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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76627 ***
+
+
+ ####################################################################
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+ Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1905 so weit
+ wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Offensichtliche Fehler
+ wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr
+ verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert;
+ fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.
+
+ Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt. Besondere
+ Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der folgenden
+ Symbole gekennzeichnet:
+
+ unterstrichen: _Unterstriche_
+ fett: =Gleichheitszeichen=
+ gesperrt: +Pluszeichen+
+ Antiqua: ~Tilden~
+
+ ####################################################################
+
+
+
+
+ _Von Kindern ○ ○ ○
+ und jungen Hunden_
+
+
+
+
+ Rudolf Presber
+
+ Von Kindern ○ ○ ○
+ und jungen Hunden
+
+ Erste Auflage
+
+ [Illustration]
+
+ Berlin ~W.~ 50
+ Concordia Deutsche Verlagsanstalt
+ +Hermann Ehbock+
+
+
+
+
+ Alle Rechte vorbehalten
+
+
+
+
+Inhalt
+
+[Illustration]
+
+
+ Flocki (Die Geschichte eines merkwürdigen Hundes) 1
+
+ Das Verhängnis des Hauses Brömmelmann 103
+
+ Der rote Esel (Ein lyrisches Intermezzo) 127
+
+ Des letzten v. Birkowitz letztes Fest 145
+
+ Der Mann mit dem persönlichen Einfluß 177
+
+
+[Illustration]
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+[Illustration: Flocki
+
+Die Geschichte eines merkwürdigen Hundes]
+
+
+Ich habe „Flocki“ nie geliebt. Das muß ich vorausschicken.
+
+Um so heroischer komme ich mir nun vor, indem ich mich hinsetze, um
+von „Flocki“ zu erzählen. Denn -- das ist fast ein Axiom geworden in
+der literarischen Welt: die Lebewesen, die man so von Grund der Seele
+aus +nicht+ leiden mag, erwähnt man nicht in Briefen oder gar in den
+zum Druck bestimmten Manuskripten. Man schweigt sie einfach tot, so
+bemerkenswert sie anderen erscheinen mögen.
+
+Ich hätte vielleicht auch von „Flocki“ heute und später und für immer
+geschwiegen, wenn nicht dieses äußerst seltsame Wesen so bedeutungsvoll
+und bestimmend in das Leben eines Freundes eingegriffen hätte. Eines
+Freundes, dessen Wert ich schätze, wennschon ich seine Schwäche im
+Charakter tief beklagen muß.
+
+„Flocki“ war ein Hund. Um das gleich zu sagen: ein sehr merkwürdiger
+Hund.
+
+Seine Mutter stammte aus der weitverbreiteten und durchaus beliebten
+Familie des ~canis genninus~. Oder kürzer und deutsch: sie war
+eine besonders hübsche Pudelhündin. Sie hatte den in der Familie
+üblichen gedrungenen Körperbau mit den langen, breiten Ohren; besaß
+ein lockiges, schwarzes Fell mit zwei sauber, fast kokett gezeichneten,
+weißen Flecken an Stirn und Brust. Diese beiden weißen Flecken waren
+vielleicht die Ursache, daß sie so sehr stolz auf der Straße war und
+sich selbst vom Milchmädchen nicht streicheln ließ. Was später aus ihr
+geworden ist, weiß man nicht genau. Die Köchin bei Hauptmann Weber --
+sie diente einen Stock unter „Fifi“, der schwarzhaarigen Pudelhündin,
+-- behauptete, sie hätte sich in älteren Jahren aus einer verspäteten
+unglücklichen Liebe zu des Hauptmanns langhaarigem, englischem Setter,
+der sechzehn Ahnen hatte, damals gerade von der Staupe genas und ein
+sehr interessanter Rekonvaleszent war, in den Landwehrkanal gestürzt.
+Aber die Köchin bei Hauptmanns war überhaupt eine sehr romantische
+Person und wenig glaubhaft.
+
+Piefkes selbst, bei denen „Fifi“ seit den betrübenden Zeiten, in denen
+ihrer ahnungslosen Jugend noch der erste Zimmeranstand beigebracht
+werden mußte, treue Hausgenossin war, erzählten, sie sei von einer
+„Elektrischen“ in der Potsdamerstraße überfahren worden. Das hat viel
+für sich, wenn man erwägt, daß „Fifis“ Sehvermögen stark nachgelassen
+hatte, und daß die „Elektrischen“ damals -- kurz nach dem Streik -- oft
+von absonderlichen Fahrkünstlern gelenkt wurden.
+
+Flockis Vater aber -- und das blieb nicht ohne Bedeutung für Flockis
+Aussehen, wie für seine Talente und Neigungen -- war ein +Mops+
+gewesen. „Schufterle“ hieß der wenig liebenswürdige Vertreter
+einer unschönen Rasse, die, ruhmlos und unbeweint, faul, dick und
+aller Tätigkeit abhold, im Aussterben begriffen ist. Er hatte einen
+schraubenförmig gerollten Schwanz, eine schwarze, sehr unfreundliche
+Maske und war von besonders bösartiger Gemütsart; als wollte er bei
+jeder Gelegenheit durch tückisches Benehmen den Beweis liefern,
+daß seine Familie nur eine Karikatur der mißliebigen Bullenbeißer
+darstelle. Kam hinzu, daß seine Herrin eine alte, schrullige
+Regierungsrätin war, die nur zwei Leidenschaften hatte: auf einem
+unglaublich verstimmten Klavier Chopin zu spielen und ihren dicken Mops
+zu verwöhnen.
+
+Diese sonst achtbare Dame hatte alle vielleicht in dem Tiere
+schlummernden guten Qualitäten durch falsche Erziehung verdorben.
+„Schufterle“ war knurrig und ohne jede Liebenswürdigkeit. Er war
+gefräßig und litt infolge von Fettleibigkeit, die wiederum eine
+Konsequenz der mangelhaften Bewegung in freier Luft war, stark an
+Asthma. Seinetwegen wohnte die Regierungsrätin nur Hochparterre. Und so
+oft sie auch wegen ihrer Vorliebe für Chopin umziehen mußte, mehr als
+vierzehn Stufen mutete sie ihrem kurzatmigen Liebling niemals zu.
+
+Wie eigentlich der Liebesbund zwischen zwei so verschiedenen Wesen,
+wie es „Fifi“ und „Schufterle“ waren, zustande kommen konnte, das ist
+mir heute noch ein Rätsel. Brehm lebt nicht mehr, den ich gern gefragt
+hätte; und zu den modernen Zoologen hab’ ich kein Zutrauen. Sie
+versenken sich nicht in die Tierseele.
+
+„Schufterle“ hat übrigens seinen Sohn niemals gesehen. Denn „Flocki“
+kam im dritten Stock zur Welt, in einer Höhe, die Schufterle niemals
+erklomm. Und vierzehn Tage nach der Geburt des ihm gleichgültigen
+Sohnes starb „Schufterle“. Die Hausbewohner, denen seine Korpulenz
+und sein Schnaufen bei jeglicher Fortbewegung stark mißfallen hatte,
+behaupteten pietätlos, er sei „geplatzt“. Einige wollten sogar den
+Knall gehört haben ...
+
+Die Regierungsrätin aber machte den Briefträger für „Schufterles“
+Tod verantwortlich. Ihn allein. Zwischen diesem behenden Vermittler
+schriftlicher Nachrichten und dem asthmatischen Mops hatte eine latente
+Feindschaft schon seit Monaten bestanden. Schufterle knurrte, wenn
+er den Briefträger sah. Und der Briefträger knurrte auch. Freilich
+nur innerlich. Schufterle war überzeugter Demokrat und haßte alles
+Uniformierte. Der Briefträger vermochte über Schufterles feindseliges
+Benehmen um so weniger Entzücken zu heucheln, als der Regierungsrätin
+das Verständnis für den Begriff eines Trinkgeldes selbst bei so
+feierlichen Gelegenheiten, wie Ostern oder Jahreswechsel, durchaus
+fremd blieb. Während sie für Schufterle eine verschwenderische
+Zärtlichkeit an den Tag legte, pflegte sie die herzlichsten
+Neujahrswünsche nur durch ebenso herzliche Wünsche zu erwidern.
+
+So kam es, daß der sonst durchaus friedliche Briefträger kurz
+nach Neujahr bei einem Zusammentreffen mit Schufterle auf der
+Treppe die kläffende Mißbilligung des feindlichen Mopses mit einem
+gesinnungstüchtigen Tritt seines doppeltgesohlten Zugstiefels
+erwiderte. Dieser Tritt hatte, obschon er nicht mit voller Kraft
+und in ganz ungefährlicher Richtung geführt war, nach Ansicht der
+Regierungsrätin „edle Teile“ verletzt. Und als einige Wochen darauf
+das vorzügliche Schufterle in seinem ausgepolsterten Schlafkörbchen
+verschieden war, schwur die aufs äußerste erzürnte alte Dame, ihr
+Liebling sei an dem Tritt des rohen Staatsbeamten gestorben. Sie
+verkrümelte von diesem Tage an ihre bescheidene Pension in gehässigen
+Prozessen gegen die Postbehörde. Aber das einzige Resultat dieser
+fortgesetzten kriegerischen Tätigkeit war, daß sie dreimal wegen grober
+Beleidigung eines Beamten in erhebliche Geldstrafen genommen wurde ...
+
+Ich hätte mich selbstverständlich weder bei „Fifi“, noch bei der
+Hauptmannsköchin, noch bei „Schufterle“, der Regierungsrätin oder dem
+Briefträger so lange aufgehalten, wenn ich nicht glaubte, daß alle
+diese Dinge für +Flockis+ schönes Leben in gewissem Sinne vorbedeutend
+und bestimmend gewesen wären.
+
+Daß Flocki, der Sohn von Fifi, der Pudelhündin, und von Schufterle,
+dem asthmatischen Mops, ein +bemerkenswerter+ Hund war, muß ich
+leider hinzufügen. Flocki war kurzbeinig, gedrungen, und obschon
+sein schwarzer Kopf die mütterliche Rasse im Schädelbau deutlich
+verriet, zeigte er die ganze, nur in der eigenen Dummheit begründete
+Weltverachtung des ererbten Mopsgesichtes. Auch der schraubenförmig
+gedrehte Schwanz erinnerte an den asthmatischen Vater, während die
+lockige, grauschwarze Behaarung offenbar von der angenehmeren Mutter
+kam.
+
+Ich will meiner Antipathie gegen „Flocki“ hier nicht die Zügel schießen
+lassen; eines aber steht für Unparteiische völlig fest: es gibt selbst
+unter den verwahrlosten Kötern, die die schmutzigen Straßen von
+Stambul so angenehm beleben, keinen, der bei mäßigen Geistesgaben so
+täuschend den Eindruck zu erwecken vermöchte, als habe er sich soeben
+in einer besonders üblen Lehmgrube gewälzt. Diesen Verdacht aber rief
+Flocki, wo und wann er erschien, in jedem Unbefangenen hervor; obschon
+es vielleicht in Mitteleuropa keine +drei+ Hunde gibt, die +soviel+
+gewaschen, gebadet, gekämmt, so oft mit grüner Seife abgerieben und mit
+Insektenpulver bestreut wurden, wie Flocki. Diese Reinigungsprozesse
+waren -- um ein schiefes Bild an Stelle eines weit besseren, das mir
+nicht einfällt, zu gebrauchen -- die einzigen dunklen Punkte in Flockis
+sonst so sonnigem Leben.
+
+Flockis Herrin war eine unverehelichte Malerin. Früher hatte sie bloß
+gegen den Willen ihrer Eltern gemalt. Jetzt malte sie gegen den Willen
+der ganzen Welt.
+
+Die Eltern waren gestorben und hatten ihr und ihrer älteren Schwester,
+die genau so eifrig und auch ungefähr so schön Klavier spielte, wie
+die jüngere Schwester „Stilleben“ malte, ein bescheidenes Vermögen
+hinterlassen. Nicht gerade, um auf lautlosen Gummirädern zu fahren und
+den Karneval in Nizza zu verleben, aber doch um sich’s daheim behaglich
+zu machen, ohne auf Verdienst angewiesen zu sein. Das war auch gut,
+denn +Eleonore Eikötter+ hatte wohl das Talent, Bilder zu malen, die
+ihr selbst, ihrem Dienstmädchen und dem vorzüglichen Flocki ausnehmend
+gefielen; aber sie hatte leider +nicht+ das Talent, diese Bilder auch
+der Kritik zu empfehlen oder gar diese Kunstwerke zu verkaufen.
+
+Das war eigentlich sehr zu verwundern. Denn es heißt immer, wir leben
+in einer realistischen, in einer materiellen Zeit. Und Eleonore
+Eikötter kam in allen ihren Werken einem gesunden Materialismus
+vertrauensvoll entgegen. Ihre Stilleben wiesen keine bekränzten
+Totenschädel auf, keine Lichtscheren, alte Gebetbücher, rostige
+Hufeisen oder was sonst noch diese Art von Bildern besonders
+reizvoll zu machen pflegt. Eleonore malte prinzipiell nur +Eßwaren+:
+Hummerscheeren, Marzipantörtchen, Schweinsfüße, Pastetchen und
+gebratene Wachteln. Und da sie mit ihren Bildern rasch fertig war, wie
+die Jugend mit dem Wort, und aus ästhetischen Gründen ihre Modelle
+nie mehr als +einmal+ benutzte, so hatte Flocki allen Grund, mit dem
+Schicksal zufrieden zu sein, das ihn und sein Leben so innig mit dieser
+Kunst verknüpft hatte, die +nicht+ „nach Brot“ zu gehen brauchte.
+
+Flocki erhielt nämlich, sobald ein Bild vollendet war, die „Modelle“
+zur Erledigung in seine mit stilisierten Lilien bemerkenswert bemalte,
+sehr geräumige Freßschüssel. Er hatte folglich ein nicht rein
+künstlerisches Interesse daran, daß die Farbendichtungen Eleonorens
+rasch ihrer Vollendung entgegenreiften.
+
+Schlau und perfid, wie er leider war, hatte er gemerkt, daß seine
+Herrin einmal außer sich vor Entzücken geriet, als er -- eigentlich nur
+aus Langerweile und weil ihm die Sache diesmal zu langsam ging --, eine
+von ihr gemalte Schinkenstulle ärgerlich angauzte. Damals geschah es,
+daß Eleonore Eikötter stolz zu ihrer Schwester +Adelgunde+, die einen
+ihrer selteneren Besuche bei der Malerin machte, bemerkte:
+
+„Kennst du die Geschichte von Apelles, dem Lieblingsmaler des großen
+Alexander? Nein? Nun, siehst du, der berühmte Apelles hat einmal
+Kirschen gemalt. Da kamen die Spatzen von den Bäumen und wollten die
+gemalten Kirschen aufpicken. +So+ natürlich waren sie. Dem Apelles aber
+war das Lob, das ihm die getäuschten Sperlinge zollten, wertvoller,
+als das Lob der Schranzen des Königs der Mazedonier. Nun, siehst
+du, so geht es mir auch. Flocki, mein süßer, kluger Flocki, hat die
+Schinkenstulle, die ich auf die Leinwand geworfen, +angebellt+. Das ist
+das +höchste+ Lob; das ist mir mehr wert als das Lob Alexanders des
+Großen!“
+
+Die pietätlose ältere Schwester sagte bloß:
+
+„Du bist verrückt.“
+
+Aber Flocki, der sofort das appetitliche Modell, die Schinkenstulle,
+ausgeliefert erhielt, überlegte, während er die fetten Bissen gierig
+verschlang, daß sein lautes Benehmen vor der bunten Leinwand, der er im
+Grunde durchaus verständnislos gegenüberstand, offenbar diese so rasche
+wie erfreuliche Lösung der Problems bewirkt habe. Und er beschloß, auch
+fernerhin sein lautes Urteil rechtzeitig abzugeben und seiner mild
+gesinnten Herrin mehr Freude zu bereiten, wie Alexander der Große.
+
+In der Folgezeit wurde er laut, sobald die ersten Farbenklexe sich
+auf der Leinwand zeigten und die ersten Linien erschienen, aus denen
+noch ebensogut ein Nilpferd, wie ein Stiefelknecht oder eine gotische
+Kathedrale werden konnte.
+
+Eleonore war selig im Bewußtsein, es in ihrer Kunst bereits so weit
+gebracht zu haben, daß sie, wie sie sich ausdrückte, „mit wenigen
+Winken das Bedeutsame auszudrücken vermochte“; so deutlich und klar,
+daß es selbst Flocki, der bei aller Klugheit doch immerhin nur ein Hund
+war, nur der Sohn eines Mopses und einer Pudelhündin, erkennen und
+würdigen konnte.
+
+Wenn aber dem verschmitzten Flocki die öde Malerei zu lange dauerte und
+die Gründlichkeit der Künstlerin in Anbetracht seiner Gelüste nach den
+„Modellen“ verdrießlich wurde, dann gebärdete er sich wie unsinnig
+vor der Staffelei und drohte unter jubelndem Gebell mitten in die
+künstlerische Tat hineinzuspringen.
+
+Dann legte Eleonore Eikötter, gerührt und stolz, die Pinsel hin und
+belohnte den kritischen Freund mit den zärtlichsten Schmeichelnamen und
+mit reelleren Genüssen ...
+
+So lebte Flocki im Atelier der genialen Pflegerin wie der große
+Hannibal im üppigen Capua. Er wurde dick und fett. Und wären nicht
+häufig kleine Verdauungsstörungen vorgekommen, peinliche Folgen seiner
+kritischen Verdienste und seiner bedauerlichen Gefräßigkeit, so wäre er
+ein vollkommen glücklicher Hund gewesen.
+
+Die Schönheit seiner Erscheinung litt wohl unter den Jahren und
+der rasch fortschreitenden Korpulenz. Die vom Vater ererbte
+Unliebenswürdigkeit gegen alle Fremden nahm zu, und beim Treppensteigen
+zeigten sich auch schon zuweilen Vorboten des bösen, väterlichen
+Leidens, des Asthma. Aber die sorgsame Liebe seiner Herrin wuchs
+ins Ungemessene, wenn der dicke, häßliche Köter mit den fettigen,
+kleinen Augen und dem verschraubten Schwanz sich breitbasig vor
+ihren Pfuschereien aufpflanzte und der entzückten Eleonore Eikötter
+mit seinem gequetschten Gebell das Zeugnis ausstellte, daß sie eine
+talentvolle Künstlerin sei, eine nicht unebenbürtige Kollegin des
+großen Apelles aus Kolophon. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
+
+Mein Freund +Emil Steinbrink+ hatte seit einigen Monaten sein Atelier
+neben dem Raume, den sich Eleonore Eikötter mit allerlei Teppichen,
+die sie für „echte Perser“ hielt, weil sie vielfach gestopft waren,
+mit sehr unpraktischen, breitbeinigen Tischen und sehr staubigen
+Markart-Buketts zum Heiligtum ihrer Kunst eingerichtet hatte.
+
+Emil war nicht ohne Talent. Er hatte nur eine bedauerliche Vorliebe
+für Violett; eine Vorliebe, die sich leider auch da nicht unterdrücken
+ließ, wo diese an sich milde und gewiß sympathische Farbe nicht recht
+hinpaßte.
+
+Über seine Porträts war kaum zu streiten, da violette Menschen
+nirgends vorgekommen, und weil höchstens auf den Nasen einiger
+Gewohnheitstrinker sich die unbequeme Farbe zeigt, die Emil bei seinen
+Bildnissen bevorzugte. Aber auch seine „Landschaften“ gewannen durch
+das merkwürdige violette Licht, das über die Wälder, die Häuser und
+die Teiche flutete, ein eigentümliches Ansehen. Man vermutete immer,
+sie sollten einem erschrecklichen Spuck, einer Geistererscheinung
+oder einer gespenstischen Botschaft aus der vierten Dimension als
+Hintergrund dienen. Und wenn dann unter solchem Bilde ganz einfach zu
+lesen stand: „Frühlingslandschaft im Spessart“ oder „Herbstmorgen in
+der Rhön“, so schwuren die gewissenhaften Kenner deutscher Gebirge,
+dergleichen weder in der Rhön noch im Spessart, noch im Schwarzwald,
+im Taunus oder in der sächsischen Schweiz jemals wahrgenommen zu
+haben. Ja, ein Weltreisender, mit dem ich einmal in den versteckten
+Kunstsalon zusammentraf, in dem Emil seine Werke vor den Augen der
+gemeinen Menge so ziemlich verborgen auszustellen pflegte, versicherte
+mir, auch der Himalaja, der Kaukasus und die Roky Mountains seien
+gänzlich frei von solchen violetten Stimmungen.
+
+Nur der Portier des Hauses, in dessen fünftem Stock Eleonore Eikötter
+und Freund Emil Wand an Wand künstlerisch wirkten, behauptete steif und
+fest, als Kind in seiner Heimat -- er war aus Schopfheim -- derartige
+wunderliche Farbenstimmungen häufig und mit innigem Genuß beobachtet
+zu haben. Seine sonst wohl interessanten Mitteilungen verloren an Wert
+dadurch, daß der alte Herr früher als Weichensteller bei der Hessischen
+Ludwigsbahn angestellt war und dann wegen plötzlich eingetretener
+Farbenblindheit entlassen werden mußte.
+
+Dieser Weichensteller a. D. und jetzige Portier eines herrschaftlichen
+Hauses mit zwölf Etagen, vier Kellern und fünf Ateliers hieß +Erasmus
+Schellenkopf+ und wurde in seinen Pflichten als Hausbesorger
+unterstützt von einer ebenso dicken wie asthmatischen Frau, seiner ihm
+ehelich angetrauten Lebensgefährtin. Frau +Emma+ Schellenkopf blickte
+zu dem Kunstverständnis ihres Eheherrn mit erfreulicher Ehrfurcht
+empor, seit ihr Emil, der Meister in Violett, einmal erklärt hatte:
+Das Gerede von der Farbenblindheit ihres Mannes sei ein Unsinn und
+ein Quatsch, und man könne aus den Augen ihres Gatten durchaus
+ausreichende Gesichtsorgane für zwei Dutzend Akademieprofessoren
+herstellen.
+
+Frau Emma Schellenkopf trug sich nach dieser Unterredung sogar
+wochenlang mit dem Plan, auf Grund eines solchen fachmännischen
+Gutachtens nachträglich einen Prozeß gegen die Hessische Ludwigsbahn
+anzustrengen. Allein der Friedensliebe ihres verständigeren Gatten war
+es zu danken, daß die Justiz nicht mit der Beamtenlaufbahn des Herrn
+Schellenkopf weiter befaßt wurde.
+
+Erasmus Schellenkopf war für Freund Emils Schaffen ungefähr das, was
+Flocki, der vorzügliche Hund, für Eleonore Eikötters Werke in Öl war.
+Er war der Ansporn, die Aufmunterung, das anregende und treibende
+Element. Wenn er morgens die fünf Treppen heraufkam, die schmutzigen
+Pinsel zu waschen und die Aschbecher auszuleeren, eine Arbeit, die er
+mit der pedantischen Umständlichkeit eines alten Professors ausführte,
+so sprachen die beiden, der Maler und der kunstsinnige Portier,
+ein Langes und ein Breites über die deutsche Kunst und benachbarte
+Gebiete. Es war ein „Dialog in Violett“ ... Und nebenan im Atelier
+der Stilleben malenden Eleonore hörte man von Zeit zu Zeit den
+kunstbegeisterten Flocki bellen und vor der Staffelei seiner Herrin in
+wildem Enthusiasmus umherhüpfen. Dazwischen Eleonorens freudig bewegte
+Stimme, die den Liebling nicht ohne Stolz in die gebührenden Schranken
+zurückwies ...
+
+Als Emil das Atelier bezog, hatte er Eleonoren einen nachbarlichen
+Besuch abgestattet.
+
+Sie hatte ihm einige Dutzend ihrer Bilder gezeigt, die auf ihn -- er aß
+aus Sparsamkeitsgründen an einem bescheidenen Mittagstisch der Altstadt
+für 65 Pf. „mit Bier“ -- einen peinlich appetiterregenden Eindruck
+machten. Dann hatte sie mit noch größerem Stolz Flocki, den gestern
+erst gewaschenen und bereits heute wieder sehr schmutzigen Flocki in
+Freiheit vorgeführt.
+
+Es traf sich, daß Flocki gerade an diesem Tage, da er einen alten
+Mallappen aus Langeweile aufgefressen hatte, an einem akuten Magenübel
+erkrankt war, das durch praktische Verwertung der Modelle seiner Herrin
+nicht besser geworden war. Das liebenswürdige Tier mußte deshalb sehr
+häufig die fünf Treppen heruntergeführt werden, um sich an der frischen
+Luft eine Weile zu ergehen.
+
+Emil, immer galant, erbot sich in diskretester Weise, zuweilen die
+kleine gesundheitliche Exkursion Flockis zu leiten und mit Umsicht zu
+überwachen. Diese angenehme, zarte Aufmerksamkeit gewann ihm das Herz
+dieses späten Mädchens im Sturm.
+
+Schon am nächsten Tag machte sie ihm einen anderthalbstündigen
+Gegenbesuch in seinem Atelier; und nachdem sie ihn mit längeren,
+ziemlich verworrenen Plänen einer Romreise, für die sie die richtige
+Jahreszeit schon seit sieben Jahren nicht hatte finden können,
+gelangweilt hatte, kaufte sie eine seiner violetten Landschaften, die
+nun schon ins fünfte Atelier mit umgezogen waren ...
+
+Der Verkehr zwischen den beiden Ateliers wurde rasch lebhafter
+und freundschaftlicher. Daran trug im Grunde weniger die
+Seelenübereinstimmung des nachbarlichen Paares, als das Verhältnis
+Flockis zu Emil die Hauptschuld. Aus gänzlich unaufgeklärten Gründen
+beglückte Flocki den neuen Freund, so oft er ihn traf, mit seinen
+ehrenden Vertraulichkeiten. Saß Emil, so sprang Flocki unaufgefordert
+auf seinen Schoß, was, besonders wenn es draußen geregnet und Flocki
+bereits eigensinnig den Weg durch mehrere Pfützen genommen hatte,
+für Emils Kleidung gerade nicht von besonderem Vorteil war. Aber er
+ertrug es; denn Eleonore sprach schon mit bescheidenem Augenaufschlag
+davon, gelegentlich aus dem Schatze der violetten Landschaften noch
+ein passendes Pendant zu dem von ihr gekauften Bilde auszuwählen. Sie
+ging dabei wohl von dem nicht ganz unrichtigen Gesichtspunkte aus, daß
+man solche violette Landschaften erst glaubt, wenn +mehrere+ beisammen
+hängen und gewissermaßen die eine die andere bestätigt.
+
+Leisten konnte sich’s Eleonore Eikötter übrigens. Von ihren Eltern
+hatten die Schwestern ja nur ein bescheidenes Vermögen geerbt, das
+der alte Eikötter einer von ihm erfundenen und mit großem Geschick
+vertriebenen Fruchtmarmelade verdankte. Dann aber war eine Tante
+gestorben, die im Leben durch Besuche niemals lästig gefallen war,
+die Schwester der Mutter. Diese merkwürdige alte Dame hatte sich
+in ein Kinderbild Eleonorens in der Weise verliebt, daß sie ihr
+fünfundzwanzig Jahre später, nachdem das Bild wirklich nicht mehr
+ähnlich war, mit Übergehung der älteren Schwester Adelgunde ihr ganzes
+Vermögen vermachte. Das war in soliden Staatspapieren angelegt und
+brachte immerhin eine Rente von 3000 Mk., ohne der Besitzerin durch
+Schwankungen im Kurs den Schlaf der Nächte zu rauben.
+
+Adelgunde hatte nun zwar die Schwester durchaus nicht im Verdacht der
+Erbschleicherei. Sie kannte auch die Geschichte von der berückenden
+Wirkung des Kinderbildes auf das Herz der alten Tante. Aber sie
+fühlte sich zurückgesetzt. Ein paar tausend Mark, die ihr die
+gutmütige Eleonore als Geschenk und als Trost überlassen wollte, wies
+sie hochmütig zurück und lebte von nun an von dem Ertrag weniger
+Klavierstunden und der kleinen Rente, die das elterliche Vermögen
+abwarf.
+
+Als aber Eleonore angefangen hatte, mit Eifer zu malen, wurde das
+Verhältnis noch gespannter. Denn Adelgunde hatte schlechterdings für
+diese Stilleben, auf denen nichts vorkam, wie lauter eßbare Dinge, die
+später in Flockis stilisiertes Freßnäpfchen wanderten, aber auch gar
+nichts übrig. Sie war mehr für die große historische Schule, Piloty,
+Kaulbach und die andern, und verachtete derartige Malereien, in denen
+kein Mann, kein Weib und kein Held eine Rolle spielte.
+
+So malte Eleonore nicht nur für sich. Sie +lebte+ auch für sich.
+Sie malte für sich und Flocki. Nur die Besuche des benachbarten
+Strebensgenossen, der die ganze Welt violett sah, brachte einige
+Abwechslung in ihr Dasein.
+
+Ihr Tagewerk war äußerst regelmäßig. Früh um sieben Uhr erhob sie sich,
+nahm ein Bad, kleidete sich halb an und badete Flocki, für den dieser
+Anfang des Tagewerks nicht den geringsten Reiz besaß. Häufig kroch er
+sogar unter Eleonorens Bett, was die betrübte Künstlerin -- nicht ohne
+dabei heftig zu erröten und das kurze und allgemein übliche Wort für
+ihre jungfräuliche Lagerstätte zu umschreiben -- dem Freund und Nachbar
+gesprächsweise mitteilte.
+
+Emil hatte zuweilen gute Einfälle. Nicht allzu häufig, aber doch
+öfter, als die Leute glauben mochten, die nur seine Bilder kannten.
+So riet er der bekümmerten Besitzerin des merkwürdigen Hundes nach
+einigem Besinnen, die vier Beine ihres Bettes, von dem er, ohne es
+gesehen zu haben, annahm, daß es aus Holz gebaut sei, einfach absägen
+zu lassen. Sie werde dann allerdings beträchtlich tiefer liegen, aber
+das habe nach den Erfahrungen der Ärzte keinen Einfluß auf Schlaf und
+Wohlbefinden. Die berühmten französischen Betten seien sogar, wie man
+ihm mitgeteilt habe, alle +sehr+ niedrig.
+
+Eleonore unterbrach hier errötend seine warmherzigen Ausführungen über
+die französischen Betten, für die sie sich weniger interessierte.
+Sie dankte ihm aber herzlich für seinen guten Rat; denn die sich
+immer häufiger wiederholenden Unterredungen mit dem unter dem Bett
+sich verkriechenden Flocki, der nicht gewaschen sein wollte, waren
+frühmorgens oft recht kraft- und zeitraubend.
+
+Sie ließ nun wirklich, wie der Freund geraten, die vier unnützen
+Beine ihres Bettes absägen und gewann durch diese Kriegslist, die dem
+überraschten Flocki höchst perfide erschien, durchschnittlich jeden
+zweiten Morgen eine gute halbe Stunde.
+
+Um acht Uhr unternahm sie dann einen Spaziergang mit Flocki durch
+die Anlagen der Stadt, wobei sie weniger auf die Reize der Natur als
+darauf zu achten hatte, daß Flocki nicht durch seine Wißbegier in
+den künstlich angelegten Beeten Übles stiftete. Mit den Angestellten
+der Stadtgärtnerei, denen Flocki wohlbekannt und tief verhaßt war,
+lebte Eleonore in ewiger Fehde. Die jüngeren Gärtnerburschen fanden
+bedauerlicherweise ihre neckische Freude daran, einen kräftigen
+Strahl aus den wasserspendenden Rasenschläuchen, wenn’s irgend ging,
+auf den weltvergessen botanisierenden Flocki zu lenken, der dann mit
+unsäglichem Geheul über dieses zweite unbestellte Bad quittierte. Für
+die Beschwerdebriefe Eleonorens an die Stadtgärtnerei rächten sich
+wiederum die Parkaufseher durch Anzeigen, wenn Flocki, was leider
+häufig vorkam, unter dem kleinen Geländer, das die gelben Fußwege von
+den weichen Rasenflächen trennte, durchkroch, um sich im Grünen oder
+unter Tulpen und Hyazinthen zu ergehen.
+
+Um 9½ Uhr kam Eleonore gewöhnlich von ihrem Spaziergang, der ihr
+mehr seelische Erregung als Erholung zu bringen pflegte, zurück. Sie
+teilte dann mit Flocki, der merkwürdig gern gut gezuckerte Schokolade
+trank, ihr Frühstück und trat mit dem Glockenschlag zehn Uhr in einer
+erstaunlich verklexten Malschürze vor ihre Staffelei.
+
+Um zwölf Uhr klopfte Emil gewöhnlich an ihre Tür. Sie rief „Herein“
+und zeigte jeden Mittag dieselbe freudige Überraschung über den
+unerwarteten Besuch.
+
+Dann sprachen sie eine halbe Stunde über Kunst. Über Böcklin, dessen
+geniale Verwendung der violetten Farben Emil nicht genug rühmen
+konnte; über die Niederländer Snyders, Hondecoeter und van Streek, in
+denen Eleonore die Großen +ihrer+ Kunst verehrte, die Meister, die es
+verstanden, das Kleine groß zu sagen und dem an sich Unbedeutenden, --
+einer Jagdbeute, einem Küchenstück, einer Tafel ohne Gäste -- geistige
+Bedeutung und Poesie zu leihen.
+
+Sie sprachen ohne Leidenschaft, wie zwei gute, wohlerzogene Kameraden.
+Eins ließ das andere ausreden, ob es gleich ganz genau wußte, was
+es nun sagen werde. Denn der Gedankengang in diesen ästhetischen
+Besprechungen war stets der gleiche. Und da nie ein Widerspruch von
+der andern Seite erfolgte, so war auch eine dialektische Verteidigung
+des Standpunktes, eine Vertiefung der Begründung, eine Vermehrung der
+Argumente durchaus unnötig.
+
+Zuletzt sprach man immer -- von Flocki, der, sobald er seinen Namen
+hörte, in seinem mit weichen bunten Lappen ausgelegten Körbchen faul
+mit dem Schwänzchen wedelte, ohne sonst irgendeinen Muskel seines
+Körpers an der freudigen Bewegung teilnehmen zu lassen, ja meist ohne
+die Augen nur zu öffnen.
+
+Dann kam man überein, zusammen zu Mittag zu essen. In dem bescheidenen
+kleinen Restaurant in der Nähe, das Eleonore entdeckt hatte, und
+in dem sie, obschon sie keine geistigen Getränke zu sich nahm, auf
+deren Verkauf die Wirte sonst angewiesen sind, als Stammgast mit
+Aufmerksamkeit und Respekt behandelt wurde.
+
+Auch dieses gemeinsame Diner schien jeden Mittag das Resultat einer
+ganz plötzlichen Erwägung zu sein. Man zeigte sich jedesmal wieder
+aufs neue erfreut, die fesselnde Unterredung über Böcklin, über die
+Niederländer und Flocki bei Tisch fortsetzen zu können. Und niemals
+wäre es Einem von beiden eingefallen, etwas Seltsames darin zu finden,
+daß sie ohne Verabredung, ohne Übereinkunft oder Abonnement schon seit
+Monaten jeden Mittag um ein Uhr gemeinsam in das freundliche Gastzimmer
+der „Goldenen Eidechse“ eintraten.
+
+Der Pikkolo, der eine aus dem alten Frack des Oberkellners umgebaute,
+in der Fasson sehr merkwürdige Jacke trug, die an Flecken der
+Malschürze Eleonorens nicht nachgab, kam ihnen jeden Mittag mit
+derselben theatralischen Verbeugung entgegen. Den pomadisierten Kopf
+zwischen die Schultern ziehend, wie eine gekitzelte Schildkröte, wies
+er mit huldvoller Bewegung der roten Hand, die aus der spiegelnden
+Gummimanschette wie der breite Schaufelfuß eines Maulwurfs kam, nach
+dem für zwei Personen gedeckten Tischchen in der Ecke:
+
+„Die Herrschaften, bitte, +hier+!“
+
+ * * * * *
+
+Auch Eleonorens Schwester, die selten erscheinende Adelgunde, hatte
+Emil einmal bei der befreundeten Künstlerin getroffen.
+
+Es war kein besonders günstiger Tag, um sie kennen zu lernen. Sie
+hatte sich am Vormittag einen Vorderzahn ziehen lassen, und die Zunge
+war noch nicht recht gewöhnt daran, daß gerade an der Front des
+Kiefers eine Lücke in die Zahnreihe gebrochen sei. Demgemäß „lispelte“
+Adelgunde in einer befremdlichen Weise, und die Aussprache gewisser
+Konsonanten ergoß sich wie feiner Sprühregen auf den Partner der
+Unterhaltung.
+
+Eleonore fand es furchtbar komisch. Sie hatte gleich beim Eintritt der
+Schwester zu lachen angefangen. Sie hörte gar nicht auf zu lachen;
+und je mehr sie ihrer humoristischen Laune die Zügel schließen ließ,
+desto ärgerlicher wurde die Schwester. Schließlich kamen die beiden
+in Streit, ohne die Anwesenheit Emils, der sich nach einer ersten
+Begrüßung, verlegen in alten Skizzenmappen blätternd, an den Wänden
+herumdrückte, weiter zu beachten. Sie sprachen recht deutliche Töne
+über den kleinen körperlichen Schaden Adelgundens, der Eleonore so sehr
+amüsierte.
+
+„Nimm mir das nicht übel, Eleonore, aber ein Gänschen“ -- sie sprach
+das „s“ sehr scharf, fast zischend -- „ein Gänschen von fünfzehn Jahren
+benimmt sich nicht törichter, wie du. Und, wie alt bist du doch?“
+
+„Fünf Jahre jünger als du,“ gab Eleonore prompt zurück.
+
+„Richtig. Aber du benimmst dich wie ein Kind. Das steht dir wirklich
+nicht besonders, die Naivenrolle mit dem Backfischgekicher.“
+
+„Ja, das mag ja sein, meine Liebe, aber du sprichst auch zu komisch.
+Sag’ doch bitte noch einmal, Gänschen -- Gänsz-schen -- es klingt gar
+zu drollig.“
+
+Diesen Gefallen tat ihr Adelgunde nun zwar nicht, aber sie belehrte die
+Schwester:
+
+„Wenn du die Folgen eines Zahngeschwürs, das mich acht Tage lang
+gemartert hat, ‚drollig‘ findest, so kann ich deiner Schwesterliebe das
+nicht verwehren. Ihr Künstler seid immer äußerst originell in eurer
+Auffassung fremder Gefühle; und du bist ja -- wenigstens +deiner+
+Auffassung nach -- eine Künstlerin.“
+
+Eleonore überhörte die Bosheit und fragte teilnehmend:
+
+„Du wirst dir doch einen andern Vorderzahn einsetzen lassen?“
+
+„Nein!“
+
+Das Nein kam so scharf und eisig heraus, als wollte Adelgunde damit
+ihrer Schwester einen Hieb versetzen.
+
+Emil sah verstohlen von seinen Skizzenbüchern auf, die Eleonorens
+zeichnerische Gedanken über verschiedene, durchaus gewöhnliche
+Hausgeräte enthielten. Er prüfte Adelgunde mit den Kenneraugen des
+Malers. „Schönheit ist nicht die Falle ihrer Tugend,“ dachte er. Es ist
+ja nun einmal von der Natur bestimmt, daß die Töchter Evä einen kurzen
+Unterkörper und langen Oberkörper besitzen, und man hat sich allmählich
+daran gewöhnt, daß dem so ist. Aber so kurz, wie bei Adelgunde,
+brauchen schließlich die Beine auch nicht zu sein; besonders wenn der
+Oberkörper so lang und eckig gebaut ist, wie hier.
+
+Er erinnerte sich, mal als Junge auf einem Jahrmarkt einen sogenannten
+„Rumpfmenschen“ gesehen zu haben. Der Ärmste saß in einem hellblauen
+Seidenwams auf einem wulstigen Kissen; und der Knabe ging damals
+mit Staunen und Schauder um den hockenden Fleischklotz, in dem nur
+die Augen zu leben schienen, herum und suchte die Beine. An diesen
+Rumpfmenschen erinnerte ihn Adelgundens wenig glückliche Erscheinung.
+Durch ihre Angewohnheit, die Arme stets unbeweglich dicht an den Körper
+gepreßt zu halten, als ob unter den Achseln die Naht ihres Kleides
+geplatzt wäre und sie das durchaus nicht sehen lassen wollte, gewann
+die grausame Illusion noch an Wahrscheinlichkeit.
+
+Und dann die Toilette! Das Kleid, das sie trug, war weder alt noch
+schäbig; aber wann sein wunderlicher Schnitt jemals modern gewesen
+wäre, das konnte kaum festgestellt werden. Ihren Hals schmückte ein
+himbeerfarbener Seidenschlips, auf dem eine dicke goldne Spinne
+mit einem perlenbesetzten Hinterleib als Nadel saß. Auf ihren
+schlechtgebrannten Haaren vom fadesten Blond, durch das sich schon
+silberne Streifchen zogen, wallte ein unförmiger kanariengelber Hut,
+der einem Fieberkranken im Traume erscheinen konnte.
+
+Gewiß, Eleonore war ja auch keine ~beauté~, und auf einer
+Schönheitskonkurrenz hätte sie -- selbst in ihrer bereits überwundenen
+Blütezeit -- verteufelt wenig Aussicht auf eine „lobende Erwähnung“
+gehabt. Aber sie kleidete sich wenigstens einfach und hatte in ihren
+Bewegungen nichts Unweibliches. Diese Adelgunde aber war einfach
+furchtbar. Selbst wenn sich Emil den kanariengelben Hut und den
+fehlenden Schneidezahn „rekonstruiert“ dachte; selbst wenn er die
+himbeerfarbene Krawatte durch eine in Gedanken und Farbe bescheidenere,
+die besser zu ihrem farblosen, unreinen Teint paßte, ersetzte und sich
+das Mißverhältnis von Ober- und Unterkörper durch eine zweckmäßige
+Kleidung gemildert vorstellte, blieb das Gesamtbild noch immer
+unerfreulich.
+
+So etwas zu heiraten, das muß doch furchtbar sein, beendigte der
+betrübte Maler seine stille Prüfung. Und er versuchte, sich den Armen
+vorzustellen, der etwa zu Adelgunde passen könnte. Einen Lebenden,
+der dieser Aufgabe gewachsen wäre, kannte er nicht. Und indem er dies
+konstatierte, empfand er es als eine seelische Befriedigung, wie ein
+großes Kompliment für das ganze männliche Geschlecht. Wenigstens vom
+Standpunkte des Malers.
+
+Flocki hatte sich mittlerweile persönlich aus seinem Körbchen bemüht
+und hatte die ihm äußerst unsympathische Schwester seiner gütigen
+Herrin zunächst und von der Ferne durch feindliches Knurren begrüßt.
+Dann hatte er sich, eingeschüchtert durch eine drohende Gebärde
+Adelgundens, zu Emil begeben, an dessen Hosenbein er sich mit ehrender
+Zutraulichkeit und großer Energie das Fell rieb.
+
+Als Adelgunde den mißvergnügten Köter bemerkt hatte, erhellten sich
+ihre Züge. Sie wußte, an welcher Stelle sie ihre Schwester kränken
+konnte.
+
+„Da ist ja auch der häßliche Butz,“ sagte sie, einen horngefaßten
+Kneifer aufsetzend, der sie um nichts schöner machte.
+
+„Ich habe dir schon mindestens zwanzigmal gesagt, daß der Hund nicht
+Butz, sondern Flocki heißt,“ belehrte Eleonore, aufgebracht über die
+Mißachtung, der ihr Liebling begegnete.
+
+Flocki verstand, daß von ihm die Rede war. Er hörte sofort auf, sich
+an Emils Hosenbeinen zu schaben und sah mit schiefgelegtem Kopf und
+mißtrauischer Aufmerksamkeit nach Adelgunde.
+
+Und richtig, die Kampflustige setzte ihre bedauerlichen Beleidigungen
+fort:
+
+„Solche Köter, die gar keiner Rasse angehören und gar keinen Charakter
+haben, sollten immer ‚Butz‘ heißen. Butz schlechtweg. Niemals anders.
+Und nun gar +der+! Ich begreife nicht, wie du mit deinem ewigen
+Schönheitsgefühl dieses abscheuliche Tier um dich dulden kannst.
+Freilich, er lobt ja deine Bilder. Der Gute, der Uneigennützige! Das
+gibt ihm einen durchaus einzigen, unbestreitbaren Platz in deinem
+Herzen. Du brauchst jemanden, der deine Bilder lobt. Aber das dürfte
+dich doch nicht blind machen, daß er geradezu der Thersites unter den
+Hunden ist. Und immer schmutzig.“
+
+„Bitte, heute erst gebadet.“
+
+Adelgunde ignorierte diese entrüstete Berichtigung. Sie wendete
+sich nun direkt an Emil, der ziemlich geniert auf einem groben
+Melkstuhl saß, den Eleonore einmal vor Jahren aus einer bescheidenen
+Sommerfrische auf einer Schweizer Alm als sinnige Erinnerung
+mitgebracht hatte.
+
+„Haben Sie schon einmal einen zweiten Hund gesehen, der immer aussieht,
+als sei er in eine Lehmgrube gefallen?“
+
+Emil wich der direkten Antwort auf diese Frage aus.
+
+„Flockis Fell nimmt merkwürdig leicht Staub an,“ entschied er, „aber
+ich bin Zeuge, daß er fast täglich gebadet und sehr häufig am Tag
+gebürstet wird.“
+
+„Ja, +Sie+ sind Zeuge?“ lächelte Adelgunde spitz. „Sie sind wohl
+der pädagogische und medizinische Beirat bei Flockis leiblicher und
+seelischer Erziehung.“
+
+„Im Hauptberuf,“ sagte Eleonore rasch und enthob dadurch den ob solcher
+Anzapfung sichtlich verlegenen Emil der Antwort. „Im Hauptberuf
+ist Herr Emil Steinbrink, wie ich dir vorhin schon erklärte, liebe
+Adelgunde, Maler. Also ein Kollege von mir. Sogar ein Kollege, von dem
+ich sehr viel halte.“
+
+„Sogar!“ Adelgunde verbeugte sich mit leichtem Spott.
+
+„Jawohl, meine Liebe, sogar! Er ist Landschafter und hat die Welt mit
+den Augen des Poeten betrachtet. Daß er, wie die meisten ästhetisch
+Veranlagten und wie alle +guten+ Menschen“ -- sie legte auf die
+„guten“ Menschen einen bedeutsamen Nachdruck -- „nebenbei ein großer
+Hundefreund ist, hat mir seine kollegiale Freundschaft noch wertvoller
+gemacht.“
+
+„+Noch+ wertvoller?“ Adelgunde schien das ironische Echo der Schwester
+geworden zu sein.
+
+Emil beschloß der peinlichen Szene ein erträgliches Ende zu geben.
+Er erhob sich von seinem Melkstuhl und sagte mit einer linkischen
+Handbewegung:
+
+„Hier nebenan ist mein Atelier.“
+
+„Hier -- +nebenan+?“
+
+Adelgundens Gesicht nahm einen Augenblick den Ausdruck beleidigter
+Tugend an.
+
+„Ja, er ist ein sehr angenehmer Nachbar,“ kommentierte Eleonore
+boshaft, „er spielt niemals Chopin, keine Trauermärsche und nichts
+anderes, was ähnlich klingt.“
+
+Emil begriff, daß Adelgunde nun wieder an der Reihe war für eine
+bissige Bemerkung. Er beeilte sich also zu sagen: „Interessiert es Sie
+vielleicht, mein Atelier zu sehen? Ich muß doch eben noch eine halbe
+Stunde hinüber.“
+
+Er hatte erwartet, daß Adelgunde ablehnen würde. Vielleicht mit
+ironischem Dank, vielleicht gar mit einer beleidigenden Bemerkung.
+
+Aber in der unangenehmen Dame schien die Neugier gesiegt zu haben. Sie
+erklärte sich sofort zur Besichtigung bereit.
+
+Jedenfalls kam er auf diese Weise hier los.
+
+Die folgende Viertelstunde gehörte zu den wenigst genußreichen in Emils
+Leben.
+
+Es ist zwar nicht anzunehmen, daß Adelgunde überhaupt was von Bildern
+verstand; in der Beurteilung von Emils Werken nahm sie jedenfalls
+einen nüchtern ablehnenden Standpunkt ein. Sie behauptete, daß die
+violette Farbe in der realen Welt sehr selten vorkomme. +Wenn+ sie aber
+vorkomme, dann sehe sie nach ihren Beobachtungen anders aus, als Emil
+sie wiedergab.
+
+Sie sprach dann von seiner Vorliebe für Violett, wie von einem
+schmerzlichen Sehfehler und diskutierte mit ernster Teilnahme die
+Möglichkeit, dieses Gebrechen durch einen operativen Eingriff in das
+Sehnetz zu heben. Sie kenne einen Augenarzt, der die merkwürdigsten
+Operationen mache. Eine sehr distinguierte Dame, mit der sie früher
+vierhändig Klavier gespielt habe, sei von dem unglücklichen Fehler
+behaftet gewesen in allen hellen Dingen einen dunklen Punkt zu sehen.
+Einen Punkt von der Gestalt und Farbe einer Baumwanze. Diese Baumwanze
+habe ihr der Doktor aus dem Auge herausgeschnitten. Es sei natürlich
+keine wirkliche Baumwanze gewesen, sondern, wie sie vermute, ein
+häßlicher Fleck in der Pupille. Die distinguierte Dame sei nach der
+wohlgelungenen Operation sehr glücklich gewesen, habe vier Wochen
+nach Vorschrift im dunklen Zimmer gesessen zur Nachkur und sei leider
+in der fünften ganz plötzlich gestorben. Ein sehr trauriger Fall,
+der aber niemanden abschrecken dürfe, eine Operation zu wagen. +Sie+
+z. B. würde in Emils Fall lieber heute als morgen ihre Zuflucht zur
+Operation nehmen. Es müsse doch geradezu schauderhaft sein, die ganze
+Welt, den Himmel, die Bäume, die Menschen, alles violett zu sehen. Auch
+der Wahnsinn beginne sehr häufig, wie sie aus sehr ernst zu nehmenden
+Büchern wisse, mit solchen Gesichtsstörungen ...
+
+So plauderte sie in ihrer gewinnenden Weise noch vieles, das den
+Verfertiger der violetten Bilder ähnlich sympathisch berühren mußte.
+
+Dann empfahl sie sich, nicht ohne Flocki aus Versehen auf die Pfoten
+getreten zu haben; eine Ungeschicklichkeit für die der davon Betroffene
+mit dem ihm eigenen maßlosen Geheul quittierte.
+
+Vollständig mit der Untersuchung und der Pflege des Patienten
+beschäftigt nahm die empörte Eleonore keinerlei Notiz davon, als die
+Schwester davonrauschte.
+
+Emil begleitete sie bis zur Treppe und empfing dort ihre letzte
+dringende Ermahnung, lieber so lange +nicht+ mehr zu malen, bis die
+empfehlenswerte Operation vorgenommen sei.
+
+Sie war schon auf der Treppe, da raffte Emil, der bis dahin mit der
+Geduld eines Märtyrers die Freuden dieses Besuches, der ihm eigentlich
+gar nichts anging, ertragen hatte, zu einer kleinen, bescheidenen
+Bosheit auf.
+
+„Alles, liebes Fräulein,“ sagte er, „+alles+ sehe ich nun doch nicht
+violett. Zum Beispiel ihren schönen Hut empfinde ich durchaus gelb.“
+
+„So. Empfinden Sie ihn gelb?“ sie lächelte ihm geschmeichelt zu. „Nun,
+sehen Sie, ich kann Ihnen versichern: er +ist+ auch gelb. Ein kräftiges
+Kanariengelb. Ich liebe überhaupt das Kräftige.“
+
+Und damit stieg die freundliche Dame, die das Kräftige liebte, mit dem
+kanariengelben Hut die Treppe hinunter.
+
+Das war am Abend des 24. Mai.
+
+Emil ahnte nicht, welche Bedeutung einmal für ihn dieses Datum gewinnen
+sollte. Und als er in sein Atelier zurücktrat und Eleonore zwischen
+all den violetten Bildern mit finster verkniffenen Lippen in seinem
+antiquarisch gekauften Sicherheitstriumphstuhl sitzend fand, immer noch
+den wimmernden Flocki betreuend, da konnte ihm nimmermehr der Einfall
+kommen, daß diese Stunde in der Freundin einen Entschluß gereift habe,
+der ihn sehr nahe anging.
+
+Ihr Urteil über die Schwester aber faßte Eleonore, ehe sie mit Flocki
+ging, nur in die knappe Charakteristik zusammmen:
+
+„Es ist eine +widerliche+ Person!“
+
+Emil war zu höflich, zu widersprechen.
+
+ * * * * *
+
+Am andern Mittag saßen sich Emil und Eleonore schweigsam bei ihrem
+bescheidenen Mahl gegenüber.
+
+Die Schweigsamkeit des Menschen kann sehr verschiedene Ursachen haben.
+Hier zwei Beispiele. Emil schwieg, weil das Menü sehr minderwertig
+zusammengesetzt war. Es gab Erbsensuppe mit Schweinsohren, für die
+Emil sein Leben gelassen hätte, wenn sie gut gewesen wäre. Sie war
+angebrannt. Und dann Brathecht mit grüner Sauce. Die Suppe beschäftigte
+sein enttäuschtes Gemüt; der Hecht, den er minder schätzte, wandte
+sich mehr an seine Intelligenz und nahm mit seinen Gräten seine volle
+Aufmerksamkeit in Anspruch. Um so mehr, als Fischessen eine Kunst und
+ein Probierstein guter Erziehung ist und er sich vor Eleonore keine
+Blöße geben mochte.
+
+Eleonore aber schwieg, weil ihr vielerlei im Kopfe herumging und das
+Herz bewegte. Vielerlei, das mit der Erbsensuppe und dem Brathecht in
+gar keinem Zusammenhange stand.
+
+Plötzlich legte sie die Gabel hin, sah Emil ernst und fest in die Augen
+und fragte mit einer Stimme, der man tiefe, seelische Erregung leicht
+anmerken konnte.
+
+„Wenn ich +stürbe+, mein lieber Freund, würden Sie wohl dem armen
+Flocki ein Vater und Versorger sein?“
+
+„Wenn Sie -- +was+?“ Emil war froh, besonderes Interesse an der
+Unterhaltung heuchelnd, den Brathecht beiseite schieben zu können,
+dessen Todestag, wie ihm schien, schon etwas ferne lag.
+
+Eleonore wiederholte mit genau demselben schwermütigen Tonfall ihre
+ernste Frage.
+
+„Aber natürlich, Fräulein Eleonore. Sie wissen doch, mein Herz --
+Pikkolo nehmen Sie doch endlich den Brathecht weg! -- mein Herz hängt
+an dem Tier. Ich habe mich so an ihn gewöhnt und --“
+
+Eleonore reichte über den leeren Brotkorb dem Freunde die Hand. Sie
+war gerührt. Tränen standen in ihren Augen, und ihre Nasenspitze
+war elfenbeinweiß und zuckte leise, was stets bei ihr ein Zeichen
+besonderer seelischer Erschütterung war.
+
+„Ich +danke+ Ihnen,“ sagte sie, in jedes Wort eine Fülle glückseliger
+Empfindung gießend, als habe er ihr soeben Holländisch-Indien als
+souveränes Fürstentum geschenkt.
+
+Emil empfand die Feierlichkeit peinlich. Er liebte das Feierliche
+überhaupt nicht in öffentlichen Lokalen. Am wenigsten, wenn ein
+unerzogener Pikkolo in der Nähe stand, der seine schaufelförmig
+abstehenden Ohren ausgiebig zur aufmerksamen Teilnahme an den
+Gesprächen der Gäste benutzte.
+
+„Aber, liebes Fräulein,“ wehrte der Maler geniert und halblaut ab,
+„nein wirklich, wie können Sie jetzt vom Tode -- heute gerade vom Tode
+reden! Sie -- in der Blüte der Jahre, in der Fülle der Kraft, in der --
+in der -- --“
+
+„Nehmen die Herrschaften Obst oder Käse?“ fragte der Pikkolo.
+
+Emil war ihm dankbar für die Störung. Denn seine Beredsamkeit hatte ihn
+in eine lichtlose Sackgasse geführt. Er bestellte den steinharten Käse,
+den man hier, weil er etwas altes Stanniol auf der Oberfläche zeigte,
+„Chamambert“ nannte.
+
+Aber Eleonore kam mit der ganzen Zähigkeit des Frauengemüts auf den ihr
+lieben Gedanken zurück.
+
+„Wenn Sie wüßten, wie mich das beruhigt. Es gibt mir geradezu das
+seelische Gleichgewicht wieder, das ich verloren hatte --“
+
+Emil ließ einen Grunzton hören, der immerhin ein Bedauern und ein
+Befremden über das verlorene Gleichgewicht bedeuten konnte.
+
+„Ich weiß, +Sie+ verstehen mich,“ fuhr Eleonore fort, während sie
+Flocki, der einen Gast am Nebentisch einen Geflügelknochen behandeln
+sah und unschöne Zeichen einer durchaus mißgünstigen Stimmung an den
+Tag legte, beruhigend an sich zog. „+Sie+ ganz allein. Ruhig, Flocki,
+nicht heulen! Als gestern meine Schwester ging, stand mein Entschluß
+fest, felsenfest, wie die Mauer von Jericho.“
+
+Eleonore liebte solche kühnen Vergleiche, die zu denken gaben. Emil
+überlegte, daß sie außer der Mauer von Jericho auch den Käse, den
+er hilflos zwischen den Kiefern umherschob, ganz gut zum Vergleich
+für die Festigkeit ihres Entschlusses hätte heranziehen können. Aber
+worin dieser Entschluß bestand, das erforschte er weder durch emsiges
+Nachdenken, noch erfuhr er es an diesem Tage aus Eleonorens Munde.
+
+Flocki, tieferregt über den Herrn mit dem Geflügelknochen, hatte Händel
+an dem Nebentisch gesucht und dafür einen Tritt bekommen. Sein Schmerz
+über diese unwürdige Behandlung machte sich in kläglichen Lauten Luft.
+
+Eleonore, schon seelisch erregt durch die ernsten Erwägungen ihres
+Todesfalls, gebrauchte alsbald heftige Ausdrücke gegen „miserable
+Tierquäler“, „mitleidlose Barbaren“ und „unerzogene Menschen“.
+Bemerkungen, die der Herr mit dem Geflügelknochen leider auf +sich+
+beziehen mußte. Er wischte sich denn auch sofort die fetten Finger an
+der Serviette ab, sah durch eine sanftblaue Brille die erzürnte Dame
+von der Seite an und gab ihr -- natürlich ohne sich vorzustellen -- den
+wohlmeinenden Rat, ihren Köter besser zu erziehen.
+
+Eleonore, die gerade auf Flockis Erziehung sehr stolz war, setzte
+leider, aufs neue gereizt, das unersprießliche Gespräch durch die
+spitze Bemerkung fort, daß es mehr unerzogene Geschöpfe auf +zwei+
+Beinen, als auf vier Beinen gebe. Und obschon Eleonore, als sie diesen
+allgemeinen Vorwurf aussprach, dem Herrn mit dem Geflügelknochen
+dicht am Ohr vorbei sah, bezog dieser ungemütliche Mann die Äußerung
+doch wiederum auf sich. Er nannte nunmehr Flocki „eine unglückliche
+Kreuzung von einer Fischotter und einem Schaukelpferd“ und sprach den
+Verdacht aus, daß diese Mißgeburt beträchtliches Ungeziefer habe.
+Seine von keinerlei Sympathie getragenen Betrachtungen über Flocki
+und Flockis Geschlecht gipfelten in dem mit apodiktischer Sicherheit
+abgegebenen Spruch, derartige Geschöpfe gehörten in keine anständigen
+Lokale, und es sei noch zweifelhaft, ob man den Wirten, die sie zur
+Unbequemlichkeit ihrer Gäste dennoch hereinließen, nicht juristisch und
+strafrechtlich beikommen könne.
+
+Das war der Moment, in dem der Wirt sich in das Gespräch mischte.
+
+Nicht eigentlich in den Streit. Denn das Gebot solonischer Weisheit,
+daß der Athener in jedem Streit zwischen Zweien Partei ergreifen müsse,
+schien ihm außerhalb des alten Athens keine Geltung zu besitzen. Oder
+er kannte es überhaupt nicht. Er beschränkte sich also darauf, milde,
+beruhigende Worte an Eleonore zu richten und ähnliche Ermahnungen an
+den Herren mit dem Geflügelknochen.
+
+Als dieser ihn aber ärgerlich einen „alten Trottel“ nannte, ohrfeigte
+er unverzüglich den Pikkolo, der sich an dieser häßlichen Bemerkung des
+Herrn mit dem Geflügelknochen unziemlich erfreut hatte. Dann ging er
+nach dem Büfett, um das rothaarige Büfettfräulein anzuschreien, was ihm
+die am meisten ungefährliche Art erschien, seinen Ärger los zu werden,
+ohne dabei einen zahlungsfähigen Gast zu kränken.
+
+In Emils Seele wallten während dieser Szene allerlei ritterliche
+Gefühle. Von dem Entschluß, dem Herrn mit dem Geflügelknochen
+Ohrfeigen anzubieten, hielt ihn die kluge Einsicht zurück, daß dieser
+unangenehme Mensch einen geradezu athletischen Körperbau zeigte. Eine
+Pistolenforderung schien ihm aussichtslos. Und dann, er hatte niemand
+zur Hand, der sie überbracht hätte. Auch wußte er nicht, ob der Herr
+mit dem Geflügelknochen nicht etwa ein Kunstschütze war. Und da er nun
+so gar nicht ahnte, was er in dieser peinlichen Situation unternehmen
+sollte, machte er sich wichtig und umständlich mit Flocki zu schaffen,
+der sich immer noch in der Rolle des Gekränkten gefiel.
+
+„Gehen wir,“ sagte Eleonore plötzlich. Und Emil war herzlich froh, daß
+die unerquickliche Unterhaltung zu Ende war.
+
+Der Pikkolo, der an seinen Tränen schluckte, riß ihnen die Türe
+auf. Und hinter der wie eine siegreiche Königin einherschreitenden
+Eleonore gewann Emil sehr zu seiner Erleichterung die freie Luft. Eine
+neugierige Wendung hatte ihm noch gezeigt, daß der Feind, der sie
+vertrieb, bereits seinen Geflügelknochen wieder ergriffen hatte und an
+ihm herumnagte, als sei gar nichts geschehen.
+
+Eleonore war schweigsam auf dem Weg zu den Ateliers. Nur einmal machte
+sie plötzlich die, wie es schien, mehr für sich selbst als für Emil
+bestimmte Bemerkung, sie habe vor drei Jahren in der Schweiz am Genfer
+See einen Herrn aus St. Gallen an der Table d’hote getroffen, der das
+zarte Geflügelfleisch so unmanierlich von dem Knochen abgelutscht habe,
+daß sie sowohl, wie zwei alte holländische Damen die Pension gekündigt
+hätten. Aber noch in Basel habe sie von diesem Menschen und seiner
+barbarischen Art, zu essen, geträumt.
+
+Emil, der froh war, daß ein Gespräch in Fluß kommen sollte, wollte die
+spaßhafte Geschichte erzählen vom Schah Nasr-eddin, der beim Galadiner
+in London die Spargelreste hinter sich warf. Aber Eleonore belehrte ihn
+mit einem strengen Blick, dies sei eine Geschichte, die nicht hierher
+passe. Sie rede von europäischer Flegelei und von Geflügelknochen.
+Einem asiatischen Despoten verzeihe sie viel, einem Mitteleuropäer
+wenig.
+
+Und Emil dachte im Weitergehn darüber nach, wie dieses milde Urteil
+Eleonorens wieder einmal den alten Erfahrungssatz bestätige, daß die
+Stellung eines asiatischen Despoten ihre großen Annehmlichkeiten habe.
+
+Nur Flocki hatte sichtlich alle trüben Erinnerungen von seiner Seele
+geschüttelt und war von erfrischender Spaßhaftigkeit. Er erschreckte
+artige Schulkinder durch Sprünge und unmotiviertes Gebell bis zu
+Tränen, begleitete eine gelbe Postkutsche eine Strecke weit mit
+beträchtlichem Lärm durch viele Pfützen, interessierte sich für die an
+einem Laden in Körben ausgelegten Schellfische mehr, als dem Besitzer
+lieb war, und mischte sich dann arglos unter das Publikum.
+
+Im Atelier, als ihn Eleonore streicheln wollte, erwies es sich, daß
+er auch Zeit gefunden hatte, an einer offenbar frischgestrichenen
+Laterne zu rasten und daß ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner linken
+Körperseite dick mit grüner Ölfarbe bestrichen war.
+
+ * * * * *
+
+Am folgenden Tag kam Eleonore nicht ins Atelier.
+
+Der Portier, der bereits wieder bewundernd vor einem erst angefangenen
+aber schon sehr violetten Bilde in Emils Malerwerkstatt stand, als
+der junge Künstler, ein wenig verkatert von einem üblen Trunk, den
+er am Abend zuvor getan, die Türe öffnete, überbrachte ihm ein
+Billettchen der Freundin. Ein halbwüchsiges Mädchen, das in der kleinen
+Privatwohnung Eleonorens die Aufwartedienste tat und in Erfüllung
+dieser Obliegenheiten für dreimal soviel Geld zerschlug, als ihr
+Lohn ausmachte, hatte das Briefchen gebracht. Es war mit Bleistift
+geschrieben und enthielt nur diese wenigen Zeilen:
+
+ „Lieber Freund!
+
+ Ängstigen Sie sich nicht. Mir ist nicht wohl. Vielleicht war es die
+ Aufregung gestern. Aber ich fühle, daß ich fiebere und habe häßliche
+ Gliederschmerzen. Ich will einen Tag im Bett bleiben und denken, es
+ macht sich rasch wieder. Vielleicht nehmen Sie Flocki heute mit zum
+ Mittagessen?
+
+ Das Mädchen wird Sie pünktlich um ein Uhr mit dem lieben Tier vor der
+ Haustür erwarten. Sie holt ihn dann gegen Abend bei Ihnen im Atelier
+ ab. Aber wenn’s Ihnen Mühe macht oder Verdruß -- dann natürlich nicht.
+
+ Lüften Sie bitte ein bißchen in meinem Atelier. Und seien Sie schön
+ bedankt und gegrüßt von Ihrer
+
+ Eleonore Eikötter.“
+
+An diesem Tag also aß Emil mit Flocki allein zu Mittag.
+
+Es war ein trübseliges Diner. Er kam sich ganz vereinsamt vor. Um so
+vereinsamter, als Flocki viel an andern Tischen hospitierte. Auch
+der Herr mit dem Geflügelknochen war wieder da. Er aß aber diesmal
+Sardellenklopps, was die Situation erleichterte.
+
+Als das Mädchen am Abend kam, Flocki zu holen, berichtete sie, Eleonore
+friere und mache gar merkwürdige Sprüche. Der Arzt sei dagewesen und
+habe auf einem langen schmalen Zettel eine Medizin verschrieben. Sie
+sehe aus wie Himbeersaft und koste 3,50 Mk., was sie -- Dortchen --
+für eine Gemeinheit des Apothekers halte. Eleonore solle alle Stunde
+einen Eßlöffel nehmen, und sie -- Dortchen -- müsse deshalb sofort
+mit Flocki nach Hause. Für die Nacht habe sie ernste Befürchtungen,
+da Eleonore die sonderbarsten Reden über eine Hummerschere und einen
+Geflügelknochen führe. Sie -- Dortchen -- gehe deshalb stark mit dem
+Gedanken um, den Laufburschen vom Bäcker gegenüber, der übrigens ein
+sehr anständiger Mensch sei und eine derartige Bitte gewiß nicht
+mißverstehen würde, zu ersuchen, mit ihr in der Nähe der Kranken zu
+wachen. Augenblicklich sei die dicke Portiersfrau bei Eleonore, eine
+unangenehme, geschwätzige Frau, die, wie man sich in der ganzen Straße
+erzähle, mit dem Portier gar nicht richtig getraut sei, sondern „bloß
+so“ zusammenwohne, was besonders deshalb sehr verwerflich sei, weil
+der Portier schon morgens früh nach Kornschnaps röche und in ganz
+roher Weise selbst auf die Treppen spucke, was doch allen andern im
+Treppenhaus Verkehrenden durch Anschlag verboten sei.
+
+Nachdem sie alle diese interessanten Mitteilungen ohne Punkt und
+Semikolon gemacht hatte, entfernte sie sich sichtlich erleichtert mit
+Flocki und ließ Emil mit sehr violetten Gedanken unter seinen Bildern
+zurück.
+
+Am nächsten Tage hörte er nichts von Eleonore. Er konnte es sich nicht
+verhehlen, er war ernstlich beunruhigt.
+
+Und als es sechs Uhr abends war und er immer noch ohne Gruß und
+Nachricht war, ging er nach ihrer Wohnung. Erst umkreiste er in
+gemessenem Schritt das Haus mehrfach, bis er das Mißtrauen sämtlicher
+Portiers der Nachbarschaft erweckt hatte. Dann faßte er einen
+raschen Entschluß, trat ein und stieg die Treppen. Ein Jüngling mit
+vorstehenden grasgrünen Zähnen öffnete ihm die Tür und stellte sich
+als der Laufbursche vom Bäcker vor, der eben mal ’rübergekommen sei,
+um nach dem Rechten zu sehen. Dortchen, das tüchtige Mädchen, sei in
+der Apotheke. Es stehe schlimm mit dem Fräulein. Der Arzt sei sogar
+zweimal dagewesen, aber sie halte ihn unbegreiflicherweise für einen
+Kaminkehrer -- vielleicht weil er der vielen Trauer wegen, die sein
+Beruf bringe, so schwarz angezogen sei -- und wollte gar nichts von
+ihm wissen. Auch Flocki erkenne sie nicht mehr. Sie behaupte, er
+sei eine sibirische Fischotter und befehle unaufhörlich, ihn mit
+lebendigen Sardellen zu füttern. Was den schwarzgekleideten Doktor
+anbetreffe, so sei das zweifellos ein sehr gelehrter Herr, aber leider
+wenig mitteilsam. Er habe dem Dortchen bloß gesagt, sie solle das
+Rezept in die Apotheke tragen und dann schleunigst die Schwester --
+nämlich von der Kranken, nicht von Dortchen, die nur einen Bruder
+habe -- verständigen, daß es nicht zum Besten um die Kranke stehe.
+Übrigens sei das Kranksein für vermögliche Leute nicht mit so vielen
+Unannehmlichkeiten verbunden, wie für arme Teufel. Er habe z. B.
+eine Tante gehabt, die sei am kurzen Atem gestorben und habe vorher
+herzzerbrechend gejammert und geklagt. Und er sei überzeugt, daß sich
+das mit dem kurzen Atem gegeben hätte, wenn die Tante zufällig mit
+einem Kommerzienrat im Tiergartenviertel verheiratet gewesen wäre,
+anstatt mit einem Chausseearbeiter in Alt-Moabit.
+
+Gerade als der Jüngling mit den grünen Zähnen dabei war, Emil auch
+noch von diesem Onkel Rührendes zu erzählen, der dann als Witwer sehr
+interessante Erlebnisse mit einer Obstfrau am Spittelmarkt hatte,
+leuchtete Adelgundes kanariengelber Hut die Treppe hinauf. Hinter ihr
+keuchte Dortchen, die sehr erhitzt aussah und in einemfort redete, ohne
+zu verlangen, daß ihr jemand zuhörte.
+
+Adelgunde war zunächst der Ansicht, daß Eleonore bestimmt gewußt
+habe, daß sie -- Adelgunde -- heute abend ihr Whistkränzchen bei der
+einäugigen Steuerrätin habe, und daß sie sich deshalb diesen Tag zum
+Krankwerden ausgesucht habe. Rein aus Schikane.
+
+Als aber Adelgunde nach kurzer Zeit aus dem Krankenzimmer auf den
+Flur trat, wo Emil im Dunkeln auf einer hügeligen Holzkiste sitzend
+voll Unruhe auf ihre Mitteilungen gewartet hatte, da war sie doch
+recht ernst. Eleonore hatte die Schwester in ihren Phantasien für die
+merkwürdige George Sand gehalten, deren Lebensbeschreibung sie kurz
+vorher gelesen hatte, und mit Beziehung auf ihren gelben Hut gesagt,
+sie finde es sehr lustig, daß so eine große Schriftstellerin einen
+Eierkuchen auf dem Kopfe trage.
+
+Sehr bekümmert schlich Emil davon. Er hätte so gern irgend etwas für
+die kranke Freundin unternommen. Aber es blieb da nichts zu tun. So
+ging er in sein Heim, legte sich ohne Abendessen zu Bett und warf
+sich den größten Teil der Nacht von einer Seite auf die andere,
+ohne schlafen zu können. Als er aber gegen Morgen doch noch etwas
+einduselte, träumte er, Flocki sitze mitten auf seiner Brust und knurre
+ihn, den struppigen Kopf auf die Seite gelegt, boshaft und feindselig
+an. Und Flocki wurde immer schwerer; schon wie ein Kalb, wie ein
+Pferd, wie ein Elefant. Emil spürte deutlich, wie seine Rippen im
+Brustkorb krachend zersprangen unter der wachsenden Last von Flockis
+märchenhaftem Gewicht ...
+
+Als er um 9 Uhr aufwachte, stand der Jüngling mit den grünen Zähnen an
+seinem Bett. Wie er hineingekommen, bleibt ein Rätsel. Der angenehme
+junge Mann trug keinen Kragen und roch bedenklich, als ob er sich statt
+mit Kaffee mit einem nicht zu knappen Schluck Branntwein erfrischt
+hätte. Das Wesentlichste seines etwas verworrenen Berichtes lautete:
+Es gehe Eleonore sehr übel, und der schwarzgekleidete Arzt gebe
+wenig Hoffnung. Dortchen habe gemeint, der Herr Maler interessiere
+sich dafür, und so sei er rasch hergekommen. Er habe übrigens die
+Elektrische benutzen müssen -- auch auf dem Rückweg könne er dieses
+Verkehrsmittel nicht entbehren --, wodurch ihm Unkosten von zwanzig
+Pfennigen entstanden seien.
+
+Emil entließ den Jüngling, der ihm antipathisch war, mit einem
+50-Pfennigstück als Belohnung und zog sich rasch an. Ihm war sehr
+seltsam zumute. Eleonore war ihm ein lieber Kamerad gewesen, und es
+schien ihm, als ob er sie zu seiner Kunst brauche, wie sie ihn.
+
+Er hatte sich an sie gewöhnt, und es hatte ihm auch geschmeichelt, daß
+diese selbständige, pekuniär unabhängige Dame, die schließlich Verkehr
+genug gefunden hätte, gerade auf sein Urteil, sein Gespräch und seine
+Gesellschaft besondere Stücke zu halten schien. Etwas in seinem Leben
+war aus dem Gleichgewicht gekommen durch ihre Krankheit; und es kam ihm
+vor, als ob er ihr irgendwie helfen könne und müsse.
+
+Er konnte +nicht+ helfen.
+
+Auf der Treppe von Eleonorens Wohnung begegnete er dem Arzt. Der
+betrachtete auf seine ängstliche Frage erst längere Zeit Emil
+aufmerksam durch seine Brillengläser, dann nicht minder aufmerksam
+seine eigenen Fingernägel, um schließlich mit einem: „Ja, ja,
+Verehrtester, +hoffen+ wir!“ an ihm vorbei die Treppe hinunter zu
+steigen.
+
+Aus diesem Ausspruch, dem auch ein medizinisch besser Vorgebildeter
+keine klare Diagnose hätte entnehmen können, schöpfte Emil nichts
+weniger als Hoffnung und Zuversicht. Wenn keine Gefahr war, hätte
+der Doktor gewiß nicht solange schweigend seine eigenen Fingernägel
+betrachtet, an denen nicht die geringste anatomische oder ästhetische
+Besonderheit zu bemerken war.
+
+Oben wirkte Adelgunde. Das heißt, da die Kranke selbst im Fiebertraum
+liegend eigentlich sehr wenig Gelegenheit gab, eine energische
+Wirksamkeit, die zu üben Adelgunde gekommen war und den kanariengelben
+Hut abgelegt hatte, zu betätigen, so beschränkte sich die Hilfreiche
+darauf, unzählige Gegenstände von ihrem offenbar sinnvoll gewählten
+Platz zu entfernen und an einen andern zu stellen. Wobei sie mit jener
+gedämpften Behutsamkeit zu Werke ging, die in ihrer Absichtlichkeit
+einen Kranken, der das Bewußtsein noch nicht ganz verloren hat,
+besonders heftig erregen muß.
+
+Auch Emil mußte sofort helfend zur Hand gehn. Es tat ihm in seiner
+Besorgnis wohl, daß er irgend etwas in der Nähe der Kranken tun konnte,
+ohne allerdings recht einzusehen, warum er gerade die kümmerlichen
+kleinen Palmen und fast entblätterten Geranien aus dem engen Wohnzimmer
+auf den Vorplatz tragen und das eiserne Schirmgestell vom Vorplatz
+auf den bescheidenen Balkon setzen mußte. Aber Adelgundes gedämpfte
+Feldherrnstimme ordnete das alles mit solcher Sicherheit an, daß wohl
+ein tiefbedeutungsvoller Plan diesen wunderlichen Verrichtungen
+zugrunde liegen mußte.
+
+Als sich Emil bei solcherlei Geschäften, immer auf den Zehen
+schleichend wegen der Kranken, tüchtig in Schweiß gearbeitet hatte,
+erwies es sich, daß es Zeit war, Flocki an die frische Luft zu
+führen. Eine Aufgabe, zu der sich wieder niemand besser eignete als
+Emil. Als er Flocki, der Veranlassung genommen hatte, am Rade eines
+Flaschenbierwagens sich reichlich das Fell mit Teer zu besudeln, wieder
+oben ablieferte, erfuhr er, daß Eleonorens Fieberthermometer unter der
+Achselhöhle 40,1 anzeige. Also sehr hohes Fieber.
+
+Er hörte auch durch die halbgeöffnete Tür die kranke Freundin
+phantasieren. Sie erzählte in heiseren, abgehackten Sätzen, daß sie,
+sobald die Tage schöner würden, nach Delft zu Pieter de Hooch reisen
+wolle, um dem Verschmitzten seine Beleuchtungseffekte abzugucken.
+
+„Wer ist denn das?“ fragte Adelgunde leise den Maler.
+
+„Das ist ein Maler aus Rembrandts Schule. Mehr als zweihundert Jahre
+tot.“
+
+Adelgunde nickte nur. Sie hatte vermutet, daß der Mann tot war. Nach
+einer Weile forschte sie weiter.
+
+„Sie hat vorhin auch immer von einem gewissen Hundeköter gesprochen?
+Ich dachte erst, sie meint Flocki, aber es scheint fast -- --“
+
+Der Maler nickte. „Ganz recht. Melchior d’Hondecoeter, der feine
+Geflügelmaler aus dem Haag ...“
+
+Und als hätte sie’s gehört, schrie plötzlich die Kranke: „Ich will auch
+Enten malen, wie Hondecoeter. Und Flocki soll die Knochen haben. Alle
+Knochen soll Flocki haben -- alle!“
+
+ * * * * *
+
+Eleonore Eikötter hat keine Enten mehr gemalt. Weder wie Hondecoeter,
+noch minder talentvoll.
+
+In der Nacht ist sie eingeschlafen, so gegen drei Uhr, was die bei
+ihr wachende Adelgunde so sehr beruhigte, daß sie bald ebenfalls
+einschlief. Nur mit dem Unterschied, daß Adelgunde kurz nach sieben
+wieder aufwachte. Eleonore aber wachte nicht mehr auf.
+
+Sie lag ganz blaß und mit einer seltsam zugespitzten Nase, ein wenig
+jenem Jugendbilde wieder ähnlich, das die Erbtante entzückt hatte, in
+ihren reinlichen Kissen und war bereits mehrere Stunden tot, wie der
+rasch gerufene Arzt konstatierte ...
+
+Das Benehmen Flockis war durchaus pietätlos in diesen trüben Stunden.
+
+Man erzählt, daß edle Hunde tief und ehrlich, wie Menschen, um ihren
+Herrn trauern, ja, daß sie keinen Bissen annehmen tagelang. Und
+mehr als ein Fall gilt als gutbeglaubigt, in dem so ein treues Tier
+auf dem frischen Hügel seines Herrn in Wind und Wetter Wache hielt
+und schließlich elend verhungerte. Solchen erschütternden Neigungen
+war Flocki durchaus nicht unterworfen. Verschiedene Kränze, die
+am Morgen abgegeben wurden, genierten ihn zwar sichtlich, und die
+scharfriechenden Tuberosen brachten ihn zum Niesen. Das war aber auch
+alles, was an Veränderungen an ihm zu merken war. Im übrigen war er
+gefräßig wie nur je, verfolgte nach wie vor den Briefträger mit seinem
+Haß und machte sich bei den Zimmerleuten, die wegen des Sarges kamen,
+angenehm, da er das Wurstfrühstück roch, das die Männer in der Tasche
+hatten.
+
+Emil half Adelgunde bei all den trübseligen Verrichtungen, die der Tod
+eines Menschen seinem Nächsten aufbürdet.
+
+Der zur standesamtlichen Meldung nötige Geburtsschein Eleonores war
+lange nicht zu finden. Adelgunde, die ein zu enges Trauerkleid gekauft
+hatte und die Arme nicht bewegen konnte, ohne daß es in allen Nähten
+krachte, bat Emil, in den tiefen Schubladen des Schreibtisches mit
+seinen langen und an keiner Bewegung gehinderten Armen danach zu
+fischen.
+
+Während sie ernst beaufsichtigend dabei stand, zog Emil die seltsamsten
+Dinge aus diesen peinlich sauber mit blauem Seidenpapier ausgelegten
+Fächern. Fast kam es ihm wie ein Unrecht an der toten Freundin vor,
+daß er hier so offen ausbreitete, was sie in all ihren Gesprächen
+schamhaft verschwiegen. Da war das schon vergilbte Bild eines Herrn,
+der sich durch ein paar vorbildlich schöne Tiefquarten im hübsch
+ausrasierten Kinn als akademischer Bürger auswies. In der Nähe dieses
+Porträts, an dessen Rand eine Dedikation ausradiert schien, fanden sich
+ein paar getrocknete Blumen vor, die in Emils Fingern leise knisternd
+zu Staub zerfielen. Ein Gedichtsbändchen: Rückerts Liebesfrühling,
+der viel angestrichene Verse zeigte. Ein paar geknickte Tanzkarten,
+die in Schmuck und Druck die ganze Geschmacklosigkeit einer kleinen
+Stadt und in der Kritzelschrift die Autogramme vieler unbekannter
+Kavaliere aufwiesen ... Wieviel Freude und Weh mochte für die Tote an
+all diesem wertlosen Kram gehaftet haben, daß sie ihn so lange unter
+sauberem Seidenpapier, von bunten Bändchen umschlossen, bewahrte! Die
+traurig-sehnsüchtige Weise des alten Volksliedes zog Emil durch den
+Sinn: Lang, lang ist’s her -- lang ist’s her ...
+
+Nebenan im Sterbezimmer aber stand die Portiersfrau im ganzen
+fassungslosen Schmerz solcher ungebildeten Leute, die in jedem Toten
+schon ihr eigenes nahes Ende beklagen, und schluchzte, während sie der
+Toten einen Veilchenstrauß in die kalten Finger stopfte, immer wieder:
+„Nein doch, nein -- jetzt -- jetzt sieht man’s erst, wie +schön+ sie
+einmal gewesen sein muß, das liebe Fräulein!“
+
+Schön --? Wer weiß. Aber jung -- gewiß einmal jung. Mit allen
+Torheiten, Hoffnungen, Seligkeiten der Jugend, mit all den Träumen, die
+nicht davon wissen, daß dies Leben einmal, kaum beweint und ohne eine
+Lücke zu lassen, zwischen schlechten Bildern endigt. Aber weit zurück
+lagen die Träume ... Und als Emil den Geburtsschein endlich, in ein in
+lila Sammet gebundenes Konfirmationsbüchlein versteckt, gefunden hatte,
+las er nicht ohne Erstaunen die Jahreszahl ...
+
+Bei dem Suchen nach dem Geburtsschein war übrigens ein anderes
+wichtiges Papier den beiden in die Hände gekommen. Ein mit einem
+Rembrandtkopf zugesiegeltes Kuvert, das ganz obenauf in der
+Mittelschublade lag und in Eleonorens starker Handschrift, deren
+Energie sogar in diesen langen Buchstaben mit einer gewissen stolzen
+Absichtlichkeit betont schien, die Aufschrift trug: „+Mein Testament+“.
+
+Als alles auf dem Standesamt, mit Schreiner, Pfarrer und Blumenhändler
+für das Begräbnis geordnet war, fand Adelgunde dieses Kuvert auf dem
+Topf einer kleinen Dattelpalme wieder, wohin sie es in der Eile beim
+Suchen nach dem momentan wichtigeren Geburtsschein gelegt hatte.
+
+Eine Weile betrachtete sie es unschlüssig. Dann ging sie an die Tür
+und rief nach Emil, den sie in diesen Tagen wie einen anstelligen
+Haushofmeister zu behandeln gelernt hatte, und der in den kleinen und
+kleinlichen Besorgungen für das Begräbnis seinen ehrlichen Schmerz
+betäubte und die innere Leere zu vergessen suchte, die ihm der Heimgang
+der einzigen Freundin seiner Person und seiner violetten Kunst
+hinterlassen hatte.
+
+Emil verhandelte gerade an der Flurtüre mit einem etwas angetrunkenen
+Herr, der behauptete, früher Kantor an der Simonskirche gewesen
+zu sein, und sich eifrig erbot, mit drei andern, ebenfalls sehr
+talentvollen Sängern, die einen guten schwarzen Rock besäßen, für 20
+Mk., worauf allerdings ein Vorschuß zu zahlen sei, und zwei Flaschen
+Weißwein (roten trinke er nicht) einige Quartette zum besten zu geben,
+ohne die eine „anständige Leiche“, wie er versicherte, „überhaupt nicht
+mehr bestehen könnte“.
+
+Als Adelgunde, einen nicht zu überhörenden strengen Vorwurf im Ton, zum
+dritten Male rief, schob Emil den angesäuselten Quartettsänger sanft
+aus dem Korridor und schloß die Tür, hinter der man den ehemaligen
+Kantor der Simonskirche noch einige sehr kräftige, aber unhöfliche
+Worte sprechen hörte, ehe er einige Proben seiner Gesangskunst gratis
+spendend die Treppe hinunterstolperte.
+
+„Hier ist eine merkwürdige Sache,“ meinte Adelgunde, als Emil zu ihr
+trat und deutete auf das Kuvert. „Lesen Sie die Aufschrift!“
+
+Emil hatte sie schon gelesen. Er war es ja überhaupt gewesen, der das
+Papier gefunden hatte.
+
+„Was meinen Sie?“
+
+Emil meinte zunächst +nichts+. Das war so in schwierigen Fällen seine
+vorsichtige Gewohnheit.
+
+„Ich denke,“ fuhr Adelgunde etwas ärgerlich über sein Schweigen fort,
+„Sie werden mir doch irgendeinen intelligenten Vorschlag machen können.“
+
+Emil konnte keinen intelligenten Vorschlag machen. Sein Gesicht
+täuschte in diesem Moment nicht darüber. Er hatte noch nie ein
+Testament in der Hand gehabt und hatte sein Gehirn niemals mit ernsten
+Erwägungen, was etwa mit solchem wichtigen Papier nach dem Tode des
+Erblassers zu geschehen habe, belastet.
+
+„Ich denke,“ sagte Adelgunde nach einer Weile, „ein Testament war hier
+kaum nötig. Verwandte außer mir hatte die gute Eleonore nicht. Das
+müßte ich wissen, da ich die Schwester bin.“
+
+Das leuchtete Emil ein. Adelgunde +mußte+ das wissen. Das heißt ... Ihm
+zuckte ein Gedanke durch den Kopf. Der Herr mit den Tiefquarten im Kinn
+-- die zerknitterten Tanzkarten -- die staubigen Veilchen -- -- Sollte
+etwa irgendwo ...? Man hörte zuweilen solche verblüffenden Sachen oder
+las davon im „Vermischten“ der Zeitungen. Bei seiner Tante Barbara in
+Limburg hatte eine schwächliche Köchin fünf Jahre gedient, und niemand
+hatte eine Ahnung, daß diese mürrische und kränkliche Person in einem
+Dorf der Wetterau zwei hervorragend gesunde Jungen hatte ... Aber das
+war ja Unsinn. Eleonore, dieses treuherzige Wesen mit allen kleinen
+Eigenheiten eines späten Mädchens. Nimmermehr!
+
+Adelgunde war, als Emil wieder zuhörte, in ihren Bemerkungen zu diesem
+überflüssigen Testament gerade zu einem kühnen Schluß gekommen. „Es muß
+vielmehr dieses versiegelte Papier irgendeinen besonderen Wunsch der
+Pietät enthalten. Vielleicht eine Bestimmung über die Bilder, die sie
+gemalt hat --“ Selbst die Trauer vermochte nicht ganz ein malitiöses
+Lächeln von den Lippen Adelgundens zu scheuchen, als sie vollendete:
+„Vielleicht hat sie nicht gewünscht, daß gerade diese Werke ihrer
+Hand in meinen Besitz übergehen und mich so zwingen, aus Pietät für
+die Tote, täglich Dinge um mich zu sehn, deren Vorbilder ich im Leben
+nicht zu entdecken vermag. Vielleicht hat sie die Schwäche gehabt,
+diese Malereien einer Galerie als Erbschaft anzubieten -- wovon wir
+allerdings Scherereien haben könnten -- oder sie hat bestimmt, daß ein
+oder das andere davon -- Ihnen ...“
+
+„Mir?“ ...
+
+An +diese+ Möglichkeit hatte Emil absolut nicht gedacht. Er fühlte,
+er war ganz blaß geworden. Für ihn war der Gedanke, im Testament
+irgend eines Menschen erwähnt zu sein, und sei’s auch nur mit einem
+mittelmäßigen Ölbild bedacht (von welchem einzigen Artikel er
+eigentlich reichlich genug hatte), ein so Außergewöhnliches, daß ihn
+die bloße Andeutung wie ein großer Schreck berührte. Wenn ihm plötzlich
+ein makedonischer Landgensdarm die weißbehandschuhte Rechte wuchtig auf
+die Achsel hätte fallen lassen und ihn angebrüllt hätte: „Im Namen des
+Sultans, Sie sind verhaftet!“ er hätte -- obschon sich keiner Freveltat
+bewußt -- nicht heftiger bis in die Knochen erschrecken können.
+
+„Es wäre immerhin möglich,“ fuhr Adelgunde fort, indem sie das
+geheimnisvolle Kuvert gegen das Licht hielt, als ließe sich dadurch
+sein Inhalt leichter feststellen, „wäre möglich, daß sie Ihnen
+mindestens die zwei Bilder wieder vermacht hätte, die sie Ihnen einst
+abgekauft hat. Daß ich Ihren aparten violetten Geschmack nicht teile,
+wußte sie vielleicht --“
+
+„Sie haben mit Ihrem Urteil ja nicht zurückgehalten,“ wagte Emil, dem
+die unerquickliche Szene in seinem Atelier deutlich vor Augen stand,
+schüchtern einzuwerfen.
+
+Adelgunde sah ihn durchbohrend an. „Allerdings. Ich habe, wie immer,
+meiner Meinung zwar in schonender, aber in nicht mißzuverstehender
+Weise Ausdruck verliehen. Übrigens reden wir in dieser ernsten Stunde
+nicht von Ihren Bildern.“
+
+Emil stimmte lebhaft zu. Da niemand sonst zu irgend einer Zeit von
+seinen Bildern redete, so konnte er auch Adelgundes lieblose Erwähnung
+in dieser Stunde entbehren.
+
+Adelgunde wog das Kuvert in der Hand. „Es scheint ein einziger Bogen
+ihres gewöhnlichen Briefpapiers zu sein. Gleichviel ein Bogen oder zehn
+-- wir müssen die Gesetze beachten und tun, was sie vorschreiben.“
+
+Dieser Ausspruch gefiel Emil so gut, daß er ihn, gewichtig mit dem
+Kopfe nickend, zweimal wiederholte. Leider stellte sich aber heraus,
+daß dieser von beiden gebilligte Vorsatz zunächst eine lobenswerte
+Theorie bleiben mußte, da sie beide nicht wußten, was nun eigentlich
+die zu beachtenden Gesetze in diesem Falle vorschrieben.
+
+Unbemerkt von den beiden, die in tiefe Gedanken versunken standen,
+war Flocki hereingekommen, der ein gewisses Unbehagen nicht verbergen
+konnte, daß man sich so wenig mit ihm beschäftigte. Er war zu gewissen
+Stunden an kleine neckische Spiele gewöhnt, an geistige Anregungen, wie
+sie die vortreffliche Eleonore in ihrer unendlichen Güte immer wieder
+für den Liebling zu ersinnen pflegte. Die Nichtachtung, die er jetzt in
+diesem Trauerhause erfuhr, verdroß ihn heftig. Den Kopf auf die linke
+Seite gelegt, mit dem Schwanz in leiser Erregung den Boden fegend,
+stand er zwischen den beiden Sinnenden und schnüffelte mißtrauisch
+hinauf nach dem Kuvert in Adelgundens Hand.
+
+„Aber das ist doch einfach,“ sagte plötzlich Adelgunde und sah dabei
+Emil strafend an, als habe sie es die ganze Zeit gewußt und nur, um
+seinen Scharfsinn auf eine notwendige Probe zu stellen, für sich
+behalten, „Sie gehen mit dem Papier sofort zu ~Dr.~ Neumann.“
+
+Emil begriff. ~Dr.~ Neumann war der Rechtsanwalt, von dem Eleonore
+mehrfach gesprochen. In drei Prozessen, die ihr Flockis Ungebühr
+eingetragen, hatte dieser tüchtige Advokat zwei Termine versäumt und
+einen für Eleonore im Wortlaut sehr ehrenvollen, aber pekuniär recht
+schmerzlichen „Vergleich“ zustande gebracht. Aber der guten Eleonore,
+die eine fanatische Verehrerin des „Paragraphen“ im allgemeinen und
+der Rechtswissenschaft im besonderen war, vermochte er gewaltig zu
+imponieren durch allerlei dicke und alte Bücher, die er mit großer
+Fixigkeit von den Regalen nahm und nachschlug, und aus denen er ihr
+nicht ohne schönes Pathos sehr lange und merkwürdige Sätze vorlas, von
+denen sie den Anfang längst vergessen hatte, wenn der Anwalt die Stimme
+melancholisch zum Schlußpunkt sinken ließ. Sie war der Ansicht, das
+seien Reichsgerichtsentscheidungen; und sie fand es sehr scharmant von
+dem liebenswürdigen Juristen, daß er sich dazu hergab, ihr vorzulesen,
+was selbst klügere Laien als sie vermutlich nimmermehr beim ersten Male
+begriffen ...
+
+Daß also dieser Dr. Neumann, der als Eleonorens Rechtsbeistand
+zweifellos von diesem Testament Kenntnis hatte, um Rat gefragt
+werden sollte, leuchtete Emil durchaus ein. Aber warum sollte gerade
++er+, Emil, zu diesem Mann hingehn. Lag es eigentlich nicht näher,
+daß die Schwester der Erblasserin selbst -- --?
+
+Adelgunde unterbrach seine Erwägungen mit den knappen Worten: „Ich
+halte das für eine reine Formsache. Geschehen +muß+ das aber. Ich fühle
+mich nicht wohl genug, auch noch diesen Gang zu tun. Also gehen Sie.
+Aber besser +gleich+. In solchen Dingen versäumt man gar leicht etwas.
+Also -- hier!“
+
+Mit diesem „hier!“ wollte sie Emil das Kuvert überreichen. Die
+Handbewegung aber, in die sie wohl Entschluß, Energie, Vertrauen und
+anderes Schöne hineinlegen wollte, fiel +so+ energisch aus, daß Flocki
+die Sache mißverstand. Er hielt diese Handbewegung für den Beginn eines
+seinem Frohsinn gewidmeten Spiels; und da sich in diesen düstern Tagen
+eine erkleckliche Portion Übermut in ihm angesammelt hatte, so ging er
+mit erstaunlicher Behendigkeit auf den vermeintlichen Spaß ein. Er tat
+einen kleinen, aber zielbewußten Sprung in die Höhe, faßte Eleonorens
+Testament mit den Zähnen, riß es, ehe der verblüffte Emil zupacken
+konnte, der solchen Überfalls nicht gewärtigen Adelgunde aus der Hand
+und verschwand damit in tollen Sprüngen, die das Erwachen all seiner
+lang gedämpften Munterkeit bezeugten, nach dem Korridor.
+
+Einen Augenblick standen Adelgunde und Emil wie versteinert ob solcher
+maßlosen Frechheit.
+
+Dann begann über die auf dem Vorplatz ausgebreiteten Kränze, über
+Veilchen, Tuberosen, Farn, Efeu und Rosen eine sehr peinliche Jagd
+auf den miserablen Köter, der die Karikatur auf jede Pietät so weit
+trieb, den letzten Willen seiner Herrin wie eine tote Ratte im Maule
+hin und her zu schütteln und sich in Sprüngen zu gefallen, die mit der
+Situation im denkbar peinlichsten Widerspruch standen.
+
+Während Adelgunde mit einem Regenschirm den unsinnigen Flocki listig
+in eine Ecke drängte, ihm seinen Raub zu entreißen, warf Emil durch
+die leicht klaffende Tür einen Blick in das Zimmer, in dem lang und
+schmal unter dünner seidener Decke die arme Eleonore lag. Und seinem
+Malerauge kam es vor, als ob ihr Gesicht in der freundlichen Umrahmung
+des schmalen Seidentuches, das ihr das Kinn band, im wächsernen Ton des
+Todes ein leises Lächeln sehen ließe. Ein Lächeln, wie es wohl, die
+Züge der Lebendigen zu verschönen, sich um Mund und Augen gestohlen,
+wenn sie von der erstaunlichen Klugheit Flockis Altes und Neues
+berichtete ...
+
+In diesem Moment heulte Flocki laut auf.
+
+Adelgundens Regenschirm war ihm unsanft über die Rückengegend geflogen.
+
+Adelgunde, hochrot im Gesicht mit wogender Brust und krachenden
+Kleidernähten, hielt den übel zugerichteten letzten Willen der
+Schwester in der Hand.
+
+Wut und Triumph bebten durch ihre Stimme, als sie dem winselnd über die
+Kränze nach der Küche retirierenden Flocki nachzischte:
+
+„Infame Bestie!“
+
+ * * * * *
+
+Ungefähr anderthalb Stunden hatte Emil, das unschöne Kuvert wie eine
+Reliquie in beiden Händen haltend, in Dr. Neumanns Schreibzimmer
+gewartet.
+
+In dem Zimmer war eine schreckliche Atmosphäre. Es schien hier nie
+gelüftet zu werden. Der jüngere der beiden Schreiber hatte sich zum
+Überfluß an diesem Tage die Haare schneiden lassen und trug den Kopf
+mit einer billigen Pomade gesalbt, die einen unerträglichen Geruch
+nach ranzigem Fett ausströmte. Der ältere Schreiber schien taubstumm
+zu sein -- er hatte wenigstens den höflichen Gruß Emils nur mit
+mürrischem Kopfnicken erwidert und die Antwort auf die Fragen: ob
+der Herr Rechtsanwalt anwesend sei und ob wohl Aussicht sei, ihn zu
+sprechen, dem pomadisierten Jüngling überlassen. Auch die Arbeit schien
+er durchaus dieser jüngeren Kraft zuzumuten. Er schob dem Pomadisierten
+von Zeit zu Zeit ein Aktenbündel über den hohen Pultaufsatz zu,
+niemals ohne dabei die weiße Streusandbüchse umzuwerfen. Seine eigene
+Tätigkeit bestand ausschließlich darin, daß er sich mit einem in
+Zeitabständen von etwa zehn Minuten neugespitzten Hölzchen umständlich
+die Fingernägel reinigte und die Zähne stocherte. Dazwischen sah er
+zu seiner Erfrischung zum Fenster hinaus und schien nach seinem sich
+plötzlich in breitem Grinsen erhellenden Gesichtsausdruck zu schließen,
+zarte Beziehungen zu irgend einem weiblichen Wesen an irgend einem
+Küchenfenster des nächsten Hinterhauses anzuknüpfen.
+
+Von Emil nahm nach Erledigung der ersten Fragen niemand mehr die
+geringste Notiz. Nebenan hörte er zuweilen eine sehr erregte
+Frauenstimme und dann eine gedämpfte Männerstimme. Offenbar berieth
+~Dr.~ Neumann in diesem Raume eine nervöse Klientin. Emil
+hatte den dringenden Wunsch, daß der Fall nicht allzu verwickelt
+liegen möge. Denn die Aussicht noch eine weitere Stunde hier den
+Pomadengeruch auszuhalten und an des Bureauvorstehers sorgfältigen
+Toiletteverrichtungen teilzunehmen, hatte nichts Verlockendes.
+
+Endlich hörte man nebenan Stühle rücken und die Türe nach dem Korridor
+gehn.
+
+Emil faßte den letzten Willen Eleonorens fester in beide Hände und
+wartete. Es dauerte immerhin noch einmal eine starke Viertelstunde.
+~Dr.~ Neumann mußte sich wohl von dem Besuch erholen.
+
+Endlich flog die Verbindungstür nach dem Allerheiligsten des Anwalts
+auf, und ~Dr.~ Neumann winkte mit einer Kopfbewegung: „Der
+Nächste!“
+
+Da Emil der einzige war, der wartete, so hatte er wohl ein Recht, das
+unbedenklich auf sich zu beziehn, sah sich aber zur Vorsicht noch
+einmal um, ob nicht etwa einer der Schreiber ... Der Pomadenkopf lag
+tief über den Akten; und auch der Bureauvorstand hatte sein Hölzchen
+hingelegt und verglich zwei mit vielen Stempeln und Unterschriften
+gezierte Papiere mit einem Eifer, als habe er auf der Welt kein anderes
+Interesse, als den Inhalt dieser merkwürdigen Blätter bis aufs letzte
+Pünktchen in sich aufzunehmen.
+
+Emil saß ~Dr.~ Neumann in seinem Arbeitszimmer gegenüber.
+
+Der Anwalt war nicht gerade ein schöner Mann. Aber er hatte, wie Emil
+sich gestand, einen interessanten Kopf. Der Hinterkopf wuchs aus einem
+bescheidenen Kränzlein schwarzer Haare spiegelblank und in der Form
+eines Straußeneis. Die Nase saß ein bißchen nach links geneigt und
+konnte sich bei leicht ironischen Bemerkungen zu einem merkwürdigen
+Bogen ziehen, wobei der Mund eine listige Stellung annahm, als ob er
+pfeifen wollte.
+
+„Ich erkenne Sie sofort wieder,“ sagte ~Dr.~ Neumann, indem er
+wohlgefällig, sich seines vorzüglichen Physiognomiengedächtnisses
+freuend, nickte. „Sie sind der Herr, dem im vorigen Jahre der
+Blumentopf in der Lietzenburgerstraße auf den Kopf fiel.“
+
+Emil verneinte. Ihm sei Gott sei Dank noch nie etwas auf den Kopf
+gefallen. Sein Name sei -- -- --
+
+Aber schon unterbrach ihn der Rechtsanwalt, der den Widerspruch
+zunächst stirnrunzelnd angehört hatte. Sein Gesicht hellte sich auf,
+als er Emil abwehrend mit schöner Vertraulichkeit aufs Knie schlug und
+meinte:
+
+„Pardon, nein. +Nun+ weiß ich’s. Sie waren im Vorjahre bei mir wegen
+des Wasserklosetts. Richtig! Nun, hat unser gepfefferter Brief an den
+Hauswirt genützt, was?“
+
+Emil beteuerte, auch mit dem Wasserklosett nicht dienen zu können. Sein
+Name sei Emil Steinbrink. Von Beruf Maler. Er käme auch eigentlich
+nicht in einer eigenen Angelegenheit, sondern ...
+
+„Wegen des Kegelklubs?“
+
+Nein, er kegele leider nicht, oder doch so schlecht, daß sich ein Klub
+schwer dazu verstehen würde, ihn aufzunehmen. Die Sache sei vielmehr
+die: Seine vortreffliche Freundin, -- er dürfe sie wohl so nennen --
+Eleonore Eikötter sei plötzlich gestorben ...
+
+Dr. Neumann schlug sich mit beiden flachen Händen heftig auf die
+Schenkel. Vielleicht, daß dies seine Art war, tiefe, schmerzliche
+Anteilnahme zu bezeugen. Vielleicht auch, daß er nur damit ausdrücken
+wollte: „Ist’s die Menschenmöglichkeit! +So+ was kommt vor!“
+
+Emil sprach weiter. Er erzählte von seiner Bekanntschaft mit der
+vortrefflichen Eleonore, rühmte ihr schönes Talent, ihren Seelenadel,
+ihr echt weibliches Empfinden und ging, da dieser Teil seiner Erzählung
+den Anwalt nur mäßig zu interessieren schien, auf ihren plötzlichen Tod
+über, auf sein und Adelgundes Wirken in der Wohnung und kam schließlich
+auf den zufälligen Fund des merkwürdigen Kuverts mit dem letzten
+Willen.
+
+„Wie war doch der werte Name?“ fragte der Anwalt und putzte seinen
+Kneifer.
+
+Emil wiederholte den werten Namen sehr langsam und deutlich.
+
+Das Angesicht des Anwalts hellte sich auf, wie vorhin, als er Emil
+zweimal „erkannt“ hatte. In Emil stieg die leise Befürchtung auf, es
+werde als ganzes Resultat seiner wohlgesetzten Erzählung etwa eine
+neue Erkennungsszene mit Verwechslung stattfinden. Aber zu seinem
+Erstaunen schlug sich der Anwalt wieder mit beiden flachen Händen auf
+die Schenkel -- eine Bewegung, die ihm offenbar zum Ausdruck vieler und
+widersprechender Gemütsbewegungen diente -- und wiederholte, als ob
+ihm damit eine ungemein köstliche Erleuchtung aufgehe: „Steinbrink --
+richtig: Emil Steinbrink!“
+
+Da Emil nicht recht wußte, was er nun sagen sollte, verbeugte er sich
+höflich und reichte dem Anwalt das Testament.
+
+Der aber legte es achtlos auf die Tischplatte und indem er Emil
+fixierte, als wolle er ihn hypnotisieren, fragte er:
+
+„Sie kennen natürlich den Inhalt?“
+
+„Ich? Nein.“
+
+„Wirklich nicht?“
+
+„Ich wußte nicht, daß ein solches Testament überhaupt existiert.
+Fräulein Eleonore und ich sprachen meist nur über Kunst.“
+
+„Nur über Kunst -- natürlich.“ ~Dr.~ Neumann lächelte ein wenig
+ironisch, wie es Emil vorkam, als er dies „natürlich“ zweimal mit
+Nachdruck wiederholte. Entweder er hielt von der Kunst nicht viel oder
+gar nichts von Emils Aufrichtigkeit.
+
+„Und, mein verehrter Herr Steinbock --“
+
+„Bitte, Steinbrink.“
+
+„Richtig, ja. Also, mein verehrter Herr Steinbrink, wenn ich Ihnen nun
+sage, daß Fräulein Eleonore Eikötter dieses Testament erst ganz kurz
+vor ihrem Tode gemacht hat. Vor ein paar Tagen erst. Hier bei mir.
+Unter meinem Beistand. Am -- warten Sie.“ Er kramte in einer Schublade
+und holte einen gefalzten Kanzleibogen heraus: „Hier haben wir’s: am
+24. Mai gemacht. Nachmittags. Fräulein Eikötter kam sehr erregt zu mir
+und bestand darauf, sofort ein rechtskräftiges Testament aufzusetzen.
+Hier ist das Duplikat.“ ~Dr.~ Neumann versenkte interessiert seinen
+Blick in das Papier. „Und hier -- richtig -- ich irre mich +nie+ in
+solchen Dingen -- hier steht’s --“ Er sah wieder auf von dem Blatt:
+„Sie also sind dieser Herr Emil Steinbrink.“
+
+Emil wurde verlegen. Es war klar, von +ihm+ mußte etwas in diesem
+Testament geschrieben stehen. Was denn wohl? Er faßte sich ein Herz.
+
+„Hat Fräulein Eikötter vielleicht -- --“ er tippte sich fragend auf die
+Brust ... „vielleicht auch +meinen+ Namen?“
+
+„Allerdings, mein verehrter Herr Steinbrink.“
+
+„Es handelt sich wohl um ein -- ein Bild.“
+
+„Nicht bloß um ein Bild“.
+
+Emil fühlte, daß ihm die Kehle trocken wurde.
+
+„So. Hm. Also um -- mehrere Bilder.“
+
+„Die Bilder sind natürlich einbegriffen.“
+
+„Verzeihen Sie, Herr Doktor, was heißt, das ‚einbegriffen‘. In +was+
+einbegriffen?“
+
+„Nun in die Erbschaft.“
+
+„Aha. Das heißt -- verzeihen Sie, ich bin darin Laie -- in +meine+
+Erbschaft.“
+
+~Dr.~ Neumann schlug sich nun gleich mehrmals rasch hintereinander auf
+die Schenkel, was ein ziemlich beträchtliches Getöse gab.
+
+„Aber, verehrtester Herr Steinbrink, wissen Sie das nun wirklich nicht?
+Fräulein Eleonore Eikötter hat sie unterm 24. Mai unter Übergehung
+ihrer Schwester, die nur Kleider und Schmuck, das Bett und den
+Nachtschrank erben soll und zur Hälfte die von ihr gemalten Bilder --
+zum Haupterben eingesetzt.“
+
+„+Mich+?“
+
+Wenn dem guten Emil in diesem Augenblick ein aus der Wand
+herausspringender herkulisch gebauter Neger gemeldet hätte, S. M. der
+Kaiser von Abessynien habe ihn zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem
+Prädikat Exzellenz ernannt und bitte ihn einstweilen als Zeichen seiner
+Gunst ein halbes Dutzend junger Leoparden als Geschenk anzunehmen, --
+gewundert hätte ihn das weiter auch nicht mehr.
+
+Er -- ein „Erbe“. Er -- ein „Haupterbe“.
+
+„Das heißt,“ ~Dr.~ Neumann zog wieder das Papier zu Rate, „ganz so
+einfach ist die Sache nicht.“
+
+Emil hatte die Sache keinen Augenblick für „ganz einfach“ gehalten. Er
+saß mit maßlosem Erstaunen da und wartete, wie sich die Angelegenheit
+komplizieren sollte.
+
+„Es muß da ein Köter sein -- ein Hund, nicht wahr? Ein Hund männlichen
+Geschlechts?“
+
+Emil nickte: „Flocki.“
+
+„Richtig, Flocki. So ist er auch hier bezeichnet.“ Wiederum steckte
+~Dr.~ Neumann die merkwürdige Nase in das Papier, dann las er --
+mehr zu seiner Information, wie es schien, als für seinen mit offenem
+Munde lauschenden Hörer das Folgende vor:
+
+„Da ich die unverständige und unedle Lieblosigkeit meiner älteren
+Schwester Adelgunde meinem Liebling Flocki gegenüber, der lange mein
+bester und einziger Freund war, genugsam kenne, und da ich dieses
+herzige Tier, das an Verstand und Güte manchen Menschen beschämt,
+auch nach meinem Tode zum besten betreut wissen will, so bestimme ich
+hierdurch: daß als mein +Haupterbe+ der mir befreundete Kunstmaler
+Emil +Steinbrink+ zu betrachten sein soll. Und zwar soll genannter
+Kunstmaler Emil Steinbrink die Nutznießung der Zinsen meines
+Gesamtvermögens, dessen Kapital nicht angegriffen werden darf, so
+lange haben, als mein Hund +Flocki+, den ich seiner sorgsamen Pflege
+anvertraue, +am Leben ist+. An dem Tage, an dem mein guter Flocki
+stirbt, gehört das Kapital zur Hälfte meiner einzigen Schwester
+Adelgunde, zur andern Hälfte soll es der Kunstgenossenschaft zufallen
+mit der Auflage, alljährlich von den Zinsen einen hierfür besonders
+begabten Stipendiaten nach Holland zu schicken, um die herrlichen Werke
+von Melchior d’Hondecoeter, Jan Davidy de Heem, Rachel Ruysch und Jan
+Weenix mit Fleiß zu studieren.“
+
+ * * * * *
+
+Wie Emil aus dem Zimmer des Anwalts herausgekommen war, das wußte er
+selbst später nicht mehr zu sagen. Selbst daß er in der Verwirrung
+vom Kleiderhaken im Vorzimmer einen falschen Hut abgehängt hatte,
+dem Geruch nach offenbar die fettige Kopfbedeckung des pomadisierten
+Schreibers, merkte er erst einen Tag später.
+
+Sein Herz strömte über von Dankbarkeit. Haupterbe -- Zinsen --
+Nutznießung -- all diese neuen Begriffe wirbelten ihm nur so im Kopf
+herum. Er wußte, Eleonore war so gestellt gewesen, daß sie ganz
+behaglich leben konnte, auch ohne je eins ihrer Bilder zu verkaufen.
+Das würde also jetzt +sein+ Los sein. Ein Nabob! Nun konnte er die
++ganze+ Welt violett sehn, so lang es ihm paßte. Das heißt ...
+
+Sinnend stand er an einem Laden still. Es war zufällig ein ganz
+bescheidenes, kleines Käsegeschäft und eigentlich an den aufgestapelten
+runden und eckigen Käsen nicht viel zu sehen. Emil wollte auch durchaus
+nicht seine Schaulust befriedigen. Nur nachdenken wollte er, ungestört.
+Er bohrte seinen Blick in einen großen Holländer Käse und überlegte.
+Lebenslänglich war die „Nutznießung“ nicht. Nur solange Flocki ...
+Hm. Flocki war gesund. Gewiß. Gesundheit war eigentlich seine einzige
+Tugend. Sofern man diesen naturgemäßen Zustand eine Tugend nennen kann.
+Na ja. Flocki konnte alt werden, ein Hundegreis, ein Patriarch des
+Viertels. Er hatte von Hunden gehört, die zwanzig Jahre alt geworden
+waren. Allerdings, sie waren taub und blind und rochen sehr übel. Aber
+schließlich -- sie +lebten+. Darauf kommt’s an. Normal war freilich
+ein solches Alter nicht. Was war wohl das normale Alter eines gesunden
+Hundes. War das bei den einzelnen Rassen verschieden, oder --?
+
+Der Besitzer des Käseladens hatte mit Interesse den seltsamen Mann vor
+seinem Erker stehen sehen, der nun schon seit zehn Minuten den starren
+Blick in den Holländer Käse bohrte. Er war behutsam in die Ladentür
+getreten und, entschlossen dem offenbar Unschlüssigen die Entscheidung
+zu erleichtern, erläuterte er im herzlichen Ton:
+
+„Echter Edamer. Kann ich Ihnen sehr empfehlen. Darf ich Ihnen
+vielleicht ein Viertelchen --?“
+
+Emil fuhr jäh aus seinen Meditationen auf. Er konnte sich nicht ohne
+weiteres in die nüchterne Wirklichkeit zurechtfinden und fragte
+verwirrt: „Edamer -- was ist Edamer?“
+
+Der Händler lachte. „Nu der Käse da, den Sie die ganze Zeit so verliebt
+anstarren. Soll ich Ihnen ein Stück abschneiden?“
+
+In diesem Augenblick kam ein sehr ruppiger schwarzer Spitz aus dem
+Laden und rieb sich leise knurrend am Bein seines Herrn.
+
+Wie hypnotisiert starrte Emil auf den Köter. Langsam, wie unter einem
+unerklärlichen Zwang, kam es von seinen Lippen:
+
+„Käse -- nein. Aber -- -- aber können Sie mir vielleicht sagen, wie
++alt+ ein gesunder Hund werden kann?“
+
+ * * * * *
+
+Etwa ein halbes Jahr nach diesem denkwürdigen Nachmittag traf ich
+zufällig mit Emil zusammen. Wir waren Schulkameraden gewesen und ein
+gemeinsamer tiefer Haß gegen die Mathematik hatte uns einander näher
+gebracht. Wenn trigonometrische Klassenarbeiten geschrieben wurden, war
+ich sein Trost und er der meine. Und die Note 5 in Verbindung mit einer
+Stunde Arrest war uns +beiden+ sicher.
