summaryrefslogtreecommitdiff
diff options
context:
space:
mode:
-rw-r--r--.gitattributes3
-rw-r--r--76588-0.txt7182
-rw-r--r--76588-h/76588-h.htm7484
-rw-r--r--76588-h/images/cover.jpgbin0 -> 774988 bytes
-rw-r--r--76588-h/images/p003.jpgbin0 -> 2349 bytes
-rw-r--r--76588-h/images/p236.jpgbin0 -> 18479 bytes
-rw-r--r--76588-h/images/title.jpgbin0 -> 58870 bytes
-rw-r--r--LICENSE.txt11
-rw-r--r--README.md2
9 files changed, 14682 insertions, 0 deletions
diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes
new file mode 100644
index 0000000..6833f05
--- /dev/null
+++ b/.gitattributes
@@ -0,0 +1,3 @@
+* text=auto
+*.txt text
+*.md text
diff --git a/76588-0.txt b/76588-0.txt
new file mode 100644
index 0000000..997e82c
--- /dev/null
+++ b/76588-0.txt
@@ -0,0 +1,7182 @@
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 ***
+
+
+
+======================================================================
+
+ Anmerkungen zur Transkription.
+
+Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des
+Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
+sind stillschweigend korrigiert worden.
+
+Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.
+
+Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~
+
+=======================================================================
+
+
+
+
+ Der deutsche Roman
+ seit Goethe
+
+
+ [Illustration]
+
+
+ Skizzen und Streiflichter
+
+ von
+
+ Dr. M. Schian
+
+
+ [Illustration]
+
+
+
+
+ Görlitz 1904
+
+ Rudolf Dülfer
+
+
+
+
+ Inhaltsverzeichnis.
+
+
+ Seite
+
+ Vorwort 3
+
+ Die Bedeutung des Romans 5
+
+ Aus der Vorgeschichte des modernen Romans   10
+
+ Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans 16
+
+ Roman und Novelle der Romantik 32
+
+ Die Volkserzählung 53
+
+ Der tendenziöse Zeitroman 75
+
+ Der objektivere Zeitroman 99
+
+ Der historische Roman 121
+
+ Die Stimmungsdichtung 143
+
+ Der naturalistische Roman 167
+
+ Der Problem- und Gesellschaftsroman 188
+
+ Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman 211
+
+ Rückblick 224
+
+ Register 232
+
+
+
+
+ Vorwort.
+
+
+Die folgenden Blätter geben eine Reihe von Vorträgen wieder, welche
+ich im eben vergangenen Winter im Damenlyzeum zu Görlitz und --
+in kürzerer Gestalt -- vor einer aus Damen und Herren gebildeten
+Zuhörerschaft in Lauban gehalten habe. Der Wunsch, die Vorträge
+gedruckt zu sehen, wurde mir aus beiden großen Zuhörerkreisen so
+häufig und so dringend nahe gebracht, daß ich, wennschon nicht ohne
+Bedenken, doch nicht umhin konnte, ihm zu entsprechen.
+
+Die Form der Vorträge ist belassen; nirgends habe ich wesentlich
+geändert. Nur was ich der drängenden Zeit wegen beim mündlichen
+Vortrag hier und da auslassen mußte, ist jetzt wieder eingefügt. So
+werden namentlich die Hörer aus Lauban erheblich mehr finden, als ich
+ihnen mündlich bieten konnte.
+
+Der Zweck, welchem diese Veröffentlichung dient, braucht hiernach
+kaum näher dargelegt zu werden. Ich maße mir nicht entfernt
+an, die Wissenschaft der Literaturgeschichte irgend bereichern
+zu wollen. Meine Absicht war nur die, ihre Ergebnisse für ein
+wichtiges Einzelgebiet in leichterer Form, als das für gewöhnlich
+geschieht, einem weiteren Kreis von Gebildeten zu vermitteln. Daß
+ich dabei überall dankbar und freudig von den wissenschaftlichen
+literaturgeschichtlichen Darstellungen gelernt habe, ist ganz
+selbstverständlich. Aber ebenso selbstverständlich war mir, daß ich
+auf ein eigenes Urteil nicht verzichten konnte.
+
+Aus dem Zweck der Vorträge ergab sich nicht nur die Form der
+Darstellung, sondern auch die Begrenzung und die Auswahl des Stoffs.
+Auf jeden Versuch der Vollständigkeit mußte ich von vornherein
+verzichten; es schien mir viel besser, Einzelnes gründlich zu
+behandeln als eine Fülle von Namen und Titeln zu nennen. Nur
+vom deutschen Roman wollte ich reden; es blieb kein Raum, um
+Verbindungslinien nach anderen Literaturgebieten zu ziehen und die
+Einwirkung fremder Einflüsse deutlich zu machen. Die Vorträge wollen
+lediglich auf die Entwickelung des deutschen Romans seit Goethe ein
+paar Streiflichter werfen und vor allem auf das hinweisen, was in
+dieser Zeit Bleibend-Wertvolles geschaffen ist, um so zugleich den
+Kreisen der Romanleser ein bequemes Hilfsmittel für richtige Wahl und
+richtige Schätzung ihrer Lektüre zu sein.
+
+Es wäre mir eine Freude, wenn das Buch sich in dieser Richtung als
+praktisch und brauchbar erweisen sollte.
+
+ ~Görlitz~, den 28. März 1904.
+
+ +Martin Schian.+
+
+
+
+
+ Die Bedeutung des Romans.
+
+
+Wer läse heutzutage nicht Romane? Gewiß, es gibt Romanverächter.
+Aber sie sind weiße Raben. Jeder Gebildete liest sie, Mann wie Frau.
+Leihbibliotheken, Romanzeitungen, Familienblätter aller Arten und
+Richtungen machen den Roman leichter zugänglich als irgend eine andere
+Literaturgattung. Und zu der Masse der minder Gebildeten findet der
+Roman seinen Weg durch die Riesenauflagen der Tageszeitungen und der
+Gegenstände der Kolportageliteratur.
+
+Man liest Romane, aber -- man studiert nicht den Roman. Ich rede nicht
+von den Fachmännern der Literaturgeschichte. Den gebildeten Romanleser
+klage ich an.
+
+Wer beschäftigt sich mit der Geschichte des Romans? Das Wichtigste aus
+der Geschichte des Liedes und des Dramas gehört zum eisernen Bestand
+des Wissens-Inventars eines gebildeten Menschen; und schon die Schule
+legt den Grund dazu. Aber wie viele haben ein geschultes Urteil über
+die Bedeutung der wesentlichen Romanerscheinungen?
+
+Wir forschen nach der Ursache dieses merkwürdigen Kontrastes zwischen
+der ungeheuren Nachfrage nach dem Roman selbst und der geringen
+Neigung, sich wissenschaftlich mit ihm zu befassen. Es gibt nur eine
+Erklärung: ~man unterschätzt den Roman~. Das ist ja psychologisch
+zu verstehen. Für unendlich viele ist er nichts als ein Mittel
+zur Vertreibung der Langeweile. Sie verlangen nichts anderes von
+ihm, als daß er sie unterhalte. Sie wählen daher aus dem Leichten
+das Leichteste. Unreife Geister suchen in ihm ein Mittel pikanten
+Genusses. Stunden, die für harte Pflichten bestimmt sind, werden der
+Lektüre geopfert. So verbindet sich für nicht wenige Leser mit dem
+Begriff Roman so etwas wie schlechtes Gewissen. Und das beeinflußt
+wieder das Urteil über den Roman selbst.
+
+Aber was hat der Roman als Literaturgattung damit zu schaffen, wenn
+ihn Unreife als Weg zum falschen Zweck gebrauchen? Wenn sie das
+Seichte aus seinen Schätzen heraussuchen und das Gehaltvolle liegen
+lassen? Schon um des unermeßlichen Einflusses willen, den er auf
+breite Schichten übt, ist der Roman aller Beachtung wert. Aber auch
+nach seinem Eigenwert steht er nicht zurück. Er ist anerkannt als
+~vollberechtigtes Glied der epischen Dichtung~. Man streitet
+darüber, ob die Prosaform zu seinem Wesen gehöre oder nicht. Nun, es
+gibt Romane in Versform. Was sind jene Gedichte der höfischen Zeit
+des 12. Jahrhunderts mit ihren Heldenpaaren Floris und Blancheflur,
+Tristan und Isolde, dazu jene Erzählung vom Grafen Rudolf, der in den
+Kreuzzug geht, anderes, als Liebesromane nach französischem Muster?
+Aber trotzdem wird freilich festzuhalten sein, daß die Prosaform die
+für den Roman normale, ja für den ausgebildeten Roman einzig mögliche
+ist. In seinem Werte verliert er dadurch nicht; denn die Prosa ist
+Kunstform, gerade so gut wie der Vers. Was aber dem Roman seine
+ganz besondere Bedeutung verleiht, das ist gerade ~seine Eigenart
+innerhalb des Gebietes der epischen Dichtung~.
+
+Haben Sie schon einmal versucht, mit kurzen Worten das Wesen des
+Romans zu bestimmen? Nun, jedenfalls schwebt uns allen eine Art
+Definition des Romans vor: wir denken ihn als ~komplizierte
+Erzählung~. Kompliziert ist er nach Form und Inhalt: das
+scheidet ihn von der einfachen, schlichten ~Erzählung~, von
+der kunstvollen, aber knappen, nur einem Faden der Entwickelung
+folgenden ~Novelle~. Komplizierte Erzählung muß er sein, nicht
+etwa um der erhöhten Spannung willen, sondern weil er nur so seiner
+Aufgabe genügen kann. ~Diese Aufgabe aber ist, ein Stück Weltbild
+zu geben~, sei es in engerem oder in weiterem Rahmen. +Nil
+humani a me alienum puto+, sagt der Roman. Nichts Menschliches
+ist ihm fremd. Was das Getriebe der Welt ausmacht, was der Zeit ihr
+Gepräge gibt, die geschichtlichen Verhältnisse, die Kulturzustände,
+die gesellschaftliche Gliederung, die inneren bewegenden Fragen, die
+gesamte Weltanschauung, vor allem die Menschen, die in all diesen
+Verhältnissen mitten darin stehen, sie bestimmend und doch wieder
+durch sie bestimmt, -- das alles gehört zum Apparat des Romans.
+Ein Weltbild gibt der Roman; darum kann er nie zeitlos sein, wie
+denn auch die Menschen nie zeitlos sind. Darum steht er in so engem
+Verhältnis zur Wirklichkeit; Roman einerseits -- Märchen, Sage,
+Phantasie andererseits sind Gegensätze wie Feuer und Wasser. Er kann
+aus dem Weltbild, das er zeichnet, je nach Absicht recht verschiedene
+Züge vorzugsweise herausarbeiten -- entweder mehr die innere
+Entwickelung der handelnden Personen oder mehr das Milieu, in dem die
+Menschen stehen. Er kann mehr Geschichte oder mehr Kultur oder mehr
+Weltanschauung geben -- je nachdem. Aber er muß immer konkret sein in
+der Gestaltung, klar und scharf in der psychologischen Erfassung, fein
+und wahr in der Verknüpfung aller in sein Gebiet gehörenden Elemente.
+Er kann ein Weltbild der Vergangenheit darzustellen suchen, dann
+wird er zum historischen Roman. Oder er kann der Gegenwart den Puls
+fühlen. Ja, wenn er will, kann er tastend in die Zukunft greifen;
+freilich nicht ohne die akute Gefahr einer Grenzüberschreitung. Denn
+über das, was einst wirklich sein wird, haben wir im besten Fall
+begründete Vermutungen. Ob er in Vergangenheit oder Gegenwart weilt,
+-- es steht ihm jedesmal frei, auf das äußere oder das innere Leben
+den Hauptakzent zu legen. Nur wird der historische Roman immer auch
+die äußeren Konturen der Zeitverhältnisse breiter schildern müssen
+als der moderne Roman, der vieles als bekannt voraussetzen kann. Auch
+nach der Methode, wie der Dichter seinen Gegenstand behandelt, müssen
+wir Unterschiede machen. Der eine schließt in zartem Empfinden von der
+Erzählung manches aus, was auch im Leben mit einem Schleier bedeckt zu
+werden pflegt; der andere steigt in die Tiefe und malt schonungslos
+und rücksichtslos Häßliches so gut wie Schönes, ja das Häßliche
+vielleicht mit noch größerer Liebe. Und wiederum: während mancher
+Roman nichts will als schildern, nichts als photographieren, legen
+andere in ihr Bild der Wirklichkeit Gedanken und Tendenzen hinein --
+politische, religiöse, sittliche. Sie zeichnen im Ausschnitt ein Stück
+Welt, auf dem sich gerade ein Problem zusammenballt, das seiner Lösung
+harrt; und sie geben solche Lösung oder predigen resignierten Verzicht
+auf solche Lösung. In all diesem aber gilt, welcher Art der Roman auch
+sei, ob welthistorisch, kulturhistorisch oder modern durch und durch,
+-- ob idealistisch oder naturalistisch, -- ob er mehr äußeres oder
+mehr inneres Erleben bringe, -- ob er den Knoten im äußeren Laufe der
+Dinge sich schürzen läßt oder ob er Probleme der Weltanschauung wälzt,
+-- in alledem gilt, daß der Roman ~von der wirklichen Welt nicht
+loskommen kann und nicht loskommen darf~. Ein wirkliches Weltbild
+zu geben ist seine Aufgabe. Und diese Aufgabe gibt ihm einen hohen
+Wert. Nicht ~allein~ nach dem Grad, in welchem er dieser Aufgabe
+genügt, bestimmt sich seine Qualität; denn auch die künstlerische
+oder unkünstlerische Form hat da mitzusprechen. Aber vornehmlich ist
+es der Maßstab der Wirklichkeit, der an den Roman anzulegen ist. Der
+Wert aber, den er so gewinnt, besteht in der Kraft, mit der er den
+Blick schärft, in der weiten Umschau, die er über den eigenen engen
+Gesichtskreis hinaus dem Leser ermöglicht, in der Energie, mit welcher
+er zwingt, Fragen zu durchdenken, die sonst undurchdacht bleiben
+würden, endlich in der feinen, festhaltenden Form, in welcher er all
+dies vermittelt.
+
+Ich brauche nicht erst zu erklären, daß es auch wertlose Romane gibt.
+Aus der Charakteristik des Romans, die ich zu bieten versuchte,
+erhellt das ganz von selbst. Ein Roman, der seiner ganzen Art
+nach nichts anderes kann, als Spannung der Nerven erzielen, ist
+wertlos. Aber man pflegt ja auch den Wert des lyrischen Gedichts
+nicht nach den Ergüssen der Friderike Kempner zu beurteilen. Also
+schätze man den Roman nicht ein nach dem platten Liebesroman, in dem
+sie sich schließlich aus alle Fälle kriegen, auch nicht nach dem
+pikant-lüsternen oder naturalistisch-frivolen Unterhaltungsroman
+und erst recht nicht nach dem haarsträubenden Hintertreppenroman!
+~Der wirkliche Roman, der sich zur Aufgabe setzt, in möglichst
+vollendeter Darstellung ein Weltbild zu geben, ist jedenfalls als ein
+Bildungsmittel ersten Ranges zu werten.~
+
+
+
+
+ Aus der
+
+ Vorgeschichte des modernen Romans.
+
+
+Man hat dem 19. Jahrhundert tausend Titel gegeben, um seine neuen
+Errungenschaften anzudeuten. Es ist das Jahrhundert der Technik, das
+Jahrhundert der Naturwissenschaften. Aber es ist auch das Jahrhundert
+des Romans, dieses so beschriebenen Romans. Freilich die Anfänge des
+Romans, ja eine Art Vorblüte desselben sind schon älteren Datums.
+
+Was ists, das in mittelalterlicher Zeit Singen und Sagen des deutschen
+Volkes regiert? Ritterliches Wesen, kraftvolles Heldentum, ruhmreiche
+Taten beherrschen die Phantasie. Wer wagt es, von Bürgerleben oder
+harter Bauernarbeit viel zu reden? Rittertum, etwa noch mit Weisheit
+verbunden, füllt mit seinem Glanze die Welt. Dies Weltbild reflektiert
+sich in jenem ältesten poetischen Roman unserer Literatur, den ein
+Mönch, dessen Namen wir nicht kennen, etwa um die Mitte des 11.
+Jahrhunderts im bayrischen Kloster Tegernsee geschrieben hat. Noch
+kleidet sich seine Dichtung in das fremdländische Gewand lateinischer
+Hexameter. Aber der Held ~Ruodlieb~ ist ein deutscher Ritter.
+Ein König, in dessen Heer er große Taten getan, gibt ihm zwölf
+Weisheitslehren; und Ruodlieb hat sie im Lauf der Erzählung
+wahrscheinlich alle zwölf selbst erprobt; -- sicher ist es nicht, weil
+nur Bruchstücke des Werkes auf uns gekommen sind.
+
+Lange bleibt Ruodlieb in seiner Art allein; aber als dann ähnliche
+Schöpfungen zahlreicher erwachsen, ist es noch immer das Rittertum,
+welches die Situation beherrscht. Freilich nicht mehr allein das
+ritterliche Heldentum, sondern zugleich die ritterliche Liebe.
+Kreuzzugsabenteuer spiegeln sich wieder in den deutschen Versen von
+~Floris und Blancheflur~. Der heidnische Königssohn Floris
+entbrennt in Liebe zu Blancheflur, der Tochter eines christlichen
+Kriegsgefangenen. Blancheflur wird in ein anderes Land verkauft;
+Floris sucht und findet sie bei einem Fürsten der Sarazenen. Er weiß
+in den Turm zu gelangen, in dem sie gefangen gehalten wird, und
+erfreut sich ihrer Liebe bis -- zum Tag der Entdeckung. Ihre treue
+Liebe siegt auch über den Grimm des Fürsten, der sie vereint zur
+Heimat ziehen läßt. Dies Liebespaar, in deutschen Versen besungen,
+ist typisch für jene Zeit und für zahlreiche andere ähnlich gefeierte
+Paare. ~Tristan und Isolde~ werden von Eilhart von Oberge, in
+vollendeter Gestalt von Gottfried von Straßburg besungen. Was für ein
+Bild jener suchenden und fragenden, religiös-ernsten und zugleich
+naiv-heldenmäßigen Ritterzeit gibt Wolfram von Eschenbachs berühmter
+~Parzival~!
+
+Die Wandlung der Zeiten läßt sich trefflich in den Wandlungen der
+romanartigen Dichtung verfolgen. Das Rittertum tritt zurück; aber die
+naive Freude am Äußerlich-Großen und Wunderbaren nicht. Freilich, man
+zehrt im 14. und 15. Jahrhundert von der Vergangenheit; noch ist das
+Neue nicht in klarem Werden. Diese Epoche ist die Zeit der sogenannten
+»~Volksbücher~«. Die Stoffe der höfischen Epen verarbeiten
+sie in ungebundener Rede, aber auch andere Gegenstände ziehen sie
+herbei, -- freilich mehr neue Namen als neue Gedanken. Sie greifen,
+um ihre Helden zu wählen, in die fernste Vergangenheit zurück, bis
+in die Zeiten des trojanischen Kriegs oder Alexanders des Großen.
+Aber sie verschmähen zum gleichen Zweck auch nicht die Gestalten
+der Karolingerzeit; und schließlich fehlen Helden wie Fortunatus
+mit seinem Glückssäckel nicht. Wunderbare Taten gewaltiger Männer,
+traurige und fröhliche Schicksale tugendhafter Frauen werden immer
+wieder behandelt. Alles in allem kein Fortschritt, vor allem nicht in
+der Schärfe der Zeichnung des gegenwärtigen Weltbildes; eher verflacht
+der Roman, weil die Neigung zum Abenteuerlichen die zum Wirklichen
+überwiegt.
+
+Das Bürgertum tritt mit dem ausgehenden Mittelalter viel stärker
+hervor als je zuvor. Erst fühlt es sich noch in der Notwendigkeit,
+den eigenen Wert und die eigene Geltung gegenüber den Ritterbürtigen
+zu erzwingen. Aber bald wird es zum ausschlaggebenden Faktor.
+So lassen denn die Romane des Reformationszeitalters -- genannt
+seien vor allem die des ~Jörg Wickram~ -- jene Kluft zwischen
+Rittertum und Bürgertum noch hervortreten; aber die Liebenden
+pflegen, wenn Standesunterschiede sie trennen, eben diese Kluft
+glücklich zu überwinden. Und in manchem Roman dieser Zeit hat das
+Bürgertum allein die führende Rolle! Neue Gegenstände gewinnt so die
+Dichtung: bürgerliches Familienleben, Schule und Beamtenlaufbahn,
+des Kaufmannsstandes Leiden und Freuden. Eine neue Betrachtungsweise
+beherrscht sie: diejenige der gutbürgerlichen Moral, deren höchste
+Kleinodien eine glückliche Ehe, sorgsame Kindererziehung und gute
+Nachbarschaft sind. Auch diese Art hat mannigfache Spielarten: neben
+Jörg Wickram steht der Straßburger ~Johann Fischart~ mit seiner
+humoristisch-satirischen Kraft, seinem deutsch-patriotischen Sinn
+und seiner urwüchsig originalen Art, fremdländische, namentlich
+französische Stoffe selbständig zu verarbeiten. Von seinen Schöpfungen
+sei wenigstens das humoristische Prosawerk genannt, welches Rabelais'
+Gargantua und Pantagruel zum Vorbild hat.
+
+Das leidvolle 17. Jahrhundert weist wohl auch eine Romandichtung
+auf, die ernst und klar in die schweren Zeiten hineinschaut: der
+~Simplizissimus~ von Grimmelshausen ist zugleich ein Kind
+und ein Bild jener Zeit. Aber sonst gewinnt es den Anschein, als
+wolle die Dichtkunst die lastentragenden Zeitgenossen vor allem
+aus ihrer eigenen harten Zeit herausführen. Die ungeheuerlichen
+Fabelgeschichten, welche das Gerippe der erzählenden Prosaschöpfungen
+bilden, das sich breitmachende und im Roman an den Mann gebrachte
+ethnographische Wissen, die gelehrte Umständlichkeit, mit der
+französische Galanterie sich merkwürdig paart, -- das alles zeigt
+dem forschenden Leser freilich doch das Wesen der Zeit, in der jene
+Romanschreiber lebten.
+
+Und wie prägt sich erst die ganz besondere Art des Jahrhunderts der
+Aufklärung in der weitverästeten Romanliteratur desselben aus! Der
+Blick weitet sich; neue soziale und kulturelle Probleme tun sich
+auf. Robinson Krusoe kommt diesem Ausbreitungstrieb entgegen; der
+~Reiseroman~ fängt an, das Feld zu beherrschen. Aber mit wieviel
+moralischer Lehrhaftigkeit und kleinkrämerischem Wissensdünkel
+verbindet sich in dem philosophischen Jahrhundert das Ahnen der
+neuen Zeit! Wie sehr verdrängt die Künstelei die einfache, klare
+Nüchternheit, die Reflexion die Natur, die Empfindelei das schlichte
+Gefühl! Es war ein Jahrhundert, das in Empfindungen und Gefühlen, in
+Gedanken und Philosophemen, in Theorien und Plänen schwelgte. Der
+Roman bildet ein Ragout aus allen diesen Zutaten; und die Moral ist
+die keineswegs immer schmackhafte Sauce, mit der er angerührt ist. Wir
+sind kaum imstande, von diesem Roman aus eine gerade Verbindungslinie
+nach dem modernen Roman des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Zum mindesten
+gilt das vom Durchschnittsroman der Aufklärungszeit. Aber es gilt
+doch zu einem großen Teile auch noch von den Romanen des gefeierten
+~Wieland~. Den Pulsschlag der neuen Zeit spüren wir frisch und
+lebenskräftig erst bei Goethe.
+
+Allerdings, ein Literaturhistoriker wie Max Koch läßt den neueren
+deutschen Roman von Wieland ausgehen. Ein solches Urteil respektieren
+wir, zumal wenn es sich mit Lessing verbündet, der Wielands Roman
+»Agathon« als »den ersten und einzigen deutschen Roman für den
+denkenden Kopf von klassischem Geschmacke« bezeichnet hat. In
+~einer~ Hinsicht fällt es auch dem Modernen nicht schwer, dies
+Urteil zu unterschreiben. Der »Agathon« ist wirklich ein Roman für
+den ~denkenden~ Kopf. Das dritte Buch gibt ja eine vollkommene
+»Darstellung der Philosophie des Hippias.« Es ist die Philosophie des
+»echten Materialisten«, die Lehre vom skrupellosen Genuß, die hier in
+nicht weniger als fünf Kapiteln ausführlich dargelegt wird. Und diese
+Theorie des Materialismus bildet nicht etwa einen Fremdkörper in dem
+Roman; im Gegenteil, sie dient als notwendiges Glied dem einen Zweck,
+der Erziehung des Agathon durch alle Lebenslagen hindurch, bis er zu
+der gefestigten Erkenntnis kommt, daß »wahre Aufklärung zu moralischer
+Besserung das einzige ist, woraus sich die Hoffnung besserer Zeiten,
+das ist, besserer Menschen, gründet.« Zu denken also ist hier genug;
+es fragt sich nur, ob die Philosophie nicht in zu reichlicher Dosis
+gegeben ist, -- reichlicher, als es sich für den Romancharakter
+schicken will. In der Tat liegt in der ziemlich äußerlichen Verbindung
+von Handlung und Lehre der Hauptfehler des »Agathon«. Er ist eine
+lange und breite moralische Erzählung, aber kein Roman. Eine Anhäufung
+einzelner moralischer Geschichten und Lebensläufe (des Agathon, der
+Danae) bringt noch keine in sich geschlossene Handlung heraus. Und
+schließlich leidet Handlung wie Moral unter der Einkleidung ins Gewand
+des griechischen Altertums. Da mögen sich sehr feine Parallelen
+ergeben, und mancher Vergleich reizt den geistreichen Schriftsteller.
+Aber durch die Vermischung moderner Abzweckung und antiker Einkleidung
+fällt doch auch die Möglichkeit dahin, mit der Wirklichkeit Ernst zu
+machen. Es kommt nicht zu tiefgreifender psychologischer Erfassung;
+die Erzählung bleibt im oberflächlichen moralischen Schema, das ein
+paar unmoralische Zwischenstadien übrigens nicht ausschließt. Das
+Ganze wird schemenhaft, aber nicht lebensvoll. Wieland verstand es
+nicht, volles Menschenleben zu greifen; er blieb in philosophischen
+Kategorien stecken. Und darum geht der neuere deutsche Roman trotz
+allem nicht von Wieland aus. Sein Schöpfer ist Goethe.
+
+ [Illustration]
+
+
+
+
+ Goethe der Schöpfer
+
+ des modernen deutschen Romans.
+
+
+Wodurch ist Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans
+geworden? Durch »Werthers Leiden«, durch »Wilhelm Meisters
+Lehrjahre« und durch desselben »Wanderjahre« oder durch die
+»Wahlverwandtschaften«? -- Durch keins dieser Werke allein, aber durch
+sie alle zusammen.
+
+Merkwürdig, wie verschieden unter sich diese Prosadichtungen des
+Meisters sind! Da ist keine Schablone und kein Schema. Da ist jedesmal
+aufs neue frisches Leben. Da ist lebendige Entwickelung von Werk zu
+Werk, Entwicklung in Sprache und Gedanken.
+
+Die »~Leiden des jungen Werthers~« sind der einzige Roman des 18.
+Jahrhunderts, der heute noch gelesen wird. Das Neue in ihm hat das
+Alte vergessen lassen. Auch aus dem Werther redet ja der empfindsame
+Geist der Aufklärungsepoche. Der »Held«, dieser leidende Werther, hat
+eigentlich unendlich wenig Männliches. Es geht ihm wie den Schiffen im
+Märchen vom Magnetberg, dessen er selbst sich entsinnt. »Die Schiffe,
+die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die
+Nägel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen
+den übereinander stürzenden Brettern.« Lotte ist der Magnet, der das
+letzte Bischen Kraft aus dem liebenden Werther zieht. Der Freund rät:
+»Suche einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Kräfte
+verzehren muß!« Aber das Übel hat ihm die Kräfte schon verzehrt. Was
+für ein haltloses Klagen und Zagen! Wieviel Tränen und Kniefälle! Wie
+lang gesponnene Ergüsse! Die Leidenschaft ist als schwere Krankheit
+geschildert:
+
+ »Die menschliche Natur ... hat ihre Grenzen; sie kann Freude, Leid,
+ Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde,
+ sobald ~der~ überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob
+ einer schwach oder stark ist? sondern ob er das Maß seines Leidens
+ ausdauern kann.«
+
+Und diese Krankheitsgeschichte ist noch dazu breit erzählt; Gespräche,
+Reflexionen, Schilderungen, die nur lose zur Sache selber gehören,
+sind eingestreut. Vor allem aber: es ist fast nichts als eben
+Krankheitsgeschichte. Wie wenig plastisch treten die Menschen hervor,
+die neben dem Helden ein bischen mithandeln! Jene Hofgesellschaft
+wird freilich beschrieben, die Menschen, deren ganze Seele auf dem
+Zeremoniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht,
+»wie sie um einen Stuhl weiter hinauf bei Tische sich einschieben
+wollen.« Jener Graf wird gezeichnet, -- der edle, feingebildete
+Mann der wirklich großen Welt. Aber das sind Beigaben; die Welt des
+Romans ist eng; sie beschränkt sich im letzten Grund auf das Herz des
+Liebeskranken.
+
+Aber all dies Alte tritt in den Hintergrund gegenüber dem Neuen. Und
+dies Neue ist die trotz alledem ~packende und einheitlich klare
+Zeichnung des Innenlebens eines Liebenden~. Wir mögen im einzelnen
+hunderterlei einzuwenden haben, mancher Leser wird sicher ganze Seiten
+überschlagen; -- das Ganze faßt uns immer wieder an. Und nicht bloß,
+weil es den Sentimentalen genugtut und die Seele mit üppigem Mitleid
+füllt. Nicht bloß, weil der schaurige Ausgang, wunderbar knapp, wie er
+beschrieben ist, uns mit Grausen erfüllt. Sondern den Ausschlag gibt
+etwas anderes. Goethe hat es selber später gesagt:
+
+»Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind
+nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen
+Menschen, und es müßte schlimm sein, wenn nicht ~jeder einmal in
+seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther vorkäme, als
+wäre er bloß für ihn geschrieben~.«
+
+Ich glaube ja, daß es nicht die Schilderung von gehemmtem Glück und
+unbefriedigten Wünschen im allgemeinen ist, welche immer wieder
+neue Leser im Werther sich selber finden läßt. Im Roman sind
+diese unbefriedigten Wünsche doch sehr konkret in einen einzigen
+zusammengefaßt: in das leidenschaftliche Begehren des Mannes nach
+dem Weib seiner Liebe. Freilich seufzt Werther, nachdem der Anlauf
+zu amtlicher Tätigkeit fehlgeschlagen: »Damals sehnte ich mich in
+glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich
+für mein Herz so viele Nahrung, so vielen Genuß hoffte, meinen
+strebenden, sehnenden Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt
+komme ich zurück aus der weiten Welt -- o mein Freund! mit wie viel
+fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Plänen!« Aber
+auch dies Intermezzo der amtlichen Tätigkeit wirkt erst dadurch, daß
+es die große Leidenschaft zum Hintergrund hat. Im übrigen trifft es
+gewiß zu: es hat mancher seine Zeit im Leben, wo es ihm vorkommt, als
+sei der Werther nur für ihn geschrieben. Gerade die unglückliche,
+aussichtslose Leidenschaft mit ihren feinen Konsequenzen, mit
+ihren unsinnigen und doch von dem einen Mittelpunkt her völlig
+verständlichen Äußerungen ist aus der Seele nicht ~eines~
+Menschen, sondern der Menschheit heraus geschildert. Wer aber auch
+jene Zutaten mitwägt, jene uns fremd anmutenden Besonderheiten, der
+muß zugeben, daß dies ~Allgemein-Menschliche zugleich mit den
+charakteristischen Farben einer bestimmten Zeit geschildert~
+ist. Und unter diesem Gesichtspunkt wird auch das wertvoll, was
+sonst beiseite bliebe: jene Neigung, den herrschenden Begriffen
+über Sitte und Recht den Krieg zu erklären, die Sünden in Schutz zu
+nehmen, welche die herkömmliche Moral verurteilt. In der Empörung
+der Leidenschaft gegen die nüchterne Urteilsweise der »vernünftigen
+Leute« nimmt Werther in Schutz, was sonst überall verurteilt wird:
+den Dieb, welcher stiehlt, um sich und die Seinigen vom Hungertod zu
+erretten, den Ehemann, der im gerechten Zorn sein untreues Weib und
+deren Verführer aufopfert, den Unglücklichen, der sich entschließt,
+die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Mit dieser
+leidenschaftlichen Auflehnung gegen die geltende Moral verbindet
+sich eine herbe Kritik der »fatalen bürgerlichen Verhältnisse«, der
+Art, wie der Unterschied der Stände betont wird, der Hohlheit und
+Umständlichkeit des Amtsverkehrs und der Regierungsmaschinerie.
+Nicht bloß die unbändige Leidenschaft spricht, sondern zugleich die
+revolutionäre neue Zeit.
+
+Ist der »Werther« alles in allem die Geschichte einer Leidenschaft, so
+sind »~Wilhelm Meisters Lehrjahre~« die Geschichte der Bildung
+ihres Helden, -- Bildung im weitesten Sinne genommen. Im Werther alles
+Gefühl, alles Empfindung, alles Leidenschaft; im Wilhelm Meister
+alles Überlegung, alles Gedanke, alles Berechnung. Grundverschieden
+sind beide Schöpfungen; aber jede traf eine Saite in dem Herzen der
+Menschheit des 18. Jahrhunderts. Denn die Erziehung durch das Leben,
+wie die Fragen der Erziehung überhaupt, gehörte zum eisernen Bestand
+des Nachdenkens der damaligen aufgeklärten Welt.
+
+Haben Sie Wilhelm Meister auch nur in den Lehrjahren einmal ganz
+gelesen? Es ist das nicht jedermanns Sache. Es verlangt Energie
+und Beharrlichkeit. Und das liegt nicht bloß an der Wucht der
+Gedanken. Seitenweise sind Sentenzen zusammengestellt, deren jede
+einzelne angespanntestes Nachdenken fordert. Es liegt aber auch an
+der Form und der Einkleidung des Romans. Gestehen wir es uns doch
+offen, daß die geringfügige, magere Handlung unter den unzähligen
+eingeschobenen Reflexionen fast erstickt. Da finden sich ausgesponnene
+Selbstschilderungen wie die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, da
+breit wiedergegebene Unterhaltungen, die lediglich eine bestimmte
+Ansicht entwickeln sollen, ob sie auch für den Gang des Ganzen wenig
+oder nichts bedeute, da jene Sammlungen tiefsinniger Aussprüche,
+die so ziemlich alle Lebensfragen in ihren Bereich ziehen. Das
+Bischen Handlung, das wir herausschälen, ist wieder noch unendlich
+verzettelt, dazu manchmal mehr als zufällig aufgereiht, ganz ohne
+notwendigen äußeren Zusammenhang. Wilhelm Meister, eines Kaufmanns
+Sohn, geht auf Geschäftsreisen aus, verliert aber den eigentlichen
+Zweck seiner Sendung ganz aus dem Auge und läßt sich erst fast
+willenlos, nachher halb absichtlich, von Erlebnis zu Erlebnis, von
+Abenteuer zu Abenteuer, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft, von Ort
+zu Ort treiben. Erst bildet seine Umgebung eine Schauspielertruppe
+mit mannigfachen und wechselnden Gestalten; dazu die geheimnisvollen
+Erscheinungen Mignons und des alten Harfners. Neben seiner ersten
+Angebeteten, Marianne, und neben der leichtfertigen Philine lernt er
+in Aurelie eine leidvoll-ernste Frau kennen; und die ganz ohne äußeren
+Zusammenhang eingeschalteten »Bekenntnisse einer schönen Seele« lassen
+ihn in ein innig frommes, fast skrupulös gewissenhaftes Herz blicken.
+Allerhand sonderbare Geschicke führen ihn in ein gräfliches Haus und
+später für länger in adlige Kreise, zugleich zu einer großen Zahl
+neuer, für ihn bedeutungsvoller Persönlichkeiten. In dieser Umgebung
+gewinnt er endlich eine Lebensgefährtin in der zu diesen Kreisen
+gehörigen Natalie.
+
+Es ist nicht leicht, das Wirrwarr all dieser Erlebnisse zu sichten.
+Das Ergebnis ist ja auch kein befriedigendes: äußerlich genommen ists
+ein Labyrinth, durch das Goethe uns führt. Keine klare Entwickelung,
+kein straffer Gang der Erzählung. Allerdings soll nach des Dichters
+Absicht dies alles doch nicht wie zufällig sein. Vielmehr ist eine
+geheimnisvolle Macht mit im Spiele, die sogenannte Gesellschaft des
+Turms, die an dem Helden Interesse genommen hat und deren Glieder je
+und je in bedeutungsvollen Augenblicken, meist als Größe X, in sein
+Leben eingegriffen haben. Ihr Zweck war seine Bildung. Sie haben ihre
+Absicht aber so verfolgt, wie der Grundsatz es eingab: »Nicht vor
+Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern
+den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern
+ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum
+nur kostet, hält lange damit Haus, er freuet sich dessen als eines
+seltenen Glücks; aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen
+lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.«
+
+Uns Heutigen kommt, wenn wir Wilhelm Meisters Irrwege betrachten,
+nicht bloß die Frage, die ihm selber sich auf die Lippen drängt:
+
+»Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten
+und wußten, was darauf zu tun sei, warum führten sie dich nicht
+strenger? warum nicht ernster? warum begünstigten sie deine Spiele,
+anstatt dich davon wegzuführen?«, sondern uns erscheint dieses ganze
+geheimnisvolle Walten der Gesellschaft vom Turm als in hohem Grade
+sonderbar. Goethe hat damit eine Einkleidung des Romans gewählt, die
+seiner Zeit nahe lag und vertraut war, die aber zu dem Gut seiner Zeit
+gehörte, das am schnellsten veralten mußte. Jedenfalls bringt uns
+diese die Vorsehung spielende Gesellschaft den Roman nicht näher.
+
+Wenn Wilhelm Meisters Lehrjahre trotzdem einen hohen Wert als
+Fundamentstein für den Bau des modernen deutschen Romans beanspruchen
+können, so danken sie das dem tiefen und reichen Gedankenmaterial,
+welches sie bergen. Wilhelm Meisters ~Bildungsgang~ ist ihr
+Thema. Alles Einzelne, was er erlebt, auch jeder Irrtum, den er
+begeht, dient seiner Bildung. In der Schauspielerzeit lernt er:
+»Man soll sich vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit
+auszuüben nicht Hoffnung hat.« Aber er trägt auch anderen Gewinn
+davon. Er hat gelernt die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen
+haben kann. Auch äußerlich hat er sich ausgebildet: er hat »viel von
+seiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt«, seine Sprache und Stimme
+ausgebildet. Aber sein Bildungstrieb geht weiter. Ihm schwebt jene
+»harmonische Ausbildung« vor, die ihm seine Geburt versagt zu haben
+scheint, weil sie nach der herrschenden Verfassung der Gesellschaft
+nur dem Edelmann, nicht dem Bürger zukommt. »Ein Bürger kann sich
+Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden;
+seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er
+will.« Dem Edelmann dagegen ist eine gewisse allgemeine, personelle
+Ausbildung möglich; »er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß
+dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine, stille Gefühl der
+Grenzlinie, die ihm gezogen ist.« Goethe läßt seinen Helden durch den
+Umgang mit jenen Adelskreisen, schließlich durch die Heirat mit einer
+Adligen in dieses Sperrgebiet harmonischer Ausbildung eindringen.
+So gewinnt der Roman zugleich soziale Bedeutung; der dritte Stand,
+der sich in der französischen Revolution so nachdrücklich in die
+Weltgeschichte eingeführt hatte, pocht mit starker Hand an die ihm
+bisher verschlossenen Pforten. Goethe öffnet ihm das Paradies der
+Bildung; und in der schließlichen engen Verbindung des Bürgers-
+und des Adelsstandes, einer Verbindung, die noch durch zwei andere
+Ehebündnisse dokumentiert wird, läßt er in prophetischer Voraussicht
+Schranken fallen, die vielen dazumal noch als unüberwindlich galten.
+
+Neben diesen Grundgedanken ist in dem breiten Gedankenstrom der
+Lehrjahre noch manches Tiefe und Wertvolle auf uns gekommen, teils
+in engerem, teils in loserem Zusammenhang mit der Hauptidee. Ich
+schätze diesen Reichtum des Werkes höher als etwa die Art seiner
+Charakterschilderung. So sehr die bunte Reihe kaleidoskopartig
+auftauchender und wieder verschwindender Figuren benützt wird, um
+Wilhelm Meister zu bilden, -- klar und scharf herausgearbeitet sind
+die wenigsten von ihnen. Ja es zeigt sich gerade in diesen Gestalten
+ein ganz eigentümlicher Mangel an konkreter Darstellung. Mehr als
+eine von ihnen ist sozusagen ohne Zusammenhang mit der umgebenden
+Welt. Ihr Wesen wird nur in ein paar wichtigen Zügen der inneren Art
+gezeichnet; alles andere bleibt im Dunkel. Der Mensch kann aber nicht
+ortlos, zeitlos, geschichtslos geschildert werden. Infolgedessen
+bleiben manche der Goetheschen Personen geradezu Gerüste, die mit
+ein paar gerade erforderlichen Eigenschaften behängt sind. Die
+Methode der Namengebung paßt ganz zu diesem Verfahren. Da kommt der
+Graf, der Prinz, der Marchese; wo aber wirklich ein bestimmter Name
+einem bestimmten Träger gegeben wird, bleibt es für gewöhnlich beim
+Vornamen: Lothario, Friedrich, Marianne, Philine, Natalie usw.
+
+All dies hängt aufs engste mit der Art zusammen, wie Goethe im Wilhelm
+Meister bestimmte geschichtliche Einzeichnung in eine klar erkennbare
+Zeit vermeidet. Seine Zeit ist natürlich die Zeit des Romans. Manche
+Einzelheiten lassen das erkennen. Der prinzliche Heerführer ist z. B.
+Prinz Heinrich von Preußen. Aber das sind Einzelheiten; und auch sie
+geben nur zufällige Winke. Rings um die handelnden -- oder vielmehr
+meist nicht handelnden -- Personen brauen wallende Nebel, wogt
+ungewisses Dämmerlicht. Allenfalls die Theaterverhältnisse sind klarer
+beschrieben; aber auch hier ist die Zeichnung nicht scharf. Nur in
+Einem ist das Wesen der Zeit klar wiedergegeben: in Stimmungen und
+Gedanken über die innersten Fragen menschlicher Charakterentwickelung,
+wie das oben zu schildern versucht wurde. --
+
+Ich darf »~Wilhelm Meisters Wanderjahre~« hierfüglich übergehen.
+Sie sind nichts als eine Folge von Novellen; der einheitliche
+Romancharakter fehlt ganz. Sie stehen noch viel mehr wie die Lehrjahre
+im Banne des reinen, abstrakten Gedankens; und noch viel stärker
+als in diesen verblaßt in den Wanderjahren alles Persönliche, alles
+Konkret-Zeitliche, alles Individuelle. Liebhaber tiefer und feiner
+Gedanken, die sich nicht scheuen, solche unter schwerverständlicher
+Symbolik mühsam zu ergründen, finden selbstverständlich auch hier ihre
+Rechnung. Aber ein Roman sind die Wanderjahre nicht. Dagegen muß an
+dritter Stelle hier die Rede sein von den Wahlverwandtschaften, -- ob
+man dies Werk nun als Novelle oder, wozu seine umfassende Anlage doch
+wohl berechtigt, als Roman bezeichnet.
+
+Auch die »~Wahlverwandtschaften~« zeigen, wieviel Goethe für
+die erzählende Prosadichtung der ~Gedanke~ bedeutete. Auch
+hier wieder die langen Unterhaltungen über allerhand allgemeine
+Gegenstände. Auch hier die eingestreuten Sentenzen, in Bündel
+gesammelt in den Abschnitten aus Ottiliens Tagebuche. Man hat den
+Eindruck, daß Goethe vielmehr daran lag, diese wertvollen Gedanken und
+feinen Aperçus unterzubringen, als eine bestimmte Handlung einheitlich
+und geschlossen durchzuführen. Auch hier wieder jene undeutliche
+Umzeichnung des Erzählungsgebiets, jene Zeit- und Geschichtslosigkeit
+des Ganzen. Eduard ist ein reicher Baron. Aber wann? Und wo? Eduard
+zieht in den Krieg. Aber in welchen? Endlich auch hier jene
+Unpersönlichkeit mancher Persönlichkeiten, z. B. des lediglich nach
+seiner Vermittelungsleidenschaft benannten Mittler, aber auch anderer:
+des Grafen, der Baronesse, ja bis zu einem gewissen Grade selbst der
+Hauptpersonen.
+
+Auf der anderen Seite aber stehen für den Roman doch nicht bloß
+eine große Zahl feiner Einzelgedanken und tiefsinniger Gespräche,
+auch nicht allein die viel stärker hervortretende Kunst in der
+Charakterisierung der wichtigsten Personen. Äußerlich genommen, fehlt,
+wie angedeutet, manches, um sie zu klar umrissenen Persönlichkeiten
+zu machen; aber ihr Inneres ist mit ganz anderer Kraft und Liebe
+gezeichnet, als das von den Personen im Wilhelm Meister gelten
+konnte. Genannt sei nur Ottilie, die mit feinster Seelenkunde und
+mit wunderbarer Liebe geschildert ist. Wichtiger aber noch ist mir
+an den »Wahlverwandtschaften«, wie in ihnen ~Gedanke und Handlung
+zu einem Ganzen verschmolzen sind~. Die Handlung ist nicht mehr
+die Gelegenheit, eine Reihe von Gedanken, die man sonst nicht gut
+plazieren kann, auf gute Manier loszuwerden; sondern sie ist die
+Durchführung des Gedankens selbst. Die Gedanken gehen nicht mehr neben
+der Entwickelung her, sondern sie prägen sich in ihr aus. ~Die
+Handlung ist der Ausdruck des Gedankens, der Gedanke die Seele der
+Handlung.~ Damit ist der gewaltigste Schritt in der Entwickelung
+des Romans getan.
+
+Eduard und Charlotte, die sich erst in reiferem Alter, aber durchaus
+infolge von Neigung und Liebe zur Ehe verbunden, leben auf stattlichem
+Schlosse, beide mit der Absicht, allein für einander zu leben. Aber
+sie gewähren bald noch zwei Nahestehenden die Teilnahme an ihrer
+Häuslichkeit, dem Hauptmann und Ottilien. Charlotte hat dieser
+Gewährung nicht ohne Bedenken zugestimmt. Und in der Tat: es kommt
+hier mit den vier auf engem Raum vereinigten Menschen, wie es in
+der Chemie mit verwandten Substanzen zu geschehen pflegt. Da sind
+diejenigen Fälle des gegenseitigen Sichanziehens und Sichscheidens
+die merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses
+Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen
+kann, wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung
+gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue
+verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen
+und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man
+traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu, und hält das
+Kunstwort Wahlverwandtschaften für vollkommen gerechtfertigt.
+
+Es kommt mir hier nicht darauf an, den Gang der Erzählung
+wiederzugeben; dazu sind Goethes Dichtungen zu allgemein bekannt. Nur
+das Problem, das der Roman behandelt, soll herausgestellt werden.
+Es geschieht, was in dieser Beschreibung des chemischen Prozesses
+angedeutet ist: Eduard faßt eine tiefe und erwiderte Neigung zu
+Ottilie; und Charlotte und der Hauptmann finden sich gleichfalls in
+gegenseitiger Liebe. Die weitere Entwickelung verläuft nicht ohne
+Berücksichtigung der Eigenart jeder in Betracht kommenden Person.
+Der Hauptmann und Charlotte wissen sich zu beherrschen; nicht
+ebenso Eduard und Ottilie. Eduard entbrennt zu heftiger, auch durch
+lange Entfernung nicht gemilderter Leidenschaft. Ottilie ihrerseits
+verzichtet erst, nachdem Eduards und Charlottes ihr anvertrautes Kind
+nicht ohne ihre Schuld den Tod gefunden hat, das Kind, das durch
+seine Gesichtszüge der Zeuge der Liebe ist, die jedes der Eltern, die
+ihm sein Leben gegeben, für einen andern als den Ehegatten gefühlt.
+Eduard, völlig haltlos seiner Leidenschaft hingegeben, geht an ihr
+zugrunde. Das Problem hat seine Lösung gefunden. Die Menschen haben
+Wahlverwandtschaft gefühlt, wie jene chemischen Substanzen sie haben.
+Aber sie haben sich nicht willenlos wie diese verhalten. Wenn auch
+durch unendlich viel Weh hindurch, -- die ursprüngliche, durch die
+Ehe gegebene Gemeinschaft ist aufrecht erhalten. Das ist die völlig
+einheitliche, in allen Verwickelungen klar durchgeführte Absicht:
+die Heiligkeit, die Unlösbarkeit der geschlossenen Ehe soll gezeigt
+werden. Und -- vom Wert dieser These hier gar nicht zu reden -- die
+Konsequenz, mit welcher dieses eine Thema behandelt wird, und zwar
+nicht nur disputatorisch und abstrakt, sondern wie die Geschehnisse
+selbst es behandeln, -- diese Art macht die Wahlverwandtschaften zum
+ersten Roman, der -- obschon mit manchen Schwächen -- der Idee des
+Romans voll entspricht. Sie gestaltet ihn zu einem einheitlichen,
+in der Handlung selbst und nach den scharf erfaßten Gesetzen
+seelischer Anlagen das Leben abbildenden und die Gedanken des Lebens
+wiedergebenden Kunstwerk. --
+
+Lassen Sie mich, nachdem ich die drei Hauptwerke Goethes auf dem
+Gebiete der erzählenden Dichtung in Kürze gewürdigt habe, mit ein
+paar Sätzen zusammenfassend die ~Bedeutung Goethes für den modernen
+deutschen Roman~ skizzieren!
+
+Diese Bedeutung beruht ~zunächst~ auf der tiefen ~psychologischen
+Kraft~, mit welcher Goethe Menschen seiner Zeit erfaßt und dargestellt
+hat. Was seinen Romanen auch auf dem Gebiete der Psychologie
+Unbefriedigendes anhaftet, ist genügend erwähnt. Aber die Tatsache wird
+davon nicht berührt, daß ~er der Erste war, der es verstand, Menschen
+bis in die Tiefe der Seele zu schauen~. Was ist hier Wieland gegen
+Goethe? Ein Stümper gegenüber dem Meister. Wie bleibt bei Wieland, auch
+in seinem Agathon, jeder psychologische Ansatz auf der allerobersten
+Oberfläche! Und wie tief greift der Werther! Wie tief auch die
+Wahlverwandtschaften, ja in vielem auch Wilhelm Meister! Es bleibt ja
+dabei, daß wir auch von ihm keine allseitig ausgeführten, nach den
+mannigfachen Verzweigungen menschlicher Interessen hin weitergeführten
+Charakterbilder erhalten. Die psychologische Kraft konzentriert sich
+stets nur auf ein enges Gebiet: im »Werther« auf die wahnsinnige
+Leidenschaft des Mannes zum Weibe, im »Meister« auf das Streben eines
+glücklich beanlagten Bürgerlichen nach der harmonischen Ausbildung
+seiner ganzen Persönlichkeit, in den »Wahlverwandtschaften« auf die
+gegenseitigen Beziehungen der durch Ehe oder Wahlverwandtschaft mit
+einander verbundenen Personen. Aber in dieser Beschränkung bewundern
+wir den ungeheuren Reichtum, die fein pointierte Einzelkraft seiner
+psychologischen Wiedergabe.
+
+~Zum andern~ muß trotz aller Einwendungen, die erhoben wurden,
+doch gelten, daß Goethe auch in der ~Art, wie seine Romane zum
+Zeitbild werden~, alle Vorgänger weit hinter sich gelassen hat.
+Allerdings, man wird es ja so, wie geschehen, formulieren müssen. Sie
+~wollen~ kaum ein Zeitbild sein; sie ~werden~ es nur. Hätten
+sie es gewollt, sie würden den Leser ganz anders in die Welt Goethes
+eingeführt haben, als sie es tun. Goethe hat diese Aufgabe dem Roman
+nicht klar gestellt. Trotzdem hat er dieselbe wenigstens angefaßt.
+Wir sahen, wie der »Werther« in die sozialen und in die moralischen
+Stimmungen der Zeit hineinleuchtet. Wir sahen, wie »Wilhelm Meister«
+nicht etwa bloß die Theaterverhältnisse beschreibt, sondern wie er
+die gesamte aufstrebende Bildungssehnsucht des deutschen Bürgers
+samt den ihn begegnenden Hindernissen versinnbildlichte. Und auch
+die »Wahlverwandtschaften« lösen ein Zeitproblem: die Ehe und den
+Ehebruch. Und daß so nicht irgendwelche erkünstelte Altertümelei,
+sondern einfach das Wesen der Zeit seine Prosaschöpfungen beseelt, das
+hat ihnen weitreichende Wirkung verschafft.
+
+~Endlich~ -- indem ich von der Fülle trefflicher Gedanken,
+welche Goethes Romane bergen, hier nicht nochmals besonders rede
+-- beruht Goethes Bedeutung für den modernen deutschen Roman auf
+der ~Kunst, mit welcher er durch die Entwickelung der Handlung
+selbst zu reden weiß~. Handlung ohne Gedanken hat auch der
+Schauerroman, Gedanken ohne Handlung bilden gar keinen Roman; und
+eine Handlung, in die Gedanken gesprächsweise lose eingefügt sind,
+schafft ein Zwitterwesen, aber kein Kunstwerk. Der »Werther« und
+vor allem die »Wahlverwandtschaften« haben alle diese Klippen
+-- im ganzen genommen -- überwunden. Hier haben die Handlungen
+selber Gedanken. Und indem die Handlung zugleich den Gesetzen des
+psychologischen Geschehens folgt, verlieren auch die Gedanken den
+Charakter des Zufällig-Herangebrachten. Hier, vor allem in den
+»Wahlverwandtschaften«, haben wir ein, wenn auch nicht vollkommenes,
+aber doch meisterhaftes Vorbild für die eigentliche Kunstform des
+modernen Romans.
+
+Wir haben von Goethe selbst einige Äußerungen theoretischer Art über
+das Wesen des Romans. Im »Werther« sagt Lotte:
+
+»... Der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde,
+bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so
+interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das
+freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher
+Glückseligkeit ist.«
+
+Und im »Wilhelm Meister« vergleicht er Roman und Drama:
+
+»Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der
+Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußeren
+Form ... Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten
+vorgestellt werden, im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß
+langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf
+welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung
+aufhalten. ... Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht in hohem
+Grade wirkend sein; von dem Dramatischen verlangt man Wirkung und Tat
+....«
+
+Es ist deutlich, daß diese Bestimmungen wertvolle Elemente für die
+Erkenntnis des Wesens des Romans enthalten. Bis zu einem gewissen
+Grad stellt der Leser mit Recht den Anspruch, im Roman seine Welt
+wiederzufinden. Wenn es im Roman so »zugeht wie um mich«, so ist
+damit ein gut Teil Realistik, ein ernstes Stück Wirklichkeitskraft
+verlangt. Und daß der Roman Gesinnungen und Begebenheiten darstelle,
+trifft gleichfalls zu. Aber gerade diese letzte Definition bedarf
+der Korrektur. Es darf kein Gegensatz konstruiert werden zwischen
+Gesinnungen und Begebenheiten einerseits, Charakteren und Taten
+anderseits. Gesinnung und Charakter gehören so gut zusammen wie
+Begebenheiten und Taten. Wenn der Romanheld wirklich leidend sein
+müßte, dann kämen allerdings dem Roman nur Begebenheiten zu, nicht
+Taten. Aber er muß handeln ~und~ leiden, wie das Leben handeln
+und leiden läßt. Übrigens sind die Wahlverwandtschaften bereits
+über den Rahmen dieses Programms hinausgegangen; es sind doch schon
+Charaktere und in gewissem Sinne auch Taten, die hier den Handelnden
+beigelegt werden. Nicht auf diesen Sätzen über den Roman, sondern auf
+den Schöpfungen selbst ruht Goethes Bedeutung.
+
+Daß Goethe seinerseits auf Vorgängern fußte, will ich hier nur
+andeuten. Die »+Nouvelle Héloise+« Rousseaus ist das Vorbild des
+Werther gewesen: es sollte nicht das letzte Mal sein, daß französische
+Romandichtung die deutsche beeinflußte. Aber was in Goethes Romanen
+wirkte, das ist doch eben von ihm selber hineingelegt gewesen. Und sie
+haben gewirkt! »Werther« hat eine ganze Literatur an Streitschriften
+wie an Nachahmungen hervorgerufen. »Wilhelm Meister« ist bahnbrechend
+geworden für den vielgepflegten Bildungsroman des 19. Jahrhunderts,
+dem er geradezu das Schema geschaffen hat. Aber es sind nicht bloß
+diese direkten, augenfälligen Wirkungen gewesen, welche von Goethes
+Romandichtung ausgegangen sind. Nein, in alledem, was als die Kraft
+dieser seiner Dichtung bezeichnet wurde, hat er Spätere tief und
+nachhaltig beeinflußt: ~in der Tiefe der psychologischen Einsicht,
+in der unbeirrten Wiedergabe des Zeitempfindens, in der Kunst, welche
+Handlung und Gedanken in eins schuf. Durch all dies ward Goethe der
+Schöpfer des modernen deutschen Romans.~
+
+
+
+
+ Roman und Novelle der Romantik.
+
+
+Goethe ist der Schöpfer des modernen deutschen Romans. Der Gesamtlauf
+des 19. Jahrhunderts bestätigt diesen Satz. Der Anfang des 19.
+Jahrhunderts allein kann ihn nicht erschüttern.
+
+Merkwürdig allerdings, daß die ersten Jahrzehnte desselben
+unmittelbar nach Goethes großen Romanen, ja unter seinen Augen eine
+Prosadichtung heranwachsen lassen, deren innerstes Wesen von jener
+Wirklichkeitskraft Goethes, die das eigentliche Schöpferisch-Neue in
+seinen Romanen bildet, so gut wie unberührt war! Spuren Goethescher
+Einwirkung findet man freilich auch in den Romanen und Novellen
+der Romantik. ~Novalis~ »Heinrich von Ofterdingen« behandelt
+wie »Wilhelm Meisters Lehrjahre« eine Bildungs-Entwickelung,
+~Schlegels~ »Lucinde« gibt gleichfalls eine Art Lehrjahre. Aber
+nicht die abgeklärte psychologische Kraft aus »Wilhelm Meister«
+finden wir hier wieder, -- vielmehr eher das, was den »Werther«
+gegenüber allem Späteren als ein Werk jugendlichen Sturmes und Dranges
+kennzeichnet: den Überschwang, die Maßlosigkeit, die Krankhaftigkeit
+der Gefühle. Es war mehr die Form, die Leitidee, die man Goethe
+entnahm; sein Geist war in der Romantik nicht lebendig.
+
+Viel eher kann man in den romantischen Erzählungen die Nachwirkungen
+eines Anderen, dazumal Hochgefeierten und doch sehr viel Kleineren
+spüren, des unendlich fruchtbaren ~Jean Paul~. Er ist 1825
+gestorben; aber seine Zeit ist die des 18. Jahrhunderts, dessen Ende
+die Entstehung seiner bedeutendsten Romane sah. Erwarten Sie hier
+keine ausführliche Darlegung über seinen »Titan«, seinen »Siebenkäs«
+oder seine »Flegeljahre«! Sie gehören alle zusammen dem zu Grabe
+gegangenen Zeitalter an. Ich leugne nicht, daß in ihnen Tiefes,
+Schönes, Ergreifendes steht. Ich leugne noch weniger, daß zahlreiche
+Unterhaltungsschriftsteller, die sich im Übrigen ganz der modernen
+Schule zurechnen, in ihrem ganzen Leben auch nicht einen einzigen
+Gedanken von der Tiefe und der Anmut aufgebracht haben, welche
+unzählige Stellen in Jean Pauls Romanen aufweisen. Vielleicht schlagen
+Sie einmal das 58. Kapitel der »Flegeljahre« auf, das den Titel
+»Erinnerungen« führt:
+
+»Ich möchte wohl Tage lang über die kleinen Frühlingsblümchen der
+ersten Lebenszeit reden und hören. Im Alter, wo man ohnehin ein
+zweites Kind ist, dürfte man sich gewiß erlauben, ein erstes zu sein
+und lange zurückzuschauen ins Lebens-Frührot hinein. Da offenbar'
+ichs gern, daß ich mir höhere Wesen, z. B. Engel, ordentlich weniger
+selig aus Mangel an Kindheit denken kann, wiewohl Gott vielleicht
+keinem Wesen irgend eine Kindheits- oder Vergißmeinnichtszeit mag
+abgeschlagen haben, da sogar Jesus selber ein Kind war bei seiner
+Geburt. Besteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Lust und
+Hoffnung, Bruder, und die Frühregen der Tränen fliegen darüber nur
+flüchtig hin?« -- -- --
+
+Aber bei allem Tiefen und Feinen und Zarten, das in diesen Romanen
+steckt, fehlt ihnen doch ein wichtiges Erfordernis gerade des
+Romans: Klarheit und Schärfe in der Erfassung und in der Darstellung
+des wirklichen Lebens. Charakteristische Streiflichter, treffende
+satirische Bemerkungen, brillante Humoristika, auch einmal frappante
+Zeichnungen irgend welcher Originalfiguren, -- das alles haben sie.
+Aber eben dies alles bleibt eine Summe von beigegebenen Einzelheiten.
+Die Kraft des Ganzen ist Gemüt und Geist, aber nicht Wahrheit. Tausend
+Lichter und Schatten huschen über die ruhige, klare, nüchterne
+Menschenwelt. Warum sie sehen, wenn die Beleuchtung die objektivste
+Betrachtung ermöglicht? Warum nicht lieber, wenn die Dämmerung die
+Umrisse etwas gefälliger macht oder wenn Nacht und Mond das Nüchterne
+phantastischer gestalten? Warum Interesse nehmen am Gewöhnlichen,
+Alltäglichen und nicht lieber am Besonderen, Seltenen, Sonderbaren, --
+und wenn es gleich verschroben wäre? Warum die Menschen sehen, wie sie
+dem Auge sich bieten? Warum nicht lieber aus ihrer Seele verborgensten
+Winkeln ihre Merkwürdigkeiten herausholen? -- Und endlich hat
+Jean Paul noch eins nie verstanden: nämlich warum der Dichter die
+prosaische Pflicht haben solle, einfach nach der Ordnung der Dinge
+in Reih und Glied zu erzählen. Ihm paßt es viel besser, Ruhepunkte
+einzuschieben, die zu beschaulichen Betrachtungen Gelegenheit geben,
+Seitensprünge zu machen, die angenehme Abwechslung bringen. Aber was
+bei alledem herauskommt, das ist schließlich eine seltsame Mischung
+von ein wenig Wahrheit mit viel Dichtung, von wenig Zusammenhang
+und vielen einzelnen Schönheiten, von manchem Natürlichen und
+unendlich viel Schrulligem, von Ernst und Humor, von Wirklichkeit und
+Phantastik. Weltbilder, Menschenbilder geben diese Romane nicht, nur
+ein Bild einer reichen, tiefen, wennschon seltsamen Seele, nämlich der
+des Verfassers.
+
+Dieses Mannes Einfluß auf seine Zeitgenossen ist nicht zu
+unterschätzen. In ~Börne's~ Denkrede nach seinem Tod hieß es:
+»Fragt ihr, wo er geboren, wo er gelebt, wo seine Asche ruhe? Vom
+Himmel ist er gekommen, aus der Erde hat er gewohnt, unser Herz
+ist sein Grab.« Kein Wunder, daß auch die Dichtkunst sich von ihm
+bestimmen ließ. In manchem Phantastischen und Bizarren, in manchem
+Poetisch-Feinen, vor allem aber in der Unbesorgtheit um die wirkliche
+Welt, wie die romantische Schule sie zeigt, erkennen wir -- bei aller
+sonstigen Eigenart Jean Pauls -- doch eben Geist von seinem Geist.
+
+Die ~Romantik~ war es, welche in den ersten Jahrzehnten des 19.
+Jahrhunderts auch Roman und Novelle weithin beherrscht hat. Was ist
+die Romantik? Eine Stimmung, die überall sein kann, nur da nicht,
+wo scharfes, helles Licht die Dinge in ihrem Wirklichkeitsbestand
+zu sehen zwingt. Aber sie gedeiht, wo Helldunkel herrscht, wo das
+Licht einen farbigen, milderen Ton bekommt, wo die Sonnenstrahlen nur
+durch dichtes Strauchwerk spärlichen Schein werfen können, wo hohe
+Kirchenfenster ihnen eine feierliche Weihe geben. Und noch besser
+wächst sie empor, wo Dämmerung herrscht, wo die Schatten der dunkeln
+Nacht zu regieren beginnen. Es ist klar, wo diese Stimmung ihre Feinde
+sucht. Der klare Geist, der denkende Geist, der philosophische Geist,
+der protestantische Geist sind ihr fremd; aber dem poetischen Zauber,
+der Welt des Traums, dem katholischen Kultus, dem Wunder ist sie hold.
+
+Diejenige dichterische Schule, der man den Namen der romantischen zu
+geben pflegt, ist in Roman, Erzählung und Novelle fruchtbar genug
+gewesen. Hier soll keine Registratur von Namen und Titeln ihren Platz
+finden. Aber an ~Novalis~, ~Friedrich von Schlegel~ und ~Ludwig Tieck~,
+an ~Eichendorff~ und ~Brentano~, an ~Friedrich de la Motte-Fouqué~ und
+~Kleist~ muß wenigstens in Kürze erinnert werden. Einiger bedeutenderer
+Werke aus dieser Zeit und von dieser Art wird im Folgenden besondere
+Erwähnung getan werden. Denn wie läßt sich das, was die Romantik auf
+diesem Gebiet geschaffen, besser darstellen als durch die Einführung in
+einige ihrer charakteristischen Werke? Wie lassen sich die wunderbar
+mannigfaltigen Arten dieser Gattung klarer überschauen, als wenn man
+versucht, die wichtigsten derselben wenigstens in ~einer~ Dichtung zu
+erfassen?
+
+Im Roman der Romantik regiert die Stimmung des ~Dichters~. Und
+zwar des Dichters im besonderen, eigentümlichsten Sinn. Manche können
+Dichter und Träumer nicht unterscheiden; soweit die Romantik in Frage
+kommt, haben sie Recht. So ists denn kein Zufall, daß der einzige
+Roman des gefeierten ~Novalis~, der unvollendet gebliebene
+»~Heinrich von Ofterdingen~«, eine Dichtung über den Dichter
+ist. Novalis hat nach Ludwig Tiecks Bericht noch sechs andere Romane
+schreiben wollen, um darin seine Ansichten über Physik, bürgerliches
+Leben, Handlung (d. h. Handel), Geschichte, Politik und Liebe
+niederzulegen, so wie in Heinrich von Ofterdingen die über Poesie. Mit
+der Poesie begann er; sie lag ihm am nächsten.
+
+Im Mittelpunkt des Romans steht der bekannte mittelalterliche
+Minnesänger Heinrich von Ofterdingen. Aber Novalis hat sich weder
+genau an die Person noch an die Zeit desselben gehalten. Er läßt
+Heinrich als eines Handwerkers Sohn zu Eisenach geboren sein. Der
+Jüngling reist mit der Mutter nach Augsburg ins großväterliche Haus.
+Die Reisegesellschaft bilden Kaufleute, die das gleiche Ziel haben.
+Unterwegs machen die Reisenden die Bekanntschaft eines Bergmanns, der
+sie in eine mächtige Höhle führt. In dieser Höhle findet man Friedrich
+von Hohenzollern als Einsiedler hausen. Die Reise wird fortgesetzt;
+in Augsburg lernt Heinrich den Dichter Klingsohr und seine Tochter
+Mathilde kennen. Mit der Verbindung Heinrichs mit Mathilde schließt
+der erste Teil: »Die Erwartung«. Im zweiten Teil, der den Titel
+»Die Erfüllung« tragen sollte, wird Heinrich in einem Kloster von
+den Priestern des heiligen Feuers in jungen Gemütern über Tod und
+Magie unterwiesen; dann befindet er sich in Italien im Krieg, in
+Griechenland in Gesprächen über Kunst und Moral, im Morgenland, wo er
+dessen Leben in Vergangenheit und Gegenwart kennen lernt, in Rom,
+in Deutschland am Hof Kaiser Friedrichs. Nach wunderbarem Wettgesang
+erlebt er seine Verklärung.
+
+So arm an Handlung der erste Teil ist, so reich an Abwechslung
+sollte danach der zweite werden. An Abwechslung, aber auch er nicht
+an Handlung. Verschiedene Schauplätze, aber an jedem nicht viel
+anderes als Gespräche, Märchen, Sagen, Phantasien. Die Ausführung
+wäre gewiß in derselben Art gehalten worden wie in dem fertig
+gestellten Bruchstück. Dessen Charakter ist freilich ausgeprägt
+genug. Seine Welt ist die Wunderwelt. Die Gesetze des Geschehens
+existieren in ihr nicht. Die auftretenden Personen kommen gar nicht
+als Personen in Betracht, geschweige denn als besondere, individuelle
+Menschen; sie sind nichts als das Sprachrohr für sinnvolle Märchen,
+tiefe Belehrungen. Es werden auch nicht etwa die gleichen Personen
+festgehalten, sondern sie kommen und gehen, ja sie selbst sind
+urplötzlich wieder andere Personen. Novalis lebt in der Welt des
+Traums, des phantastischen Märchens. Seine einzige Absicht ist, »das
+eigentliche Wesen der Poesie auszusprechen und ihre innerste Absicht
+zu erklären«. Ihm wandelt sich alles in Poesie; denn sie ist der
+Geist, der alle Dinge belebt. Eben in diesem Wesen der Poesie liegt
+es ihm beschlossen, daß in seiner Dichtung Zeit und Raum aufhören.
+~Tieck~, dessen Worte ich eben schon mehrfach benützt habe, weiß
+diese Denkart trefflich zu schildern:
+
+»Dem Dichter, welcher das Wesen seiner Kunst im Mittelpunkt ergriffen
+hat, erscheint nichts widersprechend und fremd, ihm sind die Rätsel
+gelöst, durch die Magie der Phantasie kann er alle Zeitalter und
+Welten verknüpfen, die Wunder verschwinden und alles verwandelt sich
+in Wunder.«
+
+Das, was der erste Teil dieses wirklich wunderbaren Romans gibt,
+ist nun freilich von gewaltiger dichterischer Schönheit. Gleich im
+Eingang wird ein Traum berichtet, dessen Verlauf für die Entwicklung
+des Romans bedeutsam ist; Heinrich schaut in ihm die blaue Blume der
+wirklichen Dichtung. Erst durchlebte er im Traum ein unendlich buntes
+Leben, starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft und
+war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen
+Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner
+Seele; klarer und bleibender wurden die Bilder ... Nach wunderbaren
+Wegen kommt er endlich zur Stätte der blauen Blume.
+
+»Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger
+Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als
+das gewöhnliche; der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn
+aber mit voller Macht anzog, war eine hohe, lichtblaue Blume, die
+zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden
+Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von
+allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah
+nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer
+Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal
+sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender
+und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich
+nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten
+Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.«
+
+Diese blaue Blume, die Poesie, bildet das Ziel der Gesamtentwicklung
+des Dichters. Am letzten Ende kommt Heinrich »in jenes wunderbare
+Land, in welchem Luft und Wasser, Blumen und Tiere von ganz
+verschiedener Art sind, als in unserer irdischen Natur.« »Menschen,
+Tiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Elemente, Töne, Farben kommen
+zusammen wie Eine Familie, handeln und sprechen wie Ein Geschlecht.
+-- Blumen und Tiere sprechen über den Menschen. -- Die Märchenwelt
+wird ganz sichtbar, die wirkliche Welt selbst wird wie ein Märchen
+angesehen.« In diesem Land findet Heinrich die blaue Blume, --
+freilich nicht ohne daß nun an diese Blume Allegorie um Allegorie
+sich anschließen. Die blaue Blume ist »Mathilde, die schläft und den
+Karfunkel hat; ein kleines Mädchen, sein und Mathildens Kind, sitzt
+bei einem Sarge und verjüngt ihn. -- Dieses Kind ist die Urwelt, die
+goldene Zeit am Ende.«
+
+Eine Probe dichterischer Schöpfungskraft ist dieser Traum von der
+blauen Blume; eine Probe wunderbar in Phantastik und Allegoristik
+verschwimmender Darstellung ist die Erzählung von der Auffindung
+dieser blauen Blume, wie sie eben kurz angedeutet ward. Das ist ja
+eben das Wesen des ganzen Fragments: ~dichterische Herrlichkeit,
+vermählt mit märchenhafter Unmöglichkeit~. Im Sinne des Dichters
+ist diese Vermählung natürlich; ihm liegt die Poesie weit hinaus über
+die Welt des Wirklichen. Im Sinne der Romantik ist diese Verbindung
+verständlich; Novalis hat die romantische Art nur bis zur äußersten
+Spitze getrieben. Alles Wirkliche, alles Tatsächliche liegt hinter
+ihm in wesenlosem Scheine. Wir aber fragen, ob wirklich Poesie
+und Märchenwelt untrennbar verbunden sind, ob der Haß gegen die
+Tatsachen, der in dieser Liebe für das Wunderbare beschlossen ist, zum
+eigentlichen Wesen der Poesie gehört. Vor allem aber ist der »Heinrich
+von Ofterdingen« durch diesen Haß alles andere als ein Roman geworden.
+Nichts von Welt und Zeit, nichts von Handlung und Empfindung, nichts
+von Entwicklung und Psychologie. ~Der gefeiertste Roman der Romantik
+ist ein mystisch-allegorisches Märchenwerk, aber nun und nimmer ein
+Roman.~
+
+Was für ein anderes Leben in einer weiteren Schöpfung der Romantik,
+die gerade des Gegensatzes wegen unmittelbar neben den »Heinrich
+von Ofterdingen« gestellt sein mag, -- in ~Joseph Freiherrn
+von Eichendorffs~ reizender Novelle »~Aus dem Leben eines
+Taugenichts~«. Dort alles ernste, tiefe, getragene Poesie; hier
+alles frische, fröhliche, muntere Laune. Das Rad an der Mühle braust
+und rauscht lustig, die Goldammer am Fenster ruft gleichfalls lustig:
+»Bauer, behalt deinen Dienst!« und der Müllerssohn zieht mit seiner
+Geige und ein paar Groschen Geld zufrieden in die weite Welt hinaus.
+
+ »Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
+ Den schickt er in die weite Welt,
+ Dem will er seine Wunder weisen
+ In Berg und Wald und Strom und Feld!«
+
+Was erlebt der Wandersmann nicht alles in der weiten Welt! Ein paar
+schöne Damen heißen ihn auf ihrer Kutsche aufsitzen; im Schlosse,
+da sie wohnen, wird er Gärtner und huldigt der »schönen gnädigen
+Frau«; und die gnädige Frau nimmt seine Huldigung an. Er avanciert
+zum Zolleinnehmer und führt ein Leben in Nichtstun und Verehrung der
+»schönen gnädigen Frau«. Bis er seine Angebetete einst an der Seite
+eines jungen Herrn auf des Schlosses Balkon erscheinen sieht. Da läßt
+er alle Bequemlichkeit im Stich und zieht wieder mit der Fiedel ins
+Land. Er kommt nach Italien und in ein schönes Schloß und wird dort
+gehegt und gepflegt und entflieht wieder, weil er eingesperrt wird,
+und kommt nach Rom und glaubt seine »schöne gnädige Frau« zu sehen und
+findet sie doch nicht. Aber auf eine Botschaft hin kehrt er zu jenem
+ersten Schloß bei Wien zurück und erhält die Hand der gnädigen Frau,
+-- nur daß sie keine Gräfin ist, wie er geglaubt, sondern die Nichte
+des Portiers. Aber was tut das? Sie lassen die ganze andere Welt um
+sich untergehn und haben sich lieb und alles, alles ist gut! Durch die
+ganze Erzählung hindurch ists ja von Abenteuer zu Abenteuer gegangen;
+der Taugenichts ist von Ort zu Ort und von Land zu Land gekommen und
+hat nicht gewußt, wie ihm geschah und der Leser hats ebenso wenig
+gewußt. Nur eins hat er gemerkt, daß es auf jeder Seite klingt wie
+Lieb und Lust, wie Jubel und Jauchzen, wie Lerchenzwitschern und
+wunderbar schöner Gesang. Und das hat er gelernt, daß es dem Dichter
+nicht darauf ankommt, ein Stückchen zu berichten, wie es geschehen
+sein könnte oder etwa noch einmal vor sich gehen möchte, sondern daß
+ihm die Laune die Feder geführt und der Übermut in allen Fingern
+gezuckt hat, weil er -- ob noch so wunderlich und noch so toll -- dies
+allein zeigen wollte:
+
+»Die Liebe -- darüber sind nun alle Gelehrten einig -- ist eine der
+kouragiösesten Eigenschaften des menschlichen Herzens, die Bastionen
+von Rang und Stand schmettert sie mit einem Feuerblicke darnieder,
+die Welt ist ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja, sie ist
+eigentlich ein Poetenmantel, den jeder Phantast einmal in der kalten
+Welt umnimmt, um nach Arkadien auszuwandern. Und je entfernter zwei
+getrennte Verliebte von einander wandern, in desto anständigeren Bogen
+bläst der Reisewind den schillernden Mantel hinter ihnen auf, desto
+kühner und überraschender entwickelt sich der Faltenwurf, desto länger
+und länger wächst der Talar den Liebenden hinten nach, so daß ein
+Neutraler nicht über Land gehen kann, ohne unversehens auf ein paar
+solche Schleppen zu treten.«
+
+Nun, was Eichendorff gewollt, das ist ihm trefflich gelungen. Wer
+zieht nicht gern mit dem Taugenichts in die Welt? Wer singt nicht mit
+ihm aus vollem Herzen:
+
+ »Die Bächlein von den Bergen springen,
+ Die Lerchen schwirren hoch vor Lust,
+ Was sollt' ich nicht mit ihnen singen
+ Aus voller Kehl' und frischer Brust?«
+
+Wem wendet sich nicht das Herz um, wenn die allerschönste Dame die
+Gitarre in den weißen Arm nimmt und dazu so wundersam über den Garten
+hinaus singt? Wer möchte nicht mit dem Taugenichts weinen, weil
+~sie~ so schön ist und er so arm und verspottet und verlassen
+von der Welt? Wer säße nicht gern mit ihm auf dem Bänkchen vor seinem
+Einnehmerhaus, wenn die Sonne eben untergeht und das ganze Land
+mit Glanz und Schimmer bedeckt und die Donau sich prächtig wie von
+lauter Gold und Feuer in die weite Ferne schlängelt und von allen
+Bergen bis tief ins Land hinein die Winzer singen und jauchzen? Und
+so folgen wir ihm willig auch weiter, und kein Abenteuer ist uns zu
+sonderbar und kein Rätsel zu toll; es ist eben ein Dichter von Gottes
+Gnaden, der uns ins Wunderland führt. Es bedarf ordentlich erst
+des Zwanges der Selbstbesinnung, um von dem holden Traum, den wir
+mitgeträumt, zu erwachen. Ists nicht besser, weiter zu träumen -- ins
+Unendliche hinein? Hat die Dichtung nicht ihre Aufgabe gelöst, wenn
+sie uns die harte Wirklichkeit vergessen lehrt? Für die Romantiker:
+ja. Von ihrem Standpunkt aus bedeutet die liebenswürdige Novelle
+Eichendorffs einen Wurf von hoher Vollendung. Für uns andere aber
+beginnt mit dem Erwachen auch die harte Pflicht des Zweifels. Nicht
+etwa des Zweifels an der poetischen Schönheit und Lieblichkeit. Aber
+des Zweifels, ob ein Werk den Namen Novelle mit Recht trage, welches
+vielmehr ein Märchen ist denn eine Erzählung. Es bedarf ja keines
+weiteren Wortes darüber: von der wirklichen Welt, in der wir leben,
+führt uns Eichendorffs lustige Laune gerade so weit ab wie Novalis
+mystische Allegorienfreude. Und wenn man der erzählenden Dichtung,
+dem Roman wie der Novelle, das Gebiet der wirklichen Welt zuweist,
+mit der Bestimmung, sie mit dichterischer Kunst zu durchdringen und
+darzustellen, dann liegt auch Eichendorffs »Aus dem Leben eines
+Taugenichts« weit, weit ab vom klar gezeichneten Wege.
+
+Es ist nicht möglich, ein vollständiges Bild der romantischen
+Prosadichtung zu geben, ohne in die Schilderung wenigstens eine
+knappe Skizze von ~Friedrich von Schlegels~ »~Lucinde~«
+aufzunehmen. Diese Sammlung von Fragmenten zu einem Roman hat zu
+viel Anlaß zu Streit und Widerstreit, zu Begeisterung und deutlicher
+Ablehnung gegeben, sie ist zugleich allzu charakteristisch für weite
+und breite Strömungen innerhalb der romantisch gestimmten Kreise,
+als daß sie hier übergangen werden könnte. ~Schleiermacher~ hat
+einst, bald nach ihrem 1799 erfolgten Erscheinen, in »Vertrauten
+Briefen über Schlegels Lucinde« sie ein »ernstes, würdiges und
+tugendhaftes Werk« genannt. Aber auch ~Schleiermacher~ stand
+damals im Bann der Romantik; und sein Urteil war kein objektives.
+Max ~Koch~ nennt das Buch sehr treffend eine »kraft- und
+formlose Empfehlung der freien Liebe«. Aber lassen wir das Urteil
+vom Standpunkt der Moral einmal ganz beiseit, wie wir auch bisher
+nicht den Maßstab bestimmter Anschauungen angelegt haben! Was ists
+eigentlich um die »Lucinde«?
+
+Eine Reihe von äußerlich nicht zusammenhängenden Skizzen zieht am
+Leser vorüber; gemeinsam ist ihnen der Titel: Bekenntnisse eines
+Ungeschickten. Es sind Briefe, Phantasien, eine »Allegorie von der
+Frechheit«, eine »Idylle über den Müßiggang«, Betrachtungen und,
+unter dem Titel »Lehrjahre der Männlichkeit«, eine zusammenhängende
+Schilderung. Julius ist der Held derselben. Ein völlig zerrütteter,
+haltloser, dekadenter Charakter. »Eine Liebe ohne Gegenstand brannte
+in ihm und zerrüttete sein Inneres. Bei dem geringsten Anlaß brachen
+die Flammen der Leidenschaft aus; aber bald schien diese aus Stolz
+oder aus Eigensinn ihren Gegenstand selbst zu verschmähen, und wandte
+sich mit verdoppeltem Grimm zurück in sich und auf ihn, um da am Mark
+des Herzens zu zehren.« »Es war ihm, als wollte er eine Welt umarmen
+und könne nichts greifen. Und so verwilderte er denn immer mehr und
+mehr aus unbefriedigter Sehnsucht, ward sinnlich aus Verzweiflung am
+Geistigen, beging unkluge Handlungen aus Trotz gegen das Schicksal
+und war wirklich mit einer Art von Treuherzigkeit unsittlich.« Die
+Art, wie er liebt, bildet den Stoff der weiteren Erzählung. Er liebt
+ein edles Mädchen, aber er kommt in dem Augenblick zur Besinnung, wo
+er den Blütenkranz der Unschuld mutwillig hatte zerreißen wollen. Er
+wirft sich an ein Weib weg, das am freiesten lebt und am meisten in
+der guten Gesellschaft glänzt. Als er mit ihr bricht, gibt sie sich
+den Tod. Er findet zuletzt in Lucinde eine gleichgestimmte Seele.
+»Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte
+sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer
+mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt
+leben, sondern in einer eignen, selbstgedachten und selbstgebildeten.
+Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich
+für sie, alles andere nichts; und sie wußte, was Wert hat. Auch sie
+hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande
+zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig.« Beide finden sich
+in schrankenloser, nun aber dauernder Liebe, deren Beschreibung auch
+in den Briefen und Skizzen immer wieder den Grundton abgibt. Sie
+sammeln um sich eine Zahl Ähnlichdenkender, eine freie Gesellschaft
+oder eine große Familie. Aber die volle Harmonie findet Julius auch in
+der Anregung seines Geistes »allein in Lucindens Seele, wo die Keime
+alles Herrlichen und alles Heiligen nur auf den Strahl seines Geistes
+warteten, um sich zur schönsten Religion zu entfalten.«
+
+Aber diese Inhaltsangabe stellt noch nicht die ganze Art des
+merkwürdigen Buches klar. Seine Eigentümlichkeit besteht nicht in
+dem Bruchstückartigen, nicht in den beschriebenen Liebesbegebnissen,
+sondern in der Schilderung selbst. In ihr einen sich Schwärmerei und
+Sinnlichkeit zu einem schwülstigen Ganzen. Es fehlt dem Helden an
+jeder Selbstbeherrschung, an jeder Selbstzucht. Phantasie wie Wünsche
+sind bei ihm gleich ausschweifend. Er verabscheut die entfernteste
+Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, -- womit natürlich die Ehe
+gemeint ist, -- wie jede Art von Zwang. Er ist dem kaum der Kindheit
+entwachsenen Mädchen gegenüber einfach gewissenlos; aber auch im
+Verkehr mit Lucinde spielt ungezügelte Sinnlichkeit eine erschreckende
+Rolle. Umwoben aber sind alle diese Schilderungen mit einem Schwulst
+von überschwänglichen Worten, von himmelstürmenden Tiraden.
+
+Ich verzichte auf eingehendere Beschreibung. Lucinde durfte nicht
+übergangen werden: diese leidenschaftliche, in schöngeistiges
+Gewand gehüllte Sinnlichkeit ist ja eben bezeichnend auch für die
+romantische Dichtung. Zugestanden mag sein, daß Lucinde etwas mehr
+mit der Wirklichkeit zu schaffen hat als der Heinrich von Ofterdingen
+und als Eichendorffs Taugenichts. Die Lucinde ist nicht ohne
+psychologische Ansätze. Sie hat Ähnlichkeiten mit Werther. Aber sie
+hat das Ungesunde von ihm hergenommen und ins Unreine hin verzerrt.
+Werther mit seiner krankhaft gesteigerten Leidenschaft steht immer
+noch hoch über ~der~ Leidenschaft, mit welcher Schlegel seinen
+Julius alle Moral, allen Anstand, alle Sitte beiseite werfen läßt. Es
+sind nicht Lehrjahre der Männlichkeit, wie er selber sie nennt; die
+»Allegorie von der Frechheit« ist viel bezeichnender für das Ganze.
+Und schließlich ist, trotz der unfraglich vorhandenen Berührung mit
+der Wirklichkeit, auch die Lucinde ein Buch der Unwirklichkeit: von
+Menschen redet sie, die nichts zu tun haben, die kein Zwang des Berufs
+fesselt und die jeden anderen Zwang bewußt abschütteln.
+
+Die romantische Prosadichtung ist reich an Spielarten. Eine Spielart,
+wie sie der vielgelesene, von Ostpreußen nach Berlin verpflanzte Ernst
+Theodor ~Amadeus Hoffmann~ vertrat, den man wohl den genialsten
+Erzähler der Romantik genannt hat, darf bei ihrer Charakterisierung
+nicht außer Betracht bleiben. Amadeus Hoffmann ist ein Vielschreiber
+gewesen; und seine Erzählungen tragen längst nicht alle den gleichen
+Stempel. Er war wirklich genial; und seine Genialität zeigte sich
+auch in vielseitiger Kraft. Satire, Ironie, Humor, Realistik sind ihm
+nicht fremd; und wo von diesen Gottesgaben etwas sich findet, da ist
+er noch heut zu bewundern. Aber den Grundton seiner Schöpfungen geben
+sie alle nicht an. Im Innersten sind sie durch und durch phantastisch.
+Aber nicht phantastisch im Sinne von Novalis, der in die wundervolle
+Märchenwelt führt, nicht phantastisch in der Art der sonnigen,
+unbekümmerten Fröhlichkeit Eichendorffs, auch nicht nach der Methode
+der geistig-sinnlichen Überschwänglichkeit Schlegels. Seine Phantastik
+trägt den Sondercharakter des Geheimnisvollen, Schauerlichen,
+Unheimlichen. Wohl knüpft er überall an die Verhältnisse des
+wirklichen Lebens an, darin ganz anders verfahrend als Novalis
+und auch als Eichendorff. Wohl spielen die sehr natürlichen
+Leidenschaften auch bei ihm eine große Rolle; und seine Menschen sind
+in ~dieser~ Hinsicht eben Menschen, wirkliche Menschen. Aber er
+verknüpft mit diesem Tatsächlichen soviel Grauenhaft-Unnatürliches,
+daß ihm der Beiname »Teufels-Hoffmann« nicht mit Unrecht gegeben
+worden ist.
+
+Beispielshalber wenigstens eine kurze Skizze eines seiner
+Teufels-Werke, der »~Elixiere des Teufels~«. Ein Klosterbruder
+bewahrt unter den Klosterreliquien auch eine Flasche, die einst der
+Teufel selbst aus seinem Mantel dem heiligen Antonius zurückgelassen.
+Wer von dem in dieser Flasche enthaltenen Elixier kostet, der
+ergibt sich dem Teufel und seinem Reiche. Der Bruder Medardus ist
+ein Prediger, zu dessen Predigten die Leute in Haufen strömen. Da
+erscheint ihm mitten in begeisterter Rede eine furchtbare Gestalt, in
+der er den »fremden Maler« zu erkennen glaubt, der vor langen Zeiten
+die Kirche seiner Geburtsstätte mit wunderbaren Bildern geschmückt.
+Wie er nun die Gestalt an einem Eckpfeiler lehnen sieht, will
+Medardus nicht hinschauen. Aber ob er will oder nicht, er ~muß~.
+
+»Wie von einer fremden, zauberischen Gewalt getrieben, mußte ich immer
+wieder hinschauen, und immer starr und bewegungslos stand der Mann
+da, den gespenstischen Blick auf mich gerichtet. So wie bitterer Hohn
+-- verachtender Haß, lag es auf der hohen, gefurchten Stirn, in dem
+herabgezogenen Munde. Die ganze Gestalt hatte etwas Furchtbares, --
+Entsetzliches! -- Ja! -- es war der unbekannte Maler aus der heiligen
+Linde. Ich fühlte mich, wie von eiskalten grausigen Fäusten gepackt --
+Tropfen des Angstschweißes standen auf meiner Stirn -- meine Perioden
+stockten -- immer verwirrter und verwirrter wurden meine Reden -- es
+entstand ein Flüstern -- ein Gemurmel in der Kirche -- aber starr und
+unbeweglich lehnte der fürchterliche Fremde am Pfeiler, den stieren
+Blick auf mich gerichtet. Da schrie ich auf in der Höllenangst
+wahnsinniger Verzweiflung: »Ha Verruchter! Hebe dich weg! -- hebe dich
+weg -- denn ich bin es selbst! -- ich bin der heilige Antonius!««
+
+Von dieser Stunde an ist die Kraft des Bruder Medardus gebrochen.
+Sie wiederzugewinnen, trinkt er endlich vom Teufelselixier. Neues
+Leben strömt nun durch seine Adern. Aber es ist ein Leben, in dem
+der Böse Herrschaft hat. Er läßt Kloster und Möncherei, er gerät
+in die wildesten Abenteuer, er wird zum Ehebrecher und Mörder; ein
+Wahnsinniger ahnt in ihm den Bösen; mitten in fröhlicher Gesellschaft
+starren ihm wieder die Züge jenes fürchterlichen Unbekannten entgegen;
+er trifft in ländlichem Försterhaus in einsamer Stille einen
+wahnsinnigen Kapuziner, der nichts anderes ist als sein Doppelgänger,
+dessen Erscheinung sein eigenes Ich in verzerrten, gräßlichen Zügen
+reflektiert. Äußerlich macht er sein Glück: des Bösen Gewalt läßt ihn
+auf der Jagd treffen, ohne daß er gezielt, läßt ihn am Fürstenhof im
+Glücksspiel fabelhafte Gewinne einheimsen. Dann wird er erkannt,
+man stellt ihn vor Gericht; aber alle Verbrechen häuft man auf jenen
+gräßlichen Doppelgänger, während Medardus selber frei ausgeht. Und so
+geht es weiter zwischen den grauenvollsten Schrecklichkeiten durch;
+Wahnsinn, Visionen, Leidenschaft, Verbrechen, Mysterien aller Art
+führen einen wilden Reigen auf. Medardus kehrt endlich nach langer
+Buße ins Kloster zurück und stirbt dort nach einem wahren Hexentanz
+von gespenstischen Ungeheuerlichkeiten eines frommen Todes.
+
+Diese Inhaltsangabe gibt nur ein ganz, ganz mageres Gerippe des
+vielverschlungenen Romans. Aber sie läßt doch erkennen, wie alles in
+demselben aufs Grauenhaft-Phantastische angelegt ist. Der Boden der
+Wirklichkeit ist ganz und völlig verlassen. In anderen Erzählungen
+tritt eine andere Methode hervor, ~wie~ die Wirklichkeit verzerrt
+wird; aber verzerrt wird sie überall. Ob es mehr lustige Tollheit
+ist, die ihn mit seinen Figuren umspringen läßt, als seien sie
+nicht an die Gesetze dieser Welt gebunden, ob es mehr phantastische
+Karikaturkunst ist, die seiner Satire dienen muß, -- überall ists das
+Gegenteil klarer Wirklichkeit, was regiert. Er hat es verstanden,
+nervenspannende, ja nervenerschütternde Wirkungen zu erzielen; -- ich
+rate noch heute Niemandem, der über schwache Nerven verfügt, mit ihm
+nähere Bekanntschaft zu machen. Er ist unerschöpflich in Erfindung
+und unübertroffen in Plastik der Darstellung; aber das alles kann das
+Urteil nicht ändern, daß auch seine Romane und Erzählungen von der
+Aufgabe des Romans, ein Bild der Welt zu zeichnen, himmelweit entfernt
+sind.
+
+Auch die bekannte Erzählung ~Heinrich von Kleists~: ~Michael
+Kohlhaas~ gehört ins Gebiet der Romantik. Auch sie sucht ihre
+Wirkung im starken, auch im erschütternden Eindruck. Aber Michael
+Kohlhaas ist doch von ganz anderem Holz als die Spukgestalten des
+Teufels-Hoffmann. Der Roßhändler Kohlhaas ist eines Schulmeisters
+Sohn und das Muster eines guten Staatsbürgers. Die Kinder, die ihm
+sein Weib schenkt, erzieht er in der Furcht Gottes zur Arbeitsamkeit
+und Treue. Er läßt gezwungenermaßen als Pfand für einen zu lösenden
+Paßschein ein Paar Rappen im Gewahrsam des Junkers von Tronka. Die
+Pferde werden ihm malträtiert, der Knecht, der sie besorgen soll,
+wird mißhandelt. Die herabgekommenen Rappen nimmt Kohlhaas nicht an;
+er legt sich jetzt aufs Prozessieren und beschließt, da er nirgends
+Recht bekommen kann, endlich, sich selber Recht zu schaffen. Und nun
+wird er zum Räuber und Mordbrenner, der das Schloß des Junkers in
+Flammen aufgehen läßt, der mehr als eine Stadt, in welche der Junker
+geflüchtet, einäschert, der den Schrecken der ganzen Gegend bildet.
+Luther selbst legt sich ins Mittel, um den Unhold zu bändigen; aber
+auch seine Mühe ist vergeblich. Kohlhaas führt Krieg mit Fürst und
+Staat und Gesellschaft. Endlich wird ihm sein Recht; und nun geht er
+ruhig in den Tod, der seine Freveltaten lohnt.
+
+Es ist nicht zu verkennen, daß die Romantik in diesem Buch wesentlich
+andere Bahnen einschlägt als in den vorher skizzierten Dichtungen.
+Auch hier dominiert das Außerordentliche, das Furchtbare. Aber wenn
+es auch allzu gehäuft und ins Gräßliche übertrieben ist, es bleibt
+durchaus im Zusammenhang mit dem wirklichen Geschehen. Bis auf ein
+paar mysteriöse Züge, ohne die es freilich nicht abgeht, ist alles
+Geschilderte in roher, gewalttätiger Zeit durchaus möglich. Die
+Erzählung sucht die Verbindung mit dem Leben festzuhalten. In der
+ganzen Absicht derselben aber liegt gewiß auch jene romantische
+Neigung, sich selber gegen Sitte und Brauch, gegen Mehrheit und Zwang
+durchzusetzen, -- eine Neigung, der wir in der Lucinde so gut begegnen
+wie in vielen anderen Dichtungen jener Zeit. Aber diese Neigung tritt
+hier weniger im Gewand der Selbstverständlichkeit auf; nicht als
+Führerin ins holde Traumland, in dem sich jeder seine Welt selber
+zimmert, sondern als bewußte, klare, in alle Konsequenzen durchführte
+Auflehnung gegen die Gesellschaft. Und endlich: es ist im Kohlhaas
+nicht subjektive Willkür, welche ihn zu dieser Auflehnung treibt,
+sondern es ist ein heiliges, eingeborenes und schließlich doch auch
+vom Dichter als allgemeingültig anerkanntes Rechtsgefühl, welches
+ihn zum Räuber und Mörder macht. Was er will, ist ja der Schutz der
+Gesetze. Wer ihm diesen versagt, der gibt ihm die Keule in die Hand,
+die ihn selbst schützt. Diese Besonderheit will wohl beachtet werden;
+das Trotzen auf sein Recht steht doch sicher höher als die zügellose,
+rasende Leidenschaft. Und dennoch bleibt es richtig: auch im Michael
+Kohlhaas ist der Mensch das Maß aller Dinge. Der Einzelne stellt sich
+außerhalb aller Ordnung, weil diese Ordnung ihn in einer einzigen
+Angelegenheit nicht schützt. Schließlich ist sein Verhalten in dem
+Plakat, welches Kleist von Luther erlassen sein läßt, doch richtig
+gezeichnet:
+
+»Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der
+Gerechtigkeit zu handhaben, was unterfängst du dich, Vermessener, im
+Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, du, den Ungerechtigkeit selbst
+vom Scheitel bis zur Zehe erfüllt? Weil der Landesherr dir, dem du
+untertan bist, dein Recht verweigert hat, erhebst du dich, Heilloser,
+mit Feuer und Schwert und brichst wie der Wolf der Wüste in die
+freundliche Gemeinheit, die er beschirmt.« --
+
+Die nähere Beziehung jedoch, die Kleists Novelle zu den
+Tatsachen unterhält, zeigt sich auch in ihrer Schreibart. Nichts
+Unklar-Verschwommenes, nur massiv und prägnant Herausgearbeitetes.
+Keine wortreichen Ergüsse; die Tatsachen schaffen die Stimmung. Es
+kann kein Zweifel darüber sein, daß gerade diese von der strengsten
+Romantik sich entfernende Art dem Michael Kohlhaas ein gut Teil seiner
+Wirkung gesichert hat.
+
+Noch enger werden die Beziehungen der romantischen Dichtung zur
+Geschichte in dem Roman »~Die Kronenwächter~« von Achim ~von
+Arnim~. Indes wir werden von diesem farbenprächtigen, wunderschön
+und wunderreich geschmückten Roman in dem Vortrag noch zu sprechen
+haben, der den historischen Roman behandeln wird.
+
+Die Romantik -- das hat auch meine knappe Skizze zu zeigen versucht
+-- ist nicht auf eine einheitliche Formel zu bringen. Sie geht
+sehr mannigfaltige Wege und verfügt über eine reiche Zahl von
+verschiedenen Farben. Was ist das Gemeinsame aller ihrer Schöpfungen?
+~Daß nirgend das klare, freie, helle Tageslicht der Wirklichkeit
+herrscht.~ »Heinrich von Ofterdingen« lebt ganz in einer anderen
+Welt; ~diese~ Welt ist nur dazu da, daß der Dichter zu seiner
+Vollendung komme. Von diesem Extrem aus führen viele Stufen zur
+Wirklichkeit hinab. Aber auch wo die Geschichte, die Tatsache stark
+mitspricht, wird sie doch nicht dargestellt, wie sie ist; überall wird
+sie ein wenig ins Geheimnisvolle getaucht, ins Poetische verklärt oder
+ins Ungeheuerliche vergrößert. Die Phantasie ist die Hauptkraft der
+Romantik.
+
+Nur eine kleine Zahl von Typen der romantischen Dichtung konnte ich
+skizzieren. Aber das Bild würde sich nicht wesentlich verändern, wenn
+ich weitere Werke zu zeichnen suchte. Vielleicht würde ihm zu größerer
+Deutlichkeit hie und da noch ein Strich hinzugefügt werden können.
+Wilhelm ~Hauff~, dessen »~Lichtenstein~« noch in anderer
+Umgebung zu nennen sein wird, hat in seinen »Memoiren des Satans«
+und sonst dem Sonderbaren und Unheimlichen durch feinen Humor alles
+Schreckliche genommen; die nervenerschütternden Gräßlichkeiten des
+Amadeus Hoffmann fehlen, und wir verkehren selbst mit dem Satan ganz
+gern, ohne daß ein Schauder uns überkommt. Von jener Literatur der
+neuerwachten Ritter- und Räuberromane, die das Romantische vergröberte
+und zugleich der dichterischen Verklärung beraubte, sei hier erst
+gar nicht gesprochen.
+
+Goethe schuf zwischen dem Roman und der wirklichen Welt deutlichen
+Zusammenhang. Die Romantik ist andere Wege gegangen. Diesen
+Zusammenhang hat sie gelockert, gelöst, ignoriert. Sie hat es im
+Namen einer höheren Macht getan, der Poesie. Aber es war doch ein
+Irrtum, daß sie glaubte, Poesie und Wirklichkeit vertrügen sich nicht.
+Und dieser Irrtum hat die Romantik unfähig gemacht, einen Roman im
+Vollsinn des Wortes zu schaffen. Sie schuf Märchen und Allegorien und
+Phantasien und Schauergeschichten und -- im besten Fall -- liebliche
+Traumbilder, aber keine Romane. Sie machte Gedanken und Stimmungen und
+maßlose Leidenschaften zu ihrem Thema, aber das eigentliche Leben, das
+vielverzweigte, blieb ihr fremd.
+
+Man glaubt manchmal, der Roman habe das zum Stoff, was im gewöhnlichen
+Wortverstand, der eben schon ein Mißverstand ist, »romanhaft« sei.
+Die Romantik scheint diesen Irrtum zu bestätigen, wenn anders man
+in ihr den Maßstab für das Wesen des Romans sucht. Aber gerade das
+wäre falsch. Richtig werden wir ihr Verhältnis zum Roman und zugleich
+dessen Verhältnis zum Romanhaften so formulieren:
+
+~Die Romantik pflegte das Romanhafte und schuf deshalb keinen
+Roman.~
+
+
+
+
+ Die Volkserzählung.
+
+
+Die romantische Dichtung ließ ihre Helden ausziehen, damit sie in
+geheimnisvollem Zauberland die blaue Blume suchten. Eine blaue Blume
+im Zauberland -- das ist ihr die Poesie. Wir wundern uns nicht, daß
+die Novalisnaturen sie nicht anders zu verstehen vermochten. Wo sollte
+zur Zeit, da Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen schrieb, die
+Dichtung anders wohnen als im Zauberland? Im Land der Wirklichkeit
+wohnte ja die Aufklärung, wohnten die schön plattgetretenen Ideen von
+Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wohnte die Religion innerhalb der
+Grenzen der bloßen Vernunft. Im Lande der Wirklichkeit regierte das
+grelle, pralle Sonnenlicht der vernünftigen Überlegung. Kein Wunder,
+daß mancher da lieber ein Quantum mystisches Dunkel in Kauf nahm, als
+daß er sich von diesem Sonnenglanz Gemüt und Phantasie ausdörren ließ.
+Die größten unter den Dichtern verstanden es freilich, mitten in der
+Welt zu bleiben und doch Dichter zu sein. Aber die Kleineren mußten
+ihre Dichtkunst ins Zauberland retten.
+
+Die Zeiten, da der Schlüssel Vernunft alle Schlösser schloß, gingen
+vorüber. Die Menschen, die nach der blauen Blume suchten, fanden durch
+die Not der Zeit wichtigere Aufgaben einer schleunigen Lösung harrend.
+Schon hatten die harten Kriegsjahre mit eherner Faust an die Pforten
+geschlagen, hinter denen die Weltflüchtigen ihren Träumen nachgingen.
+Manch einer blieb wach; andere fielen wieder in ihre Träume zurück.
+Auch nachdem das napoleonische Ungewitter ausgetobt hatte, war ihnen
+die lebendige Welt noch nicht schön genug, um darin zu leben. Und
+sie begriffen noch nicht, daß auch der Dichter, wenn ihn der Zeit
+Lauf nicht fröhlich stimmte, Besseres tun konnte als träumen. Aber
+je mehr das neunzehnte Jahrhundert voranging, um so klarer erwachte
+das ~Wirklichkeitsbewußtsein~. Und wie durchs ganze deutsche
+Volk immer klarer ein Geist der Kritik am Bestehenden und ein Geist
+des sehnenden Schaffens am Neuen zog, so auch durch die Dichtung, und
+nicht zum mindesten durch die Prosadichtung, die am ersten berufen
+ist, der Wahrheit ins Angesicht zu sehen, zu tadeln und zu mahnen.
+
+Dieser neuerstandene Wirklichkeitsgeist aber betätigte sich alsbald
+nach drei sehr verschiedenen Richtungen hin. Zum ersten als ~Zeit-
+und Tendenzroman~, der ungestüm genug das Alte niederzureißen
+und ein Neues zu schaffen unternahm, der aber im Lauf der Zeiten
+ruhiger und objektiver geworden ist. Zum zweiten suchte eine starke
+Strömung bisher schier unbekannte Welt- und Menschengebiete zu
+erforschen und darzustellen; namentlich der ~Bauernstand~, ~das
+Landleben~ bot jungfräuliches Land. Und endlich griffen andere in
+die Wirklichkeit vergangener Zeiten zurück; es galt ihnen, früher
+Geschehenes der Gegenwart als Spiegel vorzuhalten oder auch einfach,
+in den abgründigen Tiefen der Geschichte Menschen zu studieren: der
+~historische Roman~. Es sind die drei großen Formen des modernen
+Romans, die alle um das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts Wurzel
+zu schlagen begannen, und die späterhin dann noch manche weitere
+Sonderart haben aus sich erwachsen lassen.
+
+Ich beginne hier mit der an zweiter Stelle genannten, mit der
+~Volkserzählung~.
+
+Nicht Entwicklung und Beziehungen will ich ausdeuten; es liegt
+mir auch hier nur eins an: die Haupttypen an den anschaulichsten
+Beispielen darzustellen. Und so greife ich drei Dichter heraus,
+denen ein vierter und fünfter ein wenig abseits sich zugesellen
+sollen. ~Immermanns~ Oberhof nenne ich zuerst: da haben wir
+die Volkserzählung in der Wiege. Jeremias ~Gotthelf~ und
+Berthold ~Auerbach~ folgen: zwei Haupttypen der ausgebildeten
+Volkserzählung. Ein wenig abseits stehen dann Otto ~Ludwig~ und
+Fritz ~Reuter~.
+
+Von ~Immermann~ besitzen wir große Zeitromane: die »Epigonen«
+und »~Münchhausen~«: letzterer stammt aus dem Jahre 1839. Es
+ist ein Roman von hergebrachtem Zuschnitt; der Nebentitel: »Eine
+Geschichte in Arabesken« ist bezeichnend. Nach Hebbels Urteil hat
+Immermann die fratzenhaften und nichtigen Bewegungen der Zeit, die
+sich doch ernsthaft geberden, abgespiegelt. Das Urteil ist ganz
+richtig; aber man darf jene Dorfnovelle nicht vergessen, die mitten
+in den Roman hineingestellt ist, mit ihm zwar verwoben, aber doch
+in jener lockeren Art, die es ermöglicht, das Stück vom Ganzen zu
+lösen, wie es denn weitaus den Meisten nur in dieser Loslösung
+unter dem Sondertitel »~Der Oberhof~« bekannt ist. Im Oberhof
+haben wir klare, scharfe Wirklichkeitszeichnung. »Nun das muß wahr
+sein,« heißt es einmal darin, »die Idyllenschreiber haben uns die
+Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die schäferlich-zarten, als die
+knolligen Kartoffelpoeten. Sie ist eine Sphäre, so mit derber Natur,
+wie mit Sitte und Zeremonie ausgefüllt, und gar nicht ohne Anmut und
+Zierlichkeit, nur liegt letztere wo anders, als wo sie in der Regel
+gesucht wird.« Der Schauplatz der Erzählung ist das westfälische
+Land, »der Boden, den seit mehr als tausend Jahren ein unvermischter
+Stamm trat,« ein westfälischer Hof, ein Richthof oder Oberhof, der
+älteste und vornehmste Hof einer westfälischen Bauerschaft. Um den
+Hof breitet sich alles Besitztum, welches eine große ländliche
+Wirtschaft nötig hat, aus: Feld, Wald, Wiese, unzerstückelt, in
+geschlossenem Zusammenhange. Auf diesem Hofe regiert der Hofschulze,
+eine Gestalt, deren Geltung zwar von den Mächten der Gegenwart nicht
+anerkannt wird, welche aber für sich selbst und bei ihres Gleichen
+einen längstverschwundenen Zustand auf einige Zeit wiederherstellt.
+In seinem Besitz ist das alte Waffenstück, welches er mit eiserner
+Festigkeit für das Schwert Karls des Großen erklärt, von dem es dem
+ersten Besitzer des Richthofs zum Zeichen der Investitur gegeben sei.
+Wie ein Fürst sitzt der Hofschulze auf seinem Oberhof; heimliche
+Vehmgerichte fällen unter seiner Leitung immer noch ihre Urteile.
+Seine Dienstboten weiß er patriarchalisch und energisch unter seiner
+Leitung zu halten: -- ich erinnere an die klassische Szene, in der
+jedes der Knechte und Mägde nach der Mittagsmahlzeit seinen Spruch
+erhält und des Abends die Gedanken mitteilen muß, die es sich darüber
+gemacht hat. Fest und unerschütterlich steht er auf dem alten Recht
+und der alten Sitte. Der Küster heischt vom Oberhof einen zweiten
+Käse; aber der Hofschulze, der auf reichem Hof, zwischen vollen
+Scheuern, vollen Böden und Ställen lebt, will von dieser Forderung
+nichts wissen: auf seinem Hof haftet nur ~ein~ Käse. Bei den
+Hochzeitsbräuchen, bei Einladung und Essen muß alles nach der alten
+Art gehen; weh dem, der, wie der Hochzeitbitter, etwas davon versäumt!
+Gegen Nachbarn, Freunde, Gevattern ist er zu allem bereit, aber sie
+müssen ihm auch immer etwas dafür leisten, und wäre es irgend ein
+kleiner Dienst von geringfügiger Bedeutung. Ein Freund der »Moralen«
+ist der Hofschulze. Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den
+Kindern! Der Mensch sündigt jederzeit, wenn er sich wider etwas setzt,
+was Herkommens ist bei Seinesgleichen. Im Ehestand ist garzuviel
+Liebe schädlich. Auf den Haus- und Ehestand verläßt sich aller
+Handel und Wandel, Nachbarhilfe und Ansprache, Christentum, Kirchen-
+und Schulzucht, Haus und Hof, Rind und Kind. Das sind Moralsätze
+des Hofschulzen; und wenn sie auch, wie der Jäger Oswald sagt,
+ziemlich hausbacken klingen, -- es ist doch ein gut Stück gesunden
+Menschenverstandes darin. Freilich, derselbe Hofschulze, dem das Recht
+ein so hochheiliges Ding ist, trägt ein Rechtsgefühl in der Brust,
+das dem des Michael Kohlhaas verzweifelt ähnlich sieht. Wenn ihm das
+Wild des benachbarten Grafen die Felder verwüstet, dann ist es kein
+Unrecht, auch ohne das Jagdrecht mit der Flinte Selbstschutz zu üben.
+
+»Was ist das überhaupt für ein Verbrechen, sein Eigentum gegen die
+Ungetüme, die es fressen und zu grunde richten, zu verdefendieren!
