ... + ... Der „Geiger“, den sein Violinspiel in Kaffeehäusern + nicht ... + + [Folge 3]: + ... unmöglich am vorletzten Tages des Monats – es war der ... + ... unmöglich am vorletzten Tage des Monats – es war der ... + + [Folge 4]: + ... Tage, erschien ihm das als Verrat, als den Bruch einer + Pflicht. ... + ... Tage, erschien ihm das als Verrat, als der Bruch einer + Pflicht. ... + + [Folge 7]: + ... mit niemals lahmenden Willen die Kraft seines Denkens und ... + ... mit niemals lahmendem Willen die Kraft seines Denkens und ... + + [Folge 10]: + ... ersten November den Dienst hier quittieren!“ – „Ich + denke ... + ... ersten November den Dienst hier quittieren?“ – „Ich + denke ... + + [Folge 11]: + ... er nicht vogelfrei? Am 29. Oktober wird ihm ein Brief von ... + ... er nicht vogelfrei? Am 29. Oktober wird ihn ein Brief von ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76661 *** diff --git a/76661-h/76661-h.htm b/76661-h/76661-h.htm new file mode 100644 index 0000000..32422e0 --- /dev/null +++ b/76661-h/76661-h.htm @@ -0,0 +1,3040 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<meta content="width=device-width, initial-scale=1.0" name="viewport"> +<title>Zu stark für dies Leben | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Zu stark für dies Leben" --> + <!-- AUTHOR="Iwan Heilbut" --> + <!-- LANGUAGE="de" --> + <!-- PUBLISHER="Vorwärts, Berlin" --> + <!-- DATE="1927" --> + <!-- COVER="images/cover.jpg" --> + +<style> + +body { margin-left:15%; margin-right:15%; } + +div.frontmatter { page-break-before:always; } +h1.title { text-indent:0; text-align:center; } +.aut { text-indent:0; text-align:center; font-weight:bold; font-size:1em; + margin-top:1em; margin-bottom:1em; } + +div.chapter{ page-break-before:always; } +h2 { text-indent:0; text-align:center; margin-top:2em; margin-bottom:1em; } +div.chapter h2 { margin-top:0; padding-top:2em; } +h2.chapter1 { margin-top:0; padding-top:2em; page-break-before:avoid; } + +p { margin:0; text-align:justify; text-indent:1em; } +p.noindent { text-indent:0; } +p.first { text-indent:0; } +p.tb { text-indent:0; text-align:center; margin:1em; } +p.center { text-indent:0; text-align:center; margin:1em; } +div.letter { margin-top:1em; margin-bottom:1em; } +div.letter p.hdr { text-indent:0; text-align:center; margin:1em; } +div.letter p.date { text-indent:0; text-align:right; margin-right:1em; } +div.letter p.addr { text-indent:0; text-align:left; margin-right:1em; margin-bottom:1em; } +div.letter p.sign { text-indent:0; text-align:right; margin-right:1em; } + +/* "emphasis"--used for spaced out text */ +em { font-style:italic; } + +/* antiqua--use to mark alternative font for foreign language parts if so desired */ +.antiqua { font-style:italic; } + +.underline { text-decoration: underline; } +.hidden { display:none; } + +/* tables */ +div.table { text-align:left; } +table { margin-left:2em; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-right:auto; + border-collapse:collapse; } +table td { padding-left:0em; padding-right:0em; vertical-align:top; text-align:left; } +table.ref .col1 { text-align:right; } +table.ref .col2 { padding-left:1em; text-align:right; } +table.ref .col3 { padding-left:0.5em; } +table.ref .col4 { padding-left:0.5em; } + +a:link { text-decoration: none; color: rgb(10%,30%,60%); } +a:visited { text-decoration: none; color: rgb(10%,30%,60%); } +a:hover { text-decoration: underline; } +a:active { text-decoration: underline; } + +/* Transcriber's note */ +.trnote { font-size:0.8em; line-height:1.2em; background-color: #ccc; + color: #000; border: black 1px dotted; margin: 2em; padding: 1em; + page-break-before:always; margin-top:3em; } +span.trnote { font-size:inherit; line-height:inherit; background-color: #ccc; + color: #000; border:0; margin:0; padding:0; + page-break-before:avoid; margin-top:0em; } +.trnote p { text-indent:0; margin-bottom:1em; } +.trnote ul { margin-left: 0; padding-left: 0; } +.trnote li { text-align: left; margin-bottom: 0.5em; margin-left: 1em; } +.trnote ul li { list-style-type: square; } +.trnote .transnote { text-indent:0; text-align:center; font-weight:bold; } + +/* page numbers */ +a[title].pagenum { position: absolute; right: 1%; } +a[title].pagenum:after{content: "Folge "attr(title); color: gray; background-color: inherit; + letter-spacing: 0; text-indent: 0; text-align: right; font-style: normal; + font-variant: normal; font-weight: normal; font-size: x-small; + border: 1px solid silver; padding: 1px 4px 1px 4px; + display: inline; } + +body.x-ebookmaker { margin-left:0; margin-right:0; } +.x-ebookmaker em { letter-spacing:0; margin-right:0; font-style:italic; } +.x-ebookmaker a.pagenum { display:none; } +.x-ebookmaker a.pagenum:after { display:none; } +.x-ebookmaker .trnote { margin:0; } + +</style> +</head> + +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76661 ***</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a> +<h1 class="title"> +Zu stark für dies Leben. +</h1> + +<p class="aut"> +Von Iwan Heilbut. +</p> + +</div> + +<h2 class="chapter1" id="chapter-0-1"> +Erstes Kapitel. +</h2> + +<p class="first"> +„Ich mache Schluß, Herr Grahl.“ +</p> + +<p> +„Guten Abend denn, Herr Uri.“ +</p> + +<p> +Grahl zog die elektrische Birne, die von einem grüngläsernen +Schirm umgeben, über seinem Graukopf hing, tiefer +zu sich herab. Er beugte sich näher aufs Buch und zeichnete +mit dem Lineal zwei sorgfältige Linien, eine dicke und dicht +unter dieser die dünne. Seine Augen hinter den Brillengläsern +verfolgten mit Sorgfalt die Feder, und die Lippen +waren mit einem Ausdruck von Behutsamkeit gespitzt. Die +Hände, von schweren Adern durchlaufen, zitterten leise. Als +er mit den Linien fertig war, wischte er mit einem Ausdruck +von Zufriedenheit über den grauen Schnurrbart. +</p> + +<p> +Uri, ein dreißigjähriger Mann, breitschultrig, mit einem +dicken braunblonden Bart auf der Oberlippe, hatte inzwischen +in der Garderobe die Hände mit Bimsstein gesäubert, das +Jackett gewechselt. Er kam nun durch die lange Reihe +zwischen den leeren Pulten an dem Platz vorbei, wo Grahl +vor dem Buch stand, leise murmelnd addierte und schrieb. +</p> + +<p> +„Wir wären wieder die letzten ...“ sagte Herr Uri mit +einem Seufzer. Der Alte nickte und murmelte fort. „Kommen +Sie mit mir,“ forderte Uri auf, „Sie versäumen sonst +gewiß noch die Zeit. Und Sie wissen, von welcher Wichtigkeit +die Versammlung ist, die heute abend zu den geplanten Entlassungen +Stellung nimmt. Nicht <em>ein</em> Mann von unserer +Fakturenabteilung darf fehlen.“ +</p> + +<p> +„Kann ich denn?“ fragte Grahl und ein Lächeln, das +beinahe schmerzlich zu nennen war, zog seinen schmalen Mund +in die Breite. „Ich bin so entsetzlich im Rückstand mit meiner +Arbeit. Sehen Sie, jenen Haufen Fakturen habe ich geprüft +– und dieser Haufen bleibt mir zu prüfen übrig. Sie +bemerken, daß dieser der größere von beiden ist. Ich soll +bis zum dritten Oktober die Arbeit beendet haben, Sie wissen, +bis dahin müssen die Rechnungen fertig zur Zahlung sein. +Also vier Tage ... Aber wie soll ich – wie kann ich – +wie werde ich fertig – wenn eben kein Wunder eintritt ...“ +</p> + +<p> +„Unmöglich, Herr Grahl,“ sagte Uri entschieden, „unmöglich, +daß Sie, als Mitglied der Angestelltenvertretung +fehlen.“ +</p> + +<p> +„Ich kann aber ... ich kann aber nicht ... Sie sehen +doch selber ... Mein Gott, ich will ja nicht leugnen, daß +ich den Kollegen durch das Mandat, das ich habe, verpflichtet +bin. Aber bin ich nicht noch fester an meine Verpflichtung +zur <em>Arbeit</em> gebunden, die mir die Firma bezahlt? Sehen +Sie, ich gehe demnächst in die Sechzig. Und während meiner +ganzen Laufbahn an diesen Pulten, länger als sechsundzwanzig +Jahre, hat noch niemand Grund gefunden, zu sagen: Dieser +Grahl ist nicht so verläßlich als man es wünschte. – Soll +mir das nun mit grauen Haaren zum ersten Male passieren?“ +Er machte eine Bewegung, um die Brille besser vor’s Auge +zu rücken, und schrieb. Nach einer kleinen Weile, indessen +Uri ihm stumm zugesehen hatte, sagte Grahl, als ob er alles, +was er gesprochen, noch einmal bei sich wiederholt hätte, +gleichsam abschließend: „Na ja. Das ist doch erklärlich –?“ +</p> + +<p> +Darauf sagte Uri – und er versuchte deutlich, seinen +Worten Wichtigkeit zu verleihen: „Erklärlich? Erklärlich +wäre es mir, Herr Grahl, wenn Sie eine halbe Stunde vor +Beginn der Versammlung zur Stelle wären. <em>Das</em> wäre +erklärlich.“ +</p> + +<p> +Grahl blickte ihn an. +</p> + +<p> +„Nicht ich allein meine,“ fuhr Uri fort, „daß Sie, lieber +Kollege Grahl, mehr noch als irgendein anderer, Vorteil +finden, wenn heute Abend unsere Resolution stark und einig +herauskommt.“ +</p> + +<p> +„Ich?“ Grahl riß die Brille herunter und starrte den +Sprecher erschrocken an. „Ich? Meinen Sie ... ich?“ Und +mit einemmal flog das schmerzliche Lächeln um den Mund, +es wollte sich unter dem grauen hängenden Schnurrbart +verstecken – aber Uri wußte bereits, daß Grahl ihn verstanden +hatte. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte er, mit ein wenig schauspielerischem Affekt, +„Sie und kein anderer.“ Und scheinbar, um seinen werdenden +Sieg recht zu genießen, fügte er hinzu: „Kommen Sie <em>nun</em> +mit?“ +</p> + +<p> +Er hätte das nicht zu fragen brauchen, denn er sah, daß +Grahl in nervöser Eile die Papiere zusammenschob, das Buch +auf dem Boden gegen die Pultseite lehnte und schnell seine +Utensilien im Innern verschloß. Er lief, vornübergebeugt, +zur Garderobe, und als er in Hut und Ueberrock, aber mit +ungewaschenen Händen und ein wenig schnaufend, zurückkam, +rief er – es sollte Humor sein: „So ist der Mensch! Mich +hätte nichts vermocht, mein Pult zu verlassen, als dieser +Gedanke an meine eigene Existenz. Meinen Sie wirklich,“ +fügte er leiser hinzu, „meinen Sie wirklich, ich ... ich befände +mich in Gefahr? Aber, mein Gott, das ist doch unmöglich +zu denken! Bin ich nicht siebenundzwanzig Jahre im Dienst? +– Wir müssen den anderen Ausgang nehmen, um diese Zeit +hat der Hauswart das große Portal schon geschlossen. – Und +dazu bin ich Obmann der Angestellten. Es ist doch unmöglich. +Ich bin nicht zu kündigen, wissen Sie? Dafür sorgt unser +Ausschuß, nicht wahr – ich bin doch im Ausschuß, ich bin +doch immun!“ +</p> + +<p> +„Um so wichtiger ist,“ sagte Uri, „daß Sie Ihr Amt nicht +versäumen. – Da kommt eine Bahn!“ +</p> + +<p> +Sie befanden sich auf der Straße, im Regen. Das +mächtige weite Haus, das nichts weniger als das Kontor +eines der größten Warenhäuser der Stadt vorstellte, lag wie +ein Schiff, in dem nur wenige Lichter brennen, mit seiner +Front in einer belebten Straße der Handelsstadt – aber die +Beiden waren durch die andere Ausgangstür in eine abseitige +Straße gekommen. Sie hätten nötig gehabt, die Trambahn +zu nehmen, auch wenn der Herbsthimmel freundlicher und das +Pflaster weniger sprühend gewesen wäre – denn von der +Sankt-Petri-Kirche schlug es achtmal. Auf acht Uhr war der +Beginn der Versammlung in einem Vorstadtlokal, in der +„Krone“ bestimmt. Das Innere des Wagens war ziemlich +leer, im Herzen der Stadt schläft das Leben um diese Zeit. +</p> + +<p> +Grahl war vom Laufen noch außer Atem. +</p> + +<p> +„Es ist eine Schande,“ fing Uri an, „acht hat es geschlagen. +Statt unser Recht, unser Arbeitsstundengesetz zu schützen, +brechen wir es aus freien Stücken.“ +</p> + +<p> +„Was mich betrifft,“ antwortete Grahl, während hinter +ihm an den Scheiben der Regen lief, „ich gestehe, daß ich +mich trotz meiner Immunität nicht sicher fühle. Ich kann nicht +umhin, die Unzufriedenheit meiner Vorgesetzten recht gut zu +begreifen.“ +</p> + +<p> +„Sie haben den schwierigsten Posten in unserer Abteilung,“ +warf Uri ein. +</p> + +<p> +Grahl schwieg und blickte mit seinen nachdenklichen Augen +auf die Stiefelspitzen. „Heute morgen kam ich wieder um +einige Minuten zu spät. In der letzten Zeit passiert mir das +oft, und unten am Eingang vermerkt die Kontrolle sogar die +Zahl der Minuten. Ich bin gewiß, daß unser Bureauchef, +Herr Karst, schon längst unserem Chef über mich einen +gewissen Bericht erstattet hat? – Meinen Sie auch?“ +</p> + +<p> +„Es wäre leicht zu denken,“ antwortete Uri, „Karst sucht +förmlich Vorkommnisse, an denen er seine Ergebenheit für +Firma und Chef demonstrieren kann. – Aber bitte, erklären +Sie mir, Herr Grahl – warum verhindern Sie nicht solche +Unregelmäßigkeiten, da Sie doch wissen, wie Ihr Ruf unter +ihnen leidet?“ +</p> + +<p> +<a id="page-2" class="pagenum" title="2"></a> +„Ja, ja,“ sagte Grahl. Er lächelte wieder. „Sehen Sie, +da ist eine Sache, die nimmt mich so sehr in Anspruch, daß +ich so ziemlich den ganzen Tag daran denke. Daher auch +lahmt meine Arbeit ein wenig. Die Konzentration ist nicht +so billig zu haben, wenn solch ein Gedanke, der sich nicht auflösen +läßt, in einem steckt. Aber laß!“ unterbrach er sich plötzlich +mit einer abwehrenden Bewegung der Hand. Dann +blickte er wieder wortlos auf seine Stiefel. Uri, der nicht ohne +weiteres auf die erwünschte Erklärung verzichten wollte, stellte +noch eine bezügliche Frage. Grahl hörte ihn nicht, wie es +schien. Gleich darauf rief der Schaffner die Haltestation, an +der sie den Wagen verlassen mußten. Sie gingen mit eiligen +Schritten zur „Krone“. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-2"> +Zweites Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Als Grahl und Uri im Klubzimmer der „Krone“ anlangten, +war der Raum von Biergeruch, Zigarettendunst und +Durcheinandergewirr der Stimmen durchwirbelt; aus einer +Ecke, wo übrigens einige Jünglinge untereinander tanzten, +klang das Gehämmer auf einem Klavier. Sie haben noch +nicht begonnen? dachte Grahl und biß ärgerlich auf den +hängenden Schnurrbart, denn er hatte gehofft, die Formalitäten +schon erledigt zu finden, um sofort an der Resolution +teilnehmen zu können. Er begab sich sofort an den Sofaplatz +vor der Mitte des Tisches und eröffnete seinerseits eilig, mit +gewohnten Worten, den Abend, verlas die Bekanntmachungen +in einem Zuge und brachte die Hauptfrage zur Besprechung, +während der junge Mann am Klavier mit gelangweiltem +Ausdruck seinen Bock eine nachlässige Drehung beschreiben +ließ. +</p> + +<p> +„Bekannt ist worden, daß seitens der Personalabteilung +der Firma ein Plan in Vorschlag gebracht worden ist, das +Personal zu verringern. Da die Durchführung dieses Vorschlags +nur auf Kosten des Arbeitsstundengesetzes erfolgen +kann, ersucht der Ausschuß um eine Resolution des Personals, +um im gegebenen Fall zum Handeln bereit zu sein.