+
+Später hatten wir uns aus den Augen verloren. Ich hatte in
+Süddeutschland studiert, er hatte in Norddeutschland gemalt. In einem
+„Salon der Zurückgewiesenen“ hatte ich mal zufällig ein Bild von ihm
+gefunden, das mir durch eigentümlich violette Kühe auffiel. Dann war
+sein Name wieder zurückgesunken in den Nebel, der tausend Dinge und
+Menschen umspinnt, die uns einmal etwas bedeutet haben, ja vielleicht
+lieb und teuer waren.
+
+Und nun stand er plötzlich leibhaftig vor mir. In der Potsdamerstraße
+vor einem unscheinbaren Geschäft, in dem Vogelfutter und Hundekuchen
+unter einem Haufen schmutziger Käfige mit ruppigen Waldvögeln, denen
+man noch die rohen Griffe der Fallensteller ansah, aufgestapelt lagen.
+
+Es war ein nicht übler Herbsttag, und Emil hatte, dem freundlichen
+Sonnenschein Rechnung tragend, sich sehr hell gekleidet. Er sah
+überhaupt in seinem modischen dunkelgelben Herbstpaletot, dem blanken
+Zylinder und den rostroten dänischen Handschuhen elegant, ja fast
+stutzerhaft aus. Jedenfalls so, wie man einen Maler, der violette
+Bilder anfertigt, ohne zunächst den Geschmack des zahlungsfähigen
+Publikums für seine Nuance zu gewinnen, nicht häufig trifft. Sogar
+einen sehr ausgeprägten Kneck trug er in den diskret karrierten
+Hosen, und seine schmalen amerikanischen Knopfstiefel zeigten spitze
+spiegelnde Lackkappen.
+
+„Emil, alter Junge, wie geht’s denn?“
+
+„Na ich danke, so pflaumenweich. Man lebt so.“
+
+„+Gut+ lebt man, scheint’s, lieber Sohn. +Sehr+ gut, was? Du bist ja
+auf deine alten Tage ein veritabler Dandy geworden.“
+
+„Ach geh! Man kann doch schließlich nicht den ganzen Tag im
+bekleckerten Sammetkittel herumlaufen, um der Welt zu zeigen, daß man
+ein sogenannter Künstler ist.“
+
+„Du bist wohl verheiratet, Emil?“
+
+„Ich? Ach nein. Du meinst wegen ... Das täuscht. Ich bin bloß ... ich
+habe bloß ... Aber findest du nicht, daß es hier +zieht+?“
+
+„Na, ein Mailüfterl kannst du schon nicht verlangen. Wir sind ja
+schließlich nicht an der Riviera und schreiben seit ein paar Tagen
+November. Übrigens du siehst doch blühend gesund aus. So ein bißchen
+Herbstwind -- --“
+
+Emil lächelte etwas verlegen. „Ach ja. +Ich+ schon. Es ist auch nicht
+meinetwegen, verstehst du. Es ist wegen -- --“
+
+Ich folgte seinem besorgten Blick und entdeckte jetzt erst einen Hund,
+den Emil an einer aus feinen Lederstreifchen geflochtenen gelben
+Führleine befestigt hatte.
+
+„Ach, du hast einen Hund?“
+
+„Ja. Ich habe -- ich habe einen Hund.“
+
+Das kam etwas gepreßt heraus, fast als wollte er sagen: Ich wollte,
++du+ hättest den Hund und nicht ich.
+
+„Wie heißt er denn?“ forschte ich teilnahmsvoll.
+
+„Flocki.“
+
+„Du, weißt du, ich hätte ihn doch schon anders genannt. Flocki -- das
+klingt so verdächtig nach einer alten Jungfer.“
+
+„+Ich+ hab’ ihn auch nicht so genannt. Er heißt nun einmal so. Ich
+finde den Namen ja selbst gräßlich. Zum Übelwerden. Aber ich fürchte,
+wenn ich das Tier plötzlich umtaufe -- nun ist es doch schon so sehr
+daran gewöhnt -- er könnte am Ende Schaden nehmen -- z. B. denke dir:
+ich hätte ihn Nero genannt, sagen wir Nero: Und nun gehe ich mit ihm
+auf der Leipzigerstraße und sehe, daß so ein gräßlicher Omnibuskasten
+-- sagen wir ‚Lützowplatz-Rosentaler Tor‘ -- dabei ist, mit seinem
+Riesenrad den Hund zu zerquetschen. Er ist unvorsichtig, verstehst du.
+Ich rufe also: Nero! Nero! Aber er -- er ist’s noch nicht gewöhnt,
+Nero gerufen zu werden. Er bezieht es durchaus nicht auf sich. Er
+hört’s nicht. Rrrrtsch -- das Riesenrad Lützowplatz-Rosentaler Tor geht
+mitten über seinen Bauch hinweg. Maria und Josef! Ich darf’s gar nicht
++aus+denken!“
+
+Ich hatte mit wachsendem Befremden dieser lebhaften Phantasie des
+Freundes gelauscht. War er so nervös? Er schien das Schreckliche schon
+wie eine Fata Morgana vor sich zu sehen und den schmerzlichen Grimassen
+nach zu urteilen, die er schnitt, verursachte ihm diese Erzählung
+geradezu seelische Qualen.
+
+Mein Blick ruhte auf dem Köter, dem diese offenbar innige Liebe galt.
+Ich sah einen kurzbeinigen, gedrungenen Hund, in dessen schwarzem
+Kopf Ähnlichkeiten mit einem Mops und mit einem Pudel unverkennbar
+waren, ohne daß man gewagt hätte, sich für eine von beiden Rassen
+zu entscheiden. Der schraubenförmig gedrehte Schwanz war durchaus
+Mops; die lockige grauschwarze Behaarung wies hingegen wieder auf die
+aristokratische Familie der Pudel. So stellte er sich meinem Empfinden
+als eine sehr unglückliche Kreuzung von Mops und Pudel dar, mit welcher
+Vermutung ich ja, ohne Kynologe zu sein, so ziemlich das Richtige
+getroffen hatte.
+
+„Es ist jetzt unsere Stunde zur ersten Abendmahlzeit,“ unterbrach Emil
+meine stillen Beobachtungen. „Wir essen nämlich immer in Abständen von
+drei Stunden eine kleine Mahlzeit --“
+
+„Wir -- wer ist das ‚wir‘?“
+
+„Nun -- Flocki und ich. Das ist viel gesünder als eine größere
+Mahlzeit, bei der man alles so gierig mit hinunterschlingt, Knochen und
+all so was, sagt der Arzt.“
+
+„Ja, ums Himmels willen, welcher Arzt kommt auf den Gedanken, daß man
+Knochen ...“
+
+„Der Tierarzt natürlich. Weißt du, ich -- ich bin gottlob gesund und
+bei der Hand. Das bißchen, was +mir+ mal fehlt, da kann schließlich der
+Tierarzt auch raten. Ein sehr netter Mann. Er kommt -- Flockis wegen --
+wöchentlich zweimal.“
+
+Er sah auf die Uhr und verfärbte sich. „Teufel noch mal! Es ist schon
+ein Viertel über 5 Uhr. Bis wir zu Hause sind, ist es bestimmt halb
+sechs. Wenn ihm das nur nichts schadet. Er ist seit zwei Tagen mit der
+Verdauung nicht ganz in Ordnung.“
+
+„Flocki?“
+
+„Natürlich. Der Arzt sagt zwar, es hätte nichts auf sich. Aber weißt
+du, ich bin da sehr mißtrauisch. Eine Stiefschwester meines Vaters hat
+mit sechzig Jahren ... Aber weißt du, das könnten wir alles bei mir zu
+Hause besprechen. Du hast doch nichts Wichtiges vor? Nein? Also komm’,
+wir nehmen ’ne Droschke ... He, Kutscher, +Sie+ da, Kutscher!“
+
+Emil hatte einen Taxameter herangewinkt.
+
+Flocki war der erste, der hineinsprang mit der behenden Fröhlichkeit
+eines Hundes, der dieses angenehme Verkehrsmittel sehr wohl kennt und
+schätzt.
+
+Als letzter stieg Emil ein. Er saß sehr unbequem, da er seine Beine
+fast an den Leib ziehen mußte, um Flocki, der behaglich zur Kugel
+gerollt auf dem Boden des Wagens lag, nicht zu inkommodieren.
+
+Es dauerte nicht lange, so erklang vom Wagenboden ein abscheuliches
+sägendes Geräusch. Flocki schlief fest und schnarchte.
+
+„Er schläft sonst erst +nach+ der Mahlzeit,“ meinte Emil besorgt. Und
+da er meine vielleicht belustigte Miene sah, so fügte er zögernd hinzu:
+„Er ist ein so sonderbarer Hund, weißt du, +so+ sonderbar. Und dann für
++mich+ -- schließlich, er ist nicht wie ein anderer Hund. Manchmal --“
+
+Schien es mir nur so oder flammte wirklich ein leichter Ingrimm in
+diesen Augen, die auf den schlafenden Flocki gerichtet waren, als der
+Freund den unterbrochenen Satz wie im Traum vollendete: „Manchmal
+möchte ich fast lieber einen robusten Geißbock am Bändel haben, als
+diesen sonderbaren Hund!“
+
+ * * * * *
+
+Zu Hause hatte mir Emil die ganze Geschichte erzählt von Leonore, von
+Flocki und ihm selbst.
+
+Er wohnte jetzt am Viktoria-Luisenplatz. In einem Gartenhaus
+allerdings. Drei Treppen, aber sehr behaglich. Ein Atelier, vier
+hübsche Zimmer, das größte und schönste war das Schlafzimmer. In der
+Ecke ein Körbchen mit violetter Seidendecke; offenbar für Flocki.
+
+„Schläft er bei dir im Zimmer?“
+
+„Ja. Der Tierarzt sagt, ihm schadet’s nicht. Und mir -- das ist
+ziemlich egal. Ich höre dann besser, wenn er hustet und all so was.
+Auch träumt er zuweilen recht lebhaft. Ich stehe dann auf und massiere
+ihm die Vorderpfoten.“
+
+Der ganze Haushalt war für Flocki eingerichtet. An allen Fenstern
+eiserne Gitterstäbe in halber Manneshöhe, wie sie ängstliche Mütter
+wohl in den Kinderstuben anbringen lassen.
+
+„Flocki könnte auf so ein Fensterbrett springen, verstehst du, und dann
+das Übergewicht bekommen und in den Hof stürzen. Das wäre ...!“
+
+Wieder betrachtete ich, wie vorhin im Taxameter, die schreckliche
+Erregung, die sich des Freundes bemächtigte bei der Erwägung solchen
+möglichen Unglücksfalles, den seine rastlose Phantasie ausspann.
+
+„Ja, warum ziehst du denn nicht parterre?“
+
+„+Hab+’ ich gewohnt. Getrennt vom Atelier. Erst im Vorderhaus. Da regte
+sich Flocki furchtbar über jeden vorübergehenden Hund auf. Dann im
+Gartenhaus. Da neckten Bäcker und Metzger und die rüden Schätze der
+Dienstmädchen im Haus und was sonst da vorüberkam und Zeit hatte, das
+arme Tier so sehr, daß ich, ohne den Kontrakt auszuhalten, wegzog.“
+
+„Ja, Lieber, da bist du eigentlich, genau besehen, der Sklave deines
+Hundes.“
+
+„Viel anders ist’s schon nicht,“ seufzte Emil. „Ich kalkuliere so. Wenn
+er gut gepflegt wird und rationell lebt -- er hat einen ganz kleinen
+Herzfehler --, so kann er, sagt der Tierarzt, noch zehn bis zwölf
+Jahre leben. In zwei, drei Jahren aber schon hoffe ich mein großes
+Bild fertig zu haben; und dann wird es mich in weiteren zwei, drei
+Jahren bekannt machen. So erreiche ich die pekuniäre Unabhängigkeit von
+Flocki. Und dann --!“
+
+Wieder leuchtete ein ingrimmiger, fast grausamer Zug in des Freundes
+sonst so mildem Gesicht. So mögen die Sklaven um Spartacus gelächelt
+haben, als sie in den Kellern der Fechtschule zu Capua sich heimlich
+versammelnd von dem furchtbaren Blutbad träumten, in dem ihre römischen
+Unterdrücker ersaufen sollten.
+
+„Und was stellt das Bild dar?“
+
+„Die wilde Jagd. Den wilden Jäger auf dem Gespensterroß, hinter
+ihm die Meute über niedrig hängende Wolkenfetzen fegend. Alles bei
+Mondbeleuchtung.“
+
+„Natürlich violett?“
+
+„Woher weißt du das?“
+
+„Ich habe mal vor Jahren Kühe von dir gesehen. Daraus war eine gewisse
+Vorliebe zu erkennen -- --“
+
+„In diesem Bild der wilden Jagd ist sie aber berechtigt.“
+
+„Kann man’s mal sehen?“
+
+„Ja eigentlich ...“ er wurde verlegen, „es steckt noch ganz in den
+Anfängen. Aber wenn du dir eben das Nötige dazu denkst.“
+
+Das versprach ich, und so nahm er einen sehr schönen, leicht violett
+getönten Lappen von einer respektablen Leinwand.
+
+Das erste, was ich sah, war -- +Flocki+. Flocki nicht in einer, sondern
+in dreißig, vierzig Gestalten. Die ganze Meute hinter dem anatomisch
+sehr merkwürdigen Gespensterroß war Flocki und Flockis Geschlecht.
+
+„Du, Emil, weißt du -- die Hunde ...“
+
+„Ja? Fällt dir das +auch+ auf. Es ist mir so gekommen. Ich weiß nicht
+wie. Ich wollte natürlich Jagdhunde malen, Bracken. Hatte auch mal ein
+Modell hier. Aber Flocki hat sich wie wahnsinnig angestellt hinter der
+Tür dort. Dann hab ich eben mehr aus dem Kopf ... Nun ist das Unglück,
+verstehst du, ich beschäftige mich innerlich soviel mit Flocki -- er
+bedeutet mir soviel, +muß+ mir soviel bedeuten -- daß unwillkürlich
+seine Züge und seine Eigenart ... Es ist mir im Grunde gräßlich. Soll
+das Malefizvieh mir auch noch meine Kunst ruinieren!! Satanspest noch
+einmal!“
+
+Wie ein Sturm der Leidenschaft war’s plötzlich über ihn gekommen. Er
+griff eine Handvoll Pinsel aus einer alten Blechdose und warf sie
+wütend wider die Wand. Dann setzte er sich auf einen in kräftigen
+Farben leuchtenden kleinen Gebetsteppich, der einen alten Diwan deckte,
+vergrub seinen Kopf in die Hände und schien nicht übel Lust zu haben,
+zu weinen.
+
+Ich wußte in meiner Überraschung nicht recht, was ich machen oder
+sagen sollte. Schließlich fand ich den mir selbst nicht sonderlich
+einleuchtenden Trost: „Mein Gott, vielleicht findet man das sehr
+originell. Die Rasse ist wenig bekannt.“
+
+„Schöne Rasse,“ knirschte Emil aus seiner Ecke. „Ist gar keine Rasse,
+ist eine Gemeinheit, ist eine Parodie auf das Hundegeschlecht. Himmel,
+wie mir das wohltut, mich einmal gehen lassen zu dürfen! Flocki
+schläft, und du bist ein ehrlicher Kerl. Immer diese Komödie der
+Zärtlichkeit. Und die Freiheit beim Teufel. Und die Kunst beim Teufel.
+Und der Mut beim Teufel; der Mut, diese faule, träge, dumme, widerliche
+Bestie persönlich am Griebs zu packen und in den Landwehrkanal zu
+werfen mitsamt der verdammten Rente von sechstausend Mark, die mir das
+lebendige Scheusal trägt.“
+
+„Sechs-tau-send Mark. Donnerwetter! Das ist allerdings ..!“
+
+„Ja siehst du: +das+ ist allerdings!.. Da sagst dus selbst. Das ist
+eben auch +mein+ Trost, daß neunzig von hundert ganz dieselben Esel
+wären, wie ich, und nicht den Mut hätten, dieses Rabenvieh ...“ Er
+unterbrach sich plötzlich, legte den Finger an den Mund und lauschte.
+„Hat -- hat Flocki nicht eben -- eben geniest? Richtig -- eben schon
+wieder!“ Er eilte nach der Tür und rief nach der Küche: „Lisette,
+Lisette! Verbinden Sie mich -- du entschuldigst -- verbinden Sie mich
+mal gleich Amt VI Nr. 3079.“
+
+„Wen willst du sprechen?“
+
+„Den Tierarzt.“
+
+ * * * * *
+
+Nein, hier war nicht zu helfen. Dies Gefühl gewann ich, je öfter und je
+länger ich Emil sah.
+
+Und ich sah ihn oft und lang. Denn seit jenem Gefühlsausbruch, dem
+ich erschreckt beigewohnt, tat es ihm sichtlich wohl, in meiner
+Gesellschaft sich auszusprechen. Immer über Flocki. Und nur über ihn.
+Zwei Jockeis, die Analphabeten sind und außer reiten nichts können, als
+wetten und trinken, unterhalten sich bestimmt nicht soviel von ihren
+Pferden, wie Emil und ich von den Hunderassen, die Flocki zu seinen
+Ahnen zählte, und von diesem Köter selbst, der die Zartheit, mit der
+er behandelt wurde, in schnödester Weise dadurch vergalt, daß er alle
+Untugenden und Laster, die in seiner schwarzen Seele geschlummert
+hatten, ins Unerträgliche steigerte.
+
+Wenn er müde war, sprang er auf das weichste Möbel, gleichviel, ob
+es ein Bett, ein Sessel oder ein mit Emils Frackanzug belegter Stuhl
+war. Wenn er traurig war, knurrte er jeden -- Emil nicht ausgenommen
+-- feindlich an. Wenn er fröhlich war, entrollte er seinen sonst
+geringelten Schwanz und wedelte damit so energisch, daß kleinere
+Tischchen stets in Gefahr waren, umgestoßen zu werden. Bei schlechtem
+Wetter war er merkwürdigerweise stets besonders gut aufgelegt. Was
+für die Kleider seiner Freunde sehr unangenehm war, da er mit den
+schmutzig-nassen Pfoten an ihnen hinaufzuklettern versuchte und
+keinerlei Verständnis für die kühle Ablehnung seiner Freundlichkeit
+besaß. Energisch angefaßt oder gar geschlagen durfte er nicht werden,
+da Emil befürchtete, die zarte Gesundheit des edlen Tieres könne
+ernstlichen Schaden nehmen.
+
+So erduldete Emil ein Martyrium. Sein Bild machte ihm keine Freude
+mehr, weil jeder Hund, den er der Meute seines Wilden Jägers
+hinzufügte, immer wieder Flockis verhaßte Züge annahm. Seine Wohnung
+machte ihm keine Freude mehr, denn überall fand er Spuren von Flockis
+Fröhlichkeit und Zerstörungssinn. Die freie Natur macht ihm keine
+Freude mehr, denn er vermochte sie nicht zu genießen, ohne entweder von
+Flocki an der Leine bald an einen Eckstein, bald um einen Baum gezerrt
+zu werden, oder, wenn er ihn frei laufen ließ, in beständiger Angst zu
+schweben, daß der Unvorsichtige von einem Wagen oder einem Automobil
+überfahren werden könnte. Besonders gegen die Automobile hatte er eine
+solche Wut in seinem Herzen angesammelt, daß er eines Tages einen
+maßlos heftigen Artikel in ein Blättchen gegen die „Stinkdroschken“
+schrieb, in dem er die Vorstände sämtlicher Automobilklubs so schwer
+beleidigte, daß sie gemeinsam klagten und der Freund -- „in Anbetracht
+seines hohen Bildungsgrades“ -- zu einer Geldstrafe von 500 verurteilt
+wurde. Das war gerade eine Monatsquote seiner Jahresrente! Er mußte
+sich zwei Monate einschränken und teilte nun den ganzen Haß, dessen
+sein Herz fähig war, zwischen Flocki und dem Automobil.
+
+Dann peinigte noch eine andere Vorstellung seinen Geist. Man las so oft
+davon, daß Hunde von Leuten, die daraus ein verbrecherisches Gewerbe
+machten, ihren Besitzern auf der Straße gestohlen wurden. Konnte das
+nicht auch Flocki passieren? Flocki -- man konnte sagen, was man wollte
+-- war ein auffallender Hund. Konnten nicht solche Gauner, hingerissen
+von den körperlichen Vorzügen Flockis und der seltenen Mischung der
+Rassenmerkmale, die sein Wuchs aufwies, ihm nachstellen, ihn mit
+Frankfurter Würstchen, seiner Leibspeise, anlocken und entführen? Was
+dann? Dann +lebte+ der Hund zweifellos noch, aber +er+ konnte sein
+Leben nicht beweisen. Wie war’s dann mit der Rente? Adelgunde konnte
+behaupten, der Hund sei tot; aber sie konnte seinen Tod so wenig
+beweisen, wie Emil das Leben. Das Testament sprach ausdrücklich vom
+Todestag. Der war dann nicht zu erfahren.
+
+Schließlich, da er sogar nachts von diesem fatalen Rechtsstreit
+träumte, ging Emil zu ~Dr.~ Neumann, der ihn nach längerer Erwägung
+und nachdem er in vielen Büchern nachgelesen und ihm auch aus einigen
+Unverständliches mitgeteilt, dahin beschied: Adelgunde könne in diesem
+Fall verlangen, daß Flocki nach einer gewissen Zeit „für tot erklärt“
+werde, womit Emil ein für allemal jeden Rechtsanspruch an die Zinsen
+von Eleonorens Hinterlassenschaft verliere.
+
+Flocki -- für tot erklärt? Das war nun das zweite Schreckgespenst, das
+neben dem Gespenst von Flockis wirklichem Tod den armen Freund überall
+hin verfolgte.
+
+Er beschloß auf alle Fälle, sich einzuschränken, Ersparnisse zu machen,
+damit ihn dieser gräßliche Fall nicht unvorbereitet träfe. Aber das
+war nicht so einfach. Flocki war gut gewöhnt. Der Tierarzt rechnete
+für jeden Besuch 5 Mk. und kam mindestens zweimal wöchentlich. Die
+Hinterbeine Flockis mußten auf seine Anordnung täglich massiert werden,
+was jedesmal 2 Mk. kostete. Kamen hinzu die nicht unbeträchtlichen
+Unkosten für die Heilung des geprüften Heilgehilfen, den Flocki gleich
+bei Beginn der ihm unerwünschten Massagekur in den Daumen gebissen
+hatte. Kurz, es läpperte sich bös zusammen. Das Schlimmste aber waren
+die Besuche Adelgundes.
+
+Sie kam von Zeit zu Zeit nach Flocki zu sehen ... Denn, wie sie sagte,
+wenn sie auch im Testament der Schwester der Gefühllosigkeit gegen
+dieses Tier geziehen war, so schien es ihr doch Pflicht des trauernden
+Schwesterherzens, sich vom Wohlbefinden der einzigen lebenden Seele, an
+der, so schien es, die liebe Entschlafene gehangen habe, zu überzeugen.
+Und sie vergaß nie hinzuzufügen, daß sie mit dieser „einzig lebenden
+Seele“ durchaus nicht etwa Emil, sondern Flocki meine.
+
+Diese Besuche bedeuteten für Emil eine Stunde der Qual und Prüfung.
+Meist erfolgten sie Freitags zwischen fünf und sechs Uhr, zwischen
+zwei Klavierstunden, die Adelgunde in der Nähe zu erteilen hatte.
+An schönen, sommerhellen Tagen blieb sie manchmal aus; aber wenn es
+regnete, kam sie bestimmt. Und da sie prinzipiell niemals Gummischuhe
+benutzte, so brachte sie meist ein erkleckliches Quantum Schmutz und
+Nässe an ihren nicht zu knappen Sohlen mit in Emils Salon und auf den
+farbenprächtigen Bucharateppich, auf den er um so stolzer sein durfte,
+als er ihn viel zu hoch bezahlt hatte.
+
+Das Gespräch nahm aber dann meistens den folgenden Verlauf.
+
+„Ach, Fräulein Adelgunde! Welche Freude --“ Emil log jedesmal mit
+demselben Mißerfolg im Gesichtsausdruck. „Sogar bei dem schlechten
+Wetter schenken Sie uns die Ehre. Ich darf vielleicht ein Täßchen
+Kaffee ...“
+
+„Nein, ich danke wirklich. Ich habe schon zu Hause ...“
+
+In diesem Augenblick kam gewöhnlich, ungerufen und ihre Pflicht
+durchaus kennend, die tüchtige Lisette, ein Mädchen von unbestimmbarem
+Alter und ganz außerordentlicher Häßlichkeit, die noch durch Kleider
+von einem augenvergiftenden Blaugrün gehoben wurde, mit dem Kaffeebrett
+ins Zimmer. Und Adelgunde, die „schon zu Hause getrunken hatte“, trank
+nicht +ein+ Täßchen, sondern vier, wozu sie eine größere Anzahl von
+Biskuits verzehrte. Dies alles mit der Miene und dem Anstand einer
+Europäerin, die etwa bei einem Kaffernhäuptling zu Gast ist und
+dessen entsetzliche Nationalgerichte aus einer gewissen mitleidigen
+Höflichkeit für den Gastgeber sich gefallen läßt.
+
+Nach dem zweiten Biskuit sah sich Adelgunde suchend im Zimmer um:
+
+„Und unser lieber Flocki, ist er nicht hier? Sie wissen, lieber Freund,
+ich würde nimmermehr zu Ihnen kommen -- denn schließlich, wir sind
+beide unverheiratet, nicht wahr, und die Welt hat an dem Erfinden
+und Kolportieren von Schlechtigkeiten ihre größte Freude -- in den
+Gartenhäusern leider noch mehr als in den Vorderhäusern ...“
+
+Hier machte Emil eine Handbewegung, die dreierlei bedeuten konnte.
+Entweder sie erklärte: Die Verleumdungen dieser minderwertigen Welt
+müssen an so edlen Herzen, wie den unsrigen, spurlos abprallen. Oder
+sie besagte: Sie halten mich hoffentlich nicht für fähig, die von Ihrer
+Hochherzigkeit geschaffene Situation in unedler Weise auszunützen. Oder
+aber sie umschrieb den einfachen Gedanken: Was mir schon an deinem
+Gefasel liegt, mit dem du mir alle acht Tage die Ohren füllst!
+
+Adelgunde versuchte gar nicht, hinter den tiefern Sinn dieser
+Handbewegung zu kommen. Sie fuhr vielmehr fort:
+
+„Unsere liebe Heimgegangene hat bestimmt, wie sie bestimmt hat. Es ist
+an uns, ihren Wunsch zu ehren. Aber sie hat mir unrecht getan. Gewiß,
+ich habe einige Unarten Flockis bemerkt und -- ich gesteh’s -- peinlich
+empfunden, über die +Sie+, teurer Freund, in der unendlichen Güte ihres
+Herzens hinwegsahen.“ (Das war eine satanische Bosheit nach Emils
+Dafürhalten; denn Adelgunde wußte ganz gut, daß ihn Flockis zunehmende
+Ungebührlichkeit heftig erbitterte.) „Aber gehaßt? -- Nein, gehaßt
+hab’ ich das kluge Tierchen +nie+. Der beste Beweis ist, daß ich fast
+jede Woche den Weg nicht scheue, nach seinem Befinden zu sehn und mich
+zu überzeugen, daß all die Sorgfalt, die unsere liebe Heimgegangene
+für ihn erhoffte, ihm auch im vollen Maße zuteil wird. Denn daß ich
++Ihretwegen+ nicht komme, lieber Freund ...“
+
+Emil nickte. „Das hätte ich mir schon selbst in aller Bescheidenheit
+eingestanden, auch wenn Sie es mir nicht bei jedem Ihrer freundlichen
+Besuche, die mich ehren und erquicken, wiederholt hätten.“
+
+Adelgunde überhörte die Ironie. „Und wo ist unser Liebling?“
+
+„Der Liebling schläft noch.“
+
+„So, so. Er schläft. Nun sehn Sie mal an! Das +liebe+ Tierchen. Lassen
+Sie ihn nur nicht zu +lange+ schlafen. Man hat mir erzählt, durch
+allzuviel Schlaf stelle sich leicht bei Rassehunden Fettsucht ein. Und
+dann kommt plötzlich ein Herzschlag oder -- ein Lungenschlag -- oder
+ein Milzschlag -- oder ein ...“
+
+„Oder ein Hirnschlag,“ half Emil freundlich aus.
+
+„Ganz recht, oder ein +Hirn+schlag,“ bestätigte Adelgunde mit
+unverminderter Liebenswürdigkeit. „Und dann ist das Tierchen weg --
+Eins, zwei, drei -- und es ist weg!“
+
+Das könnte dir so passen, dachte Emil, ich hätte dann 6000 Mark Rente
+minus, du hättest 3000 Mark Rente plus und obendrein die Freude, mich
+wieder hungern und schuften zu sehen. Und seine Züge zu einem Lächeln
+frohster Zuversicht zwingend, tröstete er: „Sie können versichert sein,
+verehrte Freundin, daß unserm gemeinsamen Liebling an Pflege nichts
+abgeht.“
+
+Und schon ließ die tüchtige Lisette durch die nur eben geöffnete Türe
+den Liebling herein.
+
+„Komm, Flocki,“ lockte Emil und schnalzte ermunternd mit den Fingern,
+„sag der guten Tante mal schön guten Tag.“
+
+Und mit einem Satz war Flocki auf Adelgundes Schoß. Das späte
+Mädchen machte den schwachen Versuch, herzliche Freude über diese
+Zutraulichkeit zu heucheln. In Wahrheit war Adelgunde wütend; denn
+Flocki hatte, wie immer bei ihren Besuchen, ganz nasse und ziemlich
+schmutzige Pfoten. Was daher kam, daß ihn Emil immer, wenn die „gute
+Tante“ kam, von Lisette wecken und rasch mal auf die Straße führen
+ließ, damit er sich die oben beschriebenen Pfoten hole. Dies war Emils
+einzige heimliche Rache für die erschreckende Genußlosigkeit dieser
+unvermeidlichen Kontrollbesuche.
+
+Aber schon war Adelgunde im Zuge. „Mir scheint, lieber Freund, er hat
+heute etwas trübe Augen, der brave, kleine Flocki. Zeig’ mal deine
+Guckelchen. Ru--hig halten, Darling. Ja, wahrhaftig, recht trüb.“
+
+„Das ist die Beleuchtung.“
+
+„Nein, nein. Ich täusche mich nicht. Eine gewisse Mattigkeit in der
+Pupille. Er wird doch nicht die Staupe bekommen? Das fängt so an.“
+
+„Aber dazu ist er doch viel zu alt.“
+
+Adelgunde schüttelte in täuschend geheuchelter Besorgnis den Kopf: „Und
+eine warme Nase hat er +auch+, unser liebes Hündchen! Eine +ganz+ warme
+Nase.“
+
+„Das hat er öfter.“
+
+„Um so schlimmer! Ich fürchte, er hat zu wenig Bewegung. Sie sollten
+radfahren und ihn ein bißchen hinterherlaufen lassen.“
+
+Das könnte dir so passen! Damit er mir unter die Elektrische kommt,
+nicht wahr? dachte Emil.
+
+„Wie oft wird er wohl gebadet?“
+
+„Alle drei Tage.“
+
+„Das scheint mir nicht oft genug. Ein meinen Eltern befreundeter
+Oberförster hatte einen Setter, den er jeden Tag ins Wasser gehen ließ.
+Er ist in hohem Alter gestorben.“
+
+„Der Oberförster?“
+
+„Der auch. Aber ich meinte den Setter. Dieser sehr erfahrene Forstmann
+pflegte zu sagen: Jedes Bad bedeutet einen Monat längeres Leben für so
+ein Vieh.“
+
+„Wenn also der Oberförster den Hund jeden Tag, wie Sie sagen, zwei
+Bäder nehmen ließ und das auch nur +ein+ Jahr durchführte, so hatte
+er dem Setter schon eine Lebensdauer garantiert von -- von warten Sie
+einen Augenblick --“ (Emil nahm ein Papierchen und rechnete:) „zweimal
+365 macht 730, also 730 Bäder. 730 dividiert durch 12 macht -- macht 60
+Jahre 10 Tage.“
+
+Ärgerlich über diese ziemlich deutliche Frozzelei, die sich Flockis
+Pflegevater gestattete, stand Adelgunde auf. „Und Ihr Bild, lieber
+Freund, der ‚Wilde Jäger‘, wie ist’s mit ihm? Es ist eine allerliebste
+Idee von Ihnen, Ihren teuren Pflegling gleich in so vielen Exemplaren
+künstlerisch zu verherrlichen. Und wenn auch im großen Publikum sich
+wohl niemand dieses Zartsinns recht erfreuen wird, die Verewigte würde
+gewiß Genugtuung empfinden über Ihr Werk. Sie war ja früher schon die
+einzige, die in ihrem Kunstempfinden fortgeschritten genug war, Ihre
+Bilder bewundern zu können.“
+
+Es war Zeit geworden, daß sich Adelgunde empfahl. Sie tat es nicht,
+ohne noch einmal auf die besorgniserregenden Symptome in Flockis
+Aussehen und Benehmen mit schmerzlichem Nachdruck hinzuweisen und
+allerlei gute Ratschläge von einer ganz außerordentlichen Unsinnigkeit
+zu geben.
+
+Als aber Emil gar von der Treppe her noch das laut und vernehmlich
+abgegebene Versprechen empfangen hatte, daß sie nicht versäumen
+werde, in der nächsten Woche wieder vorbeizukommen und hoffe, dann
+den gemeinsamen Liebling wohler und munterer anzutreffen, drängte
+der angesammelte Ingrimm in dem Herzen des unglücklichen Malers zu
+gewaltsamer Entladung, die allemal in der Weise erfolgte, daß er sein
+Malgerät wütend an die Wand und sich selbst stöhnend auf den Diwan warf.
+
+Die teure Lisette aber hielt das dumpfe Geräusch der wider die Wand
+fliegenden Pinsel und Paletten für ein stillschweigend mit ihr
+verabredetes Zeichen, ihrem Herrn einen Punsch zu bereiten.
+
+ * * * * *
+
+Eines Morgens, ich goß gerade die Geranien auf dem Balkon, erschien
+Emil plötzlich bei mir.
+
+Er war echauffiert und sehr aufgeregt und trug einen nassen Hut in der
+Hand.
+
+„Regnet’s,“ fragte ich erstaunt.
+
+„Nein, nein. Als ich in dein Haus trat, hat mich jemand von oben voll
+gegossen. Es gibt doch rücksichtslose Kerle. Man sollte sich’s nicht
+gefallen lassen, was? Dem Wirt schreiben? Aber wer hat Zeit? Es ist
+wohl Wasser, was?“
+
+„Ja, es scheint so.“ Ich untersuchte mit vollendeter Heuchelei. Da mein
+Balkon über dem Entree lag, so war es klar, daß +ich+ es gewesen, der
+den guten Emil begossen hatte. „Und das hat dich so aufgeregt?“
+
+„Aber nein!“ Er rannte im Zimmer umher, und nahm alle möglichen kleinen
+Nippes in die Hand, als suche er etwas ihm Gestohlenes.
+
+Ich kannte diese merkwürdige Angewohnheit und ließ ihn -- nicht ohne
+Angst -- gewähren. „Aber was ist dir denn eigentlich?“
+
+Er trat dicht vor mich hin. „Flocki --“
+
+„Richtig, Flocki! Wo ist er denn?“ Ich hätte eher Apollo ohne Leier,
+Fortuna ohne Füllhorn und den Perseus ohne das Medusenhaupt bei mir
+erwartet, als Emil ohne seinen merkwürdigen Hund.
+
+„Das ist’s ja,“ sagte er dumpf. „Flocki ist zu Hause. Flocki hat sich
+heute nacht übergeben. Mehrmals und reichlich.“
+
+„Hm. Auf den Teppich?“
+
+„Nein, auf meinen Gehrock, der auf einem Stuhl lag. Aber das ist
+durchaus Nebensache. Aber das Schreckliche: Flocki ist +krank+.
+Zweifellos! Denn das hat er noch nie getan. Er hat auch eine warme
+Nase. Er hat -- -- --“
+
+„Ja, Lieber, ich bin aber doch kein Tierarzt.“
+
+„Der Tierarzt war schon da. Er sagt, er weiß nicht ... er kann noch
+nichts sagen. Ich habe ihn natürlich in der Nacht holen lassen.
+Übrigens hat mir Lisette gekündigt heut früh. Sie war wütend, daß sie
+zum Arzt mußte mitten in der Nacht. Ein Betrunkener hat sie um die
+Taille gefaßt auf dem Nürnberger Platz. Sie sagt, sie sei bei einem
+Maler im Dienst und nicht bei einem Hundevieh. Sie brauche sich nicht
+nachts von einem Betrunkenen umarmen zu lassen -- du, +wie+ betrunken
+muß +der+ gewesen sein! -- weil ein Hund, der nicht einmal echt sei,
+Leibweh habe.“
+
+„Du, Emil -- eigentlich hat sie recht.“
+
+„Natürlich hat sie Recht. Das ist ja das Gräßliche. +Sie+ hat recht,
+und +ich+ habe recht, und +Alle+ haben recht. Für mich aber steht doch
+mein Leben auf dem Spiel --“
+
+„Ein +Wohl+leben, Lieber, nichts sonst.“
+
+„Ja aber +denke+ dir doch -- ich bin jetzt so daran gewöhnt. Und aus
+der Malerei bin ich ganz heraus. Ich kann doch mein Leben lang nicht
+Flocki malen und immer Flocki. Ich gehe zugrunde, körperlich, seelisch,
+menschlich, künstlerisch. Ich vertrottele und versimple. Mich wundert’s
+lange schon, daß ich nicht eines Tages aufwache und nur noch Wau-wau
+sagen kann.“
+
+„Armer Freund!“
+
+„Es gibt nur +einen+ Ausweg. Das schreckliche Tier muß fort von mir,
+und ich darf +doch+ die Rente nicht verlieren.“
+
+„Wie aber das? Adelgunde wird das +nie+ zugeben, daß du die Nutznießung
+des Geldes hast und ...“
+
+„Ich weiß, ich weiß. Und deshalb bin ich entschlossen ... Aber setz
+dich erst ... nein wirklich, +setz+ dich dort in den Stuhl .. So.
+Also ich bin seit heute nacht -- um 3 Uhr 45 heute nacht kam mir der
+Gedanke -- bin entschlossen --“
+
+„Nu +ja+ doch! Zu +was+ denn?“
+
+„Ich +heirate+ Adelgunde.“
+
+Ich nahm unwillkürlich den doppelgeschliffenen Somalidolch, der mir als
+friedliches Papiermesser diente, fester in die Hand. Das konnte ein
+Tobsuchtsanfall werden. Eine schwere Nervenstörung war’s jedenfalls.
+Oder ein Spaß von +seltener+ Kühnheit. Aber so sah kein Spaßender aus.
+Eine finstere Entschlossenheit lagerte auf Emils übernächtig blassem
+Kopf. Jetzt erst sah ich, daß er keinen Schlips anhatte, was den
+Eindruck dieser Verstörung erhöhte. Er sah aus, als sei er direkt aus
+einem Erdbeben gerettet.
+
+„Emil, du wolltest -- --?“
+
+„Adelgunde heiraten. Ja. Ich weiß, was du sagen willst.“ (Ich wollte
+gar nichts sagen.) „Sie ist älter, wie ich, gewiß. Josefine war auch
+älter als Napoleon. Aspasia war älter als Perikles.“
+
+„Ja -- +liebst+ du sie denn?“
+
+Er lachte hell auf. „+Auch noch+! Man braucht doch nicht alle
+Dummheiten auf einmal zu machen. Nein, ich liebe sie nicht. Aber --
+ich hasse Flocki. Die Sache steht einfach so. Heirate ich Adelgunde,
+so behalte ich meine Rente und kann Flocki in Pension geben. Stirbt
+er wirklich, so haben wir immer noch die Hälfte der Rente und was wir
+dazu verdienen. Adelgunde ist ja unleidlich. Aber sie ist viel aus dem
+Hause. Unterrichtsstunden, Freundinnen und all so was. Und ich denke,
+sie ist vielleicht nur unleidlich wenn -- weil -- solange -- --“
+
+„Solange sie nicht die +Deine+ ist.“
+
+„Die Meine oder die Deine oder die Seine“, brummte Emil ärgerlich.
+„Solange sie eben nicht verheiratet ist. Die Ehe wirkt veredelnd auf
+den Menschen. Es liegt oft ein Schatz von Liebe in solchen späten
+Mädchen. Doch wie’s auch kommt -- sie ist wenigstens ein Mensch und
+gewiß nicht ohne menschliche Vorzüge. Aber Flocki! Siehst du, wenn
+ich ein Nilpferd geerbt hätte -- das hat wenigstens eine robuste
+Gesundheit. Oder einen Orang-Utang -- der ist wenigstens amüsant.
+Oder einen Karpfenteich -- diese Tiere springen einem wenigstens
+nicht auf die Möbel, ins Bett, ins Gesicht. Aber dieser Malefizköter!
+Siehst du, wenn ich’s geahnt hätte, damals, wie ich ihm im Atelier
+das Fell kraute .... Wie ich den Herrn mit dem Geflügelknochen ...
+wie mir der ~Dr.~ Neumann mit dem Testament ... Nach Amerika wär ich
+ausgewandert, mein Wort darauf! nach Alaska meinetwegen, ja in die
+Südsee zu den Kanibalen. Wahrhaftig! Aber jetzt --! Die Gewohnheit
+hat mich unterjocht. Ich kann nicht mehr Gummikragen umbinden und für
+fünf Groschen ‚mit Bier‘ zu Mittag essen. Wen der Himmel für die Kunst
+verderben will, den macht er zum Rentier! Denn malen -- siehst du --
+malen kann ich auch nicht mehr. Du hast’s ja selbst gesehn. Ich muß
+erst wieder Flocki los werden. Aus meiner Nähe, aus meinen Gedanken,
+aus meiner Kunst muß die Bestie. Das Hundeleben muß aufhören. Ich will
+wieder ein +Mensch+ sein. Ergo: ich heirate Adelgunde. Und der erste
+Paragraph unseres Ehevertrages heißt: Es ist keinem der Ehegatten
+erlaubt, ohne Zustimmung des andern Ehegatten einen Hund irgendwelcher
+Größe in der ehelichen Wohnung zu halten.“
+
+„Hm. Aber schließlich gewisse Verpflichtungen hast du doch auch gegen
+Flocki. Es wäre doch eine zwar pfiffige aber ein bißchen rohe Umgehung
+des letzten Willens deiner Freundin, wenn du das Tier nun irgendwo in
+Pension gibst, wo es geprügelt wird und hungern muß und von den Kindern
+an den Ohren gezogen wird.“
+
+Emil unterbrach seinen Spaziergang längs meines Bücherschranks,
+richtete stolz das blasse Haupt empor und sah mich mit einem Blick an,
+in dem tiefe Mißbilligung nicht zu verkennen war.
+
+„Wo denkst du hin?! Was traust du mir zu! Bin ich ein Kongoneger? Sehe
+ich aus wie ein Feuerländer? Natürlich Flocki, soll es gut haben.
+Das wird meine erste Sorge sein. Ich habe schon an den Zoologischen
+Garten gedacht. Wenn ich diesem Institut den Hund schenkte? Er ist
+eitel, ich kenne ihn. Es würde ihn beglücken, an seinem Käfiggitter
+ein blaues Schildchen mit seinem Namen und seiner Rasse -- -- ja, da
+liegt die Schwierigkeit. Ich fürchte der Zoologische Garten verweigert
+solcher ziemlich willkürlichen Kreuzung die Aufnahme. Nein, nein, es
+muß Privatversorgung erwogen werden. Eine Witwe vielleicht. Kinderlos
+natürlich. Kinder hat Flocki nie geliebt, und dann fühlen sie sich
+zur Erziehung berufen, die Flocki immer abgelehnt hat. Es würden sich
+daraus Konflikte schlimmster Art entwickeln. Also eine kinderlose
+Witwe. Witwen sind voll Zärtlichkeit und verstehn sich auf Pflege.
+Das heißt --“. Wie von einem bezaubernden Einfall geblendet wich Emil
+plötzlich einen Schritt zurück, dann trat er ganz rasch drei Schritte
+auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und lieh seiner
+vorzüglichen Eingebung die guten Worte: „Das heißt -- hättest +du+
+vielleicht Lust, Flocki zu nehmen: Ich will ihn dir schenken.“
+
+ * * * * *
+
+Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich Emils hochherziges Angebot
+dankend ablehnte.
+
+Woher ihm eigentlich die Sicherheit gekommen war in der Voraussetzung
+daß ihn Adelgunde, sobald er ihr einen Antrag machte, auch nehmen
+würde, weiß ich nicht. Aber einen andern Ausgang der Angelegenheit
+hatte er keinen Augenblick ernstlich erwogen.
+
+Um so peinlicher war sein Erstaunen, als Adelgunde sich drei Tage
+Bedenkzeit ausbat. Das Unglück wollte es, daß Flocki noch immer eine
+warme Nase hatte; und Emil stand unter dem Bann der fixen Idee, daß
+dieser tückische Hund in diesen drei Tagen bestimmt sterben werde, um
+ihn zu ärgern und seine Rettung in lebenswerte bürgerliche Verhältnisse
+unmöglich zu machen. Der Tierarzt kam täglich dreimal, wurde außerdem
+mehrfach telephonisch in seiner Wohnung und in dem Café, in dem er
+mittags Domino zu spielen pflegte, angeklingelt und blieb auf Emils
+besonderen Wunsch auch nachts telephonisch für ihn erreichbar.
+
+Endlich am dritten Tage nachmittags um zwölf Uhr kam ein Briefchen von
+Adelgunde.
+
+Als ich um ein Uhr in seine Wohnung kam, nach dem Freunde zu sehen,
+der mir in den letzten Tagen Sorgen gemacht hatte, erzählte mir
+Lisette, der Herr habe vorhin durch einen Dienstmann ein Billetchen
+bekommen. Darauf habe er sich längere Zeit lächelnd vor dem Spiegel
+im Korridor aufgehalten, habe dann telephonisch ein Rosenbukett mit
+violetter Schleife für fünf Mark bestellt, habe seinen Friseur kommen
+lassen und eine halbe Flasche Veilchenparfüm auf zwei Taschentücher
+gegossen, die er in seinen besten schwarzen Rock gesteckt. Dann habe er
+ihr -- Lisette -- zehn Mark geschenkt mit der Weisung, sich möglichst
+bald eine schöne Granatbrosche dafür zu kaufen (warum gerade eine
+Granatbrosche wisse sie nicht) sei vor Flockis Körbchen getreten und
+habe den sehr erstaunten Hund ein „Rabenvieh“ genannt, was ja wohl
+seine Berechtigung habe, aber doch, so weit sie sich entsinne, zum
+ersten Male passiert sei. Dann habe er sich einen Zylinder aufgesetzt,
+habe ein paar resedafarbene Handschuhe in die Hand genommen und sei
+pfeifend, ohne seiner sonstigen Gewohnheit gemäß detaillierte Weisungen
+Flockis Wartung betreffend zu geben, die Treppe hinabgesprungen. Wie
+ein Reh. Dies „wie ein Reh“ gefiel Lisette so gut und schien ihr so
+erstaunlich charakteristisch, daß sie es noch dreimal mit Nachdruck
+wiederholte: „Wie ein Reh -- wenn ich’s Ihnen sage: wie ein Reh!“
+
+Ich wußte genug. Ich empfahl Lisette, beim Ankauf der Granatbrosche
+sehr umsichtig vorzugehen, und machte mich auf den Heimweg.
+
+Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb ein
+Rohrpostbriefchen. Ich habe es gegen meine Gewohnheit dreimal
+aufgesetzt.
+
+Es gibt Glückwünsche die sehr schwer fallen. Man wünscht wohl, aber man
+glaubt nicht.
+
+ * * * * *
+
+Wenn Emil eine Prinzessin von Trapezunt geheiratet hätte, er hätte sich
+in den folgenden Wochen nicht beglückter benehmen können.
+
+Er markierte Verlobungswonne in geradezu vorbildlicher Weise. Er kaufte
+Buketts, Lyrik, Marzipan. Er trug zu enge Stiefel und zu hohe Kragen.
+Er sann auf zarte Überraschungen und las nachts im Bett eine gräßlich
+langweilige Biographie von Johann Sebastian Bach, den Adelgunde sehr
+verehrte. Von Kontrapunkt und Fuge sprach er jetzt so viel, wie er
+früher von Flocki und seinen Magenverhältnissen gesprochen hatte.
+Eines Tages erwarb er in einer Versteigerung bei Lepke sogar ein sehr
+mäßiges Ölbild, das den großen Meister darstellen sollte, das sich aber
+leider später als das Porträt seines Vaters, des Hof- und Ratsmusikus
+Johann Ambrosius Bach erwies.
+
+Mit der Ungeduld eines Romeo drängte Emil auf Beschleunigung der
+ehelichen Verbindung. Blos standesamtlich wünschte Adelgunde. Emil war
+einverstanden.
+
+Ich war Emils Trauzeuge. Adelgunde hatte sich für die feierliche
+Handlung ihren Hauswirt mitgebracht. Dieser brave Mann, in seinem
+Privatleben ein Schneidermeister, dessen Anzüge eine gewisse
+Berühmtheit genossen, weil sie jedem Besteller die Figur ihres
+Verfertigers gaben, hatte leider zur Vorfeier des Tages sehr heftig
+gefrühstückt und kämpfte während der Zeremonie so tapfer wie vergeblich
+gegen einen Schluckser. Adelgunde hielt dies mühsam gedämpfte Geräusch
+für einen Ausdruck tiefer, seelicher Ergriffenheit und hat später dem
+Gatten gestanden, daß diese Feierlichkeit den lange von ihr gehegten
+Verdacht als begründet erwiesen habe; daß nämlich der ehrsamliche
+Schneidermeister selbst ein Auge auf sie geworfen habe, ohne den Mut zu
+finden, zu tun, was Emil getan hatte ...
+
+Im Separatzimmerchen eines kleinen aber guten Restaurants der
+Potsdamerstraße war das festliche Frühstück, das dem standesamtlichen
+Akt folgte. Nur wir vier. Und ein sehr diskreter Kellner, der die
+Speisen immer erst brachte, wenn sie kalt waren.
+
+Ich hielt eine kleine Rede auf das Brautpaar, sprach von der ehelichen
+Liebe, die das Leben adelt, jede Freude erhöht, jeden Schmerz gemeinsam
+tragen lehrt -- kurz ich gab, der Situation angemessen, eine Anzahl von
+Gemeinplätzen zum besten, die jedem lateinischen Übungsbuch für Quinta
+Ehre gemacht hätten.
+
+Dann erhob sich der Trauzeuge Adelgundes. Er erzählte mit etwas
+schwerer Zunge sehr merkwürdige Dinge, die nur leider keinen rechten
+Zusammenhang mit der festlichen Veranlassung dieses gemeinsamen Mahles
+zeigten. Er sagte unter anderem, er sei bei einer alten Tante erzogen
+worden, die ihm früh den Spruch eingeschärft habe: Üb’ immer Treu
+und Redlichkeit -- bis an dein kühles Grab. So gedenke er’s auch zu
+halten. Die Wohnung im dritten Stock seines Hauses habe früher 1000
+Mark gekostet. Nun aber habe er die Toilette neu tapezieren und den
+Herd umsetzen lassen. Auch sei ihm eine Hypothek gekündigt worden, was
+ihn sehr verdrieße. Vom nächsten Quartal an müsse er 1100 Mark für
+diese Wohnung verlangen, was er als Ehrenmann heute schon ankündigen
+wolle. Zumal da in einem fort darin Klavier gespielt werde; was zwar
+immer noch nicht so schlimm sei, wie Waldhorn. Was die Ehe anbetreffe,
+so habe darüber der Apostel Paulus ein sehr gutes Wort gesagt, das ihm
+jetzt nicht einfalle. Und wenn die Pute nicht so kalt werden solle,
+wie der Rehrücken leider vorhin gewesen, so müsse er seine Rede jetzt
+schließen.
+
+Diese letzte Wendung wurde von uns als Scherz gedeutet. Wir riefen
+hoch und stießen an. Der Meister war sehr geschmeichelt und nahm drei
+Bruststücke von der Pute.
+
+Nach dem Eis erhob sich Adelgunde und verabschiedete sich von uns mit
+einem verschämten Lächeln, das ihr gar nicht übel stand. Mit diesem
+Lächeln konnte sie für fünfunddreißig gelten. Sie fuhr in einem
+Taxameter nach Hause, um ein Reisekleid anzulegen, da eine kurze
+Hochzeitsreise nach Potsdam beschlossen war.
+
+Als Adelgunde gegangen war, offerierte Emil mit dem strahlenden
+Lächeln, das ihm selbst bei des Trauzeugen Rede nicht verlassen hatte,
+sehr schwarze Zigarren mit sehr roten Leibbinden.
+
+„Sagen Sie, lieber Herr Steinbrink“, fragte der Meister, indem er sich
+drei Zigarren auswählte und neben seine Kaffeetasse legte, „was wird
+nun eigentlich aus ihrem +Hund+, solange sie auf der Reise sind --
+--? Es ist wegen der Wohnung. Ich bin da etwas unruhig. So ein Vieh
+ruiniert leicht mancherlei, nagt und schabt und kratzt -- --“
+
+Emils Gesichtsausdruck verlor an Fröhlichkeit. Und der meine war in
+diesem Augenblick kaum sehr intelligent.
+
+„Ja, erlaube mal, Emil“, warf ich ein, „hast du denn noch niemand
+gefunden, den du -- -- Ich meine die Witwe, von der du sprachst, die
+kinderlose Witwe ...“
+
+Emil wurde sehr verlegen. Er pickte nervös an dem Bändchen seiner
+schwarzen Zigarre herum und, ohne mich anzusehn, sagte er kleinlaut:
+„Die Sache ist +die+, Lieber. Ich und Adelgunde -- Adelgunde und ich
+-- wir haben’s uns eben überlegt. Eine fremde Pflege ist doch nicht so
+sicher. Du weißt, es gehen uns dreitausend Mark verloren, wenn Flocki
+stirbt. Das ist schließlich keine Kleinigkeit.“
+
+„Tausend noch mal!“ bestätigte der Meister und knüpfte seine Weste auf.
+
+„Na und siehst du, so kamen wir eben nach reiflichster Überlegung
+überein, Flocki zu +behalten+. Gott, er hat ja auch seine Vorzüge. Und
+dann: man gewöhnt sich. Es ist merkwürdig, +wie+ man sich gewöhnt.
+Während wir in Potsdam sind, wird Lisette -- du weißt, wir übernehmen
+sie in den jungen Hausstand. Und wenn wir zurückkommen -- Gott,
+Adelgunde hat eine so glückliche Hand in der Pflege. Du sollst mal
+sehen, wie die Blumen gedeihn an ihrem Fenster -- und haben doch fast
+keine Sonne.“
+
+„Erlauben Sie,“ fiel der Meister ärgerlich ein, „das muß ich denn doch
+besser wissen. Vom Mai bis Ende September hat das Fenster von Mittags
+zwölf bis nach zwei Uhr Sonne. Wenn’s nicht regnet, natürlich. Aber
+dann hat kein Mensch Sonne und kein Fenster.“
+
+Emil hörte ihn nicht. Die erloschene Zigarre im Munde stierte er in
+tiefem Sinnen in den riesigen Aschbecher. An seines Geistes Augen
+mochte das ganze Martyrium dieser Erbschaft vorüberziehen, das
+Martyrium, das hinter ihm lag, das Martyrium, das seiner wartete ...
+
+Wir beiden andern schwiegen und rauchten.
+
+Plötzlich fuhr Emil aus seinen Träumen auf und sah nach der Uhr.
+
+„Himmel, ich muß fort. Höchste Zeit. Entschuldigt die Plötzlichkeit,
+Kinder, aber wir versäumen sonst den Zug. Ich muß Adelgunde abholen ...“
+
+„Aber es ist ja noch reichlich anderthalb Stunden. Und zum Potsdamer
+Bahnhof habt ihr nur sieben Minuten.“
+
+„Hm. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß man zu zweien immer +mehr+
+Zeit braucht, als allein.“
+
+Der Meister rechnete angestrengt an den Fingern: „Und zweimal sieben
+macht vierzehn -- nicht wahr? Und eine Stunde und eine halbe macht
+neunzig Minuten, und neunzig weniger vierzehn macht sechsundsiebzig ...“
+
+Es war nicht recht einzusehen, warum er sich in die Mühseligkeiten
+dieser Rechenaufgaben stürzte; denn von uns beiden hörte ihm keiner zu.
+Selbst dann nicht, als er durch eine sehr schwierige und rätselhafte
+Division sich tief in die Gefahren der Bruchrechnung verstrickte, die
+er dann mit einem befriedigten „Na, und überhaupt!“ abschloß.
+
+Emil hatte seinen Paletot angezogen, den der Meister mit kritischem
+Blick maß. Der Reisefertige reichte mir die Hand zum Abschied; und
+mir war’s, als legte er eine ganz besondere Bedeutung in sein
+Abschiedswort:
+
+„Du hast Recht, wie schon manchmal, lieber Freund. Aber wir müssen
+vorher noch Adieu sagen. Adelgunde besteht darauf, daß wir +Flocki+
+noch einmal sehen, ehe wir ihn für ein paar Tage verlassen. Schließlich
+-- +er+ hat uns doch zusammengeführt! ...“
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+[Illustration: Das Verhängnis des Hauses Brömmelmann]
+
+
+Er hatte nur unter den größten Schwierigkeiten eine Frau bekommen. Es
+ist lächerlich, zu behaupten, daß das an seiner Persönlichkeit lag. Es
+lag am Namen.
+
+Gewiß, er war nicht schön. Die unansehnliche Figur, die etwas
+Verbogenes, Geknicktes an sich hatte, sah in dem langen schwarzen
+Gehrock, den er immer trug, nicht gut aus. Er erinnerte, wenn er so
+daher kam mit dem schief nach links über den altmodischen Kragen
+nickenden Kopf und den lang herabhängenden Armen, die immer die Knie
+kratzen zu wollen schienen, an einen jener dressierten Urwaldbewohner,
+die, ein Zylinderchen auf dem Kopf, auf ein geduldiges Ponychen mit
+heimlichen Riemen festgebunden, als erste Nummer unter dem Jubel der
+Kinderwelt in melancholischem Galopp die „Abend-Gala-Elite-Vorstellung“
+der Affentheater einzuleiten pflegen. Auch waren seine Füße
+unverhältnismäßig groß und erweckten beim Gehen den Eindruck, als ob
+jeder von ihnen eigensinnig just auf denselben Fleck treten wolle, den
+der andere gerade inne hatte; und dies mit solcher Vehemenz, daß es
+ein wahres Wunder genannt werden mußte, wenn +Anton Brömmelmann+ sich
+bis zu seinem fünfundvierzigsten Jahre noch nicht die Zehen abgetreten
+hatte auf seinen Geschäftsgängen.
+
+Denn zum Vergnügen ging er nie. Das Geschäft war ihm alles. Er
+arbeitete dafür den ganzen Tag; er erholte sich davon, indem er abends
+in alten Geschäftsbüchern blätterte und alte Geschäftsbriefe im
+Kopierbuch las; und er träumte davon in der Nacht. Das Geschäft war
+sein Glück -- denn es blühte. Und es war sein Unglück -- denn es hatte
+seinem Namen einen wenig seriösen Klang gegeben. Und just um dieses
+Klanges willen hätte Anton Brömmelmann beinahe keine Frau bekommen.
+
+Eine geschickte Reklame des Vaters -- der auch schon Anton geheißen und
+den Ruhm des Geschäftes begründet hatte -- war dem Namen Brömmelmann
+verhängnisvoll geworden; insofern als er diesen nicht sinnverwirrend
+schönen aber auch nicht ohne weiteres verwerflichen Geschlechtsnamen
+braver kleiner Beamten und Pastoren plötzlich laut, heftig und dauernd
+mit -- ja, es muß schon gesagt werden: mit Wasserklosetts in Verbindung
+brachte.
+
+„Anton Brömmelmanns Wasserklosetts für Privatwohnungen, Klubs, Hotels,
+Spitäler, Kasernen und Gefängnisse“ waren weit über Neuenburg hinaus
+eine Berühmtheit. Durch unzählige Annoncen in den Tagesblättern hatte
+er sie -- wenn das so auszudrücken erlaubt ist -- dem Herzen des
+Publikums eingeschmeichelt. Er hatte Gutachten über ihre Diskretion
+im Geräusch und Wasserverbrauch und über ihre Unentbehrlichkeit
+im Großbetrieb fleißig gesammelt und veröffentlicht; hatte
+enthusiastische Zustimmungen von Hygienikern, berühmten Schauspielern,
+Anstaltsdirektoren, ja sogar von zwei wirklichen Geheimen Räten mit
+dem Prädikat Exzellenz seinem Katalog anheften können. Und so hatte
+er mit der Wahrhaftigkeit, wie sie nur die Todesstunde verleiht,
+auf dem Sterbebette seinem einzigen Sohn feierlich und nicht ohne
+Genugtuung versichern dürfen, daß es in und um Neuenburg, wenigstens in
+menschlichen Wohnstätten, die etwas auf sich hielten, keinen geheimen
+Ort, den ein guter Mensch betrat, gebe, der nicht an bescheidener
+Stelle auf weißem Porzellangrund den Namen „Anton Brömmelmann“ rühmend
+dem nachdenklichen Beschauer nenne.
+
+Das aber war das Fatale. Welches junge Mädchen von sittlichem Gefühl
+verliebt sich in einen Mann, der mit so unentbehrlichen, aber doch so
+ungern genannten Gebrauchsgegenständen handelt? Welches wohlerzogene
+Bürgerstöchterlein tauscht froh und reulos seinen mehr oder minder
+wohlklingenden Vatersnamen gegen einen Namen, den immer und immer
+wieder Annoncen in den Tagesblättern in solch merkwürdige Erinnerung
+bringen; der immer und immer wieder von weißem Porzellangrund abzulesen
+ist? ...
+
+Wenn Anton Brömmelmanns Ahnherr im Dreißigjährigen Krieg nachweislich
+gehängt worden wäre; wenn sein Großvater beim Rastatter Gesandtenmord
+eine üble Rolle gespielt und seine Großmutter im berüchtigten
+Hirschpark von Versailles zeitweise unrühmlichen Aufenthalt genommen
+hätte -- das wäre alles kein so trauriges Ehehindernis für Anton
+Brömmelmann gewesen, als der fatale Umstand: daß sein fleißiger und
+rechtlicher Vater gar so viel Lobendes über seine vortrefflichen
+Fabrikate veröffentlicht hatte.
+
+Und außerdem: mitten in der Hauptstraße, zwischen der appetitlichen
+Konditorei von Grötschel und der poesievollen Blumenhandlung der stets
+in tiefe Trauer gekleideten Witwe Schwiebus -- die drei verletzend
+naturalistischen Riesenerker des Brömmelmannschen Geschäfts! Welche
+Frauenseele in jenem glücklichen Alter, da man sich Verse von Lenau ins
+Album schreibt und mit Leutnants tanzt und Lieder von Schumann singt,
+bebte nicht scheu zurück vor einem noch so braven Mann, der ein so
+absonderliches Geschäft sein eigen nennt?
+
+Anton Brömmelmann hätte von den Körben, die er sich seufzend in guten
+Bürgerfamilien geholt, ganz bequem einen Korbhandel eröffnen können.
+Aber er sah mit Goethe, den er übrigens nicht las, in der Ehe „Anfang
+und Gipfel aller Kultur“; und er war betrübt, ja niedergeschlagen, daß
+gerade +ihm+ weder Anfang noch Gipfel beschieden sein sollte, obschon
+oder gerade +weil+ er als Geschäftsmann just der Sohn seines Vaters und
+ein Kulturträger von nicht zu unterschätzender Bedeutung war.
+
+Endlich aber fand er in Annemarie Bickebach doch noch ein weibliches
+Wesen, das großherzig genug war, über die ganzseitigen Annoncen und
+die Riesenerker in der Hauptstraße und schließlich auch über manche
+negativen Vorzüge seiner Erscheinung mit ihren leidlich hübschen Augen
+hinwegzusehen.
+
+Annemarie war die Tochter eines Oberpostsekretärs, der pensioniert
+werden mußte, weil sich in ihm die fixe Idee entwickelte, er müsse
+der Welt die Unsinnigkeit der Ansichtspostkarte beweisen; und der in
+diesem Sinne eine Reihe von Broschüren im Selbstverlag erscheinen
+ließ und zahlreiche Eingaben an den Reichstag und „Offene Briefe“
+an die vorgesetzte Behörde richtete. Das langaufgeschossene, magere
+Mädchen war zweimal verlobt gewesen. Einmal mit einem melancholischen
+Bergassessor, der leider bald darauf mit einer Dame vom Variété
+nach London gegangen war; und einmal mit einem sommersprossigen
+Predigtamtskandidaten, der ihr eines Tages eine „frivole Auslegung
+paulinischer Briefe“ vorgeworfen, ihren Ring, zwei gestickte
+Schlummerrollen und einen gebrannten Haussegen zurückgeschickt und
+drei Monate später eine vermögliche aber reizlose Witwe aus Kottbus
+standesamtlich und kirchlich geheiratet hatte.
+
+Annemarie hatte das stille Wesen aller Mädchen, die zweimal verlobt
+waren und einmal am Variété und einmal an den paulinischen Briefen
+gescheitert sind. Sie sah zwar, daß Anton Brömmelmann keineswegs
+eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem jungen Griechengott, nicht
+einmal mit einem melancholischen Bergassessor zeigte; aber er war
+schließlich ein Mann, der seine hübschen Einnahmen hatte und dessen
+mit der Erinnerung an zahlreiche Körbe belastetes Herz die Unzartheit
+nicht besitzen würde, sie an ihr entschwundenes Liebesglück zu
+erinnern. Und sie hatte es satt, immerzu „Eingaben an eine hohe k. k.
+Oberpostdirektion“ ins reine zu schreiben.
+
+Der Oberpostsekretär a. D. machte seine Einwilligung zur Verehelichung
+davon abhängig, daß Anton Brömmelmann sich eidlich verpflichte,
+niemals in seinem Leben eine Ansichtskarte zu benützen. Ein Schwur,
+den Anton Brömmelmann um so eher ablegen und halten konnte, als er
+überhaupt keine privaten Mitteilungen ernsten oder neckischen Inhalts
+jemals zu Papier brachte, sondern +nur+ Geschäftsbriefe schrieb und im
+Geschäftsverkehre die Ansichtskarte für durchaus unstatthaft hielt.
+Der Oberpostsekretär holte übrigens für diese Gelegenheit seinen alten
+Galadegen aus dem Schrank, eine sehr merkwürdige Waffe, die nach
+halbstündigem sorgsamen Einfetten und anstrengendem Ziehen endlich auch
+aus der Scheide fuhr. Auf die rostige Klinge mußte Anton Brömmelmann
+feierlich die Schwurhand legen und den vom Oberpostsekretär persönlich
+vorgesprochenen ebenso umständlichen als konfusen Eid mit lauter Stimme
+wiederholen. Dann erst bekam er von der tief errötenden Annemarie den
+Verlobungskuß und jenen gebrannten Haussegen, den der sommersprossige
+Predigtamtskandidat unbegreiflicherweise verschmäht hatte.
+
+Die Ehe war nicht unglücklich.
+
+Annemarie hielt ihren Haushalt gut in Ordnung; und wenn Anton
+Brömmelmann aus dem Geschäfte kam, so war sie bereit, seinen gehabten
+Ärger mit aufmerksamer Teilnahme anzuhören, und schmierte ihm
+Käsebrötchen dazu.
+
+Jeden Sonntag aß der Oberpostsekretär a. D. bei den beiden zu Mittag.
+Es gab dann „falschen Hasen“ -- weil dem Oberpostsekretär die
+Vorderzähne fehlten -- und der Geladene würzte das bescheidene Mahl
+durch heftiges Schimpfen auf die k. k. Regierung, die keine seiner
+Eingaben, die er nun selber schrieb, jemals beantwortete.
+
+Als er an einem Sonntag im Herbst wieder zum falschen Hasen kam, teilte
+ihm Anton freudestrahlend mit, daß sie beide heute +allein+ essen
+müßten, da Annemarie ihn heute morgens durch die Geburt eines Sohnes
+erfreut habe und noch der Schonung bedürftig sei.
+
+Obgleich der Oberpostsekretär, wie er sich recht wohl erinnerte, bei
+der Eheschließung der beiden mit einer solchen Möglichkeit gerechnet
+hatte, kam ihm die Nachricht nun, da er, mit seinen Angelegenheiten
+beschäftigt, die natürlichen Anzeichen des kommenden Ereignisses
+völlig übersehen hatte, doch sehr überraschend. In der Freude seines
+Herzens ging er eiligst einen notwendigen Einkauf zu machen; und da er
+nicht recht wußte, was zu dieser Gelegenheit am passendsten erscheinen
+könnte, kam er eine halbe Stunde später wieder mit einer Mandeltorte
+und einem Bilderbuch, das für den ersten Leseunterricht sehr
+zweckentsprechend eingerichtet war. Dieses Buch legte die Wartfrau,
+die wenig von Pietät hielt, unter das Gestell der Kinderbadewanne, das
+einen zu kurzen Fuß hatte. Die Mandeltorte aber teilte sie mit der
+Hebamme, die zufällig gerade, wie dies bei Hebammen das übliche ist,
+ihren Geburtstag hatte.
+
+Im Nebenzimmer aber saß der Oberpostsekretär, dämpfte seine Stimme
+zu einem diskreten Piano, das kaum mehr hörbar war, und fragte den
+glücklichen Vater, der sehr wichtig und sehr zwecklos bald eine
+Zuckerdose, bald einen Aschenbecher umhertrug:
+
+„Anton, +wem+ sieht’s ähnlich?“
+
+„Die Wartfrau meint: +mir+,“ gab Anton schüchtern zurück.
+
+Er mochte nicht gestehen, daß er persönlich bei einer ersten Begegnung
+mit seinem Sohn, die allerdings im Halbdunkel der Wochenstube
+stattfand, keinerlei Ähnlichkeit hatte wahrnehmen können, vielmehr den
+Eindruck gewonnen, anstatt eines Kopfes eine runzliche, nicht mehr ganz
+frische Tomate auf dem Kissen zu sehen.
+
+Die Hebamme, die aus unbekannten Gründen immer heftig nach altem
+Rotwein roch, kam herein und verkündete:
+
+„+Neun+ und ein Viertelpfund! Eben gewogen. Es ist ein Mordskerl!“
+
+„Das soll er erst +werden+!“
+
+Anton Brömmelmann hatte dieses vortreffliche Wort gefunden und damit
+stolz und tüchtig ~in nuce~ ein ganzes Erziehungsprogramm entrollt.
+
+Das +eine+ stand bei Anton Brömmelmann fest: der Junge sollte es mal in
+jeder Beziehung +besser+ haben, wie er; sollte sich nicht selbst die
+Zehen abtreten beim Gehen, keine lächerliche Figur in einem schwarzen
+Gehrock spielen und seinen Namen nicht am Tage wie eine Last und nachts
+wie einen Alp tragen. Das Geschäft -- Gott behüte! -- das war nichts
+für den Jungen. Diese Überzeugung stand schon bei Anton Brömmelmann
+fest, wenn er des Abends, aus dem Comptoir heimgekehrt, zusah, wie im
+Soxhletapparat die sechs appetitlichen Fläschchen für Nacht und Morgen
+hergerichtet wurden. Immer ein Strich Milch und zwei Striche Wasser.
+Und jedesmal setzte seine besorgte Frage ein:
+
+„Kriegt der Junge auch nicht zu wenig Milch und zu viel Wasser?“
+
+Berthold wurde er getauft.
+
+Niemand in der Familie hieß so. Der Erfinder des Schießpulvers,
+Berthold Schwarz, war der einzige dieses Namens, den Anton Brömmelmann
+-- natürlich nicht persönlich -- kannte. Aber das war’s gerade: Der
+Junge sollte einen +aparten+ Namen haben. Und wer konnte das wissen
+-- die Sache mit dem Schießpulver! ... Der Junge konnte ein verdammt
+kluges Gesichtchen machen und hatte eine Art, das rosig marmorierte
+Fäustchen in den Mund zu stecken, die +hohe+ Intelligenz bewies. Und
+das +Geschäft+ sollte ihm nicht den schönen Namen und das schöne Leben
+verderben -- das war immer der Schluß von Anton Brömmelmanns reiflichen
+Erwägungen. Und damit all dieses nicht geschehe, sollte der Bub’ keine
+Ahnung davon haben, welcher +Art+ seines Vaters Geschäft war. Bis er
+dann zur Schule kam, würde man schon sehen.
+
+Von nun an dachte Anton Brömmelmann nur daran, sein Geschäft zu
+verkaufen.
+
+Er trat sich im Nachdenken noch emsiger auf die Füße, schlenkerte noch
+heftiger mit den Affenarmen als früher und wechselte bogenlange Briefe
+mit Reflektanten.
+
+An der verlangten Kaufsumme scheiterte es nie. Er hatte genug geerbt
+und zurückgelegt und forderte einen Betrag, der für das flottgehende
+Geschäft ein Spottpreis genannt werden mußte. Eben erst hatte der
+Landtag eine größere Bestellung gemacht, und mit einer anonymen
+Gesellschaft, die das öffentliche Wohl im Auge hatte, stand er in
+Verhandlung.
+
+Aber +eines+ schreckte die Bewerber: Anton Brömmelmann stellte die
+Bedingung, daß innerhalb fünf Jahren die +Firma+ geändert werden
+und +sein+ Name mithin von Firmenschild, Briefbogen und Porzellan
++verschwinden+ müsse. Hier lag der Haken. Denn die Firma „Anton
+Brömmelmann“ war eben als solche weit berühmt; und ob die Änderung des
+Namens nicht einen beträchtlichen Rückgang des Geschäftes bedeuten
+würde .... Zudem -- man hatte das zum Beispiel bei Johann Maria Farina
+erlebt -- es könnte eine Konkurrenz plötzlich einen Strohmann Namens
+Brömmelmann auftreiben, der nun die Früchte jahrelanger Reklame anderer
+mühlos pflückte....
+
+Schließlich aber wurde der Verkauf +doch+ perfekt.
+
+Ein Herr Heinrich +Hinzelmann+ hatte, wie er schrieb, „eine weitläufige
+Tante beerbt“ und strebte, sich selbständig zu machen. Er glaubte das
+nicht besser tun zu können, als indem er das Geld der weitläufigen
+Tante in Anton Brömmelmanns weitberühmte Fabrikate steckte.
+
+Am fünften Geburtstag Bertholds wurde der Vertrag unterschrieben. Es
+war ein großer Moment. Anton Brömmelmann war ganz heiser vor Aufregung
+und schrieb unter das wichtige Schriftstück zum erstenmal in seinem
+Leben seinen eigenen Namen falsch; nämlich mit nur +einem+ „m“ in der
+Mitte. Annemarie stand neben ihn und bürstete in tiefer seelischer
+Verlorenheit Herrn Hinzelmanns Zylinder sorgfältig +gegen+ den Strich,
+was der Besitzer des Hutes mit großem Unbehagen mit ansah. Doch wagte
+er es nicht, sie auf das Sinnlose und Unzweckmäßige dieser Betätigung
+aufmerksam zu machen, da er befürchtete, irgendeine nicht auf das
+Geschäft bezügliche Äußerung könne ihm noch in letzter Stunde den
+ganzen vorteilhaften Handel verderben. So schlug er im Geiste den Preis
+für einen neuen Zylinder mit auf die Kaufsumme und schwieg.
+
+Im Nebenzimmer aber saß der Oberpostsekretär, das Geburtstagskind auf
+den Knien, und las die Korrekturen einer geharnischten Eingabe „an die
+k. k. Regierung, betreffend die durch den submissest unterzeichneten
+Verfasser eklatant erwiesene Volksverdummung durch die Ansichtskarte“.
+
+Anton Brömmelmann atmete auf. Ihm war zumute wie einem unter dem
+Verdachte schweren Raubmordes Verhafteten, der eben sein Alibi
+lückenlos beigebracht hat.
+
+Nun galt es noch sein Haus verkaufen -- das tat er mit kleinem Verlust
+-- und den Wohnort wechseln. Er zog nach Rasselsheim, einem Städtchen
+ohne jeglichen landschaftlichen Reiz, das ihm nur dadurch aufgefallen
+war, daß es -- wie aus einer Statistik hervorging -- die geringste
+Kindersterblichkeit aufwies. Ein Gymnasium war auch da. Sogar ein
+„humanistisches“, was Anton Brömmelmann für eine besondere, vom Staat
+verliehene Auszeichnung hielt. Also!
+
+Bei der Wohnungssuche benahm sich Anton Brömmelmann etwas sonderbar. Er
+besichtigte zunächst immer ein geheimes Kabinett und erweckte durch die
+merkwürdig peinlichen Untersuchungen den Eindruck, als ob er hier die
+reichsten und köstlichsten Stunden seines Lebens zu verbringen gedenke.
+
+Mit heimlicher Freude konstatierte er, daß die Rasselsheimer Wohnungen
+nur in seltenen Fällen +seine+ Fabrikate mit dem verräterischen Namen
+aufwiesen; und er mietete mit ingrimmiger Genugtuung eine Wohnung, für
+die, wie das Porzellan an der betreffenden Stelle meldete, seine einst
+gefürchtete Konkurrenz das unentbehrliche geliefert hatte ...
+
+Berthold wuchs heran.
+
+Der glückliche Vater ging völlig auf in den Jungen. Er zahnte mit ihm,
+er fieberte persönlich, als der Bub die Masern hatte, ja er machte
+-- und nicht nur in der Einbildung -- mit ihm den Keuchhusten durch,
+konsumierte als leuchtendes Beispiel für den Jungen den abscheulichen
+Schneckensaft und war stolz darauf, wenn er, blaurot im Gesicht vom
+Husten, die Versicherung des Arztes hörte: das sei ein außerordentlich
+seltener Fall, daß ein Erwachsener zum +zweitenmal+ vom Keuchhusten
+befallen werde.
+
+Peinlicher als der Keuchhusten war das Latein.
+
+Anton Brömmelmann, der es nie recht vertragen hatte, lernte es mit
+dem Sohn, +für+ den Sohn. Er stand mit dem absolutem Ablativ auf und
+träumte vom Akkusativ cum Infinitiv; er übte Vokabeln und konsultierte
+heimlich Eselsbrücken, war dem Sohn immer um drei Lektionen voraus,
+kurz, er tat alles, um die fromme Täuschung aufrecht zu erhalten, daß
+er alles das schon +wisse+, was der Sohn unbedingt lernen müsse, um ein
+edler Mensch und ein tüchtiger Bürger zu werden. Wenn Berthold längst
+seinen gesegneten Kinderschlaf schlief, mußte die mitleidige Annemarie
+den unglücklichen Gatten die Punischen Kriege überhören und die
+entsetzlichsten, von den Karthagern verübten Greuel über sich ergehen
+lassen. Und Sonntag zog sich Anton Brömmelmann in sein Studierzimmer
+zurück, um über den „Frühling“ nachzudenken oder über die „Freuden des
+Eislaufs“, kurz über lauter Dinge, die seinem früheren Leben sehr fern
+gelegen hatten und die jetzt als Aufsatzthemata des Sohnes seine späten
+Mannesjahre erschreckten.
+
++Zweimal+ waren sie sitzen geblieben.
+
++Sie.+ Pluralis. Denn der Vater blieb +mit+ sitzen, fühlte sich
++mit+schuldig; obschon er die Tanzstunde, die an der Zerstreutheit
+des Sohnes die Hauptschuld trug, nicht mitgenommen hatte und die
+Zigaretten, die dem armen Berthold nicht bekamen, persönlich ganz gut
+vertragen konnte.
+
+Endlich kam das Maturum.
+
+Berthold, der ein hübscher, schlanker Bengel geworden war, nicht gerade
+strotzend von Intelligenz, aber in seiner gesunden Frische ein ganz
+lieber Kerl, ging in das Examen mit einer Siegermiene, als könne ihm
+nichts passieren. Der Vater aber saß zu Hause und seufzte:
+
+„Die Mathematik -- die Mathematik bricht uns den Hals. Du wirst sehen,
+Annemarie, die Mathematik!“
+
+Und er verlangte Papier und berechnete Kegelschnitte stundenlang und
+löste Gleichungen mit drei Unbekannten, die -- wenn die Sache fertig
+war -- noch immer so gut wie unbekannt blieben, und ließ sich von all
+den Aufgaben foltern, die der Sohn vielleicht ...
+
+Aber der Sohn kam nach Hause, strahlend, eine Rose im Knopfloch und
+sichtlich erhitzt von einem kleinen Frühschoppen. Er hatte bestanden.
+Nicht gerade glänzend, aber was lag daran?
+
+Anton Brömmelmann spendierte deutschen Sekt zum Mittagstisch. Er stieß
+mit dem Sohn an und hielt eine Rede, in der er sagte: er sei zwar
+der Vater ... aber er müsse denn doch sagen ... und überhaupt habe
+Demosthenes ganz recht gehabt, wenn er das schöne Wort gesprochen,
+das ihm jetzt nicht einfalle ... und der große Liebig sei +auch+ ein
+schlechter Schüler gewesen ... und Henrik Ibsen hätte „kaum genügend“
+in der Trigonometrie gehabt ... und das Leben sei zwar schwer, aber
+schön ... und der Name Brömmelmann lege Pflichten auf ... jawohl, das
+tue er ... und so hoffe er heute ... denn +das+ müsse die Jugend immer
+hochhalten ... und dafür könne er keinen Geringeren zitieren, als
+Cicero ... aber das +wolle+ er nicht ... denn er sei froh, daß er all
+das Zeug jetzt vergessen könne ... denn ehrlich gesagt: zum Halse sei’s
+ihm herausgewachsen ... und übrigens sei es Zeit, den Großvater von der
+Bahn abzuholen ...
+
+Berthold bezog die Universität.
+
+Der Vater wollte keinen Druck auf ihn ausüben. Er solle studieren,
+was er wolle. Theologe -- gut; aber protestantischer. Arzt -- gut;
+aber nicht Spezialarzt für ansteckende Krankheiten. Jurist -- gut;
+aber nicht „Kameralia“ dazu. +Zweierlei+ zugleich, das gehe nicht. Mit
+diesen Einschränkungen erlaubte Anton Brömmelmann alles. Mathematiker
+war nicht zu befürchten. Auch für das Sanskrit zeigte sich bei
+Berthold keinerlei Neigung. Alle Ermahnungen schlossen:
+
+„Vergiß nicht, daß du mein +Einziger+ bist!“
+
+Berthold Brömmelmann vergaß das nicht.
+
+Als er nach dem ersten Semester seine Schulden beichtete, erwies es
+sich, daß er immerzu daran gedacht haben mußte, daß er der „einzige“
+war. Außerdem war er „Hasso-Suebe“, trug einen farbigen Bierzipfel,
+einen Zwicker und eine Tiefquart im Kinn, die dickrandig und tiefrot
+war und an jene alten Wunden erinnerte, die eine Neigung haben „an der
+Bidassoa-Brücke“ aufzubrechen. Und er roch nach Jodoform wie ein ganzer
+Transportzug des Roten Kreuzes.
+
+Über die Richtung seines Studiums war er sich noch nicht schlüssig
+geworden. In der Anatomie war ihm schlecht geworden. Bei den Pandekten
+noch schlechter. In der Theologie störte ihn der heilige Geist, unter
+dem er sich absolut nichts denken konnte. Und Mathematik kam noch immer
+nicht in Betracht.
+
+Leider änderte sich dies kaum „positiv“ zu nennende Resultat seiner
+Studien auch fürderhin nicht. Er schickte spaßhafte Bierkarten, fidele
+Gruppenbilder und unbezahlte Rechnungen, begleitet von humoristischen
+Briefen, nach Hause. Über eine Berufswahl aber ließ er sich weiter
+nicht aus.
+
+Als ihn der Vater auf Annemaries Drängen einmal besuchte, kam der
+alte Herr graugrün aussehend nach drei Tagen wieder. Er erinnerte
+sich noch deutlich vieler junger Herren mit gelben Mützen, die ihn
+an der Bahn empfingen und mit fast königlichen Ehren auf einen sehr
+merkwürdigen Aussichtspunkt kutschierten, wo man -- und hier wurden
+seine Erinnerungen undeutlich -- erst eine Pfirsich-, dann eine
+Ananasbowle trank. Es konnte aber auch umgekehrt gewesen sein. Wenn er
+sich nicht täuschte, hatten sie dann alle ein wunderschönes Lied mit
+erstaunlich vielen Versen gesungen, und dann -- -- -- ja, man konnte
+ihn totschlagen, aber ihm war’s, als ob dann irgend ein Fackelzug
+stattgefunden hätte. Es konnte aber auch eine Beerdigung oder eine
+Hochzeit gewesen sein. Ja selbst eine Kindstaufe hielt er manchmal für
+nicht ausgeschlossen. Und was die Studienpläne Bertholds anbetraf --
+man war +nicht+ dazu gekommen, darüber zu sprechen ....
+
+So war der Stolz des Hauses Brömmelmann im siebenten Semester, ohne daß
+sein Studium sichtbare Früchte getragen.
+
+Da begab es sich, daß der vortreffliche Großvater in Neuenburg seinen
+siebzigsten Geburtstag feierte. Unglücklicherweise hatte Anton
+Brömmelmann sich kurz vorher den Fuß vertreten, das heißt er war mit
+dem linken so außergewöhnlich kräftig auf den rechten getreten, daß der
+Knöchel gelitten hatte.
+
+Annemarie, die treue Seele, machte ihm kalte Umschläge und konnte nicht
+abkommen. Berthold fuhr also allein als bevollmächtigter Abgesandter
+der Familie nach Neuenburg, seiner Geburtsstadt, die er noch niemals
+betreten.
+
+Als erstes Lebenszeichen kam -- eine Ansichtskarte aus Neuenburg, die
+der Großvater +mit+ unterschrieben.
+
+„Zeichen und Wunder!“ sagte Anton. „Der gute alte Herr unterschreibt
++Ansichts+karten. Ja, ja, das Alter macht milder.“ Und eines Zitats
+sich erinnernd, das er vor Jahren -- Berthold saß in Ober-Sekunda --
+aus einem Spruchbuch als köstliche Perle für den schmückenden Schluß
+eines deutschen Aufsatzes gefischt, fügte er hinzu: „Wie sagt doch
+Goethe so schön: Was man in der Jugend sich wünscht, das hat man im
+Alter die Fülle.“
+
+Annemarie lächelte: „Papa hat sich doch in der Jugend keine
+Ansichtskarten gewünscht.“
+
+„Nein aber -- --“ Er fühlte selbst, daß er blödsinnig zitiert und
+versuchte hinter einem schalkhaften Lächeln tiefen Sinn zu verbergen.
+
+„Nun +lies+ schon!“ drängte Annemarie.
+
+Und er versuchte zu lesen, was sonst noch auf der merkwürdigen
+Karte stand. Aber außer den Worten „kalte Ente“ konnte er nichts
+herausbringen.
+
+„Kalte Ente --“ meinte Annemarie kopfschüttelnd, „soll wohl ‚kalte
+Hände‘ heißen.“ ...
+
+Anton Brömmelmann glaubte das nicht ....
+
+Mehrere Tage hörte man nichts weiter. Weder von dem Jubilar noch von
+dem festlichen Abgesandten. Da plötzlich ein Brief, wahrhaftig ein
++langer+ Brief Bertholds.
+
+„Wie lieb von ihm!“ lobte die Mutter.
+
+Anton Brömmelmann mißtraute. „Er pumpt mich an!“ taxierte er.
+
+Und er las.
+
+„Liebe Eltern! Ihr werdet Euch gewundert haben. ... Eltern wundern sich
+immer. Aber das wird noch besser kommen.“ --
+
+„Etwas konfus, was?“ schaltete Anton Brömmelmann ein und sah über die
+Brille zu Annemarie; dann las er weiter:
+
+„Ich glaube manchmal, ich habe Euch Sorge gemacht. Vor allem +Dir+,
+lieber Vater. Na, du hast kein Geschäft, nicht wahr? Und etwas muß der
+Mensch doch haben. So hattest Du +mich+.“ --
+
+„Das ist ja eine Epistel, als sollte er gehenkt werden,“ meinte der
+Vater. Aber die Mutter bedeutete ihm, weiter zu lesen.
+
+„Mit dem Studium -- darüber machen wir uns nichts vor -- war es nichts.
+Mündlich einmal davon. Als Papa mich besuchte, wollte er durchaus nicht
+davon sprechen ....“
+
+„Nanu?“ fragte Annemarie.
+
+Aber Anton Brömmelmann überhörte das und las weiter:
+
+„Ich stamme aus einer Kaufmannsfamilie. Ich weiß zwar nicht, +welcher+
+Art dein Geschäft eigentlich war, lieber Papa, aber es war ein
+Geschäft, nicht wahr? Nun, ich glaube, ich würde mich auch besser zum
++Kaufmann+ eignen. Und so wirds kommen. Denn, um’s kurz zu sagen, ich
+bin +verlobt+.“
+
+Das Ehepaar Brömmelmann sah sich an, als ob ein geflügeltes Krokodil im
+Zimmer sei. Keines brachte ein Wort heraus.
+
+Dann ergriff die resolute Mutter den Brief und -- nun las +sie+ zu
+Ende; las in einem Tempo, in dem nur eine Frau lesen kann, die der
+größten Neuigkeit ihres Lebens auf der Spur ist.
+
+„Ich habe das süßeste, reizendste, entzückendste Mädel von der Welt
+kennen gelernt .... Durch Großpapa. Der verkehrt mit den Eltern. Er
+sagt, Ihr kennt sie auch und lacht immer ganz verschmitzt dabei.
+Übrigens hat er immer noch die Marotte mit den Ansichtskarten ....“
+
+Der Teufel hole seine Ansichtskarten! Was ist das für ein Mädel?
+
+„Die Eltern haben ein Geschäft. Ein sehr +gutes+ Geschäft. ~NB.~ Sie
+ist das +einzige+ Kind, heißt Mieze -- ist das nicht reizend? Mieze
++Hinzelmann+. Ihr müßt sie Euch so denken ....“
+
+Anton Brömmelmann saß erstarrt. „Hinzelmann, doch nicht +unser+ ....?“
+
+Der Blick der Mutter war bis zum Schluß des Briefes geflogen.
+
+„Das Geschäft, liebe Eltern, von dem ich oben sprach, ist ja ein
+bißchen sonderbar. Lieber Gott, +alles+ kann nicht Poesie sein in
+der Welt, nicht wahr? Es gibt auch Dinge, die ... Aber der alte Herr
+Hinzelmann -- übrigens ein famoser Kerl; +fast+ so nett, wie +mein+
+alter Herr -- der meint: Geschäft ist Geschäft. Ich hab’ mit ihm
+gesprochen. Er ist +sehr+ einverstanden. +Seinen+ Segen habe ich schon.
+Einzige Bedingung, ich muß später das +Geschäft+ übernehmen....“
+
+Annemarie ließ den Brief sinken. Sie sah nach Anton Brömmelmann, der,
+ein Bild schöner aber tiefer Resignation, in seinem Sessel saß.
+
+„Hast du gehört, Vater?“
+
+Er nickte bloß.
+
+Aber die treue Lebensgefährtin schien anzunehmen, daß der Schweigsame
+zwar gehört, aber nicht verstanden habe. Sie legte ihm die Hand auf die
+Schulter und rüttelte ihn sanft, als wolle sie ihn aus einem erst halb
+überwundenen Schlummer zur Wirklichkeit wecken.
+
+„Anton -- das Geschäft -- +unser+ Geschäft -- --“
+
+Die Züge des Versteinerten belebten sich. Den Lippen entfuhr ein
+Zischlaut, wie ihn ungeduldige Lokomotiven knapp vor der Abfahrt hören
+lassen. Dann bildete der Sprechapparat Worte, tonlos, mechanisch, wie
+einem Uhrwerk gehorchend und ohne seelische Beteiligung:
+
+„Mutter +dafür+ bin ich ausgewandert, +dafür+ hab’ ich +Latein+ gelernt
+und die punischen Kriege und habe Kegelschnitte berechnet, damit
+mir ...“
+
+„Geh’, Alter!“ Die Mutter legte ihm den Arm um den Hals. „Wenn er sie
+doch +gar+ so gern hat!“
+
+Aber Anton Brömmelmann dachte in diesem Augenblick nicht an den Sohn.
+Er sah mit seines Geistes Augen den Vater, +seinen+ Vater voll Stolz
+ein Zeitungsblatt auseinander falten. Eine ganzseitige Annonce im
+Tageblatt: „Urteile von Hygienikern, Professoren, Künstlern über Anton
+Brömmelmanns weltberühmte ...“
+
+„Wir wollen ihm telegraphieren,“ mahnte die Mutter.
+
+„Ja, ja.“
+
+Anton Brömmelmann ermannte sich.
+
+„Ich will einen -- Glückwunsch aufsetzen. Gib mir ein Stückchen
+Porzellan -- wollt’ ich sagen: ein Stück Papier.“
+
+Und Anton Brömmelmann sandte an die Adresse seines alten Geschäftes dem
+beinah studierten Sohne seinen väterlichen Segen.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+[Illustration: Der rote Esel
+
+Ein lyrisches Intermezzo]
+
+
+Christian Fürchtegott Gellert hat eine sehr schöne Geschichte von einen
+grünen Esel zu erzählen gewußt. Ich maße mir durchaus nicht an, mit
+Christian Fürchtegott Gellert in der Kunst zu fabulieren, konkurrieren
+zu können. Aber eine Geschichte von einem Esel kann ich auch erzählen.
+
+Gewöhnliche Esel sind, wenn ich mich nicht täusche, alle grau.
+Christian Fürchtegott Gellerts Esel ist grün. Mein Esel aber ist rot.
+Das mag einem Skeptiker -- und wer ist in unserer Zeit nicht Skeptiker?
+-- ein bißchen unwahrscheinlich vorkommen, und Brehms Tierleben gibt
+seinem Zweifel in der kleinen wie in der großen Ausgabe scheinbar
+recht. Trotzdem ist, wie ich nachdrücklich bemerke, ein ungläubiges
+Lächeln meiner Angabe gegenüber äußerst frivol und tadelnswert, denn
+ich spreche nicht von einem wirklichen, lebendigen Esel, sondern meine
+Geschichte handelt von einem Gummiesel. Und wer kann der Phantasie
+eines Gummispielzeugfabrikanten Vorschriften machen? Warum, frage ich,
+soll sich ein erfinderischer Kopf nicht nach Analogie eines +grauen+
+Esels auch einen +roten+ Esel denken können?
+
+Ja, wenn ich mir die Sache recht überlege, muß ich sagen, ein roter
+Esel hat ebensogut seine Existenzberechtigung wie ein grauer Esel,
+und es erscheint mir unter gewissen Gesichtspunkten als ein Loch
+im Schöpfungsplan, daß diese liebreiche und gern zu Vergleichen
+herangezogene Tierklasse nicht auch eine rote Spielart aufwies, als
+sie im Paradiesgarten erschien. Doch lassen wir die theologischen
+Spitzfindigkeiten, die uns das Vergnügen an meiner kleinen Geschichte
+verderben könnten, ehe sie begonnen.
+
+Es gibt also einen roten Gummiesel, eine kleine und zierliche
+Miniaturausgabe des ergötzlichen Haustiers. Dieser kleine rote
+Gummiesel ist vor nicht allzulanger Zeit in den Besitz meiner einzigen
+Erbin übergegangen, die ihre Bewunderer noch jeden Morgen empfangen
+darf, wenn sie selbst in der -- Badbütte sitzt und sich damit
+unterhält, ihre Umgebung so naß zu machen, als es sich in zehn Minuten
+heißen Bemühens durch heftige Bewegungen zweier runder Beinchen und
+zweier ebensolcher Ärmchen irgend bewerkstelligen läßt. Meine Erbin
+ist nämlich noch kein Jahr alt. Und das nimmt der Historie jeden
+unmoralischen Beigeschmack.
+
+Der rote Gummiesel ist ein sinniges Weihnachtsgeschenk, das meiner
+Tochter von ihrem leiblichen Vater gemacht wurde.
+
+Ich hatte vier Wochen vor Weihnachten angefangen, für das damals
+sieben Monate alte Baby ein passendes Präsent auszuwählen. Spielzeug
+von Holz, Stein, Wolle und Papier hatte ich schon in fünf Läden prüfend
+durcheinander geworfen, ohne mich für ein bestimmtes entscheiden zu
+können. Mein zärtliches Vatergemüt litt nämlich unsägliche Qualen
+unter der fixen Idee, daß diese Spielzeuge alle +abfärben+ müßten,
+wenn das Kind sie nach Kinderart in den Mund steckte. Daß diese
+Farben furchtbare Giftstoffe enthielten, war für meine Phantasie eine
+ausgemachte Sache; und daß ich mein Baby durch mein Weihnachtsgeschenk
+in Lebensgefahr bringen könnte, war ein Gedanke, der mir fortgesetzt
+den Hirnkasten umstülpte und den kalten Schauder über den Rücken laufen
+ließ.
+
+Einmal träumte ich sogar, ich sei des verbrecherischen Versuches
+angeklagt, meinem Kind einen ausgestopften Vogel, an dem Arsenik
+klebte, in den Mund gesteckt zu haben, um das Vermögen des Onkels Ignaz
+allein verprassen zu können. Nun hat Onkel Ignaz zwar kein Vermögen,
+aber drei Kinder, die es erben würden, +wenn+ er’s hätte. Mein Traum
+war also so dumm als möglich. Aber, wenn schon ich am nächsten Morgen
+meiner Frau gegenüber mein Gestöhn in der Nacht ins Lächerliche zu
+ziehen suchte, gab ich doch Befehl, daß die beiden ausgestopften Möwen
+von dem Schrank im Eßzimmer unverzüglich entfernt und auf den Boden
+geschafft würden.
+
+Meine Frau sprach zwar schüchtern die Vermutung aus, das in der
+nächsten Zeit unser Baby noch kaum auf den Schrank klettern werde, um
+an den Möwen zu lutschen, aber ich blieb fest. Die beiden Möwen kamen
+auf den Speicher; und ich bin erst vor einigen Tagen maßlos über die
+dummen Vögel erschrocken, als ich die Dachfenster schließen wollte und
+plötzlich die weißen, gespensterhaften Tiere unbeweglich in einer Ecke
+sitzen sah.
+
+Weihnachten rückte immer näher.
+
+Es roch schon verdächtig nach verbranntem Lebkuchen, und meine Frau
+duftete immer nach Zitronat, wenn ich sie küßte. Aber ein Geschenk
+für mein Baby hatte ich noch immer nicht. Für die Bekleidung und den
+Putz sorgten sicherlich die beiden Großelternpaare. Der unvermeidliche
+silberne Löffel war ihm auch sicher.
+
++Mein+ Geschenk aber sollte das Kind erfreuen, wahrhaft beglücken.
+Das tut doch ein silberner Löffel nicht! Es mußte etwas ganz
+Außergewöhnliches sein.
+
+Ich lief sehr aufgeregt mit heißem Kopf und kalten Füßen durch die
+verschneiten Straßen und sann dem „Außergewöhnlichen“ nach.
+
+Eine Peitsche -- eine Puppe -- ein Pferdelos -- ein Glasschränkchen --
+eine Taschenuhr -- eine Gartenschippe -- eine Stehlampe -- ein Freßkorb
+-- ein Kanarienvogel -- eine Niobe -- ein Tintenfaß -- ein Album -- ein
+Kistchen Zigarren -- das ging doch alles nicht! Gott, was für herrliche
+Präsente fielen mir ein für Nichtraucher und Raucher, für alte Jungfern
+und hypochondrische Junggesellen, für Primaner und höhere Töchter, für
+Kavallerieleutnants und Urgroßmütter! Nur für mein siebenmonatiges
+Töchterchen fiel mir um die Welt nichts ein; und ich stand auf dem
+Punkte, mir selbst einige auserlesene Grobheiten zu widmen.
+
+Da plötzlich geschah „das Wunderbare“, wie Ibsens Nora sagen würde. Das
+Wunderbare, um das ich mich nun seit Wochen unter ernster Gefährdung
+meiner Gesundheit bemühte. Mit großen, lichtvollen Buchstaben stand
+plötzlich über dem Chaos in meinem Gehirn der erlösende Satz: Ich
+schenke ihr einen roten Esel, einen roten Gummiesel!
+
+Wie diese Erleuchtung mir so plötzlich kam? Dafür gibt es eine
+übernatürliche Erklärung und eine natürliche. Die übernatürliche
+Erklärung lautet: „Wahre Erleuchtungen kommen immer plötzlich und von
+oben,“ die natürliche aber besagt: „Ich hatte den roten Esel eben
+gesehen.“
+
+Ja, er stand in ganzer Wildheit und Schönheit zwischen Püppchen mit
+kurzen Röcken, Hampelmännern, Klistierspritzen und anderem, teils
+erfreulichem, teils nützlichem Hausgerät im Erker eines Gummigeschäfts.
+Wie Romeo seine Julia liebte vom ersten Augenblick süßen Schauens an,
+so wußte ich vom ersten Blick, der dieses Abbild bescheidener Sanftmut
+gefunden: Dieser rote Esel ist das einzige wahrhaft würdige Geschenk,
+das ein Vater seiner einzigen und darum auch ältesten Tochter machen
+kann!
+
+Als ich in dem Laden stand, erwies sich’s, daß dem liebenswürdigen
+Verkäufer das Hervorkramen des roten Freundes aus dem Erker viele
+Mühe und wenig Freude bereiten mußte. Er empfahl mir darum einen
+gelben Ziegenbock mit vieler Wärme, ja, er war sogar geneigt, mir zwei
+Gummistöpsel drein zu geben, wenn ich mein Gelüste nach dem roten Esel
+bezwingen und mich für den Ankauf des gelben Ziegenbocks entscheiden
+könnte.
+
+Aber wer kennt die Gefühle eines Vaters, der für sein Kind den Freund
+gewählt hat! Ich +hatte+ gewählt und ließ mich selbst durch die
+glänzende Offerte dieses koulanten Geschäftsmannes, der elastisch war
+wie sein Gummi und beständig lächelte, wie ein Äginet, nicht umstimmen.
+
+„Ich bitte um den roten Esel,“ sagte ich fest.
+
+Der Jünger Merkurs kroch nun seufzend in den geräumigen Erker.
+
+Sehr zur Belustigung der draußen versammelten Jugend fielen ihm
+zunächst einige bunte Kopfbälle auf den Schädel und ergingen sich
+dann in scherzhaften Sprüngen über den Boden. Dann trat er in eine
+Bettpfanne, aus der sich der Fuß nicht ohne Schwierigkeit befreien
+ließ, und stieß einige Rollen Linoleum gegen die Scheiben, was ihm
+von draußen geräuschvolle Ovationen eintrug, die er mit verächtlichen
+Worten ablehnte.
+
+Ziemlich ergrimmt, mit derangierter Frisur und sehr staubigen Händen,
+aber noch immer lächelnd, entstieg er schließlich dem Schaukasten und
+brachte meinen roten Esel richtig mit.
+
+Es stellte sich zu meinem namenlosen Entzücken heraus, daß das
+seltene Gummitier, dank einer sinnreichen Mechanik, wenn man ihm den
+Bauch einquetschte, sogar einen kurzen, pfeifenden +Ton+ von sich
+geben konnte, der zwar jeder Lieblichkeit entbehrte, auch den Eseln
+sonst nicht eigentümlich ist, aber trotzdem meinen Stolz auf dieses
+merkwürdige Geschenk ins Ungemessene steigerte.
+
+Ein Siegerlächeln auf den Lippen, kam ich, meinen Schatz behutsam in
+ein verschwenderisch großes Stück Papier gehüllt, nach Hause.
+
+Die Suppe schmeckte seltsamerweise heute nach Zitronat, was bei Suppen
+kein sympathischer Geschmack ist.
+
+„Aber, Eduard, denke doch, vor Weihnachten!“ sagte meine Frau
+vorwurfsvoll, da sie mein wohl nicht allzu entzücktes Gesicht gesehen.
+
+„Natürlich! Vor Weihnachten!“ gab ich vergnügt zurück, dachte an meinen
+köstlichen Gummiesel und löffelte die Suppe, die immer noch nach
+Zitronat schmeckte, bedächtig aus.
+
+Weihnachten kam.
+
+Ich hatte goldene Finger vom Nüssevergolden und ging den ganzen Tag
+sehr wichtig und sehr zwecklos mit dem Christbaumanzünder im Arm mit
+feierlichen Schritten umher, mich immer auf meine schwierige Aufgabe
+vorbereitend.
+
+Eine Menge Verwandter aller Jahrgänge lief in den Zimmern eilfertig und
+geräuschvoll durcheinander. Sie waren alle erschienen, um zu sehen,
+„was Baby für Augen machen wird“. Ich sah ihnen aber an ihren Augen
+an, daß jedes von ihnen überzeugt war, +sein+ Geschenk werde Baby am
+meisten zusagen.
+
+Ich lächelte hochmütig. Stand doch schon der rote Gummiesel bereit, und
+der -- das wußte ich, als ob’s im Katechismus stände -- war einfach
+nicht zu übertreffen, einmal durch seine ureigene Schönheit, durch die
+Reize von Figur und Farbe, und zum zweiten als Geschenk des leiblichen
+Vaters!
+
+Die Sache kam leider anders!
+
+Baby in langem Spitzenkleidchen auf dem Arm der Mutter ins Festzimmer
+eingeführt, betrachtete eine Weile mit sichtlichem Erstaunen den hohen,
+lichtergeschmückten Baum -- was beide Großmütter, die in atemloser
+Spannung, mir den Platz versperrend, dabeistanden, als ein untrügliches
+Zeichen unerhörter geistiger Befähigung begrüßten. Dann aber griff es
+seiner Mutter meuchlings in die Haare -- was sofort als Betätigung
+einer in so zartem Alter bewunderungswürdigen Energie gedeutet wurde.
+Und schließlich gewahrte es +mich+ und -- +lachte+.
+
+Ich war natürlich sehr stolz, bahnte mir einen Weg zu dem lieben
+Blondköpfchen und begann ihm mit großer Beredsamkeit in zuvorkommender
+Weise seine Geschenke zu erläutern.
+
+„Hier, mein Goldkind, die Windelhöschen von der Großmama, und hier die
+hübsche Veilchenwurzel mit silbernem Griff, auch von der Großmama.
+Ja, du hast eine gute -- nein, was sag’ ich, du hast +zwei+ gute
+Großmamas! Hier, mein Liebling, Kleidchen von der anderen Großmama. Und
+der Löffel, natürlich auch da, der schöne silberne Löffel. Und hier das
+Hütchen von der guten Mama und -- ja, jetzt paß auf, mein Schatz, sieh
+hier das prächtige, rote Eselchen! Das -- ist -- von -- Papa!“
+
+Der Kreis der Verwandten nickte beifällig.
+
+„Er hat’s ganz allein ausgesucht,“ kommentierte meine Frau.
+
+Ein Gemurmel bewundernden Beifalls über mich und den roten Esel drang
+mir wohltuend ans Ohr.
+
+Und das Baby?
+
+Ja, das war merkwürdig mit dem Kind. Nicht einen Blick warf es auf die
+Herrlichkeiten, die ihm das Christkind bescherte. Es hatte auf meinem
+Vorhemd den goldenen Hemdenknopf entdeckt und ging auf in Bewunderung
+dieses merkwürdigen, glitzernden Phänomens.
+
+Ich ließ den Esel quietschen, bis meine Damen sich die Ohren zuhielten
+und mein Schwiegervater mich im Namen aller Heiligen beschwor, den
+Unfug sein zu lassen, weil er sonst Zahnschmerzen bekäme, noch bevor er
+von unsern Lebkuchen gekostet. Das Baby aber hörte nicht auf die Töne,
+sondern beobachtete unausgesetzt den interessanten Hemdenknopf, der die
+Brust seines Vaters zierte.
+
+Als ich Miene machte, mich und damit zugleich das Objekt seiner
+Bewunderung von dem Baby zu entfernen, begann das Kind ein
+jämmerliches Geschrei. Beide Großmütter fanden mein Benehmen dem Kind
+gegenüber „barbarisch“, eines zivilisierten Mannes durchaus unwürdig.
+Und die Familie ruhte erst, als ich mich und den heißgeliebten Knopf
+wieder vor das Kind postierte und mir von den naßgelutschten Fingerchen
+feuchte Bahnen über meine frische Hemdenbrust zeichnen ließ.
+
+Hinter mir blies mein Schwiegervater die Lichter auf den Tannenzweigen
+aus. Was mich sehr beunruhigte, da meine Furcht vor einem Gardinenbrand
+so groß ist, daß sie sprichwörtlich in unserer Familie werden konnte.
+
+Bis Baby zur Ruhe gelegt wurde, hatte es nur Sinn für meinen
+Hemdenknopf, den ich innerlich, obwohl er von Gold war, zu allen
+Teufeln wünschte. Ich hatte den verdammten Knopf schon so +oft+
+getragen, ohne daß Baby geruhte, ihn zu bemerken. Und nun gerade an
+Weihnachten mußte dieser alberne, protzige Kerl da auf meiner Brust dem
+Kinde ins Auge stechen! +Zu+ dumm!
+
+Einsam und verlassen aber stand drin im Bescherzimmer unter dem
+Tannenbaum mein Stolz, meine Freude, mein genialer Einfall, mein Retter
+aus Nöten, mein außerordentliches Festgeschenk, diese Seltenheit mit
+Musik: der rote Gummiesel ...
+
+Für jeden, der logisch denken gelernt hat, ist es ganz
+selbstverständlich, daß ich an den folgenden Festtagen den miserablen
+Knopf durch eine üppige Krawatte verdeckte und das Baby nunmehr mit
+seinem roten Esel zu befreunden suchte. Ich ahnte nicht, welchen
+Schmerz mir das ungetreue Tier, das ich ins Herz meiner Tochter zu
+schmeicheln emsig bemüht war, noch bereiten sollte!
+
+Baby machte in diesen Tagen die ersten Sprechversuche. Mutter und Vater
+lauschten verhaltenen Atems entzückt dem endlosen Kauderwelsch, das
+von dem lieben Kindermäulchen aus den einfachen Silben „Pa“ -- „Ma“
+und „Da“ zusammengesetzt wurde. Im Wägelchen lag die Kleine unter dem
+Christbaum, fast selbst wie ein niedliches Christgeschenk, und übte
+sich ohne Ermüden in ihrer Sprache, die allerdings noch für den Satz
+des Fürsten Talleyrand, daß die Sprache dazu da sei, die Gedanken zu
+verbergen, als Beweis angeführt werden konnte.
+
+Ich benutzte meine freie Zeit eifrig dazu, dem Baby beizubringen,
+die schwierige Silbe „Pa“ ohne jede Beimischung anderer phonetischer
+Kunststücke zweimal, nur zweimal, rasch hintereinander zu setzen,
+wodurch das Wort „Papa“ entstehen sollte. Leider ging das
+autodidaktische Bestreben des kleinen Dickkopfs lange seine eigenen
+Wege; entweder wiederholte das Baby die verlangte Silbe ~ad infinitum~
+oder es stieß sie zum mindesten fünfmal rasch hintereinander hervor.
+Beides war unerwünscht.
+
+Da ließ endlich mein erfinderischer Geist den roten Gummiesel in die
+Belehrung und Erziehung tätig eingreifen. Immer wenn das schöne Wort
+beginnen und wenn es enden sollte, ließ ich den Esel durch energisches
+Eindrücken seiner Bauchwände mörderisch aufquieksen, und siehe da: es
+ging! Baby sagte deutlich: „Pa--pa“.
+
+Das heißt, eigentlich war die Sache so: „Quieks“ machte der Esel,
+„Pa--pa“ begann das Kind, „Quie--i--i--i--i--ks“ endigte der Esel. Das
+Baby staunte und schwieg. So ward das Wort Papa geboren!
+
+Überrascht und hochbeglückt von dem Erfolg kam ich mit meiner Frau
+überein, daß die beispiellose Gelehrsamkeit unseres Kindes noch heute
+einem größeren Kreis von Verwandten demonstriert werden müsse. In einer
+Großstadt hat man seine Leute ja rasch beisammen! Wozu hat man das
+Telephon?
+
+Schon nach einer halben Stunde waren, obgleich ich mich einmal
+irrtümlich längere Zeit mit einem Sargmagazin und ein anderes Mal mit
+einem Schweinemetzger, der sehr grob war, verbunden sah, so ziemlich
+alle Verwandten zum Tee geladen, mit Ausnahme einer alten Tante, die im
+gewöhnlichen Verkehr sehr wenig und am Telephon gar nichts hörte, wenn
+schon sie leidenschaftlich gern telephonierte. Diese Tante suchte ich
+per Droschke auf und auch sie versprach zu kommen.
+
+Es war ordentlich feierlich, als wir in zwei dichten Reihen am
+Nachmittag gegen 5 Uhr um Babys gelben Korbwagen standen.
+
+Ich hatte meinen Platz ganz vorne genommen und wurde von allen sehr
+respektvoll behandelt. War ich es doch, der dieses erstaunliche
+Erziehungsresultat erzielt hatte und die Vorführung leiten sollte.
+
+Ich befahl allen durch eine gebietende Handbewegung lautlose Stille an
+und bat meine Frau, mir den Gummiesel vom Tisch zu reichen, den ich in
+meiner Vergeßlichkeit dort hatte liegen lassen.
+
+„Der Gummiesel, wo ist der Gummiesel?“ ging es durch die Zuschauer.
+
+Mein Schwiegervater aber machte die unnütze Bemerkung: „Braucht’s denn
+den roten Gummiesel, um -- Papa zu sagen?“
+
+Ich weiß nicht warum, aber dieser Ausspruch berührte mich peinlich.
+Doch wurde ich rasch wieder sehr vergnügt gestimmt, als das auserlesene
+Kunststück über alles Erwarten prächtig gelang.
+
+„Quieks“ machte der Esel, „Pa--pa--“ begann das Baby,
+„Quie--i--i--i--i--ks“ endigte der Esel in schrillem Mißklang rasch den
+kurzen, aber ergötzlichen Dialog.
+
+Man beglückwünschte mich stürmisch, küßte mich und das Kind mit viel
+Gefühl, bis das Kind schrie und ich große Lust hatte, auch zu schreien.
+
+Ein bildschöner Dompteur in fleischfarbenem Trikot und
+Schuppenpanzerhöschen kann nicht +so+ gefeiert werden, wenn er nach der
+Dressur den Käfig der Löwen und Königstiger verläßt, die auf seinen
+Wink durch brennende Pechreifen gesprungen sind.
+
+Ich war maßlos stolz auf das Kind, auf mich und auf den roten Esel.
+
+Nach dem Tee zog mich mein Schwiegervater mit feierlichem Ernst in eine
+Fensternische.
+
+„Sag’ mal, Eduard,“ begann er in einem fast beleidigend mitleidigen
+Ton, „glaubst du, daß das Kind auch ‚Papa‘ sagt, wenn es den --
++andern+ nicht sieht?“
+
+„+Welchen+ -- andern?“
+
+„Nun, den roten Gummiesel.“
+
+Ich erschrak, faßte mich aber sofort wieder, und den alten Herrn mit
+einer entrüsteten Armbewegung in den Blumentisch schiebend, ging ich an
+ihm vorbei und sprach nur die geflügelten Worte: „Es lernt’s!“
+
+Das war nun leider eine Täuschung meinerseits.
+
+Der alte Herr hatte recht gehabt, wie ich am nächsten Morgen erfahren
+sollte. Ich hätte es gern noch am Abend erprobt, aber meine Frau
+überzeugte mich von der Ruchlosigkeit meines Vorhabens, dem armen Kind
+am späten Abend „noch das Gehirn anzustrengen“. Am nächsten Morgen
+aber, wie gesagt, stand ich nach wenig erquicklicher Nacht früher auf
+und probierte.
+
+Richtig, das Baby sagte zu dem roten Esel „Papa“, sobald es seiner
+ansichtig ward. Mich aber ignorierte es gänzlich, wenn ich allein kam.
+Ja sogar mein goldener Hemdenknopf machte keinen Eindruck mehr.
+
+Tief bekümmert zog ich meine Frau ins Vertrauen.
+
+Ich war sehr niedergeschlagen und kam mir nicht anders vor, als der
+unglückliche König Midas, da ihm die Ohren erstaunlich über den Kopf
+wuchsen.
+
+Meine Frau zweifelte noch. Ein Versuch erwies die unumstößliche,
+traurige Wahrheit.
