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Besondere + Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der folgenden + Symbole gekennzeichnet: + + unterstrichen: _Unterstriche_ + fett: =Gleichheitszeichen= + gesperrt: +Pluszeichen+ + Antiqua: ~Tilden~ + + #################################################################### + + + + + _Von Kindern ○ ○ ○ + und jungen Hunden_ + + + + + Rudolf Presber + + Von Kindern ○ ○ ○ + und jungen Hunden + + Erste Auflage + + [Illustration] + + Berlin ~W.~ 50 + Concordia Deutsche Verlagsanstalt + +Hermann Ehbock+ + + + + + Alle Rechte vorbehalten + + + + +Inhalt + +[Illustration] + + + Flocki (Die Geschichte eines merkwürdigen Hundes) 1 + + Das Verhängnis des Hauses Brömmelmann 103 + + Der rote Esel (Ein lyrisches Intermezzo) 127 + + Des letzten v. Birkowitz letztes Fest 145 + + Der Mann mit dem persönlichen Einfluß 177 + + +[Illustration] + +[Illustration] + + + + +[Illustration: Flocki + +Die Geschichte eines merkwürdigen Hundes] + + +Ich habe „Flocki“ nie geliebt. Das muß ich vorausschicken. + +Um so heroischer komme ich mir nun vor, indem ich mich hinsetze, um +von „Flocki“ zu erzählen. Denn -- das ist fast ein Axiom geworden in +der literarischen Welt: die Lebewesen, die man so von Grund der Seele +aus +nicht+ leiden mag, erwähnt man nicht in Briefen oder gar in den +zum Druck bestimmten Manuskripten. Man schweigt sie einfach tot, so +bemerkenswert sie anderen erscheinen mögen. + +Ich hätte vielleicht auch von „Flocki“ heute und später und für immer +geschwiegen, wenn nicht dieses äußerst seltsame Wesen so bedeutungsvoll +und bestimmend in das Leben eines Freundes eingegriffen hätte. Eines +Freundes, dessen Wert ich schätze, wennschon ich seine Schwäche im +Charakter tief beklagen muß. + +„Flocki“ war ein Hund. Um das gleich zu sagen: ein sehr merkwürdiger +Hund. + +Seine Mutter stammte aus der weitverbreiteten und durchaus beliebten +Familie des ~canis genninus~. Oder kürzer und deutsch: sie war +eine besonders hübsche Pudelhündin. Sie hatte den in der Familie +üblichen gedrungenen Körperbau mit den langen, breiten Ohren; besaß +ein lockiges, schwarzes Fell mit zwei sauber, fast kokett gezeichneten, +weißen Flecken an Stirn und Brust. Diese beiden weißen Flecken waren +vielleicht die Ursache, daß sie so sehr stolz auf der Straße war und +sich selbst vom Milchmädchen nicht streicheln ließ. Was später aus ihr +geworden ist, weiß man nicht genau. Die Köchin bei Hauptmann Weber -- +sie diente einen Stock unter „Fifi“, der schwarzhaarigen Pudelhündin, +-- behauptete, sie hätte sich in älteren Jahren aus einer verspäteten +unglücklichen Liebe zu des Hauptmanns langhaarigem, englischem Setter, +der sechzehn Ahnen hatte, damals gerade von der Staupe genas und ein +sehr interessanter Rekonvaleszent war, in den Landwehrkanal gestürzt. +Aber die Köchin bei Hauptmanns war überhaupt eine sehr romantische +Person und wenig glaubhaft. + +Piefkes selbst, bei denen „Fifi“ seit den betrübenden Zeiten, in denen +ihrer ahnungslosen Jugend noch der erste Zimmeranstand beigebracht +werden mußte, treue Hausgenossin war, erzählten, sie sei von einer +„Elektrischen“ in der Potsdamerstraße überfahren worden. Das hat viel +für sich, wenn man erwägt, daß „Fifis“ Sehvermögen stark nachgelassen +hatte, und daß die „Elektrischen“ damals -- kurz nach dem Streik -- oft +von absonderlichen Fahrkünstlern gelenkt wurden. + +Flockis Vater aber -- und das blieb nicht ohne Bedeutung für Flockis +Aussehen, wie für seine Talente und Neigungen -- war ein +Mops+ +gewesen. „Schufterle“ hieß der wenig liebenswürdige Vertreter +einer unschönen Rasse, die, ruhmlos und unbeweint, faul, dick und +aller Tätigkeit abhold, im Aussterben begriffen ist. Er hatte einen +schraubenförmig gerollten Schwanz, eine schwarze, sehr unfreundliche +Maske und war von besonders bösartiger Gemütsart; als wollte er bei +jeder Gelegenheit durch tückisches Benehmen den Beweis liefern, +daß seine Familie nur eine Karikatur der mißliebigen Bullenbeißer +darstelle. Kam hinzu, daß seine Herrin eine alte, schrullige +Regierungsrätin war, die nur zwei Leidenschaften hatte: auf einem +unglaublich verstimmten Klavier Chopin zu spielen und ihren dicken Mops +zu verwöhnen. + +Diese sonst achtbare Dame hatte alle vielleicht in dem Tiere +schlummernden guten Qualitäten durch falsche Erziehung verdorben. +„Schufterle“ war knurrig und ohne jede Liebenswürdigkeit. Er war +gefräßig und litt infolge von Fettleibigkeit, die wiederum eine +Konsequenz der mangelhaften Bewegung in freier Luft war, stark an +Asthma. Seinetwegen wohnte die Regierungsrätin nur Hochparterre. Und so +oft sie auch wegen ihrer Vorliebe für Chopin umziehen mußte, mehr als +vierzehn Stufen mutete sie ihrem kurzatmigen Liebling niemals zu. + +Wie eigentlich der Liebesbund zwischen zwei so verschiedenen Wesen, +wie es „Fifi“ und „Schufterle“ waren, zustande kommen konnte, das ist +mir heute noch ein Rätsel. Brehm lebt nicht mehr, den ich gern gefragt +hätte; und zu den modernen Zoologen hab’ ich kein Zutrauen. Sie +versenken sich nicht in die Tierseele. + +„Schufterle“ hat übrigens seinen Sohn niemals gesehen. Denn „Flocki“ +kam im dritten Stock zur Welt, in einer Höhe, die Schufterle niemals +erklomm. Und vierzehn Tage nach der Geburt des ihm gleichgültigen +Sohnes starb „Schufterle“. Die Hausbewohner, denen seine Korpulenz +und sein Schnaufen bei jeglicher Fortbewegung stark mißfallen hatte, +behaupteten pietätlos, er sei „geplatzt“. Einige wollten sogar den +Knall gehört haben ... + +Die Regierungsrätin aber machte den Briefträger für „Schufterles“ +Tod verantwortlich. Ihn allein. Zwischen diesem behenden Vermittler +schriftlicher Nachrichten und dem asthmatischen Mops hatte eine latente +Feindschaft schon seit Monaten bestanden. Schufterle knurrte, wenn +er den Briefträger sah. Und der Briefträger knurrte auch. Freilich +nur innerlich. Schufterle war überzeugter Demokrat und haßte alles +Uniformierte. Der Briefträger vermochte über Schufterles feindseliges +Benehmen um so weniger Entzücken zu heucheln, als der Regierungsrätin +das Verständnis für den Begriff eines Trinkgeldes selbst bei so +feierlichen Gelegenheiten, wie Ostern oder Jahreswechsel, durchaus +fremd blieb. Während sie für Schufterle eine verschwenderische +Zärtlichkeit an den Tag legte, pflegte sie die herzlichsten +Neujahrswünsche nur durch ebenso herzliche Wünsche zu erwidern. + +So kam es, daß der sonst durchaus friedliche Briefträger kurz +nach Neujahr bei einem Zusammentreffen mit Schufterle auf der +Treppe die kläffende Mißbilligung des feindlichen Mopses mit einem +gesinnungstüchtigen Tritt seines doppeltgesohlten Zugstiefels +erwiderte. Dieser Tritt hatte, obschon er nicht mit voller Kraft +und in ganz ungefährlicher Richtung geführt war, nach Ansicht der +Regierungsrätin „edle Teile“ verletzt. Und als einige Wochen darauf +das vorzügliche Schufterle in seinem ausgepolsterten Schlafkörbchen +verschieden war, schwur die aufs äußerste erzürnte alte Dame, ihr +Liebling sei an dem Tritt des rohen Staatsbeamten gestorben. Sie +verkrümelte von diesem Tage an ihre bescheidene Pension in gehässigen +Prozessen gegen die Postbehörde. Aber das einzige Resultat dieser +fortgesetzten kriegerischen Tätigkeit war, daß sie dreimal wegen grober +Beleidigung eines Beamten in erhebliche Geldstrafen genommen wurde ... + +Ich hätte mich selbstverständlich weder bei „Fifi“, noch bei der +Hauptmannsköchin, noch bei „Schufterle“, der Regierungsrätin oder dem +Briefträger so lange aufgehalten, wenn ich nicht glaubte, daß alle +diese Dinge für +Flockis+ schönes Leben in gewissem Sinne vorbedeutend +und bestimmend gewesen wären. + +Daß Flocki, der Sohn von Fifi, der Pudelhündin, und von Schufterle, +dem asthmatischen Mops, ein +bemerkenswerter+ Hund war, muß ich +leider hinzufügen. Flocki war kurzbeinig, gedrungen, und obschon +sein schwarzer Kopf die mütterliche Rasse im Schädelbau deutlich +verriet, zeigte er die ganze, nur in der eigenen Dummheit begründete +Weltverachtung des ererbten Mopsgesichtes. Auch der schraubenförmig +gedrehte Schwanz erinnerte an den asthmatischen Vater, während die +lockige, grauschwarze Behaarung offenbar von der angenehmeren Mutter +kam. + +Ich will meiner Antipathie gegen „Flocki“ hier nicht die Zügel schießen +lassen; eines aber steht für Unparteiische völlig fest: es gibt selbst +unter den verwahrlosten Kötern, die die schmutzigen Straßen von +Stambul so angenehm beleben, keinen, der bei mäßigen Geistesgaben so +täuschend den Eindruck zu erwecken vermöchte, als habe er sich soeben +in einer besonders üblen Lehmgrube gewälzt. Diesen Verdacht aber rief +Flocki, wo und wann er erschien, in jedem Unbefangenen hervor; obschon +es vielleicht in Mitteleuropa keine +drei+ Hunde gibt, die +soviel+ +gewaschen, gebadet, gekämmt, so oft mit grüner Seife abgerieben und mit +Insektenpulver bestreut wurden, wie Flocki. Diese Reinigungsprozesse +waren -- um ein schiefes Bild an Stelle eines weit besseren, das mir +nicht einfällt, zu gebrauchen -- die einzigen dunklen Punkte in Flockis +sonst so sonnigem Leben. + +Flockis Herrin war eine unverehelichte Malerin. Früher hatte sie bloß +gegen den Willen ihrer Eltern gemalt. Jetzt malte sie gegen den Willen +der ganzen Welt. + +Die Eltern waren gestorben und hatten ihr und ihrer älteren Schwester, +die genau so eifrig und auch ungefähr so schön Klavier spielte, wie +die jüngere Schwester „Stilleben“ malte, ein bescheidenes Vermögen +hinterlassen. Nicht gerade, um auf lautlosen Gummirädern zu fahren und +den Karneval in Nizza zu verleben, aber doch um sich’s daheim behaglich +zu machen, ohne auf Verdienst angewiesen zu sein. Das war auch gut, +denn +Eleonore Eikötter+ hatte wohl das Talent, Bilder zu malen, die +ihr selbst, ihrem Dienstmädchen und dem vorzüglichen Flocki ausnehmend +gefielen; aber sie hatte leider +nicht+ das Talent, diese Bilder auch +der Kritik zu empfehlen oder gar diese Kunstwerke zu verkaufen. + +Das war eigentlich sehr zu verwundern. Denn es heißt immer, wir leben +in einer realistischen, in einer materiellen Zeit. Und Eleonore +Eikötter kam in allen ihren Werken einem gesunden Materialismus +vertrauensvoll entgegen. Ihre Stilleben wiesen keine bekränzten +Totenschädel auf, keine Lichtscheren, alte Gebetbücher, rostige +Hufeisen oder was sonst noch diese Art von Bildern besonders +reizvoll zu machen pflegt. Eleonore malte prinzipiell nur +Eßwaren+: +Hummerscheeren, Marzipantörtchen, Schweinsfüße, Pastetchen und +gebratene Wachteln. Und da sie mit ihren Bildern rasch fertig war, wie +die Jugend mit dem Wort, und aus ästhetischen Gründen ihre Modelle +nie mehr als +einmal+ benutzte, so hatte Flocki allen Grund, mit dem +Schicksal zufrieden zu sein, das ihn und sein Leben so innig mit dieser +Kunst verknüpft hatte, die +nicht+ „nach Brot“ zu gehen brauchte. + +Flocki erhielt nämlich, sobald ein Bild vollendet war, die „Modelle“ +zur Erledigung in seine mit stilisierten Lilien bemerkenswert bemalte, +sehr geräumige Freßschüssel. Er hatte folglich ein nicht rein +künstlerisches Interesse daran, daß die Farbendichtungen Eleonorens +rasch ihrer Vollendung entgegenreiften. + +Schlau und perfid, wie er leider war, hatte er gemerkt, daß seine +Herrin einmal außer sich vor Entzücken geriet, als er -- eigentlich nur +aus Langerweile und weil ihm die Sache diesmal zu langsam ging --, eine +von ihr gemalte Schinkenstulle ärgerlich angauzte. Damals geschah es, +daß Eleonore Eikötter stolz zu ihrer Schwester +Adelgunde+, die einen +ihrer selteneren Besuche bei der Malerin machte, bemerkte: + +„Kennst du die Geschichte von Apelles, dem Lieblingsmaler des großen +Alexander? Nein? Nun, siehst du, der berühmte Apelles hat einmal +Kirschen gemalt. Da kamen die Spatzen von den Bäumen und wollten die +gemalten Kirschen aufpicken. +So+ natürlich waren sie. Dem Apelles aber +war das Lob, das ihm die getäuschten Sperlinge zollten, wertvoller, +als das Lob der Schranzen des Königs der Mazedonier. Nun, siehst +du, so geht es mir auch. Flocki, mein süßer, kluger Flocki, hat die +Schinkenstulle, die ich auf die Leinwand geworfen, +angebellt+. Das ist +das +höchste+ Lob; das ist mir mehr wert als das Lob Alexanders des +Großen!“ + +Die pietätlose ältere Schwester sagte bloß: + +„Du bist verrückt.“ + +Aber Flocki, der sofort das appetitliche Modell, die Schinkenstulle, +ausgeliefert erhielt, überlegte, während er die fetten Bissen gierig +verschlang, daß sein lautes Benehmen vor der bunten Leinwand, der er im +Grunde durchaus verständnislos gegenüberstand, offenbar diese so rasche +wie erfreuliche Lösung der Problems bewirkt habe. Und er beschloß, auch +fernerhin sein lautes Urteil rechtzeitig abzugeben und seiner mild +gesinnten Herrin mehr Freude zu bereiten, wie Alexander der Große. + +In der Folgezeit wurde er laut, sobald die ersten Farbenklexe sich +auf der Leinwand zeigten und die ersten Linien erschienen, aus denen +noch ebensogut ein Nilpferd, wie ein Stiefelknecht oder eine gotische +Kathedrale werden konnte. + +Eleonore war selig im Bewußtsein, es in ihrer Kunst bereits so weit +gebracht zu haben, daß sie, wie sie sich ausdrückte, „mit wenigen +Winken das Bedeutsame auszudrücken vermochte“; so deutlich und klar, +daß es selbst Flocki, der bei aller Klugheit doch immerhin nur ein Hund +war, nur der Sohn eines Mopses und einer Pudelhündin, erkennen und +würdigen konnte. + +Wenn aber dem verschmitzten Flocki die öde Malerei zu lange dauerte und +die Gründlichkeit der Künstlerin in Anbetracht seiner Gelüste nach den +„Modellen“ verdrießlich wurde, dann gebärdete er sich wie unsinnig +vor der Staffelei und drohte unter jubelndem Gebell mitten in die +künstlerische Tat hineinzuspringen. + +Dann legte Eleonore Eikötter, gerührt und stolz, die Pinsel hin und +belohnte den kritischen Freund mit den zärtlichsten Schmeichelnamen und +mit reelleren Genüssen ... + +So lebte Flocki im Atelier der genialen Pflegerin wie der große +Hannibal im üppigen Capua. Er wurde dick und fett. Und wären nicht +häufig kleine Verdauungsstörungen vorgekommen, peinliche Folgen seiner +kritischen Verdienste und seiner bedauerlichen Gefräßigkeit, so wäre er +ein vollkommen glücklicher Hund gewesen. + +Die Schönheit seiner Erscheinung litt wohl unter den Jahren und +der rasch fortschreitenden Korpulenz. Die vom Vater ererbte +Unliebenswürdigkeit gegen alle Fremden nahm zu, und beim Treppensteigen +zeigten sich auch schon zuweilen Vorboten des bösen, väterlichen +Leidens, des Asthma. Aber die sorgsame Liebe seiner Herrin wuchs +ins Ungemessene, wenn der dicke, häßliche Köter mit den fettigen, +kleinen Augen und dem verschraubten Schwanz sich breitbasig vor +ihren Pfuschereien aufpflanzte und der entzückten Eleonore Eikötter +mit seinem gequetschten Gebell das Zeugnis ausstellte, daß sie eine +talentvolle Künstlerin sei, eine nicht unebenbürtige Kollegin des +großen Apelles aus Kolophon. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- + +Mein Freund +Emil Steinbrink+ hatte seit einigen Monaten sein Atelier +neben dem Raume, den sich Eleonore Eikötter mit allerlei Teppichen, +die sie für „echte Perser“ hielt, weil sie vielfach gestopft waren, +mit sehr unpraktischen, breitbeinigen Tischen und sehr staubigen +Markart-Buketts zum Heiligtum ihrer Kunst eingerichtet hatte. + +Emil war nicht ohne Talent. Er hatte nur eine bedauerliche Vorliebe +für Violett; eine Vorliebe, die sich leider auch da nicht unterdrücken +ließ, wo diese an sich milde und gewiß sympathische Farbe nicht recht +hinpaßte. + +Über seine Porträts war kaum zu streiten, da violette Menschen +nirgends vorgekommen, und weil höchstens auf den Nasen einiger +Gewohnheitstrinker sich die unbequeme Farbe zeigt, die Emil bei seinen +Bildnissen bevorzugte. Aber auch seine „Landschaften“ gewannen durch +das merkwürdige violette Licht, das über die Wälder, die Häuser und +die Teiche flutete, ein eigentümliches Ansehen. Man vermutete immer, +sie sollten einem erschrecklichen Spuck, einer Geistererscheinung +oder einer gespenstischen Botschaft aus der vierten Dimension als +Hintergrund dienen. Und wenn dann unter solchem Bilde ganz einfach zu +lesen stand: „Frühlingslandschaft im Spessart“ oder „Herbstmorgen in +der Rhön“, so schwuren die gewissenhaften Kenner deutscher Gebirge, +dergleichen weder in der Rhön noch im Spessart, noch im Schwarzwald, +im Taunus oder in der sächsischen Schweiz jemals wahrgenommen zu +haben. Ja, ein Weltreisender, mit dem ich einmal in den versteckten +Kunstsalon zusammentraf, in dem Emil seine Werke vor den Augen der +gemeinen Menge so ziemlich verborgen auszustellen pflegte, versicherte +mir, auch der Himalaja, der Kaukasus und die Roky Mountains seien +gänzlich frei von solchen violetten Stimmungen. + +Nur der Portier des Hauses, in dessen fünftem Stock Eleonore Eikötter +und Freund Emil Wand an Wand künstlerisch wirkten, behauptete steif und +fest, als Kind in seiner Heimat -- er war aus Schopfheim -- derartige +wunderliche Farbenstimmungen häufig und mit innigem Genuß beobachtet +zu haben. Seine sonst wohl interessanten Mitteilungen verloren an Wert +dadurch, daß der alte Herr früher als Weichensteller bei der Hessischen +Ludwigsbahn angestellt war und dann wegen plötzlich eingetretener +Farbenblindheit entlassen werden mußte. + +Dieser Weichensteller a. D. und jetzige Portier eines herrschaftlichen +Hauses mit zwölf Etagen, vier Kellern und fünf Ateliers hieß +Erasmus +Schellenkopf+ und wurde in seinen Pflichten als Hausbesorger +unterstützt von einer ebenso dicken wie asthmatischen Frau, seiner ihm +ehelich angetrauten Lebensgefährtin. Frau +Emma+ Schellenkopf blickte +zu dem Kunstverständnis ihres Eheherrn mit erfreulicher Ehrfurcht +empor, seit ihr Emil, der Meister in Violett, einmal erklärt hatte: +Das Gerede von der Farbenblindheit ihres Mannes sei ein Unsinn und +ein Quatsch, und man könne aus den Augen ihres Gatten durchaus +ausreichende Gesichtsorgane für zwei Dutzend Akademieprofessoren +herstellen. + +Frau Emma Schellenkopf trug sich nach dieser Unterredung sogar +wochenlang mit dem Plan, auf Grund eines solchen fachmännischen +Gutachtens nachträglich einen Prozeß gegen die Hessische Ludwigsbahn +anzustrengen. Allein der Friedensliebe ihres verständigeren Gatten war +es zu danken, daß die Justiz nicht mit der Beamtenlaufbahn des Herrn +Schellenkopf weiter befaßt wurde. + +Erasmus Schellenkopf war für Freund Emils Schaffen ungefähr das, was +Flocki, der vorzügliche Hund, für Eleonore Eikötters Werke in Öl war. +Er war der Ansporn, die Aufmunterung, das anregende und treibende +Element. Wenn er morgens die fünf Treppen heraufkam, die schmutzigen +Pinsel zu waschen und die Aschbecher auszuleeren, eine Arbeit, die er +mit der pedantischen Umständlichkeit eines alten Professors ausführte, +so sprachen die beiden, der Maler und der kunstsinnige Portier, +ein Langes und ein Breites über die deutsche Kunst und benachbarte +Gebiete. Es war ein „Dialog in Violett“ ... Und nebenan im Atelier +der Stilleben malenden Eleonore hörte man von Zeit zu Zeit den +kunstbegeisterten Flocki bellen und vor der Staffelei seiner Herrin in +wildem Enthusiasmus umherhüpfen. Dazwischen Eleonorens freudig bewegte +Stimme, die den Liebling nicht ohne Stolz in die gebührenden Schranken +zurückwies ... + +Als Emil das Atelier bezog, hatte er Eleonoren einen nachbarlichen +Besuch abgestattet. + +Sie hatte ihm einige Dutzend ihrer Bilder gezeigt, die auf ihn -- er aß +aus Sparsamkeitsgründen an einem bescheidenen Mittagstisch der Altstadt +für 65 Pf. „mit Bier“ -- einen peinlich appetiterregenden Eindruck +machten. Dann hatte sie mit noch größerem Stolz Flocki, den gestern +erst gewaschenen und bereits heute wieder sehr schmutzigen Flocki in +Freiheit vorgeführt. + +Es traf sich, daß Flocki gerade an diesem Tage, da er einen alten +Mallappen aus Langeweile aufgefressen hatte, an einem akuten Magenübel +erkrankt war, das durch praktische Verwertung der Modelle seiner Herrin +nicht besser geworden war. Das liebenswürdige Tier mußte deshalb sehr +häufig die fünf Treppen heruntergeführt werden, um sich an der frischen +Luft eine Weile zu ergehen. + +Emil, immer galant, erbot sich in diskretester Weise, zuweilen die +kleine gesundheitliche Exkursion Flockis zu leiten und mit Umsicht zu +überwachen. Diese angenehme, zarte Aufmerksamkeit gewann ihm das Herz +dieses späten Mädchens im Sturm. + +Schon am nächsten Tag machte sie ihm einen anderthalbstündigen +Gegenbesuch in seinem Atelier; und nachdem sie ihn mit längeren, +ziemlich verworrenen Plänen einer Romreise, für die sie die richtige +Jahreszeit schon seit sieben Jahren nicht hatte finden können, +gelangweilt hatte, kaufte sie eine seiner violetten Landschaften, die +nun schon ins fünfte Atelier mit umgezogen waren ... + +Der Verkehr zwischen den beiden Ateliers wurde rasch lebhafter +und freundschaftlicher. Daran trug im Grunde weniger die +Seelenübereinstimmung des nachbarlichen Paares, als das Verhältnis +Flockis zu Emil die Hauptschuld. Aus gänzlich unaufgeklärten Gründen +beglückte Flocki den neuen Freund, so oft er ihn traf, mit seinen +ehrenden Vertraulichkeiten. Saß Emil, so sprang Flocki unaufgefordert +auf seinen Schoß, was, besonders wenn es draußen geregnet und Flocki +bereits eigensinnig den Weg durch mehrere Pfützen genommen hatte, +für Emils Kleidung gerade nicht von besonderem Vorteil war. Aber er +ertrug es; denn Eleonore sprach schon mit bescheidenem Augenaufschlag +davon, gelegentlich aus dem Schatze der violetten Landschaften noch +ein passendes Pendant zu dem von ihr gekauften Bilde auszuwählen. Sie +ging dabei wohl von dem nicht ganz unrichtigen Gesichtspunkte aus, daß +man solche violette Landschaften erst glaubt, wenn +mehrere+ beisammen +hängen und gewissermaßen die eine die andere bestätigt. + +Leisten konnte sich’s Eleonore Eikötter übrigens. Von ihren Eltern +hatten die Schwestern ja nur ein bescheidenes Vermögen geerbt, das +der alte Eikötter einer von ihm erfundenen und mit großem Geschick +vertriebenen Fruchtmarmelade verdankte. Dann aber war eine Tante +gestorben, die im Leben durch Besuche niemals lästig gefallen war, +die Schwester der Mutter. Diese merkwürdige alte Dame hatte sich +in ein Kinderbild Eleonorens in der Weise verliebt, daß sie ihr +fünfundzwanzig Jahre später, nachdem das Bild wirklich nicht mehr +ähnlich war, mit Übergehung der älteren Schwester Adelgunde ihr ganzes +Vermögen vermachte. Das war in soliden Staatspapieren angelegt und +brachte immerhin eine Rente von 3000 Mk., ohne der Besitzerin durch +Schwankungen im Kurs den Schlaf der Nächte zu rauben. + +Adelgunde hatte nun zwar die Schwester durchaus nicht im Verdacht der +Erbschleicherei. Sie kannte auch die Geschichte von der berückenden +Wirkung des Kinderbildes auf das Herz der alten Tante. Aber sie +fühlte sich zurückgesetzt. Ein paar tausend Mark, die ihr die +gutmütige Eleonore als Geschenk und als Trost überlassen wollte, wies +sie hochmütig zurück und lebte von nun an von dem Ertrag weniger +Klavierstunden und der kleinen Rente, die das elterliche Vermögen +abwarf. + +Als aber Eleonore angefangen hatte, mit Eifer zu malen, wurde das +Verhältnis noch gespannter. Denn Adelgunde hatte schlechterdings für +diese Stilleben, auf denen nichts vorkam, wie lauter eßbare Dinge, die +später in Flockis stilisiertes Freßnäpfchen wanderten, aber auch gar +nichts übrig. Sie war mehr für die große historische Schule, Piloty, +Kaulbach und die andern, und verachtete derartige Malereien, in denen +kein Mann, kein Weib und kein Held eine Rolle spielte. + +So malte Eleonore nicht nur für sich. Sie +lebte+ auch für sich. +Sie malte für sich und Flocki. Nur die Besuche des benachbarten +Strebensgenossen, der die ganze Welt violett sah, brachte einige +Abwechslung in ihr Dasein. + +Ihr Tagewerk war äußerst regelmäßig. Früh um sieben Uhr erhob sie sich, +nahm ein Bad, kleidete sich halb an und badete Flocki, für den dieser +Anfang des Tagewerks nicht den geringsten Reiz besaß. Häufig kroch er +sogar unter Eleonorens Bett, was die betrübte Künstlerin -- nicht ohne +dabei heftig zu erröten und das kurze und allgemein übliche Wort für +ihre jungfräuliche Lagerstätte zu umschreiben -- dem Freund und Nachbar +gesprächsweise mitteilte. + +Emil hatte zuweilen gute Einfälle. Nicht allzu häufig, aber doch +öfter, als die Leute glauben mochten, die nur seine Bilder kannten. +So riet er der bekümmerten Besitzerin des merkwürdigen Hundes nach +einigem Besinnen, die vier Beine ihres Bettes, von dem er, ohne es +gesehen zu haben, annahm, daß es aus Holz gebaut sei, einfach absägen +zu lassen. Sie werde dann allerdings beträchtlich tiefer liegen, aber +das habe nach den Erfahrungen der Ärzte keinen Einfluß auf Schlaf und +Wohlbefinden. Die berühmten französischen Betten seien sogar, wie man +ihm mitgeteilt habe, alle +sehr+ niedrig. + +Eleonore unterbrach hier errötend seine warmherzigen Ausführungen über +die französischen Betten, für die sie sich weniger interessierte. +Sie dankte ihm aber herzlich für seinen guten Rat; denn die sich +immer häufiger wiederholenden Unterredungen mit dem unter dem Bett +sich verkriechenden Flocki, der nicht gewaschen sein wollte, waren +frühmorgens oft recht kraft- und zeitraubend. + +Sie ließ nun wirklich, wie der Freund geraten, die vier unnützen +Beine ihres Bettes absägen und gewann durch diese Kriegslist, die dem +überraschten Flocki höchst perfide erschien, durchschnittlich jeden +zweiten Morgen eine gute halbe Stunde. + +Um acht Uhr unternahm sie dann einen Spaziergang mit Flocki durch +die Anlagen der Stadt, wobei sie weniger auf die Reize der Natur als +darauf zu achten hatte, daß Flocki nicht durch seine Wißbegier in +den künstlich angelegten Beeten Übles stiftete. Mit den Angestellten +der Stadtgärtnerei, denen Flocki wohlbekannt und tief verhaßt war, +lebte Eleonore in ewiger Fehde. Die jüngeren Gärtnerburschen fanden +bedauerlicherweise ihre neckische Freude daran, einen kräftigen +Strahl aus den wasserspendenden Rasenschläuchen, wenn’s irgend ging, +auf den weltvergessen botanisierenden Flocki zu lenken, der dann mit +unsäglichem Geheul über dieses zweite unbestellte Bad quittierte. Für +die Beschwerdebriefe Eleonorens an die Stadtgärtnerei rächten sich +wiederum die Parkaufseher durch Anzeigen, wenn Flocki, was leider +häufig vorkam, unter dem kleinen Geländer, das die gelben Fußwege von +den weichen Rasenflächen trennte, durchkroch, um sich im Grünen oder +unter Tulpen und Hyazinthen zu ergehen. + +Um 9½ Uhr kam Eleonore gewöhnlich von ihrem Spaziergang, der ihr +mehr seelische Erregung als Erholung zu bringen pflegte, zurück. Sie +teilte dann mit Flocki, der merkwürdig gern gut gezuckerte Schokolade +trank, ihr Frühstück und trat mit dem Glockenschlag zehn Uhr in einer +erstaunlich verklexten Malschürze vor ihre Staffelei. + +Um zwölf Uhr klopfte Emil gewöhnlich an ihre Tür. Sie rief „Herein“ +und zeigte jeden Mittag dieselbe freudige Überraschung über den +unerwarteten Besuch. + +Dann sprachen sie eine halbe Stunde über Kunst. Über Böcklin, dessen +geniale Verwendung der violetten Farben Emil nicht genug rühmen +konnte; über die Niederländer Snyders, Hondecoeter und van Streek, in +denen Eleonore die Großen +ihrer+ Kunst verehrte, die Meister, die es +verstanden, das Kleine groß zu sagen und dem an sich Unbedeutenden, -- +einer Jagdbeute, einem Küchenstück, einer Tafel ohne Gäste -- geistige +Bedeutung und Poesie zu leihen. + +Sie sprachen ohne Leidenschaft, wie zwei gute, wohlerzogene Kameraden. +Eins ließ das andere ausreden, ob es gleich ganz genau wußte, was +es nun sagen werde. Denn der Gedankengang in diesen ästhetischen +Besprechungen war stets der gleiche. Und da nie ein Widerspruch von +der andern Seite erfolgte, so war auch eine dialektische Verteidigung +des Standpunktes, eine Vertiefung der Begründung, eine Vermehrung der +Argumente durchaus unnötig. + +Zuletzt sprach man immer -- von Flocki, der, sobald er seinen Namen +hörte, in seinem mit weichen bunten Lappen ausgelegten Körbchen faul +mit dem Schwänzchen wedelte, ohne sonst irgendeinen Muskel seines +Körpers an der freudigen Bewegung teilnehmen zu lassen, ja meist ohne +die Augen nur zu öffnen. + +Dann kam man überein, zusammen zu Mittag zu essen. In dem bescheidenen +kleinen Restaurant in der Nähe, das Eleonore entdeckt hatte, und +in dem sie, obschon sie keine geistigen Getränke zu sich nahm, auf +deren Verkauf die Wirte sonst angewiesen sind, als Stammgast mit +Aufmerksamkeit und Respekt behandelt wurde. + +Auch dieses gemeinsame Diner schien jeden Mittag das Resultat einer +ganz plötzlichen Erwägung zu sein. Man zeigte sich jedesmal wieder +aufs neue erfreut, die fesselnde Unterredung über Böcklin, über die +Niederländer und Flocki bei Tisch fortsetzen zu können. Und niemals +wäre es Einem von beiden eingefallen, etwas Seltsames darin zu finden, +daß sie ohne Verabredung, ohne Übereinkunft oder Abonnement schon seit +Monaten jeden Mittag um ein Uhr gemeinsam in das freundliche Gastzimmer +der „Goldenen Eidechse“ eintraten. + +Der Pikkolo, der eine aus dem alten Frack des Oberkellners umgebaute, +in der Fasson sehr merkwürdige Jacke trug, die an Flecken der +Malschürze Eleonorens nicht nachgab, kam ihnen jeden Mittag mit +derselben theatralischen Verbeugung entgegen. Den pomadisierten Kopf +zwischen die Schultern ziehend, wie eine gekitzelte Schildkröte, wies +er mit huldvoller Bewegung der roten Hand, die aus der spiegelnden +Gummimanschette wie der breite Schaufelfuß eines Maulwurfs kam, nach +dem für zwei Personen gedeckten Tischchen in der Ecke: + +„Die Herrschaften, bitte, +hier+!“ + + * * * * * + +Auch Eleonorens Schwester, die selten erscheinende Adelgunde, hatte +Emil einmal bei der befreundeten Künstlerin getroffen. + +Es war kein besonders günstiger Tag, um sie kennen zu lernen. Sie +hatte sich am Vormittag einen Vorderzahn ziehen lassen, und die Zunge +war noch nicht recht gewöhnt daran, daß gerade an der Front des +Kiefers eine Lücke in die Zahnreihe gebrochen sei. Demgemäß „lispelte“ +Adelgunde in einer befremdlichen Weise, und die Aussprache gewisser +Konsonanten ergoß sich wie feiner Sprühregen auf den Partner der +Unterhaltung. + +Eleonore fand es furchtbar komisch. Sie hatte gleich beim Eintritt der +Schwester zu lachen angefangen. Sie hörte gar nicht auf zu lachen; +und je mehr sie ihrer humoristischen Laune die Zügel schließen ließ, +desto ärgerlicher wurde die Schwester. Schließlich kamen die beiden +in Streit, ohne die Anwesenheit Emils, der sich nach einer ersten +Begrüßung, verlegen in alten Skizzenmappen blätternd, an den Wänden +herumdrückte, weiter zu beachten. Sie sprachen recht deutliche Töne +über den kleinen körperlichen Schaden Adelgundens, der Eleonore so sehr +amüsierte. + +„Nimm mir das nicht übel, Eleonore, aber ein Gänschen“ -- sie sprach +das „s“ sehr scharf, fast zischend -- „ein Gänschen von fünfzehn Jahren +benimmt sich nicht törichter, wie du. Und, wie alt bist du doch?“ + +„Fünf Jahre jünger als du,“ gab Eleonore prompt zurück. + +„Richtig. Aber du benimmst dich wie ein Kind. Das steht dir wirklich +nicht besonders, die Naivenrolle mit dem Backfischgekicher.“ + +„Ja, das mag ja sein, meine Liebe, aber du sprichst auch zu komisch. +Sag’ doch bitte noch einmal, Gänschen -- Gänsz-schen -- es klingt gar +zu drollig.“ + +Diesen Gefallen tat ihr Adelgunde nun zwar nicht, aber sie belehrte die +Schwester: + +„Wenn du die Folgen eines Zahngeschwürs, das mich acht Tage lang +gemartert hat, ‚drollig‘ findest, so kann ich deiner Schwesterliebe das +nicht verwehren. Ihr Künstler seid immer äußerst originell in eurer +Auffassung fremder Gefühle; und du bist ja -- wenigstens +deiner+ +Auffassung nach -- eine Künstlerin.“ + +Eleonore überhörte die Bosheit und fragte teilnehmend: + +„Du wirst dir doch einen andern Vorderzahn einsetzen lassen?“ + +„Nein!“ + +Das Nein kam so scharf und eisig heraus, als wollte Adelgunde damit +ihrer Schwester einen Hieb versetzen. + +Emil sah verstohlen von seinen Skizzenbüchern auf, die Eleonorens +zeichnerische Gedanken über verschiedene, durchaus gewöhnliche +Hausgeräte enthielten. Er prüfte Adelgunde mit den Kenneraugen des +Malers. „Schönheit ist nicht die Falle ihrer Tugend,“ dachte er. Es ist +ja nun einmal von der Natur bestimmt, daß die Töchter Evä einen kurzen +Unterkörper und langen Oberkörper besitzen, und man hat sich allmählich +daran gewöhnt, daß dem so ist. Aber so kurz, wie bei Adelgunde, +brauchen schließlich die Beine auch nicht zu sein; besonders wenn der +Oberkörper so lang und eckig gebaut ist, wie hier. + +Er erinnerte sich, mal als Junge auf einem Jahrmarkt einen sogenannten +„Rumpfmenschen“ gesehen zu haben. Der Ärmste saß in einem hellblauen +Seidenwams auf einem wulstigen Kissen; und der Knabe ging damals +mit Staunen und Schauder um den hockenden Fleischklotz, in dem nur +die Augen zu leben schienen, herum und suchte die Beine. An diesen +Rumpfmenschen erinnerte ihn Adelgundens wenig glückliche Erscheinung. +Durch ihre Angewohnheit, die Arme stets unbeweglich dicht an den Körper +gepreßt zu halten, als ob unter den Achseln die Naht ihres Kleides +geplatzt wäre und sie das durchaus nicht sehen lassen wollte, gewann +die grausame Illusion noch an Wahrscheinlichkeit. + +Und dann die Toilette! Das Kleid, das sie trug, war weder alt noch +schäbig; aber wann sein wunderlicher Schnitt jemals modern gewesen +wäre, das konnte kaum festgestellt werden. Ihren Hals schmückte ein +himbeerfarbener Seidenschlips, auf dem eine dicke goldne Spinne +mit einem perlenbesetzten Hinterleib als Nadel saß. Auf ihren +schlechtgebrannten Haaren vom fadesten Blond, durch das sich schon +silberne Streifchen zogen, wallte ein unförmiger kanariengelber Hut, +der einem Fieberkranken im Traume erscheinen konnte. + +Gewiß, Eleonore war ja auch keine ~beauté~, und auf einer +Schönheitskonkurrenz hätte sie -- selbst in ihrer bereits überwundenen +Blütezeit -- verteufelt wenig Aussicht auf eine „lobende Erwähnung“ +gehabt. Aber sie kleidete sich wenigstens einfach und hatte in ihren +Bewegungen nichts Unweibliches. Diese Adelgunde aber war einfach +furchtbar. Selbst wenn sich Emil den kanariengelben Hut und den +fehlenden Schneidezahn „rekonstruiert“ dachte; selbst wenn er die +himbeerfarbene Krawatte durch eine in Gedanken und Farbe bescheidenere, +die besser zu ihrem farblosen, unreinen Teint paßte, ersetzte und sich +das Mißverhältnis von Ober- und Unterkörper durch eine zweckmäßige +Kleidung gemildert vorstellte, blieb das Gesamtbild noch immer +unerfreulich. + +So etwas zu heiraten, das muß doch furchtbar sein, beendigte der +betrübte Maler seine stille Prüfung. Und er versuchte, sich den Armen +vorzustellen, der etwa zu Adelgunde passen könnte. Einen Lebenden, +der dieser Aufgabe gewachsen wäre, kannte er nicht. Und indem er dies +konstatierte, empfand er es als eine seelische Befriedigung, wie ein +großes Kompliment für das ganze männliche Geschlecht. Wenigstens vom +Standpunkte des Malers. + +Flocki hatte sich mittlerweile persönlich aus seinem Körbchen bemüht +und hatte die ihm äußerst unsympathische Schwester seiner gütigen +Herrin zunächst und von der Ferne durch feindliches Knurren begrüßt. +Dann hatte er sich, eingeschüchtert durch eine drohende Gebärde +Adelgundens, zu Emil begeben, an dessen Hosenbein er sich mit ehrender +Zutraulichkeit und großer Energie das Fell rieb. + +Als Adelgunde den mißvergnügten Köter bemerkt hatte, erhellten sich +ihre Züge. Sie wußte, an welcher Stelle sie ihre Schwester kränken +konnte. + +„Da ist ja auch der häßliche Butz,“ sagte sie, einen horngefaßten +Kneifer aufsetzend, der sie um nichts schöner machte. + +„Ich habe dir schon mindestens zwanzigmal gesagt, daß der Hund nicht +Butz, sondern Flocki heißt,“ belehrte Eleonore, aufgebracht über die +Mißachtung, der ihr Liebling begegnete. + +Flocki verstand, daß von ihm die Rede war. Er hörte sofort auf, sich +an Emils Hosenbeinen zu schaben und sah mit schiefgelegtem Kopf und +mißtrauischer Aufmerksamkeit nach Adelgunde. + +Und richtig, die Kampflustige setzte ihre bedauerlichen Beleidigungen +fort: + +„Solche Köter, die gar keiner Rasse angehören und gar keinen Charakter +haben, sollten immer ‚Butz‘ heißen. Butz schlechtweg. Niemals anders. +Und nun gar +der+! Ich begreife nicht, wie du mit deinem ewigen +Schönheitsgefühl dieses abscheuliche Tier um dich dulden kannst. +Freilich, er lobt ja deine Bilder. Der Gute, der Uneigennützige! Das +gibt ihm einen durchaus einzigen, unbestreitbaren Platz in deinem +Herzen. Du brauchst jemanden, der deine Bilder lobt. Aber das dürfte +dich doch nicht blind machen, daß er geradezu der Thersites unter den +Hunden ist. Und immer schmutzig.“ + +„Bitte, heute erst gebadet.“ + +Adelgunde ignorierte diese entrüstete Berichtigung. Sie wendete +sich nun direkt an Emil, der ziemlich geniert auf einem groben +Melkstuhl saß, den Eleonore einmal vor Jahren aus einer bescheidenen +Sommerfrische auf einer Schweizer Alm als sinnige Erinnerung +mitgebracht hatte. + +„Haben Sie schon einmal einen zweiten Hund gesehen, der immer aussieht, +als sei er in eine Lehmgrube gefallen?“ + +Emil wich der direkten Antwort auf diese Frage aus. + +„Flockis Fell nimmt merkwürdig leicht Staub an,“ entschied er, „aber +ich bin Zeuge, daß er fast täglich gebadet und sehr häufig am Tag +gebürstet wird.“ + +„Ja, +Sie+ sind Zeuge?“ lächelte Adelgunde spitz. „Sie sind wohl +der pädagogische und medizinische Beirat bei Flockis leiblicher und +seelischer Erziehung.“ + +„Im Hauptberuf,“ sagte Eleonore rasch und enthob dadurch den ob solcher +Anzapfung sichtlich verlegenen Emil der Antwort. „Im Hauptberuf +ist Herr Emil Steinbrink, wie ich dir vorhin schon erklärte, liebe +Adelgunde, Maler. Also ein Kollege von mir. Sogar ein Kollege, von dem +ich sehr viel halte.“ + +„Sogar!“ Adelgunde verbeugte sich mit leichtem Spott. + +„Jawohl, meine Liebe, sogar! Er ist Landschafter und hat die Welt mit +den Augen des Poeten betrachtet. Daß er, wie die meisten ästhetisch +Veranlagten und wie alle +guten+ Menschen“ -- sie legte auf die +„guten“ Menschen einen bedeutsamen Nachdruck -- „nebenbei ein großer +Hundefreund ist, hat mir seine kollegiale Freundschaft noch wertvoller +gemacht.“ + +„+Noch+ wertvoller?“ Adelgunde schien das ironische Echo der Schwester +geworden zu sein. + +Emil beschloß der peinlichen Szene ein erträgliches Ende zu geben. +Er erhob sich von seinem Melkstuhl und sagte mit einer linkischen +Handbewegung: + +„Hier nebenan ist mein Atelier.“ + +„Hier -- +nebenan+?“ + +Adelgundens Gesicht nahm einen Augenblick den Ausdruck beleidigter +Tugend an. + +„Ja, er ist ein sehr angenehmer Nachbar,“ kommentierte Eleonore +boshaft, „er spielt niemals Chopin, keine Trauermärsche und nichts +anderes, was ähnlich klingt.“ + +Emil begriff, daß Adelgunde nun wieder an der Reihe war für eine +bissige Bemerkung. Er beeilte sich also zu sagen: „Interessiert es Sie +vielleicht, mein Atelier zu sehen? Ich muß doch eben noch eine halbe +Stunde hinüber.“ + +Er hatte erwartet, daß Adelgunde ablehnen würde. Vielleicht mit +ironischem Dank, vielleicht gar mit einer beleidigenden Bemerkung. + +Aber in der unangenehmen Dame schien die Neugier gesiegt zu haben. Sie +erklärte sich sofort zur Besichtigung bereit. + +Jedenfalls kam er auf diese Weise hier los. + +Die folgende Viertelstunde gehörte zu den wenigst genußreichen in Emils +Leben. + +Es ist zwar nicht anzunehmen, daß Adelgunde überhaupt was von Bildern +verstand; in der Beurteilung von Emils Werken nahm sie jedenfalls +einen nüchtern ablehnenden Standpunkt ein. Sie behauptete, daß die +violette Farbe in der realen Welt sehr selten vorkomme. +Wenn+ sie aber +vorkomme, dann sehe sie nach ihren Beobachtungen anders aus, als Emil +sie wiedergab. + +Sie sprach dann von seiner Vorliebe für Violett, wie von einem +schmerzlichen Sehfehler und diskutierte mit ernster Teilnahme die +Möglichkeit, dieses Gebrechen durch einen operativen Eingriff in das +Sehnetz zu heben. Sie kenne einen Augenarzt, der die merkwürdigsten +Operationen mache. Eine sehr distinguierte Dame, mit der sie früher +vierhändig Klavier gespielt habe, sei von dem unglücklichen Fehler +behaftet gewesen in allen hellen Dingen einen dunklen Punkt zu sehen. +Einen Punkt von der Gestalt und Farbe einer Baumwanze. Diese Baumwanze +habe ihr der Doktor aus dem Auge herausgeschnitten. Es sei natürlich +keine wirkliche Baumwanze gewesen, sondern, wie sie vermute, ein +häßlicher Fleck in der Pupille. Die distinguierte Dame sei nach der +wohlgelungenen Operation sehr glücklich gewesen, habe vier Wochen +nach Vorschrift im dunklen Zimmer gesessen zur Nachkur und sei leider +in der fünften ganz plötzlich gestorben. Ein sehr trauriger Fall, +der aber niemanden abschrecken dürfe, eine Operation zu wagen. +Sie+ +z. B. würde in Emils Fall lieber heute als morgen ihre Zuflucht zur +Operation nehmen. Es müsse doch geradezu schauderhaft sein, die ganze +Welt, den Himmel, die Bäume, die Menschen, alles violett zu sehen. Auch +der Wahnsinn beginne sehr häufig, wie sie aus sehr ernst zu nehmenden +Büchern wisse, mit solchen Gesichtsstörungen ... + +So plauderte sie in ihrer gewinnenden Weise noch vieles, das den +Verfertiger der violetten Bilder ähnlich sympathisch berühren mußte. + +Dann empfahl sie sich, nicht ohne Flocki aus Versehen auf die Pfoten +getreten zu haben; eine Ungeschicklichkeit für die der davon Betroffene +mit dem ihm eigenen maßlosen Geheul quittierte. + +Vollständig mit der Untersuchung und der Pflege des Patienten +beschäftigt nahm die empörte Eleonore keinerlei Notiz davon, als die +Schwester davonrauschte. + +Emil begleitete sie bis zur Treppe und empfing dort ihre letzte +dringende Ermahnung, lieber so lange +nicht+ mehr zu malen, bis die +empfehlenswerte Operation vorgenommen sei. + +Sie war schon auf der Treppe, da raffte Emil, der bis dahin mit der +Geduld eines Märtyrers die Freuden dieses Besuches, der ihm eigentlich +gar nichts anging, ertragen hatte, zu einer kleinen, bescheidenen +Bosheit auf. + +„Alles, liebes Fräulein,“ sagte er, „+alles+ sehe ich nun doch nicht +violett. Zum Beispiel ihren schönen Hut empfinde ich durchaus gelb.“ + +„So. Empfinden Sie ihn gelb?“ sie lächelte ihm geschmeichelt zu. „Nun, +sehen Sie, ich kann Ihnen versichern: er +ist+ auch gelb. Ein kräftiges +Kanariengelb. Ich liebe überhaupt das Kräftige.“ + +Und damit stieg die freundliche Dame, die das Kräftige liebte, mit dem +kanariengelben Hut die Treppe hinunter. + +Das war am Abend des 24. Mai. + +Emil ahnte nicht, welche Bedeutung einmal für ihn dieses Datum gewinnen +sollte. Und als er in sein Atelier zurücktrat und Eleonore zwischen +all den violetten Bildern mit finster verkniffenen Lippen in seinem +antiquarisch gekauften Sicherheitstriumphstuhl sitzend fand, immer noch +den wimmernden Flocki betreuend, da konnte ihm nimmermehr der Einfall +kommen, daß diese Stunde in der Freundin einen Entschluß gereift habe, +der ihn sehr nahe anging. + +Ihr Urteil über die Schwester aber faßte Eleonore, ehe sie mit Flocki +ging, nur in die knappe Charakteristik zusammmen: + +„Es ist eine +widerliche+ Person!“ + +Emil war zu höflich, zu widersprechen. + + * * * * * + +Am andern Mittag saßen sich Emil und Eleonore schweigsam bei ihrem +bescheidenen Mahl gegenüber. + +Die Schweigsamkeit des Menschen kann sehr verschiedene Ursachen haben. +Hier zwei Beispiele. Emil schwieg, weil das Menü sehr minderwertig +zusammengesetzt war. Es gab Erbsensuppe mit Schweinsohren, für die +Emil sein Leben gelassen hätte, wenn sie gut gewesen wäre. Sie war +angebrannt. Und dann Brathecht mit grüner Sauce. Die Suppe beschäftigte +sein enttäuschtes Gemüt; der Hecht, den er minder schätzte, wandte +sich mehr an seine Intelligenz und nahm mit seinen Gräten seine volle +Aufmerksamkeit in Anspruch. Um so mehr, als Fischessen eine Kunst und +ein Probierstein guter Erziehung ist und er sich vor Eleonore keine +Blöße geben mochte. + +Eleonore aber schwieg, weil ihr vielerlei im Kopfe herumging und das +Herz bewegte. Vielerlei, das mit der Erbsensuppe und dem Brathecht in +gar keinem Zusammenhange stand. + +Plötzlich legte sie die Gabel hin, sah Emil ernst und fest in die Augen +und fragte mit einer Stimme, der man tiefe, seelische Erregung leicht +anmerken konnte. + +„Wenn ich +stürbe+, mein lieber Freund, würden Sie wohl dem armen +Flocki ein Vater und Versorger sein?“ + +„Wenn Sie -- +was+?“ Emil war froh, besonderes Interesse an der +Unterhaltung heuchelnd, den Brathecht beiseite schieben zu können, +dessen Todestag, wie ihm schien, schon etwas ferne lag. + +Eleonore wiederholte mit genau demselben schwermütigen Tonfall ihre +ernste Frage. + +„Aber natürlich, Fräulein Eleonore. Sie wissen doch, mein Herz -- +Pikkolo nehmen Sie doch endlich den Brathecht weg! -- mein Herz hängt +an dem Tier. Ich habe mich so an ihn gewöhnt und --“ + +Eleonore reichte über den leeren Brotkorb dem Freunde die Hand. Sie +war gerührt. Tränen standen in ihren Augen, und ihre Nasenspitze +war elfenbeinweiß und zuckte leise, was stets bei ihr ein Zeichen +besonderer seelischer Erschütterung war. + +„Ich +danke+ Ihnen,“ sagte sie, in jedes Wort eine Fülle glückseliger +Empfindung gießend, als habe er ihr soeben Holländisch-Indien als +souveränes Fürstentum geschenkt. + +Emil empfand die Feierlichkeit peinlich. Er liebte das Feierliche +überhaupt nicht in öffentlichen Lokalen. Am wenigsten, wenn ein +unerzogener Pikkolo in der Nähe stand, der seine schaufelförmig +abstehenden Ohren ausgiebig zur aufmerksamen Teilnahme an den +Gesprächen der Gäste benutzte. + +„Aber, liebes Fräulein,“ wehrte der Maler geniert und halblaut ab, +„nein wirklich, wie können Sie jetzt vom Tode -- heute gerade vom Tode +reden! Sie -- in der Blüte der Jahre, in der Fülle der Kraft, in der -- +in der -- --“ + +„Nehmen die Herrschaften Obst oder Käse?“ fragte der Pikkolo. + +Emil war ihm dankbar für die Störung. Denn seine Beredsamkeit hatte ihn +in eine lichtlose Sackgasse geführt. Er bestellte den steinharten Käse, +den man hier, weil er etwas altes Stanniol auf der Oberfläche zeigte, +„Chamambert“ nannte. + +Aber Eleonore kam mit der ganzen Zähigkeit des Frauengemüts auf den ihr +lieben Gedanken zurück. + +„Wenn Sie wüßten, wie mich das beruhigt. Es gibt mir geradezu das +seelische Gleichgewicht wieder, das ich verloren hatte --“ + +Emil ließ einen Grunzton hören, der immerhin ein Bedauern und ein +Befremden über das verlorene Gleichgewicht bedeuten konnte. + +„Ich weiß, +Sie+ verstehen mich,“ fuhr Eleonore fort, während sie +Flocki, der einen Gast am Nebentisch einen Geflügelknochen behandeln +sah und unschöne Zeichen einer durchaus mißgünstigen Stimmung an den +Tag legte, beruhigend an sich zog. „+Sie+ ganz allein. Ruhig, Flocki, +nicht heulen! Als gestern meine Schwester ging, stand mein Entschluß +fest, felsenfest, wie die Mauer von Jericho.“ + +Eleonore liebte solche kühnen Vergleiche, die zu denken gaben. Emil +überlegte, daß sie außer der Mauer von Jericho auch den Käse, den +er hilflos zwischen den Kiefern umherschob, ganz gut zum Vergleich +für die Festigkeit ihres Entschlusses hätte heranziehen können. Aber +worin dieser Entschluß bestand, das erforschte er weder durch emsiges +Nachdenken, noch erfuhr er es an diesem Tage aus Eleonorens Munde. + +Flocki, tieferregt über den Herrn mit dem Geflügelknochen, hatte Händel +an dem Nebentisch gesucht und dafür einen Tritt bekommen. Sein Schmerz +über diese unwürdige Behandlung machte sich in kläglichen Lauten Luft. + +Eleonore, schon seelisch erregt durch die ernsten Erwägungen ihres +Todesfalls, gebrauchte alsbald heftige Ausdrücke gegen „miserable +Tierquäler“, „mitleidlose Barbaren“ und „unerzogene Menschen“. +Bemerkungen, die der Herr mit dem Geflügelknochen leider auf +sich+ +beziehen mußte. Er wischte sich denn auch sofort die fetten Finger an +der Serviette ab, sah durch eine sanftblaue Brille die erzürnte Dame +von der Seite an und gab ihr -- natürlich ohne sich vorzustellen -- den +wohlmeinenden Rat, ihren Köter besser zu erziehen. + +Eleonore, die gerade auf Flockis Erziehung sehr stolz war, setzte +leider, aufs neue gereizt, das unersprießliche Gespräch durch die +spitze Bemerkung fort, daß es mehr unerzogene Geschöpfe auf +zwei+ +Beinen, als auf vier Beinen gebe. Und obschon Eleonore, als sie diesen +allgemeinen Vorwurf aussprach, dem Herrn mit dem Geflügelknochen +dicht am Ohr vorbei sah, bezog dieser ungemütliche Mann die Äußerung +doch wiederum auf sich. Er nannte nunmehr Flocki „eine unglückliche +Kreuzung von einer Fischotter und einem Schaukelpferd“ und sprach den +Verdacht aus, daß diese Mißgeburt beträchtliches Ungeziefer habe. +Seine von keinerlei Sympathie getragenen Betrachtungen über Flocki +und Flockis Geschlecht gipfelten in dem mit apodiktischer Sicherheit +abgegebenen Spruch, derartige Geschöpfe gehörten in keine anständigen +Lokale, und es sei noch zweifelhaft, ob man den Wirten, die sie zur +Unbequemlichkeit ihrer Gäste dennoch hereinließen, nicht juristisch und +strafrechtlich beikommen könne. + +Das war der Moment, in dem der Wirt sich in das Gespräch mischte. + +Nicht eigentlich in den Streit. Denn das Gebot solonischer Weisheit, +daß der Athener in jedem Streit zwischen Zweien Partei ergreifen müsse, +schien ihm außerhalb des alten Athens keine Geltung zu besitzen. Oder +er kannte es überhaupt nicht. Er beschränkte sich also darauf, milde, +beruhigende Worte an Eleonore zu richten und ähnliche Ermahnungen an +den Herren mit dem Geflügelknochen. + +Als dieser ihn aber ärgerlich einen „alten Trottel“ nannte, ohrfeigte +er unverzüglich den Pikkolo, der sich an dieser häßlichen Bemerkung des +Herrn mit dem Geflügelknochen unziemlich erfreut hatte. Dann ging er +nach dem Büfett, um das rothaarige Büfettfräulein anzuschreien, was ihm +die am meisten ungefährliche Art erschien, seinen Ärger los zu werden, +ohne dabei einen zahlungsfähigen Gast zu kränken. + +In Emils Seele wallten während dieser Szene allerlei ritterliche +Gefühle. Von dem Entschluß, dem Herrn mit dem Geflügelknochen +Ohrfeigen anzubieten, hielt ihn die kluge Einsicht zurück, daß dieser +unangenehme Mensch einen geradezu athletischen Körperbau zeigte. Eine +Pistolenforderung schien ihm aussichtslos. Und dann, er hatte niemand +zur Hand, der sie überbracht hätte. Auch wußte er nicht, ob der Herr +mit dem Geflügelknochen nicht etwa ein Kunstschütze war. Und da er nun +so gar nicht ahnte, was er in dieser peinlichen Situation unternehmen +sollte, machte er sich wichtig und umständlich mit Flocki zu schaffen, +der sich immer noch in der Rolle des Gekränkten gefiel. + +„Gehen wir,“ sagte Eleonore plötzlich. Und Emil war herzlich froh, daß +die unerquickliche Unterhaltung zu Ende war. + +Der Pikkolo, der an seinen Tränen schluckte, riß ihnen die Türe +auf. Und hinter der wie eine siegreiche Königin einherschreitenden +Eleonore gewann Emil sehr zu seiner Erleichterung die freie Luft. Eine +neugierige Wendung hatte ihm noch gezeigt, daß der Feind, der sie +vertrieb, bereits seinen Geflügelknochen wieder ergriffen hatte und an +ihm herumnagte, als sei gar nichts geschehen. + +Eleonore war schweigsam auf dem Weg zu den Ateliers. Nur einmal machte +sie plötzlich die, wie es schien, mehr für sich selbst als für Emil +bestimmte Bemerkung, sie habe vor drei Jahren in der Schweiz am Genfer +See einen Herrn aus St. Gallen an der Table d’hote getroffen, der das +zarte Geflügelfleisch so unmanierlich von dem Knochen abgelutscht habe, +daß sie sowohl, wie zwei alte holländische Damen die Pension gekündigt +hätten. Aber noch in Basel habe sie von diesem Menschen und seiner +barbarischen Art, zu essen, geträumt. + +Emil, der froh war, daß ein Gespräch in Fluß kommen sollte, wollte die +spaßhafte Geschichte erzählen vom Schah Nasr-eddin, der beim Galadiner +in London die Spargelreste hinter sich warf. Aber Eleonore belehrte ihn +mit einem strengen Blick, dies sei eine Geschichte, die nicht hierher +passe. Sie rede von europäischer Flegelei und von Geflügelknochen. +Einem asiatischen Despoten verzeihe sie viel, einem Mitteleuropäer +wenig. + +Und Emil dachte im Weitergehn darüber nach, wie dieses milde Urteil +Eleonorens wieder einmal den alten Erfahrungssatz bestätige, daß die +Stellung eines asiatischen Despoten ihre großen Annehmlichkeiten habe. + +Nur Flocki hatte sichtlich alle trüben Erinnerungen von seiner Seele +geschüttelt und war von erfrischender Spaßhaftigkeit. Er erschreckte +artige Schulkinder durch Sprünge und unmotiviertes Gebell bis zu +Tränen, begleitete eine gelbe Postkutsche eine Strecke weit mit +beträchtlichem Lärm durch viele Pfützen, interessierte sich für die an +einem Laden in Körben ausgelegten Schellfische mehr, als dem Besitzer +lieb war, und mischte sich dann arglos unter das Publikum. + +Im Atelier, als ihn Eleonore streicheln wollte, erwies es sich, daß +er auch Zeit gefunden hatte, an einer offenbar frischgestrichenen +Laterne zu rasten und daß ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner linken +Körperseite dick mit grüner Ölfarbe bestrichen war. + + * * * * * + +Am folgenden Tag kam Eleonore nicht ins Atelier. + +Der Portier, der bereits wieder bewundernd vor einem erst angefangenen +aber schon sehr violetten Bilde in Emils Malerwerkstatt stand, als +der junge Künstler, ein wenig verkatert von einem üblen Trunk, den +er am Abend zuvor getan, die Türe öffnete, überbrachte ihm ein +Billettchen der Freundin. Ein halbwüchsiges Mädchen, das in der kleinen +Privatwohnung Eleonorens die Aufwartedienste tat und in Erfüllung +dieser Obliegenheiten für dreimal soviel Geld zerschlug, als ihr +Lohn ausmachte, hatte das Briefchen gebracht. Es war mit Bleistift +geschrieben und enthielt nur diese wenigen Zeilen: + + „Lieber Freund! + + Ängstigen Sie sich nicht. Mir ist nicht wohl. Vielleicht war es die + Aufregung gestern. Aber ich fühle, daß ich fiebere und habe häßliche + Gliederschmerzen. Ich will einen Tag im Bett bleiben und denken, es + macht sich rasch wieder. Vielleicht nehmen Sie Flocki heute mit zum + Mittagessen? + + Das Mädchen wird Sie pünktlich um ein Uhr mit dem lieben Tier vor der + Haustür erwarten. Sie holt ihn dann gegen Abend bei Ihnen im Atelier + ab. Aber wenn’s Ihnen Mühe macht oder Verdruß -- dann natürlich nicht. + + Lüften Sie bitte ein bißchen in meinem Atelier. Und seien Sie schön + bedankt und gegrüßt von Ihrer + + Eleonore Eikötter.“ + +An diesem Tag also aß Emil mit Flocki allein zu Mittag. + +Es war ein trübseliges Diner. Er kam sich ganz vereinsamt vor. Um so +vereinsamter, als Flocki viel an andern Tischen hospitierte. Auch +der Herr mit dem Geflügelknochen war wieder da. Er aß aber diesmal +Sardellenklopps, was die Situation erleichterte. + +Als das Mädchen am Abend kam, Flocki zu holen, berichtete sie, Eleonore +friere und mache gar merkwürdige Sprüche. Der Arzt sei dagewesen und +habe auf einem langen schmalen Zettel eine Medizin verschrieben. Sie +sehe aus wie Himbeersaft und koste 3,50 Mk., was sie -- Dortchen -- +für eine Gemeinheit des Apothekers halte. Eleonore solle alle Stunde +einen Eßlöffel nehmen, und sie -- Dortchen -- müsse deshalb sofort +mit Flocki nach Hause. Für die Nacht habe sie ernste Befürchtungen, +da Eleonore die sonderbarsten Reden über eine Hummerschere und einen +Geflügelknochen führe. Sie -- Dortchen -- gehe deshalb stark mit dem +Gedanken um, den Laufburschen vom Bäcker gegenüber, der übrigens ein +sehr anständiger Mensch sei und eine derartige Bitte gewiß nicht +mißverstehen würde, zu ersuchen, mit ihr in der Nähe der Kranken zu +wachen. Augenblicklich sei die dicke Portiersfrau bei Eleonore, eine +unangenehme, geschwätzige Frau, die, wie man sich in der ganzen Straße +erzähle, mit dem Portier gar nicht richtig getraut sei, sondern „bloß +so“ zusammenwohne, was besonders deshalb sehr verwerflich sei, weil +der Portier schon morgens früh nach Kornschnaps röche und in ganz +roher Weise selbst auf die Treppen spucke, was doch allen andern im +Treppenhaus Verkehrenden durch Anschlag verboten sei. + +Nachdem sie alle diese interessanten Mitteilungen ohne Punkt und +Semikolon gemacht hatte, entfernte sie sich sichtlich erleichtert mit +Flocki und ließ Emil mit sehr violetten Gedanken unter seinen Bildern +zurück. + +Am nächsten Tage hörte er nichts von Eleonore. Er konnte es sich nicht +verhehlen, er war ernstlich beunruhigt. + +Und als es sechs Uhr abends war und er immer noch ohne Gruß und +Nachricht war, ging er nach ihrer Wohnung. Erst umkreiste er in +gemessenem Schritt das Haus mehrfach, bis er das Mißtrauen sämtlicher +Portiers der Nachbarschaft erweckt hatte. Dann faßte er einen +raschen Entschluß, trat ein und stieg die Treppen. Ein Jüngling mit +vorstehenden grasgrünen Zähnen öffnete ihm die Tür und stellte sich +als der Laufbursche vom Bäcker vor, der eben mal ’rübergekommen sei, +um nach dem Rechten zu sehen. Dortchen, das tüchtige Mädchen, sei in +der Apotheke. Es stehe schlimm mit dem Fräulein. Der Arzt sei sogar +zweimal dagewesen, aber sie halte ihn unbegreiflicherweise für einen +Kaminkehrer -- vielleicht weil er der vielen Trauer wegen, die sein +Beruf bringe, so schwarz angezogen sei -- und wollte gar nichts von +ihm wissen. Auch Flocki erkenne sie nicht mehr. Sie behaupte, er +sei eine sibirische Fischotter und befehle unaufhörlich, ihn mit +lebendigen Sardellen zu füttern. Was den schwarzgekleideten Doktor +anbetreffe, so sei das zweifellos ein sehr gelehrter Herr, aber leider +wenig mitteilsam. Er habe dem Dortchen bloß gesagt, sie solle das +Rezept in die Apotheke tragen und dann schleunigst die Schwester -- +nämlich von der Kranken, nicht von Dortchen, die nur einen Bruder +habe -- verständigen, daß es nicht zum Besten um die Kranke stehe. +Übrigens sei das Kranksein für vermögliche Leute nicht mit so vielen +Unannehmlichkeiten verbunden, wie für arme Teufel. Er habe z. B. +eine Tante gehabt, die sei am kurzen Atem gestorben und habe vorher +herzzerbrechend gejammert und geklagt. Und er sei überzeugt, daß sich +das mit dem kurzen Atem gegeben hätte, wenn die Tante zufällig mit +einem Kommerzienrat im Tiergartenviertel verheiratet gewesen wäre, +anstatt mit einem Chausseearbeiter in Alt-Moabit. + +Gerade als der Jüngling mit den grünen Zähnen dabei war, Emil auch +noch von diesem Onkel Rührendes zu erzählen, der dann als Witwer sehr +interessante Erlebnisse mit einer Obstfrau am Spittelmarkt hatte, +leuchtete Adelgundes kanariengelber Hut die Treppe hinauf. Hinter ihr +keuchte Dortchen, die sehr erhitzt aussah und in einemfort redete, ohne +zu verlangen, daß ihr jemand zuhörte. + +Adelgunde war zunächst der Ansicht, daß Eleonore bestimmt gewußt +habe, daß sie -- Adelgunde -- heute abend ihr Whistkränzchen bei der +einäugigen Steuerrätin habe, und daß sie sich deshalb diesen Tag zum +Krankwerden ausgesucht habe. Rein aus Schikane. + +Als aber Adelgunde nach kurzer Zeit aus dem Krankenzimmer auf den +Flur trat, wo Emil im Dunkeln auf einer hügeligen Holzkiste sitzend +voll Unruhe auf ihre Mitteilungen gewartet hatte, da war sie doch +recht ernst. Eleonore hatte die Schwester in ihren Phantasien für die +merkwürdige George Sand gehalten, deren Lebensbeschreibung sie kurz +vorher gelesen hatte, und mit Beziehung auf ihren gelben Hut gesagt, +sie finde es sehr lustig, daß so eine große Schriftstellerin einen +Eierkuchen auf dem Kopfe trage. + +Sehr bekümmert schlich Emil davon. Er hätte so gern irgend etwas für +die kranke Freundin unternommen. Aber es blieb da nichts zu tun. So +ging er in sein Heim, legte sich ohne Abendessen zu Bett und warf +sich den größten Teil der Nacht von einer Seite auf die andere, +ohne schlafen zu können. Als er aber gegen Morgen doch noch etwas +einduselte, träumte er, Flocki sitze mitten auf seiner Brust und knurre +ihn, den struppigen Kopf auf die Seite gelegt, boshaft und feindselig +an. Und Flocki wurde immer schwerer; schon wie ein Kalb, wie ein +Pferd, wie ein Elefant. Emil spürte deutlich, wie seine Rippen im +Brustkorb krachend zersprangen unter der wachsenden Last von Flockis +märchenhaftem Gewicht ... + +Als er um 9 Uhr aufwachte, stand der Jüngling mit den grünen Zähnen an +seinem Bett. Wie er hineingekommen, bleibt ein Rätsel. Der angenehme +junge Mann trug keinen Kragen und roch bedenklich, als ob er sich statt +mit Kaffee mit einem nicht zu knappen Schluck Branntwein erfrischt +hätte. Das Wesentlichste seines etwas verworrenen Berichtes lautete: +Es gehe Eleonore sehr übel, und der schwarzgekleidete Arzt gebe +wenig Hoffnung. Dortchen habe gemeint, der Herr Maler interessiere +sich dafür, und so sei er rasch hergekommen. Er habe übrigens die +Elektrische benutzen müssen -- auch auf dem Rückweg könne er dieses +Verkehrsmittel nicht entbehren --, wodurch ihm Unkosten von zwanzig +Pfennigen entstanden seien. + +Emil entließ den Jüngling, der ihm antipathisch war, mit einem +50-Pfennigstück als Belohnung und zog sich rasch an. Ihm war sehr +seltsam zumute. Eleonore war ihm ein lieber Kamerad gewesen, und es +schien ihm, als ob er sie zu seiner Kunst brauche, wie sie ihn. + +Er hatte sich an sie gewöhnt, und es hatte ihm auch geschmeichelt, daß +diese selbständige, pekuniär unabhängige Dame, die schließlich Verkehr +genug gefunden hätte, gerade auf sein Urteil, sein Gespräch und seine +Gesellschaft besondere Stücke zu halten schien. Etwas in seinem Leben +war aus dem Gleichgewicht gekommen durch ihre Krankheit; und es kam ihm +vor, als ob er ihr irgendwie helfen könne und müsse. + +Er konnte +nicht+ helfen. + +Auf der Treppe von Eleonorens Wohnung begegnete er dem Arzt. Der +betrachtete auf seine ängstliche Frage erst längere Zeit Emil +aufmerksam durch seine Brillengläser, dann nicht minder aufmerksam +seine eigenen Fingernägel, um schließlich mit einem: „Ja, ja, +Verehrtester, +hoffen+ wir!“ an ihm vorbei die Treppe hinunter zu +steigen. + +Aus diesem Ausspruch, dem auch ein medizinisch besser Vorgebildeter +keine klare Diagnose hätte entnehmen können, schöpfte Emil nichts +weniger als Hoffnung und Zuversicht. Wenn keine Gefahr war, hätte +der Doktor gewiß nicht solange schweigend seine eigenen Fingernägel +betrachtet, an denen nicht die geringste anatomische oder ästhetische +Besonderheit zu bemerken war. + +Oben wirkte Adelgunde. Das heißt, da die Kranke selbst im Fiebertraum +liegend eigentlich sehr wenig Gelegenheit gab, eine energische +Wirksamkeit, die zu üben Adelgunde gekommen war und den kanariengelben +Hut abgelegt hatte, zu betätigen, so beschränkte sich die Hilfreiche +darauf, unzählige Gegenstände von ihrem offenbar sinnvoll gewählten +Platz zu entfernen und an einen andern zu stellen. Wobei sie mit jener +gedämpften Behutsamkeit zu Werke ging, die in ihrer Absichtlichkeit +einen Kranken, der das Bewußtsein noch nicht ganz verloren hat, +besonders heftig erregen muß. + +Auch Emil mußte sofort helfend zur Hand gehn. Es tat ihm in seiner +Besorgnis wohl, daß er irgend etwas in der Nähe der Kranken tun konnte, +ohne allerdings recht einzusehen, warum er gerade die kümmerlichen +kleinen Palmen und fast entblätterten Geranien aus dem engen Wohnzimmer +auf den Vorplatz tragen und das eiserne Schirmgestell vom Vorplatz +auf den bescheidenen Balkon setzen mußte. Aber Adelgundes gedämpfte +Feldherrnstimme ordnete das alles mit solcher Sicherheit an, daß wohl +ein tiefbedeutungsvoller Plan diesen wunderlichen Verrichtungen +zugrunde liegen mußte. + +Als sich Emil bei solcherlei Geschäften, immer auf den Zehen +schleichend wegen der Kranken, tüchtig in Schweiß gearbeitet hatte, +erwies es sich, daß es Zeit war, Flocki an die frische Luft zu +führen. Eine Aufgabe, zu der sich wieder niemand besser eignete als +Emil. Als er Flocki, der Veranlassung genommen hatte, am Rade eines +Flaschenbierwagens sich reichlich das Fell mit Teer zu besudeln, wieder +oben ablieferte, erfuhr er, daß Eleonorens Fieberthermometer unter der +Achselhöhle 40,1 anzeige. Also sehr hohes Fieber. + +Er hörte auch durch die halbgeöffnete Tür die kranke Freundin +phantasieren. Sie erzählte in heiseren, abgehackten Sätzen, daß sie, +sobald die Tage schöner würden, nach Delft zu Pieter de Hooch reisen +wolle, um dem Verschmitzten seine Beleuchtungseffekte abzugucken. + +„Wer ist denn das?“ fragte Adelgunde leise den Maler. + +„Das ist ein Maler aus Rembrandts Schule. Mehr als zweihundert Jahre +tot.“ + +Adelgunde nickte nur. Sie hatte vermutet, daß der Mann tot war. Nach +einer Weile forschte sie weiter. + +„Sie hat vorhin auch immer von einem gewissen Hundeköter gesprochen? +Ich dachte erst, sie meint Flocki, aber es scheint fast -- --“ + +Der Maler nickte. „Ganz recht. Melchior d’Hondecoeter, der feine +Geflügelmaler aus dem Haag ...“ + +Und als hätte sie’s gehört, schrie plötzlich die Kranke: „Ich will auch +Enten malen, wie Hondecoeter. Und Flocki soll die Knochen haben. Alle +Knochen soll Flocki haben -- alle!“ + + * * * * * + +Eleonore Eikötter hat keine Enten mehr gemalt. Weder wie Hondecoeter, +noch minder talentvoll. + +In der Nacht ist sie eingeschlafen, so gegen drei Uhr, was die bei +ihr wachende Adelgunde so sehr beruhigte, daß sie bald ebenfalls +einschlief. Nur mit dem Unterschied, daß Adelgunde kurz nach sieben +wieder aufwachte. Eleonore aber wachte nicht mehr auf. + +Sie lag ganz blaß und mit einer seltsam zugespitzten Nase, ein wenig +jenem Jugendbilde wieder ähnlich, das die Erbtante entzückt hatte, in +ihren reinlichen Kissen und war bereits mehrere Stunden tot, wie der +rasch gerufene Arzt konstatierte ... + +Das Benehmen Flockis war durchaus pietätlos in diesen trüben Stunden. + +Man erzählt, daß edle Hunde tief und ehrlich, wie Menschen, um ihren +Herrn trauern, ja, daß sie keinen Bissen annehmen tagelang. Und +mehr als ein Fall gilt als gutbeglaubigt, in dem so ein treues Tier +auf dem frischen Hügel seines Herrn in Wind und Wetter Wache hielt +und schließlich elend verhungerte. Solchen erschütternden Neigungen +war Flocki durchaus nicht unterworfen. Verschiedene Kränze, die +am Morgen abgegeben wurden, genierten ihn zwar sichtlich, und die +scharfriechenden Tuberosen brachten ihn zum Niesen. Das war aber auch +alles, was an Veränderungen an ihm zu merken war. Im übrigen war er +gefräßig wie nur je, verfolgte nach wie vor den Briefträger mit seinem +Haß und machte sich bei den Zimmerleuten, die wegen des Sarges kamen, +angenehm, da er das Wurstfrühstück roch, das die Männer in der Tasche +hatten. + +Emil half Adelgunde bei all den trübseligen Verrichtungen, die der Tod +eines Menschen seinem Nächsten aufbürdet. + +Der zur standesamtlichen Meldung nötige Geburtsschein Eleonores war +lange nicht zu finden. Adelgunde, die ein zu enges Trauerkleid gekauft +hatte und die Arme nicht bewegen konnte, ohne daß es in allen Nähten +krachte, bat Emil, in den tiefen Schubladen des Schreibtisches mit +seinen langen und an keiner Bewegung gehinderten Armen danach zu +fischen. + +Während sie ernst beaufsichtigend dabei stand, zog Emil die seltsamsten +Dinge aus diesen peinlich sauber mit blauem Seidenpapier ausgelegten +Fächern. Fast kam es ihm wie ein Unrecht an der toten Freundin vor, +daß er hier so offen ausbreitete, was sie in all ihren Gesprächen +schamhaft verschwiegen. Da war das schon vergilbte Bild eines Herrn, +der sich durch ein paar vorbildlich schöne Tiefquarten im hübsch +ausrasierten Kinn als akademischer Bürger auswies. In der Nähe dieses +Porträts, an dessen Rand eine Dedikation ausradiert schien, fanden sich +ein paar getrocknete Blumen vor, die in Emils Fingern leise knisternd +zu Staub zerfielen. Ein Gedichtsbändchen: Rückerts Liebesfrühling, +der viel angestrichene Verse zeigte. Ein paar geknickte Tanzkarten, +die in Schmuck und Druck die ganze Geschmacklosigkeit einer kleinen +Stadt und in der Kritzelschrift die Autogramme vieler unbekannter +Kavaliere aufwiesen ... Wieviel Freude und Weh mochte für die Tote an +all diesem wertlosen Kram gehaftet haben, daß sie ihn so lange unter +sauberem Seidenpapier, von bunten Bändchen umschlossen, bewahrte! Die +traurig-sehnsüchtige Weise des alten Volksliedes zog Emil durch den +Sinn: Lang, lang ist’s her -- lang ist’s her ... + +Nebenan im Sterbezimmer aber stand die Portiersfrau im ganzen +fassungslosen Schmerz solcher ungebildeten Leute, die in jedem Toten +schon ihr eigenes nahes Ende beklagen, und schluchzte, während sie der +Toten einen Veilchenstrauß in die kalten Finger stopfte, immer wieder: +„Nein doch, nein -- jetzt -- jetzt sieht man’s erst, wie +schön+ sie +einmal gewesen sein muß, das liebe Fräulein!“ + +Schön --? Wer weiß. Aber jung -- gewiß einmal jung. Mit allen +Torheiten, Hoffnungen, Seligkeiten der Jugend, mit all den Träumen, die +nicht davon wissen, daß dies Leben einmal, kaum beweint und ohne eine +Lücke zu lassen, zwischen schlechten Bildern endigt. Aber weit zurück +lagen die Träume ... Und als Emil den Geburtsschein endlich, in ein in +lila Sammet gebundenes Konfirmationsbüchlein versteckt, gefunden hatte, +las er nicht ohne Erstaunen die Jahreszahl ... + +Bei dem Suchen nach dem Geburtsschein war übrigens ein anderes +wichtiges Papier den beiden in die Hände gekommen. Ein mit einem +Rembrandtkopf zugesiegeltes Kuvert, das ganz obenauf in der +Mittelschublade lag und in Eleonorens starker Handschrift, deren +Energie sogar in diesen langen Buchstaben mit einer gewissen stolzen +Absichtlichkeit betont schien, die Aufschrift trug: „+Mein Testament+“. + +Als alles auf dem Standesamt, mit Schreiner, Pfarrer und Blumenhändler +für das Begräbnis geordnet war, fand Adelgunde dieses Kuvert auf dem +Topf einer kleinen Dattelpalme wieder, wohin sie es in der Eile beim +Suchen nach dem momentan wichtigeren Geburtsschein gelegt hatte. + +Eine Weile betrachtete sie es unschlüssig. Dann ging sie an die Tür +und rief nach Emil, den sie in diesen Tagen wie einen anstelligen +Haushofmeister zu behandeln gelernt hatte, und der in den kleinen und +kleinlichen Besorgungen für das Begräbnis seinen ehrlichen Schmerz +betäubte und die innere Leere zu vergessen suchte, die ihm der Heimgang +der einzigen Freundin seiner Person und seiner violetten Kunst +hinterlassen hatte. + +Emil verhandelte gerade an der Flurtüre mit einem etwas angetrunkenen +Herr, der behauptete, früher Kantor an der Simonskirche gewesen +zu sein, und sich eifrig erbot, mit drei andern, ebenfalls sehr +talentvollen Sängern, die einen guten schwarzen Rock besäßen, für 20 +Mk., worauf allerdings ein Vorschuß zu zahlen sei, und zwei Flaschen +Weißwein (roten trinke er nicht) einige Quartette zum besten zu geben, +ohne die eine „anständige Leiche“, wie er versicherte, „überhaupt nicht +mehr bestehen könnte“. + +Als Adelgunde, einen nicht zu überhörenden strengen Vorwurf im Ton, zum +dritten Male rief, schob Emil den angesäuselten Quartettsänger sanft +aus dem Korridor und schloß die Tür, hinter der man den ehemaligen +Kantor der Simonskirche noch einige sehr kräftige, aber unhöfliche +Worte sprechen hörte, ehe er einige Proben seiner Gesangskunst gratis +spendend die Treppe hinunterstolperte. + +„Hier ist eine merkwürdige Sache,“ meinte Adelgunde, als Emil zu ihr +trat und deutete auf das Kuvert. „Lesen Sie die Aufschrift!“ + +Emil hatte sie schon gelesen. Er war es ja überhaupt gewesen, der das +Papier gefunden hatte. + +„Was meinen Sie?“ + +Emil meinte zunächst +nichts+. Das war so in schwierigen Fällen seine +vorsichtige Gewohnheit. + +„Ich denke,“ fuhr Adelgunde etwas ärgerlich über sein Schweigen fort, +„Sie werden mir doch irgendeinen intelligenten Vorschlag machen können.“ + +Emil konnte keinen intelligenten Vorschlag machen. Sein Gesicht +täuschte in diesem Moment nicht darüber. Er hatte noch nie ein +Testament in der Hand gehabt und hatte sein Gehirn niemals mit ernsten +Erwägungen, was etwa mit solchem wichtigen Papier nach dem Tode des +Erblassers zu geschehen habe, belastet. + +„Ich denke,“ sagte Adelgunde nach einer Weile, „ein Testament war hier +kaum nötig. Verwandte außer mir hatte die gute Eleonore nicht. Das +müßte ich wissen, da ich die Schwester bin.“ + +Das leuchtete Emil ein. Adelgunde +mußte+ das wissen. Das heißt ... Ihm +zuckte ein Gedanke durch den Kopf. Der Herr mit den Tiefquarten im Kinn +-- die zerknitterten Tanzkarten -- die staubigen Veilchen -- -- Sollte +etwa irgendwo ...? Man hörte zuweilen solche verblüffenden Sachen oder +las davon im „Vermischten“ der Zeitungen. Bei seiner Tante Barbara in +Limburg hatte eine schwächliche Köchin fünf Jahre gedient, und niemand +hatte eine Ahnung, daß diese mürrische und kränkliche Person in einem +Dorf der Wetterau zwei hervorragend gesunde Jungen hatte ... Aber das +war ja Unsinn. Eleonore, dieses treuherzige Wesen mit allen kleinen +Eigenheiten eines späten Mädchens. Nimmermehr! + +Adelgunde war, als Emil wieder zuhörte, in ihren Bemerkungen zu diesem +überflüssigen Testament gerade zu einem kühnen Schluß gekommen. „Es muß +vielmehr dieses versiegelte Papier irgendeinen besonderen Wunsch der +Pietät enthalten. Vielleicht eine Bestimmung über die Bilder, die sie +gemalt hat --“ Selbst die Trauer vermochte nicht ganz ein malitiöses +Lächeln von den Lippen Adelgundens zu scheuchen, als sie vollendete: +„Vielleicht hat sie nicht gewünscht, daß gerade diese Werke ihrer +Hand in meinen Besitz übergehen und mich so zwingen, aus Pietät für +die Tote, täglich Dinge um mich zu sehn, deren Vorbilder ich im Leben +nicht zu entdecken vermag. Vielleicht hat sie die Schwäche gehabt, +diese Malereien einer Galerie als Erbschaft anzubieten -- wovon wir +allerdings Scherereien haben könnten -- oder sie hat bestimmt, daß ein +oder das andere davon -- Ihnen ...“ + +„Mir?“ ... + +An +diese+ Möglichkeit hatte Emil absolut nicht gedacht. Er fühlte, +er war ganz blaß geworden. Für ihn war der Gedanke, im Testament +irgend eines Menschen erwähnt zu sein, und sei’s auch nur mit einem +mittelmäßigen Ölbild bedacht (von welchem einzigen Artikel er +eigentlich reichlich genug hatte), ein so Außergewöhnliches, daß ihn +die bloße Andeutung wie ein großer Schreck berührte. Wenn ihm plötzlich +ein makedonischer Landgensdarm die weißbehandschuhte Rechte wuchtig auf +die Achsel hätte fallen lassen und ihn angebrüllt hätte: „Im Namen des +Sultans, Sie sind verhaftet!“ er hätte -- obschon sich keiner Freveltat +bewußt -- nicht heftiger bis in die Knochen erschrecken können. + +„Es wäre immerhin möglich,“ fuhr Adelgunde fort, indem sie das +geheimnisvolle Kuvert gegen das Licht hielt, als ließe sich dadurch +sein Inhalt leichter feststellen, „wäre möglich, daß sie Ihnen +mindestens die zwei Bilder wieder vermacht hätte, die sie Ihnen einst +abgekauft hat. Daß ich Ihren aparten violetten Geschmack nicht teile, +wußte sie vielleicht --“ + +„Sie haben mit Ihrem Urteil ja nicht zurückgehalten,“ wagte Emil, dem +die unerquickliche Szene in seinem Atelier deutlich vor Augen stand, +schüchtern einzuwerfen. + +Adelgunde sah ihn durchbohrend an. „Allerdings. Ich habe, wie immer, +meiner Meinung zwar in schonender, aber in nicht mißzuverstehender +Weise Ausdruck verliehen. Übrigens reden wir in dieser ernsten Stunde +nicht von Ihren Bildern.“ + +Emil stimmte lebhaft zu. Da niemand sonst zu irgend einer Zeit von +seinen Bildern redete, so konnte er auch Adelgundes lieblose Erwähnung +in dieser Stunde entbehren. + +Adelgunde wog das Kuvert in der Hand. „Es scheint ein einziger Bogen +ihres gewöhnlichen Briefpapiers zu sein. Gleichviel ein Bogen oder zehn +-- wir müssen die Gesetze beachten und tun, was sie vorschreiben.“ + +Dieser Ausspruch gefiel Emil so gut, daß er ihn, gewichtig mit dem +Kopfe nickend, zweimal wiederholte. Leider stellte sich aber heraus, +daß dieser von beiden gebilligte Vorsatz zunächst eine lobenswerte +Theorie bleiben mußte, da sie beide nicht wußten, was nun eigentlich +die zu beachtenden Gesetze in diesem Falle vorschrieben. + +Unbemerkt von den beiden, die in tiefe Gedanken versunken standen, +war Flocki hereingekommen, der ein gewisses Unbehagen nicht verbergen +konnte, daß man sich so wenig mit ihm beschäftigte. Er war zu gewissen +Stunden an kleine neckische Spiele gewöhnt, an geistige Anregungen, wie +sie die vortreffliche Eleonore in ihrer unendlichen Güte immer wieder +für den Liebling zu ersinnen pflegte. Die Nichtachtung, die er jetzt in +diesem Trauerhause erfuhr, verdroß ihn heftig. Den Kopf auf die linke +Seite gelegt, mit dem Schwanz in leiser Erregung den Boden fegend, +stand er zwischen den beiden Sinnenden und schnüffelte mißtrauisch +hinauf nach dem Kuvert in Adelgundens Hand. + +„Aber das ist doch einfach,“ sagte plötzlich Adelgunde und sah dabei +Emil strafend an, als habe sie es die ganze Zeit gewußt und nur, um +seinen Scharfsinn auf eine notwendige Probe zu stellen, für sich +behalten, „Sie gehen mit dem Papier sofort zu ~Dr.~ Neumann.“ + +Emil begriff. ~Dr.~ Neumann war der Rechtsanwalt, von dem Eleonore +mehrfach gesprochen. In drei Prozessen, die ihr Flockis Ungebühr +eingetragen, hatte dieser tüchtige Advokat zwei Termine versäumt und +einen für Eleonore im Wortlaut sehr ehrenvollen, aber pekuniär recht +schmerzlichen „Vergleich“ zustande gebracht. Aber der guten Eleonore, +die eine fanatische Verehrerin des „Paragraphen“ im allgemeinen und +der Rechtswissenschaft im besonderen war, vermochte er gewaltig zu +imponieren durch allerlei dicke und alte Bücher, die er mit großer +Fixigkeit von den Regalen nahm und nachschlug, und aus denen er ihr +nicht ohne schönes Pathos sehr lange und merkwürdige Sätze vorlas, von +denen sie den Anfang längst vergessen hatte, wenn der Anwalt die Stimme +melancholisch zum Schlußpunkt sinken ließ. Sie war der Ansicht, das +seien Reichsgerichtsentscheidungen; und sie fand es sehr scharmant von +dem liebenswürdigen Juristen, daß er sich dazu hergab, ihr vorzulesen, +was selbst klügere Laien als sie vermutlich nimmermehr beim ersten Male +begriffen ... + +Daß also dieser Dr. Neumann, der als Eleonorens Rechtsbeistand +zweifellos von diesem Testament Kenntnis hatte, um Rat gefragt +werden sollte, leuchtete Emil durchaus ein. Aber warum sollte gerade ++er+, Emil, zu diesem Mann hingehn. Lag es eigentlich nicht näher, +daß die Schwester der Erblasserin selbst -- --? + +Adelgunde unterbrach seine Erwägungen mit den knappen Worten: „Ich +halte das für eine reine Formsache. Geschehen +muß+ das aber. Ich fühle +mich nicht wohl genug, auch noch diesen Gang zu tun. Also gehen Sie. +Aber besser +gleich+. In solchen Dingen versäumt man gar leicht etwas. +Also -- hier!“ + +Mit diesem „hier!“ wollte sie Emil das Kuvert überreichen. Die +Handbewegung aber, in die sie wohl Entschluß, Energie, Vertrauen und +anderes Schöne hineinlegen wollte, fiel +so+ energisch aus, daß Flocki +die Sache mißverstand. Er hielt diese Handbewegung für den Beginn eines +seinem Frohsinn gewidmeten Spiels; und da sich in diesen düstern Tagen +eine erkleckliche Portion Übermut in ihm angesammelt hatte, so ging er +mit erstaunlicher Behendigkeit auf den vermeintlichen Spaß ein. Er tat +einen kleinen, aber zielbewußten Sprung in die Höhe, faßte Eleonorens +Testament mit den Zähnen, riß es, ehe der verblüffte Emil zupacken +konnte, der solchen Überfalls nicht gewärtigen Adelgunde aus der Hand +und verschwand damit in tollen Sprüngen, die das Erwachen all seiner +lang gedämpften Munterkeit bezeugten, nach dem Korridor. + +Einen Augenblick standen Adelgunde und Emil wie versteinert ob solcher +maßlosen Frechheit. + +Dann begann über die auf dem Vorplatz ausgebreiteten Kränze, über +Veilchen, Tuberosen, Farn, Efeu und Rosen eine sehr peinliche Jagd +auf den miserablen Köter, der die Karikatur auf jede Pietät so weit +trieb, den letzten Willen seiner Herrin wie eine tote Ratte im Maule +hin und her zu schütteln und sich in Sprüngen zu gefallen, die mit der +Situation im denkbar peinlichsten Widerspruch standen. + +Während Adelgunde mit einem Regenschirm den unsinnigen Flocki listig +in eine Ecke drängte, ihm seinen Raub zu entreißen, warf Emil durch +die leicht klaffende Tür einen Blick in das Zimmer, in dem lang und +schmal unter dünner seidener Decke die arme Eleonore lag. Und seinem +Malerauge kam es vor, als ob ihr Gesicht in der freundlichen Umrahmung +des schmalen Seidentuches, das ihr das Kinn band, im wächsernen Ton des +Todes ein leises Lächeln sehen ließe. Ein Lächeln, wie es wohl, die +Züge der Lebendigen zu verschönen, sich um Mund und Augen gestohlen, +wenn sie von der erstaunlichen Klugheit Flockis Altes und Neues +berichtete ... + +In diesem Moment heulte Flocki laut auf. + +Adelgundens Regenschirm war ihm unsanft über die Rückengegend geflogen. + +Adelgunde, hochrot im Gesicht mit wogender Brust und krachenden +Kleidernähten, hielt den übel zugerichteten letzten Willen der +Schwester in der Hand. + +Wut und Triumph bebten durch ihre Stimme, als sie dem winselnd über die +Kränze nach der Küche retirierenden Flocki nachzischte: + +„Infame Bestie!“ + + * * * * * + +Ungefähr anderthalb Stunden hatte Emil, das unschöne Kuvert wie eine +Reliquie in beiden Händen haltend, in Dr. Neumanns Schreibzimmer +gewartet. + +In dem Zimmer war eine schreckliche Atmosphäre. Es schien hier nie +gelüftet zu werden. Der jüngere der beiden Schreiber hatte sich zum +Überfluß an diesem Tage die Haare schneiden lassen und trug den Kopf +mit einer billigen Pomade gesalbt, die einen unerträglichen Geruch +nach ranzigem Fett ausströmte. Der ältere Schreiber schien taubstumm +zu sein -- er hatte wenigstens den höflichen Gruß Emils nur mit +mürrischem Kopfnicken erwidert und die Antwort auf die Fragen: ob +der Herr Rechtsanwalt anwesend sei und ob wohl Aussicht sei, ihn zu +sprechen, dem pomadisierten Jüngling überlassen. Auch die Arbeit schien +er durchaus dieser jüngeren Kraft zuzumuten. Er schob dem Pomadisierten +von Zeit zu Zeit ein Aktenbündel über den hohen Pultaufsatz zu, +niemals ohne dabei die weiße Streusandbüchse umzuwerfen. Seine eigene +Tätigkeit bestand ausschließlich darin, daß er sich mit einem in +Zeitabständen von etwa zehn Minuten neugespitzten Hölzchen umständlich +die Fingernägel reinigte und die Zähne stocherte. Dazwischen sah er +zu seiner Erfrischung zum Fenster hinaus und schien nach seinem sich +plötzlich in breitem Grinsen erhellenden Gesichtsausdruck zu schließen, +zarte Beziehungen zu irgend einem weiblichen Wesen an irgend einem +Küchenfenster des nächsten Hinterhauses anzuknüpfen. + +Von Emil nahm nach Erledigung der ersten Fragen niemand mehr die +geringste Notiz. Nebenan hörte er zuweilen eine sehr erregte +Frauenstimme und dann eine gedämpfte Männerstimme. Offenbar berieth +~Dr.~ Neumann in diesem Raume eine nervöse Klientin. Emil +hatte den dringenden Wunsch, daß der Fall nicht allzu verwickelt +liegen möge. Denn die Aussicht noch eine weitere Stunde hier den +Pomadengeruch auszuhalten und an des Bureauvorstehers sorgfältigen +Toiletteverrichtungen teilzunehmen, hatte nichts Verlockendes. + +Endlich hörte man nebenan Stühle rücken und die Türe nach dem Korridor +gehn. + +Emil faßte den letzten Willen Eleonorens fester in beide Hände und +wartete. Es dauerte immerhin noch einmal eine starke Viertelstunde. +~Dr.~ Neumann mußte sich wohl von dem Besuch erholen. + +Endlich flog die Verbindungstür nach dem Allerheiligsten des Anwalts +auf, und ~Dr.~ Neumann winkte mit einer Kopfbewegung: „Der +Nächste!“ + +Da Emil der einzige war, der wartete, so hatte er wohl ein Recht, das +unbedenklich auf sich zu beziehn, sah sich aber zur Vorsicht noch +einmal um, ob nicht etwa einer der Schreiber ... Der Pomadenkopf lag +tief über den Akten; und auch der Bureauvorstand hatte sein Hölzchen +hingelegt und verglich zwei mit vielen Stempeln und Unterschriften +gezierte Papiere mit einem Eifer, als habe er auf der Welt kein anderes +Interesse, als den Inhalt dieser merkwürdigen Blätter bis aufs letzte +Pünktchen in sich aufzunehmen. + +Emil saß ~Dr.~ Neumann in seinem Arbeitszimmer gegenüber. + +Der Anwalt war nicht gerade ein schöner Mann. Aber er hatte, wie Emil +sich gestand, einen interessanten Kopf. Der Hinterkopf wuchs aus einem +bescheidenen Kränzlein schwarzer Haare spiegelblank und in der Form +eines Straußeneis. Die Nase saß ein bißchen nach links geneigt und +konnte sich bei leicht ironischen Bemerkungen zu einem merkwürdigen +Bogen ziehen, wobei der Mund eine listige Stellung annahm, als ob er +pfeifen wollte. + +„Ich erkenne Sie sofort wieder,“ sagte ~Dr.~ Neumann, indem er +wohlgefällig, sich seines vorzüglichen Physiognomiengedächtnisses +freuend, nickte. „Sie sind der Herr, dem im vorigen Jahre der +Blumentopf in der Lietzenburgerstraße auf den Kopf fiel.“ + +Emil verneinte. Ihm sei Gott sei Dank noch nie etwas auf den Kopf +gefallen. Sein Name sei -- -- -- + +Aber schon unterbrach ihn der Rechtsanwalt, der den Widerspruch +zunächst stirnrunzelnd angehört hatte. Sein Gesicht hellte sich auf, +als er Emil abwehrend mit schöner Vertraulichkeit aufs Knie schlug und +meinte: + +„Pardon, nein. +Nun+ weiß ich’s. Sie waren im Vorjahre bei mir wegen +des Wasserklosetts. Richtig! Nun, hat unser gepfefferter Brief an den +Hauswirt genützt, was?“ + +Emil beteuerte, auch mit dem Wasserklosett nicht dienen zu können. Sein +Name sei Emil Steinbrink. Von Beruf Maler. Er käme auch eigentlich +nicht in einer eigenen Angelegenheit, sondern ... + +„Wegen des Kegelklubs?“ + +Nein, er kegele leider nicht, oder doch so schlecht, daß sich ein Klub +schwer dazu verstehen würde, ihn aufzunehmen. Die Sache sei vielmehr +die: Seine vortreffliche Freundin, -- er dürfe sie wohl so nennen -- +Eleonore Eikötter sei plötzlich gestorben ... + +Dr. Neumann schlug sich mit beiden flachen Händen heftig auf die +Schenkel. Vielleicht, daß dies seine Art war, tiefe, schmerzliche +Anteilnahme zu bezeugen. Vielleicht auch, daß er nur damit ausdrücken +wollte: „Ist’s die Menschenmöglichkeit! +So+ was kommt vor!“ + +Emil sprach weiter. Er erzählte von seiner Bekanntschaft mit der +vortrefflichen Eleonore, rühmte ihr schönes Talent, ihren Seelenadel, +ihr echt weibliches Empfinden und ging, da dieser Teil seiner Erzählung +den Anwalt nur mäßig zu interessieren schien, auf ihren plötzlichen Tod +über, auf sein und Adelgundes Wirken in der Wohnung und kam schließlich +auf den zufälligen Fund des merkwürdigen Kuverts mit dem letzten +Willen. + +„Wie war doch der werte Name?“ fragte der Anwalt und putzte seinen +Kneifer. + +Emil wiederholte den werten Namen sehr langsam und deutlich. + +Das Angesicht des Anwalts hellte sich auf, wie vorhin, als er Emil +zweimal „erkannt“ hatte. In Emil stieg die leise Befürchtung auf, es +werde als ganzes Resultat seiner wohlgesetzten Erzählung etwa eine +neue Erkennungsszene mit Verwechslung stattfinden. Aber zu seinem +Erstaunen schlug sich der Anwalt wieder mit beiden flachen Händen auf +die Schenkel -- eine Bewegung, die ihm offenbar zum Ausdruck vieler und +widersprechender Gemütsbewegungen diente -- und wiederholte, als ob +ihm damit eine ungemein köstliche Erleuchtung aufgehe: „Steinbrink -- +richtig: Emil Steinbrink!“ + +Da Emil nicht recht wußte, was er nun sagen sollte, verbeugte er sich +höflich und reichte dem Anwalt das Testament. + +Der aber legte es achtlos auf die Tischplatte und indem er Emil +fixierte, als wolle er ihn hypnotisieren, fragte er: + +„Sie kennen natürlich den Inhalt?“ + +„Ich? Nein.“ + +„Wirklich nicht?“ + +„Ich wußte nicht, daß ein solches Testament überhaupt existiert. +Fräulein Eleonore und ich sprachen meist nur über Kunst.“ + +„Nur über Kunst -- natürlich.“ ~Dr.~ Neumann lächelte ein wenig +ironisch, wie es Emil vorkam, als er dies „natürlich“ zweimal mit +Nachdruck wiederholte. Entweder er hielt von der Kunst nicht viel oder +gar nichts von Emils Aufrichtigkeit. + +„Und, mein verehrter Herr Steinbock --“ + +„Bitte, Steinbrink.“ + +„Richtig, ja. Also, mein verehrter Herr Steinbrink, wenn ich Ihnen nun +sage, daß Fräulein Eleonore Eikötter dieses Testament erst ganz kurz +vor ihrem Tode gemacht hat. Vor ein paar Tagen erst. Hier bei mir. +Unter meinem Beistand. Am -- warten Sie.“ Er kramte in einer Schublade +und holte einen gefalzten Kanzleibogen heraus: „Hier haben wir’s: am +24. Mai gemacht. Nachmittags. Fräulein Eikötter kam sehr erregt zu mir +und bestand darauf, sofort ein rechtskräftiges Testament aufzusetzen. +Hier ist das Duplikat.“ ~Dr.~ Neumann versenkte interessiert seinen +Blick in das Papier. „Und hier -- richtig -- ich irre mich +nie+ in +solchen Dingen -- hier steht’s --“ Er sah wieder auf von dem Blatt: +„Sie also sind dieser Herr Emil Steinbrink.“ + +Emil wurde verlegen. Es war klar, von +ihm+ mußte etwas in diesem +Testament geschrieben stehen. Was denn wohl? Er faßte sich ein Herz. + +„Hat Fräulein Eikötter vielleicht -- --“ er tippte sich fragend auf die +Brust ... „vielleicht auch +meinen+ Namen?“ + +„Allerdings, mein verehrter Herr Steinbrink.“ + +„Es handelt sich wohl um ein -- ein Bild.“ + +„Nicht bloß um ein Bild“. + +Emil fühlte, daß ihm die Kehle trocken wurde. + +„So. Hm. Also um -- mehrere Bilder.“ + +„Die Bilder sind natürlich einbegriffen.“ + +„Verzeihen Sie, Herr Doktor, was heißt, das ‚einbegriffen‘. In +was+ +einbegriffen?“ + +„Nun in die Erbschaft.“ + +„Aha. Das heißt -- verzeihen Sie, ich bin darin Laie -- in +meine+ +Erbschaft.“ + +~Dr.~ Neumann schlug sich nun gleich mehrmals rasch hintereinander auf +die Schenkel, was ein ziemlich beträchtliches Getöse gab. + +„Aber, verehrtester Herr Steinbrink, wissen Sie das nun wirklich nicht? +Fräulein Eleonore Eikötter hat sie unterm 24. Mai unter Übergehung +ihrer Schwester, die nur Kleider und Schmuck, das Bett und den +Nachtschrank erben soll und zur Hälfte die von ihr gemalten Bilder -- +zum Haupterben eingesetzt.“ + +„+Mich+?“ + +Wenn dem guten Emil in diesem Augenblick ein aus der Wand +herausspringender herkulisch gebauter Neger gemeldet hätte, S. M. der +Kaiser von Abessynien habe ihn zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem +Prädikat Exzellenz ernannt und bitte ihn einstweilen als Zeichen seiner +Gunst ein halbes Dutzend junger Leoparden als Geschenk anzunehmen, -- +gewundert hätte ihn das weiter auch nicht mehr. + +Er -- ein „Erbe“. Er -- ein „Haupterbe“. + +„Das heißt,“ ~Dr.~ Neumann zog wieder das Papier zu Rate, „ganz so +einfach ist die Sache nicht.“ + +Emil hatte die Sache keinen Augenblick für „ganz einfach“ gehalten. Er +saß mit maßlosem Erstaunen da und wartete, wie sich die Angelegenheit +komplizieren sollte. + +„Es muß da ein Köter sein -- ein Hund, nicht wahr? Ein Hund männlichen +Geschlechts?“ + +Emil nickte: „Flocki.“ + +„Richtig, Flocki. So ist er auch hier bezeichnet.“ Wiederum steckte +~Dr.~ Neumann die merkwürdige Nase in das Papier, dann las er -- +mehr zu seiner Information, wie es schien, als für seinen mit offenem +Munde lauschenden Hörer das Folgende vor: + +„Da ich die unverständige und unedle Lieblosigkeit meiner älteren +Schwester Adelgunde meinem Liebling Flocki gegenüber, der lange mein +bester und einziger Freund war, genugsam kenne, und da ich dieses +herzige Tier, das an Verstand und Güte manchen Menschen beschämt, +auch nach meinem Tode zum besten betreut wissen will, so bestimme ich +hierdurch: daß als mein +Haupterbe+ der mir befreundete Kunstmaler +Emil +Steinbrink+ zu betrachten sein soll. Und zwar soll genannter +Kunstmaler Emil Steinbrink die Nutznießung der Zinsen meines +Gesamtvermögens, dessen Kapital nicht angegriffen werden darf, so +lange haben, als mein Hund +Flocki+, den ich seiner sorgsamen Pflege +anvertraue, +am Leben ist+. An dem Tage, an dem mein guter Flocki +stirbt, gehört das Kapital zur Hälfte meiner einzigen Schwester +Adelgunde, zur andern Hälfte soll es der Kunstgenossenschaft zufallen +mit der Auflage, alljährlich von den Zinsen einen hierfür besonders +begabten Stipendiaten nach Holland zu schicken, um die herrlichen Werke +von Melchior d’Hondecoeter, Jan Davidy de Heem, Rachel Ruysch und Jan +Weenix mit Fleiß zu studieren.“ + + * * * * * + +Wie Emil aus dem Zimmer des Anwalts herausgekommen war, das wußte er +selbst später nicht mehr zu sagen. Selbst daß er in der Verwirrung +vom Kleiderhaken im Vorzimmer einen falschen Hut abgehängt hatte, +dem Geruch nach offenbar die fettige Kopfbedeckung des pomadisierten +Schreibers, merkte er erst einen Tag später. + +Sein Herz strömte über von Dankbarkeit. Haupterbe -- Zinsen -- +Nutznießung -- all diese neuen Begriffe wirbelten ihm nur so im Kopf +herum. Er wußte, Eleonore war so gestellt gewesen, daß sie ganz +behaglich leben konnte, auch ohne je eins ihrer Bilder zu verkaufen. +Das würde also jetzt +sein+ Los sein. Ein Nabob! Nun konnte er die ++ganze+ Welt violett sehn, so lang es ihm paßte. Das heißt ... + +Sinnend stand er an einem Laden still. Es war zufällig ein ganz +bescheidenes, kleines Käsegeschäft und eigentlich an den aufgestapelten +runden und eckigen Käsen nicht viel zu sehen. Emil wollte auch durchaus +nicht seine Schaulust befriedigen. Nur nachdenken wollte er, ungestört. +Er bohrte seinen Blick in einen großen Holländer Käse und überlegte. +Lebenslänglich war die „Nutznießung“ nicht. Nur solange Flocki ... +Hm. Flocki war gesund. Gewiß. Gesundheit war eigentlich seine einzige +Tugend. Sofern man diesen naturgemäßen Zustand eine Tugend nennen kann. +Na ja. Flocki konnte alt werden, ein Hundegreis, ein Patriarch des +Viertels. Er hatte von Hunden gehört, die zwanzig Jahre alt geworden +waren. Allerdings, sie waren taub und blind und rochen sehr übel. Aber +schließlich -- sie +lebten+. Darauf kommt’s an. Normal war freilich +ein solches Alter nicht. Was war wohl das normale Alter eines gesunden +Hundes. War das bei den einzelnen Rassen verschieden, oder --? + +Der Besitzer des Käseladens hatte mit Interesse den seltsamen Mann vor +seinem Erker stehen sehen, der nun schon seit zehn Minuten den starren +Blick in den Holländer Käse bohrte. Er war behutsam in die Ladentür +getreten und, entschlossen dem offenbar Unschlüssigen die Entscheidung +zu erleichtern, erläuterte er im herzlichen Ton: + +„Echter Edamer. Kann ich Ihnen sehr empfehlen. Darf ich Ihnen +vielleicht ein Viertelchen --?“ + +Emil fuhr jäh aus seinen Meditationen auf. Er konnte sich nicht ohne +weiteres in die nüchterne Wirklichkeit zurechtfinden und fragte +verwirrt: „Edamer -- was ist Edamer?“ + +Der Händler lachte. „Nu der Käse da, den Sie die ganze Zeit so verliebt +anstarren. Soll ich Ihnen ein Stück abschneiden?“ + +In diesem Augenblick kam ein sehr ruppiger schwarzer Spitz aus dem +Laden und rieb sich leise knurrend am Bein seines Herrn. + +Wie hypnotisiert starrte Emil auf den Köter. Langsam, wie unter einem +unerklärlichen Zwang, kam es von seinen Lippen: + +„Käse -- nein. Aber -- -- aber können Sie mir vielleicht sagen, wie ++alt+ ein gesunder Hund werden kann?“ + + * * * * * + +Etwa ein halbes Jahr nach diesem denkwürdigen Nachmittag traf ich +zufällig mit Emil zusammen. Wir waren Schulkameraden gewesen und ein +gemeinsamer tiefer Haß gegen die Mathematik hatte uns einander näher +gebracht. Wenn trigonometrische Klassenarbeiten geschrieben wurden, war +ich sein Trost und er der meine. Und die Note 5 in Verbindung mit einer +Stunde Arrest war uns +beiden+ sicher. + +Später hatten wir uns aus den Augen verloren. Ich hatte in +Süddeutschland studiert, er hatte in Norddeutschland gemalt. In einem +„Salon der Zurückgewiesenen“ hatte ich mal zufällig ein Bild von ihm +gefunden, das mir durch eigentümlich violette Kühe auffiel. Dann war +sein Name wieder zurückgesunken in den Nebel, der tausend Dinge und +Menschen umspinnt, die uns einmal etwas bedeutet haben, ja vielleicht +lieb und teuer waren. + +Und nun stand er plötzlich leibhaftig vor mir. In der Potsdamerstraße +vor einem unscheinbaren Geschäft, in dem Vogelfutter und Hundekuchen +unter einem Haufen schmutziger Käfige mit ruppigen Waldvögeln, denen +man noch die rohen Griffe der Fallensteller ansah, aufgestapelt lagen. + +Es war ein nicht übler Herbsttag, und Emil hatte, dem freundlichen +Sonnenschein Rechnung tragend, sich sehr hell gekleidet. Er sah +überhaupt in seinem modischen dunkelgelben Herbstpaletot, dem blanken +Zylinder und den rostroten dänischen Handschuhen elegant, ja fast +stutzerhaft aus. Jedenfalls so, wie man einen Maler, der violette +Bilder anfertigt, ohne zunächst den Geschmack des zahlungsfähigen +Publikums für seine Nuance zu gewinnen, nicht häufig trifft. Sogar +einen sehr ausgeprägten Kneck trug er in den diskret karrierten +Hosen, und seine schmalen amerikanischen Knopfstiefel zeigten spitze +spiegelnde Lackkappen. + +„Emil, alter Junge, wie geht’s denn?“ + +„Na ich danke, so pflaumenweich. Man lebt so.“ + +„+Gut+ lebt man, scheint’s, lieber Sohn. +Sehr+ gut, was? Du bist ja +auf deine alten Tage ein veritabler Dandy geworden.“ + +„Ach geh! Man kann doch schließlich nicht den ganzen Tag im +bekleckerten Sammetkittel herumlaufen, um der Welt zu zeigen, daß man +ein sogenannter Künstler ist.“ + +„Du bist wohl verheiratet, Emil?“ + +„Ich? Ach nein. Du meinst wegen ... Das täuscht. Ich bin bloß ... ich +habe bloß ... Aber findest du nicht, daß es hier +zieht+?