+rief er, indem plötzlich der lachende Ausdruck seines Gesichts in den
+des loderndsten Zornes überging. Die Stirnadern schwollen ihm an, das
+Blut trat dunkelrot in seine Wangen, die Augäpfel verloren ihr Weißes
+und wurden rötlich; man hätte vor dem Alten erschrecken können!«
+
+Der Hofschulze steht im Mittelpunkt der Oberhofnovelle. Aber auch, was
+sich um seine Gestalt herumrankt, ist gleich deutlich geschildert.
+Derb und wahr zeichnet Immermanns Stift; er beschönigt nichts und
+idealisiert nicht; die Sünden der Landbewohner kommen so gut zur
+Sprache wie ihre Tugenden. Ein kraftvolles, erdgewachsenes Geschlecht
+ists, das er abschildert, markig und zäh, steif und fest. Aber er hats
+mit alledem getroffen. Hier weht keine philosophische Luft; hier weben
+sich keine Träume, hier geschehen keine Wunder. Hier verschleiert die
+Poesie nichts, hier meidet sie nicht schamhaft das minder Schöne. Hier
+ist ihr ein heiliges Ahnen aufgegangen, wie sie im innersten Wesen
+verbunden ist mit der wahren und wirklichen Welt, die ihr Kraftquell
+und ihr Jungbrunnen zugleich ist.
+
+Ein ~Ahnen~ nur; wie sonderbar flechten sich die Oberhofkapitel
+in die Gänge des großen Romans mit seinen zerfahrenen Modegestalten
+ein! Ein vereinzelter Meisterwurf war diese Dorfnovelle; anderen war
+es vorbehalten, ihr in ihrer Eigenart zum Eigenrecht gesonderter
+Existenz zu helfen. Die beiden Dichter, denen dieser Ruhm gebührt,
+sind Jeremias Gotthelf und Berthold Auerbach.
+
+~Jeremias Gotthelf~ ist unserer Zeit lange ein Fremder geblieben.
+Erst neuerdings lernt man ihn besser würdigen. Nicht das geringste
+Verdienst an dieser besseren Erkenntnis hat Adolf ~Bartels~, dem
+die wärmsten Töne nicht warm genug scheinen, wenn er auf Gotthelf
+zu sprechen kommt. Daß er uns schwerer nahkommt als andere Dichter,
+liegt ja zum Teil an der schweizerischen Sprache. Albert Bitzius, ein
+Pfarrer aus dem Kanton Bern, versteckt sich bekanntlich hinter dem
+Pseudonym, das auf dem Titel seiner Bücher steht. Aber es liegt an
+der Sprache nicht allein; Fritz Reuters Sprache ist nicht leichter zu
+erfassen als die von Albert Bitzius. Es liegt wohl neben allerhand
+Zufälligkeiten auch daran, daß die Welt, die er so meisterhaft
+schildert, uns doch eben fremder ist, als die Welt eines Reuter.
+
+Schweizervolk schildert Jeremias Gotthelf wie in seinem Erstlingswerk
+»Der Bauernspiegel«, das zwei Jahre vor dem Immermannschen »Oberhof«
+das Licht der Welt erblickte, so in allen seinen späteren Erzählungen,
+von denen hier nur einige genannt sein mögen: »Uli der Knecht«, »Uli
+der Pächter«, »Leiden und Freuden eines Schulmeisters«, »Käthi die
+Großmutter«, »Elsi die seltsame Magd«, »Wie Joggeli eine Frau sucht«.
+Ganz scharf prägt sich seine Erzählweise bereits im »Bauernspiegel«
+aus. Da berichtet er aus seiner eigenen Jugend: vom wohlhabenden Hof
+des Großvaters, auf dem er die ersten Jahre verbracht, vom harten
+Mühen des Vaters in eigener Pacht, wie er nach des Vaters Tod von der
+Gemeinde vergeben wird und was für verschiedene Bauernhäuser er so
+kennen lernt, wie er dann zum Knecht emporwächst und im Ausland sein
+Heil sucht, schließlich aber nach der Julirevolution ins Vaterland
+zurückkommt. Fast alle Themata, welche er später behandelt, sind in
+diesem, das gesamte Leben des Schweizer Bauern umspannenden Roman
+schon angerührt; nur daß einzelne Seiten desselben dann in besonderen
+Erzählungen gründlicher und breiter besprochen werden. Aber überall
+regiert das Heimatsleben, die Schweizer Art, das Bauernwesen. Und
+eben darin liegt Jeremias Gotthelfs Kraft. Seine Erzählungen sind
+gar nicht reich an Handlung; kein größerer Gegensatz als der zwischen
+seiner ruhigen Nüchternheit und den phantastischen Schreckgeschichten
+eines Amadeus Hoffmann! Sie entbehren der spannenden Verwicklung;
+er verschmäht es, allerhand Knoten zu knüpfen, in deren Lösung der
+Dichter alsdann besondere Fingerfertigkeit aufweisen könnte. Wie
+einfach und schlicht geht der »Bauernspiegel« seinen Weg! Jede
+Episode im Leben des Kindes macht einen Abschnitt aus; jeder neue
+Bauernhof, auf den er für ein oder zwei Jahre kommt, ist als kleines
+Kabinettstück für sich gezeichnet. Keine Spannung, die nicht lediglich
+aus der Sache selber käme, aus der Anteilnahme an dem Menschenkind,
+das von sich berichtet und das von jung auf so mühsam durchs Leben
+gehen muß, und aus dem Interesse, welches die Menschen einflößen, mit
+denen es zu tun hat. Und alle diese Personen sind Alltagsmenschen,
+Durchschnittsgeschöpfe; da ist kein verwickeltes psychologisches
+Problem, da ist nichts Geheimnisvolles; im Gegenteil, alles ist
+sonnenklar. Wo ja etwas dunkel wäre, da leuchtet der Erzähler sicher
+alsbald dahinter, -- wie z. B. hinter das lichtscheue Treiben jenes
+guten Ehepaars, das mit Botengängen und Vermittlerdiensten, mit ein
+bischen Aberglauben und einem guten Teil Unredlichkeit sein Leben
+liederlich, aber angenehm zu fristen versteht. Die Schilderung mag
+manches Mal schier gar zu sehr in die Breite gehen; sie ist auch
+sicher nicht selten allzu nüchtern, vor allem wirkt sie zu stark
+moralisierend. Das ist vielleicht überhaupt die größte Schwäche des
+trefflichen Gotthelf, daß er den Leser die Moral nicht selber ziehen
+läßt, sondern daß er sie ihm aufdrängt. Der Hofschulze in Immermanns
+»Münchhausen« zog auch Moralen; und der Jäger nennt sie hausbacken.
+Aber sie sind doch noch poetischer als die erziehlichen Anwandlungen
+des Schweizer Erzählers.
+
+Sie werden zugeben, daß ich die äußere Erzählungskunst Gotthelfs
+nicht allzu rosig geschildert habe. Aber je weniger man sie rühmen
+kann, um so klarer werden seine eigentlichsten Vorzüge, oder, wie man
+mit gutem Grund sagen kann, sein eigentlicher Vorzug. Der besteht in
+der wunderbar engen Beziehung, in welcher er zum wirklichen Leben
+des Schweizer Bauern steht. Im ganzen Gotthelf nichts Unnatürliches,
+Gemachtes, Künstliches, Aufgebauschtes, Übertriebenes; überall nichts
+als Wirklichkeit, nichts als Natur. Seine einzige Kunst ist die, die
+Natur wiederzugeben; aber ~diese~ Kunst hat er aus dem Grunde
+verstanden. Er greift bis in die Tiefen der Natur, auch bis in die
+Tiefen des Gemüts. Er zeigt Roheit und Feinheit auf, Hartherzigkeit
+und Gutmütigkeit, Keuschheit und Reinheit, aber auch Sünde und
+Schande. Er schont seine Bauern nicht; von der Bauernidylle, die
+Immermann verabscheut, ist auch er himmelweit entfernt. Um das alles
+deutlicher zu machen, greife ich ein paar Bilder heraus, in denen
+Gotthelf Mädchentypen zeichnet. Da ist das Vreneli, das wunderliche,
+das mit dem Uli Hochzeit machen will und doch keinen Tag findet,
+an dem es ihm recht wäre, zum Pfarrer zu gehen, um die Hochzeit zu
+bestellen. Am Montag hatte das Vreneli seine Schuhe noch nicht vom
+Schuhmacher, am Dienstag schien ihm der Mond zu heiter. Alle Leute
+würden es ja kennen durch das ganze Dorf, sagte es. Am Mittwoch
+war das Zeichen im Kalender -- es war der Krebs -- ihm nicht gut
+genug, auch sei der Mittwoch ja eigentlich kein Tag, behauptete es.
+Es ziehe an diesem Tag ja kein Dienstmädchen ein, und so sei das
+Hochzeitangeben noch wichtiger als einen Dienst anzutreten, wo man
+ja das ganze Jahr daraus könne, wenn man wolle. Schließlich gehen
+sie denn am Donnerstag in fürchterlichem Schneegestöber, an einem
+Abend, wo der Wind schaurig pfeift und die Nacht dick und finster
+zu den Fenstern einkam. Und der Pfarrer sagt ihnen das treffende
+Wort: »Was von Gott kommt, das läßt sich alles tragen, wenn zwei in
+Gott eins sind, aber wenn der Eigensinn oder die Wunderlichkeit oder
+die Leidenschaft von Mann oder Weib Unglück über eine Ehe bringen,
+Ärgernis und Elend, und das Unschuldige muß mit aus dem bitteren Kelch
+trinken, muß bei jedem Zuge denken: daran ist mein Gatte schuld;
+wenn er nicht wäre oder anders wäre, so wäre das auch nicht, da
+wird das Leben ein Wermutstrank und der Gang durchs Leben ist noch
+viel ungestümer als euer heutiger Gang.« -- Da ist ferner Elsi, die
+seltsame Magd. »Elsi verrichtete, was sie zu tun hatte, nicht nur
+meisterhaft, sondern sie sah auch selbst, was zu tun war, und tat
+es ungeheißen, rasch und still, und wenn die Bäuerin sich umsah, so
+war alles schon abgetan, als wie von unsichtbaren Händen, als ob die
+Bergmännlein dagewesen wären.... Daneben hielt Elsi nichts auf Reden,
+hatte mit niemandem Umgang, und was sie sah im Hause oder hörte, das
+blieb bei ihr, keine Nachbarsfrau vernahm davon das Mindeste, sie
+mochte es anstellen, wie sie wollte. Mit dem Gesinde machte sich Elsi
+nicht gemein. Die rohen Späße der Knechte wies sie auf eine Weise
+zurück, daß sie dieselben nicht wiederholten, denn Elsi besaß eine
+Kraft, wie sie selten ist beim weiblichen Geschlechte, und dennoch
+ward sie von denselben nicht gehaßt.« -- Da sind die fünf Mädchen,
+»die im Branntwein umkommen«, freilich nicht anziehend, aber doch
+nach der Natur beschrieben, wie sie in der Schenke sitzen. »Die
+Wirtin brachte die Maß, die Mädchen schenkten ein; aber es sah aus
+wie Branntwein, es roch wie Branntwein, sie tranken es, wie man den
+Branntwein trinkt; ja wahrhaftig, es war Branntwein!« Unter ihnen ist
+Marei mit dem unverschämten Gesicht, dessen Züge nichts als Frechheit
+ausdrücken, da ist Elisabeth, unbeholfen und schwammig. »Stüdeli
+wurde das dritte genannt; es hatte ursprünglich schöne Züge, von
+der Seite sogar etwas Nobles. Aber erdfarb war seine Haut, blaß die
+Lippen, zahnlos und krankhaft groß der Mund und glanzlos die großen,
+tiefblauen Augen. Es war lang und hager, reinlich angezogen und tat
+zimperlich. Man sah ihm von weitem an, daß es eine Näherin war.
+Manchmal dünkte es Einem, als flackere etwas Besseres in ihm auf und
+als gieße es den Branntwein nur herunter, um das Bessere zu dämpfen,
+sich zu betäuben. Das gab ihm etwas Träumerisches, das aber immer mehr
+in etwas Stierendes ausartete, je länger es trank.«
+
+Doch genug der Einzelbilder! Jeremias Gotthelf ist groß in ruhiger,
+nüchterner, aber plastisch wahrer Wirklichkeitskunst. Erzählungen
+haben wir von ihm, nicht Romane: dazu fehlt seinen Schöpfungen die
+umfassende, vielseitige Art, die Kraft fortschreitender Handlung,
+die Spannung, welche in der Lösung von Fragen des Lebens und der
+Psychologie liegt. Die Helden dieser Erzählungen erleben mancherlei,
+tun mancherlei, aber das ist nicht die Hauptsache. Für Gotthelf dreht
+sich alles und jedes um die Frage: Wie ~sind~ die Menschen? Was
+tun sie, weil sie so geartet sind, weil diese Sitten sie binden? Mit
+anderen Worten: es ist ~keine Romankunst, aber Naturkunst~. Die
+Wirklichkeitswiedergabe aber ist überall von ernsten sittlichen Ideen
+getragen. Man hat gemeint, daß seine Kunst naturalistisch sei. Gewiß
+ist sie das; derb genug ist sie auch. Wäre sie es weniger gewesen, so
+wäre sie nicht wahr gewesen. Aber er ist nirgends bloß-naturalistisch;
+durch jede Schilderung auch des Schlimmen will er wirken, will er
+bessern.
+
+Neben Jeremias Gotthelf stelle ich unmittelbar Berthold ~Auerbach~,
+den Verfasser der »~Schwarzwälder Dorfgeschichten~«, deren erste 1843
+erschienen sind. Sie sind ja weithin bekannt geworden, bekannter als
+Jeremias Gotthelfs Schweizergeschichten. Ein paar Titel mögen hier
+Platz finden: Der Tolpatsch, Die Kriegspfeife, Des Schloßbauers Wefele,
+Befehlerles, Sträflinge, Luzifer, Die Frau Professorin. In Anlage
+und Umfang sind sie recht verschieden; manche sind kurz, skizzenhaft
+ausgeführte Anekdoten, andere wie die drei zuletzt genannten sind
+reicher ausgeführt, werfen Fragen auf und führen in Konflikte hinein.
+Es scheint mir möglich, Auerbachs Art an einer dieser Erzählungen zu
+veranschaulichen; andere mögen zur Vergleichung herangezogen werden.
+Ich wähle als die hiefür geeignetste: »Die Frau Professorin«.
+
+Der Maler Reinhard und der Collaborator Reihenmaier durchstreifen den
+Schwarzwald und machen im Gasthaus beim reichen Wadeleswirt Halt. Dort
+gehn sie jeder seine eigenen Wege. Der Collaborator ist ein Schwärmer
+für Natur und Volk und sucht beides kennen zu lernen; dafür dienen
+ihm Streifzüge in den frischen Wald und in die Sagenwelt, die in den
+Köpfen rumort. Reinhard dagegen freut sich mehr praktisch mit dem Volk
+und an dem Volk. Ihm hats des Wadeleswirts Töchterlein Lorle angetan,
+von der des Collaborators Wort sagt:
+
+»Solch ein Mädchen ist wie ein Lied, das ein ferner Dichter geschaffen
+und zu dem ein anderer die Melodie findet, die Alles und hundertfältig
+mehr daraus offenbart.«
+
+Reinhard und Lorle wollen zusammen gehören. Lorle sagts ihrem Vater:
+»Der Herr Reinhard hat mich gern und ich ihn auch, und er will mich
+und ich will ihn und keinen andern aus der ganzen Welt.« Und der
+Wadeleswirt gibt, wennschon zögernd, nach. Lorle wird des Malers
+Braut und Frau, -- des Malers, der als Professor und Inspektor der
+Gemäldegalerie in der fürstlichen Residenz in nahen Beziehungen zum
+Hof stehen muß. Wohl hat Reinhard selber sichs vorgenommen, daß
+sie das frische Naturkind bleiben soll mitten im Trubel der Stadt:
+»Sie bedarf keiner anderen Welt, ich bin ihre ganze Welt.« Aber sie
+wird nicht seine ganze Welt, er für sich allein läßt sich in das
+gesellige Leben der Gesellschaft ziehen, und Lorle vereinsamt. Sie
+kann sich sowieso schwer in die Stadt schicken; die himmelhohen Häuser
+bedrücken sie, die Klatscherei der Kaffeekränzchen stößt sie ab, die
+steifen Formen des Umgangs sind und bleiben ihr fremd. So tritt die
+gegenseitige Entfremdung ein. Reinhard kommt doch nicht darüber weg,
+daß sie ein echtes Naturkind geblieben ist, daß sie die heimische
+Art nicht lassen kann, daß sie frei öffentlich vor dem Schloß mit
+einem schlichten Jungen aus der Heimat spricht, der als Tambour in
+der Residenz steht. Und es paßt ihm erst recht nicht, daß sie, selbst
+in der Audienz bei dem Prinzen, gleich »den Sack umkehrt, mit Kraut
+und Rüben«. Und Lorle fühlt immer stärker das Heimweh, je mehr er
+sie vernachlässigt. Endlich kommt die Katastrophe. Durch mißliebige
+Erfahrungen auch im Beruf geärgert, betäubt sich der Professor im
+Trunk, und Lorle gewinnt, als sie das merkt, die Kraft zum Entschluß,
+in die Heimat zurückzukehren.
+
+Am Beispiel dieser Erzählung möchte ich versuchen, Vorzüge und
+Schwächen der Auerbachschen Dorfgeschichten kurz darzulegen. Ich
+fasse, was zu sagen ist, in einige Sätze zusammen:
+
+1. Auerbach wählt hier wie auch sonst das ~Dorfleben~ zum Stoff
+seiner Geschichten. Aber er will es nicht bloß schildern; er verfolgt
+eine deutlich hervortretende ~Absicht~. Er ~vergleicht~
+Dorf und Stadt, Bauer und Städter. Und er ~entscheidet zu gunsten
+des Dorfs~. Freilich, wenn der Prinz die naive Meinung ausspricht,
+daß die Bauern die glücklichsten Menschen auf der Welt seien, so
+widerspricht ihm Lorle: »Man muß ja schaffen wie ein Tagelöhner und
+Steuern zahlen mehr als ein Baron.« Aber in der Stadt -- wieviel
+Gemachtes, Gezwungenes, Geheucheltes, Unnatürliches! Viel höher
+steht die natürliche Kraft und Einfachheit des Dorflebens! Das ist
+Auerbachs ~Tendenz~. Sie tritt nicht überall so stark hervor wie
+in »Die Frau Professorin«. Aber sie klingt überall mit. Sie macht ihn
+zu Immermanns Genossen; ähnlich wollte ja der ganze »Münchhausen« das
+Bauerntum als Kraftquelle gegenüber der Verbildung preisen. Aber sie
+scheidet ihn von J. Gotthelf, der nichts anderes will, als seinen
+Landsleuten den Spiegel vorhalten, damit sie sich bessern.
+
+2. In dieser Tendenz liegt eine große Gefahr: diejenige ~einseitiger
+Schilderung~. Gotthelf brauchte diese Versuchung nicht zu bestehen,
+weil er die Tendenz gar nicht hatte. Immermann hat sie überwunden.
+Auerbach ist ihr erlegen. Nicht überall sind seine ländlichen
+Gestalten so ideal, wie in »Die Frau Professorin«. »Diethelm von
+Buchenberg« beschreibt den Entwicklungsgang eines Bauern, der, um
+Hab und Gut, Ansehen und Stellung zu wahren, zum Verbrecher wird.
+Im »Lehnhold« schafft der felsenharte Bauerneigensinn tausendfaches
+Unheil und Elend. Trotz alledem kann ihm der Vorwurf nicht erspart
+werden, daß er idealisiert. Die schlimmen Charaktere haben bei
+ihm leicht gleich etwas Ausnahmsweises, ihre Fehler sind wohl gar
+Übertreibungen berechtigter Eigenheiten. Man mag sie jedenfalls
+nicht so recht zur Charakterisierung des Typus verwenden. Die guten
+Charaktere aber verlieren vor lauter Engelsgüte den Boden der
+Wirklichkeit unter den Füßen. Von Lorle heißt es: »In Demut entfaltete
+Lorle eine Fülle des Liebesreichtums, daß Reinhard staunend und
+anbetend vor ihr stand. Der Schluß ihrer Rede aber war fast immer.
+»Ach Gott! ich bin dich nicht wert!«« Ausdrücke wie »herrliche,
+einzige Frau«, »Naturschatz« sind gar nicht selten. Ähnlich die anderen
+Personen: der Wadeleswirt in seiner Derbheit und Bravheit, der
+Wendelin in seiner stillen Schwärmerei, die Bärbel in ihrer rührenden
+Treue. Das sind Lichtgestalten, aber darum noch keine Naturgestalten.
+
+3. Schwerer fällt zu Auerbachs Ungunsten ins Gewicht, daß er, selbst
+von der Neigung zu idealisieren abgesehen, in der Zeichnung seiner
+Bauern doch ~nicht ganz die rechten Farben getroffen hat~. Ein
+neuerer Beurteiler nennt seine Erzählungen »treuherzig und mit jenem
+gesättigten Humor im Ton, welcher dem Bauernverstand eine gewisse
+Überlegenheit gibt«. Das mag stimmen, aber es genügt nicht, um den
+Eindruck der Echtheit zu erwecken. Adolf ~Bartels~ konstatiert
+z. B. bei der Geschichte »Ivo, der Hairle«, daß die Entwickelung in
+den Hauptzügen richtig gegeben ist; »ein letztes Etwas fehlt einem
+aber doch«. Was ist dies letzte Etwas, das übrigens keineswegs allein
+bei dieser einen Erzählung fehlt? ~Bartels~ selbst erklärt: »In
+den letzten Gründen weiß er nicht immer Bescheid, er legt unter und
+deutelt hinein und erreicht nicht die absolute Echtheit, die Jeremias
+Gotthelf bis in die letzte Gebärde und den geheimsten Seelenvorgang
+aufweist.« Aber auch dies bedarf wieder der Begründung. Woran liegts,
+daß Auerbachs Dorfgestalten nicht absolut echt sind? Meiner Meinung
+nach an einem Dreifachen: Zunächst an der ~geringeren Bedeutung,
+welche Sitte und Brauch für seine Geschichten haben~. Theoretisch
+hat er die ganz richtige Einsicht gehabt: »Nicht die Sittlichkeit
+regiert die Welt, sondern eine verhärtete Form derselben: die
+Sitte. Wie die Welt nun einmal geworden ist, verzeiht sie eher eine
+Verletzung der Sittlichkeit als eine Verletzung der Sitte«. Hier
+liegt tatsächlich der Schlüssel für das Verständnis des Bauern. Mit
+diesem Satz hat Auerbach den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber
+in der Ausführung tritt die Sitte ganz zurück. Denken wir an eine
+einzige kleine Szene bei Gotthelf wie z. B. an die, wo Vreneli den
+Gang zum Pfarrer wieder und wieder aufschiebt. Jeder Satz zeigt die
+Verknüpfung von Sitte und Tun. Am Mittwoch geht sie nicht, weil das
+als Unglückstag gilt; kein Dienstbote zieht da an. Am Dienstag ist
+das Zeichen des Kalenders nicht recht: die Welt des Aberglaubens tut
+sich auf. Am Montag scheint der Mond zu hell; die Mädchen mögen
+bei diesem wichtigen Gang sich nicht gern anstaunen lassen. Und so
+gehts fort. Das ist ein Meisterstück in der engsten Gründung von
+Rede und Handlung auf Brauch und Sitte. Wo fände sich ähnliches bei
+Auerbach? Es ginge ja auch so, daß schlichte, ruhige Schilderung der
+Heimatsart des Bauern die Erzählung trüge. Im »Oberhof« hat sich
+Immermann gar nicht gescheut, ziemlich lange Episoden zu geben, die,
+mit der Handlung nur lose verbunden, eben die Welt beschreiben, in
+welcher der Bauer lebt. Auerbach hat auch das verschmäht, bis auf
+dürftige Ansätze, bei denen zudem der Bauer immer gleich mit dem
+Städter verglichen wird. Der Hintergrund ist bei den »Schwarzwälder
+Dorfgeschichten« nicht genügend ausgearbeitet. Warum nicht etwas mehr
+Brauch und Sitte bei der Hochzeit von Reinhard und Lorle? Was für
+eine schemenhafte Schilderung des Sonntagmorgens im Dorf am Anfang
+der »Sträflinge«! Es fehlt am Hintergrund. Wir sehen und hören die
+Bauern, aber wir erleben nicht ihren naturwüchsigen Zusammenhang
+mit ihrer Scholle, mit Arbeit und Erholung, mit Ordnung und Sitte.
+Damit hängt dann ein Anderes eng zusammen: auch ~die Denkweise
+der Schwarzwälder Bauern ist keineswegs echt~. In ihre eigensten
+Gebiete führt Auerbach überhaupt nicht ein. Was er sie sonst reden
+läßt, das hat einen Anstrich von liberalen Zeitideen, der ja dazumal,
+in den vierziger Jahren, sich auch beim Bauernstand gefunden haben
+mag, der aber jedenfalls Anstrich ist, auch durchaus nichts, was die
+~Eigenart~ des Bauern zu bezeichnen geeignet wäre. Es sind gute
+Menschen, die er vorführt, und es mögen ganz schöne Ideen sein, die
+sie da vorbringen. Aber Bauerngedanken sinds nicht. Schließlich
+trägt auch die ~Sprache~ Schuld, welche Auerbachs Schwarzwäldler
+reden. Helmuth ~Mielke~ erklärt sie für eine »schlichte und warme
+Sprache, die den Mundatem des Volkes selbst bekundet!« Das Gegenteil
+ist richtig. Die Worte sollen getrost für echt gelten, die Sprache ist
+darum doch nicht echt. Was z. B. das Lorle in der Audienz beim Prinzen
+alles zusammenschwatzt, das ist ganz und gar nicht dörflich schlicht;
+das ist forciertes, gemachtes Bauerntum. Kurz, Auerbachs Dorfgestalten
+haben keinen Erdgeruch; es sind Salondörfler.
+
+4. Zur Charakteristik seiner ganzen Erzählweise mag an vierter
+Stelle die Art erwähnt sein, ~wie er Stoffe wählt und Probleme
+gestaltet~. Auch diese Art ist nicht schlicht natürlich. Gerade
+»Die Frau Professorin« liefert dafür den glänzendsten Beweis. Ein
+Künstler, der in nächster Beziehung zur Hofgesellschaft steht,
+heiratet ein schlichtes Gastwirtskind vom Lande. Noch dazu ein
+Mann, der sich gar keine Mühe gibt, ein warmes Familienleben zu
+gründen, bei dem es dem verpflanzten Dorfkind wohl sein kann. Und
+das Dorfkind seinerseits bleibt so stocksteif auf der alten Art, die
+doch eigentlich nur in der Negation sich zeigt, daß man wirklich ein
+bißchen mehr Verständnis, ein klein wenig mehr Akkommodationsfähigkeit
+erwarten dürfte. Das ist kein typisches Sittenbild; das ist
+die Geschichte einer Torheit, welche durch die Narrheit der
+Hauptbeteiligten auf die Spitze getrieben wird! Aber auch in anderen
+Erzählungen bleibt Auerbach ungern beim rein, intim Dörflichen.
+Überall spielt das Städtische hinein. In »Die Frau Professorin«
+tritt das Dörfliche nirgends für sich auf, vielmehr durchweg nur in
+Verbindung mit den Erlebnissen des Malers und des Collaborators. Die
+»Sträflinge« bringen ein ganz fremdartiges Element ins Dorfleben
+hinein: die aus Barmherzigkeit aufgenommenen entlassenen Gefangenen.
+
+Ich fasse mein Urteil über Auerbach kurz dahin zusammen: Er
+verherrlicht das Landleben, den Bauernstand. Er entnimmt dem
+bäuerlichen Leben seine Stoffe und seine Probleme. Aber ~er geht
+nicht genug in die Wurzeltiefe dörflicher Art hinein, er nimmt den
+Bauern nicht im Zusammenhang mit seiner Scholle. Und so lernt man den
+Bauernstand selbst durch ihn nicht kennen.~
+
+ * * * * *
+
+Gehören die beiden, die ich nun nenne, auch noch zu den
+Dorfgeschichtenschreibern? ~Otto Ludwig~, meine ich, mit
+seiner »~Heiterethei~« und seinem »~Zwischen Himmel und
+Erde~« und dann der allbekannte, reichlich gelesene und
+vielgeliebte ~Fritz Reuter~? Otto Ludwig kann man den Titel
+des Dorfgeschichtenverfassers mit guten Gründen abstreiten. »Himmel
+und Erde« ist eine städtische Geschichte; das Dachdeckerhandwerk
+bildet ihren Mittelpunkt. Zudem liegt es ihrem Schöpfer gar nicht
+am Herzen, Sitte und Art zu zeichnen; keine Erzählung, die tiefer
+ins Psychologische ginge und weniger über das Psychologische
+hinausginge als diese. Ein Meisterstück an Feinheit, Geschlossenheit,
+Entwicklung, Spannung und Kraft! Wer sie noch nicht las, sollte sie
+eilig zur Hand nehmen! Aber eine Dorfgeschichte? -- Nein. Und auch
+die »Heiterethei« liegt ein Stück ab vom Oberhof und von Jeremias
+Gotthelf; am wenigsten vielleicht von Auerbach. Nicht das Dorf ist
+ihr Schauplatz; ein Städtchen ist der Tummelplatz ihrer Gestalten.
+Hier leben der hustende Weber, der Schneider, der trotz seiner dreißig
+Jahre von seiner baumlangen Stiefmutter als der »Jung« betrachtet und
+bis zu den handgreiflichsten Konsequenzen auch so behandelt wird, der
+Morzenschmied, der ein Schabernack ist, obwohl er immer so duchsig
+tut. Hier hausen und klatschen die wichtigen und die minder wichtigen
+Weiber, die Gringelwirts Valtinessin, die das Recht hat, von allen
+Frauen am vornehmsten zu träumen, und vor deren Übelnehmen die anderen
+alle sich fürchten, -- die Frau Tüncherin, die der Valtinessin gleich
+gern zugesteht, daß der Hahn, den sie im Traum hat krähen gehört, kein
+rechter Luckenbacher gewesen ist, weil er ander Wetter gekräht hat,
+was die Valtinessin doch nicht wahrhaben will, -- da ist die Weberin
+und die Schmiedin, die, während ihr Mann ihr halb wider Willen etwas
+Neues berichtet, schon immer im Geist beim Kaffeeklatsch ist und
+sich selber sieht, wie sie unter allgemeiner Spannung die Neuigkeit
+weitererzählt. Im Städtchen Luckenbach aber hausen vor allem auch die
+beiden Hauptpersonen, die Dorle mit dem blonden Zopf und den vollen
+Lippen, die so munter ist, daß man sie Heiterethei genannt hat: »Der
+Name tanzt ordentlich wie das Mädle selber.« Ein Prachtmädel, diese
+Heiterethei! Kein braver Mädel im ganzen Städtel; aber auch keins
+mit einem flinkeren Mund. Mit dem Schiebkarren fährt sie zum Markt;
+auf dem kräftigen Karren ruht ein tüchtiger Strick. Nun fragt der
+Schneider:
+
+Aber was willst du dir nur holen damit?
+
+Einen Mann, lachte der Schmied.
+
+Einen Schmied, entgegnete das Mädchen ernsthaft. Die muß man mit
+Stricken binden, wenn sie vom Markt heim nicht in jedem Wirtshaus
+einkehren sollen.
+
+Die Schneider nicht? fragte der Schneider fast neidisch.
+
+Auch, sagte das Mädchen, nicht wegen der Wirtshäuser, nur, daß sie der
+Wind nicht vom Schiebkarren bläst.
+
+Du mußt den Holder-Fritz frein, hustete der Weber. Wenn ihr einen
+Jungen kriegt, der jagt den Kirchturm von der Kirch' und zur Stadt
+hinaus.
+
+Das käm' zu spät, sagte das Mädchen ruhig. Bis dahin habt ihr ihn
+hinausgehustet.
+
+Wo stellt ihr ein auf dem Markt, Annedorle? fragte der Schmied.
+Heimwärts führen wir uns.
+
+Ihr werdet wohl einen brauchen, der euch führt, sagte das Mädchen; ich
+nicht. --
+
+Und neben der Heiterethei steht der Holder-Fritz, der flotte und
+lustige Holder-Fritz, der nachher mit einem Mal anders wird. Wie der
+Holder-Fritz und die Heiterethei, beide starke, trotzige Seelen, sich
+mögen und sich trotzen und endlich sich einigen, das beschreibt alles
+die »Heiterethei«.
+
+Eine Dorfgeschichte ist das nicht, aber weit davon ists auch nicht.
+Das Städtchen ist ja eins von denen, in deren Tätigkeit Ackerbau und
+Gewerbe sich teilt. Und eine Volkserzählung ists ganz gewiß. Nur
+nicht so schlicht, wie die von J. Gotthelf; der kann einem hiergegen
+beinahe pedantisch vorkommen. Und auch nicht so gravitätisch wie der
+Oberhof. Nein, viel flotter, lustiger, leichter geschürzt. Und doch
+viel mehr Kompositionskunst, viel mehr Entwicklungsenergie, viel
+mehr psychologische Feinmalerei als nüchterne Beschreibung. Eine
+Volkserzählung, die den Titel »Novelle« vollauf verdient, weil sie ein
+sorgsam bedachtes Kunstwerk ist. Der Realismus ist freilich nicht mehr
+Alleinherrscher; er hat den Humor und die Satire zur Seite.
+
+Ein prächtiges Gegenstück zu dieser Art bildet unser lieber ~Fritz
+Reuter~. Was brauche ich da Titel aufzuzählen? Ihn kennt ja
+ein jeder. Freilich, vor allem meine ich und denke ich an seine
+»Stromtid«, dies Buch, das dem deutschen Volk, wenigstens dem
+gebildeten Teil desselben, so ganz zu eigen geworden ist. Auch Fritz
+Reuter ist Volkserzähler. Seine Dichtung wurzelt mit tausend Wurzeln
+im mecklenburgischen Land, im norddeutschen, ja im ganzen deutschen
+Volk. Hawermann und seine Lowise, Unkel Bräsig, die lütte Fru Pastern,
+Jochen Nüßler und die Madam Nüßlern, die Druwäppel Mining und Lining,
+sind das nicht wundervolle ländliche Charaktergestalten? Giebts nicht
+desgleichen Pomuchelsköppe sowohl wie Rambows, Kandidaten wie Rudolf
+und Gottlieb, Eleven wie den famosen Triddelfitz überall im deutschen
+Land? Und blickt man nicht tief, tief hinein in des Landmanns Last und
+Lust, in der Fru Pastern Freud und Leid, in der Tagelöhner Arbeit und
+Sorgen? Ja, Reuter greift tief hinein ins Leben des Volks, ins Herz
+des Volks. Er ist zugleich in alledem klar, treu und wahr. Und darum
+gehört, was er geschrieben, zur Volkserzählung. Und es gehört unter
+ihren Schöpfungen nicht an den letzten Platz.
+
+Nur bleibt dem, der die Eigenart der Erscheinungen gegen einander
+abwägt, doch die Pflicht, seiner Art innerhalb der Volkserzählung
+ihren ganz besonderen Platz anzuweisen. Reuter steht Otto Ludwig und
+seiner »Heiterethei« der Art nach am nächsten, wie er übrigens auch
+der Zeit nach mit ihm eng zusammengehört. Die »Heiterethei« erschien
+1854, »Zwischen Himmel und Erde« 1856, während Reuters literarische
+Tätigkeit 1853 mit den »Läuschen un Rimels« begann und dann bis
+1862-64, der Zeit der »Stromtid«, währte. Wie Ludwig führt auch er nur
+nebenbei in alle die Sitten und Zustände ein, in Volkes Sonderwesen
+und Eigenbräuche. All das spielt hinein, aber es klingt nur leise
+mit. Ein Milieudichter ist Reuter nicht, ein naturalistischer --
+trotz ein paar derber Stellen -- erst recht nicht. Ihm hebt sich aus
+allem der Mensch heraus; der bleibt ihm die Krone, die alles andere
+zurücktreten läßt. Und das hat zur Folge, daß die Heimatsfarbe, der
+Erdgeruch minder deutlich wird. Sobald der Dichter den Menschen vor
+allem als Menschen nimmt und nicht als Schweizer oder Schwarzwälder
+oder Mecklenburger, sobald werden die Konturen der Zeichnung blasser.
+Reuter und Ludwig haben das getan. Und wie Ludwig hat auch Reuter
+mindestens in der »Stromtid« die einfach fortschreitende Form der
+Erzählung verlassen; ja, die »Stromtid« ist noch in anderem Sinn ein
+formgerechtes Kunstwerk als die »Heiterethei«. Sie steht in dieser
+Hinsicht am besten mit »Zwischen Himmel und Erde« zusammen. Nur
+daß dies durch und durch Novelle ist, während die »Stromtid« ebenso
+durch und durch Romancharakter hat. Wir mögen sie nur deshalb nicht
+gern so nennen, weil wir bei dem Wort Roman jenen fatalen Nebensinn
+mitzudenken gewohnt sind, der doch gar nicht dazu gehört und der zu dem
+Einfachen, Schlichten, Volkstümlichen in Reuter nicht stimmen will.
+Aber an der Tatsache ändert das nichts: die »Stromtid« ist in Anlage
+und Durchführung, in Vorbereitung, Konflikt und Lösung ein volles,
+rundes Meisterwerk der künstlerisch gestalteten Prosadichtung. Und
+auch das gibt ihr neben der schlichten Volkserzählung ihre besondere
+Stellung. Endlich aber, und das ist das Beste, merkt man es Reuter
+ganz deutlich an: ihm liegt am bloßen Malen überhaupt herzlich wenig.
+Ihm ist des Dichters Aufgabe anders gefaßt: nicht einen Spiegel hält
+er den Menschen vor, sondern er zieht sie mit all ihrem Denken,
+Wollen und Fühlen hinein in das Menschengeschick, das er vor den
+Lesern sich aufrollen läßt. Ihm darf der Leser nicht objektiv über
+dem Stoffe stehen bleiben, kein Beobachter sein, der sich freut, wie
+gut die lieben Menschenkinder von da und von dort abkonterfeit sind.
+Hier müssen sie miterleben, mitfühlen, mitjauchzen, mittrauern, ja
+unbedingt auch mitweinen! Wir wissen alle, wie trefflich ihm das
+gelungen ist; wer hat nicht selber mit durchgemacht, was die Leutlein
+alle dort im mecklenburgischen Dorf erlebt haben! Reuter hat es
+wie kein Zweiter verstanden, den Menschen bei ~der~ Seite zu
+fassen, bei der er am ehesten kühle Zurückhaltung, kritische Laune
+und objektiven Stolz verliert: beim ~Gemüt~. Lustig sein und
+traurig sein, beides mag das deutsche Gemüt gern. Reuter hat ihm
+beides gegönnt; so herzinnig lachen und so herzbrechend weinen, wie
+bei der Lektüre der »Stromtid«, kann man kaum bei einem anderen
+Buch. Vielleicht hat er die Gemütssaite ~zu~ oft angeschlagen?
+Ich will nicht streiten; aber rührselig ist er doch nicht geworden.
+Es dominieren doch der stille Ernst und der fröhliche, selige,
+goldene Humor. Fritz Reuter muß man lesen, wenn die Menschen, die
+sich lieb haben, um den Lampenschein traulich zusammengerückt sind;
+am allerbesten zur Weihnachtszeit, wenn das Herz ein bischen stärker
+klopft, als es sonst wohl tut.
+
+Aber ich breche ab. Was hab' ich gewollt? Die Volkserzählung aus
+der Mitte des Jahrhunderts galt es zu charakterisieren. Von 1839,
+da Immermanns »Münchhausen« erschien, sind wir bis zum Anfang der
+sechziger Jahre gewandert, in denen Fritz Reuter die »Stromtid«
+schuf. Zwei reichliche Jahrzehnte, gerade die Mitte des Jahrhunderts
+ausfüllend! Für literarische Entwicklung doch eine kurze Spanne Zeit.
+Trotzdem ist gerade auf diesem Gebiet Reichliches in ihr geschehen. Wo
+blieb die träumende Romantik? Der Geruch der Scholle vertrieb sie. Die
+einfache, derbe, nüchterne Wirklichkeit heischte ihr Recht. Man packte
+sie, wo sie am wirklichsten war, im Bauernleben. Man wollte nichts
+haben als Wirklichkeit. Wer viel Süßes gegessen, hungert nach einem
+Bissen Brot! ~Was Kunstform und Problem? Was Konflikt und Lösung?
+Leben! war die Losung, nur Leben.~ Aber auch diese Forderung hatte
+ihre Zeit. Zwar ins schlichte Leben hineingreifen, nicht bloß ins
+wunderbare, das wollte man auch weiter. Aber der Mensch, die Seele,
+das Gemüt ward wichtiger als die Natur. Und die Kunstform stellte sich
+wieder ein. Sie hatte an Schlichtheit von ihrem Gegenstand gewonnen;
+und sie half so auch der Volkserzählung zur künstlerischen Vollendung.
+Aber Kunst und Natur vertragen sich schwer; auch hier trat die Natur
+ins zweite Glied. Immerhin, man hatte gelernt, zu sehen und Gesehenes
+zu zeigen. Man blieb wahr und man blieb nüchtern. ~Die Romantik war
+tot; die Wirklichkeit hatte gesiegt.~
+
+
+
+
+ Der tendenziöse Zeitroman.
+
+
+Der Roman tritt in gewollte, neue, enge Verbindung mit der
+Wirklichkeit. Goethe wirkt, nicht die Romantik. Nicht in der
+Volkserzählung allein geschieht das: warum sollte man nur das
+»Volk« beachten und nicht die Welt in ihrer ganzen Breite und Weite
+nehmen? Lagen denn nicht tausend Anlässe vor, ihre Zustände zu
+ergründen, zu durchforschen, zu kritisieren? War denn nicht eine
+Zeit hereingebrochen, in der der Blick sich weitete und schärfte?
+Die Sturmesgewalten der Revolution waren im Anzug; und ihnen voraus
+gingen Windstöße, die alte, festgewurzelte Anschauungen aufwühlten
+und zu neuen Bildungen Anlaß gaben. Was Wunder, daß die öffentlichen
+Angelegenheiten, daß die Fragen der Politik und Gesellschaft, des
+Staats und der Kirche, der Aristokratie und der Demokratie in jenen
+Jahren vor den Stürmen von 1848 und ebenso in den folgenden Zeiten
+auch die Dichter nicht ruhen ließen? Auch ihr Interessengebiet wurde
+weit und groß: es erstreckte sich über alles das, was die Zeit
+bewegte. Der Roman war nicht die einzige Form der Dichtung, welche
+den Pulsschlag der Zeit spüren ließ. Wie hell klangen die Sturmlieder
+eines Herwegh und Freiligrath! Aber ~auch~ im Roman pulsierte die
+Zeit; er ward zum ~Zeitroman~.
+
+Konnte es anders kommen, als daß die Betrachtung der Zeit in
+der Dichtung zunächst alles andere war, nur nicht ruhig, kalt,
+unparteiisch und objektiv? Wir verstünden es nicht, wäre es anders
+gewesen. Eher ist die Dorferzählung mit ihrer darstellenden Art
+ihrer Zeit fremd als der tendenziöse Roman. Genau betrachtet,
+zahlt übrigens auch die Dorfgeschichte der Zeit ihren Tribut. Der
+»~Oberhof~« ist ja ein Kompositum einzelner Kapitel aus einem
+Zeitroman; er gibt Wirklichkeit, aber eben mit dieser Schilderung
+der Wirklichkeit verfolgt sein Verfasser eine bestimmte Absicht. In
+~Auerbachs~ Erzählungen wirkt eine ganz ähnliche Tendenz; das
+Land wird gegenüber dem städtischen, höfischen Wesen verherrlicht.
+Auch die politischen Ideen spielen hier hinein. Und die ruhigsten,
+objektivsten Dorfgeschichten, die überhaupt geschrieben worden sind,
+stammen nicht aus dem vielbewegten deutschen Land, sondern aus der
+Schweiz, wo der Kampf um Fürstenrecht und Volkesrecht nur mitgefühlt
+und so miterlebt, aber damals nicht ebenso mitgekämpft wurde!
+
+~Der Zeitroman ward also zum Tendenzroman.~ Er hat Stadien
+erlebt, in denen die Tendenz darin fast die Zeit tötete, d. h. in
+welchen die Darstellung des Bestehenden gegenüber den Plänen zum
+Kommenden kaum zur Geltung kam. Hierher gehören die ~jungdeutschen
+Romane~ aus den dreißiger Jahren. Unter ihnen ragen die Werke
+Heinrich ~Laubes~ und Karl ~Gutzkows~ hervor. Heinrich
+~Laube~ schuf damals (1833) den ersten Teil des Romans »~Das
+junge Europa~«, dessen später erschienene Teile viel abgeklärtere
+Art tragen. Die einzelnen Bände haben Sondertitel; Bd. +I+:
+Die Poeten; Bd. +II+: Die Krieger; Bd. +III+: Die Bürger.
+Nicht das, was erzählt wird, fesselt; in der Handlung fehlt jede
+Einheitlichkeit, Entwicklung und Geschlossenheit. Es dreht sich
+alles um Liebesabenteuer der jungen Poeten, und zwar um solche, die
+der theoretisch verfochtenen Freiheit in Religion und Sittlichkeit
+vollkommene praktische Folge geben. Aber die Hauptsache sind die
+Ansichten, die breit und gründlich zur Aussprache und zum Siege über
+andere Ansichten gelangen. Der Gegensatz gegen die Romantik kommt zum
+scharfen Ausdruck; die gesunde Natur wird gepriesen, zugleich aber
+auch ihre völlige Ungebundenheit. Keine Vorschrift der Religion und
+keine der Moral wird anerkannt; die Natur hat Recht, auch mit ihrer
+Sinnlichkeit. In der Politik aber gilt selbstverständlich allein das
+Volk, ja sogar das Volk in verschwommener Allgemeinheit; nicht als
+Einzelvolk, als Nation, sondern als Summe von Weltbürgern.
+
+Es ist nicht meine Absicht, alle Romane jener jungdeutschen Epoche
+hier zu charakterisieren. In allen herrscht der gleiche, gärende
+Geist, die gleiche Auflehnung des Einzelnen gegen die hergebrachte
+Ordnung wie der Masse gegen das Gefüge des Staats und der Kirche.
+Im übrigen sind sie verschieden genug. Da ist Karl ~Gutzkows~
+»~Maha Guru~« (1833), dessen Schauplatz weitab in Tibet liegt,
+dessen Angriffsobjekt aber doch das Christentum ist; da ist aus dem
+Jahre 1835 desselben ~Gutzkow~ »~Wally, die Zweiflerin~«,
+eine Fortsetzung dieses Kampfes gegen das Kirchentum. Die Heldin
+zweifelt an allem, insbesondere auch an jeder Religion. Religion ist
+ihr ein »Produkt der Verzweiflung«. Sie gibt sich schließlich selbst
+den Tod. Der Roman knüpft an an die wunderbare Tatsache, daß Karl
+Gutzkows Gattin Charlotte sich selbst den Tod gegeben hatte, um durch
+diese Tat ihren Garten mit neuer dichterischer Kraft zu erfüllen.
+Und wie diese Tat, welche das Werden des Romans mitbestimmte, so
+ist die gesamte Ideenwelt desselben outriert, überleidenschaftlich,
+schließlich unwahrscheinlich. Nicht vergessen soll werden, daß in
+»Wally, die Zweiflerin« zugleich die Frau als Frau neue Geltung
+beanspruchte. Die enge Verbindung, in welche hier Emanzipation der
+Frau und Emanzipation von aller Religion, überhaupt von allem Gewissen
+traten, ist für die Zukunft nicht ohne Einfluß geblieben.
+
+Aber wir eilen vorwärts. Gutzkows »~Seraphine~« (1838), sein
+Erziehungsroman »~Blasedow und seine Söhne~« (1838), die anderen
+jungdeutschen Kraftromane können nur genannt werden. Aus der Sturm-
+und Drangperiode des Zeitromans, die man etwa bis zur Revolution
+datieren kann, retten wir uns in die Periode des ~abgeklärteren
+Zeitromans~. Auch hier Tendenz, überall Tendenz. Aber die Tendenz
+macht nicht mehr die Zeitdarstellung tot; sie läßt dieser größeren
+Raum und größere Ruhe. Der Grad dieser Ruhe ist freilich verschieden.
+Zwei Klassen des Zeitromans bilden sich, jenachdem die Tendenz
+stärker oder schwächer ist, jenachdem die Darstellung weniger oder
+mehr objektiv geraten ist. Wohl gehen beide Gattungen in einander
+über, wohl kann man schwanken, welcher von beiden der eine oder
+der andere Roman zuzuteilen ist. Aber es sei dennoch gewagt, die
+~Unterscheidung~ festzuhalten ~zwischen dem tendenziösen und
+dem objektiven~, oder, um vorsichtiger zu sein, zwischen dem mehr
+tendenziösen und dem mehr objektiven ~Zeitroman~.
+
+Die Zahl der Zeitromane der ersteren Art ist groß, zumal wenn
+man nun alsbald auch in die späteren Jahrzehnte des Jahrhunderts
+hineingreift. Gegen die Titanen der Revolution nimmt Stellung
+A. ~Widmann~: »~Der Tannhäuser~«, gegen die irreligiöse Weltanschauung
+Elisabeth ~Cantz~: »~+Eritis sicut Deus+~« (1854). Stark tendenziös
+sind die Romane von ~Spiller von Hauenschild~ (Pseud.: Waldau),
+von denen nur der 1851 erschienene »~Nach der Natur~« genannt sein
+mag. Proletarisch-sozialistische Tendenzen verfolgt Robert Prutz
+(besonders »~Engelchen~« 1851). Bedeutender sind die schon minder
+stark tendenziösen späteren Romane von Karl ~Gutzkow~: »~Die Ritter
+vom Geist~« (1850/51) und »~Der Zauberer von Rom~« (1856/61),
+die Schöpfungen Friedrich ~Spielhagens~, von denen insbesondere
+»~Problematische Naturen~« (1860/61), »~Die von Hohenstein~« (1863),
+»~In Reih und Glied~« (1866) hierher zu rechnen sind, und von noch
+späteren Werken diejenigen von Paul ~Heyse~: »~Die Kinder der Welt~«
+(1873) und »~Im Paradiese~« (1885). Zu eingehenderer Betrachtung
+greife ich heraus: Gutzkow »Die Ritter vom Geist«, Spielhagens
+»Problematische Naturen« und Heyses »Kinder der Welt«.
+
+~Gutzkows~ »~Ritter vom Geist~« geben sozusagen das Programm
+des gesamten Zeitromans der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ein
+ausführliches Vorwort gibt darüber Auskunft. Der Roman erlebt eine
+neue Phase. Er soll mehr werden, als der Roman von früher war. »Der
+Roman von früher .... stellte das ~Nacheinander~ kunstvoll
+verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer
+klassischen Unglaubwürdigkeit! .... Oder wer sagte Euch denn, ihr
+großen Meister des alten Romans, daß die im Durchschnitt erstaunlich
+harmlose Menschenexistenz gerade auf ~einem~ Punkte soviel
+Effekte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche
+Voraussetzung sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten
+kleinen Stoffe zuspitzen konnten?« Der alte Roman ist unwahr geworden,
+weil er die lebenslangen Strecken, welche zwischen einer Tat und ihren
+Folgen liegen, beiseite warf. Er ließ dadurch die alte Wahrheit von
+der -- unwahren, erträumten Romanwelt siegen. »Der neue Roman ist der
+Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt, da ist die Zeit wie
+ein ausgespanntes Tuch ...... Nun fällt die Willkür der Erfindung
+fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis
+liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt und stellt seine Beleuchtung
+der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspektive des in
+den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich
+ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, leider
+polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt.«
+
+Von diesem Programm verspricht sich Gutzkow Gewaltiges. »Resultat:
+Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder
+den Glauben und das Vertrauen schöpfen, daß auch die moralisch
+umgestaltete Erde von einem und demselben Geiste doch noch könne
+göttlich regiert werden.« Diese hochfliegenden Pläne lassen wir
+beiseite. Ihre Haltlosigkeit liegt auf der Hand. Was aber das eben
+nach der Vorrede zu den »Rittern vom Geist« entwickelte Programm
+betrifft, so ist es, wie gesagt, in der Tat dasjenige des neuen
+Zeitromans geworden. Keine unwahrscheinliche Verknüpfung eines
+Nacheinander von Ereignissen, die in Wirklichkeit doch nicht
+nacheinander kommen, sondern ein Gesamtbild der bestehenden Welt in
+ihren mannigfachen Einzelerscheinungen soll seinen Inhalt bilden: ein
+Querschnitt, nicht ein Längsschnitt soll er sein. Allerdings, so sehr
+Gutzkow mit der Polemik gegen das ~unnatürliche~ Nacheinander
+Recht hat, so wenig kann der Roman nur ein ~Neben~einander geben:
+er müßte ja sonst auf jede Handlung verzichten. Und dann: so gewiß
+das Nebeneinander trefflich dazu dienen wird, ein Welt- und Zeitbild
+im großen Stil zu geben, -- man braucht doch nicht zu fordern, daß
+jeder Roman die ~ganze~ Welt schildere; warum soll er nicht ein
+Einzelbild herausgreifen? Mehr Natürlichkeit! Mehr Wirklichkeit! Mehr
+umfassende Weltdarstellung! Mit diesen Forderungen hatte und behielt
+er Recht. Aber der Roman muß, weil er Erzählung ist, auch Handlung
+geben, und er muß diese Handlung aus den handelnden Menschen ableiten.
+Dies ~Ineinander~, nicht bloß Nebeneinander, von Welt, Mensch und
+Handlung hat Gutzkow zu fordern vergessen.
+
+Die »Ritter vom Geist«, welchen Gutzkow dies kräftige Vorwort
+mitgegeben hat, bilden denn auch keineswegs ein absolutes
+Nebeneinander. Vielmehr bringen sie durchaus auch fortschreitende
+Handlung. Sie vergessen auch keineswegs, daß Menschenwille und
+-Charakter die wichtigsten Faktoren bei allem Geschehen sind; die
+Psychologie spielt in ihnen keine geringe Rolle. Die Aufgabe, die
+Welt im Querdurchschnitt zu zeigen, erfüllt dieser Roman vollauf;
+nur daß er hierin sogar des Guten zuviel getan hat. Neun Bücher! Und
+keineswegs kurze! Wahrlich, es war nötig, daß der Verfasser am Anfang
+der Vorrede dem Leser zurief:
+
+»Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich
+dich auffordere! Rüste dich mit geschäftslosen Sonntagsvormittagen und
+einem guten, aushaltenden Gedächtnis! .... Werde nicht müde, wenn du
+unabsehbare Ebenen erblickst, sich der Weg zwischen gefahrvolle, nicht
+endende Gebirgspässe zwängt, oder die Landstraße plötzlich sich wie in
+die Wolken zu verlieren scheint!«
+
+Diese unsagbare Breite dieses Romans, wie auch des folgenden »~Der
+Zauberer von Rom~«, hat es denn glücklich zu Wege gebracht, daß
+kein Mensch mehr sie liest. Ein halbes Jahrhundert -- und sie sind
+vergessen!
+
+Soll ich Ihnen die Fabel der »Ritter vom Geist« darzustellen
+versuchen? Sie macht die Bedeutung des Romans nicht aus. Im Gegenteil;
+sie ist neben der ungeheuerlichen Breite seine Schwäche. Die Handlung
+angesehen, ist man versucht, dem Werk schlankweg den Titel des
+Abenteurerromans zu geben. Vor allem ists nicht ~ein~ Faden,
+den der Dichter verfolgt, sondern eine ganze Zahl. Nr. 1: Die Brüder
+Wildungen glauben Anspruch auf Besitztum zu haben, das in Händen
+des Templerordens war. Der eine der Beiden entdeckt die beweisenden
+Urkunden, verschlossen in einem hölzernen Schrein. Eben dieser wird
+ihm gestohlen. Er sucht ihn und erlebt auf der Suche Abenteuer um
+Abenteuer. Er wird eines verkleideten Prinzen nächster Freund und
+Duzbruder, wird selbst für eben diesen Prinzen gehalten, verliebt sich
+in dasselbe Mädchen, welches der Bruder liebt. Endlich, endlich kommt
+der Schrein zum Vorschein, der Prozeß wird gewonnen. Inzwischen ist
+aber der eine Bruder ins Gefängnis geworfen, aus dem er abenteuerlich
+befreit wird. Ein Feuer, das im Wirtshaus ausbricht, vernichtet den
+Schrein. -- Nr. 2: Das Fürstentum Hohenberg ist vakant; der Erbe lebt
+im Ausland, mag auch die Erbschaft nicht antreten, weil die Passiva
+größer sind als die Aktiva. Als Handwerksbursch verkleidet, kommt er
+doch in die Heimat, ins fürstliche Schloß. Dort will er sich eines
+Bildes bemächtigen, in welchem wichtige Familienpapiere aufbewahrt
+sind. Als Dieb wird er in den Turm geworfen. Jener Wildungen, der
+dieses Prinzen Duzfreund so rasch geworden ist, nützt, um ihm das Bild
+zu verschaffen, die Liebe seiner Angebeteten aus. Diese benützt listig
+ein Rendezvous mit einer Exzellenz im Möbelwagen als Mittel, das
+Bild zu beschaffen. Es kommt in die Hände des Prinzen; der Prinz ist
+aber gar nicht der legitime fürstliche Erbe, sondern der Sproß eines
+illegitimen Verhältnisses der Fürstin. Sein richtiger Vater ist gerade
+aus Amerika heimgekehrt ... Der Pseudoprinz wird späterhin Minister.
+Nr. 3: Im Haus eines angesehenen Justizrats wird ein Junge erzogen,
+der, gleichfalls von illegitimer Geburt, Sohn einer vornehmen Dame und
+eines Verbrechers, allerhand gefährliche Instinkte besitzt. Er bringt
+die Tochter des Justizrats in Gefahr, er macht kostbare Pferde rasend,
+indem er ihnen Spitzkugeln in die Ohren praktiziert, er nachtwandelt
+in allen möglichen Situationen, erschreckt die justizrätliche Familie,
+besonders jene Tochter; schließlich kommt er in eben jenem Brande
+um, in welchem der Schrein sein Ende findet. Und an diese Nummern
+1-3 könnte ich leicht weitere knüpfen. Aber zur Charakteristik des
+Ganzen genügt es, wenn allenfalls noch hinzugefügt wird, daß die
+Verwechselungen, die Mißverständnisse und endlich die Aufklärungen
+der Handlung an mehr als einer Stelle auf die Sprünge helfen müssen.
+Es leuchtet ohne weiteres ein, daß mit dieser Handlung kein Staat zu
+machen ist. Was Gutzkow am alten Roman aussetzte, hat er selbst nicht
+vermieden: klassische Unglaubwürdigkeit, farbenreiche Gebilde des
+Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten. Er selber nannte
+die Menschenexistenz im Durchschnitt erstaunlich harmlos. Und was für
+Merkwürdigkeiten hat er dann -- nicht nacheinander, aber doch eng
+nebeneinander -- gehäuft!
+
+Die Bedeutung des Romans -- er besitzt solche trotz alledem --
+liegt also anderswo. Sie liegt lediglich in dem Zeitbild, welches
+er in bisher ungekannter Gründlichkeit gibt. Es entbehrt nicht der
+Tendenz; hatte doch schon das Vorwort gesagt, der Dichter stelle
+seine Beleuchtung der Welt derjenigen der Wirklichkeit gegenüber.
+»Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu,
+eigentümlich, ~leider~ polemisch.« Die eigene Stellung des
+Dichters läßt aber doch auch die anderen Strömungen zu ihrem Rechte
+kommen. Um das Preußen nach 1848 handelt sichs. Die Reaktion ist oben
+auf; sie wird verdeutlicht durch den »Reubund«. Der hat es sich zur
+Aufgabe gesetzt, durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung dem
+Fürstenhaus zu erkennen zu geben, daß das Volk die revolutionären
+Stürme bereue. Die kirchliche Reaktion stellt Propst Gelbsattel
+dar, ein Mann von konservativster Gesinnung, ein Bewunderer der
+Jesuiten, die mit ihrer Organisationskunst und ihrer Lebenskraft
+sich die Aufgabe gestellt haben, die geistige Herrschaft der Kirche
+zu retten. Neben diesen prinzipiellen Vertretern der Reaktion stehen
+Typen eines praktischen Realismus: an ihrer Spitze der Justizrat
+Schlurck, der wohl »Anfälle von Aberglauben, ja von Mystik« hat, im
+Grund aber ein völlig grundsatzloser Zweifler ist. »Die Staatsformen
+wechseln, aber die Forellen bleiben,« das ist sein Grundsatz. »Ein
+Mann in meiner Stellung, .... was kann der tun, wenn man ihm sagt:
+Das Interesse des Staats verlangt jetzt auch Ihre Beihülfe! Auch
+Sie müssen teilnehmen an der Wiederherstellung der Monarchie und
+des sicheren Kraftgefühls der Regierung! .... Sehen Sie, schon das
+ist ja etwas wert, wenn es die Reaktion durchsetzt, daß Einer mit
+Behaglichkeit wieder in ein Bad reisen kann.« »Ich war Mitglied aller
+Bibelgesellschaften, aller Missions-, aller Gustav-Adolfvereine. Ich
+hielt mich anfangs zum konstitutionellen Angstklub, ich bin jetzt
+Reubündler; was soll ich mich dabei aufhalten, den Leuten zu sagen,
+warum .... ich es nicht bin.« Dem gleichen politischen Realismus
+huldigt auch Pauline von Hardenberg, eine Schriftstellerin nach
+Art der Jungdeutschen, dann plötzlich übertriebene Monarchistin,
+Hauptanstifterin kontrerevolutionärer Schläge, schließlich aber
+wieder Führerin der Fronde, weil ihr glühender Ehrgeiz nicht erfüllt
+wird, zu den kleinen Zirkeln zu kommen, die sich um das Herrscherpaar
+versammeln und in denen »das System« gemacht wird. Ihnen allen
+gegenüber stehen die Ideen des jungen Prinzen, die er allerdings nicht
+in die Praxis umsetzt. Auch er ist Neuerungen nicht abhold. »Solange
+nicht die Arbeit selbst an den Thron für sich redend tritt und die
+Bureaukratie aufhört, der Dolmetscher der Interessen der Arbeit
+zu sein, kann es nicht besser werden. Es fehlen uns Staatsmänner,
+die ihre Schule im Volke gemacht haben.« Der Staat darf sich nicht
+nur auf die Institutionen der Gewalt stützen; er muß sich durch
+den Schutz der Arbeit, der Industrie, des Handels, des Ackerbaus
+befestigen. Der Adel ist nicht aufzuheben, sondern ihm ist das
+natürliche Nachwuchssystem zu belassen. In manchem verwandt und doch
+viel radikaler sind die Anschauungen Dankmars Wildungen, die des
+Dichters eigene wiedergeben. Er vertritt die Demokratie. Fort mit den
+Vorrechten des Adels nicht nur, sondern fort mit diesem selbst! Sonst
+ist kein Heil für die Menschheit. Dies Heil liegt in der Fortbildung
+der Freiheit. Mit dem Bestand von Dynastien könnte er sich aussöhnen,
+wenn er darin diese Fortbildung gesichert sähe. Aber die Monarchie ist
+ein Hindernis der Freiheit, denn sie züchtet durch Ehrenzeichen und
+Titel die Eitelkeit. Anderseits will auch er keine Revolutionen, keine
+allgemeine Zerstörung. Darum predigt er eine andere Gleichheit als die
+der Volksversammlungen, als die des Pöbels. Die besonnene Demokratie
+schwebt ihm als Ideal vor, und in ihrem Namen ruft er die Ritter vom
+Geist zum Bund gegen die Reaktion auf. Die Einzelheiten dieses Bundes
+sind etwas romantisch gedacht, aber wir können sie getrost beiseit
+lassen.
+
+Wir sehen: die Gedankenwelt des Romans führt uns tief, sehr tief
+in die Politik. Ein Bild der politischen Zustände und Meinungen
+gibt Gutzkow, das allseitig orientiert und mit staunenswerter Treue
+durchgeführt ist. Das Preußen nach der Revolutionszeit, die Zustände
+am Hof Friedrich Wilhelms +IV.+, die politischen Strömungen,
+die Geistesrichtungen -- das alles ist scharf erfaßt und klar
+wiedergegeben. Und das ist es, was diesen Roman vor vielen anderen
+auszeichnet. Er ist in der Anlage der Handlung mißglückt, durch seine
+unendliche Breite ungenießbar, er ist weitab von der Kunst, Handlung
+und Mensch wirklich in Eins zu setzen und so die Handlung aus den
+Menschen hervorgehen, die Menschen aus ihrem Handeln klarwerden zu
+lassen. Aber er betont mit all seiner Einseitigkeit wirkungsvoll die
+Aufgabe des Romans, ein wahres Weltbild zu geben. Und darum darf er
+nicht vergessen sein.
+
+Wir überspringen genau ein Jahrzehnt. Aus den Jahren 1860/61 bezw.
+1863 stammt ein anderer, gleichfalls weitberühmter politischer
+Tendenzroman, der aber in seiner Eigenart nicht nach den Gutzkowschen
+beurteilt werden darf: ~Friedrich Spielhagens~ erster großer
+Roman: »~Problematische Naturen~«, dessen Fortsetzung dann die
+Bände »Durch Nacht zum Licht« bilden. Das Werk führt auf die Insel
+Rügen, in die Kreise des Landadels. Ins Schloß Grenwitz kommt als
+Hauslehrer Oswald Stein, ein idealistisch gerichteter Demokrat und
+Adelshasser. Ihm schließt sich eng der ältere seiner Schüler an, ein
+Verwandter des Hauses, namens Bruno. Oswald bewährt noch eine andere
+merkwürdige Anziehungskraft: die Frauen fliegen ihm zu wie die Motten
+dem Licht. Frau Melitta von Berkow, deren Mann in geistiger Umnachtung
+lebt, wirft sich ihm in schrankenloser Liebe an den Hals, die jungen
+adligen Damen reißen sich um ihn, endlich wendet sich ihm auch das
+Herz der schönen Tochter des Hauses, Helene, zu. Diese Helene aber
+soll einen verlebten Verwandten, Felix von Grenwitz, heiraten. Sie
+schlägt ihn aus; die jungen Adligen provozieren zugleich einen Streit
+mit Oswald, der sie im Pistolenschießen und bei den Damen aussticht.
+Im Duell verwundet er Felix schwer. Bruno stirbt in gleicher Nacht und
+Oswald verläßt das Haus. Oswald ist aber, wie durch den leichtsinnigen
+Geometer Timm herauskommt, niemand anders als der uneheliche Sohn des
+früheren Herrn von Grenwitz, der berechtigte Erbe zweier Güter des
+Grenwitzschen Besitzes. Soweit die Erzählung in den »Problematischen
+Naturen«. »Durch Nacht zum Licht« führt in die Revolution hinein, der
+auch Oswald Stein zum Opfer fällt.
+
+Wie Gutzkows »Ritter vom Geist« die Zeit ~nach~ 1848, so
+schildern die »Problematischen Naturen« die Zeit ~vor~ 1848.
+Aber das Bild, das sie geben, ist weder so umfassend noch so wahr.
+~Nicht so umfassend~: denn wenn auch die wichtigsten Schichten
+der Gesellschaft ihre Repräsentanten finden, so ist doch bei ihrer
+Zeichnung viel stärker als bei Gutzkow das persönliche, individuelle
+Moment betont. Gutzkow gibt Typen bestimmter Anschauungen,
+charakteristischer politischer Richtungen. Ihn interessiert der
+Mensch fast nur, soweit er politische Anschauungen hat. Spielhagen
+geht viel tiefer ins Psychologische hinein. Er vergißt nicht,
+daß der Mensch in erster Linie als Einzelwesen, und erst sehr in
+zweiter Linie als ζῶον πολιτικὸν in Frage kommt. Eben darum vermag
+er es nicht, derart umfassend, wie Gutzkow getan, die Zeit zu
+schildern. Wenn aber Gutzkows Forderung, daß der Roman den ganzen
+Weltteppich zu schildern habe, unberechtigt ist, so liegt eben in
+Spielhagens Selbstbeschränkung Kunst und Einsicht. Ein Zeitbild
+gibt er ja trotzdem: es beschäftigt sich vor allem mit den Kreisen
+des Landadels. Daneben stehen aber auch Typen des Bürgertums: der
+Universitätsprofessor, der Landpastor, Landärzte, ein Kandidat der
+Theologie, der umsattelt und Mediziner wird, ein Geometer, eine
+Haushälterin, endlich eine Zigeunerin und ein paar Landleute. Das Bild
+ist kleiner als das Gutzkowsche; groß genug ists immerhin.
+
+Schwerer wiegt, daß es ~nicht so wahr~ ist wie dasjenige
+Gutzkows. Ich rede hier nicht von der ländlichen Umgebung, die
+freilich, soweit sie nicht in Meer, Kreidefelsen und Wäldern besteht,
+kein Leben gewinnt. Die paar Gestalten, welche hier auftauchen, geben
+keine Anschauung vom Landvolk. Gut, das hat Spielhagen auch nicht
+gewollt. Auch davon will ich nicht sprechen, daß der Bürgerstand wohl
+in einigen Exemplaren vorgeführt wird, daß aber auch seine Art, sein
+Wesen, seine Gesamtexistenz im Dunkeln bleibt. Den braven Bemperlein
+in allen Ehren, den +Dr.+ Braun nicht minder, -- sie bleiben
+doch, losgelöst von ihrer Umgebung, wie sie vorgeführt werden, allzu
+vereinzelt, um einen Eindruck vom Ganzen zu gewähren. Wo aber der
+Bürgerstand Spielhagen nicht sympathisch ist, da wird schon hier
+die Zeichnung geradezu unwahr. Das Bild des Pastors Jaeger ist eins
+der Pastorenzerrbilder, die bei Spielhagen auch sonst herumspuken,
+-- immer unwahr und immer schief. Aber das Hauptgewicht fällt auf
+den Adel. Wie steht es da um die Wahrheit? Helmut Mielke sagt mit
+bezug hierauf: »Man hat den Dichter der Übertreibung gescholten und
+ihm damit Unrecht getan; seine Schilderung z. B. des Ballfestes der
+Junkergesellschaft hinterläßt eher den Eindruck, daß er häßliche
+Details der Wirklichkeit unterdrückt als ans Licht gezogen hat.«
+Hier widerspreche ich entschieden. Das Bild ist unwahr durch und
+durch. Dieser Cloten z. B. ist so unglaublich albern, daß er in ein
+Karikaturenblatt gehört. Melitta von Berkow, Emilie von Breesen
+beginnen +sans façon+ allerliebste Liebschaften mit dem
+Hauslehrer eines anderen Hauses: lauter völlig verzeichnete Szenen.
+Die ganze Stellung Oswalds in dieser Umgebung ist einfach unmöglich.
+Ist der Hochmut und die Arroganz des Adels so groß, wie er beständig
+gemacht wird, dann nimmt eben der Hauslehrer nicht an allen Bällen
+teil, dann wird er eben nicht Liebling aller Frauen, Intimus eines
+Barons. Ich führe das nicht weiter aus; nur bezüglich des Ballfestes
+bei den Barnewitz halte ich gleichfalls ausdrücklich den Vorwurf der
+Übertreibung aufrecht.
+
+Indes der Titel des Romans deutet an, daß dem Dichter der
+Hauptnachdruck weniger auf dem Milieu, als auf den einzelnen
+»problematischen Naturen« gelegen hat. Problematische Naturen!
++Dr.+ Braun nennt sie »eine in unseren Tagen ziemlich weit
+verbreitete Spezies +generis humani+, Nachkommen des weiland vom
+Teufel geholten Doktor Faustus, +Faustuli posthumi+, so zu sagen,
+die den langen Dozentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen
+Ritterkostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im
+übrigen aber auf gut faustisch von Begierde zu Genuß taumeln und im
+Genuß nach Begierde verschmachten.« Sie haben das Größte vor, die
++aurea mediocritas+ ist für sie umsonst gepredigt, aber sie
+erreichen das Ziel nie, weil es ihre Kräfte überragt. Sie haben vor
+sich die »blaue Blume«. »Wissen Sie, was das ist? Das ist die Blume,
+die noch keines Sterblichen Auge erschaute und deren Duft doch die
+ganze Welt erfüllt. Nicht alle Kreatur ist fein genug organisiert,
+diesen Duft zu empfinden; aber .... all die närrischen Menschen waren
+es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel
+ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen
+kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen
+Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und
+aus dieser Krankheit ist keine Rettung, -- keine als der Tod. Wer
+nun einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine
+ruhige Stunde mehr in diesem Leben!«
+
+Und wirklich, in der Art, wie Spielhagen diese problematischen,
+rätselhaften Naturen geschildert hat, liegt auch der Hauptwert seines
+Buchs. Er hat damit ein Problem der Seelenkunde angerührt, das zu
+den dankbarsten gehört. Indem er sich diesem Problem zuwandte, hat
+er freilich die Wahrscheinlichkeit seiner Darstellung nicht erhöht;
+mag auch in der Zeit vor den 1848er Märztagen diese Spezies von
+Naturen nicht rar gewesen sein; sie finden sich hier doch ein wenig
+zu zahlreich. Da ist Oswald selbst, der die kühnsten Pläne, die
+stolzesten Ideen hat, der aber in der größten Gefahr ist, um des
+Weibes, besser um der Frauen willen, den von ihm gehaßten Junkern
+frappant ähnlich zu werden, der den Genuß in jeder Gestalt zu
+würdigen, ja sogar raffiniert auszukosten weiß, und der doch solche
+melancholischen Anfälle hat, daß ihm das Leben wie ein dumpfer,
+beängstigender Traum erscheint, der eines Freiherrn Blut in seinen
+Adern hat, aber sein Leben der Sache der Freiheit opfert. Neben ihm
+ist die am meisten problematische Natur der Baron Oldenburg, der
+einzige Gescheute und Edle in der ganzen Junkergesellschaft, der seine
+Standesgenossen verspottet, den Hauslehrer zu seinem Freund macht, im
+Grund aber immer ein Aristokrat bleibt, der alle Genüsse ausgekostet
+hat und jeden neuen Genuß mitnimmt, aber immer unbefriedigt, immer
+sehnsuchtsvoll bleibt. Da ist Melitta von Berkow, die Schöne und
+Kluge und Stolze, die doch so unendlich rasch Herz und Zurückhaltung
+verliert. Gewiß, interessante Rätselgestalten, die dem Roman ein
+eigenes Gepräge geben!
+
+Über die »Problematischen Naturen« urteilt Bartels: »Im Grunde hat
+Spielhagen dies Werk nicht übertroffen und ist auch ein Darsteller
+problematischer Naturen geblieben; fast in allen späteren Romanen
+wirkt er in der Hauptsache mit denselben Ingredienzien; die Anschauung
+wurde im ganzen nicht reifer und freier, die inneren Erlebnisse aber
+fielen weg.« Ich möchte hinzufügen: er ist späterhin in manchen, nicht
+in allen seinen Prosadichtungen auf eine niedere Stufe gesunken,
+auf die des Salonromans. Die »Problematischen Naturen« aber geben ein
+Bild der Schattenseiten und der Vorzüge seiner Romane. Ihr größter
+Ruhm ist eine Kunst der Darstellung, welche mannigfache Fäden zieht,
+aber alle mit einander verwebt und so eine spannende, einheitlich
+gefaßte und mehr und mehr konzentrierte Handlung zu wirkungsvollem
+Abschlusse bringt. Hierin übertrifft er ~alle~ Vorgänger.
+Zugleich gewinnen seine Personen ein wirklich persönliches Leben, und
+dies psychologische Moment verbindet er mit dem Gange der Handlung.
+Allerdings ist diese Verbindung nicht überall eng: Geschichten wie
+diejenigen von der Entdeckung der freiherrlichen Abstammung des Helden
+Oswald bilden einen geradezu störenden romantischen Einschlag in
+die naturgemäß verlaufende Handlung, wie denn auch sonst zahlreiche
+Unwahrscheinlichkeiten in Kauf zu nehmen sind. Ferner bemüht er sich
+ernstlich, ein lebendiges Bild der Zeitverhältnisse, in denen seine
+Menschen leben, zu entwerfen. Nur daß das Wort »Zeitverhältnisse«
+vielleicht schon zu weit greift; Zeit~stimmungen~ liegen ihm mehr
+noch als äußere Umstände, als das eigentliche Milieu. Immerhin, was
+gab er für Revolutionsschilderungen! Hier lag sein eigenstes Gebiet.
+Hier war ja auch ein Handeln, das zugleich ganz und gar Stimmung war.
+Endlich muß man im Gedächtnis behalten, daß er Tendenzschriftsteller
+war: in ihm loderte die adelhassende demokratische Gesinnung. Warum
+sollte er nicht solche Tendenz zum Ausdruck bringen? Der Wert seiner
+Werke sinkt für das objektive Urteil dadurch keineswegs. Aber, wie
+ausgeführt, die Tendenz ließ keine absolut wahre Schilderung zu.
+
+Auch die späteren Romane Friedrich Spielhagens kranken z. T. an diesem
+Übermaß von Tendenz. »~Die von Hohenstein~« (1863) setzen den
+Kampf gegen den Adel mit einseitiger Ausschließlichkeit fort, »~In
+Reih und Glied~« steht unter dem Zeichen Lassalles. Der Anspruch
+des empordrängenden vierten Standes macht sich energisch bemerkbar.
+Aber das Problem wird nicht sachlich durchgeführt: der Held, eine
+heroische Natur, geht eigene Wege und diese eigenen Wege führen zu
+einer höchst persönlichen Katastrophe, -- ganz wie beim wirklichen
+Lassalle. Die politischen Einschläge des Romans, Prinz wie Adel und
+Militär, zeigen auch hier den fast fanatischen Haß des Oppositionellen
+gegen jene führenden Klassen. »~Hammer und Amboß~« endlich will
+die soziale Frage lösen, freilich nur in der Idee. Die Lösung liegt
+in den Herzen der Menschen. Warum sind die Einen nur Hammer, die
+anderen nur Amboß? In Wirklichkeit ist doch »jedwedes Ding und jeder
+Mensch in jedem Augenblick beides zu gleicher Zeit.« Was die Welt
+verschlechtert, ist »die Wut zu befehlen und die sklavische Gier, sich
+befehlen zu lassen.«
+
+Es sind z. T. Meisterwerke in Kraft und Spannung, die uns hier
+begegneten. Politisch-tendenziös sind sie alle. Auch in anderem Sinn
+soll uns Spielhagen später begegnen. Inzwischen aber lassen wir nach
+den »Problematischen Naturen« wieder ein Jahrzehnt vergehen, um
+einem anderen Typus des tendenziösen Zeitromans näher zu treten. Die
+Politik hat aufgehört zu herrschen; die Fragen der Weltanschauung
+dominieren. Das entspricht nur dem Gange der Zeit. Um die Mitte des
+Jahrhunderts absorbierte die Politik die besten Kräfte, eine Unsumme
+von Interesse. Da griff auch der Romandichter ins politische Leben
+hinein, es zu beschreiben und -- zu beurteilen. Aber nun war das neue
+deutsche Reich gegründet; die eminentesten Lebensfragen der deutschen
+Nation waren gelöst. Es wäre sicher eine Unmöglichkeit gewesen, mit
+einem eigentlich politischen Roman derart auf die ~allgemeine~
+Teilnahme zu stoßen, wie man das ein oder erst recht zwei Jahrzehnte
+früher erwarten mußte. Um so mehr traten die Fragen der Weltanschauung
+hervor. Nicht sie allein; Spielhagens »~Sturmflut~« geißelt
+als einen Schaden der Zeit den Gründerschwindel. Aber die
+Weltanschauungsfragen, dazu die des im Anzug begriffenen Sozialismus
+waren jedenfalls Fragen der Zeit. ~Paul Heyse~ wagte den Wurf,
+sie in großem Zeitroman zu erörtern. Er schrieb 1873 »~Die Kinder
+der Welt~« und ließ später ähnliche Versuche folgen. »~Im
+Paradiese~« (1876) schildert das Münchener Künstlerleben; »~Der
+neue Merlin~« (1892) polemisierte gegen die Modernen in der
+Literatur. Am umfassendsten ist das Zeitbild, welches »~Die Kinder
+der Welt~« entrollen. Es muß genügen, bei ihm ein wenig länger zu
+verweilen.
+
+Den Gang der Handlung dieses Romans ausführlich wiederzugeben, kann
+ich mir ersparen. Alles dreht sich um das Lebensgeschick eines jungen
+Privatdozenten der Philosophie, der mit seinem kränklichen Bruder,
+der ein wenig Drechslerei treibt, in einem Berliner Hinterhaus eine
+Stube primitiver Art, die sogenannte »Tonne«, bewohnt. Er verliebt
+sich sterblich in eine problematische Schöne, genannt Toinette,
+natürliche Tochter eines Fürsten. Sie kann nicht lieben und darum auch
+ihn nicht lieben; als das klar ist und gleichzeitig auch der Bruder,
+der in idealer Hingebung ihr Herz für den Helden Edwin gewinnen
+wollte, stirbt, wird er krank und heiratet dann die Tochter eines
+christlichen Malers und einer jüdischen Mutter, Lea König, nicht ohne
+sie ernstlich zu lieben. Er wird Gymnasiallehrer, um einen Hausstand
+zu gründen. Auf einer Ferienreise begegnet er wieder seiner Toinette.
+Sie hat, ihrem Hang zu »herzoglichem« Auftreten nachgebend, inzwischen
+einen gräflichen Anbeter erhört und lebt als stolze Gräfin auf
+stattlichem Schlosse. Doch nun ist in ihr die »Fähigkeit der Liebe«
+wachgeworden; und die Folge ist die, daß sie ihren Grafen völlig
+ignoriert, als Edwin aber kommt, diesem gehören will. Da kämpft Edwin
+einen schweren Kampf; Liebe zu Toinette und Liebe zu Lea streiten
+in ihm. Die Treue siegt; er flieht Schloß und Versuchung. Toinette
+will ihm folgen, findet aber nicht ihn, nur seine Gattin, und gibt
+sich, besiegt von deren Liebe, selbst den Tod. Edwin und Lea finden
+dauerndes Glück.
+
+Muß ich um Verzeihung bitten, wenn diese Inhaltsangabe ein ganz klein
+wenig ironischen Beigeschmack hat? Ich glaube, das hat in der Sache
+selbst seinen Grund. Was für sonderbare Dinge mutet Paul Heyse dem
+Leser zu! Der Privatdozent mit dem drechselnden Bruder in ~einer~
+Stube des Hinterhauses; dürftig gekleidet, kaum den Anstand wahrend.
+Ja, kommt denn nie ein Student zu diesem Dozenten? Lea, sonderbarer
+Weise gerade der Sproß einer christlich-jüdischen Mischehe! Toinette,
+das übliche illegitime hochgeborene Wesen, wie solches in diesen
+Tendenzromanen feststehendes Requisit ist: eine ganz sonderbare
+Leidenschaft, immer Existenzen in den Mittelpunkt zu stellen, an denen
+irgend etwas unklar ist! Und nun gar die merkwürdigen Eigenschaften
+dieser Toinette, die eine Art Geburtsfehler sein sollen: weil ihre
+Mutter ohne Neigung zu jenem Fürsten nur auf Druck und Zwang hin
+seinen Anträgen Folge gegeben, so hat sie ein kaltes Herz mitbekommen
+--; aber sie hats doch wieder nicht als unveräußerliche Eigenschaft
+erhalten, sondern nur auf Zeit. In Summa: es sind keine Gestalten von
+Fleisch und Blut, die in den »Kindern der Welt« umhergehen, sondern
+Schemen aus der Welt der Ideale. Dieser Edwin, seine Lea, vor allem
+sein Bruder Balder, -- erdentrückte Traumgestalten!
+
+Vielleicht habe ich bei den äußeren Vorgängen schon zu lange verweilt.
+Sie sind dem Dichter wirklich nicht die Hauptsache. Im Gegenteil; sie
+sind ihm in erster und letzter Linie nur die Träger seiner Ideen.
+Auf der Gedankenwelt, welche sie äußern und glücklicherweise bis
+zu einem gewissen Grad auch betätigen, liegt alles Gewicht. Zwei
+große Heerlager stehen einander gegenüber: die »Kinder der Welt«
+und die »Kinder Gottes«. Einige Typen der »Kinder Gottes« mögen
+voranstehen. Die Professorin Valentin ist das Muster einer streng
+christlichen, in der Liebestätigkeit unermüdlich tätigen Dame.
+Zahllose Vereine absorbieren ihre Zeit. Aber auch in der Liebe ist
+sie sittenrichterlich streng. Ein gefallenes Mädchen, das sie früher
+beschäftigt, findet bei ihr keine Arbeit mehr; wohl aber bekommt es
+ein paar Taler und eine Empfehlung an ein Asyl. Dogmatisch denkt
+sie sehr eng; jede freie Richtung ist ihr verhaßt; ein heiliger
+Bekehrungseifer, rege Sorge um anderer Seelenheil mischt sich
+mit inniger persönlicher Anteilnahme am Geschick Nahestehender.
+Heuchlerischer Frömmigkeit gegenüber fehlt ihr unterscheidende
+Menschenkenntnis. Ein Typus, der zu den gelungensten des Romans
+gehört, wenngleich mancher Einzelzug gemildert werden müßte. -- Ein
+braver, edler Mensch und Christ ist der Maler König, Leas Vater.
+Schlichte, demütige Frömmigkeit scheint Heyse in ihm verkörpern
+zu wollen. Und zwar verbindet sie sich mit der wärmsten Liebe zu
+den Seinen. Sollte in diesem Charakter angedeutet werden, wie die
+christliche Demut zu weit gehn kann? Aber wir dürfen doch jene andere
+Szene nicht vergessen, da die Familie mit einem für Lea in Aussicht
+genommenen frommen Schwiegersohn im öffentlichen Gartenlokal durch
+die Witzeleien der am Nachbartisch die schöne Lea beobachtenden
+Offiziere getränkt wird. Der Bewerber findet den Mut zur Abwehr nicht,
+aber König selber findet ihn und erringt in vornehm-ruhiger Abwehr den
+entschiedenen Sieg. -- Von anderem Schlage ist der Kandidat Lorinser,
+dem seine mystische Frömmigkeit Deckmantel der abgefeimtesten
+Bosheit ist, der an Aufdringlichkeit, Heuchelei und Scheußlichkeit
+das Menschenmögliche leistet, dem keine Reinheit unberührbar und
+keine Wohltätigkeit unbetrügbar ist. Soll dieses Scheusal von einem
+Menschen die Theologen versinnbildlichen? Es scheint fast, daß er als
+bezeichnend für einen Teil derselben gelten soll; sonst findet sich
+nur noch das flüchtig hingeworfene Porträt eines zweiten Geistlichen,
+der ~gegen~ den Wunsch des Angehörigen (man staune!) am Grabe von
+Edwins herrlichem Bruder Balder erscheint und nichts als harte Worte
+über Unglauben und ähnliches zu reden weiß. Gänzlich verzeichnete,
+völlig verunglückte Charakterbilder! -- Endlich noch ein »Kind
+Gottes«, eine Fürstin, ein »Kindskopf«, der theologisiert, eine
+reizende blonde Gauklerin, ohne Charakter, die aber beständig von
+Calvinismus, Irvingianismus und Herrnhutern peroriert; alles in allem
+eine wenig wahrscheinliche Figur.
+
+Den »Kindern Gottes« stehen die »Kinder der Welt« gegenüber. Gott sei
+Dank! So wird dem Leser doch ordentlich wohl! Es sind ja auch ein paar
+Leute darunter, die ihre Schwächen haben. Der Arzt Marquardt z. B.,
+dessen sittliches Leben ein bischen zügellos ist und der eigentlich
+auch den Luxus etwas weit treibt. Und dann jene Leutnants, die eine
+ehrbare Dame beleidigen. Aber das sind ja selbstverständlich nur ein
+paar Ausnahmen. Selbst jener Marquardt ist doch ein aufopfernder,
+hilfsbereiter, selbstloser Freund. Und die anderen »Kinder der Welt«,
+-- in deren Nähe wird jedem heimisch. Was für ein Prachtexemplar von
+einem jungen Gelehrten, dieser Edwin! Welche Anspruchslosigkeit,
+Bescheidenheit! Welch gänzlicher Mangel an Strebertum! Geld,
+Gehalt, Avancement, Anstellung, alles Nebensache. Geld hat er auch
+nie; trotzdem fährt er übrigens beständig Droschke, statt zu Fuß
+zu gehen. Gegen den Bruder ist er von zärtlichster Fürsorge, von
+freundschaftlichster Offenheit, von tiefster Liebe, wennschon die
+eigenen Herzensangelegenheiten ihn zeitweis das Leiden des Bruders
+fast vergessen lassen. Er ist von tadelloser sittlicher Reinheit;
+seine eheliche Treue besiegt auch die schwerste Versuchung; er wird
+stets ein musterhafter Gatte und Vater sein. Bei alledem ist er ein
+Freidenker, ohne Glauben an Gott und Ewigkeit, ein Philosoph, der mit
+jedem Glauben gebrochen hat. -- Weniger gelehrt, aber ebenso ungläubig
+ist sein Bruder Balder, der anziehendste aller dieser Charaktere,
+ein Mensch von völliger Reinheit, von zartester Empfindung, von
+selbstverleugnender Bruderliebe. Er stirbt jung; und das ist ein Zug
+richtigen dichterischen Taktes. Menschen von solcher überirdischen
+Art gehören auf die Erde nicht. -- Edwins Gattin Lea kann gleichfalls
+nicht glauben. Sie ist ein tief angelegtes, grüblerisches Gemüt. In
+der Liebe zu Edwin verzehrt sie sich; erst als er den Weg zu ihr
+findet, lebt sie wieder auf. Dann wird sie eine verständnisvolle
+Gattin, eine beglückte, liebende Mutter. -- Eine problematische Natur
+ist Toinette, über deren äußere Verhältnisse schon die Skizze des
+Inhalts das Nötigste gesagt hat. Sie ist ein Zwitter von fürstlicher
+Hoheit und Großartigkeit einerseits, von bürgerlicher Liebe und Treue
+anderseits. Ihr fester Wille ist: nur in der Liebe gehören einem
+Mann. Daß sie dennoch dem Grafen folgt, den sie ~nicht~ liebt,
+findet freilich kaum eine halbe Erklärung. Aber dann kehrt sie, zumal
+nach des einzigen Kindes Tod, zur Treue gegen sich selbst zurück. »Es
+gibt nur eine Vornehmheit, sich selber treu zu bleiben«. Sie ist ein
+»tapferes, freigeborenes Herz«.
+
+Übergehen wir die anderen »Kinder der Welt«, die aufopfernden
+Freunde Mohr und Franzelius, die einsame und dann doch in der Ehe
+glückliche Christiane, das Reginchen und wie sie sonst heißen! Wir
+wollen auch nicht untersuchen, ob die einzelnen Charaktere nach dem
+Leben gezeichnet sind; eine Anzahl Fragezeichen wären da allerdings
+zu machen. Nur eins soll konstatiert werden: in der Zeichnung und
+Gegenüberstellung der »Kinder Gottes« und der »Kinder der Welt«
+zeigt sich kein Ablauschen der Wirklichkeit, sondern faustdicke
+Tendenzmalerei. Dem Dichter lag alles dran, seine Weltanschauung von
+recht vielen möglichst sympathischen Personen tragen und aussprechen
+zu lassen. Und diese Weltanschauung ist die der »Kinder der Welt«. So
+spricht Toinette sie einmal aus:
+
+-- »Wie soll sie verstehen, was mich den Gedanken, alles, was ich
+leide, sei die Veranstaltung eines allwissenden, allmächtigen und
+doch allerbarmenden Vaters, mit Hohn oder Abscheu zurückweisen läßt!
+Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschließen,
+durch eine große, blinde Fügung des Weltlaufs sich gefunden und
+vereinigt haben und ich an dieser schlimmen Konstellation zugrunde
+gehen muß, -- so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein
+Gottvater, der mich unsägliches Geschöpf +de coeur léger+ oder
+auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde
+herumlaufen ließe, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine
+Gratifikation in der Ewigkeit zukommen zu lassen, -- nein, lieber
+Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir
+das nicht plausibel machen.«
+
+Zur Ergänzung dienen die Worte, mit denen das Buch schließt:
+
+»Ist da (in unseren Menschenschicksalen) nicht Wonne und Weh
+untrennbar verbunden und in den höchsten Augenblicken zu einer reinen
+Stimmung verklärt, in der wir uns über unser kleines Selbst erheben,
+der Schmerzen spotten und zu groß und feierlich empfinden, um uns zu
+freuen? O Liebste, eine Welt, in der wir uns bis zu diesem Triumph
+über das Schicksal, das eigene und das unserer Geliebten, aufschwingen
+dürfen, in der das Tragische vom Hauch der Schönheit verklärt wird und
+mitten im Schauder über den Tod die höchste Lebenswonne uns durchbebt,
+bis Tränen unsere Brust erleichtern -- eine solche Welt ist nicht
+trostlos. Komm, wir wollen ins Leben zurück, zu unserm Kind, zu den
+Freunden. Wie sagt mein alter Freund Catull? »Laß uns leben, Geliebte,
+laß uns lieben!««
+
+Nicht um Recht oder Unrecht dieser Weltanschauung handelt es sich
+hier, sondern darum, daß Heyse zwischen Freunden und Gegnern dieser
+Anschauung Licht und Schatten in unerträglich parteiischer Weise
+verteilt hat. Dort fast alles Licht und blendendes Licht, hier fast
+nur Schatten. Dort Engel, hier Teufel. Dagegen protestiert die
+Wahrheit. Sein Roman ist von Bartels völlig richtig charakterisiert
+als »eine sittliche Tat, ein unerschrockenes Glaubensbekenntnis, aber
+freilich zugleich ein Zeugnis, wie fremd Heyse allezeit dem wirklichen
+Leben gegenüberstand, und als Kunstwerk verfehlt.«
+
+Drei recht verschiedene tendenziöse Zeitromane führte ich auf,
+verschieden an Inhalt und an Kunstwert. In der ~Form~ dieser
+Art Romane hat Spielhagen das Vollendetste geschaffen; an Umfang und
+Treue der Zeichnung steht er hinter Gutzkow zurück. Heyse aber liegt
+noch stärker im Banne der Tendenz. Aber es gibt auch einen Zeitroman
+im großen Stile, der der Objektivität den Vorrang vor der Tendenz
+zugesteht. Und erst in ihm erringt der Zeitroman seine höchste Blüte.
+
+
+
+
+Der objektivere Zeitroman.
+
+
+Schon die Erwägungen, welche der vorige Vortrag anstellte, führten zu
+der vorsichtigeren Unterscheidung von mehr oder minder tendenziösen
+Romanen oder von Romanen, bei denen die Tendenz über die Wirklichkeit
+siegt, und von solchen, in denen die Wirklichkeit oberster Richter
+bleibt. Man kann dieselbe Unterscheidung auch mit anderen Worten
+auszudrücken versuchen, indem man das Unterscheidungsmerkmal dahinein
+setzt, ~ob der Dichter sich über seinen Stoff zu erheben weiß oder
+nicht~. Wo haben wir solche?
+
+Ein Zeitroman, der ganz Zeit und ganz Person und doch nicht ganz
+Tendenz ist, ist ~Gottfried Kellers~ »~Der grüne Heinrich~«
+vom Jahre 1854. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß »Der grüne
+Heinrich« die persönlichsten Erlebnisse Kellers wiedergibt. Das trifft
+gewiß in weitem Umfang zu. ~Lediglich~ solche persönlichen
+Erfahrungen hat er aber nicht gegeben; Wahrheit und Dichtung
+sind künstlerisch verwoben. Und in dem Persönlichen ist zugleich
+Allgemeines dargestellt; wer in seiner Zeit mitlebt, ist ja in der
+Regel ein Spiegelbild der Strömungen dieser Zeit. Auch Gottfried
+Kellers Persönlichkeit ist das gewesen; und eben dadurch ist es auch
+sein »Grüner Heinrich« in hohem Grade geworden. Das Persönliche aber,
+welches diesem Werk anhaftet, gibt ihm nicht nur seinen eigenen Reiz,
+sondern es ermöglicht auch jene schlichte Natürlichkeit, welche wir
+bei Spielhagen und bei Heyse so sehr vermissen, jene Einfachheit, die
+den Zeitromanen Gutzkows so ganz abgeht. Die klassische Ruhe, die
+dem Ganzen den Charakter des Abgeklärten und Reifen gibt, ist durch
+dies persönliche Moment keineswegs in Frage gestellt. Keller spricht
+nicht als ein Suchender, dessen Seele von den aufgeworfenen Fragen
+noch bewegt würde, sondern als einer, der gefunden hat. Und was er
+durchlebt hat, ist wohl mit Anteilnahme an der eigenen Erinnerung, mit
+einem Anhauch eigensten Mitempfindens erzählt, aber doch so, daß man
+keinen Augenblick darüber im Zweifel bleibt: Es liegt ~hinter~
+ihm und es liegt ~unter~ ihm.
+
+Das Moment des Einfach-Natürlichen im »Grünen Heinrich« verbindet sich
+zugleich mit dem des Ehrlichen und Wahren. Man höre, wie er selbst
+seine Anschauung vom Wesen des Poetischen darlegt:
+
+»Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen.
+Ich hatte mir, ohne zu wissen, wann und wie, angewöhnt, alles,
+was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand,
+poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten
+Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern
+immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche
+mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der
+Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen
+Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Daseins wert macht;
+aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich
+nun, daß ~das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und
+Überschwengliche nicht poetisch ist~, und daß, wie dort nur Ruhe
+und Stille in der Bewegung, hier nur ~Schlichtheit und Ehrlichkeit
+mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches
+oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges
+hervorzubringen~, mit Einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit
+der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf.«
+
+Mit dieser schönen Darlegung ist die Frage freilich nur eben
+angerührt, welche später die Debatte über die naturalistische
+Kunst, ihr Recht und ihr Unrecht, hervorrufen sollte, die Frage,
+ob denn »~alle~ menschlichen Ereignisse« darstellungswürdig
+und darstellungsfähig sind. Keller löst sie im Vorübergehen ganz
+subjektiv: Alle Ereignisse, ~die ihn anregend berühren~, sind
+poetisch, wenn sie nur schlicht und ehrlich sind. Praktisch lag darin
+tatsächlich für ihn die Lösung: Unpoetisches regte ihn eben nicht an.
+Von hohem Wert aber ist die ruhige Energie, mit der Keller Zweierlei
+gleichsetzt: das Poetische einerseits, das Lebendige und Vernünftige
+anderseits. Welche Kriegserklärung gegen alle Romantik! Vielleicht
+läßt sich auch in bezug auf diese Gleichsetzung mit ihm rechten;
+aber ihr Kern birgt eine heilige Wahrheit: ~Alle Dichtung muß wahr
+sein!~
+
+Der »grüne Heinrich«, so genannt nach der bevorzugten Farbe seiner
+Kleidung, ist eines ehrsamen Schweizer Bürgers Sohn. Der Vater
+stirbt jung; unter der Obhut der Mutter wächst er auf. Sie erzieht
+ihn mit grenzenloser, aufopfernder Liebe, mit peinlichster Sorgfalt,
+freilich nicht überall mit völligem Verständnis. Ich gestehe, daß
+keine hohen Worte über Mutterliebe mir je so das Herz abgewonnen
+haben wie die schlichte Schilderung, die der »grüne Heinrich«
+vom Tun seiner Mutter gibt. Der Junge erlebt, was viele Kinder
+erleben: Jugendfreundschaften, Schulfreuden und -Leiden, unnütze
+Streiche. Von der Schule wird er relegiert, nicht ganz, aber doch
+beinahe ohne eigene Schuld. Die bitteren Worte, die er hierüber zu
+schreiben weiß, sind wohl ~zu~ bitter. Diese Entfernung von
+der Schule gibt seinem Leben die Wendung. Er bummelt eine Weile
+in der Mutter Heimatsdorf bei deren Verwandten; prächtige Bilder
+hat er uns aus jener Zeit gegeben! Da ist das Landvolk, da ist die
+Landarbeit in markigen Zügen geschildert; keine Idylle, erst recht
+kein Schauerbild; schlichte Wirklichkeit, aus der Erinnerung eines
+heranwachsenden Knaben, aber mit plastischer Kraft wiedergegeben. Dann
+entschließt er sich, Maler zu werden. Er geht in die Lehre zu einem,
+der die Malerei handwerksmäßig betreibt, lernt im Verkehr mit einem
+Künstler, bei dem freilich der Wahnsinn schon vorleuchtet, manches
+für seine Kunst, mehr noch in ernster Erfahrung fürs Leben, und hält
+sich dann Malens halber in München auf. Die Beschreibung der Münchener
+Erlebnisse in der Arbeit, im Vergnügen, im Umgang, in Entbehrung
+und Verschwendung ist reichlich breit gehalten, befriedigt auch in
+der Darstellung seiner Schicksale wenig. Neben dem künstlerischen
+Streben geht eine innere Entwicklung her, teils von wissenschaftlichen
+Vorlesungen, teils vom Leben beeinflußt. Ihren Abschluß findet diese
+Weltanschauungsentwicklung, die übrigens mehr eine intellektuelle
+als eine religiöse ist, im Schloß eines Grafen, in dem der »grüne
+Heinrich«, ehe er nach dem Ende des Münchener Aufenthalts heimwärts
+geht, längere Zeit verweilt. Zu Haus findet er die Mutter sterbend;
+Reue erfaßt ihn, aber er wird endlich frei von dieser Reue und tritt,
+die Kunst verlassend, in der er es zu nichts Rechtem gebracht, als
+Beamter in den Dienst des Staats. Wie früher schon, so sind mit diesen
+letzten Entwicklungsstadien reichliche Erörterungen politischer Art
+verbunden. Endlich durchzieht das Ganze -- wie könnte es anders
+sein? -- auch eine Art Entwicklungsgang der Stellung Heinrichs zu
+den Frauen. Die Jugendgeliebte stirbt; in München hält er sich ihnen
+im ganzen fern; jenes Grafen Töchterlein liebt er, aber er wagt die
+Werbung nicht und findet es richtig, daß sie ihm verloren geht.
+Mit einer merkwürdigen Frau, die ihm in der Zeit seines Dorflebens
+eigentümlich nahegetreten, bleibt er in Liebe und Freundschaft nachher
+innerlich verbunden, ohne daß sie äußerlich einander gehören.
+
+Der Reichtum dieser Entwicklungsgänge, die das Allgemein-Menschliche
+wie das Künstlerische, die Fragen der Weltanschauung wie der
+Politik umfassen, gibt dem Buch den Charakter eines groß angelegten
+Zeitromans. Wie das Hinzutreten des persönlichen Moments den Eindruck
+des Ganzen fördert, das ist oben ausgeführt. Aber auch an Schwächen
+fehlts nicht; und ich finde, daß sie stärker betont werden müssen, als
+jezuweilen geschieht. Es fehlt an der klaren, raschen Zusammenfassung,
+am straffen Gang einer einheitlich geformten Handlung. »Der grüne
+Heinrich« ist mehr Memoirenwerk als Roman. Manche Partien sind zu
+breit geraten; der Leser gewinnt den Eindruck, als wolle der Strom
+ausufern. Die Reflexion hat nicht bloß etwas Kritisierendes; das
+ist ja sehr gut und zeigt, wie Keller über seinem Stoff steht.
+Sondern zuweilen kommt er ins Moralisieren, ja ins Schulmeistern im
+unangenehmen Sinn des Wortes, geradezu ins Spießbürgerliche hinein.
+Und dann vermissen wir diese Kritik, gerade weil sie im übrigen so
+reichlich auftritt, um so mehr an anderen Punkten. Auf eins nur sei
+hingewiesen. Die Art, wie Heinrich sich gegen seine Mutter verhält,
+wie er sie darben und sorgen läßt für ihn und wie er das mühsamst
+Abgesparte alsbald wieder losschlägt, noch mehr die Herzlosigkeit, mit
+der er sie, die im Gedenken des einzigen Sohnes lebt, lange, lange
+ohne jede Nachricht läßt, um sie dann nur noch sterbend anzutreffen,
+diese Art ist durch die folgende Reuezeit nicht ausgeglichen. Hier
+hört das Verständnis auf, völlig auf. Wie bitter spricht Keller
+über die Schulbehörde, die ihm die Anstalt verwies! Aber wieviel
+bitterer mußte er nun über sich selber urteilen! Hier ist er kalt,
+ja hart. Und ein Alpdruck lastet von daher auf dem Leser. Auch das
+Wichtigste, die religiöse Entwicklung, ist doch nicht überall mit
+durchschlagender Kraft und Tiefe gezeichnet. Vielleicht nicht unwahr,
+aber darum doch, wo mit halben Gedanken abgeschlossen wird, auch nicht
+völlig befriedigend. Naturwissenschaftliche Erwägungen haben auf die
+Gestaltung dieser Anschauungen Einfluß, aber die Entscheidung geben
+persönliche Momente. Im Grafenschloß ists, wo diese Entscheidung
+fällt; und die atheistische Dorothea wirkt auf ihn ein:
+
+»Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens, ~durch
+Dortchens Augen gesehen~, ließ mir die Welt bald ebenso in einem
+stärkeren und tieferen Glanze erscheinen, wie es bei ihr der Fall
+war; -- ein sehnsüchtiges Glücksgefühl durchschauerte mich, wenn ich
+mir nur die Möglichkeit dachte, für das kurze Leben mit ihr in dieser
+schönen Welt zusammen zu sein.«
+
+Vielleicht entspricht die Schilderung der Lebenswirklichkeit. Solche
+Einflüsse entscheiden zuweilen. Aber den denkenden Leser befriedigt
+solche Entscheidung darum doch nicht.
+
+Endlich noch eins: ~die eigene Entwicklung des Helden behält etwas
+Unbefriedigendes~. Und das nicht etwa bloß mit Rücksicht auf die
+~äußere~ Resultatlosigkeit der langen Malerzeit daheim und in
+München. Vielmehr: der Leser empfindet deutlich, wie diese äußere
+Resultatlosigkeit mit Mängeln des Charakters zusammenhängt. So wie
+Keller den »grünen Heinrich« schildert, ist er vom Verbummeln nicht
+mehr fern. Daß aus der Malerei nichts wird, ahnt der Leser längst,
+längst, ehe der »grüne Heinrich« zur gleichen Erkenntnis kommt. Ein
+bischen mehr Energie, ein bischen schärfere Selbstkritik, ein bischen
+mehr Zielklarheit wünschten wir ihm. Keller selbst kritisiert diese
+Entwicklung fast nur durch die Art, wie er sie beschreibt, während
+er an anderen Punkten deutliche Worte ausdrücklichen Urteils findet.
+Die endgültige Wendung im Charakter des Helden kommt etwas spät und
+-- im Verhältnis zum Ganzen -- etwas rasch. Nicht jeder Leser wird
+~diese~ Schwäche des »Grünen Heinrich« völlig zu überwinden
+vermögen.
+
+Vom »Grünen Heinrich« nehmen wir Abschied. Von Keller selbst aber
+können wir noch nicht scheiden. Allerdings ist es unmöglich, die Fülle
+der Gesichte hier erstehen zu lassen, die seine übrigen größeren Werke
+bieten: sein »~Martin Salander~«, der die politischen Fäden des
+»Grünen Heinrich« weiterführt, der aber noch breiter ausführt, ohne
+gleiche Kraft und Tiefe zu zeigen, und der nach meinem Empfinden
+in der Darstellung erheblich weniger ansprechend, in Zeichnung und
+Räsonnement erheblich trockener ist, wennschon ein Hauch von biederem
+Bürgersinn den, der dafür Verständnis hat, erfrischend anweht;
+so ferner seine »~Sieben Legenden~« und seine »~Züricher
+Novellen~«. Wohl aber gilts, einen Augenblick zu verweilen bei
+jener berühmt gewordenen Novellensammlung, welche den Titel führt:
+»~Die Leute von Seldwyla~« (zuerst 1856). Ein sonderbares
+Städtchen, dies Seldwyla. Leichtsinn haben seine Bewohner in gehöriger
+Portion. Sie leben gemütlich und ohne sich zu überanstrengen, sie
+tun überall mit, wo etwas los ist, aber sie fehlen, wo es rechter
+Ernst ist, sie verstehen das Geldausgeben vorzüglich, aber das
+Geldverdienen ist ihnen zu mühsam; sie machen Bankrott, wenn sie in
+den besten Jahren sind, und angeln als Ausgediente zum Nahrungserwerb
+und zum Zeitvertreib. Aus diesem guten Städtchen der Phrasenhelden
+und Maulgrößen, der politischen Windmühlen und der moralischen
+Unbesorgtheit zeichnet Keller mit scharfem Stift, mit bitterer
+Satire und mit derber Moral eine Reihe von Charaktertypen. Da ist
+~Pankraz der Schmoller~, ein eigensinniger und zum Schmollen
+geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt
+nichts tat oder lernte, der aber dann in den Lehrjahren seines
+Lebens die Schmollerei verlernt. Er kommt ins Ausland; in Indien
+verliebt er sich in ein kokettes Mädchen, das nicht ruht, bis seine
+Liebe weißglühend geworden ist, um ihn dann ganz gehörig ablaufen zu
+lassen. In Afrika hat er ein Löwenabenteuer. Stundenlang muß er,
+der Waffe beraubt, dem Löwen unbeweglich fest ins Auge sehen, bis
+Hilfe kommt. So wird er vom Schmollen kuriert. -- Da sind »~die
+drei gerechten Kammmacher~«, wahre Ausbunde von Solidität und
+Tugend, die alle drei ein Kammmachergeschäft, in dem sie arbeiten,
+nach des Besitzers bevorstehendem Bankerott erwerben wollen und, um
+nur bleiben zu können, sich vom Meister drücken und schinden lassen.
+Sie wollen alle drei ein ebenso pedantisches Mädchen heiraten, das
+einen Batzen Geld hat und das keiner dem andern gönnt. Endlich kommt
+die Entscheidung; von dreien darf nur einer im Geschäft bleiben. Wer?
+darüber soll ein lächerlicher Wettlauf entscheiden. Zwei schießen, in
+einander verbissen, am Ziel vorüber, der dritte gibt das Laufen auf,
+sichert sich das Mädchen und bekommt mit dessen Geld das Geschäft.
+Da gehen die Unterlegenen hin: der eine hängt sich auf, der andere
+wird ein Liederjahn. -- Da ist ferner ~Frau Regel Amrain~, eine
+kluge Frau und noch klügere Mutter, die alle Schäden, an welchen
+Seldwyla krankt, wohl übersieht und darum ihren Jüngsten, in dem sie
+am meisten Hoffnungsgrund für zukünftige Entwicklung merkt, zu einem
+Mann heranzieht, der jenen Torheiten entwächst und, statt zu werden
+wie die andern, lieber fleißig, sittsam und tatkräftig sein und seiner
+Familie Wohl, auch nicht zuletzt das Wohl der Allgemeinheit fördern
+soll. -- Da begegnen wir »~Romeo und Julia auf dem Dorf~«, --
+eine Geschichte vom Zwist zweier bäuerlicher Nachbarn, die sich um
+ein Nichts verfeindet haben und nun die Fehde bis zum völligen Ruin
+beider Familien fortführen. Der Sohn der einen und die Tochter der
+andern Familie aber haben sich lieb und gehen schließlich gemeinsam
+in den Tod, -- nicht ohne vorher in freiem Entschluß ohne den Segen
+der Eltern und ohne die Ordnung der Sitte Hochzeit gefeiert zu
+haben. -- Aber wozu von jeder einzelnen dieser Novellen erzählen?
+Sie sind allesamt echte Kinder der Kellerschen Muse. Jeder liest
+sie gern in einer Stunde, die dem Nachdenken nicht allzu abhold
+sein darf. Jeder spürt in ihnen die Feinheit der Beobachtung, die
+Anschaulichkeit der Darstellung, die Tiefe der Gedanken und den Ernst
+des Urteils. Jeder freut sich der klaren Art, ein begrenztes Bild oder
+Bildchen menschlichen Lebens und Treibens herauszuarbeiten und den
+Faden der Handlung, die nur manchmal etwas sehr in die Breite geht,
+festzuhalten. Es sind Novellen, die zugleich fesseln und zu denken
+geben; und eine große Summe Lebensweisheit steckt in ihnen. Etwas von
+den Leuten von Seldwyla findet sich ja schließlich auch sonst auf
+der Welt! Immerhin will ich mit einem Bekenntnis nicht zurückhalten.