“ +</p> + +<p> +Obgleich allen Anwesenden der Inhalt, wenn auch nicht +der Wortlaut dieser von Grahl verlesenen Eingabe schon vorher +bekannt gewesen war, da dieser Antrag das eigentliche +Ereignis des Abends bildete, erhob sich dennoch ein Lärm, +ähnlich dem vorigen – der kaum mit Mühe verebbt war. +Ironische Rufe flogen durcheinander, jeder Bemerkung folgte +mit doppelt verstärkter Stimme die nächste, so daß eine +Steigerung des Durcheinanders am Ende schlechthin nicht zu +denken war. Am lebhaftesten gebärdete sich aber der junge +Mann, der sich vom Klavierbock erhoben hatte, mit überschwenglichen +Gebärden die rechte Hand über dem Kopfe schüttelnd. +„Ich weiß,“ schrie er mit so maßloser Anstrengung, +daß die Adern an seinem hageren Halse, die der niedere +Kragen ohnehin stark hervortreten ließ, bedeutend schwollen, +„ich weiß, wer der erste ist, der hinausfliegt. Das bin ich!“ +Er rief es mit einer Art Siegesgewißheit. Sein Haar war +blond wie Getreidestiele, seine Augen kindlich und offen. Er +war achtzehn Jahre und hieß „der Geiger“, weil er abends +mit Geigenspiel in Cafés sein Monatseinkommen erhöhte. +Hier ist der Platz, eine Begebenheit zu erzählen, die dem +„Geiger“ an einem Spätsommervormittag geschehen ist. +</p> + +<p> +Der „Geiger“, <a id="corr-3"></a>den sein Violinspiel in Kaffeehäusern nicht +nur mit Geld, sondern in gleichem Maße mit jungen Damen +bekannt gemacht hatte, war am Tage des betreffenden Tages +von einem Brief in rosa Umschlag überrascht und sozusagen +tödlich verwundet worden. Als er das Kontor betrat, lag in +seinen sonst so lustigen Augen der ergreifendste Ausdruck von +Gleichgültigkeit gegen die Dinge des Lebens. Er setzte sich +auf seinen Bock, starrte mit einem schrägen Blick trübselig ins +Leere, und zog endlich das rosa Kuvert aus der Brusttasche +seines Jacketts, um es dicht vor die Nase zu bringen. Er +atmete so wahrscheinlich das feine Parfüm des Papiers ein +... er steckte sogar die Nase ins Innere des Umschlags, und +es war als sog er sich voll von Schmerz. Denn es stieg ihm +blank über die Augen. Auf diesen Augenblick hatte sein +Schicksal gewartet. Der Chef, ein furchtbarer Mann auch für +solche, die sich in keiner Beziehung schuldig fühlten – sein +Blick traf alle Angestellten mit einer Schärfe, mit welcher +ein Stein durch das Fenster ins Innere einer friedlichen +Wohnung einschlägt – dieser Herr Winter, der mehrere Male +am Tag durch die Pultreihen streifte, plötzlich auftauchend +und unvermittelt die Stimme erhebend, ein jähes Geschrei in +der Nacht – er befand sich nun hinter dem „Geiger“, der +nichts davon ahnte, und beobachtete seinen Angestellten, der, +seine Nase tief in den rosa Umschlag gesenkt, in der schmerzlichsten +Haltung dasaß. Zu einer Rettungsaktion seitens seiner +Kollegen war es zu spät – und übrigens platzten die anderen +an ihren Pulten vor innerlicher Erwartung, wie es begänne, +wie es geschähe ... +</p> + +<p> +„Wie alt sind Sie?“ krachte es förmlich los. +</p> + +<p> +Der „Geiger“ fuhr herum. Er sah aus, als wollte er +sagen: Ja, wenn du auf Zehenspitzen heranschleichst, du +Gauner, da kann ich dich wohl nicht hören. Dann richtete er +sein vorwurfsvolles Gesicht auf sein Gegenüber. Warum habt +ihr mich nicht gewarnt, ihr Filous ...! sollte das heißen. +</p> + +<p> +Da krachte es neben ihm noch einmal: „Ich frage, wie +alt Sie sind.“ +</p> + +<p> +Der „Geiger“ konnte sich immer noch nicht zur Antwort +entschließen. Er empfand so natürlich! Na, na ...! hätte +er leicht gesagt, halb erstaunt, halb verächtlich – es fehlte +nicht viel. Als er aber bemerkte, daß das tiefrote Gesicht, in +das er hineinsah, wahrhaftig bis in die Stirne erbleichte, +beeilte er sich. +</p> + +<p> +„Achtzehn Jahre, Herr Winter.“ +</p> + +<p> +„Achtzehn Jahre ... hmhm ...“ wiegte Winter den +spitzen Kahlkopf. Er war so klein; er blickte zu dem langaufgeschossenen +„Geiger“ hinauf, der sich nun sogar respektvoll +erhob. +</p> + +<p> +„Haben Sie einen Vater?“ fragte Herr Winter, unheimlich +tief, und so laut, daß man die Stimme noch an den letzten +Pulten am Ausgang vernahm. Es war so still im Kontor +– man hätte eine Bureaunadel fallen hören. +</p> + +<p> +„Einen Vater? – Jawohl,“ gab der „Geiger“ zur +Antwort. +</p> + +<p> +„Und“, fragte der Chef, „er erzieht Sie nicht besser?“ +</p> + +<p> +Darauf wußte der junge „Geiger“ keine Antwort mehr. +Er sah seinem Chef zuerst in die seegrünen Augen, dann auf +die Geiernase und endlich auf die Brillantnadel in der +Krawatte. +</p> + +<p> +„Zeigen Sie mir diesen Brief,“ sagte Winter. +</p> + +<p> +„Mit nichten,“ sagte der „Geiger“ entschlossen. „Dieser +Brief ist an mich.“ +</p> + +<p> +„Zeigen Sie ihn,“ sagte Winter lauter. +</p> + +<p> +„Wie kann ich!“ rief der „Geiger“ entrüstet, „ich kann +nicht die Dame, die mir dies schreibt, kompromittieren.“ +</p> + +<p> +Damit wußte Herr Winter immerhin etwas und es sah +aus, als wollte er gehen. Plötzlich schrie er: „Wieviel verdienen +Sie aber im Monat?“ +</p> + +<p> +Der „Geiger“ nannte sein lächerliches Anfangsgehalt. +</p> + +<p> +„Und für mein Geld ...!“ schrie Herr Winter und +schnappte. „Sie bestehlen mich!“ +</p> + +<p> +Und er ging mit langsamen schallenden Schritten davon. +Der „Geiger“, dessen Gehirn an diesem Morgen mehr tragen +mußte, als es imstande war, murmelte noch: „Meinetwegen!“ +und „Nun tue ich den ganzen Tag nichts mehr – es komme, +was mag,“ ging hinaus zur Garderobe und schloß sich in seine +gewohnte Kabine ein, um ein wenig zu rauchen. +</p> + +<p> +<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a> +Daher war der „Geiger“ an diesem Abend so fest überzeugt +davon, daß auf der Liste der zu entlassenden Angestellten +sein Name zu oberst stünde. +</p> + +<p> +Von den Ausschußmitgliedern, die sich um den großen +Tisch zusammengezogen hatten, war inzwischen eine Entschließung +verfaßt worden. Sie wurde nun den Versammelten +vorgelegt. +</p> + +<p> +„Der Ausschuß versagt seine notwendige Zustimmung zur +Entlassung eines Angestellten in jedem Fall, wenn die Entlassung +nicht anders als mit der Absicht einer Personalverringerung +begründet erscheint. Eine derartige Absicht kann +durch den Gang des Betriebes durchaus nicht gerechtfertigt +werden. Die Befugnis des Ausschusses zum Einschreiten +gegen Entlassungen wie die bezeichneten ergibt sich aus dem +Paragraph drei im zweiten Abschnitt des Arbeitsgesetzes.“ +</p> + +<p> +Als diese Resolution, trotz den Zwischenrufen des +„Geigers“, der noch eine Klausel verlangte, im übrigen einstimmig +angenommen war, drehte sich dieser auf seinem +Klavierbock und behämmerte wieder die Tasten. Die Anfangsstimmung +drang durch. Einige Herren vom Ausschuß verabschiedeten +sich, die Ausschußmitglieder waren alle reiferen +Alters. Mehrere Angestellte wollten nicht bleiben, da sie +unmöglich am vorletzten <a id="corr-6"></a>Tage des Monats – es war der +neunundzwanzigste September des Jahres neunzehnhundertundvierundzwanzig +– ein Vergnügen sich vorstellen imstande +waren. Es hatte kaum zu den beiden Gläsern hellen Bieres +gereicht ... +</p> + +<p> +Der mit höflichem, dennoch sehr hastigem Gruß, das +Zimmer als erster verließ, war Grahl. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-3"> +Drittes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Als er nach Hause kam, fand er sein Essen in einer innerlich +gepolsterten Kiste, die er an einem Sonntag mit seinem +Sohne Hermann verfertigt hatte, warmgestellt. Hermann, +der Arzt werden wollte, und über den Tag in Instituten, +Vorlesungen oder in Bibliotheken war, las in der Zeitung, +die er mit beiden Händen ausgebreitet vor dem Gesichte hielt. +</p> + +<p> +„Hermann,“ sagte Grahl gedämpft, indem er mechanisch +den Suppenlöffel zum Munde hob, „sind sie schon schlafen +gegangen?“ +</p> + +<p> +„Ja, beide,“ gab Hermann ebenso leise zurück. +</p> + +<p> +Diese „beiden, die bereits schlafen gegangen,“ waren +Anna, die Frau Jakob Grahls, und Gertrud, seine achtzehnjährige +Tochter. Hermann war nur fünfeinhalb Jahre älter +als seine Schwester. Die Aehnlichkeit mit dem Vater war +deutlich erkennbar. Er hatte dieselben vernünftigen Augen, +in welchen nur dieser eine Ausdruck von sachlich beherrschter +Innerlichkeit lag. Seine Lippen dagegen, die meistenteils +wie die seines Vaters als ein schmales Bändchen gezogen +waren, konnten sich manchmal, wenn er lebhaft mit einem +Gedanken beschäftigt schien, trotzig nach außen werfen. +</p> + +<p> +„Weißt du vielleicht,“ fragte Grahl nach einer Weile, +während der nur das leise Schlürfen der Lippen vom Löffel +zu hören gewesen, „weißt du, Hermann, ob jemand im Laufe +des Tages das Vorderzimmer besichtigt hat?“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte Hermann, „es war niemand da.“ Sein +Gesicht war auch beim Sprechen von der Zeitung verdeckt. +</p> + +<p> +„So,“ sagte Grahl. „Hmhm. Merkwürdig ... Als ob +das Unglück mit diesem Mörk in das Zimmer gezogen wäre. +Noch niemand war da, um es zu besichtigen.“ +</p> + +<p> +Er hatte den Namen Mörk leise hervorgestoßen, als +hinderten ihn Verlegenheit oder Wut, mit offener Stimme zu +sprechen. Hermann hatte die Zeitung dichter zu sich herangezogen. +</p> + +<p> +„Vielleicht,“ sagte er ruhig, „sind den suchenden Einlogierern +unsere vier Treppen eine Bemühung, die sie nicht +lieben.“ +</p> + +<p> +„Aber die jungen Studenten!“ entgegnete Grahl. „Ich +hatte damit gerechnet. Wir sind nicht so weit von der +Akademie.“ +</p> + +<p> +„Ja, ja,“ sagte Hermann. +</p> + +<p> +„Was steht in der Zeitung?“ +</p> + +<p> +„Nichts Interessantes.“ +</p> + +<p> +„Aber du liest sehr interessiert.“ Beide schwiegen. Plötzlich +begann Grahl, noch leiser, aber ungleich lebhafter als +zuvor: „Du mußt morgen zur Zeitung gehen, den Redakteur +des lokalen Teiles besuchen und ihm eine Sache nahelegen. +Du weißt wohl schon, hm, was ich meine?“ Das Lächeln, das +ihn immer vor der Preisgabe eines Gesichtes, das er zu +verbergen gewillt war, beschützte, zog seinen linken Mundwinkel +aufwärts. +</p> + +<p> +„Den Namen nicht nennen?“ sagte Hermann sachlich, fast +ohne Ausdruck. +</p> + +<p> +„Das ist es, ja,“ sagte Grahl noch leiser. Er häufelte +einen Rest von Suppenkraut auf dem Teller. „Höchstwahrscheinlich +wird ein Bericht über die Verhandlung erscheinen. +Bitte den Redakteur, er möge sich mit den Anfangsbuchstaben +begnügen. Statt des vollen Namens deiner Mutter setze er +„G.“, zum Schlimmsten „A. G.“. Aber auch nicht den vollen +Namen von ... Mörk. Oder vielleicht nur: Die Angeklagte +... der Kläger. Ich denke, der Zeitungsmann wird sich, auf +deine besondere Bitte, ohne Weigern solch einer Art von +Bezeichnung bedienen. Meinst du nicht auch?“ +</p> + +<p> +„Kann sein.“ +</p> + +<p> +„Du willst es versuchen?“ +</p> + +<p> +„Natürlich. – Uebrigens – ich müßte zu sämtlichen +Zeitungen gehen. Kann Gertrud nicht einen Weg übernehmen?“ +</p> + +<p> +„Ich möchte, daß Gertrud nicht nur deine Mutter auf +diesem entsetzlichen Wege morgen begleitet, sondern auch über +den ganzen Tag bei ihr bleibt.“ +</p> + +<p> +„Ich werde es besorgen.“ +</p> + +<p> +„Gehe zu den drei großen Blättern: Anzeiger, Nachrichten, +Städtisches Blatt. – Was für einen Eindruck hast du +von deiner Mutter am Abend gehabt? Glaubst du, sie wird +überleben, wenn –“ +</p> + +<p> +„Ich habe sie nur flüchtig gesehen,“ unterbrach ihn Hermann. +„Sie ging schlafen, bald nachdem ich gekommen war. +Und in der halben Stunde, daß sie im Sofa saß, konnte ich, +wenn ich über den Löffel blickte, ihr Lächeln bemerken, dies +unerklärliche Lächeln, das an dem Tage begann, als das +Gericht uns die Anklageschrift auf den Rücken schickte.“ +</p> + +<p> +„Und was hat sie mit dir geredet?“ +</p> + +<p> +„Kein Wort.“ +</p> + +<p> +„O dieser Mörk, dieser Mörk,“ stöhnte Grahl, „hätte er +niemals das Zimmer bewohnt.“ +</p> + +<p> +„Ist sonst noch etwas, Papa,“ fragte Hermann, der aufstand +und alle Beilagen nach ihren Nummern zusammenlegte. +</p> + +<p> +„Nein, nichts, mein Junge ... außer den Zeitungsberichten, +weißt du.“ +</p> + +<p> +„Gute Nacht.“ +</p> + +<p> +„Gute Nacht, mein Junge.“ +</p> + +<p> +„Noch eins,“ sagte Hermann und wandte, schon an der +Tür, den Kopf um ein kleines rückwärts. „Ich werde morgen +sehr früh aus dem Hause müssen. Ich sage dir also schon +heute für morgen Adieu.“ +</p> + +<p> +<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a> +Grahl hörte noch seine festen Schritte, wie er über den +Flur in das Zimmer hinüberging, wo Gertrud lag und wahrscheinlich +noch wachte. Dann ging er selber behutsam ins +Nebenzimmer. Dort, in dem Bette neben dem seinen, bei +einem Lämpchen, das neben der Uhr stand, mit festverschlossenem +Munde lag Anna, von ergrauendem Haar das glühende +Gesicht umrahmt, aber ohne Bewegung und unhörbar atmend. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-4"> +Viertes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Am nächsten Morgen beim Kaffeetrinken saß Anna im +Sofa. Grahl begann, wie in den letzten Tagen gewohnt, eine +Unterhaltung von nebensächlichen Dingen, auf welche Anna +mit kargen Worten, dazu mit ihrem beständigen Lächeln einging. +Grahl fühlte die Zeiger weiterrücken, er vergewisserte +sich, daß seine Zeit schon knapp überschritten war – aber er +wollte seine Frau nicht verlassen, ohne ein bestimmtes Wort +gefunden zu haben. Er suchte danach. Wie jeden Morgen +empfand er es als Unmöglichkeit, Anna in ihrem einsamen +Unglück für sich zu lassen. An diesem, dem entscheidenden +Tage, erschien ihm das als Verrat, als <a id="corr-8"></a>der Bruch einer Pflicht. +Er saß und blickte vor sich in die Tasse – bis Anna aufstand +und schweigend die Stube verließ. +</p> + +<p> +Der Morgen war dunkel. Regen sprang auf den blanken +Straßen, an den Sielen schäumten die Strudel. Bei der +Haltestelle, die in der Nähe der Wohnung gelegen war, hielt +Grahl im Laufen inne. Aber die Trambahnen waren bei +solchem Wetter kurz vor Beginn der Geschäftszeit so überladen, +daß sie die Stationen ohne zu halten durchfuhren. Und +Grahl, unfähig auf einem Ort zu verharren, begann zu laufen +– aus Furcht vor versäumter Zeit und aus dem Bedürfnis, +das Denken in seinem Gehirn zu zerstreuen – in einem +Tempo, wie es ein eiliger Schuljunge anschlägt. Er hätte bei +tüchtigem Schritt weit länger als eine halbe Stunde für seinen +Weg gebraucht – nun lief er mit langen Beinen über die +Straße, der Schmutz des Pflasters spritzte an seinen Hosen +hinauf, und die Füße, in undichten Stiefeln, wurden vom +Wasser gebadet. Er kämpfte um jede Sekunde und erledigte +seinen Lauf in siebenundzwanzig Minuten – aber es war +mithin doch dreizehn Minuten nach neun geworden. +</p> + +<p> +Als Grahl in die Nähe des Kontorhauses kam, zog er den +Hut sehr tief ins Gesicht und ging nahe an den Häusern. Er +fürchtete nichts so sehr, als seinem Chef, der selber erst eine +Viertelstunde nach neun zu kommen pflegte, hier zu begegnen. +Er wußte bereits aus Erfahrung, daß Winters Automobil +von der anderen Seite auffuhr – daher hielt er das Auge +spähend vorwärts gerichtet, indem er mit kleinen Anläufen +dem großen Portal näher kam. Aber noch etwa zehn Schritt +vom Eingang entfernt, bemerkte er das blaue Automobil, wie +es hielt ... und schon erschien die zum Aussteigen etwas +gebückte Gestalt seines Chefs. Grahl, überrascht von diesem +Ereignis, stand einen Augenblick still, wie an die Stelle gezwungen. +Er wollte zurück. Aber die Vorstellung: wie +Winter an seinem leeren Pulte vorbeischreitend, stutzen würde +und fragen ... trieb ihn auf’s Geratewohl vorwärts. Wäre +er blind gewesen – genauer hätte er nicht ins Verderben +hineintappen können. Am Portal war er seinem Chef um +einige Schritte voraus, er stieß die Türe auf, aber nur einen +schmalen Spalt, durch welchen er selber allein hindurchschlüpfen +konnte ... Daß Winter, der nun vor der zugefallenen Tür +stand, schon allein wegen der Unhöflichkeit auf den vor ihm +Gekommenen aufmerksam werden mußte, sagte Grahl sich +nicht. Er kämpfte nur, wie ein Sterbender, um den Augenblick, +und wollte nichts weiter denken. Er jagte mit eingezogenem +Kopf, an der Kontrolle vorbei, die Treppen hinauf. +Indessen fuhr Winter, vom Hauswart höflich bedient, in +einem nur für Chefs und höhere Angestellte bestimmten Aufzug +die Höhe dreier Etagen aufwärts. Als er durch die +Pultreihen kam, langsamen Schritts, um alle Plätze eingehend +zu mustern, war Grahl, noch im Straßenjackett, statt +wie gewohnt in der schwarzen Lüsterjacke, mit einer Rechnung +beschäftigt. Grahls Stirne war dunkelrot. Winter blieb neben +ihm stehen ... so lange, bis Grahl seine Augen hob. +</p> + +<p> +„Und Sie schämen sich nicht?