“ + +„Na, ein Mailüfterl kannst du schon nicht verlangen. Wir sind ja +schließlich nicht an der Riviera und schreiben seit ein paar Tagen +November. Übrigens du siehst doch blühend gesund aus. So ein bißchen +Herbstwind -- --“ + +Emil lächelte etwas verlegen. „Ach ja. +Ich+ schon. Es ist auch nicht +meinetwegen, verstehst du. Es ist wegen -- --“ + +Ich folgte seinem besorgten Blick und entdeckte jetzt erst einen Hund, +den Emil an einer aus feinen Lederstreifchen geflochtenen gelben +Führleine befestigt hatte. + +„Ach, du hast einen Hund?“ + +„Ja. Ich habe -- ich habe einen Hund.“ + +Das kam etwas gepreßt heraus, fast als wollte er sagen: Ich wollte, ++du+ hättest den Hund und nicht ich. + +„Wie heißt er denn?“ forschte ich teilnahmsvoll. + +„Flocki.“ + +„Du, weißt du, ich hätte ihn doch schon anders genannt. Flocki -- das +klingt so verdächtig nach einer alten Jungfer.“ + +„+Ich+ hab’ ihn auch nicht so genannt. Er heißt nun einmal so. Ich +finde den Namen ja selbst gräßlich. Zum Übelwerden. Aber ich fürchte, +wenn ich das Tier plötzlich umtaufe -- nun ist es doch schon so sehr +daran gewöhnt -- er könnte am Ende Schaden nehmen -- z. B. denke dir: +ich hätte ihn Nero genannt, sagen wir Nero: Und nun gehe ich mit ihm +auf der Leipzigerstraße und sehe, daß so ein gräßlicher Omnibuskasten +-- sagen wir ‚Lützowplatz-Rosentaler Tor‘ -- dabei ist, mit seinem +Riesenrad den Hund zu zerquetschen. Er ist unvorsichtig, verstehst du. +Ich rufe also: Nero! Nero! Aber er -- er ist’s noch nicht gewöhnt, +Nero gerufen zu werden. Er bezieht es durchaus nicht auf sich. Er +hört’s nicht. Rrrrtsch -- das Riesenrad Lützowplatz-Rosentaler Tor geht +mitten über seinen Bauch hinweg. Maria und Josef! Ich darf’s gar nicht ++aus+denken!“ + +Ich hatte mit wachsendem Befremden dieser lebhaften Phantasie des +Freundes gelauscht. War er so nervös? Er schien das Schreckliche schon +wie eine Fata Morgana vor sich zu sehen und den schmerzlichen Grimassen +nach zu urteilen, die er schnitt, verursachte ihm diese Erzählung +geradezu seelische Qualen. + +Mein Blick ruhte auf dem Köter, dem diese offenbar innige Liebe galt. +Ich sah einen kurzbeinigen, gedrungenen Hund, in dessen schwarzem +Kopf Ähnlichkeiten mit einem Mops und mit einem Pudel unverkennbar +waren, ohne daß man gewagt hätte, sich für eine von beiden Rassen +zu entscheiden. Der schraubenförmig gedrehte Schwanz war durchaus +Mops; die lockige grauschwarze Behaarung wies hingegen wieder auf die +aristokratische Familie der Pudel. So stellte er sich meinem Empfinden +als eine sehr unglückliche Kreuzung von Mops und Pudel dar, mit welcher +Vermutung ich ja, ohne Kynologe zu sein, so ziemlich das Richtige +getroffen hatte. + +„Es ist jetzt unsere Stunde zur ersten Abendmahlzeit,“ unterbrach Emil +meine stillen Beobachtungen. „Wir essen nämlich immer in Abständen von +drei Stunden eine kleine Mahlzeit --“ + +„Wir -- wer ist das ‚wir‘?“ + +„Nun -- Flocki und ich. Das ist viel gesünder als eine größere +Mahlzeit, bei der man alles so gierig mit hinunterschlingt, Knochen und +all so was, sagt der Arzt.“ + +„Ja, ums Himmels willen, welcher Arzt kommt auf den Gedanken, daß man +Knochen ...“ + +„Der Tierarzt natürlich. Weißt du, ich -- ich bin gottlob gesund und +bei der Hand. Das bißchen, was +mir+ mal fehlt, da kann schließlich der +Tierarzt auch raten. Ein sehr netter Mann. Er kommt -- Flockis wegen -- +wöchentlich zweimal.“ + +Er sah auf die Uhr und verfärbte sich. „Teufel noch mal! Es ist schon +ein Viertel über 5 Uhr. Bis wir zu Hause sind, ist es bestimmt halb +sechs. Wenn ihm das nur nichts schadet. Er ist seit zwei Tagen mit der +Verdauung nicht ganz in Ordnung.“ + +„Flocki?“ + +„Natürlich. Der Arzt sagt zwar, es hätte nichts auf sich. Aber weißt +du, ich bin da sehr mißtrauisch. Eine Stiefschwester meines Vaters hat +mit sechzig Jahren ... Aber weißt du, das könnten wir alles bei mir zu +Hause besprechen. Du hast doch nichts Wichtiges vor? Nein? Also komm’, +wir nehmen ’ne Droschke ... He, Kutscher, +Sie+ da, Kutscher!“ + +Emil hatte einen Taxameter herangewinkt. + +Flocki war der erste, der hineinsprang mit der behenden Fröhlichkeit +eines Hundes, der dieses angenehme Verkehrsmittel sehr wohl kennt und +schätzt. + +Als letzter stieg Emil ein. Er saß sehr unbequem, da er seine Beine +fast an den Leib ziehen mußte, um Flocki, der behaglich zur Kugel +gerollt auf dem Boden des Wagens lag, nicht zu inkommodieren. + +Es dauerte nicht lange, so erklang vom Wagenboden ein abscheuliches +sägendes Geräusch. Flocki schlief fest und schnarchte. + +„Er schläft sonst erst +nach+ der Mahlzeit,“ meinte Emil besorgt. Und +da er meine vielleicht belustigte Miene sah, so fügte er zögernd hinzu: +„Er ist ein so sonderbarer Hund, weißt du, +so+ sonderbar. Und dann für ++mich+ -- schließlich, er ist nicht wie ein anderer Hund. Manchmal --“ + +Schien es mir nur so oder flammte wirklich ein leichter Ingrimm in +diesen Augen, die auf den schlafenden Flocki gerichtet waren, als der +Freund den unterbrochenen Satz wie im Traum vollendete: „Manchmal +möchte ich fast lieber einen robusten Geißbock am Bändel haben, als +diesen sonderbaren Hund!“ + + * * * * * + +Zu Hause hatte mir Emil die ganze Geschichte erzählt von Leonore, von +Flocki und ihm selbst. + +Er wohnte jetzt am Viktoria-Luisenplatz. In einem Gartenhaus +allerdings. Drei Treppen, aber sehr behaglich. Ein Atelier, vier +hübsche Zimmer, das größte und schönste war das Schlafzimmer. In der +Ecke ein Körbchen mit violetter Seidendecke; offenbar für Flocki. + +„Schläft er bei dir im Zimmer?“ + +„Ja. Der Tierarzt sagt, ihm schadet’s nicht. Und mir -- das ist +ziemlich egal. Ich höre dann besser, wenn er hustet und all so was. +Auch träumt er zuweilen recht lebhaft. Ich stehe dann auf und massiere +ihm die Vorderpfoten.“ + +Der ganze Haushalt war für Flocki eingerichtet. An allen Fenstern +eiserne Gitterstäbe in halber Manneshöhe, wie sie ängstliche Mütter +wohl in den Kinderstuben anbringen lassen. + +„Flocki könnte auf so ein Fensterbrett springen, verstehst du, und dann +das Übergewicht bekommen und in den Hof stürzen. Das wäre ...!“ + +Wieder betrachtete ich, wie vorhin im Taxameter, die schreckliche +Erregung, die sich des Freundes bemächtigte bei der Erwägung solchen +möglichen Unglücksfalles, den seine rastlose Phantasie ausspann. + +„Ja, warum ziehst du denn nicht parterre?“ + +„+Hab+’ ich gewohnt. Getrennt vom Atelier. Erst im Vorderhaus. Da regte +sich Flocki furchtbar über jeden vorübergehenden Hund auf. Dann im +Gartenhaus. Da neckten Bäcker und Metzger und die rüden Schätze der +Dienstmädchen im Haus und was sonst da vorüberkam und Zeit hatte, das +arme Tier so sehr, daß ich, ohne den Kontrakt auszuhalten, wegzog.“ + +„Ja, Lieber, da bist du eigentlich, genau besehen, der Sklave deines +Hundes.“ + +„Viel anders ist’s schon nicht,“ seufzte Emil. „Ich kalkuliere so. Wenn +er gut gepflegt wird und rationell lebt -- er hat einen ganz kleinen +Herzfehler --, so kann er, sagt der Tierarzt, noch zehn bis zwölf +Jahre leben. In zwei, drei Jahren aber schon hoffe ich mein großes +Bild fertig zu haben; und dann wird es mich in weiteren zwei, drei +Jahren bekannt machen. So erreiche ich die pekuniäre Unabhängigkeit von +Flocki. Und dann --!“ + +Wieder leuchtete ein ingrimmiger, fast grausamer Zug in des Freundes +sonst so mildem Gesicht. So mögen die Sklaven um Spartacus gelächelt +haben, als sie in den Kellern der Fechtschule zu Capua sich heimlich +versammelnd von dem furchtbaren Blutbad träumten, in dem ihre römischen +Unterdrücker ersaufen sollten. + +„Und was stellt das Bild dar?“ + +„Die wilde Jagd. Den wilden Jäger auf dem Gespensterroß, hinter +ihm die Meute über niedrig hängende Wolkenfetzen fegend. Alles bei +Mondbeleuchtung.“ + +„Natürlich violett?“ + +„Woher weißt du das?“ + +„Ich habe mal vor Jahren Kühe von dir gesehen. Daraus war eine gewisse +Vorliebe zu erkennen -- --“ + +„In diesem Bild der wilden Jagd ist sie aber berechtigt.“ + +„Kann man’s mal sehen?“ + +„Ja eigentlich ...“ er wurde verlegen, „es steckt noch ganz in den +Anfängen. Aber wenn du dir eben das Nötige dazu denkst.“ + +Das versprach ich, und so nahm er einen sehr schönen, leicht violett +getönten Lappen von einer respektablen Leinwand. + +Das erste, was ich sah, war -- +Flocki+. Flocki nicht in einer, sondern +in dreißig, vierzig Gestalten. Die ganze Meute hinter dem anatomisch +sehr merkwürdigen Gespensterroß war Flocki und Flockis Geschlecht. + +„Du, Emil, weißt du -- die Hunde ...“ + +„Ja? Fällt dir das +auch+ auf. Es ist mir so gekommen. Ich weiß nicht +wie. Ich wollte natürlich Jagdhunde malen, Bracken. Hatte auch mal ein +Modell hier. Aber Flocki hat sich wie wahnsinnig angestellt hinter der +Tür dort. Dann hab ich eben mehr aus dem Kopf ... Nun ist das Unglück, +verstehst du, ich beschäftige mich innerlich soviel mit Flocki -- er +bedeutet mir soviel, +muß+ mir soviel bedeuten -- daß unwillkürlich +seine Züge und seine Eigenart ... Es ist mir im Grunde gräßlich. Soll +das Malefizvieh mir auch noch meine Kunst ruinieren!! Satanspest noch +einmal!“ + +Wie ein Sturm der Leidenschaft war’s plötzlich über ihn gekommen. Er +griff eine Handvoll Pinsel aus einer alten Blechdose und warf sie +wütend wider die Wand. Dann setzte er sich auf einen in kräftigen +Farben leuchtenden kleinen Gebetsteppich, der einen alten Diwan deckte, +vergrub seinen Kopf in die Hände und schien nicht übel Lust zu haben, +zu weinen. + +Ich wußte in meiner Überraschung nicht recht, was ich machen oder +sagen sollte. Schließlich fand ich den mir selbst nicht sonderlich +einleuchtenden Trost: „Mein Gott, vielleicht findet man das sehr +originell. Die Rasse ist wenig bekannt.“ + +„Schöne Rasse,“ knirschte Emil aus seiner Ecke. „Ist gar keine Rasse, +ist eine Gemeinheit, ist eine Parodie auf das Hundegeschlecht. Himmel, +wie mir das wohltut, mich einmal gehen lassen zu dürfen! Flocki +schläft, und du bist ein ehrlicher Kerl. Immer diese Komödie der +Zärtlichkeit. Und die Freiheit beim Teufel. Und die Kunst beim Teufel. +Und der Mut beim Teufel; der Mut, diese faule, träge, dumme, widerliche +Bestie persönlich am Griebs zu packen und in den Landwehrkanal zu +werfen mitsamt der verdammten Rente von sechstausend Mark, die mir das +lebendige Scheusal trägt.“ + +„Sechs-tau-send Mark. Donnerwetter! Das ist allerdings ..!“ + +„Ja siehst du: +das+ ist allerdings!.. Da sagst dus selbst. Das ist +eben auch +mein+ Trost, daß neunzig von hundert ganz dieselben Esel +wären, wie ich, und nicht den Mut hätten, dieses Rabenvieh ...“ Er +unterbrach sich plötzlich, legte den Finger an den Mund und lauschte. +„Hat -- hat Flocki nicht eben -- eben geniest? Richtig -- eben schon +wieder!“ Er eilte nach der Tür und rief nach der Küche: „Lisette, +Lisette! Verbinden Sie mich -- du entschuldigst -- verbinden Sie mich +mal gleich Amt VI Nr. 3079.“ + +„Wen willst du sprechen?“ + +„Den Tierarzt.“ + + * * * * * + +Nein, hier war nicht zu helfen. Dies Gefühl gewann ich, je öfter und je +länger ich Emil sah. + +Und ich sah ihn oft und lang. Denn seit jenem Gefühlsausbruch, dem +ich erschreckt beigewohnt, tat es ihm sichtlich wohl, in meiner +Gesellschaft sich auszusprechen. Immer über Flocki. Und nur über ihn. +Zwei Jockeis, die Analphabeten sind und außer reiten nichts können, als +wetten und trinken, unterhalten sich bestimmt nicht soviel von ihren +Pferden, wie Emil und ich von den Hunderassen, die Flocki zu seinen +Ahnen zählte, und von diesem Köter selbst, der die Zartheit, mit der +er behandelt wurde, in schnödester Weise dadurch vergalt, daß er alle +Untugenden und Laster, die in seiner schwarzen Seele geschlummert +hatten, ins Unerträgliche steigerte. + +Wenn er müde war, sprang er auf das weichste Möbel, gleichviel, ob +es ein Bett, ein Sessel oder ein mit Emils Frackanzug belegter Stuhl +war. Wenn er traurig war, knurrte er jeden -- Emil nicht ausgenommen +-- feindlich an. Wenn er fröhlich war, entrollte er seinen sonst +geringelten Schwanz und wedelte damit so energisch, daß kleinere +Tischchen stets in Gefahr waren, umgestoßen zu werden. Bei schlechtem +Wetter war er merkwürdigerweise stets besonders gut aufgelegt. Was +für die Kleider seiner Freunde sehr unangenehm war, da er mit den +schmutzig-nassen Pfoten an ihnen hinaufzuklettern versuchte und +keinerlei Verständnis für die kühle Ablehnung seiner Freundlichkeit +besaß. Energisch angefaßt oder gar geschlagen durfte er nicht werden, +da Emil befürchtete, die zarte Gesundheit des edlen Tieres könne +ernstlichen Schaden nehmen. + +So erduldete Emil ein Martyrium. Sein Bild machte ihm keine Freude +mehr, weil jeder Hund, den er der Meute seines Wilden Jägers +hinzufügte, immer wieder Flockis verhaßte Züge annahm. Seine Wohnung +machte ihm keine Freude mehr, denn überall fand er Spuren von Flockis +Fröhlichkeit und Zerstörungssinn. Die freie Natur macht ihm keine +Freude mehr, denn er vermochte sie nicht zu genießen, ohne entweder von +Flocki an der Leine bald an einen Eckstein, bald um einen Baum gezerrt +zu werden, oder, wenn er ihn frei laufen ließ, in beständiger Angst zu +schweben, daß der Unvorsichtige von einem Wagen oder einem Automobil +überfahren werden könnte. Besonders gegen die Automobile hatte er eine +solche Wut in seinem Herzen angesammelt, daß er eines Tages einen +maßlos heftigen Artikel in ein Blättchen gegen die „Stinkdroschken“ +schrieb, in dem er die Vorstände sämtlicher Automobilklubs so schwer +beleidigte, daß sie gemeinsam klagten und der Freund -- „in Anbetracht +seines hohen Bildungsgrades“ -- zu einer Geldstrafe von 500 verurteilt +wurde. Das war gerade eine Monatsquote seiner Jahresrente! Er mußte +sich zwei Monate einschränken und teilte nun den ganzen Haß, dessen +sein Herz fähig war, zwischen Flocki und dem Automobil. + +Dann peinigte noch eine andere Vorstellung seinen Geist. Man las so oft +davon, daß Hunde von Leuten, die daraus ein verbrecherisches Gewerbe +machten, ihren Besitzern auf der Straße gestohlen wurden. Konnte das +nicht auch Flocki passieren? Flocki -- man konnte sagen, was man wollte +-- war ein auffallender Hund. Konnten nicht solche Gauner, hingerissen +von den körperlichen Vorzügen Flockis und der seltenen Mischung der +Rassenmerkmale, die sein Wuchs aufwies, ihm nachstellen, ihn mit +Frankfurter Würstchen, seiner Leibspeise, anlocken und entführen? Was +dann? Dann +lebte+ der Hund zweifellos noch, aber +er+ konnte sein +Leben nicht beweisen. Wie war’s dann mit der Rente? Adelgunde konnte +behaupten, der Hund sei tot; aber sie konnte seinen Tod so wenig +beweisen, wie Emil das Leben. Das Testament sprach ausdrücklich vom +Todestag. Der war dann nicht zu erfahren. + +Schließlich, da er sogar nachts von diesem fatalen Rechtsstreit +träumte, ging Emil zu ~Dr.~ Neumann, der ihn nach längerer Erwägung +und nachdem er in vielen Büchern nachgelesen und ihm auch aus einigen +Unverständliches mitgeteilt, dahin beschied: Adelgunde könne in diesem +Fall verlangen, daß Flocki nach einer gewissen Zeit „für tot erklärt“ +werde, womit Emil ein für allemal jeden Rechtsanspruch an die Zinsen +von Eleonorens Hinterlassenschaft verliere. + +Flocki -- für tot erklärt? Das war nun das zweite Schreckgespenst, das +neben dem Gespenst von Flockis wirklichem Tod den armen Freund überall +hin verfolgte. + +Er beschloß auf alle Fälle, sich einzuschränken, Ersparnisse zu machen, +damit ihn dieser gräßliche Fall nicht unvorbereitet träfe. Aber das +war nicht so einfach. Flocki war gut gewöhnt. Der Tierarzt rechnete +für jeden Besuch 5 Mk. und kam mindestens zweimal wöchentlich. Die +Hinterbeine Flockis mußten auf seine Anordnung täglich massiert werden, +was jedesmal 2 Mk. kostete. Kamen hinzu die nicht unbeträchtlichen +Unkosten für die Heilung des geprüften Heilgehilfen, den Flocki gleich +bei Beginn der ihm unerwünschten Massagekur in den Daumen gebissen +hatte. Kurz, es läpperte sich bös zusammen. Das Schlimmste aber waren +die Besuche Adelgundes. + +Sie kam von Zeit zu Zeit nach Flocki zu sehen ... Denn, wie sie sagte, +wenn sie auch im Testament der Schwester der Gefühllosigkeit gegen +dieses Tier geziehen war, so schien es ihr doch Pflicht des trauernden +Schwesterherzens, sich vom Wohlbefinden der einzigen lebenden Seele, an +der, so schien es, die liebe Entschlafene gehangen habe, zu überzeugen. +Und sie vergaß nie hinzuzufügen, daß sie mit dieser „einzig lebenden +Seele“ durchaus nicht etwa Emil, sondern Flocki meine. + +Diese Besuche bedeuteten für Emil eine Stunde der Qual und Prüfung. +Meist erfolgten sie Freitags zwischen fünf und sechs Uhr, zwischen +zwei Klavierstunden, die Adelgunde in der Nähe zu erteilen hatte. +An schönen, sommerhellen Tagen blieb sie manchmal aus; aber wenn es +regnete, kam sie bestimmt. Und da sie prinzipiell niemals Gummischuhe +benutzte, so brachte sie meist ein erkleckliches Quantum Schmutz und +Nässe an ihren nicht zu knappen Sohlen mit in Emils Salon und auf den +farbenprächtigen Bucharateppich, auf den er um so stolzer sein durfte, +als er ihn viel zu hoch bezahlt hatte. + +Das Gespräch nahm aber dann meistens den folgenden Verlauf. + +„Ach, Fräulein Adelgunde! Welche Freude --“ Emil log jedesmal mit +demselben Mißerfolg im Gesichtsausdruck. „Sogar bei dem schlechten +Wetter schenken Sie uns die Ehre. Ich darf vielleicht ein Täßchen +Kaffee ...“ + +„Nein, ich danke wirklich. Ich habe schon zu Hause ...“ + +In diesem Augenblick kam gewöhnlich, ungerufen und ihre Pflicht +durchaus kennend, die tüchtige Lisette, ein Mädchen von unbestimmbarem +Alter und ganz außerordentlicher Häßlichkeit, die noch durch Kleider +von einem augenvergiftenden Blaugrün gehoben wurde, mit dem Kaffeebrett +ins Zimmer. Und Adelgunde, die „schon zu Hause getrunken hatte“, trank +nicht +ein+ Täßchen, sondern vier, wozu sie eine größere Anzahl von +Biskuits verzehrte. Dies alles mit der Miene und dem Anstand einer +Europäerin, die etwa bei einem Kaffernhäuptling zu Gast ist und +dessen entsetzliche Nationalgerichte aus einer gewissen mitleidigen +Höflichkeit für den Gastgeber sich gefallen läßt. + +Nach dem zweiten Biskuit sah sich Adelgunde suchend im Zimmer um: + +„Und unser lieber Flocki, ist er nicht hier? Sie wissen, lieber Freund, +ich würde nimmermehr zu Ihnen kommen -- denn schließlich, wir sind +beide unverheiratet, nicht wahr, und die Welt hat an dem Erfinden +und Kolportieren von Schlechtigkeiten ihre größte Freude -- in den +Gartenhäusern leider noch mehr als in den Vorderhäusern ...“ + +Hier machte Emil eine Handbewegung, die dreierlei bedeuten konnte. +Entweder sie erklärte: Die Verleumdungen dieser minderwertigen Welt +müssen an so edlen Herzen, wie den unsrigen, spurlos abprallen. Oder +sie besagte: Sie halten mich hoffentlich nicht für fähig, die von Ihrer +Hochherzigkeit geschaffene Situation in unedler Weise auszunützen. Oder +aber sie umschrieb den einfachen Gedanken: Was mir schon an deinem +Gefasel liegt, mit dem du mir alle acht Tage die Ohren füllst! + +Adelgunde versuchte gar nicht, hinter den tiefern Sinn dieser +Handbewegung zu kommen. Sie fuhr vielmehr fort: + +„Unsere liebe Heimgegangene hat bestimmt, wie sie bestimmt hat. Es ist +an uns, ihren Wunsch zu ehren. Aber sie hat mir unrecht getan. Gewiß, +ich habe einige Unarten Flockis bemerkt und -- ich gesteh’s -- peinlich +empfunden, über die +Sie+, teurer Freund, in der unendlichen Güte ihres +Herzens hinwegsahen.“ (Das war eine satanische Bosheit nach Emils +Dafürhalten; denn Adelgunde wußte ganz gut, daß ihn Flockis zunehmende +Ungebührlichkeit heftig erbitterte.) „Aber gehaßt? -- Nein, gehaßt +hab’ ich das kluge Tierchen +nie+. Der beste Beweis ist, daß ich fast +jede Woche den Weg nicht scheue, nach seinem Befinden zu sehn und mich +zu überzeugen, daß all die Sorgfalt, die unsere liebe Heimgegangene +für ihn erhoffte, ihm auch im vollen Maße zuteil wird. Denn daß ich ++Ihretwegen+ nicht komme, lieber Freund ...“ + +Emil nickte. „Das hätte ich mir schon selbst in aller Bescheidenheit +eingestanden, auch wenn Sie es mir nicht bei jedem Ihrer freundlichen +Besuche, die mich ehren und erquicken, wiederholt hätten.“ + +Adelgunde überhörte die Ironie. „Und wo ist unser Liebling?“ + +„Der Liebling schläft noch.“ + +„So, so. Er schläft. Nun sehn Sie mal an! Das +liebe+ Tierchen. Lassen +Sie ihn nur nicht zu +lange+ schlafen. Man hat mir erzählt, durch +allzuviel Schlaf stelle sich leicht bei Rassehunden Fettsucht ein. Und +dann kommt plötzlich ein Herzschlag oder -- ein Lungenschlag -- oder +ein Milzschlag -- oder ein ...“ + +„Oder ein Hirnschlag,“ half Emil freundlich aus. + +„Ganz recht, oder ein +Hirn+schlag,“ bestätigte Adelgunde mit +unverminderter Liebenswürdigkeit. „Und dann ist das Tierchen weg -- +Eins, zwei, drei -- und es ist weg!“ + +Das könnte dir so passen, dachte Emil, ich hätte dann 6000 Mark Rente +minus, du hättest 3000 Mark Rente plus und obendrein die Freude, mich +wieder hungern und schuften zu sehen. Und seine Züge zu einem Lächeln +frohster Zuversicht zwingend, tröstete er: „Sie können versichert sein, +verehrte Freundin, daß unserm gemeinsamen Liebling an Pflege nichts +abgeht.“ + +Und schon ließ die tüchtige Lisette durch die nur eben geöffnete Türe +den Liebling herein. + +„Komm, Flocki,“ lockte Emil und schnalzte ermunternd mit den Fingern, +„sag der guten Tante mal schön guten Tag.“ + +Und mit einem Satz war Flocki auf Adelgundes Schoß. Das späte +Mädchen machte den schwachen Versuch, herzliche Freude über diese +Zutraulichkeit zu heucheln. In Wahrheit war Adelgunde wütend; denn +Flocki hatte, wie immer bei ihren Besuchen, ganz nasse und ziemlich +schmutzige Pfoten. Was daher kam, daß ihn Emil immer, wenn die „gute +Tante“ kam, von Lisette wecken und rasch mal auf die Straße führen +ließ, damit er sich die oben beschriebenen Pfoten hole. Dies war Emils +einzige heimliche Rache für die erschreckende Genußlosigkeit dieser +unvermeidlichen Kontrollbesuche. + +Aber schon war Adelgunde im Zuge. „Mir scheint, lieber Freund, er hat +heute etwas trübe Augen, der brave, kleine Flocki. Zeig’ mal deine +Guckelchen. Ru--hig halten, Darling. Ja, wahrhaftig, recht trüb.“ + +„Das ist die Beleuchtung.“ + +„Nein, nein. Ich täusche mich nicht. Eine gewisse Mattigkeit in der +Pupille. Er wird doch nicht die Staupe bekommen? Das fängt so an.“ + +„Aber dazu ist er doch viel zu alt.“ + +Adelgunde schüttelte in täuschend geheuchelter Besorgnis den Kopf: „Und +eine warme Nase hat er +auch+, unser liebes Hündchen! Eine +ganz+ warme +Nase.“ + +„Das hat er öfter.“ + +„Um so schlimmer! Ich fürchte, er hat zu wenig Bewegung. Sie sollten +radfahren und ihn ein bißchen hinterherlaufen lassen.“ + +Das könnte dir so passen! Damit er mir unter die Elektrische kommt, +nicht wahr? dachte Emil. + +„Wie oft wird er wohl gebadet?“ + +„Alle drei Tage.“ + +„Das scheint mir nicht oft genug. Ein meinen Eltern befreundeter +Oberförster hatte einen Setter, den er jeden Tag ins Wasser gehen ließ. +Er ist in hohem Alter gestorben.“ + +„Der Oberförster?“ + +„Der auch. Aber ich meinte den Setter. Dieser sehr erfahrene Forstmann +pflegte zu sagen: Jedes Bad bedeutet einen Monat längeres Leben für so +ein Vieh.“ + +„Wenn also der Oberförster den Hund jeden Tag, wie Sie sagen, zwei +Bäder nehmen ließ und das auch nur +ein+ Jahr durchführte, so hatte +er dem Setter schon eine Lebensdauer garantiert von -- von warten Sie +einen Augenblick --“ (Emil nahm ein Papierchen und rechnete:) „zweimal +365 macht 730, also 730 Bäder. 730 dividiert durch 12 macht -- macht 60 +Jahre 10 Tage.“ + +Ärgerlich über diese ziemlich deutliche Frozzelei, die sich Flockis +Pflegevater gestattete, stand Adelgunde auf. „Und Ihr Bild, lieber +Freund, der ‚Wilde Jäger‘, wie ist’s mit ihm? Es ist eine allerliebste +Idee von Ihnen, Ihren teuren Pflegling gleich in so vielen Exemplaren +künstlerisch zu verherrlichen. Und wenn auch im großen Publikum sich +wohl niemand dieses Zartsinns recht erfreuen wird, die Verewigte würde +gewiß Genugtuung empfinden über Ihr Werk. Sie war ja früher schon die +einzige, die in ihrem Kunstempfinden fortgeschritten genug war, Ihre +Bilder bewundern zu können.“ + +Es war Zeit geworden, daß sich Adelgunde empfahl. Sie tat es nicht, +ohne noch einmal auf die besorgniserregenden Symptome in Flockis +Aussehen und Benehmen mit schmerzlichem Nachdruck hinzuweisen und +allerlei gute Ratschläge von einer ganz außerordentlichen Unsinnigkeit +zu geben. + +Als aber Emil gar von der Treppe her noch das laut und vernehmlich +abgegebene Versprechen empfangen hatte, daß sie nicht versäumen +werde, in der nächsten Woche wieder vorbeizukommen und hoffe, dann +den gemeinsamen Liebling wohler und munterer anzutreffen, drängte +der angesammelte Ingrimm in dem Herzen des unglücklichen Malers zu +gewaltsamer Entladung, die allemal in der Weise erfolgte, daß er sein +Malgerät wütend an die Wand und sich selbst stöhnend auf den Diwan warf. + +Die teure Lisette aber hielt das dumpfe Geräusch der wider die Wand +fliegenden Pinsel und Paletten für ein stillschweigend mit ihr +verabredetes Zeichen, ihrem Herrn einen Punsch zu bereiten. + + * * * * * + +Eines Morgens, ich goß gerade die Geranien auf dem Balkon, erschien +Emil plötzlich bei mir. + +Er war echauffiert und sehr aufgeregt und trug einen nassen Hut in der +Hand. + +„Regnet’s,“ fragte ich erstaunt. + +„Nein, nein. Als ich in dein Haus trat, hat mich jemand von oben voll +gegossen. Es gibt doch rücksichtslose Kerle. Man sollte sich’s nicht +gefallen lassen, was? Dem Wirt schreiben? Aber wer hat Zeit? Es ist +wohl Wasser, was?“ + +„Ja, es scheint so.“ Ich untersuchte mit vollendeter Heuchelei. Da mein +Balkon über dem Entree lag, so war es klar, daß +ich+ es gewesen, der +den guten Emil begossen hatte. „Und das hat dich so aufgeregt?“ + +„Aber nein!“ Er rannte im Zimmer umher, und nahm alle möglichen kleinen +Nippes in die Hand, als suche er etwas ihm Gestohlenes. + +Ich kannte diese merkwürdige Angewohnheit und ließ ihn -- nicht ohne +Angst -- gewähren. „Aber was ist dir denn eigentlich?“ + +Er trat dicht vor mich hin. „Flocki --“ + +„Richtig, Flocki! Wo ist er denn?“ Ich hätte eher Apollo ohne Leier, +Fortuna ohne Füllhorn und den Perseus ohne das Medusenhaupt bei mir +erwartet, als Emil ohne seinen merkwürdigen Hund. + +„Das ist’s ja,“ sagte er dumpf. „Flocki ist zu Hause. Flocki hat sich +heute nacht übergeben. Mehrmals und reichlich.“ + +„Hm. Auf den Teppich?“ + +„Nein, auf meinen Gehrock, der auf einem Stuhl lag. Aber das ist +durchaus Nebensache. Aber das Schreckliche: Flocki ist +krank+. +Zweifellos! Denn das hat er noch nie getan. Er hat auch eine warme +Nase. Er hat -- -- --“ + +„Ja, Lieber, ich bin aber doch kein Tierarzt.“ + +„Der Tierarzt war schon da. Er sagt, er weiß nicht ... er kann noch +nichts sagen. Ich habe ihn natürlich in der Nacht holen lassen. +Übrigens hat mir Lisette gekündigt heut früh. Sie war wütend, daß sie +zum Arzt mußte mitten in der Nacht. Ein Betrunkener hat sie um die +Taille gefaßt auf dem Nürnberger Platz. Sie sagt, sie sei bei einem +Maler im Dienst und nicht bei einem Hundevieh. Sie brauche sich nicht +nachts von einem Betrunkenen umarmen zu lassen -- du, +wie+ betrunken +muß +der+ gewesen sein! -- weil ein Hund, der nicht einmal echt sei, +Leibweh habe.“ + +„Du, Emil -- eigentlich hat sie recht.“ + +„Natürlich hat sie Recht. Das ist ja das Gräßliche. +Sie+ hat recht, +und +ich+ habe recht, und +Alle+ haben recht. Für mich aber steht doch +mein Leben auf dem Spiel --“ + +„Ein +Wohl+leben, Lieber, nichts sonst.“ + +„Ja aber +denke+ dir doch -- ich bin jetzt so daran gewöhnt. Und aus +der Malerei bin ich ganz heraus. Ich kann doch mein Leben lang nicht +Flocki malen und immer Flocki. Ich gehe zugrunde, körperlich, seelisch, +menschlich, künstlerisch. Ich vertrottele und versimple. Mich wundert’s +lange schon, daß ich nicht eines Tages aufwache und nur noch Wau-wau +sagen kann.“ + +„Armer Freund!“ + +„Es gibt nur +einen+ Ausweg. Das schreckliche Tier muß fort von mir, +und ich darf +doch+ die Rente nicht verlieren.“ + +„Wie aber das? Adelgunde wird das +nie+ zugeben, daß du die Nutznießung +des Geldes hast und ...“ + +„Ich weiß, ich weiß. Und deshalb bin ich entschlossen ... Aber setz +dich erst ... nein wirklich, +setz+ dich dort in den Stuhl .. So. +Also ich bin seit heute nacht -- um 3 Uhr 45 heute nacht kam mir der +Gedanke -- bin entschlossen --“ + +„Nu +ja+ doch! Zu +was+ denn?“ + +„Ich +heirate+ Adelgunde.“ + +Ich nahm unwillkürlich den doppelgeschliffenen Somalidolch, der mir als +friedliches Papiermesser diente, fester in die Hand. Das konnte ein +Tobsuchtsanfall werden. Eine schwere Nervenstörung war’s jedenfalls. +Oder ein Spaß von +seltener+ Kühnheit. Aber so sah kein Spaßender aus. +Eine finstere Entschlossenheit lagerte auf Emils übernächtig blassem +Kopf. Jetzt erst sah ich, daß er keinen Schlips anhatte, was den +Eindruck dieser Verstörung erhöhte. Er sah aus, als sei er direkt aus +einem Erdbeben gerettet. + +„Emil, du wolltest -- --?“ + +„Adelgunde heiraten. Ja. Ich weiß, was du sagen willst.“ (Ich wollte +gar nichts sagen.) „Sie ist älter, wie ich, gewiß. Josefine war auch +älter als Napoleon. Aspasia war älter als Perikles.“ + +„Ja -- +liebst+ du sie denn?“ + +Er lachte hell auf. „+Auch noch+! Man braucht doch nicht alle +Dummheiten auf einmal zu machen. Nein, ich liebe sie nicht. Aber -- +ich hasse Flocki. Die Sache steht einfach so. Heirate ich Adelgunde, +so behalte ich meine Rente und kann Flocki in Pension geben. Stirbt +er wirklich, so haben wir immer noch die Hälfte der Rente und was wir +dazu verdienen. Adelgunde ist ja unleidlich. Aber sie ist viel aus dem +Hause. Unterrichtsstunden, Freundinnen und all so was. Und ich denke, +sie ist vielleicht nur unleidlich wenn -- weil -- solange -- --“ + +„Solange sie nicht die +Deine+ ist.“ + +„Die Meine oder die Deine oder die Seine“, brummte Emil ärgerlich. +„Solange sie eben nicht verheiratet ist. Die Ehe wirkt veredelnd auf +den Menschen. Es liegt oft ein Schatz von Liebe in solchen späten +Mädchen. Doch wie’s auch kommt -- sie ist wenigstens ein Mensch und +gewiß nicht ohne menschliche Vorzüge. Aber Flocki! Siehst du, wenn +ich ein Nilpferd geerbt hätte -- das hat wenigstens eine robuste +Gesundheit. Oder einen Orang-Utang -- der ist wenigstens amüsant. +Oder einen Karpfenteich -- diese Tiere springen einem wenigstens +nicht auf die Möbel, ins Bett, ins Gesicht. Aber dieser Malefizköter! +Siehst du, wenn ich’s geahnt hätte, damals, wie ich ihm im Atelier +das Fell kraute .... Wie ich den Herrn mit dem Geflügelknochen ... +wie mir der ~Dr.~ Neumann mit dem Testament ... Nach Amerika wär ich +ausgewandert, mein Wort darauf! nach Alaska meinetwegen, ja in die +Südsee zu den Kanibalen. Wahrhaftig! Aber jetzt --! Die Gewohnheit +hat mich unterjocht. Ich kann nicht mehr Gummikragen umbinden und für +fünf Groschen ‚mit Bier‘ zu Mittag essen. Wen der Himmel für die Kunst +verderben will, den macht er zum Rentier! Denn malen -- siehst du -- +malen kann ich auch nicht mehr. Du hast’s ja selbst gesehn. Ich muß +erst wieder Flocki los werden. Aus meiner Nähe, aus meinen Gedanken, +aus meiner Kunst muß die Bestie. Das Hundeleben muß aufhören. Ich will +wieder ein +Mensch+ sein. Ergo: ich heirate Adelgunde. Und der erste +Paragraph unseres Ehevertrages heißt: Es ist keinem der Ehegatten +erlaubt, ohne Zustimmung des andern Ehegatten einen Hund irgendwelcher +Größe in der ehelichen Wohnung zu halten.“ + +„Hm. Aber schließlich gewisse Verpflichtungen hast du doch auch gegen +Flocki. Es wäre doch eine zwar pfiffige aber ein bißchen rohe Umgehung +des letzten Willens deiner Freundin, wenn du das Tier nun irgendwo in +Pension gibst, wo es geprügelt wird und hungern muß und von den Kindern +an den Ohren gezogen wird.“ + +Emil unterbrach seinen Spaziergang längs meines Bücherschranks, +richtete stolz das blasse Haupt empor und sah mich mit einem Blick an, +in dem tiefe Mißbilligung nicht zu verkennen war. + +„Wo denkst du hin?! Was traust du mir zu! Bin ich ein Kongoneger? Sehe +ich aus wie ein Feuerländer? Natürlich Flocki, soll es gut haben. +Das wird meine erste Sorge sein. Ich habe schon an den Zoologischen +Garten gedacht. Wenn ich diesem Institut den Hund schenkte? Er ist +eitel, ich kenne ihn. Es würde ihn beglücken, an seinem Käfiggitter +ein blaues Schildchen mit seinem Namen und seiner Rasse -- -- ja, da +liegt die Schwierigkeit. Ich fürchte der Zoologische Garten verweigert +solcher ziemlich willkürlichen Kreuzung die Aufnahme. Nein, nein, es +muß Privatversorgung erwogen werden. Eine Witwe vielleicht. Kinderlos +natürlich. Kinder hat Flocki nie geliebt, und dann fühlen sie sich +zur Erziehung berufen, die Flocki immer abgelehnt hat. Es würden sich +daraus Konflikte schlimmster Art entwickeln. Also eine kinderlose +Witwe. Witwen sind voll Zärtlichkeit und verstehn sich auf Pflege. +Das heißt --“. Wie von einem bezaubernden Einfall geblendet wich Emil +plötzlich einen Schritt zurück, dann trat er ganz rasch drei Schritte +auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und lieh seiner +vorzüglichen Eingebung die guten Worte: „Das heißt -- hättest +du+ +vielleicht Lust, Flocki zu nehmen: Ich will ihn dir schenken.“ + + * * * * * + +Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich Emils hochherziges Angebot +dankend ablehnte. + +Woher ihm eigentlich die Sicherheit gekommen war in der Voraussetzung +daß ihn Adelgunde, sobald er ihr einen Antrag machte, auch nehmen +würde, weiß ich nicht. Aber einen andern Ausgang der Angelegenheit +hatte er keinen Augenblick ernstlich erwogen. + +Um so peinlicher war sein Erstaunen, als Adelgunde sich drei Tage +Bedenkzeit ausbat. Das Unglück wollte es, daß Flocki noch immer eine +warme Nase hatte; und Emil stand unter dem Bann der fixen Idee, daß +dieser tückische Hund in diesen drei Tagen bestimmt sterben werde, um +ihn zu ärgern und seine Rettung in lebenswerte bürgerliche Verhältnisse +unmöglich zu machen. Der Tierarzt kam täglich dreimal, wurde außerdem +mehrfach telephonisch in seiner Wohnung und in dem Café, in dem er +mittags Domino zu spielen pflegte, angeklingelt und blieb auf Emils +besonderen Wunsch auch nachts telephonisch für ihn erreichbar. + +Endlich am dritten Tage nachmittags um zwölf Uhr kam ein Briefchen von +Adelgunde. + +Als ich um ein Uhr in seine Wohnung kam, nach dem Freunde zu sehen, +der mir in den letzten Tagen Sorgen gemacht hatte, erzählte mir +Lisette, der Herr habe vorhin durch einen Dienstmann ein Billetchen +bekommen. Darauf habe er sich längere Zeit lächelnd vor dem Spiegel +im Korridor aufgehalten, habe dann telephonisch ein Rosenbukett mit +violetter Schleife für fünf Mark bestellt, habe seinen Friseur kommen +lassen und eine halbe Flasche Veilchenparfüm auf zwei Taschentücher +gegossen, die er in seinen besten schwarzen Rock gesteckt. Dann habe er +ihr -- Lisette -- zehn Mark geschenkt mit der Weisung, sich möglichst +bald eine schöne Granatbrosche dafür zu kaufen (warum gerade eine +Granatbrosche wisse sie nicht) sei vor Flockis Körbchen getreten und +habe den sehr erstaunten Hund ein „Rabenvieh“ genannt, was ja wohl +seine Berechtigung habe, aber doch, so weit sie sich entsinne, zum +ersten Male passiert sei. Dann habe er sich einen Zylinder aufgesetzt, +habe ein paar resedafarbene Handschuhe in die Hand genommen und sei +pfeifend, ohne seiner sonstigen Gewohnheit gemäß detaillierte Weisungen +Flockis Wartung betreffend zu geben, die Treppe hinabgesprungen. Wie +ein Reh. Dies „wie ein Reh“ gefiel Lisette so gut und schien ihr so +erstaunlich charakteristisch, daß sie es noch dreimal mit Nachdruck +wiederholte: „Wie ein Reh -- wenn ich’s Ihnen sage: wie ein Reh!“ + +Ich wußte genug. Ich empfahl Lisette, beim Ankauf der Granatbrosche +sehr umsichtig vorzugehen, und machte mich auf den Heimweg. + +Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb ein +Rohrpostbriefchen. Ich habe es gegen meine Gewohnheit dreimal +aufgesetzt. + +Es gibt Glückwünsche die sehr schwer fallen. Man wünscht wohl, aber man +glaubt nicht. + + * * * * * + +Wenn Emil eine Prinzessin von Trapezunt geheiratet hätte, er hätte sich +in den folgenden Wochen nicht beglückter benehmen können. + +Er markierte Verlobungswonne in geradezu vorbildlicher Weise. Er kaufte +Buketts, Lyrik, Marzipan. Er trug zu enge Stiefel und zu hohe Kragen. +Er sann auf zarte Überraschungen und las nachts im Bett eine gräßlich +langweilige Biographie von Johann Sebastian Bach, den Adelgunde sehr +verehrte. Von Kontrapunkt und Fuge sprach er jetzt so viel, wie er +früher von Flocki und seinen Magenverhältnissen gesprochen hatte. +Eines Tages erwarb er in einer Versteigerung bei Lepke sogar ein sehr +mäßiges Ölbild, das den großen Meister darstellen sollte, das sich aber +leider später als das Porträt seines Vaters, des Hof- und Ratsmusikus +Johann Ambrosius Bach erwies. + +Mit der Ungeduld eines Romeo drängte Emil auf Beschleunigung der +ehelichen Verbindung. Blos standesamtlich wünschte Adelgunde. Emil war +einverstanden. + +Ich war Emils Trauzeuge. Adelgunde hatte sich für die feierliche +Handlung ihren Hauswirt mitgebracht. Dieser brave Mann, in seinem +Privatleben ein Schneidermeister, dessen Anzüge eine gewisse +Berühmtheit genossen, weil sie jedem Besteller die Figur ihres +Verfertigers gaben, hatte leider zur Vorfeier des Tages sehr heftig +gefrühstückt und kämpfte während der Zeremonie so tapfer wie vergeblich +gegen einen Schluckser. Adelgunde hielt dies mühsam gedämpfte Geräusch +für einen Ausdruck tiefer, seelicher Ergriffenheit und hat später dem +Gatten gestanden, daß diese Feierlichkeit den lange von ihr gehegten +Verdacht als begründet erwiesen habe; daß nämlich der ehrsamliche +Schneidermeister selbst ein Auge auf sie geworfen habe, ohne den Mut zu +finden, zu tun, was Emil getan hatte ... + +Im Separatzimmerchen eines kleinen aber guten Restaurants der +Potsdamerstraße war das festliche Frühstück, das dem standesamtlichen +Akt folgte. Nur wir vier. Und ein sehr diskreter Kellner, der die +Speisen immer erst brachte, wenn sie kalt waren. + +Ich hielt eine kleine Rede auf das Brautpaar, sprach von der ehelichen +Liebe, die das Leben adelt, jede Freude erhöht, jeden Schmerz gemeinsam +tragen lehrt -- kurz ich gab, der Situation angemessen, eine Anzahl von +Gemeinplätzen zum besten, die jedem lateinischen Übungsbuch für Quinta +Ehre gemacht hätten. + +Dann erhob sich der Trauzeuge Adelgundes. Er erzählte mit etwas +schwerer Zunge sehr merkwürdige Dinge, die nur leider keinen rechten +Zusammenhang mit der festlichen Veranlassung dieses gemeinsamen Mahles +zeigten. Er sagte unter anderem, er sei bei einer alten Tante erzogen +worden, die ihm früh den Spruch eingeschärft habe: Üb’ immer Treu +und Redlichkeit -- bis an dein kühles Grab. So gedenke er’s auch zu +halten. Die Wohnung im dritten Stock seines Hauses habe früher 1000 +Mark gekostet. Nun aber habe er die Toilette neu tapezieren und den +Herd umsetzen lassen. Auch sei ihm eine Hypothek gekündigt worden, was +ihn sehr verdrieße. Vom nächsten Quartal an müsse er 1100 Mark für +diese Wohnung verlangen, was er als Ehrenmann heute schon ankündigen +wolle. Zumal da in einem fort darin Klavier gespielt werde; was zwar +immer noch nicht so schlimm sei, wie Waldhorn. Was die Ehe anbetreffe, +so habe darüber der Apostel Paulus ein sehr gutes Wort gesagt, das ihm +jetzt nicht einfalle. Und wenn die Pute nicht so kalt werden solle, +wie der Rehrücken leider vorhin gewesen, so müsse er seine Rede jetzt +schließen. + +Diese letzte Wendung wurde von uns als Scherz gedeutet. Wir riefen +hoch und stießen an. Der Meister war sehr geschmeichelt und nahm drei +Bruststücke von der Pute. + +Nach dem Eis erhob sich Adelgunde und verabschiedete sich von uns mit +einem verschämten Lächeln, das ihr gar nicht übel stand. Mit diesem +Lächeln konnte sie für fünfunddreißig gelten. Sie fuhr in einem +Taxameter nach Hause, um ein Reisekleid anzulegen, da eine kurze +Hochzeitsreise nach Potsdam beschlossen war. + +Als Adelgunde gegangen war, offerierte Emil mit dem strahlenden +Lächeln, das ihm selbst bei des Trauzeugen Rede nicht verlassen hatte, +sehr schwarze Zigarren mit sehr roten Leibbinden. + +„Sagen Sie, lieber Herr Steinbrink“, fragte der Meister, indem er sich +drei Zigarren auswählte und neben seine Kaffeetasse legte, „was wird +nun eigentlich aus ihrem +Hund+, solange sie auf der Reise sind -- +--? Es ist wegen der Wohnung. Ich bin da etwas unruhig. So ein Vieh +ruiniert leicht mancherlei, nagt und schabt und kratzt -- --“ + +Emils Gesichtsausdruck verlor an Fröhlichkeit. Und der meine war in +diesem Augenblick kaum sehr intelligent. + +„Ja, erlaube mal, Emil“, warf ich ein, „hast du denn noch niemand +gefunden, den du -- -- Ich meine die Witwe, von der du sprachst, die +kinderlose Witwe ...“ + +Emil wurde sehr verlegen. Er pickte nervös an dem Bändchen seiner +schwarzen Zigarre herum und, ohne mich anzusehn, sagte er kleinlaut: +„Die Sache ist +die+, Lieber. Ich und Adelgunde -- Adelgunde und ich +-- wir haben’s uns eben überlegt. Eine fremde Pflege ist doch nicht so +sicher. Du weißt, es gehen uns dreitausend Mark verloren, wenn Flocki +stirbt. Das ist schließlich keine Kleinigkeit.“ + +„Tausend noch mal!“ bestätigte der Meister und knüpfte seine Weste auf. + +„Na und siehst du, so kamen wir eben nach reiflichster Überlegung +überein, Flocki zu +behalten+. Gott, er hat ja auch seine Vorzüge. Und +dann: man gewöhnt sich. Es ist merkwürdig, +wie+ man sich gewöhnt. +Während wir in Potsdam sind, wird Lisette -- du weißt, wir übernehmen +sie in den jungen Hausstand. Und wenn wir zurückkommen -- Gott, +Adelgunde hat eine so glückliche Hand in der Pflege. Du sollst mal +sehen, wie die Blumen gedeihn an ihrem Fenster -- und haben doch fast +keine Sonne.“ + +„Erlauben Sie,“ fiel der Meister ärgerlich ein, „das muß ich denn doch +besser wissen. Vom Mai bis Ende September hat das Fenster von Mittags +zwölf bis nach zwei Uhr Sonne. Wenn’s nicht regnet, natürlich. Aber +dann hat kein Mensch Sonne und kein Fenster.“ + +Emil hörte ihn nicht. Die erloschene Zigarre im Munde stierte er in +tiefem Sinnen in den riesigen Aschbecher. An seines Geistes Augen +mochte das ganze Martyrium dieser Erbschaft vorüberziehen, das +Martyrium, das hinter ihm lag, das Martyrium, das seiner wartete ... + +Wir beiden andern schwiegen und rauchten. + +Plötzlich fuhr Emil aus seinen Träumen auf und sah nach der Uhr. + +„Himmel, ich muß fort. Höchste Zeit. Entschuldigt die Plötzlichkeit, +Kinder, aber wir versäumen sonst den Zug. Ich muß Adelgunde abholen ...“ + +„Aber es ist ja noch reichlich anderthalb Stunden. Und zum Potsdamer +Bahnhof habt ihr nur sieben Minuten.“ + +„Hm. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß man zu zweien immer +mehr+ +Zeit braucht, als allein.“ + +Der Meister rechnete angestrengt an den Fingern: „Und zweimal sieben +macht vierzehn -- nicht wahr? Und eine Stunde und eine halbe macht +neunzig Minuten, und neunzig weniger vierzehn macht sechsundsiebzig ...“ + +Es war nicht recht einzusehen, warum er sich in die Mühseligkeiten +dieser Rechenaufgaben stürzte; denn von uns beiden hörte ihm keiner zu. +Selbst dann nicht, als er durch eine sehr schwierige und rätselhafte +Division sich tief in die Gefahren der Bruchrechnung verstrickte, die +er dann mit einem befriedigten „Na, und überhaupt!“ abschloß. + +Emil hatte seinen Paletot angezogen, den der Meister mit kritischem +Blick maß. Der Reisefertige reichte mir die Hand zum Abschied; und +mir war’s, als legte er eine ganz besondere Bedeutung in sein +Abschiedswort: + +„Du hast Recht, wie schon manchmal, lieber Freund. Aber wir müssen +vorher noch Adieu sagen. Adelgunde besteht darauf, daß wir +Flocki+ +noch einmal sehen, ehe wir ihn für ein paar Tage verlassen. Schließlich +-- +er+ hat uns doch zusammengeführt! ...“ + +[Illustration] + + + + +[Illustration: Das Verhängnis des Hauses Brömmelmann] + + +Er hatte nur unter den größten Schwierigkeiten eine Frau bekommen. Es +ist lächerlich, zu behaupten, daß das an seiner Persönlichkeit lag. Es +lag am Namen. + +Gewiß, er war nicht schön. Die unansehnliche Figur, die etwas +Verbogenes, Geknicktes an sich hatte, sah in dem langen schwarzen +Gehrock, den er immer trug, nicht gut aus. Er erinnerte, wenn er so +daher kam mit dem schief nach links über den altmodischen Kragen +nickenden Kopf und den lang herabhängenden Armen, die immer die Knie +kratzen zu wollen schienen, an einen jener dressierten Urwaldbewohner, +die, ein Zylinderchen auf dem Kopf, auf ein geduldiges Ponychen mit +heimlichen Riemen festgebunden, als erste Nummer unter dem Jubel der +Kinderwelt in melancholischem Galopp die „Abend-Gala-Elite-Vorstellung“ +der Affentheater einzuleiten pflegen. Auch waren seine Füße +unverhältnismäßig groß und erweckten beim Gehen den Eindruck, als ob +jeder von ihnen eigensinnig just auf denselben Fleck treten wolle, den +der andere gerade inne hatte; und dies mit solcher Vehemenz, daß es +ein wahres Wunder genannt werden mußte, wenn +Anton Brömmelmann+ sich +bis zu seinem fünfundvierzigsten Jahre noch nicht die Zehen abgetreten +hatte auf seinen Geschäftsgängen. + +Denn zum Vergnügen ging er nie. Das Geschäft war ihm alles. Er +arbeitete dafür den ganzen Tag; er erholte sich davon, indem er abends +in alten Geschäftsbüchern blätterte und alte Geschäftsbriefe im +Kopierbuch las; und er träumte davon in der Nacht. Das Geschäft war +sein Glück -- denn es blühte. Und es war sein Unglück -- denn es hatte +seinem Namen einen wenig seriösen Klang gegeben. Und just um dieses +Klanges willen hätte Anton Brömmelmann beinahe keine Frau bekommen. + +Eine geschickte Reklame des Vaters -- der auch schon Anton geheißen und +den Ruhm des Geschäftes begründet hatte -- war dem Namen Brömmelmann +verhängnisvoll geworden; insofern als er diesen nicht sinnverwirrend +schönen aber auch nicht ohne weiteres verwerflichen Geschlechtsnamen +braver kleiner Beamten und Pastoren plötzlich laut, heftig und dauernd +mit -- ja, es muß schon gesagt werden: mit Wasserklosetts in Verbindung +brachte. + +„Anton Brömmelmanns Wasserklosetts für Privatwohnungen, Klubs, Hotels, +Spitäler, Kasernen und Gefängnisse“ waren weit über Neuenburg hinaus +eine Berühmtheit. Durch unzählige Annoncen in den Tagesblättern hatte +er sie -- wenn das so auszudrücken erlaubt ist -- dem Herzen des +Publikums eingeschmeichelt. Er hatte Gutachten über ihre Diskretion +im Geräusch und Wasserverbrauch und über ihre Unentbehrlichkeit +im Großbetrieb fleißig gesammelt und veröffentlicht; hatte +enthusiastische Zustimmungen von Hygienikern, berühmten Schauspielern, +Anstaltsdirektoren, ja sogar von zwei wirklichen Geheimen Räten mit +dem Prädikat Exzellenz seinem Katalog anheften können. Und so hatte +er mit der Wahrhaftigkeit, wie sie nur die Todesstunde verleiht, +auf dem Sterbebette seinem einzigen Sohn feierlich und nicht ohne +Genugtuung versichern dürfen, daß es in und um Neuenburg, wenigstens in +menschlichen Wohnstätten, die etwas auf sich hielten, keinen geheimen +Ort, den ein guter Mensch betrat, gebe, der nicht an bescheidener +Stelle auf weißem Porzellangrund den Namen „Anton Brömmelmann“ rühmend +dem nachdenklichen Beschauer nenne. + +Das aber war das Fatale. Welches junge Mädchen von sittlichem Gefühl +verliebt sich in einen Mann, der mit so unentbehrlichen, aber doch so +ungern genannten Gebrauchsgegenständen handelt? Welches wohlerzogene +Bürgerstöchterlein tauscht froh und reulos seinen mehr oder minder +wohlklingenden Vatersnamen gegen einen Namen, den immer und immer +wieder Annoncen in den Tagesblättern in solch merkwürdige Erinnerung +bringen; der immer und immer wieder von weißem Porzellangrund abzulesen +ist? ... + +Wenn Anton Brömmelmanns Ahnherr im Dreißigjährigen Krieg nachweislich +gehängt worden wäre; wenn sein Großvater beim Rastatter Gesandtenmord +eine üble Rolle gespielt und seine Großmutter im berüchtigten +Hirschpark von Versailles zeitweise unrühmlichen Aufenthalt genommen +hätte -- das wäre alles kein so trauriges Ehehindernis für Anton +Brömmelmann gewesen, als der fatale Umstand: daß sein fleißiger und +rechtlicher Vater gar so viel Lobendes über seine vortrefflichen +Fabrikate veröffentlicht hatte. + +Und außerdem: mitten in der Hauptstraße, zwischen der appetitlichen +Konditorei von Grötschel und der poesievollen Blumenhandlung der stets +in tiefe Trauer gekleideten Witwe Schwiebus -- die drei verletzend +naturalistischen Riesenerker des Brömmelmannschen Geschäfts! Welche +Frauenseele in jenem glücklichen Alter, da man sich Verse von Lenau ins +Album schreibt und mit Leutnants tanzt und Lieder von Schumann singt, +bebte nicht scheu zurück vor einem noch so braven Mann, der ein so +absonderliches Geschäft sein eigen nennt? + +Anton Brömmelmann hätte von den Körben, die er sich seufzend in guten +Bürgerfamilien geholt, ganz bequem einen Korbhandel eröffnen können. +Aber er sah mit Goethe, den er übrigens nicht las, in der Ehe „Anfang +und Gipfel aller Kultur“; und er war betrübt, ja niedergeschlagen, daß +gerade +ihm+ weder Anfang noch Gipfel beschieden sein sollte, obschon +oder gerade +weil+ er als Geschäftsmann just der Sohn seines Vaters und +ein Kulturträger von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. + +Endlich aber fand er in Annemarie Bickebach doch noch ein weibliches +Wesen, das großherzig genug war, über die ganzseitigen Annoncen und +die Riesenerker in der Hauptstraße und schließlich auch über manche +negativen Vorzüge seiner Erscheinung mit ihren leidlich hübschen Augen +hinwegzusehen. + +Annemarie war die Tochter eines Oberpostsekretärs, der pensioniert +werden mußte, weil sich in ihm die fixe Idee entwickelte, er müsse +der Welt die Unsinnigkeit der Ansichtspostkarte beweisen; und der in +diesem Sinne eine Reihe von Broschüren im Selbstverlag erscheinen +ließ und zahlreiche Eingaben an den Reichstag und „Offene Briefe“ +an die vorgesetzte Behörde richtete. Das langaufgeschossene, magere +Mädchen war zweimal verlobt gewesen. Einmal mit einem melancholischen +Bergassessor, der leider bald darauf mit einer Dame vom Variété +nach London gegangen war; und einmal mit einem sommersprossigen +Predigtamtskandidaten, der ihr eines Tages eine „frivole Auslegung +paulinischer Briefe“ vorgeworfen, ihren Ring, zwei gestickte +Schlummerrollen und einen gebrannten Haussegen zurückgeschickt und +drei Monate später eine vermögliche aber reizlose Witwe aus Kottbus +standesamtlich und kirchlich geheiratet hatte. + +Annemarie hatte das stille Wesen aller Mädchen, die zweimal verlobt +waren und einmal am Variété und einmal an den paulinischen Briefen +gescheitert sind. Sie sah zwar, daß Anton Brömmelmann keineswegs +eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem jungen Griechengott, nicht +einmal mit einem melancholischen Bergassessor zeigte; aber er war +schließlich ein Mann, der seine hübschen Einnahmen hatte und dessen +mit der Erinnerung an zahlreiche Körbe belastetes Herz die Unzartheit +nicht besitzen würde, sie an ihr entschwundenes Liebesglück zu +erinnern. Und sie hatte es satt, immerzu „Eingaben an eine hohe k. k. +Oberpostdirektion“ ins reine zu schreiben. + +Der Oberpostsekretär a. D. machte seine Einwilligung zur Verehelichung +davon abhängig, daß Anton Brömmelmann sich eidlich verpflichte, +niemals in seinem Leben eine Ansichtskarte zu benützen. Ein Schwur, +den Anton Brömmelmann um so eher ablegen und halten konnte, als er +überhaupt keine privaten Mitteilungen ernsten oder neckischen Inhalts +jemals zu Papier brachte, sondern +nur+ Geschäftsbriefe schrieb und im +Geschäftsverkehre die Ansichtskarte für durchaus unstatthaft hielt. +Der Oberpostsekretär holte übrigens für diese Gelegenheit seinen alten +Galadegen aus dem Schrank, eine sehr merkwürdige Waffe, die nach +halbstündigem sorgsamen Einfetten und anstrengendem Ziehen endlich auch +aus der Scheide fuhr. Auf die rostige Klinge mußte Anton Brömmelmann +feierlich die Schwurhand legen und den vom Oberpostsekretär persönlich +vorgesprochenen ebenso umständlichen als konfusen Eid mit lauter Stimme +wiederholen. Dann erst bekam er von der tief errötenden Annemarie den +Verlobungskuß und jenen gebrannten Haussegen, den der sommersprossige +Predigtamtskandidat unbegreiflicherweise verschmäht hatte. + +Die Ehe war nicht unglücklich. + +Annemarie hielt ihren Haushalt gut in Ordnung; und wenn Anton +Brömmelmann aus dem Geschäfte kam, so war sie bereit, seinen gehabten +Ärger mit aufmerksamer Teilnahme anzuhören, und schmierte ihm +Käsebrötchen dazu. + +Jeden Sonntag aß der Oberpostsekretär a. D. bei den beiden zu Mittag. +Es gab dann „falschen Hasen“ -- weil dem Oberpostsekretär die +Vorderzähne fehlten -- und der Geladene würzte das bescheidene Mahl +durch heftiges Schimpfen auf die k. k. Regierung, die keine seiner +Eingaben, die er nun selber schrieb, jemals beantwortete. + +Als er an einem Sonntag im Herbst wieder zum falschen Hasen kam, teilte +ihm Anton freudestrahlend mit, daß sie beide heute +allein+ essen +müßten, da Annemarie ihn heute morgens durch die Geburt eines Sohnes +erfreut habe und noch der Schonung bedürftig sei. + +Obgleich der Oberpostsekretär, wie er sich recht wohl erinnerte, bei +der Eheschließung der beiden mit einer solchen Möglichkeit gerechnet +hatte, kam ihm die Nachricht nun, da er, mit seinen Angelegenheiten +beschäftigt, die natürlichen Anzeichen des kommenden Ereignisses +völlig übersehen hatte, doch sehr überraschend. In der Freude seines +Herzens ging er eiligst einen notwendigen Einkauf zu machen; und da er +nicht recht wußte, was zu dieser Gelegenheit am passendsten erscheinen +könnte, kam er eine halbe Stunde später wieder mit einer Mandeltorte +und einem Bilderbuch, das für den ersten Leseunterricht sehr +zweckentsprechend eingerichtet war. Dieses Buch legte die Wartfrau, +die wenig von Pietät hielt, unter das Gestell der Kinderbadewanne, das +einen zu kurzen Fuß hatte. Die Mandeltorte aber teilte sie mit der +Hebamme, die zufällig gerade, wie dies bei Hebammen das übliche ist, +ihren Geburtstag hatte. + +Im Nebenzimmer aber saß der Oberpostsekretär, dämpfte seine Stimme +zu einem diskreten Piano, das kaum mehr hörbar war, und fragte den +glücklichen Vater, der sehr wichtig und sehr zwecklos bald eine +Zuckerdose, bald einen Aschenbecher umhertrug: + +„Anton, +wem+ sieht’s ähnlich?“ + +„Die Wartfrau meint: +mir+,“ gab Anton schüchtern zurück. + +Er mochte nicht gestehen, daß er persönlich bei einer ersten Begegnung +mit seinem Sohn, die allerdings im Halbdunkel der Wochenstube +stattfand, keinerlei Ähnlichkeit hatte wahrnehmen können, vielmehr den +Eindruck gewonnen, anstatt eines Kopfes eine runzliche, nicht mehr ganz +frische Tomate auf dem Kissen zu sehen. + +Die Hebamme, die aus unbekannten Gründen immer heftig nach altem +Rotwein roch, kam herein und verkündete: + +„+Neun+ und ein Viertelpfund! Eben gewogen. Es ist ein Mordskerl!“ + +„Das soll er erst +werden+!“ + +Anton Brömmelmann hatte dieses vortreffliche Wort gefunden und damit +stolz und tüchtig ~in nuce~ ein ganzes Erziehungsprogramm entrollt. + +Das +eine+ stand bei Anton Brömmelmann fest: der Junge sollte es mal in +jeder Beziehung +besser+ haben, wie er; sollte sich nicht selbst die +Zehen abtreten beim Gehen, keine lächerliche Figur in einem schwarzen +Gehrock spielen und seinen Namen nicht am Tage wie eine Last und nachts +wie einen Alp tragen. Das Geschäft -- Gott behüte! -- das war nichts +für den Jungen. Diese Überzeugung stand schon bei Anton Brömmelmann +fest, wenn er des Abends, aus dem Comptoir heimgekehrt, zusah, wie im +Soxhletapparat die sechs appetitlichen Fläschchen für Nacht und Morgen +hergerichtet wurden. Immer ein Strich Milch und zwei Striche Wasser. +Und jedesmal setzte seine besorgte Frage ein: + +„Kriegt der Junge auch nicht zu wenig Milch und zu viel Wasser?“ + +Berthold wurde er getauft. + +Niemand in der Familie hieß so. Der Erfinder des Schießpulvers, +Berthold Schwarz, war der einzige dieses Namens, den Anton Brömmelmann +-- natürlich nicht persönlich -- kannte. Aber das war’s gerade: Der +Junge sollte einen +aparten+ Namen haben. Und wer konnte das wissen +-- die Sache mit dem Schießpulver! ... Der Junge konnte ein verdammt +kluges Gesichtchen machen und hatte eine Art, das rosig marmorierte +Fäustchen in den Mund zu stecken, die +hohe+ Intelligenz bewies. Und +das +Geschäft+ sollte ihm nicht den schönen Namen und das schöne Leben +verderben -- das war immer der Schluß von Anton Brömmelmanns reiflichen +Erwägungen. Und damit all dieses nicht geschehe, sollte der Bub’ keine +Ahnung davon haben, welcher +Art+ seines Vaters Geschäft war. Bis er +dann zur Schule kam, würde man schon sehen. + +Von nun an dachte Anton Brömmelmann nur daran, sein Geschäft zu +verkaufen. + +Er trat sich im Nachdenken noch emsiger auf die Füße, schlenkerte noch +heftiger mit den Affenarmen als früher und wechselte bogenlange Briefe +mit Reflektanten. + +An der verlangten Kaufsumme scheiterte es nie. Er hatte genug geerbt +und zurückgelegt und forderte einen Betrag, der für das flottgehende +Geschäft ein Spottpreis genannt werden mußte. Eben erst hatte der +Landtag eine größere Bestellung gemacht, und mit einer anonymen +Gesellschaft, die das öffentliche Wohl im Auge hatte, stand er in +Verhandlung. + +Aber +eines+ schreckte die Bewerber: Anton Brömmelmann stellte die +Bedingung, daß innerhalb fünf Jahren die +Firma+ geändert werden +und +sein+ Name mithin von Firmenschild, Briefbogen und Porzellan ++verschwinden+ müsse. Hier lag der Haken. Denn die Firma „Anton +Brömmelmann“ war eben als solche weit berühmt; und ob die Änderung des +Namens nicht einen beträchtlichen Rückgang des Geschäftes bedeuten +würde .... Zudem -- man hatte das zum Beispiel bei Johann Maria Farina +erlebt -- es könnte eine Konkurrenz plötzlich einen Strohmann Namens +Brömmelmann auftreiben, der nun die Früchte jahrelanger Reklame anderer +mühlos pflückte.... + +Schließlich aber wurde der Verkauf +doch+ perfekt. + +Ein Herr Heinrich +Hinzelmann+ hatte, wie er schrieb, „eine weitläufige +Tante beerbt“ und strebte, sich selbständig zu machen. Er glaubte das +nicht besser tun zu können, als indem er das Geld der weitläufigen +Tante in Anton Brömmelmanns weitberühmte Fabrikate steckte. + +Am fünften Geburtstag Bertholds wurde der Vertrag unterschrieben. Es +war ein großer Moment. Anton Brömmelmann war ganz heiser vor Aufregung +und schrieb unter das wichtige Schriftstück zum erstenmal in seinem +Leben seinen eigenen Namen falsch; nämlich mit nur +einem+ „m“ in der +Mitte. Annemarie stand neben ihn und bürstete in tiefer seelischer +Verlorenheit Herrn Hinzelmanns Zylinder sorgfältig +gegen+ den Strich, +was der Besitzer des Hutes mit großem Unbehagen mit ansah. Doch wagte +er es nicht, sie auf das Sinnlose und Unzweckmäßige dieser Betätigung +aufmerksam zu machen, da er befürchtete, irgendeine nicht auf das +Geschäft bezügliche Äußerung könne ihm noch in letzter Stunde den +ganzen vorteilhaften Handel verderben. So schlug er im Geiste den Preis +für einen neuen Zylinder mit auf die Kaufsumme und schwieg. + +Im Nebenzimmer aber saß der Oberpostsekretär, das Geburtstagskind auf +den Knien, und las die Korrekturen einer geharnischten Eingabe „an die +k. k. Regierung, betreffend die durch den submissest unterzeichneten +Verfasser eklatant erwiesene Volksverdummung durch die Ansichtskarte“. + +Anton Brömmelmann atmete auf. Ihm war zumute wie einem unter dem +Verdachte schweren Raubmordes Verhafteten, der eben sein Alibi +lückenlos beigebracht hat. + +Nun galt es noch sein Haus verkaufen -- das tat er mit kleinem Verlust +-- und den Wohnort wechseln. Er zog nach Rasselsheim, einem Städtchen +ohne jeglichen landschaftlichen Reiz, das ihm nur dadurch aufgefallen +war, daß es -- wie aus einer Statistik hervorging -- die geringste +Kindersterblichkeit aufwies. Ein Gymnasium war auch da. Sogar ein +„humanistisches“, was Anton Brömmelmann für eine besondere, vom Staat +verliehene Auszeichnung hielt. Also! + +Bei der Wohnungssuche benahm sich Anton Brömmelmann etwas sonderbar. Er +besichtigte zunächst immer ein geheimes Kabinett und erweckte durch die +merkwürdig peinlichen Untersuchungen den Eindruck, als ob er hier die +reichsten und köstlichsten Stunden seines Lebens zu verbringen gedenke. + +Mit heimlicher Freude konstatierte er, daß die Rasselsheimer Wohnungen +nur in seltenen Fällen +seine+ Fabrikate mit dem verräterischen Namen +aufwiesen; und er mietete mit ingrimmiger Genugtuung eine Wohnung, für +die, wie das Porzellan an der betreffenden Stelle meldete, seine einst +gefürchtete Konkurrenz das unentbehrliche geliefert hatte ... + +Berthold wuchs heran. + +Der glückliche Vater ging völlig auf in den Jungen. Er zahnte mit ihm, +er fieberte persönlich, als der Bub die Masern hatte, ja er machte +-- und nicht nur in der Einbildung -- mit ihm den Keuchhusten durch, +konsumierte als leuchtendes Beispiel für den Jungen den abscheulichen +Schneckensaft und war stolz darauf, wenn er, blaurot im Gesicht vom +Husten, die Versicherung des Arztes hörte: das sei ein außerordentlich +seltener Fall, daß ein Erwachsener zum +zweitenmal+ vom Keuchhusten +befallen werde. + +Peinlicher als der Keuchhusten war das Latein. + +Anton Brömmelmann, der es nie recht vertragen hatte, lernte es mit +dem Sohn, +für+ den Sohn. Er stand mit dem absolutem Ablativ auf und +träumte vom Akkusativ cum Infinitiv; er übte Vokabeln und konsultierte +heimlich Eselsbrücken, war dem Sohn immer um drei Lektionen voraus, +kurz, er tat alles, um die fromme Täuschung aufrecht zu erhalten, daß +er alles das schon +wisse+, was der Sohn unbedingt lernen müsse, um ein +edler Mensch und ein tüchtiger Bürger zu werden. Wenn Berthold längst +seinen gesegneten Kinderschlaf schlief, mußte die mitleidige Annemarie +den unglücklichen Gatten die Punischen Kriege überhören und die +entsetzlichsten, von den Karthagern verübten Greuel über sich ergehen +lassen. Und Sonntag zog sich Anton Brömmelmann in sein Studierzimmer +zurück, um über den „Frühling“ nachzudenken oder über die „Freuden des +Eislaufs“, kurz über lauter Dinge, die seinem früheren Leben sehr fern +gelegen hatten und die jetzt als Aufsatzthemata des Sohnes seine späten +Mannesjahre erschreckten. + ++Zweimal+ waren sie sitzen geblieben. + ++Sie.+ Pluralis. Denn der Vater blieb +mit+ sitzen, fühlte sich ++mit+schuldig; obschon er die Tanzstunde, die an der Zerstreutheit +des Sohnes die Hauptschuld trug, nicht mitgenommen hatte und die +Zigaretten, die dem armen Berthold nicht bekamen, persönlich ganz gut +vertragen konnte. + +Endlich kam das Maturum. + +Berthold, der ein hübscher, schlanker Bengel geworden war, nicht gerade +strotzend von Intelligenz, aber in seiner gesunden Frische ein ganz +lieber Kerl, ging in das Examen mit einer Siegermiene, als könne ihm +nichts passieren. Der Vater aber saß zu Hause und seufzte: + +„Die Mathematik -- die Mathematik bricht uns den Hals. Du wirst sehen, +Annemarie, die Mathematik!“ + +Und er verlangte Papier und berechnete Kegelschnitte stundenlang und +löste Gleichungen mit drei Unbekannten, die -- wenn die Sache fertig +war -- noch immer so gut wie unbekannt blieben, und ließ sich von all +den Aufgaben foltern, die der Sohn vielleicht ... + +Aber der Sohn kam nach Hause, strahlend, eine Rose im Knopfloch und +sichtlich erhitzt von einem kleinen Frühschoppen. Er hatte bestanden. +Nicht gerade glänzend, aber was lag daran? + +Anton Brömmelmann spendierte deutschen Sekt zum Mittagstisch. Er stieß +mit dem Sohn an und hielt eine Rede, in der er sagte: er sei zwar +der Vater ... aber er müsse denn doch sagen ... und überhaupt habe +Demosthenes ganz recht gehabt, wenn er das schöne Wort gesprochen, +das ihm jetzt nicht einfalle ... und der große Liebig sei +auch+ ein +schlechter Schüler gewesen ... und Henrik Ibsen hätte „kaum genügend“ +in der Trigonometrie gehabt ... und das Leben sei zwar schwer, aber +schön ... und der Name Brömmelmann lege Pflichten auf ... jawohl, das +tue er ... und so hoffe er heute ... denn +das+ müsse die Jugend immer +hochhalten ... und dafür könne er keinen Geringeren zitieren, als +Cicero ... aber das +wolle+ er nicht ... denn er sei froh, daß er all +das Zeug jetzt vergessen könne ... denn ehrlich gesagt: zum Halse sei’s +ihm herausgewachsen ... und übrigens sei es Zeit, den Großvater von der +Bahn abzuholen ... + +Berthold bezog die Universität. + +Der Vater wollte keinen Druck auf ihn ausüben. Er solle studieren, +was er wolle. Theologe -- gut; aber protestantischer. Arzt -- gut; +aber nicht Spezialarzt für ansteckende Krankheiten. Jurist -- gut; +aber nicht „Kameralia“ dazu. +Zweierlei+ zugleich, das gehe nicht. Mit +diesen Einschränkungen erlaubte Anton Brömmelmann alles. Mathematiker +war nicht zu befürchten. Auch für das Sanskrit zeigte sich bei +Berthold keinerlei Neigung. Alle Ermahnungen schlossen: + +„Vergiß nicht, daß du mein +Einziger+ bist!“ + +Berthold Brömmelmann vergaß das nicht. + +Als er nach dem ersten Semester seine Schulden beichtete, erwies es +sich, daß er immerzu daran gedacht haben mußte, daß er der „einzige“ +war. Außerdem war er „Hasso-Suebe“, trug einen farbigen Bierzipfel, +einen Zwicker und eine Tiefquart im Kinn, die dickrandig und tiefrot +war und an jene alten Wunden erinnerte, die eine Neigung haben „an der +Bidassoa-Brücke“ aufzubrechen. Und er roch nach Jodoform wie ein ganzer +Transportzug des Roten Kreuzes. + +Über die Richtung seines Studiums war er sich noch nicht schlüssig +geworden. In der Anatomie war ihm schlecht geworden. Bei den Pandekten +noch schlechter. In der Theologie störte ihn der heilige Geist, unter +dem er sich absolut nichts denken konnte. Und Mathematik kam noch immer +nicht in Betracht. + +Leider änderte sich dies kaum „positiv“ zu nennende Resultat seiner +Studien auch fürderhin nicht. Er schickte spaßhafte Bierkarten, fidele +Gruppenbilder und unbezahlte Rechnungen, begleitet von humoristischen +Briefen, nach Hause. Über eine Berufswahl aber ließ er sich weiter +nicht aus. + +Als ihn der Vater auf Annemaries Drängen einmal besuchte, kam der +alte Herr graugrün aussehend nach drei Tagen wieder. Er erinnerte +sich noch deutlich vieler junger Herren mit gelben Mützen, die ihn +an der Bahn empfingen und mit fast königlichen Ehren auf einen sehr +merkwürdigen Aussichtspunkt kutschierten, wo man -- und hier wurden +seine Erinnerungen undeutlich -- erst eine Pfirsich-, dann eine +Ananasbowle trank. Es konnte aber auch umgekehrt gewesen sein. Wenn er +sich nicht täuschte, hatten sie dann alle ein wunderschönes Lied mit +erstaunlich vielen Versen gesungen, und dann -- -- -- ja, man konnte +ihn totschlagen, aber ihm war’s, als ob dann irgend ein Fackelzug +stattgefunden hätte. Es konnte aber auch eine Beerdigung oder eine +Hochzeit gewesen sein. Ja selbst eine Kindstaufe hielt er manchmal für +nicht ausgeschlossen. Und was die Studienpläne Bertholds anbetraf -- +man war +nicht+ dazu gekommen, darüber zu sprechen .... + +So war der Stolz des Hauses Brömmelmann im siebenten Semester, ohne daß +sein Studium sichtbare Früchte getragen. + +Da begab es sich, daß der vortreffliche Großvater in Neuenburg seinen +siebzigsten Geburtstag feierte. Unglücklicherweise hatte Anton +Brömmelmann sich kurz vorher den Fuß vertreten, das heißt er war mit +dem linken so außergewöhnlich kräftig auf den rechten getreten, daß der +Knöchel gelitten hatte. + +Annemarie, die treue Seele, machte ihm kalte Umschläge und konnte nicht +abkommen. Berthold fuhr also allein als bevollmächtigter Abgesandter +der Familie nach Neuenburg, seiner Geburtsstadt, die er noch niemals +betreten. + +Als erstes Lebenszeichen kam -- eine Ansichtskarte aus Neuenburg, die +der Großvater +mit+ unterschrieben. + +„Zeichen und Wunder!“ sagte Anton. „Der gute alte Herr unterschreibt ++Ansichts+karten. Ja, ja, das Alter macht milder.“ Und eines Zitats +sich erinnernd, das er vor Jahren -- Berthold saß in Ober-Sekunda -- +aus einem Spruchbuch als köstliche Perle für den schmückenden Schluß +eines deutschen Aufsatzes gefischt, fügte er hinzu: „Wie sagt doch +Goethe so schön: Was man in der Jugend sich wünscht, das hat man im +Alter die Fülle.“ + +Annemarie lächelte: „Papa hat sich doch in der Jugend keine +Ansichtskarten gewünscht.“ + +„Nein aber -- --“ Er fühlte selbst, daß er blödsinnig zitiert und +versuchte hinter einem schalkhaften Lächeln tiefen Sinn zu verbergen. + +„Nun +lies+ schon!“ drängte Annemarie. + +Und er versuchte zu lesen, was sonst noch auf der merkwürdigen +Karte stand. Aber außer den Worten „kalte Ente“ konnte er nichts +herausbringen. + +„Kalte Ente --“ meinte Annemarie kopfschüttelnd, „soll wohl ‚kalte +Hände‘ heißen.“ ... + +Anton Brömmelmann glaubte das nicht .... + +Mehrere Tage hörte man nichts weiter. Weder von dem Jubilar noch von +dem festlichen Abgesandten. Da plötzlich ein Brief, wahrhaftig ein ++langer+ Brief Bertholds. + +„Wie lieb von ihm!“ lobte die Mutter. + +Anton Brömmelmann mißtraute. „Er pumpt mich an!“ taxierte er. + +Und er las. + +„Liebe Eltern! Ihr werdet Euch gewundert haben. ... Eltern wundern sich +immer. Aber das wird noch besser kommen.“ -- + +„Etwas konfus, was?“ schaltete Anton Brömmelmann ein und sah über die +Brille zu Annemarie; dann las er weiter: + +„Ich glaube manchmal, ich habe Euch Sorge gemacht. Vor allem +Dir+, +lieber Vater. Na, du hast kein Geschäft, nicht wahr? Und etwas muß der +Mensch doch haben. So hattest Du +mich+.“ -- + +„Das ist ja eine Epistel, als sollte er gehenkt werden,“ meinte der +Vater. Aber die Mutter bedeutete ihm, weiter zu lesen. + +„Mit dem Studium -- darüber machen wir uns nichts vor -- war es nichts. +Mündlich einmal davon. Als Papa mich besuchte, wollte er durchaus nicht +davon sprechen ....“ + +„Nanu?“ fragte Annemarie. + +Aber Anton Brömmelmann überhörte das und las weiter: + +„Ich stamme aus einer Kaufmannsfamilie. Ich weiß zwar nicht, +welcher+ +Art dein Geschäft eigentlich war, lieber Papa, aber es war ein +Geschäft, nicht wahr? Nun, ich glaube, ich würde mich auch besser zum ++Kaufmann+ eignen. Und so wirds kommen. Denn, um’s kurz zu sagen, ich +bin +verlobt+.“ + +Das Ehepaar Brömmelmann sah sich an, als ob ein geflügeltes Krokodil im +Zimmer sei. Keines brachte ein Wort heraus. + +Dann ergriff die resolute Mutter den Brief und -- nun las +sie+ zu +Ende; las in einem Tempo, in dem nur eine Frau lesen kann, die der +größten Neuigkeit ihres Lebens auf der Spur ist. + +„Ich habe das süßeste, reizendste, entzückendste Mädel von der Welt +kennen gelernt .... Durch Großpapa. Der verkehrt mit den Eltern. Er +sagt, Ihr kennt sie auch und lacht immer ganz verschmitzt dabei. +Übrigens hat er immer noch die Marotte mit den Ansichtskarten ....“ + +Der Teufel hole seine Ansichtskarten! Was ist das für ein Mädel? + +„Die Eltern haben ein Geschäft. Ein sehr +gutes+ Geschäft. ~NB.~ Sie +ist das +einzige+ Kind, heißt Mieze -- ist das nicht reizend? Mieze ++Hinzelmann+. Ihr müßt sie Euch so denken ....“ + +Anton Brömmelmann saß erstarrt. „Hinzelmann, doch nicht +unser+ ....?“ + +Der Blick der Mutter war bis zum Schluß des Briefes geflogen. + +„Das Geschäft, liebe Eltern, von dem ich oben sprach, ist ja ein +bißchen sonderbar. Lieber Gott, +alles+ kann nicht Poesie sein in +der Welt, nicht wahr? Es gibt auch Dinge, die ... Aber der alte Herr +Hinzelmann -- übrigens ein famoser Kerl; +fast+ so nett, wie +mein+ +alter Herr -- der meint: Geschäft ist Geschäft. Ich hab’ mit ihm +gesprochen. Er ist +sehr+ einverstanden. +Seinen+ Segen habe ich schon. +Einzige Bedingung, ich muß später das +Geschäft+ übernehmen....“ + +Annemarie ließ den Brief sinken. Sie sah nach Anton Brömmelmann, der, +ein Bild schöner aber tiefer Resignation, in seinem Sessel saß. + +„Hast du gehört, Vater?“ + +Er nickte bloß. + +Aber die treue Lebensgefährtin schien anzunehmen, daß der Schweigsame +zwar gehört, aber nicht verstanden habe. Sie legte ihm die Hand auf die +Schulter und rüttelte ihn sanft, als wolle sie ihn aus einem erst halb +überwundenen Schlummer zur Wirklichkeit wecken. + +„Anton -- das Geschäft -- +unser+ Geschäft -- --“ + +Die Züge des Versteinerten belebten sich. Den Lippen entfuhr ein +Zischlaut, wie ihn ungeduldige Lokomotiven knapp vor der Abfahrt hören +lassen. Dann bildete der Sprechapparat Worte, tonlos, mechanisch, wie +einem Uhrwerk gehorchend und ohne seelische Beteiligung: + +„Mutter +dafür+ bin ich ausgewandert, +dafür+ hab’ ich +Latein+ gelernt +und die punischen Kriege und habe Kegelschnitte berechnet, damit +mir ...“ + +„Geh’, Alter!“ Die Mutter legte ihm den Arm um den Hals. „Wenn er sie +doch +gar+ so gern hat!“ + +Aber Anton Brömmelmann dachte in diesem Augenblick nicht an den Sohn. +Er sah mit seines Geistes Augen den Vater, +seinen+ Vater voll Stolz +ein Zeitungsblatt auseinander falten. Eine ganzseitige Annonce im +Tageblatt: „Urteile von Hygienikern, Professoren, Künstlern über Anton +Brömmelmanns weltberühmte ...“ + +„Wir wollen ihm telegraphieren,“ mahnte die Mutter. + +„Ja, ja.“ + +Anton Brömmelmann ermannte sich. + +„Ich will einen -- Glückwunsch aufsetzen. Gib mir ein Stückchen +Porzellan -- wollt’ ich sagen: ein Stück Papier.“ + +Und Anton Brömmelmann sandte an die Adresse seines alten Geschäftes dem +beinah studierten Sohne seinen väterlichen Segen. + +[Illustration] + + + + +[Illustration: Der rote Esel + +Ein lyrisches Intermezzo] + + +Christian Fürchtegott Gellert hat eine sehr schöne Geschichte von einen +grünen Esel zu erzählen gewußt. Ich maße mir durchaus nicht an, mit +Christian Fürchtegott Gellert in der Kunst zu fabulieren, konkurrieren +zu können. Aber eine Geschichte von einem Esel kann ich auch erzählen. + +Gewöhnliche Esel sind, wenn ich mich nicht täusche, alle grau. +Christian Fürchtegott Gellerts Esel ist grün. Mein Esel aber ist rot. +Das mag einem Skeptiker -- und wer ist in unserer Zeit nicht Skeptiker? +-- ein bißchen unwahrscheinlich vorkommen, und Brehms Tierleben gibt +seinem Zweifel in der kleinen wie in der großen Ausgabe scheinbar +recht. Trotzdem ist, wie ich nachdrücklich bemerke, ein ungläubiges +Lächeln meiner Angabe gegenüber äußerst frivol und tadelnswert, denn +ich spreche nicht von einem wirklichen, lebendigen Esel, sondern meine +Geschichte handelt von einem Gummiesel. Und wer kann der Phantasie +eines Gummispielzeugfabrikanten Vorschriften machen? Warum, frage ich, +soll sich ein erfinderischer Kopf nicht nach Analogie eines +grauen+ +Esels auch einen +roten+ Esel denken können? + +Ja, wenn ich mir die Sache recht überlege, muß ich sagen, ein roter +Esel hat ebensogut seine Existenzberechtigung wie ein grauer Esel, +und es erscheint mir unter gewissen Gesichtspunkten als ein Loch +im Schöpfungsplan, daß diese liebreiche und gern zu Vergleichen +herangezogene Tierklasse nicht auch eine rote Spielart aufwies, als +sie im Paradiesgarten erschien. Doch lassen wir die theologischen +Spitzfindigkeiten, die uns das Vergnügen an meiner kleinen Geschichte +verderben könnten, ehe sie begonnen. + +Es gibt also einen roten Gummiesel, eine kleine und zierliche +Miniaturausgabe des ergötzlichen Haustiers. Dieser kleine rote +Gummiesel ist vor nicht allzulanger Zeit in den Besitz meiner einzigen +Erbin übergegangen, die ihre Bewunderer noch jeden Morgen empfangen +darf, wenn sie selbst in der -- Badbütte sitzt und sich damit +unterhält, ihre Umgebung so naß zu machen, als es sich in zehn Minuten +heißen Bemühens durch heftige Bewegungen zweier runder Beinchen und +zweier ebensolcher Ärmchen irgend bewerkstelligen läßt. Meine Erbin +ist nämlich noch kein Jahr alt. Und das nimmt der Historie jeden +unmoralischen Beigeschmack. + +Der rote Gummiesel ist ein sinniges Weihnachtsgeschenk, das meiner +Tochter von ihrem leiblichen Vater gemacht wurde. + +Ich hatte vier Wochen vor Weihnachten angefangen, für das damals +sieben Monate alte Baby ein passendes Präsent auszuwählen. Spielzeug +von Holz, Stein, Wolle und Papier hatte ich schon in fünf Läden prüfend +durcheinander geworfen, ohne mich für ein bestimmtes entscheiden zu +können. Mein zärtliches Vatergemüt litt nämlich unsägliche Qualen +unter der fixen Idee, daß diese Spielzeuge alle +abfärben+ müßten, +wenn das Kind sie nach Kinderart in den Mund steckte. Daß diese +Farben furchtbare Giftstoffe enthielten, war für meine Phantasie eine +ausgemachte Sache; und daß ich mein Baby durch mein Weihnachtsgeschenk +in Lebensgefahr bringen könnte, war ein Gedanke, der mir fortgesetzt +den Hirnkasten umstülpte und den kalten Schauder über den Rücken laufen +ließ. + +Einmal träumte ich sogar, ich sei des verbrecherischen Versuches +angeklagt, meinem Kind einen ausgestopften Vogel, an dem Arsenik +klebte, in den Mund gesteckt zu haben, um das Vermögen des Onkels Ignaz +allein verprassen zu können. Nun hat Onkel Ignaz zwar kein Vermögen, +aber drei Kinder, die es erben würden, +wenn+ er’s hätte. Mein Traum +war also so dumm als möglich. Aber, wenn schon ich am nächsten Morgen +meiner Frau gegenüber mein Gestöhn in der Nacht ins Lächerliche zu +ziehen suchte, gab ich doch Befehl, daß die beiden ausgestopften Möwen +von dem Schrank im Eßzimmer unverzüglich entfernt und auf den Boden +geschafft würden. + +Meine Frau sprach zwar schüchtern die Vermutung aus, das in der +nächsten Zeit unser Baby noch kaum auf den Schrank klettern werde, um +an den Möwen zu lutschen, aber ich blieb fest. Die beiden Möwen kamen +auf den Speicher; und ich bin erst vor einigen Tagen maßlos über die +dummen Vögel erschrocken, als ich die Dachfenster schließen wollte und +plötzlich die weißen, gespensterhaften Tiere unbeweglich in einer Ecke +sitzen sah. + +Weihnachten rückte immer näher. + +Es roch schon verdächtig nach verbranntem Lebkuchen, und meine Frau +duftete immer nach Zitronat, wenn ich sie küßte. Aber ein Geschenk +für mein Baby hatte ich noch immer nicht. Für die Bekleidung und den +Putz sorgten sicherlich die beiden Großelternpaare. Der unvermeidliche +silberne Löffel war ihm auch sicher. + ++Mein+ Geschenk aber sollte das Kind erfreuen, wahrhaft beglücken. +Das tut doch ein silberner Löffel nicht! Es mußte etwas ganz +Außergewöhnliches sein. + +Ich lief sehr aufgeregt mit heißem Kopf und kalten Füßen durch die +verschneiten Straßen und sann dem „Außergewöhnlichen“ nach. + +Eine Peitsche -- eine Puppe -- ein Pferdelos -- ein Glasschränkchen -- +eine Taschenuhr -- eine Gartenschippe -- eine Stehlampe -- ein Freßkorb +-- ein Kanarienvogel -- eine Niobe -- ein Tintenfaß -- ein Album -- ein +Kistchen Zigarren -- das ging doch alles nicht! Gott, was für herrliche +Präsente fielen mir ein für Nichtraucher und Raucher, für alte Jungfern +und hypochondrische Junggesellen, für Primaner und höhere Töchter, für +Kavallerieleutnants und Urgroßmütter! Nur für mein siebenmonatiges +Töchterchen fiel mir um die Welt nichts ein; und ich stand auf dem +Punkte, mir selbst einige auserlesene Grobheiten zu widmen. + +Da plötzlich geschah „das Wunderbare“, wie Ibsens Nora sagen würde. Das +Wunderbare, um das ich mich nun seit Wochen unter ernster Gefährdung +meiner Gesundheit bemühte. Mit großen, lichtvollen Buchstaben stand +plötzlich über dem Chaos in meinem Gehirn der erlösende Satz: Ich +schenke ihr einen roten Esel, einen roten Gummiesel! + +Wie diese Erleuchtung mir so plötzlich kam? Dafür gibt es eine +übernatürliche Erklärung und eine natürliche. Die übernatürliche +Erklärung lautet: „Wahre Erleuchtungen kommen immer plötzlich und von +oben,“ die natürliche aber besagt: „Ich hatte den roten Esel eben +gesehen.“ + +Ja, er stand in ganzer Wildheit und Schönheit zwischen Püppchen mit +kurzen Röcken, Hampelmännern, Klistierspritzen und anderem, teils +erfreulichem, teils nützlichem Hausgerät im Erker eines Gummigeschäfts. +Wie Romeo seine Julia liebte vom ersten Augenblick süßen Schauens an, +so wußte ich vom ersten Blick, der dieses Abbild bescheidener Sanftmut +gefunden: Dieser rote Esel ist das einzige wahrhaft würdige Geschenk, +das ein Vater seiner einzigen und darum auch ältesten Tochter machen +kann! + +Als ich in dem Laden stand, erwies sich’s, daß dem liebenswürdigen +Verkäufer das Hervorkramen des roten Freundes aus dem Erker viele +Mühe und wenig Freude bereiten mußte. Er empfahl mir darum einen +gelben Ziegenbock mit vieler Wärme, ja, er war sogar geneigt, mir zwei +Gummistöpsel drein zu geben, wenn ich mein Gelüste nach dem roten Esel +bezwingen und mich für den Ankauf des gelben Ziegenbocks entscheiden +könnte. + +Aber wer kennt die Gefühle eines Vaters, der für sein Kind den Freund +gewählt hat! Ich +hatte+ gewählt und ließ mich selbst durch die +glänzende Offerte dieses koulanten Geschäftsmannes, der elastisch war +wie sein Gummi und beständig lächelte, wie ein Äginet, nicht umstimmen. + +„Ich bitte um den roten Esel,“ sagte ich fest. + +Der Jünger Merkurs kroch nun seufzend in den geräumigen Erker. + +Sehr zur Belustigung der draußen versammelten Jugend fielen ihm +zunächst einige bunte Kopfbälle auf den Schädel und ergingen sich +dann in scherzhaften Sprüngen über den Boden. Dann trat er in eine +Bettpfanne, aus der sich der Fuß nicht ohne Schwierigkeit befreien +ließ, und stieß einige Rollen Linoleum gegen die Scheiben, was ihm +von draußen geräuschvolle Ovationen eintrug, die er mit verächtlichen +Worten ablehnte. + +Ziemlich ergrimmt, mit derangierter Frisur und sehr staubigen Händen, +aber noch immer lächelnd, entstieg er schließlich dem Schaukasten und +brachte meinen roten Esel richtig mit. + +Es stellte sich zu meinem namenlosen Entzücken heraus, daß das +seltene Gummitier, dank einer sinnreichen Mechanik, wenn man ihm den +Bauch einquetschte, sogar einen kurzen, pfeifenden +Ton+ von sich +geben konnte, der zwar jeder Lieblichkeit entbehrte, auch den Eseln +sonst nicht eigentümlich ist, aber trotzdem meinen Stolz auf dieses +merkwürdige Geschenk ins Ungemessene steigerte. + +Ein Siegerlächeln auf den Lippen, kam ich, meinen Schatz behutsam in +ein verschwenderisch großes Stück Papier gehüllt, nach Hause. + +Die Suppe schmeckte seltsamerweise heute nach Zitronat, was bei Suppen +kein sympathischer Geschmack ist. + +„Aber, Eduard, denke doch, vor Weihnachten!“ sagte meine Frau +vorwurfsvoll, da sie mein wohl nicht allzu entzücktes Gesicht gesehen. + +„Natürlich! Vor Weihnachten!“ gab ich vergnügt zurück, dachte an meinen +köstlichen Gummiesel und löffelte die Suppe, die immer noch nach +Zitronat schmeckte, bedächtig aus. + +Weihnachten kam. + +Ich hatte goldene Finger vom Nüssevergolden und ging den ganzen Tag +sehr wichtig und sehr zwecklos mit dem Christbaumanzünder im Arm mit +feierlichen Schritten umher, mich immer auf meine schwierige Aufgabe +vorbereitend. + +Eine Menge Verwandter aller Jahrgänge lief in den Zimmern eilfertig und +geräuschvoll durcheinander. Sie waren alle erschienen, um zu sehen, +„was Baby für Augen machen wird“. Ich sah ihnen aber an ihren Augen +an, daß jedes von ihnen überzeugt war, +sein+ Geschenk werde Baby am +meisten zusagen. + +Ich lächelte hochmütig. Stand doch schon der rote Gummiesel bereit, und +der -- das wußte ich, als ob’s im Katechismus stände -- war einfach +nicht zu übertreffen, einmal durch seine ureigene Schönheit, durch die +Reize von Figur und Farbe, und zum zweiten als Geschenk des leiblichen +Vaters! + +Die Sache kam leider anders! + +Baby in langem Spitzenkleidchen auf dem Arm der Mutter ins Festzimmer +eingeführt, betrachtete eine Weile mit sichtlichem Erstaunen den hohen, +lichtergeschmückten Baum -- was beide Großmütter, die in atemloser +Spannung, mir den Platz versperrend, dabeistanden, als ein untrügliches +Zeichen unerhörter geistiger Befähigung begrüßten. Dann aber griff es +seiner Mutter meuchlings in die Haare -- was sofort als Betätigung +einer in so zartem Alter bewunderungswürdigen Energie gedeutet wurde. +Und schließlich gewahrte es +mich+ und -- +lachte+. + +Ich war natürlich sehr stolz, bahnte mir einen Weg zu dem lieben +Blondköpfchen und begann ihm mit großer Beredsamkeit in zuvorkommender +Weise seine Geschenke zu erläutern. + +„Hier, mein Goldkind, die Windelhöschen von der Großmama, und hier die +hübsche Veilchenwurzel mit silbernem Griff, auch von der Großmama. +Ja, du hast eine gute -- nein, was sag’ ich, du hast +zwei+ gute +Großmamas! Hier, mein Liebling, Kleidchen von der anderen Großmama. Und +der Löffel, natürlich auch da, der schöne silberne Löffel. Und hier das +Hütchen von der guten Mama und -- ja, jetzt paß auf, mein Schatz, sieh +hier das prächtige, rote Eselchen! Das -- ist -- von -- Papa!“ + +Der Kreis der Verwandten nickte beifällig. + +„Er hat’s ganz allein ausgesucht,“ kommentierte meine Frau. + +Ein Gemurmel bewundernden Beifalls über mich und den roten Esel drang +mir wohltuend ans Ohr. + +Und das Baby? + +Ja, das war merkwürdig mit dem Kind. Nicht einen Blick warf es auf die +Herrlichkeiten, die ihm das Christkind bescherte. Es hatte auf meinem +Vorhemd den goldenen Hemdenknopf entdeckt und ging auf in Bewunderung +dieses merkwürdigen, glitzernden Phänomens. + +Ich ließ den Esel quietschen, bis meine Damen sich die Ohren zuhielten +und mein Schwiegervater mich im Namen aller Heiligen beschwor, den +Unfug sein zu lassen, weil er sonst Zahnschmerzen bekäme, noch bevor er +von unsern Lebkuchen gekostet. Das Baby aber hörte nicht auf die Töne, +sondern beobachtete unausgesetzt den interessanten Hemdenknopf, der die +Brust seines Vaters zierte. + +Als ich Miene machte, mich und damit zugleich das Objekt seiner +Bewunderung von dem Baby zu entfernen, begann das Kind ein +jämmerliches Geschrei. Beide Großmütter fanden mein Benehmen dem Kind +gegenüber „barbarisch“, eines zivilisierten Mannes durchaus unwürdig. +Und die Familie ruhte erst, als ich mich und den heißgeliebten Knopf +wieder vor das Kind postierte und mir von den naßgelutschten Fingerchen +feuchte Bahnen über meine frische Hemdenbrust zeichnen ließ. + +Hinter mir blies mein Schwiegervater die Lichter auf den Tannenzweigen +aus. Was mich sehr beunruhigte, da meine Furcht vor einem Gardinenbrand +so groß ist, daß sie sprichwörtlich in unserer Familie werden konnte. + +Bis Baby zur Ruhe gelegt wurde, hatte es nur Sinn für meinen +Hemdenknopf, den ich innerlich, obwohl er von Gold war, zu allen +Teufeln wünschte. Ich hatte den verdammten Knopf schon so +oft+ +getragen, ohne daß Baby geruhte, ihn zu bemerken. Und nun gerade an +Weihnachten mußte dieser alberne, protzige Kerl da auf meiner Brust dem +Kinde ins Auge stechen! +Zu+ dumm! + +Einsam und verlassen aber stand drin im Bescherzimmer unter dem +Tannenbaum mein Stolz, meine Freude, mein genialer Einfall, mein Retter +aus Nöten, mein außerordentliches Festgeschenk, diese Seltenheit mit +Musik: der rote Gummiesel ... + +Für jeden, der logisch denken gelernt hat, ist es ganz +selbstverständlich, daß ich an den folgenden Festtagen den miserablen +Knopf durch eine üppige Krawatte verdeckte und das Baby nunmehr mit +seinem roten Esel zu befreunden suchte. Ich ahnte nicht, welchen +Schmerz mir das ungetreue Tier, das ich ins Herz meiner Tochter zu +schmeicheln emsig bemüht war, noch bereiten sollte! + +Baby machte in diesen Tagen die ersten Sprechversuche. Mutter und Vater +lauschten verhaltenen Atems entzückt dem endlosen Kauderwelsch, das +von dem lieben Kindermäulchen aus den einfachen Silben „Pa“ -- „Ma“ +und „Da“ zusammengesetzt wurde. Im Wägelchen lag die Kleine unter dem +Christbaum, fast selbst wie ein niedliches Christgeschenk, und übte +sich ohne Ermüden in ihrer Sprache, die allerdings noch für den Satz +des Fürsten Talleyrand, daß die Sprache dazu da sei, die Gedanken zu +verbergen, als Beweis angeführt werden konnte. + +Ich benutzte meine freie Zeit eifrig dazu, dem Baby beizubringen, +die schwierige Silbe „Pa“ ohne jede Beimischung anderer phonetischer +Kunststücke zweimal, nur zweimal, rasch hintereinander zu setzen, +wodurch das Wort „Papa“ entstehen sollte. Leider ging das +autodidaktische Bestreben des kleinen Dickkopfs lange seine eigenen +Wege; entweder wiederholte das Baby die verlangte Silbe ~ad infinitum~ +oder es stieß sie zum mindesten fünfmal rasch hintereinander hervor. +Beides war unerwünscht. + +Da ließ endlich mein erfinderischer Geist den roten Gummiesel in die +Belehrung und Erziehung tätig eingreifen. Immer wenn das schöne Wort +beginnen und wenn es enden sollte, ließ ich den Esel durch energisches +Eindrücken seiner Bauchwände mörderisch aufquieksen, und siehe da: es +ging! Baby sagte deutlich: „Pa--pa“. + +Das heißt, eigentlich war die Sache so: „Quieks“ machte der Esel, +„Pa--pa“ begann das Kind, „Quie--i--i--i--i--ks“ endigte der Esel. Das +Baby staunte und schwieg. So ward das Wort Papa geboren! + +Überrascht und hochbeglückt von dem Erfolg kam ich mit meiner Frau +überein, daß die beispiellose Gelehrsamkeit unseres Kindes noch heute +einem größeren Kreis von Verwandten demonstriert werden müsse. In einer +Großstadt hat man seine Leute ja rasch beisammen! Wozu hat man das +Telephon? + +Schon nach einer halben Stunde waren, obgleich ich mich einmal +irrtümlich längere Zeit mit einem Sargmagazin und ein anderes Mal mit +einem Schweinemetzger, der sehr grob war, verbunden sah, so ziemlich +alle Verwandten zum Tee geladen, mit Ausnahme einer alten Tante, die im +gewöhnlichen Verkehr sehr wenig und am Telephon gar nichts hörte, wenn +schon sie leidenschaftlich gern telephonierte. Diese Tante suchte ich +per Droschke auf und auch sie versprach zu kommen. + +Es war ordentlich feierlich, als wir in zwei dichten Reihen am +Nachmittag gegen 5 Uhr um Babys gelben Korbwagen standen. + +Ich hatte meinen Platz ganz vorne genommen und wurde von allen sehr +respektvoll behandelt. War ich es doch, der dieses erstaunliche +Erziehungsresultat erzielt hatte und die Vorführung leiten sollte. + +Ich befahl allen durch eine gebietende Handbewegung lautlose Stille an +und bat meine Frau, mir den Gummiesel vom Tisch zu reichen, den ich in +meiner Vergeßlichkeit dort hatte liegen lassen. + +„Der Gummiesel, wo ist der Gummiesel?“ ging es durch die Zuschauer. + +Mein Schwiegervater aber machte die unnütze Bemerkung: „Braucht’s denn +den roten Gummiesel, um -- Papa zu sagen?“ + +Ich weiß nicht warum, aber dieser Ausspruch berührte mich peinlich. +Doch wurde ich rasch wieder sehr vergnügt gestimmt, als das auserlesene +Kunststück über alles Erwarten prächtig gelang. + +„Quieks“ machte der Esel, „Pa--pa--“ begann das Baby, +„Quie--i--i--i--i--ks“ endigte der Esel in schrillem Mißklang rasch den +kurzen, aber ergötzlichen Dialog. + +Man beglückwünschte mich stürmisch, küßte mich und das Kind mit viel +Gefühl, bis das Kind schrie und ich große Lust hatte, auch zu schreien. + +Ein bildschöner Dompteur in fleischfarbenem Trikot und +Schuppenpanzerhöschen kann nicht +so+ gefeiert werden, wenn er nach der +Dressur den Käfig der Löwen und Königstiger verläßt, die auf seinen +Wink durch brennende Pechreifen gesprungen sind. + +Ich war maßlos stolz auf das Kind, auf mich und auf den roten Esel. + +Nach dem Tee zog mich mein Schwiegervater mit feierlichem Ernst in eine +Fensternische. + +„Sag’ mal, Eduard,“ begann er in einem fast beleidigend mitleidigen +Ton, „glaubst du, daß das Kind auch ‚Papa‘ sagt, wenn es den -- ++andern+ nicht sieht?“ + +„+Welchen+ -- andern?“ + +„Nun, den roten Gummiesel.“ + +Ich erschrak, faßte mich aber sofort wieder, und den alten Herrn mit +einer entrüsteten Armbewegung in den Blumentisch schiebend, ging ich an +ihm vorbei und sprach nur die geflügelten Worte: „Es lernt’s!“ + +Das war nun leider eine Täuschung meinerseits. + +Der alte Herr hatte recht gehabt, wie ich am nächsten Morgen erfahren +sollte. Ich hätte es gern noch am Abend erprobt, aber meine Frau +überzeugte mich von der Ruchlosigkeit meines Vorhabens, dem armen Kind +am späten Abend „noch das Gehirn anzustrengen“. Am nächsten Morgen +aber, wie gesagt, stand ich nach wenig erquicklicher Nacht früher auf +und probierte. + +Richtig, das Baby sagte zu dem roten Esel „Papa“, sobald es seiner +ansichtig ward. Mich aber ignorierte es gänzlich, wenn ich allein kam. +Ja sogar mein goldener Hemdenknopf machte keinen Eindruck mehr. + +Tief bekümmert zog ich meine Frau ins Vertrauen. + +Ich war sehr niedergeschlagen und kam mir nicht anders vor, als der +unglückliche König Midas, da ihm die Ohren erstaunlich über den Kopf +wuchsen. + +Meine Frau zweifelte noch. Ein Versuch erwies die unumstößliche, +traurige Wahrheit. + +Wir beratschlagten und sprachen dabei französisch, was zwar die +Verhandlungen nicht vereinfachte, aber immerhin die Garantie bot, daß +unser Kindermädchen, das ab- und zuging, nicht hinter das peinliche +Geheimnis kam. + +Zunächst -- darin waren wir einig -- mußte das Baby dieses bedauerliche +Kunststück wieder verlernen. Dazu war eine sofortige Verbannung des +roten Esels die erste, die unerläßliche Bedingung. Dann mußten die +lieben Anverwandten beruhigt werden, die den Repetitionen zweifellos +häufig beiwohnen wollten. Und endlich mußte meinem Schwiegervater eine +Erklärung an Eides Statt abgenötigt werden, daß er lieber sich die +Zunge abbeißen, als die Geschichte von dem roten Esel am Stammtisch zum +besten geben wollte. + +Diese drei Verhaltungsmaßregeln wurden denn auch befolgt. + +Zur Verwunderung der lieben Anverwandten hatte Baby plötzlich +das schwierige Wort wieder vergessen, und der rote Esel war -- +seltsames Zusammentreffen -- zur selbigen Zeit auf rätselhafte Weise +verschwunden ... + + * * * * * + +Wenn ich im verborgenen Schubfach meines Stehpultes zuweilen den +vergeblichen Versuch mache zu „ordnen“, fällt mir immer der rote Esel +in die Hände. + +Die Gefühle des Ärgers und der Enttäuschung sind im Herzen verflogen, +und ich versenke mich lächelnd in den Anblick des seltenen Tieres. Ich +beschaue es mit jener behaglichen Freude, wie sie die Erinnerung an +überstandene schwere Prüfungen zu schenken liebt. + +Wenn dann aber plötzlich nebenan die Stimme meines Babys ertönt, +dann klappe ich den Pult zu wie ein ertappter Verbrecher, spähe nach +allen Seiten umher, ob auch niemand meine Gedanken belauscht hat und +betrete dann mit gut gespielter Ahnungslosigkeit, die Hände in den +Hosentaschen, einen Walzer pfeifend, das Kinderzimmer. + +Baby streckt die lieben, dicken Händchen nach mir aus und ruft: „Papa!“ + +Ich aber lächele verschmitzt und bin stolz, daß ich doch recht +hatte, als ich meinen Schiwegervater in den Blumentisch drückte und +zuversichtlich behauptete: + +„Es +lernt’s+!“ + +[Illustration] + + + + +[Illustration: Des letzten von Birkowitz letztes Fest] + + +„... und schließlich: man bekommt doch nicht Kinder, bloß um ihnen +Gutes zu tun.“ + +Damit schloß er immer seine Beweisführung gegen seine eigene +ungestillte Sehnsucht nach lebendiger Jugend, nach Nachwuchs, nach +Menschlein mit stahlblauen Augen, wie er, und seinetwegen auch mit der +klassischen Nase seiner Frau. + +„Man hat ja überhaupt gar keine Ahnung, wie sie wachsen und sich +entwickeln werden. Sind es Jungens -- pfui Deubel, das verdammte Latein +und später ’nen Ekel von Oberst, saudumme Rekruten und hartmäulige +Remonten ... Denn Kavalleristen müssen die Kerls werden. Versteht sich! +Und sind es Mädels, dann diese dämliche Erziehung mit Christkind und +Klapperstorch und französischer Konversation; und nachher wegen eines +aufgewirbelten Schnurrbarts und eines kecken Männerlachens hinter +gesunden Zähnen geht so was -- natürlich nach obligatem Vatersegen, +Trauung und Hochzeitsschmaus im Kaiserhof zu 25 Mark das trockene +Kuvert -- auf und davon. Irgendwohin ans andere Ende der Welt. Und +schließlich ein verzweifelter Brief: Der Kerl trinkt und verjuckert +die Mitgift; und die ganzen schönen Manieren waren bloß Politur des +Bräutigams, hinter der ein roher Rüpel steckte ...“ + +Klaus Joachim von Birkowitz konnte ganz wütend werden, wenn er sich so +ausmalte, in wie rüde Hände eines seines Töchterlein, die er gar nicht +hatte, fallen konnte. + +Man erspart sich vieles und -- den andern, das war das Ende seiner +philosophischen Betrachtungen in dieser Richtung. Und der Name? Pah, +die Mädels hätten ihn doch abgestreift wie ’nen alten Handschuh, +umgetauscht ohne zu muxen. Oder in einem Damenstift erlöschen lassen. +Und die Jungens -- weiß der Himmel, ob die verdammten Bengels das +Wappen noch blank gehalten hätten. Er hatte neulich mal eine Statistik +gelesen über den Prozentsatz der Adligen in der Sozialdemokratie. Und +wenn alle die Adligen Kellner und Schuhputzer europäischer Abkunft, +von denen die demokratischen Zeitungen alle paar Wochen hohnlächelnd +berichteten, wirklich da drüben auf dem üblen Proleten-Kontinent +existierten, dann war es schlechterdings unmöglich, sich zwischen +Neufundland und Kalifornien die Stiefel auch nur ein +einziges+ Mal von +einem Bürgerlichen wichsen zu lassen. + +Das fehlte gerade noch, daß der letzte Enkel jenes Klaus Bitterolf von +Birkowitz, der bei Malplaquet, durch die rechte Hand geschossen, die +Zügel mit den Zähnen nahm und am Prinzen Eugen vorbei als erster in die +Franzosen ritt, irgend so einem dickwanstigen Bierbrauer von St. Louis +für ein schäbiges Trinkgeld die Unterhosenbändel in die Zugstiefel +stopfte! ... + +Manchmal kam ihm ja auch der schüchterne Gedanke, diese Söhne seines +Blutes, zu deren Lieferung sich seine Gattin Ethel in langer, +chancenreicher Ehe nicht entschließen konnte, wären bedeutende Menschen +geworden, Kriegshelden, wie jener Klaus Bitterolf von dem Malborough +-- sogar auf englisch! -- nach der Schlacht gesagt haben sollte: „Wie +geht es Ihnen, mein Braver?