+So gewiß es richtig ist, daß Keller mit den besten Stücken dieser
+Sammlung gleich alles, was seine Vorgänger und Zeitgenossen auf dem
+Gebiet der Novelle bisher geleistet haben, übertrifft, so wenig
+kann ich ohne Einschränkung ein Urteil unterschreiben wie das, nach
+welchem sie »große und freie Poesie« sind, »von einer bedeutenden,
+wenn auch eigen gewachsenen Persönlichkeit getragen, von reichster
+künstlerischer Durchbildung, ebenso wahr und tief wie fein.« Mag
+vieles in diesem Urteil zutreffen, eins ist darin vergessen: der
+moralisierende Ton, der zuweilen etwas geradezu Pedantisches hat.
+»Frau Regel Amrain und ihr Jüngster« kann geradezu eine pädagogische
+Novelle genannt werden. Aber auch die anderen Stücke haben diese
+erziehliche Art. Und Keller hat es ~nicht~ immer verstanden,
+seine Moral ins Gewand »großer und freier Poesie« zu kleiden; er wird
+zum Kritiker, zum Schulmeister, zum Erzieher und vergißt dabei doch
+manches Mal den Dichter. Etwas von dieser Art findet sich in allen
+Werken Kellers; es hat mit dazu beigetragen, sie zu Zeitromanen und
+Zeitnovellen zu machen; denn was er kritisiert, sind ja Zeitsünden,
+Zeitschwächen. Aber ihren dichterischen Wert hat es nicht gehoben.
+
+Auch »Die Leute von Seldwyla« habe ich in die Gruppe der Zeitdichtung
+eingereiht: aus eben diesem jetzt angeführten Grund. Schweizer
+Bürgerleben in seinen Schwächen bildet überall den Hintergrund der
+Novellen. In die großen, flutenden Bewegungen der Zeit führen sie
+freilich nur gelegentlich ein. Aber muß ein Zeitroman wirklich das
+Ganze der Zeit umspannen? Wir warfen die Frage schon früher auf,
+aus Anlaß der Vorrede zu Gutzkows »Rittern vom Geist«; und wir
+beantworteten sie mit Nein. Muß ein Zeitroman auch nur die großen,
+weltbewegenden oder doch staatenerschütternden Strömungen skizzieren?
+Gibt er nicht auch ein Bild seiner Zeit, wenn er irgend ein konkretes
+Einzelgebiet herausgreift und zu intimer, lebendig-wahrer Darstellung
+bringt, selbst wenn es mit jenen politischen Strömungen nichts oder
+wenig zu tun hat? Den besten Beweis, daß auch ein solcher Zeitroman
+auf der Höhe stehen kann, gibt ~Gustav Freytags~ Buch »~Soll
+und Haben~«, das ein Jahr später als »Der grüne Heinrich« und ein
+Jahr früher als »Die Leute von Seldwyla« erschienen ist. Die Gestalten
+dieses Buchs stehen Ihnen allen vor Augen; Andeutungen werden
+daher zur Begründung meines Urteils ausreichen. Ins Weltgetriebe
+führt Freytag mit der polnischen Insurrektion, die der Kaufmann
+Schröter und Anton Wohlfart aus eigener Anschauung kennen lernen.
+Aber Freytags Interesse in diesem Roman ist nirgends politisch;
+auch jene polnischen Zustände kommen fast nur in ihrer Rückwirkung
+auf die Geschicke der Handlung T. O. Schröter, Kolonialwaren und
+Produkte, zur Geltung, daneben lediglich noch in ihrem Einfluß auf
+die persönliche Charakterbildung Anton Wohlfarts selbst. Die Firma
+T. O. Schröter in der Hauptstadt der Ostprovinz steht unbestritten
+im Mittelpunkt. Das Großkaufhaus in Breslau -- diese Stadt ist
+bekanntlich gemeint -- mit allen seinen Insassen und Angestellten
+macht uns zugleich mit Lebensart und -Haltung der Kreise bekannt,
+die in ihm ihren Mittelpunkt haben. -- Außerdem lernen wir in
+Veitel Itzig und Ehrenthal Typen unehrlicher Geschäftspraktiken
+kennen, in Hippus den Typus des abgefeimten Winkelkonsulenten,
+in der Familie von Rothsattel und in dem Tanzzirkel der Frau von
+Baldereck die Kreise des Landadels und des Offiziersstandes, in Fink
+den weiterblickenden, amerikanisierten Weltmann, der zugleich die
+strenge Lebenseinfachheit des deutschen Kaufmannsstandes aufgegeben
+hat. Sabine Schröter ist ein Bild zugleich deutscher Hausfrauenart
+und edler Weiblichkeit. Vielleicht ist das Gesichtsfeld des Romans
+nicht allzu weit; weit ~genug~ ists auf alle Fälle. Das solide
+Bürgertum der deutschen Stadt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts,
+mit Konzentration aller Interessen auf Beruf und Arbeit, mit
+keiner anderen Poesie als derjenigen eben dieses Berufs und dieser
+Arbeit, aber darum nicht ohne Gemüt und nicht ohne Herz, wird dem
+unsoliden Wuchertum wie dem glänzenden, aber minder fest auf der
+Arbeit aufgebauten gesellschaftlichen Leben der aristokratischen
+Kreise gegenübergestellt. Ist das kein Gegenstand, der für das Leben
+einer bestimmten Zeit charakteristisch wäre? Sehen wir nicht ganzen
+Schichten des deutschen Volkes ins Herz?
+
+Die Art, wie Freytag schildert, ist ganz und gar geeignet, ein
+wirkliches, klares und deutliches Bild eben dieser Schichten zu geben.
+Am meisten ausgeführt ist dasjenige der Firma T. O. Schröter. Hier
+ist er peinlich genau, bis ins Einzelne treu. Er erspart dem Leser
+nicht die gründlichste Beschreibung der Handelsbeziehungen und des
+Arbeitsbetriebs in dem großen Kaufhause. Er führt uns durch beinah
+sämtliche Räume desselben, durchs Kontor, den eigentlichen Herzpunkt,
+durch die Kellerräume, in denen die Waren lagern, durch die Wohn- und
+Prunkräume des ersten Stockwerks, wo die Angestellten mit der Familie
+des Prinzipals die Mittagsmahlzeit einnehmen, durch die Wohnzimmer
+des Hinterhauses, in denen Buchhalter und Kommis ihre bescheidenen
+Wohnstätten haben, durch Hof und Hausflur, wo Herr Pix die Auflader
+und Hausknechte regiert. Er zeichnet Charakterbilder von jedem
+Einzelnen der beteiligten Männer, von dem bescheidenen Liebold bis zum
+Aufladerobersten Sturm und dem Allerweltsfaktotum Karl. Er nötigt uns,
+die zeitraubenden Verhandlungen mit Schmeie Tinkeles anzuhören, und
+er vergönnt uns, die Tätigkeit des ersten Buchhalters mitzuempfinden.
+Wer wollte leugnen, daß ihm die Wahrheit den Pinsel geführt hat?
+Vielleicht ist Sturm, der Oberste der Auflader, ein bischen zu rühr-
+und redselig gezeichnet; vielleicht treten interne Psychologika,
+soweit sie nicht die Entwicklung der Menschen zu Geschäftsleuten
+betreffen, allzusehr zurück. Aber gerade das Geschäftsleben gewinnt
+durch diese Einseitigkeit; es ist ein prächtiges Bild, das Freytag von
+ihm gezeichnet hat.
+
+Aber auch alles Andere an diesem Roman ist treu und wahr. Freytags
+Liebe gehört ja ohne Frage ~diesen~ Menschen, vor allem dem
+braven und treuen, fleißigen und sorgfältigen, warmherzigen und
+tieffühlenden Anton Wohlfart. Um so höher ist es ihm anzurechnen,
+daß er es völlig vermieden hat, um seiner Lieblinge willen die
+andern Kreise zu karikieren. Man vergleiche getrost die Adelskreise
+in Spielhagens »Problematischen Naturen« mit den Rothsattels bei
+Freytag, ja mit der Frau von Baldereck und der Gräfin Pontak, mit
+den Leutnants von Zernitz und von Tönnchen! Die jungen Herren aus
+dieser Umgebung kommen nicht gerade gut weg. Aber dem jungen Kaufmann
+imponiert »ihre Art zu sprechen und sich zu geberden, vor allem eine
+gewisse ritterliche Atmosphäre, die sie umgab, etwas Salonduft, etwas
+Stallluft und viel von dem Aroma der Weinstube.« Und als Wohlfart
+später nach ernsthaft bewiesener, mutvoller Unerschrockenheit in Polen
+wieder mit einem Kreis von Offizieren zusammenkommt, da freut er sich
+des freien Verkehrs mit anspruchsvollen Menschen und läßt sich gern
+in den Zauber eines Kreises ziehen, welcher ihm für frei, glänzend und
+schön gilt. Und selbst der Leutnant von Rothsattel, der ein bischen
+reichlich stolz gewesen, erhält nun noch das Prädikat: »im Grunde
+ein verzogener, leichtsinniger, gutmütiger Mensch.« Und die übrige
+Familie von Rothsattel, der edle Freiherr voran, die prächtige Mutter
+nicht hinter ihm, die reizende, mutige, frische Lenore mit ihnen,
+gibt ein treffliches Konterfei schlesischen Grundadels, wennschon
+uns Jetzigen die geringe Gewandtheit des Freiherrn in geschäftlichen
+Angelegenheiten recht sonderbar vorkommt. Kurz, Freytag hat den
+Fehler vermieden, zu gunsten einer Menschenklasse andere ins Unrecht
+zu setzen; und wenn es in der Welt seines Romans im allgemeinen
+bürgerlich ordentlich, ehrbar und anständig zugeht, so hat er
+doch das gute Recht, gerade solche ordentlichen Menschenschichten
+zum Gegenstand seines Bildes zu machen. Die Schwächen jener
+bürgerlich-kaufmännischen Lebensauffassung läßt er ja keineswegs
+zurücktreten: etwas Pedantisches, etwas Philisterhaftes klebt ihr an;
+frei, glänzend und schön gestaltet sie das Leben nicht; aber ernst ist
+sie und reizlos ist sie auch nicht. Hören wir unsern Anton Wohlfart:
+
+»Ich weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft.
+Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die
+sich von einem Menschen zu dem andern, über Land und Meer, aus einem
+Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden Einzelnen
+und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen,
+und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten
+aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen;
+dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch
+ich mit helfe, und, so wenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß
+jeder Mensch mit jedem anderen Menschen in fortwährender Verbindung
+erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein.
+Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Wage setze, so knüpfe ich einen
+unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche
+die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauerburschen, der sie zum
+Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so
+sehe ich auf der einen Seite den Malayen kauern, der ihn zubereitet
+und einpackt, und auf der anderen Seite ein altes Mütterchen aus
+unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.«
+
+Und so wenig der ernste Mensch über diese Poesie der Kolonialwaren
+wird lächeln dürfen, so wenig kann er Antons weitere These bestreiten:
+
+»Wer ein ehrliches Geschäft hat, kann von unserm Leben nicht schlecht
+denken, er wird immer Gelegenheit haben, Schönes und Großartiges darin
+zu finden.«
+
+Was endlich an »Soll und Haben« rühmend hervorzuheben ist, das ist
+die Technik des Aufbaus. In dieser Hinsicht bezeichnet der Roman
+einen entschiedenen Fortschritt gegenüber Gutzkow und auch gegenüber
+Keller, vielleicht in mancher Hinsicht sogar gegenüber Spielhagens
+»Problematischen Naturen«. Gutzkow war breit und ließ die Handlung
+in zahllose lange Gespräche zerfließen; für lange Zeiten waren die
+Menschen für ihn nur dazu da, um ihre Ansichten einander möglichst
+offenherzig zu erzählen. Auch bei Freytag fehlen die Gespräche nicht;
+was ich eben an Urteilen über den Kaufmannsstand anführte, entstammt
+einem solchen. Aber sie treten zurück gegenüber dem Handeln. Das
+ist nicht immer ein Handeln im großen Stil; Ereignisse häufen sich
+nicht; es ist ein Geschehen im kleinen und kleinsten Maßstab; aber es
+charakterisiert und es fesselt. Bei Gutzkow Unwahrscheinlichkeiten
+und Abenteuerlichkeiten im äußeren Verlauf; bei Freytag ruhige, wenn
+auch nicht immer ganz folgerichtige Entwicklung auf solidem Unterbau.
+Und während Kellers »Grüner Heinrich« zeitweis den Charakter des
+Memoirenwerks trägt, gab Freytag seinem »Soll und Haben« auch in der
+Form mit aller Kunst ganz den Charakter des Romans. Ein einzelnes
+Menschenkind, Anton Wohlfart, eint in seiner Person die mannigfachen
+Fäden der Entwicklung: er ist mit Leib und Seele im Kontor bei T. O.
+Schröter, er beteiligt sich am Tanzkränzchen der Frau von Baldereck,
+er schwärmt für Lenore von Rothsattel, er verkehrt mit Bernhard
+Ehrenthal. Und so zersplittert sich das Interesse nicht; es begleitet
+die Entwicklung in Aufmerksamkeit und Spannung durch alle Stadien
+hindurch. Bald führt das eine Kapitel den Leser zu T. O. Schröter,
+bald das andere ins Geschäft zum Ehrenthal, bald das dritte ins
+Stammschloß der Rothsattel. Aber alle diese Einzelentwicklungen
+gestalten sich schließlich zu einem großen Ganzen und finden nach
+spannenden Akten ihren Abschluß, einen richtigen, Ruhe gebenden
+Abschluß. Verglichen mit den »Problematischen Naturen« Spielhagens ist
+Freytags »Soll und Haben« nach seiner Technik insofern im Vorteil,
+als hier nicht das geheimnisvolle Hineinwirken einer spät entdeckten
+vergangenen Tatsache zum Abschluß hilft, sondern einfache, klare,
+folgerichtige Durchführung der in der Anlage gegebenen Ansätze.
+
+Somit kann es nur mit Freude begrüßt werden, daß »Soll und Haben«
+eins der Lieblingsbücher der deutschen Gebildeten geworden ist. Auch
+vom modernen Standpunkt des Naturalismus +sans phrase+ aus soll
+man uns das Buch nicht verleiden. Es bleibt des Dichters gutes Recht,
+sein Thema so zu begrenzen, daß gewisse Tiefen nicht aufgerührt
+werden. Er begibt sich damit der Möglichkeit, problematische Naturen
+mit ihren Sonderbarkeiten zu zeichnen, feinädrige psychologische
+Probleme zu behandeln, und auch des anderen, einen Beitrag zur
+Lösung von Fragen der Politik oder der Weltanschauung zu geben.
+Aber er bringt nichtsdestoweniger ein Zeitbild, ein Bild tüchtigen,
+fleißigen Strebens, und er bringts in annähernd objektiver Weise,
+ohne allzustarke Satire, ohne Geißelhiebe nach rechts oder links, aber
+nicht ohne einen gewissen Humor, mag derselbe auch etwas nach dem
+Kontor schmecken.
+
+Ein Werk in der Art von »Soll und Haben« ist Freytag nicht wieder
+gelungen. »Die verlorene Handschrift« erreicht nicht entfernt die
+gleiche Höhe. Der Gelehrte, welcher die Handschrift sucht und darüber
+jeden praktischen Blick verliert, mag ja ein Produkt deutschen
+Wissensdranges sein. Aber wir fühlen es alle: er eignet sich weit
+mehr zum Objekt der witzigen Professorenanekdoten, wie sie ja von
+Mund zu Mund gehen, als zum Mittelpunkt eines großen Romans. Dazu
+ist er in seiner ganzen Art doch nicht genug Typus jener gründlichen
+Gelehrsamkeit, wie wir sie als eine Spezies unseres Vaterlandes
+schätzen und lieben. Der große Zyklus »Die Ahnen« aber wird an anderer
+Stelle zu würdigen sein.
+
+Vom objektiveren Zeitroman wollte ich reden. Unter Preisgabe der
+Politik hat Freytag eine hohe Objektivität erreicht. Wie steht es
+mit dem Zeitroman in späteren Zeiten? Finden wir nicht auch unter
+seinen Schöpfungen noch manches, was die Tendenz zurücktreten
+läßt? Ich glaube, das sogar von einigen Werken ~Spielhagens~
+behaupten zu dürfen. Nicht von dem 1887 erschienenen »~Was will das
+werden?~«, dem Anti-Bismarck, gilt das, -- auch nicht von »~Der
+neue Pharao~« von 1889, der die neue Zeit, die Zeit Bismarckschen
+Einflusses mit schwarzen Farben malt. Aber bis zu einem gewissen Grad
+ists ihm in der »~Sturmflut~« gelungen, einem Werk von wunderbar
+packender Kraft, einem der besten des Meisters, in dem Reichtum der
+Gedanken und Aktualität der Meinungsäußerung sich mit imposanter
+Kunst der Entwicklung und Durchführung einer vielgestaltigen Handlung
+vereinigen. Sturmflut bricht herein -- über das deutsche Volk: eine
+Flut von Gold im Milliardensegen nach dem französischen Krieg, eine
+Flut von Schwindel in Handel und Wandel, eine Flut von Verderbnis
+im sittlichen Leben der Familien und der Einzelnen. Sturmflut bricht
+herein -- über die Bewohner des Ostseestrandes und mit ihnen über
+ein Liebespaar, das die Schuld jener anderen Sturmflut auch auf sich
+geladen hat. Und wie die Bilder von dieser letzten, natürlichen
+Sturmflut zu dem Gewaltigsten gehören, was unsere Romanliteratur
+besitzt, so fehlt auch der Schilderung der Sturmflut roten Goldes und
+sittlichen Verfalls nicht die drastische Anschaulichkeit und nicht die
+innere Wahrheit. Obgleich Spielhagen sich und seine Tendenzen niemals
+ganz verleugnen kann, so hat er doch in diesem Buch auch den von ihm
+sonst mit Vorliebe befehdeten Adelskreisen ein wenig mehr ihr Recht
+gegeben. Auch in diesem Roman kann man, was Einzelzeichnung betrifft,
+manches finden, was mit der Wirklichkeit streitet; Spielhagen bringt
+es nicht fertig, einen Geistlichen anders zu zeichnen denn als einen
+gefühlsrohen und bornierten Fanatiker; und auch der Jesuit der
+»Sturmflut« ist allzu phantastisch herausstaffiert. Aber jedenfalls
+trifft die »Sturmflut« besser das Kolorit der Wirklichkeit als manches
+andere Produkt der Spielhagenschen Muse. Hier hat die unmittelbare
+Anschauung, die Gewalt seines Stoffs, die ernste sittliche Haltung
+gegenüber dem Schwindel und der Haltlosigkeit ihm die richtigen Farben
+in den Pinsel gegeben.
+
+Zeitromane objektiveren Charakters hat das Ende des 19. Jahrhunderts
+noch in Fülle gebracht. Lassen Sie mich nur noch die Bilder aus den
+Ostseeprovinzen nennen, welche ~Theodor Hermann Pantenius~ von
+übrigens christlicher und konservativer Weltanschauung aus gezeichnet
+hat. Und lassen Sie mich mit besonderer Freude des Dichters gedenken,
+der es wie keiner verstanden hat, das Leben der Mark Brandenburg
+anschaulich darzustellen: des feinsinnigen ~Theodor Fontane~.
+Nicht alle seine zahlreichen Romane sind von gleichem Wert. Vor allem,
+sie sind nicht sämtlich Zeitromane im vollen Sinne des Wortes. Sein
+»Vor dem Sturm« wird uns im nächsten Vortrag beschäftigen; hier gilt,
+was ins volle Leben der Gegenwart eingreift. Da hat auch Fontane
+nicht überall den Kreis weit gespannt, so weit, wie ein Zeitroman
+es nun einmal muß: über Schichten der Menschheit, über Klassen der
+Gesellschaft, über das Leben wenigstens eines ganzen Standes hin.
+Er bleibt zuweilen im engeren Umkreis des mehr Persönlichen, das
+keinen Anspruch darauf hat, für typisch zu gelten. Das hindert nicht,
+eben diese Dichtungen für Werke von hohem künstlerischen Wert zu
+erklären. Aber in dem Zusammenhang dieser Bilder haben wir ihm auch
+als einem Manne der Zeit und einem Künstler der Zeit unsern Tribut
+zu geben. Man hat bei seiner »Effi Briest« so gut wie bei seiner
+»Jenny Treibel« durchaus das Gefühl, daß er seine Gestalten nicht
+bloß nach der Seite des Allgemein-Menschlichen hin, sondern auch
+nach ihrer Eigenschaft als Glieder bestimmter Kreise hin als Träger
+allgemein geteilter Anschauungen charakterisiert. Effi Briest: das
+Landedelhaus, das ländliche Pfarrhaus und Kantorhaus! Die geselligen
+und gesellschaftlichen Verhältnisse in der pommerschen Kleinstadt!
+Die Familienverhältnisse im Haus des vornehmen Beamten! »Effi Briest«
+ist nicht lediglich Zeitschilderung; auch nach dem psychologischen
+Problem, welches hier zur Behandlung kommt, muß uns das Buch noch
+beschäftigen. Aber ganz und gar Zeitbild ist »Jenny Treibel«. Die
+gute Jenny Treibel mit ihrem wundervollen Idealismus und ihrem
+wunderbaren Realismus, mit ihren trefflichen Theorien und ihrer
+brutalen Praxis! Berliner Großstadtleben! Berliner Wohlstand und
+Mittelstand! Berliner Millionärsgefühle im Herzen einer liebenden
+Mutter! Und wieder nicht so, daß es heißen müßte: so sind sie alle.
+Aber wieder so, daß man sagen muß: diese Jenny Treibel ist mindestens
+kein Original, sondern sie hat eine Schar gleichgestimmter Schwestern
+in Berlin +W.+ und anderswo auch! -- Das umfassendste Zeitbild
+aber gibt Fontanes »~Stechlin~«. Hier steht im Mittelpunkt der
+märkische Edelmann, Herr von Stechlin, ein Mann von alter preußischer
+Art, mit patriarchalischen Neigungen, mit vornehmer Denkweise, mit
+konservativer Grundrichtung, dabei aber keineswegs ohne moderne
+Regungen. Im Gegenteil, manchmal ists, als sei die Tradition nur
+Schale, und der Kern sei ganz modern. Von pietistischer Frömmigkeit
+will er nicht viel wissen; ein einfaches männliches Christentum ist
+seine Sache, ein bischen undogmatisch sogar und doch wieder nicht ganz
+ohne jene Beimischung von Aberglauben, die der Dichter so sehr liebt.
+Neben ihm, wenn auch viel knapper skizziert, andere Vertreter des
+gleichen Standes, sein Sohn mit etlichen Freunden als Repräsentant des
+gediegenen jungen Offiziers, die alte würdige Stiftsdame im adeligen
+Fräuleinstift, der mit liberalen Anschauungen durchtränkte frühere
+hohe Beamte, die Pastoren: der schlichte, ein bischen ketzerische,
+sogar sozial denkende Landpfarrer Lorenzen, der weltgewandte,
+streberische Superintendent Koseleger, der prächtige Hofprediger
+Frommel in Originalaufnahme. Dazu Typen des Landvolks in einzelnen,
+aber ausgezeichnet getroffenen Porträts. Das ganze Bild greift nicht
+tief hinein in die Fragen, welche die Welt bewegen, obschon sie in
+manchem Gespräch ihre Rolle spielen. Im Grunde will Fontane weiter
+nichts, als durch solche Aeußerungen die Denkweise seiner Figuren
+beleuchten. Ihm liegt hier alles an der Schilderung, wenig oder nichts
+an der Handlung. In der ersteren aber ist er Meister. Man kann nicht
+richtig schildern, wenn man nicht auf das kleinste achtet; Fontane ist
+der begeisterte Freund feinster Kleinmalerei, in ihr und zugleich in
+der Objektivität derselben mit Gustav Freytag verwandt. Man wird ja
+bald der Mittel inne, die er braucht, um seinen Zweck zu erreichen. Er
+legt Gewicht aufs Milieu; der Mensch hängt eben von seiner Umgebung
+ab. Das Schloß, besser Herrenhaus, des alten Stechlin muß darum
+gründlich beschrieben werden, nicht etwa unter dem Gesichtswinkel
+berauschender Romantik, sondern unter dem der naturwahren Zeichnung.
+Die Dienerschaft gehört zum Schloß; alte Faktota geben ihm mit
+seinen Charakter. Die Kuriositätensammlung muß besichtigt werden;
+wie könnte man einen Mann kennen, ohne seine Schrullen zu kennen?
+Zeigt er seine Lieblinge nicht mit Grandezza oder mit Pedanterie,
+spricht er von ihnen mit ruhigem Humor, so gibt das eine wichtige
+Bereicherung unseres Wissens über seinen Charakter. Auf dem Land kann
+der Gutsherr nicht gezeichnet werden, wenn man ihn nicht nimmt, wie
+er sich der Umgebung gegenüber gibt: im Verkehr mit hoch und weniger
+hoch geborenen Nachbarn -- daher ihrer einige beim alten Stechlin auch
+zu Tische erscheinen --, im Verkehr mit dem Pastor -- daher Lorenzen
+seine in diesem Zusammenhang unbedingt richtige Stelle erhält; im
+Verkehr mit dem Lehrer und endlich mit den sonderbaren Gestalten,
+wie sie jedes Dorf aufweist. Desgleichen gebührt der Landschaft und
+ihren Eigenheiten Beachtung. Wer auf dem Landschloß zu Gast ist,
+besichtigt die Sehenswürdigkeiten, voran die Kirche und den See
+Stechlin, um den Sagengewirr sich gerankt hat, wie denn jede Gegend
+ihre landschaftlichen Geheimüberlieferungen besitzt. So führt Fontane,
+der Kleinmaler, seinen Pinsel. So zaubert er aus dem märkischen
+Sand Bilder von bestechender Liebenswürdigkeit, von gewinnender
+Gediegenheit, aber auch von wunderbarer Treue.
+
+Wirklich von wunderbarer Treue? Aber steht nicht auch Fontane im Bann
+seiner stark ausgeprägten Individualität? Merkt man nicht auf jeder
+Seite seine Liebe für die Mark, die märkischen Junker, die märkischen
+Kirchen und Landpfarrer, die märkischen Landleute? Klingt nicht aus
+allen seinen Romanen dieselbe Stimmung des eigenen Gebundenseins an
+die Mark wie aus jenem schlichten Vers unseres Dichters:
+
+ Kein Erbbegräbnis mich stolz erfreut;
+ Meine Gräber liegen weit zerstreut;
+ Weit zerstreut über Stadt und Land,
+ Aber alle im märkischen Sand!
+
+Daß diese Heimatsliebe ihm die Feder geführt hat, wird niemandem zu
+bezweifeln einfallen. Und es bleibt ja auch richtig, daß Fontane
+ebenso wie Freytag bei allem Realismus doch immer dem eigentlichen
+Naturalismus ferngeblieben ist; manche Gebiete menschlicher Art und
+Sitte bleiben für beide außer Ansatz. Sie zeichnen mit Vollendung
+das Leben, wie es sich dem scharfen Beobachter gibt, aber einem
+Beobachter, der nicht ans Licht zieht, was in der Regel sich selber
+mit Finsternis bedeckt. Nur muß man gerade Fontane unbedingt
+zugeben, daß er alles getan hat, um in dem Leser das falsche Gefühl
+~nicht~ aufkommen zu lassen, als bestünden solche Schattenseiten
+und solche dunkelen Einschläge nicht. Man merkt es wohl, daß er
+absichtlich an ihnen vorüberführt. Und es gibt manchen Leser, der ihm
+das danken wird. Naturtreu bleibt darum seine Dichtung doch.
+
+ * * * * *
+
+Und so glaube ich denn in der Tat, das Recht der Teilung des
+Zeitromans in einen tendenziösen und einen objektiven oder doch
+objektiveren praktisch erwiesen zu haben. Ich gestehe, daß gerade
+die Existenz dieser letzteren Gattung mir, wenn ich die lange
+Entwickelungsreihe des deutschen Romans durchmustere, eine ganz
+besondere Freude bereitet. Nicht als ob der Tendenzroman an sich
+minderwertig wäre: vor diesem Urteil bleiben wir hoffentlich so lange
+bewahrt, als wir dem freien Mann im Dichter seine freie Meinung
+gönnen. Aber je mehr die Tendenz ihm den freien, klaren Blick für
+das Wirkliche raubt, umsomehr leidet in der Tat die Kunst unter der
+Absicht. Da jubelt dann der mit Wirklichkeitssinn ausgestattete Leser,
+wenn er auf ein Gemälde trifft, das des Künstlers Herzensstellung wohl
+erkennen läßt, das aber in Farbe und Entwurf einfache, reine Natur
+atmet. Und wenn nun solches Gemälde, ohne gerade in Zeitstreitigkeiten
+tief hineinzugreifen, doch diese unsere Zeit mit ihren feinsten
+Regungen wiederzugeben weiß, dann fühlt man den hohen Wert desselben.
+Ein Spiegelbild ist's: Zeit, erkenne dich selbst! Ein Kritiker wirds:
+sieh zu, wo dein Fehler steckt! Ein Mahner bleibts: such dir die
+Menschen, die unserer Zeit vorwärts helfen!
+
+Wie auf anderen Gebieten, so hat auch auf diesem der deutsche Roman
+kein völlig eigensprossendes Wachstum gehabt. Allerdings: hier ist
+vielleicht seine tiefste Sonderart, sein eigentliches deutsches
+Wesen am klarsten zu schauen: deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit
+verbinden sich mit deutscher Gemütstiefe und Herzenswärme. So in
+»Soll und Haben«, so im »Stechlin«. Und auch deutsche Vorbilder
+haben eingewirkt: Wilhelm Meister, auch der Werther. Aber außerdem
+ist englischer Einfluß unverkennbar: Dickens hat sehr stark
+herübergewirkt. Und zwar Dickens mit seiner realistischen Kraft und
+mit seiner plastischen Einzelkunst. In »Soll und Haben« wird man
+hundertfach an Dickens erinnert, vielleicht nirgends deutlicher als
+in der Episode, in welcher Anton Wohlfart die energische Absicht
+zeigt, den Herrn von Fink auf Pistolen zu fordern. Und ist es Zufall,
+daß gerade dort auch Freytag sich ein paarmal des uns von Dickens
+her so vertraut klingenden Wortes »Gentleman« in ebendemselben
+gutmütig-humorvollen Sinne bedient, in dem jener es gebraucht hat?
+Bei alledem aber muß festgehalten werden: ~der Zeitroman mit seinem
+hellen Tageslicht, seiner unromantischen Wahrheitsliebe, seiner
+umfassenden, manchmal beinahe nüchternen Gründlichkeit ist und bleibt
+doch im Grund eine Schöpfung deutschen Geistes~.
+
+
+
+
+ Der historische Roman.
+
+
+Wie die erzählende Dichtung die Wirklichkeit zu erfassen suchte, indem
+sie ~vergangenes Leben~ neu erweckte, -- das Thema ist unendlich
+reich, denn historische Romane besitzen wir in Fülle. Und ob auch hier
+mit unterläuft, was man getrost der Vergessenheit anheimfallen lassen
+kann, ohne sich groß zu versündigen, -- zwei Gründe zwingen doch,
+bei Betrachtung des Heerzuges des historischen Romans durch das 19.
+Jahrhundert verhältnismäßig häufig anzuhalten. Der eine Grund: die
+Zahl der bedeutenden Schöpfungen ist auf diesem Gebiet nicht gering.
+Der andere Grund: auch minder Bedeutendes hat durch die Gunst der
+Lesewelt Anspruch auf Beachtung, mindestens auf Kritik erworben.
+
+Vielleicht könnte man darüber streiten, ob tatsächlich das Suchen
+nach Wirklichkeit das treibende Motiv des historischen Romans
+bilde. Denn auch die Romantik griff in die Tiefen der Geschichte.
+Und zwar nicht bloß mit jener Novelle »Michael Kohlhaas«, sondern
+auch mit Werken größeren Stils. ~Ludwig Achim von Arnim~
+ließ 1817 den ersten Band des mittelalterlichen Romans »~Die
+Kronenwächter~« erscheinen (Band 2 ist Bruchstück geblieben). Und
+wer traut der Romantik Sinn für die Wirklichkeit zu? Auch haftet
+den »Kronenwächtern« sicher genug Unwirklich-Romantisches an. Aber
+so wunderbar ist die Macht der Geschichte auch über das Gemüt eines
+Romantikers, daß er doch die Wahrheit sich selbst zur Führerin
+erkor. Freilich: »Dichtungen sind ~nicht Wahrheit, wie wir sie von
+der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern~, sie
+wären nicht das, was wir suchen, was uns sucht, wenn sie der Erde in
+Wirklichkeit ganz gehören könnten, denn sie alle führen die irdisch
+entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück.« Aber dieselbe Vorrede
+des Dichters, die diese Worte enthält, fordert für die Dichtung die
+höchste Wahrheit: »Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt,
+mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust als alles, was in
+der Geschichte laut geworden. Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu
+nahe, als daß sie den Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte
+in ihrer höchsten Wahrheit gibt den Nachkommen ahnungsreiche Bilder
+...«
+
+Wir stimmen dem zu, daß der Roman nicht gleiche Wahrheitspflicht
+hat wie die Geschichte, daß es auf die höchste, die innere Wahrheit
+ankommt. Und wir konstatieren, daß »Die Kronenwächter« bei allem
+dichterischen Schwung, bei aller Romantik ihrer Handlung, bei aller
+Unwahrscheinlichkeit ihrer Konzeption doch auch unter dem Banne der
+höchsten Wahrheit gestanden haben. Nur ist es mehr die Wahrheit
+mittelalterlicher Stimmung und Farbe, dazu die Wahrheit manches
+realistischen Zugs, als die Wahrheit aller Einzelgestalten und des
+Zusammenhangs, in den Menschen und Begebenheiten gestellt werden.
+
+Neben Achim von Arnim stehen noch andere Romantiker, die
+gleichfalls in vergangene Tage hineinzuführen gesucht haben. Da
+ist ~Wilhelm Hauff~ mit seinem noch keineswegs verschollenen
+»~Lichtenstein~« (1824), da ist ~Ludwig Tieck~ mit dem
+unvollendet gebliebenen »~Aufruhr in den Cevennen~«. Aber
+so hübsch der »Lichtenstein« zu lesen ist, -- als eigentlich
+geschichtlicher Roman kann er nicht gelten. Der geschichtliche
+Hintergrund bleibt in blasser Undeutlichkeit; was ist Sage? was
+Geschichte? Ähnliches gilt aber von allen jenen Werken: poetischer
+Zauber umhüllt uns, aber der feste Boden der Wirklichkeit entschwindet.
+
+Wie viel näher steht der geschichtlichen Wirklichkeit der eigentliche
+Bahnbrecher des modernen historischen Romans, der 1798 zu Breslau
+geborene ~Willibald Alexis~, mit richtigem Namen W. Häring
+genannt! Es ist kein Zufall, daß in ihm sich neue Kräfte regten, die
+Geschichte fruchtbar zu machen. Der Geist Walter Scotts war in ihm
+lebendig geworden. Seine ersten Romane gehen ganz in den Bahnen des
+englischen Dichters. Aber etwa seit dem Erscheinen von »Cabanis« 1832
+ward er dem Vorbild gegenüber selbständiger; und gerade die Vorliebe,
+mit welcher er in die Vergangenheit eines engeren Gebiets, der Mark
+Brandenburg, sich versenkte, hat diese Selbständigkeit gefördert. Ein
+Buch wie »~Die Hosen des Herrn von Bredow~« (1846) wird heut
+noch gern gelesen; derbe Natürlichkeit, massiver Humor und gemütvolle
+Erzählerkunst haben uns da ein ganz prächtiges Werk beschert. Trotzdem
+möchte ich eine kurze Charakteristik nicht an dies Buch anschließen,
+das immerhin das Allgemein-Menschliche dem Geschichtlichen gegenüber
+bevorzugt. Vielmehr verweile ich lieber einen Augenblick bei den
+großen historischen Romanen und aus deren Schar bei dem »~Roland von
+Berlin~« (1840). Mag »Der falsche Waldemar« sich die psychologische
+Aufgabe schwieriger stellen, gerade »Der Roland« ist für Alexis
+charakteristisch. ~Einmal~ in der Art, wie die Handlung
+geführt ist. Manche Szene packt, und auch wer das Ganze überschaut,
+findet fortschreitende Entwicklung, die das Ziel im Auge behält
+und bestimmtem Abschlusse zuführt. Die romantische Träumerei hat
+aufgehört, die Kraft wirklicher, notwendig fortschreitender Handlung
+ist vorhanden. Die beiden eng verbundenen Städte Berlin und Köln an
+der Spree liegen um die Mitte des 15. Jahrhunderts in bitterem Streit
+miteinander, sodaß das Band, das sie verbindet, schier zerreißen will.
+Zugleich tobt ein anderer Streit in den Mauern der Stadt: die Zünfte
+hadern mit den Geschlechtern, die Bürger mit dem Rat. Und das in der
+Zeit, in welcher die Gerechtsame der Stadt in heiliger Eintracht
+gehütet werden müßten. Kurfürst Friedrich +II.+ der Eiserne
+liegt auf der Lauer, eben diese Rechte unter die fürstliche Würde zu
+beugen. Wie ihm das gelingt, das wird in mannigfach verschlungenen
+Wegen berichtet. Wir wollen sie hier nicht nachgehen. Genug: der
+Bürgermeister von Berlin, Johannes Rathenow, dem der steinerne Roland
+zu Berlin das Zeichen der eigenen Gerichtsbarkeit der Stadt ist, muß
+es erleben, daß eben dieser steinerne Roland durch die Straßen der
+Stadt geschleppt und in der Spree versenkt wird.
+
+Was hier mit wenigen Sätzen angedeutet ist, ist selbstverständlich
+nichts als der beherrschende Grundgedanke des dreibändigen Romans.
+Die Füllung des Rahmens gewinnt Alexis von zwei Seiten her: aus
+der minutiösen Schilderung vielfacher Einzelszenen und in ihnen
+der Sitten und Art jener Zeit, und sodann aus dem Bericht über
+die Schicksale einzelner Menschenkinder, insbesondere der Elsbeth
+Rathenow, der schönen Tochter des stolzen Bürgermeisters, und des
+Henning Mollner, der die Schöne zum Weibe begehrt. Einzelgeschick und
+Gesamtgeschick sind mit kunstreicher Feinheit in einander verwoben;
+keine Beschreibung führt vom Gange der Gesamthandlung ab oder tritt
+unvermittelt oder wie überflüssig auf. Vielmehr ist alles zu einem
+Ganzen geworden. Und doch ist der »Roland« nicht bloß ein Dokument
+der Vorzüge dieser Kunst, sondern auch manches Fehlers derselben.
+Wenige, die der Roman heute noch wirklich zu fesseln imstande wäre!
+Warum? Weil der Gang der Handlung durch die Breite der Einzelszenen
+doch ein schleppender geworden ist, -- weil es schwer wird, unter
+allen den scheinbar wirren Ranken die leitenden Äste zu erkennen,
+-- endlich wohl auch, weil der Fäden zu viel sind, die gleichzeitig
+gezogen werden, und weil in der Darstellung selbst dem Leser nicht
+immer genügend klare Wegweisungen für das Verhältnis des Einzelnen zum
+Ganzen an die Hand gegeben werden.
+
+Aber noch in einer anderen Richtung ist der »Roland von Berlin«
+charakteristisch für die schriftstellerische Kunst seines Verfassers.
+Er läßt uns die peinliche Treue wie die meisterhafte Deutlichkeit
+seiner Detailschilderung merken. Hierin liegt in der Tat seine Stärke.
+Es ist nicht möglich, hier solche Kabinettstücke der Kleinkunst
+probeweise wiederzugeben: auch darin ist Alexis so breit, so minutiös,
+daß der Raum dafür nicht reicht. Aber wer den Roland gelesen, der
+lasse sich erinnern an das alte Rathaus zwischen Berlin und Köln mit
+seinem bunt verzierten Oberbau und den vielen zierlichen Türmchen.
+»Die Türmchen, nicht zur Verteidigung, es war nur Spielwerk, schauten
+nach allen Stadtteilen; der mächtige, aber vielfach ausgezackte Giebel
+aber war dem Spreeflusse zugewandt. Er durfte nach keiner der beiden
+Städte blicken. Wäre es doch zu Ungunsten der einen oder anderen
+gewesen. Das litt keine. Darauf gab man viel im Mittelalter und
+fürchtete und scheute das Spiel des Zufalls.« Es sei erinnert an die
+Beschreibung der stürmischen Ratssitzung, in welcher Niklas Perwenitz
+zu vermitteln sucht, an den Weg des Bürgermeisters durchs Straßenleben
+der Stadt nach dem Schummschen Hause in Köln, an das unübertrefflich
+drastisch gemalte Fest beim Ratsherrn Thomas Wyns und an anderes mehr.
+Viel zu breit ist manche der Szenen, aber lebendig, anschaulich und
+wahr sind sie alle.
+
+Ja ~wahr~! Das ist das dritte, was im Roland den Meister erkennen
+lehrt. Hier ist realistische Treue, gepaart mit kräftigem Humor,
+auch wohl im Gewand satirischer Überlegenheit, aber eben Treue.
+Keine Treue, die ihre Aufgabe darin sieht, ~alles~ zu sagen.
+Aber doch eine Treue, die das, was sie sagt, dem Leben abgelauscht
+hat. Du liebes kleines Berlin-Köln aus der Zeit Friedrichs des
+Eisernen! Du mit deinem stolzen Eigenbewußtsein und dem starren
+Selbständigkeitsgefühl! Was sind deine Ratsherrn für mächtige Leute
+gewesen, und welcher Reichtum hat in deinen Mauern sich geborgen!
+Wie steif ist dein Nacken schon dazumal gewesen, wie kritisch dein
+Verstand gegen alles, was von oben kam! Wie haben deine Bürger bei
+aller Würde doch auch zu lachen gewußt; und was für lose Mäuler haben
+ihre Witze gerissen! Es ist das Berlin des Mittelalters, welches der
+Roland erstehen läßt; aber wir zweifeln nicht: es ist der richtige
+Vorfahr des Berlin von heute!
+
+Wilibald Alexis hat dem historischen Roman endgültig die Bahn
+gebrochen. Wer seine Werke vor allem auf die Kraft der Spannung,
+auf gedrungene Zusammenfassung, kurz auf die Kunst der Gestaltung
+des Ganzen ansähe, würde oft enttäuscht sein. Wer aber das Einzelne
+ansieht, die Plastik der Kleinmalerei und die Schönheit des
+Gesamtbildes der Zeiten, die er beschreibt, der wird ihn immer mit
+Bewunderung nennen. Nun ist dem Durchschnittsromanleser freilich
+nichts schrecklicher, als wenn der Autor zu breit wird; und wer
+möchte nicht zugeben, daß der Fehler groß ist? Aber anderseits
+sollten ausdauernde Naturen von feinem historischem Geschmack doch
+immer wieder einmal auf ihn zurückgreifen. Denn in der Art, wie er
+die Geschichte für die Dichtung genützt hat, steht er, obwohl erst
+Bahnbrecher, doch bereits auf der Höhe.
+
+Überschauen wir nun das weite Feld des historischen Romans nach
+W. Alexis, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts! Als
+gemeinsames Charakteristikum stelle ich fest: der romantische Zauber
+ist abgestreift, manchmal auch der poetische Duft; jedenfalls droht
+von daher der nüchternen Erfassung der Wirklichkeit keine Gefahr mehr.
+Wer für jenen Zauber Sinn hat, mag wohl trauern, daß er dahin ist;
+er gibt doch tatsächlich einen eigenen Reiz. Wenn er nur überall zu
+gunsten der geschichtlichen Wirklichkeit sein Reich verloren hätte!
+Aber es haben längst nicht alle Dichter von W. Alexis ernstlich
+gelernt.
+
+Lassen Sie mich Ihnen zuerst diejenige Linie in der Geschichte des
+historischen Romans weiterführen, welche eine wirkliche Entwicklung
+zur Vollendung hin am merkbarsten spüren läßt! Das ist die Linie,
+welche von W. Alexis her über ~Scheffel~ und ~Riehl~ auf
+~Freytag~ hinführt, in ihm aber keineswegs ihr Ende erreicht.
+Was hier kurz zu skizzieren ist, das ist die Entwicklung des
+~kulturhistorischen Romans~.
+
+Wie unendlich verschieden kann die Methode sein, in welcher der
+Romanschriftsteller Geschichte und Dichtung vermählt! Das kann ja
+scheinbar geschehen, ohne daß von der Geschichte mehr entlehnt wird
+als der äußere oder gar äußerste Rahmen. Statt daß man die Jahreszahl
+1800 und so und so viel an den Anfang setzt, greift man eben ein paar
+Jahrhunderte zurück. Irgend eine Größe der gewählten Zeit muß in
+ein paar Szenen auftreten, -- aber mit Vorsicht, damit man nicht in
+Konflikt mit der Geschichte komme. Der Stand und Beruf, die Kleidung
+und etwa noch die Sprache der handelnden Personen wird ein wenig in
+altmodisches Gewand gehüllt, wobei es weiter keine Rolle spielt, ob
+jemals Leute auf dem Erdenrund so gesprochen haben, wie die Figuren
+im sogenannten geschichtlichen Roman. Sodann wird eine Anzahl Zutaten
+hereingegeben -- ein bischen Heldenmut aus den Kreuzzügen, ein Quantum
+Glaubenstreue aus der Reformationszeit oder eine Portion Kriegsgreuel
+aus dem dreißigjährigen Krieg. Und wenn nun noch der nötige Pfeffer
+nicht fehlt, um die Sache zu würzen, und ein Stückchen Zwiebel dabei
+ist, das die Tränen lockt, dann stürzt sich die Leserschar auf den
+»herrlichen historischen Roman«. Aber die Maskerade kann den ernsten
+Beurteiler nicht täuschen. Wann wäre je einer dadurch ein Ritter
+geworden, daß er sich eine Rüstung übergeworfen und mächtig mit dem
+Harnisch geklirrt hat?
+
+Aber warum entwerfe ich hier diese Karikatur eines historischen
+Romans? Lediglich, um durch den Gegensatz das Bild des
+kulturhistorischen Romans schärfer herauszustellen. Vom Februar 1855
+ist das Vorwort datiert, welches ~Josef Viktor von Scheffel~
+seinem »~Ekkehard~« mitgegeben hat. Dies Vorwort bestimmt
+es scharf und klar als die Aufgabe des historischen Romans, im
+gegebenen Raum eine Reihe Gestalten scharf gezeichnet und farbenhell
+vorüberzuführen, »~also daß im Leben und Ringen und Leiden der
+Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild
+zusammenfaßt~.«
+
+Scheffel verlangt für den Roman die Anerkennung als ebenbürtigen
+Bruder der Geschichte; aber dem Roman, dem diese Anerkennung gebühren
+soll, mutet er auch zu, daß er auf historischen Studien ruhen muß.
+Von seinem »Ekkehard« meint er: »Daß nicht viel darin gesagt ist, was
+sich nicht auf gewissenhafte kulturgeschichtliche Studien stützt,
+darf wohl behauptet werden, wenn auch Personen und Jahrzahlen,
+vielleicht Jahrzehnte mitunter ein weniges in einander verschoben
+werden.« Und in der Tat, -- indem er diese geschichtliche Sicherheit
+mit nicht weniger als 285 gelehrten Anmerkungen stützt, ist er der
+Geschichts~wissenschaft~ fast zu sehr entgegenkommen.
+
+Das Beste ist nun freilich, daß uns Scheffel nicht bloß ein Programm
+gegeben, sondern daß er eben dies Programm auch trefflichst ausgeführt
+hat.
+
+Wer jene Anmerkungen liest, dem kann bange werden, ob er nicht einem
+pedantischen Gelehrten in die Hände gefallen sei. Aber das Bangen
+ist unnütz. Im »Ekkehard« pulsiert so frisches, munteres Leben wie
+in wenigen anderen Büchern. Er selber erzählt, wie ihm dies Leben
+erwachsen ist. Die alten Quellen hat er studiert: da »hob und baute
+es sich empor wie Turm und Mauern des alten Gotteshauses St. Gallen,
+viel altersgraue ehrwürdige Häupter wandelten in den Kreuzgängen
+auf und ab, hinter den alten Handschriften saßen die, die sie einst
+geschrieben, die Klosterschüler tummelten sich im Hofe, Horasang
+ertönte aus dem Tor und des Wächters Hornruf vom Turme. Vor allen
+anderen aber trat leuchtend hervor jene hohe gestrenge Frau, die
+sich den jugendschönen Lehrer aus des heiligen Gallus Klosterfrieden
+entführte, um auf ihrem Basaltfelsen am Bodensee klassischen Dichtern
+eine Stätte sinniger Pflege zu bereiten ...«
+
+Wir wissen aber, welche Fülle anderer Gestalten den »Ekkehard« belebt:
+fürstliche Burggenossen -- vom Kämmerer Spazzo und der Griechin
+Praxedis bis zur Gänsehirtin Hadumoth, daneben Weltpriester und
+Waldfrau, und nicht zuletzt der wimmelnden Hunnen Gewühl. Wir wissen
+alle, wie diese Gestalten Leben bekommen, wie die ganze Zeit des 10.
+Jahrhunderts, wie die ganze Gegend dort am Bodensee in ihnen Leben
+gewinnt. Und wer hätte sich nicht schon an der Form erfreut, in
+welcher Scheffel jenes dunkle Jahrhundert erweckt hat?
+
+Die Schwerfälligkeit eines W. Alexis ist gründlich überwunden, die
+Handlung ist kräftig zusammengefaßt und fesselnd gestaltet, Brauch
+und Sitte sind selten besonders beschrieben, -- die Handlung selbst
+läßt sie erkennen. Das Ganze ist durchweht von goldenem Humor. Wir
+danken dem Dichter, daß er ein wirkliches, echtes Kulturbild gegeben,
+und verschmerzen es auch, daß er es für nötig befunden hat, diese
+Echtheit ein bischen aufdringlich zu bescheinigen; wir freuen uns
+über die Leichtigkeit der Behandlung, den Fluß der Darstellung,
+die Anmut der Schilderung. Denn von der Vorstellung sind wir doch
+hoffentlich los, als ob alles, was tüchtig ist, langweilig sein müßte!
+-- Der »Ekkehard« ist ein Buch des deutschen Volks geworden, mag man
+sonst über Scheffels Poesie denken, wie man will. Ein Arno Holz, der
+Scheffels Gedichte gar nicht leiden mag, singt an seine Adresse:
+
+ »-- Jahrzehnte lagen sie uns zur Last,
+ Deine altdeutsch jodelnden Leute.«
+
+Aber er fährt fort:
+
+ »~Doch daß Du den Ekkhart geschrieben hast,
+ Das danken wir Dir noch heute!~« --
+
+Nicht eben weit ab von Scheffels Programm ist dasjenige, welches
+~Wilhelm Riehl~ 1856, ein Jahr später, bei der Herausgabe
+seiner ersten »~Kulturgeschichtlichen Novellen~« aufgestellt
+hat. Zu diesem Programm gehört, daß die handelnden Personen
+selbst nicht geschichtlicher Überlieferung entstammen, sondern
+freigeformte Charaktere sind. Gerade so glaubt Riehl am besten die
+Gesittungszustände, die Kultur eines bestimmten Zeitabschnitts
+darstellen zu können. Aus diesen Kulturzuständen heraus müssen
+die Menschen selbst mit ihrem Wesen, ihren Leidenschaften, ihren
+Konflikten geschaffen sein. In Wirklichkeit ist diese Forderung
+im wesentlichen schon im »Ekkehard« erfüllt, wenngleich Scheffel
+überlieferte geschichtliche Namen lebendig gemacht, nicht eigens neue
+Gestalten geschaffen hat. Ist das wirklich ein großer Unterschied?
+Wenn man Riehls Absicht recht versteht, so ist sein Programm
+doch als der schärfste Gegensatz zu jenem vorhin geschilderten
+äußerlich-historischen Roman zu verstehen, der sich an große Namen
+und große Zeiten anlehnt, aber damit der Geschichte genug getan
+zu haben glaubt. Er überspannt den Gegensatz: gar nichts, was in
+der sog. Geschichte eine Rolle spielt, sondern ~nur Kultur~!
+Sicher ist auch sein Programm berechtigt, aber nicht als das einzig
+richtige, sondern als eins, das neben sich das eng verwandte
+Scheffelsche Programm sehr gut verträgt. Ja, es dürfte so stehen,
+daß Riehls Programm kaum weiter reicht als für die kulturhistorische
+~Novelle~. Der Roman, der weiter ausholt, der nicht bloß ein
+Bildchen, sondern ein großes, weites Bild geben will, kann nicht
+~bloß~ bei jenen Gestalten stehen bleiben, welche die Phantasie
+frei als Träger bestimmter Zeitkultur erfunden hat. Er muß weiter
+greifen, und zwar ins geschichtlich Überlieferte hinein. Sonst
+würde er schließlich selber sein Programm der geschichtlichen Treue
+verleugnen.
+
+Die Novellen, welche Riehl selbst in großer Zahl geschaffen hat, geben
+ganz im Sinn seiner Absicht treffliche, feine, kleine Einzelbilder
+aus der deutschen Vergangenheit. Sie sind nicht so graziös wie der
+»Ekkehard«; man merkt etwas deutlicher den Gelehrten. Aber sie sind
+überall fesselnd und graben bei aller Kleinheit überall in die Tiefe
+des geschichtlichen Lebens hinein. Sie verdienten mehr Beachtung, als
+ihnen gemeinhin zu teil wird.
+
+Der »Ekkehard« und Riehls Novellen, sie bedeuten ein Programm. Ohne
+ein ausdrückliches Programm hat vorher schon ~Meinhold~ in seiner
+»~Bernsteinhexe~« (1843) ein ähnliches Bild geschaffen. Aber
+der größte Wurf geschah in der Nachfolge dieses Programms: ich meine
+~Gustav Freytags~ großes Werk »~Die Ahnen~«, das von 1872
+bis 1880 erschien. In sechs Bänden gibt der Dichter hier eine Reihe
+von Bildern aus der Geschichte eines Geschlechts. Ein Zeitraum von
+anderthalb Jahrtausenden soll in seinen charakteristischen Epochen dem
+Leser lebendig werden. »Ingo« und »Ingraban« führen in uralte Zeiten;
+die Jahreszahlen 357 und 724 stehen ihnen voran. Sitte und Brauch, Art
+und Recht in den Wäldern der Thüringe kündet uns »Ingo« in kraftvoll
+gezeichneten Linien, in schwungvoller Darstellung, in vollendet
+fesselndem Abschluß. Ingo, der Königssohn aus Vandalenstamm, und
+Irmgard, Fürst Answalds Tochter von Thüringer Blut, -- sie haben der
+Deutschen Herz gewonnen. Und wie hier das Tosen der römischen Waffen
+von fernher hineinschallt in die Stille germanischer Waldeinsamkeit,
+so erklingen in »Ingraban« die Kampfrufe aus dem Streit zwischen
+Deutschen und Wenden. Aber zugleich erleben wir hier den Geisterkampf
+mit: Christentum ringt mit dem Heidentum, die sieghafte Religion mit
+der niedergehenden, Winfried-Bonifatius tritt neben Ingram-Ingraban.
+Einen starken Schritt vorwärts liegt »Das Nest der Zaunkönige«. Nicht
+mehr gegen Römerübermut kämpft deutsche Kraft; auch die wendische
+Gefahr ragt in dies Buch nicht mehr hinein. Unter einander streiten
+des Volkes Glieder. Der Sachsenkönig Heinrich +II.+, der seit
+dem Jahre 1002 das Zepter führt, muß seine Herrschaft gegen die
+übelwollenden Großen des eigenen Landes schirmen. Die Schilderung
+deutscher Uneinigkeit, dazu aber überragender Königskraft und endlich
+mittelalterlichen Klosterlebens wird mit den persönlichen Interesse
+an Immo, dem Klosterschüler und späteren Helden, und seiner geliebten
+Hildegard verwoben. Das »Nest der Zaunkönige« vermag nicht ganz im
+gleichen Maß für sich zu gewinnen wie die beiden ersten Stücke; mag
+sein, daß der starke Gegensatz zwischen fremder und heimischer Art,
+der hier fehlt, dort wesentlich die packende Kraft gehoben hat.
+Vielleicht ist doch auch die Anlage dieses Buchs etwas zu breit. Auch
+die »Brüder vom deutschen Hause«, welche den dritten Band bilden,
+erreichen nicht die geschlossene Vollendung der ersten Bilder. Sie
+erzählen eine Lebensgeschichte, aber sie berücksichtigen dabei allzu
+wenig die Einheit der Entwicklung, als daß der Romancharakter gewahrt
+bliebe. Herr Ivo, der Thüring, ists, der daheim in Minnedienst und
+ritterlicher Art, auf dem Kreuzzug in merkwürdigen Abenteuern, dann
+wieder daheim im Konflikt mit der ketzerverfolgenden Kirche, endlich
+als Glied des deutschen Ordens geschildert wird. Auch hier ist durch
+Ivos Verehrung der edlen Agnes von Meran, dann durch sein und der
+schönen Friderun Herzensbündnis für menschliche Teilnahme gesorgt.
+Die Bilder mittelalterlichen Lebens, welche dieser Band entfaltet,
+sind reicher als die der früheren Bände. Kaiser Friedrich +II.+,
+der Ketzerrichter Konrad von Marburg, die heilige Elisabeth, -- sie
+alle grüßen den Leser. Aber neben den Mängeln der äußeren Gestaltung
+steht doch der andere Mangel, daß eben diese großen Gestalten nicht
+recht treu und echt gezeichnet sind. -- Es ist sonderbar, daß Freytag
+gerade da, wo er große weltgeschichtliche Gestalten in die Welt seiner
+Phantasie eingreifen läßt, kein rechtes Glück hat; der Martin Luther,
+der am Schlusse der nächsten Abteilung, die den Titel »Markus König«
+führt, eine schwierige Frage mit spitzfindigem Scharfsinn löst, ist
+auch nicht der Martin Luther der Geschichte. Sonst freilich ist
+»Markus König« einheitlicher als die »Brüder vom deutschen Hause«; in
+das Städteleben von Thorn, in das Ringen von Deutschtum und Polentum,
+in Händel und Fehden der Zeit der Reformation führt er trefflich
+ein. Nur daß man es doch als peinliche Lücke empfindet, daß das
+eigentlich Bewegende dieser Epoche, daß das religiöse Moment so ganz
+zurücktritt. Der Band stellt sich damit selber zur Seite; er schildert
+den Zeitcharakter in Nebenerscheinungen, und er schildert ihn darum
+unvollständig und ungenügend. -- Der fünfte Band enthält die beiden
+Skizzen, welche gemeinsam »Die Geschwister« betitelt sind. Die erste,
+»Der Rittmeister von Alt-Rosen«, zeigt Kriegswesen und Aberglauben
+aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die zweite, »Der Freikorporal bei
+Markgraf Albrecht«, will das Charakteristische aus der Zeit Friedrich
+Wilhelms +I.+ herausheben. Aber beiden Skizzen fehlt wirkliche
+geschichtliche Kraft und tieferes menschliches Interesse. Auch der
+letzte Band »Aus einer kleinen Stadt« vermag die Vorgänger nicht
+wieder zu erreichen; dazu ist weder die erste, größere Erzählung aus
+der Zeit der Freiheitskriege plastisch genug gezeichnet, noch die
+zweite kleinere, welche in einem Journalisten das letzte Glied der
+»Ahnen« erkennen läßt, irgend genügend vertieft.
+
+Im einzelnen sind die Bände also von sehr verschiedenem Wert. Und zwar
+nicht bloß nach Seite der künstlerischen Gestaltung, sondern auch
+nach der Richtung geschichtlicher Anschaulichkeit. Man darf getrost
+sagen: selbst für Gustav Freytag war der Wurf ~zu~ groß. Wenn
+jenes Programm Riehls wirklich ausgeführt werden soll, so bedarf es
+dazu nicht bloß einer reichen Gestaltungskraft, sondern auch einer
+Vertiefung in das Innerste der zu schildernden Zeit, wie sie nur
+mit schweren Mühen zu gewinnen ist. Aber wer kann in dieser Weise
+sämtliche Hauptepochen der vaterländischen Geschichte beherrschen? Wer
+kann leben, ja wirklich ~leben~ in den Zeiten der Sachsenkaiser,
+der Reformation und der Befreiungskriege? Auch Freytag hat das nicht
+völlig vermocht. Und vielleicht hat doch auch für ihn das Riehlsche
+Programm eine Gefahr eingeschlossen. Es geht allzusehr ins Kleine,
+ins Alltägliche, ins Gewöhnliche. Eine Zahl von losen Einzelskizzen
+kann es geben, und sie alle mögen sich gut und gern zum Gesamtbild
+der Gesittungszustände eines Volks zusammenschließen. Aber wenn eine
+fortlaufende, zusammenhängende Reihe die wichtigsten Epochen der
+ganzen Volksgeschichte umfaßt, dann ist das Prinzip des Kleinlebens,
+des »Abseits vom Wege« nicht mehr für sich allein brauchbar. Dann
+müssen die großen Bewegungen der Geister mit ganz anderer Wucht ins
+Leben des Romans eingreifen.
+
+Aber wozu im einzelnen mit Freytag rechten? Seine »Ahnen« haben ja
+trotz mancher Schwächen längst einen Ehrenplatz unter den deutschen
+Dichtungen gewonnen. Gewiß, sie verdienen ihn auch. Nicht bloß durch
+ihre gelungensten Teile, sondern vor allem durch die wirklich geniale
+Größe des ihnen zugrunde liegenden Gedankens. Und endlich: wie schon
+der »Ekkehard«, wie Riehls Novellen, wie vordem schon die Werke von W.
+Alexis, so sollen auch Freytags »Ahnen« der Liebe eben des deutschen
+Volkes gewiß sein, denn sie haben uns ~die eigene Vergangenheit~
+erschlossen. Es wird für alle Zeiten ein Ruhm des historischen Romans
+im 19. Jahrhundert bleiben, daß er zum ~nationalen~ Roman
+geworden ist. --
+
+Vollständigkeit in der Aufzählung der literarischen Erscheinungen
+kann auch dies Bild des historischen Romans nicht anstreben. Aber
+ich möchte doch die Entwicklungslinie des kulturhistorischen Romans
+nicht abschließen, ohne ein Werk zu erwähnen, das in seiner Eigenart
+besondere Beachtung verdient: ich meine ~Theodor Fontanes~
+Zeitgemälde »~Vor dem Sturm~.« Es ist nicht Fontanes Art, seinen
+Romanen einen »großen Zug« zu geben; auch dies Gemälde aus dem
+Winter 1812 zu 1813 gibt Kleinleben, ganz und gar Kleinleben. Aber
+das eben ist Fontanes Stärke, ~wie~ er dies Kleinleben zu malen
+weiß. Diese Kunst der Anschaulichkeit, diese Sorgfalt des Details,
+diese Peinlichkeit in der geschichtlichen Treue, diese Feinheit in
+der Erfassung aller wesentlichen Strömungen, und zu dem allen diese
+feste Fundamentierung der Erzählung auf märkischem Boden! Ich gönne
+jedem die Freude an tatenreichen, geschickt gruppierten Handlungen,
+aber ich gestehe, meine Freude an dieser Fontaneschen Art gebe ich
+dafür nicht hin. Schließlich treibt er doch auch wahrlich nicht bloß
+Kleinigkeitskrämerei; das Kleinste -- und wenn es die Tischordnungen
+sind, welche er für sämtliche vorkommenden Mahlzeiten mitteilt -- ist
+ein notwendiges Glied des Ganzen, ein unentbehrlicher Pinselstrich auf
+dem Bilde der beschriebenen Zeit.
+
+Ich habe etwas lange bei dem kulturhistorischen Roman verweilt. Aber
+wenn auch anderes darüber knapper behandelt werden muß, ich bereue es
+nicht. Hier liegt der größte Erfolg des historischen Romans im 19.
+Jahrhundert. Man kann alle die anderen Erscheinungen auf diesem Gebiet
+danach beurteilen, wie nahe oder wie weit sie von dieser Linie sich
+entfernen.
+
+Neben die rein oder vorwiegend kulturgeschichtliche Richtung
+stelle ich zunächst eine ihr nahestehende, der ich den Namen der
+~allgemeingeschichtlichen~ geben möchte. Auch für diese
+Richtung ist die Absicht maßgebend, ein bestimmtes treues Bild
+aus der Geschichte zu zeichnen. Nur daß dieses Bild nicht gerade
+die Gesittungszustände, das kulturelle Kleinleben umfassen soll,
+sondern sich mehr an die großen Strömungen und Stimmungen, an feste
+historische Ereignisse der Entwicklungsgänge anlehnt. Auch die Romane
+dieser Art müssen einen kulturhistorischen Einschlag haben; sonst
+würden sie schemenhaft werden. Die Kunst muß hier für den Dichter
+darin bestehen, ohne allzuviel Detail doch die Gestalten der Dichtung
+in engste Verbindung mit dem geschichtlichen Leben der gewählten Zeit
+zu setzen. Zahllose Romanschreiber sind an dieser Aufgabe gescheitert;
+sie gaben modernes Leben in geschichtlichem Gewand. Aber zwei Meister
+möchte ich nennen, deren Werke mir in diese Kategorie zu gehören
+scheinen. Der eine ist ~Wilhelm Raabe~, der Stimmungsdichter, der
+doch auch die Geschichte sich dienstbar gemacht hat. Sein »~Unseres
+Herrgotts Kanzlei~« (1862) zeichnet mit kräftigen Strichen die
+Kriegsnöte des belagerten Magdeburg und zugleich etliches von den
+Stimmungen und Strömungen des Reformationsjahrhunderts. Nur fehlt
+eben die intime Einzelschilderung und die feinere psychologische
+Differenzierung. Und Raabes Hauptstärke, die Stimmung, kann hier nicht
+in gleicher Weise zur Geltung kommen wie bei seinen nicht-historischen
+Werken. Auch seine Erzählung aus dem 18. Jahrhundert, »Das Odfeld« sei
+hier genannt. -- Der andere Meister dieser allgemeingeschichtlichen
+Richtung ist der Schweizer ~Conrad Ferdinand Meyer~. Sein großer
+Roman »~Georg Jenatsch~« beschreibt die langen und verworrenen
+Parteikämpfe, welche auf dem Gegensatz der Konfessionen beruhten. Die
+Absicht ist unfraglich die, eben diese Zeit der Wirren und Kämpfe
+dem Leser lebendig zu machen. Allerdings hat das Buch bei großen
+Vorzügen auch erhebliche Mängel. Es führt nicht in konzentrierter
+Entschlossenheit vorwärts; es gibt Bilder, aber kein einheitlich
+wirkendes Bild. Es hält den Leser durch Zersplitterung des Interesses
+nicht bei dem befriedigenden Bewußtsein stets vorhandener Klarheit.
+Jürg Jenatsch selbst, der Parteiführer, hat eine nur mäßige
+Qualifikation zum Romanhelden. Sein Charakter packt, aber er verstimmt
+zugleich. Er begeistert, aber er kühlt bald wieder ab. Alles in allem,
+er hält die Sympathien der Leser nicht fest. Auch gelingt es ihm mit
+seiner objektiven, etwas schwerwuchtigen Art minder gut als leichteren
+Werken, die doch notwendige Spannung zu erzeugen.
+
+Bedeutender noch als dieser große Roman sind Conrad Ferdinand
+Meyers historische Novellen. Freilich, man kann versucht sein, sie
+nicht mehr zu der eben besprochenen Richtung zu zählen, sondern
+zu einer ~dritten~, der ~an die Geschichte angelehnten
+individuellen Erzählung~. Diese Bezeichnung bedarf einer
+Erklärung. Ich denke dabei an Dichtungen, welchen nicht die Erweckung
+eines bestimmten geschichtlichen Kulturlebens, auch nicht die
+bestimmter geschichtlicher Vorgänge das Ziel ist, sondern welche
+ein mehr individuell interessantes Erzählungsbild, das nicht gerade
+geschichtlichen Gründen, sondern allgemein menschlichen Motiven
+entstammt, an die Geschichte anlehnen. Auch das ist eine berechtigte
+Form des Romans, nur daß freilich das Wort »historisch« nicht im
+gleichen Sinn ihr zukommen kann, wie den eben genannten Richtungen.
+Selbstverständlich muß auch hier der Gesamteindruck echt sein. Die
+Grenzen zwischen dieser Art und der vorher skizzierten sind leicht
+verrückbar; auch bei Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen ist es
+manchmal schwer zu sagen, ob sie mehr das Allgemein-Geschichtliche
+oder das Individuelle betonen. Jedenfalls aber verdienen sie zum
+großen Teil als Meisterstücke der Erzählerkunst genannt zu werden.
+»~Der Heilige~« greift in das Leben des englischen Kanzlers
+Thomas Becket, also ins 12. Jahrhundert hinein, -- mit welch
+wunderbarer, abgerundeter Darstellungskunst! Andere haben ihren
+Schauplatz zu anderen Zeiten und in anderen Ländern; »~Die Hochzeit
+des Mönchs~« z. B. führt nach Padua, »~Das Amulett~« in die
+Tage der Pariser Bluthochzeit. Wer aber geneigt ist, diese Erzählungen
+noch zu der gleichen allgemeingeschichtlichen Richtung zu zählen
+wie den »Georg Jenatsch«, der mag als Muster der dritten Gattung
+eine Erzählung nehmen wie »~Grete Minde~« von ~Fontane~.
+Hier steht nicht die Kultur im Vordergrund und ganz sicher nicht die
+Geschichte; Lieb und Leid, wie es die Herzen bewegt, bewegt auch die
+Erzählung, -- nur daß ihr ein geschichtlicher Hintergrund gesichert
+ist. Übrigens aber ist Fontane gerade in der »Grete Minde« ein
+anmutiges und feines Werk gelungen, eine wohlgebaute, nirgends zu
+stark auftragende, aber überall tiefgefaßte und pointierte Erzählung.
+
+Endlich nenne ich kurz eine ~vierte~ Gattung des historischen
+Romans, nämlich diejenige, welche nicht Kulturleben, auch nicht
+geschichtliche Vorgänge, und wiederum nicht individuelles
+Menschengeschick zum Ausdruck bringen will, sondern den
+~Gedankengehalt der Geschichte~, die Ideen, die Tendenzen,
+die geistigen Strömungen. Eine gewaltige Aufgabe -- dankenswert
+und schwer zugleich. Schwer vor allem deshalb, weil es viel eher
+gelingt, gegenüber den Kulturzuständen vergangener Epochen objektiv zu
+bleiben als gegenüber den Gedanken, welche in jenen Zeiten lebendig
+gewesen sind. Schon das ist schwer, diese Gedanken klar und ruhig
+zu ~erfassen~, geschweige denn, sie objektiv wiederzugeben. So
+haben wir denn von dieser Gattung auch keine erstklassigen Romane zu
+verzeichnen. Aber genannt seien als ihre Vertreter ~Karl Frenzel~
+(z. B. »Freier Boden«), ~Heinrich Laube~ (»Der deutsche Krieg«)
+und ~Karl Gutzkow~ (»Hohenschwangau.«)
+
+Eine große Reihe historischer Romane habe ich Ihnen skizziert oder
+nur genannt. Die Fülle der Erscheinungen zwang dazu, auf gründlichere
+Behandlung einzelner Werke zu verzichten. Aber ich bin gewiß, daß Sie
+unter den vielen Namen, die genannt wurden, etliche -- vielleicht mit
+Befremden -- vermißt haben. Nun -- sie sind bisher nicht ohne Absicht
+übergangen worden. Es war ja die Absicht, nur das wirklich Bedeutende
+anzuführen, um so die Entwicklung des historischen Romans in raschen
+Zügen zu skizzieren. Zu den Größten zählen eben die Übergangenen
+nicht. Trotzdem muß auch etlichen von ihnen noch ein Wort gewidmet
+werden, -- schon deshalb, weil sich die Gunst des Lesepublikums so
+warm für sie ins Zeug legt. Das gilt vor allem von ~Felix Dahn~
+und ~Georg Ebers~. Namentlich eine Anzahl von Dahns »~Kleinen
+Romanen aus der Völkerwanderung~« sind ohne geschichtliche und ohne
+höhere künstlerische Kraft. Manche haben durch kunstvolle Ordnung des
+Stoffs eine gewisse Spannkraft, manchen liegt ein für eine Novelle
+ganz brauchbarer Gedanke zu grunde, alle haben die Entschuldigung für
+sich, daß es zum Allerschwersten gehört, kulturlose Zeiten lebendig
+zu machen, -- aber eben Natur und Leben sucht man in ihnen vergebens.
+Ganz moderne Gedanken, wie sie der Weltanschauung Dahns entsprechen,
+hat er hier längst Vergangenen in den Mund gelegt. Zudem ermüdet
+an ihnen die schablonisierte Manier. Stärker ragt die Geschichte
+hinein in Dahns großes Werk, den »~Kampf um Rom~.« Es ist ja
+leichter, große Heldengestalten und mächtige Weltereignisse dem Leser
+nahezubringen als untergeordnete Wesen aus kleineren Umgebungen. So
+weckt der »Kampf um Rom« unfraglich erheblich größeres Interesse als
+jene eben besprochenen Romane. Es bleibt auch richtig, daß der »Kampf
+um Rom« dramatische Kraft, begeisterte Wärme und mächtigen Schwung
+besitzt. Leicht entzündbare, namentlich jugendliche Herzen vermag er
+mit dieser seiner Art geradezu in Flammen zu setzen. Sollen wir alles
+dies gering einschätzen? Gewiß nicht! Aber anderseits dürfen wir
+uns durch diese fortreißende Wucht auch nicht die ruhige Besinnung
+rauben lassen. Was für »Geschichte« liegt dem Roman zu grunde? Jene
+Geschichte, die nicht viel anderes kennt, als Helden und Bösewichte,
+Schlachten und Kämpfe, Ruhm, Leidenschaften, Intrigen! Es ist die
+Geschichtsmethode der Volksbücher, diejenige der mittleren Klassen des
+Gymnasiums (auch hier ist sie jetzt schon großenteils überwunden),
+aber nicht diejenige, welche dem tiefer Schauenden das wirkliche
+Leben der Vergangenheit erweckt! Welche Psychologie führt das Zepter?
+Eine Psychologie der großen Linien und der großen Mittel, aber keine
+Seelenforschung, die Menschen und Zeiten in feiner Erfassung auch
+scheinbar minder wichtiger Züge in Übereinstimmung zu bringen weiß!
+Folglich bleibt vieles im »Kampf um Rom« geradezu talmihistorisch. Und
+selbst die äußere Echtheit verdirbt sich Dahn, indem er alle Fäden in
+den Händen des Cethegus zusammenlaufen läßt, einer Figur, die wie dazu
+geschaffen ist, zum Ideal träumender Jünglinge zu werden. Die gesamte
+Entwicklung hängt an Cethegus; und Cethegus ist ein dichterisches
+Phantasiegebilde! Aber selbst wenn man diese Entgleisung in den Kauf
+nimmt, zu reiner Freude an dem Buch kann man nicht kommen, weil das
+Pathos, in dem Dahn seine Menschen reden läßt, gar zu ungeheuerlich
+ist.
+
+Nur eine einzige Stilprobe! Furius Ahalla, der Korse, spricht:
+
+»Staune nicht -- frage nicht!
+
+Ja: ich liebe Valeria mit aller Glut: fast haß' ich sie -- so lieb ich
+sie.
+
+Ich warb um sie vor Jahren.
+
+Ich erfuhr, sie sei dein -- vor dir trat ich zurück: -- erwürgt hätt'
+ich jeden Andern mit diesen Händen.
+
+Ich eilte fort: ich stürzte mich in Indien, in Ägypten in neue
+Gefahren, Abenteuer, Schrecknisse, Genüsse.
+
+Umsonst.
+
+Ihr Bild blieb unverwischt in meiner Seele.
+
+Höllenqualen der Entbehrung erlitt ich um sie.
+
+Ich durstete nach ihr, wie der Panther nach Blut.
+
+Und ich verfluchte sie, dich und mich ...«
+
+Wer spricht so im gewöhnlichen Leben? Furius Ahalla, der Korse?
+Nimmermehr!
+
+Ähnlich ist über die Schöpfungen eines anderen Lieblings der Mode zu
+urteilen, über die von ~Georg Ebers~. Der kulturhistorische Roman
+verläßt das nationale Gebiet; das ist sein gutes Recht. Er verläßt
+nicht das Prinzip der Kulturschilderung; hierin hat der Professor der
+Ägyptologie sehr Hübsches geboten. Aber es ist leichter, altägyptische
+Kultur zu schildern als altägyptische Menschen zu zeichnen. Die
+Fabel und die Charaktere, das sind bei Ebers die wunden Punkte. Man
+muß schon sehr gutgläubig sein, um in diesem Punkt das als echt
+hinzunehmen, was er gibt. Nur im »+Homo sum+« hat Ebers einmal
+tiefer zu motivieren gesucht; das Buch steht über dem Durchschnitt.
+Dafür hat er aber auch manches geschrieben, was unter dem Durchschnitt
+bleibt. Seine »Gred« ist eigentlich das Muster eines historischen
+Romans, wie er nicht sein soll. Mielke hat Recht: »glanzloser Firnis
+deutschen Mittelalters« liegt darüber. Die Sprache gekünstelt, das
+Empfinden modern, alles, was über das Individuelle hinausgeht,
+verschwommen, dies Individuelle aber ungefähr auf den Backfischton
+gestimmt, die Gedanken ohne Entschuldigung fehlend -- wahrlich, was
+dabei herausgekommen ist, ist ein kraft- und saftloses Ding, das
+absolut nichts durch die Verlegung ins Mittelalter gewonnen hat. Die
+Geschichte könnte beinah ebenso gut in jedem bürgerlichen Hause des
+19. Jahrhunderts spielen. Man möchte darüber weinen, daß das Gros des
+die Leihbibliotheken benützenden Publikums auch die »~Gred~«
+kritiklos genossen hat, weil Ebers nun einmal in der Mode war.
+
+Von anderen will ich schweigen. Nicht als ob nicht noch manches Werk
+auch neben den großen und hervorragenden Schöpfungen stünde, das
+der Liebe des deutschen Lesers sicher sein darf. Und ebensowenig
+soll geleugnet werden, daß außer Georg Ebers mit seiner Archäologie
+in Romanform auch andere Schriftsteller noch den historischen Roman
+gemißbraucht haben. Aber was hat es für Zweck, das Gedächtnis an
+~Ecksteins~ »Sensationsromane im historischen Gewande« -- wie
+Adolf Bartels sie nennt -- aufzufrischen? Robert ~Hamerlings~
+»Aspasia« verdiente wegen ihrer ernsthaften Gelehrsamkeit Erwähnung,
+wenn wir nicht den historischen ~Roman~ behandelten. Ein solcher
+ist das schwerfällige Buch mit seiner steifleinenen Umständlichkeit
+nicht geworden.
+
+Es sei genug. Über Höhen und durch Tiefen sind wir gewandelt;
+Prunkstücke der deutschen Erzählerkunst haben wir geschaut. Laßt
+uns begraben unter Schutt und Asche, was auf diesem weiten Gebiet
+Minderwertiges erstand. Aber laßt uns jubeln, daß wir auch Männer
+hatten, die die größte Kunst verstanden: Geschichte und Dichtung zu
+vermählen!
+
+ [Illustration]
+
+
+
+
+ Die Stimmungsdichtung.
+
+
+So war der Kampf gekämpft, der Kampf zwischen Träumen und Wachen.
+Das Tageslicht der hellen Wirklichkeit hatte die Träume verscheucht.
+Die lieblichen Traumbilder Eichendorffs so gut wie die dem Alpdruck
+ähnlichen des Teufels-Hoffmann. Man hatte ins ländlich-dörfliche
+Stillleben hinein gegriffen so gut wie in das wechselvoll bewegte
+Leben der politischen Kreise; man kritisierte, was nur immer der
+Kritik Angriffsflächen bot: die Vornehmen des ostelbischen Adels, die
+Wucherkünste unredlicher Geschäftsleute, den Taumel, in welchen das
+rote Gold weite Schichten des deutschen Volkes versetzt hatte, aber
+man griff auch hinein in die streitenden Gedankenwelten, in denen alte
+und neue Zeit einander gegenüberzustehen schienen, und kritisierte
+Gedanken, die man nicht für richtig hielt, samt ihren Vertretern.
+Man ließ die Vergangenheit aufs neue erstehen und mühte sich, mit
+größerem oder geringerem Glück, mit gröberem oder feinerem Stift, die
+alten Zeiten des brandenburgischen Ländchens, der Stadt Berlin, des
+preußischen Volks, -- aber auch die uralten Zeiten ägyptischer Kultur,
+griechischer Kunst und römischer Machtherrlichkeit so naturgetreu
+nachzubilden, als man es vermochte. Goethes Geist war in diesen
+Dichtern allen lebendig geworden.
+
+Aber nicht bloß ~Goethes~ Geist bewies die Kraft, Spätere in
+seinen Bann zu zwingen. Auch jener andere Geist war nicht erstorben,
+der einst ~Jean Paul~ die fleißige Feder geführt hatte. Goethes
+Geist -- so sahen wir -- ist der Geist der dichterisch begriffenen und
+kunstvoll gezeichneten Wirklichkeit. Der Geist Jean Pauls aber läßt
+sich kurz als der Geist der poetischen ~Stimmung~ bezeichnen. Es
+fehlt nicht der Gedanke, es fehlt nicht die Wirklichkeit, es fehlt
+nicht die Kritik. Aber das sind alles keine regierenden Mächte. Das
+Regiment liegt in der Hand jenes wunderbaren Etwas, das sich jeder
+Definition entzieht, jenes verklärenden Hauchs, der über den Dingen
+liegt, manchmal sie leise verschleiernd, immer allzu harte Kanten,
+allzu scharfe Konturen abmildernd, -- der Stimmung.
+
+Selbstverständlich denke ich nicht daran, den Romanen, welche in der
+nachromantischen Zeit bisher uns beschäftigt haben, die Stimmung
+abzusprechen. Das sei ferne! Nur für manche derselben würde dies
+Urteil allenfalls zutreffen, so etwa für Gutzkow, vielleicht auch
+ein wenig für Freytag. Aber Immermanns Oberhof hat unfraglich seine
+ganz besondere Stimmung, die patriarchalisch-würdige und doch
+naturwüchsige Stimmung des alten Bauernhofs. Und wieviel Stimmung
+liegt in Spielhagens Landschaftsschilderungen, in seiner Erzählung von
+der hereinbrechenden Sturmflut! Nur eben -- bei ihnen allen ist nicht
+die Stimmung das Ausschlaggebende, das Hauptsächliche, sondern das
+nüchterne wirkliche Leben.
+
+Nun aber hat auch dieser Geist Jean Pauls, der Geist der herrschenden
+Stimmung, nicht lange schlafen können. Er hat eine fröhliche
+Auferstehung gefeiert. Ein Roman, eine Novelle ward dem deutschen
+Volke geschenkt, die man getrost als ~Stimmungsroman und
+-Novelle~ bezeichnen darf. Wir danken die Werke dieser Art nicht
+~einem~ Meister allein; und, wie nur natürlich, die Novelle zeigt
+sich hier zahlreicher auf dem Plan als der Roman selbst. Aber auch er
+fehlt nicht; ~Wilhelm Raabe~ schuf ihn, und ihm stehen zur Seite
+der Novellist ~Theodor Storm~ und ~Peter Rosegger~.
+
+Ein merkwürdiges Buch, diese »~Chronik der Sperlingsgasse~«,
+die ~Raabe~ als erstes Werk seiner Muse 1857 in die Welt
+hinaussendete. Merkwürdig aber nicht wegen absonderlicher
+Ereignisse, die darin eine Rolle spielten. Von nervenaufregenden
+Schauergeschichten ist Raabe kein Freund. Auch was der Chronist der
+Sperlingsgasse erzählt, ist darum einfach und schlicht, beinahe
+alltäglich. Zwei Freunde, ein Student der Philosophie und ein Maler,
+und ein Kind, ein Mädchen ...... Der Student berichtet ganz knapp, was
+geschehen, wie er als Greis auf das Vergangene niederblickt:
+
+»Ich sehe zwei Männer im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von
+ihr zu gewinnen; und ich sehe endlich den Einen mit keuchender Brust
+sich ans Ufer ringen und den schönen Preis erfassen, während der
+Andere weiter getrieben, willenlos und wissenlos auf einer kahlen,
+skeptischen Sandbank sich wiederfindet. -- Ich sehe mich, einen
+blöden Grübler, der sich nur durch erborgte und erheuchelte Stacheln
+zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem Umherschweifen in der
+Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster, sehender Mann, der Freund
+seines Freundes und dessen jungen Weibes.«
+
+Der glückliche Freund und sein junges Weib -- sie beide rafft der
+Tod dahin. Dem einsamen Philosophen bleibt beider Kind, ein Mädchen;
+dessen Kindheit und erste Jugend, dessen Heranblühen und Heranreifen
+bis hin zur glücklichen Ehe bildet den weiteren Inhalt. Und jene
+ersten, ernst-bitteren Erfahrungen, jenes Ringen und Kämpfen in der
+Seele des Freundes, der die Heißgeliebte dem Freunde lassen muß,
+-- das alles ist nicht beschrieben mit den glühenden Farben, die
+andere Dichter in Sturm und Drang, in psychologischer Analyse oder
+dramatischem Effekt dem gleichen Bild zu geben wissen würden und
+ähnlich hundertmal gegeben haben. Es ist ja alles, alles längst
+vorüber, als Hans Wachholder, alt und grau geworden, alle diese
+Erinnerungen auf die Blätter der Chronik niederschreibt. Er hat
+es alles verwunden; und wenngleich das, was er erlebt hat, ihm für
+Lebenszeit die Art seines Wesens mitbestimmt hat, in ihm wogt doch
+nichts mehr vom Sturm der Leidenschaft und vom Drang des Leids. Er
+fühlt es noch, aber er fühlt auch die Freude an dem frischen, jungen
+Leben, das unter seiner Hut aufgewachsen ist. Und selbst am Jahrestag
+des großen Schmerzes, da dem Freund die geliebte Gattin gestorben,
+kann nun zu dem Greis der Humor auf die Schwelle treten, seine
+Schellen schütteln, seine Pritsche schwingen und sagen:
+
+»Lache, lache, Johannes, du bist alt und hast keine Zeit mehr zu
+verlieren.«
+
+Was ist es also, was den Reiz der »Chronik« ausmacht, wenn es nicht
+die bewegende Schilderung einer bewegten Handlung ist? Ists doch
+ebensowenig die Weite des Gesichtskreises, der Zeiten und Welten,
+Völker und Länder umspannte! Nein, nicht in die Breite und Weite geht
+Raabes Dichten in diesem Buch; Zeitschilderungen sind hier nicht zu
+finden. Ebensowenig ist er irgendwie der Mann des historisch-getreuen
+Milieus. Kaum daß die Sperlingsgasse selber zu ihrem Recht kommt. Wenn
+er uns von ihr doch ein Bild gibt, so geschiehts nicht, um uns auf
+festen Boden zu stellen, sondern weil sie ihm lieb ist und weil sie
+seinem Schaffen von Wert ist. Sie liegt in einem älteren Stadtteil
+mit engen, krummen Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen
+hineinzublicken wagt. »Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit
+nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause
+enden zu lassen; nun aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare
+Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und
+Überfluß, alle Antinomieen des Daseins sich widerspiegeln.«
+
+Zu diesem Satz nur noch ein paar andere, gleichfalls aus den der
+Sperlingsgasse gewidmeten wenigen Seiten! Sie zeigen den ganzen Raabe:
+
+»Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen
+durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das
+Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des
+Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der
+Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender, man möchte
+sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen
+diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den
+Ton auffängt, bricht und verändert znrückwirft! -- Horch, wie in dem
+Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in jenem gewölbten
+Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden, an diesem Ort
+wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen
+der Arbeit hinwälzt! -- Die Stimme Gottes spricht zwar vernehmlich
+genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im Donner;
+aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen, welche das
+Getriebe der Menschenwelt hervorbringt!«
+
+~Das~ ist Raabes Art! Die Stimme Gottes im Getriebe der
+Menschenwelt! Er schreibt in bewegter Zeit. Kein Glück steht so
+fest, daß es nicht von einem Windhauch oder dem Hauch eines Kindes
+umgestürzt werden könnte. »In solcher Zeit ständen die Menschen am
+liebsten mit leeren, müßigen Händen, horchend und wartend; aber das
+ist nicht das Rechte. Es soll niemand sein Handwerksgerät, die Waffen,
+mit denen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen.«
+Die Waffen, mit denen man das Leben bezwingt, -- von ihnen reden
+die Blätter der Chronik. Welche sind's? Die Stimme Gottes hören im
+Getriebe der Menschenwelt! Das Haupt senken vor der geheimnisvollen
+Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der
+Wiege und die Nation im Todeskampf ..... »Wie so viele Herzen fast
+brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu lassen! Das ist
+die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift auf der Harfe
+des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der Denker
+in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt.«
+
+~Nicht~ in die Breite und Weite geht Raabes Art. Aber in die ~Tiefe~.
+Allerdings auch nicht in die Tiefe psychologischer Feinarbeit und nicht
+in die Tiefe besonders interessanter Probleme. Aber in die Tiefe des
+Menschenherzens, des einfachen, schlichten Gemüts. Und in jene Tiefen,
+in denen man lernt, das Höchste zu verstehen: Menschenschicksal,
+Menschenleid, Menschenliebe. Zu ~verstehen~ -- sage ich. Das Wort
+ist für Raabe zu kalt. Zu ~fühlen~, zu ~erfassen~, staunend und
+andächtig zu durchmessen, -- das trifft besser das, was er will. Eben
+diese Kunst, Menschenleben aus der Höhe in die Tiefe und aus der
+Tiefe in die Höhe zu schauen, gibt Raabes »Chronik« ihre eigenartige
+Stimmung. Weisheit und Gemüt, Reflexion und Gefühl, Ernst und doch auch
+sprudelnder Humor bilden die Bestandteile dieses wunderbaren Etwas, das
+über dem Ganzen liegt.
+
+
+
+Es gibt Menschen, welche für solche Stimmung gar keine Sympathie
+haben. Vielleicht sind sie in der Mehrzahl. Das 19. Jahrhundert
+war dieser Spezies nicht günstig. Sie werden an Raabe keine Freude
+haben. Und sie werden die Fehler auch seiner »Chronik« ihm deutlich
+vorhalten. Hat Raabe nicht selbst sich später kritisiert: er habe
+in der Chronik einen Greis Bilder und Gestalten in wallendes Gewölk
+zeichnen lassen? Ist nicht zu viel Traum in dem Buch? Geht nicht
+Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit oft so wirr
+durcheinander, daß die schlichtende Klarheit verloren geht? Ist
+nicht so viel Reflexion, so viel an Einzelgedanken eingeschoben,
+daß es manchmal schwer wird, den Faden festzuhalten, der das Alles
+verbindet? Ist nicht mancher Ausdruck manieriert, mancher Gedanke
+allzu pointiert? Fehlt nicht die Realistik oft mehr, als selbst dem
+Idealisten erlaubt ist? Sind die Wege, welche er seine Freunde gehen
+läßt, bis in der Sperlingsgasse ein neuer Bund geschürzt wird, nicht
+reichlich absonderlich? So fragen sie, die nach Wirklichkeit hungern.
+Und -- sie haben nicht Unrecht. Was sie sagen, empfinde auch ich als
+richtig. Nur eben -- man kann das zugeben und doch nicht unempfänglich
+sein für jene Höhe und Tiefe der Stimmung und Betrachtung, für jene
+feinen und zarten Gedankengewebe, die uns in alldem den Dichter
+weisen, den Dichter der Weisheit und des Gemüts, den Dichter der
+Stimmung.
+
+ Habe ich zu lange bei der »Chronik der Sperlingsgasse« verweilt?
+ Vielleicht. Aber ich will auch Raabes andere Romane alle, die
+ großenteils noch den Jahren bis 1870 ihr Dasein danken, hier nicht
+ besprechen. »~Unseres Herrgotts Kanzlei~« (1862) hat schon seine
+ Erwähnung gefunden. Von den übrigen nenne ich nur: »~Die Kinder von
+ Finkenrode~«, »~Die Leute aus dem Walde~«, »~Der Schüdderump~.« Aber
+ eins muß doch noch neben die Chronik gestellt werden, nicht bloß,
+ weil es berühmt geworden ist, sondern weil es Raabes Eigenart noch
+ genauer erkennen läßt. Das ist »~Der Hungerpastor~«, erschienen 1864.
+ Auch hier brauche ich den Gang der Handlung nicht im einzelnen zu
+ entwickeln. Sie kennen ihn alle und haben ihn in frischer Erinnerung.
+ Nur beleuchten möchte ich Ihnen ein wenig diese schöne und gute Gabe
+ des Dichters. Und zwar nach drei Seiten hin.
+
+Zuerst hinsichtlich der ~äußeren Handlung~. Sie ist reicher als
+in der »Chronik«. Und nicht bloß reicher, auch mit vollendeterer Kunst
+gestaltet. Zwei Lebensschicksale sind neben einander gestellt. Da
+ist Moses Freudenstein, dessen Vater das Geld hat und der selber den
+Trieb hat, in der Welt vorwärts zu kommen, Moses Freudenstein, der
+zu eben diesem Zweck den Namen seiner Geburt in den des Theophile
+Stein umwandelt und die Religion seiner Väter mit der katholischen
+Konfession vertauscht. Moses Freudenstein steigt, steigt bis zum
+Geheimen Hofrat hinauf. Neben ihm aber steht Hans Unwirrsch, der
+Schuhmacherssohn, dessen Vater kein Geld hat und dessen Sohn eine
+ganz andere Sehnsucht im Herzen trägt, der es aber dafür auch längst
+nicht so weit bringt wie der Jugendgenoß, der doch aus derselben
+Kröppelstraße stammt. Lange geht er seines Weges als armer Kandidat
+und geplagter Hauslehrer, und zum Ende wird er ein armer Pfarrer
+in einsamem Dorf. Dieser zweite, Hans Unwirrsch, der Hungerpastor,
+beherrscht mit seinen Erlebnissen durchaus den Gang des Ganzen; im
+Grunde genommen ist dies Ganze nicht viel anderes als die Geschichte
+seiner Erfahrungen bis hin zur Zeit der Reife. Aber die Art, wie
+in dies Schicksal hinein das des Moses Freudenstein verwebt wird,
+wie beide einander gegenüberstehen von der Kindheit an bis ins
+Mannesalter, und zugleich die Kunst der Erzählung dessen, was Hans
+Unwirrsch erlebt, sie heben den »Hungerpastor« nach Seiten der
+Handlung hoch über die »Chronik der Sperlingsgasse.«
+
+Zum Zweiten. Im Hungerpastor hat Raabe ~Charaktere~ geschaffen.
+Allerdings Charaktere, welche bestimmte Gesamtanschauungen vertreten.
+Weltanschauung steht gegen Weltanschauung, ähnlich wie in Heyses
+»Kinder der Welt.« Aber die Menschen, welche diese Anschauungen
+tragen, sind nicht auf Draht gezogen wie bei Heyse. Weder Moses
+Freudenstein noch Hans Unwirrsch. Vor allem der letztere nicht; das
+ist kein Gestell, an welches die Ansichten, sorglich abgestuft,
+angehängt werden. Hier ist Entwicklung aus Kindheit und Jugend, ja aus
+Heimathaus und Elternart heraus, aus dem Haus heraus, in welchem der
+Vater Schuhmachermeister bei der wassergefüllten Glaskugel, die das
+Licht der kleinen Öllampe auffängt und glänzender wieder zurückwirft,
+seinem Handwerk obgelegen hat. Zwei besondere Paten hat ihm der Vater
+mitgegeben: »Johannes soll er heißen wie der Poet von Nürnberg und
+Jakob wie der hochgelobte Philosophus von Görlitz, und wie zwei Flügel
+sollen ihm die beiden Namen sein, daß er damit aufsteige von der Erde
+zum blauen Himmel und sein Teil Licht nehme.« Der Junge zeigt sich
+in der Schule nicht besser als jeder andere Schlingel. Auch für ihn
+kommt die schöne Zeit der schmutzigen Hände, der blutenden Nasen, der
+zerrissenen Jacken, der zerzausten Haare. Aber es kommt auch die Zeit,
+da er als wahrheitsuchender Studiosus mit Moses Freudenstein über Gott
+und Welt und Vaterland disputiert, wo er dann von Moses scheidet, als
+dieser in die freie weite Welt geht, und schließlich in der Öde und
+Abgeschiedenheit einer Hauslehrerstellung auch die Wünsche seines
+Freundes Moses begreifen lernt. Es kommt die Zeit, in welcher die
+Liebe ihren Einfluß auf sein Herz gewinnt, anfangs mit Irrwegen, dann
+auf rechtem Weg sein Herz an das bescheidene Fränzchen Götz bindend.
+Was braucht es weitere Worte? Es ist ein volles, echtes Menschenleben,
+mit Irrungen und Wirrungen, mit Suchen und Finden, das in Hans
+Unwirrsch gezeichnet ist. Ja, die Tiefe der Charaktererfassung gemahnt
+an Gottfried Kellers »Grünen Heinrich« und andere Meisterwerke. Es ist
+Wirklichkeit, klare Wirklichkeit, wenn schon im Zauber der Poesie, die
+im »Hungerpastor« das Regiment führt. Auch darin, in der tiefwahren
+Charakterzeichnung, ist die »Chronik« weit übertroffen.
+
+Und dann zum dritten: auch der ~geistige Gehalt~ dieses Buchs
+ist erheblich tiefer. In der »Chronik« konnte man vielleicht von
+Betrachtungen über Menschenschicksale reden; die einzelnen Erlebnisse
+gaben mehr die Gelegenheiten, sie vorzubringen. Ganz anders im
+»Hungerpastor.« Hier schließen die Erlebnisse und Entwicklungen die
+großen Gedanken selbst in sich. Hier wachsen sie aus dem Herzen
+des Hans Unwirrsch und aus dem Verstande des Moses Freudenstein
+naturnotwendig heraus. Zugleich gewinnen sie dadurch an innerer
+Bedeutung und überzeugter Kraft. Vom Hunger handelt das Buch, von
+dem, was er bedeutet, was er will, und was er vermag; von der
+heiligen Macht des echten, wahren Hungers aber handelt es vor allem.
+Allerdings, auch ~der~ Hunger kommt darin vor, den Moses
+Freudenstein empfindet: der Hunger nach Glanz und Lust, nach Ehre
+und Ruhm, nach Macht und Ansehn. Aber für Raabe ist das der falsche
+Hunger; er läßt keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß Moses sein
+Mann nicht ist. Ein anderer Hunger ists, von dem der Armenlehrer
+Silberlöffel redet, ehe er stirbt:
+
+»Ich bin sehr hungrig gewesen. Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und
+durstig nach Wissen; alles andere war nichts. Goldene Äpfel hängen
+lockend im Gezweig und schicken ihre Strahlen durch das Grün. O sie
+blenden so die Augen, die schönen, glänzenden Früchte. Die Hände habe
+ich ausgestreckt und habe mich zerrissen an den Dornen; -- viele
+Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün. Im
+Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch, und doch war ich
+für das Licht geboren. Es ist hart, hart, hart, im Schatten sitzen zu
+müssen und Hungers zu sterben, während so schöne Augen leuchten in der
+Welt, während so holdselige Stimmen locken, -- in der Nähe und ach aus
+so weiter, weiter Ferne. Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne,
+aber im Schatten mußte ich bleiben, auf einen kleinen Raum im Schatten
+war ich gebannt. Ein goldener Regen umspielte mich oft, in Schauern
+fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich und glänzten durch Grün
+und Blau; mir aber waren die Hände gefesselt, und nichts hatte ich
+als mein qualvolles Sehnen. Ich habe nichts, nichts erhalten von dem
+reichen Leben. Nur mein Sehnen ist mir zu teil geworden, und auch das
+geht nun zu Ende. Dunkel wirds vor den Augen, still vor den Ohren und
+im Herzen; ich werde satt sein -- im Tode.«
+
+Diesem Hunger ähnlich ist der, welchen Hans Unwirrsch von seinem
+Vater, dem Schuhmachermeister, geerbt hatte. Der Vater hatte
+Wissensdrang, viel Wissensdrang; er las, so viel er nur irgend konnte.
+Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den
+Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand
+er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, welcher ihm ganz
+allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden
+sein konnte. Und der Sohn? Auch er ist, wie Moses, ausgezogen nach dem
+Wissen und dem Glück; in dunkeln armen Hütten waren sie beide geboren
+und aufgewachsen, und der Glanz, der durch die Spalten und Ritzen der
+niederen Dächer fiel, hat sie gelockt. Lange hat er gemeint, eines
+Weges mit dem Freunde zu gehen; dann hat er den Irrtum gemerkt. »Mein
+Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht
+gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist
+ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann
+sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.« Wie
+will man diesen Hunger definieren? Er hat viel Unbestimmtes; man darf
+sich dadurch, daß es ein Kandidat und Pastor ist, der ihn hegt, nicht
+etwa bestimmen lassen, ihm einen im engeren Sinn religiösen Inhalt zu
+geben. Im weiteren Sinn religiös ist er gewiß. Es ist die Sehnsucht
+nach allem Hohen und Guten, nach Wissen und Erkenntnis, aber auch nach
+Liebe und Treue, die Sehnsucht der Seele nach dem, was sie braucht.
+So redet Johannes Unwirrsch, der Kandidat, am Christmorgen im Dorfe
+Grunzenow im Geist zu seinem längst im Grabe ruhenden Vater:
+
+»O Vater, Vater, es ist schwer, ein rechter Mensch zu sein und jedem
+Dinge sein rechtes Maß zu geben; wer aber mit der Sehnsucht danach
+in der Tiefe geboren wird der wird doch eher dazu kommen als jene,
+welche zwischen Gipfel und Niederung erwachen, und welchen das Oben
+wie das Unten gleich unbekannt und gleichgültig bleibt. Aus der Tiefe
+steigen die Befreier der Menschheit; und wie die Quellen aus der
+Tiefe kommen, das Land fruchtbar zu machen, so wird der Acker der
+Menschheit ewig aus der Tiefe erfrischt. O Vater, der Mensch hat doch
+nichts Besseres als dies schmerzliche Streben nach Oben, ohne dasselbe
+bleibt er immerdar Erde von Erde genommen, in demselben und durch
+dasselbe richtet er sich aus aller Leibeigenschaft des Staubes auf,
+in demselben reicht er, wie wenig es auch sei, was er erlange, allen
+himmlischen Mächten die Hand, in demselben steht er auf der winzigsten
+Scholle in dem engsten Kreise als Herrscher des unendlichsten Gebietes
+da, als Herrscher seiner selbst. Auch der Zweifel ist ja Gewinn in
+seinem Leben, und der Schmerz ist so edel -- oft edler als das Glück,
+die Freude.«
+
+Auch die Worte Jakob Böhmes, welche Raabe zitiert, sind für den Geist,
+der das Buch durchweht, für den Hunger, den der Dichter schildern
+will, charakteristisch:
+
+»Denn das ist der Ewigkeit Recht und ewig Bestehen, daß sie nur
+~einen~ Willen hat ..... Sie stehet wohl in viel Kraft und
+Wundern, aber ihr Leben ist nur bloß allein die Liebe, aus welcher
+Licht und Majestät ausgehet. Alle Kreaturen im Himmel haben Einen
+Willen, und der ist ins Herze Gottes gerichtet und gehet in Gottes
+Geist, wohl im Centro der Vielheit, im Wachsen und Blühen; aber Gottes
+Geist ist das Leben in allen Dingen.«
+
+Wie nennen wir die beiden Anschauungen, die da so scharf einander
+gegenüber stehen? Man kann sie Materialismus und Idealismus nennen.
+Aber der Idealismus trägt in sich Liebe und Ewigkeit. Wird nun der
+»Hungerpastor« nicht eben dadurch zum Zeitroman? Ist er nicht das
+gerade Gegenstück zu dem später geschriebenen Heyseschen »Die Kinder
+der Welt«? Mag sein, daß man ihn auch dem Zeitroman zurechnen kann.
+Mehr gehört er doch zum Stimmungsroman. Er bringt nicht Gedanken,
+nicht Weltanschauungen, und nicht Systeme. Er schildert nicht Zeiten
+und nicht Menschen besonderer Zeiten. Er will den Hunger der Seele
+beschreiben, der von jeher in ihr war und der immer in ihr sein wird,
+er gehört nicht einer Zeit, sondern allen Zeiten. Es schwebt über ihm
+zu viel poetischer Hauch, zu viel Schimmer der Ewigkeit; und es ist
+weiter zu wenig nüchternes Nachspüren nach all den Winkelgängen der
+Zeitgedanken. Darum gehört er trotz alledem nicht zu Freytag und nicht
+zu Heyses »Kindern der Welt.« --
+
+Stimmung! Wo fänden wir sie außer bei Raabe besser in voller Pracht
+als bei ~Theodor Storm~? Ein Schleswiger ist Storm; zu Husum
+erblickte er 1817 das Licht der Welt. Schleswigsche Landschaft
+spricht in seinen Schöpfungen mit: das Land, die Ebene und nicht
+zuletzt das Meer, ja das weite, weite, tosende Meer. Novellen haben
+wir von ihm, aber keine Romane. Warum? Weil in ihm noch viel stärker
+entwickelt war, was doch auch Raabes Romane von den andern abhebt,
+jener Drang, der weniger auf Schilderung ausgeht, auf feine Zeichnung
+eines Weltbilds in künstlerischer Form, als vielmehr auf den Ausdruck
+dessen, was gerade die Seele bewegt, der lyrischen Stimmung. Ganze
+Novellen sind nichts als Gedichte, ein wenig ausgeführter und in
+Prosaform, aber eben Gedichte.
+
+Aber auch diese alles beherrschende Stimmung kann recht verschiedene
+Nuancen haben. Nicht alle, nur einige dieser Nuancen möchte ich
+aufzuweisen versuchen, jede an einer einzelnen Novelle. Ich wähle
+zuvörderst »~Immensee~«, seine erste Novelle (1852), das
+Beispiel reinster Stimmungsdichtung in der Farbe herzinniger Wärme
+und zugleich sich bescheidender Resignation. Eine Kinderliebe wird
+geschildert. Reinhard und Elisabeth sind einander zugetan. Wunderbar
+zart ist diese Liebe beschrieben; es liegt ein Hauch darüber, den
+man zu zerstören fürchtet, wenn man es nur wagt, mit knappem Wort
+Einzelnes herauszuheben. Wer »Immensee« gelesen, erinnert sich wohl,
+wie Reinhard und Elisabeth im Wald Erdbeeren suchen gehen. Wunderbar
+lieblich, nicht wahr? Wenn Raabe an Jean Paul gemahnte, hier ist
+etwas vom Geist Eichendorffs zu spüren. Fast kommts zur Verlobung,
+da die Kinderliebe auch die Reifenden verbindet. Aber dann reicht
+Elisabeth doch dem anderen Bewerber die Hand. Warum? Mancher Dichter
+würde hier in die Posaune der Leidenschaften gestoßen haben; das Thema
+ist so dankbar, daß es sich mancher für große Worte und wuchtige
+Wirkungen auserkoren hat. Ganz anders Storm. Es ist ja ein Greis,
+der seine Jugenderinnerungen Revue passieren läßt, ganz wie in der
+»Chronik der Sperlingsgasse.« Und so verliert die Erzählung nirgends
+das Abgeklärte, Ruhige und Stille. Vielleicht bleibts in ihr sogar
+~zu~ still. Fragen werden nicht beantwortet, die jedem Leser in
+den Sinn kommen. Warum läßt Reinhard seine Elisabeth über Jahr und
+Tag ohne Lebenszeichen, ohne Gewißheit? Kurz, sie gibt dem Drängen
+der Mutter nach; der andere hat Hab und Gut und auch Liebe. Dann aber
+kommt nach geraumer Frist auch Reinhard in der Vermählten Haus; und
+nun erst merken beide, wie schwer es ihnen ist, sich nicht zu haben.
+Das Ende ist Reinhards Scheiden und Verzicht; aber wie tiefe Wehmut
+klingt über dem Ende das Lied:
+
+ Meine Mutter hats gewollt,
+ Den Andern ich nehmen sollt;
+ Was ich zuvor besessen,
+ Mein Herz sollt es vergessen,
+ Das hat es nicht gewollt.
+
+ Meine Mutter klag' ich an.
+ Sie hat nicht wohl getan.
+ Was sonst in Ehren stünde,
+ Nun ist es worden Sünde.
+ Was fang ich an!
+
+ Für all mein Stolz und Freud
+ Gewonnen hab ich Leid.
+ Ach wär das nicht geschehen.
+ Ach könnt' ich betteln gehen
+ Über die braune Haid'!
+
+Nicht überall ist Theodor Storm so rein und so stark lyrischer Dichter
+wie in dieser und in ähnlichen Novellen. Es gibt andere, in denen
+schweigt der Dichter nicht, aber er hat nur sorglich geordnet und fein
+gestaltet, was bitterer Lebensernst ihm vorgeschrieben. Wohl war auch
+in »Immensee« Ernstes und Trübes, aber es drückt dort nicht; das Leben
+ist zum Gedichte geworden. Anders z. B. in »~Carsten Curator~.«
+Das ist die Geschichte eines braven, redlichen Mannes; der hatte
+als treuer Curator vieler Unmündigen und Unfähigen Geschäfte sicher
+geführt und war nur einmal in seinem Leben in der Leitung seiner
+eigenen Geschäfte unsicher geworden, das war damals, als er einen
+ungleichen Bund mit einem schönen Mädchen schloß, das zum Grundzug
+des Herzens den Leichtsinn hatte. Juliane hatte ihn in kurzer Ehe in
+manche Not gebracht; dann starb sie. Aber ein Kind hinterließ sie ihm,
+das war nach der Mutter geschlagen. Der Sohn wuchs heran und hatte
+des Vaters ganze Liebe, aber er lohnte sie durch Leichtfertigkeit und
+Schuldenmachen. Ohne viel Worte kommt zu ergreifendem Ausdruck das
+Leid, das der Vater um den Sohn trägt, dem er die Hilfe doch niemals
+versagen mag. Auch die Pflegetochter, sein Liebstes nach dem Sohn,
+opfert sich und ihre Habe dem Pflegebruder, den sie liebt. Das Unheil
+läßt sich trotzdem nicht aufhalten; der Leichtsinn führt den Bankrott
+herbei und endlich, am Tag, da die Schleuse gebrochen ist und die Flut
+sich durch die Gassen wälzt, bringt ihn Leichtsinn oder Absicht oder
+beides zusammen in den Tod. Der Vater aber findet mit der verwitweten
+Pflegetochter eine gemeinschaftliche Heimat für seine letzte schwere
+Zeit -- dort, wo die letzten kleinen Häuser mit Stroh gedeckt sind.
+
+Wir finden auch in dieser Erzählung manche Seite, über der feinster
+dichterischer Stimmungsreiz liegt. Aber es ist in ihr längst nicht
+soviel Schilderung, nicht soviel beschauliches Ausruhen, nicht soviel
+Schwelgen in Empfindung und Gefühl. Wohl grüßt uns traut das alte
+Haus an der Twiete, das schmale Wohnzimmer mit dem Alkovenbett,
+in dem Vater und Mutter des Hausherrn zum letzten Schlummer
+sich niedergelegt, mit der Silhouette von Carstens einfachem,
+sittenstrengem Vater. Wohl klingt es wie Jugendlust, wenn von dem
+Birnbaum die Rede ist, der die Freude der Nachbarskinder und zugleich
+eine Art Familienheiligtum war. Aber solche Stimmungsbilder bleiben
+vereinzelt; hier redet das Leben selbst eine deutliche, ernste
+Sprache. Hier sinds nicht die Worte, sondern die Geschehnisse, welche
+das Herz bewegen. Wohl spielt auch hier die Landschaft ihre Rolle;
+die Flutgefahr gestaltet die letzte Szene dramatisch bewegt; aber
+hier ist kein romantisches Träumen in Wald und Feld, am See und
+auf der Heide: Menschen nur und Taten, welche diese Menschen tun,
+beherrschen Szene um Szene. Auch hier ist Herzenswärme, innige Liebe,
+nachwirkende Leidenschaft; aber von alledem wird wenig gesprochen; nur
+die Taten zeugen davon. Und so sind denn auch diese Taten nach Motiven
+und Folgen, diese Menschen nach Anlagen und Charakteren schärfer
+herausgearbeitet als beispielsweise in »Immensee.« Hier haben sich
+Wirklichkeit und Stimmung vermählt, und keins von beiden hat dabei
+gelitten.