“ schrie Winter so laut, daß +alle Köpfe im Nacken zuckten. Grahl starrte ihn an. Winter +ging um den Bock herum, blickte unter das Pult, zog mit +den Händen Mantel und Hut hervor, die Grahl dort in Eile +verborgen hatte, schleuderte sie zur Erde und schrie noch einmal: +„Sie schämen sich nicht?“ +</p> + +<p> +Grahl, der bis in den Vorderkopf, wo seine dünnen +Haare klebten, erbleicht war, machte eine Bewegung mit +Daumen und Zeigefinger zum Brillenglas – aber diese +Bewegung war so, als griff er sich an das Herz. Winter +betrachtete ihn mit seegrünen, zynisch lachenden Augen. – +</p> + +<p> +Warum demütigt er mich dermaßen? dachte Grahl, wofern +es Denken zu nennen war, was in ihm vorging. Endlich, +endlich ging Winter weiter. Er ging langsam wie stets. +Einem Lehrling befahl er, den Personalchef Herrn Karst zu +rufen, der am anderen Ende des Ganges in einem mit Glaswänden +geschlossenen Raum die Abteilung ganz überblicken +konnte. Wenige Augenblicke später schon sah man Karst, eine +große, breitschulterige Erscheinung, den Gang zum Privatkontor +durchschreiten. Sein Gesicht, in dem nach Muster der +alten Militärs ein Schnurrbart stand, war voll und breit, +von gesunder Farbe, wie das eines Landmanns. Der Ausdruck +der Augen, wenngleich nicht Klugheit, so doch ein +Geschick zur Diplomatie verratend, dazu der wiegend elastische +Gang – dies alles in einem verriet die Brutalität eines +Mannes, der sich vom Pult des Kontokorrentbuchhalters bis +in den „Glaskasten“ hinaufgearbeitet, und nun nicht vergessen +hatte, wie schwer der Aufstieg gewesen wäre, und wie +leicht nun der Vorteil an Macht zu ziehen ... Jetzt betrat +Karst mit einer Verbeugung und klingendem „Guten Morgen, +Herr Winter,“ den Raum seines Prinzipals, um gleich darauf +die Tür zu schließen. +</p> + +<p> +In der folgenden Stunde versuchte Grahl, sich zur Arbeit +zu sammeln. Aber er raschelte nur unter Fakturen, blätterte in +dem Journal hin und her. Seine Hände zitterten, hinter der +Stirn führten zwei Stimmen Fiebergespräche. Als der +Personalchef nach mehr als dreiviertel Stunden zurück durch +den Gang gekommen war, um in seinem Glasraum die +Morgenpost zu sichten, bemühte sich Grahl, den Augenblick zu +bemerken, wenn Karst, mit dem Lesen des letzten Briefes zu +Ende, für eine kurze Pause, die zwischen dieser und seiner +nächsten Beschäftigung eintreten mußte, müßig am Schreibtisch +saß. Als dieser Zeitpunkt gekommen war, ging Grahl +in den „Glaskasten“, verbeugte sich, wünschte Guten Morgen, +und bat mit leiser Stimme um Urlaub für einige Stunden, +von halb zwölf gerechnet bis etwa um zwei. Karst, der nie +den Ausdruck der Mienen veränderte, fragte nach einer +Begründung. Grahl gab einen nicht aufzusparenden Weg, +eine Altersversorgung betreffend, vor. Karst konnte ein leises +Lächeln nicht unterdrücken als er nach einer Pause erwiderte, +Grahl möge diese Besorgung seiner Interessen noch um einige +Zeit verschieben, später sei ihm der Urlaub gerne gestattet. +Bei dieser Antwort erbleichte Grahl. Zusammen mit dem +verschwiegenen Lächeln drückten die Worte aus, was seinen +Herzschlag stocken machte. Er betonte noch einmal die Dringlichkeit +seines Weges – aber nun eigentlich nur noch zur +Entschuldigung seiner Bitte. Er war ganz verwirrt. Dazu +fragte Karst, in dessen Augen nun keine Spur mehr von +Lächeln lag, nach dem Stande der Arbeit. Und Grahl konnte +nicht anders, als die Wahrheit gestehen. Karst nickte – er +hätte nicht grausamer antworten können – als ob ihm dies +und nichts anderes erwartet käme. Doch, ergänzte Grahl, +hoffte er durch vermehrte Stunden der Tagesarbeit mit der +Prüfung seiner Fakturen noch bis zum rechten Termine fertig +zu werden. Das hoffe er auch, sagte Karst, indem er nun +auch den Ton zu dem vorigen Lächeln fand. Damit wandte +er sich einer Liste zu, die inzwischen von einem Lehrling +gebracht worden war. +</p> + +<p> +<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> +Grahl befand sich wieder allein vor dem Pulte. Arbeiten +war ihm unmöglich. Seine Gedanken waren bei Anna und +Gertrud. Sie standen nun vor dem Richter, er aber, der +zwar mit seiner Zeugenaussage auf keinem Fall dem Geschick +eine Wendung zu geben vermochte, fehlte in dieser Stunde. +In einer Stunde, wo Anna, die glühende Angst der Erwartung, +und im furchtbarsten Fall der Entscheidung, ein +Gewicht auf dem Herzen erdulden mußte, für das die bürgerliche +Gesellschaft in ihrer kompakten Masse die Wage bestimmt +hat. Grahl wütete gegen sich selber. Er durfte sich nicht den +Weg von der Arbeitsstätte zu Anna um den Preis der preiszugebenden +Wahrheit erzwingen – aber die erfundene Begründung +für seinen erwünschten Urlaub war schwach, lächerlich +schwach gewesen. Dennoch hatte er plötzlich den Einfall, +mit dieser selben Begründung direkt bei dem Chef den Antrag +zu wiederholen. Er ist ein Mensch, sagte er vor sich hin, +indem er mit seinen Händen die grauen Strähnen strich, die +seinen Vorderkopf leicht überdeckten. Er ging in die Garderobe, +um die Hände zu waschen. Als er eintrat, verstummte +sofort das Gespräch der dort versammelten jungen Leute. Es +blieb still, bis er den Raum verließ. Sein Gemüt war bedrückt. +Er stand an der Tür zum Privatkontor seines Chefs. +Er klopfte, trat ein und wartete auf eine einladende Geste, +ehe er begann. Aber Winter, nachdem er sich unterrichtet +hatte wer an der Tür stand, senkte die Augen hinter dem +mit gelben Hornreifen umrandeten Kneifer auf die Lektüre, +die vor ihm lag. +</p> + +<p> +„Ich möchte Sie bitten ...“ begann Jakob Grahl. +</p> + +<p> +„Sie wenden sich wohl an Ihren Bureauchef!“ +</p> + +<p> +Und Grahl wendete sich mit gebogenen Knien und ging. +</p> + +<p> +Sein nächster Gedanke war, ohne Erlaubnis das Haus +zu verlassen. Dieser Vorsatz war schon so stark befestigt, daß +Grahl bis an die Garderobe kam. Aber dort, vor der Türe, +den eckigen Schlüssel bereits in der Hand, schlug ihm die +Ueberzeugung, daß dieser Entschluß die wohlbegründete +Lösung des Arbeitsverhältnisses seitens der Firma zur Folge +haben mußte, mit solcher Heftigkeit vor die Stirn, daß er +aus seinem in sich selber versunkenen Denken wie durch den +Anblick einer drohenden Tiefe erschreckt, zu der Wirklichkeit +seiner Lage erwachte. Er sah sich schon jetzt dem Willen sämtlicher +Vorgesetzten, der Gleichgültigkeit oder Spottlust und +Klatschsucht seiner Kollegen preisgegeben. Er wußte nichts +Besseres zu tun, als in Unterordnung die Pflicht zu erfüllen +und in Demut zu hoffen, daß alle Anzeichen, die seine Entlassung +vorauszuverkünden schienen – das Lächeln Herrn +Karsts, das verstummte Gespräch der Kollegen, die Ereignisse +dieses Morgens, die verachtende Haltung des Chefs – dennoch +nichts mehr als Täuschungen wären, die den schreckhaften +Vater, der seine Familie zu jeder Minute bewußt als den +Antrieb im Innern spürte, zu leicht übermannten. Die +Hoffnung und bange Erwartung vermochten sogar, ihm für +einige Zeit vergessen zu machen, was Anna in dieser Stunde +erleben mußte. +</p> + +<p> +Man muß bedenken, daß der Gedanke, als Mann mit +ergrautem Haar aus dem Dienste entlassen zu werden, schon +am dreißigsten September, das will heißen: am Termin der +Kündigung auf den ersten November desselben Jahres, die +Perspektive auf Schrecknisse einer Zeit eröffnen konnte, wie +der vor einigen Jahren beendete Krieg sie an einem gewissen +Wendepunkt mit grausamen Händen gezeichnet; wie sie eben +erst – aber dies trifft nicht einmal auf alle Familien zu – +von den ungleich menschenfreundlichen Händen des Friedens +verwischt worden war. Die Wirkung – die seelische wie die +körperliche – der Kohlrübenjahre war damals und ist noch in +unseren Tagen so mächtig, daß die Furcht vor der Situation +des Stellungslosen in einer Zeit, da Massenentlassungen +Mode wurden, keiner besonderen Begründung bedarf. Grahl +– noch vor wenigen Stunden von einer ganz anderen Sorge +gepeinigt – kannte jetzt nur noch <em>eine</em> Bitte an die schicksalsfügende +Macht, an welche er glaubte, ohne sich dessen +bewußt zu sein: Daß bis um die sechste Stunde der drohende +Schlag der Entlassung ihn nicht treffen möge. Denn um +jene Zeit verließen der Chef und die Mehrzahl der Angestellten +das Haus. Hatte sich bis dahin die Gefahr nicht entladen, so +war sie über ihm weitergezogen. +</p> + +<p> +Aber noch war diese sechste Stunde nicht da. Nach drei +rief ihn die Telephonistin in eine Zelle. „Anna,“ sagte er, und +mit lautschlagendem Herzen nahm er den Hörer. Es war die +Bitte um Aufschub eines zahlungssäumigen Kunden, dessen +Konto Grahl in den Büchern führte. +</p> + +<p> +Von nun an erschrak er jedesmal, wenn die Klingel des +Telephons zu schrillen begann. Der Termin des Prozesses +war um zwölf Uhr gewesen, aller Berechnung nach war nun +das Urteil schon lange gesprochen. Sie wußten es, Gertrud +wußte es, Hermann wahrscheinlich auch ... Und Anna ... +Er aber saß hier und rang seine Finger, von Kümmernissen +zu beiden Seiten des Herzens benagt. Mußten sie nicht schon +längst eine Nachricht durchs Telephon für ihn haben? Und +wäre es nur aus Besorgnis um ihn, warum er, seinem Versprechen +entgegen, nicht im Gerichtsgebäude erschienen war ... +Daß dieser erwartete Anruf nicht kam, erfüllte ihn mit brennender +Angst, die in plötzlichen Wogen bis in die Augen stieg. +</p> + +<p> +Die Zeiger waren bis fünf geschlichen, aus dem Privatkontor +vernahm man die langhinsummenden Töne der Uhr. +Grahl tat einen Atemzug der Erleichterung, aber indem seine +Brust sich senken wollte, fiel auf das Buch, das mit offenen +Seiten auf seinem Pult lag – ein Brief! Sein Kopf fuhr +herum. Er sah den sechzehnjährigen Lehrling Menzel, der +sich eben auf seinem Absatz drehte – übrigens nicht mit der +Absicht, das mokante Lächeln auf seinem Gesicht zu verheimlichen. +Grahl berührte den Brief noch nicht. Kein Brief mit +der Post, keine Marke, kein Stempel. „Herrn Jakob Grahl, +im Hause,“ stand auf dem Kuvert. Er faßte es an – er +brauchte es nicht zu öffnen. Er schob es in seine Hosentasche. +Sein Gesicht war aschgrau. Er fühlte den Halt seines Körpers +verlorengehen, gleichsam ein notwendiges Gewicht aus dem +Kopfe fallen. Es blieb eine Leere. Er stützte die hohe zerbrechliche +Stirn zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken, +während die Rechte noch in der Tasche am Umschlag tastete. +Ein zitternder Seufzer ging unbewußt aus seinem bebenden +Munde hervor. In diesem Augenblick durchschritt Winter mit +seinen schallenden Schritten die Reihe der Pulte, er trug +den schwarzen Hut tief auf die Geiernase gerückt. Ein gelber +Rock hing von seinem gekrümmten Rücken herunter, er trug +ein paar brauner Lederhandschuhe mit einem schweren Handstock +mit silberner Krücke in Händen. Vor dem Hause erwartete +ihn sein Automobil. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-5"> +<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> +Fünftes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Außer dem Kontenführer Grahl war noch dem „Geiger“ +gekündigt worden, der erst kürzlich über den Lehrlingsgrad +hinaus, in die Stellung eines Kommis geklettert war. +Während aber der Kündigung Grahls ein Bemerken, das auf +Ueberzähligkeit hinwies, als Begründung zugefügt war, entbehrte +das Schreiben, welches der „Geiger“ erhalten hatte, +einer entsprechenden Angabe ganz und gar. Der „Geiger“ +empörte sich auch durchaus nicht dagegen. Er hatte in einem +seiner Cafés, wo er abends spielte, ein Mädchen kennen gelernt, +mit welchem er ohnehin schon einige Male über den +Tag spazieren gegangen war, obgleich diese Tage weder als +Fest- noch als Sonntage auf dem bürgerlichen Kalender +standen. Das Geigenspiel konnte ihn über dem Abgrund +vollkommenen Geldmangels halten. Dazu hatte der „Geiger“ +einen Vater, der ebenso jovial war wie er. Der Vater hatte +die Mittel, sich jedes Vergnügen zu leisten. Aus Gewissenszwang +wollte er, was er sich selber gönnte, seinem Sohn +nicht versagen. +</p> + +<p> +Seide Freunde neckten den „Geiger“ mit einem unter +den Angestellten beliebten Spruch. Einer rief: +</p> + +<p class="center"> +„Du wirst Kommis –“ +</p> + +<p class="noindent"> +worauf der Chorus einfiel: +</p> + +<p class="center"> +„Aber nich bi mi!“ +</p> + +<p class="noindent"> +Wenn sie in der Garderobe in der Nähe des Fensters +standen und „durch die Nase rauchen“ probierten, neckten +sie ihn. Er pfiff den Rauch weg und sagte: „Egal!