+
+Wir beratschlagten und sprachen dabei französisch, was zwar die
+Verhandlungen nicht vereinfachte, aber immerhin die Garantie bot, daß
+unser Kindermädchen, das ab- und zuging, nicht hinter das peinliche
+Geheimnis kam.
+
+Zunächst -- darin waren wir einig -- mußte das Baby dieses bedauerliche
+Kunststück wieder verlernen. Dazu war eine sofortige Verbannung des
+roten Esels die erste, die unerläßliche Bedingung. Dann mußten die
+lieben Anverwandten beruhigt werden, die den Repetitionen zweifellos
+häufig beiwohnen wollten. Und endlich mußte meinem Schwiegervater eine
+Erklärung an Eides Statt abgenötigt werden, daß er lieber sich die
+Zunge abbeißen, als die Geschichte von dem roten Esel am Stammtisch zum
+besten geben wollte.
+
+Diese drei Verhaltungsmaßregeln wurden denn auch befolgt.
+
+Zur Verwunderung der lieben Anverwandten hatte Baby plötzlich
+das schwierige Wort wieder vergessen, und der rote Esel war --
+seltsames Zusammentreffen -- zur selbigen Zeit auf rätselhafte Weise
+verschwunden ...
+
+ * * * * *
+
+Wenn ich im verborgenen Schubfach meines Stehpultes zuweilen den
+vergeblichen Versuch mache zu „ordnen“, fällt mir immer der rote Esel
+in die Hände.
+
+Die Gefühle des Ärgers und der Enttäuschung sind im Herzen verflogen,
+und ich versenke mich lächelnd in den Anblick des seltenen Tieres. Ich
+beschaue es mit jener behaglichen Freude, wie sie die Erinnerung an
+überstandene schwere Prüfungen zu schenken liebt.
+
+Wenn dann aber plötzlich nebenan die Stimme meines Babys ertönt,
+dann klappe ich den Pult zu wie ein ertappter Verbrecher, spähe nach
+allen Seiten umher, ob auch niemand meine Gedanken belauscht hat und
+betrete dann mit gut gespielter Ahnungslosigkeit, die Hände in den
+Hosentaschen, einen Walzer pfeifend, das Kinderzimmer.
+
+Baby streckt die lieben, dicken Händchen nach mir aus und ruft: „Papa!“
+
+Ich aber lächele verschmitzt und bin stolz, daß ich doch recht
+hatte, als ich meinen Schiwegervater in den Blumentisch drückte und
+zuversichtlich behauptete:
+
+„Es +lernt’s+!“
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+[Illustration: Des letzten von Birkowitz letztes Fest]
+
+
+„... und schließlich: man bekommt doch nicht Kinder, bloß um ihnen
+Gutes zu tun.“
+
+Damit schloß er immer seine Beweisführung gegen seine eigene
+ungestillte Sehnsucht nach lebendiger Jugend, nach Nachwuchs, nach
+Menschlein mit stahlblauen Augen, wie er, und seinetwegen auch mit der
+klassischen Nase seiner Frau.
+
+„Man hat ja überhaupt gar keine Ahnung, wie sie wachsen und sich
+entwickeln werden. Sind es Jungens -- pfui Deubel, das verdammte Latein
+und später ’nen Ekel von Oberst, saudumme Rekruten und hartmäulige
+Remonten ... Denn Kavalleristen müssen die Kerls werden. Versteht sich!
+Und sind es Mädels, dann diese dämliche Erziehung mit Christkind und
+Klapperstorch und französischer Konversation; und nachher wegen eines
+aufgewirbelten Schnurrbarts und eines kecken Männerlachens hinter
+gesunden Zähnen geht so was -- natürlich nach obligatem Vatersegen,
+Trauung und Hochzeitsschmaus im Kaiserhof zu 25 Mark das trockene
+Kuvert -- auf und davon. Irgendwohin ans andere Ende der Welt. Und
+schließlich ein verzweifelter Brief: Der Kerl trinkt und verjuckert
+die Mitgift; und die ganzen schönen Manieren waren bloß Politur des
+Bräutigams, hinter der ein roher Rüpel steckte ...“
+
+Klaus Joachim von Birkowitz konnte ganz wütend werden, wenn er sich so
+ausmalte, in wie rüde Hände eines seines Töchterlein, die er gar nicht
+hatte, fallen konnte.
+
+Man erspart sich vieles und -- den andern, das war das Ende seiner
+philosophischen Betrachtungen in dieser Richtung. Und der Name? Pah,
+die Mädels hätten ihn doch abgestreift wie ’nen alten Handschuh,
+umgetauscht ohne zu muxen. Oder in einem Damenstift erlöschen lassen.
+Und die Jungens -- weiß der Himmel, ob die verdammten Bengels das
+Wappen noch blank gehalten hätten. Er hatte neulich mal eine Statistik
+gelesen über den Prozentsatz der Adligen in der Sozialdemokratie. Und
+wenn alle die Adligen Kellner und Schuhputzer europäischer Abkunft,
+von denen die demokratischen Zeitungen alle paar Wochen hohnlächelnd
+berichteten, wirklich da drüben auf dem üblen Proleten-Kontinent
+existierten, dann war es schlechterdings unmöglich, sich zwischen
+Neufundland und Kalifornien die Stiefel auch nur ein +einziges+ Mal von
+einem Bürgerlichen wichsen zu lassen.
+
+Das fehlte gerade noch, daß der letzte Enkel jenes Klaus Bitterolf von
+Birkowitz, der bei Malplaquet, durch die rechte Hand geschossen, die
+Zügel mit den Zähnen nahm und am Prinzen Eugen vorbei als erster in die
+Franzosen ritt, irgend so einem dickwanstigen Bierbrauer von St. Louis
+für ein schäbiges Trinkgeld die Unterhosenbändel in die Zugstiefel
+stopfte! ...
+
+Manchmal kam ihm ja auch der schüchterne Gedanke, diese Söhne seines
+Blutes, zu deren Lieferung sich seine Gattin Ethel in langer,
+chancenreicher Ehe nicht entschließen konnte, wären bedeutende Menschen
+geworden, Kriegshelden, wie jener Klaus Bitterolf von dem Malborough
+-- sogar auf englisch! -- nach der Schlacht gesagt haben sollte: „Wie
+geht es Ihnen, mein Braver?“ Oder -- hier war seine Phantasie schon
+unsicherer -- große, verdienstvolle Gelehrte, wie jener allerdings
+einer Nebenlinie entsprossene Hans Christoph von Birkowitz, der
+laut verläßlicher Chronik zu Marburg dabei stand, als Dionys Papin
+den nützlichen Papinschen Topf erfand. Bei welcher Gelegenheit dem
+helfenden Schüler allerdings ein splitternder Teil des den Topfdeckel
+verschließenden Bügels ins Auge gesprungen sein soll, so daß er auf
+dem einzig erhaltenen Kupferstich mit einer unschönen Binde über
+dem rechten Auge dargestellt erscheint. Und wenn Klaus Bitterolf
+von Birkowitz sich des entstellten Gesichtes dieses ruhmreichen
+Ahnherrn entsann, so war er dem Himmel wieder dankbar, der es seinen
+Söhnen verwehrt hatte in die Erscheinung zu treten und aus ererbter
+unstillbarer Wißbegier gefährlichen Experimenten sehr berühmter aber
+auch sehr herzloser Gelehrter persönlich beizuwohnen.
+
+Wenn er jemals Ethel gegenüber etwas merken ließ von jenen so stillen
+wie unerfüllten Wünschen nach Kindern, gleichviel welchen Geschlechts
+und welcher Veranlagung, so pflegte die Gattin an ihrem Halse zu
+fühlen, ob die Brosche noch saß, die Ringe an der sorgfältig gepflegten
+Hand spielen zu lassen und mit schelmischem Lächeln zu trösten:
+
+„Aber geh, schau, du hast doch den Tobby!“
+
+Und das war richtig, er +hatte+ den Tobby.
+
+Und es war auch keinerlei Gefahr, daß er den Tobby eines Tages +nicht+
+mehr haben könnte. Denn Tobby war einfach unsterblich. Unsterblich im
+Sinne der Königin von Frankreich. „~Le roi est mort -- vive le roi!~“
+
+Tobby war ursprünglich ein Wachtelhündchen gewesen, das Klaus Bitterolf
+von Birkowitz seiner Braut Alice Sternheim -- die sich aus nie recht
+aufgeklärten Ursachen vom Tage ihrer Verlobung mit dem hübschen,
+schlanken Kürassierleutnant „Ethel“ nennen ließ -- als Brautgeschenk
+verehrt hatte. Ein mehr gut gemeintes als nützliches Präsent, da
+Tobby, der in minder vornehmer Umgebung, nämlich im Stall eines
+Droschkenkutschers aufgewachsen war, die Perserteppiche der Wohnung
+des Bankiers Sternheim mit Vorliebe zur Erledigung von unerfreulichen
+Geschäften benutzte, deren Besorgung in einem Pferdestall weniger
+peinlich auffällt.
+
+Während Klaus Bitterolf von Birkowitz mit Ethel auf der Hochzeitsreise
+war und ihr mit leise vom Gähnen zitternden Nasenflügeln aus einem
+gewissenhaften Katalog die Schätze der Uffizien vorlesend erläuterte:
+Filippo Lippi, Sandro Boticelli, Fra Angelico, Fra Bartolomeo und
+von einer thronenden Madonna zur anderen ging, wurde Tobby bei
+einem Oberförster a. D. ernsthaft zur Stubenreinheit erzogen.
+Als die Jungvermählten wiederkamen, die Köpfe voller Namen von
+Pallazi, Meisterwerken und Nationalgerichten, und in den Kleidern
+den Weihrauch sämtlicher Kirchen von Florenz, Bologna, Ferrara und
+Venedig, empfing sie Tobby auf den Hinterfüßen zwischen zwei kostbaren
+Blumenarrangements im Salon sitzend, ein Seidenband um den Hals, ein
+vom Schwiegervater selbst -- bezahltes Gedicht im Maul und im einzelnen
+und ganzen das erfreuliche Bild der angenehmsten Wohlanständigkeit.
+
+Tobby blieb Hausgenosse in der jungen Ehe, bis er -- im neunten Jahre
+seiner Zugehörigkeit zum Haushalt -- Spuren lästigen Alters zu zeigen
+begann. Ethel aber hielt das Alter bei Menschen und Tieren für etwas
+unanständiges, dessen Anblick sich das in Jugendfröhlichkeit genießende
+Geschlecht durchaus fernhalten müsse. Und als es selbst Klaus Bitterolf
+von Birkowitz nicht mehr leugnen konnte, daß Tobby, dessen Gesicht
+nachließ, den Besuchern, deren es viele gab, wider die Beine lief
+und zu Zeiten, besonders bei Regenwetter, einen recht üblen Geruch
+verbreitete, willigte er schweren Herzens in seine Entfernung.
+
+Er wurde einem Nähfräulein geschenkt, die selbst über die Blüte der
+Jahre hinaus war, an Tobbys lauten Träumen und starkem Tierparfüm
+keinen Anstoß nahm und sich durch eine rührige in den Gesindestuben
+betriebene Agitation gegen die Vivisektion als zuverlässige Pflegerin
+des Alternden empfahl.
+
+Am selben Tage aber, da Tobby I, ahnungslos und durch ein Schinkenbrod
+listig bestochen, dem alten Fräulein in die Droschke folgte, zog Tobby
+II bei Birkowitzens ein. In Gestalt eines afrikanischen Windhundes,
+der gar keine Haare auf der schwarzen Haut hatte, und immer, selbst im
+Hochsommer, mit eingekniffenem Schwanz, hängenden Ohren und zitternden
+Beinchen den Anschein erweckte, als sei er eben dabei zu erfrieren.
+Tobby II wurde nach sieben Jahren schon -- aus ähnlichen Gründen, wie
+Tobby I -- dem Zoologischen Garten geschenkt, der ihn im geheizten
+Raubtierhaus einer jungen Löwin zum Gespiel gab, die ihn zunächst
+innigst liebte und zwei Monate später das Spiel mißverstand und bloß so
+aus Spaß auffraß.
+
+Tobby III war ein Köter unbestimmbarer Rasse, der angeblich aus Island
+stammte, aber eigentlich nur durch zwei Merkwürdigkeiten auffiel: durch
+seine phänomenale Dummheit und seine Vorliebe für rohes Obst.
+
+Als er am Kern einer gemausten Aprikose erstickt war, wurde er durch
+Tobby IV ersetzt, einen Skye Terrier, der sehr häßlich und sehr teuer
+war, da er angeblich wundervoll für die Otterjagd dressiert war;
+eine Kunstfertigkeit, die er leider in den Birkowitzschen Salons
+nicht verwerten konnte. Ein Lyriker, der zu jener Zeit viel im Hause
+verkehrte und für Ethel geradezu wahnsinnige „Kostümträume“ (wie er das
+nannte) entwarf, verfocht die Ansicht, daß Tobby in einer instinktiven
+Einsicht seinen Beruf verfehlt zu haben Selbstmord beging, als er --
+wie andere behaupten, aus blinder Gefräßigkeit -- unter den schweren
+Wagen einer renommierten Delikateßhandlung kam und vom Hinterrad
+erledigt wurde.
+
+So löste ein Tobby den anderen ab. Immer ein junger Tobby kam für
+den Alternden. Und die Gefahr einer Konkurrenz durch eine plötzliche
+Bevölkerung der Kinderstube schwand immer mehr. Denn, so wenig das
+Ethel für sich und den Gatten zugeben wollte, auch die Birkowitzens
+wurden alt.
+
+Im dritten Jahre ihrer Ehe hatte Klaus Bitterolf beim Begräbnis seines
+Schwiegervaters böses Pech gehabt. Während er als Leidtragender hinter
+dem Sarge in Paradeuniform durch die Gräberreihen schreitend überlegte,
+ob der alte Herr wirklich, wie man sagte, in letzter Zeit eine Million
+an chilenischen Gruben verloren hatte, verwickelte er sich mit einem
+seiner Sporen in die riesige Atlasschleife eines am Boden liegenden
+Kranzes, auf der „Ruhe sanft -- auf Wiedersehen!“ gedruckt stand. Er
+fiel hin und brach sich den rechten Fußknöchel.
+
+Als der Gipsverband acht Wochen später gelöst wurde, erwies es sich,
+daß das rechte Bein ein wenig kürzer und außerdem eine Schwäche
+zurückgeblieben war, die Klaus Bitterolf zwang, sich beim Gehen eines
+derben Stockes zu bedienen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den
+Abschied zu nehmen. Ein paar Monate behielt er noch seine Reitpferde
+und dachte daran, sich sportlich zu betätigen. Als aber Schwäche und
+Schmerz im Knöchel beim Reiten sich mehrten, schrieb er seufzend mit
+seinen geraden, riesigen Buchstaben auf einen wappengeschmückten Bogen
+die Worte: „Drei vortrefflich zugerittene Offizierspferde, arabische
+Stute, Fuchswallach und tadellos schönes Halbblut sofort preiswürdig
+abzugeben ...“ Dann trat er in den Verein für heraldische Forschung,
+den Exlibrisverein und die Gesellschaft für Familiengeschichte ein
+und beschloß, sich ganz den Studien auf diesem Gebiete und der damit
+zusammenhängenden Sammellust zu widmen.
+
+Wenn er an seinem Erkerfenster in der Kaiserallee saß, alte
+Schutzbriefe und Diplome aus dem Familienarchiv behutsam entfaltete und
+unter die Lupe nahm oder in älteren Jahrgängen des Gothaschen Kalenders
+einem verschollenen Vetter nachspürte, so schmerzte ihn der Knöchel
+nicht. Und die Gesellschaft Tobbys, der zu einem warmen, zuckenden
+Klümpchen gerollt auf dem alten Plüschkissen im Lehnstuhl gegenüber
+lag, genügte ihm vollkommen. Ja, sie war ihm, ehrlich gesagt, lieber
+als die Gesellschaft seiner Frau, die ihn mit dem endlosen Programm
+ihrer täglichen Vergnügungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen
+aufregte ...
+
+Als Ethel noch Alice hieß, hatte sie den in der weiblichen Linie des
+mit Glücksgütern reich gesegneten Hauses Sternheim nicht seltenen
+Traum geträumt: ein Leutnant. Sie lernte französisch plappern, las erst
+Racine später Alphonso Daudet und dachte an einen Leutnant.
+
+Sie langweilte sich bei Goethes Tasso und übte Klavier und dachte an
+einen Leutnant.
+
+Er hatte noch kein bekanntes Gesicht und eigentlich auch noch keine
+bestimmte Uniform. Nur Sporen klirrten deutlich durch ihre Träume.
+Infanterie war gewöhnlich. Fast schon Schutzmänner, kam ihr vor.
+Fuchsjagden in roten Röcken, Morgenpromenaden auf dampfenden Schimmeln
+im Park, Besuche im eleganten Coupé, abends Gäste mit wunderschönen
+Namen, aufgeführte Dramatiker, Exzellenzen, verbotene Romanziers,
+preisgekrönte Bildhauer, vergötterte Tenöre, fette Finanzkönige -- und
+zwischen tief, tief ausgeschnittenen Frauen, die sie alle beneideten,
+das silberne Klingeln der Tanzsporen. Der eleganteste -- +er+.
+
+Nicht daß sie sich ihm lieberöchelnd an den hohen gelben oder roten
+oder goldgestickten Kragen werfen wollte! Behüte, sie war kühl und
+anständig. Und bei all ihren Träumen hätte „Mademoiselle“ ganz gut
+dabei sein können und ihren Tauchnitz lesen. „Er“ war nur Mittelpunkt
+der Dekoration für sie, war -- sie wußte das -- der notwendige Faktor
+zu all den anderen. „Er“ hatte die huldvoll erteilte Erlaubnis, sehr
+erfreut zu sein, daß sie so schön war; daß sie solche Zauberfeste
+arrangieren konnte, daß so viele berühmte Männer sich über ihre kleine,
+weiße Hand beugten, um ihre Schnurrbarthaare respektvoll auf die
+rosigen, blühenden Nägel zu drücken. Und zwischen einem feschen Wiener
+Walzer und einer schmelzenden Arie, der unbezahlbaren Soundso oder
+zwischen einem herrlichen Violonsolo des weltberühmten Dingskirch und
+einem ausgelassenen Kontertanz durfte „er“ -- sporenklingelnd -- auf
+sie zukommen, ihr leicht die erhitzte Wange klopfen und fragen: „Bist
+du glücklich, Kind? Amüsierst du dich?“ ...
+
+Denn glücklich sein und sich amüsieren waren für ihr törichtes Herzchen
+Begriffe, die restlos ineinander aufgingen.
+
+Und dann +kam+ „er“.
+
+Natürlich waren vorher schon andere gekommen. Schlaue, Treuherzige,
+Verliebte, die wußten, daß sie des Bankiers Sternheim einzige Tochter
+war, daß sie Walzer tanzen konnte -- auch links herum -- eine
+feine, zierliche Taille und feste, runde, weiße Arme hatte und in
+der Konversation schließlich nicht mehr Dummheiten sagte, als ihre
+magere, sommersprossige Cousine. Und diese, der Stolz und Abgott der
+Sternheimschen Familie, war voriges Jahr Baronin geworden; und ihren
+tadellos gekleideten Gatten traf man bei allen Gesellschaften nach
+zwölf Uhr mit offenem Munde schlafend im Rauchzimmer.
+
+Aber alle die anderen hatte des Bankiers Sternheim einzige Tochter
+dankend abgelehnt. Des einen Katholizismus war ihr zu neu und
+unbegründet. Des anderen weiterer Familienkreis schreckte sie durch
+Zahl und schlechte Manieren. Eines dritten Persönlichkeit konnte sie
+sich absolut nicht auf dem hohen Bock eines Kutschierwagens oder im
+roten Frack auf herbstlichem Felde denken. Endlich kam „er“ mit dem
+hohen Wuchs, den schlanken Händen und der leichten, ungezwungenen
+Galanterie des geborenen Aristokraten. „Meine Tante die Reichsgräfin
+...“ „mein Onkel Exzellenz“. Das kam so natürlich heraus, wie wenn
+andere sagten: „Mein Vetter in der Schillerstraße“, „mein Schwager in
+Ratzeburg“.
+
+Dann hatte er eine nachlässige Art, mit den langen, gesunden Zähnen
+Kakes zu knabbern, und lachte so wunderhübsch ehrlich, wenn von Dingen
+die Rede war, die er nicht verstand. Und das kam oft vor. Und dann
+natürlich das leise, silberne Sporenklingeln ...
+
+Dann war der Tag gekommen, an dem er zuerst mit Papa sprach, später
+mit ihr. Korrekt und mit einem leisen Unterton von Gefühl. Eine Stunde
+später schickte er einen wunderhübschen Strauß Marschalnielrosen.
+Sie ließ die Friseuse kommen, probierte eine neue, etwas würdigere
+Frisur, beschloß sich von heute an „Ethel“ nennen zu lassen und
+entwarf Tischordnungen für das Verlobungsessen. Wobei sie immer wieder
+leise vor sich hin sagte: „Meine Tante, die Reichsgräfin ...“ „mein
+Onkel Exzellenz“. Und sie lächelte dazu das bräutliche Lächeln dieser
+Kreise, denen sie nun angehörte. Dann überlegte sie, an welcher Ecke
+der Tafel man den unbequemen Onkel Oskar verstecken könnte, der so
+unwahrscheinlich große Brillantknöpfe im Vorhemd trug und immer die
+dumme Geschichte erzählte, wie er als jüngster Kommis im Bankhaus
+Seligsohn den alten Fürsten Lichtenstein, der ihn zu duzen wagte,
++wieder+ geduzt hatte.
+
+Klaus Joachim war ein guter anständiger Kerl. Er war froh, als die
+Verlobungszeit, die seiner Familie mancherlei heftige Vertraulichkeiten
+von Seiten der neuen Verwandten eingetragen hatte, vorüber war. Über
+das Glück hatte er niemals intensiv nachgedacht. Einmal, als er sich
+-- es war kurz vor seinem Sturz über die Ruhesanftschleife -- bei
+einem amerikanischen Zahnarzt, der für vieles Geld sehr wenig Deutsch
+sprach, einen Vorderzahn mit Gold plombieren lassen wollte und im
+Wartezimmer mit anhören mußte, wie eine alte Dame im Operationszimmer
+nebenan wehklagend die Stunde ihrer Geburt verfluchte, blätterte er,
+um sich auf angenehmere Gedanken zu bringen, in einem abgegriffenen
+Sentenzenbüchlein. Und er fand darin neben minder verständlichen
+Sprüchen das gute Wort: „Das Glück liegt im Geschmack, nicht in der
+Sache.“
+
+Das ging ihm nicht mehr aus dem Kopf; und sein eigenes Leben an dieser
+Sentenz messend, fand er, daß er im Besitze einer so hübschen und
+lebenslustigen Frau gewiß nicht unglücklich zu nennen sei. Als es dann
++nach+ dem Unfall mit Sport und anstrengenden Festlichkeiten für ihn
+Essig war; als er sich mehr auf eine einsame Pflege seiner künstlich
+gezüchteten Liebhabereien zurückzog und Tobbys nicht aufregende
+Gesellschaft einem Saale, mit Menschen gefüllt, die krampfhaft
+Amüsement heuchelten, vorzuziehen begann, da erschien ihm sein von
+anderen viel und laut beneidetes „Glück“ etwas dünn. Manchmal lästig.
+
+Ethel hatte die Leidenschaft, gestützt auf ihren klingenden Namen,
+ihre hübsche, biegsame Erscheinung und die erfreulichen Zinsen des
+vom Vater für die nie erschienenen Enkel festgelegten Kapitales, ein
+Haus zu machen. „Herr und Frau von Birkowitz geben sich die Ehre ...“
+-- kleine und große gedruckte Karten, die also begannen, steckten an
+unzähligen Spiegeln flotter Kavaliere. Der Träger eines alten Namens
+oder der kecke Eroberer eines neuen Namens konnte solcher Einladung
+auf die Dauer nicht entgehen. Irgendwo traf ihn „die schöne Frau von
+Birkowitz“. Irgendwo machte sie ihm, gütige Blicke unter langen,
+ein wenig getuschten Wimpern sendend, sanfte Vorwürfe, daß er noch
+nicht bei ihr Besuch gemacht. Irgendwie wußte sie eine sinnreiche,
+verpflichtbare Beziehung aufzustöbern zwischen seinem Hause und der
+Familie derer von Birkowitz. Irgendwann erschien der also Eingefangene
+dann, bekam ein Miniaturtäßchen aromatischen Tees, ein köstliches
+Löffelchen russischen Kaviars und hatte die Freude, mindestens einen
+kurzsichtigen Modeprofessor, einen schweigsamen Modemaler, eine sehr
+laute Exzellenz und -- wenn er Glück hatte -- einen urlangweiligen
+Kammerherrn oder gar einen lebendigen Prinzen aus einer um viele Ecken
+gegangenen Nebenlinie zu treffen.
+
+Zwischen allen diesen ausgesucht distinguierten Besuchern schwebte in
+einem zwar erlernten aber kleidsamen Tanzschritt die schlanke Hausfrau
+umher. Der Ausschnitt tiefer vorgerückt, als die Tageszeit. Sie führte
+eine Konversation, die an tausend Dingen nippte, vom Spiritismus bis
+zum neuesten amerikanischen Tanz, von der Säuglingswohlfahrt bis zu
+den dressierten Eisbären, von der letzten kleinen Eheirrung in guten
+Kreisen bis zum Bazar für die Wärmehallen. Sie verstand im Grunde von
+allem dem gleich viel, heißt das gleich wenig, aber sie hatte eine
+wundervolle Spürnase für alles, was Stoff zu flüchtiger Unterhaltung
+oder Vorwand für ein Wohltätigkeitsfest hergab. Und zuweilen traf
+man norddeutsche Pastoren, italienische Monsignori, seltener sogar
+österreichische Rabbiner bei ihr, die alle in gleicher Weise von ihrer
+Nächstenliebe entzückt waren.
+
+An solchen Tagen trug sie ein geschlossenes Kleid, sehr wenig Schmuck
+und einen Zug unendlich schlichter Güte um den hübschen Mund. Es gab
+dann weniger Kaviar und mehr erbauliche Gespräche; und sie hatte eine
+interessierte Art den langweiligsten statistischen Angaben zu lauschen,
+die einen Apostel selber entzückt hätte.
+
+Kurz ehe der Anstand den Gästen gebot, sich zu empfehlen, erschien
+dann der Gatte, Klaus Joachim, auf einen Ebenholzstab mit schlichter
+Silberkrücke gestützt und von dem gerade in Gunst stehenden Tobby
+begleitet.
+
+Ethel stellte ihm, ihren runden Arm mit graziöser Zärtlichkeit in
+den seinen legend, die ihm noch unbekannten Gäste vor, über deren
+Anwesenheit er sich unendlich erfreut zeigte, und deren Namen er sofort
+wieder vergaß.
+
+Sie schmierte ihm selbst ein Brödchen -- halb Kaviar halb Anchovis --
+wie er es angeblich für sein Leben gern aß, obschon er selbst niemals
+eine diesbezügliche Mitteilung gemacht hatte; teilte ihm die nächsten
+Pläne für Feste, lebende Bilder, musikalische Abende oder Bazare mit
+und versicherte den Anwesenden, daß ihr lieber Klaus Joachim, wie
++sie+ ihn kenne, von dieser Stunde an seine ganze freie Zeit der
+Ausgestaltung des wunderherrlichen Programms widmen werde. Sie erzählte
+dabei in charmanter Neckerei allerlei originelle kleine Züge, die des
+Gatten glühendes Interesse an all diesen Dingern hübsch illustrierten.
+Der also Gelobte aber saß mit verlegenem Lächeln dabei, streichelte
+Tobbys Fell und war immer wieder tief erstaunt über die unheimliche
+Leichtigkeit, mit der diese niedliche, lebhafte kleine Frau die
+kecksten und dreistesten Lügen aus der frischen Luft griff.
+
+Dabei war Ethel durchaus anständig. Die erschreckendsten Klatschbasen,
+für die der gute Ruf anderer kaum den bescheidendsten Respecktswert
+hatte, wußten ihr nichts nachzusagen. Sie bevorzugte zuweilen einen
+Kavalier wenn er gut im Frack aussah, neue Kunststücke mit Talern
+und Apfelsinen verrichten konnte, eine fünfzackige oder gar eine
+geschlossene Krone auf der silbernen Zigarettendose trug und von einer
+Reise um die Welt mit so kühler Ruhe sprach, wie andere von einem
+Ausflug nach Helgoland oder Rügen. Auch ein Dichter oder Künstler,
+mit dessen Namen die Zeitungen gerade Fangball spielten, konnte aus
+der Art wie sie ihm Rum in den Tee goß und vom Ruhm als „der Güter
+höchstem“ ein gefühlvolles Wort sprach, vielleicht annehmen, daß er in
+begnadeter Stunde ihrem Herzen näher sein werde als andere. Aber solche
+„begnadeten Stunden“ kamen schließlich für keinen. Es war immer ein
++dritter+ dabei, irgend eine störende Null mit einem klangvollen Titel,
+einer interessanten Vergangenheit oder einer Zukunft; eine Exzellenz,
+ein Sportsmann oder ein Komödiant. Und später kamen Klaus Joachim und
+Tobby.
+
+So gingen die Jahre für Ethel hin als eine Reihe von Festen, nur durch
+einige ärgerliche Kinderkrankheiten unterbrochen, die sie in der Jugend
+durchzumachen verabsäumt hatte, und die ihr nun Gelegenheit gaben
+sehr neckische Negligés zu tragen, dankbar an vielen von Freunden
+gesandten Blumengrüßen zu riechen, und als blasse Rekonvaleszentin mit
+melancholischem Lächeln, das ihr gut stand, von ihren Todesgedanken zu
+plaudern und von verschiedenen sentimentalen Bestimmungen, die sie den
+beiden Schwestern vom roten Kreuz -- sobald sie sich unwohl fühlte,
+ließ sie zwei Schwestern kommen -- in einer entsetzlichen angstvollen
+Nacht diktiert haben wollte.
+
+Aber selbst an ihre zu Festen und Lebensgenuß prädestinierte Natur
+machten die Jahre ihre Rechte geltend. Und je mehr sie fühlte, daß ihr
+die Jugend sacht entglitt, um so krampfhafter klammerte sie sich an
+die äußeren Zeichen und Enbleme der tückisch Fliehenden. Das Rot der
+Wangen war längst nicht mehr ganz echt, die Haare wurden öfters diskret
+gefärbt und die Korsetts hatten mehr Mühe, die vorhandenen Formen auf
+das richtige Maß einzuschnüren und elegant zu verteilen.
+
+Die verspätete Kindlichkeit, die der jungen Frau einen entzückenden
+Schimmer von Naivität gegeben, und die nun noch immer nicht von der
+Zurechtgemachten und Gemalten weichen wollte, mischte in ihr Wesen
+eine reichliche Portion Albernheit. Sie fühlte selbst, daß jetzt
+manchmal ihre Gäste nicht mehr +mit+ ihr sondern +über+ sie lachten.
+In krampfhafter Angst, etwas von dem geräuschvollen Drum und Dran
+ihres ganz auf Äußerlichkeiten gestellten Lebens zu verlieren,
+verstärkte sie jetzt die Genüsse, die der opulente Haushalt zu bieten
+vermochte. In dem Maße, als ihre Jugend sich minderte, ihre Schönheit
+verblich, ihre Anmut kokette Maske wurde, verfeinerten sich jetzt die
+Tafelfreuden, die musikalischen und theatralischen Aufführungen in
+ihrem Hause. Man trank bei den Proben schon französischen Sekt. Man aß
+bei den kleinsten Diners nicht unter fünf Gängen. Man erfreute sich
+der teueren Delikatessen der Saison nirgends früher, als an der Tafel,
+der Klaus Joachim, längst mit einem chronischen Magenübel kämpfend mit
+ledergelbem, wenig vergnügtem Gesicht präsidierte.
+
+Klaus Joachim sah täglich unzählige Leckerbissen vorbeitragen, die ihm
+aufs strengste verboten waren. Er sah junge Leute in schönen Uniformen
+und ältere Herren mit Halsorden an seinem Tische, ohne sich ihre Namen
+merken, für ihre Geschichten interessieren zu können. Er sah lebende
+Bilder gestellt von blühenden Menschen, deren Geburtsanzeige er -- so
+kam’s ihm vor -- doch neulich erst gelesen. Er sah zappelige Virtuosen
+und dicke Sänger an seinem Flügel, die er innigst nach Pernambuco
+wünschte. Und abends spät, wenn er -- den silbernen Leuchter schon in
+der etwas zittrigen Hand -- nach vererbter Familiensitte seiner Frau
+galant die Hand küßte und prüfend in das abgespannte Gesicht mit den
+mühsam weggeschminkten Fältchen um die müden Augen blickte, sah er
+auch, daß die Lebensgefährtin trotz verzweifelter Gegenwehr wurde, was
+kein Tobby in seinem Hause werden durfte: +alt+.
+
+Seine Familie hatte sich längst in das solide Erbbegräbnis und in
+gesunde Metallsärge zurückgezogen. Die Tante Reichsgräfin und der
+Onkel Exzellenz erschienen nur noch als mythische Personen in Ethels
+Erzählungen. Aber der Sagenkranz, der sich langsam um sie bildete,
+(oder eigentlich: den Ethel persönlich um die verklärten Häupter der
+teueren Verstorbenen legte) erhielt mit jedem Jahre neue strahlende
+Blüten. Und wer den leise bebenden Herzenston vernahm, mit dem Ethel
+die Namen dieser Heimgegangenen aussprach, der konnte unmöglich eine
+Ahnung gewinnen von der durch Harthörigkeit bedingten Absonderlichkeit
+der seligen Exzellenz und der Unleidlichkeit der geizigen und boshaften
+Reichsgräfin. Vor dem ebenfalls längst zu seinen Vätern versammelten
+Onkel Oskar freilich, der einst als Kommis des Hauses Seligsohn den
+alten Fürsten Lichtenstein geduzt hatte, machte der Totenkultus Ethels
+Halt. Sein Name wurde seltsamerweise nur von Klaus Joachim, der den
+Lebenden wenig geschätzt hatte, zuweilen erwähnt und -- das muß gesagt
+werden -- eigentlich nur, wenn er, überreizt von den ewigen Festen in
+seinem Hause, einmal das nervöse Bedürfnis hatte, Ethel zu ärgern.
+
+Einige Male hatte er ja versucht, seine Gicht vorzuschützen, um den
+festlichen Veranstaltungen zu entgehen, die sein Haus zum Tummelplatz
+fremder Leute machten, die seinen Sekt tranken, seine Zigarren rauchten
+und von ihm eigentlich nur Notiz nahmen, wenn sie ihn wegen des
+kürzesten und verstecktesten Weges nach einem geheimen Ort um seinen
+Rat fragten. Aber an Schlafen wäre bei dem Lärm auch nicht zu denken
+gewesen, wenn die Lohndiener nicht, lieber Gewohnheit folgend, alle
+fünf Minuten in sein Schlafzimmer gestürzt wären, um die merkwürdigsten
+Dinge hier zu suchen, die sich noch niemals in einem Schlafzimmer
+befunden haben. So erschien er denn resigniert, auf seinen Stock
+gestützt, wieder in den Salons und heuchelte höflich eine freudige
+Anteilnahme an einen neuen amerikanischen Tanz, bei dem der Bauch
+herausgestreckt wurde, an dem Klaviervortrag eines sechsjährigen
+Wunderkindes, das allerdings spielte als ob es vierzehn wäre, oder an
+der Soloszene einer talentvollen Bühnennovizen, die aus unbekannten
+Gründen plötzlich händeringend in gereimten Versen jammerte, daß sie
+ihr Kind erwürgt habe, weil es dem Vater ähnlich sah.
+
+In solchen Lustbarkeiten waren bald fünf Jahrzehnte hingegangen.
+
+Man hatte vorübergehend mal für irgend einen Kriegsschauplatz heftig
+Charpie gezupft und um irgend einen Fürsten in der Weise getrauert,
+daß man -- die Damen in geschlossenen Kleidern -- bei Birkowitzens
+sechs Wochen lang nur Kammermusik, Harmoniumstücke und ernste
+Balladenvorträge anhörte.
+
+In sonsten hatte sich nicht viel verändert.
+
+Tobby XIII ein knochiger Rattler von großer Munterkeit belebte Klaus
+Joachims einsame Morgenstunden, wenn er seine Exlibris ordnend und
+klebend am Erkerfenster saß und den stillen Wunsch nährte, Ethel, die
+im Coupé Besuche machte, möge +alle+ zu Hause treffen, denen sie die
+Freude ihres Gespräches zugedacht. Tobby XIII litt nur, als echter Sohn
+seiner Rasse, unter dem durch nichts bestätigten Vorurteil, daß Mäuse
+in der Wohnung sein müßten. Er erschreckte wohl ein Dutzend mal im
+Vormittag seinen Herrn aufs heftigste dadurch, daß er plötzlich einen
+ganz unmotivierten Luftsprung machte, mit beiden Vorderpfoten schwer
+auf irgendeine Stelle des Teppichs schlug und emsig zu scharren begann;
+als müsse er unter der dunkelroten Blume des Persers unbedingt ein
+Mauseloch finden.
+
+Da Klaus Joachim seit einiger Zeit Anzeichen eines Herzleidens spürte
+-- Sie haben zuviel „gefeiert“, hatte der Hausarzt gesagt und Klaus
+Joachim hatte nicht ohne Bitterkeit gelächelt -- so war die fixe Idee
+Tobbys XIII für seinen Herrn doppelt störend. Aber da dieser den
+amüsanten und liebenswürdigen Hund sonst lieb hatte, so schickte er
+sich seufzend in seine aufregende Eigentümlichkeit; ja er hielt sie vor
+seiner Frau geheim, die sonst vermutlich auf schleunigen Ersatz Tobbys
+XIII durch Tobby XIV gedrungen hätte, da die Zahl Dreizehn ihr sowieso
+unbehaglich war.
+
+Und gerade jetzt war sie bemüht, alles Unbehagliche von sich und Klaus
+Joachim fernzuhalten, denn die Vorbereitungen zu dem größten Fest ihres
+Lebens, zu dem Fest, in dessen Mittelpunkt nur +sie+ -- natürlich
++mit+ Klaus Joachim -- verständigerweise stehen konnte, nahmen sie
+völlig in Anspruch. Ihre goldene Hochzeit nahte. Und mit dem Näher- und
+Näherkommen dieses weihevollen Tages nahm dieser fast siebzigjährigen
+Frau wunderbare Elastizität, die in den letzten Jahren ein ganz, ganz
+klein wenig nachgelassen hatte, von Tag zu Tag wieder zu.
+
+Sie fühlte, daß das der Glanzpunkt ihres Lebens werden mußte.
+
+Man würde Szenen aufführen, Reden halten, Trinksprüche ausbringen,
+alles ihr zu Ehren. Berühmte Dichter, die oft bei ihr gegessen
+hatten, würden eigens für diesen Tag wundervolle Lieder schreiben,
+in denen ihr Name von einem Blütenkranz unsterblicher Gedanken
+umrahmt erschien. Zukunftsreiche Maler, die +ebenfalls+ oft bei ihr
+gegessen hatten, würden lebende Bilder stellen aus ihrer Jugendzeit.
+Bedeutende Komponisten, die +ebenfalls+ oft bei ihr gegessen, würden
+sich ans Klavier setzen. Und +sie+ würde, in ihre schneeweißen Haare
+(ein bischen half ja der Puder nach) die goldene Myrthe gesteckt,
+neben Klaus Joachim sitzen -- wenn er nur nicht einschlief! -- und
+die feierlichen Deputationen empfangen von all den Vereinen, für die
+bei ihr gegessen, getrunken, geredet, musiziert, Charpie gezupft
+und getanzt worden war in einem langen, halben Jahrhundert. Und die
+Zeitungen würden -- Gott, Herren von der Presse hatten ja auch bei ihr
+gegessen -- sympathische Artikel bringen, im „Vermischten“ oder an der
+Spitze des Lokalen; würden sie mit der Madame de Rotschild vergleichen,
+am Ende gar mit der Fürstin Metternich und würden das Bild „der noch
+immer schönen Frau von Birkowitz“ in einer sinnigen Phantasieumrahmung
+von Lorbeer und Myrthen bringen. Natürlich Klaus Joachim daneben. Und
+Bilder ihres „Heims“ werden in den Wochenschriften gezeigt. Die Ecke
+im blauen Salon mit den Vasen, die ihr der Vizekönig Ching-Chung-Gho,
+der die Fischgräten unter den Tisch spuckte, geschenkt. Die Wand
+im Speisezimmer mit den ehrwürdigen Ahnenbildern der Reichsgräfin
+und des Onkels Exzellenz. Der Kamin im Gobelinzimmer mit dem
+laubfroschgrünen seidenen Wandschirm, auf dem die steinalte Prinzeß
+Binzheim-Sprendlingen die gräßlichen, roten Levkoyen eigenhändig
+gemalt. Und das mußte alles in Fußnoten gesagt werden ...
+
+Ethel von Birkowitz war wieder ganz jung, wenn sie an diverse Fußnoten
+dachte.
+
++Und+ an die Geschenke! Denn darin war sie ein Kind geblieben. Sie
+liebte es sich beschenken zu lassen. Weniger der Gabe wegen, als
+wegen des Namens des Spendenden. Und wenn nur der kleinste Teil
+der Zelebritäten, die gut und viel bei ihr gegessen, sich an ihrem
+Ehrentage mit einem sinnigen Präsentchen einstellte, so hatte sie aus
+dem Gothaschen Kalender, aus dem Kürschner, aus dem Bühnenalmanach
+und aus dem städtischen Adreßbuch -- kurz aus jedem Namensammelbuch
+von einigem Kulturwert mit Ausnahme des Verbrecheralbums -- die
+herrlichsten Stichproben. Ethel von Birkowitz schwamm im Glück der
+Hoffnung.
+
+Klaus Joachim sah dem festlichen Tage mit geringerer Lust entgegen.
+Ganz davon abgesehen, daß sein neues Gebiß ihm den Unterkiefer wund
+rieb, wenn er es während eines langen Diners im Munde behalten
+mußte, hatten sich letzter Zeit, nicht unbeeinflußt von Tobby XIII
+phantastischen Jagdvergnügungen heftige Herzaffektionen bei ihm
+gezeigt. Schwächeanwandlungen waren häufig; und mehrfach war er mitten
+in Ethels interessanten Mitteilungen über das Programm des Festes und
+über die Plätze für den Bürgermeister und den Polizeipräsidenten und
+den berühmten X. und die noch berühmtere Y. eingeschlafen. Und beim
+Erwachen hatte er minutenlang geglaubt, er sitze an der Saline in
+Nauheim. Oder hatte mit schwacher Stimme Weisung gegeben, man solle das
+Halbblut nicht verkaufen. Sein Lieblingspferd aus der Leutnantszeit,
+das seit vier Jahrzehnten gewiß in dem Pferdehimmel war, an den die
+Araber glauben.
+
+Zwei Tage vor der goldenen Hochzeit besserte sich Klaus Joachims
+Zustand.
+
+Er konnte den neuen Frack probieren und der Ansprache Ethels an die
+fünf Lohndiener beiwohnen.
+
+Als er aber an dem Morgen seines Ehrentages in denselben Frack
+geschlüpft war, um ans Fenster zu treten und dem Choral der
+Regimentsmusik zu lauschen, die der Oberst, der lieber gut aß als
+Felddienstübungen leitete, in Dankbarkeit zur Überraschung gesandt
+hatte, befiel ihm eine kleine Schwäche. Und gerade als er sich, von
+Ethel gestützt, die schon in großer Toilette war, auf das Sopha
+niedergelassen, unternahm Tobby XIII mit plötzlichem Siegesgeheul einen
+plötzlichen Jagdausflug unter einen ehrwürdigen friesischen Schrank,
+der sich zu knacken erlaubt hatte.
+
+Klaus Joachim erschrak heftig, griff mit den langen, immer noch
+aristokratischen Fingern der linken Hand nach der Herzgegend,
+verdrehte die Augen, fragte, ob er in der Neujahrsnacht zum Bleigießen
+aufbleiben müsse, erkundigte sich dann mit leiser werdender Stimme
+ob die Seitenlinie derer von Rorschach-Kitzingen berechtigt sei
+die Freiherrnkrone zu führen, gab, als die erschreckte Ethel ihre
+Unwissenheit gestand, stockend die Anweisung, darüber sogleich
+telegraphisch das Heroldsamt in Berlin zu befragen, lächelte sonderbar,
+bekam eine ganz spitze weiße Nase und -- war tot.
+
+Unten spielte die Regimentskapelle den Pilgerchor aus dem Tannhäuser.
+
+Ein Lohndiener steckte den glattrasierten Kopf herein und meldete: der
+Koch lasse fragen, ob der Fasan +nach+ dem Wildschwein serviert werden
+solle oder +vor+ dem Wildschwein.
+
+Ethel zuckte zusammen, warf einen Blick auf die seltsam gespitzten
+Lippen Klaus Joachims, von denen kein Atem mehr kam und die pfeifen zu
+wollen schienen, und entschied:
+
+„+Nach+ dem Wildschwein.“
+
+Es war ein außergewöhnliches Fest. In jeder Beziehung.
+
+Die Gratulanten kamen in dichten Scharen.
+
+Honoratioren in vortrefflich sitzenden Fräcken, Deputationen in minder
+sehenswürdigen Gehröcken, Künstler in fliegenden Kravatten, Damen
+der Aristokratie in kostbaren Pariser Roben, Konservatoristinnen in
+phantastischen Fähnchen. Die Diener in Eskarpins mit silbernen Ketten
+und dem Gönnerlächeln ihres wichtigen Standes.
+
+Im Blauen Salon zwischen den beiden Vasen des Vizekönigs
+Ching-Chung-Gho stand Ethel, im weißgepuderten Haar die goldene
+Myrthe, den Smaragdschmuck derer von Birkowitz am immer noch
+präsentablen Hals, die wundervollen Rosen des Prinzen Kux-Beckenried in
+der Hand, der mit seinem Freund, dem ~Dr.~ v. Heiduck -- in Wahrheit
+war es sein Arzt, der Prinz war seit Jahren entmündigt -- als Erster
+gekommen war.
+
+Jetzt hielt er sich, töricht vor sich hinlächelnd, im Gobelinzimmer
+unter dem Bild von Onkel Exzellenz auf und konsumierte das vierzehnte
+Kaviarbrödchen; wozu ~Dr.~ Heiduck nachdenklich den dem Prinzen
+verbotenen Sherry trank.
+
+Im kleinen gelben Salon aber stand die Türe auf, die nach dem
+Ankleideraum neben dem Schlafzimmer Klaus Joachims führte.
+
+Eine rotseidene Schnur war, den Eintritt wehrend, in Kniehöhe im
+offenen Türrahmen gespannt. Durch das halbdunkle Ankleidezimmer
+hindurch sah man in das noch um eine Nuance dunklere Schlafzimmer.
+Von dessen Tür nicht weit saß Klaus Joachim von Birkowitz in einem
+dunkelgrünen Sessel aus der Biedermeierzeit, den Kopf leicht an die
+linke Seitenklappe der hohen Rücklehne gelehnt.
+
+Er saß aufrecht im Frack und hatte, das konnte man gut erkennen, ein
+blühendes Sträußchen in der blassen rechten Hand, die unbeweglich auf
+der leichten bunten italienischen Decke lag, die seine Beine verhüllte.
+Im Knopfloch trug er einen Myrthenbüschel ...
+
+Alle Kommenden mußten durch diesen gelben Salon. Allen Kommenden
+wiederholte der Diener an der Türe mit diskreter Stimme:
+
+„Herr von Birkowitz befindet sich nicht ganz wohl. Er hat sich bei den
+ersten Gratulationen in der Frühe überanstrengt. Der Herr Baron ist
+deshalb in seinem Zimmer geblieben. Die Frau Baronin empfängt im Blauen
+Salon. Wenn die Herrschaften vielleicht dem Herrn Baron einen Gruß
+zunicken wollen ...“
+
+Und die Herrschaften wollten das. Und sie nickten durch das halbdunkle
+Zimmer dem befrackten Manne zu, der dort im Sessel saß.
+
+Einige wollten beobachtet haben, daß er freundlich wieder genickt habe.
+Andere hatten nichts dergleichen wahrgenommen.
+
+Alle waren einig darin, daß es nicht gut um den alten Herrn stehe, und
+daß er vielleicht doch schlauer zu Bett gegangen sei.
+
+Aber Ethel von Birkowitz im blauen Salon zwischen den beiden Vasen des
+Vizekönigs Ching-Chung-Gho versicherte:
+
+„Er hat’s nicht anders haben wollen. Wenigstens aus der Entfernung
+wollte er sich mit uns freuen.“
+
+Und der Polizeipräsident, der besonders scharfe Augen hatte bemerkte
+dazu:
+
+„Und, meine Gnädige -- er +freut+ sich. Als ich ihm zunickte, spitzte
+er die Lippen -- ich sah es deutlich -- als ob er +pfeifen+ wollte.
+Vermutlich: ‚Freut Euch des Lebens‘ -- -- oder so was.“
+
+„So tut er immer, wenn er vergnügt ist“ lächelte Ethel.
+
+Einer aber war nicht vergnügt. Tobby XIII.
+
+In die Schuhkammer neben der Küche eingesperrt heulte er. Heulte
+unaufhörlich, obschon ihn die dürre Kochmamsell, die sehr nervös war,
+unter Zuhilfenahme eines Birkenholzkochlöffels eindringlich vermahnt
+hatte. Heulte laut und kläglich.
+
+Und das Spülmädchen, das vom Lande und sehr blond und sehr dumm war,
+sagte zu dem Konditor, der das Pastetenhaus brachte:
+
+„Bei uns zu Haus heulen die Hunde so, wann mer e Leich’n hab’n.“
+
+An dem Diner nahm Klaus Joachim +nicht+ teil.
+
+Sein mit Myrthen bekränzter Platz wurde nach dem Fisch von einem
+aufgeräumten Konsistorialrat eingenommen, der viel Rauentaler trank
+und drei verschiedene Reden hielt, von denen die erste keine rechte
+Veranlassung, die zweite keine Pointe und die dritte überhaupt keinen
+Sinn hatte.
+
+Zwischen dem Wildschwein und dem Fasan ging Ethel hinaus, um nach
+Klaus Joachim zu sehen, der sich nur von ihr betreuen ließ und keine
+Bedienung sehen wollte.
+
+„Welch eine Ehe,“ rühmte der Konsistorialrat als sie ging.
+
+Und „pfeift er noch?“ fragte der gutgelaunte Polizeipräsident, als sie
+wiederkam.
+
+Ethel war etwas blaß.
+
+Der Besuch bei dem Gatten schien sie angestrengt zu haben. Aber sie
+erinnerte sich sofort wieder ihrer Pflichten als Mittelpunkt und
+Hausfrau und dem Polizeipräsidenten über die volle Obstschale zunickend
+lächelte sie:
+
+„Ja, er pfeift noch ...“
+
+Am Abend des nächsten Tages erschien in allen Blättern eine breit
+schwarzumränderte Anzeige, daß es in der Nacht nach seinem schönen Fest
+dem Allmächtigen gefallen habe, den vielgeliebten Herrn Klaus Joachim
+von Birkowitz und so weiter ... Tiefe Ergriffenheit sprach schon aus
+dem Konstruktionsfehler dieser Annonce. Denn nach +ihr+ war es der
+liebe Gott, der das schöne Fest gefeiert hatte.
+
+Der Konsistorialrat aber, der an diesem Tag heftigen Kopfschmerz
+hatte, äußerte, daran erkenne er wieder die große Gnade des Himmels,
+daß dieser wahrhaft christliche Mann noch habe das herrliche Fest
+mitansehen dürfen, ehe er von hinnen ging.
+
+Nur Tobby XIII wußte Bescheid.
+
+Er hatte die ganze Nacht geheult. Selbst als ihn das sehr blonde und
+sehr dumme Spülmädchen gegen Morgen mitleidig in sein Bett nahm, hatte
+er immerzu leise weiter gewinselt.
+
+Tobby wurde deshalb auch dem Milchmann geschenkt.
+
+Gerade als dieser brave Mann den heftig Widerstrebenden an einer
+Zuckerschnur die Hintertreppe hinunterzerrte, wurden die sechs riesigen
+silbernen Leuchter gebracht, die den Katafalk flankieren sollten.
+
+Sie waren umflort und mit armdicken Kerzen besteckt und sahen wirklich
+festlich aus.
+
+Das Beerdigungsinstitut „Pietät“ hatte sie geliehen.
+
+Sie brannten am anderen Morgen bei einer kleinen Hausandacht, die der
+Konsistorialrat abhielt, zwischen den ebenfalls umflorten Vasen des
+Vizekönigs Ching-Chung-Gho.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+[Illustration: Der Mann mit dem persönlichen Einfluß]
+
+
+Es ist meine heilige Überzeugung, daß es sonst sehr achtbare, ja
+vortreffliche Menschen gibt, in deren Gebaren und Gesichtszügen
+eine ununterbrochene heimliche Aufforderung für alle großen und
+kleinen Gauner liegt, sie als geschätzte „Versuchsobjekte“ ihrer
+unsympathischen Kunst zu behandeln; schlicht gesagt: sie zu betrügen.
+
+Ohne die flehendste Bitte des schönsten Gebets: „Führe uns nicht in
+Versuchung ...“ erfüllen zu wollen, scheint der liebe Gott solche
+merkwürdigen Leute hilflos in seine sonst so hübsch ausgedachte
+Schöpfung gestellt zu haben. Sie wandeln umher, freundlich und
+zutraulich, aber als fleischgewordener Fallstrick des Bösen. Und am
+Ende sind diese Guten von allem, was sie unternehmen, enttäuscht;
+denn sie haben bei jeder ihrer von besten Absichten geleiteten
+Unternehmungen mehr Lehrgeld bezahlt, als jeder andere; haben bei
+jedem Mißgeschick einen größeren Schaden besehen, als irgendwo sonst
+und finden -- und das ist vielleicht das Betrübendste -- mit den
+Erzählungen ihres Mißgeschicks statt inniger Teilnahme oft nur jenes
+durchaus pietätlose Gelächter, wie es böse Menschen, die keine Lieder
+haben, im Anblick fremder Ungelegenheiten anzustimmen lieben ...
+
+Ein Musterbeispiel für diese meine aus sorgfältiger und liebevoller
+Betrachtung der Zeitgenossen gewonnene Lehre scheint mir noch heute der
+ehemalige Filzhutfabrikant Michael Monkebach zu sein, den ich vor einer
+Reihe von Jahren in einem süddeutschen Bade kennen lernte.
+
+Schon die Art der Bekanntschaft war seltsam.
+
+An der Mittagstafel in der „Quisisana“ saß ein Herr in mittleren Jahren
+neben mir, dem sein in Stoff und Schnitt sonst die Herkunft aus einer
+nicht billigen Schneiderwerkstatt verratender Anzug durchaus nicht zu
+passen schien. Das Tuch schlotterte an ihm herum, als habe er Rock und
+Weste von einem vermögenden Verwandten geerbt, der ihn an Leibesfülle
+ums Doppelte übertraf. Ein gewisser vergrämter Zug um die nicht
+unbedeutende Nase sowie ein traurig verschleierter Blick ließen mich
+erraten, daß es sich um einen der Schwerkranken, die sonst in diesem
+ziemlich harmlosen Bade selten waren, handeln müsse.
+
+Ich reichte ihm deshalb bei den Mahlzeiten die Schüsseln mit besonderer
+Freundlichkeit; ja, ich ertappte mich auf der edlen Anwandlung, ihm,
+wenn der Braten mir zuerst angeboten wurde, die weniger knorpligen
+Stücke des Hammels zu lassen, der hier einen unerläßlichen Bestandteil
+des mehr zeitraubenden als sättigenden Diners bildete.
+
+Einem Gespräch schien mein scheuer Nachbar auszuweichen. Einige
+-- wie ich zugebe -- nicht allzu geistreiche Bemerkungen über die
+fluchwürdige Unbeständigkeit des Wetters, mit denen sich eine
+elegantere Konversation einzuleiten dachte, beantwortete er nur mit
+dem Hinweis darauf, daß er im Besitz von Gummischuhen sei und von mir
+das gleiche hoffe. Auf eine bescheidene Anfrage, ob er das Kurtheater
+häufig besuche, und wie er es finde, entgegnete er ausweichend, er
+habe jüngst einer Vorstellung des „Tropfens Gift“ beigewohnt, aber
+schon nach dem zweiten Akt den Saal verlassen, da er seinen Platz
+unmittelbar neben dem Eingang zu den Toiletten erhalten habe und durch
+eine fehlerhafte Konstruktion des Türschlosses die Verbindungstür nach
+diesen minderwertigen Räumen sich fortwährend von selbst geöffnet habe.
+
+Eine alte Kanzleirätin aus Bückeburg gab mir nähere Aufschlüsse über
+den betrübten Tischnachbar.
+
+Ich war mit der körperlich gebrechlichen Dame, die ein großes
+Mitteilungsbedürfnis besaß, dadurch bekannt geworden, daß sie meine
+Zimmernachbarin war und unter der fixen Idee litt, Mäuse in ihrem
+Zimmer zu haben. Die Klingel, die angeblich dazu bestimmt war, bei
+einmaligem Läuten den Zimmerkellner, bei zweimaligem Läuten das
+Mädchen, bei dreimaligem Läuten aber den Hausknecht zu zitieren,
+funktionierte leider so mangelhaft, daß weder der Kellner, noch das
+Mädchen, +noch+ der Hausknecht kam; und so war die alte Dame darauf
+verfallen, sich vertrauensvoll an +mich+ zu wenden, wenn sie wieder
+den bestimmten Eindruck gewonnen hätte, daß Mäuse unter ihrem Bett oder
+hinter ihrem Schrank ihr neckisches Spiel trieben.
+
+Da ihr selbst das Bücken vom Arzt verboten war -- eine Vorschrift, an
+die sie sich, immer von der Furcht vor einem Schlaganfall gewarnt,
+aufs strengste hielt --, so durfte +ich+ mir durch Herumkriechen unter
+ihrem Bett, Abrücken der Schränke usw. Bewegung machen und wurde von
+der Kanzleirätin „dirigiert“. Der Erfolg war immer negativ. Wenigstens
+was die Mäuse anbetraf. Dafür labte mich die alte Dame mit einem von
+ihr sehr geschätzten, selbstgebrauten Nußlikör, den sie in vielen
+Flaschen mitgebracht haben mußte, und der mit anderen mir bekannten
+Spirituosen nicht die geringste Geschmacksverwandtschaft zeigte und mir
+im wesentlichen aus Kandiszucker, Wasser, Lakritz und altem Leim zu
+bestehen schien.
+
+Nach jeder vergeblichen Mäusejagd unterhielt mich die vortreffliche
+Dame von den Gästen des Hotels aufs anregendste.
+
+Sie wußte, daß die Baronin über mir gar keine Baronin war, sondern
+eine gewöhnliche Adlige mit einer ziemlich neuen Fünfzackigen. Sie
+sei in einen jungen Badearzt verliebt und lasse sich deshalb auf
+Ischias behandeln. Die Kanzleirätin war ferner darüber orientiert,
+daß die Ehe des Rechtsanwalts auf Nr. 17 sehr unglücklich sei, weil
+der Schwiegervater heute, zehn Jahre nach der Hochzeit, noch immer
+nicht mit der Mitgift herausgerückt sei und die junge Frau eine
+verhängnisvolle Neigung habe, jede versöhnliche Annäherung ihres
+Gatten mit der Geburt von Zwillingen zu beantworten. Sie hatte auch
+in Erfahrung gebracht, daß der Tenor auf Nr. 39, der angeblich der
+Liebling des kunstverständigen Publikums von Pernambuco war, Amerika
+niemals gesehen habe, auch nicht demnächst an der Wiener Hofoper
+Probe singe, sondern nächsten Winter vermutlich, wie schon die beiden
+vorhergehenden, in Berlin in obskuren, rauchigen Kabarets das Lied
+von der Leiche im Landwehrkanal zur Negergitarre vortragen werde.
+Es sei denn, daß die dicke Witwe aus Smyrna, die im Vorjahre ihren
+mit kandierten Datteln reich gewordenen Gemahl an einem Leberleiden
+verloren habe, doch noch auf diesen Tenor hereinfalle, der übrigens
+nicht verhungern könne, da er immer einen Knödel im Hals habe ...
+
+Dies alles, wie gesagt, wußte die beredte Kanzleirätin aus Bückeburg
+in ihrer charmanten, nur etwas weitläufigen Art zu berichten. Jedes
+Mißverstehen meinerseits war übrigens ausgeschlossen, da die alte
+Dame viele Jahre -- bis zu seinem Ende -- ihren schwerhörigen Gatten
+gepflegt hatte und aus alter Gewohnheit auch die +nicht+ mit dem Leiden
+ihres Seligen Behafteten mit ihrer hellen Stimme anschrie, daß es
+zunächst schier zum Entsetzen war.
+
+Auch über Michael Monkebach wußte sie das Nötige.
+
+Er hatte vom Vater eine Filzhutfabrik geerbt. Die erste selbständige
+Handlung Michael Monkebachs bestand darin, daß er ein neues
+patentiertes Verfahren ankaufte, den gewalkten, geformten und
+gesteiften Hut anstatt mit Schellack oder Leim mit einer wunderbaren
+Flüssigkeit zu „glänzen“, deren Zusammensetzung ein streng bewahrtes
+Geheimnis des Erfinders, eines angeblichen Chemikers aus der Bukowina,
+war. Als ungefähr 50000 Filzhüte in diesem Verfahren „geglänzt“
+waren, erwies es sich, daß die Fabrikate allerdings einen recht
+hübschen, spiegelnden Glanz hatten, aber schon nach einigen Wochen
+einen unleidlichen und unbekämpfbaren Geruch nach verdorbenem Fett
+ausströmten, der sie unverkäuflich machte. So war Michael Monkebach im
+Besitz eines wertlosen Patents und 50000 übelriechender Hüte, die er
+nicht loswerden konnte, und hatte einen hübschen Batzen Geld verloren.
+Der angebliche Chemiker aus der Bukowina war längere Zeit unauffindbar,
+bis ihn Monkebachs tüchtiger, aber nicht billiger Anwalt in einem
+Zuchthaus der Rheinprovinz auftrieb, wo er sich gerade aufhalten mußte,
+weil er einen Geldbriefträger meuchlings in eine Senkgrube geworfen
+hatte.
+
+Das zweite üble Geschäft, das Michael Monkebach leider machte, bestand
+im Ankauf des Patents einer neuen Haarblase- und Mischmaschine, die
+zwar außerordentlich schlecht funktionierte, aber den zwei daran
+beschäftigten Arbeiterinnen gleichzeitig die kleinen Finger der rechten
+Hände verstümmelte. Michael Monkebach wurde in beiden Fällen zur
+Zahlung einer lebenslänglichen Rente verurteilt und hatte außerdem noch
+unter unausgesetzten Angriffen verschiedener Blätter zu leiden, die das
+geschehene Unglück als Folge einer verwerflichen Knauserei und reine
+niedrigen Profitwut darstellten.
+
+Der Organismus Michael Monkebachs quittierte über all diese
+Anfeindungen mit einem chronischen Magenleiden. Er beschloß, das
+Geschäft zu verkaufen, und war glücklich, als er einen Reflektanten
+fand, der ihm für die Hälfte des vollen Wertes die Fabrik mitsamt
+den zwei verderblichen Patenten und den 50000 nach verdorbenem Fett
+riechenden Filzhüten abnahm. Leider zahlte der Käufer die bedungene
+Summe zur Hälfte in Bergwerksaktien, die eigentlich nur noch für den
+Sammler kolorierter Drucke einen Wert hatten. Ein entrüsteter Protest
+hatte die Folge, daß dem Geschädigten als Ausgleich die 50000 Filzhüte
+angeboten wurden, die Michael Monkebach, dem beim bloßen Gedanken an
+ihren Geruch schon übel wurde, schaudernd zurückwies. Was ihm blieb,
+war ein Kapital, groß genug, daß er als Junggeselle sehr behaglich
+davon leben und sich im Sommer eine lange und durch unzählige ärztliche
+Vorschriften komplizierte Kur für sein chronisches Magenleiden gönnen
+konnte.
+
+Als er hier angekommen war -- die Kanzleirätin, die das erzählte,
+war damals seine Zimmernachbarin, später zog sie wegen der Mäuse um
+-- sah er verhältnismäßig besser aus. Der Anzug, der jetzt seine
+Glieder umschlotterte, paßte ihm damals ganz gut. Aber, um diesmal
+den teuren Badearzt zu sparen, der für jede mit einer Frage nach
+dem werten Befinden verbundene Unterhaltung über diesen Sommer und
+über die Reize des Badeortes zehn Mark nahm, hatte er seine Kur nur
+nach den Anweisungen seines Hausarztes eingerichtet. Dabei hatte er
+unseligerweise die Viktoria-Quelle mit der Augusta-Quelle verwechselt
+und sieben Wochen lang, anstatt das für den Magen zuträgliche Wasser zu
+trinken, täglich sechs Becher jener berüchtigten Quelle eingeschlürft,
+deren Gebrauch als die radikalste Entfettungskur galt und mit vielen
+Unbequemlichkeiten und beschleunigten Spaziergängen, besonders nachts,
+verbunden war.
+
+Schließlich -- vor einigen Tagen -- war er in seiner Herzensangst,
+von dem Gespenst der Cholera gefoltert, +doch+ noch zu einem Badearzt
+gegangen und hatte ein Goldstück bezahlt für den guten Rat, allen
+Quellen weit aus dem Wege zu gehen, tüchtig Haferschleim zu essen und
+alle drei Stunden fünfzehn Opiumtropfen auf Zucker zu nehmen; ein
+Mittel, das ihm aus seligen Jugendtagen nach dem Genuß von unreifem
+Obst wohlbekannt war, und für dessen nicht seltene Verordnung seine
+gute Mutter niemals ein Goldstück genommen hatte.
+
+Durch diese Erzählung der Kanzleirätin gewann ich Interesse für den
+vom Pech und den Menschen verfolgten Filzhutfabrikanten a. D. Und mit
+der langsamen Besserung seines Leidens wurde er auch gesprächiger. Wir
+kamen uns menschlich näher.
+
+Ein harmloser, liebenswürdiger Mensch, von fast mädchenhafter
+Schüchternheit, die sich auch in den stets erstaunt blickenden Augen
+und den verlegenen Handbewegungen ausdrückte, ging er umher als der
+Typus jener menschgewordenen Versuchung für alle pfiffigen Profitmacher
+und skrupellosen Gauner. Wenn er mit einem Fünfmarkstück zahlte, bekam
+er stets nur auf einen Taler heraus. Wenn er eine Droschke mittags um
+zwölf Uhr benutzte, hatte er stets die +Nacht+taxe zu bezahlen. Wenn er
+ein Scheibchen Schweizerkäse zu sich genommen, fand er bestimmt einen
+halben Camembert auf der Rechnung. Wenn er sich ein Berliner Abendblatt
+am Bahnhof kaufen wollte, war es sicherlich die Mittagsnummer der
+Magdeburger Zeitung vom Tage zuvor. Und wenn er seinen Hut vertauschte
+-- ja, da ist’s ihm doch passiert, daß er in einem Restaurant
+des Badeortes, hundert Kilometer entfernt von seiner ehemaligen
+Fabrik, seinen schönen, neuen, silbergrauen Wiener Filzhut an den
+Garderobenhalter hängte und beim Weggehen einen der gräßlichen, nach
+ranzigem Fett riechenden Hüte eigener Fabrikation vorfand. Einen der
++ganz+ wenigen, die damals durch ein Versehen in den Handel gekommen
+waren.
+
+Durch peinliche Häufung solcher Erlebnisse war Michael Monkebach auf
+melancholische Gedanken gekommen, die sich vom Haferschleim nicht
+verscheuchen ließen. Er fühlte, daß da mit tröstlichen Redereien von
+Pech und Zufall nichts zu machen sei; daß es ihm vielmehr an Qualitäten
+des +Charakters+ fehlen müsse, die ihren Besitzer ein für allemal vor
+solchen an Verhöhnung grenzenden Angriffen schützen mußten.
+
+Da hatte er eines Tages, als es in Strömen regnete und ihm gerade sein
+neuer Regenschirm gestohlen worden war, beim Auf- und Abwandeln in den
+gedeckten Kolonnaden beim Buchhändler zwei Bücher entdeckt, die ihn
+durch ihre Titel lockten. „Wie wird der Mensch energisch“ hieß das
+eine, und „Wie erlange ich die Macht des persönlichen Einflusses“ das
+andere.
+
+Mittags im Lesezimmer -- er hatte natürlich den einzigen
++un+gepolsterten Stuhl erwischt -- sah ich ihn eifrig bald in dem
+einen, bald in dem andern Buch lesen. Und als sich gegen Abend das
+Wetter aufhellte und er in fremden Gummischuhen -- die seinen waren
+ihm gegen zwei, merkwürdigerweise unter sich verschiedene, ihm viel zu
+große Überschuhe vertauscht worden -- neben mir her durch die Pfützen
+des Kurparks schritt, sprach er hochbefriedigt von seiner Lektüre.
+
+Er sehe jetzt ein, daß es ihm eigentlich nur an „Persönlichkeit“
+gefehlt habe, äußerte er in schöner Offenheit. Die „Persönlichkeit“
+aber sei durchaus nichts Angeborenes, das wisse er jetzt, sondern etwas
+Erwerbbares, etwas Erlernbares. Vor allem müsse man sich gewöhnen, die
+Dinge und Menschen mit festem Blick ins Auge zu fassen.
+
+Indem er so sprach, übte er den Blick an verschiedenen Laternen des
+Kurparks, die ungerührt weiter ihr spärliches Licht in die Regenluft
+streckten ...
+
+Als ich am nächsten Morgen an seinem Zimmer vorbeikam, hörte ich
+Michael Monkebach singen. Falsch aber laut und mit einer gewissen
+trotzigen Freudigkeit. Das war gegen seine Gewohnheit.
+
+Ich klopfte an, steckte den Kopf durch die Tür und fand ihn, nur mit
+Hose und Hemd bekleidet, sehr merkwürdige und nie gesehene Freiübungen
+mit einer gefüllten Waschkanne machen.
+
+„Ein Stuhl ist mir doch zu schwer dazu,“ erklärte er, „aber sehen Sie
+nur, wie mir diese Übungen schon gelingen. Erst Kniebeuge -- sehen Sie:
++so+ -- uff, mein Kreuz -- jetzt -- jetzt: leichtes Zehenwippen und
+Strecken des Rumpfs und nun wieder, passen Sie auf -- eins -- zwei --
+Kniebeuge -- drei -- vier Vorstoßen der Wasserkanne.“
+
+Er stieß so energisch vor, daß ihm die Wasserkanne aus den Händen
+glitt, fiel und zerbrach, wobei auch seine Beinkleider durchnäßt wurden.
+
+Während er sie mit einem Handtuch trocknete, rief ich das
+Stubenmädchen. Sie hieß Adele, hatte rote, selten gekämmte Haare und
+war weder schön, noch höflich. Mit Michael Monkebach war sie aber
+direkt grob, was mir auffiel. Sie wußte offenbar noch nichts von seiner
+neugewonnenen „Persönlichkeit“.
+
+Als die rothaarige Adele gegangen war, fragte ich ihn, warum er sich
+diesen Ton nicht verbeten und die Kecke kräftig angehaucht habe.
+
+„Das lohne nicht“, meinte er, „bei Untergebenen.“ Aber bei
+Gleichgestellten -- na, ich werde ja sehen! Man müsse den „Mut zum
+Widerspruch“ haben und um der „Persönlichkeit“ willen „verharren“
+-- nämlich auf der einmal eingenommenen Stellung -- sie geistig
+verteidigen, wie eine Festung und dabei die Macht des persönlichen
+Einflusses spielen lassen durch das Auge.
+
+„Es ist der Trick aller Dompteure,“ sagte er zuversichtlich,
+„die fixieren die Bestie; und das Tier, instinktiv die Macht der
+Persönlichkeit fühlend, duckt -- und gehorcht.“
+
+Beim Mittagstisch saßen wir -- Michael Monkebach und ich -- einem
+Rittmeister in Zivil gegenüber, der sich gern reden hörte und dazu
+erstaunliche Quantitäten billigen Moselweins trank.
+
+Michael Monkebach schien von dieser hellen Kommandostimme aufgeregt
+zu werden. Er wippte auf dem Stuhl hin und her, nahm sich fünf Stücke
+Schweinebraten, den ihm der Arzt strengstens verboten hatte und den er
+auch liegen ließ; fertigte Brotkugeln, die er dann in der Zerstreuung
+aß, und fühlte dazwischen nach der Brusttasche, aus der ich den
+majonnaisegelben Umschlag des interessanten Werkes „Wie wird der Mensch
+energisch“ feindlich hervorlugen sah.
+
+Der Rittmeister hatte gerade an der Hand eigener, sehr aufregender
+Manövererlebnisse einer dicken Rentiere aus Stettin, die sich Tag und
+Nacht nicht von einem pfundschweren Bernsteinschmuck zu trennen schien,
+den unvergleichlichen Nutzen der Kavallerie für den Aufklärungsdienst
+erläutert, da vernahm ich Michael Monkebachs fremdartig schrill
+klingende Stimme, die hervorstieß:
+
+„+Ich+ bin der Ansicht -- bin der Ansicht, daß beim nächsten Krieg die
+Kavallerie einfach eine +tote+ Waffe sein wird.“
+
+Er war sichtlich stolz auf den unsinnigen Ausdruck „tote Waffe“ und
+sehr erregt. Schweiß stand in reichen Perlen auf seiner Stirn.
+
+Ich begriff, es war die „Energie“-Probe.
+
+Ich sah seinen Blick starr, als wolle er ein Huhn hypnotisieren, auf
+den Rittmeister gerichtet, der schweigend sein Monokel einklemmte, ein
+Lächeln verbiß und dann sehr höflich sagte:
+
+„Der Herr ist ohne Zweifel Kavallerist gewesen?“
+
+„Nein, ich bin -- bin Landsturm -- ja wohl Landsturm +mit+ Waffe. Aber
+meine Ansicht ist deshalb +doch+ wohlbegründet. In einem Zukunftskrieg
+nämlich -- in einem Zukunftskrieg --“ Seine Vorstellungen über den
+Zukunftskrieg schienen leider doch nicht so klar und übersichtlich
+geordnet, wie es für diese Unterhaltung wünschenswert gewesen wäre.
+Plötzlich aber verbreitete sich ein Ausdruck der Entrüstung über sein
+nervöses, blasses Gesicht und die sieghaften Worte überstürzten sich
+schier: „Die Pferde werden totgeschossen, ja. Und die Reiter -- und die
+Reiter -- liegen +unter+ den toten Pferden ...“
+
+Der Rittmeister glaubte es offenbar mit einem gelinde Verrückten zu tun
+zu haben. Er ließ das Monokel in die hohle Hand fallen und wandte sich
+ruhig zu seiner bernsteingeschmückten Nachbarin.
+
+„Sie müssen sich vorstellen, meine Gnädige ...“
+
+Michael Monkebach ließ das starre Auge -- er dachte offenbar an den
+„Dompteur“ und fühlte die Wichtigkeit des Augenblicks dieser Probe --
+nicht von dem Rittmeister, der nach einer Weile den stierenden Blick
+unbehaglich empfand, sein Monokel wieder einklemmte und eine merkwürdig
+ernste Falte über dem Nasenrücken sehen ließ. Die kerzengerad
+aufliegende Falte, die wie eine Fortsetzung des nur durch die recht
+knapp bemessene Stirn unterbrochenen Scheitels aussah, gab dem Gesicht
+etwas Hartes, Drohendes.
+
+Ich fühlte: die Katastrophe nahte.
+
+Die Rosinen und Krachmandeln wurden gerade herumgereicht -- es waren
+immer dieselben, da niemand jemals davon aß -- und die alte Engländerin
+am Kopf der Tafel erhob sich, lang und dürr wie eine entlaubte Pappel
+im Winter, und schritt, wie immer als die Erste an dem galant die
+Tür aufreißenden Oberkellner vorbei nach dem Lesezimmer, wo sie
+täglich ihre sieben bis neun Stunden an dem einzigen Schreibtisch
+saß und mittels einer goldenen Füllfeder geheimnisvolle Briefe in
+Riesenbuchstaben schrieb.
+
+Die Tafel leerte sich.
+
+„Kommen Sie, Herr Monkebach,“ flüsterte ich besorgt, da mir für den
+Filzhutfabrikanten unbehaglich wurde, „+gehen+ wir schon!“
+
+Ich suchte durch eine besonders liebenswürdige Verbeugung gegen die
+Bernsteindame aus Stettin und den Rittmeister die Aufmerksamkeit von
+Monkebach ab und auf +mich+ zu lenken:
+
+„Mahlzeit.“
+
+„Mahlzeit!“
+
+Der Rittmeister schmetterte es heraus, als ob er eigentlich etwas ganz
+anderes sagen wollte, etwa: „Hol euch der Henker!“ oder so etwas.
+
+Wir waren noch nicht im Vestibül, da kam der Rittmeister hinter uns her:
+
+„Pardon, wenn ich die Herren störe. Ich möchte Herrn Fabrikanten
+Monkebach -- ich irre mich doch nicht? -- um zwei Worte unter vier
+Augen bitten.“
+
+Er sagte das mit einer sehr höflichen Verbeugung nach mir hin; und
+ich beeilte mich zu versichern, daß ich die Herren in ihrer privaten
+Besprechung keinesfalls zu stören wünsche.
+
+Als ich mich empfahl, schweifte mein Blick über Michael Monkebachs
+Angesicht. Er sah aus, als habe er seit drei Tagen seine Beerdigung
+hinter sich. Die Rechte krampfte sich in die Brustseite, wo der Rock
+das köstliche Buch mit allen schönen Lehren über die „Persönlichkeit“
+verhüllte. Die Beine aber, die ihn hinter dem vorausschreitenden
+Rittmeister nach dem Rauchzimmer, dem Ort der Unterredung, trugen,
+knickten und tänzelten und schlenkerten, als ob sie durchaus nicht
+mehr von der Zentrale des Nervensystems eines ~homo sapiens~
+zweckentsprechend dirigiert würden, sondern vielmehr einer Puppe im
+Kasperletheater angehörten, deren schlotternder Leib voll Sägespäne und
+deren zerbeulter Kopf von lakiertem Holz ist ...
+
+Zwei Stunden später ging ich zu Michael Monkebachs Zimmer hinauf.
+
+Die gesprächige Kanzleirätin hatte mich mit Mitteilungen über einen mir
+gänzlich unbekannten Baron Montecatanio aufgehalten, der, allen Gästen
+unsichtbar, die teuersten Zimmer im Hotel bewohnte und früher, wie sie
+behauptete, in ganz verwerflicher Weise mit Sklaven am Kongo gehandelt,
+dann in Alexandrien eine berüchtigte Spielbank gehalten haben sollte.
+Lauter Dinge, die gewiß sehr unschön und tadelnswert, mir aber im
+Moment furchtbar gleichgiltig waren.
+
+Ich traf Michael Monkebach beim Packen der Koffer, eine Tätigkeit, der
+er mit einer fast fanatischen Hast oblag.
+
+„Schließen Sie die Tür hinter sich -- den Riegel, bitte, auch,“ rief er
+mir flehend zu. „Danke. Sie müssen wissen, der Rittmeister -- übrigens
+ein +prächtiger+ Mensch! -- wollte mich fordern -- auf Pistolen. Haben
+Sie schon mal eine Pistole in der Hand gehabt? -- Ich nicht ... Wenn
+es schließlich noch Säbel gewesen wären. Ich hatte eine Leidenschaft
+für Säbel -- als Kind. Aber gleich -- wo sind denn die Socken! aha,
+hier unter dem Nachttisch -- aber gleich: Pistolen! -- Ich bin --
+bin -- Himmel, jetzt habe ich eine Fußbank eingepackt! -- ich bin
+unter +Filzhüten+ groß geworden. Mein Vater -- wollen Sie mir mal die
+Zahnbürste reichen? Danke -- ist auch -- ist +auch+ unter Filzhüten
+groß geworden. Mein Großvater -- --“
+
+Da ich fürchtete, daß noch +viele+ des Geschlechts „unter Filzhüten“
+groß geworden seien, so lenkte ich ab.
+
+„Haben Sie denn eine Entschuldigung schroff abgelehnt --?“
+
+„Den Teufel hab’ ich! Ich habe gesagt, daß ich unter +Filzhüten+ groß
+geworden bin, und daß mein Vater ...“
+
+„Unter Filzhüten groß geworden ist, ich weiß. Und war er von diesen
+Filzhüten, wollt’ ich sagen: von diesen Erklärungen befriedigt?“
+
+„Das schon. Aber wer weiß, er besinnt sich vielleicht wieder anders.
+Gott, so ein Kavallerist. -- Das Handwerk verroht, nicht wahr? ...
+Eine Tante von mir hatte ein Dienstmädchen, die hatte bei einem
+Scharfrichter gedient ... nein, was die für Sachen erzählte, nicht
+zum Wiedergeben. Ich hab’ sie übrigens auch vergessen. Aber +das+ ist
+sicher: es gibt Berufe, die das Gemüt verkümmern lassen ... Und dann
+wissen Sie, +ich+ bin nicht für die ‚Persönlichkeit‘ geboren. Und das
+mit der Erziehung zur Persönlichkeit --“
+
+Er riß plötzlich das majonnaisegelbe Buch, das ihm beim Bücken immer in
+die Achselhöhle stach, zornig aus der Tasche und schleuderte es in die
+Ecke -- „das ist Unsinn. Wenn man unter Filzhüten groß geworden ist --
+-- Sehen Sie nur --“
+
+Er hielt plötzlich inne und zeigte mir die bereits quittierte Rechnung
+des Hotels: „Was hab’ ich eigentlich +hier+ bezahlt?“
+
+Er zeigte mit dem Finger auf einen unleserlichen Posten. „Ich kann’s
+nicht lesen, der Oberkellner kann’s nicht lesen, Adele kann’s nicht
+lesen -- aber es macht zwölf Mark.“
+
+„Und Sie haben --?“
+
+„Bezahlt! Natürlich. Lieber Herr Doktor, ich +bin+ eben keine
+‚Persönlichkeit‘. Ich will fort, nach Hause -- Haferschleim kann ich
+dort +auch+ essen, nicht wahr? Und Kavallerie-Rittmeister lade ich mir
+ganz bestimmt nicht ein ... Würden Sie mir die Gefälligkeit erweisen,
++mit+ zur Bahn zu fahren? Das vorige Mal ist mir der Kutscher so grob
+geworden -- ich habe dann gern jemand bei mir.“
+
+Am Bahnhof spendierte sich Michael Monkebach ein Billett +erster+
+Klasse. Wegen der Nerven.
+
+Als der Zug ankam -- er hatte Verspätung, und alles mußte sehr eilig
+gehen -- erwies es sich, daß das +einzige+ Coupé erster Klasse für
+einen Erzbischof mit Bedienung belegt war. Die zweite Klasse aber war
+durch den Andrang zu einem Sängerfest in der Umgegend total überfüllt.
+So fuhr Michael Monkebach mit seinem teuer bezahlten gelben Billett in
+einer dritten Klasse mit fünf jüdischen Viehhändlern, von denen einer
+einen struppigen, unappetitlichen Bullenbeißer bei sich hatte, der
+einen ungewöhnlich starken Hundegeruch ausströmte.
+
+Noch als sich der Zug in Bewegung setzte, rief ich Michael Monkebach zu:
+
+„Sie sollten sich beschweren -- ihr Geld zurückverlangen.“
+
+Ich sah noch sein schmerzliches Lächeln hinter dem Fenster, das, vom
+Regen gequollen, nur halb herunterzulassen war:
+
+„Lieber Gott, +ich+ und -- +beschweren+. Dazu gehört
+Per--sön--lich--keit. Wenn man, wie ich ...“
+
+Ich hörte nichts weiter, da einer der Viehhändler, auf dessen Fuß
+Michael Monkebach wohl unabsichtlich getreten war, ihn sehr hart
+anließ. Aber ich ahnte, was er hatte sagen wollen: „Wenn man, wie ich,
+unter Filzhüten groß geworden ist ...“
+
+ * * * * *
+
+Ich hatte dann jahrelang nichts mehr von ihm gehört. Auch nichts von
+seinen Filzhüten.
+
+Menschen, die unter anderen Dingen groß geworden waren, hatten mein
+Interesse erweckt. Es waren wohl auch Damen darunter. Kurz, ich vergaß
+ihn. Vergaß ihn so sehr, daß ich mich sogar seines Namens nicht mehr
+entsann, als er in merkwürdigem Zusammenhang, allerdings nur so als
+Appendix, als Mitläufer, zuerst wieder an mein Ohr schlug.
+
+Ich verkehrte damals viel in einem Kreise junger Literaten, die sich
+gegenseitig sehr gut gefielen und jeden Freitag in dem Hinterstübchen
+eines Restaurants im Westen zusammenkamen, um sich über die Gemeinheit
+niedriger Lohnschreiber, die schnödes Geld mit ihren Büchern
+verdienten, und über die lächerliche Talentlosigkeit aller nicht
+zu ihrem Kreise Gehörigen aufgeregt zu unterhalten. Ich hatte mich
+nicht als Mitglied aufnehmen lassen, da ich -- ohne den Rausch an
+sich hochmütig zu verwerfen -- nie ein Freund davon war, mir mit
+geschwollenen Redensarten Herz und Hirn zu füllen. Aber als Schwester
+eines fanatischen Neutöners, der in seinen Gedichten niemals auch nur
+das bescheidenste Satzzeichen anbrachte und deshalb von Heine, Lenau
+und Mörike wie von sitzengebliebenen Schulbuben aus der Hilfsklasse für
+Schwachsinnige sprach, nahm häufig ein sehr schönes Mädchen an diesen
+denkwürdigen Sitzungen teil.
+
+Sie redete weder klug, noch töricht. Sie war +da+, das genügte. Denn
+die Schönheit braucht eben nur vorhanden zu sein, um ohne weitere
+Anstrengung Besonderes zu wirken.
+
+Sie bereitete sich dünnen Tee, während die andern meist geschmierten,
+billigen Wein tranken; lauschte den donnernden Tiraden des alle Erfolge
+aus der Hochburg seiner Unbekanntheit verachtenden Bruders und seiner
+hohnlächelnden, umstürzlerischen Sippe und schlug zuweilen ein paar
+große sanfte Kinderaugen zu mir auf, blau und tief, wie ein Märchen.
+
+Wie ein kleiner, zarter Paradiesvogel im ruppigen Krähennest kam
+sie mir vor. Und ich begriff es völlig, daß gut die Hälfte aller
+sogenannten Gedichte, die diesem kraftgenialischen Kreise entstammten,
+an ihre stillen, blauen Augen gerichtet waren. Ich glaube, ich selbst
+habe damals ... Aber das gehört nicht hierher. Denn meine Gedichte
+reimten sich und gaben zuweilen, wenn man sie aufmerksam las, einen
+Sinn. Zwei Eigenschaften, die sie in diesem erleuchteten Kreise dem
+grimmigsten Hohn preisgegeben hätten.
+
+Diese künstlerische Vereinigung hatte auch einige durch Akklamation
+gewählte und durch Nachtdepeschen, die diese stolze Ehrung meldeten,
+erschreckte „korrespondierende Mitglieder“. Deren Briefe ähnelten
+sich alle darin, daß sie sehr schlecht auf gelbe Notizbuchblätter,
+zerknitterte Telegrammformulare oder benutzte Papiermanschetten
+geschrieben waren und eigentlich weniger von den idealen
+Angelegenheiten der Poesie und Kultur als von momentanen ärgerlichen
+Verlegenheiten, peinlicher Geldnot, schmerzlicher Untreue einer
+Kellnerin und solchen Dingen handelten.
+
+Nur +ein+ korrespondierendes Mitglied schien sich in leidlich
+geordneten Verhältnissen zu befinden.
+
++Maruschka Anastasia+ nannte sie sich in ihren Liedern. Sie war es, die
+sich einer ganz erstaunlichen Wertschätzung in diesem Kreise erfreute.
+Die Freiheit des Weibes wurde in ihren Gesängen gepredigt, gefordert,
+gedroht; die Revolution der Ehe, die geharnischte Auflehnung gegen
+uralte entehrende Sklaverei.
+
+Diese heftigen Gedichte wurden häufig an den Freitagsabenden
+vorgetragen. Ein ziemlich verwahrloster, dicker, kleiner Mann, der,
+wie er sagte, an einer „Reformation der Rezitationskunst“ arbeitete,
+bestieg dann einen Stuhl, knöpfte umständlich den obersten Knopf seines
+Hosenbundes und die beiden untersten Knöpfe seiner originell karierten
+Weste auf, „damit die Bauchmuskulatur beim Vortrag nicht gehemmt
+werde“, faltete die fettigen Hände über der eingedrückten Brust, schloß
+die unschönen verschwommenen Augen, um tiefste seelische Konzentration
+zu markieren, röchelte, als ob ihm ein D-Zug über beide Beine gefahren
+wäre, und schrie plötzlich unter heftigen Zuckungen die Nächstsitzenden
+an:
+
+ „Nehmt mir die blut’gen Ketten aus dem Fleische,
+ Reißt mir die welken Rosen von der Stirn ...!“
+
+Und dann gab er wohl zehn Minuten lang mit ungeheurem Gebrüll noch
+unzählige Aufträge ähnlichen Inhalts, deren nähere Beschaffenheit
+ich vergessen habe. Alles in wilden, bluttriefenden Versen. Wenn er
+unter dem demonstrativen Jubel der Versammlung geendet hatte, stieg
+er, sichtlich ermattet, dem Beifall mit den fetten Händen wehrend,
+verächtlich lächelnd vom Stuhl, machte sich kalte Umschläge um die
+Stirn und trank ein sehr bemerkenswertes Gemisch von rohen Eiern,
+Kognak, Rotwein, und Benedektiner, das er „Lethe“ nannte.
+
+Wenn er sechs bis acht Glas Lethe getrunken hatte, nahm er sich einen
+Taxameter, gab ihm geheimnisvolle Weisung und fuhr „in die Einsamkeit“,
+wie er sagte. Die Mitglieder des Bundes nährten die Überzeugung, der
+große Künstler ließe sich dann jedesmal bis zum Waldrand fahren;
+dort steige er aus und erwarte schweigend, das Haar dem Spiel der
+Morgenwinde preisgegeben, den ergreifenden Anblick des Sonnenaufgangs,
+die einzig wahre Sensation, die ihm dies schale Leben noch zu bieten
+habe. Seit ich ihn aber einmal, wenige Stunden nach solcher Sitzung,
+nach Vortrag und reichlichem Lethegenuß in den Arkadiasälen mit einer
+strohblonden Dame sehr heftig und sehr ungraziös Cake Walk tanzend
+getroffen habe, war meine ehrfürchtige Bewunderung für das genialische
+Einsamkeitsbedürfnis des dicken Lethekonsumenten stark erschüttert. Und
+an die Sonnenaufgänge glaubte ich nicht mehr.
+
+Es waren immer Gedichte von Maruschka Anastasia, die der Reformator
+der Rezitationskunst vortrug. Mir kamen sie wie lauter gereimte
+Beschimpfungen des Mannes vor; und ich hätte, selbst wenn ich ihren
+poetischen Gehalt an Bildern, schönen Wendungen, Blüten der Phantasie
+höher eingeschätzt hätte, nicht recht begriffen, warum sich diese
+Gesellschaft von flaumbärtigen Literaten just daran berauschte, ihr
+eigenes Geschlecht vom Geifer des Hasses einer exaltierten Dame emsig
+bespien zu sehn.
+
+Eines Abends -- der Lethetrinker saß nach getaner Arbeit gerade wieder
+mit einer kalten Kompresse um die Reformatorenstirne in der Ecke und
+rührte mit stimmungsvollem Ernst eine halbe Pulle rubinroten Rotwein
+an drei verklepperte Eier -- sprang mir eine neugierige Frage auf die
+Lippen.
+
+„Sagen Sie, liebes Fräulein“ ich wandte mich an die schweigend neben
+mir mit dem Teekessel hantierende Besitzerin der blauen Märchenaugen,
+„heißt Ihre Lieblingsdichterin -- ich muß sie doch wohl so nennen --
+diese Maruschka Anastasia nun +wirklich+ Maruschka Anastasia oder ...“
+
+Der Lethemischer unterbrach alsobald seine rührende Tätigkeit und
+stand plötzlich einen sehr lieblichen Geruch nach Kognak und Rotspohn
+verbreitend neben mir:
+
+„Das wissen Sie wirklich nicht? Aber, Mensch, wo +leben+ Sie? Maruschka
+Anastasia ist eine Frau, nicht fern dem Ende der zwanziger, man kann
+schon sagen Anfang der dreißiger. Eine verheiratete Frau --“
+
+„Natürlich +un+glücklich verheiratet?“ warf ich ein.
+
+„Na--tür--lich.“
+
+Und irgendwoher aus dem Zigarettenrauch kam eine müde Stimme:
+
+„Haben Sie überhaupt schon einmal eine +glückliche+ Ehe gesehen?“
+
+„Nun -- ich dächte zum Beispiel meine Eltern ...“
+
+Der Lethemischer roch mitleidig lächelnd an seinem Glase:
+
+„Es liegt mir fern, die Ehe Ihrer geschätzten Eltern hier auf die
+von Ihnen behauptete Trivialität untersuchen zu wollen. Wäre ja auch
+eine fruchtlose Bemühung. Ich kenne von dieser Ehe auch nichts, als
+ihr Produkt: +Sie+. Im Anblick dieses Produkts kann ich mich aber --
+ohne ihren vielleicht verborgenen Qualitäten nahetreten zu wollen --
++nicht+ zu dem freudigen Glauben durchringen, daß die dazu nötige
+Ehegemeinschaft eine glückliche war.“
+
+„Danke,“ ich verneigte mich. „Aber auf meine belanglose Person wollte
+ich wirklich das durch Ihre gütige Mitwirkung so interessante Gespräch
+nicht bringen. Ich fragte in aller Bescheidenheit nach den näheren
+Verhältnissen der hier so geschätzten Dichterin Anna Maruschka. Fragte,
+weil es mich interessiert, ob da persönliche Erlebnisse vielleicht den
+Grund zu dieser düsteren Lebensanschauung gelegt haben, oder ...“
+
+Jetzt nahm der kleine Egon Felix Gundelmann das Wort. Ein äußerst
+merkwürdiger Jüngling, den ich, so lang ich ihn kenne, nie etwas
+anderes habe betrachten sehen, als seine eigenen Fingernägel; ohne
+daß er aus dieser Betrachtung einmal das naheliegende Bedürfnis
+geschöpft hätte, diese Objekte seiner ungeteilten Aufmerksamkeit zu
+reinigen. Er fiel durch eigene Produktion in diesem Kreise niemals
+lästig. Aber er war, um mit Hamlet zu reden, so etwas wie der
+Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters. Allerdings Spiegel
+und Chronik ganz im Sinne der anregenden Gesellschaft, die seine
+mehr auf Sammeleifer als auf Gedanken beruhende Weisheit umgab. Er
+hatte ein geradezu phänomenales Gedächtnis für Namen und Zahlen, war
+wegen dieser letzteren Eigenschaft bei den Kellnern sehr unbeliebt,
+erschien aber als der geborene Literaturhistoriker, ein wandelndes
+Nachschlagewerk. Wann der oder jener giftige Vierzeiler auf der 387sten
+Seite der Zeitschrift „Marsyas“ rechts oben in der Ecke gestanden
+hatte; wieviel an Honorar die genannte Zeitschrift -- der anerkannte
+Sammelpunkt der „Jüngsten“ -- dem oder jenen Neutöner für seine
+tiefempfundenen „Elegien in freien Rhythmen“ schuldig geblieben war;
+wie hoch die unheimlichen Saarweine, die der Lethefreund vor drei
+Jahren in die Frühlingsbowle geschüttet hatte, auf der Karte notierten
+und mit welchem Aufschlag sie der verbrecherische Kellner in Rechnung
+gestellt hatte -- all solche schwierigen Fragen und erstaunlichen
+Gedächtniskunststücke bewältigte Egon Felix Gundelmann spielend. Sobald
+Namen, Taten, Zahlen in Frage kamen, blickten aller Augen fragend
+und wißbegierig auf ihn. Die seinen aber verweilten nach wie vor auf
+seinen unsauberen Fingernägeln, und aus diesen unschönen Ausläufern
+seiner Persönlichkeit schien er all sein verblüffendes Wissen mühlos
+herauszulesen.
+
+„Maruschka Anastasia“, sagte er jetzt, „ist geboren vor dreiunddreißig
+Jahren am neunzehnten Juli, d. h. an dem Tage, an dem im Jahre 1796
+der Buchhändler Georg von Cotta geboren wurde, der später, auf den
+Ungeschmack der Menge bauend, den Werken der sogenannten Klassiker
+eine heute noch schädlich nachwirkende Verbreitung leihen zu müssen
+glaubte. An demselben Tage wurde fünfundzwanzig Jahre später der
+Dichter Gottfried Keller in Zürich geboren, dessen Werke ich zwar
+nicht hoch einschätze, der aber durch die knorrige Grobheit seines
+Wesens und durch die bis ins späte Alter bewährte Vorliebe für starke
+gegorene Getränke verriet, daß vielleicht etwas in unserem Sinne aus
+ihm geworden wäre, wenn er sich entschlossen hätte weiter zu hungern,
+anstatt sich als Staatsschreiber in die schmachvolle Abhängigkeit des
+Kantons Zürich zu begeben. Daß an diesem selben Tage dann im Jahre 1870
+Frankreich an Preußen den Krieg erklärte, erwähne ich noch nebenbei.
+Dieser Krieg hat für das geistige Deutschland eine tiefe Demütigung
+gebracht, indem der Singsang der sogenannten patriotischen Dichter
+zu einem Ansehen gelangte, das jeden ästhetisch reifen Beurteiler,
+der an die große Zukunft der ungereimten, abstrakten Gedankenpoesie
+glaubt, mit tiefster Beschämung erfüllen muß. Wir haben durch diesen
+Krieg einige Schlachten und einige Kriegervereine gewonnen und dafür
+auf Jahrzehnte das Bewußtsein unserer in blöden Siegesfesten ersäuften
+Kulturmission verloren. Erst dadurch, daß vor dreiunddreißig Jahren
+Maruschka Anastasia als Tochter eines durch seelische Verirrungen
+zum Winkelkonsulenten herabgesunkenen ehemaligen Notars und einer
+echten Tochter des Volkes geboren wurde, hat dieser Julitag für das
+intellektuelle Deutschland der Zukunft wieder einen Klang und eine
+Bedeutung gewonnen.“
+
+Egon Felix Gundelmann las diese letzten Worte vom Nagel des Daumens
+seiner linken Hand mit sichtlicher Befriedigung ab. Ich dankte mit
+einigen unbedeutenden Worten für die gütige Belehrung, gab aber der
+Ansicht Ausdruck, daß meine Frage eigentlich damit nicht beantwortet
+sei, da ich zu wissen verlangte, ob Maruschka Anastasia der richtige,
+in den Standesbüchern eingetragene Name dieser erstaunlichen Frau sei,
+und ob sie selbst die von ihr so glühend gehaßten Ehefesseln jemals
+getragen und -- wie ich fast vermuten müsse -- mit all der Kühnheit,
+die ihre Gesänge durchbrauste, hohnlachend abgeschüttelt habe.
+
+Egon Felix Gundelmann betrachtete eingehend den Nagel seines mit einem
+häßlichen Geschwür aus kupfrig glänzendem Gold geschmückten Ringfingers
+und gab -- immer im Ton einer wissenschaftlichen Vorlesung -- die
+überraschende Auskunft:
+
+„Maruschka Anastasia heißt eigentlich mit ihrem Mädchennamen Anna
+Kuntze -- mit tz. Auf das tz legt sie Wert. Die letzten Nachrichten,
+die wir von ihr hatten, stammen vom 21. Juli des Vorjahres. Sie
+dankte uns damals für ein in der Nacht ihres Geburtstages aufgegebenes
+Nachttelegramm, das sie selbst, wie sie schrieb, herzlich erfreut
+und ihrem offenbar sehr schreckhaften Mann eine kleine Nervenattacke
+eingetragen. Sie nennt sich jetzt Maruschka Anastasia Monkebach-Kuntze
+und lebt körperlich +neben+, seelisch aber weit getrennt von einem
+Mann, der ein kleiner Rentier sein soll und sie, ohne ihre Bedeutung
+irgendwie mit ethischem Verständnis zu durchdringen, mit gebührender
+Verehrung behandelt.“
+
+„Monkebach-Kuntze. -- Monkebach -- Monkebach ...“ Ich wiederholte den
+Namen immer wieder. Wo hatte ich ihn bloß schon gehört? und in welchem
+Zusammenhang? Ich dachte an eine Menagerie, die ich als Kind besucht --
+aber nein, die hieß Münsterbach. Dann dachte ich an einen Zahnarzt, der
+mir -- schrecklichen Angedenkens -- einen ganz gesunden Zahn mit Gold
+plombiert hatte. Aber nein, der hieß -- ja, wie +hieß+ der? Und jetzt
+war ich +ganz+ konfus, und meine erregten Gedanken pendelten zwischen
+Maruschka Anastasia und einem verbrecherischen Zahnarzt hin und her,
+ohne einen Halt zu finden.
+
+Egon Felix Gundelmann hatte mittlerweile noch ein ganzes Taschenlexikon
+biographischer Details über mich ausgeschüttet. Ich hörte nicht zu. Da
+traf plötzlich die trockene Anmerkung mein Ohr:
+
+„Die Tragikomödie dieser Ehe eines lächerlichen Philisters mit
+einer ganz eigenartigen weiblichen Psyche mit einem von der
+leidenschaftlichen Liebe zum großen Erlebnis genährten Genie vollzieht
+sich in der Stadt mit dem unsagbar trivialen Namen Bimmlingen.“
+
+Ich stutzte.
+
+„In Bimmlingen sagten Sie? Seltsam, dorthin muß ich spätestens Anfang
+nächster Woche in Vermögensangelegenheiten.“
+
+„Vermögensangelegenheiten!“ Der Lethetrinker sprach das Wort mit
+tiefer Verachtung mehr in sein halbgeleertes Stengelglas, als zu mir.
+„Vermögensangelegenheiten! Für solche Trivialitäten ist Bimmlingen gut.
+Aber als Leidenswiege für die zerrüttete Seele einer großen Poetennatur
+...“ Der Satz war auf bedeutungsvolle Steigerung angelegt. Aber der
+Reformator hatte den Schluckser und mußte sich sehr zu seinem Ärger
+hier unterbrechen.
+
+Mein Geständnis, daß ich nach Bimmlingen reisen mußte, hatte Bewegung
+in die dichten Zigarettenwolken des nie gelüfteten Raumes gebracht. Man
+sah sogar wieder Gesichter. Erstaunte, interessierte Gesichter.
+
+Alle redeten durcheinander.
+
+Egon Felix Gundelmann gab, wie mir schien, in seiner leidenschaftlichen
+Art einen kurzen Abriß aus der Stadtgeschichte von Bimmlingen. Ein
+hier hochgeschätzter Romancier, der seine Bücher erst nach seinem Tode
+weiteren Kreisen bekannt zu geben wünschte, spendete mir den dringenden
+Rat, sofort von der Bahn aus zu Maruschka Anastasia zu fahren, um
+sie meiner und seiner Verehrung zu versichern. Ein bereits zweimal
+verbotener Dramatiker hoffte, daß ich in Bimmlingen ein zuverlässiges
+„Tagebuch“ führen werde. Andere hatten noch weitergehende Wünsche
+in Beziehung auf meine Reise nach dem durch Maruschka Anastasia
+interessant gewordenen Nest.
+
+Das Mädchen mit den tiefblauen Augen aber setzte die Teetasse hin,
+legte mir die spitzen, schlanken Finger ihres reizvollen Händchens mit
+noch nie geübter Vertraulichkeit auf den Unterarm und tat, was sie
+eigentlich noch nie getan: sie sprach einen zusammenhängenden Satz. Ich
+weiß heute, nach elf Jahren! noch ganz genau, wie er lautete:
+
+„Darf ich Sie bitten, lieber Herr Doktor, Frau Maruschka Anastasia zu
+sagen, daß ich sie liebe,“ (wenn sie dieses „sie“ damals im Sprechen
++groß+ geschrieben hätte, so hätte ich zweifellos „die“ Dummheit meines
+Lebens gemacht!) „und daß es mich beglücken würde, ein paar Zeilen von
+ihrer Hand zu besitzen in meiner Selbstschriftensammlung, die fast alle
+Neueren von Atzler bis auf Zülferich umfaßt.“
+
+Ich gestehe beschämt, daß ich damals weder wußte, wer Atzler noch
+wer Zülferich war. Aber ich tröste mich damit, daß es heute auch
++die+ wieder vergessen haben, die es einmal gewußt hatten. Denn die
+literarischen Taten von Atzler und Zülferich meldet kein Lied, kein
+Heldenbuch; und sie sind, wie alle Mitglieder jener festlichen Abende
+um den Reformator der Rezitationskunst, wie der seltsame Romancier, der
+für seinen Nachlaß arbeitete, und wie der unwahrscheinliche Polyhistor
+Egon Felix Gundelmann längst untergetaucht im ruhmlosen Gewoge des
+Alltags, der Trivialitäten ...
+
+Aber meine Fahrt nach Bimmlingen hatte jetzt einen neuen Sinn, einen
+ungeahnten Glanz bekommen. Nicht daß ich selbst vor Neugier platzte,
+die genialische Maruschka Anastasia von Angesicht zu Angesicht
+zu sehen. Aber wenn ich mit einem wundervollen, inhaltreichen
+Stammbuchblatt von ihrer Hand wiederkam ... Mir fielen Beispiele
+ein, daß Prinzen im Märchen durch ein kühn erstrittenes kostbares
+Geschmeide die lang versagte Gunst einer spröden Schönen im Sturme
+gewannen. Beispiele ... Beispiele ... Es gehört zu den unbestreitbaren
+Merkwürdigkeiten meiner sonst nicht eben komplizierten Natur, daß mir
+für +jede+ Dummheit, die ich zu machen im Begriffe stehe, „Beispiele“
+einfallen. Viele und vortreffliche Beispiele.
+
+... Als ich einige Tage später -- doch früher, als ich ursprünglich
+geplant -- nach Bimmlingen reiste, war meine eigene Angelegenheit ganz
+in den Hintergrund getreten.
+
+Es war auch gut. Denn in Bimmlingen zeigte es sich sehr bald, daß
+das kleine Grundstück, an dem ich als glücklicher Erbe zusammen
+mit drei Vettern, einer Tante und einem Waisenhaus beteiligt war,
+so gut wie wertlos war, da es dicht neben dem Viehhof lag und ein
+normaler Mensch mit gesunden Geruchsnerven das abscheuliche Terrain
+nur bei östlichen Winden, die den Stank der Ställe nach der anderen
+Seite entführten, betreten konnte. Die meteorologischen Notizen des
+Bimmlinger Tageblatts, dessen drei letzte Jahrgänge ich daraufhin
+durchsah, ergaben aber, daß die angenehme Stadt Bimmlingen meist von
++westlichen+ Winden bestrichen wurde; und als ich einem Bimmlinger
+Immobilien-Agenten den Kaufpreis nannte, den die miterbende Tante
+ersonnen und für den uns das scharmante Grundstück feil sein sollte,
+bekam er einen langandauernden Lachkrampf und versicherte mir, daß er
+einen so guten Witz nicht mehr gehört habe, seit der letzte Zirkus in
+Bimmlingen abgebrannt sei. Da die Tante als Miterbin aber von ihrem
+phantastischen Preis nicht heruntergeht, sind wir heute noch im Besitz
+des unbebauten Grundstücks und haben die Freude, ein über das andere
+Jahr zirka hundert Mark für einen neuen Stachelzaun zu bezahlen, der
+einer fröhlichen Jugend Bimmlingens wehren soll, im Unkraut unseres
+Besitzes künstliche Festungen zu graben.
+
+Ich hatte mir für die mir inniger am Herzen liegende Aufgabe, die
+Selbsteinführung in die Familie Monkebach-Kuntze, einen, wie mir
+schien, vorbildlich schlauen Schlachtplan ersonnen. Am Tage meiner
+Abreise hatte ich an +Herrn+ Monkebach-Kuntze ein sehr verbindliches
+Kärtchen geschrieben. Voller Interesse, seine berühmte Gattin kennen
+zu lernen, vom Wunsche beseelt, ihr meine persönliche Verehrung und
+die meiner Freunde in einem Handkuß auszudrücken, zugleich aber auch
+geängstigt von dem Gedanken, daß ich die Dichterin in ihren die Welt
+erleuchtenden Arbeiten in nie entschuldbarer Weise stören könnte, wagte
+ich es, bei dem von mir unbekannterweise hochgeschätzten Gatten der
+seltenen Frau in aller Bescheidenheit anzufragen, ob ... und wann ...
+und wie ...
+
+Es war wirklich ein sehr anständiger Brief. Der Rabe mußte meiner
+Berechnung nach den Käs fallen lassen, wie in der hübschen alten Fabel.
+
+Er +ließ+ ihn fallen. Als ich ins Hotel kam, lag schon ein Briefchen
+da. Unterschrift: Michael Monkebach.
+
+Monkebach, Mon--ke--bach -- wieder rollte mir der Name wie eine
+Billardkugel im Kopfe herum; und nach einer nicht sehr geistreichen
+Gewohnheit trat ich erst eine Weile ans Fenster, stierte über die
+reichlich schmutzige Straße auf das schiefhängende Schild einer Woll-
+und Strumpfwarenhandlung und dachte emsig nach. Dann erst las ich den
+Brief.
+
+„Sehr geehrter Herr Doktor, mich freut’s herzlich Sie nach so
+langer Zeit wiederzusehn“ -- +wieder+zusehn, wieso? -- „Ich kann
+es ja begreifen, daß Ihr hochgeschätzter Besuch, der uns äußerst
+angenehm ist“ -- +uns+? -- auf ihn kam mir weniger an -- „mehr meiner
+lieben Frau gilt, als mir“ -- wie käme ich auch wohl dazu, +Herrn+
+Monkebach zu beehren? es sei denn, daß er am Viehhof ein Grundstück
+suchte -- „Nichtsdestoweniger wird mir die Erinnerung einer lieben
+Badebekanntschaft ein nicht gewöhnliches Vergnügen bereiten“ --
+Badebekanntschaft? Herr Monkebach wird doch am Ende nicht der Herr
+sein, der in Karlsbad einmal neben mir wohnte und früh morgens um halb
+sechs immer Lohengrins Abschied sang, bis ich ihm durch den Kellner
+sagen ließ ... „Ich bin ja älter geworden, seit wir uns zuletzt gesehen
+--“ sehr wahrscheinlich, ich bin ja +auch+ nicht jünger geworden --
+„aber ein gewisses ruhiges Glück ist bei mir eingekehrt“ -- nanu, bei
+der ewigen Kettensprengerin ein ruhiges Glück? +Der+ Mann mußte Nerven
+haben, wie Stahl, oder -- „Und was mich mit Stolz erfüllt, Sie werden
+sehen, so wenig ich auch an dem unvergleichlichen Talente meiner lieben
+Maruschka Anastasia beteiligt bin“ -- beteiligt; ein geschäftlicher
+Ausdruck, der mir sehr mißfiel. Sollte Herr Monkebach etwa jener
+schlanke Herr mit dem gefärbten Barte sein, der mir nach einem
+harmlosen Tischgespräch auf Rigi Scheideck beim Dessert meuchlings die
+Preisliste seiner Naturweine über den Tisch reichte? ... „beteiligt
+bin, so darf ich doch ohne häßliches Eigenlob wohl sagen, daß mein
+persönlicher Einfluß ...“
+
+„-- +persönlicher Einfluß+!“ ... Wie Schuppen fiel es mir von den Augen.
+
+Monkebach -- natürlich, so +hieß+ er ... Der Mann mit dem persönlichen
+Einfluß. Der Turner mit der Wasserkaraffe. Der dankbare Leser des
+mayonnaisegelben Büchleins: „Wie werde ich energisch?“ Der Gegner
+-- +beinahe+ Gegner des kampflustigen Rittmeisters. Der Liebling der
+allwissenden Kanzleirätin. Alles kam mir wieder ins Gedächtnis. Alles.
+Und ich war so vergnügt in diesen Erinnerungen, daß ich abends ins
+Stadttheater ging, wo ein unsagbar dummes Lustspiel hundeschlecht
+gespielt wurde. Ich aber saß unter den ärgerlichen Zuschauern
+und lächelte fröhlich vor mich hin. Ich sollte den Mann mit dem
+persönlichen Einfluß wiedersehn als Gatten einer intellektuellen
+Kettensprengerin.
+
+Am nächsten Morgen hüllte ich mich in eine erlesene Besuchstoilette,
+zog meinen poetischsten Schlips an, ließ meinen Zylinder aufbügeln,
+kaufte drei purpurrote Rosen an Stielen, so lang wie Spazierstöcke, und
+machte mich auf den Weg.
+
+Kitzlingerstraße 15. Ein bescheidenes Landhaus in einem nicht
+übel gepflegten Garten. In den Rasenflächen standen gräßliche
+kleine Terrakotta-Gnome mit feuerroten Zipfelmützen umher. Auch
+Rehe aus buntem Gips und giftig grüne Riesenpilze als originelle
+Sitzgelegenheiten aus derselben Masse erschreckten das Auge. Mir schien
+das +sein+ persönlicher Einfluß auf den Garten. Die Dichterin übersah
+wohl den kinkerlitzigen Zierat.
+
+Kaum hatte das Mädchen -- ich habe nie wieder solche Mischung von
+Unsauberkeit und Stupidität in einer weiblichen Erscheinung beobachtet
+-- meine Karte erst selbst mit Aufmerksamkeit gelesen, dann in ein
+Zimmer getragen, so hörte ich auch schon Monkebachs frohbewegte Stimme:
+
+„Hier herein, bitte, nur +hier+ herein!“
+
+Grau war er geworden, der gute Michael Monkebach. Den Schneider schien
+er noch nicht gewechselt zu haben seit damals. Der Rock schlotterte
+immer noch um seinen nicht unansehnlichen Leib, und die Weste sah
+immer noch aus, als habe er sie von einem Verwandten geerbt, der
+ihn an Leibesfülle ums Doppelte übertraf. Der verblichene Erblasser
+mußte allerdings eine Sehenswürdigkeit gewesen sein, die alle in den
+Panoptiken vorgestellten Monstra weit hinter sich ließ.
+
+Michael Monkebach schüttelte mir beide Hände. Er war wirklich sichtlich
+erfreut. Dann drückte er mich in ein niedriges und erstaunlich hartes
+Sofa und begann die Unterhaltung mit einer Flut von teilnehmenden
+Fragen nach meinem Wohlbefinden und meinen Geschäften, die mich hierher
+führten. Es war dabei eine große Erleichterung für mich, daß er sich
+eigentlich alle Fragen selbst beantwortete. Über meine Person, über
+einen Onkel von mir, der auf dem Friedhof in Bimmlingen lag und einen
+sehr unverständlichen Spruch auf dem Grabstein hatte, über eine Tante
+von +ihm+, die ich einmal in Berchtesgaden getroffen, und endlich über
+mein übelriechendes Grundstück am Viehhof, das er kannte, weil er
+früher -- als Junggeselle -- stets die Wurstpapiere seines Frühstücks
+bei Spaziergängen über den bewußten Stachelzaun geworfen, kamen wir
+endlich auf seine Frau.
+
+Ich deutete in einer Pause, die ein Hustenanfall in seine Rede riß,
+bescheidentlich an, daß es mich interessieren würde, wo sich die
+interessante Dame jetzt aufhalte.
+
+„Sie hat heute morgen,“ sagte er, „als sie ein heißes Fußbad nahm, eine
+Inspiration gehabt. Eine außerordentliche Inspiration. Sie ließ sich
+kaum Zeit, sich abzutrocknen und anzuziehen. Und jetzt --“ er deutete
+glücklich lächelnd nach einer grüngepolsterten Türe, die den Nebenraum
+abschloß.
+
+„Aha -- sie dichtet?“
+
+Michael Monkebach nickte mit einem selig zustimmenden Lächeln, als
+wolle er sagen, daß mein Scharfsinn das einzig passende Wort für die
+von ihr geübte Tätigkeit gefunden habe.
+
+„Sie werden sie +sehen+!“ sagte er dann. Wenn es sich um die Königin
+von Saba gehandelt hätte, er hätte nicht strahlender dreinschauen
+können.