+
+Und nun zudritt und zuletzt eine knappe Skizze von Storms letzter
+Novelle »Der Schimmelreiter.« War der Grundton von »Immensee«
+träumerisch, der von »Carsten Curator« realistisch-ernst, so klingt
+im »Schimmelreiter« noch eine ganz andere Folge von Tönen an; die
+Novelle neigt nach dem Phantastischen, ja nach dem Schauerlichen
+hin. Gleich die Worte der Einführung versetzen in diese Stimmung.
+Er habe, so erzählt er, die berichteten Ereignisse vor reichlich
+einem halben Jahrhundert im Hause seiner Urgroßmutter in irgend
+einer alten Zeitschrift gelesen. »Noch fühl' ich es, gleich einem
+Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter
+liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt.« Die Geschichte
+führt an die Nordsee. Auf dem Deich, dicht am Wattenmeer, in später
+Oktober-Nachmittagsstunde, strebt ein Reiter dem ersehnten Quartier
+zu. Die gelbgrauen Wellen schlagen unaufhörlich mit Wutgebrüll an den
+Deich hinauf. Schwarze Wolkenschichten machen es zeitweise pechfinster.
+
+»Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte
+nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht
+herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald,
+da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem
+hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre
+Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus
+einem bleichen Antlitz an.
+
+Wer war das? Was wollte der? -- Und jetzt fiel mir bei, ich hatte
+keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und
+Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!«
+
+Nachher im Wirtshaus am Deich, wo des Hochwassers wegen Wacht gehalten
+wird, hört er die Geschichte des unheimlichen Reiters. Hauke Haien ist
+es, der Deichgraf. Eines kleinen Mannes Sohn, hatte Hauke es durch
+zähen Fleiß und durch die Liebe der schönen Elke zum Nachfolger und
+Schwiegersohn des reichen Deichgrafen gebracht. Ihm stehen große
+Pläne vor der Seele. Einen neuen Deich will er bauen, ins Wattenland
+hinein; durch den soll ein neues großes Stück Land vor des Meeres
+Dräuen gesichert und der Benützung erschlossen werden. Das gewaltige
+Werk gelingt; der neugewonnene Koog trägt des stolzen Hauke Haien
+Namen. Aber sieh da! Wo der neue feste Deich an den alten stößt,
+entsteht eine böse, gefahrdrohende Stelle. Bei wiederkehrender,
+rasender Sturmflut wollen die Leute den neuen Deich, ~seinen~
+Deich durchstechen, um so sicher den alten Damm und das Hinterland zu
+retten. Hauke verhinderts; aber der alte Deich birst wirklich, und die
+Fluten brechen herein. Sein Weib kommt zu Wagen ihm, dem Deichgrafen
+entgegen; die Fluten reißen Weib und Kind, Roß und Wagen dahin. So
+reitet Hauke selbst auf seinem Schimmel in wahnsinnigem Entschluß in
+die Fluten hinein. »Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Himmels, der
+Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten aus dem hinabstürzenden
+Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.« Seitdem reitet der tote
+Hauke Haien auf seinem Schimmel bei jeder hohen Flut; und wohin er
+reitet, dort bricht der Damm.
+
+Es ist nicht möglich, in ein paar Worten alle Hauptzüge der
+reichbewegten Handlung anzudeuten: jene gespenstische Erscheinung
+draußen auf der Hallig, ein Pferdegerippe, das doch in dunkler Nacht
+Leben bekommt. Hängts zusammen mit dem abgetriebenen Schimmel, den
+Hauke Haien von einem fremden Manne kauft und der dann in seinem Stall
+ein stattliches Roß wird, -- das Roß, welches ihn nachher in die
+stürmende Flut trägt? Das Kind, das ihm als das einzige geboren wird
+und das zeitlebens ein Kind bleiben muß, weil Gott ihm den Verstand
+versagt hat, ist es die Strafe für die Art, wie Hauke sein totkrankes
+Weib von Gott erbetet hat: »Ich weiß ja wohl, Du kannst nicht
+allezeit, wie Du willst, auch Du nicht; Du bist allweise; Du mußt nach
+Deiner Weisheit tun -- o, Herr, sprich nur durch einen Hauch zu mir!«?
+
+So weben die Gewalten der Meereswogen und die abergläubischen
+Meinungen der Küstenbewohner ein unheimliches Gebilde von Wirklichkeit
+und Traum. Aber es sind keine sanften, ruhigen Träume, die hier
+umgehen; hier ist alles groß, alles packend, alles grausenhaft. Die
+rasch fortschreitende, meisterhaft zusammengefaßte Handlung erhöht
+den Eindruck: ein Kunstwerk von phantastischer Schöne ist erwachsen,
+dem doch der realistische Anhauch nicht fehlt; der Dichter selbst
+gibt kritische Andeutungen, übrigens so fein, daß die Stimmung nicht
+gestört, nur geklärt wird.
+
+Mit diesen drei Skizzen sind nicht entfernt alle Wandlungen der
+dichterischen Stimmung beschrieben, die in Storms Novellen sich
+finden. Wie er auch außer »Immensee« skizzenhafte, träumerische
+Bilder geschaffen hat (z. B. »Psyche«, »Ein stiller Musikant«), so
+auch solche, in denen das Leben selbst obenan steht (z. B. »Hans
+und Heinz Kirch«, »Bötjer Basch«); aber in wieder anderen kommt
+auch ein humoristischer Zug zur Geltung, der (z. B. »Die Söhne des
+Herrn Senator«) freilich auch wieder von tiefem Ernst begleitet
+ist; und mehr als eine seiner Novellen greift in die Schatzkammern
+der Geschichte, um längst vergessene Zeiten zum Reden zu bringen.
+Überall bleibt Storm im kleinen Rahmen; das einzelne Menschenschicksal
+beschäftigt ihn; der Zeiten Gewoge berührt ihn nicht. Er ist nicht
+Politiker und nicht Dogmatiker, er kennt nicht den Trieb, zu agitieren
+oder zu meistern, abzubilden oder zu kritisieren, -- er dichtet, aber
+er webt in sein Dichten treu des Menschenherzens echte Art hinein.
+
+Raabe und Storm! Sind wir damit am Ende? Jener warme Hauch lyrischer
+Empfindung, der über ihren Dichtungen liegt, ist allerdings in
+den Schöpfungen anderer aus dem Ende des 19. Jahrhunderts selten
+zu finden. Oder, wo er sich zeigt, ist er doch mehr Zugabe als
+beherrschendes Element. Aber lassen Sie mich noch einen Erzähler Ihnen
+nennen, bei dem dies eigentümliche Etwas, das wir »Stimmung« nennen,
+nicht immer, aber jezuweilen so stark wird, daß man ihn dann wohl
+neben Raabe und Storm stellen kann: ~Peter Rosegger~. Manches,
+was er geschaffen, kommt in anderem Zusammenhange zur Sprache; man
+kann ihn ja zugleich unter die Vertreter der Heimatkunst, ja des
+Naturalismus rechnen; und sogar dem Symbolismus läßt sich sein
+»Gottsucher« zuzählen. Aber in diesem letztgenannten Buch, dazu in
+ähnlichen kommt auch Stimmung, lyrische Stimmung zum Durchbruch. Noch
+stärker geschieht das, und zwar hier in beherrschender Weise, in den
+von Stifter beeinflußten »~Schriften des Waldschulmeisters~.«
+Auch hier liegt ein ~Gedanke~ zu Grunde; die Lyrik macht den
+Erzähler nicht tot. Verlassen hausen die Waldleute in einsamem Tal, im
+»Winkel.« Nach dem Felstal zu, meinen sie, sei die Welt mit Brettern
+vernagelt. Nach der Ebene zu kommen sie selten. Stundenweit ist die
+nächste Kirche; die Waldleute lassen nur die Mädchen dort taufen, die
+Buben nicht, damit sie nicht erst registriert und später fürs Militär
+gesucht werden. Was ist ihnen Kirche? Was Schule? Sie kümmern sich um
+keinen und keiner kümmert sich um sie. Sie sind hergezogen von Aufgang
+und Niedergang -- wesweg', das weiß der Herrgott. Zumeist sind es wohl
+Bauersleut' von den vorderen Gegenden herein, die sich in die Wälder
+geflüchtet haben, um der Wehrpflicht zu entrinnen. Gibt auch Gesellen
+unter ihnen, denen man in der dunklen Nacht nicht gerne begegnet.
+Wildschützen sind sie alle ..... Beweibet sind die meisten, aber jeder
+hat die Seine nicht vom Traualtar geholt. In dies Tal »im Winkel«
+kommt durch den jungen Waldschulmeister langsam und mühsam Ordnung und
+Sitte, Kirche und Schule, kurz alles das, was wir »Kultur« nennen.
+Jahr um Jahr bleibt er dort bei den Waldleuten, Jahr um Jahr freut er
+sich am Erfolg seines Tuns, Jahr um Jahr trägt er mit den Waldleuten
+Mühe und Arbeit, Freud und Leid. Aber es kommt die Zeit, wo die Leut'
+ihn bei Seite schieben, wo er dem neuen jungen Pfarrer nicht mehr
+genug tun kann, und wo der Dechant, nachdem er die Schule visitiert,
+ihn beim Fortgehen nicht gesehen hat.
+
+»Und seit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr aus diesen Wäldern
+gekommen.
+
+Und die Waldleute entstehen, leben und vergehen dahier und steigen in
+ihrem ganzen Lebenslauf nicht ein einzigmal auf den Berg, wo man die
+Herrlichkeit kann sehen, und am hellen Wintertag das Meer.
+
+Das Meer! Wie wird es da leicht und weit im Herzen! Dort zieht ein
+Kahn, steht ein Jüngling darin, der winkt ....«
+
+So ist er denn am Christtag hinaufgestiegen auf die Spitze des grauen
+Zahns, hoch über den Gletschern. Und dort oben ist er geblieben. Man
+findet bei dem Toten nur ein Stück Papier mit den wenigen Worten:
+
+»Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer gesehen und das
+Augenlicht verloren.« --
+
+Dieser Gang der Erzählung ist klar und deutlich innegehalten.
+Es ist kein romantisches Träumen, was in dem Buche regiert; die
+Umrisse des wirklichen Lebens sind überall scharf gezeichnet. Auch
+hier fehlt realistische, ja naturalistische Derbheit nicht. Auch
+Gefühlsschwärmerei treibt der Waldschulmeister in seinen Schriften
+nicht; er erzählt von nichts als vom Leben, vom wirklichen Leben und
+von der wirklichen Welt. Und dennoch -- welche Stimmung über dem
+Ganzen! Urwaldfrieden umfängt uns, frische urtümliche Schöpfung umwebt
+uns. »Wie er einzieht durch die Augen und Ohren und all die Sinne,
+der liebe, der schöne Wald, so mag ich ihn genießen,« schreibt der
+Waldschulmeister. Wie läßt er ihn uns mitgenießen! Kaum Schöneres
+in unserer Literatur als diese Schilderung des Urwaldfriedens:
+»Urwaldfrieden, du stille, du heilige Zuflucht der Verwaisten,
+Verlassenen, Verfolgten -- Weltmüden; du einziges Eden, das den
+Glücklosen noch geblieben!« -- Auch jeder der anderen Abschnitte ist
+ein prächtiges Kabinettstück urechter Stimmung. Bei den Hirten -- zur
+lieben Sommerszeit ist es da oben gut sein. »So sind sie denn gut und
+froh, und ich, -- wahrhaftig und bei meiner Treu, ich bins mit ihnen.«
+-- Anders bei denen, die buchstäblich von der Erde, von dem Gestein
+heraus ihr Brot graben. Von den Bäumen schaben sie es herab, aus dem
+alllebendigen Ameishaufen wühlen sie es empor, -- die Waldteufel. --
+Wunderbar ists im Felsentale, wo allein noch die Kiefer kampfesmutig
+die steilen Lehnen hinanklettern will, um zu wissen, wie es da oben
+aussieht bei dem Edelweiß, bei den Alpenrosen, bei den Gemsen. Aber
+die gute Kiefer ist keine Tochter der Alpen, balde faßt sie der
+Schwindel und sie bückt sich angstvoll zusammen und kriecht mühsam
+auf den Knien hinan, mit ihren geschlungenen, verkrüppelten Armen
+immer weiter vorgreifend und rankend, die Zapfenköpfchen neugierig
+emporreckend, bis sie letztlich in den feuchten Schleier des Nebels
+kommt und in demselben planlos umherirrt zwischen dem Gestein.
+
+Aber es ist nicht bloß ~Natur~stimmung, was hier regiert. Viel
+mehr als in Stifters Studien, die Rosegger beeinflußt haben, pulsiert
+hier warmes, lebendiges Leben: die Menschen werden lebendig! Die
+Hirten wie die Waldleute, die Holzer dazu, der Pecher und der schwarze
+Mathes und der seltsame Einspanig, der Berthold und die Aga und wie
+sie alle heißen. Aber keins für sich, keins bloß in seiner Menschheit,
+jedes als Teil der Waldgemeinde im Winkel, als Kind der Einsamkeit,
+als Schöpfung des Tals da droben, an das niemand in der Welt denkt.
+Stimmung regiert -- einheitliche, wunderbar naturwüchsige Stimmung.
+Nachempfinden kann sie nur, wer sie selber einmal empfunden hat,
+in einem stillen Alpental, wo die Bäche rauschen, wo der Wald uns
+umfängt, wo die Berge zum Himmel ragen, wo die Menschen die Art ihrer
+Heimat tragen ....
+
+Sind wir nun mit dieser Stimmungsdichtung wieder in den Bereich der
+Romantik gekommen? Sind die Raabe und Storm die einfachen Fortsetzer
+der Linie Novalis -- Eichendorff -- Hoffmann? Keineswegs. Mag man sie
+als Neuromantiker bezeichnen, -- eben das Neue in dieser Romantik ist
+doch stark genug, um ein ganz anderes Urteil über diese Erscheinungen
+zu rechtfertigen als über diejenigen der älteren Romantik. Dies
+charakteristische Neue liegt in dem realistischen Einschlag, besser
+noch: in der durchaus realistisch gefaßten Grundlage aller dieser
+Romane und Novellen. Raabe, Storm, Rosegger und ihre Genossen
+haben die Dinge dieser wirklichen Welt stimmungsvoll angesehen und
+stimmungsvoll geschildert. Aber sie haben nie, wie ihre romantischen
+Vorgänger, die Gesetze dieser Welt außer Geltung gesetzt, nie bloß
+träumend geschaute himmlische Gefilde beschrieben. Ich deutete schon
+an, daß selbst der phantastische »Schimmelreiter« die kritischen
+Ansätze selber bietet. Die übrigen Novellen Storms mögen manchmal die
+harten Lebenserfahrungen, die schweren Kämpfe, die bitteren Stunden,
+die Nachtseiten des Lebens ein wenig abgemildert darstellen, -- mit
+der Wirklichkeit selbst kommt er nie in Streit. Von Raabe gilt das
+erst recht. Sogar die »Chronik der Sperlingsgasse« gibt überall
+natürliches Leben. Somit hat auch diese Stimmungsdichtung sich dem
+beherrschenden Grundzug der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht
+entzogen; auch sie hat der Wirklichkeit ihr volles Recht gegeben. Ja
+sie wird eben dadurch zum glänzendsten Beweis für den ~überall~
+durchdringenden Wirklichkeitssinn. Und darum bezeichnet diese
+Dichtung keinen Rückschritt, erst recht keinen Rückfall. Vielmehr
+stellt sie nur eine besondere Art dar, die Wirklichkeit anzuschauen:
+mit poetischer Kraft, mit sinnendem Bedenken, mit starkem Mitempfinden.
+
+Es sind ja nur kleine Miniaturbildchen aus dem großen Weltbild,
+welche Storms Novellen zeichnen. Raabe gibt größere Bilder; aber
+auch sie können sich hinsichtlich der Weite und Breite nicht mit den
+Zeitromanen messen. Indes was diese Dichtung weniger beiträgt zur
+umfassenden Kenntnis des Weltbereichs, das trägt sie mehr bei zur
+inneren Durchdringung, zum tiefgreifenden Verständnis desselben.
+
+Und so grüße ich auch diese Dichter, die in der Erzählung den Leser
+über ruhig-nüchterne Betrachtung, über Kampf und Streit hinausheben,
+die Dichter, die unser Volk auf die Höhe feinsinnigen Verständnisses
+des Weltgeschehens führen und die den Brunnquell deutschen Gemüts
+ausschöpfen!
+
+ [Illustration]
+
+
+
+
+ Der naturalistische Roman.
+
+
+Naturalismus! Was bedeutet das eigentlich anders als engste Fühlung
+mit der Natur, mit der Wirklichkeit des Lebens? Und bestand
+diese Fühlung zwischen dem deutschen Roman und der Wirklichkeit
+nicht bereits, seitdem die abenteuerlichen Schauerromane und die
+empfindsamen Moralgeschichten aufgehört hatten, als der Inbegriff
+des Romans zu gelten? Seit Goethe fest und klar dem Leben, wie es
+ist, ins Angesicht geschaut? Wahrlich, dieser Wirklichkeitssinn ist
+dann lebendig geblieben, so wenig die romantische Strömung ihm zuerst
+entgegenkam. Selbst die Stimmungsdichtung, von der wir im letzten
+Vortrag gesprochen, fußt auf realen Fundamenten.
+
+Und dennoch bleibt ein gewaltiger Unterschied zwischen
+Wirklichkeitssinn und Naturalismus. Wie verschieden kann man die
+Wirklichkeit ansehen! Es geht einer dahin über duftende Wiesen, durch
+grünenden Wald. Frühlingssonne scheint ihm ins Herz hinein. Wie er
+dem nächsten Hofe sich naht, grüßt ihn der behäbige Bauer, dem die
+Freude über den Besitz auf der Stirn geschrieben steht, -- lächelt
+ihn ein herziges Mägdelein an, mit roten Wangen und frischem Blick.
+Wirklichkeit? Ja, kann das nicht Wirklichkeit sein?
+
+Oder es schaut der ernste Mann hinein in den Gang regelmäßiger
+Arbeit. Er sieht, wie sie schaffen, die Männer des Kontors, -- und er
+sieht, wie sie in rüstiger Arbeit, in gutem Erfolg, in gemessener,
+geordneter Erholung ihre Freude haben. Er sieht, wie das wohlgefügte
+Familienleben die einzelnen Glieder hebt und trägt. Wirklichkeit! Ja,
+ist das nicht Wirklichkeit?
+
+Aber ein anderer sieht das Leben anders an. Er sieht in die Welt --
+da begegnet ihm das Elend. Er sieht in das Haus -- da schaut er Risse
+und Sprünge im Bau der Familie. Er sieht auf die Straßen -- und der
+Menschheit ganzer Jammer faßt ihn an. Er sieht in die Herzen -- und er
+findet die Sünde, die Schuld oder, wenn ihm der Name nicht recht ist,
+-- er findet Furchtbares, Entsetzliches.
+
+Wie jener Erste und wie der Andere -- so haben die deutschen Erzähler
+das Leben längst angesehen, ehe denn das Stichwort »Naturalismus«
+emporkam. Erst als ihrer etliche lernten, es mit den Augen des
+Dritten anzusehen, erst da hat man diesen Namen gebraucht. Sie haben
+es übrigens nicht aus sich gelernt. Oder wenigstens, Mode ward der
+Naturalismus, die Darstellung der unverschleierten Wirklichkeit auch
+nach ihrer häßlichen oder gar vorwiegend nach ihrer häßlichen Seite,
+erst durch ausländische Einflüsse; ich brauche nur zwei Namen zu
+nennen: Zola und Tolstoi. Allerdings, ~daß~ es so kam, ist im
+letzten Grund nicht auf willkürliche äußere Einflüsse zurückzuführen.
+Es ~mußte~ so kommen. Auch das Häßliche gehört nun einmal
+zur Wirklichkeit. Wenn der Grundsatz: die Wirklichkeit schildern!
+durchdrang, so war der Naturalismus notwendig geworden. Er hat in
+diesem Grundsatz sogar seine ~Berechtigung~.
+
+Allerdings: auch innerhalb dessen, was »Naturalismus« heißt, kann
+es wieder sehr verschiedene Stufen geben. Jenachdem man eben das
+Häßliche, ohne es zu ignorieren, in den Hintergrund schiebt oder es
+aufdringlich hervortreten läßt oder es gar zum alleinigen Inhalt
+macht. Schon ~Immermanns~ »Oberhof« hatte naturalistische
+Partien; Jeremias ~Gotthelf~ ist Naturalist durch und durch,
+und mehr als einer hat es ihm arg verdacht, daß er für manchen
+bedenklichen ländlichen Brauch, für manche den verfeinerten Geschmack
+etwas roh anmutende Einzelheit kein wohltätiges Schleierchen gehabt
+hat. Aber bei ihm traten ~diese~ Seiten des Lebens nie in den
+Vordergrund. Er ließ nichts weg, er beschönigte nichts; aber er gab
+dem Unschönen und Unsittlichen nie mehr Raum, als das Leben ihm gibt.
+Und -- er erzählte es mit sittlichem Urteil.
+
+An Gotthelfs Art läßt sich am besten auch die Schilderung des
+moderneren Naturalismus aus der zweiten Hälfte, ja dem letzten Viertel
+des 19. Jahrhunderts anschließen. Denn wie bei ihm, so verbindet
+sich auch hier der Naturalismus großenteils mit ~Heimatkunst~.
+Cäsar ~Flaischlen~ erklärte es 1894 für erforderlich, daß »die
+engere Heimat mit ihrer Stammeseigenart der stete Nährboden bleibe,
+aus dem sich unser ganzer deutscher Volkscharakter zu immer neuer
+Kraft, zu immer reicheren Entfaltungen und zu immer vielseitigerer
+Einheit emporgestalte.« Die so verstandene Heimatkunst ist aber
+nicht notwendig naturalistisch im fortgeschrittenen Sinn. Sie legt
+ihrer ganzen Art nach ein großes Gewicht auf den Sondercharakter der
+Landschaft und des Stammes. Jede Landschaft, jeder Stamm ist ihr um so
+herzlicher willkommen, je ausgeprägter sein Sonderleben, je weniger
+abgeschliffen sein Eigengefühl ist. Wenn Theodor ~Storm~ die
+Küste am Meer, die schwermütige Ebene im deutschen Norden in seine
+Novellen hineinragen läßt, wenn er den besinnlichen, tiefgründigen
+Charakter, den das Land dort seinen Bewohnern gibt, immer wieder
+zur Darstellung bringt, so ist das Heimatkunst. In seinen Novellen
+kann diese Kunst keine ausgeführteren Bilder schaffen; und Storm,
+dem poetische Stimmung über alles geht, erzählt von der Heimat
+nicht alles. Das Häßliche bleibt fern. Aber auch größere Bilder
+gibt die Heimatkunst, ohne prononciert naturalistisch zu werden,
+und kleinere Bilder stimmt sie noch schärfer auf Sitte und Brauch.
+Beides trifft zu bei Heinrich ~Sohnrey~, dessen Zeitschrift
+»Das Land« diese Kunst mit Liebe verficht. Sein »Die Leute aus der
+Lindenhütte«, seine kleinen Geschichten »Die hinter den Bergen« lassen
+das hannoversche Land, dem der Autor entstammt, lebendig werden.
+In seiner schlicht-einfachen Art, die das Grübelnd-Moderne in der
+psychologischen Auffassung nicht kennt, scheidet er sich allerdings
+von den meisten anderen neuzeitlichen Vertretern der Heimatkunst.
+
+Von hier aus bis zu denjenigen Erzählern, die ihrer Heimatkunst einen
+rückhaltlos naturalistischen Einschlag geben, ist nun eben nur ein
+Schritt. Hier sind zwei Österreicher zu nennen: Peter ~Rosegger~
+und Ludwig ~Anzengruber~, beide freilich wieder unter einander
+verschieden. Wenn ich ~Rosegger~ hier nenne, so denke ich nicht
+an den Stimmungsdichter der »Schriften des Waldschulmeisters«, auch
+nicht zuerst an den Problemdichter der größeren Romane -- als solcher
+wird er uns noch einmal begegnen --, nein, mir stehen dabei jene
+seiner vielen Schriften vor Augen, in denen die steirische Heimat
+das einzig Herrschende ist. Sie sind ja nicht alle von gleichem
+Wert; wie könnte dem vielschreibenden Mann jeder Wurf zu gleicher
+Vollendung ausreifen? Die kleineren Geschichtensammlungen tragen alle
+diese Art, aber auch von den größeren verleugnen manche sie nicht: so
+»Heidepeters Gabriel«, so auch »Jakob der Letzte« und das historische
+»Peter Mayr, der Wirt an der Mahr.« Zwei Haupteigenschaften
+charakterisieren diese naturalistische Heimatkunst Roseggers: einmal
+die liebenswürdige Frische, sodann die natürliche Derbheit der
+Erzählung. Die liebenswürdige Frische nimmt unwillkürlich gefangen;
+selbst den schwächeren Geschichten gibt sie einen eigentümlichen Reiz.
+Die Naturfarbe wirkt mit der herzgewinnenden Offenheit, das sich
+offenbarende warme, gemütstiefe Empfinden mit kräftig gesundem Urteil
+zusammen, um den Leser immer aufs neue zu erfreuen. Die Derbheit aber,
+welche sich mit der Liebenswürdigkeit paart, wirkt bei Rosegger
+rein ländlich-natürlich. Es ist eine ähnliche Derbheit, wie sie
+auch bei Fritz ~Reuter~ manchmal durchbricht, die Derbheit des
+Naturkindes. Sie wird nirgends roh, aber auch nirgends raffiniert und
+sie geht niemals ins Einzelne. Sie sucht nicht sonst Verschleiertes,
+sondern sie erzählt offen, was bei dem einfachen Volk der Berge, das
+keine Prüderie kennt, offen besprochen zu werden pflegt. Wir haben
+hier die Verbindung von Heimatkunst und natürlichem Naturalismus.
+Anders schon zeigt sich die Verbindung von Heimatkunst und
+Naturalismus bei ~Ludwig Anzengruber~. Der hat sich selber als
+»Realistiker« gezeichnet, als er den zweiten Band seiner »Dorfgänge«
+einleitete. Nur ein paar Sätze aus dieser Schilderung können hier
+wiedergegeben werden. »Ein solcher« (Schriftsteller), so schreibt er,
+»glaubt der Wirkung seines Stoffs im vornhinein sicher zu sein, wenn
+er alle seine Gestaltungskraft an das Kleine und Kleinliche aufwendet,
+und er will es dabei eingedenk bleiben, daß selbst die schmutzige
+Scholle ein Stück der Allernährerin Erde sei ....... Er erspart uns
+keinen Schrei wehen Jammers, er erspart uns kein Jauchzen wilder Lust.
+Er stößt das Elend, das um Mitleid bettelt, nicht von der Ecke, er
+jagt den Trunkenbold, der alle belästigt, nicht von der Straße, alles,
+was er bei solchen unangenehmen Begegnungen für euch tut, ist, sie
+abzukürzen, nachdem ihr aber doch den Eindruck einmal weghabt. Tugend
+und Laster, Kraft und Schwäche führen bei ihm ihre Sache in ihrer
+eigenen Weise. Er will das Leben in die Bücher bringen, nachdem man es
+lange genug nach Büchern lebte ....«
+
+Diese wenigen Worte geben natürlich nicht den ganzen Anzengruber.
+Gleich ihre Fortsetzung proklamiert den Realistiker als den »Priester
+eines Kultus, der nur eine Göttin hat, die Wahrheit,« aber sie spricht
+ihm auch das Recht der Stimmung und der Deutung zu: »Er bringt die
+Sterbenden aus dem Gelärm des Tages und bettet sie in heiliger Stille,
+er flüstert vertraut mit ihnen über alte Erinnerungen, damit sie dem
+Sonnenlichte nicht fluchen, zu dem sie einst erwachten, und er deutet
+ihnen leise all diese Schauer und Krämpfe als die letzten Anrechte
+allen und jeden Schmerzes an sie, damit sie die Nacht nicht fürchten,
+in welche sie jetzt eingehen sollen, langsam, mählich, wie die Pulse
+verrollen, der Atem stockt, das Herz stille steht ....« Aber es ist
+besser, wir machen uns seine naturalistische Heimatkunst praktisch
+klar, indem wir eins seiner Werke genauer ansehen. Wählen wir nicht
+die »Dorfgänge«, aber noch weniger die minder charakteristischen
+Kleinigkeiten wie »Gefabeltes von irgendwo und nirgendwo«, sondern
+sein erzählendes Hauptwerk, das neben den Dramen ihn am deutlichsten
+charakterisiert, die Dorfgeschichte mit dem Titel »~Der
+Sternsteinhof~.«
+
+Es ist die Geschichte eines weiblichen Charakters. Rechtschaffen
+sauber ist die Zinzhofer Helen', aber arm, ganz arm. Da hat der
+häßliche Kleebinder Muckerl an ihr Gefallen gefunden, und vom Ertrag
+seiner Herrgottsschnitzerei hat er ihr schöne Geschenke gemacht.
+Sie hälts mit ihm, aber ihre Pläne gehen höher hinaus. Sie weiß
+die Aufmerksamkeit des jungen Bauern vom großen Sternsteinhof zu
+erwecken und durch geschickte Zurückhaltung ihm ein schriftliches
+Eheversprechen abzugewinnen. Bis dann doch die Stunde kommt, da des
+reichen Anbeters Zudringlichkeit ihre Zurückhaltung besiegt. Nun hat
+sie verspielt; der junge Bauer will sie wohl heiraten, aber der Alte
+gibts nicht zu, und sie muß froh sein, daß Muckerl, der Gute, durch
+eilige Ehe ihr die Schande erspart. Auch der junge Bauer heiratet
+-- ein reiches Mädchen, das von der Geburt des ersten Kindes an
+schwer kränkelt. Er träufelt nun Gift in Helenes Herz: sie wollen
+noch einmal zusammen gehören, und wenns ein Verbrechen koste. Kein
+Verbrechen braucht es dazu; dem Muckerl, der nie stark gewesen,
+gibt die Entdeckung, daß sein Weib ihn hintergehe, den Rest; und die
+Bäuerin stirbt auch. Helen' erreicht ihr Ziel: sie wird die Herrin vom
+Sternsteinhof. Freilich nicht lange an ihres Bauern Seite; der bleibt
+im Feldzug. Nun lebt sie ganz für ihre Kinder.
+
+Die Geschichte eines Charakters: denn das ist ihre größte Kraft, daß
+sie alle Wandlungen im Wesen der schönen Helen' mit psychologischem
+Tiefblick darlegt. Wie sie gern davon hört, daß sie die allersäuberste
+wär' im ganzen Landviertel! Wie sie nimmt, was der schieche
+Muckerl ihr schenkt, ohne daß doch ihr Herz etwas von Dank wüßte!
+Wie sie die Netze auswirft nach dem reichen Bauernsohn! Wie sie
+lavieren kann, ums mit keinem zu verderben! Und nachher, welche
+ergreifenden Seelenbilder: der Fußfall der Entehrten vor dem alten
+Sternsteinhofbauern, bei dem sie sich tief demütigt und doch stolz
+bleibt, -- der dankbare Jubel, wie Muckerl ihr auch jetzt noch die
+Hand zur Ehe reicht: »da schwingt sie sich flink über das niedere
+Gatter, das sie trennt, und nun hing sie an seinem Halse und preßte
+die dürstenden Lippen auf die seinen und er taumelte unter ihrer
+Last, wie trunken von ihren Liebkosungen.« Dann die Beichte vor der
+Trauung mit der Angst, die Absolution nicht zu erhalten, mit dem
+Nachklang in ihrem Herzen: »Das war gestern eine Beicht' gewesen! Ei
+wohl, eine schwere, harte Beicht'. Gott sei Dank, daß es überstanden
+war!« Und weiter jene nächtliche Szene, in welcher die Versuchung,
+welche das Wort des Sternsteinhofbauern in die Seele gestreut, in ihr
+Leben gewinnt: »Ewig lebt keiner, doch überlang mancher. Was g'schah'
+dann? Das find't sich! .... und dann flüsterte, wisperte und raunte
+es ihr zu: Tu's -- tu's -- tu's -- es find't sich -- es find't sich!«
+Es ließen sich diesen Bildern leicht noch andere anfügen: Helene und
+ihre Mutter, die alte goldgierige, vorschubleistende Zinzhoferin;
+Helene und der alte Sternsteinhofbauer, der ihr gram bleibt, bis
+sie nach dem Tod des jungen Bauern auch ihm wieder gute Tage gibt.
+Ein hartes Herz ists, dessen Geschichte beschrieben wird. Schönheit
+bringt Gefahr! Nur hoch hinaus! Was tut ihr die Liebe des Häßlichen?
+Was nachher die unendliche Treue des Großmütigen? Ihr gilts nur ihr
+Ziel. Und schließlich hat sie doch als die reiche Bäuerin die hohe
+Achtung der ganzen Gegend. Die anderen, denen sie grauses Herzeleid
+angetan, bedauert niemand. »Anders aber, wenn Helene stirbt, nicht nur
+ihrem eigenen Kinde wird das Herz schwer werden, auch das fremde wird
+ihr heiße Tränen nachweinen, die Armen in der Umgegend und alle Jene,
+die gewohnt waren, freundnachbarlich sich Rat und Tat zu erbitten,
+wird der Tag bedrücken, an welchem der Tod die Bäuerin hinwegholt vom
+Sternsteinhofe.«
+
+Noch manches andere steht im »Sternsteinhof«, was Erwähnung verdiente.
+Wie meisterhaft diese Unterredung, in welcher der alte Pfarrer den
+jungen Kaplan die Herzen seiner Leute kennen lehrt! Man kann hier und
+da die Empfindung haben, aufs Niveau der einfachen Dorfgeschichte
+herabzusinken; aber die unerbittliche Klarheit der Seelenanalyse
+zeigt immer wieder, daß die Geschichte über demselben steht. Der
+Naturalismus ist hier scharfsinnig geworden; er ist nicht mehr bloß
+natürlich-naiv. Unangenehme Szenen kürzt Anzengruber wirklich ab;
+er wird nie pikant, dazu ist er viel zu ernst. Aber er erspart auch
+nichts, vor allem kein Weh' und keine Sünde.
+
+Auf ~ländlichem~ Gebiet haben Anzengrubers Gestalten ihren
+Heimatboden. Er gibt selber den Grund dafür an -- in einer
+Nachbemerkung zum Sternsteinhof --: »weil der eingeschränkte
+Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer
+Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften,
+rückhaltlos sich äußernd, verständlicher bleiben ....« Andere haben
+doch die hiernach noch schwerere Aufgabe gewagt, auch in einen
+Mechanismus hineinzusehen, »den ein doppeltes Gehäuse umschließt und
+Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben.« Sie führen ins
+Leben der ~Stadt~ und in die Herzen der Gebildeten. Heimatkunst
+üben sie darum auch. Aber ist es nicht so, daß der Städter, daß der
+Gebildete minder fest an der heimatlichen Scholle hängt, vor allem
+minder nachhaltig durch sie bestimmt wird als der Landmann, der mit
+ihr in steter, enger Verbindung bleibt? Man mag getrost auch hier von
+Heimatkunst sprechen; aber der Begriff verliert, wo Berliner Straßen
+und Schornsteine in Frage kommen, sein Anheimelndes. Um so deutlicher
+tritt der Begriff Naturalismus in sein Recht. Nur natürlich: hier kann
+nicht mehr von naiver Offenheit die Rede sein, hier handelt es sich
+einfach um grundsätzliche Darlegung nackter Wirklichkeit.
+
+Berlin ist es, das den Untergrund hergibt für die Romane ~Max
+Kretzers~, der unfraglich von Emil Zola gelernt hat, wenngleich
+er ihn nicht erreicht hat, auch wohl im Grad der Entschleierung des
+Häßlichen ihn nicht hat erreichen ~wollen~. Nicht überall ist ihm
+ein treues Konterfei der Berliner Wirklichkeit gelungen; vieles in
+dem Roman »~Die Bergpredigt~« muß man als tendenziös entstellt
+schlechthin ablehnen. Damit hat Kretzer sich eben auf ein Gebiet
+gewagt, auf welchem objektive, naturgetreue Zeichnung außerordentlich
+schwer ist, -- auf das kirchliche Gebiet. Die persönliche Stellung,
+persönliche Antipathien insbesondere, sprechen hier auch bei dem
+Apostel der Wirklichkeit so stark mit, daß der naturalistische Roman
+nicht ganz wenige Züge vom Tendenzroman erhalten hat. Anders im
+»~Meister Timpe~«. Damit hat Kretzer einen ganz aktuell-modernen,
+nämlich einen sozialen Roman geschaffen. In der Werkstatt in einer
+der engen Straßen in Berlin O. regiert Meister Timpe, ein ehrsamer
+Drechsler, über zahlreiche Gesellen und Lehrlinge. Wenn Handwerk
+für ihn auch nicht gerade goldenen Boden hat, so hat es ihm doch
+zu gewissem Wohlstand verholfen. Der Meister hat redlich dazu das
+Seine getan; Geschicklichkeit und Findigkeit in der Anfertigung
+neuer Modelle haben ihn unterstützt. Aber nun erhebt sich plötzlich
+dicht neben seinem Grundstück eine neue Fabrik derselben Branche,
+gebaut von Ferdinand Friedrich Urban, dem skrupellosen, gewandten
+Geschäftsmann. Es ist ein harter Kampf zwischen Werkstätte und
+Fabrik, der nun beginnt. Mit zäher Energie kämpft Meister Timpe um
+seine Existenz. Aber die Gegner sind ungleich. Die große Fabrik kann
+billiger liefern, weil Einkauf und Verkauf im Großen geschieht; jede
+Konjunktur kann Urban geschäftskundig ausnützen; die Modelle des
+Handwerksmeisters beutet er skrupellos aus. Meister Timpe muß Kunden
+um Kunden sich abwenden sehen, muß Gesellen um Gesellen entlassen.
+Sein Erspartes geht drauf; er arbeitet schließlich allein, Stuhlbeine
+drechselnd, Woche um Woche. Er, der alle sozialdemokratische Wühlerei
+stets mit überlegener Gewißheit von sich gewiesen, gibt nun selbst
+einen sozialdemokratischen Wahlzettel ab und predigt in einer
+Streikversammlung Aufruhr: »Die Schornsteine müssen gestürzt werden,
+denn sie verpesten die Luft .... ~Schleift die Fabriken~ ....
+~zerbrecht die Maschinen~!!« Auch sein Haus soll ihm genommen
+werden, er selbst soll wegen dieser Hetzrede gerichtlich belangt
+werden. Er aber verbarrikadiert sich im Haus und man findet ihn tot.
+
+Fabrik und Handwerk, neue und alte Produktionsweise -- das ist der
+eine Gegensatz, welcher machtvoll dies Buch beherrscht. Mit diesem
+Gegensatz aber ist in vollendeter Wirkung ein anderer verbunden --
+der Gegensatz dreier Generationen. Des Meisters Vater ragt in die
+neue Zeit hinein wie eine Ruine aus der guten alten Zeit: »Ja, ja,
+das waren noch andere Zeiten .... damals! Das Handwerk hatte einen
+goldenen Boden ...« Aber auch sonst vertritt er die alte Zeit, -- die
+Zeit, da noch niemand hoch hinaus wollte, auch die Väter mit ihren
+Kindern nicht, -- die Zeit, da die Eltern ihren Kindern die Zuchtrute
+gaben, um sie zu ordentlichen Menschen zu erziehen .... Die zweite
+Generation hat ihren Repräsentanten in Meister Timpe selbst. Er für
+seine Person, für sein Haus gehört ganz zur alten Art, -- schlicht,
+einfach, solide, gediegen, wie er ist. Sein einziger Luxus -- eine
+Weiße in der weitbekannten Kneipe von Vater Jamrath. Aber für seinen
+Sohn will er hoch hinaus; der Franz muß Kaufmann werden und nicht
+Handwerker. Wenn er nur in die feinen Kreise kommt -- dann läßt der
+Vater ihm in unverzeihlicher Schwäche alles durchgehen, alles. -- Die
+dritte Generation: -- der Sohn Franz. Er kommt vorwärts, er wird des
+reichen Fabrikbesitzers Schwiegersohn und Teilhaber. Aber Vater und
+Mutter verrät und verläßt er um dieser neuen Größe willen; kommt des
+Meisters geschäftlicher Rückgang auf Rechnung Urbans, so kommt all
+sein Herzeleid auf Rechnung des ungeratenen Sohnes. Drei Generationen!
+Die Gegenüberstellung wirkt mit wuchtiger Gewalt!
+
+In diesen Gegensätzen liegt die Kraft des Romans. Die brillant
+gezeichneten Einzelbilder heben ihn noch: der Streit zwischen Meister
+und Geselle um die Sozialdemokratie, die Debatte am Stammtisch
+über die neue Entwicklung, die sozialdemokratische Versammlung.
+Der Roman wird zum Zeitroman, aber in der derben Ungeschminktheit
+seiner Darstellung zum naturalistischen Zeitroman. Vielleicht wirkt
+noch nicht alles natürlich, z. B. nicht das rasche Aufsteigen des
+hoffnungsvollen Franz, die gar zu skrupellose, ja gewissenlose und
+verbrecherische Handlungsweise des ungeratenen Sohns. Vielleicht fehlt
+ein Vertreter eines anderen Fabrikantentums, das +in puncto+
+Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeit dem alten Handwerksmeister nichts
+nachgibt. Vielleicht steckt eben doch auch in diesem Roman noch ein
+Stück Tendenz. Aber jedenfalls ist andrerseits der Naturalismus nicht
+übertrieben. Kretzer ist nur ausnahmsweis ein Detail-Naturalist,
+alles Sinnliche bleibt diesem Roman völlig fern. Berliner soziales
+Leben ist mit wesentlich naturwahrer Treue geschildert, und zwar in
+so abgerundeter Handlung und derart zugkräftiger Entwicklung, daß die
+Form der Darstellung den Inhalt aufs beste zur Geltung bringt.
+
+Kräftiger noch sind die Farben aufgetragen in dem anderen Kretzerschen
+Roman »Das Gesicht Christi.« Derselbe hat zum naturalistischen
+Grundcharakter einen symbolistischen Einschlag. Davon noch später.
+Er hat außerdem einen Beigeschmack des Pikanten, was dem »Meister
+Timpe« völlig fehlt. Wenigstens die Verführungsszene zwischen
+Fabrikant und Fabrikmädchen ist nicht rein naturalistisch; sie
+ist zugleich sinnlich raffiniert. Die eigentliche Schilderung
+aber greift hier noch tiefer ins Häßliche hinein; sie beschäftigt
+sich mit den untersten Volksschichten, sie malt das Elend einer
+unglücklichen Arbeiterfamilie, sie schildert die Schande im Gefolge
+dieses Elends so deutlich, daß der Roman nicht bloß ein Beispiel
+wird für die rücksichtsloseste Wirklichkeitszeichnung, sondern auch
+für die erschreckende, zarter besaitete Gemüter abstoßende Wirkung
+derselben. Welche Szene, die Arbeiterwohnung im Berliner Hinterhaus
+mit dem Hunger als Gast, mit dem Tod vor der Tür! Welche Tragik: der
+Arbeiter mit den hungernden Kindern die Stadt durchirrend, die große,
+tosende Stadt, in der des Einzelnen Elend verschwindet! Und dann
+seine Heimkehr in die öde Stube, in die der Tod inzwischen seinen
+Einzug gehalten hat! Mit wuchtiger Plastik ist auch das Bild aus dem
+Kneipenleben gezeichnet: die trinkenden, schimpfenden, streitenden
+Proletarier, der junge Arbeiter und sein Mädchen, der Halbverhungerte,
+der gierig die Speise verzehrt, die rohen Lieder, der giftige Spott,
+-- die Heilssoldatin mitten drin in all dem Toben! »Meister Timpe«
+blieb immer beim Mittelstand; wenige Streiflichter nur ließ er auf
+die brodelnde Tiefe fallen. »Das Gesicht Christi« führt ganz in die
+Tiefen, zum Teil in die tiefsten Tiefen der Sünde und des Elends. Es
+nimmt die Wirklichkeit da, wo sie am schrecklichsten ist; es zeigt die
+»Natur«, wie sie zur Bestie wird. Hier ist nichts mehr schön, aber
+wahr ist alles.
+
+Auf das »Gesicht Christi« komme ich seines symbolistischen Einschlags
+wegen später noch einmal zu sprechen.
+
+Für jetzt möchte ich noch mit einigen Worten bei einem anderen
+gemäßigt naturalistischen Schriftsteller verweilen, der wieder ein
+anderes Milieu zur Darstellung gebracht hat, bei ~Wilhelm von
+Polenz~. Auch er wählt ländliche Verhältnisse für die Darstellung,
+aber völlig andere als Rosegger und Anzengruber, -- die ländlichen
+Verhältnisse Ostelbiens. Seine Romane »~Der Büttnerbauer~« und
+»~Der Grabenhäger~« erreichen in Schilderung dieser Menschen und
+Gegenden einen hohen Grad von Anschaulichkeit. Er beschränkt sich
+übrigens nicht auf die untersten Stufen der menschlichen Gesellschaft;
+er versucht gerade auch die gebildeten Kreise zu Gegenständen seiner
+Zeichnung zu machen. Am ausschließlichsten geschieht das in dem
+»~Pfarrer von Breitendorf~.« Aber -- und darum gehe ich hier
+auf dies Buch genauer ein -- es ist entschieden schwerer, gebildete
+Schichten naturalistisch abzukonterfeien als einfache Bauern oder
+Taglöhner oder Fabrikarbeiter. Hier zeigt sich, wie sehr Anzengruber
+mit Betonung dieser größeren Schwierigkeit Recht hatte. Kommt beim
+Bauern viel auf Sitte und Brauch an, noch mehr auf alteingewurzelte,
+einfache Grundanschauungen, reduzieren sich die ländlichen Konflikte
+schließlich immer wieder auf die großen Fragen von Mein und Dein, von
+Liebe und Eifersucht, -- so ist der psychologische Apparat bei den
+gebildeten Klassen erheblich komplizierter. Die geistigen Fragen,
+die Unterschiede des Standes und Berufs, die Weltanschauung, -- das
+und noch tausend andere Dinge soll der Dichter berücksichtigen.
+Der »Pfarrer von Breitendorf« aber behandelt nun gar einen Stand,
+der sicherlich mit am schwersten getreu darzustellen ist, den
+Pastorenstand. Wie verschieden sind die Einzelglieder dieses
+Sammelbegriffs! Wie verschieden schon ihre äußere Umgebung! Vor
+allem aber, wie schwer ists für den Außenstehenden, gerade hier
+vorurteilslos naturgetreu zu bleiben! Der Geistliche ist ja den
+meisten derart verschmolzen mit der religiösen Anschauung, welche er
+vertritt, mit dem kirchlichen Amt, welches er führt, daß ihr Urteil
+über seine Person unmittelbar abhängig wird von ihrer Stellung zu der
+Sache, die er darstellt. Wer zur Religion kein inneres Verhältnis
+hat, wer mit dem Wort Kirche den Begriff unheimlichen Finsterlingtums
+verbindet, dem ist oft genug der Pastor das, was dem Stier das rote
+Tuch ist. Reichliche Beispiele hierfür geben Spielhagens Romane.
+Wilhelm von Polenz hat im »Pfarrer von Breitendorf« gleichfalls stark
+unter dieser Schwierigkeit gelitten. Er hat manchen guten Anlauf
+zur wahren Schilderung genommen, einzelne Typen sind ausgezeichnet
+getroffen. Aber um so verzerrter sind die anderen.
+
+Ein greiser Pastor findet in hohem Grad des Helden Gerland Beifall. Er
+hat nichts Geistreiches an sich, seine Ansichten tragen den Stempel
+des Altmodischen, er gesteht seine Unbekanntschaft mit allgemein
+bekannten theologischen Fragen. Aber er spricht herzlich und schlicht,
+er empfindet echte und tiefe Begeisterung für seinen Beruf; er faßt
+sein Amt in Wahrheit als das eines Seelenhirten auf; Glauben und
+Pflicht decken sich bei ihm in schönster Weise. »Er hatte keinen
+Kompromiß zwischen Überzeugung und Lebensklugheit nötig.« Er handelt
+auch im weiteren Verlauf der Erzählung ganz nach dieser seiner Art: in
+herzlicher, schlichter, liebevoller Einfachheit. -- Die anderen Typen
+erfreuen sich nicht des gleichen Beifalls des Helden und des Autors.
+Auch nicht desjenigen des Lesers. Als einmal viele Pastoren beisammen
+sind, heißt es: »Da war auch nicht ein vergeistigtes Antlitz, nicht
+ein Auge, aus dem Begeisterung geblitzt hätte.« Die ganze Reihe hier
+vorzuführen, unterlasse ich, um nur einige Bemerkungen noch anzufügen.
+Da ist der Diakonus Fröschel, ein unansehnlicher, blasser Mensch,
+der eine Brille trägt und sich linkisch verbeugt. »Es lag etwas
+frühreifes, vorzeitig gealtertes in diesem runden kleinen Gesicht, das
+die kurzen, unausgeprägten Formen eines Kinderkopfes trug.« Natürlich
+hat er, als er zum Mittagessen eingeladener Maßen erscheint, einen
+abgetragenen Rock an, kurze Beinkleider und plumpe Stiefeln. Dieser
+selbe Fröschel ist innerlich völlig mit seinem Berufe zerfallen;
+er »zersetzt sich in seiner eigenen Schärfe.« Seine Anschauungen
+scheiden ihn völlig von seinem Amt, denn sie scheiden ihn von jedem
+Christentum. Trotzdem wagt er nicht, den Beruf aufzugeben, -- aus
+Angst vor seiner ihn völlig beherrschenden Mutter. Lieber gibt er sich
+schließlich selber den Tod. Da ist endlich Pastor Gerland selber,
+mit einer gewissen Begeisterung geschildert, ein Mensch, von dem
+wenigstens angedeutet wird, daß er es ernst nimmt mit seinem Beruf;
+viel Tatsächliches erfahren wir nicht darüber. Er liebt die noch
+ungetaufte Tochter des atheistischen +Dr.+ Haußmann, gewinnt
+mit Mühe und viel Selbstverleugnung das Vertrauen dieses Mannes,
+gewinnt auch das Herz der Tochter. Sie läßt sich taufen; aber Gerland
+quittiert doch sein Amt, -- auch ihm sagt es auf die Dauer nicht
+zu. Diese beiden eben kurz umschriebenen Gestalten sind beide sehr
+wenig wahrscheinlich. Die Begeisterung Gerlands schlägt ohne irgend
+genügende Motivierung in das Gegenteil um; und Fröschel mit der
+unglaublichen Angst vor der Mutter ist eine Karikatur, eine einfache
+Karikatur. Wer aber selbst diese Typen ernst nehmen wollte, müßte
+mindestens zugeben, daß die gesamten Typen einseitig ausgewählt sind;
+eine ganze Reihe von anderen fehlt. Dazu kommt, daß dem Dichter auf
+diesem Gebiet denn doch allzusehr die Details der geistigen Bewegungen
+gefehlt haben, als daß er hätte naturgetreu zeichnen können. Das Buch
+will ja naturalistisch sein und ich habe es eben um dieses Anspruchs
+willen hier eingereiht. Aber es hat -- in seiner Art -- verzweifelte
+Ähnlichkeit etwa mit dem militärisch-naturalistischen Tendenzroman
+»Sedan oder Jena?« von Beyerlein. Gewiß, es ist schwer, ~dies~
+Gebiet objektiv zu schildern. Sogar den Lesern wird es schwer, nicht
+ihrerseits Stellung zu nehmen. In dem Exemplar einer Leihbibliothek
+standen bei einem ziemlich absprechend urteilenden Satz zwei sehr
+verschiedene Randbemerkungen. Ein Leser hatte geschrieben: »Frech und
+unwahr!«, der andere: »Leider zu wahr!« Es ist eben nicht leicht,
+Naturalist zu sein.
+
+Über Kretzer und über Schriftsteller wie Polenz hinaus haben
+andere den Naturalismus noch naturwahrer wollen arbeiten lassen.
+~Zola~ arbeitete sozusagen mit dem Bienenfleiße des Sammlers,
+der alles und jedes Material, was zum Verständnis dienen kann,
+zusammenträgt. ~Kretzer~ schildert mit gröberen Strichen,
+aber auch er schildert vor allem Verhältnisse, Zeiten, -- nur in
+den Zeiten und Verhältnissen zeichnet er die Menschen. Mit alledem
+ist die naturgetreue Zeichnung doch noch nicht auf dem Gipfel.
+Reden denn die Menschen bei ~Zola~ so, wie sie im gewöhnlichen
+Leben reden? Sprechen sie nicht noch immer, als ob sie sich ihre
+Sätze ausgearbeitet, ausgefeilt und auswendig gelernt hätten? Sie
+diskutieren, als ob sie zur Debatte zusammengekommen wären und als ob
+der Präsident der Kammer ihnen nacheinander das Wort erteilte. Bei
+~Kretzer~ sind sie darin zurückhaltender, maßvoller, natürlicher.
+Aber das muß zugegeben werden: ~ganz~ natürlich sind im Reden
+auch ~Kretzers~ Menschen noch nicht. Also -- und damit setzt
+der konsequenteste Naturalismus ein -- gilt es, zu beobachten, wie
+die Menschen sich geben, wie sie sprechen, -- bis ins Kleinste
+hinein. Jeder augenblickliche Eindruck muß wiedergegeben werden.
+Das Psychologische muß schärfer betont werden. Aber nicht etwa bloß
+die großzügige psychologische Motivierung, sondern alle die kleinen
+psychischen Wandlungen und Schwankungen, Einfälle und Zufälle,
+Reizungen und Wallungen. Man sucht sich nun irgend einen interessanten
+Moment heraus, einen Moment mit wechselnden seelischen Eindrücken, und
+kinematophotographiert gewissermaßen die Seele in den Augenblicken,
+wo diese Eindrücke wirksam werden. Damit geht dann Hand in Hand die
+Umgestaltung der Sprechweise. Phonographisch getreu wird jedes Wort,
+jede Interjektion, jeder halbe Laut wiedergegeben. ~Arno Holz~
+und ~Johannes Schlaf~ haben diesen Naturalismus eingeführt;
+die Novellen »Papa Hamlet« (1889 erschienen) sind die erste Probe
+desselben. Nicht aus ihnen, aber aus später erschienenen Novellen von
+Johannes ~Schlaf~, dem Stück, welches »Leonore« betitelt ist
+(erschienen 1899), entnehme ich zwei kleine Proben, die das Gesagte
+veranschaulichen werden.
+
+Zunächst ein Beispiel für die Art der Schilderung psychologischer
+Vorgänge. Günther kommt in die Wohnung der einst heiß Geliebten, die
+aber ein anderer heimgeführt hat, -- ein anderer, der nun längst
+gestorben ist. Er wartet nun auf ihr Erscheinen.
+
+»Er kann sich dehnen ... Sieht sich um .... Als wär' er zu Haus ....
+
+Nur ... he! --
+
+Wie? -- Wie denn? -- Und nun quält er sich, sich in eine jener
+Erinnerungen hineinzuringen, eine Erinnerung an eine jener so
+unsagbar beseligten Stunden und sucht sie mit einer krampfhaften
+Energieanstrengnng an die Gegenwart zu fügen.
+
+Aber diese Müdigkeit in ihm. -- Diese verdammte Taubheit! --
+
+Eine Aussprache! Gewiß! Das fühlt er! -- Eine Aussprache. --
+
+Nun, nun! -- Jaja, irgend etwas muß er jetzt reden ... Irgend was ...
+Reden, reden, reden! -- Und dann -- gewiß! -- wird alles ins rechte
+Gleis kommen. --«
+
+Und dann eine zweite Probe, welche die Art zeigt, in welcher bei
+Schlaf die Menschen sprechen:
+
+»Ihr Blick verfolgt den Zeigefinger, der zögernd über den Plüsch
+hinstreicht. Es scheint, als wolle sie etwas sagen, aber sie schweigt.«
+
+»Hm! -- Wie viel Jahre -- sind -- es ...«
+
+Er weint in sich vor Ohnmacht.
+
+»Fünf ... fünfzehn Jahre! -- Weiß der Teufel! Schon fünfzehn Jahre!« --
+
+Mein Gott, was schwatzt er nur!
+
+Er lacht heiser.
+
+Ein leises »Ja!«
+
+Und wieder Schweigen.
+
+Sie erhebt sich und nimmt aus irgend einem Grund den Vorhang zurück.
+
+»Ja! -- hä! -- ich hätte nicht geglaubt, das Nest noch mal zu sehn! --
+Aber es ist doch wirklich ein Bann, die -- Heimat ...«
+
+Er hat sie nur immer beobachtet: wie sie sich nun wieder
+niedergelassen hat, und -- und wie ihre Brust geht ... Ihre Brust geht
+...
+
+Er grinst.
+
+»So ... So eine -- Anwandlung«, reißt er sich jedes Wort los. »Denn
+eigentlich ist mir doch alles hier weggestorben ...«
+
+Mit ~dieser~ naturalistischen Methode ist es nun freilich
+unmöglich, einen Roman zu schreiben. Allerdings -- der Versuch ist
+gemacht worden. Aber was ist dabei herausgekommen? Nicht ein Roman
+von wuchtig wirkender Geschlossenheit, sondern eine lange Reihe
+phonographisch-photographischer Skizzen. Skizzen! Das ist der beste
+Name für die Produkte dieses allzugetreuen Naturalismus.
+
+Aber selbst die Skizzen, die den stolzen Titel »Novellen« führen,
+lassen deutlich erkennen, daß ~diese~ Methode über das Ziel
+hinaus schießt. Gewiß, die Art der psychologischen Analyse wie
+die Art der Wiedergabe der Unterhaltung verträgt eine Reform. Wer
+seine Figuren wirklich natürlich malen will, darf sie nicht so
+viel schwülstiger, länger und gelehrter reden lassen, als sie im
+gewöhnlichen Leben reden. Wie das Drama von den fünffüßigen Jamben
+zur einfach-schlichten Ausdrucksweise übergegangen ist, so muß es
+auch die Erzählung. Nur -- alles hat seine Grenzen. Eine Pflicht,
+alle und jede Zwischenlaute, jedes Räuspern und Spucken, jedes Husten
+und Niesen wiederzugeben, besteht nicht. Und wenn wir dem Künstler
+tausendmal zugeben, daß auch das Häßliche geschildert werden darf,
+-- das einfache Hinschreiben der unbeholfenen Einzellaute, die
+ein Mensch, der das rechte Wort nicht findet, ausstößt, ist keine
+Kunst. Zudem würde eine unerträgliche Breite die Folge sein, sobald
+mehr geschildert werden sollte, als eine besonders packende Szene.
+Daher denn diese Naturalisten auch nicht ~alle~ Natur zum
+Objekt der Darstellung machen, sondern nur besondere Naturteile des
+psychologischen Geschehens, mit Vorliebe auch des Liebeslebens. Sie
+zeigen eben damit, daß auch sie nicht einfach nehmen können, was die
+Natur gibt. Sie müssen auswählen. Wenn man aber erst einmal zugegeben
+hat, daß die Natur künstlerisch betrachtet werden muß, dann ist auch
+eine echte und treue, aber künstlerisch geläuterte Wiedergabe der
+menschlichen Sprechweise nicht als unnatürlich abzulehnen.
+
+Wir überschauen den Weg, den wir zurückgelegt, um die Entwicklung
+noch unter einem andern Gesichtswinkel anzusehen. Welche immense
+Veränderung ist allmählich hinsichtlich des ~Stoffgebiets~
+eingetreten! Ursprünglich bilden Naturalismus und Heimatkunst eine
+anscheinend unlösbare Ehe. ~Natürlich~ -- so scheint es -- kann
+man den Menschen nur nehmen, wenn man ihn nicht isoliert, sondern
+in allen seinen Zusammenhängen erfaßt. Und der Leser dankt es den
+Erzählern, daß sie ihn auch Völker, Länder, Sitten kennen lehren.
+Der naturalistische Roman ist zugleich Gesellschaftsroman, ja er ist
+ein Stück Zeitroman. Daß nicht bloß die einfach schlichte ländliche
+Natur als Objekt der Naturschilderung zu gelten habe, sieht man ja
+ein; das städtische Leben, das Leben der Gebildeten, ob auch manchmal
+unnatürlich verbildet, ist doch mit Gegenstand einer Darstellung, die
+das Tatsächliche beschreiben will. Aber noch bleibt der Zug zum Großen
+und Weiten, zum Bedeutenden. Selbst die Elendsbilder Hetzers sind
+davon berührt; das Elend der Massen kann heut nicht anders angesehen
+werden denn als ein wichtiges Stück sozialen Lebens. Nun aber
+kommt eine Wandlung: man wird noch naturgetreuer, aber man erkauft
+diese Naturtreue durch Verzicht auf das Großzügige. Wohl erhalten
+wir noch Bilder aus dem Leben; aber nicht mehr die bedeutenden
+Lebenserscheinungen stehen im Vordergrund, sondern die dekadenten, die
+nervösen, die pathologischen, die unsittlichen. Auch die Kreise der
+Halbwelt, die ein ~Tovote~ so sehr darzustellen liebt, bilden
+einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, aus dem Volk. Aber man mag
+sagen, was man will: wer sich auf dies Gebiet konzentriert, wer das
+individuelle Liebesleben, zumal nach Seiten seiner Entartung hin,
+als Stoff bevorzugt, wer in jenen Regionen sich erzählend aufhält,
+welche sonst mit Nacht und Grauen bedeckt sind, der mag Nerven
+kitzeln, der mag Effekte erringen, der mag sehr naturgetreu sein,
+-- aber die Aufgabe des Romans, der Erzählung ist ihm aus den Augen
+gekommen. Ein Weltbild soll der Roman geben, ein Bild der wirklichen
+Welt. Aber doch eben ~der~ Linien der Weltentwicklung, welche
+dieselbe ~leiten~. Und wer nun gar seine Aufgabe als Erzähler
+mit derjenigen des Momentphotographen verwechselt, der zeigt, daß er
+nicht mehr weiß, was »Welt« bedeutet und was »Leben« heißt. Aus diesem
+Grund ist die ~neueste~ Phase des Naturalismus auf dem Gebiet
+des Romans -- vom Drama rede ich hier nicht -- eine Entgleisung. Der
+Naturalismus hat große Bedeutung; und wir werden von ihm nicht mehr
+loskommen. Aber er wird diese Bedeutung nur dann behalten, wenn er
+~natürlich~ bleibt und wenn er ~künstlerisch~ bleibt.
+
+ [Illustration]
+
+
+
+
+ Der Problem- und Gesellschaftsroman.
+
+
+Der Roman soll ein Weltbild geben, dazu genügt eine einfache
+Schilderung, mag sie so ruhig sein wie nur möglich. Solche Schilderung
+gibt im Grunde die Volkserzählung wie der Zeitroman und der
+historische Roman. Die Stimmungsdichtung schildert, indem sie mit
+dichterischem Empfinden Welt und Menschen verklärt. Der Naturalist
+schildert mit rücksichtsloser Feder die nackte Wirklichkeit. Aber
+brauchen sie nicht alle doch einen Einschlag, der ihre Schilderungen
+zu Romanen macht? Es ist der Einschlag der ~Handlung~, der allen
+unentbehrlich ist. Man kann ihn auf ein Minimum beschränken, wie z. B.
+~Fontane~ in »~Vor dem Sturm~«, auch im »Stechlin«. Fehlen
+aber darf er nicht.
+
+Nun kann eine Handlung wieder sehr verschieden aufgebaut sein.
+Vor allem bestehen hier zwei Möglichkeiten. Sie kann durch äußere
+oder durch innere Spannung wirken. Für die erste Möglichkeit gibt
+das einfachste Beispiel der normale Sensationsroman. Der gröbste
+Sensationsroman wirkt durch Mord und Totschlag, durch Verbrechen und
+Intrigen, durch Gefahren und Errettungen. Der feinere Sensationsroman
+hat andere Mittel. Namentlich die Beziehungen der beiden Geschlechter
+müssen wieder und wieder herhalten, um die Handlung wirksam zu
+gestalten. Der gewöhnliche Liebesroman gehört in diese Gattung. Die
+andere Möglichkeit aber besteht darin, daß der Dichter die Handlung
+nicht äußerlich, oder wenigstens nicht bloß äußerlich wirken läßt,
+sondern innerlich, d. h. durch den ihr innewohnenden ~Gedanken~.
+Auch dafür bieten sich der Wege noch gar viele. Aber am nächsten
+liegt dann die ~Einarbeitung eines Problems~ in die Handlung. Es
+sei daran erinnert, wie ~Goethes~ »~Wahlverwandtschaften~«
+gerade in der innerlichsten Verknüpfung von Handlung und
+Gedankenproblem vorangegangen sind. Goethe hat darin nicht so bald und
+nicht gleich in hoher Vollendung Nachfolger gefunden. Aber gefunden
+hat er sie im deutschen Roman.
+
+Ein Roman ist nun keineswegs deshalb wertlos, weil er die Handlung
+mehr äußerlich wirken läßt als innerlich. Der beschreibende Zeitroman
+z. B., wie Freytags »Soll und Haben«, tut das; aber sein Wert
+besteht eben in der Schilderung, für welche die Handlung lediglich
+eine anregende Beigabe bietet, die dann ihrerseits keine besondere
+Gedankentiefe mehr zu entwickeln braucht. Auch der geschichtliche
+Roman begnügt sich in der Regel mit einer mehr in äußerlicher
+Entwicklung aufgehenden Handlung, Andere ähnlich. Erst wo der Roman
+sich nicht mehr nach Seite der Schilderung oder nach Seite der
+reinen psychologischen Entwicklungsgeschichte (wie in ~Kellers~
+»~Grünem Heinrich~«) vertieft, entsteht die Notwendigkeit, das
+~Schwergewicht~ auf die Problementfaltung zu legen.
+
+Wenn der Roman diesen Weg einschlägt, so eröffnet sich ihm ein weites,
+fruchtbares Arbeitsfeld. Tausend Probleme bietet das Leben, tausend
+Probleme quälen den Denker. ~Ein großes Problem groß behandeln~,
+hineingreifen in die Fragen der Zeit, des Menschenlebens, der
+geistigen Entwicklung, der Weltanschauung, der Seelenkunde, -- was
+für eine Aufgabe! Sie ist des Schweißes der Edlen wert! Nur leider
+-- im deutschen Roman ist ~dieser~ Acker nur dürftig angebaut.
+Mir ist es immer wieder wie ein Riesenproblem erschienen, daß gerade
+der deutsche Roman, der Roman des Volkes der Dichter und Denker, den
+Problemroman im großen Stil so stiefmütterlich behandelt hat. Man kann
+ja nicht sagen, daß er ihn vergessen hat. Wir werden nachher sofort
+sehen, wie er hier gearbeitet hat. Aber andere Länder sind uns darin
+voraus. Emil ~Zola~ war gewiß in erster Linie Beschreiber. Doch
+fehlt ihm bei allem Naturalismus die Energie nicht, die Beschreibung
+mit großen Gedanken zu durchweben, sie zugleich in den Dienst des
+Problems zu stellen. Seine Trilogie Rom, Paris, Lourdes ist nach
+dieser Richtung hin von Bedeutung. In Rußland hat ~Tolstoi~
+mit seiner »Auferstehung«, so sehr sie den Stempel der Unfertigkeit
+trägt, gleichfalls einen großen Wurf getan. Den Stammverwandten
+im Norden liegt das Denken und Grübeln außerordentlich; auch ihre
+Erzählungen graben in die Tiefe. Was haben sie für Anregungen in der
+Problemstellung durch ihre ~Ibsen~ und ~Björnson~!
+
+In unserer Romanliteratur sind die Werke, welche ~große~ Probleme
+behandeln, nicht häufig. Große Probleme -- damit meine ich allgemeine,
+prinzipielle, typische Probleme. Andere finden sich oft behandelt.
+Aber die, welche große, einschneidende Fragen der Zeit behandeln,
+nicht bloß schildernd, sondern wirklich eine Lösung versuchend, --
+diese sind zu zählen. ~Wir konstatieren an dieser Stelle die größte
+Lücke in der Reihe der Schöpfungen des neueren deutschen Romans.~
+Wilhelm ~Jordan~ behandelt z. B. in »~Die Sebalds~« ernste,
+wichtige Fragen der Weltanschauung, ~Heyses~ »~Merlin~«
+hat den Unterschied der idealistischen und der naturalistischen
+Richtung zum Thema, Bertha ~von Suttner~ arbeitet in ihrem stark
+tendenziösen, aber keineswegs ungeschickten Roman »~Die Waffen
+nieder~« für die Liga der Friedensfreunde, andere griffen soziale
+Fragen auf, -- aber es ist nirgends wirkliche Tiefe und Kraft der
+Problemstellung und der Problemlösung. Entweder geht die Kunst in
+der Schilderung auf, -- oder aber der Dichter wird zum Lehrmeister.
+Er ist schon fertig, vielleicht allzu fertig mit seinen Fragen. Er
+predigt seine Lehre, aber er greift nicht hinein in die ungeheueren
+Abgründe der wirklichen, brennenden Fragen, welche mit überwältigender
+Wucht die Herzen erfüllen.
+
+Vielleicht gilt letzteres auch von den großen Romanen desjenigen
+Dichters, der die tiefsten Probleme am mutigsten angefaßt hat, des
+schon mehrfach genannten ~Peter Rosegger~. Er ist nicht bloß ein
+Dorfgeschichtenschreiber, nicht bloß ein gemütvoller Stimmungsdichter,
+er hat wirkliche Romane im großen Stil uns geschenkt. »~Jakob der
+Letzte~« und »~Das ewige Licht~« haben soziale Probleme zum
+Inhalt. Allerdings ganz bestimmte, eigentlich begrenzte, aber doch
+typische. Beidemale handelt es sich um Waldsiedelungen, die zugrunde
+gehen. Dort wird das Gebiet, auf dem Menschen hausen, wieder zu Wald
+gemacht; hier dringt die Kultur in die Waldeinsamkeit und zeitigt
+schwerwiegende Folgen. Weniger machtvoll ist »~Martin der Mann~«.
+Eine der ergreifendsten Schöpfungen des steirischen Dichters haben wir
+in »~Der Gottsucher~« vor uns, der das religiöse Problem von der
+sittlichen Seite her anfaßt.
+
+»Der Gottsucher« führt in die Vergangenheit. Das Dorf Trawies steht
+unter geistlicher Herrschaft. Sein Pfarrer ist zugleich sein Herr.
+Die Leute von Trawies sind sonst immer aufs beste mit ihrem Pfarrer
+ausgekommen; es waren kirchentreue Katholiken, wie zumal einsame
+Bergtäler solche Gemeinden bergen. Da wird ihnen ein neuer Priester
+und Herr gesetzt: der nimmts zwar mit den eigenen Pflichten nicht
+allzu genau, aber sehr genau mit denen der Pfarrkinder. Noch ist
+in Trawies der uralte, von der Heidenzeit überkommene Brauch der
+Sonnwendfeier in Übung; der Pfarrer kehrt sich mit härtester Strenge
+auch gegen diesen Brauch. Da beschließen die Männer der Gemeinde
+seinen Tod. Wahnfred der Schreiner vollstreckt das Urteil. Der Täter
+wird nicht gefunden; zur Sühne für den Mord müssen elf Männer ihr
+Leben lassen. Über die ganze Gemeinde aber wird Interdikt und Acht
+verhängt. Nun beginnt die furchtbare Schilderung dessen, was in dem
+Tal, das keinen Gott mehr hat, geschieht. Alles ist aus Rand und
+Band. Auf der einen Seite die Not, auf der andern die Willkür ....
+Keiner arbeitet, keiner baut etwas an, kein Halm geht auf. Die Alten
+haben nichts mehr zu sagen, nur die Jungen und Starken. Sach- und
+Weibergemeinschaft führen sie ein; aber eben um deswillen schlagen
+sie einander tot. Keiner seiner Habe sicher, keiner seines Lebens
+gewiß! Raubanfälle unternehmen sie nach außerhalb, das Eindringen
+militärischer Ordnungsstifter hindern sie mit Gewalt. Zu Sünde und
+Frevel gesellt sich das Leid. Der Borkenkäfer verwüstet den herrlichen
+Wald, das Feuer vollendet sein Zerstörungswerk. Die Pest bricht herein
+und hält eine grausige Ernte.
+
+Inzwischen hat Wahnfred, der Mörder, in einsamem Grübeln Gott
+gefunden. Zu Gott will er auch die Leute von Trawies führen, da er
+ihren Frevel und ihr Elend erkennt. Aber ein Schwärmer ist er selber
+geworden: er lehrt sie im Feuer Gott sehen, und sie -- trotz allem in
+brennender Sehnsucht nach Gott -- folgen ihm. Aber nur zum Kultus,
+nicht zu Selbstbeherrschung und Reinheit. Wie Wahnfred dessen gewiß
+ist, baut er einen großen hölzernen Tempel; in den sammeln sich, dem
+Feuergott zu Ehren, alle Trawieser. Und wie sie drin eingeschlossen
+sind, läßt er den Tempel in Feuer aufgehen. Trawies muß zugrunde
+gehen, denn es hat keinen Gott, kein Vorbild und kein Gesetz. --
+
+Was wird aus Menschen, die keinen Gott haben? Die zugleich von aller
+Ordnung der Kirche und des Staats verlassen sind? Sie verzehren sich
+selbst in der Leidenschaften unbezwinglichem Taumel. Wohl werden
+sie aus sich selber heraus wieder Gott suchen. Nicht alle; denn
+eine große Menge ist, die wählt ihren Weg durch das Tierreich, durch
+Pflanzen und Moder in die Erde hinein. Das sind nicht Gottsucher, sie
+verneinen das Ideal, sie suchen das Gegenteil. Aber die anderen suchen
+ihn. »Auf allen Straßen und in allen Wüsten, du magst dich gegen
+Morgen wenden oder gegen Abend, gegen Mittag oder gegen Mitternacht,
+überall wirst du der Gottsucher Spuren entdecken, hier ein Rosenbett,
+dort steinerne Tafeln, hier ein Schwert und dort ein Kreuz. Das Rufen
+des Derwisch auf der Moschee, das Knarren der Klappern im Wigwam, das
+Glockenklingen im Dome, es ist der Kinder des Leides ewiger Notschrei
+nach einem göttlichen Retter, es ist die brennende Sehnsucht nach
+einer Kraft, die das Tier in uns besiegt, den Geist befreit und uns
+die Vollendung gibt.« Nur, soll diese Sehnsucht das rechte Ziel
+treffen, so braucht der Mensch ein Vorbild, Gottes Ebenbild im denkbar
+vollendetsten Menschen. Trawies hatte kein Vorbild und kein Gesetz. So
+mußt' es vergehen.
+
+In die Tiefen der menschlichen Seele, in die heiligsten Fragen,
+die Menschheit und Gott verknüpfen, in die ernstesten Probleme der
+Erziehung des Menschengeschlechts, der kirchlichen und staatlichen,
+der sittlichen und gesetzlichen Ordnung führt Roseggers »Gottsucher«.
+Das Schicksal von Trawies, dem gebannten Trawies, ist Symbol,
+aber nicht bloß Symbol. Es ist doch so in wüste Vergangenheit
+zurückverlegt, so mit dem Geschick jener wilden Zeiten, in denen die
+Obrigkeit mit Türkennot genug zu tun hatte, verbunden, daß es der
+Wirklichkeit nicht entrückt ist. Eben an dem ~Beispiel~ von
+Trawies entwickelt sich mit unaufhaltsamer Notwendigkeit, was kommen
+muß, wenn Gott fehlt und den Gottsuchern Vorbild und Gesetz fehlt.
+Man kann also im »Gottsucher« ein symbolistisches Werk sehen; und man
+hat ganz mit Recht hervorgehoben, daß die deutsche Literatur hier ein
+großes Werk eigengewachsener, nicht importierter Symbolistik besitze.
+Aber es war gesunde Symbolistik, die auch im äußeren Geschehen die
+Gesetze des Wirklichen nicht verließ. Und wenn man mit dem Dichter
+rechten kann, ob nicht manches phantastisch werde, ob es nicht zu
+stark in mystisches Dunkel gehüllt sei, -- das Buch entfaltet doch
+eine wunderbare poetische Kraft. Alle Düsternis, aller Schauer, alles
+Grausen, ja alles Unschöne, alle unverhüllt vorgetragene Lehre ist
+mit solcher Wucht fortreißender Sprachgewalt dargestellt, mit solcher
+Herrlichkeit tiefsten dichterischen Empfindens umwoben, daß mancher
+einzelne Mangel darüber getrost vergessen werden kann. Auch hier ist
+ja -- wie schon angedeutet -- das Problem nicht eigentlich als Problem
+vom Leser mit durchgrübelt; der Dichter trägt klar und zielbewußt die
+eigene Lösung selber vor und vermeidet dadurch nicht den Eindruck
+des Lehrhaften. Aber das Problem ist doch eben aus dem tatsächlichen
+Geschehen heraus entwickelt. Roseggers »Gottsucher« ist und bleibt ein
+großer Wurf.
+
+Problemstellungen von dieser Größe aber sind leider selten. Unter
+den Neueren finden wir wieder den Mut, wenigstens auf einem Gebiete,
+demjenigen der Charakterentwicklung, in die Tiefe und ins Große zu
+gehen. Wir kommen auf diese verheißungsvollen Anzeichen einer neuen
+Zukunft am Ende dieses Vortrags zurück. Für jetzt verweilt unser Blick
+auf den literarischen Prosaschöpfungen der älteren Schule, soweit
+sie Problemdichtung sein will. Viel Herrliches zeigt sich da dem
+Auge nicht. In der Literatur der letzten Jahrzehnte des neunzehnten
+Jahrhunderts bekundet sich eine merkwürdige Neigung, Probleme
+zu behandeln, die »gesellschaftlichen« Charakter haben. ~Der
+Problemroman wird zum Gesellschaftsroman.~ Nun kann man ja das Wort
+»Gesellschaft« sehr tief fassen; »die menschliche Gesellschaft« umfaßt
+die größten Probleme. Aber der Durchschnitt der Romanschriftsteller
+nimmt das Wort nicht so tief. »Gesellschaft« bedeutet ihnen mehr
+das Zusammenleben der oberen Schichten. Und sie behandeln nun die
+Konflikte, welche sich hier aus Leidenschaft, Neigung, Sitte, Ehre,
+Schuld und Sühne, Liebe und Ehe zusammensetzen.
+
+~Marie von Ebner-Eschenbach~, jedenfalls eine der bedeutendsten
+unter den weiblichen Romandichtern, bewegt sich keineswegs nur in
+diesem zuletzt gezeichneten Milieu. Ihre Erzählung »Das Gemeindekind«
+z. B. greift eine eigentümliche Charakterentwicklung aus den untersten
+Schichten einer Dorfgemeinde heraus. Was wird aus jenen unglücklichen
+Geschöpfen, die, ihrer Eltern beraubt, der Gemeinde zur Last fallen?
+Was wird namentlich dort aus ihnen, wo Waisenrecht und Waisenfürsorge
+noch in den primitivsten Anfangsstadien der Entwicklung sich
+befinden? Was wird aus ihnen, wenn kein menschenfreundliches Herz
+sie aus diesen Verhältnissen herausreißt? Mögen ihrer viele zugrunde
+gehen, -- Marie von Ebner-Eschenbach zeigt mit psychologischer
+Konsequenz, daß auch eine andere Entwicklung möglich ist. Freilich,
+es ist schwer, aus der Tiefe in die Höhe zu kommen! Freilich, es
+ist hart, um der Eltern willen Schmach zu leiden, die man nicht
+selber verschuldet! Aber möglich ists doch, ~nicht~ zugrunde
+zu gehen! Wir nähmen gern noch etwas mehr Detail in der Motivierung
+hin -- die intime Verästelung in die feinsten Stimmungen hinein ist
+nicht Sache der Ebner-Eschenbach --, aber wir finden die Linien
+im großen richtig gezeichnet und das Werden dieses Gemeindekindes
+durchaus wahrscheinlich beschrieben. Nirgends fehlen die nötigen
+Vermittelungen, nirgends auch die unentbehrlichen Verbindungslinien
+nach der umgebenden Welt. Und ganz ähnlich wie hier erstrebt die
+Dichterin sonst eine psychologische Vertiefung ihrer Problemlösungen,
+-- auch da, wo die Fragestellung und die Fragebeantwortung noch
+individueller ist, auch da, wo die »Gesellschaft« im besonderen Sinn
+ihr die Stoffe liefert. Greifen wir beispielsweise zu genauerer
+Betrachtung noch ihre zweibändige Dichtung »Unsühnbar« heraus!
+
+Schauplatz: Die aristokratische Gesellschaft Österreichs. Sommers
+auf den Landschlössern, Winters in Wien. Hintergrund: weder Stadt
+noch Land, weder Beruf noch Arbeit in Einzelzeichnung. Allem Detail
+ist Marie von Ebner feind. Ihre Menschen sind hier Grand-Seigneurs,
+die Besuche machen und empfangen, Gesellschaften geben und besuchen,
+und sich im übrigen ein bißchen beschäftigen, wenn sie gerade Lust
+dazu haben. Von diesen Menschen aber erzählt sie mit Schneid' und
+Verve, ohne ausgeführte Schilderung, ohne irgendwelche Lyrik, meist
+sehr knapp. Der Wert ihres »Unsühnbar« liegt nur zum Teil in dieser
+flotten Manier, die auch ihre anderen Sachen zeigen, die aber doch
+oft etwas Gemachtes hat, weil nicht selten irgend eine Nebensache
+dabei ebensolchen Akzent abbekommt, wie die Hauptsache, und weil sie
+häufig durch diese Manier den Eindruck des Skizzenhaften, Abgerissenen
+erweckt, manchmal auch den des Nachlässigen. Größer ist der Wert
+der Problembehandlung. Eine junge Gräfin hat einen sehr wackeren
+Grafen geheiratet, nachdem ihr der Vater einen anderen Bewerber, für
+den sie fühlte, verleidet hat. Sie wird ein Muster von Gattin und
+Schloßherrin, aber in einer schwachen Stunde gelingt es dem Andern,
+sie zu betören. Nun lastet die Schuld auf ihr. Das Buch ist die
+Geschichte dieses Schuldgefühls. Sie will den Tod suchen, -- aber sie
+wagt es nicht um des Kindes willen, das sie erwartet. Sie will sich
+durch Wohltätigkeit darüber hinweghelfen, durch gesellschaftliche
+Zerstreuung: nichts hilft. Sie sucht die Tröstungen der Religion,
+ohne Trost zu finden. Sie verliert in jähem Unfall den Gatten und den
+ältesten Sohn. Nur der jüngste bleibt ihr, der Zeuge ihrer Schuld.
+Sie gesteht ihr Vergehen, sie weist den Verführer auch jetzt zurück.
+Schwere Krankheit rafft sie hin. »Gebüßt, nicht gesühnt -- das hätt'
+ich nie gekonnt .... Schwer ist mit solchem Bewußtsein das Leben
+.... und schwer der Tod ...« Gewiß, ein ernstes Problem: die Sühne
+der Schuld. Auch ist es ernst durchgeführt, -- nur allzu ruckweise,
+allzu schematisch. Neben reichen Ansätzen zu vertiefender Erfassung
+bleibt viel Unfertiges. Und das Problem ist doch schließlich ein stark
+subjektiv aufgebautes: nicht bloß die Schuld ist die Voraussetzung,
+sondern auch ein zartes Gewissen ...
+
+Problem- und Gesellschaftsdichtung! Von den älteren Erzählern
+gehört noch einer unbedingt hierher: ~Paul Heyse~ mit seinen
+Novellen. Man kann ja versucht sein, ihm den Platz neben dem anderen
+großen Novellenerzähler, neben Theodor Storm, anzuweisen. Aber
+Stimmungsdichter war Heyse nicht entfernt in dem Maße wie Storm. Beide
+zu vergleichen, hat freilich seinen eigenen Reiz. Nehmen Sie den
+tiefdunkeln deutschen Himmel aus düsterer Herbsteszeit, dazu die Wogen
+der See, die hoch an den Deich schlagen, dazu die Menschen, die dort
+wohnen, ein grüblerisches, verschlossenes, aber tiefes Geschlecht --:
+das ist Storm, der nordische Dichter. Nehmen Sie dagegen lachenden
+Blauhimmel aus dem goldigen Italien, dazu die üppigen Lorbeerbüsche
+irgend eines vornehmen Parks einer Villa im römischen Gebirge,
+dazu deutsche Künstler oder Gelehrte, die dort zu Gast sind, und
+italienische vornehme Herren und Damen -- und Sie haben Paul Heyse.
+Nicht als ob diese Skizzierung wörtlich zu nehmen wäre. Storm freilich
+blieb als Dichter der Heimat treu; Heyse hat längst nicht ~bloß~
+»italienische« Novellen geschrieben, wenn schon doch etwa die Hälfte
+von allen dort im Süden ihren Schauplatz hat. Aber auch wo er weitab
+von Italien ist, auch wo er in die Landschaft hineinführt, die
+den stärksten Gegensatz zur italienischen bildet, in die deutsche
+Waldlandschaft, weicht unter seinen Händen der deutsche Zauber, weil
+er das tiefinnige deutsche Gemüt nicht mitbringt, das deutsche Land
+zu betrachten. Und auch der andere Unterschied besteht zu Recht:
+bei Storm schwerblütige deutsche Menschen, bei Heyse heißblütige
+Allerweltsmenschen. Bei Storm Männer von alter, guter, fester Art,
+selten anderswoher stammend als aus dem ehrenwerten Mittelstand, dem
+Hort der alten Art und des treuen Gemüts, -- Frauen und Mädchen, die
+zu ihnen passen, treu und stark wie Elke, des Deichgrafen Hauke Haien
+kraftvolles Weib, ruhig-ernst und doch opferbereit in herzlicher
+Liebe wie die Anna in »Carsten Curator«, alle aber rein und frei und
+klar. Bei Heyse dagegen Herren aus den höheren Ständen, Grafen und
+andere Edle, Gelehrte und Künstler, jedenfalls gebildete Leute von
+feiner Lebensart. Dazu Damen derselben Schichten, der glatten Rede
+gewohnt, in der Konversation geübt. Und wie ungern nimmt er solche zu
+Heldinnen, deren Leben schlicht und ruhig im alten Gleis geht! Irgend
+etwas sucht er an ihnen, was besonderen Reiz hat, was unklar ist und
+zu Verwicklungen Anlaß gibt: eine unglückliche Ehe, eine unerwiderte
+Leidenschaft, einen erlittenen Verrat oder etwas dergleichen. Und wie
+die Menschen, so ihr Reden. Bei Storm ist alles Reden ruhig, einfach,
+nur etwa poetisch warm durchhaucht; bei Heyse herrschen der Ton des
+Salons, die gesellschaftlichen Formen, die geschliffene Ausdrucksweise
+der Menschen, die häufig reden, weil sie nicht so viel zu tun haben
+wie andere.
+
+Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Heyse neigt viel mehr
+nach dem eigentlichen Problem als Storm. Storm skizziert, läßt Töne
+anklingen und nachklingen, weckt Erinnerungen, macht Gefühle lebendig,
+zaubert Gestalten, die die Phantasie ergreifen. Wo eine ausgeführtere
+Handlung ihn beschäftigt, gibt er sie in großen Zügen, springend
+von Markstein zu Markstein. Anders Heyse. Er wählt Situationen, die
+etwas Interessantes bieten müssen, und seine Menschen sind für diese
+Situationen geschaffen. Manchmal nur für diese Situationen, so daß
+man zweifelt, ob sie eigentlich gerade so haben existieren können.
+Seine Probleme aber bewegen sich alle um individuelle, manchmal sehr
+individuelle Situationen. Das Grundthema der Heyseschen Novellen
+bildet das Verhältnis von Mann und Weib: die Liebe. In allen möglichen
+Variationen wird sie behandelt: als glückliche und unglückliche
+Liebe, als verzichtende und als genießende, als eheliche und als
+sündige Liebe. Aber immer, immer in ganz bestimmter Färbung der
+Liebe, und zwar in der vorwiegend sinnlichen. So weiß er ästhetisch
+die Schönheit zu würdigen: weibliche Schönheit hat in ihm einen
+begeisterten Verehrer und genialen Schilderer. Aber er läßt auch die
+Mächte aus der ~Tiefe~ heraufsteigen, die doch das Wesen der
+Liebe nicht erschöpfen. Er hat dabei nie ein unschönes Wort gesagt,
+aber die Atmosphäre wird nicht selten schwül; -- und von dem, was
+bei Storm Liebe ist, weiß er wenig. Ich greife -- ganz nach Willkür
+-- nur einige dieser Probleme heraus. Ein deutscher Doktor der
+Philosophie kommt, er weiß selbst nicht wie, als Gast in das Haus
+eines zum Krüppel geschossenen italienischen Grafen. Die Gräfin ist
+tief unglücklich an der Seite des Gatten, sie schenkt dem Gast ihre
+Liebe und der Gast widmet ihr seine Leidenschaft. Ihn zwingt eilende
+Botschaft, heimzukehren; sie will der Herrschaft des Mannes auf
+alle Fälle entrinnen. Ein Priesterzögling läßt sie im Stich, statt
+sie zu entführen; und so bekennt sie dem Gatten, daß sie mit eben
+diesem Zögling sich vergangen. Da erschießt sie der Rasende (Villa
+Falkonieri). -- Ein junges Mädchen ist durch die Treulosigkeit eines
+Arztes, der ihre Schwester verführt, zur Menschenfeindin geworden.
+Da lernt ein junger Baumeister sie kennen und liebt sie. Er rächt
+sie an jenem Arzt, will es aber durchaus uneigennützig getan haben
+und weist ihre endlich entglommene Liebe zurück. Sie aber hält es
+nun für weise, sich ganz vom Leben zurückzuziehen. So gibt sie sich
+den Tod (Doris Sengeberg). -- Die dreißigjährige Frau des berühmten
+Universitätsprofessors schenkt ihr Herz einem zwanzigjährigen,
+dichterisch und musikalisch veranlagten Studenten. Ihren Mann hat sie
+nie geliebt, sein Herz gehört in erster Linie der Wissenschaft; ihren
+einzigen Sohn hat er ihr genommen, um ihn in einer Erziehungsanstalt
+unter männliche Leitung zu bringen. So ist sie für den Zwanzigjährigen
+innerlich ganz frei und will sich auch äußerlich für ihn frei machen.
+Er aber liebt sein hübsches, junges Wirtstöchterlein. Wie sie das
+endlich erfährt, wird auch sie wieder innerlich frei für ihren Mann
+und ihr Kind, das ihr jetzt von neuem vertraut wird (Melusine).
+
+Ich breche diese Aufzählung ab. Variationen seines Grundthemas hat
+Heyse in reichlicher Zahl gefunden. Manche behaupten: ~er~funden.
+Und gewiß: im Verhältnis zur schlichten Wirklichkeit liegt einer der
+schwächsten Punkte der Heyseschen Novellistik. Sind nicht manche
+dieser Probleme geradezu ausgeklügelt? Oder, wenn man der Liebe die
+wunderlichsten Seitensprünge zugut halten will, ist nicht die Art,
+wie der Dichter die seelischen Entwicklungen vor sich gehen läßt,
+oft genug unnatürlich? Wie rasend schnell geht das Verlieben z. B.
+in Melusine und in der Villa Falkonieri, aber auch in vielen anderen
+Novellen. Ich will nicht verallgemeinern: aber richtig ist, daß
+Unwahrscheinlichkeiten nicht selten sind und daß er eine Vorliebe für
+absonderliche Konstellationen betätigt. Und daß mancher Charakter über
+der Durchführung der Konstellation zum unverständlichen Rätsel wird,
+ist ebenso gewiß.
+
+Trotz alledem dürfen wir diese formschönen, eleganten, glatt
+fließenden, abgerundeten Erzählungen um so weniger ungerecht
+beurteilen, als auch ihnen eine Art Stimmung eigen ist, welche den
+Leser rasch gewinnt. In der Szene in »Melusine«, in welcher der
+Studiosus Ludolf der Professorsgattin zuerst vormusiziert, ist
+unfraglich Stimmung. Ludolf singt sein hübsches Lied:
+
+ Du lispeltest: Ich liebe dich,
+ Ich liebe dich bis in den Tod! --
+ Und deiner Wange Glanz erblich
+ Und deiner Lippe junges Rot ......
+
+Und dann heißt es: »Die Begleitung verklang leise, wie die letzten
+Atemzüge einer Sterbenden. Eine Weile war es so still in dem
+halbdunklen Zimmer, daß man draußen im Garten die Wipfel rauschen
+hörte, die ein heranziehender Gewitterwind schüttelte« ....
+
+Aber trotz dieser Stimmung sind Heyses Novellen keine
+Stimmungsnovellen, sondern gesellschaftliche Problemdichtungen. Sie
+bilden, wie Adolf Bartels urteilt, »etwa die Ergänzung zu Storms
+Stimmungsnovellen, sind plastischer, klarer, ja nüchterner als diese,
+dafür aber auch vielseitiger, psychologisch reicher und feiner, kurz
+moderner.« Ich möchte hinzufügen: sie reden viel mehr von Liebe, aber
+sie sind viel ärmer an Gemüt. In ihnen regiert ~die Kunst~.
+
+Gerade diese Gattung des Romans ist in der nicht eigentlich
+naturalistischen Erzählerkunst außerordentlich reich vertreten. Und
+so mögen denn hier noch zwei Erzähler genannt werden, die keineswegs
+ausschließlich, aber doch auch auf diesem Gebiet Beachtenswertes
+geschaffen haben. Von ~Theodor Fontane~ wurde schon gesprochen.
+Er ist ein Künstler im Schaffen von Zeitbildern. Fast alle seine
+Romane haben etwas von dieser Art. Aber etliche darunter rühren
+doch auch ein Problem an und dann immer ein Problem, das im
+gesellschaftlichen Leben wurzelt. Ich meine da nicht sein »Quitt«, das
+von einer Mordaffäre des Riesengebirges den Ausgang nimmt. Auch dies
+Buch ist die Geschichte einer Schuld. Aber indem der Dichter hier die
+Schuld auf schauerlichem Verbrechen beruhen läßt, gibt er dem Ganzen
+zu grobe Züge und erschwert allzu sehr die Sympathie mit seiner
+Hauptperson. Das geht ihm auch sonst ähnlich; aber selten so stark.
+Viel feiner ist seine »~Effi Briest~«, ein Buch, das in dem
+Grundproblem unverkennbare Ähnlichkeit mit Marie von Ebner-Eschenbachs
+»Unsühnbar« zeigt. Allerdings nur in der Problemstellung; sonst
+gehen die beiden Schriftsteller weit auseinander. Marie von
+Ebner-Eschenbach mit ihren knappen, skizzenhaften Entwicklungen, mit
+ihrer vorwärts drängenden, fast jagenden Eile -- und Fontane, der
+Meister der Kleinkunst, der so gern still steht und verweilt! Dort
+alles Linienführung -- hier alles Mosaikarbeit! Aber darüber gehe
+ich hier hinweg; es kommt mir jetzt weniger auf das an, was »Effi
+Briest« mit seinen Zeitschilderungen gemein hat, als auf das, was sie
+für ~sich~ hat. Ein frisch und fröhlich, vor allem natürlich
+aufgewachsenes Mädchen, Tochter einer märkischen Adelsfamilie,
+heiratet, noch halb Kind, den erheblich älteren Landrat von Instetten.
+In Zeiten, wo ihr Mann sich wenig um sie kümmert, gerät sie infolge
+Verführung auf Abwege. Sie selbst bricht mit dem Verführer, dem Major
+Crampas; niemand weiß um diese Sache; sie schließt sich von neuem in
+nunmehr wandelloser Treue und in wachsender Liebe an ihren Gatten an.
+Da kommt -- nach Jahren -- diesem das unglückselige Geheimnis doch
+zur Kenntnis; er erschießt im Duell den Nebenbuhler, er verstößt die
+Gattin. Und diese verliert zugleich ihr Kind --; das bleibt beim Vater
+und ist der Mutter so fremd geworden, daß ein Wiedersehen mit ihr
+dieser nur Qual bringt. Sie verliert auch ihr Vaterhaus; aber sie darf
+dann doch, dem Tode nahe, in das Heim ihrer Kindheit zurückkehren und
+dort sterben.
+
+Fontane hat wohl mit Absicht die Schuld selber ganz ins Dunkel
+gerückt. Darin ist er ~nicht~ Naturalist: die Ausmalung solcher
+Szenen widerstrebt ihm. Die Folge davon ist nun freilich, daß auch
+die Motive der Schuld nicht ins helle Licht treten; Langeweile,
+Gefühl des Vernachlässigtseins, Mangel an Befriedigung -- genügt das
+wirklich? Genügt es gerade bei einer Effi Briest? Aber wenn das eine
+Schwäche des Romans sein mag, schwer wiegt sie nicht, insofern der
+Nachdruck ganz auf die Frage fällt: ist es notwendig, diesen Fehltritt
+nach Jahren tadellosen Verhaltens so zu sühnen, wie Instetten es
+tut? Wem nützt das? Die Frau ist damit aufs schwerste gestraft; ihr
+Geschick ist geradezu tragisch. Selten hat der kühle Fontane so
+herzenswarme Szenen geschaffen, wie die, in welchen dies Leiden zum
+Leser spricht. Da zuckt unter der oberflächlichen Ruhe der verhaltene,
+tiefe Schmerz. Eine Lösung des Problems hat Fontane nicht gegeben;
+aber er läßt seine Meinung doch deutlich merken. Die Ehrbegriffe
+der Gesellschaft zwingen den Gatten, so zu handeln, wie er handelt.
+Vernunft und Liebe aber sprechen anders. Freilich, -- wann werden
+Vernunft und Liebe das Regiment führen dürfen?
+
+Einen scharfen Gegensatz zu Fontane bildet ~Ernst von
+Wildenbruch~. Fontane ist kühl bis ans Herz hinan. Wildenbruch
+ist leidenschaftlich durch und durch. Fontane ist Epiker; auch die
+Erzählung zeigt bei ihm epische Breite. Wildenbruch ist Dramatiker,
+seine Schöpfungen auch auf dem Gebiet der erzählenden Dichtung
+sind fast alle auf den dramatischen Effekt hin gearbeitet. Fontane
+leitet den Blick des Lesers zu ruhiger Betrachtung: er liebt die
+Kleinigkeiten. Wildenbruch bleibt für gewöhnlich bei den großen
+Linien, darin der Ebner-Eschenbach viel ähnlicher. Aber während
+diese ihre Sprache gelegentlich von der legeren Art der wienerischen
+Umgangssprache stark beeinflussen läßt, hat Wildenbruch Erzählungen
+geschaffen, in denen die Menschen mit dichterischer Schönheit, mit
+wählerischer Feinheit, mit glühender Kraft sprechen. Im übrigen
+hat auch er ~tiefere~ Probleme sich nicht gestellt; entweder
+er gibt packende Einzelszenen voll Glut und Feuer, oder er greift
+ins gesellschaftliche Leben hinein. Jene Szenen hat er gern
+der Vergangenheit entnommen; und was für wirksame Bilder schuf
+sein »~Claudias Garten~«, sein »~Zauberer Cyprianus~«!
+Daneben hat er die gleiche Kunst auch in einem Einzelbild aus
+dem Kadettenleben entwickelt: »~Das edle Blut~«. Eine Art
+gesellschaftlich-psychologisches Problem aber ist z. B. in dem Roman
+»~Eifernde Liebe~« angerührt. Die stolze, unnahbare, vornehme
+Hamburger Patriziertochter, die weiße Dorothea, -- die trotz allem
+ihr Herz dem einfachen Maler Heinrich Verheißer schenken muß, -- die
+unnahbare, die schließlich doch im Liebesrausch sich selbst, Heimat,
+Sitte und Herkommen vergißt, die aber dann, als sie zum Erwachen
+kommt, nicht anders kann als sich selber den Tod geben, -- sie
+bietet die Möglichkeit einer kraftvoll einsetzenden psychologischen
+Entwicklung, sie ist eine Art Problem für sich. Freilich, -- das
+Problem ist weder neu noch mit besonderer Vertiefung durchgeführt; im
+Grunde ists ja nur der alte Satz von der Liebe, die keine Schranken
+kennt, der wieder vorgetragen wird; und nur der Schluß zeigt den
+Konflikt zwischen Verstand und Liebe. Nein, es sind keine tiefen
+Fragen, die Wildenbruch aufwirft; was seine Prosawerke über das
+gewöhnliche Durchschnittsniveau erhebt, ist lediglich der große Reiz
+der formschönen und wirksam geschürzten Darstellung, die übrigens auf
+ein paar naturalistische Zutaten nicht immer verzichtet.
+
+Was soll ich viel von andern »Problemdichtern« sagen? Probleme sind
+wohlfeil wie Brombeeren, zahlreich wie der Sand am Meer, -- wenn man
+das Wort »Problem« nicht zu ernst nimmt! Wenn man gesellschaftliche
+Verwicklungen alltäglicher Art eben als »Probleme« betrachten will!
+Wenn man nicht viel Neues verlangt, sondern mit neuen oder wenigstens
+neuaufgeputzten Nuancen der alten Themata: Verlieben, Verloben,
+Verheiraten, Verheiratetbleiben zufrieden ist. Wer wollte leugnen,
+daß auch hier manches durch feinere Charakteristik anspricht, durch
+geistvolle Behandlung anregt? Wenn ich keine Namen nenne, so geschieht
+es, um nicht ungerecht gegen andere zu werden. Wer aber könnte
+anderseits bestreiten, daß sich eine Art von Romanen unendlich breit
+macht, die weder tief sind noch geistreich, sondern ganz einfach
+platt und flach? Die ihre »Spannung« lediglich ein paar aufregenden
+Situationen verdanken? Hierher gehört ein großer Teil der Salonromane.
+Ihre Sprache: Konversationssprache, ihr Niveau: Dinerunterhaltung beim
+fünften Gang, ihre Handlung komponiert aus Liebe oder Nichtliebe,
+Treue oder Untreue, dazwischen eingestreut ein bißchen Krankheit und
+Genesung, Duell und Tränen oder ähnliche Zugmittel.
+
+Kein Wort mehr davon! Nein, nicht mit diesem Bild soll dieser Vortrag
+schließen. Vielmehr denken wir zuletzt an hoffnungsvolle Anzeichen von
+guten Zukunftsentwicklungen. Zwei der Neueren gilts hier zu erwähnen.
+Es sind ~Sudermann~ und ~Frenssen~.
+
+Soll man ~Hermann Sudermann~ zu den Naturalisten zählen? Den
+Dramatiker -- ja. Auch als Erzähler gibt er manche Szene, die ein
+bißchen stark »natürlich« ist; wenigstens »~Es war~« greift
+ordentlich auch in die Gebiete des Lebens hinein, die man sonst nicht
+gern bespricht. Aber zum Naturalisten vom Fach fehlt ihm doch wieder
+die Vertiefung ins Einzelne, die Ruhe fürs Geringe und Einzelne. Er
+hat einen Zug ins Konventionelle hinein, der ihn älteren Erzählern
+mit realistischer Tendenz, aber ohne neugrabende Tiefe an die Seite
+stellt. Er hat entschieden Ähnlichkeit nicht bloß mit dem Franzosen
+Dumas, sondern auch mit dem Deutschen Spielhagen. Nur hat er die
+Salonmanieren mancher späteren Spielhagenschen Werke nicht angenommen;
+und der Tendenzcharakter der früheren ist bei ihm stark verblaßt. Ob
+man ihn zu den Problemdichtern gesellen kann? »Es war« behandelt ein
+gesellschaftliches Problem: eine Schuld ragt aus der Vergangenheit
+in die Gegenwart hinein. Leo von Sellenthin hat im Duell einen
+Freund erschossen, mit dessen Frau er sich vergangen. Während er nun
+in der Ferne weilt, um über die Geschichte Gras wachsen zu lassen,
+hat sein nächster und treuster Freund die Witwe geheiratet. Als Leo
+zurückkommt, fallen von jener Schuld her schwere Schatten auf das
+Verhältnis der Freunde. Der Roman schildert die Konflikte, welche sich
+ergeben, mit packender Kraft, mit psychologischer Wahrheit. Ob alles
+weitere, auch die Lösung, ebenso wahr gezeichnet ist, ist eine andere
+Frage. »Es war« ist wirksam erzählt, schürzt die Knoten geschickt,
+ist reich an Sensationen, gibt ein paar ganz gute Gestalten; aber
+das Problem, das es anfaßt, ist allzu individuell und zugleich allzu
+gesellschaftlich-herkömmlich. Die ganze Art des Romans geht zu wenig
+in die Tiefe, als daß man ihn für einen ernsteren Problemroman
+ansprechen dürfte. Aber eine andere Würdigung verdient sein
+Erstlingswerk »~Frau Sorge~«. Seinetwegen allein gehört Sudermann
+an diese Stelle.
+
+Die »Frau Sorge« hebt sich zunächst dadurch aus Sudermanns übrigen
+Schöpfungen wie aus vielen ähnlichen heraus, daß ihr ~Stimmung~
+innewohnt. Stimmung, lyrische Stimmung! Seinen Eltern widmet er das
+Buch:
+
+ »Frau Sorge, die graue verschleierte Frau,
+ Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau,
+ Sie ist ja heute vor dreißig Jahren
+ Mit Euch in die Fremde hinausgefahren,
+ Da der triefende Novembertag
+ Schweratmend auf neblicher Heide lag
+ Und der Wind in den Weidenzweigen
+ Euch pfiff den Hochzeitsreigen.«
+
+Und die gleiche Stimmung lebt in den Erinnerungen der Kindheit. Wenn
+die Mutter erzählte, so -- »war darin von einer grauen Frau die Rede,
+welche in allen trüben Stunden die Mutter besucht hatte, eine Frau
+mit bleichem, hagerem Gesichte und dunklen verweinten Augen. Sie war
+wie ein Schatten gekommen und wie ein Schatten gegangen, hatte die
+Hände über der Mutter Haupt gebreitet, ungewiß, ob zum Segen oder zum
+Fluche ....«
+
+Diese Stimmung, ja sie durchzieht das ganze Buch bis hin zu dem
+abschließenden »Märchen von der Frau Sorge.«
+
+Mit ihr aber eint sich in dem Buch ein Realismus von glücklicherer
+Art als in »Es war.« Glücklicher, weil er enger die Verbindung
+mit dem Boden wahrt, auf dem Paul Meyhöfer aufwächst, weil er
+ein bißchen gründlicher wird in der Lebensschilderung, weil das
+Herrenhaus des Reichen wie das klägliche Besitztum des Bankerotten
+draußen im Moor zu ihrem Recht kommen, weil in der Erzählung von
+Pauls und Elsbeths Konfirmandenunterricht, von der Liebschaft der
+leichtsinnigen Schwestern Pauls, von manchem Zusammentreffen der
+Nachbarskinder heimische Sitte und heimische Natur mitsprechen dürfen.
+Auch das Häßliche bleibt nicht ungeschildert; aber es tritt nicht
+aufdringlich hervor. Ein gesunder Realismus beherrscht das Ganze.
+Wichtiger freilich noch ist mir die Stellung des Problems selbst.
+Es ist keine weltbewegende Frage, die ihre Antwort sucht; aber es
+ist auch kein bloßes, gesellschaftliches Dilemma, kein abgegriffener
+Konfliktsvorwurf aus dem Liebesleben, der den Grundton gibt. Es
+handelt sich um die innere Entwicklung eines jungen Menschen, bei dem
+Frau Sorge Pate gestanden hat. Die lastende Sorge macht ihn scheu und
+gedrückt; er meint, er könne keinem ins Auge sehen, obwohl er doch
+nichts zu verbergen hat. Würde fehlt ihm und Selbstbewußtsein; er
+vergab sich den Menschen gegenüber zu viel und zu viel auch gegenüber
+sich selber. Es lastet zu viel auf ihm, als daß er jemals hätte frei
+aufatmen können, wie der Mensch es muß, wenn er nicht stumpf werden
+und verkümmern soll. Bis er dann durch eine Tat, eine wirkliche Tat,
+sich freimacht. Für ihn war Frau Sorge reichlich gebeten worden:
+
+»Liebe Frau Sorge, laß ihn doch frei!«
+
+Aber die Sorge lächelte -- und wer sie lächeln sah, der mußte weinen
+-- und sie sagte: »Er muß sich selbst befreien.«
+
+Und er befreite sich selbst -- durch jene Tat.
+
+Diese seelische Entwicklung ist ein Problem, das den eigentlich
+gesellschaftlichen Fragen gegenüber neu ist, das nicht bloß
+episodischen Wert hat, sondern auf dem breiten Grund eines ganzen
+Menschenlebens ruht, -- das nicht rein individuell ist, nicht auf
+Zufall und nicht auf Schuld beruht, das sogar geradezu als typisch
+gelten kann. Das gibt der »Frau Sorge« ihren Wert. Sie hat auch
+Schwächen: Unwahrscheinlichkeiten, auch abgebrauchte Situationen
+finden sich. Vielleicht ist die Entwicklung des Helden selbst nicht
+einwandfrei geschildert. Aber das mag beiseit bleiben. Das Buch gehört
+zu den wertvolleren Erzeugnissen der an psychologischen Problemen sich
+versuchenden Gesellschaftsdichtung.
+
+Aber, von Sudermann abgesehen, dessen »~Katzensteg~« als eine
+sehr geschickte und wirkungsvolle Erzählung ohne tieferen Wert hier
+nur eben erwähnt sein mag, bietet auch die Dichtung der Modernen
+nicht viel Hervorragendes auf dem Gebiet des Problemromans. Um so
+nachdrücklicher muß hier noch eines Romans gedacht werden, der zwar
+nicht mehr dem 19. Jahrhundert angehört, der aber ganz in diesen
+Zusammenhang gehört: ich meine den vielgelesenen »~Jörn Uhl~« von
+~Frenssen~. Es ist nicht ohne Interesse, gerade dies Buch mit
+Sudermanns »Frau Sorge« zu vergleichen. »Frau Sorge« zeigt Stimmung,
+»Jörn Uhl« desgleichen, aber in viel höherem Grad. Bei Sudermann
+bleiben die wirklich stimmungsvollen Abschnitte episodenhaft, »Jörn
+Uhl« ist ganz Stimmung, wundervolle Stimmung. Jene Nüchternheit,
+die bei Sudermann zuweilen durchbricht, liegt Frenssen völlig
+fern. -- »Frau Sorge« ist realistisch durchgearbeitet; »Jörn Uhl«
+nicht minder. Aber was jenes Werk vermissen ließ, findet sich hier;
+die realistische Zeichnung hebt sich auf breitem, tief erfaßtem
+Hintergrund ab. Frenssen ist in ganz anderem Sinn ein Meister der
+Heimatskunst als Sudermann selbst in der »Frau Sorge.« Wie lebendig
+werden Land und Leute in der friesischen Marsch durch »Jörn Uhl«!
+Hier ist Milieuschilderung im besten Sinn. Sudermann gibt dazu
+nur eben Ansätze. In der Kunst der äußeren Zusammenfassung, der
+geschlossenen Entwicklung der Handlung ist Sudermann stärker; hier
+liegt die schwächste Seite des »Jörn Uhl«. Aber auf der anderen Seite
+macht Frenssen das wett durch jene prächtigen Einzelgaben, jene
+eingestreuten Szenen von märchenhafter Schönheit oder von dramatisch
+packender Gewalt: dem hat Sudermann nichts an die Seite zu setzen.
+Endlich gilt es eine Vergleichung des leitenden Problems. Beide geben
+eine Charakterentwicklung von Kindheit auf; beide führen den Helden
+durch schweres Geschick zu innerer Reife. Familienerlebnisse und
+heiße Arbeit, dazu die Bewegung des Herzens durch die Liebe bilden
+die Hauptstücke der Erziehung bei beiden. Von der bei Frenssen viel
+plastischeren Art der Schilderung sehe ich ab; die äußere Handlung
+ist bei Sudermann etwas organischer in die Charakterentwicklung
+verwoben. Der Brand der Uhl befreit den Jörn, -- durch eigene Tat,
+die das väterliche Besitztum in Feuer aufgehen läßt, befreit sich
+Paul Meyhöfer. Dennoch läßt sich sehr streiten, ob dieser Vorzug von
+Sudermann nicht auf Gefahr der schlichten Natürlichkeit erkauft wird.