“ +</p> + +<p> +Die innere Verfassung des anderen Gekündigten war +anders. Der anfängliche Sturz der Empfindungen hatte die +Denkkraft gelähmt. Und als er am Abend niemanden in der +gleichwohl erleuchteten Wohnstube fand, aber Anna mit ihrem +selbstvernichtenden Lächeln im Bett – nun nicht mehr glühend +von innerlicher Erregung und Präparation für die Stunde +am Richtertisch, sondern weiß bis in die schweigenden Lippen +– da sah der Alte nur noch die Kurve des Untergangs, er +fühlte die Hand eines Schicksals, der zu entrinnen vergeblich +wäre. Diese Familie war ihr verfallen. Ich weiß nicht +warum, sagte Grahl, ich weiß nur: es ist so. Er konnte sich +keine Rettung mehr denken. Er wünschte einen beschleunigten +Schluß. Er hoffte wirklich im Schlaf dies Ende zu finden. +Indem er, beinahe stumpf von Leiden, in sein Bett, neben +der verbissenen schweigenden Anna, hineinstieg, wanderten +seine Gedanken zu Hermann und Gertrud, die nur die Hälfte +des Schicksals kannten – nur das Teil, das ihre <em>Mutter</em> +betroffen hatte. Ich wünsche euch eine andere Seele, als ich +sie besitze, sagte er wie zum Nachtgebet. Mehr Kraft, mehr +Härte des Herzens, Kinder ... +</p> + +<p> +Er fand keinen Anfang für eine Frage, welche die Bestätigung +dessen verlangte, was er schon wußte. Er fühlte, +daß mit gebrochenem Schweigen der Schmerz, der dieser +Frau wie ein eisiger Block die Tränen versperrte, sich lösen +mußte. Von den Gedanken aufs neue bewegt, verbreitete +sich innerlich eine Erleuchtung – als ob hier Schuld und +Verfehlung keinerlei Rolle spielten. Und all das wäre das +Schicksal, wie ein Jeder das Seine gesondert empfängt. Die +Erkenntnis, daß seine vom Leben gefurchte Seele es war, +die ihn die Niederlage des heutigen Tages und endlich den +Untergang leiden ließ – dies Gefühl erfüllte ihn, ohne daß +er nach einer Begründung fragte, gleichwie ein Glück. Er +war stolz, sein Schicksal, je schwerer, je lieber, zu tragen. Da +sagte er: „Anna!“ Der Glauben, der in ihm zu herrschen +begann, machte ihn mächtig, die Wirklichkeit in dem heiteren +Lichte der Unschuld zu sehen und er meinte diese Gabe des +Sehens teilen zu können, mit wem er es wünschte. +</p> + +<p> +Anna aber sagte nicht mehr als <em>ein</em> Wort, in dem sich +eine Lippe rührte, sonst nichts: „Gefängnis.“ +</p> + +<p> +„Habe darum keinen Gram. Ueberwinde das mit dem +Stolz deines Herzens, wie ich.“ Er blickte sie an. +</p> + +<p> +Sie hob die blasse Hand von der Decke und drehte den +Docht der kleinen Lampe so tief, daß sie verlöschte. Er nahm +ihre Hand, sie entzog sie ihm nicht. Aber sie weinte auch nicht +und sie sprach kein Wort. Auch er wußte nichts mehr zu +sagen. Die Helligkeit in ihm war plötzlich erloschen. Er ließ +ihre Hand los und bohrte den Kopf in die Kissen. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Gertruds Stimme weckte den Vater am folgenden +Morgen. Er lag einige Minuten mit offenen Augen, ohne +daß eine Erinnerung an die Dinge von gestern kam. Das +Bett neben ihm war leer. Er hob sich erschreckt auf den +Ellenbogen – in einer Sekunde standen die Tatsachen um ihn +herum. Verwundert, wie das Gedächtnis an den verhängnisvollsten +Tag seines Lebens, um soviel später in ihm +erwachen konnte, als er selbst – und grübelnd, ob nicht die +Fähigkeit, zu vergessen, was zu vergessen von Nutzen sei, ein +zu erkämpfendes Können des Innern wäre ... so stand er +auf, sah in den grauen, rieselnden Morgen, durch leckenden +Regen, und kleidete sich langsam an. Eine Schwermut, +körperlich, schien ihn zu lähmen. +</p> + +<p> +Mit seinem Sohne ging er ein Stück des Weges. Er +hatte sich von dem Anblick der leidenden Frau mit Gewalt +getrennt. Hermann unterrichtete ihn mit leiser, von sachlichem +Ausdruck beherrschter Stimme, von den Ereignissen des vergangenen +Tages. Frau Anna Grahl war zu einer Gefängnisstrafe +von dreiundeinhalb Monaten verurteilt worden. Sie +war nicht einmal dazu gekommen, die wohlvorbereitete Verteidigung, +alle die in schlaflosen Nächten eingeschärften und +oft wiederholten Wendungen, am Richtertisch vorzutragen. +Der Vorsitzende hatte ihr inneres Bekenntnis, zu dem sie nicht +aufgefordert war, mit einem herrischen Ausbruch der Ueberlegenheit, +die sich offenbar mit besonderer Anerkennung +respektiert sehen wollte, unterdrückt, und die Angeklagte in +die einzige Haltung gedrängt, die ihr in ihren eigenen Augen +nun noch gemäß war: in stolzen, schweigenden Trotz. So +hat sie also den Kampf aufgegeben, und ließ es gehen, ohne +hinzuhören – schloß Hermann mit einem flüchtigen Seitenblick. +„Ich biege hier ab. Guten Morgen, Vater.“ +</p> + +<p> +Grahl hatte die Kündigung sorglich verschwiegen. Sein +Wunsch war, die bedrückten Herzen der Seinen durch die +Form, die er selber hielt, zu erleichtern. Nichtsdestoweniger +waren in ihm der leidensbereite Wille, die stolze Demut unter +das Schicksal, die am vorigen Abend in eigenartiger Kraft +aus der Schwäche erstanden waren – verstummt und vergessen. +Aber das gleiche Gefühl für die Pflicht, das ihn am +Kontorpult beherrschte, war in der Sorge um seine Familie +wieder erwacht; es lenkte seine Entschlüsse in völliger Unbekümmertheit +um die geschehenen Verstöße, mit welchen ein +Vorgesetzter die Führung des Angestellten belasten konnte. +</p> + +<p> +Er berief auf den selbigen Abend die Ausschußversammlung +ein. Die Ausschußmitglieder bestanden aus sechs Vertretern +des Personals, von denen Grahl der älteste war. Sie +trafen am Abend in einer Restauration, die „Himmelspforte“ +genannt, zusammen. Grahl forderte auf, seiner Entlassung +den Ausschußwillen entgegenzusetzen, da er, als Mitglied des +Ausschusses, in einem Verhältnis zur Firma stände, das bei +erloschenem Mandat erst zu lösen wäre, nicht früher. +</p> + +<p> +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +Aber zu seinem Erstaunen waren die übrigen Ausschußmitglieder +durchaus nicht einig in ihrer Meinung. Es ergab +sich, daß drei unter ihnen in ihrem Gewissen Bedenken +empfanden, das Interesse ihres Kollegen zu schützen, ohne den +Standpunkt der Firma in Rücksicht zu ziehen. Diesen Standpunkt, +hieß es, kenne man wohl, obgleich er – wohl aus einer +gewissen Milde – in dem Entlassungsschreiben verschwiegen +war. Der eigentliche Grund zur Entlassung Grahls – darin +waren diese drei Herren sicher – wäre natürlich der Mangel +an Arbeitskraft und Zuverlässigkeit, der in den letzten Wochen +vermocht hatte, den guten Kredit seiner siebenundzwanzig +Arbeitsjahre zu annullieren. Wie sollten sich also diese gewissenhaften +Ausschußmitglieder für Grahl entscheiden? +</p> + +<p> +Widerrede wurde dagegen laut. Grahl selber erklärte, +daß <em>die</em> Begründung, die das Kündigungsschreiben enthielt, +maßgebend wäre – nicht eine verschwiegene. Wer nähme +wohl an, die Firma wäre in ihrer Erklärung von zarter +Rücksicht geleitet? Im übrigen hielt der Einwand, die +mangelnden Qualitäten betreffend, nicht Stich. Wenn im +Verlauf von mehr als einem Vierteljahrhundert ein Mann +mit niemals <a id="corr-19"></a>lahmendem Willen die Kraft seines Denkens und +Tuns in den Dienst einer Firma gestellt habe, so sei er nicht +davonzujagen gleich einem ungebärdigen Hunde, wenn ihn +in einem gefährlichen Augenblicke seines Familienlebens die +Kraft für eine Spanne verlasse. Er setzte sich wieder und +stützte den Kopf in die zitternde Hand. +</p> + +<p> +Man fragte ihn, ob er nicht dies persönliche Schicksal als +Begründung seiner offenbaren Veränderung vortragen wollte. +Er schüttelte mit dem Kopf, ohne die Hand von den Augen +zu lösen. +</p> + +<p> +Den drei Vorsichtigen wurde noch andershin widersprochen. +Wiewohl es auch möglich sei – führte ein Obmann +aus –, daß die Entlassung des Kollegen Grahl aus den vorhin +genannten Gründen erfolgt sei, so bestehe die Tatsache +dennoch fort, daß Entlassungen zu Zwecken von Ersparnis +einiger Angestelltensaläre ohnehin in Aussicht genommen +waren. Mehrere Posten mit geringerer Arbeitsbelastung +sollten, je zwei, vereinigt an einen der beiden Postenverwalter +übertragen werden, um den zweiten zur +Uebernahme anderer Tätigkeit freizumachen. Hätte das +Schicksal also nicht Grahl getroffen, so wäre ihm gleichwohl +ein anderer zum Opfer gefallen. Derjenige nämlich, +der nach der Geschäftsleitung Ansicht am wenigsten Nutzen +der Firma bringe. – Das sehe man ein, nicht wahr? Man +müsse also <em>dagegen</em> sein, im Prinzip. Stände im Falle des +„Geigers“ die unanfechtbare Begründung mit seiner Faulheit +nicht fest zu erwarten, so wäre auch dieser Kündigung die +notwendige Beistimmung des Ausschusses zu versagen. Es +handle sich um Entscheidungen, die für Jeden einmal Bedeutung +erlangen könnten. Ueber allem aber dies: Zu was +bestände denn das Gesetz, das die Entlassung des Obmanns +verbietet? Wer könnte bürgen, daß nicht eben sein Amt im +Ausschuß es war, das ihn zum Fallen gereift hätte? Und +wer von den Ausschußmitgliedern dächte hierbei nicht an sich +selber? Er verlangte die Unterschriften. +</p> + +<p> +Die drei Widerstrebenden dachten wahrscheinlich sehr +intensiv an sich selber. Sie hielten die Macht ihres Mandats +für gering im Verhältnis zur Macht eines Leiters der +Personalabteilung, gegen dessen Beschlüsse man wohl am +besten nicht knurrt. Ein Mandat hat auch einmal ein Ende, +dachten sie wohl ... Und sie konnten sich nicht für ihren +Kollegen entscheiden. Sie meinten, etwaige Mängel der Führung +seien durchaus nicht durch ein im übrigen unantastbares +Amt als gedeckt zu betrachten. Darauf berief sich Grahl +erneut auf die Begründung des Kündigungsschreibens, in +welchem mit keinem Worte irgendeines Mangels gedacht war. +Es gelang ihm nicht, sie auf seine Seite zu ziehen. Und obgleich +dem gegebenen Rechte nach kein Ausschußmitglied seine +Unterschrift unter das Einspruchsschreiben, das inzwischen +gefertigt war, hätte verweigern können, so zeigte es sich dennoch, +daß die drei Nichtgewillten bis zum Ende in ihrer +Opposition verharrten. Ihre Furcht vor dem Eindruck, den +ihre Unterschrift unter ein dem Willen der Geschäftsleitung +entgegengesetztes Schriftstück hervorrufen mußte, war begreiflich +groß. Nach langem Widerstande bemerkte Grahl, daß +sein beharrliches Dringen aufs Recht ihm dennoch keinen Vorteil +brachte, und er ergab sich darein, seinen Fall als den Fall +eines einfachen Angestellten zu führen. Noch bei einem +Stimmenverhältnis von drei zu drei war <em>für</em> den Angestellten +entschieden. Das Schriftstück, in welchem der Ausschuß +die Einwilligung zur Entlassung des Buchhalters Grahl +versagte, trug die folgenden Unterschriften: Baaß, Ehrlich, +Grahl. +</p> + +<p> +Grahl ging in bedrückter Stimmung nach Hause. Die +Unzulänglichkeit dieser an sich so verläßlichen Institution hatte +ihn überrascht und erschüttert. Er war für den Tag, für den +Monat und für den nächstfolgenden auch, gerettet. Aber +gewöhnt, bei der Bilanz seiner Lebenshaltung nicht nur die +Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und Zukunft in +Betrachtung zu ziehen, bangte ihm vor den kommenden Zeiten, +die ihn zwingen würden, die Hilfe der Ausschußmitglieder +erneut anzurufen. Wenn sie ihm dann sein Recht versagten? +Gewiß, er würde es von höherer Stelle erhalten. Das Recht +schützt der Staat ... +</p> + +<p> +Als er nach Hause kam, fand er wieder die Stube erleuchtet +und leer. Er ging schweigend durch alle Zimmer; +Hermann und Gertrud fand er in ihrer gemeinsamen Stube +lesend. Als er ihre hochgezogenen roten Stirnen wahrnahm, +unterdrückte er seine Frage. +</p> + +<p> +Frau Anna Grahl war bereits ins Gefängnis gegangen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-6"> +Sechstes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Am zweiten Oktober wurde das Schriftstück, das der +Ausschuß am vorhergehenden Abend beraten hatte, dem +Personalchef Herrn Karst übergeben. Dies geschah gegen +Mittag. Nachmittags ging Herr Karst in das Kontor des +Chefs, und die Türe wurde nachdrücklich geschlossen. Aber bis +zum Abend geschah durchaus nichts. +</p> + +<p> +Grahl blieb an diesem Tage bis fast in die Nacht am +Pulte, um die Fakturenkontrolle, wie erforderlich, am nächsten +Tage beenden zu können. Mitunter gelang es ihm, wohl eine +Viertelstunde lang ruhig und aufmerksam die Salden der +Konteninhaber zu prüfen, – dann plötzlich fuhr er sich mit +der Hand über Stirn und Augen, blickte um sich, um zu +bemerken, daß selbst Herr Uri schon fortgegangen war, und +daß außer dem hellgrünen Licht, das auf sein Pult von der +Lampe über ihm strahlte, das ganze Kontor im Dunkel lag. +Dann konnte er zehn Minuten lang mit verdeckten Augen +sitzen und denken. Er dachte an Anna. Die Notwendigkeit +trieb ihn wieder zur Arbeit. Wenn er die Menge des noch +zu bewältigenden Materials vor sich sah, fühlte er, wie sein +Herz sich krampfte, ein Schwindel begann seinen Kopf zu +verwirren. Mit einem stöhnenden Laut, gewaltsam, setzte +er seine Rechnungen fort. +</p> + +<p> +Grahl hatte einen der lastendsten Posten, er führte die +Konten der Firmen, deren Titel mit M, N oder R begannen. +Auf diesen Platz, das „Konto MR“, war er, als ein zuverlässiger +Buchführer, im Laufe der Jahre – noch unter dem +Vater des jetzigen Chefs und unter wechselnden Personalvorgesetzten +– gelangt. Aehnlich umfangreichen Arbeitsstoff +hatte höchstens der Kontenführer des „Konto ST“ zu bewältigen. +Für diese Erscheinung eine Erklärung zu finden, +ist leicht, wenn man die Statistik der vorkommenden Namen +in unserem Lande betrachtet; eine solche Statistik bietet zum +Beispiel das Adreßbuch der Stadt. +</p> + +<p> +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +Am nächsten Tage mußte Grahl statt fertiger Arbeit die +Erklärung abgeben, daß er in einigen Tagen bestimmt alle +von ihm geführten Konten zum Abschluß gebracht haben +würde. Nicht lange nachdem diese Mitteilung seinerseits geschehen +war, befahl ihm der Personalchef Karst, sich unverzüglich +in eine andere Abteilung, das Revisionsbureau, zu begeben. +Der Dienst dieses Ressorts bestand darin, die Arbeit +der Kontenführer zu prüfen, ihre Fehler zu finden und richtigzustellen. +Zwar erforderte diese kontrollierende Tätigkeit +Ausdauer und ein gewisses Talent, das mit dem Spürsinn zu +tun hat – aber dennoch wurden die Posten dort meist mit +jungen Angestellten und Kontoristinnen besetzt, deren Monatsgehälter +einem der niedersten Sätze des Angestelltentarifs +entsprachen. Kaum hatte Grahl seinen Dienst in dieser Abteilung +begonnen, als der Lehrling Menzel den Raum betrat, +um ein verschlossenes Kuvert auf seinen Platz zu legen. Grahl +öffnete und fand nun in deutlichen Worten die Begründung +zu seiner Entlassung ausgesprochen – dies war die Antwort +auf die gestern erfolgte Eingabe des Ausschusses. Als Grahl +jenes Wort, das, alles in einem, den Grund zur Entlassung +aussprach, las – suchte er tastend nach einem Halt. Im +übrigen wurde ihm dringend geraten, freiwillig aus diesem +unerquicklichen Dienstverhältnis auszuscheiden, das, je weiter +er es in die Länge zu dehnen versuche, desto mehr an Schaden +ihm bringen würde. Das Wort, die Begründung, hieß: +Unfähigkeit. +</p> + +<p> +Wäre Grahl seiner ersten Regung gefolgt, hätte er sich +um eine Unterredung mit Karst oder gar mit Winter bemüht. +Aber gewarnt durch den letzten Bescheid, den er von Winter +hatte entgegennehmen müssen, hielt er sich fest vor dem Pult, +und es gelang ihm notdürftig, sich zu seiner neuen Arbeit zu +sammeln. Als die Kontorzeit vorüber war, begab er sich eilig +zur Post, um dort einen Brief, einen schmerzerfüllten Protest, +aufzusetzen. Später strich er die innerlichst gefühlten Worte +heraus und als er das Schreiben in sauberer Abschrift an +einem der Schalter gegen Quittung aufgab, da war es ein +sachlich gestraffter Widerspruch. „Man hätte mir eine Frist +zur Verfügung stellen sollen,“ schrieb Grahl, „zum Beweisen, +daß das Nachlassen meiner Arbeitskraft nur auf äußere Einflüsse +ohne Dauer zurückzuführen war. Man hätte mit mir +verhandeln sollen“ (das Wort „menschlich handeln“ hatte zuvor +an dieser Stelle gestanden), „statt dessen hat man mich +schweigend beobachtet und in Unkenntnis meiner Lage mir +gekündigt.