“ Oder -- hier war seine Phantasie schon +unsicherer -- große, verdienstvolle Gelehrte, wie jener allerdings +einer Nebenlinie entsprossene Hans Christoph von Birkowitz, der +laut verläßlicher Chronik zu Marburg dabei stand, als Dionys Papin +den nützlichen Papinschen Topf erfand. Bei welcher Gelegenheit dem +helfenden Schüler allerdings ein splitternder Teil des den Topfdeckel +verschließenden Bügels ins Auge gesprungen sein soll, so daß er auf +dem einzig erhaltenen Kupferstich mit einer unschönen Binde über +dem rechten Auge dargestellt erscheint. Und wenn Klaus Bitterolf +von Birkowitz sich des entstellten Gesichtes dieses ruhmreichen +Ahnherrn entsann, so war er dem Himmel wieder dankbar, der es seinen +Söhnen verwehrt hatte in die Erscheinung zu treten und aus ererbter +unstillbarer Wißbegier gefährlichen Experimenten sehr berühmter aber +auch sehr herzloser Gelehrter persönlich beizuwohnen. + +Wenn er jemals Ethel gegenüber etwas merken ließ von jenen so stillen +wie unerfüllten Wünschen nach Kindern, gleichviel welchen Geschlechts +und welcher Veranlagung, so pflegte die Gattin an ihrem Halse zu +fühlen, ob die Brosche noch saß, die Ringe an der sorgfältig gepflegten +Hand spielen zu lassen und mit schelmischem Lächeln zu trösten: + +„Aber geh, schau, du hast doch den Tobby!“ + +Und das war richtig, er +hatte+ den Tobby. + +Und es war auch keinerlei Gefahr, daß er den Tobby eines Tages +nicht+ +mehr haben könnte. Denn Tobby war einfach unsterblich. Unsterblich im +Sinne der Königin von Frankreich. „~Le roi est mort -- vive le roi!~“ + +Tobby war ursprünglich ein Wachtelhündchen gewesen, das Klaus Bitterolf +von Birkowitz seiner Braut Alice Sternheim -- die sich aus nie recht +aufgeklärten Ursachen vom Tage ihrer Verlobung mit dem hübschen, +schlanken Kürassierleutnant „Ethel“ nennen ließ -- als Brautgeschenk +verehrt hatte. Ein mehr gut gemeintes als nützliches Präsent, da +Tobby, der in minder vornehmer Umgebung, nämlich im Stall eines +Droschkenkutschers aufgewachsen war, die Perserteppiche der Wohnung +des Bankiers Sternheim mit Vorliebe zur Erledigung von unerfreulichen +Geschäften benutzte, deren Besorgung in einem Pferdestall weniger +peinlich auffällt. + +Während Klaus Bitterolf von Birkowitz mit Ethel auf der Hochzeitsreise +war und ihr mit leise vom Gähnen zitternden Nasenflügeln aus einem +gewissenhaften Katalog die Schätze der Uffizien vorlesend erläuterte: +Filippo Lippi, Sandro Boticelli, Fra Angelico, Fra Bartolomeo und +von einer thronenden Madonna zur anderen ging, wurde Tobby bei +einem Oberförster a. D. ernsthaft zur Stubenreinheit erzogen. +Als die Jungvermählten wiederkamen, die Köpfe voller Namen von +Pallazi, Meisterwerken und Nationalgerichten, und in den Kleidern +den Weihrauch sämtlicher Kirchen von Florenz, Bologna, Ferrara und +Venedig, empfing sie Tobby auf den Hinterfüßen zwischen zwei kostbaren +Blumenarrangements im Salon sitzend, ein Seidenband um den Hals, ein +vom Schwiegervater selbst -- bezahltes Gedicht im Maul und im einzelnen +und ganzen das erfreuliche Bild der angenehmsten Wohlanständigkeit. + +Tobby blieb Hausgenosse in der jungen Ehe, bis er -- im neunten Jahre +seiner Zugehörigkeit zum Haushalt -- Spuren lästigen Alters zu zeigen +begann. Ethel aber hielt das Alter bei Menschen und Tieren für etwas +unanständiges, dessen Anblick sich das in Jugendfröhlichkeit genießende +Geschlecht durchaus fernhalten müsse. Und als es selbst Klaus Bitterolf +von Birkowitz nicht mehr leugnen konnte, daß Tobby, dessen Gesicht +nachließ, den Besuchern, deren es viele gab, wider die Beine lief +und zu Zeiten, besonders bei Regenwetter, einen recht üblen Geruch +verbreitete, willigte er schweren Herzens in seine Entfernung. + +Er wurde einem Nähfräulein geschenkt, die selbst über die Blüte der +Jahre hinaus war, an Tobbys lauten Träumen und starkem Tierparfüm +keinen Anstoß nahm und sich durch eine rührige in den Gesindestuben +betriebene Agitation gegen die Vivisektion als zuverlässige Pflegerin +des Alternden empfahl. + +Am selben Tage aber, da Tobby I, ahnungslos und durch ein Schinkenbrod +listig bestochen, dem alten Fräulein in die Droschke folgte, zog Tobby +II bei Birkowitzens ein. In Gestalt eines afrikanischen Windhundes, +der gar keine Haare auf der schwarzen Haut hatte, und immer, selbst im +Hochsommer, mit eingekniffenem Schwanz, hängenden Ohren und zitternden +Beinchen den Anschein erweckte, als sei er eben dabei zu erfrieren. +Tobby II wurde nach sieben Jahren schon -- aus ähnlichen Gründen, wie +Tobby I -- dem Zoologischen Garten geschenkt, der ihn im geheizten +Raubtierhaus einer jungen Löwin zum Gespiel gab, die ihn zunächst +innigst liebte und zwei Monate später das Spiel mißverstand und bloß so +aus Spaß auffraß. + +Tobby III war ein Köter unbestimmbarer Rasse, der angeblich aus Island +stammte, aber eigentlich nur durch zwei Merkwürdigkeiten auffiel: durch +seine phänomenale Dummheit und seine Vorliebe für rohes Obst. + +Als er am Kern einer gemausten Aprikose erstickt war, wurde er durch +Tobby IV ersetzt, einen Skye Terrier, der sehr häßlich und sehr teuer +war, da er angeblich wundervoll für die Otterjagd dressiert war; +eine Kunstfertigkeit, die er leider in den Birkowitzschen Salons +nicht verwerten konnte. Ein Lyriker, der zu jener Zeit viel im Hause +verkehrte und für Ethel geradezu wahnsinnige „Kostümträume“ (wie er das +nannte) entwarf, verfocht die Ansicht, daß Tobby in einer instinktiven +Einsicht seinen Beruf verfehlt zu haben Selbstmord beging, als er -- +wie andere behaupten, aus blinder Gefräßigkeit -- unter den schweren +Wagen einer renommierten Delikateßhandlung kam und vom Hinterrad +erledigt wurde. + +So löste ein Tobby den anderen ab. Immer ein junger Tobby kam für +den Alternden. Und die Gefahr einer Konkurrenz durch eine plötzliche +Bevölkerung der Kinderstube schwand immer mehr. Denn, so wenig das +Ethel für sich und den Gatten zugeben wollte, auch die Birkowitzens +wurden alt. + +Im dritten Jahre ihrer Ehe hatte Klaus Bitterolf beim Begräbnis seines +Schwiegervaters böses Pech gehabt. Während er als Leidtragender hinter +dem Sarge in Paradeuniform durch die Gräberreihen schreitend überlegte, +ob der alte Herr wirklich, wie man sagte, in letzter Zeit eine Million +an chilenischen Gruben verloren hatte, verwickelte er sich mit einem +seiner Sporen in die riesige Atlasschleife eines am Boden liegenden +Kranzes, auf der „Ruhe sanft -- auf Wiedersehen!“ gedruckt stand. Er +fiel hin und brach sich den rechten Fußknöchel. + +Als der Gipsverband acht Wochen später gelöst wurde, erwies es sich, +daß das rechte Bein ein wenig kürzer und außerdem eine Schwäche +zurückgeblieben war, die Klaus Bitterolf zwang, sich beim Gehen eines +derben Stockes zu bedienen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den +Abschied zu nehmen. Ein paar Monate behielt er noch seine Reitpferde +und dachte daran, sich sportlich zu betätigen. Als aber Schwäche und +Schmerz im Knöchel beim Reiten sich mehrten, schrieb er seufzend mit +seinen geraden, riesigen Buchstaben auf einen wappengeschmückten Bogen +die Worte: „Drei vortrefflich zugerittene Offizierspferde, arabische +Stute, Fuchswallach und tadellos schönes Halbblut sofort preiswürdig +abzugeben ...“ Dann trat er in den Verein für heraldische Forschung, +den Exlibrisverein und die Gesellschaft für Familiengeschichte ein +und beschloß, sich ganz den Studien auf diesem Gebiete und der damit +zusammenhängenden Sammellust zu widmen. + +Wenn er an seinem Erkerfenster in der Kaiserallee saß, alte +Schutzbriefe und Diplome aus dem Familienarchiv behutsam entfaltete und +unter die Lupe nahm oder in älteren Jahrgängen des Gothaschen Kalenders +einem verschollenen Vetter nachspürte, so schmerzte ihn der Knöchel +nicht. Und die Gesellschaft Tobbys, der zu einem warmen, zuckenden +Klümpchen gerollt auf dem alten Plüschkissen im Lehnstuhl gegenüber +lag, genügte ihm vollkommen. Ja, sie war ihm, ehrlich gesagt, lieber +als die Gesellschaft seiner Frau, die ihn mit dem endlosen Programm +ihrer täglichen Vergnügungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen +aufregte ... + +Als Ethel noch Alice hieß, hatte sie den in der weiblichen Linie des +mit Glücksgütern reich gesegneten Hauses Sternheim nicht seltenen +Traum geträumt: ein Leutnant. Sie lernte französisch plappern, las erst +Racine später Alphonso Daudet und dachte an einen Leutnant. + +Sie langweilte sich bei Goethes Tasso und übte Klavier und dachte an +einen Leutnant. + +Er hatte noch kein bekanntes Gesicht und eigentlich auch noch keine +bestimmte Uniform. Nur Sporen klirrten deutlich durch ihre Träume. +Infanterie war gewöhnlich. Fast schon Schutzmänner, kam ihr vor. +Fuchsjagden in roten Röcken, Morgenpromenaden auf dampfenden Schimmeln +im Park, Besuche im eleganten Coupé, abends Gäste mit wunderschönen +Namen, aufgeführte Dramatiker, Exzellenzen, verbotene Romanziers, +preisgekrönte Bildhauer, vergötterte Tenöre, fette Finanzkönige -- und +zwischen tief, tief ausgeschnittenen Frauen, die sie alle beneideten, +das silberne Klingeln der Tanzsporen. Der eleganteste -- +er+. + +Nicht daß sie sich ihm lieberöchelnd an den hohen gelben oder roten +oder goldgestickten Kragen werfen wollte! Behüte, sie war kühl und +anständig. Und bei all ihren Träumen hätte „Mademoiselle“ ganz gut +dabei sein können und ihren Tauchnitz lesen. „Er“ war nur Mittelpunkt +der Dekoration für sie, war -- sie wußte das -- der notwendige Faktor +zu all den anderen. „Er“ hatte die huldvoll erteilte Erlaubnis, sehr +erfreut zu sein, daß sie so schön war; daß sie solche Zauberfeste +arrangieren konnte, daß so viele berühmte Männer sich über ihre kleine, +weiße Hand beugten, um ihre Schnurrbarthaare respektvoll auf die +rosigen, blühenden Nägel zu drücken. Und zwischen einem feschen Wiener +Walzer und einer schmelzenden Arie, der unbezahlbaren Soundso oder +zwischen einem herrlichen Violonsolo des weltberühmten Dingskirch und +einem ausgelassenen Kontertanz durfte „er“ -- sporenklingelnd -- auf +sie zukommen, ihr leicht die erhitzte Wange klopfen und fragen: „Bist +du glücklich, Kind? Amüsierst du dich?“ ... + +Denn glücklich sein und sich amüsieren waren für ihr törichtes Herzchen +Begriffe, die restlos ineinander aufgingen. + +Und dann +kam+ „er“. + +Natürlich waren vorher schon andere gekommen. Schlaue, Treuherzige, +Verliebte, die wußten, daß sie des Bankiers Sternheim einzige Tochter +war, daß sie Walzer tanzen konnte -- auch links herum -- eine +feine, zierliche Taille und feste, runde, weiße Arme hatte und in +der Konversation schließlich nicht mehr Dummheiten sagte, als ihre +magere, sommersprossige Cousine. Und diese, der Stolz und Abgott der +Sternheimschen Familie, war voriges Jahr Baronin geworden; und ihren +tadellos gekleideten Gatten traf man bei allen Gesellschaften nach +zwölf Uhr mit offenem Munde schlafend im Rauchzimmer. + +Aber alle die anderen hatte des Bankiers Sternheim einzige Tochter +dankend abgelehnt. Des einen Katholizismus war ihr zu neu und +unbegründet. Des anderen weiterer Familienkreis schreckte sie durch +Zahl und schlechte Manieren. Eines dritten Persönlichkeit konnte sie +sich absolut nicht auf dem hohen Bock eines Kutschierwagens oder im +roten Frack auf herbstlichem Felde denken. Endlich kam „er“ mit dem +hohen Wuchs, den schlanken Händen und der leichten, ungezwungenen +Galanterie des geborenen Aristokraten. „Meine Tante die Reichsgräfin +...“ „mein Onkel Exzellenz“. Das kam so natürlich heraus, wie wenn +andere sagten: „Mein Vetter in der Schillerstraße“, „mein Schwager in +Ratzeburg“. + +Dann hatte er eine nachlässige Art, mit den langen, gesunden Zähnen +Kakes zu knabbern, und lachte so wunderhübsch ehrlich, wenn von Dingen +die Rede war, die er nicht verstand. Und das kam oft vor. Und dann +natürlich das leise, silberne Sporenklingeln ... + +Dann war der Tag gekommen, an dem er zuerst mit Papa sprach, später +mit ihr. Korrekt und mit einem leisen Unterton von Gefühl. Eine Stunde +später schickte er einen wunderhübschen Strauß Marschalnielrosen. +Sie ließ die Friseuse kommen, probierte eine neue, etwas würdigere +Frisur, beschloß sich von heute an „Ethel“ nennen zu lassen und +entwarf Tischordnungen für das Verlobungsessen. Wobei sie immer wieder +leise vor sich hin sagte: „Meine Tante, die Reichsgräfin ...“ „mein +Onkel Exzellenz“. Und sie lächelte dazu das bräutliche Lächeln dieser +Kreise, denen sie nun angehörte. Dann überlegte sie, an welcher Ecke +der Tafel man den unbequemen Onkel Oskar verstecken könnte, der so +unwahrscheinlich große Brillantknöpfe im Vorhemd trug und immer die +dumme Geschichte erzählte, wie er als jüngster Kommis im Bankhaus +Seligsohn den alten Fürsten Lichtenstein, der ihn zu duzen wagte, ++wieder+ geduzt hatte. + +Klaus Joachim war ein guter anständiger Kerl. Er war froh, als die +Verlobungszeit, die seiner Familie mancherlei heftige Vertraulichkeiten +von Seiten der neuen Verwandten eingetragen hatte, vorüber war. Über +das Glück hatte er niemals intensiv nachgedacht. Einmal, als er sich +-- es war kurz vor seinem Sturz über die Ruhesanftschleife -- bei +einem amerikanischen Zahnarzt, der für vieles Geld sehr wenig Deutsch +sprach, einen Vorderzahn mit Gold plombieren lassen wollte und im +Wartezimmer mit anhören mußte, wie eine alte Dame im Operationszimmer +nebenan wehklagend die Stunde ihrer Geburt verfluchte, blätterte er, +um sich auf angenehmere Gedanken zu bringen, in einem abgegriffenen +Sentenzenbüchlein. Und er fand darin neben minder verständlichen +Sprüchen das gute Wort: „Das Glück liegt im Geschmack, nicht in der +Sache.“ + +Das ging ihm nicht mehr aus dem Kopf; und sein eigenes Leben an dieser +Sentenz messend, fand er, daß er im Besitze einer so hübschen und +lebenslustigen Frau gewiß nicht unglücklich zu nennen sei. Als es dann ++nach+ dem Unfall mit Sport und anstrengenden Festlichkeiten für ihn +Essig war; als er sich mehr auf eine einsame Pflege seiner künstlich +gezüchteten Liebhabereien zurückzog und Tobbys nicht aufregende +Gesellschaft einem Saale, mit Menschen gefüllt, die krampfhaft +Amüsement heuchelten, vorzuziehen begann, da erschien ihm sein von +anderen viel und laut beneidetes „Glück“ etwas dünn. Manchmal lästig. + +Ethel hatte die Leidenschaft, gestützt auf ihren klingenden Namen, +ihre hübsche, biegsame Erscheinung und die erfreulichen Zinsen des +vom Vater für die nie erschienenen Enkel festgelegten Kapitales, ein +Haus zu machen. „Herr und Frau von Birkowitz geben sich die Ehre ...“ +-- kleine und große gedruckte Karten, die also begannen, steckten an +unzähligen Spiegeln flotter Kavaliere. Der Träger eines alten Namens +oder der kecke Eroberer eines neuen Namens konnte solcher Einladung +auf die Dauer nicht entgehen. Irgendwo traf ihn „die schöne Frau von +Birkowitz“. Irgendwo machte sie ihm, gütige Blicke unter langen, +ein wenig getuschten Wimpern sendend, sanfte Vorwürfe, daß er noch +nicht bei ihr Besuch gemacht. Irgendwie wußte sie eine sinnreiche, +verpflichtbare Beziehung aufzustöbern zwischen seinem Hause und der +Familie derer von Birkowitz. Irgendwann erschien der also Eingefangene +dann, bekam ein Miniaturtäßchen aromatischen Tees, ein köstliches +Löffelchen russischen Kaviars und hatte die Freude, mindestens einen +kurzsichtigen Modeprofessor, einen schweigsamen Modemaler, eine sehr +laute Exzellenz und -- wenn er Glück hatte -- einen urlangweiligen +Kammerherrn oder gar einen lebendigen Prinzen aus einer um viele Ecken +gegangenen Nebenlinie zu treffen. + +Zwischen allen diesen ausgesucht distinguierten Besuchern schwebte in +einem zwar erlernten aber kleidsamen Tanzschritt die schlanke Hausfrau +umher. Der Ausschnitt tiefer vorgerückt, als die Tageszeit. Sie führte +eine Konversation, die an tausend Dingen nippte, vom Spiritismus bis +zum neuesten amerikanischen Tanz, von der Säuglingswohlfahrt bis zu +den dressierten Eisbären, von der letzten kleinen Eheirrung in guten +Kreisen bis zum Bazar für die Wärmehallen. Sie verstand im Grunde von +allem dem gleich viel, heißt das gleich wenig, aber sie hatte eine +wundervolle Spürnase für alles, was Stoff zu flüchtiger Unterhaltung +oder Vorwand für ein Wohltätigkeitsfest hergab. Und zuweilen traf +man norddeutsche Pastoren, italienische Monsignori, seltener sogar +österreichische Rabbiner bei ihr, die alle in gleicher Weise von ihrer +Nächstenliebe entzückt waren. + +An solchen Tagen trug sie ein geschlossenes Kleid, sehr wenig Schmuck +und einen Zug unendlich schlichter Güte um den hübschen Mund. Es gab +dann weniger Kaviar und mehr erbauliche Gespräche; und sie hatte eine +interessierte Art den langweiligsten statistischen Angaben zu lauschen, +die einen Apostel selber entzückt hätte. + +Kurz ehe der Anstand den Gästen gebot, sich zu empfehlen, erschien +dann der Gatte, Klaus Joachim, auf einen Ebenholzstab mit schlichter +Silberkrücke gestützt und von dem gerade in Gunst stehenden Tobby +begleitet. + +Ethel stellte ihm, ihren runden Arm mit graziöser Zärtlichkeit in +den seinen legend, die ihm noch unbekannten Gäste vor, über deren +Anwesenheit er sich unendlich erfreut zeigte, und deren Namen er sofort +wieder vergaß. + +Sie schmierte ihm selbst ein Brödchen -- halb Kaviar halb Anchovis -- +wie er es angeblich für sein Leben gern aß, obschon er selbst niemals +eine diesbezügliche Mitteilung gemacht hatte; teilte ihm die nächsten +Pläne für Feste, lebende Bilder, musikalische Abende oder Bazare mit +und versicherte den Anwesenden, daß ihr lieber Klaus Joachim, wie ++sie+ ihn kenne, von dieser Stunde an seine ganze freie Zeit der +Ausgestaltung des wunderherrlichen Programms widmen werde. Sie erzählte +dabei in charmanter Neckerei allerlei originelle kleine Züge, die des +Gatten glühendes Interesse an all diesen Dingern hübsch illustrierten. +Der also Gelobte aber saß mit verlegenem Lächeln dabei, streichelte +Tobbys Fell und war immer wieder tief erstaunt über die unheimliche +Leichtigkeit, mit der diese niedliche, lebhafte kleine Frau die +kecksten und dreistesten Lügen aus der frischen Luft griff. + +Dabei war Ethel durchaus anständig. Die erschreckendsten Klatschbasen, +für die der gute Ruf anderer kaum den bescheidendsten Respecktswert +hatte, wußten ihr nichts nachzusagen. Sie bevorzugte zuweilen einen +Kavalier wenn er gut im Frack aussah, neue Kunststücke mit Talern +und Apfelsinen verrichten konnte, eine fünfzackige oder gar eine +geschlossene Krone auf der silbernen Zigarettendose trug und von einer +Reise um die Welt mit so kühler Ruhe sprach, wie andere von einem +Ausflug nach Helgoland oder Rügen. Auch ein Dichter oder Künstler, +mit dessen Namen die Zeitungen gerade Fangball spielten, konnte aus +der Art wie sie ihm Rum in den Tee goß und vom Ruhm als „der Güter +höchstem“ ein gefühlvolles Wort sprach, vielleicht annehmen, daß er in +begnadeter Stunde ihrem Herzen näher sein werde als andere. Aber solche +„begnadeten Stunden“ kamen schließlich für keinen. Es war immer ein ++dritter+ dabei, irgend eine störende Null mit einem klangvollen Titel, +einer interessanten Vergangenheit oder einer Zukunft; eine Exzellenz, +ein Sportsmann oder ein Komödiant. Und später kamen Klaus Joachim und +Tobby. + +So gingen die Jahre für Ethel hin als eine Reihe von Festen, nur durch +einige ärgerliche Kinderkrankheiten unterbrochen, die sie in der Jugend +durchzumachen verabsäumt hatte, und die ihr nun Gelegenheit gaben +sehr neckische Negligés zu tragen, dankbar an vielen von Freunden +gesandten Blumengrüßen zu riechen, und als blasse Rekonvaleszentin mit +melancholischem Lächeln, das ihr gut stand, von ihren Todesgedanken zu +plaudern und von verschiedenen sentimentalen Bestimmungen, die sie den +beiden Schwestern vom roten Kreuz -- sobald sie sich unwohl fühlte, +ließ sie zwei Schwestern kommen -- in einer entsetzlichen angstvollen +Nacht diktiert haben wollte. + +Aber selbst an ihre zu Festen und Lebensgenuß prädestinierte Natur +machten die Jahre ihre Rechte geltend. Und je mehr sie fühlte, daß ihr +die Jugend sacht entglitt, um so krampfhafter klammerte sie sich an +die äußeren Zeichen und Enbleme der tückisch Fliehenden. Das Rot der +Wangen war längst nicht mehr ganz echt, die Haare wurden öfters diskret +gefärbt und die Korsetts hatten mehr Mühe, die vorhandenen Formen auf +das richtige Maß einzuschnüren und elegant zu verteilen. + +Die verspätete Kindlichkeit, die der jungen Frau einen entzückenden +Schimmer von Naivität gegeben, und die nun noch immer nicht von der +Zurechtgemachten und Gemalten weichen wollte, mischte in ihr Wesen +eine reichliche Portion Albernheit. Sie fühlte selbst, daß jetzt +manchmal ihre Gäste nicht mehr +mit+ ihr sondern +über+ sie lachten. +In krampfhafter Angst, etwas von dem geräuschvollen Drum und Dran +ihres ganz auf Äußerlichkeiten gestellten Lebens zu verlieren, +verstärkte sie jetzt die Genüsse, die der opulente Haushalt zu bieten +vermochte. In dem Maße, als ihre Jugend sich minderte, ihre Schönheit +verblich, ihre Anmut kokette Maske wurde, verfeinerten sich jetzt die +Tafelfreuden, die musikalischen und theatralischen Aufführungen in +ihrem Hause. Man trank bei den Proben schon französischen Sekt. Man aß +bei den kleinsten Diners nicht unter fünf Gängen. Man erfreute sich +der teueren Delikatessen der Saison nirgends früher, als an der Tafel, +der Klaus Joachim, längst mit einem chronischen Magenübel kämpfend mit +ledergelbem, wenig vergnügtem Gesicht präsidierte. + +Klaus Joachim sah täglich unzählige Leckerbissen vorbeitragen, die ihm +aufs strengste verboten waren. Er sah junge Leute in schönen Uniformen +und ältere Herren mit Halsorden an seinem Tische, ohne sich ihre Namen +merken, für ihre Geschichten interessieren zu können. Er sah lebende +Bilder gestellt von blühenden Menschen, deren Geburtsanzeige er -- so +kam’s ihm vor -- doch neulich erst gelesen. Er sah zappelige Virtuosen +und dicke Sänger an seinem Flügel, die er innigst nach Pernambuco +wünschte. Und abends spät, wenn er -- den silbernen Leuchter schon in +der etwas zittrigen Hand -- nach vererbter Familiensitte seiner Frau +galant die Hand küßte und prüfend in das abgespannte Gesicht mit den +mühsam weggeschminkten Fältchen um die müden Augen blickte, sah er +auch, daß die Lebensgefährtin trotz verzweifelter Gegenwehr wurde, was +kein Tobby in seinem Hause werden durfte: +alt+. + +Seine Familie hatte sich längst in das solide Erbbegräbnis und in +gesunde Metallsärge zurückgezogen. Die Tante Reichsgräfin und der +Onkel Exzellenz erschienen nur noch als mythische Personen in Ethels +Erzählungen. Aber der Sagenkranz, der sich langsam um sie bildete, +(oder eigentlich: den Ethel persönlich um die verklärten Häupter der +teueren Verstorbenen legte) erhielt mit jedem Jahre neue strahlende +Blüten. Und wer den leise bebenden Herzenston vernahm, mit dem Ethel +die Namen dieser Heimgegangenen aussprach, der konnte unmöglich eine +Ahnung gewinnen von der durch Harthörigkeit bedingten Absonderlichkeit +der seligen Exzellenz und der Unleidlichkeit der geizigen und boshaften +Reichsgräfin. Vor dem ebenfalls längst zu seinen Vätern versammelten +Onkel Oskar freilich, der einst als Kommis des Hauses Seligsohn den +alten Fürsten Lichtenstein geduzt hatte, machte der Totenkultus Ethels +Halt. Sein Name wurde seltsamerweise nur von Klaus Joachim, der den +Lebenden wenig geschätzt hatte, zuweilen erwähnt und -- das muß gesagt +werden -- eigentlich nur, wenn er, überreizt von den ewigen Festen in +seinem Hause, einmal das nervöse Bedürfnis hatte, Ethel zu ärgern. + +Einige Male hatte er ja versucht, seine Gicht vorzuschützen, um den +festlichen Veranstaltungen zu entgehen, die sein Haus zum Tummelplatz +fremder Leute machten, die seinen Sekt tranken, seine Zigarren rauchten +und von ihm eigentlich nur Notiz nahmen, wenn sie ihn wegen des +kürzesten und verstecktesten Weges nach einem geheimen Ort um seinen +Rat fragten. Aber an Schlafen wäre bei dem Lärm auch nicht zu denken +gewesen, wenn die Lohndiener nicht, lieber Gewohnheit folgend, alle +fünf Minuten in sein Schlafzimmer gestürzt wären, um die merkwürdigsten +Dinge hier zu suchen, die sich noch niemals in einem Schlafzimmer +befunden haben. So erschien er denn resigniert, auf seinen Stock +gestützt, wieder in den Salons und heuchelte höflich eine freudige +Anteilnahme an einen neuen amerikanischen Tanz, bei dem der Bauch +herausgestreckt wurde, an dem Klaviervortrag eines sechsjährigen +Wunderkindes, das allerdings spielte als ob es vierzehn wäre, oder an +der Soloszene einer talentvollen Bühnennovizen, die aus unbekannten +Gründen plötzlich händeringend in gereimten Versen jammerte, daß sie +ihr Kind erwürgt habe, weil es dem Vater ähnlich sah. + +In solchen Lustbarkeiten waren bald fünf Jahrzehnte hingegangen. + +Man hatte vorübergehend mal für irgend einen Kriegsschauplatz heftig +Charpie gezupft und um irgend einen Fürsten in der Weise getrauert, +daß man -- die Damen in geschlossenen Kleidern -- bei Birkowitzens +sechs Wochen lang nur Kammermusik, Harmoniumstücke und ernste +Balladenvorträge anhörte. + +In sonsten hatte sich nicht viel verändert. + +Tobby XIII ein knochiger Rattler von großer Munterkeit belebte Klaus +Joachims einsame Morgenstunden, wenn er seine Exlibris ordnend und +klebend am Erkerfenster saß und den stillen Wunsch nährte, Ethel, die +im Coupé Besuche machte, möge +alle+ zu Hause treffen, denen sie die +Freude ihres Gespräches zugedacht. Tobby XIII litt nur, als echter Sohn +seiner Rasse, unter dem durch nichts bestätigten Vorurteil, daß Mäuse +in der Wohnung sein müßten. Er erschreckte wohl ein Dutzend mal im +Vormittag seinen Herrn aufs heftigste dadurch, daß er plötzlich einen +ganz unmotivierten Luftsprung machte, mit beiden Vorderpfoten schwer +auf irgendeine Stelle des Teppichs schlug und emsig zu scharren begann; +als müsse er unter der dunkelroten Blume des Persers unbedingt ein +Mauseloch finden. + +Da Klaus Joachim seit einiger Zeit Anzeichen eines Herzleidens spürte +-- Sie haben zuviel „gefeiert“, hatte der Hausarzt gesagt und Klaus +Joachim hatte nicht ohne Bitterkeit gelächelt -- so war die fixe Idee +Tobbys XIII für seinen Herrn doppelt störend. Aber da dieser den +amüsanten und liebenswürdigen Hund sonst lieb hatte, so schickte er +sich seufzend in seine aufregende Eigentümlichkeit; ja er hielt sie vor +seiner Frau geheim, die sonst vermutlich auf schleunigen Ersatz Tobbys +XIII durch Tobby XIV gedrungen hätte, da die Zahl Dreizehn ihr sowieso +unbehaglich war. + +Und gerade jetzt war sie bemüht, alles Unbehagliche von sich und Klaus +Joachim fernzuhalten, denn die Vorbereitungen zu dem größten Fest ihres +Lebens, zu dem Fest, in dessen Mittelpunkt nur +sie+ -- natürlich ++mit+ Klaus Joachim -- verständigerweise stehen konnte, nahmen sie +völlig in Anspruch. Ihre goldene Hochzeit nahte. Und mit dem Näher- und +Näherkommen dieses weihevollen Tages nahm dieser fast siebzigjährigen +Frau wunderbare Elastizität, die in den letzten Jahren ein ganz, ganz +klein wenig nachgelassen hatte, von Tag zu Tag wieder zu. + +Sie fühlte, daß das der Glanzpunkt ihres Lebens werden mußte. + +Man würde Szenen aufführen, Reden halten, Trinksprüche ausbringen, +alles ihr zu Ehren. Berühmte Dichter, die oft bei ihr gegessen +hatten, würden eigens für diesen Tag wundervolle Lieder schreiben, +in denen ihr Name von einem Blütenkranz unsterblicher Gedanken +umrahmt erschien. Zukunftsreiche Maler, die +ebenfalls+ oft bei ihr +gegessen hatten, würden lebende Bilder stellen aus ihrer Jugendzeit. +Bedeutende Komponisten, die +ebenfalls+ oft bei ihr gegessen, würden +sich ans Klavier setzen. Und +sie+ würde, in ihre schneeweißen Haare +(ein bischen half ja der Puder nach) die goldene Myrthe gesteckt, +neben Klaus Joachim sitzen -- wenn er nur nicht einschlief! -- und +die feierlichen Deputationen empfangen von all den Vereinen, für die +bei ihr gegessen, getrunken, geredet, musiziert, Charpie gezupft +und getanzt worden war in einem langen, halben Jahrhundert. Und die +Zeitungen würden -- Gott, Herren von der Presse hatten ja auch bei ihr +gegessen -- sympathische Artikel bringen, im „Vermischten“ oder an der +Spitze des Lokalen; würden sie mit der Madame de Rotschild vergleichen, +am Ende gar mit der Fürstin Metternich und würden das Bild „der noch +immer schönen Frau von Birkowitz“ in einer sinnigen Phantasieumrahmung +von Lorbeer und Myrthen bringen. Natürlich Klaus Joachim daneben. Und +Bilder ihres „Heims“ werden in den Wochenschriften gezeigt. Die Ecke +im blauen Salon mit den Vasen, die ihr der Vizekönig Ching-Chung-Gho, +der die Fischgräten unter den Tisch spuckte, geschenkt. Die Wand +im Speisezimmer mit den ehrwürdigen Ahnenbildern der Reichsgräfin +und des Onkels Exzellenz. Der Kamin im Gobelinzimmer mit dem +laubfroschgrünen seidenen Wandschirm, auf dem die steinalte Prinzeß +Binzheim-Sprendlingen die gräßlichen, roten Levkoyen eigenhändig +gemalt. Und das mußte alles in Fußnoten gesagt werden ... + +Ethel von Birkowitz war wieder ganz jung, wenn sie an diverse Fußnoten +dachte. + ++Und+ an die Geschenke! Denn darin war sie ein Kind geblieben. Sie +liebte es sich beschenken zu lassen. Weniger der Gabe wegen, als +wegen des Namens des Spendenden. Und wenn nur der kleinste Teil +der Zelebritäten, die gut und viel bei ihr gegessen, sich an ihrem +Ehrentage mit einem sinnigen Präsentchen einstellte, so hatte sie aus +dem Gothaschen Kalender, aus dem Kürschner, aus dem Bühnenalmanach +und aus dem städtischen Adreßbuch -- kurz aus jedem Namensammelbuch +von einigem Kulturwert mit Ausnahme des Verbrecheralbums -- die +herrlichsten Stichproben. Ethel von Birkowitz schwamm im Glück der +Hoffnung. + +Klaus Joachim sah dem festlichen Tage mit geringerer Lust entgegen. +Ganz davon abgesehen, daß sein neues Gebiß ihm den Unterkiefer wund +rieb, wenn er es während eines langen Diners im Munde behalten +mußte, hatten sich letzter Zeit, nicht unbeeinflußt von Tobby XIII +phantastischen Jagdvergnügungen heftige Herzaffektionen bei ihm +gezeigt. Schwächeanwandlungen waren häufig; und mehrfach war er mitten +in Ethels interessanten Mitteilungen über das Programm des Festes und +über die Plätze für den Bürgermeister und den Polizeipräsidenten und +den berühmten X. und die noch berühmtere Y. eingeschlafen. Und beim +Erwachen hatte er minutenlang geglaubt, er sitze an der Saline in +Nauheim. Oder hatte mit schwacher Stimme Weisung gegeben, man solle das +Halbblut nicht verkaufen. Sein Lieblingspferd aus der Leutnantszeit, +das seit vier Jahrzehnten gewiß in dem Pferdehimmel war, an den die +Araber glauben. + +Zwei Tage vor der goldenen Hochzeit besserte sich Klaus Joachims +Zustand. + +Er konnte den neuen Frack probieren und der Ansprache Ethels an die +fünf Lohndiener beiwohnen. + +Als er aber an dem Morgen seines Ehrentages in denselben Frack +geschlüpft war, um ans Fenster zu treten und dem Choral der +Regimentsmusik zu lauschen, die der Oberst, der lieber gut aß als +Felddienstübungen leitete, in Dankbarkeit zur Überraschung gesandt +hatte, befiel ihm eine kleine Schwäche. Und gerade als er sich, von +Ethel gestützt, die schon in großer Toilette war, auf das Sopha +niedergelassen, unternahm Tobby XIII mit plötzlichem Siegesgeheul einen +plötzlichen Jagdausflug unter einen ehrwürdigen friesischen Schrank, +der sich zu knacken erlaubt hatte. + +Klaus Joachim erschrak heftig, griff mit den langen, immer noch +aristokratischen Fingern der linken Hand nach der Herzgegend, +verdrehte die Augen, fragte, ob er in der Neujahrsnacht zum Bleigießen +aufbleiben müsse, erkundigte sich dann mit leiser werdender Stimme +ob die Seitenlinie derer von Rorschach-Kitzingen berechtigt sei +die Freiherrnkrone zu führen, gab, als die erschreckte Ethel ihre +Unwissenheit gestand, stockend die Anweisung, darüber sogleich +telegraphisch das Heroldsamt in Berlin zu befragen, lächelte sonderbar, +bekam eine ganz spitze weiße Nase und -- war tot. + +Unten spielte die Regimentskapelle den Pilgerchor aus dem Tannhäuser. + +Ein Lohndiener steckte den glattrasierten Kopf herein und meldete: der +Koch lasse fragen, ob der Fasan +nach+ dem Wildschwein serviert werden +solle oder +vor+ dem Wildschwein. + +Ethel zuckte zusammen, warf einen Blick auf die seltsam gespitzten +Lippen Klaus Joachims, von denen kein Atem mehr kam und die pfeifen zu +wollen schienen, und entschied: + +„+Nach+ dem Wildschwein.“ + +Es war ein außergewöhnliches Fest. In jeder Beziehung. + +Die Gratulanten kamen in dichten Scharen. + +Honoratioren in vortrefflich sitzenden Fräcken, Deputationen in minder +sehenswürdigen Gehröcken, Künstler in fliegenden Kravatten, Damen +der Aristokratie in kostbaren Pariser Roben, Konservatoristinnen in +phantastischen Fähnchen. Die Diener in Eskarpins mit silbernen Ketten +und dem Gönnerlächeln ihres wichtigen Standes. + +Im Blauen Salon zwischen den beiden Vasen des Vizekönigs +Ching-Chung-Gho stand Ethel, im weißgepuderten Haar die goldene +Myrthe, den Smaragdschmuck derer von Birkowitz am immer noch +präsentablen Hals, die wundervollen Rosen des Prinzen Kux-Beckenried in +der Hand, der mit seinem Freund, dem ~Dr.~ v. Heiduck -- in Wahrheit +war es sein Arzt, der Prinz war seit Jahren entmündigt -- als Erster +gekommen war. + +Jetzt hielt er sich, töricht vor sich hinlächelnd, im Gobelinzimmer +unter dem Bild von Onkel Exzellenz auf und konsumierte das vierzehnte +Kaviarbrödchen; wozu ~Dr.~ Heiduck nachdenklich den dem Prinzen +verbotenen Sherry trank. + +Im kleinen gelben Salon aber stand die Türe auf, die nach dem +Ankleideraum neben dem Schlafzimmer Klaus Joachims führte. + +Eine rotseidene Schnur war, den Eintritt wehrend, in Kniehöhe im +offenen Türrahmen gespannt. Durch das halbdunkle Ankleidezimmer +hindurch sah man in das noch um eine Nuance dunklere Schlafzimmer. +Von dessen Tür nicht weit saß Klaus Joachim von Birkowitz in einem +dunkelgrünen Sessel aus der Biedermeierzeit, den Kopf leicht an die +linke Seitenklappe der hohen Rücklehne gelehnt. + +Er saß aufrecht im Frack und hatte, das konnte man gut erkennen, ein +blühendes Sträußchen in der blassen rechten Hand, die unbeweglich auf +der leichten bunten italienischen Decke lag, die seine Beine verhüllte. +Im Knopfloch trug er einen Myrthenbüschel ... + +Alle Kommenden mußten durch diesen gelben Salon. Allen Kommenden +wiederholte der Diener an der Türe mit diskreter Stimme: + +„Herr von Birkowitz befindet sich nicht ganz wohl. Er hat sich bei den +ersten Gratulationen in der Frühe überanstrengt. Der Herr Baron ist +deshalb in seinem Zimmer geblieben. Die Frau Baronin empfängt im Blauen +Salon. Wenn die Herrschaften vielleicht dem Herrn Baron einen Gruß +zunicken wollen ...“ + +Und die Herrschaften wollten das. Und sie nickten durch das halbdunkle +Zimmer dem befrackten Manne zu, der dort im Sessel saß. + +Einige wollten beobachtet haben, daß er freundlich wieder genickt habe. +Andere hatten nichts dergleichen wahrgenommen. + +Alle waren einig darin, daß es nicht gut um den alten Herrn stehe, und +daß er vielleicht doch schlauer zu Bett gegangen sei. + +Aber Ethel von Birkowitz im blauen Salon zwischen den beiden Vasen des +Vizekönigs Ching-Chung-Gho versicherte: + +„Er hat’s nicht anders haben wollen. Wenigstens aus der Entfernung +wollte er sich mit uns freuen.“ + +Und der Polizeipräsident, der besonders scharfe Augen hatte bemerkte +dazu: + +„Und, meine Gnädige -- er +freut+ sich. Als ich ihm zunickte, spitzte +er die Lippen -- ich sah es deutlich -- als ob er +pfeifen+ wollte. +Vermutlich: ‚Freut Euch des Lebens‘ -- -- oder so was.“ + +„So tut er immer, wenn er vergnügt ist“ lächelte Ethel. + +Einer aber war nicht vergnügt. Tobby XIII. + +In die Schuhkammer neben der Küche eingesperrt heulte er. Heulte +unaufhörlich, obschon ihn die dürre Kochmamsell, die sehr nervös war, +unter Zuhilfenahme eines Birkenholzkochlöffels eindringlich vermahnt +hatte. Heulte laut und kläglich. + +Und das Spülmädchen, das vom Lande und sehr blond und sehr dumm war, +sagte zu dem Konditor, der das Pastetenhaus brachte: + +„Bei uns zu Haus heulen die Hunde so, wann mer e Leich’n hab’n.“ + +An dem Diner nahm Klaus Joachim +nicht+ teil. + +Sein mit Myrthen bekränzter Platz wurde nach dem Fisch von einem +aufgeräumten Konsistorialrat eingenommen, der viel Rauentaler trank +und drei verschiedene Reden hielt, von denen die erste keine rechte +Veranlassung, die zweite keine Pointe und die dritte überhaupt keinen +Sinn hatte. + +Zwischen dem Wildschwein und dem Fasan ging Ethel hinaus, um nach +Klaus Joachim zu sehen, der sich nur von ihr betreuen ließ und keine +Bedienung sehen wollte. + +„Welch eine Ehe,“ rühmte der Konsistorialrat als sie ging. + +Und „pfeift er noch?“ fragte der gutgelaunte Polizeipräsident, als sie +wiederkam. + +Ethel war etwas blaß. + +Der Besuch bei dem Gatten schien sie angestrengt zu haben. Aber sie +erinnerte sich sofort wieder ihrer Pflichten als Mittelpunkt und +Hausfrau und dem Polizeipräsidenten über die volle Obstschale zunickend +lächelte sie: + +„Ja, er pfeift noch ...“ + +Am Abend des nächsten Tages erschien in allen Blättern eine breit +schwarzumränderte Anzeige, daß es in der Nacht nach seinem schönen Fest +dem Allmächtigen gefallen habe, den vielgeliebten Herrn Klaus Joachim +von Birkowitz und so weiter ... Tiefe Ergriffenheit sprach schon aus +dem Konstruktionsfehler dieser Annonce. Denn nach +ihr+ war es der +liebe Gott, der das schöne Fest gefeiert hatte. + +Der Konsistorialrat aber, der an diesem Tag heftigen Kopfschmerz +hatte, äußerte, daran erkenne er wieder die große Gnade des Himmels, +daß dieser wahrhaft christliche Mann noch habe das herrliche Fest +mitansehen dürfen, ehe er von hinnen ging. + +Nur Tobby XIII wußte Bescheid. + +Er hatte die ganze Nacht geheult. Selbst als ihn das sehr blonde und +sehr dumme Spülmädchen gegen Morgen mitleidig in sein Bett nahm, hatte +er immerzu leise weiter gewinselt. + +Tobby wurde deshalb auch dem Milchmann geschenkt. + +Gerade als dieser brave Mann den heftig Widerstrebenden an einer +Zuckerschnur die Hintertreppe hinunterzerrte, wurden die sechs riesigen +silbernen Leuchter gebracht, die den Katafalk flankieren sollten. + +Sie waren umflort und mit armdicken Kerzen besteckt und sahen wirklich +festlich aus. + +Das Beerdigungsinstitut „Pietät“ hatte sie geliehen. + +Sie brannten am anderen Morgen bei einer kleinen Hausandacht, die der +Konsistorialrat abhielt, zwischen den ebenfalls umflorten Vasen des +Vizekönigs Ching-Chung-Gho. + +[Illustration] + + + + +[Illustration: Der Mann mit dem persönlichen Einfluß] + + +Es ist meine heilige Überzeugung, daß es sonst sehr achtbare, ja +vortreffliche Menschen gibt, in deren Gebaren und Gesichtszügen +eine ununterbrochene heimliche Aufforderung für alle großen und +kleinen Gauner liegt, sie als geschätzte „Versuchsobjekte“ ihrer +unsympathischen Kunst zu behandeln; schlicht gesagt: sie zu betrügen. + +Ohne die flehendste Bitte des schönsten Gebets: „Führe uns nicht in +Versuchung ...“ erfüllen zu wollen, scheint der liebe Gott solche +merkwürdigen Leute hilflos in seine sonst so hübsch ausgedachte +Schöpfung gestellt zu haben. Sie wandeln umher, freundlich und +zutraulich, aber als fleischgewordener Fallstrick des Bösen. Und am +Ende sind diese Guten von allem, was sie unternehmen, enttäuscht; +denn sie haben bei jeder ihrer von besten Absichten geleiteten +Unternehmungen mehr Lehrgeld bezahlt, als jeder andere; haben bei +jedem Mißgeschick einen größeren Schaden besehen, als irgendwo sonst +und finden -- und das ist vielleicht das Betrübendste -- mit den +Erzählungen ihres Mißgeschicks statt inniger Teilnahme oft nur jenes +durchaus pietätlose Gelächter, wie es böse Menschen, die keine Lieder +haben, im Anblick fremder Ungelegenheiten anzustimmen lieben ... + +Ein Musterbeispiel für diese meine aus sorgfältiger und liebevoller +Betrachtung der Zeitgenossen gewonnene Lehre scheint mir noch heute der +ehemalige Filzhutfabrikant Michael Monkebach zu sein, den ich vor einer +Reihe von Jahren in einem süddeutschen Bade kennen lernte. + +Schon die Art der Bekanntschaft war seltsam. + +An der Mittagstafel in der „Quisisana“ saß ein Herr in mittleren Jahren +neben mir, dem sein in Stoff und Schnitt sonst die Herkunft aus einer +nicht billigen Schneiderwerkstatt verratender Anzug durchaus nicht zu +passen schien. Das Tuch schlotterte an ihm herum, als habe er Rock und +Weste von einem vermögenden Verwandten geerbt, der ihn an Leibesfülle +ums Doppelte übertraf. Ein gewisser vergrämter Zug um die nicht +unbedeutende Nase sowie ein traurig verschleierter Blick ließen mich +erraten, daß es sich um einen der Schwerkranken, die sonst in diesem +ziemlich harmlosen Bade selten waren, handeln müsse. + +Ich reichte ihm deshalb bei den Mahlzeiten die Schüsseln mit besonderer +Freundlichkeit; ja, ich ertappte mich auf der edlen Anwandlung, ihm, +wenn der Braten mir zuerst angeboten wurde, die weniger knorpligen +Stücke des Hammels zu lassen, der hier einen unerläßlichen Bestandteil +des mehr zeitraubenden als sättigenden Diners bildete. + +Einem Gespräch schien mein scheuer Nachbar auszuweichen. Einige +-- wie ich zugebe -- nicht allzu geistreiche Bemerkungen über die +fluchwürdige Unbeständigkeit des Wetters, mit denen sich eine +elegantere Konversation einzuleiten dachte, beantwortete er nur mit +dem Hinweis darauf, daß er im Besitz von Gummischuhen sei und von mir +das gleiche hoffe. Auf eine bescheidene Anfrage, ob er das Kurtheater +häufig besuche, und wie er es finde, entgegnete er ausweichend, er +habe jüngst einer Vorstellung des „Tropfens Gift“ beigewohnt, aber +schon nach dem zweiten Akt den Saal verlassen, da er seinen Platz +unmittelbar neben dem Eingang zu den Toiletten erhalten habe und durch +eine fehlerhafte Konstruktion des Türschlosses die Verbindungstür nach +diesen minderwertigen Räumen sich fortwährend von selbst geöffnet habe. + +Eine alte Kanzleirätin aus Bückeburg gab mir nähere Aufschlüsse über +den betrübten Tischnachbar. + +Ich war mit der körperlich gebrechlichen Dame, die ein großes +Mitteilungsbedürfnis besaß, dadurch bekannt geworden, daß sie meine +Zimmernachbarin war und unter der fixen Idee litt, Mäuse in ihrem +Zimmer zu haben. Die Klingel, die angeblich dazu bestimmt war, bei +einmaligem Läuten den Zimmerkellner, bei zweimaligem Läuten das +Mädchen, bei dreimaligem Läuten aber den Hausknecht zu zitieren, +funktionierte leider so mangelhaft, daß weder der Kellner, noch das +Mädchen, +noch+ der Hausknecht kam; und so war die alte Dame darauf +verfallen, sich vertrauensvoll an +mich+ zu wenden, wenn sie wieder +den bestimmten Eindruck gewonnen hätte, daß Mäuse unter ihrem Bett oder +hinter ihrem Schrank ihr neckisches Spiel trieben. + +Da ihr selbst das Bücken vom Arzt verboten war -- eine Vorschrift, an +die sie sich, immer von der Furcht vor einem Schlaganfall gewarnt, +aufs strengste hielt --, so durfte +ich+ mir durch Herumkriechen unter +ihrem Bett, Abrücken der Schränke usw. Bewegung machen und wurde von +der Kanzleirätin „dirigiert“. Der Erfolg war immer negativ. Wenigstens +was die Mäuse anbetraf. Dafür labte mich die alte Dame mit einem von +ihr sehr geschätzten, selbstgebrauten Nußlikör, den sie in vielen +Flaschen mitgebracht haben mußte, und der mit anderen mir bekannten +Spirituosen nicht die geringste Geschmacksverwandtschaft zeigte und mir +im wesentlichen aus Kandiszucker, Wasser, Lakritz und altem Leim zu +bestehen schien. + +Nach jeder vergeblichen Mäusejagd unterhielt mich die vortreffliche +Dame von den Gästen des Hotels aufs anregendste. + +Sie wußte, daß die Baronin über mir gar keine Baronin war, sondern +eine gewöhnliche Adlige mit einer ziemlich neuen Fünfzackigen. Sie +sei in einen jungen Badearzt verliebt und lasse sich deshalb auf +Ischias behandeln. Die Kanzleirätin war ferner darüber orientiert, +daß die Ehe des Rechtsanwalts auf Nr. 17 sehr unglücklich sei, weil +der Schwiegervater heute, zehn Jahre nach der Hochzeit, noch immer +nicht mit der Mitgift herausgerückt sei und die junge Frau eine +verhängnisvolle Neigung habe, jede versöhnliche Annäherung ihres +Gatten mit der Geburt von Zwillingen zu beantworten. Sie hatte auch +in Erfahrung gebracht, daß der Tenor auf Nr. 39, der angeblich der +Liebling des kunstverständigen Publikums von Pernambuco war, Amerika +niemals gesehen habe, auch nicht demnächst an der Wiener Hofoper +Probe singe, sondern nächsten Winter vermutlich, wie schon die beiden +vorhergehenden, in Berlin in obskuren, rauchigen Kabarets das Lied +von der Leiche im Landwehrkanal zur Negergitarre vortragen werde. +Es sei denn, daß die dicke Witwe aus Smyrna, die im Vorjahre ihren +mit kandierten Datteln reich gewordenen Gemahl an einem Leberleiden +verloren habe, doch noch auf diesen Tenor hereinfalle, der übrigens +nicht verhungern könne, da er immer einen Knödel im Hals habe ... + +Dies alles, wie gesagt, wußte die beredte Kanzleirätin aus Bückeburg +in ihrer charmanten, nur etwas weitläufigen Art zu berichten. Jedes +Mißverstehen meinerseits war übrigens ausgeschlossen, da die alte +Dame viele Jahre -- bis zu seinem Ende -- ihren schwerhörigen Gatten +gepflegt hatte und aus alter Gewohnheit auch die +nicht+ mit dem Leiden +ihres Seligen Behafteten mit ihrer hellen Stimme anschrie, daß es +zunächst schier zum Entsetzen war. + +Auch über Michael Monkebach wußte sie das Nötige. + +Er hatte vom Vater eine Filzhutfabrik geerbt. Die erste selbständige +Handlung Michael Monkebachs bestand darin, daß er ein neues +patentiertes Verfahren ankaufte, den gewalkten, geformten und +gesteiften Hut anstatt mit Schellack oder Leim mit einer wunderbaren +Flüssigkeit zu „glänzen“, deren Zusammensetzung ein streng bewahrtes +Geheimnis des Erfinders, eines angeblichen Chemikers aus der Bukowina, +war. Als ungefähr 50000 Filzhüte in diesem Verfahren „geglänzt“ +waren, erwies es sich, daß die Fabrikate allerdings einen recht +hübschen, spiegelnden Glanz hatten, aber schon nach einigen Wochen +einen unleidlichen und unbekämpfbaren Geruch nach verdorbenem Fett +ausströmten, der sie unverkäuflich machte. So war Michael Monkebach im +Besitz eines wertlosen Patents und 50000 übelriechender Hüte, die er +nicht loswerden konnte, und hatte einen hübschen Batzen Geld verloren. +Der angebliche Chemiker aus der Bukowina war längere Zeit unauffindbar, +bis ihn Monkebachs tüchtiger, aber nicht billiger Anwalt in einem +Zuchthaus der Rheinprovinz auftrieb, wo er sich gerade aufhalten mußte, +weil er einen Geldbriefträger meuchlings in eine Senkgrube geworfen +hatte. + +Das zweite üble Geschäft, das Michael Monkebach leider machte, bestand +im Ankauf des Patents einer neuen Haarblase- und Mischmaschine, die +zwar außerordentlich schlecht funktionierte, aber den zwei daran +beschäftigten Arbeiterinnen gleichzeitig die kleinen Finger der rechten +Hände verstümmelte. Michael Monkebach wurde in beiden Fällen zur +Zahlung einer lebenslänglichen Rente verurteilt und hatte außerdem noch +unter unausgesetzten Angriffen verschiedener Blätter zu leiden, die das +geschehene Unglück als Folge einer verwerflichen Knauserei und reine +niedrigen Profitwut darstellten. + +Der Organismus Michael Monkebachs quittierte über all diese +Anfeindungen mit einem chronischen Magenleiden. Er beschloß, das +Geschäft zu verkaufen, und war glücklich, als er einen Reflektanten +fand, der ihm für die Hälfte des vollen Wertes die Fabrik mitsamt +den zwei verderblichen Patenten und den 50000 nach verdorbenem Fett +riechenden Filzhüten abnahm. Leider zahlte der Käufer die bedungene +Summe zur Hälfte in Bergwerksaktien, die eigentlich nur noch für den +Sammler kolorierter Drucke einen Wert hatten. Ein entrüsteter Protest +hatte die Folge, daß dem Geschädigten als Ausgleich die 50000 Filzhüte +angeboten wurden, die Michael Monkebach, dem beim bloßen Gedanken an +ihren Geruch schon übel wurde, schaudernd zurückwies. Was ihm blieb, +war ein Kapital, groß genug, daß er als Junggeselle sehr behaglich +davon leben und sich im Sommer eine lange und durch unzählige ärztliche +Vorschriften komplizierte Kur für sein chronisches Magenleiden gönnen +konnte. + +Als er hier angekommen war -- die Kanzleirätin, die das erzählte, +war damals seine Zimmernachbarin, später zog sie wegen der Mäuse um +-- sah er verhältnismäßig besser aus. Der Anzug, der jetzt seine +Glieder umschlotterte, paßte ihm damals ganz gut. Aber, um diesmal +den teuren Badearzt zu sparen, der für jede mit einer Frage nach +dem werten Befinden verbundene Unterhaltung über diesen Sommer und +über die Reize des Badeortes zehn Mark nahm, hatte er seine Kur nur +nach den Anweisungen seines Hausarztes eingerichtet. Dabei hatte er +unseligerweise die Viktoria-Quelle mit der Augusta-Quelle verwechselt +und sieben Wochen lang, anstatt das für den Magen zuträgliche Wasser zu +trinken, täglich sechs Becher jener berüchtigten Quelle eingeschlürft, +deren Gebrauch als die radikalste Entfettungskur galt und mit vielen +Unbequemlichkeiten und beschleunigten Spaziergängen, besonders nachts, +verbunden war. + +Schließlich -- vor einigen Tagen -- war er in seiner Herzensangst, +von dem Gespenst der Cholera gefoltert, +doch+ noch zu einem Badearzt +gegangen und hatte ein Goldstück bezahlt für den guten Rat, allen +Quellen weit aus dem Wege zu gehen, tüchtig Haferschleim zu essen und +alle drei Stunden fünfzehn Opiumtropfen auf Zucker zu nehmen; ein +Mittel, das ihm aus seligen Jugendtagen nach dem Genuß von unreifem +Obst wohlbekannt war, und für dessen nicht seltene Verordnung seine +gute Mutter niemals ein Goldstück genommen hatte. + +Durch diese Erzählung der Kanzleirätin gewann ich Interesse für den +vom Pech und den Menschen verfolgten Filzhutfabrikanten a. D. Und mit +der langsamen Besserung seines Leidens wurde er auch gesprächiger. Wir +kamen uns menschlich näher. + +Ein harmloser, liebenswürdiger Mensch, von fast mädchenhafter +Schüchternheit, die sich auch in den stets erstaunt blickenden Augen +und den verlegenen Handbewegungen ausdrückte, ging er umher als der +Typus jener menschgewordenen Versuchung für alle pfiffigen Profitmacher +und skrupellosen Gauner. Wenn er mit einem Fünfmarkstück zahlte, bekam +er stets nur auf einen Taler heraus. Wenn er eine Droschke mittags um +zwölf Uhr benutzte, hatte er stets die +Nacht+taxe zu bezahlen. Wenn er +ein Scheibchen Schweizerkäse zu sich genommen, fand er bestimmt einen +halben Camembert auf der Rechnung. Wenn er sich ein Berliner Abendblatt +am Bahnhof kaufen wollte, war es sicherlich die Mittagsnummer der +Magdeburger Zeitung vom Tage zuvor. Und wenn er seinen Hut vertauschte +-- ja, da ist’s ihm doch passiert, daß er in einem Restaurant +des Badeortes, hundert Kilometer entfernt von seiner ehemaligen +Fabrik, seinen schönen, neuen, silbergrauen Wiener Filzhut an den +Garderobenhalter hängte und beim Weggehen einen der gräßlichen, nach +ranzigem Fett riechenden Hüte eigener Fabrikation vorfand. Einen der ++ganz+ wenigen, die damals durch ein Versehen in den Handel gekommen +waren. + +Durch peinliche Häufung solcher Erlebnisse war Michael Monkebach auf +melancholische Gedanken gekommen, die sich vom Haferschleim nicht +verscheuchen ließen. Er fühlte, daß da mit tröstlichen Redereien von +Pech und Zufall nichts zu machen sei; daß es ihm vielmehr an Qualitäten +des +Charakters+ fehlen müsse, die ihren Besitzer ein für allemal vor +solchen an Verhöhnung grenzenden Angriffen schützen mußten. + +Da hatte er eines Tages, als es in Strömen regnete und ihm gerade sein +neuer Regenschirm gestohlen worden war, beim Auf- und Abwandeln in den +gedeckten Kolonnaden beim Buchhändler zwei Bücher entdeckt, die ihn +durch ihre Titel lockten. „Wie wird der Mensch energisch“ hieß das +eine, und „Wie erlange ich die Macht des persönlichen Einflusses“ das +andere. + +Mittags im Lesezimmer -- er hatte natürlich den einzigen ++un+gepolsterten Stuhl erwischt -- sah ich ihn eifrig bald in dem +einen, bald in dem andern Buch lesen. Und als sich gegen Abend das +Wetter aufhellte und er in fremden Gummischuhen -- die seinen waren +ihm gegen zwei, merkwürdigerweise unter sich verschiedene, ihm viel zu +große Überschuhe vertauscht worden -- neben mir her durch die Pfützen +des Kurparks schritt, sprach er hochbefriedigt von seiner Lektüre. + +Er sehe jetzt ein, daß es ihm eigentlich nur an „Persönlichkeit“ +gefehlt habe, äußerte er in schöner Offenheit. Die „Persönlichkeit“ +aber sei durchaus nichts Angeborenes, das wisse er jetzt, sondern etwas +Erwerbbares, etwas Erlernbares. Vor allem müsse man sich gewöhnen, die +Dinge und Menschen mit festem Blick ins Auge zu fassen. + +Indem er so sprach, übte er den Blick an verschiedenen Laternen des +Kurparks, die ungerührt weiter ihr spärliches Licht in die Regenluft +streckten ... + +Als ich am nächsten Morgen an seinem Zimmer vorbeikam, hörte ich +Michael Monkebach singen. Falsch aber laut und mit einer gewissen +trotzigen Freudigkeit. Das war gegen seine Gewohnheit. + +Ich klopfte an, steckte den Kopf durch die Tür und fand ihn, nur mit +Hose und Hemd bekleidet, sehr merkwürdige und nie gesehene Freiübungen +mit einer gefüllten Waschkanne machen. + +„Ein Stuhl ist mir doch zu schwer dazu,“ erklärte er, „aber sehen Sie +nur, wie mir diese Übungen schon gelingen. Erst Kniebeuge -- sehen Sie: ++so+ -- uff, mein Kreuz -- jetzt -- jetzt: leichtes Zehenwippen und +Strecken des Rumpfs und nun wieder, passen Sie auf -- eins -- zwei -- +Kniebeuge -- drei -- vier Vorstoßen der Wasserkanne.“ + +Er stieß so energisch vor, daß ihm die Wasserkanne aus den Händen +glitt, fiel und zerbrach, wobei auch seine Beinkleider durchnäßt wurden. + +Während er sie mit einem Handtuch trocknete, rief ich das +Stubenmädchen. Sie hieß Adele, hatte rote, selten gekämmte Haare und +war weder schön, noch höflich. Mit Michael Monkebach war sie aber +direkt grob, was mir auffiel. Sie wußte offenbar noch nichts von seiner +neugewonnenen „Persönlichkeit“. + +Als die rothaarige Adele gegangen war, fragte ich ihn, warum er sich +diesen Ton nicht verbeten und die Kecke kräftig angehaucht habe. + +„Das lohne nicht“, meinte er, „bei Untergebenen.“ Aber bei +Gleichgestellten -- na, ich werde ja sehen! Man müsse den „Mut zum +Widerspruch“ haben und um der „Persönlichkeit“ willen „verharren“ +-- nämlich auf der einmal eingenommenen Stellung -- sie geistig +verteidigen, wie eine Festung und dabei die Macht des persönlichen +Einflusses spielen lassen durch das Auge. + +„Es ist der Trick aller Dompteure,“ sagte er zuversichtlich, +„die fixieren die Bestie; und das Tier, instinktiv die Macht der +Persönlichkeit fühlend, duckt -- und gehorcht.“ + +Beim Mittagstisch saßen wir -- Michael Monkebach und ich -- einem +Rittmeister in Zivil gegenüber, der sich gern reden hörte und dazu +erstaunliche Quantitäten billigen Moselweins trank. + +Michael Monkebach schien von dieser hellen Kommandostimme aufgeregt +zu werden. Er wippte auf dem Stuhl hin und her, nahm sich fünf Stücke +Schweinebraten, den ihm der Arzt strengstens verboten hatte und den er +auch liegen ließ; fertigte Brotkugeln, die er dann in der Zerstreuung +aß, und fühlte dazwischen nach der Brusttasche, aus der ich den +majonnaisegelben Umschlag des interessanten Werkes „Wie wird der Mensch +energisch“ feindlich hervorlugen sah. + +Der Rittmeister hatte gerade an der Hand eigener, sehr aufregender +Manövererlebnisse einer dicken Rentiere aus Stettin, die sich Tag und +Nacht nicht von einem pfundschweren Bernsteinschmuck zu trennen schien, +den unvergleichlichen Nutzen der Kavallerie für den Aufklärungsdienst +erläutert, da vernahm ich Michael Monkebachs fremdartig schrill +klingende Stimme, die hervorstieß: + +„+Ich+ bin der Ansicht -- bin der Ansicht, daß beim nächsten Krieg die +Kavallerie einfach eine +tote+ Waffe sein wird.“ + +Er war sichtlich stolz auf den unsinnigen Ausdruck „tote Waffe“ und +sehr erregt. Schweiß stand in reichen Perlen auf seiner Stirn. + +Ich begriff, es war die „Energie“-Probe. + +Ich sah seinen Blick starr, als wolle er ein Huhn hypnotisieren, auf +den Rittmeister gerichtet, der schweigend sein Monokel einklemmte, ein +Lächeln verbiß und dann sehr höflich sagte: + +„Der Herr ist ohne Zweifel Kavallerist gewesen?“ + +„Nein, ich bin -- bin Landsturm -- ja wohl Landsturm +mit+ Waffe. Aber +meine Ansicht ist deshalb +doch+ wohlbegründet. In einem Zukunftskrieg +nämlich -- in einem Zukunftskrieg --“ Seine Vorstellungen über den +Zukunftskrieg schienen leider doch nicht so klar und übersichtlich +geordnet, wie es für diese Unterhaltung wünschenswert gewesen wäre. +Plötzlich aber verbreitete sich ein Ausdruck der Entrüstung über sein +nervöses, blasses Gesicht und die sieghaften Worte überstürzten sich +schier: „Die Pferde werden totgeschossen, ja. Und die Reiter -- und die +Reiter -- liegen +unter+ den toten Pferden ...“ + +Der Rittmeister glaubte es offenbar mit einem gelinde Verrückten zu tun +zu haben. Er ließ das Monokel in die hohle Hand fallen und wandte sich +ruhig zu seiner bernsteingeschmückten Nachbarin. + +„Sie müssen sich vorstellen, meine Gnädige ...“ + +Michael Monkebach ließ das starre Auge -- er dachte offenbar an den +„Dompteur“ und fühlte die Wichtigkeit des Augenblicks dieser Probe -- +nicht von dem Rittmeister, der nach einer Weile den stierenden Blick +unbehaglich empfand, sein Monokel wieder einklemmte und eine merkwürdig +ernste Falte über dem Nasenrücken sehen ließ. Die kerzengerad +aufliegende Falte, die wie eine Fortsetzung des nur durch die recht +knapp bemessene Stirn unterbrochenen Scheitels aussah, gab dem Gesicht +etwas Hartes, Drohendes. + +Ich fühlte: die Katastrophe nahte. + +Die Rosinen und Krachmandeln wurden gerade herumgereicht -- es waren +immer dieselben, da niemand jemals davon aß -- und die alte Engländerin +am Kopf der Tafel erhob sich, lang und dürr wie eine entlaubte Pappel +im Winter, und schritt, wie immer als die Erste an dem galant die +Tür aufreißenden Oberkellner vorbei nach dem Lesezimmer, wo sie +täglich ihre sieben bis neun Stunden an dem einzigen Schreibtisch +saß und mittels einer goldenen Füllfeder geheimnisvolle Briefe in +Riesenbuchstaben schrieb. + +Die Tafel leerte sich. + +„Kommen Sie, Herr Monkebach,“ flüsterte ich besorgt, da mir für den +Filzhutfabrikanten unbehaglich wurde, „+gehen+ wir schon!“ + +Ich suchte durch eine besonders liebenswürdige Verbeugung gegen die +Bernsteindame aus Stettin und den Rittmeister die Aufmerksamkeit von +Monkebach ab und auf +mich+ zu lenken: + +„Mahlzeit.“ + +„Mahlzeit!“ + +Der Rittmeister schmetterte es heraus, als ob er eigentlich etwas ganz +anderes sagen wollte, etwa: „Hol euch der Henker!“ oder so etwas. + +Wir waren noch nicht im Vestibül, da kam der Rittmeister hinter uns her: + +„Pardon, wenn ich die Herren störe. Ich möchte Herrn Fabrikanten +Monkebach -- ich irre mich doch nicht? -- um zwei Worte unter vier +Augen bitten.“ + +Er sagte das mit einer sehr höflichen Verbeugung nach mir hin; und +ich beeilte mich zu versichern, daß ich die Herren in ihrer privaten +Besprechung keinesfalls zu stören wünsche. + +Als ich mich empfahl, schweifte mein Blick über Michael Monkebachs +Angesicht. Er sah aus, als habe er seit drei Tagen seine Beerdigung +hinter sich. Die Rechte krampfte sich in die Brustseite, wo der Rock +das köstliche Buch mit allen schönen Lehren über die „Persönlichkeit“ +verhüllte. Die Beine aber, die ihn hinter dem vorausschreitenden +Rittmeister nach dem Rauchzimmer, dem Ort der Unterredung, trugen, +knickten und tänzelten und schlenkerten, als ob sie durchaus nicht +mehr von der Zentrale des Nervensystems eines ~homo sapiens~ +zweckentsprechend dirigiert würden, sondern vielmehr einer Puppe im +Kasperletheater angehörten, deren schlotternder Leib voll Sägespäne und +deren zerbeulter Kopf von lakiertem Holz ist ... + +Zwei Stunden später ging ich zu Michael Monkebachs Zimmer hinauf. + +Die gesprächige Kanzleirätin hatte mich mit Mitteilungen über einen mir +gänzlich unbekannten Baron Montecatanio aufgehalten, der, allen Gästen +unsichtbar, die teuersten Zimmer im Hotel bewohnte und früher, wie sie +behauptete, in ganz verwerflicher Weise mit Sklaven am Kongo gehandelt, +dann in Alexandrien eine berüchtigte Spielbank gehalten haben sollte. +Lauter Dinge, die gewiß sehr unschön und tadelnswert, mir aber im +Moment furchtbar gleichgiltig waren. + +Ich traf Michael Monkebach beim Packen der Koffer, eine Tätigkeit, der +er mit einer fast fanatischen Hast oblag. + +„Schließen Sie die Tür hinter sich -- den Riegel, bitte, auch,“ rief er +mir flehend zu. „Danke. Sie müssen wissen, der Rittmeister -- übrigens +ein +prächtiger+ Mensch! -- wollte mich fordern -- auf Pistolen. Haben +Sie schon mal eine Pistole in der Hand gehabt? -- Ich nicht ... Wenn +es schließlich noch Säbel gewesen wären. Ich hatte eine Leidenschaft +für Säbel -- als Kind. Aber gleich -- wo sind denn die Socken! aha, +hier unter dem Nachttisch -- aber gleich: Pistolen! -- Ich bin -- +bin -- Himmel, jetzt habe ich eine Fußbank eingepackt! -- ich bin +unter +Filzhüten+ groß geworden. Mein Vater -- wollen Sie mir mal die +Zahnbürste reichen? Danke -- ist auch -- ist +auch+ unter Filzhüten +groß geworden. Mein Großvater -- --“ + +Da ich fürchtete, daß noch +viele+ des Geschlechts „unter Filzhüten“ +groß geworden seien, so lenkte ich ab. + +„Haben Sie denn eine Entschuldigung schroff abgelehnt --?“ + +„Den Teufel hab’ ich! Ich habe gesagt, daß ich unter +Filzhüten+ groß +geworden bin, und daß mein Vater ...“ + +„Unter Filzhüten groß geworden ist, ich weiß. Und war er von diesen +Filzhüten, wollt’ ich sagen: von diesen Erklärungen befriedigt?“ + +„Das schon. Aber wer weiß, er besinnt sich vielleicht wieder anders. +Gott, so ein Kavallerist. -- Das Handwerk verroht, nicht wahr? ... +Eine Tante von mir hatte ein Dienstmädchen, die hatte bei einem +Scharfrichter gedient ... nein, was die für Sachen erzählte, nicht +zum Wiedergeben. Ich hab’ sie übrigens auch vergessen. Aber +das+ ist +sicher: es gibt Berufe, die das Gemüt verkümmern lassen ... Und dann +wissen Sie, +ich+ bin nicht für die ‚Persönlichkeit‘ geboren. Und das +mit der Erziehung zur Persönlichkeit --“ + +Er riß plötzlich das majonnaisegelbe Buch, das ihm beim Bücken immer in +die Achselhöhle stach, zornig aus der Tasche und schleuderte es in die +Ecke -- „das ist Unsinn. Wenn man unter Filzhüten groß geworden ist -- +-- Sehen Sie nur --“ + +Er hielt plötzlich inne und zeigte mir die bereits quittierte Rechnung +des Hotels: „Was hab’ ich eigentlich +hier+ bezahlt?“ + +Er zeigte mit dem Finger auf einen unleserlichen Posten. „Ich kann’s +nicht lesen, der Oberkellner kann’s nicht lesen, Adele kann’s nicht +lesen -- aber es macht zwölf Mark.“ + +„Und Sie haben --?“ + +„Bezahlt! Natürlich. Lieber Herr Doktor, ich +bin+ eben keine +‚Persönlichkeit‘. Ich will fort, nach Hause -- Haferschleim kann ich +dort +auch+ essen, nicht wahr? Und Kavallerie-Rittmeister lade ich mir +ganz bestimmt nicht ein ... Würden Sie mir die Gefälligkeit erweisen, ++mit+ zur Bahn zu fahren? Das vorige Mal ist mir der Kutscher so grob +geworden -- ich habe dann gern jemand bei mir.“ + +Am Bahnhof spendierte sich Michael Monkebach ein Billett +erster+ +Klasse. Wegen der Nerven. + +Als der Zug ankam -- er hatte Verspätung, und alles mußte sehr eilig +gehen -- erwies es sich, daß das +einzige+ Coupé erster Klasse für +einen Erzbischof mit Bedienung belegt war. Die zweite Klasse aber war +durch den Andrang zu einem Sängerfest in der Umgegend total überfüllt. +So fuhr Michael Monkebach mit seinem teuer bezahlten gelben Billett in +einer dritten Klasse mit fünf jüdischen Viehhändlern, von denen einer +einen struppigen, unappetitlichen Bullenbeißer bei sich hatte, der +einen ungewöhnlich starken Hundegeruch ausströmte. + +Noch als sich der Zug in Bewegung setzte, rief ich Michael Monkebach zu: + +„Sie sollten sich beschweren -- ihr Geld zurückverlangen.“ + +Ich sah noch sein schmerzliches Lächeln hinter dem Fenster, das, vom +Regen gequollen, nur halb herunterzulassen war: + +„Lieber Gott, +ich+ und -- +beschweren+. Dazu gehört +Per--sön--lich--keit. Wenn man, wie ich ...“ + +Ich hörte nichts weiter, da einer der Viehhändler, auf dessen Fuß +Michael Monkebach wohl unabsichtlich getreten war, ihn sehr hart +anließ. Aber ich ahnte, was er hatte sagen wollen: „Wenn man, wie ich, +unter Filzhüten groß geworden ist ...“ + + * * * * * + +Ich hatte dann jahrelang nichts mehr von ihm gehört. Auch nichts von +seinen Filzhüten. + +Menschen, die unter anderen Dingen groß geworden waren, hatten mein +Interesse erweckt. Es waren wohl auch Damen darunter. Kurz, ich vergaß +ihn. Vergaß ihn so sehr, daß ich mich sogar seines Namens nicht mehr +entsann, als er in merkwürdigem Zusammenhang, allerdings nur so als +Appendix, als Mitläufer, zuerst wieder an mein Ohr schlug. + +Ich verkehrte damals viel in einem Kreise junger Literaten, die sich +gegenseitig sehr gut gefielen und jeden Freitag in dem Hinterstübchen +eines Restaurants im Westen zusammenkamen, um sich über die Gemeinheit +niedriger Lohnschreiber, die schnödes Geld mit ihren Büchern +verdienten, und über die lächerliche Talentlosigkeit aller nicht +zu ihrem Kreise Gehörigen aufgeregt zu unterhalten. Ich hatte mich +nicht als Mitglied aufnehmen lassen, da ich -- ohne den Rausch an +sich hochmütig zu verwerfen -- nie ein Freund davon war, mir mit +geschwollenen Redensarten Herz und Hirn zu füllen. Aber als Schwester +eines fanatischen Neutöners, der in seinen Gedichten niemals auch nur +das bescheidenste Satzzeichen anbrachte und deshalb von Heine, Lenau +und Mörike wie von sitzengebliebenen Schulbuben aus der Hilfsklasse für +Schwachsinnige sprach, nahm häufig ein sehr schönes Mädchen an diesen +denkwürdigen Sitzungen teil. + +Sie redete weder klug, noch töricht. Sie war +da+, das genügte. Denn +die Schönheit braucht eben nur vorhanden zu sein, um ohne weitere +Anstrengung Besonderes zu wirken. + +Sie bereitete sich dünnen Tee, während die andern meist geschmierten, +billigen Wein tranken; lauschte den donnernden Tiraden des alle Erfolge +aus der Hochburg seiner Unbekanntheit verachtenden Bruders und seiner +hohnlächelnden, umstürzlerischen Sippe und schlug zuweilen ein paar +große sanfte Kinderaugen zu mir auf, blau und tief, wie ein Märchen. + +Wie ein kleiner, zarter Paradiesvogel im ruppigen Krähennest kam +sie mir vor. Und ich begriff es völlig, daß gut die Hälfte aller +sogenannten Gedichte, die diesem kraftgenialischen Kreise entstammten, +an ihre stillen, blauen Augen gerichtet waren. Ich glaube, ich selbst +habe damals ... Aber das gehört nicht hierher. Denn meine Gedichte +reimten sich und gaben zuweilen, wenn man sie aufmerksam las, einen +Sinn. Zwei Eigenschaften, die sie in diesem erleuchteten Kreise dem +grimmigsten Hohn preisgegeben hätten. + +Diese künstlerische Vereinigung hatte auch einige durch Akklamation +gewählte und durch Nachtdepeschen, die diese stolze Ehrung meldeten, +erschreckte „korrespondierende Mitglieder“. Deren Briefe ähnelten +sich alle darin, daß sie sehr schlecht auf gelbe Notizbuchblätter, +zerknitterte Telegrammformulare oder benutzte Papiermanschetten +geschrieben waren und eigentlich weniger von den idealen +Angelegenheiten der Poesie und Kultur als von momentanen ärgerlichen +Verlegenheiten, peinlicher Geldnot, schmerzlicher Untreue einer +Kellnerin und solchen Dingen handelten. + +Nur +ein+ korrespondierendes Mitglied schien sich in leidlich +geordneten Verhältnissen zu befinden. + ++Maruschka Anastasia+ nannte sie sich in ihren Liedern. Sie war es, die +sich einer ganz erstaunlichen Wertschätzung in diesem Kreise erfreute. +Die Freiheit des Weibes wurde in ihren Gesängen gepredigt, gefordert, +gedroht; die Revolution der Ehe, die geharnischte Auflehnung gegen +uralte entehrende Sklaverei. + +Diese heftigen Gedichte wurden häufig an den Freitagsabenden +vorgetragen. Ein ziemlich verwahrloster, dicker, kleiner Mann, der, +wie er sagte, an einer „Reformation der Rezitationskunst“ arbeitete, +bestieg dann einen Stuhl, knöpfte umständlich den obersten Knopf seines +Hosenbundes und die beiden untersten Knöpfe seiner originell karierten +Weste auf, „damit die Bauchmuskulatur beim Vortrag nicht gehemmt +werde“, faltete die fettigen Hände über der eingedrückten Brust, schloß +die unschönen verschwommenen Augen, um tiefste seelische Konzentration +zu markieren, röchelte, als ob ihm ein D-Zug über beide Beine gefahren +wäre, und schrie plötzlich unter heftigen Zuckungen die Nächstsitzenden +an: + + „Nehmt mir die blut’gen Ketten aus dem Fleische, + Reißt mir die welken Rosen von der Stirn ...!“ + +Und dann gab er wohl zehn Minuten lang mit ungeheurem Gebrüll noch +unzählige Aufträge ähnlichen Inhalts, deren nähere Beschaffenheit +ich vergessen habe. Alles in wilden, bluttriefenden Versen. Wenn er +unter dem demonstrativen Jubel der Versammlung geendet hatte, stieg +er, sichtlich ermattet, dem Beifall mit den fetten Händen wehrend, +verächtlich lächelnd vom Stuhl, machte sich kalte Umschläge um die +Stirn und trank ein sehr bemerkenswertes Gemisch von rohen Eiern, +Kognak, Rotwein, und Benedektiner, das er „Lethe“ nannte. + +Wenn er sechs bis acht Glas Lethe getrunken hatte, nahm er sich einen +Taxameter, gab ihm geheimnisvolle Weisung und fuhr „in die Einsamkeit“, +wie er sagte. Die Mitglieder des Bundes nährten die Überzeugung, der +große Künstler ließe sich dann jedesmal bis zum Waldrand fahren; +dort steige er aus und erwarte schweigend, das Haar dem Spiel der +Morgenwinde preisgegeben, den ergreifenden Anblick des Sonnenaufgangs, +die einzig wahre Sensation, die ihm dies schale Leben noch zu bieten +habe. Seit ich ihn aber einmal, wenige Stunden nach solcher Sitzung, +nach Vortrag und reichlichem Lethegenuß in den Arkadiasälen mit einer +strohblonden Dame sehr heftig und sehr ungraziös Cake Walk tanzend +getroffen habe, war meine ehrfürchtige Bewunderung für das genialische +Einsamkeitsbedürfnis des dicken Lethekonsumenten stark erschüttert. Und +an die Sonnenaufgänge glaubte ich nicht mehr. + +Es waren immer Gedichte von Maruschka Anastasia, die der Reformator +der Rezitationskunst vortrug. Mir kamen sie wie lauter gereimte +Beschimpfungen des Mannes vor; und ich hätte, selbst wenn ich ihren +poetischen Gehalt an Bildern, schönen Wendungen, Blüten der Phantasie +höher eingeschätzt hätte, nicht recht begriffen, warum sich diese +Gesellschaft von flaumbärtigen Literaten just daran berauschte, ihr +eigenes Geschlecht vom Geifer des Hasses einer exaltierten Dame emsig +bespien zu sehn. + +Eines Abends -- der Lethetrinker saß nach getaner Arbeit gerade wieder +mit einer kalten Kompresse um die Reformatorenstirne in der Ecke und +rührte mit stimmungsvollem Ernst eine halbe Pulle rubinroten Rotwein +an drei verklepperte Eier -- sprang mir eine neugierige Frage auf die +Lippen. + +„Sagen Sie, liebes Fräulein“ ich wandte mich an die schweigend neben +mir mit dem Teekessel hantierende Besitzerin der blauen Märchenaugen, +„heißt Ihre Lieblingsdichterin -- ich muß sie doch wohl so nennen -- +diese Maruschka Anastasia nun +wirklich+ Maruschka Anastasia oder ...“ + +Der Lethemischer unterbrach alsobald seine rührende Tätigkeit und +stand plötzlich einen sehr lieblichen Geruch nach Kognak und Rotspohn +verbreitend neben mir: + +„Das wissen Sie wirklich nicht? Aber, Mensch, wo +leben+ Sie? Maruschka +Anastasia ist eine Frau, nicht fern dem Ende der zwanziger, man kann +schon sagen Anfang der dreißiger. Eine verheiratete Frau --“ + +„Natürlich +un+glücklich verheiratet?“ warf ich ein. + +„Na--tür--lich.“ + +Und irgendwoher aus dem Zigarettenrauch kam eine müde Stimme: + +„Haben Sie überhaupt schon einmal eine +glückliche+ Ehe gesehen?“ + +„Nun -- ich dächte zum Beispiel meine Eltern ...“ + +Der Lethemischer roch mitleidig lächelnd an seinem Glase: + +„Es liegt mir fern, die Ehe Ihrer geschätzten Eltern hier auf die +von Ihnen behauptete Trivialität untersuchen zu wollen. Wäre ja auch +eine fruchtlose Bemühung. Ich kenne von dieser Ehe auch nichts, als +ihr Produkt: +Sie+. Im Anblick dieses Produkts kann ich mich aber -- +ohne ihren vielleicht verborgenen Qualitäten nahetreten zu wollen -- ++nicht+ zu dem freudigen Glauben durchringen, daß die dazu nötige +Ehegemeinschaft eine glückliche war.“ + +„Danke,“ ich verneigte mich. „Aber auf meine belanglose Person wollte +ich wirklich das durch Ihre gütige Mitwirkung so interessante Gespräch +nicht bringen. Ich fragte in aller Bescheidenheit nach den näheren +Verhältnissen der hier so geschätzten Dichterin Anna Maruschka. Fragte, +weil es mich interessiert, ob da persönliche Erlebnisse vielleicht den +Grund zu dieser düsteren Lebensanschauung gelegt haben, oder ...“ + +Jetzt nahm der kleine Egon Felix Gundelmann das Wort. Ein äußerst +merkwürdiger Jüngling, den ich, so lang ich ihn kenne, nie etwas +anderes habe betrachten sehen, als seine eigenen Fingernägel; ohne +daß er aus dieser Betrachtung einmal das naheliegende Bedürfnis +geschöpft hätte, diese Objekte seiner ungeteilten Aufmerksamkeit zu +reinigen. Er fiel durch eigene Produktion in diesem Kreise niemals +lästig. Aber er war, um mit Hamlet zu reden, so etwas wie der +Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters. Allerdings Spiegel +und Chronik ganz im Sinne der anregenden Gesellschaft, die seine +mehr auf Sammeleifer als auf Gedanken beruhende Weisheit umgab. Er +hatte ein geradezu phänomenales Gedächtnis für Namen und Zahlen, war +wegen dieser letzteren Eigenschaft bei den Kellnern sehr unbeliebt, +erschien aber als der geborene Literaturhistoriker, ein wandelndes +Nachschlagewerk. Wann der oder jener giftige Vierzeiler auf der 387sten +Seite der Zeitschrift „Marsyas“ rechts oben in der Ecke gestanden +hatte; wieviel an Honorar die genannte Zeitschrift -- der anerkannte +Sammelpunkt der „Jüngsten“ -- dem oder jenen Neutöner für seine +tiefempfundenen „Elegien in freien Rhythmen“ schuldig geblieben war; +wie hoch die unheimlichen Saarweine, die der Lethefreund vor drei +Jahren in die Frühlingsbowle geschüttet hatte, auf der Karte notierten +und mit welchem Aufschlag sie der verbrecherische Kellner in Rechnung +gestellt hatte -- all solche schwierigen Fragen und erstaunlichen +Gedächtniskunststücke bewältigte Egon Felix Gundelmann spielend. Sobald +Namen, Taten, Zahlen in Frage kamen, blickten aller Augen fragend +und wißbegierig auf ihn. Die seinen aber verweilten nach wie vor auf +seinen unsauberen Fingernägeln, und aus diesen unschönen Ausläufern +seiner Persönlichkeit schien er all sein verblüffendes Wissen mühlos +herauszulesen. + +„Maruschka Anastasia“, sagte er jetzt, „ist geboren vor dreiunddreißig +Jahren am neunzehnten Juli, d. h. an dem Tage, an dem im Jahre 1796 +der Buchhändler Georg von Cotta geboren wurde, der später, auf den +Ungeschmack der Menge bauend, den Werken der sogenannten Klassiker +eine heute noch schädlich nachwirkende Verbreitung leihen zu müssen +glaubte. An demselben Tage wurde fünfundzwanzig Jahre später der +Dichter Gottfried Keller in Zürich geboren, dessen Werke ich zwar +nicht hoch einschätze, der aber durch die knorrige Grobheit seines +Wesens und durch die bis ins späte Alter bewährte Vorliebe für starke +gegorene Getränke verriet, daß vielleicht etwas in unserem Sinne aus +ihm geworden wäre, wenn er sich entschlossen hätte weiter zu hungern, +anstatt sich als Staatsschreiber in die schmachvolle Abhängigkeit des +Kantons Zürich zu begeben. Daß an diesem selben Tage dann im Jahre 1870 +Frankreich an Preußen den Krieg erklärte, erwähne ich noch nebenbei. +Dieser Krieg hat für das geistige Deutschland eine tiefe Demütigung +gebracht, indem der Singsang der sogenannten patriotischen Dichter +zu einem Ansehen gelangte, das jeden ästhetisch reifen Beurteiler, +der an die große Zukunft der ungereimten, abstrakten Gedankenpoesie +glaubt, mit tiefster Beschämung erfüllen muß. Wir haben durch diesen +Krieg einige Schlachten und einige Kriegervereine gewonnen und dafür +auf Jahrzehnte das Bewußtsein unserer in blöden Siegesfesten ersäuften +Kulturmission verloren. Erst dadurch, daß vor dreiunddreißig Jahren +Maruschka Anastasia als Tochter eines durch seelische Verirrungen +zum Winkelkonsulenten herabgesunkenen ehemaligen Notars und einer +echten Tochter des Volkes geboren wurde, hat dieser Julitag für das +intellektuelle Deutschland der Zukunft wieder einen Klang und eine +Bedeutung gewonnen.“ + +Egon Felix Gundelmann las diese letzten Worte vom Nagel des Daumens +seiner linken Hand mit sichtlicher Befriedigung ab. Ich dankte mit +einigen unbedeutenden Worten für die gütige Belehrung, gab aber der +Ansicht Ausdruck, daß meine Frage eigentlich damit nicht beantwortet +sei, da ich zu wissen verlangte, ob Maruschka Anastasia der richtige, +in den Standesbüchern eingetragene Name dieser erstaunlichen Frau sei, +und ob sie selbst die von ihr so glühend gehaßten Ehefesseln jemals +getragen und -- wie ich fast vermuten müsse -- mit all der Kühnheit, +die ihre Gesänge durchbrauste, hohnlachend abgeschüttelt habe. + +Egon Felix Gundelmann betrachtete eingehend den Nagel seines mit einem +häßlichen Geschwür aus kupfrig glänzendem Gold geschmückten Ringfingers +und gab -- immer im Ton einer wissenschaftlichen Vorlesung -- die +überraschende Auskunft: + +„Maruschka Anastasia heißt eigentlich mit ihrem Mädchennamen Anna +Kuntze -- mit tz. Auf das tz legt sie Wert. Die letzten Nachrichten, +die wir von ihr hatten, stammen vom 21. Juli des Vorjahres. Sie +dankte uns damals für ein in der Nacht ihres Geburtstages aufgegebenes +Nachttelegramm, das sie selbst, wie sie schrieb, herzlich erfreut +und ihrem offenbar sehr schreckhaften Mann eine kleine Nervenattacke +eingetragen. Sie nennt sich jetzt Maruschka Anastasia Monkebach-Kuntze +und lebt körperlich +neben+, seelisch aber weit getrennt von einem +Mann, der ein kleiner Rentier sein soll und sie, ohne ihre Bedeutung +irgendwie mit ethischem Verständnis zu durchdringen, mit gebührender +Verehrung behandelt.“ + +„Monkebach-Kuntze. -- Monkebach -- Monkebach ...“ Ich wiederholte den +Namen immer wieder. Wo hatte ich ihn bloß schon gehört? und in welchem +Zusammenhang? Ich dachte an eine Menagerie, die ich als Kind besucht -- +aber nein, die hieß Münsterbach. Dann dachte ich an einen Zahnarzt, der +mir -- schrecklichen Angedenkens -- einen ganz gesunden Zahn mit Gold +plombiert hatte. Aber nein, der hieß -- ja, wie +hieß+ der? Und jetzt +war ich +ganz+ konfus, und meine erregten Gedanken pendelten zwischen +Maruschka Anastasia und einem verbrecherischen Zahnarzt hin und her, +ohne einen Halt zu finden. + +Egon Felix Gundelmann hatte mittlerweile noch ein ganzes Taschenlexikon +biographischer Details über mich ausgeschüttet. Ich hörte nicht zu. Da +traf plötzlich die trockene Anmerkung mein Ohr: + +„Die Tragikomödie dieser Ehe eines lächerlichen Philisters mit +einer ganz eigenartigen weiblichen Psyche mit einem von der +leidenschaftlichen Liebe zum großen Erlebnis genährten Genie vollzieht +sich in der Stadt mit dem unsagbar trivialen Namen Bimmlingen.“ + +Ich stutzte. + +„In Bimmlingen sagten Sie? Seltsam, dorthin muß ich spätestens Anfang +nächster Woche in Vermögensangelegenheiten.“ + +„Vermögensangelegenheiten!“ Der Lethetrinker sprach das Wort mit +tiefer Verachtung mehr in sein halbgeleertes Stengelglas, als zu mir. +„Vermögensangelegenheiten! Für solche Trivialitäten ist Bimmlingen gut. +Aber als Leidenswiege für die zerrüttete Seele einer großen Poetennatur +...“ Der Satz war auf bedeutungsvolle Steigerung angelegt. Aber der +Reformator hatte den Schluckser und mußte sich sehr zu seinem Ärger +hier unterbrechen. + +Mein Geständnis, daß ich nach Bimmlingen reisen mußte, hatte Bewegung +in die dichten Zigarettenwolken des nie gelüfteten Raumes gebracht. Man +sah sogar wieder Gesichter. Erstaunte, interessierte Gesichter. + +Alle redeten durcheinander. + +Egon Felix Gundelmann gab, wie mir schien, in seiner leidenschaftlichen +Art einen kurzen Abriß aus der Stadtgeschichte von Bimmlingen. Ein +hier hochgeschätzter Romancier, der seine Bücher erst nach seinem Tode +weiteren Kreisen bekannt zu geben wünschte, spendete mir den dringenden +Rat, sofort von der Bahn aus zu Maruschka Anastasia zu fahren, um +sie meiner und seiner Verehrung zu versichern. Ein bereits zweimal +verbotener Dramatiker hoffte, daß ich in Bimmlingen ein zuverlässiges +„Tagebuch“ führen werde. Andere hatten noch weitergehende Wünsche +in Beziehung auf meine Reise nach dem durch Maruschka Anastasia +interessant gewordenen Nest. + +Das Mädchen mit den tiefblauen Augen aber setzte die Teetasse hin, +legte mir die spitzen, schlanken Finger ihres reizvollen Händchens mit +noch nie geübter Vertraulichkeit auf den Unterarm und tat, was sie +eigentlich noch nie getan: sie sprach einen zusammenhängenden Satz. Ich +weiß heute, nach elf Jahren! noch ganz genau, wie er lautete: + +„Darf ich Sie bitten, lieber Herr Doktor, Frau Maruschka Anastasia zu +sagen, daß ich sie liebe,“ (wenn sie dieses „sie“ damals im Sprechen ++groß+ geschrieben hätte, so hätte ich zweifellos „die“ Dummheit meines +Lebens gemacht!) „und daß es mich beglücken würde, ein paar Zeilen von +ihrer Hand zu besitzen in meiner Selbstschriftensammlung, die fast alle +Neueren von Atzler bis auf Zülferich umfaßt.“ + +Ich gestehe beschämt, daß ich damals weder wußte, wer Atzler noch +wer Zülferich war. Aber ich tröste mich damit, daß es heute auch ++die+ wieder vergessen haben, die es einmal gewußt hatten. Denn die +literarischen Taten von Atzler und Zülferich meldet kein Lied, kein +Heldenbuch; und sie sind, wie alle Mitglieder jener festlichen Abende +um den Reformator der Rezitationskunst, wie der seltsame Romancier, der +für seinen Nachlaß arbeitete, und wie der unwahrscheinliche Polyhistor +Egon Felix Gundelmann längst untergetaucht im ruhmlosen Gewoge des +Alltags, der Trivialitäten ... + +Aber meine Fahrt nach Bimmlingen hatte jetzt einen neuen Sinn, einen +ungeahnten Glanz bekommen. Nicht daß ich selbst vor Neugier platzte, +die genialische Maruschka Anastasia von Angesicht zu Angesicht +zu sehen. Aber wenn ich mit einem wundervollen, inhaltreichen +Stammbuchblatt von ihrer Hand wiederkam ... Mir fielen Beispiele +ein, daß Prinzen im Märchen durch ein kühn erstrittenes kostbares +Geschmeide die lang versagte Gunst einer spröden Schönen im Sturme +gewannen. Beispiele ... Beispiele ... Es gehört zu den unbestreitbaren +Merkwürdigkeiten meiner sonst nicht eben komplizierten Natur, daß mir +für +jede+ Dummheit, die ich zu machen im Begriffe stehe, „Beispiele“ +einfallen. Viele und vortreffliche Beispiele. + +... Als ich einige Tage später -- doch früher, als ich ursprünglich +geplant -- nach Bimmlingen reiste, war meine eigene Angelegenheit ganz +in den Hintergrund getreten. + +Es war auch gut. Denn in Bimmlingen zeigte es sich sehr bald, daß +das kleine Grundstück, an dem ich als glücklicher Erbe zusammen +mit drei Vettern, einer Tante und einem Waisenhaus beteiligt war, +so gut wie wertlos war, da es dicht neben dem Viehhof lag und ein +normaler Mensch mit gesunden Geruchsnerven das abscheuliche Terrain +nur bei östlichen Winden, die den Stank der Ställe nach der anderen +Seite entführten, betreten konnte. Die meteorologischen Notizen des +Bimmlinger Tageblatts, dessen drei letzte Jahrgänge ich daraufhin +durchsah, ergaben aber, daß die angenehme Stadt Bimmlingen meist von ++westlichen+ Winden bestrichen wurde; und als ich einem Bimmlinger +Immobilien-Agenten den Kaufpreis nannte, den die miterbende Tante +ersonnen und für den uns das scharmante Grundstück feil sein sollte, +bekam er einen langandauernden Lachkrampf und versicherte mir, daß er +einen so guten Witz nicht mehr gehört habe, seit der letzte Zirkus in +Bimmlingen abgebrannt sei. Da die Tante als Miterbin aber von ihrem +phantastischen Preis nicht heruntergeht, sind wir heute noch im Besitz +des unbebauten Grundstücks und haben die Freude, ein über das andere +Jahr zirka hundert Mark für einen neuen Stachelzaun zu bezahlen, der +einer fröhlichen Jugend Bimmlingens wehren soll, im Unkraut unseres +Besitzes künstliche Festungen zu graben. + +Ich hatte mir für die mir inniger am Herzen liegende Aufgabe, die +Selbsteinführung in die Familie Monkebach-Kuntze, einen, wie mir +schien, vorbildlich schlauen Schlachtplan ersonnen. Am Tage meiner +Abreise hatte ich an +Herrn+ Monkebach-Kuntze ein sehr verbindliches +Kärtchen geschrieben. Voller Interesse, seine berühmte Gattin kennen +zu lernen, vom Wunsche beseelt, ihr meine persönliche Verehrung und +die meiner Freunde in einem Handkuß auszudrücken, zugleich aber auch +geängstigt von dem Gedanken, daß ich die Dichterin in ihren die Welt +erleuchtenden Arbeiten in nie entschuldbarer Weise stören könnte, wagte +ich es, bei dem von mir unbekannterweise hochgeschätzten Gatten der +seltenen Frau in aller Bescheidenheit anzufragen, ob ... und wann ... +und wie ... + +Es war wirklich ein sehr anständiger Brief. Der Rabe mußte meiner +Berechnung nach den Käs fallen lassen, wie in der hübschen alten Fabel. + +Er +ließ+ ihn fallen. Als ich ins Hotel kam, lag schon ein Briefchen +da. Unterschrift: Michael Monkebach. + +Monkebach, Mon--ke--bach -- wieder rollte mir der Name wie eine +Billardkugel im Kopfe herum; und nach einer nicht sehr geistreichen +Gewohnheit trat ich erst eine Weile ans Fenster, stierte über die +reichlich schmutzige Straße auf das schiefhängende Schild einer Woll- +und Strumpfwarenhandlung und dachte emsig nach. Dann erst las ich den +Brief. + +„Sehr geehrter Herr Doktor, mich freut’s herzlich Sie nach so +langer Zeit wiederzusehn“ -- +wieder+zusehn, wieso? -- „Ich kann +es ja begreifen, daß Ihr hochgeschätzter Besuch, der uns äußerst +angenehm ist“ -- +uns+? -- auf ihn kam mir weniger an -- „mehr meiner +lieben Frau gilt, als mir“ -- wie käme ich auch wohl dazu, +Herrn+ +Monkebach zu beehren? es sei denn, daß er am Viehhof ein Grundstück +suchte -- „Nichtsdestoweniger wird mir die Erinnerung einer lieben +Badebekanntschaft ein nicht gewöhnliches Vergnügen bereiten“ -- +Badebekanntschaft? Herr Monkebach wird doch am Ende nicht der Herr +sein, der in Karlsbad einmal neben mir wohnte und früh morgens um halb +sechs immer Lohengrins Abschied sang, bis ich ihm durch den Kellner +sagen ließ ... „Ich bin ja älter geworden, seit wir uns zuletzt gesehen +--“ sehr wahrscheinlich, ich bin ja +auch+ nicht jünger geworden -- +„aber ein gewisses ruhiges Glück ist bei mir eingekehrt“ -- nanu, bei +der ewigen Kettensprengerin ein ruhiges Glück? +Der+ Mann mußte Nerven +haben, wie Stahl, oder -- „Und was mich mit Stolz erfüllt, Sie werden +sehen, so wenig ich auch an dem unvergleichlichen Talente meiner lieben +Maruschka Anastasia beteiligt bin“ -- beteiligt; ein geschäftlicher +Ausdruck, der mir sehr mißfiel. Sollte Herr Monkebach etwa jener +schlanke Herr mit dem gefärbten Barte sein, der mir nach einem +harmlosen Tischgespräch auf Rigi Scheideck beim Dessert meuchlings die +Preisliste seiner Naturweine über den Tisch reichte? ... „beteiligt +bin, so darf ich doch ohne häßliches Eigenlob wohl sagen, daß mein +persönlicher Einfluß ...“ + +„-- +persönlicher Einfluß+!“ ... Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. + +Monkebach -- natürlich, so +hieß+ er ... Der Mann mit dem persönlichen +Einfluß. Der Turner mit der Wasserkaraffe. Der dankbare Leser des +mayonnaisegelben Büchleins: „Wie werde ich energisch?“ Der Gegner +-- +beinahe+ Gegner des kampflustigen Rittmeisters. Der Liebling der +allwissenden Kanzleirätin. Alles kam mir wieder ins Gedächtnis. Alles. +Und ich war so vergnügt in diesen Erinnerungen, daß ich abends ins +Stadttheater ging, wo ein unsagbar dummes Lustspiel hundeschlecht +gespielt wurde. Ich aber saß unter den ärgerlichen Zuschauern +und lächelte fröhlich vor mich hin. Ich sollte den Mann mit dem +persönlichen Einfluß wiedersehn als Gatten einer intellektuellen +Kettensprengerin. + +Am nächsten Morgen hüllte ich mich in eine erlesene Besuchstoilette, +zog meinen poetischsten Schlips an, ließ meinen Zylinder aufbügeln, +kaufte drei purpurrote Rosen an Stielen, so lang wie Spazierstöcke, und +machte mich auf den Weg. + +Kitzlingerstraße 15. Ein bescheidenes Landhaus in einem nicht +übel gepflegten Garten. In den Rasenflächen standen gräßliche +kleine Terrakotta-Gnome mit feuerroten Zipfelmützen umher. Auch +Rehe aus buntem Gips und giftig grüne Riesenpilze als originelle +Sitzgelegenheiten aus derselben Masse erschreckten das Auge. Mir schien +das +sein+ persönlicher Einfluß auf den Garten. Die Dichterin übersah +wohl den kinkerlitzigen Zierat. + +Kaum hatte das Mädchen -- ich habe nie wieder solche Mischung von +Unsauberkeit und Stupidität in einer weiblichen Erscheinung beobachtet +-- meine Karte erst selbst mit Aufmerksamkeit gelesen, dann in ein +Zimmer getragen, so hörte ich auch schon Monkebachs frohbewegte Stimme: + +„Hier herein, bitte, nur +hier+ herein!“ + +Grau war er geworden, der gute Michael Monkebach. Den Schneider schien +er noch nicht gewechselt zu haben seit damals. Der Rock schlotterte +immer noch um seinen nicht unansehnlichen Leib, und die Weste sah +immer noch aus, als habe er sie von einem Verwandten geerbt, der +ihn an Leibesfülle ums Doppelte übertraf. Der verblichene Erblasser +mußte allerdings eine Sehenswürdigkeit gewesen sein, die alle in den +Panoptiken vorgestellten Monstra weit hinter sich ließ. + +Michael Monkebach schüttelte mir beide Hände. Er war wirklich sichtlich +erfreut. Dann drückte er mich in ein niedriges und erstaunlich hartes +Sofa und begann die Unterhaltung mit einer Flut von teilnehmenden +Fragen nach meinem Wohlbefinden und meinen Geschäften, die mich hierher +führten. Es war dabei eine große Erleichterung für mich, daß er sich +eigentlich alle Fragen selbst beantwortete. Über meine Person, über +einen Onkel von mir, der auf dem Friedhof in Bimmlingen lag und einen +sehr unverständlichen Spruch auf dem Grabstein hatte, über eine Tante +von +ihm+, die ich einmal in Berchtesgaden getroffen, und endlich über +mein übelriechendes Grundstück am Viehhof, das er kannte, weil er +früher -- als Junggeselle -- stets die Wurstpapiere seines Frühstücks +bei Spaziergängen über den bewußten Stachelzaun geworfen, kamen wir +endlich auf seine Frau. + +Ich deutete in einer Pause, die ein Hustenanfall in seine Rede riß, +bescheidentlich an, daß es mich interessieren würde, wo sich die +interessante Dame jetzt aufhalte. + +„Sie hat heute morgen,“ sagte er, „als sie ein heißes Fußbad nahm, eine +Inspiration gehabt. Eine außerordentliche Inspiration. Sie ließ sich +kaum Zeit, sich abzutrocknen und anzuziehen. Und jetzt --“ er deutete +glücklich lächelnd nach einer grüngepolsterten Türe, die den Nebenraum +abschloß. + +„Aha -- sie dichtet?“ + +Michael Monkebach nickte mit einem selig zustimmenden Lächeln, als +wolle er sagen, daß mein Scharfsinn das einzig passende Wort für die +von ihr geübte Tätigkeit gefunden habe. + +„Sie werden sie +sehen+!“ sagte er dann. Wenn es sich um die Königin +von Saba gehandelt hätte, er hätte nicht strahlender dreinschauen +können. + +In diesem Sinne sprach ich einige glückwünschende Worte. + +Er senkte den vorgeneigten Kopf in die Schultern, als lasse er sich +warmes Wasser wohlig den breiten Rücken herunterlaufen und genoß meine +Teilnahme mit rührendem Behagen. + +Als ich geendet, nahm er das Wort; und während er mit der Spitze +des Zeigefingers die kleinen Careaus auf meinem linken Oberschenkel +nachfuhr, was mir gerade nicht sonderlich angenehm war, legte er +in gedämpftem Ton, von Zeit zu Zeit verstohlen nach der unbewegten +grüngepolsterten Türe spähend, die Beichte eines Glücklichen ab. + +„Sehn Sie, lieber Freund,“ sagte er, „ich darf Sie doch so nennen? ++Alle+ Leute +beneiden+ mich. Wie ich Ihnen sage! Ich hab aber auch ein ++Glück+, sag’ ich ihnen ... Ich bin kein Jüngling mehr, nicht wahr? +Unter uns: ...zig Jahre. Na, und sie -- erst fünfundzwanzig.“ + +Er log nicht ohne Grazie. Oder sollte die Dichterin selbst von solch +kleinlichen Eitelkeiten nicht frei sein und ihm erzählt haben, daß ...? + +„Die Verlobungszeit hätte ja unangenehm sein können. Abends immer +Theater, Gesellschaft, Konzerte -- gräßlich! Und dann so um neune rum +muß ich immer mal ein Nickerchen machen. Nur ’n paar Minuten, nachher +bin ich für ’ne Stunde wieder ganz mobil. Aber ich +muß+ einfach. +Da hilft nichts. Naturzwang! Na, da war’s nu ’n riesiger Dusel, daß +Maruschka Anastasia schon dreimal verlobt war ... Sie hat keinen großen +Wert mehr auf solche Aufmerksamkeiten gelegt, wie sie sonst unter +Brautleuten ... na, ist ja auch ein gräßlicher Blödsinn! -- Und dann +war ja ihr +Vetter+ da, der von den siebenten Ulanen. Sie erinnern sich +doch -- der Rittmeister.“ + +„Pardon, der Rittmeister, mit dem Sie +damals+ ...“ + +„Jawohl, mit dem ich damals -- beinahe ...“ Er zielte mit einer +imaginären Pistole listig mit dem Auge blinzelnd nach dem Bilde einer +stark dekolletierten alten Dame an der Wand. „Komisch ist das Leben, +nicht? +Der+ ist Maruschka Anastasias Vetter. +Zu+ ein netter Mensch. +Er schätzt sie sehr. +Sehr+. Und damals schon -- als wir verlobt +waren -- immer viel Literarisches um sie rum. Sie dichtete ja damals +schon. Das war aber nur so die Ouvertüre, sag’ ich Ihnen. Und jetzt -- +Berühmtheit! Ze--le--bri--tät! Achtzehn Auflagen in drei Jahren. Im +Winter oft drei bis fünf Einladungen pro Abend! Ja, sehen Sie, +das+ +nennt man ‚Ruhm‘. Und wissen Sie, wessen Verdienst das ist? +Mein+ +Verdienst ... Lachen Sie nicht -- +mein+ Verdienst. Ihre Lyrik, um was +dreht sie sich? Lesen Sie nur mal aufmerksam ihre Sachen. Frühling -- +is nicht. Sogenannte ‚Liebe‘ -- is nicht. Heimatsklänge -- is nicht. +Und all so was Schönes -- is nicht. Aber +Ehe+, sag’ ich Ihnen, alles ++Ehe+! Großartig, diese Wahrheiten, die sie +mir+ da sagt. Und erst +was +ich+ ihr entgegne -- alles natürlich in Versen, die +sie+ macht. +Ich --? wissen Sie, ab und zu mal ’nen Brief, aber Verse, ach nein. +Niemals nie. Und nun +diese+ Frau! Ich komme zu +dieser+ Frau. Was für +ein Glück, sagen Sie selbst. Sie dichtet für +beide+. Sie schmeißt mit +den Ehefesseln nur so um sich. Ach, und wie sie dabei aussieht! -- Ihr +Vetter von den gelben Ulanen, der Rittmeister -- +zu+ ein lieber Mensch +-- ruft immer ‚Sopha!‘ ... nein, wollt’ ich sagen: ‚Sappho!‘ ruft er, +‚Sappho!‘ ... Und sehen Sie, Gott ja, andere Frauen dichten ja auch +mal. So Blaumblümleinsuppen und solche Sachen. Oder von ‚ihm‘. Sie +dichtet +auch+ von mir, meine Sappho. O ja! aber, sehen Sie, nicht wie +die andern. Sie dichtet mich nicht +an+; sie dichtet mich +ab+.“ + +„Pardon, sie dichtet Sie +ab+?“ + +„Ja.“ Er nickte still befriedigt vor sich hin. + +„Was verstehn Sie, wenn ich fragen darf, unter ...“ + +„Wie ich das verstehe: ‚abdichten‘? O, sehr einfach. Ich sag’ Ihnen ja, +sie ‚sprengt fortgesetzt Fesseln‘. Geistig natürlich nur; seelisch, +nicht wahr. Und die Kette, sehen Sie, die +dickste+ Kette, das bin +ich.“ Ein unsagbarer Stolz leuchtete warm und herzerquickend aus seinen +Augen, als er fortfuhr: „Ne, wenn ich +das+ gedacht hätte, als wir in +Prima den ‚Lakoon‘ lasen, daß ich noch mal in die Literaturgeschichte +komme! Das muß ich doch. +Mit+ dem Bild. Und diese Kette wirft sie weg. +Bloß in Gedichten, bitte. Reine Phantasie. Mein Gott, ich habe 15000 +Mark Rente -- da ‚wirft‘ ’ne vernünftige Frau nicht so leicht. Aber Sie +sollten sie mal deklamieren hören: + + ‚Ha, Elendsgötze meiner schwülen Nächte, + Beugst du die Fratze lüstern über mich --!‘ + +Sehen Sie, +das+ nenn’ ich ‚+ab+dichten‘. +An+dichten kann man’s +schon nicht nennen. Guter Ausdruck, was? Von mir! Und nun stellen +sie sich bloß vor: +das+ Glück! Abend für Abend sitze ich nach dem +Abendessen unter irgendeiner Palme -- Gott, Palmen gibt’s ja jetzt in +allen Wohnungen bei uns -- und sie, mein ‚Sappho‘, steht im Kreise +der andächtig Lauschenden. In einer Toilette, die mich bei Gerson +vierhundert Mark gekostet hat. Das war noch ‚Vorzugspreis‘ ... Sie +liest wundervoll vor. Ich sage Ihnen, wie diese einzige Frau solche +Pointen herausbringt: + + ‚Den Schlaftrunk her, daß seine roten Augen + Die Schönheit meiner Jugend nicht beschmutzen ...‘ + +Großartig! Ihr Vetter von den gelben Ulanen, der Rittmeister -- +zu+ +ein netter Mensch! -- weckt mich jedesmal, wenn’s zu Ende ist, unter +meiner Palme. Ein guter Kerl, seelensgut. Kennt keinen Neid. Wenn wir +dann zusammen nach Hause fahren -- er wohnt dicht neben uns, ja, Wand +an Wand -- ja, wenn wir so im Wagen sitzen, wissen Sie, was er dann +sagt: ‚+Das+ können Sie sich ruhig sagen, liebster Michael‘ -- meint er ++mich+ -- ‚+Sie+ haben da +mit+gedichtet. Wissen Sie, ohne +Sie+ wär’ +ja die ganze Geschichte unmöglich.‘ Recht hat er. Wahrhaftig. Und da +sagen die dummen Leute, ich bin nicht glücklich!“ + +„So, sagen die Leute so was?“ + +„Ja. Aber wir haben einen Trick. Wir +lassen+ sie dabei.