+Mit dieser Tat begibt er sich aufs sensationelle Gebiet; der Brand
+der Uhl aber ist ein Erlebnis, wie es alle Tage passieren kann und
+wirklich passiert. Aber wenn wir das ganz dahingestellt sein lassen:
+auch in der eindringenden Tiefe und naturwahren Kraft der inneren
+Entwicklung des Helden bleibt Jörn Uhl tiefer. Er verarbeitet viel
+reichere Einflüsse auf den Knaben, er berücksichtigt nicht ~eine~
+Seite seines Wesens, sondern sein ganzes Wesen. Und er verschmäht
+es nicht, auch die höchsten Fragen, die das Herz bewegen, in diese
+Entwicklung hineinzuarbeiten.
+
+Diese Tiefe der Problembehandlung, die diejenige von »Frau Sorge«
+noch übertrifft, hebt den »Jörn Uhl« zugleich hoch empor über
+Frenssens Erstlingswerk »~Die Sandgräfin~«, die ganz im
+äußerlich Gesellschaftlichen hängen bleibt, aber auch über »~Die
+drei Getreuen~«, die bei sonstiger großer Schönheit zwar Ansätze
+zu vertiefender Problemstellung zeigen -- die Entwicklung der
+drei Getreuen selbst, -- aber die Ansätze verhältnismäßig dürftig
+herausarbeiten. Sie läßt uns in »Jörn Uhl« einen Roman schätzen,
+der ein gewichtiges Problem in ernster Realistik, aber auch mit
+dichterischer Stimmung angreift, -- als ein Werk, das die besten
+Traditionen der älteren Schule in neuer Form wieder aufnimmt und
+zugleich damit neue Wege weist.
+
+Probleme! Wieviele birgt das Leben! Man muß sie nur ~sehen~!
+Der Romandichter stößt auf Probleme, sobald er in die Tiefe gräbt.
+Die Heimatskunst, die naturalistische Betrachtungsweise vertiefen
+sich, wenn sie an den Problemen nicht vorübergehen. Freilich -- dazu
+gehören Gedanken. Wir wünschen und fordern vom Gros der deutschen
+Romanschreiber vor allem dies: Mehr Gedanken! Mehr große Gedanken
+hinein in den deutschen Roman!
+
+
+
+
+ Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman.
+
+
+Die Hauptlinien in der Entwicklung des modernen deutschen Romans sind
+durchmustert. Nur die Hauptlinien; obschon es leicht gewesen wäre, mit
+größerer Bequemlichkeit und strengerer Präzision viel zahlreichere
+kleine Ordnungen zu bilden. Aber es schien für eine gedrängte
+Darstellung wichtiger, bestimmte entscheidende Linien zu verfolgen,
+als alles Einzelne zu nüancieren.
+
+Aber wenn unsere Skizzen wirklich bis an die Gegenwart heranreichen
+wollen, so müssen einige Richtungen der modernsten Erzählerkunst noch
+kurz besprochen werden, die etwa im letzten Jahrzehnt viel Redens von
+sich gemacht haben.
+
+Es gibt seit langem eine Strömung in der deutschen Prosaliteratur,
+welche ihren Schöpfungen vor allem, sogar mit einer gewissen
+Ausschließlichkeit Gegenstände von dekadentem Charakter gibt. Mit
+dem Naturalismus selbst hat diese Strömung keineswegs notwendige
+Verbindung; ja der Naturalismus, der das Interesse auf Umgebung,
+soziale Verhältnisse, Abhängigkeit des Individuums von äußeren
+Einflüssen lenkte, hat zum Teil geradezu gegen diese Strömung
+angekämpft. Das hindert freilich nicht, daß zwischen dem outrierten,
+auf die Spitze getriebenen Naturalismus, den wir schon bei Johannes
+~Schlaf~ fanden, und der neuesten Phase dieser Verfallsdichtung
+mancherlei Beziehungen bestehen. Man läßt das Milieu beiseit; die
+~Seele~ soll ihr Recht haben. Aber nicht die Seele im alten,
+guten Sinne des Wortes, -- sagen wir: die gesunde Seele, sondern
+die überreizte, übernervöse, auf die feinsten Einflüsse reagierende
+Seele, die Seele, in der alles Empfindung ist, alles Individualität,
+-- sagen wir: die kranke Seele. Es hat gewiß manchen dieser Dichter
+ein ernstes und großes Streben beseelt; geißeln wollte er, was er
+sah und was er schilderte. Freilich, nicht von allen gilt das. Es
+scheint manch einer sehr gern in dem Sumpfe zu plätschern, in den er
+seine Leser hineinschauen läßt. Denn schließlich bildet der Sumpf den
+Inhalt dieser Romane und Novellen. Das Abnorme, das Verkommene, das
+ungesund Erotische wird geschildert. Und selbst die Form entspricht
+dem Verfallscharakter des Inhalts: keine Ruhe mehr und keine Tiefe;
+es geht von Skizze zu Skizze. Pointen müssen sich jagen. Vieles muß
+der Leser erraten. Ein paar Striche machen ein Bild. Nur nicht breit,
+nur nicht langweilig; am besten überhaupt nur Skizzen mit recht kurzen
+Sätzen -- mit grellen Lichtern -- mit Witz und Satire. Viel Geist,
+viel Witz, viel Satire. Aber alles Kaviar, gar keine nahrhafte,
+gesunde Kost!
+
+Fürchten Sie nicht, daß ich zu tief in dieses Gebiet des Verfalls
+hinabsteige! Aber ein wenig genauer muß ich es charakterisieren, um
+mein Urteil zu begründen. Ich wähle zunächst eine Sammlung von Heinz
+~Tovote~, welche den Titel führt: »Ich. Nervöse Novellen«. Sie
+erschien 1892 und erlebte 1900 die 12. Auflage. Es sind durchgehends
+Geschichten äußerst nervös beanlagter Naturen, alle ganz kurz,
+allerhöchstes einmal eine dreißig Seiten lang. Was für Sujets in
+diesem Band! Da erzählt einer die phantastischen Gedanken einer
+schlaflosen Nacht, in der er beständig auf die draußen fallenden
+Regentropfen hören muß. Wir müssen sie mithören und mitzählen: Tipp
+.. 1 .. 2 .. 3 .. 4 .. 5 .. tipp 1 .... und so weiter. Und wir müssen
+alle seine unklaren Gedanken mitdenken (denn er erzählt selbst, daß er
+zu keinem klaren Gedanken kam!), bis er endlich, endlich einschläft.
+-- Da ist ein andrer, der leidet an dem immer wieder plötzlich
+auftauchenden unsinnigen Gedanken, daß er unter lauter Toten weile. Im
+Manöver packt ihn die Vorstellung, auf Wache des Nachts, -- und sonst
+in allen möglichen Situationen. Bis er endlich davon geheilt wird --
+dadurch, daß eine in momentaner unsinniger Angst totgeglaubte Person
+-- zu schnarchen anfängt. Und dazu dann allerhand Situationen aus dem
+Liebesleben, alles sonderbare, abnorme Situationen. Nichts Frisches!
+nichts Gesundes! Nervöse Novellen! --
+
+Oder ein Buch wie ~Bierbaums~ »~Stilpe~«. Ein frühreifer,
+witziger und begabter Mensch verkommt durch völlige Zügellosigkeit. Er
+wird endlich Komiker in einem Café chantant und führt dort eine Szene
+auf, mit der er das Publikum begeistert: er imitiert den Selbstmord.
+Den Kopf in der Schlinge, nickt er immer wieder zum Dank für den
+brausenden Beifall. Der Schluß besteht darin, daß er den Scherz zum
+Ernst werden läßt. Abscheulich! Ganz abscheulich! Was diesem Schlusse
+vorangeht, ist aber nicht viel besser: -- wüste Szenen, tollgewordener
+Humor, Lumperei und Laster, vermischt mit Satire und Komik. Verfall!
+Sumpf! Bierbaum gibt sich zuweilen bei dieser Schilderung das Ansehen
+des Moralisten. Und wahrlich -- das Ende dieses Lebens ~muß~
+moralisch wirken. Aber trotzdem ist das Ganze zu toll, um ernst
+genommen werden zu können.
+
+Weiteres sei hier nicht genannt. Es ist ~nicht~ die Pflicht
+eines jeden, sich durch diese Wüste durchzuarbeiten. Die Dichtkunst
+liegt in Nervenzuckungen. Wer sieht das gern mit an? Nur daß man
+leider wissen muß, daß diese Zuckungen ansteckend gewirkt haben ....
+Ganze Zeitschriften pflegen das Genre dieser Art Skizze. Sie tragen
+den Ruhm, modern zu sein, ja zu den modernsten zu gehören. Aber man
+kann mit seiner Zeit mitgehen, ohne ihre Unarten und Frechheiten
+mitzumachen!
+
+Neben diese nervöse Verfallsliteratur tritt nun noch diejenige des
+gleichfalls modernen ~Symbolismus~. Eigentlich nicht ~neben~
+sie; großenteils wirkt der Symbolismus auf dem Hintergrund dieser
+modern-nervösen Skizzenliteratur. Sein Wesen bedingt das allerdings
+nicht. Was ist Symbolismus? Die Kunst, Symbole zu schaffen und
+durch Symbole zu wirken. Es ist eine Art Gleichniskunst; nur daß
+das Gleichnis hier -- je nach den Umständen -- bis zum Umfang
+einer ganzen, völlig ausgeführten Handlung anwachsen kann. Solcher
+Symbolismus findet sich, wie bereits erwähnt, schon in Roseggers
+»Gottsucher«. Die Vorgänge im Trawieser Tal, die dort beschrieben
+sind, bleiben zwar aufs engste mit der Wirklichkeit verwoben; alle
+jene Ereignisse, welche schließlich zur Ermordung des Pfarrers führen,
+sind realistisch gedacht und gezeichnet; sie sind auch durchaus
+möglich und wahr. Auch im zweiten Teil wird die Verbindung mit dem
+Geschichtlich-Denkbaren durchaus aufrechterhalten. Dennoch zeigt sich
+hier deutlicher der überwiegend symbolische Charakter der Handlung,
+der in der durch den Schreiner Wahnfred eingeführten Feueranbetung und
+in der Sühne des Frevels durch Vernichtung alles Lebendigen seinen
+Gipfel erreicht. -- In der Verbindung mit ausgeprägtem Naturalismus
+tritt der Symbolismus auf in dem gleichfalls schon besprochenen Werk
+Kretzers »~Das Gesicht Christi~«. Christus erscheint! »In der
+Dämmerung des Abends, die geheimnisvoll die Fäden des Nachtschleiers
+zu spinnen begann, wand sich die Erscheinung unhörbar durch die Menge,
+sichtbar nur denen, die in dieser Welt des absterbenden Glaubens
+den Hunger der Seele über den des Leibes stellten.« So sehen ihn
+die Kinder des Arbeiters Andorf, scheu und ängstlich, in den großen
+weitaufgerissenen Augen jenes starrselige Entsetzen, das der Anblick
+eines süßen Wunders hervorzaubert. So sieht ihn Andorf selbst, mitten
+in seiner Not, in der Not, die so groß ist, daß er nicht einmal seinen
+Kindern satt zu essen geben kann. Mitten auf der Straße sieht er ihn:
+»Siehst du ihn nicht, wie er durch die Menge schreitet? Sein Gesicht
+und sein Haar leuchten, er trägt ein schneeweißes Gewand und alle
+weichen ihm aus.« Er sieht ihn im Rahmen der Tür der vollgepreßten,
+dunsterfüllten Kneipe: -- »er durchleuchtet die Luft mit seinem
+Haupte. Seine großen Augen sind fest auf dich gerichtet«. Er sieht die
+Erscheinung, wie er im ärmlichen Zimmer am Totenlager seines Kindes
+gewacht hat. Die Leute auf der Straße sehen sie, wie er seines Kindes
+Sarg zum Friedhof fährt .... Es sehen sie auch der Konsistorialrat
+und sein Küster, wie sie mit Andorf über die Kosten der Beerdigung
+verhandeln. Es sieht sie der Fabrikbesitzer, wie er eine seiner
+Arbeiterinnen brutal zur Sünde verführen will ... Was soll diese
+Christuserscheinung, die dem Armen wie dem Reichen begegnet? Soll
+sie nicht die Wirksamkeit symbolisieren, welche die Religion trotz
+allem und allem übt? Übt in der ärmsten, elendesten Arbeiterseele als
+Mittel des Trostes und der Hoffnung? Übt in dem Herzen des Harten und
+Grausamen, übt in dem Bewußtsein des frechsten Frevlers in der Stunde,
+da er den größten Frevel begehen will? Das soll sie darstellen, wie
+Christus die Welt begleitet als das Gewissen der Gesellschaft, die
+sein Wort im Munde führt, ohne es zu üben.
+
+Man kann sehr darüber streiten, inwieweit die Verschmelzung von
+Naturalismus und Symbolismus in diesem Werk geglückt ist. Ich finde
+nicht nur den Naturalismus in der Verführungsszene allzu kraß, sondern
+auch den Symbolismus der Christusvision allzu stark aufgetragen,
+allzu theatralisch. Aber das Eine ist gewiß: ~diese~ Art von
+Symbolismus, am rechten Objekt in rechtem Maß angewandt, gehört
+durchaus zu den wirksamen Darstellungsmitteln.
+
+Zur symbolistischen Richtung wird von manchen auch ein Werk wie
+~Wilhelm Bölsches~ »~Die Mittagsgöttin~, Roman aus dem
+Geisteskampfe der Gegenwart«, gerechnet (1891 erschienen).
+Es handelt sich in ihm vornehmlich um den Spiritismus. Ein von
+der Naturwissenschaft gänzlich erfüllter junger Journalist wird
+in spiritistische Kreise hineingezogen. Erst wirkt er bei der
+Entlarvung eines betrügerischen Mediums mit; dann wird er durch
+eine Erscheinung des »zweiten Gesichts« selbst bekehrt und weilt im
+Spreewald im Schlosse eines spiritistischen Grafen, wie dieser von der
+prädominierenden Kraft des Mediums Lilly Jackson, mit dem sie ihre
+Sitzungen abhalten, fest überzeugt. Endlich stellt sich allerdings
+heraus, daß auch dies Medium betrogen hat. Der zum Spiritismus
+Bekehrte ist wieder geheilt. -- Der Gang der Erzählung ist keineswegs
+besonders kunstvoll; Reiz geben ihr eigentlich nur die spiritistischen
+Sitzungen -- und das ist Nervenreiz. Aber die Form der Darstellung
+wie insbesondere der Schilderungen des Spreewalds ragen weit über
+das Durchschnittliche hinaus. Trotzdem gibt die Handlung selbst
+dem Buche den tieferen Wert, wennschon nicht durch die Widerlegung
+des Spiritismus. »Die Helden dieser wunderlichen Geschichte« --
+so schreibt der Verfasser selbst im Vorwort zur zweiten Auflage
+1901 -- »suchen mit einem ungeheuren Aufwand ein Geheimnisvolles
+~hinter~ den Dingen. Aber sie erfahren dabei etwas von dem
+Los des alten Bibelhelden, der auf der Suche nach Eselinnen eine
+Königskrone fand. Sie stoßen auf die viel wunderbareren, viel
+geheimnisreicheren Imponderabilien in den Dingen, -- auf die Wunder
+sinkender, steigender, sich entwickelnder Menschenseelen, auf die
+unergründlich tiefen Geheimnisse, die in jedem Schicksal eines
+Menschen überhaupt liegen.« So ist das Buch ein Feldzug in solche
+schlichten Seelenprobleme hinein, die immer wieder das größte aller
+Wunder enthalten. So ist jede Einzelgestalt desselben ein Symbol für
+menschliches Ringen nach Durchdringung all der Dunkelheiten; so ist
+die Geschichte im ganzen ein Zeugnis dafür, daß dieses Ringen und
+Sehnen in unserer Zeit lebendig ist, daß der Geist des Philistertums,
+das nur banale Alltäglichkeit sieht, wo das ewig neu Rätselschwangere
+herrscht, auch den tieferen Geistern des jungen Deutschlands von heute
+verhaßt ist. Es geht wie in der wendischen Sage von Pschipolniza,
+der Mittagsgöttin. Wenn um die Mittagsstunde die glühend heiße Sonne
+brennt, naht sich dem habgierigen Bauern eine weiße Gestalt, ein
+wundersames Weib mit tiefblauem Kornblumenkranz, eine goldene Sichel
+in der Hand: Pschipolniza, die Göttin der Mittagsstille. Sie legt ihm
+Fragen über sein Werk vor, und wenn er nicht antworten kann, haucht
+sie ihn an, daß er krank wird, oder würgt ihn zu Tode. Wir mühen uns
+alle, mit der sengenden Zenithsonne auf dem Scheitel, im wahren Mittag
+der Menschheit. Da naht uns die Wissenschaft als verschleiertes Bild
+und stellt die Frage nach Leben und Tod. Freilich -- wie dann weiter?
+Ist sie in Wahrheit ein grausames Gespenst, das dem Ermattenden,
+Lechzenden den Hals umdreht, statt ihn zu erquicken? Oder wird sie,
+wenn man die rechte Antwort gibt, zur schönen, sanften Flurgöttin, die
+unsere Arbeit segnet? Die Meinung ist jedenfalls die: wer sich abmüht
+im Ringen nach falscher Erkenntnis, um die Gespenster verborgener
+Überwelt, dem bringt sein Mühen lastendes Leid. Wer aber die lebendig
+wandelnden Gespenster ergründen will, die Gespenster der Not, der
+Unterdrückung, der moralischen Finsternis, der ist auf dem rechten Weg.
+
+Auf einzelnes -- Vorzüge wie Schwächen des Werks -- einzugehen,
+ist hier nicht der Ort. Und ebensowenig ist es möglich, die
+Gesamterscheinung des Symbolismus an dieser Stelle bis in ihre
+Einzelverzweigungen zu verfolgen. Der Symbolismus hat ja sein
+eigentlichstes Wirkungsgebiet auch keineswegs in der Prosaerzählung
+gesucht; sein gefeiertster Vertreter Richard Dehmel steht diesem
+Gebiet fern. Die lyrische und dramatische Dichtung, erstere noch viel
+stärker als letztere, wissen ganz anders von seinem Einflusse zu
+zeugen. Auch die Einflüsse, welche diese ganze Richtung mitgeschaffen
+haben, stehen außerhalb des Gebiets der erzählenden Dichtung; muß man
+doch Nietzsche besonders in seinem »Also sprach Zarathustra« und neben
+ihm Ibsen in seinen Dramen als diejenigen bezeichnen, von welchen
+die Symbolisten am meisten gelernt haben. Es fragt sich, ob man das
+Urteil, welches gefällt worden ist, voll unterschreiben muß, -- daß
+nämlich der Symbolismus auf dem Gebiet der erzählenden Literatur
+durchweg nur ungünstig wirken ~konnte~. Aber das steht doch ganz
+fest, daß die scharfe Wirklichkeitserfassung, wie sie dem Roman eigen
+sein muß, die Aufgabe, ein Weltbild zu zeichnen, eine Verwendung des
+Symbolismus im Roman auf ein sehr bescheidenes Maß zurückführen muß.
+Und ohne die rein symbolistischen erzählenden Stücke, von welchen
+das gilt, hier näher aufzählen zu wollen, darf man auch das andere
+hinzufügen: viele von ihnen machen einen unklaren, völlig undeutlichen
+Eindruck und fallen aus der Aufgabe des Romans stärker heraus, als es
+die Schöpfungen von Novalis und Eichendorff taten.
+
+Die Überwindung des Naturalismus wurde schon Anfang der neunziger
+Jahre des 19. Jahrhunderts als vollzogen verkündigt. Für unser Gebiet
+ist er vom Symbolismus ~nicht~ überwunden. Er blüht nach wie
+vor, freilich vorwiegend in jenem feiner nüancierten, stimmungsmäßig
+psychologischen, eigentlich impressionistischen Naturalismus seiner
+späteren Vertreter. Und viel stärker als der Symbolismus ist die
+vorhin knapp skizzierte Richtung geworden, jene kurz als Dekadence
+zu bezeichnende Liebhaberei für heikle Themata, für sinnliche
+Situationen, für das moderne Leben der Kreise, welche von solider
+Arbeit wie gesunder Lebensführung gleich weit entfernt sind.
+
+So ist die Lage überhaupt nicht aufzufassen, als ob nun ~eine~
+Richtung jederzeit für die vorhergehende geradezu die Ablösung
+bedeutete. Naturalismus, Dekadence, Symbolismus bestehen
+nebeneinander, miteinander, ineinander. Und außerdem zählen wir
+zahlreiche neuere Werke, die ganz andere Typen vertreten. Nicht eine
+spezifisch neue Erscheinung, aber doch auch in der Neuzeit reichlich
+angebaut ist der sensationelle ~Tendenzroman~. Wir haben aus
+jüngster Zeit -- freilich schon aus dem zwanzigsten Jahrhundert
+-- zwei charakteristische Stücke dieser Gattung erhalten. Den
+Tendenzroman auf der niedrigsten Stufe stellt ~Bilses~ »~Aus
+einer kleinen Garnison~« dar. Man mag sagen, was man will, über
+ideale Absichten des Verfassers; ich will es alles glauben. Man kann
+getrost annehmen, daß ihm der Beweis völlig geglückt ist, daß in
+einer kleinen Garnison die Verhältnisse genau so gelegen haben, wie
+sein Roman sie zeichnet. Dennoch bleibt der Unterschied zwischen
+einem Roman, der allerhand anfechtbare Persönlichkeiten so zeichnet,
+daß jeder mit Fingern auf sie weist, und zwischen einem ausgeführten
+Pamphlet verzweifelt gering. Die Mittel der Zeichnung, welche Bilse
+gewählt hat, beweisen entweder, daß er unmittelbar bestimmte Menschen
+hat angreifen wollen, oder daß ihm die Kunst zu einer im höheren Sinne
+typischen Darstellung völlig gefehlt hat.
+
+Höher steht ~Beyerleins~ »~Jena oder Sedan?~«. Allerdings
+hat auch dies Buch, als ein Stück Weltbild betrachtet, ganz erhebliche
+Schwächen. Die Hauptschwäche besteht darin, daß es sensationelle
+Ereignisse in einer Weise häuft, welche von der Wirklichkeit weit
+abliegt. Es ist für den Leser geradezu beängstigend, daß fast keine
+der vorkommenden Personen, für welche sein Interesse wachgerufen
+wird, heil und ganz aus der Militärzeit herauskommt. Die Vorliebe,
+mit welcher Beyerlein die traurige Wendung im letzten Augenblick,
+kurz vor der endgültigen Rückkehr in den Zivilstand oder kurz vor
+Eintreten eines wünschenswerten Ereignisses, herbeiführt, ist beinahe
+stereotypiert. Der eine stirbt, der andere kommt auf Festung und wird
+beim Fluchtversuch erschossen, der dritte vergißt sich, entflieht
+aber, der vierte wird eingesperrt und durchlebt eine furchtbare
+Haftzeit -- und so geht es weiter. Auch von diesem Ungeschick ganz
+abgesehen, ist der Roman keine Glanzleistung. Die eine Grundidee, um
+derer willen er geschrieben ist, die zu starke Betonung überflüssigen
+Drills in der Armee ist fast lediglich gesprächsweise ausgeführt. Die
+hierher gehörigen Partien bilden eine Art militärtechnischen Aufsatz
+in Gesprächsform; für die Handlung selbst sind sie Ballast, nichts
+als Ballast. Aber anderseits verfügt der Verfasser über eine nicht
+unbeträchtliche realistische Begabung, die anzuerkennen ist, wennschon
+seine Zeichnung manchmal über das Ziel hinausschießt.
+
+Die hier eben genannten Romane repräsentieren einen Typus, der für
+unsere Zeit sicher charakteristisch ist. Ein Fortschritt für die
+erzählende Literatur ist von hier aus freilich nicht zu erwarten.
+Und so muß es für uns ein Gegenstand aufrichtiger Freude sein, daß
+wir heutzutage nicht allein auf diese Schöpfungen angewiesen sind.
+Denn auch alle die früherhin angeführten Richtungen haben in der
+letzten Zeit ihre Geltungskraft behalten. Der historische Roman
+ist allerdings zurückgetreten, immerhin darf z. B. ~Sperls~
+»~Die Söhne des Herrn Budiwoi~« mit Ehren genannt werden. Die
+Schöpfungen der Heimatskunst wurden schon erwähnt; aber es muß hier
+ausdrücklich erwähnt werden, daß diese Richtung, die den Realismus,
+ja den Naturalismus in gesunden Grenzen sich zu nutze macht, dabei
+jede Übertreibung meidet und dem Leser das Gefühl kernig frischen
+Volkstums vermittelt, keineswegs zu den überholten gehört. Sie ist
+das eigentliche Gegenbild zur verlebten Art eines ~Tovote~,
+~Bierbaum~, ~Schlaf~. Sie hat Mark in den Knochen, festen
+Boden unter den Füßen, sie saugt Nahrung aus der Scholle. Gerade
+von dieser Richtung her können wir noch manches Gute erhoffen. Auch
+~Frenssen~, der augenblicklich noch nicht durch eine andere Größe
+abgelöst ist, hat hier die Wurzeln seiner Kraft. Ihm aber danken
+wir, wie früher gezeigt, zugleich, daß auch die gesunde Psychologie
+und die ruhig wägende Lebensweisheit sich wieder einen Platz im
+Roman errungen haben. Frenssen zeichnet die Landnatur derb und
+ungekünstelt. Damit repräsentiert er gegenüber den verlebten Gestalten
+der Berliner Dirnenromane oder den impressionistischen Skizzen aus
+der Bohême geradezu die Gesundheit gegenüber der Krankheit. Er ist
+aber auch nicht Bloß-Naturalist; er weist dem suchenden Geschlecht den
+richtigen Weg. Die Stellung auch zu diesem Roman ist recht verschieden
+je nach der Stellung zu Frenssens Weltanschauung. Aber so gewiß
+diejenigen, welche Gottfried ~Kellers~ oder Paul ~Heyses~
+Weltanschauung gar nicht teilen, diesen ein gerechtes Urteil widmen
+müssen, so gewiß kann auch Frenssen verlangen, daß die Gegner seiner
+Weltanschauung doch den literarischen Wert seiner Romane unbefangen
+beurteilen. In dieser Hinsicht ist auf zwei Seiten gesündigt worden.
+Den einen ist er zu christlich; und weil das Christentum ihnen das
+rote Tuch ist, bei dessen Anblick sie die ruhige Fassung verlieren,
+so vermögen sie der feinen Kunst des Dichters nicht mehr gerecht zu
+werden. Den anderen aber -- und leider gehörten dazu manche frühere
+Berufsgenossen des Dichters -- war er nicht christlich genug, weil sie
+von ihm, dem Pastor, meinten eine ausgeführte Dogmatik verlangen zu
+müssen. Die Urteile über »Jörn Uhl« von diesen beiden extremen Seiten
+her sind ja aber glücklicherweise völlig aufgewogen worden durch
+die Aufnahme des Buchs im großen Publikum. Gewiß ist es keineswegs
+hundertundfünfzig Mal so viel wert als manch anderes Buch, das nicht
+hundertundfünfzig, sondern nur eine Auflage erlebt hat. Aber es bleibt
+eins der erfreulichsten Unterpfänder dafür, daß frische, kraftvoll
+gesunde Dichtung mit nüchtern realistischer Grundlage, aber mit tief
+idealistischem Sinn auch heut noch bei den deutschen Dichtern nicht
+ausgestorben ist und beim deutschen Volk nicht in Mißkredit gekommen
+ist.
+
+Auf die Gefahr hin, ungerecht gegen andere Romane zu werden, die
+ich nicht nennen kann, möchte ich doch noch einen aus der Zahl der
+modernsten nennen: Thomas ~Manns~ »~Buddenbrooks~«. Und
+zwar geschieht das aus einem ganz bestimmten Grund. Der Roman ist der
+schlagende Beweis dafür, daß der Naturalismus sich nicht entfernt
+überwunden fühlt, daß wir im Gegenteil vielleicht noch viel von
+ihm zu erwarten haben. »Buddenbrooks« bedeuten eine detaillierte,
+bis ins Einzelne peinlich genaue Schilderung des Lebens einer
+großen lübeckischen Kaufmannsfamilie durch mehrere Generationen
+im neunzehnten Jahrhundert hindurch. Mit diesem Hauptgegenstande
+sind minder ausführliche, aber immer noch sehr gründliche
+Beschreibungen angrenzender Verhältnisse verbunden. Neben der einen
+Großkaufmannsfamilie stehen andere, -- und jede von besonderem Schlag.
+Neben den Kaufmannsfamilien stehen die anderen Honoratiorenfamilien,
+-- allerdings fast nur solche. Nicht die Handlung ist es, die dem
+Roman Bedeutung gibt; immerhin ist sie im ganzen wirksam aufgebaut,
+wennschon man wegen des Schlusses mit dem Dichter rechten kann und
+wennschon manche übermäßige Breite etwas mühsam überwunden werden
+muß. Aber, wie gesagt, nicht die Handlung ist das Bedeutsame, sondern
+die Art der Milieuschilderung. Die »Buddenbrooks« sind vielleicht
+~dasjenige deutsche Romanwerk, welches am nachhaltigsten durch
+Emil Zola beeinflußt ist~. Thomas Mann läßt nichts außer Ansatz:
+keine Geste, keine noch so kleine Gewohnheit, keine der kleinen
+charakteristischen Redewendungen, wie sie jeder Mensch sich angewöhnt,
+-- desgleichen nicht die scheinbar äußerlichen Umstände, die doch
+so wesentlich sind: die Art, sich zu kleiden, sich Haus und Zimmer
+einzurichten, sich mit dem Geldpunkt abzufinden, und tausend andere
+Dinge mehr. Die Beschreibung ist viel genauer, viel detaillierter als
+z. B. bei Kretzer. Sie kann ebenso unerbittlich sein wie die Zolas
+in der Zeichnung auch abschreckender Bilder: erinnert sei nur an die
+Sterbeszene der alten Konsulin Buddenbrook und an den Abschnitt,
+welcher den Typhus behandelt. Doch wühlt Thomas Mann längst nicht so
+emsig in den dunkelsten Gebieten des Menschenlebens wie Zola; jene
+abschreckenden Bilder sind im Verhältnis zum Ganzen selten. Dafür
+fehlt ihm aber auch jene absolut nüchterne Wahrheitsruhe, die Zola
+hat; er neigt viel mehr zur Karikatur, zur beißenden Satire. Endlich
+-- um noch einen Unterschied hervorzuheben -- ist Thomas Mann ein
+minder pathetischer, weniger deklamatorischer Beschreiber, als Zola
+besonders in manchen seiner letzten Werke gewesen ist. Wie man aber
+auch im einzelnen das Verhältnis dieses Romans zu Zola beurteile, --
+in jedem Fall ist die Methode der Kleinmalerei in ~dieser~ Art
+für den deutschen Roman trotz Kretzer und Fontane noch nicht endgültig
+ausgebeutet. Kretzer geht trotz allem mehr ins Große; und Fontanes
+Plauderton sticht von dem naturalistischen Ernst dieses Buches
+erheblich ab. Man kann dreist vermuten, daß die Anwendung der gleichen
+Methode auf andere Lebensverhältnisse nicht auf sich warten lassen
+wird. Nun ist solcher Roman gewiß nicht das volle Ideal eines Romans;
+aber den Wert eines treffend gemalten Weltbilds besitzt er gewiß. Er
+steht darum auch seinerseits hoch über den nervösen und verlebten
+Skizzen der sogenannten »Moderne«.
+
+
+
+
+ Rückblick.
+
+
+Aber es ist an der Zeit, daß wir den Überblick über die mannigfach
+gestaltete Gegenwartssituation auf dem Gebiet des Romans abbrechen.
+Nur Einiges, nur Bedeutenderes ist erwähnt worden. Nur das, was für
+die Skizzierung der Gesamtentwicklung von Bedeutung zu sein schien.
+
+Von Goethe sind wir ausgegangen. Er muß uns als der Schöpfer des
+modernen deutschen Romans gelten. Ich erinnere kurz an die drei
+Gesichtspunkte, nach denen diese Bedeutung Goethes skizziert wurde:
+die psychologische Tiefe, die Art, wie seine Romane zum Zeitbild
+werden, und die engste Verbindung von Handlung und Gedanke, in alledem
+aber die unbestrittene Kraft der Wirklichkeitserfassung. Wie hat
+Goethe mit dieser seiner Kunst gewirkt?
+
+Wenn man von der Romantik absieht, so darf man das Urteil wagen,
+daß die gesamte Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert
+eine Geschichte der Verarbeitung der von Goethe herstammenden
+Anregungen gewesen ist. Über dieser gesamten Geschichte steht das
+Wort »Wirklichkeit« geschrieben. Wie war noch bei Wieland der
+beste Roman nichts als eine äußerliche Verkleidung moralischer
+Gedanken! Das ist nun anders geworden, fast mit einem Schlage
+anders. Vorüber die sentimentale Schwärmerei, vorüber die Zeit der
+moralischen Erzählung ohne eigenen Wert des Erzählten! Der Roman
+sieht die Welt, wie sie ist, und zeichnet die Welt, wie sie ist.
+Anfänglich ist ihm freilich die Wirklichkeitszeichnung noch nicht
+das letzte Ziel. Vielmehr gliedert man sie ein in die Darlegung
+der eigenen Tendenzen. Man will die Ursprünglichkeit der ländlichen
+Natur gegenüber städtischer Verbildung schildern -- so Immermann,
+so Auerbach; man will am Bestehenden Kritik üben, es zu bessern,
+-- so im politisch-religiös-moralischen Gebiet die Zeitromane der
+Jungdeutschen, so vom Standpunkt des Volkserziehers ein Jeremias
+Gotthelf, -- so in der Weise des erfahrenen und klugen Mannes, der
+anderen des eigenen Irrens Früchte auf allen Gebieten menschlichen
+Lebens vermitteln will, Gottfried Keller; -- so mit der Absicht,
+an der Darstellung der Wirklichkeit die eigenen politischen und
+religiös-sittlichen Anschauungen zur Geltung zu bringen, Friedrich
+Spielhagen.
+
+Diese erste große Epoche kann man also kurz als die ~Zeit der
+Darstellung der Wirklichkeit im Dienste bestimmter Absichten~
+bezeichnen. Ihr folgte eine zweite große Periode, in welcher
+~die Darstellung der Wirklichkeit selbst, ohne Einmischung von
+Nebenzwecken, als letztes Ziel~ galt. Man darf diese Periode gewiß
+mit dem Aufblühen des historischen Romans eröffnen. Leichter war es
+ja, in der Vergangenheit untendenziös zu bleiben als wenn man mitten
+aus der Gegenwart heraus seinen Stoff nahm. Der kulturgeschichtliche
+Roman beansprucht in diesem Zusammenhang eine gewichtige Stelle.
+Aber nicht der geschichtliche Roman allein suchte die Wirklichkeit
+als Wirklichkeit zu schildern. Schon bei Freytags »Soll und Haben«
+tritt in der Gegenwartszeichnung die Tendenz in den Hintergrund.
+Und dann beginnt diejenige Strömung, welche nichts geben will als
+Photographien, die lediglich schildernde Erzählung. Zu ihr kann man
+manches von den Werken des sog. Naturalismus rechnen -- wenngleich
+auch hier die Kunst, das Wirkliche zu sehen, noch keineswegs zur
+Vollkommenheit ausgebildet ist --, zu ihr aber auch vieles, was
+weniger naturalistisch als realistisch ist, so z. B. manche Sachen
+von Fontane. Diese Strömung ist, wenn schon ihre Überwindung bereits
+ziemlich energisch verkündet worden ist, noch keineswegs überwunden.
+
+~Zu dritt~ stelle ich neben diese beiden großen Entwicklungsgänge,
+die einander übrigens auch nicht geradezu abgelöst haben, zu einer
+Gruppe gesellt, eine Reihe von anderen Erscheinungen. Ihre gemeinsamen
+Charakteristika sind: erstens: die Darstellung der Wirklichkeit ist
+ihnen nicht Selbstzweck. Darin harmonieren sie mit Gruppe +I+. Aber
+anderseits, zweitens, haben sie nicht in dem Grad wie Gruppe +I+
+ein enges Verhältnis zu der Zeit, in der sie stehen. Ihnen ist die
+Hauptsache Stimmung oder Gedanke; die Wirklichkeit, welche sie darum
+doch wahr genug erfassen, ist ihnen lediglich der Stoff zur Entwicklung
+von beidem. Wenn nicht das lyrische Moment vorwiegt, so ist es das
+Problem, welches sie durchzuführen suchen.
+
+Endlich könnten wir eine ~vierte~ Gruppe bilden aus denjenigen
+Erzählungen, welchen gleichfalls (wie der Gruppe +I+) die
+Tendenz fehlt, welchen ebenso wie der Gruppe +II+ die
+Wirklichkeitsschilderung nicht der oberste Zweck ist, welche aber auch
+nicht wie Gruppe +III+ Stimmung oder Problem an dem Stoff der
+Wirklichkeit sich entfalten lassen, sondern einfach durch die äußere
+Verknüpfung von Ereignissen mit mehr oder minder energischer Benützung
+des Psychologischen zu wirken suchen. Hierher gehört auch der normale
+Unterhaltungsroman.
+
+Gemessen an der großen Aufgabe des Romans, ein Weltbild zu geben,
+haben die Erscheinungen dieser Gruppen nicht alle gleichen Wert. Die
+~letzte~ hat jedenfalls den geringsten; denn je mehr sie sich
+auf das äußere Geschehen konzentriert, um so mehr verzichtet sie auf
+Tiefe des Gedankens, ja Tiefe des Blicks. Sie kann einzelne feine
+Bemerkungen ermöglichen; sie kann das Gemüt ein wenig affizieren;
+sie kann die Nerven spannen. Aber diese Gruppe mit ihren zahlreichen
+Schöpfungen entbehrt des tieferen Gehalts. Was könnte daran zum
+Nachdenken anregen? Was unseren Blick für die Zustände der Welt
+schärfen? Was unseren Gesichtskreis erweitern? Eins nur kann diese
+Art Romane: unterhalten. Im besten Fall ist diese Unterhaltung
+anregend, im schlimmsten aufregend. Wer hat nicht einmal eine Stunde,
+in welcher er nichts will als eben nur unterhalten werden? Aber es
+scheint Menschen zu geben, welche den Roman zu nichts anderem als zum
+Unterhaltungsmittel gebrauchen. Ja, ich gestehe, daß in mir schon oft
+der furchtbare Verdacht aufgestiegen ist, daß weitaus die meisten
+Romanleser ihn so und nicht anders benützen. Da kann es dann kommen,
+daß Herr Soundso in die Leihbibliothek schickt und um irgend ein Buch
+bitten läßt; -- ~welches~ Buch ihm geschickt wird, ist ihm ganz
+gleich. Diese Art Romane sind Schiffen mit ganz geringem Tiefgang zu
+vergleichen, Schiffen, die eben darum an jeder Küste anlegen können,
+-- aber für die Fahrt aufs hohe Meer sind sie völlig unbrauchbar.
+Wer sich selber zum flachen, sandigen Strand machen will, der lasse
+diese Schiffe ohne Tiefgang kommen! Der meide die Gedankenanstrengung
+bei tieferer Lektüre! Der erkläre nur, daß er Romane nicht liest, um
+denken zu müssen! Der genieße die Zeitungsromane von Fortsetzung zu
+Fortsetzung! (Übrigens bieten manche Zeitungen, wie besonders die
+»Tägliche Rundschau«, meist ~nicht~ derartigen, sondern besseren
+Stoff.)
+
+Wie steht es nun aber um die drei anderen Gruppen und um ihr
+Verhältnis zur Aufgabe des Romans? Unfraglich entspricht ihr
+am klarsten die ~zweite~ Gruppe: Wirklichkeitsbild ohne
+Nebenabsichten. Wir freuen uns, daß diese Gruppe im deutschen Roman
+des neunzehnten Jahrhunderts so stark vertreten ist. Allerdings ist
+gleichzeitig zu bemerken, daß gerade in dieser Gruppe sich die starke
+Neigung zu Übertreibungen herausgebildet hat. Wir müssen verlangen,
+daß man uns als Wirklichkeit nicht bloß die Welt der Lebemänner, nicht
+bloß das Leben mit überreizten Nerven schildert. Wir müssen erwarten,
+daß man nicht bloß das Abstoßende und Ungesunde hervorzieht. Die
+Welt zu abscheulich zu malen, ist ein genau so großer Fehler wie
+der, sie zu licht zu malen. Das neunzehnte Jahrhundert hat hier die
+Aufgabe richtig erkannt, auch vielfach richtig angefaßt, aber es hat
+hier nicht die Extreme zu vermeiden gewußt. Die Losung »Naturalismus«
+mag getrost bleiben! Aber man vergesse nicht, daß »Naturalismus« von
+»Natur« herkommt!
+
+Es bleiben die ~erste~ und die ~dritte~ Gruppe. Die erste
+kommt der eigentlichen Aufgabe des Romans vielfach ganz nahe. Es
+ist, von dieser Aufgabe aus betrachtet, durchaus ~nichts~
+gegen die Geltendmachung einer bestimmten ~Tendenz~ gegenüber
+der geschilderten Zeit einzuwenden. Warum soll der Dichter nicht
+gleichzeitig zeichnen und das Gezeichnete beurteilen? Er verändert
+damit seine Aufgabe nicht; er fügt nur noch hinzu, was gleichfalls
+wertvoll sein kann: sein Urteil, seine Kritik. Erst dann beginnen
+die Schöpfungen dieser Romangruppe minder wertvoll zu werden, wenn
+unter der Tendenz die klare Erfassung der Wirklichkeit gelitten hat.
+Das ~kann~ auch den Dichtern passieren, die nichts wollen als
+die Welt zeichnen, wie sie ist. Ist doch jeder in der Gefahr, die
+Dinge allzusehr durch die eigene Brille zu sehen. Aber noch mehr in
+dieser Gefahr ist derjenige, welcher nur zeichnet, um seine Ansichten
+und Absichten klarzulegen. Solange im Tendenzroman die Zeit, die
+Wirklichkeit stärker ist als die Tendenz, so lange steht er auf der
+Höhe seiner Aufgabe. Er irrt erst dann ab, wenn die Tendenz stärker
+wird als die Wirklichkeit.
+
+Weniger als Gruppe +I+ und +II+ scheint Gruppe +III+ der von uns
+festgestellten Aufgabe des Romans zu entsprechen. Wo die lyrische
+Stimmung das beherrschende Element ist, kann ein Weltbild in scharfen
+Umrissen viel schwerer erwachsen. Dennoch ist es auch hier möglich;
+das zeigt besonders die wunderbare Vereinigung klarster Realistik
+mit feinster dichterischer Stimmung, welche Rosegger z. B. in den
+»Schriften des Waldschulmeisters« bietet. Das zeigt aber auch ein Werk
+wie Raabes »Hungerpastor«. Hat man doch dies Buch geradezu unter die
+Zahl der Zeitromane einreihen können! Weniger eng ist die Beziehung
+zur wirklichen Welt natürlich da, wo die lyrische Stimmung noch
+stärker herrschend wird, wie bei Storm oder in Raabes »Chronik der
+Sperlingsgasse«. Aber wer wäre so engherzig, diesen Dichtungen darum,
+weil sie vom eigentlichen Romancharakter abweichen, das Existenzrecht
+abzusprechen? Auch sie geben Wirklichkeit; auch sie zeichnen Menschen,
+wie sie sind. Vielleicht nur mit wenigen Strichen, vielleicht mehr
+mit Licht und Schatten als in scharfem Umriß, vielleicht nur in
+einzelnen Situationen. Aber sie zeichnen sie: die Stimmungswelt ist
+auch wirkliche Welt! Wenn der Stimmungsdichter nur Realist bleibt,
+dann hat er sein heiliges Recht. Ja, dann ist er eine notwendige
+Ergänzung der nüchternen und kühlen Realisten mit ihrer Genauigkeit und
+Gründlichkeit. Kann denn nicht manches Mal ein einziger Strich, der dem
+Bilde die rechte Stimmung gibt, viel wirksamer sein, als die Ansammlung
+von hundert Einzelheiten?
+
+Noch weniger ist zu leugnen, daß der ~Problem~roman innerhalb
+der Aufgabe des Romans bleibt. Er will ja Fragen des wirklichen
+Lebens aufwerfen und beantworten! Er geht weniger in die Breite
+als in die Tiefe, -- in die Tiefe der seelischen Rätsel, in die
+Tiefe der gesellschaftlichen Fragen. Gewiß, ihm ist der Stoff nur
+Mittel zum Zweck; die Hauptsache ist ihm der Gedanke. Aber so wenig
+im Tendenzroman die Tendenz notwendig die Wirklichkeitserfassung
+hindern muß, so wenig im Problemroman das Problem. Im Gegenteil:
+erst das ist der rechte Problemroman, der seine Fragen ganz aus der
+Wirklichkeit herauswachsen läßt. Es gibt manchen Problemroman mit
+recht oberflächlichen Problemen; aber das soll uns nicht hindern,
+anzuerkennen, daß gerade der Problemroman eine außerordentlich
+wertvolle Methode bedeutet, die Weltvorgänge in ihren tiefsten Gründen
+anzusehen und darzustellen.
+
+~Das Gesetz der Wirklichkeit regiert also tatsächlich überall im
+deutschen Roman des 19. Jahrhunderts, in allen seinen wichtigeren
+Erscheinungen.~ Verschiedene Methoden seiner Befolgung sind
+eingeschlagen worden; aber das Gesetz selbst ist in Geltung geblieben.
+Und gegenüber denjenigen Richtungen, welche dieses Gesetz wissentlich
+oder unwissentlich ignorieren, haben wir einfach sein geheiligtes und
+anerkanntes Recht geltend zu machen.
+
+Schwieriger ists für unsere Zeit, die Grenzen in der Befolgung
+dieses Gesetzes festzulegen und festzuhalten. Die Auswüchse des
+Naturalismus wie die Dekadencedichtung übertreiben. Sie bevorzugen
+einseitig einige wenige Gebiete der Wirklichkeit; und sie wählen
+gerade diejenigen, wo die gesunde Natur sich vergebens suchen läßt.
+Ihnen gegenüber fordern wir, daß die Totalität der Wirklichkeit zur
+Geltung komme. Wir fordern auch, daß, ohne daß das Vorhandensein von
+Krankheitszuständen ignoriert werde, der Standpunkt, von dem aus
+geschildert wird, derjenige der Gesundheit sei. Wir erwarten nichts
+von dem differenzierten, nervös gewordenen Naturalismus. Aber wir
+erwarten alles von einem im gesunden Volksempfinden, in der echten
+Natur wurzelnden Realismus.
+
+Ich brauche nicht mehr auszuführen, daß das 19. Jahrhundert auch
+in der ~Form~ des Romans uns kräftig vorwärts gebracht
+hat. Was Goethes »Wahlverwandtschaften« zuerst versuchten, die
+Ineinandersetzung von Gedanke und Handlung -- das ist zwar längst
+nicht überall zur Durchführung gekommen, aber es ist leitendes Motiv
+geblieben. Man verabscheut mehr und mehr die Darlegung von Gedanken
+ohne Handlung, wie noch Gutzkow sie liebte, man empfindet jene
+spannenden Handlungsromane ohne Gedanken, so sehr sie noch heute
+wuchern, als minderwertig. Man hat in vielen Romanen Spielhagens, dazu
+in solchen von Kretzer, in »Frau Sorge« und in anderen Vorbilder in
+der formellen Gestaltung. Und ob immer wieder das Erworbene in Frage
+gestellt wird, das Ziel ist gesteckt und darf nicht vergessen werden.
+
+Eins aber muß zum Schluß nochmals gesagt werden: es wird alles darauf
+ankommen, daß in der deutschen Lesewelt der Sinn für den wertvollen
+Roman geweckt und, wo er lebendig ist, gepflegt werde. Jedes Volk
+hat schließlich den Roman, den es verdient. Seien wir anspruchsvoll!
+Lehnen wir alles ab, was uns nicht fördert, ohne Rücksicht auf Person
+und Tendenz! Dann wird des Seichten weniger werden und ~die~
+Dichter werden mehr Raum und mehr Mut gewinnen, die in sich die Kraft
+fühlen, dem deutschen Volk wirklich etwas zu sagen. Verlangen wir viel
+vom Roman, so wird er uns viel geben!
+
+ [Illustration]
+
+
+
+
+ Register.
+
+
+(Die ~ausführlich~ besprochenen Werke sind unter dem Autornamen
+bei den entsprechenden Seitenzahlen in Klammern besonders aufgeführt.)
+
+ Alexis, Wilibald 123 ff. (Roland von Berlin). 126. 127. 129. 134.
+
+ Anzengruber, Ludwig 171. 172 ff. (Sternsteinhof). 179.
+
+ Arnim, Achim von 51. 121 ff. (Kronenwächter).
+
+ Auerbach, Berthold 55. 62 ff. (Schwarzwälder Dorfgeschichten).
+ 76. 225.
+
+
+ Beyerlein, Franz Adam 219 f.
+
+ Bierbaum, Otto Julius 213. 220.
+
+ Bilse 219.
+
+ Björnson 190.
+
+ Bölsche, Wilhelm 216 f. (Mittagsgöttin).
+
+ Börne, Ludwig 34.
+
+ Brentano 35.
+
+
+ Cantz, Elisabeth 78.
+
+
+ Dahn, Felix 139 ff. (Kampf um Rom).
+
+ Dehmel, Richard 218.
+
+
+ Ebers, Georg 139. 141. 142.
+
+ Ebner-Eschenbach, Marie v. 195 (Gemeindekind). 196 f. (Unsühnbar).
+
+ Eckstein, Ernst 142.
+
+ Eichendorff, Joseph Frhr. v. 35. 39 ff. (Leben eines Taugenichts).
+ 45. 46. 165. 218.
+
+ Eilhart von Oberge 11.
+
+
+ Fischart, Johann 12.
+
+ Floris und Blancheflur 6. 11.
+
+ Fontane, Theodor 115 ff. 117 ff. (Stechlin). 135. 138. 188. 201.
+ 202 ff. (Effi Briest). 223. 225.
+
+ Freiligrath, Ferdinand 75.
+
+ Frenssen, Gustav 208 ff. (Jörn Uhl). 210. 221.
+
+ Frenzel, Karl 138.
+
+ Freytag, Gustav 108 ff. (Soll und Haben). 114. 127. 131 ff.
+ (Die Ahnen). 144. 155. 189. 225.
+
+
+ Goethe 15. 16 ff. (Werther). 19 ff. (Wilhelm Meister). 24 ff.
+ (Wahlverwandtschaften). 27 ff. 32. 45. 52. 75. 143. 189. 224. 230.
+
+ Gottfried von Straßburg 11.
+
+ Gotthelf, Jeremias 55. 58 ff. (Bauernspiegel). 65. 66. 69. 71. 168.
+ 169. 225.
+
+ Grimmelshausen 12.
+
+ Gutzkow, Karl 76. 77. 78. 79 ff. (Ritter vom Geist). 86. 87. 98.
+ 112. 138. 144. 230.
+
+
+ Hamerling, Robert 142.
+
+ Hauenschild, Spiller von 78.
+
+ Hauff, Wilhelm 51. 122.
+
+ Herwegh 75.
+
+ Heyse, Paul 78. 92 ff. (Kinder der Welt). 154. 155. 190. 197 ff.
+ (Novellen). 221.
+
+ Hoffmann, Th. Amadeus 45. 46 ff. (Elixiere des Teufels). 143. 165.
+
+ Holz, Arno 183.
+
+
+ Ibsen 190.
+
+ Jean Paul 32 ff. 143. 144.
+
+ Immermann 55 ff. (Oberhof). 65. 67. 69. 71. 74. 76. 144. 168. 225.
+
+ Jordan, Wilhelm 190.
+
+
+ Keller, Gottfried 99 ff. (Grüner Heinrich). 105 ff. (Leute von
+ Seldwyla). 112. 189. 221. 225.
+
+ Kleist, Heinrich v. 35. 48 ff. (Michael Kohlhaas).
+
+ Kretzer, Max 175 ff. (Meister Timpe). 178 f. 182. 214 ff.
+ (Gesicht Christi). 223. 231.
+
+
+ Laube, Heinrich 76. 138.
+
+ Ludwig, Otto 55. 69 ff. (Heiterethei). 72.
+
+
+ Mann, Thomas 222 ff. (Buddenbrooks).
+
+ Meinhold, Wilhelm 131.
+
+ Meyer, Conr. Ferd. 136 ff.
+
+ Motte-Fouqué, F. de la 35.
+
+
+ Novalis 32. 35. 36 ff. (Heinrich von Ofterdingen). 45. 46. 51. 53.
+ 165. 218.
+
+
+ Pantenius, Theod. Hermann 115.
+
+ Parzival 11.
+
+ Polenz, Wilhelm v. 179 ff. (Pfarrer von Breitendorf).
+
+ Prutz, Robert 78.
+
+
+ Raabe, Wilhelm 136. 144 ff. (Chronik der Sperlingsgasse). 149 ff.
+ (Hungerpastor). 155. 161. 162. 165. 229.
+
+ Rabelais 12.
+
+ Reuter, Fritz 55. 69. 71 ff. (Stromtid). 74. 171.
+
+ Riehl, Wilh. 127. 130 f. (Kulturgesch. Novellen). 134.
+
+ Robinson Krusoe 13.
+
+ Rosegger, Peter 144. 162 ff. (Schriften des Waldschulmeisters).
+ 165. 170. 171. 179. 191 ff. (Gottsucher). 214. 229.
+
+ Rousseau 30.
+
+ Ruodlieb 10.
+
+
+ Scheffel, J. Viktor v. 127. 128 ff. (Ekkehard). 134.
+
+ Schlaf, Johannes 183 ff. (Novellen). 211. 220.
+
+ Schlegel, Friedrich v. 32. 35. 42 ff. (Lucinde). 46.
+
+ Schleiermacher 43.
+
+ Sohnrey, Heinrich 170.
+
+ Sperl, August 220.
+
+ Spielhagen, Friedrich 78. 79. 85 ff. (Problematische Naturen). 91 ff.
+ 98. 112. 114 f. (Sturmflut). 144. 225. 231.
+
+ Stifter, Adalbert 162.
+
+ Storm, Theodor 144. 155 ff. (Novellen). 162. 165. 166. 169.
+ 197 ff. 229.
+
+ Sudermann, Hermann 205. 206 ff. (Frau Sorge). 208.
+
+ Suttner, Bertha v. 190.
+
+
+ Tieck, Ludwig 35. 122.
+
+ Tolstoi 168. 190.
+
+ Tovote, Heinz 186. 212 f. (Ich). 220.
+
+ Tristan und Isolde 6. 11.
+
+
+ Volksbücher 11.
+
+
+ Wickram, Jörg 12.
+
+ Widmann, A. 78.
+
+ Wieland 13 ff. 27.
+
+ Wildenbruch, Ernst v. 203 f.
+
+
+ Zola, Emil 168. 190. 222. 223.
+
+
+
+
+ [Illustration
+
+ Buch- und Kunstdruckerei von
+
+ Hoffmann & Reiber in Görlitz]
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 ***
diff --git a/76588-h/76588-h.htm b/76588-h/76588-h.htm
new file mode 100644
index 0000000..af21061
--- /dev/null
+++ b/76588-h/76588-h.htm
@@ -0,0 +1,7484 @@
+<!DOCTYPE html>
+<html lang="de">
+<head>
+ <meta charset="UTF-8">
+ <title>
+ Der Deutsche Roman Seit Goethe | Project Gutenberg
+ </title>
+ <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover">
+ <style>
+
+body {
+ margin-left: 10%;
+ margin-right: 10%;}
+
+ h1,h2 {
+ text-align: center; /* all headings centered */
+ clear: both;}
+
+h1 {font-size: 220%}
+h2,.s2 {font-size: 150%}
+.s3 {font-size: 110%}
+
+h1 { page-break-before: always}
+
+h2 {
+ padding-top: 1em;
+ margin-bottom: 1.5em;
+ page-break-before: always; }
+
+
+p {
+ margin-top: .51em;
+ text-align: justify;
+ margin-bottom: .49em;
+ text-indent: 1em;}
+
+.p0 {text-indent: 0em;}
+.p2 {margin-top: 2em;}
+
+.mtop2 {margin-top: 2em;}
+.mbot2 {margin-bottom: 2em;}
+
+.padtop2 {padding-top: 2em;}
+.padbot2 {padding-bottom: 2em;}
+
+hr {
+ width: 33%;
+ margin-top: 2em;
+ margin-bottom: 2em;
+ margin-left: 33.5%;
+ margin-right: 33.5%;
+ clear: both;}
+
+hr.tb {width: 45%; margin-left: 27.5%; margin-right: 27.5%;}
+hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;}
+@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} }
+
+hr.r65 {width: 65%; margin-top: 3em; margin-bottom: 3em; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;}
+
+div.chapter {page-break-before: always;}
+h2.nobreak {page-break-before: avoid;}
+.break-before {page-break-before: always;}
+
+ul.index { list-style-type: none; }
+
+li.ifrst {
+ margin-top: 1em;
+ text-indent: -2em;
+ padding-left: 1em;}
+li.indx {
+ margin-top: .5em;
+ text-indent: -2em;
+ padding-left: 1em;}
+
+table {
+ margin-left: auto;
+ margin-right: auto;}
+table.autotable { border-collapse: collapse; }
+table.autotable td,
+table.autotable { padding: 0.25em; }
+
+.tdl {text-align: left;}
+.tdr {text-align: right;}
+
+.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */
+ /* visibility: hidden; */
+ position: absolute;
+ left: 92%;
+ font-size: small;
+ text-align: right;
+ font-style: normal;
+ font-weight: normal;
+ font-variant: normal;
+ text-indent: 0;}
+
+.center {text-align: center;}
+
+.mright5 {text-align: right;
+ margin-right: 5em;}
+
+.u {text-decoration: underline;}
+
+.gesperrt{
+ letter-spacing: 0.2em;
+ margin-right: -0.2em;}
+
+.gesperrt {
+ letter-spacing: 0.2em;
+ margin-right: -0.2em;}
+
+.x-ebookmaker .gesperrt {
+ letter-spacing: 0.15em;
+ margin-right: -0.25em;}
+
+em.gesperrt { font-style: normal;}
+
+.caption {
+ font-size: 90%;
+ text-align: center;}
+
+.blockquot {
+ margin-left: 5%;
+ margin-right: 10%;
+ font-size: 90%; }
+
+img {
+ max-width: 100%;
+ height: auto;
+}
+img.w100 {width: 100%;}
+
+.figcenter {
+ margin: auto;
+ text-align: center;
+ page-break-inside: avoid;
+ max-width: 100%;}
+
+/* Poetry */
+/* uncomment the next line for centered poetry */
+/* .poetry-container {display: flex; justify-content: center;} */
+.poetry-container {text-align: center;}
+.poetry {text-align: left; margin-left: 5%; margin-right: 5%;}
+.poetry .stanza {margin: 1em auto;}
+.poetry .verse {text-indent: -3em; padding-left: 3em;}
+.poetry .indent0 {text-indent: -3em;}
+
+/* Transcriber's notes */
+.transnote {background-color: #E6E6FA;
+ color: black;
+ font-size:small;
+ padding:0.5em;
+ margin-bottom:5em;
+ font-family:sans-serif, serif;}
+
+/* Illustration classes */
+.illowe16 {width: 16em;}
+.illowe17 {width: 17em;}
+.illowp42 {width: 42%;}
+.illowp46 {width: 46%;}
+
+/*Illustration classes, e-books */
+.x-ebookmaker .illowe17 {width: 34%; margin: auto 33%;}
+.illowe20 {width: 20em;}
+.poetry .indent1 {text-indent: -2.5em;}
+
+ </style>
+</head>
+<body>
+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 ***</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="s3 center">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche
+Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.</p>
+<p class="p0">Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.</p>
+<p class="p0">Worte in Antiqua sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p>
+</div>
+
+<figure class="figcenter padbot2 illowp46 break-before x-ebookmaker-drop" id="cover">
+ <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="">
+<figcaption class="caption"><span class="u">Original-Einband</span></figcaption>
+</figure>
+
+<figure class="figcenter padtop2 illowp42" id="title" style="max-width: 62.5em;">
+ <img class="w100" src="images/title.jpg" alt="" title="titel">
+</figure>
+
+<hr class="r65">
+<h1 class="mtop2"><b>Der deutsche Roman<br>
+seit Goethe</b></h1>
+
+<p class="s2 p2 center">Skizzen und Streiflichter</p>
+
+<p class="mtop2 center">von</p>
+
+<p class="s2 mtop2 mbot2 center"><b>Dr. M. Schian</b></p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe17" id="p003">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="">
+</figure>
+
+<h2>Inhaltsverzeichnis.</h2>
+
+<table class="autotable">
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdr">Seite</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Vorwort</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_3">3</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Die Bedeutung des Romans</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_5">5</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Aus der Vorgeschichte des modernen Romans</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_10">10</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_16">16</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Roman und Novelle der Romantik</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_32">32</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Die Volkserzählung</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_53">53</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der tendenziöse Zeitroman</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_75">75</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der objektivere Zeitroman</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_99">99</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der historische Roman</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_121">121</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Die Stimmungsdichtung</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_143">143</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der naturalistische Roman</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_167">167</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der Problem- und Gesellschaftsroman</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_188">188</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_211">211</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Rückblick</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_224">224</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Register</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_232">232</a></td>
+</tr>
+</table>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span></p>
+
+<h2 class="break-before">Vorwort.</h2>
+</div>
+
+<p>Die folgenden Blätter geben eine Reihe von Vorträgen wieder, welche
+ich im eben vergangenen Winter im Damenlyzeum zu Görlitz und —
+in kürzerer Gestalt — vor einer aus Damen und Herren gebildeten
+Zuhörerschaft in Lauban gehalten habe. Der Wunsch, die Vorträge
+gedruckt zu sehen, wurde mir aus beiden großen Zuhörerkreisen so
+häufig und so dringend nahe gebracht, daß ich, wennschon nicht ohne
+Bedenken, doch nicht umhin konnte, ihm zu entsprechen.</p>
+
+<p>Die Form der Vorträge ist belassen; nirgends habe ich wesentlich
+geändert. Nur was ich der drängenden Zeit wegen beim mündlichen
+Vortrag hier und da auslassen mußte, ist jetzt wieder eingefügt. So
+werden namentlich die Hörer aus Lauban erheblich mehr finden, als ich
+ihnen mündlich bieten konnte.</p>
+
+<p>Der Zweck, welchem diese Veröffentlichung dient, braucht hiernach
+kaum näher dargelegt zu werden. Ich maße mir nicht entfernt
+an, die Wissenschaft der Literaturgeschichte irgend bereichern
+zu wollen. Meine Absicht war nur die, ihre Ergebnisse für ein
+wichtiges Einzelgebiet in leichterer Form, als das für gewöhnlich
+geschieht, einem weiteren Kreis von Gebildeten zu vermitteln. Daß
+ich dabei überall dankbar und freudig von den wissenschaftlichen
+literaturgeschichtlichen Darstellungen gelernt habe, ist ganz
+selbstverständlich. Aber ebenso selbstverständlich war mir, daß ich
+auf ein eigenes Urteil nicht verzichten konnte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span></p>
+
+<p>Aus dem Zweck der Vorträge ergab sich nicht nur die Form der
+Darstellung, sondern auch die Begrenzung und die Auswahl des Stoffs.
+Auf jeden Versuch der Vollständigkeit mußte ich von vornherein
+verzichten; es schien mir viel besser, Einzelnes gründlich zu
+behandeln als eine Fülle von Namen und Titeln zu nennen. Nur
+vom deutschen Roman wollte ich reden; es blieb kein Raum, um
+Verbindungslinien nach anderen Literaturgebieten zu ziehen und die
+Einwirkung fremder Einflüsse deutlich zu machen. Die Vorträge wollen
+lediglich auf die Entwickelung des deutschen Romans seit Goethe ein
+paar Streiflichter werfen und vor allem auf das hinweisen, was in
+dieser Zeit Bleibend-Wertvolles geschaffen ist, um so zugleich den
+Kreisen der Romanleser ein bequemes Hilfsmittel für richtige Wahl und
+richtige Schätzung ihrer Lektüre zu sein.</p>
+
+<p>Es wäre mir eine Freude, wenn das Buch sich in dieser Richtung als
+praktisch und brauchbar erweisen sollte.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Görlitz</em>, den 28. März 1904.</p>
+
+<p class="mright5 mbot2"><b>Martin Schian.</b></p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Bedeutung_des_Romans">Die Bedeutung des Romans.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Wer läse heutzutage nicht Romane? Gewiß, es gibt Romanverächter.
+Aber sie sind weiße Raben. Jeder Gebildete liest sie, Mann wie Frau.
+Leihbibliotheken, Romanzeitungen, Familienblätter aller Arten und
+Richtungen machen den Roman leichter zugänglich als irgend eine andere
+Literaturgattung. Und zu der Masse der minder Gebildeten findet der
+Roman seinen Weg durch die Riesenauflagen der Tageszeitungen und der
+Gegenstände der Kolportageliteratur.</p>
+
+<p>Man liest Romane, aber — man studiert nicht den Roman. Ich rede nicht
+von den Fachmännern der Literaturgeschichte. Den gebildeten Romanleser
+klage ich an.</p>
+
+<p>Wer beschäftigt sich mit der Geschichte des Romans? Das Wichtigste aus
+der Geschichte des Liedes und des Dramas gehört zum eisernen Bestand
+des Wissens-Inventars eines gebildeten Menschen; und schon die Schule
+legt den Grund dazu. Aber wie viele haben ein geschultes Urteil über
+die Bedeutung der wesentlichen Romanerscheinungen?</p>
+
+<p>Wir forschen nach der Ursache dieses merkwürdigen Kontrastes zwischen
+der ungeheuren Nachfrage nach dem Roman selbst und der geringen
+Neigung, sich wissenschaftlich mit ihm zu befassen. Es gibt nur eine
+Erklärung: <em class="gesperrt">man unterschätzt den Roman</em>. Das ist ja psychologisch
+zu verstehen. Für unendlich viele ist er nichts<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> als ein Mittel
+zur Vertreibung der Langeweile. Sie verlangen nichts anderes von
+ihm, als daß er sie unterhalte. Sie wählen daher aus dem Leichten
+das Leichteste. Unreife Geister suchen in ihm ein Mittel pikanten
+Genusses. Stunden, die für harte Pflichten bestimmt sind, werden der
+Lektüre geopfert. So verbindet sich für nicht wenige Leser mit dem
+Begriff Roman so etwas wie schlechtes Gewissen. Und das beeinflußt
+wieder das Urteil über den Roman selbst.</p>
+
+<p>Aber was hat der Roman als Literaturgattung damit zu schaffen, wenn
+ihn Unreife als Weg zum falschen Zweck gebrauchen? Wenn sie das
+Seichte aus seinen Schätzen heraussuchen und das Gehaltvolle liegen
+lassen? Schon um des unermeßlichen Einflusses willen, den er auf
+breite Schichten übt, ist der Roman aller Beachtung wert. Aber auch
+nach seinem Eigenwert steht er nicht zurück. Er ist anerkannt als
+<em class="gesperrt">vollberechtigtes Glied der epischen Dichtung</em>. Man streitet
+darüber, ob die Prosaform zu seinem Wesen gehöre oder nicht. Nun, es
+gibt Romane in Versform. Was sind jene Gedichte der höfischen Zeit
+des 12. Jahrhunderts mit ihren Heldenpaaren Floris und Blancheflur,
+Tristan und Isolde, dazu jene Erzählung vom Grafen Rudolf, der in den
+Kreuzzug geht, anderes, als Liebesromane nach französischem Muster?
+Aber trotzdem wird freilich festzuhalten sein, daß die Prosaform die
+für den Roman normale, ja für den ausgebildeten Roman einzig mögliche
+ist. In seinem Werte verliert er dadurch nicht; denn die Prosa ist
+Kunstform, gerade so gut wie der Vers. Was aber dem Roman seine
+ganz besondere Bedeutung verleiht, das ist gerade <em class="gesperrt">seine Eigenart
+innerhalb des Gebietes der epischen Dichtung</em>.</p>
+
+<p>Haben Sie schon einmal versucht, mit kurzen Worten das Wesen des
+Romans zu bestimmen? Nun, jedenfalls schwebt uns allen eine Art
+Definition des Romans vor:<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> wir denken ihn als <em class="gesperrt">komplizierte
+Erzählung</em>. Kompliziert ist er nach Form und Inhalt: das
+scheidet ihn von der einfachen, schlichten <em class="gesperrt">Erzählung</em>, von
+der kunstvollen, aber knappen, nur einem Faden der Entwickelung
+folgenden <em class="gesperrt">Novelle</em>. Komplizierte Erzählung muß er sein, nicht
+etwa um der erhöhten Spannung willen, sondern weil er nur so seiner
+Aufgabe genügen kann. <em class="gesperrt">Diese Aufgabe aber ist, ein Stück Weltbild
+zu geben</em>, sei es in engerem oder in weiterem Rahmen. <em>Nil
+humani a me alienum puto</em>, sagt der Roman. Nichts Menschliches
+ist ihm fremd. Was das Getriebe der Welt ausmacht, was der Zeit ihr
+Gepräge gibt, die geschichtlichen Verhältnisse, die Kulturzustände,
+die gesellschaftliche Gliederung, die inneren bewegenden Fragen, die
+gesamte Weltanschauung, vor allem die Menschen, die in all diesen
+Verhältnissen mitten darin stehen, sie bestimmend und doch wieder
+durch sie bestimmt, — das alles gehört zum Apparat des Romans.
+Ein Weltbild gibt der Roman; darum kann er nie zeitlos sein, wie
+denn auch die Menschen nie zeitlos sind. Darum steht er in so engem
+Verhältnis zur Wirklichkeit; Roman einerseits — Märchen, Sage,
+Phantasie andererseits sind Gegensätze wie Feuer und Wasser. Er kann
+aus dem Weltbild, das er zeichnet, je nach Absicht recht verschiedene
+Züge vorzugsweise herausarbeiten — entweder mehr die innere
+Entwickelung der handelnden Personen oder mehr das Milieu, in dem die
+Menschen stehen. Er kann mehr Geschichte oder mehr Kultur oder mehr
+Weltanschauung geben — je nachdem. Aber er muß immer konkret sein in
+der Gestaltung, klar und scharf in der psychologischen Erfassung, fein
+und wahr in der Verknüpfung aller in sein Gebiet gehörenden Elemente.
+Er kann ein Weltbild der Vergangenheit darzustellen suchen, dann
+wird er zum historischen Roman. Oder er kann der Gegenwart den Puls
+fühlen. Ja, wenn er will, kann er tastend in die Zukunft greifen;<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span>
+freilich nicht ohne die akute Gefahr einer Grenzüberschreitung. Denn
+über das, was einst wirklich sein wird, haben wir im besten Fall
+begründete Vermutungen. Ob er in Vergangenheit oder Gegenwart weilt,
+— es steht ihm jedesmal frei, auf das äußere oder das innere Leben
+den Hauptakzent zu legen. Nur wird der historische Roman immer auch
+die äußeren Konturen der Zeitverhältnisse breiter schildern müssen
+als der moderne Roman, der vieles als bekannt voraussetzen kann. Auch
+nach der Methode, wie der Dichter seinen Gegenstand behandelt, müssen
+wir Unterschiede machen. Der eine schließt in zartem Empfinden von der
+Erzählung manches aus, was auch im Leben mit einem Schleier bedeckt zu
+werden pflegt; der andere steigt in die Tiefe und malt schonungslos
+und rücksichtslos Häßliches so gut wie Schönes, ja das Häßliche
+vielleicht mit noch größerer Liebe. Und wiederum: während mancher
+Roman nichts will als schildern, nichts als photographieren, legen
+andere in ihr Bild der Wirklichkeit Gedanken und Tendenzen hinein —
+politische, religiöse, sittliche. Sie zeichnen im Ausschnitt ein Stück
+Welt, auf dem sich gerade ein Problem zusammenballt, das seiner Lösung
+harrt; und sie geben solche Lösung oder predigen resignierten Verzicht
+auf solche Lösung. In all diesem aber gilt, welcher Art der Roman auch
+sei, ob welthistorisch, kulturhistorisch oder modern durch und durch,
+— ob idealistisch oder naturalistisch, — ob er mehr äußeres oder
+mehr inneres Erleben bringe, — ob er den Knoten im äußeren Laufe der
+Dinge sich schürzen läßt oder ob er Probleme der Weltanschauung wälzt,
+— in alledem gilt, daß der Roman <em class="gesperrt">von der wirklichen Welt nicht
+loskommen kann und nicht loskommen darf</em>. Ein wirkliches Weltbild
+zu geben ist seine Aufgabe. Und diese Aufgabe gibt ihm einen hohen
+Wert. Nicht <em class="gesperrt">allein</em> nach dem Grad, in welchem er dieser Aufgabe
+genügt, bestimmt sich seine Qualität; denn auch die künstlerische<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span>
+oder unkünstlerische Form hat da mitzusprechen. Aber vornehmlich ist
+es der Maßstab der Wirklichkeit, der an den Roman anzulegen ist. Der
+Wert aber, den er so gewinnt, besteht in der Kraft, mit der er den
+Blick schärft, in der weiten Umschau, die er über den eigenen engen
+Gesichtskreis hinaus dem Leser ermöglicht, in der Energie, mit welcher
+er zwingt, Fragen zu durchdenken, die sonst undurchdacht bleiben
+würden, endlich in der feinen, festhaltenden Form, in welcher er all
+dies vermittelt.</p>
+
+<p>Ich brauche nicht erst zu erklären, daß es auch wertlose Romane gibt.
+Aus der Charakteristik des Romans, die ich zu bieten versuchte,
+erhellt das ganz von selbst. Ein Roman, der seiner ganzen Art
+nach nichts anderes kann, als Spannung der Nerven erzielen, ist
+wertlos. Aber man pflegt ja auch den Wert des lyrischen Gedichts
+nicht nach den Ergüssen der Friderike Kempner zu beurteilen. Also
+schätze man den Roman nicht ein nach dem platten Liebesroman, in dem
+sie sich schließlich aus alle Fälle kriegen, auch nicht nach dem
+pikant-lüsternen oder naturalistisch-frivolen Unterhaltungsroman
+und erst recht nicht nach dem haarsträubenden Hintertreppenroman!
+<em class="gesperrt">Der wirkliche Roman, der sich zur Aufgabe setzt, in möglichst
+vollendeter Darstellung ein Weltbild zu geben, ist jedenfalls als ein
+Bildungsmittel ersten Ranges zu werten.</em></p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Aus_der">Aus der
+Vorgeschichte des modernen Romans.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Man hat dem 19. Jahrhundert tausend Titel gegeben, um seine neuen
+Errungenschaften anzudeuten. Es ist das Jahrhundert der Technik, das
+Jahrhundert der Naturwissenschaften. Aber es ist auch das Jahrhundert
+des Romans, dieses so beschriebenen Romans. Freilich die Anfänge des
+Romans, ja eine Art Vorblüte desselben sind schon älteren Datums.</p>
+
+<p>Was ists, das in mittelalterlicher Zeit Singen und Sagen des deutschen
+Volkes regiert? Ritterliches Wesen, kraftvolles Heldentum, ruhmreiche
+Taten beherrschen die Phantasie. Wer wagt es, von Bürgerleben oder
+harter Bauernarbeit viel zu reden? Rittertum, etwa noch mit Weisheit
+verbunden, füllt mit seinem Glanze die Welt. Dies Weltbild reflektiert
+sich in jenem ältesten poetischen Roman unserer Literatur, den ein
+Mönch, dessen Namen wir nicht kennen, etwa um die Mitte des 11.
+Jahrhunderts im bayrischen Kloster Tegernsee geschrieben hat. Noch
+kleidet sich seine Dichtung in das fremdländische Gewand lateinischer
+Hexameter. Aber der Held <em class="gesperrt">Ruodlieb</em> ist ein deutscher Ritter.
+Ein König, in dessen Heer er große Taten getan, gibt ihm zwölf
+Weisheitslehren; und Ruodlieb hat sie im Lauf der Erzählung
+wahrscheinlich alle zwölf selbst erprobt; — sicher ist es nicht, weil
+nur Bruchstücke des Werkes auf uns gekommen sind.</p>
+
+<p>Lange bleibt Ruodlieb in seiner Art allein; aber als dann ähnliche
+Schöpfungen zahlreicher erwachsen, ist es<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> noch immer das Rittertum,
+welches die Situation beherrscht. Freilich nicht mehr allein das
+ritterliche Heldentum, sondern zugleich die ritterliche Liebe.
+Kreuzzugsabenteuer spiegeln sich wieder in den deutschen Versen von
+<em class="gesperrt">Floris und Blancheflur</em>. Der heidnische Königssohn Floris
+entbrennt in Liebe zu Blancheflur, der Tochter eines christlichen
+Kriegsgefangenen. Blancheflur wird in ein anderes Land verkauft;
+Floris sucht und findet sie bei einem Fürsten der Sarazenen. Er weiß
+in den Turm zu gelangen, in dem sie gefangen gehalten wird, und
+erfreut sich ihrer Liebe bis — zum Tag der Entdeckung. Ihre treue
+Liebe siegt auch über den Grimm des Fürsten, der sie vereint zur
+Heimat ziehen läßt. Dies Liebespaar, in deutschen Versen besungen,
+ist typisch für jene Zeit und für zahlreiche andere ähnlich gefeierte
+Paare. <em class="gesperrt">Tristan und Isolde</em> werden von Eilhart von Oberge, in
+vollendeter Gestalt von Gottfried von Straßburg besungen. Was für ein
+Bild jener suchenden und fragenden, religiös-ernsten und zugleich
+naiv-heldenmäßigen Ritterzeit gibt Wolfram von Eschenbachs berühmter
+<em class="gesperrt">Parzival</em>!</p>
+
+<p>Die Wandlung der Zeiten läßt sich trefflich in den Wandlungen der
+romanartigen Dichtung verfolgen. Das Rittertum tritt zurück; aber die
+naive Freude am Äußerlich-Großen und Wunderbaren nicht. Freilich, man
+zehrt im 14. und 15. Jahrhundert von der Vergangenheit; noch ist das
+Neue nicht in klarem Werden. Diese Epoche ist die Zeit der sogenannten
+»<em class="gesperrt">Volksbücher</em>«. Die Stoffe der höfischen Epen verarbeiten
+sie in ungebundener Rede, aber auch andere Gegenstände ziehen sie
+herbei, — freilich mehr neue Namen als neue Gedanken. Sie greifen,
+um ihre Helden zu wählen, in die fernste Vergangenheit zurück, bis
+in die Zeiten des trojanischen Kriegs oder Alexanders des Großen.
+Aber sie verschmähen zum gleichen Zweck auch nicht die Gestalten
+der Karolingerzeit; und schließlich fehlen Helden wie Fortunatus
+mit seinem Glückssäckel<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> nicht. Wunderbare Taten gewaltiger Männer,
+traurige und fröhliche Schicksale tugendhafter Frauen werden immer
+wieder behandelt. Alles in allem kein Fortschritt, vor allem nicht in
+der Schärfe der Zeichnung des gegenwärtigen Weltbildes; eher verflacht
+der Roman, weil die Neigung zum Abenteuerlichen die zum Wirklichen
+überwiegt.</p>
+
+<p>Das Bürgertum tritt mit dem ausgehenden Mittelalter viel stärker
+hervor als je zuvor. Erst fühlt es sich noch in der Notwendigkeit,
+den eigenen Wert und die eigene Geltung gegenüber den Ritterbürtigen
+zu erzwingen. Aber bald wird es zum ausschlaggebenden Faktor.
+So lassen denn die Romane des Reformationszeitalters — genannt
+seien vor allem die des <em class="gesperrt">Jörg Wickram</em> — jene Kluft zwischen
+Rittertum und Bürgertum noch hervortreten; aber die Liebenden
+pflegen, wenn Standesunterschiede sie trennen, eben diese Kluft
+glücklich zu überwinden. Und in manchem Roman dieser Zeit hat das
+Bürgertum allein die führende Rolle! Neue Gegenstände gewinnt so die
+Dichtung: bürgerliches Familienleben, Schule und Beamtenlaufbahn,
+des Kaufmannsstandes Leiden und Freuden. Eine neue Betrachtungsweise
+beherrscht sie: diejenige der gutbürgerlichen Moral, deren höchste
+Kleinodien eine glückliche Ehe, sorgsame Kindererziehung und gute
+Nachbarschaft sind. Auch diese Art hat mannigfache Spielarten: neben
+Jörg Wickram steht der Straßburger <em class="gesperrt">Johann Fischart</em> mit seiner
+humoristisch-satirischen Kraft, seinem deutsch-patriotischen Sinn
+und seiner urwüchsig originalen Art, fremdländische, namentlich
+französische Stoffe selbständig zu verarbeiten. Von seinen Schöpfungen
+sei wenigstens das humoristische Prosawerk genannt, welches Rabelais'
+Gargantua und Pantagruel zum Vorbild hat.</p>
+
+<p>Das leidvolle 17. Jahrhundert weist wohl auch eine Romandichtung
+auf, die ernst und klar in die schweren Zeiten hineinschaut: der
+<em class="gesperrt">Simplizissimus</em> von Grimmelshausen ist zugleich ein Kind
+und ein Bild jener Zeit.<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> Aber sonst gewinnt es den Anschein, als
+wolle die Dichtkunst die lastentragenden Zeitgenossen vor allem
+aus ihrer eigenen harten Zeit herausführen. Die ungeheuerlichen
+Fabelgeschichten, welche das Gerippe der erzählenden Prosaschöpfungen
+bilden, das sich breitmachende und im Roman an den Mann gebrachte
+ethnographische Wissen, die gelehrte Umständlichkeit, mit der
+französische Galanterie sich merkwürdig paart, — das alles zeigt
+dem forschenden Leser freilich doch das Wesen der Zeit, in der jene
+Romanschreiber lebten.</p>
+
+<p>Und wie prägt sich erst die ganz besondere Art des Jahrhunderts der
+Aufklärung in der weitverästeten Romanliteratur desselben aus! Der
+Blick weitet sich; neue soziale und kulturelle Probleme tun sich
+auf. Robinson Krusoe kommt diesem Ausbreitungstrieb entgegen; der
+<em class="gesperrt">Reiseroman</em> fängt an, das Feld zu beherrschen. Aber mit wieviel
+moralischer Lehrhaftigkeit und kleinkrämerischem Wissensdünkel
+verbindet sich in dem philosophischen Jahrhundert das Ahnen der
+neuen Zeit! Wie sehr verdrängt die Künstelei die einfache, klare
+Nüchternheit, die Reflexion die Natur, die Empfindelei das schlichte
+Gefühl! Es war ein Jahrhundert, das in Empfindungen und Gefühlen, in
+Gedanken und Philosophemen, in Theorien und Plänen schwelgte. Der
+Roman bildet ein Ragout aus allen diesen Zutaten; und die Moral ist
+die keineswegs immer schmackhafte Sauce, mit der er angerührt ist. Wir
+sind kaum imstande, von diesem Roman aus eine gerade Verbindungslinie
+nach dem modernen Roman des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Zum mindesten
+gilt das vom Durchschnittsroman der Aufklärungszeit. Aber es gilt
+doch zu einem großen Teile auch noch von den Romanen des gefeierten
+<em class="gesperrt">Wieland</em>. Den Pulsschlag der neuen Zeit spüren wir frisch und
+lebenskräftig erst bei Goethe.</p>
+
+<p>Allerdings, ein Literaturhistoriker wie Max Koch läßt den neueren
+deutschen Roman von Wieland ausgehen.<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> Ein solches Urteil respektieren
+wir, zumal wenn es sich mit Lessing verbündet, der Wielands Roman
+»Agathon« als »den ersten und einzigen deutschen Roman für den
+denkenden Kopf von klassischem Geschmacke« bezeichnet hat. In
+<em class="gesperrt">einer</em> Hinsicht fällt es auch dem Modernen nicht schwer, dies
+Urteil zu unterschreiben. Der »Agathon« ist wirklich ein Roman für
+den <em class="gesperrt">denkenden</em> Kopf. Das dritte Buch gibt ja eine vollkommene
+»Darstellung der Philosophie des Hippias.« Es ist die Philosophie des
+»echten Materialisten«, die Lehre vom skrupellosen Genuß, die hier in
+nicht weniger als fünf Kapiteln ausführlich dargelegt wird. Und diese
+Theorie des Materialismus bildet nicht etwa einen Fremdkörper in dem
+Roman; im Gegenteil, sie dient als notwendiges Glied dem einen Zweck,
+der Erziehung des Agathon durch alle Lebenslagen hindurch, bis er zu
+der gefestigten Erkenntnis kommt, daß »wahre Aufklärung zu moralischer
+Besserung das einzige ist, woraus sich die Hoffnung besserer Zeiten,
+das ist, besserer Menschen, gründet.« Zu denken also ist hier genug;
+es fragt sich nur, ob die Philosophie nicht in zu reichlicher Dosis
+gegeben ist, — reichlicher, als es sich für den Romancharakter
+schicken will. In der Tat liegt in der ziemlich äußerlichen Verbindung
+von Handlung und Lehre der Hauptfehler des »Agathon«. Er ist eine
+lange und breite moralische Erzählung, aber kein Roman. Eine Anhäufung
+einzelner moralischer Geschichten und Lebensläufe (des Agathon, der
+Danae) bringt noch keine in sich geschlossene Handlung heraus. Und
+schließlich leidet Handlung wie Moral unter der Einkleidung ins Gewand
+des griechischen Altertums. Da mögen sich sehr feine Parallelen
+ergeben, und mancher Vergleich reizt den geistreichen Schriftsteller.
+Aber durch die Vermischung moderner Abzweckung und antiker Einkleidung
+fällt doch auch die Möglichkeit dahin, mit der Wirklichkeit Ernst zu
+machen. Es kommt nicht zu tiefgreifender psychologischer Erfassung;<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span>
+die Erzählung bleibt im oberflächlichen moralischen Schema, das ein
+paar unmoralische Zwischenstadien übrigens nicht ausschließt. Das
+Ganze wird schemenhaft, aber nicht lebensvoll. Wieland verstand es
+nicht, volles Menschenleben zu greifen; er blieb in philosophischen
+Kategorien stecken. Und darum geht der neuere deutsche Roman trotz
+allem nicht von Wieland aus. Sein Schöpfer ist Goethe.</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_5">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Goethe_der_Schoepfer">Goethe der Schöpfer
+des modernen deutschen Romans.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Wodurch ist Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans
+geworden? Durch »Werthers Leiden«, durch »Wilhelm Meisters
+Lehrjahre« und durch desselben »Wanderjahre« oder durch die
+»Wahlverwandtschaften«? — Durch keins dieser Werke allein, aber durch
+sie alle zusammen.</p>
+
+<p>Merkwürdig, wie verschieden unter sich diese Prosadichtungen des
+Meisters sind! Da ist keine Schablone und kein Schema. Da ist jedesmal
+aufs neue frisches Leben. Da ist lebendige Entwickelung von Werk zu
+Werk, Entwicklung in Sprache und Gedanken.</p>
+
+<p>Die »<em class="gesperrt">Leiden des jungen Werthers</em>« sind der einzige Roman des 18.
+Jahrhunderts, der heute noch gelesen wird. Das Neue in ihm hat das
+Alte vergessen lassen. Auch aus dem Werther redet ja der empfindsame
+Geist der Aufklärungsepoche. Der »Held«, dieser leidende Werther, hat
+eigentlich unendlich wenig Männliches. Es geht ihm wie den Schiffen im
+Märchen vom Magnetberg, dessen er selbst sich entsinnt. »Die Schiffe,
+die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die
+Nägel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen
+den übereinander stürzenden Brettern.« Lotte ist der Magnet, der das
+letzte Bischen Kraft aus dem liebenden Werther zieht. Der Freund rät:
+»Suche einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Kräfte
+verzehren muß!« Aber das Übel hat ihm die Kräfte<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> schon verzehrt. Was
+für ein haltloses Klagen und Zagen! Wieviel Tränen und Kniefälle! Wie
+lang gesponnene Ergüsse! Die Leidenschaft ist als schwere Krankheit
+geschildert:</p>
+
+<p>»Die menschliche Natur ... hat ihre Grenzen; sie kann Freude, Leid,
+Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde,
+sobald <em class="gesperrt">der</em> überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob
+einer schwach oder stark ist? sondern ob er das Maß seines Leidens
+ausdauern kann.«</p>
+
+<p>Und diese Krankheitsgeschichte ist noch dazu breit erzählt; Gespräche,
+Reflexionen, Schilderungen, die nur lose zur Sache selber gehören,
+sind eingestreut. Vor allem aber: es ist fast nichts als eben
+Krankheitsgeschichte. Wie wenig plastisch treten die Menschen hervor,
+die neben dem Helden ein bischen mithandeln! Jene Hofgesellschaft
+wird freilich beschrieben, die Menschen, deren ganze Seele auf dem
+Zeremoniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht,
+»wie sie um einen Stuhl weiter hinauf bei Tische sich einschieben
+wollen.« Jener Graf wird gezeichnet, — der edle, feingebildete
+Mann der wirklich großen Welt. Aber das sind Beigaben; die Welt des
+Romans ist eng; sie beschränkt sich im letzten Grund auf das Herz des
+Liebeskranken.</p>
+
+<p>Aber all dies Alte tritt in den Hintergrund gegenüber dem Neuen. Und
+dies Neue ist die trotz alledem <em class="gesperrt">packende und einheitlich klare
+Zeichnung des Innenlebens eines Liebenden</em>. Wir mögen im einzelnen
+hunderterlei einzuwenden haben, mancher Leser wird sicher ganze Seiten
+überschlagen; — das Ganze faßt uns immer wieder an. Und nicht bloß,
+weil es den Sentimentalen genugtut und die Seele mit üppigem Mitleid
+füllt. Nicht bloß, weil der schaurige Ausgang, wunderbar knapp, wie er
+beschrieben ist, uns mit Grausen erfüllt. Sondern den<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> Ausschlag gibt
+etwas anderes. Goethe hat es selber später gesagt:</p>
+
+<p>»Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind
+nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen
+Menschen, und es müßte schlimm sein, wenn nicht <em class="gesperrt">jeder einmal in
+seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther vorkäme, als
+wäre er bloß für ihn geschrieben</em>.«</p>
+
+<p>Ich glaube ja, daß es nicht die Schilderung von gehemmtem Glück und
+unbefriedigten Wünschen im allgemeinen ist, welche immer wieder
+neue Leser im Werther sich selber finden läßt. Im Roman sind
+diese unbefriedigten Wünsche doch sehr konkret in einen einzigen
+zusammengefaßt: in das leidenschaftliche Begehren des Mannes nach
+dem Weib seiner Liebe. Freilich seufzt Werther, nachdem der Anlauf
+zu amtlicher Tätigkeit fehlgeschlagen: »Damals sehnte ich mich in
+glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich
+für mein Herz so viele Nahrung, so vielen Genuß hoffte, meinen
+strebenden, sehnenden Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt
+komme ich zurück aus der weiten Welt — o mein Freund! mit wie viel
+fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Plänen!« Aber
+auch dies Intermezzo der amtlichen Tätigkeit wirkt erst dadurch, daß
+es die große Leidenschaft zum Hintergrund hat. Im übrigen trifft es
+gewiß zu: es hat mancher seine Zeit im Leben, wo es ihm vorkommt, als
+sei der Werther nur für ihn geschrieben. Gerade die unglückliche,
+aussichtslose Leidenschaft mit ihren feinen Konsequenzen, mit
+ihren unsinnigen und doch von dem einen Mittelpunkt her völlig
+verständlichen Äußerungen ist aus der Seele nicht <em class="gesperrt">eines</em>
+Menschen, sondern der Menschheit heraus geschildert. Wer aber auch
+jene Zutaten mitwägt, jene uns fremd anmutenden Besonderheiten, der
+muß zugeben, daß dies <em class="gesperrt">Allgemein-Menschliche zugleich mit den
+charakteristischen<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> Farben einer bestimmten Zeit geschildert</em>
+ist. Und unter diesem Gesichtspunkt wird auch das wertvoll, was
+sonst beiseite bliebe: jene Neigung, den herrschenden Begriffen
+über Sitte und Recht den Krieg zu erklären, die Sünden in Schutz zu
+nehmen, welche die herkömmliche Moral verurteilt. In der Empörung
+der Leidenschaft gegen die nüchterne Urteilsweise der »vernünftigen
+Leute« nimmt Werther in Schutz, was sonst überall verurteilt wird:
+den Dieb, welcher stiehlt, um sich und die Seinigen vom Hungertod zu
+erretten, den Ehemann, der im gerechten Zorn sein untreues Weib und
+deren Verführer aufopfert, den Unglücklichen, der sich entschließt,
+die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Mit dieser
+leidenschaftlichen Auflehnung gegen die geltende Moral verbindet
+sich eine herbe Kritik der »fatalen bürgerlichen Verhältnisse«, der
+Art, wie der Unterschied der Stände betont wird, der Hohlheit und
+Umständlichkeit des Amtsverkehrs und der Regierungsmaschinerie.
+Nicht bloß die unbändige Leidenschaft spricht, sondern zugleich die
+revolutionäre neue Zeit.</p>
+
+<p>Ist der »Werther« alles in allem die Geschichte einer Leidenschaft, so
+sind »<em class="gesperrt">Wilhelm Meisters Lehrjahre</em>« die Geschichte der Bildung
+ihres Helden, — Bildung im weitesten Sinne genommen. Im Werther alles
+Gefühl, alles Empfindung, alles Leidenschaft; im Wilhelm Meister
+alles Überlegung, alles Gedanke, alles Berechnung. Grundverschieden
+sind beide Schöpfungen; aber jede traf eine Saite in dem Herzen der
+Menschheit des 18. Jahrhunderts. Denn die Erziehung durch das Leben,
+wie die Fragen der Erziehung überhaupt, gehörte zum eisernen Bestand
+des Nachdenkens der damaligen aufgeklärten Welt.</p>
+
+<p>Haben Sie Wilhelm Meister auch nur in den Lehrjahren einmal ganz
+gelesen? Es ist das nicht jedermanns Sache. Es verlangt Energie
+und Beharrlichkeit. Und das liegt nicht bloß an der Wucht der
+Gedanken. Seitenweise sind Sentenzen zusammengestellt, deren jede
+einzelne<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> angespanntestes Nachdenken fordert. Es liegt aber auch an
+der Form und der Einkleidung des Romans. Gestehen wir es uns doch
+offen, daß die geringfügige, magere Handlung unter den unzähligen
+eingeschobenen Reflexionen fast erstickt. Da finden sich ausgesponnene
+Selbstschilderungen wie die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, da
+breit wiedergegebene Unterhaltungen, die lediglich eine bestimmte
+Ansicht entwickeln sollen, ob sie auch für den Gang des Ganzen wenig
+oder nichts bedeute, da jene Sammlungen tiefsinniger Aussprüche,
+die so ziemlich alle Lebensfragen in ihren Bereich ziehen. Das
+Bischen Handlung, das wir herausschälen, ist wieder noch unendlich
+verzettelt, dazu manchmal mehr als zufällig aufgereiht, ganz ohne
+notwendigen äußeren Zusammenhang. Wilhelm Meister, eines Kaufmanns
+Sohn, geht auf Geschäftsreisen aus, verliert aber den eigentlichen
+Zweck seiner Sendung ganz aus dem Auge und läßt sich erst fast
+willenlos, nachher halb absichtlich, von Erlebnis zu Erlebnis, von
+Abenteuer zu Abenteuer, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft, von Ort
+zu Ort treiben. Erst bildet seine Umgebung eine Schauspielertruppe
+mit mannigfachen und wechselnden Gestalten; dazu die geheimnisvollen
+Erscheinungen Mignons und des alten Harfners. Neben seiner ersten
+Angebeteten, Marianne, und neben der leichtfertigen Philine lernt er
+in Aurelie eine leidvoll-ernste Frau kennen; und die ganz ohne äußeren
+Zusammenhang eingeschalteten »Bekenntnisse einer schönen Seele« lassen
+ihn in ein innig frommes, fast skrupulös gewissenhaftes Herz blicken.
+Allerhand sonderbare Geschicke führen ihn in ein gräfliches Haus und
+später für länger in adlige Kreise, zugleich zu einer großen Zahl
+neuer, für ihn bedeutungsvoller Persönlichkeiten. In dieser Umgebung
+gewinnt er endlich eine Lebensgefährtin in der zu diesen Kreisen
+gehörigen Natalie.</p>
+
+<p>Es ist nicht leicht, das Wirrwarr all dieser Erlebnisse<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> zu sichten.
+Das Ergebnis ist ja auch kein befriedigendes: äußerlich genommen ists
+ein Labyrinth, durch das Goethe uns führt. Keine klare Entwickelung,
+kein straffer Gang der Erzählung. Allerdings soll nach des Dichters
+Absicht dies alles doch nicht wie zufällig sein. Vielmehr ist eine
+geheimnisvolle Macht mit im Spiele, die sogenannte Gesellschaft des
+Turms, die an dem Helden Interesse genommen hat und deren Glieder je
+und je in bedeutungsvollen Augenblicken, meist als Größe X, in sein
+Leben eingegriffen haben. Ihr Zweck war seine Bildung. Sie haben ihre
+Absicht aber so verfolgt, wie der Grundsatz es eingab: »Nicht vor
+Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern
+den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern
+ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum
+nur kostet, hält lange damit Haus, er freuet sich dessen als eines
+seltenen Glücks; aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen
+lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.«</p>
+
+<p>Uns Heutigen kommt, wenn wir Wilhelm Meisters Irrwege betrachten,
+nicht bloß die Frage, die ihm selber sich auf die Lippen drängt:</p>
+
+<p>»Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten
+und wußten, was darauf zu tun sei, warum führten sie dich nicht
+strenger? warum nicht ernster? warum begünstigten sie deine Spiele,
+anstatt dich davon wegzuführen?«, sondern uns erscheint dieses ganze
+geheimnisvolle Walten der Gesellschaft vom Turm als in hohem Grade
+sonderbar. Goethe hat damit eine Einkleidung des Romans gewählt, die
+seiner Zeit nahe lag und vertraut war, die aber zu dem Gut seiner Zeit
+gehörte, das am schnellsten veralten mußte. Jedenfalls bringt uns
+diese die Vorsehung spielende Gesellschaft den Roman nicht näher.</p>
+
+<p>Wenn Wilhelm Meisters Lehrjahre trotzdem einen<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> hohen Wert als
+Fundamentstein für den Bau des modernen deutschen Romans beanspruchen
+können, so danken sie das dem tiefen und reichen Gedankenmaterial,
+welches sie bergen. Wilhelm Meisters <em class="gesperrt">Bildungsgang</em> ist ihr
+Thema. Alles Einzelne, was er erlebt, auch jeder Irrtum, den er
+begeht, dient seiner Bildung. In der Schauspielerzeit lernt er:
+»Man soll sich vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit
+auszuüben nicht Hoffnung hat.« Aber er trägt auch anderen Gewinn
+davon. Er hat gelernt die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen
+haben kann. Auch äußerlich hat er sich ausgebildet: er hat »viel von
+seiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt«, seine Sprache und Stimme
+ausgebildet. Aber sein Bildungstrieb geht weiter. Ihm schwebt jene
+»harmonische Ausbildung« vor, die ihm seine Geburt versagt zu haben
+scheint, weil sie nach der herrschenden Verfassung der Gesellschaft
+nur dem Edelmann, nicht dem Bürger zukommt. »Ein Bürger kann sich
+Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden;
+seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er
+will.« Dem Edelmann dagegen ist eine gewisse allgemeine, personelle
+Ausbildung möglich; »er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß
+dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine, stille Gefühl der
+Grenzlinie, die ihm gezogen ist.« Goethe läßt seinen Helden durch den
+Umgang mit jenen Adelskreisen, schließlich durch die Heirat mit einer
+Adligen in dieses Sperrgebiet harmonischer Ausbildung eindringen.
+So gewinnt der Roman zugleich soziale Bedeutung; der dritte Stand,
+der sich in der französischen Revolution so nachdrücklich in die
+Weltgeschichte eingeführt hatte, pocht mit starker Hand an die ihm
+bisher verschlossenen Pforten. Goethe öffnet ihm das Paradies der
+Bildung; und in der schließlichen engen Verbindung des Bürgers-
+und des Adelsstandes, einer Verbindung, die noch durch zwei andere
+Ehebündnisse<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> dokumentiert wird, läßt er in prophetischer Voraussicht
+Schranken fallen, die vielen dazumal noch als unüberwindlich galten.</p>
+
+<p>Neben diesen Grundgedanken ist in dem breiten Gedankenstrom der
+Lehrjahre noch manches Tiefe und Wertvolle auf uns gekommen, teils
+in engerem, teils in loserem Zusammenhang mit der Hauptidee. Ich
+schätze diesen Reichtum des Werkes höher als etwa die Art seiner
+Charakterschilderung. So sehr die bunte Reihe kaleidoskopartig
+auftauchender und wieder verschwindender Figuren benützt wird, um
+Wilhelm Meister zu bilden, — klar und scharf herausgearbeitet sind
+die wenigsten von ihnen. Ja es zeigt sich gerade in diesen Gestalten
+ein ganz eigentümlicher Mangel an konkreter Darstellung. Mehr als
+eine von ihnen ist sozusagen ohne Zusammenhang mit der umgebenden
+Welt. Ihr Wesen wird nur in ein paar wichtigen Zügen der inneren Art
+gezeichnet; alles andere bleibt im Dunkel. Der Mensch kann aber nicht
+ortlos, zeitlos, geschichtslos geschildert werden. Infolgedessen
+bleiben manche der Goetheschen Personen geradezu Gerüste, die mit
+ein paar gerade erforderlichen Eigenschaften behängt sind. Die
+Methode der Namengebung paßt ganz zu diesem Verfahren. Da kommt der
+Graf, der Prinz, der Marchese; wo aber wirklich ein bestimmter Name
+einem bestimmten Träger gegeben wird, bleibt es für gewöhnlich beim
+Vornamen: Lothario, Friedrich, Marianne, Philine, Natalie usw.</p>
+
+<p>All dies hängt aufs engste mit der Art zusammen, wie Goethe im Wilhelm
+Meister bestimmte geschichtliche Einzeichnung in eine klar erkennbare
+Zeit vermeidet. Seine Zeit ist natürlich die Zeit des Romans. Manche
+Einzelheiten lassen das erkennen. Der prinzliche Heerführer ist z. B.
+Prinz Heinrich von Preußen. Aber das sind Einzelheiten; und auch sie
+geben nur zufällige Winke. Rings um die handelnden — oder vielmehr
+meist nicht<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> handelnden — Personen brauen wallende Nebel, wogt
+ungewisses Dämmerlicht. Allenfalls die Theaterverhältnisse sind klarer
+beschrieben; aber auch hier ist die Zeichnung nicht scharf. Nur in
+Einem ist das Wesen der Zeit klar wiedergegeben: in Stimmungen und
+Gedanken über die innersten Fragen menschlicher Charakterentwickelung,
+wie das oben zu schildern versucht wurde. —</p>
+
+<p>Ich darf »<em class="gesperrt">Wilhelm Meisters Wanderjahre</em>« hierfüglich übergehen.
+Sie sind nichts als eine Folge von Novellen; der einheitliche
+Romancharakter fehlt ganz. Sie stehen noch viel mehr wie die Lehrjahre
+im Banne des reinen, abstrakten Gedankens; und noch viel stärker
+als in diesen verblaßt in den Wanderjahren alles Persönliche, alles
+Konkret-Zeitliche, alles Individuelle. Liebhaber tiefer und feiner
+Gedanken, die sich nicht scheuen, solche unter schwerverständlicher
+Symbolik mühsam zu ergründen, finden selbstverständlich auch hier ihre
+Rechnung. Aber ein Roman sind die Wanderjahre nicht. Dagegen muß an
+dritter Stelle hier die Rede sein von den Wahlverwandtschaften, — ob
+man dies Werk nun als Novelle oder, wozu seine umfassende Anlage doch
+wohl berechtigt, als Roman bezeichnet.</p>
+
+<p>Auch die »<em class="gesperrt">Wahlverwandtschaften</em>« zeigen, wieviel Goethe für
+die erzählende Prosadichtung der <em class="gesperrt">Gedanke</em> bedeutete. Auch
+hier wieder die langen Unterhaltungen über allerhand allgemeine
+Gegenstände. Auch hier die eingestreuten Sentenzen, in Bündel
+gesammelt in den Abschnitten aus Ottiliens Tagebuche. Man hat den
+Eindruck, daß Goethe vielmehr daran lag, diese wertvollen Gedanken und
+feinen Aperçus unterzubringen, als eine bestimmte Handlung einheitlich
+und geschlossen durchzuführen. Auch hier wieder jene undeutliche
+Umzeichnung des Erzählungsgebiets, jene Zeit- und Geschichtslosigkeit
+des Ganzen. Eduard ist ein reicher Baron. Aber wann? Und wo? Eduard
+zieht in den Krieg. Aber in welchen?<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> Endlich auch hier jene
+Unpersönlichkeit mancher Persönlichkeiten, z. B. des lediglich nach
+seiner Vermittelungsleidenschaft benannten Mittler, aber auch anderer:
+des Grafen, der Baronesse, ja bis zu einem gewissen Grade selbst der
+Hauptpersonen.</p>
+
+<p>Auf der anderen Seite aber stehen für den Roman doch nicht bloß
+eine große Zahl feiner Einzelgedanken und tiefsinniger Gespräche,
+auch nicht allein die viel stärker hervortretende Kunst in der
+Charakterisierung der wichtigsten Personen. Äußerlich genommen, fehlt,
+wie angedeutet, manches, um sie zu klar umrissenen Persönlichkeiten
+zu machen; aber ihr Inneres ist mit ganz anderer Kraft und Liebe
+gezeichnet, als das von den Personen im Wilhelm Meister gelten
+konnte. Genannt sei nur Ottilie, die mit feinster Seelenkunde und
+mit wunderbarer Liebe geschildert ist. Wichtiger aber noch ist mir
+an den »Wahlverwandtschaften«, wie in ihnen <em class="gesperrt">Gedanke und Handlung
+zu einem Ganzen verschmolzen sind</em>. Die Handlung ist nicht mehr
+die Gelegenheit, eine Reihe von Gedanken, die man sonst nicht gut
+plazieren kann, auf gute Manier loszuwerden; sondern sie ist die
+Durchführung des Gedankens selbst. Die Gedanken gehen nicht mehr neben
+der Entwickelung her, sondern sie prägen sich in ihr aus. <em class="gesperrt">Die
+Handlung ist der Ausdruck des Gedankens, der Gedanke die Seele der
+Handlung.</em> Damit ist der gewaltigste Schritt in der Entwickelung
+des Romans getan.</p>
+
+<p>Eduard und Charlotte, die sich erst in reiferem Alter, aber durchaus
+infolge von Neigung und Liebe zur Ehe verbunden, leben auf stattlichem
+Schlosse, beide mit der Absicht, allein für einander zu leben. Aber
+sie gewähren bald noch zwei Nahestehenden die Teilnahme an ihrer
+Häuslichkeit, dem Hauptmann und Ottilien. Charlotte hat dieser
+Gewährung nicht ohne Bedenken zugestimmt. Und in der Tat: es kommt
+hier mit den vier auf engem Raum vereinigten Menschen, wie es in
+der Chemie mit<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> verwandten Substanzen zu geschehen pflegt. Da sind
+diejenigen Fälle des gegenseitigen Sichanziehens und Sichscheidens
+die merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses
+Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen
+kann, wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung
+gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue
+verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen
+und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man
+traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu, und hält das
+Kunstwort Wahlverwandtschaften für vollkommen gerechtfertigt.</p>
+
+<p>Es kommt mir hier nicht darauf an, den Gang der Erzählung
+wiederzugeben; dazu sind Goethes Dichtungen zu allgemein bekannt. Nur
+das Problem, das der Roman behandelt, soll herausgestellt werden.
+Es geschieht, was in dieser Beschreibung des chemischen Prozesses
+angedeutet ist: Eduard faßt eine tiefe und erwiderte Neigung zu
+Ottilie; und Charlotte und der Hauptmann finden sich gleichfalls in
+gegenseitiger Liebe. Die weitere Entwickelung verläuft nicht ohne
+Berücksichtigung der Eigenart jeder in Betracht kommenden Person.
+Der Hauptmann und Charlotte wissen sich zu beherrschen; nicht
+ebenso Eduard und Ottilie. Eduard entbrennt zu heftiger, auch durch
+lange Entfernung nicht gemilderter Leidenschaft. Ottilie ihrerseits
+verzichtet erst, nachdem Eduards und Charlottes ihr anvertrautes Kind
+nicht ohne ihre Schuld den Tod gefunden hat, das Kind, das durch
+seine Gesichtszüge der Zeuge der Liebe ist, die jedes der Eltern, die
+ihm sein Leben gegeben, für einen andern als den Ehegatten gefühlt.
+Eduard, völlig haltlos seiner Leidenschaft hingegeben, geht an ihr
+zugrunde. Das Problem hat seine Lösung gefunden. Die Menschen haben
+Wahlverwandtschaft gefühlt, wie jene chemischen Substanzen sie haben.
+Aber sie haben sich nicht willenlos wie diese<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> verhalten. Wenn auch
+durch unendlich viel Weh hindurch, — die ursprüngliche, durch die
+Ehe gegebene Gemeinschaft ist aufrecht erhalten. Das ist die völlig
+einheitliche, in allen Verwickelungen klar durchgeführte Absicht:
+die Heiligkeit, die Unlösbarkeit der geschlossenen Ehe soll gezeigt
+werden. Und — vom Wert dieser These hier gar nicht zu reden — die
+Konsequenz, mit welcher dieses eine Thema behandelt wird, und zwar
+nicht nur disputatorisch und abstrakt, sondern wie die Geschehnisse
+selbst es behandeln, — diese Art macht die Wahlverwandtschaften zum
+ersten Roman, der — obschon mit manchen Schwächen — der Idee des
+Romans voll entspricht. Sie gestaltet ihn zu einem einheitlichen,
+in der Handlung selbst und nach den scharf erfaßten Gesetzen
+seelischer Anlagen das Leben abbildenden und die Gedanken des Lebens
+wiedergebenden Kunstwerk. —</p>
+
+<p>Lassen Sie mich, nachdem ich die drei Hauptwerke Goethes auf dem
+Gebiete der erzählenden Dichtung in Kürze gewürdigt habe, mit ein
+paar Sätzen zusammenfassend die <em class="gesperrt">Bedeutung Goethes für den modernen
+deutschen Roman</em> skizzieren!</p>
+
+<p>Diese Bedeutung beruht <em class="gesperrt">zunächst</em> auf der tiefen
+<em class="gesperrt">psychologischen Kraft</em>, mit welcher Goethe Menschen seiner
+Zeit erfaßt und dargestellt hat. Was seinen Romanen auch auf dem
+Gebiete der Psychologie Unbefriedigendes anhaftet, ist genügend
+erwähnt. Aber die Tatsache wird davon nicht berührt, daß <em class="gesperrt">er der
+Erste war, der es verstand, Menschen bis in die Tiefe der Seele zu
+schauen</em>. Was ist hier Wieland gegen Goethe? Ein Stümper gegenüber
+dem Meister. Wie bleibt bei Wieland, auch in seinem Agathon, jeder
+psychologische Ansatz auf der allerobersten Oberfläche! Und wie tief
+greift der Werther! Wie tief auch die Wahlverwandtschaften, ja in
+vielem auch Wilhelm Meister! Es bleibt ja dabei, daß wir auch von ihm
+keine allseitig<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> ausgeführten, nach den mannigfachen Verzweigungen
+menschlicher Interessen hin weitergeführten Charakterbilder erhalten.
+Die psychologische Kraft konzentriert sich stets nur auf ein enges
+Gebiet: im »Werther« auf die wahnsinnige Leidenschaft des Mannes
+zum Weibe, im »Meister« auf das Streben eines glücklich beanlagten
+Bürgerlichen nach der harmonischen Ausbildung seiner ganzen
+Persönlichkeit, in den »Wahlverwandtschaften« auf die gegenseitigen
+Beziehungen der durch Ehe oder Wahlverwandtschaft mit einander
+verbundenen Personen. Aber in dieser Beschränkung bewundern wir
+den ungeheuren Reichtum, die fein pointierte Einzelkraft seiner
+psychologischen Wiedergabe.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Zum andern</em> muß trotz aller Einwendungen, die erhoben wurden,
+doch gelten, daß Goethe auch in der <em class="gesperrt">Art, wie seine Romane zum
+Zeitbild werden</em>, alle Vorgänger weit hinter sich gelassen hat.