+
+In diesem Sinne sprach ich einige glückwünschende Worte.
+
+Er senkte den vorgeneigten Kopf in die Schultern, als lasse er sich
+warmes Wasser wohlig den breiten Rücken herunterlaufen und genoß meine
+Teilnahme mit rührendem Behagen.
+
+Als ich geendet, nahm er das Wort; und während er mit der Spitze
+des Zeigefingers die kleinen Careaus auf meinem linken Oberschenkel
+nachfuhr, was mir gerade nicht sonderlich angenehm war, legte er
+in gedämpftem Ton, von Zeit zu Zeit verstohlen nach der unbewegten
+grüngepolsterten Türe spähend, die Beichte eines Glücklichen ab.
+
+„Sehn Sie, lieber Freund,“ sagte er, „ich darf Sie doch so nennen?
++Alle+ Leute +beneiden+ mich. Wie ich Ihnen sage! Ich hab aber auch ein
++Glück+, sag’ ich ihnen ... Ich bin kein Jüngling mehr, nicht wahr?
+Unter uns: ...zig Jahre. Na, und sie -- erst fünfundzwanzig.“
+
+Er log nicht ohne Grazie. Oder sollte die Dichterin selbst von solch
+kleinlichen Eitelkeiten nicht frei sein und ihm erzählt haben, daß ...?
+
+„Die Verlobungszeit hätte ja unangenehm sein können. Abends immer
+Theater, Gesellschaft, Konzerte -- gräßlich! Und dann so um neune rum
+muß ich immer mal ein Nickerchen machen. Nur ’n paar Minuten, nachher
+bin ich für ’ne Stunde wieder ganz mobil. Aber ich +muß+ einfach.
+Da hilft nichts. Naturzwang! Na, da war’s nu ’n riesiger Dusel, daß
+Maruschka Anastasia schon dreimal verlobt war ... Sie hat keinen großen
+Wert mehr auf solche Aufmerksamkeiten gelegt, wie sie sonst unter
+Brautleuten ... na, ist ja auch ein gräßlicher Blödsinn! -- Und dann
+war ja ihr +Vetter+ da, der von den siebenten Ulanen. Sie erinnern sich
+doch -- der Rittmeister.“
+
+„Pardon, der Rittmeister, mit dem Sie +damals+ ...“
+
+„Jawohl, mit dem ich damals -- beinahe ...“ Er zielte mit einer
+imaginären Pistole listig mit dem Auge blinzelnd nach dem Bilde einer
+stark dekolletierten alten Dame an der Wand. „Komisch ist das Leben,
+nicht? +Der+ ist Maruschka Anastasias Vetter. +Zu+ ein netter Mensch.
+Er schätzt sie sehr. +Sehr+. Und damals schon -- als wir verlobt
+waren -- immer viel Literarisches um sie rum. Sie dichtete ja damals
+schon. Das war aber nur so die Ouvertüre, sag’ ich Ihnen. Und jetzt --
+Berühmtheit! Ze--le--bri--tät! Achtzehn Auflagen in drei Jahren. Im
+Winter oft drei bis fünf Einladungen pro Abend! Ja, sehen Sie, +das+
+nennt man ‚Ruhm‘. Und wissen Sie, wessen Verdienst das ist? +Mein+
+Verdienst ... Lachen Sie nicht -- +mein+ Verdienst. Ihre Lyrik, um was
+dreht sie sich? Lesen Sie nur mal aufmerksam ihre Sachen. Frühling --
+is nicht. Sogenannte ‚Liebe‘ -- is nicht. Heimatsklänge -- is nicht.
+Und all so was Schönes -- is nicht. Aber +Ehe+, sag’ ich Ihnen, alles
++Ehe+! Großartig, diese Wahrheiten, die sie +mir+ da sagt. Und erst
+was +ich+ ihr entgegne -- alles natürlich in Versen, die +sie+ macht.
+Ich --? wissen Sie, ab und zu mal ’nen Brief, aber Verse, ach nein.
+Niemals nie. Und nun +diese+ Frau! Ich komme zu +dieser+ Frau. Was für
+ein Glück, sagen Sie selbst. Sie dichtet für +beide+. Sie schmeißt mit
+den Ehefesseln nur so um sich. Ach, und wie sie dabei aussieht! -- Ihr
+Vetter von den gelben Ulanen, der Rittmeister -- +zu+ ein lieber Mensch
+-- ruft immer ‚Sopha!‘ ... nein, wollt’ ich sagen: ‚Sappho!‘ ruft er,
+‚Sappho!‘ ... Und sehen Sie, Gott ja, andere Frauen dichten ja auch
+mal. So Blaumblümleinsuppen und solche Sachen. Oder von ‚ihm‘. Sie
+dichtet +auch+ von mir, meine Sappho. O ja! aber, sehen Sie, nicht wie
+die andern. Sie dichtet mich nicht +an+; sie dichtet mich +ab+.“
+
+„Pardon, sie dichtet Sie +ab+?“
+
+„Ja.“ Er nickte still befriedigt vor sich hin.
+
+„Was verstehn Sie, wenn ich fragen darf, unter ...“
+
+„Wie ich das verstehe: ‚abdichten‘? O, sehr einfach. Ich sag’ Ihnen ja,
+sie ‚sprengt fortgesetzt Fesseln‘. Geistig natürlich nur; seelisch,
+nicht wahr. Und die Kette, sehen Sie, die +dickste+ Kette, das bin
+ich.“ Ein unsagbarer Stolz leuchtete warm und herzerquickend aus seinen
+Augen, als er fortfuhr: „Ne, wenn ich +das+ gedacht hätte, als wir in
+Prima den ‚Lakoon‘ lasen, daß ich noch mal in die Literaturgeschichte
+komme! Das muß ich doch. +Mit+ dem Bild. Und diese Kette wirft sie weg.
+Bloß in Gedichten, bitte. Reine Phantasie. Mein Gott, ich habe 15000
+Mark Rente -- da ‚wirft‘ ’ne vernünftige Frau nicht so leicht. Aber Sie
+sollten sie mal deklamieren hören:
+
+ ‚Ha, Elendsgötze meiner schwülen Nächte,
+ Beugst du die Fratze lüstern über mich --!‘
+
+Sehen Sie, +das+ nenn’ ich ‚+ab+dichten‘. +An+dichten kann man’s
+schon nicht nennen. Guter Ausdruck, was? Von mir! Und nun stellen
+sie sich bloß vor: +das+ Glück! Abend für Abend sitze ich nach dem
+Abendessen unter irgendeiner Palme -- Gott, Palmen gibt’s ja jetzt in
+allen Wohnungen bei uns -- und sie, mein ‚Sappho‘, steht im Kreise
+der andächtig Lauschenden. In einer Toilette, die mich bei Gerson
+vierhundert Mark gekostet hat. Das war noch ‚Vorzugspreis‘ ... Sie
+liest wundervoll vor. Ich sage Ihnen, wie diese einzige Frau solche
+Pointen herausbringt:
+
+ ‚Den Schlaftrunk her, daß seine roten Augen
+ Die Schönheit meiner Jugend nicht beschmutzen ...‘
+
+Großartig! Ihr Vetter von den gelben Ulanen, der Rittmeister -- +zu+
+ein netter Mensch! -- weckt mich jedesmal, wenn’s zu Ende ist, unter
+meiner Palme. Ein guter Kerl, seelensgut. Kennt keinen Neid. Wenn wir
+dann zusammen nach Hause fahren -- er wohnt dicht neben uns, ja, Wand
+an Wand -- ja, wenn wir so im Wagen sitzen, wissen Sie, was er dann
+sagt: ‚+Das+ können Sie sich ruhig sagen, liebster Michael‘ -- meint er
++mich+ -- ‚+Sie+ haben da +mit+gedichtet. Wissen Sie, ohne +Sie+ wär’
+ja die ganze Geschichte unmöglich.‘ Recht hat er. Wahrhaftig. Und da
+sagen die dummen Leute, ich bin nicht glücklich!“
+
+„So, sagen die Leute so was?“
+
+„Ja. Aber wir haben einen Trick. Wir +lassen+ sie dabei.“ Er rieb sich
+verschmitzt die Hände. „Wahrhaftig, das tun wir. Es ist so ein bißchen
+moderne Reklame für die Bücher, verstehn Sie. Mein Gott, Maruschka
+Anastasia braucht’s ja nicht, aber -- --“
+
+Er verstummte plötzlich und sah nach der Tür. Sie hatte sich bewegt,
+ging auf.
+
+Maruschka Anastasia stand im Türrahmen und sprach nach hinten zu
+einem Herrn, der ihr langsam, die Hände in den Hosentaschen, in einem
+grauen Wölkchen Zigarettenrauch folgte. Der Herr war in Uniform -- in
+Ulanenuniform, wie mir schien. Es war der Rittmeister.
+
+„Ihre Frau Gemahlin hat Besuch --?“ Die Bemerkung entschlüpfte mir wohl
+im Ton eines leichten Staunens.
+
+„Besuch?“ Michael Monkebach dämpfte die Stimme zu einem scheuen
+Flüstern, wie es weißhaarigen Kastellanen in alten Schlössern eignet,
+die dadurch die tiefe Ehrfurcht vor den an den Wänden hängenden
+Ahnenbildern ausdrücken und den Wert der gezeigten Raritäten zu
+steigern glauben. „Besuch? O nein. Das ist doch bloß unser lieber
+Vetter, der Rittmeister. Maruschka Anastasia produziert leichter, wenn
+eine Vollnatur sich im selben Raume mit ihr aufhält. Sie fürchtet sich
+zuweilen vor ihren eigenen Träumen, vor den Gestalten ihrer fiebernden
+Phantasie. Dann gewinnt sie neuen Schaffensmut aus den kraftvollen,
+seelischen Ausstrahlungen solcher gesunden, in sich gefestigten
+Vollnatur.“
+
+Ich will gehängt sein, wenn ich in diesem Augenblick nicht den Eindruck
+hatte, als ob die gesunde, in sich gefestigte Vollnatur mit dem spitzen
+Zeigefinger der langsam aus der Tasche gezogenen Rechten der sensiblen
+Dichterin in der Richtung ihres neckischen kleinen Halsausschnittes
+„Kicks“ machte. Wie gesagt, es war mein Eindruck. Aber ich befand mich
+hier in einer wunderreichen Atmosphäre, die vielleicht Halluzinationen
+der seltsamsten Art begünstigte. Es kann also auch eine Täuschung
+gewesen sein.
+
+Jetzt entdeckten uns die beiden und näherten sich in harmloser
+Freundlichkeit.
+
+Michael Monkebach stellte mich vor, erklärte mit nicht wenigen Worten
+den Zweck meines Besuches, indem er von dem Viehhof zu Maruschka
+Anastasias Gedichten und von dem Gestank meines ererbten Grundstücks zu
+meiner Verehrung für die Poesien der Kettensprengerin die kühnsten und
+erstaunlichsten Übergänge fand.
+
+Der Rittmeister, dessen hervorstechendste Eigenschaft nicht die Geduld
+zu sein schien, unterbrach den Redefrohen mit der kühl abgegebenen
+Erklärung, daß er erfreut sei, mich hier zu sehen; daß er ferner hoffe,
+ich habe eine gute Reise gehabt; und daß er wünsche, ich fühle mich von
+den in meinem Hotel vorgekommenen Pockenfällen nicht weiter beunruhigt.
+
+Ich hatte Zeit, die gefeierte Dichterin zu betrachten.
+
+Wenn ich nicht durch zweier einwandfreier Zeugen Mund erfahren hätte,
+daß es tatsächlich Maruschka Anastasia sei, die leidenschaftliche
+Sängerin befreiter Liebe, so hätte ich unbedenklich geschworen, es
+sei ein langsam in die minder köstlichen Jahre kommendes kleines
+Mädel aus der Konfektion, vielleicht vom Hausvoigtei-Platz in
+Berlin, die zunächst mal wohl daran täte, abends früher zu Bett zu
+gehen und dreimal täglich Plautsche Pillen zu nehmen. Haare von
+indifferentem staubigen Blond, an der nicht eben hohen Stirne zu
+unwahrscheinlichen Löckchen gekräuselt, eine kecke Stumpfnase unter
+müden, wasserblauen Augen, sehr blasse, blutarme Hände, und eine wie
+von einem schmerzenden Bußgürtel geschnürte zerbrechliche Taille --
+so sah die Kettensprengerin aus, die Abgöttin meiner genialischen
+Freitagsgesellschaft, die Gattin Michael Monkebachs, des Mannes mit dem
+persönlichen Einfluß.
+
+Ich überreichte ihr wortlos die drei Rosen an den langen Stengeln. Sie
+beugte huldvoll lächelnd die Stupsnase tief in einen der roten Kelche
+und machte die vortreffliche Bemerkung, wie seltsam es doch sei, daß
+solche Treibhausrosen häufig einen direkt widerlichen Medizingeruch
+hätten. Zum Exempel auch diese.
+
+Der Rittmeister, der an den Rosen riechen durfte, bestätigte diese
+interessante Beobachtung. Die Erwähnung der Medizin brachte ihn wieder
+auf die betrübenden Pockenfälle in meinem Hotel, die man sicherlich vor
+den bedauernswerten Gästen geheim halte.
+
+Er knüpfte daran die lehrreiche Geschichte von einem Gasthof zweiten
+Ranges in der Provinz Posen, in dem vor Jahren eine plötzlich
+ausbrechende Typhusepidemie aus schnöder Gewinnsucht von dem
+gewissenlosen Wirte vertuscht worden sei. Besagter Wirt sei dann als
+Erster auf Nr. 13 -- ein Zimmer, das kein Gast beziehen wollte --
+als Opfer der unheimlichen Seuche gestorben. Sein Geist aber sei
+acht Tage später dem kurz vorher gekündigten Nachtportier auf der
+schlecht erleuchteten Treppe, in nasse Laken gehüllt, erschienen.
+Die Nässe habe man denn auch tatsächlich am andern Morgen noch auf
+den Stufen zur ersten Etage bemerkt. Die Analyse zweier Chemiker
+habe leider zu widerspruchsvollen Resultaten geführt. Der eine habe
+Spülwasser angenommen, der andere habe eine weit unappetitlichere
+Erklärung empfohlen. Die Witwe habe darauf den entlassenen Portier,
+der überall diese gruselige Spukgeschichte erzählte, wegen perfider
+Geschäftsschädigung verklagt. Aber das Gericht habe drei spiritistische
+Sachverständige vernommen, die aus der Schilderung des schleppenden
+Ganges, des nassen Lakens und anderer Attribute der unheimlichen
+Erscheinung übereinstimmend entnahmen, daß es sich zuverlässig um
+ein durchaus reelles Gespenst gehandelt haben müsse; und daß die
+beunruhigende Wahrscheinlichkeit vorliege, das Gespenst werde sich
+noch des öfteren nachts auf der Treppe zu der ersten Etage ergehen.
+Der Nachtportier sei freigesprochen worden. Die Witwe habe Bankrott
+gemacht. Und auf dem Boden des ehemaligen Hotels erhebe sich jetzt
+das ernste und solide Gebäude der städtischen Feuerwehr, die ein
+furchtloser und vorurteilsfreier Mann kommandiere.
+
+Während der Rittmeister erzählte, hatte ich beobachtet, wie Maruschka
+Anastasia erst die Augen schloß, als überfalle sie eine, von leichtem
+Frost begleitete, plötzliche unbesiegbare Müdigkeit. Dann sah ich sie
+die Finger auf ihrem Schoß spreizen und wieder zusammenkrallen, als
+treibe sie schwedische Fingergymnastik. Dazu hob und senkte sich ihre
+in den Linien nicht aufregende Brust in immer kürzeren Zwischenräumen;
+und sie schnaufte durch die geblähten, zuckenden Nasenflügel, als habe
+sie eben im Laufschritt einen Campanile erstiegen und müsse sich nun
+unbedingt Ruhe gönnen, um einem drohenden Herzschlag vorzubeugen.
+
+Michael Monkebach, halb vom Sitz aufstehend, machte dem Rittmeister
+durch Handbewegungen und Gesichterschneiden allerlei Zeichen,
+die zweifellos die inständigste Bitte ausdrücken sollten, diese
+überaus grausame Geschichte nicht weiter zu erzählen im Angesicht
+des beklagenswerten Zustandes, in den sie offensichtlich Maruschka
+Anastasias sensitive Natur versetzte.
+
+Aber der Rittmeister, der wohl auf dem einen Auge total erblindet war
+und sein für das andere Auge bestimmtes Monokel gerade umständlich mit
+dem seidenen Taschentuche putzte, erzählte die aufregende Historie
+ohne jegliche Unterbrechung zu Ende. Und zwar in einem so kühlen,
+leidenschaftslosen Ton, als ob er statt vom Hinüberspielen der
+Wesenheiten einer vierten Dimension in unser rätselvolles Erdenleben in
+Wahrheit bloß vom Einkauf einer Erbswurst oder von einem neuen Mittel,
+weiße Handschuhe zu reinigen, berichte.
+
+Ich begann die unmittelbare Wirkung der Kraftnatur auf die sensitive
+Dichterin zu beobachten und zu begreifen; und ich war sehr gespannt,
+wie sich diese tiefe seelische Erregung Maruschka Anastasias endlich
+lösen werde.
+
+Als der Rittmeister geendet hatte und sich mit einer nach solchen
+Mitteilungen geradezu erstaunlichen Seelenruhe geräuschvoll die Nase
+schneuzte, erhob sich plötzlich Maruschka Anastasia. Immer noch mit
+geschlossenen Augen und wie im Sturme wogendem Busen. Michael Monkebach
+stand mit halberhobenen Armen neben ihr, offenbar bereit, die Teuere
+aufzufangen, wenn sie sinken sollte, aber doch nicht wagend die noch
+aufrechtstehende Dichterin zu berühren.
+
+Der Rittmeister betrachtete diese merkwürdige Gruppe aufmerksam, doch
+ohne Zeichen tieferer Erregung durch sein Monokel. Ich aber hatte --
+ich weiß heute noch nicht, warum und wieso -- eine Glocke mit ziemlich
+schmutzigem Wasser ergriffen, in der ein einzelner Goldfisch, schon
+halb auf dem Rücken liegend, sein nahes, wünschenswertes Ende zu
+erwarten schien.
+
+Plötzlich bewegte sich Maruschka Anastasia in knappen, zögernden
+Schritten vorwärts. Nach der Tür.
+
+Der Rittmeister erhob sich schwerfällig aus dem Sessel, wie
+leidenschaftliche Reiter das tun, die sich auf unruhigen Pferden sehr
+munter und auf den allgemein üblichen Sitzgelegenheiten des Salons nur
+sehr mühsam bewegen.
+
+„Es +hat+ sie wieder,“ sagte der merkwürdige Krieger, nickte Michael
+Monkebach verständnisvoll zu und schritt langsam, die Hände in den
+Hosentaschen, hinter der außergewöhnlichen Frau her. Dabei zündete er
+sich eine Zigarette an, was mich sehr beruhigte. Noch mehr hätte es
+mich allerdings beruhigt, wenn er mir +auch+ eine Zigarette angeboten
+hätte. Aber auf diesen gewiß unbescheidenen Gedanken kam hier niemand
+außer mir.
+
+Als Maruschka Anastasia in dem Gemach ihrer Inspirationen verschwunden
+war, nahm mir Michael Monkebach zunächst behutsam das Glas mit dem
+halbtoten Goldfisch aus den Händen und stellte es wieder auf das
+gebrechliche Bauerntischchen unter dem Kupferstich, der die Medea in
+höchster Raserei darstellte. Dann drückte er mich wieder in das sehr
+tiefe und sehr harte Sofa und erläuterte mir mit gedämpfter Stimme
+die aufregende Szene, an der ich soeben vermutlich in nicht sehr
+geistreicher Pose und ohne das geringste Verständnis teilgenommen hatte.
+
+„Sehen Sie,“ begann er, „nun haben Sie’s +selbst+ einmal erlebt.“
+
+Ich leugnete das nicht; ohne mir darüber klar zu sein, +was+ ich nun
+eigentlich erlebt hatte.
+
+Er begann wieder mit dem Zeigefinger das unbehagliche Spiel auf den
+Carreaus meiner Hose:
+
+„Die Geschichte des Rittmeisters -- ist es nicht ein prächtiger Mensch?
+Habe ich zuviel gesagt? -- die Geschichte hat sie erschüttert, hat
+ihre poetische Psyche, ihr dichtendes Unterbewußtsein zur Tätigkeit
+aufgerüttelt. Während der Rittmeister -- +wie+ er das aber auch
+vorbrachte, nicht wahr? so unberührt von all dem Schauerlichen,
+so nervenstark, so kerngesund, so irdisch-gefestigt in all dem
+Unerklärlichen -- während der Rittmeister erzählte, hat sie bereits
+diesen Stoff erfaßt, umklammert, vertieft, neugestaltet, poetisch
+verarbeitet. Und jetzt -- das duldet keinen Aufschub bei ihr -- muß
+sie es sofort zu Papier bringen. Sie +muß+. Sie schreibt solche Sachen
+stets auf ein geripptes dunkelviolettes Papier. Man sagt, Marie
+Antoinette habe mit Vorliebe solches Papier benutzt. Finden Sie nicht,
+daß meine Frau -- im Profil, oder sagen wir: Halbprofil -- Marie
+Antoinette merkwürdig ähnlich sieht?“
+
+Ich fand das nicht. Ich wurde von ihrem blassen, ziemlich gewöhnlichen
+Gesichtchen in der Tat mehr an den Berliner Hausvoigteiplatz, als an
+die Pariser Tuillerien erinnert. Natürlich behielt ich das für mich. Es
+waren auch andere Dinge, die mich jetzt interessierten.
+
+„Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel, Herr Monkebach ...“ begann
+ich.
+
+Aber schon unterbrach er mich.
+
+„Wie sollt’ ich! Sie glauben nicht, +was+ mich die Leute alles fragen.
+In Beziehung auf Maruschka Anastasia. +Was+ sie ißt, wie +oft+ sie
+ißt, ob sie Wolle trägt, ob sie nachts gut schläft. Ja sogar -- warten
+Sie, ich muß den Brief noch in der Tasche haben -- gestern hat sogar
+ein Verehrer in Fürth, der eine Geschichte des ‚Genies in seiner
+Abhängigkeit von den natürlichen Lebensfunktionen‘ plant, bei mir
+-- per Eilboten -- angefragt, ob und wie oft Maruschka Anastasia an
+Verdauungsstörungen leide ...“
+
+Ich bat ihn dringend, den indiskreten Brief nicht weiter zu suchen und
+mir lieber eine Frage zu beantworten: schrieb Maruschka Anastasia denn
+auch Balladen und Gespenstergeschichten?
+
+Nein, das tat sie nicht. Er belehrte mich, daß jeder Stoff, der sie
+fessele, packe, festhalte -- wie ich das vorhin bei der wuchtigen
+Erzählung des Rittmeisters, der übrigens eine Kraftnatur durch und
+durch sei, erlebt habe, -- auf der Tiefe ihres Unterbewußtseins sich
+sofort in ein eigenes seelisches Erlebnis wandle. Er werde dann
+in ihre eigenartige Lyrik, die stets ihr Liebes- -- das heiße ihr
+Eheleben -- behandle, in irgend welcher sinnvollen Weise einbezogen.
+Ich werde es erleben, daß auch in der vom Rittmeister mitgeteilten
+gruseligen Erzählung nach der wunderreichen Wiedergeburt in Maruschka
+Anastasia’s schöpferischen Phantasie +er+, Michael Monkebach, wie ich
+ihn hier vor mir sehe, eine bedeutsame Rolle spielen werde. Er sei zwar
+nie in Posen gewesen, habe weder den verbrecherischen Wirt gekannt
+noch dem erwähnten Hausknecht näher gestanden, sei noch niemals von
+Gespenstererscheinungen im Wachen oder im Schlafe belästigt worden
+-- aber, ich werde das ja sehen, +er+ werde auch in dieser Dichtung
+als irgend eine merkwürdige Figur erscheinen, über die er freilich
+augenblicklich nicht einmal andeutungsweise eine Aufklärung zu geben
+vermöge. Denn für ihn, wie für alle, seien die Dichtungen Maruschka
+Anastasias stets Überraschungen, Offenbarungen, Ereignisse. Das
+einzige, was er wisse, sei dies: daß seine Natur offenbar so erregend
+simulierend, geistig befeuernd auf die unheimlich fruchtbare Phantasie
+dieser seltenen Frau wirke, und daß er wohl ohne Eigenlob sagen dürfe,
+dies einzigartige Talent sei niemals zu seiner üppigen Entfaltung
+gekommen ohne +seinen+, ihm selbst allerdings rätselhaften persönlichen
+Einfluß.
+
+Ich weiß nicht, wie die Gedankenverbindung war, aber ich fragte ihn
+plötzlich:
+
+„Und +Kinder+ -- haben sie +auch+?“
+
+Seine Stimme bewölkte sich. „Nein, +noch+ nicht.“
+
+„+Noch+ nicht? Sie -- haben vielleicht begründete Hoffnung?“
+
+„Ja,“ lächelte er glücklich.
+
+Ich reichte ihm herzlich die Hand, zog sie aber sofort zurück, als ich
+die verblüffenden Worte vernahm:
+
+„Der Vater des Kindes ist ein Briefträger.“
+
+„Der -- Vater?“
+
+„Ja.“
+
+Das glückliche Lächeln wich nicht aus seinem Angesicht. „Der Mann
+ist kränklich und kein Freund des Treppensteigens. So hatte er die
+gewiß tadelnswerte, aber doch menschlich nicht ganz unbegreifliche
+Gewohnheit, lästige Drucksachen, die ihm wertlos schienen, einfach
+nicht zu bestellen, sondern damit seinen eisernen Ofen zu heizen. Er
+‚sitzt‘ jetzt. Für einige Jahre. Ein sehr harter Spruch. Aber er war
+Beamter, nicht wahr? Und schließlich: es gibt ja auch Drucksachen,
+deren Wert für den Empfänger ein Briefträger nicht ohne weiteres
+abschätzen kann.“
+
+„Und -- von diesem verbrecherischen Briefträger ...“
+
+„Ja. Er ist jetzt fünf Jahre alt.“
+
+„+Wer+ ist fünf Jahre alt?“
+
+„Nun der Junge von dem Briefträger. Die Mutter des Kindes -- sie soll
+einmal eine Schönheit gewesen sein, allerdings mit ausgeprägter Neigung
+zu einem Kropf -- diese liebreizende Frau aus dem Volke hat sich leider
+in einem Anfall negativer Lebensfreude erhängt, als die Verurteilung
+des Ehemanns erfolgte. Nun ist das hübsche Bübchen bei einer etwas
+versteinerten Großmutter untergebracht, einer harten, unsauberen Frau,
+die ich im Verdacht habe, daß sie eine alte Kohlenschaufel als einziges
+Erziehungsmittel benutzt.“
+
+Ich atmete erleichtert auf. Die letzten drei Minuten hatte ich zwischen
+der Annahme geschwankt, daß ich hier einem ganz frivolen Unhold oder
+einem kompletten Narren gegenüber sitze.
+
+„Also, wenn ich recht verstehe, werter Herr Monkebach, Sie wollen das
+eheliche Kind des auf Abwege geratenen Briefträgers +adoptieren+?“
+
+„Ja. Auf die leibliche Geburt eines Kindes ihre Kräfte zu
+konzentrieren, wird -- nach Ansicht unseres Arztes -- Maruschka
+Anastasia +nie+ einwandfrei gelingen. Die Fruchtbarkeit ihrer Psyche
+entschädigt vollauf dafür.“
+
+„Gewiß, ja. Aber --“
+
+„Um uns -- oder eigentlich +mir+; denn Maruschka Anastasia hat sich
+noch nicht recht befreundet mit dem Gedanken -- das überaus herrliche
+Vergnügen zu bereiten, ein junges Menschlein wachsen zu sehen, seine
+Freude am Leben, seine Dankbarkeit mitzugenießen, gehen wir -- oder
+eigentlich: gehe +ich+ -- mit dem Plane um, das fünfjährige Bübchen
+des seelisch entgleisten Beamten als eigen anzunehmen und mir auch für
+die Stunden der Einsamkeit und des Alters -- denn Maruschka Anastasia
+ist durch ihre Arbeiten und ihre reiche Korrespondenz häufig von mir
+ferngehalten -- eine rechte Lebensfreude heranzuziehen.“
+
+„Und haben sie nicht, wenn sie den Charakter der Eltern, vor allem des
+Vaters dieses Kindes prüfen, gewisse Besorgnisse, daß ...“
+
+Er schüttelte den Kopf. „Ich lebe der heiligen Überzeugung, daß aus
+einem Kinde, das früh genug in diese Atmosphäre kommt, in der mein
+guter Wille und Maruschka Anastasias Genie sich zu seiner Erziehung
+verbinden, noch alles Gute zu machen ist. Und dann, sehen Sie, ich
+vertraue auf meinen persönlichen Einfluß.“
+
+In dem Nebenzimmer, dem Tempel der Inspiration, vernahm man den
+gedämpften Ton von Stimmen, die angeregte Zwiesprache hielten.
+
+Michael Monkebach lauschte.
+
+„Sie +sprechen+? So ist die Dichtung beendet. Vorher redet sie nämlich
+keinen Ton. Sie wird gleich kommen. Nehmen Sie mir’s nicht übel, lieber
+Freund ...“
+
+„Ach, ich verstehe, ich soll --?“ Ich deutete nach der Korridortüre.
+
+Er war etwas verlegen.
+
+„Maruschka Anastasia ist stets sehr erschöpft“, sagte er, „nach solchen
+besonders heftigen Anfällen ihres Talentes. Sie pflegt dann allerdings
+das dringende Bedürfnis zu äußern, allein zu sein. Ich selbst sogar bin
+ihr dann oft lästig. Nur die kräftige Vollnatur unseres lieben Vetters,
+des Rittmeisters, hat dann etwas wirklich Beruhigendes für sie.“
+
+So nahm ich meinen Hut.
+
+Michael Monkebach war gerührt. Er quetschte mir mit schmerzhafter
+Herzlichkeit die Hand und versicherte, seit Maruschka Anastasia’s Bild
+als etwas mißglückter Buntdruck dem „Marsyas“ beigelegen, habe ihn
++nichts+ so sehr erfreut, wie +mein+ lieber Besuch.
+
+Auf der Schwelle noch fiel mir das Wichtigste ein. Ich hatte doch
+versprochen, ein Albumblatt ...
+
+Michael Monkebach, dem just viel darauf anzukommen schien, daß mein so
+erfreulicher Besuch nicht durch seine Länge die angenehme Erinnerung
+abschwäche, gab mir hastig ein wertvolles Versprechen.
+
+„Ich werde“ -- sagte er -- „das soeben entstandene Gedicht sofort
+abschreiben -- ich schreibe nämlich +alle+ Gedichte Maruschka
+Anastasias ab. Sie schätzt meine Handschrift sehr. Meine stets
+sich treubleibende Ortographie ist die übliche, während die ihrige
+schwankt. Auch bin ich in der Interpunktion zuverlässiger. Nur die
+Gedankenstriche verteilt sie dann selbst. Das ist Gefühlsache, nicht
+wahr? Die erste Niederschrift Maruschka Anastasia’s selbst aber schicke
+ich ihnen ins Hotel. Nehmen sie das Blatt für die gewiß charmante junge
+Dame mit, die Sie, wie ich recht wohl fühle, besonders hochschätzen.
+Und sagen Sie ihr, Sie hätten in einer unvergeßlichen Stunde das
+seltene Glück gehabt, die Entstehung dieser Dichtung unter dem
+persönlichen Einfluß des Gatten der Dichterin +mit+ zu erleben.“
+
+Er reckte sich in seinen viel zu weiten Kleidern stramm auf, als er so
+stolze Wort sprach, und schien den knappen Türrahmen füllen zu wollen
+mit seiner Persönlichkeit. Und mit einer Handbewegung, die ein König
+beider Sizilien nicht so hoheitsvoll und gnädig spenden könnte, entließ
+er mich in mein ungemütliches Hotel, in dem nach des Rittmeisters
+Ansicht die Pocken ausgebrochen waren ...
+
+Ob das mit den Pocken seine Richtigkeit hat, weiß ich nicht.
+Jedenfalls konnte ich die ganze Nacht vor Hautjucken nicht schlafen.
+Ich machte wohl zehnmal Licht, um bald meine Beine, bald meine
+Schultern zu betrachten, die nach meinem Dafürhalten schon rötliche
+Flecken und Knötchen aufweisen mußten. Davon war allerdings nichts
+zu sehen. Hingegen entdeckte ich so gegen halb vier Uhr morgens
+eine ausgewachsene Wanze, die eilfertig an der schmutzigen Tapete
+promenierte.
+
+Ich zog mich sofort an und verbrachte den Rest der Nacht mit dem Packen
+meines Koffers und der wenig anregenden Lektüre einer drei Wochen alten
+Zeitung, in die meine Lackstiefel eingepackt gewesen waren.
+
+Mit dem Frühzug wollte ich abreisen.
+
+Als ich beim Frühstück saß, das nur durch eine intensiv nach Pomade
+schmeckende Butter bemerkenswert war, brachte mir der Portier zwei
+Briefe. Einen zwölfseitigen von der Tante, in dem sie noch einmal „mit
+dem Umstand, den sie hatte“, betonte, daß sie unter keiner Bedingung
+ihre Zustimmung zu einem pekuniären Selbstmord der Familie gebe, wie
+ihn die sinnlose „Verschleuderung unseres Grundstücks unter seinem
+wahren Werte“ bedeute. Dieser „wahre Wert“ existiert bis heute nur in
+der Phantasie der ideal gesinnten Tante. Sie habe aber -- so fuhr der
+Brief fort -- gehört, in Bimmlingen sollten die Konserven so billig
+sein und wäre mir daher dankbar, wenn ich ihr vielleicht zwölf Büchsen
+Mirabellen, sechs Büchsen Pflaumen, aber geschälte, acht Büchsen
+Brechbohnen ...
+
+Ich schob den Brief, ohne die weiteren Büchsen nachzuzählen, in meine
+Brieftasche und beschloß, daß er erst +nach+ meiner Abreise angekommen
+war.
+
+Dann öffnete ich den andern Brief. Er enthielt das wertvolle Manuskript
+von der Hand Maruschka Anastasias. Die Karte Michael Monkebachs lag
+bei mit den in peinlichster Schnörkelschrift aufgeschriebenen Worten:
+
+„Sehr werter Freund! Anbei das Versprochene. Ich halte es für das
+Bedeutendste, was meine liebe Frau geschrieben hat. Sie machen Ihrer
+Freundin ein königliches Geschenk mit diesen Blättern. Möge es Ihnen
+das charmante Mädchen durchs Leben danken. Der Himmel geleite Sie
+glücklich in die Heimat. Dieses wünscht Ihr ganz ergebener Michael
+Monkebach.“
+
+Der Portier meinte, wenn ich etwa noch mit dem Omnibus mitwolle, so
+müsse ich mich beeilen.
+
+Ich steckte also das Manuskript eilends ein und fuhr, immer noch
+von heftigem Jucken belästigt, an die Bahn. Dort hatte ich, da der
+Omnibus zu einem ganz andern Zug gefahren war -- noch 37 Minuten
+Zeit und begann nun auf dem Perron, auf meinem Handkoffer sitzend,
+die Dichtung zu lesen. Ich „las“ ist eigentlich nicht das passende
+Wort. Maruschka Anastasia hatte die Gewohnheit fast jedes Wort
+durchzustreichen, dieses durchgestrichene Wort durch ein anderes,
+noch undeutlicheres zu ersetzen, das dann häufig wieder durch ein
+drittes querdurchgeschriebenes abgelöst wurde. Jedenfalls liest sich
+eine Urkunde Karls des Dicken oder ein Liebesbrief Ottos des Großen
+an die burgundische Adelheid heute noch bedeutend leichter, als eine
+Original-Handschrift Maruschka Anastasias.
+
+Daß die poetischen Schönheiten einer Dichtung durch ihre
+Unleserlichkeit erhöht werden, ist nicht zu behaupten. Ich las an dem
+vierseitigen Manuskript eine halbe Stunde auf dem Perron, las die
+zweieinhalb Stunden der Bahnfahrt daran, las weitere neun Minuten in
+der Droschke vom Bahnhof bis zu meiner Wohnung, las eine halbe Stunde
+in meinem Studierzimmer weiter und hörte erst auf zu lesen, als Herr
+Jädicke kam, um mich unter vielen vortrefflichen Reden über das Reisen
+im allgemeinen und Fragen nach meiner Reise im besonderen zu rasieren.
+
+Der Anfang des Poëms ist mir in Erinnerung geblieben. Ich gebe ihn
+hier wieder ohne die unzähligen Gedankenstriche, die sich wie die
+gestrichelten Linien des gewissenhaften Schnittmusters für ein
+besonders kompliziertes Ballkleid durch die vielfach verwischten Zeilen
+wanden:
+
+ „Heut Nacht -- ich kam von einem Ball und Schmaus --
+ „Die welken Rosen hingen mir im Haare --
+ „Da stand -- o Gott! der Geist im Treppenhaus
+ „Des Manns, den ich gelegt auf schwarze Bahre ...“
+
+Ich bemerke, daß mir persönlich hier die Konstruktion mißfiel. Indem
+man nicht weiß, ob das Treppenhaus zu dem Geist oder zu dem Mann oder
+ob der Mann zu dem Treppenhaus oder der Geist zu dem Mann und dem
+Treppenhaus gehört. Aber ich bin schließlich nicht kompetent. Es ging
+dann weiter:
+
+ „Im weißen Laken -- gräßlich -- ein Gespenst,
+ „Moder im Rauschen seiner Totenkleider --
+ „Er hob die Knochenhand: ‚Ob du mich kennst --?‘
+ „Und bebend sprach ich: Leider -- leider -- +leider+!“
+
+Die sehr bedeutende Steigerung der folgenden Verse ist mir entfallen.
+Auch wurden die Rhythmen so kühn in ihrer trotzigen Unregelmäßigkeit,
+daß ich manchmal nicht sicher war, ob +ich+ mich verlesen oder ob +sie+
+sich verschrieben oder ob das gerade die höchste Kunst der Neutöner
+war. +Eines+ war jedenfalls bewundernswert: Das Geschick, mit dem sie
+selbst in die Person des Hausknechts in Posen geschlüpft war, und die
+Grausamkeit, mit der der harmlose Michael Monkebach getötet, aufgebahrt
+und begraben, als Gespenst auf eine Treppe gesetzt und von ihr dann in
+Versen hitzigster Anklage über die Maßen schlecht behandelt war. Das
+Gedicht endete denn auch damit, daß sich der unsaubere Geist Michael
+Monkebachs beschämt in sein Grab zurückzog und schwur: nie wieder die
+Wege des endlich befreiten Weibes zu kreuzen, dem seine schmähliche
+Tyrannei „Wermut in alle Becher des schäumenden Lebens gegossen hatte“.
+Das ist mir im Gedächtnis haften geblieben, weil es mir bezeichnend
+schien, daß Maruschka Anastasia das schäumende Leben gleich aus
++mehreren+ Bechern trank ...
+
+Der nächste Tag war ein Freitag.
+
+Ich nahm die teuren, in eine eigens dafür gekaufte kleine Mappe
+gesteckten Blätter mit in den illustren Kreis der „Schaffenden“, die
+mich ihres Umgangs würdigten. Sie empfingen mich mit großen Ehren. Als
+habe ich den schwarzen Erdteil entdeckt oder Andrées Knochen gefunden.
+
+Ich mußte erzählen, erzählen, erzählen, bis mir der Hals trocken war.
+
+Und da schließlich so +sehr+ viel gar nicht zu erzählen war, die
+märchentiefen Augen eines schweigend lauschenden Mädchens aber
+glücklich und begierig an meinen Lippen hingen, so tat ich etwas
+sehr verwerfliches. Ich +log+. Aus einer kurzen Zusammenkunft wurden
+drei lange, inhaltschwere Nachmittage. Aus einem Rittmeister wurde
+ein halbes Offizierkorps. Michael Monkebach wurde schlankweg ein
+Übermensch. Und ich --? O, ich hatte mich vortrefflich benommen! Der
+gute Eckermann hat aus dem alten Goethe in den neun Jahren von 1823 bis
+1832 nicht so viel unerhörte Dinge über Welt und Menschen, über Ruhm
+und Unsterblichkeit herausgefragt, wie ich in diesen drei Unterredungen
+aus Maruschka Anastasia. Und es befriedigte mich sehr, daß alle ihre
+angeblichen Aussprüche bejubelt wurden. Meine persönlichen Einwendungen
+fand man dagegen recht unbedeutend.
+
+Zum Schlusse küßte mich der verbotene Dramatiker auf Stirn, Mund
+und Wangen. Er sagte, daß er so umständlich +nie+ jemanden vor mir
+ausgezeichnet habe. Egon Felix Gundelmann versprach mir sein Bild.
+
+Ein gelegentlicher Mitarbeiter des Marsyas, der auf der Redaktion gar
+nichts zu sagen hatte, bot mir sieben Spalten der ersten Nummer des
+nächsten Quartals an, um das eben Gehörte dort für alle Gebildeten
+niederzulegen.
+
+Dann deklamierte der Reformator der Rezitationskunst, der seit
+anderthalb Stunden in einem Nebenraum das Manuskript studiert hatte,
+mit einer erschreckenden Grabesstimme die Gespensterdichtung. Einige
+weinten; andere starrten entgeistert in die Gläser.
+
+An Maruschka Anastasia wurde dann ein enthusiastisches Nachttelegramm
+aufgesetzt, das sie von der tiefen, lähmenden, entkörpernden Wirkung
+ihrer Dichtung benachrichtigte. Ich durfte als erster unterschreiben.
+
+Dann sprang plötzlich der durch reichlichen Lethegenuß seelisch
+gehobene Reformator der Rezitationskunst mit gleichen Füßen auf den
+ächzenden Tisch, und die Feiernden überbrüllend verkündete er: da sich
+gewiß niemals wieder eine +so+ herzerhebende Weihestunde finden werde,
+so habe er beschlossen, schon heute Nacht, jetzt gleich, in +dieser+
+Minute seine Verlobung mit der Schwester seines lieben Freundes, des
+Neutöners und Erneuerers der deutschen Lyrik bekannt zu geben.
+
+Mit diesen Worten hüpfte er vom Tisch und schloß die tiefblauen
+Märchenaugen meiner heimlichen Liebe mit den schmatzenden Küssen seines
+wulstigen Mundes ...
+
+Ich bin niemals mehr zu den Freitagsfesten gegangen.
+
+Der Reformator hat heute, glaube ich, in Merseburg ein kleines
+Zigarrengeschäft.
+
+Die ferneren Dichtungen Maruschka Anastasias sind mir fremd geblieben.
+
+Bloß Egon Felix Gundelmann sah ich in den folgenden Jahren noch
+zuweilen. Er hat sogar einen gewissen Einfluß auf mich gewonnen. Es
+ist seiner erstaunlichen Beredsamkeit gelungen, mein Leben für den
+Todesfall, meine Möbel gegen Feuer, mein unglückseliges Grundstück
+in Bimmlingen gegen Hagel und meine Winterkleider gegen Motten
+zu versichern. In Literatur macht er nämlich nicht mehr. Bloß in
+Versicherungen.
+
+ * * * * *
+
+Michael Monkebach aber habe ich noch einmal wiedergesehen.
+
+Ein halbes Jahr mag’s jetzt her sein, da zwang mich ein abscheulicher
+Platzregen -- mein Schirm fuhr gerade in einer Elektrischen allein
+weiter in der Richtung des Spittelmarkts -- in ein Café am Potsdamer
+Platz zu flüchten.
+
+Alle Marmortischchen waren besetzt von nassen, schimpfenden Leuten,
+die, trostlos in einer Tasse Kaffee rührend, hinausstarrten auf die
+Straße, die sich langsam in einen venetianischen Kanal zu wandeln
+schien.
+
+An einem Tisch zu vier Personen saßen bereits zwei Schachspieler.
+Behäbige, alte Herren, die schweigend und schnaufend unter Benutzung
+zahlreicher Zahnstocher eine Partie des königlichen Spieles erledigten;
+wobei der eine jedesmal, wenn der andere nach langem Besinnen eine
+Figur vorwärts schob, ingrimmig brummte: „+Dacht+’ ich mirs doch!“ „Ob
+ich’s nicht +kommen+ sah!“ Es war eines jener merkwürdigen Spiele, bei
+denen jeder voraus weiß, was der andere tun wird und eigentlich bloß
+mit sich selbst spielt. An demselben Tisch hatte noch ein Herr Platz
+genommen in einem sehr weiten und für die Jahreszeit reichlich warmen
+Mantel, wie ich ihn zuletzt bei alten Schäfern im Spessart gesehen
+habe. Ihm gegenüber ein hochaufgeschossener, knochiger Jüngling von
+etwa fünfzehn Jahren, der in seinem schon etwas verwachsenen dunklen
+Matrosenkostüm mit dem breit herausgeschlagenen hellblauen Kragen nicht
+sehr glücklich verkleidet aussah. Der Herr hielt krampfhaft eine alte
+rindslederne Reisetasche zwischen den Beinen und machte den Eindruck,
+als ob er ausschließlich zur Bewachung dieses unscheinbaren Schatzes
+engagiert sei. Nur ab und zu gönnte er sich einen unruhigen Blick auf
+eine große Taschenuhr, die er unter dem leisen Geläute vieler goldener
+Petschaften tief aus dem Schäfermantel hervorzog. Der Matrosenjüngling
+aber fing nicht ohne Kunstfertigkeit, mit der behutsam vorgeschobenen
+knochigen hohlen Hand sein Opfer auf der Marmorplatte überlistend,
+Fliegen von einem vergessenen Stückchen Zwetschenkuchen, das herrenlos
+zwischen den braunklebrigen Kringeln und bekluckerten Kaffeetassen lag.
+
+An diesem Tische stand noch ein überzähliger fünfter Stuhl, den mir
+als einzigen, der im ganzen Lokale noch frei war, ein diensteifriger
+Pikkolo mit herablassender Handbewegung anwies. Ich hielt zwei
+feindlich drohende Blicke der gestörten Schachspieler aus, wehrte
+den von dem Matrosenjüngling vom Zwetschenkuchen gescheuchten
+Fliegen, die sich alsbald auf meinem kurzgeschorenen Haupte von dem
+gehabten Schrecken zu erholen trachteten, und bestellte bei einem
+atemlos vorüberfliegenden Kellner einen schwarzen Kaffee und einen
+Kognak. Dann brannte ich mir eine Zigarre an und vertiefte mich,
+meiner darniederliegenden Lebensfreude aufzuhelfen, in ein spaßiges
+Leitgedicht Alexander Moszkowskis in den „Lustigen Blättern“.
+
+„Hast du auch deine wollenen Socken im Koffer, Karl?“ fragte plötzlich,
+wie von schrecklicher Ahnung belästigt, der Mann im faltenreichen
+Schäfermantel.
+
+„Aber +ja+, Papa“, antwortete der Mückenfänger unwirsch und tat mit
+sicherer Hand einen gewaltigen Fang.
+
+„Ich nehme jetzt Ihren weißen Läufer“, meldete der eine Schachspieler.
+
+„Ob ich mir’s nicht +gedacht+ habe!“ zischte der andere ingrimmig.
+
+Dann war wieder eine Weile tiefe Stille an unserem Tisch. So eng
+wir saßen, er war eine Oase der Ruhe in dem Lärm und Getriebe des
+verrauchten, unruhigen Lokals.
+
+„Du hast doch hoffentlich deine Zahnbürste nicht vergessen, Karl?“ Aus
+der Tiefe des Schäfermantels kam die bekümmerte Frage.
+
+„Aber nein, Papa“, gab der Matrose ärgerlich zurück und köpfte
+mit einem Zahnstocher eine Gefangene auf dem Tellerrand, was sehr
+unappetitlich anzusehen war.
+
+„Ich sage jetzt: Schach der Königin. Mit dem Springer“, meldete der
+eine Schachspieler.
+
+„Ob ich das nicht +kommen+ sah!“ brummte der andere und schob wütend
+sein Kaffeebrettchen in den blauschillernden Zwetschenkuchen.
+
+Dann war’s wieder stille.
+
+Plötzlich -- ich war gerade auf die Pointe meiner Lektüre sehr
+neugierig -- beugte sich der Mann im Schäfermantel vertrauensvoll zu
+mir herüber:
+
+„Verzeihung, wenn ich Sie störe ...“
+
+„Bitte.“
+
+„Wie lange fahren wir wohl mit der Droschke nach dem Lehrter Bahnhof?“
+
+... Es gibt merkwürdige Momente im Leben; Momente, in denen man sich
+von einer sanften Riesenwelle erfaßt glaubt und sich weit, weit
+zurückgeschleudert fühlt in längst verrauschte Strudel der eigenen
+Vergangenheit. Die Seele schlägt ihre großen, erstaunten Augen
+auf, sieht sich um und erkennt Menschen, die sie längst in einem
+Gedächtniswinkel begraben hatte; Dinge, die seit Jahren zerbeult
+und zerschlagen und unkenntlich in einer andern Gedächtnisecke beim
+wertlosen Gerümpel lagen; Situationen, die wie groteske neblige
+Gespenster froher, heller Erlebnisse aus einem fernen, fernen Frühling
+wirken.
+
+Solch ein Moment war es, als ich in ganz mechanischer Arbeit meines
+Sprechapparates dem Fragenden erwiderte: „Bis zum Lehrter Bahnhof
+fahren Sie mit einem Kutscher, der nicht betrunken ist, ungefähr
+fünfzehn Minuten.“
+
+Und dabei sah ich unverwandt in dieses fragend auf mich gerichtete
+Gesicht, in dem es jetzt auch wie aufzuckende Erinnerung zu
+wetterleuchten begann ... Ganz so dicht bei diesem fremden Manne,
+dessen Gliederbau der viel zu weite Schäfermantel wie eine schwarze
+Glocke verbarg, mußt’ ich schon einmal irgendwo gesessen haben.
+Bestimmt an einem Tische, tafelnd, lächelnd, konversierend. Auf seiner
+linken Seite, wie jetzt. Aber damals hatten keine alten Herren Schach
+spielend uns gegenüber gesessen. Auch kein Matrosenjüngling fing damals
+Mücken. Damals -- damals -- Und plötzlich +wußt+’ ich’s wieder. Damals
+saß uns eine dicke Dame gegenüber, eine Rentiere aus Stettin mit einem
+pfundschweren Bernsteinschmuck und neben ihr im funkelnagelneuen
+Zivil, das ihn wie einen Zuschneider am Sonntag erscheinen ließ, der
+Rittmeister, der sich so gern reden hörte und dazu so erstaunliche
+Quantitäten Moselwein trank. Damals im Bade an der ~Table d’hôtes~ -- --
+
+„Herr Michael Monkebach -- nicht wahr?“
+
+„Das ist aber eine Freude, +lieber+ Herr Doktor. Ihr Gesicht kam mir
+doch gleich so bekannt vor. Erst dacht’ ich an einen Stationsvorsteher
+auf der Strecke Weimar-Apolda, der mich mal so furchtbar grob
+angefahren hat vor sechs Jahren -- natürlich, wie konnt’ ich nur ...
+Wie ist’s Ihnen denn ergangen? Sind sie noch an der Stuhlbeinfabrik in
+Heiligenstadt beteiligt, ja? Geht sie noch immer so glänzend?“
+
+Da ich niemals an einer Stuhlbeinfabrik in Heiligenstadt beteiligt war,
+so konnte ich ihm darüber keinerlei Auskunft geben. Aber er schien
+auch gar keine Antwort zu erwarten. Seine Fragen waren lediglich
+nervöse Entladungen seiner Freude; waren rethorische Vergnügungen
+seines frohbewegten Herzens. So erkundigte er sich noch, ob ich noch
+immer Karlsbader Wasser trinke, ob ich mir die Zigaretten nach wie
+vor direkt aus Kairo kommen lasse, ob ich noch so leidenschaftlich
+Briefmarken sammle und ob ich noch immer als Wanderredner des Vereins
+für Feuerbestattung tätig sei. Lauter Dinge, an die ich nie in meinem
+Leben gedacht habe.
+
+Einen Augenblick schöpfte er Atem, um dem Matrosenjüngling einen
+pantomimischen Verweis zu geben, weil ihn sein Jagdeifer in bedenkliche
+Nähe des Schachbrettes gebracht hatte und der eine Spieler, nach
+den Störenfried hinblickend, seine dicken Finger schon seltsam
+aggressiv bewegte. Diesen Moment benutzte ich, dem Wiedergefundenen
+zu versichern, daß er mich zwar richtig wiedererkannt habe, was mir
+natürlich äußerst schmeichelhaft sei, daß er mich aber in Bezug auf
+meine Lebensgewohnheiten offenbar mit einem, wahrscheinlich sogar mit
+mehreren seiner Bekannten verwechsle.
+
+Michael Monkebach rieb sich nachdenklich die nicht unbedeutende Nase.
+Der vergrämte Zug, den ich früher schon zuweilen bemerkt hatte, kehrte
+unter diesen Strichen seiner nervösen Finger, tiefer, melancholischer
+wieder.
+
+„Sie müssen schon entschuldigen,“ sagte er. „Was so im Laufe der Jahre
+alles uns besuchen kam ... Es war wirklich ... Ich erinnere mich eines
+Ungarn, der kein Wort deutsch sprach, der zwei Tage lang, eigentlich
+unaufgefordert, zu Tisch blieb, immer nur Maruschka Anastasia anstarrte
+und schließlich von ihrem Schreibtisch ein Falzbein aus Elfenbein mit
+großem, leider unverständlichem Wortschwall, offenbar als ‚Erinnerung‘
+einsteckte. Ich entsinne mich eines kleinen, krummbeinigen Polen,
+der uns durch seine französische Konversation viel Mühe machte.
+Er hatte Maruschka Anastasias Gedicht ins Polnische übersetzt und
+deklamierte uns zwei Stunden lang seine Übertragungen vor. Es klang
+sehr merkwürdig, war aber doch ein bischen langweilig, da wir ja keine
+Silbe verstanden. Er regte sich furchtbar auf dabei, der Gute. Und
+wir mußten ihm später viel Rotwein einflösen, damit er einen Anfall
+von Herzschwäche überwand. Einer der letzten war ein sehr blasser und
+schweigsamer Herr aus Chemnitz, der künstlerische Dichterporträts --
+als Amateur -- aufnahm. Er brachte einen großen Apparat mit, auch eine
+sehr eigentümliche Vorrichtung für Blitzlicht. Mit dieser Vorrichtung,
+die seine Erfindung war, hat er uns die Gardinen in Brand gesteckt. Wir
+hatten einen großen Schrecken. Und das übelste war, auf dem Bilde hat
+Maruschka Anastasia später zwei Köpfe.“
+
+„Wie geht es ihrer verehrten Frau Gemahlin?“ unterbrach ich den Strom
+seiner Erinnerungen.
+
+„Wie es ...“ Er sah zerstreut auf die Uhr. „Ich denke gut. Ich hoffe
+es. -- Fünfzehn Minuten sagten Sie? Dann werden wir wohl ... Karl, laß
+doch die Fliegen in Ruh! Du genierst die Herren da.“
+
+„Ich nehme ihren Turm mit der Königin,“ annonzierte der eine
+Schachspieler und warf dabei einen wütenden Blick nach dem unentwegten
+Mückenfänger.
+
+„Ob ich das nicht die ganze Zeit +kommen+ sah!“ hohnlächelte der
+andere, als ob ihm sein Gegner einen großen ingrimmigen Spaß mit dieser
+Mitteilung gemacht habe.
+
+„Um fünf Uhr dreizehn geht nämlich unser Zug nach Hamburg,“ sagte
+Michael Monkebach, indem er einen vorüberhuschenden Kellner an seiner
+weißen Jacke festhielt, daß sie in allen Nähten krachte. „Bitte, laufen
+Sie nicht +wieder+ vorbei! Also ich habe eine Tasse schwarzen Kaffee
+und ein Hörnchen, -- eigentlich nur ein halbes, denn es war eine
+Schwabe darin eingebacken -- der Junge hat drei Tassen Schokolade und
+drei Stück Zwetschenkuchen. Es waren doch drei, Karl?“
+
+„Vier“, korrigierte der tapfere und gewissenhafte Esser.
+
+„Pardon, ja -- +vier+,“ entschuldigte sich Michael Monkebach, der unter
+dem ungnädig strafenden Blick des Kellners errötete.
+
+Dann fand eine sehr merkwürdige und sehr unleserliche Addition auf der
+Marmorplatte statt. Der Kellner wechselte sein Silberstück, dankte
+kühl und verschwand eilfertig nach dem Buffet, schon von weitem eine
+umständliche Bestellung brüllend.
+
+Michael Monkebach schüttelte den Kopf, während er die wenigen
+Nickelstücke in sein Portemonaie zurücklegte. „Hatte ich ihm nicht ein
+Fünfmarkstück hingelegt? Mir war’s doch so als ob ... Er hat mir nur
+auf einen Taler herausgegeben.“
+
+„So rufen Sie ihn doch zurück“, mahnte ich. „Ich hatte +auch+ den
+Eindruck, daß es ein Fünfmarkstück war.“
+
+„Zurückrufen? Ach nein.“
+
+Es war, als ob Michael Monkebach körperlichen Schmerz beim Ausdenken
+dieser gefährlichen Eventualität empfinde. Er war noch der Alte,
+zutraulich, hilflos, ängstlich, ein prädestiniertes Versuchsobjekt für
+alle kleinen Spitzbübereien einer verschlagenen Menschheit. Alt war er
+geworden. Ganz grau an den dickgeäderten Schläfen. Sein Gang hatte den
+letzten Rest von Elastizität eingebüßt. Er bewegte sich mühsam und
+müde, als ob der faltenreiche Schäfermantel mit Bleistücken gefüllt
+sei, die ihn sacht aber unaufhaltsam niederzögen.
+
+„Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie,“ schlug ich vor. „Drei haben ja
+bequem im Taxameter Platz.“
+
+„Ich steige auf den Bock“, entschied der Jüngling, indem er, die Hände
+in den Hosen, seinem Vater die Reisetasche überlassend, sehr laut und
+sehr falsch pfeifend voranschritt.
+
+„Du -- --“ Michael Monkebach wollte offenbar diese verwegene und
+gefahrvolle Unternehmung nicht zugeben; aber er sah die unwirsch
+aufgeworfenen Lippen des trotzigen Bubengesichts und änderte alsbald
+seinen strengen Entschluß: „Du -- mußt dich aber +fest+halten, mit
+beiden Händen,“ sagte er. „Ich werde dem Kutscher auftragen, daß er gut
+acht gibt und nicht zu rasch fährt.“
+
+„Also kommen Sie.“
+
+Es hatte aufgehört zu regnen. Der Platz lag wie eine einzige,
+spiegelnde Riesenpfütze da.
+
+Wir nahmen uns einen Taxameter. Michael Monkebach gab dem Kutscher
+so ausführliche Anweisungen, als ob es sich um eine Reise durch
+die entlegensten Teile der Mandschurei und nicht um eine Fahrt vom
+Potsdamer Platz nach dem Lehrter Bahnhof handele. Er bat ihn auch,
+dem jungen Herrn alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Insbesondere den
+Zoologischen Garten und das Schloß.
+
+„Soll ick vielleicht über Potsdam fahren?“ gab der Kutscher als
+einzige Antwort zurück, nahm dem bereits auf den Bock gekletterten
+Jüngling die Peitsche aus der Hand, klatschte ermunternd über den
+nassen Rücken des melancholischen Fliegenschimmels und fuhr halblaut
+vor sich hinmurmelnd die Königgrätzerstraße entlang.
+
+„Sie werden Ihre Frau Gemahlin in Hamburg treffen --?“
+
+Michael Monkebach wäre beinahe aus dem Wagen gefallen vor Schreck. „Ich
+werde -- meine ...? Wieso? Ist sie dort? Haben Sie Nachrichten von
+Maruschka Anastasia?“
+
+Nun war die Reihe der Verblüffung an mir. „+Ich+? Wieso -- ich? Ich
+meinte blos, ob Ihre Frau Gemahlin ...“
+
+Er lächelte verlegen und mit dem Zeigefinger diskret auf den auf dem
+Bock hin- und herschaukelnden Jungen deutend dämpfte er seine Stimme
+zu einem säuselnden Flüstern, das er nur zu einigen eingestreuten
+Ermahnungen für den Sohn erheblich verstärkte.
+
+„Sie müssen nämlich wissen, lieber Freund, ich habe mich von Maruschka
+Anastasia -- ja, wie sag’ ich doch gleich -- getrennt. Das ist wohl
+das rechte Wort. Oder eigentlich +sie+ hat sich von +mir+ getrennt.
+Ganz kurz nach Ihrem lieben Besuch damals -- ich entsinne mich
+jetzt sehr wohl, wann das war. Maruschka Anastasia hat damals jenes
+schauerlich-schöne Gedicht geschaffen, in dem ich ihr als Wasserleiche
+-- nein doch, das war vorher -- ich weiß schon: in dem ich ihr als
+nachtwandelndes Gespenst erschien.“
+
+„Ganz recht. Durch eine Erzählung des Rittmeisters ...“
+
+Michael Monkebach machte eine Bewegung, als ob er einen Schüttelfrost
+erwarte. Er zog den Schäfermantel fester um seinen Leib und sah nun
+ganz aus wie ein schwarzer Sack, auf dem als unscheinbarer Knopf und
+verunglückter Zierrat das blasse Haupt eines schlechtrasierten alten
+Herrn angebracht ist. Ich erinnere mich, in meiner Jugend solche
+Lichthütchen im Hause eines frommen Onkels gesehen zu haben.
+
+„Der Rittmeister“, sagte der Kopf auf dem schwarzen Sack, „ja sehen
+Sie, er war doch eigentlich +keine+ Vollnatur. Es war ein Blender,
+ein im Grunde genommen sittlich +nicht+ hochstehender Mensch. Ich
+denke mir, der ständige, fast ausschließliche Umgang mit Pferden
+und rassereinen Foxterriers -- er hatte drei Stück, die uns viel
+Last machten -- hat das Edle, Reinmenschliche in ihm -- Karl, sitze
++ruhig+, halte die Beine +bei+ dir! -- was wollt’ ich sagen? Ja so, das
+Reinmenschliche hat der Rittmeister im Stall wohl verloren. Sie glauben
+nicht, was er für rohe, unzarte Briefe schrieb.“
+
+„An Sie?“
+
+„An mich? Aber nein. Wie sollte er wohl an mich ...? An Maruschka
+Anastasia natürlich. Ich fand diese odiösen Blätter durch einen Zufall
+-- Karl, das ist das Brandenburger Tor, sieh es dir genau an, mein
+Sohn, hier links geht es in den Tiergarten -- Ja, durch einen Zufall.
+Mein Gott, Maruschka Anastasia war sorglos, wie ein Kind. Das war eine
+ihrer liebenswürdigsten Eigenschaften. Sie hat auch nie gemerkt, wenn
+uns eine Köchin betrog. Und ich denke, +jede+ Köchin betrog uns. Sie
+gab mir selbst die Mappe, in der einige von diesen Briefen offen lagen.
+Ich sollte ein sehr langes Gedicht von ihr abschreiben -- das ist der
+Reichstag, Karl, Begas hat ihn gebaut --“
+
+„Walloth, bitte,“ verbesserte ich.
+
+„Richtig ja, Walloth. Sieh ihn dir genau an, mein Sohn, da werden die
+Gesetze gemacht -- -- Ja, ja die Gesetze!“ Er lächelte sonderbar vor
+sich hin. „Maruschka Anastasia hielt nicht viel von Gesetzen. Als ich
+damals die Briefe gefunden und gelesen hatte -- sie lagen ganz offen
+in der Mappe und die Überschriften waren so sonderbar -- da sagte ich:
+Maruschka Anastasia“, sagte ich, „das ist doch wider alles Gesetz und
+alle Ordnung. Du beschimpfst mich in deinen Gedichten, schön. Ich weiß
+ja doch, daß du es nur in deiner herrlichen Phantasie tust, und daß
+es in unserem Vaterlande viel Leute gibt, die das gerne lesen. Also
+warum soll ich der Literatur meinen bescheidenen Anteil weigern? Ich
+gebe sogar zu, das ich +stolz+ darauf bin, einen gewissen persönlichen
+Einfluß auf die moderne Dichtung zu gewinnen, obschon mir selbst das
+Talent versagt ist. Auch daß ich dir als Gespenst erscheine, ist aus
+solchen Gesichtspunkten gewiß in Ordnung. Obschon es vielleicht nicht
+jedem angenehm wäre, sich selber als Gespenst zu sehen. Aber daß du dir
+von dem Rittmeister solche Briefe schreiben läßt, Briefe, wie sie ein
+verliebter Hausknecht -- Wir fahren jetzt über die Spree, Karl, sieh
+sie dir genau an. Es ist kein reißender, aber ein sehr bedeutsamer Fluß
+-- Ja, +so+ sprach ich ungefähr zu Maruschka Anastasia.“
+
+„Und sie?“
+
+„Ja -- sie! Es ist eine merkwürdige Frau. So impulsiv, so ganz und
+gar unberechenbar. Man könnte eine Sphinx, könnte mehrere Sphinxe aus
+ihr machen. Was glauben Sie, was sie tat! Sie zitierte einen nicht
+ganz klaren Ausspruch -- ich glaube von Schopenhauer, er kann aber
+auch von Macchiavelli gewesen sein; und dann nahm sie plötzlich einen
+japanischen Aschenbecher und warf ihn nach mir. Ich bückte mich rasch,
+fiel über den immer vollen Papierkorb. Als ich mich wieder erhob, war
+Maruschka Anastasia aus dem Zimmer gegangen.“
+
+„Und dann?“
+
+„Ich habe Maruschka Anastasia -- -- Was ist das doch für ein Theater?“
+
+„Das Lessingtheater.“
+
+„Richtig, ja. -- Karl, sieh es dir genau an, es ist das Lessingtheater
+-- Ja. Ich habe Maruschka Anastasia +nie+ wieder gesehen. Sie hat,
++wie+ sie war, mein Haus verlassen und ist dem Rittmeister -- er
+befand sich damals mit seinen Terriers auf einem von den Zeitungen sehr
+gerühmten Distanzritt -- entgegengereist. Der Rittmeister hat mich
+einige Tage später auf Pistolen fordern lassen. Meine Freunde haben mir
+gesagt, es hätte das eigentlich umgekehrt sein müssen. Nun, es war ja
+auch +so+ gut.“
+
+„Sie haben sich -- geschossen?“
+
+„Aber das war doch unmöglich. Gleich nachdem Maruschka Anastasia ihre
+Möbel durch den Spediteur holen ließ -- +einen+ Tag nach ihrer Flucht
+-- schloß ich doch mit Frau +Benzmann+ ab.“
+
+„Sie haben sich -- wieder verlobt?“
+
+„Gerechter Himmel -- ich +denke+ nicht daran! Frau Benzmann ist
+Karls Großmutter -- ich denke, ich erzählte Ihnen damals -- eine
+vortreffliche, nur etwas, sagen wir: etwas zu energische Frau.“
+
+„Ach, die alte Dame mit der -- Kohlenschaufel? Der Junge ist also ...“
+
+Michael Monkebach sprach so leise, daß ich ihn nur noch verstehen
+konnte, wenn ich mein linkes Ohr dicht unter seine Nase hielt. Das tat
+ich. Denn die verwickelten Schicksale des Mannes mit dem persönlichen
+Einfluß interessierten mich sehr.
+
+„Durch die Adoption erwuchsen mir doch Verpflichtungen, nicht wahr?
+Ich konnte mich doch jetzt nicht von jedem beliebigen Rittmeister,
+der meine weitgehende Gastfreundschaft, drücken wir uns milde aus:
+mißbraucht hatte, über den Haufen schießen lassen. Sie begreifen
+das? Ich habe Frau Benzmann, -- sie trinkt leider stark und ist als
+Verwandte recht lästig, -- dem Jungen und mir selber versprochen,
+ein guter Vater zu sein. +Nur+ ein Vater. Man muß etwas sein und das
+ganz. Ich wollte meinen ganzen persönlichen Einfluß geltend machen,
+wollte dieses Menschheitspflänzchen zu herrlicher Blüte zu -- Karl,
+wirst du augenblicklich dem Kutscher die Peitsche zurückgeben?
+Au-gen-blick-lich!“
+
+Auf dem Bock hatte sich so etwas wie ein Kampf entsponnen, den der
+neckisch aufgelegte Gaul dazu benutzte, uns in einem harten, stoßenden
+Galopp bald nach links bald nach rechts unsanft an eine Bordschwelle zu
+fahren.
+
+„Du sollst die Peitsche hergeben!“ Halb aufstehend kniff der ergrimmte
+Michael Monkebach den renitenten Pflegesohn in eine seinem Arm
+erreichbare besonders fleischige Körperstelle.
+
+Der Junge gab schrill aufquietschend die Peitsche zurück. Und die
+genußreiche Fahrt nahm einen friedlicheren Verlauf.
+
+„Und haben Sie denn nun rechte Freude an +die+sem Sohn?“
+
+Michael Monkebach umging die direkte Antwort.
+
+„Es war nicht immer ganz leicht,“ sagte er. „Es meldeten sich
+störende, kleine Atavismen -- Sie wissen, sein armer Vater, der
+ehemalige Briefträger ... Der Bedauernswerte ‚sitzt‘ jetzt wieder.
+Er machte als Kassenbote -- ich hatte ihm die Kaution gestellt --
+eine unangemeldete Erholungsreise und vergaß, zuvor einen der Firma
+gehörigen Tausendmarkschein abzugeben ... Übrigens, ich möchte nicht
+schlecht sein, aber, ehrlich gesagt, mir ist’s für alle Teile fast
+lieber, er ist auf solche Weise aufgehoben. Seine Besuche waren nicht
+sehr angenehm. Er hetzte den Jungen auf. Ich glaube, es war auch +sein+
+Gedanke, daß Karl zur +See+ gehen sollte. Er dachte mich wohl damit am
+empfindlichsten zu treffen.“
+
+„Sie lassen den Jungen zur +See+ gehn?“
+
+„Mein Gott, ich ‚lasse‘ --? was will ich machen? Wenn nun einmal
+sein junges, törichtes Herz daran hängt. Und in der Schule --
+unter uns: er ist leider nicht sehr begabt. Wenigstens nicht für
+Unterrichtsgegenstände. Zuweilen hat er wohl ganz überraschende
+Geistesblitze, aber die sind immer mit einer gewissen Tücke verbunden.
+Sie könnten zum Exempel Erdbeermarmelade verstecken, +wo+ Sie wollten
+-- er würde sie finden. Aber im schlichtesten Aufsätzchen eine Kuh zu
+beschreiben oder eine Mühle oder einen Storch -- er bringt’s nicht
+fertig. Nun hab’ ich ihn also angemeldet als Schiffsjungen in Hamburg.
+Der Kapitän ist ein Schulfreund von mir. Er nimmt ihn dort schon an der
+Bahn in Empfang. Gleich die erste Fahrt ein hübsches Stückchen Wasser
+... Nach Valparaiso. Es soll gute Zucht sein auf dem Schiff. Auch
+über das Essen habe ich mich vergewissert. Na, natürlich nicht gerade
+Erdbeermarmelade; aber kräftig und reichlich.“
+
+„Ist da nun nicht ein trauriger Gedanke, einen Sohn zu haben und doch
+wieder +keinen+ Sohn zu haben?“
+
+„Gewiß, gewiß. Aber, was wollen Sie, sein Herz hing daran, nicht wahr?
+Er wäre mir verbummelt, verbittert zu Hause. Und +so+ -- ich denke, ich
+kann doch für ihn sorgen. Lächeln Sie nicht, das ist doch etwas, ist
+ganz viel. Ich kaufe ihm warme Unterwäsche, wenn er nach Spitzbergen
+fährt, und ich suche ihm leichte Sommersachen aus, wenn er nach dem
+Äquator steuert. Ich habe mir einen neuen großen Atlas gekauft --
+meinen schönen alten Kiepert hat Maruschka Anastasia irrtümlich unter
+ihren Sachen mitgenommen. Und so kleine Fähnchen hab’ ich in einem
+Papierladen erstanden, wissen Sie, so lustige bunte Wimpelchen an
+Stecknadeln, wie sie die großen Dampfschiffahrtsgesellschaften auf
+ihre Karten stecken. Genau solche. Das hab ich ihnen abgesehen. Und
+so mache ich auf der Karte alle Fahrten mit ihm; und abends lese ich
+die Berichte von den Seewarten. Und aus jedem Hafen -- das hab ich
+schon ausgemacht mit meinem Schulfreund, dem Kapitän -- bekomme ich
+ein ausführliches Telegramm. Sehn Sie, mich hat das Leben gelehrt, es
+ist gar nicht so wichtig, daß man immer +körperlich+ bei den Menschen
+ist, die man liebt, die man halten und schützen und fördern möchte.
+Maruschka Anastasia zum Beispiel -- ich habe sie +nie+ wieder gesehn.
+Aber es freut mich doch an jedem Ersten im Monat, wenn ich, die Hand
+auf der Brusttasche, die Bückeburger Straße hinaufgehe und ihr das
+Geld auf ihr Konto bei der Deutschen Bank einzahle.“
+
+„Was -- Sie -- Sie -- unterstützen Ihre geschiedene Frau noch --?“
+
+„Das +muß+ ich doch. Ich bin ja der schuldige Teil, nicht wahr? Heißt
+das: vor der Welt. Wir haben das ganz hübsch so eingerichtet. -- Und
+dann hat ihr Verleger Bankrott gemacht. Und der Rittmeister hat doch
+selbst nichts, nicht wahr? Er verkauft manchmal einen Wurf Foxterriers
+-- aber mein Gott, jetzt sind wieder die schottischen Schäferhunde
+Mode. Er hat Unglück der Mann, wirklich, er tut mir leid.“
+
+Wir waren am Lehrter Bahnhof und stiegen aus.
+
+Der Zug stand schon bereit. Michael Monkebach eroberte für den Jungen
+einen Eckplatz, Rücksitz am Fenster. Er dachte an alles, brachte die
+Reisetasche im Gepäcknetz unter und erprobte umständlich auf mehrere
+sinnreiche Arten, ob sie nicht etwa dem Daruntersitzenden auf den
+Kopf fallen könnte. Er kaufte ihm noch ein paar Orangen und zwei
+fingerdick belegte Brote; er belehrte ihn noch über die wohlgesetzten
+Begrüßungsworte, die er dem Kapitän bei der Ankunft in Hamburg
+widmen sollte, ermahnte ihn dringend, auf die Reize der Aussicht ein
+Augenmerk zu haben und sich ja nicht aus dem Fenster zu beugen, weil
+einem da leicht kleine Kohlenstäubchen ins Auge fliegen könnten, was
+sehr fatal und schmerzhaft sei. Und mit einer unnachahmlich diskreten
+Handbewegung auf eine dunkle Verbindungstür nach einem kleinen
+Kabinett weisend, flüsterte er: „Und -- du weißt, lieber Karl, für alle
+Fälle ... +Genier+’ dich nicht, Junge! Solche Dinge sind menschlich.
+Die vornehmste Dame ist nicht frei davon.“
+
+Ich hielt mich bescheiden etwas zurück, den Abschied nicht zu stören.
+
+Daß der Jüngling von Sentimentalitäten überwältigt werden könne, schien
+er nicht zu befürchten. Er betastete neugierig den blanken Griff der
+Notbremse und prüfte die geheimnisvolle Plombe, was Michael Monkebach
+sehr in Verwirrung setzte. Er drehte die Heizungskurbel, las die
+ausführlichen Bestimmungen über „verlorene und gefundene Gegenstände“
+mit lauter Stimme von einem angeschlagenen Blättchen ab und bat
+schließlich seinen Vater, dem Mathematiklehrer zu bestellen, daß er ihn
+nie habe ausstehen können und für einen ekelhaften Esel halte.
+
+Das war der letzte Gruß des künftigen Seefahrers an die Heimat, an die
+Vergangenheit, an das Festland.
+
+Der Zug setzte sich in Bewegung.
+
+Michael Monkebach zog mit nervöser Hast ein sehr sauberes Taschentuch,
+reichlich so groß wie eine Kinderwindel; und er winkte mit der
+ganzen Kraft seines Armes, so lange der Zug in Sicht war, wobei er
+im Überschwang der Gefühle am äußersten Ende des Perrons herlief und
+beinahe den diensttuenden Stationsvorsteher auf die Schienen geworfen
+hätte.
+
+Als wir langsam die Treppe herunterstiegen, blieb er plötzlich stehen,
+legte mir die Hand auf den Arm und sagte:
+
+„Ist es nun nicht ein wunderbarer, ein, möchte ich sagen, erhebender
+Gedanke, daß der Junge vielleicht in drei Monaten in Kapstadt vor Anker
+geht, oder in sechs Monaten in den Hafen von Habana einläuft oder
+in Montevideo an Land klettert oder in Melbourne? Und ich in meinem
+stillen Landstädtchen, der ich nur noch seine ziemlich schlechten
+Bilder und sein zerbrochenes Kinderspielzeug und seine zerpflückten
+Schulbücher habe als Erinnerungen an so viele Sorgen und Hoffnungen und
+gern erfüllte Pflichten, ich weiß: daß er unter Kaffern und Indianern,
+unter Grönländern und Indiern und unter lauter seltsamen Menschen, die
+eine fremde Sprache reden und fremden Sitten gehorchen, plötzlich etwas
+sagen, etwas tun wird, daß er nur von +mir+ hat, nur von +mir+ haben
+kann. Er wird sich plötzlich auf eine Lehre besinnen, die ich ihm gab;
+wird ein Wort, eine Sentenz anwenden, die er mich oft gebrauchen hörte.
+Und bewußt oder instinktiv wird er ein winziges Spürchen Kultur, die
+Kultur von +meiner+ Kultur ist, unter die Feuerländer und Kanibalen,
+unter die poesielose Hafenbevölkerung des schmutzigen Ostens, unter die
+armen Fischer im Eis des hohen Nordens tragen. Und so dünn und klein
+diese Fäden auch sein mögen, +mein+ persönlicher Einfluß, den ich auf
+sein Kindergemüt übte, umspannt auf solche Weise in ein paar Jahren
+vielleicht die ganze Welt. Ein Späßchen, das +ich+ einmal gemacht,
+erzählen sie sich vielleicht am lodernden Wachtfeuer am Amazonenstrom.
+Eine Handbewegung von mir, wenn ich abends den Tee bereitete, wird
+vielleicht in Lappland von einem schmierigen Eingeborenen als fremde
+Kulturblüte nachgeahmt. Ein gutes Wort, daß ich gelegentlich aus
+dem Gedächtnis nach einem deutschen Dichter falsch zitierte, klingt
+vielleicht in derselben irrigen Version in einem Tempel bei Nagasacki
+wieder. So hat alles Trübe sein Fröhliches, jeder Schmerz seine Heilung
+in sich selbst. Ich verliere, sehn Sie --“ Er stockte einen Augenblick,
+dann sprach er mit wehmütigem Lächeln weiter: „Ich verliere einen
+Jungen an die große Welt da draußen; und mein Haus wird still und
+einsam. Aber ein Stückchen, ein Spürchen, ein Gruß von mir passiert mit
++ihm+ den Äquator, fährt mit ihm durch die Wendekreise. Und auf all das
+Fremde, Große, Schöne da draußen, das ich mit eigenen Augen nie sehen
+werde, habe ich ganz heimlich und ganz bescheiden durch die Fahrten
+meines Adoptiv-Kindes einen gewissen persönlichen Einfluß.“
+
+Während er mehr zu sich selbst, als zu mir sprach, hatte er den
+schwarzen Schäfermantel auseinandergeschlagen und wischte sich mit
+dem riesigen Zipfel des Taschentuches verstohlen das Auge. Als er
+aber meinen freundlich verstehenden Blick auf sein gerötetes Antlitz
+gerichtet sah, steckte er das Tuch sofort weg, zwinkerte noch ein
+paar Mal wie prüfend mit dem Augendeckel und erklärte dann ein wenig
+unsicher im Ton:
+
+„Es muß mir ein Kohlenstäubchen ins Auge gekommen sein.“
+
+Dann schritt er im Gewühl der Passagiere eines eben angekommenen
+Zuges zwischen einem höheren Offizier und einer Eierfrau durch die
+Perronsperre ins Freie ...
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+[Illustration:
+
+ Druck von
+ C. Schulze & Co., G. m. b. H.
+ Gräfenhainichen]
+
+
+
+
+ Bücher aus dem
+ Verlage ○ ○
+ Concordia Deutsche
+ Verlags-Anstalt ○
+ +Hermann Ehbock+
+ Berlin W. 50 ○ ○
+ Geisbergstraße 29
+
+
+
+
+Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock
+
+[Illustration: Berlin W. 50.]
+
+Rudolf Presber:
+
+Von Leutchen, die ich lieb gewann
+
+ _=15 Auflagen=_ in kurzer _=Preis=_ geheftet Mk. 3.50,
+ Zeit gbden. Mk. 4.50.
+
+=Berliner Tageblatt.= +Welch ein Buch! Welch ein lustiges Buch durch
+und durch!+ Der ernsteste, bis aufs äußerste überlastete Minister, ja
+alle überlasteten Menschen (und wer wäre es nicht?) hätten freudige,
+fröhliche Stunden, wo sie ab und zu aufsehen müßten vom Lesen, um
+sich vom Lachen auszuruhen und minutenlang zu stoppen, um sich zu
+erholen. Ja, welch ein +wundervolles köstliches Buch ist es+! Voller
+(wenn erlaubt ist, so zu sagen) durchdringenden Humors. Wie scharf hat
+der Dichter uns Menschen gesehen, „in diesem Fall“ wie scharf unsere
+großen und kleinen Eigenheiten gekannt! Wie vielen wird dies Buch ein
+erfrischendes Buch sein, wo sie mal beim Lesen alle und alle Sorgen
+an den Laternenpfahl hängen können! Und die Kranken, die darin lesen,
+müssen gesund werden (+Detlev von Liliencron+).
+
+=Leipziger Tageblatt.= Dieses Buch stelle ich +an einen ganz
+besonderen Platz in meiner Bibliothek+. Ich stelle es dahin, wo
+die Sorgenbrecher des Lebens stehen, dahin, wo all das traulich
+zusammensteht, was pessimistische Gedanken und Gefühle verscheucht,
+was mir die Schatten des Lebens bannt und die Sonne goldiger macht.
+Ganz in die Nähe der ernsten Philosophen stelle ich es, nicht zu weit
+weg von Shakespeare, dem genialen Witzbold, und nicht zu weit auch
+vom (nicht zeitlich, aber wesentlich) älteren Jean Paul ... Der Wert
+der Presberschen humoristischen Erzählungen, ihr ganz +einzigartiger
+und außerordentlicher künstlerischer Wert+, besteht in der Fähigkeit
+des Dichters, sich in die Lebensgewohnheiten und Lebensauffassungen
+der Personen völlig hineinzudenken, die er uns schildert. Nur der
+wirkliche Dichter vermag seine Figuren lediglich durch sich selbst
+humoristisch wirken zu lassen. Da ist nichts gesucht und an den Haaren
+herbeigezogen, +all diese Personen leben+, leben, so wie sie der
+Dichter schildert.
+
+=Die Literatur (Hamburger Nachrichten).= In diesen Skizzen zeigt
+sich der Verfasser, den wir als einen unserer innerlich reichsten
+und feinsten Lyriker bereits kennen, als treffsicherer Spötter und
+Satiriker. „Der Mäcen“, „Liardot II.“, „Mein Porträt“ usw. sind
++Kabinettstücke humoristischer Lebensepisoden+.
+
+=Dresdener Nachrichten.= Ein Zug von, ich möchte fast sagen
++überwältigendem Optimismus+ geht durch jede einzelne dieser feinen
+Skizzen, aus denen der Humor als der „verschönte Ernst“ zu uns spricht,
+jene Liebe zu den Menschen, die stets in dem großen Verstehen ihrer
+Schwächen und Fehler, ihrer Leiden und Freuden ausklingt. Man fühlt
+es, Rudolf Presber ist das Leben nicht stumm geblieben, er hat es sich
+selbst gedichtet, zur Poesie umgestaltet in den Sorgen des Alltags, in
+den Freuden der Feierstunden, in Jahren des Ringens und Leidens, in
+Augenblicken der Freude und des Glücks. Nur ein solcher Mensch, den
+das eben zum Dichter gemacht hat, kann Leben so sehen, wie es Presber
+sieht ... Nur wenige Dichter, die heute mit uns und hinter uns leben,
+verstehen es, +mit solcher Herzlichkeit zu schreiben, mit so viel
+echtem Gemüt zu erzählen+, wie dieser Poet, um dessen Lippen immer ein
+Lächeln zu schweben scheint, aus dessen leuchtenden Augen stets ein
+warmes Leuchten bricht, mag er auch nicht immer von lachendem Frohsinn
+sprechen.
+
+=Breslauer Zeitung=: „+Ich habe lange nicht so gelacht+“, sind die
+Worte, die jeder ausrufen dürfte, der das entzückende humorvolle Buch
+„Von Leutchen, die ich lieb gewann“, von Rudolf Presber aus der Hand
+legt. Es ist reiner, klarer, echter Humor.
+
+
+
+
+Die Diva und Andere
+
+von =Rudolf Presber=
+
+_Sechste_ Auflage
+
+Preis: Geheftet Mk. 3.--, gebunden Mk. 4.--
+
+
+=Münchener Neueste Nachrichten=: Einen hohen und seltenen Genuß
+verschafft die Lektüre dieser von sonnigem Humor und sprudelnder
+Heiterkeit erfüllten Skizzen. Presber, der feinsinnige Lyriker
+und geistreiche Spötter, ist unstreitig auch einer unserer besten
+Humoristen. Das neueste Buch ist ein schlagender Beweis dafür. Wie
+prächtig bearbeitet ist die kleine Skizze „Die Diva“, mit welch
+bitterer Ironie deckt der Verfasser mit wenigen genial hingeworfenen
+Strichen die ganze Falschheit und Niederträchtigkeit dieser drei sich
+gegenseitig umschmeichelnden Gestalten, der Diva, des Kritikers und des
+Dichters, auf. Nichts darin erscheint übertrieben, sondern alles atmet
+natürliche Frische. Eine ebenso große Rolle spielt das komische Element
+in der künstlerisch fein gearbeiteten und ergötzlich geschilderten
+Skizze „Der rätselhafte Findling“, der durch das Erscheinen Sherlock
+Holmes als Sohn des Dalai Lama erkannt wird. Der überaus ansprechende
+Stil, der das ganze Buch durchweht, übt einen unwiderstehlichen
+Zauber aus. Warmherzig und voll Empfindung ist das Buch so recht dazu
+geeignet, jedermann von krankhaften Seelenzuständen zu befreien und
+allen Pessimismus zu verscheuchen. Presber ist ein ganzer Künstler,
+dessen Phantasie einen Zündstoff bildet, dessen Wirkung niemand sich
+entziehen kann.
+
+=Internationale Literatur- und Musikberichte=: Ein echter
+Sorgenbrecher! Man kennt Presbers Humor schon von seinem Buche her:
+„Von Leutchen, die ich lieb gewann“. Hier ist derselbe Humor, derselbe
+geistreiche Witz, die gleiche Kunst der kurzen, scharf pointierten
+Erzählung. Die vierzehn kleinen Erzählungen sind Meisterstücke ihrer
+Art und werden mit Recht dazu beitragen, Presbers Namen in die Reihe
+der ersten Humoristen zu stellen. Schon die Tatsache der 5. Auflage
+ist der beste Beweis für die Güte des Buches. Ich empfehle es auf das
+allerwärmste.
+
+=Breslauer Zeitung=: Zwanglos intensiv teilt sich wieder die
+Grundstimmung der Presberschen Prosasatiren mit: Klar erkennt man in
+der Karikatur den fein durchschauten, festgeformten Typ, im scharfen
+Angriff die verstehende Entschuldigung, im brillierenden Wortwitz die
+Treffsicherheit der inneren Pointe, in der schneidigen Ironie noch die
+warme Herzlichkeit des Optimisten von Geburt. Nicht viele sehen jetzt
+so wie Rudolf Presber. Am meisten Otto Ernst (der Erzähler natürlich!),
+wo ihm das Leben ein frohes Farbenspiel ist. Aus einiger Entfernung
+schon grüßen die Menschen Heinrich Seidels und die Querköpfe Hans
+Hoffmanns sich mit Presbers Leuten. Und ganz aus der Weite reckten
+sich dann die Charakterfiguren noch weit Größerer auf. Die Form --
+sie ist bei Presber mit dem Geschick des Routiniers dem allerjüngsten
+Geschmack angepaßt -- wird nicht über den soliden Dauerwert dieser Art
+Humor hinwegtäuschen, der nicht Presbers persönliches Eigen allein ist,
+sondern künstlerische Daseinsäußerung eines typischen Temperaments,
+das zum Glück jeder Epoche immer wieder neu ersteht, nie unverstanden
+bleiben darf und von seiner Zeit immer nur die Aeußerlichkeiten leiht.
+
+=Der „Rheinische Kurier“=: Presber ist nicht nur in seiner
+engeren Heimat, sondern im ganzen deutschen Vaterland als einer
+der geistvollsten Plauderer und Feuilletonisten bekannt, der
+es versteht, auf der Grundlage einer scharfen Beobachtung und
+einer feinen psychologischen Zergliederung Grazie und Anmut mit
+ästhetisch-philosophischem Ernst zu verbinden. Wie immer, so bekundet
+auch Presber in der vorliegenden Sammlung geistvoll-humoristischer
+Silhouetten seine großen Vorzüge. Mit kecken Strichen versteht er seine
+„Helden“ und „Heldinnen“ uns vorzuführen, ihre Tugenden zu preisen und
+ihre Schwächen unbarmherzig zu geißeln und doch so liebenswürdig dabei
+zu bleiben, daß keine Bitternis in der Seele des Lesers aufsteigt.
+
+=Deutsche Tageszeitung=: Von Rudolf Presber, dessen bereits in
+vierzehnter Auflage erschienenes Buch von „Leutchen, die ich lieb
+gewann“ nach dem Ausweis des Buchhandels zu den meistverlangten
+Neuerscheinungen dieses Jahres gehört, ist soeben das amüsante
+Geschichtenbuch „Die Diva und Andere“ in sechster, vermehrter Auflage
+mit neuem, charakteristischem Buchschmuck von Hanns Anker erschienen.
+Alle Vorzüge einer humor- und gemütvollen Erzählungskunst, die dem
+Verfasser des „Von Leutchen, die ich lieb gewann“ nach dem einstimmigen
+Urteil der Kritik unter die ersten Humoristen einreiht, findet sich in
+diesem Buche in bunter Fülle wieder.
+
+=Berliner Tageblatt=: Rudolf Presber hat viel Begabungen: er kann sehr
+schöne zartflimmernde Verse machen; er kann mit ganz aktuellem Witz
+sich zum Herrn einer momentan interessanten Situation machen; er kann
+sich träumend über die platte Wirklichkeit erheben und kann auch als
+rechtes Weltkind harmlos fröhlich irgendeine Schnurre erzählen. Von
++alldem+ findet sich etwas in diesem Satirenband.
+
+=Die Post=: Presber liebt es, Satire und Humor und Grazie ineinander zu
+flechten. Seine Satire wird nie bösartig und gallig, der wundervolle
+süddeutsche Humor streicht mit einer weichen, warmen Hand über
+die Spitzen und Widerhaken der Satire und kulminiert zumeist die
+temperamentvoll losfahrende Vehemenz der Satire in einem befreienden
+und herzerquickenden Gelächter. So etwas bringt ein Norddeutscher nicht
+gut zuwege, dazu muß man schon Süddeutscher sein von dem leichten und
+doch empfindungsvollen fränkischen Geblüt.
+
+
+
+
+Die Bilder-Stürmer
+
+Eine Tragödie in fünf Akten
+
+von =Cléon Rangabé=
+
+Übersetzt und für die Deutsche Bühne bearbeitet von
+
+Rudolf Presber
+
+Mit Buchschmuck von +Hanns Anker+
+
+Ihrer Kgl. Hoheit der Kronprinzessin von Griechenland gewidmet
+
+ Geheftet Mk. 4.--, gebunden Mk. 5.--
+ Numerierte Luxus-Ausgabe Mk. 25.--.
+
+
+„=Nord und Süd.=“ Nicht nur der Diplomat, auch der Dichter Cléon
+Rangabé ist in Deutschland wohlbekannt und geschätzt. Das vorliegende
+Buch, das Drama „Die Bilderstürmer“, ist geeignet, den Namen des
+Dichters noch weiter hinauszutragen. Das behandelte Thema steht
+an und für sich uns Deutschen recht fern und abseits; jedoch ist
+Rangabé vollkommen gelungen, unser Interesse wachzurufen und wach zu
+halten, uns zu erwärmen und tiefinnerlich zu erschüttern! Gleich am
+Anfang empfinden wir bewundernd, mit wie kurzer kraftvoll gestalteter
+Exposition uns der Dichter in die das Stück bedingenden Verhältnisse
+hineinversetzt, daß die Zeit, die Umgebung mit all ihren Kämpfen und
+Gegensätzen sofort klar vor uns liegt. Es ist die Zeit der dogmatischen
+Kirchenkämpfe, die Zeit der „Bilderstürmer“; es ist die Umgebung des
+byzantinischen Kaiserhofes, wo eben jene Frage des Bilderdienstes
+die Kaiserin Irene, Leos IV. Witwe, zu ihrem Sohne und Mitregenten
+Konstantin VI. in schärfsten Konflikt brachte.
+
+Im Theater zu Athen haben die „Bilderstürmer“ großen Erfolg erzielt,
+und wir sind überzeugt, daß auch ihre Aufführung in deutscher Sprache
+auf deutschen Bühnen bei angemessener Inszenierung und guter Besetzung
+der Hauptrollen reichen Beifall finden und Zugkraft ausüben wird.
+
+Und zum Schluß die höchst vornehme Ausstattung des Buches, die nicht
+nur prächtig ist -- das kann auch von manchen anderen Erzeugnissen des
+modernen Buchschmuckes gesagt werden -- sondern, was weit schwerer
+wiegt und größere Anerkennung verdient, in ihrem Stile bis ins Detail
+hinein einheitlich und dem Inhalte des Buches angepaßt ist. So ist
+ein Kunstwerk entstanden, das in jeder Beziehung zu erfreuen und
+befriedigen vermag.
+
+
+
+
+Im Lande der Jugend
+
+Roman von Traugott Tamm
+
+_6. Auflage._ Geheftet Mk. 4.--, geb. Mk. 5.--.
+
+
+Die „=Preußischen Jahrbücher=“: Traugott Tamm ist einer der
+Auserwählten, dem das Können gegeben ist. Er ist eine starke,
+dichterische Persönlichkeit mit so viel Eignem, daß er sich an kein
+berühmtes Muster anlehnt, sondern ganz selbständig dasteht ...
+Der Abschied der Eingezogenen des Kirchspiels im Jahre 1870 und
+die Ansprache ihres hochbetagten Geistlichen ist eine der vielen
+meisterhaften Szenen, die das Buch enthält und der nur wenige in den
+Romanen der letzten Jahrzehnte an die Seite zu stellen sind. Dieser
+Roman kann zu einem wesentlichen sozialen Faktor werden, wenn er so
+viel gelesen wird wie er gelesen zu werden verdient!
+
+=Das Blaubuch=: „Ein wunderbares Buch, wie es selten auf den Markt
+kommt.“
+
+=Altonaer Tageblatt=: Das Thema dieses großangelegten Romans erinnert
+an das in Freytags „Soll und Haben“, ist aber durchaus selbständig
+verarbeitet und übertrifft Freytag an Vertiefung und Charaktere bei
+weitem. +Man hat das Bedürfnis, dieses Buch zweimal zu lesen.+
+
+=Königsberger Neueste Nachrichten=: +Dieser Roman ist wie eine schöne
+reife Frucht, von sorgsamer Hand gepflückt. Seltene Schönheit und
+Tiefe der Empfindung und Sprache hebt dieses Buch weit über derartige
+Erscheinungen heraus.+
+
+
+
+
+Rinnender Sand
+
+Ostseegeschichten von Karl Rosner.
+
+Geheftet Mk. 2.--, gebunden Mk. 3.--.
+
+
+=Das kleine Journal=: ... +Ein Werk voll wunderbarer stiller Schönheit,
+die eindringlich und tief ergreift und lange nachklingt und ein
+Bleibendes im Leser hinterläßt.+
+
+=Neues Wiener Tageblatt=: +Ein prächtiges Buch!+ Voll schöner,
+stimmungsreicher Naturschilderungen, voll Wärme und Empfindung bei
+Beurteilung der Menschen, liebenswürdig im Detail und großzügig im
+Ganzen.
+
+
+
+
+Was ihm das Leben gab
+
+Roman von =Rudolf Pinner=.
+
+Geheftet Mk. 3.--, gebunden Mk. 4.--.
+
+
+=Wiesbadener Generalanzeiger=: Einer von denen, die es fertig brachten,
+wirkliche, echte Menschen zu schildern, wie sie uns das Leben wahrhaft
+zeigt, einer von diesen wenigen, die zugleich feine Beobachter und
+echte Dichter sind, ist Rudolf Pinner. Viel von dem, was dem „Helden“
+seiner Dichtung, dem Hans Erik Wendlandt das Leben gab, hat sicherlich
+auch der junge Autor aus der Heimat Gerhart Hauptmanns wirklich erlebt,
+vieles auch mag der feinsinnige Dichter an anderen Menschen erschaut
+und dann in sich aufgenommen haben. R. Pinner geht seine eigenen Wege.
+Einzelne besonders schöne Stellen dieses Romanes hervorzuheben, wäre
+nicht recht. Man darf nichts herausreißen und absondern von dem, was
+ein festes, harmonisches Ganzes ist. Dies ist ein Buch vom Leben und
+fürs Leben, das wirklich verdient, gelesen zu werden.
+
+
+
+
+Die Invasion von 1910
+
+Der Einfall der Deutschen in England
+
+von =William Le Queux=
+
+=Die Seeschlachtkapitel= von =Admiral H. W. Wilson=
+
+Übersetzt von =Traugott Tamm=
+
+Preis: Geheftet Mk. 3.--, gebunden Mk. 4.--.
+
+
+=Breslauer Zeitung=: Was den literarischen Wert des Buches angeht, so
+ist er nicht gering. Es ist geschickt geschrieben, +erregt durch die
+Natürlichkeit des Tones die Illusion des wirklichen Geschehens+ und
+hält sich sorgfältig von krassen Effekten fern. Nur ein Beispiel, das
+zeigen wird, wie der Stil nach frappierender Treue ringt: „Die Zahl
+der elektrischen Scheinwerfer war bis auf sechs gestiegen; einige
+steckten lange, steife Finger in die leeren Räume der Nacht aus,
+andere wanderten rastlos auf und ab, hierhin und dorthin.“ +Das könnte
+ebensogut bei Maupassant, wie bei Le Queux stehen.+ -- Das Buch wirkt
+vornehm durch die maßvolle Behandlung des Stoffes.
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76627 ***
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+ Von Kindern und jungen Hunden | Project Gutenberg
+ </title>
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+/* Poetry */
+/* uncomment the next line for centered poetry */
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+/* Transcriber's notes */
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+</head>
+<body>
+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76627 ***</div>
+
+<div class="transnote mbot3">
+
+<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
+
+<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von
+1905 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Offensichtliche
+Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
+nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
+unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.</p>
+
+<p class="p0">Das Buch wurde in Frakturschrift gesetzt. Passagen in
+<span class="antiqua">Antiquaschrift</span> werden in der vorliegenden
+Fassung kursiv dargestellt. <span class="hidehtml">Abhängig von der im
+jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original
+<em class="gesperrt">gesperrt</em> gedruckten Passagen gesperrt, in
+serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt
+erscheinen.</span></p>
+
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowe33 break-before x-ebookmaker-drop" id="cover">
+ <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="">
+ <figcaption class="caption"><span class="u">Original-Einband</span></figcaption>
+</figure>
+
+<p class="s3 center padtop5 break-before mbot3"><span class="bb">Von Kindern
+○ ○ ○<br>
+und jungen Hunden</span></p>
+
+
+<div class="chapter">
+
+<p class="s2 center mright6 padtop1 mtop3">Rudolf Presber</p>
+
+<h1>Von Kindern ○ ○ ○&#160;<br>
+und jungen Hunden</h1>
+
+<p class="s4 center mtop3">Erste Auflage</p>
+
+<figure class="figcenter illowe4 padtop3" id="signet">
+ <img class="w100" src="images/signet.jpg" alt="Verlagssignet">
+</figure>
+
+<p class="s4 center mtop3">Berlin <span class="antiqua">W.</span> 50<br>
+<span class="s5">Concordia Deutsche Verlagsanstalt<br>
+<em class="gesperrt">Hermann Ehbock</em></span></p>
+
+</div>
+
+<p class="center padtop5 break-before"><span class="bb bt">&#8195;Alle Rechte
+vorbehalten&#8195;</span></p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt</h2>
+
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowe3" id="f005b">
+ <img class="w100 mbot2" src="images/f005b.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<table class="toc">
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="hang1">Flocki <span class="s5">(Die Geschichte eines
+ merkwürdigen Hundes)</span></div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#p000">1</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="hang1">Das Verhängnis des Hauses Brömmelmann</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#p103">103</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="hang1">Der rote Esel <span class="s5">(Ein lyrisches
+ Intermezzo)</span></div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#p127">127</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="hang1">Des letzten v. Birkowitz letztes Fest</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#p145">145</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="vat">
+ <div class="hang1">Der Mann mit dem persönlichen Einfluß</div>
+ </td>
+ <td class="vab">
+ <div class="right"><a href="#p177">177</a></div>
+ </td>
+ </tr>
+</table>
+
+<figure class="figcenter illowe3" id="f005c">
+ <img class="w100 padtop1 mtop2 mbot2" src="images/f005c.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe30a" id="f005a">
+ <img class="w100 mbot3" src="images/f005a.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<h2 class="trans" id="Flocki" title="Flocki Die Geschichte eines merkwürdigen
+Hundes">Flocki Die Geschichte eines merkwürdigen Hundes</h2>
+
+<figure class="figcenter illowe30" id="p000">
+ <img class="w100" src="images/p000.jpg" alt="Titel: Flocki – Die Geschichte
+ eines merkwürdigen Hundes">
+</figure>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p>
+
+<p class="p0 mtop2"><span class="initial">I</span>ch habe „Flocki“ nie geliebt. Das
+muß ich vorausschicken.</p>
+
+<p>Um so heroischer komme ich mir nun vor, indem ich mich hinsetze, um von
+„Flocki“ zu erzählen. Denn — das ist fast ein Axiom geworden in der
+literarischen Welt: die Lebewesen, die man so von Grund der Seele aus
+<em class="gesperrt">nicht</em> leiden mag, erwähnt man nicht in Briefen oder gar in den
+zum Druck bestimmten Manuskripten. Man schweigt sie einfach tot, so
+bemerkenswert sie anderen erscheinen mögen.</p>
+
+</div>
+
+<p>Ich hätte vielleicht auch von „Flocki“ heute und später und für immer
+geschwiegen, wenn nicht dieses äußerst seltsame Wesen so bedeutungsvoll
+und bestimmend in das Leben eines Freundes eingegriffen hätte. Eines
+Freundes, dessen Wert ich schätze, wennschon ich seine Schwäche im
+Charakter tief beklagen muß.</p>
+
+<p>„Flocki“ war ein Hund. Um das gleich zu sagen: ein sehr merkwürdiger
+Hund.</p>
+
+<p>Seine Mutter stammte aus der weitverbreiteten und durchaus beliebten
+Familie des <span class="antiqua">canis genninus</span>. Oder kürzer und deutsch: sie war
+eine besonders hübsche Pudelhündin. Sie hatte den in der Familie
+üblichen<span class="pagenum" id="Seite_2">[S. 2]</span> gedrungenen Körperbau mit den langen, breiten Ohren; besaß
+ein lockiges, schwarzes Fell mit zwei sauber, fast kokett gezeichneten,
+weißen Flecken an Stirn und Brust. Diese beiden weißen Flecken waren
+vielleicht die Ursache, daß sie so sehr stolz auf der Straße war und
+sich selbst vom Milchmädchen nicht streicheln ließ. Was später aus ihr
+geworden ist, weiß man nicht genau. Die Köchin bei Hauptmann Weber —
+sie diente einen Stock unter „Fifi“, der schwarzhaarigen Pudelhündin,
+— behauptete, sie hätte sich in älteren Jahren aus einer verspäteten
+unglücklichen Liebe zu des Hauptmanns langhaarigem, englischem Setter,
+der sechzehn Ahnen hatte, damals gerade von der Staupe genas und ein
+sehr interessanter Rekonvaleszent war, in den Landwehrkanal gestürzt.
+Aber die Köchin bei Hauptmanns war überhaupt eine sehr romantische
+Person und wenig glaubhaft.</p>
+
+<p>Piefkes selbst, bei denen „Fifi“ seit den betrübenden Zeiten, in denen
+ihrer ahnungslosen Jugend noch der erste Zimmeranstand beigebracht
+werden mußte, treue Hausgenossin war, erzählten, sie sei von einer
+„Elektrischen“ in der Potsdamerstraße überfahren worden. Das hat viel
+für sich, wenn man erwägt, daß „Fifis“ Sehvermögen stark nachgelassen
+hatte, und daß die „Elektrischen“ damals — kurz nach dem Streik — oft
+von absonderlichen Fahrkünstlern gelenkt wurden.</p>
+
+<p>Flockis Vater aber — und das blieb nicht ohne Bedeutung für Flockis
+Aussehen, wie für seine Talente und Neigungen — war ein <em class="gesperrt">Mops</em>
+gewesen. „Schufterle“<span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span> hieß der wenig liebenswürdige Vertreter
+einer unschönen Rasse, die, ruhmlos und unbeweint, faul, dick und
+aller Tätigkeit abhold, im Aussterben begriffen ist. Er hatte einen
+schraubenförmig gerollten Schwanz, eine schwarze, sehr unfreundliche
+Maske und war von besonders bösartiger Gemütsart; als wollte er bei
+jeder Gelegenheit durch tückisches Benehmen den Beweis liefern,
+daß seine Familie nur eine Karikatur der mißliebigen Bullenbeißer
+darstelle. Kam hinzu, daß seine Herrin eine alte, schrullige
+Regierungsrätin war, die nur zwei Leidenschaften hatte: auf einem
+unglaublich verstimmten Klavier Chopin zu spielen und ihren dicken Mops
+zu verwöhnen.</p>
+
+<p>Diese sonst achtbare Dame hatte alle vielleicht in dem Tiere
+schlummernden guten Qualitäten durch falsche Erziehung verdorben.
+„Schufterle“ war knurrig und ohne jede Liebenswürdigkeit. Er war
+gefräßig und litt infolge von Fettleibigkeit, die wiederum eine
+Konsequenz der mangelhaften Bewegung in freier Luft war, stark an
+Asthma. Seinetwegen wohnte die Regierungsrätin nur Hochparterre. Und so
+oft sie auch wegen ihrer Vorliebe für Chopin umziehen mußte, mehr als
+vierzehn Stufen mutete sie ihrem kurzatmigen Liebling niemals zu.</p>
+
+<p>Wie eigentlich der Liebesbund zwischen zwei so verschiedenen Wesen,
+wie es „Fifi“ und „Schufterle“ waren, zustande kommen konnte, das ist
+mir heute noch ein Rätsel. Brehm lebt nicht mehr, den ich gern gefragt
+hätte; und zu den modernen Zoologen<span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span> hab’ ich kein Zutrauen. Sie
+versenken sich nicht in die Tierseele.</p>
+
+<p>„Schufterle“ hat übrigens seinen Sohn niemals gesehen. Denn „Flocki“
+kam im dritten Stock zur Welt, in einer Höhe, die Schufterle niemals
+erklomm. Und vierzehn Tage nach der Geburt des ihm gleichgültigen
+Sohnes starb „Schufterle“. Die Hausbewohner, denen seine Korpulenz
+und sein Schnaufen bei jeglicher Fortbewegung stark mißfallen hatte,
+behaupteten pietätlos, er sei „geplatzt“. Einige wollten sogar den
+Knall gehört haben&#8239;...</p>
+
+<p>Die Regierungsrätin aber machte den Briefträger für „Schufterles“
+Tod verantwortlich. Ihn allein. Zwischen diesem behenden Vermittler
+schriftlicher Nachrichten und dem asthmatischen Mops hatte eine latente
+Feindschaft schon seit Monaten bestanden. Schufterle knurrte, wenn
+er den Briefträger sah. Und der Briefträger knurrte auch. Freilich
+nur innerlich. Schufterle war überzeugter Demokrat und haßte alles
+Uniformierte. Der Briefträger vermochte über Schufterles feindseliges
+Benehmen um so weniger Entzücken zu heucheln, als der Regierungsrätin
+das Verständnis für den Begriff eines Trinkgeldes selbst bei so
+feierlichen Gelegenheiten, wie Ostern oder Jahreswechsel, durchaus
+fremd blieb. Während sie für Schufterle eine verschwenderische
+Zärtlichkeit an den Tag legte, pflegte sie die herzlichsten
+Neujahrswünsche nur durch ebenso herzliche Wünsche zu erwidern.</p>
+
+<p>So kam es, daß der sonst durchaus friedliche<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> Briefträger kurz
+nach Neujahr bei einem Zusammentreffen mit Schufterle auf der
+Treppe die kläffende Mißbilligung des feindlichen Mopses mit einem
+gesinnungstüchtigen Tritt seines doppeltgesohlten Zugstiefels
+erwiderte. Dieser Tritt hatte, obschon er nicht mit voller Kraft
+und in ganz ungefährlicher Richtung geführt war, nach Ansicht der
+Regierungsrätin „edle Teile“ verletzt. Und als einige Wochen darauf
+das vorzügliche Schufterle in seinem ausgepolsterten Schlafkörbchen
+verschieden war, schwur die aufs äußerste erzürnte alte Dame, ihr
+Liebling sei an dem Tritt des rohen Staatsbeamten gestorben. Sie
+verkrümelte von diesem Tage an ihre bescheidene Pension in gehässigen
+Prozessen gegen die Postbehörde. Aber das einzige Resultat dieser
+fortgesetzten kriegerischen Tätigkeit war, daß sie dreimal wegen grober
+Beleidigung eines Beamten in erhebliche Geldstrafen genommen wurde&#8239;...</p>
+
+<p>Ich hätte mich selbstverständlich weder bei „Fifi“, noch bei der
+Hauptmannsköchin, noch bei „Schufterle“, der Regierungsrätin oder
+dem Briefträger so lange aufgehalten, wenn ich nicht glaubte, daß
+alle diese Dinge für <em class="gesperrt">Flockis</em> schönes Leben in gewissem Sinne
+vorbedeutend und bestimmend gewesen wären.</p>
+
+<p>Daß Flocki, der Sohn von Fifi, der Pudelhündin, und von Schufterle,
+dem asthmatischen Mops, ein <em class="gesperrt">bemerkenswerter</em> Hund war, muß ich
+leider hinzufügen. Flocki war kurzbeinig, gedrungen, und obschon
+sein schwarzer Kopf die mütterliche Rasse im Schädelbau deutlich
+verriet, zeigte er die ganze, nur<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> in der eigenen Dummheit begründete
+Weltverachtung des ererbten Mopsgesichtes. Auch der schraubenförmig
+gedrehte Schwanz erinnerte an den asthmatischen Vater, während die
+lockige, grauschwarze Behaarung offenbar von der angenehmeren Mutter
+kam.</p>
+
+<p>Ich will meiner Antipathie gegen „Flocki“ hier nicht die Zügel schießen
+lassen; eines aber steht für Unparteiische völlig fest: es gibt selbst
+unter den verwahrlosten Kötern, die die schmutzigen Straßen von
+Stambul so angenehm beleben, keinen, der bei mäßigen Geistesgaben so
+täuschend den Eindruck zu erwecken vermöchte, als habe er sich soeben
+in einer besonders üblen Lehmgrube gewälzt. Diesen Verdacht aber
+rief Flocki, wo und wann er erschien, in jedem Unbefangenen hervor;
+obschon es vielleicht in Mitteleuropa keine <em class="gesperrt">drei</em> Hunde gibt,
+die <em class="gesperrt">soviel</em> gewaschen, gebadet, gekämmt, so oft mit grüner Seife
+abgerieben und mit Insektenpulver bestreut wurden, wie Flocki. Diese
+Reinigungsprozesse waren — um ein schiefes Bild an Stelle eines weit
+besseren, das mir nicht einfällt, zu gebrauchen — die einzigen dunklen
+Punkte in Flockis sonst so sonnigem Leben.</p>
+
+<p>Flockis Herrin war eine unverehelichte Malerin. Früher hatte sie bloß
+gegen den Willen ihrer Eltern gemalt. Jetzt malte sie gegen den Willen
+der ganzen Welt.</p>
+
+<p>Die Eltern waren gestorben und hatten ihr und ihrer älteren Schwester,
+die genau so eifrig und auch ungefähr so schön Klavier spielte, wie
+die jüngere<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> Schwester „Stilleben“ malte, ein bescheidenes Vermögen
+hinterlassen. Nicht gerade, um auf lautlosen Gummirädern zu fahren und
+den Karneval in Nizza zu verleben, aber doch um sich’s daheim behaglich
+zu machen, ohne auf Verdienst angewiesen zu sein. Das war auch gut,
+denn <em class="gesperrt">Eleonore Eikötter</em> hatte wohl das Talent, Bilder zu malen,
+die ihr selbst, ihrem Dienstmädchen und dem vorzüglichen Flocki
+ausnehmend gefielen; aber sie hatte leider <em class="gesperrt">nicht</em> das Talent,
+diese Bilder auch der Kritik zu empfehlen oder gar diese Kunstwerke zu
+verkaufen.</p>
+
+<p>Das war eigentlich sehr zu verwundern. Denn es heißt immer, wir leben
+in einer realistischen, in einer materiellen Zeit. Und Eleonore
+Eikötter kam in allen ihren Werken einem gesunden Materialismus
+vertrauensvoll entgegen. Ihre Stilleben wiesen keine bekränzten
+Totenschädel auf, keine Lichtscheren, alte Gebetbücher, rostige
+Hufeisen oder was sonst noch diese Art von Bildern besonders reizvoll
+zu machen pflegt. Eleonore malte prinzipiell nur <em class="gesperrt">Eßwaren</em>:
+Hummerscheeren, Marzipantörtchen, Schweinsfüße, Pastetchen und
+gebratene Wachteln. Und da sie mit ihren Bildern rasch fertig war, wie
+die Jugend mit dem Wort, und aus ästhetischen Gründen ihre Modelle nie
+mehr als <em class="gesperrt">einmal</em> benutzte, so hatte Flocki allen Grund, mit dem
+Schicksal zufrieden zu sein, das ihn und sein Leben so innig mit dieser
+Kunst verknüpft hatte, die <em class="gesperrt">nicht</em> „nach Brot“ zu gehen brauchte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span></p>
+
+<p>Flocki erhielt nämlich, sobald ein Bild vollendet war, die „Modelle“
+zur Erledigung in seine mit stilisierten Lilien bemerkenswert bemalte,
+sehr geräumige Freßschüssel. Er hatte folglich ein nicht rein
+künstlerisches Interesse daran, daß die Farbendichtungen Eleonorens
+rasch ihrer Vollendung entgegenreiften.</p>
+
+<p>Schlau und perfid, wie er leider war, hatte er gemerkt, daß seine
+Herrin einmal außer sich vor Entzücken geriet, als er — eigentlich nur
+aus Langerweile und weil ihm die Sache diesmal zu langsam ging —, eine
+von ihr gemalte Schinkenstulle ärgerlich angauzte. Damals geschah es,
+daß Eleonore Eikötter stolz zu ihrer Schwester <em class="gesperrt">Adelgunde</em>, die
+einen ihrer selteneren Besuche bei der Malerin machte, bemerkte:</p>
+
+<p>„Kennst du die Geschichte von Apelles, dem Lieblingsmaler des großen
+Alexander? Nein? Nun, siehst du, der berühmte Apelles hat einmal
+Kirschen gemalt. Da kamen die Spatzen von den Bäumen und wollten
+die gemalten Kirschen aufpicken. <em class="gesperrt">So</em> natürlich waren sie. Dem
+Apelles aber war das Lob, das ihm die getäuschten Sperlinge zollten,
+wertvoller, als das Lob der Schranzen des Königs der Mazedonier.