“ Er rieb sich +verschmitzt die Hände. „Wahrhaftig, das tun wir. Es ist so ein bißchen +moderne Reklame für die Bücher, verstehn Sie. Mein Gott, Maruschka +Anastasia braucht’s ja nicht, aber -- --“ + +Er verstummte plötzlich und sah nach der Tür. Sie hatte sich bewegt, +ging auf. + +Maruschka Anastasia stand im Türrahmen und sprach nach hinten zu +einem Herrn, der ihr langsam, die Hände in den Hosentaschen, in einem +grauen Wölkchen Zigarettenrauch folgte. Der Herr war in Uniform -- in +Ulanenuniform, wie mir schien. Es war der Rittmeister. + +„Ihre Frau Gemahlin hat Besuch --?“ Die Bemerkung entschlüpfte mir wohl +im Ton eines leichten Staunens. + +„Besuch?“ Michael Monkebach dämpfte die Stimme zu einem scheuen +Flüstern, wie es weißhaarigen Kastellanen in alten Schlössern eignet, +die dadurch die tiefe Ehrfurcht vor den an den Wänden hängenden +Ahnenbildern ausdrücken und den Wert der gezeigten Raritäten zu +steigern glauben. „Besuch? O nein. Das ist doch bloß unser lieber +Vetter, der Rittmeister. Maruschka Anastasia produziert leichter, wenn +eine Vollnatur sich im selben Raume mit ihr aufhält. Sie fürchtet sich +zuweilen vor ihren eigenen Träumen, vor den Gestalten ihrer fiebernden +Phantasie. Dann gewinnt sie neuen Schaffensmut aus den kraftvollen, +seelischen Ausstrahlungen solcher gesunden, in sich gefestigten +Vollnatur.“ + +Ich will gehängt sein, wenn ich in diesem Augenblick nicht den Eindruck +hatte, als ob die gesunde, in sich gefestigte Vollnatur mit dem spitzen +Zeigefinger der langsam aus der Tasche gezogenen Rechten der sensiblen +Dichterin in der Richtung ihres neckischen kleinen Halsausschnittes +„Kicks“ machte. Wie gesagt, es war mein Eindruck. Aber ich befand mich +hier in einer wunderreichen Atmosphäre, die vielleicht Halluzinationen +der seltsamsten Art begünstigte. Es kann also auch eine Täuschung +gewesen sein. + +Jetzt entdeckten uns die beiden und näherten sich in harmloser +Freundlichkeit. + +Michael Monkebach stellte mich vor, erklärte mit nicht wenigen Worten +den Zweck meines Besuches, indem er von dem Viehhof zu Maruschka +Anastasias Gedichten und von dem Gestank meines ererbten Grundstücks zu +meiner Verehrung für die Poesien der Kettensprengerin die kühnsten und +erstaunlichsten Übergänge fand. + +Der Rittmeister, dessen hervorstechendste Eigenschaft nicht die Geduld +zu sein schien, unterbrach den Redefrohen mit der kühl abgegebenen +Erklärung, daß er erfreut sei, mich hier zu sehen; daß er ferner hoffe, +ich habe eine gute Reise gehabt; und daß er wünsche, ich fühle mich von +den in meinem Hotel vorgekommenen Pockenfällen nicht weiter beunruhigt. + +Ich hatte Zeit, die gefeierte Dichterin zu betrachten. + +Wenn ich nicht durch zweier einwandfreier Zeugen Mund erfahren hätte, +daß es tatsächlich Maruschka Anastasia sei, die leidenschaftliche +Sängerin befreiter Liebe, so hätte ich unbedenklich geschworen, es +sei ein langsam in die minder köstlichen Jahre kommendes kleines +Mädel aus der Konfektion, vielleicht vom Hausvoigtei-Platz in +Berlin, die zunächst mal wohl daran täte, abends früher zu Bett zu +gehen und dreimal täglich Plautsche Pillen zu nehmen. Haare von +indifferentem staubigen Blond, an der nicht eben hohen Stirne zu +unwahrscheinlichen Löckchen gekräuselt, eine kecke Stumpfnase unter +müden, wasserblauen Augen, sehr blasse, blutarme Hände, und eine wie +von einem schmerzenden Bußgürtel geschnürte zerbrechliche Taille -- +so sah die Kettensprengerin aus, die Abgöttin meiner genialischen +Freitagsgesellschaft, die Gattin Michael Monkebachs, des Mannes mit dem +persönlichen Einfluß. + +Ich überreichte ihr wortlos die drei Rosen an den langen Stengeln. Sie +beugte huldvoll lächelnd die Stupsnase tief in einen der roten Kelche +und machte die vortreffliche Bemerkung, wie seltsam es doch sei, daß +solche Treibhausrosen häufig einen direkt widerlichen Medizingeruch +hätten. Zum Exempel auch diese. + +Der Rittmeister, der an den Rosen riechen durfte, bestätigte diese +interessante Beobachtung. Die Erwähnung der Medizin brachte ihn wieder +auf die betrübenden Pockenfälle in meinem Hotel, die man sicherlich vor +den bedauernswerten Gästen geheim halte. + +Er knüpfte daran die lehrreiche Geschichte von einem Gasthof zweiten +Ranges in der Provinz Posen, in dem vor Jahren eine plötzlich +ausbrechende Typhusepidemie aus schnöder Gewinnsucht von dem +gewissenlosen Wirte vertuscht worden sei. Besagter Wirt sei dann als +Erster auf Nr. 13 -- ein Zimmer, das kein Gast beziehen wollte -- +als Opfer der unheimlichen Seuche gestorben. Sein Geist aber sei +acht Tage später dem kurz vorher gekündigten Nachtportier auf der +schlecht erleuchteten Treppe, in nasse Laken gehüllt, erschienen. +Die Nässe habe man denn auch tatsächlich am andern Morgen noch auf +den Stufen zur ersten Etage bemerkt. Die Analyse zweier Chemiker +habe leider zu widerspruchsvollen Resultaten geführt. Der eine habe +Spülwasser angenommen, der andere habe eine weit unappetitlichere +Erklärung empfohlen. Die Witwe habe darauf den entlassenen Portier, +der überall diese gruselige Spukgeschichte erzählte, wegen perfider +Geschäftsschädigung verklagt. Aber das Gericht habe drei spiritistische +Sachverständige vernommen, die aus der Schilderung des schleppenden +Ganges, des nassen Lakens und anderer Attribute der unheimlichen +Erscheinung übereinstimmend entnahmen, daß es sich zuverlässig um +ein durchaus reelles Gespenst gehandelt haben müsse; und daß die +beunruhigende Wahrscheinlichkeit vorliege, das Gespenst werde sich +noch des öfteren nachts auf der Treppe zu der ersten Etage ergehen. +Der Nachtportier sei freigesprochen worden. Die Witwe habe Bankrott +gemacht. Und auf dem Boden des ehemaligen Hotels erhebe sich jetzt +das ernste und solide Gebäude der städtischen Feuerwehr, die ein +furchtloser und vorurteilsfreier Mann kommandiere. + +Während der Rittmeister erzählte, hatte ich beobachtet, wie Maruschka +Anastasia erst die Augen schloß, als überfalle sie eine, von leichtem +Frost begleitete, plötzliche unbesiegbare Müdigkeit. Dann sah ich sie +die Finger auf ihrem Schoß spreizen und wieder zusammenkrallen, als +treibe sie schwedische Fingergymnastik. Dazu hob und senkte sich ihre +in den Linien nicht aufregende Brust in immer kürzeren Zwischenräumen; +und sie schnaufte durch die geblähten, zuckenden Nasenflügel, als habe +sie eben im Laufschritt einen Campanile erstiegen und müsse sich nun +unbedingt Ruhe gönnen, um einem drohenden Herzschlag vorzubeugen. + +Michael Monkebach, halb vom Sitz aufstehend, machte dem Rittmeister +durch Handbewegungen und Gesichterschneiden allerlei Zeichen, +die zweifellos die inständigste Bitte ausdrücken sollten, diese +überaus grausame Geschichte nicht weiter zu erzählen im Angesicht +des beklagenswerten Zustandes, in den sie offensichtlich Maruschka +Anastasias sensitive Natur versetzte. + +Aber der Rittmeister, der wohl auf dem einen Auge total erblindet war +und sein für das andere Auge bestimmtes Monokel gerade umständlich mit +dem seidenen Taschentuche putzte, erzählte die aufregende Historie +ohne jegliche Unterbrechung zu Ende. Und zwar in einem so kühlen, +leidenschaftslosen Ton, als ob er statt vom Hinüberspielen der +Wesenheiten einer vierten Dimension in unser rätselvolles Erdenleben in +Wahrheit bloß vom Einkauf einer Erbswurst oder von einem neuen Mittel, +weiße Handschuhe zu reinigen, berichte. + +Ich begann die unmittelbare Wirkung der Kraftnatur auf die sensitive +Dichterin zu beobachten und zu begreifen; und ich war sehr gespannt, +wie sich diese tiefe seelische Erregung Maruschka Anastasias endlich +lösen werde. + +Als der Rittmeister geendet hatte und sich mit einer nach solchen +Mitteilungen geradezu erstaunlichen Seelenruhe geräuschvoll die Nase +schneuzte, erhob sich plötzlich Maruschka Anastasia. Immer noch mit +geschlossenen Augen und wie im Sturme wogendem Busen. Michael Monkebach +stand mit halberhobenen Armen neben ihr, offenbar bereit, die Teuere +aufzufangen, wenn sie sinken sollte, aber doch nicht wagend die noch +aufrechtstehende Dichterin zu berühren. + +Der Rittmeister betrachtete diese merkwürdige Gruppe aufmerksam, doch +ohne Zeichen tieferer Erregung durch sein Monokel. Ich aber hatte -- +ich weiß heute noch nicht, warum und wieso -- eine Glocke mit ziemlich +schmutzigem Wasser ergriffen, in der ein einzelner Goldfisch, schon +halb auf dem Rücken liegend, sein nahes, wünschenswertes Ende zu +erwarten schien. + +Plötzlich bewegte sich Maruschka Anastasia in knappen, zögernden +Schritten vorwärts. Nach der Tür. + +Der Rittmeister erhob sich schwerfällig aus dem Sessel, wie +leidenschaftliche Reiter das tun, die sich auf unruhigen Pferden sehr +munter und auf den allgemein üblichen Sitzgelegenheiten des Salons nur +sehr mühsam bewegen. + +„Es +hat+ sie wieder,“ sagte der merkwürdige Krieger, nickte Michael +Monkebach verständnisvoll zu und schritt langsam, die Hände in den +Hosentaschen, hinter der außergewöhnlichen Frau her. Dabei zündete er +sich eine Zigarette an, was mich sehr beruhigte. Noch mehr hätte es +mich allerdings beruhigt, wenn er mir +auch+ eine Zigarette angeboten +hätte. Aber auf diesen gewiß unbescheidenen Gedanken kam hier niemand +außer mir. + +Als Maruschka Anastasia in dem Gemach ihrer Inspirationen verschwunden +war, nahm mir Michael Monkebach zunächst behutsam das Glas mit dem +halbtoten Goldfisch aus den Händen und stellte es wieder auf das +gebrechliche Bauerntischchen unter dem Kupferstich, der die Medea in +höchster Raserei darstellte. Dann drückte er mich wieder in das sehr +tiefe und sehr harte Sofa und erläuterte mir mit gedämpfter Stimme +die aufregende Szene, an der ich soeben vermutlich in nicht sehr +geistreicher Pose und ohne das geringste Verständnis teilgenommen hatte. + +„Sehen Sie,“ begann er, „nun haben Sie’s +selbst+ einmal erlebt.“ + +Ich leugnete das nicht; ohne mir darüber klar zu sein, +was+ ich nun +eigentlich erlebt hatte. + +Er begann wieder mit dem Zeigefinger das unbehagliche Spiel auf den +Carreaus meiner Hose: + +„Die Geschichte des Rittmeisters -- ist es nicht ein prächtiger Mensch? +Habe ich zuviel gesagt? -- die Geschichte hat sie erschüttert, hat +ihre poetische Psyche, ihr dichtendes Unterbewußtsein zur Tätigkeit +aufgerüttelt. Während der Rittmeister -- +wie+ er das aber auch +vorbrachte, nicht wahr? so unberührt von all dem Schauerlichen, +so nervenstark, so kerngesund, so irdisch-gefestigt in all dem +Unerklärlichen -- während der Rittmeister erzählte, hat sie bereits +diesen Stoff erfaßt, umklammert, vertieft, neugestaltet, poetisch +verarbeitet. Und jetzt -- das duldet keinen Aufschub bei ihr -- muß +sie es sofort zu Papier bringen. Sie +muß+. Sie schreibt solche Sachen +stets auf ein geripptes dunkelviolettes Papier. Man sagt, Marie +Antoinette habe mit Vorliebe solches Papier benutzt. Finden Sie nicht, +daß meine Frau -- im Profil, oder sagen wir: Halbprofil -- Marie +Antoinette merkwürdig ähnlich sieht?“ + +Ich fand das nicht. Ich wurde von ihrem blassen, ziemlich gewöhnlichen +Gesichtchen in der Tat mehr an den Berliner Hausvoigteiplatz, als an +die Pariser Tuillerien erinnert. Natürlich behielt ich das für mich. Es +waren auch andere Dinge, die mich jetzt interessierten. + +„Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel, Herr Monkebach ...“ begann +ich. + +Aber schon unterbrach er mich. + +„Wie sollt’ ich! Sie glauben nicht, +was+ mich die Leute alles fragen. +In Beziehung auf Maruschka Anastasia. +Was+ sie ißt, wie +oft+ sie +ißt, ob sie Wolle trägt, ob sie nachts gut schläft. Ja sogar -- warten +Sie, ich muß den Brief noch in der Tasche haben -- gestern hat sogar +ein Verehrer in Fürth, der eine Geschichte des ‚Genies in seiner +Abhängigkeit von den natürlichen Lebensfunktionen‘ plant, bei mir +-- per Eilboten -- angefragt, ob und wie oft Maruschka Anastasia an +Verdauungsstörungen leide ...“ + +Ich bat ihn dringend, den indiskreten Brief nicht weiter zu suchen und +mir lieber eine Frage zu beantworten: schrieb Maruschka Anastasia denn +auch Balladen und Gespenstergeschichten? + +Nein, das tat sie nicht. Er belehrte mich, daß jeder Stoff, der sie +fessele, packe, festhalte -- wie ich das vorhin bei der wuchtigen +Erzählung des Rittmeisters, der übrigens eine Kraftnatur durch und +durch sei, erlebt habe, -- auf der Tiefe ihres Unterbewußtseins sich +sofort in ein eigenes seelisches Erlebnis wandle. Er werde dann +in ihre eigenartige Lyrik, die stets ihr Liebes- -- das heiße ihr +Eheleben -- behandle, in irgend welcher sinnvollen Weise einbezogen. +Ich werde es erleben, daß auch in der vom Rittmeister mitgeteilten +gruseligen Erzählung nach der wunderreichen Wiedergeburt in Maruschka +Anastasia’s schöpferischen Phantasie +er+, Michael Monkebach, wie ich +ihn hier vor mir sehe, eine bedeutsame Rolle spielen werde. Er sei zwar +nie in Posen gewesen, habe weder den verbrecherischen Wirt gekannt +noch dem erwähnten Hausknecht näher gestanden, sei noch niemals von +Gespenstererscheinungen im Wachen oder im Schlafe belästigt worden +-- aber, ich werde das ja sehen, +er+ werde auch in dieser Dichtung +als irgend eine merkwürdige Figur erscheinen, über die er freilich +augenblicklich nicht einmal andeutungsweise eine Aufklärung zu geben +vermöge. Denn für ihn, wie für alle, seien die Dichtungen Maruschka +Anastasias stets Überraschungen, Offenbarungen, Ereignisse. Das +einzige, was er wisse, sei dies: daß seine Natur offenbar so erregend +simulierend, geistig befeuernd auf die unheimlich fruchtbare Phantasie +dieser seltenen Frau wirke, und daß er wohl ohne Eigenlob sagen dürfe, +dies einzigartige Talent sei niemals zu seiner üppigen Entfaltung +gekommen ohne +seinen+, ihm selbst allerdings rätselhaften persönlichen +Einfluß. + +Ich weiß nicht, wie die Gedankenverbindung war, aber ich fragte ihn +plötzlich: + +„Und +Kinder+ -- haben sie +auch+?“ + +Seine Stimme bewölkte sich. „Nein, +noch+ nicht.“ + +„+Noch+ nicht? Sie -- haben vielleicht begründete Hoffnung?“ + +„Ja,“ lächelte er glücklich. + +Ich reichte ihm herzlich die Hand, zog sie aber sofort zurück, als ich +die verblüffenden Worte vernahm: + +„Der Vater des Kindes ist ein Briefträger.“ + +„Der -- Vater?“ + +„Ja.“ + +Das glückliche Lächeln wich nicht aus seinem Angesicht. „Der Mann +ist kränklich und kein Freund des Treppensteigens. So hatte er die +gewiß tadelnswerte, aber doch menschlich nicht ganz unbegreifliche +Gewohnheit, lästige Drucksachen, die ihm wertlos schienen, einfach +nicht zu bestellen, sondern damit seinen eisernen Ofen zu heizen. Er +‚sitzt‘ jetzt. Für einige Jahre. Ein sehr harter Spruch. Aber er war +Beamter, nicht wahr? Und schließlich: es gibt ja auch Drucksachen, +deren Wert für den Empfänger ein Briefträger nicht ohne weiteres +abschätzen kann.“ + +„Und -- von diesem verbrecherischen Briefträger ...“ + +„Ja. Er ist jetzt fünf Jahre alt.“ + +„+Wer+ ist fünf Jahre alt?“ + +„Nun der Junge von dem Briefträger. Die Mutter des Kindes -- sie soll +einmal eine Schönheit gewesen sein, allerdings mit ausgeprägter Neigung +zu einem Kropf -- diese liebreizende Frau aus dem Volke hat sich leider +in einem Anfall negativer Lebensfreude erhängt, als die Verurteilung +des Ehemanns erfolgte. Nun ist das hübsche Bübchen bei einer etwas +versteinerten Großmutter untergebracht, einer harten, unsauberen Frau, +die ich im Verdacht habe, daß sie eine alte Kohlenschaufel als einziges +Erziehungsmittel benutzt.“ + +Ich atmete erleichtert auf. Die letzten drei Minuten hatte ich zwischen +der Annahme geschwankt, daß ich hier einem ganz frivolen Unhold oder +einem kompletten Narren gegenüber sitze. + +„Also, wenn ich recht verstehe, werter Herr Monkebach, Sie wollen das +eheliche Kind des auf Abwege geratenen Briefträgers +adoptieren+?“ + +„Ja. Auf die leibliche Geburt eines Kindes ihre Kräfte zu +konzentrieren, wird -- nach Ansicht unseres Arztes -- Maruschka +Anastasia +nie+ einwandfrei gelingen. Die Fruchtbarkeit ihrer Psyche +entschädigt vollauf dafür.“ + +„Gewiß, ja. Aber --“ + +„Um uns -- oder eigentlich +mir+; denn Maruschka Anastasia hat sich +noch nicht recht befreundet mit dem Gedanken -- das überaus herrliche +Vergnügen zu bereiten, ein junges Menschlein wachsen zu sehen, seine +Freude am Leben, seine Dankbarkeit mitzugenießen, gehen wir -- oder +eigentlich: gehe +ich+ -- mit dem Plane um, das fünfjährige Bübchen +des seelisch entgleisten Beamten als eigen anzunehmen und mir auch für +die Stunden der Einsamkeit und des Alters -- denn Maruschka Anastasia +ist durch ihre Arbeiten und ihre reiche Korrespondenz häufig von mir +ferngehalten -- eine rechte Lebensfreude heranzuziehen.“ + +„Und haben sie nicht, wenn sie den Charakter der Eltern, vor allem des +Vaters dieses Kindes prüfen, gewisse Besorgnisse, daß ...“ + +Er schüttelte den Kopf. „Ich lebe der heiligen Überzeugung, daß aus +einem Kinde, das früh genug in diese Atmosphäre kommt, in der mein +guter Wille und Maruschka Anastasias Genie sich zu seiner Erziehung +verbinden, noch alles Gute zu machen ist. Und dann, sehen Sie, ich +vertraue auf meinen persönlichen Einfluß.“ + +In dem Nebenzimmer, dem Tempel der Inspiration, vernahm man den +gedämpften Ton von Stimmen, die angeregte Zwiesprache hielten. + +Michael Monkebach lauschte. + +„Sie +sprechen+? So ist die Dichtung beendet. Vorher redet sie nämlich +keinen Ton. Sie wird gleich kommen. Nehmen Sie mir’s nicht übel, lieber +Freund ...“ + +„Ach, ich verstehe, ich soll --?“ Ich deutete nach der Korridortüre. + +Er war etwas verlegen. + +„Maruschka Anastasia ist stets sehr erschöpft“, sagte er, „nach solchen +besonders heftigen Anfällen ihres Talentes. Sie pflegt dann allerdings +das dringende Bedürfnis zu äußern, allein zu sein. Ich selbst sogar bin +ihr dann oft lästig. Nur die kräftige Vollnatur unseres lieben Vetters, +des Rittmeisters, hat dann etwas wirklich Beruhigendes für sie.“ + +So nahm ich meinen Hut. + +Michael Monkebach war gerührt. Er quetschte mir mit schmerzhafter +Herzlichkeit die Hand und versicherte, seit Maruschka Anastasia’s Bild +als etwas mißglückter Buntdruck dem „Marsyas“ beigelegen, habe ihn ++nichts+ so sehr erfreut, wie +mein+ lieber Besuch. + +Auf der Schwelle noch fiel mir das Wichtigste ein. Ich hatte doch +versprochen, ein Albumblatt ... + +Michael Monkebach, dem just viel darauf anzukommen schien, daß mein so +erfreulicher Besuch nicht durch seine Länge die angenehme Erinnerung +abschwäche, gab mir hastig ein wertvolles Versprechen. + +„Ich werde“ -- sagte er -- „das soeben entstandene Gedicht sofort +abschreiben -- ich schreibe nämlich +alle+ Gedichte Maruschka +Anastasias ab. Sie schätzt meine Handschrift sehr. Meine stets +sich treubleibende Ortographie ist die übliche, während die ihrige +schwankt. Auch bin ich in der Interpunktion zuverlässiger. Nur die +Gedankenstriche verteilt sie dann selbst. Das ist Gefühlsache, nicht +wahr? Die erste Niederschrift Maruschka Anastasia’s selbst aber schicke +ich ihnen ins Hotel. Nehmen sie das Blatt für die gewiß charmante junge +Dame mit, die Sie, wie ich recht wohl fühle, besonders hochschätzen. +Und sagen Sie ihr, Sie hätten in einer unvergeßlichen Stunde das +seltene Glück gehabt, die Entstehung dieser Dichtung unter dem +persönlichen Einfluß des Gatten der Dichterin +mit+ zu erleben.“ + +Er reckte sich in seinen viel zu weiten Kleidern stramm auf, als er so +stolze Wort sprach, und schien den knappen Türrahmen füllen zu wollen +mit seiner Persönlichkeit. Und mit einer Handbewegung, die ein König +beider Sizilien nicht so hoheitsvoll und gnädig spenden könnte, entließ +er mich in mein ungemütliches Hotel, in dem nach des Rittmeisters +Ansicht die Pocken ausgebrochen waren ... + +Ob das mit den Pocken seine Richtigkeit hat, weiß ich nicht. +Jedenfalls konnte ich die ganze Nacht vor Hautjucken nicht schlafen. +Ich machte wohl zehnmal Licht, um bald meine Beine, bald meine +Schultern zu betrachten, die nach meinem Dafürhalten schon rötliche +Flecken und Knötchen aufweisen mußten. Davon war allerdings nichts +zu sehen. Hingegen entdeckte ich so gegen halb vier Uhr morgens +eine ausgewachsene Wanze, die eilfertig an der schmutzigen Tapete +promenierte. + +Ich zog mich sofort an und verbrachte den Rest der Nacht mit dem Packen +meines Koffers und der wenig anregenden Lektüre einer drei Wochen alten +Zeitung, in die meine Lackstiefel eingepackt gewesen waren. + +Mit dem Frühzug wollte ich abreisen. + +Als ich beim Frühstück saß, das nur durch eine intensiv nach Pomade +schmeckende Butter bemerkenswert war, brachte mir der Portier zwei +Briefe. Einen zwölfseitigen von der Tante, in dem sie noch einmal „mit +dem Umstand, den sie hatte“, betonte, daß sie unter keiner Bedingung +ihre Zustimmung zu einem pekuniären Selbstmord der Familie gebe, wie +ihn die sinnlose „Verschleuderung unseres Grundstücks unter seinem +wahren Werte“ bedeute. Dieser „wahre Wert“ existiert bis heute nur in +der Phantasie der ideal gesinnten Tante. Sie habe aber -- so fuhr der +Brief fort -- gehört, in Bimmlingen sollten die Konserven so billig +sein und wäre mir daher dankbar, wenn ich ihr vielleicht zwölf Büchsen +Mirabellen, sechs Büchsen Pflaumen, aber geschälte, acht Büchsen +Brechbohnen ... + +Ich schob den Brief, ohne die weiteren Büchsen nachzuzählen, in meine +Brieftasche und beschloß, daß er erst +nach+ meiner Abreise angekommen +war. + +Dann öffnete ich den andern Brief. Er enthielt das wertvolle Manuskript +von der Hand Maruschka Anastasias. Die Karte Michael Monkebachs lag +bei mit den in peinlichster Schnörkelschrift aufgeschriebenen Worten: + +„Sehr werter Freund! Anbei das Versprochene. Ich halte es für das +Bedeutendste, was meine liebe Frau geschrieben hat. Sie machen Ihrer +Freundin ein königliches Geschenk mit diesen Blättern. Möge es Ihnen +das charmante Mädchen durchs Leben danken. Der Himmel geleite Sie +glücklich in die Heimat. Dieses wünscht Ihr ganz ergebener Michael +Monkebach.“ + +Der Portier meinte, wenn ich etwa noch mit dem Omnibus mitwolle, so +müsse ich mich beeilen. + +Ich steckte also das Manuskript eilends ein und fuhr, immer noch +von heftigem Jucken belästigt, an die Bahn. Dort hatte ich, da der +Omnibus zu einem ganz andern Zug gefahren war -- noch 37 Minuten +Zeit und begann nun auf dem Perron, auf meinem Handkoffer sitzend, +die Dichtung zu lesen. Ich „las“ ist eigentlich nicht das passende +Wort. Maruschka Anastasia hatte die Gewohnheit fast jedes Wort +durchzustreichen, dieses durchgestrichene Wort durch ein anderes, +noch undeutlicheres zu ersetzen, das dann häufig wieder durch ein +drittes querdurchgeschriebenes abgelöst wurde. Jedenfalls liest sich +eine Urkunde Karls des Dicken oder ein Liebesbrief Ottos des Großen +an die burgundische Adelheid heute noch bedeutend leichter, als eine +Original-Handschrift Maruschka Anastasias. + +Daß die poetischen Schönheiten einer Dichtung durch ihre +Unleserlichkeit erhöht werden, ist nicht zu behaupten. Ich las an dem +vierseitigen Manuskript eine halbe Stunde auf dem Perron, las die +zweieinhalb Stunden der Bahnfahrt daran, las weitere neun Minuten in +der Droschke vom Bahnhof bis zu meiner Wohnung, las eine halbe Stunde +in meinem Studierzimmer weiter und hörte erst auf zu lesen, als Herr +Jädicke kam, um mich unter vielen vortrefflichen Reden über das Reisen +im allgemeinen und Fragen nach meiner Reise im besonderen zu rasieren. + +Der Anfang des Poëms ist mir in Erinnerung geblieben. Ich gebe ihn +hier wieder ohne die unzähligen Gedankenstriche, die sich wie die +gestrichelten Linien des gewissenhaften Schnittmusters für ein +besonders kompliziertes Ballkleid durch die vielfach verwischten Zeilen +wanden: + + „Heut Nacht -- ich kam von einem Ball und Schmaus -- + „Die welken Rosen hingen mir im Haare -- + „Da stand -- o Gott! der Geist im Treppenhaus + „Des Manns, den ich gelegt auf schwarze Bahre ...“ + +Ich bemerke, daß mir persönlich hier die Konstruktion mißfiel. Indem +man nicht weiß, ob das Treppenhaus zu dem Geist oder zu dem Mann oder +ob der Mann zu dem Treppenhaus oder der Geist zu dem Mann und dem +Treppenhaus gehört. Aber ich bin schließlich nicht kompetent. Es ging +dann weiter: + + „Im weißen Laken -- gräßlich -- ein Gespenst, + „Moder im Rauschen seiner Totenkleider -- + „Er hob die Knochenhand: ‚Ob du mich kennst --?‘ + „Und bebend sprach ich: Leider -- leider -- +leider+!“ + +Die sehr bedeutende Steigerung der folgenden Verse ist mir entfallen. +Auch wurden die Rhythmen so kühn in ihrer trotzigen Unregelmäßigkeit, +daß ich manchmal nicht sicher war, ob +ich+ mich verlesen oder ob +sie+ +sich verschrieben oder ob das gerade die höchste Kunst der Neutöner +war. +Eines+ war jedenfalls bewundernswert: Das Geschick, mit dem sie +selbst in die Person des Hausknechts in Posen geschlüpft war, und die +Grausamkeit, mit der der harmlose Michael Monkebach getötet, aufgebahrt +und begraben, als Gespenst auf eine Treppe gesetzt und von ihr dann in +Versen hitzigster Anklage über die Maßen schlecht behandelt war. Das +Gedicht endete denn auch damit, daß sich der unsaubere Geist Michael +Monkebachs beschämt in sein Grab zurückzog und schwur: nie wieder die +Wege des endlich befreiten Weibes zu kreuzen, dem seine schmähliche +Tyrannei „Wermut in alle Becher des schäumenden Lebens gegossen hatte“. +Das ist mir im Gedächtnis haften geblieben, weil es mir bezeichnend +schien, daß Maruschka Anastasia das schäumende Leben gleich aus ++mehreren+ Bechern trank ... + +Der nächste Tag war ein Freitag. + +Ich nahm die teuren, in eine eigens dafür gekaufte kleine Mappe +gesteckten Blätter mit in den illustren Kreis der „Schaffenden“, die +mich ihres Umgangs würdigten. Sie empfingen mich mit großen Ehren. Als +habe ich den schwarzen Erdteil entdeckt oder Andrées Knochen gefunden. + +Ich mußte erzählen, erzählen, erzählen, bis mir der Hals trocken war. + +Und da schließlich so +sehr+ viel gar nicht zu erzählen war, die +märchentiefen Augen eines schweigend lauschenden Mädchens aber +glücklich und begierig an meinen Lippen hingen, so tat ich etwas +sehr verwerfliches. Ich +log+. Aus einer kurzen Zusammenkunft wurden +drei lange, inhaltschwere Nachmittage. Aus einem Rittmeister wurde +ein halbes Offizierkorps. Michael Monkebach wurde schlankweg ein +Übermensch. Und ich --? O, ich hatte mich vortrefflich benommen! Der +gute Eckermann hat aus dem alten Goethe in den neun Jahren von 1823 bis +1832 nicht so viel unerhörte Dinge über Welt und Menschen, über Ruhm +und Unsterblichkeit herausgefragt, wie ich in diesen drei Unterredungen +aus Maruschka Anastasia. Und es befriedigte mich sehr, daß alle ihre +angeblichen Aussprüche bejubelt wurden. Meine persönlichen Einwendungen +fand man dagegen recht unbedeutend. + +Zum Schlusse küßte mich der verbotene Dramatiker auf Stirn, Mund +und Wangen. Er sagte, daß er so umständlich +nie+ jemanden vor mir +ausgezeichnet habe. Egon Felix Gundelmann versprach mir sein Bild. + +Ein gelegentlicher Mitarbeiter des Marsyas, der auf der Redaktion gar +nichts zu sagen hatte, bot mir sieben Spalten der ersten Nummer des +nächsten Quartals an, um das eben Gehörte dort für alle Gebildeten +niederzulegen. + +Dann deklamierte der Reformator der Rezitationskunst, der seit +anderthalb Stunden in einem Nebenraum das Manuskript studiert hatte, +mit einer erschreckenden Grabesstimme die Gespensterdichtung. Einige +weinten; andere starrten entgeistert in die Gläser. + +An Maruschka Anastasia wurde dann ein enthusiastisches Nachttelegramm +aufgesetzt, das sie von der tiefen, lähmenden, entkörpernden Wirkung +ihrer Dichtung benachrichtigte. Ich durfte als erster unterschreiben. + +Dann sprang plötzlich der durch reichlichen Lethegenuß seelisch +gehobene Reformator der Rezitationskunst mit gleichen Füßen auf den +ächzenden Tisch, und die Feiernden überbrüllend verkündete er: da sich +gewiß niemals wieder eine +so+ herzerhebende Weihestunde finden werde, +so habe er beschlossen, schon heute Nacht, jetzt gleich, in +dieser+ +Minute seine Verlobung mit der Schwester seines lieben Freundes, des +Neutöners und Erneuerers der deutschen Lyrik bekannt zu geben. + +Mit diesen Worten hüpfte er vom Tisch und schloß die tiefblauen +Märchenaugen meiner heimlichen Liebe mit den schmatzenden Küssen seines +wulstigen Mundes ... + +Ich bin niemals mehr zu den Freitagsfesten gegangen. + +Der Reformator hat heute, glaube ich, in Merseburg ein kleines +Zigarrengeschäft. + +Die ferneren Dichtungen Maruschka Anastasias sind mir fremd geblieben. + +Bloß Egon Felix Gundelmann sah ich in den folgenden Jahren noch +zuweilen. Er hat sogar einen gewissen Einfluß auf mich gewonnen. Es +ist seiner erstaunlichen Beredsamkeit gelungen, mein Leben für den +Todesfall, meine Möbel gegen Feuer, mein unglückseliges Grundstück +in Bimmlingen gegen Hagel und meine Winterkleider gegen Motten +zu versichern. In Literatur macht er nämlich nicht mehr. Bloß in +Versicherungen. + + * * * * * + +Michael Monkebach aber habe ich noch einmal wiedergesehen. + +Ein halbes Jahr mag’s jetzt her sein, da zwang mich ein abscheulicher +Platzregen -- mein Schirm fuhr gerade in einer Elektrischen allein +weiter in der Richtung des Spittelmarkts -- in ein Café am Potsdamer +Platz zu flüchten. + +Alle Marmortischchen waren besetzt von nassen, schimpfenden Leuten, +die, trostlos in einer Tasse Kaffee rührend, hinausstarrten auf die +Straße, die sich langsam in einen venetianischen Kanal zu wandeln +schien. + +An einem Tisch zu vier Personen saßen bereits zwei Schachspieler. +Behäbige, alte Herren, die schweigend und schnaufend unter Benutzung +zahlreicher Zahnstocher eine Partie des königlichen Spieles erledigten; +wobei der eine jedesmal, wenn der andere nach langem Besinnen eine +Figur vorwärts schob, ingrimmig brummte: „+Dacht+’ ich mirs doch!“ „Ob +ich’s nicht +kommen+ sah!“ Es war eines jener merkwürdigen Spiele, bei +denen jeder voraus weiß, was der andere tun wird und eigentlich bloß +mit sich selbst spielt. An demselben Tisch hatte noch ein Herr Platz +genommen in einem sehr weiten und für die Jahreszeit reichlich warmen +Mantel, wie ich ihn zuletzt bei alten Schäfern im Spessart gesehen +habe. Ihm gegenüber ein hochaufgeschossener, knochiger Jüngling von +etwa fünfzehn Jahren, der in seinem schon etwas verwachsenen dunklen +Matrosenkostüm mit dem breit herausgeschlagenen hellblauen Kragen nicht +sehr glücklich verkleidet aussah. Der Herr hielt krampfhaft eine alte +rindslederne Reisetasche zwischen den Beinen und machte den Eindruck, +als ob er ausschließlich zur Bewachung dieses unscheinbaren Schatzes +engagiert sei. Nur ab und zu gönnte er sich einen unruhigen Blick auf +eine große Taschenuhr, die er unter dem leisen Geläute vieler goldener +Petschaften tief aus dem Schäfermantel hervorzog. Der Matrosenjüngling +aber fing nicht ohne Kunstfertigkeit, mit der behutsam vorgeschobenen +knochigen hohlen Hand sein Opfer auf der Marmorplatte überlistend, +Fliegen von einem vergessenen Stückchen Zwetschenkuchen, das herrenlos +zwischen den braunklebrigen Kringeln und bekluckerten Kaffeetassen lag. + +An diesem Tische stand noch ein überzähliger fünfter Stuhl, den mir +als einzigen, der im ganzen Lokale noch frei war, ein diensteifriger +Pikkolo mit herablassender Handbewegung anwies. Ich hielt zwei +feindlich drohende Blicke der gestörten Schachspieler aus, wehrte +den von dem Matrosenjüngling vom Zwetschenkuchen gescheuchten +Fliegen, die sich alsbald auf meinem kurzgeschorenen Haupte von dem +gehabten Schrecken zu erholen trachteten, und bestellte bei einem +atemlos vorüberfliegenden Kellner einen schwarzen Kaffee und einen +Kognak. Dann brannte ich mir eine Zigarre an und vertiefte mich, +meiner darniederliegenden Lebensfreude aufzuhelfen, in ein spaßiges +Leitgedicht Alexander Moszkowskis in den „Lustigen Blättern“. + +„Hast du auch deine wollenen Socken im Koffer, Karl?“ fragte plötzlich, +wie von schrecklicher Ahnung belästigt, der Mann im faltenreichen +Schäfermantel. + +„Aber +ja+, Papa“, antwortete der Mückenfänger unwirsch und tat mit +sicherer Hand einen gewaltigen Fang. + +„Ich nehme jetzt Ihren weißen Läufer“, meldete der eine Schachspieler. + +„Ob ich mir’s nicht +gedacht+ habe!“ zischte der andere ingrimmig. + +Dann war wieder eine Weile tiefe Stille an unserem Tisch. So eng +wir saßen, er war eine Oase der Ruhe in dem Lärm und Getriebe des +verrauchten, unruhigen Lokals. + +„Du hast doch hoffentlich deine Zahnbürste nicht vergessen, Karl?“ Aus +der Tiefe des Schäfermantels kam die bekümmerte Frage. + +„Aber nein, Papa“, gab der Matrose ärgerlich zurück und köpfte +mit einem Zahnstocher eine Gefangene auf dem Tellerrand, was sehr +unappetitlich anzusehen war. + +„Ich sage jetzt: Schach der Königin. Mit dem Springer“, meldete der +eine Schachspieler. + +„Ob ich das nicht +kommen+ sah!“ brummte der andere und schob wütend +sein Kaffeebrettchen in den blauschillernden Zwetschenkuchen. + +Dann war’s wieder stille. + +Plötzlich -- ich war gerade auf die Pointe meiner Lektüre sehr +neugierig -- beugte sich der Mann im Schäfermantel vertrauensvoll zu +mir herüber: + +„Verzeihung, wenn ich Sie störe ...“ + +„Bitte.“ + +„Wie lange fahren wir wohl mit der Droschke nach dem Lehrter Bahnhof?“ + +... Es gibt merkwürdige Momente im Leben; Momente, in denen man sich +von einer sanften Riesenwelle erfaßt glaubt und sich weit, weit +zurückgeschleudert fühlt in längst verrauschte Strudel der eigenen +Vergangenheit. Die Seele schlägt ihre großen, erstaunten Augen +auf, sieht sich um und erkennt Menschen, die sie längst in einem +Gedächtniswinkel begraben hatte; Dinge, die seit Jahren zerbeult +und zerschlagen und unkenntlich in einer andern Gedächtnisecke beim +wertlosen Gerümpel lagen; Situationen, die wie groteske neblige +Gespenster froher, heller Erlebnisse aus einem fernen, fernen Frühling +wirken. + +Solch ein Moment war es, als ich in ganz mechanischer Arbeit meines +Sprechapparates dem Fragenden erwiderte: „Bis zum Lehrter Bahnhof +fahren Sie mit einem Kutscher, der nicht betrunken ist, ungefähr +fünfzehn Minuten.“ + +Und dabei sah ich unverwandt in dieses fragend auf mich gerichtete +Gesicht, in dem es jetzt auch wie aufzuckende Erinnerung zu +wetterleuchten begann ... Ganz so dicht bei diesem fremden Manne, +dessen Gliederbau der viel zu weite Schäfermantel wie eine schwarze +Glocke verbarg, mußt’ ich schon einmal irgendwo gesessen haben. +Bestimmt an einem Tische, tafelnd, lächelnd, konversierend. Auf seiner +linken Seite, wie jetzt. Aber damals hatten keine alten Herren Schach +spielend uns gegenüber gesessen. Auch kein Matrosenjüngling fing damals +Mücken. Damals -- damals -- Und plötzlich +wußt+’ ich’s wieder. Damals +saß uns eine dicke Dame gegenüber, eine Rentiere aus Stettin mit einem +pfundschweren Bernsteinschmuck und neben ihr im funkelnagelneuen +Zivil, das ihn wie einen Zuschneider am Sonntag erscheinen ließ, der +Rittmeister, der sich so gern reden hörte und dazu so erstaunliche +Quantitäten Moselwein trank. Damals im Bade an der ~Table d’hôtes~ -- -- + +„Herr Michael Monkebach -- nicht wahr?“ + +„Das ist aber eine Freude, +lieber+ Herr Doktor. Ihr Gesicht kam mir +doch gleich so bekannt vor. Erst dacht’ ich an einen Stationsvorsteher +auf der Strecke Weimar-Apolda, der mich mal so furchtbar grob +angefahren hat vor sechs Jahren -- natürlich, wie konnt’ ich nur ... +Wie ist’s Ihnen denn ergangen? Sind sie noch an der Stuhlbeinfabrik in +Heiligenstadt beteiligt, ja? Geht sie noch immer so glänzend?“ + +Da ich niemals an einer Stuhlbeinfabrik in Heiligenstadt beteiligt war, +so konnte ich ihm darüber keinerlei Auskunft geben. Aber er schien +auch gar keine Antwort zu erwarten. Seine Fragen waren lediglich +nervöse Entladungen seiner Freude; waren rethorische Vergnügungen +seines frohbewegten Herzens. So erkundigte er sich noch, ob ich noch +immer Karlsbader Wasser trinke, ob ich mir die Zigaretten nach wie +vor direkt aus Kairo kommen lasse, ob ich noch so leidenschaftlich +Briefmarken sammle und ob ich noch immer als Wanderredner des Vereins +für Feuerbestattung tätig sei. Lauter Dinge, an die ich nie in meinem +Leben gedacht habe. + +Einen Augenblick schöpfte er Atem, um dem Matrosenjüngling einen +pantomimischen Verweis zu geben, weil ihn sein Jagdeifer in bedenkliche +Nähe des Schachbrettes gebracht hatte und der eine Spieler, nach +den Störenfried hinblickend, seine dicken Finger schon seltsam +aggressiv bewegte. Diesen Moment benutzte ich, dem Wiedergefundenen +zu versichern, daß er mich zwar richtig wiedererkannt habe, was mir +natürlich äußerst schmeichelhaft sei, daß er mich aber in Bezug auf +meine Lebensgewohnheiten offenbar mit einem, wahrscheinlich sogar mit +mehreren seiner Bekannten verwechsle. + +Michael Monkebach rieb sich nachdenklich die nicht unbedeutende Nase. +Der vergrämte Zug, den ich früher schon zuweilen bemerkt hatte, kehrte +unter diesen Strichen seiner nervösen Finger, tiefer, melancholischer +wieder. + +„Sie müssen schon entschuldigen,“ sagte er. „Was so im Laufe der Jahre +alles uns besuchen kam ... Es war wirklich ... Ich erinnere mich eines +Ungarn, der kein Wort deutsch sprach, der zwei Tage lang, eigentlich +unaufgefordert, zu Tisch blieb, immer nur Maruschka Anastasia anstarrte +und schließlich von ihrem Schreibtisch ein Falzbein aus Elfenbein mit +großem, leider unverständlichem Wortschwall, offenbar als ‚Erinnerung‘ +einsteckte. Ich entsinne mich eines kleinen, krummbeinigen Polen, +der uns durch seine französische Konversation viel Mühe machte. +Er hatte Maruschka Anastasias Gedicht ins Polnische übersetzt und +deklamierte uns zwei Stunden lang seine Übertragungen vor. Es klang +sehr merkwürdig, war aber doch ein bischen langweilig, da wir ja keine +Silbe verstanden. Er regte sich furchtbar auf dabei, der Gute. Und +wir mußten ihm später viel Rotwein einflösen, damit er einen Anfall +von Herzschwäche überwand. Einer der letzten war ein sehr blasser und +schweigsamer Herr aus Chemnitz, der künstlerische Dichterporträts -- +als Amateur -- aufnahm. Er brachte einen großen Apparat mit, auch eine +sehr eigentümliche Vorrichtung für Blitzlicht. Mit dieser Vorrichtung, +die seine Erfindung war, hat er uns die Gardinen in Brand gesteckt. Wir +hatten einen großen Schrecken. Und das übelste war, auf dem Bilde hat +Maruschka Anastasia später zwei Köpfe.“ + +„Wie geht es ihrer verehrten Frau Gemahlin?“ unterbrach ich den Strom +seiner Erinnerungen. + +„Wie es ...“ Er sah zerstreut auf die Uhr. „Ich denke gut. Ich hoffe +es. -- Fünfzehn Minuten sagten Sie? Dann werden wir wohl ... Karl, laß +doch die Fliegen in Ruh! Du genierst die Herren da.“ + +„Ich nehme ihren Turm mit der Königin,“ annonzierte der eine +Schachspieler und warf dabei einen wütenden Blick nach dem unentwegten +Mückenfänger. + +„Ob ich das nicht die ganze Zeit +kommen+ sah!“ hohnlächelte der +andere, als ob ihm sein Gegner einen großen ingrimmigen Spaß mit dieser +Mitteilung gemacht habe. + +„Um fünf Uhr dreizehn geht nämlich unser Zug nach Hamburg,“ sagte +Michael Monkebach, indem er einen vorüberhuschenden Kellner an seiner +weißen Jacke festhielt, daß sie in allen Nähten krachte. „Bitte, laufen +Sie nicht +wieder+ vorbei! Also ich habe eine Tasse schwarzen Kaffee +und ein Hörnchen, -- eigentlich nur ein halbes, denn es war eine +Schwabe darin eingebacken -- der Junge hat drei Tassen Schokolade und +drei Stück Zwetschenkuchen. Es waren doch drei, Karl?“ + +„Vier“, korrigierte der tapfere und gewissenhafte Esser. + +„Pardon, ja -- +vier+,“ entschuldigte sich Michael Monkebach, der unter +dem ungnädig strafenden Blick des Kellners errötete. + +Dann fand eine sehr merkwürdige und sehr unleserliche Addition auf der +Marmorplatte statt. Der Kellner wechselte sein Silberstück, dankte +kühl und verschwand eilfertig nach dem Buffet, schon von weitem eine +umständliche Bestellung brüllend. + +Michael Monkebach schüttelte den Kopf, während er die wenigen +Nickelstücke in sein Portemonaie zurücklegte. „Hatte ich ihm nicht ein +Fünfmarkstück hingelegt? Mir war’s doch so als ob ... Er hat mir nur +auf einen Taler herausgegeben.“ + +„So rufen Sie ihn doch zurück“, mahnte ich. „Ich hatte +auch+ den +Eindruck, daß es ein Fünfmarkstück war.“ + +„Zurückrufen? Ach nein.“ + +Es war, als ob Michael Monkebach körperlichen Schmerz beim Ausdenken +dieser gefährlichen Eventualität empfinde. Er war noch der Alte, +zutraulich, hilflos, ängstlich, ein prädestiniertes Versuchsobjekt für +alle kleinen Spitzbübereien einer verschlagenen Menschheit. Alt war er +geworden. Ganz grau an den dickgeäderten Schläfen. Sein Gang hatte den +letzten Rest von Elastizität eingebüßt. Er bewegte sich mühsam und +müde, als ob der faltenreiche Schäfermantel mit Bleistücken gefüllt +sei, die ihn sacht aber unaufhaltsam niederzögen. + +„Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie,“ schlug ich vor. „Drei haben ja +bequem im Taxameter Platz.“ + +„Ich steige auf den Bock“, entschied der Jüngling, indem er, die Hände +in den Hosen, seinem Vater die Reisetasche überlassend, sehr laut und +sehr falsch pfeifend voranschritt. + +„Du -- --“ Michael Monkebach wollte offenbar diese verwegene und +gefahrvolle Unternehmung nicht zugeben; aber er sah die unwirsch +aufgeworfenen Lippen des trotzigen Bubengesichts und änderte alsbald +seinen strengen Entschluß: „Du -- mußt dich aber +fest+halten, mit +beiden Händen,“ sagte er. „Ich werde dem Kutscher auftragen, daß er gut +acht gibt und nicht zu rasch fährt.“ + +„Also kommen Sie.“ + +Es hatte aufgehört zu regnen. Der Platz lag wie eine einzige, +spiegelnde Riesenpfütze da. + +Wir nahmen uns einen Taxameter. Michael Monkebach gab dem Kutscher +so ausführliche Anweisungen, als ob es sich um eine Reise durch +die entlegensten Teile der Mandschurei und nicht um eine Fahrt vom +Potsdamer Platz nach dem Lehrter Bahnhof handele. Er bat ihn auch, +dem jungen Herrn alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Insbesondere den +Zoologischen Garten und das Schloß. + +„Soll ick vielleicht über Potsdam fahren?“ gab der Kutscher als +einzige Antwort zurück, nahm dem bereits auf den Bock gekletterten +Jüngling die Peitsche aus der Hand, klatschte ermunternd über den +nassen Rücken des melancholischen Fliegenschimmels und fuhr halblaut +vor sich hinmurmelnd die Königgrätzerstraße entlang. + +„Sie werden Ihre Frau Gemahlin in Hamburg treffen --?“ + +Michael Monkebach wäre beinahe aus dem Wagen gefallen vor Schreck. „Ich +werde -- meine ...? Wieso? Ist sie dort? Haben Sie Nachrichten von +Maruschka Anastasia?“ + +Nun war die Reihe der Verblüffung an mir. „+Ich+? Wieso -- ich? Ich +meinte blos, ob Ihre Frau Gemahlin ...“ + +Er lächelte verlegen und mit dem Zeigefinger diskret auf den auf dem +Bock hin- und herschaukelnden Jungen deutend dämpfte er seine Stimme +zu einem säuselnden Flüstern, das er nur zu einigen eingestreuten +Ermahnungen für den Sohn erheblich verstärkte. + +„Sie müssen nämlich wissen, lieber Freund, ich habe mich von Maruschka +Anastasia -- ja, wie sag’ ich doch gleich -- getrennt. Das ist wohl +das rechte Wort. Oder eigentlich +sie+ hat sich von +mir+ getrennt. +Ganz kurz nach Ihrem lieben Besuch damals -- ich entsinne mich +jetzt sehr wohl, wann das war. Maruschka Anastasia hat damals jenes +schauerlich-schöne Gedicht geschaffen, in dem ich ihr als Wasserleiche +-- nein doch, das war vorher -- ich weiß schon: in dem ich ihr als +nachtwandelndes Gespenst erschien.“ + +„Ganz recht. Durch eine Erzählung des Rittmeisters ...“ + +Michael Monkebach machte eine Bewegung, als ob er einen Schüttelfrost +erwarte. Er zog den Schäfermantel fester um seinen Leib und sah nun +ganz aus wie ein schwarzer Sack, auf dem als unscheinbarer Knopf und +verunglückter Zierrat das blasse Haupt eines schlechtrasierten alten +Herrn angebracht ist. Ich erinnere mich, in meiner Jugend solche +Lichthütchen im Hause eines frommen Onkels gesehen zu haben. + +„Der Rittmeister“, sagte der Kopf auf dem schwarzen Sack, „ja sehen +Sie, er war doch eigentlich +keine+ Vollnatur. Es war ein Blender, +ein im Grunde genommen sittlich +nicht+ hochstehender Mensch. Ich +denke mir, der ständige, fast ausschließliche Umgang mit Pferden +und rassereinen Foxterriers -- er hatte drei Stück, die uns viel +Last machten -- hat das Edle, Reinmenschliche in ihm -- Karl, sitze ++ruhig+, halte die Beine +bei+ dir! -- was wollt’ ich sagen? Ja so, das +Reinmenschliche hat der Rittmeister im Stall wohl verloren. Sie glauben +nicht, was er für rohe, unzarte Briefe schrieb.“ + +„An Sie?“ + +„An mich? Aber nein. Wie sollte er wohl an mich ...? An Maruschka +Anastasia natürlich. Ich fand diese odiösen Blätter durch einen Zufall +-- Karl, das ist das Brandenburger Tor, sieh es dir genau an, mein +Sohn, hier links geht es in den Tiergarten -- Ja, durch einen Zufall. +Mein Gott, Maruschka Anastasia war sorglos, wie ein Kind. Das war eine +ihrer liebenswürdigsten Eigenschaften. Sie hat auch nie gemerkt, wenn +uns eine Köchin betrog. Und ich denke, +jede+ Köchin betrog uns. Sie +gab mir selbst die Mappe, in der einige von diesen Briefen offen lagen. +Ich sollte ein sehr langes Gedicht von ihr abschreiben -- das ist der +Reichstag, Karl, Begas hat ihn gebaut --“ + +„Walloth, bitte,“ verbesserte ich. + +„Richtig ja, Walloth. Sieh ihn dir genau an, mein Sohn, da werden die +Gesetze gemacht -- -- Ja, ja die Gesetze!“ Er lächelte sonderbar vor +sich hin. „Maruschka Anastasia hielt nicht viel von Gesetzen. Als ich +damals die Briefe gefunden und gelesen hatte -- sie lagen ganz offen +in der Mappe und die Überschriften waren so sonderbar -- da sagte ich: +Maruschka Anastasia“, sagte ich, „das ist doch wider alles Gesetz und +alle Ordnung. Du beschimpfst mich in deinen Gedichten, schön. Ich weiß +ja doch, daß du es nur in deiner herrlichen Phantasie tust, und daß +es in unserem Vaterlande viel Leute gibt, die das gerne lesen. Also +warum soll ich der Literatur meinen bescheidenen Anteil weigern? Ich +gebe sogar zu, das ich +stolz+ darauf bin, einen gewissen persönlichen +Einfluß auf die moderne Dichtung zu gewinnen, obschon mir selbst das +Talent versagt ist. Auch daß ich dir als Gespenst erscheine, ist aus +solchen Gesichtspunkten gewiß in Ordnung. Obschon es vielleicht nicht +jedem angenehm wäre, sich selber als Gespenst zu sehen. Aber daß du dir +von dem Rittmeister solche Briefe schreiben läßt, Briefe, wie sie ein +verliebter Hausknecht -- Wir fahren jetzt über die Spree, Karl, sieh +sie dir genau an. Es ist kein reißender, aber ein sehr bedeutsamer Fluß +-- Ja, +so+ sprach ich ungefähr zu Maruschka Anastasia.“ + +„Und sie?“ + +„Ja -- sie! Es ist eine merkwürdige Frau. So impulsiv, so ganz und +gar unberechenbar. Man könnte eine Sphinx, könnte mehrere Sphinxe aus +ihr machen. Was glauben Sie, was sie tat! Sie zitierte einen nicht +ganz klaren Ausspruch -- ich glaube von Schopenhauer, er kann aber +auch von Macchiavelli gewesen sein; und dann nahm sie plötzlich einen +japanischen Aschenbecher und warf ihn nach mir. Ich bückte mich rasch, +fiel über den immer vollen Papierkorb. Als ich mich wieder erhob, war +Maruschka Anastasia aus dem Zimmer gegangen.“ + +„Und dann?“ + +„Ich habe Maruschka Anastasia -- -- Was ist das doch für ein Theater?“ + +„Das Lessingtheater.“ + +„Richtig, ja. -- Karl, sieh es dir genau an, es ist das Lessingtheater +-- Ja. Ich habe Maruschka Anastasia +nie+ wieder gesehen. Sie hat, ++wie+ sie war, mein Haus verlassen und ist dem Rittmeister -- er +befand sich damals mit seinen Terriers auf einem von den Zeitungen sehr +gerühmten Distanzritt -- entgegengereist. Der Rittmeister hat mich +einige Tage später auf Pistolen fordern lassen. Meine Freunde haben mir +gesagt, es hätte das eigentlich umgekehrt sein müssen. Nun, es war ja +auch +so+ gut.“ + +„Sie haben sich -- geschossen?“ + +„Aber das war doch unmöglich. Gleich nachdem Maruschka Anastasia ihre +Möbel durch den Spediteur holen ließ -- +einen+ Tag nach ihrer Flucht +-- schloß ich doch mit Frau +Benzmann+ ab.“ + +„Sie haben sich -- wieder verlobt?“ + +„Gerechter Himmel -- ich +denke+ nicht daran! Frau Benzmann ist +Karls Großmutter -- ich denke, ich erzählte Ihnen damals -- eine +vortreffliche, nur etwas, sagen wir: etwas zu energische Frau.“ + +„Ach, die alte Dame mit der -- Kohlenschaufel? Der Junge ist also ...“ + +Michael Monkebach sprach so leise, daß ich ihn nur noch verstehen +konnte, wenn ich mein linkes Ohr dicht unter seine Nase hielt. Das tat +ich. Denn die verwickelten Schicksale des Mannes mit dem persönlichen +Einfluß interessierten mich sehr. + +„Durch die Adoption erwuchsen mir doch Verpflichtungen, nicht wahr? +Ich konnte mich doch jetzt nicht von jedem beliebigen Rittmeister, +der meine weitgehende Gastfreundschaft, drücken wir uns milde aus: +mißbraucht hatte, über den Haufen schießen lassen. Sie begreifen +das? Ich habe Frau Benzmann, -- sie trinkt leider stark und ist als +Verwandte recht lästig, -- dem Jungen und mir selber versprochen, +ein guter Vater zu sein. +Nur+ ein Vater. Man muß etwas sein und das +ganz. Ich wollte meinen ganzen persönlichen Einfluß geltend machen, +wollte dieses Menschheitspflänzchen zu herrlicher Blüte zu -- Karl, +wirst du augenblicklich dem Kutscher die Peitsche zurückgeben? +Au-gen-blick-lich!“ + +Auf dem Bock hatte sich so etwas wie ein Kampf entsponnen, den der +neckisch aufgelegte Gaul dazu benutzte, uns in einem harten, stoßenden +Galopp bald nach links bald nach rechts unsanft an eine Bordschwelle zu +fahren. + +„Du sollst die Peitsche hergeben!“ Halb aufstehend kniff der ergrimmte +Michael Monkebach den renitenten Pflegesohn in eine seinem Arm +erreichbare besonders fleischige Körperstelle. + +Der Junge gab schrill aufquietschend die Peitsche zurück. Und die +genußreiche Fahrt nahm einen friedlicheren Verlauf. + +„Und haben Sie denn nun rechte Freude an +die+sem Sohn?“ + +Michael Monkebach umging die direkte Antwort. + +„Es war nicht immer ganz leicht,“ sagte er. „Es meldeten sich +störende, kleine Atavismen -- Sie wissen, sein armer Vater, der +ehemalige Briefträger ... Der Bedauernswerte ‚sitzt‘ jetzt wieder. +Er machte als Kassenbote -- ich hatte ihm die Kaution gestellt -- +eine unangemeldete Erholungsreise und vergaß, zuvor einen der Firma +gehörigen Tausendmarkschein abzugeben ... Übrigens, ich möchte nicht +schlecht sein, aber, ehrlich gesagt, mir ist’s für alle Teile fast +lieber, er ist auf solche Weise aufgehoben. Seine Besuche waren nicht +sehr angenehm. Er hetzte den Jungen auf. Ich glaube, es war auch +sein+ +Gedanke, daß Karl zur +See+ gehen sollte. Er dachte mich wohl damit am +empfindlichsten zu treffen.“ + +„Sie lassen den Jungen zur +See+ gehn?“ + +„Mein Gott, ich ‚lasse‘ --? was will ich machen? Wenn nun einmal +sein junges, törichtes Herz daran hängt. Und in der Schule -- +unter uns: er ist leider nicht sehr begabt. Wenigstens nicht für +Unterrichtsgegenstände. Zuweilen hat er wohl ganz überraschende +Geistesblitze, aber die sind immer mit einer gewissen Tücke verbunden. +Sie könnten zum Exempel Erdbeermarmelade verstecken, +wo+ Sie wollten +-- er würde sie finden. Aber im schlichtesten Aufsätzchen eine Kuh zu +beschreiben oder eine Mühle oder einen Storch -- er bringt’s nicht +fertig. Nun hab’ ich ihn also angemeldet als Schiffsjungen in Hamburg. +Der Kapitän ist ein Schulfreund von mir. Er nimmt ihn dort schon an der +Bahn in Empfang. Gleich die erste Fahrt ein hübsches Stückchen Wasser +... Nach Valparaiso. Es soll gute Zucht sein auf dem Schiff. Auch +über das Essen habe ich mich vergewissert. Na, natürlich nicht gerade +Erdbeermarmelade; aber kräftig und reichlich.“ + +„Ist da nun nicht ein trauriger Gedanke, einen Sohn zu haben und doch +wieder +keinen+ Sohn zu haben?“ + +„Gewiß, gewiß. Aber, was wollen Sie, sein Herz hing daran, nicht wahr? +Er wäre mir verbummelt, verbittert zu Hause. Und +so+ -- ich denke, ich +kann doch für ihn sorgen. Lächeln Sie nicht, das ist doch etwas, ist +ganz viel. Ich kaufe ihm warme Unterwäsche, wenn er nach Spitzbergen +fährt, und ich suche ihm leichte Sommersachen aus, wenn er nach dem +Äquator steuert. Ich habe mir einen neuen großen Atlas gekauft -- +meinen schönen alten Kiepert hat Maruschka Anastasia irrtümlich unter +ihren Sachen mitgenommen. Und so kleine Fähnchen hab’ ich in einem +Papierladen erstanden, wissen Sie, so lustige bunte Wimpelchen an +Stecknadeln, wie sie die großen Dampfschiffahrtsgesellschaften auf +ihre Karten stecken. Genau solche. Das hab ich ihnen abgesehen. Und +so mache ich auf der Karte alle Fahrten mit ihm; und abends lese ich +die Berichte von den Seewarten. Und aus jedem Hafen -- das hab ich +schon ausgemacht mit meinem Schulfreund, dem Kapitän -- bekomme ich +ein ausführliches Telegramm. Sehn Sie, mich hat das Leben gelehrt, es +ist gar nicht so wichtig, daß man immer +körperlich+ bei den Menschen +ist, die man liebt, die man halten und schützen und fördern möchte. +Maruschka Anastasia zum Beispiel -- ich habe sie +nie+ wieder gesehn. +Aber es freut mich doch an jedem Ersten im Monat, wenn ich, die Hand +auf der Brusttasche, die Bückeburger Straße hinaufgehe und ihr das +Geld auf ihr Konto bei der Deutschen Bank einzahle.“ + +„Was -- Sie -- Sie -- unterstützen Ihre geschiedene Frau noch --?“ + +„Das +muß+ ich doch. Ich bin ja der schuldige Teil, nicht wahr? Heißt +das: vor der Welt. Wir haben das ganz hübsch so eingerichtet. -- Und +dann hat ihr Verleger Bankrott gemacht. Und der Rittmeister hat doch +selbst nichts, nicht wahr? Er verkauft manchmal einen Wurf Foxterriers +-- aber mein Gott, jetzt sind wieder die schottischen Schäferhunde +Mode. Er hat Unglück der Mann, wirklich, er tut mir leid.“ + +Wir waren am Lehrter Bahnhof und stiegen aus. + +Der Zug stand schon bereit. Michael Monkebach eroberte für den Jungen +einen Eckplatz, Rücksitz am Fenster. Er dachte an alles, brachte die +Reisetasche im Gepäcknetz unter und erprobte umständlich auf mehrere +sinnreiche Arten, ob sie nicht etwa dem Daruntersitzenden auf den +Kopf fallen könnte. Er kaufte ihm noch ein paar Orangen und zwei +fingerdick belegte Brote; er belehrte ihn noch über die wohlgesetzten +Begrüßungsworte, die er dem Kapitän bei der Ankunft in Hamburg +widmen sollte, ermahnte ihn dringend, auf die Reize der Aussicht ein +Augenmerk zu haben und sich ja nicht aus dem Fenster zu beugen, weil +einem da leicht kleine Kohlenstäubchen ins Auge fliegen könnten, was +sehr fatal und schmerzhaft sei. Und mit einer unnachahmlich diskreten +Handbewegung auf eine dunkle Verbindungstür nach einem kleinen +Kabinett weisend, flüsterte er: „Und -- du weißt, lieber Karl, für alle +Fälle ... +Genier+’ dich nicht, Junge! Solche Dinge sind menschlich. +Die vornehmste Dame ist nicht frei davon.“ + +Ich hielt mich bescheiden etwas zurück, den Abschied nicht zu stören. + +Daß der Jüngling von Sentimentalitäten überwältigt werden könne, schien +er nicht zu befürchten. Er betastete neugierig den blanken Griff der +Notbremse und prüfte die geheimnisvolle Plombe, was Michael Monkebach +sehr in Verwirrung setzte. Er drehte die Heizungskurbel, las die +ausführlichen Bestimmungen über „verlorene und gefundene Gegenstände“ +mit lauter Stimme von einem angeschlagenen Blättchen ab und bat +schließlich seinen Vater, dem Mathematiklehrer zu bestellen, daß er ihn +nie habe ausstehen können und für einen ekelhaften Esel halte. + +Das war der letzte Gruß des künftigen Seefahrers an die Heimat, an die +Vergangenheit, an das Festland. + +Der Zug setzte sich in Bewegung. + +Michael Monkebach zog mit nervöser Hast ein sehr sauberes Taschentuch, +reichlich so groß wie eine Kinderwindel; und er winkte mit der +ganzen Kraft seines Armes, so lange der Zug in Sicht war, wobei er +im Überschwang der Gefühle am äußersten Ende des Perrons herlief und +beinahe den diensttuenden Stationsvorsteher auf die Schienen geworfen +hätte. + +Als wir langsam die Treppe herunterstiegen, blieb er plötzlich stehen, +legte mir die Hand auf den Arm und sagte: + +„Ist es nun nicht ein wunderbarer, ein, möchte ich sagen, erhebender +Gedanke, daß der Junge vielleicht in drei Monaten in Kapstadt vor Anker +geht, oder in sechs Monaten in den Hafen von Habana einläuft oder +in Montevideo an Land klettert oder in Melbourne? Und ich in meinem +stillen Landstädtchen, der ich nur noch seine ziemlich schlechten +Bilder und sein zerbrochenes Kinderspielzeug und seine zerpflückten +Schulbücher habe als Erinnerungen an so viele Sorgen und Hoffnungen und +gern erfüllte Pflichten, ich weiß: daß er unter Kaffern und Indianern, +unter Grönländern und Indiern und unter lauter seltsamen Menschen, die +eine fremde Sprache reden und fremden Sitten gehorchen, plötzlich etwas +sagen, etwas tun wird, daß er nur von +mir+ hat, nur von +mir+ haben +kann. Er wird sich plötzlich auf eine Lehre besinnen, die ich ihm gab; +wird ein Wort, eine Sentenz anwenden, die er mich oft gebrauchen hörte. +Und bewußt oder instinktiv wird er ein winziges Spürchen Kultur, die +Kultur von +meiner+ Kultur ist, unter die Feuerländer und Kanibalen, +unter die poesielose Hafenbevölkerung des schmutzigen Ostens, unter die +armen Fischer im Eis des hohen Nordens tragen. Und so dünn und klein +diese Fäden auch sein mögen, +mein+ persönlicher Einfluß, den ich auf +sein Kindergemüt übte, umspannt auf solche Weise in ein paar Jahren +vielleicht die ganze Welt. Ein Späßchen, das +ich+ einmal gemacht, +erzählen sie sich vielleicht am lodernden Wachtfeuer am Amazonenstrom. +Eine Handbewegung von mir, wenn ich abends den Tee bereitete, wird +vielleicht in Lappland von einem schmierigen Eingeborenen als fremde +Kulturblüte nachgeahmt. Ein gutes Wort, daß ich gelegentlich aus +dem Gedächtnis nach einem deutschen Dichter falsch zitierte, klingt +vielleicht in derselben irrigen Version in einem Tempel bei Nagasacki +wieder. So hat alles Trübe sein Fröhliches, jeder Schmerz seine Heilung +in sich selbst. Ich verliere, sehn Sie --“ Er stockte einen Augenblick, +dann sprach er mit wehmütigem Lächeln weiter: „Ich verliere einen +Jungen an die große Welt da draußen; und mein Haus wird still und +einsam. Aber ein Stückchen, ein Spürchen, ein Gruß von mir passiert mit ++ihm+ den Äquator, fährt mit ihm durch die Wendekreise. Und auf all das +Fremde, Große, Schöne da draußen, das ich mit eigenen Augen nie sehen +werde, habe ich ganz heimlich und ganz bescheiden durch die Fahrten +meines Adoptiv-Kindes einen gewissen persönlichen Einfluß.“ + +Während er mehr zu sich selbst, als zu mir sprach, hatte er den +schwarzen Schäfermantel auseinandergeschlagen und wischte sich mit +dem riesigen Zipfel des Taschentuches verstohlen das Auge. Als er +aber meinen freundlich verstehenden Blick auf sein gerötetes Antlitz +gerichtet sah, steckte er das Tuch sofort weg, zwinkerte noch ein +paar Mal wie prüfend mit dem Augendeckel und erklärte dann ein wenig +unsicher im Ton: + +„Es muß mir ein Kohlenstäubchen ins Auge gekommen sein.“ + +Dann schritt er im Gewühl der Passagiere eines eben angekommenen +Zuges zwischen einem höheren Offizier und einer Eierfrau durch die +Perronsperre ins Freie ... + +[Illustration] + + + + +[Illustration: + + Druck von + C. Schulze & Co., G. m. b. H. + Gräfenhainichen] + + + + + Bücher aus dem + Verlage ○ ○ + Concordia Deutsche + Verlags-Anstalt ○ + +Hermann Ehbock+ + Berlin W. 50 ○ ○ + Geisbergstraße 29 + + + + +Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock + +[Illustration: Berlin W. 50.] + +Rudolf Presber: + +Von Leutchen, die ich lieb gewann + + _=15 Auflagen=_ in kurzer _=Preis=_ geheftet Mk. 3.50, + Zeit gbden. Mk. 4.50. + +=Berliner Tageblatt.= +Welch ein Buch! Welch ein lustiges Buch durch +und durch!+ Der ernsteste, bis aufs äußerste überlastete Minister, ja +alle überlasteten Menschen (und wer wäre es nicht?) hätten freudige, +fröhliche Stunden, wo sie ab und zu aufsehen müßten vom Lesen, um +sich vom Lachen auszuruhen und minutenlang zu stoppen, um sich zu +erholen. Ja, welch ein +wundervolles köstliches Buch ist es+! Voller +(wenn erlaubt ist, so zu sagen) durchdringenden Humors. Wie scharf hat +der Dichter uns Menschen gesehen, „in diesem Fall“ wie scharf unsere +großen und kleinen Eigenheiten gekannt! Wie vielen wird dies Buch ein +erfrischendes Buch sein, wo sie mal beim Lesen alle und alle Sorgen +an den Laternenpfahl hängen können! Und die Kranken, die darin lesen, +müssen gesund werden (+Detlev von Liliencron+). + +=Leipziger Tageblatt.= Dieses Buch stelle ich +an einen ganz +besonderen Platz in meiner Bibliothek+. Ich stelle es dahin, wo +die Sorgenbrecher des Lebens stehen, dahin, wo all das traulich +zusammensteht, was pessimistische Gedanken und Gefühle verscheucht, +was mir die Schatten des Lebens bannt und die Sonne goldiger macht. +Ganz in die Nähe der ernsten Philosophen stelle ich es, nicht zu weit +weg von Shakespeare, dem genialen Witzbold, und nicht zu weit auch +vom (nicht zeitlich, aber wesentlich) älteren Jean Paul ... Der Wert +der Presberschen humoristischen Erzählungen, ihr ganz +einzigartiger +und außerordentlicher künstlerischer Wert+, besteht in der Fähigkeit +des Dichters, sich in die Lebensgewohnheiten und Lebensauffassungen +der Personen völlig hineinzudenken, die er uns schildert. Nur der +wirkliche Dichter vermag seine Figuren lediglich durch sich selbst +humoristisch wirken zu lassen. Da ist nichts gesucht und an den Haaren +herbeigezogen, +all diese Personen leben+, leben, so wie sie der +Dichter schildert. + +=Die Literatur (Hamburger Nachrichten).= In diesen Skizzen zeigt +sich der Verfasser, den wir als einen unserer innerlich reichsten +und feinsten Lyriker bereits kennen, als treffsicherer Spötter und +Satiriker. „Der Mäcen“, „Liardot II.“, „Mein Porträt“ usw. sind ++Kabinettstücke humoristischer Lebensepisoden+. + +=Dresdener Nachrichten.= Ein Zug von, ich möchte fast sagen ++überwältigendem Optimismus+ geht durch jede einzelne dieser feinen +Skizzen, aus denen der Humor als der „verschönte Ernst“ zu uns spricht, +jene Liebe zu den Menschen, die stets in dem großen Verstehen ihrer +Schwächen und Fehler, ihrer Leiden und Freuden ausklingt. Man fühlt +es, Rudolf Presber ist das Leben nicht stumm geblieben, er hat es sich +selbst gedichtet, zur Poesie umgestaltet in den Sorgen des Alltags, in +den Freuden der Feierstunden, in Jahren des Ringens und Leidens, in +Augenblicken der Freude und des Glücks. Nur ein solcher Mensch, den +das eben zum Dichter gemacht hat, kann Leben so sehen, wie es Presber +sieht ... Nur wenige Dichter, die heute mit uns und hinter uns leben, +verstehen es, +mit solcher Herzlichkeit zu schreiben, mit so viel +echtem Gemüt zu erzählen+, wie dieser Poet, um dessen Lippen immer ein +Lächeln zu schweben scheint, aus dessen leuchtenden Augen stets ein +warmes Leuchten bricht, mag er auch nicht immer von lachendem Frohsinn +sprechen. + +=Breslauer Zeitung=: „+Ich habe lange nicht so gelacht+“, sind die +Worte, die jeder ausrufen dürfte, der das entzückende humorvolle Buch +„Von Leutchen, die ich lieb gewann“, von Rudolf Presber aus der Hand +legt. Es ist reiner, klarer, echter Humor. + + + + +Die Diva und Andere + +von =Rudolf Presber= + +_Sechste_ Auflage + +Preis: Geheftet Mk. 3.--, gebunden Mk. 4.-- + + +=Münchener Neueste Nachrichten=: Einen hohen und seltenen Genuß +verschafft die Lektüre dieser von sonnigem Humor und sprudelnder +Heiterkeit erfüllten Skizzen. Presber, der feinsinnige Lyriker +und geistreiche Spötter, ist unstreitig auch einer unserer besten +Humoristen. Das neueste Buch ist ein schlagender Beweis dafür. Wie +prächtig bearbeitet ist die kleine Skizze „Die Diva“, mit welch +bitterer Ironie deckt der Verfasser mit wenigen genial hingeworfenen +Strichen die ganze Falschheit und Niederträchtigkeit dieser drei sich +gegenseitig umschmeichelnden Gestalten, der Diva, des Kritikers und des +Dichters, auf. Nichts darin erscheint übertrieben, sondern alles atmet +natürliche Frische. Eine ebenso große Rolle spielt das komische Element +in der künstlerisch fein gearbeiteten und ergötzlich geschilderten +Skizze „Der rätselhafte Findling“, der durch das Erscheinen Sherlock +Holmes als Sohn des Dalai Lama erkannt wird. Der überaus ansprechende +Stil, der das ganze Buch durchweht, übt einen unwiderstehlichen +Zauber aus. Warmherzig und voll Empfindung ist das Buch so recht dazu +geeignet, jedermann von krankhaften Seelenzuständen zu befreien und +allen Pessimismus zu verscheuchen. Presber ist ein ganzer Künstler, +dessen Phantasie einen Zündstoff bildet, dessen Wirkung niemand sich +entziehen kann. + +=Internationale Literatur- und Musikberichte=: Ein echter +Sorgenbrecher! Man kennt Presbers Humor schon von seinem Buche her: +„Von Leutchen, die ich lieb gewann“. Hier ist derselbe Humor, derselbe +geistreiche Witz, die gleiche Kunst der kurzen, scharf pointierten +Erzählung. Die vierzehn kleinen Erzählungen sind Meisterstücke ihrer +Art und werden mit Recht dazu beitragen, Presbers Namen in die Reihe +der ersten Humoristen zu stellen. Schon die Tatsache der 5. Auflage +ist der beste Beweis für die Güte des Buches. Ich empfehle es auf das +allerwärmste. + +=Breslauer Zeitung=: Zwanglos intensiv teilt sich wieder die +Grundstimmung der Presberschen Prosasatiren mit: Klar erkennt man in +der Karikatur den fein durchschauten, festgeformten Typ, im scharfen +Angriff die verstehende Entschuldigung, im brillierenden Wortwitz die +Treffsicherheit der inneren Pointe, in der schneidigen Ironie noch die +warme Herzlichkeit des Optimisten von Geburt. Nicht viele sehen jetzt +so wie Rudolf Presber. Am meisten Otto Ernst (der Erzähler natürlich!), +wo ihm das Leben ein frohes Farbenspiel ist. Aus einiger Entfernung +schon grüßen die Menschen Heinrich Seidels und die Querköpfe Hans +Hoffmanns sich mit Presbers Leuten. Und ganz aus der Weite reckten +sich dann die Charakterfiguren noch weit Größerer auf. Die Form -- +sie ist bei Presber mit dem Geschick des Routiniers dem allerjüngsten +Geschmack angepaßt -- wird nicht über den soliden Dauerwert dieser Art +Humor hinwegtäuschen, der nicht Presbers persönliches Eigen allein ist, +sondern künstlerische Daseinsäußerung eines typischen Temperaments, +das zum Glück jeder Epoche immer wieder neu ersteht, nie unverstanden +bleiben darf und von seiner Zeit immer nur die Aeußerlichkeiten leiht. + +=Der „Rheinische Kurier“=: Presber ist nicht nur in seiner +engeren Heimat, sondern im ganzen deutschen Vaterland als einer +der geistvollsten Plauderer und Feuilletonisten bekannt, der +es versteht, auf der Grundlage einer scharfen Beobachtung und +einer feinen psychologischen Zergliederung Grazie und Anmut mit +ästhetisch-philosophischem Ernst zu verbinden. Wie immer, so bekundet +auch Presber in der vorliegenden Sammlung geistvoll-humoristischer +Silhouetten seine großen Vorzüge. Mit kecken Strichen versteht er seine +„Helden“ und „Heldinnen“ uns vorzuführen, ihre Tugenden zu preisen und +ihre Schwächen unbarmherzig zu geißeln und doch so liebenswürdig dabei +zu bleiben, daß keine Bitternis in der Seele des Lesers aufsteigt. + +=Deutsche Tageszeitung=: Von Rudolf Presber, dessen bereits in +vierzehnter Auflage erschienenes Buch von „Leutchen, die ich lieb +gewann“ nach dem Ausweis des Buchhandels zu den meistverlangten +Neuerscheinungen dieses Jahres gehört, ist soeben das amüsante +Geschichtenbuch „Die Diva und Andere“ in sechster, vermehrter Auflage +mit neuem, charakteristischem Buchschmuck von Hanns Anker erschienen. +Alle Vorzüge einer humor- und gemütvollen Erzählungskunst, die dem +Verfasser des „Von Leutchen, die ich lieb gewann“ nach dem einstimmigen +Urteil der Kritik unter die ersten Humoristen einreiht, findet sich in +diesem Buche in bunter Fülle wieder. + +=Berliner Tageblatt=: Rudolf Presber hat viel Begabungen: er kann sehr +schöne zartflimmernde Verse machen; er kann mit ganz aktuellem Witz +sich zum Herrn einer momentan interessanten Situation machen; er kann +sich träumend über die platte Wirklichkeit erheben und kann auch als +rechtes Weltkind harmlos fröhlich irgendeine Schnurre erzählen. Von ++alldem+ findet sich etwas in diesem Satirenband. + +=Die Post=: Presber liebt es, Satire und Humor und Grazie ineinander zu +flechten. Seine Satire wird nie bösartig und gallig, der wundervolle +süddeutsche Humor streicht mit einer weichen, warmen Hand über +die Spitzen und Widerhaken der Satire und kulminiert zumeist die +temperamentvoll losfahrende Vehemenz der Satire in einem befreienden +und herzerquickenden Gelächter. So etwas bringt ein Norddeutscher nicht +gut zuwege, dazu muß man schon Süddeutscher sein von dem leichten und +doch empfindungsvollen fränkischen Geblüt. + + + + +Die Bilder-Stürmer + +Eine Tragödie in fünf Akten + +von =Cléon Rangabé= + +Übersetzt und für die Deutsche Bühne bearbeitet von + +Rudolf Presber + +Mit Buchschmuck von +Hanns Anker+ + +Ihrer Kgl. Hoheit der Kronprinzessin von Griechenland gewidmet + + Geheftet Mk. 4.--, gebunden Mk. 5.-- + Numerierte Luxus-Ausgabe Mk. 25.--. + + +„=Nord und Süd.=“ Nicht nur der Diplomat, auch der Dichter Cléon +Rangabé ist in Deutschland wohlbekannt und geschätzt. Das vorliegende +Buch, das Drama „Die Bilderstürmer“, ist geeignet, den Namen des +Dichters noch weiter hinauszutragen. Das behandelte Thema steht +an und für sich uns Deutschen recht fern und abseits; jedoch ist +Rangabé vollkommen gelungen, unser Interesse wachzurufen und wach zu +halten, uns zu erwärmen und tiefinnerlich zu erschüttern! Gleich am +Anfang empfinden wir bewundernd, mit wie kurzer kraftvoll gestalteter +Exposition uns der Dichter in die das Stück bedingenden Verhältnisse +hineinversetzt, daß die Zeit, die Umgebung mit all ihren Kämpfen und +Gegensätzen sofort klar vor uns liegt. Es ist die Zeit der dogmatischen +Kirchenkämpfe, die Zeit der „Bilderstürmer“; es ist die Umgebung des +byzantinischen Kaiserhofes, wo eben jene Frage des Bilderdienstes +die Kaiserin Irene, Leos IV. Witwe, zu ihrem Sohne und Mitregenten +Konstantin VI. in schärfsten Konflikt brachte. + +Im Theater zu Athen haben die „Bilderstürmer“ großen Erfolg erzielt, +und wir sind überzeugt, daß auch ihre Aufführung in deutscher Sprache +auf deutschen Bühnen bei angemessener Inszenierung und guter Besetzung +der Hauptrollen reichen Beifall finden und Zugkraft ausüben wird. + +Und zum Schluß die höchst vornehme Ausstattung des Buches, die nicht +nur prächtig ist -- das kann auch von manchen anderen Erzeugnissen des +modernen Buchschmuckes gesagt werden -- sondern, was weit schwerer +wiegt und größere Anerkennung verdient, in ihrem Stile bis ins Detail +hinein einheitlich und dem Inhalte des Buches angepaßt ist. So ist +ein Kunstwerk entstanden, das in jeder Beziehung zu erfreuen und +befriedigen vermag. + + + + +Im Lande der Jugend + +Roman von Traugott Tamm + +_6. Auflage._ Geheftet Mk. 4.--, geb. Mk. 5.--. + + +Die „=Preußischen Jahrbücher=“: Traugott Tamm ist einer der +Auserwählten, dem das Können gegeben ist. Er ist eine starke, +dichterische Persönlichkeit mit so viel Eignem, daß er sich an kein +berühmtes Muster anlehnt, sondern ganz selbständig dasteht ... +Der Abschied der Eingezogenen des Kirchspiels im Jahre 1870 und +die Ansprache ihres hochbetagten Geistlichen ist eine der vielen +meisterhaften Szenen, die das Buch enthält und der nur wenige in den +Romanen der letzten Jahrzehnte an die Seite zu stellen sind. Dieser +Roman kann zu einem wesentlichen sozialen Faktor werden, wenn er so +viel gelesen wird wie er gelesen zu werden verdient! + +=Das Blaubuch=: „Ein wunderbares Buch, wie es selten auf den Markt +kommt.“ + +=Altonaer Tageblatt=: Das Thema dieses großangelegten Romans erinnert +an das in Freytags „Soll und Haben“, ist aber durchaus selbständig +verarbeitet und übertrifft Freytag an Vertiefung und Charaktere bei +weitem. +Man hat das Bedürfnis, dieses Buch zweimal zu lesen.+ + +=Königsberger Neueste Nachrichten=: +Dieser Roman ist wie eine schöne +reife Frucht, von sorgsamer Hand gepflückt. Seltene Schönheit und +Tiefe der Empfindung und Sprache hebt dieses Buch weit über derartige +Erscheinungen heraus.+ + + + + +Rinnender Sand + +Ostseegeschichten von Karl Rosner. + +Geheftet Mk. 2.--, gebunden Mk. 3.--. + + +=Das kleine Journal=: ... +Ein Werk voll wunderbarer stiller Schönheit, +die eindringlich und tief ergreift und lange nachklingt und ein +Bleibendes im Leser hinterläßt.+ + +=Neues Wiener Tageblatt=: +Ein prächtiges Buch!+ Voll schöner, +stimmungsreicher Naturschilderungen, voll Wärme und Empfindung bei +Beurteilung der Menschen, liebenswürdig im Detail und großzügig im +Ganzen. + + + + +Was ihm das Leben gab + +Roman von =Rudolf Pinner=. + +Geheftet Mk. 3.--, gebunden Mk. 4.--. + + +=Wiesbadener Generalanzeiger=: Einer von denen, die es fertig brachten, +wirkliche, echte Menschen zu schildern, wie sie uns das Leben wahrhaft +zeigt, einer von diesen wenigen, die zugleich feine Beobachter und +echte Dichter sind, ist Rudolf Pinner. Viel von dem, was dem „Helden“ +seiner Dichtung, dem Hans Erik Wendlandt das Leben gab, hat sicherlich +auch der junge Autor aus der Heimat Gerhart Hauptmanns wirklich erlebt, +vieles auch mag der feinsinnige Dichter an anderen Menschen erschaut +und dann in sich aufgenommen haben. R. Pinner geht seine eigenen Wege. +Einzelne besonders schöne Stellen dieses Romanes hervorzuheben, wäre +nicht recht. Man darf nichts herausreißen und absondern von dem, was +ein festes, harmonisches Ganzes ist. Dies ist ein Buch vom Leben und +fürs Leben, das wirklich verdient, gelesen zu werden. + + + + +Die Invasion von 1910 + +Der Einfall der Deutschen in England + +von =William Le Queux= + +=Die Seeschlachtkapitel= von =Admiral H. W. Wilson= + +Übersetzt von =Traugott Tamm= + +Preis: Geheftet Mk. 3.--, gebunden Mk. 4.--. + + +=Breslauer Zeitung=: Was den literarischen Wert des Buches angeht, so +ist er nicht gering. Es ist geschickt geschrieben, +erregt durch die +Natürlichkeit des Tones die Illusion des wirklichen Geschehens+ und +hält sich sorgfältig von krassen Effekten fern. Nur ein Beispiel, das +zeigen wird, wie der Stil nach frappierender Treue ringt: „Die Zahl +der elektrischen Scheinwerfer war bis auf sechs gestiegen; einige +steckten lange, steife Finger in die leeren Räume der Nacht aus, +andere wanderten rastlos auf und ab, hierhin und dorthin.“ +Das könnte +ebensogut bei Maupassant, wie bei Le Queux stehen.+ -- Das Buch wirkt +vornehm durch die maßvolle Behandlung des Stoffes. + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76627 *** diff --git a/76627-h/76627-h.htm b/76627-h/76627-h.htm new file mode 100644 index 0000000..f4c5081 --- /dev/null +++ b/76627-h/76627-h.htm @@ -0,0 +1,7704 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Von Kindern und jungen Hunden | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; +} + +div.eng { + width: 70%; + margin: auto 15%;} +.x-ebookmaker div.eng { + width: 90%; + margin: auto 5%;} + +h1,h2 { + text-align: center; 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Offensichtliche +Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute +nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original +unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.</p> + +<p class="p0">Das Buch wurde in Frakturschrift gesetzt. Passagen in +<span class="antiqua">Antiquaschrift</span> werden in der vorliegenden +Fassung kursiv dargestellt. <span class="hidehtml">Abhängig von der im +jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original +<em class="gesperrt">gesperrt</em> gedruckten Passagen gesperrt, in +serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt +erscheinen.</span></p> + +</div> + +<figure class="figcenter illowe33 break-before x-ebookmaker-drop" id="cover"> + <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt=""> + <figcaption class="caption"><span class="u">Original-Einband</span></figcaption> +</figure> + +<p class="s3 center padtop5 break-before mbot3"><span class="bb">Von Kindern +○ ○ ○<br> +und jungen Hunden</span></p> + + +<div class="chapter"> + +<p class="s2 center mright6 padtop1 mtop3">Rudolf Presber</p> + +<h1>Von Kindern ○ ○ ○ <br> +und jungen Hunden</h1> + +<p class="s4 center mtop3">Erste Auflage</p> + +<figure class="figcenter illowe4 padtop3" id="signet"> + <img class="w100" src="images/signet.jpg" alt="Verlagssignet"> +</figure> + +<p class="s4 center mtop3">Berlin <span class="antiqua">W.</span> 50<br> +<span class="s5">Concordia Deutsche Verlagsanstalt<br> +<em class="gesperrt">Hermann Ehbock</em></span></p> + +</div> + +<p class="center padtop5 break-before"><span class="bb bt"> Alle Rechte +vorbehalten </span></p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt</h2> + +</div> + +<figure class="figcenter illowe3" id="f005b"> + <img class="w100 mbot2" src="images/f005b.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<table class="toc"> + <tr> + <td class="vat"> + <div class="hang1">Flocki <span class="s5">(Die Geschichte eines + merkwürdigen Hundes)</span></div> + </td> + <td class="vab"> + <div class="right"><a href="#p000">1</a></div> + </td> + </tr> + <tr> + <td class="vat"> + <div class="hang1">Das Verhängnis des Hauses Brömmelmann</div> + </td> + <td class="vab"> + <div class="right"><a href="#p103">103</a></div> + </td> + </tr> + <tr> + <td class="vat"> + <div class="hang1">Der rote Esel <span class="s5">(Ein lyrisches + Intermezzo)</span></div> + </td> + <td class="vab"> + <div class="right"><a href="#p127">127</a></div> + </td> + </tr> + <tr> + <td class="vat"> + <div class="hang1">Des letzten v. Birkowitz letztes Fest</div> + </td> + <td class="vab"> + <div class="right"><a href="#p145">145</a></div> + </td> + </tr> + <tr> + <td class="vat"> + <div class="hang1">Der Mann mit dem persönlichen Einfluß</div> + </td> + <td class="vab"> + <div class="right"><a href="#p177">177</a></div> + </td> + </tr> +</table> + +<figure class="figcenter illowe3" id="f005c"> + <img class="w100 padtop1 mtop2 mbot2" src="images/f005c.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<figure class="figcenter illowe30a" id="f005a"> + <img class="w100 mbot3" src="images/f005a.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<h2 class="trans" id="Flocki" title="Flocki Die Geschichte eines merkwürdigen +Hundes">Flocki Die Geschichte eines merkwürdigen Hundes</h2> + +<figure class="figcenter illowe30" id="p000"> + <img class="w100" src="images/p000.jpg" alt="Titel: Flocki – Die Geschichte + eines merkwürdigen Hundes"> +</figure> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p> + +<p class="p0 mtop2"><span class="initial">I</span>ch habe „Flocki“ nie geliebt. Das +muß ich vorausschicken.</p> + +<p>Um so heroischer komme ich mir nun vor, indem ich mich hinsetze, um von +„Flocki“ zu erzählen. Denn — das ist fast ein Axiom geworden in der +literarischen Welt: die Lebewesen, die man so von Grund der Seele aus +<em class="gesperrt">nicht</em> leiden mag, erwähnt man nicht in Briefen oder gar in den +zum Druck bestimmten Manuskripten. Man schweigt sie einfach tot, so +bemerkenswert sie anderen erscheinen mögen.</p> + +</div> + +<p>Ich hätte vielleicht auch von „Flocki“ heute und später und für immer +geschwiegen, wenn nicht dieses äußerst seltsame Wesen so bedeutungsvoll +und bestimmend in das Leben eines Freundes eingegriffen hätte. Eines +Freundes, dessen Wert ich schätze, wennschon ich seine Schwäche im +Charakter tief beklagen muß.</p> + +<p>„Flocki“ war ein Hund. Um das gleich zu sagen: ein sehr merkwürdiger +Hund.</p> + +<p>Seine Mutter stammte aus der weitverbreiteten und durchaus beliebten +Familie des <span class="antiqua">canis genninus</span>. Oder kürzer und deutsch: sie war +eine besonders hübsche Pudelhündin. Sie hatte den in der Familie +üblichen<span class="pagenum" id="Seite_2">[S. 2]</span> gedrungenen Körperbau mit den langen, breiten Ohren; besaß +ein lockiges, schwarzes Fell mit zwei sauber, fast kokett gezeichneten, +weißen Flecken an Stirn und Brust. Diese beiden weißen Flecken waren +vielleicht die Ursache, daß sie so sehr stolz auf der Straße war und +sich selbst vom Milchmädchen nicht streicheln ließ. Was später aus ihr +geworden ist, weiß man nicht genau. Die Köchin bei Hauptmann Weber — +sie diente einen Stock unter „Fifi“, der schwarzhaarigen Pudelhündin, +— behauptete, sie hätte sich in älteren Jahren aus einer verspäteten +unglücklichen Liebe zu des Hauptmanns langhaarigem, englischem Setter, +der sechzehn Ahnen hatte, damals gerade von der Staupe genas und ein +sehr interessanter Rekonvaleszent war, in den Landwehrkanal gestürzt. +Aber die Köchin bei Hauptmanns war überhaupt eine sehr romantische +Person und wenig glaubhaft.</p> + +<p>Piefkes selbst, bei denen „Fifi“ seit den betrübenden Zeiten, in denen +ihrer ahnungslosen Jugend noch der erste Zimmeranstand beigebracht +werden mußte, treue Hausgenossin war, erzählten, sie sei von einer +„Elektrischen“ in der Potsdamerstraße überfahren worden. Das hat viel +für sich, wenn man erwägt, daß „Fifis“ Sehvermögen stark nachgelassen +hatte, und daß die „Elektrischen“ damals — kurz nach dem Streik — oft +von absonderlichen Fahrkünstlern gelenkt wurden.</p> + +<p>Flockis Vater aber — und das blieb nicht ohne Bedeutung für Flockis +Aussehen, wie für seine Talente und Neigungen — war ein <em class="gesperrt">Mops</em> +gewesen. „Schufterle“<span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span> hieß der wenig liebenswürdige Vertreter +einer unschönen Rasse, die, ruhmlos und unbeweint, faul, dick und +aller Tätigkeit abhold, im Aussterben begriffen ist. Er hatte einen +schraubenförmig gerollten Schwanz, eine schwarze, sehr unfreundliche +Maske und war von besonders bösartiger Gemütsart; als wollte er bei +jeder Gelegenheit durch tückisches Benehmen den Beweis liefern, +daß seine Familie nur eine Karikatur der mißliebigen Bullenbeißer +darstelle. Kam hinzu, daß seine Herrin eine alte, schrullige +Regierungsrätin war, die nur zwei Leidenschaften hatte: auf einem +unglaublich verstimmten Klavier Chopin zu spielen und ihren dicken Mops +zu verwöhnen.</p> + +<p>Diese sonst achtbare Dame hatte alle vielleicht in dem Tiere +schlummernden guten Qualitäten durch falsche Erziehung verdorben. +„Schufterle“ war knurrig und ohne jede Liebenswürdigkeit. Er war +gefräßig und litt infolge von Fettleibigkeit, die wiederum eine +Konsequenz der mangelhaften Bewegung in freier Luft war, stark an +Asthma. Seinetwegen wohnte die Regierungsrätin nur Hochparterre. Und so +oft sie auch wegen ihrer Vorliebe für Chopin umziehen mußte, mehr als +vierzehn Stufen mutete sie ihrem kurzatmigen Liebling niemals zu.</p> + +<p>Wie eigentlich der Liebesbund zwischen zwei so verschiedenen Wesen, +wie es „Fifi“ und „Schufterle“ waren, zustande kommen konnte, das ist +mir heute noch ein Rätsel. Brehm lebt nicht mehr, den ich gern gefragt +hätte; und zu den modernen Zoologen<span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span> hab’ ich kein Zutrauen. Sie +versenken sich nicht in die Tierseele.</p> + +<p>„Schufterle“ hat übrigens seinen Sohn niemals gesehen. Denn „Flocki“ +kam im dritten Stock zur Welt, in einer Höhe, die Schufterle niemals +erklomm. Und vierzehn Tage nach der Geburt des ihm gleichgültigen +Sohnes starb „Schufterle“. Die Hausbewohner, denen seine Korpulenz +und sein Schnaufen bei jeglicher Fortbewegung stark mißfallen hatte, +behaupteten pietätlos, er sei „geplatzt“. Einige wollten sogar den +Knall gehört haben ...</p> + +<p>Die Regierungsrätin aber machte den Briefträger für „Schufterles“ +Tod verantwortlich. Ihn allein. Zwischen diesem behenden Vermittler +schriftlicher Nachrichten und dem asthmatischen Mops hatte eine latente +Feindschaft schon seit Monaten bestanden. Schufterle knurrte, wenn +er den Briefträger sah. Und der Briefträger knurrte auch. Freilich +nur innerlich. Schufterle war überzeugter Demokrat und haßte alles +Uniformierte. Der Briefträger vermochte über Schufterles feindseliges +Benehmen um so weniger Entzücken zu heucheln, als der Regierungsrätin +das Verständnis für den Begriff eines Trinkgeldes selbst bei so +feierlichen Gelegenheiten, wie Ostern oder Jahreswechsel, durchaus +fremd blieb. Während sie für Schufterle eine verschwenderische +Zärtlichkeit an den Tag legte, pflegte sie die herzlichsten +Neujahrswünsche nur durch ebenso herzliche Wünsche zu erwidern.</p> + +<p>So kam es, daß der sonst durchaus friedliche<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> Briefträger kurz +nach Neujahr bei einem Zusammentreffen mit Schufterle auf der +Treppe die kläffende Mißbilligung des feindlichen Mopses mit einem +gesinnungstüchtigen Tritt seines doppeltgesohlten Zugstiefels +erwiderte. Dieser Tritt hatte, obschon er nicht mit voller Kraft +und in ganz ungefährlicher Richtung geführt war, nach Ansicht der +Regierungsrätin „edle Teile“ verletzt. Und als einige Wochen darauf +das vorzügliche Schufterle in seinem ausgepolsterten Schlafkörbchen +verschieden war, schwur die aufs äußerste erzürnte alte Dame, ihr +Liebling sei an dem Tritt des rohen Staatsbeamten gestorben. Sie +verkrümelte von diesem Tage an ihre bescheidene Pension in gehässigen +Prozessen gegen die Postbehörde. Aber das einzige Resultat dieser +fortgesetzten kriegerischen Tätigkeit war, daß sie dreimal wegen grober +Beleidigung eines Beamten in erhebliche Geldstrafen genommen wurde ...</p> + +<p>Ich hätte mich selbstverständlich weder bei „Fifi“, noch bei der +Hauptmannsköchin, noch bei „Schufterle“, der Regierungsrätin oder +dem Briefträger so lange aufgehalten, wenn ich nicht glaubte, daß +alle diese Dinge für <em class="gesperrt">Flockis</em> schönes Leben in gewissem Sinne +vorbedeutend und bestimmend gewesen wären.</p> + +<p>Daß Flocki, der Sohn von Fifi, der Pudelhündin, und von Schufterle, +dem asthmatischen Mops, ein <em class="gesperrt">bemerkenswerter</em> Hund war, muß ich +leider hinzufügen. Flocki war kurzbeinig, gedrungen, und obschon +sein schwarzer Kopf die mütterliche Rasse im Schädelbau deutlich +verriet, zeigte er die ganze, nur<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> in der eigenen Dummheit begründete +Weltverachtung des ererbten Mopsgesichtes. Auch der schraubenförmig +gedrehte Schwanz erinnerte an den asthmatischen Vater, während die +lockige, grauschwarze Behaarung offenbar von der angenehmeren Mutter +kam.</p> + +<p>Ich will meiner Antipathie gegen „Flocki“ hier nicht die Zügel schießen +lassen; eines aber steht für Unparteiische völlig fest: es gibt selbst +unter den verwahrlosten Kötern, die die schmutzigen Straßen von +Stambul so angenehm beleben, keinen, der bei mäßigen Geistesgaben so +täuschend den Eindruck zu erwecken vermöchte, als habe er sich soeben +in einer besonders üblen Lehmgrube gewälzt. Diesen Verdacht aber +rief Flocki, wo und wann er erschien, in jedem Unbefangenen hervor; +obschon es vielleicht in Mitteleuropa keine <em class="gesperrt">drei</em> Hunde gibt, +die <em class="gesperrt">soviel</em> gewaschen, gebadet, gekämmt, so oft mit grüner Seife +abgerieben und mit Insektenpulver bestreut wurden, wie Flocki. Diese +Reinigungsprozesse waren — um ein schiefes Bild an Stelle eines weit +besseren, das mir nicht einfällt, zu gebrauchen — die einzigen dunklen +Punkte in Flockis sonst so sonnigem Leben.</p> + +<p>Flockis Herrin war eine unverehelichte Malerin. Früher hatte sie bloß +gegen den Willen ihrer Eltern gemalt. Jetzt malte sie gegen den Willen +der ganzen Welt.</p> + +<p>Die Eltern waren gestorben und hatten ihr und ihrer älteren Schwester, +die genau so eifrig und auch ungefähr so schön Klavier spielte, wie +die jüngere<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> Schwester „Stilleben“ malte, ein bescheidenes Vermögen +hinterlassen. Nicht gerade, um auf lautlosen Gummirädern zu fahren und +den Karneval in Nizza zu verleben, aber doch um sich’s daheim behaglich +zu machen, ohne auf Verdienst angewiesen zu sein. Das war auch gut, +denn <em class="gesperrt">Eleonore Eikötter</em> hatte wohl das Talent, Bilder zu malen, +die ihr selbst, ihrem Dienstmädchen und dem vorzüglichen Flocki +ausnehmend gefielen; aber sie hatte leider <em class="gesperrt">nicht</em> das Talent, +diese Bilder auch der Kritik zu empfehlen oder gar diese Kunstwerke zu +verkaufen.</p> + +<p>Das war eigentlich sehr zu verwundern. Denn es heißt immer, wir leben +in einer realistischen, in einer materiellen Zeit. Und Eleonore +Eikötter kam in allen ihren Werken einem gesunden Materialismus +vertrauensvoll entgegen. Ihre Stilleben wiesen keine bekränzten +Totenschädel auf, keine Lichtscheren, alte Gebetbücher, rostige +Hufeisen oder was sonst noch diese Art von Bildern besonders reizvoll +zu machen pflegt. Eleonore malte prinzipiell nur <em class="gesperrt">Eßwaren</em>: +Hummerscheeren, Marzipantörtchen, Schweinsfüße, Pastetchen und +gebratene Wachteln. Und da sie mit ihren Bildern rasch fertig war, wie +die Jugend mit dem Wort, und aus ästhetischen Gründen ihre Modelle nie +mehr als <em class="gesperrt">einmal</em> benutzte, so hatte Flocki allen Grund, mit dem +Schicksal zufrieden zu sein, das ihn und sein Leben so innig mit dieser +Kunst verknüpft hatte, die <em class="gesperrt">nicht</em> „nach Brot“ zu gehen brauchte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span></p> + +<p>Flocki erhielt nämlich, sobald ein Bild vollendet war, die „Modelle“ +zur Erledigung in seine mit stilisierten Lilien bemerkenswert bemalte, +sehr geräumige Freßschüssel. Er hatte folglich ein nicht rein +künstlerisches Interesse daran, daß die Farbendichtungen Eleonorens +rasch ihrer Vollendung entgegenreiften.</p> + +<p>Schlau und perfid, wie er leider war, hatte er gemerkt, daß seine +Herrin einmal außer sich vor Entzücken geriet, als er — eigentlich nur +aus Langerweile und weil ihm die Sache diesmal zu langsam ging —, eine +von ihr gemalte Schinkenstulle ärgerlich angauzte. Damals geschah es, +daß Eleonore Eikötter stolz zu ihrer Schwester <em class="gesperrt">Adelgunde</em>, die +einen ihrer selteneren Besuche bei der Malerin machte, bemerkte:</p> + +<p>„Kennst du die Geschichte von Apelles, dem Lieblingsmaler des großen +Alexander? Nein? Nun, siehst du, der berühmte Apelles hat einmal +Kirschen gemalt. Da kamen die Spatzen von den Bäumen und wollten +die gemalten Kirschen aufpicken. <em class="gesperrt">So</em> natürlich waren sie. Dem +Apelles aber war das Lob, das ihm die getäuschten Sperlinge zollten, +wertvoller, als das Lob der Schranzen des Königs der Mazedonier. +Nun, siehst du, so geht es mir auch. Flocki, mein süßer, kluger +Flocki, hat die Schinkenstulle, die ich auf die Leinwand geworfen, +<em class="gesperrt">angebellt</em>. Das ist das <em class="gesperrt">höchste</em> Lob; das ist mir mehr wert +als das Lob Alexanders des Großen!“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p> + +<p>Die pietätlose ältere Schwester sagte bloß:</p> + +<p>„Du bist verrückt.“</p> + +<p>Aber Flocki, der sofort das appetitliche Modell, die Schinkenstulle, +ausgeliefert erhielt, überlegte, während er die fetten Bissen gierig +verschlang, daß sein lautes Benehmen vor der bunten Leinwand, der er im +Grunde durchaus verständnislos gegenüberstand, offenbar diese so rasche +wie erfreuliche Lösung der Problems bewirkt habe. Und er beschloß, auch +fernerhin sein lautes Urteil rechtzeitig abzugeben und seiner mild +gesinnten Herrin mehr Freude zu bereiten, wie Alexander der Große.</p> + +<p>In der Folgezeit wurde er laut, sobald die ersten Farbenklexe sich +auf der Leinwand zeigten und die ersten Linien erschienen, aus denen +noch ebensogut ein Nilpferd, wie ein Stiefelknecht oder eine gotische +Kathedrale werden konnte.</p> + +<p>Eleonore war selig im Bewußtsein, es in ihrer Kunst bereits so weit +gebracht zu haben, daß sie, wie sie sich ausdrückte, „mit wenigen +Winken das Bedeutsame auszudrücken vermochte“; so deutlich und klar, +daß es selbst Flocki, der bei aller Klugheit doch immerhin nur ein Hund +war, nur der Sohn eines Mopses und einer Pudelhündin, erkennen und +würdigen konnte.</p> + +<p>Wenn aber dem verschmitzten Flocki die öde Malerei zu lange dauerte und +die Gründlichkeit der Künstlerin in Anbetracht seiner Gelüste nach den +„Modellen“ verdrießlich wurde, dann gebärdete er<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> sich wie unsinnig +vor der Staffelei und drohte unter jubelndem Gebell mitten in die +künstlerische Tat hineinzuspringen.</p> + +<p>Dann legte Eleonore Eikötter, gerührt und stolz, die Pinsel hin und +belohnte den kritischen Freund mit den zärtlichsten Schmeichelnamen und +mit reelleren Genüssen ...</p> + +<p>So lebte Flocki im Atelier der genialen Pflegerin wie der große +Hannibal im üppigen Capua. Er wurde dick und fett. Und wären nicht +häufig kleine Verdauungsstörungen vorgekommen, peinliche Folgen seiner +kritischen Verdienste und seiner bedauerlichen Gefräßigkeit, so wäre er +ein vollkommen glücklicher Hund gewesen.</p> + +<p>Die Schönheit seiner Erscheinung litt wohl unter den Jahren und +der rasch fortschreitenden Korpulenz. Die vom Vater ererbte +Unliebenswürdigkeit gegen alle Fremden nahm zu, und beim Treppensteigen +zeigten sich auch schon zuweilen Vorboten des bösen, väterlichen +Leidens, des Asthma. Aber die sorgsame Liebe seiner Herrin wuchs +ins Ungemessene, wenn der dicke, häßliche Köter mit den fettigen, +kleinen Augen und dem verschraubten Schwanz sich breitbasig vor +ihren Pfuschereien aufpflanzte und der entzückten Eleonore Eikötter +mit seinem gequetschten Gebell das Zeugnis ausstellte, daß sie eine +talentvolle Künstlerin sei, eine nicht unebenbürtige Kollegin des +großen Apelles aus Kolophon. — — — — — — — — — — — — —</p> + +<p>Mein Freund <em class="gesperrt">Emil Steinbrink</em> hatte seit einigen<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> Monaten sein +Atelier neben dem Raume, den sich Eleonore Eikötter mit allerlei +Teppichen, die sie für „echte Perser“ hielt, weil sie vielfach gestopft +waren, mit sehr unpraktischen, breitbeinigen Tischen und sehr staubigen +Markart-Buketts zum Heiligtum ihrer Kunst eingerichtet hatte.</p> + +<p>Emil war nicht ohne Talent. Er hatte nur eine bedauerliche Vorliebe +für Violett; eine Vorliebe, die sich leider auch da nicht unterdrücken +ließ, wo diese an sich milde und gewiß sympathische Farbe nicht recht +hinpaßte.</p> + +<p>Über seine Porträts war kaum zu streiten, da violette Menschen +nirgends vorgekommen, und weil höchstens auf den Nasen einiger +Gewohnheitstrinker sich die unbequeme Farbe zeigt, die Emil bei seinen +Bildnissen bevorzugte. Aber auch seine „Landschaften“ gewannen durch +das merkwürdige violette Licht, das über die Wälder, die Häuser und +die Teiche flutete, ein eigentümliches Ansehen. Man vermutete immer, +sie sollten einem erschrecklichen Spuck, einer Geistererscheinung +oder einer gespenstischen Botschaft aus der vierten Dimension als +Hintergrund dienen. Und wenn dann unter solchem Bilde ganz einfach zu +lesen stand: „Frühlingslandschaft im Spessart“ oder „Herbstmorgen in +der Rhön“, so schwuren die gewissenhaften Kenner deutscher Gebirge, +dergleichen weder in der Rhön noch im Spessart, noch im Schwarzwald, +im Taunus oder in der sächsischen Schweiz jemals wahrgenommen zu +haben. Ja, ein Weltreisender, mit dem<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> ich einmal in den versteckten +Kunstsalon zusammentraf, in dem Emil seine Werke vor den Augen der +gemeinen Menge so ziemlich verborgen auszustellen pflegte, versicherte +mir, auch der Himalaja, der Kaukasus und die Roky Mountains seien +gänzlich frei von solchen violetten Stimmungen.</p> + +<p>Nur der Portier des Hauses, in dessen fünftem Stock Eleonore Eikötter +und Freund Emil Wand an Wand künstlerisch wirkten, behauptete steif und +fest, als Kind in seiner Heimat — er war aus Schopfheim — derartige +wunderliche Farbenstimmungen häufig und mit innigem Genuß beobachtet +zu haben. Seine sonst wohl interessanten Mitteilungen verloren an Wert +dadurch, daß der alte Herr früher als Weichensteller bei der Hessischen +Ludwigsbahn angestellt war und dann wegen plötzlich eingetretener +Farbenblindheit entlassen werden mußte.</p> + +<p>Dieser Weichensteller a. D. und jetzige Portier eines herrschaftlichen +Hauses mit zwölf Etagen, vier Kellern und fünf Ateliers hieß <em class="gesperrt">Erasmus +Schellenkopf</em> und wurde in seinen Pflichten als Hausbesorger +unterstützt von einer ebenso dicken wie asthmatischen Frau, seiner ihm +ehelich angetrauten Lebensgefährtin. Frau <em class="gesperrt">Emma</em> Schellenkopf +blickte zu dem Kunstverständnis ihres Eheherrn mit erfreulicher +Ehrfurcht empor, seit ihr Emil, der Meister in Violett, einmal erklärt +hatte: Das Gerede von der Farbenblindheit ihres Mannes sei ein Unsinn +und ein Quatsch, und man könne aus den Augen ihres Gatten durchaus<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> +ausreichende Gesichtsorgane für zwei Dutzend Akademieprofessoren +herstellen.</p> + +<p>Frau Emma Schellenkopf trug sich nach dieser Unterredung sogar +wochenlang mit dem Plan, auf Grund eines solchen fachmännischen +Gutachtens nachträglich einen Prozeß gegen die Hessische Ludwigsbahn +anzustrengen. Allein der Friedensliebe ihres verständigeren Gatten war +es zu danken, daß die Justiz nicht mit der Beamtenlaufbahn des Herrn +Schellenkopf weiter befaßt wurde.