+Allerdings, man wird es ja so, wie geschehen, formulieren müssen. Sie
+<em class="gesperrt">wollen</em> kaum ein Zeitbild sein; sie <em class="gesperrt">werden</em> es nur. Hätten
+sie es gewollt, sie würden den Leser ganz anders in die Welt Goethes
+eingeführt haben, als sie es tun. Goethe hat diese Aufgabe dem Roman
+nicht klar gestellt. Trotzdem hat er dieselbe wenigstens angefaßt.
+Wir sahen, wie der »Werther« in die sozialen und in die moralischen
+Stimmungen der Zeit hineinleuchtet. Wir sahen, wie »Wilhelm Meister«
+nicht etwa bloß die Theaterverhältnisse beschreibt, sondern wie er
+die gesamte aufstrebende Bildungssehnsucht des deutschen Bürgers
+samt den ihn begegnenden Hindernissen versinnbildlichte. Und auch
+die »Wahlverwandtschaften« lösen ein Zeitproblem: die Ehe und den
+Ehebruch. Und daß so nicht irgendwelche erkünstelte Altertümelei,
+sondern einfach das Wesen der Zeit seine Prosaschöpfungen beseelt, das
+hat ihnen weitreichende Wirkung verschafft.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Endlich</em> — indem ich von der Fülle trefflicher Gedanken,
+welche Goethes Romane bergen, hier nicht<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> nochmals besonders rede
+— beruht Goethes Bedeutung für den modernen deutschen Roman auf
+der <em class="gesperrt">Kunst, mit welcher er durch die Entwickelung der Handlung
+selbst zu reden weiß</em>. Handlung ohne Gedanken hat auch der
+Schauerroman, Gedanken ohne Handlung bilden gar keinen Roman; und
+eine Handlung, in die Gedanken gesprächsweise lose eingefügt sind,
+schafft ein Zwitterwesen, aber kein Kunstwerk. Der »Werther« und
+vor allem die »Wahlverwandtschaften« haben alle diese Klippen
+— im ganzen genommen — überwunden. Hier haben die Handlungen
+selber Gedanken. Und indem die Handlung zugleich den Gesetzen des
+psychologischen Geschehens folgt, verlieren auch die Gedanken den
+Charakter des Zufällig-Herangebrachten. Hier, vor allem in den
+»Wahlverwandtschaften«, haben wir ein, wenn auch nicht vollkommenes,
+aber doch meisterhaftes Vorbild für die eigentliche Kunstform des
+modernen Romans.</p>
+
+<p>Wir haben von Goethe selbst einige Äußerungen theoretischer Art über
+das Wesen des Romans. Im »Werther« sagt Lotte:</p>
+
+<p>»... Der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde,
+bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so
+interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das
+freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher
+Glückseligkeit ist.«</p>
+
+<p>Und im »Wilhelm Meister« vergleicht er Roman und Drama:</p>
+
+<p>»Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der
+Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußeren
+Form ... Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten
+vorgestellt werden, im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß
+langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf
+welche Weise es wolle,<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung
+aufhalten. ... Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht in hohem
+Grade wirkend sein; von dem Dramatischen verlangt man Wirkung und Tat
+....«</p>
+
+<p>Es ist deutlich, daß diese Bestimmungen wertvolle Elemente für die
+Erkenntnis des Wesens des Romans enthalten. Bis zu einem gewissen
+Grad stellt der Leser mit Recht den Anspruch, im Roman seine Welt
+wiederzufinden. Wenn es im Roman so »zugeht wie um mich«, so ist
+damit ein gut Teil Realistik, ein ernstes Stück Wirklichkeitskraft
+verlangt. Und daß der Roman Gesinnungen und Begebenheiten darstelle,
+trifft gleichfalls zu. Aber gerade diese letzte Definition bedarf
+der Korrektur. Es darf kein Gegensatz konstruiert werden zwischen
+Gesinnungen und Begebenheiten einerseits, Charakteren und Taten
+anderseits. Gesinnung und Charakter gehören so gut zusammen wie
+Begebenheiten und Taten. Wenn der Romanheld wirklich leidend sein
+müßte, dann kämen allerdings dem Roman nur Begebenheiten zu, nicht
+Taten. Aber er muß handeln <em class="gesperrt">und</em> leiden, wie das Leben handeln
+und leiden läßt. Übrigens sind die Wahlverwandtschaften bereits
+über den Rahmen dieses Programms hinausgegangen; es sind doch schon
+Charaktere und in gewissem Sinne auch Taten, die hier den Handelnden
+beigelegt werden. Nicht auf diesen Sätzen über den Roman, sondern auf
+den Schöpfungen selbst ruht Goethes Bedeutung.</p>
+
+<p>Daß Goethe seinerseits auf Vorgängern fußte, will ich hier nur
+andeuten. Die »<em>Nouvelle Héloise</em>« Rousseaus ist das Vorbild des
+Werther gewesen: es sollte nicht das letzte Mal sein, daß französische
+Romandichtung die deutsche beeinflußte. Aber was in Goethes Romanen
+wirkte, das ist doch eben von ihm selber hineingelegt gewesen. Und sie
+haben gewirkt! »Werther« hat eine ganze Literatur an Streitschriften
+wie an Nachahmungen<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> hervorgerufen. »Wilhelm Meister« ist bahnbrechend
+geworden für den vielgepflegten Bildungsroman des 19. Jahrhunderts,
+dem er geradezu das Schema geschaffen hat. Aber es sind nicht bloß
+diese direkten, augenfälligen Wirkungen gewesen, welche von Goethes
+Romandichtung ausgegangen sind. Nein, in alledem, was als die Kraft
+dieser seiner Dichtung bezeichnet wurde, hat er Spätere tief und
+nachhaltig beeinflußt: <em class="gesperrt">in der Tiefe der psychologischen Einsicht,
+in der unbeirrten Wiedergabe des Zeitempfindens, in der Kunst, welche
+Handlung und Gedanken in eins schuf. Durch all dies ward Goethe der
+Schöpfer des modernen deutschen Romans.</em></p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_6">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Roman_und_Novelle_der_Romantik">Roman und Novelle der Romantik.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Goethe ist der Schöpfer des modernen deutschen Romans. Der Gesamtlauf
+des 19. Jahrhunderts bestätigt diesen Satz. Der Anfang des 19.
+Jahrhunderts allein kann ihn nicht erschüttern.</p>
+
+<p>Merkwürdig allerdings, daß die ersten Jahrzehnte desselben
+unmittelbar nach Goethes großen Romanen, ja unter seinen Augen eine
+Prosadichtung heranwachsen lassen, deren innerstes Wesen von jener
+Wirklichkeitskraft Goethes, die das eigentliche Schöpferisch-Neue in
+seinen Romanen bildet, so gut wie unberührt war! Spuren Goethescher
+Einwirkung findet man freilich auch in den Romanen und Novellen
+der Romantik. <em class="gesperrt">Novalis</em> »Heinrich von Ofterdingen« behandelt
+wie »Wilhelm Meisters Lehrjahre« eine Bildungs-Entwickelung,
+<em class="gesperrt">Schlegels</em> »Lucinde« gibt gleichfalls eine Art Lehrjahre. Aber
+nicht die abgeklärte psychologische Kraft aus »Wilhelm Meister«
+finden wir hier wieder, — vielmehr eher das, was den »Werther«
+gegenüber allem Späteren als ein Werk jugendlichen Sturmes und Dranges
+kennzeichnet: den Überschwang, die Maßlosigkeit, die Krankhaftigkeit
+der Gefühle. Es war mehr die Form, die Leitidee, die man Goethe
+entnahm; sein Geist war in der Romantik nicht lebendig.</p>
+
+<p>Viel eher kann man in den romantischen Erzählungen die Nachwirkungen
+eines Anderen, dazumal Hochgefeierten und doch sehr viel Kleineren
+spüren, des unendlich fruchtbaren <em class="gesperrt">Jean Paul</em>. Er ist 1825
+gestorben; aber seine Zeit ist die des 18. Jahrhunderts, dessen Ende
+die<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> Entstehung seiner bedeutendsten Romane sah. Erwarten Sie hier
+keine ausführliche Darlegung über seinen »Titan«, seinen »Siebenkäs«
+oder seine »Flegeljahre«! Sie gehören alle zusammen dem zu Grabe
+gegangenen Zeitalter an. Ich leugne nicht, daß in ihnen Tiefes,
+Schönes, Ergreifendes steht. Ich leugne noch weniger, daß zahlreiche
+Unterhaltungsschriftsteller, die sich im Übrigen ganz der modernen
+Schule zurechnen, in ihrem ganzen Leben auch nicht einen einzigen
+Gedanken von der Tiefe und der Anmut aufgebracht haben, welche
+unzählige Stellen in Jean Pauls Romanen aufweisen. Vielleicht schlagen
+Sie einmal das 58. Kapitel der »Flegeljahre« auf, das den Titel
+»Erinnerungen« führt:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich möchte wohl Tage lang über die kleinen Frühlingsblümchen der
+ersten Lebenszeit reden und hören. Im Alter, wo man ohnehin ein
+zweites Kind ist, dürfte man sich gewiß erlauben, ein erstes zu sein
+und lange zurückzuschauen ins Lebens-Frührot hinein. Da offenbar'
+ichs gern, daß ich mir höhere Wesen, z. B. Engel, ordentlich weniger
+selig aus Mangel an Kindheit denken kann, wiewohl Gott vielleicht
+keinem Wesen irgend eine Kindheits- oder Vergißmeinnichtszeit mag
+abgeschlagen haben, da sogar Jesus selber ein Kind war bei seiner
+Geburt. Besteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Lust und
+Hoffnung, Bruder, und die Frühregen der Tränen fliegen darüber nur
+flüchtig hin?« — — —</p>
+</div>
+
+<p>Aber bei allem Tiefen und Feinen und Zarten, das in diesen Romanen
+steckt, fehlt ihnen doch ein wichtiges Erfordernis gerade des
+Romans: Klarheit und Schärfe in der Erfassung und in der Darstellung
+des wirklichen Lebens. Charakteristische Streiflichter, treffende
+satirische Bemerkungen, brillante Humoristika, auch einmal frappante
+Zeichnungen irgend welcher Originalfiguren, — das alles haben sie.
+Aber eben dies alles bleibt eine Summe von beigegebenen<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Einzelheiten.
+Die Kraft des Ganzen ist Gemüt und Geist, aber nicht Wahrheit. Tausend
+Lichter und Schatten huschen über die ruhige, klare, nüchterne
+Menschenwelt. Warum sie sehen, wenn die Beleuchtung die objektivste
+Betrachtung ermöglicht? Warum nicht lieber, wenn die Dämmerung die
+Umrisse etwas gefälliger macht oder wenn Nacht und Mond das Nüchterne
+phantastischer gestalten? Warum Interesse nehmen am Gewöhnlichen,
+Alltäglichen und nicht lieber am Besonderen, Seltenen, Sonderbaren, —
+und wenn es gleich verschroben wäre? Warum die Menschen sehen, wie sie
+dem Auge sich bieten? Warum nicht lieber aus ihrer Seele verborgensten
+Winkeln ihre Merkwürdigkeiten herausholen? — Und endlich hat
+Jean Paul noch eins nie verstanden: nämlich warum der Dichter die
+prosaische Pflicht haben solle, einfach nach der Ordnung der Dinge
+in Reih und Glied zu erzählen. Ihm paßt es viel besser, Ruhepunkte
+einzuschieben, die zu beschaulichen Betrachtungen Gelegenheit geben,
+Seitensprünge zu machen, die angenehme Abwechslung bringen. Aber was
+bei alledem herauskommt, das ist schließlich eine seltsame Mischung
+von ein wenig Wahrheit mit viel Dichtung, von wenig Zusammenhang
+und vielen einzelnen Schönheiten, von manchem Natürlichen und
+unendlich viel Schrulligem, von Ernst und Humor, von Wirklichkeit und
+Phantastik. Weltbilder, Menschenbilder geben diese Romane nicht, nur
+ein Bild einer reichen, tiefen, wennschon seltsamen Seele, nämlich der
+des Verfassers.</p>
+
+<p>Dieses Mannes Einfluß auf seine Zeitgenossen ist nicht zu
+unterschätzen. In <em class="gesperrt">Börne's</em> Denkrede nach seinem Tod hieß es:
+»Fragt ihr, wo er geboren, wo er gelebt, wo seine Asche ruhe? Vom
+Himmel ist er gekommen, aus der Erde hat er gewohnt, unser Herz
+ist sein Grab.« Kein Wunder, daß auch die Dichtkunst sich von ihm
+bestimmen ließ. In manchem Phantastischen und Bizarren, in manchem
+Poetisch-Feinen, vor allem aber in der Unbesorgtheit<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> um die wirkliche
+Welt, wie die romantische Schule sie zeigt, erkennen wir — bei aller
+sonstigen Eigenart Jean Pauls — doch eben Geist von seinem Geist.</p>
+
+<p>Die <em class="gesperrt">Romantik</em> war es, welche in den ersten Jahrzehnten des 19.
+Jahrhunderts auch Roman und Novelle weithin beherrscht hat. Was ist
+die Romantik? Eine Stimmung, die überall sein kann, nur da nicht,
+wo scharfes, helles Licht die Dinge in ihrem Wirklichkeitsbestand
+zu sehen zwingt. Aber sie gedeiht, wo Helldunkel herrscht, wo das
+Licht einen farbigen, milderen Ton bekommt, wo die Sonnenstrahlen nur
+durch dichtes Strauchwerk spärlichen Schein werfen können, wo hohe
+Kirchenfenster ihnen eine feierliche Weihe geben. Und noch besser
+wächst sie empor, wo Dämmerung herrscht, wo die Schatten der dunkeln
+Nacht zu regieren beginnen. Es ist klar, wo diese Stimmung ihre Feinde
+sucht. Der klare Geist, der denkende Geist, der philosophische Geist,
+der protestantische Geist sind ihr fremd; aber dem poetischen Zauber,
+der Welt des Traums, dem katholischen Kultus, dem Wunder ist sie hold.</p>
+
+<p>Diejenige dichterische Schule, der man den Namen der romantischen zu
+geben pflegt, ist in Roman, Erzählung und Novelle fruchtbar genug
+gewesen. Hier soll keine Registratur von Namen und Titeln ihren Platz
+finden. Aber an <em class="gesperrt">Novalis</em>, <em class="gesperrt">Friedrich von Schlegel</em> und
+<em class="gesperrt">Ludwig Tieck</em>, an <em class="gesperrt">Eichendorff</em> und <em class="gesperrt">Brentano</em>, an
+<em class="gesperrt">Friedrich de la Motte-Fouqué</em> und <em class="gesperrt">Kleist</em> muß wenigstens
+in Kürze erinnert werden. Einiger bedeutenderer Werke aus dieser
+Zeit und von dieser Art wird im Folgenden besondere Erwähnung getan
+werden. Denn wie läßt sich das, was die Romantik auf diesem Gebiet
+geschaffen, besser darstellen als durch die Einführung in einige ihrer
+charakteristischen Werke? Wie lassen sich die wunderbar mannigfaltigen
+Arten dieser Gattung klarer überschauen, als wenn<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> man versucht, die
+wichtigsten derselben wenigstens in <em class="gesperrt">einer</em> Dichtung zu erfassen?</p>
+
+<p>Im Roman der Romantik regiert die Stimmung des <em class="gesperrt">Dichters</em>. Und
+zwar des Dichters im besonderen, eigentümlichsten Sinn. Manche können
+Dichter und Träumer nicht unterscheiden; soweit die Romantik in Frage
+kommt, haben sie Recht. So ists denn kein Zufall, daß der einzige
+Roman des gefeierten <em class="gesperrt">Novalis</em>, der unvollendet gebliebene
+»<em class="gesperrt">Heinrich von Ofterdingen</em>«, eine Dichtung über den Dichter
+ist. Novalis hat nach Ludwig Tiecks Bericht noch sechs andere Romane
+schreiben wollen, um darin seine Ansichten über Physik, bürgerliches
+Leben, Handlung (d. h. Handel), Geschichte, Politik und Liebe
+niederzulegen, so wie in Heinrich von Ofterdingen die über Poesie. Mit
+der Poesie begann er; sie lag ihm am nächsten.</p>
+
+<p>Im Mittelpunkt des Romans steht der bekannte mittelalterliche
+Minnesänger Heinrich von Ofterdingen. Aber Novalis hat sich weder
+genau an die Person noch an die Zeit desselben gehalten. Er läßt
+Heinrich als eines Handwerkers Sohn zu Eisenach geboren sein. Der
+Jüngling reist mit der Mutter nach Augsburg ins großväterliche Haus.
+Die Reisegesellschaft bilden Kaufleute, die das gleiche Ziel haben.
+Unterwegs machen die Reisenden die Bekanntschaft eines Bergmanns, der
+sie in eine mächtige Höhle führt. In dieser Höhle findet man Friedrich
+von Hohenzollern als Einsiedler hausen. Die Reise wird fortgesetzt;
+in Augsburg lernt Heinrich den Dichter Klingsohr und seine Tochter
+Mathilde kennen. Mit der Verbindung Heinrichs mit Mathilde schließt
+der erste Teil: »Die Erwartung«. Im zweiten Teil, der den Titel
+»Die Erfüllung« tragen sollte, wird Heinrich in einem Kloster von
+den Priestern des heiligen Feuers in jungen Gemütern über Tod und
+Magie unterwiesen; dann befindet er sich in Italien im Krieg, in
+Griechenland in Gesprächen über Kunst und Moral, im Morgenland, wo er
+dessen Leben<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> in Vergangenheit und Gegenwart kennen lernt, in Rom,
+in Deutschland am Hof Kaiser Friedrichs. Nach wunderbarem Wettgesang
+erlebt er seine Verklärung.</p>
+
+<p>So arm an Handlung der erste Teil ist, so reich an Abwechslung
+sollte danach der zweite werden. An Abwechslung, aber auch er nicht
+an Handlung. Verschiedene Schauplätze, aber an jedem nicht viel
+anderes als Gespräche, Märchen, Sagen, Phantasien. Die Ausführung
+wäre gewiß in derselben Art gehalten worden wie in dem fertig
+gestellten Bruchstück. Dessen Charakter ist freilich ausgeprägt
+genug. Seine Welt ist die Wunderwelt. Die Gesetze des Geschehens
+existieren in ihr nicht. Die auftretenden Personen kommen gar nicht
+als Personen in Betracht, geschweige denn als besondere, individuelle
+Menschen; sie sind nichts als das Sprachrohr für sinnvolle Märchen,
+tiefe Belehrungen. Es werden auch nicht etwa die gleichen Personen
+festgehalten, sondern sie kommen und gehen, ja sie selbst sind
+urplötzlich wieder andere Personen. Novalis lebt in der Welt des
+Traums, des phantastischen Märchens. Seine einzige Absicht ist, »das
+eigentliche Wesen der Poesie auszusprechen und ihre innerste Absicht
+zu erklären«. Ihm wandelt sich alles in Poesie; denn sie ist der
+Geist, der alle Dinge belebt. Eben in diesem Wesen der Poesie liegt
+es ihm beschlossen, daß in seiner Dichtung Zeit und Raum aufhören.
+<em class="gesperrt">Tieck</em>, dessen Worte ich eben schon mehrfach benützt habe, weiß
+diese Denkart trefflich zu schildern:</p>
+
+<p>»Dem Dichter, welcher das Wesen seiner Kunst im Mittelpunkt ergriffen
+hat, erscheint nichts widersprechend und fremd, ihm sind die Rätsel
+gelöst, durch die Magie der Phantasie kann er alle Zeitalter und
+Welten verknüpfen, die Wunder verschwinden und alles verwandelt sich
+in Wunder.«</p>
+
+<p>Das, was der erste Teil dieses wirklich wunderbaren Romans gibt,
+ist nun freilich von gewaltiger dichterischer Schönheit. Gleich im
+Eingang wird ein Traum berichtet,<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> dessen Verlauf für die Entwicklung
+des Romans bedeutsam ist; Heinrich schaut in ihm die blaue Blume der
+wirklichen Dichtung. Erst durchlebte er im Traum ein unendlich buntes
+Leben, starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft und
+war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen
+Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner
+Seele; klarer und bleibender wurden die Bilder ... Nach wunderbaren
+Wegen kommt er endlich zur Stätte der blauen Blume.</p>
+
+<p>»Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger
+Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als
+das gewöhnliche; der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn
+aber mit voller Macht anzog, war eine hohe, lichtblaue Blume, die
+zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden
+Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von
+allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah
+nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer
+Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal
+sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender
+und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich
+nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten
+Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.«</p>
+
+<p>Diese blaue Blume, die Poesie, bildet das Ziel der Gesamtentwicklung
+des Dichters. Am letzten Ende kommt Heinrich »in jenes wunderbare
+Land, in welchem Luft und Wasser, Blumen und Tiere von ganz
+verschiedener Art sind, als in unserer irdischen Natur.« »Menschen,
+Tiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Elemente, Töne, Farben kommen
+zusammen wie Eine Familie, handeln und sprechen wie Ein Geschlecht.
+— Blumen und Tiere sprechen über den Menschen. — Die Märchenwelt
+wird ganz sichtbar,<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> die wirkliche Welt selbst wird wie ein Märchen
+angesehen.« In diesem Land findet Heinrich die blaue Blume, —
+freilich nicht ohne daß nun an diese Blume Allegorie um Allegorie
+sich anschließen. Die blaue Blume ist »Mathilde, die schläft und den
+Karfunkel hat; ein kleines Mädchen, sein und Mathildens Kind, sitzt
+bei einem Sarge und verjüngt ihn. — Dieses Kind ist die Urwelt, die
+goldene Zeit am Ende.«</p>
+
+<p>Eine Probe dichterischer Schöpfungskraft ist dieser Traum von der
+blauen Blume; eine Probe wunderbar in Phantastik und Allegoristik
+verschwimmender Darstellung ist die Erzählung von der Auffindung
+dieser blauen Blume, wie sie eben kurz angedeutet ward. Das ist ja
+eben das Wesen des ganzen Fragments: <em class="gesperrt">dichterische Herrlichkeit,
+vermählt mit märchenhafter Unmöglichkeit</em>. Im Sinne des Dichters
+ist diese Vermählung natürlich; ihm liegt die Poesie weit hinaus über
+die Welt des Wirklichen. Im Sinne der Romantik ist diese Verbindung
+verständlich; Novalis hat die romantische Art nur bis zur äußersten
+Spitze getrieben. Alles Wirkliche, alles Tatsächliche liegt hinter
+ihm in wesenlosem Scheine. Wir aber fragen, ob wirklich Poesie
+und Märchenwelt untrennbar verbunden sind, ob der Haß gegen die
+Tatsachen, der in dieser Liebe für das Wunderbare beschlossen ist, zum
+eigentlichen Wesen der Poesie gehört. Vor allem aber ist der »Heinrich
+von Ofterdingen« durch diesen Haß alles andere als ein Roman geworden.
+Nichts von Welt und Zeit, nichts von Handlung und Empfindung, nichts
+von Entwicklung und Psychologie. <em class="gesperrt">Der gefeiertste Roman der Romantik
+ist ein mystisch-allegorisches Märchenwerk, aber nun und nimmer ein
+Roman.</em></p>
+
+<p>Was für ein anderes Leben in einer weiteren Schöpfung der Romantik,
+die gerade des Gegensatzes wegen unmittelbar neben den »Heinrich
+von Ofterdingen« gestellt sein mag, — in <em class="gesperrt">Joseph Freiherrn
+von Eichendorffs</em> reizender<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> Novelle »<em class="gesperrt">Aus dem Leben eines
+Taugenichts</em>«. Dort alles ernste, tiefe, getragene Poesie; hier
+alles frische, fröhliche, muntere Laune. Das Rad an der Mühle braust
+und rauscht lustig, die Goldammer am Fenster ruft gleichfalls lustig:
+»Bauer, behalt deinen Dienst!« und der Müllerssohn zieht mit seiner
+Geige und ein paar Groschen Geld zufrieden in die weite Welt hinaus.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Wem Gott will rechte Gunst erweisen, </div>
+ <div class="verse indent0">Den schickt er in die weite Welt, </div>
+ <div class="verse indent0">Dem will er seine Wunder weisen </div>
+ <div class="verse indent0">In Berg und Wald und Strom und Feld!«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Was erlebt der Wandersmann nicht alles in der weiten Welt! Ein paar
+schöne Damen heißen ihn auf ihrer Kutsche aufsitzen; im Schlosse,
+da sie wohnen, wird er Gärtner und huldigt der »schönen gnädigen
+Frau«; und die gnädige Frau nimmt seine Huldigung an. Er avanciert
+zum Zolleinnehmer und führt ein Leben in Nichtstun und Verehrung der
+»schönen gnädigen Frau«. Bis er seine Angebetete einst an der Seite
+eines jungen Herrn auf des Schlosses Balkon erscheinen sieht. Da läßt
+er alle Bequemlichkeit im Stich und zieht wieder mit der Fiedel ins
+Land. Er kommt nach Italien und in ein schönes Schloß und wird dort
+gehegt und gepflegt und entflieht wieder, weil er eingesperrt wird,
+und kommt nach Rom und glaubt seine »schöne gnädige Frau« zu sehen und
+findet sie doch nicht. Aber auf eine Botschaft hin kehrt er zu jenem
+ersten Schloß bei Wien zurück und erhält die Hand der gnädigen Frau,
+— nur daß sie keine Gräfin ist, wie er geglaubt, sondern die Nichte
+des Portiers. Aber was tut das? Sie lassen die ganze andere Welt um
+sich untergehn und haben sich lieb und alles, alles ist gut! Durch die
+ganze Erzählung hindurch ists ja von Abenteuer zu Abenteuer gegangen;
+der Taugenichts ist von Ort zu Ort und von Land zu Land gekommen und
+hat nicht gewußt, wie ihm geschah und der Leser hats<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> ebenso wenig
+gewußt. Nur eins hat er gemerkt, daß es auf jeder Seite klingt wie
+Lieb und Lust, wie Jubel und Jauchzen, wie Lerchenzwitschern und
+wunderbar schöner Gesang. Und das hat er gelernt, daß es dem Dichter
+nicht darauf ankommt, ein Stückchen zu berichten, wie es geschehen
+sein könnte oder etwa noch einmal vor sich gehen möchte, sondern daß
+ihm die Laune die Feder geführt und der Übermut in allen Fingern
+gezuckt hat, weil er — ob noch so wunderlich und noch so toll — dies
+allein zeigen wollte:</p>
+
+<p>»Die Liebe — darüber sind nun alle Gelehrten einig — ist eine der
+kouragiösesten Eigenschaften des menschlichen Herzens, die Bastionen
+von Rang und Stand schmettert sie mit einem Feuerblicke darnieder,
+die Welt ist ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja, sie ist
+eigentlich ein Poetenmantel, den jeder Phantast einmal in der kalten
+Welt umnimmt, um nach Arkadien auszuwandern. Und je entfernter zwei
+getrennte Verliebte von einander wandern, in desto anständigeren Bogen
+bläst der Reisewind den schillernden Mantel hinter ihnen auf, desto
+kühner und überraschender entwickelt sich der Faltenwurf, desto länger
+und länger wächst der Talar den Liebenden hinten nach, so daß ein
+Neutraler nicht über Land gehen kann, ohne unversehens auf ein paar
+solche Schleppen zu treten.«</p>
+
+<p>Nun, was Eichendorff gewollt, das ist ihm trefflich gelungen. Wer
+zieht nicht gern mit dem Taugenichts in die Welt? Wer singt nicht mit
+ihm aus vollem Herzen:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent1">»Die Bächlein von den Bergen springen, </div>
+ <div class="verse indent0">Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, </div>
+ <div class="verse indent0">Was sollt' ich nicht mit ihnen singen </div>
+ <div class="verse indent0">Aus voller Kehl' und frischer Brust?« </div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Wem wendet sich nicht das Herz um, wenn die allerschönste Dame die
+Gitarre in den weißen Arm nimmt und dazu so wundersam über den Garten
+hinaus singt? Wer möchte nicht mit dem Taugenichts weinen, weil
+<em class="gesperrt">sie</em><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> so schön ist und er so arm und verspottet und verlassen
+von der Welt? Wer säße nicht gern mit ihm auf dem Bänkchen vor seinem
+Einnehmerhaus, wenn die Sonne eben untergeht und das ganze Land
+mit Glanz und Schimmer bedeckt und die Donau sich prächtig wie von
+lauter Gold und Feuer in die weite Ferne schlängelt und von allen
+Bergen bis tief ins Land hinein die Winzer singen und jauchzen? Und
+so folgen wir ihm willig auch weiter, und kein Abenteuer ist uns zu
+sonderbar und kein Rätsel zu toll; es ist eben ein Dichter von Gottes
+Gnaden, der uns ins Wunderland führt. Es bedarf ordentlich erst
+des Zwanges der Selbstbesinnung, um von dem holden Traum, den wir
+mitgeträumt, zu erwachen. Ists nicht besser, weiter zu träumen — ins
+Unendliche hinein? Hat die Dichtung nicht ihre Aufgabe gelöst, wenn
+sie uns die harte Wirklichkeit vergessen lehrt? Für die Romantiker:
+ja. Von ihrem Standpunkt aus bedeutet die liebenswürdige Novelle
+Eichendorffs einen Wurf von hoher Vollendung. Für uns andere aber
+beginnt mit dem Erwachen auch die harte Pflicht des Zweifels. Nicht
+etwa des Zweifels an der poetischen Schönheit und Lieblichkeit. Aber
+des Zweifels, ob ein Werk den Namen Novelle mit Recht trage, welches
+vielmehr ein Märchen ist denn eine Erzählung. Es bedarf ja keines
+weiteren Wortes darüber: von der wirklichen Welt, in der wir leben,
+führt uns Eichendorffs lustige Laune gerade so weit ab wie Novalis
+mystische Allegorienfreude. Und wenn man der erzählenden Dichtung,
+dem Roman wie der Novelle, das Gebiet der wirklichen Welt zuweist,
+mit der Bestimmung, sie mit dichterischer Kunst zu durchdringen und
+darzustellen, dann liegt auch Eichendorffs »Aus dem Leben eines
+Taugenichts« weit, weit ab vom klar gezeichneten Wege.</p>
+
+<p>Es ist nicht möglich, ein vollständiges Bild der romantischen
+Prosadichtung zu geben, ohne in die Schilderung wenigstens eine
+knappe Skizze von <em class="gesperrt">Friedrich von<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> Schlegels</em> »<em class="gesperrt">Lucinde</em>«
+aufzunehmen. Diese Sammlung von Fragmenten zu einem Roman hat zu
+viel Anlaß zu Streit und Widerstreit, zu Begeisterung und deutlicher
+Ablehnung gegeben, sie ist zugleich allzu charakteristisch für weite
+und breite Strömungen innerhalb der romantisch gestimmten Kreise,
+als daß sie hier übergangen werden könnte. <em class="gesperrt">Schleiermacher</em> hat
+einst, bald nach ihrem 1799 erfolgten Erscheinen, in »Vertrauten
+Briefen über Schlegels Lucinde« sie ein »ernstes, würdiges und
+tugendhaftes Werk« genannt. Aber auch <em class="gesperrt">Schleiermacher</em> stand
+damals im Bann der Romantik; und sein Urteil war kein objektives.
+Max <em class="gesperrt">Koch</em> nennt das Buch sehr treffend eine »kraft- und
+formlose Empfehlung der freien Liebe«. Aber lassen wir das Urteil
+vom Standpunkt der Moral einmal ganz beiseit, wie wir auch bisher
+nicht den Maßstab bestimmter Anschauungen angelegt haben! Was ists
+eigentlich um die »Lucinde«?</p>
+
+<p>Eine Reihe von äußerlich nicht zusammenhängenden Skizzen zieht am
+Leser vorüber; gemeinsam ist ihnen der Titel: Bekenntnisse eines
+Ungeschickten. Es sind Briefe, Phantasien, eine »Allegorie von der
+Frechheit«, eine »Idylle über den Müßiggang«, Betrachtungen und,
+unter dem Titel »Lehrjahre der Männlichkeit«, eine zusammenhängende
+Schilderung. Julius ist der Held derselben. Ein völlig zerrütteter,
+haltloser, dekadenter Charakter. »Eine Liebe ohne Gegenstand brannte
+in ihm und zerrüttete sein Inneres. Bei dem geringsten Anlaß brachen
+die Flammen der Leidenschaft aus; aber bald schien diese aus Stolz
+oder aus Eigensinn ihren Gegenstand selbst zu verschmähen, und wandte
+sich mit verdoppeltem Grimm zurück in sich und auf ihn, um da am Mark
+des Herzens zu zehren.« »Es war ihm, als wollte er eine Welt umarmen
+und könne nichts greifen. Und so verwilderte er denn immer mehr und
+mehr aus unbefriedigter Sehnsucht, ward sinnlich aus Verzweiflung am
+Geistigen, beging unkluge<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> Handlungen aus Trotz gegen das Schicksal
+und war wirklich mit einer Art von Treuherzigkeit unsittlich.« Die
+Art, wie er liebt, bildet den Stoff der weiteren Erzählung. Er liebt
+ein edles Mädchen, aber er kommt in dem Augenblick zur Besinnung, wo
+er den Blütenkranz der Unschuld mutwillig hatte zerreißen wollen. Er
+wirft sich an ein Weib weg, das am freiesten lebt und am meisten in
+der guten Gesellschaft glänzt. Als er mit ihr bricht, gibt sie sich
+den Tod. Er findet zuletzt in Lucinde eine gleichgestimmte Seele.
+»Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte
+sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer
+mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt
+leben, sondern in einer eignen, selbstgedachten und selbstgebildeten.
+Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich
+für sie, alles andere nichts; und sie wußte, was Wert hat. Auch sie
+hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande
+zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig.« Beide finden sich
+in schrankenloser, nun aber dauernder Liebe, deren Beschreibung auch
+in den Briefen und Skizzen immer wieder den Grundton abgibt. Sie
+sammeln um sich eine Zahl Ähnlichdenkender, eine freie Gesellschaft
+oder eine große Familie. Aber die volle Harmonie findet Julius auch in
+der Anregung seines Geistes »allein in Lucindens Seele, wo die Keime
+alles Herrlichen und alles Heiligen nur auf den Strahl seines Geistes
+warteten, um sich zur schönsten Religion zu entfalten.«</p>
+
+<p>Aber diese Inhaltsangabe stellt noch nicht die ganze Art des
+merkwürdigen Buches klar. Seine Eigentümlichkeit besteht nicht in
+dem Bruchstückartigen, nicht in den beschriebenen Liebesbegebnissen,
+sondern in der Schilderung selbst. In ihr einen sich Schwärmerei und
+Sinnlichkeit zu einem schwülstigen Ganzen. Es fehlt dem Helden an
+jeder Selbstbeherrschung, an jeder Selbstzucht. Phantasie<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> wie Wünsche
+sind bei ihm gleich ausschweifend. Er verabscheut die entfernteste
+Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, — womit natürlich die Ehe
+gemeint ist, — wie jede Art von Zwang. Er ist dem kaum der Kindheit
+entwachsenen Mädchen gegenüber einfach gewissenlos; aber auch im
+Verkehr mit Lucinde spielt ungezügelte Sinnlichkeit eine erschreckende
+Rolle. Umwoben aber sind alle diese Schilderungen mit einem Schwulst
+von überschwänglichen Worten, von himmelstürmenden Tiraden.</p>
+
+<p>Ich verzichte auf eingehendere Beschreibung. Lucinde durfte nicht
+übergangen werden: diese leidenschaftliche, in schöngeistiges
+Gewand gehüllte Sinnlichkeit ist ja eben bezeichnend auch für die
+romantische Dichtung. Zugestanden mag sein, daß Lucinde etwas mehr
+mit der Wirklichkeit zu schaffen hat als der Heinrich von Ofterdingen
+und als Eichendorffs Taugenichts. Die Lucinde ist nicht ohne
+psychologische Ansätze. Sie hat Ähnlichkeiten mit Werther. Aber sie
+hat das Ungesunde von ihm hergenommen und ins Unreine hin verzerrt.
+Werther mit seiner krankhaft gesteigerten Leidenschaft steht immer
+noch hoch über <em class="gesperrt">der</em> Leidenschaft, mit welcher Schlegel seinen
+Julius alle Moral, allen Anstand, alle Sitte beiseite werfen läßt. Es
+sind nicht Lehrjahre der Männlichkeit, wie er selber sie nennt; die
+»Allegorie von der Frechheit« ist viel bezeichnender für das Ganze.
+Und schließlich ist, trotz der unfraglich vorhandenen Berührung mit
+der Wirklichkeit, auch die Lucinde ein Buch der Unwirklichkeit: von
+Menschen redet sie, die nichts zu tun haben, die kein Zwang des Berufs
+fesselt und die jeden anderen Zwang bewußt abschütteln.</p>
+
+<p>Die romantische Prosadichtung ist reich an Spielarten. Eine Spielart,
+wie sie der vielgelesene, von Ostpreußen nach Berlin verpflanzte Ernst
+Theodor <em class="gesperrt">Amadeus Hoffmann</em> vertrat, den man wohl den genialsten
+Erzähler der Romantik genannt hat, darf bei ihrer Charakterisierung
+nicht außer<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> Betracht bleiben. Amadeus Hoffmann ist ein Vielschreiber
+gewesen; und seine Erzählungen tragen längst nicht alle den gleichen
+Stempel. Er war wirklich genial; und seine Genialität zeigte sich
+auch in vielseitiger Kraft. Satire, Ironie, Humor, Realistik sind ihm
+nicht fremd; und wo von diesen Gottesgaben etwas sich findet, da ist
+er noch heut zu bewundern. Aber den Grundton seiner Schöpfungen geben
+sie alle nicht an. Im Innersten sind sie durch und durch phantastisch.
+Aber nicht phantastisch im Sinne von Novalis, der in die wundervolle
+Märchenwelt führt, nicht phantastisch in der Art der sonnigen,
+unbekümmerten Fröhlichkeit Eichendorffs, auch nicht nach der Methode
+der geistig-sinnlichen Überschwänglichkeit Schlegels. Seine Phantastik
+trägt den Sondercharakter des Geheimnisvollen, Schauerlichen,
+Unheimlichen. Wohl knüpft er überall an die Verhältnisse des
+wirklichen Lebens an, darin ganz anders verfahrend als Novalis
+und auch als Eichendorff. Wohl spielen die sehr natürlichen
+Leidenschaften auch bei ihm eine große Rolle; und seine Menschen sind
+in <em class="gesperrt">dieser</em> Hinsicht eben Menschen, wirkliche Menschen. Aber er
+verknüpft mit diesem Tatsächlichen soviel Grauenhaft-Unnatürliches,
+daß ihm der Beiname »Teufels-Hoffmann« nicht mit Unrecht gegeben
+worden ist.</p>
+
+<p>Beispielshalber wenigstens eine kurze Skizze eines seiner
+Teufels-Werke, der »<em class="gesperrt">Elixiere des Teufels</em>«. Ein Klosterbruder
+bewahrt unter den Klosterreliquien auch eine Flasche, die einst der
+Teufel selbst aus seinem Mantel dem heiligen Antonius zurückgelassen.
+Wer von dem in dieser Flasche enthaltenen Elixier kostet, der
+ergibt sich dem Teufel und seinem Reiche. Der Bruder Medardus ist
+ein Prediger, zu dessen Predigten die Leute in Haufen strömen. Da
+erscheint ihm mitten in begeisterter Rede eine furchtbare Gestalt, in
+der er den »fremden Maler« zu erkennen glaubt, der vor langen Zeiten
+die Kirche seiner Geburtsstätte mit wunderbaren Bildern geschmückt.
+Wie er nun die Gestalt<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> an einem Eckpfeiler lehnen sieht, will
+Medardus nicht hinschauen. Aber ob er will oder nicht, er <em class="gesperrt">muß</em>.</p>
+
+<p>Wie von einer fremden, zauberischen Gewalt getrieben, mußte ich immer
+wieder hinschauen, und immer starr und bewegungslos stand der Mann
+da, den gespenstischen Blick auf mich gerichtet. So wie bitterer Hohn
+— verachtender Haß, lag es auf der hohen, gefurchten Stirn, in dem
+herabgezogenen Munde. Die ganze Gestalt hatte etwas Furchtbares, —
+Entsetzliches! — Ja! — es war der unbekannte Maler aus der heiligen
+Linde. Ich fühlte mich, wie von eiskalten grausigen Fäusten gepackt —
+Tropfen des Angstschweißes standen auf meiner Stirn — meine Perioden
+stockten — immer verwirrter und verwirrter wurden meine Reden — es
+entstand ein Flüstern — ein Gemurmel in der Kirche — aber starr und
+unbeweglich lehnte der fürchterliche Fremde am Pfeiler, den stieren
+Blick auf mich gerichtet. Da schrie ich auf in der Höllenangst
+wahnsinniger Verzweiflung: »Ha Verruchter! Hebe dich weg! — hebe dich
+weg — denn ich bin es selbst! — ich bin der heilige Antonius!««</p>
+
+<p>Von dieser Stunde an ist die Kraft des Bruder Medardus gebrochen.
+Sie wiederzugewinnen, trinkt er endlich vom Teufelselixier. Neues
+Leben strömt nun durch seine Adern. Aber es ist ein Leben, in dem
+der Böse Herrschaft hat. Er läßt Kloster und Möncherei, er gerät
+in die wildesten Abenteuer, er wird zum Ehebrecher und Mörder; ein
+Wahnsinniger ahnt in ihm den Bösen; mitten in fröhlicher Gesellschaft
+starren ihm wieder die Züge jenes fürchterlichen Unbekannten entgegen;
+er trifft in ländlichem Försterhaus in einsamer Stille einen
+wahnsinnigen Kapuziner, der nichts anderes ist als sein Doppelgänger,
+dessen Erscheinung sein eigenes Ich in verzerrten, gräßlichen Zügen
+reflektiert. Äußerlich macht er sein Glück: des Bösen Gewalt läßt ihn
+auf der Jagd treffen, ohne daß er gezielt, läßt ihn am Fürstenhof im
+Glücksspiel fabelhafte Gewinne<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> einheimsen. Dann wird er erkannt,
+man stellt ihn vor Gericht; aber alle Verbrechen häuft man auf jenen
+gräßlichen Doppelgänger, während Medardus selber frei ausgeht. Und so
+geht es weiter zwischen den grauenvollsten Schrecklichkeiten durch;
+Wahnsinn, Visionen, Leidenschaft, Verbrechen, Mysterien aller Art
+führen einen wilden Reigen auf. Medardus kehrt endlich nach langer
+Buße ins Kloster zurück und stirbt dort nach einem wahren Hexentanz
+von gespenstischen Ungeheuerlichkeiten eines frommen Todes.</p>
+
+<p>Diese Inhaltsangabe gibt nur ein ganz, ganz mageres Gerippe des
+vielverschlungenen Romans. Aber sie läßt doch erkennen, wie alles in
+demselben aufs Grauenhaft-Phantastische angelegt ist. Der Boden der
+Wirklichkeit ist ganz und völlig verlassen. In anderen Erzählungen
+tritt eine andere Methode hervor, <em class="gesperrt">wie</em> die Wirklichkeit verzerrt
+wird; aber verzerrt wird sie überall. Ob es mehr lustige Tollheit
+ist, die ihn mit seinen Figuren umspringen läßt, als seien sie
+nicht an die Gesetze dieser Welt gebunden, ob es mehr phantastische
+Karikaturkunst ist, die seiner Satire dienen muß, — überall ists das
+Gegenteil klarer Wirklichkeit, was regiert. Er hat es verstanden,
+nervenspannende, ja nervenerschütternde Wirkungen zu erzielen; — ich
+rate noch heute Niemandem, der über schwache Nerven verfügt, mit ihm
+nähere Bekanntschaft zu machen. Er ist unerschöpflich in Erfindung
+und unübertroffen in Plastik der Darstellung; aber das alles kann das
+Urteil nicht ändern, daß auch seine Romane und Erzählungen von der
+Aufgabe des Romans, ein Bild der Welt zu zeichnen, himmelweit entfernt
+sind.</p>
+
+<p>Auch die bekannte Erzählung <em class="gesperrt">Heinrich von Kleists</em>: <em class="gesperrt">Michael
+Kohlhaas</em> gehört ins Gebiet der Romantik. Auch sie sucht ihre
+Wirkung im starken, auch im erschütternden Eindruck. Aber Michael
+Kohlhaas ist doch von ganz anderem Holz als die Spukgestalten des
+Teufels-Hoffmann.<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> Der Roßhändler Kohlhaas ist eines Schulmeisters
+Sohn und das Muster eines guten Staatsbürgers. Die Kinder, die ihm
+sein Weib schenkt, erzieht er in der Furcht Gottes zur Arbeitsamkeit
+und Treue. Er läßt gezwungenermaßen als Pfand für einen zu lösenden
+Paßschein ein Paar Rappen im Gewahrsam des Junkers von Tronka. Die
+Pferde werden ihm malträtiert, der Knecht, der sie besorgen soll,
+wird mißhandelt. Die herabgekommenen Rappen nimmt Kohlhaas nicht an;
+er legt sich jetzt aufs Prozessieren und beschließt, da er nirgends
+Recht bekommen kann, endlich, sich selber Recht zu schaffen. Und nun
+wird er zum Räuber und Mordbrenner, der das Schloß des Junkers in
+Flammen aufgehen läßt, der mehr als eine Stadt, in welche der Junker
+geflüchtet, einäschert, der den Schrecken der ganzen Gegend bildet.
+Luther selbst legt sich ins Mittel, um den Unhold zu bändigen; aber
+auch seine Mühe ist vergeblich. Kohlhaas führt Krieg mit Fürst und
+Staat und Gesellschaft. Endlich wird ihm sein Recht; und nun geht er
+ruhig in den Tod, der seine Freveltaten lohnt.</p>
+
+<p>Es ist nicht zu verkennen, daß die Romantik in diesem Buch wesentlich
+andere Bahnen einschlägt als in den vorher skizzierten Dichtungen.
+Auch hier dominiert das Außerordentliche, das Furchtbare. Aber wenn
+es auch allzu gehäuft und ins Gräßliche übertrieben ist, es bleibt
+durchaus im Zusammenhang mit dem wirklichen Geschehen. Bis auf ein
+paar mysteriöse Züge, ohne die es freilich nicht abgeht, ist alles
+Geschilderte in roher, gewalttätiger Zeit durchaus möglich. Die
+Erzählung sucht die Verbindung mit dem Leben festzuhalten. In der
+ganzen Absicht derselben aber liegt gewiß auch jene romantische
+Neigung, sich selber gegen Sitte und Brauch, gegen Mehrheit und Zwang
+durchzusetzen, — eine Neigung, der wir in der Lucinde so gut begegnen
+wie in vielen anderen Dichtungen jener Zeit. Aber diese Neigung tritt
+hier weniger im Gewand der Selbstverständlichkeit auf; nicht als
+Führerin<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> ins holde Traumland, in dem sich jeder seine Welt selber
+zimmert, sondern als bewußte, klare, in alle Konsequenzen durchführte
+Auflehnung gegen die Gesellschaft. Und endlich: es ist im Kohlhaas
+nicht subjektive Willkür, welche ihn zu dieser Auflehnung treibt,
+sondern es ist ein heiliges, eingeborenes und schließlich doch auch
+vom Dichter als allgemeingültig anerkanntes Rechtsgefühl, welches
+ihn zum Räuber und Mörder macht. Was er will, ist ja der Schutz der
+Gesetze. Wer ihm diesen versagt, der gibt ihm die Keule in die Hand,
+die ihn selbst schützt. Diese Besonderheit will wohl beachtet werden;
+das Trotzen auf sein Recht steht doch sicher höher als die zügellose,
+rasende Leidenschaft. Und dennoch bleibt es richtig: auch im Michael
+Kohlhaas ist der Mensch das Maß aller Dinge. Der Einzelne stellt sich
+außerhalb aller Ordnung, weil diese Ordnung ihn in einer einzigen
+Angelegenheit nicht schützt. Schließlich ist sein Verhalten in dem
+Plakat, welches Kleist von Luther erlassen sein läßt, doch richtig
+gezeichnet:</p>
+
+<p>»Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der
+Gerechtigkeit zu handhaben, was unterfängst du dich, Vermessener, im
+Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, du, den Ungerechtigkeit selbst
+vom Scheitel bis zur Zehe erfüllt? Weil der Landesherr dir, dem du
+untertan bist, dein Recht verweigert hat, erhebst du dich, Heilloser,
+mit Feuer und Schwert und brichst wie der Wolf der Wüste in die
+freundliche Gemeinheit, die er beschirmt.« —</p>
+
+<p>Die nähere Beziehung jedoch, die Kleists Novelle zu den
+Tatsachen unterhält, zeigt sich auch in ihrer Schreibart. Nichts
+Unklar-Verschwommenes, nur massiv und prägnant Herausgearbeitetes.
+Keine wortreichen Ergüsse; die Tatsachen schaffen die Stimmung. Es
+kann kein Zweifel darüber sein, daß gerade diese von der strengsten
+Romantik sich entfernende Art dem Michael Kohlhaas ein gut Teil seiner
+Wirkung gesichert hat.</p>
+
+<p>Noch enger werden die Beziehungen der romantischen<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> Dichtung zur
+Geschichte in dem Roman »<em class="gesperrt">Die Kronenwächter</em>« von Achim <em class="gesperrt">von
+Arnim</em>. Indes wir werden von diesem farbenprächtigen, wunderschön
+und wunderreich geschmückten Roman in dem Vortrag noch zu sprechen
+haben, der den historischen Roman behandeln wird.</p>
+
+<p>Die Romantik — das hat auch meine knappe Skizze zu zeigen versucht
+— ist nicht auf eine einheitliche Formel zu bringen. Sie geht
+sehr mannigfaltige Wege und verfügt über eine reiche Zahl von
+verschiedenen Farben. Was ist das Gemeinsame aller ihrer Schöpfungen?
+<em class="gesperrt">Daß nirgend das klare, freie, helle Tageslicht der Wirklichkeit
+herrscht.</em> »Heinrich von Ofterdingen« lebt ganz in einer anderen
+Welt; <em class="gesperrt">diese</em> Welt ist nur dazu da, daß der Dichter zu seiner
+Vollendung komme. Von diesem Extrem aus führen viele Stufen zur
+Wirklichkeit hinab. Aber auch wo die Geschichte, die Tatsache stark
+mitspricht, wird sie doch nicht dargestellt, wie sie ist; überall wird
+sie ein wenig ins Geheimnisvolle getaucht, ins Poetische verklärt oder
+ins Ungeheuerliche vergrößert. Die Phantasie ist die Hauptkraft der
+Romantik.</p>
+
+<p>Nur eine kleine Zahl von Typen der romantischen Dichtung konnte ich
+skizzieren. Aber das Bild würde sich nicht wesentlich verändern, wenn
+ich weitere Werke zu zeichnen suchte. Vielleicht würde ihm zu größerer
+Deutlichkeit hie und da noch ein Strich hinzugefügt werden können.
+Wilhelm <em class="gesperrt">Hauff</em>, dessen »<em class="gesperrt">Lichtenstein</em>« noch in anderer
+Umgebung zu nennen sein wird, hat in seinen »Memoiren des Satans«
+und sonst dem Sonderbaren und Unheimlichen durch feinen Humor alles
+Schreckliche genommen; die nervenerschütternden Gräßlichkeiten des
+Amadeus Hoffmann fehlen, und wir verkehren selbst mit dem Satan ganz
+gern, ohne daß ein Schauder uns überkommt. Von jener Literatur der
+neuerwachten Ritter- und Räuberromane, die das Romantische vergröberte
+und<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> zugleich der dichterischen Verklärung beraubte, sei hier erst
+gar nicht gesprochen.</p>
+
+<p>Goethe schuf zwischen dem Roman und der wirklichen Welt deutlichen
+Zusammenhang. Die Romantik ist andere Wege gegangen. Diesen
+Zusammenhang hat sie gelockert, gelöst, ignoriert. Sie hat es im
+Namen einer höheren Macht getan, der Poesie. Aber es war doch ein
+Irrtum, daß sie glaubte, Poesie und Wirklichkeit vertrügen sich nicht.
+Und dieser Irrtum hat die Romantik unfähig gemacht, einen Roman im
+Vollsinn des Wortes zu schaffen. Sie schuf Märchen und Allegorien und
+Phantasien und Schauergeschichten und — im besten Fall — liebliche
+Traumbilder, aber keine Romane. Sie machte Gedanken und Stimmungen und
+maßlose Leidenschaften zu ihrem Thema, aber das eigentliche Leben, das
+vielverzweigte, blieb ihr fremd.</p>
+
+<p>Man glaubt manchmal, der Roman habe das zum Stoff, was im gewöhnlichen
+Wortverstand, der eben schon ein Mißverstand ist, »romanhaft« sei.
+Die Romantik scheint diesen Irrtum zu bestätigen, wenn anders man
+in ihr den Maßstab für das Wesen des Romans sucht. Aber gerade das
+wäre falsch. Richtig werden wir ihr Verhältnis zum Roman und zugleich
+dessen Verhältnis zum Romanhaften so formulieren:</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Die Romantik pflegte das Romanhafte und schuf deshalb keinen
+Roman.</em></p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_7">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Volkserzaehlung">Die Volkserzählung.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Die romantische Dichtung ließ ihre Helden ausziehen, damit sie in
+geheimnisvollem Zauberland die blaue Blume suchten. Eine blaue Blume
+im Zauberland — das ist ihr die Poesie. Wir wundern uns nicht, daß
+die Novalisnaturen sie nicht anders zu verstehen vermochten. Wo sollte
+zur Zeit, da Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen schrieb, die
+Dichtung anders wohnen als im Zauberland? Im Land der Wirklichkeit
+wohnte ja die Aufklärung, wohnten die schön plattgetretenen Ideen von
+Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wohnte die Religion innerhalb der
+Grenzen der bloßen Vernunft. Im Lande der Wirklichkeit regierte das
+grelle, pralle Sonnenlicht der vernünftigen Überlegung. Kein Wunder,
+daß mancher da lieber ein Quantum mystisches Dunkel in Kauf nahm, als
+daß er sich von diesem Sonnenglanz Gemüt und Phantasie ausdörren ließ.
+Die größten unter den Dichtern verstanden es freilich, mitten in der
+Welt zu bleiben und doch Dichter zu sein. Aber die Kleineren mußten
+ihre Dichtkunst ins Zauberland retten.</p>
+
+<p>Die Zeiten, da der Schlüssel Vernunft alle Schlösser schloß, gingen
+vorüber. Die Menschen, die nach der blauen Blume suchten, fanden durch
+die Not der Zeit wichtigere Aufgaben einer schleunigen Lösung harrend.
+Schon hatten die harten Kriegsjahre mit eherner Faust an die Pforten
+geschlagen, hinter denen die Weltflüchtigen ihren Träumen nachgingen.
+Manch einer blieb wach; andere fielen wieder in ihre Träume zurück.
+Auch nachdem das napoleonische Ungewitter ausgetobt hatte, war ihnen
+die<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> lebendige Welt noch nicht schön genug, um darin zu leben. Und
+sie begriffen noch nicht, daß auch der Dichter, wenn ihn der Zeit
+Lauf nicht fröhlich stimmte, Besseres tun konnte als träumen. Aber
+je mehr das neunzehnte Jahrhundert voranging, um so klarer erwachte
+das <em class="gesperrt">Wirklichkeitsbewußtsein</em>. Und wie durchs ganze deutsche
+Volk immer klarer ein Geist der Kritik am Bestehenden und ein Geist
+des sehnenden Schaffens am Neuen zog, so auch durch die Dichtung, und
+nicht zum mindesten durch die Prosadichtung, die am ersten berufen
+ist, der Wahrheit ins Angesicht zu sehen, zu tadeln und zu mahnen.</p>
+
+<p>Dieser neuerstandene Wirklichkeitsgeist aber betätigte sich alsbald
+nach drei sehr verschiedenen Richtungen hin. Zum ersten als <em class="gesperrt">Zeit-
+und Tendenzroman</em>, der ungestüm genug das Alte niederzureißen
+und ein Neues zu schaffen unternahm, der aber im Lauf der Zeiten
+ruhiger und objektiver geworden ist. Zum zweiten suchte eine starke
+Strömung bisher schier unbekannte Welt- und Menschengebiete zu
+erforschen und darzustellen; namentlich der <em class="gesperrt">Bauernstand</em>, <em class="gesperrt">das
+Landleben</em> bot jungfräuliches Land. Und endlich griffen andere in
+die Wirklichkeit vergangener Zeiten zurück; es galt ihnen, früher
+Geschehenes der Gegenwart als Spiegel vorzuhalten oder auch einfach,
+in den abgründigen Tiefen der Geschichte Menschen zu studieren: der
+<em class="gesperrt">historische Roman</em>. Es sind die drei großen Formen des modernen
+Romans, die alle um das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts Wurzel
+zu schlagen begannen, und die späterhin dann noch manche weitere
+Sonderart haben aus sich erwachsen lassen.</p>
+
+<p>Ich beginne hier mit der an zweiter Stelle genannten, mit der
+<em class="gesperrt">Volkserzählung</em>.</p>
+
+<p>Nicht Entwicklung und Beziehungen will ich ausdeuten; es liegt
+mir auch hier nur eins an: die Haupttypen an den anschaulichsten
+Beispielen darzustellen. Und so greife ich drei Dichter heraus,
+denen ein vierter und fünfter ein<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> wenig abseits sich zugesellen
+sollen. <em class="gesperrt">Immermanns</em> Oberhof nenne ich zuerst: da haben wir
+die Volkserzählung in der Wiege. Jeremias <em class="gesperrt">Gotthelf</em> und
+Berthold <em class="gesperrt">Auerbach</em> folgen: zwei Haupttypen der ausgebildeten
+Volkserzählung. Ein wenig abseits stehen dann Otto <em class="gesperrt">Ludwig</em> und
+Fritz <em class="gesperrt">Reuter</em>.</p>
+
+<p>Von <em class="gesperrt">Immermann</em> besitzen wir große Zeitromane: die »Epigonen«
+und »<em class="gesperrt">Münchhausen</em>«: letzterer stammt aus dem Jahre 1839. Es
+ist ein Roman von hergebrachtem Zuschnitt; der Nebentitel: »Eine
+Geschichte in Arabesken« ist bezeichnend. Nach Hebbels Urteil hat
+Immermann die fratzenhaften und nichtigen Bewegungen der Zeit, die
+sich doch ernsthaft geberden, abgespiegelt. Das Urteil ist ganz
+richtig; aber man darf jene Dorfnovelle nicht vergessen, die mitten
+in den Roman hineingestellt ist, mit ihm zwar verwoben, aber doch
+in jener lockeren Art, die es ermöglicht, das Stück vom Ganzen zu
+lösen, wie es denn weitaus den Meisten nur in dieser Loslösung
+unter dem Sondertitel »<em class="gesperrt">Der Oberhof</em>« bekannt ist. Im Oberhof
+haben wir klare, scharfe Wirklichkeitszeichnung. »Nun das muß wahr
+sein,« heißt es einmal darin, »die Idyllenschreiber haben uns die
+Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die schäferlich-zarten, als die
+knolligen Kartoffelpoeten. Sie ist eine Sphäre, so mit derber Natur,
+wie mit Sitte und Zeremonie ausgefüllt, und gar nicht ohne Anmut und
+Zierlichkeit, nur liegt letztere wo anders, als wo sie in der Regel
+gesucht wird.« Der Schauplatz der Erzählung ist das westfälische
+Land, »der Boden, den seit mehr als tausend Jahren ein unvermischter
+Stamm trat,« ein westfälischer Hof, ein Richthof oder Oberhof, der
+älteste und vornehmste Hof einer westfälischen Bauerschaft. Um den
+Hof breitet sich alles Besitztum, welches eine große ländliche
+Wirtschaft nötig hat, aus: Feld, Wald, Wiese, unzerstückelt, in
+geschlossenem Zusammenhange. Auf diesem Hofe regiert der Hofschulze,
+eine Gestalt, deren Geltung<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> zwar von den Mächten der Gegenwart nicht
+anerkannt wird, welche aber für sich selbst und bei ihres Gleichen
+einen längstverschwundenen Zustand auf einige Zeit wiederherstellt.
+In seinem Besitz ist das alte Waffenstück, welches er mit eiserner
+Festigkeit für das Schwert Karls des Großen erklärt, von dem es dem
+ersten Besitzer des Richthofs zum Zeichen der Investitur gegeben sei.
+Wie ein Fürst sitzt der Hofschulze auf seinem Oberhof; heimliche
+Vehmgerichte fällen unter seiner Leitung immer noch ihre Urteile.
+Seine Dienstboten weiß er patriarchalisch und energisch unter seiner
+Leitung zu halten: — ich erinnere an die klassische Szene, in der
+jedes der Knechte und Mägde nach der Mittagsmahlzeit seinen Spruch
+erhält und des Abends die Gedanken mitteilen muß, die es sich darüber
+gemacht hat. Fest und unerschütterlich steht er auf dem alten Recht
+und der alten Sitte. Der Küster heischt vom Oberhof einen zweiten
+Käse; aber der Hofschulze, der auf reichem Hof, zwischen vollen
+Scheuern, vollen Böden und Ställen lebt, will von dieser Forderung
+nichts wissen: auf seinem Hof haftet nur <em class="gesperrt">ein</em> Käse. Bei den
+Hochzeitsbräuchen, bei Einladung und Essen muß alles nach der alten
+Art gehen; weh dem, der, wie der Hochzeitbitter, etwas davon versäumt!
+Gegen Nachbarn, Freunde, Gevattern ist er zu allem bereit, aber sie
+müssen ihm auch immer etwas dafür leisten, und wäre es irgend ein
+kleiner Dienst von geringfügiger Bedeutung. Ein Freund der »Moralen«
+ist der Hofschulze. Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den
+Kindern! Der Mensch sündigt jederzeit, wenn er sich wider etwas setzt,
+was Herkommens ist bei Seinesgleichen. Im Ehestand ist garzuviel
+Liebe schädlich. Auf den Haus- und Ehestand verläßt sich aller
+Handel und Wandel, Nachbarhilfe und Ansprache, Christentum, Kirchen-
+und Schulzucht, Haus und Hof, Rind und Kind. Das sind Moralsätze
+des Hofschulzen; und wenn sie auch, wie der Jäger Oswald sagt,
+ziemlich hausbacken klingen, — es ist doch ein gut<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> Stück gesunden
+Menschenverstandes darin. Freilich, derselbe Hofschulze, dem das Recht
+ein so hochheiliges Ding ist, trägt ein Rechtsgefühl in der Brust,
+das dem des Michael Kohlhaas verzweifelt ähnlich sieht. Wenn ihm das
+Wild des benachbarten Grafen die Felder verwüstet, dann ist es kein
+Unrecht, auch ohne das Jagdrecht mit der Flinte Selbstschutz zu üben.</p>
+
+<p>»Was ist das überhaupt für ein Verbrechen, sein Eigentum gegen die
+Ungetüme, die es fressen und zu grunde richten, zu verdefendieren!
+rief er, indem plötzlich der lachende Ausdruck seines Gesichts in den
+des loderndsten Zornes überging. Die Stirnadern schwollen ihm an, das
+Blut trat dunkelrot in seine Wangen, die Augäpfel verloren ihr Weißes
+und wurden rötlich; man hätte vor dem Alten erschrecken können!«</p>
+
+<p>Der Hofschulze steht im Mittelpunkt der Oberhofnovelle. Aber auch, was
+sich um seine Gestalt herumrankt, ist gleich deutlich geschildert.
+Derb und wahr zeichnet Immermanns Stift; er beschönigt nichts und
+idealisiert nicht; die Sünden der Landbewohner kommen so gut zur
+Sprache wie ihre Tugenden. Ein kraftvolles, erdgewachsenes Geschlecht
+ists, das er abschildert, markig und zäh, steif und fest. Aber er hats
+mit alledem getroffen. Hier weht keine philosophische Luft; hier weben
+sich keine Träume, hier geschehen keine Wunder. Hier verschleiert die
+Poesie nichts, hier meidet sie nicht schamhaft das minder Schöne. Hier
+ist ihr ein heiliges Ahnen aufgegangen, wie sie im innersten Wesen
+verbunden ist mit der wahren und wirklichen Welt, die ihr Kraftquell
+und ihr Jungbrunnen zugleich ist.</p>
+
+<p>Ein <em class="gesperrt">Ahnen</em> nur; wie sonderbar flechten sich die Oberhofkapitel
+in die Gänge des großen Romans mit seinen zerfahrenen Modegestalten
+ein! Ein vereinzelter Meisterwurf war diese Dorfnovelle; anderen war
+es vorbehalten, ihr in ihrer Eigenart zum Eigenrecht gesonderter
+Existenz zu helfen. Die beiden Dichter, denen dieser<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> Ruhm gebührt,
+sind Jeremias Gotthelf und Berthold Auerbach.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Jeremias Gotthelf</em> ist unserer Zeit lange ein Fremder geblieben.
+Erst neuerdings lernt man ihn besser würdigen. Nicht das geringste
+Verdienst an dieser besseren Erkenntnis hat Adolf <em class="gesperrt">Bartels</em>, dem
+die wärmsten Töne nicht warm genug scheinen, wenn er auf Gotthelf
+zu sprechen kommt. Daß er uns schwerer nahkommt als andere Dichter,
+liegt ja zum Teil an der schweizerischen Sprache. Albert Bitzius, ein
+Pfarrer aus dem Kanton Bern, versteckt sich bekanntlich hinter dem
+Pseudonym, das auf dem Titel seiner Bücher steht. Aber es liegt an
+der Sprache nicht allein; Fritz Reuters Sprache ist nicht leichter zu
+erfassen als die von Albert Bitzius. Es liegt wohl neben allerhand
+Zufälligkeiten auch daran, daß die Welt, die er so meisterhaft
+schildert, uns doch eben fremder ist, als die Welt eines Reuter.</p>
+
+<p>Schweizervolk schildert Jeremias Gotthelf wie in seinem Erstlingswerk
+»Der Bauernspiegel«, das zwei Jahre vor dem Immermannschen »Oberhof«
+das Licht der Welt erblickte, so in allen seinen späteren Erzählungen,
+von denen hier nur einige genannt sein mögen: »Uli der Knecht«, »Uli
+der Pächter«, »Leiden und Freuden eines Schulmeisters«, »Käthi die
+Großmutter«, »Elsi die seltsame Magd«, »Wie Joggeli eine Frau sucht«.
+Ganz scharf prägt sich seine Erzählweise bereits im »Bauernspiegel«
+aus. Da berichtet er aus seiner eigenen Jugend: vom wohlhabenden Hof
+des Großvaters, auf dem er die ersten Jahre verbracht, vom harten
+Mühen des Vaters in eigener Pacht, wie er nach des Vaters Tod von der
+Gemeinde vergeben wird und was für verschiedene Bauernhäuser er so
+kennen lernt, wie er dann zum Knecht emporwächst und im Ausland sein
+Heil sucht, schließlich aber nach der Julirevolution ins Vaterland
+zurückkommt. Fast alle Themata, welche er später behandelt, sind in
+diesem, das gesamte<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> Leben des Schweizer Bauern umspannenden Roman
+schon angerührt; nur daß einzelne Seiten desselben dann in besonderen
+Erzählungen gründlicher und breiter besprochen werden. Aber überall
+regiert das Heimatsleben, die Schweizer Art, das Bauernwesen. Und
+eben darin liegt Jeremias Gotthelfs Kraft. Seine Erzählungen sind
+gar nicht reich an Handlung; kein größerer Gegensatz als der zwischen
+seiner ruhigen Nüchternheit und den phantastischen Schreckgeschichten
+eines Amadeus Hoffmann! Sie entbehren der spannenden Verwicklung;
+er verschmäht es, allerhand Knoten zu knüpfen, in deren Lösung der
+Dichter alsdann besondere Fingerfertigkeit aufweisen könnte. Wie
+einfach und schlicht geht der »Bauernspiegel« seinen Weg! Jede
+Episode im Leben des Kindes macht einen Abschnitt aus; jeder neue
+Bauernhof, auf den er für ein oder zwei Jahre kommt, ist als kleines
+Kabinettstück für sich gezeichnet. Keine Spannung, die nicht lediglich
+aus der Sache selber käme, aus der Anteilnahme an dem Menschenkind,
+das von sich berichtet und das von jung auf so mühsam durchs Leben
+gehen muß, und aus dem Interesse, welches die Menschen einflößen, mit
+denen es zu tun hat. Und alle diese Personen sind Alltagsmenschen,
+Durchschnittsgeschöpfe; da ist kein verwickeltes psychologisches
+Problem, da ist nichts Geheimnisvolles; im Gegenteil, alles ist
+sonnenklar. Wo ja etwas dunkel wäre, da leuchtet der Erzähler sicher
+alsbald dahinter, — wie z. B. hinter das lichtscheue Treiben jenes
+guten Ehepaars, das mit Botengängen und Vermittlerdiensten, mit ein
+bischen Aberglauben und einem guten Teil Unredlichkeit sein Leben
+liederlich, aber angenehm zu fristen versteht. Die Schilderung mag
+manches Mal schier gar zu sehr in die Breite gehen; sie ist auch
+sicher nicht selten allzu nüchtern, vor allem wirkt sie zu stark
+moralisierend. Das ist vielleicht überhaupt die größte Schwäche des
+trefflichen Gotthelf, daß er den Leser die Moral nicht selber ziehen
+läßt, sondern daß er sie ihm<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> aufdrängt. Der Hofschulze in Immermanns
+»Münchhausen« zog auch Moralen; und der Jäger nennt sie hausbacken.
+Aber sie sind doch noch poetischer als die erziehlichen Anwandlungen
+des Schweizer Erzählers.</p>
+
+<p>Sie werden zugeben, daß ich die äußere Erzählungskunst Gotthelfs
+nicht allzu rosig geschildert habe. Aber je weniger man sie rühmen
+kann, um so klarer werden seine eigentlichsten Vorzüge, oder, wie man
+mit gutem Grund sagen kann, sein eigentlicher Vorzug. Der besteht in
+der wunderbar engen Beziehung, in welcher er zum wirklichen Leben
+des Schweizer Bauern steht. Im ganzen Gotthelf nichts Unnatürliches,
+Gemachtes, Künstliches, Aufgebauschtes, Übertriebenes; überall nichts
+als Wirklichkeit, nichts als Natur. Seine einzige Kunst ist die, die
+Natur wiederzugeben; aber <em class="gesperrt">diese</em> Kunst hat er aus dem Grunde
+verstanden. Er greift bis in die Tiefen der Natur, auch bis in die
+Tiefen des Gemüts. Er zeigt Roheit und Feinheit auf, Hartherzigkeit
+und Gutmütigkeit, Keuschheit und Reinheit, aber auch Sünde und
+Schande. Er schont seine Bauern nicht; von der Bauernidylle, die
+Immermann verabscheut, ist auch er himmelweit entfernt. Um das alles
+deutlicher zu machen, greife ich ein paar Bilder heraus, in denen
+Gotthelf Mädchentypen zeichnet. Da ist das Vreneli, das wunderliche,
+das mit dem Uli Hochzeit machen will und doch keinen Tag findet,
+an dem es ihm recht wäre, zum Pfarrer zu gehen, um die Hochzeit zu
+bestellen. Am Montag hatte das Vreneli seine Schuhe noch nicht vom
+Schuhmacher, am Dienstag schien ihm der Mond zu heiter. Alle Leute
+würden es ja kennen durch das ganze Dorf, sagte es. Am Mittwoch
+war das Zeichen im Kalender — es war der Krebs — ihm nicht gut
+genug, auch sei der Mittwoch ja eigentlich kein Tag, behauptete es.
+Es ziehe an diesem Tag ja kein Dienstmädchen ein, und so sei das
+Hochzeitangeben noch wichtiger als einen Dienst anzutreten, wo man
+ja das ganze Jahr daraus könne, wenn man wolle.<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> Schließlich gehen
+sie denn am Donnerstag in fürchterlichem Schneegestöber, an einem
+Abend, wo der Wind schaurig pfeift und die Nacht dick und finster
+zu den Fenstern einkam. Und der Pfarrer sagt ihnen das treffende
+Wort: »Was von Gott kommt, das läßt sich alles tragen, wenn zwei in
+Gott eins sind, aber wenn der Eigensinn oder die Wunderlichkeit oder
+die Leidenschaft von Mann oder Weib Unglück über eine Ehe bringen,
+Ärgernis und Elend, und das Unschuldige muß mit aus dem bitteren Kelch
+trinken, muß bei jedem Zuge denken: daran ist mein Gatte schuld;
+wenn er nicht wäre oder anders wäre, so wäre das auch nicht, da
+wird das Leben ein Wermutstrank und der Gang durchs Leben ist noch
+viel ungestümer als euer heutiger Gang.« — Da ist ferner Elsi, die
+seltsame Magd. »Elsi verrichtete, was sie zu tun hatte, nicht nur
+meisterhaft, sondern sie sah auch selbst, was zu tun war, und tat
+es ungeheißen, rasch und still, und wenn die Bäuerin sich umsah, so
+war alles schon abgetan, als wie von unsichtbaren Händen, als ob die
+Bergmännlein dagewesen wären.... Daneben hielt Elsi nichts auf Reden,
+hatte mit niemandem Umgang, und was sie sah im Hause oder hörte, das
+blieb bei ihr, keine Nachbarsfrau vernahm davon das Mindeste, sie
+mochte es anstellen, wie sie wollte. Mit dem Gesinde machte sich Elsi
+nicht gemein. Die rohen Späße der Knechte wies sie auf eine Weise
+zurück, daß sie dieselben nicht wiederholten, denn Elsi besaß eine
+Kraft, wie sie selten ist beim weiblichen Geschlechte, und dennoch
+ward sie von denselben nicht gehaßt.« — Da sind die fünf Mädchen,
+»die im Branntwein umkommen«, freilich nicht anziehend, aber doch
+nach der Natur beschrieben, wie sie in der Schenke sitzen. »Die
+Wirtin brachte die Maß, die Mädchen schenkten ein; aber es sah aus
+wie Branntwein, es roch wie Branntwein, sie tranken es, wie man den
+Branntwein trinkt; ja wahrhaftig, es war Branntwein!« Unter ihnen ist
+Marei mit dem unverschämten<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Gesicht, dessen Züge nichts als Frechheit
+ausdrücken, da ist Elisabeth, unbeholfen und schwammig. »Stüdeli
+wurde das dritte genannt; es hatte ursprünglich schöne Züge, von
+der Seite sogar etwas Nobles. Aber erdfarb war seine Haut, blaß die
+Lippen, zahnlos und krankhaft groß der Mund und glanzlos die großen,
+tiefblauen Augen. Es war lang und hager, reinlich angezogen und tat
+zimperlich. Man sah ihm von weitem an, daß es eine Näherin war.
+Manchmal dünkte es Einem, als flackere etwas Besseres in ihm auf und
+als gieße es den Branntwein nur herunter, um das Bessere zu dämpfen,
+sich zu betäuben. Das gab ihm etwas Träumerisches, das aber immer mehr
+in etwas Stierendes ausartete, je länger es trank.«</p>
+
+<p>Doch genug der Einzelbilder! Jeremias Gotthelf ist groß in ruhiger,
+nüchterner, aber plastisch wahrer Wirklichkeitskunst. Erzählungen
+haben wir von ihm, nicht Romane: dazu fehlt seinen Schöpfungen die
+umfassende, vielseitige Art, die Kraft fortschreitender Handlung,
+die Spannung, welche in der Lösung von Fragen des Lebens und der
+Psychologie liegt. Die Helden dieser Erzählungen erleben mancherlei,
+tun mancherlei, aber das ist nicht die Hauptsache. Für Gotthelf dreht
+sich alles und jedes um die Frage: Wie <em class="gesperrt">sind</em> die Menschen? Was
+tun sie, weil sie so geartet sind, weil diese Sitten sie binden? Mit
+anderen Worten: es ist <em class="gesperrt">keine Romankunst, aber Naturkunst</em>. Die
+Wirklichkeitswiedergabe aber ist überall von ernsten sittlichen Ideen
+getragen. Man hat gemeint, daß seine Kunst naturalistisch sei. Gewiß
+ist sie das; derb genug ist sie auch. Wäre sie es weniger gewesen, so
+wäre sie nicht wahr gewesen. Aber er ist nirgends bloß-naturalistisch;
+durch jede Schilderung auch des Schlimmen will er wirken, will er
+bessern.</p>
+
+<p>Neben Jeremias Gotthelf stelle ich unmittelbar Berthold
+<em class="gesperrt">Auerbach</em>, den Verfasser der »<em class="gesperrt">Schwarzwälder<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span>
+Dorfgeschichten</em>«, deren erste 1843 erschienen sind. Sie sind
+ja weithin bekannt geworden, bekannter als Jeremias Gotthelfs
+Schweizergeschichten. Ein paar Titel mögen hier Platz finden: Der
+Tolpatsch, Die Kriegspfeife, Des Schloßbauers Wefele, Befehlerles,
+Sträflinge, Luzifer, Die Frau Professorin. In Anlage und Umfang sind
+sie recht verschieden; manche sind kurz, skizzenhaft ausgeführte
+Anekdoten, andere wie die drei zuletzt genannten sind reicher
+ausgeführt, werfen Fragen auf und führen in Konflikte hinein. Es
+scheint mir möglich, Auerbachs Art an einer dieser Erzählungen zu
+veranschaulichen; andere mögen zur Vergleichung herangezogen werden.
+Ich wähle als die hiefür geeignetste: »Die Frau Professorin«.</p>
+
+<p>Der Maler Reinhard und der Collaborator Reihenmaier durchstreifen den
+Schwarzwald und machen im Gasthaus beim reichen Wadeleswirt Halt. Dort
+gehn sie jeder seine eigenen Wege. Der Collaborator ist ein Schwärmer
+für Natur und Volk und sucht beides kennen zu lernen; dafür dienen
+ihm Streifzüge in den frischen Wald und in die Sagenwelt, die in den
+Köpfen rumort. Reinhard dagegen freut sich mehr praktisch mit dem Volk
+und an dem Volk. Ihm hats des Wadeleswirts Töchterlein Lorle angetan,
+von der des Collaborators Wort sagt:</p>
+
+<p>»Solch ein Mädchen ist wie ein Lied, das ein ferner Dichter geschaffen
+und zu dem ein anderer die Melodie findet, die Alles und hundertfältig
+mehr daraus offenbart.«</p>
+
+<p>Reinhard und Lorle wollen zusammen gehören. Lorle sagts ihrem Vater:
+»Der Herr Reinhard hat mich gern und ich ihn auch, und er will mich
+und ich will ihn und keinen andern aus der ganzen Welt.« Und der
+Wadeleswirt gibt, wennschon zögernd, nach. Lorle wird des Malers
+Braut und Frau, — des Malers, der als Professor und Inspektor der
+Gemäldegalerie in der fürstlichen Residenz in nahen Beziehungen zum
+Hof stehen muß. Wohl hat Reinhard selber sichs vorgenommen, daß
+sie<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> das frische Naturkind bleiben soll mitten im Trubel der Stadt:
+»Sie bedarf keiner anderen Welt, ich bin ihre ganze Welt.« Aber sie
+wird nicht seine ganze Welt, er für sich allein läßt sich in das
+gesellige Leben der Gesellschaft ziehen, und Lorle vereinsamt. Sie
+kann sich sowieso schwer in die Stadt schicken; die himmelhohen Häuser
+bedrücken sie, die Klatscherei der Kaffeekränzchen stößt sie ab, die
+steifen Formen des Umgangs sind und bleiben ihr fremd. So tritt die
+gegenseitige Entfremdung ein. Reinhard kommt doch nicht darüber weg,
+daß sie ein echtes Naturkind geblieben ist, daß sie die heimische
+Art nicht lassen kann, daß sie frei öffentlich vor dem Schloß mit
+einem schlichten Jungen aus der Heimat spricht, der als Tambour in
+der Residenz steht. Und es paßt ihm erst recht nicht, daß sie, selbst
+in der Audienz bei dem Prinzen, gleich »den Sack umkehrt, mit Kraut
+und Rüben«. Und Lorle fühlt immer stärker das Heimweh, je mehr er
+sie vernachlässigt. Endlich kommt die Katastrophe. Durch mißliebige
+Erfahrungen auch im Beruf geärgert, betäubt sich der Professor im
+Trunk, und Lorle gewinnt, als sie das merkt, die Kraft zum Entschluß,
+in die Heimat zurückzukehren.</p>
+
+<p>Am Beispiel dieser Erzählung möchte ich versuchen, Vorzüge und
+Schwächen der Auerbachschen Dorfgeschichten kurz darzulegen. Ich
+fasse, was zu sagen ist, in einige Sätze zusammen:</p>
+
+<p>1. Auerbach wählt hier wie auch sonst das <em class="gesperrt">Dorfleben</em> zum Stoff
+seiner Geschichten. Aber er will es nicht bloß schildern; er verfolgt
+eine deutlich hervortretende <em class="gesperrt">Absicht</em>. Er <em class="gesperrt">vergleicht</em>
+Dorf und Stadt, Bauer und Städter. Und er <em class="gesperrt">entscheidet zu gunsten
+des Dorfs</em>. Freilich, wenn der Prinz die naive Meinung ausspricht,
+daß die Bauern die glücklichsten Menschen auf der Welt seien, so
+widerspricht ihm Lorle: »Man muß ja schaffen wie ein Tagelöhner und
+Steuern zahlen mehr als ein Baron.« Aber in der Stadt — wieviel
+Gemachtes, Gezwungenes,<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> Geheucheltes, Unnatürliches! Viel höher
+steht die natürliche Kraft und Einfachheit des Dorflebens! Das ist
+Auerbachs <em class="gesperrt">Tendenz</em>. Sie tritt nicht überall so stark hervor wie
+in »Die Frau Professorin«. Aber sie klingt überall mit. Sie macht ihn
+zu Immermanns Genossen; ähnlich wollte ja der ganze »Münchhausen« das
+Bauerntum als Kraftquelle gegenüber der Verbildung preisen. Aber sie
+scheidet ihn von J. Gotthelf, der nichts anderes will, als seinen
+Landsleuten den Spiegel vorhalten, damit sie sich bessern.</p>
+
+<p>2. In dieser Tendenz liegt eine große Gefahr: diejenige <em class="gesperrt">einseitiger
+Schilderung</em>. Gotthelf brauchte diese Versuchung nicht zu bestehen,
+weil er die Tendenz gar nicht hatte. Immermann hat sie überwunden.
+Auerbach ist ihr erlegen. Nicht überall sind seine ländlichen
+Gestalten so ideal, wie in »Die Frau Professorin«. »Diethelm von
+Buchenberg« beschreibt den Entwicklungsgang eines Bauern, der, um
+Hab und Gut, Ansehen und Stellung zu wahren, zum Verbrecher wird.
+Im »Lehnhold« schafft der felsenharte Bauerneigensinn tausendfaches
+Unheil und Elend. Trotz alledem kann ihm der Vorwurf nicht erspart
+werden, daß er idealisiert. Die schlimmen Charaktere haben bei
+ihm leicht gleich etwas Ausnahmsweises, ihre Fehler sind wohl gar
+Übertreibungen berechtigter Eigenheiten. Man mag sie jedenfalls
+nicht so recht zur Charakterisierung des Typus verwenden. Die guten
+Charaktere aber verlieren vor lauter Engelsgüte den Boden der
+Wirklichkeit unter den Füßen. Von Lorle heißt es: »In Demut entfaltete
+Lorle eine Fülle des Liebesreichtums, daß Reinhard staunend und
+anbetend vor ihr stand. Der Schluß ihrer Rede aber war fast immer.
+»Ach Gott! ich bin dich nicht wert!«« Ausdrücke wie »herrliche,
+einzige Frau«, »Naturschatz« sind gar nicht selten. Ähnlich die anderen
+Personen: der Wadeleswirt in seiner Derbheit und Bravheit, der
+Wendelin in seiner stillen Schwärmerei, die Bärbel in ihrer rührenden<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span>
+Treue. Das sind Lichtgestalten, aber darum noch keine Naturgestalten.</p>
+
+<p>3. Schwerer fällt zu Auerbachs Ungunsten ins Gewicht, daß er, selbst
+von der Neigung zu idealisieren abgesehen, in der Zeichnung seiner
+Bauern doch <em class="gesperrt">nicht ganz die rechten Farben getroffen hat</em>. Ein
+neuerer Beurteiler nennt seine Erzählungen »treuherzig und mit jenem
+gesättigten Humor im Ton, welcher dem Bauernverstand eine gewisse
+Überlegenheit gibt«. Das mag stimmen, aber es genügt nicht, um den
+Eindruck der Echtheit zu erwecken. Adolf <em class="gesperrt">Bartels</em> konstatiert
+z. B. bei der Geschichte »Ivo, der Hairle«, daß die Entwickelung in
+den Hauptzügen richtig gegeben ist; »ein letztes Etwas fehlt einem
+aber doch«. Was ist dies letzte Etwas, das übrigens keineswegs allein
+bei dieser einen Erzählung fehlt? <em class="gesperrt">Bartels</em> selbst erklärt: »In
+den letzten Gründen weiß er nicht immer Bescheid, er legt unter und
+deutelt hinein und erreicht nicht die absolute Echtheit, die Jeremias
+Gotthelf bis in die letzte Gebärde und den geheimsten Seelenvorgang
+aufweist.« Aber auch dies bedarf wieder der Begründung. Woran liegts,
+daß Auerbachs Dorfgestalten nicht absolut echt sind? Meiner Meinung
+nach an einem Dreifachen: Zunächst an der <em class="gesperrt">geringeren Bedeutung,
+welche Sitte und Brauch für seine Geschichten haben</em>. Theoretisch
+hat er die ganz richtige Einsicht gehabt: »Nicht die Sittlichkeit
+regiert die Welt, sondern eine verhärtete Form derselben: die
+Sitte. Wie die Welt nun einmal geworden ist, verzeiht sie eher eine
+Verletzung der Sittlichkeit als eine Verletzung der Sitte«. Hier
+liegt tatsächlich der Schlüssel für das Verständnis des Bauern. Mit
+diesem Satz hat Auerbach den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber
+in der Ausführung tritt die Sitte ganz zurück. Denken wir an eine
+einzige kleine Szene bei Gotthelf wie z. B. an die, wo Vreneli den
+Gang zum Pfarrer wieder und wieder aufschiebt. Jeder Satz zeigt die
+Verknüpfung von Sitte und<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> Tun. Am Mittwoch geht sie nicht, weil das
+als Unglückstag gilt; kein Dienstbote zieht da an. Am Dienstag ist
+das Zeichen des Kalenders nicht recht: die Welt des Aberglaubens tut
+sich auf. Am Montag scheint der Mond zu hell; die Mädchen mögen
+bei diesem wichtigen Gang sich nicht gern anstaunen lassen. Und so
+gehts fort. Das ist ein Meisterstück in der engsten Gründung von
+Rede und Handlung auf Brauch und Sitte. Wo fände sich ähnliches bei
+Auerbach? Es ginge ja auch so, daß schlichte, ruhige Schilderung der
+Heimatsart des Bauern die Erzählung trüge. Im »Oberhof« hat sich
+Immermann gar nicht gescheut, ziemlich lange Episoden zu geben, die,
+mit der Handlung nur lose verbunden, eben die Welt beschreiben, in
+welcher der Bauer lebt. Auerbach hat auch das verschmäht, bis auf
+dürftige Ansätze, bei denen zudem der Bauer immer gleich mit dem
+Städter verglichen wird. Der Hintergrund ist bei den »Schwarzwälder
+Dorfgeschichten« nicht genügend ausgearbeitet. Warum nicht etwas mehr
+Brauch und Sitte bei der Hochzeit von Reinhard und Lorle? Was für
+eine schemenhafte Schilderung des Sonntagmorgens im Dorf am Anfang
+der »Sträflinge«! Es fehlt am Hintergrund. Wir sehen und hören die
+Bauern, aber wir erleben nicht ihren naturwüchsigen Zusammenhang
+mit ihrer Scholle, mit Arbeit und Erholung, mit Ordnung und Sitte.
+Damit hängt dann ein Anderes eng zusammen: auch <em class="gesperrt">die Denkweise
+der Schwarzwälder Bauern ist keineswegs echt</em>. In ihre eigensten
+Gebiete führt Auerbach überhaupt nicht ein. Was er sie sonst reden
+läßt, das hat einen Anstrich von liberalen Zeitideen, der ja dazumal,
+in den vierziger Jahren, sich auch beim Bauernstand gefunden haben
+mag, der aber jedenfalls Anstrich ist, auch durchaus nichts, was die
+<em class="gesperrt">Eigenart</em> des Bauern zu bezeichnen geeignet wäre. Es sind gute
+Menschen, die er vorführt, und es mögen ganz schöne Ideen sein, die
+sie da vorbringen. Aber Bauerngedanken<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> sinds nicht. Schließlich
+trägt auch die <em class="gesperrt">Sprache</em> Schuld, welche Auerbachs Schwarzwäldler
+reden. Helmuth <em class="gesperrt">Mielke</em> erklärt sie für eine »schlichte und warme
+Sprache, die den Mundatem des Volkes selbst bekundet!« Das Gegenteil
+ist richtig. Die Worte sollen getrost für echt gelten, die Sprache ist
+darum doch nicht echt. Was z. B. das Lorle in der Audienz beim Prinzen
+alles zusammenschwatzt, das ist ganz und gar nicht dörflich schlicht;
+das ist forciertes, gemachtes Bauerntum. Kurz, Auerbachs Dorfgestalten
+haben keinen Erdgeruch; es sind Salondörfler.</p>
+
+<p>4. Zur Charakteristik seiner ganzen Erzählweise mag an vierter
+Stelle die Art erwähnt sein, <em class="gesperrt">wie er Stoffe wählt und Probleme
+gestaltet</em>. Auch diese Art ist nicht schlicht natürlich. Gerade
+»Die Frau Professorin« liefert dafür den glänzendsten Beweis. Ein
+Künstler, der in nächster Beziehung zur Hofgesellschaft steht,
+heiratet ein schlichtes Gastwirtskind vom Lande. Noch dazu ein
+Mann, der sich gar keine Mühe gibt, ein warmes Familienleben zu
+gründen, bei dem es dem verpflanzten Dorfkind wohl sein kann. Und
+das Dorfkind seinerseits bleibt so stocksteif auf der alten Art, die
+doch eigentlich nur in der Negation sich zeigt, daß man wirklich ein
+bißchen mehr Verständnis, ein klein wenig mehr Akkommodationsfähigkeit
+erwarten dürfte. Das ist kein typisches Sittenbild; das ist
+die Geschichte einer Torheit, welche durch die Narrheit der
+Hauptbeteiligten auf die Spitze getrieben wird! Aber auch in anderen
+Erzählungen bleibt Auerbach ungern beim rein, intim Dörflichen.
+Überall spielt das Städtische hinein. In »Die Frau Professorin«
+tritt das Dörfliche nirgends für sich auf, vielmehr durchweg nur in
+Verbindung mit den Erlebnissen des Malers und des Collaborators. Die
+»Sträflinge« bringen ein ganz fremdartiges Element ins Dorfleben
+hinein: die aus Barmherzigkeit aufgenommenen entlassenen Gefangenen.</p>
+
+<p>Ich fasse mein Urteil über Auerbach kurz dahin zusammen:<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> Er
+verherrlicht das Landleben, den Bauernstand. Er entnimmt dem
+bäuerlichen Leben seine Stoffe und seine Probleme. Aber <em class="gesperrt">er geht
+nicht genug in die Wurzeltiefe dörflicher Art hinein, er nimmt den
+Bauern nicht im Zusammenhang mit seiner Scholle. Und so lernt man den
+Bauernstand selbst durch ihn nicht kennen.</em></p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Gehören die beiden, die ich nun nenne, auch noch zu den
+Dorfgeschichtenschreibern? <em class="gesperrt">Otto Ludwig</em>, meine ich, mit
+seiner »<em class="gesperrt">Heiterethei</em>« und seinem »<em class="gesperrt">Zwischen Himmel und
+Erde</em>« und dann der allbekannte, reichlich gelesene und
+vielgeliebte <em class="gesperrt">Fritz Reuter</em>? Otto Ludwig kann man den Titel
+des Dorfgeschichtenverfassers mit guten Gründen abstreiten. »Himmel
+und Erde« ist eine städtische Geschichte; das Dachdeckerhandwerk
+bildet ihren Mittelpunkt. Zudem liegt es ihrem Schöpfer gar nicht
+am Herzen, Sitte und Art zu zeichnen; keine Erzählung, die tiefer
+ins Psychologische ginge und weniger über das Psychologische
+hinausginge als diese. Ein Meisterstück an Feinheit, Geschlossenheit,
+Entwicklung, Spannung und Kraft! Wer sie noch nicht las, sollte sie
+eilig zur Hand nehmen! Aber eine Dorfgeschichte? — Nein. Und auch
+die »Heiterethei« liegt ein Stück ab vom Oberhof und von Jeremias
+Gotthelf; am wenigsten vielleicht von Auerbach. Nicht das Dorf ist
+ihr Schauplatz; ein Städtchen ist der Tummelplatz ihrer Gestalten.
+Hier leben der hustende Weber, der Schneider, der trotz seiner dreißig
+Jahre von seiner baumlangen Stiefmutter als der »Jung« betrachtet und
+bis zu den handgreiflichsten Konsequenzen auch so behandelt wird, der
+Morzenschmied, der ein Schabernack ist, obwohl er immer so duchsig
+tut. Hier hausen und klatschen die wichtigen und die minder wichtigen
+Weiber, die Gringelwirts Valtinessin, die das Recht hat, von allen
+Frauen am vornehmsten zu träumen, und vor deren Übelnehmen die anderen
+alle<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> sich fürchten, — die Frau Tüncherin, die der Valtinessin gleich
+gern zugesteht, daß der Hahn, den sie im Traum hat krähen gehört, kein
+rechter Luckenbacher gewesen ist, weil er ander Wetter gekräht hat,
+was die Valtinessin doch nicht wahrhaben will, — da ist die Weberin
+und die Schmiedin, die, während ihr Mann ihr halb wider Willen etwas
+Neues berichtet, schon immer im Geist beim Kaffeeklatsch ist und
+sich selber sieht, wie sie unter allgemeiner Spannung die Neuigkeit
+weitererzählt. Im Städtchen Luckenbach aber hausen vor allem auch die
+beiden Hauptpersonen, die Dorle mit dem blonden Zopf und den vollen
+Lippen, die so munter ist, daß man sie Heiterethei genannt hat: »Der
+Name tanzt ordentlich wie das Mädle selber.« Ein Prachtmädel, diese
+Heiterethei! Kein braver Mädel im ganzen Städtel; aber auch keins
+mit einem flinkeren Mund. Mit dem Schiebkarren fährt sie zum Markt;
+auf dem kräftigen Karren ruht ein tüchtiger Strick. Nun fragt der
+Schneider:</p>
+
+<p>Aber was willst du dir nur holen damit?</p>
+
+<p>Einen Mann, lachte der Schmied.</p>
+
+<p>Einen Schmied, entgegnete das Mädchen ernsthaft. Die muß man mit
+Stricken binden, wenn sie vom Markt heim nicht in jedem Wirtshaus
+einkehren sollen.</p>
+
+<p>Die Schneider nicht? fragte der Schneider fast neidisch.</p>
+
+<p>Auch, sagte das Mädchen, nicht wegen der Wirtshäuser, nur, daß sie der
+Wind nicht vom Schiebkarren bläst.</p>
+
+<p>Du mußt den Holder-Fritz frein, hustete der Weber. Wenn ihr einen
+Jungen kriegt, der jagt den Kirchturm von der Kirch' und zur Stadt
+hinaus.</p>
+
+<p>Das käm' zu spät, sagte das Mädchen ruhig. Bis dahin habt ihr ihn
+hinausgehustet.</p>
+
+<p>Wo stellt ihr ein auf dem Markt, Annedorle? fragte der Schmied.
+Heimwärts führen wir uns.</p>
+
+<p>Ihr werdet wohl einen brauchen, der euch führt, sagte das Mädchen; ich
+nicht. —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p>
+
+<p>Und neben der Heiterethei steht der Holder-Fritz, der flotte und
+lustige Holder-Fritz, der nachher mit einem Mal anders wird. Wie der
+Holder-Fritz und die Heiterethei, beide starke, trotzige Seelen, sich
+mögen und sich trotzen und endlich sich einigen, das beschreibt alles
+die »Heiterethei«.</p>
+
+<p>Eine Dorfgeschichte ist das nicht, aber weit davon ists auch nicht.
+Das Städtchen ist ja eins von denen, in deren Tätigkeit Ackerbau und
+Gewerbe sich teilt. Und eine Volkserzählung ists ganz gewiß. Nur
+nicht so schlicht, wie die von J. Gotthelf; der kann einem hiergegen
+beinahe pedantisch vorkommen. Und auch nicht so gravitätisch wie der
+Oberhof. Nein, viel flotter, lustiger, leichter geschürzt. Und doch
+viel mehr Kompositionskunst, viel mehr Entwicklungsenergie, viel
+mehr psychologische Feinmalerei als nüchterne Beschreibung. Eine
+Volkserzählung, die den Titel »Novelle« vollauf verdient, weil sie ein
+sorgsam bedachtes Kunstwerk ist. Der Realismus ist freilich nicht mehr
+Alleinherrscher; er hat den Humor und die Satire zur Seite.</p>
+
+<p>Ein prächtiges Gegenstück zu dieser Art bildet unser lieber <em class="gesperrt">Fritz
+Reuter</em>. Was brauche ich da Titel aufzuzählen? Ihn kennt ja
+ein jeder. Freilich, vor allem meine ich und denke ich an seine
+»Stromtid«, dies Buch, das dem deutschen Volk, wenigstens dem
+gebildeten Teil desselben, so ganz zu eigen geworden ist. Auch Fritz
+Reuter ist Volkserzähler. Seine Dichtung wurzelt mit tausend Wurzeln
+im mecklenburgischen Land, im norddeutschen, ja im ganzen deutschen
+Volk. Hawermann und seine Lowise, Unkel Bräsig, die lütte Fru Pastern,
+Jochen Nüßler und die Madam Nüßlern, die Druwäppel Mining und Lining,
+sind das nicht wundervolle ländliche Charaktergestalten? Giebts nicht
+desgleichen Pomuchelsköppe sowohl wie Rambows, Kandidaten wie Rudolf
+und Gottlieb, Eleven wie den famosen Triddelfitz überall im deutschen<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span>
+Land? Und blickt man nicht tief, tief hinein in des Landmanns Last und
+Lust, in der Fru Pastern Freud und Leid, in der Tagelöhner Arbeit und
+Sorgen? Ja, Reuter greift tief hinein ins Leben des Volks, ins Herz
+des Volks. Er ist zugleich in alledem klar, treu und wahr. Und darum
+gehört, was er geschrieben, zur Volkserzählung. Und es gehört unter
+ihren Schöpfungen nicht an den letzten Platz.</p>
+
+<p>Nur bleibt dem, der die Eigenart der Erscheinungen gegen einander
+abwägt, doch die Pflicht, seiner Art innerhalb der Volkserzählung
+ihren ganz besonderen Platz anzuweisen. Reuter steht Otto Ludwig und
+seiner »Heiterethei« der Art nach am nächsten, wie er übrigens auch
+der Zeit nach mit ihm eng zusammengehört. Die »Heiterethei« erschien
+1854, »Zwischen Himmel und Erde« 1856, während Reuters literarische
+Tätigkeit 1853 mit den »Läuschen un Rimels« begann und dann bis
+1862-64, der Zeit der »Stromtid«, währte. Wie Ludwig führt auch er nur
+nebenbei in alle die Sitten und Zustände ein, in Volkes Sonderwesen
+und Eigenbräuche. All das spielt hinein, aber es klingt nur leise
+mit. Ein Milieudichter ist Reuter nicht, ein naturalistischer —
+trotz ein paar derber Stellen — erst recht nicht. Ihm hebt sich aus
+allem der Mensch heraus; der bleibt ihm die Krone, die alles andere
+zurücktreten läßt. Und das hat zur Folge, daß die Heimatsfarbe, der
+Erdgeruch minder deutlich wird. Sobald der Dichter den Menschen vor
+allem als Menschen nimmt und nicht als Schweizer oder Schwarzwälder
+oder Mecklenburger, sobald werden die Konturen der Zeichnung blasser.
+Reuter und Ludwig haben das getan. Und wie Ludwig hat auch Reuter
+mindestens in der »Stromtid« die einfach fortschreitende Form der
+Erzählung verlassen; ja, die »Stromtid« ist noch in anderem Sinn ein
+formgerechtes Kunstwerk als die »Heiterethei«. Sie steht in dieser
+Hinsicht am besten mit »Zwischen Himmel und Erde« zusammen.<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> Nur
+daß dies durch und durch Novelle ist, während die »Stromtid« ebenso
+durch und durch Romancharakter hat. Wir mögen sie nur deshalb nicht
+gern so nennen, weil wir bei dem Wort Roman jenen fatalen Nebensinn
+mitzudenken gewohnt sind, der doch gar nicht dazu gehört und der zu dem
+Einfachen, Schlichten, Volkstümlichen in Reuter nicht stimmen will.
+Aber an der Tatsache ändert das nichts: die »Stromtid« ist in Anlage
+und Durchführung, in Vorbereitung, Konflikt und Lösung ein volles,
+rundes Meisterwerk der künstlerisch gestalteten Prosadichtung. Und
+auch das gibt ihr neben der schlichten Volkserzählung ihre besondere
+Stellung. Endlich aber, und das ist das Beste, merkt man es Reuter
+ganz deutlich an: ihm liegt am bloßen Malen überhaupt herzlich wenig.
+Ihm ist des Dichters Aufgabe anders gefaßt: nicht einen Spiegel hält
+er den Menschen vor, sondern er zieht sie mit all ihrem Denken,
+Wollen und Fühlen hinein in das Menschengeschick, das er vor den
+Lesern sich aufrollen läßt. Ihm darf der Leser nicht objektiv über
+dem Stoffe stehen bleiben, kein Beobachter sein, der sich freut, wie
+gut die lieben Menschenkinder von da und von dort abkonterfeit sind.
+Hier müssen sie miterleben, mitfühlen, mitjauchzen, mittrauern, ja
+unbedingt auch mitweinen! Wir wissen alle, wie trefflich ihm das
+gelungen ist; wer hat nicht selber mit durchgemacht, was die Leutlein
+alle dort im mecklenburgischen Dorf erlebt haben! Reuter hat es
+wie kein Zweiter verstanden, den Menschen bei <em class="gesperrt">der</em> Seite zu
+fassen, bei der er am ehesten kühle Zurückhaltung, kritische Laune
+und objektiven Stolz verliert: beim <em class="gesperrt">Gemüt</em>. Lustig sein und
+traurig sein, beides mag das deutsche Gemüt gern. Reuter hat ihm
+beides gegönnt; so herzinnig lachen und so herzbrechend weinen, wie
+bei der Lektüre der »Stromtid«, kann man kaum bei einem anderen
+Buch. Vielleicht hat er die Gemütssaite <em class="gesperrt">zu</em> oft angeschlagen?
+Ich will nicht streiten; aber rührselig ist er doch nicht geworden.
+Es<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> dominieren doch der stille Ernst und der fröhliche, selige,
+goldene Humor. Fritz Reuter muß man lesen, wenn die Menschen, die
+sich lieb haben, um den Lampenschein traulich zusammengerückt sind;
+am allerbesten zur Weihnachtszeit, wenn das Herz ein bischen stärker
+klopft, als es sonst wohl tut.</p>
+
+<p>Aber ich breche ab. Was hab' ich gewollt? Die Volkserzählung aus
+der Mitte des Jahrhunderts galt es zu charakterisieren. Von 1839,
+da Immermanns »Münchhausen« erschien, sind wir bis zum Anfang der
+sechziger Jahre gewandert, in denen Fritz Reuter die »Stromtid«
+schuf. Zwei reichliche Jahrzehnte, gerade die Mitte des Jahrhunderts
+ausfüllend! Für literarische Entwicklung doch eine kurze Spanne Zeit.
+Trotzdem ist gerade auf diesem Gebiet Reichliches in ihr geschehen. Wo
+blieb die träumende Romantik? Der Geruch der Scholle vertrieb sie. Die
+einfache, derbe, nüchterne Wirklichkeit heischte ihr Recht. Man packte
+sie, wo sie am wirklichsten war, im Bauernleben. Man wollte nichts
+haben als Wirklichkeit. Wer viel Süßes gegessen, hungert nach einem
+Bissen Brot! <em class="gesperrt">Was Kunstform und Problem? Was Konflikt und Lösung?
+Leben! war die Losung, nur Leben.</em> Aber auch diese Forderung hatte
+ihre Zeit. Zwar ins schlichte Leben hineingreifen, nicht bloß ins
+wunderbare, das wollte man auch weiter. Aber der Mensch, die Seele,
+das Gemüt ward wichtiger als die Natur. Und die Kunstform stellte sich
+wieder ein. Sie hatte an Schlichtheit von ihrem Gegenstand gewonnen;
+und sie half so auch der Volkserzählung zur künstlerischen Vollendung.
+Aber Kunst und Natur vertragen sich schwer; auch hier trat die Natur
+ins zweite Glied. Immerhin, man hatte gelernt, zu sehen und Gesehenes
+zu zeigen. Man blieb wahr und man blieb nüchtern. <em class="gesperrt">Die Romantik war
+tot; die Wirklichkeit hatte gesiegt.</em></p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_8">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_tendenzioese_Zeitroman">Der tendenziöse Zeitroman.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Der Roman tritt in gewollte, neue, enge Verbindung mit der
+Wirklichkeit. Goethe wirkt, nicht die Romantik. Nicht in der
+Volkserzählung allein geschieht das: warum sollte man nur das
+»Volk« beachten und nicht die Welt in ihrer ganzen Breite und Weite
+nehmen? Lagen denn nicht tausend Anlässe vor, ihre Zustände zu
+ergründen, zu durchforschen, zu kritisieren? War denn nicht eine
+Zeit hereingebrochen, in der der Blick sich weitete und schärfte?
+Die Sturmesgewalten der Revolution waren im Anzug; und ihnen voraus
+gingen Windstöße, die alte, festgewurzelte Anschauungen aufwühlten
+und zu neuen Bildungen Anlaß gaben. Was Wunder, daß die öffentlichen
+Angelegenheiten, daß die Fragen der Politik und Gesellschaft, des
+Staats und der Kirche, der Aristokratie und der Demokratie in jenen
+Jahren vor den Stürmen von 1848 und ebenso in den folgenden Zeiten
+auch die Dichter nicht ruhen ließen? Auch ihr Interessengebiet wurde
+weit und groß: es erstreckte sich über alles das, was die Zeit
+bewegte. Der Roman war nicht die einzige Form der Dichtung, welche
+den Pulsschlag der Zeit spüren ließ. Wie hell klangen die Sturmlieder
+eines Herwegh und Freiligrath! Aber <em class="gesperrt">auch</em> im Roman pulsierte die
+Zeit; er ward zum <em class="gesperrt">Zeitroman</em>.</p>
+
+<p>Konnte es anders kommen, als daß die Betrachtung der Zeit in
+der Dichtung zunächst alles andere war, nur nicht ruhig, kalt,
+unparteiisch und objektiv? Wir verstünden es nicht, wäre es anders
+gewesen. Eher ist die Dorferzählung mit ihrer darstellenden Art
+ihrer Zeit fremd als der tendenziöse Roman. Genau betrachtet,
+zahlt übrigens<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> auch die Dorfgeschichte der Zeit ihren Tribut. Der
+»<em class="gesperrt">Oberhof</em>« ist ja ein Kompositum einzelner Kapitel aus einem
+Zeitroman; er gibt Wirklichkeit, aber eben mit dieser Schilderung
+der Wirklichkeit verfolgt sein Verfasser eine bestimmte Absicht. In
+<em class="gesperrt">Auerbachs</em> Erzählungen wirkt eine ganz ähnliche Tendenz; das
+Land wird gegenüber dem städtischen, höfischen Wesen verherrlicht.
+Auch die politischen Ideen spielen hier hinein. Und die ruhigsten,
+objektivsten Dorfgeschichten, die überhaupt geschrieben worden sind,
+stammen nicht aus dem vielbewegten deutschen Land, sondern aus der
+Schweiz, wo der Kampf um Fürstenrecht und Volkesrecht nur mitgefühlt
+und so miterlebt, aber damals nicht ebenso mitgekämpft wurde!</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Der Zeitroman ward also zum Tendenzroman.</em> Er hat Stadien
+erlebt, in denen die Tendenz darin fast die Zeit tötete, d. h. in
+welchen die Darstellung des Bestehenden gegenüber den Plänen zum
+Kommenden kaum zur Geltung kam. Hierher gehören die <em class="gesperrt">jungdeutschen
+Romane</em> aus den dreißiger Jahren. Unter ihnen ragen die Werke
+Heinrich <em class="gesperrt">Laubes</em> und Karl <em class="gesperrt">Gutzkows</em> hervor. Heinrich
+<em class="gesperrt">Laube</em> schuf damals (1833) den ersten Teil des Romans »<em class="gesperrt">Das
+junge Europa</em>«, dessen später erschienene Teile viel abgeklärtere
+Art tragen. Die einzelnen Bände haben Sondertitel; Bd. <em>I</em>:
+Die Poeten; Bd. <em>II</em>: Die Krieger; Bd. <em>III</em>: Die Bürger.
+Nicht das, was erzählt wird, fesselt; in der Handlung fehlt jede
+Einheitlichkeit, Entwicklung und Geschlossenheit. Es dreht sich
+alles um Liebesabenteuer der jungen Poeten, und zwar um solche, die
+der theoretisch verfochtenen Freiheit in Religion und Sittlichkeit
+vollkommene praktische Folge geben. Aber die Hauptsache sind die
+Ansichten, die breit und gründlich zur Aussprache und zum Siege über
+andere Ansichten gelangen. Der Gegensatz gegen die Romantik kommt zum
+scharfen Ausdruck; die gesunde Natur wird gepriesen, zugleich aber
+auch ihre völlige Ungebundenheit. Keine Vorschrift der<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> Religion und
+keine der Moral wird anerkannt; die Natur hat Recht, auch mit ihrer
+Sinnlichkeit. In der Politik aber gilt selbstverständlich allein das
+Volk, ja sogar das Volk in verschwommener Allgemeinheit; nicht als
+Einzelvolk, als Nation, sondern als Summe von Weltbürgern.</p>
+
+<p>Es ist nicht meine Absicht, alle Romane jener jungdeutschen Epoche
+hier zu charakterisieren. In allen herrscht der gleiche, gärende
+Geist, die gleiche Auflehnung des Einzelnen gegen die hergebrachte
+Ordnung wie der Masse gegen das Gefüge des Staats und der Kirche.
+Im übrigen sind sie verschieden genug. Da ist Karl <em class="gesperrt">Gutzkows</em>
+»<em class="gesperrt">Maha Guru</em>« (1833), dessen Schauplatz weitab in Tibet liegt,
+dessen Angriffsobjekt aber doch das Christentum ist; da ist aus dem
+Jahre 1835 desselben <em class="gesperrt">Gutzkow</em> »<em class="gesperrt">Wally, die Zweiflerin</em>«,
+eine Fortsetzung dieses Kampfes gegen das Kirchentum. Die Heldin
+zweifelt an allem, insbesondere auch an jeder Religion. Religion ist
+ihr ein »Produkt der Verzweiflung«. Sie gibt sich schließlich selbst
+den Tod. Der Roman knüpft an an die wunderbare Tatsache, daß Karl
+Gutzkows Gattin Charlotte sich selbst den Tod gegeben hatte, um durch
+diese Tat ihren Garten mit neuer dichterischer Kraft zu erfüllen.
+Und wie diese Tat, welche das Werden des Romans mitbestimmte, so
+ist die gesamte Ideenwelt desselben outriert, überleidenschaftlich,
+schließlich unwahrscheinlich. Nicht vergessen soll werden, daß in
+»Wally, die Zweiflerin« zugleich die Frau als Frau neue Geltung
+beanspruchte. Die enge Verbindung, in welche hier Emanzipation der
+Frau und Emanzipation von aller Religion, überhaupt von allem Gewissen
+traten, ist für die Zukunft nicht ohne Einfluß geblieben.</p>
+
+<p>Aber wir eilen vorwärts. Gutzkows »<em class="gesperrt">Seraphine</em>« (1838), sein
+Erziehungsroman »<em class="gesperrt">Blasedow und seine Söhne</em>« (1838), die anderen
+jungdeutschen Kraftromane können nur genannt werden. Aus der Sturm-
+und<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> Drangperiode des Zeitromans, die man etwa bis zur Revolution
+datieren kann, retten wir uns in die Periode des <em class="gesperrt">abgeklärteren
+Zeitromans</em>. Auch hier Tendenz, überall Tendenz. Aber die Tendenz
+macht nicht mehr die Zeitdarstellung tot; sie läßt dieser größeren
+Raum und größere Ruhe. Der Grad dieser Ruhe ist freilich verschieden.