“ +</p> + +<p> +Er merkte es wohl – an dem nächsten wie an allen +folgenden Tagen: Von seinen Vorgesetzten als Arbeitskraft +völlig verachtet, ward er von seinen Kollegen im Rücken +verspottet. Diese seltsamen Kreaturen, die ihn so lange als +arbeitsamen, rechtschaffenen Buchhalter kannten, schoben die +Oberzähne über die Unterlippe, fast bis aufs Kinn, als wollten +sie sagen: Du Verräter der Firma, der gegen die Autorität +opponiert, – hebe dich fort, wir haben mit dir nichts zu tun. +Der Einzige, der ihn freundlich ansprach, war Uri. Sie waren +während einiger Jahre Pultgenossen gewesen. +</p> + +<p> +Der Leiter der Revisionsabteilung war Baaß, derselbe, +der im Ausschuß für Grahl gegen seine Entlassung gehandelt +hatte. Aber nun erschien dem biederen Manne die Stellung, +in die er sich selber begeben hatte, nicht mehr ungefährlich – +auch war ihm vielleicht von höherer Stelle die Initiative, die +er jetzt ergriff, nahegelegt. Er besah sich öfters am Tage +seinen Revisionsangestellten Grahl, indem er sich mit der +roten, fleischigen Hand über den goldblonden Borstenschnurrbart +strich. Und endlich erklärte er Grahl – er brauchte zu +dieser Erklärung sechs Worte: er wisse mit ihm nichts anzufangen. +</p> + +<p> +Ueber diese Erklärung war Grahl so verdutzt, daß er die +Augenlider zusammenzog, als blinzelte er gegen Rauch. Er +fragte seinen Ausschußkollegen nach dem Anlaß, den er zu +solchen Worten gegeben: und er erfuhr, daß er, Jakob Grahl, +der Arbeit, die man ihm gab, sich augenscheinlich durchaus +nicht gewachsen zeigte. +</p> + +<p> +„Erledige ich nicht, was man mir zu erledigen gibt?“ +</p> + +<p> +„Schon recht,“ sagte Baaß und rieb mit dem Zeigefinger +über den Borst unter der Nase – „aber man kann Ihnen +leider nur wenig geben. Sie arbeiten langsam, Herr Grahl.“ +</p> + +<p> +Unfähigkeit! sagte Grahl für sich, obgleich er wußte, daß +Baaß all dies sagte, um ihn aus irgendeinem Grunde, den +er nicht kannte, zu verderben. Er biß die Zähne gegeneinander +und machte jene Bewegung zur Brille, wie um sie besser +vors Auge zu setzen – und schwieg. +</p> + +<p> +Was kümmert mich dies, sagte er sich später, mir bleibt +mein Mandat, das mich schützt. Er war entschlossen, in diesem +Kampfe nicht nachzugeben. Ich sehe keine Veranlassung, +dachte er in kaltem Trotz, mich aus freien Stücken auf die +Straße zu setzen. Ermordet mich und schafft mich hinaus ... +lebendig bringt ihr mich nicht vor die Türe. +</p> + +<p> +Aber während dieser Zeit schweigenden Kampfes wurde +er äußerlich und auch innerlich anders. Hatte er früher mit +Hermann die Tagesereignisse gern und lebhaft besprochen – +so saß er jetzt schweigend, bleich, mit aufgewälztem Stirnbein +und verdeckten Augen seinen Kindern gegenüber beim Abendbrot. +Sie dachten, es wäre das Unglück der Mutter, das seine +Gestalt so mager erscheinen ließ. Und in Wirklichkeit – <em>war</em> +es nicht dies? Ja, <em>auch</em> dies. – Mitunter meinte er nachdenklich +bei sich selber, daß diese <em>beiden</em> Kümmernisse <em>auf +einmal</em> nicht ohne heilsamen Vorteil wären, da dem einen +Kummer, sobald er stärker zum Herzen vorstieß, der andere +zur Ablösung kam. +</p> + +<p> +Zwei Tage später aber, als Baaß seiner Unzufriedenheit +Ausdruck gegeben hatte, wurde Grahl auch von dem neuen +Posten im Revisionsbureau enthoben und in die Paketannahme +versetzt. Er übernahm dort den Posten eines Herrn, +der an diesem Tage aus unbekanntem Grunde nicht wieder +zur Arbeit erschienen war. Grahls Tätigkeit war mit einigen +Boten zusammen, die sehr verwundert waren, den Herrn +Buchhalter Grahl, den sie noch vor kurzem mit tiefgezogener +Mütze gegrüßt hatten, nun als ihresgleichen beim Quittieren, +Sortieren und bei der Verteilung eingehender Pakete zu +sehen. Er selber fand diese Verwunderung seiner neuen Kollegen +natürlich, und er behandelte sie mit der gleichen Achtung, +die er nicht nur für Menschen, sondern vielmehr für jedes +lebende Wesen empfand. +</p> + +<p> +Wenn er abends über die dunklen Straßen den Heimweg +ging, wagte er es, seine Mienen abzuspannen, und sein über +den Tag aufrecht getragener Körper gab sich nun Erschlaffung +hin. Seine Lider lagen schwer über dem trostlosen Blick; seine +Mundwinkel, von dem struppigen Schnurrbart wirr überhangen, +waren tief bis ins Kinn gefurcht. Es war in solchen +Augenblicken ein Ausdruck des Grams schon vermischt mit den +Mienen verächtlicher Gleichgültigkeit – Gleichgültigkeit gegen +die flackernden Blicke, den hitzigen Atem der Welt. +</p> + +<p> +Einmal traf er am Ausgang mit Uri zusammen. Sie +gingen ein Stück des Weges miteinander. Uri erzählte, der +erste Nachfolger Grahls auf dem „Konto MR“ sei schon am +dritten Tage an ein anderes Pult zu anderer Arbeit versetzt +worden. Der nächste aber, ein junger Mann, der sich viel auf +seine Gewandtheit zugute tat – hatte während eines einzigen +Tages des Amtes gewaltet, um am nächsten und allen folgenden +Tagen überhaupt nicht mehr im Hause sichtbar zu werden. +Er zog es vor, mit gutem Mut eine Stellung bei einer +anderen Firma zu suchen. Das „Konto MR“ hatte seitdem +den Namen erhalten: „Konto Ueber die Kraft“. +</p> + +<p> +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +Grahl schwieg dazu. Uri seufzte einige Male. „Sie +wissen doch, Grahl,“ begann er, „daß nun auch gegen den +Ausschußwillen beim Arbeitsgericht Einspruch erhoben +worden ist?“ +</p> + +<p> +„Was ... sagen Sie da?“ sagte Grahl leichenblaß. Seine +Stimme war rauh. Er zog die Augenlider zusammen. Plötzlich +stolperte er seitwärts einige Schritte und hielt sich schwer +atmend an einem Baum. +</p> + +<p> +„Nicht erschrecken, Grahl,“ sagte Uri und nahm seinen +Arm. „Meiner Meinung nach erwartet Sie Kampf ... +Kampf und Sieg. Das Arbeitsgericht wird, in gerechter Betrachtung, +sich für den Ausschußwillen entscheiden müssen.“ +</p> + +<p> +„Das Arbeitsgericht, soso ...“ sagte Grahl mit einem +Ausdruck von Gleichgültigkeit. +</p> + +<p> +Als er aber in seiner Stube hinter der Zeitung die +leidenden Mienen vor den Kindern versteckte, erwachte der +Anfangstrotz wieder auf, der dem Gefühl für die Seinen +entsprang. Hermann las in dem kleinen Band einer volkstümlichen +Bibliothek – es war eine Einführung in die +Philosophie –, Gertrud, indem sie an einem Kleide nähte, +beachtete jede Bewegung des Vaters, jeden Blick – um ihm +das Teeglas aufs neue zu füllen oder die Teller vom Tische +zu tragen oder das Gaslicht zu regulieren. Sie war es auch, +die ihre Mutter in ihrer jetzigen Wohnung besuchte. Niemanden +anders wollte die Frau zu Besuch haben. Mitunter +sah Grahl seine Tochter mit einem kurzen dankbaren Ausdruck +an, als hätte er all seine Zärtlichkeit, die er in der denkbar +verschwiegensten Weise zu äußern imstande war, auf +das Kind zu übertragen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-7"> +Siebentes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Am 21. Oktober, dem Termin der Arbeitsgerichtsverhandlung +in Sachen der Firma Winter, Kommanditgesellschaft, +gegen den Buchhalter Jakob Grahl, befanden sich vor +dem Vorsitzenden: als der Vertreter der antragstellenden +Firma der Personalchef Karst, als seine Zeugen Herr Baaß +nebst einem andern Ausschußmitgliede – welches übrigens +eines der drei widerspenstigen war –; ihm gegenüber: der +Angestellte Grahl mit seinen Zeugen: Uri, langjährigem Pultgenossen +von Grahl, und Rottmann, dem früheren Personalchef, +der vor Jahresfrist als ein sechsundsiebzigjähriger +Mann nach mehr als drei Jahrzehnten die Arbeit endgültig +aus den Händen gelegt hatte. Er widersprach mit leiser fester +Stimme der Meinung Herrn Karsts, der in dem Buchhalter +Grahl das Prinzip der Unzuverlässigkeit <span class="antiqua">in corpore</span> erblickte. +Rottmann vermochte mit gutem Gedächtnis aus Redewendungen +Grahls, die er zitierte, und charakteristischer Handlungsweise, +die er lebhaft zu schildern wußte, dem Vorsitzenden +und seinen Beisitzern ein lebendiges Bild zu vermitteln. +– Nach ihm wurde der Leiter der Revisionsabteilung, Herr +Baaß, um seine Zeugenaussage befragt. Herr Baaß, indem +er sich über den Schnurrbart rieb, begann im Tone der echtesten +Ueberzeugung die Worte Herrn Karsts zu wiederholen. +Aber er hatte kaum einige Sätze vorgebracht, als Grahl, der +mit graublassem Gesicht und geschwollenen Schläfen am Tische +stand, in unhemmbarer Erregung, mit hastig gestoßener heller +Stimme zu widersprechen begann. Der Vorsitzende rief ihn +zur Ruhe, er vermahnte ihn, bis die Aufforderung zur Rede +an ihn erginge, stille zu schweigen. Aber Grahl, mit beschwörend +vorgestreckten Armen, rief mit dringlichstem +Ausdruck: +</p> + +<p> +„Ihn treibt im besten Falle die Furcht, mit einem günstigen +Wort über meine Leistung die Gunst seiner Obern zu +verlieren. Ihn hindert Feigheit, ehrlich zu sein – nicht Feigheit, +nein, ich verzeihe ihm das, weil ich weiß, wie es tut, um +das Brot der Zukunft zu bangen.“ +</p> + +<p> +Darauf schwieg er still. Und es war eine Stille im +Saal. Der Vorsitzende und seine Nebenmänner, von dem +echten Klang dieser Stimme erschüttert, vergaßen den kühlen +Ausdruck, dessen sie sich sonsthin bedienten. Die übrigen, die +vor dem Tische standen, verhielten den Atem. Nur Karst, +zuerst überrascht und mit ängstlichen Mienen – gab sich nun +den verächtlichsten Ausdruck, dessen er fähig war. – Das Gericht +ging nun zur Beratung über. +</p> + +<p> +Dies Arbeitsgericht war vormals eine Funktion des +Kaufmannsgerichts gewesen. Infolge vieler willkürlicher +Entlassungen hatte es sich zur besonderen Instanz ausgebildet, +und sein Zweck war die Schlichtung von Streitigkeiten +zwischen Arbeitgebern und Angestellten. Die Entscheidung +dieses Gerichts war der „Beschluß“, gegen den ein Einspruch +nicht möglich war. – Grahl stand mit gesenkten Augen am +Tisch. Seine stummen Lippen drückten den Ueberdruß eines +Mannes aus, der am Ende des Kampfes, ob Sieg oder +Niederlage, mit der Empfindung unbegrenzter Verachtung +den Platz verlassen wird. Dennoch wurde er noch um eine +Nuance bleicher, als der Vorsitzende den Beschluß zu verkünden +begann. +</p> + +<p> +Der Beschluß hatte folgenden Wortlaut: +</p> + +<p> +„In der Sache der Firma Winter, Komm.-Ges., Antragstellerin, +gegen den Buchhalter Jakob Grahl, Antragträger, +die Erwirkung der Erlaubnis zur Entlassung des +Antragträgers betreffend, erkennt das Arbeitsgericht durch +Richter und Beisitzer für Recht: Die beantragte Zustimmung +zur Kündigung Grahls wird versagt. – Die Begründung +folgt schriftlich.“ +</p> + +<p> +„Sehen Sie,“ sagte Herr Uri, der gar nicht zur Zeugenaussage +gekommen war, „sehen Sie, Grahl, nun haben Sie +doch nicht umsonst ihr gutes Zeug angelegt.“ +</p> + +<p> +Grahl bewegte die Lippen. Gertrud und Hermann, +sagte er lautlos. Er lachte über Herrn Uris Spaß. Auf den +Abend lud er ihn in die Wohnung ein. Herr Uri, der nicht +verheiratet war, bewohnte ein kleines Zimmer und saß an +den Abenden, die schon winterlich waren, in Cafés oder +Restaurants. – Vorerst begaben sich die beiden zurück an die +Arbeit, denn erst war Mittag vorbei. Grahl ging gebeugt, +mit schüchtern gebogenen Knien neben der aufrechten breiten +Gestalt seines Zeugen. Schon am Eingang zum Kontorhause, +wo sie einige Bekannte trafen, rief Uri das Ergebnis +mit schallender Stimme aus. Er drehte an seinem kräftigen +Schnurrbart und lachte. Er ging an sein Pult, Grahl in die +Paketannahme. +</p> + +<p> +Abends bewirtete Grahl, der nun erleichterten Herzens +seinen Kindern alle Erlebnisse der letzten Woche mitteilen +konnte, den Gast. Zwar mußte er sich diesen Posten in der +Paketannahme gefallen lassen ... mußte, noch mehr, bei Ablauf +seines Mandats der Entlassung gewärtig sein – an eine +Mandatsverlängerung war schwer zu glauben ... „Aber, +mein Gott, hieße es nicht eigentlich undankbar sein, an diesem +Tage der sicheren Gegenwart zu vergessen?“ fragte Uri, „um +einer nicht unbedenklichen Zukunft willen?“ +</p> + +<p> +„Ja, ja,“ sagte Grahl. Aber er faßte nervös an die +Brille und sah seine Kinder an. +</p> + +<p> +„Und übrigens,“ meinte Uri, „stehen das Fräulein +Tochter wie der Herr Sohn auf eigenen Füßen?“ +</p> + +<p> +Nein, Hermann studierte und brauchte nun einmal die +Unterstützung des Vaters. +</p> + +<p> +„Und Fräulein Gertrud?“ fragte Herr Uri. „Gehen Sie +nicht nach dem Beispiel so vieler Frauen in berufliche Konkurrenz +mit uns Männern?“ +</p> + +<p> +Grahls Tochter wurde rot, als Herr Uri, dieser Mann +mit seinem großen Schnurrbart und den offenen blauen +Augen, sich direkt an sie wandte. Sie schüttelte nur den Kopf. +</p> + +<p> +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +„Das gefällt mir,“ sagte Herr Uri lachend, „und auch, +daß Sie, was Ihre Kopfzier betrifft, nicht im Wettbewerb +mit den Männern stehen.“ +</p> + +<p> +Hier mußten alle lachen. Herr Uri machte auf seine Art +Komplimente. Gertrud hatte zwei goldblonde Zöpfe dicht und +breit im Nacken gewunden. Sie bedeckten die Ohren – die +sicherlich so dunkel erröteten wie Wangen und Stirn, als Herr +Uri das Glas, mit einem leichten Rotwein gefüllt, ihr entgegenhielt, +und mit seinem galantesten Lächeln sagte: „Zuerst +auf Wohl und Genesung Ihrer Mutter im Krankenhause – +und nun auf das Ihre!“ +</p> + +<p> +Er lachte und trank. +</p> + +<p> +Grahl legte seine weiße Stirn zwischen Daumen und +Zeigefinger; Gertrud bückte sich, um ein Fädchen vom Teppich +zu geben; Hermann sprach einige Silben, stand auf und entfernte +sich aus der Stube. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-8"> +Achtes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Am folgenden Tage wurde Grahl durch den Lehrling +Menzel vor Herrn Karst gerufen. Herr Karst las in einem +Briefe ruhig bis zu Ende, ohne den Gruß von Grahl erwidert +zu haben, der nahe der Tür stehengeblieben war. Als er mit +dem Lesen fertig war, machte der Personalchef dem Angestellten +den Vorschlag, freiwillig zum Ende des Monats auszuscheiden. +</p> + +<p> +Grahl glaubte im Ernst, nicht richtig verstanden zu haben. +Herr Karst wiederholte den Vorschlag und Grahl konnte +darauf nur fragen: Ob nicht gestern ein Beschluß der Instanz +in dieser Sache entschieden hätte? Herr Karst überhörte diese +Bemerkung. Es schien, als interessierten ihn nur seine eigenen +Worte – und außer diesen höchstens die Bestätigung, die +nach seinem Wunsch zu erfolgen hatte. Er wiederholte wörtlich +das vorige Verlangen. Grahl preßte die flache Hand an +die Stirn. – Sie nehmen mich hier beleidigend einfach, schien +er zu denken. – „Wie soll ich auf das mir zugesprochene Recht +verzichten?