</p> + +<p>Erasmus Schellenkopf war für Freund Emils Schaffen ungefähr das, was +Flocki, der vorzügliche Hund, für Eleonore Eikötters Werke in Öl war. +Er war der Ansporn, die Aufmunterung, das anregende und treibende +Element. Wenn er morgens die fünf Treppen heraufkam, die schmutzigen +Pinsel zu waschen und die Aschbecher auszuleeren, eine Arbeit, die er +mit der pedantischen Umständlichkeit eines alten Professors ausführte, +so sprachen die beiden, der Maler und der kunstsinnige Portier, +ein Langes und ein Breites über die deutsche Kunst und benachbarte +Gebiete. Es war ein „Dialog in Violett“ ... Und nebenan im Atelier +der Stilleben malenden Eleonore hörte man von Zeit zu Zeit den +kunstbegeisterten Flocki bellen und vor der Staffelei seiner Herrin in +wildem Enthusiasmus umherhüpfen. Dazwischen Eleonorens freudig bewegte +Stimme, die den Liebling nicht ohne Stolz in die gebührenden Schranken +zurückwies ...</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span></p> + +<p>Als Emil das Atelier bezog, hatte er Eleonoren einen nachbarlichen +Besuch abgestattet.</p> + +<p>Sie hatte ihm einige Dutzend ihrer Bilder gezeigt, die auf ihn — er aß +aus Sparsamkeitsgründen an einem bescheidenen Mittagstisch der Altstadt +für 65 Pf. „mit Bier“ — einen peinlich appetiterregenden Eindruck +machten. Dann hatte sie mit noch größerem Stolz Flocki, den gestern +erst gewaschenen und bereits heute wieder sehr schmutzigen Flocki in +Freiheit vorgeführt.</p> + +<p>Es traf sich, daß Flocki gerade an diesem Tage, da er einen alten +Mallappen aus Langeweile aufgefressen hatte, an einem akuten Magenübel +erkrankt war, das durch praktische Verwertung der Modelle seiner Herrin +nicht besser geworden war. Das liebenswürdige Tier mußte deshalb sehr +häufig die fünf Treppen heruntergeführt werden, um sich an der frischen +Luft eine Weile zu ergehen.</p> + +<p>Emil, immer galant, erbot sich in diskretester Weise, zuweilen die +kleine gesundheitliche Exkursion Flockis zu leiten und mit Umsicht zu +überwachen. Diese angenehme, zarte Aufmerksamkeit gewann ihm das Herz +dieses späten Mädchens im Sturm.</p> + +<p>Schon am nächsten Tag machte sie ihm einen anderthalbstündigen +Gegenbesuch in seinem Atelier; und nachdem sie ihn mit längeren, +ziemlich verworrenen Plänen einer Romreise, für die sie die richtige +Jahreszeit schon seit sieben Jahren nicht hatte finden können, +gelangweilt hatte, kaufte sie eine seiner violetten Landschaften,<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> die +nun schon ins fünfte Atelier mit umgezogen waren ...</p> + +<p>Der Verkehr zwischen den beiden Ateliers wurde rasch lebhafter +und freundschaftlicher. Daran trug im Grunde weniger die +Seelenübereinstimmung des nachbarlichen Paares, als das Verhältnis +Flockis zu Emil die Hauptschuld. Aus gänzlich unaufgeklärten Gründen +beglückte Flocki den neuen Freund, so oft er ihn traf, mit seinen +ehrenden Vertraulichkeiten. Saß Emil, so sprang Flocki unaufgefordert +auf seinen Schoß, was, besonders wenn es draußen geregnet und Flocki +bereits eigensinnig den Weg durch mehrere Pfützen genommen hatte, +für Emils Kleidung gerade nicht von besonderem Vorteil war. Aber er +ertrug es; denn Eleonore sprach schon mit bescheidenem Augenaufschlag +davon, gelegentlich aus dem Schatze der violetten Landschaften noch ein +passendes Pendant zu dem von ihr gekauften Bilde auszuwählen. Sie ging +dabei wohl von dem nicht ganz unrichtigen Gesichtspunkte aus, daß man +solche violette Landschaften erst glaubt, wenn <em class="gesperrt">mehrere</em> beisammen +hängen und gewissermaßen die eine die andere bestätigt.</p> + +<p>Leisten konnte sich’s Eleonore Eikötter übrigens. Von ihren Eltern +hatten die Schwestern ja nur ein bescheidenes Vermögen geerbt, das +der alte Eikötter einer von ihm erfundenen und mit großem Geschick +vertriebenen Fruchtmarmelade verdankte. Dann aber war eine Tante +gestorben, die im Leben durch Besuche niemals lästig gefallen war, +die Schwester der Mutter. Diese<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> merkwürdige alte Dame hatte sich +in ein Kinderbild Eleonorens in der Weise verliebt, daß sie ihr +fünfundzwanzig Jahre später, nachdem das Bild wirklich nicht mehr +ähnlich war, mit Übergehung der älteren Schwester Adelgunde ihr ganzes +Vermögen vermachte. Das war in soliden Staatspapieren angelegt und +brachte immerhin eine Rente von 3000 Mk., ohne der Besitzerin durch +Schwankungen im Kurs den Schlaf der Nächte zu rauben.</p> + +<p>Adelgunde hatte nun zwar die Schwester durchaus nicht im Verdacht der +Erbschleicherei. Sie kannte auch die Geschichte von der berückenden +Wirkung des Kinderbildes auf das Herz der alten Tante. Aber sie +fühlte sich zurückgesetzt. Ein paar tausend Mark, die ihr die +gutmütige Eleonore als Geschenk und als Trost überlassen wollte, wies +sie hochmütig zurück und lebte von nun an von dem Ertrag weniger +Klavierstunden und der kleinen Rente, die das elterliche Vermögen +abwarf.</p> + +<p>Als aber Eleonore angefangen hatte, mit Eifer zu malen, wurde das +Verhältnis noch gespannter. Denn Adelgunde hatte schlechterdings für +diese Stilleben, auf denen nichts vorkam, wie lauter eßbare Dinge, die +später in Flockis stilisiertes Freßnäpfchen wanderten, aber auch gar +nichts übrig. Sie war mehr für die große historische Schule, Piloty, +Kaulbach und die andern, und verachtete derartige Malereien, in denen +kein Mann, kein Weib und kein Held eine Rolle spielte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span></p> + +<p>So malte Eleonore nicht nur für sich. Sie <em class="gesperrt">lebte</em> auch für sich. +Sie malte für sich und Flocki. Nur die Besuche des benachbarten +Strebensgenossen, der die ganze Welt violett sah, brachte einige +Abwechslung in ihr Dasein.</p> + +<p>Ihr Tagewerk war äußerst regelmäßig. Früh um sieben Uhr erhob sie sich, +nahm ein Bad, kleidete sich halb an und badete Flocki, für den dieser +Anfang des Tagewerks nicht den geringsten Reiz besaß. Häufig kroch er +sogar unter Eleonorens Bett, was die betrübte Künstlerin — nicht ohne +dabei heftig zu erröten und das kurze und allgemein übliche Wort für +ihre jungfräuliche Lagerstätte zu umschreiben — dem Freund und Nachbar +gesprächsweise mitteilte.</p> + +<p>Emil hatte zuweilen gute Einfälle. Nicht allzu häufig, aber doch +öfter, als die Leute glauben mochten, die nur seine Bilder kannten. +So riet er der bekümmerten Besitzerin des merkwürdigen Hundes nach +einigem Besinnen, die vier Beine ihres Bettes, von dem er, ohne es +gesehen zu haben, annahm, daß es aus Holz gebaut sei, einfach absägen +zu lassen. Sie werde dann allerdings beträchtlich tiefer liegen, aber +das habe nach den Erfahrungen der Ärzte keinen Einfluß auf Schlaf und +Wohlbefinden. Die berühmten französischen Betten seien sogar, wie man +ihm mitgeteilt habe, alle <em class="gesperrt">sehr</em> niedrig.</p> + +<p>Eleonore unterbrach hier errötend seine warmherzigen Ausführungen über +die französischen Betten, für die sie sich weniger interessierte. +Sie dankte ihm<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> aber herzlich für seinen guten Rat; denn die sich +immer häufiger wiederholenden Unterredungen mit dem unter dem Bett +sich verkriechenden Flocki, der nicht gewaschen sein wollte, waren +frühmorgens oft recht kraft- und zeitraubend.</p> + +<p>Sie ließ nun wirklich, wie der Freund geraten, die vier unnützen +Beine ihres Bettes absägen und gewann durch diese Kriegslist, die dem +überraschten Flocki höchst perfide erschien, durchschnittlich jeden +zweiten Morgen eine gute halbe Stunde.</p> + +<p>Um acht Uhr unternahm sie dann einen Spaziergang mit Flocki durch +die Anlagen der Stadt, wobei sie weniger auf die Reize der Natur als +darauf zu achten hatte, daß Flocki nicht durch seine Wißbegier in +den künstlich angelegten Beeten Übles stiftete. Mit den Angestellten +der Stadtgärtnerei, denen Flocki wohlbekannt und tief verhaßt war, +lebte Eleonore in ewiger Fehde. Die jüngeren Gärtnerburschen fanden +bedauerlicherweise ihre neckische Freude daran, einen kräftigen +Strahl aus den wasserspendenden Rasenschläuchen, wenn’s irgend ging, +auf den weltvergessen botanisierenden Flocki zu lenken, der dann mit +unsäglichem Geheul über dieses zweite unbestellte Bad quittierte. Für +die Beschwerdebriefe Eleonorens an die Stadtgärtnerei rächten sich +wiederum die Parkaufseher durch Anzeigen, wenn Flocki, was leider +häufig vorkam, unter dem kleinen Geländer, das die gelben Fußwege von +den weichen Rasenflächen trennte, durchkroch, um sich im Grünen oder +unter Tulpen und Hyazinthen zu ergehen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span></p> + +<p>Um 9½ Uhr kam Eleonore gewöhnlich von ihrem Spaziergang, der ihr +mehr seelische Erregung als Erholung zu bringen pflegte, zurück. Sie +teilte dann mit Flocki, der merkwürdig gern gut gezuckerte Schokolade +trank, ihr Frühstück und trat mit dem Glockenschlag zehn Uhr in einer +erstaunlich verklexten Malschürze vor ihre Staffelei.</p> + +<p>Um zwölf Uhr klopfte Emil gewöhnlich an ihre Tür. Sie rief „Herein“ +und zeigte jeden Mittag dieselbe freudige Überraschung über den +unerwarteten Besuch.</p> + +<p>Dann sprachen sie eine halbe Stunde über Kunst. Über Böcklin, dessen +geniale Verwendung der violetten Farben Emil nicht genug rühmen konnte; +über die Niederländer Snyders, Hondecoeter und van Streek, in denen +Eleonore die Großen <em class="gesperrt">ihrer</em> Kunst verehrte, die Meister, die es +verstanden, das Kleine groß zu sagen und dem an sich Unbedeutenden, — +einer Jagdbeute, einem Küchenstück, einer Tafel ohne Gäste — geistige +Bedeutung und Poesie zu leihen.</p> + +<p>Sie sprachen ohne Leidenschaft, wie zwei gute, wohlerzogene Kameraden. +Eins ließ das andere ausreden, ob es gleich ganz genau wußte, was +es nun sagen werde. Denn der Gedankengang in diesen ästhetischen +Besprechungen war stets der gleiche. Und da nie ein Widerspruch von +der andern Seite erfolgte, so war auch eine dialektische Verteidigung +des Standpunktes, eine Vertiefung der Begründung, eine Vermehrung der +Argumente durchaus unnötig.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p> + +<p>Zuletzt sprach man immer — von Flocki, der, sobald er seinen Namen +hörte, in seinem mit weichen bunten Lappen ausgelegten Körbchen faul +mit dem Schwänzchen wedelte, ohne sonst irgendeinen Muskel seines +Körpers an der freudigen Bewegung teilnehmen zu lassen, ja meist ohne +die Augen nur zu öffnen.</p> + +<p>Dann kam man überein, zusammen zu Mittag zu essen. In dem bescheidenen +kleinen Restaurant in der Nähe, das Eleonore entdeckt hatte, und +in dem sie, obschon sie keine geistigen Getränke zu sich nahm, auf +deren Verkauf die Wirte sonst angewiesen sind, als Stammgast mit +Aufmerksamkeit und Respekt behandelt wurde.</p> + +<p>Auch dieses gemeinsame Diner schien jeden Mittag das Resultat einer +ganz plötzlichen Erwägung zu sein. Man zeigte sich jedesmal wieder +aufs neue erfreut, die fesselnde Unterredung über Böcklin, über die +Niederländer und Flocki bei Tisch fortsetzen zu können. Und niemals +wäre es Einem von beiden eingefallen, etwas Seltsames darin zu finden, +daß sie ohne Verabredung, ohne Übereinkunft oder Abonnement schon seit +Monaten jeden Mittag um ein Uhr gemeinsam in das freundliche Gastzimmer +der „Goldenen Eidechse“ eintraten.</p> + +<p>Der Pikkolo, der eine aus dem alten Frack des Oberkellners umgebaute, +in der Fasson sehr merkwürdige Jacke trug, die an Flecken der +Malschürze Eleonorens nicht nachgab, kam ihnen jeden Mittag mit +derselben theatralischen Verbeugung entgegen. Den pomadisierten Kopf +zwischen die Schultern ziehend, wie eine gekitzelte<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> Schildkröte, wies +er mit huldvoller Bewegung der roten Hand, die aus der spiegelnden +Gummimanschette wie der breite Schaufelfuß eines Maulwurfs kam, nach +dem für zwei Personen gedeckten Tischchen in der Ecke:</p> + +<p>„Die Herrschaften, bitte, <em class="gesperrt">hier</em>!“</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Auch Eleonorens Schwester, die selten erscheinende Adelgunde, hatte +Emil einmal bei der befreundeten Künstlerin getroffen.</p> + +<p>Es war kein besonders günstiger Tag, um sie kennen zu lernen. Sie +hatte sich am Vormittag einen Vorderzahn ziehen lassen, und die Zunge +war noch nicht recht gewöhnt daran, daß gerade an der Front des +Kiefers eine Lücke in die Zahnreihe gebrochen sei. Demgemäß „lispelte“ +Adelgunde in einer befremdlichen Weise, und die Aussprache gewisser +Konsonanten ergoß sich wie feiner Sprühregen auf den Partner der +Unterhaltung.</p> + +<p>Eleonore fand es furchtbar komisch. Sie hatte gleich beim Eintritt der +Schwester zu lachen angefangen. Sie hörte gar nicht auf zu lachen; +und je mehr sie ihrer humoristischen Laune die Zügel schließen ließ, +desto ärgerlicher wurde die Schwester. Schließlich kamen die beiden +in Streit, ohne die Anwesenheit Emils, der sich nach einer ersten +Begrüßung, verlegen in alten Skizzenmappen blätternd, an den Wänden<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> +herumdrückte, weiter zu beachten. Sie sprachen recht deutliche Töne +über den kleinen körperlichen Schaden Adelgundens, der Eleonore so sehr +amüsierte.</p> + +<p>„Nimm mir das nicht übel, Eleonore, aber ein Gänschen“ — sie sprach +das „s“ sehr scharf, fast zischend — „ein Gänschen von fünfzehn Jahren +benimmt sich nicht törichter, wie du. Und, wie alt bist du doch?“</p> + +<p>„Fünf Jahre jünger als du,“ gab Eleonore prompt zurück.</p> + +<p>„Richtig. Aber du benimmst dich wie ein Kind. Das steht dir wirklich +nicht besonders, die Naivenrolle mit dem Backfischgekicher.“</p> + +<p>„Ja, das mag ja sein, meine Liebe, aber du sprichst auch zu komisch. +Sag’ doch bitte noch einmal, Gänschen — Gänsz-schen — es klingt gar +zu drollig.“</p> + +<p>Diesen Gefallen tat ihr Adelgunde nun zwar nicht, aber sie belehrte die +Schwester:</p> + +<p>„Wenn du die Folgen eines Zahngeschwürs, das mich acht Tage lang +gemartert hat, ‚drollig‘ findest, so kann ich deiner Schwesterliebe das +nicht verwehren. Ihr Künstler seid immer äußerst originell in eurer +Auffassung fremder Gefühle; und du bist ja — wenigstens <em class="gesperrt">deiner</em> +Auffassung nach — eine Künstlerin.“</p> + +<p>Eleonore überhörte die Bosheit und fragte teilnehmend:</p> + +<p>„Du wirst dir doch einen andern Vorderzahn einsetzen lassen?“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span></p> + +<p>„Nein!“</p> + +<p>Das Nein kam so scharf und eisig heraus, als wollte Adelgunde damit +ihrer Schwester einen Hieb versetzen.</p> + +<p>Emil sah verstohlen von seinen Skizzenbüchern auf, die Eleonorens +zeichnerische Gedanken über verschiedene, durchaus gewöhnliche +Hausgeräte enthielten. Er prüfte Adelgunde mit den Kenneraugen des +Malers. „Schönheit ist nicht die Falle ihrer Tugend,“ dachte er. Es ist +ja nun einmal von der Natur bestimmt, daß die Töchter Evä einen kurzen +Unterkörper und langen Oberkörper besitzen, und man hat sich allmählich +daran gewöhnt, daß dem so ist. Aber so kurz, wie bei Adelgunde, +brauchen schließlich die Beine auch nicht zu sein; besonders wenn der +Oberkörper so lang und eckig gebaut ist, wie hier.</p> + +<p>Er erinnerte sich, mal als Junge auf einem Jahrmarkt einen sogenannten +„Rumpfmenschen“ gesehen zu haben. Der Ärmste saß in einem hellblauen +Seidenwams auf einem wulstigen Kissen; und der Knabe ging damals +mit Staunen und Schauder um den hockenden Fleischklotz, in dem nur +die Augen zu leben schienen, herum und suchte die Beine. An diesen +Rumpfmenschen erinnerte ihn Adelgundens wenig glückliche Erscheinung. +Durch ihre Angewohnheit, die Arme stets unbeweglich dicht an den Körper +gepreßt zu halten, als ob unter den Achseln die Naht ihres Kleides +geplatzt wäre und sie das durchaus nicht sehen lassen wollte, gewann +die grausame Illusion noch an Wahrscheinlichkeit.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p> + +<p>Und dann die Toilette! Das Kleid, das sie trug, war weder alt noch +schäbig; aber wann sein wunderlicher Schnitt jemals modern gewesen +wäre, das konnte kaum festgestellt werden. Ihren Hals schmückte ein +himbeerfarbener Seidenschlips, auf dem eine dicke goldne Spinne +mit einem perlenbesetzten Hinterleib als Nadel saß. Auf ihren +schlechtgebrannten Haaren vom fadesten Blond, durch das sich schon +silberne Streifchen zogen, wallte ein unförmiger kanariengelber Hut, +der einem Fieberkranken im Traume erscheinen konnte.</p> + +<p>Gewiß, Eleonore war ja auch keine <span class="antiqua">beauté</span>, und auf einer +Schönheitskonkurrenz hätte sie — selbst in ihrer bereits überwundenen +Blütezeit — verteufelt wenig Aussicht auf eine „lobende Erwähnung“ +gehabt. Aber sie kleidete sich wenigstens einfach und hatte in ihren +Bewegungen nichts Unweibliches. Diese Adelgunde aber war einfach +furchtbar. Selbst wenn sich Emil den kanariengelben Hut und den +fehlenden Schneidezahn „rekonstruiert“ dachte; selbst wenn er die +himbeerfarbene Krawatte durch eine in Gedanken und Farbe bescheidenere, +die besser zu ihrem farblosen, unreinen Teint paßte, ersetzte und sich +das Mißverhältnis von Ober- und Unterkörper durch eine zweckmäßige +Kleidung gemildert vorstellte, blieb das Gesamtbild noch immer +unerfreulich.</p> + +<p>So etwas zu heiraten, das muß doch furchtbar sein, beendigte der +betrübte Maler seine stille Prüfung. Und er versuchte, sich den Armen +vorzustellen, der<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> etwa zu Adelgunde passen könnte. Einen Lebenden, +der dieser Aufgabe gewachsen wäre, kannte er nicht. Und indem er dies +konstatierte, empfand er es als eine seelische Befriedigung, wie ein +großes Kompliment für das ganze männliche Geschlecht. Wenigstens vom +Standpunkte des Malers.</p> + +<p>Flocki hatte sich mittlerweile persönlich aus seinem Körbchen bemüht +und hatte die ihm äußerst unsympathische Schwester seiner gütigen +Herrin zunächst und von der Ferne durch feindliches Knurren begrüßt. +Dann hatte er sich, eingeschüchtert durch eine drohende Gebärde +Adelgundens, zu Emil begeben, an dessen Hosenbein er sich mit ehrender +Zutraulichkeit und großer Energie das Fell rieb.</p> + +<p>Als Adelgunde den mißvergnügten Köter bemerkt hatte, erhellten sich +ihre Züge. Sie wußte, an welcher Stelle sie ihre Schwester kränken +konnte.</p> + +<p>„Da ist ja auch der häßliche Butz,“ sagte sie, einen horngefaßten +Kneifer aufsetzend, der sie um nichts schöner machte.</p> + +<p>„Ich habe dir schon mindestens zwanzigmal gesagt, daß der Hund nicht +Butz, sondern Flocki heißt,“ belehrte Eleonore, aufgebracht über die +Mißachtung, der ihr Liebling begegnete.</p> + +<p>Flocki verstand, daß von ihm die Rede war. Er hörte sofort auf, sich +an Emils Hosenbeinen zu schaben und sah mit schiefgelegtem Kopf und +mißtrauischer Aufmerksamkeit nach Adelgunde.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p> + +<p>Und richtig, die Kampflustige setzte ihre bedauerlichen Beleidigungen +fort:</p> + +<p>„Solche Köter, die gar keiner Rasse angehören und gar keinen Charakter +haben, sollten immer ‚Butz‘ heißen. Butz schlechtweg. Niemals anders. +Und nun gar <em class="gesperrt">der</em>! Ich begreife nicht, wie du mit deinem ewigen +Schönheitsgefühl dieses abscheuliche Tier um dich dulden kannst. +Freilich, er lobt ja deine Bilder. Der Gute, der Uneigennützige! Das +gibt ihm einen durchaus einzigen, unbestreitbaren Platz in deinem +Herzen. Du brauchst jemanden, der deine Bilder lobt. Aber das dürfte +dich doch nicht blind machen, daß er geradezu der Thersites unter den +Hunden ist. Und immer schmutzig.“</p> + +<p>„Bitte, heute erst gebadet.“</p> + +<p>Adelgunde ignorierte diese entrüstete Berichtigung. Sie wendete +sich nun direkt an Emil, der ziemlich geniert auf einem groben +Melkstuhl saß, den Eleonore einmal vor Jahren aus einer bescheidenen +Sommerfrische auf einer Schweizer Alm als sinnige Erinnerung +mitgebracht hatte.</p> + +<p>„Haben Sie schon einmal einen zweiten Hund gesehen, der immer aussieht, +als sei er in eine Lehmgrube gefallen?“</p> + +<p>Emil wich der direkten Antwort auf diese Frage aus.</p> + +<p>„Flockis Fell nimmt merkwürdig leicht Staub an,“ entschied er, „aber +ich bin Zeuge, daß er fast täglich gebadet und sehr häufig am Tag +gebürstet wird.“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span></p> + +<p>„Ja, <em class="gesperrt">Sie</em> sind Zeuge?“ lächelte Adelgunde spitz. „Sie sind wohl +der pädagogische und medizinische Beirat bei Flockis leiblicher und +seelischer Erziehung.“</p> + +<p>„Im Hauptberuf,“ sagte Eleonore rasch und enthob dadurch den ob solcher +Anzapfung sichtlich verlegenen Emil der Antwort. „Im Hauptberuf +ist Herr Emil Steinbrink, wie ich dir vorhin schon erklärte, liebe +Adelgunde, Maler. Also ein Kollege von mir. Sogar ein Kollege, von dem +ich sehr viel halte.“</p> + +<p>„Sogar!“ Adelgunde verbeugte sich mit leichtem Spott.</p> + +<p>„Jawohl, meine Liebe, sogar! Er ist Landschafter und hat die Welt mit +den Augen des Poeten betrachtet. Daß er, wie die meisten ästhetisch +Veranlagten und wie alle <em class="gesperrt">guten</em> Menschen“ — sie legte auf die +„guten“ Menschen einen bedeutsamen Nachdruck — „nebenbei ein großer +Hundefreund ist, hat mir seine kollegiale Freundschaft noch wertvoller +gemacht.“</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Noch</em> wertvoller?“ Adelgunde schien das ironische Echo der +Schwester geworden zu sein.</p> + +<p>Emil beschloß der peinlichen Szene ein erträgliches Ende zu geben. +Er erhob sich von seinem Melkstuhl und sagte mit einer linkischen +Handbewegung:</p> + +<p>„Hier nebenan ist mein Atelier.“</p> + +<p>„Hier — <em class="gesperrt">nebenan</em>?“</p> + +<p>Adelgundens Gesicht nahm einen Augenblick den Ausdruck beleidigter +Tugend an.</p> + +<p>„Ja, er ist ein sehr angenehmer Nachbar,“ kommentierte Eleonore +boshaft, „er spielt niemals Chopin,<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> keine Trauermärsche und nichts +anderes, was ähnlich klingt.“</p> + +<p>Emil begriff, daß Adelgunde nun wieder an der Reihe war für eine +bissige Bemerkung. Er beeilte sich also zu sagen: „Interessiert es Sie +vielleicht, mein Atelier zu sehen? Ich muß doch eben noch eine halbe +Stunde hinüber.“</p> + +<p>Er hatte erwartet, daß Adelgunde ablehnen würde. Vielleicht mit +ironischem Dank, vielleicht gar mit einer beleidigenden Bemerkung.</p> + +<p>Aber in der unangenehmen Dame schien die Neugier gesiegt zu haben. Sie +erklärte sich sofort zur Besichtigung bereit.</p> + +<p>Jedenfalls kam er auf diese Weise hier los.</p> + +<p>Die folgende Viertelstunde gehörte zu den wenigst genußreichen in Emils +Leben.</p> + +<p>Es ist zwar nicht anzunehmen, daß Adelgunde überhaupt was von Bildern +verstand; in der Beurteilung von Emils Werken nahm sie jedenfalls einen +nüchtern ablehnenden Standpunkt ein. Sie behauptete, daß die violette +Farbe in der realen Welt sehr selten vorkomme. <em class="gesperrt">Wenn</em> sie aber +vorkomme, dann sehe sie nach ihren Beobachtungen anders aus, als Emil +sie wiedergab.</p> + +<p>Sie sprach dann von seiner Vorliebe für Violett, wie von einem +schmerzlichen Sehfehler und diskutierte mit ernster Teilnahme die +Möglichkeit, dieses Gebrechen durch einen operativen Eingriff in das +Sehnetz zu heben. Sie kenne einen Augenarzt, der die<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> merkwürdigsten +Operationen mache. Eine sehr distinguierte Dame, mit der sie früher +vierhändig Klavier gespielt habe, sei von dem unglücklichen Fehler +behaftet gewesen in allen hellen Dingen einen dunklen Punkt zu sehen. +Einen Punkt von der Gestalt und Farbe einer Baumwanze. Diese Baumwanze +habe ihr der Doktor aus dem Auge herausgeschnitten. Es sei natürlich +keine wirkliche Baumwanze gewesen, sondern, wie sie vermute, ein +häßlicher Fleck in der Pupille. Die distinguierte Dame sei nach der +wohlgelungenen Operation sehr glücklich gewesen, habe vier Wochen nach +Vorschrift im dunklen Zimmer gesessen zur Nachkur und sei leider in +der fünften ganz plötzlich gestorben. Ein sehr trauriger Fall, der +aber niemanden abschrecken dürfe, eine Operation zu wagen. <em class="gesperrt">Sie</em> +z. B. würde in Emils Fall lieber heute als morgen ihre Zuflucht zur +Operation nehmen. Es müsse doch geradezu schauderhaft sein, die ganze +Welt, den Himmel, die Bäume, die Menschen, alles violett zu sehen. Auch +der Wahnsinn beginne sehr häufig, wie sie aus sehr ernst zu nehmenden +Büchern wisse, mit solchen Gesichtsstörungen ...</p> + +<p>So plauderte sie in ihrer gewinnenden Weise noch vieles, das den +Verfertiger der violetten Bilder ähnlich sympathisch berühren mußte.</p> + +<p>Dann empfahl sie sich, nicht ohne Flocki aus Versehen auf die Pfoten +getreten zu haben; eine Ungeschicklichkeit für die der davon Betroffene +mit dem ihm eigenen maßlosen Geheul quittierte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p> + +<p>Vollständig mit der Untersuchung und der Pflege des Patienten +beschäftigt nahm die empörte Eleonore keinerlei Notiz davon, als die +Schwester davonrauschte.</p> + +<p>Emil begleitete sie bis zur Treppe und empfing dort ihre letzte +dringende Ermahnung, lieber so lange <em class="gesperrt">nicht</em> mehr zu malen, bis +die empfehlenswerte Operation vorgenommen sei.</p> + +<p>Sie war schon auf der Treppe, da raffte Emil, der bis dahin mit der +Geduld eines Märtyrers die Freuden dieses Besuches, der ihm eigentlich +gar nichts anging, ertragen hatte, zu einer kleinen, bescheidenen +Bosheit auf.</p> + +<p>„Alles, liebes Fräulein,“ sagte er, „<em class="gesperrt">alles</em> sehe ich nun doch +nicht violett. Zum Beispiel ihren schönen Hut empfinde ich durchaus +gelb.“</p> + +<p>„So. Empfinden Sie ihn gelb?“ sie lächelte ihm geschmeichelt zu. „Nun, +sehen Sie, ich kann Ihnen versichern: er <em class="gesperrt">ist</em> auch gelb. Ein +kräftiges Kanariengelb. Ich liebe überhaupt das Kräftige.“</p> + +<p>Und damit stieg die freundliche Dame, die das Kräftige liebte, mit dem +kanariengelben Hut die Treppe hinunter.</p> + +<p>Das war am Abend des 24. Mai.</p> + +<p>Emil ahnte nicht, welche Bedeutung einmal für ihn dieses Datum gewinnen +sollte. Und als er in sein Atelier zurücktrat und Eleonore zwischen +all den violetten Bildern mit finster verkniffenen Lippen in seinem +antiquarisch gekauften Sicherheitstriumphstuhl sitzend fand, immer noch +den wimmernden Flocki<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> betreuend, da konnte ihm nimmermehr der Einfall +kommen, daß diese Stunde in der Freundin einen Entschluß gereift habe, +der ihn sehr nahe anging.</p> + +<p>Ihr Urteil über die Schwester aber faßte Eleonore, ehe sie mit Flocki +ging, nur in die knappe Charakteristik zusammmen:</p> + +<p>„Es ist eine <em class="gesperrt">widerliche</em> Person!“</p> + +<p>Emil war zu höflich, zu widersprechen.</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Am andern Mittag saßen sich Emil und Eleonore schweigsam bei ihrem +bescheidenen Mahl gegenüber.</p> + +<p>Die Schweigsamkeit des Menschen kann sehr verschiedene Ursachen haben. +Hier zwei Beispiele. Emil schwieg, weil das Menü sehr minderwertig +zusammengesetzt war. Es gab Erbsensuppe mit Schweinsohren, für die +Emil sein Leben gelassen hätte, wenn sie gut gewesen wäre. Sie war +angebrannt. Und dann Brathecht mit grüner Sauce. Die Suppe beschäftigte +sein enttäuschtes Gemüt; der Hecht, den er minder schätzte, wandte +sich mehr an seine Intelligenz und nahm mit seinen Gräten seine volle +Aufmerksamkeit in Anspruch. Um so mehr, als Fischessen eine Kunst und +ein Probierstein guter Erziehung ist und er sich vor Eleonore keine +Blöße geben mochte.</p> + +<p>Eleonore aber schwieg, weil ihr vielerlei im Kopfe herumging und das +Herz bewegte. Vielerlei, das mit der Erbsensuppe und dem Brathecht in +gar keinem Zusammenhange stand.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p> + +<p>Plötzlich legte sie die Gabel hin, sah Emil ernst und fest in die Augen +und fragte mit einer Stimme, der man tiefe, seelische Erregung leicht +anmerken konnte.</p> + +<p>„Wenn ich <em class="gesperrt">stürbe</em>, mein lieber Freund, würden Sie wohl dem armen +Flocki ein Vater und Versorger sein?“</p> + +<p>„Wenn Sie — <em class="gesperrt">was</em>?“ Emil war froh, besonderes Interesse an der +Unterhaltung heuchelnd, den Brathecht beiseite schieben zu können, +dessen Todestag, wie ihm schien, schon etwas ferne lag.</p> + +<p>Eleonore wiederholte mit genau demselben schwermütigen Tonfall ihre +ernste Frage.</p> + +<p>„Aber natürlich, Fräulein Eleonore. Sie wissen doch, mein Herz — +Pikkolo nehmen Sie doch endlich den Brathecht weg! — mein Herz hängt +an dem Tier. Ich habe mich so an ihn gewöhnt und —“</p> + +<p>Eleonore reichte über den leeren Brotkorb dem Freunde die Hand. Sie +war gerührt. Tränen standen in ihren Augen, und ihre Nasenspitze +war elfenbeinweiß und zuckte leise, was stets bei ihr ein Zeichen +besonderer seelischer Erschütterung war.</p> + +<p>„Ich <em class="gesperrt">danke</em> Ihnen,“ sagte sie, in jedes Wort eine Fülle +glückseliger Empfindung gießend, als habe er ihr soeben +Holländisch-Indien als souveränes Fürstentum geschenkt.</p> + +<p>Emil empfand die Feierlichkeit peinlich. Er liebte das Feierliche +überhaupt nicht in öffentlichen Lokalen. Am wenigsten, wenn ein +unerzogener Pikkolo in der Nähe stand, der seine schaufelförmig +abstehenden Ohren ausgiebig<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> zur aufmerksamen Teilnahme an den +Gesprächen der Gäste benutzte.</p> + +<p>„Aber, liebes Fräulein,“ wehrte der Maler geniert und halblaut ab, +„nein wirklich, wie können Sie jetzt vom Tode — heute gerade vom Tode +reden! Sie — in der Blüte der Jahre, in der Fülle der Kraft, in der — +in der — —“</p> + +<p>„Nehmen die Herrschaften Obst oder Käse?“ fragte der Pikkolo.</p> + +<p>Emil war ihm dankbar für die Störung. Denn seine Beredsamkeit hatte ihn +in eine lichtlose Sackgasse geführt. Er bestellte den steinharten Käse, +den man hier, weil er etwas altes Stanniol auf der Oberfläche zeigte, +„Chamambert“ nannte.</p> + +<p>Aber Eleonore kam mit der ganzen Zähigkeit des Frauengemüts auf den ihr +lieben Gedanken zurück.</p> + +<p>„Wenn Sie wüßten, wie mich das beruhigt. Es gibt mir geradezu das +seelische Gleichgewicht wieder, das ich verloren hatte —“</p> + +<p>Emil ließ einen Grunzton hören, der immerhin ein Bedauern und ein +Befremden über das verlorene Gleichgewicht bedeuten konnte.</p> + +<p>„Ich weiß, <em class="gesperrt">Sie</em> verstehen mich,“ fuhr Eleonore fort, während sie +Flocki, der einen Gast am Nebentisch einen Geflügelknochen behandeln +sah und unschöne Zeichen einer durchaus mißgünstigen Stimmung an den +Tag legte, beruhigend an sich zog. „<em class="gesperrt">Sie</em> ganz allein. Ruhig, +Flocki, nicht heulen! Als gestern meine<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Schwester ging, stand mein +Entschluß fest, felsenfest, wie die Mauer von Jericho.“</p> + +<p>Eleonore liebte solche kühnen Vergleiche, die zu denken gaben. Emil +überlegte, daß sie außer der Mauer von Jericho auch den Käse, den +er hilflos zwischen den Kiefern umherschob, ganz gut zum Vergleich +für die Festigkeit ihres Entschlusses hätte heranziehen können. Aber +worin dieser Entschluß bestand, das erforschte er weder durch emsiges +Nachdenken, noch erfuhr er es an diesem Tage aus Eleonorens Munde.</p> + +<p>Flocki, tieferregt über den Herrn mit dem Geflügelknochen, hatte Händel +an dem Nebentisch gesucht und dafür einen Tritt bekommen. Sein Schmerz +über diese unwürdige Behandlung machte sich in kläglichen Lauten Luft.</p> + +<p>Eleonore, schon seelisch erregt durch die ernsten Erwägungen ihres +Todesfalls, gebrauchte alsbald heftige Ausdrücke gegen „miserable +Tierquäler“, „mitleidlose Barbaren“ und „unerzogene Menschen“. +Bemerkungen, die der Herr mit dem Geflügelknochen leider auf +<em class="gesperrt">sich</em> beziehen mußte. Er wischte sich denn auch sofort die +fetten Finger an der Serviette ab, sah durch eine sanftblaue Brille +die erzürnte Dame von der Seite an und gab ihr — natürlich ohne sich +vorzustellen — den wohlmeinenden Rat, ihren Köter besser zu erziehen.</p> + +<p>Eleonore, die gerade auf Flockis Erziehung sehr stolz war, setzte +leider, aufs neue gereizt, das unersprießliche Gespräch durch +die spitze Bemerkung fort,<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> daß es mehr unerzogene Geschöpfe auf +<em class="gesperrt">zwei</em> Beinen, als auf vier Beinen gebe. Und obschon Eleonore, +als sie diesen allgemeinen Vorwurf aussprach, dem Herrn mit dem +Geflügelknochen dicht am Ohr vorbei sah, bezog dieser ungemütliche Mann +die Äußerung doch wiederum auf sich. Er nannte nunmehr Flocki „eine +unglückliche Kreuzung von einer Fischotter und einem Schaukelpferd“ +und sprach den Verdacht aus, daß diese Mißgeburt beträchtliches +Ungeziefer habe. Seine von keinerlei Sympathie getragenen Betrachtungen +über Flocki und Flockis Geschlecht gipfelten in dem mit apodiktischer +Sicherheit abgegebenen Spruch, derartige Geschöpfe gehörten in keine +anständigen Lokale, und es sei noch zweifelhaft, ob man den Wirten, +die sie zur Unbequemlichkeit ihrer Gäste dennoch hereinließen, nicht +juristisch und strafrechtlich beikommen könne.</p> + +<p>Das war der Moment, in dem der Wirt sich in das Gespräch mischte.</p> + +<p>Nicht eigentlich in den Streit. Denn das Gebot solonischer Weisheit, +daß der Athener in jedem Streit zwischen Zweien Partei ergreifen müsse, +schien ihm außerhalb des alten Athens keine Geltung zu besitzen. Oder +er kannte es überhaupt nicht. Er beschränkte sich also darauf, milde, +beruhigende Worte an Eleonore zu richten und ähnliche Ermahnungen an +den Herren mit dem Geflügelknochen.</p> + +<p>Als dieser ihn aber ärgerlich einen „alten Trottel“ nannte, ohrfeigte +er unverzüglich den Pikkolo, der sich an dieser häßlichen Bemerkung des +Herrn mit dem<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> Geflügelknochen unziemlich erfreut hatte. Dann ging er +nach dem Büfett, um das rothaarige Büfettfräulein anzuschreien, was ihm +die am meisten ungefährliche Art erschien, seinen Ärger los zu werden, +ohne dabei einen zahlungsfähigen Gast zu kränken.</p> + +<p>In Emils Seele wallten während dieser Szene allerlei ritterliche +Gefühle. Von dem Entschluß, dem Herrn mit dem Geflügelknochen +Ohrfeigen anzubieten, hielt ihn die kluge Einsicht zurück, daß dieser +unangenehme Mensch einen geradezu athletischen Körperbau zeigte. Eine +Pistolenforderung schien ihm aussichtslos. Und dann, er hatte niemand +zur Hand, der sie überbracht hätte. Auch wußte er nicht, ob der Herr +mit dem Geflügelknochen nicht etwa ein Kunstschütze war. Und da er nun +so gar nicht ahnte, was er in dieser peinlichen Situation unternehmen +sollte, machte er sich wichtig und umständlich mit Flocki zu schaffen, +der sich immer noch in der Rolle des Gekränkten gefiel.</p> + +<p>„Gehen wir,“ sagte Eleonore plötzlich. Und Emil war herzlich froh, daß +die unerquickliche Unterhaltung zu Ende war.</p> + +<p>Der Pikkolo, der an seinen Tränen schluckte, riß ihnen die Türe +auf. Und hinter der wie eine siegreiche Königin einherschreitenden +Eleonore gewann Emil sehr zu seiner Erleichterung die freie Luft. Eine +neugierige Wendung hatte ihm noch gezeigt, daß der Feind, der sie +vertrieb, bereits seinen Geflügelknochen wieder ergriffen hatte und an +ihm herumnagte, als sei gar nichts geschehen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p> + +<p>Eleonore war schweigsam auf dem Weg zu den Ateliers. Nur einmal machte +sie plötzlich die, wie es schien, mehr für sich selbst als für Emil +bestimmte Bemerkung, sie habe vor drei Jahren in der Schweiz am Genfer +See einen Herrn aus St. Gallen an der Table d’hote getroffen, der das +zarte Geflügelfleisch so unmanierlich von dem Knochen abgelutscht habe, +daß sie sowohl, wie zwei alte holländische Damen die Pension gekündigt +hätten. Aber noch in Basel habe sie von diesem Menschen und seiner +barbarischen Art, zu essen, geträumt.</p> + +<p>Emil, der froh war, daß ein Gespräch in Fluß kommen sollte, wollte die +spaßhafte Geschichte erzählen vom Schah Nasr-eddin, der beim Galadiner +in London die Spargelreste hinter sich warf. Aber Eleonore belehrte ihn +mit einem strengen Blick, dies sei eine Geschichte, die nicht hierher +passe. Sie rede von europäischer Flegelei und von Geflügelknochen. +Einem asiatischen Despoten verzeihe sie viel, einem Mitteleuropäer +wenig.</p> + +<p>Und Emil dachte im Weitergehn darüber nach, wie dieses milde Urteil +Eleonorens wieder einmal den alten Erfahrungssatz bestätige, daß die +Stellung eines asiatischen Despoten ihre großen Annehmlichkeiten habe.</p> + +<p>Nur Flocki hatte sichtlich alle trüben Erinnerungen von seiner Seele +geschüttelt und war von erfrischender Spaßhaftigkeit. Er erschreckte +artige Schulkinder durch Sprünge und unmotiviertes Gebell bis zu +Tränen, begleitete eine gelbe Postkutsche eine Strecke weit mit<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> +beträchtlichem Lärm durch viele Pfützen, interessierte sich für die an +einem Laden in Körben ausgelegten Schellfische mehr, als dem Besitzer +lieb war, und mischte sich dann arglos unter das Publikum.</p> + +<p>Im Atelier, als ihn Eleonore streicheln wollte, erwies es sich, daß +er auch Zeit gefunden hatte, an einer offenbar frischgestrichenen +Laterne zu rasten und daß ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner linken +Körperseite dick mit grüner Ölfarbe bestrichen war.</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Am folgenden Tag kam Eleonore nicht ins Atelier.</p> + +<p>Der Portier, der bereits wieder bewundernd vor einem erst angefangenen +aber schon sehr violetten Bilde in Emils Malerwerkstatt stand, als +der junge Künstler, ein wenig verkatert von einem üblen Trunk, den +er am Abend zuvor getan, die Türe öffnete, überbrachte ihm ein +Billettchen der Freundin. Ein halbwüchsiges Mädchen, das in der kleinen +Privatwohnung Eleonorens die Aufwartedienste tat und in Erfüllung +dieser Obliegenheiten für dreimal soviel Geld zerschlug, als ihr +Lohn ausmachte, hatte das Briefchen gebracht. Es war mit Bleistift +geschrieben und enthielt nur diese wenigen Zeilen:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p class="mleft2">„Lieber Freund!</p> + +<p>Ängstigen Sie sich nicht. Mir ist nicht wohl. Vielleicht war es die +Aufregung gestern. Aber ich fühle, daß ich fiebere und habe häßliche +Gliederschmerzen.<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> Ich will einen Tag im Bett bleiben und denken, es +macht sich rasch wieder. Vielleicht nehmen Sie Flocki heute mit zum +Mittagessen?</p> + +<p>Das Mädchen wird Sie pünktlich um ein Uhr mit dem lieben Tier vor der +Haustür erwarten. Sie holt ihn dann gegen Abend bei Ihnen im Atelier +ab. Aber wenn’s Ihnen Mühe macht oder Verdruß — dann natürlich nicht.</p> + +<p>Lüften Sie bitte ein bißchen in meinem Atelier. Und seien Sie schön +bedankt und gegrüßt von Ihrer</p> + +<p class="right mright2">Eleonore Eikötter.“</p> + +</div> + +<p>An diesem Tag also aß Emil mit Flocki allein zu Mittag.</p> + +<p>Es war ein trübseliges Diner. Er kam sich ganz vereinsamt vor. Um so +vereinsamter, als Flocki viel an andern Tischen hospitierte. Auch +der Herr mit dem Geflügelknochen war wieder da. Er aß aber diesmal +Sardellenklopps, was die Situation erleichterte.</p> + +<p>Als das Mädchen am Abend kam, Flocki zu holen, berichtete sie, Eleonore +friere und mache gar merkwürdige Sprüche. Der Arzt sei dagewesen und +habe auf einem langen schmalen Zettel eine Medizin verschrieben. Sie +sehe aus wie Himbeersaft und koste 3,50 Mk., was sie — Dortchen — +für eine Gemeinheit des Apothekers halte. Eleonore solle alle Stunde +einen Eßlöffel nehmen, und sie — Dortchen — müsse deshalb sofort +mit Flocki nach Hause. Für die Nacht habe sie ernste Befürchtungen, +da Eleonore die sonderbarsten<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> Reden über eine Hummerschere und einen +Geflügelknochen führe. Sie — Dortchen — gehe deshalb stark mit dem +Gedanken um, den Laufburschen vom Bäcker gegenüber, der übrigens ein +sehr anständiger Mensch sei und eine derartige Bitte gewiß nicht +mißverstehen würde, zu ersuchen, mit ihr in der Nähe der Kranken zu +wachen. Augenblicklich sei die dicke Portiersfrau bei Eleonore, eine +unangenehme, geschwätzige Frau, die, wie man sich in der ganzen Straße +erzähle, mit dem Portier gar nicht richtig getraut sei, sondern „bloß +so“ zusammenwohne, was besonders deshalb sehr verwerflich sei, weil +der Portier schon morgens früh nach Kornschnaps röche und in ganz +roher Weise selbst auf die Treppen spucke, was doch allen andern im +Treppenhaus Verkehrenden durch Anschlag verboten sei.</p> + +<p>Nachdem sie alle diese interessanten Mitteilungen ohne Punkt und +Semikolon gemacht hatte, entfernte sie sich sichtlich erleichtert mit +Flocki und ließ Emil mit sehr violetten Gedanken unter seinen Bildern +zurück.</p> + +<p>Am nächsten Tage hörte er nichts von Eleonore. Er konnte es sich nicht +verhehlen, er war ernstlich beunruhigt.</p> + +<p>Und als es sechs Uhr abends war und er immer noch ohne Gruß und +Nachricht war, ging er nach ihrer Wohnung. Erst umkreiste er in +gemessenem Schritt das Haus mehrfach, bis er das Mißtrauen sämtlicher +Portiers der Nachbarschaft erweckt hatte.<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> Dann faßte er einen +raschen Entschluß, trat ein und stieg die Treppen. Ein Jüngling mit +vorstehenden grasgrünen Zähnen öffnete ihm die Tür und stellte sich +als der Laufbursche vom Bäcker vor, der eben mal ’rübergekommen sei, +um nach dem Rechten zu sehen. Dortchen, das tüchtige Mädchen, sei in +der Apotheke. Es stehe schlimm mit dem Fräulein. Der Arzt sei sogar +zweimal dagewesen, aber sie halte ihn unbegreiflicherweise für einen +Kaminkehrer — vielleicht weil er der vielen Trauer wegen, die sein +Beruf bringe, so schwarz angezogen sei — und wollte gar nichts von +ihm wissen. Auch Flocki erkenne sie nicht mehr. Sie behaupte, er +sei eine sibirische Fischotter und befehle unaufhörlich, ihn mit +lebendigen Sardellen zu füttern. Was den schwarzgekleideten Doktor +anbetreffe, so sei das zweifellos ein sehr gelehrter Herr, aber leider +wenig mitteilsam. Er habe dem Dortchen bloß gesagt, sie solle das +Rezept in die Apotheke tragen und dann schleunigst die Schwester — +nämlich von der Kranken, nicht von Dortchen, die nur einen Bruder +habe — verständigen, daß es nicht zum Besten um die Kranke stehe. +Übrigens sei das Kranksein für vermögliche Leute nicht mit so vielen +Unannehmlichkeiten verbunden, wie für arme Teufel. Er habe z. B. +eine Tante gehabt, die sei am kurzen Atem gestorben und habe vorher +herzzerbrechend gejammert und geklagt. Und er sei überzeugt, daß sich +das mit dem kurzen Atem gegeben hätte, wenn die Tante zufällig mit +einem Kommerzienrat im Tiergartenviertel verheiratet<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> gewesen wäre, +anstatt mit einem Chausseearbeiter in Alt-Moabit.</p> + +<p>Gerade als der Jüngling mit den grünen Zähnen dabei war, Emil auch +noch von diesem Onkel Rührendes zu erzählen, der dann als Witwer sehr +interessante Erlebnisse mit einer Obstfrau am Spittelmarkt hatte, +leuchtete Adelgundes kanariengelber Hut die Treppe hinauf. Hinter ihr +keuchte Dortchen, die sehr erhitzt aussah und in einemfort redete, ohne +zu verlangen, daß ihr jemand zuhörte.</p> + +<p>Adelgunde war zunächst der Ansicht, daß Eleonore bestimmt gewußt +habe, daß sie — Adelgunde — heute abend ihr Whistkränzchen bei der +einäugigen Steuerrätin habe, und daß sie sich deshalb diesen Tag zum +Krankwerden ausgesucht habe. Rein aus Schikane.</p> + +<p>Als aber Adelgunde nach kurzer Zeit aus dem Krankenzimmer auf den +Flur trat, wo Emil im Dunkeln auf einer hügeligen Holzkiste sitzend +voll Unruhe auf ihre Mitteilungen gewartet hatte, da war sie doch +recht ernst. Eleonore hatte die Schwester in ihren Phantasien für die +merkwürdige George Sand gehalten, deren Lebensbeschreibung sie kurz +vorher gelesen hatte, und mit Beziehung auf ihren gelben Hut gesagt, +sie finde es sehr lustig, daß so eine große Schriftstellerin einen +Eierkuchen auf dem Kopfe trage.</p> + +<p>Sehr bekümmert schlich Emil davon. Er hätte so gern irgend etwas für +die kranke Freundin unternommen. Aber es blieb da nichts zu tun. So +ging er in sein Heim, legte sich ohne Abendessen zu Bett<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> und warf +sich den größten Teil der Nacht von einer Seite auf die andere, +ohne schlafen zu können. Als er aber gegen Morgen doch noch etwas +einduselte, träumte er, Flocki sitze mitten auf seiner Brust und knurre +ihn, den struppigen Kopf auf die Seite gelegt, boshaft und feindselig +an. Und Flocki wurde immer schwerer; schon wie ein Kalb, wie ein +Pferd, wie ein Elefant. Emil spürte deutlich, wie seine Rippen im +Brustkorb krachend zersprangen unter der wachsenden Last von Flockis +märchenhaftem Gewicht ...</p> + +<p>Als er um 9 Uhr aufwachte, stand der Jüngling mit den grünen Zähnen an +seinem Bett. Wie er hineingekommen, bleibt ein Rätsel. Der angenehme +junge Mann trug keinen Kragen und roch bedenklich, als ob er sich statt +mit Kaffee mit einem nicht zu knappen Schluck Branntwein erfrischt +hätte. Das Wesentlichste seines etwas verworrenen Berichtes lautete: +Es gehe Eleonore sehr übel, und der schwarzgekleidete Arzt gebe +wenig Hoffnung. Dortchen habe gemeint, der Herr Maler interessiere +sich dafür, und so sei er rasch hergekommen. Er habe übrigens die +Elektrische benutzen müssen — auch auf dem Rückweg könne er dieses +Verkehrsmittel nicht entbehren —, wodurch ihm Unkosten von zwanzig +Pfennigen entstanden seien.</p> + +<p>Emil entließ den Jüngling, der ihm antipathisch war, mit einem +50-Pfennigstück als Belohnung und zog sich rasch an. Ihm war sehr +seltsam zumute. Eleonore war ihm ein lieber Kamerad gewesen, und es +schien ihm, als ob er sie zu seiner Kunst brauche, wie sie ihn.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p> + +<p>Er hatte sich an sie gewöhnt, und es hatte ihm auch geschmeichelt, daß +diese selbständige, pekuniär unabhängige Dame, die schließlich Verkehr +genug gefunden hätte, gerade auf sein Urteil, sein Gespräch und seine +Gesellschaft besondere Stücke zu halten schien. Etwas in seinem Leben +war aus dem Gleichgewicht gekommen durch ihre Krankheit; und es kam ihm +vor, als ob er ihr irgendwie helfen könne und müsse.</p> + +<p>Er konnte <em class="gesperrt">nicht</em> helfen.</p> + +<p>Auf der Treppe von Eleonorens Wohnung begegnete er dem Arzt. Der +betrachtete auf seine ängstliche Frage erst längere Zeit Emil +aufmerksam durch seine Brillengläser, dann nicht minder aufmerksam +seine eigenen Fingernägel, um schließlich mit einem: „Ja, ja, +Verehrtester, <em class="gesperrt">hoffen</em> wir!“ an ihm vorbei die Treppe hinunter zu +steigen.</p> + +<p>Aus diesem Ausspruch, dem auch ein medizinisch besser Vorgebildeter +keine klare Diagnose hätte entnehmen können, schöpfte Emil nichts +weniger als Hoffnung und Zuversicht. Wenn keine Gefahr war, hätte +der Doktor gewiß nicht solange schweigend seine eigenen Fingernägel +betrachtet, an denen nicht die geringste anatomische oder ästhetische +Besonderheit zu bemerken war.</p> + +<p>Oben wirkte Adelgunde. Das heißt, da die Kranke selbst im Fiebertraum +liegend eigentlich sehr wenig Gelegenheit gab, eine energische +Wirksamkeit, die zu üben Adelgunde gekommen war und den kanariengelben +Hut abgelegt hatte, zu betätigen, so beschränkte<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> sich die Hilfreiche +darauf, unzählige Gegenstände von ihrem offenbar sinnvoll gewählten +Platz zu entfernen und an einen andern zu stellen. Wobei sie mit jener +gedämpften Behutsamkeit zu Werke ging, die in ihrer Absichtlichkeit +einen Kranken, der das Bewußtsein noch nicht ganz verloren hat, +besonders heftig erregen muß.</p> + +<p>Auch Emil mußte sofort helfend zur Hand gehn. Es tat ihm in seiner +Besorgnis wohl, daß er irgend etwas in der Nähe der Kranken tun konnte, +ohne allerdings recht einzusehen, warum er gerade die kümmerlichen +kleinen Palmen und fast entblätterten Geranien aus dem engen Wohnzimmer +auf den Vorplatz tragen und das eiserne Schirmgestell vom Vorplatz +auf den bescheidenen Balkon setzen mußte. Aber Adelgundes gedämpfte +Feldherrnstimme ordnete das alles mit solcher Sicherheit an, daß wohl +ein tiefbedeutungsvoller Plan diesen wunderlichen Verrichtungen +zugrunde liegen mußte.</p> + +<p>Als sich Emil bei solcherlei Geschäften, immer auf den Zehen +schleichend wegen der Kranken, tüchtig in Schweiß gearbeitet hatte, +erwies es sich, daß es Zeit war, Flocki an die frische Luft zu +führen. Eine Aufgabe, zu der sich wieder niemand besser eignete als +Emil. Als er Flocki, der Veranlassung genommen hatte, am Rade eines +Flaschenbierwagens sich reichlich das Fell mit Teer zu besudeln, wieder +oben ablieferte, erfuhr er, daß Eleonorens Fieberthermometer unter der +Achselhöhle 40,1 anzeige. Also sehr hohes Fieber.</p> + +<p>Er hörte auch durch die halbgeöffnete Tür die<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> kranke Freundin +phantasieren. Sie erzählte in heiseren, abgehackten Sätzen, daß sie, +sobald die Tage schöner würden, nach Delft zu Pieter de Hooch reisen +wolle, um dem Verschmitzten seine Beleuchtungseffekte abzugucken.</p> + +<p>„Wer ist denn das?“ fragte Adelgunde leise den Maler.</p> + +<p>„Das ist ein Maler aus Rembrandts Schule. Mehr als zweihundert Jahre +tot.“</p> + +<p>Adelgunde nickte nur. Sie hatte vermutet, daß der Mann tot war. Nach +einer Weile forschte sie weiter.</p> + +<p>„Sie hat vorhin auch immer von einem gewissen Hundeköter gesprochen? +Ich dachte erst, sie meint Flocki, aber es scheint fast — —“</p> + +<p>Der Maler nickte. „Ganz recht. Melchior d’Hondecoeter, der feine +Geflügelmaler aus dem Haag ...“</p> + +<p>Und als hätte sie’s gehört, schrie plötzlich die Kranke: „Ich will auch +Enten malen, wie Hondecoeter. Und Flocki soll die Knochen haben. Alle +Knochen soll Flocki haben — alle!“</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Eleonore Eikötter hat keine Enten mehr gemalt. Weder wie Hondecoeter, +noch minder talentvoll.</p> + +<p>In der Nacht ist sie eingeschlafen, so gegen drei Uhr, was die bei +ihr wachende Adelgunde so sehr beruhigte, daß sie bald ebenfalls +einschlief. Nur mit dem Unterschied, daß Adelgunde kurz nach sieben<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> +wieder aufwachte. Eleonore aber wachte nicht mehr auf.</p> + +<p>Sie lag ganz blaß und mit einer seltsam zugespitzten Nase, ein wenig +jenem Jugendbilde wieder ähnlich, das die Erbtante entzückt hatte, in +ihren reinlichen Kissen und war bereits mehrere Stunden tot, wie der +rasch gerufene Arzt konstatierte ...</p> + +<p>Das Benehmen Flockis war durchaus pietätlos in diesen trüben Stunden.</p> + +<p>Man erzählt, daß edle Hunde tief und ehrlich, wie Menschen, um ihren +Herrn trauern, ja, daß sie keinen Bissen annehmen tagelang. Und +mehr als ein Fall gilt als gutbeglaubigt, in dem so ein treues Tier +auf dem frischen Hügel seines Herrn in Wind und Wetter Wache hielt +und schließlich elend verhungerte. Solchen erschütternden Neigungen +war Flocki durchaus nicht unterworfen. Verschiedene Kränze, die +am Morgen abgegeben wurden, genierten ihn zwar sichtlich, und die +scharfriechenden Tuberosen brachten ihn zum Niesen. Das war aber auch +alles, was an Veränderungen an ihm zu merken war. Im übrigen war er +gefräßig wie nur je, verfolgte nach wie vor den Briefträger mit seinem +Haß und machte sich bei den Zimmerleuten, die wegen des Sarges kamen, +angenehm, da er das Wurstfrühstück roch, das die Männer in der Tasche +hatten.</p> + +<p>Emil half Adelgunde bei all den trübseligen Verrichtungen, die der Tod +eines Menschen seinem Nächsten aufbürdet.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p> + +<p>Der zur standesamtlichen Meldung nötige Geburtsschein Eleonores war +lange nicht zu finden. Adelgunde, die ein zu enges Trauerkleid gekauft +hatte und die Arme nicht bewegen konnte, ohne daß es in allen Nähten +krachte, bat Emil, in den tiefen Schubladen des Schreibtisches mit +seinen langen und an keiner Bewegung gehinderten Armen danach zu +fischen.</p> + +<p>Während sie ernst beaufsichtigend dabei stand, zog Emil die seltsamsten +Dinge aus diesen peinlich sauber mit blauem Seidenpapier ausgelegten +Fächern. Fast kam es ihm wie ein Unrecht an der toten Freundin vor, +daß er hier so offen ausbreitete, was sie in all ihren Gesprächen +schamhaft verschwiegen. Da war das schon vergilbte Bild eines Herrn, +der sich durch ein paar vorbildlich schöne Tiefquarten im hübsch +ausrasierten Kinn als akademischer Bürger auswies. In der Nähe dieses +Porträts, an dessen Rand eine Dedikation ausradiert schien, fanden sich +ein paar getrocknete Blumen vor, die in Emils Fingern leise knisternd +zu Staub zerfielen. Ein Gedichtsbändchen: Rückerts Liebesfrühling, +der viel angestrichene Verse zeigte. Ein paar geknickte Tanzkarten, +die in Schmuck und Druck die ganze Geschmacklosigkeit einer kleinen +Stadt und in der Kritzelschrift die Autogramme vieler unbekannter +Kavaliere aufwiesen ... Wieviel Freude und Weh mochte für die Tote an +all diesem wertlosen Kram gehaftet haben, daß sie ihn so lange unter +sauberem Seidenpapier, von bunten Bändchen umschlossen, bewahrte! Die +traurig-sehnsüchtige Weise<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> des alten Volksliedes zog Emil durch den +Sinn: Lang, lang ist’s her — lang ist’s her ...</p> + +<p>Nebenan im Sterbezimmer aber stand die Portiersfrau im ganzen +fassungslosen Schmerz solcher ungebildeten Leute, die in jedem Toten +schon ihr eigenes nahes Ende beklagen, und schluchzte, während sie der +Toten einen Veilchenstrauß in die kalten Finger stopfte, immer wieder: +„Nein doch, nein — jetzt — jetzt sieht man’s erst, wie <em class="gesperrt">schön</em> +sie einmal gewesen sein muß, das liebe Fräulein!“</p> + +<p>Schön —? Wer weiß. Aber jung — gewiß einmal jung. Mit allen +Torheiten, Hoffnungen, Seligkeiten der Jugend, mit all den Träumen, die +nicht davon wissen, daß dies Leben einmal, kaum beweint und ohne eine +Lücke zu lassen, zwischen schlechten Bildern endigt. Aber weit zurück +lagen die Träume ... Und als Emil den Geburtsschein endlich, in ein in +lila Sammet gebundenes Konfirmationsbüchlein versteckt, gefunden hatte, +las er nicht ohne Erstaunen die Jahreszahl ...</p> + +<p>Bei dem Suchen nach dem Geburtsschein war übrigens ein anderes +wichtiges Papier den beiden in die Hände gekommen. Ein mit einem +Rembrandtkopf zugesiegeltes Kuvert, das ganz obenauf in der +Mittelschublade lag und in Eleonorens starker Handschrift, deren +Energie sogar in diesen langen Buchstaben mit einer gewissen stolzen +Absichtlichkeit betont schien, die Aufschrift trug: „<em class="gesperrt">Mein +Testament</em>“.</p> + +<p>Als alles auf dem Standesamt, mit Schreiner,<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> Pfarrer und Blumenhändler +für das Begräbnis geordnet war, fand Adelgunde dieses Kuvert auf dem +Topf einer kleinen Dattelpalme wieder, wohin sie es in der Eile beim +Suchen nach dem momentan wichtigeren Geburtsschein gelegt hatte.</p> + +<p>Eine Weile betrachtete sie es unschlüssig. Dann ging sie an die Tür +und rief nach Emil, den sie in diesen Tagen wie einen anstelligen +Haushofmeister zu behandeln gelernt hatte, und der in den kleinen und +kleinlichen Besorgungen für das Begräbnis seinen ehrlichen Schmerz +betäubte und die innere Leere zu vergessen suchte, die ihm der Heimgang +der einzigen Freundin seiner Person und seiner violetten Kunst +hinterlassen hatte.</p> + +<p>Emil verhandelte gerade an der Flurtüre mit einem etwas angetrunkenen +Herr, der behauptete, früher Kantor an der Simonskirche gewesen +zu sein, und sich eifrig erbot, mit drei andern, ebenfalls sehr +talentvollen Sängern, die einen guten schwarzen Rock besäßen, für 20 +Mk., worauf allerdings ein Vorschuß zu zahlen sei, und zwei Flaschen +Weißwein (roten trinke er nicht) einige Quartette zum besten zu geben, +ohne die eine „anständige Leiche“, wie er versicherte, „überhaupt nicht +mehr bestehen könnte“.</p> + +<p>Als Adelgunde, einen nicht zu überhörenden strengen Vorwurf im Ton, zum +dritten Male rief, schob Emil den angesäuselten Quartettsänger sanft +aus dem Korridor und schloß die Tür, hinter der man den ehemaligen +Kantor der Simonskirche noch einige sehr<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> kräftige, aber unhöfliche +Worte sprechen hörte, ehe er einige Proben seiner Gesangskunst gratis +spendend die Treppe hinunterstolperte.</p> + +<p>„Hier ist eine merkwürdige Sache,“ meinte Adelgunde, als Emil zu ihr +trat und deutete auf das Kuvert. „Lesen Sie die Aufschrift!“</p> + +<p>Emil hatte sie schon gelesen. Er war es ja überhaupt gewesen, der das +Papier gefunden hatte.</p> + +<p>„Was meinen Sie?“</p> + +<p>Emil meinte zunächst <em class="gesperrt">nichts</em>. Das war so in schwierigen Fällen +seine vorsichtige Gewohnheit.</p> + +<p>„Ich denke,“ fuhr Adelgunde etwas ärgerlich über sein Schweigen fort, +„Sie werden mir doch irgendeinen intelligenten Vorschlag machen können.“</p> + +<p>Emil konnte keinen intelligenten Vorschlag machen. Sein Gesicht +täuschte in diesem Moment nicht darüber. Er hatte noch nie ein +Testament in der Hand gehabt und hatte sein Gehirn niemals mit ernsten +Erwägungen, was etwa mit solchem wichtigen Papier nach dem Tode des +Erblassers zu geschehen habe, belastet.</p> + +<p>„Ich denke,“ sagte Adelgunde nach einer Weile, „ein Testament war hier +kaum nötig. Verwandte außer mir hatte die gute Eleonore nicht. Das +müßte ich wissen, da ich die Schwester bin.“</p> + +<p>Das leuchtete Emil ein. Adelgunde <em class="gesperrt">mußte</em> das wissen. Das heißt +... Ihm zuckte ein Gedanke durch den Kopf. Der Herr mit den Tiefquarten +im Kinn — die zerknitterten Tanzkarten — die staubigen<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> Veilchen — +— Sollte etwa irgendwo ...? Man hörte zuweilen solche verblüffenden +Sachen oder las davon im „Vermischten“ der Zeitungen. Bei seiner Tante +Barbara in Limburg hatte eine schwächliche Köchin fünf Jahre gedient, +und niemand hatte eine Ahnung, daß diese mürrische und kränkliche +Person in einem Dorf der Wetterau zwei hervorragend gesunde Jungen +hatte ... Aber das war ja Unsinn. Eleonore, dieses treuherzige Wesen +mit allen kleinen Eigenheiten eines späten Mädchens. Nimmermehr!</p> + +<p>Adelgunde war, als Emil wieder zuhörte, in ihren Bemerkungen zu diesem +überflüssigen Testament gerade zu einem kühnen Schluß gekommen. „Es muß +vielmehr dieses versiegelte Papier irgendeinen besonderen Wunsch der +Pietät enthalten. Vielleicht eine Bestimmung über die Bilder, die sie +gemalt hat —“ Selbst die Trauer vermochte nicht ganz ein malitiöses +Lächeln von den Lippen Adelgundens zu scheuchen, als sie vollendete: +„Vielleicht hat sie nicht gewünscht, daß gerade diese Werke ihrer +Hand in meinen Besitz übergehen und mich so zwingen, aus Pietät für +die Tote, täglich Dinge um mich zu sehn, deren Vorbilder ich im Leben +nicht zu entdecken vermag. Vielleicht hat sie die Schwäche gehabt, +diese Malereien einer Galerie als Erbschaft anzubieten — wovon wir +allerdings Scherereien haben könnten — oder sie hat bestimmt, daß ein +oder das andere davon — Ihnen ...“</p> + +<p>„Mir?“ ...</p> + +<p>An <em class="gesperrt">diese</em> Möglichkeit hatte Emil absolut nicht<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> gedacht. Er +fühlte, er war ganz blaß geworden. Für ihn war der Gedanke, im +Testament irgend eines Menschen erwähnt zu sein, und sei’s auch nur mit +einem mittelmäßigen Ölbild bedacht (von welchem einzigen Artikel er +eigentlich reichlich genug hatte), ein so Außergewöhnliches, daß ihn +die bloße Andeutung wie ein großer Schreck berührte. Wenn ihm plötzlich +ein makedonischer Landgensdarm die weißbehandschuhte Rechte wuchtig auf +die Achsel hätte fallen lassen und ihn angebrüllt hätte: „Im Namen des +Sultans, Sie sind verhaftet!“ er hätte — obschon sich keiner Freveltat +bewußt — nicht heftiger bis in die Knochen erschrecken können.</p> + +<p>„Es wäre immerhin möglich,“ fuhr Adelgunde fort, indem sie das +geheimnisvolle Kuvert gegen das Licht hielt, als ließe sich dadurch +sein Inhalt leichter feststellen, „wäre möglich, daß sie Ihnen +mindestens die zwei Bilder wieder vermacht hätte, die sie Ihnen einst +abgekauft hat. Daß ich Ihren aparten violetten Geschmack nicht teile, +wußte sie vielleicht —“</p> + +<p>„Sie haben mit Ihrem Urteil ja nicht zurückgehalten,“ wagte Emil, dem +die unerquickliche Szene in seinem Atelier deutlich vor Augen stand, +schüchtern einzuwerfen.</p> + +<p>Adelgunde sah ihn durchbohrend an. „Allerdings. Ich habe, wie immer, +meiner Meinung zwar in schonender, aber in nicht mißzuverstehender +Weise Ausdruck verliehen. Übrigens reden wir in dieser ernsten Stunde +nicht von Ihren Bildern.“</p> + +<p>Emil stimmte lebhaft zu. Da niemand sonst zu<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> irgend einer Zeit von +seinen Bildern redete, so konnte er auch Adelgundes lieblose Erwähnung +in dieser Stunde entbehren.</p> + +<p>Adelgunde wog das Kuvert in der Hand. „Es scheint ein einziger Bogen +ihres gewöhnlichen Briefpapiers zu sein. Gleichviel ein Bogen oder zehn +— wir müssen die Gesetze beachten und tun, was sie vorschreiben.“</p> + +<p>Dieser Ausspruch gefiel Emil so gut, daß er ihn, gewichtig mit dem +Kopfe nickend, zweimal wiederholte. Leider stellte sich aber heraus, +daß dieser von beiden gebilligte Vorsatz zunächst eine lobenswerte +Theorie bleiben mußte, da sie beide nicht wußten, was nun eigentlich +die zu beachtenden Gesetze in diesem Falle vorschrieben.</p> + +<p>Unbemerkt von den beiden, die in tiefe Gedanken versunken standen, +war Flocki hereingekommen, der ein gewisses Unbehagen nicht verbergen +konnte, daß man sich so wenig mit ihm beschäftigte. Er war zu gewissen +Stunden an kleine neckische Spiele gewöhnt, an geistige Anregungen, wie +sie die vortreffliche Eleonore in ihrer unendlichen Güte immer wieder +für den Liebling zu ersinnen pflegte. Die Nichtachtung, die er jetzt in +diesem Trauerhause erfuhr, verdroß ihn heftig. Den Kopf auf die linke +Seite gelegt, mit dem Schwanz in leiser Erregung den Boden fegend, +stand er zwischen den beiden Sinnenden und schnüffelte mißtrauisch +hinauf nach dem Kuvert in Adelgundens Hand.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span></p> + +<p>„Aber das ist doch einfach,“ sagte plötzlich Adelgunde und sah dabei +Emil strafend an, als habe sie es die ganze Zeit gewußt und nur, um +seinen Scharfsinn auf eine notwendige Probe zu stellen, für sich +behalten, „Sie gehen mit dem Papier sofort zu <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann.“</p> + +<p>Emil begriff. <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann war der Rechtsanwalt, von dem Eleonore +mehrfach gesprochen. In drei Prozessen, die ihr Flockis Ungebühr +eingetragen, hatte dieser tüchtige Advokat zwei Termine versäumt und +einen für Eleonore im Wortlaut sehr ehrenvollen, aber pekuniär recht +schmerzlichen „Vergleich“ zustande gebracht. Aber der guten Eleonore, +die eine fanatische Verehrerin des „Paragraphen“ im allgemeinen und +der Rechtswissenschaft im besonderen war, vermochte er gewaltig zu +imponieren durch allerlei dicke und alte Bücher, die er mit großer +Fixigkeit von den Regalen nahm und nachschlug, und aus denen er ihr +nicht ohne schönes Pathos sehr lange und merkwürdige Sätze vorlas, von +denen sie den Anfang längst vergessen hatte, wenn der Anwalt die Stimme +melancholisch zum Schlußpunkt sinken ließ. Sie war der Ansicht, das +seien Reichsgerichtsentscheidungen; und sie fand es sehr scharmant von +dem liebenswürdigen Juristen, daß er sich dazu hergab, ihr vorzulesen, +was selbst klügere Laien als sie vermutlich nimmermehr beim ersten Male +begriffen ...</p> + +<p>Daß also dieser Dr. Neumann, der als Eleonorens Rechtsbeistand +zweifellos von diesem Testament Kenntnis<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> hatte, um Rat gefragt +werden sollte, leuchtete Emil durchaus ein. Aber warum sollte gerade +<em class="gesperrt">er</em>, Emil, zu diesem Mann hingehn. Lag es eigentlich nicht näher, +daß die Schwester der Erblasserin selbst — —?</p> + +<p>Adelgunde unterbrach seine Erwägungen mit den knappen Worten: „Ich +halte das für eine reine Formsache. Geschehen <em class="gesperrt">muß</em> das aber. Ich +fühle mich nicht wohl genug, auch noch diesen Gang zu tun. Also gehen +Sie. Aber besser <em class="gesperrt">gleich</em>. In solchen Dingen versäumt man gar +leicht etwas. Also — hier!“</p> + +<p>Mit diesem „hier!“ wollte sie Emil das Kuvert überreichen. Die +Handbewegung aber, in die sie wohl Entschluß, Energie, Vertrauen und +anderes Schöne hineinlegen wollte, fiel <em class="gesperrt">so</em> energisch aus, daß +Flocki die Sache mißverstand. Er hielt diese Handbewegung für den +Beginn eines seinem Frohsinn gewidmeten Spiels; und da sich in diesen +düstern Tagen eine erkleckliche Portion Übermut in ihm angesammelt +hatte, so ging er mit erstaunlicher Behendigkeit auf den vermeintlichen +Spaß ein. Er tat einen kleinen, aber zielbewußten Sprung in die Höhe, +faßte Eleonorens Testament mit den Zähnen, riß es, ehe der verblüffte +Emil zupacken konnte, der solchen Überfalls nicht gewärtigen Adelgunde +aus der Hand und verschwand damit in tollen Sprüngen, die das Erwachen +all seiner lang gedämpften Munterkeit bezeugten, nach dem Korridor.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span></p> + +<p>Einen Augenblick standen Adelgunde und Emil wie versteinert ob solcher +maßlosen Frechheit.</p> + +<p>Dann begann über die auf dem Vorplatz ausgebreiteten Kränze, über +Veilchen, Tuberosen, Farn, Efeu und Rosen eine sehr peinliche Jagd +auf den miserablen Köter, der die Karikatur auf jede Pietät so weit +trieb, den letzten Willen seiner Herrin wie eine tote Ratte im Maule +hin und her zu schütteln und sich in Sprüngen zu gefallen, die mit der +Situation im denkbar peinlichsten Widerspruch standen.</p> + +<p>Während Adelgunde mit einem Regenschirm den unsinnigen Flocki listig +in eine Ecke drängte, ihm seinen Raub zu entreißen, warf Emil durch +die leicht klaffende Tür einen Blick in das Zimmer, in dem lang und +schmal unter dünner seidener Decke die arme Eleonore lag. Und seinem +Malerauge kam es vor, als ob ihr Gesicht in der freundlichen Umrahmung +des schmalen Seidentuches, das ihr das Kinn band, im wächsernen Ton des +Todes ein leises Lächeln sehen ließe. Ein Lächeln, wie es wohl, die +Züge der Lebendigen zu verschönen, sich um Mund und Augen gestohlen, +wenn sie von der erstaunlichen Klugheit Flockis Altes und Neues +berichtete ...</p> + +<p>In diesem Moment heulte Flocki laut auf.</p> + +<p>Adelgundens Regenschirm war ihm unsanft über die Rückengegend geflogen.</p> + +<p>Adelgunde, hochrot im Gesicht mit wogender Brust und krachenden +Kleidernähten, hielt den übel zugerichteten letzten Willen der +Schwester in der Hand.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span></p> + +<p>Wut und Triumph bebten durch ihre Stimme, als sie dem winselnd über die +Kränze nach der Küche retirierenden Flocki nachzischte:</p> + +<p>„Infame Bestie!“</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Ungefähr anderthalb Stunden hatte Emil, das unschöne Kuvert wie eine +Reliquie in beiden Händen haltend, in Dr. Neumanns Schreibzimmer +gewartet.</p> + +<p>In dem Zimmer war eine schreckliche Atmosphäre. Es schien hier nie +gelüftet zu werden. Der jüngere der beiden Schreiber hatte sich zum +Überfluß an diesem Tage die Haare schneiden lassen und trug den Kopf +mit einer billigen Pomade gesalbt, die einen unerträglichen Geruch +nach ranzigem Fett ausströmte. Der ältere Schreiber schien taubstumm +zu sein — er hatte wenigstens den höflichen Gruß Emils nur mit +mürrischem Kopfnicken erwidert und die Antwort auf die Fragen: ob +der Herr Rechtsanwalt anwesend sei und ob wohl Aussicht sei, ihn zu +sprechen, dem pomadisierten Jüngling überlassen. Auch die Arbeit schien +er durchaus dieser jüngeren Kraft zuzumuten. Er schob dem Pomadisierten +von Zeit zu Zeit ein Aktenbündel über den hohen Pultaufsatz zu, +niemals ohne dabei die weiße Streusandbüchse umzuwerfen. Seine eigene +Tätigkeit bestand ausschließlich darin, daß er sich mit einem in +Zeitabständen von etwa zehn Minuten neugespitzten Hölzchen umständlich +die Fingernägel reinigte und die Zähne stocherte. Dazwischen<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> sah er +zu seiner Erfrischung zum Fenster hinaus und schien nach seinem sich +plötzlich in breitem Grinsen erhellenden Gesichtsausdruck zu schließen, +zarte Beziehungen zu irgend einem weiblichen Wesen an irgend einem +Küchenfenster des nächsten Hinterhauses anzuknüpfen.</p> + +<p>Von Emil nahm nach Erledigung der ersten Fragen niemand mehr die +geringste Notiz. Nebenan hörte er zuweilen eine sehr erregte +Frauenstimme und dann eine gedämpfte Männerstimme. Offenbar berieth +<span class="antiqua">Dr.</span> Neumann in diesem Raume eine nervöse Klientin. Emil +hatte den dringenden Wunsch, daß der Fall nicht allzu verwickelt +liegen möge. Denn die Aussicht noch eine weitere Stunde hier den +Pomadengeruch auszuhalten und an des Bureauvorstehers sorgfältigen +Toiletteverrichtungen teilzunehmen, hatte nichts Verlockendes.</p> + +<p>Endlich hörte man nebenan Stühle rücken und die Türe nach dem Korridor +gehn.</p> + +<p>Emil faßte den letzten Willen Eleonorens fester in beide Hände und +wartete. Es dauerte immerhin noch einmal eine starke Viertelstunde. +<span class="antiqua">Dr.</span> Neumann mußte sich wohl von dem Besuch erholen.</p> + +<p>Endlich flog die Verbindungstür nach dem Allerheiligsten des Anwalts +auf, und <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann winkte mit einer Kopfbewegung: „Der +Nächste!“</p> + +<p>Da Emil der einzige war, der wartete, so hatte er wohl ein Recht, das +unbedenklich auf sich zu beziehn, sah sich aber zur Vorsicht noch +einmal um, ob<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> nicht etwa einer der Schreiber ... Der Pomadenkopf lag +tief über den Akten; und auch der Bureauvorstand hatte sein Hölzchen +hingelegt und verglich zwei mit vielen Stempeln und Unterschriften +gezierte Papiere mit einem Eifer, als habe er auf der Welt kein anderes +Interesse, als den Inhalt dieser merkwürdigen Blätter bis aufs letzte +Pünktchen in sich aufzunehmen.</p> + +<p>Emil saß <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann in seinem Arbeitszimmer gegenüber.</p> + +<p>Der Anwalt war nicht gerade ein schöner Mann. Aber er hatte, wie Emil +sich gestand, einen interessanten Kopf. Der Hinterkopf wuchs aus einem +bescheidenen Kränzlein schwarzer Haare spiegelblank und in der Form +eines Straußeneis. Die Nase saß ein bißchen nach links geneigt und +konnte sich bei leicht ironischen Bemerkungen zu einem merkwürdigen +Bogen ziehen, wobei der Mund eine listige Stellung annahm, als ob er +pfeifen wollte.</p> + +<p>„Ich erkenne Sie sofort wieder,“ sagte <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann, indem er +wohlgefällig, sich seines vorzüglichen Physiognomiengedächtnisses +freuend, nickte. „Sie sind der Herr, dem im vorigen Jahre der +Blumentopf in der Lietzenburgerstraße auf den Kopf fiel.“</p> + +<p>Emil verneinte. Ihm sei Gott sei Dank noch nie etwas auf den Kopf +gefallen. Sein Name sei — — —</p> + +<p>Aber schon unterbrach ihn der Rechtsanwalt, der den Widerspruch +zunächst stirnrunzelnd angehört hatte. Sein Gesicht hellte sich auf, +als er Emil abwehrend<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> mit schöner Vertraulichkeit aufs Knie schlug und +meinte:</p> + +<p>„Pardon, nein. <em class="gesperrt">Nun</em> weiß ich’s. Sie waren im Vorjahre bei mir +wegen des Wasserklosetts. Richtig! Nun, hat unser gepfefferter Brief an +den Hauswirt genützt, was?“</p> + +<p>Emil beteuerte, auch mit dem Wasserklosett nicht dienen zu können. Sein +Name sei Emil Steinbrink. Von Beruf Maler. Er käme auch eigentlich +nicht in einer eigenen Angelegenheit, sondern ...</p> + +<p>„Wegen des Kegelklubs?“</p> + +<p>Nein, er kegele leider nicht, oder doch so schlecht, daß sich ein Klub +schwer dazu verstehen würde, ihn aufzunehmen. Die Sache sei vielmehr +die: Seine vortreffliche Freundin, — er dürfe sie wohl so nennen — +Eleonore Eikötter sei plötzlich gestorben ...</p> + +<p>Dr. Neumann schlug sich mit beiden flachen Händen heftig auf die +Schenkel. Vielleicht, daß dies seine Art war, tiefe, schmerzliche +Anteilnahme zu bezeugen. Vielleicht auch, daß er nur damit ausdrücken +wollte: „Ist’s die Menschenmöglichkeit! <em class="gesperrt">So</em> was kommt vor!“</p> + +<p>Emil sprach weiter. Er erzählte von seiner Bekanntschaft mit der +vortrefflichen Eleonore, rühmte ihr schönes Talent, ihren Seelenadel, +ihr echt weibliches Empfinden und ging, da dieser Teil seiner Erzählung +den Anwalt nur mäßig zu interessieren schien, auf ihren plötzlichen Tod +über, auf sein und Adelgundes Wirken in der Wohnung und kam schließlich +auf den<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> zufälligen Fund des merkwürdigen Kuverts mit dem letzten +Willen.</p> + +<p>„Wie war doch der werte Name?“ fragte der Anwalt und putzte seinen +Kneifer.</p> + +<p>Emil wiederholte den werten Namen sehr langsam und deutlich.</p> + +<p>Das Angesicht des Anwalts hellte sich auf, wie vorhin, als er Emil +zweimal „erkannt“ hatte. In Emil stieg die leise Befürchtung auf, es +werde als ganzes Resultat seiner wohlgesetzten Erzählung etwa eine +neue Erkennungsszene mit Verwechslung stattfinden. Aber zu seinem +Erstaunen schlug sich der Anwalt wieder mit beiden flachen Händen auf +die Schenkel — eine Bewegung, die ihm offenbar zum Ausdruck vieler und +widersprechender Gemütsbewegungen diente — und wiederholte, als ob +ihm damit eine ungemein köstliche Erleuchtung aufgehe: „Steinbrink — +richtig: Emil Steinbrink!“</p> + +<p>Da Emil nicht recht wußte, was er nun sagen sollte, verbeugte er sich +höflich und reichte dem Anwalt das Testament.</p> + +<p>Der aber legte es achtlos auf die Tischplatte und indem er Emil +fixierte, als wolle er ihn hypnotisieren, fragte er:</p> + +<p>„Sie kennen natürlich den Inhalt?“</p> + +<p>„Ich? Nein.“</p> + +<p>„Wirklich nicht?“</p> + +<p>„Ich wußte nicht, daß ein solches Testament überhaupt existiert. +Fräulein Eleonore und ich sprachen meist nur über Kunst.“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span></p> + +<p>„Nur über Kunst — natürlich.“ <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann lächelte ein wenig +ironisch, wie es Emil vorkam, als er dies „natürlich“ zweimal mit +Nachdruck wiederholte. Entweder er hielt von der Kunst nicht viel oder +gar nichts von Emils Aufrichtigkeit.</p> + +<p>„Und, mein verehrter Herr Steinbock —“</p> + +<p>„Bitte, Steinbrink.“</p> + +<p>„Richtig, ja. Also, mein verehrter Herr Steinbrink, wenn ich Ihnen nun +sage, daß Fräulein Eleonore Eikötter dieses Testament erst ganz kurz +vor ihrem Tode gemacht hat. Vor ein paar Tagen erst. Hier bei mir. +Unter meinem Beistand. Am — warten Sie.“ Er kramte in einer Schublade +und holte einen gefalzten Kanzleibogen heraus: „Hier haben wir’s: am +24. Mai gemacht. Nachmittags. Fräulein Eikötter kam sehr erregt zu mir +und bestand darauf, sofort ein rechtskräftiges Testament aufzusetzen. +Hier ist das Duplikat.“ <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann versenkte interessiert +seinen Blick in das Papier. „Und hier — richtig — ich irre mich +<em class="gesperrt">nie</em> in solchen Dingen — hier steht’s —“ Er sah wieder auf von +dem Blatt: „Sie also sind dieser Herr Emil Steinbrink.“</p> + +<p>Emil wurde verlegen. Es war klar, von <em class="gesperrt">ihm</em> mußte etwas in diesem +Testament geschrieben stehen. Was denn wohl? Er faßte sich ein Herz.</p> + +<p>„Hat Fräulein Eikötter vielleicht — —“ er tippte sich fragend auf die +Brust ... „vielleicht auch <em class="gesperrt">meinen</em> Namen?“</p> + +<p>„Allerdings, mein verehrter Herr Steinbrink.“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p> + +<p>„Es handelt sich wohl um ein — ein Bild.“</p> + +<p>„Nicht bloß um ein Bild“.</p> + +<p>Emil fühlte, daß ihm die Kehle trocken wurde.</p> + +<p>„So. Hm. Also um — mehrere Bilder.“</p> + +<p>„Die Bilder sind natürlich einbegriffen.“</p> + +<p>„Verzeihen Sie, Herr Doktor, was heißt, das ‚einbegriffen‘. In +<em class="gesperrt">was</em> einbegriffen?“</p> + +<p>„Nun in die Erbschaft.“</p> + +<p>„Aha. Das heißt — verzeihen Sie, ich bin darin Laie — in <em class="gesperrt">meine</em> +Erbschaft.“</p> + +<p><span class="antiqua">Dr.</span> Neumann schlug sich nun gleich mehrmals rasch hintereinander +auf die Schenkel, was ein ziemlich beträchtliches Getöse gab.</p> + +<p>„Aber, verehrtester Herr Steinbrink, wissen Sie das nun wirklich nicht? +Fräulein Eleonore Eikötter hat sie unterm 24. Mai unter Übergehung +ihrer Schwester, die nur Kleider und Schmuck, das Bett und den +Nachtschrank erben soll und zur Hälfte die von ihr gemalten Bilder — +zum Haupterben eingesetzt.“</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Mich</em>?“</p> + +<p>Wenn dem guten Emil in diesem Augenblick ein aus der Wand +herausspringender herkulisch gebauter Neger gemeldet hätte, S. M. der +Kaiser von Abessynien habe ihn zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem +Prädikat Exzellenz ernannt und bitte ihn einstweilen als Zeichen seiner +Gunst ein halbes Dutzend junger Leoparden als Geschenk anzunehmen, — +gewundert hätte ihn das weiter auch nicht mehr.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p> + +<p>Er — ein „Erbe“. Er — ein „Haupterbe“.</p> + +<p>„Das heißt,“ <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann zog wieder das Papier zu Rate, „ganz so +einfach ist die Sache nicht.“</p> + +<p>Emil hatte die Sache keinen Augenblick für „ganz einfach“ gehalten. Er +saß mit maßlosem Erstaunen da und wartete, wie sich die Angelegenheit +komplizieren sollte.</p> + +<p>„Es muß da ein Köter sein — ein Hund, nicht wahr? Ein Hund männlichen +Geschlechts?“</p> + +<p>Emil nickte: „Flocki.“</p> + +<p>„Richtig, Flocki. So ist er auch hier bezeichnet.“ Wiederum steckte +<span class="antiqua">Dr.</span> Neumann die merkwürdige Nase in das Papier, dann las er — +mehr zu seiner Information, wie es schien, als für seinen mit offenem +Munde lauschenden Hörer das Folgende vor:</p> + +<p>„Da ich die unverständige und unedle Lieblosigkeit meiner älteren +Schwester Adelgunde meinem Liebling Flocki gegenüber, der lange mein +bester und einziger Freund war, genugsam kenne, und da ich dieses +herzige Tier, das an Verstand und Güte manchen Menschen beschämt, +auch nach meinem Tode zum besten betreut wissen will, so bestimme +ich hierdurch: daß als mein <em class="gesperrt">Haupterbe</em> der mir befreundete +Kunstmaler Emil <em class="gesperrt">Steinbrink</em> zu betrachten sein soll. Und zwar +soll genannter Kunstmaler Emil Steinbrink die Nutznießung der Zinsen +meines Gesamtvermögens, dessen Kapital nicht angegriffen werden darf, +so lange haben, als mein Hund <em class="gesperrt">Flocki</em>, den ich seiner sorgsamen +Pflege anvertraue, <em class="gesperrt">am Leben ist</em>. An dem Tage, an dem mein guter +Flocki stirbt,<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> gehört das Kapital zur Hälfte meiner einzigen Schwester +Adelgunde, zur andern Hälfte soll es der Kunstgenossenschaft zufallen +mit der Auflage, alljährlich von den Zinsen einen hierfür besonders +begabten Stipendiaten nach Holland zu schicken, um die herrlichen Werke +von Melchior d’Hondecoeter, Jan Davidy de Heem, Rachel Ruysch und Jan +Weenix mit Fleiß zu studieren.“</p> + +<p class="center">— — — — — — — — — — — — — — —</p> + +<p>Wie Emil aus dem Zimmer des Anwalts herausgekommen war, das wußte er +selbst später nicht mehr zu sagen. Selbst daß er in der Verwirrung +vom Kleiderhaken im Vorzimmer einen falschen Hut abgehängt hatte, +dem Geruch nach offenbar die fettige Kopfbedeckung des pomadisierten +Schreibers, merkte er erst einen Tag später.</p> + +<p>Sein Herz strömte über von Dankbarkeit. Haupterbe — Zinsen — +Nutznießung — all diese neuen Begriffe wirbelten ihm nur so im Kopf +herum. Er wußte, Eleonore war so gestellt gewesen, daß sie ganz +behaglich leben konnte, auch ohne je eins ihrer Bilder zu verkaufen. +Das würde also jetzt <em class="gesperrt">sein</em> Los sein. Ein Nabob! Nun konnte er die +<em class="gesperrt">ganze</em> Welt violett sehn, so lang es ihm paßte. Das heißt ...</p> + +<p>Sinnend stand er an einem Laden still. Es war zufällig ein ganz +bescheidenes, kleines Käsegeschäft und eigentlich an den aufgestapelten +runden und eckigen Käsen nicht viel zu sehen. Emil wollte auch durchaus +nicht seine Schaulust befriedigen. Nur nachdenken wollte er, ungestört. +Er bohrte seinen Blick in einen großen Holländer Käse und überlegte.<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> +Lebenslänglich war die „Nutznießung“ nicht. Nur solange Flocki ... +Hm. Flocki war gesund. Gewiß. Gesundheit war eigentlich seine einzige +Tugend. Sofern man diesen naturgemäßen Zustand eine Tugend nennen kann. +Na ja. Flocki konnte alt werden, ein Hundegreis, ein Patriarch des +Viertels. Er hatte von Hunden gehört, die zwanzig Jahre alt geworden +waren. Allerdings, sie waren taub und blind und rochen sehr übel. +Aber schließlich — sie <em class="gesperrt">lebten</em>. Darauf kommt’s an. Normal war +freilich ein solches Alter nicht. Was war wohl das normale Alter eines +gesunden Hundes. War das bei den einzelnen Rassen verschieden, oder —?</p> + +<p>Der Besitzer des Käseladens hatte mit Interesse den seltsamen Mann vor +seinem Erker stehen sehen, der nun schon seit zehn Minuten den starren +Blick in den Holländer Käse bohrte. Er war behutsam in die Ladentür +getreten und, entschlossen dem offenbar Unschlüssigen die Entscheidung +zu erleichtern, erläuterte er im herzlichen Ton:</p> + +<p>„Echter Edamer. Kann ich Ihnen sehr empfehlen. Darf ich Ihnen +vielleicht ein Viertelchen —?“</p> + +<p>Emil fuhr jäh aus seinen Meditationen auf. Er konnte sich nicht ohne +weiteres in die nüchterne Wirklichkeit zurechtfinden und fragte +verwirrt: „Edamer — was ist Edamer?“</p> + +<p>Der Händler lachte. „Nu der Käse da, den Sie die ganze Zeit so verliebt +anstarren. Soll ich Ihnen ein Stück abschneiden?“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span></p> + +<p>In diesem Augenblick kam ein sehr ruppiger schwarzer Spitz aus dem +Laden und rieb sich leise knurrend am Bein seines Herrn.</p> + +<p>Wie hypnotisiert starrte Emil auf den Köter. Langsam, wie unter einem +unerklärlichen Zwang, kam es von seinen Lippen:</p> + +<p>„Käse — nein. Aber — — aber können Sie mir vielleicht sagen, wie +<em class="gesperrt">alt</em> ein gesunder Hund werden kann?“</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Etwa ein halbes Jahr nach diesem denkwürdigen Nachmittag traf ich +zufällig mit Emil zusammen. Wir waren Schulkameraden gewesen und ein +gemeinsamer tiefer Haß gegen die Mathematik hatte uns einander näher +gebracht. Wenn trigonometrische Klassenarbeiten geschrieben wurden, war +ich sein Trost und er der meine. Und die Note 5 in Verbindung mit einer +Stunde Arrest war uns <em class="gesperrt">beiden</em> sicher.</p> + +<p>Später hatten wir uns aus den Augen verloren. Ich hatte in +Süddeutschland studiert, er hatte in Norddeutschland gemalt. In einem +„Salon der Zurückgewiesenen“ hatte ich mal zufällig ein Bild von ihm +gefunden, das mir durch eigentümlich violette Kühe auffiel. Dann war +sein Name wieder zurückgesunken in den Nebel, der tausend Dinge und +Menschen umspinnt, die uns einmal etwas bedeutet haben, ja vielleicht +lieb und teuer waren.</p> + +<p>Und nun stand er plötzlich leibhaftig vor mir.<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> In der Potsdamerstraße +vor einem unscheinbaren Geschäft, in dem Vogelfutter und Hundekuchen +unter einem Haufen schmutziger Käfige mit ruppigen Waldvögeln, denen +man noch die rohen Griffe der Fallensteller ansah, aufgestapelt lagen.</p> + +<p>Es war ein nicht übler Herbsttag, und Emil hatte, dem freundlichen +Sonnenschein Rechnung tragend, sich sehr hell gekleidet. Er sah +überhaupt in seinem modischen dunkelgelben Herbstpaletot, dem blanken +Zylinder und den rostroten dänischen Handschuhen elegant, ja fast +stutzerhaft aus. Jedenfalls so, wie man einen Maler, der violette +Bilder anfertigt, ohne zunächst den Geschmack des zahlungsfähigen +Publikums für seine Nuance zu gewinnen, nicht häufig trifft. Sogar +einen sehr ausgeprägten Kneck trug er in den diskret karrierten +Hosen, und seine schmalen amerikanischen Knopfstiefel zeigten spitze +spiegelnde Lackkappen.</p> + +<p>„Emil, alter Junge, wie geht’s denn?“</p> + +<p>„Na ich danke, so pflaumenweich. Man lebt so.“</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Gut</em> lebt man, scheint’s, lieber Sohn. <em class="gesperrt">Sehr</em> gut, was? Du +bist ja auf deine alten Tage ein veritabler Dandy geworden.“</p> + +<p>„Ach geh! Man kann doch schließlich nicht den ganzen Tag im +bekleckerten Sammetkittel herumlaufen, um der Welt zu zeigen, daß man +ein sogenannter Künstler ist.“</p> + +<p>„Du bist wohl verheiratet, Emil?“</p> + +<p>„Ich? Ach nein. Du meinst wegen ... Das täuscht. Ich bin bloß ... ich +habe bloß ... Aber findest du nicht, daß es hier <em class="gesperrt">zieht</em>?“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span></p> + +<p>„Na, ein Mailüfterl kannst du schon nicht verlangen. Wir sind ja +schließlich nicht an der Riviera und schreiben seit ein paar Tagen +November. Übrigens du siehst doch blühend gesund aus. So ein bißchen +Herbstwind — —“</p> + +<p>Emil lächelte etwas verlegen. „Ach ja. <em class="gesperrt">Ich</em> schon. Es ist auch +nicht meinetwegen, verstehst du. Es ist wegen — —“</p> + +<p>Ich folgte seinem besorgten Blick und entdeckte jetzt erst einen Hund, +den Emil an einer aus feinen Lederstreifchen geflochtenen gelben +Führleine befestigt hatte.</p> + +<p>„Ach, du hast einen Hund?“</p> + +<p>„Ja. Ich habe — ich habe einen Hund.“</p> + +<p>Das kam etwas gepreßt heraus, fast als wollte er sagen: Ich wollte, +<em class="gesperrt">du</em> hättest den Hund und nicht ich.</p> + +<p>„Wie heißt er denn?“ forschte ich teilnahmsvoll.</p> + +<p>„Flocki.“</p> + +<p>„Du, weißt du, ich hätte ihn doch schon anders genannt. Flocki — das +klingt so verdächtig nach einer alten Jungfer.“</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Ich</em> hab’ ihn auch nicht so genannt. Er heißt nun einmal so. Ich +finde den Namen ja selbst gräßlich. Zum Übelwerden. Aber ich fürchte, +wenn ich das Tier plötzlich umtaufe — nun ist es doch schon so sehr +daran gewöhnt — er könnte am Ende Schaden nehmen — z. B. denke dir: +ich hätte ihn Nero genannt, sagen wir Nero: Und nun gehe ich mit<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> ihm +auf der Leipzigerstraße und sehe, daß so ein gräßlicher Omnibuskasten +— sagen wir ‚Lützowplatz-Rosentaler Tor‘ — dabei ist, mit seinem +Riesenrad den Hund zu zerquetschen. Er ist unvorsichtig, verstehst du. +Ich rufe also: Nero! Nero! Aber er — er ist’s noch nicht gewöhnt, +Nero gerufen zu werden. Er bezieht es durchaus nicht auf sich. Er +hört’s nicht. Rrrrtsch — das Riesenrad Lützowplatz-Rosentaler Tor geht +mitten über seinen Bauch hinweg. Maria und Josef! Ich darf’s gar nicht +<em class="gesperrt">aus</em>denken!“</p> + +<p>Ich hatte mit wachsendem Befremden dieser lebhaften Phantasie des +Freundes gelauscht. War er so nervös? Er schien das Schreckliche schon +wie eine Fata Morgana vor sich zu sehen und den schmerzlichen Grimassen +nach zu urteilen, die er schnitt, verursachte ihm diese Erzählung +geradezu seelische Qualen.</p> + +<p>Mein Blick ruhte auf dem Köter, dem diese offenbar innige Liebe galt. +Ich sah einen kurzbeinigen, gedrungenen Hund, in dessen schwarzem +Kopf Ähnlichkeiten mit einem Mops und mit einem Pudel unverkennbar +waren, ohne daß man gewagt hätte, sich für eine von beiden Rassen +zu entscheiden. Der schraubenförmig gedrehte Schwanz war durchaus +Mops; die lockige grauschwarze Behaarung wies hingegen wieder auf die +aristokratische Familie der Pudel. So stellte er sich meinem Empfinden +als eine sehr unglückliche Kreuzung von Mops und Pudel dar, mit welcher +Vermutung ich ja, ohne Kynologe zu sein, so ziemlich das Richtige +getroffen hatte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span></p> + +<p>„Es ist jetzt unsere Stunde zur ersten Abendmahlzeit,“ unterbrach Emil +meine stillen Beobachtungen. „Wir essen nämlich immer in Abständen von +drei Stunden eine kleine Mahlzeit —“</p> + +<p>„Wir — wer ist das ‚wir‘?“</p> + +<p>„Nun — Flocki und ich. Das ist viel gesünder als eine größere +Mahlzeit, bei der man alles so gierig mit hinunterschlingt, Knochen und +all so was, sagt der Arzt.“</p> + +<p>„Ja, ums Himmels willen, welcher Arzt kommt auf den Gedanken, daß man +Knochen ...“</p> + +<p>„Der Tierarzt natürlich. Weißt du, ich — ich bin gottlob gesund +und bei der Hand. Das bißchen, was <em class="gesperrt">mir</em> mal fehlt, da kann +schließlich der Tierarzt auch raten. Ein sehr netter Mann. Er kommt — +Flockis wegen — wöchentlich zweimal.“</p> + +<p>Er sah auf die Uhr und verfärbte sich. „Teufel noch mal! Es ist schon +ein Viertel über 5 Uhr. Bis wir zu Hause sind, ist es bestimmt halb +sechs. Wenn ihm das nur nichts schadet. Er ist seit zwei Tagen mit der +Verdauung nicht ganz in Ordnung.“</p> + +<p>„Flocki?“</p> + +<p>„Natürlich. Der Arzt sagt zwar, es hätte nichts auf sich. Aber weißt +du, ich bin da sehr mißtrauisch. Eine Stiefschwester meines Vaters hat +mit sechzig Jahren ... Aber weißt du, das könnten wir alles bei mir zu +Hause besprechen. Du hast doch nichts Wichtiges vor? Nein? Also komm’, +wir nehmen ’ne Droschke ... He, Kutscher, <em class="gesperrt">Sie</em> da, Kutscher!“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p> + +<p>Emil hatte einen Taxameter herangewinkt.</p> + +<p>Flocki war der erste, der hineinsprang mit der behenden Fröhlichkeit +eines Hundes, der dieses angenehme Verkehrsmittel sehr wohl kennt und +schätzt.</p> + +<p>Als letzter stieg Emil ein. Er saß sehr unbequem, da er seine Beine +fast an den Leib ziehen mußte, um Flocki, der behaglich zur Kugel +gerollt auf dem Boden des Wagens lag, nicht zu inkommodieren.</p> + +<p>Es dauerte nicht lange, so erklang vom Wagenboden ein abscheuliches +sägendes Geräusch. Flocki schlief fest und schnarchte.</p> + +<p>„Er schläft sonst erst <em class="gesperrt">nach</em> der Mahlzeit,“ meinte Emil besorgt. +Und da er meine vielleicht belustigte Miene sah, so fügte er zögernd +hinzu: „Er ist ein so sonderbarer Hund, weißt du, <em class="gesperrt">so</em> sonderbar. +Und dann für <em class="gesperrt">mich</em> — schließlich, er ist nicht wie ein anderer +Hund. Manchmal —“</p> + +<p>Schien es mir nur so oder flammte wirklich ein leichter Ingrimm in +diesen Augen, die auf den schlafenden Flocki gerichtet waren, als der +Freund den unterbrochenen Satz wie im Traum vollendete: „Manchmal +möchte ich fast lieber einen robusten Geißbock am Bändel haben, als +diesen sonderbaren Hund!“</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Zu Hause hatte mir Emil die ganze Geschichte erzählt von Leonore, von +Flocki und ihm selbst.</p> + +<p>Er wohnte jetzt am Viktoria-Luisenplatz. In einem Gartenhaus +allerdings. Drei Treppen, aber sehr behaglich.<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> Ein Atelier, vier +hübsche Zimmer, das größte und schönste war das Schlafzimmer. In der +Ecke ein Körbchen mit violetter Seidendecke; offenbar für Flocki.</p> + +<p>„Schläft er bei dir im Zimmer?“</p> + +<p>„Ja. Der Tierarzt sagt, ihm schadet’s nicht. Und mir — das ist +ziemlich egal. Ich höre dann besser, wenn er hustet und all so was. +Auch träumt er zuweilen recht lebhaft. Ich stehe dann auf und massiere +ihm die Vorderpfoten.“</p> + +<p>Der ganze Haushalt war für Flocki eingerichtet. An allen Fenstern +eiserne Gitterstäbe in halber Manneshöhe, wie sie ängstliche Mütter +wohl in den Kinderstuben anbringen lassen.</p> + +<p>„Flocki könnte auf so ein Fensterbrett springen, verstehst du, und dann +das Übergewicht bekommen und in den Hof stürzen. Das wäre ...!“</p> + +<p>Wieder betrachtete ich, wie vorhin im Taxameter, die schreckliche +Erregung, die sich des Freundes bemächtigte bei der Erwägung solchen +möglichen Unglücksfalles, den seine rastlose Phantasie ausspann.</p> + +<p>„Ja, warum ziehst du denn nicht parterre?“</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Hab</em>’ ich gewohnt. Getrennt vom Atelier. Erst im Vorderhaus. Da +regte sich Flocki furchtbar über jeden vorübergehenden Hund auf. Dann +im Gartenhaus. Da neckten Bäcker und Metzger und die rüden Schätze der +Dienstmädchen im Haus und was sonst da vorüberkam und Zeit hatte, das +arme Tier so sehr, daß ich, ohne den Kontrakt auszuhalten, wegzog.“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p> + +<p>„Ja, Lieber, da bist du eigentlich, genau besehen, der Sklave deines +Hundes.“</p> + +<p>„Viel anders ist’s schon nicht,“ seufzte Emil. „Ich kalkuliere so. Wenn +er gut gepflegt wird und rationell lebt — er hat einen ganz kleinen +Herzfehler —, so kann er, sagt der Tierarzt, noch zehn bis zwölf +Jahre leben. In zwei, drei Jahren aber schon hoffe ich mein großes +Bild fertig zu haben; und dann wird es mich in weiteren zwei, drei +Jahren bekannt machen. So erreiche ich die pekuniäre Unabhängigkeit von +Flocki. Und dann —!“</p> + +<p>Wieder leuchtete ein ingrimmiger, fast grausamer Zug in des Freundes +sonst so mildem Gesicht. So mögen die Sklaven um Spartacus gelächelt +haben, als sie in den Kellern der Fechtschule zu Capua sich heimlich +versammelnd von dem furchtbaren Blutbad träumten, in dem ihre römischen +Unterdrücker ersaufen sollten.</p> + +<p>„Und was stellt das Bild dar?“</p> + +<p>„Die wilde Jagd. Den wilden Jäger auf dem Gespensterroß, hinter +ihm die Meute über niedrig hängende Wolkenfetzen fegend. Alles bei +Mondbeleuchtung.“</p> + +<p>„Natürlich violett?“</p> + +<p>„Woher weißt du das?“</p> + +<p>„Ich habe mal vor Jahren Kühe von dir gesehen. Daraus war eine gewisse +Vorliebe zu erkennen — —“</p> + +<p>„In diesem Bild der wilden Jagd ist sie aber berechtigt.“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p> + +<p>„Kann man’s mal sehen?“</p> + +<p>„Ja eigentlich ...“ er wurde verlegen, „es steckt noch ganz in den +Anfängen. Aber wenn du dir eben das Nötige dazu denkst.“</p> + +<p>Das versprach ich, und so nahm er einen sehr schönen, leicht violett +getönten Lappen von einer respektablen Leinwand.</p> + +<p>Das erste, was ich sah, war — <em class="gesperrt">Flocki</em>. Flocki nicht in einer, +sondern in dreißig, vierzig Gestalten. Die ganze Meute hinter dem +anatomisch sehr merkwürdigen Gespensterroß war Flocki und Flockis +Geschlecht.</p> + +<p>„Du, Emil, weißt du — die Hunde ...“</p> + +<p>„Ja? Fällt dir das <em class="gesperrt">auch</em> auf. Es ist mir so gekommen. Ich weiß +nicht wie. Ich wollte natürlich Jagdhunde malen, Bracken. Hatte auch +mal ein Modell hier. Aber Flocki hat sich wie wahnsinnig angestellt +hinter der Tür dort. Dann hab ich eben mehr aus dem Kopf ... Nun ist +das Unglück, verstehst du, ich beschäftige mich innerlich soviel mit +Flocki — er bedeutet mir soviel, <em class="gesperrt">muß</em> mir soviel bedeuten — daß +unwillkürlich seine Züge und seine Eigenart ... Es ist mir im Grunde +gräßlich. Soll das Malefizvieh mir auch noch meine Kunst ruinieren!! +Satanspest noch einmal!“</p> + +<p>Wie ein Sturm der Leidenschaft war’s plötzlich über ihn gekommen. Er +griff eine Handvoll Pinsel aus einer alten Blechdose und warf sie +wütend wider die Wand. Dann setzte er sich auf einen in kräftigen<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> +Farben leuchtenden kleinen Gebetsteppich, der einen alten Diwan deckte, +vergrub seinen Kopf in die Hände und schien nicht übel Lust zu haben, +zu weinen.</p> + +<p>Ich wußte in meiner Überraschung nicht recht, was ich machen oder +sagen sollte. Schließlich fand ich den mir selbst nicht sonderlich +einleuchtenden Trost: „Mein Gott, vielleicht findet man das sehr +originell. Die Rasse ist wenig bekannt.“</p> + +<p>„Schöne Rasse,“ knirschte Emil aus seiner Ecke. „Ist gar keine Rasse, +ist eine Gemeinheit, ist eine Parodie auf das Hundegeschlecht. Himmel, +wie mir das wohltut, mich einmal gehen lassen zu dürfen! Flocki +schläft, und du bist ein ehrlicher Kerl. Immer diese Komödie der +Zärtlichkeit. Und die Freiheit beim Teufel. Und die Kunst beim Teufel. +Und der Mut beim Teufel; der Mut, diese faule, träge, dumme, widerliche +Bestie persönlich am Griebs zu packen und in den Landwehrkanal zu +werfen mitsamt der verdammten Rente von sechstausend Mark, die mir das +lebendige Scheusal trägt.“</p> + +<p>„Sechs-tau-send Mark. Donnerwetter! Das ist allerdings ..!