+Nun, siehst du, so geht es mir auch. Flocki, mein süßer, kluger
+Flocki, hat die Schinkenstulle, die ich auf die Leinwand geworfen,
+<em class="gesperrt">angebellt</em>. Das ist das <em class="gesperrt">höchste</em> Lob; das ist mir mehr wert
+als das Lob Alexanders des Großen!“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p>
+
+<p>Die pietätlose ältere Schwester sagte bloß:</p>
+
+<p>„Du bist verrückt.“</p>
+
+<p>Aber Flocki, der sofort das appetitliche Modell, die Schinkenstulle,
+ausgeliefert erhielt, überlegte, während er die fetten Bissen gierig
+verschlang, daß sein lautes Benehmen vor der bunten Leinwand, der er im
+Grunde durchaus verständnislos gegenüberstand, offenbar diese so rasche
+wie erfreuliche Lösung der Problems bewirkt habe. Und er beschloß, auch
+fernerhin sein lautes Urteil rechtzeitig abzugeben und seiner mild
+gesinnten Herrin mehr Freude zu bereiten, wie Alexander der Große.</p>
+
+<p>In der Folgezeit wurde er laut, sobald die ersten Farbenklexe sich
+auf der Leinwand zeigten und die ersten Linien erschienen, aus denen
+noch ebensogut ein Nilpferd, wie ein Stiefelknecht oder eine gotische
+Kathedrale werden konnte.</p>
+
+<p>Eleonore war selig im Bewußtsein, es in ihrer Kunst bereits so weit
+gebracht zu haben, daß sie, wie sie sich ausdrückte, „mit wenigen
+Winken das Bedeutsame auszudrücken vermochte“; so deutlich und klar,
+daß es selbst Flocki, der bei aller Klugheit doch immerhin nur ein Hund
+war, nur der Sohn eines Mopses und einer Pudelhündin, erkennen und
+würdigen konnte.</p>
+
+<p>Wenn aber dem verschmitzten Flocki die öde Malerei zu lange dauerte und
+die Gründlichkeit der Künstlerin in Anbetracht seiner Gelüste nach den
+„Modellen“ verdrießlich wurde, dann gebärdete er<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> sich wie unsinnig
+vor der Staffelei und drohte unter jubelndem Gebell mitten in die
+künstlerische Tat hineinzuspringen.</p>
+
+<p>Dann legte Eleonore Eikötter, gerührt und stolz, die Pinsel hin und
+belohnte den kritischen Freund mit den zärtlichsten Schmeichelnamen und
+mit reelleren Genüssen&#8239;...</p>
+
+<p>So lebte Flocki im Atelier der genialen Pflegerin wie der große
+Hannibal im üppigen Capua. Er wurde dick und fett. Und wären nicht
+häufig kleine Verdauungsstörungen vorgekommen, peinliche Folgen seiner
+kritischen Verdienste und seiner bedauerlichen Gefräßigkeit, so wäre er
+ein vollkommen glücklicher Hund gewesen.</p>
+
+<p>Die Schönheit seiner Erscheinung litt wohl unter den Jahren und
+der rasch fortschreitenden Korpulenz. Die vom Vater ererbte
+Unliebenswürdigkeit gegen alle Fremden nahm zu, und beim Treppensteigen
+zeigten sich auch schon zuweilen Vorboten des bösen, väterlichen
+Leidens, des Asthma. Aber die sorgsame Liebe seiner Herrin wuchs
+ins Ungemessene, wenn der dicke, häßliche Köter mit den fettigen,
+kleinen Augen und dem verschraubten Schwanz sich breitbasig vor
+ihren Pfuschereien aufpflanzte und der entzückten Eleonore Eikötter
+mit seinem gequetschten Gebell das Zeugnis ausstellte, daß sie eine
+talentvolle Künstlerin sei, eine nicht unebenbürtige Kollegin des
+großen Apelles aus Kolophon. — — — — — — — — — — — — —</p>
+
+<p>Mein Freund <em class="gesperrt">Emil Steinbrink</em> hatte seit einigen<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> Monaten sein
+Atelier neben dem Raume, den sich Eleonore Eikötter mit allerlei
+Teppichen, die sie für „echte Perser“ hielt, weil sie vielfach gestopft
+waren, mit sehr unpraktischen, breitbeinigen Tischen und sehr staubigen
+Markart-Buketts zum Heiligtum ihrer Kunst eingerichtet hatte.</p>
+
+<p>Emil war nicht ohne Talent. Er hatte nur eine bedauerliche Vorliebe
+für Violett; eine Vorliebe, die sich leider auch da nicht unterdrücken
+ließ, wo diese an sich milde und gewiß sympathische Farbe nicht recht
+hinpaßte.</p>
+
+<p>Über seine Porträts war kaum zu streiten, da violette Menschen
+nirgends vorgekommen, und weil höchstens auf den Nasen einiger
+Gewohnheitstrinker sich die unbequeme Farbe zeigt, die Emil bei seinen
+Bildnissen bevorzugte. Aber auch seine „Landschaften“ gewannen durch
+das merkwürdige violette Licht, das über die Wälder, die Häuser und
+die Teiche flutete, ein eigentümliches Ansehen. Man vermutete immer,
+sie sollten einem erschrecklichen Spuck, einer Geistererscheinung
+oder einer gespenstischen Botschaft aus der vierten Dimension als
+Hintergrund dienen. Und wenn dann unter solchem Bilde ganz einfach zu
+lesen stand: „Frühlingslandschaft im Spessart“ oder „Herbstmorgen in
+der Rhön“, so schwuren die gewissenhaften Kenner deutscher Gebirge,
+dergleichen weder in der Rhön noch im Spessart, noch im Schwarzwald,
+im Taunus oder in der sächsischen Schweiz jemals wahrgenommen zu
+haben. Ja, ein Weltreisender, mit dem<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> ich einmal in den versteckten
+Kunstsalon zusammentraf, in dem Emil seine Werke vor den Augen der
+gemeinen Menge so ziemlich verborgen auszustellen pflegte, versicherte
+mir, auch der Himalaja, der Kaukasus und die Roky Mountains seien
+gänzlich frei von solchen violetten Stimmungen.</p>
+
+<p>Nur der Portier des Hauses, in dessen fünftem Stock Eleonore Eikötter
+und Freund Emil Wand an Wand künstlerisch wirkten, behauptete steif und
+fest, als Kind in seiner Heimat — er war aus Schopfheim — derartige
+wunderliche Farbenstimmungen häufig und mit innigem Genuß beobachtet
+zu haben. Seine sonst wohl interessanten Mitteilungen verloren an Wert
+dadurch, daß der alte Herr früher als Weichensteller bei der Hessischen
+Ludwigsbahn angestellt war und dann wegen plötzlich eingetretener
+Farbenblindheit entlassen werden mußte.</p>
+
+<p>Dieser Weichensteller a.&#8239;D. und jetzige Portier eines herrschaftlichen
+Hauses mit zwölf Etagen, vier Kellern und fünf Ateliers hieß <em class="gesperrt">Erasmus
+Schellenkopf</em> und wurde in seinen Pflichten als Hausbesorger
+unterstützt von einer ebenso dicken wie asthmatischen Frau, seiner ihm
+ehelich angetrauten Lebensgefährtin. Frau <em class="gesperrt">Emma</em> Schellenkopf
+blickte zu dem Kunstverständnis ihres Eheherrn mit erfreulicher
+Ehrfurcht empor, seit ihr Emil, der Meister in Violett, einmal erklärt
+hatte: Das Gerede von der Farbenblindheit ihres Mannes sei ein Unsinn
+und ein Quatsch, und man könne aus den Augen ihres Gatten durchaus<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span>
+ausreichende Gesichtsorgane für zwei Dutzend Akademieprofessoren
+herstellen.</p>
+
+<p>Frau Emma Schellenkopf trug sich nach dieser Unterredung sogar
+wochenlang mit dem Plan, auf Grund eines solchen fachmännischen
+Gutachtens nachträglich einen Prozeß gegen die Hessische Ludwigsbahn
+anzustrengen. Allein der Friedensliebe ihres verständigeren Gatten war
+es zu danken, daß die Justiz nicht mit der Beamtenlaufbahn des Herrn
+Schellenkopf weiter befaßt wurde.</p>
+
+<p>Erasmus Schellenkopf war für Freund Emils Schaffen ungefähr das, was
+Flocki, der vorzügliche Hund, für Eleonore Eikötters Werke in Öl war.
+Er war der Ansporn, die Aufmunterung, das anregende und treibende
+Element. Wenn er morgens die fünf Treppen heraufkam, die schmutzigen
+Pinsel zu waschen und die Aschbecher auszuleeren, eine Arbeit, die er
+mit der pedantischen Umständlichkeit eines alten Professors ausführte,
+so sprachen die beiden, der Maler und der kunstsinnige Portier,
+ein Langes und ein Breites über die deutsche Kunst und benachbarte
+Gebiete. Es war ein „Dialog in Violett“ ... Und nebenan im Atelier
+der Stilleben malenden Eleonore hörte man von Zeit zu Zeit den
+kunstbegeisterten Flocki bellen und vor der Staffelei seiner Herrin in
+wildem Enthusiasmus umherhüpfen. Dazwischen Eleonorens freudig bewegte
+Stimme, die den Liebling nicht ohne Stolz in die gebührenden Schranken
+zurückwies&#8239;...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span></p>
+
+<p>Als Emil das Atelier bezog, hatte er Eleonoren einen nachbarlichen
+Besuch abgestattet.</p>
+
+<p>Sie hatte ihm einige Dutzend ihrer Bilder gezeigt, die auf ihn — er aß
+aus Sparsamkeitsgründen an einem bescheidenen Mittagstisch der Altstadt
+für 65 Pf. „mit Bier“ — einen peinlich appetiterregenden Eindruck
+machten. Dann hatte sie mit noch größerem Stolz Flocki, den gestern
+erst gewaschenen und bereits heute wieder sehr schmutzigen Flocki in
+Freiheit vorgeführt.</p>
+
+<p>Es traf sich, daß Flocki gerade an diesem Tage, da er einen alten
+Mallappen aus Langeweile aufgefressen hatte, an einem akuten Magenübel
+erkrankt war, das durch praktische Verwertung der Modelle seiner Herrin
+nicht besser geworden war. Das liebenswürdige Tier mußte deshalb sehr
+häufig die fünf Treppen heruntergeführt werden, um sich an der frischen
+Luft eine Weile zu ergehen.</p>
+
+<p>Emil, immer galant, erbot sich in diskretester Weise, zuweilen die
+kleine gesundheitliche Exkursion Flockis zu leiten und mit Umsicht zu
+überwachen. Diese angenehme, zarte Aufmerksamkeit gewann ihm das Herz
+dieses späten Mädchens im Sturm.</p>
+
+<p>Schon am nächsten Tag machte sie ihm einen anderthalbstündigen
+Gegenbesuch in seinem Atelier; und nachdem sie ihn mit längeren,
+ziemlich verworrenen Plänen einer Romreise, für die sie die richtige
+Jahreszeit schon seit sieben Jahren nicht hatte finden können,
+gelangweilt hatte, kaufte sie eine seiner violetten Landschaften,<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> die
+nun schon ins fünfte Atelier mit umgezogen waren&#8239;...</p>
+
+<p>Der Verkehr zwischen den beiden Ateliers wurde rasch lebhafter
+und freundschaftlicher. Daran trug im Grunde weniger die
+Seelenübereinstimmung des nachbarlichen Paares, als das Verhältnis
+Flockis zu Emil die Hauptschuld. Aus gänzlich unaufgeklärten Gründen
+beglückte Flocki den neuen Freund, so oft er ihn traf, mit seinen
+ehrenden Vertraulichkeiten. Saß Emil, so sprang Flocki unaufgefordert
+auf seinen Schoß, was, besonders wenn es draußen geregnet und Flocki
+bereits eigensinnig den Weg durch mehrere Pfützen genommen hatte,
+für Emils Kleidung gerade nicht von besonderem Vorteil war. Aber er
+ertrug es; denn Eleonore sprach schon mit bescheidenem Augenaufschlag
+davon, gelegentlich aus dem Schatze der violetten Landschaften noch ein
+passendes Pendant zu dem von ihr gekauften Bilde auszuwählen. Sie ging
+dabei wohl von dem nicht ganz unrichtigen Gesichtspunkte aus, daß man
+solche violette Landschaften erst glaubt, wenn <em class="gesperrt">mehrere</em> beisammen
+hängen und gewissermaßen die eine die andere bestätigt.</p>
+
+<p>Leisten konnte sich’s Eleonore Eikötter übrigens. Von ihren Eltern
+hatten die Schwestern ja nur ein bescheidenes Vermögen geerbt, das
+der alte Eikötter einer von ihm erfundenen und mit großem Geschick
+vertriebenen Fruchtmarmelade verdankte. Dann aber war eine Tante
+gestorben, die im Leben durch Besuche niemals lästig gefallen war,
+die Schwester der Mutter. Diese<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> merkwürdige alte Dame hatte sich
+in ein Kinderbild Eleonorens in der Weise verliebt, daß sie ihr
+fünfundzwanzig Jahre später, nachdem das Bild wirklich nicht mehr
+ähnlich war, mit Übergehung der älteren Schwester Adelgunde ihr ganzes
+Vermögen vermachte. Das war in soliden Staatspapieren angelegt und
+brachte immerhin eine Rente von 3000 Mk., ohne der Besitzerin durch
+Schwankungen im Kurs den Schlaf der Nächte zu rauben.</p>
+
+<p>Adelgunde hatte nun zwar die Schwester durchaus nicht im Verdacht der
+Erbschleicherei. Sie kannte auch die Geschichte von der berückenden
+Wirkung des Kinderbildes auf das Herz der alten Tante. Aber sie
+fühlte sich zurückgesetzt. Ein paar tausend Mark, die ihr die
+gutmütige Eleonore als Geschenk und als Trost überlassen wollte, wies
+sie hochmütig zurück und lebte von nun an von dem Ertrag weniger
+Klavierstunden und der kleinen Rente, die das elterliche Vermögen
+abwarf.</p>
+
+<p>Als aber Eleonore angefangen hatte, mit Eifer zu malen, wurde das
+Verhältnis noch gespannter. Denn Adelgunde hatte schlechterdings für
+diese Stilleben, auf denen nichts vorkam, wie lauter eßbare Dinge, die
+später in Flockis stilisiertes Freßnäpfchen wanderten, aber auch gar
+nichts übrig. Sie war mehr für die große historische Schule, Piloty,
+Kaulbach und die andern, und verachtete derartige Malereien, in denen
+kein Mann, kein Weib und kein Held eine Rolle spielte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span></p>
+
+<p>So malte Eleonore nicht nur für sich. Sie <em class="gesperrt">lebte</em> auch für sich.
+Sie malte für sich und Flocki. Nur die Besuche des benachbarten
+Strebensgenossen, der die ganze Welt violett sah, brachte einige
+Abwechslung in ihr Dasein.</p>
+
+<p>Ihr Tagewerk war äußerst regelmäßig. Früh um sieben Uhr erhob sie sich,
+nahm ein Bad, kleidete sich halb an und badete Flocki, für den dieser
+Anfang des Tagewerks nicht den geringsten Reiz besaß. Häufig kroch er
+sogar unter Eleonorens Bett, was die betrübte Künstlerin — nicht ohne
+dabei heftig zu erröten und das kurze und allgemein übliche Wort für
+ihre jungfräuliche Lagerstätte zu umschreiben — dem Freund und Nachbar
+gesprächsweise mitteilte.</p>
+
+<p>Emil hatte zuweilen gute Einfälle. Nicht allzu häufig, aber doch
+öfter, als die Leute glauben mochten, die nur seine Bilder kannten.
+So riet er der bekümmerten Besitzerin des merkwürdigen Hundes nach
+einigem Besinnen, die vier Beine ihres Bettes, von dem er, ohne es
+gesehen zu haben, annahm, daß es aus Holz gebaut sei, einfach absägen
+zu lassen. Sie werde dann allerdings beträchtlich tiefer liegen, aber
+das habe nach den Erfahrungen der Ärzte keinen Einfluß auf Schlaf und
+Wohlbefinden. Die berühmten französischen Betten seien sogar, wie man
+ihm mitgeteilt habe, alle <em class="gesperrt">sehr</em> niedrig.</p>
+
+<p>Eleonore unterbrach hier errötend seine warmherzigen Ausführungen über
+die französischen Betten, für die sie sich weniger interessierte.
+Sie dankte ihm<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> aber herzlich für seinen guten Rat; denn die sich
+immer häufiger wiederholenden Unterredungen mit dem unter dem Bett
+sich verkriechenden Flocki, der nicht gewaschen sein wollte, waren
+frühmorgens oft recht kraft- und zeitraubend.</p>
+
+<p>Sie ließ nun wirklich, wie der Freund geraten, die vier unnützen
+Beine ihres Bettes absägen und gewann durch diese Kriegslist, die dem
+überraschten Flocki höchst perfide erschien, durchschnittlich jeden
+zweiten Morgen eine gute halbe Stunde.</p>
+
+<p>Um acht Uhr unternahm sie dann einen Spaziergang mit Flocki durch
+die Anlagen der Stadt, wobei sie weniger auf die Reize der Natur als
+darauf zu achten hatte, daß Flocki nicht durch seine Wißbegier in
+den künstlich angelegten Beeten Übles stiftete. Mit den Angestellten
+der Stadtgärtnerei, denen Flocki wohlbekannt und tief verhaßt war,
+lebte Eleonore in ewiger Fehde. Die jüngeren Gärtnerburschen fanden
+bedauerlicherweise ihre neckische Freude daran, einen kräftigen
+Strahl aus den wasserspendenden Rasenschläuchen, wenn’s irgend ging,
+auf den weltvergessen botanisierenden Flocki zu lenken, der dann mit
+unsäglichem Geheul über dieses zweite unbestellte Bad quittierte. Für
+die Beschwerdebriefe Eleonorens an die Stadtgärtnerei rächten sich
+wiederum die Parkaufseher durch Anzeigen, wenn Flocki, was leider
+häufig vorkam, unter dem kleinen Geländer, das die gelben Fußwege von
+den weichen Rasenflächen trennte, durchkroch, um sich im Grünen oder
+unter Tulpen und Hyazinthen zu ergehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span></p>
+
+<p>Um 9&#189; Uhr kam Eleonore gewöhnlich von ihrem Spaziergang, der ihr
+mehr seelische Erregung als Erholung zu bringen pflegte, zurück. Sie
+teilte dann mit Flocki, der merkwürdig gern gut gezuckerte Schokolade
+trank, ihr Frühstück und trat mit dem Glockenschlag zehn Uhr in einer
+erstaunlich verklexten Malschürze vor ihre Staffelei.</p>
+
+<p>Um zwölf Uhr klopfte Emil gewöhnlich an ihre Tür. Sie rief „Herein“
+und zeigte jeden Mittag dieselbe freudige Überraschung über den
+unerwarteten Besuch.</p>
+
+<p>Dann sprachen sie eine halbe Stunde über Kunst. Über Böcklin, dessen
+geniale Verwendung der violetten Farben Emil nicht genug rühmen konnte;
+über die Niederländer Snyders, Hondecoeter und van Streek, in denen
+Eleonore die Großen <em class="gesperrt">ihrer</em> Kunst verehrte, die Meister, die es
+verstanden, das Kleine groß zu sagen und dem an sich Unbedeutenden, —
+einer Jagdbeute, einem Küchenstück, einer Tafel ohne Gäste — geistige
+Bedeutung und Poesie zu leihen.</p>
+
+<p>Sie sprachen ohne Leidenschaft, wie zwei gute, wohlerzogene Kameraden.
+Eins ließ das andere ausreden, ob es gleich ganz genau wußte, was
+es nun sagen werde. Denn der Gedankengang in diesen ästhetischen
+Besprechungen war stets der gleiche. Und da nie ein Widerspruch von
+der andern Seite erfolgte, so war auch eine dialektische Verteidigung
+des Standpunktes, eine Vertiefung der Begründung, eine Vermehrung der
+Argumente durchaus unnötig.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p>
+
+<p>Zuletzt sprach man immer — von Flocki, der, sobald er seinen Namen
+hörte, in seinem mit weichen bunten Lappen ausgelegten Körbchen faul
+mit dem Schwänzchen wedelte, ohne sonst irgendeinen Muskel seines
+Körpers an der freudigen Bewegung teilnehmen zu lassen, ja meist ohne
+die Augen nur zu öffnen.</p>
+
+<p>Dann kam man überein, zusammen zu Mittag zu essen. In dem bescheidenen
+kleinen Restaurant in der Nähe, das Eleonore entdeckt hatte, und
+in dem sie, obschon sie keine geistigen Getränke zu sich nahm, auf
+deren Verkauf die Wirte sonst angewiesen sind, als Stammgast mit
+Aufmerksamkeit und Respekt behandelt wurde.</p>
+
+<p>Auch dieses gemeinsame Diner schien jeden Mittag das Resultat einer
+ganz plötzlichen Erwägung zu sein. Man zeigte sich jedesmal wieder
+aufs neue erfreut, die fesselnde Unterredung über Böcklin, über die
+Niederländer und Flocki bei Tisch fortsetzen zu können. Und niemals
+wäre es Einem von beiden eingefallen, etwas Seltsames darin zu finden,
+daß sie ohne Verabredung, ohne Übereinkunft oder Abonnement schon seit
+Monaten jeden Mittag um ein Uhr gemeinsam in das freundliche Gastzimmer
+der „Goldenen Eidechse“ eintraten.</p>
+
+<p>Der Pikkolo, der eine aus dem alten Frack des Oberkellners umgebaute,
+in der Fasson sehr merkwürdige Jacke trug, die an Flecken der
+Malschürze Eleonorens nicht nachgab, kam ihnen jeden Mittag mit
+derselben theatralischen Verbeugung entgegen. Den pomadisierten Kopf
+zwischen die Schultern ziehend, wie eine gekitzelte<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> Schildkröte, wies
+er mit huldvoller Bewegung der roten Hand, die aus der spiegelnden
+Gummimanschette wie der breite Schaufelfuß eines Maulwurfs kam, nach
+dem für zwei Personen gedeckten Tischchen in der Ecke:</p>
+
+<p>„Die Herrschaften, bitte, <em class="gesperrt">hier</em>!“</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Auch Eleonorens Schwester, die selten erscheinende Adelgunde, hatte
+Emil einmal bei der befreundeten Künstlerin getroffen.</p>
+
+<p>Es war kein besonders günstiger Tag, um sie kennen zu lernen. Sie
+hatte sich am Vormittag einen Vorderzahn ziehen lassen, und die Zunge
+war noch nicht recht gewöhnt daran, daß gerade an der Front des
+Kiefers eine Lücke in die Zahnreihe gebrochen sei. Demgemäß „lispelte“
+Adelgunde in einer befremdlichen Weise, und die Aussprache gewisser
+Konsonanten ergoß sich wie feiner Sprühregen auf den Partner der
+Unterhaltung.</p>
+
+<p>Eleonore fand es furchtbar komisch. Sie hatte gleich beim Eintritt der
+Schwester zu lachen angefangen. Sie hörte gar nicht auf zu lachen;
+und je mehr sie ihrer humoristischen Laune die Zügel schließen ließ,
+desto ärgerlicher wurde die Schwester. Schließlich kamen die beiden
+in Streit, ohne die Anwesenheit Emils, der sich nach einer ersten
+Begrüßung, verlegen in alten Skizzenmappen blätternd, an den Wänden<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span>
+herumdrückte, weiter zu beachten. Sie sprachen recht deutliche Töne
+über den kleinen körperlichen Schaden Adelgundens, der Eleonore so sehr
+amüsierte.</p>
+
+<p>„Nimm mir das nicht übel, Eleonore, aber ein Gänschen“ — sie sprach
+das „s“ sehr scharf, fast zischend — „ein Gänschen von fünfzehn Jahren
+benimmt sich nicht törichter, wie du. Und, wie alt bist du doch?“</p>
+
+<p>„Fünf Jahre jünger als du,“ gab Eleonore prompt zurück.</p>
+
+<p>„Richtig. Aber du benimmst dich wie ein Kind. Das steht dir wirklich
+nicht besonders, die Naivenrolle mit dem Backfischgekicher.“</p>
+
+<p>„Ja, das mag ja sein, meine Liebe, aber du sprichst auch zu komisch.
+Sag’ doch bitte noch einmal, Gänschen — Gänsz-schen — es klingt gar
+zu drollig.“</p>
+
+<p>Diesen Gefallen tat ihr Adelgunde nun zwar nicht, aber sie belehrte die
+Schwester:</p>
+
+<p>„Wenn du die Folgen eines Zahngeschwürs, das mich acht Tage lang
+gemartert hat, ‚drollig‘ findest, so kann ich deiner Schwesterliebe das
+nicht verwehren. Ihr Künstler seid immer äußerst originell in eurer
+Auffassung fremder Gefühle; und du bist ja — wenigstens <em class="gesperrt">deiner</em>
+Auffassung nach — eine Künstlerin.“</p>
+
+<p>Eleonore überhörte die Bosheit und fragte teilnehmend:</p>
+
+<p>„Du wirst dir doch einen andern Vorderzahn einsetzen lassen?“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span></p>
+
+<p>„Nein!“</p>
+
+<p>Das Nein kam so scharf und eisig heraus, als wollte Adelgunde damit
+ihrer Schwester einen Hieb versetzen.</p>
+
+<p>Emil sah verstohlen von seinen Skizzenbüchern auf, die Eleonorens
+zeichnerische Gedanken über verschiedene, durchaus gewöhnliche
+Hausgeräte enthielten. Er prüfte Adelgunde mit den Kenneraugen des
+Malers. „Schönheit ist nicht die Falle ihrer Tugend,“ dachte er. Es ist
+ja nun einmal von der Natur bestimmt, daß die Töchter Evä einen kurzen
+Unterkörper und langen Oberkörper besitzen, und man hat sich allmählich
+daran gewöhnt, daß dem so ist. Aber so kurz, wie bei Adelgunde,
+brauchen schließlich die Beine auch nicht zu sein; besonders wenn der
+Oberkörper so lang und eckig gebaut ist, wie hier.</p>
+
+<p>Er erinnerte sich, mal als Junge auf einem Jahrmarkt einen sogenannten
+„Rumpfmenschen“ gesehen zu haben. Der Ärmste saß in einem hellblauen
+Seidenwams auf einem wulstigen Kissen; und der Knabe ging damals
+mit Staunen und Schauder um den hockenden Fleischklotz, in dem nur
+die Augen zu leben schienen, herum und suchte die Beine. An diesen
+Rumpfmenschen erinnerte ihn Adelgundens wenig glückliche Erscheinung.
+Durch ihre Angewohnheit, die Arme stets unbeweglich dicht an den Körper
+gepreßt zu halten, als ob unter den Achseln die Naht ihres Kleides
+geplatzt wäre und sie das durchaus nicht sehen lassen wollte, gewann
+die grausame Illusion noch an Wahrscheinlichkeit.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p>
+
+<p>Und dann die Toilette! Das Kleid, das sie trug, war weder alt noch
+schäbig; aber wann sein wunderlicher Schnitt jemals modern gewesen
+wäre, das konnte kaum festgestellt werden. Ihren Hals schmückte ein
+himbeerfarbener Seidenschlips, auf dem eine dicke goldne Spinne
+mit einem perlenbesetzten Hinterleib als Nadel saß. Auf ihren
+schlechtgebrannten Haaren vom fadesten Blond, durch das sich schon
+silberne Streifchen zogen, wallte ein unförmiger kanariengelber Hut,
+der einem Fieberkranken im Traume erscheinen konnte.</p>
+
+<p>Gewiß, Eleonore war ja auch keine <span class="antiqua">beauté</span>, und auf einer
+Schönheitskonkurrenz hätte sie — selbst in ihrer bereits überwundenen
+Blütezeit — verteufelt wenig Aussicht auf eine „lobende Erwähnung“
+gehabt. Aber sie kleidete sich wenigstens einfach und hatte in ihren
+Bewegungen nichts Unweibliches. Diese Adelgunde aber war einfach
+furchtbar. Selbst wenn sich Emil den kanariengelben Hut und den
+fehlenden Schneidezahn „rekonstruiert“ dachte; selbst wenn er die
+himbeerfarbene Krawatte durch eine in Gedanken und Farbe bescheidenere,
+die besser zu ihrem farblosen, unreinen Teint paßte, ersetzte und sich
+das Mißverhältnis von Ober- und Unterkörper durch eine zweckmäßige
+Kleidung gemildert vorstellte, blieb das Gesamtbild noch immer
+unerfreulich.</p>
+
+<p>So etwas zu heiraten, das muß doch furchtbar sein, beendigte der
+betrübte Maler seine stille Prüfung. Und er versuchte, sich den Armen
+vorzustellen, der<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> etwa zu Adelgunde passen könnte. Einen Lebenden,
+der dieser Aufgabe gewachsen wäre, kannte er nicht. Und indem er dies
+konstatierte, empfand er es als eine seelische Befriedigung, wie ein
+großes Kompliment für das ganze männliche Geschlecht. Wenigstens vom
+Standpunkte des Malers.</p>
+
+<p>Flocki hatte sich mittlerweile persönlich aus seinem Körbchen bemüht
+und hatte die ihm äußerst unsympathische Schwester seiner gütigen
+Herrin zunächst und von der Ferne durch feindliches Knurren begrüßt.
+Dann hatte er sich, eingeschüchtert durch eine drohende Gebärde
+Adelgundens, zu Emil begeben, an dessen Hosenbein er sich mit ehrender
+Zutraulichkeit und großer Energie das Fell rieb.</p>
+
+<p>Als Adelgunde den mißvergnügten Köter bemerkt hatte, erhellten sich
+ihre Züge. Sie wußte, an welcher Stelle sie ihre Schwester kränken
+konnte.</p>
+
+<p>„Da ist ja auch der häßliche Butz,“ sagte sie, einen horngefaßten
+Kneifer aufsetzend, der sie um nichts schöner machte.</p>
+
+<p>„Ich habe dir schon mindestens zwanzigmal gesagt, daß der Hund nicht
+Butz, sondern Flocki heißt,“ belehrte Eleonore, aufgebracht über die
+Mißachtung, der ihr Liebling begegnete.</p>
+
+<p>Flocki verstand, daß von ihm die Rede war. Er hörte sofort auf, sich
+an Emils Hosenbeinen zu schaben und sah mit schiefgelegtem Kopf und
+mißtrauischer Aufmerksamkeit nach Adelgunde.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p>
+
+<p>Und richtig, die Kampflustige setzte ihre bedauerlichen Beleidigungen
+fort:</p>
+
+<p>„Solche Köter, die gar keiner Rasse angehören und gar keinen Charakter
+haben, sollten immer ‚Butz‘ heißen. Butz schlechtweg. Niemals anders.
+Und nun gar <em class="gesperrt">der</em>! Ich begreife nicht, wie du mit deinem ewigen
+Schönheitsgefühl dieses abscheuliche Tier um dich dulden kannst.
+Freilich, er lobt ja deine Bilder. Der Gute, der Uneigennützige! Das
+gibt ihm einen durchaus einzigen, unbestreitbaren Platz in deinem
+Herzen. Du brauchst jemanden, der deine Bilder lobt. Aber das dürfte
+dich doch nicht blind machen, daß er geradezu der Thersites unter den
+Hunden ist. Und immer schmutzig.“</p>
+
+<p>„Bitte, heute erst gebadet.“</p>
+
+<p>Adelgunde ignorierte diese entrüstete Berichtigung. Sie wendete
+sich nun direkt an Emil, der ziemlich geniert auf einem groben
+Melkstuhl saß, den Eleonore einmal vor Jahren aus einer bescheidenen
+Sommerfrische auf einer Schweizer Alm als sinnige Erinnerung
+mitgebracht hatte.</p>
+
+<p>„Haben Sie schon einmal einen zweiten Hund gesehen, der immer aussieht,
+als sei er in eine Lehmgrube gefallen?“</p>
+
+<p>Emil wich der direkten Antwort auf diese Frage aus.</p>
+
+<p>„Flockis Fell nimmt merkwürdig leicht Staub an,“ entschied er, „aber
+ich bin Zeuge, daß er fast täglich gebadet und sehr häufig am Tag
+gebürstet wird.“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span></p>
+
+<p>„Ja, <em class="gesperrt">Sie</em> sind Zeuge?“ lächelte Adelgunde spitz. „Sie sind wohl
+der pädagogische und medizinische Beirat bei Flockis leiblicher und
+seelischer Erziehung.“</p>
+
+<p>„Im Hauptberuf,“ sagte Eleonore rasch und enthob dadurch den ob solcher
+Anzapfung sichtlich verlegenen Emil der Antwort. „Im Hauptberuf
+ist Herr Emil Steinbrink, wie ich dir vorhin schon erklärte, liebe
+Adelgunde, Maler. Also ein Kollege von mir. Sogar ein Kollege, von dem
+ich sehr viel halte.“</p>
+
+<p>„Sogar!“ Adelgunde verbeugte sich mit leichtem Spott.</p>
+
+<p>„Jawohl, meine Liebe, sogar! Er ist Landschafter und hat die Welt mit
+den Augen des Poeten betrachtet. Daß er, wie die meisten ästhetisch
+Veranlagten und wie alle <em class="gesperrt">guten</em> Menschen“ — sie legte auf die
+„guten“ Menschen einen bedeutsamen Nachdruck — „nebenbei ein großer
+Hundefreund ist, hat mir seine kollegiale Freundschaft noch wertvoller
+gemacht.“</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Noch</em> wertvoller?“ Adelgunde schien das ironische Echo der
+Schwester geworden zu sein.</p>
+
+<p>Emil beschloß der peinlichen Szene ein erträgliches Ende zu geben.
+Er erhob sich von seinem Melkstuhl und sagte mit einer linkischen
+Handbewegung:</p>
+
+<p>„Hier nebenan ist mein Atelier.“</p>
+
+<p>„Hier — <em class="gesperrt">nebenan</em>?“</p>
+
+<p>Adelgundens Gesicht nahm einen Augenblick den Ausdruck beleidigter
+Tugend an.</p>
+
+<p>„Ja, er ist ein sehr angenehmer Nachbar,“ kommentierte Eleonore
+boshaft, „er spielt niemals Chopin,<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> keine Trauermärsche und nichts
+anderes, was ähnlich klingt.“</p>
+
+<p>Emil begriff, daß Adelgunde nun wieder an der Reihe war für eine
+bissige Bemerkung. Er beeilte sich also zu sagen: „Interessiert es Sie
+vielleicht, mein Atelier zu sehen? Ich muß doch eben noch eine halbe
+Stunde hinüber.“</p>
+
+<p>Er hatte erwartet, daß Adelgunde ablehnen würde. Vielleicht mit
+ironischem Dank, vielleicht gar mit einer beleidigenden Bemerkung.</p>
+
+<p>Aber in der unangenehmen Dame schien die Neugier gesiegt zu haben. Sie
+erklärte sich sofort zur Besichtigung bereit.</p>
+
+<p>Jedenfalls kam er auf diese Weise hier los.</p>
+
+<p>Die folgende Viertelstunde gehörte zu den wenigst genußreichen in Emils
+Leben.</p>
+
+<p>Es ist zwar nicht anzunehmen, daß Adelgunde überhaupt was von Bildern
+verstand; in der Beurteilung von Emils Werken nahm sie jedenfalls einen
+nüchtern ablehnenden Standpunkt ein. Sie behauptete, daß die violette
+Farbe in der realen Welt sehr selten vorkomme. <em class="gesperrt">Wenn</em> sie aber
+vorkomme, dann sehe sie nach ihren Beobachtungen anders aus, als Emil
+sie wiedergab.</p>
+
+<p>Sie sprach dann von seiner Vorliebe für Violett, wie von einem
+schmerzlichen Sehfehler und diskutierte mit ernster Teilnahme die
+Möglichkeit, dieses Gebrechen durch einen operativen Eingriff in das
+Sehnetz zu heben. Sie kenne einen Augenarzt, der die<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> merkwürdigsten
+Operationen mache. Eine sehr distinguierte Dame, mit der sie früher
+vierhändig Klavier gespielt habe, sei von dem unglücklichen Fehler
+behaftet gewesen in allen hellen Dingen einen dunklen Punkt zu sehen.
+Einen Punkt von der Gestalt und Farbe einer Baumwanze. Diese Baumwanze
+habe ihr der Doktor aus dem Auge herausgeschnitten. Es sei natürlich
+keine wirkliche Baumwanze gewesen, sondern, wie sie vermute, ein
+häßlicher Fleck in der Pupille. Die distinguierte Dame sei nach der
+wohlgelungenen Operation sehr glücklich gewesen, habe vier Wochen nach
+Vorschrift im dunklen Zimmer gesessen zur Nachkur und sei leider in
+der fünften ganz plötzlich gestorben. Ein sehr trauriger Fall, der
+aber niemanden abschrecken dürfe, eine Operation zu wagen. <em class="gesperrt">Sie</em>
+z.&#8239;B. würde in Emils Fall lieber heute als morgen ihre Zuflucht zur
+Operation nehmen. Es müsse doch geradezu schauderhaft sein, die ganze
+Welt, den Himmel, die Bäume, die Menschen, alles violett zu sehen. Auch
+der Wahnsinn beginne sehr häufig, wie sie aus sehr ernst zu nehmenden
+Büchern wisse, mit solchen Gesichtsstörungen&#8239;...</p>
+
+<p>So plauderte sie in ihrer gewinnenden Weise noch vieles, das den
+Verfertiger der violetten Bilder ähnlich sympathisch berühren mußte.</p>
+
+<p>Dann empfahl sie sich, nicht ohne Flocki aus Versehen auf die Pfoten
+getreten zu haben; eine Ungeschicklichkeit für die der davon Betroffene
+mit dem ihm eigenen maßlosen Geheul quittierte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p>
+
+<p>Vollständig mit der Untersuchung und der Pflege des Patienten
+beschäftigt nahm die empörte Eleonore keinerlei Notiz davon, als die
+Schwester davonrauschte.</p>
+
+<p>Emil begleitete sie bis zur Treppe und empfing dort ihre letzte
+dringende Ermahnung, lieber so lange <em class="gesperrt">nicht</em> mehr zu malen, bis
+die empfehlenswerte Operation vorgenommen sei.</p>
+
+<p>Sie war schon auf der Treppe, da raffte Emil, der bis dahin mit der
+Geduld eines Märtyrers die Freuden dieses Besuches, der ihm eigentlich
+gar nichts anging, ertragen hatte, zu einer kleinen, bescheidenen
+Bosheit auf.</p>
+
+<p>„Alles, liebes Fräulein,“ sagte er, „<em class="gesperrt">alles</em> sehe ich nun doch
+nicht violett. Zum Beispiel ihren schönen Hut empfinde ich durchaus
+gelb.“</p>
+
+<p>„So. Empfinden Sie ihn gelb?“ sie lächelte ihm geschmeichelt zu. „Nun,
+sehen Sie, ich kann Ihnen versichern: er <em class="gesperrt">ist</em> auch gelb. Ein
+kräftiges Kanariengelb. Ich liebe überhaupt das Kräftige.“</p>
+
+<p>Und damit stieg die freundliche Dame, die das Kräftige liebte, mit dem
+kanariengelben Hut die Treppe hinunter.</p>
+
+<p>Das war am Abend des 24. Mai.</p>
+
+<p>Emil ahnte nicht, welche Bedeutung einmal für ihn dieses Datum gewinnen
+sollte. Und als er in sein Atelier zurücktrat und Eleonore zwischen
+all den violetten Bildern mit finster verkniffenen Lippen in seinem
+antiquarisch gekauften Sicherheitstriumphstuhl sitzend fand, immer noch
+den wimmernden Flocki<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> betreuend, da konnte ihm nimmermehr der Einfall
+kommen, daß diese Stunde in der Freundin einen Entschluß gereift habe,
+der ihn sehr nahe anging.</p>
+
+<p>Ihr Urteil über die Schwester aber faßte Eleonore, ehe sie mit Flocki
+ging, nur in die knappe Charakteristik zusammmen:</p>
+
+<p>„Es ist eine <em class="gesperrt">widerliche</em> Person!“</p>
+
+<p>Emil war zu höflich, zu widersprechen.</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Am andern Mittag saßen sich Emil und Eleonore schweigsam bei ihrem
+bescheidenen Mahl gegenüber.</p>
+
+<p>Die Schweigsamkeit des Menschen kann sehr verschiedene Ursachen haben.
+Hier zwei Beispiele. Emil schwieg, weil das Menü sehr minderwertig
+zusammengesetzt war. Es gab Erbsensuppe mit Schweinsohren, für die
+Emil sein Leben gelassen hätte, wenn sie gut gewesen wäre. Sie war
+angebrannt. Und dann Brathecht mit grüner Sauce. Die Suppe beschäftigte
+sein enttäuschtes Gemüt; der Hecht, den er minder schätzte, wandte
+sich mehr an seine Intelligenz und nahm mit seinen Gräten seine volle
+Aufmerksamkeit in Anspruch. Um so mehr, als Fischessen eine Kunst und
+ein Probierstein guter Erziehung ist und er sich vor Eleonore keine
+Blöße geben mochte.</p>
+
+<p>Eleonore aber schwieg, weil ihr vielerlei im Kopfe herumging und das
+Herz bewegte. Vielerlei, das mit der Erbsensuppe und dem Brathecht in
+gar keinem Zusammenhange stand.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p>
+
+<p>Plötzlich legte sie die Gabel hin, sah Emil ernst und fest in die Augen
+und fragte mit einer Stimme, der man tiefe, seelische Erregung leicht
+anmerken konnte.</p>
+
+<p>„Wenn ich <em class="gesperrt">stürbe</em>, mein lieber Freund, würden Sie wohl dem armen
+Flocki ein Vater und Versorger sein?“</p>
+
+<p>„Wenn Sie — <em class="gesperrt">was</em>?“ Emil war froh, besonderes Interesse an der
+Unterhaltung heuchelnd, den Brathecht beiseite schieben zu können,
+dessen Todestag, wie ihm schien, schon etwas ferne lag.</p>
+
+<p>Eleonore wiederholte mit genau demselben schwermütigen Tonfall ihre
+ernste Frage.</p>
+
+<p>„Aber natürlich, Fräulein Eleonore. Sie wissen doch, mein Herz —
+Pikkolo nehmen Sie doch endlich den Brathecht weg! — mein Herz hängt
+an dem Tier. Ich habe mich so an ihn gewöhnt und —“</p>
+
+<p>Eleonore reichte über den leeren Brotkorb dem Freunde die Hand. Sie
+war gerührt. Tränen standen in ihren Augen, und ihre Nasenspitze
+war elfenbeinweiß und zuckte leise, was stets bei ihr ein Zeichen
+besonderer seelischer Erschütterung war.</p>
+
+<p>„Ich <em class="gesperrt">danke</em> Ihnen,“ sagte sie, in jedes Wort eine Fülle
+glückseliger Empfindung gießend, als habe er ihr soeben
+Holländisch-Indien als souveränes Fürstentum geschenkt.</p>
+
+<p>Emil empfand die Feierlichkeit peinlich. Er liebte das Feierliche
+überhaupt nicht in öffentlichen Lokalen. Am wenigsten, wenn ein
+unerzogener Pikkolo in der Nähe stand, der seine schaufelförmig
+abstehenden Ohren ausgiebig<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> zur aufmerksamen Teilnahme an den
+Gesprächen der Gäste benutzte.</p>
+
+<p>„Aber, liebes Fräulein,“ wehrte der Maler geniert und halblaut ab,
+„nein wirklich, wie können Sie jetzt vom Tode — heute gerade vom Tode
+reden! Sie — in der Blüte der Jahre, in der Fülle der Kraft, in der —
+in der — —“</p>
+
+<p>„Nehmen die Herrschaften Obst oder Käse?“ fragte der Pikkolo.</p>
+
+<p>Emil war ihm dankbar für die Störung. Denn seine Beredsamkeit hatte ihn
+in eine lichtlose Sackgasse geführt. Er bestellte den steinharten Käse,
+den man hier, weil er etwas altes Stanniol auf der Oberfläche zeigte,
+„Chamambert“ nannte.</p>
+
+<p>Aber Eleonore kam mit der ganzen Zähigkeit des Frauengemüts auf den ihr
+lieben Gedanken zurück.</p>
+
+<p>„Wenn Sie wüßten, wie mich das beruhigt. Es gibt mir geradezu das
+seelische Gleichgewicht wieder, das ich verloren hatte —“</p>
+
+<p>Emil ließ einen Grunzton hören, der immerhin ein Bedauern und ein
+Befremden über das verlorene Gleichgewicht bedeuten konnte.</p>
+
+<p>„Ich weiß, <em class="gesperrt">Sie</em> verstehen mich,“ fuhr Eleonore fort, während sie
+Flocki, der einen Gast am Nebentisch einen Geflügelknochen behandeln
+sah und unschöne Zeichen einer durchaus mißgünstigen Stimmung an den
+Tag legte, beruhigend an sich zog. „<em class="gesperrt">Sie</em> ganz allein. Ruhig,
+Flocki, nicht heulen! Als gestern meine<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Schwester ging, stand mein
+Entschluß fest, felsenfest, wie die Mauer von Jericho.“</p>
+
+<p>Eleonore liebte solche kühnen Vergleiche, die zu denken gaben. Emil
+überlegte, daß sie außer der Mauer von Jericho auch den Käse, den
+er hilflos zwischen den Kiefern umherschob, ganz gut zum Vergleich
+für die Festigkeit ihres Entschlusses hätte heranziehen können. Aber
+worin dieser Entschluß bestand, das erforschte er weder durch emsiges
+Nachdenken, noch erfuhr er es an diesem Tage aus Eleonorens Munde.</p>
+
+<p>Flocki, tieferregt über den Herrn mit dem Geflügelknochen, hatte Händel
+an dem Nebentisch gesucht und dafür einen Tritt bekommen. Sein Schmerz
+über diese unwürdige Behandlung machte sich in kläglichen Lauten Luft.</p>
+
+<p>Eleonore, schon seelisch erregt durch die ernsten Erwägungen ihres
+Todesfalls, gebrauchte alsbald heftige Ausdrücke gegen „miserable
+Tierquäler“, „mitleidlose Barbaren“ und „unerzogene Menschen“.
+Bemerkungen, die der Herr mit dem Geflügelknochen leider auf
+<em class="gesperrt">sich</em> beziehen mußte. Er wischte sich denn auch sofort die
+fetten Finger an der Serviette ab, sah durch eine sanftblaue Brille
+die erzürnte Dame von der Seite an und gab ihr — natürlich ohne sich
+vorzustellen — den wohlmeinenden Rat, ihren Köter besser zu erziehen.</p>
+
+<p>Eleonore, die gerade auf Flockis Erziehung sehr stolz war, setzte
+leider, aufs neue gereizt, das unersprießliche Gespräch durch
+die spitze Bemerkung fort,<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> daß es mehr unerzogene Geschöpfe auf
+<em class="gesperrt">zwei</em> Beinen, als auf vier Beinen gebe. Und obschon Eleonore,
+als sie diesen allgemeinen Vorwurf aussprach, dem Herrn mit dem
+Geflügelknochen dicht am Ohr vorbei sah, bezog dieser ungemütliche Mann
+die Äußerung doch wiederum auf sich. Er nannte nunmehr Flocki „eine
+unglückliche Kreuzung von einer Fischotter und einem Schaukelpferd“
+und sprach den Verdacht aus, daß diese Mißgeburt beträchtliches
+Ungeziefer habe. Seine von keinerlei Sympathie getragenen Betrachtungen
+über Flocki und Flockis Geschlecht gipfelten in dem mit apodiktischer
+Sicherheit abgegebenen Spruch, derartige Geschöpfe gehörten in keine
+anständigen Lokale, und es sei noch zweifelhaft, ob man den Wirten,
+die sie zur Unbequemlichkeit ihrer Gäste dennoch hereinließen, nicht
+juristisch und strafrechtlich beikommen könne.</p>
+
+<p>Das war der Moment, in dem der Wirt sich in das Gespräch mischte.</p>
+
+<p>Nicht eigentlich in den Streit. Denn das Gebot solonischer Weisheit,
+daß der Athener in jedem Streit zwischen Zweien Partei ergreifen müsse,
+schien ihm außerhalb des alten Athens keine Geltung zu besitzen. Oder
+er kannte es überhaupt nicht. Er beschränkte sich also darauf, milde,
+beruhigende Worte an Eleonore zu richten und ähnliche Ermahnungen an
+den Herren mit dem Geflügelknochen.</p>
+
+<p>Als dieser ihn aber ärgerlich einen „alten Trottel“ nannte, ohrfeigte
+er unverzüglich den Pikkolo, der sich an dieser häßlichen Bemerkung des
+Herrn mit dem<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> Geflügelknochen unziemlich erfreut hatte. Dann ging er
+nach dem Büfett, um das rothaarige Büfettfräulein anzuschreien, was ihm
+die am meisten ungefährliche Art erschien, seinen Ärger los zu werden,
+ohne dabei einen zahlungsfähigen Gast zu kränken.</p>
+
+<p>In Emils Seele wallten während dieser Szene allerlei ritterliche
+Gefühle. Von dem Entschluß, dem Herrn mit dem Geflügelknochen
+Ohrfeigen anzubieten, hielt ihn die kluge Einsicht zurück, daß dieser
+unangenehme Mensch einen geradezu athletischen Körperbau zeigte. Eine
+Pistolenforderung schien ihm aussichtslos. Und dann, er hatte niemand
+zur Hand, der sie überbracht hätte. Auch wußte er nicht, ob der Herr
+mit dem Geflügelknochen nicht etwa ein Kunstschütze war. Und da er nun
+so gar nicht ahnte, was er in dieser peinlichen Situation unternehmen
+sollte, machte er sich wichtig und umständlich mit Flocki zu schaffen,
+der sich immer noch in der Rolle des Gekränkten gefiel.</p>
+
+<p>„Gehen wir,“ sagte Eleonore plötzlich. Und Emil war herzlich froh, daß
+die unerquickliche Unterhaltung zu Ende war.</p>
+
+<p>Der Pikkolo, der an seinen Tränen schluckte, riß ihnen die Türe
+auf. Und hinter der wie eine siegreiche Königin einherschreitenden
+Eleonore gewann Emil sehr zu seiner Erleichterung die freie Luft. Eine
+neugierige Wendung hatte ihm noch gezeigt, daß der Feind, der sie
+vertrieb, bereits seinen Geflügelknochen wieder ergriffen hatte und an
+ihm herumnagte, als sei gar nichts geschehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p>
+
+<p>Eleonore war schweigsam auf dem Weg zu den Ateliers. Nur einmal machte
+sie plötzlich die, wie es schien, mehr für sich selbst als für Emil
+bestimmte Bemerkung, sie habe vor drei Jahren in der Schweiz am Genfer
+See einen Herrn aus St. Gallen an der Table d’hote getroffen, der das
+zarte Geflügelfleisch so unmanierlich von dem Knochen abgelutscht habe,
+daß sie sowohl, wie zwei alte holländische Damen die Pension gekündigt
+hätten. Aber noch in Basel habe sie von diesem Menschen und seiner
+barbarischen Art, zu essen, geträumt.</p>
+
+<p>Emil, der froh war, daß ein Gespräch in Fluß kommen sollte, wollte die
+spaßhafte Geschichte erzählen vom Schah Nasr-eddin, der beim Galadiner
+in London die Spargelreste hinter sich warf. Aber Eleonore belehrte ihn
+mit einem strengen Blick, dies sei eine Geschichte, die nicht hierher
+passe. Sie rede von europäischer Flegelei und von Geflügelknochen.
+Einem asiatischen Despoten verzeihe sie viel, einem Mitteleuropäer
+wenig.</p>
+
+<p>Und Emil dachte im Weitergehn darüber nach, wie dieses milde Urteil
+Eleonorens wieder einmal den alten Erfahrungssatz bestätige, daß die
+Stellung eines asiatischen Despoten ihre großen Annehmlichkeiten habe.</p>
+
+<p>Nur Flocki hatte sichtlich alle trüben Erinnerungen von seiner Seele
+geschüttelt und war von erfrischender Spaßhaftigkeit. Er erschreckte
+artige Schulkinder durch Sprünge und unmotiviertes Gebell bis zu
+Tränen, begleitete eine gelbe Postkutsche eine Strecke weit mit<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span>
+beträchtlichem Lärm durch viele Pfützen, interessierte sich für die an
+einem Laden in Körben ausgelegten Schellfische mehr, als dem Besitzer
+lieb war, und mischte sich dann arglos unter das Publikum.</p>
+
+<p>Im Atelier, als ihn Eleonore streicheln wollte, erwies es sich, daß
+er auch Zeit gefunden hatte, an einer offenbar frischgestrichenen
+Laterne zu rasten und daß ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner linken
+Körperseite dick mit grüner Ölfarbe bestrichen war.</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Am folgenden Tag kam Eleonore nicht ins Atelier.</p>
+
+<p>Der Portier, der bereits wieder bewundernd vor einem erst angefangenen
+aber schon sehr violetten Bilde in Emils Malerwerkstatt stand, als
+der junge Künstler, ein wenig verkatert von einem üblen Trunk, den
+er am Abend zuvor getan, die Türe öffnete, überbrachte ihm ein
+Billettchen der Freundin. Ein halbwüchsiges Mädchen, das in der kleinen
+Privatwohnung Eleonorens die Aufwartedienste tat und in Erfüllung
+dieser Obliegenheiten für dreimal soviel Geld zerschlug, als ihr
+Lohn ausmachte, hatte das Briefchen gebracht. Es war mit Bleistift
+geschrieben und enthielt nur diese wenigen Zeilen:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="mleft2">„Lieber Freund!</p>
+
+<p>Ängstigen Sie sich nicht. Mir ist nicht wohl. Vielleicht war es die
+Aufregung gestern. Aber ich fühle, daß ich fiebere und habe häßliche
+Gliederschmerzen.<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> Ich will einen Tag im Bett bleiben und denken, es
+macht sich rasch wieder. Vielleicht nehmen Sie Flocki heute mit zum
+Mittagessen?</p>
+
+<p>Das Mädchen wird Sie pünktlich um ein Uhr mit dem lieben Tier vor der
+Haustür erwarten. Sie holt ihn dann gegen Abend bei Ihnen im Atelier
+ab. Aber wenn’s Ihnen Mühe macht oder Verdruß — dann natürlich nicht.</p>
+
+<p>Lüften Sie bitte ein bißchen in meinem Atelier. Und seien Sie schön
+bedankt und gegrüßt von Ihrer</p>
+
+<p class="right mright2">Eleonore Eikötter.“</p>
+
+</div>
+
+<p>An diesem Tag also aß Emil mit Flocki allein zu Mittag.</p>
+
+<p>Es war ein trübseliges Diner. Er kam sich ganz vereinsamt vor. Um so
+vereinsamter, als Flocki viel an andern Tischen hospitierte. Auch
+der Herr mit dem Geflügelknochen war wieder da. Er aß aber diesmal
+Sardellenklopps, was die Situation erleichterte.</p>
+
+<p>Als das Mädchen am Abend kam, Flocki zu holen, berichtete sie, Eleonore
+friere und mache gar merkwürdige Sprüche. Der Arzt sei dagewesen und
+habe auf einem langen schmalen Zettel eine Medizin verschrieben. Sie
+sehe aus wie Himbeersaft und koste 3,50 Mk., was sie — Dortchen —
+für eine Gemeinheit des Apothekers halte. Eleonore solle alle Stunde
+einen Eßlöffel nehmen, und sie — Dortchen — müsse deshalb sofort
+mit Flocki nach Hause. Für die Nacht habe sie ernste Befürchtungen,
+da Eleonore die sonderbarsten<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> Reden über eine Hummerschere und einen
+Geflügelknochen führe. Sie — Dortchen — gehe deshalb stark mit dem
+Gedanken um, den Laufburschen vom Bäcker gegenüber, der übrigens ein
+sehr anständiger Mensch sei und eine derartige Bitte gewiß nicht
+mißverstehen würde, zu ersuchen, mit ihr in der Nähe der Kranken zu
+wachen. Augenblicklich sei die dicke Portiersfrau bei Eleonore, eine
+unangenehme, geschwätzige Frau, die, wie man sich in der ganzen Straße
+erzähle, mit dem Portier gar nicht richtig getraut sei, sondern „bloß
+so“ zusammenwohne, was besonders deshalb sehr verwerflich sei, weil
+der Portier schon morgens früh nach Kornschnaps röche und in ganz
+roher Weise selbst auf die Treppen spucke, was doch allen andern im
+Treppenhaus Verkehrenden durch Anschlag verboten sei.</p>
+
+<p>Nachdem sie alle diese interessanten Mitteilungen ohne Punkt und
+Semikolon gemacht hatte, entfernte sie sich sichtlich erleichtert mit
+Flocki und ließ Emil mit sehr violetten Gedanken unter seinen Bildern
+zurück.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage hörte er nichts von Eleonore. Er konnte es sich nicht
+verhehlen, er war ernstlich beunruhigt.</p>
+
+<p>Und als es sechs Uhr abends war und er immer noch ohne Gruß und
+Nachricht war, ging er nach ihrer Wohnung. Erst umkreiste er in
+gemessenem Schritt das Haus mehrfach, bis er das Mißtrauen sämtlicher
+Portiers der Nachbarschaft erweckt hatte.<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> Dann faßte er einen
+raschen Entschluß, trat ein und stieg die Treppen. Ein Jüngling mit
+vorstehenden grasgrünen Zähnen öffnete ihm die Tür und stellte sich
+als der Laufbursche vom Bäcker vor, der eben mal ’rübergekommen sei,
+um nach dem Rechten zu sehen. Dortchen, das tüchtige Mädchen, sei in
+der Apotheke. Es stehe schlimm mit dem Fräulein. Der Arzt sei sogar
+zweimal dagewesen, aber sie halte ihn unbegreiflicherweise für einen
+Kaminkehrer — vielleicht weil er der vielen Trauer wegen, die sein
+Beruf bringe, so schwarz angezogen sei — und wollte gar nichts von
+ihm wissen. Auch Flocki erkenne sie nicht mehr. Sie behaupte, er
+sei eine sibirische Fischotter und befehle unaufhörlich, ihn mit
+lebendigen Sardellen zu füttern. Was den schwarzgekleideten Doktor
+anbetreffe, so sei das zweifellos ein sehr gelehrter Herr, aber leider
+wenig mitteilsam. Er habe dem Dortchen bloß gesagt, sie solle das
+Rezept in die Apotheke tragen und dann schleunigst die Schwester —
+nämlich von der Kranken, nicht von Dortchen, die nur einen Bruder
+habe — verständigen, daß es nicht zum Besten um die Kranke stehe.
+Übrigens sei das Kranksein für vermögliche Leute nicht mit so vielen
+Unannehmlichkeiten verbunden, wie für arme Teufel. Er habe z.&#8239;B.
+eine Tante gehabt, die sei am kurzen Atem gestorben und habe vorher
+herzzerbrechend gejammert und geklagt. Und er sei überzeugt, daß sich
+das mit dem kurzen Atem gegeben hätte, wenn die Tante zufällig mit
+einem Kommerzienrat im Tiergartenviertel verheiratet<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> gewesen wäre,
+anstatt mit einem Chausseearbeiter in Alt-Moabit.</p>
+
+<p>Gerade als der Jüngling mit den grünen Zähnen dabei war, Emil auch
+noch von diesem Onkel Rührendes zu erzählen, der dann als Witwer sehr
+interessante Erlebnisse mit einer Obstfrau am Spittelmarkt hatte,
+leuchtete Adelgundes kanariengelber Hut die Treppe hinauf. Hinter ihr
+keuchte Dortchen, die sehr erhitzt aussah und in einemfort redete, ohne
+zu verlangen, daß ihr jemand zuhörte.</p>
+
+<p>Adelgunde war zunächst der Ansicht, daß Eleonore bestimmt gewußt
+habe, daß sie — Adelgunde — heute abend ihr Whistkränzchen bei der
+einäugigen Steuerrätin habe, und daß sie sich deshalb diesen Tag zum
+Krankwerden ausgesucht habe. Rein aus Schikane.</p>
+
+<p>Als aber Adelgunde nach kurzer Zeit aus dem Krankenzimmer auf den
+Flur trat, wo Emil im Dunkeln auf einer hügeligen Holzkiste sitzend
+voll Unruhe auf ihre Mitteilungen gewartet hatte, da war sie doch
+recht ernst. Eleonore hatte die Schwester in ihren Phantasien für die
+merkwürdige George Sand gehalten, deren Lebensbeschreibung sie kurz
+vorher gelesen hatte, und mit Beziehung auf ihren gelben Hut gesagt,
+sie finde es sehr lustig, daß so eine große Schriftstellerin einen
+Eierkuchen auf dem Kopfe trage.</p>
+
+<p>Sehr bekümmert schlich Emil davon. Er hätte so gern irgend etwas für
+die kranke Freundin unternommen. Aber es blieb da nichts zu tun. So
+ging er in sein Heim, legte sich ohne Abendessen zu Bett<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> und warf
+sich den größten Teil der Nacht von einer Seite auf die andere,
+ohne schlafen zu können. Als er aber gegen Morgen doch noch etwas
+einduselte, träumte er, Flocki sitze mitten auf seiner Brust und knurre
+ihn, den struppigen Kopf auf die Seite gelegt, boshaft und feindselig
+an. Und Flocki wurde immer schwerer; schon wie ein Kalb, wie ein
+Pferd, wie ein Elefant. Emil spürte deutlich, wie seine Rippen im
+Brustkorb krachend zersprangen unter der wachsenden Last von Flockis
+märchenhaftem Gewicht&#8239;...</p>
+
+<p>Als er um 9 Uhr aufwachte, stand der Jüngling mit den grünen Zähnen an
+seinem Bett. Wie er hineingekommen, bleibt ein Rätsel. Der angenehme
+junge Mann trug keinen Kragen und roch bedenklich, als ob er sich statt
+mit Kaffee mit einem nicht zu knappen Schluck Branntwein erfrischt
+hätte. Das Wesentlichste seines etwas verworrenen Berichtes lautete:
+Es gehe Eleonore sehr übel, und der schwarzgekleidete Arzt gebe
+wenig Hoffnung. Dortchen habe gemeint, der Herr Maler interessiere
+sich dafür, und so sei er rasch hergekommen. Er habe übrigens die
+Elektrische benutzen müssen — auch auf dem Rückweg könne er dieses
+Verkehrsmittel nicht entbehren —, wodurch ihm Unkosten von zwanzig
+Pfennigen entstanden seien.</p>
+
+<p>Emil entließ den Jüngling, der ihm antipathisch war, mit einem
+50-Pfennigstück als Belohnung und zog sich rasch an. Ihm war sehr
+seltsam zumute. Eleonore war ihm ein lieber Kamerad gewesen, und es
+schien ihm, als ob er sie zu seiner Kunst brauche, wie sie ihn.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p>
+
+<p>Er hatte sich an sie gewöhnt, und es hatte ihm auch geschmeichelt, daß
+diese selbständige, pekuniär unabhängige Dame, die schließlich Verkehr
+genug gefunden hätte, gerade auf sein Urteil, sein Gespräch und seine
+Gesellschaft besondere Stücke zu halten schien. Etwas in seinem Leben
+war aus dem Gleichgewicht gekommen durch ihre Krankheit; und es kam ihm
+vor, als ob er ihr irgendwie helfen könne und müsse.</p>
+
+<p>Er konnte <em class="gesperrt">nicht</em> helfen.</p>
+
+<p>Auf der Treppe von Eleonorens Wohnung begegnete er dem Arzt. Der
+betrachtete auf seine ängstliche Frage erst längere Zeit Emil
+aufmerksam durch seine Brillengläser, dann nicht minder aufmerksam
+seine eigenen Fingernägel, um schließlich mit einem: „Ja, ja,
+Verehrtester, <em class="gesperrt">hoffen</em> wir!“ an ihm vorbei die Treppe hinunter zu
+steigen.</p>
+
+<p>Aus diesem Ausspruch, dem auch ein medizinisch besser Vorgebildeter
+keine klare Diagnose hätte entnehmen können, schöpfte Emil nichts
+weniger als Hoffnung und Zuversicht. Wenn keine Gefahr war, hätte
+der Doktor gewiß nicht solange schweigend seine eigenen Fingernägel
+betrachtet, an denen nicht die geringste anatomische oder ästhetische
+Besonderheit zu bemerken war.</p>
+
+<p>Oben wirkte Adelgunde. Das heißt, da die Kranke selbst im Fiebertraum
+liegend eigentlich sehr wenig Gelegenheit gab, eine energische
+Wirksamkeit, die zu üben Adelgunde gekommen war und den kanariengelben
+Hut abgelegt hatte, zu betätigen, so beschränkte<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> sich die Hilfreiche
+darauf, unzählige Gegenstände von ihrem offenbar sinnvoll gewählten
+Platz zu entfernen und an einen andern zu stellen. Wobei sie mit jener
+gedämpften Behutsamkeit zu Werke ging, die in ihrer Absichtlichkeit
+einen Kranken, der das Bewußtsein noch nicht ganz verloren hat,
+besonders heftig erregen muß.</p>
+
+<p>Auch Emil mußte sofort helfend zur Hand gehn. Es tat ihm in seiner
+Besorgnis wohl, daß er irgend etwas in der Nähe der Kranken tun konnte,
+ohne allerdings recht einzusehen, warum er gerade die kümmerlichen
+kleinen Palmen und fast entblätterten Geranien aus dem engen Wohnzimmer
+auf den Vorplatz tragen und das eiserne Schirmgestell vom Vorplatz
+auf den bescheidenen Balkon setzen mußte. Aber Adelgundes gedämpfte
+Feldherrnstimme ordnete das alles mit solcher Sicherheit an, daß wohl
+ein tiefbedeutungsvoller Plan diesen wunderlichen Verrichtungen
+zugrunde liegen mußte.</p>
+
+<p>Als sich Emil bei solcherlei Geschäften, immer auf den Zehen
+schleichend wegen der Kranken, tüchtig in Schweiß gearbeitet hatte,
+erwies es sich, daß es Zeit war, Flocki an die frische Luft zu
+führen. Eine Aufgabe, zu der sich wieder niemand besser eignete als
+Emil. Als er Flocki, der Veranlassung genommen hatte, am Rade eines
+Flaschenbierwagens sich reichlich das Fell mit Teer zu besudeln, wieder
+oben ablieferte, erfuhr er, daß Eleonorens Fieberthermometer unter der
+Achselhöhle 40,1 anzeige. Also sehr hohes Fieber.</p>
+
+<p>Er hörte auch durch die halbgeöffnete Tür die<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> kranke Freundin
+phantasieren. Sie erzählte in heiseren, abgehackten Sätzen, daß sie,
+sobald die Tage schöner würden, nach Delft zu Pieter de Hooch reisen
+wolle, um dem Verschmitzten seine Beleuchtungseffekte abzugucken.</p>
+
+<p>„Wer ist denn das?“ fragte Adelgunde leise den Maler.</p>
+
+<p>„Das ist ein Maler aus Rembrandts Schule. Mehr als zweihundert Jahre
+tot.“</p>
+
+<p>Adelgunde nickte nur. Sie hatte vermutet, daß der Mann tot war. Nach
+einer Weile forschte sie weiter.</p>
+
+<p>„Sie hat vorhin auch immer von einem gewissen Hundeköter gesprochen?
+Ich dachte erst, sie meint Flocki, aber es scheint fast — —“</p>
+
+<p>Der Maler nickte. „Ganz recht. Melchior d’Hondecoeter, der feine
+Geflügelmaler aus dem Haag ...“</p>
+
+<p>Und als hätte sie’s gehört, schrie plötzlich die Kranke: „Ich will auch
+Enten malen, wie Hondecoeter. Und Flocki soll die Knochen haben. Alle
+Knochen soll Flocki haben — alle!“</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Eleonore Eikötter hat keine Enten mehr gemalt. Weder wie Hondecoeter,
+noch minder talentvoll.</p>
+
+<p>In der Nacht ist sie eingeschlafen, so gegen drei Uhr, was die bei
+ihr wachende Adelgunde so sehr beruhigte, daß sie bald ebenfalls
+einschlief. Nur mit dem Unterschied, daß Adelgunde kurz nach sieben<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span>
+wieder aufwachte. Eleonore aber wachte nicht mehr auf.</p>
+
+<p>Sie lag ganz blaß und mit einer seltsam zugespitzten Nase, ein wenig
+jenem Jugendbilde wieder ähnlich, das die Erbtante entzückt hatte, in
+ihren reinlichen Kissen und war bereits mehrere Stunden tot, wie der
+rasch gerufene Arzt konstatierte&#8239;...</p>
+
+<p>Das Benehmen Flockis war durchaus pietätlos in diesen trüben Stunden.</p>
+
+<p>Man erzählt, daß edle Hunde tief und ehrlich, wie Menschen, um ihren
+Herrn trauern, ja, daß sie keinen Bissen annehmen tagelang. Und
+mehr als ein Fall gilt als gutbeglaubigt, in dem so ein treues Tier
+auf dem frischen Hügel seines Herrn in Wind und Wetter Wache hielt
+und schließlich elend verhungerte. Solchen erschütternden Neigungen
+war Flocki durchaus nicht unterworfen. Verschiedene Kränze, die
+am Morgen abgegeben wurden, genierten ihn zwar sichtlich, und die
+scharfriechenden Tuberosen brachten ihn zum Niesen. Das war aber auch
+alles, was an Veränderungen an ihm zu merken war. Im übrigen war er
+gefräßig wie nur je, verfolgte nach wie vor den Briefträger mit seinem
+Haß und machte sich bei den Zimmerleuten, die wegen des Sarges kamen,
+angenehm, da er das Wurstfrühstück roch, das die Männer in der Tasche
+hatten.</p>
+
+<p>Emil half Adelgunde bei all den trübseligen Verrichtungen, die der Tod
+eines Menschen seinem Nächsten aufbürdet.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p>
+
+<p>Der zur standesamtlichen Meldung nötige Geburtsschein Eleonores war
+lange nicht zu finden. Adelgunde, die ein zu enges Trauerkleid gekauft
+hatte und die Arme nicht bewegen konnte, ohne daß es in allen Nähten
+krachte, bat Emil, in den tiefen Schubladen des Schreibtisches mit
+seinen langen und an keiner Bewegung gehinderten Armen danach zu
+fischen.</p>
+
+<p>Während sie ernst beaufsichtigend dabei stand, zog Emil die seltsamsten
+Dinge aus diesen peinlich sauber mit blauem Seidenpapier ausgelegten
+Fächern. Fast kam es ihm wie ein Unrecht an der toten Freundin vor,
+daß er hier so offen ausbreitete, was sie in all ihren Gesprächen
+schamhaft verschwiegen. Da war das schon vergilbte Bild eines Herrn,
+der sich durch ein paar vorbildlich schöne Tiefquarten im hübsch
+ausrasierten Kinn als akademischer Bürger auswies. In der Nähe dieses
+Porträts, an dessen Rand eine Dedikation ausradiert schien, fanden sich
+ein paar getrocknete Blumen vor, die in Emils Fingern leise knisternd
+zu Staub zerfielen. Ein Gedichtsbändchen: Rückerts Liebesfrühling,
+der viel angestrichene Verse zeigte. Ein paar geknickte Tanzkarten,
+die in Schmuck und Druck die ganze Geschmacklosigkeit einer kleinen
+Stadt und in der Kritzelschrift die Autogramme vieler unbekannter
+Kavaliere aufwiesen ... Wieviel Freude und Weh mochte für die Tote an
+all diesem wertlosen Kram gehaftet haben, daß sie ihn so lange unter
+sauberem Seidenpapier, von bunten Bändchen umschlossen, bewahrte! Die
+traurig-sehnsüchtige Weise<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> des alten Volksliedes zog Emil durch den
+Sinn: Lang, lang ist’s her — lang ist’s her&#8239;...</p>
+
+<p>Nebenan im Sterbezimmer aber stand die Portiersfrau im ganzen
+fassungslosen Schmerz solcher ungebildeten Leute, die in jedem Toten
+schon ihr eigenes nahes Ende beklagen, und schluchzte, während sie der
+Toten einen Veilchenstrauß in die kalten Finger stopfte, immer wieder:
+„Nein doch, nein — jetzt — jetzt sieht man’s erst, wie <em class="gesperrt">schön</em>
+sie einmal gewesen sein muß, das liebe Fräulein!“</p>
+
+<p>Schön —? Wer weiß. Aber jung — gewiß einmal jung. Mit allen
+Torheiten, Hoffnungen, Seligkeiten der Jugend, mit all den Träumen, die
+nicht davon wissen, daß dies Leben einmal, kaum beweint und ohne eine
+Lücke zu lassen, zwischen schlechten Bildern endigt. Aber weit zurück
+lagen die Träume ... Und als Emil den Geburtsschein endlich, in ein in
+lila Sammet gebundenes Konfirmationsbüchlein versteckt, gefunden hatte,
+las er nicht ohne Erstaunen die Jahreszahl&#8239;...</p>
+
+<p>Bei dem Suchen nach dem Geburtsschein war übrigens ein anderes
+wichtiges Papier den beiden in die Hände gekommen. Ein mit einem
+Rembrandtkopf zugesiegeltes Kuvert, das ganz obenauf in der
+Mittelschublade lag und in Eleonorens starker Handschrift, deren
+Energie sogar in diesen langen Buchstaben mit einer gewissen stolzen
+Absichtlichkeit betont schien, die Aufschrift trug: „<em class="gesperrt">Mein
+Testament</em>“.</p>
+
+<p>Als alles auf dem Standesamt, mit Schreiner,<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> Pfarrer und Blumenhändler
+für das Begräbnis geordnet war, fand Adelgunde dieses Kuvert auf dem
+Topf einer kleinen Dattelpalme wieder, wohin sie es in der Eile beim
+Suchen nach dem momentan wichtigeren Geburtsschein gelegt hatte.</p>
+
+<p>Eine Weile betrachtete sie es unschlüssig. Dann ging sie an die Tür
+und rief nach Emil, den sie in diesen Tagen wie einen anstelligen
+Haushofmeister zu behandeln gelernt hatte, und der in den kleinen und
+kleinlichen Besorgungen für das Begräbnis seinen ehrlichen Schmerz
+betäubte und die innere Leere zu vergessen suchte, die ihm der Heimgang
+der einzigen Freundin seiner Person und seiner violetten Kunst
+hinterlassen hatte.</p>
+
+<p>Emil verhandelte gerade an der Flurtüre mit einem etwas angetrunkenen
+Herr, der behauptete, früher Kantor an der Simonskirche gewesen
+zu sein, und sich eifrig erbot, mit drei andern, ebenfalls sehr
+talentvollen Sängern, die einen guten schwarzen Rock besäßen, für 20
+Mk., worauf allerdings ein Vorschuß zu zahlen sei, und zwei Flaschen
+Weißwein (roten trinke er nicht) einige Quartette zum besten zu geben,
+ohne die eine „anständige Leiche“, wie er versicherte, „überhaupt nicht
+mehr bestehen könnte“.</p>
+
+<p>Als Adelgunde, einen nicht zu überhörenden strengen Vorwurf im Ton, zum
+dritten Male rief, schob Emil den angesäuselten Quartettsänger sanft
+aus dem Korridor und schloß die Tür, hinter der man den ehemaligen
+Kantor der Simonskirche noch einige sehr<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> kräftige, aber unhöfliche
+Worte sprechen hörte, ehe er einige Proben seiner Gesangskunst gratis
+spendend die Treppe hinunterstolperte.</p>
+
+<p>„Hier ist eine merkwürdige Sache,“ meinte Adelgunde, als Emil zu ihr
+trat und deutete auf das Kuvert. „Lesen Sie die Aufschrift!“</p>
+
+<p>Emil hatte sie schon gelesen. Er war es ja überhaupt gewesen, der das
+Papier gefunden hatte.</p>
+
+<p>„Was meinen Sie?“</p>
+
+<p>Emil meinte zunächst <em class="gesperrt">nichts</em>. Das war so in schwierigen Fällen
+seine vorsichtige Gewohnheit.</p>
+
+<p>„Ich denke,“ fuhr Adelgunde etwas ärgerlich über sein Schweigen fort,
+„Sie werden mir doch irgendeinen intelligenten Vorschlag machen können.“</p>
+
+<p>Emil konnte keinen intelligenten Vorschlag machen. Sein Gesicht
+täuschte in diesem Moment nicht darüber. Er hatte noch nie ein
+Testament in der Hand gehabt und hatte sein Gehirn niemals mit ernsten
+Erwägungen, was etwa mit solchem wichtigen Papier nach dem Tode des
+Erblassers zu geschehen habe, belastet.</p>
+
+<p>„Ich denke,“ sagte Adelgunde nach einer Weile, „ein Testament war hier
+kaum nötig. Verwandte außer mir hatte die gute Eleonore nicht. Das
+müßte ich wissen, da ich die Schwester bin.“</p>
+
+<p>Das leuchtete Emil ein. Adelgunde <em class="gesperrt">mußte</em> das wissen. Das heißt
+... Ihm zuckte ein Gedanke durch den Kopf. Der Herr mit den Tiefquarten
+im Kinn — die zerknitterten Tanzkarten — die staubigen<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> Veilchen —
+— Sollte etwa irgendwo ...? Man hörte zuweilen solche verblüffenden
+Sachen oder las davon im „Vermischten“ der Zeitungen. Bei seiner Tante
+Barbara in Limburg hatte eine schwächliche Köchin fünf Jahre gedient,
+und niemand hatte eine Ahnung, daß diese mürrische und kränkliche
+Person in einem Dorf der Wetterau zwei hervorragend gesunde Jungen
+hatte ... Aber das war ja Unsinn. Eleonore, dieses treuherzige Wesen
+mit allen kleinen Eigenheiten eines späten Mädchens. Nimmermehr!</p>
+
+<p>Adelgunde war, als Emil wieder zuhörte, in ihren Bemerkungen zu diesem
+überflüssigen Testament gerade zu einem kühnen Schluß gekommen. „Es muß
+vielmehr dieses versiegelte Papier irgendeinen besonderen Wunsch der
+Pietät enthalten. Vielleicht eine Bestimmung über die Bilder, die sie
+gemalt hat —“ Selbst die Trauer vermochte nicht ganz ein malitiöses
+Lächeln von den Lippen Adelgundens zu scheuchen, als sie vollendete:
+„Vielleicht hat sie nicht gewünscht, daß gerade diese Werke ihrer
+Hand in meinen Besitz übergehen und mich so zwingen, aus Pietät für
+die Tote, täglich Dinge um mich zu sehn, deren Vorbilder ich im Leben
+nicht zu entdecken vermag. Vielleicht hat sie die Schwäche gehabt,
+diese Malereien einer Galerie als Erbschaft anzubieten — wovon wir
+allerdings Scherereien haben könnten — oder sie hat bestimmt, daß ein
+oder das andere davon — Ihnen ...“</p>
+
+<p>„Mir?“&#8239;...</p>
+
+<p>An <em class="gesperrt">diese</em> Möglichkeit hatte Emil absolut nicht<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> gedacht. Er
+fühlte, er war ganz blaß geworden. Für ihn war der Gedanke, im
+Testament irgend eines Menschen erwähnt zu sein, und sei’s auch nur mit
+einem mittelmäßigen Ölbild bedacht (von welchem einzigen Artikel er
+eigentlich reichlich genug hatte), ein so Außergewöhnliches, daß ihn
+die bloße Andeutung wie ein großer Schreck berührte. Wenn ihm plötzlich
+ein makedonischer Landgensdarm die weißbehandschuhte Rechte wuchtig auf
+die Achsel hätte fallen lassen und ihn angebrüllt hätte: „Im Namen des
+Sultans, Sie sind verhaftet!“ er hätte — obschon sich keiner Freveltat
+bewußt — nicht heftiger bis in die Knochen erschrecken können.</p>
+
+<p>„Es wäre immerhin möglich,“ fuhr Adelgunde fort, indem sie das
+geheimnisvolle Kuvert gegen das Licht hielt, als ließe sich dadurch
+sein Inhalt leichter feststellen, „wäre möglich, daß sie Ihnen
+mindestens die zwei Bilder wieder vermacht hätte, die sie Ihnen einst
+abgekauft hat. Daß ich Ihren aparten violetten Geschmack nicht teile,
+wußte sie vielleicht —“</p>
+
+<p>„Sie haben mit Ihrem Urteil ja nicht zurückgehalten,“ wagte Emil, dem
+die unerquickliche Szene in seinem Atelier deutlich vor Augen stand,
+schüchtern einzuwerfen.</p>
+
+<p>Adelgunde sah ihn durchbohrend an. „Allerdings. Ich habe, wie immer,
+meiner Meinung zwar in schonender, aber in nicht mißzuverstehender
+Weise Ausdruck verliehen. Übrigens reden wir in dieser ernsten Stunde
+nicht von Ihren Bildern.“</p>
+
+<p>Emil stimmte lebhaft zu. Da niemand sonst zu<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> irgend einer Zeit von
+seinen Bildern redete, so konnte er auch Adelgundes lieblose Erwähnung
+in dieser Stunde entbehren.</p>
+
+<p>Adelgunde wog das Kuvert in der Hand. „Es scheint ein einziger Bogen
+ihres gewöhnlichen Briefpapiers zu sein. Gleichviel ein Bogen oder zehn
+— wir müssen die Gesetze beachten und tun, was sie vorschreiben.“</p>
+
+<p>Dieser Ausspruch gefiel Emil so gut, daß er ihn, gewichtig mit dem
+Kopfe nickend, zweimal wiederholte. Leider stellte sich aber heraus,
+daß dieser von beiden gebilligte Vorsatz zunächst eine lobenswerte
+Theorie bleiben mußte, da sie beide nicht wußten, was nun eigentlich
+die zu beachtenden Gesetze in diesem Falle vorschrieben.</p>
+
+<p>Unbemerkt von den beiden, die in tiefe Gedanken versunken standen,
+war Flocki hereingekommen, der ein gewisses Unbehagen nicht verbergen
+konnte, daß man sich so wenig mit ihm beschäftigte. Er war zu gewissen
+Stunden an kleine neckische Spiele gewöhnt, an geistige Anregungen, wie
+sie die vortreffliche Eleonore in ihrer unendlichen Güte immer wieder
+für den Liebling zu ersinnen pflegte. Die Nichtachtung, die er jetzt in
+diesem Trauerhause erfuhr, verdroß ihn heftig. Den Kopf auf die linke
+Seite gelegt, mit dem Schwanz in leiser Erregung den Boden fegend,
+stand er zwischen den beiden Sinnenden und schnüffelte mißtrauisch
+hinauf nach dem Kuvert in Adelgundens Hand.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span></p>
+
+<p>„Aber das ist doch einfach,“ sagte plötzlich Adelgunde und sah dabei
+Emil strafend an, als habe sie es die ganze Zeit gewußt und nur, um
+seinen Scharfsinn auf eine notwendige Probe zu stellen, für sich
+behalten, „Sie gehen mit dem Papier sofort zu <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann.“</p>
+
+<p>Emil begriff. <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann war der Rechtsanwalt, von dem Eleonore
+mehrfach gesprochen. In drei Prozessen, die ihr Flockis Ungebühr
+eingetragen, hatte dieser tüchtige Advokat zwei Termine versäumt und
+einen für Eleonore im Wortlaut sehr ehrenvollen, aber pekuniär recht
+schmerzlichen „Vergleich“ zustande gebracht. Aber der guten Eleonore,
+die eine fanatische Verehrerin des „Paragraphen“ im allgemeinen und
+der Rechtswissenschaft im besonderen war, vermochte er gewaltig zu
+imponieren durch allerlei dicke und alte Bücher, die er mit großer
+Fixigkeit von den Regalen nahm und nachschlug, und aus denen er ihr
+nicht ohne schönes Pathos sehr lange und merkwürdige Sätze vorlas, von
+denen sie den Anfang längst vergessen hatte, wenn der Anwalt die Stimme
+melancholisch zum Schlußpunkt sinken ließ. Sie war der Ansicht, das
+seien Reichsgerichtsentscheidungen; und sie fand es sehr scharmant von
+dem liebenswürdigen Juristen, daß er sich dazu hergab, ihr vorzulesen,
+was selbst klügere Laien als sie vermutlich nimmermehr beim ersten Male
+begriffen&#8239;...</p>
+
+<p>Daß also dieser Dr. Neumann, der als Eleonorens Rechtsbeistand
+zweifellos von diesem Testament Kenntnis<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> hatte, um Rat gefragt
+werden sollte, leuchtete Emil durchaus ein. Aber warum sollte gerade
+<em class="gesperrt">er</em>, Emil, zu diesem Mann hingehn. Lag es eigentlich nicht näher,
+daß die Schwester der Erblasserin selbst — —?</p>
+
+<p>Adelgunde unterbrach seine Erwägungen mit den knappen Worten: „Ich
+halte das für eine reine Formsache. Geschehen <em class="gesperrt">muß</em> das aber. Ich
+fühle mich nicht wohl genug, auch noch diesen Gang zu tun. Also gehen
+Sie. Aber besser <em class="gesperrt">gleich</em>. In solchen Dingen versäumt man gar
+leicht etwas. Also — hier!“</p>
+
+<p>Mit diesem „hier!“ wollte sie Emil das Kuvert überreichen. Die
+Handbewegung aber, in die sie wohl Entschluß, Energie, Vertrauen und
+anderes Schöne hineinlegen wollte, fiel <em class="gesperrt">so</em> energisch aus, daß
+Flocki die Sache mißverstand. Er hielt diese Handbewegung für den
+Beginn eines seinem Frohsinn gewidmeten Spiels; und da sich in diesen
+düstern Tagen eine erkleckliche Portion Übermut in ihm angesammelt
+hatte, so ging er mit erstaunlicher Behendigkeit auf den vermeintlichen
+Spaß ein. Er tat einen kleinen, aber zielbewußten Sprung in die Höhe,
+faßte Eleonorens Testament mit den Zähnen, riß es, ehe der verblüffte
+Emil zupacken konnte, der solchen Überfalls nicht gewärtigen Adelgunde
+aus der Hand und verschwand damit in tollen Sprüngen, die das Erwachen
+all seiner lang gedämpften Munterkeit bezeugten, nach dem Korridor.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span></p>
+
+<p>Einen Augenblick standen Adelgunde und Emil wie versteinert ob solcher
+maßlosen Frechheit.</p>
+
+<p>Dann begann über die auf dem Vorplatz ausgebreiteten Kränze, über
+Veilchen, Tuberosen, Farn, Efeu und Rosen eine sehr peinliche Jagd
+auf den miserablen Köter, der die Karikatur auf jede Pietät so weit
+trieb, den letzten Willen seiner Herrin wie eine tote Ratte im Maule
+hin und her zu schütteln und sich in Sprüngen zu gefallen, die mit der
+Situation im denkbar peinlichsten Widerspruch standen.</p>
+
+<p>Während Adelgunde mit einem Regenschirm den unsinnigen Flocki listig
+in eine Ecke drängte, ihm seinen Raub zu entreißen, warf Emil durch
+die leicht klaffende Tür einen Blick in das Zimmer, in dem lang und
+schmal unter dünner seidener Decke die arme Eleonore lag. Und seinem
+Malerauge kam es vor, als ob ihr Gesicht in der freundlichen Umrahmung
+des schmalen Seidentuches, das ihr das Kinn band, im wächsernen Ton des
+Todes ein leises Lächeln sehen ließe. Ein Lächeln, wie es wohl, die
+Züge der Lebendigen zu verschönen, sich um Mund und Augen gestohlen,
+wenn sie von der erstaunlichen Klugheit Flockis Altes und Neues
+berichtete&#8239;...</p>
+
+<p>In diesem Moment heulte Flocki laut auf.</p>
+
+<p>Adelgundens Regenschirm war ihm unsanft über die Rückengegend geflogen.</p>
+
+<p>Adelgunde, hochrot im Gesicht mit wogender Brust und krachenden
+Kleidernähten, hielt den übel zugerichteten letzten Willen der
+Schwester in der Hand.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span></p>
+
+<p>Wut und Triumph bebten durch ihre Stimme, als sie dem winselnd über die
+Kränze nach der Küche retirierenden Flocki nachzischte:</p>
+
+<p>„Infame Bestie!“</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Ungefähr anderthalb Stunden hatte Emil, das unschöne Kuvert wie eine
+Reliquie in beiden Händen haltend, in Dr. Neumanns Schreibzimmer
+gewartet.</p>
+
+<p>In dem Zimmer war eine schreckliche Atmosphäre. Es schien hier nie
+gelüftet zu werden. Der jüngere der beiden Schreiber hatte sich zum
+Überfluß an diesem Tage die Haare schneiden lassen und trug den Kopf
+mit einer billigen Pomade gesalbt, die einen unerträglichen Geruch
+nach ranzigem Fett ausströmte. Der ältere Schreiber schien taubstumm
+zu sein — er hatte wenigstens den höflichen Gruß Emils nur mit
+mürrischem Kopfnicken erwidert und die Antwort auf die Fragen: ob
+der Herr Rechtsanwalt anwesend sei und ob wohl Aussicht sei, ihn zu
+sprechen, dem pomadisierten Jüngling überlassen. Auch die Arbeit schien
+er durchaus dieser jüngeren Kraft zuzumuten. Er schob dem Pomadisierten
+von Zeit zu Zeit ein Aktenbündel über den hohen Pultaufsatz zu,
+niemals ohne dabei die weiße Streusandbüchse umzuwerfen. Seine eigene
+Tätigkeit bestand ausschließlich darin, daß er sich mit einem in
+Zeitabständen von etwa zehn Minuten neugespitzten Hölzchen umständlich
+die Fingernägel reinigte und die Zähne stocherte. Dazwischen<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> sah er
+zu seiner Erfrischung zum Fenster hinaus und schien nach seinem sich
+plötzlich in breitem Grinsen erhellenden Gesichtsausdruck zu schließen,
+zarte Beziehungen zu irgend einem weiblichen Wesen an irgend einem
+Küchenfenster des nächsten Hinterhauses anzuknüpfen.</p>
+
+<p>Von Emil nahm nach Erledigung der ersten Fragen niemand mehr die
+geringste Notiz. Nebenan hörte er zuweilen eine sehr erregte
+Frauenstimme und dann eine gedämpfte Männerstimme. Offenbar berieth
+<span class="antiqua">Dr.</span> Neumann in diesem Raume eine nervöse Klientin. Emil
+hatte den dringenden Wunsch, daß der Fall nicht allzu verwickelt
+liegen möge. Denn die Aussicht noch eine weitere Stunde hier den
+Pomadengeruch auszuhalten und an des Bureauvorstehers sorgfältigen
+Toiletteverrichtungen teilzunehmen, hatte nichts Verlockendes.</p>
+
+<p>Endlich hörte man nebenan Stühle rücken und die Türe nach dem Korridor
+gehn.</p>
+
+<p>Emil faßte den letzten Willen Eleonorens fester in beide Hände und
+wartete. Es dauerte immerhin noch einmal eine starke Viertelstunde.
+<span class="antiqua">Dr.</span> Neumann mußte sich wohl von dem Besuch erholen.</p>
+
+<p>Endlich flog die Verbindungstür nach dem Allerheiligsten des Anwalts
+auf, und <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann winkte mit einer Kopfbewegung: „Der
+Nächste!“</p>
+
+<p>Da Emil der einzige war, der wartete, so hatte er wohl ein Recht, das
+unbedenklich auf sich zu beziehn, sah sich aber zur Vorsicht noch
+einmal um, ob<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> nicht etwa einer der Schreiber ... Der Pomadenkopf lag
+tief über den Akten; und auch der Bureauvorstand hatte sein Hölzchen
+hingelegt und verglich zwei mit vielen Stempeln und Unterschriften
+gezierte Papiere mit einem Eifer, als habe er auf der Welt kein anderes
+Interesse, als den Inhalt dieser merkwürdigen Blätter bis aufs letzte
+Pünktchen in sich aufzunehmen.</p>
+
+<p>Emil saß <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann in seinem Arbeitszimmer gegenüber.</p>
+
+<p>Der Anwalt war nicht gerade ein schöner Mann. Aber er hatte, wie Emil
+sich gestand, einen interessanten Kopf. Der Hinterkopf wuchs aus einem
+bescheidenen Kränzlein schwarzer Haare spiegelblank und in der Form
+eines Straußeneis. Die Nase saß ein bißchen nach links geneigt und
+konnte sich bei leicht ironischen Bemerkungen zu einem merkwürdigen
+Bogen ziehen, wobei der Mund eine listige Stellung annahm, als ob er
+pfeifen wollte.</p>
+
+<p>„Ich erkenne Sie sofort wieder,“ sagte <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann, indem er
+wohlgefällig, sich seines vorzüglichen Physiognomiengedächtnisses
+freuend, nickte. „Sie sind der Herr, dem im vorigen Jahre der
+Blumentopf in der Lietzenburgerstraße auf den Kopf fiel.“</p>
+
+<p>Emil verneinte. Ihm sei Gott sei Dank noch nie etwas auf den Kopf
+gefallen. Sein Name sei&#8239;—&#8239;—&#8239;—</p>
+
+<p>Aber schon unterbrach ihn der Rechtsanwalt, der den Widerspruch
+zunächst stirnrunzelnd angehört hatte. Sein Gesicht hellte sich auf,
+als er Emil abwehrend<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> mit schöner Vertraulichkeit aufs Knie schlug und
+meinte:</p>
+
+<p>„Pardon, nein. <em class="gesperrt">Nun</em> weiß ich’s. Sie waren im Vorjahre bei mir
+wegen des Wasserklosetts. Richtig! Nun, hat unser gepfefferter Brief an
+den Hauswirt genützt, was?“</p>
+
+<p>Emil beteuerte, auch mit dem Wasserklosett nicht dienen zu können. Sein
+Name sei Emil Steinbrink. Von Beruf Maler. Er käme auch eigentlich
+nicht in einer eigenen Angelegenheit, sondern&#8239;...</p>
+
+<p>„Wegen des Kegelklubs?“</p>
+
+<p>Nein, er kegele leider nicht, oder doch so schlecht, daß sich ein Klub
+schwer dazu verstehen würde, ihn aufzunehmen. Die Sache sei vielmehr
+die: Seine vortreffliche Freundin, — er dürfe sie wohl so nennen —
+Eleonore Eikötter sei plötzlich gestorben&#8239;...</p>
+
+<p>Dr. Neumann schlug sich mit beiden flachen Händen heftig auf die
+Schenkel. Vielleicht, daß dies seine Art war, tiefe, schmerzliche
+Anteilnahme zu bezeugen. Vielleicht auch, daß er nur damit ausdrücken
+wollte: „Ist’s die Menschenmöglichkeit! <em class="gesperrt">So</em> was kommt vor!“</p>
+
+<p>Emil sprach weiter. Er erzählte von seiner Bekanntschaft mit der
+vortrefflichen Eleonore, rühmte ihr schönes Talent, ihren Seelenadel,
+ihr echt weibliches Empfinden und ging, da dieser Teil seiner Erzählung
+den Anwalt nur mäßig zu interessieren schien, auf ihren plötzlichen Tod
+über, auf sein und Adelgundes Wirken in der Wohnung und kam schließlich
+auf den<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> zufälligen Fund des merkwürdigen Kuverts mit dem letzten
+Willen.</p>
+
+<p>„Wie war doch der werte Name?“ fragte der Anwalt und putzte seinen
+Kneifer.</p>
+
+<p>Emil wiederholte den werten Namen sehr langsam und deutlich.</p>
+
+<p>Das Angesicht des Anwalts hellte sich auf, wie vorhin, als er Emil
+zweimal „erkannt“ hatte. In Emil stieg die leise Befürchtung auf, es
+werde als ganzes Resultat seiner wohlgesetzten Erzählung etwa eine
+neue Erkennungsszene mit Verwechslung stattfinden. Aber zu seinem
+Erstaunen schlug sich der Anwalt wieder mit beiden flachen Händen auf
+die Schenkel — eine Bewegung, die ihm offenbar zum Ausdruck vieler und
+widersprechender Gemütsbewegungen diente — und wiederholte, als ob
+ihm damit eine ungemein köstliche Erleuchtung aufgehe: „Steinbrink —
+richtig: Emil Steinbrink!“</p>
+
+<p>Da Emil nicht recht wußte, was er nun sagen sollte, verbeugte er sich
+höflich und reichte dem Anwalt das Testament.</p>
+
+<p>Der aber legte es achtlos auf die Tischplatte und indem er Emil
+fixierte, als wolle er ihn hypnotisieren, fragte er:</p>
+
+<p>„Sie kennen natürlich den Inhalt?“</p>
+
+<p>„Ich? Nein.“</p>
+
+<p>„Wirklich nicht?“</p>
+
+<p>„Ich wußte nicht, daß ein solches Testament überhaupt existiert.
+Fräulein Eleonore und ich sprachen meist nur über Kunst.“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span></p>
+
+<p>„Nur über Kunst — natürlich.“ <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann lächelte ein wenig
+ironisch, wie es Emil vorkam, als er dies „natürlich“ zweimal mit
+Nachdruck wiederholte. Entweder er hielt von der Kunst nicht viel oder
+gar nichts von Emils Aufrichtigkeit.</p>
+
+<p>„Und, mein verehrter Herr Steinbock —“</p>
+
+<p>„Bitte, Steinbrink.“</p>
+
+<p>„Richtig, ja. Also, mein verehrter Herr Steinbrink, wenn ich Ihnen nun
+sage, daß Fräulein Eleonore Eikötter dieses Testament erst ganz kurz
+vor ihrem Tode gemacht hat. Vor ein paar Tagen erst. Hier bei mir.
+Unter meinem Beistand. Am — warten Sie.“ Er kramte in einer Schublade
+und holte einen gefalzten Kanzleibogen heraus: „Hier haben wir’s: am
+24. Mai gemacht. Nachmittags. Fräulein Eikötter kam sehr erregt zu mir
+und bestand darauf, sofort ein rechtskräftiges Testament aufzusetzen.
+Hier ist das Duplikat.“ <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann versenkte interessiert
+seinen Blick in das Papier. „Und hier — richtig — ich irre mich
+<em class="gesperrt">nie</em> in solchen Dingen — hier steht’s —“ Er sah wieder auf von
+dem Blatt: „Sie also sind dieser Herr Emil Steinbrink.“</p>
+
+<p>Emil wurde verlegen. Es war klar, von <em class="gesperrt">ihm</em> mußte etwas in diesem
+Testament geschrieben stehen. Was denn wohl? Er faßte sich ein Herz.</p>
+
+<p>„Hat Fräulein Eikötter vielleicht — —“ er tippte sich fragend auf die
+Brust ... „vielleicht auch <em class="gesperrt">meinen</em> Namen?“</p>
+
+<p>„Allerdings, mein verehrter Herr Steinbrink.“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p>
+
+<p>„Es handelt sich wohl um ein — ein Bild.“</p>
+
+<p>„Nicht bloß um ein Bild“.</p>
+
+<p>Emil fühlte, daß ihm die Kehle trocken wurde.</p>
+
+<p>„So. Hm. Also um — mehrere Bilder.“</p>
+
+<p>„Die Bilder sind natürlich einbegriffen.“</p>
+
+<p>„Verzeihen Sie, Herr Doktor, was heißt, das ‚einbegriffen‘. In
+<em class="gesperrt">was</em> einbegriffen?“</p>
+
+<p>„Nun in die Erbschaft.“</p>
+
+<p>„Aha. Das heißt — verzeihen Sie, ich bin darin Laie — in <em class="gesperrt">meine</em>
+Erbschaft.“</p>
+
+<p><span class="antiqua">Dr.</span> Neumann schlug sich nun gleich mehrmals rasch hintereinander
+auf die Schenkel, was ein ziemlich beträchtliches Getöse gab.</p>
+
+<p>„Aber, verehrtester Herr Steinbrink, wissen Sie das nun wirklich nicht?
+Fräulein Eleonore Eikötter hat sie unterm 24. Mai unter Übergehung
+ihrer Schwester, die nur Kleider und Schmuck, das Bett und den
+Nachtschrank erben soll und zur Hälfte die von ihr gemalten Bilder —
+zum Haupterben eingesetzt.“</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Mich</em>?“</p>
+
+<p>Wenn dem guten Emil in diesem Augenblick ein aus der Wand
+herausspringender herkulisch gebauter Neger gemeldet hätte, S. M. der
+Kaiser von Abessynien habe ihn zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem
+Prädikat Exzellenz ernannt und bitte ihn einstweilen als Zeichen seiner
+Gunst ein halbes Dutzend junger Leoparden als Geschenk anzunehmen, —
+gewundert hätte ihn das weiter auch nicht mehr.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p>
+
+<p>Er — ein „Erbe“. Er — ein „Haupterbe“.</p>
+
+<p>„Das heißt,“ <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann zog wieder das Papier zu Rate, „ganz so
+einfach ist die Sache nicht.“</p>
+
+<p>Emil hatte die Sache keinen Augenblick für „ganz einfach“ gehalten. Er
+saß mit maßlosem Erstaunen da und wartete, wie sich die Angelegenheit
+komplizieren sollte.</p>
+
+<p>„Es muß da ein Köter sein — ein Hund, nicht wahr? Ein Hund männlichen
+Geschlechts?“</p>
+
+<p>Emil nickte: „Flocki.“</p>
+
+<p>„Richtig, Flocki. So ist er auch hier bezeichnet.“ Wiederum steckte
+<span class="antiqua">Dr.</span> Neumann die merkwürdige Nase in das Papier, dann las er —
+mehr zu seiner Information, wie es schien, als für seinen mit offenem
+Munde lauschenden Hörer das Folgende vor:</p>
+
+<p>„Da ich die unverständige und unedle Lieblosigkeit meiner älteren
+Schwester Adelgunde meinem Liebling Flocki gegenüber, der lange mein
+bester und einziger Freund war, genugsam kenne, und da ich dieses
+herzige Tier, das an Verstand und Güte manchen Menschen beschämt,
+auch nach meinem Tode zum besten betreut wissen will, so bestimme
+ich hierdurch: daß als mein <em class="gesperrt">Haupterbe</em> der mir befreundete
+Kunstmaler Emil <em class="gesperrt">Steinbrink</em> zu betrachten sein soll. Und zwar
+soll genannter Kunstmaler Emil Steinbrink die Nutznießung der Zinsen
+meines Gesamtvermögens, dessen Kapital nicht angegriffen werden darf,
+so lange haben, als mein Hund <em class="gesperrt">Flocki</em>, den ich seiner sorgsamen
+Pflege anvertraue, <em class="gesperrt">am Leben ist</em>. An dem Tage, an dem mein guter
+Flocki stirbt,<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> gehört das Kapital zur Hälfte meiner einzigen Schwester
+Adelgunde, zur andern Hälfte soll es der Kunstgenossenschaft zufallen
+mit der Auflage, alljährlich von den Zinsen einen hierfür besonders
+begabten Stipendiaten nach Holland zu schicken, um die herrlichen Werke
+von Melchior d’Hondecoeter, Jan Davidy de Heem, Rachel Ruysch und Jan
+Weenix mit Fleiß zu studieren.“</p>
+
+<p class="center">—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—&#8195;—</p>
+
+<p>Wie Emil aus dem Zimmer des Anwalts herausgekommen war, das wußte er
+selbst später nicht mehr zu sagen. Selbst daß er in der Verwirrung
+vom Kleiderhaken im Vorzimmer einen falschen Hut abgehängt hatte,
+dem Geruch nach offenbar die fettige Kopfbedeckung des pomadisierten
+Schreibers, merkte er erst einen Tag später.</p>
+
+<p>Sein Herz strömte über von Dankbarkeit. Haupterbe — Zinsen —
+Nutznießung — all diese neuen Begriffe wirbelten ihm nur so im Kopf
+herum. Er wußte, Eleonore war so gestellt gewesen, daß sie ganz
+behaglich leben konnte, auch ohne je eins ihrer Bilder zu verkaufen.
+Das würde also jetzt <em class="gesperrt">sein</em> Los sein. Ein Nabob! Nun konnte er die
+<em class="gesperrt">ganze</em> Welt violett sehn, so lang es ihm paßte. Das heißt&#8239;...</p>
+
+<p>Sinnend stand er an einem Laden still. Es war zufällig ein ganz
+bescheidenes, kleines Käsegeschäft und eigentlich an den aufgestapelten
+runden und eckigen Käsen nicht viel zu sehen. Emil wollte auch durchaus
+nicht seine Schaulust befriedigen. Nur nachdenken wollte er, ungestört.
+Er bohrte seinen Blick in einen großen Holländer Käse und überlegte.<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span>
+Lebenslänglich war die „Nutznießung“ nicht. Nur solange Flocki ...
+Hm. Flocki war gesund. Gewiß. Gesundheit war eigentlich seine einzige
+Tugend. Sofern man diesen naturgemäßen Zustand eine Tugend nennen kann.
+Na ja. Flocki konnte alt werden, ein Hundegreis, ein Patriarch des
+Viertels. Er hatte von Hunden gehört, die zwanzig Jahre alt geworden
+waren. Allerdings, sie waren taub und blind und rochen sehr übel.
+Aber schließlich — sie <em class="gesperrt">lebten</em>. Darauf kommt’s an. Normal war
+freilich ein solches Alter nicht. Was war wohl das normale Alter eines
+gesunden Hundes. War das bei den einzelnen Rassen verschieden, oder —?</p>
+
+<p>Der Besitzer des Käseladens hatte mit Interesse den seltsamen Mann vor
+seinem Erker stehen sehen, der nun schon seit zehn Minuten den starren
+Blick in den Holländer Käse bohrte. Er war behutsam in die Ladentür
+getreten und, entschlossen dem offenbar Unschlüssigen die Entscheidung
+zu erleichtern, erläuterte er im herzlichen Ton:</p>
+
+<p>„Echter Edamer. Kann ich Ihnen sehr empfehlen. Darf ich Ihnen
+vielleicht ein Viertelchen —?“</p>
+
+<p>Emil fuhr jäh aus seinen Meditationen auf. Er konnte sich nicht ohne
+weiteres in die nüchterne Wirklichkeit zurechtfinden und fragte
+verwirrt: „Edamer — was ist Edamer?“</p>
+
+<p>Der Händler lachte. „Nu der Käse da, den Sie die ganze Zeit so verliebt
+anstarren. Soll ich Ihnen ein Stück abschneiden?“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span></p>
+
+<p>In diesem Augenblick kam ein sehr ruppiger schwarzer Spitz aus dem
+Laden und rieb sich leise knurrend am Bein seines Herrn.</p>
+
+<p>Wie hypnotisiert starrte Emil auf den Köter. Langsam, wie unter einem
+unerklärlichen Zwang, kam es von seinen Lippen:</p>
+
+<p>„Käse — nein. Aber — — aber können Sie mir vielleicht sagen, wie
+<em class="gesperrt">alt</em> ein gesunder Hund werden kann?“</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Etwa ein halbes Jahr nach diesem denkwürdigen Nachmittag traf ich
+zufällig mit Emil zusammen. Wir waren Schulkameraden gewesen und ein
+gemeinsamer tiefer Haß gegen die Mathematik hatte uns einander näher
+gebracht. Wenn trigonometrische Klassenarbeiten geschrieben wurden, war
+ich sein Trost und er der meine. Und die Note 5 in Verbindung mit einer
+Stunde Arrest war uns <em class="gesperrt">beiden</em> sicher.</p>
+
+<p>Später hatten wir uns aus den Augen verloren. Ich hatte in
+Süddeutschland studiert, er hatte in Norddeutschland gemalt. In einem
+„Salon der Zurückgewiesenen“ hatte ich mal zufällig ein Bild von ihm
+gefunden, das mir durch eigentümlich violette Kühe auffiel. Dann war
+sein Name wieder zurückgesunken in den Nebel, der tausend Dinge und
+Menschen umspinnt, die uns einmal etwas bedeutet haben, ja vielleicht
+lieb und teuer waren.</p>
+
+<p>Und nun stand er plötzlich leibhaftig vor mir.<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> In der Potsdamerstraße
+vor einem unscheinbaren Geschäft, in dem Vogelfutter und Hundekuchen
+unter einem Haufen schmutziger Käfige mit ruppigen Waldvögeln, denen
+man noch die rohen Griffe der Fallensteller ansah, aufgestapelt lagen.</p>
+
+<p>Es war ein nicht übler Herbsttag, und Emil hatte, dem freundlichen
+Sonnenschein Rechnung tragend, sich sehr hell gekleidet. Er sah
+überhaupt in seinem modischen dunkelgelben Herbstpaletot, dem blanken
+Zylinder und den rostroten dänischen Handschuhen elegant, ja fast
+stutzerhaft aus. Jedenfalls so, wie man einen Maler, der violette
+Bilder anfertigt, ohne zunächst den Geschmack des zahlungsfähigen
+Publikums für seine Nuance zu gewinnen, nicht häufig trifft. Sogar
+einen sehr ausgeprägten Kneck trug er in den diskret karrierten
+Hosen, und seine schmalen amerikanischen Knopfstiefel zeigten spitze
+spiegelnde Lackkappen.</p>
+
+<p>„Emil, alter Junge, wie geht’s denn?“</p>
+
+<p>„Na ich danke, so pflaumenweich. Man lebt so.“</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Gut</em> lebt man, scheint’s, lieber Sohn. <em class="gesperrt">Sehr</em> gut, was? Du
+bist ja auf deine alten Tage ein veritabler Dandy geworden.“</p>
+
+<p>„Ach geh! Man kann doch schließlich nicht den ganzen Tag im
+bekleckerten Sammetkittel herumlaufen, um der Welt zu zeigen, daß man
+ein sogenannter Künstler ist.“</p>
+
+<p>„Du bist wohl verheiratet, Emil?“</p>
+
+<p>„Ich? Ach nein. Du meinst wegen ... Das täuscht. Ich bin bloß ... ich
+habe bloß ... Aber findest du nicht, daß es hier <em class="gesperrt">zieht</em>?“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span></p>
+
+<p>„Na, ein Mailüfterl kannst du schon nicht verlangen. Wir sind ja
+schließlich nicht an der Riviera und schreiben seit ein paar Tagen
+November. Übrigens du siehst doch blühend gesund aus. So ein bißchen
+Herbstwind — —“</p>
+
+<p>Emil lächelte etwas verlegen. „Ach ja. <em class="gesperrt">Ich</em> schon. Es ist auch
+nicht meinetwegen, verstehst du. Es ist wegen — —“</p>
+
+<p>Ich folgte seinem besorgten Blick und entdeckte jetzt erst einen Hund,
+den Emil an einer aus feinen Lederstreifchen geflochtenen gelben
+Führleine befestigt hatte.</p>
+
+<p>„Ach, du hast einen Hund?“</p>
+
+<p>„Ja. Ich habe — ich habe einen Hund.“</p>
+
+<p>Das kam etwas gepreßt heraus, fast als wollte er sagen: Ich wollte,
+<em class="gesperrt">du</em> hättest den Hund und nicht ich.</p>
+
+<p>„Wie heißt er denn?“ forschte ich teilnahmsvoll.</p>
+
+<p>„Flocki.“</p>
+
+<p>„Du, weißt du, ich hätte ihn doch schon anders genannt. Flocki — das
+klingt so verdächtig nach einer alten Jungfer.“</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Ich</em> hab’ ihn auch nicht so genannt. Er heißt nun einmal so. Ich
+finde den Namen ja selbst gräßlich. Zum Übelwerden. Aber ich fürchte,
+wenn ich das Tier plötzlich umtaufe — nun ist es doch schon so sehr
+daran gewöhnt — er könnte am Ende Schaden nehmen — z.&#8239;B. denke dir:
+ich hätte ihn Nero genannt, sagen wir Nero: Und nun gehe ich mit<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> ihm
+auf der Leipzigerstraße und sehe, daß so ein gräßlicher Omnibuskasten
+— sagen wir ‚Lützowplatz-Rosentaler Tor‘ — dabei ist, mit seinem
+Riesenrad den Hund zu zerquetschen. Er ist unvorsichtig, verstehst du.
+Ich rufe also: Nero! Nero! Aber er — er ist’s noch nicht gewöhnt,
+Nero gerufen zu werden. Er bezieht es durchaus nicht auf sich. Er
+hört’s nicht. Rrrrtsch — das Riesenrad Lützowplatz-Rosentaler Tor geht
+mitten über seinen Bauch hinweg. Maria und Josef! Ich darf’s gar nicht
+<em class="gesperrt">aus</em>denken!“</p>
+
+<p>Ich hatte mit wachsendem Befremden dieser lebhaften Phantasie des
+Freundes gelauscht. War er so nervös? Er schien das Schreckliche schon
+wie eine Fata Morgana vor sich zu sehen und den schmerzlichen Grimassen
+nach zu urteilen, die er schnitt, verursachte ihm diese Erzählung
+geradezu seelische Qualen.</p>
+
+<p>Mein Blick ruhte auf dem Köter, dem diese offenbar innige Liebe galt.
+Ich sah einen kurzbeinigen, gedrungenen Hund, in dessen schwarzem
+Kopf Ähnlichkeiten mit einem Mops und mit einem Pudel unverkennbar
+waren, ohne daß man gewagt hätte, sich für eine von beiden Rassen
+zu entscheiden. Der schraubenförmig gedrehte Schwanz war durchaus
+Mops; die lockige grauschwarze Behaarung wies hingegen wieder auf die
+aristokratische Familie der Pudel. So stellte er sich meinem Empfinden
+als eine sehr unglückliche Kreuzung von Mops und Pudel dar, mit welcher
+Vermutung ich ja, ohne Kynologe zu sein, so ziemlich das Richtige
+getroffen hatte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span></p>
+
+<p>„Es ist jetzt unsere Stunde zur ersten Abendmahlzeit,“ unterbrach Emil
+meine stillen Beobachtungen. „Wir essen nämlich immer in Abständen von
+drei Stunden eine kleine Mahlzeit —“</p>
+
+<p>„Wir — wer ist das ‚wir‘?“</p>
+
+<p>„Nun — Flocki und ich. Das ist viel gesünder als eine größere
+Mahlzeit, bei der man alles so gierig mit hinunterschlingt, Knochen und
+all so was, sagt der Arzt.“</p>
+
+<p>„Ja, ums Himmels willen, welcher Arzt kommt auf den Gedanken, daß man
+Knochen ...“</p>
+
+<p>„Der Tierarzt natürlich. Weißt du, ich — ich bin gottlob gesund
+und bei der Hand. Das bißchen, was <em class="gesperrt">mir</em> mal fehlt, da kann
+schließlich der Tierarzt auch raten. Ein sehr netter Mann. Er kommt —
+Flockis wegen — wöchentlich zweimal.“</p>
+
+<p>Er sah auf die Uhr und verfärbte sich. „Teufel noch mal! Es ist schon
+ein Viertel über 5 Uhr. Bis wir zu Hause sind, ist es bestimmt halb
+sechs. Wenn ihm das nur nichts schadet. Er ist seit zwei Tagen mit der
+Verdauung nicht ganz in Ordnung.“</p>
+
+<p>„Flocki?“</p>
+
+<p>„Natürlich. Der Arzt sagt zwar, es hätte nichts auf sich. Aber weißt
+du, ich bin da sehr mißtrauisch. Eine Stiefschwester meines Vaters hat
+mit sechzig Jahren ... Aber weißt du, das könnten wir alles bei mir zu
+Hause besprechen. Du hast doch nichts Wichtiges vor? Nein? Also komm’,
+wir nehmen ’ne Droschke ... He, Kutscher, <em class="gesperrt">Sie</em> da, Kutscher!“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p>
+
+<p>Emil hatte einen Taxameter herangewinkt.</p>
+
+<p>Flocki war der erste, der hineinsprang mit der behenden Fröhlichkeit
+eines Hundes, der dieses angenehme Verkehrsmittel sehr wohl kennt und
+schätzt.</p>
+
+<p>Als letzter stieg Emil ein. Er saß sehr unbequem, da er seine Beine
+fast an den Leib ziehen mußte, um Flocki, der behaglich zur Kugel
+gerollt auf dem Boden des Wagens lag, nicht zu inkommodieren.</p>
+
+<p>Es dauerte nicht lange, so erklang vom Wagenboden ein abscheuliches
+sägendes Geräusch. Flocki schlief fest und schnarchte.</p>
+
+<p>„Er schläft sonst erst <em class="gesperrt">nach</em> der Mahlzeit,“ meinte Emil besorgt.
+Und da er meine vielleicht belustigte Miene sah, so fügte er zögernd
+hinzu: „Er ist ein so sonderbarer Hund, weißt du, <em class="gesperrt">so</em> sonderbar.