“ sagte er laut. – „Sie wollen also nicht?“ fragte +Karst. – „Nein.“ – „Gehen Sie an Ihre Arbeit.“ – Grahl +ging in die Paketannahme zurück. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen wurde er wieder in das Glashaus +des Herrn Karsts gerufen. „Haben Sie sich meine Frage inzwischen +bedacht?“ fragte Karst. – „Ich hatte keine Veranlassung, +dies zu tun.“ – „Was sollen wir also mit Ihnen +beginnen?“ – Grahl schwieg. Dann sagte er fest: „Ich bin +tauglich zur Arbeit, so gut wie ein anderer.“ – Mit einem +Mal begann der Personalchef zu lächeln. Er stand auf und +ging in vertraulicher Art bis dicht vor Grahl. Dann sagte er +leise: „Ich will Ihnen einmal im geheimen eine Andeutung +machen. Sie haben sich an der höchsten Stelle vorübergehend +in Ungunst gebracht.“ – Grahl sagte kein Wort. Er blickte +sein Gegenüber wartend an. – „Bedenken Sie,“ fuhr der +Personalchef geheimnisvoll leise fort, „daß Ihr Mandat als +Vertreter des Personals Sie in eine feindliche Stellung zur +Leitung gedrängt hat.“ – „Was soll das heißen?“ fragte +Grahl, indem er die Lider zusammenzog. – „Ihr Mandat ist +zum Schaden für Sie, wie es scheint.“ – Er bemerkte, daß +Grahl zu zittern und schwer zu atmen begann. Plötzlich verzog +der Alte den Mund zu spöttischem Lächeln. „Das Gesetz, +das den Angestelltenvertreter gegen die Leitung immun +macht,“ sagte er langsam, „ist also nicht überflüssig, wie’s +scheint. Vor dem Arbeitsgericht war von anderen Mängeln +die Rede.“ – Karst biß die Lippen verärgert zusammen. – +„Für Ihre Andeutung danke ich, ja,“ vollendete Grahl mit +vollkommen höflichem Tonfall. +</p> + +<p> +Karst sah seinen Plan gescheitert. Grahl durchschaute, +daß man ihn von dem Amt eines Ausschußmitgliedes ablocken +wollte, um ihn der Immunität zu berauben. Sein Gesicht +verriet sein Verständnis davon. – „Gehen Sie an Ihre +Arbeit,“ sagte der Personalchef verdrießlich. +</p> + +<p> +Nach der Erregung und einer gewissen Wut, welche ihn +überkam – ihm schienen die Mittel, mit welchen man ihn +übertölpeln wollte, gar zu beleidigend – stellte sich eine Ruhe +ein, aus dem Gefühl von Geborgenheit unter dem Spruch, +mit dem das Gericht ihn vor dem furchtbaren Winter des +Stellungslosen bewahrte. Morgens, wenn er die Wohnung +verließ, schlug ihm der Windstoß, ein Bote des nahen November, +kalt ins Gesicht. Grahl empfand seine Sicherheit +mit triumphierender Freude, und er bestärkte sich, allen Versuchen, +die ihn zu törichten Schritten verführen sollten, mit +wortkarger Ablehnung oder offensichtlicher Ironie zu begegnen. +Sie hatten ihm seinen alten Posten genommen – +das mochten sie tun. Die Stellung, das Brot ihm zu nehmen, +sollte so leicht nicht fallen. Dazwischen stand ein Gesetz. +</p> + +<p> +Er war inzwischen auch in den Besitz der Urteilsbegründung +gelangt. +</p> + +<p> +„Da die Klägerin“ – hieß es in der Begründung – +„bei ihrem ausgedehnten Betriebe vielerlei Verwendungsmöglichkeit +für den Beklagten besitzt, so ist in keiner Weise +begreiflich, warum dem Beklagten, dessen Tauglichkeit auf +dem lange geführten Posten bestritten wird, nicht eine andere +Tätigkeit übertragen werden sollte. Beklagter scheint zurzeit, +unter dem Einfluß besonderer Verhältnisse, nicht voll dem gewohnten +Amte genügen zu können. +</p> + +<p> +„Das Gericht“ – hieß es weiter – „hält es für seine +Pflicht, den häufigen Wechsel im Ausschuß zu unterdrücken. +Denn nur ein Ausschuß, der die Verhältnisse der Firma und +der Angestellten im einzelnen kennt, ist seiner Aufgabe gewachsen. +Nur dort, wo ein wirklich wohlbegründetes Interesse +des Arbeitgebers ersichtlich ist, wird er daher seine Zustimmung +zur Kündigung geben. An einem solchen wohl begründeten +Interesse fehlt es in diesem Falle durchaus.“ +</p> + +<p> +Da konnte Grahl also ruhig sein. – +</p> + +<p> +Am nächsten Tage wurde er abermals vor den Personalchef +gerufen. – „Sie wünschen gewiß ein Zeugnis zu erhalten?“ +fragte ihn Karst – Unwillkürlich erbleichte Grahl. +Er führte Daumen und Zeigefinger zur Brille. – „Nicht +wahr?“ sagte der Personalchef lächelnd. Dies gutmütige +Lächeln in dem vollen brutalen Gesicht warnte den Alten. – +„Warum sollte ich wünschen, ein Zeugnis zu erhalten?“ stieß +er gereizt hervor. – „Halten Sie es nicht für besser,“ sagte +Karst, mit ernster Miene im Sessel lehnend, „daß Sie zum +ersten November den Dienst hier quittieren<a id="corr-27"></a>?“ – „Ich denke +gar nicht daran,“ rief Grahl. – „Ueber kurz oder lang werden +Sie <em>doch</em> Ihren Posten verlassen müssen,“ sagte Karst +mit überzeugter Stimme und gegeneinanderklopfenden +Fingerspitzen; „es kann Ihnen vielleicht gelingen, einen Monat +länger bei uns herumzuliegen. – Uebrigens, schämen Sie +sich denn nicht, diesen Posten da in der Paketannahme so ganz +selbstverständlich innezuhalten?“ – „Ich habe mir diesen +Posten niemals gewünscht,“ rief Grahl entrüstet. – „Und Sie +hoffen,“ fuhr sein Gegner fort, ohne dem Ausruf Beachtung +zu schenken, „Sie hoffen nach Ihrem trotzigen Widerstand +noch ein brauchbares Zeugnis zu erhalten?“ – „Ich will kein +Zeugnis,“ rief Grahl, „ich habe Arbeit, ich habe Stellung – +ich brauche kein Zeugnis.“ – „Sie werden bald anderer Meinung +sein.“ – Grahl lachte. – „Ich rate Ihnen, sich klug +zu verhalten. Geben Sie diese Stellung auf, wie man von +Ihnen verlangt – so werden Sie mittels des Zeugnisses, das +wir Ihnen ausstellen wollen, bald eine neue, besser geeignete +Stellung gefunden haben. Verharren Sie aber in Ihrem +ungeschickten Verhalten, so bleibt Ihnen, wenn Sie sich +von den Tatsachen überflügelt finden, die Hilfe von unserer +Seite versagt.“ – „Mein gutes Schicksal erspart mir,“ schrie +Grahl, „sowohl das Los, eine Stellung suchen zu müssen – +eine Stellung in dieser Zeit! – als auch das Unglück, Ihr +Zeugnis erwarten zu müssen. Ich will nichts mehr hören!“ +schrie Grahl. – „Gehen Sie an Ihre Arbeit,“ sagte der Personalchef, +ohne ihn anzublicken. +</p> + +<p> +„Hetzt mich, hetzt mich,“ murmelte Grahl, als er den +langen Flur im Kellergeschoß hinabging – dort war die +Paketannahme –; „solange ihr mich wie einen Hasen zu +treiben versucht, merke ich doch, wie gern ihr mich fangen +möchtet.“ – +</p> + +<p> +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Im Innern gereizt, aber äußerlich still, seinen Kummer +sowie die Ursachen heimlich verschweigend, saß Grahl in seiner +Stube, wo Gertrud, ihm gegenüber, mit langsamen regelmäßigen +Zügen Brief um Brief und dazu die Adressen schrieb. +Neben ihr lag die Abendzeitung, in welcher sie mehrere Inserate +unter der „Zimmer“-Rubrik mit Kreuzen bezeichnet +hatte. – Hermann war wohl zu einem Vortrag gegangen. +</p> + +<p> +Plötzlich schellte es an der Wohnungstür. Beide erschraken. +Gertrud ging; Grahl preßte die Hand auf die +Brust ... Es war Herr Uri. Er konnte nicht umhin, gleich +beim Eintritt einige sehr lustige, freundliche Sachen zu Gertrud +zu sagen. Er komplimentierte die Farbe des Kleides +und fand noch mehr zu bewundern. Gertrud legte eilig die +fertigen Briefe zusammen, sie begab sich in die Küche, um für +den Gast ein Abendbrot zu bereiten. +</p> + +<p> +Als Herr Uri sich mit Grahl allein in der Stube befand, +wurde der Ausdruck seines Gesichts nachdenklich ernst. Und +dann – mit wenigen Worten unterrichtete er Grahl von +dem neuesten Schlag, zu welchem man gegen ihn ausholte. +Baaß und jenes Ausschußmitglied, das vor dem Arbeitsgericht +mit Baaß zusammen als Zeuge der Firma erschienen war – +diese beiden hatten in einer Versammlung, die eben beendigt +war und sowohl alle Ausschußmitglieder, mit Ausnahme von +Grahl, als auch eine Anzahl von Angestellten vereinigt hatte, +den folgenden Antrag gestellt: Nach den beleidigenden Ausfällen +Grahls vor dem Arbeitsgericht gegen eines der Ausschußmitglieder, +Herrn Baaß, sei eine nutzbringende Gemeinschaft +zwischen Grahl einerseits und den übrigen Mitgliedern +andererseits zu bezweifeln. Unter Verzicht auf eine Entschuldigung +seitens Grahls werde dieser aufgefordert, von seinem +Posten als Ausschußmitglied zurückzutreten. +</p> + +<p> +Grahl sprang auf, fiel in den Stuhl zurück, stemmte eine +Faust auf das Herz und stöhnte. „Ich werde nicht!“ rief er +aus, „ich habe keine Veranlassung, von meinem Posten zurückzutreten. +Wer kann mich zwingen? Mich deckt nicht mein +Recht allein – mich schützt das Gesetz auf zweifache Weise.“ +</p> + +<p> +„Lieber Grahl,“ sagte Herr Uri, „ich habe Ihnen mit +dieser Nachricht nichts Gutes gebracht. Aber nun wird jene +Aufforderung, welche Sie höchstwahrscheinlich schon morgen +treffen wird, nicht mehr vermögen, Sie zu einem unbesonnenen +Entschluß zu verleiten.“ +</p> + +<p> +„Mich verleiten?“ rief Grahl. „Zu einem Entschluß? +Ich habe keine Veranlassung ... Was? Halten mich meine +Kollegen für schwachsinnig – wie?“ +</p> + +<p> +Gertrud, ein Tablett vorsichtig in Händen tragend, kam +an die Tür. Herr Uri sprang auf, um ihr behilflich zu sein. +Und während der Stunde, für die Uri noch blieb, konnte +er solch ein gutmütiges frohes Geplauder mit der Tochter +seines Kollegen treiben, als wäre an diesem Abend von gar +nichts Ernstem die Rede gewesen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-9"> +Neuntes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Am nächsten Morgen fand Grahl, wie erwartet, den +Brief. Er hatte bereits ein kurzgehaltenes Antwortschreiben +verfaßt, in dem er erklärte, es gäbe für ihn keine Veranlassung, +von dem Amt, zu welchem die Stimmen der Wähler +ihn berufen hatten, zurückzutreten. – Er ersuchte einen Boten, +dies Schreiben zu überbringen, und blieb in einem Gefühl +von Befriedigung und Verzweiflung zurück. Um sein laut +klopfendes Herz zu beschwichtigen, wiederholte er sich mit gemurmelten +Worten, daß das Gesetz seine Stellung auf zweifache +Weise schützte. Aber die innerliche Empfindung von +dennoch nagender Angst entsprang der Gewißheit von einem +dunkel sich näher gegen ihn wälzenden Ende. Er hörte die +triumphierenden Hörner der Jäger, das Kläffen der Hunde. +Seine Stirne nickte kaum merkbar, nickte unaufhörlich nach +dem unaufhörlichen Takt seines klopfenden Herzens. +</p> + +<p> +Am Nachmittage wurde ihm ein Schreiben gebracht, des +Inhalts, daß sämtliche Ausschußmitglieder von ihrem Amte +zurückgetreten wären, um einen vom Personal neu zu +wählenden Ausschuß zu ermöglichen und somit das unerwünschte +Nebeneinander mit Grahl zu lösen. – Grahl, ohne +merkbar mit einer Miene zu zucken, steckte den Brief in die +Tasche. Nun wußte er auch, daß es eben diese Maßnahme +war, die er gefürchtet hatte, als die Empfindung von Angst +in ihm zu klopfen begann. Für eine halbe Stunde und länger +war sein Denken gelähmt. Dann schrieb er mit fiebernder +Hand einen Brief: Er protestierte; er verlangte Gehör. +</p> + +<p> +Die Erregung in ihm, die nach entscheidender Aussprache +drängte, trieb ihn, mit eigenen Händen den Brief in die Revisionsabteilung +Herrn Baaß zu bringen. O, er kannte sie +wohl, seine Kollegen vom Ausschuß. Sie standen nun alle +unter dem Einfluß von Karst, dem sie gut zu gefallen suchten; +der selber nun wohl eine Gunstbezeugung für die Vollstrecker +seines Willens daran wenden mußte, nachdem dieser sein Wille, +in unmittelbarem Angriff auf Grahl, sein Ziel nicht hatte +erreichen können ... +</p> + +<p> +Als er in dem langen Flur, dicht bei der Kantine, an der +Tafel vorbeigehen wollte, wo für die Angestellten wichtige +Mitteilungen zu finden waren, blickte ihn die Ueberschrift +eines Aufrufs an: „Neuwahl zum Ausschuß am 29. Oktober“. +– Grahl blieb stehen. Sein Herz stand still. Es war schon +zu spät. Nun hieß ein Versuch, die Gegner von ihrem Unrecht +zu überzeugen, sich vor ihnen zur Erde beugen ... umsonst +sich zur Erde beugen. – Er wendete sich mit schurrenden +Sohlen und kehrte den Weg über den langen Flur, sich nah +an den getünchten Wänden haltend, zurück. +</p> + +<p> +Das Oktoberwetter umpfiff ihn, als er den Weg nach +Hause ging. War er vogelfrei? Mit seinem Mandat ging +seine Immunität verloren. Ein Versuch zu erneuter Kandidatur +wäre sinnlos. Aber dann blieb noch ein anderes Recht. +Er konnte noch als einfacher Angestellter den bald neugebildeten +Ausschuß zum Einspruch gegen die Kündigung aufrufen, +die ihn voraussichtlich am letzten Tage des Monats traf. Aber +die Hoffnung, die ihn auf diesem Wege begleiten konnte, war +lächerlich winzig. Denn sicherlich würde die Mehrzahl der +alten Ausschußmitglieder den neu zu wählenden Ausschuß +bilden. Die Auflösung samt der folgenden Wahl – dies war +ein taktischer Zug, wahrscheinlich betrieben von Karst, den +Buchhalter Jakob Grahl aus dem Amt zu entfernen. War +er nicht vogelfrei? Am 29. Oktober wird <a id="corr-29"></a>ihn ein Brief von +seinem erloschenen Mandat in Kenntnis setzen, am 31. ein +anderer von seiner Entlassung am 1. Dezember. Dann kann +er noch einmal zum neuen Ausschuß gehen, der sich im besten +Fall aus anderen Untertanen zusammensetzt als der alte – +das kann er, als der gekündigte Buchhalter Grahl ... aber +er wird es nicht tun. +</p> + +<p> +Er hüpfte von einem Fuß auf den andern. Obgleich ihm +der Wind ins Gesicht pfiff, glühte die Stirn. Nur die Finger, +in seinen Manteltaschen, und die hüpfenden Füße waren +eiskalt. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Aber es kam noch anders, als er erwartet hatte. Am +Morgen des Neunundzwanzigsten war an Stelle des Aufrufs +zur Wahl eine Mitteilung an die Tafel geheftet: Aus Mangel +an Kandidaten konnte die Wahl nicht vonstatten gehen. – +Es gab also keinen Ausschuß mehr. – Niemand wünschte +durch die Eigenschaft als Führer des Personals in einen +etwaigen Konflikt mit der Leitung der Firma zu geraten. +Man hatte ja wohl bemerkt, wie wenig Sicherheit eine +Immunität bedeutet, wenn sie Herrn Karst nicht gefällt ... +</p> + +<p> +Mit der Kündigung, welche Grahl erwartungsgemäß am +Vormittag des 31. Oktober (zum 1. Dezember) erhielt, wurde +ihm sein Gehalt für den vergangenen Monat verabfolgt. An +der Summe fehlte beinahe ein Drittel zu seinem Monatssalär. +Er wandte sich an den Kassierer, der ihm erklärte, daß für +den vergangenen Monat der Gehaltstarif für Boten und +Packer, nach welchem der Vorgänger auf seinem Posten gelohnt +worden war, auch für <em>ihn</em> Geltung hätte. – Ohne zu +merken, daß er gegen Böcke rannte, und Menschen, die ihm +im Wege standen, beiseite stieß, lief Grahl durchs Kontor und +trat in den „Glaskasten“ ein, wo Herr Karst, einen Brief +diktierend, am Schreibtisch saß. Ehe Grahl den ersten Satz +mit hastiger, oft versagender Kehle zu Ende gesprochen hatte, +hielt ihm Karst einen geschlossenen Umschlag entgegen. Er +trug eine Aufschrift: „Zeugnis für Jakob Grahl“. – Grahl +hörte Herrn Karst noch die Worte sagen: „Sie können nach +Hause gehen. Die Firma verzichtet auf Ihre Tätigkeit, obgleich +das Dienstverhältnis bis zum 1. Dezember geht. Sie +brauchen nicht wiederzukommen. <em>Trotzdem</em> wird Ihnen +am Letzten des kommenden Monats das Gehalt für einen +Boten bezahlt. Adieu.