“</p> + +<p>„Ja siehst du: <em class="gesperrt">das</em> ist allerdings!.. Da sagst dus selbst. Das +ist eben auch <em class="gesperrt">mein</em> Trost, daß neunzig von hundert ganz dieselben +Esel wären, wie ich, und nicht den Mut hätten, dieses Rabenvieh ...“ Er +unterbrach sich plötzlich, legte den Finger an den Mund und lauschte. +„Hat — hat Flocki nicht eben — eben geniest? Richtig — eben schon +wieder!“ Er eilte<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> nach der Tür und rief nach der Küche: „Lisette, +Lisette! Verbinden Sie mich — du entschuldigst — verbinden Sie mich +mal gleich Amt VI Nr. 3079.“</p> + +<p>„Wen willst du sprechen?“</p> + +<p>„Den Tierarzt.“</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Nein, hier war nicht zu helfen. Dies Gefühl gewann ich, je öfter und je +länger ich Emil sah.</p> + +<p>Und ich sah ihn oft und lang. Denn seit jenem Gefühlsausbruch, dem +ich erschreckt beigewohnt, tat es ihm sichtlich wohl, in meiner +Gesellschaft sich auszusprechen. Immer über Flocki. Und nur über ihn. +Zwei Jockeis, die Analphabeten sind und außer reiten nichts können, als +wetten und trinken, unterhalten sich bestimmt nicht soviel von ihren +Pferden, wie Emil und ich von den Hunderassen, die Flocki zu seinen +Ahnen zählte, und von diesem Köter selbst, der die Zartheit, mit der +er behandelt wurde, in schnödester Weise dadurch vergalt, daß er alle +Untugenden und Laster, die in seiner schwarzen Seele geschlummert +hatten, ins Unerträgliche steigerte.</p> + +<p>Wenn er müde war, sprang er auf das weichste Möbel, gleichviel, ob +es ein Bett, ein Sessel oder ein mit Emils Frackanzug belegter Stuhl +war. Wenn er traurig war, knurrte er jeden — Emil nicht ausgenommen +— feindlich an. Wenn er fröhlich war, entrollte er seinen sonst +geringelten Schwanz und wedelte damit so energisch, daß kleinere +Tischchen<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> stets in Gefahr waren, umgestoßen zu werden. Bei schlechtem +Wetter war er merkwürdigerweise stets besonders gut aufgelegt. Was +für die Kleider seiner Freunde sehr unangenehm war, da er mit den +schmutzig-nassen Pfoten an ihnen hinaufzuklettern versuchte und +keinerlei Verständnis für die kühle Ablehnung seiner Freundlichkeit +besaß. Energisch angefaßt oder gar geschlagen durfte er nicht werden, +da Emil befürchtete, die zarte Gesundheit des edlen Tieres könne +ernstlichen Schaden nehmen.</p> + +<p>So erduldete Emil ein Martyrium. Sein Bild machte ihm keine Freude +mehr, weil jeder Hund, den er der Meute seines Wilden Jägers +hinzufügte, immer wieder Flockis verhaßte Züge annahm. Seine Wohnung +machte ihm keine Freude mehr, denn überall fand er Spuren von Flockis +Fröhlichkeit und Zerstörungssinn. Die freie Natur macht ihm keine +Freude mehr, denn er vermochte sie nicht zu genießen, ohne entweder von +Flocki an der Leine bald an einen Eckstein, bald um einen Baum gezerrt +zu werden, oder, wenn er ihn frei laufen ließ, in beständiger Angst zu +schweben, daß der Unvorsichtige von einem Wagen oder einem Automobil +überfahren werden könnte. Besonders gegen die Automobile hatte er eine +solche Wut in seinem Herzen angesammelt, daß er eines Tages einen +maßlos heftigen Artikel in ein Blättchen gegen die „Stinkdroschken“ +schrieb, in dem er die Vorstände sämtlicher Automobilklubs so schwer +beleidigte, daß sie gemeinsam klagten und der Freund — „in Anbetracht +seines<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> hohen Bildungsgrades“ — zu einer Geldstrafe von 500 verurteilt +wurde. Das war gerade eine Monatsquote seiner Jahresrente! Er mußte +sich zwei Monate einschränken und teilte nun den ganzen Haß, dessen +sein Herz fähig war, zwischen Flocki und dem Automobil.</p> + +<p>Dann peinigte noch eine andere Vorstellung seinen Geist. Man las so oft +davon, daß Hunde von Leuten, die daraus ein verbrecherisches Gewerbe +machten, ihren Besitzern auf der Straße gestohlen wurden. Konnte das +nicht auch Flocki passieren? Flocki — man konnte sagen, was man wollte +— war ein auffallender Hund. Konnten nicht solche Gauner, hingerissen +von den körperlichen Vorzügen Flockis und der seltenen Mischung der +Rassenmerkmale, die sein Wuchs aufwies, ihm nachstellen, ihn mit +Frankfurter Würstchen, seiner Leibspeise, anlocken und entführen? Was +dann? Dann <em class="gesperrt">lebte</em> der Hund zweifellos noch, aber <em class="gesperrt">er</em> konnte +sein Leben nicht beweisen. Wie war’s dann mit der Rente? Adelgunde +konnte behaupten, der Hund sei tot; aber sie konnte seinen Tod so wenig +beweisen, wie Emil das Leben. Das Testament sprach ausdrücklich vom +Todestag. Der war dann nicht zu erfahren.</p> + +<p>Schließlich, da er sogar nachts von diesem fatalen Rechtsstreit +träumte, ging Emil zu <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann, der ihn nach längerer +Erwägung und nachdem er in vielen Büchern nachgelesen und ihm auch aus +einigen Unverständliches mitgeteilt, dahin beschied: Adelgunde könne +in diesem Fall verlangen, daß Flocki nach einer gewissen Zeit „für tot +erklärt“ werde, womit Emil<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> ein für allemal jeden Rechtsanspruch an die +Zinsen von Eleonorens Hinterlassenschaft verliere.</p> + +<p>Flocki — für tot erklärt? Das war nun das zweite Schreckgespenst, das +neben dem Gespenst von Flockis wirklichem Tod den armen Freund überall +hin verfolgte.</p> + +<p>Er beschloß auf alle Fälle, sich einzuschränken, Ersparnisse zu machen, +damit ihn dieser gräßliche Fall nicht unvorbereitet träfe. Aber das +war nicht so einfach. Flocki war gut gewöhnt. Der Tierarzt rechnete +für jeden Besuch 5 Mk. und kam mindestens zweimal wöchentlich. Die +Hinterbeine Flockis mußten auf seine Anordnung täglich massiert werden, +was jedesmal 2 Mk. kostete. Kamen hinzu die nicht unbeträchtlichen +Unkosten für die Heilung des geprüften Heilgehilfen, den Flocki gleich +bei Beginn der ihm unerwünschten Massagekur in den Daumen gebissen +hatte. Kurz, es läpperte sich bös zusammen. Das Schlimmste aber waren +die Besuche Adelgundes.</p> + +<p>Sie kam von Zeit zu Zeit nach Flocki zu sehen ... Denn, wie sie sagte, +wenn sie auch im Testament der Schwester der Gefühllosigkeit gegen +dieses Tier geziehen war, so schien es ihr doch Pflicht des trauernden +Schwesterherzens, sich vom Wohlbefinden der einzigen lebenden Seele, an +der, so schien es, die liebe Entschlafene gehangen habe, zu überzeugen. +Und sie vergaß nie hinzuzufügen, daß sie mit dieser „einzig lebenden +Seele“ durchaus nicht etwa Emil, sondern Flocki meine.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p> + +<p>Diese Besuche bedeuteten für Emil eine Stunde der Qual und Prüfung. +Meist erfolgten sie Freitags zwischen fünf und sechs Uhr, zwischen +zwei Klavierstunden, die Adelgunde in der Nähe zu erteilen hatte. +An schönen, sommerhellen Tagen blieb sie manchmal aus; aber wenn es +regnete, kam sie bestimmt. Und da sie prinzipiell niemals Gummischuhe +benutzte, so brachte sie meist ein erkleckliches Quantum Schmutz und +Nässe an ihren nicht zu knappen Sohlen mit in Emils Salon und auf den +farbenprächtigen Bucharateppich, auf den er um so stolzer sein durfte, +als er ihn viel zu hoch bezahlt hatte.</p> + +<p>Das Gespräch nahm aber dann meistens den folgenden Verlauf.</p> + +<p>„Ach, Fräulein Adelgunde! Welche Freude —“ Emil log jedesmal mit +demselben Mißerfolg im Gesichtsausdruck. „Sogar bei dem schlechten +Wetter schenken Sie uns die Ehre. Ich darf vielleicht ein Täßchen +Kaffee ...“</p> + +<p>„Nein, ich danke wirklich. Ich habe schon zu Hause ...“</p> + +<p>In diesem Augenblick kam gewöhnlich, ungerufen und ihre Pflicht +durchaus kennend, die tüchtige Lisette, ein Mädchen von unbestimmbarem +Alter und ganz außerordentlicher Häßlichkeit, die noch durch Kleider +von einem augenvergiftenden Blaugrün gehoben wurde, mit dem Kaffeebrett +ins Zimmer. Und Adelgunde, die „schon zu Hause getrunken hatte“, trank +nicht <em class="gesperrt">ein</em> Täßchen, sondern vier, wozu sie eine größere<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> Anzahl +von Biskuits verzehrte. Dies alles mit der Miene und dem Anstand +einer Europäerin, die etwa bei einem Kaffernhäuptling zu Gast ist und +dessen entsetzliche Nationalgerichte aus einer gewissen mitleidigen +Höflichkeit für den Gastgeber sich gefallen läßt.</p> + +<p>Nach dem zweiten Biskuit sah sich Adelgunde suchend im Zimmer um:</p> + +<p>„Und unser lieber Flocki, ist er nicht hier? Sie wissen, lieber Freund, +ich würde nimmermehr zu Ihnen kommen — denn schließlich, wir sind +beide unverheiratet, nicht wahr, und die Welt hat an dem Erfinden +und Kolportieren von Schlechtigkeiten ihre größte Freude — in den +Gartenhäusern leider noch mehr als in den Vorderhäusern ...“</p> + +<p>Hier machte Emil eine Handbewegung, die dreierlei bedeuten konnte. +Entweder sie erklärte: Die Verleumdungen dieser minderwertigen Welt +müssen an so edlen Herzen, wie den unsrigen, spurlos abprallen. Oder +sie besagte: Sie halten mich hoffentlich nicht für fähig, die von Ihrer +Hochherzigkeit geschaffene Situation in unedler Weise auszunützen. Oder +aber sie umschrieb den einfachen Gedanken: Was mir schon an deinem +Gefasel liegt, mit dem du mir alle acht Tage die Ohren füllst!</p> + +<p>Adelgunde versuchte gar nicht, hinter den tiefern Sinn dieser +Handbewegung zu kommen. Sie fuhr vielmehr fort:</p> + +<p>„Unsere liebe Heimgegangene hat bestimmt, wie<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> sie bestimmt hat. Es ist +an uns, ihren Wunsch zu ehren. Aber sie hat mir unrecht getan. Gewiß, +ich habe einige Unarten Flockis bemerkt und — ich gesteh’s — peinlich +empfunden, über die <em class="gesperrt">Sie</em>, teurer Freund, in der unendlichen Güte +ihres Herzens hinwegsahen.“ (Das war eine satanische Bosheit nach Emils +Dafürhalten; denn Adelgunde wußte ganz gut, daß ihn Flockis zunehmende +Ungebührlichkeit heftig erbitterte.) „Aber gehaßt? — Nein, gehaßt hab’ +ich das kluge Tierchen <em class="gesperrt">nie</em>. Der beste Beweis ist, daß ich fast +jede Woche den Weg nicht scheue, nach seinem Befinden zu sehn und mich +zu überzeugen, daß all die Sorgfalt, die unsere liebe Heimgegangene +für ihn erhoffte, ihm auch im vollen Maße zuteil wird. Denn daß ich +<em class="gesperrt">Ihretwegen</em> nicht komme, lieber Freund ...“</p> + +<p>Emil nickte. „Das hätte ich mir schon selbst in aller Bescheidenheit +eingestanden, auch wenn Sie es mir nicht bei jedem Ihrer freundlichen +Besuche, die mich ehren und erquicken, wiederholt hätten.“</p> + +<p>Adelgunde überhörte die Ironie. „Und wo ist unser Liebling?“</p> + +<p>„Der Liebling schläft noch.“</p> + +<p>„So, so. Er schläft. Nun sehn Sie mal an! Das <em class="gesperrt">liebe</em> Tierchen. +Lassen Sie ihn nur nicht zu <em class="gesperrt">lange</em> schlafen. Man hat mir erzählt, +durch allzuviel Schlaf stelle sich leicht bei Rassehunden Fettsucht +ein. Und dann kommt plötzlich ein Herzschlag oder — ein Lungenschlag +— oder ein Milzschlag — oder ein ...“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span></p> + +<p>„Oder ein Hirnschlag,“ half Emil freundlich aus.</p> + +<p>„Ganz recht, oder ein <em class="gesperrt">Hirn</em>schlag,“ bestätigte Adelgunde mit +unverminderter Liebenswürdigkeit. „Und dann ist das Tierchen weg — +Eins, zwei, drei — und es ist weg!“</p> + +<p>Das könnte dir so passen, dachte Emil, ich hätte dann 6000 Mark Rente +minus, du hättest 3000 Mark Rente plus und obendrein die Freude, mich +wieder hungern und schuften zu sehen. Und seine Züge zu einem Lächeln +frohster Zuversicht zwingend, tröstete er: „Sie können versichert sein, +verehrte Freundin, daß unserm gemeinsamen Liebling an Pflege nichts +abgeht.“</p> + +<p>Und schon ließ die tüchtige Lisette durch die nur eben geöffnete Türe +den Liebling herein.</p> + +<p>„Komm, Flocki,“ lockte Emil und schnalzte ermunternd mit den Fingern, +„sag der guten Tante mal schön guten Tag.“</p> + +<p>Und mit einem Satz war Flocki auf Adelgundes Schoß. Das späte +Mädchen machte den schwachen Versuch, herzliche Freude über diese +Zutraulichkeit zu heucheln. In Wahrheit war Adelgunde wütend; denn +Flocki hatte, wie immer bei ihren Besuchen, ganz nasse und ziemlich +schmutzige Pfoten. Was daher kam, daß ihn Emil immer, wenn die „gute +Tante“ kam, von Lisette wecken und rasch mal auf die Straße führen +ließ, damit er sich die oben beschriebenen Pfoten hole. Dies war Emils +einzige heimliche Rache für die erschreckende Genußlosigkeit dieser +unvermeidlichen Kontrollbesuche.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span></p> + +<p>Aber schon war Adelgunde im Zuge. „Mir scheint, lieber Freund, er hat +heute etwas trübe Augen, der brave, kleine Flocki. Zeig’ mal deine +Guckelchen. Ru—hig halten, Darling. Ja, wahrhaftig, recht trüb.“</p> + +<p>„Das ist die Beleuchtung.“</p> + +<p>„Nein, nein. Ich täusche mich nicht. Eine gewisse Mattigkeit in der +Pupille. Er wird doch nicht die Staupe bekommen? Das fängt so an.“</p> + +<p>„Aber dazu ist er doch viel zu alt.“</p> + +<p>Adelgunde schüttelte in täuschend geheuchelter Besorgnis den Kopf: +„Und eine warme Nase hat er <em class="gesperrt">auch</em>, unser liebes Hündchen! Eine +<em class="gesperrt">ganz</em> warme Nase.“</p> + +<p>„Das hat er öfter.“</p> + +<p>„Um so schlimmer! Ich fürchte, er hat zu wenig Bewegung. Sie sollten +radfahren und ihn ein bißchen hinterherlaufen lassen.“</p> + +<p>Das könnte dir so passen! Damit er mir unter die Elektrische kommt, +nicht wahr? dachte Emil.</p> + +<p>„Wie oft wird er wohl gebadet?“</p> + +<p>„Alle drei Tage.“</p> + +<p>„Das scheint mir nicht oft genug. Ein meinen Eltern befreundeter +Oberförster hatte einen Setter, den er jeden Tag ins Wasser gehen ließ. +Er ist in hohem Alter gestorben.“</p> + +<p>„Der Oberförster?“</p> + +<p>„Der auch. Aber ich meinte den Setter. Dieser sehr erfahrene Forstmann +pflegte zu sagen: Jedes<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> Bad bedeutet einen Monat längeres Leben für so +ein Vieh.“</p> + +<p>„Wenn also der Oberförster den Hund jeden Tag, wie Sie sagen, zwei +Bäder nehmen ließ und das auch nur <em class="gesperrt">ein</em> Jahr durchführte, so +hatte er dem Setter schon eine Lebensdauer garantiert von — von warten +Sie einen Augenblick —“ (Emil nahm ein Papierchen und rechnete:) +„zweimal 365 macht 730, also 730 Bäder. 730 dividiert durch 12 macht — +macht 60 Jahre 10 Tage.“</p> + +<p>Ärgerlich über diese ziemlich deutliche Frozzelei, die sich Flockis +Pflegevater gestattete, stand Adelgunde auf. „Und Ihr Bild, lieber +Freund, der ‚Wilde Jäger‘, wie ist’s mit ihm? Es ist eine allerliebste +Idee von Ihnen, Ihren teuren Pflegling gleich in so vielen Exemplaren +künstlerisch zu verherrlichen. Und wenn auch im großen Publikum sich +wohl niemand dieses Zartsinns recht erfreuen wird, die Verewigte würde +gewiß Genugtuung empfinden über Ihr Werk. Sie war ja früher schon die +einzige, die in ihrem Kunstempfinden fortgeschritten genug war, Ihre +Bilder bewundern zu können.“</p> + +<p>Es war Zeit geworden, daß sich Adelgunde empfahl. Sie tat es nicht, +ohne noch einmal auf die besorgniserregenden Symptome in Flockis +Aussehen und Benehmen mit schmerzlichem Nachdruck hinzuweisen und +allerlei gute Ratschläge von einer ganz außerordentlichen Unsinnigkeit +zu geben.</p> + +<p>Als aber Emil gar von der Treppe her noch das laut<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> und vernehmlich +abgegebene Versprechen empfangen hatte, daß sie nicht versäumen +werde, in der nächsten Woche wieder vorbeizukommen und hoffe, dann +den gemeinsamen Liebling wohler und munterer anzutreffen, drängte +der angesammelte Ingrimm in dem Herzen des unglücklichen Malers zu +gewaltsamer Entladung, die allemal in der Weise erfolgte, daß er sein +Malgerät wütend an die Wand und sich selbst stöhnend auf den Diwan warf.</p> + +<p>Die teure Lisette aber hielt das dumpfe Geräusch der wider die Wand +fliegenden Pinsel und Paletten für ein stillschweigend mit ihr +verabredetes Zeichen, ihrem Herrn einen Punsch zu bereiten.</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Eines Morgens, ich goß gerade die Geranien auf dem Balkon, erschien +Emil plötzlich bei mir.</p> + +<p>Er war echauffiert und sehr aufgeregt und trug einen nassen Hut in der +Hand.</p> + +<p>„Regnet’s,“ fragte ich erstaunt.</p> + +<p>„Nein, nein. Als ich in dein Haus trat, hat mich jemand von oben voll +gegossen. Es gibt doch rücksichtslose Kerle. Man sollte sich’s nicht +gefallen lassen, was? Dem Wirt schreiben? Aber wer hat Zeit? Es ist +wohl Wasser, was?“</p> + +<p>„Ja, es scheint so.“ Ich untersuchte mit vollendeter Heuchelei. Da mein +Balkon über dem Entree lag, so war es klar, daß <em class="gesperrt">ich</em> es gewesen, +der den<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> guten Emil begossen hatte. „Und das hat dich so aufgeregt?“</p> + +<p>„Aber nein!“ Er rannte im Zimmer umher, und nahm alle möglichen kleinen +Nippes in die Hand, als suche er etwas ihm Gestohlenes.</p> + +<p>Ich kannte diese merkwürdige Angewohnheit und ließ ihn — nicht ohne +Angst — gewähren. „Aber was ist dir denn eigentlich?“</p> + +<p>Er trat dicht vor mich hin. „Flocki —“</p> + +<p>„Richtig, Flocki! Wo ist er denn?“ Ich hätte eher Apollo ohne Leier, +Fortuna ohne Füllhorn und den Perseus ohne das Medusenhaupt bei mir +erwartet, als Emil ohne seinen merkwürdigen Hund.</p> + +<p>„Das ist’s ja,“ sagte er dumpf. „Flocki ist zu Hause. Flocki hat sich +heute nacht übergeben. Mehrmals und reichlich.“</p> + +<p>„Hm. Auf den Teppich?“</p> + +<p>„Nein, auf meinen Gehrock, der auf einem Stuhl lag. Aber das ist +durchaus Nebensache. Aber das Schreckliche: Flocki ist <em class="gesperrt">krank</em>. +Zweifellos! Denn das hat er noch nie getan. Er hat auch eine warme +Nase. Er hat — — —“</p> + +<p>„Ja, Lieber, ich bin aber doch kein Tierarzt.“</p> + +<p>„Der Tierarzt war schon da. Er sagt, er weiß nicht ... er kann noch +nichts sagen. Ich habe ihn natürlich in der Nacht holen lassen. +Übrigens hat mir Lisette gekündigt heut früh. Sie war wütend, daß sie +zum Arzt mußte mitten in der Nacht. Ein Betrunkener hat sie um die +Taille gefaßt auf dem<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> Nürnberger Platz. Sie sagt, sie sei bei einem +Maler im Dienst und nicht bei einem Hundevieh. Sie brauche sich nicht +nachts von einem Betrunkenen umarmen zu lassen — du, <em class="gesperrt">wie</em> +betrunken muß <em class="gesperrt">der</em> gewesen sein! — weil ein Hund, der nicht +einmal echt sei, Leibweh habe.“</p> + +<p>„Du, Emil — eigentlich hat sie recht.“</p> + +<p>„Natürlich hat sie Recht. Das ist ja das Gräßliche. <em class="gesperrt">Sie</em> hat +recht, und <em class="gesperrt">ich</em> habe recht, und <em class="gesperrt">Alle</em> haben recht. Für mich +aber steht doch mein Leben auf dem Spiel —“</p> + +<p>„Ein <em class="gesperrt">Wohl</em>leben, Lieber, nichts sonst.“</p> + +<p>„Ja aber <em class="gesperrt">denke</em> dir doch — ich bin jetzt so daran gewöhnt. Und +aus der Malerei bin ich ganz heraus. Ich kann doch mein Leben lang +nicht Flocki malen und immer Flocki. Ich gehe zugrunde, körperlich, +seelisch, menschlich, künstlerisch. Ich vertrottele und versimple. Mich +wundert’s lange schon, daß ich nicht eines Tages aufwache und nur noch +Wau-wau sagen kann.“</p> + +<p>„Armer Freund!“</p> + +<p>„Es gibt nur <em class="gesperrt">einen</em> Ausweg. Das schreckliche Tier muß fort von +mir, und ich darf <em class="gesperrt">doch</em> die Rente nicht verlieren.“</p> + +<p>„Wie aber das? Adelgunde wird das <em class="gesperrt">nie</em> zugeben, daß du die +Nutznießung des Geldes hast und ...“</p> + +<p>„Ich weiß, ich weiß. Und deshalb bin ich entschlossen ... Aber setz +dich erst ... nein wirklich, <em class="gesperrt">setz</em> dich dort in den Stuhl .. So. +Also ich bin<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> seit heute nacht — um 3 Uhr 45 heute nacht kam mir der +Gedanke — bin entschlossen —“</p> + +<p>„Nu <em class="gesperrt">ja</em> doch! Zu <em class="gesperrt">was</em> denn?“</p> + +<p>„Ich <em class="gesperrt">heirate</em> Adelgunde.“</p> + +<p>Ich nahm unwillkürlich den doppelgeschliffenen Somalidolch, der mir als +friedliches Papiermesser diente, fester in die Hand. Das konnte ein +Tobsuchtsanfall werden. Eine schwere Nervenstörung war’s jedenfalls. +Oder ein Spaß von <em class="gesperrt">seltener</em> Kühnheit. Aber so sah kein Spaßender +aus. Eine finstere Entschlossenheit lagerte auf Emils übernächtig +blassem Kopf. Jetzt erst sah ich, daß er keinen Schlips anhatte, was +den Eindruck dieser Verstörung erhöhte. Er sah aus, als sei er direkt +aus einem Erdbeben gerettet.</p> + +<p>„Emil, du wolltest — —?“</p> + +<p>„Adelgunde heiraten. Ja. Ich weiß, was du sagen willst.“ (Ich wollte +gar nichts sagen.) „Sie ist älter, wie ich, gewiß. Josefine war auch +älter als Napoleon. Aspasia war älter als Perikles.“</p> + +<p>„Ja — <em class="gesperrt">liebst</em> du sie denn?“</p> + +<p>Er lachte hell auf. „<em class="gesperrt">Auch noch</em>! Man braucht doch nicht alle +Dummheiten auf einmal zu machen. Nein, ich liebe sie nicht. Aber — +ich hasse Flocki. Die Sache steht einfach so. Heirate ich Adelgunde, +so behalte ich meine Rente und kann Flocki in Pension geben. Stirbt +er wirklich, so haben wir immer noch die Hälfte der Rente und was wir +dazu verdienen. Adelgunde ist ja unleidlich. Aber sie ist viel aus<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> dem +Hause. Unterrichtsstunden, Freundinnen und all so was. Und ich denke, +sie ist vielleicht nur unleidlich wenn — weil — solange — —“</p> + +<p>„Solange sie nicht die <em class="gesperrt">Deine</em> ist.“</p> + +<p>„Die Meine oder die Deine oder die Seine“, brummte Emil ärgerlich. +„Solange sie eben nicht verheiratet ist. Die Ehe wirkt veredelnd auf +den Menschen. Es liegt oft ein Schatz von Liebe in solchen späten +Mädchen. Doch wie’s auch kommt — sie ist wenigstens ein Mensch und +gewiß nicht ohne menschliche Vorzüge. Aber Flocki! Siehst du, wenn +ich ein Nilpferd geerbt hätte — das hat wenigstens eine robuste +Gesundheit. Oder einen Orang-Utang — der ist wenigstens amüsant. Oder +einen Karpfenteich — diese Tiere springen einem wenigstens nicht auf +die Möbel, ins Bett, ins Gesicht. Aber dieser Malefizköter! Siehst +du, wenn ich’s geahnt hätte, damals, wie ich ihm im Atelier das Fell +kraute .... Wie ich den Herrn mit dem Geflügelknochen ... wie mir +der <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann mit dem Testament ... Nach Amerika wär ich +ausgewandert, mein Wort darauf! nach Alaska meinetwegen, ja in die +Südsee zu den Kanibalen. Wahrhaftig! Aber jetzt —! Die Gewohnheit +hat mich unterjocht. Ich kann nicht mehr Gummikragen umbinden und für +fünf Groschen ‚mit Bier‘ zu Mittag essen. Wen der Himmel für die Kunst +verderben will, den macht er zum Rentier! Denn malen — siehst du — +malen kann ich auch nicht mehr. Du hast’s ja selbst gesehn. Ich muß<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> +erst wieder Flocki los werden. Aus meiner Nähe, aus meinen Gedanken, +aus meiner Kunst muß die Bestie. Das Hundeleben muß aufhören. Ich will +wieder ein <em class="gesperrt">Mensch</em> sein. Ergo: ich heirate Adelgunde. Und der +erste Paragraph unseres Ehevertrages heißt: Es ist keinem der Ehegatten +erlaubt, ohne Zustimmung des andern Ehegatten einen Hund irgendwelcher +Größe in der ehelichen Wohnung zu halten.“</p> + +<p>„Hm. Aber schließlich gewisse Verpflichtungen hast du doch auch gegen +Flocki. Es wäre doch eine zwar pfiffige aber ein bißchen rohe Umgehung +des letzten Willens deiner Freundin, wenn du das Tier nun irgendwo in +Pension gibst, wo es geprügelt wird und hungern muß und von den Kindern +an den Ohren gezogen wird.“</p> + +<p>Emil unterbrach seinen Spaziergang längs meines Bücherschranks, +richtete stolz das blasse Haupt empor und sah mich mit einem Blick an, +in dem tiefe Mißbilligung nicht zu verkennen war.</p> + +<p>„Wo denkst du hin?! Was traust du mir zu! Bin ich ein Kongoneger? Sehe +ich aus wie ein Feuerländer? Natürlich Flocki, soll es gut haben. +Das wird meine erste Sorge sein. Ich habe schon an den Zoologischen +Garten gedacht. Wenn ich diesem Institut den Hund schenkte? Er ist +eitel, ich kenne ihn. Es würde ihn beglücken, an seinem Käfiggitter +ein blaues Schildchen mit seinem Namen und seiner Rasse — — ja, da +liegt die Schwierigkeit. Ich fürchte der Zoologische Garten verweigert +solcher ziemlich<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> willkürlichen Kreuzung die Aufnahme. Nein, nein, es +muß Privatversorgung erwogen werden. Eine Witwe vielleicht. Kinderlos +natürlich. Kinder hat Flocki nie geliebt, und dann fühlen sie sich +zur Erziehung berufen, die Flocki immer abgelehnt hat. Es würden sich +daraus Konflikte schlimmster Art entwickeln. Also eine kinderlose +Witwe. Witwen sind voll Zärtlichkeit und verstehn sich auf Pflege. +Das heißt —“. Wie von einem bezaubernden Einfall geblendet wich Emil +plötzlich einen Schritt zurück, dann trat er ganz rasch drei Schritte +auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und lieh seiner +vorzüglichen Eingebung die guten Worte: „Das heißt — hättest <em class="gesperrt">du</em> +vielleicht Lust, Flocki zu nehmen: Ich will ihn dir schenken.“</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich Emils hochherziges Angebot +dankend ablehnte.</p> + +<p>Woher ihm eigentlich die Sicherheit gekommen war in der Voraussetzung +daß ihn Adelgunde, sobald er ihr einen Antrag machte, auch nehmen +würde, weiß ich nicht. Aber einen andern Ausgang der Angelegenheit +hatte er keinen Augenblick ernstlich erwogen.</p> + +<p>Um so peinlicher war sein Erstaunen, als Adelgunde sich drei Tage +Bedenkzeit ausbat. Das Unglück wollte es, daß Flocki noch immer eine +warme Nase hatte; und Emil stand unter dem Bann der fixen Idee, daß +dieser tückische Hund in diesen drei Tagen bestimmt<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> sterben werde, um +ihn zu ärgern und seine Rettung in lebenswerte bürgerliche Verhältnisse +unmöglich zu machen. Der Tierarzt kam täglich dreimal, wurde außerdem +mehrfach telephonisch in seiner Wohnung und in dem Café, in dem er +mittags Domino zu spielen pflegte, angeklingelt und blieb auf Emils +besonderen Wunsch auch nachts telephonisch für ihn erreichbar.</p> + +<p>Endlich am dritten Tage nachmittags um zwölf Uhr kam ein Briefchen von +Adelgunde.</p> + +<p>Als ich um ein Uhr in seine Wohnung kam, nach dem Freunde zu sehen, +der mir in den letzten Tagen Sorgen gemacht hatte, erzählte mir +Lisette, der Herr habe vorhin durch einen Dienstmann ein Billetchen +bekommen. Darauf habe er sich längere Zeit lächelnd vor dem Spiegel +im Korridor aufgehalten, habe dann telephonisch ein Rosenbukett mit +violetter Schleife für fünf Mark bestellt, habe seinen Friseur kommen +lassen und eine halbe Flasche Veilchenparfüm auf zwei Taschentücher +gegossen, die er in seinen besten schwarzen Rock gesteckt. Dann habe er +ihr — Lisette — zehn Mark geschenkt mit der Weisung, sich möglichst +bald eine schöne Granatbrosche dafür zu kaufen (warum gerade eine +Granatbrosche wisse sie nicht) sei vor Flockis Körbchen getreten und +habe den sehr erstaunten Hund ein „Rabenvieh“ genannt, was ja wohl +seine Berechtigung habe, aber doch, so weit sie sich entsinne, zum +ersten Male passiert sei. Dann habe er sich einen Zylinder aufgesetzt, +habe ein paar resedafarbene Handschuhe<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> in die Hand genommen und sei +pfeifend, ohne seiner sonstigen Gewohnheit gemäß detaillierte Weisungen +Flockis Wartung betreffend zu geben, die Treppe hinabgesprungen. Wie +ein Reh. Dies „wie ein Reh“ gefiel Lisette so gut und schien ihr so +erstaunlich charakteristisch, daß sie es noch dreimal mit Nachdruck +wiederholte: „Wie ein Reh — wenn ich’s Ihnen sage: wie ein Reh!“</p> + +<p>Ich wußte genug. Ich empfahl Lisette, beim Ankauf der Granatbrosche +sehr umsichtig vorzugehen, und machte mich auf den Heimweg.</p> + +<p>Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb ein +Rohrpostbriefchen. Ich habe es gegen meine Gewohnheit dreimal +aufgesetzt.</p> + +<p>Es gibt Glückwünsche die sehr schwer fallen. Man wünscht wohl, aber man +glaubt nicht.</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Wenn Emil eine Prinzessin von Trapezunt geheiratet hätte, er hätte sich +in den folgenden Wochen nicht beglückter benehmen können.</p> + +<p>Er markierte Verlobungswonne in geradezu vorbildlicher Weise. Er kaufte +Buketts, Lyrik, Marzipan. Er trug zu enge Stiefel und zu hohe Kragen. +Er sann auf zarte Überraschungen und las nachts im Bett eine gräßlich +langweilige Biographie von Johann Sebastian Bach, den Adelgunde sehr +verehrte. Von Kontrapunkt und Fuge sprach er jetzt so viel, wie er +früher von Flocki und seinen Magenverhältnissen gesprochen hatte. +Eines<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> Tages erwarb er in einer Versteigerung bei Lepke sogar ein sehr +mäßiges Ölbild, das den großen Meister darstellen sollte, das sich aber +leider später als das Porträt seines Vaters, des Hof- und Ratsmusikus +Johann Ambrosius Bach erwies.</p> + +<p>Mit der Ungeduld eines Romeo drängte Emil auf Beschleunigung der +ehelichen Verbindung. Blos standesamtlich wünschte Adelgunde. Emil war +einverstanden.</p> + +<p>Ich war Emils Trauzeuge. Adelgunde hatte sich für die feierliche +Handlung ihren Hauswirt mitgebracht. Dieser brave Mann, in seinem +Privatleben ein Schneidermeister, dessen Anzüge eine gewisse +Berühmtheit genossen, weil sie jedem Besteller die Figur ihres +Verfertigers gaben, hatte leider zur Vorfeier des Tages sehr heftig +gefrühstückt und kämpfte während der Zeremonie so tapfer wie vergeblich +gegen einen Schluckser. Adelgunde hielt dies mühsam gedämpfte Geräusch +für einen Ausdruck tiefer, seelicher Ergriffenheit und hat später dem +Gatten gestanden, daß diese Feierlichkeit den lange von ihr gehegten +Verdacht als begründet erwiesen habe; daß nämlich der ehrsamliche +Schneidermeister selbst ein Auge auf sie geworfen habe, ohne den Mut zu +finden, zu tun, was Emil getan hatte ...</p> + +<p>Im Separatzimmerchen eines kleinen aber guten Restaurants der +Potsdamerstraße war das festliche Frühstück, das dem standesamtlichen +Akt folgte. Nur wir vier. Und ein sehr diskreter Kellner, der die +Speisen immer erst brachte, wenn sie kalt waren.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p> + +<p>Ich hielt eine kleine Rede auf das Brautpaar, sprach von der ehelichen +Liebe, die das Leben adelt, jede Freude erhöht, jeden Schmerz gemeinsam +tragen lehrt — kurz ich gab, der Situation angemessen, eine Anzahl von +Gemeinplätzen zum besten, die jedem lateinischen Übungsbuch für Quinta +Ehre gemacht hätten.</p> + +<p>Dann erhob sich der Trauzeuge Adelgundes. Er erzählte mit etwas +schwerer Zunge sehr merkwürdige Dinge, die nur leider keinen rechten +Zusammenhang mit der festlichen Veranlassung dieses gemeinsamen Mahles +zeigten. Er sagte unter anderem, er sei bei einer alten Tante erzogen +worden, die ihm früh den Spruch eingeschärft habe: Üb’ immer Treu +und Redlichkeit — bis an dein kühles Grab. So gedenke er’s auch zu +halten. Die Wohnung im dritten Stock seines Hauses habe früher 1000 +Mark gekostet. Nun aber habe er die Toilette neu tapezieren und den +Herd umsetzen lassen. Auch sei ihm eine Hypothek gekündigt worden, was +ihn sehr verdrieße. Vom nächsten Quartal an müsse er 1100 Mark für +diese Wohnung verlangen, was er als Ehrenmann heute schon ankündigen +wolle. Zumal da in einem fort darin Klavier gespielt werde; was zwar +immer noch nicht so schlimm sei, wie Waldhorn. Was die Ehe anbetreffe, +so habe darüber der Apostel Paulus ein sehr gutes Wort gesagt, das ihm +jetzt nicht einfalle. Und wenn die Pute nicht so kalt werden solle, +wie der Rehrücken leider vorhin gewesen, so müsse er seine Rede jetzt +schließen.</p> + +<p>Diese letzte Wendung wurde von uns als Scherz<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> gedeutet. Wir riefen +hoch und stießen an. Der Meister war sehr geschmeichelt und nahm drei +Bruststücke von der Pute.</p> + +<p>Nach dem Eis erhob sich Adelgunde und verabschiedete sich von uns mit +einem verschämten Lächeln, das ihr gar nicht übel stand. Mit diesem +Lächeln konnte sie für fünfunddreißig gelten. Sie fuhr in einem +Taxameter nach Hause, um ein Reisekleid anzulegen, da eine kurze +Hochzeitsreise nach Potsdam beschlossen war.</p> + +<p>Als Adelgunde gegangen war, offerierte Emil mit dem strahlenden +Lächeln, das ihm selbst bei des Trauzeugen Rede nicht verlassen hatte, +sehr schwarze Zigarren mit sehr roten Leibbinden.</p> + +<p>„Sagen Sie, lieber Herr Steinbrink“, fragte der Meister, indem er sich +drei Zigarren auswählte und neben seine Kaffeetasse legte, „was wird +nun eigentlich aus ihrem <em class="gesperrt">Hund</em>, solange sie auf der Reise sind +— —? Es ist wegen der Wohnung. Ich bin da etwas unruhig. So ein Vieh +ruiniert leicht mancherlei, nagt und schabt und kratzt — —“</p> + +<p>Emils Gesichtsausdruck verlor an Fröhlichkeit. Und der meine war in +diesem Augenblick kaum sehr intelligent.</p> + +<p>„Ja, erlaube mal, Emil“, warf ich ein, „hast du denn noch niemand +gefunden, den du — — Ich meine die Witwe, von der du sprachst, die +kinderlose Witwe ...“</p> + +<p>Emil wurde sehr verlegen. Er pickte nervös an<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> dem Bändchen seiner +schwarzen Zigarre herum und, ohne mich anzusehn, sagte er kleinlaut: +„Die Sache ist <em class="gesperrt">die</em>, Lieber. Ich und Adelgunde — Adelgunde und +ich — wir haben’s uns eben überlegt. Eine fremde Pflege ist doch nicht +so sicher. Du weißt, es gehen uns dreitausend Mark verloren, wenn +Flocki stirbt. Das ist schließlich keine Kleinigkeit.“</p> + +<p>„Tausend noch mal!“ bestätigte der Meister und knüpfte seine Weste auf.</p> + +<p>„Na und siehst du, so kamen wir eben nach reiflichster Überlegung +überein, Flocki zu <em class="gesperrt">behalten</em>. Gott, er hat ja auch seine Vorzüge. +Und dann: man gewöhnt sich. Es ist merkwürdig, <em class="gesperrt">wie</em> man sich +gewöhnt. Während wir in Potsdam sind, wird Lisette — du weißt, wir +übernehmen sie in den jungen Hausstand. Und wenn wir zurückkommen — +Gott, Adelgunde hat eine so glückliche Hand in der Pflege. Du sollst +mal sehen, wie die Blumen gedeihn an ihrem Fenster — und haben doch +fast keine Sonne.“</p> + +<p>„Erlauben Sie,“ fiel der Meister ärgerlich ein, „das muß ich denn doch +besser wissen. Vom Mai bis Ende September hat das Fenster von Mittags +zwölf bis nach zwei Uhr Sonne. Wenn’s nicht regnet, natürlich. Aber +dann hat kein Mensch Sonne und kein Fenster.“</p> + +<p>Emil hörte ihn nicht. Die erloschene Zigarre im Munde stierte er in +tiefem Sinnen in den riesigen Aschbecher. An seines Geistes Augen +mochte das<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> ganze Martyrium dieser Erbschaft vorüberziehen, das +Martyrium, das hinter ihm lag, das Martyrium, das seiner wartete ...</p> + +<p>Wir beiden andern schwiegen und rauchten.</p> + +<p>Plötzlich fuhr Emil aus seinen Träumen auf und sah nach der Uhr.</p> + +<p>„Himmel, ich muß fort. Höchste Zeit. Entschuldigt die Plötzlichkeit, +Kinder, aber wir versäumen sonst den Zug. Ich muß Adelgunde abholen ...“</p> + +<p>„Aber es ist ja noch reichlich anderthalb Stunden. Und zum Potsdamer +Bahnhof habt ihr nur sieben Minuten.“</p> + +<p>„Hm. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß man zu zweien immer +<em class="gesperrt">mehr</em> Zeit braucht, als allein.“</p> + +<p>Der Meister rechnete angestrengt an den Fingern: „Und zweimal sieben +macht vierzehn — nicht wahr? Und eine Stunde und eine halbe macht +neunzig Minuten, und neunzig weniger vierzehn macht sechsundsiebzig ...“</p> + +<p>Es war nicht recht einzusehen, warum er sich in die Mühseligkeiten +dieser Rechenaufgaben stürzte; denn von uns beiden hörte ihm keiner zu. +Selbst dann nicht, als er durch eine sehr schwierige und rätselhafte +Division sich tief in die Gefahren der Bruchrechnung verstrickte, die +er dann mit einem befriedigten „Na, und überhaupt!“ abschloß.</p> + +<p>Emil hatte seinen Paletot angezogen, den der Meister mit kritischem +Blick maß. Der Reisefertige reichte mir die Hand zum Abschied; und +mir war’s,<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> als legte er eine ganz besondere Bedeutung in sein +Abschiedswort:</p> + +<p>„Du hast Recht, wie schon manchmal, lieber Freund. Aber wir +müssen vorher noch Adieu sagen. Adelgunde besteht darauf, daß wir +<em class="gesperrt">Flocki</em> noch einmal sehen, ehe wir ihn für ein paar Tage +verlassen. Schließlich — <em class="gesperrt">er</em> hat uns doch zusammengeführt! ...“</p> + +<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p102"> + <img class="w100 mbot3" src="images/p102.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p> + +<h2 class="trans" id="Das_Verhaengnis_des_Hauses_Broemmelmann" title="Das Verhängnis +des Hauses Brömmelmann">Das Verhängnis des Hauses Brömmelmann</h2> + +<figure class="figcenter illowe28" id="p103"> + <img class="w100" src="images/p103.jpg" alt="Titel: Das Verhängnis des Hauses + Brömmelmann"> +</figure> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span></p> + +<p class="p0 mtop2"><span class="initial">E</span>r hatte nur unter den größten Schwierigkeiten eine Frau bekommen. Es +ist lächerlich, zu behaupten, daß das an seiner Persönlichkeit lag. Es +lag am Namen.</p> + +</div> + +<p>Gewiß, er war nicht schön. Die unansehnliche Figur, die etwas +Verbogenes, Geknicktes an sich hatte, sah in dem langen schwarzen +Gehrock, den er immer trug, nicht gut aus. Er erinnerte, wenn er so +daher kam mit dem schief nach links über den altmodischen Kragen +nickenden Kopf und den lang herabhängenden Armen, die immer die Knie +kratzen zu wollen schienen, an einen jener dressierten Urwaldbewohner, +die, ein Zylinderchen auf dem Kopf, auf ein geduldiges Ponychen mit +heimlichen Riemen festgebunden, als erste Nummer unter dem Jubel der +Kinderwelt in melancholischem Galopp die „Abend-Gala-Elite-Vorstellung“ +der Affentheater einzuleiten pflegen. Auch waren seine Füße +unverhältnismäßig groß und erweckten beim Gehen den Eindruck, als ob +jeder von ihnen eigensinnig just auf denselben Fleck treten wolle, den +der andere gerade inne hatte; und dies mit solcher Vehemenz, daß es ein +wahres Wunder genannt werden<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> mußte, wenn <em class="gesperrt">Anton Brömmelmann</em> sich +bis zu seinem fünfundvierzigsten Jahre noch nicht die Zehen abgetreten +hatte auf seinen Geschäftsgängen.</p> + +<p>Denn zum Vergnügen ging er nie. Das Geschäft war ihm alles. Er +arbeitete dafür den ganzen Tag; er erholte sich davon, indem er abends +in alten Geschäftsbüchern blätterte und alte Geschäftsbriefe im +Kopierbuch las; und er träumte davon in der Nacht. Das Geschäft war +sein Glück — denn es blühte. Und es war sein Unglück — denn es hatte +seinem Namen einen wenig seriösen Klang gegeben. Und just um dieses +Klanges willen hätte Anton Brömmelmann beinahe keine Frau bekommen.</p> + +<p>Eine geschickte Reklame des Vaters — der auch schon Anton geheißen und +den Ruhm des Geschäftes begründet hatte — war dem Namen Brömmelmann +verhängnisvoll geworden; insofern als er diesen nicht sinnverwirrend +schönen aber auch nicht ohne weiteres verwerflichen Geschlechtsnamen +braver kleiner Beamten und Pastoren plötzlich laut, heftig und dauernd +mit — ja, es muß schon gesagt werden: mit Wasserklosetts in Verbindung +brachte.</p> + +<p>„Anton Brömmelmanns Wasserklosetts für Privatwohnungen, Klubs, Hotels, +Spitäler, Kasernen und Gefängnisse“ waren weit über Neuenburg hinaus +eine Berühmtheit. Durch unzählige Annoncen in den Tagesblättern hatte +er sie — wenn das so auszudrücken erlaubt ist — dem Herzen des +Publikums eingeschmeichelt. Er hatte Gutachten über ihre Diskretion<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> +im Geräusch und Wasserverbrauch und über ihre Unentbehrlichkeit +im Großbetrieb fleißig gesammelt und veröffentlicht; hatte +enthusiastische Zustimmungen von Hygienikern, berühmten Schauspielern, +Anstaltsdirektoren, ja sogar von zwei wirklichen Geheimen Räten mit +dem Prädikat Exzellenz seinem Katalog anheften können. Und so hatte +er mit der Wahrhaftigkeit, wie sie nur die Todesstunde verleiht, +auf dem Sterbebette seinem einzigen Sohn feierlich und nicht ohne +Genugtuung versichern dürfen, daß es in und um Neuenburg, wenigstens in +menschlichen Wohnstätten, die etwas auf sich hielten, keinen geheimen +Ort, den ein guter Mensch betrat, gebe, der nicht an bescheidener +Stelle auf weißem Porzellangrund den Namen „Anton Brömmelmann“ rühmend +dem nachdenklichen Beschauer nenne.</p> + +<p>Das aber war das Fatale. Welches junge Mädchen von sittlichem Gefühl +verliebt sich in einen Mann, der mit so unentbehrlichen, aber doch so +ungern genannten Gebrauchsgegenständen handelt? Welches wohlerzogene +Bürgerstöchterlein tauscht froh und reulos seinen mehr oder minder +wohlklingenden Vatersnamen gegen einen Namen, den immer und immer +wieder Annoncen in den Tagesblättern in solch merkwürdige Erinnerung +bringen; der immer und immer wieder von weißem Porzellangrund abzulesen +ist? ...</p> + +<p>Wenn Anton Brömmelmanns Ahnherr im Dreißigjährigen Krieg nachweislich +gehängt worden wäre; wenn sein Großvater beim Rastatter Gesandtenmord +eine üble Rolle gespielt und seine Großmutter im<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> berüchtigten +Hirschpark von Versailles zeitweise unrühmlichen Aufenthalt genommen +hätte — das wäre alles kein so trauriges Ehehindernis für Anton +Brömmelmann gewesen, als der fatale Umstand: daß sein fleißiger und +rechtlicher Vater gar so viel Lobendes über seine vortrefflichen +Fabrikate veröffentlicht hatte.</p> + +<p>Und außerdem: mitten in der Hauptstraße, zwischen der appetitlichen +Konditorei von Grötschel und der poesievollen Blumenhandlung der stets +in tiefe Trauer gekleideten Witwe Schwiebus — die drei verletzend +naturalistischen Riesenerker des Brömmelmannschen Geschäfts! Welche +Frauenseele in jenem glücklichen Alter, da man sich Verse von Lenau ins +Album schreibt und mit Leutnants tanzt und Lieder von Schumann singt, +bebte nicht scheu zurück vor einem noch so braven Mann, der ein so +absonderliches Geschäft sein eigen nennt?</p> + +<p>Anton Brömmelmann hätte von den Körben, die er sich seufzend in guten +Bürgerfamilien geholt, ganz bequem einen Korbhandel eröffnen können. +Aber er sah mit Goethe, den er übrigens nicht las, in der Ehe „Anfang +und Gipfel aller Kultur“; und er war betrübt, ja niedergeschlagen, daß +gerade <em class="gesperrt">ihm</em> weder Anfang noch Gipfel beschieden sein sollte, +obschon oder gerade <em class="gesperrt">weil</em> er als Geschäftsmann just der Sohn +seines Vaters und ein Kulturträger von nicht zu unterschätzender +Bedeutung war.</p> + +<p>Endlich aber fand er in Annemarie Bickebach doch noch ein weibliches +Wesen, das großherzig genug war,<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> über die ganzseitigen Annoncen und +die Riesenerker in der Hauptstraße und schließlich auch über manche +negativen Vorzüge seiner Erscheinung mit ihren leidlich hübschen Augen +hinwegzusehen.</p> + +<p>Annemarie war die Tochter eines Oberpostsekretärs, der pensioniert +werden mußte, weil sich in ihm die fixe Idee entwickelte, er müsse +der Welt die Unsinnigkeit der Ansichtspostkarte beweisen; und der in +diesem Sinne eine Reihe von Broschüren im Selbstverlag erscheinen +ließ und zahlreiche Eingaben an den Reichstag und „Offene Briefe“ +an die vorgesetzte Behörde richtete. Das langaufgeschossene, magere +Mädchen war zweimal verlobt gewesen. Einmal mit einem melancholischen +Bergassessor, der leider bald darauf mit einer Dame vom Variété +nach London gegangen war; und einmal mit einem sommersprossigen +Predigtamtskandidaten, der ihr eines Tages eine „frivole Auslegung +paulinischer Briefe“ vorgeworfen, ihren Ring, zwei gestickte +Schlummerrollen und einen gebrannten Haussegen zurückgeschickt und +drei Monate später eine vermögliche aber reizlose Witwe aus Kottbus +standesamtlich und kirchlich geheiratet hatte.</p> + +<p>Annemarie hatte das stille Wesen aller Mädchen, die zweimal verlobt +waren und einmal am Variété und einmal an den paulinischen Briefen +gescheitert sind. Sie sah zwar, daß Anton Brömmelmann keineswegs +eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem jungen Griechengott, nicht +einmal mit einem melancholischen Bergassessor zeigte; aber er war +schließlich ein Mann,<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> der seine hübschen Einnahmen hatte und dessen +mit der Erinnerung an zahlreiche Körbe belastetes Herz die Unzartheit +nicht besitzen würde, sie an ihr entschwundenes Liebesglück zu +erinnern. Und sie hatte es satt, immerzu „Eingaben an eine hohe k. k. +Oberpostdirektion“ ins reine zu schreiben.</p> + +<p>Der Oberpostsekretär a. D. machte seine Einwilligung zur Verehelichung +davon abhängig, daß Anton Brömmelmann sich eidlich verpflichte, niemals +in seinem Leben eine Ansichtskarte zu benützen. Ein Schwur, den Anton +Brömmelmann um so eher ablegen und halten konnte, als er überhaupt +keine privaten Mitteilungen ernsten oder neckischen Inhalts jemals +zu Papier brachte, sondern <em class="gesperrt">nur</em> Geschäftsbriefe schrieb und im +Geschäftsverkehre die Ansichtskarte für durchaus unstatthaft hielt. +Der Oberpostsekretär holte übrigens für diese Gelegenheit seinen alten +Galadegen aus dem Schrank, eine sehr merkwürdige Waffe, die nach +halbstündigem sorgsamen Einfetten und anstrengendem Ziehen endlich auch +aus der Scheide fuhr. Auf die rostige Klinge mußte Anton Brömmelmann +feierlich die Schwurhand legen und den vom Oberpostsekretär persönlich +vorgesprochenen ebenso umständlichen als konfusen Eid mit lauter Stimme +wiederholen. Dann erst bekam er von der tief errötenden Annemarie den +Verlobungskuß und jenen gebrannten Haussegen, den der sommersprossige +Predigtamtskandidat unbegreiflicherweise verschmäht hatte.</p> + +<p>Die Ehe war nicht unglücklich.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p> + +<p>Annemarie hielt ihren Haushalt gut in Ordnung; und wenn Anton +Brömmelmann aus dem Geschäfte kam, so war sie bereit, seinen gehabten +Ärger mit aufmerksamer Teilnahme anzuhören, und schmierte ihm +Käsebrötchen dazu.</p> + +<p>Jeden Sonntag aß der Oberpostsekretär a. D. bei den beiden zu Mittag. +Es gab dann „falschen Hasen“ — weil dem Oberpostsekretär die +Vorderzähne fehlten — und der Geladene würzte das bescheidene Mahl +durch heftiges Schimpfen auf die k. k. Regierung, die keine seiner +Eingaben, die er nun selber schrieb, jemals beantwortete.</p> + +<p>Als er an einem Sonntag im Herbst wieder zum falschen Hasen kam, teilte +ihm Anton freudestrahlend mit, daß sie beide heute <em class="gesperrt">allein</em> essen +müßten, da Annemarie ihn heute morgens durch die Geburt eines Sohnes +erfreut habe und noch der Schonung bedürftig sei.</p> + +<p>Obgleich der Oberpostsekretär, wie er sich recht wohl erinnerte, bei +der Eheschließung der beiden mit einer solchen Möglichkeit gerechnet +hatte, kam ihm die Nachricht nun, da er, mit seinen Angelegenheiten +beschäftigt, die natürlichen Anzeichen des kommenden Ereignisses +völlig übersehen hatte, doch sehr überraschend. In der Freude seines +Herzens ging er eiligst einen notwendigen Einkauf zu machen; und da er +nicht recht wußte, was zu dieser Gelegenheit am passendsten erscheinen +könnte, kam er eine halbe Stunde später wieder mit einer Mandeltorte +und einem Bilderbuch, das für den ersten<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> Leseunterricht sehr +zweckentsprechend eingerichtet war. Dieses Buch legte die Wartfrau, +die wenig von Pietät hielt, unter das Gestell der Kinderbadewanne, das +einen zu kurzen Fuß hatte. Die Mandeltorte aber teilte sie mit der +Hebamme, die zufällig gerade, wie dies bei Hebammen das übliche ist, +ihren Geburtstag hatte.</p> + +<p>Im Nebenzimmer aber saß der Oberpostsekretär, dämpfte seine Stimme +zu einem diskreten Piano, das kaum mehr hörbar war, und fragte den +glücklichen Vater, der sehr wichtig und sehr zwecklos bald eine +Zuckerdose, bald einen Aschenbecher umhertrug:</p> + +<p>„Anton, <em class="gesperrt">wem</em> sieht’s ähnlich?“</p> + +<p>„Die Wartfrau meint: <em class="gesperrt">mir</em>,“ gab Anton schüchtern zurück.</p> + +<p>Er mochte nicht gestehen, daß er persönlich bei einer ersten Begegnung +mit seinem Sohn, die allerdings im Halbdunkel der Wochenstube +stattfand, keinerlei Ähnlichkeit hatte wahrnehmen können, vielmehr den +Eindruck gewonnen, anstatt eines Kopfes eine runzliche, nicht mehr ganz +frische Tomate auf dem Kissen zu sehen.</p> + +<p>Die Hebamme, die aus unbekannten Gründen immer heftig nach altem +Rotwein roch, kam herein und verkündete:</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Neun</em> und ein Viertelpfund! Eben gewogen. Es ist ein Mordskerl!“</p> + +<p>„Das soll er erst <em class="gesperrt">werden</em>!“</p> + +<p>Anton Brömmelmann hatte dieses vortreffliche<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> Wort gefunden und damit +stolz und tüchtig <span class="antiqua">in nuce</span> ein ganzes Erziehungsprogramm entrollt.</p> + +<p>Das <em class="gesperrt">eine</em> stand bei Anton Brömmelmann fest: der Junge sollte es +mal in jeder Beziehung <em class="gesperrt">besser</em> haben, wie er; sollte sich nicht +selbst die Zehen abtreten beim Gehen, keine lächerliche Figur in einem +schwarzen Gehrock spielen und seinen Namen nicht am Tage wie eine Last +und nachts wie einen Alp tragen. Das Geschäft — Gott behüte! — das +war nichts für den Jungen. Diese Überzeugung stand schon bei Anton +Brömmelmann fest, wenn er des Abends, aus dem Comptoir heimgekehrt, +zusah, wie im Soxhletapparat die sechs appetitlichen Fläschchen für +Nacht und Morgen hergerichtet wurden. Immer ein Strich Milch und zwei +Striche Wasser. Und jedesmal setzte seine besorgte Frage ein:</p> + +<p>„Kriegt der Junge auch nicht zu wenig Milch und zu viel Wasser?“</p> + +<p>Berthold wurde er getauft.</p> + +<p>Niemand in der Familie hieß so. Der Erfinder des Schießpulvers, +Berthold Schwarz, war der einzige dieses Namens, den Anton Brömmelmann +— natürlich nicht persönlich — kannte. Aber das war’s gerade: +Der Junge sollte einen <em class="gesperrt">aparten</em> Namen haben. Und wer konnte +das wissen — die Sache mit dem Schießpulver! ... Der Junge konnte +ein verdammt kluges Gesichtchen machen und hatte eine Art, das +rosig marmorierte Fäustchen in den Mund zu stecken, die <em class="gesperrt">hohe</em> +Intelligenz bewies. Und das <em class="gesperrt">Geschäft</em> sollte<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> ihm nicht den +schönen Namen und das schöne Leben verderben — das war immer der +Schluß von Anton Brömmelmanns reiflichen Erwägungen. Und damit all +dieses nicht geschehe, sollte der Bub’ keine Ahnung davon haben, +welcher <em class="gesperrt">Art</em> seines Vaters Geschäft war. Bis er dann zur Schule +kam, würde man schon sehen.</p> + +<p>Von nun an dachte Anton Brömmelmann nur daran, sein Geschäft zu +verkaufen.</p> + +<p>Er trat sich im Nachdenken noch emsiger auf die Füße, schlenkerte noch +heftiger mit den Affenarmen als früher und wechselte bogenlange Briefe +mit Reflektanten.</p> + +<p>An der verlangten Kaufsumme scheiterte es nie. Er hatte genug geerbt +und zurückgelegt und forderte einen Betrag, der für das flottgehende +Geschäft ein Spottpreis genannt werden mußte. Eben erst hatte der +Landtag eine größere Bestellung gemacht, und mit einer anonymen +Gesellschaft, die das öffentliche Wohl im Auge hatte, stand er in +Verhandlung.</p> + +<p>Aber <em class="gesperrt">eines</em> schreckte die Bewerber: Anton Brömmelmann stellte die +Bedingung, daß innerhalb fünf Jahren die <em class="gesperrt">Firma</em> geändert werden +und <em class="gesperrt">sein</em> Name mithin von Firmenschild, Briefbogen und Porzellan +<em class="gesperrt">verschwinden</em> müsse. Hier lag der Haken. Denn die Firma „Anton +Brömmelmann“ war eben als solche weit berühmt; und ob die Änderung des +Namens nicht einen beträchtlichen Rückgang des Geschäftes bedeuten +würde .... Zudem — man hatte das zum Beispiel bei Johann Maria Farina +erlebt — es könnte eine Konkurrenz<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> plötzlich einen Strohmann Namens +Brömmelmann auftreiben, der nun die Früchte jahrelanger Reklame anderer +mühlos pflückte....</p> + +<p>Schließlich aber wurde der Verkauf <em class="gesperrt">doch</em> perfekt.</p> + +<p>Ein Herr Heinrich <em class="gesperrt">Hinzelmann</em> hatte, wie er schrieb, „eine +weitläufige Tante beerbt“ und strebte, sich selbständig zu machen. +Er glaubte das nicht besser tun zu können, als indem er das Geld der +weitläufigen Tante in Anton Brömmelmanns weitberühmte Fabrikate steckte.</p> + +<p>Am fünften Geburtstag Bertholds wurde der Vertrag unterschrieben. Es +war ein großer Moment. Anton Brömmelmann war ganz heiser vor Aufregung +und schrieb unter das wichtige Schriftstück zum erstenmal in seinem +Leben seinen eigenen Namen falsch; nämlich mit nur <em class="gesperrt">einem</em> „m“ in +der Mitte. Annemarie stand neben ihn und bürstete in tiefer seelischer +Verlorenheit Herrn Hinzelmanns Zylinder sorgfältig <em class="gesperrt">gegen</em> den +Strich, was der Besitzer des Hutes mit großem Unbehagen mit ansah. +Doch wagte er es nicht, sie auf das Sinnlose und Unzweckmäßige dieser +Betätigung aufmerksam zu machen, da er befürchtete, irgendeine nicht +auf das Geschäft bezügliche Äußerung könne ihm noch in letzter Stunde +den ganzen vorteilhaften Handel verderben. So schlug er im Geiste den +Preis für einen neuen Zylinder mit auf die Kaufsumme und schwieg.</p> + +<p>Im Nebenzimmer aber saß der Oberpostsekretär, das Geburtstagskind auf +den Knien, und las die Korrekturen<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> einer geharnischten Eingabe „an die +k. k. Regierung, betreffend die durch den submissest unterzeichneten +Verfasser eklatant erwiesene Volksverdummung durch die Ansichtskarte“.</p> + +<p>Anton Brömmelmann atmete auf. Ihm war zumute wie einem unter dem +Verdachte schweren Raubmordes Verhafteten, der eben sein Alibi +lückenlos beigebracht hat.</p> + +<p>Nun galt es noch sein Haus verkaufen — das tat er mit kleinem Verlust +— und den Wohnort wechseln. Er zog nach Rasselsheim, einem Städtchen +ohne jeglichen landschaftlichen Reiz, das ihm nur dadurch aufgefallen +war, daß es — wie aus einer Statistik hervorging — die geringste +Kindersterblichkeit aufwies. Ein Gymnasium war auch da. Sogar ein +„humanistisches“, was Anton Brömmelmann für eine besondere, vom Staat +verliehene Auszeichnung hielt. Also!</p> + +<p>Bei der Wohnungssuche benahm sich Anton Brömmelmann etwas sonderbar. Er +besichtigte zunächst immer ein geheimes Kabinett und erweckte durch die +merkwürdig peinlichen Untersuchungen den Eindruck, als ob er hier die +reichsten und köstlichsten Stunden seines Lebens zu verbringen gedenke.</p> + +<p>Mit heimlicher Freude konstatierte er, daß die Rasselsheimer Wohnungen +nur in seltenen Fällen <em class="gesperrt">seine</em> Fabrikate mit dem verräterischen +Namen aufwiesen; und er mietete mit ingrimmiger Genugtuung eine +Wohnung, für die, wie das Porzellan an der<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> betreffenden Stelle +meldete, seine einst gefürchtete Konkurrenz das unentbehrliche +geliefert hatte ...</p> + +<p>Berthold wuchs heran.</p> + +<p>Der glückliche Vater ging völlig auf in den Jungen. Er zahnte mit ihm, +er fieberte persönlich, als der Bub die Masern hatte, ja er machte +— und nicht nur in der Einbildung — mit ihm den Keuchhusten durch, +konsumierte als leuchtendes Beispiel für den Jungen den abscheulichen +Schneckensaft und war stolz darauf, wenn er, blaurot im Gesicht vom +Husten, die Versicherung des Arztes hörte: das sei ein außerordentlich +seltener Fall, daß ein Erwachsener zum <em class="gesperrt">zweitenmal</em> vom +Keuchhusten befallen werde.</p> + +<p>Peinlicher als der Keuchhusten war das Latein.</p> + +<p>Anton Brömmelmann, der es nie recht vertragen hatte, lernte es mit dem +Sohn, <em class="gesperrt">für</em> den Sohn. Er stand mit dem absolutem Ablativ auf und +träumte vom Akkusativ cum Infinitiv; er übte Vokabeln und konsultierte +heimlich Eselsbrücken, war dem Sohn immer um drei Lektionen voraus, +kurz, er tat alles, um die fromme Täuschung aufrecht zu erhalten, daß +er alles das schon <em class="gesperrt">wisse</em>, was der Sohn unbedingt lernen müsse, +um ein edler Mensch und ein tüchtiger Bürger zu werden. Wenn Berthold +längst seinen gesegneten Kinderschlaf schlief, mußte die mitleidige +Annemarie den unglücklichen Gatten die Punischen Kriege überhören +und die entsetzlichsten, von den Karthagern verübten Greuel über +sich ergehen lassen. Und Sonntag zog sich Anton Brömmelmann in sein<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> +Studierzimmer zurück, um über den „Frühling“ nachzudenken oder über die +„Freuden des Eislaufs“, kurz über lauter Dinge, die seinem früheren +Leben sehr fern gelegen hatten und die jetzt als Aufsatzthemata des +Sohnes seine späten Mannesjahre erschreckten.</p> + +<p><em class="gesperrt">Zweimal</em> waren sie sitzen geblieben.</p> + +<p><em class="gesperrt">Sie.</em> Pluralis. Denn der Vater blieb <em class="gesperrt">mit</em> sitzen, fühlte +sich <em class="gesperrt">mit</em>schuldig; obschon er die Tanzstunde, die an der +Zerstreutheit des Sohnes die Hauptschuld trug, nicht mitgenommen hatte +und die Zigaretten, die dem armen Berthold nicht bekamen, persönlich +ganz gut vertragen konnte.</p> + +<p>Endlich kam das Maturum.</p> + +<p>Berthold, der ein hübscher, schlanker Bengel geworden war, nicht gerade +strotzend von Intelligenz, aber in seiner gesunden Frische ein ganz +lieber Kerl, ging in das Examen mit einer Siegermiene, als könne ihm +nichts passieren. Der Vater aber saß zu Hause und seufzte:</p> + +<p>„Die Mathematik — die Mathematik bricht uns den Hals. Du wirst sehen, +Annemarie, die Mathematik!“</p> + +<p>Und er verlangte Papier und berechnete Kegelschnitte stundenlang und +löste Gleichungen mit drei Unbekannten, die — wenn die Sache fertig +war — noch immer so gut wie unbekannt blieben, und ließ sich von all +den Aufgaben foltern, die der Sohn vielleicht ...</p> + +<p>Aber der Sohn kam nach Hause, strahlend, eine<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> Rose im Knopfloch und +sichtlich erhitzt von einem kleinen Frühschoppen. Er hatte bestanden. +Nicht gerade glänzend, aber was lag daran?</p> + +<p>Anton Brömmelmann spendierte deutschen Sekt zum Mittagstisch. Er stieß +mit dem Sohn an und hielt eine Rede, in der er sagte: er sei zwar +der Vater ... aber er müsse denn doch sagen ... und überhaupt habe +Demosthenes ganz recht gehabt, wenn er das schöne Wort gesprochen, das +ihm jetzt nicht einfalle ... und der große Liebig sei <em class="gesperrt">auch</em> ein +schlechter Schüler gewesen ... und Henrik Ibsen hätte „kaum genügend“ +in der Trigonometrie gehabt ... und das Leben sei zwar schwer, aber +schön ... und der Name Brömmelmann lege Pflichten auf ... jawohl, das +tue er ... und so hoffe er heute ... denn <em class="gesperrt">das</em> müsse die Jugend +immer hochhalten ... und dafür könne er keinen Geringeren zitieren, als +Cicero ... aber das <em class="gesperrt">wolle</em> er nicht ... denn er sei froh, daß er +all das Zeug jetzt vergessen könne ... denn ehrlich gesagt: zum Halse +sei’s ihm herausgewachsen ... und übrigens sei es Zeit, den Großvater +von der Bahn abzuholen ...</p> + +<p>Berthold bezog die Universität.</p> + +<p>Der Vater wollte keinen Druck auf ihn ausüben. Er solle studieren, was +er wolle. Theologe — gut; aber protestantischer. Arzt — gut; aber +nicht Spezialarzt für ansteckende Krankheiten. Jurist — gut; aber +nicht „Kameralia“ dazu. <em class="gesperrt">Zweierlei</em> zugleich, das gehe nicht. Mit +diesen Einschränkungen erlaubte Anton Brömmelmann alles. Mathematiker +war nicht zu befürchten.<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> Auch für das Sanskrit zeigte sich bei +Berthold keinerlei Neigung. Alle Ermahnungen schlossen:</p> + +<p>„Vergiß nicht, daß du mein <em class="gesperrt">Einziger</em> bist!“</p> + +<p>Berthold Brömmelmann vergaß das nicht.</p> + +<p>Als er nach dem ersten Semester seine Schulden beichtete, erwies es +sich, daß er immerzu daran gedacht haben mußte, daß er der „einzige“ +war. Außerdem war er „Hasso-Suebe“, trug einen farbigen Bierzipfel, +einen Zwicker und eine Tiefquart im Kinn, die dickrandig und tiefrot +war und an jene alten Wunden erinnerte, die eine Neigung haben „an der +Bidassoa-Brücke“ aufzubrechen. Und er roch nach Jodoform wie ein ganzer +Transportzug des Roten Kreuzes.</p> + +<p>Über die Richtung seines Studiums war er sich noch nicht schlüssig +geworden. In der Anatomie war ihm schlecht geworden. Bei den Pandekten +noch schlechter. In der Theologie störte ihn der heilige Geist, unter +dem er sich absolut nichts denken konnte. Und Mathematik kam noch immer +nicht in Betracht.</p> + +<p>Leider änderte sich dies kaum „positiv“ zu nennende Resultat seiner +Studien auch fürderhin nicht. Er schickte spaßhafte Bierkarten, fidele +Gruppenbilder und unbezahlte Rechnungen, begleitet von humoristischen +Briefen, nach Hause. Über eine Berufswahl aber ließ er sich weiter +nicht aus.</p> + +<p>Als ihn der Vater auf Annemaries Drängen einmal besuchte, kam der +alte Herr graugrün aussehend nach drei Tagen wieder. Er erinnerte +sich noch deutlich vieler junger Herren mit gelben Mützen,<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> die ihn +an der Bahn empfingen und mit fast königlichen Ehren auf einen sehr +merkwürdigen Aussichtspunkt kutschierten, wo man — und hier wurden +seine Erinnerungen undeutlich — erst eine Pfirsich-, dann eine +Ananasbowle trank. Es konnte aber auch umgekehrt gewesen sein. Wenn er +sich nicht täuschte, hatten sie dann alle ein wunderschönes Lied mit +erstaunlich vielen Versen gesungen, und dann — — — ja, man konnte +ihn totschlagen, aber ihm war’s, als ob dann irgend ein Fackelzug +stattgefunden hätte. Es konnte aber auch eine Beerdigung oder eine +Hochzeit gewesen sein. Ja selbst eine Kindstaufe hielt er manchmal für +nicht ausgeschlossen. Und was die Studienpläne Bertholds anbetraf — +man war <em class="gesperrt">nicht</em> dazu gekommen, darüber zu sprechen ....</p> + +<p>So war der Stolz des Hauses Brömmelmann im siebenten Semester, ohne daß +sein Studium sichtbare Früchte getragen.</p> + +<p>Da begab es sich, daß der vortreffliche Großvater in Neuenburg seinen +siebzigsten Geburtstag feierte. Unglücklicherweise hatte Anton +Brömmelmann sich kurz vorher den Fuß vertreten, das heißt er war mit +dem linken so außergewöhnlich kräftig auf den rechten getreten, daß der +Knöchel gelitten hatte.</p> + +<p>Annemarie, die treue Seele, machte ihm kalte Umschläge und konnte nicht +abkommen. Berthold fuhr also allein als bevollmächtigter Abgesandter +der Familie nach Neuenburg, seiner Geburtsstadt, die er noch niemals +betreten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span></p> + +<p>Als erstes Lebenszeichen kam — eine Ansichtskarte aus Neuenburg, die +der Großvater <em class="gesperrt">mit</em> unterschrieben.</p> + +<p>„Zeichen und Wunder!“ sagte Anton. „Der gute alte Herr unterschreibt +<em class="gesperrt">Ansichts</em>karten. Ja, ja, das Alter macht milder.“ Und eines +Zitats sich erinnernd, das er vor Jahren — Berthold saß in +Ober-Sekunda — aus einem Spruchbuch als köstliche Perle für den +schmückenden Schluß eines deutschen Aufsatzes gefischt, fügte er hinzu: +„Wie sagt doch Goethe so schön: Was man in der Jugend sich wünscht, das +hat man im Alter die Fülle.“</p> + +<p>Annemarie lächelte: „Papa hat sich doch in der Jugend keine +Ansichtskarten gewünscht.“</p> + +<p>„Nein aber — —“ Er fühlte selbst, daß er blödsinnig zitiert und +versuchte hinter einem schalkhaften Lächeln tiefen Sinn zu verbergen.</p> + +<p>„Nun <em class="gesperrt">lies</em> schon!“ drängte Annemarie.</p> + +<p>Und er versuchte zu lesen, was sonst noch auf der merkwürdigen +Karte stand. Aber außer den Worten „kalte Ente“ konnte er nichts +herausbringen.</p> + +<p>„Kalte Ente —“ meinte Annemarie kopfschüttelnd, „soll wohl ‚kalte +Hände‘ heißen.“ ...</p> + +<p>Anton Brömmelmann glaubte das nicht ....</p> + +<p>Mehrere Tage hörte man nichts weiter. Weder von dem Jubilar noch von +dem festlichen Abgesandten. Da plötzlich ein Brief, wahrhaftig ein +<em class="gesperrt">langer</em> Brief Bertholds.</p> + +<p>„Wie lieb von ihm!“ lobte die Mutter.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span></p> + +<p>Anton Brömmelmann mißtraute. „Er pumpt mich an!“ taxierte er.</p> + +<p>Und er las.</p> + +<p>„Liebe Eltern! Ihr werdet Euch gewundert haben. ... Eltern wundern sich +immer. Aber das wird noch besser kommen.“ —</p> + +<p>„Etwas konfus, was?“ schaltete Anton Brömmelmann ein und sah über die +Brille zu Annemarie; dann las er weiter:</p> + +<p>„Ich glaube manchmal, ich habe Euch Sorge gemacht. Vor allem +<em class="gesperrt">Dir</em>, lieber Vater. Na, du hast kein Geschäft, nicht wahr? Und +etwas muß der Mensch doch haben. So hattest Du <em class="gesperrt">mich</em>.“ —</p> + +<p>„Das ist ja eine Epistel, als sollte er gehenkt werden,“ meinte der +Vater. Aber die Mutter bedeutete ihm, weiter zu lesen.</p> + +<p>„Mit dem Studium — darüber machen wir uns nichts vor — war es nichts. +Mündlich einmal davon. Als Papa mich besuchte, wollte er durchaus nicht +davon sprechen ....“</p> + +<p>„Nanu?“ fragte Annemarie.</p> + +<p>Aber Anton Brömmelmann überhörte das und las weiter:</p> + +<p>„Ich stamme aus einer Kaufmannsfamilie. Ich weiß zwar nicht, +<em class="gesperrt">welcher</em> Art dein Geschäft eigentlich war, lieber Papa, aber es +war ein Geschäft, nicht wahr? Nun, ich glaube, ich würde mich auch +besser zum <em class="gesperrt">Kaufmann</em> eignen. Und so wirds kommen. Denn, um’s kurz +zu sagen, ich bin <em class="gesperrt">verlobt</em>.“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span></p> + +<p>Das Ehepaar Brömmelmann sah sich an, als ob ein geflügeltes Krokodil im +Zimmer sei. Keines brachte ein Wort heraus.</p> + +<p>Dann ergriff die resolute Mutter den Brief und — nun las <em class="gesperrt">sie</em> +zu Ende; las in einem Tempo, in dem nur eine Frau lesen kann, die der +größten Neuigkeit ihres Lebens auf der Spur ist.</p> + +<p>„Ich habe das süßeste, reizendste, entzückendste Mädel von der Welt +kennen gelernt .... Durch Großpapa. Der verkehrt mit den Eltern. Er +sagt, Ihr kennt sie auch und lacht immer ganz verschmitzt dabei. +Übrigens hat er immer noch die Marotte mit den Ansichtskarten ....“</p> + +<p>Der Teufel hole seine Ansichtskarten! Was ist das für ein Mädel?</p> + +<p>„Die Eltern haben ein Geschäft. Ein sehr <em class="gesperrt">gutes</em> Geschäft. +<span class="antiqua">NB.</span> Sie ist das <em class="gesperrt">einzige</em> Kind, heißt Mieze — ist das +nicht reizend? Mieze <em class="gesperrt">Hinzelmann</em>. Ihr müßt sie Euch so denken +....“</p> + +<p>Anton Brömmelmann saß erstarrt. „Hinzelmann, doch nicht <em class="gesperrt">unser</em> +....?“</p> + +<p>Der Blick der Mutter war bis zum Schluß des Briefes geflogen.</p> + +<p>„Das Geschäft, liebe Eltern, von dem ich oben sprach, ist ja ein +bißchen sonderbar. Lieber Gott, <em class="gesperrt">alles</em> kann nicht Poesie sein +in der Welt, nicht wahr? Es gibt auch Dinge, die ... Aber der alte +Herr Hinzelmann — übrigens ein famoser Kerl; <em class="gesperrt">fast</em> so nett, +wie <em class="gesperrt">mein</em> alter Herr — der meint: Geschäft ist<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> Geschäft. +Ich hab’ mit ihm gesprochen. Er ist <em class="gesperrt">sehr</em> einverstanden. +<em class="gesperrt">Seinen</em> Segen habe ich schon. Einzige Bedingung, ich muß später +das <em class="gesperrt">Geschäft</em> übernehmen....“</p> + +<p>Annemarie ließ den Brief sinken. Sie sah nach Anton Brömmelmann, der, +ein Bild schöner aber tiefer Resignation, in seinem Sessel saß.</p> + +<p>„Hast du gehört, Vater?“</p> + +<p>Er nickte bloß.</p> + +<p>Aber die treue Lebensgefährtin schien anzunehmen, daß der Schweigsame +zwar gehört, aber nicht verstanden habe. Sie legte ihm die Hand auf die +Schulter und rüttelte ihn sanft, als wolle sie ihn aus einem erst halb +überwundenen Schlummer zur Wirklichkeit wecken.</p> + +<p>„Anton — das Geschäft — <em class="gesperrt">unser</em> Geschäft — —“</p> + +<p>Die Züge des Versteinerten belebten sich. Den Lippen entfuhr ein +Zischlaut, wie ihn ungeduldige Lokomotiven knapp vor der Abfahrt hören +lassen. Dann bildete der Sprechapparat Worte, tonlos, mechanisch, wie +einem Uhrwerk gehorchend und ohne seelische Beteiligung:</p> + +<p>„Mutter <em class="gesperrt">dafür</em> bin ich ausgewandert, <em class="gesperrt">dafür</em> hab’ ich +<em class="gesperrt">Latein</em> gelernt und die punischen Kriege und habe Kegelschnitte +berechnet, damit mir ...“</p> + +<p>„Geh’, Alter!“ Die Mutter legte ihm den Arm um den Hals. „Wenn er sie +doch <em class="gesperrt">gar</em> so gern hat!“</p> + +<p>Aber Anton Brömmelmann dachte in diesem Augenblick nicht an den Sohn. +Er sah mit seines Geistes Augen den Vater, <em class="gesperrt">seinen</em> Vater voll +Stolz ein Zeitungsblatt<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> auseinander falten. Eine ganzseitige Annonce +im Tageblatt: „Urteile von Hygienikern, Professoren, Künstlern über +Anton Brömmelmanns weltberühmte ...“</p> + +<p>„Wir wollen ihm telegraphieren,“ mahnte die Mutter.</p> + +<p>„Ja, ja.“</p> + +<p>Anton Brömmelmann ermannte sich.</p> + +<p>„Ich will einen — Glückwunsch aufsetzen. Gib mir ein Stückchen +Porzellan — wollt’ ich sagen: ein Stück Papier.“</p> + +<p>Und Anton Brömmelmann sandte an die Adresse seines alten Geschäftes dem +beinah studierten Sohne seinen väterlichen Segen.</p> + +<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p126"> + <img class="w100 mbot3" src="images/p126.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span></p> + +<h2 class="trans" id="Der_rote_Esel" title="Der rote Esel Ein lyrisches +Intermezzo">Der rote Esel Ein lyrisches Intermezzo</h2> + +<figure class="figcenter illowe28" id="p127"> + <img class="w100" src="images/p127.jpg" alt="Titel: Der rote Esel; Ein + lyrisches Intermezzo"> +</figure> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span></p> + +<p class="p0 mtop2"><span class="initial">C</span>hristian Fürchtegott Gellert hat eine sehr schöne Geschichte von einen +grünen Esel zu erzählen gewußt. Ich maße mir durchaus nicht an, mit +Christian Fürchtegott Gellert in der Kunst zu fabulieren, konkurrieren +zu können. Aber eine Geschichte von einem Esel kann ich auch erzählen.</p> + +</div> + +<p>Gewöhnliche Esel sind, wenn ich mich nicht täusche, alle grau. +Christian Fürchtegott Gellerts Esel ist grün. Mein Esel aber ist rot. +Das mag einem Skeptiker — und wer ist in unserer Zeit nicht Skeptiker? +— ein bißchen unwahrscheinlich vorkommen, und Brehms Tierleben gibt +seinem Zweifel in der kleinen wie in der großen Ausgabe scheinbar +recht. Trotzdem ist, wie ich nachdrücklich bemerke, ein ungläubiges +Lächeln meiner Angabe gegenüber äußerst frivol und tadelnswert, denn +ich spreche nicht von einem wirklichen, lebendigen Esel, sondern meine +Geschichte handelt von einem Gummiesel. Und wer kann der Phantasie +eines Gummispielzeugfabrikanten Vorschriften machen? Warum, frage +ich, soll sich ein erfinderischer Kopf<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> nicht nach Analogie eines +<em class="gesperrt">grauen</em> Esels auch einen <em class="gesperrt">roten</em> Esel denken können?</p> + +<p>Ja, wenn ich mir die Sache recht überlege, muß ich sagen, ein roter +Esel hat ebensogut seine Existenzberechtigung wie ein grauer Esel, +und es erscheint mir unter gewissen Gesichtspunkten als ein Loch +im Schöpfungsplan, daß diese liebreiche und gern zu Vergleichen +herangezogene Tierklasse nicht auch eine rote Spielart aufwies, als +sie im Paradiesgarten erschien. Doch lassen wir die theologischen +Spitzfindigkeiten, die uns das Vergnügen an meiner kleinen Geschichte +verderben könnten, ehe sie begonnen.</p> + +<p>Es gibt also einen roten Gummiesel, eine kleine und zierliche +Miniaturausgabe des ergötzlichen Haustiers. Dieser kleine rote +Gummiesel ist vor nicht allzulanger Zeit in den Besitz meiner einzigen +Erbin übergegangen, die ihre Bewunderer noch jeden Morgen empfangen +darf, wenn sie selbst in der — Badbütte sitzt und sich damit +unterhält, ihre Umgebung so naß zu machen, als es sich in zehn Minuten +heißen Bemühens durch heftige Bewegungen zweier runder Beinchen und +zweier ebensolcher Ärmchen irgend bewerkstelligen läßt. Meine Erbin +ist nämlich noch kein Jahr alt. Und das nimmt der Historie jeden +unmoralischen Beigeschmack.</p> + +<p>Der rote Gummiesel ist ein sinniges Weihnachtsgeschenk, das meiner +Tochter von ihrem leiblichen Vater gemacht wurde.</p> + +<p>Ich hatte vier Wochen vor Weihnachten angefangen,<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> für das damals +sieben Monate alte Baby ein passendes Präsent auszuwählen. Spielzeug +von Holz, Stein, Wolle und Papier hatte ich schon in fünf Läden prüfend +durcheinander geworfen, ohne mich für ein bestimmtes entscheiden zu +können. Mein zärtliches Vatergemüt litt nämlich unsägliche Qualen unter +der fixen Idee, daß diese Spielzeuge alle <em class="gesperrt">abfärben</em> müßten, +wenn das Kind sie nach Kinderart in den Mund steckte. Daß diese +Farben furchtbare Giftstoffe enthielten, war für meine Phantasie eine +ausgemachte Sache; und daß ich mein Baby durch mein Weihnachtsgeschenk +in Lebensgefahr bringen könnte, war ein Gedanke, der mir fortgesetzt +den Hirnkasten umstülpte und den kalten Schauder über den Rücken laufen +ließ.</p> + +<p>Einmal träumte ich sogar, ich sei des verbrecherischen Versuches +angeklagt, meinem Kind einen ausgestopften Vogel, an dem Arsenik +klebte, in den Mund gesteckt zu haben, um das Vermögen des Onkels Ignaz +allein verprassen zu können. Nun hat Onkel Ignaz zwar kein Vermögen, +aber drei Kinder, die es erben würden, <em class="gesperrt">wenn</em> er’s hätte. Mein +Traum war also so dumm als möglich. Aber, wenn schon ich am nächsten +Morgen meiner Frau gegenüber mein Gestöhn in der Nacht ins Lächerliche +zu ziehen suchte, gab ich doch Befehl, daß die beiden ausgestopften +Möwen von dem Schrank im Eßzimmer unverzüglich entfernt und auf den +Boden geschafft würden.</p> + +<p>Meine Frau sprach zwar schüchtern die Vermutung aus, das in der +nächsten Zeit unser Baby noch kaum<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> auf den Schrank klettern werde, um +an den Möwen zu lutschen, aber ich blieb fest. Die beiden Möwen kamen +auf den Speicher; und ich bin erst vor einigen Tagen maßlos über die +dummen Vögel erschrocken, als ich die Dachfenster schließen wollte und +plötzlich die weißen, gespensterhaften Tiere unbeweglich in einer Ecke +sitzen sah.</p> + +<p>Weihnachten rückte immer näher.</p> + +<p>Es roch schon verdächtig nach verbranntem Lebkuchen, und meine Frau +duftete immer nach Zitronat, wenn ich sie küßte. Aber ein Geschenk +für mein Baby hatte ich noch immer nicht. Für die Bekleidung und den +Putz sorgten sicherlich die beiden Großelternpaare. Der unvermeidliche +silberne Löffel war ihm auch sicher.</p> + +<p><em class="gesperrt">Mein</em> Geschenk aber sollte das Kind erfreuen, wahrhaft beglücken. +Das tut doch ein silberner Löffel nicht! Es mußte etwas ganz +Außergewöhnliches sein.</p> + +<p>Ich lief sehr aufgeregt mit heißem Kopf und kalten Füßen durch die +verschneiten Straßen und sann dem „Außergewöhnlichen“ nach.</p> + +<p>Eine Peitsche — eine Puppe — ein Pferdelos — ein Glasschränkchen — +eine Taschenuhr — eine Gartenschippe — eine Stehlampe — ein Freßkorb +— ein Kanarienvogel — eine Niobe — ein Tintenfaß — ein Album — ein +Kistchen Zigarren — das ging doch alles nicht! Gott, was für herrliche +Präsente fielen mir ein für Nichtraucher und Raucher, für alte Jungfern +und hypochondrische Junggesellen, für Primaner und höhere Töchter, für +Kavallerieleutnants und Urgroßmütter!<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> Nur für mein siebenmonatiges +Töchterchen fiel mir um die Welt nichts ein; und ich stand auf dem +Punkte, mir selbst einige auserlesene Grobheiten zu widmen.</p> + +<p>Da plötzlich geschah „das Wunderbare“, wie Ibsens Nora sagen würde. Das +Wunderbare, um das ich mich nun seit Wochen unter ernster Gefährdung +meiner Gesundheit bemühte. Mit großen, lichtvollen Buchstaben stand +plötzlich über dem Chaos in meinem Gehirn der erlösende Satz: Ich +schenke ihr einen roten Esel, einen roten Gummiesel!</p> + +<p>Wie diese Erleuchtung mir so plötzlich kam? Dafür gibt es eine +übernatürliche Erklärung und eine natürliche. Die übernatürliche +Erklärung lautet: „Wahre Erleuchtungen kommen immer plötzlich und von +oben,“ die natürliche aber besagt: „Ich hatte den roten Esel eben +gesehen.“</p> + +<p>Ja, er stand in ganzer Wildheit und Schönheit zwischen Püppchen mit +kurzen Röcken, Hampelmännern, Klistierspritzen und anderem, teils +erfreulichem, teils nützlichem Hausgerät im Erker eines Gummigeschäfts. +Wie Romeo seine Julia liebte vom ersten Augenblick süßen Schauens an, +so wußte ich vom ersten Blick, der dieses Abbild bescheidener Sanftmut +gefunden: Dieser rote Esel ist das einzige wahrhaft würdige Geschenk, +das ein Vater seiner einzigen und darum auch ältesten Tochter machen +kann!</p> + +<p>Als ich in dem Laden stand, erwies sich’s, daß dem liebenswürdigen +Verkäufer das Hervorkramen des<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> roten Freundes aus dem Erker viele +Mühe und wenig Freude bereiten mußte. Er empfahl mir darum einen +gelben Ziegenbock mit vieler Wärme, ja, er war sogar geneigt, mir zwei +Gummistöpsel drein zu geben, wenn ich mein Gelüste nach dem roten Esel +bezwingen und mich für den Ankauf des gelben Ziegenbocks entscheiden +könnte.</p> + +<p>Aber wer kennt die Gefühle eines Vaters, der für sein Kind den Freund +gewählt hat! Ich <em class="gesperrt">hatte</em> gewählt und ließ mich selbst durch die +glänzende Offerte dieses koulanten Geschäftsmannes, der elastisch war +wie sein Gummi und beständig lächelte, wie ein Äginet, nicht umstimmen.</p> + +<p>„Ich bitte um den roten Esel,“ sagte ich fest.</p> + +<p>Der Jünger Merkurs kroch nun seufzend in den geräumigen Erker.</p> + +<p>Sehr zur Belustigung der draußen versammelten Jugend fielen ihm +zunächst einige bunte Kopfbälle auf den Schädel und ergingen sich +dann in scherzhaften Sprüngen über den Boden. Dann trat er in eine +Bettpfanne, aus der sich der Fuß nicht ohne Schwierigkeit befreien +ließ, und stieß einige Rollen Linoleum gegen die Scheiben, was ihm +von draußen geräuschvolle Ovationen eintrug, die er mit verächtlichen +Worten ablehnte.</p> + +<p>Ziemlich ergrimmt, mit derangierter Frisur und sehr staubigen Händen, +aber noch immer lächelnd, entstieg er schließlich dem Schaukasten und +brachte meinen roten Esel richtig mit.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span></p> + +<p>Es stellte sich zu meinem namenlosen Entzücken heraus, daß das seltene +Gummitier, dank einer sinnreichen Mechanik, wenn man ihm den Bauch +einquetschte, sogar einen kurzen, pfeifenden <em class="gesperrt">Ton</em> von sich +geben konnte, der zwar jeder Lieblichkeit entbehrte, auch den Eseln +sonst nicht eigentümlich ist, aber trotzdem meinen Stolz auf dieses +merkwürdige Geschenk ins Ungemessene steigerte.</p> + +<p>Ein Siegerlächeln auf den Lippen, kam ich, meinen Schatz behutsam in +ein verschwenderisch großes Stück Papier gehüllt, nach Hause.</p> + +<p>Die Suppe schmeckte seltsamerweise heute nach Zitronat, was bei Suppen +kein sympathischer Geschmack ist.</p> + +<p>„Aber, Eduard, denke doch, vor Weihnachten!“ sagte meine Frau +vorwurfsvoll, da sie mein wohl nicht allzu entzücktes Gesicht gesehen.</p> + +<p>„Natürlich! Vor Weihnachten!“ gab ich vergnügt zurück, dachte an meinen +köstlichen Gummiesel und löffelte die Suppe, die immer noch nach +Zitronat schmeckte, bedächtig aus.</p> + +<p>Weihnachten kam.</p> + +<p>Ich hatte goldene Finger vom Nüssevergolden und ging den ganzen Tag +sehr wichtig und sehr zwecklos mit dem Christbaumanzünder im Arm mit +feierlichen Schritten umher, mich immer auf meine schwierige Aufgabe +vorbereitend.</p> + +<p>Eine Menge Verwandter aller Jahrgänge lief in den Zimmern eilfertig und +geräuschvoll durcheinander.<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> Sie waren alle erschienen, um zu sehen, +„was Baby für Augen machen wird“. Ich sah ihnen aber an ihren Augen an, +daß jedes von ihnen überzeugt war, <em class="gesperrt">sein</em> Geschenk werde Baby am +meisten zusagen.</p> + +<p>Ich lächelte hochmütig. Stand doch schon der rote Gummiesel bereit, und +der — das wußte ich, als ob’s im Katechismus stände — war einfach +nicht zu übertreffen, einmal durch seine ureigene Schönheit, durch die +Reize von Figur und Farbe, und zum zweiten als Geschenk des leiblichen +Vaters!</p> + +<p>Die Sache kam leider anders!</p> + +<p>Baby in langem Spitzenkleidchen auf dem Arm der Mutter ins Festzimmer +eingeführt, betrachtete eine Weile mit sichtlichem Erstaunen den hohen, +lichtergeschmückten Baum — was beide Großmütter, die in atemloser +Spannung, mir den Platz versperrend, dabeistanden, als ein untrügliches +Zeichen unerhörter geistiger Befähigung begrüßten. Dann aber griff es +seiner Mutter meuchlings in die Haare — was sofort als Betätigung +einer in so zartem Alter bewunderungswürdigen Energie gedeutet wurde. +Und schließlich gewahrte es <em class="gesperrt">mich</em> und — <em class="gesperrt">lachte</em>.</p> + +<p>Ich war natürlich sehr stolz, bahnte mir einen Weg zu dem lieben +Blondköpfchen und begann ihm mit großer Beredsamkeit in zuvorkommender +Weise seine Geschenke zu erläutern.</p> + +<p>„Hier, mein Goldkind, die Windelhöschen von der Großmama, und hier die +hübsche Veilchenwurzel mit silbernem Griff, auch von der Großmama. Ja, +du<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> hast eine gute — nein, was sag’ ich, du hast <em class="gesperrt">zwei</em> gute +Großmamas! Hier, mein Liebling, Kleidchen von der anderen Großmama. Und +der Löffel, natürlich auch da, der schöne silberne Löffel. Und hier das +Hütchen von der guten Mama und — ja, jetzt paß auf, mein Schatz, sieh +hier das prächtige, rote Eselchen! Das — ist — von — Papa!“</p> + +<p>Der Kreis der Verwandten nickte beifällig.</p> + +<p>„Er hat’s ganz allein ausgesucht,“ kommentierte meine Frau.</p> + +<p>Ein Gemurmel bewundernden Beifalls über mich und den roten Esel drang +mir wohltuend ans Ohr.</p> + +<p>Und das Baby?</p> + +<p>Ja, das war merkwürdig mit dem Kind. Nicht einen Blick warf es auf die +Herrlichkeiten, die ihm das Christkind bescherte. Es hatte auf meinem +Vorhemd den goldenen Hemdenknopf entdeckt und ging auf in Bewunderung +dieses merkwürdigen, glitzernden Phänomens.</p> + +<p>Ich ließ den Esel quietschen, bis meine Damen sich die Ohren zuhielten +und mein Schwiegervater mich im Namen aller Heiligen beschwor, den +Unfug sein zu lassen, weil er sonst Zahnschmerzen bekäme, noch bevor er +von unsern Lebkuchen gekostet. Das Baby aber hörte nicht auf die Töne, +sondern beobachtete unausgesetzt den interessanten Hemdenknopf, der die +Brust seines Vaters zierte.</p> + +<p>Als ich Miene machte, mich und damit zugleich das Objekt seiner +Bewunderung von dem Baby zu<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> entfernen, begann das Kind ein +jämmerliches Geschrei. Beide Großmütter fanden mein Benehmen dem Kind +gegenüber „barbarisch“, eines zivilisierten Mannes durchaus unwürdig. +Und die Familie ruhte erst, als ich mich und den heißgeliebten Knopf +wieder vor das Kind postierte und mir von den naßgelutschten Fingerchen +feuchte Bahnen über meine frische Hemdenbrust zeichnen ließ.</p> + +<p>Hinter mir blies mein Schwiegervater die Lichter auf den Tannenzweigen +aus. Was mich sehr beunruhigte, da meine Furcht vor einem Gardinenbrand +so groß ist, daß sie sprichwörtlich in unserer Familie werden konnte.</p> + +<p>Bis Baby zur Ruhe gelegt wurde, hatte es nur Sinn für meinen +Hemdenknopf, den ich innerlich, obwohl er von Gold war, zu allen +Teufeln wünschte. Ich hatte den verdammten Knopf schon so <em class="gesperrt">oft</em> +getragen, ohne daß Baby geruhte, ihn zu bemerken. Und nun gerade an +Weihnachten mußte dieser alberne, protzige Kerl da auf meiner Brust dem +Kinde ins Auge stechen! <em class="gesperrt">Zu</em> dumm!</p> + +<p>Einsam und verlassen aber stand drin im Bescherzimmer unter dem +Tannenbaum mein Stolz, meine Freude, mein genialer Einfall, mein Retter +aus Nöten, mein außerordentliches Festgeschenk, diese Seltenheit mit +Musik: der rote Gummiesel ...</p> + +<p>Für jeden, der logisch denken gelernt hat, ist es ganz +selbstverständlich, daß ich an den folgenden Festtagen den miserablen +Knopf durch eine üppige Krawatte<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> verdeckte und das Baby nunmehr mit +seinem roten Esel zu befreunden suchte. Ich ahnte nicht, welchen +Schmerz mir das ungetreue Tier, das ich ins Herz meiner Tochter zu +schmeicheln emsig bemüht war, noch bereiten sollte!</p> + +<p>Baby machte in diesen Tagen die ersten Sprechversuche. Mutter und Vater +lauschten verhaltenen Atems entzückt dem endlosen Kauderwelsch, das +von dem lieben Kindermäulchen aus den einfachen Silben „Pa“ — „Ma“ +und „Da“ zusammengesetzt wurde. Im Wägelchen lag die Kleine unter dem +Christbaum, fast selbst wie ein niedliches Christgeschenk, und übte +sich ohne Ermüden in ihrer Sprache, die allerdings noch für den Satz +des Fürsten Talleyrand, daß die Sprache dazu da sei, die Gedanken zu +verbergen, als Beweis angeführt werden konnte.</p> + +<p>Ich benutzte meine freie Zeit eifrig dazu, dem Baby beizubringen, +die schwierige Silbe „Pa“ ohne jede Beimischung anderer phonetischer +Kunststücke zweimal, nur zweimal, rasch hintereinander zu setzen, +wodurch das Wort „Papa“ entstehen sollte. Leider ging das +autodidaktische Bestreben des kleinen Dickkopfs lange seine eigenen +Wege; entweder wiederholte das Baby die verlangte Silbe <span class="antiqua">ad infinitum</span> +oder es stieß sie zum mindesten fünfmal rasch hintereinander hervor. +Beides war unerwünscht.</p> + +<p>Da ließ endlich mein erfinderischer Geist den roten Gummiesel in die +Belehrung und Erziehung tätig eingreifen. Immer wenn das schöne Wort +beginnen und<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> wenn es enden sollte, ließ ich den Esel durch energisches +Eindrücken seiner Bauchwände mörderisch aufquieksen, und siehe da: es +ging! Baby sagte deutlich: „Pa—pa“.</p> + +<p>Das heißt, eigentlich war die Sache so: „Quieks“ machte der Esel, +„Pa—pa“ begann das Kind, „Quie—i—i—i—i—ks“ endigte der Esel. Das +Baby staunte und schwieg. So ward das Wort Papa geboren!</p> + +<p>Überrascht und hochbeglückt von dem Erfolg kam ich mit meiner Frau +überein, daß die beispiellose Gelehrsamkeit unseres Kindes noch heute +einem größeren Kreis von Verwandten demonstriert werden müsse. In einer +Großstadt hat man seine Leute ja rasch beisammen! Wozu hat man das +Telephon?</p> + +<p>Schon nach einer halben Stunde waren, obgleich ich mich einmal +irrtümlich längere Zeit mit einem Sargmagazin und ein anderes Mal mit +einem Schweinemetzger, der sehr grob war, verbunden sah, so ziemlich +alle Verwandten zum Tee geladen, mit Ausnahme einer alten Tante, die im +gewöhnlichen Verkehr sehr wenig und am Telephon gar nichts hörte, wenn +schon sie leidenschaftlich gern telephonierte. Diese Tante suchte ich +per Droschke auf und auch sie versprach zu kommen.</p> + +<p>Es war ordentlich feierlich, als wir in zwei dichten Reihen am +Nachmittag gegen 5 Uhr um Babys gelben Korbwagen standen.</p> + +<p>Ich hatte meinen Platz ganz vorne genommen und<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> wurde von allen sehr +respektvoll behandelt. War ich es doch, der dieses erstaunliche +Erziehungsresultat erzielt hatte und die Vorführung leiten sollte.</p> + +<p>Ich befahl allen durch eine gebietende Handbewegung lautlose Stille an +und bat meine Frau, mir den Gummiesel vom Tisch zu reichen, den ich in +meiner Vergeßlichkeit dort hatte liegen lassen.</p> + +<p>„Der Gummiesel, wo ist der Gummiesel?“ ging es durch die Zuschauer.</p> + +<p>Mein Schwiegervater aber machte die unnütze Bemerkung: „Braucht’s denn +den roten Gummiesel, um — Papa zu sagen?“</p> + +<p>Ich weiß nicht warum, aber dieser Ausspruch berührte mich peinlich. +Doch wurde ich rasch wieder sehr vergnügt gestimmt, als das auserlesene +Kunststück über alles Erwarten prächtig gelang.</p> + +<p>„Quieks“ machte der Esel, „Pa—pa—“ begann das Baby, +„Quie—i—i—i—i—ks“ endigte der Esel in schrillem Mißklang rasch den +kurzen, aber ergötzlichen Dialog.</p> + +<p>Man beglückwünschte mich stürmisch, küßte mich und das Kind mit viel +Gefühl, bis das Kind schrie und ich große Lust hatte, auch zu schreien.</p> + +<p>Ein bildschöner Dompteur in fleischfarbenem Trikot und +Schuppenpanzerhöschen kann nicht <em class="gesperrt">so</em> gefeiert werden, wenn er +nach der Dressur den Käfig der Löwen und Königstiger verläßt, die auf +seinen Wink durch brennende Pechreifen gesprungen sind.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span></p> + +<p>Ich war maßlos stolz auf das Kind, auf mich und auf den roten Esel.</p> + +<p>Nach dem Tee zog mich mein Schwiegervater mit feierlichem Ernst in eine +Fensternische.</p> + +<p>„Sag’ mal, Eduard,“ begann er in einem fast beleidigend mitleidigen +Ton, „glaubst du, daß das Kind auch ‚Papa‘ sagt, wenn es den — +<em class="gesperrt">andern</em> nicht sieht?“</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Welchen</em> — andern?“</p> + +<p>„Nun, den roten Gummiesel.“</p> + +<p>Ich erschrak, faßte mich aber sofort wieder, und den alten Herrn mit +einer entrüsteten Armbewegung in den Blumentisch schiebend, ging ich an +ihm vorbei und sprach nur die geflügelten Worte: „Es lernt’s!“</p> + +<p>Das war nun leider eine Täuschung meinerseits.</p> + +<p>Der alte Herr hatte recht gehabt, wie ich am nächsten Morgen erfahren +sollte. Ich hätte es gern noch am Abend erprobt, aber meine Frau +überzeugte mich von der Ruchlosigkeit meines Vorhabens, dem armen Kind +am späten Abend „noch das Gehirn anzustrengen“. Am nächsten Morgen +aber, wie gesagt, stand ich nach wenig erquicklicher Nacht früher auf +und probierte.</p> + +<p>Richtig, das Baby sagte zu dem roten Esel „Papa“, sobald es seiner +ansichtig ward. Mich aber ignorierte es gänzlich, wenn ich allein kam. +Ja sogar mein goldener Hemdenknopf machte keinen Eindruck mehr.</p> + +<p>Tief bekümmert zog ich meine Frau ins Vertrauen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p> + +<p>Ich war sehr niedergeschlagen und kam mir nicht anders vor, als der +unglückliche König Midas, da ihm die Ohren erstaunlich über den Kopf +wuchsen.</p> + +<p>Meine Frau zweifelte noch. Ein Versuch erwies die unumstößliche, +traurige Wahrheit.</p> + +<p>Wir beratschlagten und sprachen dabei französisch, was zwar die +Verhandlungen nicht vereinfachte, aber immerhin die Garantie bot, daß +unser Kindermädchen, das ab- und zuging, nicht hinter das peinliche +Geheimnis kam.</p> + +<p>Zunächst — darin waren wir einig — mußte das Baby dieses bedauerliche +Kunststück wieder verlernen. Dazu war eine sofortige Verbannung des +roten Esels die erste, die unerläßliche Bedingung. Dann mußten die +lieben Anverwandten beruhigt werden, die den Repetitionen zweifellos +häufig beiwohnen wollten. Und endlich mußte meinem Schwiegervater eine +Erklärung an Eides Statt abgenötigt werden, daß er lieber sich die +Zunge abbeißen, als die Geschichte von dem roten Esel am Stammtisch zum +besten geben wollte.</p> + +<p>Diese drei Verhaltungsmaßregeln wurden denn auch befolgt.</p> + +<p>Zur Verwunderung der lieben Anverwandten hatte Baby plötzlich +das schwierige Wort wieder vergessen, und der rote Esel war — +seltsames Zusammentreffen — zur selbigen Zeit auf rätselhafte Weise +verschwunden ...</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span></p> + +<p>Wenn ich im verborgenen Schubfach meines Stehpultes zuweilen den +vergeblichen Versuch mache zu „ordnen“, fällt mir immer der rote Esel +in die Hände.</p> + +<p>Die Gefühle des Ärgers und der Enttäuschung sind im Herzen verflogen, +und ich versenke mich lächelnd in den Anblick des seltenen Tieres. Ich +beschaue es mit jener behaglichen Freude, wie sie die Erinnerung an +überstandene schwere Prüfungen zu schenken liebt.</p> + +<p>Wenn dann aber plötzlich nebenan die Stimme meines Babys ertönt, +dann klappe ich den Pult zu wie ein ertappter Verbrecher, spähe nach +allen Seiten umher, ob auch niemand meine Gedanken belauscht hat und +betrete dann mit gut gespielter Ahnungslosigkeit, die Hände in den +Hosentaschen, einen Walzer pfeifend, das Kinderzimmer.</p> + +<p>Baby streckt die lieben, dicken Händchen nach mir aus und ruft: „Papa!“</p> + +<p>Ich aber lächele verschmitzt und bin stolz, daß ich doch recht +hatte, als ich meinen Schiwegervater in den Blumentisch drückte und +zuversichtlich behauptete:</p> + +<p>„Es <em class="gesperrt">lernt’s</em>!“</p> + +<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p144"> + <img class="w100 mbot3" src="images/p144.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p> + +<h2 class="trans" id="Des_letzten_von_Birkowitz" title="Des letzten von +Birkowitz letztes Fest">Des letzten von Birkowitz letztes Fest</h2> + +<figure class="figcenter illowe28" id="p145"> + <img class="w100" src="images/p145.jpg" alt="Titel: Des letzten von Birkowitz + letztes Fest"> +</figure> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p> + +<p class="mtop2">„... und schließlich: man bekommt doch nicht Kinder, bloß um ihnen +Gutes zu tun.“</p> + +<p>Damit schloß er immer seine Beweisführung gegen seine eigene +ungestillte Sehnsucht nach lebendiger Jugend, nach Nachwuchs, nach +Menschlein mit stahlblauen Augen, wie er, und seinetwegen auch mit der +klassischen Nase seiner Frau.</p> + +</div> + +<p>„Man hat ja überhaupt gar keine Ahnung, wie sie wachsen und sich +entwickeln werden. Sind es Jungens — pfui Deubel, das verdammte Latein +und später ’nen Ekel von Oberst, saudumme Rekruten und hartmäulige +Remonten ... Denn Kavalleristen müssen die Kerls werden. Versteht sich! +Und sind es Mädels, dann diese dämliche Erziehung mit Christkind und +Klapperstorch und französischer Konversation; und nachher wegen eines +aufgewirbelten Schnurrbarts und eines kecken Männerlachens hinter +gesunden Zähnen geht so was — natürlich nach obligatem Vatersegen, +Trauung und Hochzeitsschmaus im Kaiserhof zu 25 Mark das trockene +Kuvert — auf und davon. Irgendwohin ans andere Ende der Welt. Und +schließlich ein verzweifelter Brief:<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> Der Kerl trinkt und verjuckert +die Mitgift; und die ganzen schönen Manieren waren bloß Politur des +Bräutigams, hinter der ein roher Rüpel steckte ...“</p> + +<p>Klaus Joachim von Birkowitz konnte ganz wütend werden, wenn er sich so +ausmalte, in wie rüde Hände eines seines Töchterlein, die er gar nicht +hatte, fallen konnte.</p> + +<p>Man erspart sich vieles und — den andern, das war das Ende seiner +philosophischen Betrachtungen in dieser Richtung. Und der Name? Pah, +die Mädels hätten ihn doch abgestreift wie ’nen alten Handschuh, +umgetauscht ohne zu muxen. Oder in einem Damenstift erlöschen lassen. +Und die Jungens — weiß der Himmel, ob die verdammten Bengels das +Wappen noch blank gehalten hätten. Er hatte neulich mal eine Statistik +gelesen über den Prozentsatz der Adligen in der Sozialdemokratie. Und +wenn alle die Adligen Kellner und Schuhputzer europäischer Abkunft, +von denen die demokratischen Zeitungen alle paar Wochen hohnlächelnd +berichteten, wirklich da drüben auf dem üblen Proleten-Kontinent +existierten, dann war es schlechterdings unmöglich, sich zwischen +Neufundland und Kalifornien die Stiefel auch nur ein <em class="gesperrt">einziges</em> +Mal von einem Bürgerlichen wichsen zu lassen.</p> + +<p>Das fehlte gerade noch, daß der letzte Enkel jenes Klaus Bitterolf von +Birkowitz, der bei Malplaquet, durch die rechte Hand geschossen, die +Zügel mit den Zähnen nahm und am Prinzen Eugen vorbei als erster in die +Franzosen ritt, irgend so einem dickwanstigen<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> Bierbrauer von St. Louis +für ein schäbiges Trinkgeld die Unterhosenbändel in die Zugstiefel +stopfte! ...</p> + +<p>Manchmal kam ihm ja auch der schüchterne Gedanke, diese Söhne seines +Blutes, zu deren Lieferung sich seine Gattin Ethel in langer, +chancenreicher Ehe nicht entschließen konnte, wären bedeutende Menschen +geworden, Kriegshelden, wie jener Klaus Bitterolf von dem Malborough +— sogar auf englisch! — nach der Schlacht gesagt haben sollte: „Wie +geht es Ihnen, mein Braver?