+Zwei Klassen des Zeitromans bilden sich, jenachdem die Tendenz
+stärker oder schwächer ist, jenachdem die Darstellung weniger oder
+mehr objektiv geraten ist. Wohl gehen beide Gattungen in einander
+über, wohl kann man schwanken, welcher von beiden der eine oder
+der andere Roman zuzuteilen ist. Aber es sei dennoch gewagt, die
+<em class="gesperrt">Unterscheidung</em> festzuhalten <em class="gesperrt">zwischen dem tendenziösen und
+dem objektiven</em>, oder, um vorsichtiger zu sein, zwischen dem mehr
+tendenziösen und dem mehr objektiven <em class="gesperrt">Zeitroman</em>.</p>
+
+<p>Die Zahl der Zeitromane der ersteren Art ist groß, zumal wenn man nun
+alsbald auch in die späteren Jahrzehnte des Jahrhunderts hineingreift.
+Gegen die Titanen der Revolution nimmt Stellung A. <em class="gesperrt">Widmann</em>:
+»<em class="gesperrt">Der Tannhäuser</em>«, gegen die irreligiöse Weltanschauung
+Elisabeth <em class="gesperrt">Cantz</em>: »<em class="gesperrt"><i>Eritis sicut Deus</i></em>« (1854).
+Stark tendenziös sind die Romane von <em class="gesperrt">Spiller von Hauenschild</em>
+(Pseud.: Waldau), von denen nur der 1851 erschienene »<em class="gesperrt">Nach der
+Natur</em>« genannt sein mag. Proletarisch-sozialistische Tendenzen
+verfolgt Robert Prutz (besonders »<em class="gesperrt">Engelchen</em>« 1851). Bedeutender
+sind die schon minder stark tendenziösen späteren Romane von
+Karl <em class="gesperrt">Gutzkow</em>: »<em class="gesperrt">Die Ritter vom Geist</em>« (1850/51) und
+»<em class="gesperrt">Der Zauberer von Rom</em>« (1856/61), die Schöpfungen Friedrich
+<em class="gesperrt">Spielhagens</em>, von denen insbesondere »<em class="gesperrt">Problematische
+Naturen</em>« (1860/61), »<em class="gesperrt">Die von Hohenstein</em>« (1863), »<em class="gesperrt">In
+Reih und Glied</em>« (1866) hierher zu rechnen sind, und von noch
+späteren Werken diejenigen von Paul <em class="gesperrt">Heyse</em>: »<em class="gesperrt">Die Kinder der
+Welt</em>« (1873) und »<em class="gesperrt">Im Paradiese</em>« (1885).<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> Zu eingehenderer
+Betrachtung greife ich heraus: Gutzkow »Die Ritter vom Geist«,
+Spielhagens »Problematische Naturen« und Heyses »Kinder der Welt«.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Gutzkows</em> »<em class="gesperrt">Ritter vom Geist</em>« geben sozusagen das Programm
+des gesamten Zeitromans der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ein
+ausführliches Vorwort gibt darüber Auskunft. Der Roman erlebt eine
+neue Phase. Er soll mehr werden, als der Roman von früher war. »Der
+Roman von früher .... stellte das <em class="gesperrt">Nacheinander</em> kunstvoll
+verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer
+klassischen Unglaubwürdigkeit! .... Oder wer sagte Euch denn, ihr
+großen Meister des alten Romans, daß die im Durchschnitt erstaunlich
+harmlose Menschenexistenz gerade auf <em class="gesperrt">einem</em> Punkte soviel
+Effekte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche
+Voraussetzung sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten
+kleinen Stoffe zuspitzen konnten?« Der alte Roman ist unwahr geworden,
+weil er die lebenslangen Strecken, welche zwischen einer Tat und ihren
+Folgen liegen, beiseite warf. Er ließ dadurch die alte Wahrheit von
+der — unwahren, erträumten Romanwelt siegen. »Der neue Roman ist der
+Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt, da ist die Zeit wie
+ein ausgespanntes Tuch ...... Nun fällt die Willkür der Erfindung
+fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis
+liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt und stellt seine Beleuchtung
+der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspektive des in
+den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich
+ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, leider
+polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt.«</p>
+
+<p>Von diesem Programm verspricht sich Gutzkow Gewaltiges. »Resultat:
+Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder
+den Glauben und das<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> Vertrauen schöpfen, daß auch die moralisch
+umgestaltete Erde von einem und demselben Geiste doch noch könne
+göttlich regiert werden.« Diese hochfliegenden Pläne lassen wir
+beiseite. Ihre Haltlosigkeit liegt auf der Hand. Was aber das eben
+nach der Vorrede zu den »Rittern vom Geist« entwickelte Programm
+betrifft, so ist es, wie gesagt, in der Tat dasjenige des neuen
+Zeitromans geworden. Keine unwahrscheinliche Verknüpfung eines
+Nacheinander von Ereignissen, die in Wirklichkeit doch nicht
+nacheinander kommen, sondern ein Gesamtbild der bestehenden Welt in
+ihren mannigfachen Einzelerscheinungen soll seinen Inhalt bilden: ein
+Querschnitt, nicht ein Längsschnitt soll er sein. Allerdings, so sehr
+Gutzkow mit der Polemik gegen das <em class="gesperrt">unnatürliche</em> Nacheinander
+Recht hat, so wenig kann der Roman nur ein <em class="gesperrt">Neben</em>einander geben:
+er müßte ja sonst auf jede Handlung verzichten. Und dann: so gewiß
+das Nebeneinander trefflich dazu dienen wird, ein Welt- und Zeitbild
+im großen Stil zu geben, — man braucht doch nicht zu fordern, daß
+jeder Roman die <em class="gesperrt">ganze</em> Welt schildere; warum soll er nicht ein
+Einzelbild herausgreifen? Mehr Natürlichkeit! Mehr Wirklichkeit! Mehr
+umfassende Weltdarstellung! Mit diesen Forderungen hatte und behielt
+er Recht. Aber der Roman muß, weil er Erzählung ist, auch Handlung
+geben, und er muß diese Handlung aus den handelnden Menschen ableiten.
+Dies <em class="gesperrt">Ineinander</em>, nicht bloß Nebeneinander, von Welt, Mensch und
+Handlung hat Gutzkow zu fordern vergessen.</p>
+
+<p>Die »Ritter vom Geist«, welchen Gutzkow dies kräftige Vorwort
+mitgegeben hat, bilden denn auch keineswegs ein absolutes
+Nebeneinander. Vielmehr bringen sie durchaus auch fortschreitende
+Handlung. Sie vergessen auch keineswegs, daß Menschenwille und
+-Charakter die wichtigsten Faktoren bei allem Geschehen sind; die
+Psychologie spielt in ihnen keine geringe Rolle. Die Aufgabe, die
+Welt im Querdurchschnitt zu zeigen, erfüllt dieser<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> Roman vollauf;
+nur daß er hierin sogar des Guten zuviel getan hat. Neun Bücher! Und
+keineswegs kurze! Wahrlich, es war nötig, daß der Verfasser am Anfang
+der Vorrede dem Leser zurief:</p>
+
+<p>»Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich
+dich auffordere! Rüste dich mit geschäftslosen Sonntagsvormittagen und
+einem guten, aushaltenden Gedächtnis! .... Werde nicht müde, wenn du
+unabsehbare Ebenen erblickst, sich der Weg zwischen gefahrvolle, nicht
+endende Gebirgspässe zwängt, oder die Landstraße plötzlich sich wie in
+die Wolken zu verlieren scheint!«</p>
+
+<p>Diese unsagbare Breite dieses Romans, wie auch des folgenden »<em class="gesperrt">Der
+Zauberer von Rom</em>«, hat es denn glücklich zu Wege gebracht, daß
+kein Mensch mehr sie liest. Ein halbes Jahrhundert — und sie sind
+vergessen!</p>
+
+<p>Soll ich Ihnen die Fabel der »Ritter vom Geist« darzustellen
+versuchen? Sie macht die Bedeutung des Romans nicht aus. Im Gegenteil;
+sie ist neben der ungeheuerlichen Breite seine Schwäche. Die Handlung
+angesehen, ist man versucht, dem Werk schlankweg den Titel des
+Abenteurerromans zu geben. Vor allem ists nicht <em class="gesperrt">ein</em> Faden,
+den der Dichter verfolgt, sondern eine ganze Zahl. Nr. 1: Die Brüder
+Wildungen glauben Anspruch auf Besitztum zu haben, das in Händen
+des Templerordens war. Der eine der Beiden entdeckt die beweisenden
+Urkunden, verschlossen in einem hölzernen Schrein. Eben dieser wird
+ihm gestohlen. Er sucht ihn und erlebt auf der Suche Abenteuer um
+Abenteuer. Er wird eines verkleideten Prinzen nächster Freund und
+Duzbruder, wird selbst für eben diesen Prinzen gehalten, verliebt sich
+in dasselbe Mädchen, welches der Bruder liebt. Endlich, endlich kommt
+der Schrein zum Vorschein, der Prozeß wird gewonnen. Inzwischen ist
+aber der eine Bruder ins Gefängnis geworfen, aus dem er abenteuerlich
+befreit wird. Ein Feuer, das im Wirtshaus ausbricht, vernichtet den<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span>
+Schrein. — Nr. 2: Das Fürstentum Hohenberg ist vakant; der Erbe lebt
+im Ausland, mag auch die Erbschaft nicht antreten, weil die Passiva
+größer sind als die Aktiva. Als Handwerksbursch verkleidet, kommt er
+doch in die Heimat, ins fürstliche Schloß. Dort will er sich eines
+Bildes bemächtigen, in welchem wichtige Familienpapiere aufbewahrt
+sind. Als Dieb wird er in den Turm geworfen. Jener Wildungen, der
+dieses Prinzen Duzfreund so rasch geworden ist, nützt, um ihm das Bild
+zu verschaffen, die Liebe seiner Angebeteten aus. Diese benützt listig
+ein Rendezvous mit einer Exzellenz im Möbelwagen als Mittel, das
+Bild zu beschaffen. Es kommt in die Hände des Prinzen; der Prinz ist
+aber gar nicht der legitime fürstliche Erbe, sondern der Sproß eines
+illegitimen Verhältnisses der Fürstin. Sein richtiger Vater ist gerade
+aus Amerika heimgekehrt ... Der Pseudoprinz wird späterhin Minister.
+Nr. 3: Im Haus eines angesehenen Justizrats wird ein Junge erzogen,
+der, gleichfalls von illegitimer Geburt, Sohn einer vornehmen Dame und
+eines Verbrechers, allerhand gefährliche Instinkte besitzt. Er bringt
+die Tochter des Justizrats in Gefahr, er macht kostbare Pferde rasend,
+indem er ihnen Spitzkugeln in die Ohren praktiziert, er nachtwandelt
+in allen möglichen Situationen, erschreckt die justizrätliche Familie,
+besonders jene Tochter; schließlich kommt er in eben jenem Brande
+um, in welchem der Schrein sein Ende findet. Und an diese Nummern
+1-3 könnte ich leicht weitere knüpfen. Aber zur Charakteristik des
+Ganzen genügt es, wenn allenfalls noch hinzugefügt wird, daß die
+Verwechselungen, die Mißverständnisse und endlich die Aufklärungen
+der Handlung an mehr als einer Stelle auf die Sprünge helfen müssen.
+Es leuchtet ohne weiteres ein, daß mit dieser Handlung kein Staat zu
+machen ist. Was Gutzkow am alten Roman aussetzte, hat er selbst nicht
+vermieden: klassische Unglaubwürdigkeit, farbenreiche Gebilde des<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span>
+Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten. Er selber nannte
+die Menschenexistenz im Durchschnitt erstaunlich harmlos. Und was für
+Merkwürdigkeiten hat er dann — nicht nacheinander, aber doch eng
+nebeneinander — gehäuft!</p>
+
+<p>Die Bedeutung des Romans — er besitzt solche trotz alledem —
+liegt also anderswo. Sie liegt lediglich in dem Zeitbild, welches
+er in bisher ungekannter Gründlichkeit gibt. Es entbehrt nicht der
+Tendenz; hatte doch schon das Vorwort gesagt, der Dichter stelle
+seine Beleuchtung der Welt derjenigen der Wirklichkeit gegenüber.
+»Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu,
+eigentümlich, <em class="gesperrt">leider</em> polemisch.« Die eigene Stellung des
+Dichters läßt aber doch auch die anderen Strömungen zu ihrem Rechte
+kommen. Um das Preußen nach 1848 handelt sichs. Die Reaktion ist oben
+auf; sie wird verdeutlicht durch den »Reubund«. Der hat es sich zur
+Aufgabe gesetzt, durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung dem
+Fürstenhaus zu erkennen zu geben, daß das Volk die revolutionären
+Stürme bereue. Die kirchliche Reaktion stellt Propst Gelbsattel
+dar, ein Mann von konservativster Gesinnung, ein Bewunderer der
+Jesuiten, die mit ihrer Organisationskunst und ihrer Lebenskraft
+sich die Aufgabe gestellt haben, die geistige Herrschaft der Kirche
+zu retten. Neben diesen prinzipiellen Vertretern der Reaktion stehen
+Typen eines praktischen Realismus: an ihrer Spitze der Justizrat
+Schlurck, der wohl »Anfälle von Aberglauben, ja von Mystik« hat, im
+Grund aber ein völlig grundsatzloser Zweifler ist. »Die Staatsformen
+wechseln, aber die Forellen bleiben,« das ist sein Grundsatz. »Ein
+Mann in meiner Stellung, .... was kann der tun, wenn man ihm sagt:
+Das Interesse des Staats verlangt jetzt auch Ihre Beihülfe! Auch
+Sie müssen teilnehmen an der Wiederherstellung der Monarchie und
+des sicheren Kraftgefühls der Regierung! .... Sehen Sie,<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> schon das
+ist ja etwas wert, wenn es die Reaktion durchsetzt, daß Einer mit
+Behaglichkeit wieder in ein Bad reisen kann.« »Ich war Mitglied aller
+Bibelgesellschaften, aller Missions-, aller Gustav-Adolfvereine. Ich
+hielt mich anfangs zum konstitutionellen Angstklub, ich bin jetzt
+Reubündler; was soll ich mich dabei aufhalten, den Leuten zu sagen,
+warum .... ich es nicht bin.« Dem gleichen politischen Realismus
+huldigt auch Pauline von Hardenberg, eine Schriftstellerin nach
+Art der Jungdeutschen, dann plötzlich übertriebene Monarchistin,
+Hauptanstifterin kontrerevolutionärer Schläge, schließlich aber
+wieder Führerin der Fronde, weil ihr glühender Ehrgeiz nicht erfüllt
+wird, zu den kleinen Zirkeln zu kommen, die sich um das Herrscherpaar
+versammeln und in denen »das System« gemacht wird. Ihnen allen
+gegenüber stehen die Ideen des jungen Prinzen, die er allerdings nicht
+in die Praxis umsetzt. Auch er ist Neuerungen nicht abhold. »Solange
+nicht die Arbeit selbst an den Thron für sich redend tritt und die
+Bureaukratie aufhört, der Dolmetscher der Interessen der Arbeit
+zu sein, kann es nicht besser werden. Es fehlen uns Staatsmänner,
+die ihre Schule im Volke gemacht haben.« Der Staat darf sich nicht
+nur auf die Institutionen der Gewalt stützen; er muß sich durch
+den Schutz der Arbeit, der Industrie, des Handels, des Ackerbaus
+befestigen. Der Adel ist nicht aufzuheben, sondern ihm ist das
+natürliche Nachwuchssystem zu belassen. In manchem verwandt und doch
+viel radikaler sind die Anschauungen Dankmars Wildungen, die des
+Dichters eigene wiedergeben. Er vertritt die Demokratie. Fort mit den
+Vorrechten des Adels nicht nur, sondern fort mit diesem selbst! Sonst
+ist kein Heil für die Menschheit. Dies Heil liegt in der Fortbildung
+der Freiheit. Mit dem Bestand von Dynastien könnte er sich aussöhnen,
+wenn er darin diese Fortbildung gesichert sähe. Aber die Monarchie ist
+ein Hindernis der Freiheit, denn sie züchtet durch<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> Ehrenzeichen und
+Titel die Eitelkeit. Anderseits will auch er keine Revolutionen, keine
+allgemeine Zerstörung. Darum predigt er eine andere Gleichheit als die
+der Volksversammlungen, als die des Pöbels. Die besonnene Demokratie
+schwebt ihm als Ideal vor, und in ihrem Namen ruft er die Ritter vom
+Geist zum Bund gegen die Reaktion auf. Die Einzelheiten dieses Bundes
+sind etwas romantisch gedacht, aber wir können sie getrost beiseit
+lassen.</p>
+
+<p>Wir sehen: die Gedankenwelt des Romans führt uns tief, sehr tief
+in die Politik. Ein Bild der politischen Zustände und Meinungen
+gibt Gutzkow, das allseitig orientiert und mit staunenswerter Treue
+durchgeführt ist. Das Preußen nach der Revolutionszeit, die Zustände
+am Hof Friedrich Wilhelms <em>IV.</em>, die politischen Strömungen,
+die Geistesrichtungen — das alles ist scharf erfaßt und klar
+wiedergegeben. Und das ist es, was diesen Roman vor vielen anderen
+auszeichnet. Er ist in der Anlage der Handlung mißglückt, durch seine
+unendliche Breite ungenießbar, er ist weitab von der Kunst, Handlung
+und Mensch wirklich in Eins zu setzen und so die Handlung aus den
+Menschen hervorgehen, die Menschen aus ihrem Handeln klarwerden zu
+lassen. Aber er betont mit all seiner Einseitigkeit wirkungsvoll die
+Aufgabe des Romans, ein wahres Weltbild zu geben. Und darum darf er
+nicht vergessen sein.</p>
+
+<p>Wir überspringen genau ein Jahrzehnt. Aus den Jahren 1860/61 bezw.
+1863 stammt ein anderer, gleichfalls weitberühmter politischer
+Tendenzroman, der aber in seiner Eigenart nicht nach den Gutzkowschen
+beurteilt werden darf: <em class="gesperrt">Friedrich Spielhagens</em> erster großer
+Roman: »<em class="gesperrt">Problematische Naturen</em>«, dessen Fortsetzung dann die
+Bände »Durch Nacht zum Licht« bilden. Das Werk führt auf die Insel
+Rügen, in die Kreise des Landadels. Ins Schloß Grenwitz kommt als
+Hauslehrer Oswald Stein, ein idealistisch gerichteter Demokrat und<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span>
+Adelshasser. Ihm schließt sich eng der ältere seiner Schüler an, ein
+Verwandter des Hauses, namens Bruno. Oswald bewährt noch eine andere
+merkwürdige Anziehungskraft: die Frauen fliegen ihm zu wie die Motten
+dem Licht. Frau Melitta von Berkow, deren Mann in geistiger Umnachtung
+lebt, wirft sich ihm in schrankenloser Liebe an den Hals, die jungen
+adligen Damen reißen sich um ihn, endlich wendet sich ihm auch das
+Herz der schönen Tochter des Hauses, Helene, zu. Diese Helene aber
+soll einen verlebten Verwandten, Felix von Grenwitz, heiraten. Sie
+schlägt ihn aus; die jungen Adligen provozieren zugleich einen Streit
+mit Oswald, der sie im Pistolenschießen und bei den Damen aussticht.
+Im Duell verwundet er Felix schwer. Bruno stirbt in gleicher Nacht und
+Oswald verläßt das Haus. Oswald ist aber, wie durch den leichtsinnigen
+Geometer Timm herauskommt, niemand anders als der uneheliche Sohn des
+früheren Herrn von Grenwitz, der berechtigte Erbe zweier Güter des
+Grenwitzschen Besitzes. Soweit die Erzählung in den »Problematischen
+Naturen«. »Durch Nacht zum Licht« führt in die Revolution hinein, der
+auch Oswald Stein zum Opfer fällt.</p>
+
+<p>Wie Gutzkows »Ritter vom Geist« die Zeit <em class="gesperrt">nach</em> 1848, so
+schildern die »Problematischen Naturen« die Zeit <em class="gesperrt">vor</em> 1848.
+Aber das Bild, das sie geben, ist weder so umfassend noch so wahr.
+<em class="gesperrt">Nicht so umfassend</em>: denn wenn auch die wichtigsten Schichten
+der Gesellschaft ihre Repräsentanten finden, so ist doch bei ihrer
+Zeichnung viel stärker als bei Gutzkow das persönliche, individuelle
+Moment betont. Gutzkow gibt Typen bestimmter Anschauungen,
+charakteristischer politischer Richtungen. Ihn interessiert der
+Mensch fast nur, soweit er politische Anschauungen hat. Spielhagen
+geht viel tiefer ins Psychologische hinein. Er vergißt nicht,
+daß der Mensch in erster Linie als Einzelwesen, und erst sehr in
+zweiter Linie als ζῶον πολιτικὸν in Frage kommt. Eben darum vermag
+er es<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> nicht, derart umfassend, wie Gutzkow getan, die Zeit zu
+schildern. Wenn aber Gutzkows Forderung, daß der Roman den ganzen
+Weltteppich zu schildern habe, unberechtigt ist, so liegt eben in
+Spielhagens Selbstbeschränkung Kunst und Einsicht. Ein Zeitbild
+gibt er ja trotzdem: es beschäftigt sich vor allem mit den Kreisen
+des Landadels. Daneben stehen aber auch Typen des Bürgertums: der
+Universitätsprofessor, der Landpastor, Landärzte, ein Kandidat der
+Theologie, der umsattelt und Mediziner wird, ein Geometer, eine
+Haushälterin, endlich eine Zigeunerin und ein paar Landleute. Das Bild
+ist kleiner als das Gutzkowsche; groß genug ists immerhin.</p>
+
+<p>Schwerer wiegt, daß es <em class="gesperrt">nicht so wahr</em> ist wie dasjenige
+Gutzkows. Ich rede hier nicht von der ländlichen Umgebung, die
+freilich, soweit sie nicht in Meer, Kreidefelsen und Wäldern besteht,
+kein Leben gewinnt. Die paar Gestalten, welche hier auftauchen, geben
+keine Anschauung vom Landvolk. Gut, das hat Spielhagen auch nicht
+gewollt. Auch davon will ich nicht sprechen, daß der Bürgerstand wohl
+in einigen Exemplaren vorgeführt wird, daß aber auch seine Art, sein
+Wesen, seine Gesamtexistenz im Dunkeln bleibt. Den braven Bemperlein
+in allen Ehren, den <em>Dr.</em> Braun nicht minder, — sie bleiben
+doch, losgelöst von ihrer Umgebung, wie sie vorgeführt werden, allzu
+vereinzelt, um einen Eindruck vom Ganzen zu gewähren. Wo aber der
+Bürgerstand Spielhagen nicht sympathisch ist, da wird schon hier
+die Zeichnung geradezu unwahr. Das Bild des Pastors Jaeger ist eins
+der Pastorenzerrbilder, die bei Spielhagen auch sonst herumspuken,
+— immer unwahr und immer schief. Aber das Hauptgewicht fällt auf
+den Adel. Wie steht es da um die Wahrheit? Helmut Mielke sagt mit
+bezug hierauf: »Man hat den Dichter der Übertreibung gescholten und
+ihm damit Unrecht getan; seine Schilderung z. B. des Ballfestes der
+Junkergesellschaft hinterläßt eher den Eindruck,<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> daß er häßliche
+Details der Wirklichkeit unterdrückt als ans Licht gezogen hat.«
+Hier widerspreche ich entschieden. Das Bild ist unwahr durch und
+durch. Dieser Cloten z. B. ist so unglaublich albern, daß er in ein
+Karikaturenblatt gehört. Melitta von Berkow, Emilie von Breesen
+beginnen <em>sans façon</em> allerliebste Liebschaften mit dem
+Hauslehrer eines anderen Hauses: lauter völlig verzeichnete Szenen.
+Die ganze Stellung Oswalds in dieser Umgebung ist einfach unmöglich.
+Ist der Hochmut und die Arroganz des Adels so groß, wie er beständig
+gemacht wird, dann nimmt eben der Hauslehrer nicht an allen Bällen
+teil, dann wird er eben nicht Liebling aller Frauen, Intimus eines
+Barons. Ich führe das nicht weiter aus; nur bezüglich des Ballfestes
+bei den Barnewitz halte ich gleichfalls ausdrücklich den Vorwurf der
+Übertreibung aufrecht.</p>
+
+<p>Indes der Titel des Romans deutet an, daß dem Dichter der
+Hauptnachdruck weniger auf dem Milieu, als auf den einzelnen
+»problematischen Naturen« gelegen hat. Problematische Naturen!
+<em>Dr.</em> Braun nennt sie »eine in unseren Tagen ziemlich weit
+verbreitete Spezies <em>generis humani</em>, Nachkommen des weiland vom
+Teufel geholten Doktor Faustus, <em>Faustuli posthumi</em>, so zu sagen,
+die den langen Dozentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen
+Ritterkostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im
+übrigen aber auf gut faustisch von Begierde zu Genuß taumeln und im
+Genuß nach Begierde verschmachten.« Sie haben das Größte vor, die
+<em>aurea mediocritas</em> ist für sie umsonst gepredigt, aber sie
+erreichen das Ziel nie, weil es ihre Kräfte überragt. Sie haben vor
+sich die »blaue Blume«. »Wissen Sie, was das ist? Das ist die Blume,
+die noch keines Sterblichen Auge erschaute und deren Duft doch die
+ganze Welt erfüllt. Nicht alle Kreatur ist fein genug organisiert,
+diesen Duft zu empfinden; aber .... all die närrischen Menschen<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> waren
+es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel
+ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen
+kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen
+Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und
+aus dieser Krankheit ist keine Rettung, — keine als der Tod. Wer
+nun einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine
+ruhige Stunde mehr in diesem Leben!«</p>
+
+<p>Und wirklich, in der Art, wie Spielhagen diese problematischen,
+rätselhaften Naturen geschildert hat, liegt auch der Hauptwert seines
+Buchs. Er hat damit ein Problem der Seelenkunde angerührt, das zu
+den dankbarsten gehört. Indem er sich diesem Problem zuwandte, hat
+er freilich die Wahrscheinlichkeit seiner Darstellung nicht erhöht;
+mag auch in der Zeit vor den 1848er Märztagen diese Spezies von
+Naturen nicht rar gewesen sein; sie finden sich hier doch ein wenig
+zu zahlreich. Da ist Oswald selbst, der die kühnsten Pläne, die
+stolzesten Ideen hat, der aber in der größten Gefahr ist, um des
+Weibes, besser um der Frauen willen, den von ihm gehaßten Junkern
+frappant ähnlich zu werden, der den Genuß in jeder Gestalt zu
+würdigen, ja sogar raffiniert auszukosten weiß, und der doch solche
+melancholischen Anfälle hat, daß ihm das Leben wie ein dumpfer,
+beängstigender Traum erscheint, der eines Freiherrn Blut in seinen
+Adern hat, aber sein Leben der Sache der Freiheit opfert. Neben ihm
+ist die am meisten problematische Natur der Baron Oldenburg, der
+einzige Gescheute und Edle in der ganzen Junkergesellschaft, der seine
+Standesgenossen verspottet, den Hauslehrer zu seinem Freund macht, im
+Grund aber immer ein Aristokrat bleibt, der alle Genüsse ausgekostet
+hat und jeden neuen Genuß mitnimmt, aber immer unbefriedigt, immer
+sehnsuchtsvoll bleibt. Da ist Melitta von Berkow, die Schöne und
+Kluge und Stolze, die doch so unendlich rasch Herz und Zurückhaltung<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span>
+verliert. Gewiß, interessante Rätselgestalten, die dem Roman ein
+eigenes Gepräge geben!</p>
+
+<p>Über die »Problematischen Naturen« urteilt Bartels: »Im Grunde hat
+Spielhagen dies Werk nicht übertroffen und ist auch ein Darsteller
+problematischer Naturen geblieben; fast in allen späteren Romanen
+wirkt er in der Hauptsache mit denselben Ingredienzien; die Anschauung
+wurde im ganzen nicht reifer und freier, die inneren Erlebnisse aber
+fielen weg.« Ich möchte hinzufügen: er ist späterhin in manchen, nicht
+in allen seinen Prosadichtungen auf eine niedere Stufe gesunken,
+auf die des Salonromans. Die »Problematischen Naturen« aber geben ein
+Bild der Schattenseiten und der Vorzüge seiner Romane. Ihr größter
+Ruhm ist eine Kunst der Darstellung, welche mannigfache Fäden zieht,
+aber alle mit einander verwebt und so eine spannende, einheitlich
+gefaßte und mehr und mehr konzentrierte Handlung zu wirkungsvollem
+Abschlusse bringt. Hierin übertrifft er <em class="gesperrt">alle</em> Vorgänger.
+Zugleich gewinnen seine Personen ein wirklich persönliches Leben, und
+dies psychologische Moment verbindet er mit dem Gange der Handlung.
+Allerdings ist diese Verbindung nicht überall eng: Geschichten wie
+diejenigen von der Entdeckung der freiherrlichen Abstammung des Helden
+Oswald bilden einen geradezu störenden romantischen Einschlag in
+die naturgemäß verlaufende Handlung, wie denn auch sonst zahlreiche
+Unwahrscheinlichkeiten in Kauf zu nehmen sind. Ferner bemüht er sich
+ernstlich, ein lebendiges Bild der Zeitverhältnisse, in denen seine
+Menschen leben, zu entwerfen. Nur daß das Wort »Zeitverhältnisse«
+vielleicht schon zu weit greift; Zeit<em class="gesperrt">stimmungen</em> liegen ihm mehr
+noch als äußere Umstände, als das eigentliche Milieu. Immerhin, was
+gab er für Revolutionsschilderungen! Hier lag sein eigenstes Gebiet.
+Hier war ja auch ein Handeln, das zugleich ganz und gar Stimmung war.
+Endlich muß man im Gedächtnis behalten, daß er Tendenzschriftsteller<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span>
+war: in ihm loderte die adelhassende demokratische Gesinnung. Warum
+sollte er nicht solche Tendenz zum Ausdruck bringen? Der Wert seiner
+Werke sinkt für das objektive Urteil dadurch keineswegs. Aber, wie
+ausgeführt, die Tendenz ließ keine absolut wahre Schilderung zu.</p>
+
+<p>Auch die späteren Romane Friedrich Spielhagens kranken z. T. an diesem
+Übermaß von Tendenz. »<em class="gesperrt">Die von Hohenstein</em>« (1863) setzen den
+Kampf gegen den Adel mit einseitiger Ausschließlichkeit fort, »<em class="gesperrt">In
+Reih und Glied</em>« steht unter dem Zeichen Lassalles. Der Anspruch
+des empordrängenden vierten Standes macht sich energisch bemerkbar.
+Aber das Problem wird nicht sachlich durchgeführt: der Held, eine
+heroische Natur, geht eigene Wege und diese eigenen Wege führen zu
+einer höchst persönlichen Katastrophe, — ganz wie beim wirklichen
+Lassalle. Die politischen Einschläge des Romans, Prinz wie Adel und
+Militär, zeigen auch hier den fast fanatischen Haß des Oppositionellen
+gegen jene führenden Klassen. »<em class="gesperrt">Hammer und Amboß</em>« endlich will
+die soziale Frage lösen, freilich nur in der Idee. Die Lösung liegt
+in den Herzen der Menschen. Warum sind die Einen nur Hammer, die
+anderen nur Amboß? In Wirklichkeit ist doch »jedwedes Ding und jeder
+Mensch in jedem Augenblick beides zu gleicher Zeit.« Was die Welt
+verschlechtert, ist »die Wut zu befehlen und die sklavische Gier, sich
+befehlen zu lassen.«</p>
+
+<p>Es sind z. T. Meisterwerke in Kraft und Spannung, die uns hier
+begegneten. Politisch-tendenziös sind sie alle. Auch in anderem Sinn
+soll uns Spielhagen später begegnen. Inzwischen aber lassen wir nach
+den »Problematischen Naturen« wieder ein Jahrzehnt vergehen, um
+einem anderen Typus des tendenziösen Zeitromans näher zu treten. Die
+Politik hat aufgehört zu herrschen; die Fragen der Weltanschauung
+dominieren. Das entspricht nur dem Gange der Zeit. Um die Mitte des
+Jahrhunderts absorbierte<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> die Politik die besten Kräfte, eine Unsumme
+von Interesse. Da griff auch der Romandichter ins politische Leben
+hinein, es zu beschreiben und — zu beurteilen. Aber nun war das neue
+deutsche Reich gegründet; die eminentesten Lebensfragen der deutschen
+Nation waren gelöst. Es wäre sicher eine Unmöglichkeit gewesen, mit
+einem eigentlich politischen Roman derart auf die <em class="gesperrt">allgemeine</em>
+Teilnahme zu stoßen, wie man das ein oder erst recht zwei Jahrzehnte
+früher erwarten mußte. Um so mehr traten die Fragen der Weltanschauung
+hervor. Nicht sie allein; Spielhagens »<em class="gesperrt">Sturmflut</em>« geißelt
+als einen Schaden der Zeit den Gründerschwindel. Aber die
+Weltanschauungsfragen, dazu die des im Anzug begriffenen Sozialismus
+waren jedenfalls Fragen der Zeit. <em class="gesperrt">Paul Heyse</em> wagte den Wurf,
+sie in großem Zeitroman zu erörtern. Er schrieb 1873 »<em class="gesperrt">Die Kinder
+der Welt</em>« und ließ später ähnliche Versuche folgen. »<em class="gesperrt">Im
+Paradiese</em>« (1876) schildert das Münchener Künstlerleben; »<em class="gesperrt">Der
+neue Merlin</em>« (1892) polemisierte gegen die Modernen in der
+Literatur. Am umfassendsten ist das Zeitbild, welches »<em class="gesperrt">Die Kinder
+der Welt</em>« entrollen. Es muß genügen, bei ihm ein wenig länger zu
+verweilen.</p>
+
+<p>Den Gang der Handlung dieses Romans ausführlich wiederzugeben, kann
+ich mir ersparen. Alles dreht sich um das Lebensgeschick eines jungen
+Privatdozenten der Philosophie, der mit seinem kränklichen Bruder,
+der ein wenig Drechslerei treibt, in einem Berliner Hinterhaus eine
+Stube primitiver Art, die sogenannte »Tonne«, bewohnt. Er verliebt
+sich sterblich in eine problematische Schöne, genannt Toinette,
+natürliche Tochter eines Fürsten. Sie kann nicht lieben und darum auch
+ihn nicht lieben; als das klar ist und gleichzeitig auch der Bruder,
+der in idealer Hingebung ihr Herz für den Helden Edwin gewinnen
+wollte, stirbt, wird er krank und heiratet dann die Tochter eines
+christlichen Malers und einer jüdischen Mutter, Lea<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> König, nicht ohne
+sie ernstlich zu lieben. Er wird Gymnasiallehrer, um einen Hausstand
+zu gründen. Auf einer Ferienreise begegnet er wieder seiner Toinette.
+Sie hat, ihrem Hang zu »herzoglichem« Auftreten nachgebend, inzwischen
+einen gräflichen Anbeter erhört und lebt als stolze Gräfin auf
+stattlichem Schlosse. Doch nun ist in ihr die »Fähigkeit der Liebe«
+wachgeworden; und die Folge ist die, daß sie ihren Grafen völlig
+ignoriert, als Edwin aber kommt, diesem gehören will. Da kämpft Edwin
+einen schweren Kampf; Liebe zu Toinette und Liebe zu Lea streiten
+in ihm. Die Treue siegt; er flieht Schloß und Versuchung. Toinette
+will ihm folgen, findet aber nicht ihn, nur seine Gattin, und gibt
+sich, besiegt von deren Liebe, selbst den Tod. Edwin und Lea finden
+dauerndes Glück.</p>
+
+<p>Muß ich um Verzeihung bitten, wenn diese Inhaltsangabe ein ganz klein
+wenig ironischen Beigeschmack hat? Ich glaube, das hat in der Sache
+selbst seinen Grund. Was für sonderbare Dinge mutet Paul Heyse dem
+Leser zu! Der Privatdozent mit dem drechselnden Bruder in <em class="gesperrt">einer</em>
+Stube des Hinterhauses; dürftig gekleidet, kaum den Anstand wahrend.
+Ja, kommt denn nie ein Student zu diesem Dozenten? Lea, sonderbarer
+Weise gerade der Sproß einer christlich-jüdischen Mischehe! Toinette,
+das übliche illegitime hochgeborene Wesen, wie solches in diesen
+Tendenzromanen feststehendes Requisit ist: eine ganz sonderbare
+Leidenschaft, immer Existenzen in den Mittelpunkt zu stellen, an denen
+irgend etwas unklar ist! Und nun gar die merkwürdigen Eigenschaften
+dieser Toinette, die eine Art Geburtsfehler sein sollen: weil ihre
+Mutter ohne Neigung zu jenem Fürsten nur auf Druck und Zwang hin
+seinen Anträgen Folge gegeben, so hat sie ein kaltes Herz mitbekommen
+—; aber sie hats doch wieder nicht als unveräußerliche Eigenschaft
+erhalten, sondern nur auf Zeit. In Summa: es sind keine Gestalten von
+Fleisch<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> und Blut, die in den »Kindern der Welt« umhergehen, sondern
+Schemen aus der Welt der Ideale. Dieser Edwin, seine Lea, vor allem
+sein Bruder Balder, — erdentrückte Traumgestalten!</p>
+
+<p>Vielleicht habe ich bei den äußeren Vorgängen schon zu lange verweilt.
+Sie sind dem Dichter wirklich nicht die Hauptsache. Im Gegenteil; sie
+sind ihm in erster und letzter Linie nur die Träger seiner Ideen.
+Auf der Gedankenwelt, welche sie äußern und glücklicherweise bis
+zu einem gewissen Grad auch betätigen, liegt alles Gewicht. Zwei
+große Heerlager stehen einander gegenüber: die »Kinder der Welt«
+und die »Kinder Gottes«. Einige Typen der »Kinder Gottes« mögen
+voranstehen. Die Professorin Valentin ist das Muster einer streng
+christlichen, in der Liebestätigkeit unermüdlich tätigen Dame.
+Zahllose Vereine absorbieren ihre Zeit. Aber auch in der Liebe ist
+sie sittenrichterlich streng. Ein gefallenes Mädchen, das sie früher
+beschäftigt, findet bei ihr keine Arbeit mehr; wohl aber bekommt es
+ein paar Taler und eine Empfehlung an ein Asyl. Dogmatisch denkt
+sie sehr eng; jede freie Richtung ist ihr verhaßt; ein heiliger
+Bekehrungseifer, rege Sorge um anderer Seelenheil mischt sich
+mit inniger persönlicher Anteilnahme am Geschick Nahestehender.
+Heuchlerischer Frömmigkeit gegenüber fehlt ihr unterscheidende
+Menschenkenntnis. Ein Typus, der zu den gelungensten des Romans
+gehört, wenngleich mancher Einzelzug gemildert werden müßte. — Ein
+braver, edler Mensch und Christ ist der Maler König, Leas Vater.
+Schlichte, demütige Frömmigkeit scheint Heyse in ihm verkörpern
+zu wollen. Und zwar verbindet sie sich mit der wärmsten Liebe zu
+den Seinen. Sollte in diesem Charakter angedeutet werden, wie die
+christliche Demut zu weit gehn kann? Aber wir dürfen doch jene andere
+Szene nicht vergessen, da die Familie mit einem für Lea in Aussicht
+genommenen frommen Schwiegersohn im öffentlichen Gartenlokal durch<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span>
+die Witzeleien der am Nachbartisch die schöne Lea beobachtenden
+Offiziere getränkt wird. Der Bewerber findet den Mut zur Abwehr nicht,
+aber König selber findet ihn und erringt in vornehm-ruhiger Abwehr den
+entschiedenen Sieg. — Von anderem Schlage ist der Kandidat Lorinser,
+dem seine mystische Frömmigkeit Deckmantel der abgefeimtesten
+Bosheit ist, der an Aufdringlichkeit, Heuchelei und Scheußlichkeit
+das Menschenmögliche leistet, dem keine Reinheit unberührbar und
+keine Wohltätigkeit unbetrügbar ist. Soll dieses Scheusal von einem
+Menschen die Theologen versinnbildlichen? Es scheint fast, daß er als
+bezeichnend für einen Teil derselben gelten soll; sonst findet sich
+nur noch das flüchtig hingeworfene Porträt eines zweiten Geistlichen,
+der <em class="gesperrt">gegen</em> den Wunsch des Angehörigen (man staune!) am Grabe von
+Edwins herrlichem Bruder Balder erscheint und nichts als harte Worte
+über Unglauben und ähnliches zu reden weiß. Gänzlich verzeichnete,
+völlig verunglückte Charakterbilder! — Endlich noch ein »Kind
+Gottes«, eine Fürstin, ein »Kindskopf«, der theologisiert, eine
+reizende blonde Gauklerin, ohne Charakter, die aber beständig von
+Calvinismus, Irvingianismus und Herrnhutern peroriert; alles in allem
+eine wenig wahrscheinliche Figur.</p>
+
+<p>Den »Kindern Gottes« stehen die »Kinder der Welt« gegenüber. Gott sei
+Dank! So wird dem Leser doch ordentlich wohl! Es sind ja auch ein paar
+Leute darunter, die ihre Schwächen haben. Der Arzt Marquardt z. B.,
+dessen sittliches Leben ein bischen zügellos ist und der eigentlich
+auch den Luxus etwas weit treibt. Und dann jene Leutnants, die eine
+ehrbare Dame beleidigen. Aber das sind ja selbstverständlich nur ein
+paar Ausnahmen. Selbst jener Marquardt ist doch ein aufopfernder,
+hilfsbereiter, selbstloser Freund. Und die anderen »Kinder der Welt«,
+— in deren Nähe wird jedem heimisch. Was für ein Prachtexemplar von
+einem jungen Gelehrten, dieser<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> Edwin! Welche Anspruchslosigkeit,
+Bescheidenheit! Welch gänzlicher Mangel an Strebertum! Geld,
+Gehalt, Avancement, Anstellung, alles Nebensache. Geld hat er auch
+nie; trotzdem fährt er übrigens beständig Droschke, statt zu Fuß
+zu gehen. Gegen den Bruder ist er von zärtlichster Fürsorge, von
+freundschaftlichster Offenheit, von tiefster Liebe, wennschon die
+eigenen Herzensangelegenheiten ihn zeitweis das Leiden des Bruders
+fast vergessen lassen. Er ist von tadelloser sittlicher Reinheit;
+seine eheliche Treue besiegt auch die schwerste Versuchung; er wird
+stets ein musterhafter Gatte und Vater sein. Bei alledem ist er ein
+Freidenker, ohne Glauben an Gott und Ewigkeit, ein Philosoph, der mit
+jedem Glauben gebrochen hat. — Weniger gelehrt, aber ebenso ungläubig
+ist sein Bruder Balder, der anziehendste aller dieser Charaktere,
+ein Mensch von völliger Reinheit, von zartester Empfindung, von
+selbstverleugnender Bruderliebe. Er stirbt jung; und das ist ein Zug
+richtigen dichterischen Taktes. Menschen von solcher überirdischen
+Art gehören auf die Erde nicht. — Edwins Gattin Lea kann gleichfalls
+nicht glauben. Sie ist ein tief angelegtes, grüblerisches Gemüt. In
+der Liebe zu Edwin verzehrt sie sich; erst als er den Weg zu ihr
+findet, lebt sie wieder auf. Dann wird sie eine verständnisvolle
+Gattin, eine beglückte, liebende Mutter. — Eine problematische Natur
+ist Toinette, über deren äußere Verhältnisse schon die Skizze des
+Inhalts das Nötigste gesagt hat. Sie ist ein Zwitter von fürstlicher
+Hoheit und Großartigkeit einerseits, von bürgerlicher Liebe und Treue
+anderseits. Ihr fester Wille ist: nur in der Liebe gehören einem
+Mann. Daß sie dennoch dem Grafen folgt, den sie <em class="gesperrt">nicht</em> liebt,
+findet freilich kaum eine halbe Erklärung. Aber dann kehrt sie, zumal
+nach des einzigen Kindes Tod, zur Treue gegen sich selbst zurück. »Es
+gibt nur eine Vornehmheit, sich selber treu zu bleiben«. Sie ist ein
+»tapferes, freigeborenes Herz«.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span></p>
+
+<p>Übergehen wir die anderen »Kinder der Welt«, die aufopfernden
+Freunde Mohr und Franzelius, die einsame und dann doch in der Ehe
+glückliche Christiane, das Reginchen und wie sie sonst heißen! Wir
+wollen auch nicht untersuchen, ob die einzelnen Charaktere nach dem
+Leben gezeichnet sind; eine Anzahl Fragezeichen wären da allerdings
+zu machen. Nur eins soll konstatiert werden: in der Zeichnung und
+Gegenüberstellung der »Kinder Gottes« und der »Kinder der Welt«
+zeigt sich kein Ablauschen der Wirklichkeit, sondern faustdicke
+Tendenzmalerei. Dem Dichter lag alles dran, seine Weltanschauung von
+recht vielen möglichst sympathischen Personen tragen und aussprechen
+zu lassen. Und diese Weltanschauung ist die der »Kinder der Welt«. So
+spricht Toinette sie einmal aus:</p>
+
+<p>— »Wie soll sie verstehen, was mich den Gedanken, alles, was ich
+leide, sei die Veranstaltung eines allwissenden, allmächtigen und
+doch allerbarmenden Vaters, mit Hohn oder Abscheu zurückweisen läßt!
+Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschließen,
+durch eine große, blinde Fügung des Weltlaufs sich gefunden und
+vereinigt haben und ich an dieser schlimmen Konstellation zugrunde
+gehen muß, — so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein
+Gottvater, der mich unsägliches Geschöpf <em>de coeur léger</em> oder
+auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde
+herumlaufen ließe, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine
+Gratifikation in der Ewigkeit zukommen zu lassen, — nein, lieber
+Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir
+das nicht plausibel machen.«</p>
+
+<p>Zur Ergänzung dienen die Worte, mit denen das Buch schließt:</p>
+
+<p>»Ist da (in unseren Menschenschicksalen) nicht Wonne und Weh
+untrennbar verbunden und in den höchsten Augenblicken zu einer reinen
+Stimmung verklärt, in der wir uns über unser kleines Selbst erheben,
+der Schmerzen<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> spotten und zu groß und feierlich empfinden, um uns zu
+freuen? O Liebste, eine Welt, in der wir uns bis zu diesem Triumph
+über das Schicksal, das eigene und das unserer Geliebten, aufschwingen
+dürfen, in der das Tragische vom Hauch der Schönheit verklärt wird und
+mitten im Schauder über den Tod die höchste Lebenswonne uns durchbebt,
+bis Tränen unsere Brust erleichtern — eine solche Welt ist nicht
+trostlos. Komm, wir wollen ins Leben zurück, zu unserm Kind, zu den
+Freunden. Wie sagt mein alter Freund Catull? »Laß uns leben, Geliebte,
+laß uns lieben!««</p>
+
+<p>Nicht um Recht oder Unrecht dieser Weltanschauung handelt es sich
+hier, sondern darum, daß Heyse zwischen Freunden und Gegnern dieser
+Anschauung Licht und Schatten in unerträglich parteiischer Weise
+verteilt hat. Dort fast alles Licht und blendendes Licht, hier fast
+nur Schatten. Dort Engel, hier Teufel. Dagegen protestiert die
+Wahrheit. Sein Roman ist von Bartels völlig richtig charakterisiert
+als »eine sittliche Tat, ein unerschrockenes Glaubensbekenntnis, aber
+freilich zugleich ein Zeugnis, wie fremd Heyse allezeit dem wirklichen
+Leben gegenüberstand, und als Kunstwerk verfehlt.«</p>
+
+<p>Drei recht verschiedene tendenziöse Zeitromane führte ich auf,
+verschieden an Inhalt und an Kunstwert. In der <em class="gesperrt">Form</em> dieser
+Art Romane hat Spielhagen das Vollendetste geschaffen; an Umfang und
+Treue der Zeichnung steht er hinter Gutzkow zurück. Heyse aber liegt
+noch stärker im Banne der Tendenz. Aber es gibt auch einen Zeitroman
+im großen Stile, der der Objektivität den Vorrang vor der Tendenz
+zugesteht. Und erst in ihm erringt der Zeitroman seine höchste Blüte.</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_12">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_objektivere_Zeitroman">Der objektivere Zeitroman.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Schon die Erwägungen, welche der vorige Vortrag anstellte, führten zu
+der vorsichtigeren Unterscheidung von mehr oder minder tendenziösen
+Romanen oder von Romanen, bei denen die Tendenz über die Wirklichkeit
+siegt, und von solchen, in denen die Wirklichkeit oberster Richter
+bleibt. Man kann dieselbe Unterscheidung auch mit anderen Worten
+auszudrücken versuchen, indem man das Unterscheidungsmerkmal dahinein
+setzt, <em class="gesperrt">ob der Dichter sich über seinen Stoff zu erheben weiß oder
+nicht</em>. Wo haben wir solche?</p>
+
+<p>Ein Zeitroman, der ganz Zeit und ganz Person und doch nicht ganz
+Tendenz ist, ist <em class="gesperrt">Gottfried Kellers</em> »<em class="gesperrt">Der grüne Heinrich</em>«
+vom Jahre 1854. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß »Der grüne
+Heinrich« die persönlichsten Erlebnisse Kellers wiedergibt. Das trifft
+gewiß in weitem Umfang zu. <em class="gesperrt">Lediglich</em> solche persönlichen
+Erfahrungen hat er aber nicht gegeben; Wahrheit und Dichtung
+sind künstlerisch verwoben. Und in dem Persönlichen ist zugleich
+Allgemeines dargestellt; wer in seiner Zeit mitlebt, ist ja in der
+Regel ein Spiegelbild der Strömungen dieser Zeit. Auch Gottfried
+Kellers Persönlichkeit ist das gewesen; und eben dadurch ist es auch
+sein »Grüner Heinrich« in hohem Grade geworden. Das Persönliche aber,
+welches diesem Werk anhaftet, gibt ihm nicht nur seinen eigenen Reiz,
+sondern es ermöglicht auch jene schlichte Natürlichkeit, welche wir
+bei Spielhagen und bei Heyse so sehr vermissen, jene Einfachheit, die
+den Zeitromanen Gutzkows so ganz abgeht. Die klassische Ruhe, die
+dem Ganzen den Charakter des Abgeklärten und<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> Reifen gibt, ist durch
+dies persönliche Moment keineswegs in Frage gestellt. Keller spricht
+nicht als ein Suchender, dessen Seele von den aufgeworfenen Fragen
+noch bewegt würde, sondern als einer, der gefunden hat. Und was er
+durchlebt hat, ist wohl mit Anteilnahme an der eigenen Erinnerung, mit
+einem Anhauch eigensten Mitempfindens erzählt, aber doch so, daß man
+keinen Augenblick darüber im Zweifel bleibt: Es liegt <em class="gesperrt">hinter</em>
+ihm und es liegt <em class="gesperrt">unter</em> ihm.</p>
+
+<p>Das Moment des Einfach-Natürlichen im »Grünen Heinrich« verbindet sich
+zugleich mit dem des Ehrlichen und Wahren. Man höre, wie er selbst
+seine Anschauung vom Wesen des Poetischen darlegt:</p>
+
+<p>»Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen.
+Ich hatte mir, ohne zu wissen, wann und wie, angewöhnt, alles,
+was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand,
+poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten
+Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern
+immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche
+mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der
+Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen
+Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Daseins wert macht;
+aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich
+nun, daß <em class="gesperrt">das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und
+Überschwengliche nicht poetisch ist</em>, und daß, wie dort nur Ruhe
+und Stille in der Bewegung, hier nur <em class="gesperrt">Schlichtheit und Ehrlichkeit
+mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches
+oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges
+hervorzubringen</em>, mit Einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit
+der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p>
+
+<p>Mit dieser schönen Darlegung ist die Frage freilich nur eben
+angerührt, welche später die Debatte über die naturalistische
+Kunst, ihr Recht und ihr Unrecht, hervorrufen sollte, die Frage,
+ob denn »<em class="gesperrt">alle</em> menschlichen Ereignisse« darstellungswürdig
+und darstellungsfähig sind. Keller löst sie im Vorübergehen ganz
+subjektiv: Alle Ereignisse, <em class="gesperrt">die ihn anregend berühren</em>, sind
+poetisch, wenn sie nur schlicht und ehrlich sind. Praktisch lag darin
+tatsächlich für ihn die Lösung: Unpoetisches regte ihn eben nicht an.
+Von hohem Wert aber ist die ruhige Energie, mit der Keller Zweierlei
+gleichsetzt: das Poetische einerseits, das Lebendige und Vernünftige
+anderseits. Welche Kriegserklärung gegen alle Romantik! Vielleicht
+läßt sich auch in bezug auf diese Gleichsetzung mit ihm rechten;
+aber ihr Kern birgt eine heilige Wahrheit: <em class="gesperrt">Alle Dichtung muß wahr
+sein!</em></p>
+
+<p>Der »grüne Heinrich«, so genannt nach der bevorzugten Farbe seiner
+Kleidung, ist eines ehrsamen Schweizer Bürgers Sohn. Der Vater
+stirbt jung; unter der Obhut der Mutter wächst er auf. Sie erzieht
+ihn mit grenzenloser, aufopfernder Liebe, mit peinlichster Sorgfalt,
+freilich nicht überall mit völligem Verständnis. Ich gestehe, daß
+keine hohen Worte über Mutterliebe mir je so das Herz abgewonnen
+haben wie die schlichte Schilderung, die der »grüne Heinrich«
+vom Tun seiner Mutter gibt. Der Junge erlebt, was viele Kinder
+erleben: Jugendfreundschaften, Schulfreuden und -Leiden, unnütze
+Streiche. Von der Schule wird er relegiert, nicht ganz, aber doch
+beinahe ohne eigene Schuld. Die bitteren Worte, die er hierüber zu
+schreiben weiß, sind wohl <em class="gesperrt">zu</em> bitter. Diese Entfernung von
+der Schule gibt seinem Leben die Wendung. Er bummelt eine Weile
+in der Mutter Heimatsdorf bei deren Verwandten; prächtige Bilder
+hat er uns aus jener Zeit gegeben! Da ist das Landvolk, da ist die
+Landarbeit in markigen Zügen geschildert; keine Idylle, erst recht
+kein<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> Schauerbild; schlichte Wirklichkeit, aus der Erinnerung eines
+heranwachsenden Knaben, aber mit plastischer Kraft wiedergegeben. Dann
+entschließt er sich, Maler zu werden. Er geht in die Lehre zu einem,
+der die Malerei handwerksmäßig betreibt, lernt im Verkehr mit einem
+Künstler, bei dem freilich der Wahnsinn schon vorleuchtet, manches
+für seine Kunst, mehr noch in ernster Erfahrung fürs Leben, und hält
+sich dann Malens halber in München auf. Die Beschreibung der Münchener
+Erlebnisse in der Arbeit, im Vergnügen, im Umgang, in Entbehrung
+und Verschwendung ist reichlich breit gehalten, befriedigt auch in
+der Darstellung seiner Schicksale wenig. Neben dem künstlerischen
+Streben geht eine innere Entwicklung her, teils von wissenschaftlichen
+Vorlesungen, teils vom Leben beeinflußt. Ihren Abschluß findet diese
+Weltanschauungsentwicklung, die übrigens mehr eine intellektuelle
+als eine religiöse ist, im Schloß eines Grafen, in dem der »grüne
+Heinrich«, ehe er nach dem Ende des Münchener Aufenthalts heimwärts
+geht, längere Zeit verweilt. Zu Haus findet er die Mutter sterbend;
+Reue erfaßt ihn, aber er wird endlich frei von dieser Reue und tritt,
+die Kunst verlassend, in der er es zu nichts Rechtem gebracht, als
+Beamter in den Dienst des Staats. Wie früher schon, so sind mit diesen
+letzten Entwicklungsstadien reichliche Erörterungen politischer Art
+verbunden. Endlich durchzieht das Ganze — wie könnte es anders
+sein? — auch eine Art Entwicklungsgang der Stellung Heinrichs zu
+den Frauen. Die Jugendgeliebte stirbt; in München hält er sich ihnen
+im ganzen fern; jenes Grafen Töchterlein liebt er, aber er wagt die
+Werbung nicht und findet es richtig, daß sie ihm verloren geht.
+Mit einer merkwürdigen Frau, die ihm in der Zeit seines Dorflebens
+eigentümlich nahegetreten, bleibt er in Liebe und Freundschaft nachher
+innerlich verbunden, ohne daß sie äußerlich einander gehören.</p>
+
+<p>Der Reichtum dieser Entwicklungsgänge, die das<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> Allgemein-Menschliche
+wie das Künstlerische, die Fragen der Weltanschauung wie der
+Politik umfassen, gibt dem Buch den Charakter eines groß angelegten
+Zeitromans. Wie das Hinzutreten des persönlichen Moments den Eindruck
+des Ganzen fördert, das ist oben ausgeführt. Aber auch an Schwächen
+fehlts nicht; und ich finde, daß sie stärker betont werden müssen, als
+jezuweilen geschieht. Es fehlt an der klaren, raschen Zusammenfassung,
+am straffen Gang einer einheitlich geformten Handlung. »Der grüne
+Heinrich« ist mehr Memoirenwerk als Roman. Manche Partien sind zu
+breit geraten; der Leser gewinnt den Eindruck, als wolle der Strom
+ausufern. Die Reflexion hat nicht bloß etwas Kritisierendes; das
+ist ja sehr gut und zeigt, wie Keller über seinem Stoff steht.
+Sondern zuweilen kommt er ins Moralisieren, ja ins Schulmeistern im
+unangenehmen Sinn des Wortes, geradezu ins Spießbürgerliche hinein.
+Und dann vermissen wir diese Kritik, gerade weil sie im übrigen so
+reichlich auftritt, um so mehr an anderen Punkten. Auf eins nur sei
+hingewiesen. Die Art, wie Heinrich sich gegen seine Mutter verhält,
+wie er sie darben und sorgen läßt für ihn und wie er das mühsamst
+Abgesparte alsbald wieder losschlägt, noch mehr die Herzlosigkeit, mit
+der er sie, die im Gedenken des einzigen Sohnes lebt, lange, lange
+ohne jede Nachricht läßt, um sie dann nur noch sterbend anzutreffen,
+diese Art ist durch die folgende Reuezeit nicht ausgeglichen. Hier
+hört das Verständnis auf, völlig auf. Wie bitter spricht Keller
+über die Schulbehörde, die ihm die Anstalt verwies! Aber wieviel
+bitterer mußte er nun über sich selber urteilen! Hier ist er kalt,
+ja hart. Und ein Alpdruck lastet von daher auf dem Leser. Auch das
+Wichtigste, die religiöse Entwicklung, ist doch nicht überall mit
+durchschlagender Kraft und Tiefe gezeichnet. Vielleicht nicht unwahr,
+aber darum doch, wo mit halben Gedanken abgeschlossen wird, auch nicht
+völlig befriedigend. Naturwissenschaftliche Erwägungen<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> haben auf die
+Gestaltung dieser Anschauungen Einfluß, aber die Entscheidung geben
+persönliche Momente. Im Grafenschloß ists, wo diese Entscheidung
+fällt; und die atheistische Dorothea wirkt auf ihn ein:</p>
+
+<p>»Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens, <em class="gesperrt">durch
+Dortchens Augen gesehen</em>, ließ mir die Welt bald ebenso in einem
+stärkeren und tieferen Glanze erscheinen, wie es bei ihr der Fall
+war; — ein sehnsüchtiges Glücksgefühl durchschauerte mich, wenn ich
+mir nur die Möglichkeit dachte, für das kurze Leben mit ihr in dieser
+schönen Welt zusammen zu sein.«</p>
+
+<p>Vielleicht entspricht die Schilderung der Lebenswirklichkeit. Solche
+Einflüsse entscheiden zuweilen. Aber den denkenden Leser befriedigt
+solche Entscheidung darum doch nicht.</p>
+
+<p>Endlich noch eins: <em class="gesperrt">die eigene Entwicklung des Helden behält etwas
+Unbefriedigendes</em>. Und das nicht etwa bloß mit Rücksicht auf die
+<em class="gesperrt">äußere</em> Resultatlosigkeit der langen Malerzeit daheim und in
+München. Vielmehr: der Leser empfindet deutlich, wie diese äußere
+Resultatlosigkeit mit Mängeln des Charakters zusammenhängt. So wie
+Keller den »grünen Heinrich« schildert, ist er vom Verbummeln nicht
+mehr fern. Daß aus der Malerei nichts wird, ahnt der Leser längst,
+längst, ehe der »grüne Heinrich« zur gleichen Erkenntnis kommt. Ein
+bischen mehr Energie, ein bischen schärfere Selbstkritik, ein bischen
+mehr Zielklarheit wünschten wir ihm. Keller selbst kritisiert diese
+Entwicklung fast nur durch die Art, wie er sie beschreibt, während
+er an anderen Punkten deutliche Worte ausdrücklichen Urteils findet.
+Die endgültige Wendung im Charakter des Helden kommt etwas spät und
+— im Verhältnis zum Ganzen — etwas rasch. Nicht jeder Leser wird
+<em class="gesperrt">diese</em> Schwäche des »Grünen Heinrich« völlig zu überwinden
+vermögen.</p>
+
+<p>Vom »Grünen Heinrich« nehmen wir Abschied. Von<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> Keller selbst aber
+können wir noch nicht scheiden. Allerdings ist es unmöglich, die Fülle
+der Gesichte hier erstehen zu lassen, die seine übrigen größeren Werke
+bieten: sein »<em class="gesperrt">Martin Salander</em>«, der die politischen Fäden des
+»Grünen Heinrich« weiterführt, der aber noch breiter ausführt, ohne
+gleiche Kraft und Tiefe zu zeigen, und der nach meinem Empfinden
+in der Darstellung erheblich weniger ansprechend, in Zeichnung und
+Räsonnement erheblich trockener ist, wennschon ein Hauch von biederem
+Bürgersinn den, der dafür Verständnis hat, erfrischend anweht;
+so ferner seine »<em class="gesperrt">Sieben Legenden</em>« und seine »<em class="gesperrt">Züricher
+Novellen</em>«. Wohl aber gilts, einen Augenblick zu verweilen bei
+jener berühmt gewordenen Novellensammlung, welche den Titel führt:
+»<em class="gesperrt">Die Leute von Seldwyla</em>« (zuerst 1856). Ein sonderbares
+Städtchen, dies Seldwyla. Leichtsinn haben seine Bewohner in gehöriger
+Portion. Sie leben gemütlich und ohne sich zu überanstrengen, sie
+tun überall mit, wo etwas los ist, aber sie fehlen, wo es rechter
+Ernst ist, sie verstehen das Geldausgeben vorzüglich, aber das
+Geldverdienen ist ihnen zu mühsam; sie machen Bankrott, wenn sie in
+den besten Jahren sind, und angeln als Ausgediente zum Nahrungserwerb
+und zum Zeitvertreib. Aus diesem guten Städtchen der Phrasenhelden
+und Maulgrößen, der politischen Windmühlen und der moralischen
+Unbesorgtheit zeichnet Keller mit scharfem Stift, mit bitterer
+Satire und mit derber Moral eine Reihe von Charaktertypen. Da ist
+<em class="gesperrt">Pankraz der Schmoller</em>, ein eigensinniger und zum Schmollen
+geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt
+nichts tat oder lernte, der aber dann in den Lehrjahren seines
+Lebens die Schmollerei verlernt. Er kommt ins Ausland; in Indien
+verliebt er sich in ein kokettes Mädchen, das nicht ruht, bis seine
+Liebe weißglühend geworden ist, um ihn dann ganz gehörig ablaufen zu
+lassen. In Afrika hat er ein Löwenabenteuer. Stundenlang muß<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> er,
+der Waffe beraubt, dem Löwen unbeweglich fest ins Auge sehen, bis
+Hilfe kommt. So wird er vom Schmollen kuriert. — Da sind »<em class="gesperrt">die
+drei gerechten Kammmacher</em>«, wahre Ausbunde von Solidität und
+Tugend, die alle drei ein Kammmachergeschäft, in dem sie arbeiten,
+nach des Besitzers bevorstehendem Bankerott erwerben wollen und, um
+nur bleiben zu können, sich vom Meister drücken und schinden lassen.
+Sie wollen alle drei ein ebenso pedantisches Mädchen heiraten, das
+einen Batzen Geld hat und das keiner dem andern gönnt. Endlich kommt
+die Entscheidung; von dreien darf nur einer im Geschäft bleiben. Wer?
+darüber soll ein lächerlicher Wettlauf entscheiden. Zwei schießen, in
+einander verbissen, am Ziel vorüber, der dritte gibt das Laufen auf,
+sichert sich das Mädchen und bekommt mit dessen Geld das Geschäft.
+Da gehen die Unterlegenen hin: der eine hängt sich auf, der andere
+wird ein Liederjahn. — Da ist ferner <em class="gesperrt">Frau Regel Amrain</em>, eine
+kluge Frau und noch klügere Mutter, die alle Schäden, an welchen
+Seldwyla krankt, wohl übersieht und darum ihren Jüngsten, in dem sie
+am meisten Hoffnungsgrund für zukünftige Entwicklung merkt, zu einem
+Mann heranzieht, der jenen Torheiten entwächst und, statt zu werden
+wie die andern, lieber fleißig, sittsam und tatkräftig sein und seiner
+Familie Wohl, auch nicht zuletzt das Wohl der Allgemeinheit fördern
+soll. — Da begegnen wir »<em class="gesperrt">Romeo und Julia auf dem Dorf</em>«, —
+eine Geschichte vom Zwist zweier bäuerlicher Nachbarn, die sich um
+ein Nichts verfeindet haben und nun die Fehde bis zum völligen Ruin
+beider Familien fortführen. Der Sohn der einen und die Tochter der
+andern Familie aber haben sich lieb und gehen schließlich gemeinsam
+in den Tod, — nicht ohne vorher in freiem Entschluß ohne den Segen
+der Eltern und ohne die Ordnung der Sitte Hochzeit gefeiert zu
+haben. — Aber wozu von jeder einzelnen dieser Novellen erzählen?
+Sie sind allesamt echte Kinder der Kellerschen Muse.<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> Jeder liest
+sie gern in einer Stunde, die dem Nachdenken nicht allzu abhold
+sein darf. Jeder spürt in ihnen die Feinheit der Beobachtung, die
+Anschaulichkeit der Darstellung, die Tiefe der Gedanken und den Ernst
+des Urteils. Jeder freut sich der klaren Art, ein begrenztes Bild oder
+Bildchen menschlichen Lebens und Treibens herauszuarbeiten und den
+Faden der Handlung, die nur manchmal etwas sehr in die Breite geht,
+festzuhalten. Es sind Novellen, die zugleich fesseln und zu denken
+geben; und eine große Summe Lebensweisheit steckt in ihnen. Etwas von
+den Leuten von Seldwyla findet sich ja schließlich auch sonst auf
+der Welt! Immerhin will ich mit einem Bekenntnis nicht zurückhalten.
+So gewiß es richtig ist, daß Keller mit den besten Stücken dieser
+Sammlung gleich alles, was seine Vorgänger und Zeitgenossen auf dem
+Gebiet der Novelle bisher geleistet haben, übertrifft, so wenig
+kann ich ohne Einschränkung ein Urteil unterschreiben wie das, nach
+welchem sie »große und freie Poesie« sind, »von einer bedeutenden,
+wenn auch eigen gewachsenen Persönlichkeit getragen, von reichster
+künstlerischer Durchbildung, ebenso wahr und tief wie fein.« Mag
+vieles in diesem Urteil zutreffen, eins ist darin vergessen: der
+moralisierende Ton, der zuweilen etwas geradezu Pedantisches hat.
+»Frau Regel Amrain und ihr Jüngster« kann geradezu eine pädagogische
+Novelle genannt werden. Aber auch die anderen Stücke haben diese
+erziehliche Art. Und Keller hat es <em class="gesperrt">nicht</em> immer verstanden,
+seine Moral ins Gewand »großer und freier Poesie« zu kleiden; er wird
+zum Kritiker, zum Schulmeister, zum Erzieher und vergißt dabei doch
+manches Mal den Dichter. Etwas von dieser Art findet sich in allen
+Werken Kellers; es hat mit dazu beigetragen, sie zu Zeitromanen und
+Zeitnovellen zu machen; denn was er kritisiert, sind ja Zeitsünden,
+Zeitschwächen. Aber ihren dichterischen Wert hat es nicht gehoben.</p>
+
+<p>Auch »Die Leute von Seldwyla« habe ich in die<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> Gruppe der Zeitdichtung
+eingereiht: aus eben diesem jetzt angeführten Grund. Schweizer
+Bürgerleben in seinen Schwächen bildet überall den Hintergrund der
+Novellen. In die großen, flutenden Bewegungen der Zeit führen sie
+freilich nur gelegentlich ein. Aber muß ein Zeitroman wirklich das
+Ganze der Zeit umspannen? Wir warfen die Frage schon früher auf,
+aus Anlaß der Vorrede zu Gutzkows »Rittern vom Geist«; und wir
+beantworteten sie mit Nein. Muß ein Zeitroman auch nur die großen,
+weltbewegenden oder doch staatenerschütternden Strömungen skizzieren?
+Gibt er nicht auch ein Bild seiner Zeit, wenn er irgend ein konkretes
+Einzelgebiet herausgreift und zu intimer, lebendig-wahrer Darstellung
+bringt, selbst wenn es mit jenen politischen Strömungen nichts oder
+wenig zu tun hat? Den besten Beweis, daß auch ein solcher Zeitroman
+auf der Höhe stehen kann, gibt <em class="gesperrt">Gustav Freytags</em> Buch »<em class="gesperrt">Soll
+und Haben</em>«, das ein Jahr später als »Der grüne Heinrich« und ein
+Jahr früher als »Die Leute von Seldwyla« erschienen ist. Die Gestalten
+dieses Buchs stehen Ihnen allen vor Augen; Andeutungen werden
+daher zur Begründung meines Urteils ausreichen. Ins Weltgetriebe
+führt Freytag mit der polnischen Insurrektion, die der Kaufmann
+Schröter und Anton Wohlfart aus eigener Anschauung kennen lernen.
+Aber Freytags Interesse in diesem Roman ist nirgends politisch;
+auch jene polnischen Zustände kommen fast nur in ihrer Rückwirkung
+auf die Geschicke der Handlung T. O. Schröter, Kolonialwaren und
+Produkte, zur Geltung, daneben lediglich noch in ihrem Einfluß auf
+die persönliche Charakterbildung Anton Wohlfarts selbst. Die Firma
+T. O. Schröter in der Hauptstadt der Ostprovinz steht unbestritten
+im Mittelpunkt. Das Großkaufhaus in Breslau — diese Stadt ist
+bekanntlich gemeint — mit allen seinen Insassen und Angestellten
+macht uns zugleich mit Lebensart und -Haltung der Kreise bekannt,
+die in ihm ihren Mittelpunkt haben.<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> — Außerdem lernen wir in
+Veitel Itzig und Ehrenthal Typen unehrlicher Geschäftspraktiken
+kennen, in Hippus den Typus des abgefeimten Winkelkonsulenten,
+in der Familie von Rothsattel und in dem Tanzzirkel der Frau von
+Baldereck die Kreise des Landadels und des Offiziersstandes, in Fink
+den weiterblickenden, amerikanisierten Weltmann, der zugleich die
+strenge Lebenseinfachheit des deutschen Kaufmannsstandes aufgegeben
+hat. Sabine Schröter ist ein Bild zugleich deutscher Hausfrauenart
+und edler Weiblichkeit. Vielleicht ist das Gesichtsfeld des Romans
+nicht allzu weit; weit <em class="gesperrt">genug</em> ists auf alle Fälle. Das solide
+Bürgertum der deutschen Stadt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts,
+mit Konzentration aller Interessen auf Beruf und Arbeit, mit
+keiner anderen Poesie als derjenigen eben dieses Berufs und dieser
+Arbeit, aber darum nicht ohne Gemüt und nicht ohne Herz, wird dem
+unsoliden Wuchertum wie dem glänzenden, aber minder fest auf der
+Arbeit aufgebauten gesellschaftlichen Leben der aristokratischen
+Kreise gegenübergestellt. Ist das kein Gegenstand, der für das Leben
+einer bestimmten Zeit charakteristisch wäre? Sehen wir nicht ganzen
+Schichten des deutschen Volkes ins Herz?</p>
+
+<p>Die Art, wie Freytag schildert, ist ganz und gar geeignet, ein
+wirkliches, klares und deutliches Bild eben dieser Schichten zu geben.
+Am meisten ausgeführt ist dasjenige der Firma T. O. Schröter. Hier
+ist er peinlich genau, bis ins Einzelne treu. Er erspart dem Leser
+nicht die gründlichste Beschreibung der Handelsbeziehungen und des
+Arbeitsbetriebs in dem großen Kaufhause. Er führt uns durch beinah
+sämtliche Räume desselben, durchs Kontor, den eigentlichen Herzpunkt,
+durch die Kellerräume, in denen die Waren lagern, durch die Wohn- und
+Prunkräume des ersten Stockwerks, wo die Angestellten mit der Familie
+des Prinzipals die Mittagsmahlzeit einnehmen, durch die Wohnzimmer
+des Hinterhauses, in denen Buchhalter<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> und Kommis ihre bescheidenen
+Wohnstätten haben, durch Hof und Hausflur, wo Herr Pix die Auflader
+und Hausknechte regiert. Er zeichnet Charakterbilder von jedem
+Einzelnen der beteiligten Männer, von dem bescheidenen Liebold bis zum
+Aufladerobersten Sturm und dem Allerweltsfaktotum Karl. Er nötigt uns,
+die zeitraubenden Verhandlungen mit Schmeie Tinkeles anzuhören, und
+er vergönnt uns, die Tätigkeit des ersten Buchhalters mitzuempfinden.
+Wer wollte leugnen, daß ihm die Wahrheit den Pinsel geführt hat?
+Vielleicht ist Sturm, der Oberste der Auflader, ein bischen zu rühr-
+und redselig gezeichnet; vielleicht treten interne Psychologika,
+soweit sie nicht die Entwicklung der Menschen zu Geschäftsleuten
+betreffen, allzusehr zurück. Aber gerade das Geschäftsleben gewinnt
+durch diese Einseitigkeit; es ist ein prächtiges Bild, das Freytag von
+ihm gezeichnet hat.</p>
+
+<p>Aber auch alles Andere an diesem Roman ist treu und wahr. Freytags
+Liebe gehört ja ohne Frage <em class="gesperrt">diesen</em> Menschen, vor allem dem
+braven und treuen, fleißigen und sorgfältigen, warmherzigen und
+tieffühlenden Anton Wohlfart. Um so höher ist es ihm anzurechnen,
+daß er es völlig vermieden hat, um seiner Lieblinge willen die
+andern Kreise zu karikieren. Man vergleiche getrost die Adelskreise
+in Spielhagens »Problematischen Naturen« mit den Rothsattels bei
+Freytag, ja mit der Frau von Baldereck und der Gräfin Pontak, mit
+den Leutnants von Zernitz und von Tönnchen! Die jungen Herren aus
+dieser Umgebung kommen nicht gerade gut weg. Aber dem jungen Kaufmann
+imponiert »ihre Art zu sprechen und sich zu geberden, vor allem eine
+gewisse ritterliche Atmosphäre, die sie umgab, etwas Salonduft, etwas
+Stallluft und viel von dem Aroma der Weinstube.« Und als Wohlfart
+später nach ernsthaft bewiesener, mutvoller Unerschrockenheit in Polen
+wieder mit einem Kreis von Offizieren zusammenkommt, da freut er sich
+des freien Verkehrs mit anspruchsvollen Menschen<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> und läßt sich gern
+in den Zauber eines Kreises ziehen, welcher ihm für frei, glänzend und
+schön gilt. Und selbst der Leutnant von Rothsattel, der ein bischen
+reichlich stolz gewesen, erhält nun noch das Prädikat: »im Grunde
+ein verzogener, leichtsinniger, gutmütiger Mensch.« Und die übrige
+Familie von Rothsattel, der edle Freiherr voran, die prächtige Mutter
+nicht hinter ihm, die reizende, mutige, frische Lenore mit ihnen,
+gibt ein treffliches Konterfei schlesischen Grundadels, wennschon
+uns Jetzigen die geringe Gewandtheit des Freiherrn in geschäftlichen
+Angelegenheiten recht sonderbar vorkommt. Kurz, Freytag hat den
+Fehler vermieden, zu gunsten einer Menschenklasse andere ins Unrecht
+zu setzen; und wenn es in der Welt seines Romans im allgemeinen
+bürgerlich ordentlich, ehrbar und anständig zugeht, so hat er
+doch das gute Recht, gerade solche ordentlichen Menschenschichten
+zum Gegenstand seines Bildes zu machen. Die Schwächen jener
+bürgerlich-kaufmännischen Lebensauffassung läßt er ja keineswegs
+zurücktreten: etwas Pedantisches, etwas Philisterhaftes klebt ihr an;
+frei, glänzend und schön gestaltet sie das Leben nicht; aber ernst ist
+sie und reizlos ist sie auch nicht. Hören wir unsern Anton Wohlfart:</p>
+
+<p>»Ich weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft.
+Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die
+sich von einem Menschen zu dem andern, über Land und Meer, aus einem
+Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden Einzelnen
+und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen,
+und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten
+aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen;
+dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch
+ich mit helfe, und, so wenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß
+jeder Mensch mit jedem anderen Menschen in fortwährender Verbindung
+erhalten<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein.
+Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Wage setze, so knüpfe ich einen
+unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche
+die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauerburschen, der sie zum
+Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so
+sehe ich auf der einen Seite den Malayen kauern, der ihn zubereitet
+und einpackt, und auf der anderen Seite ein altes Mütterchen aus
+unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.«</p>
+
+<p>Und so wenig der ernste Mensch über diese Poesie der Kolonialwaren
+wird lächeln dürfen, so wenig kann er Antons weitere These bestreiten:</p>
+
+<p>»Wer ein ehrliches Geschäft hat, kann von unserm Leben nicht schlecht
+denken, er wird immer Gelegenheit haben, Schönes und Großartiges darin
+zu finden.«</p>
+
+<p>Was endlich an »Soll und Haben« rühmend hervorzuheben ist, das ist
+die Technik des Aufbaus. In dieser Hinsicht bezeichnet der Roman
+einen entschiedenen Fortschritt gegenüber Gutzkow und auch gegenüber
+Keller, vielleicht in mancher Hinsicht sogar gegenüber Spielhagens
+»Problematischen Naturen«. Gutzkow war breit und ließ die Handlung
+in zahllose lange Gespräche zerfließen; für lange Zeiten waren die
+Menschen für ihn nur dazu da, um ihre Ansichten einander möglichst
+offenherzig zu erzählen. Auch bei Freytag fehlen die Gespräche nicht;
+was ich eben an Urteilen über den Kaufmannsstand anführte, entstammt
+einem solchen. Aber sie treten zurück gegenüber dem Handeln. Das
+ist nicht immer ein Handeln im großen Stil; Ereignisse häufen sich
+nicht; es ist ein Geschehen im kleinen und kleinsten Maßstab; aber es
+charakterisiert und es fesselt. Bei Gutzkow Unwahrscheinlichkeiten
+und Abenteuerlichkeiten im äußeren Verlauf; bei Freytag ruhige, wenn
+auch nicht immer ganz folgerichtige Entwicklung auf solidem Unterbau.
+Und während Kellers »Grüner Heinrich« zeitweis<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> den Charakter des
+Memoirenwerks trägt, gab Freytag seinem »Soll und Haben« auch in der
+Form mit aller Kunst ganz den Charakter des Romans. Ein einzelnes
+Menschenkind, Anton Wohlfart, eint in seiner Person die mannigfachen
+Fäden der Entwicklung: er ist mit Leib und Seele im Kontor bei T. O.
+Schröter, er beteiligt sich am Tanzkränzchen der Frau von Baldereck,
+er schwärmt für Lenore von Rothsattel, er verkehrt mit Bernhard
+Ehrenthal. Und so zersplittert sich das Interesse nicht; es begleitet
+die Entwicklung in Aufmerksamkeit und Spannung durch alle Stadien
+hindurch. Bald führt das eine Kapitel den Leser zu T. O. Schröter,
+bald das andere ins Geschäft zum Ehrenthal, bald das dritte ins
+Stammschloß der Rothsattel. Aber alle diese Einzelentwicklungen
+gestalten sich schließlich zu einem großen Ganzen und finden nach
+spannenden Akten ihren Abschluß, einen richtigen, Ruhe gebenden
+Abschluß. Verglichen mit den »Problematischen Naturen« Spielhagens ist
+Freytags »Soll und Haben« nach seiner Technik insofern im Vorteil,
+als hier nicht das geheimnisvolle Hineinwirken einer spät entdeckten
+vergangenen Tatsache zum Abschluß hilft, sondern einfache, klare,
+folgerichtige Durchführung der in der Anlage gegebenen Ansätze.</p>
+
+<p>Somit kann es nur mit Freude begrüßt werden, daß »Soll und Haben«
+eins der Lieblingsbücher der deutschen Gebildeten geworden ist. Auch
+vom modernen Standpunkt des Naturalismus <em>sans phrase</em> aus soll
+man uns das Buch nicht verleiden. Es bleibt des Dichters gutes Recht,
+sein Thema so zu begrenzen, daß gewisse Tiefen nicht aufgerührt
+werden. Er begibt sich damit der Möglichkeit, problematische Naturen
+mit ihren Sonderbarkeiten zu zeichnen, feinädrige psychologische
+Probleme zu behandeln, und auch des anderen, einen Beitrag zur
+Lösung von Fragen der Politik oder der Weltanschauung zu geben.
+Aber er bringt nichtsdestoweniger ein Zeitbild, ein Bild tüchtigen,
+fleißigen Strebens, und er bringts in annähernd<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> objektiver Weise,
+ohne allzustarke Satire, ohne Geißelhiebe nach rechts oder links, aber
+nicht ohne einen gewissen Humor, mag derselbe auch etwas nach dem
+Kontor schmecken.</p>
+
+<p>Ein Werk in der Art von »Soll und Haben« ist Freytag nicht wieder
+gelungen. »Die verlorene Handschrift« erreicht nicht entfernt die
+gleiche Höhe. Der Gelehrte, welcher die Handschrift sucht und darüber
+jeden praktischen Blick verliert, mag ja ein Produkt deutschen
+Wissensdranges sein. Aber wir fühlen es alle: er eignet sich weit
+mehr zum Objekt der witzigen Professorenanekdoten, wie sie ja von
+Mund zu Mund gehen, als zum Mittelpunkt eines großen Romans. Dazu
+ist er in seiner ganzen Art doch nicht genug Typus jener gründlichen
+Gelehrsamkeit, wie wir sie als eine Spezies unseres Vaterlandes
+schätzen und lieben. Der große Zyklus »Die Ahnen« aber wird an anderer
+Stelle zu würdigen sein.</p>
+
+<p>Vom objektiveren Zeitroman wollte ich reden. Unter Preisgabe der
+Politik hat Freytag eine hohe Objektivität erreicht. Wie steht es
+mit dem Zeitroman in späteren Zeiten? Finden wir nicht auch unter
+seinen Schöpfungen noch manches, was die Tendenz zurücktreten
+läßt? Ich glaube, das sogar von einigen Werken <em class="gesperrt">Spielhagens</em>
+behaupten zu dürfen. Nicht von dem 1887 erschienenen »<em class="gesperrt">Was will das
+werden?</em>«, dem Anti-Bismarck, gilt das, — auch nicht von »<em class="gesperrt">Der
+neue Pharao</em>« von 1889, der die neue Zeit, die Zeit Bismarckschen
+Einflusses mit schwarzen Farben malt. Aber bis zu einem gewissen Grad
+ists ihm in der »<em class="gesperrt">Sturmflut</em>« gelungen, einem Werk von wunderbar
+packender Kraft, einem der besten des Meisters, in dem Reichtum der
+Gedanken und Aktualität der Meinungsäußerung sich mit imposanter
+Kunst der Entwicklung und Durchführung einer vielgestaltigen Handlung
+vereinigen. Sturmflut bricht herein — über das deutsche Volk: eine
+Flut von Gold im Milliardensegen nach dem französischen Krieg, eine
+Flut von Schwindel in Handel<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> und Wandel, eine Flut von Verderbnis
+im sittlichen Leben der Familien und der Einzelnen. Sturmflut bricht
+herein — über die Bewohner des Ostseestrandes und mit ihnen über
+ein Liebespaar, das die Schuld jener anderen Sturmflut auch auf sich
+geladen hat. Und wie die Bilder von dieser letzten, natürlichen
+Sturmflut zu dem Gewaltigsten gehören, was unsere Romanliteratur
+besitzt, so fehlt auch der Schilderung der Sturmflut roten Goldes und
+sittlichen Verfalls nicht die drastische Anschaulichkeit und nicht die
+innere Wahrheit. Obgleich Spielhagen sich und seine Tendenzen niemals
+ganz verleugnen kann, so hat er doch in diesem Buch auch den von ihm
+sonst mit Vorliebe befehdeten Adelskreisen ein wenig mehr ihr Recht
+gegeben. Auch in diesem Roman kann man, was Einzelzeichnung betrifft,
+manches finden, was mit der Wirklichkeit streitet; Spielhagen bringt
+es nicht fertig, einen Geistlichen anders zu zeichnen denn als einen
+gefühlsrohen und bornierten Fanatiker; und auch der Jesuit der
+»Sturmflut« ist allzu phantastisch herausstaffiert. Aber jedenfalls
+trifft die »Sturmflut« besser das Kolorit der Wirklichkeit als manches
+andere Produkt der Spielhagenschen Muse. Hier hat die unmittelbare
+Anschauung, die Gewalt seines Stoffs, die ernste sittliche Haltung
+gegenüber dem Schwindel und der Haltlosigkeit ihm die richtigen Farben
+in den Pinsel gegeben.</p>
+
+<p>Zeitromane objektiveren Charakters hat das Ende des 19. Jahrhunderts
+noch in Fülle gebracht. Lassen Sie mich nur noch die Bilder aus den
+Ostseeprovinzen nennen, welche <em class="gesperrt">Theodor Hermann Pantenius</em> von
+übrigens christlicher und konservativer Weltanschauung aus gezeichnet
+hat. Und lassen Sie mich mit besonderer Freude des Dichters gedenken,
+der es wie keiner verstanden hat, das Leben der Mark Brandenburg
+anschaulich darzustellen: des feinsinnigen <em class="gesperrt">Theodor Fontane</em>.
+Nicht alle seine zahlreichen Romane sind von gleichem Wert. Vor allem,
+sie<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> sind nicht sämtlich Zeitromane im vollen Sinne des Wortes. Sein
+»Vor dem Sturm« wird uns im nächsten Vortrag beschäftigen; hier gilt,
+was ins volle Leben der Gegenwart eingreift. Da hat auch Fontane
+nicht überall den Kreis weit gespannt, so weit, wie ein Zeitroman
+es nun einmal muß: über Schichten der Menschheit, über Klassen der
+Gesellschaft, über das Leben wenigstens eines ganzen Standes hin.
+Er bleibt zuweilen im engeren Umkreis des mehr Persönlichen, das
+keinen Anspruch darauf hat, für typisch zu gelten. Das hindert nicht,
+eben diese Dichtungen für Werke von hohem künstlerischen Wert zu
+erklären. Aber in dem Zusammenhang dieser Bilder haben wir ihm auch
+als einem Manne der Zeit und einem Künstler der Zeit unsern Tribut
+zu geben. Man hat bei seiner »Effi Briest« so gut wie bei seiner
+»Jenny Treibel« durchaus das Gefühl, daß er seine Gestalten nicht
+bloß nach der Seite des Allgemein-Menschlichen hin, sondern auch
+nach ihrer Eigenschaft als Glieder bestimmter Kreise hin als Träger
+allgemein geteilter Anschauungen charakterisiert. Effi Briest: das
+Landedelhaus, das ländliche Pfarrhaus und Kantorhaus! Die geselligen
+und gesellschaftlichen Verhältnisse in der pommerschen Kleinstadt!
+Die Familienverhältnisse im Haus des vornehmen Beamten! »Effi Briest«
+ist nicht lediglich Zeitschilderung; auch nach dem psychologischen
+Problem, welches hier zur Behandlung kommt, muß uns das Buch noch
+beschäftigen. Aber ganz und gar Zeitbild ist »Jenny Treibel«. Die
+gute Jenny Treibel mit ihrem wundervollen Idealismus und ihrem
+wunderbaren Realismus, mit ihren trefflichen Theorien und ihrer
+brutalen Praxis! Berliner Großstadtleben! Berliner Wohlstand und
+Mittelstand! Berliner Millionärsgefühle im Herzen einer liebenden
+Mutter! Und wieder nicht so, daß es heißen müßte: so sind sie alle.
+Aber wieder so, daß man sagen muß: diese Jenny Treibel ist mindestens
+kein Original, sondern sie hat eine Schar gleichgestimmter<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> Schwestern
+in Berlin <em>W.</em> und anderswo auch! — Das umfassendste Zeitbild
+aber gibt Fontanes »<em class="gesperrt">Stechlin</em>«. Hier steht im Mittelpunkt der
+märkische Edelmann, Herr von Stechlin, ein Mann von alter preußischer
+Art, mit patriarchalischen Neigungen, mit vornehmer Denkweise, mit
+konservativer Grundrichtung, dabei aber keineswegs ohne moderne
+Regungen. Im Gegenteil, manchmal ists, als sei die Tradition nur
+Schale, und der Kern sei ganz modern. Von pietistischer Frömmigkeit
+will er nicht viel wissen; ein einfaches männliches Christentum ist
+seine Sache, ein bischen undogmatisch sogar und doch wieder nicht ganz
+ohne jene Beimischung von Aberglauben, die der Dichter so sehr liebt.
+Neben ihm, wenn auch viel knapper skizziert, andere Vertreter des
+gleichen Standes, sein Sohn mit etlichen Freunden als Repräsentant des
+gediegenen jungen Offiziers, die alte würdige Stiftsdame im adeligen
+Fräuleinstift, der mit liberalen Anschauungen durchtränkte frühere
+hohe Beamte, die Pastoren: der schlichte, ein bischen ketzerische,
+sogar sozial denkende Landpfarrer Lorenzen, der weltgewandte,
+streberische Superintendent Koseleger, der prächtige Hofprediger
+Frommel in Originalaufnahme. Dazu Typen des Landvolks in einzelnen,
+aber ausgezeichnet getroffenen Porträts. Das ganze Bild greift nicht
+tief hinein in die Fragen, welche die Welt bewegen, obschon sie in
+manchem Gespräch ihre Rolle spielen. Im Grunde will Fontane weiter
+nichts, als durch solche Aeußerungen die Denkweise seiner Figuren
+beleuchten. Ihm liegt hier alles an der Schilderung, wenig oder nichts
+an der Handlung. In der ersteren aber ist er Meister. Man kann nicht
+richtig schildern, wenn man nicht auf das kleinste achtet; Fontane ist
+der begeisterte Freund feinster Kleinmalerei, in ihr und zugleich in
+der Objektivität derselben mit Gustav Freytag verwandt. Man wird ja
+bald der Mittel inne, die er braucht, um seinen Zweck zu erreichen. Er
+legt Gewicht aufs Milieu; der Mensch hängt eben von seiner Umgebung
+ab. Das Schloß, besser Herrenhaus,<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> des alten Stechlin muß darum
+gründlich beschrieben werden, nicht etwa unter dem Gesichtswinkel
+berauschender Romantik, sondern unter dem der naturwahren Zeichnung.
+Die Dienerschaft gehört zum Schloß; alte Faktota geben ihm mit
+seinen Charakter. Die Kuriositätensammlung muß besichtigt werden;
+wie könnte man einen Mann kennen, ohne seine Schrullen zu kennen?
+Zeigt er seine Lieblinge nicht mit Grandezza oder mit Pedanterie,
+spricht er von ihnen mit ruhigem Humor, so gibt das eine wichtige
+Bereicherung unseres Wissens über seinen Charakter. Auf dem Land kann
+der Gutsherr nicht gezeichnet werden, wenn man ihn nicht nimmt, wie
+er sich der Umgebung gegenüber gibt: im Verkehr mit hoch und weniger
+hoch geborenen Nachbarn — daher ihrer einige beim alten Stechlin auch
+zu Tische erscheinen —, im Verkehr mit dem Pastor — daher Lorenzen
+seine in diesem Zusammenhang unbedingt richtige Stelle erhält; im
+Verkehr mit dem Lehrer und endlich mit den sonderbaren Gestalten,
+wie sie jedes Dorf aufweist. Desgleichen gebührt der Landschaft und
+ihren Eigenheiten Beachtung. Wer auf dem Landschloß zu Gast ist,
+besichtigt die Sehenswürdigkeiten, voran die Kirche und den See
+Stechlin, um den Sagengewirr sich gerankt hat, wie denn jede Gegend
+ihre landschaftlichen Geheimüberlieferungen besitzt. So führt Fontane,
+der Kleinmaler, seinen Pinsel. So zaubert er aus dem märkischen
+Sand Bilder von bestechender Liebenswürdigkeit, von gewinnender
+Gediegenheit, aber auch von wunderbarer Treue.</p>
+
+<p>Wirklich von wunderbarer Treue? Aber steht nicht auch Fontane im Bann
+seiner stark ausgeprägten Individualität? Merkt man nicht auf jeder
+Seite seine Liebe für die Mark, die märkischen Junker, die märkischen
+Kirchen und Landpfarrer, die märkischen Landleute? Klingt nicht aus
+allen seinen Romanen dieselbe Stimmung des eigenen Gebundenseins an
+die Mark wie aus jenem schlichten Vers unseres Dichters:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Kein Erbbegräbnis mich stolz erfreut; </div>
+ <div class="verse indent0">Meine Gräber liegen weit zerstreut; </div>
+ <div class="verse indent0">Weit zerstreut über Stadt und Land, </div>
+ <div class="verse indent0">Aber alle im märkischen Sand! </div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Daß diese Heimatsliebe ihm die Feder geführt hat, wird niemandem zu
+bezweifeln einfallen. Und es bleibt ja auch richtig, daß Fontane
+ebenso wie Freytag bei allem Realismus doch immer dem eigentlichen
+Naturalismus ferngeblieben ist; manche Gebiete menschlicher Art und
+Sitte bleiben für beide außer Ansatz. Sie zeichnen mit Vollendung
+das Leben, wie es sich dem scharfen Beobachter gibt, aber einem
+Beobachter, der nicht ans Licht zieht, was in der Regel sich selber
+mit Finsternis bedeckt. Nur muß man gerade Fontane unbedingt
+zugeben, daß er alles getan hat, um in dem Leser das falsche Gefühl
+<em class="gesperrt">nicht</em> aufkommen zu lassen, als bestünden solche Schattenseiten
+und solche dunkelen Einschläge nicht. Man merkt es wohl, daß er
+absichtlich an ihnen vorüberführt. Und es gibt manchen Leser, der ihm
+das danken wird. Naturtreu bleibt darum seine Dichtung doch.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Und so glaube ich denn in der Tat, das Recht der Teilung des
+Zeitromans in einen tendenziösen und einen objektiven oder doch
+objektiveren praktisch erwiesen zu haben. Ich gestehe, daß gerade
+die Existenz dieser letzteren Gattung mir, wenn ich die lange
+Entwickelungsreihe des deutschen Romans durchmustere, eine ganz
+besondere Freude bereitet. Nicht als ob der Tendenzroman an sich
+minderwertig wäre: vor diesem Urteil bleiben wir hoffentlich so lange
+bewahrt, als wir dem freien Mann im Dichter seine freie Meinung
+gönnen. Aber je mehr die Tendenz ihm den freien, klaren Blick für
+das Wirkliche raubt, umsomehr leidet in der Tat die Kunst unter der
+Absicht. Da jubelt dann der mit Wirklichkeitssinn ausgestattete Leser,
+wenn er auf ein Gemälde trifft, das des Künstlers Herzensstellung wohl
+erkennen<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> läßt, das aber in Farbe und Entwurf einfache, reine Natur
+atmet. Und wenn nun solches Gemälde, ohne gerade in Zeitstreitigkeiten
+tief hineinzugreifen, doch diese unsere Zeit mit ihren feinsten
+Regungen wiederzugeben weiß, dann fühlt man den hohen Wert desselben.
+Ein Spiegelbild ist's: Zeit, erkenne dich selbst! Ein Kritiker wirds:
+sieh zu, wo dein Fehler steckt! Ein Mahner bleibts: such dir die
+Menschen, die unserer Zeit vorwärts helfen!</p>
+
+<p>Wie auf anderen Gebieten, so hat auch auf diesem der deutsche Roman
+kein völlig eigensprossendes Wachstum gehabt. Allerdings: hier ist
+vielleicht seine tiefste Sonderart, sein eigentliches deutsches
+Wesen am klarsten zu schauen: deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit
+verbinden sich mit deutscher Gemütstiefe und Herzenswärme. So in
+»Soll und Haben«, so im »Stechlin«. Und auch deutsche Vorbilder
+haben eingewirkt: Wilhelm Meister, auch der Werther. Aber außerdem
+ist englischer Einfluß unverkennbar: Dickens hat sehr stark
+herübergewirkt. Und zwar Dickens mit seiner realistischen Kraft und
+mit seiner plastischen Einzelkunst. In »Soll und Haben« wird man
+hundertfach an Dickens erinnert, vielleicht nirgends deutlicher als
+in der Episode, in welcher Anton Wohlfart die energische Absicht
+zeigt, den Herrn von Fink auf Pistolen zu fordern. Und ist es Zufall,
+daß gerade dort auch Freytag sich ein paarmal des uns von Dickens
+her so vertraut klingenden Wortes »Gentleman« in ebendemselben
+gutmütig-humorvollen Sinne bedient, in dem jener es gebraucht hat?
+Bei alledem aber muß festgehalten werden: <em class="gesperrt">der Zeitroman mit seinem
+hellen Tageslicht, seiner unromantischen Wahrheitsliebe, seiner
+umfassenden, manchmal beinahe nüchternen Gründlichkeit ist und bleibt
+doch im Grund eine Schöpfung deutschen Geistes</em>.</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_9">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_historische_Roman">Der historische Roman.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Wie die erzählende Dichtung die Wirklichkeit zu erfassen suchte, indem
+sie <em class="gesperrt">vergangenes Leben</em> neu erweckte, — das Thema ist unendlich
+reich, denn historische Romane besitzen wir in Fülle. Und ob auch hier
+mit unterläuft, was man getrost der Vergessenheit anheimfallen lassen
+kann, ohne sich groß zu versündigen, — zwei Gründe zwingen doch,
+bei Betrachtung des Heerzuges des historischen Romans durch das 19.
+Jahrhundert verhältnismäßig häufig anzuhalten. Der eine Grund: die
+Zahl der bedeutenden Schöpfungen ist auf diesem Gebiet nicht gering.
+Der andere Grund: auch minder Bedeutendes hat durch die Gunst der
+Lesewelt Anspruch auf Beachtung, mindestens auf Kritik erworben.</p>
+
+<p>Vielleicht könnte man darüber streiten, ob tatsächlich das Suchen
+nach Wirklichkeit das treibende Motiv des historischen Romans
+bilde. Denn auch die Romantik griff in die Tiefen der Geschichte.
+Und zwar nicht bloß mit jener Novelle »Michael Kohlhaas«, sondern
+auch mit Werken größeren Stils. <em class="gesperrt">Ludwig Achim von Arnim</em>
+ließ 1817 den ersten Band des mittelalterlichen Romans »<em class="gesperrt">Die
+Kronenwächter</em>« erscheinen (Band 2 ist Bruchstück geblieben). Und
+wer traut der Romantik Sinn für die Wirklichkeit zu? Auch haftet
+den »Kronenwächtern« sicher genug Unwirklich-Romantisches an. Aber
+so wunderbar ist die Macht der Geschichte auch über das Gemüt eines
+Romantikers, daß er doch die Wahrheit sich selbst zur Führerin
+erkor. Freilich: »Dichtungen sind <em class="gesperrt">nicht Wahrheit, wie wir sie von
+der Geschichte und dem Verkehr<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> mit Zeitgenossen fordern</em>, sie
+wären nicht das, was wir suchen, was uns sucht, wenn sie der Erde in
+Wirklichkeit ganz gehören könnten, denn sie alle führen die irdisch
+entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück.« Aber dieselbe Vorrede
+des Dichters, die diese Worte enthält, fordert für die Dichtung die
+höchste Wahrheit: »Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt,
+mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust als alles, was in
+der Geschichte laut geworden. Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu
+nahe, als daß sie den Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte
+in ihrer höchsten Wahrheit gibt den Nachkommen ahnungsreiche Bilder
+...«</p>
+
+<p>Wir stimmen dem zu, daß der Roman nicht gleiche Wahrheitspflicht
+hat wie die Geschichte, daß es auf die höchste, die innere Wahrheit
+ankommt. Und wir konstatieren, daß »Die Kronenwächter« bei allem
+dichterischen Schwung, bei aller Romantik ihrer Handlung, bei aller
+Unwahrscheinlichkeit ihrer Konzeption doch auch unter dem Banne der
+höchsten Wahrheit gestanden haben. Nur ist es mehr die Wahrheit
+mittelalterlicher Stimmung und Farbe, dazu die Wahrheit manches
+realistischen Zugs, als die Wahrheit aller Einzelgestalten und des
+Zusammenhangs, in den Menschen und Begebenheiten gestellt werden.</p>
+
+<p>Neben Achim von Arnim stehen noch andere Romantiker, die
+gleichfalls in vergangene Tage hineinzuführen gesucht haben. Da
+ist <em class="gesperrt">Wilhelm Hauff</em> mit seinem noch keineswegs verschollenen
+»<em class="gesperrt">Lichtenstein</em>« (1824), da ist <em class="gesperrt">Ludwig Tieck</em> mit dem
+unvollendet gebliebenen »<em class="gesperrt">Aufruhr in den Cevennen</em>«. Aber
+so hübsch der »Lichtenstein« zu lesen ist, — als eigentlich
+geschichtlicher Roman kann er nicht gelten. Der geschichtliche
+Hintergrund bleibt in blasser Undeutlichkeit; was ist Sage? was
+Geschichte? Ähnliches gilt aber von allen jenen Werken: poetischer
+Zauber umhüllt uns, aber der feste Boden der Wirklichkeit entschwindet.</p>
+
+<p>Wie viel näher steht der geschichtlichen Wirklichkeit<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> der eigentliche
+Bahnbrecher des modernen historischen Romans, der 1798 zu Breslau
+geborene <em class="gesperrt">Willibald Alexis</em>, mit richtigem Namen W. Häring
+genannt! Es ist kein Zufall, daß in ihm sich neue Kräfte regten, die
+Geschichte fruchtbar zu machen. Der Geist Walter Scotts war in ihm
+lebendig geworden. Seine ersten Romane gehen ganz in den Bahnen des
+englischen Dichters. Aber etwa seit dem Erscheinen von »Cabanis« 1832
+ward er dem Vorbild gegenüber selbständiger; und gerade die Vorliebe,
+mit welcher er in die Vergangenheit eines engeren Gebiets, der Mark
+Brandenburg, sich versenkte, hat diese Selbständigkeit gefördert. Ein
+Buch wie »<em class="gesperrt">Die Hosen des Herrn von Bredow</em>« (1846) wird heut
+noch gern gelesen; derbe Natürlichkeit, massiver Humor und gemütvolle
+Erzählerkunst haben uns da ein ganz prächtiges Werk beschert. Trotzdem
+möchte ich eine kurze Charakteristik nicht an dies Buch anschließen,
+das immerhin das Allgemein-Menschliche dem Geschichtlichen gegenüber
+bevorzugt. Vielmehr verweile ich lieber einen Augenblick bei den
+großen historischen Romanen und aus deren Schar bei dem »<em class="gesperrt">Roland von
+Berlin</em>« (1840). Mag »Der falsche Waldemar« sich die psychologische
+Aufgabe schwieriger stellen, gerade »Der Roland« ist für Alexis
+charakteristisch. <em class="gesperrt">Einmal</em> in der Art, wie die Handlung
+geführt ist. Manche Szene packt, und auch wer das Ganze überschaut,
+findet fortschreitende Entwicklung, die das Ziel im Auge behält
+und bestimmtem Abschlusse zuführt. Die romantische Träumerei hat
+aufgehört, die Kraft wirklicher, notwendig fortschreitender Handlung
+ist vorhanden. Die beiden eng verbundenen Städte Berlin und Köln an
+der Spree liegen um die Mitte des 15. Jahrhunderts in bitterem Streit
+miteinander, sodaß das Band, das sie verbindet, schier zerreißen will.
+Zugleich tobt ein anderer Streit in den Mauern der Stadt: die Zünfte
+hadern mit den Geschlechtern, die Bürger mit dem Rat. Und das in der
+Zeit, in welcher die Gerechtsame<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> der Stadt in heiliger Eintracht
+gehütet werden müßten. Kurfürst Friedrich <em>II.</em> der Eiserne
+liegt auf der Lauer, eben diese Rechte unter die fürstliche Würde zu
+beugen. Wie ihm das gelingt, das wird in mannigfach verschlungenen
+Wegen berichtet. Wir wollen sie hier nicht nachgehen. Genug: der
+Bürgermeister von Berlin, Johannes Rathenow, dem der steinerne Roland
+zu Berlin das Zeichen der eigenen Gerichtsbarkeit der Stadt ist, muß
+es erleben, daß eben dieser steinerne Roland durch die Straßen der
+Stadt geschleppt und in der Spree versenkt wird.</p>
+
+<p>Was hier mit wenigen Sätzen angedeutet ist, ist selbstverständlich
+nichts als der beherrschende Grundgedanke des dreibändigen Romans.
+Die Füllung des Rahmens gewinnt Alexis von zwei Seiten her: aus
+der minutiösen Schilderung vielfacher Einzelszenen und in ihnen
+der Sitten und Art jener Zeit, und sodann aus dem Bericht über
+die Schicksale einzelner Menschenkinder, insbesondere der Elsbeth
+Rathenow, der schönen Tochter des stolzen Bürgermeisters, und des
+Henning Mollner, der die Schöne zum Weibe begehrt. Einzelgeschick und
+Gesamtgeschick sind mit kunstreicher Feinheit in einander verwoben;
+keine Beschreibung führt vom Gange der Gesamthandlung ab oder tritt
+unvermittelt oder wie überflüssig auf. Vielmehr ist alles zu einem
+Ganzen geworden. Und doch ist der »Roland« nicht bloß ein Dokument
+der Vorzüge dieser Kunst, sondern auch manches Fehlers derselben.
+Wenige, die der Roman heute noch wirklich zu fesseln imstande wäre!
+Warum? Weil der Gang der Handlung durch die Breite der Einzelszenen
+doch ein schleppender geworden ist, — weil es schwer wird, unter
+allen den scheinbar wirren Ranken die leitenden Äste zu erkennen,
+— endlich wohl auch, weil der Fäden zu viel sind, die gleichzeitig
+gezogen werden, und weil in der Darstellung selbst dem Leser nicht
+immer genügend klare Wegweisungen für das Verhältnis des Einzelnen zum
+Ganzen an die Hand gegeben werden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span></p>
+
+<p>Aber noch in einer anderen Richtung ist der »Roland von Berlin«
+charakteristisch für die schriftstellerische Kunst seines Verfassers.
+Er läßt uns die peinliche Treue wie die meisterhafte Deutlichkeit
+seiner Detailschilderung merken. Hierin liegt in der Tat seine Stärke.
+Es ist nicht möglich, hier solche Kabinettstücke der Kleinkunst
+probeweise wiederzugeben: auch darin ist Alexis so breit, so minutiös,
+daß der Raum dafür nicht reicht. Aber wer den Roland gelesen, der
+lasse sich erinnern an das alte Rathaus zwischen Berlin und Köln mit
+seinem bunt verzierten Oberbau und den vielen zierlichen Türmchen.
+»Die Türmchen, nicht zur Verteidigung, es war nur Spielwerk, schauten
+nach allen Stadtteilen; der mächtige, aber vielfach ausgezackte Giebel
+aber war dem Spreeflusse zugewandt. Er durfte nach keiner der beiden
+Städte blicken. Wäre es doch zu Ungunsten der einen oder anderen
+gewesen. Das litt keine. Darauf gab man viel im Mittelalter und
+fürchtete und scheute das Spiel des Zufalls.« Es sei erinnert an die
+Beschreibung der stürmischen Ratssitzung, in welcher Niklas Perwenitz
+zu vermitteln sucht, an den Weg des Bürgermeisters durchs Straßenleben
+der Stadt nach dem Schummschen Hause in Köln, an das unübertrefflich
+drastisch gemalte Fest beim Ratsherrn Thomas Wyns und an anderes mehr.
+Viel zu breit ist manche der Szenen, aber lebendig, anschaulich und
+wahr sind sie alle.</p>
+
+<p>Ja <em class="gesperrt">wahr</em>! Das ist das dritte, was im Roland den Meister erkennen
+lehrt. Hier ist realistische Treue, gepaart mit kräftigem Humor,
+auch wohl im Gewand satirischer Überlegenheit, aber eben Treue.
+Keine Treue, die ihre Aufgabe darin sieht, <em class="gesperrt">alles</em> zu sagen.
+Aber doch eine Treue, die das, was sie sagt, dem Leben abgelauscht
+hat. Du liebes kleines Berlin-Köln aus der Zeit Friedrichs des
+Eisernen! Du mit deinem stolzen Eigenbewußtsein und dem starren
+Selbständigkeitsgefühl! Was sind deine Ratsherrn für mächtige Leute
+gewesen, und welcher Reichtum<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> hat in deinen Mauern sich geborgen!
+Wie steif ist dein Nacken schon dazumal gewesen, wie kritisch dein
+Verstand gegen alles, was von oben kam! Wie haben deine Bürger bei
+aller Würde doch auch zu lachen gewußt; und was für lose Mäuler haben
+ihre Witze gerissen! Es ist das Berlin des Mittelalters, welches der
+Roland erstehen läßt; aber wir zweifeln nicht: es ist der richtige
+Vorfahr des Berlin von heute!</p>
+
+<p>Wilibald Alexis hat dem historischen Roman endgültig die Bahn
+gebrochen. Wer seine Werke vor allem auf die Kraft der Spannung,
+auf gedrungene Zusammenfassung, kurz auf die Kunst der Gestaltung
+des Ganzen ansähe, würde oft enttäuscht sein. Wer aber das Einzelne
+ansieht, die Plastik der Kleinmalerei und die Schönheit des
+Gesamtbildes der Zeiten, die er beschreibt, der wird ihn immer mit
+Bewunderung nennen. Nun ist dem Durchschnittsromanleser freilich
+nichts schrecklicher, als wenn der Autor zu breit wird; und wer
+möchte nicht zugeben, daß der Fehler groß ist? Aber anderseits
+sollten ausdauernde Naturen von feinem historischem Geschmack doch
+immer wieder einmal auf ihn zurückgreifen. Denn in der Art, wie er
+die Geschichte für die Dichtung genützt hat, steht er, obwohl erst
+Bahnbrecher, doch bereits auf der Höhe.</p>
+
+<p>Überschauen wir nun das weite Feld des historischen Romans nach
+W. Alexis, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts! Als
+gemeinsames Charakteristikum stelle ich fest: der romantische Zauber
+ist abgestreift, manchmal auch der poetische Duft; jedenfalls droht
+von daher der nüchternen Erfassung der Wirklichkeit keine Gefahr mehr.
+Wer für jenen Zauber Sinn hat, mag wohl trauern, daß er dahin ist;
+er gibt doch tatsächlich einen eigenen Reiz. Wenn er nur überall zu
+gunsten der geschichtlichen Wirklichkeit sein Reich verloren hätte!
+Aber es haben längst nicht alle Dichter von W. Alexis ernstlich
+gelernt.</p>
+
+<p>Lassen Sie mich Ihnen zuerst diejenige Linie in der<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> Geschichte des
+historischen Romans weiterführen, welche eine wirkliche Entwicklung
+zur Vollendung hin am merkbarsten spüren läßt! Das ist die Linie,
+welche von W. Alexis her über <em class="gesperrt">Scheffel</em> und <em class="gesperrt">Riehl</em> auf
+<em class="gesperrt">Freytag</em> hinführt, in ihm aber keineswegs ihr Ende erreicht.