“ +</p> + +<p> +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +Herr Karst fuhr fort, einen Brief zu diktieren. Grahl +wollte entgegnen ... aber es schien ihm dann, als wäre es +sinnlos, etwas zu sagen. – „Vollkommen sinnlos,“ sagte er +mit vernehmlicher Stimme und stand im Regen vorm Haus. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<div class="letter"> +<p class="date"> +„....., den 31. Oktober 1924. +</p> + +<p class="addr"> +Herrn Jakob Grahl. +</p> + +<p class="noindent"> +Am 29. Oktober 1924 ist das Mandat des alten Angestelltenausschusses +erloschen. Ein neuer Ausschuß ist nicht gewählt +worden. Es besteht also seit diesem Tage kein Ausschuß +mehr. +</p> + +<p> +Mit dem Erlöschen des Mandats des alten Angestelltenausschusses +ist auch Ihre Zugehörigkeit zum Angestelltenausschuß +erloschen. +</p> + +<p> +Die Voraussetzungen, weswegen uns von seiten des Arbeitsgerichts +eine Kündigung versagt worden ist, sind somit +in Fortfall gekommen. +</p> + +<p> +Wir kündigen Ihnen daher hiermit Ihre Stellung zum +1. Dezember 1924. +</p> + +<p class="sign"> +Hochachtungsvoll<br> +Winter, Komm.-Ges. (Personalleitung)<br> +Karst.“ +</p> + +</div> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<div class="letter"> +<p class="date"> +„....., den 31. Oktober 1924. +</p> + +<p class="hdr"> +Zeugnis. +</p> + +<p class="noindent"> +Herr Jakob Grahl war vom 1. Mai 1898 bis 31. Oktober +1924 bei uns beschäftigt. +</p> + +<p> +Er fand während dieser Zeit in verschiedenen Abteilungen +Verwendung und erledigte die leichteren Arbeiten zu +unserer Zufriedenheit. +</p> + +<p> +Das Vertragsverhältnis wurde von uns zum 1. Dezember +1924 gelöst, weil Herr Grahl sich den Anforderungen +unserer Buchhaltung nicht gewachsen zeigte und wir eine Beschäftigungsmöglichkeit +für ihn in anderen Abteilungen nicht +fanden. +</p> + +<p> +Seine Führung war, abgesehen von den letzten drei Monaten, +gut. +</p> + +<p class="sign"> +ppa. Winter, Komm-Ges.<br> +Karst.“ +</p> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-10"> +Zehntes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Zu seiner Verwunderung fand er zu Hause weder Gertrud +noch Hermann, obgleich der Eingang zur Wohnung unverschlossen +gewesen war. Es war ihm recht, mit sich selber +allein zu sein. Er legte sich, bleierne Schwere in Kopf und +Füßen, aufs Sofa. Er wünschte zu schlafen, um vor den Gedanken, +die hinter der Stirne eilig wie Mäuse durcheinanderflohen, +Ruhe zu haben. Er fand sich nicht fähig, den in seiner +Sache notwendigen Entschluß zu fassen. In Wirklichkeit – +sagte er sich, wenn er die letzte Kraft seines Denkens für einen +Augenblick zu sammeln vermochte – in Wirklichkeit muß die +Verteidigung gegen das Unrecht, das mir getan worden ist, +einfach sein; obgleich diese Pflicht, mich zu wehren, wie eine +unabwälzbare Last auf mir kniend, mich lähmt ... +</p> + +<p> +Plötzlich wurde die Wohnungstür in nervöser Hast mit +dem Schlüssel geöffnet. Die Stubentür wurde aufgerissen; +Hermann, bleich und mit klebrigem Haar, rief verzweifelt: +„Vater, komm mit.“ Grahl sprang auf. In diesem Augenblick +fühlte er nichts mehr von seinen Leiden, er stolperte durch +den Flur, und ohne den Hut aufzusetzen, folgte er seinem +Sohn die Treppen hinunter, indem er beständig sagte: „Was +ist denn geschehen? Ist deiner Mutter etwas geschehen?“ und +Hermann mit seiner abgehetzten heiseren Kehle hervorstieß: +„Komm mit, ich erzähle dir unterwegs.“ An der Haltestation +der Straßenbahn blickte Hermann den Lauf der Schienen hinunter. +„Wir müssen laufen, es kommt keine Bahn,“ flüsterte +er, und ohne zu zögern, warf er den Körper herum und hastete +weiter. – „Hermann, ich folge nicht mehr – keinen Schritt“ +– keuchte der Vater, „wenn ich nicht nun erfahre ... Ist +deiner Mutter ... oder ist Gertrud ... Hermann ...“ +</p> + +<p> +„Gertrud,“ stieß Hermann im Laufen heraus, „ist heute +früh zum Gefängnis gegangen. Sie kam dann zurück und +holte mich – wie ich dich. Als ich von ihr erfuhr, was geschehen +war, angeblich geschehen, lief ich zu dir ins Bureau. +Dort sagte man mir, du wärest nach Hause gegangen. So ist +es gewesen ...“ +</p> + +<p> +„Was ist denn geschehen?“ +</p> + +<p> +„Es ist vielleicht gar nicht geschehen, gar nicht so furchtbar, +Vater ... aber du mußt denken, bei dir ... du mußt +dir das Furchtbarste denken. Dann bist du sicher ... vor +jeder Nachricht, die uns erwartet. Stelle dir vor ... das +Schlimmste – es braucht darum nicht zu <em>sein</em>.“ +</p> + +<p> +„Ich stelle mir nun das Schlimmste vor – Hermann – +ist es so?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß es selber nicht, Vater. Ich weiß es nicht.“ +</p> + +<p> +So rannten sie bis zum Bahnhof, wo sie den Vorortzug, +mit dem sie zur Wette gelaufen waren, davonfahren sehen +mußten. Sie hatten eine Viertelstunde zu warten, sie gingen, +jeder für sich, umher. Sie blickten aneinander vorbei und +schwiegen. +</p> + +<p> +Im Abteil führten sie eine Unterhaltung, die darin bestand, +daß Grahl seinen Sohn – und Hermann den Vater +ermahnte, des Schlimmsten gewärtig zu bleiben ... des +Schlimmsten, das denn nichts anderes als ein natürlicher +Punkt des Lebens sei. +</p> + +<p> +„Ich denke meine Gedanken zu Ende, Vater, und bleibe +ruhig. Bleibe auch du ruhig, Vater.“ +</p> + +<p> +„Ich kann was vertragen, Hermann. Man muß auch +mal zeigen, daß man sich meistern kann. – Uebrigens ist es +noch gar nicht gesagt ...“ +</p> + +<p> +„Natürlich ist es nur eine Sicherheit gegen den äußersten +Fall, wenn wir uns ...“ +</p> + +<p> +„Ganz ruhig bleiben, mein Junge, ganz ruhig ...“ +</p> + +<p> +Als sie aber in einer Räumlichkeit mit nackten Wänden +an der Bahre standen, auf welcher die Strafgefangene Anna +Grahl mit ein wenig geöffneten Augen lag, waren die Vorbereitungen +gänzlich vergessen. Hermann, mit dem Ausdruck +eines skeptischen Philosophen, stand an der langen Seite der +Bahre, die Brauen herunter-, den Mundwinkel aufwärts +gezogen, als nähme er mit schlichter Nachdenklichkeit das Geschehnis +zur Kenntnis. Er nickte sogar in einer Weise, als +fände er hier eine naturwissenschaftliche Annahme bestätigt. +Dann ging er hinaus. – Grahl hatte zuerst überrascht geblickt. +Dann betrachtete er mit einer Miene von Grauen, +Schrecken und schmerzlicher Verdrossenheit die durch einen +Spalt glänzend blickenden Augen in jenem bekannten unbekannten +Gesicht, auf welchem trotz der Verzerrtheit des +Mundes die hohe Fremdheit vollkommener Ruhe und unendlicher +stiller Entferntheit schwieg. Dann wich sein Blick zur +Seite, wo, neben der Bahre, ein Halstuch lag, zusammengerollt +wie ein Strick. Er sah wieder die offenen Lippen, die +tiefe Färbung des Angesichts – seine Augen gingen langsam +über die fremde geöffnete Kleidung und langsam wieder +hinauf bis zur Stirn ... Mißtrauen und ängstliche Ahnung, +wie sie sich eines Knaben in unbekannter geheimnisvoller +Umgebung bemächtigten, runzelten seine Haut überm Brillensattel. +„Anna,“ sagte er leise ... „lebst du nicht mehr?“ +</p> + +<p> +Es schien ihm, als zuckte die Unterlippe. – Kein Laut. +</p> + +<p> +Da stampfte Grahl mit dem Fuß. +</p> + +<p> +Es war aus. Und der Schmerz, der Kampf, die Arbeit +ums Leben – was sie beide gemeinsam gehabt und getragen +... +</p> + +<p> +Das war alles umsonst? War nur dies? +</p> + +<p> +Schon wieder besiegt? Schon wieder besiegt? Ja, ungerecht +wie die Menschen – so war auch der Tod. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-11"> +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +Elftes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Am Abend saßen die Kinder Grahls, jedes für sich beschäftigt, +am Tisch, während ihr Vater mit blauen Schläfen +regungslos auf dem Sofa lag. Es klingelte an der Wohnungstür +und Herr Uri kam. Beim Anblick der gramdurchfurchten +Gesichter legte Herr Uri für einen Augenblick den +Kopf auf die Seite, als sagte er bei sich selbst: Welch ein Unglück, +ja, ja ... diese Kündigung. – Aber ehe er über die +Ereignisse im Kontor hätte beginnen können, sagte der Alte +mit einer bedeutungsvollen Bewegung: „Sie kommen zur +rechten Zeit, mein Lieber. Ich möchte mit Ihnen ein wenig +spazieren gehen. Ich brauche Luft um die Stirn.“ +</p> + +<p> +Er erhob sich vom Sofa. Aber indem er merklich erbleichte, +fiel er zurück. „Es ist nichts,“ sagte er nach einer +Pause mit schwachem Lächeln, „draußen wird das vorübergehen.“ +Er strich seinen Kindern mit einer ruhigen Bewegung +über die Scheitel. Gertrud neigte den Kopf noch tiefer +und brachte endlich ihr Nähzeug lautlos bis an die Augen. +</p> + +<p> +An der Treppe zögerte Grahl. „Geben Sie mir Ihren +Arm, mein Lieber ... ich weiß nicht ... die Treppe ...“ +Herr Uri führte ihn langsam hinunter. Die frische sternklare +Straße machte ihn tiefer atmen, er seufzte. Es war, als ob +von Augenblick zu Augenblick Regungen eines hohen +Schmerzes zitternd vom Kopfe zum Herzen liefen, sein Gemüt +mit jenem Frieden erfüllend, den die Demut unter das +Schicksal erzeugt. – Herr Uri berichtete unterdessen, gleichsam +zum Troste, von einigen Mißvergnügten im Personal, die +ihrer Empörung über den Abschied des Alten Ausdruck zu +geben begannen. Es hatte sich nun herausgestellt, daß der +Nachfolger Grahls in der Paketannahme – eben derselbe Angestellte +war, der früher den Posten gehalten hatte. Es war +ein Bote, welchem die Firma den Urlaub für das vorgehende +Jahr noch schuldete. – In seiner Abwesenheit hatte man +Grahl auf den Posten gestellt, mit seinem Wiedererscheinen +hatte man ihn entlassen. +</p> + +<p> +„Glauben Sie denn,“ fragte Grahl, „daß diese Stimmen, +die sich nun einzeln für mich erheben, nachdem sie so lange +geschwiegen haben – glauben Sie, daß diese Stimmen etwas +vermögen, nachdem die letzte Vertretung des Personals unter +der Macht des Geldherrn und unter der Vorsichtigkeit der +Angestellten vergangen ist?“ +</p> + +<p> +Herr Uri schwieg. Dann sagte er leiser: „Das ist wahr +– unser Recht ist dahin.“ +</p> + +<p> +„Wir wollen nicht davon reden, Uri,“ sagte der Alte; +„wenn es so und nicht anders auf Erden ist, kann man wohl +schlecht was dagegen sagen. Geben Sie mir bitte Ihren +Arm. – – Heute vormittag, Uri, hat meine Frau mittels +eines Tuches, das sie sich etwas fest um den Hals wickelte, +ihre aristokratische Gleichgültigkeit gegen dies Leben öffentlich +kundgetan. Ich bin ganz verwirrt, muß ich sagen. Sie +ist davon gegangen – sie hielt es für gut – mich ließ sie +beinahe beschämt zurück. Uri, einige sterben, weil sie sich vor +den Menschen fürchten; andere, weil sie sich eingestehen, daß +sie nicht ins rechte Milieu geraten sind, als sie in die +Menschenwelt eingelassen wurden. Ich weiß nicht recht ... +ich habe einen Respekt. Wenn ein Mensch nicht mehr weiter +kann und daher umkehrt – dann heißt man das: Schwäche. +Meine Frau war stark, da ist gar kein Zweifel. Sie hat sich +bestimmt nicht zurückgezogen aus Furcht. Sie konnte den +Kopf so hoch wie sie wollte tragen. Das hätte sie auch in +dieser Sache vermocht. Sie hatte da eine Sache, Uri, müssen +Sie wissen ... Gut, Anna war also stark. Aber ich? Ich +habe um Anna, wenn ich sie lächeln sah – ich verstand ihr +Lächeln so gut, so ganz, daß ich mich heute nicht hätte wundern +sollen – ich habe um sie so gezittert und so an der Seele geblutet, +daß ich nichts mehr vom Leben wußte und sah, außer +ihr. Die äußere Welt, in der ich gebunden war, verlor ihre +Wirklichkeit, ich kannte in ihr meinen Platz nicht mehr, es gab +für mich keine Sorgen, noch Pflichten – ich lebte mit ihrem +Leben, mit ihrem Leiden hab ich gelitten, ich war über Tag +und Nacht in der Seele der Frau, die so lächeln konnte, daß +ich mich für die Menschheit schämte, die dies Lächeln herausgefordert +hatte. Sie müssen wissen, man hat sie verklagt und +vor die Richter gebracht. Um einen Dreck und nichts ... Aber +weiter von mir. Sie sehen, das war meine Schwäche. Meine +wesentliche Verwandlung, deren Zeuge Sie waren, Uri, in +deren Verlauf meine Hände lahmten, und alle mich für +stumpf und ermattet hielten – diese Verwandlung führte mich +ins heftigste innerste Leben. Aber ich hätte da Einhalt gebieten +müssen, nicht wahr ... Auf den Gedanken komme ich +erst jetzt. Es sollten einige ausgemustert werden – und weil +ich der Schwächste schien, griffen sie mich. Ich hätte auch, als +sie im Ausschuß begannen, mich an den Rand zu drängen, +mit ganz anderen Mitteln mich wehren müssen. Man kann +sich ja wohl auch anders wehren, nicht wahr? Ich hätte Baaß +nicht beleidigen sollen, oder, nachdem ich es einmal getan, +hätte ich unternehmen sollen, ihn zu versöhnen. Ihn hätte +ich auf den Abend an meinen Tisch zu einer Flasche Wein +bitten sollen – statt dessen habe ich <em>Sie</em> eingeladen. Ich +hätte ein Machtmittel bei mir behalten sollen, einen Austauschwert +– statt dessen ließ ich mir alles nehmen und behielt +nur mein Recht. Ich war bis zum Schluß der irrigen Meinung, +die höchste Macht sei – das Recht. Uebrigens – und +Sie können hieran meine ganze Schwäche erkennen – dieser +Meinung bin ich noch jetzt. Ich habe keine Kraft, sie von mir +zu tun, keine Gelegenheit – nämlich keinen Wunsch. Wenn +ich wünschte, im Unrecht zu sein, wünschte ich nicht mehr, meine +Sache zu gewinnen. Und wie ich nun einmal bin, rief ich +nicht einmal Beistand zu Hilfe – ich sah alles so einfach an, +ich war ja im Recht. Wenn die Natur mich für einen kurzen +Abschnitt verwandelt, so daß meine Kraft, wie in Krankheit, +lahmt, so bin ich doch eben im Recht ... und die Menschen +müssen dies Recht respektieren, ohne Erklärung von meiner +Seite, ohne Preisgabe eines Gefühls, dessen Art es ist, stumm +im Leben zu bleiben. Gott sorgt für alle, heißt es zu unrecht, +wie ich bemerke; aber ein reicher Mann, das Haupt einer +Kommanditgesellschaft, kann für tausend sorgen, wenn er nur +will. Unter den Tausenden einer mußte hinaus – denn dieses +einen Monatssalär wollte ein Sparsamer sparen – dieser +eine war ich – ich war schwach – <em>denn</em> ich war schwach – +dies „denn“ ist sehr wichtig – verstehen Sie mich – es empört +mich – ja ... ja, ich bin schwach ...“ +</p> + +<p> +Er hatte sich aus dem Arm Uris gerissen. Etwa zehn +Schritte noch ging er fort. Dann wurde sein Gang ein Torkeln +vornüber. Er torkelte auf die Seite, wo eine Laterne +stand. Mit der Absicht, sich anzuklammern, hob er den rechten +Arm. Aber plötzlich fiel der Arm herab. Grahl sank in die +Knie, schlug zur Seite, machte noch eine kurze Bewegung und +lag regungslos auf dem Pflaster. +</p> + +<p> +„Was ist Ihnen ... Grahl ...