“ Oder — hier war seine Phantasie schon +unsicherer — große, verdienstvolle Gelehrte, wie jener allerdings +einer Nebenlinie entsprossene Hans Christoph von Birkowitz, der +laut verläßlicher Chronik zu Marburg dabei stand, als Dionys Papin +den nützlichen Papinschen Topf erfand. Bei welcher Gelegenheit dem +helfenden Schüler allerdings ein splitternder Teil des den Topfdeckel +verschließenden Bügels ins Auge gesprungen sein soll, so daß er auf +dem einzig erhaltenen Kupferstich mit einer unschönen Binde über +dem rechten Auge dargestellt erscheint. Und wenn Klaus Bitterolf +von Birkowitz sich des entstellten Gesichtes dieses ruhmreichen +Ahnherrn entsann, so war er dem Himmel wieder dankbar, der es seinen +Söhnen verwehrt hatte in die Erscheinung zu treten und aus ererbter +unstillbarer Wißbegier gefährlichen Experimenten sehr berühmter aber +auch sehr herzloser Gelehrter persönlich beizuwohnen.</p> + +<p>Wenn er jemals Ethel gegenüber etwas merken ließ von jenen so stillen +wie unerfüllten Wünschen<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> nach Kindern, gleichviel welchen Geschlechts +und welcher Veranlagung, so pflegte die Gattin an ihrem Halse zu +fühlen, ob die Brosche noch saß, die Ringe an der sorgfältig gepflegten +Hand spielen zu lassen und mit schelmischem Lächeln zu trösten:</p> + +<p>„Aber geh, schau, du hast doch den Tobby!“</p> + +<p>Und das war richtig, er <em class="gesperrt">hatte</em> den Tobby.</p> + +<p>Und es war auch keinerlei Gefahr, daß er den Tobby eines Tages +<em class="gesperrt">nicht</em> mehr haben könnte. Denn Tobby war einfach unsterblich. +Unsterblich im Sinne der Königin von Frankreich. „<span class="antiqua">Le roi est mort — +vive le roi!</span>“</p> + +<p>Tobby war ursprünglich ein Wachtelhündchen gewesen, das Klaus Bitterolf +von Birkowitz seiner Braut Alice Sternheim — die sich aus nie recht +aufgeklärten Ursachen vom Tage ihrer Verlobung mit dem hübschen, +schlanken Kürassierleutnant „Ethel“ nennen ließ — als Brautgeschenk +verehrt hatte. Ein mehr gut gemeintes als nützliches Präsent, da +Tobby, der in minder vornehmer Umgebung, nämlich im Stall eines +Droschkenkutschers aufgewachsen war, die Perserteppiche der Wohnung +des Bankiers Sternheim mit Vorliebe zur Erledigung von unerfreulichen +Geschäften benutzte, deren Besorgung in einem Pferdestall weniger +peinlich auffällt.</p> + +<p>Während Klaus Bitterolf von Birkowitz mit Ethel auf der Hochzeitsreise +war und ihr mit leise vom Gähnen zitternden Nasenflügeln aus einem +gewissenhaften Katalog die Schätze der Uffizien vorlesend erläuterte:<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> +Filippo Lippi, Sandro Boticelli, Fra Angelico, Fra Bartolomeo und +von einer thronenden Madonna zur anderen ging, wurde Tobby bei +einem Oberförster a. D. ernsthaft zur Stubenreinheit erzogen. +Als die Jungvermählten wiederkamen, die Köpfe voller Namen von +Pallazi, Meisterwerken und Nationalgerichten, und in den Kleidern +den Weihrauch sämtlicher Kirchen von Florenz, Bologna, Ferrara und +Venedig, empfing sie Tobby auf den Hinterfüßen zwischen zwei kostbaren +Blumenarrangements im Salon sitzend, ein Seidenband um den Hals, ein +vom Schwiegervater selbst — bezahltes Gedicht im Maul und im einzelnen +und ganzen das erfreuliche Bild der angenehmsten Wohlanständigkeit.</p> + +<p>Tobby blieb Hausgenosse in der jungen Ehe, bis er — im neunten Jahre +seiner Zugehörigkeit zum Haushalt — Spuren lästigen Alters zu zeigen +begann. Ethel aber hielt das Alter bei Menschen und Tieren für etwas +unanständiges, dessen Anblick sich das in Jugendfröhlichkeit genießende +Geschlecht durchaus fernhalten müsse. Und als es selbst Klaus Bitterolf +von Birkowitz nicht mehr leugnen konnte, daß Tobby, dessen Gesicht +nachließ, den Besuchern, deren es viele gab, wider die Beine lief +und zu Zeiten, besonders bei Regenwetter, einen recht üblen Geruch +verbreitete, willigte er schweren Herzens in seine Entfernung.</p> + +<p>Er wurde einem Nähfräulein geschenkt, die selbst über die Blüte der +Jahre hinaus war, an Tobbys lauten Träumen und starkem Tierparfüm +keinen Anstoß<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> nahm und sich durch eine rührige in den Gesindestuben +betriebene Agitation gegen die Vivisektion als zuverlässige Pflegerin +des Alternden empfahl.</p> + +<p>Am selben Tage aber, da Tobby I, ahnungslos und durch ein Schinkenbrod +listig bestochen, dem alten Fräulein in die Droschke folgte, zog Tobby +II bei Birkowitzens ein. In Gestalt eines afrikanischen Windhundes, +der gar keine Haare auf der schwarzen Haut hatte, und immer, selbst im +Hochsommer, mit eingekniffenem Schwanz, hängenden Ohren und zitternden +Beinchen den Anschein erweckte, als sei er eben dabei zu erfrieren. +Tobby II wurde nach sieben Jahren schon — aus ähnlichen Gründen, wie +Tobby I — dem Zoologischen Garten geschenkt, der ihn im geheizten +Raubtierhaus einer jungen Löwin zum Gespiel gab, die ihn zunächst +innigst liebte und zwei Monate später das Spiel mißverstand und bloß so +aus Spaß auffraß.</p> + +<p>Tobby III war ein Köter unbestimmbarer Rasse, der angeblich aus Island +stammte, aber eigentlich nur durch zwei Merkwürdigkeiten auffiel: durch +seine phänomenale Dummheit und seine Vorliebe für rohes Obst.</p> + +<p>Als er am Kern einer gemausten Aprikose erstickt war, wurde er durch +Tobby IV ersetzt, einen Skye Terrier, der sehr häßlich und sehr teuer +war, da er angeblich wundervoll für die Otterjagd dressiert war; +eine Kunstfertigkeit, die er leider in den Birkowitzschen Salons +nicht verwerten konnte. Ein Lyriker, der zu<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> jener Zeit viel im Hause +verkehrte und für Ethel geradezu wahnsinnige „Kostümträume“ (wie er das +nannte) entwarf, verfocht die Ansicht, daß Tobby in einer instinktiven +Einsicht seinen Beruf verfehlt zu haben Selbstmord beging, als er — +wie andere behaupten, aus blinder Gefräßigkeit — unter den schweren +Wagen einer renommierten Delikateßhandlung kam und vom Hinterrad +erledigt wurde.</p> + +<p>So löste ein Tobby den anderen ab. Immer ein junger Tobby kam für +den Alternden. Und die Gefahr einer Konkurrenz durch eine plötzliche +Bevölkerung der Kinderstube schwand immer mehr. Denn, so wenig das +Ethel für sich und den Gatten zugeben wollte, auch die Birkowitzens +wurden alt.</p> + +<p>Im dritten Jahre ihrer Ehe hatte Klaus Bitterolf beim Begräbnis seines +Schwiegervaters böses Pech gehabt. Während er als Leidtragender hinter +dem Sarge in Paradeuniform durch die Gräberreihen schreitend überlegte, +ob der alte Herr wirklich, wie man sagte, in letzter Zeit eine Million +an chilenischen Gruben verloren hatte, verwickelte er sich mit einem +seiner Sporen in die riesige Atlasschleife eines am Boden liegenden +Kranzes, auf der „Ruhe sanft — auf Wiedersehen!“ gedruckt stand. Er +fiel hin und brach sich den rechten Fußknöchel.</p> + +<p>Als der Gipsverband acht Wochen später gelöst wurde, erwies es sich, +daß das rechte Bein ein wenig kürzer und außerdem eine Schwäche +zurückgeblieben war, die Klaus Bitterolf zwang, sich beim Gehen<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> eines +derben Stockes zu bedienen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den +Abschied zu nehmen. Ein paar Monate behielt er noch seine Reitpferde +und dachte daran, sich sportlich zu betätigen. Als aber Schwäche und +Schmerz im Knöchel beim Reiten sich mehrten, schrieb er seufzend mit +seinen geraden, riesigen Buchstaben auf einen wappengeschmückten Bogen +die Worte: „Drei vortrefflich zugerittene Offizierspferde, arabische +Stute, Fuchswallach und tadellos schönes Halbblut sofort preiswürdig +abzugeben ...“ Dann trat er in den Verein für heraldische Forschung, +den Exlibrisverein und die Gesellschaft für Familiengeschichte ein +und beschloß, sich ganz den Studien auf diesem Gebiete und der damit +zusammenhängenden Sammellust zu widmen.</p> + +<p>Wenn er an seinem Erkerfenster in der Kaiserallee saß, alte +Schutzbriefe und Diplome aus dem Familienarchiv behutsam entfaltete und +unter die Lupe nahm oder in älteren Jahrgängen des Gothaschen Kalenders +einem verschollenen Vetter nachspürte, so schmerzte ihn der Knöchel +nicht. Und die Gesellschaft Tobbys, der zu einem warmen, zuckenden +Klümpchen gerollt auf dem alten Plüschkissen im Lehnstuhl gegenüber +lag, genügte ihm vollkommen. Ja, sie war ihm, ehrlich gesagt, lieber +als die Gesellschaft seiner Frau, die ihn mit dem endlosen Programm +ihrer täglichen Vergnügungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen +aufregte ...</p> + +<p>Als Ethel noch Alice hieß, hatte sie den in der weiblichen Linie des +mit Glücksgütern reich gesegneten<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Hauses Sternheim nicht seltenen +Traum geträumt: ein Leutnant. Sie lernte französisch plappern, las erst +Racine später Alphonso Daudet und dachte an einen Leutnant.</p> + +<p>Sie langweilte sich bei Goethes Tasso und übte Klavier und dachte an +einen Leutnant.</p> + +<p>Er hatte noch kein bekanntes Gesicht und eigentlich auch noch keine +bestimmte Uniform. Nur Sporen klirrten deutlich durch ihre Träume. +Infanterie war gewöhnlich. Fast schon Schutzmänner, kam ihr vor. +Fuchsjagden in roten Röcken, Morgenpromenaden auf dampfenden Schimmeln +im Park, Besuche im eleganten Coupé, abends Gäste mit wunderschönen +Namen, aufgeführte Dramatiker, Exzellenzen, verbotene Romanziers, +preisgekrönte Bildhauer, vergötterte Tenöre, fette Finanzkönige — und +zwischen tief, tief ausgeschnittenen Frauen, die sie alle beneideten, +das silberne Klingeln der Tanzsporen. Der eleganteste — <em class="gesperrt">er</em>.</p> + +<p>Nicht daß sie sich ihm lieberöchelnd an den hohen gelben oder roten +oder goldgestickten Kragen werfen wollte! Behüte, sie war kühl und +anständig. Und bei all ihren Träumen hätte „Mademoiselle“ ganz gut +dabei sein können und ihren Tauchnitz lesen. „Er“ war nur Mittelpunkt +der Dekoration für sie, war — sie wußte das — der notwendige Faktor +zu all den anderen. „Er“ hatte die huldvoll erteilte Erlaubnis, sehr +erfreut zu sein, daß sie so schön war; daß sie solche Zauberfeste +arrangieren konnte, daß so viele berühmte Männer sich über ihre kleine, +weiße Hand<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> beugten, um ihre Schnurrbarthaare respektvoll auf die +rosigen, blühenden Nägel zu drücken. Und zwischen einem feschen Wiener +Walzer und einer schmelzenden Arie, der unbezahlbaren Soundso oder +zwischen einem herrlichen Violonsolo des weltberühmten Dingskirch und +einem ausgelassenen Kontertanz durfte „er“ — sporenklingelnd — auf +sie zukommen, ihr leicht die erhitzte Wange klopfen und fragen: „Bist +du glücklich, Kind? Amüsierst du dich?“ ...</p> + +<p>Denn glücklich sein und sich amüsieren waren für ihr törichtes Herzchen +Begriffe, die restlos ineinander aufgingen.</p> + +<p>Und dann <em class="gesperrt">kam</em> „er“.</p> + +<p>Natürlich waren vorher schon andere gekommen. Schlaue, Treuherzige, +Verliebte, die wußten, daß sie des Bankiers Sternheim einzige Tochter +war, daß sie Walzer tanzen konnte — auch links herum — eine +feine, zierliche Taille und feste, runde, weiße Arme hatte und in +der Konversation schließlich nicht mehr Dummheiten sagte, als ihre +magere, sommersprossige Cousine. Und diese, der Stolz und Abgott der +Sternheimschen Familie, war voriges Jahr Baronin geworden; und ihren +tadellos gekleideten Gatten traf man bei allen Gesellschaften nach +zwölf Uhr mit offenem Munde schlafend im Rauchzimmer.</p> + +<p>Aber alle die anderen hatte des Bankiers Sternheim einzige Tochter +dankend abgelehnt. Des einen Katholizismus war ihr zu neu und +unbegründet. Des anderen weiterer Familienkreis schreckte sie durch +Zahl<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> und schlechte Manieren. Eines dritten Persönlichkeit konnte sie +sich absolut nicht auf dem hohen Bock eines Kutschierwagens oder im +roten Frack auf herbstlichem Felde denken. Endlich kam „er“ mit dem +hohen Wuchs, den schlanken Händen und der leichten, ungezwungenen +Galanterie des geborenen Aristokraten. „Meine Tante die Reichsgräfin +...“ „mein Onkel Exzellenz“. Das kam so natürlich heraus, wie wenn +andere sagten: „Mein Vetter in der Schillerstraße“, „mein Schwager in +Ratzeburg“.</p> + +<p>Dann hatte er eine nachlässige Art, mit den langen, gesunden Zähnen +Kakes zu knabbern, und lachte so wunderhübsch ehrlich, wenn von Dingen +die Rede war, die er nicht verstand. Und das kam oft vor. Und dann +natürlich das leise, silberne Sporenklingeln ...</p> + +<p>Dann war der Tag gekommen, an dem er zuerst mit Papa sprach, später +mit ihr. Korrekt und mit einem leisen Unterton von Gefühl. Eine Stunde +später schickte er einen wunderhübschen Strauß Marschalnielrosen. +Sie ließ die Friseuse kommen, probierte eine neue, etwas würdigere +Frisur, beschloß sich von heute an „Ethel“ nennen zu lassen und +entwarf Tischordnungen für das Verlobungsessen. Wobei sie immer wieder +leise vor sich hin sagte: „Meine Tante, die Reichsgräfin ...“ „mein +Onkel Exzellenz“. Und sie lächelte dazu das bräutliche Lächeln dieser +Kreise, denen sie nun angehörte. Dann überlegte sie, an welcher Ecke +der Tafel man den unbequemen Onkel Oskar verstecken könnte, der so +unwahrscheinlich große Brillantknöpfe<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> im Vorhemd trug und immer die +dumme Geschichte erzählte, wie er als jüngster Kommis im Bankhaus +Seligsohn den alten Fürsten Lichtenstein, der ihn zu duzen wagte, +<em class="gesperrt">wieder</em> geduzt hatte.</p> + +<p>Klaus Joachim war ein guter anständiger Kerl. Er war froh, als die +Verlobungszeit, die seiner Familie mancherlei heftige Vertraulichkeiten +von Seiten der neuen Verwandten eingetragen hatte, vorüber war. Über +das Glück hatte er niemals intensiv nachgedacht. Einmal, als er sich +— es war kurz vor seinem Sturz über die Ruhesanftschleife — bei +einem amerikanischen Zahnarzt, der für vieles Geld sehr wenig Deutsch +sprach, einen Vorderzahn mit Gold plombieren lassen wollte und im +Wartezimmer mit anhören mußte, wie eine alte Dame im Operationszimmer +nebenan wehklagend die Stunde ihrer Geburt verfluchte, blätterte er, +um sich auf angenehmere Gedanken zu bringen, in einem abgegriffenen +Sentenzenbüchlein. Und er fand darin neben minder verständlichen +Sprüchen das gute Wort: „Das Glück liegt im Geschmack, nicht in der +Sache.“</p> + +<p>Das ging ihm nicht mehr aus dem Kopf; und sein eigenes Leben an dieser +Sentenz messend, fand er, daß er im Besitze einer so hübschen und +lebenslustigen Frau gewiß nicht unglücklich zu nennen sei. Als es dann +<em class="gesperrt">nach</em> dem Unfall mit Sport und anstrengenden Festlichkeiten +für ihn Essig war; als er sich mehr auf eine einsame Pflege seiner +künstlich gezüchteten Liebhabereien zurückzog und Tobbys nicht +aufregende Gesellschaft einem Saale, mit Menschen gefüllt, die<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> +krampfhaft Amüsement heuchelten, vorzuziehen begann, da erschien ihm +sein von anderen viel und laut beneidetes „Glück“ etwas dünn. Manchmal +lästig.</p> + +<p>Ethel hatte die Leidenschaft, gestützt auf ihren klingenden Namen, +ihre hübsche, biegsame Erscheinung und die erfreulichen Zinsen des +vom Vater für die nie erschienenen Enkel festgelegten Kapitales, ein +Haus zu machen. „Herr und Frau von Birkowitz geben sich die Ehre ...“ +— kleine und große gedruckte Karten, die also begannen, steckten an +unzähligen Spiegeln flotter Kavaliere. Der Träger eines alten Namens +oder der kecke Eroberer eines neuen Namens konnte solcher Einladung +auf die Dauer nicht entgehen. Irgendwo traf ihn „die schöne Frau von +Birkowitz“. Irgendwo machte sie ihm, gütige Blicke unter langen, +ein wenig getuschten Wimpern sendend, sanfte Vorwürfe, daß er noch +nicht bei ihr Besuch gemacht. Irgendwie wußte sie eine sinnreiche, +verpflichtbare Beziehung aufzustöbern zwischen seinem Hause und der +Familie derer von Birkowitz. Irgendwann erschien der also Eingefangene +dann, bekam ein Miniaturtäßchen aromatischen Tees, ein köstliches +Löffelchen russischen Kaviars und hatte die Freude, mindestens einen +kurzsichtigen Modeprofessor, einen schweigsamen Modemaler, eine sehr +laute Exzellenz und — wenn er Glück hatte — einen urlangweiligen +Kammerherrn oder gar einen lebendigen Prinzen aus einer um viele Ecken +gegangenen Nebenlinie zu treffen.</p> + +<p>Zwischen allen diesen ausgesucht distinguierten Besuchern<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> schwebte in +einem zwar erlernten aber kleidsamen Tanzschritt die schlanke Hausfrau +umher. Der Ausschnitt tiefer vorgerückt, als die Tageszeit. Sie führte +eine Konversation, die an tausend Dingen nippte, vom Spiritismus bis +zum neuesten amerikanischen Tanz, von der Säuglingswohlfahrt bis zu +den dressierten Eisbären, von der letzten kleinen Eheirrung in guten +Kreisen bis zum Bazar für die Wärmehallen. Sie verstand im Grunde von +allem dem gleich viel, heißt das gleich wenig, aber sie hatte eine +wundervolle Spürnase für alles, was Stoff zu flüchtiger Unterhaltung +oder Vorwand für ein Wohltätigkeitsfest hergab. Und zuweilen traf +man norddeutsche Pastoren, italienische Monsignori, seltener sogar +österreichische Rabbiner bei ihr, die alle in gleicher Weise von ihrer +Nächstenliebe entzückt waren.</p> + +<p>An solchen Tagen trug sie ein geschlossenes Kleid, sehr wenig Schmuck +und einen Zug unendlich schlichter Güte um den hübschen Mund. Es gab +dann weniger Kaviar und mehr erbauliche Gespräche; und sie hatte eine +interessierte Art den langweiligsten statistischen Angaben zu lauschen, +die einen Apostel selber entzückt hätte.</p> + +<p>Kurz ehe der Anstand den Gästen gebot, sich zu empfehlen, erschien +dann der Gatte, Klaus Joachim, auf einen Ebenholzstab mit schlichter +Silberkrücke gestützt und von dem gerade in Gunst stehenden Tobby +begleitet.</p> + +<p>Ethel stellte ihm, ihren runden Arm mit graziöser<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> Zärtlichkeit in +den seinen legend, die ihm noch unbekannten Gäste vor, über deren +Anwesenheit er sich unendlich erfreut zeigte, und deren Namen er sofort +wieder vergaß.</p> + +<p>Sie schmierte ihm selbst ein Brödchen — halb Kaviar halb Anchovis — +wie er es angeblich für sein Leben gern aß, obschon er selbst niemals +eine diesbezügliche Mitteilung gemacht hatte; teilte ihm die nächsten +Pläne für Feste, lebende Bilder, musikalische Abende oder Bazare mit +und versicherte den Anwesenden, daß ihr lieber Klaus Joachim, wie +<em class="gesperrt">sie</em> ihn kenne, von dieser Stunde an seine ganze freie Zeit der +Ausgestaltung des wunderherrlichen Programms widmen werde. Sie erzählte +dabei in charmanter Neckerei allerlei originelle kleine Züge, die des +Gatten glühendes Interesse an all diesen Dingern hübsch illustrierten. +Der also Gelobte aber saß mit verlegenem Lächeln dabei, streichelte +Tobbys Fell und war immer wieder tief erstaunt über die unheimliche +Leichtigkeit, mit der diese niedliche, lebhafte kleine Frau die +kecksten und dreistesten Lügen aus der frischen Luft griff.</p> + +<p>Dabei war Ethel durchaus anständig. Die erschreckendsten Klatschbasen, +für die der gute Ruf anderer kaum den bescheidendsten Respecktswert +hatte, wußten ihr nichts nachzusagen. Sie bevorzugte zuweilen einen +Kavalier wenn er gut im Frack aussah, neue Kunststücke mit Talern +und Apfelsinen verrichten konnte, eine fünfzackige oder gar eine +geschlossene Krone auf der silbernen Zigarettendose trug und von einer<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> +Reise um die Welt mit so kühler Ruhe sprach, wie andere von einem +Ausflug nach Helgoland oder Rügen. Auch ein Dichter oder Künstler, +mit dessen Namen die Zeitungen gerade Fangball spielten, konnte aus +der Art wie sie ihm Rum in den Tee goß und vom Ruhm als „der Güter +höchstem“ ein gefühlvolles Wort sprach, vielleicht annehmen, daß er in +begnadeter Stunde ihrem Herzen näher sein werde als andere. Aber solche +„begnadeten Stunden“ kamen schließlich für keinen. Es war immer ein +<em class="gesperrt">dritter</em> dabei, irgend eine störende Null mit einem klangvollen +Titel, einer interessanten Vergangenheit oder einer Zukunft; eine +Exzellenz, ein Sportsmann oder ein Komödiant. Und später kamen Klaus +Joachim und Tobby.</p> + +<p>So gingen die Jahre für Ethel hin als eine Reihe von Festen, nur durch +einige ärgerliche Kinderkrankheiten unterbrochen, die sie in der Jugend +durchzumachen verabsäumt hatte, und die ihr nun Gelegenheit gaben +sehr neckische Negligés zu tragen, dankbar an vielen von Freunden +gesandten Blumengrüßen zu riechen, und als blasse Rekonvaleszentin mit +melancholischem Lächeln, das ihr gut stand, von ihren Todesgedanken zu +plaudern und von verschiedenen sentimentalen Bestimmungen, die sie den +beiden Schwestern vom roten Kreuz — sobald sie sich unwohl fühlte, +ließ sie zwei Schwestern kommen — in einer entsetzlichen angstvollen +Nacht diktiert haben wollte.</p> + +<p>Aber selbst an ihre zu Festen und Lebensgenuß prädestinierte Natur +machten die Jahre ihre Rechte<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> geltend. Und je mehr sie fühlte, daß ihr +die Jugend sacht entglitt, um so krampfhafter klammerte sie sich an +die äußeren Zeichen und Enbleme der tückisch Fliehenden. Das Rot der +Wangen war längst nicht mehr ganz echt, die Haare wurden öfters diskret +gefärbt und die Korsetts hatten mehr Mühe, die vorhandenen Formen auf +das richtige Maß einzuschnüren und elegant zu verteilen.</p> + +<p>Die verspätete Kindlichkeit, die der jungen Frau einen entzückenden +Schimmer von Naivität gegeben, und die nun noch immer nicht von der +Zurechtgemachten und Gemalten weichen wollte, mischte in ihr Wesen +eine reichliche Portion Albernheit. Sie fühlte selbst, daß jetzt +manchmal ihre Gäste nicht mehr <em class="gesperrt">mit</em> ihr sondern <em class="gesperrt">über</em> sie +lachten. In krampfhafter Angst, etwas von dem geräuschvollen Drum und +Dran ihres ganz auf Äußerlichkeiten gestellten Lebens zu verlieren, +verstärkte sie jetzt die Genüsse, die der opulente Haushalt zu bieten +vermochte. In dem Maße, als ihre Jugend sich minderte, ihre Schönheit +verblich, ihre Anmut kokette Maske wurde, verfeinerten sich jetzt die +Tafelfreuden, die musikalischen und theatralischen Aufführungen in +ihrem Hause. Man trank bei den Proben schon französischen Sekt. Man aß +bei den kleinsten Diners nicht unter fünf Gängen. Man erfreute sich +der teueren Delikatessen der Saison nirgends früher, als an der Tafel, +der Klaus Joachim, längst mit einem chronischen Magenübel kämpfend mit +ledergelbem, wenig vergnügtem Gesicht präsidierte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span></p> + +<p>Klaus Joachim sah täglich unzählige Leckerbissen vorbeitragen, die ihm +aufs strengste verboten waren. Er sah junge Leute in schönen Uniformen +und ältere Herren mit Halsorden an seinem Tische, ohne sich ihre Namen +merken, für ihre Geschichten interessieren zu können. Er sah lebende +Bilder gestellt von blühenden Menschen, deren Geburtsanzeige er — so +kam’s ihm vor — doch neulich erst gelesen. Er sah zappelige Virtuosen +und dicke Sänger an seinem Flügel, die er innigst nach Pernambuco +wünschte. Und abends spät, wenn er — den silbernen Leuchter schon in +der etwas zittrigen Hand — nach vererbter Familiensitte seiner Frau +galant die Hand küßte und prüfend in das abgespannte Gesicht mit den +mühsam weggeschminkten Fältchen um die müden Augen blickte, sah er +auch, daß die Lebensgefährtin trotz verzweifelter Gegenwehr wurde, was +kein Tobby in seinem Hause werden durfte: <em class="gesperrt">alt</em>.</p> + +<p>Seine Familie hatte sich längst in das solide Erbbegräbnis und in +gesunde Metallsärge zurückgezogen. Die Tante Reichsgräfin und der +Onkel Exzellenz erschienen nur noch als mythische Personen in Ethels +Erzählungen. Aber der Sagenkranz, der sich langsam um sie bildete, +(oder eigentlich: den Ethel persönlich um die verklärten Häupter der +teueren Verstorbenen legte) erhielt mit jedem Jahre neue strahlende +Blüten. Und wer den leise bebenden Herzenston vernahm, mit dem Ethel +die Namen dieser Heimgegangenen aussprach, der konnte unmöglich eine +Ahnung gewinnen<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> von der durch Harthörigkeit bedingten Absonderlichkeit +der seligen Exzellenz und der Unleidlichkeit der geizigen und boshaften +Reichsgräfin. Vor dem ebenfalls längst zu seinen Vätern versammelten +Onkel Oskar freilich, der einst als Kommis des Hauses Seligsohn den +alten Fürsten Lichtenstein geduzt hatte, machte der Totenkultus Ethels +Halt. Sein Name wurde seltsamerweise nur von Klaus Joachim, der den +Lebenden wenig geschätzt hatte, zuweilen erwähnt und — das muß gesagt +werden — eigentlich nur, wenn er, überreizt von den ewigen Festen in +seinem Hause, einmal das nervöse Bedürfnis hatte, Ethel zu ärgern.</p> + +<p>Einige Male hatte er ja versucht, seine Gicht vorzuschützen, um den +festlichen Veranstaltungen zu entgehen, die sein Haus zum Tummelplatz +fremder Leute machten, die seinen Sekt tranken, seine Zigarren rauchten +und von ihm eigentlich nur Notiz nahmen, wenn sie ihn wegen des +kürzesten und verstecktesten Weges nach einem geheimen Ort um seinen +Rat fragten. Aber an Schlafen wäre bei dem Lärm auch nicht zu denken +gewesen, wenn die Lohndiener nicht, lieber Gewohnheit folgend, alle +fünf Minuten in sein Schlafzimmer gestürzt wären, um die merkwürdigsten +Dinge hier zu suchen, die sich noch niemals in einem Schlafzimmer +befunden haben. So erschien er denn resigniert, auf seinen Stock +gestützt, wieder in den Salons und heuchelte höflich eine freudige +Anteilnahme an einen neuen amerikanischen Tanz, bei dem der Bauch +herausgestreckt wurde, an dem Klaviervortrag<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> eines sechsjährigen +Wunderkindes, das allerdings spielte als ob es vierzehn wäre, oder an +der Soloszene einer talentvollen Bühnennovizen, die aus unbekannten +Gründen plötzlich händeringend in gereimten Versen jammerte, daß sie +ihr Kind erwürgt habe, weil es dem Vater ähnlich sah.</p> + +<p>In solchen Lustbarkeiten waren bald fünf Jahrzehnte hingegangen.</p> + +<p>Man hatte vorübergehend mal für irgend einen Kriegsschauplatz heftig +Charpie gezupft und um irgend einen Fürsten in der Weise getrauert, +daß man — die Damen in geschlossenen Kleidern — bei Birkowitzens +sechs Wochen lang nur Kammermusik, Harmoniumstücke und ernste +Balladenvorträge anhörte.</p> + +<p>In sonsten hatte sich nicht viel verändert.</p> + +<p>Tobby XIII ein knochiger Rattler von großer Munterkeit belebte Klaus +Joachims einsame Morgenstunden, wenn er seine Exlibris ordnend und +klebend am Erkerfenster saß und den stillen Wunsch nährte, Ethel, die +im Coupé Besuche machte, möge <em class="gesperrt">alle</em> zu Hause treffen, denen sie +die Freude ihres Gespräches zugedacht. Tobby XIII litt nur, als echter +Sohn seiner Rasse, unter dem durch nichts bestätigten Vorurteil, daß +Mäuse in der Wohnung sein müßten. Er erschreckte wohl ein Dutzend mal +im Vormittag seinen Herrn aufs heftigste dadurch, daß er plötzlich +einen ganz unmotivierten Luftsprung machte, mit beiden Vorderpfoten +schwer auf irgendeine Stelle des Teppichs schlug und emsig zu scharren +begann; als müsse er<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> unter der dunkelroten Blume des Persers unbedingt +ein Mauseloch finden.</p> + +<p>Da Klaus Joachim seit einiger Zeit Anzeichen eines Herzleidens spürte +— Sie haben zuviel „gefeiert“, hatte der Hausarzt gesagt und Klaus +Joachim hatte nicht ohne Bitterkeit gelächelt — so war die fixe Idee +Tobbys XIII für seinen Herrn doppelt störend. Aber da dieser den +amüsanten und liebenswürdigen Hund sonst lieb hatte, so schickte er +sich seufzend in seine aufregende Eigentümlichkeit; ja er hielt sie vor +seiner Frau geheim, die sonst vermutlich auf schleunigen Ersatz Tobbys +XIII durch Tobby XIV gedrungen hätte, da die Zahl Dreizehn ihr sowieso +unbehaglich war.</p> + +<p>Und gerade jetzt war sie bemüht, alles Unbehagliche von sich und Klaus +Joachim fernzuhalten, denn die Vorbereitungen zu dem größten Fest ihres +Lebens, zu dem Fest, in dessen Mittelpunkt nur <em class="gesperrt">sie</em> — natürlich +<em class="gesperrt">mit</em> Klaus Joachim — verständigerweise stehen konnte, nahmen sie +völlig in Anspruch. Ihre goldene Hochzeit nahte. Und mit dem Näher- und +Näherkommen dieses weihevollen Tages nahm dieser fast siebzigjährigen +Frau wunderbare Elastizität, die in den letzten Jahren ein ganz, ganz +klein wenig nachgelassen hatte, von Tag zu Tag wieder zu.</p> + +<p>Sie fühlte, daß das der Glanzpunkt ihres Lebens werden mußte.</p> + +<p>Man würde Szenen aufführen, Reden halten, Trinksprüche ausbringen, +alles ihr zu Ehren. Berühmte Dichter, die oft bei ihr gegessen hatten, +würden<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> eigens für diesen Tag wundervolle Lieder schreiben, in denen +ihr Name von einem Blütenkranz unsterblicher Gedanken umrahmt erschien. +Zukunftsreiche Maler, die <em class="gesperrt">ebenfalls</em> oft bei ihr gegessen +hatten, würden lebende Bilder stellen aus ihrer Jugendzeit. Bedeutende +Komponisten, die <em class="gesperrt">ebenfalls</em> oft bei ihr gegessen, würden sich +ans Klavier setzen. Und <em class="gesperrt">sie</em> würde, in ihre schneeweißen Haare +(ein bischen half ja der Puder nach) die goldene Myrthe gesteckt, +neben Klaus Joachim sitzen — wenn er nur nicht einschlief! — und +die feierlichen Deputationen empfangen von all den Vereinen, für die +bei ihr gegessen, getrunken, geredet, musiziert, Charpie gezupft +und getanzt worden war in einem langen, halben Jahrhundert. Und die +Zeitungen würden — Gott, Herren von der Presse hatten ja auch bei ihr +gegessen — sympathische Artikel bringen, im „Vermischten“ oder an der +Spitze des Lokalen; würden sie mit der Madame de Rotschild vergleichen, +am Ende gar mit der Fürstin Metternich und würden das Bild „der noch +immer schönen Frau von Birkowitz“ in einer sinnigen Phantasieumrahmung +von Lorbeer und Myrthen bringen. Natürlich Klaus Joachim daneben. Und +Bilder ihres „Heims“ werden in den Wochenschriften gezeigt. Die Ecke +im blauen Salon mit den Vasen, die ihr der Vizekönig Ching-Chung-Gho, +der die Fischgräten unter den Tisch spuckte, geschenkt. Die Wand +im Speisezimmer mit den ehrwürdigen Ahnenbildern der Reichsgräfin +und des Onkels Exzellenz. Der Kamin im Gobelinzimmer mit dem<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> +laubfroschgrünen seidenen Wandschirm, auf dem die steinalte Prinzeß +Binzheim-Sprendlingen die gräßlichen, roten Levkoyen eigenhändig +gemalt. Und das mußte alles in Fußnoten gesagt werden ...</p> + +<p>Ethel von Birkowitz war wieder ganz jung, wenn sie an diverse Fußnoten +dachte.</p> + +<p><em class="gesperrt">Und</em> an die Geschenke! Denn darin war sie ein Kind geblieben. +Sie liebte es sich beschenken zu lassen. Weniger der Gabe wegen, +als wegen des Namens des Spendenden. Und wenn nur der kleinste Teil +der Zelebritäten, die gut und viel bei ihr gegessen, sich an ihrem +Ehrentage mit einem sinnigen Präsentchen einstellte, so hatte sie aus +dem Gothaschen Kalender, aus dem Kürschner, aus dem Bühnenalmanach +und aus dem städtischen Adreßbuch — kurz aus jedem Namensammelbuch +von einigem Kulturwert mit Ausnahme des Verbrecheralbums — die +herrlichsten Stichproben. Ethel von Birkowitz schwamm im Glück der +Hoffnung.</p> + +<p>Klaus Joachim sah dem festlichen Tage mit geringerer Lust entgegen. +Ganz davon abgesehen, daß sein neues Gebiß ihm den Unterkiefer wund +rieb, wenn er es während eines langen Diners im Munde behalten +mußte, hatten sich letzter Zeit, nicht unbeeinflußt von Tobby XIII +phantastischen Jagdvergnügungen heftige Herzaffektionen bei ihm +gezeigt. Schwächeanwandlungen waren häufig; und mehrfach war er mitten +in Ethels interessanten Mitteilungen über das Programm des Festes und +über die Plätze für den<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> Bürgermeister und den Polizeipräsidenten und +den berühmten X. und die noch berühmtere Y. eingeschlafen. Und beim +Erwachen hatte er minutenlang geglaubt, er sitze an der Saline in +Nauheim. Oder hatte mit schwacher Stimme Weisung gegeben, man solle das +Halbblut nicht verkaufen. Sein Lieblingspferd aus der Leutnantszeit, +das seit vier Jahrzehnten gewiß in dem Pferdehimmel war, an den die +Araber glauben.</p> + +<p>Zwei Tage vor der goldenen Hochzeit besserte sich Klaus Joachims +Zustand.</p> + +<p>Er konnte den neuen Frack probieren und der Ansprache Ethels an die +fünf Lohndiener beiwohnen.</p> + +<p>Als er aber an dem Morgen seines Ehrentages in denselben Frack +geschlüpft war, um ans Fenster zu treten und dem Choral der +Regimentsmusik zu lauschen, die der Oberst, der lieber gut aß als +Felddienstübungen leitete, in Dankbarkeit zur Überraschung gesandt +hatte, befiel ihm eine kleine Schwäche. Und gerade als er sich, von +Ethel gestützt, die schon in großer Toilette war, auf das Sopha +niedergelassen, unternahm Tobby XIII mit plötzlichem Siegesgeheul einen +plötzlichen Jagdausflug unter einen ehrwürdigen friesischen Schrank, +der sich zu knacken erlaubt hatte.</p> + +<p>Klaus Joachim erschrak heftig, griff mit den langen, immer noch +aristokratischen Fingern der linken Hand nach der Herzgegend, +verdrehte die Augen, fragte, ob er in der Neujahrsnacht zum Bleigießen +aufbleiben müsse, erkundigte sich dann mit leiser werdender Stimme +ob die Seitenlinie derer von Rorschach-Kitzingen berechtigt<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> sei +die Freiherrnkrone zu führen, gab, als die erschreckte Ethel ihre +Unwissenheit gestand, stockend die Anweisung, darüber sogleich +telegraphisch das Heroldsamt in Berlin zu befragen, lächelte sonderbar, +bekam eine ganz spitze weiße Nase und — war tot.</p> + +<p>Unten spielte die Regimentskapelle den Pilgerchor aus dem Tannhäuser.</p> + +<p>Ein Lohndiener steckte den glattrasierten Kopf herein und meldete: der +Koch lasse fragen, ob der Fasan <em class="gesperrt">nach</em> dem Wildschwein serviert +werden solle oder <em class="gesperrt">vor</em> dem Wildschwein.</p> + +<p>Ethel zuckte zusammen, warf einen Blick auf die seltsam gespitzten +Lippen Klaus Joachims, von denen kein Atem mehr kam und die pfeifen zu +wollen schienen, und entschied:</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Nach</em> dem Wildschwein.“</p> + +<p>Es war ein außergewöhnliches Fest. In jeder Beziehung.</p> + +<p>Die Gratulanten kamen in dichten Scharen.</p> + +<p>Honoratioren in vortrefflich sitzenden Fräcken, Deputationen in minder +sehenswürdigen Gehröcken, Künstler in fliegenden Kravatten, Damen +der Aristokratie in kostbaren Pariser Roben, Konservatoristinnen in +phantastischen Fähnchen. Die Diener in Eskarpins mit silbernen Ketten +und dem Gönnerlächeln ihres wichtigen Standes.</p> + +<p>Im Blauen Salon zwischen den beiden Vasen des Vizekönigs +Ching-Chung-Gho stand Ethel, im weißgepuderten<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> Haar die goldene +Myrthe, den Smaragdschmuck derer von Birkowitz am immer noch +präsentablen Hals, die wundervollen Rosen des Prinzen Kux-Beckenried +in der Hand, der mit seinem Freund, dem <span class="antiqua">Dr.</span> v. Heiduck — in +Wahrheit war es sein Arzt, der Prinz war seit Jahren entmündigt — als +Erster gekommen war.</p> + +<p>Jetzt hielt er sich, töricht vor sich hinlächelnd, im Gobelinzimmer +unter dem Bild von Onkel Exzellenz auf und konsumierte das vierzehnte +Kaviarbrödchen; wozu <span class="antiqua">Dr.</span> Heiduck nachdenklich den dem Prinzen +verbotenen Sherry trank.</p> + +<p>Im kleinen gelben Salon aber stand die Türe auf, die nach dem +Ankleideraum neben dem Schlafzimmer Klaus Joachims führte.</p> + +<p>Eine rotseidene Schnur war, den Eintritt wehrend, in Kniehöhe im +offenen Türrahmen gespannt. Durch das halbdunkle Ankleidezimmer +hindurch sah man in das noch um eine Nuance dunklere Schlafzimmer. +Von dessen Tür nicht weit saß Klaus Joachim von Birkowitz in einem +dunkelgrünen Sessel aus der Biedermeierzeit, den Kopf leicht an die +linke Seitenklappe der hohen Rücklehne gelehnt.</p> + +<p>Er saß aufrecht im Frack und hatte, das konnte man gut erkennen, ein +blühendes Sträußchen in der blassen rechten Hand, die unbeweglich auf +der leichten bunten italienischen Decke lag, die seine Beine verhüllte. +Im Knopfloch trug er einen Myrthenbüschel ...</p> + +<p>Alle Kommenden mußten durch diesen gelben Salon.<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> Allen Kommenden +wiederholte der Diener an der Türe mit diskreter Stimme:</p> + +<p>„Herr von Birkowitz befindet sich nicht ganz wohl. Er hat sich bei den +ersten Gratulationen in der Frühe überanstrengt. Der Herr Baron ist +deshalb in seinem Zimmer geblieben. Die Frau Baronin empfängt im Blauen +Salon. Wenn die Herrschaften vielleicht dem Herrn Baron einen Gruß +zunicken wollen ...“</p> + +<p>Und die Herrschaften wollten das. Und sie nickten durch das halbdunkle +Zimmer dem befrackten Manne zu, der dort im Sessel saß.</p> + +<p>Einige wollten beobachtet haben, daß er freundlich wieder genickt habe. +Andere hatten nichts dergleichen wahrgenommen.</p> + +<p>Alle waren einig darin, daß es nicht gut um den alten Herrn stehe, und +daß er vielleicht doch schlauer zu Bett gegangen sei.</p> + +<p>Aber Ethel von Birkowitz im blauen Salon zwischen den beiden Vasen des +Vizekönigs Ching-Chung-Gho versicherte:</p> + +<p>„Er hat’s nicht anders haben wollen. Wenigstens aus der Entfernung +wollte er sich mit uns freuen.“</p> + +<p>Und der Polizeipräsident, der besonders scharfe Augen hatte bemerkte +dazu:</p> + +<p>„Und, meine Gnädige — er <em class="gesperrt">freut</em> sich. Als ich ihm zunickte, +spitzte er die Lippen — ich sah es deutlich — als ob er +<em class="gesperrt">pfeifen</em> wollte. Vermutlich: ‚Freut Euch des Lebens‘ — — oder +so was.“</p> + +<p>„So tut er immer, wenn er vergnügt ist“ lächelte Ethel.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span></p> + +<p>Einer aber war nicht vergnügt. Tobby XIII.</p> + +<p>In die Schuhkammer neben der Küche eingesperrt heulte er. Heulte +unaufhörlich, obschon ihn die dürre Kochmamsell, die sehr nervös war, +unter Zuhilfenahme eines Birkenholzkochlöffels eindringlich vermahnt +hatte. Heulte laut und kläglich.</p> + +<p>Und das Spülmädchen, das vom Lande und sehr blond und sehr dumm war, +sagte zu dem Konditor, der das Pastetenhaus brachte:</p> + +<p>„Bei uns zu Haus heulen die Hunde so, wann mer e Leich’n hab’n.“</p> + +<p>An dem Diner nahm Klaus Joachim <em class="gesperrt">nicht</em> teil.</p> + +<p>Sein mit Myrthen bekränzter Platz wurde nach dem Fisch von einem +aufgeräumten Konsistorialrat eingenommen, der viel Rauentaler trank +und drei verschiedene Reden hielt, von denen die erste keine rechte +Veranlassung, die zweite keine Pointe und die dritte überhaupt keinen +Sinn hatte.</p> + +<p>Zwischen dem Wildschwein und dem Fasan ging Ethel hinaus, um nach +Klaus Joachim zu sehen, der sich nur von ihr betreuen ließ und keine +Bedienung sehen wollte.</p> + +<p>„Welch eine Ehe,“ rühmte der Konsistorialrat als sie ging.</p> + +<p>Und „pfeift er noch?“ fragte der gutgelaunte Polizeipräsident, als sie +wiederkam.</p> + +<p>Ethel war etwas blaß.</p> + +<p>Der Besuch bei dem Gatten schien sie angestrengt zu haben. Aber sie +erinnerte sich sofort wieder ihrer<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> Pflichten als Mittelpunkt und +Hausfrau und dem Polizeipräsidenten über die volle Obstschale zunickend +lächelte sie:</p> + +<p>„Ja, er pfeift noch ...“</p> + +<p>Am Abend des nächsten Tages erschien in allen Blättern eine breit +schwarzumränderte Anzeige, daß es in der Nacht nach seinem schönen Fest +dem Allmächtigen gefallen habe, den vielgeliebten Herrn Klaus Joachim +von Birkowitz und so weiter ... Tiefe Ergriffenheit sprach schon aus +dem Konstruktionsfehler dieser Annonce. Denn nach <em class="gesperrt">ihr</em> war es der +liebe Gott, der das schöne Fest gefeiert hatte.</p> + +<p>Der Konsistorialrat aber, der an diesem Tag heftigen Kopfschmerz +hatte, äußerte, daran erkenne er wieder die große Gnade des Himmels, +daß dieser wahrhaft christliche Mann noch habe das herrliche Fest +mitansehen dürfen, ehe er von hinnen ging.</p> + +<p>Nur Tobby XIII wußte Bescheid.</p> + +<p>Er hatte die ganze Nacht geheult. Selbst als ihn das sehr blonde und +sehr dumme Spülmädchen gegen Morgen mitleidig in sein Bett nahm, hatte +er immerzu leise weiter gewinselt.</p> + +<p>Tobby wurde deshalb auch dem Milchmann geschenkt.</p> + +<p>Gerade als dieser brave Mann den heftig Widerstrebenden an einer +Zuckerschnur die Hintertreppe hinunterzerrte, wurden die sechs riesigen +silbernen Leuchter gebracht, die den Katafalk flankieren sollten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p> + +<p>Sie waren umflort und mit armdicken Kerzen besteckt und sahen wirklich +festlich aus.</p> + +<p>Das Beerdigungsinstitut „Pietät“ hatte sie geliehen.</p> + +<p>Sie brannten am anderen Morgen bei einer kleinen Hausandacht, die der +Konsistorialrat abhielt, zwischen den ebenfalls umflorten Vasen des +Vizekönigs Ching-Chung-Gho.</p> + +<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p176"> + <img class="w100 mbot3" src="images/p176.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span></p> + +<h2 class="trans" id="Der_Mann_mit_dem_persoenlichen_Einfluss" title="Der Mann +mit dem persönlichen Einfluß">Der Mann mit dem persönlichen Einfluß</h2> + +<figure class="figcenter illowe28" id="p177"> + <img class="w100" src="images/p177.jpg" alt="Titel: Der Mann mit dem + persönlichen Einfluß"> +</figure> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span></p> + +<p class="p0 mtop2"><span class="initial">E</span>s ist meine heilige Überzeugung, daß es sonst sehr achtbare, ja +vortreffliche Menschen gibt, in deren Gebaren und Gesichtszügen +eine ununterbrochene heimliche Aufforderung für alle großen und +kleinen Gauner liegt, sie als geschätzte „Versuchsobjekte“ ihrer +unsympathischen Kunst zu behandeln; schlicht gesagt: sie zu betrügen.</p> + +</div> + +<p>Ohne die flehendste Bitte des schönsten Gebets: „Führe uns nicht in +Versuchung ...“ erfüllen zu wollen, scheint der liebe Gott solche +merkwürdigen Leute hilflos in seine sonst so hübsch ausgedachte +Schöpfung gestellt zu haben. Sie wandeln umher, freundlich und +zutraulich, aber als fleischgewordener Fallstrick des Bösen. Und am +Ende sind diese Guten von allem, was sie unternehmen, enttäuscht; +denn sie haben bei jeder ihrer von besten Absichten geleiteten +Unternehmungen mehr Lehrgeld bezahlt, als jeder andere; haben bei +jedem Mißgeschick einen größeren Schaden besehen, als irgendwo sonst +und finden — und das ist vielleicht das Betrübendste — mit den +Erzählungen ihres Mißgeschicks statt inniger Teilnahme oft nur jenes +durchaus pietätlose Gelächter, wie es<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> böse Menschen, die keine Lieder +haben, im Anblick fremder Ungelegenheiten anzustimmen lieben ...</p> + +<p>Ein Musterbeispiel für diese meine aus sorgfältiger und liebevoller +Betrachtung der Zeitgenossen gewonnene Lehre scheint mir noch heute der +ehemalige Filzhutfabrikant Michael Monkebach zu sein, den ich vor einer +Reihe von Jahren in einem süddeutschen Bade kennen lernte.</p> + +<p>Schon die Art der Bekanntschaft war seltsam.</p> + +<p>An der Mittagstafel in der „Quisisana“ saß ein Herr in mittleren Jahren +neben mir, dem sein in Stoff und Schnitt sonst die Herkunft aus einer +nicht billigen Schneiderwerkstatt verratender Anzug durchaus nicht zu +passen schien. Das Tuch schlotterte an ihm herum, als habe er Rock und +Weste von einem vermögenden Verwandten geerbt, der ihn an Leibesfülle +ums Doppelte übertraf. Ein gewisser vergrämter Zug um die nicht +unbedeutende Nase sowie ein traurig verschleierter Blick ließen mich +erraten, daß es sich um einen der Schwerkranken, die sonst in diesem +ziemlich harmlosen Bade selten waren, handeln müsse.</p> + +<p>Ich reichte ihm deshalb bei den Mahlzeiten die Schüsseln mit besonderer +Freundlichkeit; ja, ich ertappte mich auf der edlen Anwandlung, ihm, +wenn der Braten mir zuerst angeboten wurde, die weniger knorpligen +Stücke des Hammels zu lassen, der hier einen unerläßlichen Bestandteil +des mehr zeitraubenden als sättigenden Diners bildete.</p> + +<p>Einem Gespräch schien mein scheuer Nachbar auszuweichen.<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> Einige +— wie ich zugebe — nicht allzu geistreiche Bemerkungen über die +fluchwürdige Unbeständigkeit des Wetters, mit denen sich eine +elegantere Konversation einzuleiten dachte, beantwortete er nur mit +dem Hinweis darauf, daß er im Besitz von Gummischuhen sei und von mir +das gleiche hoffe. Auf eine bescheidene Anfrage, ob er das Kurtheater +häufig besuche, und wie er es finde, entgegnete er ausweichend, er +habe jüngst einer Vorstellung des „Tropfens Gift“ beigewohnt, aber +schon nach dem zweiten Akt den Saal verlassen, da er seinen Platz +unmittelbar neben dem Eingang zu den Toiletten erhalten habe und durch +eine fehlerhafte Konstruktion des Türschlosses die Verbindungstür nach +diesen minderwertigen Räumen sich fortwährend von selbst geöffnet habe.</p> + +<p>Eine alte Kanzleirätin aus Bückeburg gab mir nähere Aufschlüsse über +den betrübten Tischnachbar.</p> + +<p>Ich war mit der körperlich gebrechlichen Dame, die ein großes +Mitteilungsbedürfnis besaß, dadurch bekannt geworden, daß sie meine +Zimmernachbarin war und unter der fixen Idee litt, Mäuse in ihrem +Zimmer zu haben. Die Klingel, die angeblich dazu bestimmt war, bei +einmaligem Läuten den Zimmerkellner, bei zweimaligem Läuten das +Mädchen, bei dreimaligem Läuten aber den Hausknecht zu zitieren, +funktionierte leider so mangelhaft, daß weder der Kellner, noch das +Mädchen, <em class="gesperrt">noch</em> der Hausknecht kam; und so war die alte Dame +darauf verfallen,<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> sich vertrauensvoll an <em class="gesperrt">mich</em> zu wenden, wenn +sie wieder den bestimmten Eindruck gewonnen hätte, daß Mäuse unter +ihrem Bett oder hinter ihrem Schrank ihr neckisches Spiel trieben.</p> + +<p>Da ihr selbst das Bücken vom Arzt verboten war — eine Vorschrift, an +die sie sich, immer von der Furcht vor einem Schlaganfall gewarnt, aufs +strengste hielt —, so durfte <em class="gesperrt">ich</em> mir durch Herumkriechen unter +ihrem Bett, Abrücken der Schränke usw. Bewegung machen und wurde von +der Kanzleirätin „dirigiert“. Der Erfolg war immer negativ. Wenigstens +was die Mäuse anbetraf. Dafür labte mich die alte Dame mit einem von +ihr sehr geschätzten, selbstgebrauten Nußlikör, den sie in vielen +Flaschen mitgebracht haben mußte, und der mit anderen mir bekannten +Spirituosen nicht die geringste Geschmacksverwandtschaft zeigte und mir +im wesentlichen aus Kandiszucker, Wasser, Lakritz und altem Leim zu +bestehen schien.</p> + +<p>Nach jeder vergeblichen Mäusejagd unterhielt mich die vortreffliche +Dame von den Gästen des Hotels aufs anregendste.</p> + +<p>Sie wußte, daß die Baronin über mir gar keine Baronin war, sondern +eine gewöhnliche Adlige mit einer ziemlich neuen Fünfzackigen. Sie +sei in einen jungen Badearzt verliebt und lasse sich deshalb auf +Ischias behandeln. Die Kanzleirätin war ferner darüber orientiert, +daß die Ehe des Rechtsanwalts auf Nr. 17 sehr unglücklich sei, weil +der Schwiegervater heute, zehn Jahre nach der Hochzeit, noch immer +nicht<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> mit der Mitgift herausgerückt sei und die junge Frau eine +verhängnisvolle Neigung habe, jede versöhnliche Annäherung ihres +Gatten mit der Geburt von Zwillingen zu beantworten. Sie hatte auch +in Erfahrung gebracht, daß der Tenor auf Nr. 39, der angeblich der +Liebling des kunstverständigen Publikums von Pernambuco war, Amerika +niemals gesehen habe, auch nicht demnächst an der Wiener Hofoper +Probe singe, sondern nächsten Winter vermutlich, wie schon die beiden +vorhergehenden, in Berlin in obskuren, rauchigen Kabarets das Lied +von der Leiche im Landwehrkanal zur Negergitarre vortragen werde. +Es sei denn, daß die dicke Witwe aus Smyrna, die im Vorjahre ihren +mit kandierten Datteln reich gewordenen Gemahl an einem Leberleiden +verloren habe, doch noch auf diesen Tenor hereinfalle, der übrigens +nicht verhungern könne, da er immer einen Knödel im Hals habe ...</p> + +<p>Dies alles, wie gesagt, wußte die beredte Kanzleirätin aus Bückeburg +in ihrer charmanten, nur etwas weitläufigen Art zu berichten. Jedes +Mißverstehen meinerseits war übrigens ausgeschlossen, da die alte +Dame viele Jahre — bis zu seinem Ende — ihren schwerhörigen Gatten +gepflegt hatte und aus alter Gewohnheit auch die <em class="gesperrt">nicht</em> mit dem +Leiden ihres Seligen Behafteten mit ihrer hellen Stimme anschrie, daß +es zunächst schier zum Entsetzen war.</p> + +<p>Auch über Michael Monkebach wußte sie das Nötige.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p> + +<p>Er hatte vom Vater eine Filzhutfabrik geerbt. Die erste selbständige +Handlung Michael Monkebachs bestand darin, daß er ein neues +patentiertes Verfahren ankaufte, den gewalkten, geformten und +gesteiften Hut anstatt mit Schellack oder Leim mit einer wunderbaren +Flüssigkeit zu „glänzen“, deren Zusammensetzung ein streng bewahrtes +Geheimnis des Erfinders, eines angeblichen Chemikers aus der Bukowina, +war. Als ungefähr 50000 Filzhüte in diesem Verfahren „geglänzt“ +waren, erwies es sich, daß die Fabrikate allerdings einen recht +hübschen, spiegelnden Glanz hatten, aber schon nach einigen Wochen +einen unleidlichen und unbekämpfbaren Geruch nach verdorbenem Fett +ausströmten, der sie unverkäuflich machte. So war Michael Monkebach im +Besitz eines wertlosen Patents und 50000 übelriechender Hüte, die er +nicht loswerden konnte, und hatte einen hübschen Batzen Geld verloren. +Der angebliche Chemiker aus der Bukowina war längere Zeit unauffindbar, +bis ihn Monkebachs tüchtiger, aber nicht billiger Anwalt in einem +Zuchthaus der Rheinprovinz auftrieb, wo er sich gerade aufhalten mußte, +weil er einen Geldbriefträger meuchlings in eine Senkgrube geworfen +hatte.</p> + +<p>Das zweite üble Geschäft, das Michael Monkebach leider machte, bestand +im Ankauf des Patents einer neuen Haarblase- und Mischmaschine, die +zwar außerordentlich schlecht funktionierte, aber den zwei daran +beschäftigten Arbeiterinnen gleichzeitig die kleinen Finger der rechten +Hände verstümmelte. Michael<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> Monkebach wurde in beiden Fällen zur +Zahlung einer lebenslänglichen Rente verurteilt und hatte außerdem noch +unter unausgesetzten Angriffen verschiedener Blätter zu leiden, die das +geschehene Unglück als Folge einer verwerflichen Knauserei und reine +niedrigen Profitwut darstellten.</p> + +<p>Der Organismus Michael Monkebachs quittierte über all diese +Anfeindungen mit einem chronischen Magenleiden. Er beschloß, das +Geschäft zu verkaufen, und war glücklich, als er einen Reflektanten +fand, der ihm für die Hälfte des vollen Wertes die Fabrik mitsamt +den zwei verderblichen Patenten und den 50000 nach verdorbenem Fett +riechenden Filzhüten abnahm. Leider zahlte der Käufer die bedungene +Summe zur Hälfte in Bergwerksaktien, die eigentlich nur noch für den +Sammler kolorierter Drucke einen Wert hatten. Ein entrüsteter Protest +hatte die Folge, daß dem Geschädigten als Ausgleich die 50000 Filzhüte +angeboten wurden, die Michael Monkebach, dem beim bloßen Gedanken an +ihren Geruch schon übel wurde, schaudernd zurückwies. Was ihm blieb, +war ein Kapital, groß genug, daß er als Junggeselle sehr behaglich +davon leben und sich im Sommer eine lange und durch unzählige ärztliche +Vorschriften komplizierte Kur für sein chronisches Magenleiden gönnen +konnte.</p> + +<p>Als er hier angekommen war — die Kanzleirätin, die das erzählte, +war damals seine Zimmernachbarin, später zog sie wegen der Mäuse um +— sah er verhältnismäßig<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> besser aus. Der Anzug, der jetzt seine +Glieder umschlotterte, paßte ihm damals ganz gut. Aber, um diesmal +den teuren Badearzt zu sparen, der für jede mit einer Frage nach +dem werten Befinden verbundene Unterhaltung über diesen Sommer und +über die Reize des Badeortes zehn Mark nahm, hatte er seine Kur nur +nach den Anweisungen seines Hausarztes eingerichtet. Dabei hatte er +unseligerweise die Viktoria-Quelle mit der Augusta-Quelle verwechselt +und sieben Wochen lang, anstatt das für den Magen zuträgliche Wasser zu +trinken, täglich sechs Becher jener berüchtigten Quelle eingeschlürft, +deren Gebrauch als die radikalste Entfettungskur galt und mit vielen +Unbequemlichkeiten und beschleunigten Spaziergängen, besonders nachts, +verbunden war.</p> + +<p>Schließlich — vor einigen Tagen — war er in seiner Herzensangst, +von dem Gespenst der Cholera gefoltert, <em class="gesperrt">doch</em> noch zu einem +Badearzt gegangen und hatte ein Goldstück bezahlt für den guten Rat, +allen Quellen weit aus dem Wege zu gehen, tüchtig Haferschleim zu essen +und alle drei Stunden fünfzehn Opiumtropfen auf Zucker zu nehmen; ein +Mittel, das ihm aus seligen Jugendtagen nach dem Genuß von unreifem +Obst wohlbekannt war, und für dessen nicht seltene Verordnung seine +gute Mutter niemals ein Goldstück genommen hatte.</p> + +<p>Durch diese Erzählung der Kanzleirätin gewann ich Interesse für den +vom Pech und den Menschen verfolgten Filzhutfabrikanten a. D. Und mit +der<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> langsamen Besserung seines Leidens wurde er auch gesprächiger. Wir +kamen uns menschlich näher.</p> + +<p>Ein harmloser, liebenswürdiger Mensch, von fast mädchenhafter +Schüchternheit, die sich auch in den stets erstaunt blickenden Augen +und den verlegenen Handbewegungen ausdrückte, ging er umher als der +Typus jener menschgewordenen Versuchung für alle pfiffigen Profitmacher +und skrupellosen Gauner. Wenn er mit einem Fünfmarkstück zahlte, +bekam er stets nur auf einen Taler heraus. Wenn er eine Droschke +mittags um zwölf Uhr benutzte, hatte er stets die <em class="gesperrt">Nacht</em>taxe +zu bezahlen. Wenn er ein Scheibchen Schweizerkäse zu sich genommen, +fand er bestimmt einen halben Camembert auf der Rechnung. Wenn er sich +ein Berliner Abendblatt am Bahnhof kaufen wollte, war es sicherlich +die Mittagsnummer der Magdeburger Zeitung vom Tage zuvor. Und wenn er +seinen Hut vertauschte — ja, da ist’s ihm doch passiert, daß er in +einem Restaurant des Badeortes, hundert Kilometer entfernt von seiner +ehemaligen Fabrik, seinen schönen, neuen, silbergrauen Wiener Filzhut +an den Garderobenhalter hängte und beim Weggehen einen der gräßlichen, +nach ranzigem Fett riechenden Hüte eigener Fabrikation vorfand. Einen +der <em class="gesperrt">ganz</em> wenigen, die damals durch ein Versehen in den Handel +gekommen waren.</p> + +<p>Durch peinliche Häufung solcher Erlebnisse war Michael Monkebach auf +melancholische Gedanken gekommen, die sich vom Haferschleim nicht +verscheuchen<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> ließen. Er fühlte, daß da mit tröstlichen Redereien von +Pech und Zufall nichts zu machen sei; daß es ihm vielmehr an Qualitäten +des <em class="gesperrt">Charakters</em> fehlen müsse, die ihren Besitzer ein für allemal +vor solchen an Verhöhnung grenzenden Angriffen schützen mußten.</p> + +<p>Da hatte er eines Tages, als es in Strömen regnete und ihm gerade sein +neuer Regenschirm gestohlen worden war, beim Auf- und Abwandeln in den +gedeckten Kolonnaden beim Buchhändler zwei Bücher entdeckt, die ihn +durch ihre Titel lockten. „Wie wird der Mensch energisch“ hieß das +eine, und „Wie erlange ich die Macht des persönlichen Einflusses“ das +andere.</p> + +<p>Mittags im Lesezimmer — er hatte natürlich den einzigen +<em class="gesperrt">un</em>gepolsterten Stuhl erwischt — sah ich ihn eifrig bald in dem +einen, bald in dem andern Buch lesen. Und als sich gegen Abend das +Wetter aufhellte und er in fremden Gummischuhen — die seinen waren +ihm gegen zwei, merkwürdigerweise unter sich verschiedene, ihm viel zu +große Überschuhe vertauscht worden — neben mir her durch die Pfützen +des Kurparks schritt, sprach er hochbefriedigt von seiner Lektüre.</p> + +<p>Er sehe jetzt ein, daß es ihm eigentlich nur an „Persönlichkeit“ +gefehlt habe, äußerte er in schöner Offenheit. Die „Persönlichkeit“ +aber sei durchaus nichts Angeborenes, das wisse er jetzt, sondern etwas +Erwerbbares, etwas Erlernbares. Vor allem müsse<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> man sich gewöhnen, die +Dinge und Menschen mit festem Blick ins Auge zu fassen.</p> + +<p>Indem er so sprach, übte er den Blick an verschiedenen Laternen des +Kurparks, die ungerührt weiter ihr spärliches Licht in die Regenluft +streckten ...</p> + +<p>Als ich am nächsten Morgen an seinem Zimmer vorbeikam, hörte ich +Michael Monkebach singen. Falsch aber laut und mit einer gewissen +trotzigen Freudigkeit. Das war gegen seine Gewohnheit.</p> + +<p>Ich klopfte an, steckte den Kopf durch die Tür und fand ihn, nur mit +Hose und Hemd bekleidet, sehr merkwürdige und nie gesehene Freiübungen +mit einer gefüllten Waschkanne machen.</p> + +<p>„Ein Stuhl ist mir doch zu schwer dazu,“ erklärte er, „aber sehen Sie +nur, wie mir diese Übungen schon gelingen. Erst Kniebeuge — sehen Sie: +<em class="gesperrt">so</em> — uff, mein Kreuz — jetzt — jetzt: leichtes Zehenwippen +und Strecken des Rumpfs und nun wieder, passen Sie auf — eins — zwei +— Kniebeuge — drei — vier Vorstoßen der Wasserkanne.“</p> + +<p>Er stieß so energisch vor, daß ihm die Wasserkanne aus den Händen +glitt, fiel und zerbrach, wobei auch seine Beinkleider durchnäßt wurden.</p> + +<p>Während er sie mit einem Handtuch trocknete, rief ich das +Stubenmädchen. Sie hieß Adele, hatte rote, selten gekämmte Haare und +war weder schön, noch höflich. Mit Michael Monkebach war sie aber +direkt grob, was mir auffiel. Sie wußte offenbar noch nichts von seiner +neugewonnenen „Persönlichkeit“.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p> + +<p>Als die rothaarige Adele gegangen war, fragte ich ihn, warum er sich +diesen Ton nicht verbeten und die Kecke kräftig angehaucht habe.</p> + +<p>„Das lohne nicht“, meinte er, „bei Untergebenen.“ Aber bei +Gleichgestellten — na, ich werde ja sehen! Man müsse den „Mut zum +Widerspruch“ haben und um der „Persönlichkeit“ willen „verharren“ +— nämlich auf der einmal eingenommenen Stellung — sie geistig +verteidigen, wie eine Festung und dabei die Macht des persönlichen +Einflusses spielen lassen durch das Auge.</p> + +<p>„Es ist der Trick aller Dompteure,“ sagte er zuversichtlich, +„die fixieren die Bestie; und das Tier, instinktiv die Macht der +Persönlichkeit fühlend, duckt — und gehorcht.“</p> + +<p>Beim Mittagstisch saßen wir — Michael Monkebach und ich — einem +Rittmeister in Zivil gegenüber, der sich gern reden hörte und dazu +erstaunliche Quantitäten billigen Moselweins trank.</p> + +<p>Michael Monkebach schien von dieser hellen Kommandostimme aufgeregt +zu werden. Er wippte auf dem Stuhl hin und her, nahm sich fünf Stücke +Schweinebraten, den ihm der Arzt strengstens verboten hatte und den er +auch liegen ließ; fertigte Brotkugeln, die er dann in der Zerstreuung +aß, und fühlte dazwischen nach der Brusttasche, aus der ich den +majonnaisegelben Umschlag des interessanten Werkes „Wie wird der Mensch +energisch“ feindlich hervorlugen sah.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p> + +<p>Der Rittmeister hatte gerade an der Hand eigener, sehr aufregender +Manövererlebnisse einer dicken Rentiere aus Stettin, die sich Tag und +Nacht nicht von einem pfundschweren Bernsteinschmuck zu trennen schien, +den unvergleichlichen Nutzen der Kavallerie für den Aufklärungsdienst +erläutert, da vernahm ich Michael Monkebachs fremdartig schrill +klingende Stimme, die hervorstieß:</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Ich</em> bin der Ansicht — bin der Ansicht, daß beim nächsten Krieg +die Kavallerie einfach eine <em class="gesperrt">tote</em> Waffe sein wird.“</p> + +<p>Er war sichtlich stolz auf den unsinnigen Ausdruck „tote Waffe“ und +sehr erregt. Schweiß stand in reichen Perlen auf seiner Stirn.</p> + +<p>Ich begriff, es war die „Energie“-Probe.</p> + +<p>Ich sah seinen Blick starr, als wolle er ein Huhn hypnotisieren, auf +den Rittmeister gerichtet, der schweigend sein Monokel einklemmte, ein +Lächeln verbiß und dann sehr höflich sagte:</p> + +<p>„Der Herr ist ohne Zweifel Kavallerist gewesen?“</p> + +<p>„Nein, ich bin — bin Landsturm — ja wohl Landsturm <em class="gesperrt">mit</em> +Waffe. Aber meine Ansicht ist deshalb <em class="gesperrt">doch</em> wohlbegründet. +In einem Zukunftskrieg nämlich — in einem Zukunftskrieg —“ Seine +Vorstellungen über den Zukunftskrieg schienen leider doch nicht so klar +und übersichtlich geordnet, wie es für diese Unterhaltung wünschenswert +gewesen wäre. Plötzlich aber verbreitete sich ein Ausdruck der +Entrüstung über sein nervöses, blasses Gesicht und die<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> sieghaften +Worte überstürzten sich schier: „Die Pferde werden totgeschossen, ja. +Und die Reiter — und die Reiter — liegen <em class="gesperrt">unter</em> den toten +Pferden ...“</p> + +<p>Der Rittmeister glaubte es offenbar mit einem gelinde Verrückten zu tun +zu haben. Er ließ das Monokel in die hohle Hand fallen und wandte sich +ruhig zu seiner bernsteingeschmückten Nachbarin.</p> + +<p>„Sie müssen sich vorstellen, meine Gnädige ...“</p> + +<p>Michael Monkebach ließ das starre Auge — er dachte offenbar an den +„Dompteur“ und fühlte die Wichtigkeit des Augenblicks dieser Probe — +nicht von dem Rittmeister, der nach einer Weile den stierenden Blick +unbehaglich empfand, sein Monokel wieder einklemmte und eine merkwürdig +ernste Falte über dem Nasenrücken sehen ließ. Die kerzengerad +aufliegende Falte, die wie eine Fortsetzung des nur durch die recht +knapp bemessene Stirn unterbrochenen Scheitels aussah, gab dem Gesicht +etwas Hartes, Drohendes.</p> + +<p>Ich fühlte: die Katastrophe nahte.</p> + +<p>Die Rosinen und Krachmandeln wurden gerade herumgereicht — es waren +immer dieselben, da niemand jemals davon aß — und die alte Engländerin +am Kopf der Tafel erhob sich, lang und dürr wie eine entlaubte Pappel +im Winter, und schritt, wie immer als die Erste an dem galant die +Tür aufreißenden Oberkellner vorbei nach dem Lesezimmer, wo sie +täglich ihre sieben bis neun Stunden an dem einzigen Schreibtisch +saß und mittels einer goldenen Füllfeder geheimnisvolle Briefe in +Riesenbuchstaben schrieb.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span></p> + +<p>Die Tafel leerte sich.</p> + +<p>„Kommen Sie, Herr Monkebach,“ flüsterte ich besorgt, da mir für den +Filzhutfabrikanten unbehaglich wurde, „<em class="gesperrt">gehen</em> wir schon!“</p> + +<p>Ich suchte durch eine besonders liebenswürdige Verbeugung gegen die +Bernsteindame aus Stettin und den Rittmeister die Aufmerksamkeit von +Monkebach ab und auf <em class="gesperrt">mich</em> zu lenken:</p> + +<p>„Mahlzeit.“</p> + +<p>„Mahlzeit!“</p> + +<p>Der Rittmeister schmetterte es heraus, als ob er eigentlich etwas ganz +anderes sagen wollte, etwa: „Hol euch der Henker!“ oder so etwas.</p> + +<p>Wir waren noch nicht im Vestibül, da kam der Rittmeister hinter uns her:</p> + +<p>„Pardon, wenn ich die Herren störe. Ich möchte Herrn Fabrikanten +Monkebach — ich irre mich doch nicht? — um zwei Worte unter vier +Augen bitten.“</p> + +<p>Er sagte das mit einer sehr höflichen Verbeugung nach mir hin; und +ich beeilte mich zu versichern, daß ich die Herren in ihrer privaten +Besprechung keinesfalls zu stören wünsche.</p> + +<p>Als ich mich empfahl, schweifte mein Blick über Michael Monkebachs +Angesicht. Er sah aus, als habe er seit drei Tagen seine Beerdigung +hinter sich. Die Rechte krampfte sich in die Brustseite, wo der Rock +das köstliche Buch mit allen schönen Lehren über die „Persönlichkeit“ +verhüllte. Die Beine aber, die ihn hinter dem vorausschreitenden +Rittmeister nach dem<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> Rauchzimmer, dem Ort der Unterredung, trugen, +knickten und tänzelten und schlenkerten, als ob sie durchaus nicht +mehr von der Zentrale des Nervensystems eines <span class="antiqua">homo sapiens</span> +zweckentsprechend dirigiert würden, sondern vielmehr einer Puppe im +Kasperletheater angehörten, deren schlotternder Leib voll Sägespäne und +deren zerbeulter Kopf von lakiertem Holz ist ...</p> + +<p>Zwei Stunden später ging ich zu Michael Monkebachs Zimmer hinauf.</p> + +<p>Die gesprächige Kanzleirätin hatte mich mit Mitteilungen über einen mir +gänzlich unbekannten Baron Montecatanio aufgehalten, der, allen Gästen +unsichtbar, die teuersten Zimmer im Hotel bewohnte und früher, wie sie +behauptete, in ganz verwerflicher Weise mit Sklaven am Kongo gehandelt, +dann in Alexandrien eine berüchtigte Spielbank gehalten haben sollte. +Lauter Dinge, die gewiß sehr unschön und tadelnswert, mir aber im +Moment furchtbar gleichgiltig waren.</p> + +<p>Ich traf Michael Monkebach beim Packen der Koffer, eine Tätigkeit, der +er mit einer fast fanatischen Hast oblag.</p> + +<p>„Schließen Sie die Tür hinter sich — den Riegel, bitte, auch,“ rief +er mir flehend zu. „Danke. Sie müssen wissen, der Rittmeister — +übrigens ein <em class="gesperrt">prächtiger</em> Mensch! — wollte mich fordern — auf +Pistolen. Haben Sie schon mal eine Pistole in der Hand gehabt? — Ich +nicht ... Wenn es schließlich<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> noch Säbel gewesen wären. Ich hatte eine +Leidenschaft für Säbel — als Kind. Aber gleich — wo sind denn die +Socken! aha, hier unter dem Nachttisch — aber gleich: Pistolen! — Ich +bin — bin — Himmel, jetzt habe ich eine Fußbank eingepackt! — ich +bin unter <em class="gesperrt">Filzhüten</em> groß geworden. Mein Vater — wollen Sie mir +mal die Zahnbürste reichen? Danke — ist auch — ist <em class="gesperrt">auch</em> unter +Filzhüten groß geworden. Mein Großvater — —“</p> + +<p>Da ich fürchtete, daß noch <em class="gesperrt">viele</em> des Geschlechts „unter +Filzhüten“ groß geworden seien, so lenkte ich ab.</p> + +<p>„Haben Sie denn eine Entschuldigung schroff abgelehnt —?“</p> + +<p>„Den Teufel hab’ ich! Ich habe gesagt, daß ich unter <em class="gesperrt">Filzhüten</em> +groß geworden bin, und daß mein Vater ...“</p> + +<p>„Unter Filzhüten groß geworden ist, ich weiß. Und war er von diesen +Filzhüten, wollt’ ich sagen: von diesen Erklärungen befriedigt?“</p> + +<p>„Das schon. Aber wer weiß, er besinnt sich vielleicht wieder anders. +Gott, so ein Kavallerist. — Das Handwerk verroht, nicht wahr? ... +Eine Tante von mir hatte ein Dienstmädchen, die hatte bei einem +Scharfrichter gedient ... nein, was die für Sachen erzählte, nicht zum +Wiedergeben. Ich hab’ sie übrigens auch vergessen. Aber <em class="gesperrt">das</em> ist +sicher: es gibt Berufe, die das Gemüt verkümmern lassen ... Und dann +wissen Sie, <em class="gesperrt">ich</em> bin nicht für die ‚Persönlichkeit‘ geboren.<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> Und +das mit der Erziehung zur Persönlichkeit —“</p> + +<p>Er riß plötzlich das majonnaisegelbe Buch, das ihm beim Bücken immer in +die Achselhöhle stach, zornig aus der Tasche und schleuderte es in die +Ecke — „das ist Unsinn. Wenn man unter Filzhüten groß geworden ist — +— Sehen Sie nur —“</p> + +<p>Er hielt plötzlich inne und zeigte mir die bereits quittierte Rechnung +des Hotels: „Was hab’ ich eigentlich <em class="gesperrt">hier</em> bezahlt?“</p> + +<p>Er zeigte mit dem Finger auf einen unleserlichen Posten. „Ich kann’s +nicht lesen, der Oberkellner kann’s nicht lesen, Adele kann’s nicht +lesen — aber es macht zwölf Mark.“</p> + +<p>„Und Sie haben —?“</p> + +<p>„Bezahlt! Natürlich. Lieber Herr Doktor, ich <em class="gesperrt">bin</em> eben keine +‚Persönlichkeit‘. Ich will fort, nach Hause — Haferschleim kann ich +dort <em class="gesperrt">auch</em> essen, nicht wahr? Und Kavallerie-Rittmeister lade +ich mir ganz bestimmt nicht ein ... Würden Sie mir die Gefälligkeit +erweisen, <em class="gesperrt">mit</em> zur Bahn zu fahren? Das vorige Mal ist mir der +Kutscher so grob geworden — ich habe dann gern jemand bei mir.“</p> + +<p>Am Bahnhof spendierte sich Michael Monkebach ein Billett <em class="gesperrt">erster</em> +Klasse. Wegen der Nerven.</p> + +<p>Als der Zug ankam — er hatte Verspätung, und alles mußte sehr eilig +gehen — erwies es sich, daß das <em class="gesperrt">einzige</em> Coupé erster Klasse für +einen Erzbischof mit Bedienung belegt war. Die zweite Klasse<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> aber war +durch den Andrang zu einem Sängerfest in der Umgegend total überfüllt. +So fuhr Michael Monkebach mit seinem teuer bezahlten gelben Billett in +einer dritten Klasse mit fünf jüdischen Viehhändlern, von denen einer +einen struppigen, unappetitlichen Bullenbeißer bei sich hatte, der +einen ungewöhnlich starken Hundegeruch ausströmte.</p> + +<p>Noch als sich der Zug in Bewegung setzte, rief ich Michael Monkebach zu:</p> + +<p>„Sie sollten sich beschweren — ihr Geld zurückverlangen.“</p> + +<p>Ich sah noch sein schmerzliches Lächeln hinter dem Fenster, das, vom +Regen gequollen, nur halb herunterzulassen war:</p> + +<p>„Lieber Gott, <em class="gesperrt">ich</em> und — <em class="gesperrt">beschweren</em>. Dazu gehört +Per—sön—lich—keit. Wenn man, wie ich ...“</p> + +<p>Ich hörte nichts weiter, da einer der Viehhändler, auf dessen Fuß +Michael Monkebach wohl unabsichtlich getreten war, ihn sehr hart +anließ. Aber ich ahnte, was er hatte sagen wollen: „Wenn man, wie ich, +unter Filzhüten groß geworden ist ...“</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Ich hatte dann jahrelang nichts mehr von ihm gehört. Auch nichts von +seinen Filzhüten.</p> + +<p>Menschen, die unter anderen Dingen groß geworden waren, hatten mein +Interesse erweckt. Es waren wohl auch Damen darunter. Kurz, ich vergaß +ihn. Vergaß ihn so sehr, daß ich mich sogar seines<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> Namens nicht mehr +entsann, als er in merkwürdigem Zusammenhang, allerdings nur so als +Appendix, als Mitläufer, zuerst wieder an mein Ohr schlug.</p> + +<p>Ich verkehrte damals viel in einem Kreise junger Literaten, die sich +gegenseitig sehr gut gefielen und jeden Freitag in dem Hinterstübchen +eines Restaurants im Westen zusammenkamen, um sich über die Gemeinheit +niedriger Lohnschreiber, die schnödes Geld mit ihren Büchern +verdienten, und über die lächerliche Talentlosigkeit aller nicht +zu ihrem Kreise Gehörigen aufgeregt zu unterhalten. Ich hatte mich +nicht als Mitglied aufnehmen lassen, da ich — ohne den Rausch an +sich hochmütig zu verwerfen — nie ein Freund davon war, mir mit +geschwollenen Redensarten Herz und Hirn zu füllen. Aber als Schwester +eines fanatischen Neutöners, der in seinen Gedichten niemals auch nur +das bescheidenste Satzzeichen anbrachte und deshalb von Heine, Lenau +und Mörike wie von sitzengebliebenen Schulbuben aus der Hilfsklasse für +Schwachsinnige sprach, nahm häufig ein sehr schönes Mädchen an diesen +denkwürdigen Sitzungen teil.</p> + +<p>Sie redete weder klug, noch töricht. Sie war <em class="gesperrt">da</em>, das genügte. +Denn die Schönheit braucht eben nur vorhanden zu sein, um ohne weitere +Anstrengung Besonderes zu wirken.</p> + +<p>Sie bereitete sich dünnen Tee, während die andern meist geschmierten, +billigen Wein tranken; lauschte den donnernden Tiraden des alle Erfolge +aus der<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> Hochburg seiner Unbekanntheit verachtenden Bruders und seiner +hohnlächelnden, umstürzlerischen Sippe und schlug zuweilen ein paar +große sanfte Kinderaugen zu mir auf, blau und tief, wie ein Märchen.</p> + +<p>Wie ein kleiner, zarter Paradiesvogel im ruppigen Krähennest kam +sie mir vor. Und ich begriff es völlig, daß gut die Hälfte aller +sogenannten Gedichte, die diesem kraftgenialischen Kreise entstammten, +an ihre stillen, blauen Augen gerichtet waren. Ich glaube, ich selbst +habe damals ... Aber das gehört nicht hierher. Denn meine Gedichte +reimten sich und gaben zuweilen, wenn man sie aufmerksam las, einen +Sinn. Zwei Eigenschaften, die sie in diesem erleuchteten Kreise dem +grimmigsten Hohn preisgegeben hätten.</p> + +<p>Diese künstlerische Vereinigung hatte auch einige durch Akklamation +gewählte und durch Nachtdepeschen, die diese stolze Ehrung meldeten, +erschreckte „korrespondierende Mitglieder“. Deren Briefe ähnelten +sich alle darin, daß sie sehr schlecht auf gelbe Notizbuchblätter, +zerknitterte Telegrammformulare oder benutzte Papiermanschetten +geschrieben waren und eigentlich weniger von den idealen +Angelegenheiten der Poesie und Kultur als von momentanen ärgerlichen +Verlegenheiten, peinlicher Geldnot, schmerzlicher Untreue einer +Kellnerin und solchen Dingen handelten.</p> + +<p>Nur <em class="gesperrt">ein</em> korrespondierendes Mitglied schien sich in leidlich +geordneten Verhältnissen zu befinden.</p> + +<p><em class="gesperrt">Maruschka Anastasia</em> nannte sie sich in ihren Liedern. Sie war +es, die sich einer ganz erstaunlichen<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> Wertschätzung in diesem Kreise +erfreute. Die Freiheit des Weibes wurde in ihren Gesängen gepredigt, +gefordert, gedroht; die Revolution der Ehe, die geharnischte Auflehnung +gegen uralte entehrende Sklaverei.</p> + +<p>Diese heftigen Gedichte wurden häufig an den Freitagsabenden +vorgetragen. Ein ziemlich verwahrloster, dicker, kleiner Mann, der, +wie er sagte, an einer „Reformation der Rezitationskunst“ arbeitete, +bestieg dann einen Stuhl, knöpfte umständlich den obersten Knopf seines +Hosenbundes und die beiden untersten Knöpfe seiner originell karierten +Weste auf, „damit die Bauchmuskulatur beim Vortrag nicht gehemmt +werde“, faltete die fettigen Hände über der eingedrückten Brust, schloß +die unschönen verschwommenen Augen, um tiefste seelische Konzentration +zu markieren, röchelte, als ob ihm ein D-Zug über beide Beine gefahren +wäre, und schrie plötzlich unter heftigen Zuckungen die Nächstsitzenden +an:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">„Nehmt mir die blut’gen Ketten aus dem Fleische,</div> + <div class="verse indent0">Reißt mir die welken Rosen von der Stirn ...!“</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Und dann gab er wohl zehn Minuten lang mit ungeheurem Gebrüll noch +unzählige Aufträge ähnlichen Inhalts, deren nähere Beschaffenheit +ich vergessen habe. Alles in wilden, bluttriefenden Versen. Wenn er +unter dem demonstrativen Jubel der Versammlung geendet hatte, stieg +er, sichtlich ermattet, dem Beifall mit den fetten Händen wehrend, +verächtlich lächelnd vom Stuhl, machte sich kalte Umschläge<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> um die +Stirn und trank ein sehr bemerkenswertes Gemisch von rohen Eiern, +Kognak, Rotwein, und Benedektiner, das er „Lethe“ nannte.</p> + +<p>Wenn er sechs bis acht Glas Lethe getrunken hatte, nahm er sich einen +Taxameter, gab ihm geheimnisvolle Weisung und fuhr „in die Einsamkeit“, +wie er sagte. Die Mitglieder des Bundes nährten die Überzeugung, der +große Künstler ließe sich dann jedesmal bis zum Waldrand fahren; +dort steige er aus und erwarte schweigend, das Haar dem Spiel der +Morgenwinde preisgegeben, den ergreifenden Anblick des Sonnenaufgangs, +die einzig wahre Sensation, die ihm dies schale Leben noch zu bieten +habe. Seit ich ihn aber einmal, wenige Stunden nach solcher Sitzung, +nach Vortrag und reichlichem Lethegenuß in den Arkadiasälen mit einer +strohblonden Dame sehr heftig und sehr ungraziös Cake Walk tanzend +getroffen habe, war meine ehrfürchtige Bewunderung für das genialische +Einsamkeitsbedürfnis des dicken Lethekonsumenten stark erschüttert. Und +an die Sonnenaufgänge glaubte ich nicht mehr.</p> + +<p>Es waren immer Gedichte von Maruschka Anastasia, die der Reformator +der Rezitationskunst vortrug. Mir kamen sie wie lauter gereimte +Beschimpfungen des Mannes vor; und ich hätte, selbst wenn ich ihren +poetischen Gehalt an Bildern, schönen Wendungen, Blüten der Phantasie +höher eingeschätzt hätte, nicht recht begriffen, warum sich diese +Gesellschaft von flaumbärtigen Literaten just daran berauschte,<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> ihr +eigenes Geschlecht vom Geifer des Hasses einer exaltierten Dame emsig +bespien zu sehn.</p> + +<p>Eines Abends — der Lethetrinker saß nach getaner Arbeit gerade wieder +mit einer kalten Kompresse um die Reformatorenstirne in der Ecke und +rührte mit stimmungsvollem Ernst eine halbe Pulle rubinroten Rotwein +an drei verklepperte Eier — sprang mir eine neugierige Frage auf die +Lippen.</p> + +<p>„Sagen Sie, liebes Fräulein“ ich wandte mich an die schweigend neben +mir mit dem Teekessel hantierende Besitzerin der blauen Märchenaugen, +„heißt Ihre Lieblingsdichterin — ich muß sie doch wohl so nennen — +diese Maruschka Anastasia nun <em class="gesperrt">wirklich</em> Maruschka Anastasia oder +...“</p> + +<p>Der Lethemischer unterbrach alsobald seine rührende Tätigkeit und +stand plötzlich einen sehr lieblichen Geruch nach Kognak und Rotspohn +verbreitend neben mir:</p> + +<p>„Das wissen Sie wirklich nicht? Aber, Mensch, wo <em class="gesperrt">leben</em> Sie? +Maruschka Anastasia ist eine Frau, nicht fern dem Ende der zwanziger, +man kann schon sagen Anfang der dreißiger. Eine verheiratete Frau —“</p> + +<p>„Natürlich <em class="gesperrt">un</em>glücklich verheiratet?“ warf ich ein.</p> + +<p>„Na—tür—lich.“</p> + +<p>Und irgendwoher aus dem Zigarettenrauch kam eine müde Stimme:</p> + +<p>„Haben Sie überhaupt schon einmal eine <em class="gesperrt">glückliche</em> Ehe gesehen?“</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p> + +<p>„Nun — ich dächte zum Beispiel meine Eltern ...“</p> + +<p>Der Lethemischer roch mitleidig lächelnd an seinem Glase:</p> + +<p>„Es liegt mir fern, die Ehe Ihrer geschätzten Eltern hier auf die von +Ihnen behauptete Trivialität untersuchen zu wollen. Wäre ja auch eine +fruchtlose Bemühung. Ich kenne von dieser Ehe auch nichts, als ihr +Produkt: <em class="gesperrt">Sie</em>. Im Anblick dieses Produkts kann ich mich aber — +ohne ihren vielleicht verborgenen Qualitäten nahetreten zu wollen — +<em class="gesperrt">nicht</em> zu dem freudigen Glauben durchringen, daß die dazu nötige +Ehegemeinschaft eine glückliche war.“</p> + +<p>„Danke,“ ich verneigte mich. „Aber auf meine belanglose Person wollte +ich wirklich das durch Ihre gütige Mitwirkung so interessante Gespräch +nicht bringen. Ich fragte in aller Bescheidenheit nach den näheren +Verhältnissen der hier so geschätzten Dichterin Anna Maruschka. Fragte, +weil es mich interessiert, ob da persönliche Erlebnisse vielleicht den +Grund zu dieser düsteren Lebensanschauung gelegt haben, oder ...“</p> + +<p>Jetzt nahm der kleine Egon Felix Gundelmann das Wort. Ein äußerst +merkwürdiger Jüngling, den ich, so lang ich ihn kenne, nie etwas +anderes habe betrachten sehen, als seine eigenen Fingernägel; ohne +daß er aus dieser Betrachtung einmal das naheliegende Bedürfnis +geschöpft hätte, diese Objekte seiner ungeteilten Aufmerksamkeit zu +reinigen. Er fiel durch eigene Produktion in diesem Kreise niemals +lästig.<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> Aber er war, um mit Hamlet zu reden, so etwas wie der +Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters. Allerdings Spiegel +und Chronik ganz im Sinne der anregenden Gesellschaft, die seine +mehr auf Sammeleifer als auf Gedanken beruhende Weisheit umgab. Er +hatte ein geradezu phänomenales Gedächtnis für Namen und Zahlen, war +wegen dieser letzteren Eigenschaft bei den Kellnern sehr unbeliebt, +erschien aber als der geborene Literaturhistoriker, ein wandelndes +Nachschlagewerk. Wann der oder jener giftige Vierzeiler auf der 387sten +Seite der Zeitschrift „Marsyas“ rechts oben in der Ecke gestanden +hatte; wieviel an Honorar die genannte Zeitschrift — der anerkannte +Sammelpunkt der „Jüngsten“ — dem oder jenen Neutöner für seine +tiefempfundenen „Elegien in freien Rhythmen“ schuldig geblieben war; +wie hoch die unheimlichen Saarweine, die der Lethefreund vor drei +Jahren in die Frühlingsbowle geschüttet hatte, auf der Karte notierten +und mit welchem Aufschlag sie der verbrecherische Kellner in Rechnung +gestellt hatte — all solche schwierigen Fragen und erstaunlichen +Gedächtniskunststücke bewältigte Egon Felix Gundelmann spielend. Sobald +Namen, Taten, Zahlen in Frage kamen, blickten aller Augen fragend +und wißbegierig auf ihn. Die seinen aber verweilten nach wie vor auf +seinen unsauberen Fingernägeln, und aus diesen unschönen Ausläufern +seiner Persönlichkeit schien er all sein verblüffendes Wissen mühlos +herauszulesen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p> + +<p>„Maruschka Anastasia“, sagte er jetzt, „ist geboren vor dreiunddreißig +Jahren am neunzehnten Juli, d. h. an dem Tage, an dem im Jahre 1796 +der Buchhändler Georg von Cotta geboren wurde, der später, auf den +Ungeschmack der Menge bauend, den Werken der sogenannten Klassiker +eine heute noch schädlich nachwirkende Verbreitung leihen zu müssen +glaubte. An demselben Tage wurde fünfundzwanzig Jahre später der +Dichter Gottfried Keller in Zürich geboren, dessen Werke ich zwar +nicht hoch einschätze, der aber durch die knorrige Grobheit seines +Wesens und durch die bis ins späte Alter bewährte Vorliebe für starke +gegorene Getränke verriet, daß vielleicht etwas in unserem Sinne aus +ihm geworden wäre, wenn er sich entschlossen hätte weiter zu hungern, +anstatt sich als Staatsschreiber in die schmachvolle Abhängigkeit des +Kantons Zürich zu begeben. Daß an diesem selben Tage dann im Jahre 1870 +Frankreich an Preußen den Krieg erklärte, erwähne ich noch nebenbei. +Dieser Krieg hat für das geistige Deutschland eine tiefe Demütigung +gebracht, indem der Singsang der sogenannten patriotischen Dichter +zu einem Ansehen gelangte, das jeden ästhetisch reifen Beurteiler, +der an die große Zukunft der ungereimten, abstrakten Gedankenpoesie +glaubt, mit tiefster Beschämung erfüllen muß. Wir haben durch diesen +Krieg einige Schlachten und einige Kriegervereine gewonnen und dafür +auf Jahrzehnte das Bewußtsein unserer in blöden Siegesfesten ersäuften +Kulturmission verloren. Erst<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> dadurch, daß vor dreiunddreißig Jahren +Maruschka Anastasia als Tochter eines durch seelische Verirrungen +zum Winkelkonsulenten herabgesunkenen ehemaligen Notars und einer +echten Tochter des Volkes geboren wurde, hat dieser Julitag für das +intellektuelle Deutschland der Zukunft wieder einen Klang und eine +Bedeutung gewonnen.“</p> + +<p>Egon Felix Gundelmann las diese letzten Worte vom Nagel des Daumens +seiner linken Hand mit sichtlicher Befriedigung ab. Ich dankte mit +einigen unbedeutenden Worten für die gütige Belehrung, gab aber der +Ansicht Ausdruck, daß meine Frage eigentlich damit nicht beantwortet +sei, da ich zu wissen verlangte, ob Maruschka Anastasia der richtige, +in den Standesbüchern eingetragene Name dieser erstaunlichen Frau sei, +und ob sie selbst die von ihr so glühend gehaßten Ehefesseln jemals +getragen und — wie ich fast vermuten müsse — mit all der Kühnheit, +die ihre Gesänge durchbrauste, hohnlachend abgeschüttelt habe.</p> + +<p>Egon Felix Gundelmann betrachtete eingehend den Nagel seines mit einem +häßlichen Geschwür aus kupfrig glänzendem Gold geschmückten Ringfingers +und gab — immer im Ton einer wissenschaftlichen Vorlesung — die +überraschende Auskunft:</p> + +<p>„Maruschka Anastasia heißt eigentlich mit ihrem Mädchennamen Anna +Kuntze — mit tz. Auf das tz legt sie Wert. Die letzten Nachrichten, +die wir von ihr hatten, stammen vom 21. Juli des Vorjahres. Sie<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> +dankte uns damals für ein in der Nacht ihres Geburtstages aufgegebenes +Nachttelegramm, das sie selbst, wie sie schrieb, herzlich erfreut +und ihrem offenbar sehr schreckhaften Mann eine kleine Nervenattacke +eingetragen. Sie nennt sich jetzt Maruschka Anastasia Monkebach-Kuntze +und lebt körperlich <em class="gesperrt">neben</em>, seelisch aber weit getrennt von einem +Mann, der ein kleiner Rentier sein soll und sie, ohne ihre Bedeutung +irgendwie mit ethischem Verständnis zu durchdringen, mit gebührender +Verehrung behandelt.“</p> + +<p>„Monkebach-Kuntze. — Monkebach — Monkebach ...“ Ich wiederholte den +Namen immer wieder. Wo hatte ich ihn bloß schon gehört? und in welchem +Zusammenhang? Ich dachte an eine Menagerie, die ich als Kind besucht — +aber nein, die hieß Münsterbach. Dann dachte ich an einen Zahnarzt, der +mir — schrecklichen Angedenkens — einen ganz gesunden Zahn mit Gold +plombiert hatte. Aber nein, der hieß — ja, wie <em class="gesperrt">hieß</em> der? Und +jetzt war ich <em class="gesperrt">ganz</em> konfus, und meine erregten Gedanken pendelten +zwischen Maruschka Anastasia und einem verbrecherischen Zahnarzt hin +und her, ohne einen Halt zu finden.</p> + +<p>Egon Felix Gundelmann hatte mittlerweile noch ein ganzes Taschenlexikon +biographischer Details über mich ausgeschüttet. Ich hörte nicht zu. Da +traf plötzlich die trockene Anmerkung mein Ohr:</p> + +<p>„Die Tragikomödie dieser Ehe eines lächerlichen Philisters mit +einer ganz eigenartigen weiblichen Psyche mit einem von der +leidenschaftlichen Liebe zum großen<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> Erlebnis genährten Genie vollzieht +sich in der Stadt mit dem unsagbar trivialen Namen Bimmlingen.“</p> + +<p>Ich stutzte.</p> + +<p>„In Bimmlingen sagten Sie? Seltsam, dorthin muß ich spätestens Anfang +nächster Woche in Vermögensangelegenheiten.“</p> + +<p>„Vermögensangelegenheiten!“ Der Lethetrinker sprach das Wort mit +tiefer Verachtung mehr in sein halbgeleertes Stengelglas, als zu mir. +„Vermögensangelegenheiten! Für solche Trivialitäten ist Bimmlingen gut. +Aber als Leidenswiege für die zerrüttete Seele einer großen Poetennatur +...“ Der Satz war auf bedeutungsvolle Steigerung angelegt. Aber der +Reformator hatte den Schluckser und mußte sich sehr zu seinem Ärger +hier unterbrechen.</p> + +<p>Mein Geständnis, daß ich nach Bimmlingen reisen mußte, hatte Bewegung +in die dichten Zigarettenwolken des nie gelüfteten Raumes gebracht. Man +sah sogar wieder Gesichter. Erstaunte, interessierte Gesichter.</p> + +<p>Alle redeten durcheinander.</p> + +<p>Egon Felix Gundelmann gab, wie mir schien, in seiner leidenschaftlichen +Art einen kurzen Abriß aus der Stadtgeschichte von Bimmlingen. Ein +hier hochgeschätzter Romancier, der seine Bücher erst nach seinem Tode +weiteren Kreisen bekannt zu geben wünschte, spendete mir den dringenden +Rat, sofort von der Bahn aus zu Maruschka Anastasia zu fahren, um +sie meiner und seiner Verehrung zu versichern. Ein bereits zweimal<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> +verbotener Dramatiker hoffte, daß ich in Bimmlingen ein zuverlässiges +„Tagebuch“ führen werde. Andere hatten noch weitergehende Wünsche +in Beziehung auf meine Reise nach dem durch Maruschka Anastasia +interessant gewordenen Nest.</p> + +<p>Das Mädchen mit den tiefblauen Augen aber setzte die Teetasse hin, +legte mir die spitzen, schlanken Finger ihres reizvollen Händchens mit +noch nie geübter Vertraulichkeit auf den Unterarm und tat, was sie +eigentlich noch nie getan: sie sprach einen zusammenhängenden Satz. Ich +weiß heute, nach elf Jahren! noch ganz genau, wie er lautete:</p> + +<p>„Darf ich Sie bitten, lieber Herr Doktor, Frau Maruschka Anastasia zu +sagen, daß ich sie liebe,“ (wenn sie dieses „sie“ damals im Sprechen +<em class="gesperrt">groß</em> geschrieben hätte, so hätte ich zweifellos „die“ Dummheit +meines Lebens gemacht!) „und daß es mich beglücken würde, ein paar +Zeilen von ihrer Hand zu besitzen in meiner Selbstschriftensammlung, +die fast alle Neueren von Atzler bis auf Zülferich umfaßt.“</p> + +<p>Ich gestehe beschämt, daß ich damals weder wußte, wer Atzler noch +wer Zülferich war. Aber ich tröste mich damit, daß es heute auch +<em class="gesperrt">die</em> wieder vergessen haben, die es einmal gewußt hatten. Denn +die literarischen Taten von Atzler und Zülferich meldet kein Lied, kein +Heldenbuch; und sie sind, wie alle Mitglieder jener festlichen Abende +um den Reformator der Rezitationskunst, wie der seltsame Romancier, der +für seinen Nachlaß arbeitete, und wie der unwahrscheinliche<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> Polyhistor +Egon Felix Gundelmann längst untergetaucht im ruhmlosen Gewoge des +Alltags, der Trivialitäten ...</p> + +<p>Aber meine Fahrt nach Bimmlingen hatte jetzt einen neuen Sinn, einen +ungeahnten Glanz bekommen. Nicht daß ich selbst vor Neugier platzte, +die genialische Maruschka Anastasia von Angesicht zu Angesicht +zu sehen. Aber wenn ich mit einem wundervollen, inhaltreichen +Stammbuchblatt von ihrer Hand wiederkam ... Mir fielen Beispiele +ein, daß Prinzen im Märchen durch ein kühn erstrittenes kostbares +Geschmeide die lang versagte Gunst einer spröden Schönen im Sturme +gewannen. Beispiele ... Beispiele ... Es gehört zu den unbestreitbaren +Merkwürdigkeiten meiner sonst nicht eben komplizierten Natur, daß +mir für <em class="gesperrt">jede</em> Dummheit, die ich zu machen im Begriffe stehe, +„Beispiele“ einfallen. Viele und vortreffliche Beispiele.</p> + +<p>... Als ich einige Tage später — doch früher, als ich ursprünglich +geplant — nach Bimmlingen reiste, war meine eigene Angelegenheit ganz +in den Hintergrund getreten.</p> + +<p>Es war auch gut. Denn in Bimmlingen zeigte es sich sehr bald, daß +das kleine Grundstück, an dem ich als glücklicher Erbe zusammen +mit drei Vettern, einer Tante und einem Waisenhaus beteiligt war, +so gut wie wertlos war, da es dicht neben dem Viehhof lag und ein +normaler Mensch mit gesunden Geruchsnerven das abscheuliche Terrain +nur bei östlichen Winden,<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> die den Stank der Ställe nach der anderen +Seite entführten, betreten konnte. Die meteorologischen Notizen des +Bimmlinger Tageblatts, dessen drei letzte Jahrgänge ich daraufhin +durchsah, ergaben aber, daß die angenehme Stadt Bimmlingen meist von +<em class="gesperrt">westlichen</em> Winden bestrichen wurde; und als ich einem Bimmlinger +Immobilien-Agenten den Kaufpreis nannte, den die miterbende Tante +ersonnen und für den uns das scharmante Grundstück feil sein sollte, +bekam er einen langandauernden Lachkrampf und versicherte mir, daß er +einen so guten Witz nicht mehr gehört habe, seit der letzte Zirkus in +Bimmlingen abgebrannt sei. Da die Tante als Miterbin aber von ihrem +phantastischen Preis nicht heruntergeht, sind wir heute noch im Besitz +des unbebauten Grundstücks und haben die Freude, ein über das andere +Jahr zirka hundert Mark für einen neuen Stachelzaun zu bezahlen, der +einer fröhlichen Jugend Bimmlingens wehren soll, im Unkraut unseres +Besitzes künstliche Festungen zu graben.</p> + +<p>Ich hatte mir für die mir inniger am Herzen liegende Aufgabe, +die Selbsteinführung in die Familie Monkebach-Kuntze, einen, wie +mir schien, vorbildlich schlauen Schlachtplan ersonnen. Am Tage +meiner Abreise hatte ich an <em class="gesperrt">Herrn</em> Monkebach-Kuntze ein sehr +verbindliches Kärtchen geschrieben. Voller Interesse, seine berühmte +Gattin kennen zu lernen, vom Wunsche beseelt, ihr meine persönliche +Verehrung und die meiner Freunde in einem Handkuß auszudrücken, +zugleich<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> aber auch geängstigt von dem Gedanken, daß ich die Dichterin +in ihren die Welt erleuchtenden Arbeiten in nie entschuldbarer +Weise stören könnte, wagte ich es, bei dem von mir unbekannterweise +hochgeschätzten Gatten der seltenen Frau in aller Bescheidenheit +anzufragen, ob ... und wann ... und wie ...</p> + +<p>Es war wirklich ein sehr anständiger Brief. Der Rabe mußte meiner +Berechnung nach den Käs fallen lassen, wie in der hübschen alten Fabel.</p> + +<p>Er <em class="gesperrt">ließ</em> ihn fallen. Als ich ins Hotel kam, lag schon ein +Briefchen da. Unterschrift: Michael Monkebach.</p> + +<p>Monkebach, Mon—ke—bach — wieder rollte mir der Name wie eine +Billardkugel im Kopfe herum; und nach einer nicht sehr geistreichen +Gewohnheit trat ich erst eine Weile ans Fenster, stierte über die +reichlich schmutzige Straße auf das schiefhängende Schild einer Woll- +und Strumpfwarenhandlung und dachte emsig nach. Dann erst las ich den +Brief.</p> + +<p>„Sehr geehrter Herr Doktor, mich freut’s herzlich Sie nach so langer +Zeit wiederzusehn“ — <em class="gesperrt">wieder</em>zusehn, wieso? — „Ich kann es ja +begreifen, daß Ihr hochgeschätzter Besuch, der uns äußerst angenehm +ist“ — <em class="gesperrt">uns</em>? — auf ihn kam mir weniger an — „mehr meiner +lieben Frau gilt, als mir“ — wie käme ich auch wohl dazu, <em class="gesperrt">Herrn</em> +Monkebach zu beehren? es sei denn, daß er am Viehhof ein Grundstück +suchte — „Nichtsdestoweniger wird mir die Erinnerung<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> einer lieben +Badebekanntschaft ein nicht gewöhnliches Vergnügen bereiten“ — +Badebekanntschaft? Herr Monkebach wird doch am Ende nicht der Herr +sein, der in Karlsbad einmal neben mir wohnte und früh morgens um halb +sechs immer Lohengrins Abschied sang, bis ich ihm durch den Kellner +sagen ließ ... „Ich bin ja älter geworden, seit wir uns zuletzt gesehen +—“ sehr wahrscheinlich, ich bin ja <em class="gesperrt">auch</em> nicht jünger geworden +— „aber ein gewisses ruhiges Glück ist bei mir eingekehrt“ — nanu, +bei der ewigen Kettensprengerin ein ruhiges Glück? <em class="gesperrt">Der</em> Mann +mußte Nerven haben, wie Stahl, oder — „Und was mich mit Stolz erfüllt, +Sie werden sehen, so wenig ich auch an dem unvergleichlichen Talente +meiner lieben Maruschka Anastasia beteiligt bin“ — beteiligt; ein +geschäftlicher Ausdruck, der mir sehr mißfiel. Sollte Herr Monkebach +etwa jener schlanke Herr mit dem gefärbten Barte sein, der mir +nach einem harmlosen Tischgespräch auf Rigi Scheideck beim Dessert +meuchlings die Preisliste seiner Naturweine über den Tisch reichte? ... +„beteiligt bin, so darf ich doch ohne häßliches Eigenlob wohl sagen, +daß mein persönlicher Einfluß ...“</p> + +<p>„— <em class="gesperrt">persönlicher Einfluß</em>!“ ... Wie Schuppen fiel es mir von den +Augen.</p> + +<p>Monkebach — natürlich, so <em class="gesperrt">hieß</em> er ... Der Mann mit dem +persönlichen Einfluß. Der Turner mit der Wasserkaraffe. Der dankbare +Leser des mayonnaisegelben Büchleins: „Wie werde ich energisch?“<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> +Der Gegner — <em class="gesperrt">beinahe</em> Gegner des kampflustigen Rittmeisters. +Der Liebling der allwissenden Kanzleirätin. Alles kam mir wieder ins +Gedächtnis. Alles. Und ich war so vergnügt in diesen Erinnerungen, daß +ich abends ins Stadttheater ging, wo ein unsagbar dummes Lustspiel +hundeschlecht gespielt wurde. Ich aber saß unter den ärgerlichen +Zuschauern und lächelte fröhlich vor mich hin. Ich sollte den Mann mit +dem persönlichen Einfluß wiedersehn als Gatten einer intellektuellen +Kettensprengerin.</p> + +<p>Am nächsten Morgen hüllte ich mich in eine erlesene Besuchstoilette, +zog meinen poetischsten Schlips an, ließ meinen Zylinder aufbügeln, +kaufte drei purpurrote Rosen an Stielen, so lang wie Spazierstöcke, und +machte mich auf den Weg.</p> + +<p>Kitzlingerstraße 15. Ein bescheidenes Landhaus in einem nicht +übel gepflegten Garten. In den Rasenflächen standen gräßliche +kleine Terrakotta-Gnome mit feuerroten Zipfelmützen umher. Auch +Rehe aus buntem Gips und giftig grüne Riesenpilze als originelle +Sitzgelegenheiten aus derselben Masse erschreckten das Auge. Mir schien +das <em class="gesperrt">sein</em> persönlicher Einfluß auf den Garten. Die Dichterin +übersah wohl den kinkerlitzigen Zierat.</p> + +<p>Kaum hatte das Mädchen — ich habe nie wieder solche Mischung von +Unsauberkeit und Stupidität in einer weiblichen Erscheinung beobachtet +— meine Karte erst selbst mit Aufmerksamkeit gelesen, dann in ein +Zimmer getragen, so hörte ich auch schon Monkebachs frohbewegte Stimme:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span></p> + +<p>„Hier herein, bitte, nur <em class="gesperrt">hier</em> herein!“</p> + +<p>Grau war er geworden, der gute Michael Monkebach. Den Schneider schien +er noch nicht gewechselt zu haben seit damals. Der Rock schlotterte +immer noch um seinen nicht unansehnlichen Leib, und die Weste sah +immer noch aus, als habe er sie von einem Verwandten geerbt, der +ihn an Leibesfülle ums Doppelte übertraf. Der verblichene Erblasser +mußte allerdings eine Sehenswürdigkeit gewesen sein, die alle in den +Panoptiken vorgestellten Monstra weit hinter sich ließ.