+Und dann für <em class="gesperrt">mich</em> — schließlich, er ist nicht wie ein anderer
+Hund. Manchmal —“</p>
+
+<p>Schien es mir nur so oder flammte wirklich ein leichter Ingrimm in
+diesen Augen, die auf den schlafenden Flocki gerichtet waren, als der
+Freund den unterbrochenen Satz wie im Traum vollendete: „Manchmal
+möchte ich fast lieber einen robusten Geißbock am Bändel haben, als
+diesen sonderbaren Hund!“</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Zu Hause hatte mir Emil die ganze Geschichte erzählt von Leonore, von
+Flocki und ihm selbst.</p>
+
+<p>Er wohnte jetzt am Viktoria-Luisenplatz. In einem Gartenhaus
+allerdings. Drei Treppen, aber sehr behaglich.<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> Ein Atelier, vier
+hübsche Zimmer, das größte und schönste war das Schlafzimmer. In der
+Ecke ein Körbchen mit violetter Seidendecke; offenbar für Flocki.</p>
+
+<p>„Schläft er bei dir im Zimmer?“</p>
+
+<p>„Ja. Der Tierarzt sagt, ihm schadet’s nicht. Und mir — das ist
+ziemlich egal. Ich höre dann besser, wenn er hustet und all so was.
+Auch träumt er zuweilen recht lebhaft. Ich stehe dann auf und massiere
+ihm die Vorderpfoten.“</p>
+
+<p>Der ganze Haushalt war für Flocki eingerichtet. An allen Fenstern
+eiserne Gitterstäbe in halber Manneshöhe, wie sie ängstliche Mütter
+wohl in den Kinderstuben anbringen lassen.</p>
+
+<p>„Flocki könnte auf so ein Fensterbrett springen, verstehst du, und dann
+das Übergewicht bekommen und in den Hof stürzen. Das wäre ...!“</p>
+
+<p>Wieder betrachtete ich, wie vorhin im Taxameter, die schreckliche
+Erregung, die sich des Freundes bemächtigte bei der Erwägung solchen
+möglichen Unglücksfalles, den seine rastlose Phantasie ausspann.</p>
+
+<p>„Ja, warum ziehst du denn nicht parterre?“</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Hab</em>’ ich gewohnt. Getrennt vom Atelier. Erst im Vorderhaus. Da
+regte sich Flocki furchtbar über jeden vorübergehenden Hund auf. Dann
+im Gartenhaus. Da neckten Bäcker und Metzger und die rüden Schätze der
+Dienstmädchen im Haus und was sonst da vorüberkam und Zeit hatte, das
+arme Tier so sehr, daß ich, ohne den Kontrakt auszuhalten, wegzog.“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p>
+
+<p>„Ja, Lieber, da bist du eigentlich, genau besehen, der Sklave deines
+Hundes.“</p>
+
+<p>„Viel anders ist’s schon nicht,“ seufzte Emil. „Ich kalkuliere so. Wenn
+er gut gepflegt wird und rationell lebt — er hat einen ganz kleinen
+Herzfehler —, so kann er, sagt der Tierarzt, noch zehn bis zwölf
+Jahre leben. In zwei, drei Jahren aber schon hoffe ich mein großes
+Bild fertig zu haben; und dann wird es mich in weiteren zwei, drei
+Jahren bekannt machen. So erreiche ich die pekuniäre Unabhängigkeit von
+Flocki. Und dann —!“</p>
+
+<p>Wieder leuchtete ein ingrimmiger, fast grausamer Zug in des Freundes
+sonst so mildem Gesicht. So mögen die Sklaven um Spartacus gelächelt
+haben, als sie in den Kellern der Fechtschule zu Capua sich heimlich
+versammelnd von dem furchtbaren Blutbad träumten, in dem ihre römischen
+Unterdrücker ersaufen sollten.</p>
+
+<p>„Und was stellt das Bild dar?“</p>
+
+<p>„Die wilde Jagd. Den wilden Jäger auf dem Gespensterroß, hinter
+ihm die Meute über niedrig hängende Wolkenfetzen fegend. Alles bei
+Mondbeleuchtung.“</p>
+
+<p>„Natürlich violett?“</p>
+
+<p>„Woher weißt du das?“</p>
+
+<p>„Ich habe mal vor Jahren Kühe von dir gesehen. Daraus war eine gewisse
+Vorliebe zu erkennen — —“</p>
+
+<p>„In diesem Bild der wilden Jagd ist sie aber berechtigt.“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p>
+
+<p>„Kann man’s mal sehen?“</p>
+
+<p>„Ja eigentlich ...“ er wurde verlegen, „es steckt noch ganz in den
+Anfängen. Aber wenn du dir eben das Nötige dazu denkst.“</p>
+
+<p>Das versprach ich, und so nahm er einen sehr schönen, leicht violett
+getönten Lappen von einer respektablen Leinwand.</p>
+
+<p>Das erste, was ich sah, war — <em class="gesperrt">Flocki</em>. Flocki nicht in einer,
+sondern in dreißig, vierzig Gestalten. Die ganze Meute hinter dem
+anatomisch sehr merkwürdigen Gespensterroß war Flocki und Flockis
+Geschlecht.</p>
+
+<p>„Du, Emil, weißt du — die Hunde ...“</p>
+
+<p>„Ja? Fällt dir das <em class="gesperrt">auch</em> auf. Es ist mir so gekommen. Ich weiß
+nicht wie. Ich wollte natürlich Jagdhunde malen, Bracken. Hatte auch
+mal ein Modell hier. Aber Flocki hat sich wie wahnsinnig angestellt
+hinter der Tür dort. Dann hab ich eben mehr aus dem Kopf ... Nun ist
+das Unglück, verstehst du, ich beschäftige mich innerlich soviel mit
+Flocki — er bedeutet mir soviel, <em class="gesperrt">muß</em> mir soviel bedeuten — daß
+unwillkürlich seine Züge und seine Eigenart ... Es ist mir im Grunde
+gräßlich. Soll das Malefizvieh mir auch noch meine Kunst ruinieren!!
+Satanspest noch einmal!“</p>
+
+<p>Wie ein Sturm der Leidenschaft war’s plötzlich über ihn gekommen. Er
+griff eine Handvoll Pinsel aus einer alten Blechdose und warf sie
+wütend wider die Wand. Dann setzte er sich auf einen in kräftigen<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span>
+Farben leuchtenden kleinen Gebetsteppich, der einen alten Diwan deckte,
+vergrub seinen Kopf in die Hände und schien nicht übel Lust zu haben,
+zu weinen.</p>
+
+<p>Ich wußte in meiner Überraschung nicht recht, was ich machen oder
+sagen sollte. Schließlich fand ich den mir selbst nicht sonderlich
+einleuchtenden Trost: „Mein Gott, vielleicht findet man das sehr
+originell. Die Rasse ist wenig bekannt.“</p>
+
+<p>„Schöne Rasse,“ knirschte Emil aus seiner Ecke. „Ist gar keine Rasse,
+ist eine Gemeinheit, ist eine Parodie auf das Hundegeschlecht. Himmel,
+wie mir das wohltut, mich einmal gehen lassen zu dürfen! Flocki
+schläft, und du bist ein ehrlicher Kerl. Immer diese Komödie der
+Zärtlichkeit. Und die Freiheit beim Teufel. Und die Kunst beim Teufel.
+Und der Mut beim Teufel; der Mut, diese faule, träge, dumme, widerliche
+Bestie persönlich am Griebs zu packen und in den Landwehrkanal zu
+werfen mitsamt der verdammten Rente von sechstausend Mark, die mir das
+lebendige Scheusal trägt.“</p>
+
+<p>„Sechs-tau-send Mark. Donnerwetter! Das ist allerdings ..!“</p>
+
+<p>„Ja siehst du: <em class="gesperrt">das</em> ist allerdings!.. Da sagst dus selbst. Das
+ist eben auch <em class="gesperrt">mein</em> Trost, daß neunzig von hundert ganz dieselben
+Esel wären, wie ich, und nicht den Mut hätten, dieses Rabenvieh ...“ Er
+unterbrach sich plötzlich, legte den Finger an den Mund und lauschte.
+„Hat — hat Flocki nicht eben — eben geniest? Richtig — eben schon
+wieder!“ Er eilte<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> nach der Tür und rief nach der Küche: „Lisette,
+Lisette! Verbinden Sie mich — du entschuldigst — verbinden Sie mich
+mal gleich Amt VI Nr. 3079.“</p>
+
+<p>„Wen willst du sprechen?“</p>
+
+<p>„Den Tierarzt.“</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Nein, hier war nicht zu helfen. Dies Gefühl gewann ich, je öfter und je
+länger ich Emil sah.</p>
+
+<p>Und ich sah ihn oft und lang. Denn seit jenem Gefühlsausbruch, dem
+ich erschreckt beigewohnt, tat es ihm sichtlich wohl, in meiner
+Gesellschaft sich auszusprechen. Immer über Flocki. Und nur über ihn.
+Zwei Jockeis, die Analphabeten sind und außer reiten nichts können, als
+wetten und trinken, unterhalten sich bestimmt nicht soviel von ihren
+Pferden, wie Emil und ich von den Hunderassen, die Flocki zu seinen
+Ahnen zählte, und von diesem Köter selbst, der die Zartheit, mit der
+er behandelt wurde, in schnödester Weise dadurch vergalt, daß er alle
+Untugenden und Laster, die in seiner schwarzen Seele geschlummert
+hatten, ins Unerträgliche steigerte.</p>
+
+<p>Wenn er müde war, sprang er auf das weichste Möbel, gleichviel, ob
+es ein Bett, ein Sessel oder ein mit Emils Frackanzug belegter Stuhl
+war. Wenn er traurig war, knurrte er jeden — Emil nicht ausgenommen
+— feindlich an. Wenn er fröhlich war, entrollte er seinen sonst
+geringelten Schwanz und wedelte damit so energisch, daß kleinere
+Tischchen<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> stets in Gefahr waren, umgestoßen zu werden. Bei schlechtem
+Wetter war er merkwürdigerweise stets besonders gut aufgelegt. Was
+für die Kleider seiner Freunde sehr unangenehm war, da er mit den
+schmutzig-nassen Pfoten an ihnen hinaufzuklettern versuchte und
+keinerlei Verständnis für die kühle Ablehnung seiner Freundlichkeit
+besaß. Energisch angefaßt oder gar geschlagen durfte er nicht werden,
+da Emil befürchtete, die zarte Gesundheit des edlen Tieres könne
+ernstlichen Schaden nehmen.</p>
+
+<p>So erduldete Emil ein Martyrium. Sein Bild machte ihm keine Freude
+mehr, weil jeder Hund, den er der Meute seines Wilden Jägers
+hinzufügte, immer wieder Flockis verhaßte Züge annahm. Seine Wohnung
+machte ihm keine Freude mehr, denn überall fand er Spuren von Flockis
+Fröhlichkeit und Zerstörungssinn. Die freie Natur macht ihm keine
+Freude mehr, denn er vermochte sie nicht zu genießen, ohne entweder von
+Flocki an der Leine bald an einen Eckstein, bald um einen Baum gezerrt
+zu werden, oder, wenn er ihn frei laufen ließ, in beständiger Angst zu
+schweben, daß der Unvorsichtige von einem Wagen oder einem Automobil
+überfahren werden könnte. Besonders gegen die Automobile hatte er eine
+solche Wut in seinem Herzen angesammelt, daß er eines Tages einen
+maßlos heftigen Artikel in ein Blättchen gegen die „Stinkdroschken“
+schrieb, in dem er die Vorstände sämtlicher Automobilklubs so schwer
+beleidigte, daß sie gemeinsam klagten und der Freund — „in Anbetracht
+seines<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> hohen Bildungsgrades“ — zu einer Geldstrafe von 500 verurteilt
+wurde. Das war gerade eine Monatsquote seiner Jahresrente! Er mußte
+sich zwei Monate einschränken und teilte nun den ganzen Haß, dessen
+sein Herz fähig war, zwischen Flocki und dem Automobil.</p>
+
+<p>Dann peinigte noch eine andere Vorstellung seinen Geist. Man las so oft
+davon, daß Hunde von Leuten, die daraus ein verbrecherisches Gewerbe
+machten, ihren Besitzern auf der Straße gestohlen wurden. Konnte das
+nicht auch Flocki passieren? Flocki — man konnte sagen, was man wollte
+— war ein auffallender Hund. Konnten nicht solche Gauner, hingerissen
+von den körperlichen Vorzügen Flockis und der seltenen Mischung der
+Rassenmerkmale, die sein Wuchs aufwies, ihm nachstellen, ihn mit
+Frankfurter Würstchen, seiner Leibspeise, anlocken und entführen? Was
+dann? Dann <em class="gesperrt">lebte</em> der Hund zweifellos noch, aber <em class="gesperrt">er</em> konnte
+sein Leben nicht beweisen. Wie war’s dann mit der Rente? Adelgunde
+konnte behaupten, der Hund sei tot; aber sie konnte seinen Tod so wenig
+beweisen, wie Emil das Leben. Das Testament sprach ausdrücklich vom
+Todestag. Der war dann nicht zu erfahren.</p>
+
+<p>Schließlich, da er sogar nachts von diesem fatalen Rechtsstreit
+träumte, ging Emil zu <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann, der ihn nach längerer
+Erwägung und nachdem er in vielen Büchern nachgelesen und ihm auch aus
+einigen Unverständliches mitgeteilt, dahin beschied: Adelgunde könne
+in diesem Fall verlangen, daß Flocki nach einer gewissen Zeit „für tot
+erklärt“ werde, womit Emil<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> ein für allemal jeden Rechtsanspruch an die
+Zinsen von Eleonorens Hinterlassenschaft verliere.</p>
+
+<p>Flocki — für tot erklärt? Das war nun das zweite Schreckgespenst, das
+neben dem Gespenst von Flockis wirklichem Tod den armen Freund überall
+hin verfolgte.</p>
+
+<p>Er beschloß auf alle Fälle, sich einzuschränken, Ersparnisse zu machen,
+damit ihn dieser gräßliche Fall nicht unvorbereitet träfe. Aber das
+war nicht so einfach. Flocki war gut gewöhnt. Der Tierarzt rechnete
+für jeden Besuch 5 Mk. und kam mindestens zweimal wöchentlich. Die
+Hinterbeine Flockis mußten auf seine Anordnung täglich massiert werden,
+was jedesmal 2 Mk. kostete. Kamen hinzu die nicht unbeträchtlichen
+Unkosten für die Heilung des geprüften Heilgehilfen, den Flocki gleich
+bei Beginn der ihm unerwünschten Massagekur in den Daumen gebissen
+hatte. Kurz, es läpperte sich bös zusammen. Das Schlimmste aber waren
+die Besuche Adelgundes.</p>
+
+<p>Sie kam von Zeit zu Zeit nach Flocki zu sehen ... Denn, wie sie sagte,
+wenn sie auch im Testament der Schwester der Gefühllosigkeit gegen
+dieses Tier geziehen war, so schien es ihr doch Pflicht des trauernden
+Schwesterherzens, sich vom Wohlbefinden der einzigen lebenden Seele, an
+der, so schien es, die liebe Entschlafene gehangen habe, zu überzeugen.
+Und sie vergaß nie hinzuzufügen, daß sie mit dieser „einzig lebenden
+Seele“ durchaus nicht etwa Emil, sondern Flocki meine.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p>
+
+<p>Diese Besuche bedeuteten für Emil eine Stunde der Qual und Prüfung.
+Meist erfolgten sie Freitags zwischen fünf und sechs Uhr, zwischen
+zwei Klavierstunden, die Adelgunde in der Nähe zu erteilen hatte.
+An schönen, sommerhellen Tagen blieb sie manchmal aus; aber wenn es
+regnete, kam sie bestimmt. Und da sie prinzipiell niemals Gummischuhe
+benutzte, so brachte sie meist ein erkleckliches Quantum Schmutz und
+Nässe an ihren nicht zu knappen Sohlen mit in Emils Salon und auf den
+farbenprächtigen Bucharateppich, auf den er um so stolzer sein durfte,
+als er ihn viel zu hoch bezahlt hatte.</p>
+
+<p>Das Gespräch nahm aber dann meistens den folgenden Verlauf.</p>
+
+<p>„Ach, Fräulein Adelgunde! Welche Freude —“ Emil log jedesmal mit
+demselben Mißerfolg im Gesichtsausdruck. „Sogar bei dem schlechten
+Wetter schenken Sie uns die Ehre. Ich darf vielleicht ein Täßchen
+Kaffee ...“</p>
+
+<p>„Nein, ich danke wirklich. Ich habe schon zu Hause ...“</p>
+
+<p>In diesem Augenblick kam gewöhnlich, ungerufen und ihre Pflicht
+durchaus kennend, die tüchtige Lisette, ein Mädchen von unbestimmbarem
+Alter und ganz außerordentlicher Häßlichkeit, die noch durch Kleider
+von einem augenvergiftenden Blaugrün gehoben wurde, mit dem Kaffeebrett
+ins Zimmer. Und Adelgunde, die „schon zu Hause getrunken hatte“, trank
+nicht <em class="gesperrt">ein</em> Täßchen, sondern vier, wozu sie eine größere<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> Anzahl
+von Biskuits verzehrte. Dies alles mit der Miene und dem Anstand
+einer Europäerin, die etwa bei einem Kaffernhäuptling zu Gast ist und
+dessen entsetzliche Nationalgerichte aus einer gewissen mitleidigen
+Höflichkeit für den Gastgeber sich gefallen läßt.</p>
+
+<p>Nach dem zweiten Biskuit sah sich Adelgunde suchend im Zimmer um:</p>
+
+<p>„Und unser lieber Flocki, ist er nicht hier? Sie wissen, lieber Freund,
+ich würde nimmermehr zu Ihnen kommen — denn schließlich, wir sind
+beide unverheiratet, nicht wahr, und die Welt hat an dem Erfinden
+und Kolportieren von Schlechtigkeiten ihre größte Freude — in den
+Gartenhäusern leider noch mehr als in den Vorderhäusern ...“</p>
+
+<p>Hier machte Emil eine Handbewegung, die dreierlei bedeuten konnte.
+Entweder sie erklärte: Die Verleumdungen dieser minderwertigen Welt
+müssen an so edlen Herzen, wie den unsrigen, spurlos abprallen. Oder
+sie besagte: Sie halten mich hoffentlich nicht für fähig, die von Ihrer
+Hochherzigkeit geschaffene Situation in unedler Weise auszunützen. Oder
+aber sie umschrieb den einfachen Gedanken: Was mir schon an deinem
+Gefasel liegt, mit dem du mir alle acht Tage die Ohren füllst!</p>
+
+<p>Adelgunde versuchte gar nicht, hinter den tiefern Sinn dieser
+Handbewegung zu kommen. Sie fuhr vielmehr fort:</p>
+
+<p>„Unsere liebe Heimgegangene hat bestimmt, wie<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> sie bestimmt hat. Es ist
+an uns, ihren Wunsch zu ehren. Aber sie hat mir unrecht getan. Gewiß,
+ich habe einige Unarten Flockis bemerkt und — ich gesteh’s — peinlich
+empfunden, über die <em class="gesperrt">Sie</em>, teurer Freund, in der unendlichen Güte
+ihres Herzens hinwegsahen.“ (Das war eine satanische Bosheit nach Emils
+Dafürhalten; denn Adelgunde wußte ganz gut, daß ihn Flockis zunehmende
+Ungebührlichkeit heftig erbitterte.) „Aber gehaßt? — Nein, gehaßt hab’
+ich das kluge Tierchen <em class="gesperrt">nie</em>. Der beste Beweis ist, daß ich fast
+jede Woche den Weg nicht scheue, nach seinem Befinden zu sehn und mich
+zu überzeugen, daß all die Sorgfalt, die unsere liebe Heimgegangene
+für ihn erhoffte, ihm auch im vollen Maße zuteil wird. Denn daß ich
+<em class="gesperrt">Ihretwegen</em> nicht komme, lieber Freund ...“</p>
+
+<p>Emil nickte. „Das hätte ich mir schon selbst in aller Bescheidenheit
+eingestanden, auch wenn Sie es mir nicht bei jedem Ihrer freundlichen
+Besuche, die mich ehren und erquicken, wiederholt hätten.“</p>
+
+<p>Adelgunde überhörte die Ironie. „Und wo ist unser Liebling?“</p>
+
+<p>„Der Liebling schläft noch.“</p>
+
+<p>„So, so. Er schläft. Nun sehn Sie mal an! Das <em class="gesperrt">liebe</em> Tierchen.
+Lassen Sie ihn nur nicht zu <em class="gesperrt">lange</em> schlafen. Man hat mir erzählt,
+durch allzuviel Schlaf stelle sich leicht bei Rassehunden Fettsucht
+ein. Und dann kommt plötzlich ein Herzschlag oder — ein Lungenschlag
+— oder ein Milzschlag — oder ein ...“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span></p>
+
+<p>„Oder ein Hirnschlag,“ half Emil freundlich aus.</p>
+
+<p>„Ganz recht, oder ein <em class="gesperrt">Hirn</em>schlag,“ bestätigte Adelgunde mit
+unverminderter Liebenswürdigkeit. „Und dann ist das Tierchen weg —
+Eins, zwei, drei — und es ist weg!“</p>
+
+<p>Das könnte dir so passen, dachte Emil, ich hätte dann 6000 Mark Rente
+minus, du hättest 3000 Mark Rente plus und obendrein die Freude, mich
+wieder hungern und schuften zu sehen. Und seine Züge zu einem Lächeln
+frohster Zuversicht zwingend, tröstete er: „Sie können versichert sein,
+verehrte Freundin, daß unserm gemeinsamen Liebling an Pflege nichts
+abgeht.“</p>
+
+<p>Und schon ließ die tüchtige Lisette durch die nur eben geöffnete Türe
+den Liebling herein.</p>
+
+<p>„Komm, Flocki,“ lockte Emil und schnalzte ermunternd mit den Fingern,
+„sag der guten Tante mal schön guten Tag.“</p>
+
+<p>Und mit einem Satz war Flocki auf Adelgundes Schoß. Das späte
+Mädchen machte den schwachen Versuch, herzliche Freude über diese
+Zutraulichkeit zu heucheln. In Wahrheit war Adelgunde wütend; denn
+Flocki hatte, wie immer bei ihren Besuchen, ganz nasse und ziemlich
+schmutzige Pfoten. Was daher kam, daß ihn Emil immer, wenn die „gute
+Tante“ kam, von Lisette wecken und rasch mal auf die Straße führen
+ließ, damit er sich die oben beschriebenen Pfoten hole. Dies war Emils
+einzige heimliche Rache für die erschreckende Genußlosigkeit dieser
+unvermeidlichen Kontrollbesuche.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span></p>
+
+<p>Aber schon war Adelgunde im Zuge. „Mir scheint, lieber Freund, er hat
+heute etwas trübe Augen, der brave, kleine Flocki. Zeig’ mal deine
+Guckelchen. Ru—hig halten, Darling. Ja, wahrhaftig, recht trüb.“</p>
+
+<p>„Das ist die Beleuchtung.“</p>
+
+<p>„Nein, nein. Ich täusche mich nicht. Eine gewisse Mattigkeit in der
+Pupille. Er wird doch nicht die Staupe bekommen? Das fängt so an.“</p>
+
+<p>„Aber dazu ist er doch viel zu alt.“</p>
+
+<p>Adelgunde schüttelte in täuschend geheuchelter Besorgnis den Kopf:
+„Und eine warme Nase hat er <em class="gesperrt">auch</em>, unser liebes Hündchen! Eine
+<em class="gesperrt">ganz</em> warme Nase.“</p>
+
+<p>„Das hat er öfter.“</p>
+
+<p>„Um so schlimmer! Ich fürchte, er hat zu wenig Bewegung. Sie sollten
+radfahren und ihn ein bißchen hinterherlaufen lassen.“</p>
+
+<p>Das könnte dir so passen! Damit er mir unter die Elektrische kommt,
+nicht wahr? dachte Emil.</p>
+
+<p>„Wie oft wird er wohl gebadet?“</p>
+
+<p>„Alle drei Tage.“</p>
+
+<p>„Das scheint mir nicht oft genug. Ein meinen Eltern befreundeter
+Oberförster hatte einen Setter, den er jeden Tag ins Wasser gehen ließ.
+Er ist in hohem Alter gestorben.“</p>
+
+<p>„Der Oberförster?“</p>
+
+<p>„Der auch. Aber ich meinte den Setter. Dieser sehr erfahrene Forstmann
+pflegte zu sagen: Jedes<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> Bad bedeutet einen Monat längeres Leben für so
+ein Vieh.“</p>
+
+<p>„Wenn also der Oberförster den Hund jeden Tag, wie Sie sagen, zwei
+Bäder nehmen ließ und das auch nur <em class="gesperrt">ein</em> Jahr durchführte, so
+hatte er dem Setter schon eine Lebensdauer garantiert von — von warten
+Sie einen Augenblick —“ (Emil nahm ein Papierchen und rechnete:)
+„zweimal 365 macht 730, also 730 Bäder. 730 dividiert durch 12 macht —
+macht 60 Jahre 10 Tage.“</p>
+
+<p>Ärgerlich über diese ziemlich deutliche Frozzelei, die sich Flockis
+Pflegevater gestattete, stand Adelgunde auf. „Und Ihr Bild, lieber
+Freund, der ‚Wilde Jäger‘, wie ist’s mit ihm? Es ist eine allerliebste
+Idee von Ihnen, Ihren teuren Pflegling gleich in so vielen Exemplaren
+künstlerisch zu verherrlichen. Und wenn auch im großen Publikum sich
+wohl niemand dieses Zartsinns recht erfreuen wird, die Verewigte würde
+gewiß Genugtuung empfinden über Ihr Werk. Sie war ja früher schon die
+einzige, die in ihrem Kunstempfinden fortgeschritten genug war, Ihre
+Bilder bewundern zu können.“</p>
+
+<p>Es war Zeit geworden, daß sich Adelgunde empfahl. Sie tat es nicht,
+ohne noch einmal auf die besorgniserregenden Symptome in Flockis
+Aussehen und Benehmen mit schmerzlichem Nachdruck hinzuweisen und
+allerlei gute Ratschläge von einer ganz außerordentlichen Unsinnigkeit
+zu geben.</p>
+
+<p>Als aber Emil gar von der Treppe her noch das laut<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> und vernehmlich
+abgegebene Versprechen empfangen hatte, daß sie nicht versäumen
+werde, in der nächsten Woche wieder vorbeizukommen und hoffe, dann
+den gemeinsamen Liebling wohler und munterer anzutreffen, drängte
+der angesammelte Ingrimm in dem Herzen des unglücklichen Malers zu
+gewaltsamer Entladung, die allemal in der Weise erfolgte, daß er sein
+Malgerät wütend an die Wand und sich selbst stöhnend auf den Diwan warf.</p>
+
+<p>Die teure Lisette aber hielt das dumpfe Geräusch der wider die Wand
+fliegenden Pinsel und Paletten für ein stillschweigend mit ihr
+verabredetes Zeichen, ihrem Herrn einen Punsch zu bereiten.</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Eines Morgens, ich goß gerade die Geranien auf dem Balkon, erschien
+Emil plötzlich bei mir.</p>
+
+<p>Er war echauffiert und sehr aufgeregt und trug einen nassen Hut in der
+Hand.</p>
+
+<p>„Regnet’s,“ fragte ich erstaunt.</p>
+
+<p>„Nein, nein. Als ich in dein Haus trat, hat mich jemand von oben voll
+gegossen. Es gibt doch rücksichtslose Kerle. Man sollte sich’s nicht
+gefallen lassen, was? Dem Wirt schreiben? Aber wer hat Zeit? Es ist
+wohl Wasser, was?“</p>
+
+<p>„Ja, es scheint so.“ Ich untersuchte mit vollendeter Heuchelei. Da mein
+Balkon über dem Entree lag, so war es klar, daß <em class="gesperrt">ich</em> es gewesen,
+der den<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> guten Emil begossen hatte. „Und das hat dich so aufgeregt?“</p>
+
+<p>„Aber nein!“ Er rannte im Zimmer umher, und nahm alle möglichen kleinen
+Nippes in die Hand, als suche er etwas ihm Gestohlenes.</p>
+
+<p>Ich kannte diese merkwürdige Angewohnheit und ließ ihn — nicht ohne
+Angst — gewähren. „Aber was ist dir denn eigentlich?“</p>
+
+<p>Er trat dicht vor mich hin. „Flocki —“</p>
+
+<p>„Richtig, Flocki! Wo ist er denn?“ Ich hätte eher Apollo ohne Leier,
+Fortuna ohne Füllhorn und den Perseus ohne das Medusenhaupt bei mir
+erwartet, als Emil ohne seinen merkwürdigen Hund.</p>
+
+<p>„Das ist’s ja,“ sagte er dumpf. „Flocki ist zu Hause. Flocki hat sich
+heute nacht übergeben. Mehrmals und reichlich.“</p>
+
+<p>„Hm. Auf den Teppich?“</p>
+
+<p>„Nein, auf meinen Gehrock, der auf einem Stuhl lag. Aber das ist
+durchaus Nebensache. Aber das Schreckliche: Flocki ist <em class="gesperrt">krank</em>.
+Zweifellos! Denn das hat er noch nie getan. Er hat auch eine warme
+Nase. Er hat — — —“</p>
+
+<p>„Ja, Lieber, ich bin aber doch kein Tierarzt.“</p>
+
+<p>„Der Tierarzt war schon da. Er sagt, er weiß nicht ... er kann noch
+nichts sagen. Ich habe ihn natürlich in der Nacht holen lassen.
+Übrigens hat mir Lisette gekündigt heut früh. Sie war wütend, daß sie
+zum Arzt mußte mitten in der Nacht. Ein Betrunkener hat sie um die
+Taille gefaßt auf dem<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> Nürnberger Platz. Sie sagt, sie sei bei einem
+Maler im Dienst und nicht bei einem Hundevieh. Sie brauche sich nicht
+nachts von einem Betrunkenen umarmen zu lassen — du, <em class="gesperrt">wie</em>
+betrunken muß <em class="gesperrt">der</em> gewesen sein! — weil ein Hund, der nicht
+einmal echt sei, Leibweh habe.“</p>
+
+<p>„Du, Emil — eigentlich hat sie recht.“</p>
+
+<p>„Natürlich hat sie Recht. Das ist ja das Gräßliche. <em class="gesperrt">Sie</em> hat
+recht, und <em class="gesperrt">ich</em> habe recht, und <em class="gesperrt">Alle</em> haben recht. Für mich
+aber steht doch mein Leben auf dem Spiel —“</p>
+
+<p>„Ein <em class="gesperrt">Wohl</em>leben, Lieber, nichts sonst.“</p>
+
+<p>„Ja aber <em class="gesperrt">denke</em> dir doch — ich bin jetzt so daran gewöhnt. Und
+aus der Malerei bin ich ganz heraus. Ich kann doch mein Leben lang
+nicht Flocki malen und immer Flocki. Ich gehe zugrunde, körperlich,
+seelisch, menschlich, künstlerisch. Ich vertrottele und versimple. Mich
+wundert’s lange schon, daß ich nicht eines Tages aufwache und nur noch
+Wau-wau sagen kann.“</p>
+
+<p>„Armer Freund!“</p>
+
+<p>„Es gibt nur <em class="gesperrt">einen</em> Ausweg. Das schreckliche Tier muß fort von
+mir, und ich darf <em class="gesperrt">doch</em> die Rente nicht verlieren.“</p>
+
+<p>„Wie aber das? Adelgunde wird das <em class="gesperrt">nie</em> zugeben, daß du die
+Nutznießung des Geldes hast und ...“</p>
+
+<p>„Ich weiß, ich weiß. Und deshalb bin ich entschlossen ... Aber setz
+dich erst ... nein wirklich, <em class="gesperrt">setz</em> dich dort in den Stuhl .. So.
+Also ich bin<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> seit heute nacht — um 3 Uhr 45 heute nacht kam mir der
+Gedanke — bin entschlossen —“</p>
+
+<p>„Nu <em class="gesperrt">ja</em> doch! Zu <em class="gesperrt">was</em> denn?“</p>
+
+<p>„Ich <em class="gesperrt">heirate</em> Adelgunde.“</p>
+
+<p>Ich nahm unwillkürlich den doppelgeschliffenen Somalidolch, der mir als
+friedliches Papiermesser diente, fester in die Hand. Das konnte ein
+Tobsuchtsanfall werden. Eine schwere Nervenstörung war’s jedenfalls.
+Oder ein Spaß von <em class="gesperrt">seltener</em> Kühnheit. Aber so sah kein Spaßender
+aus. Eine finstere Entschlossenheit lagerte auf Emils übernächtig
+blassem Kopf. Jetzt erst sah ich, daß er keinen Schlips anhatte, was
+den Eindruck dieser Verstörung erhöhte. Er sah aus, als sei er direkt
+aus einem Erdbeben gerettet.</p>
+
+<p>„Emil, du wolltest — —?“</p>
+
+<p>„Adelgunde heiraten. Ja. Ich weiß, was du sagen willst.“ (Ich wollte
+gar nichts sagen.) „Sie ist älter, wie ich, gewiß. Josefine war auch
+älter als Napoleon. Aspasia war älter als Perikles.“</p>
+
+<p>„Ja — <em class="gesperrt">liebst</em> du sie denn?“</p>
+
+<p>Er lachte hell auf. „<em class="gesperrt">Auch noch</em>! Man braucht doch nicht alle
+Dummheiten auf einmal zu machen. Nein, ich liebe sie nicht. Aber —
+ich hasse Flocki. Die Sache steht einfach so. Heirate ich Adelgunde,
+so behalte ich meine Rente und kann Flocki in Pension geben. Stirbt
+er wirklich, so haben wir immer noch die Hälfte der Rente und was wir
+dazu verdienen. Adelgunde ist ja unleidlich. Aber sie ist viel aus<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> dem
+Hause. Unterrichtsstunden, Freundinnen und all so was. Und ich denke,
+sie ist vielleicht nur unleidlich wenn — weil — solange — —“</p>
+
+<p>„Solange sie nicht die <em class="gesperrt">Deine</em> ist.“</p>
+
+<p>„Die Meine oder die Deine oder die Seine“, brummte Emil ärgerlich.
+„Solange sie eben nicht verheiratet ist. Die Ehe wirkt veredelnd auf
+den Menschen. Es liegt oft ein Schatz von Liebe in solchen späten
+Mädchen. Doch wie’s auch kommt — sie ist wenigstens ein Mensch und
+gewiß nicht ohne menschliche Vorzüge. Aber Flocki! Siehst du, wenn
+ich ein Nilpferd geerbt hätte — das hat wenigstens eine robuste
+Gesundheit. Oder einen Orang-Utang — der ist wenigstens amüsant. Oder
+einen Karpfenteich — diese Tiere springen einem wenigstens nicht auf
+die Möbel, ins Bett, ins Gesicht. Aber dieser Malefizköter! Siehst
+du, wenn ich’s geahnt hätte, damals, wie ich ihm im Atelier das Fell
+kraute .... Wie ich den Herrn mit dem Geflügelknochen ... wie mir
+der <span class="antiqua">Dr.</span> Neumann mit dem Testament ... Nach Amerika wär ich
+ausgewandert, mein Wort darauf! nach Alaska meinetwegen, ja in die
+Südsee zu den Kanibalen. Wahrhaftig! Aber jetzt —! Die Gewohnheit
+hat mich unterjocht. Ich kann nicht mehr Gummikragen umbinden und für
+fünf Groschen ‚mit Bier‘ zu Mittag essen. Wen der Himmel für die Kunst
+verderben will, den macht er zum Rentier! Denn malen — siehst du —
+malen kann ich auch nicht mehr. Du hast’s ja selbst gesehn. Ich muß<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span>
+erst wieder Flocki los werden. Aus meiner Nähe, aus meinen Gedanken,
+aus meiner Kunst muß die Bestie. Das Hundeleben muß aufhören. Ich will
+wieder ein <em class="gesperrt">Mensch</em> sein. Ergo: ich heirate Adelgunde. Und der
+erste Paragraph unseres Ehevertrages heißt: Es ist keinem der Ehegatten
+erlaubt, ohne Zustimmung des andern Ehegatten einen Hund irgendwelcher
+Größe in der ehelichen Wohnung zu halten.“</p>
+
+<p>„Hm. Aber schließlich gewisse Verpflichtungen hast du doch auch gegen
+Flocki. Es wäre doch eine zwar pfiffige aber ein bißchen rohe Umgehung
+des letzten Willens deiner Freundin, wenn du das Tier nun irgendwo in
+Pension gibst, wo es geprügelt wird und hungern muß und von den Kindern
+an den Ohren gezogen wird.“</p>
+
+<p>Emil unterbrach seinen Spaziergang längs meines Bücherschranks,
+richtete stolz das blasse Haupt empor und sah mich mit einem Blick an,
+in dem tiefe Mißbilligung nicht zu verkennen war.</p>
+
+<p>„Wo denkst du hin?! Was traust du mir zu! Bin ich ein Kongoneger? Sehe
+ich aus wie ein Feuerländer? Natürlich Flocki, soll es gut haben.
+Das wird meine erste Sorge sein. Ich habe schon an den Zoologischen
+Garten gedacht. Wenn ich diesem Institut den Hund schenkte? Er ist
+eitel, ich kenne ihn. Es würde ihn beglücken, an seinem Käfiggitter
+ein blaues Schildchen mit seinem Namen und seiner Rasse — — ja, da
+liegt die Schwierigkeit. Ich fürchte der Zoologische Garten verweigert
+solcher ziemlich<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> willkürlichen Kreuzung die Aufnahme. Nein, nein, es
+muß Privatversorgung erwogen werden. Eine Witwe vielleicht. Kinderlos
+natürlich. Kinder hat Flocki nie geliebt, und dann fühlen sie sich
+zur Erziehung berufen, die Flocki immer abgelehnt hat. Es würden sich
+daraus Konflikte schlimmster Art entwickeln. Also eine kinderlose
+Witwe. Witwen sind voll Zärtlichkeit und verstehn sich auf Pflege.
+Das heißt —“. Wie von einem bezaubernden Einfall geblendet wich Emil
+plötzlich einen Schritt zurück, dann trat er ganz rasch drei Schritte
+auf mich zu, legte mir die Hand auf die Schulter und lieh seiner
+vorzüglichen Eingebung die guten Worte: „Das heißt — hättest <em class="gesperrt">du</em>
+vielleicht Lust, Flocki zu nehmen: Ich will ihn dir schenken.“</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich Emils hochherziges Angebot
+dankend ablehnte.</p>
+
+<p>Woher ihm eigentlich die Sicherheit gekommen war in der Voraussetzung
+daß ihn Adelgunde, sobald er ihr einen Antrag machte, auch nehmen
+würde, weiß ich nicht. Aber einen andern Ausgang der Angelegenheit
+hatte er keinen Augenblick ernstlich erwogen.</p>
+
+<p>Um so peinlicher war sein Erstaunen, als Adelgunde sich drei Tage
+Bedenkzeit ausbat. Das Unglück wollte es, daß Flocki noch immer eine
+warme Nase hatte; und Emil stand unter dem Bann der fixen Idee, daß
+dieser tückische Hund in diesen drei Tagen bestimmt<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> sterben werde, um
+ihn zu ärgern und seine Rettung in lebenswerte bürgerliche Verhältnisse
+unmöglich zu machen. Der Tierarzt kam täglich dreimal, wurde außerdem
+mehrfach telephonisch in seiner Wohnung und in dem Café, in dem er
+mittags Domino zu spielen pflegte, angeklingelt und blieb auf Emils
+besonderen Wunsch auch nachts telephonisch für ihn erreichbar.</p>
+
+<p>Endlich am dritten Tage nachmittags um zwölf Uhr kam ein Briefchen von
+Adelgunde.</p>
+
+<p>Als ich um ein Uhr in seine Wohnung kam, nach dem Freunde zu sehen,
+der mir in den letzten Tagen Sorgen gemacht hatte, erzählte mir
+Lisette, der Herr habe vorhin durch einen Dienstmann ein Billetchen
+bekommen. Darauf habe er sich längere Zeit lächelnd vor dem Spiegel
+im Korridor aufgehalten, habe dann telephonisch ein Rosenbukett mit
+violetter Schleife für fünf Mark bestellt, habe seinen Friseur kommen
+lassen und eine halbe Flasche Veilchenparfüm auf zwei Taschentücher
+gegossen, die er in seinen besten schwarzen Rock gesteckt. Dann habe er
+ihr — Lisette — zehn Mark geschenkt mit der Weisung, sich möglichst
+bald eine schöne Granatbrosche dafür zu kaufen (warum gerade eine
+Granatbrosche wisse sie nicht) sei vor Flockis Körbchen getreten und
+habe den sehr erstaunten Hund ein „Rabenvieh“ genannt, was ja wohl
+seine Berechtigung habe, aber doch, so weit sie sich entsinne, zum
+ersten Male passiert sei. Dann habe er sich einen Zylinder aufgesetzt,
+habe ein paar resedafarbene Handschuhe<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> in die Hand genommen und sei
+pfeifend, ohne seiner sonstigen Gewohnheit gemäß detaillierte Weisungen
+Flockis Wartung betreffend zu geben, die Treppe hinabgesprungen. Wie
+ein Reh. Dies „wie ein Reh“ gefiel Lisette so gut und schien ihr so
+erstaunlich charakteristisch, daß sie es noch dreimal mit Nachdruck
+wiederholte: „Wie ein Reh — wenn ich’s Ihnen sage: wie ein Reh!“</p>
+
+<p>Ich wußte genug. Ich empfahl Lisette, beim Ankauf der Granatbrosche
+sehr umsichtig vorzugehen, und machte mich auf den Heimweg.</p>
+
+<p>Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb ein
+Rohrpostbriefchen. Ich habe es gegen meine Gewohnheit dreimal
+aufgesetzt.</p>
+
+<p>Es gibt Glückwünsche die sehr schwer fallen. Man wünscht wohl, aber man
+glaubt nicht.</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Wenn Emil eine Prinzessin von Trapezunt geheiratet hätte, er hätte sich
+in den folgenden Wochen nicht beglückter benehmen können.</p>
+
+<p>Er markierte Verlobungswonne in geradezu vorbildlicher Weise. Er kaufte
+Buketts, Lyrik, Marzipan. Er trug zu enge Stiefel und zu hohe Kragen.
+Er sann auf zarte Überraschungen und las nachts im Bett eine gräßlich
+langweilige Biographie von Johann Sebastian Bach, den Adelgunde sehr
+verehrte. Von Kontrapunkt und Fuge sprach er jetzt so viel, wie er
+früher von Flocki und seinen Magenverhältnissen gesprochen hatte.
+Eines<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> Tages erwarb er in einer Versteigerung bei Lepke sogar ein sehr
+mäßiges Ölbild, das den großen Meister darstellen sollte, das sich aber
+leider später als das Porträt seines Vaters, des Hof- und Ratsmusikus
+Johann Ambrosius Bach erwies.</p>
+
+<p>Mit der Ungeduld eines Romeo drängte Emil auf Beschleunigung der
+ehelichen Verbindung. Blos standesamtlich wünschte Adelgunde. Emil war
+einverstanden.</p>
+
+<p>Ich war Emils Trauzeuge. Adelgunde hatte sich für die feierliche
+Handlung ihren Hauswirt mitgebracht. Dieser brave Mann, in seinem
+Privatleben ein Schneidermeister, dessen Anzüge eine gewisse
+Berühmtheit genossen, weil sie jedem Besteller die Figur ihres
+Verfertigers gaben, hatte leider zur Vorfeier des Tages sehr heftig
+gefrühstückt und kämpfte während der Zeremonie so tapfer wie vergeblich
+gegen einen Schluckser. Adelgunde hielt dies mühsam gedämpfte Geräusch
+für einen Ausdruck tiefer, seelicher Ergriffenheit und hat später dem
+Gatten gestanden, daß diese Feierlichkeit den lange von ihr gehegten
+Verdacht als begründet erwiesen habe; daß nämlich der ehrsamliche
+Schneidermeister selbst ein Auge auf sie geworfen habe, ohne den Mut zu
+finden, zu tun, was Emil getan hatte&#8239;...</p>
+
+<p>Im Separatzimmerchen eines kleinen aber guten Restaurants der
+Potsdamerstraße war das festliche Frühstück, das dem standesamtlichen
+Akt folgte. Nur wir vier. Und ein sehr diskreter Kellner, der die
+Speisen immer erst brachte, wenn sie kalt waren.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p>
+
+<p>Ich hielt eine kleine Rede auf das Brautpaar, sprach von der ehelichen
+Liebe, die das Leben adelt, jede Freude erhöht, jeden Schmerz gemeinsam
+tragen lehrt — kurz ich gab, der Situation angemessen, eine Anzahl von
+Gemeinplätzen zum besten, die jedem lateinischen Übungsbuch für Quinta
+Ehre gemacht hätten.</p>
+
+<p>Dann erhob sich der Trauzeuge Adelgundes. Er erzählte mit etwas
+schwerer Zunge sehr merkwürdige Dinge, die nur leider keinen rechten
+Zusammenhang mit der festlichen Veranlassung dieses gemeinsamen Mahles
+zeigten. Er sagte unter anderem, er sei bei einer alten Tante erzogen
+worden, die ihm früh den Spruch eingeschärft habe: Üb’ immer Treu
+und Redlichkeit — bis an dein kühles Grab. So gedenke er’s auch zu
+halten. Die Wohnung im dritten Stock seines Hauses habe früher 1000
+Mark gekostet. Nun aber habe er die Toilette neu tapezieren und den
+Herd umsetzen lassen. Auch sei ihm eine Hypothek gekündigt worden, was
+ihn sehr verdrieße. Vom nächsten Quartal an müsse er 1100 Mark für
+diese Wohnung verlangen, was er als Ehrenmann heute schon ankündigen
+wolle. Zumal da in einem fort darin Klavier gespielt werde; was zwar
+immer noch nicht so schlimm sei, wie Waldhorn. Was die Ehe anbetreffe,
+so habe darüber der Apostel Paulus ein sehr gutes Wort gesagt, das ihm
+jetzt nicht einfalle. Und wenn die Pute nicht so kalt werden solle,
+wie der Rehrücken leider vorhin gewesen, so müsse er seine Rede jetzt
+schließen.</p>
+
+<p>Diese letzte Wendung wurde von uns als Scherz<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> gedeutet. Wir riefen
+hoch und stießen an. Der Meister war sehr geschmeichelt und nahm drei
+Bruststücke von der Pute.</p>
+
+<p>Nach dem Eis erhob sich Adelgunde und verabschiedete sich von uns mit
+einem verschämten Lächeln, das ihr gar nicht übel stand. Mit diesem
+Lächeln konnte sie für fünfunddreißig gelten. Sie fuhr in einem
+Taxameter nach Hause, um ein Reisekleid anzulegen, da eine kurze
+Hochzeitsreise nach Potsdam beschlossen war.</p>
+
+<p>Als Adelgunde gegangen war, offerierte Emil mit dem strahlenden
+Lächeln, das ihm selbst bei des Trauzeugen Rede nicht verlassen hatte,
+sehr schwarze Zigarren mit sehr roten Leibbinden.</p>
+
+<p>„Sagen Sie, lieber Herr Steinbrink“, fragte der Meister, indem er sich
+drei Zigarren auswählte und neben seine Kaffeetasse legte, „was wird
+nun eigentlich aus ihrem <em class="gesperrt">Hund</em>, solange sie auf der Reise sind
+— —? Es ist wegen der Wohnung. Ich bin da etwas unruhig. So ein Vieh
+ruiniert leicht mancherlei, nagt und schabt und kratzt — —“</p>
+
+<p>Emils Gesichtsausdruck verlor an Fröhlichkeit. Und der meine war in
+diesem Augenblick kaum sehr intelligent.</p>
+
+<p>„Ja, erlaube mal, Emil“, warf ich ein, „hast du denn noch niemand
+gefunden, den du — — Ich meine die Witwe, von der du sprachst, die
+kinderlose Witwe ...“</p>
+
+<p>Emil wurde sehr verlegen. Er pickte nervös an<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> dem Bändchen seiner
+schwarzen Zigarre herum und, ohne mich anzusehn, sagte er kleinlaut:
+„Die Sache ist <em class="gesperrt">die</em>, Lieber. Ich und Adelgunde — Adelgunde und
+ich — wir haben’s uns eben überlegt. Eine fremde Pflege ist doch nicht
+so sicher. Du weißt, es gehen uns dreitausend Mark verloren, wenn
+Flocki stirbt. Das ist schließlich keine Kleinigkeit.“</p>
+
+<p>„Tausend noch mal!“ bestätigte der Meister und knüpfte seine Weste auf.</p>
+
+<p>„Na und siehst du, so kamen wir eben nach reiflichster Überlegung
+überein, Flocki zu <em class="gesperrt">behalten</em>. Gott, er hat ja auch seine Vorzüge.
+Und dann: man gewöhnt sich. Es ist merkwürdig, <em class="gesperrt">wie</em> man sich
+gewöhnt. Während wir in Potsdam sind, wird Lisette — du weißt, wir
+übernehmen sie in den jungen Hausstand. Und wenn wir zurückkommen —
+Gott, Adelgunde hat eine so glückliche Hand in der Pflege. Du sollst
+mal sehen, wie die Blumen gedeihn an ihrem Fenster — und haben doch
+fast keine Sonne.“</p>
+
+<p>„Erlauben Sie,“ fiel der Meister ärgerlich ein, „das muß ich denn doch
+besser wissen. Vom Mai bis Ende September hat das Fenster von Mittags
+zwölf bis nach zwei Uhr Sonne. Wenn’s nicht regnet, natürlich. Aber
+dann hat kein Mensch Sonne und kein Fenster.“</p>
+
+<p>Emil hörte ihn nicht. Die erloschene Zigarre im Munde stierte er in
+tiefem Sinnen in den riesigen Aschbecher. An seines Geistes Augen
+mochte das<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> ganze Martyrium dieser Erbschaft vorüberziehen, das
+Martyrium, das hinter ihm lag, das Martyrium, das seiner wartete&#8239;...</p>
+
+<p>Wir beiden andern schwiegen und rauchten.</p>
+
+<p>Plötzlich fuhr Emil aus seinen Träumen auf und sah nach der Uhr.</p>
+
+<p>„Himmel, ich muß fort. Höchste Zeit. Entschuldigt die Plötzlichkeit,
+Kinder, aber wir versäumen sonst den Zug. Ich muß Adelgunde abholen ...“</p>
+
+<p>„Aber es ist ja noch reichlich anderthalb Stunden. Und zum Potsdamer
+Bahnhof habt ihr nur sieben Minuten.“</p>
+
+<p>„Hm. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß man zu zweien immer
+<em class="gesperrt">mehr</em> Zeit braucht, als allein.“</p>
+
+<p>Der Meister rechnete angestrengt an den Fingern: „Und zweimal sieben
+macht vierzehn — nicht wahr? Und eine Stunde und eine halbe macht
+neunzig Minuten, und neunzig weniger vierzehn macht sechsundsiebzig ...“</p>
+
+<p>Es war nicht recht einzusehen, warum er sich in die Mühseligkeiten
+dieser Rechenaufgaben stürzte; denn von uns beiden hörte ihm keiner zu.
+Selbst dann nicht, als er durch eine sehr schwierige und rätselhafte
+Division sich tief in die Gefahren der Bruchrechnung verstrickte, die
+er dann mit einem befriedigten „Na, und überhaupt!“ abschloß.</p>
+
+<p>Emil hatte seinen Paletot angezogen, den der Meister mit kritischem
+Blick maß. Der Reisefertige reichte mir die Hand zum Abschied; und
+mir war’s,<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> als legte er eine ganz besondere Bedeutung in sein
+Abschiedswort:</p>
+
+<p>„Du hast Recht, wie schon manchmal, lieber Freund. Aber wir
+müssen vorher noch Adieu sagen. Adelgunde besteht darauf, daß wir
+<em class="gesperrt">Flocki</em> noch einmal sehen, ehe wir ihn für ein paar Tage
+verlassen. Schließlich — <em class="gesperrt">er</em> hat uns doch zusammengeführt! ...“</p>
+
+<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p102">
+ <img class="w100 mbot3" src="images/p102.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p>
+
+<h2 class="trans" id="Das_Verhaengnis_des_Hauses_Broemmelmann" title="Das Verhängnis
+des Hauses Brömmelmann">Das Verhängnis des Hauses Brömmelmann</h2>
+
+<figure class="figcenter illowe28" id="p103">
+ <img class="w100" src="images/p103.jpg" alt="Titel: Das Verhängnis des Hauses
+ Brömmelmann">
+</figure>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span></p>
+
+<p class="p0 mtop2"><span class="initial">E</span>r hatte nur unter den größten Schwierigkeiten eine Frau bekommen. Es
+ist lächerlich, zu behaupten, daß das an seiner Persönlichkeit lag. Es
+lag am Namen.</p>
+
+</div>
+
+<p>Gewiß, er war nicht schön. Die unansehnliche Figur, die etwas
+Verbogenes, Geknicktes an sich hatte, sah in dem langen schwarzen
+Gehrock, den er immer trug, nicht gut aus. Er erinnerte, wenn er so
+daher kam mit dem schief nach links über den altmodischen Kragen
+nickenden Kopf und den lang herabhängenden Armen, die immer die Knie
+kratzen zu wollen schienen, an einen jener dressierten Urwaldbewohner,
+die, ein Zylinderchen auf dem Kopf, auf ein geduldiges Ponychen mit
+heimlichen Riemen festgebunden, als erste Nummer unter dem Jubel der
+Kinderwelt in melancholischem Galopp die „Abend-Gala-Elite-Vorstellung“
+der Affentheater einzuleiten pflegen. Auch waren seine Füße
+unverhältnismäßig groß und erweckten beim Gehen den Eindruck, als ob
+jeder von ihnen eigensinnig just auf denselben Fleck treten wolle, den
+der andere gerade inne hatte; und dies mit solcher Vehemenz, daß es ein
+wahres Wunder genannt werden<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> mußte, wenn <em class="gesperrt">Anton Brömmelmann</em> sich
+bis zu seinem fünfundvierzigsten Jahre noch nicht die Zehen abgetreten
+hatte auf seinen Geschäftsgängen.</p>
+
+<p>Denn zum Vergnügen ging er nie. Das Geschäft war ihm alles. Er
+arbeitete dafür den ganzen Tag; er erholte sich davon, indem er abends
+in alten Geschäftsbüchern blätterte und alte Geschäftsbriefe im
+Kopierbuch las; und er träumte davon in der Nacht. Das Geschäft war
+sein Glück — denn es blühte. Und es war sein Unglück — denn es hatte
+seinem Namen einen wenig seriösen Klang gegeben. Und just um dieses
+Klanges willen hätte Anton Brömmelmann beinahe keine Frau bekommen.</p>
+
+<p>Eine geschickte Reklame des Vaters — der auch schon Anton geheißen und
+den Ruhm des Geschäftes begründet hatte — war dem Namen Brömmelmann
+verhängnisvoll geworden; insofern als er diesen nicht sinnverwirrend
+schönen aber auch nicht ohne weiteres verwerflichen Geschlechtsnamen
+braver kleiner Beamten und Pastoren plötzlich laut, heftig und dauernd
+mit — ja, es muß schon gesagt werden: mit Wasserklosetts in Verbindung
+brachte.</p>
+
+<p>„Anton Brömmelmanns Wasserklosetts für Privatwohnungen, Klubs, Hotels,
+Spitäler, Kasernen und Gefängnisse“ waren weit über Neuenburg hinaus
+eine Berühmtheit. Durch unzählige Annoncen in den Tagesblättern hatte
+er sie — wenn das so auszudrücken erlaubt ist — dem Herzen des
+Publikums eingeschmeichelt. Er hatte Gutachten über ihre Diskretion<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span>
+im Geräusch und Wasserverbrauch und über ihre Unentbehrlichkeit
+im Großbetrieb fleißig gesammelt und veröffentlicht; hatte
+enthusiastische Zustimmungen von Hygienikern, berühmten Schauspielern,
+Anstaltsdirektoren, ja sogar von zwei wirklichen Geheimen Räten mit
+dem Prädikat Exzellenz seinem Katalog anheften können. Und so hatte
+er mit der Wahrhaftigkeit, wie sie nur die Todesstunde verleiht,
+auf dem Sterbebette seinem einzigen Sohn feierlich und nicht ohne
+Genugtuung versichern dürfen, daß es in und um Neuenburg, wenigstens in
+menschlichen Wohnstätten, die etwas auf sich hielten, keinen geheimen
+Ort, den ein guter Mensch betrat, gebe, der nicht an bescheidener
+Stelle auf weißem Porzellangrund den Namen „Anton Brömmelmann“ rühmend
+dem nachdenklichen Beschauer nenne.</p>
+
+<p>Das aber war das Fatale. Welches junge Mädchen von sittlichem Gefühl
+verliebt sich in einen Mann, der mit so unentbehrlichen, aber doch so
+ungern genannten Gebrauchsgegenständen handelt? Welches wohlerzogene
+Bürgerstöchterlein tauscht froh und reulos seinen mehr oder minder
+wohlklingenden Vatersnamen gegen einen Namen, den immer und immer
+wieder Annoncen in den Tagesblättern in solch merkwürdige Erinnerung
+bringen; der immer und immer wieder von weißem Porzellangrund abzulesen
+ist?&#8239;...</p>
+
+<p>Wenn Anton Brömmelmanns Ahnherr im Dreißigjährigen Krieg nachweislich
+gehängt worden wäre; wenn sein Großvater beim Rastatter Gesandtenmord
+eine üble Rolle gespielt und seine Großmutter im<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> berüchtigten
+Hirschpark von Versailles zeitweise unrühmlichen Aufenthalt genommen
+hätte — das wäre alles kein so trauriges Ehehindernis für Anton
+Brömmelmann gewesen, als der fatale Umstand: daß sein fleißiger und
+rechtlicher Vater gar so viel Lobendes über seine vortrefflichen
+Fabrikate veröffentlicht hatte.</p>
+
+<p>Und außerdem: mitten in der Hauptstraße, zwischen der appetitlichen
+Konditorei von Grötschel und der poesievollen Blumenhandlung der stets
+in tiefe Trauer gekleideten Witwe Schwiebus — die drei verletzend
+naturalistischen Riesenerker des Brömmelmannschen Geschäfts! Welche
+Frauenseele in jenem glücklichen Alter, da man sich Verse von Lenau ins
+Album schreibt und mit Leutnants tanzt und Lieder von Schumann singt,
+bebte nicht scheu zurück vor einem noch so braven Mann, der ein so
+absonderliches Geschäft sein eigen nennt?</p>
+
+<p>Anton Brömmelmann hätte von den Körben, die er sich seufzend in guten
+Bürgerfamilien geholt, ganz bequem einen Korbhandel eröffnen können.
+Aber er sah mit Goethe, den er übrigens nicht las, in der Ehe „Anfang
+und Gipfel aller Kultur“; und er war betrübt, ja niedergeschlagen, daß
+gerade <em class="gesperrt">ihm</em> weder Anfang noch Gipfel beschieden sein sollte,
+obschon oder gerade <em class="gesperrt">weil</em> er als Geschäftsmann just der Sohn
+seines Vaters und ein Kulturträger von nicht zu unterschätzender
+Bedeutung war.</p>
+
+<p>Endlich aber fand er in Annemarie Bickebach doch noch ein weibliches
+Wesen, das großherzig genug war,<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> über die ganzseitigen Annoncen und
+die Riesenerker in der Hauptstraße und schließlich auch über manche
+negativen Vorzüge seiner Erscheinung mit ihren leidlich hübschen Augen
+hinwegzusehen.</p>
+
+<p>Annemarie war die Tochter eines Oberpostsekretärs, der pensioniert
+werden mußte, weil sich in ihm die fixe Idee entwickelte, er müsse
+der Welt die Unsinnigkeit der Ansichtspostkarte beweisen; und der in
+diesem Sinne eine Reihe von Broschüren im Selbstverlag erscheinen
+ließ und zahlreiche Eingaben an den Reichstag und „Offene Briefe“
+an die vorgesetzte Behörde richtete. Das langaufgeschossene, magere
+Mädchen war zweimal verlobt gewesen. Einmal mit einem melancholischen
+Bergassessor, der leider bald darauf mit einer Dame vom Variété
+nach London gegangen war; und einmal mit einem sommersprossigen
+Predigtamtskandidaten, der ihr eines Tages eine „frivole Auslegung
+paulinischer Briefe“ vorgeworfen, ihren Ring, zwei gestickte
+Schlummerrollen und einen gebrannten Haussegen zurückgeschickt und
+drei Monate später eine vermögliche aber reizlose Witwe aus Kottbus
+standesamtlich und kirchlich geheiratet hatte.</p>
+
+<p>Annemarie hatte das stille Wesen aller Mädchen, die zweimal verlobt
+waren und einmal am Variété und einmal an den paulinischen Briefen
+gescheitert sind. Sie sah zwar, daß Anton Brömmelmann keineswegs
+eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem jungen Griechengott, nicht
+einmal mit einem melancholischen Bergassessor zeigte; aber er war
+schließlich ein Mann,<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> der seine hübschen Einnahmen hatte und dessen
+mit der Erinnerung an zahlreiche Körbe belastetes Herz die Unzartheit
+nicht besitzen würde, sie an ihr entschwundenes Liebesglück zu
+erinnern. Und sie hatte es satt, immerzu „Eingaben an eine hohe k.&#8239;k.
+Oberpostdirektion“ ins reine zu schreiben.</p>
+
+<p>Der Oberpostsekretär a.&#8239;D. machte seine Einwilligung zur Verehelichung
+davon abhängig, daß Anton Brömmelmann sich eidlich verpflichte, niemals
+in seinem Leben eine Ansichtskarte zu benützen. Ein Schwur, den Anton
+Brömmelmann um so eher ablegen und halten konnte, als er überhaupt
+keine privaten Mitteilungen ernsten oder neckischen Inhalts jemals
+zu Papier brachte, sondern <em class="gesperrt">nur</em> Geschäftsbriefe schrieb und im
+Geschäftsverkehre die Ansichtskarte für durchaus unstatthaft hielt.
+Der Oberpostsekretär holte übrigens für diese Gelegenheit seinen alten
+Galadegen aus dem Schrank, eine sehr merkwürdige Waffe, die nach
+halbstündigem sorgsamen Einfetten und anstrengendem Ziehen endlich auch
+aus der Scheide fuhr. Auf die rostige Klinge mußte Anton Brömmelmann
+feierlich die Schwurhand legen und den vom Oberpostsekretär persönlich
+vorgesprochenen ebenso umständlichen als konfusen Eid mit lauter Stimme
+wiederholen. Dann erst bekam er von der tief errötenden Annemarie den
+Verlobungskuß und jenen gebrannten Haussegen, den der sommersprossige
+Predigtamtskandidat unbegreiflicherweise verschmäht hatte.</p>
+
+<p>Die Ehe war nicht unglücklich.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p>
+
+<p>Annemarie hielt ihren Haushalt gut in Ordnung; und wenn Anton
+Brömmelmann aus dem Geschäfte kam, so war sie bereit, seinen gehabten
+Ärger mit aufmerksamer Teilnahme anzuhören, und schmierte ihm
+Käsebrötchen dazu.</p>
+
+<p>Jeden Sonntag aß der Oberpostsekretär a.&#8239;D. bei den beiden zu Mittag.
+Es gab dann „falschen Hasen“ — weil dem Oberpostsekretär die
+Vorderzähne fehlten — und der Geladene würzte das bescheidene Mahl
+durch heftiges Schimpfen auf die k.&#8239;k. Regierung, die keine seiner
+Eingaben, die er nun selber schrieb, jemals beantwortete.</p>
+
+<p>Als er an einem Sonntag im Herbst wieder zum falschen Hasen kam, teilte
+ihm Anton freudestrahlend mit, daß sie beide heute <em class="gesperrt">allein</em> essen
+müßten, da Annemarie ihn heute morgens durch die Geburt eines Sohnes
+erfreut habe und noch der Schonung bedürftig sei.</p>
+
+<p>Obgleich der Oberpostsekretär, wie er sich recht wohl erinnerte, bei
+der Eheschließung der beiden mit einer solchen Möglichkeit gerechnet
+hatte, kam ihm die Nachricht nun, da er, mit seinen Angelegenheiten
+beschäftigt, die natürlichen Anzeichen des kommenden Ereignisses
+völlig übersehen hatte, doch sehr überraschend. In der Freude seines
+Herzens ging er eiligst einen notwendigen Einkauf zu machen; und da er
+nicht recht wußte, was zu dieser Gelegenheit am passendsten erscheinen
+könnte, kam er eine halbe Stunde später wieder mit einer Mandeltorte
+und einem Bilderbuch, das für den ersten<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> Leseunterricht sehr
+zweckentsprechend eingerichtet war. Dieses Buch legte die Wartfrau,
+die wenig von Pietät hielt, unter das Gestell der Kinderbadewanne, das
+einen zu kurzen Fuß hatte. Die Mandeltorte aber teilte sie mit der
+Hebamme, die zufällig gerade, wie dies bei Hebammen das übliche ist,
+ihren Geburtstag hatte.</p>
+
+<p>Im Nebenzimmer aber saß der Oberpostsekretär, dämpfte seine Stimme
+zu einem diskreten Piano, das kaum mehr hörbar war, und fragte den
+glücklichen Vater, der sehr wichtig und sehr zwecklos bald eine
+Zuckerdose, bald einen Aschenbecher umhertrug:</p>
+
+<p>„Anton, <em class="gesperrt">wem</em> sieht’s ähnlich?“</p>
+
+<p>„Die Wartfrau meint: <em class="gesperrt">mir</em>,“ gab Anton schüchtern zurück.</p>
+
+<p>Er mochte nicht gestehen, daß er persönlich bei einer ersten Begegnung
+mit seinem Sohn, die allerdings im Halbdunkel der Wochenstube
+stattfand, keinerlei Ähnlichkeit hatte wahrnehmen können, vielmehr den
+Eindruck gewonnen, anstatt eines Kopfes eine runzliche, nicht mehr ganz
+frische Tomate auf dem Kissen zu sehen.</p>
+
+<p>Die Hebamme, die aus unbekannten Gründen immer heftig nach altem
+Rotwein roch, kam herein und verkündete:</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Neun</em> und ein Viertelpfund! Eben gewogen. Es ist ein Mordskerl!“</p>
+
+<p>„Das soll er erst <em class="gesperrt">werden</em>!“</p>
+
+<p>Anton Brömmelmann hatte dieses vortreffliche<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> Wort gefunden und damit
+stolz und tüchtig <span class="antiqua">in nuce</span> ein ganzes Erziehungsprogramm entrollt.</p>
+
+<p>Das <em class="gesperrt">eine</em> stand bei Anton Brömmelmann fest: der Junge sollte es
+mal in jeder Beziehung <em class="gesperrt">besser</em> haben, wie er; sollte sich nicht
+selbst die Zehen abtreten beim Gehen, keine lächerliche Figur in einem
+schwarzen Gehrock spielen und seinen Namen nicht am Tage wie eine Last
+und nachts wie einen Alp tragen. Das Geschäft — Gott behüte! — das
+war nichts für den Jungen. Diese Überzeugung stand schon bei Anton
+Brömmelmann fest, wenn er des Abends, aus dem Comptoir heimgekehrt,
+zusah, wie im Soxhletapparat die sechs appetitlichen Fläschchen für
+Nacht und Morgen hergerichtet wurden. Immer ein Strich Milch und zwei
+Striche Wasser. Und jedesmal setzte seine besorgte Frage ein:</p>
+
+<p>„Kriegt der Junge auch nicht zu wenig Milch und zu viel Wasser?“</p>
+
+<p>Berthold wurde er getauft.</p>
+
+<p>Niemand in der Familie hieß so. Der Erfinder des Schießpulvers,
+Berthold Schwarz, war der einzige dieses Namens, den Anton Brömmelmann
+— natürlich nicht persönlich — kannte. Aber das war’s gerade:
+Der Junge sollte einen <em class="gesperrt">aparten</em> Namen haben. Und wer konnte
+das wissen — die Sache mit dem Schießpulver! ... Der Junge konnte
+ein verdammt kluges Gesichtchen machen und hatte eine Art, das
+rosig marmorierte Fäustchen in den Mund zu stecken, die <em class="gesperrt">hohe</em>
+Intelligenz bewies. Und das <em class="gesperrt">Geschäft</em> sollte<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> ihm nicht den
+schönen Namen und das schöne Leben verderben — das war immer der
+Schluß von Anton Brömmelmanns reiflichen Erwägungen. Und damit all
+dieses nicht geschehe, sollte der Bub’ keine Ahnung davon haben,
+welcher <em class="gesperrt">Art</em> seines Vaters Geschäft war. Bis er dann zur Schule
+kam, würde man schon sehen.</p>
+
+<p>Von nun an dachte Anton Brömmelmann nur daran, sein Geschäft zu
+verkaufen.</p>
+
+<p>Er trat sich im Nachdenken noch emsiger auf die Füße, schlenkerte noch
+heftiger mit den Affenarmen als früher und wechselte bogenlange Briefe
+mit Reflektanten.</p>
+
+<p>An der verlangten Kaufsumme scheiterte es nie. Er hatte genug geerbt
+und zurückgelegt und forderte einen Betrag, der für das flottgehende
+Geschäft ein Spottpreis genannt werden mußte. Eben erst hatte der
+Landtag eine größere Bestellung gemacht, und mit einer anonymen
+Gesellschaft, die das öffentliche Wohl im Auge hatte, stand er in
+Verhandlung.</p>
+
+<p>Aber <em class="gesperrt">eines</em> schreckte die Bewerber: Anton Brömmelmann stellte die
+Bedingung, daß innerhalb fünf Jahren die <em class="gesperrt">Firma</em> geändert werden
+und <em class="gesperrt">sein</em> Name mithin von Firmenschild, Briefbogen und Porzellan
+<em class="gesperrt">verschwinden</em> müsse. Hier lag der Haken. Denn die Firma „Anton
+Brömmelmann“ war eben als solche weit berühmt; und ob die Änderung des
+Namens nicht einen beträchtlichen Rückgang des Geschäftes bedeuten
+würde .... Zudem — man hatte das zum Beispiel bei Johann Maria Farina
+erlebt — es könnte eine Konkurrenz<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> plötzlich einen Strohmann Namens
+Brömmelmann auftreiben, der nun die Früchte jahrelanger Reklame anderer
+mühlos pflückte....</p>
+
+<p>Schließlich aber wurde der Verkauf <em class="gesperrt">doch</em> perfekt.</p>
+
+<p>Ein Herr Heinrich <em class="gesperrt">Hinzelmann</em> hatte, wie er schrieb, „eine
+weitläufige Tante beerbt“ und strebte, sich selbständig zu machen.
+Er glaubte das nicht besser tun zu können, als indem er das Geld der
+weitläufigen Tante in Anton Brömmelmanns weitberühmte Fabrikate steckte.</p>
+
+<p>Am fünften Geburtstag Bertholds wurde der Vertrag unterschrieben. Es
+war ein großer Moment. Anton Brömmelmann war ganz heiser vor Aufregung
+und schrieb unter das wichtige Schriftstück zum erstenmal in seinem
+Leben seinen eigenen Namen falsch; nämlich mit nur <em class="gesperrt">einem</em> „m“ in
+der Mitte. Annemarie stand neben ihn und bürstete in tiefer seelischer
+Verlorenheit Herrn Hinzelmanns Zylinder sorgfältig <em class="gesperrt">gegen</em> den
+Strich, was der Besitzer des Hutes mit großem Unbehagen mit ansah.
+Doch wagte er es nicht, sie auf das Sinnlose und Unzweckmäßige dieser
+Betätigung aufmerksam zu machen, da er befürchtete, irgendeine nicht
+auf das Geschäft bezügliche Äußerung könne ihm noch in letzter Stunde
+den ganzen vorteilhaften Handel verderben. So schlug er im Geiste den
+Preis für einen neuen Zylinder mit auf die Kaufsumme und schwieg.</p>
+
+<p>Im Nebenzimmer aber saß der Oberpostsekretär, das Geburtstagskind auf
+den Knien, und las die Korrekturen<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> einer geharnischten Eingabe „an die
+k.&#8239;k. Regierung, betreffend die durch den submissest unterzeichneten
+Verfasser eklatant erwiesene Volksverdummung durch die Ansichtskarte“.</p>
+
+<p>Anton Brömmelmann atmete auf. Ihm war zumute wie einem unter dem
+Verdachte schweren Raubmordes Verhafteten, der eben sein Alibi
+lückenlos beigebracht hat.</p>
+
+<p>Nun galt es noch sein Haus verkaufen — das tat er mit kleinem Verlust
+— und den Wohnort wechseln. Er zog nach Rasselsheim, einem Städtchen
+ohne jeglichen landschaftlichen Reiz, das ihm nur dadurch aufgefallen
+war, daß es — wie aus einer Statistik hervorging — die geringste
+Kindersterblichkeit aufwies. Ein Gymnasium war auch da. Sogar ein
+„humanistisches“, was Anton Brömmelmann für eine besondere, vom Staat
+verliehene Auszeichnung hielt. Also!</p>
+
+<p>Bei der Wohnungssuche benahm sich Anton Brömmelmann etwas sonderbar. Er
+besichtigte zunächst immer ein geheimes Kabinett und erweckte durch die
+merkwürdig peinlichen Untersuchungen den Eindruck, als ob er hier die
+reichsten und köstlichsten Stunden seines Lebens zu verbringen gedenke.</p>
+
+<p>Mit heimlicher Freude konstatierte er, daß die Rasselsheimer Wohnungen
+nur in seltenen Fällen <em class="gesperrt">seine</em> Fabrikate mit dem verräterischen
+Namen aufwiesen; und er mietete mit ingrimmiger Genugtuung eine
+Wohnung, für die, wie das Porzellan an der<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> betreffenden Stelle
+meldete, seine einst gefürchtete Konkurrenz das unentbehrliche
+geliefert hatte&#8239;...</p>
+
+<p>Berthold wuchs heran.</p>
+
+<p>Der glückliche Vater ging völlig auf in den Jungen. Er zahnte mit ihm,
+er fieberte persönlich, als der Bub die Masern hatte, ja er machte
+— und nicht nur in der Einbildung — mit ihm den Keuchhusten durch,
+konsumierte als leuchtendes Beispiel für den Jungen den abscheulichen
+Schneckensaft und war stolz darauf, wenn er, blaurot im Gesicht vom
+Husten, die Versicherung des Arztes hörte: das sei ein außerordentlich
+seltener Fall, daß ein Erwachsener zum <em class="gesperrt">zweitenmal</em> vom
+Keuchhusten befallen werde.</p>
+
+<p>Peinlicher als der Keuchhusten war das Latein.</p>
+
+<p>Anton Brömmelmann, der es nie recht vertragen hatte, lernte es mit dem
+Sohn, <em class="gesperrt">für</em> den Sohn. Er stand mit dem absolutem Ablativ auf und
+träumte vom Akkusativ cum Infinitiv; er übte Vokabeln und konsultierte
+heimlich Eselsbrücken, war dem Sohn immer um drei Lektionen voraus,
+kurz, er tat alles, um die fromme Täuschung aufrecht zu erhalten, daß
+er alles das schon <em class="gesperrt">wisse</em>, was der Sohn unbedingt lernen müsse,
+um ein edler Mensch und ein tüchtiger Bürger zu werden. Wenn Berthold
+längst seinen gesegneten Kinderschlaf schlief, mußte die mitleidige
+Annemarie den unglücklichen Gatten die Punischen Kriege überhören
+und die entsetzlichsten, von den Karthagern verübten Greuel über
+sich ergehen lassen. Und Sonntag zog sich Anton Brömmelmann in sein<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span>
+Studierzimmer zurück, um über den „Frühling“ nachzudenken oder über die
+„Freuden des Eislaufs“, kurz über lauter Dinge, die seinem früheren
+Leben sehr fern gelegen hatten und die jetzt als Aufsatzthemata des
+Sohnes seine späten Mannesjahre erschreckten.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Zweimal</em> waren sie sitzen geblieben.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Sie.</em> Pluralis. Denn der Vater blieb <em class="gesperrt">mit</em> sitzen, fühlte
+sich <em class="gesperrt">mit</em>schuldig; obschon er die Tanzstunde, die an der
+Zerstreutheit des Sohnes die Hauptschuld trug, nicht mitgenommen hatte
+und die Zigaretten, die dem armen Berthold nicht bekamen, persönlich
+ganz gut vertragen konnte.</p>
+
+<p>Endlich kam das Maturum.</p>
+
+<p>Berthold, der ein hübscher, schlanker Bengel geworden war, nicht gerade
+strotzend von Intelligenz, aber in seiner gesunden Frische ein ganz
+lieber Kerl, ging in das Examen mit einer Siegermiene, als könne ihm
+nichts passieren. Der Vater aber saß zu Hause und seufzte:</p>
+
+<p>„Die Mathematik — die Mathematik bricht uns den Hals. Du wirst sehen,
+Annemarie, die Mathematik!“</p>
+
+<p>Und er verlangte Papier und berechnete Kegelschnitte stundenlang und
+löste Gleichungen mit drei Unbekannten, die — wenn die Sache fertig
+war — noch immer so gut wie unbekannt blieben, und ließ sich von all
+den Aufgaben foltern, die der Sohn vielleicht ...</p>
+
+<p>Aber der Sohn kam nach Hause, strahlend, eine<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> Rose im Knopfloch und
+sichtlich erhitzt von einem kleinen Frühschoppen. Er hatte bestanden.
+Nicht gerade glänzend, aber was lag daran?</p>
+
+<p>Anton Brömmelmann spendierte deutschen Sekt zum Mittagstisch. Er stieß
+mit dem Sohn an und hielt eine Rede, in der er sagte: er sei zwar
+der Vater ... aber er müsse denn doch sagen ... und überhaupt habe
+Demosthenes ganz recht gehabt, wenn er das schöne Wort gesprochen, das
+ihm jetzt nicht einfalle ... und der große Liebig sei <em class="gesperrt">auch</em> ein
+schlechter Schüler gewesen ... und Henrik Ibsen hätte „kaum genügend“
+in der Trigonometrie gehabt ... und das Leben sei zwar schwer, aber
+schön ... und der Name Brömmelmann lege Pflichten auf ... jawohl, das
+tue er ... und so hoffe er heute ... denn <em class="gesperrt">das</em> müsse die Jugend
+immer hochhalten ... und dafür könne er keinen Geringeren zitieren, als
+Cicero ... aber das <em class="gesperrt">wolle</em> er nicht ... denn er sei froh, daß er
+all das Zeug jetzt vergessen könne ... denn ehrlich gesagt: zum Halse
+sei’s ihm herausgewachsen ... und übrigens sei es Zeit, den Großvater
+von der Bahn abzuholen&#8239;...</p>
+
+<p>Berthold bezog die Universität.</p>
+
+<p>Der Vater wollte keinen Druck auf ihn ausüben. Er solle studieren, was
+er wolle. Theologe — gut; aber protestantischer. Arzt — gut; aber
+nicht Spezialarzt für ansteckende Krankheiten. Jurist — gut; aber
+nicht „Kameralia“ dazu. <em class="gesperrt">Zweierlei</em> zugleich, das gehe nicht. Mit
+diesen Einschränkungen erlaubte Anton Brömmelmann alles. Mathematiker
+war nicht zu befürchten.<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> Auch für das Sanskrit zeigte sich bei
+Berthold keinerlei Neigung. Alle Ermahnungen schlossen:</p>
+
+<p>„Vergiß nicht, daß du mein <em class="gesperrt">Einziger</em> bist!“</p>
+
+<p>Berthold Brömmelmann vergaß das nicht.</p>
+
+<p>Als er nach dem ersten Semester seine Schulden beichtete, erwies es
+sich, daß er immerzu daran gedacht haben mußte, daß er der „einzige“
+war. Außerdem war er „Hasso-Suebe“, trug einen farbigen Bierzipfel,
+einen Zwicker und eine Tiefquart im Kinn, die dickrandig und tiefrot
+war und an jene alten Wunden erinnerte, die eine Neigung haben „an der
+Bidassoa-Brücke“ aufzubrechen. Und er roch nach Jodoform wie ein ganzer
+Transportzug des Roten Kreuzes.</p>
+
+<p>Über die Richtung seines Studiums war er sich noch nicht schlüssig
+geworden. In der Anatomie war ihm schlecht geworden. Bei den Pandekten
+noch schlechter. In der Theologie störte ihn der heilige Geist, unter
+dem er sich absolut nichts denken konnte. Und Mathematik kam noch immer
+nicht in Betracht.</p>
+
+<p>Leider änderte sich dies kaum „positiv“ zu nennende Resultat seiner
+Studien auch fürderhin nicht. Er schickte spaßhafte Bierkarten, fidele
+Gruppenbilder und unbezahlte Rechnungen, begleitet von humoristischen
+Briefen, nach Hause. Über eine Berufswahl aber ließ er sich weiter
+nicht aus.</p>
+
+<p>Als ihn der Vater auf Annemaries Drängen einmal besuchte, kam der
+alte Herr graugrün aussehend nach drei Tagen wieder. Er erinnerte
+sich noch deutlich vieler junger Herren mit gelben Mützen,<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> die ihn
+an der Bahn empfingen und mit fast königlichen Ehren auf einen sehr
+merkwürdigen Aussichtspunkt kutschierten, wo man — und hier wurden
+seine Erinnerungen undeutlich — erst eine Pfirsich-, dann eine
+Ananasbowle trank. Es konnte aber auch umgekehrt gewesen sein. Wenn er
+sich nicht täuschte, hatten sie dann alle ein wunderschönes Lied mit
+erstaunlich vielen Versen gesungen, und dann — — — ja, man konnte
+ihn totschlagen, aber ihm war’s, als ob dann irgend ein Fackelzug
+stattgefunden hätte. Es konnte aber auch eine Beerdigung oder eine
+Hochzeit gewesen sein. Ja selbst eine Kindstaufe hielt er manchmal für
+nicht ausgeschlossen. Und was die Studienpläne Bertholds anbetraf —
+man war <em class="gesperrt">nicht</em> dazu gekommen, darüber zu sprechen&#8239;....</p>
+
+<p>So war der Stolz des Hauses Brömmelmann im siebenten Semester, ohne daß
+sein Studium sichtbare Früchte getragen.</p>
+
+<p>Da begab es sich, daß der vortreffliche Großvater in Neuenburg seinen
+siebzigsten Geburtstag feierte. Unglücklicherweise hatte Anton
+Brömmelmann sich kurz vorher den Fuß vertreten, das heißt er war mit
+dem linken so außergewöhnlich kräftig auf den rechten getreten, daß der
+Knöchel gelitten hatte.</p>
+
+<p>Annemarie, die treue Seele, machte ihm kalte Umschläge und konnte nicht
+abkommen. Berthold fuhr also allein als bevollmächtigter Abgesandter
+der Familie nach Neuenburg, seiner Geburtsstadt, die er noch niemals
+betreten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span></p>
+
+<p>Als erstes Lebenszeichen kam — eine Ansichtskarte aus Neuenburg, die
+der Großvater <em class="gesperrt">mit</em> unterschrieben.</p>
+
+<p>„Zeichen und Wunder!“ sagte Anton. „Der gute alte Herr unterschreibt
+<em class="gesperrt">Ansichts</em>karten. Ja, ja, das Alter macht milder.“ Und eines
+Zitats sich erinnernd, das er vor Jahren — Berthold saß in
+Ober-Sekunda — aus einem Spruchbuch als köstliche Perle für den
+schmückenden Schluß eines deutschen Aufsatzes gefischt, fügte er hinzu:
+„Wie sagt doch Goethe so schön: Was man in der Jugend sich wünscht, das
+hat man im Alter die Fülle.“</p>
+
+<p>Annemarie lächelte: „Papa hat sich doch in der Jugend keine
+Ansichtskarten gewünscht.“</p>
+
+<p>„Nein aber — —“ Er fühlte selbst, daß er blödsinnig zitiert und
+versuchte hinter einem schalkhaften Lächeln tiefen Sinn zu verbergen.</p>
+
+<p>„Nun <em class="gesperrt">lies</em> schon!“ drängte Annemarie.</p>
+
+<p>Und er versuchte zu lesen, was sonst noch auf der merkwürdigen
+Karte stand. Aber außer den Worten „kalte Ente“ konnte er nichts
+herausbringen.</p>
+
+<p>„Kalte Ente —“ meinte Annemarie kopfschüttelnd, „soll wohl ‚kalte
+Hände‘ heißen.“&#8239;...</p>
+
+<p>Anton Brömmelmann glaubte das nicht&#8239;....</p>
+
+<p>Mehrere Tage hörte man nichts weiter. Weder von dem Jubilar noch von
+dem festlichen Abgesandten. Da plötzlich ein Brief, wahrhaftig ein
+<em class="gesperrt">langer</em> Brief Bertholds.</p>
+
+<p>„Wie lieb von ihm!“ lobte die Mutter.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span></p>
+
+<p>Anton Brömmelmann mißtraute. „Er pumpt mich an!“ taxierte er.</p>
+
+<p>Und er las.</p>
+
+<p>„Liebe Eltern! Ihr werdet Euch gewundert haben. ... Eltern wundern sich
+immer. Aber das wird noch besser kommen.“&#8239;—</p>
+
+<p>„Etwas konfus, was?“ schaltete Anton Brömmelmann ein und sah über die
+Brille zu Annemarie; dann las er weiter:</p>
+
+<p>„Ich glaube manchmal, ich habe Euch Sorge gemacht. Vor allem
+<em class="gesperrt">Dir</em>, lieber Vater. Na, du hast kein Geschäft, nicht wahr? Und
+etwas muß der Mensch doch haben. So hattest Du <em class="gesperrt">mich</em>.“&#8239;—</p>
+
+<p>„Das ist ja eine Epistel, als sollte er gehenkt werden,“ meinte der
+Vater. Aber die Mutter bedeutete ihm, weiter zu lesen.</p>
+
+<p>„Mit dem Studium — darüber machen wir uns nichts vor — war es nichts.
+Mündlich einmal davon. Als Papa mich besuchte, wollte er durchaus nicht
+davon sprechen ....“</p>
+
+<p>„Nanu?“ fragte Annemarie.</p>
+
+<p>Aber Anton Brömmelmann überhörte das und las weiter:</p>
+
+<p>„Ich stamme aus einer Kaufmannsfamilie. Ich weiß zwar nicht,
+<em class="gesperrt">welcher</em> Art dein Geschäft eigentlich war, lieber Papa, aber es
+war ein Geschäft, nicht wahr? Nun, ich glaube, ich würde mich auch
+besser zum <em class="gesperrt">Kaufmann</em> eignen. Und so wirds kommen. Denn, um’s kurz
+zu sagen, ich bin <em class="gesperrt">verlobt</em>.“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span></p>
+
+<p>Das Ehepaar Brömmelmann sah sich an, als ob ein geflügeltes Krokodil im
+Zimmer sei. Keines brachte ein Wort heraus.</p>
+
+<p>Dann ergriff die resolute Mutter den Brief und — nun las <em class="gesperrt">sie</em>
+zu Ende; las in einem Tempo, in dem nur eine Frau lesen kann, die der
+größten Neuigkeit ihres Lebens auf der Spur ist.</p>
+
+<p>„Ich habe das süßeste, reizendste, entzückendste Mädel von der Welt
+kennen gelernt .... Durch Großpapa. Der verkehrt mit den Eltern. Er
+sagt, Ihr kennt sie auch und lacht immer ganz verschmitzt dabei.
+Übrigens hat er immer noch die Marotte mit den Ansichtskarten ....“</p>
+
+<p>Der Teufel hole seine Ansichtskarten! Was ist das für ein Mädel?</p>
+
+<p>„Die Eltern haben ein Geschäft. Ein sehr <em class="gesperrt">gutes</em> Geschäft.
+<span class="antiqua">NB.</span> Sie ist das <em class="gesperrt">einzige</em> Kind, heißt Mieze — ist das
+nicht reizend? Mieze <em class="gesperrt">Hinzelmann</em>. Ihr müßt sie Euch so denken
+....“</p>
+
+<p>Anton Brömmelmann saß erstarrt. „Hinzelmann, doch nicht <em class="gesperrt">unser</em>
+....?“</p>
+
+<p>Der Blick der Mutter war bis zum Schluß des Briefes geflogen.</p>
+
+<p>„Das Geschäft, liebe Eltern, von dem ich oben sprach, ist ja ein
+bißchen sonderbar. Lieber Gott, <em class="gesperrt">alles</em> kann nicht Poesie sein
+in der Welt, nicht wahr? Es gibt auch Dinge, die ... Aber der alte
+Herr Hinzelmann — übrigens ein famoser Kerl; <em class="gesperrt">fast</em> so nett,
+wie <em class="gesperrt">mein</em> alter Herr — der meint: Geschäft ist<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> Geschäft.
+Ich hab’ mit ihm gesprochen. Er ist <em class="gesperrt">sehr</em> einverstanden.
+<em class="gesperrt">Seinen</em> Segen habe ich schon. Einzige Bedingung, ich muß später
+das <em class="gesperrt">Geschäft</em> übernehmen....“</p>
+
+<p>Annemarie ließ den Brief sinken. Sie sah nach Anton Brömmelmann, der,
+ein Bild schöner aber tiefer Resignation, in seinem Sessel saß.</p>
+
+<p>„Hast du gehört, Vater?“</p>
+
+<p>Er nickte bloß.</p>
+
+<p>Aber die treue Lebensgefährtin schien anzunehmen, daß der Schweigsame
+zwar gehört, aber nicht verstanden habe. Sie legte ihm die Hand auf die
+Schulter und rüttelte ihn sanft, als wolle sie ihn aus einem erst halb
+überwundenen Schlummer zur Wirklichkeit wecken.</p>
+
+<p>„Anton — das Geschäft — <em class="gesperrt">unser</em> Geschäft — —“</p>
+
+<p>Die Züge des Versteinerten belebten sich. Den Lippen entfuhr ein
+Zischlaut, wie ihn ungeduldige Lokomotiven knapp vor der Abfahrt hören
+lassen. Dann bildete der Sprechapparat Worte, tonlos, mechanisch, wie
+einem Uhrwerk gehorchend und ohne seelische Beteiligung:</p>
+
+<p>„Mutter <em class="gesperrt">dafür</em> bin ich ausgewandert, <em class="gesperrt">dafür</em> hab’ ich
+<em class="gesperrt">Latein</em> gelernt und die punischen Kriege und habe Kegelschnitte
+berechnet, damit mir ...“</p>
+
+<p>„Geh’, Alter!“ Die Mutter legte ihm den Arm um den Hals. „Wenn er sie
+doch <em class="gesperrt">gar</em> so gern hat!“</p>
+
+<p>Aber Anton Brömmelmann dachte in diesem Augenblick nicht an den Sohn.
+Er sah mit seines Geistes Augen den Vater, <em class="gesperrt">seinen</em> Vater voll
+Stolz ein Zeitungsblatt<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> auseinander falten. Eine ganzseitige Annonce
+im Tageblatt: „Urteile von Hygienikern, Professoren, Künstlern über
+Anton Brömmelmanns weltberühmte ...“</p>
+
+<p>„Wir wollen ihm telegraphieren,“ mahnte die Mutter.</p>
+
+<p>„Ja, ja.“</p>
+
+<p>Anton Brömmelmann ermannte sich.</p>
+
+<p>„Ich will einen — Glückwunsch aufsetzen. Gib mir ein Stückchen
+Porzellan — wollt’ ich sagen: ein Stück Papier.“</p>
+
+<p>Und Anton Brömmelmann sandte an die Adresse seines alten Geschäftes dem
+beinah studierten Sohne seinen väterlichen Segen.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p126">
+ <img class="w100 mbot3" src="images/p126.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span></p>
+
+<h2 class="trans" id="Der_rote_Esel" title="Der rote Esel Ein lyrisches
+Intermezzo">Der rote Esel Ein lyrisches Intermezzo</h2>
+
+<figure class="figcenter illowe28" id="p127">
+ <img class="w100" src="images/p127.jpg" alt="Titel: Der rote Esel; Ein
+ lyrisches Intermezzo">
+</figure>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span></p>
+
+<p class="p0 mtop2"><span class="initial">C</span>hristian Fürchtegott Gellert hat eine sehr schöne Geschichte von einen
+grünen Esel zu erzählen gewußt. Ich maße mir durchaus nicht an, mit
+Christian Fürchtegott Gellert in der Kunst zu fabulieren, konkurrieren
+zu können. Aber eine Geschichte von einem Esel kann ich auch erzählen.</p>
+
+</div>
+
+<p>Gewöhnliche Esel sind, wenn ich mich nicht täusche, alle grau.
+Christian Fürchtegott Gellerts Esel ist grün. Mein Esel aber ist rot.
+Das mag einem Skeptiker — und wer ist in unserer Zeit nicht Skeptiker?
+— ein bißchen unwahrscheinlich vorkommen, und Brehms Tierleben gibt
+seinem Zweifel in der kleinen wie in der großen Ausgabe scheinbar
+recht. Trotzdem ist, wie ich nachdrücklich bemerke, ein ungläubiges
+Lächeln meiner Angabe gegenüber äußerst frivol und tadelnswert, denn
+ich spreche nicht von einem wirklichen, lebendigen Esel, sondern meine
+Geschichte handelt von einem Gummiesel. Und wer kann der Phantasie
+eines Gummispielzeugfabrikanten Vorschriften machen? Warum, frage
+ich, soll sich ein erfinderischer Kopf<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> nicht nach Analogie eines
+<em class="gesperrt">grauen</em> Esels auch einen <em class="gesperrt">roten</em> Esel denken können?</p>
+
+<p>Ja, wenn ich mir die Sache recht überlege, muß ich sagen, ein roter
+Esel hat ebensogut seine Existenzberechtigung wie ein grauer Esel,
+und es erscheint mir unter gewissen Gesichtspunkten als ein Loch
+im Schöpfungsplan, daß diese liebreiche und gern zu Vergleichen
+herangezogene Tierklasse nicht auch eine rote Spielart aufwies, als
+sie im Paradiesgarten erschien. Doch lassen wir die theologischen
+Spitzfindigkeiten, die uns das Vergnügen an meiner kleinen Geschichte
+verderben könnten, ehe sie begonnen.</p>
+
+<p>Es gibt also einen roten Gummiesel, eine kleine und zierliche
+Miniaturausgabe des ergötzlichen Haustiers. Dieser kleine rote
+Gummiesel ist vor nicht allzulanger Zeit in den Besitz meiner einzigen
+Erbin übergegangen, die ihre Bewunderer noch jeden Morgen empfangen
+darf, wenn sie selbst in der — Badbütte sitzt und sich damit
+unterhält, ihre Umgebung so naß zu machen, als es sich in zehn Minuten
+heißen Bemühens durch heftige Bewegungen zweier runder Beinchen und
+zweier ebensolcher Ärmchen irgend bewerkstelligen läßt. Meine Erbin
+ist nämlich noch kein Jahr alt. Und das nimmt der Historie jeden
+unmoralischen Beigeschmack.</p>
+
+<p>Der rote Gummiesel ist ein sinniges Weihnachtsgeschenk, das meiner
+Tochter von ihrem leiblichen Vater gemacht wurde.</p>
+
+<p>Ich hatte vier Wochen vor Weihnachten angefangen,<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> für das damals
+sieben Monate alte Baby ein passendes Präsent auszuwählen. Spielzeug
+von Holz, Stein, Wolle und Papier hatte ich schon in fünf Läden prüfend
+durcheinander geworfen, ohne mich für ein bestimmtes entscheiden zu
+können. Mein zärtliches Vatergemüt litt nämlich unsägliche Qualen unter
+der fixen Idee, daß diese Spielzeuge alle <em class="gesperrt">abfärben</em> müßten,
+wenn das Kind sie nach Kinderart in den Mund steckte. Daß diese
+Farben furchtbare Giftstoffe enthielten, war für meine Phantasie eine
+ausgemachte Sache; und daß ich mein Baby durch mein Weihnachtsgeschenk
+in Lebensgefahr bringen könnte, war ein Gedanke, der mir fortgesetzt
+den Hirnkasten umstülpte und den kalten Schauder über den Rücken laufen
+ließ.</p>
+
+<p>Einmal träumte ich sogar, ich sei des verbrecherischen Versuches
+angeklagt, meinem Kind einen ausgestopften Vogel, an dem Arsenik
+klebte, in den Mund gesteckt zu haben, um das Vermögen des Onkels Ignaz
+allein verprassen zu können. Nun hat Onkel Ignaz zwar kein Vermögen,
+aber drei Kinder, die es erben würden, <em class="gesperrt">wenn</em> er’s hätte. Mein
+Traum war also so dumm als möglich. Aber, wenn schon ich am nächsten
+Morgen meiner Frau gegenüber mein Gestöhn in der Nacht ins Lächerliche
+zu ziehen suchte, gab ich doch Befehl, daß die beiden ausgestopften
+Möwen von dem Schrank im Eßzimmer unverzüglich entfernt und auf den
+Boden geschafft würden.</p>
+
+<p>Meine Frau sprach zwar schüchtern die Vermutung aus, das in der
+nächsten Zeit unser Baby noch kaum<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> auf den Schrank klettern werde, um
+an den Möwen zu lutschen, aber ich blieb fest. Die beiden Möwen kamen
+auf den Speicher; und ich bin erst vor einigen Tagen maßlos über die
+dummen Vögel erschrocken, als ich die Dachfenster schließen wollte und
+plötzlich die weißen, gespensterhaften Tiere unbeweglich in einer Ecke
+sitzen sah.</p>
+
+<p>Weihnachten rückte immer näher.</p>
+
+<p>Es roch schon verdächtig nach verbranntem Lebkuchen, und meine Frau
+duftete immer nach Zitronat, wenn ich sie küßte. Aber ein Geschenk
+für mein Baby hatte ich noch immer nicht. Für die Bekleidung und den
+Putz sorgten sicherlich die beiden Großelternpaare. Der unvermeidliche
+silberne Löffel war ihm auch sicher.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Mein</em> Geschenk aber sollte das Kind erfreuen, wahrhaft beglücken.
+Das tut doch ein silberner Löffel nicht! Es mußte etwas ganz
+Außergewöhnliches sein.</p>
+
+<p>Ich lief sehr aufgeregt mit heißem Kopf und kalten Füßen durch die
+verschneiten Straßen und sann dem „Außergewöhnlichen“ nach.</p>
+
+<p>Eine Peitsche — eine Puppe — ein Pferdelos — ein Glasschränkchen —
+eine Taschenuhr — eine Gartenschippe — eine Stehlampe — ein Freßkorb
+— ein Kanarienvogel — eine Niobe — ein Tintenfaß — ein Album — ein
+Kistchen Zigarren — das ging doch alles nicht! Gott, was für herrliche
+Präsente fielen mir ein für Nichtraucher und Raucher, für alte Jungfern
+und hypochondrische Junggesellen, für Primaner und höhere Töchter, für
+Kavallerieleutnants und Urgroßmütter!<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> Nur für mein siebenmonatiges
+Töchterchen fiel mir um die Welt nichts ein; und ich stand auf dem
+Punkte, mir selbst einige auserlesene Grobheiten zu widmen.</p>
+
+<p>Da plötzlich geschah „das Wunderbare“, wie Ibsens Nora sagen würde. Das
+Wunderbare, um das ich mich nun seit Wochen unter ernster Gefährdung
+meiner Gesundheit bemühte. Mit großen, lichtvollen Buchstaben stand
+plötzlich über dem Chaos in meinem Gehirn der erlösende Satz: Ich
+schenke ihr einen roten Esel, einen roten Gummiesel!</p>
+
+<p>Wie diese Erleuchtung mir so plötzlich kam? Dafür gibt es eine
+übernatürliche Erklärung und eine natürliche. Die übernatürliche
+Erklärung lautet: „Wahre Erleuchtungen kommen immer plötzlich und von
+oben,“ die natürliche aber besagt: „Ich hatte den roten Esel eben
+gesehen.“</p>
+
+<p>Ja, er stand in ganzer Wildheit und Schönheit zwischen Püppchen mit
+kurzen Röcken, Hampelmännern, Klistierspritzen und anderem, teils
+erfreulichem, teils nützlichem Hausgerät im Erker eines Gummigeschäfts.
+Wie Romeo seine Julia liebte vom ersten Augenblick süßen Schauens an,
+so wußte ich vom ersten Blick, der dieses Abbild bescheidener Sanftmut
+gefunden: Dieser rote Esel ist das einzige wahrhaft würdige Geschenk,
+das ein Vater seiner einzigen und darum auch ältesten Tochter machen
+kann!</p>
+
+<p>Als ich in dem Laden stand, erwies sich’s, daß dem liebenswürdigen
+Verkäufer das Hervorkramen des<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> roten Freundes aus dem Erker viele
+Mühe und wenig Freude bereiten mußte. Er empfahl mir darum einen
+gelben Ziegenbock mit vieler Wärme, ja, er war sogar geneigt, mir zwei
+Gummistöpsel drein zu geben, wenn ich mein Gelüste nach dem roten Esel
+bezwingen und mich für den Ankauf des gelben Ziegenbocks entscheiden
+könnte.</p>
+
+<p>Aber wer kennt die Gefühle eines Vaters, der für sein Kind den Freund
+gewählt hat! Ich <em class="gesperrt">hatte</em> gewählt und ließ mich selbst durch die
+glänzende Offerte dieses koulanten Geschäftsmannes, der elastisch war
+wie sein Gummi und beständig lächelte, wie ein Äginet, nicht umstimmen.</p>
+
+<p>„Ich bitte um den roten Esel,“ sagte ich fest.</p>
+
+<p>Der Jünger Merkurs kroch nun seufzend in den geräumigen Erker.</p>
+
+<p>Sehr zur Belustigung der draußen versammelten Jugend fielen ihm
+zunächst einige bunte Kopfbälle auf den Schädel und ergingen sich
+dann in scherzhaften Sprüngen über den Boden. Dann trat er in eine
+Bettpfanne, aus der sich der Fuß nicht ohne Schwierigkeit befreien
+ließ, und stieß einige Rollen Linoleum gegen die Scheiben, was ihm
+von draußen geräuschvolle Ovationen eintrug, die er mit verächtlichen
+Worten ablehnte.</p>
+
+<p>Ziemlich ergrimmt, mit derangierter Frisur und sehr staubigen Händen,
+aber noch immer lächelnd, entstieg er schließlich dem Schaukasten und
+brachte meinen roten Esel richtig mit.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span></p>
+
+<p>Es stellte sich zu meinem namenlosen Entzücken heraus, daß das seltene
+Gummitier, dank einer sinnreichen Mechanik, wenn man ihm den Bauch
+einquetschte, sogar einen kurzen, pfeifenden <em class="gesperrt">Ton</em> von sich
+geben konnte, der zwar jeder Lieblichkeit entbehrte, auch den Eseln
+sonst nicht eigentümlich ist, aber trotzdem meinen Stolz auf dieses
+merkwürdige Geschenk ins Ungemessene steigerte.</p>
+
+<p>Ein Siegerlächeln auf den Lippen, kam ich, meinen Schatz behutsam in
+ein verschwenderisch großes Stück Papier gehüllt, nach Hause.</p>
+
+<p>Die Suppe schmeckte seltsamerweise heute nach Zitronat, was bei Suppen
+kein sympathischer Geschmack ist.</p>
+
+<p>„Aber, Eduard, denke doch, vor Weihnachten!“ sagte meine Frau
+vorwurfsvoll, da sie mein wohl nicht allzu entzücktes Gesicht gesehen.</p>
+
+<p>„Natürlich! Vor Weihnachten!“ gab ich vergnügt zurück, dachte an meinen
+köstlichen Gummiesel und löffelte die Suppe, die immer noch nach
+Zitronat schmeckte, bedächtig aus.</p>
+
+<p>Weihnachten kam.</p>
+
+<p>Ich hatte goldene Finger vom Nüssevergolden und ging den ganzen Tag
+sehr wichtig und sehr zwecklos mit dem Christbaumanzünder im Arm mit
+feierlichen Schritten umher, mich immer auf meine schwierige Aufgabe
+vorbereitend.</p>
+
+<p>Eine Menge Verwandter aller Jahrgänge lief in den Zimmern eilfertig und
+geräuschvoll durcheinander.<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> Sie waren alle erschienen, um zu sehen,
+„was Baby für Augen machen wird“. Ich sah ihnen aber an ihren Augen an,
+daß jedes von ihnen überzeugt war, <em class="gesperrt">sein</em> Geschenk werde Baby am
+meisten zusagen.</p>
+
+<p>Ich lächelte hochmütig. Stand doch schon der rote Gummiesel bereit, und
+der — das wußte ich, als ob’s im Katechismus stände — war einfach
+nicht zu übertreffen, einmal durch seine ureigene Schönheit, durch die
+Reize von Figur und Farbe, und zum zweiten als Geschenk des leiblichen
+Vaters!</p>
+
+<p>Die Sache kam leider anders!</p>
+
+<p>Baby in langem Spitzenkleidchen auf dem Arm der Mutter ins Festzimmer
+eingeführt, betrachtete eine Weile mit sichtlichem Erstaunen den hohen,
+lichtergeschmückten Baum — was beide Großmütter, die in atemloser
+Spannung, mir den Platz versperrend, dabeistanden, als ein untrügliches
+Zeichen unerhörter geistiger Befähigung begrüßten. Dann aber griff es
+seiner Mutter meuchlings in die Haare — was sofort als Betätigung
+einer in so zartem Alter bewunderungswürdigen Energie gedeutet wurde.
+Und schließlich gewahrte es <em class="gesperrt">mich</em> und — <em class="gesperrt">lachte</em>.</p>
+
+<p>Ich war natürlich sehr stolz, bahnte mir einen Weg zu dem lieben
+Blondköpfchen und begann ihm mit großer Beredsamkeit in zuvorkommender
+Weise seine Geschenke zu erläutern.</p>
+
+<p>„Hier, mein Goldkind, die Windelhöschen von der Großmama, und hier die
+hübsche Veilchenwurzel mit silbernem Griff, auch von der Großmama. Ja,
+du<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> hast eine gute — nein, was sag’ ich, du hast <em class="gesperrt">zwei</em> gute
+Großmamas! Hier, mein Liebling, Kleidchen von der anderen Großmama. Und
+der Löffel, natürlich auch da, der schöne silberne Löffel. Und hier das
+Hütchen von der guten Mama und — ja, jetzt paß auf, mein Schatz, sieh
+hier das prächtige, rote Eselchen! Das — ist — von — Papa!“</p>
+
+<p>Der Kreis der Verwandten nickte beifällig.</p>
+
+<p>„Er hat’s ganz allein ausgesucht,“ kommentierte meine Frau.</p>
+
+<p>Ein Gemurmel bewundernden Beifalls über mich und den roten Esel drang
+mir wohltuend ans Ohr.</p>
+
+<p>Und das Baby?</p>
+
+<p>Ja, das war merkwürdig mit dem Kind. Nicht einen Blick warf es auf die
+Herrlichkeiten, die ihm das Christkind bescherte. Es hatte auf meinem
+Vorhemd den goldenen Hemdenknopf entdeckt und ging auf in Bewunderung
+dieses merkwürdigen, glitzernden Phänomens.</p>
+
+<p>Ich ließ den Esel quietschen, bis meine Damen sich die Ohren zuhielten
+und mein Schwiegervater mich im Namen aller Heiligen beschwor, den
+Unfug sein zu lassen, weil er sonst Zahnschmerzen bekäme, noch bevor er
+von unsern Lebkuchen gekostet. Das Baby aber hörte nicht auf die Töne,
+sondern beobachtete unausgesetzt den interessanten Hemdenknopf, der die
+Brust seines Vaters zierte.</p>
+
+<p>Als ich Miene machte, mich und damit zugleich das Objekt seiner
+Bewunderung von dem Baby zu<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> entfernen, begann das Kind ein
+jämmerliches Geschrei. Beide Großmütter fanden mein Benehmen dem Kind
+gegenüber „barbarisch“, eines zivilisierten Mannes durchaus unwürdig.
+Und die Familie ruhte erst, als ich mich und den heißgeliebten Knopf
+wieder vor das Kind postierte und mir von den naßgelutschten Fingerchen
+feuchte Bahnen über meine frische Hemdenbrust zeichnen ließ.</p>
+
+<p>Hinter mir blies mein Schwiegervater die Lichter auf den Tannenzweigen
+aus. Was mich sehr beunruhigte, da meine Furcht vor einem Gardinenbrand
+so groß ist, daß sie sprichwörtlich in unserer Familie werden konnte.</p>
+
+<p>Bis Baby zur Ruhe gelegt wurde, hatte es nur Sinn für meinen
+Hemdenknopf, den ich innerlich, obwohl er von Gold war, zu allen
+Teufeln wünschte. Ich hatte den verdammten Knopf schon so <em class="gesperrt">oft</em>
+getragen, ohne daß Baby geruhte, ihn zu bemerken. Und nun gerade an
+Weihnachten mußte dieser alberne, protzige Kerl da auf meiner Brust dem
+Kinde ins Auge stechen! <em class="gesperrt">Zu</em> dumm!</p>
+
+<p>Einsam und verlassen aber stand drin im Bescherzimmer unter dem
+Tannenbaum mein Stolz, meine Freude, mein genialer Einfall, mein Retter
+aus Nöten, mein außerordentliches Festgeschenk, diese Seltenheit mit
+Musik: der rote Gummiesel&#8239;...</p>
+
+<p>Für jeden, der logisch denken gelernt hat, ist es ganz
+selbstverständlich, daß ich an den folgenden Festtagen den miserablen
+Knopf durch eine üppige Krawatte<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> verdeckte und das Baby nunmehr mit
+seinem roten Esel zu befreunden suchte. Ich ahnte nicht, welchen
+Schmerz mir das ungetreue Tier, das ich ins Herz meiner Tochter zu
+schmeicheln emsig bemüht war, noch bereiten sollte!</p>
+
+<p>Baby machte in diesen Tagen die ersten Sprechversuche. Mutter und Vater
+lauschten verhaltenen Atems entzückt dem endlosen Kauderwelsch, das
+von dem lieben Kindermäulchen aus den einfachen Silben „Pa“ — „Ma“
+und „Da“ zusammengesetzt wurde. Im Wägelchen lag die Kleine unter dem
+Christbaum, fast selbst wie ein niedliches Christgeschenk, und übte
+sich ohne Ermüden in ihrer Sprache, die allerdings noch für den Satz
+des Fürsten Talleyrand, daß die Sprache dazu da sei, die Gedanken zu
+verbergen, als Beweis angeführt werden konnte.</p>
+
+<p>Ich benutzte meine freie Zeit eifrig dazu, dem Baby beizubringen,
+die schwierige Silbe „Pa“ ohne jede Beimischung anderer phonetischer
+Kunststücke zweimal, nur zweimal, rasch hintereinander zu setzen,
+wodurch das Wort „Papa“ entstehen sollte. Leider ging das
+autodidaktische Bestreben des kleinen Dickkopfs lange seine eigenen
+Wege; entweder wiederholte das Baby die verlangte Silbe <span class="antiqua">ad infinitum</span>
+oder es stieß sie zum mindesten fünfmal rasch hintereinander hervor.
+Beides war unerwünscht.</p>
+
+<p>Da ließ endlich mein erfinderischer Geist den roten Gummiesel in die
+Belehrung und Erziehung tätig eingreifen. Immer wenn das schöne Wort
+beginnen und<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> wenn es enden sollte, ließ ich den Esel durch energisches
+Eindrücken seiner Bauchwände mörderisch aufquieksen, und siehe da: es
+ging! Baby sagte deutlich: „Pa—pa“.</p>
+
+<p>Das heißt, eigentlich war die Sache so: „Quieks“ machte der Esel,
+„Pa—pa“ begann das Kind, „Quie—i—i—i—i—ks“ endigte der Esel. Das
+Baby staunte und schwieg. So ward das Wort Papa geboren!</p>
+
+<p>Überrascht und hochbeglückt von dem Erfolg kam ich mit meiner Frau
+überein, daß die beispiellose Gelehrsamkeit unseres Kindes noch heute
+einem größeren Kreis von Verwandten demonstriert werden müsse. In einer
+Großstadt hat man seine Leute ja rasch beisammen! Wozu hat man das
+Telephon?</p>
+
+<p>Schon nach einer halben Stunde waren, obgleich ich mich einmal
+irrtümlich längere Zeit mit einem Sargmagazin und ein anderes Mal mit
+einem Schweinemetzger, der sehr grob war, verbunden sah, so ziemlich
+alle Verwandten zum Tee geladen, mit Ausnahme einer alten Tante, die im
+gewöhnlichen Verkehr sehr wenig und am Telephon gar nichts hörte, wenn
+schon sie leidenschaftlich gern telephonierte. Diese Tante suchte ich
+per Droschke auf und auch sie versprach zu kommen.</p>
+
+<p>Es war ordentlich feierlich, als wir in zwei dichten Reihen am
+Nachmittag gegen 5 Uhr um Babys gelben Korbwagen standen.</p>
+
+<p>Ich hatte meinen Platz ganz vorne genommen und<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> wurde von allen sehr
+respektvoll behandelt. War ich es doch, der dieses erstaunliche
+Erziehungsresultat erzielt hatte und die Vorführung leiten sollte.</p>
+
+<p>Ich befahl allen durch eine gebietende Handbewegung lautlose Stille an
+und bat meine Frau, mir den Gummiesel vom Tisch zu reichen, den ich in
+meiner Vergeßlichkeit dort hatte liegen lassen.</p>
+
+<p>„Der Gummiesel, wo ist der Gummiesel?“ ging es durch die Zuschauer.</p>
+
+<p>Mein Schwiegervater aber machte die unnütze Bemerkung: „Braucht’s denn
+den roten Gummiesel, um — Papa zu sagen?“</p>
+
+<p>Ich weiß nicht warum, aber dieser Ausspruch berührte mich peinlich.
+Doch wurde ich rasch wieder sehr vergnügt gestimmt, als das auserlesene
+Kunststück über alles Erwarten prächtig gelang.</p>
+
+<p>„Quieks“ machte der Esel, „Pa—pa—“ begann das Baby,
+„Quie—i—i—i—i—ks“ endigte der Esel in schrillem Mißklang rasch den
+kurzen, aber ergötzlichen Dialog.</p>
+
+<p>Man beglückwünschte mich stürmisch, küßte mich und das Kind mit viel
+Gefühl, bis das Kind schrie und ich große Lust hatte, auch zu schreien.</p>
+
+<p>Ein bildschöner Dompteur in fleischfarbenem Trikot und
+Schuppenpanzerhöschen kann nicht <em class="gesperrt">so</em> gefeiert werden, wenn er
+nach der Dressur den Käfig der Löwen und Königstiger verläßt, die auf
+seinen Wink durch brennende Pechreifen gesprungen sind.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span></p>
+
+<p>Ich war maßlos stolz auf das Kind, auf mich und auf den roten Esel.</p>
+
+<p>Nach dem Tee zog mich mein Schwiegervater mit feierlichem Ernst in eine
+Fensternische.</p>
+
+<p>„Sag’ mal, Eduard,“ begann er in einem fast beleidigend mitleidigen
+Ton, „glaubst du, daß das Kind auch ‚Papa‘ sagt, wenn es den —
+<em class="gesperrt">andern</em> nicht sieht?“</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Welchen</em> — andern?“</p>
+
+<p>„Nun, den roten Gummiesel.“</p>
+
+<p>Ich erschrak, faßte mich aber sofort wieder, und den alten Herrn mit
+einer entrüsteten Armbewegung in den Blumentisch schiebend, ging ich an
+ihm vorbei und sprach nur die geflügelten Worte: „Es lernt’s!“</p>
+
+<p>Das war nun leider eine Täuschung meinerseits.</p>
+
+<p>Der alte Herr hatte recht gehabt, wie ich am nächsten Morgen erfahren
+sollte. Ich hätte es gern noch am Abend erprobt, aber meine Frau
+überzeugte mich von der Ruchlosigkeit meines Vorhabens, dem armen Kind
+am späten Abend „noch das Gehirn anzustrengen“. Am nächsten Morgen
+aber, wie gesagt, stand ich nach wenig erquicklicher Nacht früher auf
+und probierte.</p>
+
+<p>Richtig, das Baby sagte zu dem roten Esel „Papa“, sobald es seiner
+ansichtig ward. Mich aber ignorierte es gänzlich, wenn ich allein kam.