“ sagte Uri, indem er die +zerbrochene Brille hinter den Ohren des Liegenden löste. Dann +wendete er ihn mühsam in das Licht der Laterne, blickte ihm +in die Augen und schwieg. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="chapter-0-12"> +Zwölftes Kapitel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Einige Tage nach dem Begräbnis ihrer Eltern saß Gertrud +abends allein am Tisch, die Augen auf beide Arme gelegt. +Ueber ihr zischte leise das Gaslicht. Vor ihr stand die +Lade einer Kommode, deren Inhalt zum Teil auf dem Tisch +ausgebreitet war. Mit ihren Armen lag Gertrud auf einigen +Blättern beschriebenen Briefpapiers. Neben ihr krümmte sich +ein besonderes Blatt, welches wahrscheinlich zerknüllt in dem +Schubfach gelegen hatte, denn es bog sich mit vielen Falten +und knackte, als wollte es sich nicht in die neue Lage gewöhnen. +Dies Fach, das Gertrud an diesem Abend zu sichten +unternommen hatte, war Frau Annas Privatfach gewesen, +in welches noch keines der Kinder Einblick genommen hatte. +Gertrud, um sie ihrem Bruder zu ersparen, hatte entschlossen +die gefürchtete Arbeit begonnen. Aber nun stockte sie schon, +von der Gegenwart dieser lebendigen Schrift übermannt, +unter aufsteigenden Erinnerungen. +</p> + +<p> +Plötzlich klopfte es an die Tür und Herr Uri war da. +Gertrud sprang auf. Herr Uri mußte von Hermann, der eben +die Wohnung verlassen hatte, eingelassen worden sein. Auf +seinen Gruß erhielt er ein schmerzliches Lächeln zur Antwort, +er hörte den hellen Ton unterdrückten Schluchzens – und befand +sich, ehe er noch zu Worte gekommen war, allein in der +Stube. +</p> + +<p> +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +Mit dem dringenden Wunsche, diesem Mädchen, dem +von ihren Eltern geblieben war, was sich auf einem Tische +ausbreiten ließ, Trost, Hilfe und – wenn es die Konstellation +ergäbe – mehr noch zu bringen, ließ sich Herr Uri auf dem +Sofa nieder. Es gingen Minuten vorbei. Die Wanduhr +schlug. Endlich bemerkte er das Blatt, das offensichtlich einmal +zerknüllt gewesen war, und las. +</p> + +<div class="letter"> +<p class="addr"> +„Sehr geehrter Herr Mörk! +</p> + +<p class="noindent"> +Sie haben mich beim Gericht verklagt. Sie denken wahrscheinlich +bei sich: Diese Frau ist eine Verbrecherin, es ist gut, +sie vor die Richter zu bringen. Wenn ich Ihnen aber dagegen +sage, daß ich in meinem Leben bis heute – da mir von +meinen blonden Haaren das letzte ergraut ist – noch niemals +versuchte, irgend jemandem mit Bedacht zu schaden, und +daß mein Unrecht, wenn es nun einmal zu existieren scheint, +ein Spiel des Unglücks mit meinem ehrlichen Namen ist – +so ziehen Sie vielleicht die Anklage, die Sie gegen mich führen, +zurück? Was mir auch vom Gericht aus geschehen möge, ich +werde nicht vor Schande und auch nicht vom Hohn meiner +Nachbarn sterben. Aber der Gedanke, ein falsches Urteil entgegennehmen +zu müssen, das ist für mich ein Todesgedanke. +Ich weiß, daß vieles gegen mich zeugt, und ich sage Ihnen: +Ich bin <em>doch</em> nicht schuldig. Und ich werde es <em>nicht</em> ertragen.“ +</p> + +</div> + +<p class="noindent"> +An Stelle der Unterschrift standen folgende Worte: +</p> + +<div class="letter"> +<p class="noindent"> +„Nie im Leben schick ich dies ab.“ +</p> + +</div> + +<p class="noindent"> +Herr Uri nahm die Blätter von Gertruds Platz. +</p> + +<div class="letter"> +<p class="hdr"> +„Abschrift. +</p> + +<p class="addr"> +Herr Mörk! +</p> + +<p class="noindent"> +Wäre ich Ihre Mutter, und ich würde von meines dreißigjährigen +Sohnes Bosheit erfahren, von seiner schamlosen Art +– ich würde vergessen, daß dies giftige Wesen mein Sohn ist. +Wir kennen alle den Grund zu diesem Prozeß, mit dem Sie +uns einige Monate drohten, ehe Sie ihn zur Ausführung +brachten. Da die Drohungen mein Kind nicht zu Ihrer Verfügung +willfährig machten, so wollen Sie doch Ihre Rache +haben! Die haben Sie jetzt. Aber Sie haben auch einen +Schlag ins Gesicht erhalten, von der Hand meiner Tochter! +Ich glaube, Sie denken länger daran, als ich an die armselige +Rache von Ihnen. Ich gehe singend ins Gefängnis +hinein, mir ist das eine kleine Erholung. +</p> + +<p> +Ich speie Sie an! +</p> + +<p class="sign"> +Anna Grahl.“ +</p> + +</div> + +<div class="letter"> +<p class="hdr"> +„(Für den Gerichtstag.) +</p> + +<p class="addr"> +Herr Richter! +</p> + +<p class="noindent"> +Jetzt will <em>ich</em> einmal diese Sache berichten. Es handelt +sich um einen Stuhl. Dieser Stuhl, der kostbarste in meinem +Hause, war ein Sessel mit rotem Seidenplüschbezug. Weil +er war der schönste Sessel, den ich hatte, stand er im Vorderzimmer, +wo alle guten Möbel stehen. Dies Vorderzimmer +bewohnte Herr Mörk. Er hat meinen Sessel so schlecht behandelt, +als wäre der Stuhl eine Waschtischplatte. Flecke im +Stoff und Schrammen am Holz fand ich immer neu. Endlich +verlangte ich, daß Herr Mörk meinen Stuhl reparieren lasse. +Herr Mörk sagte: ja. Und ich denke mir, Herr Mörk hat gewußt, +warum er nicht gern von dem Sessel sprach. (Bei dieser +Stelle sehe ich Mörk an, mit einem vielbedeutenden Blick, so +daß die Richter sich denken können, bei welchen Gelegenheiten +mein Sessel zu Schaden kam.) Der Tapezierer +holte den Sessel und behielt ihn einige Wochen. Nun hatte +ich aber inzwischen die Wohnungsmiete zu bezahlen. Ich +brauchte Geld. Herr Mörk ist der einzige Mieter in meiner +Wohnung gewesen. Mein Sohn ist Student, meine Tochter +lernt Schneiderei, nur der Vater verdient für uns alle. Ich +verlangte Herrn Mörk nun die Summe ab, die mir der Tapezierer +als Kosten für seine Arbeit zum Voraus genannt +hat. Das waren fünfzehn Mark. Denn der Stuhl war verschandelt. +Herr Mörk hat gefragt, wo der Stuhl denn nun wäre. +Der Stuhl war damals beim Tapezierer. Ich gab ihm zur +Antwort: Den Sessel bekäme er niemals wieder. Weil nun +Herr Mörk nicht gern von dem Sessel spricht (hier seh ich +Mörk wieder an), bezahlte er mir die fünfzehn Mark und +war still. Aber einige Wochen später, als der Stuhl schon +wieder im Hause war und bei uns in der Stube stand, wollte +Herr Mörk die Quittung des Tapezierers sehen. Ich hatte +nun eine Rechnung, die lautete über acht Mark und fünfzig. +Diese Summe hab ich bezahlt, als der Tapezierer den Sessel +zurück in die Wohnung brachte. Ich hatte damals bei mir +gedacht: Eigentlich sollte das teurer werden. – Aber weiter +nichts. Wie Herr Mörk nun die Rechnung zu sehen verlangte, +merkte ich, daß ich ins Unrecht kam. Darum ging +ich zum Tapezierer, er sollte mir eine Rechnung geben von +fünfzehn Mark, und ich wollte ihm sechs Mark und fünfzig +dazu bezahlen. Der Tapezierer fragte, weshalb ich es teurer +haben wollte, und ich erzählte ihm das. Da wollte der +Tapezierer nicht. Ich sagte ihm aber, er <em>müsse</em> – weil er +mir doch zum Voraus <em>fünfzehn</em> Mark, aber nicht acht +Mark und fünfzig gesagt hat. Er antwortete mir, es hätte +weniger Arbeit gemacht als er dachte. Und es bliebe dabei. +Da habe ich ihm erklärt, was er täte, und habe ihm auch +gesagt, wie Herr Mörk es nicht gut mit uns meinte. Der +Tapezierer wollte trotzdem nicht. Da bin ich nach Hause +gegangen und habe mir ein Stück Rechenpapier genommen +und habe die Rechnung des Tapezierers darauf geschrieben +und am Ende die Zahl, die der Tapezierer im Anfang genannt +hat. Herr Mörk ist zum Tapezierer gegangen, der erzählte +ihm dann den Sachverhalt. Nun hat mich Herr Mörk vor +Gericht gebracht, obgleich er wohl wußte, wie einfach die +sechs Mark und fünfzig auf gütlichem Wege von mir zu +haben waren. Herr Mörk war aber nicht auf sein Geld, sondern +auf seine Rache bedacht –“ +</p> + +</div> + +<p class="noindent"> +„Diese Rede hat meine unglückliche Mutter fest im +Gedächtnis gehabt,“ sagte Gertrud, die vor Herrn Uri stand, +„und schon im ersten Satz unterbrach sie der Richter so schroff, +daß sie für die folgende Verhandlung fast gänzlich verstummte. +Lesen Sie diesen Zeitungsbericht. Sagen Sie mir, weshalb +sind die Richter und Zeitungsleute so grausam? Ist es nicht +<em>so</em> genug?“ +</p> + +<p> +„Warum denn nicht?“ hieß die Ueberschrift des Artikels. +– Warum denn nicht, sagte Frau Anna Grahl, die sich gestern +vor dem Richter zu verantworten hatte, warum soll ich nicht +sechs Mark und fünfzig verdienen? Und sie ahmte mit emsigem +Fleiß die Handschrift es Tapezierers nach, um die vollendete +Abschrift dem Untermieter Herrn Mörk, der seinerseits die +Reparatur für einen zuschanden gerittenen Sessel zu zahlen +hatte, mit dem kleinen Aufschlag von achtzig Prozent zu +präsentieren. Herr Mörk aber sagte nun umgekehrt: Warum +denn ja? und besuchte einmal den Tapezierer Herrn Bethge – +</p> + +<p> +„Dieser Schreiberhund gehört vor Gericht,“ brummte Herr +Uri, dem der Zorn das Blut in die Stirne getrieben hatte. +„Er lebt von dem Schicksal der vor den Richter Geladenen +und ist ihnen dankbar, indem er seinen erbärmlichen Witz +daran wendet, sie zu verhöhnen.“ +</p> + +<p> +„Ja, es war genug, um zwei Menschen davonzujagen!“ +</p> + +<p> +Herr Uri erhob sich und stand gerade vor Gertrud. +„Nein,“ sagte er ruhig, „sie sind Beide an einem Tage gegangen, +mit einem schlechten Geschmack vom Leben, aber +durchaus nicht gejagt. Ihre Mutter war konsequent genug, +dies ihr Erlebnis ins allgemeine zu übertragen. Sie sah den +Menschen den Zähnen der Hunde ausgesetzt, – er braucht sich +nur eine Blöße zu geben. Sie wünschte nicht solchen dauernden +Zustand, für den ihr nicht Mut, aber Knechtseligkeit, +Unterwürfigkeit, Listigkeit fehlte – und vor allem die +Schwäche, ein sinnloses Leben zu Ende zu führen. Ein vor +Gewalt ungesichertes Dasein war sinnlos für sie, ihr fehlte die +Müdigkeit, unfrei zu leben. Sie war noch nicht zahm. So +war auch Grahl. Er lebte verständig, gerecht – und an dem +Tage, als er bemerkte, man müsse das Beste im Leben freiwillig +vernichten, um unter den Menschen im Kampf zu bestehen, +da ging sein Dasein von selber zu Ende. Es ist nicht +Stärke – wie die Leute so gerne behaupten, um sich selbst zu +bemänteln –, sondern Schwäche, wenn sie ein Leben, das sie +für sinnlos halten, doch weiter führen. Alle bemühen sich, +zahm zu sein. Sehen Sie Ihren Bruder Hermann. Er ist +wie Ihr Vater. Aber er fürchtet sich, er will nicht so sein, er +kennt seinen Untergang mit seinem starken, trotzigen Herzen +als Steuer. Darum zieht er sich lieber vor sich selber zurück, +er ist sich gefährlich. – Er taucht in die Tiefe, um mit den +anderen zu leben, zu handeln und ihre Sprache zu sprechen. +Man nennt die Sieger im Kampf unter Menschen die Starken +– aber die wahren Starken sind zu stark für dies Leben.“ +</p> + +<p> +Es entstand eine Pause. +</p> + +<p> +„Noch eins,“ sagte Uri, und zog seinen braunblonden +Schnurrbart. „Noch eins“ – und er wurde fast rot – „ist +das Zimmer von diesem Mörk noch leer?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Gertrud. +</p> + +<p> +„Ich möchte da wohnen,“ sagte Herr Uri. +</p> + +<p> +„Sie –?“ fragte Gertrud und stockte. +</p> + +<p> +„Morgen,“ fragte Herr Uri, „ziehe ich ein?“ +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p class="skip_in_txt"> +Das Cover wurde von den Bearbeitern der <em>public domain</em> +zur Verfügung gestellt. +</p> + +<p> +Die einzige Veröffentlichung von „Zu stark für dies Leben“ wurde vom 21. Juni +bis zum 10. Juli 1927 im „Vorwärts“, Berlin, in 14 Folgen gedruckt: +</p> + + <div class="table"> +<table class="ref"> +<tbody> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-1">1.</a></td> + <td class="col2">25.</td> + <td class="col3">Juni,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-2">2.</a></td> + <td class="col2">26.</td> + <td class="col3">Juni,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-3">3.</a></td> + <td class="col2">28.</td> + <td class="col3">Juni,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-4">4.</a></td> + <td class="col2">29.</td> + <td class="col3">Juni,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-5">5.</a></td> + <td class="col2">30.</td> + <td class="col3">Juni,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-6">6.</a></td> + <td class="col2">1.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-7">7.</a></td> + <td class="col2">2.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-8">8.</a></td> + <td class="col2">3.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-9">9.</a></td> + <td class="col2">5.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-10">10.</a></td> + <td class="col2">6.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-11">11.</a></td> + <td class="col2">7.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-12">12.</a></td> + <td class="col2">8.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-13">13.</a></td> + <td class="col2">9.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> + <tr> + <td class="col1"><a href="#page-14">14.</a></td> + <td class="col2">10.</td> + <td class="col3">Juli,</td> + <td class="col4">S. 5</td> + </tr> +</tbody> +</table> + </div> +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... Der „Geiger“, <span class="underline">dem</span> sein Violinspiel in Kaffeehäusern nicht ...<br> +... Der „Geiger“, <a href="#corr-3"><span class="underline">den</span></a> sein Violinspiel in Kaffeehäusern nicht ...<br> +</li> + +<li> +... unmöglich am vorletzten <span class="underline">Tages</span> des Monats – es war der ...<br> +... unmöglich am vorletzten <a href="#corr-6"><span class="underline">Tage</span></a> des Monats – es war der ...<br> +</li> + +<li> +... Tage, erschien ihm das als Verrat, als <span class="underline">den</span> Bruch einer Pflicht. ...<br> +... Tage, erschien ihm das als Verrat, als <a href="#corr-8"><span class="underline">der</span></a> Bruch einer Pflicht. ...<br> +</li> + +<li> +... mit niemals <span class="underline">lahmenden</span> Willen die Kraft seines Denkens und ...<br> +... mit niemals <a href="#corr-19"><span class="underline">lahmendem</span></a> Willen die Kraft seines Denkens und ...<br> +</li> + +<li> +... ersten November den Dienst hier quittieren<span class="underline">!</span>“ – „Ich denke ...<br> +... ersten November den Dienst hier quittieren<a href="#corr-27"><span class="underline">?</span></a>“ – „Ich denke ...<br> +</li> + +<li> +... er nicht vogelfrei? Am 29. Oktober wird <span class="underline">ihm</span> ein Brief von ...<br> +... er nicht vogelfrei? Am 29. Oktober wird <a href="#corr-29"><span class="underline">ihn</span></a> ein Brief von ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76661 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/76661-h/images/cover.jpg b/76661-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..79a0536 --- /dev/null +++ b/76661-h/images/cover.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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