</p> + +<p>Michael Monkebach schüttelte mir beide Hände. Er war wirklich sichtlich +erfreut. Dann drückte er mich in ein niedriges und erstaunlich hartes +Sofa und begann die Unterhaltung mit einer Flut von teilnehmenden +Fragen nach meinem Wohlbefinden und meinen Geschäften, die mich hierher +führten. Es war dabei eine große Erleichterung für mich, daß er sich +eigentlich alle Fragen selbst beantwortete. Über meine Person, über +einen Onkel von mir, der auf dem Friedhof in Bimmlingen lag und einen +sehr unverständlichen Spruch auf dem Grabstein hatte, über eine Tante +von <em class="gesperrt">ihm</em>, die ich einmal in Berchtesgaden getroffen, und endlich +über mein übelriechendes Grundstück am Viehhof, das er kannte, weil er +früher — als Junggeselle — stets die Wurstpapiere seines Frühstücks +bei Spaziergängen über den bewußten Stachelzaun geworfen, kamen wir +endlich auf seine Frau.</p> + +<p>Ich deutete in einer Pause, die ein Hustenanfall in<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> seine Rede riß, +bescheidentlich an, daß es mich interessieren würde, wo sich die +interessante Dame jetzt aufhalte.</p> + +<p>„Sie hat heute morgen,“ sagte er, „als sie ein heißes Fußbad nahm, eine +Inspiration gehabt. Eine außerordentliche Inspiration. Sie ließ sich +kaum Zeit, sich abzutrocknen und anzuziehen. Und jetzt —“ er deutete +glücklich lächelnd nach einer grüngepolsterten Türe, die den Nebenraum +abschloß.</p> + +<p>„Aha — sie dichtet?“</p> + +<p>Michael Monkebach nickte mit einem selig zustimmenden Lächeln, als +wolle er sagen, daß mein Scharfsinn das einzig passende Wort für die +von ihr geübte Tätigkeit gefunden habe.</p> + +<p>„Sie werden sie <em class="gesperrt">sehen</em>!“ sagte er dann. Wenn es sich um +die Königin von Saba gehandelt hätte, er hätte nicht strahlender +dreinschauen können.</p> + +<p>In diesem Sinne sprach ich einige glückwünschende Worte.</p> + +<p>Er senkte den vorgeneigten Kopf in die Schultern, als lasse er sich +warmes Wasser wohlig den breiten Rücken herunterlaufen und genoß meine +Teilnahme mit rührendem Behagen.</p> + +<p>Als ich geendet, nahm er das Wort; und während er mit der Spitze +des Zeigefingers die kleinen Careaus auf meinem linken Oberschenkel +nachfuhr, was mir gerade nicht sonderlich angenehm war, legte er +in gedämpftem Ton, von Zeit zu Zeit verstohlen nach der unbewegten +grüngepolsterten Türe spähend, die Beichte eines Glücklichen ab.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p> + +<p>„Sehn Sie, lieber Freund,“ sagte er, „ich darf Sie doch so nennen? +<em class="gesperrt">Alle</em> Leute <em class="gesperrt">beneiden</em> mich. Wie ich Ihnen sage! Ich hab +aber auch ein <em class="gesperrt">Glück</em>, sag’ ich ihnen ... Ich bin kein Jüngling +mehr, nicht wahr? Unter uns: ...zig Jahre. Na, und sie — erst +fünfundzwanzig.“</p> + +<p>Er log nicht ohne Grazie. Oder sollte die Dichterin selbst von solch +kleinlichen Eitelkeiten nicht frei sein und ihm erzählt haben, daß ...?</p> + +<p>„Die Verlobungszeit hätte ja unangenehm sein können. Abends immer +Theater, Gesellschaft, Konzerte — gräßlich! Und dann so um neune rum +muß ich immer mal ein Nickerchen machen. Nur ’n paar Minuten, nachher +bin ich für ’ne Stunde wieder ganz mobil. Aber ich <em class="gesperrt">muß</em> einfach. +Da hilft nichts. Naturzwang! Na, da war’s nu ’n riesiger Dusel, daß +Maruschka Anastasia schon dreimal verlobt war ... Sie hat keinen großen +Wert mehr auf solche Aufmerksamkeiten gelegt, wie sie sonst unter +Brautleuten ... na, ist ja auch ein gräßlicher Blödsinn! — Und dann +war ja ihr <em class="gesperrt">Vetter</em> da, der von den siebenten Ulanen. Sie erinnern +sich doch — der Rittmeister.“</p> + +<p>„Pardon, der Rittmeister, mit dem Sie <em class="gesperrt">damals</em> ...“</p> + +<p>„Jawohl, mit dem ich damals — beinahe ...“ Er zielte mit einer +imaginären Pistole listig mit dem Auge blinzelnd nach dem Bilde einer +stark dekolletierten alten Dame an der Wand. „Komisch<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> ist das Leben, +nicht? <em class="gesperrt">Der</em> ist Maruschka Anastasias Vetter. <em class="gesperrt">Zu</em> ein netter +Mensch. Er schätzt sie sehr. <em class="gesperrt">Sehr</em>. Und damals schon — als wir +verlobt waren — immer viel Literarisches um sie rum. Sie dichtete +ja damals schon. Das war aber nur so die Ouvertüre, sag’ ich Ihnen. +Und jetzt — Berühmtheit! Ze—le—bri—tät! Achtzehn Auflagen in drei +Jahren. Im Winter oft drei bis fünf Einladungen pro Abend! Ja, sehen +Sie, <em class="gesperrt">das</em> nennt man ‚Ruhm‘. Und wissen Sie, wessen Verdienst +das ist? <em class="gesperrt">Mein</em> Verdienst ... Lachen Sie nicht — <em class="gesperrt">mein</em> +Verdienst. Ihre Lyrik, um was dreht sie sich? Lesen Sie nur mal +aufmerksam ihre Sachen. Frühling — is nicht. Sogenannte ‚Liebe‘ — is +nicht. Heimatsklänge — is nicht. Und all so was Schönes — is nicht. +Aber <em class="gesperrt">Ehe</em>, sag’ ich Ihnen, alles <em class="gesperrt">Ehe</em>! Großartig, diese +Wahrheiten, die sie <em class="gesperrt">mir</em> da sagt. Und erst was <em class="gesperrt">ich</em> ihr +entgegne — alles natürlich in Versen, die <em class="gesperrt">sie</em> macht. Ich —? +wissen Sie, ab und zu mal ’nen Brief, aber Verse, ach nein. Niemals +nie. Und nun <em class="gesperrt">diese</em> Frau! Ich komme zu <em class="gesperrt">dieser</em> Frau. Was +für ein Glück, sagen Sie selbst. Sie dichtet für <em class="gesperrt">beide</em>. Sie +schmeißt mit den Ehefesseln nur so um sich. Ach, und wie sie dabei +aussieht! — Ihr Vetter von den gelben Ulanen, der Rittmeister — +<em class="gesperrt">zu</em> ein lieber Mensch — ruft immer ‚Sopha!‘ ... nein, wollt’ +ich sagen: ‚Sappho!‘ ruft er, ‚Sappho!‘ ... Und sehen Sie, Gott ja, +andere Frauen dichten ja auch mal. So Blaumblümleinsuppen und solche<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> +Sachen. Oder von ‚ihm‘. Sie dichtet <em class="gesperrt">auch</em> von mir, meine Sappho. +O ja! aber, sehen Sie, nicht wie die andern. Sie dichtet mich nicht +<em class="gesperrt">an</em>; sie dichtet mich <em class="gesperrt">ab</em>.“</p> + +<p>„Pardon, sie dichtet Sie <em class="gesperrt">ab</em>?“</p> + +<p>„Ja.“ Er nickte still befriedigt vor sich hin.</p> + +<p>„Was verstehn Sie, wenn ich fragen darf, unter ...“</p> + +<p>„Wie ich das verstehe: ‚abdichten‘? O, sehr einfach. Ich sag’ Ihnen ja, +sie ‚sprengt fortgesetzt Fesseln‘. Geistig natürlich nur; seelisch, +nicht wahr. Und die Kette, sehen Sie, die <em class="gesperrt">dickste</em> Kette, das +bin ich.“ Ein unsagbarer Stolz leuchtete warm und herzerquickend +aus seinen Augen, als er fortfuhr: „Ne, wenn ich <em class="gesperrt">das</em> gedacht +hätte, als wir in Prima den ‚Lakoon‘ lasen, daß ich noch mal in die +Literaturgeschichte komme! Das muß ich doch. <em class="gesperrt">Mit</em> dem Bild. Und +diese Kette wirft sie weg. Bloß in Gedichten, bitte. Reine Phantasie. +Mein Gott, ich habe 15000 Mark Rente — da ‚wirft‘ ’ne vernünftige Frau +nicht so leicht. Aber Sie sollten sie mal deklamieren hören:</p> + +<div class="poetry-container s5"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">‚Ha, Elendsgötze meiner schwülen Nächte,</div> + <div class="verse indent0">Beugst du die Fratze lüstern über mich —!‘</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Sehen Sie, <em class="gesperrt">das</em> nenn’ ich ‚<em class="gesperrt">ab</em>dichten‘. <em class="gesperrt">An</em>dichten +kann man’s schon nicht nennen. Guter Ausdruck, was? Von mir! Und nun +stellen sie sich bloß vor: <em class="gesperrt">das</em> Glück! Abend für Abend sitze ich +nach dem Abendessen unter irgendeiner Palme — Gott, Palmen gibt’s ja +jetzt in allen Wohnungen bei uns<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> — und sie, mein ‚Sappho‘, steht +im Kreise der andächtig Lauschenden. In einer Toilette, die mich bei +Gerson vierhundert Mark gekostet hat. Das war noch ‚Vorzugspreis‘ ... +Sie liest wundervoll vor. Ich sage Ihnen, wie diese einzige Frau solche +Pointen herausbringt:</p> + +<div class="poetry-container s5"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">‚Den Schlaftrunk her, daß seine roten Augen</div> + <div class="verse indent0">Die Schönheit meiner Jugend nicht beschmutzen ...‘</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Großartig! Ihr Vetter von den gelben Ulanen, der Rittmeister — +<em class="gesperrt">zu</em> ein netter Mensch! — weckt mich jedesmal, wenn’s zu Ende +ist, unter meiner Palme. Ein guter Kerl, seelensgut. Kennt keinen Neid. +Wenn wir dann zusammen nach Hause fahren — er wohnt dicht neben uns, +ja, Wand an Wand — ja, wenn wir so im Wagen sitzen, wissen Sie, was er +dann sagt: ‚<em class="gesperrt">Das</em> können Sie sich ruhig sagen, liebster Michael‘ +— meint er <em class="gesperrt">mich</em> — ‚<em class="gesperrt">Sie</em> haben da <em class="gesperrt">mit</em>gedichtet. +Wissen Sie, ohne <em class="gesperrt">Sie</em> wär’ ja die ganze Geschichte unmöglich.‘ +Recht hat er. Wahrhaftig. Und da sagen die dummen Leute, ich bin nicht +glücklich!“</p> + +<p>„So, sagen die Leute so was?“</p> + +<p>„Ja. Aber wir haben einen Trick. Wir <em class="gesperrt">lassen</em> sie dabei.“ Er +rieb sich verschmitzt die Hände. „Wahrhaftig, das tun wir. Es ist so +ein bißchen moderne Reklame für die Bücher, verstehn Sie. Mein Gott, +Maruschka Anastasia braucht’s ja nicht, aber — —“</p> + +<p>Er verstummte plötzlich und sah nach der Tür. Sie hatte sich bewegt, +ging auf.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span></p> + +<p>Maruschka Anastasia stand im Türrahmen und sprach nach hinten zu +einem Herrn, der ihr langsam, die Hände in den Hosentaschen, in einem +grauen Wölkchen Zigarettenrauch folgte. Der Herr war in Uniform — in +Ulanenuniform, wie mir schien. Es war der Rittmeister.</p> + +<p>„Ihre Frau Gemahlin hat Besuch —?“ Die Bemerkung entschlüpfte mir wohl +im Ton eines leichten Staunens.</p> + +<p>„Besuch?“ Michael Monkebach dämpfte die Stimme zu einem scheuen +Flüstern, wie es weißhaarigen Kastellanen in alten Schlössern eignet, +die dadurch die tiefe Ehrfurcht vor den an den Wänden hängenden +Ahnenbildern ausdrücken und den Wert der gezeigten Raritäten zu +steigern glauben. „Besuch? O nein. Das ist doch bloß unser lieber +Vetter, der Rittmeister. Maruschka Anastasia produziert leichter, wenn +eine Vollnatur sich im selben Raume mit ihr aufhält. Sie fürchtet sich +zuweilen vor ihren eigenen Träumen, vor den Gestalten ihrer fiebernden +Phantasie. Dann gewinnt sie neuen Schaffensmut aus den kraftvollen, +seelischen Ausstrahlungen solcher gesunden, in sich gefestigten +Vollnatur.“</p> + +<p>Ich will gehängt sein, wenn ich in diesem Augenblick nicht den Eindruck +hatte, als ob die gesunde, in sich gefestigte Vollnatur mit dem spitzen +Zeigefinger der langsam aus der Tasche gezogenen Rechten der sensiblen +Dichterin in der Richtung ihres neckischen kleinen Halsausschnittes +„Kicks“ machte. Wie gesagt,<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> es war mein Eindruck. Aber ich befand mich +hier in einer wunderreichen Atmosphäre, die vielleicht Halluzinationen +der seltsamsten Art begünstigte. Es kann also auch eine Täuschung +gewesen sein.</p> + +<p>Jetzt entdeckten uns die beiden und näherten sich in harmloser +Freundlichkeit.</p> + +<p>Michael Monkebach stellte mich vor, erklärte mit nicht wenigen Worten +den Zweck meines Besuches, indem er von dem Viehhof zu Maruschka +Anastasias Gedichten und von dem Gestank meines ererbten Grundstücks zu +meiner Verehrung für die Poesien der Kettensprengerin die kühnsten und +erstaunlichsten Übergänge fand.</p> + +<p>Der Rittmeister, dessen hervorstechendste Eigenschaft nicht die Geduld +zu sein schien, unterbrach den Redefrohen mit der kühl abgegebenen +Erklärung, daß er erfreut sei, mich hier zu sehen; daß er ferner hoffe, +ich habe eine gute Reise gehabt; und daß er wünsche, ich fühle mich von +den in meinem Hotel vorgekommenen Pockenfällen nicht weiter beunruhigt.</p> + +<p>Ich hatte Zeit, die gefeierte Dichterin zu betrachten.</p> + +<p>Wenn ich nicht durch zweier einwandfreier Zeugen Mund erfahren hätte, +daß es tatsächlich Maruschka Anastasia sei, die leidenschaftliche +Sängerin befreiter Liebe, so hätte ich unbedenklich geschworen, es +sei ein langsam in die minder köstlichen Jahre kommendes kleines +Mädel aus der Konfektion, vielleicht vom Hausvoigtei-Platz in +Berlin, die zunächst mal wohl daran täte, abends früher zu Bett zu +gehen und dreimal<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> täglich Plautsche Pillen zu nehmen. Haare von +indifferentem staubigen Blond, an der nicht eben hohen Stirne zu +unwahrscheinlichen Löckchen gekräuselt, eine kecke Stumpfnase unter +müden, wasserblauen Augen, sehr blasse, blutarme Hände, und eine wie +von einem schmerzenden Bußgürtel geschnürte zerbrechliche Taille — +so sah die Kettensprengerin aus, die Abgöttin meiner genialischen +Freitagsgesellschaft, die Gattin Michael Monkebachs, des Mannes mit dem +persönlichen Einfluß.</p> + +<p>Ich überreichte ihr wortlos die drei Rosen an den langen Stengeln. Sie +beugte huldvoll lächelnd die Stupsnase tief in einen der roten Kelche +und machte die vortreffliche Bemerkung, wie seltsam es doch sei, daß +solche Treibhausrosen häufig einen direkt widerlichen Medizingeruch +hätten. Zum Exempel auch diese.</p> + +<p>Der Rittmeister, der an den Rosen riechen durfte, bestätigte diese +interessante Beobachtung. Die Erwähnung der Medizin brachte ihn wieder +auf die betrübenden Pockenfälle in meinem Hotel, die man sicherlich vor +den bedauernswerten Gästen geheim halte.</p> + +<p>Er knüpfte daran die lehrreiche Geschichte von einem Gasthof zweiten +Ranges in der Provinz Posen, in dem vor Jahren eine plötzlich +ausbrechende Typhusepidemie aus schnöder Gewinnsucht von dem +gewissenlosen Wirte vertuscht worden sei. Besagter Wirt sei dann als +Erster auf Nr. 13 — ein Zimmer, das kein Gast beziehen wollte — +als Opfer der unheimlichen<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> Seuche gestorben. Sein Geist aber sei +acht Tage später dem kurz vorher gekündigten Nachtportier auf der +schlecht erleuchteten Treppe, in nasse Laken gehüllt, erschienen. +Die Nässe habe man denn auch tatsächlich am andern Morgen noch auf +den Stufen zur ersten Etage bemerkt. Die Analyse zweier Chemiker +habe leider zu widerspruchsvollen Resultaten geführt. Der eine habe +Spülwasser angenommen, der andere habe eine weit unappetitlichere +Erklärung empfohlen. Die Witwe habe darauf den entlassenen Portier, +der überall diese gruselige Spukgeschichte erzählte, wegen perfider +Geschäftsschädigung verklagt. Aber das Gericht habe drei spiritistische +Sachverständige vernommen, die aus der Schilderung des schleppenden +Ganges, des nassen Lakens und anderer Attribute der unheimlichen +Erscheinung übereinstimmend entnahmen, daß es sich zuverlässig um +ein durchaus reelles Gespenst gehandelt haben müsse; und daß die +beunruhigende Wahrscheinlichkeit vorliege, das Gespenst werde sich +noch des öfteren nachts auf der Treppe zu der ersten Etage ergehen. +Der Nachtportier sei freigesprochen worden. Die Witwe habe Bankrott +gemacht. Und auf dem Boden des ehemaligen Hotels erhebe sich jetzt +das ernste und solide Gebäude der städtischen Feuerwehr, die ein +furchtloser und vorurteilsfreier Mann kommandiere.</p> + +<p>Während der Rittmeister erzählte, hatte ich beobachtet, wie Maruschka +Anastasia erst die Augen schloß, als überfalle sie eine, von leichtem +Frost<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> begleitete, plötzliche unbesiegbare Müdigkeit. Dann sah ich sie +die Finger auf ihrem Schoß spreizen und wieder zusammenkrallen, als +treibe sie schwedische Fingergymnastik. Dazu hob und senkte sich ihre +in den Linien nicht aufregende Brust in immer kürzeren Zwischenräumen; +und sie schnaufte durch die geblähten, zuckenden Nasenflügel, als habe +sie eben im Laufschritt einen Campanile erstiegen und müsse sich nun +unbedingt Ruhe gönnen, um einem drohenden Herzschlag vorzubeugen.</p> + +<p>Michael Monkebach, halb vom Sitz aufstehend, machte dem Rittmeister +durch Handbewegungen und Gesichterschneiden allerlei Zeichen, +die zweifellos die inständigste Bitte ausdrücken sollten, diese +überaus grausame Geschichte nicht weiter zu erzählen im Angesicht +des beklagenswerten Zustandes, in den sie offensichtlich Maruschka +Anastasias sensitive Natur versetzte.</p> + +<p>Aber der Rittmeister, der wohl auf dem einen Auge total erblindet war +und sein für das andere Auge bestimmtes Monokel gerade umständlich mit +dem seidenen Taschentuche putzte, erzählte die aufregende Historie +ohne jegliche Unterbrechung zu Ende. Und zwar in einem so kühlen, +leidenschaftslosen Ton, als ob er statt vom Hinüberspielen der +Wesenheiten einer vierten Dimension in unser rätselvolles Erdenleben in +Wahrheit bloß vom Einkauf einer Erbswurst oder von einem neuen Mittel, +weiße Handschuhe zu reinigen, berichte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span></p> + +<p>Ich begann die unmittelbare Wirkung der Kraftnatur auf die sensitive +Dichterin zu beobachten und zu begreifen; und ich war sehr gespannt, +wie sich diese tiefe seelische Erregung Maruschka Anastasias endlich +lösen werde.</p> + +<p>Als der Rittmeister geendet hatte und sich mit einer nach solchen +Mitteilungen geradezu erstaunlichen Seelenruhe geräuschvoll die Nase +schneuzte, erhob sich plötzlich Maruschka Anastasia. Immer noch mit +geschlossenen Augen und wie im Sturme wogendem Busen. Michael Monkebach +stand mit halberhobenen Armen neben ihr, offenbar bereit, die Teuere +aufzufangen, wenn sie sinken sollte, aber doch nicht wagend die noch +aufrechtstehende Dichterin zu berühren.</p> + +<p>Der Rittmeister betrachtete diese merkwürdige Gruppe aufmerksam, doch +ohne Zeichen tieferer Erregung durch sein Monokel. Ich aber hatte — +ich weiß heute noch nicht, warum und wieso — eine Glocke mit ziemlich +schmutzigem Wasser ergriffen, in der ein einzelner Goldfisch, schon +halb auf dem Rücken liegend, sein nahes, wünschenswertes Ende zu +erwarten schien.</p> + +<p>Plötzlich bewegte sich Maruschka Anastasia in knappen, zögernden +Schritten vorwärts. Nach der Tür.</p> + +<p>Der Rittmeister erhob sich schwerfällig aus dem Sessel, wie +leidenschaftliche Reiter das tun, die sich auf unruhigen Pferden sehr +munter und auf den allgemein üblichen Sitzgelegenheiten des Salons nur +sehr mühsam bewegen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span></p> + +<p>„Es <em class="gesperrt">hat</em> sie wieder,“ sagte der merkwürdige Krieger, nickte +Michael Monkebach verständnisvoll zu und schritt langsam, die Hände in +den Hosentaschen, hinter der außergewöhnlichen Frau her. Dabei zündete +er sich eine Zigarette an, was mich sehr beruhigte. Noch mehr hätte +es mich allerdings beruhigt, wenn er mir <em class="gesperrt">auch</em> eine Zigarette +angeboten hätte. Aber auf diesen gewiß unbescheidenen Gedanken kam hier +niemand außer mir.</p> + +<p>Als Maruschka Anastasia in dem Gemach ihrer Inspirationen verschwunden +war, nahm mir Michael Monkebach zunächst behutsam das Glas mit dem +halbtoten Goldfisch aus den Händen und stellte es wieder auf das +gebrechliche Bauerntischchen unter dem Kupferstich, der die Medea in +höchster Raserei darstellte. Dann drückte er mich wieder in das sehr +tiefe und sehr harte Sofa und erläuterte mir mit gedämpfter Stimme +die aufregende Szene, an der ich soeben vermutlich in nicht sehr +geistreicher Pose und ohne das geringste Verständnis teilgenommen hatte.</p> + +<p>„Sehen Sie,“ begann er, „nun haben Sie’s <em class="gesperrt">selbst</em> einmal erlebt.“</p> + +<p>Ich leugnete das nicht; ohne mir darüber klar zu sein, <em class="gesperrt">was</em> ich +nun eigentlich erlebt hatte.</p> + +<p>Er begann wieder mit dem Zeigefinger das unbehagliche Spiel auf den +Carreaus meiner Hose:</p> + +<p>„Die Geschichte des Rittmeisters — ist es nicht ein prächtiger Mensch? +Habe ich zuviel gesagt? — die Geschichte hat sie erschüttert, hat +ihre poetische<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> Psyche, ihr dichtendes Unterbewußtsein zur Tätigkeit +aufgerüttelt. Während der Rittmeister — <em class="gesperrt">wie</em> er das aber auch +vorbrachte, nicht wahr? so unberührt von all dem Schauerlichen, +so nervenstark, so kerngesund, so irdisch-gefestigt in all dem +Unerklärlichen — während der Rittmeister erzählte, hat sie bereits +diesen Stoff erfaßt, umklammert, vertieft, neugestaltet, poetisch +verarbeitet. Und jetzt — das duldet keinen Aufschub bei ihr — muß +sie es sofort zu Papier bringen. Sie <em class="gesperrt">muß</em>. Sie schreibt solche +Sachen stets auf ein geripptes dunkelviolettes Papier. Man sagt, Marie +Antoinette habe mit Vorliebe solches Papier benutzt. Finden Sie nicht, +daß meine Frau — im Profil, oder sagen wir: Halbprofil — Marie +Antoinette merkwürdig ähnlich sieht?“</p> + +<p>Ich fand das nicht. Ich wurde von ihrem blassen, ziemlich gewöhnlichen +Gesichtchen in der Tat mehr an den Berliner Hausvoigteiplatz, als an +die Pariser Tuillerien erinnert. Natürlich behielt ich das für mich. Es +waren auch andere Dinge, die mich jetzt interessierten.</p> + +<p>„Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel, Herr Monkebach ...“ begann +ich.</p> + +<p>Aber schon unterbrach er mich.</p> + +<p>„Wie sollt’ ich! Sie glauben nicht, <em class="gesperrt">was</em> mich die Leute alles +fragen. In Beziehung auf Maruschka Anastasia. <em class="gesperrt">Was</em> sie ißt, wie +<em class="gesperrt">oft</em> sie ißt, ob sie Wolle trägt, ob sie nachts gut schläft. +Ja sogar — warten Sie, ich muß den Brief noch in der Tasche haben +— gestern hat sogar ein Verehrer in Fürth,<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> der eine Geschichte des +‚Genies in seiner Abhängigkeit von den natürlichen Lebensfunktionen‘ +plant, bei mir — per Eilboten — angefragt, ob und wie oft Maruschka +Anastasia an Verdauungsstörungen leide ...“</p> + +<p>Ich bat ihn dringend, den indiskreten Brief nicht weiter zu suchen und +mir lieber eine Frage zu beantworten: schrieb Maruschka Anastasia denn +auch Balladen und Gespenstergeschichten?</p> + +<p>Nein, das tat sie nicht. Er belehrte mich, daß jeder Stoff, der sie +fessele, packe, festhalte — wie ich das vorhin bei der wuchtigen +Erzählung des Rittmeisters, der übrigens eine Kraftnatur durch und +durch sei, erlebt habe, — auf der Tiefe ihres Unterbewußtseins sich +sofort in ein eigenes seelisches Erlebnis wandle. Er werde dann in ihre +eigenartige Lyrik, die stets ihr Liebes- — das heiße ihr Eheleben — +behandle, in irgend welcher sinnvollen Weise einbezogen. Ich werde +es erleben, daß auch in der vom Rittmeister mitgeteilten gruseligen +Erzählung nach der wunderreichen Wiedergeburt in Maruschka Anastasia’s +schöpferischen Phantasie <em class="gesperrt">er</em>, Michael Monkebach, wie ich ihn +hier vor mir sehe, eine bedeutsame Rolle spielen werde. Er sei zwar +nie in Posen gewesen, habe weder den verbrecherischen Wirt gekannt +noch dem erwähnten Hausknecht näher gestanden, sei noch niemals von +Gespenstererscheinungen im Wachen oder im Schlafe belästigt worden — +aber, ich werde das ja sehen, <em class="gesperrt">er</em> werde auch in dieser Dichtung +als irgend eine merkwürdige Figur erscheinen, über die er freilich<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> +augenblicklich nicht einmal andeutungsweise eine Aufklärung zu geben +vermöge. Denn für ihn, wie für alle, seien die Dichtungen Maruschka +Anastasias stets Überraschungen, Offenbarungen, Ereignisse. Das +einzige, was er wisse, sei dies: daß seine Natur offenbar so erregend +simulierend, geistig befeuernd auf die unheimlich fruchtbare Phantasie +dieser seltenen Frau wirke, und daß er wohl ohne Eigenlob sagen dürfe, +dies einzigartige Talent sei niemals zu seiner üppigen Entfaltung +gekommen ohne <em class="gesperrt">seinen</em>, ihm selbst allerdings rätselhaften +persönlichen Einfluß.</p> + +<p>Ich weiß nicht, wie die Gedankenverbindung war, aber ich fragte ihn +plötzlich:</p> + +<p>„Und <em class="gesperrt">Kinder</em> — haben sie <em class="gesperrt">auch</em>?“</p> + +<p>Seine Stimme bewölkte sich. „Nein, <em class="gesperrt">noch</em> nicht.“</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Noch</em> nicht? Sie — haben vielleicht begründete Hoffnung?“</p> + +<p>„Ja,“ lächelte er glücklich.</p> + +<p>Ich reichte ihm herzlich die Hand, zog sie aber sofort zurück, als ich +die verblüffenden Worte vernahm:</p> + +<p>„Der Vater des Kindes ist ein Briefträger.“</p> + +<p>„Der — Vater?“</p> + +<p>„Ja.“</p> + +<p>Das glückliche Lächeln wich nicht aus seinem Angesicht. „Der Mann +ist kränklich und kein Freund des Treppensteigens. So hatte er die +gewiß tadelnswerte, aber doch menschlich nicht ganz unbegreifliche +Gewohnheit, lästige Drucksachen, die ihm wertlos schienen, einfach<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> +nicht zu bestellen, sondern damit seinen eisernen Ofen zu heizen. Er +‚sitzt‘ jetzt. Für einige Jahre. Ein sehr harter Spruch. Aber er war +Beamter, nicht wahr? Und schließlich: es gibt ja auch Drucksachen, +deren Wert für den Empfänger ein Briefträger nicht ohne weiteres +abschätzen kann.“</p> + +<p>„Und — von diesem verbrecherischen Briefträger ...“</p> + +<p>„Ja. Er ist jetzt fünf Jahre alt.“</p> + +<p>„<em class="gesperrt">Wer</em> ist fünf Jahre alt?“</p> + +<p>„Nun der Junge von dem Briefträger. Die Mutter des Kindes — sie soll +einmal eine Schönheit gewesen sein, allerdings mit ausgeprägter Neigung +zu einem Kropf — diese liebreizende Frau aus dem Volke hat sich leider +in einem Anfall negativer Lebensfreude erhängt, als die Verurteilung +des Ehemanns erfolgte. Nun ist das hübsche Bübchen bei einer etwas +versteinerten Großmutter untergebracht, einer harten, unsauberen Frau, +die ich im Verdacht habe, daß sie eine alte Kohlenschaufel als einziges +Erziehungsmittel benutzt.“</p> + +<p>Ich atmete erleichtert auf. Die letzten drei Minuten hatte ich zwischen +der Annahme geschwankt, daß ich hier einem ganz frivolen Unhold oder +einem kompletten Narren gegenüber sitze.</p> + +<p>„Also, wenn ich recht verstehe, werter Herr Monkebach, Sie wollen das +eheliche Kind des auf Abwege geratenen Briefträgers <em class="gesperrt">adoptieren</em>?“</p> + +<p>„Ja. Auf die leibliche Geburt eines Kindes ihre Kräfte zu +konzentrieren, wird — nach Ansicht unseres Arztes — Maruschka +Anastasia <em class="gesperrt">nie</em> einwandfrei gelingen.<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> Die Fruchtbarkeit ihrer +Psyche entschädigt vollauf dafür.“</p> + +<p>„Gewiß, ja. Aber —“</p> + +<p>„Um uns — oder eigentlich <em class="gesperrt">mir</em>; denn Maruschka Anastasia hat +sich noch nicht recht befreundet mit dem Gedanken — das überaus +herrliche Vergnügen zu bereiten, ein junges Menschlein wachsen zu +sehen, seine Freude am Leben, seine Dankbarkeit mitzugenießen, +gehen wir — oder eigentlich: gehe <em class="gesperrt">ich</em> — mit dem Plane um, +das fünfjährige Bübchen des seelisch entgleisten Beamten als eigen +anzunehmen und mir auch für die Stunden der Einsamkeit und des Alters +— denn Maruschka Anastasia ist durch ihre Arbeiten und ihre reiche +Korrespondenz häufig von mir ferngehalten — eine rechte Lebensfreude +heranzuziehen.“</p> + +<p>„Und haben sie nicht, wenn sie den Charakter der Eltern, vor allem des +Vaters dieses Kindes prüfen, gewisse Besorgnisse, daß ...“</p> + +<p>Er schüttelte den Kopf. „Ich lebe der heiligen Überzeugung, daß aus +einem Kinde, das früh genug in diese Atmosphäre kommt, in der mein +guter Wille und Maruschka Anastasias Genie sich zu seiner Erziehung +verbinden, noch alles Gute zu machen ist. Und dann, sehen Sie, ich +vertraue auf meinen persönlichen Einfluß.“</p> + +<p>In dem Nebenzimmer, dem Tempel der Inspiration, vernahm man den +gedämpften Ton von Stimmen, die angeregte Zwiesprache hielten.</p> + +<p>Michael Monkebach lauschte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span></p> + +<p>„Sie <em class="gesperrt">sprechen</em>? So ist die Dichtung beendet. Vorher redet sie +nämlich keinen Ton. Sie wird gleich kommen. Nehmen Sie mir’s nicht +übel, lieber Freund ...“</p> + +<p>„Ach, ich verstehe, ich soll —?“ Ich deutete nach der Korridortüre.</p> + +<p>Er war etwas verlegen.</p> + +<p>„Maruschka Anastasia ist stets sehr erschöpft“, sagte er, „nach solchen +besonders heftigen Anfällen ihres Talentes. Sie pflegt dann allerdings +das dringende Bedürfnis zu äußern, allein zu sein. Ich selbst sogar bin +ihr dann oft lästig. Nur die kräftige Vollnatur unseres lieben Vetters, +des Rittmeisters, hat dann etwas wirklich Beruhigendes für sie.“</p> + +<p>So nahm ich meinen Hut.</p> + +<p>Michael Monkebach war gerührt. Er quetschte mir mit schmerzhafter +Herzlichkeit die Hand und versicherte, seit Maruschka Anastasia’s Bild +als etwas mißglückter Buntdruck dem „Marsyas“ beigelegen, habe ihn +<em class="gesperrt">nichts</em> so sehr erfreut, wie <em class="gesperrt">mein</em> lieber Besuch.</p> + +<p>Auf der Schwelle noch fiel mir das Wichtigste ein. Ich hatte doch +versprochen, ein Albumblatt ...</p> + +<p>Michael Monkebach, dem just viel darauf anzukommen schien, daß mein so +erfreulicher Besuch nicht durch seine Länge die angenehme Erinnerung +abschwäche, gab mir hastig ein wertvolles Versprechen.</p> + +<p>„Ich werde“ — sagte er — „das soeben entstandene Gedicht sofort +abschreiben — ich schreibe nämlich <em class="gesperrt">alle</em> Gedichte Maruschka +Anastasias ab.<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> Sie schätzt meine Handschrift sehr. Meine stets +sich treubleibende Ortographie ist die übliche, während die ihrige +schwankt. Auch bin ich in der Interpunktion zuverlässiger. Nur die +Gedankenstriche verteilt sie dann selbst. Das ist Gefühlsache, nicht +wahr? Die erste Niederschrift Maruschka Anastasia’s selbst aber schicke +ich ihnen ins Hotel. Nehmen sie das Blatt für die gewiß charmante junge +Dame mit, die Sie, wie ich recht wohl fühle, besonders hochschätzen. +Und sagen Sie ihr, Sie hätten in einer unvergeßlichen Stunde das +seltene Glück gehabt, die Entstehung dieser Dichtung unter dem +persönlichen Einfluß des Gatten der Dichterin <em class="gesperrt">mit</em> zu erleben.“</p> + +<p>Er reckte sich in seinen viel zu weiten Kleidern stramm auf, als er so +stolze Wort sprach, und schien den knappen Türrahmen füllen zu wollen +mit seiner Persönlichkeit. Und mit einer Handbewegung, die ein König +beider Sizilien nicht so hoheitsvoll und gnädig spenden könnte, entließ +er mich in mein ungemütliches Hotel, in dem nach des Rittmeisters +Ansicht die Pocken ausgebrochen waren ...</p> + +<p>Ob das mit den Pocken seine Richtigkeit hat, weiß ich nicht. +Jedenfalls konnte ich die ganze Nacht vor Hautjucken nicht schlafen. +Ich machte wohl zehnmal Licht, um bald meine Beine, bald meine +Schultern zu betrachten, die nach meinem Dafürhalten schon rötliche +Flecken und Knötchen aufweisen mußten. Davon war allerdings nichts +zu sehen. Hingegen entdeckte ich so gegen halb vier Uhr morgens +eine ausgewachsene<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> Wanze, die eilfertig an der schmutzigen Tapete +promenierte.</p> + +<p>Ich zog mich sofort an und verbrachte den Rest der Nacht mit dem Packen +meines Koffers und der wenig anregenden Lektüre einer drei Wochen alten +Zeitung, in die meine Lackstiefel eingepackt gewesen waren.</p> + +<p>Mit dem Frühzug wollte ich abreisen.</p> + +<p>Als ich beim Frühstück saß, das nur durch eine intensiv nach Pomade +schmeckende Butter bemerkenswert war, brachte mir der Portier zwei +Briefe. Einen zwölfseitigen von der Tante, in dem sie noch einmal „mit +dem Umstand, den sie hatte“, betonte, daß sie unter keiner Bedingung +ihre Zustimmung zu einem pekuniären Selbstmord der Familie gebe, wie +ihn die sinnlose „Verschleuderung unseres Grundstücks unter seinem +wahren Werte“ bedeute. Dieser „wahre Wert“ existiert bis heute nur in +der Phantasie der ideal gesinnten Tante. Sie habe aber — so fuhr der +Brief fort — gehört, in Bimmlingen sollten die Konserven so billig +sein und wäre mir daher dankbar, wenn ich ihr vielleicht zwölf Büchsen +Mirabellen, sechs Büchsen Pflaumen, aber geschälte, acht Büchsen +Brechbohnen ...</p> + +<p>Ich schob den Brief, ohne die weiteren Büchsen nachzuzählen, in meine +Brieftasche und beschloß, daß er erst <em class="gesperrt">nach</em> meiner Abreise +angekommen war.</p> + +<p>Dann öffnete ich den andern Brief. Er enthielt das wertvolle Manuskript +von der Hand Maruschka Anastasias. Die Karte Michael Monkebachs lag +bei<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> mit den in peinlichster Schnörkelschrift aufgeschriebenen Worten:</p> + +<p>„Sehr werter Freund! Anbei das Versprochene. Ich halte es für das +Bedeutendste, was meine liebe Frau geschrieben hat. Sie machen Ihrer +Freundin ein königliches Geschenk mit diesen Blättern. Möge es Ihnen +das charmante Mädchen durchs Leben danken. Der Himmel geleite Sie +glücklich in die Heimat. Dieses wünscht Ihr ganz ergebener Michael +Monkebach.“</p> + +<p>Der Portier meinte, wenn ich etwa noch mit dem Omnibus mitwolle, so +müsse ich mich beeilen.</p> + +<p>Ich steckte also das Manuskript eilends ein und fuhr, immer noch +von heftigem Jucken belästigt, an die Bahn. Dort hatte ich, da der +Omnibus zu einem ganz andern Zug gefahren war — noch 37 Minuten +Zeit und begann nun auf dem Perron, auf meinem Handkoffer sitzend, +die Dichtung zu lesen. Ich „las“ ist eigentlich nicht das passende +Wort. Maruschka Anastasia hatte die Gewohnheit fast jedes Wort +durchzustreichen, dieses durchgestrichene Wort durch ein anderes, +noch undeutlicheres zu ersetzen, das dann häufig wieder durch ein +drittes querdurchgeschriebenes abgelöst wurde. Jedenfalls liest sich +eine Urkunde Karls des Dicken oder ein Liebesbrief Ottos des Großen +an die burgundische Adelheid heute noch bedeutend leichter, als eine +Original-Handschrift Maruschka Anastasias.</p> + +<p>Daß die poetischen Schönheiten einer Dichtung<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> durch ihre +Unleserlichkeit erhöht werden, ist nicht zu behaupten. Ich las an dem +vierseitigen Manuskript eine halbe Stunde auf dem Perron, las die +zweieinhalb Stunden der Bahnfahrt daran, las weitere neun Minuten in +der Droschke vom Bahnhof bis zu meiner Wohnung, las eine halbe Stunde +in meinem Studierzimmer weiter und hörte erst auf zu lesen, als Herr +Jädicke kam, um mich unter vielen vortrefflichen Reden über das Reisen +im allgemeinen und Fragen nach meiner Reise im besonderen zu rasieren.</p> + +<p>Der Anfang des Poëms ist mir in Erinnerung geblieben. Ich gebe ihn +hier wieder ohne die unzähligen Gedankenstriche, die sich wie die +gestrichelten Linien des gewissenhaften Schnittmusters für ein +besonders kompliziertes Ballkleid durch die vielfach verwischten Zeilen +wanden:</p> + +<div class="poetry-container s5"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">„Heut Nacht — ich kam von einem Ball und Schmaus —</div> + <div class="verse indent0">„Die welken Rosen hingen mir im Haare —</div> + <div class="verse indent0">„Da stand — o Gott! der Geist im Treppenhaus</div> + <div class="verse indent0">„Des Manns, den ich gelegt auf schwarze Bahre ...“</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Ich bemerke, daß mir persönlich hier die Konstruktion mißfiel. Indem +man nicht weiß, ob das Treppenhaus zu dem Geist oder zu dem Mann oder +ob der Mann zu dem Treppenhaus oder der Geist zu dem Mann und dem +Treppenhaus gehört. Aber ich bin schließlich nicht kompetent. Es ging +dann weiter:</p> + +<div class="poetry-container s5"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">„Im weißen Laken — gräßlich — ein Gespenst,</div> + <div class="verse indent0">„Moder im Rauschen seiner Totenkleider —</div> + <div class="verse indent0">„Er hob die Knochenhand: ‚Ob du mich kennst —?‘</div> + <div class="verse indent0">„Und bebend sprach ich: Leider — leider — <em class="gesperrt">leider</em>!“</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span></p> +<p>Die sehr bedeutende Steigerung der folgenden Verse ist mir entfallen. +Auch wurden die Rhythmen so kühn in ihrer trotzigen Unregelmäßigkeit, +daß ich manchmal nicht sicher war, ob <em class="gesperrt">ich</em> mich verlesen oder ob +<em class="gesperrt">sie</em> sich verschrieben oder ob das gerade die höchste Kunst der +Neutöner war. <em class="gesperrt">Eines</em> war jedenfalls bewundernswert: Das Geschick, +mit dem sie selbst in die Person des Hausknechts in Posen geschlüpft +war, und die Grausamkeit, mit der der harmlose Michael Monkebach +getötet, aufgebahrt und begraben, als Gespenst auf eine Treppe gesetzt +und von ihr dann in Versen hitzigster Anklage über die Maßen schlecht +behandelt war. Das Gedicht endete denn auch damit, daß sich der +unsaubere Geist Michael Monkebachs beschämt in sein Grab zurückzog und +schwur: nie wieder die Wege des endlich befreiten Weibes zu kreuzen, +dem seine schmähliche Tyrannei „Wermut in alle Becher des schäumenden +Lebens gegossen hatte“. Das ist mir im Gedächtnis haften geblieben, +weil es mir bezeichnend schien, daß Maruschka Anastasia das schäumende +Leben gleich aus <em class="gesperrt">mehreren</em> Bechern trank ...</p> + +<p>Der nächste Tag war ein Freitag.</p> + +<p>Ich nahm die teuren, in eine eigens dafür gekaufte kleine Mappe +gesteckten Blätter mit in den illustren Kreis der „Schaffenden“, die +mich ihres Umgangs würdigten. Sie empfingen mich mit großen Ehren. Als +habe ich den schwarzen Erdteil entdeckt oder Andrées Knochen gefunden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p> + +<p>Ich mußte erzählen, erzählen, erzählen, bis mir der Hals trocken war.</p> + +<p>Und da schließlich so <em class="gesperrt">sehr</em> viel gar nicht zu erzählen war, +die märchentiefen Augen eines schweigend lauschenden Mädchens aber +glücklich und begierig an meinen Lippen hingen, so tat ich etwas sehr +verwerfliches. Ich <em class="gesperrt">log</em>. Aus einer kurzen Zusammenkunft wurden +drei lange, inhaltschwere Nachmittage. Aus einem Rittmeister wurde +ein halbes Offizierkorps. Michael Monkebach wurde schlankweg ein +Übermensch. Und ich —? O, ich hatte mich vortrefflich benommen! Der +gute Eckermann hat aus dem alten Goethe in den neun Jahren von 1823 bis +1832 nicht so viel unerhörte Dinge über Welt und Menschen, über Ruhm +und Unsterblichkeit herausgefragt, wie ich in diesen drei Unterredungen +aus Maruschka Anastasia. Und es befriedigte mich sehr, daß alle ihre +angeblichen Aussprüche bejubelt wurden. Meine persönlichen Einwendungen +fand man dagegen recht unbedeutend.</p> + +<p>Zum Schlusse küßte mich der verbotene Dramatiker auf Stirn, Mund und +Wangen. Er sagte, daß er so umständlich <em class="gesperrt">nie</em> jemanden vor mir +ausgezeichnet habe. Egon Felix Gundelmann versprach mir sein Bild.</p> + +<p>Ein gelegentlicher Mitarbeiter des Marsyas, der auf der Redaktion gar +nichts zu sagen hatte, bot mir sieben Spalten der ersten Nummer des +nächsten Quartals an, um das eben Gehörte dort für alle Gebildeten +niederzulegen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span></p> + +<p>Dann deklamierte der Reformator der Rezitationskunst, der seit +anderthalb Stunden in einem Nebenraum das Manuskript studiert hatte, +mit einer erschreckenden Grabesstimme die Gespensterdichtung. Einige +weinten; andere starrten entgeistert in die Gläser.</p> + +<p>An Maruschka Anastasia wurde dann ein enthusiastisches Nachttelegramm +aufgesetzt, das sie von der tiefen, lähmenden, entkörpernden Wirkung +ihrer Dichtung benachrichtigte. Ich durfte als erster unterschreiben.</p> + +<p>Dann sprang plötzlich der durch reichlichen Lethegenuß seelisch +gehobene Reformator der Rezitationskunst mit gleichen Füßen auf den +ächzenden Tisch, und die Feiernden überbrüllend verkündete er: da sich +gewiß niemals wieder eine <em class="gesperrt">so</em> herzerhebende Weihestunde finden +werde, so habe er beschlossen, schon heute Nacht, jetzt gleich, in +<em class="gesperrt">dieser</em> Minute seine Verlobung mit der Schwester seines lieben +Freundes, des Neutöners und Erneuerers der deutschen Lyrik bekannt zu +geben.</p> + +<p>Mit diesen Worten hüpfte er vom Tisch und schloß die tiefblauen +Märchenaugen meiner heimlichen Liebe mit den schmatzenden Küssen seines +wulstigen Mundes ...</p> + +<p>Ich bin niemals mehr zu den Freitagsfesten gegangen.</p> + +<p>Der Reformator hat heute, glaube ich, in Merseburg ein kleines +Zigarrengeschäft.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p> + +<p>Die ferneren Dichtungen Maruschka Anastasias sind mir fremd geblieben.</p> + +<p>Bloß Egon Felix Gundelmann sah ich in den folgenden Jahren noch +zuweilen. Er hat sogar einen gewissen Einfluß auf mich gewonnen. Es +ist seiner erstaunlichen Beredsamkeit gelungen, mein Leben für den +Todesfall, meine Möbel gegen Feuer, mein unglückseliges Grundstück +in Bimmlingen gegen Hagel und meine Winterkleider gegen Motten +zu versichern. In Literatur macht er nämlich nicht mehr. Bloß in +Versicherungen.</p> + +<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br> +*</p> + +<p>Michael Monkebach aber habe ich noch einmal wiedergesehen.</p> + +<p>Ein halbes Jahr mag’s jetzt her sein, da zwang mich ein abscheulicher +Platzregen — mein Schirm fuhr gerade in einer Elektrischen allein +weiter in der Richtung des Spittelmarkts — in ein Café am Potsdamer +Platz zu flüchten.</p> + +<p>Alle Marmortischchen waren besetzt von nassen, schimpfenden Leuten, +die, trostlos in einer Tasse Kaffee rührend, hinausstarrten auf die +Straße, die sich langsam in einen venetianischen Kanal zu wandeln +schien.</p> + +<p>An einem Tisch zu vier Personen saßen bereits zwei Schachspieler. +Behäbige, alte Herren, die schweigend und schnaufend unter Benutzung +zahlreicher Zahnstocher eine Partie des königlichen Spieles erledigten; +wobei der eine jedesmal, wenn der andere<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> nach langem Besinnen eine +Figur vorwärts schob, ingrimmig brummte: „<em class="gesperrt">Dacht</em>’ ich mirs doch!“ +„Ob ich’s nicht <em class="gesperrt">kommen</em> sah!“ Es war eines jener merkwürdigen +Spiele, bei denen jeder voraus weiß, was der andere tun wird und +eigentlich bloß mit sich selbst spielt. An demselben Tisch hatte noch +ein Herr Platz genommen in einem sehr weiten und für die Jahreszeit +reichlich warmen Mantel, wie ich ihn zuletzt bei alten Schäfern +im Spessart gesehen habe. Ihm gegenüber ein hochaufgeschossener, +knochiger Jüngling von etwa fünfzehn Jahren, der in seinem schon etwas +verwachsenen dunklen Matrosenkostüm mit dem breit herausgeschlagenen +hellblauen Kragen nicht sehr glücklich verkleidet aussah. Der Herr +hielt krampfhaft eine alte rindslederne Reisetasche zwischen den +Beinen und machte den Eindruck, als ob er ausschließlich zur Bewachung +dieses unscheinbaren Schatzes engagiert sei. Nur ab und zu gönnte er +sich einen unruhigen Blick auf eine große Taschenuhr, die er unter dem +leisen Geläute vieler goldener Petschaften tief aus dem Schäfermantel +hervorzog. Der Matrosenjüngling aber fing nicht ohne Kunstfertigkeit, +mit der behutsam vorgeschobenen knochigen hohlen Hand sein Opfer auf +der Marmorplatte überlistend, Fliegen von einem vergessenen Stückchen +Zwetschenkuchen, das herrenlos zwischen den braunklebrigen Kringeln und +bekluckerten Kaffeetassen lag.</p> + +<p>An diesem Tische stand noch ein überzähliger fünfter Stuhl, den mir +als einzigen, der im ganzen<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> Lokale noch frei war, ein diensteifriger +Pikkolo mit herablassender Handbewegung anwies. Ich hielt zwei +feindlich drohende Blicke der gestörten Schachspieler aus, wehrte +den von dem Matrosenjüngling vom Zwetschenkuchen gescheuchten +Fliegen, die sich alsbald auf meinem kurzgeschorenen Haupte von dem +gehabten Schrecken zu erholen trachteten, und bestellte bei einem +atemlos vorüberfliegenden Kellner einen schwarzen Kaffee und einen +Kognak. Dann brannte ich mir eine Zigarre an und vertiefte mich, +meiner darniederliegenden Lebensfreude aufzuhelfen, in ein spaßiges +Leitgedicht Alexander Moszkowskis in den „Lustigen Blättern“.</p> + +<p>„Hast du auch deine wollenen Socken im Koffer, Karl?“ fragte plötzlich, +wie von schrecklicher Ahnung belästigt, der Mann im faltenreichen +Schäfermantel.</p> + +<p>„Aber <em class="gesperrt">ja</em>, Papa“, antwortete der Mückenfänger unwirsch und tat +mit sicherer Hand einen gewaltigen Fang.</p> + +<p>„Ich nehme jetzt Ihren weißen Läufer“, meldete der eine Schachspieler.</p> + +<p>„Ob ich mir’s nicht <em class="gesperrt">gedacht</em> habe!“ zischte der andere ingrimmig.</p> + +<p>Dann war wieder eine Weile tiefe Stille an unserem Tisch. So eng +wir saßen, er war eine Oase der Ruhe in dem Lärm und Getriebe des +verrauchten, unruhigen Lokals.</p> + +<p>„Du hast doch hoffentlich deine Zahnbürste nicht vergessen, Karl?“ Aus +der Tiefe des Schäfermantels kam die bekümmerte Frage.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span></p> + +<p>„Aber nein, Papa“, gab der Matrose ärgerlich zurück und köpfte +mit einem Zahnstocher eine Gefangene auf dem Tellerrand, was sehr +unappetitlich anzusehen war.</p> + +<p>„Ich sage jetzt: Schach der Königin. Mit dem Springer“, meldete der +eine Schachspieler.</p> + +<p>„Ob ich das nicht <em class="gesperrt">kommen</em> sah!“ brummte der andere und schob +wütend sein Kaffeebrettchen in den blauschillernden Zwetschenkuchen.</p> + +<p>Dann war’s wieder stille.</p> + +<p>Plötzlich — ich war gerade auf die Pointe meiner Lektüre sehr +neugierig — beugte sich der Mann im Schäfermantel vertrauensvoll zu +mir herüber:</p> + +<p>„Verzeihung, wenn ich Sie störe ...“</p> + +<p>„Bitte.“</p> + +<p>„Wie lange fahren wir wohl mit der Droschke nach dem Lehrter Bahnhof?“</p> + +<p>... Es gibt merkwürdige Momente im Leben; Momente, in denen man sich +von einer sanften Riesenwelle erfaßt glaubt und sich weit, weit +zurückgeschleudert fühlt in längst verrauschte Strudel der eigenen +Vergangenheit. Die Seele schlägt ihre großen, erstaunten Augen +auf, sieht sich um und erkennt Menschen, die sie längst in einem +Gedächtniswinkel begraben hatte; Dinge, die seit Jahren zerbeult +und zerschlagen und unkenntlich in einer andern Gedächtnisecke beim +wertlosen Gerümpel lagen; Situationen, die wie groteske neblige +Gespenster froher, heller Erlebnisse aus einem fernen, fernen Frühling +wirken.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span></p> + +<p>Solch ein Moment war es, als ich in ganz mechanischer Arbeit meines +Sprechapparates dem Fragenden erwiderte: „Bis zum Lehrter Bahnhof +fahren Sie mit einem Kutscher, der nicht betrunken ist, ungefähr +fünfzehn Minuten.“</p> + +<p>Und dabei sah ich unverwandt in dieses fragend auf mich gerichtete +Gesicht, in dem es jetzt auch wie aufzuckende Erinnerung zu +wetterleuchten begann ... Ganz so dicht bei diesem fremden Manne, +dessen Gliederbau der viel zu weite Schäfermantel wie eine schwarze +Glocke verbarg, mußt’ ich schon einmal irgendwo gesessen haben. +Bestimmt an einem Tische, tafelnd, lächelnd, konversierend. Auf +seiner linken Seite, wie jetzt. Aber damals hatten keine alten Herren +Schach spielend uns gegenüber gesessen. Auch kein Matrosenjüngling +fing damals Mücken. Damals — damals — Und plötzlich <em class="gesperrt">wußt</em>’ +ich’s wieder. Damals saß uns eine dicke Dame gegenüber, eine Rentiere +aus Stettin mit einem pfundschweren Bernsteinschmuck und neben ihr +im funkelnagelneuen Zivil, das ihn wie einen Zuschneider am Sonntag +erscheinen ließ, der Rittmeister, der sich so gern reden hörte und dazu +so erstaunliche Quantitäten Moselwein trank. Damals im Bade an der +<span class="antiqua">Table d’hôtes</span> — —</p> + +<p>„Herr Michael Monkebach — nicht wahr?“</p> + +<p>„Das ist aber eine Freude, <em class="gesperrt">lieber</em> Herr Doktor. Ihr Gesicht +kam mir doch gleich so bekannt vor. Erst dacht’ ich an einen +Stationsvorsteher auf der<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> Strecke Weimar-Apolda, der mich mal so +furchtbar grob angefahren hat vor sechs Jahren — natürlich, wie +konnt’ ich nur ... Wie ist’s Ihnen denn ergangen? Sind sie noch an der +Stuhlbeinfabrik in Heiligenstadt beteiligt, ja? Geht sie noch immer so +glänzend?“</p> + +<p>Da ich niemals an einer Stuhlbeinfabrik in Heiligenstadt beteiligt war, +so konnte ich ihm darüber keinerlei Auskunft geben. Aber er schien +auch gar keine Antwort zu erwarten. Seine Fragen waren lediglich +nervöse Entladungen seiner Freude; waren rethorische Vergnügungen +seines frohbewegten Herzens. So erkundigte er sich noch, ob ich noch +immer Karlsbader Wasser trinke, ob ich mir die Zigaretten nach wie +vor direkt aus Kairo kommen lasse, ob ich noch so leidenschaftlich +Briefmarken sammle und ob ich noch immer als Wanderredner des Vereins +für Feuerbestattung tätig sei. Lauter Dinge, an die ich nie in meinem +Leben gedacht habe.</p> + +<p>Einen Augenblick schöpfte er Atem, um dem Matrosenjüngling einen +pantomimischen Verweis zu geben, weil ihn sein Jagdeifer in bedenkliche +Nähe des Schachbrettes gebracht hatte und der eine Spieler, nach +den Störenfried hinblickend, seine dicken Finger schon seltsam +aggressiv bewegte. Diesen Moment benutzte ich, dem Wiedergefundenen +zu versichern, daß er mich zwar richtig wiedererkannt habe, was mir +natürlich äußerst schmeichelhaft sei, daß er mich aber in Bezug auf +meine Lebensgewohnheiten offenbar mit<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> einem, wahrscheinlich sogar mit +mehreren seiner Bekannten verwechsle.</p> + +<p>Michael Monkebach rieb sich nachdenklich die nicht unbedeutende Nase. +Der vergrämte Zug, den ich früher schon zuweilen bemerkt hatte, kehrte +unter diesen Strichen seiner nervösen Finger, tiefer, melancholischer +wieder.</p> + +<p>„Sie müssen schon entschuldigen,“ sagte er. „Was so im Laufe der Jahre +alles uns besuchen kam ... Es war wirklich ... Ich erinnere mich eines +Ungarn, der kein Wort deutsch sprach, der zwei Tage lang, eigentlich +unaufgefordert, zu Tisch blieb, immer nur Maruschka Anastasia anstarrte +und schließlich von ihrem Schreibtisch ein Falzbein aus Elfenbein mit +großem, leider unverständlichem Wortschwall, offenbar als ‚Erinnerung‘ +einsteckte. Ich entsinne mich eines kleinen, krummbeinigen Polen, +der uns durch seine französische Konversation viel Mühe machte. +Er hatte Maruschka Anastasias Gedicht ins Polnische übersetzt und +deklamierte uns zwei Stunden lang seine Übertragungen vor. Es klang +sehr merkwürdig, war aber doch ein bischen langweilig, da wir ja keine +Silbe verstanden. Er regte sich furchtbar auf dabei, der Gute. Und +wir mußten ihm später viel Rotwein einflösen, damit er einen Anfall +von Herzschwäche überwand. Einer der letzten war ein sehr blasser und +schweigsamer Herr aus Chemnitz, der künstlerische Dichterporträts — +als Amateur — aufnahm. Er brachte einen großen Apparat mit, auch<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> eine +sehr eigentümliche Vorrichtung für Blitzlicht. Mit dieser Vorrichtung, +die seine Erfindung war, hat er uns die Gardinen in Brand gesteckt. Wir +hatten einen großen Schrecken. Und das übelste war, auf dem Bilde hat +Maruschka Anastasia später zwei Köpfe.“</p> + +<p>„Wie geht es ihrer verehrten Frau Gemahlin?“ unterbrach ich den Strom +seiner Erinnerungen.</p> + +<p>„Wie es ...“ Er sah zerstreut auf die Uhr. „Ich denke gut. Ich hoffe +es. — Fünfzehn Minuten sagten Sie? Dann werden wir wohl ... Karl, laß +doch die Fliegen in Ruh! Du genierst die Herren da.“</p> + +<p>„Ich nehme ihren Turm mit der Königin,“ annonzierte der eine +Schachspieler und warf dabei einen wütenden Blick nach dem unentwegten +Mückenfänger.</p> + +<p>„Ob ich das nicht die ganze Zeit <em class="gesperrt">kommen</em> sah!“ hohnlächelte der +andere, als ob ihm sein Gegner einen großen ingrimmigen Spaß mit dieser +Mitteilung gemacht habe.</p> + +<p>„Um fünf Uhr dreizehn geht nämlich unser Zug nach Hamburg,“ sagte +Michael Monkebach, indem er einen vorüberhuschenden Kellner an seiner +weißen Jacke festhielt, daß sie in allen Nähten krachte. „Bitte, laufen +Sie nicht <em class="gesperrt">wieder</em> vorbei! Also ich habe eine Tasse schwarzen +Kaffee und ein Hörnchen, — eigentlich nur ein halbes, denn es war eine +Schwabe darin eingebacken — der Junge hat drei Tassen<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> Schokolade und +drei Stück Zwetschenkuchen. Es waren doch drei, Karl?“</p> + +<p>„Vier“, korrigierte der tapfere und gewissenhafte Esser.</p> + +<p>„Pardon, ja — <em class="gesperrt">vier</em>,“ entschuldigte sich Michael Monkebach, der +unter dem ungnädig strafenden Blick des Kellners errötete.</p> + +<p>Dann fand eine sehr merkwürdige und sehr unleserliche Addition auf der +Marmorplatte statt. Der Kellner wechselte sein Silberstück, dankte +kühl und verschwand eilfertig nach dem Buffet, schon von weitem eine +umständliche Bestellung brüllend.</p> + +<p>Michael Monkebach schüttelte den Kopf, während er die wenigen +Nickelstücke in sein Portemonaie zurücklegte. „Hatte ich ihm nicht ein +Fünfmarkstück hingelegt? Mir war’s doch so als ob ... Er hat mir nur +auf einen Taler herausgegeben.“</p> + +<p>„So rufen Sie ihn doch zurück“, mahnte ich. „Ich hatte <em class="gesperrt">auch</em> den +Eindruck, daß es ein Fünfmarkstück war.“</p> + +<p>„Zurückrufen? Ach nein.“</p> + +<p>Es war, als ob Michael Monkebach körperlichen Schmerz beim Ausdenken +dieser gefährlichen Eventualität empfinde. Er war noch der Alte, +zutraulich, hilflos, ängstlich, ein prädestiniertes Versuchsobjekt für +alle kleinen Spitzbübereien einer verschlagenen Menschheit. Alt war er +geworden. Ganz grau an den dickgeäderten Schläfen. Sein Gang hatte den +letzten Rest von Elastizität eingebüßt. Er bewegte sich mühsam<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span> und +müde, als ob der faltenreiche Schäfermantel mit Bleistücken gefüllt +sei, die ihn sacht aber unaufhaltsam niederzögen.</p> + +<p>„Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie,“ schlug ich vor. „Drei haben ja +bequem im Taxameter Platz.“</p> + +<p>„Ich steige auf den Bock“, entschied der Jüngling, indem er, die Hände +in den Hosen, seinem Vater die Reisetasche überlassend, sehr laut und +sehr falsch pfeifend voranschritt.</p> + +<p>„Du — —“ Michael Monkebach wollte offenbar diese verwegene und +gefahrvolle Unternehmung nicht zugeben; aber er sah die unwirsch +aufgeworfenen Lippen des trotzigen Bubengesichts und änderte alsbald +seinen strengen Entschluß: „Du — mußt dich aber <em class="gesperrt">fest</em>halten, mit +beiden Händen,“ sagte er. „Ich werde dem Kutscher auftragen, daß er gut +acht gibt und nicht zu rasch fährt.“</p> + +<p>„Also kommen Sie.“</p> + +<p>Es hatte aufgehört zu regnen. Der Platz lag wie eine einzige, +spiegelnde Riesenpfütze da.</p> + +<p>Wir nahmen uns einen Taxameter. Michael Monkebach gab dem Kutscher +so ausführliche Anweisungen, als ob es sich um eine Reise durch +die entlegensten Teile der Mandschurei und nicht um eine Fahrt vom +Potsdamer Platz nach dem Lehrter Bahnhof handele. Er bat ihn auch, +dem jungen Herrn alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Insbesondere den +Zoologischen Garten und das Schloß.</p> + +<p>„Soll ick vielleicht über Potsdam fahren?“ gab<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> der Kutscher als +einzige Antwort zurück, nahm dem bereits auf den Bock gekletterten +Jüngling die Peitsche aus der Hand, klatschte ermunternd über den +nassen Rücken des melancholischen Fliegenschimmels und fuhr halblaut +vor sich hinmurmelnd die Königgrätzerstraße entlang.</p> + +<p>„Sie werden Ihre Frau Gemahlin in Hamburg treffen —?“</p> + +<p>Michael Monkebach wäre beinahe aus dem Wagen gefallen vor Schreck. „Ich +werde — meine ...? Wieso? Ist sie dort? Haben Sie Nachrichten von +Maruschka Anastasia?“</p> + +<p>Nun war die Reihe der Verblüffung an mir. „<em class="gesperrt">Ich</em>? Wieso — ich? +Ich meinte blos, ob Ihre Frau Gemahlin ...“</p> + +<p>Er lächelte verlegen und mit dem Zeigefinger diskret auf den auf dem +Bock hin- und herschaukelnden Jungen deutend dämpfte er seine Stimme +zu einem säuselnden Flüstern, das er nur zu einigen eingestreuten +Ermahnungen für den Sohn erheblich verstärkte.</p> + +<p>„Sie müssen nämlich wissen, lieber Freund, ich habe mich von Maruschka +Anastasia — ja, wie sag’ ich doch gleich — getrennt. Das ist wohl +das rechte Wort. Oder eigentlich <em class="gesperrt">sie</em> hat sich von <em class="gesperrt">mir</em> +getrennt. Ganz kurz nach Ihrem lieben Besuch damals — ich entsinne +mich jetzt sehr wohl, wann das war. Maruschka Anastasia hat damals +jenes schauerlich-schöne Gedicht geschaffen, in dem ich ihr als +Wasserleiche — nein<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> doch, das war vorher — ich weiß schon: in dem +ich ihr als nachtwandelndes Gespenst erschien.“</p> + +<p>„Ganz recht. Durch eine Erzählung des Rittmeisters ...“</p> + +<p>Michael Monkebach machte eine Bewegung, als ob er einen Schüttelfrost +erwarte. Er zog den Schäfermantel fester um seinen Leib und sah nun +ganz aus wie ein schwarzer Sack, auf dem als unscheinbarer Knopf und +verunglückter Zierrat das blasse Haupt eines schlechtrasierten alten +Herrn angebracht ist. Ich erinnere mich, in meiner Jugend solche +Lichthütchen im Hause eines frommen Onkels gesehen zu haben.</p> + +<p>„Der Rittmeister“, sagte der Kopf auf dem schwarzen Sack, „ja sehen +Sie, er war doch eigentlich <em class="gesperrt">keine</em> Vollnatur. Es war ein Blender, +ein im Grunde genommen sittlich <em class="gesperrt">nicht</em> hochstehender Mensch. +Ich denke mir, der ständige, fast ausschließliche Umgang mit Pferden +und rassereinen Foxterriers — er hatte drei Stück, die uns viel +Last machten — hat das Edle, Reinmenschliche in ihm — Karl, sitze +<em class="gesperrt">ruhig</em>, halte die Beine <em class="gesperrt">bei</em> dir! — was wollt’ ich sagen? +Ja so, das Reinmenschliche hat der Rittmeister im Stall wohl verloren. +Sie glauben nicht, was er für rohe, unzarte Briefe schrieb.“</p> + +<p>„An Sie?“</p> + +<p>„An mich? Aber nein. Wie sollte er wohl an mich ...? An Maruschka +Anastasia natürlich. Ich fand diese odiösen Blätter durch einen Zufall +—<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> Karl, das ist das Brandenburger Tor, sieh es dir genau an, mein +Sohn, hier links geht es in den Tiergarten — Ja, durch einen Zufall. +Mein Gott, Maruschka Anastasia war sorglos, wie ein Kind. Das war eine +ihrer liebenswürdigsten Eigenschaften. Sie hat auch nie gemerkt, wenn +uns eine Köchin betrog. Und ich denke, <em class="gesperrt">jede</em> Köchin betrog uns. +Sie gab mir selbst die Mappe, in der einige von diesen Briefen offen +lagen. Ich sollte ein sehr langes Gedicht von ihr abschreiben — das +ist der Reichstag, Karl, Begas hat ihn gebaut —“</p> + +<p>„Walloth, bitte,“ verbesserte ich.</p> + +<p>„Richtig ja, Walloth. Sieh ihn dir genau an, mein Sohn, da werden die +Gesetze gemacht — — Ja, ja die Gesetze!“ Er lächelte sonderbar vor +sich hin. „Maruschka Anastasia hielt nicht viel von Gesetzen. Als ich +damals die Briefe gefunden und gelesen hatte — sie lagen ganz offen +in der Mappe und die Überschriften waren so sonderbar — da sagte ich: +Maruschka Anastasia“, sagte ich, „das ist doch wider alles Gesetz und +alle Ordnung. Du beschimpfst mich in deinen Gedichten, schön. Ich weiß +ja doch, daß du es nur in deiner herrlichen Phantasie tust, und daß es +in unserem Vaterlande viel Leute gibt, die das gerne lesen. Also warum +soll ich der Literatur meinen bescheidenen Anteil weigern? Ich gebe +sogar zu, das ich <em class="gesperrt">stolz</em> darauf bin, einen gewissen persönlichen +Einfluß auf die moderne Dichtung zu gewinnen, obschon mir selbst das +Talent versagt ist.<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> Auch daß ich dir als Gespenst erscheine, ist aus +solchen Gesichtspunkten gewiß in Ordnung. Obschon es vielleicht nicht +jedem angenehm wäre, sich selber als Gespenst zu sehen. Aber daß du dir +von dem Rittmeister solche Briefe schreiben läßt, Briefe, wie sie ein +verliebter Hausknecht — Wir fahren jetzt über die Spree, Karl, sieh +sie dir genau an. Es ist kein reißender, aber ein sehr bedeutsamer Fluß +— Ja, <em class="gesperrt">so</em> sprach ich ungefähr zu Maruschka Anastasia.“</p> + +<p>„Und sie?“</p> + +<p>„Ja — sie! Es ist eine merkwürdige Frau. So impulsiv, so ganz und +gar unberechenbar. Man könnte eine Sphinx, könnte mehrere Sphinxe aus +ihr machen. Was glauben Sie, was sie tat! Sie zitierte einen nicht +ganz klaren Ausspruch — ich glaube von Schopenhauer, er kann aber +auch von Macchiavelli gewesen sein; und dann nahm sie plötzlich einen +japanischen Aschenbecher und warf ihn nach mir. Ich bückte mich rasch, +fiel über den immer vollen Papierkorb. Als ich mich wieder erhob, war +Maruschka Anastasia aus dem Zimmer gegangen.“</p> + +<p>„Und dann?“</p> + +<p>„Ich habe Maruschka Anastasia — — Was ist das doch für ein Theater?“</p> + +<p>„Das Lessingtheater.“</p> + +<p>„Richtig, ja. — Karl, sieh es dir genau an, es ist das Lessingtheater +— Ja. Ich habe Maruschka Anastasia <em class="gesperrt">nie</em> wieder gesehen. Sie hat, +<em class="gesperrt">wie</em> sie war, mein Haus verlassen und ist dem Rittmeister — er<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> +befand sich damals mit seinen Terriers auf einem von den Zeitungen +sehr gerühmten Distanzritt — entgegengereist. Der Rittmeister hat mich +einige Tage später auf Pistolen fordern lassen. Meine Freunde haben mir +gesagt, es hätte das eigentlich umgekehrt sein müssen. Nun, es war ja +auch <em class="gesperrt">so</em> gut.“</p> + +<p>„Sie haben sich — geschossen?“</p> + +<p>„Aber das war doch unmöglich. Gleich nachdem Maruschka Anastasia ihre +Möbel durch den Spediteur holen ließ — <em class="gesperrt">einen</em> Tag nach ihrer +Flucht — schloß ich doch mit Frau <em class="gesperrt">Benzmann</em> ab.“</p> + +<p>„Sie haben sich — wieder verlobt?“</p> + +<p>„Gerechter Himmel — ich <em class="gesperrt">denke</em> nicht daran! Frau Benzmann ist +Karls Großmutter — ich denke, ich erzählte Ihnen damals — eine +vortreffliche, nur etwas, sagen wir: etwas zu energische Frau.“</p> + +<p>„Ach, die alte Dame mit der — Kohlenschaufel? Der Junge ist also ...“</p> + +<p>Michael Monkebach sprach so leise, daß ich ihn nur noch verstehen +konnte, wenn ich mein linkes Ohr dicht unter seine Nase hielt. Das tat +ich. Denn die verwickelten Schicksale des Mannes mit dem persönlichen +Einfluß interessierten mich sehr.</p> + +<p>„Durch die Adoption erwuchsen mir doch Verpflichtungen, nicht wahr? +Ich konnte mich doch jetzt nicht von jedem beliebigen Rittmeister, +der meine weitgehende Gastfreundschaft, drücken wir uns milde aus: +mißbraucht hatte, über den Haufen schießen lassen. Sie begreifen +das? Ich habe Frau Benzmann, — sie trinkt<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> leider stark und ist als +Verwandte recht lästig, — dem Jungen und mir selber versprochen, +ein guter Vater zu sein. <em class="gesperrt">Nur</em> ein Vater. Man muß etwas sein +und das ganz. Ich wollte meinen ganzen persönlichen Einfluß geltend +machen, wollte dieses Menschheitspflänzchen zu herrlicher Blüte zu — +Karl, wirst du augenblicklich dem Kutscher die Peitsche zurückgeben? +Au-gen-blick-lich!“</p> + +<p>Auf dem Bock hatte sich so etwas wie ein Kampf entsponnen, den der +neckisch aufgelegte Gaul dazu benutzte, uns in einem harten, stoßenden +Galopp bald nach links bald nach rechts unsanft an eine Bordschwelle zu +fahren.</p> + +<p>„Du sollst die Peitsche hergeben!“ Halb aufstehend kniff der ergrimmte +Michael Monkebach den renitenten Pflegesohn in eine seinem Arm +erreichbare besonders fleischige Körperstelle.</p> + +<p>Der Junge gab schrill aufquietschend die Peitsche zurück. Und die +genußreiche Fahrt nahm einen friedlicheren Verlauf.</p> + +<p>„Und haben Sie denn nun rechte Freude an <em class="gesperrt">die</em>sem Sohn?“</p> + +<p>Michael Monkebach umging die direkte Antwort.</p> + +<p>„Es war nicht immer ganz leicht,“ sagte er. „Es meldeten sich störende, +kleine Atavismen — Sie wissen, sein armer Vater, der ehemalige +Briefträger ... Der Bedauernswerte ‚sitzt‘ jetzt wieder. Er machte als +Kassenbote — ich hatte ihm die Kaution gestellt — eine unangemeldete +Erholungsreise und vergaß, zuvor<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> einen der Firma gehörigen +Tausendmarkschein abzugeben ... Übrigens, ich möchte nicht schlecht +sein, aber, ehrlich gesagt, mir ist’s für alle Teile fast lieber, +er ist auf solche Weise aufgehoben. Seine Besuche waren nicht sehr +angenehm. Er hetzte den Jungen auf. Ich glaube, es war auch <em class="gesperrt">sein</em> +Gedanke, daß Karl zur <em class="gesperrt">See</em> gehen sollte. Er dachte mich wohl +damit am empfindlichsten zu treffen.“</p> + +<p>„Sie lassen den Jungen zur <em class="gesperrt">See</em> gehn?“</p> + +<p>„Mein Gott, ich ‚lasse‘ —? was will ich machen? Wenn nun einmal +sein junges, törichtes Herz daran hängt. Und in der Schule — +unter uns: er ist leider nicht sehr begabt. Wenigstens nicht für +Unterrichtsgegenstände. Zuweilen hat er wohl ganz überraschende +Geistesblitze, aber die sind immer mit einer gewissen Tücke verbunden. +Sie könnten zum Exempel Erdbeermarmelade verstecken, <em class="gesperrt">wo</em> Sie +wollten — er würde sie finden. Aber im schlichtesten Aufsätzchen eine +Kuh zu beschreiben oder eine Mühle oder einen Storch — er bringt’s +nicht fertig. Nun hab’ ich ihn also angemeldet als Schiffsjungen in +Hamburg. Der Kapitän ist ein Schulfreund von mir. Er nimmt ihn dort +schon an der Bahn in Empfang. Gleich die erste Fahrt ein hübsches +Stückchen Wasser ... Nach Valparaiso. Es soll gute Zucht sein auf dem +Schiff. Auch über das Essen habe ich mich vergewissert. Na, natürlich +nicht gerade Erdbeermarmelade; aber kräftig und reichlich.“</p> + +<p>„Ist da nun nicht ein trauriger Gedanke, einen<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> Sohn zu haben und doch +wieder <em class="gesperrt">keinen</em> Sohn zu haben?“</p> + +<p>„Gewiß, gewiß. Aber, was wollen Sie, sein Herz hing daran, nicht wahr? +Er wäre mir verbummelt, verbittert zu Hause. Und <em class="gesperrt">so</em> — ich +denke, ich kann doch für ihn sorgen. Lächeln Sie nicht, das ist doch +etwas, ist ganz viel. Ich kaufe ihm warme Unterwäsche, wenn er nach +Spitzbergen fährt, und ich suche ihm leichte Sommersachen aus, wenn er +nach dem Äquator steuert. Ich habe mir einen neuen großen Atlas gekauft +— meinen schönen alten Kiepert hat Maruschka Anastasia irrtümlich +unter ihren Sachen mitgenommen. Und so kleine Fähnchen hab’ ich in +einem Papierladen erstanden, wissen Sie, so lustige bunte Wimpelchen +an Stecknadeln, wie sie die großen Dampfschiffahrtsgesellschaften auf +ihre Karten stecken. Genau solche. Das hab ich ihnen abgesehen. Und so +mache ich auf der Karte alle Fahrten mit ihm; und abends lese ich die +Berichte von den Seewarten. Und aus jedem Hafen — das hab ich schon +ausgemacht mit meinem Schulfreund, dem Kapitän — bekomme ich ein +ausführliches Telegramm. Sehn Sie, mich hat das Leben gelehrt, es ist +gar nicht so wichtig, daß man immer <em class="gesperrt">körperlich</em> bei den Menschen +ist, die man liebt, die man halten und schützen und fördern möchte. +Maruschka Anastasia zum Beispiel — ich habe sie <em class="gesperrt">nie</em> wieder +gesehn. Aber es freut mich doch an jedem Ersten im Monat, wenn ich, die +Hand auf der Brusttasche, die Bückeburger Straße<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> hinaufgehe und ihr +das Geld auf ihr Konto bei der Deutschen Bank einzahle.“</p> + +<p>„Was — Sie — Sie — unterstützen Ihre geschiedene Frau noch —?“</p> + +<p>„Das <em class="gesperrt">muß</em> ich doch. Ich bin ja der schuldige Teil, nicht wahr? +Heißt das: vor der Welt. Wir haben das ganz hübsch so eingerichtet. +— Und dann hat ihr Verleger Bankrott gemacht. Und der Rittmeister +hat doch selbst nichts, nicht wahr? Er verkauft manchmal einen Wurf +Foxterriers — aber mein Gott, jetzt sind wieder die schottischen +Schäferhunde Mode. Er hat Unglück der Mann, wirklich, er tut mir leid.“</p> + +<p>Wir waren am Lehrter Bahnhof und stiegen aus.</p> + +<p>Der Zug stand schon bereit. Michael Monkebach eroberte für den Jungen +einen Eckplatz, Rücksitz am Fenster. Er dachte an alles, brachte die +Reisetasche im Gepäcknetz unter und erprobte umständlich auf mehrere +sinnreiche Arten, ob sie nicht etwa dem Daruntersitzenden auf den +Kopf fallen könnte. Er kaufte ihm noch ein paar Orangen und zwei +fingerdick belegte Brote; er belehrte ihn noch über die wohlgesetzten +Begrüßungsworte, die er dem Kapitän bei der Ankunft in Hamburg +widmen sollte, ermahnte ihn dringend, auf die Reize der Aussicht ein +Augenmerk zu haben und sich ja nicht aus dem Fenster zu beugen, weil +einem da leicht kleine Kohlenstäubchen ins Auge fliegen könnten, was +sehr fatal und schmerzhaft sei. Und mit einer unnachahmlich diskreten +Handbewegung<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> auf eine dunkle Verbindungstür nach einem kleinen +Kabinett weisend, flüsterte er: „Und — du weißt, lieber Karl, für +alle Fälle ... <em class="gesperrt">Genier</em>’ dich nicht, Junge! Solche Dinge sind +menschlich. Die vornehmste Dame ist nicht frei davon.“</p> + +<p>Ich hielt mich bescheiden etwas zurück, den Abschied nicht zu stören.</p> + +<p>Daß der Jüngling von Sentimentalitäten überwältigt werden könne, schien +er nicht zu befürchten. Er betastete neugierig den blanken Griff der +Notbremse und prüfte die geheimnisvolle Plombe, was Michael Monkebach +sehr in Verwirrung setzte. Er drehte die Heizungskurbel, las die +ausführlichen Bestimmungen über „verlorene und gefundene Gegenstände“ +mit lauter Stimme von einem angeschlagenen Blättchen ab und bat +schließlich seinen Vater, dem Mathematiklehrer zu bestellen, daß er ihn +nie habe ausstehen können und für einen ekelhaften Esel halte.</p> + +<p>Das war der letzte Gruß des künftigen Seefahrers an die Heimat, an die +Vergangenheit, an das Festland.</p> + +<p>Der Zug setzte sich in Bewegung.</p> + +<p>Michael Monkebach zog mit nervöser Hast ein sehr sauberes Taschentuch, +reichlich so groß wie eine Kinderwindel; und er winkte mit der +ganzen Kraft seines Armes, so lange der Zug in Sicht war, wobei er +im Überschwang der Gefühle am äußersten Ende des Perrons herlief und +beinahe den diensttuenden Stationsvorsteher auf die Schienen geworfen +hätte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span></p> + +<p>Als wir langsam die Treppe herunterstiegen, blieb er plötzlich stehen, +legte mir die Hand auf den Arm und sagte:</p> + +<p>„Ist es nun nicht ein wunderbarer, ein, möchte ich sagen, erhebender +Gedanke, daß der Junge vielleicht in drei Monaten in Kapstadt vor Anker +geht, oder in sechs Monaten in den Hafen von Habana einläuft oder +in Montevideo an Land klettert oder in Melbourne? Und ich in meinem +stillen Landstädtchen, der ich nur noch seine ziemlich schlechten +Bilder und sein zerbrochenes Kinderspielzeug und seine zerpflückten +Schulbücher habe als Erinnerungen an so viele Sorgen und Hoffnungen und +gern erfüllte Pflichten, ich weiß: daß er unter Kaffern und Indianern, +unter Grönländern und Indiern und unter lauter seltsamen Menschen, +die eine fremde Sprache reden und fremden Sitten gehorchen, plötzlich +etwas sagen, etwas tun wird, daß er nur von <em class="gesperrt">mir</em> hat, nur von +<em class="gesperrt">mir</em> haben kann. Er wird sich plötzlich auf eine Lehre besinnen, +die ich ihm gab; wird ein Wort, eine Sentenz anwenden, die er mich +oft gebrauchen hörte. Und bewußt oder instinktiv wird er ein winziges +Spürchen Kultur, die Kultur von <em class="gesperrt">meiner</em> Kultur ist, unter die +Feuerländer und Kanibalen, unter die poesielose Hafenbevölkerung des +schmutzigen Ostens, unter die armen Fischer im Eis des hohen Nordens +tragen. Und so dünn und klein diese Fäden auch sein mögen, <em class="gesperrt">mein</em> +persönlicher Einfluß, den ich auf sein Kindergemüt übte, umspannt +auf solche Weise in ein paar Jahren<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> vielleicht die ganze Welt. Ein +Späßchen, das <em class="gesperrt">ich</em> einmal gemacht, erzählen sie sich vielleicht +am lodernden Wachtfeuer am Amazonenstrom. Eine Handbewegung von mir, +wenn ich abends den Tee bereitete, wird vielleicht in Lappland von +einem schmierigen Eingeborenen als fremde Kulturblüte nachgeahmt. +Ein gutes Wort, daß ich gelegentlich aus dem Gedächtnis nach einem +deutschen Dichter falsch zitierte, klingt vielleicht in derselben +irrigen Version in einem Tempel bei Nagasacki wieder. So hat alles +Trübe sein Fröhliches, jeder Schmerz seine Heilung in sich selbst. +Ich verliere, sehn Sie —“ Er stockte einen Augenblick, dann sprach +er mit wehmütigem Lächeln weiter: „Ich verliere einen Jungen an die +große Welt da draußen; und mein Haus wird still und einsam. Aber ein +Stückchen, ein Spürchen, ein Gruß von mir passiert mit <em class="gesperrt">ihm</em> den +Äquator, fährt mit ihm durch die Wendekreise. Und auf all das Fremde, +Große, Schöne da draußen, das ich mit eigenen Augen nie sehen werde, +habe ich ganz heimlich und ganz bescheiden durch die Fahrten meines +Adoptiv-Kindes einen gewissen persönlichen Einfluß.“</p> + +<p>Während er mehr zu sich selbst, als zu mir sprach, hatte er den +schwarzen Schäfermantel auseinandergeschlagen und wischte sich mit +dem riesigen Zipfel des Taschentuches verstohlen das Auge. Als er +aber meinen freundlich verstehenden Blick auf sein gerötetes Antlitz +gerichtet sah, steckte er das Tuch sofort weg, zwinkerte noch ein +paar Mal wie prüfend mit<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> dem Augendeckel und erklärte dann ein wenig +unsicher im Ton:</p> + +<p>„Es muß mir ein Kohlenstäubchen ins Auge gekommen sein.“</p> + +<p>Dann schritt er im Gewühl der Passagiere eines eben angekommenen +Zuges zwischen einem höheren Offizier und einer Eierfrau durch die +Perronsperre ins Freie ...</p> + +<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p263"> + <img class="w100 mbot3" src="images/p263.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<figure class="figcenter illowe28 padtop5 break-before" id="p264"> + <img class="w100" src="images/p264.jpg" alt="Druck von E. Schultze & Co., + G. m. b. H., Gräfenhainichen"> +</figure> + +<p class="s5 center mtop2">Druck von<br> +C. Schulze & Co., G. m. b. H.<br> +Gräfenhainichen</p> + + +<div class="chapter padtop3 mbot3 break-before"> + +<p class="s3 center mtop2 mbot3">Bücher aus dem<br> +Verlage ○ ○<br> +Concordia Deutsche<br> +Verlags-Anstalt ○<br> +<em class="gesperrt">Hermann Ehbock</em><br> +Berlin W. 50 ○ ○<br> +Geisbergstraße 29</p> + +</div> + +<hr class="full x-ebookmaker-drop"> + +<div class="eng break-before"> + +<p class="s4 center mtop1">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br> +Berlin W. 50.</p> + + +<figure class="figcenter illowe24" id="p275a"> + <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<p class="s2 center mtop3">Rudolf Presber:</p> + +<p class="s1 center"><span class="mright2">Von Leutchen,</span><br> +<span class="mleft2">die ich lieb gewann</span></p> + +<table> + <tr> + <td class="s3 vam"> + <div class="center bb">15 Auflagen </div> + </td> + <td class="vam"> + <div class="center">in kurzer<br> + Zeit</div> + </td> + <td class="s3 vam"> + <div class="center bb"> Preis</div> + </td> + <td class="vam"> + <div class="left mleft1"> geheftet Mk. 3.50,<br> + gbden.   Mk. 4.50.</div> + </td> + </tr> +</table> + +<hr class="spacer"> + +<p class="s5"><b>Berliner Tageblatt.</b> <em class="gesperrt">Welch ein Buch! Welch ein lustiges Buch +durch und durch!</em> Der ernsteste, bis aufs äußerste überlastete +Minister, ja alle überlasteten Menschen (und wer wäre es nicht?) +hätten freudige, fröhliche Stunden, wo sie ab und zu aufsehen müßten +vom Lesen, um sich vom Lachen auszuruhen und minutenlang zu stoppen, +um sich zu erholen. Ja, welch ein <em class="gesperrt">wundervolles köstliches Buch ist +es</em>! Voller (wenn erlaubt ist, so zu sagen) durchdringenden Humors. +Wie scharf hat der Dichter uns Menschen gesehen, „in diesem Fall“ wie +scharf unsere großen und kleinen Eigenheiten gekannt! Wie vielen wird +dies Buch ein erfrischendes Buch sein, wo sie mal beim Lesen alle und +alle Sorgen an den Laternenpfahl hängen können! Und die Kranken, die +darin lesen, müssen gesund werden (<em class="gesperrt">Detlev von Liliencron</em>).</p> + +<p class="s5"><b>Leipziger Tageblatt.</b> Dieses Buch stelle ich <em class="gesperrt">an einen ganz +besonderen Platz in meiner Bibliothek</em>. Ich stelle es dahin, wo +die Sorgenbrecher des Lebens stehen, dahin, wo all das traulich +zusammensteht, was pessimistische Gedanken und Gefühle verscheucht, +was mir die Schatten des Lebens bannt und die Sonne goldiger macht. +Ganz in die Nähe der ernsten Philosophen stelle ich es, nicht zu weit +weg von Shakespeare, dem genialen Witzbold, und nicht zu weit auch vom +(nicht zeitlich, aber wesentlich) älteren Jean Paul ... Der Wert der +Presberschen humoristischen Erzählungen, ihr ganz <em class="gesperrt">einzigartiger und +außerordentlicher künstlerischer Wert</em>, besteht in der Fähigkeit +des Dichters, sich in die Lebensgewohnheiten und Lebensauffassungen +der Personen völlig hineinzudenken, die er uns schildert. Nur der +wirkliche Dichter vermag seine Figuren lediglich durch sich selbst +humoristisch wirken zu lassen. Da ist nichts gesucht und an den Haaren +herbeigezogen, <em class="gesperrt">all diese Personen leben</em>, leben, so wie sie der +Dichter schildert.</p> + +<p class="s5"><b>Die Literatur (Hamburger Nachrichten).</b> In diesen Skizzen zeigt +sich der Verfasser, den wir als einen unserer innerlich reichsten +und feinsten Lyriker bereits kennen, als treffsicherer Spötter und +Satiriker. „Der Mäcen“, „Liardot II.“, „Mein Porträt“ usw. sind +<em class="gesperrt">Kabinettstücke humoristischer Lebensepisoden</em>.</p> + +<p class="s5"><b>Dresdener Nachrichten.</b> Ein Zug von, ich möchte fast sagen +<em class="gesperrt">überwältigendem Optimismus</em> geht durch jede einzelne dieser +feinen Skizzen, aus denen der Humor als der „verschönte Ernst“ zu uns +spricht, jene Liebe zu den Menschen, die stets in dem großen Verstehen +ihrer Schwächen und Fehler, ihrer Leiden und Freuden ausklingt. Man +fühlt es, Rudolf Presber ist das Leben nicht stumm geblieben, er hat +es sich selbst gedichtet, zur Poesie umgestaltet in den Sorgen des +Alltags, in den Freuden der Feierstunden, in Jahren des Ringens und +Leidens, in Augenblicken der Freude und des Glücks. Nur ein solcher +Mensch, den das eben zum Dichter gemacht hat, kann Leben so sehen, wie +es Presber sieht ... Nur wenige Dichter, die heute mit uns und hinter +uns leben, verstehen es, <em class="gesperrt">mit solcher Herzlichkeit zu schreiben, mit +so viel echtem Gemüt zu erzählen</em>, wie dieser Poet, um dessen Lippen +immer ein Lächeln zu schweben scheint, aus dessen leuchtenden Augen +stets ein warmes Leuchten bricht, mag er auch nicht immer von lachendem +Frohsinn sprechen.</p> + +<p class="s5 mbot3"><b>Breslauer Zeitung</b>: „<em class="gesperrt">Ich habe lange nicht so gelacht</em>“, +sind die Worte, die jeder ausrufen dürfte, der das entzückende +humorvolle Buch „Von Leutchen, die ich lieb gewann“, von Rudolf Presber +aus der Hand legt. Es ist reiner, klarer, echter Humor.</p> + +<p class="s4 center mtop3 break-before">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br> +Berlin W. 50.</p> + +<figure class="figcenter illowe24" id="p275b"> + <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<p class="s1 center">Die Diva und Andere</p> + +<p class="s2 center"><span class="s7">von</span> <b>Rudolf Presber</b></p> + +<p class="s4 center"><span class="bb">Sechste</span> Auflage</p> + +<p class="s3 center">Preis: Geheftet Mk. 3.—, gebunden Mk. 4.—</p> + +<hr class="spacer2"> + +<p class="s5"><b>Münchener Neueste Nachrichten</b>: Einen hohen und seltenen Genuß +verschafft die Lektüre dieser von sonnigem Humor und sprudelnder +Heiterkeit erfüllten Skizzen. Presber, der feinsinnige Lyriker +und geistreiche Spötter, ist unstreitig auch einer unserer besten +Humoristen. Das neueste Buch ist ein schlagender Beweis dafür. Wie +prächtig bearbeitet ist die kleine Skizze „Die Diva“, mit welch +bitterer Ironie deckt der Verfasser mit wenigen genial hingeworfenen +Strichen die ganze Falschheit und Niederträchtigkeit dieser drei sich +gegenseitig umschmeichelnden Gestalten, der Diva, des Kritikers und des +Dichters, auf. Nichts darin erscheint übertrieben, sondern alles atmet +natürliche Frische. Eine ebenso große Rolle spielt das komische Element +in der künstlerisch fein gearbeiteten und ergötzlich geschilderten +Skizze „Der rätselhafte Findling“, der durch das Erscheinen Sherlock +Holmes als Sohn des Dalai Lama erkannt wird. Der überaus ansprechende +Stil, der das ganze Buch durchweht, übt einen unwiderstehlichen +Zauber aus. Warmherzig und voll Empfindung ist das Buch so recht dazu +geeignet, jedermann von krankhaften Seelenzuständen zu befreien und +allen Pessimismus zu verscheuchen. Presber ist ein ganzer Künstler, +dessen Phantasie einen Zündstoff bildet, dessen Wirkung niemand sich +entziehen kann.</p> + +<p class="s5"><b>Internationale Literatur- und Musikberichte</b>: Ein echter +Sorgenbrecher! Man kennt Presbers Humor schon von seinem Buche her: +„Von Leutchen, die ich lieb gewann“. Hier ist derselbe Humor, derselbe +geistreiche Witz, die gleiche Kunst der kurzen, scharf pointierten +Erzählung. Die vierzehn kleinen Erzählungen sind Meisterstücke ihrer +Art und werden mit Recht dazu beitragen, Presbers Namen in die Reihe +der ersten Humoristen zu stellen. Schon die Tatsache der 5. Auflage +ist der beste Beweis für die Güte des Buches. Ich empfehle es auf das +allerwärmste.</p> + +<p class="s5"><b>Breslauer Zeitung</b>: Zwanglos intensiv teilt sich wieder die +Grundstimmung der Presberschen Prosasatiren mit: Klar erkennt man in +der Karikatur den fein durchschauten, festgeformten Typ, im scharfen +Angriff die verstehende Entschuldigung, im brillierenden Wortwitz die +Treffsicherheit der inneren Pointe, in der schneidigen Ironie noch die +warme Herzlichkeit des Optimisten von Geburt. Nicht viele sehen jetzt +so wie Rudolf Presber. Am meisten Otto Ernst (der Erzähler natürlich!), +wo ihm das Leben ein frohes Farbenspiel ist. Aus einiger Entfernung +schon grüßen die Menschen Heinrich Seidels und die Querköpfe Hans +Hoffmanns sich mit Presbers Leuten. Und ganz aus der Weite reckten +sich dann die Charakterfiguren noch weit Größerer auf. Die Form — +sie ist bei Presber mit dem Geschick des Routiniers dem allerjüngsten +Geschmack angepaßt — wird nicht über den soliden Dauerwert dieser Art +Humor hinwegtäuschen, der nicht Presbers persönliches Eigen allein ist, +sondern künstlerische Daseinsäußerung eines typischen Temperaments, +das zum Glück jeder Epoche immer wieder neu ersteht, nie unverstanden +bleiben darf und von seiner Zeit immer nur die Aeußerlichkeiten leiht.</p> + +<p class="s5"><b>Der „Rheinische Kurier“</b>: Presber ist nicht nur in seiner +engeren Heimat, sondern im ganzen deutschen Vaterland als einer +der geistvollsten Plauderer und Feuilletonisten bekannt, der +es versteht, auf der Grundlage einer scharfen Beobachtung und +einer feinen psychologischen Zergliederung Grazie und Anmut mit +ästhetisch-philosophischem Ernst zu verbinden. Wie immer, so bekundet +auch Presber in der vorliegenden Sammlung geistvoll-humoristischer +Silhouetten seine großen Vorzüge. Mit kecken Strichen versteht er seine +„Helden“ und „Heldinnen“ uns vorzuführen, ihre Tugenden zu preisen und +ihre Schwächen unbarmherzig zu geißeln und doch so liebenswürdig dabei +zu bleiben, daß keine Bitternis in der Seele des Lesers aufsteigt.</p> + +<p class="s5"><b>Deutsche Tageszeitung</b>: Von Rudolf Presber, dessen bereits in +vierzehnter Auflage erschienenes Buch von „Leutchen, die ich lieb +gewann“ nach dem Ausweis des Buchhandels zu den meistverlangten +Neuerscheinungen dieses Jahres gehört, ist soeben das amüsante +Geschichtenbuch „Die Diva und Andere“ in sechster, vermehrter Auflage +mit neuem, charakteristischem Buchschmuck von Hanns Anker erschienen. +Alle Vorzüge einer humor- und gemütvollen Erzählungskunst, die dem +Verfasser des „Von Leutchen, die ich lieb gewann“ nach dem einstimmigen +Urteil der Kritik unter die ersten Humoristen einreiht, findet sich in +diesem Buche in bunter Fülle wieder.</p> + +<p class="s5"><b>Berliner Tageblatt</b>: Rudolf Presber hat viel Begabungen: er kann +sehr schöne zartflimmernde Verse machen; er kann mit ganz aktuellem +Witz sich zum Herrn einer momentan interessanten Situation machen; er +kann sich träumend über die platte Wirklichkeit erheben und kann auch +als rechtes Weltkind harmlos fröhlich irgendeine Schnurre erzählen. Von +<em class="gesperrt">alldem</em> findet sich etwas in diesem Satirenband.</p> + +<p class="s5 mbot3"><b>Die Post</b>: Presber liebt es, Satire und Humor und Grazie +ineinander zu flechten. Seine Satire wird nie bösartig und gallig, der +wundervolle süddeutsche Humor streicht mit einer weichen, warmen Hand +über die Spitzen und Widerhaken der Satire und kulminiert zumeist die +temperamentvoll losfahrende Vehemenz der Satire in einem befreienden +und herzerquickenden Gelächter. So etwas bringt ein Norddeutscher nicht +gut zuwege, dazu muß man schon Süddeutscher sein von dem leichten und +doch empfindungsvollen fränkischen Geblüt.</p> + +<p class="s4 center mtop3 break-before">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br> +Berlin W. 50.</p> + +<figure class="figcenter illowe24" id="p275c"> + <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<p class="s1 center">Die Bilder-Stürmer</p> + +<p class="s3 center">Eine Tragödie in fünf Akten</p> + +<p class="s2 center"><span class="s7">von</span> <b>Cléon Rangabé</b></p> + +<p class="s3 center">Übersetzt und für die Deutsche Bühne bearbeitet von</p> + +<p class="s2 center">Rudolf Presber</p> + +<p class="s3 center">Mit Buchschmuck von <em class="gesperrt">Hanns Anker</em></p> + +<p class="center">Ihrer Kgl. Hoheit der Kronprinzessin von Griechenland gewidmet</p> + +<p class="s3 center">Geheftet Mk. 4.—, gebunden Mk. 5.—<br> +Numerierte Luxus-Ausgabe Mk. 25.—.</p> + +<hr class="spacer2"> + +<p class="s5">„<b>Nord und Süd.</b>“ Nicht nur der Diplomat, auch der Dichter Cléon +Rangabé ist in Deutschland wohlbekannt und geschätzt. Das vorliegende +Buch, das Drama „Die Bilderstürmer“, ist geeignet, den Namen des +Dichters noch weiter hinauszutragen. Das behandelte Thema steht +an und für sich uns Deutschen recht fern und abseits; jedoch ist +Rangabé vollkommen gelungen, unser Interesse wachzurufen und wach zu +halten, uns zu erwärmen und tiefinnerlich zu erschüttern! Gleich am +Anfang empfinden wir bewundernd, mit wie kurzer kraftvoll gestalteter +Exposition uns der Dichter in die das Stück bedingenden Verhältnisse +hineinversetzt, daß die Zeit, die Umgebung mit all ihren Kämpfen und +Gegensätzen sofort klar vor uns liegt. Es ist die Zeit der dogmatischen +Kirchenkämpfe, die Zeit der „Bilderstürmer“; es ist die Umgebung des +byzantinischen Kaiserhofes, wo eben jene Frage des Bilderdienstes +die Kaiserin Irene, Leos IV. Witwe, zu ihrem Sohne und Mitregenten +Konstantin VI. in schärfsten Konflikt brachte.</p> + +<p class="s5">Im Theater zu Athen haben die „Bilderstürmer“ großen Erfolg erzielt, +und wir sind überzeugt, daß auch ihre Aufführung in deutscher Sprache +auf deutschen Bühnen bei angemessener Inszenierung und guter Besetzung +der Hauptrollen reichen Beifall finden und Zugkraft ausüben wird.</p> + +<p class="s5 mbot3">Und zum Schluß die höchst vornehme Ausstattung des Buches, die nicht +nur prächtig ist — das kann auch von manchen anderen Erzeugnissen des +modernen Buchschmuckes gesagt werden — sondern, was weit schwerer +wiegt und größere Anerkennung verdient, in ihrem Stile bis ins Detail +hinein einheitlich und dem Inhalte des Buches angepaßt ist. So ist +ein Kunstwerk entstanden, das in jeder Beziehung zu erfreuen und +befriedigen vermag.</p> + +<p class="s4 center mtop3 break-before">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br> +Berlin W. 50.</p> + +<figure class="figcenter illowe24" id="p275d"> + <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<p class="s1 center">Im Lande der Jugend</p> + +<p class="s2 center">Roman <span class="s7">von</span> Traugott Tamm</p> + +<p class="s4 center"><span class="bb">6. Auflage.</span> Geheftet +Mk. 4.—, geb. Mk. 5.—.</p> + +<hr class="spacer2"> + +<p class="s5">Die „<b>Preußischen Jahrbücher</b>“: Traugott Tamm ist einer der +Auserwählten, dem das Können gegeben ist. Er ist eine starke, +dichterische Persönlichkeit mit so viel Eignem, daß er sich an kein +berühmtes Muster anlehnt, sondern ganz selbständig dasteht ... +Der Abschied der Eingezogenen des Kirchspiels im Jahre 1870 und +die Ansprache ihres hochbetagten Geistlichen ist eine der vielen +meisterhaften Szenen, die das Buch enthält und der nur wenige in den +Romanen der letzten Jahrzehnte an die Seite zu stellen sind. Dieser +Roman kann zu einem wesentlichen sozialen Faktor werden, wenn er so +viel gelesen wird wie er gelesen zu werden verdient!</p> + +<p class="s5"><b>Das Blaubuch</b>: „Ein wunderbares Buch, wie es selten auf den Markt +kommt.“</p> + +<p class="s5"><b>Altonaer Tageblatt</b>: Das Thema dieses großangelegten Romans +erinnert an das in Freytags „Soll und Haben“, ist aber durchaus +selbständig verarbeitet und übertrifft Freytag an Vertiefung und +Charaktere bei weitem. <em class="gesperrt">Man hat das Bedürfnis, dieses Buch zweimal zu +lesen.</em></p> + +<p class="s5"><b>Königsberger Neueste Nachrichten</b>: <em class="gesperrt">Dieser Roman ist wie eine +schöne reife Frucht, von sorgsamer Hand gepflückt. Seltene Schönheit +und Tiefe der Empfindung und Sprache hebt dieses Buch weit über +derartige Erscheinungen heraus.</em></p> + +<hr class="full"> + +<p class="s1 center">Rinnender Sand</p> + +<p class="s2 center">Ostseegeschichten <span class="s7">von</span> Karl +Rosner.</p> + +<p class="s4 center">Geheftet Mk. 2.—, gebunden Mk. 3.—.</p> + +<p class="s5"><b>Das kleine Journal</b>: ... <em class="gesperrt">Ein Werk voll wunderbarer stiller +Schönheit, die eindringlich und tief ergreift und lange nachklingt und +ein Bleibendes im Leser hinterläßt.</em></p> + +<p class="s5 mbot3"><b>Neues Wiener Tageblatt</b>: <em class="gesperrt">Ein prächtiges Buch!</em> Voll +schöner, stimmungsreicher Naturschilderungen, voll Wärme und Empfindung +bei Beurteilung der Menschen, liebenswürdig im Detail und großzügig im +Ganzen.</p> + +<p class="s4 center mtop3 break-before">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br> +Berlin W. 50.</p> + +<figure class="figcenter illowe24" id="p275e"> + <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation"> +</figure> + +<p class="s2 center">Was ihm das Leben gab</p> + +<p class="s3 center"><span class="s6">Roman von</span> Rudolf Pinner.</p> + +<p class="s4 center">Geheftet Mk. 3.—, gebunden Mk. 4.—.</p> + +<p class="s5"><b>Wiesbadener Generalanzeiger</b>: Einer von denen, die es fertig +brachten, wirkliche, echte Menschen zu schildern, wie sie uns das +Leben wahrhaft zeigt, einer von diesen wenigen, die zugleich feine +Beobachter und echte Dichter sind, ist Rudolf Pinner. Viel von dem, was +dem „Helden“ seiner Dichtung, dem Hans Erik Wendlandt das Leben gab, +hat sicherlich auch der junge Autor aus der Heimat Gerhart Hauptmanns +wirklich erlebt, vieles auch mag der feinsinnige Dichter an anderen +Menschen erschaut und dann in sich aufgenommen haben. R. Pinner geht +seine eigenen Wege. Einzelne besonders schöne Stellen dieses Romanes +hervorzuheben, wäre nicht recht. Man darf nichts herausreißen und +absondern von dem, was ein festes, harmonisches Ganzes ist. Dies ist +ein Buch vom Leben und fürs Leben, das wirklich verdient, gelesen zu +werden.</p> + +<hr class="full"> + +<p class="s1 center">Die Invasion von 1910</p> + +<p class="s2 center">Der Einfall der Deutschen in England</p> + +<p class="s3 center"><span class="s6">von</span> <b>William Le Queux</b></p> + +<p class="s3 center">Die Seeschlachtkapitel <span class="s6">von</span> Admiral +H. W. Wilson</p> + +<p class="s3 center"><span class="s6">Übersetzt von</span> <b>Traugott Tamm</b></p> + +<p class="s4 center">Preis: Geheftet Mk. 3.—, gebunden Mk. 4.—.</p> + +<p class="s5"><b>Breslauer Zeitung</b>: Was den literarischen Wert des Buches angeht, +so ist er nicht gering. Es ist geschickt geschrieben, <em class="gesperrt">erregt durch +die Natürlichkeit des Tones die Illusion des wirklichen Geschehens</em> +und hält sich sorgfältig von krassen Effekten fern. Nur ein Beispiel, +das zeigen wird, wie der Stil nach frappierender Treue ringt: „Die +Zahl der elektrischen Scheinwerfer war bis auf sechs gestiegen; einige +steckten lange, steife Finger in die leeren Räume der Nacht aus, andere +wanderten rastlos auf und ab, hierhin und dorthin.“ <em class="gesperrt">Das könnte +ebensogut bei Maupassant, wie bei Le Queux stehen.</em> — Das Buch +wirkt vornehm durch die maßvolle Behandlung des Stoffes.</p> + +</div> + +<hr class="full x-ebookmaker-drop"> + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76627 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/76627-h/images/cover.jpg b/76627-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..d0814a8 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/cover.jpg diff --git a/76627-h/images/f005a.jpg b/76627-h/images/f005a.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..68b2815 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/f005a.jpg diff --git a/76627-h/images/f005b.jpg b/76627-h/images/f005b.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..750e34e --- /dev/null +++ b/76627-h/images/f005b.jpg diff --git a/76627-h/images/f005c.jpg b/76627-h/images/f005c.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..b6b57f2 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/f005c.jpg diff --git a/76627-h/images/p000.jpg b/76627-h/images/p000.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..0f49e45 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p000.jpg diff --git a/76627-h/images/p102.jpg b/76627-h/images/p102.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..244719e --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p102.jpg diff --git a/76627-h/images/p103.jpg b/76627-h/images/p103.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..6a2979d --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p103.jpg diff --git a/76627-h/images/p126.jpg b/76627-h/images/p126.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..753319e --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p126.jpg diff --git a/76627-h/images/p127.jpg b/76627-h/images/p127.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1c26ccc --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p127.jpg diff --git a/76627-h/images/p144.jpg b/76627-h/images/p144.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..62926d9 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p144.jpg diff --git a/76627-h/images/p145.jpg b/76627-h/images/p145.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..22b53ec --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p145.jpg diff --git a/76627-h/images/p176.jpg b/76627-h/images/p176.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..91f57bf --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p176.jpg diff --git a/76627-h/images/p177.jpg b/76627-h/images/p177.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..7e4ec98 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p177.jpg diff --git a/76627-h/images/p263.jpg b/76627-h/images/p263.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..e4835f4 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p263.jpg diff --git a/76627-h/images/p264.jpg b/76627-h/images/p264.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..7084934 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p264.jpg diff --git a/76627-h/images/p275.jpg b/76627-h/images/p275.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..adb4e85 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/p275.jpg diff --git a/76627-h/images/signet.jpg b/76627-h/images/signet.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..daf73d4 --- /dev/null +++ b/76627-h/images/signet.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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