+Ja sogar mein goldener Hemdenknopf machte keinen Eindruck mehr.</p>
+
+<p>Tief bekümmert zog ich meine Frau ins Vertrauen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p>
+
+<p>Ich war sehr niedergeschlagen und kam mir nicht anders vor, als der
+unglückliche König Midas, da ihm die Ohren erstaunlich über den Kopf
+wuchsen.</p>
+
+<p>Meine Frau zweifelte noch. Ein Versuch erwies die unumstößliche,
+traurige Wahrheit.</p>
+
+<p>Wir beratschlagten und sprachen dabei französisch, was zwar die
+Verhandlungen nicht vereinfachte, aber immerhin die Garantie bot, daß
+unser Kindermädchen, das ab- und zuging, nicht hinter das peinliche
+Geheimnis kam.</p>
+
+<p>Zunächst — darin waren wir einig — mußte das Baby dieses bedauerliche
+Kunststück wieder verlernen. Dazu war eine sofortige Verbannung des
+roten Esels die erste, die unerläßliche Bedingung. Dann mußten die
+lieben Anverwandten beruhigt werden, die den Repetitionen zweifellos
+häufig beiwohnen wollten. Und endlich mußte meinem Schwiegervater eine
+Erklärung an Eides Statt abgenötigt werden, daß er lieber sich die
+Zunge abbeißen, als die Geschichte von dem roten Esel am Stammtisch zum
+besten geben wollte.</p>
+
+<p>Diese drei Verhaltungsmaßregeln wurden denn auch befolgt.</p>
+
+<p>Zur Verwunderung der lieben Anverwandten hatte Baby plötzlich
+das schwierige Wort wieder vergessen, und der rote Esel war —
+seltsames Zusammentreffen — zur selbigen Zeit auf rätselhafte Weise
+verschwunden&#8239;...</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span></p>
+
+<p>Wenn ich im verborgenen Schubfach meines Stehpultes zuweilen den
+vergeblichen Versuch mache zu „ordnen“, fällt mir immer der rote Esel
+in die Hände.</p>
+
+<p>Die Gefühle des Ärgers und der Enttäuschung sind im Herzen verflogen,
+und ich versenke mich lächelnd in den Anblick des seltenen Tieres. Ich
+beschaue es mit jener behaglichen Freude, wie sie die Erinnerung an
+überstandene schwere Prüfungen zu schenken liebt.</p>
+
+<p>Wenn dann aber plötzlich nebenan die Stimme meines Babys ertönt,
+dann klappe ich den Pult zu wie ein ertappter Verbrecher, spähe nach
+allen Seiten umher, ob auch niemand meine Gedanken belauscht hat und
+betrete dann mit gut gespielter Ahnungslosigkeit, die Hände in den
+Hosentaschen, einen Walzer pfeifend, das Kinderzimmer.</p>
+
+<p>Baby streckt die lieben, dicken Händchen nach mir aus und ruft: „Papa!“</p>
+
+<p>Ich aber lächele verschmitzt und bin stolz, daß ich doch recht
+hatte, als ich meinen Schiwegervater in den Blumentisch drückte und
+zuversichtlich behauptete:</p>
+
+<p>„Es <em class="gesperrt">lernt’s</em>!“</p>
+
+<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p144">
+ <img class="w100 mbot3" src="images/p144.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p>
+
+<h2 class="trans" id="Des_letzten_von_Birkowitz" title="Des letzten von
+Birkowitz letztes Fest">Des letzten von Birkowitz letztes Fest</h2>
+
+<figure class="figcenter illowe28" id="p145">
+ <img class="w100" src="images/p145.jpg" alt="Titel: Des letzten von Birkowitz
+ letztes Fest">
+</figure>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p>
+
+<p class="mtop2">„... und schließlich: man bekommt doch nicht Kinder, bloß um ihnen
+Gutes zu tun.“</p>
+
+<p>Damit schloß er immer seine Beweisführung gegen seine eigene
+ungestillte Sehnsucht nach lebendiger Jugend, nach Nachwuchs, nach
+Menschlein mit stahlblauen Augen, wie er, und seinetwegen auch mit der
+klassischen Nase seiner Frau.</p>
+
+</div>
+
+<p>„Man hat ja überhaupt gar keine Ahnung, wie sie wachsen und sich
+entwickeln werden. Sind es Jungens — pfui Deubel, das verdammte Latein
+und später ’nen Ekel von Oberst, saudumme Rekruten und hartmäulige
+Remonten ... Denn Kavalleristen müssen die Kerls werden. Versteht sich!
+Und sind es Mädels, dann diese dämliche Erziehung mit Christkind und
+Klapperstorch und französischer Konversation; und nachher wegen eines
+aufgewirbelten Schnurrbarts und eines kecken Männerlachens hinter
+gesunden Zähnen geht so was — natürlich nach obligatem Vatersegen,
+Trauung und Hochzeitsschmaus im Kaiserhof zu 25 Mark das trockene
+Kuvert — auf und davon. Irgendwohin ans andere Ende der Welt. Und
+schließlich ein verzweifelter Brief:<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> Der Kerl trinkt und verjuckert
+die Mitgift; und die ganzen schönen Manieren waren bloß Politur des
+Bräutigams, hinter der ein roher Rüpel steckte ...“</p>
+
+<p>Klaus Joachim von Birkowitz konnte ganz wütend werden, wenn er sich so
+ausmalte, in wie rüde Hände eines seines Töchterlein, die er gar nicht
+hatte, fallen konnte.</p>
+
+<p>Man erspart sich vieles und — den andern, das war das Ende seiner
+philosophischen Betrachtungen in dieser Richtung. Und der Name? Pah,
+die Mädels hätten ihn doch abgestreift wie ’nen alten Handschuh,
+umgetauscht ohne zu muxen. Oder in einem Damenstift erlöschen lassen.
+Und die Jungens — weiß der Himmel, ob die verdammten Bengels das
+Wappen noch blank gehalten hätten. Er hatte neulich mal eine Statistik
+gelesen über den Prozentsatz der Adligen in der Sozialdemokratie. Und
+wenn alle die Adligen Kellner und Schuhputzer europäischer Abkunft,
+von denen die demokratischen Zeitungen alle paar Wochen hohnlächelnd
+berichteten, wirklich da drüben auf dem üblen Proleten-Kontinent
+existierten, dann war es schlechterdings unmöglich, sich zwischen
+Neufundland und Kalifornien die Stiefel auch nur ein <em class="gesperrt">einziges</em>
+Mal von einem Bürgerlichen wichsen zu lassen.</p>
+
+<p>Das fehlte gerade noch, daß der letzte Enkel jenes Klaus Bitterolf von
+Birkowitz, der bei Malplaquet, durch die rechte Hand geschossen, die
+Zügel mit den Zähnen nahm und am Prinzen Eugen vorbei als erster in die
+Franzosen ritt, irgend so einem dickwanstigen<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> Bierbrauer von St. Louis
+für ein schäbiges Trinkgeld die Unterhosenbändel in die Zugstiefel
+stopfte!&#8239;...</p>
+
+<p>Manchmal kam ihm ja auch der schüchterne Gedanke, diese Söhne seines
+Blutes, zu deren Lieferung sich seine Gattin Ethel in langer,
+chancenreicher Ehe nicht entschließen konnte, wären bedeutende Menschen
+geworden, Kriegshelden, wie jener Klaus Bitterolf von dem Malborough
+— sogar auf englisch! — nach der Schlacht gesagt haben sollte: „Wie
+geht es Ihnen, mein Braver?“ Oder — hier war seine Phantasie schon
+unsicherer — große, verdienstvolle Gelehrte, wie jener allerdings
+einer Nebenlinie entsprossene Hans Christoph von Birkowitz, der
+laut verläßlicher Chronik zu Marburg dabei stand, als Dionys Papin
+den nützlichen Papinschen Topf erfand. Bei welcher Gelegenheit dem
+helfenden Schüler allerdings ein splitternder Teil des den Topfdeckel
+verschließenden Bügels ins Auge gesprungen sein soll, so daß er auf
+dem einzig erhaltenen Kupferstich mit einer unschönen Binde über
+dem rechten Auge dargestellt erscheint. Und wenn Klaus Bitterolf
+von Birkowitz sich des entstellten Gesichtes dieses ruhmreichen
+Ahnherrn entsann, so war er dem Himmel wieder dankbar, der es seinen
+Söhnen verwehrt hatte in die Erscheinung zu treten und aus ererbter
+unstillbarer Wißbegier gefährlichen Experimenten sehr berühmter aber
+auch sehr herzloser Gelehrter persönlich beizuwohnen.</p>
+
+<p>Wenn er jemals Ethel gegenüber etwas merken ließ von jenen so stillen
+wie unerfüllten Wünschen<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> nach Kindern, gleichviel welchen Geschlechts
+und welcher Veranlagung, so pflegte die Gattin an ihrem Halse zu
+fühlen, ob die Brosche noch saß, die Ringe an der sorgfältig gepflegten
+Hand spielen zu lassen und mit schelmischem Lächeln zu trösten:</p>
+
+<p>„Aber geh, schau, du hast doch den Tobby!“</p>
+
+<p>Und das war richtig, er <em class="gesperrt">hatte</em> den Tobby.</p>
+
+<p>Und es war auch keinerlei Gefahr, daß er den Tobby eines Tages
+<em class="gesperrt">nicht</em> mehr haben könnte. Denn Tobby war einfach unsterblich.
+Unsterblich im Sinne der Königin von Frankreich. „<span class="antiqua">Le roi est mort —
+vive le roi!</span>“</p>
+
+<p>Tobby war ursprünglich ein Wachtelhündchen gewesen, das Klaus Bitterolf
+von Birkowitz seiner Braut Alice Sternheim — die sich aus nie recht
+aufgeklärten Ursachen vom Tage ihrer Verlobung mit dem hübschen,
+schlanken Kürassierleutnant „Ethel“ nennen ließ — als Brautgeschenk
+verehrt hatte. Ein mehr gut gemeintes als nützliches Präsent, da
+Tobby, der in minder vornehmer Umgebung, nämlich im Stall eines
+Droschkenkutschers aufgewachsen war, die Perserteppiche der Wohnung
+des Bankiers Sternheim mit Vorliebe zur Erledigung von unerfreulichen
+Geschäften benutzte, deren Besorgung in einem Pferdestall weniger
+peinlich auffällt.</p>
+
+<p>Während Klaus Bitterolf von Birkowitz mit Ethel auf der Hochzeitsreise
+war und ihr mit leise vom Gähnen zitternden Nasenflügeln aus einem
+gewissenhaften Katalog die Schätze der Uffizien vorlesend erläuterte:<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span>
+Filippo Lippi, Sandro Boticelli, Fra Angelico, Fra Bartolomeo und
+von einer thronenden Madonna zur anderen ging, wurde Tobby bei
+einem Oberförster a.&#8239;D. ernsthaft zur Stubenreinheit erzogen.
+Als die Jungvermählten wiederkamen, die Köpfe voller Namen von
+Pallazi, Meisterwerken und Nationalgerichten, und in den Kleidern
+den Weihrauch sämtlicher Kirchen von Florenz, Bologna, Ferrara und
+Venedig, empfing sie Tobby auf den Hinterfüßen zwischen zwei kostbaren
+Blumenarrangements im Salon sitzend, ein Seidenband um den Hals, ein
+vom Schwiegervater selbst — bezahltes Gedicht im Maul und im einzelnen
+und ganzen das erfreuliche Bild der angenehmsten Wohlanständigkeit.</p>
+
+<p>Tobby blieb Hausgenosse in der jungen Ehe, bis er — im neunten Jahre
+seiner Zugehörigkeit zum Haushalt — Spuren lästigen Alters zu zeigen
+begann. Ethel aber hielt das Alter bei Menschen und Tieren für etwas
+unanständiges, dessen Anblick sich das in Jugendfröhlichkeit genießende
+Geschlecht durchaus fernhalten müsse. Und als es selbst Klaus Bitterolf
+von Birkowitz nicht mehr leugnen konnte, daß Tobby, dessen Gesicht
+nachließ, den Besuchern, deren es viele gab, wider die Beine lief
+und zu Zeiten, besonders bei Regenwetter, einen recht üblen Geruch
+verbreitete, willigte er schweren Herzens in seine Entfernung.</p>
+
+<p>Er wurde einem Nähfräulein geschenkt, die selbst über die Blüte der
+Jahre hinaus war, an Tobbys lauten Träumen und starkem Tierparfüm
+keinen Anstoß<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> nahm und sich durch eine rührige in den Gesindestuben
+betriebene Agitation gegen die Vivisektion als zuverlässige Pflegerin
+des Alternden empfahl.</p>
+
+<p>Am selben Tage aber, da Tobby I, ahnungslos und durch ein Schinkenbrod
+listig bestochen, dem alten Fräulein in die Droschke folgte, zog Tobby
+II bei Birkowitzens ein. In Gestalt eines afrikanischen Windhundes,
+der gar keine Haare auf der schwarzen Haut hatte, und immer, selbst im
+Hochsommer, mit eingekniffenem Schwanz, hängenden Ohren und zitternden
+Beinchen den Anschein erweckte, als sei er eben dabei zu erfrieren.
+Tobby II wurde nach sieben Jahren schon — aus ähnlichen Gründen, wie
+Tobby I — dem Zoologischen Garten geschenkt, der ihn im geheizten
+Raubtierhaus einer jungen Löwin zum Gespiel gab, die ihn zunächst
+innigst liebte und zwei Monate später das Spiel mißverstand und bloß so
+aus Spaß auffraß.</p>
+
+<p>Tobby III war ein Köter unbestimmbarer Rasse, der angeblich aus Island
+stammte, aber eigentlich nur durch zwei Merkwürdigkeiten auffiel: durch
+seine phänomenale Dummheit und seine Vorliebe für rohes Obst.</p>
+
+<p>Als er am Kern einer gemausten Aprikose erstickt war, wurde er durch
+Tobby IV ersetzt, einen Skye Terrier, der sehr häßlich und sehr teuer
+war, da er angeblich wundervoll für die Otterjagd dressiert war;
+eine Kunstfertigkeit, die er leider in den Birkowitzschen Salons
+nicht verwerten konnte. Ein Lyriker, der zu<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> jener Zeit viel im Hause
+verkehrte und für Ethel geradezu wahnsinnige „Kostümträume“ (wie er das
+nannte) entwarf, verfocht die Ansicht, daß Tobby in einer instinktiven
+Einsicht seinen Beruf verfehlt zu haben Selbstmord beging, als er —
+wie andere behaupten, aus blinder Gefräßigkeit — unter den schweren
+Wagen einer renommierten Delikateßhandlung kam und vom Hinterrad
+erledigt wurde.</p>
+
+<p>So löste ein Tobby den anderen ab. Immer ein junger Tobby kam für
+den Alternden. Und die Gefahr einer Konkurrenz durch eine plötzliche
+Bevölkerung der Kinderstube schwand immer mehr. Denn, so wenig das
+Ethel für sich und den Gatten zugeben wollte, auch die Birkowitzens
+wurden alt.</p>
+
+<p>Im dritten Jahre ihrer Ehe hatte Klaus Bitterolf beim Begräbnis seines
+Schwiegervaters böses Pech gehabt. Während er als Leidtragender hinter
+dem Sarge in Paradeuniform durch die Gräberreihen schreitend überlegte,
+ob der alte Herr wirklich, wie man sagte, in letzter Zeit eine Million
+an chilenischen Gruben verloren hatte, verwickelte er sich mit einem
+seiner Sporen in die riesige Atlasschleife eines am Boden liegenden
+Kranzes, auf der „Ruhe sanft — auf Wiedersehen!“ gedruckt stand. Er
+fiel hin und brach sich den rechten Fußknöchel.</p>
+
+<p>Als der Gipsverband acht Wochen später gelöst wurde, erwies es sich,
+daß das rechte Bein ein wenig kürzer und außerdem eine Schwäche
+zurückgeblieben war, die Klaus Bitterolf zwang, sich beim Gehen<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> eines
+derben Stockes zu bedienen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den
+Abschied zu nehmen. Ein paar Monate behielt er noch seine Reitpferde
+und dachte daran, sich sportlich zu betätigen. Als aber Schwäche und
+Schmerz im Knöchel beim Reiten sich mehrten, schrieb er seufzend mit
+seinen geraden, riesigen Buchstaben auf einen wappengeschmückten Bogen
+die Worte: „Drei vortrefflich zugerittene Offizierspferde, arabische
+Stute, Fuchswallach und tadellos schönes Halbblut sofort preiswürdig
+abzugeben ...“ Dann trat er in den Verein für heraldische Forschung,
+den Exlibrisverein und die Gesellschaft für Familiengeschichte ein
+und beschloß, sich ganz den Studien auf diesem Gebiete und der damit
+zusammenhängenden Sammellust zu widmen.</p>
+
+<p>Wenn er an seinem Erkerfenster in der Kaiserallee saß, alte
+Schutzbriefe und Diplome aus dem Familienarchiv behutsam entfaltete und
+unter die Lupe nahm oder in älteren Jahrgängen des Gothaschen Kalenders
+einem verschollenen Vetter nachspürte, so schmerzte ihn der Knöchel
+nicht. Und die Gesellschaft Tobbys, der zu einem warmen, zuckenden
+Klümpchen gerollt auf dem alten Plüschkissen im Lehnstuhl gegenüber
+lag, genügte ihm vollkommen. Ja, sie war ihm, ehrlich gesagt, lieber
+als die Gesellschaft seiner Frau, die ihn mit dem endlosen Programm
+ihrer täglichen Vergnügungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen
+aufregte&#8239;...</p>
+
+<p>Als Ethel noch Alice hieß, hatte sie den in der weiblichen Linie des
+mit Glücksgütern reich gesegneten<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Hauses Sternheim nicht seltenen
+Traum geträumt: ein Leutnant. Sie lernte französisch plappern, las erst
+Racine später Alphonso Daudet und dachte an einen Leutnant.</p>
+
+<p>Sie langweilte sich bei Goethes Tasso und übte Klavier und dachte an
+einen Leutnant.</p>
+
+<p>Er hatte noch kein bekanntes Gesicht und eigentlich auch noch keine
+bestimmte Uniform. Nur Sporen klirrten deutlich durch ihre Träume.
+Infanterie war gewöhnlich. Fast schon Schutzmänner, kam ihr vor.
+Fuchsjagden in roten Röcken, Morgenpromenaden auf dampfenden Schimmeln
+im Park, Besuche im eleganten Coupé, abends Gäste mit wunderschönen
+Namen, aufgeführte Dramatiker, Exzellenzen, verbotene Romanziers,
+preisgekrönte Bildhauer, vergötterte Tenöre, fette Finanzkönige — und
+zwischen tief, tief ausgeschnittenen Frauen, die sie alle beneideten,
+das silberne Klingeln der Tanzsporen. Der eleganteste — <em class="gesperrt">er</em>.</p>
+
+<p>Nicht daß sie sich ihm lieberöchelnd an den hohen gelben oder roten
+oder goldgestickten Kragen werfen wollte! Behüte, sie war kühl und
+anständig. Und bei all ihren Träumen hätte „Mademoiselle“ ganz gut
+dabei sein können und ihren Tauchnitz lesen. „Er“ war nur Mittelpunkt
+der Dekoration für sie, war — sie wußte das — der notwendige Faktor
+zu all den anderen. „Er“ hatte die huldvoll erteilte Erlaubnis, sehr
+erfreut zu sein, daß sie so schön war; daß sie solche Zauberfeste
+arrangieren konnte, daß so viele berühmte Männer sich über ihre kleine,
+weiße Hand<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> beugten, um ihre Schnurrbarthaare respektvoll auf die
+rosigen, blühenden Nägel zu drücken. Und zwischen einem feschen Wiener
+Walzer und einer schmelzenden Arie, der unbezahlbaren Soundso oder
+zwischen einem herrlichen Violonsolo des weltberühmten Dingskirch und
+einem ausgelassenen Kontertanz durfte „er“ — sporenklingelnd — auf
+sie zukommen, ihr leicht die erhitzte Wange klopfen und fragen: „Bist
+du glücklich, Kind? Amüsierst du dich?“&#8239;...</p>
+
+<p>Denn glücklich sein und sich amüsieren waren für ihr törichtes Herzchen
+Begriffe, die restlos ineinander aufgingen.</p>
+
+<p>Und dann <em class="gesperrt">kam</em> „er“.</p>
+
+<p>Natürlich waren vorher schon andere gekommen. Schlaue, Treuherzige,
+Verliebte, die wußten, daß sie des Bankiers Sternheim einzige Tochter
+war, daß sie Walzer tanzen konnte — auch links herum — eine
+feine, zierliche Taille und feste, runde, weiße Arme hatte und in
+der Konversation schließlich nicht mehr Dummheiten sagte, als ihre
+magere, sommersprossige Cousine. Und diese, der Stolz und Abgott der
+Sternheimschen Familie, war voriges Jahr Baronin geworden; und ihren
+tadellos gekleideten Gatten traf man bei allen Gesellschaften nach
+zwölf Uhr mit offenem Munde schlafend im Rauchzimmer.</p>
+
+<p>Aber alle die anderen hatte des Bankiers Sternheim einzige Tochter
+dankend abgelehnt. Des einen Katholizismus war ihr zu neu und
+unbegründet. Des anderen weiterer Familienkreis schreckte sie durch
+Zahl<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> und schlechte Manieren. Eines dritten Persönlichkeit konnte sie
+sich absolut nicht auf dem hohen Bock eines Kutschierwagens oder im
+roten Frack auf herbstlichem Felde denken. Endlich kam „er“ mit dem
+hohen Wuchs, den schlanken Händen und der leichten, ungezwungenen
+Galanterie des geborenen Aristokraten. „Meine Tante die Reichsgräfin
+...“ „mein Onkel Exzellenz“. Das kam so natürlich heraus, wie wenn
+andere sagten: „Mein Vetter in der Schillerstraße“, „mein Schwager in
+Ratzeburg“.</p>
+
+<p>Dann hatte er eine nachlässige Art, mit den langen, gesunden Zähnen
+Kakes zu knabbern, und lachte so wunderhübsch ehrlich, wenn von Dingen
+die Rede war, die er nicht verstand. Und das kam oft vor. Und dann
+natürlich das leise, silberne Sporenklingeln&#8239;...</p>
+
+<p>Dann war der Tag gekommen, an dem er zuerst mit Papa sprach, später
+mit ihr. Korrekt und mit einem leisen Unterton von Gefühl. Eine Stunde
+später schickte er einen wunderhübschen Strauß Marschalnielrosen.
+Sie ließ die Friseuse kommen, probierte eine neue, etwas würdigere
+Frisur, beschloß sich von heute an „Ethel“ nennen zu lassen und
+entwarf Tischordnungen für das Verlobungsessen. Wobei sie immer wieder
+leise vor sich hin sagte: „Meine Tante, die Reichsgräfin ...“ „mein
+Onkel Exzellenz“. Und sie lächelte dazu das bräutliche Lächeln dieser
+Kreise, denen sie nun angehörte. Dann überlegte sie, an welcher Ecke
+der Tafel man den unbequemen Onkel Oskar verstecken könnte, der so
+unwahrscheinlich große Brillantknöpfe<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> im Vorhemd trug und immer die
+dumme Geschichte erzählte, wie er als jüngster Kommis im Bankhaus
+Seligsohn den alten Fürsten Lichtenstein, der ihn zu duzen wagte,
+<em class="gesperrt">wieder</em> geduzt hatte.</p>
+
+<p>Klaus Joachim war ein guter anständiger Kerl. Er war froh, als die
+Verlobungszeit, die seiner Familie mancherlei heftige Vertraulichkeiten
+von Seiten der neuen Verwandten eingetragen hatte, vorüber war. Über
+das Glück hatte er niemals intensiv nachgedacht. Einmal, als er sich
+— es war kurz vor seinem Sturz über die Ruhesanftschleife — bei
+einem amerikanischen Zahnarzt, der für vieles Geld sehr wenig Deutsch
+sprach, einen Vorderzahn mit Gold plombieren lassen wollte und im
+Wartezimmer mit anhören mußte, wie eine alte Dame im Operationszimmer
+nebenan wehklagend die Stunde ihrer Geburt verfluchte, blätterte er,
+um sich auf angenehmere Gedanken zu bringen, in einem abgegriffenen
+Sentenzenbüchlein. Und er fand darin neben minder verständlichen
+Sprüchen das gute Wort: „Das Glück liegt im Geschmack, nicht in der
+Sache.“</p>
+
+<p>Das ging ihm nicht mehr aus dem Kopf; und sein eigenes Leben an dieser
+Sentenz messend, fand er, daß er im Besitze einer so hübschen und
+lebenslustigen Frau gewiß nicht unglücklich zu nennen sei. Als es dann
+<em class="gesperrt">nach</em> dem Unfall mit Sport und anstrengenden Festlichkeiten
+für ihn Essig war; als er sich mehr auf eine einsame Pflege seiner
+künstlich gezüchteten Liebhabereien zurückzog und Tobbys nicht
+aufregende Gesellschaft einem Saale, mit Menschen gefüllt, die<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span>
+krampfhaft Amüsement heuchelten, vorzuziehen begann, da erschien ihm
+sein von anderen viel und laut beneidetes „Glück“ etwas dünn. Manchmal
+lästig.</p>
+
+<p>Ethel hatte die Leidenschaft, gestützt auf ihren klingenden Namen,
+ihre hübsche, biegsame Erscheinung und die erfreulichen Zinsen des
+vom Vater für die nie erschienenen Enkel festgelegten Kapitales, ein
+Haus zu machen. „Herr und Frau von Birkowitz geben sich die Ehre ...“
+— kleine und große gedruckte Karten, die also begannen, steckten an
+unzähligen Spiegeln flotter Kavaliere. Der Träger eines alten Namens
+oder der kecke Eroberer eines neuen Namens konnte solcher Einladung
+auf die Dauer nicht entgehen. Irgendwo traf ihn „die schöne Frau von
+Birkowitz“. Irgendwo machte sie ihm, gütige Blicke unter langen,
+ein wenig getuschten Wimpern sendend, sanfte Vorwürfe, daß er noch
+nicht bei ihr Besuch gemacht. Irgendwie wußte sie eine sinnreiche,
+verpflichtbare Beziehung aufzustöbern zwischen seinem Hause und der
+Familie derer von Birkowitz. Irgendwann erschien der also Eingefangene
+dann, bekam ein Miniaturtäßchen aromatischen Tees, ein köstliches
+Löffelchen russischen Kaviars und hatte die Freude, mindestens einen
+kurzsichtigen Modeprofessor, einen schweigsamen Modemaler, eine sehr
+laute Exzellenz und — wenn er Glück hatte — einen urlangweiligen
+Kammerherrn oder gar einen lebendigen Prinzen aus einer um viele Ecken
+gegangenen Nebenlinie zu treffen.</p>
+
+<p>Zwischen allen diesen ausgesucht distinguierten Besuchern<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> schwebte in
+einem zwar erlernten aber kleidsamen Tanzschritt die schlanke Hausfrau
+umher. Der Ausschnitt tiefer vorgerückt, als die Tageszeit. Sie führte
+eine Konversation, die an tausend Dingen nippte, vom Spiritismus bis
+zum neuesten amerikanischen Tanz, von der Säuglingswohlfahrt bis zu
+den dressierten Eisbären, von der letzten kleinen Eheirrung in guten
+Kreisen bis zum Bazar für die Wärmehallen. Sie verstand im Grunde von
+allem dem gleich viel, heißt das gleich wenig, aber sie hatte eine
+wundervolle Spürnase für alles, was Stoff zu flüchtiger Unterhaltung
+oder Vorwand für ein Wohltätigkeitsfest hergab. Und zuweilen traf
+man norddeutsche Pastoren, italienische Monsignori, seltener sogar
+österreichische Rabbiner bei ihr, die alle in gleicher Weise von ihrer
+Nächstenliebe entzückt waren.</p>
+
+<p>An solchen Tagen trug sie ein geschlossenes Kleid, sehr wenig Schmuck
+und einen Zug unendlich schlichter Güte um den hübschen Mund. Es gab
+dann weniger Kaviar und mehr erbauliche Gespräche; und sie hatte eine
+interessierte Art den langweiligsten statistischen Angaben zu lauschen,
+die einen Apostel selber entzückt hätte.</p>
+
+<p>Kurz ehe der Anstand den Gästen gebot, sich zu empfehlen, erschien
+dann der Gatte, Klaus Joachim, auf einen Ebenholzstab mit schlichter
+Silberkrücke gestützt und von dem gerade in Gunst stehenden Tobby
+begleitet.</p>
+
+<p>Ethel stellte ihm, ihren runden Arm mit graziöser<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> Zärtlichkeit in
+den seinen legend, die ihm noch unbekannten Gäste vor, über deren
+Anwesenheit er sich unendlich erfreut zeigte, und deren Namen er sofort
+wieder vergaß.</p>
+
+<p>Sie schmierte ihm selbst ein Brödchen — halb Kaviar halb Anchovis —
+wie er es angeblich für sein Leben gern aß, obschon er selbst niemals
+eine diesbezügliche Mitteilung gemacht hatte; teilte ihm die nächsten
+Pläne für Feste, lebende Bilder, musikalische Abende oder Bazare mit
+und versicherte den Anwesenden, daß ihr lieber Klaus Joachim, wie
+<em class="gesperrt">sie</em> ihn kenne, von dieser Stunde an seine ganze freie Zeit der
+Ausgestaltung des wunderherrlichen Programms widmen werde. Sie erzählte
+dabei in charmanter Neckerei allerlei originelle kleine Züge, die des
+Gatten glühendes Interesse an all diesen Dingern hübsch illustrierten.
+Der also Gelobte aber saß mit verlegenem Lächeln dabei, streichelte
+Tobbys Fell und war immer wieder tief erstaunt über die unheimliche
+Leichtigkeit, mit der diese niedliche, lebhafte kleine Frau die
+kecksten und dreistesten Lügen aus der frischen Luft griff.</p>
+
+<p>Dabei war Ethel durchaus anständig. Die erschreckendsten Klatschbasen,
+für die der gute Ruf anderer kaum den bescheidendsten Respecktswert
+hatte, wußten ihr nichts nachzusagen. Sie bevorzugte zuweilen einen
+Kavalier wenn er gut im Frack aussah, neue Kunststücke mit Talern
+und Apfelsinen verrichten konnte, eine fünfzackige oder gar eine
+geschlossene Krone auf der silbernen Zigarettendose trug und von einer<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span>
+Reise um die Welt mit so kühler Ruhe sprach, wie andere von einem
+Ausflug nach Helgoland oder Rügen. Auch ein Dichter oder Künstler,
+mit dessen Namen die Zeitungen gerade Fangball spielten, konnte aus
+der Art wie sie ihm Rum in den Tee goß und vom Ruhm als „der Güter
+höchstem“ ein gefühlvolles Wort sprach, vielleicht annehmen, daß er in
+begnadeter Stunde ihrem Herzen näher sein werde als andere. Aber solche
+„begnadeten Stunden“ kamen schließlich für keinen. Es war immer ein
+<em class="gesperrt">dritter</em> dabei, irgend eine störende Null mit einem klangvollen
+Titel, einer interessanten Vergangenheit oder einer Zukunft; eine
+Exzellenz, ein Sportsmann oder ein Komödiant. Und später kamen Klaus
+Joachim und Tobby.</p>
+
+<p>So gingen die Jahre für Ethel hin als eine Reihe von Festen, nur durch
+einige ärgerliche Kinderkrankheiten unterbrochen, die sie in der Jugend
+durchzumachen verabsäumt hatte, und die ihr nun Gelegenheit gaben
+sehr neckische Negligés zu tragen, dankbar an vielen von Freunden
+gesandten Blumengrüßen zu riechen, und als blasse Rekonvaleszentin mit
+melancholischem Lächeln, das ihr gut stand, von ihren Todesgedanken zu
+plaudern und von verschiedenen sentimentalen Bestimmungen, die sie den
+beiden Schwestern vom roten Kreuz — sobald sie sich unwohl fühlte,
+ließ sie zwei Schwestern kommen — in einer entsetzlichen angstvollen
+Nacht diktiert haben wollte.</p>
+
+<p>Aber selbst an ihre zu Festen und Lebensgenuß prädestinierte Natur
+machten die Jahre ihre Rechte<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> geltend. Und je mehr sie fühlte, daß ihr
+die Jugend sacht entglitt, um so krampfhafter klammerte sie sich an
+die äußeren Zeichen und Enbleme der tückisch Fliehenden. Das Rot der
+Wangen war längst nicht mehr ganz echt, die Haare wurden öfters diskret
+gefärbt und die Korsetts hatten mehr Mühe, die vorhandenen Formen auf
+das richtige Maß einzuschnüren und elegant zu verteilen.</p>
+
+<p>Die verspätete Kindlichkeit, die der jungen Frau einen entzückenden
+Schimmer von Naivität gegeben, und die nun noch immer nicht von der
+Zurechtgemachten und Gemalten weichen wollte, mischte in ihr Wesen
+eine reichliche Portion Albernheit. Sie fühlte selbst, daß jetzt
+manchmal ihre Gäste nicht mehr <em class="gesperrt">mit</em> ihr sondern <em class="gesperrt">über</em> sie
+lachten. In krampfhafter Angst, etwas von dem geräuschvollen Drum und
+Dran ihres ganz auf Äußerlichkeiten gestellten Lebens zu verlieren,
+verstärkte sie jetzt die Genüsse, die der opulente Haushalt zu bieten
+vermochte. In dem Maße, als ihre Jugend sich minderte, ihre Schönheit
+verblich, ihre Anmut kokette Maske wurde, verfeinerten sich jetzt die
+Tafelfreuden, die musikalischen und theatralischen Aufführungen in
+ihrem Hause. Man trank bei den Proben schon französischen Sekt. Man aß
+bei den kleinsten Diners nicht unter fünf Gängen. Man erfreute sich
+der teueren Delikatessen der Saison nirgends früher, als an der Tafel,
+der Klaus Joachim, längst mit einem chronischen Magenübel kämpfend mit
+ledergelbem, wenig vergnügtem Gesicht präsidierte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span></p>
+
+<p>Klaus Joachim sah täglich unzählige Leckerbissen vorbeitragen, die ihm
+aufs strengste verboten waren. Er sah junge Leute in schönen Uniformen
+und ältere Herren mit Halsorden an seinem Tische, ohne sich ihre Namen
+merken, für ihre Geschichten interessieren zu können. Er sah lebende
+Bilder gestellt von blühenden Menschen, deren Geburtsanzeige er — so
+kam’s ihm vor — doch neulich erst gelesen. Er sah zappelige Virtuosen
+und dicke Sänger an seinem Flügel, die er innigst nach Pernambuco
+wünschte. Und abends spät, wenn er — den silbernen Leuchter schon in
+der etwas zittrigen Hand — nach vererbter Familiensitte seiner Frau
+galant die Hand küßte und prüfend in das abgespannte Gesicht mit den
+mühsam weggeschminkten Fältchen um die müden Augen blickte, sah er
+auch, daß die Lebensgefährtin trotz verzweifelter Gegenwehr wurde, was
+kein Tobby in seinem Hause werden durfte: <em class="gesperrt">alt</em>.</p>
+
+<p>Seine Familie hatte sich längst in das solide Erbbegräbnis und in
+gesunde Metallsärge zurückgezogen. Die Tante Reichsgräfin und der
+Onkel Exzellenz erschienen nur noch als mythische Personen in Ethels
+Erzählungen. Aber der Sagenkranz, der sich langsam um sie bildete,
+(oder eigentlich: den Ethel persönlich um die verklärten Häupter der
+teueren Verstorbenen legte) erhielt mit jedem Jahre neue strahlende
+Blüten. Und wer den leise bebenden Herzenston vernahm, mit dem Ethel
+die Namen dieser Heimgegangenen aussprach, der konnte unmöglich eine
+Ahnung gewinnen<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> von der durch Harthörigkeit bedingten Absonderlichkeit
+der seligen Exzellenz und der Unleidlichkeit der geizigen und boshaften
+Reichsgräfin. Vor dem ebenfalls längst zu seinen Vätern versammelten
+Onkel Oskar freilich, der einst als Kommis des Hauses Seligsohn den
+alten Fürsten Lichtenstein geduzt hatte, machte der Totenkultus Ethels
+Halt. Sein Name wurde seltsamerweise nur von Klaus Joachim, der den
+Lebenden wenig geschätzt hatte, zuweilen erwähnt und — das muß gesagt
+werden — eigentlich nur, wenn er, überreizt von den ewigen Festen in
+seinem Hause, einmal das nervöse Bedürfnis hatte, Ethel zu ärgern.</p>
+
+<p>Einige Male hatte er ja versucht, seine Gicht vorzuschützen, um den
+festlichen Veranstaltungen zu entgehen, die sein Haus zum Tummelplatz
+fremder Leute machten, die seinen Sekt tranken, seine Zigarren rauchten
+und von ihm eigentlich nur Notiz nahmen, wenn sie ihn wegen des
+kürzesten und verstecktesten Weges nach einem geheimen Ort um seinen
+Rat fragten. Aber an Schlafen wäre bei dem Lärm auch nicht zu denken
+gewesen, wenn die Lohndiener nicht, lieber Gewohnheit folgend, alle
+fünf Minuten in sein Schlafzimmer gestürzt wären, um die merkwürdigsten
+Dinge hier zu suchen, die sich noch niemals in einem Schlafzimmer
+befunden haben. So erschien er denn resigniert, auf seinen Stock
+gestützt, wieder in den Salons und heuchelte höflich eine freudige
+Anteilnahme an einen neuen amerikanischen Tanz, bei dem der Bauch
+herausgestreckt wurde, an dem Klaviervortrag<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> eines sechsjährigen
+Wunderkindes, das allerdings spielte als ob es vierzehn wäre, oder an
+der Soloszene einer talentvollen Bühnennovizen, die aus unbekannten
+Gründen plötzlich händeringend in gereimten Versen jammerte, daß sie
+ihr Kind erwürgt habe, weil es dem Vater ähnlich sah.</p>
+
+<p>In solchen Lustbarkeiten waren bald fünf Jahrzehnte hingegangen.</p>
+
+<p>Man hatte vorübergehend mal für irgend einen Kriegsschauplatz heftig
+Charpie gezupft und um irgend einen Fürsten in der Weise getrauert,
+daß man — die Damen in geschlossenen Kleidern — bei Birkowitzens
+sechs Wochen lang nur Kammermusik, Harmoniumstücke und ernste
+Balladenvorträge anhörte.</p>
+
+<p>In sonsten hatte sich nicht viel verändert.</p>
+
+<p>Tobby XIII ein knochiger Rattler von großer Munterkeit belebte Klaus
+Joachims einsame Morgenstunden, wenn er seine Exlibris ordnend und
+klebend am Erkerfenster saß und den stillen Wunsch nährte, Ethel, die
+im Coupé Besuche machte, möge <em class="gesperrt">alle</em> zu Hause treffen, denen sie
+die Freude ihres Gespräches zugedacht. Tobby XIII litt nur, als echter
+Sohn seiner Rasse, unter dem durch nichts bestätigten Vorurteil, daß
+Mäuse in der Wohnung sein müßten. Er erschreckte wohl ein Dutzend mal
+im Vormittag seinen Herrn aufs heftigste dadurch, daß er plötzlich
+einen ganz unmotivierten Luftsprung machte, mit beiden Vorderpfoten
+schwer auf irgendeine Stelle des Teppichs schlug und emsig zu scharren
+begann; als müsse er<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> unter der dunkelroten Blume des Persers unbedingt
+ein Mauseloch finden.</p>
+
+<p>Da Klaus Joachim seit einiger Zeit Anzeichen eines Herzleidens spürte
+— Sie haben zuviel „gefeiert“, hatte der Hausarzt gesagt und Klaus
+Joachim hatte nicht ohne Bitterkeit gelächelt — so war die fixe Idee
+Tobbys XIII für seinen Herrn doppelt störend. Aber da dieser den
+amüsanten und liebenswürdigen Hund sonst lieb hatte, so schickte er
+sich seufzend in seine aufregende Eigentümlichkeit; ja er hielt sie vor
+seiner Frau geheim, die sonst vermutlich auf schleunigen Ersatz Tobbys
+XIII durch Tobby XIV gedrungen hätte, da die Zahl Dreizehn ihr sowieso
+unbehaglich war.</p>
+
+<p>Und gerade jetzt war sie bemüht, alles Unbehagliche von sich und Klaus
+Joachim fernzuhalten, denn die Vorbereitungen zu dem größten Fest ihres
+Lebens, zu dem Fest, in dessen Mittelpunkt nur <em class="gesperrt">sie</em> — natürlich
+<em class="gesperrt">mit</em> Klaus Joachim — verständigerweise stehen konnte, nahmen sie
+völlig in Anspruch. Ihre goldene Hochzeit nahte. Und mit dem Näher- und
+Näherkommen dieses weihevollen Tages nahm dieser fast siebzigjährigen
+Frau wunderbare Elastizität, die in den letzten Jahren ein ganz, ganz
+klein wenig nachgelassen hatte, von Tag zu Tag wieder zu.</p>
+
+<p>Sie fühlte, daß das der Glanzpunkt ihres Lebens werden mußte.</p>
+
+<p>Man würde Szenen aufführen, Reden halten, Trinksprüche ausbringen,
+alles ihr zu Ehren. Berühmte Dichter, die oft bei ihr gegessen hatten,
+würden<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> eigens für diesen Tag wundervolle Lieder schreiben, in denen
+ihr Name von einem Blütenkranz unsterblicher Gedanken umrahmt erschien.
+Zukunftsreiche Maler, die <em class="gesperrt">ebenfalls</em> oft bei ihr gegessen
+hatten, würden lebende Bilder stellen aus ihrer Jugendzeit. Bedeutende
+Komponisten, die <em class="gesperrt">ebenfalls</em> oft bei ihr gegessen, würden sich
+ans Klavier setzen. Und <em class="gesperrt">sie</em> würde, in ihre schneeweißen Haare
+(ein bischen half ja der Puder nach) die goldene Myrthe gesteckt,
+neben Klaus Joachim sitzen — wenn er nur nicht einschlief! — und
+die feierlichen Deputationen empfangen von all den Vereinen, für die
+bei ihr gegessen, getrunken, geredet, musiziert, Charpie gezupft
+und getanzt worden war in einem langen, halben Jahrhundert. Und die
+Zeitungen würden — Gott, Herren von der Presse hatten ja auch bei ihr
+gegessen — sympathische Artikel bringen, im „Vermischten“ oder an der
+Spitze des Lokalen; würden sie mit der Madame de Rotschild vergleichen,
+am Ende gar mit der Fürstin Metternich und würden das Bild „der noch
+immer schönen Frau von Birkowitz“ in einer sinnigen Phantasieumrahmung
+von Lorbeer und Myrthen bringen. Natürlich Klaus Joachim daneben. Und
+Bilder ihres „Heims“ werden in den Wochenschriften gezeigt. Die Ecke
+im blauen Salon mit den Vasen, die ihr der Vizekönig Ching-Chung-Gho,
+der die Fischgräten unter den Tisch spuckte, geschenkt. Die Wand
+im Speisezimmer mit den ehrwürdigen Ahnenbildern der Reichsgräfin
+und des Onkels Exzellenz. Der Kamin im Gobelinzimmer mit dem<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span>
+laubfroschgrünen seidenen Wandschirm, auf dem die steinalte Prinzeß
+Binzheim-Sprendlingen die gräßlichen, roten Levkoyen eigenhändig
+gemalt. Und das mußte alles in Fußnoten gesagt werden&#8239;...</p>
+
+<p>Ethel von Birkowitz war wieder ganz jung, wenn sie an diverse Fußnoten
+dachte.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Und</em> an die Geschenke! Denn darin war sie ein Kind geblieben.
+Sie liebte es sich beschenken zu lassen. Weniger der Gabe wegen,
+als wegen des Namens des Spendenden. Und wenn nur der kleinste Teil
+der Zelebritäten, die gut und viel bei ihr gegessen, sich an ihrem
+Ehrentage mit einem sinnigen Präsentchen einstellte, so hatte sie aus
+dem Gothaschen Kalender, aus dem Kürschner, aus dem Bühnenalmanach
+und aus dem städtischen Adreßbuch — kurz aus jedem Namensammelbuch
+von einigem Kulturwert mit Ausnahme des Verbrecheralbums — die
+herrlichsten Stichproben. Ethel von Birkowitz schwamm im Glück der
+Hoffnung.</p>
+
+<p>Klaus Joachim sah dem festlichen Tage mit geringerer Lust entgegen.
+Ganz davon abgesehen, daß sein neues Gebiß ihm den Unterkiefer wund
+rieb, wenn er es während eines langen Diners im Munde behalten
+mußte, hatten sich letzter Zeit, nicht unbeeinflußt von Tobby XIII
+phantastischen Jagdvergnügungen heftige Herzaffektionen bei ihm
+gezeigt. Schwächeanwandlungen waren häufig; und mehrfach war er mitten
+in Ethels interessanten Mitteilungen über das Programm des Festes und
+über die Plätze für den<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> Bürgermeister und den Polizeipräsidenten und
+den berühmten X. und die noch berühmtere Y. eingeschlafen. Und beim
+Erwachen hatte er minutenlang geglaubt, er sitze an der Saline in
+Nauheim. Oder hatte mit schwacher Stimme Weisung gegeben, man solle das
+Halbblut nicht verkaufen. Sein Lieblingspferd aus der Leutnantszeit,
+das seit vier Jahrzehnten gewiß in dem Pferdehimmel war, an den die
+Araber glauben.</p>
+
+<p>Zwei Tage vor der goldenen Hochzeit besserte sich Klaus Joachims
+Zustand.</p>
+
+<p>Er konnte den neuen Frack probieren und der Ansprache Ethels an die
+fünf Lohndiener beiwohnen.</p>
+
+<p>Als er aber an dem Morgen seines Ehrentages in denselben Frack
+geschlüpft war, um ans Fenster zu treten und dem Choral der
+Regimentsmusik zu lauschen, die der Oberst, der lieber gut aß als
+Felddienstübungen leitete, in Dankbarkeit zur Überraschung gesandt
+hatte, befiel ihm eine kleine Schwäche. Und gerade als er sich, von
+Ethel gestützt, die schon in großer Toilette war, auf das Sopha
+niedergelassen, unternahm Tobby XIII mit plötzlichem Siegesgeheul einen
+plötzlichen Jagdausflug unter einen ehrwürdigen friesischen Schrank,
+der sich zu knacken erlaubt hatte.</p>
+
+<p>Klaus Joachim erschrak heftig, griff mit den langen, immer noch
+aristokratischen Fingern der linken Hand nach der Herzgegend,
+verdrehte die Augen, fragte, ob er in der Neujahrsnacht zum Bleigießen
+aufbleiben müsse, erkundigte sich dann mit leiser werdender Stimme
+ob die Seitenlinie derer von Rorschach-Kitzingen berechtigt<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> sei
+die Freiherrnkrone zu führen, gab, als die erschreckte Ethel ihre
+Unwissenheit gestand, stockend die Anweisung, darüber sogleich
+telegraphisch das Heroldsamt in Berlin zu befragen, lächelte sonderbar,
+bekam eine ganz spitze weiße Nase und — war tot.</p>
+
+<p>Unten spielte die Regimentskapelle den Pilgerchor aus dem Tannhäuser.</p>
+
+<p>Ein Lohndiener steckte den glattrasierten Kopf herein und meldete: der
+Koch lasse fragen, ob der Fasan <em class="gesperrt">nach</em> dem Wildschwein serviert
+werden solle oder <em class="gesperrt">vor</em> dem Wildschwein.</p>
+
+<p>Ethel zuckte zusammen, warf einen Blick auf die seltsam gespitzten
+Lippen Klaus Joachims, von denen kein Atem mehr kam und die pfeifen zu
+wollen schienen, und entschied:</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Nach</em> dem Wildschwein.“</p>
+
+<p>Es war ein außergewöhnliches Fest. In jeder Beziehung.</p>
+
+<p>Die Gratulanten kamen in dichten Scharen.</p>
+
+<p>Honoratioren in vortrefflich sitzenden Fräcken, Deputationen in minder
+sehenswürdigen Gehröcken, Künstler in fliegenden Kravatten, Damen
+der Aristokratie in kostbaren Pariser Roben, Konservatoristinnen in
+phantastischen Fähnchen. Die Diener in Eskarpins mit silbernen Ketten
+und dem Gönnerlächeln ihres wichtigen Standes.</p>
+
+<p>Im Blauen Salon zwischen den beiden Vasen des Vizekönigs
+Ching-Chung-Gho stand Ethel, im weißgepuderten<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> Haar die goldene
+Myrthe, den Smaragdschmuck derer von Birkowitz am immer noch
+präsentablen Hals, die wundervollen Rosen des Prinzen Kux-Beckenried
+in der Hand, der mit seinem Freund, dem <span class="antiqua">Dr.</span> v. Heiduck — in
+Wahrheit war es sein Arzt, der Prinz war seit Jahren entmündigt — als
+Erster gekommen war.</p>
+
+<p>Jetzt hielt er sich, töricht vor sich hinlächelnd, im Gobelinzimmer
+unter dem Bild von Onkel Exzellenz auf und konsumierte das vierzehnte
+Kaviarbrödchen; wozu <span class="antiqua">Dr.</span> Heiduck nachdenklich den dem Prinzen
+verbotenen Sherry trank.</p>
+
+<p>Im kleinen gelben Salon aber stand die Türe auf, die nach dem
+Ankleideraum neben dem Schlafzimmer Klaus Joachims führte.</p>
+
+<p>Eine rotseidene Schnur war, den Eintritt wehrend, in Kniehöhe im
+offenen Türrahmen gespannt. Durch das halbdunkle Ankleidezimmer
+hindurch sah man in das noch um eine Nuance dunklere Schlafzimmer.
+Von dessen Tür nicht weit saß Klaus Joachim von Birkowitz in einem
+dunkelgrünen Sessel aus der Biedermeierzeit, den Kopf leicht an die
+linke Seitenklappe der hohen Rücklehne gelehnt.</p>
+
+<p>Er saß aufrecht im Frack und hatte, das konnte man gut erkennen, ein
+blühendes Sträußchen in der blassen rechten Hand, die unbeweglich auf
+der leichten bunten italienischen Decke lag, die seine Beine verhüllte.
+Im Knopfloch trug er einen Myrthenbüschel&#8239;...</p>
+
+<p>Alle Kommenden mußten durch diesen gelben Salon.<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> Allen Kommenden
+wiederholte der Diener an der Türe mit diskreter Stimme:</p>
+
+<p>„Herr von Birkowitz befindet sich nicht ganz wohl. Er hat sich bei den
+ersten Gratulationen in der Frühe überanstrengt. Der Herr Baron ist
+deshalb in seinem Zimmer geblieben. Die Frau Baronin empfängt im Blauen
+Salon. Wenn die Herrschaften vielleicht dem Herrn Baron einen Gruß
+zunicken wollen ...“</p>
+
+<p>Und die Herrschaften wollten das. Und sie nickten durch das halbdunkle
+Zimmer dem befrackten Manne zu, der dort im Sessel saß.</p>
+
+<p>Einige wollten beobachtet haben, daß er freundlich wieder genickt habe.
+Andere hatten nichts dergleichen wahrgenommen.</p>
+
+<p>Alle waren einig darin, daß es nicht gut um den alten Herrn stehe, und
+daß er vielleicht doch schlauer zu Bett gegangen sei.</p>
+
+<p>Aber Ethel von Birkowitz im blauen Salon zwischen den beiden Vasen des
+Vizekönigs Ching-Chung-Gho versicherte:</p>
+
+<p>„Er hat’s nicht anders haben wollen. Wenigstens aus der Entfernung
+wollte er sich mit uns freuen.“</p>
+
+<p>Und der Polizeipräsident, der besonders scharfe Augen hatte bemerkte
+dazu:</p>
+
+<p>„Und, meine Gnädige — er <em class="gesperrt">freut</em> sich. Als ich ihm zunickte,
+spitzte er die Lippen — ich sah es deutlich — als ob er
+<em class="gesperrt">pfeifen</em> wollte. Vermutlich: ‚Freut Euch des Lebens‘ — — oder
+so was.“</p>
+
+<p>„So tut er immer, wenn er vergnügt ist“ lächelte Ethel.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span></p>
+
+<p>Einer aber war nicht vergnügt. Tobby XIII.</p>
+
+<p>In die Schuhkammer neben der Küche eingesperrt heulte er. Heulte
+unaufhörlich, obschon ihn die dürre Kochmamsell, die sehr nervös war,
+unter Zuhilfenahme eines Birkenholzkochlöffels eindringlich vermahnt
+hatte. Heulte laut und kläglich.</p>
+
+<p>Und das Spülmädchen, das vom Lande und sehr blond und sehr dumm war,
+sagte zu dem Konditor, der das Pastetenhaus brachte:</p>
+
+<p>„Bei uns zu Haus heulen die Hunde so, wann mer e Leich’n hab’n.“</p>
+
+<p>An dem Diner nahm Klaus Joachim <em class="gesperrt">nicht</em> teil.</p>
+
+<p>Sein mit Myrthen bekränzter Platz wurde nach dem Fisch von einem
+aufgeräumten Konsistorialrat eingenommen, der viel Rauentaler trank
+und drei verschiedene Reden hielt, von denen die erste keine rechte
+Veranlassung, die zweite keine Pointe und die dritte überhaupt keinen
+Sinn hatte.</p>
+
+<p>Zwischen dem Wildschwein und dem Fasan ging Ethel hinaus, um nach
+Klaus Joachim zu sehen, der sich nur von ihr betreuen ließ und keine
+Bedienung sehen wollte.</p>
+
+<p>„Welch eine Ehe,“ rühmte der Konsistorialrat als sie ging.</p>
+
+<p>Und „pfeift er noch?“ fragte der gutgelaunte Polizeipräsident, als sie
+wiederkam.</p>
+
+<p>Ethel war etwas blaß.</p>
+
+<p>Der Besuch bei dem Gatten schien sie angestrengt zu haben. Aber sie
+erinnerte sich sofort wieder ihrer<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> Pflichten als Mittelpunkt und
+Hausfrau und dem Polizeipräsidenten über die volle Obstschale zunickend
+lächelte sie:</p>
+
+<p>„Ja, er pfeift noch ...“</p>
+
+<p>Am Abend des nächsten Tages erschien in allen Blättern eine breit
+schwarzumränderte Anzeige, daß es in der Nacht nach seinem schönen Fest
+dem Allmächtigen gefallen habe, den vielgeliebten Herrn Klaus Joachim
+von Birkowitz und so weiter ... Tiefe Ergriffenheit sprach schon aus
+dem Konstruktionsfehler dieser Annonce. Denn nach <em class="gesperrt">ihr</em> war es der
+liebe Gott, der das schöne Fest gefeiert hatte.</p>
+
+<p>Der Konsistorialrat aber, der an diesem Tag heftigen Kopfschmerz
+hatte, äußerte, daran erkenne er wieder die große Gnade des Himmels,
+daß dieser wahrhaft christliche Mann noch habe das herrliche Fest
+mitansehen dürfen, ehe er von hinnen ging.</p>
+
+<p>Nur Tobby XIII wußte Bescheid.</p>
+
+<p>Er hatte die ganze Nacht geheult. Selbst als ihn das sehr blonde und
+sehr dumme Spülmädchen gegen Morgen mitleidig in sein Bett nahm, hatte
+er immerzu leise weiter gewinselt.</p>
+
+<p>Tobby wurde deshalb auch dem Milchmann geschenkt.</p>
+
+<p>Gerade als dieser brave Mann den heftig Widerstrebenden an einer
+Zuckerschnur die Hintertreppe hinunterzerrte, wurden die sechs riesigen
+silbernen Leuchter gebracht, die den Katafalk flankieren sollten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p>
+
+<p>Sie waren umflort und mit armdicken Kerzen besteckt und sahen wirklich
+festlich aus.</p>
+
+<p>Das Beerdigungsinstitut „Pietät“ hatte sie geliehen.</p>
+
+<p>Sie brannten am anderen Morgen bei einer kleinen Hausandacht, die der
+Konsistorialrat abhielt, zwischen den ebenfalls umflorten Vasen des
+Vizekönigs Ching-Chung-Gho.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p176">
+ <img class="w100 mbot3" src="images/p176.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span></p>
+
+<h2 class="trans" id="Der_Mann_mit_dem_persoenlichen_Einfluss" title="Der Mann
+mit dem persönlichen Einfluß">Der Mann mit dem persönlichen Einfluß</h2>
+
+<figure class="figcenter illowe28" id="p177">
+ <img class="w100" src="images/p177.jpg" alt="Titel: Der Mann mit dem
+ persönlichen Einfluß">
+</figure>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span></p>
+
+<p class="p0 mtop2"><span class="initial">E</span>s ist meine heilige Überzeugung, daß es sonst sehr achtbare, ja
+vortreffliche Menschen gibt, in deren Gebaren und Gesichtszügen
+eine ununterbrochene heimliche Aufforderung für alle großen und
+kleinen Gauner liegt, sie als geschätzte „Versuchsobjekte“ ihrer
+unsympathischen Kunst zu behandeln; schlicht gesagt: sie zu betrügen.</p>
+
+</div>
+
+<p>Ohne die flehendste Bitte des schönsten Gebets: „Führe uns nicht in
+Versuchung ...“ erfüllen zu wollen, scheint der liebe Gott solche
+merkwürdigen Leute hilflos in seine sonst so hübsch ausgedachte
+Schöpfung gestellt zu haben. Sie wandeln umher, freundlich und
+zutraulich, aber als fleischgewordener Fallstrick des Bösen. Und am
+Ende sind diese Guten von allem, was sie unternehmen, enttäuscht;
+denn sie haben bei jeder ihrer von besten Absichten geleiteten
+Unternehmungen mehr Lehrgeld bezahlt, als jeder andere; haben bei
+jedem Mißgeschick einen größeren Schaden besehen, als irgendwo sonst
+und finden — und das ist vielleicht das Betrübendste — mit den
+Erzählungen ihres Mißgeschicks statt inniger Teilnahme oft nur jenes
+durchaus pietätlose Gelächter, wie es<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> böse Menschen, die keine Lieder
+haben, im Anblick fremder Ungelegenheiten anzustimmen lieben&#8239;...</p>
+
+<p>Ein Musterbeispiel für diese meine aus sorgfältiger und liebevoller
+Betrachtung der Zeitgenossen gewonnene Lehre scheint mir noch heute der
+ehemalige Filzhutfabrikant Michael Monkebach zu sein, den ich vor einer
+Reihe von Jahren in einem süddeutschen Bade kennen lernte.</p>
+
+<p>Schon die Art der Bekanntschaft war seltsam.</p>
+
+<p>An der Mittagstafel in der „Quisisana“ saß ein Herr in mittleren Jahren
+neben mir, dem sein in Stoff und Schnitt sonst die Herkunft aus einer
+nicht billigen Schneiderwerkstatt verratender Anzug durchaus nicht zu
+passen schien. Das Tuch schlotterte an ihm herum, als habe er Rock und
+Weste von einem vermögenden Verwandten geerbt, der ihn an Leibesfülle
+ums Doppelte übertraf. Ein gewisser vergrämter Zug um die nicht
+unbedeutende Nase sowie ein traurig verschleierter Blick ließen mich
+erraten, daß es sich um einen der Schwerkranken, die sonst in diesem
+ziemlich harmlosen Bade selten waren, handeln müsse.</p>
+
+<p>Ich reichte ihm deshalb bei den Mahlzeiten die Schüsseln mit besonderer
+Freundlichkeit; ja, ich ertappte mich auf der edlen Anwandlung, ihm,
+wenn der Braten mir zuerst angeboten wurde, die weniger knorpligen
+Stücke des Hammels zu lassen, der hier einen unerläßlichen Bestandteil
+des mehr zeitraubenden als sättigenden Diners bildete.</p>
+
+<p>Einem Gespräch schien mein scheuer Nachbar auszuweichen.<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> Einige
+— wie ich zugebe — nicht allzu geistreiche Bemerkungen über die
+fluchwürdige Unbeständigkeit des Wetters, mit denen sich eine
+elegantere Konversation einzuleiten dachte, beantwortete er nur mit
+dem Hinweis darauf, daß er im Besitz von Gummischuhen sei und von mir
+das gleiche hoffe. Auf eine bescheidene Anfrage, ob er das Kurtheater
+häufig besuche, und wie er es finde, entgegnete er ausweichend, er
+habe jüngst einer Vorstellung des „Tropfens Gift“ beigewohnt, aber
+schon nach dem zweiten Akt den Saal verlassen, da er seinen Platz
+unmittelbar neben dem Eingang zu den Toiletten erhalten habe und durch
+eine fehlerhafte Konstruktion des Türschlosses die Verbindungstür nach
+diesen minderwertigen Räumen sich fortwährend von selbst geöffnet habe.</p>
+
+<p>Eine alte Kanzleirätin aus Bückeburg gab mir nähere Aufschlüsse über
+den betrübten Tischnachbar.</p>
+
+<p>Ich war mit der körperlich gebrechlichen Dame, die ein großes
+Mitteilungsbedürfnis besaß, dadurch bekannt geworden, daß sie meine
+Zimmernachbarin war und unter der fixen Idee litt, Mäuse in ihrem
+Zimmer zu haben. Die Klingel, die angeblich dazu bestimmt war, bei
+einmaligem Läuten den Zimmerkellner, bei zweimaligem Läuten das
+Mädchen, bei dreimaligem Läuten aber den Hausknecht zu zitieren,
+funktionierte leider so mangelhaft, daß weder der Kellner, noch das
+Mädchen, <em class="gesperrt">noch</em> der Hausknecht kam; und so war die alte Dame
+darauf verfallen,<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> sich vertrauensvoll an <em class="gesperrt">mich</em> zu wenden, wenn
+sie wieder den bestimmten Eindruck gewonnen hätte, daß Mäuse unter
+ihrem Bett oder hinter ihrem Schrank ihr neckisches Spiel trieben.</p>
+
+<p>Da ihr selbst das Bücken vom Arzt verboten war — eine Vorschrift, an
+die sie sich, immer von der Furcht vor einem Schlaganfall gewarnt, aufs
+strengste hielt —, so durfte <em class="gesperrt">ich</em> mir durch Herumkriechen unter
+ihrem Bett, Abrücken der Schränke usw. Bewegung machen und wurde von
+der Kanzleirätin „dirigiert“. Der Erfolg war immer negativ. Wenigstens
+was die Mäuse anbetraf. Dafür labte mich die alte Dame mit einem von
+ihr sehr geschätzten, selbstgebrauten Nußlikör, den sie in vielen
+Flaschen mitgebracht haben mußte, und der mit anderen mir bekannten
+Spirituosen nicht die geringste Geschmacksverwandtschaft zeigte und mir
+im wesentlichen aus Kandiszucker, Wasser, Lakritz und altem Leim zu
+bestehen schien.</p>
+
+<p>Nach jeder vergeblichen Mäusejagd unterhielt mich die vortreffliche
+Dame von den Gästen des Hotels aufs anregendste.</p>
+
+<p>Sie wußte, daß die Baronin über mir gar keine Baronin war, sondern
+eine gewöhnliche Adlige mit einer ziemlich neuen Fünfzackigen. Sie
+sei in einen jungen Badearzt verliebt und lasse sich deshalb auf
+Ischias behandeln. Die Kanzleirätin war ferner darüber orientiert,
+daß die Ehe des Rechtsanwalts auf Nr. 17 sehr unglücklich sei, weil
+der Schwiegervater heute, zehn Jahre nach der Hochzeit, noch immer
+nicht<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> mit der Mitgift herausgerückt sei und die junge Frau eine
+verhängnisvolle Neigung habe, jede versöhnliche Annäherung ihres
+Gatten mit der Geburt von Zwillingen zu beantworten. Sie hatte auch
+in Erfahrung gebracht, daß der Tenor auf Nr. 39, der angeblich der
+Liebling des kunstverständigen Publikums von Pernambuco war, Amerika
+niemals gesehen habe, auch nicht demnächst an der Wiener Hofoper
+Probe singe, sondern nächsten Winter vermutlich, wie schon die beiden
+vorhergehenden, in Berlin in obskuren, rauchigen Kabarets das Lied
+von der Leiche im Landwehrkanal zur Negergitarre vortragen werde.
+Es sei denn, daß die dicke Witwe aus Smyrna, die im Vorjahre ihren
+mit kandierten Datteln reich gewordenen Gemahl an einem Leberleiden
+verloren habe, doch noch auf diesen Tenor hereinfalle, der übrigens
+nicht verhungern könne, da er immer einen Knödel im Hals habe&#8239;...</p>
+
+<p>Dies alles, wie gesagt, wußte die beredte Kanzleirätin aus Bückeburg
+in ihrer charmanten, nur etwas weitläufigen Art zu berichten. Jedes
+Mißverstehen meinerseits war übrigens ausgeschlossen, da die alte
+Dame viele Jahre — bis zu seinem Ende — ihren schwerhörigen Gatten
+gepflegt hatte und aus alter Gewohnheit auch die <em class="gesperrt">nicht</em> mit dem
+Leiden ihres Seligen Behafteten mit ihrer hellen Stimme anschrie, daß
+es zunächst schier zum Entsetzen war.</p>
+
+<p>Auch über Michael Monkebach wußte sie das Nötige.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p>
+
+<p>Er hatte vom Vater eine Filzhutfabrik geerbt. Die erste selbständige
+Handlung Michael Monkebachs bestand darin, daß er ein neues
+patentiertes Verfahren ankaufte, den gewalkten, geformten und
+gesteiften Hut anstatt mit Schellack oder Leim mit einer wunderbaren
+Flüssigkeit zu „glänzen“, deren Zusammensetzung ein streng bewahrtes
+Geheimnis des Erfinders, eines angeblichen Chemikers aus der Bukowina,
+war. Als ungefähr 50000 Filzhüte in diesem Verfahren „geglänzt“
+waren, erwies es sich, daß die Fabrikate allerdings einen recht
+hübschen, spiegelnden Glanz hatten, aber schon nach einigen Wochen
+einen unleidlichen und unbekämpfbaren Geruch nach verdorbenem Fett
+ausströmten, der sie unverkäuflich machte. So war Michael Monkebach im
+Besitz eines wertlosen Patents und 50000 übelriechender Hüte, die er
+nicht loswerden konnte, und hatte einen hübschen Batzen Geld verloren.
+Der angebliche Chemiker aus der Bukowina war längere Zeit unauffindbar,
+bis ihn Monkebachs tüchtiger, aber nicht billiger Anwalt in einem
+Zuchthaus der Rheinprovinz auftrieb, wo er sich gerade aufhalten mußte,
+weil er einen Geldbriefträger meuchlings in eine Senkgrube geworfen
+hatte.</p>
+
+<p>Das zweite üble Geschäft, das Michael Monkebach leider machte, bestand
+im Ankauf des Patents einer neuen Haarblase- und Mischmaschine, die
+zwar außerordentlich schlecht funktionierte, aber den zwei daran
+beschäftigten Arbeiterinnen gleichzeitig die kleinen Finger der rechten
+Hände verstümmelte. Michael<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> Monkebach wurde in beiden Fällen zur
+Zahlung einer lebenslänglichen Rente verurteilt und hatte außerdem noch
+unter unausgesetzten Angriffen verschiedener Blätter zu leiden, die das
+geschehene Unglück als Folge einer verwerflichen Knauserei und reine
+niedrigen Profitwut darstellten.</p>
+
+<p>Der Organismus Michael Monkebachs quittierte über all diese
+Anfeindungen mit einem chronischen Magenleiden. Er beschloß, das
+Geschäft zu verkaufen, und war glücklich, als er einen Reflektanten
+fand, der ihm für die Hälfte des vollen Wertes die Fabrik mitsamt
+den zwei verderblichen Patenten und den 50000 nach verdorbenem Fett
+riechenden Filzhüten abnahm. Leider zahlte der Käufer die bedungene
+Summe zur Hälfte in Bergwerksaktien, die eigentlich nur noch für den
+Sammler kolorierter Drucke einen Wert hatten. Ein entrüsteter Protest
+hatte die Folge, daß dem Geschädigten als Ausgleich die 50000 Filzhüte
+angeboten wurden, die Michael Monkebach, dem beim bloßen Gedanken an
+ihren Geruch schon übel wurde, schaudernd zurückwies. Was ihm blieb,
+war ein Kapital, groß genug, daß er als Junggeselle sehr behaglich
+davon leben und sich im Sommer eine lange und durch unzählige ärztliche
+Vorschriften komplizierte Kur für sein chronisches Magenleiden gönnen
+konnte.</p>
+
+<p>Als er hier angekommen war — die Kanzleirätin, die das erzählte,
+war damals seine Zimmernachbarin, später zog sie wegen der Mäuse um
+— sah er verhältnismäßig<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> besser aus. Der Anzug, der jetzt seine
+Glieder umschlotterte, paßte ihm damals ganz gut. Aber, um diesmal
+den teuren Badearzt zu sparen, der für jede mit einer Frage nach
+dem werten Befinden verbundene Unterhaltung über diesen Sommer und
+über die Reize des Badeortes zehn Mark nahm, hatte er seine Kur nur
+nach den Anweisungen seines Hausarztes eingerichtet. Dabei hatte er
+unseligerweise die Viktoria-Quelle mit der Augusta-Quelle verwechselt
+und sieben Wochen lang, anstatt das für den Magen zuträgliche Wasser zu
+trinken, täglich sechs Becher jener berüchtigten Quelle eingeschlürft,
+deren Gebrauch als die radikalste Entfettungskur galt und mit vielen
+Unbequemlichkeiten und beschleunigten Spaziergängen, besonders nachts,
+verbunden war.</p>
+
+<p>Schließlich — vor einigen Tagen — war er in seiner Herzensangst,
+von dem Gespenst der Cholera gefoltert, <em class="gesperrt">doch</em> noch zu einem
+Badearzt gegangen und hatte ein Goldstück bezahlt für den guten Rat,
+allen Quellen weit aus dem Wege zu gehen, tüchtig Haferschleim zu essen
+und alle drei Stunden fünfzehn Opiumtropfen auf Zucker zu nehmen; ein
+Mittel, das ihm aus seligen Jugendtagen nach dem Genuß von unreifem
+Obst wohlbekannt war, und für dessen nicht seltene Verordnung seine
+gute Mutter niemals ein Goldstück genommen hatte.</p>
+
+<p>Durch diese Erzählung der Kanzleirätin gewann ich Interesse für den
+vom Pech und den Menschen verfolgten Filzhutfabrikanten a.&#8239;D. Und mit
+der<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> langsamen Besserung seines Leidens wurde er auch gesprächiger. Wir
+kamen uns menschlich näher.</p>
+
+<p>Ein harmloser, liebenswürdiger Mensch, von fast mädchenhafter
+Schüchternheit, die sich auch in den stets erstaunt blickenden Augen
+und den verlegenen Handbewegungen ausdrückte, ging er umher als der
+Typus jener menschgewordenen Versuchung für alle pfiffigen Profitmacher
+und skrupellosen Gauner. Wenn er mit einem Fünfmarkstück zahlte,
+bekam er stets nur auf einen Taler heraus. Wenn er eine Droschke
+mittags um zwölf Uhr benutzte, hatte er stets die <em class="gesperrt">Nacht</em>taxe
+zu bezahlen. Wenn er ein Scheibchen Schweizerkäse zu sich genommen,
+fand er bestimmt einen halben Camembert auf der Rechnung. Wenn er sich
+ein Berliner Abendblatt am Bahnhof kaufen wollte, war es sicherlich
+die Mittagsnummer der Magdeburger Zeitung vom Tage zuvor. Und wenn er
+seinen Hut vertauschte — ja, da ist’s ihm doch passiert, daß er in
+einem Restaurant des Badeortes, hundert Kilometer entfernt von seiner
+ehemaligen Fabrik, seinen schönen, neuen, silbergrauen Wiener Filzhut
+an den Garderobenhalter hängte und beim Weggehen einen der gräßlichen,
+nach ranzigem Fett riechenden Hüte eigener Fabrikation vorfand. Einen
+der <em class="gesperrt">ganz</em> wenigen, die damals durch ein Versehen in den Handel
+gekommen waren.</p>
+
+<p>Durch peinliche Häufung solcher Erlebnisse war Michael Monkebach auf
+melancholische Gedanken gekommen, die sich vom Haferschleim nicht
+verscheuchen<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> ließen. Er fühlte, daß da mit tröstlichen Redereien von
+Pech und Zufall nichts zu machen sei; daß es ihm vielmehr an Qualitäten
+des <em class="gesperrt">Charakters</em> fehlen müsse, die ihren Besitzer ein für allemal
+vor solchen an Verhöhnung grenzenden Angriffen schützen mußten.</p>
+
+<p>Da hatte er eines Tages, als es in Strömen regnete und ihm gerade sein
+neuer Regenschirm gestohlen worden war, beim Auf- und Abwandeln in den
+gedeckten Kolonnaden beim Buchhändler zwei Bücher entdeckt, die ihn
+durch ihre Titel lockten. „Wie wird der Mensch energisch“ hieß das
+eine, und „Wie erlange ich die Macht des persönlichen Einflusses“ das
+andere.</p>
+
+<p>Mittags im Lesezimmer — er hatte natürlich den einzigen
+<em class="gesperrt">un</em>gepolsterten Stuhl erwischt — sah ich ihn eifrig bald in dem
+einen, bald in dem andern Buch lesen. Und als sich gegen Abend das
+Wetter aufhellte und er in fremden Gummischuhen — die seinen waren
+ihm gegen zwei, merkwürdigerweise unter sich verschiedene, ihm viel zu
+große Überschuhe vertauscht worden — neben mir her durch die Pfützen
+des Kurparks schritt, sprach er hochbefriedigt von seiner Lektüre.</p>
+
+<p>Er sehe jetzt ein, daß es ihm eigentlich nur an „Persönlichkeit“
+gefehlt habe, äußerte er in schöner Offenheit. Die „Persönlichkeit“
+aber sei durchaus nichts Angeborenes, das wisse er jetzt, sondern etwas
+Erwerbbares, etwas Erlernbares. Vor allem müsse<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> man sich gewöhnen, die
+Dinge und Menschen mit festem Blick ins Auge zu fassen.</p>
+
+<p>Indem er so sprach, übte er den Blick an verschiedenen Laternen des
+Kurparks, die ungerührt weiter ihr spärliches Licht in die Regenluft
+streckten&#8239;...</p>
+
+<p>Als ich am nächsten Morgen an seinem Zimmer vorbeikam, hörte ich
+Michael Monkebach singen. Falsch aber laut und mit einer gewissen
+trotzigen Freudigkeit. Das war gegen seine Gewohnheit.</p>
+
+<p>Ich klopfte an, steckte den Kopf durch die Tür und fand ihn, nur mit
+Hose und Hemd bekleidet, sehr merkwürdige und nie gesehene Freiübungen
+mit einer gefüllten Waschkanne machen.</p>
+
+<p>„Ein Stuhl ist mir doch zu schwer dazu,“ erklärte er, „aber sehen Sie
+nur, wie mir diese Übungen schon gelingen. Erst Kniebeuge — sehen Sie:
+<em class="gesperrt">so</em> — uff, mein Kreuz — jetzt — jetzt: leichtes Zehenwippen
+und Strecken des Rumpfs und nun wieder, passen Sie auf — eins — zwei
+— Kniebeuge — drei — vier Vorstoßen der Wasserkanne.“</p>
+
+<p>Er stieß so energisch vor, daß ihm die Wasserkanne aus den Händen
+glitt, fiel und zerbrach, wobei auch seine Beinkleider durchnäßt wurden.</p>
+
+<p>Während er sie mit einem Handtuch trocknete, rief ich das
+Stubenmädchen. Sie hieß Adele, hatte rote, selten gekämmte Haare und
+war weder schön, noch höflich. Mit Michael Monkebach war sie aber
+direkt grob, was mir auffiel. Sie wußte offenbar noch nichts von seiner
+neugewonnenen „Persönlichkeit“.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
+
+<p>Als die rothaarige Adele gegangen war, fragte ich ihn, warum er sich
+diesen Ton nicht verbeten und die Kecke kräftig angehaucht habe.</p>
+
+<p>„Das lohne nicht“, meinte er, „bei Untergebenen.“ Aber bei
+Gleichgestellten — na, ich werde ja sehen! Man müsse den „Mut zum
+Widerspruch“ haben und um der „Persönlichkeit“ willen „verharren“
+— nämlich auf der einmal eingenommenen Stellung — sie geistig
+verteidigen, wie eine Festung und dabei die Macht des persönlichen
+Einflusses spielen lassen durch das Auge.</p>
+
+<p>„Es ist der Trick aller Dompteure,“ sagte er zuversichtlich,
+„die fixieren die Bestie; und das Tier, instinktiv die Macht der
+Persönlichkeit fühlend, duckt — und gehorcht.“</p>
+
+<p>Beim Mittagstisch saßen wir — Michael Monkebach und ich — einem
+Rittmeister in Zivil gegenüber, der sich gern reden hörte und dazu
+erstaunliche Quantitäten billigen Moselweins trank.</p>
+
+<p>Michael Monkebach schien von dieser hellen Kommandostimme aufgeregt
+zu werden. Er wippte auf dem Stuhl hin und her, nahm sich fünf Stücke
+Schweinebraten, den ihm der Arzt strengstens verboten hatte und den er
+auch liegen ließ; fertigte Brotkugeln, die er dann in der Zerstreuung
+aß, und fühlte dazwischen nach der Brusttasche, aus der ich den
+majonnaisegelben Umschlag des interessanten Werkes „Wie wird der Mensch
+energisch“ feindlich hervorlugen sah.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p>
+
+<p>Der Rittmeister hatte gerade an der Hand eigener, sehr aufregender
+Manövererlebnisse einer dicken Rentiere aus Stettin, die sich Tag und
+Nacht nicht von einem pfundschweren Bernsteinschmuck zu trennen schien,
+den unvergleichlichen Nutzen der Kavallerie für den Aufklärungsdienst
+erläutert, da vernahm ich Michael Monkebachs fremdartig schrill
+klingende Stimme, die hervorstieß:</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Ich</em> bin der Ansicht — bin der Ansicht, daß beim nächsten Krieg
+die Kavallerie einfach eine <em class="gesperrt">tote</em> Waffe sein wird.“</p>
+
+<p>Er war sichtlich stolz auf den unsinnigen Ausdruck „tote Waffe“ und
+sehr erregt. Schweiß stand in reichen Perlen auf seiner Stirn.</p>
+
+<p>Ich begriff, es war die „Energie“-Probe.</p>
+
+<p>Ich sah seinen Blick starr, als wolle er ein Huhn hypnotisieren, auf
+den Rittmeister gerichtet, der schweigend sein Monokel einklemmte, ein
+Lächeln verbiß und dann sehr höflich sagte:</p>
+
+<p>„Der Herr ist ohne Zweifel Kavallerist gewesen?“</p>
+
+<p>„Nein, ich bin — bin Landsturm — ja wohl Landsturm <em class="gesperrt">mit</em>
+Waffe. Aber meine Ansicht ist deshalb <em class="gesperrt">doch</em> wohlbegründet.
+In einem Zukunftskrieg nämlich — in einem Zukunftskrieg —“ Seine
+Vorstellungen über den Zukunftskrieg schienen leider doch nicht so klar
+und übersichtlich geordnet, wie es für diese Unterhaltung wünschenswert
+gewesen wäre. Plötzlich aber verbreitete sich ein Ausdruck der
+Entrüstung über sein nervöses, blasses Gesicht und die<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> sieghaften
+Worte überstürzten sich schier: „Die Pferde werden totgeschossen, ja.
+Und die Reiter — und die Reiter — liegen <em class="gesperrt">unter</em> den toten
+Pferden ...“</p>
+
+<p>Der Rittmeister glaubte es offenbar mit einem gelinde Verrückten zu tun
+zu haben. Er ließ das Monokel in die hohle Hand fallen und wandte sich
+ruhig zu seiner bernsteingeschmückten Nachbarin.</p>
+
+<p>„Sie müssen sich vorstellen, meine Gnädige ...“</p>
+
+<p>Michael Monkebach ließ das starre Auge — er dachte offenbar an den
+„Dompteur“ und fühlte die Wichtigkeit des Augenblicks dieser Probe —
+nicht von dem Rittmeister, der nach einer Weile den stierenden Blick
+unbehaglich empfand, sein Monokel wieder einklemmte und eine merkwürdig
+ernste Falte über dem Nasenrücken sehen ließ. Die kerzengerad
+aufliegende Falte, die wie eine Fortsetzung des nur durch die recht
+knapp bemessene Stirn unterbrochenen Scheitels aussah, gab dem Gesicht
+etwas Hartes, Drohendes.</p>
+
+<p>Ich fühlte: die Katastrophe nahte.</p>
+
+<p>Die Rosinen und Krachmandeln wurden gerade herumgereicht — es waren
+immer dieselben, da niemand jemals davon aß — und die alte Engländerin
+am Kopf der Tafel erhob sich, lang und dürr wie eine entlaubte Pappel
+im Winter, und schritt, wie immer als die Erste an dem galant die
+Tür aufreißenden Oberkellner vorbei nach dem Lesezimmer, wo sie
+täglich ihre sieben bis neun Stunden an dem einzigen Schreibtisch
+saß und mittels einer goldenen Füllfeder geheimnisvolle Briefe in
+Riesenbuchstaben schrieb.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span></p>
+
+<p>Die Tafel leerte sich.</p>
+
+<p>„Kommen Sie, Herr Monkebach,“ flüsterte ich besorgt, da mir für den
+Filzhutfabrikanten unbehaglich wurde, „<em class="gesperrt">gehen</em> wir schon!“</p>
+
+<p>Ich suchte durch eine besonders liebenswürdige Verbeugung gegen die
+Bernsteindame aus Stettin und den Rittmeister die Aufmerksamkeit von
+Monkebach ab und auf <em class="gesperrt">mich</em> zu lenken:</p>
+
+<p>„Mahlzeit.“</p>
+
+<p>„Mahlzeit!“</p>
+
+<p>Der Rittmeister schmetterte es heraus, als ob er eigentlich etwas ganz
+anderes sagen wollte, etwa: „Hol euch der Henker!“ oder so etwas.</p>
+
+<p>Wir waren noch nicht im Vestibül, da kam der Rittmeister hinter uns her:</p>
+
+<p>„Pardon, wenn ich die Herren störe. Ich möchte Herrn Fabrikanten
+Monkebach — ich irre mich doch nicht? — um zwei Worte unter vier
+Augen bitten.“</p>
+
+<p>Er sagte das mit einer sehr höflichen Verbeugung nach mir hin; und
+ich beeilte mich zu versichern, daß ich die Herren in ihrer privaten
+Besprechung keinesfalls zu stören wünsche.</p>
+
+<p>Als ich mich empfahl, schweifte mein Blick über Michael Monkebachs
+Angesicht. Er sah aus, als habe er seit drei Tagen seine Beerdigung
+hinter sich. Die Rechte krampfte sich in die Brustseite, wo der Rock
+das köstliche Buch mit allen schönen Lehren über die „Persönlichkeit“
+verhüllte. Die Beine aber, die ihn hinter dem vorausschreitenden
+Rittmeister nach dem<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> Rauchzimmer, dem Ort der Unterredung, trugen,
+knickten und tänzelten und schlenkerten, als ob sie durchaus nicht
+mehr von der Zentrale des Nervensystems eines <span class="antiqua">homo sapiens</span>
+zweckentsprechend dirigiert würden, sondern vielmehr einer Puppe im
+Kasperletheater angehörten, deren schlotternder Leib voll Sägespäne und
+deren zerbeulter Kopf von lakiertem Holz ist&#8239;...</p>
+
+<p>Zwei Stunden später ging ich zu Michael Monkebachs Zimmer hinauf.</p>
+
+<p>Die gesprächige Kanzleirätin hatte mich mit Mitteilungen über einen mir
+gänzlich unbekannten Baron Montecatanio aufgehalten, der, allen Gästen
+unsichtbar, die teuersten Zimmer im Hotel bewohnte und früher, wie sie
+behauptete, in ganz verwerflicher Weise mit Sklaven am Kongo gehandelt,
+dann in Alexandrien eine berüchtigte Spielbank gehalten haben sollte.
+Lauter Dinge, die gewiß sehr unschön und tadelnswert, mir aber im
+Moment furchtbar gleichgiltig waren.</p>
+
+<p>Ich traf Michael Monkebach beim Packen der Koffer, eine Tätigkeit, der
+er mit einer fast fanatischen Hast oblag.</p>
+
+<p>„Schließen Sie die Tür hinter sich — den Riegel, bitte, auch,“ rief
+er mir flehend zu. „Danke. Sie müssen wissen, der Rittmeister —
+übrigens ein <em class="gesperrt">prächtiger</em> Mensch! — wollte mich fordern — auf
+Pistolen. Haben Sie schon mal eine Pistole in der Hand gehabt? — Ich
+nicht ... Wenn es schließlich<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> noch Säbel gewesen wären. Ich hatte eine
+Leidenschaft für Säbel — als Kind. Aber gleich — wo sind denn die
+Socken! aha, hier unter dem Nachttisch — aber gleich: Pistolen! — Ich
+bin — bin — Himmel, jetzt habe ich eine Fußbank eingepackt! — ich
+bin unter <em class="gesperrt">Filzhüten</em> groß geworden. Mein Vater — wollen Sie mir
+mal die Zahnbürste reichen? Danke — ist auch — ist <em class="gesperrt">auch</em> unter
+Filzhüten groß geworden. Mein Großvater — —“</p>
+
+<p>Da ich fürchtete, daß noch <em class="gesperrt">viele</em> des Geschlechts „unter
+Filzhüten“ groß geworden seien, so lenkte ich ab.</p>
+
+<p>„Haben Sie denn eine Entschuldigung schroff abgelehnt —?“</p>
+
+<p>„Den Teufel hab’ ich! Ich habe gesagt, daß ich unter <em class="gesperrt">Filzhüten</em>
+groß geworden bin, und daß mein Vater ...“</p>
+
+<p>„Unter Filzhüten groß geworden ist, ich weiß. Und war er von diesen
+Filzhüten, wollt’ ich sagen: von diesen Erklärungen befriedigt?“</p>
+
+<p>„Das schon. Aber wer weiß, er besinnt sich vielleicht wieder anders.
+Gott, so ein Kavallerist. — Das Handwerk verroht, nicht wahr? ...
+Eine Tante von mir hatte ein Dienstmädchen, die hatte bei einem
+Scharfrichter gedient ... nein, was die für Sachen erzählte, nicht zum
+Wiedergeben. Ich hab’ sie übrigens auch vergessen. Aber <em class="gesperrt">das</em> ist
+sicher: es gibt Berufe, die das Gemüt verkümmern lassen ... Und dann
+wissen Sie, <em class="gesperrt">ich</em> bin nicht für die ‚Persönlichkeit‘ geboren.<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> Und
+das mit der Erziehung zur Persönlichkeit —“</p>
+
+<p>Er riß plötzlich das majonnaisegelbe Buch, das ihm beim Bücken immer in
+die Achselhöhle stach, zornig aus der Tasche und schleuderte es in die
+Ecke — „das ist Unsinn. Wenn man unter Filzhüten groß geworden ist —
+— Sehen Sie nur —“</p>
+
+<p>Er hielt plötzlich inne und zeigte mir die bereits quittierte Rechnung
+des Hotels: „Was hab’ ich eigentlich <em class="gesperrt">hier</em> bezahlt?“</p>
+
+<p>Er zeigte mit dem Finger auf einen unleserlichen Posten. „Ich kann’s
+nicht lesen, der Oberkellner kann’s nicht lesen, Adele kann’s nicht
+lesen — aber es macht zwölf Mark.“</p>
+
+<p>„Und Sie haben —?“</p>
+
+<p>„Bezahlt! Natürlich. Lieber Herr Doktor, ich <em class="gesperrt">bin</em> eben keine
+‚Persönlichkeit‘. Ich will fort, nach Hause — Haferschleim kann ich
+dort <em class="gesperrt">auch</em> essen, nicht wahr? Und Kavallerie-Rittmeister lade
+ich mir ganz bestimmt nicht ein ... Würden Sie mir die Gefälligkeit
+erweisen, <em class="gesperrt">mit</em> zur Bahn zu fahren? Das vorige Mal ist mir der
+Kutscher so grob geworden — ich habe dann gern jemand bei mir.“</p>
+
+<p>Am Bahnhof spendierte sich Michael Monkebach ein Billett <em class="gesperrt">erster</em>
+Klasse. Wegen der Nerven.</p>
+
+<p>Als der Zug ankam — er hatte Verspätung, und alles mußte sehr eilig
+gehen — erwies es sich, daß das <em class="gesperrt">einzige</em> Coupé erster Klasse für
+einen Erzbischof mit Bedienung belegt war. Die zweite Klasse<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> aber war
+durch den Andrang zu einem Sängerfest in der Umgegend total überfüllt.
+So fuhr Michael Monkebach mit seinem teuer bezahlten gelben Billett in
+einer dritten Klasse mit fünf jüdischen Viehhändlern, von denen einer
+einen struppigen, unappetitlichen Bullenbeißer bei sich hatte, der
+einen ungewöhnlich starken Hundegeruch ausströmte.</p>
+
+<p>Noch als sich der Zug in Bewegung setzte, rief ich Michael Monkebach zu:</p>
+
+<p>„Sie sollten sich beschweren — ihr Geld zurückverlangen.“</p>
+
+<p>Ich sah noch sein schmerzliches Lächeln hinter dem Fenster, das, vom
+Regen gequollen, nur halb herunterzulassen war:</p>
+
+<p>„Lieber Gott, <em class="gesperrt">ich</em> und — <em class="gesperrt">beschweren</em>. Dazu gehört
+Per—sön—lich—keit. Wenn man, wie ich ...“</p>
+
+<p>Ich hörte nichts weiter, da einer der Viehhändler, auf dessen Fuß
+Michael Monkebach wohl unabsichtlich getreten war, ihn sehr hart
+anließ. Aber ich ahnte, was er hatte sagen wollen: „Wenn man, wie ich,
+unter Filzhüten groß geworden ist ...“</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Ich hatte dann jahrelang nichts mehr von ihm gehört. Auch nichts von
+seinen Filzhüten.</p>
+
+<p>Menschen, die unter anderen Dingen groß geworden waren, hatten mein
+Interesse erweckt. Es waren wohl auch Damen darunter. Kurz, ich vergaß
+ihn. Vergaß ihn so sehr, daß ich mich sogar seines<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> Namens nicht mehr
+entsann, als er in merkwürdigem Zusammenhang, allerdings nur so als
+Appendix, als Mitläufer, zuerst wieder an mein Ohr schlug.</p>
+
+<p>Ich verkehrte damals viel in einem Kreise junger Literaten, die sich
+gegenseitig sehr gut gefielen und jeden Freitag in dem Hinterstübchen
+eines Restaurants im Westen zusammenkamen, um sich über die Gemeinheit
+niedriger Lohnschreiber, die schnödes Geld mit ihren Büchern
+verdienten, und über die lächerliche Talentlosigkeit aller nicht
+zu ihrem Kreise Gehörigen aufgeregt zu unterhalten. Ich hatte mich
+nicht als Mitglied aufnehmen lassen, da ich — ohne den Rausch an
+sich hochmütig zu verwerfen — nie ein Freund davon war, mir mit
+geschwollenen Redensarten Herz und Hirn zu füllen. Aber als Schwester
+eines fanatischen Neutöners, der in seinen Gedichten niemals auch nur
+das bescheidenste Satzzeichen anbrachte und deshalb von Heine, Lenau
+und Mörike wie von sitzengebliebenen Schulbuben aus der Hilfsklasse für
+Schwachsinnige sprach, nahm häufig ein sehr schönes Mädchen an diesen
+denkwürdigen Sitzungen teil.</p>
+
+<p>Sie redete weder klug, noch töricht. Sie war <em class="gesperrt">da</em>, das genügte.
+Denn die Schönheit braucht eben nur vorhanden zu sein, um ohne weitere
+Anstrengung Besonderes zu wirken.</p>
+
+<p>Sie bereitete sich dünnen Tee, während die andern meist geschmierten,
+billigen Wein tranken; lauschte den donnernden Tiraden des alle Erfolge
+aus der<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> Hochburg seiner Unbekanntheit verachtenden Bruders und seiner
+hohnlächelnden, umstürzlerischen Sippe und schlug zuweilen ein paar
+große sanfte Kinderaugen zu mir auf, blau und tief, wie ein Märchen.</p>
+
+<p>Wie ein kleiner, zarter Paradiesvogel im ruppigen Krähennest kam
+sie mir vor. Und ich begriff es völlig, daß gut die Hälfte aller
+sogenannten Gedichte, die diesem kraftgenialischen Kreise entstammten,
+an ihre stillen, blauen Augen gerichtet waren. Ich glaube, ich selbst
+habe damals ... Aber das gehört nicht hierher. Denn meine Gedichte
+reimten sich und gaben zuweilen, wenn man sie aufmerksam las, einen
+Sinn. Zwei Eigenschaften, die sie in diesem erleuchteten Kreise dem
+grimmigsten Hohn preisgegeben hätten.</p>
+
+<p>Diese künstlerische Vereinigung hatte auch einige durch Akklamation
+gewählte und durch Nachtdepeschen, die diese stolze Ehrung meldeten,
+erschreckte „korrespondierende Mitglieder“. Deren Briefe ähnelten
+sich alle darin, daß sie sehr schlecht auf gelbe Notizbuchblätter,
+zerknitterte Telegrammformulare oder benutzte Papiermanschetten
+geschrieben waren und eigentlich weniger von den idealen
+Angelegenheiten der Poesie und Kultur als von momentanen ärgerlichen
+Verlegenheiten, peinlicher Geldnot, schmerzlicher Untreue einer
+Kellnerin und solchen Dingen handelten.</p>
+
+<p>Nur <em class="gesperrt">ein</em> korrespondierendes Mitglied schien sich in leidlich
+geordneten Verhältnissen zu befinden.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Maruschka Anastasia</em> nannte sie sich in ihren Liedern. Sie war
+es, die sich einer ganz erstaunlichen<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> Wertschätzung in diesem Kreise
+erfreute. Die Freiheit des Weibes wurde in ihren Gesängen gepredigt,
+gefordert, gedroht; die Revolution der Ehe, die geharnischte Auflehnung
+gegen uralte entehrende Sklaverei.</p>
+
+<p>Diese heftigen Gedichte wurden häufig an den Freitagsabenden
+vorgetragen. Ein ziemlich verwahrloster, dicker, kleiner Mann, der,
+wie er sagte, an einer „Reformation der Rezitationskunst“ arbeitete,
+bestieg dann einen Stuhl, knöpfte umständlich den obersten Knopf seines
+Hosenbundes und die beiden untersten Knöpfe seiner originell karierten
+Weste auf, „damit die Bauchmuskulatur beim Vortrag nicht gehemmt
+werde“, faltete die fettigen Hände über der eingedrückten Brust, schloß
+die unschönen verschwommenen Augen, um tiefste seelische Konzentration
+zu markieren, röchelte, als ob ihm ein D-Zug über beide Beine gefahren
+wäre, und schrie plötzlich unter heftigen Zuckungen die Nächstsitzenden
+an:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">„Nehmt mir die blut’gen Ketten aus dem Fleische,</div>
+ <div class="verse indent0">Reißt mir die welken Rosen von der Stirn ...!“</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Und dann gab er wohl zehn Minuten lang mit ungeheurem Gebrüll noch
+unzählige Aufträge ähnlichen Inhalts, deren nähere Beschaffenheit
+ich vergessen habe. Alles in wilden, bluttriefenden Versen. Wenn er
+unter dem demonstrativen Jubel der Versammlung geendet hatte, stieg
+er, sichtlich ermattet, dem Beifall mit den fetten Händen wehrend,
+verächtlich lächelnd vom Stuhl, machte sich kalte Umschläge<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> um die
+Stirn und trank ein sehr bemerkenswertes Gemisch von rohen Eiern,
+Kognak, Rotwein, und Benedektiner, das er „Lethe“ nannte.</p>
+
+<p>Wenn er sechs bis acht Glas Lethe getrunken hatte, nahm er sich einen
+Taxameter, gab ihm geheimnisvolle Weisung und fuhr „in die Einsamkeit“,
+wie er sagte. Die Mitglieder des Bundes nährten die Überzeugung, der
+große Künstler ließe sich dann jedesmal bis zum Waldrand fahren;
+dort steige er aus und erwarte schweigend, das Haar dem Spiel der
+Morgenwinde preisgegeben, den ergreifenden Anblick des Sonnenaufgangs,
+die einzig wahre Sensation, die ihm dies schale Leben noch zu bieten
+habe. Seit ich ihn aber einmal, wenige Stunden nach solcher Sitzung,
+nach Vortrag und reichlichem Lethegenuß in den Arkadiasälen mit einer
+strohblonden Dame sehr heftig und sehr ungraziös Cake Walk tanzend
+getroffen habe, war meine ehrfürchtige Bewunderung für das genialische
+Einsamkeitsbedürfnis des dicken Lethekonsumenten stark erschüttert. Und
+an die Sonnenaufgänge glaubte ich nicht mehr.</p>
+
+<p>Es waren immer Gedichte von Maruschka Anastasia, die der Reformator
+der Rezitationskunst vortrug. Mir kamen sie wie lauter gereimte
+Beschimpfungen des Mannes vor; und ich hätte, selbst wenn ich ihren
+poetischen Gehalt an Bildern, schönen Wendungen, Blüten der Phantasie
+höher eingeschätzt hätte, nicht recht begriffen, warum sich diese
+Gesellschaft von flaumbärtigen Literaten just daran berauschte,<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> ihr
+eigenes Geschlecht vom Geifer des Hasses einer exaltierten Dame emsig
+bespien zu sehn.</p>
+
+<p>Eines Abends — der Lethetrinker saß nach getaner Arbeit gerade wieder
+mit einer kalten Kompresse um die Reformatorenstirne in der Ecke und
+rührte mit stimmungsvollem Ernst eine halbe Pulle rubinroten Rotwein
+an drei verklepperte Eier — sprang mir eine neugierige Frage auf die
+Lippen.</p>
+
+<p>„Sagen Sie, liebes Fräulein“ ich wandte mich an die schweigend neben
+mir mit dem Teekessel hantierende Besitzerin der blauen Märchenaugen,
+„heißt Ihre Lieblingsdichterin — ich muß sie doch wohl so nennen —
+diese Maruschka Anastasia nun <em class="gesperrt">wirklich</em> Maruschka Anastasia oder
+...“</p>
+
+<p>Der Lethemischer unterbrach alsobald seine rührende Tätigkeit und
+stand plötzlich einen sehr lieblichen Geruch nach Kognak und Rotspohn
+verbreitend neben mir:</p>
+
+<p>„Das wissen Sie wirklich nicht? Aber, Mensch, wo <em class="gesperrt">leben</em> Sie?
+Maruschka Anastasia ist eine Frau, nicht fern dem Ende der zwanziger,
+man kann schon sagen Anfang der dreißiger. Eine verheiratete Frau —“</p>
+
+<p>„Natürlich <em class="gesperrt">un</em>glücklich verheiratet?“ warf ich ein.</p>
+
+<p>„Na—tür—lich.“</p>
+
+<p>Und irgendwoher aus dem Zigarettenrauch kam eine müde Stimme:</p>
+
+<p>„Haben Sie überhaupt schon einmal eine <em class="gesperrt">glückliche</em> Ehe gesehen?“</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p>
+
+<p>„Nun — ich dächte zum Beispiel meine Eltern ...“</p>
+
+<p>Der Lethemischer roch mitleidig lächelnd an seinem Glase:</p>
+
+<p>„Es liegt mir fern, die Ehe Ihrer geschätzten Eltern hier auf die von
+Ihnen behauptete Trivialität untersuchen zu wollen. Wäre ja auch eine
+fruchtlose Bemühung. Ich kenne von dieser Ehe auch nichts, als ihr
+Produkt: <em class="gesperrt">Sie</em>. Im Anblick dieses Produkts kann ich mich aber —
+ohne ihren vielleicht verborgenen Qualitäten nahetreten zu wollen —
+<em class="gesperrt">nicht</em> zu dem freudigen Glauben durchringen, daß die dazu nötige
+Ehegemeinschaft eine glückliche war.“</p>
+
+<p>„Danke,“ ich verneigte mich. „Aber auf meine belanglose Person wollte
+ich wirklich das durch Ihre gütige Mitwirkung so interessante Gespräch
+nicht bringen. Ich fragte in aller Bescheidenheit nach den näheren
+Verhältnissen der hier so geschätzten Dichterin Anna Maruschka. Fragte,
+weil es mich interessiert, ob da persönliche Erlebnisse vielleicht den
+Grund zu dieser düsteren Lebensanschauung gelegt haben, oder ...“</p>
+
+<p>Jetzt nahm der kleine Egon Felix Gundelmann das Wort. Ein äußerst
+merkwürdiger Jüngling, den ich, so lang ich ihn kenne, nie etwas
+anderes habe betrachten sehen, als seine eigenen Fingernägel; ohne
+daß er aus dieser Betrachtung einmal das naheliegende Bedürfnis
+geschöpft hätte, diese Objekte seiner ungeteilten Aufmerksamkeit zu
+reinigen. Er fiel durch eigene Produktion in diesem Kreise niemals
+lästig.<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> Aber er war, um mit Hamlet zu reden, so etwas wie der
+Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters. Allerdings Spiegel
+und Chronik ganz im Sinne der anregenden Gesellschaft, die seine
+mehr auf Sammeleifer als auf Gedanken beruhende Weisheit umgab. Er
+hatte ein geradezu phänomenales Gedächtnis für Namen und Zahlen, war
+wegen dieser letzteren Eigenschaft bei den Kellnern sehr unbeliebt,
+erschien aber als der geborene Literaturhistoriker, ein wandelndes
+Nachschlagewerk. Wann der oder jener giftige Vierzeiler auf der 387sten
+Seite der Zeitschrift „Marsyas“ rechts oben in der Ecke gestanden
+hatte; wieviel an Honorar die genannte Zeitschrift — der anerkannte
+Sammelpunkt der „Jüngsten“ — dem oder jenen Neutöner für seine
+tiefempfundenen „Elegien in freien Rhythmen“ schuldig geblieben war;
+wie hoch die unheimlichen Saarweine, die der Lethefreund vor drei
+Jahren in die Frühlingsbowle geschüttet hatte, auf der Karte notierten
+und mit welchem Aufschlag sie der verbrecherische Kellner in Rechnung
+gestellt hatte — all solche schwierigen Fragen und erstaunlichen
+Gedächtniskunststücke bewältigte Egon Felix Gundelmann spielend. Sobald
+Namen, Taten, Zahlen in Frage kamen, blickten aller Augen fragend
+und wißbegierig auf ihn. Die seinen aber verweilten nach wie vor auf
+seinen unsauberen Fingernägeln, und aus diesen unschönen Ausläufern
+seiner Persönlichkeit schien er all sein verblüffendes Wissen mühlos
+herauszulesen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p>
+
+<p>„Maruschka Anastasia“, sagte er jetzt, „ist geboren vor dreiunddreißig
+Jahren am neunzehnten Juli, d.&#8239;h. an dem Tage, an dem im Jahre 1796
+der Buchhändler Georg von Cotta geboren wurde, der später, auf den
+Ungeschmack der Menge bauend, den Werken der sogenannten Klassiker
+eine heute noch schädlich nachwirkende Verbreitung leihen zu müssen
+glaubte. An demselben Tage wurde fünfundzwanzig Jahre später der
+Dichter Gottfried Keller in Zürich geboren, dessen Werke ich zwar
+nicht hoch einschätze, der aber durch die knorrige Grobheit seines
+Wesens und durch die bis ins späte Alter bewährte Vorliebe für starke
+gegorene Getränke verriet, daß vielleicht etwas in unserem Sinne aus
+ihm geworden wäre, wenn er sich entschlossen hätte weiter zu hungern,
+anstatt sich als Staatsschreiber in die schmachvolle Abhängigkeit des
+Kantons Zürich zu begeben. Daß an diesem selben Tage dann im Jahre 1870
+Frankreich an Preußen den Krieg erklärte, erwähne ich noch nebenbei.
+Dieser Krieg hat für das geistige Deutschland eine tiefe Demütigung
+gebracht, indem der Singsang der sogenannten patriotischen Dichter
+zu einem Ansehen gelangte, das jeden ästhetisch reifen Beurteiler,
+der an die große Zukunft der ungereimten, abstrakten Gedankenpoesie
+glaubt, mit tiefster Beschämung erfüllen muß. Wir haben durch diesen
+Krieg einige Schlachten und einige Kriegervereine gewonnen und dafür
+auf Jahrzehnte das Bewußtsein unserer in blöden Siegesfesten ersäuften
+Kulturmission verloren. Erst<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> dadurch, daß vor dreiunddreißig Jahren
+Maruschka Anastasia als Tochter eines durch seelische Verirrungen
+zum Winkelkonsulenten herabgesunkenen ehemaligen Notars und einer
+echten Tochter des Volkes geboren wurde, hat dieser Julitag für das
+intellektuelle Deutschland der Zukunft wieder einen Klang und eine
+Bedeutung gewonnen.“</p>
+
+<p>Egon Felix Gundelmann las diese letzten Worte vom Nagel des Daumens
+seiner linken Hand mit sichtlicher Befriedigung ab. Ich dankte mit
+einigen unbedeutenden Worten für die gütige Belehrung, gab aber der
+Ansicht Ausdruck, daß meine Frage eigentlich damit nicht beantwortet
+sei, da ich zu wissen verlangte, ob Maruschka Anastasia der richtige,
+in den Standesbüchern eingetragene Name dieser erstaunlichen Frau sei,
+und ob sie selbst die von ihr so glühend gehaßten Ehefesseln jemals
+getragen und — wie ich fast vermuten müsse — mit all der Kühnheit,
+die ihre Gesänge durchbrauste, hohnlachend abgeschüttelt habe.</p>
+
+<p>Egon Felix Gundelmann betrachtete eingehend den Nagel seines mit einem
+häßlichen Geschwür aus kupfrig glänzendem Gold geschmückten Ringfingers
+und gab — immer im Ton einer wissenschaftlichen Vorlesung — die
+überraschende Auskunft:</p>
+
+<p>„Maruschka Anastasia heißt eigentlich mit ihrem Mädchennamen Anna
+Kuntze — mit tz. Auf das tz legt sie Wert. Die letzten Nachrichten,
+die wir von ihr hatten, stammen vom 21. Juli des Vorjahres. Sie<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span>
+dankte uns damals für ein in der Nacht ihres Geburtstages aufgegebenes
+Nachttelegramm, das sie selbst, wie sie schrieb, herzlich erfreut
+und ihrem offenbar sehr schreckhaften Mann eine kleine Nervenattacke
+eingetragen. Sie nennt sich jetzt Maruschka Anastasia Monkebach-Kuntze
+und lebt körperlich <em class="gesperrt">neben</em>, seelisch aber weit getrennt von einem
+Mann, der ein kleiner Rentier sein soll und sie, ohne ihre Bedeutung
+irgendwie mit ethischem Verständnis zu durchdringen, mit gebührender
+Verehrung behandelt.“</p>
+
+<p>„Monkebach-Kuntze. — Monkebach — Monkebach ...“ Ich wiederholte den
+Namen immer wieder. Wo hatte ich ihn bloß schon gehört? und in welchem
+Zusammenhang? Ich dachte an eine Menagerie, die ich als Kind besucht —
+aber nein, die hieß Münsterbach. Dann dachte ich an einen Zahnarzt, der
+mir — schrecklichen Angedenkens — einen ganz gesunden Zahn mit Gold
+plombiert hatte. Aber nein, der hieß — ja, wie <em class="gesperrt">hieß</em> der? Und
+jetzt war ich <em class="gesperrt">ganz</em> konfus, und meine erregten Gedanken pendelten
+zwischen Maruschka Anastasia und einem verbrecherischen Zahnarzt hin
+und her, ohne einen Halt zu finden.</p>
+
+<p>Egon Felix Gundelmann hatte mittlerweile noch ein ganzes Taschenlexikon
+biographischer Details über mich ausgeschüttet. Ich hörte nicht zu. Da
+traf plötzlich die trockene Anmerkung mein Ohr:</p>
+
+<p>„Die Tragikomödie dieser Ehe eines lächerlichen Philisters mit
+einer ganz eigenartigen weiblichen Psyche mit einem von der
+leidenschaftlichen Liebe zum großen<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> Erlebnis genährten Genie vollzieht
+sich in der Stadt mit dem unsagbar trivialen Namen Bimmlingen.“</p>
+
+<p>Ich stutzte.</p>
+
+<p>„In Bimmlingen sagten Sie? Seltsam, dorthin muß ich spätestens Anfang
+nächster Woche in Vermögensangelegenheiten.“</p>
+
+<p>„Vermögensangelegenheiten!“ Der Lethetrinker sprach das Wort mit
+tiefer Verachtung mehr in sein halbgeleertes Stengelglas, als zu mir.
+„Vermögensangelegenheiten! Für solche Trivialitäten ist Bimmlingen gut.
+Aber als Leidenswiege für die zerrüttete Seele einer großen Poetennatur
+...“ Der Satz war auf bedeutungsvolle Steigerung angelegt. Aber der
+Reformator hatte den Schluckser und mußte sich sehr zu seinem Ärger
+hier unterbrechen.</p>
+
+<p>Mein Geständnis, daß ich nach Bimmlingen reisen mußte, hatte Bewegung
+in die dichten Zigarettenwolken des nie gelüfteten Raumes gebracht. Man
+sah sogar wieder Gesichter. Erstaunte, interessierte Gesichter.</p>
+
+<p>Alle redeten durcheinander.</p>
+
+<p>Egon Felix Gundelmann gab, wie mir schien, in seiner leidenschaftlichen
+Art einen kurzen Abriß aus der Stadtgeschichte von Bimmlingen. Ein
+hier hochgeschätzter Romancier, der seine Bücher erst nach seinem Tode
+weiteren Kreisen bekannt zu geben wünschte, spendete mir den dringenden
+Rat, sofort von der Bahn aus zu Maruschka Anastasia zu fahren, um
+sie meiner und seiner Verehrung zu versichern. Ein bereits zweimal<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span>
+verbotener Dramatiker hoffte, daß ich in Bimmlingen ein zuverlässiges
+„Tagebuch“ führen werde. Andere hatten noch weitergehende Wünsche
+in Beziehung auf meine Reise nach dem durch Maruschka Anastasia
+interessant gewordenen Nest.</p>
+
+<p>Das Mädchen mit den tiefblauen Augen aber setzte die Teetasse hin,
+legte mir die spitzen, schlanken Finger ihres reizvollen Händchens mit
+noch nie geübter Vertraulichkeit auf den Unterarm und tat, was sie
+eigentlich noch nie getan: sie sprach einen zusammenhängenden Satz. Ich
+weiß heute, nach elf Jahren! noch ganz genau, wie er lautete:</p>
+
+<p>„Darf ich Sie bitten, lieber Herr Doktor, Frau Maruschka Anastasia zu
+sagen, daß ich sie liebe,“ (wenn sie dieses „sie“ damals im Sprechen
+<em class="gesperrt">groß</em> geschrieben hätte, so hätte ich zweifellos „die“ Dummheit
+meines Lebens gemacht!) „und daß es mich beglücken würde, ein paar
+Zeilen von ihrer Hand zu besitzen in meiner Selbstschriftensammlung,
+die fast alle Neueren von Atzler bis auf Zülferich umfaßt.“</p>
+
+<p>Ich gestehe beschämt, daß ich damals weder wußte, wer Atzler noch
+wer Zülferich war. Aber ich tröste mich damit, daß es heute auch
+<em class="gesperrt">die</em> wieder vergessen haben, die es einmal gewußt hatten. Denn
+die literarischen Taten von Atzler und Zülferich meldet kein Lied, kein
+Heldenbuch; und sie sind, wie alle Mitglieder jener festlichen Abende
+um den Reformator der Rezitationskunst, wie der seltsame Romancier, der
+für seinen Nachlaß arbeitete, und wie der unwahrscheinliche<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> Polyhistor
+Egon Felix Gundelmann längst untergetaucht im ruhmlosen Gewoge des
+Alltags, der Trivialitäten&#8239;...</p>
+
+<p>Aber meine Fahrt nach Bimmlingen hatte jetzt einen neuen Sinn, einen
+ungeahnten Glanz bekommen. Nicht daß ich selbst vor Neugier platzte,
+die genialische Maruschka Anastasia von Angesicht zu Angesicht
+zu sehen. Aber wenn ich mit einem wundervollen, inhaltreichen
+Stammbuchblatt von ihrer Hand wiederkam ... Mir fielen Beispiele
+ein, daß Prinzen im Märchen durch ein kühn erstrittenes kostbares
+Geschmeide die lang versagte Gunst einer spröden Schönen im Sturme
+gewannen. Beispiele ... Beispiele ... Es gehört zu den unbestreitbaren
+Merkwürdigkeiten meiner sonst nicht eben komplizierten Natur, daß
+mir für <em class="gesperrt">jede</em> Dummheit, die ich zu machen im Begriffe stehe,
+„Beispiele“ einfallen. Viele und vortreffliche Beispiele.</p>
+
+<p>... Als ich einige Tage später — doch früher, als ich ursprünglich
+geplant — nach Bimmlingen reiste, war meine eigene Angelegenheit ganz
+in den Hintergrund getreten.</p>
+
+<p>Es war auch gut. Denn in Bimmlingen zeigte es sich sehr bald, daß
+das kleine Grundstück, an dem ich als glücklicher Erbe zusammen
+mit drei Vettern, einer Tante und einem Waisenhaus beteiligt war,
+so gut wie wertlos war, da es dicht neben dem Viehhof lag und ein
+normaler Mensch mit gesunden Geruchsnerven das abscheuliche Terrain
+nur bei östlichen Winden,<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> die den Stank der Ställe nach der anderen
+Seite entführten, betreten konnte. Die meteorologischen Notizen des
+Bimmlinger Tageblatts, dessen drei letzte Jahrgänge ich daraufhin
+durchsah, ergaben aber, daß die angenehme Stadt Bimmlingen meist von
+<em class="gesperrt">westlichen</em> Winden bestrichen wurde; und als ich einem Bimmlinger
+Immobilien-Agenten den Kaufpreis nannte, den die miterbende Tante
+ersonnen und für den uns das scharmante Grundstück feil sein sollte,
+bekam er einen langandauernden Lachkrampf und versicherte mir, daß er
+einen so guten Witz nicht mehr gehört habe, seit der letzte Zirkus in
+Bimmlingen abgebrannt sei. Da die Tante als Miterbin aber von ihrem
+phantastischen Preis nicht heruntergeht, sind wir heute noch im Besitz
+des unbebauten Grundstücks und haben die Freude, ein über das andere
+Jahr zirka hundert Mark für einen neuen Stachelzaun zu bezahlen, der
+einer fröhlichen Jugend Bimmlingens wehren soll, im Unkraut unseres
+Besitzes künstliche Festungen zu graben.</p>
+
+<p>Ich hatte mir für die mir inniger am Herzen liegende Aufgabe,
+die Selbsteinführung in die Familie Monkebach-Kuntze, einen, wie
+mir schien, vorbildlich schlauen Schlachtplan ersonnen. Am Tage
+meiner Abreise hatte ich an <em class="gesperrt">Herrn</em> Monkebach-Kuntze ein sehr
+verbindliches Kärtchen geschrieben. Voller Interesse, seine berühmte
+Gattin kennen zu lernen, vom Wunsche beseelt, ihr meine persönliche
+Verehrung und die meiner Freunde in einem Handkuß auszudrücken,
+zugleich<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> aber auch geängstigt von dem Gedanken, daß ich die Dichterin
+in ihren die Welt erleuchtenden Arbeiten in nie entschuldbarer
+Weise stören könnte, wagte ich es, bei dem von mir unbekannterweise
+hochgeschätzten Gatten der seltenen Frau in aller Bescheidenheit
+anzufragen, ob ... und wann ... und wie&#8239;...</p>
+
+<p>Es war wirklich ein sehr anständiger Brief. Der Rabe mußte meiner
+Berechnung nach den Käs fallen lassen, wie in der hübschen alten Fabel.</p>
+
+<p>Er <em class="gesperrt">ließ</em> ihn fallen. Als ich ins Hotel kam, lag schon ein
+Briefchen da. Unterschrift: Michael Monkebach.</p>
+
+<p>Monkebach, Mon—ke—bach — wieder rollte mir der Name wie eine
+Billardkugel im Kopfe herum; und nach einer nicht sehr geistreichen
+Gewohnheit trat ich erst eine Weile ans Fenster, stierte über die
+reichlich schmutzige Straße auf das schiefhängende Schild einer Woll-
+und Strumpfwarenhandlung und dachte emsig nach. Dann erst las ich den
+Brief.</p>
+
+<p>„Sehr geehrter Herr Doktor, mich freut’s herzlich Sie nach so langer
+Zeit wiederzusehn“ — <em class="gesperrt">wieder</em>zusehn, wieso? — „Ich kann es ja
+begreifen, daß Ihr hochgeschätzter Besuch, der uns äußerst angenehm
+ist“ — <em class="gesperrt">uns</em>? — auf ihn kam mir weniger an — „mehr meiner
+lieben Frau gilt, als mir“ — wie käme ich auch wohl dazu, <em class="gesperrt">Herrn</em>
+Monkebach zu beehren? es sei denn, daß er am Viehhof ein Grundstück
+suchte — „Nichtsdestoweniger wird mir die Erinnerung<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> einer lieben
+Badebekanntschaft ein nicht gewöhnliches Vergnügen bereiten“ —
+Badebekanntschaft? Herr Monkebach wird doch am Ende nicht der Herr
+sein, der in Karlsbad einmal neben mir wohnte und früh morgens um halb
+sechs immer Lohengrins Abschied sang, bis ich ihm durch den Kellner
+sagen ließ ... „Ich bin ja älter geworden, seit wir uns zuletzt gesehen
+—“ sehr wahrscheinlich, ich bin ja <em class="gesperrt">auch</em> nicht jünger geworden
+— „aber ein gewisses ruhiges Glück ist bei mir eingekehrt“ — nanu,
+bei der ewigen Kettensprengerin ein ruhiges Glück? <em class="gesperrt">Der</em> Mann
+mußte Nerven haben, wie Stahl, oder — „Und was mich mit Stolz erfüllt,
+Sie werden sehen, so wenig ich auch an dem unvergleichlichen Talente
+meiner lieben Maruschka Anastasia beteiligt bin“ — beteiligt; ein
+geschäftlicher Ausdruck, der mir sehr mißfiel. Sollte Herr Monkebach
+etwa jener schlanke Herr mit dem gefärbten Barte sein, der mir
+nach einem harmlosen Tischgespräch auf Rigi Scheideck beim Dessert
+meuchlings die Preisliste seiner Naturweine über den Tisch reichte? ...
+„beteiligt bin, so darf ich doch ohne häßliches Eigenlob wohl sagen,
+daß mein persönlicher Einfluß ...“</p>
+
+<p>„— <em class="gesperrt">persönlicher Einfluß</em>!“ ... Wie Schuppen fiel es mir von den
+Augen.</p>
+
+<p>Monkebach — natürlich, so <em class="gesperrt">hieß</em> er ... Der Mann mit dem
+persönlichen Einfluß. Der Turner mit der Wasserkaraffe. Der dankbare
+Leser des mayonnaisegelben Büchleins: „Wie werde ich energisch?“<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span>
+Der Gegner — <em class="gesperrt">beinahe</em> Gegner des kampflustigen Rittmeisters.
+Der Liebling der allwissenden Kanzleirätin. Alles kam mir wieder ins
+Gedächtnis. Alles. Und ich war so vergnügt in diesen Erinnerungen, daß
+ich abends ins Stadttheater ging, wo ein unsagbar dummes Lustspiel
+hundeschlecht gespielt wurde. Ich aber saß unter den ärgerlichen
+Zuschauern und lächelte fröhlich vor mich hin. Ich sollte den Mann mit
+dem persönlichen Einfluß wiedersehn als Gatten einer intellektuellen
+Kettensprengerin.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen hüllte ich mich in eine erlesene Besuchstoilette,
+zog meinen poetischsten Schlips an, ließ meinen Zylinder aufbügeln,
+kaufte drei purpurrote Rosen an Stielen, so lang wie Spazierstöcke, und
+machte mich auf den Weg.</p>
+
+<p>Kitzlingerstraße 15. Ein bescheidenes Landhaus in einem nicht
+übel gepflegten Garten. In den Rasenflächen standen gräßliche
+kleine Terrakotta-Gnome mit feuerroten Zipfelmützen umher. Auch
+Rehe aus buntem Gips und giftig grüne Riesenpilze als originelle
+Sitzgelegenheiten aus derselben Masse erschreckten das Auge. Mir schien
+das <em class="gesperrt">sein</em> persönlicher Einfluß auf den Garten. Die Dichterin
+übersah wohl den kinkerlitzigen Zierat.</p>
+
+<p>Kaum hatte das Mädchen — ich habe nie wieder solche Mischung von
+Unsauberkeit und Stupidität in einer weiblichen Erscheinung beobachtet
+— meine Karte erst selbst mit Aufmerksamkeit gelesen, dann in ein
+Zimmer getragen, so hörte ich auch schon Monkebachs frohbewegte Stimme:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span></p>
+
+<p>„Hier herein, bitte, nur <em class="gesperrt">hier</em> herein!“</p>
+
+<p>Grau war er geworden, der gute Michael Monkebach. Den Schneider schien
+er noch nicht gewechselt zu haben seit damals. Der Rock schlotterte
+immer noch um seinen nicht unansehnlichen Leib, und die Weste sah
+immer noch aus, als habe er sie von einem Verwandten geerbt, der
+ihn an Leibesfülle ums Doppelte übertraf. Der verblichene Erblasser
+mußte allerdings eine Sehenswürdigkeit gewesen sein, die alle in den
+Panoptiken vorgestellten Monstra weit hinter sich ließ.</p>
+
+<p>Michael Monkebach schüttelte mir beide Hände. Er war wirklich sichtlich
+erfreut. Dann drückte er mich in ein niedriges und erstaunlich hartes
+Sofa und begann die Unterhaltung mit einer Flut von teilnehmenden
+Fragen nach meinem Wohlbefinden und meinen Geschäften, die mich hierher
+führten. Es war dabei eine große Erleichterung für mich, daß er sich
+eigentlich alle Fragen selbst beantwortete. Über meine Person, über
+einen Onkel von mir, der auf dem Friedhof in Bimmlingen lag und einen
+sehr unverständlichen Spruch auf dem Grabstein hatte, über eine Tante
+von <em class="gesperrt">ihm</em>, die ich einmal in Berchtesgaden getroffen, und endlich
+über mein übelriechendes Grundstück am Viehhof, das er kannte, weil er
+früher — als Junggeselle — stets die Wurstpapiere seines Frühstücks
+bei Spaziergängen über den bewußten Stachelzaun geworfen, kamen wir
+endlich auf seine Frau.</p>
+
+<p>Ich deutete in einer Pause, die ein Hustenanfall in<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> seine Rede riß,
+bescheidentlich an, daß es mich interessieren würde, wo sich die
+interessante Dame jetzt aufhalte.</p>
+
+<p>„Sie hat heute morgen,“ sagte er, „als sie ein heißes Fußbad nahm, eine
+Inspiration gehabt. Eine außerordentliche Inspiration. Sie ließ sich
+kaum Zeit, sich abzutrocknen und anzuziehen. Und jetzt —“ er deutete
+glücklich lächelnd nach einer grüngepolsterten Türe, die den Nebenraum
+abschloß.</p>
+
+<p>„Aha — sie dichtet?“</p>
+
+<p>Michael Monkebach nickte mit einem selig zustimmenden Lächeln, als
+wolle er sagen, daß mein Scharfsinn das einzig passende Wort für die
+von ihr geübte Tätigkeit gefunden habe.</p>
+
+<p>„Sie werden sie <em class="gesperrt">sehen</em>!“ sagte er dann. Wenn es sich um
+die Königin von Saba gehandelt hätte, er hätte nicht strahlender
+dreinschauen können.</p>
+
+<p>In diesem Sinne sprach ich einige glückwünschende Worte.</p>
+
+<p>Er senkte den vorgeneigten Kopf in die Schultern, als lasse er sich
+warmes Wasser wohlig den breiten Rücken herunterlaufen und genoß meine
+Teilnahme mit rührendem Behagen.</p>
+
+<p>Als ich geendet, nahm er das Wort; und während er mit der Spitze
+des Zeigefingers die kleinen Careaus auf meinem linken Oberschenkel
+nachfuhr, was mir gerade nicht sonderlich angenehm war, legte er
+in gedämpftem Ton, von Zeit zu Zeit verstohlen nach der unbewegten
+grüngepolsterten Türe spähend, die Beichte eines Glücklichen ab.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p>
+
+<p>„Sehn Sie, lieber Freund,“ sagte er, „ich darf Sie doch so nennen?
+<em class="gesperrt">Alle</em> Leute <em class="gesperrt">beneiden</em> mich. Wie ich Ihnen sage! Ich hab
+aber auch ein <em class="gesperrt">Glück</em>, sag’ ich ihnen ... Ich bin kein Jüngling
+mehr, nicht wahr? Unter uns: ...zig Jahre. Na, und sie — erst
+fünfundzwanzig.“</p>
+
+<p>Er log nicht ohne Grazie. Oder sollte die Dichterin selbst von solch
+kleinlichen Eitelkeiten nicht frei sein und ihm erzählt haben, daß ...?</p>
+
+<p>„Die Verlobungszeit hätte ja unangenehm sein können. Abends immer
+Theater, Gesellschaft, Konzerte — gräßlich! Und dann so um neune rum
+muß ich immer mal ein Nickerchen machen. Nur ’n paar Minuten, nachher
+bin ich für ’ne Stunde wieder ganz mobil. Aber ich <em class="gesperrt">muß</em> einfach.
+Da hilft nichts. Naturzwang! Na, da war’s nu ’n riesiger Dusel, daß
+Maruschka Anastasia schon dreimal verlobt war ... Sie hat keinen großen
+Wert mehr auf solche Aufmerksamkeiten gelegt, wie sie sonst unter
+Brautleuten ... na, ist ja auch ein gräßlicher Blödsinn! — Und dann
+war ja ihr <em class="gesperrt">Vetter</em> da, der von den siebenten Ulanen. Sie erinnern
+sich doch — der Rittmeister.“</p>
+
+<p>„Pardon, der Rittmeister, mit dem Sie <em class="gesperrt">damals</em> ...“</p>
+
+<p>„Jawohl, mit dem ich damals — beinahe ...“ Er zielte mit einer
+imaginären Pistole listig mit dem Auge blinzelnd nach dem Bilde einer
+stark dekolletierten alten Dame an der Wand. „Komisch<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> ist das Leben,
+nicht? <em class="gesperrt">Der</em> ist Maruschka Anastasias Vetter. <em class="gesperrt">Zu</em> ein netter
+Mensch. Er schätzt sie sehr. <em class="gesperrt">Sehr</em>. Und damals schon — als wir
+verlobt waren — immer viel Literarisches um sie rum. Sie dichtete
+ja damals schon. Das war aber nur so die Ouvertüre, sag’ ich Ihnen.
+Und jetzt — Berühmtheit! Ze—le—bri—tät! Achtzehn Auflagen in drei
+Jahren. Im Winter oft drei bis fünf Einladungen pro Abend! Ja, sehen
+Sie, <em class="gesperrt">das</em> nennt man ‚Ruhm‘. Und wissen Sie, wessen Verdienst
+das ist? <em class="gesperrt">Mein</em> Verdienst ... Lachen Sie nicht — <em class="gesperrt">mein</em>
+Verdienst. Ihre Lyrik, um was dreht sie sich? Lesen Sie nur mal
+aufmerksam ihre Sachen. Frühling — is nicht. Sogenannte ‚Liebe‘ — is
+nicht. Heimatsklänge — is nicht. Und all so was Schönes — is nicht.
+Aber <em class="gesperrt">Ehe</em>, sag’ ich Ihnen, alles <em class="gesperrt">Ehe</em>! Großartig, diese
+Wahrheiten, die sie <em class="gesperrt">mir</em> da sagt. Und erst was <em class="gesperrt">ich</em> ihr
+entgegne — alles natürlich in Versen, die <em class="gesperrt">sie</em> macht. Ich —?
+wissen Sie, ab und zu mal ’nen Brief, aber Verse, ach nein. Niemals
+nie. Und nun <em class="gesperrt">diese</em> Frau! Ich komme zu <em class="gesperrt">dieser</em> Frau. Was
+für ein Glück, sagen Sie selbst. Sie dichtet für <em class="gesperrt">beide</em>. Sie
+schmeißt mit den Ehefesseln nur so um sich. Ach, und wie sie dabei
+aussieht! — Ihr Vetter von den gelben Ulanen, der Rittmeister —
+<em class="gesperrt">zu</em> ein lieber Mensch — ruft immer ‚Sopha!‘ ... nein, wollt’
+ich sagen: ‚Sappho!‘ ruft er, ‚Sappho!‘ ... Und sehen Sie, Gott ja,
+andere Frauen dichten ja auch mal. So Blaumblümleinsuppen und solche<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span>
+Sachen. Oder von ‚ihm‘. Sie dichtet <em class="gesperrt">auch</em> von mir, meine Sappho.
+O ja! aber, sehen Sie, nicht wie die andern. Sie dichtet mich nicht
+<em class="gesperrt">an</em>; sie dichtet mich <em class="gesperrt">ab</em>.“</p>
+
+<p>„Pardon, sie dichtet Sie <em class="gesperrt">ab</em>?“</p>
+
+<p>„Ja.“ Er nickte still befriedigt vor sich hin.</p>
+
+<p>„Was verstehn Sie, wenn ich fragen darf, unter ...“</p>
+
+<p>„Wie ich das verstehe: ‚abdichten‘? O, sehr einfach. Ich sag’ Ihnen ja,
+sie ‚sprengt fortgesetzt Fesseln‘. Geistig natürlich nur; seelisch,
+nicht wahr. Und die Kette, sehen Sie, die <em class="gesperrt">dickste</em> Kette, das
+bin ich.“ Ein unsagbarer Stolz leuchtete warm und herzerquickend
+aus seinen Augen, als er fortfuhr: „Ne, wenn ich <em class="gesperrt">das</em> gedacht
+hätte, als wir in Prima den ‚Lakoon‘ lasen, daß ich noch mal in die
+Literaturgeschichte komme! Das muß ich doch. <em class="gesperrt">Mit</em> dem Bild. Und
+diese Kette wirft sie weg. Bloß in Gedichten, bitte. Reine Phantasie.
+Mein Gott, ich habe 15000 Mark Rente — da ‚wirft‘ ’ne vernünftige Frau
+nicht so leicht. Aber Sie sollten sie mal deklamieren hören:</p>
+
+<div class="poetry-container s5">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">‚Ha, Elendsgötze meiner schwülen Nächte,</div>
+ <div class="verse indent0">Beugst du die Fratze lüstern über mich —!‘</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Sehen Sie, <em class="gesperrt">das</em> nenn’ ich ‚<em class="gesperrt">ab</em>dichten‘. <em class="gesperrt">An</em>dichten
+kann man’s schon nicht nennen. Guter Ausdruck, was? Von mir! Und nun
+stellen sie sich bloß vor: <em class="gesperrt">das</em> Glück! Abend für Abend sitze ich
+nach dem Abendessen unter irgendeiner Palme — Gott, Palmen gibt’s ja
+jetzt in allen Wohnungen bei uns<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> — und sie, mein ‚Sappho‘, steht
+im Kreise der andächtig Lauschenden. In einer Toilette, die mich bei
+Gerson vierhundert Mark gekostet hat. Das war noch ‚Vorzugspreis‘ ...
+Sie liest wundervoll vor. Ich sage Ihnen, wie diese einzige Frau solche
+Pointen herausbringt:</p>
+
+<div class="poetry-container s5">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">‚Den Schlaftrunk her, daß seine roten Augen</div>
+ <div class="verse indent0">Die Schönheit meiner Jugend nicht beschmutzen ...‘</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Großartig! Ihr Vetter von den gelben Ulanen, der Rittmeister —
+<em class="gesperrt">zu</em> ein netter Mensch! — weckt mich jedesmal, wenn’s zu Ende
+ist, unter meiner Palme. Ein guter Kerl, seelensgut. Kennt keinen Neid.
+Wenn wir dann zusammen nach Hause fahren — er wohnt dicht neben uns,
+ja, Wand an Wand — ja, wenn wir so im Wagen sitzen, wissen Sie, was er
+dann sagt: ‚<em class="gesperrt">Das</em> können Sie sich ruhig sagen, liebster Michael‘
+— meint er <em class="gesperrt">mich</em> — ‚<em class="gesperrt">Sie</em> haben da <em class="gesperrt">mit</em>gedichtet.
+Wissen Sie, ohne <em class="gesperrt">Sie</em> wär’ ja die ganze Geschichte unmöglich.‘
+Recht hat er. Wahrhaftig. Und da sagen die dummen Leute, ich bin nicht
+glücklich!“</p>
+
+<p>„So, sagen die Leute so was?“</p>
+
+<p>„Ja. Aber wir haben einen Trick. Wir <em class="gesperrt">lassen</em> sie dabei.“ Er
+rieb sich verschmitzt die Hände. „Wahrhaftig, das tun wir. Es ist so
+ein bißchen moderne Reklame für die Bücher, verstehn Sie. Mein Gott,
+Maruschka Anastasia braucht’s ja nicht, aber — —“</p>
+
+<p>Er verstummte plötzlich und sah nach der Tür. Sie hatte sich bewegt,
+ging auf.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span></p>
+
+<p>Maruschka Anastasia stand im Türrahmen und sprach nach hinten zu
+einem Herrn, der ihr langsam, die Hände in den Hosentaschen, in einem
+grauen Wölkchen Zigarettenrauch folgte. Der Herr war in Uniform — in
+Ulanenuniform, wie mir schien. Es war der Rittmeister.</p>
+
+<p>„Ihre Frau Gemahlin hat Besuch —?“ Die Bemerkung entschlüpfte mir wohl
+im Ton eines leichten Staunens.</p>
+
+<p>„Besuch?“ Michael Monkebach dämpfte die Stimme zu einem scheuen
+Flüstern, wie es weißhaarigen Kastellanen in alten Schlössern eignet,
+die dadurch die tiefe Ehrfurcht vor den an den Wänden hängenden
+Ahnenbildern ausdrücken und den Wert der gezeigten Raritäten zu
+steigern glauben. „Besuch? O nein. Das ist doch bloß unser lieber
+Vetter, der Rittmeister. Maruschka Anastasia produziert leichter, wenn
+eine Vollnatur sich im selben Raume mit ihr aufhält. Sie fürchtet sich
+zuweilen vor ihren eigenen Träumen, vor den Gestalten ihrer fiebernden
+Phantasie. Dann gewinnt sie neuen Schaffensmut aus den kraftvollen,
+seelischen Ausstrahlungen solcher gesunden, in sich gefestigten
+Vollnatur.“</p>
+
+<p>Ich will gehängt sein, wenn ich in diesem Augenblick nicht den Eindruck
+hatte, als ob die gesunde, in sich gefestigte Vollnatur mit dem spitzen
+Zeigefinger der langsam aus der Tasche gezogenen Rechten der sensiblen
+Dichterin in der Richtung ihres neckischen kleinen Halsausschnittes
+„Kicks“ machte. Wie gesagt,<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> es war mein Eindruck. Aber ich befand mich
+hier in einer wunderreichen Atmosphäre, die vielleicht Halluzinationen
+der seltsamsten Art begünstigte. Es kann also auch eine Täuschung
+gewesen sein.</p>
+
+<p>Jetzt entdeckten uns die beiden und näherten sich in harmloser
+Freundlichkeit.</p>
+
+<p>Michael Monkebach stellte mich vor, erklärte mit nicht wenigen Worten
+den Zweck meines Besuches, indem er von dem Viehhof zu Maruschka
+Anastasias Gedichten und von dem Gestank meines ererbten Grundstücks zu
+meiner Verehrung für die Poesien der Kettensprengerin die kühnsten und
+erstaunlichsten Übergänge fand.</p>
+
+<p>Der Rittmeister, dessen hervorstechendste Eigenschaft nicht die Geduld
+zu sein schien, unterbrach den Redefrohen mit der kühl abgegebenen
+Erklärung, daß er erfreut sei, mich hier zu sehen; daß er ferner hoffe,
+ich habe eine gute Reise gehabt; und daß er wünsche, ich fühle mich von
+den in meinem Hotel vorgekommenen Pockenfällen nicht weiter beunruhigt.</p>
+
+<p>Ich hatte Zeit, die gefeierte Dichterin zu betrachten.</p>
+
+<p>Wenn ich nicht durch zweier einwandfreier Zeugen Mund erfahren hätte,
+daß es tatsächlich Maruschka Anastasia sei, die leidenschaftliche
+Sängerin befreiter Liebe, so hätte ich unbedenklich geschworen, es
+sei ein langsam in die minder köstlichen Jahre kommendes kleines
+Mädel aus der Konfektion, vielleicht vom Hausvoigtei-Platz in
+Berlin, die zunächst mal wohl daran täte, abends früher zu Bett zu
+gehen und dreimal<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> täglich Plautsche Pillen zu nehmen. Haare von
+indifferentem staubigen Blond, an der nicht eben hohen Stirne zu
+unwahrscheinlichen Löckchen gekräuselt, eine kecke Stumpfnase unter
+müden, wasserblauen Augen, sehr blasse, blutarme Hände, und eine wie
+von einem schmerzenden Bußgürtel geschnürte zerbrechliche Taille —
+so sah die Kettensprengerin aus, die Abgöttin meiner genialischen
+Freitagsgesellschaft, die Gattin Michael Monkebachs, des Mannes mit dem
+persönlichen Einfluß.</p>
+
+<p>Ich überreichte ihr wortlos die drei Rosen an den langen Stengeln. Sie
+beugte huldvoll lächelnd die Stupsnase tief in einen der roten Kelche
+und machte die vortreffliche Bemerkung, wie seltsam es doch sei, daß
+solche Treibhausrosen häufig einen direkt widerlichen Medizingeruch
+hätten. Zum Exempel auch diese.</p>
+
+<p>Der Rittmeister, der an den Rosen riechen durfte, bestätigte diese
+interessante Beobachtung. Die Erwähnung der Medizin brachte ihn wieder
+auf die betrübenden Pockenfälle in meinem Hotel, die man sicherlich vor
+den bedauernswerten Gästen geheim halte.</p>
+
+<p>Er knüpfte daran die lehrreiche Geschichte von einem Gasthof zweiten
+Ranges in der Provinz Posen, in dem vor Jahren eine plötzlich
+ausbrechende Typhusepidemie aus schnöder Gewinnsucht von dem
+gewissenlosen Wirte vertuscht worden sei. Besagter Wirt sei dann als
+Erster auf Nr. 13 — ein Zimmer, das kein Gast beziehen wollte —
+als Opfer der unheimlichen<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> Seuche gestorben. Sein Geist aber sei
+acht Tage später dem kurz vorher gekündigten Nachtportier auf der
+schlecht erleuchteten Treppe, in nasse Laken gehüllt, erschienen.
+Die Nässe habe man denn auch tatsächlich am andern Morgen noch auf
+den Stufen zur ersten Etage bemerkt. Die Analyse zweier Chemiker
+habe leider zu widerspruchsvollen Resultaten geführt. Der eine habe
+Spülwasser angenommen, der andere habe eine weit unappetitlichere
+Erklärung empfohlen. Die Witwe habe darauf den entlassenen Portier,
+der überall diese gruselige Spukgeschichte erzählte, wegen perfider
+Geschäftsschädigung verklagt. Aber das Gericht habe drei spiritistische
+Sachverständige vernommen, die aus der Schilderung des schleppenden
+Ganges, des nassen Lakens und anderer Attribute der unheimlichen
+Erscheinung übereinstimmend entnahmen, daß es sich zuverlässig um
+ein durchaus reelles Gespenst gehandelt haben müsse; und daß die
+beunruhigende Wahrscheinlichkeit vorliege, das Gespenst werde sich
+noch des öfteren nachts auf der Treppe zu der ersten Etage ergehen.
+Der Nachtportier sei freigesprochen worden. Die Witwe habe Bankrott
+gemacht. Und auf dem Boden des ehemaligen Hotels erhebe sich jetzt
+das ernste und solide Gebäude der städtischen Feuerwehr, die ein
+furchtloser und vorurteilsfreier Mann kommandiere.</p>
+
+<p>Während der Rittmeister erzählte, hatte ich beobachtet, wie Maruschka
+Anastasia erst die Augen schloß, als überfalle sie eine, von leichtem
+Frost<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> begleitete, plötzliche unbesiegbare Müdigkeit. Dann sah ich sie
+die Finger auf ihrem Schoß spreizen und wieder zusammenkrallen, als
+treibe sie schwedische Fingergymnastik. Dazu hob und senkte sich ihre
+in den Linien nicht aufregende Brust in immer kürzeren Zwischenräumen;
+und sie schnaufte durch die geblähten, zuckenden Nasenflügel, als habe
+sie eben im Laufschritt einen Campanile erstiegen und müsse sich nun
+unbedingt Ruhe gönnen, um einem drohenden Herzschlag vorzubeugen.</p>
+
+<p>Michael Monkebach, halb vom Sitz aufstehend, machte dem Rittmeister
+durch Handbewegungen und Gesichterschneiden allerlei Zeichen,
+die zweifellos die inständigste Bitte ausdrücken sollten, diese
+überaus grausame Geschichte nicht weiter zu erzählen im Angesicht
+des beklagenswerten Zustandes, in den sie offensichtlich Maruschka
+Anastasias sensitive Natur versetzte.</p>
+
+<p>Aber der Rittmeister, der wohl auf dem einen Auge total erblindet war
+und sein für das andere Auge bestimmtes Monokel gerade umständlich mit
+dem seidenen Taschentuche putzte, erzählte die aufregende Historie
+ohne jegliche Unterbrechung zu Ende. Und zwar in einem so kühlen,
+leidenschaftslosen Ton, als ob er statt vom Hinüberspielen der
+Wesenheiten einer vierten Dimension in unser rätselvolles Erdenleben in
+Wahrheit bloß vom Einkauf einer Erbswurst oder von einem neuen Mittel,
+weiße Handschuhe zu reinigen, berichte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span></p>
+
+<p>Ich begann die unmittelbare Wirkung der Kraftnatur auf die sensitive
+Dichterin zu beobachten und zu begreifen; und ich war sehr gespannt,
+wie sich diese tiefe seelische Erregung Maruschka Anastasias endlich
+lösen werde.</p>
+
+<p>Als der Rittmeister geendet hatte und sich mit einer nach solchen
+Mitteilungen geradezu erstaunlichen Seelenruhe geräuschvoll die Nase
+schneuzte, erhob sich plötzlich Maruschka Anastasia. Immer noch mit
+geschlossenen Augen und wie im Sturme wogendem Busen. Michael Monkebach
+stand mit halberhobenen Armen neben ihr, offenbar bereit, die Teuere
+aufzufangen, wenn sie sinken sollte, aber doch nicht wagend die noch
+aufrechtstehende Dichterin zu berühren.</p>
+
+<p>Der Rittmeister betrachtete diese merkwürdige Gruppe aufmerksam, doch
+ohne Zeichen tieferer Erregung durch sein Monokel. Ich aber hatte —
+ich weiß heute noch nicht, warum und wieso — eine Glocke mit ziemlich
+schmutzigem Wasser ergriffen, in der ein einzelner Goldfisch, schon
+halb auf dem Rücken liegend, sein nahes, wünschenswertes Ende zu
+erwarten schien.</p>
+
+<p>Plötzlich bewegte sich Maruschka Anastasia in knappen, zögernden
+Schritten vorwärts. Nach der Tür.</p>
+
+<p>Der Rittmeister erhob sich schwerfällig aus dem Sessel, wie
+leidenschaftliche Reiter das tun, die sich auf unruhigen Pferden sehr
+munter und auf den allgemein üblichen Sitzgelegenheiten des Salons nur
+sehr mühsam bewegen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span></p>
+
+<p>„Es <em class="gesperrt">hat</em> sie wieder,“ sagte der merkwürdige Krieger, nickte
+Michael Monkebach verständnisvoll zu und schritt langsam, die Hände in
+den Hosentaschen, hinter der außergewöhnlichen Frau her. Dabei zündete
+er sich eine Zigarette an, was mich sehr beruhigte. Noch mehr hätte
+es mich allerdings beruhigt, wenn er mir <em class="gesperrt">auch</em> eine Zigarette
+angeboten hätte. Aber auf diesen gewiß unbescheidenen Gedanken kam hier
+niemand außer mir.</p>
+
+<p>Als Maruschka Anastasia in dem Gemach ihrer Inspirationen verschwunden
+war, nahm mir Michael Monkebach zunächst behutsam das Glas mit dem
+halbtoten Goldfisch aus den Händen und stellte es wieder auf das
+gebrechliche Bauerntischchen unter dem Kupferstich, der die Medea in
+höchster Raserei darstellte. Dann drückte er mich wieder in das sehr
+tiefe und sehr harte Sofa und erläuterte mir mit gedämpfter Stimme
+die aufregende Szene, an der ich soeben vermutlich in nicht sehr
+geistreicher Pose und ohne das geringste Verständnis teilgenommen hatte.</p>
+
+<p>„Sehen Sie,“ begann er, „nun haben Sie’s <em class="gesperrt">selbst</em> einmal erlebt.“</p>
+
+<p>Ich leugnete das nicht; ohne mir darüber klar zu sein, <em class="gesperrt">was</em> ich
+nun eigentlich erlebt hatte.</p>
+
+<p>Er begann wieder mit dem Zeigefinger das unbehagliche Spiel auf den
+Carreaus meiner Hose:</p>
+
+<p>„Die Geschichte des Rittmeisters — ist es nicht ein prächtiger Mensch?
+Habe ich zuviel gesagt? — die Geschichte hat sie erschüttert, hat
+ihre poetische<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> Psyche, ihr dichtendes Unterbewußtsein zur Tätigkeit
+aufgerüttelt. Während der Rittmeister — <em class="gesperrt">wie</em> er das aber auch
+vorbrachte, nicht wahr? so unberührt von all dem Schauerlichen,
+so nervenstark, so kerngesund, so irdisch-gefestigt in all dem
+Unerklärlichen — während der Rittmeister erzählte, hat sie bereits
+diesen Stoff erfaßt, umklammert, vertieft, neugestaltet, poetisch
+verarbeitet. Und jetzt — das duldet keinen Aufschub bei ihr — muß
+sie es sofort zu Papier bringen. Sie <em class="gesperrt">muß</em>. Sie schreibt solche
+Sachen stets auf ein geripptes dunkelviolettes Papier. Man sagt, Marie
+Antoinette habe mit Vorliebe solches Papier benutzt. Finden Sie nicht,
+daß meine Frau — im Profil, oder sagen wir: Halbprofil — Marie
+Antoinette merkwürdig ähnlich sieht?“</p>
+
+<p>Ich fand das nicht. Ich wurde von ihrem blassen, ziemlich gewöhnlichen
+Gesichtchen in der Tat mehr an den Berliner Hausvoigteiplatz, als an
+die Pariser Tuillerien erinnert. Natürlich behielt ich das für mich. Es
+waren auch andere Dinge, die mich jetzt interessierten.</p>
+
+<p>„Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel, Herr Monkebach ...“ begann
+ich.</p>
+
+<p>Aber schon unterbrach er mich.</p>
+
+<p>„Wie sollt’ ich! Sie glauben nicht, <em class="gesperrt">was</em> mich die Leute alles
+fragen. In Beziehung auf Maruschka Anastasia. <em class="gesperrt">Was</em> sie ißt, wie
+<em class="gesperrt">oft</em> sie ißt, ob sie Wolle trägt, ob sie nachts gut schläft.
+Ja sogar — warten Sie, ich muß den Brief noch in der Tasche haben
+— gestern hat sogar ein Verehrer in Fürth,<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> der eine Geschichte des
+‚Genies in seiner Abhängigkeit von den natürlichen Lebensfunktionen‘
+plant, bei mir — per Eilboten — angefragt, ob und wie oft Maruschka
+Anastasia an Verdauungsstörungen leide ...“</p>
+
+<p>Ich bat ihn dringend, den indiskreten Brief nicht weiter zu suchen und
+mir lieber eine Frage zu beantworten: schrieb Maruschka Anastasia denn
+auch Balladen und Gespenstergeschichten?</p>
+
+<p>Nein, das tat sie nicht. Er belehrte mich, daß jeder Stoff, der sie
+fessele, packe, festhalte — wie ich das vorhin bei der wuchtigen
+Erzählung des Rittmeisters, der übrigens eine Kraftnatur durch und
+durch sei, erlebt habe, — auf der Tiefe ihres Unterbewußtseins sich
+sofort in ein eigenes seelisches Erlebnis wandle. Er werde dann in ihre
+eigenartige Lyrik, die stets ihr Liebes- — das heiße ihr Eheleben —
+behandle, in irgend welcher sinnvollen Weise einbezogen. Ich werde
+es erleben, daß auch in der vom Rittmeister mitgeteilten gruseligen
+Erzählung nach der wunderreichen Wiedergeburt in Maruschka Anastasia’s
+schöpferischen Phantasie <em class="gesperrt">er</em>, Michael Monkebach, wie ich ihn
+hier vor mir sehe, eine bedeutsame Rolle spielen werde. Er sei zwar
+nie in Posen gewesen, habe weder den verbrecherischen Wirt gekannt
+noch dem erwähnten Hausknecht näher gestanden, sei noch niemals von
+Gespenstererscheinungen im Wachen oder im Schlafe belästigt worden —
+aber, ich werde das ja sehen, <em class="gesperrt">er</em> werde auch in dieser Dichtung
+als irgend eine merkwürdige Figur erscheinen, über die er freilich<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span>
+augenblicklich nicht einmal andeutungsweise eine Aufklärung zu geben
+vermöge. Denn für ihn, wie für alle, seien die Dichtungen Maruschka
+Anastasias stets Überraschungen, Offenbarungen, Ereignisse. Das
+einzige, was er wisse, sei dies: daß seine Natur offenbar so erregend
+simulierend, geistig befeuernd auf die unheimlich fruchtbare Phantasie
+dieser seltenen Frau wirke, und daß er wohl ohne Eigenlob sagen dürfe,
+dies einzigartige Talent sei niemals zu seiner üppigen Entfaltung
+gekommen ohne <em class="gesperrt">seinen</em>, ihm selbst allerdings rätselhaften
+persönlichen Einfluß.</p>
+
+<p>Ich weiß nicht, wie die Gedankenverbindung war, aber ich fragte ihn
+plötzlich:</p>
+
+<p>„Und <em class="gesperrt">Kinder</em> — haben sie <em class="gesperrt">auch</em>?“</p>
+
+<p>Seine Stimme bewölkte sich. „Nein, <em class="gesperrt">noch</em> nicht.“</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Noch</em> nicht? Sie — haben vielleicht begründete Hoffnung?“</p>
+
+<p>„Ja,“ lächelte er glücklich.</p>
+
+<p>Ich reichte ihm herzlich die Hand, zog sie aber sofort zurück, als ich
+die verblüffenden Worte vernahm:</p>
+
+<p>„Der Vater des Kindes ist ein Briefträger.“</p>
+
+<p>„Der — Vater?“</p>
+
+<p>„Ja.“</p>
+
+<p>Das glückliche Lächeln wich nicht aus seinem Angesicht. „Der Mann
+ist kränklich und kein Freund des Treppensteigens. So hatte er die
+gewiß tadelnswerte, aber doch menschlich nicht ganz unbegreifliche
+Gewohnheit, lästige Drucksachen, die ihm wertlos schienen, einfach<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span>
+nicht zu bestellen, sondern damit seinen eisernen Ofen zu heizen. Er
+‚sitzt‘ jetzt. Für einige Jahre. Ein sehr harter Spruch. Aber er war
+Beamter, nicht wahr? Und schließlich: es gibt ja auch Drucksachen,
+deren Wert für den Empfänger ein Briefträger nicht ohne weiteres
+abschätzen kann.“</p>
+
+<p>„Und — von diesem verbrecherischen Briefträger ...“</p>
+
+<p>„Ja. Er ist jetzt fünf Jahre alt.“</p>
+
+<p>„<em class="gesperrt">Wer</em> ist fünf Jahre alt?“</p>
+
+<p>„Nun der Junge von dem Briefträger. Die Mutter des Kindes — sie soll
+einmal eine Schönheit gewesen sein, allerdings mit ausgeprägter Neigung
+zu einem Kropf — diese liebreizende Frau aus dem Volke hat sich leider
+in einem Anfall negativer Lebensfreude erhängt, als die Verurteilung
+des Ehemanns erfolgte. Nun ist das hübsche Bübchen bei einer etwas
+versteinerten Großmutter untergebracht, einer harten, unsauberen Frau,
+die ich im Verdacht habe, daß sie eine alte Kohlenschaufel als einziges
+Erziehungsmittel benutzt.“</p>
+
+<p>Ich atmete erleichtert auf. Die letzten drei Minuten hatte ich zwischen
+der Annahme geschwankt, daß ich hier einem ganz frivolen Unhold oder
+einem kompletten Narren gegenüber sitze.</p>
+
+<p>„Also, wenn ich recht verstehe, werter Herr Monkebach, Sie wollen das
+eheliche Kind des auf Abwege geratenen Briefträgers <em class="gesperrt">adoptieren</em>?“</p>
+
+<p>„Ja. Auf die leibliche Geburt eines Kindes ihre Kräfte zu
+konzentrieren, wird — nach Ansicht unseres Arztes — Maruschka
+Anastasia <em class="gesperrt">nie</em> einwandfrei gelingen.<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> Die Fruchtbarkeit ihrer
+Psyche entschädigt vollauf dafür.“</p>
+
+<p>„Gewiß, ja. Aber —“</p>
+
+<p>„Um uns — oder eigentlich <em class="gesperrt">mir</em>; denn Maruschka Anastasia hat
+sich noch nicht recht befreundet mit dem Gedanken — das überaus
+herrliche Vergnügen zu bereiten, ein junges Menschlein wachsen zu
+sehen, seine Freude am Leben, seine Dankbarkeit mitzugenießen,
+gehen wir — oder eigentlich: gehe <em class="gesperrt">ich</em> — mit dem Plane um,
+das fünfjährige Bübchen des seelisch entgleisten Beamten als eigen
+anzunehmen und mir auch für die Stunden der Einsamkeit und des Alters
+— denn Maruschka Anastasia ist durch ihre Arbeiten und ihre reiche
+Korrespondenz häufig von mir ferngehalten — eine rechte Lebensfreude
+heranzuziehen.“</p>
+
+<p>„Und haben sie nicht, wenn sie den Charakter der Eltern, vor allem des
+Vaters dieses Kindes prüfen, gewisse Besorgnisse, daß ...“</p>
+
+<p>Er schüttelte den Kopf. „Ich lebe der heiligen Überzeugung, daß aus
+einem Kinde, das früh genug in diese Atmosphäre kommt, in der mein
+guter Wille und Maruschka Anastasias Genie sich zu seiner Erziehung
+verbinden, noch alles Gute zu machen ist. Und dann, sehen Sie, ich
+vertraue auf meinen persönlichen Einfluß.“</p>
+
+<p>In dem Nebenzimmer, dem Tempel der Inspiration, vernahm man den
+gedämpften Ton von Stimmen, die angeregte Zwiesprache hielten.</p>
+
+<p>Michael Monkebach lauschte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span></p>
+
+<p>„Sie <em class="gesperrt">sprechen</em>? So ist die Dichtung beendet. Vorher redet sie
+nämlich keinen Ton. Sie wird gleich kommen. Nehmen Sie mir’s nicht
+übel, lieber Freund ...“</p>
+
+<p>„Ach, ich verstehe, ich soll —?“ Ich deutete nach der Korridortüre.</p>
+
+<p>Er war etwas verlegen.</p>
+
+<p>„Maruschka Anastasia ist stets sehr erschöpft“, sagte er, „nach solchen
+besonders heftigen Anfällen ihres Talentes. Sie pflegt dann allerdings
+das dringende Bedürfnis zu äußern, allein zu sein. Ich selbst sogar bin
+ihr dann oft lästig. Nur die kräftige Vollnatur unseres lieben Vetters,
+des Rittmeisters, hat dann etwas wirklich Beruhigendes für sie.“</p>
+
+<p>So nahm ich meinen Hut.</p>
+
+<p>Michael Monkebach war gerührt. Er quetschte mir mit schmerzhafter
+Herzlichkeit die Hand und versicherte, seit Maruschka Anastasia’s Bild
+als etwas mißglückter Buntdruck dem „Marsyas“ beigelegen, habe ihn
+<em class="gesperrt">nichts</em> so sehr erfreut, wie <em class="gesperrt">mein</em> lieber Besuch.</p>
+
+<p>Auf der Schwelle noch fiel mir das Wichtigste ein. Ich hatte doch
+versprochen, ein Albumblatt&#8239;...</p>
+
+<p>Michael Monkebach, dem just viel darauf anzukommen schien, daß mein so
+erfreulicher Besuch nicht durch seine Länge die angenehme Erinnerung
+abschwäche, gab mir hastig ein wertvolles Versprechen.</p>
+
+<p>„Ich werde“ — sagte er — „das soeben entstandene Gedicht sofort
+abschreiben — ich schreibe nämlich <em class="gesperrt">alle</em> Gedichte Maruschka
+Anastasias ab.<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> Sie schätzt meine Handschrift sehr. Meine stets
+sich treubleibende Ortographie ist die übliche, während die ihrige
+schwankt. Auch bin ich in der Interpunktion zuverlässiger. Nur die
+Gedankenstriche verteilt sie dann selbst. Das ist Gefühlsache, nicht
+wahr? Die erste Niederschrift Maruschka Anastasia’s selbst aber schicke
+ich ihnen ins Hotel. Nehmen sie das Blatt für die gewiß charmante junge
+Dame mit, die Sie, wie ich recht wohl fühle, besonders hochschätzen.
+Und sagen Sie ihr, Sie hätten in einer unvergeßlichen Stunde das
+seltene Glück gehabt, die Entstehung dieser Dichtung unter dem
+persönlichen Einfluß des Gatten der Dichterin <em class="gesperrt">mit</em> zu erleben.“</p>
+
+<p>Er reckte sich in seinen viel zu weiten Kleidern stramm auf, als er so
+stolze Wort sprach, und schien den knappen Türrahmen füllen zu wollen
+mit seiner Persönlichkeit. Und mit einer Handbewegung, die ein König
+beider Sizilien nicht so hoheitsvoll und gnädig spenden könnte, entließ
+er mich in mein ungemütliches Hotel, in dem nach des Rittmeisters
+Ansicht die Pocken ausgebrochen waren&#8239;...</p>
+
+<p>Ob das mit den Pocken seine Richtigkeit hat, weiß ich nicht.
+Jedenfalls konnte ich die ganze Nacht vor Hautjucken nicht schlafen.
+Ich machte wohl zehnmal Licht, um bald meine Beine, bald meine
+Schultern zu betrachten, die nach meinem Dafürhalten schon rötliche
+Flecken und Knötchen aufweisen mußten. Davon war allerdings nichts
+zu sehen. Hingegen entdeckte ich so gegen halb vier Uhr morgens
+eine ausgewachsene<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> Wanze, die eilfertig an der schmutzigen Tapete
+promenierte.</p>
+
+<p>Ich zog mich sofort an und verbrachte den Rest der Nacht mit dem Packen
+meines Koffers und der wenig anregenden Lektüre einer drei Wochen alten
+Zeitung, in die meine Lackstiefel eingepackt gewesen waren.</p>
+
+<p>Mit dem Frühzug wollte ich abreisen.</p>
+
+<p>Als ich beim Frühstück saß, das nur durch eine intensiv nach Pomade
+schmeckende Butter bemerkenswert war, brachte mir der Portier zwei
+Briefe. Einen zwölfseitigen von der Tante, in dem sie noch einmal „mit
+dem Umstand, den sie hatte“, betonte, daß sie unter keiner Bedingung
+ihre Zustimmung zu einem pekuniären Selbstmord der Familie gebe, wie
+ihn die sinnlose „Verschleuderung unseres Grundstücks unter seinem
+wahren Werte“ bedeute. Dieser „wahre Wert“ existiert bis heute nur in
+der Phantasie der ideal gesinnten Tante. Sie habe aber — so fuhr der
+Brief fort — gehört, in Bimmlingen sollten die Konserven so billig
+sein und wäre mir daher dankbar, wenn ich ihr vielleicht zwölf Büchsen
+Mirabellen, sechs Büchsen Pflaumen, aber geschälte, acht Büchsen
+Brechbohnen&#8239;...</p>
+
+<p>Ich schob den Brief, ohne die weiteren Büchsen nachzuzählen, in meine
+Brieftasche und beschloß, daß er erst <em class="gesperrt">nach</em> meiner Abreise
+angekommen war.</p>
+
+<p>Dann öffnete ich den andern Brief. Er enthielt das wertvolle Manuskript
+von der Hand Maruschka Anastasias. Die Karte Michael Monkebachs lag
+bei<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> mit den in peinlichster Schnörkelschrift aufgeschriebenen Worten:</p>
+
+<p>„Sehr werter Freund! Anbei das Versprochene. Ich halte es für das
+Bedeutendste, was meine liebe Frau geschrieben hat. Sie machen Ihrer
+Freundin ein königliches Geschenk mit diesen Blättern. Möge es Ihnen
+das charmante Mädchen durchs Leben danken. Der Himmel geleite Sie
+glücklich in die Heimat. Dieses wünscht Ihr ganz ergebener Michael
+Monkebach.“</p>
+
+<p>Der Portier meinte, wenn ich etwa noch mit dem Omnibus mitwolle, so
+müsse ich mich beeilen.</p>
+
+<p>Ich steckte also das Manuskript eilends ein und fuhr, immer noch
+von heftigem Jucken belästigt, an die Bahn. Dort hatte ich, da der
+Omnibus zu einem ganz andern Zug gefahren war — noch 37 Minuten
+Zeit und begann nun auf dem Perron, auf meinem Handkoffer sitzend,
+die Dichtung zu lesen. Ich „las“ ist eigentlich nicht das passende
+Wort. Maruschka Anastasia hatte die Gewohnheit fast jedes Wort
+durchzustreichen, dieses durchgestrichene Wort durch ein anderes,
+noch undeutlicheres zu ersetzen, das dann häufig wieder durch ein
+drittes querdurchgeschriebenes abgelöst wurde. Jedenfalls liest sich
+eine Urkunde Karls des Dicken oder ein Liebesbrief Ottos des Großen
+an die burgundische Adelheid heute noch bedeutend leichter, als eine
+Original-Handschrift Maruschka Anastasias.</p>
+
+<p>Daß die poetischen Schönheiten einer Dichtung<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> durch ihre
+Unleserlichkeit erhöht werden, ist nicht zu behaupten. Ich las an dem
+vierseitigen Manuskript eine halbe Stunde auf dem Perron, las die
+zweieinhalb Stunden der Bahnfahrt daran, las weitere neun Minuten in
+der Droschke vom Bahnhof bis zu meiner Wohnung, las eine halbe Stunde
+in meinem Studierzimmer weiter und hörte erst auf zu lesen, als Herr
+Jädicke kam, um mich unter vielen vortrefflichen Reden über das Reisen
+im allgemeinen und Fragen nach meiner Reise im besonderen zu rasieren.</p>
+
+<p>Der Anfang des Poëms ist mir in Erinnerung geblieben. Ich gebe ihn
+hier wieder ohne die unzähligen Gedankenstriche, die sich wie die
+gestrichelten Linien des gewissenhaften Schnittmusters für ein
+besonders kompliziertes Ballkleid durch die vielfach verwischten Zeilen
+wanden:</p>
+
+<div class="poetry-container s5">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">„Heut Nacht — ich kam von einem Ball und Schmaus —</div>
+ <div class="verse indent0">„Die welken Rosen hingen mir im Haare —</div>
+ <div class="verse indent0">„Da stand — o Gott! der Geist im Treppenhaus</div>
+ <div class="verse indent0">„Des Manns, den ich gelegt auf schwarze Bahre ...“</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Ich bemerke, daß mir persönlich hier die Konstruktion mißfiel. Indem
+man nicht weiß, ob das Treppenhaus zu dem Geist oder zu dem Mann oder
+ob der Mann zu dem Treppenhaus oder der Geist zu dem Mann und dem
+Treppenhaus gehört. Aber ich bin schließlich nicht kompetent. Es ging
+dann weiter:</p>
+
+<div class="poetry-container s5">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">„Im weißen Laken — gräßlich — ein Gespenst,</div>
+ <div class="verse indent0">„Moder im Rauschen seiner Totenkleider —</div>
+ <div class="verse indent0">„Er hob die Knochenhand: ‚Ob du mich kennst —?‘</div>
+ <div class="verse indent0">„Und bebend sprach ich: Leider — leider — <em class="gesperrt">leider</em>!“</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span></p>
+<p>Die sehr bedeutende Steigerung der folgenden Verse ist mir entfallen.
+Auch wurden die Rhythmen so kühn in ihrer trotzigen Unregelmäßigkeit,
+daß ich manchmal nicht sicher war, ob <em class="gesperrt">ich</em> mich verlesen oder ob
+<em class="gesperrt">sie</em> sich verschrieben oder ob das gerade die höchste Kunst der
+Neutöner war. <em class="gesperrt">Eines</em> war jedenfalls bewundernswert: Das Geschick,
+mit dem sie selbst in die Person des Hausknechts in Posen geschlüpft
+war, und die Grausamkeit, mit der der harmlose Michael Monkebach
+getötet, aufgebahrt und begraben, als Gespenst auf eine Treppe gesetzt
+und von ihr dann in Versen hitzigster Anklage über die Maßen schlecht
+behandelt war. Das Gedicht endete denn auch damit, daß sich der
+unsaubere Geist Michael Monkebachs beschämt in sein Grab zurückzog und
+schwur: nie wieder die Wege des endlich befreiten Weibes zu kreuzen,
+dem seine schmähliche Tyrannei „Wermut in alle Becher des schäumenden
+Lebens gegossen hatte“. Das ist mir im Gedächtnis haften geblieben,
+weil es mir bezeichnend schien, daß Maruschka Anastasia das schäumende
+Leben gleich aus <em class="gesperrt">mehreren</em> Bechern trank&#8239;...</p>
+
+<p>Der nächste Tag war ein Freitag.</p>
+
+<p>Ich nahm die teuren, in eine eigens dafür gekaufte kleine Mappe
+gesteckten Blätter mit in den illustren Kreis der „Schaffenden“, die
+mich ihres Umgangs würdigten. Sie empfingen mich mit großen Ehren. Als
+habe ich den schwarzen Erdteil entdeckt oder Andrées Knochen gefunden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p>
+
+<p>Ich mußte erzählen, erzählen, erzählen, bis mir der Hals trocken war.</p>
+
+<p>Und da schließlich so <em class="gesperrt">sehr</em> viel gar nicht zu erzählen war,
+die märchentiefen Augen eines schweigend lauschenden Mädchens aber
+glücklich und begierig an meinen Lippen hingen, so tat ich etwas sehr
+verwerfliches. Ich <em class="gesperrt">log</em>. Aus einer kurzen Zusammenkunft wurden
+drei lange, inhaltschwere Nachmittage. Aus einem Rittmeister wurde
+ein halbes Offizierkorps. Michael Monkebach wurde schlankweg ein
+Übermensch. Und ich —? O, ich hatte mich vortrefflich benommen! Der
+gute Eckermann hat aus dem alten Goethe in den neun Jahren von 1823 bis
+1832 nicht so viel unerhörte Dinge über Welt und Menschen, über Ruhm
+und Unsterblichkeit herausgefragt, wie ich in diesen drei Unterredungen
+aus Maruschka Anastasia. Und es befriedigte mich sehr, daß alle ihre
+angeblichen Aussprüche bejubelt wurden. Meine persönlichen Einwendungen
+fand man dagegen recht unbedeutend.</p>
+
+<p>Zum Schlusse küßte mich der verbotene Dramatiker auf Stirn, Mund und
+Wangen. Er sagte, daß er so umständlich <em class="gesperrt">nie</em> jemanden vor mir
+ausgezeichnet habe. Egon Felix Gundelmann versprach mir sein Bild.</p>
+
+<p>Ein gelegentlicher Mitarbeiter des Marsyas, der auf der Redaktion gar
+nichts zu sagen hatte, bot mir sieben Spalten der ersten Nummer des
+nächsten Quartals an, um das eben Gehörte dort für alle Gebildeten
+niederzulegen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span></p>
+
+<p>Dann deklamierte der Reformator der Rezitationskunst, der seit
+anderthalb Stunden in einem Nebenraum das Manuskript studiert hatte,
+mit einer erschreckenden Grabesstimme die Gespensterdichtung. Einige
+weinten; andere starrten entgeistert in die Gläser.</p>
+
+<p>An Maruschka Anastasia wurde dann ein enthusiastisches Nachttelegramm
+aufgesetzt, das sie von der tiefen, lähmenden, entkörpernden Wirkung
+ihrer Dichtung benachrichtigte. Ich durfte als erster unterschreiben.</p>
+
+<p>Dann sprang plötzlich der durch reichlichen Lethegenuß seelisch
+gehobene Reformator der Rezitationskunst mit gleichen Füßen auf den
+ächzenden Tisch, und die Feiernden überbrüllend verkündete er: da sich
+gewiß niemals wieder eine <em class="gesperrt">so</em> herzerhebende Weihestunde finden
+werde, so habe er beschlossen, schon heute Nacht, jetzt gleich, in
+<em class="gesperrt">dieser</em> Minute seine Verlobung mit der Schwester seines lieben
+Freundes, des Neutöners und Erneuerers der deutschen Lyrik bekannt zu
+geben.</p>
+
+<p>Mit diesen Worten hüpfte er vom Tisch und schloß die tiefblauen
+Märchenaugen meiner heimlichen Liebe mit den schmatzenden Küssen seines
+wulstigen Mundes&#8239;...</p>
+
+<p>Ich bin niemals mehr zu den Freitagsfesten gegangen.</p>
+
+<p>Der Reformator hat heute, glaube ich, in Merseburg ein kleines
+Zigarrengeschäft.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<p>Die ferneren Dichtungen Maruschka Anastasias sind mir fremd geblieben.</p>
+
+<p>Bloß Egon Felix Gundelmann sah ich in den folgenden Jahren noch
+zuweilen. Er hat sogar einen gewissen Einfluß auf mich gewonnen. Es
+ist seiner erstaunlichen Beredsamkeit gelungen, mein Leben für den
+Todesfall, meine Möbel gegen Feuer, mein unglückseliges Grundstück
+in Bimmlingen gegen Hagel und meine Winterkleider gegen Motten
+zu versichern. In Literatur macht er nämlich nicht mehr. Bloß in
+Versicherungen.</p>
+
+<p class="center">*<span class="mleft7">*</span><br>
+*</p>
+
+<p>Michael Monkebach aber habe ich noch einmal wiedergesehen.</p>
+
+<p>Ein halbes Jahr mag’s jetzt her sein, da zwang mich ein abscheulicher
+Platzregen — mein Schirm fuhr gerade in einer Elektrischen allein
+weiter in der Richtung des Spittelmarkts — in ein Café am Potsdamer
+Platz zu flüchten.</p>
+
+<p>Alle Marmortischchen waren besetzt von nassen, schimpfenden Leuten,
+die, trostlos in einer Tasse Kaffee rührend, hinausstarrten auf die
+Straße, die sich langsam in einen venetianischen Kanal zu wandeln
+schien.</p>
+
+<p>An einem Tisch zu vier Personen saßen bereits zwei Schachspieler.
+Behäbige, alte Herren, die schweigend und schnaufend unter Benutzung
+zahlreicher Zahnstocher eine Partie des königlichen Spieles erledigten;
+wobei der eine jedesmal, wenn der andere<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> nach langem Besinnen eine
+Figur vorwärts schob, ingrimmig brummte: „<em class="gesperrt">Dacht</em>’ ich mirs doch!“
+„Ob ich’s nicht <em class="gesperrt">kommen</em> sah!“ Es war eines jener merkwürdigen
+Spiele, bei denen jeder voraus weiß, was der andere tun wird und
+eigentlich bloß mit sich selbst spielt. An demselben Tisch hatte noch
+ein Herr Platz genommen in einem sehr weiten und für die Jahreszeit
+reichlich warmen Mantel, wie ich ihn zuletzt bei alten Schäfern
+im Spessart gesehen habe. Ihm gegenüber ein hochaufgeschossener,
+knochiger Jüngling von etwa fünfzehn Jahren, der in seinem schon etwas
+verwachsenen dunklen Matrosenkostüm mit dem breit herausgeschlagenen
+hellblauen Kragen nicht sehr glücklich verkleidet aussah. Der Herr
+hielt krampfhaft eine alte rindslederne Reisetasche zwischen den
+Beinen und machte den Eindruck, als ob er ausschließlich zur Bewachung
+dieses unscheinbaren Schatzes engagiert sei. Nur ab und zu gönnte er
+sich einen unruhigen Blick auf eine große Taschenuhr, die er unter dem
+leisen Geläute vieler goldener Petschaften tief aus dem Schäfermantel
+hervorzog. Der Matrosenjüngling aber fing nicht ohne Kunstfertigkeit,
+mit der behutsam vorgeschobenen knochigen hohlen Hand sein Opfer auf
+der Marmorplatte überlistend, Fliegen von einem vergessenen Stückchen
+Zwetschenkuchen, das herrenlos zwischen den braunklebrigen Kringeln und
+bekluckerten Kaffeetassen lag.</p>
+
+<p>An diesem Tische stand noch ein überzähliger fünfter Stuhl, den mir
+als einzigen, der im ganzen<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> Lokale noch frei war, ein diensteifriger
+Pikkolo mit herablassender Handbewegung anwies. Ich hielt zwei
+feindlich drohende Blicke der gestörten Schachspieler aus, wehrte
+den von dem Matrosenjüngling vom Zwetschenkuchen gescheuchten
+Fliegen, die sich alsbald auf meinem kurzgeschorenen Haupte von dem
+gehabten Schrecken zu erholen trachteten, und bestellte bei einem
+atemlos vorüberfliegenden Kellner einen schwarzen Kaffee und einen
+Kognak. Dann brannte ich mir eine Zigarre an und vertiefte mich,
+meiner darniederliegenden Lebensfreude aufzuhelfen, in ein spaßiges
+Leitgedicht Alexander Moszkowskis in den „Lustigen Blättern“.</p>
+
+<p>„Hast du auch deine wollenen Socken im Koffer, Karl?“ fragte plötzlich,
+wie von schrecklicher Ahnung belästigt, der Mann im faltenreichen
+Schäfermantel.</p>
+
+<p>„Aber <em class="gesperrt">ja</em>, Papa“, antwortete der Mückenfänger unwirsch und tat
+mit sicherer Hand einen gewaltigen Fang.</p>
+
+<p>„Ich nehme jetzt Ihren weißen Läufer“, meldete der eine Schachspieler.</p>
+
+<p>„Ob ich mir’s nicht <em class="gesperrt">gedacht</em> habe!“ zischte der andere ingrimmig.</p>
+
+<p>Dann war wieder eine Weile tiefe Stille an unserem Tisch. So eng
+wir saßen, er war eine Oase der Ruhe in dem Lärm und Getriebe des
+verrauchten, unruhigen Lokals.</p>
+
+<p>„Du hast doch hoffentlich deine Zahnbürste nicht vergessen, Karl?“ Aus
+der Tiefe des Schäfermantels kam die bekümmerte Frage.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span></p>
+
+<p>„Aber nein, Papa“, gab der Matrose ärgerlich zurück und köpfte
+mit einem Zahnstocher eine Gefangene auf dem Tellerrand, was sehr
+unappetitlich anzusehen war.</p>
+
+<p>„Ich sage jetzt: Schach der Königin. Mit dem Springer“, meldete der
+eine Schachspieler.</p>
+
+<p>„Ob ich das nicht <em class="gesperrt">kommen</em> sah!“ brummte der andere und schob
+wütend sein Kaffeebrettchen in den blauschillernden Zwetschenkuchen.</p>
+
+<p>Dann war’s wieder stille.</p>
+
+<p>Plötzlich — ich war gerade auf die Pointe meiner Lektüre sehr
+neugierig — beugte sich der Mann im Schäfermantel vertrauensvoll zu
+mir herüber:</p>
+
+<p>„Verzeihung, wenn ich Sie störe ...“</p>
+
+<p>„Bitte.“</p>
+
+<p>„Wie lange fahren wir wohl mit der Droschke nach dem Lehrter Bahnhof?“</p>
+
+<p>... Es gibt merkwürdige Momente im Leben; Momente, in denen man sich
+von einer sanften Riesenwelle erfaßt glaubt und sich weit, weit
+zurückgeschleudert fühlt in längst verrauschte Strudel der eigenen
+Vergangenheit. Die Seele schlägt ihre großen, erstaunten Augen
+auf, sieht sich um und erkennt Menschen, die sie längst in einem
+Gedächtniswinkel begraben hatte; Dinge, die seit Jahren zerbeult
+und zerschlagen und unkenntlich in einer andern Gedächtnisecke beim
+wertlosen Gerümpel lagen; Situationen, die wie groteske neblige
+Gespenster froher, heller Erlebnisse aus einem fernen, fernen Frühling
+wirken.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span></p>
+
+<p>Solch ein Moment war es, als ich in ganz mechanischer Arbeit meines
+Sprechapparates dem Fragenden erwiderte: „Bis zum Lehrter Bahnhof
+fahren Sie mit einem Kutscher, der nicht betrunken ist, ungefähr
+fünfzehn Minuten.“</p>
+
+<p>Und dabei sah ich unverwandt in dieses fragend auf mich gerichtete
+Gesicht, in dem es jetzt auch wie aufzuckende Erinnerung zu
+wetterleuchten begann ... Ganz so dicht bei diesem fremden Manne,
+dessen Gliederbau der viel zu weite Schäfermantel wie eine schwarze
+Glocke verbarg, mußt’ ich schon einmal irgendwo gesessen haben.
+Bestimmt an einem Tische, tafelnd, lächelnd, konversierend. Auf
+seiner linken Seite, wie jetzt. Aber damals hatten keine alten Herren
+Schach spielend uns gegenüber gesessen. Auch kein Matrosenjüngling
+fing damals Mücken. Damals — damals — Und plötzlich <em class="gesperrt">wußt</em>’
+ich’s wieder. Damals saß uns eine dicke Dame gegenüber, eine Rentiere
+aus Stettin mit einem pfundschweren Bernsteinschmuck und neben ihr
+im funkelnagelneuen Zivil, das ihn wie einen Zuschneider am Sonntag
+erscheinen ließ, der Rittmeister, der sich so gern reden hörte und dazu
+so erstaunliche Quantitäten Moselwein trank. Damals im Bade an der
+<span class="antiqua">Table d’hôtes</span>&#8239;—&#8239;—</p>
+
+<p>„Herr Michael Monkebach — nicht wahr?“</p>
+
+<p>„Das ist aber eine Freude, <em class="gesperrt">lieber</em> Herr Doktor. Ihr Gesicht
+kam mir doch gleich so bekannt vor. Erst dacht’ ich an einen
+Stationsvorsteher auf der<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> Strecke Weimar-Apolda, der mich mal so
+furchtbar grob angefahren hat vor sechs Jahren — natürlich, wie
+konnt’ ich nur ... Wie ist’s Ihnen denn ergangen? Sind sie noch an der
+Stuhlbeinfabrik in Heiligenstadt beteiligt, ja? Geht sie noch immer so
+glänzend?“</p>
+
+<p>Da ich niemals an einer Stuhlbeinfabrik in Heiligenstadt beteiligt war,
+so konnte ich ihm darüber keinerlei Auskunft geben. Aber er schien
+auch gar keine Antwort zu erwarten. Seine Fragen waren lediglich
+nervöse Entladungen seiner Freude; waren rethorische Vergnügungen
+seines frohbewegten Herzens. So erkundigte er sich noch, ob ich noch
+immer Karlsbader Wasser trinke, ob ich mir die Zigaretten nach wie
+vor direkt aus Kairo kommen lasse, ob ich noch so leidenschaftlich
+Briefmarken sammle und ob ich noch immer als Wanderredner des Vereins
+für Feuerbestattung tätig sei. Lauter Dinge, an die ich nie in meinem
+Leben gedacht habe.</p>
+
+<p>Einen Augenblick schöpfte er Atem, um dem Matrosenjüngling einen
+pantomimischen Verweis zu geben, weil ihn sein Jagdeifer in bedenkliche
+Nähe des Schachbrettes gebracht hatte und der eine Spieler, nach
+den Störenfried hinblickend, seine dicken Finger schon seltsam
+aggressiv bewegte. Diesen Moment benutzte ich, dem Wiedergefundenen
+zu versichern, daß er mich zwar richtig wiedererkannt habe, was mir
+natürlich äußerst schmeichelhaft sei, daß er mich aber in Bezug auf
+meine Lebensgewohnheiten offenbar mit<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> einem, wahrscheinlich sogar mit
+mehreren seiner Bekannten verwechsle.</p>
+
+<p>Michael Monkebach rieb sich nachdenklich die nicht unbedeutende Nase.
+Der vergrämte Zug, den ich früher schon zuweilen bemerkt hatte, kehrte
+unter diesen Strichen seiner nervösen Finger, tiefer, melancholischer
+wieder.</p>
+
+<p>„Sie müssen schon entschuldigen,“ sagte er. „Was so im Laufe der Jahre
+alles uns besuchen kam ... Es war wirklich ... Ich erinnere mich eines
+Ungarn, der kein Wort deutsch sprach, der zwei Tage lang, eigentlich
+unaufgefordert, zu Tisch blieb, immer nur Maruschka Anastasia anstarrte
+und schließlich von ihrem Schreibtisch ein Falzbein aus Elfenbein mit
+großem, leider unverständlichem Wortschwall, offenbar als ‚Erinnerung‘
+einsteckte. Ich entsinne mich eines kleinen, krummbeinigen Polen,
+der uns durch seine französische Konversation viel Mühe machte.
+Er hatte Maruschka Anastasias Gedicht ins Polnische übersetzt und
+deklamierte uns zwei Stunden lang seine Übertragungen vor. Es klang
+sehr merkwürdig, war aber doch ein bischen langweilig, da wir ja keine
+Silbe verstanden. Er regte sich furchtbar auf dabei, der Gute. Und
+wir mußten ihm später viel Rotwein einflösen, damit er einen Anfall
+von Herzschwäche überwand. Einer der letzten war ein sehr blasser und
+schweigsamer Herr aus Chemnitz, der künstlerische Dichterporträts —
+als Amateur — aufnahm. Er brachte einen großen Apparat mit, auch<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> eine
+sehr eigentümliche Vorrichtung für Blitzlicht. Mit dieser Vorrichtung,
+die seine Erfindung war, hat er uns die Gardinen in Brand gesteckt. Wir
+hatten einen großen Schrecken. Und das übelste war, auf dem Bilde hat
+Maruschka Anastasia später zwei Köpfe.“</p>
+
+<p>„Wie geht es ihrer verehrten Frau Gemahlin?“ unterbrach ich den Strom
+seiner Erinnerungen.</p>
+
+<p>„Wie es ...“ Er sah zerstreut auf die Uhr. „Ich denke gut. Ich hoffe
+es. — Fünfzehn Minuten sagten Sie? Dann werden wir wohl ... Karl, laß
+doch die Fliegen in Ruh! Du genierst die Herren da.“</p>
+
+<p>„Ich nehme ihren Turm mit der Königin,“ annonzierte der eine
+Schachspieler und warf dabei einen wütenden Blick nach dem unentwegten
+Mückenfänger.</p>
+
+<p>„Ob ich das nicht die ganze Zeit <em class="gesperrt">kommen</em> sah!“ hohnlächelte der
+andere, als ob ihm sein Gegner einen großen ingrimmigen Spaß mit dieser
+Mitteilung gemacht habe.</p>
+
+<p>„Um fünf Uhr dreizehn geht nämlich unser Zug nach Hamburg,“ sagte
+Michael Monkebach, indem er einen vorüberhuschenden Kellner an seiner
+weißen Jacke festhielt, daß sie in allen Nähten krachte. „Bitte, laufen
+Sie nicht <em class="gesperrt">wieder</em> vorbei! Also ich habe eine Tasse schwarzen
+Kaffee und ein Hörnchen, — eigentlich nur ein halbes, denn es war eine
+Schwabe darin eingebacken — der Junge hat drei Tassen<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> Schokolade und
+drei Stück Zwetschenkuchen. Es waren doch drei, Karl?“</p>
+
+<p>„Vier“, korrigierte der tapfere und gewissenhafte Esser.</p>
+
+<p>„Pardon, ja — <em class="gesperrt">vier</em>,“ entschuldigte sich Michael Monkebach, der
+unter dem ungnädig strafenden Blick des Kellners errötete.</p>
+
+<p>Dann fand eine sehr merkwürdige und sehr unleserliche Addition auf der
+Marmorplatte statt. Der Kellner wechselte sein Silberstück, dankte
+kühl und verschwand eilfertig nach dem Buffet, schon von weitem eine
+umständliche Bestellung brüllend.</p>
+
+<p>Michael Monkebach schüttelte den Kopf, während er die wenigen
+Nickelstücke in sein Portemonaie zurücklegte. „Hatte ich ihm nicht ein
+Fünfmarkstück hingelegt? Mir war’s doch so als ob ... Er hat mir nur
+auf einen Taler herausgegeben.“</p>
+
+<p>„So rufen Sie ihn doch zurück“, mahnte ich. „Ich hatte <em class="gesperrt">auch</em> den
+Eindruck, daß es ein Fünfmarkstück war.“</p>
+
+<p>„Zurückrufen? Ach nein.“</p>
+
+<p>Es war, als ob Michael Monkebach körperlichen Schmerz beim Ausdenken
+dieser gefährlichen Eventualität empfinde. Er war noch der Alte,
+zutraulich, hilflos, ängstlich, ein prädestiniertes Versuchsobjekt für
+alle kleinen Spitzbübereien einer verschlagenen Menschheit. Alt war er
+geworden. Ganz grau an den dickgeäderten Schläfen. Sein Gang hatte den
+letzten Rest von Elastizität eingebüßt. Er bewegte sich mühsam<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span> und
+müde, als ob der faltenreiche Schäfermantel mit Bleistücken gefüllt
+sei, die ihn sacht aber unaufhaltsam niederzögen.</p>
+
+<p>„Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie,“ schlug ich vor. „Drei haben ja
+bequem im Taxameter Platz.“</p>
+
+<p>„Ich steige auf den Bock“, entschied der Jüngling, indem er, die Hände
+in den Hosen, seinem Vater die Reisetasche überlassend, sehr laut und
+sehr falsch pfeifend voranschritt.</p>
+
+<p>„Du — —“ Michael Monkebach wollte offenbar diese verwegene und
+gefahrvolle Unternehmung nicht zugeben; aber er sah die unwirsch
+aufgeworfenen Lippen des trotzigen Bubengesichts und änderte alsbald
+seinen strengen Entschluß: „Du — mußt dich aber <em class="gesperrt">fest</em>halten, mit
+beiden Händen,“ sagte er. „Ich werde dem Kutscher auftragen, daß er gut
+acht gibt und nicht zu rasch fährt.“</p>
+
+<p>„Also kommen Sie.“</p>
+
+<p>Es hatte aufgehört zu regnen. Der Platz lag wie eine einzige,
+spiegelnde Riesenpfütze da.</p>
+
+<p>Wir nahmen uns einen Taxameter. Michael Monkebach gab dem Kutscher
+so ausführliche Anweisungen, als ob es sich um eine Reise durch
+die entlegensten Teile der Mandschurei und nicht um eine Fahrt vom
+Potsdamer Platz nach dem Lehrter Bahnhof handele. Er bat ihn auch,
+dem jungen Herrn alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Insbesondere den
+Zoologischen Garten und das Schloß.</p>
+
+<p>„Soll ick vielleicht über Potsdam fahren?“ gab<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> der Kutscher als
+einzige Antwort zurück, nahm dem bereits auf den Bock gekletterten
+Jüngling die Peitsche aus der Hand, klatschte ermunternd über den
+nassen Rücken des melancholischen Fliegenschimmels und fuhr halblaut
+vor sich hinmurmelnd die Königgrätzerstraße entlang.</p>
+
+<p>„Sie werden Ihre Frau Gemahlin in Hamburg treffen —?“</p>
+
+<p>Michael Monkebach wäre beinahe aus dem Wagen gefallen vor Schreck. „Ich
+werde — meine ...? Wieso? Ist sie dort? Haben Sie Nachrichten von
+Maruschka Anastasia?“</p>
+
+<p>Nun war die Reihe der Verblüffung an mir. „<em class="gesperrt">Ich</em>? Wieso — ich?
+Ich meinte blos, ob Ihre Frau Gemahlin ...“</p>
+
+<p>Er lächelte verlegen und mit dem Zeigefinger diskret auf den auf dem
+Bock hin- und herschaukelnden Jungen deutend dämpfte er seine Stimme
+zu einem säuselnden Flüstern, das er nur zu einigen eingestreuten
+Ermahnungen für den Sohn erheblich verstärkte.</p>
+
+<p>„Sie müssen nämlich wissen, lieber Freund, ich habe mich von Maruschka
+Anastasia — ja, wie sag’ ich doch gleich — getrennt. Das ist wohl
+das rechte Wort. Oder eigentlich <em class="gesperrt">sie</em> hat sich von <em class="gesperrt">mir</em>
+getrennt. Ganz kurz nach Ihrem lieben Besuch damals — ich entsinne
+mich jetzt sehr wohl, wann das war. Maruschka Anastasia hat damals
+jenes schauerlich-schöne Gedicht geschaffen, in dem ich ihr als
+Wasserleiche — nein<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> doch, das war vorher — ich weiß schon: in dem
+ich ihr als nachtwandelndes Gespenst erschien.“</p>
+
+<p>„Ganz recht. Durch eine Erzählung des Rittmeisters ...“</p>
+
+<p>Michael Monkebach machte eine Bewegung, als ob er einen Schüttelfrost
+erwarte. Er zog den Schäfermantel fester um seinen Leib und sah nun
+ganz aus wie ein schwarzer Sack, auf dem als unscheinbarer Knopf und
+verunglückter Zierrat das blasse Haupt eines schlechtrasierten alten
+Herrn angebracht ist. Ich erinnere mich, in meiner Jugend solche
+Lichthütchen im Hause eines frommen Onkels gesehen zu haben.</p>
+
+<p>„Der Rittmeister“, sagte der Kopf auf dem schwarzen Sack, „ja sehen
+Sie, er war doch eigentlich <em class="gesperrt">keine</em> Vollnatur. Es war ein Blender,
+ein im Grunde genommen sittlich <em class="gesperrt">nicht</em> hochstehender Mensch.
+Ich denke mir, der ständige, fast ausschließliche Umgang mit Pferden
+und rassereinen Foxterriers — er hatte drei Stück, die uns viel
+Last machten — hat das Edle, Reinmenschliche in ihm — Karl, sitze
+<em class="gesperrt">ruhig</em>, halte die Beine <em class="gesperrt">bei</em> dir! — was wollt’ ich sagen?
+Ja so, das Reinmenschliche hat der Rittmeister im Stall wohl verloren.
+Sie glauben nicht, was er für rohe, unzarte Briefe schrieb.“</p>
+
+<p>„An Sie?“</p>
+
+<p>„An mich? Aber nein. Wie sollte er wohl an mich ...? An Maruschka
+Anastasia natürlich. Ich fand diese odiösen Blätter durch einen Zufall
+—<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> Karl, das ist das Brandenburger Tor, sieh es dir genau an, mein
+Sohn, hier links geht es in den Tiergarten — Ja, durch einen Zufall.
+Mein Gott, Maruschka Anastasia war sorglos, wie ein Kind. Das war eine
+ihrer liebenswürdigsten Eigenschaften. Sie hat auch nie gemerkt, wenn
+uns eine Köchin betrog. Und ich denke, <em class="gesperrt">jede</em> Köchin betrog uns.
+Sie gab mir selbst die Mappe, in der einige von diesen Briefen offen
+lagen. Ich sollte ein sehr langes Gedicht von ihr abschreiben — das
+ist der Reichstag, Karl, Begas hat ihn gebaut —“</p>
+
+<p>„Walloth, bitte,“ verbesserte ich.</p>
+
+<p>„Richtig ja, Walloth. Sieh ihn dir genau an, mein Sohn, da werden die
+Gesetze gemacht — — Ja, ja die Gesetze!“ Er lächelte sonderbar vor
+sich hin. „Maruschka Anastasia hielt nicht viel von Gesetzen. Als ich
+damals die Briefe gefunden und gelesen hatte — sie lagen ganz offen
+in der Mappe und die Überschriften waren so sonderbar — da sagte ich:
+Maruschka Anastasia“, sagte ich, „das ist doch wider alles Gesetz und
+alle Ordnung. Du beschimpfst mich in deinen Gedichten, schön. Ich weiß
+ja doch, daß du es nur in deiner herrlichen Phantasie tust, und daß es
+in unserem Vaterlande viel Leute gibt, die das gerne lesen. Also warum
+soll ich der Literatur meinen bescheidenen Anteil weigern? Ich gebe
+sogar zu, das ich <em class="gesperrt">stolz</em> darauf bin, einen gewissen persönlichen
+Einfluß auf die moderne Dichtung zu gewinnen, obschon mir selbst das
+Talent versagt ist.<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> Auch daß ich dir als Gespenst erscheine, ist aus
+solchen Gesichtspunkten gewiß in Ordnung. Obschon es vielleicht nicht
+jedem angenehm wäre, sich selber als Gespenst zu sehen. Aber daß du dir
+von dem Rittmeister solche Briefe schreiben läßt, Briefe, wie sie ein
+verliebter Hausknecht — Wir fahren jetzt über die Spree, Karl, sieh
+sie dir genau an. Es ist kein reißender, aber ein sehr bedeutsamer Fluß
+— Ja, <em class="gesperrt">so</em> sprach ich ungefähr zu Maruschka Anastasia.“</p>
+
+<p>„Und sie?“</p>
+
+<p>„Ja — sie! Es ist eine merkwürdige Frau. So impulsiv, so ganz und
+gar unberechenbar. Man könnte eine Sphinx, könnte mehrere Sphinxe aus
+ihr machen. Was glauben Sie, was sie tat! Sie zitierte einen nicht
+ganz klaren Ausspruch — ich glaube von Schopenhauer, er kann aber
+auch von Macchiavelli gewesen sein; und dann nahm sie plötzlich einen
+japanischen Aschenbecher und warf ihn nach mir. Ich bückte mich rasch,
+fiel über den immer vollen Papierkorb. Als ich mich wieder erhob, war
+Maruschka Anastasia aus dem Zimmer gegangen.“</p>
+
+<p>„Und dann?“</p>
+
+<p>„Ich habe Maruschka Anastasia — — Was ist das doch für ein Theater?“</p>
+
+<p>„Das Lessingtheater.“</p>
+
+<p>„Richtig, ja. — Karl, sieh es dir genau an, es ist das Lessingtheater
+— Ja. Ich habe Maruschka Anastasia <em class="gesperrt">nie</em> wieder gesehen. Sie hat,
+<em class="gesperrt">wie</em> sie war, mein Haus verlassen und ist dem Rittmeister — er<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span>
+befand sich damals mit seinen Terriers auf einem von den Zeitungen
+sehr gerühmten Distanzritt — entgegengereist. Der Rittmeister hat mich
+einige Tage später auf Pistolen fordern lassen. Meine Freunde haben mir
+gesagt, es hätte das eigentlich umgekehrt sein müssen. Nun, es war ja
+auch <em class="gesperrt">so</em> gut.“</p>
+
+<p>„Sie haben sich — geschossen?“</p>
+
+<p>„Aber das war doch unmöglich. Gleich nachdem Maruschka Anastasia ihre
+Möbel durch den Spediteur holen ließ — <em class="gesperrt">einen</em> Tag nach ihrer
+Flucht — schloß ich doch mit Frau <em class="gesperrt">Benzmann</em> ab.“</p>
+
+<p>„Sie haben sich — wieder verlobt?“</p>
+
+<p>„Gerechter Himmel — ich <em class="gesperrt">denke</em> nicht daran! Frau Benzmann ist
+Karls Großmutter — ich denke, ich erzählte Ihnen damals — eine
+vortreffliche, nur etwas, sagen wir: etwas zu energische Frau.“</p>
+
+<p>„Ach, die alte Dame mit der — Kohlenschaufel? Der Junge ist also ...“</p>
+
+<p>Michael Monkebach sprach so leise, daß ich ihn nur noch verstehen
+konnte, wenn ich mein linkes Ohr dicht unter seine Nase hielt. Das tat
+ich. Denn die verwickelten Schicksale des Mannes mit dem persönlichen
+Einfluß interessierten mich sehr.</p>
+
+<p>„Durch die Adoption erwuchsen mir doch Verpflichtungen, nicht wahr?
+Ich konnte mich doch jetzt nicht von jedem beliebigen Rittmeister,
+der meine weitgehende Gastfreundschaft, drücken wir uns milde aus:
+mißbraucht hatte, über den Haufen schießen lassen. Sie begreifen
+das? Ich habe Frau Benzmann, — sie trinkt<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> leider stark und ist als
+Verwandte recht lästig, — dem Jungen und mir selber versprochen,
+ein guter Vater zu sein. <em class="gesperrt">Nur</em> ein Vater. Man muß etwas sein
+und das ganz. Ich wollte meinen ganzen persönlichen Einfluß geltend
+machen, wollte dieses Menschheitspflänzchen zu herrlicher Blüte zu —
+Karl, wirst du augenblicklich dem Kutscher die Peitsche zurückgeben?
+Au-gen-blick-lich!“</p>
+
+<p>Auf dem Bock hatte sich so etwas wie ein Kampf entsponnen, den der
+neckisch aufgelegte Gaul dazu benutzte, uns in einem harten, stoßenden
+Galopp bald nach links bald nach rechts unsanft an eine Bordschwelle zu
+fahren.</p>
+
+<p>„Du sollst die Peitsche hergeben!“ Halb aufstehend kniff der ergrimmte
+Michael Monkebach den renitenten Pflegesohn in eine seinem Arm
+erreichbare besonders fleischige Körperstelle.</p>
+
+<p>Der Junge gab schrill aufquietschend die Peitsche zurück. Und die
+genußreiche Fahrt nahm einen friedlicheren Verlauf.</p>
+
+<p>„Und haben Sie denn nun rechte Freude an <em class="gesperrt">die</em>sem Sohn?“</p>
+
+<p>Michael Monkebach umging die direkte Antwort.</p>
+
+<p>„Es war nicht immer ganz leicht,“ sagte er. „Es meldeten sich störende,
+kleine Atavismen — Sie wissen, sein armer Vater, der ehemalige
+Briefträger ... Der Bedauernswerte ‚sitzt‘ jetzt wieder. Er machte als
+Kassenbote — ich hatte ihm die Kaution gestellt — eine unangemeldete
+Erholungsreise und vergaß, zuvor<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> einen der Firma gehörigen
+Tausendmarkschein abzugeben ... Übrigens, ich möchte nicht schlecht
+sein, aber, ehrlich gesagt, mir ist’s für alle Teile fast lieber,
+er ist auf solche Weise aufgehoben. Seine Besuche waren nicht sehr
+angenehm. Er hetzte den Jungen auf. Ich glaube, es war auch <em class="gesperrt">sein</em>
+Gedanke, daß Karl zur <em class="gesperrt">See</em> gehen sollte. Er dachte mich wohl
+damit am empfindlichsten zu treffen.“</p>
+
+<p>„Sie lassen den Jungen zur <em class="gesperrt">See</em> gehn?“</p>
+
+<p>„Mein Gott, ich ‚lasse‘ —? was will ich machen? Wenn nun einmal
+sein junges, törichtes Herz daran hängt. Und in der Schule —
+unter uns: er ist leider nicht sehr begabt. Wenigstens nicht für
+Unterrichtsgegenstände. Zuweilen hat er wohl ganz überraschende
+Geistesblitze, aber die sind immer mit einer gewissen Tücke verbunden.
+Sie könnten zum Exempel Erdbeermarmelade verstecken, <em class="gesperrt">wo</em> Sie
+wollten — er würde sie finden. Aber im schlichtesten Aufsätzchen eine
+Kuh zu beschreiben oder eine Mühle oder einen Storch — er bringt’s
+nicht fertig. Nun hab’ ich ihn also angemeldet als Schiffsjungen in
+Hamburg. Der Kapitän ist ein Schulfreund von mir. Er nimmt ihn dort
+schon an der Bahn in Empfang. Gleich die erste Fahrt ein hübsches
+Stückchen Wasser ... Nach Valparaiso. Es soll gute Zucht sein auf dem
+Schiff. Auch über das Essen habe ich mich vergewissert. Na, natürlich
+nicht gerade Erdbeermarmelade; aber kräftig und reichlich.“</p>
+
+<p>„Ist da nun nicht ein trauriger Gedanke, einen<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> Sohn zu haben und doch
+wieder <em class="gesperrt">keinen</em> Sohn zu haben?“</p>
+
+<p>„Gewiß, gewiß. Aber, was wollen Sie, sein Herz hing daran, nicht wahr?
+Er wäre mir verbummelt, verbittert zu Hause. Und <em class="gesperrt">so</em> — ich
+denke, ich kann doch für ihn sorgen. Lächeln Sie nicht, das ist doch
+etwas, ist ganz viel. Ich kaufe ihm warme Unterwäsche, wenn er nach
+Spitzbergen fährt, und ich suche ihm leichte Sommersachen aus, wenn er
+nach dem Äquator steuert. Ich habe mir einen neuen großen Atlas gekauft
+— meinen schönen alten Kiepert hat Maruschka Anastasia irrtümlich
+unter ihren Sachen mitgenommen. Und so kleine Fähnchen hab’ ich in
+einem Papierladen erstanden, wissen Sie, so lustige bunte Wimpelchen
+an Stecknadeln, wie sie die großen Dampfschiffahrtsgesellschaften auf
+ihre Karten stecken. Genau solche. Das hab ich ihnen abgesehen. Und so
+mache ich auf der Karte alle Fahrten mit ihm; und abends lese ich die
+Berichte von den Seewarten. Und aus jedem Hafen — das hab ich schon
+ausgemacht mit meinem Schulfreund, dem Kapitän — bekomme ich ein
+ausführliches Telegramm. Sehn Sie, mich hat das Leben gelehrt, es ist
+gar nicht so wichtig, daß man immer <em class="gesperrt">körperlich</em> bei den Menschen
+ist, die man liebt, die man halten und schützen und fördern möchte.
+Maruschka Anastasia zum Beispiel — ich habe sie <em class="gesperrt">nie</em> wieder
+gesehn. Aber es freut mich doch an jedem Ersten im Monat, wenn ich, die
+Hand auf der Brusttasche, die Bückeburger Straße<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> hinaufgehe und ihr
+das Geld auf ihr Konto bei der Deutschen Bank einzahle.“</p>
+
+<p>„Was — Sie — Sie — unterstützen Ihre geschiedene Frau noch —?“</p>
+
+<p>„Das <em class="gesperrt">muß</em> ich doch. Ich bin ja der schuldige Teil, nicht wahr?
+Heißt das: vor der Welt. Wir haben das ganz hübsch so eingerichtet.
+— Und dann hat ihr Verleger Bankrott gemacht. Und der Rittmeister
+hat doch selbst nichts, nicht wahr? Er verkauft manchmal einen Wurf
+Foxterriers — aber mein Gott, jetzt sind wieder die schottischen
+Schäferhunde Mode. Er hat Unglück der Mann, wirklich, er tut mir leid.“</p>
+
+<p>Wir waren am Lehrter Bahnhof und stiegen aus.</p>
+
+<p>Der Zug stand schon bereit. Michael Monkebach eroberte für den Jungen
+einen Eckplatz, Rücksitz am Fenster. Er dachte an alles, brachte die
+Reisetasche im Gepäcknetz unter und erprobte umständlich auf mehrere
+sinnreiche Arten, ob sie nicht etwa dem Daruntersitzenden auf den
+Kopf fallen könnte. Er kaufte ihm noch ein paar Orangen und zwei
+fingerdick belegte Brote; er belehrte ihn noch über die wohlgesetzten
+Begrüßungsworte, die er dem Kapitän bei der Ankunft in Hamburg
+widmen sollte, ermahnte ihn dringend, auf die Reize der Aussicht ein
+Augenmerk zu haben und sich ja nicht aus dem Fenster zu beugen, weil
+einem da leicht kleine Kohlenstäubchen ins Auge fliegen könnten, was
+sehr fatal und schmerzhaft sei. Und mit einer unnachahmlich diskreten
+Handbewegung<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> auf eine dunkle Verbindungstür nach einem kleinen
+Kabinett weisend, flüsterte er: „Und — du weißt, lieber Karl, für
+alle Fälle ... <em class="gesperrt">Genier</em>’ dich nicht, Junge! Solche Dinge sind
+menschlich. Die vornehmste Dame ist nicht frei davon.“</p>
+
+<p>Ich hielt mich bescheiden etwas zurück, den Abschied nicht zu stören.</p>
+
+<p>Daß der Jüngling von Sentimentalitäten überwältigt werden könne, schien
+er nicht zu befürchten. Er betastete neugierig den blanken Griff der
+Notbremse und prüfte die geheimnisvolle Plombe, was Michael Monkebach
+sehr in Verwirrung setzte. Er drehte die Heizungskurbel, las die
+ausführlichen Bestimmungen über „verlorene und gefundene Gegenstände“
+mit lauter Stimme von einem angeschlagenen Blättchen ab und bat
+schließlich seinen Vater, dem Mathematiklehrer zu bestellen, daß er ihn
+nie habe ausstehen können und für einen ekelhaften Esel halte.</p>
+
+<p>Das war der letzte Gruß des künftigen Seefahrers an die Heimat, an die
+Vergangenheit, an das Festland.</p>
+
+<p>Der Zug setzte sich in Bewegung.</p>
+
+<p>Michael Monkebach zog mit nervöser Hast ein sehr sauberes Taschentuch,
+reichlich so groß wie eine Kinderwindel; und er winkte mit der
+ganzen Kraft seines Armes, so lange der Zug in Sicht war, wobei er
+im Überschwang der Gefühle am äußersten Ende des Perrons herlief und
+beinahe den diensttuenden Stationsvorsteher auf die Schienen geworfen
+hätte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span></p>
+
+<p>Als wir langsam die Treppe herunterstiegen, blieb er plötzlich stehen,
+legte mir die Hand auf den Arm und sagte:</p>
+
+<p>„Ist es nun nicht ein wunderbarer, ein, möchte ich sagen, erhebender
+Gedanke, daß der Junge vielleicht in drei Monaten in Kapstadt vor Anker
+geht, oder in sechs Monaten in den Hafen von Habana einläuft oder
+in Montevideo an Land klettert oder in Melbourne? Und ich in meinem
+stillen Landstädtchen, der ich nur noch seine ziemlich schlechten
+Bilder und sein zerbrochenes Kinderspielzeug und seine zerpflückten
+Schulbücher habe als Erinnerungen an so viele Sorgen und Hoffnungen und
+gern erfüllte Pflichten, ich weiß: daß er unter Kaffern und Indianern,
+unter Grönländern und Indiern und unter lauter seltsamen Menschen,
+die eine fremde Sprache reden und fremden Sitten gehorchen, plötzlich
+etwas sagen, etwas tun wird, daß er nur von <em class="gesperrt">mir</em> hat, nur von
+<em class="gesperrt">mir</em> haben kann. Er wird sich plötzlich auf eine Lehre besinnen,
+die ich ihm gab; wird ein Wort, eine Sentenz anwenden, die er mich
+oft gebrauchen hörte. Und bewußt oder instinktiv wird er ein winziges
+Spürchen Kultur, die Kultur von <em class="gesperrt">meiner</em> Kultur ist, unter die
+Feuerländer und Kanibalen, unter die poesielose Hafenbevölkerung des
+schmutzigen Ostens, unter die armen Fischer im Eis des hohen Nordens
+tragen. Und so dünn und klein diese Fäden auch sein mögen, <em class="gesperrt">mein</em>
+persönlicher Einfluß, den ich auf sein Kindergemüt übte, umspannt
+auf solche Weise in ein paar Jahren<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> vielleicht die ganze Welt. Ein
+Späßchen, das <em class="gesperrt">ich</em> einmal gemacht, erzählen sie sich vielleicht
+am lodernden Wachtfeuer am Amazonenstrom. Eine Handbewegung von mir,
+wenn ich abends den Tee bereitete, wird vielleicht in Lappland von
+einem schmierigen Eingeborenen als fremde Kulturblüte nachgeahmt.
+Ein gutes Wort, daß ich gelegentlich aus dem Gedächtnis nach einem
+deutschen Dichter falsch zitierte, klingt vielleicht in derselben
+irrigen Version in einem Tempel bei Nagasacki wieder. So hat alles
+Trübe sein Fröhliches, jeder Schmerz seine Heilung in sich selbst.
+Ich verliere, sehn Sie —“ Er stockte einen Augenblick, dann sprach
+er mit wehmütigem Lächeln weiter: „Ich verliere einen Jungen an die
+große Welt da draußen; und mein Haus wird still und einsam. Aber ein
+Stückchen, ein Spürchen, ein Gruß von mir passiert mit <em class="gesperrt">ihm</em> den
+Äquator, fährt mit ihm durch die Wendekreise. Und auf all das Fremde,
+Große, Schöne da draußen, das ich mit eigenen Augen nie sehen werde,
+habe ich ganz heimlich und ganz bescheiden durch die Fahrten meines
+Adoptiv-Kindes einen gewissen persönlichen Einfluß.“</p>
+
+<p>Während er mehr zu sich selbst, als zu mir sprach, hatte er den
+schwarzen Schäfermantel auseinandergeschlagen und wischte sich mit
+dem riesigen Zipfel des Taschentuches verstohlen das Auge. Als er
+aber meinen freundlich verstehenden Blick auf sein gerötetes Antlitz
+gerichtet sah, steckte er das Tuch sofort weg, zwinkerte noch ein
+paar Mal wie prüfend mit<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> dem Augendeckel und erklärte dann ein wenig
+unsicher im Ton:</p>
+
+<p>„Es muß mir ein Kohlenstäubchen ins Auge gekommen sein.“</p>
+
+<p>Dann schritt er im Gewühl der Passagiere eines eben angekommenen
+Zuges zwischen einem höheren Offizier und einer Eierfrau durch die
+Perronsperre ins Freie&#8239;...</p>
+
+<figure class="figcenter illowe6 padtop1" id="p263">
+ <img class="w100 mbot3" src="images/p263.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<figure class="figcenter illowe28 padtop5 break-before" id="p264">
+ <img class="w100" src="images/p264.jpg" alt="Druck von E. Schultze & Co.,
+ G. m. b. H., Gräfenhainichen">
+</figure>
+
+<p class="s5 center mtop2">Druck von<br>
+C. Schulze &amp; Co., G. m. b. H.<br>
+Gräfenhainichen</p>
+
+
+<div class="chapter padtop3 mbot3 break-before">
+
+<p class="s3 center mtop2 mbot3">Bücher aus dem<br>
+Verlage ○ ○<br>
+Concordia Deutsche<br>
+Verlags-Anstalt ○<br>
+<em class="gesperrt">Hermann Ehbock</em><br>
+Berlin W. 50 ○ ○<br>
+Geisbergstraße 29</p>
+
+</div>
+
+<hr class="full x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="eng break-before">
+
+<p class="s4 center mtop1">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br>
+Berlin W. 50.</p>
+
+
+<figure class="figcenter illowe24" id="p275a">
+ <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<p class="s2 center mtop3">Rudolf Presber:</p>
+
+<p class="s1 center"><span class="mright2">Von Leutchen,</span><br>
+<span class="mleft2">die ich lieb gewann</span></p>
+
+<table>
+ <tr>
+ <td class="s3 vam">
+ <div class="center bb">15 Auflagen&#8194;</div>
+ </td>
+ <td class="vam">
+ <div class="center">in kurzer<br>
+ Zeit</div>
+ </td>
+ <td class="s3 vam">
+ <div class="center bb">&#8194;Preis</div>
+ </td>
+ <td class="vam">
+ <div class="left mleft1">&#8194;geheftet Mk. 3.50,<br>
+ gbden. &#8195; Mk. 4.50.</div>
+ </td>
+ </tr>
+</table>
+
+<hr class="spacer">
+
+<p class="s5"><b>Berliner Tageblatt.</b> <em class="gesperrt">Welch ein Buch! Welch ein lustiges Buch
+durch und durch!</em> Der ernsteste, bis aufs äußerste überlastete
+Minister, ja alle überlasteten Menschen (und wer wäre es nicht?)
+hätten freudige, fröhliche Stunden, wo sie ab und zu aufsehen müßten
+vom Lesen, um sich vom Lachen auszuruhen und minutenlang zu stoppen,
+um sich zu erholen. Ja, welch ein <em class="gesperrt">wundervolles köstliches Buch ist
+es</em>! Voller (wenn erlaubt ist, so zu sagen) durchdringenden Humors.
+Wie scharf hat der Dichter uns Menschen gesehen, „in diesem Fall“ wie
+scharf unsere großen und kleinen Eigenheiten gekannt! Wie vielen wird
+dies Buch ein erfrischendes Buch sein, wo sie mal beim Lesen alle und
+alle Sorgen an den Laternenpfahl hängen können! Und die Kranken, die
+darin lesen, müssen gesund werden (<em class="gesperrt">Detlev von Liliencron</em>).</p>
+
+<p class="s5"><b>Leipziger Tageblatt.</b> Dieses Buch stelle ich <em class="gesperrt">an einen ganz
+besonderen Platz in meiner Bibliothek</em>. Ich stelle es dahin, wo
+die Sorgenbrecher des Lebens stehen, dahin, wo all das traulich
+zusammensteht, was pessimistische Gedanken und Gefühle verscheucht,
+was mir die Schatten des Lebens bannt und die Sonne goldiger macht.
+Ganz in die Nähe der ernsten Philosophen stelle ich es, nicht zu weit
+weg von Shakespeare, dem genialen Witzbold, und nicht zu weit auch vom
+(nicht zeitlich, aber wesentlich) älteren Jean Paul ... Der Wert der
+Presberschen humoristischen Erzählungen, ihr ganz <em class="gesperrt">einzigartiger und
+außerordentlicher künstlerischer Wert</em>, besteht in der Fähigkeit
+des Dichters, sich in die Lebensgewohnheiten und Lebensauffassungen
+der Personen völlig hineinzudenken, die er uns schildert. Nur der
+wirkliche Dichter vermag seine Figuren lediglich durch sich selbst
+humoristisch wirken zu lassen. Da ist nichts gesucht und an den Haaren
+herbeigezogen, <em class="gesperrt">all diese Personen leben</em>, leben, so wie sie der
+Dichter schildert.</p>
+
+<p class="s5"><b>Die Literatur (Hamburger Nachrichten).</b> In diesen Skizzen zeigt
+sich der Verfasser, den wir als einen unserer innerlich reichsten
+und feinsten Lyriker bereits kennen, als treffsicherer Spötter und
+Satiriker. „Der Mäcen“, „Liardot II.“, „Mein Porträt“ usw. sind
+<em class="gesperrt">Kabinettstücke humoristischer Lebensepisoden</em>.</p>
+
+<p class="s5"><b>Dresdener Nachrichten.</b> Ein Zug von, ich möchte fast sagen
+<em class="gesperrt">überwältigendem Optimismus</em> geht durch jede einzelne dieser
+feinen Skizzen, aus denen der Humor als der „verschönte Ernst“ zu uns
+spricht, jene Liebe zu den Menschen, die stets in dem großen Verstehen
+ihrer Schwächen und Fehler, ihrer Leiden und Freuden ausklingt. Man
+fühlt es, Rudolf Presber ist das Leben nicht stumm geblieben, er hat
+es sich selbst gedichtet, zur Poesie umgestaltet in den Sorgen des
+Alltags, in den Freuden der Feierstunden, in Jahren des Ringens und
+Leidens, in Augenblicken der Freude und des Glücks. Nur ein solcher
+Mensch, den das eben zum Dichter gemacht hat, kann Leben so sehen, wie
+es Presber sieht ... Nur wenige Dichter, die heute mit uns und hinter
+uns leben, verstehen es, <em class="gesperrt">mit solcher Herzlichkeit zu schreiben, mit
+so viel echtem Gemüt zu erzählen</em>, wie dieser Poet, um dessen Lippen
+immer ein Lächeln zu schweben scheint, aus dessen leuchtenden Augen
+stets ein warmes Leuchten bricht, mag er auch nicht immer von lachendem
+Frohsinn sprechen.</p>
+
+<p class="s5 mbot3"><b>Breslauer Zeitung</b>: „<em class="gesperrt">Ich habe lange nicht so gelacht</em>“,
+sind die Worte, die jeder ausrufen dürfte, der das entzückende
+humorvolle Buch „Von Leutchen, die ich lieb gewann“, von Rudolf Presber
+aus der Hand legt. Es ist reiner, klarer, echter Humor.</p>
+
+<p class="s4 center mtop3 break-before">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br>
+Berlin W. 50.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe24" id="p275b">
+ <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<p class="s1 center">Die Diva und Andere</p>
+
+<p class="s2 center"><span class="s7">von</span>&#8194;<b>Rudolf Presber</b></p>
+
+<p class="s4 center"><span class="bb">Sechste</span> Auflage</p>
+
+<p class="s3 center">Preis: Geheftet Mk. 3.—, gebunden Mk. 4.—</p>
+
+<hr class="spacer2">
+
+<p class="s5"><b>Münchener Neueste Nachrichten</b>: Einen hohen und seltenen Genuß
+verschafft die Lektüre dieser von sonnigem Humor und sprudelnder
+Heiterkeit erfüllten Skizzen. Presber, der feinsinnige Lyriker
+und geistreiche Spötter, ist unstreitig auch einer unserer besten
+Humoristen. Das neueste Buch ist ein schlagender Beweis dafür. Wie
+prächtig bearbeitet ist die kleine Skizze „Die Diva“, mit welch
+bitterer Ironie deckt der Verfasser mit wenigen genial hingeworfenen
+Strichen die ganze Falschheit und Niederträchtigkeit dieser drei sich
+gegenseitig umschmeichelnden Gestalten, der Diva, des Kritikers und des
+Dichters, auf. Nichts darin erscheint übertrieben, sondern alles atmet
+natürliche Frische. Eine ebenso große Rolle spielt das komische Element
+in der künstlerisch fein gearbeiteten und ergötzlich geschilderten
+Skizze „Der rätselhafte Findling“, der durch das Erscheinen Sherlock
+Holmes als Sohn des Dalai Lama erkannt wird. Der überaus ansprechende
+Stil, der das ganze Buch durchweht, übt einen unwiderstehlichen
+Zauber aus. Warmherzig und voll Empfindung ist das Buch so recht dazu
+geeignet, jedermann von krankhaften Seelenzuständen zu befreien und
+allen Pessimismus zu verscheuchen. Presber ist ein ganzer Künstler,
+dessen Phantasie einen Zündstoff bildet, dessen Wirkung niemand sich
+entziehen kann.</p>
+
+<p class="s5"><b>Internationale Literatur- und Musikberichte</b>: Ein echter
+Sorgenbrecher! Man kennt Presbers Humor schon von seinem Buche her:
+„Von Leutchen, die ich lieb gewann“. Hier ist derselbe Humor, derselbe
+geistreiche Witz, die gleiche Kunst der kurzen, scharf pointierten
+Erzählung. Die vierzehn kleinen Erzählungen sind Meisterstücke ihrer
+Art und werden mit Recht dazu beitragen, Presbers Namen in die Reihe
+der ersten Humoristen zu stellen. Schon die Tatsache der 5. Auflage
+ist der beste Beweis für die Güte des Buches. Ich empfehle es auf das
+allerwärmste.</p>
+
+<p class="s5"><b>Breslauer Zeitung</b>: Zwanglos intensiv teilt sich wieder die
+Grundstimmung der Presberschen Prosasatiren mit: Klar erkennt man in
+der Karikatur den fein durchschauten, festgeformten Typ, im scharfen
+Angriff die verstehende Entschuldigung, im brillierenden Wortwitz die
+Treffsicherheit der inneren Pointe, in der schneidigen Ironie noch die
+warme Herzlichkeit des Optimisten von Geburt. Nicht viele sehen jetzt
+so wie Rudolf Presber. Am meisten Otto Ernst (der Erzähler natürlich!),
+wo ihm das Leben ein frohes Farbenspiel ist. Aus einiger Entfernung
+schon grüßen die Menschen Heinrich Seidels und die Querköpfe Hans
+Hoffmanns sich mit Presbers Leuten. Und ganz aus der Weite reckten
+sich dann die Charakterfiguren noch weit Größerer auf. Die Form —
+sie ist bei Presber mit dem Geschick des Routiniers dem allerjüngsten
+Geschmack angepaßt — wird nicht über den soliden Dauerwert dieser Art
+Humor hinwegtäuschen, der nicht Presbers persönliches Eigen allein ist,
+sondern künstlerische Daseinsäußerung eines typischen Temperaments,
+das zum Glück jeder Epoche immer wieder neu ersteht, nie unverstanden
+bleiben darf und von seiner Zeit immer nur die Aeußerlichkeiten leiht.</p>
+
+<p class="s5"><b>Der „Rheinische Kurier“</b>: Presber ist nicht nur in seiner
+engeren Heimat, sondern im ganzen deutschen Vaterland als einer
+der geistvollsten Plauderer und Feuilletonisten bekannt, der
+es versteht, auf der Grundlage einer scharfen Beobachtung und
+einer feinen psychologischen Zergliederung Grazie und Anmut mit
+ästhetisch-philosophischem Ernst zu verbinden. Wie immer, so bekundet
+auch Presber in der vorliegenden Sammlung geistvoll-humoristischer
+Silhouetten seine großen Vorzüge. Mit kecken Strichen versteht er seine
+„Helden“ und „Heldinnen“ uns vorzuführen, ihre Tugenden zu preisen und
+ihre Schwächen unbarmherzig zu geißeln und doch so liebenswürdig dabei
+zu bleiben, daß keine Bitternis in der Seele des Lesers aufsteigt.</p>
+
+<p class="s5"><b>Deutsche Tageszeitung</b>: Von Rudolf Presber, dessen bereits in
+vierzehnter Auflage erschienenes Buch von „Leutchen, die ich lieb
+gewann“ nach dem Ausweis des Buchhandels zu den meistverlangten
+Neuerscheinungen dieses Jahres gehört, ist soeben das amüsante
+Geschichtenbuch „Die Diva und Andere“ in sechster, vermehrter Auflage
+mit neuem, charakteristischem Buchschmuck von Hanns Anker erschienen.
+Alle Vorzüge einer humor- und gemütvollen Erzählungskunst, die dem
+Verfasser des „Von Leutchen, die ich lieb gewann“ nach dem einstimmigen
+Urteil der Kritik unter die ersten Humoristen einreiht, findet sich in
+diesem Buche in bunter Fülle wieder.</p>
+
+<p class="s5"><b>Berliner Tageblatt</b>: Rudolf Presber hat viel Begabungen: er kann
+sehr schöne zartflimmernde Verse machen; er kann mit ganz aktuellem
+Witz sich zum Herrn einer momentan interessanten Situation machen; er
+kann sich träumend über die platte Wirklichkeit erheben und kann auch
+als rechtes Weltkind harmlos fröhlich irgendeine Schnurre erzählen. Von
+<em class="gesperrt">alldem</em> findet sich etwas in diesem Satirenband.</p>
+
+<p class="s5 mbot3"><b>Die Post</b>: Presber liebt es, Satire und Humor und Grazie
+ineinander zu flechten. Seine Satire wird nie bösartig und gallig, der
+wundervolle süddeutsche Humor streicht mit einer weichen, warmen Hand
+über die Spitzen und Widerhaken der Satire und kulminiert zumeist die
+temperamentvoll losfahrende Vehemenz der Satire in einem befreienden
+und herzerquickenden Gelächter. So etwas bringt ein Norddeutscher nicht
+gut zuwege, dazu muß man schon Süddeutscher sein von dem leichten und
+doch empfindungsvollen fränkischen Geblüt.</p>
+
+<p class="s4 center mtop3 break-before">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br>
+Berlin W. 50.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe24" id="p275c">
+ <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<p class="s1 center">Die Bilder-Stürmer</p>
+
+<p class="s3 center">Eine Tragödie in fünf Akten</p>
+
+<p class="s2 center"><span class="s7">von</span>&#8194;<b>Cléon Rangabé</b></p>
+
+<p class="s3 center">Übersetzt und für die Deutsche Bühne bearbeitet von</p>
+
+<p class="s2 center">Rudolf Presber</p>
+
+<p class="s3 center">Mit Buchschmuck von <em class="gesperrt">Hanns Anker</em></p>
+
+<p class="center">Ihrer Kgl. Hoheit der Kronprinzessin von Griechenland gewidmet</p>
+
+<p class="s3 center">Geheftet Mk. 4.—, gebunden Mk. 5.—<br>
+Numerierte Luxus-Ausgabe Mk. 25.—.</p>
+
+<hr class="spacer2">
+
+<p class="s5">„<b>Nord und Süd.</b>“ Nicht nur der Diplomat, auch der Dichter Cléon
+Rangabé ist in Deutschland wohlbekannt und geschätzt. Das vorliegende
+Buch, das Drama „Die Bilderstürmer“, ist geeignet, den Namen des
+Dichters noch weiter hinauszutragen. Das behandelte Thema steht
+an und für sich uns Deutschen recht fern und abseits; jedoch ist
+Rangabé vollkommen gelungen, unser Interesse wachzurufen und wach zu
+halten, uns zu erwärmen und tiefinnerlich zu erschüttern! Gleich am
+Anfang empfinden wir bewundernd, mit wie kurzer kraftvoll gestalteter
+Exposition uns der Dichter in die das Stück bedingenden Verhältnisse
+hineinversetzt, daß die Zeit, die Umgebung mit all ihren Kämpfen und
+Gegensätzen sofort klar vor uns liegt. Es ist die Zeit der dogmatischen
+Kirchenkämpfe, die Zeit der „Bilderstürmer“; es ist die Umgebung des
+byzantinischen Kaiserhofes, wo eben jene Frage des Bilderdienstes
+die Kaiserin Irene, Leos IV. Witwe, zu ihrem Sohne und Mitregenten
+Konstantin VI. in schärfsten Konflikt brachte.</p>
+
+<p class="s5">Im Theater zu Athen haben die „Bilderstürmer“ großen Erfolg erzielt,
+und wir sind überzeugt, daß auch ihre Aufführung in deutscher Sprache
+auf deutschen Bühnen bei angemessener Inszenierung und guter Besetzung
+der Hauptrollen reichen Beifall finden und Zugkraft ausüben wird.</p>
+
+<p class="s5 mbot3">Und zum Schluß die höchst vornehme Ausstattung des Buches, die nicht
+nur prächtig ist — das kann auch von manchen anderen Erzeugnissen des
+modernen Buchschmuckes gesagt werden — sondern, was weit schwerer
+wiegt und größere Anerkennung verdient, in ihrem Stile bis ins Detail
+hinein einheitlich und dem Inhalte des Buches angepaßt ist. So ist
+ein Kunstwerk entstanden, das in jeder Beziehung zu erfreuen und
+befriedigen vermag.</p>
+
+<p class="s4 center mtop3 break-before">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br>
+Berlin W. 50.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe24" id="p275d">
+ <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<p class="s1 center">Im Lande der Jugend</p>
+
+<p class="s2 center">Roman <span class="s7">von</span> Traugott Tamm</p>
+
+<p class="s4 center"><span class="bb">6. Auflage.</span>&#8194;Geheftet
+Mk. 4.—,&#8194;geb. Mk. 5.—.</p>
+
+<hr class="spacer2">
+
+<p class="s5">Die „<b>Preußischen Jahrbücher</b>“: Traugott Tamm ist einer der
+Auserwählten, dem das Können gegeben ist. Er ist eine starke,
+dichterische Persönlichkeit mit so viel Eignem, daß er sich an kein
+berühmtes Muster anlehnt, sondern ganz selbständig dasteht ...
+Der Abschied der Eingezogenen des Kirchspiels im Jahre 1870 und
+die Ansprache ihres hochbetagten Geistlichen ist eine der vielen
+meisterhaften Szenen, die das Buch enthält und der nur wenige in den
+Romanen der letzten Jahrzehnte an die Seite zu stellen sind. Dieser
+Roman kann zu einem wesentlichen sozialen Faktor werden, wenn er so
+viel gelesen wird wie er gelesen zu werden verdient!</p>
+
+<p class="s5"><b>Das Blaubuch</b>: „Ein wunderbares Buch, wie es selten auf den Markt
+kommt.“</p>
+
+<p class="s5"><b>Altonaer Tageblatt</b>: Das Thema dieses großangelegten Romans
+erinnert an das in Freytags „Soll und Haben“, ist aber durchaus
+selbständig verarbeitet und übertrifft Freytag an Vertiefung und
+Charaktere bei weitem. <em class="gesperrt">Man hat das Bedürfnis, dieses Buch zweimal zu
+lesen.</em></p>
+
+<p class="s5"><b>Königsberger Neueste Nachrichten</b>: <em class="gesperrt">Dieser Roman ist wie eine
+schöne reife Frucht, von sorgsamer Hand gepflückt. Seltene Schönheit
+und Tiefe der Empfindung und Sprache hebt dieses Buch weit über
+derartige Erscheinungen heraus.</em></p>
+
+<hr class="full">
+
+<p class="s1 center">Rinnender Sand</p>
+
+<p class="s2 center">Ostseegeschichten <span class="s7">von</span> Karl
+Rosner.</p>
+
+<p class="s4 center">Geheftet Mk. 2.—,&#8194;gebunden Mk. 3.—.</p>
+
+<p class="s5"><b>Das kleine Journal</b>: ... <em class="gesperrt">Ein Werk voll wunderbarer stiller
+Schönheit, die eindringlich und tief ergreift und lange nachklingt und
+ein Bleibendes im Leser hinterläßt.</em></p>
+
+<p class="s5 mbot3"><b>Neues Wiener Tageblatt</b>: <em class="gesperrt">Ein prächtiges Buch!</em> Voll
+schöner, stimmungsreicher Naturschilderungen, voll Wärme und Empfindung
+bei Beurteilung der Menschen, liebenswürdig im Detail und großzügig im
+Ganzen.</p>
+
+<p class="s4 center mtop3 break-before">Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, Hermann Ehbock<br>
+Berlin W. 50.</p>
+
+<figure class="figcenter illowe24" id="p275e">
+ <img class="w100" src="images/p275.jpg" alt="" data-role="presentation">
+</figure>
+
+<p class="s2 center">Was ihm das Leben gab</p>
+
+<p class="s3 center"><span class="s6">Roman von</span> Rudolf Pinner.</p>
+
+<p class="s4 center">Geheftet Mk. 3.—,&#8194;gebunden Mk. 4.—.</p>
+
+<p class="s5"><b>Wiesbadener Generalanzeiger</b>: Einer von denen, die es fertig
+brachten, wirkliche, echte Menschen zu schildern, wie sie uns das
+Leben wahrhaft zeigt, einer von diesen wenigen, die zugleich feine
+Beobachter und echte Dichter sind, ist Rudolf Pinner. Viel von dem, was
+dem „Helden“ seiner Dichtung, dem Hans Erik Wendlandt das Leben gab,
+hat sicherlich auch der junge Autor aus der Heimat Gerhart Hauptmanns
+wirklich erlebt, vieles auch mag der feinsinnige Dichter an anderen
+Menschen erschaut und dann in sich aufgenommen haben. R. Pinner geht
+seine eigenen Wege. Einzelne besonders schöne Stellen dieses Romanes
+hervorzuheben, wäre nicht recht. Man darf nichts herausreißen und
+absondern von dem, was ein festes, harmonisches Ganzes ist. Dies ist
+ein Buch vom Leben und fürs Leben, das wirklich verdient, gelesen zu
+werden.</p>
+
+<hr class="full">
+
+<p class="s1 center">Die Invasion von 1910</p>
+
+<p class="s2 center">Der Einfall der Deutschen in England</p>
+
+<p class="s3 center"><span class="s6">von</span> <b>William Le Queux</b></p>
+
+<p class="s3 center">Die Seeschlachtkapitel <span class="s6">von</span> Admiral
+H. W. Wilson</p>
+
+<p class="s3 center"><span class="s6">Übersetzt von</span> <b>Traugott Tamm</b></p>
+
+<p class="s4 center">Preis: Geheftet Mk. 3.—,&#8194;gebunden Mk. 4.—.</p>
+
+<p class="s5"><b>Breslauer Zeitung</b>: Was den literarischen Wert des Buches angeht,
+so ist er nicht gering. Es ist geschickt geschrieben, <em class="gesperrt">erregt durch
+die Natürlichkeit des Tones die Illusion des wirklichen Geschehens</em>
+und hält sich sorgfältig von krassen Effekten fern. Nur ein Beispiel,
+das zeigen wird, wie der Stil nach frappierender Treue ringt: „Die
+Zahl der elektrischen Scheinwerfer war bis auf sechs gestiegen; einige
+steckten lange, steife Finger in die leeren Räume der Nacht aus, andere
+wanderten rastlos auf und ab, hierhin und dorthin.“ <em class="gesperrt">Das könnte
+ebensogut bei Maupassant, wie bei Le Queux stehen.</em> — Das Buch
+wirkt vornehm durch die maßvolle Behandlung des Stoffes.</p>
+
+</div>
+
+<hr class="full x-ebookmaker-drop">
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76627 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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