+Was hier kurz zu skizzieren ist, das ist die Entwicklung des
+<em class="gesperrt">kulturhistorischen Romans</em>.</p>
+
+<p>Wie unendlich verschieden kann die Methode sein, in welcher der
+Romanschriftsteller Geschichte und Dichtung vermählt! Das kann ja
+scheinbar geschehen, ohne daß von der Geschichte mehr entlehnt wird
+als der äußere oder gar äußerste Rahmen. Statt daß man die Jahreszahl
+1800 und so und so viel an den Anfang setzt, greift man eben ein paar
+Jahrhunderte zurück. Irgend eine Größe der gewählten Zeit muß in
+ein paar Szenen auftreten, — aber mit Vorsicht, damit man nicht in
+Konflikt mit der Geschichte komme. Der Stand und Beruf, die Kleidung
+und etwa noch die Sprache der handelnden Personen wird ein wenig in
+altmodisches Gewand gehüllt, wobei es weiter keine Rolle spielt, ob
+jemals Leute auf dem Erdenrund so gesprochen haben, wie die Figuren
+im sogenannten geschichtlichen Roman. Sodann wird eine Anzahl Zutaten
+hereingegeben — ein bischen Heldenmut aus den Kreuzzügen, ein Quantum
+Glaubenstreue aus der Reformationszeit oder eine Portion Kriegsgreuel
+aus dem dreißigjährigen Krieg. Und wenn nun noch der nötige Pfeffer
+nicht fehlt, um die Sache zu würzen, und ein Stückchen Zwiebel dabei
+ist, das die Tränen lockt, dann stürzt sich die Leserschar auf den
+»herrlichen historischen Roman«. Aber die Maskerade kann den ernsten
+Beurteiler nicht täuschen. Wann wäre je einer dadurch ein Ritter
+geworden, daß er sich eine Rüstung übergeworfen und mächtig mit dem
+Harnisch geklirrt hat?</p>
+
+<p>Aber warum entwerfe ich hier diese Karikatur eines historischen
+Romans? Lediglich, um durch den Gegensatz<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> das Bild des
+kulturhistorischen Romans schärfer herauszustellen. Vom Februar 1855
+ist das Vorwort datiert, welches <em class="gesperrt">Josef Viktor von Scheffel</em>
+seinem »<em class="gesperrt">Ekkehard</em>« mitgegeben hat. Dies Vorwort bestimmt
+es scharf und klar als die Aufgabe des historischen Romans, im
+gegebenen Raum eine Reihe Gestalten scharf gezeichnet und farbenhell
+vorüberzuführen, »<em class="gesperrt">also daß im Leben und Ringen und Leiden der
+Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild
+zusammenfaßt</em>.«</p>
+
+<p>Scheffel verlangt für den Roman die Anerkennung als ebenbürtigen
+Bruder der Geschichte; aber dem Roman, dem diese Anerkennung gebühren
+soll, mutet er auch zu, daß er auf historischen Studien ruhen muß.
+Von seinem »Ekkehard« meint er: »Daß nicht viel darin gesagt ist, was
+sich nicht auf gewissenhafte kulturgeschichtliche Studien stützt,
+darf wohl behauptet werden, wenn auch Personen und Jahrzahlen,
+vielleicht Jahrzehnte mitunter ein weniges in einander verschoben
+werden.« Und in der Tat, — indem er diese geschichtliche Sicherheit
+mit nicht weniger als 285 gelehrten Anmerkungen stützt, ist er der
+Geschichts<em class="gesperrt">wissenschaft</em> fast zu sehr entgegenkommen.</p>
+
+<p>Das Beste ist nun freilich, daß uns Scheffel nicht bloß ein Programm
+gegeben, sondern daß er eben dies Programm auch trefflichst ausgeführt
+hat.</p>
+
+<p>Wer jene Anmerkungen liest, dem kann bange werden, ob er nicht einem
+pedantischen Gelehrten in die Hände gefallen sei. Aber das Bangen
+ist unnütz. Im »Ekkehard« pulsiert so frisches, munteres Leben wie
+in wenigen anderen Büchern. Er selber erzählt, wie ihm dies Leben
+erwachsen ist. Die alten Quellen hat er studiert: da »hob und baute
+es sich empor wie Turm und Mauern des alten Gotteshauses St. Gallen,
+viel altersgraue ehrwürdige Häupter wandelten in den Kreuzgängen
+auf und ab, hinter den alten Handschriften saßen die, die sie einst
+geschrieben, die<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> Klosterschüler tummelten sich im Hofe, Horasang
+ertönte aus dem Tor und des Wächters Hornruf vom Turme. Vor allen
+anderen aber trat leuchtend hervor jene hohe gestrenge Frau, die
+sich den jugendschönen Lehrer aus des heiligen Gallus Klosterfrieden
+entführte, um auf ihrem Basaltfelsen am Bodensee klassischen Dichtern
+eine Stätte sinniger Pflege zu bereiten ...«</p>
+
+<p>Wir wissen aber, welche Fülle anderer Gestalten den »Ekkehard« belebt:
+fürstliche Burggenossen — vom Kämmerer Spazzo und der Griechin
+Praxedis bis zur Gänsehirtin Hadumoth, daneben Weltpriester und
+Waldfrau, und nicht zuletzt der wimmelnden Hunnen Gewühl. Wir wissen
+alle, wie diese Gestalten Leben bekommen, wie die ganze Zeit des 10.
+Jahrhunderts, wie die ganze Gegend dort am Bodensee in ihnen Leben
+gewinnt. Und wer hätte sich nicht schon an der Form erfreut, in
+welcher Scheffel jenes dunkle Jahrhundert erweckt hat?</p>
+
+<p>Die Schwerfälligkeit eines W. Alexis ist gründlich überwunden, die
+Handlung ist kräftig zusammengefaßt und fesselnd gestaltet, Brauch
+und Sitte sind selten besonders beschrieben, — die Handlung selbst
+läßt sie erkennen. Das Ganze ist durchweht von goldenem Humor. Wir
+danken dem Dichter, daß er ein wirkliches, echtes Kulturbild gegeben,
+und verschmerzen es auch, daß er es für nötig befunden hat, diese
+Echtheit ein bischen aufdringlich zu bescheinigen; wir freuen uns
+über die Leichtigkeit der Behandlung, den Fluß der Darstellung,
+die Anmut der Schilderung. Denn von der Vorstellung sind wir doch
+hoffentlich los, als ob alles, was tüchtig ist, langweilig sein müßte!
+— Der »Ekkehard« ist ein Buch des deutschen Volks geworden, mag man
+sonst über Scheffels Poesie denken, wie man will. Ein Arno Holz, der
+Scheffels Gedichte gar nicht leiden mag, singt an seine Adresse:</p>
+
+ <div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»— Jahrzehnte lagen sie uns zur Last,</div>
+ <div class="verse indent0">Deine altdeutsch jodelnden Leute.«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p>
+
+<p>Aber er fährt fort:</p>
+
+<div class="blockquot">
+<p class="p0"><em class="gesperrt">Doch daß Du den Ekkhart geschrieben hast,<br>
+Das danken wir Dir noch heute!</em>« —</p>
+</div>
+
+<p>Nicht eben weit ab von Scheffels Programm ist dasjenige, welches
+<em class="gesperrt">Wilhelm Riehl</em> 1856, ein Jahr später, bei der Herausgabe
+seiner ersten »<em class="gesperrt">Kulturgeschichtlichen Novellen</em>« aufgestellt
+hat. Zu diesem Programm gehört, daß die handelnden Personen
+selbst nicht geschichtlicher Überlieferung entstammen, sondern
+freigeformte Charaktere sind. Gerade so glaubt Riehl am besten die
+Gesittungszustände, die Kultur eines bestimmten Zeitabschnitts
+darstellen zu können. Aus diesen Kulturzuständen heraus müssen
+die Menschen selbst mit ihrem Wesen, ihren Leidenschaften, ihren
+Konflikten geschaffen sein. In Wirklichkeit ist diese Forderung
+im wesentlichen schon im »Ekkehard« erfüllt, wenngleich Scheffel
+überlieferte geschichtliche Namen lebendig gemacht, nicht eigens neue
+Gestalten geschaffen hat. Ist das wirklich ein großer Unterschied?
+Wenn man Riehls Absicht recht versteht, so ist sein Programm
+doch als der schärfste Gegensatz zu jenem vorhin geschilderten
+äußerlich-historischen Roman zu verstehen, der sich an große Namen
+und große Zeiten anlehnt, aber damit der Geschichte genug getan
+zu haben glaubt. Er überspannt den Gegensatz: gar nichts, was in
+der sog. Geschichte eine Rolle spielt, sondern <em class="gesperrt">nur Kultur</em>!
+Sicher ist auch sein Programm berechtigt, aber nicht als das einzig
+richtige, sondern als eins, das neben sich das eng verwandte
+Scheffelsche Programm sehr gut verträgt. Ja, es dürfte so stehen,
+daß Riehls Programm kaum weiter reicht als für die kulturhistorische
+<em class="gesperrt">Novelle</em>. Der Roman, der weiter ausholt, der nicht bloß ein
+Bildchen, sondern ein großes, weites Bild geben will, kann nicht
+<em class="gesperrt">bloß</em> bei jenen Gestalten stehen bleiben, welche die Phantasie
+frei als Träger bestimmter Zeitkultur erfunden hat. Er muß weiter
+greifen, und zwar ins geschichtlich Überlieferte hinein. Sonst<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span>
+würde er schließlich selber sein Programm der geschichtlichen Treue
+verleugnen.</p>
+
+<p>Die Novellen, welche Riehl selbst in großer Zahl geschaffen hat, geben
+ganz im Sinn seiner Absicht treffliche, feine, kleine Einzelbilder
+aus der deutschen Vergangenheit. Sie sind nicht so graziös wie der
+»Ekkehard«; man merkt etwas deutlicher den Gelehrten. Aber sie sind
+überall fesselnd und graben bei aller Kleinheit überall in die Tiefe
+des geschichtlichen Lebens hinein. Sie verdienten mehr Beachtung, als
+ihnen gemeinhin zu teil wird.</p>
+
+<p>Der »Ekkehard« und Riehls Novellen, sie bedeuten ein Programm. Ohne
+ein ausdrückliches Programm hat vorher schon <em class="gesperrt">Meinhold</em> in seiner
+»<em class="gesperrt">Bernsteinhexe</em>« (1843) ein ähnliches Bild geschaffen. Aber
+der größte Wurf geschah in der Nachfolge dieses Programms: ich meine
+<em class="gesperrt">Gustav Freytags</em> großes Werk »<em class="gesperrt">Die Ahnen</em>«, das von 1872
+bis 1880 erschien. In sechs Bänden gibt der Dichter hier eine Reihe
+von Bildern aus der Geschichte eines Geschlechts. Ein Zeitraum von
+anderthalb Jahrtausenden soll in seinen charakteristischen Epochen dem
+Leser lebendig werden. »Ingo« und »Ingraban« führen in uralte Zeiten;
+die Jahreszahlen 357 und 724 stehen ihnen voran. Sitte und Brauch, Art
+und Recht in den Wäldern der Thüringe kündet uns »Ingo« in kraftvoll
+gezeichneten Linien, in schwungvoller Darstellung, in vollendet
+fesselndem Abschluß. Ingo, der Königssohn aus Vandalenstamm, und
+Irmgard, Fürst Answalds Tochter von Thüringer Blut, — sie haben der
+Deutschen Herz gewonnen. Und wie hier das Tosen der römischen Waffen
+von fernher hineinschallt in die Stille germanischer Waldeinsamkeit,
+so erklingen in »Ingraban« die Kampfrufe aus dem Streit zwischen
+Deutschen und Wenden. Aber zugleich erleben wir hier den Geisterkampf
+mit: Christentum ringt mit dem Heidentum, die sieghafte Religion mit
+der niedergehenden, Winfried-Bonifatius tritt neben Ingram-Ingraban.
+Einen<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> starken Schritt vorwärts liegt »Das Nest der Zaunkönige«. Nicht
+mehr gegen Römerübermut kämpft deutsche Kraft; auch die wendische
+Gefahr ragt in dies Buch nicht mehr hinein. Unter einander streiten
+des Volkes Glieder. Der Sachsenkönig Heinrich <em>II.</em>, der seit
+dem Jahre 1002 das Zepter führt, muß seine Herrschaft gegen die
+übelwollenden Großen des eigenen Landes schirmen. Die Schilderung
+deutscher Uneinigkeit, dazu aber überragender Königskraft und endlich
+mittelalterlichen Klosterlebens wird mit den persönlichen Interesse
+an Immo, dem Klosterschüler und späteren Helden, und seiner geliebten
+Hildegard verwoben. Das »Nest der Zaunkönige« vermag nicht ganz im
+gleichen Maß für sich zu gewinnen wie die beiden ersten Stücke; mag
+sein, daß der starke Gegensatz zwischen fremder und heimischer Art,
+der hier fehlt, dort wesentlich die packende Kraft gehoben hat.
+Vielleicht ist doch auch die Anlage dieses Buchs etwas zu breit. Auch
+die »Brüder vom deutschen Hause«, welche den dritten Band bilden,
+erreichen nicht die geschlossene Vollendung der ersten Bilder. Sie
+erzählen eine Lebensgeschichte, aber sie berücksichtigen dabei allzu
+wenig die Einheit der Entwicklung, als daß der Romancharakter gewahrt
+bliebe. Herr Ivo, der Thüring, ists, der daheim in Minnedienst und
+ritterlicher Art, auf dem Kreuzzug in merkwürdigen Abenteuern, dann
+wieder daheim im Konflikt mit der ketzerverfolgenden Kirche, endlich
+als Glied des deutschen Ordens geschildert wird. Auch hier ist durch
+Ivos Verehrung der edlen Agnes von Meran, dann durch sein und der
+schönen Friderun Herzensbündnis für menschliche Teilnahme gesorgt.
+Die Bilder mittelalterlichen Lebens, welche dieser Band entfaltet,
+sind reicher als die der früheren Bände. Kaiser Friedrich <em>II.</em>,
+der Ketzerrichter Konrad von Marburg, die heilige Elisabeth, — sie
+alle grüßen den Leser. Aber neben den Mängeln der äußeren Gestaltung
+steht doch der andere Mangel, daß eben diese großen Gestalten nicht
+recht treu und echt gezeichnet<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> sind. — Es ist sonderbar, daß Freytag
+gerade da, wo er große weltgeschichtliche Gestalten in die Welt seiner
+Phantasie eingreifen läßt, kein rechtes Glück hat; der Martin Luther,
+der am Schlusse der nächsten Abteilung, die den Titel »Markus König«
+führt, eine schwierige Frage mit spitzfindigem Scharfsinn löst, ist
+auch nicht der Martin Luther der Geschichte. Sonst freilich ist
+»Markus König« einheitlicher als die »Brüder vom deutschen Hause«; in
+das Städteleben von Thorn, in das Ringen von Deutschtum und Polentum,
+in Händel und Fehden der Zeit der Reformation führt er trefflich
+ein. Nur daß man es doch als peinliche Lücke empfindet, daß das
+eigentlich Bewegende dieser Epoche, daß das religiöse Moment so ganz
+zurücktritt. Der Band stellt sich damit selber zur Seite; er schildert
+den Zeitcharakter in Nebenerscheinungen, und er schildert ihn darum
+unvollständig und ungenügend. — Der fünfte Band enthält die beiden
+Skizzen, welche gemeinsam »Die Geschwister« betitelt sind. Die erste,
+»Der Rittmeister von Alt-Rosen«, zeigt Kriegswesen und Aberglauben
+aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die zweite, »Der Freikorporal bei
+Markgraf Albrecht«, will das Charakteristische aus der Zeit Friedrich
+Wilhelms <em>I.</em> herausheben. Aber beiden Skizzen fehlt wirkliche
+geschichtliche Kraft und tieferes menschliches Interesse. Auch der
+letzte Band »Aus einer kleinen Stadt« vermag die Vorgänger nicht
+wieder zu erreichen; dazu ist weder die erste, größere Erzählung aus
+der Zeit der Freiheitskriege plastisch genug gezeichnet, noch die
+zweite kleinere, welche in einem Journalisten das letzte Glied der
+»Ahnen« erkennen läßt, irgend genügend vertieft.</p>
+
+<p>Im einzelnen sind die Bände also von sehr verschiedenem Wert. Und zwar
+nicht bloß nach Seite der künstlerischen Gestaltung, sondern auch
+nach der Richtung geschichtlicher Anschaulichkeit. Man darf getrost
+sagen: selbst für Gustav Freytag war der Wurf <em class="gesperrt">zu</em> groß. Wenn<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span>
+jenes Programm Riehls wirklich ausgeführt werden soll, so bedarf es
+dazu nicht bloß einer reichen Gestaltungskraft, sondern auch einer
+Vertiefung in das Innerste der zu schildernden Zeit, wie sie nur
+mit schweren Mühen zu gewinnen ist. Aber wer kann in dieser Weise
+sämtliche Hauptepochen der vaterländischen Geschichte beherrschen? Wer
+kann leben, ja wirklich <em class="gesperrt">leben</em> in den Zeiten der Sachsenkaiser,
+der Reformation und der Befreiungskriege? Auch Freytag hat das nicht
+völlig vermocht. Und vielleicht hat doch auch für ihn das Riehlsche
+Programm eine Gefahr eingeschlossen. Es geht allzusehr ins Kleine,
+ins Alltägliche, ins Gewöhnliche. Eine Zahl von losen Einzelskizzen
+kann es geben, und sie alle mögen sich gut und gern zum Gesamtbild
+der Gesittungszustände eines Volks zusammenschließen. Aber wenn eine
+fortlaufende, zusammenhängende Reihe die wichtigsten Epochen der
+ganzen Volksgeschichte umfaßt, dann ist das Prinzip des Kleinlebens,
+des »Abseits vom Wege« nicht mehr für sich allein brauchbar. Dann
+müssen die großen Bewegungen der Geister mit ganz anderer Wucht ins
+Leben des Romans eingreifen.</p>
+
+<p>Aber wozu im einzelnen mit Freytag rechten? Seine »Ahnen« haben ja
+trotz mancher Schwächen längst einen Ehrenplatz unter den deutschen
+Dichtungen gewonnen. Gewiß, sie verdienen ihn auch. Nicht bloß durch
+ihre gelungensten Teile, sondern vor allem durch die wirklich geniale
+Größe des ihnen zugrunde liegenden Gedankens. Und endlich: wie schon
+der »Ekkehard«, wie Riehls Novellen, wie vordem schon die Werke von W.
+Alexis, so sollen auch Freytags »Ahnen« der Liebe eben des deutschen
+Volkes gewiß sein, denn sie haben uns <em class="gesperrt">die eigene Vergangenheit</em>
+erschlossen. Es wird für alle Zeiten ein Ruhm des historischen Romans
+im 19. Jahrhundert bleiben, daß er zum <em class="gesperrt">nationalen</em> Roman
+geworden ist. —</p>
+
+<p>Vollständigkeit in der Aufzählung der literarischen Erscheinungen
+kann auch dies Bild des historischen Romans<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> nicht anstreben. Aber
+ich möchte doch die Entwicklungslinie des kulturhistorischen Romans
+nicht abschließen, ohne ein Werk zu erwähnen, das in seiner Eigenart
+besondere Beachtung verdient: ich meine <em class="gesperrt">Theodor Fontanes</em>
+Zeitgemälde »<em class="gesperrt">Vor dem Sturm</em>.« Es ist nicht Fontanes Art, seinen
+Romanen einen »großen Zug« zu geben; auch dies Gemälde aus dem
+Winter 1812 zu 1813 gibt Kleinleben, ganz und gar Kleinleben. Aber
+das eben ist Fontanes Stärke, <em class="gesperrt">wie</em> er dies Kleinleben zu malen
+weiß. Diese Kunst der Anschaulichkeit, diese Sorgfalt des Details,
+diese Peinlichkeit in der geschichtlichen Treue, diese Feinheit in
+der Erfassung aller wesentlichen Strömungen, und zu dem allen diese
+feste Fundamentierung der Erzählung auf märkischem Boden! Ich gönne
+jedem die Freude an tatenreichen, geschickt gruppierten Handlungen,
+aber ich gestehe, meine Freude an dieser Fontaneschen Art gebe ich
+dafür nicht hin. Schließlich treibt er doch auch wahrlich nicht bloß
+Kleinigkeitskrämerei; das Kleinste — und wenn es die Tischordnungen
+sind, welche er für sämtliche vorkommenden Mahlzeiten mitteilt — ist
+ein notwendiges Glied des Ganzen, ein unentbehrlicher Pinselstrich auf
+dem Bilde der beschriebenen Zeit.</p>
+
+<p>Ich habe etwas lange bei dem kulturhistorischen Roman verweilt. Aber
+wenn auch anderes darüber knapper behandelt werden muß, ich bereue es
+nicht. Hier liegt der größte Erfolg des historischen Romans im 19.
+Jahrhundert. Man kann alle die anderen Erscheinungen auf diesem Gebiet
+danach beurteilen, wie nahe oder wie weit sie von dieser Linie sich
+entfernen.</p>
+
+<p>Neben die rein oder vorwiegend kulturgeschichtliche Richtung
+stelle ich zunächst eine ihr nahestehende, der ich den Namen der
+<em class="gesperrt">allgemeingeschichtlichen</em> geben möchte. Auch für diese
+Richtung ist die Absicht maßgebend, ein bestimmtes treues Bild
+aus der Geschichte zu zeichnen. Nur daß dieses Bild nicht gerade
+die Gesittungszustände,<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> das kulturelle Kleinleben umfassen soll,
+sondern sich mehr an die großen Strömungen und Stimmungen, an feste
+historische Ereignisse der Entwicklungsgänge anlehnt. Auch die Romane
+dieser Art müssen einen kulturhistorischen Einschlag haben; sonst
+würden sie schemenhaft werden. Die Kunst muß hier für den Dichter
+darin bestehen, ohne allzuviel Detail doch die Gestalten der Dichtung
+in engste Verbindung mit dem geschichtlichen Leben der gewählten Zeit
+zu setzen. Zahllose Romanschreiber sind an dieser Aufgabe gescheitert;
+sie gaben modernes Leben in geschichtlichem Gewand. Aber zwei Meister
+möchte ich nennen, deren Werke mir in diese Kategorie zu gehören
+scheinen. Der eine ist <em class="gesperrt">Wilhelm Raabe</em>, der Stimmungsdichter, der
+doch auch die Geschichte sich dienstbar gemacht hat. Sein »<em class="gesperrt">Unseres
+Herrgotts Kanzlei</em>« (1862) zeichnet mit kräftigen Strichen die
+Kriegsnöte des belagerten Magdeburg und zugleich etliches von den
+Stimmungen und Strömungen des Reformationsjahrhunderts. Nur fehlt
+eben die intime Einzelschilderung und die feinere psychologische
+Differenzierung. Und Raabes Hauptstärke, die Stimmung, kann hier nicht
+in gleicher Weise zur Geltung kommen wie bei seinen nicht-historischen
+Werken. Auch seine Erzählung aus dem 18. Jahrhundert, »Das Odfeld« sei
+hier genannt. — Der andere Meister dieser allgemeingeschichtlichen
+Richtung ist der Schweizer <em class="gesperrt">Conrad Ferdinand Meyer</em>. Sein großer
+Roman »<em class="gesperrt">Georg Jenatsch</em>« beschreibt die langen und verworrenen
+Parteikämpfe, welche auf dem Gegensatz der Konfessionen beruhten. Die
+Absicht ist unfraglich die, eben diese Zeit der Wirren und Kämpfe
+dem Leser lebendig zu machen. Allerdings hat das Buch bei großen
+Vorzügen auch erhebliche Mängel. Es führt nicht in konzentrierter
+Entschlossenheit vorwärts; es gibt Bilder, aber kein einheitlich
+wirkendes Bild. Es hält den Leser durch Zersplitterung des Interesses
+nicht bei dem befriedigenden Bewußtsein stets vorhandener<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> Klarheit.
+Jürg Jenatsch selbst, der Parteiführer, hat eine nur mäßige
+Qualifikation zum Romanhelden. Sein Charakter packt, aber er verstimmt
+zugleich. Er begeistert, aber er kühlt bald wieder ab. Alles in allem,
+er hält die Sympathien der Leser nicht fest. Auch gelingt es ihm mit
+seiner objektiven, etwas schwerwuchtigen Art minder gut als leichteren
+Werken, die doch notwendige Spannung zu erzeugen.</p>
+
+<p>Bedeutender noch als dieser große Roman sind Conrad Ferdinand
+Meyers historische Novellen. Freilich, man kann versucht sein, sie
+nicht mehr zu der eben besprochenen Richtung zu zählen, sondern
+zu einer <em class="gesperrt">dritten</em>, der <em class="gesperrt">an die Geschichte angelehnten
+individuellen Erzählung</em>. Diese Bezeichnung bedarf einer
+Erklärung. Ich denke dabei an Dichtungen, welchen nicht die Erweckung
+eines bestimmten geschichtlichen Kulturlebens, auch nicht die
+bestimmter geschichtlicher Vorgänge das Ziel ist, sondern welche
+ein mehr individuell interessantes Erzählungsbild, das nicht gerade
+geschichtlichen Gründen, sondern allgemein menschlichen Motiven
+entstammt, an die Geschichte anlehnen. Auch das ist eine berechtigte
+Form des Romans, nur daß freilich das Wort »historisch« nicht im
+gleichen Sinn ihr zukommen kann, wie den eben genannten Richtungen.
+Selbstverständlich muß auch hier der Gesamteindruck echt sein. Die
+Grenzen zwischen dieser Art und der vorher skizzierten sind leicht
+verrückbar; auch bei Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen ist es
+manchmal schwer zu sagen, ob sie mehr das Allgemein-Geschichtliche
+oder das Individuelle betonen. Jedenfalls aber verdienen sie zum
+großen Teil als Meisterstücke der Erzählerkunst genannt zu werden.
+»<em class="gesperrt">Der Heilige</em>« greift in das Leben des englischen Kanzlers
+Thomas Becket, also ins 12. Jahrhundert hinein, — mit welch
+wunderbarer, abgerundeter Darstellungskunst! Andere haben ihren
+Schauplatz zu anderen Zeiten und in anderen Ländern; »<em class="gesperrt">Die Hochzeit
+des Mönchs</em>« z. B.<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> führt nach Padua, »<em class="gesperrt">Das Amulett</em>« in die
+Tage der Pariser Bluthochzeit. Wer aber geneigt ist, diese Erzählungen
+noch zu der gleichen allgemeingeschichtlichen Richtung zu zählen
+wie den »Georg Jenatsch«, der mag als Muster der dritten Gattung
+eine Erzählung nehmen wie »<em class="gesperrt">Grete Minde</em>« von <em class="gesperrt">Fontane</em>.
+Hier steht nicht die Kultur im Vordergrund und ganz sicher nicht die
+Geschichte; Lieb und Leid, wie es die Herzen bewegt, bewegt auch die
+Erzählung, — nur daß ihr ein geschichtlicher Hintergrund gesichert
+ist. Übrigens aber ist Fontane gerade in der »Grete Minde« ein
+anmutiges und feines Werk gelungen, eine wohlgebaute, nirgends zu
+stark auftragende, aber überall tiefgefaßte und pointierte Erzählung.</p>
+
+<p>Endlich nenne ich kurz eine <em class="gesperrt">vierte</em> Gattung des historischen
+Romans, nämlich diejenige, welche nicht Kulturleben, auch nicht
+geschichtliche Vorgänge, und wiederum nicht individuelles
+Menschengeschick zum Ausdruck bringen will, sondern den
+<em class="gesperrt">Gedankengehalt der Geschichte</em>, die Ideen, die Tendenzen,
+die geistigen Strömungen. Eine gewaltige Aufgabe — dankenswert
+und schwer zugleich. Schwer vor allem deshalb, weil es viel eher
+gelingt, gegenüber den Kulturzuständen vergangener Epochen objektiv zu
+bleiben als gegenüber den Gedanken, welche in jenen Zeiten lebendig
+gewesen sind. Schon das ist schwer, diese Gedanken klar und ruhig
+zu <em class="gesperrt">erfassen</em>, geschweige denn, sie objektiv wiederzugeben. So
+haben wir denn von dieser Gattung auch keine erstklassigen Romane zu
+verzeichnen. Aber genannt seien als ihre Vertreter <em class="gesperrt">Karl Frenzel</em>
+(z. B. »Freier Boden«), <em class="gesperrt">Heinrich Laube</em> (»Der deutsche Krieg«)
+und <em class="gesperrt">Karl Gutzkow</em> (»Hohenschwangau.«)</p>
+
+<p>Eine große Reihe historischer Romane habe ich Ihnen skizziert oder
+nur genannt. Die Fülle der Erscheinungen zwang dazu, auf gründlichere
+Behandlung einzelner Werke zu verzichten. Aber ich bin gewiß, daß Sie
+unter den vielen Namen, die genannt wurden, etliche — vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> mit
+Befremden — vermißt haben. Nun — sie sind bisher nicht ohne Absicht
+übergangen worden. Es war ja die Absicht, nur das wirklich Bedeutende
+anzuführen, um so die Entwicklung des historischen Romans in raschen
+Zügen zu skizzieren. Zu den Größten zählen eben die Übergangenen
+nicht. Trotzdem muß auch etlichen von ihnen noch ein Wort gewidmet
+werden, — schon deshalb, weil sich die Gunst des Lesepublikums so
+warm für sie ins Zeug legt. Das gilt vor allem von <em class="gesperrt">Felix Dahn</em>
+und <em class="gesperrt">Georg Ebers</em>. Namentlich eine Anzahl von Dahns »<em class="gesperrt">Kleinen
+Romanen aus der Völkerwanderung</em>« sind ohne geschichtliche und ohne
+höhere künstlerische Kraft. Manche haben durch kunstvolle Ordnung des
+Stoffs eine gewisse Spannkraft, manchen liegt ein für eine Novelle
+ganz brauchbarer Gedanke zu grunde, alle haben die Entschuldigung für
+sich, daß es zum Allerschwersten gehört, kulturlose Zeiten lebendig
+zu machen, — aber eben Natur und Leben sucht man in ihnen vergebens.
+Ganz moderne Gedanken, wie sie der Weltanschauung Dahns entsprechen,
+hat er hier längst Vergangenen in den Mund gelegt. Zudem ermüdet
+an ihnen die schablonisierte Manier. Stärker ragt die Geschichte
+hinein in Dahns großes Werk, den »<em class="gesperrt">Kampf um Rom</em>.« Es ist ja
+leichter, große Heldengestalten und mächtige Weltereignisse dem Leser
+nahezubringen als untergeordnete Wesen aus kleineren Umgebungen. So
+weckt der »Kampf um Rom« unfraglich erheblich größeres Interesse als
+jene eben besprochenen Romane. Es bleibt auch richtig, daß der »Kampf
+um Rom« dramatische Kraft, begeisterte Wärme und mächtigen Schwung
+besitzt. Leicht entzündbare, namentlich jugendliche Herzen vermag er
+mit dieser seiner Art geradezu in Flammen zu setzen. Sollen wir alles
+dies gering einschätzen? Gewiß nicht! Aber anderseits dürfen wir
+uns durch diese fortreißende Wucht auch nicht die ruhige Besinnung
+rauben lassen. Was für »Geschichte«<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> liegt dem Roman zu grunde? Jene
+Geschichte, die nicht viel anderes kennt, als Helden und Bösewichte,
+Schlachten und Kämpfe, Ruhm, Leidenschaften, Intrigen! Es ist die
+Geschichtsmethode der Volksbücher, diejenige der mittleren Klassen des
+Gymnasiums (auch hier ist sie jetzt schon großenteils überwunden),
+aber nicht diejenige, welche dem tiefer Schauenden das wirkliche
+Leben der Vergangenheit erweckt! Welche Psychologie führt das Zepter?
+Eine Psychologie der großen Linien und der großen Mittel, aber keine
+Seelenforschung, die Menschen und Zeiten in feiner Erfassung auch
+scheinbar minder wichtiger Züge in Übereinstimmung zu bringen weiß!
+Folglich bleibt vieles im »Kampf um Rom« geradezu talmihistorisch. Und
+selbst die äußere Echtheit verdirbt sich Dahn, indem er alle Fäden in
+den Händen des Cethegus zusammenlaufen läßt, einer Figur, die wie dazu
+geschaffen ist, zum Ideal träumender Jünglinge zu werden. Die gesamte
+Entwicklung hängt an Cethegus; und Cethegus ist ein dichterisches
+Phantasiegebilde! Aber selbst wenn man diese Entgleisung in den Kauf
+nimmt, zu reiner Freude an dem Buch kann man nicht kommen, weil das
+Pathos, in dem Dahn seine Menschen reden läßt, gar zu ungeheuerlich
+ist.</p>
+
+<p>Nur eine einzige Stilprobe! Furius Ahalla, der Korse, spricht:</p>
+
+<p>»Staune nicht — frage nicht!</p>
+
+<p>Ja: ich liebe Valeria mit aller Glut: fast haß' ich sie — so lieb ich
+sie.</p>
+
+<p>Ich warb um sie vor Jahren.</p>
+
+<p>Ich erfuhr, sie sei dein — vor dir trat ich zurück: — erwürgt hätt'
+ich jeden Andern mit diesen Händen.</p>
+
+<p>Ich eilte fort: ich stürzte mich in Indien, in Ägypten in neue
+Gefahren, Abenteuer, Schrecknisse, Genüsse.</p>
+
+<p>Umsonst.</p>
+
+<p>Ihr Bild blieb unverwischt in meiner Seele.</p>
+
+<p>Höllenqualen der Entbehrung erlitt ich um sie.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p>
+
+<p>Ich durstete nach ihr, wie der Panther nach Blut.</p>
+
+<p>Und ich verfluchte sie, dich und mich ...«</p>
+
+<p>Wer spricht so im gewöhnlichen Leben? Furius Ahalla, der Korse?
+Nimmermehr!</p>
+
+<p>Ähnlich ist über die Schöpfungen eines anderen Lieblings der Mode zu
+urteilen, über die von <em class="gesperrt">Georg Ebers</em>. Der kulturhistorische Roman
+verläßt das nationale Gebiet; das ist sein gutes Recht. Er verläßt
+nicht das Prinzip der Kulturschilderung; hierin hat der Professor der
+Ägyptologie sehr Hübsches geboten. Aber es ist leichter, altägyptische
+Kultur zu schildern als altägyptische Menschen zu zeichnen. Die
+Fabel und die Charaktere, das sind bei Ebers die wunden Punkte. Man
+muß schon sehr gutgläubig sein, um in diesem Punkt das als echt
+hinzunehmen, was er gibt. Nur im »<em>Homo sum</em>« hat Ebers einmal
+tiefer zu motivieren gesucht; das Buch steht über dem Durchschnitt.
+Dafür hat er aber auch manches geschrieben, was unter dem Durchschnitt
+bleibt. Seine »Gred« ist eigentlich das Muster eines historischen
+Romans, wie er nicht sein soll. Mielke hat Recht: »glanzloser Firnis
+deutschen Mittelalters« liegt darüber. Die Sprache gekünstelt, das
+Empfinden modern, alles, was über das Individuelle hinausgeht,
+verschwommen, dies Individuelle aber ungefähr auf den Backfischton
+gestimmt, die Gedanken ohne Entschuldigung fehlend — wahrlich, was
+dabei herausgekommen ist, ist ein kraft- und saftloses Ding, das
+absolut nichts durch die Verlegung ins Mittelalter gewonnen hat. Die
+Geschichte könnte beinah ebenso gut in jedem bürgerlichen Hause des
+19. Jahrhunderts spielen. Man möchte darüber weinen, daß das Gros des
+die Leihbibliotheken benützenden Publikums auch die »<em class="gesperrt">Gred</em>«
+kritiklos genossen hat, weil Ebers nun einmal in der Mode war.</p>
+
+<p>Von anderen will ich schweigen. Nicht als ob nicht noch manches Werk
+auch neben den großen und hervorragenden Schöpfungen stünde, das
+der Liebe des deutschen<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> Lesers sicher sein darf. Und ebensowenig
+soll geleugnet werden, daß außer Georg Ebers mit seiner Archäologie
+in Romanform auch andere Schriftsteller noch den historischen Roman
+gemißbraucht haben. Aber was hat es für Zweck, das Gedächtnis an
+<em class="gesperrt">Ecksteins</em> »Sensationsromane im historischen Gewande« — wie
+Adolf Bartels sie nennt — aufzufrischen? Robert <em class="gesperrt">Hamerlings</em>
+»Aspasia« verdiente wegen ihrer ernsthaften Gelehrsamkeit Erwähnung,
+wenn wir nicht den historischen <em class="gesperrt">Roman</em> behandelten. Ein solcher
+ist das schwerfällige Buch mit seiner steifleinenen Umständlichkeit
+nicht geworden.</p>
+
+<p>Es sei genug. Über Höhen und durch Tiefen sind wir gewandelt;
+Prunkstücke der deutschen Erzählerkunst haben wir geschaut. Laßt
+uns begraben unter Schutt und Asche, was auf diesem weiten Gebiet
+Minderwertiges erstand. Aber laßt uns jubeln, daß wir auch Männer
+hatten, die die größte Kunst verstanden: Geschichte und Dichtung zu
+vermählen!</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_13">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Stimmungsdichtung">Die Stimmungsdichtung.</h2>
+</div>
+
+
+<p>So war der Kampf gekämpft, der Kampf zwischen Träumen und Wachen.
+Das Tageslicht der hellen Wirklichkeit hatte die Träume verscheucht.
+Die lieblichen Traumbilder Eichendorffs so gut wie die dem Alpdruck
+ähnlichen des Teufels-Hoffmann. Man hatte ins ländlich-dörfliche
+Stillleben hinein gegriffen so gut wie in das wechselvoll bewegte
+Leben der politischen Kreise; man kritisierte, was nur immer der
+Kritik Angriffsflächen bot: die Vornehmen des ostelbischen Adels, die
+Wucherkünste unredlicher Geschäftsleute, den Taumel, in welchen das
+rote Gold weite Schichten des deutschen Volkes versetzt hatte, aber
+man griff auch hinein in die streitenden Gedankenwelten, in denen alte
+und neue Zeit einander gegenüberzustehen schienen, und kritisierte
+Gedanken, die man nicht für richtig hielt, samt ihren Vertretern.
+Man ließ die Vergangenheit aufs neue erstehen und mühte sich, mit
+größerem oder geringerem Glück, mit gröberem oder feinerem Stift, die
+alten Zeiten des brandenburgischen Ländchens, der Stadt Berlin, des
+preußischen Volks, — aber auch die uralten Zeiten ägyptischer Kultur,
+griechischer Kunst und römischer Machtherrlichkeit so naturgetreu
+nachzubilden, als man es vermochte. Goethes Geist war in diesen
+Dichtern allen lebendig geworden.</p>
+
+<p>Aber nicht bloß <em class="gesperrt">Goethes</em> Geist bewies die Kraft, Spätere in
+seinen Bann zu zwingen. Auch jener andere Geist war nicht erstorben,
+der einst <em class="gesperrt">Jean Paul</em> die fleißige Feder geführt hatte. Goethes
+Geist — so sahen wir — ist der Geist der dichterisch begriffenen und
+kunstvoll<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> gezeichneten Wirklichkeit. Der Geist Jean Pauls aber läßt
+sich kurz als der Geist der poetischen <em class="gesperrt">Stimmung</em> bezeichnen. Es
+fehlt nicht der Gedanke, es fehlt nicht die Wirklichkeit, es fehlt
+nicht die Kritik. Aber das sind alles keine regierenden Mächte. Das
+Regiment liegt in der Hand jenes wunderbaren Etwas, das sich jeder
+Definition entzieht, jenes verklärenden Hauchs, der über den Dingen
+liegt, manchmal sie leise verschleiernd, immer allzu harte Kanten,
+allzu scharfe Konturen abmildernd, — der Stimmung.</p>
+
+<p>Selbstverständlich denke ich nicht daran, den Romanen, welche in der
+nachromantischen Zeit bisher uns beschäftigt haben, die Stimmung
+abzusprechen. Das sei ferne! Nur für manche derselben würde dies
+Urteil allenfalls zutreffen, so etwa für Gutzkow, vielleicht auch
+ein wenig für Freytag. Aber Immermanns Oberhof hat unfraglich seine
+ganz besondere Stimmung, die patriarchalisch-würdige und doch
+naturwüchsige Stimmung des alten Bauernhofs. Und wieviel Stimmung
+liegt in Spielhagens Landschaftsschilderungen, in seiner Erzählung von
+der hereinbrechenden Sturmflut! Nur eben — bei ihnen allen ist nicht
+die Stimmung das Ausschlaggebende, das Hauptsächliche, sondern das
+nüchterne wirkliche Leben.</p>
+
+<p>Nun aber hat auch dieser Geist Jean Pauls, der Geist der herrschenden
+Stimmung, nicht lange schlafen können. Er hat eine fröhliche
+Auferstehung gefeiert. Ein Roman, eine Novelle ward dem deutschen
+Volke geschenkt, die man getrost als <em class="gesperrt">Stimmungsroman und
+-Novelle</em> bezeichnen darf. Wir danken die Werke dieser Art nicht
+<em class="gesperrt">einem</em> Meister allein; und, wie nur natürlich, die Novelle zeigt
+sich hier zahlreicher auf dem Plan als der Roman selbst. Aber auch er
+fehlt nicht; <em class="gesperrt">Wilhelm Raabe</em> schuf ihn, und ihm stehen zur Seite
+der Novellist <em class="gesperrt">Theodor Storm</em> und <em class="gesperrt">Peter Rosegger</em>.</p>
+
+<p>Ein merkwürdiges Buch, diese »<em class="gesperrt">Chronik der Sperlingsgasse</em>«,<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span>
+die <em class="gesperrt">Raabe</em> als erstes Werk seiner Muse 1857 in die Welt
+hinaussendete. Merkwürdig aber nicht wegen absonderlicher
+Ereignisse, die darin eine Rolle spielten. Von nervenaufregenden
+Schauergeschichten ist Raabe kein Freund. Auch was der Chronist der
+Sperlingsgasse erzählt, ist darum einfach und schlicht, beinahe
+alltäglich. Zwei Freunde, ein Student der Philosophie und ein Maler,
+und ein Kind, ein Mädchen ...... Der Student berichtet ganz knapp, was
+geschehen, wie er als Greis auf das Vergangene niederblickt:</p>
+
+<p>»Ich sehe zwei Männer im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von
+ihr zu gewinnen; und ich sehe endlich den Einen mit keuchender Brust
+sich ans Ufer ringen und den schönen Preis erfassen, während der
+Andere weiter getrieben, willenlos und wissenlos auf einer kahlen,
+skeptischen Sandbank sich wiederfindet. — Ich sehe mich, einen
+blöden Grübler, der sich nur durch erborgte und erheuchelte Stacheln
+zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem Umherschweifen in der
+Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster, sehender Mann, der Freund
+seines Freundes und dessen jungen Weibes.«</p>
+
+<p>Der glückliche Freund und sein junges Weib — sie beide rafft der
+Tod dahin. Dem einsamen Philosophen bleibt beider Kind, ein Mädchen;
+dessen Kindheit und erste Jugend, dessen Heranblühen und Heranreifen
+bis hin zur glücklichen Ehe bildet den weiteren Inhalt. Und jene
+ersten, ernst-bitteren Erfahrungen, jenes Ringen und Kämpfen in der
+Seele des Freundes, der die Heißgeliebte dem Freunde lassen muß,
+— das alles ist nicht beschrieben mit den glühenden Farben, die
+andere Dichter in Sturm und Drang, in psychologischer Analyse oder
+dramatischem Effekt dem gleichen Bild zu geben wissen würden und
+ähnlich hundertmal gegeben haben. Es ist ja alles, alles längst
+vorüber, als Hans Wachholder, alt und grau geworden, alle diese
+Erinnerungen auf die Blätter der<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> Chronik niederschreibt. Er hat
+es alles verwunden; und wenngleich das, was er erlebt hat, ihm für
+Lebenszeit die Art seines Wesens mitbestimmt hat, in ihm wogt doch
+nichts mehr vom Sturm der Leidenschaft und vom Drang des Leids. Er
+fühlt es noch, aber er fühlt auch die Freude an dem frischen, jungen
+Leben, das unter seiner Hut aufgewachsen ist. Und selbst am Jahrestag
+des großen Schmerzes, da dem Freund die geliebte Gattin gestorben,
+kann nun zu dem Greis der Humor auf die Schwelle treten, seine
+Schellen schütteln, seine Pritsche schwingen und sagen:</p>
+
+<p>»Lache, lache, Johannes, du bist alt und hast keine Zeit mehr zu
+verlieren.«</p>
+
+<p>Was ist es also, was den Reiz der »Chronik« ausmacht, wenn es nicht
+die bewegende Schilderung einer bewegten Handlung ist? Ists doch
+ebensowenig die Weite des Gesichtskreises, der Zeiten und Welten,
+Völker und Länder umspannte! Nein, nicht in die Breite und Weite geht
+Raabes Dichten in diesem Buch; Zeitschilderungen sind hier nicht zu
+finden. Ebensowenig ist er irgendwie der Mann des historisch-getreuen
+Milieus. Kaum daß die Sperlingsgasse selber zu ihrem Recht kommt. Wenn
+er uns von ihr doch ein Bild gibt, so geschiehts nicht, um uns auf
+festen Boden zu stellen, sondern weil sie ihm lieb ist und weil sie
+seinem Schaffen von Wert ist. Sie liegt in einem älteren Stadtteil
+mit engen, krummen Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen
+hineinzublicken wagt. »Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit
+nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause
+enden zu lassen; nun aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare
+Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und
+Überfluß, alle Antinomieen des Daseins sich widerspiegeln.«</p>
+
+<p>Zu diesem Satz nur noch ein paar andere, gleichfalls aus den der
+Sperlingsgasse gewidmeten wenigen Seiten! Sie zeigen den ganzen Raabe:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p>
+
+<p>»Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen
+durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das
+Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des
+Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der
+Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender, man möchte
+sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen
+diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den
+Ton auffängt, bricht und verändert znrückwirft! — Horch, wie in dem
+Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in jenem gewölbten
+Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden, an diesem Ort
+wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen
+der Arbeit hinwälzt! — Die Stimme Gottes spricht zwar vernehmlich
+genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im Donner;
+aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen, welche das
+Getriebe der Menschenwelt hervorbringt!«</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Das</em> ist Raabes Art! Die Stimme Gottes im Getriebe der
+Menschenwelt! Er schreibt in bewegter Zeit. Kein Glück steht so
+fest, daß es nicht von einem Windhauch oder dem Hauch eines Kindes
+umgestürzt werden könnte. »In solcher Zeit ständen die Menschen am
+liebsten mit leeren, müßigen Händen, horchend und wartend; aber das
+ist nicht das Rechte. Es soll niemand sein Handwerksgerät, die Waffen,
+mit denen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen.«
+Die Waffen, mit denen man das Leben bezwingt, — von ihnen reden
+die Blätter der Chronik. Welche sind's? Die Stimme Gottes hören im
+Getriebe der Menschenwelt! Das Haupt senken vor der geheimnisvollen
+Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der
+Wiege und die Nation im Todeskampf ..... »Wie so viele Herzen fast
+brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> lassen! Das ist
+die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift auf der Harfe
+des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der Denker
+in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt.«</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Nicht</em> in die Breite und Weite geht Raabes Art. Aber in die
+<em class="gesperrt">Tiefe</em>. Allerdings auch nicht in die Tiefe psychologischer
+Feinarbeit und nicht in die Tiefe besonders interessanter Probleme.
+Aber in die Tiefe des Menschenherzens, des einfachen, schlichten
+Gemüts. Und in jene Tiefen, in denen man lernt, das Höchste zu
+verstehen: Menschenschicksal, Menschenleid, Menschenliebe. Zu
+<em class="gesperrt">verstehen</em> — sage ich. Das Wort ist für Raabe zu kalt.
+Zu <em class="gesperrt">fühlen</em>, zu <em class="gesperrt">erfassen</em>, staunend und andächtig zu
+durchmessen, — das trifft besser das, was er will. Eben diese Kunst,
+Menschenleben aus der Höhe in die Tiefe und aus der Tiefe in die Höhe
+zu schauen, gibt Raabes »Chronik« ihre eigenartige Stimmung. Weisheit
+und Gemüt, Reflexion und Gefühl, Ernst und doch auch sprudelnder Humor
+bilden die Bestandteile dieses wunderbaren Etwas, das über dem Ganzen
+liegt.</p>
+
+<p>Es gibt Menschen, welche für solche Stimmung gar keine Sympathie
+haben. Vielleicht sind sie in der Mehrzahl. Das 19. Jahrhundert
+war dieser Spezies nicht günstig. Sie werden an Raabe keine Freude
+haben. Und sie werden die Fehler auch seiner »Chronik« ihm deutlich
+vorhalten. Hat Raabe nicht selbst sich später kritisiert: er habe
+in der Chronik einen Greis Bilder und Gestalten in wallendes Gewölk
+zeichnen lassen? Ist nicht zu viel Traum in dem Buch? Geht nicht
+Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit oft so wirr
+durcheinander, daß die schlichtende Klarheit verloren geht? Ist
+nicht so viel Reflexion, so viel an Einzelgedanken eingeschoben,
+daß es manchmal schwer wird, den Faden festzuhalten, der das Alles
+verbindet? Ist nicht mancher Ausdruck manieriert, mancher Gedanke
+allzu pointiert? Fehlt<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> nicht die Realistik oft mehr, als selbst dem
+Idealisten erlaubt ist? Sind die Wege, welche er seine Freunde gehen
+läßt, bis in der Sperlingsgasse ein neuer Bund geschürzt wird, nicht
+reichlich absonderlich? So fragen sie, die nach Wirklichkeit hungern.
+Und — sie haben nicht Unrecht. Was sie sagen, empfinde auch ich als
+richtig. Nur eben — man kann das zugeben und doch nicht unempfänglich
+sein für jene Höhe und Tiefe der Stimmung und Betrachtung, für jene
+feinen und zarten Gedankengewebe, die uns in alldem den Dichter
+weisen, den Dichter der Weisheit und des Gemüts, den Dichter der
+Stimmung.</p>
+
+<p>Habe ich zu lange bei der »Chronik der Sperlingsgasse« verweilt?
+Vielleicht. Aber ich will auch Raabes andere Romane alle, die
+großenteils noch den Jahren bis 1870 ihr Dasein danken, hier nicht
+besprechen. »<em class="gesperrt">Unseres Herrgotts Kanzlei</em>« (1862) hat schon
+seine Erwähnung gefunden. Von den übrigen nenne ich nur: »<em class="gesperrt">Die
+Kinder von Finkenrode</em>«, »<em class="gesperrt">Die Leute aus dem Walde</em>«,
+»<em class="gesperrt">Der Schüdderump</em>.« Aber eins muß doch noch neben die Chronik
+gestellt werden, nicht bloß, weil es berühmt geworden ist, sondern
+weil es Raabes Eigenart noch genauer erkennen läßt. Das ist »<em class="gesperrt">Der
+Hungerpastor</em>«, erschienen 1864. Auch hier brauche ich den Gang
+der Handlung nicht im einzelnen zu entwickeln. Sie kennen ihn alle
+und haben ihn in frischer Erinnerung. Nur beleuchten möchte ich Ihnen
+ein wenig diese schöne und gute Gabe des Dichters. Und zwar nach drei
+Seiten hin.</p>
+
+<p>Zuerst hinsichtlich der <em class="gesperrt">äußeren Handlung</em>. Sie ist reicher als
+in der »Chronik«. Und nicht bloß reicher, auch mit vollendeterer Kunst
+gestaltet. Zwei Lebensschicksale sind neben einander gestellt. Da
+ist Moses Freudenstein, dessen Vater das Geld hat und der selber den
+Trieb hat, in der Welt vorwärts zu kommen, Moses Freudenstein, der
+zu eben diesem Zweck den Namen seiner<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> Geburt in den des Theophile
+Stein umwandelt und die Religion seiner Väter mit der katholischen
+Konfession vertauscht. Moses Freudenstein steigt, steigt bis zum
+Geheimen Hofrat hinauf. Neben ihm aber steht Hans Unwirrsch, der
+Schuhmacherssohn, dessen Vater kein Geld hat und dessen Sohn eine
+ganz andere Sehnsucht im Herzen trägt, der es aber dafür auch längst
+nicht so weit bringt wie der Jugendgenoß, der doch aus derselben
+Kröppelstraße stammt. Lange geht er seines Weges als armer Kandidat
+und geplagter Hauslehrer, und zum Ende wird er ein armer Pfarrer
+in einsamem Dorf. Dieser zweite, Hans Unwirrsch, der Hungerpastor,
+beherrscht mit seinen Erlebnissen durchaus den Gang des Ganzen; im
+Grunde genommen ist dies Ganze nicht viel anderes als die Geschichte
+seiner Erfahrungen bis hin zur Zeit der Reife. Aber die Art, wie
+in dies Schicksal hinein das des Moses Freudenstein verwebt wird,
+wie beide einander gegenüberstehen von der Kindheit an bis ins
+Mannesalter, und zugleich die Kunst der Erzählung dessen, was Hans
+Unwirrsch erlebt, sie heben den »Hungerpastor« nach Seiten der
+Handlung hoch über die »Chronik der Sperlingsgasse.«</p>
+
+<p>Zum Zweiten. Im Hungerpastor hat Raabe <em class="gesperrt">Charaktere</em> geschaffen.
+Allerdings Charaktere, welche bestimmte Gesamtanschauungen vertreten.
+Weltanschauung steht gegen Weltanschauung, ähnlich wie in Heyses
+»Kinder der Welt.« Aber die Menschen, welche diese Anschauungen
+tragen, sind nicht auf Draht gezogen wie bei Heyse. Weder Moses
+Freudenstein noch Hans Unwirrsch. Vor allem der letztere nicht; das
+ist kein Gestell, an welches die Ansichten, sorglich abgestuft,
+angehängt werden. Hier ist Entwicklung aus Kindheit und Jugend, ja aus
+Heimathaus und Elternart heraus, aus dem Haus heraus, in welchem der
+Vater Schuhmachermeister bei der wassergefüllten Glaskugel, die das
+Licht der kleinen Öllampe auffängt und glänzender wieder zurückwirft,
+seinem Handwerk<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> obgelegen hat. Zwei besondere Paten hat ihm der Vater
+mitgegeben: »Johannes soll er heißen wie der Poet von Nürnberg und
+Jakob wie der hochgelobte Philosophus von Görlitz, und wie zwei Flügel
+sollen ihm die beiden Namen sein, daß er damit aufsteige von der Erde
+zum blauen Himmel und sein Teil Licht nehme.« Der Junge zeigt sich
+in der Schule nicht besser als jeder andere Schlingel. Auch für ihn
+kommt die schöne Zeit der schmutzigen Hände, der blutenden Nasen, der
+zerrissenen Jacken, der zerzausten Haare. Aber es kommt auch die Zeit,
+da er als wahrheitsuchender Studiosus mit Moses Freudenstein über Gott
+und Welt und Vaterland disputiert, wo er dann von Moses scheidet, als
+dieser in die freie weite Welt geht, und schließlich in der Öde und
+Abgeschiedenheit einer Hauslehrerstellung auch die Wünsche seines
+Freundes Moses begreifen lernt. Es kommt die Zeit, in welcher die
+Liebe ihren Einfluß auf sein Herz gewinnt, anfangs mit Irrwegen, dann
+auf rechtem Weg sein Herz an das bescheidene Fränzchen Götz bindend.
+Was braucht es weitere Worte? Es ist ein volles, echtes Menschenleben,
+mit Irrungen und Wirrungen, mit Suchen und Finden, das in Hans
+Unwirrsch gezeichnet ist. Ja, die Tiefe der Charaktererfassung gemahnt
+an Gottfried Kellers »Grünen Heinrich« und andere Meisterwerke. Es ist
+Wirklichkeit, klare Wirklichkeit, wenn schon im Zauber der Poesie, die
+im »Hungerpastor« das Regiment führt. Auch darin, in der tiefwahren
+Charakterzeichnung, ist die »Chronik« weit übertroffen.</p>
+
+<p>Und dann zum dritten: auch der <em class="gesperrt">geistige Gehalt</em> dieses Buchs
+ist erheblich tiefer. In der »Chronik« konnte man vielleicht von
+Betrachtungen über Menschenschicksale reden; die einzelnen Erlebnisse
+gaben mehr die Gelegenheiten, sie vorzubringen. Ganz anders im
+»Hungerpastor.« Hier schließen die Erlebnisse und Entwicklungen die
+großen Gedanken selbst in sich. Hier wachsen sie aus dem Herzen<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span>
+des Hans Unwirrsch und aus dem Verstande des Moses Freudenstein
+naturnotwendig heraus. Zugleich gewinnen sie dadurch an innerer
+Bedeutung und überzeugter Kraft. Vom Hunger handelt das Buch, von
+dem, was er bedeutet, was er will, und was er vermag; von der
+heiligen Macht des echten, wahren Hungers aber handelt es vor allem.
+Allerdings, auch <em class="gesperrt">der</em> Hunger kommt darin vor, den Moses
+Freudenstein empfindet: der Hunger nach Glanz und Lust, nach Ehre
+und Ruhm, nach Macht und Ansehn. Aber für Raabe ist das der falsche
+Hunger; er läßt keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß Moses sein
+Mann nicht ist. Ein anderer Hunger ists, von dem der Armenlehrer
+Silberlöffel redet, ehe er stirbt:</p>
+
+<p>»Ich bin sehr hungrig gewesen. Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und
+durstig nach Wissen; alles andere war nichts. Goldene Äpfel hängen
+lockend im Gezweig und schicken ihre Strahlen durch das Grün. O sie
+blenden so die Augen, die schönen, glänzenden Früchte. Die Hände habe
+ich ausgestreckt und habe mich zerrissen an den Dornen; — viele
+Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün. Im
+Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch, und doch war ich
+für das Licht geboren. Es ist hart, hart, hart, im Schatten sitzen zu
+müssen und Hungers zu sterben, während so schöne Augen leuchten in der
+Welt, während so holdselige Stimmen locken, — in der Nähe und ach aus
+so weiter, weiter Ferne. Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne,
+aber im Schatten mußte ich bleiben, auf einen kleinen Raum im Schatten
+war ich gebannt. Ein goldener Regen umspielte mich oft, in Schauern
+fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich und glänzten durch Grün
+und Blau; mir aber waren die Hände gefesselt, und nichts hatte ich
+als mein qualvolles Sehnen. Ich habe nichts, nichts erhalten von dem
+reichen Leben. Nur mein Sehnen ist mir zu teil geworden, und auch das
+geht nun zu Ende.<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> Dunkel wirds vor den Augen, still vor den Ohren und
+im Herzen; ich werde satt sein — im Tode.«</p>
+
+<p>Diesem Hunger ähnlich ist der, welchen Hans Unwirrsch von seinem
+Vater, dem Schuhmachermeister, geerbt hatte. Der Vater hatte
+Wissensdrang, viel Wissensdrang; er las, so viel er nur irgend konnte.
+Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den
+Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand
+er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, welcher ihm ganz
+allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden
+sein konnte. Und der Sohn? Auch er ist, wie Moses, ausgezogen nach dem
+Wissen und dem Glück; in dunkeln armen Hütten waren sie beide geboren
+und aufgewachsen, und der Glanz, der durch die Spalten und Ritzen der
+niederen Dächer fiel, hat sie gelockt. Lange hat er gemeint, eines
+Weges mit dem Freunde zu gehen; dann hat er den Irrtum gemerkt. »Mein
+Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht
+gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist
+ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann
+sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.« Wie
+will man diesen Hunger definieren? Er hat viel Unbestimmtes; man darf
+sich dadurch, daß es ein Kandidat und Pastor ist, der ihn hegt, nicht
+etwa bestimmen lassen, ihm einen im engeren Sinn religiösen Inhalt zu
+geben. Im weiteren Sinn religiös ist er gewiß. Es ist die Sehnsucht
+nach allem Hohen und Guten, nach Wissen und Erkenntnis, aber auch nach
+Liebe und Treue, die Sehnsucht der Seele nach dem, was sie braucht.
+So redet Johannes Unwirrsch, der Kandidat, am Christmorgen im Dorfe
+Grunzenow im Geist zu seinem längst im Grabe ruhenden Vater:</p>
+
+<p>»O Vater, Vater, es ist schwer, ein rechter Mensch zu sein und jedem
+Dinge sein rechtes Maß zu geben; wer aber mit der Sehnsucht danach
+in der Tiefe geboren wird<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> der wird doch eher dazu kommen als jene,
+welche zwischen Gipfel und Niederung erwachen, und welchen das Oben
+wie das Unten gleich unbekannt und gleichgültig bleibt. Aus der Tiefe
+steigen die Befreier der Menschheit; und wie die Quellen aus der
+Tiefe kommen, das Land fruchtbar zu machen, so wird der Acker der
+Menschheit ewig aus der Tiefe erfrischt. O Vater, der Mensch hat doch
+nichts Besseres als dies schmerzliche Streben nach Oben, ohne dasselbe
+bleibt er immerdar Erde von Erde genommen, in demselben und durch
+dasselbe richtet er sich aus aller Leibeigenschaft des Staubes auf,
+in demselben reicht er, wie wenig es auch sei, was er erlange, allen
+himmlischen Mächten die Hand, in demselben steht er auf der winzigsten
+Scholle in dem engsten Kreise als Herrscher des unendlichsten Gebietes
+da, als Herrscher seiner selbst. Auch der Zweifel ist ja Gewinn in
+seinem Leben, und der Schmerz ist so edel — oft edler als das Glück,
+die Freude.«</p>
+
+<p>Auch die Worte Jakob Böhmes, welche Raabe zitiert, sind für den Geist,
+der das Buch durchweht, für den Hunger, den der Dichter schildern
+will, charakteristisch:</p>
+
+<p>»Denn das ist der Ewigkeit Recht und ewig Bestehen, daß sie nur
+<em class="gesperrt">einen</em> Willen hat ..... Sie stehet wohl in viel Kraft und
+Wundern, aber ihr Leben ist nur bloß allein die Liebe, aus welcher
+Licht und Majestät ausgehet. Alle Kreaturen im Himmel haben Einen
+Willen, und der ist ins Herze Gottes gerichtet und gehet in Gottes
+Geist, wohl im Centro der Vielheit, im Wachsen und Blühen; aber Gottes
+Geist ist das Leben in allen Dingen.«</p>
+
+<p>Wie nennen wir die beiden Anschauungen, die da so scharf einander
+gegenüber stehen? Man kann sie Materialismus und Idealismus nennen.
+Aber der Idealismus trägt in sich Liebe und Ewigkeit. Wird nun der
+»Hungerpastor« nicht eben dadurch zum Zeitroman? Ist er nicht das
+gerade Gegenstück zu dem später geschriebenen Heyseschen »Die Kinder
+der Welt«? Mag sein, daß man<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> ihn auch dem Zeitroman zurechnen kann.
+Mehr gehört er doch zum Stimmungsroman. Er bringt nicht Gedanken,
+nicht Weltanschauungen, und nicht Systeme. Er schildert nicht Zeiten
+und nicht Menschen besonderer Zeiten. Er will den Hunger der Seele
+beschreiben, der von jeher in ihr war und der immer in ihr sein wird,
+er gehört nicht einer Zeit, sondern allen Zeiten. Es schwebt über ihm
+zu viel poetischer Hauch, zu viel Schimmer der Ewigkeit; und es ist
+weiter zu wenig nüchternes Nachspüren nach all den Winkelgängen der
+Zeitgedanken. Darum gehört er trotz alledem nicht zu Freytag und nicht
+zu Heyses »Kindern der Welt.« —</p>
+
+<p>Stimmung! Wo fänden wir sie außer bei Raabe besser in voller Pracht
+als bei <em class="gesperrt">Theodor Storm</em>? Ein Schleswiger ist Storm; zu Husum
+erblickte er 1817 das Licht der Welt. Schleswigsche Landschaft
+spricht in seinen Schöpfungen mit: das Land, die Ebene und nicht
+zuletzt das Meer, ja das weite, weite, tosende Meer. Novellen haben
+wir von ihm, aber keine Romane. Warum? Weil in ihm noch viel stärker
+entwickelt war, was doch auch Raabes Romane von den andern abhebt,
+jener Drang, der weniger auf Schilderung ausgeht, auf feine Zeichnung
+eines Weltbilds in künstlerischer Form, als vielmehr auf den Ausdruck
+dessen, was gerade die Seele bewegt, der lyrischen Stimmung. Ganze
+Novellen sind nichts als Gedichte, ein wenig ausgeführter und in
+Prosaform, aber eben Gedichte.</p>
+
+<p>Aber auch diese alles beherrschende Stimmung kann recht verschiedene
+Nuancen haben. Nicht alle, nur einige dieser Nuancen möchte ich
+aufzuweisen versuchen, jede an einer einzelnen Novelle. Ich wähle
+zuvörderst »<em class="gesperrt">Immensee</em>«, seine erste Novelle (1852), das
+Beispiel reinster Stimmungsdichtung in der Farbe herzinniger Wärme
+und zugleich sich bescheidender Resignation. Eine Kinderliebe wird
+geschildert. Reinhard und Elisabeth sind einander zugetan. Wunderbar
+zart ist diese Liebe beschrieben; es liegt ein Hauch<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> darüber, den
+man zu zerstören fürchtet, wenn man es nur wagt, mit knappem Wort
+Einzelnes herauszuheben. Wer »Immensee« gelesen, erinnert sich wohl,
+wie Reinhard und Elisabeth im Wald Erdbeeren suchen gehen. Wunderbar
+lieblich, nicht wahr? Wenn Raabe an Jean Paul gemahnte, hier ist
+etwas vom Geist Eichendorffs zu spüren. Fast kommts zur Verlobung,
+da die Kinderliebe auch die Reifenden verbindet. Aber dann reicht
+Elisabeth doch dem anderen Bewerber die Hand. Warum? Mancher Dichter
+würde hier in die Posaune der Leidenschaften gestoßen haben; das Thema
+ist so dankbar, daß es sich mancher für große Worte und wuchtige
+Wirkungen auserkoren hat. Ganz anders Storm. Es ist ja ein Greis,
+der seine Jugenderinnerungen Revue passieren läßt, ganz wie in der
+»Chronik der Sperlingsgasse.« Und so verliert die Erzählung nirgends
+das Abgeklärte, Ruhige und Stille. Vielleicht bleibts in ihr sogar
+<em class="gesperrt">zu</em> still. Fragen werden nicht beantwortet, die jedem Leser in
+den Sinn kommen. Warum läßt Reinhard seine Elisabeth über Jahr und
+Tag ohne Lebenszeichen, ohne Gewißheit? Kurz, sie gibt dem Drängen
+der Mutter nach; der andere hat Hab und Gut und auch Liebe. Dann aber
+kommt nach geraumer Frist auch Reinhard in der Vermählten Haus; und
+nun erst merken beide, wie schwer es ihnen ist, sich nicht zu haben.
+Das Ende ist Reinhards Scheiden und Verzicht; aber wie tiefe Wehmut
+klingt über dem Ende das Lied:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Meine Mutter hats gewollt,</div>
+ <div class="verse indent0">Den Andern ich nehmen sollt;</div>
+ <div class="verse indent0">Was ich zuvor besessen,</div>
+ <div class="verse indent0">Mein Herz sollt es vergessen,</div>
+ <div class="verse indent0">Das hat es nicht gewollt.</div>
+ </div>
+<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Meine Mutter klag' ich an.</div>
+ <div class="verse indent0">Sie hat nicht wohl getan.</div>
+ <div class="verse indent0">Was sonst in Ehren stünde,</div>
+ <div class="verse indent0">Nun ist es worden Sünde.</div>
+ <div class="verse indent0">Was fang ich an!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Für all mein Stolz und Freud</div>
+ <div class="verse indent0">Gewonnen hab ich Leid.</div>
+ <div class="verse indent0">Ach wär das nicht geschehen.</div>
+ <div class="verse indent0">Ach könnt' ich betteln gehen</div>
+ <div class="verse indent0">Über die braune Haid'!</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Nicht überall ist Theodor Storm so rein und so stark lyrischer Dichter
+wie in dieser und in ähnlichen Novellen. Es gibt andere, in denen
+schweigt der Dichter nicht, aber er hat nur sorglich geordnet und fein
+gestaltet, was bitterer Lebensernst ihm vorgeschrieben. Wohl war auch
+in »Immensee« Ernstes und Trübes, aber es drückt dort nicht; das Leben
+ist zum Gedichte geworden. Anders z. B. in »<em class="gesperrt">Carsten Curator</em>.«
+Das ist die Geschichte eines braven, redlichen Mannes; der hatte
+als treuer Curator vieler Unmündigen und Unfähigen Geschäfte sicher
+geführt und war nur einmal in seinem Leben in der Leitung seiner
+eigenen Geschäfte unsicher geworden, das war damals, als er einen
+ungleichen Bund mit einem schönen Mädchen schloß, das zum Grundzug
+des Herzens den Leichtsinn hatte. Juliane hatte ihn in kurzer Ehe in
+manche Not gebracht; dann starb sie. Aber ein Kind hinterließ sie ihm,
+das war nach der Mutter geschlagen. Der Sohn wuchs heran und hatte
+des Vaters ganze Liebe, aber er lohnte sie durch Leichtfertigkeit und
+Schuldenmachen. Ohne viel Worte kommt zu ergreifendem Ausdruck das
+Leid, das der Vater um den Sohn trägt, dem er die Hilfe doch niemals
+versagen mag. Auch die Pflegetochter, sein Liebstes nach dem Sohn,
+opfert sich und ihre Habe dem Pflegebruder, den sie liebt. Das Unheil
+läßt sich trotzdem nicht aufhalten; der Leichtsinn führt den<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> Bankrott
+herbei und endlich, am Tag, da die Schleuse gebrochen ist und die Flut
+sich durch die Gassen wälzt, bringt ihn Leichtsinn oder Absicht oder
+beides zusammen in den Tod. Der Vater aber findet mit der verwitweten
+Pflegetochter eine gemeinschaftliche Heimat für seine letzte schwere
+Zeit — dort, wo die letzten kleinen Häuser mit Stroh gedeckt sind.</p>
+
+<p>Wir finden auch in dieser Erzählung manche Seite, über der feinster
+dichterischer Stimmungsreiz liegt. Aber es ist in ihr längst nicht
+soviel Schilderung, nicht soviel beschauliches Ausruhen, nicht soviel
+Schwelgen in Empfindung und Gefühl. Wohl grüßt uns traut das alte
+Haus an der Twiete, das schmale Wohnzimmer mit dem Alkovenbett,
+in dem Vater und Mutter des Hausherrn zum letzten Schlummer
+sich niedergelegt, mit der Silhouette von Carstens einfachem,
+sittenstrengem Vater. Wohl klingt es wie Jugendlust, wenn von dem
+Birnbaum die Rede ist, der die Freude der Nachbarskinder und zugleich
+eine Art Familienheiligtum war. Aber solche Stimmungsbilder bleiben
+vereinzelt; hier redet das Leben selbst eine deutliche, ernste
+Sprache. Hier sinds nicht die Worte, sondern die Geschehnisse, welche
+das Herz bewegen. Wohl spielt auch hier die Landschaft ihre Rolle;
+die Flutgefahr gestaltet die letzte Szene dramatisch bewegt; aber
+hier ist kein romantisches Träumen in Wald und Feld, am See und
+auf der Heide: Menschen nur und Taten, welche diese Menschen tun,
+beherrschen Szene um Szene. Auch hier ist Herzenswärme, innige Liebe,
+nachwirkende Leidenschaft; aber von alledem wird wenig gesprochen; nur
+die Taten zeugen davon. Und so sind denn auch diese Taten nach Motiven
+und Folgen, diese Menschen nach Anlagen und Charakteren schärfer
+herausgearbeitet als beispielsweise in »Immensee.« Hier haben sich
+Wirklichkeit und Stimmung vermählt, und keins von beiden hat dabei
+gelitten.</p>
+
+<p>Und nun zudritt und zuletzt eine knappe Skizze von<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> Storms letzter
+Novelle »Der Schimmelreiter.« War der Grundton von »Immensee«
+träumerisch, der von »Carsten Curator« realistisch-ernst, so klingt
+im »Schimmelreiter« noch eine ganz andere Folge von Tönen an; die
+Novelle neigt nach dem Phantastischen, ja nach dem Schauerlichen
+hin. Gleich die Worte der Einführung versetzen in diese Stimmung.
+Er habe, so erzählt er, die berichteten Ereignisse vor reichlich
+einem halben Jahrhundert im Hause seiner Urgroßmutter in irgend
+einer alten Zeitschrift gelesen. »Noch fühl' ich es, gleich einem
+Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter
+liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt.« Die Geschichte
+führt an die Nordsee. Auf dem Deich, dicht am Wattenmeer, in später
+Oktober-Nachmittagsstunde, strebt ein Reiter dem ersehnten Quartier
+zu. Die gelbgrauen Wellen schlagen unaufhörlich mit Wutgebrüll an den
+Deich hinauf. Schwarze Wolkenschichten machen es zeitweise pechfinster.</p>
+
+<p>»Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte
+nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht
+herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald,
+da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem
+hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre
+Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus
+einem bleichen Antlitz an.</p>
+
+<p>Wer war das? Was wollte der? — Und jetzt fiel mir bei, ich hatte
+keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und
+Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!«</p>
+
+<p>Nachher im Wirtshaus am Deich, wo des Hochwassers wegen Wacht gehalten
+wird, hört er die Geschichte des unheimlichen Reiters. Hauke Haien ist
+es, der Deichgraf. Eines kleinen Mannes Sohn, hatte Hauke es durch
+zähen Fleiß und durch die Liebe der schönen Elke zum Nachfolger<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> und
+Schwiegersohn des reichen Deichgrafen gebracht. Ihm stehen große
+Pläne vor der Seele. Einen neuen Deich will er bauen, ins Wattenland
+hinein; durch den soll ein neues großes Stück Land vor des Meeres
+Dräuen gesichert und der Benützung erschlossen werden. Das gewaltige
+Werk gelingt; der neugewonnene Koog trägt des stolzen Hauke Haien
+Namen. Aber sieh da! Wo der neue feste Deich an den alten stößt,
+entsteht eine böse, gefahrdrohende Stelle. Bei wiederkehrender,
+rasender Sturmflut wollen die Leute den neuen Deich, <em class="gesperrt">seinen</em>
+Deich durchstechen, um so sicher den alten Damm und das Hinterland zu
+retten. Hauke verhinderts; aber der alte Deich birst wirklich, und die
+Fluten brechen herein. Sein Weib kommt zu Wagen ihm, dem Deichgrafen
+entgegen; die Fluten reißen Weib und Kind, Roß und Wagen dahin. So
+reitet Hauke selbst auf seinem Schimmel in wahnsinnigem Entschluß in
+die Fluten hinein. »Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Himmels, der
+Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten aus dem hinabstürzenden
+Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.« Seitdem reitet der tote
+Hauke Haien auf seinem Schimmel bei jeder hohen Flut; und wohin er
+reitet, dort bricht der Damm.</p>
+
+<p>Es ist nicht möglich, in ein paar Worten alle Hauptzüge der
+reichbewegten Handlung anzudeuten: jene gespenstische Erscheinung
+draußen auf der Hallig, ein Pferdegerippe, das doch in dunkler Nacht
+Leben bekommt. Hängts zusammen mit dem abgetriebenen Schimmel, den
+Hauke Haien von einem fremden Manne kauft und der dann in seinem Stall
+ein stattliches Roß wird, — das Roß, welches ihn nachher in die
+stürmende Flut trägt? Das Kind, das ihm als das einzige geboren wird
+und das zeitlebens ein Kind bleiben muß, weil Gott ihm den Verstand
+versagt hat, ist es die Strafe für die Art, wie Hauke sein totkrankes
+Weib von Gott erbetet hat: »Ich weiß ja<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> wohl, Du kannst nicht
+allezeit, wie Du willst, auch Du nicht; Du bist allweise; Du mußt nach
+Deiner Weisheit tun — o, Herr, sprich nur durch einen Hauch zu mir!«?</p>
+
+<p>So weben die Gewalten der Meereswogen und die abergläubischen
+Meinungen der Küstenbewohner ein unheimliches Gebilde von Wirklichkeit
+und Traum. Aber es sind keine sanften, ruhigen Träume, die hier
+umgehen; hier ist alles groß, alles packend, alles grausenhaft. Die
+rasch fortschreitende, meisterhaft zusammengefaßte Handlung erhöht
+den Eindruck: ein Kunstwerk von phantastischer Schöne ist erwachsen,
+dem doch der realistische Anhauch nicht fehlt; der Dichter selbst
+gibt kritische Andeutungen, übrigens so fein, daß die Stimmung nicht
+gestört, nur geklärt wird.</p>
+
+<p>Mit diesen drei Skizzen sind nicht entfernt alle Wandlungen der
+dichterischen Stimmung beschrieben, die in Storms Novellen sich
+finden. Wie er auch außer »Immensee« skizzenhafte, träumerische
+Bilder geschaffen hat (z. B. »Psyche«, »Ein stiller Musikant«), so
+auch solche, in denen das Leben selbst obenan steht (z. B. »Hans
+und Heinz Kirch«, »Bötjer Basch«); aber in wieder anderen kommt
+auch ein humoristischer Zug zur Geltung, der (z. B. »Die Söhne des
+Herrn Senator«) freilich auch wieder von tiefem Ernst begleitet
+ist; und mehr als eine seiner Novellen greift in die Schatzkammern
+der Geschichte, um längst vergessene Zeiten zum Reden zu bringen.
+Überall bleibt Storm im kleinen Rahmen; das einzelne Menschenschicksal
+beschäftigt ihn; der Zeiten Gewoge berührt ihn nicht. Er ist nicht
+Politiker und nicht Dogmatiker, er kennt nicht den Trieb, zu agitieren
+oder zu meistern, abzubilden oder zu kritisieren, — er dichtet, aber
+er webt in sein Dichten treu des Menschenherzens echte Art hinein.</p>
+
+<p>Raabe und Storm! Sind wir damit am Ende? Jener warme Hauch lyrischer
+Empfindung, der über ihren Dichtungen liegt, ist allerdings in
+den Schöpfungen anderer aus dem Ende des 19. Jahrhunderts selten
+zu finden.<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> Oder, wo er sich zeigt, ist er doch mehr Zugabe als
+beherrschendes Element. Aber lassen Sie mich noch einen Erzähler Ihnen
+nennen, bei dem dies eigentümliche Etwas, das wir »Stimmung« nennen,
+nicht immer, aber jezuweilen so stark wird, daß man ihn dann wohl
+neben Raabe und Storm stellen kann: <em class="gesperrt">Peter Rosegger</em>. Manches,
+was er geschaffen, kommt in anderem Zusammenhange zur Sprache; man
+kann ihn ja zugleich unter die Vertreter der Heimatkunst, ja des
+Naturalismus rechnen; und sogar dem Symbolismus läßt sich sein
+»Gottsucher« zuzählen. Aber in diesem letztgenannten Buch, dazu in
+ähnlichen kommt auch Stimmung, lyrische Stimmung zum Durchbruch. Noch
+stärker geschieht das, und zwar hier in beherrschender Weise, in den
+von Stifter beeinflußten »<em class="gesperrt">Schriften des Waldschulmeisters</em>.«
+Auch hier liegt ein <em class="gesperrt">Gedanke</em> zu Grunde; die Lyrik macht den
+Erzähler nicht tot. Verlassen hausen die Waldleute in einsamem Tal, im
+»Winkel.« Nach dem Felstal zu, meinen sie, sei die Welt mit Brettern
+vernagelt. Nach der Ebene zu kommen sie selten. Stundenweit ist die
+nächste Kirche; die Waldleute lassen nur die Mädchen dort taufen, die
+Buben nicht, damit sie nicht erst registriert und später fürs Militär
+gesucht werden. Was ist ihnen Kirche? Was Schule? Sie kümmern sich um
+keinen und keiner kümmert sich um sie. Sie sind hergezogen von Aufgang
+und Niedergang — wesweg', das weiß der Herrgott. Zumeist sind es wohl
+Bauersleut' von den vorderen Gegenden herein, die sich in die Wälder
+geflüchtet haben, um der Wehrpflicht zu entrinnen. Gibt auch Gesellen
+unter ihnen, denen man in der dunklen Nacht nicht gerne begegnet.
+Wildschützen sind sie alle ..... Beweibet sind die meisten, aber jeder
+hat die Seine nicht vom Traualtar geholt. In dies Tal »im Winkel«
+kommt durch den jungen Waldschulmeister langsam und mühsam Ordnung und
+Sitte, Kirche und Schule, kurz alles das, was wir »Kultur«<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> nennen.
+Jahr um Jahr bleibt er dort bei den Waldleuten, Jahr um Jahr freut er
+sich am Erfolg seines Tuns, Jahr um Jahr trägt er mit den Waldleuten
+Mühe und Arbeit, Freud und Leid. Aber es kommt die Zeit, wo die Leut'
+ihn bei Seite schieben, wo er dem neuen jungen Pfarrer nicht mehr
+genug tun kann, und wo der Dechant, nachdem er die Schule visitiert,
+ihn beim Fortgehen nicht gesehen hat.</p>
+
+<p>»Und seit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr aus diesen Wäldern
+gekommen.</p>
+
+<p>Und die Waldleute entstehen, leben und vergehen dahier und steigen in
+ihrem ganzen Lebenslauf nicht ein einzigmal auf den Berg, wo man die
+Herrlichkeit kann sehen, und am hellen Wintertag das Meer.</p>
+
+<p>Das Meer! Wie wird es da leicht und weit im Herzen! Dort zieht ein
+Kahn, steht ein Jüngling darin, der winkt ....«</p>
+
+<p>So ist er denn am Christtag hinaufgestiegen auf die Spitze des grauen
+Zahns, hoch über den Gletschern. Und dort oben ist er geblieben. Man
+findet bei dem Toten nur ein Stück Papier mit den wenigen Worten:</p>
+
+<p>»Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer gesehen und das
+Augenlicht verloren.« —</p>
+
+<p>Dieser Gang der Erzählung ist klar und deutlich innegehalten.
+Es ist kein romantisches Träumen, was in dem Buche regiert; die
+Umrisse des wirklichen Lebens sind überall scharf gezeichnet. Auch
+hier fehlt realistische, ja naturalistische Derbheit nicht. Auch
+Gefühlsschwärmerei treibt der Waldschulmeister in seinen Schriften
+nicht; er erzählt von nichts als vom Leben, vom wirklichen Leben und
+von der wirklichen Welt. Und dennoch — welche Stimmung über dem
+Ganzen! Urwaldfrieden umfängt uns, frische urtümliche Schöpfung umwebt
+uns. »Wie er einzieht durch die Augen und Ohren und all die Sinne,
+der liebe, der schöne Wald, so mag ich ihn genießen,«<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> schreibt der
+Waldschulmeister. Wie läßt er ihn uns mitgenießen! Kaum Schöneres
+in unserer Literatur als diese Schilderung des Urwaldfriedens:
+»Urwaldfrieden, du stille, du heilige Zuflucht der Verwaisten,
+Verlassenen, Verfolgten — Weltmüden; du einziges Eden, das den
+Glücklosen noch geblieben!« — Auch jeder der anderen Abschnitte ist
+ein prächtiges Kabinettstück urechter Stimmung. Bei den Hirten — zur
+lieben Sommerszeit ist es da oben gut sein. »So sind sie denn gut und
+froh, und ich, — wahrhaftig und bei meiner Treu, ich bins mit ihnen.«
+— Anders bei denen, die buchstäblich von der Erde, von dem Gestein
+heraus ihr Brot graben. Von den Bäumen schaben sie es herab, aus dem
+alllebendigen Ameishaufen wühlen sie es empor, — die Waldteufel. —
+Wunderbar ists im Felsentale, wo allein noch die Kiefer kampfesmutig
+die steilen Lehnen hinanklettern will, um zu wissen, wie es da oben
+aussieht bei dem Edelweiß, bei den Alpenrosen, bei den Gemsen. Aber
+die gute Kiefer ist keine Tochter der Alpen, balde faßt sie der
+Schwindel und sie bückt sich angstvoll zusammen und kriecht mühsam
+auf den Knien hinan, mit ihren geschlungenen, verkrüppelten Armen
+immer weiter vorgreifend und rankend, die Zapfenköpfchen neugierig
+emporreckend, bis sie letztlich in den feuchten Schleier des Nebels
+kommt und in demselben planlos umherirrt zwischen dem Gestein.</p>
+
+<p>Aber es ist nicht bloß <em class="gesperrt">Natur</em>stimmung, was hier regiert. Viel
+mehr als in Stifters Studien, die Rosegger beeinflußt haben, pulsiert
+hier warmes, lebendiges Leben: die Menschen werden lebendig! Die
+Hirten wie die Waldleute, die Holzer dazu, der Pecher und der schwarze
+Mathes und der seltsame Einspanig, der Berthold und die Aga und wie
+sie alle heißen. Aber keins für sich, keins bloß in seiner Menschheit,
+jedes als Teil der Waldgemeinde im Winkel, als Kind der Einsamkeit,
+als Schöpfung des Tals da droben, an das niemand in der Welt denkt.<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span>
+Stimmung regiert — einheitliche, wunderbar naturwüchsige Stimmung.
+Nachempfinden kann sie nur, wer sie selber einmal empfunden hat,
+in einem stillen Alpental, wo die Bäche rauschen, wo der Wald uns
+umfängt, wo die Berge zum Himmel ragen, wo die Menschen die Art ihrer
+Heimat tragen ....</p>
+
+<p>Sind wir nun mit dieser Stimmungsdichtung wieder in den Bereich der
+Romantik gekommen? Sind die Raabe und Storm die einfachen Fortsetzer
+der Linie Novalis — Eichendorff — Hoffmann? Keineswegs. Mag man sie
+als Neuromantiker bezeichnen, — eben das Neue in dieser Romantik ist
+doch stark genug, um ein ganz anderes Urteil über diese Erscheinungen
+zu rechtfertigen als über diejenigen der älteren Romantik. Dies
+charakteristische Neue liegt in dem realistischen Einschlag, besser
+noch: in der durchaus realistisch gefaßten Grundlage aller dieser
+Romane und Novellen. Raabe, Storm, Rosegger und ihre Genossen
+haben die Dinge dieser wirklichen Welt stimmungsvoll angesehen und
+stimmungsvoll geschildert. Aber sie haben nie, wie ihre romantischen
+Vorgänger, die Gesetze dieser Welt außer Geltung gesetzt, nie bloß
+träumend geschaute himmlische Gefilde beschrieben. Ich deutete schon
+an, daß selbst der phantastische »Schimmelreiter« die kritischen
+Ansätze selber bietet. Die übrigen Novellen Storms mögen manchmal die
+harten Lebenserfahrungen, die schweren Kämpfe, die bitteren Stunden,
+die Nachtseiten des Lebens ein wenig abgemildert darstellen, — mit
+der Wirklichkeit selbst kommt er nie in Streit. Von Raabe gilt das
+erst recht. Sogar die »Chronik der Sperlingsgasse« gibt überall
+natürliches Leben. Somit hat auch diese Stimmungsdichtung sich dem
+beherrschenden Grundzug der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht
+entzogen; auch sie hat der Wirklichkeit ihr volles Recht gegeben. Ja
+sie wird eben dadurch zum glänzendsten Beweis für den <em class="gesperrt">überall</em>
+durchdringenden Wirklichkeitssinn. Und darum bezeichnet diese
+Dichtung<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> keinen Rückschritt, erst recht keinen Rückfall. Vielmehr
+stellt sie nur eine besondere Art dar, die Wirklichkeit anzuschauen:
+mit poetischer Kraft, mit sinnendem Bedenken, mit starkem Mitempfinden.</p>
+
+<p>Es sind ja nur kleine Miniaturbildchen aus dem großen Weltbild,
+welche Storms Novellen zeichnen. Raabe gibt größere Bilder; aber
+auch sie können sich hinsichtlich der Weite und Breite nicht mit den
+Zeitromanen messen. Indes was diese Dichtung weniger beiträgt zur
+umfassenden Kenntnis des Weltbereichs, das trägt sie mehr bei zur
+inneren Durchdringung, zum tiefgreifenden Verständnis desselben.</p>
+
+<p>Und so grüße ich auch diese Dichter, die in der Erzählung den Leser
+über ruhig-nüchterne Betrachtung, über Kampf und Streit hinausheben,
+die Dichter, die unser Volk auf die Höhe feinsinnigen Verständnisses
+des Weltgeschehens führen und die den Brunnquell deutschen Gemüts
+ausschöpfen!</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_2">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_naturalistische_Roman">Der naturalistische Roman.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Naturalismus! Was bedeutet das eigentlich anders als engste Fühlung
+mit der Natur, mit der Wirklichkeit des Lebens? Und bestand
+diese Fühlung zwischen dem deutschen Roman und der Wirklichkeit
+nicht bereits, seitdem die abenteuerlichen Schauerromane und die
+empfindsamen Moralgeschichten aufgehört hatten, als der Inbegriff
+des Romans zu gelten? Seit Goethe fest und klar dem Leben, wie es
+ist, ins Angesicht geschaut? Wahrlich, dieser Wirklichkeitssinn ist
+dann lebendig geblieben, so wenig die romantische Strömung ihm zuerst
+entgegenkam. Selbst die Stimmungsdichtung, von der wir im letzten
+Vortrag gesprochen, fußt auf realen Fundamenten.</p>
+
+<p>Und dennoch bleibt ein gewaltiger Unterschied zwischen
+Wirklichkeitssinn und Naturalismus. Wie verschieden kann man die
+Wirklichkeit ansehen! Es geht einer dahin über duftende Wiesen, durch
+grünenden Wald. Frühlingssonne scheint ihm ins Herz hinein. Wie er
+dem nächsten Hofe sich naht, grüßt ihn der behäbige Bauer, dem die
+Freude über den Besitz auf der Stirn geschrieben steht, — lächelt
+ihn ein herziges Mägdelein an, mit roten Wangen und frischem Blick.
+Wirklichkeit? Ja, kann das nicht Wirklichkeit sein?</p>
+
+<p>Oder es schaut der ernste Mann hinein in den Gang regelmäßiger
+Arbeit. Er sieht, wie sie schaffen, die Männer des Kontors, — und er
+sieht, wie sie in rüstiger Arbeit, in gutem Erfolg, in gemessener,
+geordneter Erholung ihre Freude haben. Er sieht, wie das wohlgefügte
+Familienleben<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> die einzelnen Glieder hebt und trägt. Wirklichkeit! Ja,
+ist das nicht Wirklichkeit?</p>
+
+<p>Aber ein anderer sieht das Leben anders an. Er sieht in die Welt —
+da begegnet ihm das Elend. Er sieht in das Haus — da schaut er Risse
+und Sprünge im Bau der Familie. Er sieht auf die Straßen — und der
+Menschheit ganzer Jammer faßt ihn an. Er sieht in die Herzen — und er
+findet die Sünde, die Schuld oder, wenn ihm der Name nicht recht ist,
+— er findet Furchtbares, Entsetzliches.</p>
+
+<p>Wie jener Erste und wie der Andere — so haben die deutschen Erzähler
+das Leben längst angesehen, ehe denn das Stichwort »Naturalismus«
+emporkam. Erst als ihrer etliche lernten, es mit den Augen des
+Dritten anzusehen, erst da hat man diesen Namen gebraucht. Sie haben
+es übrigens nicht aus sich gelernt. Oder wenigstens, Mode ward der
+Naturalismus, die Darstellung der unverschleierten Wirklichkeit auch
+nach ihrer häßlichen oder gar vorwiegend nach ihrer häßlichen Seite,
+erst durch ausländische Einflüsse; ich brauche nur zwei Namen zu
+nennen: Zola und Tolstoi. Allerdings, <em class="gesperrt">daß</em> es so kam, ist im
+letzten Grund nicht auf willkürliche äußere Einflüsse zurückzuführen.
+Es <em class="gesperrt">mußte</em> so kommen. Auch das Häßliche gehört nun einmal
+zur Wirklichkeit. Wenn der Grundsatz: die Wirklichkeit schildern!
+durchdrang, so war der Naturalismus notwendig geworden. Er hat in
+diesem Grundsatz sogar seine <em class="gesperrt">Berechtigung</em>.</p>
+
+<p>Allerdings: auch innerhalb dessen, was »Naturalismus« heißt, kann
+es wieder sehr verschiedene Stufen geben. Jenachdem man eben das
+Häßliche, ohne es zu ignorieren, in den Hintergrund schiebt oder es
+aufdringlich hervortreten läßt oder es gar zum alleinigen Inhalt
+macht. Schon <em class="gesperrt">Immermanns</em> »Oberhof« hatte naturalistische
+Partien; Jeremias <em class="gesperrt">Gotthelf</em> ist Naturalist durch und durch,
+und mehr als einer hat es ihm arg verdacht, daß er für manchen<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span>
+bedenklichen ländlichen Brauch, für manche den verfeinerten Geschmack
+etwas roh anmutende Einzelheit kein wohltätiges Schleierchen gehabt
+hat. Aber bei ihm traten <em class="gesperrt">diese</em> Seiten des Lebens nie in den
+Vordergrund. Er ließ nichts weg, er beschönigte nichts; aber er gab
+dem Unschönen und Unsittlichen nie mehr Raum, als das Leben ihm gibt.
+Und — er erzählte es mit sittlichem Urteil.</p>
+
+<p>An Gotthelfs Art läßt sich am besten auch die Schilderung des
+moderneren Naturalismus aus der zweiten Hälfte, ja dem letzten Viertel
+des 19. Jahrhunderts anschließen. Denn wie bei ihm, so verbindet
+sich auch hier der Naturalismus großenteils mit <em class="gesperrt">Heimatkunst</em>.
+Cäsar <em class="gesperrt">Flaischlen</em> erklärte es 1894 für erforderlich, daß »die
+engere Heimat mit ihrer Stammeseigenart der stete Nährboden bleibe,
+aus dem sich unser ganzer deutscher Volkscharakter zu immer neuer
+Kraft, zu immer reicheren Entfaltungen und zu immer vielseitigerer
+Einheit emporgestalte.« Die so verstandene Heimatkunst ist aber
+nicht notwendig naturalistisch im fortgeschrittenen Sinn. Sie legt
+ihrer ganzen Art nach ein großes Gewicht auf den Sondercharakter der
+Landschaft und des Stammes. Jede Landschaft, jeder Stamm ist ihr um so
+herzlicher willkommen, je ausgeprägter sein Sonderleben, je weniger
+abgeschliffen sein Eigengefühl ist. Wenn Theodor <em class="gesperrt">Storm</em> die
+Küste am Meer, die schwermütige Ebene im deutschen Norden in seine
+Novellen hineinragen läßt, wenn er den besinnlichen, tiefgründigen
+Charakter, den das Land dort seinen Bewohnern gibt, immer wieder
+zur Darstellung bringt, so ist das Heimatkunst. In seinen Novellen
+kann diese Kunst keine ausgeführteren Bilder schaffen; und Storm,
+dem poetische Stimmung über alles geht, erzählt von der Heimat
+nicht alles. Das Häßliche bleibt fern. Aber auch größere Bilder
+gibt die Heimatkunst, ohne prononciert naturalistisch zu werden,
+und kleinere Bilder stimmt sie noch schärfer auf Sitte und Brauch.
+Beides trifft zu bei<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> Heinrich <em class="gesperrt">Sohnrey</em>, dessen Zeitschrift
+»Das Land« diese Kunst mit Liebe verficht. Sein »Die Leute aus der
+Lindenhütte«, seine kleinen Geschichten »Die hinter den Bergen« lassen
+das hannoversche Land, dem der Autor entstammt, lebendig werden.
+In seiner schlicht-einfachen Art, die das Grübelnd-Moderne in der
+psychologischen Auffassung nicht kennt, scheidet er sich allerdings
+von den meisten anderen neuzeitlichen Vertretern der Heimatkunst.</p>
+
+<p>Von hier aus bis zu denjenigen Erzählern, die ihrer Heimatkunst einen
+rückhaltlos naturalistischen Einschlag geben, ist nun eben nur ein
+Schritt. Hier sind zwei Österreicher zu nennen: Peter <em class="gesperrt">Rosegger</em>
+und Ludwig <em class="gesperrt">Anzengruber</em>, beide freilich wieder unter einander
+verschieden. Wenn ich <em class="gesperrt">Rosegger</em> hier nenne, so denke ich nicht
+an den Stimmungsdichter der »Schriften des Waldschulmeisters«, auch
+nicht zuerst an den Problemdichter der größeren Romane — als solcher
+wird er uns noch einmal begegnen —, nein, mir stehen dabei jene
+seiner vielen Schriften vor Augen, in denen die steirische Heimat
+das einzig Herrschende ist. Sie sind ja nicht alle von gleichem
+Wert; wie könnte dem vielschreibenden Mann jeder Wurf zu gleicher
+Vollendung ausreifen? Die kleineren Geschichtensammlungen tragen alle
+diese Art, aber auch von den größeren verleugnen manche sie nicht: so
+»Heidepeters Gabriel«, so auch »Jakob der Letzte« und das historische
+»Peter Mayr, der Wirt an der Mahr.« Zwei Haupteigenschaften
+charakterisieren diese naturalistische Heimatkunst Roseggers: einmal
+die liebenswürdige Frische, sodann die natürliche Derbheit der
+Erzählung. Die liebenswürdige Frische nimmt unwillkürlich gefangen;
+selbst den schwächeren Geschichten gibt sie einen eigentümlichen Reiz.
+Die Naturfarbe wirkt mit der herzgewinnenden Offenheit, das sich
+offenbarende warme, gemütstiefe Empfinden mit kräftig gesundem Urteil
+zusammen, um den Leser immer aufs neue zu erfreuen. Die Derbheit aber,
+welche sich mit<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> der Liebenswürdigkeit paart, wirkt bei Rosegger
+rein ländlich-natürlich. Es ist eine ähnliche Derbheit, wie sie
+auch bei Fritz <em class="gesperrt">Reuter</em> manchmal durchbricht, die Derbheit des
+Naturkindes. Sie wird nirgends roh, aber auch nirgends raffiniert und
+sie geht niemals ins Einzelne. Sie sucht nicht sonst Verschleiertes,
+sondern sie erzählt offen, was bei dem einfachen Volk der Berge, das
+keine Prüderie kennt, offen besprochen zu werden pflegt. Wir haben
+hier die Verbindung von Heimatkunst und natürlichem Naturalismus.
+Anders schon zeigt sich die Verbindung von Heimatkunst und
+Naturalismus bei <em class="gesperrt">Ludwig Anzengruber</em>. Der hat sich selber als
+»Realistiker« gezeichnet, als er den zweiten Band seiner »Dorfgänge«
+einleitete. Nur ein paar Sätze aus dieser Schilderung können hier
+wiedergegeben werden. »Ein solcher« (Schriftsteller), so schreibt er,
+»glaubt der Wirkung seines Stoffs im vornhinein sicher zu sein, wenn
+er alle seine Gestaltungskraft an das Kleine und Kleinliche aufwendet,
+und er will es dabei eingedenk bleiben, daß selbst die schmutzige
+Scholle ein Stück der Allernährerin Erde sei ....... Er erspart uns
+keinen Schrei wehen Jammers, er erspart uns kein Jauchzen wilder Lust.
+Er stößt das Elend, das um Mitleid bettelt, nicht von der Ecke, er
+jagt den Trunkenbold, der alle belästigt, nicht von der Straße, alles,
+was er bei solchen unangenehmen Begegnungen für euch tut, ist, sie
+abzukürzen, nachdem ihr aber doch den Eindruck einmal weghabt. Tugend
+und Laster, Kraft und Schwäche führen bei ihm ihre Sache in ihrer
+eigenen Weise. Er will das Leben in die Bücher bringen, nachdem man es
+lange genug nach Büchern lebte ....«</p>
+
+<p>Diese wenigen Worte geben natürlich nicht den ganzen Anzengruber.
+Gleich ihre Fortsetzung proklamiert den Realistiker als den »Priester
+eines Kultus, der nur eine Göttin hat, die Wahrheit,« aber sie spricht
+ihm auch das Recht der Stimmung und der Deutung zu: »Er bringt<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> die
+Sterbenden aus dem Gelärm des Tages und bettet sie in heiliger Stille,
+er flüstert vertraut mit ihnen über alte Erinnerungen, damit sie dem
+Sonnenlichte nicht fluchen, zu dem sie einst erwachten, und er deutet
+ihnen leise all diese Schauer und Krämpfe als die letzten Anrechte
+allen und jeden Schmerzes an sie, damit sie die Nacht nicht fürchten,
+in welche sie jetzt eingehen sollen, langsam, mählich, wie die Pulse
+verrollen, der Atem stockt, das Herz stille steht ....« Aber es ist
+besser, wir machen uns seine naturalistische Heimatkunst praktisch
+klar, indem wir eins seiner Werke genauer ansehen. Wählen wir nicht
+die »Dorfgänge«, aber noch weniger die minder charakteristischen
+Kleinigkeiten wie »Gefabeltes von irgendwo und nirgendwo«, sondern
+sein erzählendes Hauptwerk, das neben den Dramen ihn am deutlichsten
+charakterisiert, die Dorfgeschichte mit dem Titel »<em class="gesperrt">Der
+Sternsteinhof</em>.«</p>
+
+<p>Es ist die Geschichte eines weiblichen Charakters. Rechtschaffen
+sauber ist die Zinzhofer Helen', aber arm, ganz arm. Da hat der
+häßliche Kleebinder Muckerl an ihr Gefallen gefunden, und vom Ertrag
+seiner Herrgottsschnitzerei hat er ihr schöne Geschenke gemacht.
+Sie hälts mit ihm, aber ihre Pläne gehen höher hinaus. Sie weiß
+die Aufmerksamkeit des jungen Bauern vom großen Sternsteinhof zu
+erwecken und durch geschickte Zurückhaltung ihm ein schriftliches
+Eheversprechen abzugewinnen. Bis dann doch die Stunde kommt, da des
+reichen Anbeters Zudringlichkeit ihre Zurückhaltung besiegt. Nun hat
+sie verspielt; der junge Bauer will sie wohl heiraten, aber der Alte
+gibts nicht zu, und sie muß froh sein, daß Muckerl, der Gute, durch
+eilige Ehe ihr die Schande erspart. Auch der junge Bauer heiratet
+— ein reiches Mädchen, das von der Geburt des ersten Kindes an
+schwer kränkelt. Er träufelt nun Gift in Helenes Herz: sie wollen
+noch einmal zusammen gehören, und wenns ein Verbrechen koste. Kein
+Verbrechen braucht es dazu; dem Muckerl, der nie stark<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> gewesen,
+gibt die Entdeckung, daß sein Weib ihn hintergehe, den Rest; und die
+Bäuerin stirbt auch. Helen' erreicht ihr Ziel: sie wird die Herrin vom
+Sternsteinhof. Freilich nicht lange an ihres Bauern Seite; der bleibt
+im Feldzug. Nun lebt sie ganz für ihre Kinder.</p>
+
+<p>Die Geschichte eines Charakters: denn das ist ihre größte Kraft, daß
+sie alle Wandlungen im Wesen der schönen Helen' mit psychologischem
+Tiefblick darlegt. Wie sie gern davon hört, daß sie die allersäuberste
+wär' im ganzen Landviertel! Wie sie nimmt, was der schieche
+Muckerl ihr schenkt, ohne daß doch ihr Herz etwas von Dank wüßte!
+Wie sie die Netze auswirft nach dem reichen Bauernsohn! Wie sie
+lavieren kann, ums mit keinem zu verderben! Und nachher, welche
+ergreifenden Seelenbilder: der Fußfall der Entehrten vor dem alten
+Sternsteinhofbauern, bei dem sie sich tief demütigt und doch stolz
+bleibt, — der dankbare Jubel, wie Muckerl ihr auch jetzt noch die
+Hand zur Ehe reicht: »da schwingt sie sich flink über das niedere
+Gatter, das sie trennt, und nun hing sie an seinem Halse und preßte
+die dürstenden Lippen auf die seinen und er taumelte unter ihrer
+Last, wie trunken von ihren Liebkosungen.« Dann die Beichte vor der
+Trauung mit der Angst, die Absolution nicht zu erhalten, mit dem
+Nachklang in ihrem Herzen: »Das war gestern eine Beicht' gewesen! Ei
+wohl, eine schwere, harte Beicht'. Gott sei Dank, daß es überstanden
+war!« Und weiter jene nächtliche Szene, in welcher die Versuchung,
+welche das Wort des Sternsteinhofbauern in die Seele gestreut, in ihr
+Leben gewinnt: »Ewig lebt keiner, doch überlang mancher. Was g'schah'
+dann? Das find't sich! .... und dann flüsterte, wisperte und raunte
+es ihr zu: Tu's — tu's — tu's — es find't sich — es find't sich!«
+Es ließen sich diesen Bildern leicht noch andere anfügen: Helene und
+ihre Mutter, die alte goldgierige, vorschubleistende Zinzhoferin;
+Helene und der alte Sternsteinhofbauer, der ihr gram bleibt,<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> bis
+sie nach dem Tod des jungen Bauern auch ihm wieder gute Tage gibt.
+Ein hartes Herz ists, dessen Geschichte beschrieben wird. Schönheit
+bringt Gefahr! Nur hoch hinaus! Was tut ihr die Liebe des Häßlichen?
+Was nachher die unendliche Treue des Großmütigen? Ihr gilts nur ihr
+Ziel. Und schließlich hat sie doch als die reiche Bäuerin die hohe
+Achtung der ganzen Gegend. Die anderen, denen sie grauses Herzeleid
+angetan, bedauert niemand. »Anders aber, wenn Helene stirbt, nicht nur
+ihrem eigenen Kinde wird das Herz schwer werden, auch das fremde wird
+ihr heiße Tränen nachweinen, die Armen in der Umgegend und alle Jene,
+die gewohnt waren, freundnachbarlich sich Rat und Tat zu erbitten,
+wird der Tag bedrücken, an welchem der Tod die Bäuerin hinwegholt vom
+Sternsteinhofe.«</p>
+
+<p>Noch manches andere steht im »Sternsteinhof«, was Erwähnung verdiente.
+Wie meisterhaft diese Unterredung, in welcher der alte Pfarrer den
+jungen Kaplan die Herzen seiner Leute kennen lehrt! Man kann hier und
+da die Empfindung haben, aufs Niveau der einfachen Dorfgeschichte
+herabzusinken; aber die unerbittliche Klarheit der Seelenanalyse
+zeigt immer wieder, daß die Geschichte über demselben steht. Der
+Naturalismus ist hier scharfsinnig geworden; er ist nicht mehr bloß
+natürlich-naiv. Unangenehme Szenen kürzt Anzengruber wirklich ab;
+er wird nie pikant, dazu ist er viel zu ernst. Aber er erspart auch
+nichts, vor allem kein Weh' und keine Sünde.</p>
+
+<p>Auf <em class="gesperrt">ländlichem</em> Gebiet haben Anzengrubers Gestalten ihren
+Heimatboden. Er gibt selber den Grund dafür an — in einer
+Nachbemerkung zum Sternsteinhof —: »weil der eingeschränkte
+Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer
+Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften,
+rückhaltlos sich äußernd, verständlicher bleiben ....« Andere haben
+doch die hiernach noch schwerere Aufgabe gewagt, auch in<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> einen
+Mechanismus hineinzusehen, »den ein doppeltes Gehäuse umschließt und
+Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben.« Sie führen ins
+Leben der <em class="gesperrt">Stadt</em> und in die Herzen der Gebildeten. Heimatkunst
+üben sie darum auch. Aber ist es nicht so, daß der Städter, daß der
+Gebildete minder fest an der heimatlichen Scholle hängt, vor allem
+minder nachhaltig durch sie bestimmt wird als der Landmann, der mit
+ihr in steter, enger Verbindung bleibt? Man mag getrost auch hier von
+Heimatkunst sprechen; aber der Begriff verliert, wo Berliner Straßen
+und Schornsteine in Frage kommen, sein Anheimelndes. Um so deutlicher
+tritt der Begriff Naturalismus in sein Recht. Nur natürlich: hier kann
+nicht mehr von naiver Offenheit die Rede sein, hier handelt es sich
+einfach um grundsätzliche Darlegung nackter Wirklichkeit.</p>
+
+<p>Berlin ist es, das den Untergrund hergibt für die Romane <em class="gesperrt">Max
+Kretzers</em>, der unfraglich von Emil Zola gelernt hat, wenngleich
+er ihn nicht erreicht hat, auch wohl im Grad der Entschleierung des
+Häßlichen ihn nicht hat erreichen <em class="gesperrt">wollen</em>. Nicht überall ist ihm
+ein treues Konterfei der Berliner Wirklichkeit gelungen; vieles in
+dem Roman »<em class="gesperrt">Die Bergpredigt</em>« muß man als tendenziös entstellt
+schlechthin ablehnen. Damit hat Kretzer sich eben auf ein Gebiet
+gewagt, auf welchem objektive, naturgetreue Zeichnung außerordentlich
+schwer ist, — auf das kirchliche Gebiet. Die persönliche Stellung,
+persönliche Antipathien insbesondere, sprechen hier auch bei dem
+Apostel der Wirklichkeit so stark mit, daß der naturalistische Roman
+nicht ganz wenige Züge vom Tendenzroman erhalten hat. Anders im
+»<em class="gesperrt">Meister Timpe</em>«. Damit hat Kretzer einen ganz aktuell-modernen,
+nämlich einen sozialen Roman geschaffen. In der Werkstatt in einer
+der engen Straßen in Berlin O. regiert Meister Timpe, ein ehrsamer
+Drechsler, über zahlreiche Gesellen und Lehrlinge. Wenn Handwerk
+für ihn<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> auch nicht gerade goldenen Boden hat, so hat es ihm doch
+zu gewissem Wohlstand verholfen. Der Meister hat redlich dazu das
+Seine getan; Geschicklichkeit und Findigkeit in der Anfertigung
+neuer Modelle haben ihn unterstützt. Aber nun erhebt sich plötzlich
+dicht neben seinem Grundstück eine neue Fabrik derselben Branche,
+gebaut von Ferdinand Friedrich Urban, dem skrupellosen, gewandten
+Geschäftsmann. Es ist ein harter Kampf zwischen Werkstätte und
+Fabrik, der nun beginnt. Mit zäher Energie kämpft Meister Timpe um
+seine Existenz. Aber die Gegner sind ungleich. Die große Fabrik kann
+billiger liefern, weil Einkauf und Verkauf im Großen geschieht; jede
+Konjunktur kann Urban geschäftskundig ausnützen; die Modelle des
+Handwerksmeisters beutet er skrupellos aus. Meister Timpe muß Kunden
+um Kunden sich abwenden sehen, muß Gesellen um Gesellen entlassen.
+Sein Erspartes geht drauf; er arbeitet schließlich allein, Stuhlbeine
+drechselnd, Woche um Woche. Er, der alle sozialdemokratische Wühlerei
+stets mit überlegener Gewißheit von sich gewiesen, gibt nun selbst
+einen sozialdemokratischen Wahlzettel ab und predigt in einer
+Streikversammlung Aufruhr: »Die Schornsteine müssen gestürzt werden,
+denn sie verpesten die Luft .... <em class="gesperrt">Schleift die Fabriken</em> ....
+<em class="gesperrt">zerbrecht die Maschinen</em>!!« Auch sein Haus soll ihm genommen
+werden, er selbst soll wegen dieser Hetzrede gerichtlich belangt
+werden. Er aber verbarrikadiert sich im Haus und man findet ihn tot.</p>
+
+<p>Fabrik und Handwerk, neue und alte Produktionsweise — das ist der
+eine Gegensatz, welcher machtvoll dies Buch beherrscht. Mit diesem
+Gegensatz aber ist in vollendeter Wirkung ein anderer verbunden —
+der Gegensatz dreier Generationen. Des Meisters Vater ragt in die
+neue Zeit hinein wie eine Ruine aus der guten alten Zeit: »Ja, ja,
+das waren noch andere Zeiten .... damals! Das Handwerk hatte einen
+goldenen Boden ...« Aber auch sonst vertritt er die alte Zeit, — die
+Zeit, da noch<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> niemand hoch hinaus wollte, auch die Väter mit ihren
+Kindern nicht, — die Zeit, da die Eltern ihren Kindern die Zuchtrute
+gaben, um sie zu ordentlichen Menschen zu erziehen .... Die zweite
+Generation hat ihren Repräsentanten in Meister Timpe selbst. Er für
+seine Person, für sein Haus gehört ganz zur alten Art, — schlicht,
+einfach, solide, gediegen, wie er ist. Sein einziger Luxus — eine
+Weiße in der weitbekannten Kneipe von Vater Jamrath. Aber für seinen
+Sohn will er hoch hinaus; der Franz muß Kaufmann werden und nicht
+Handwerker. Wenn er nur in die feinen Kreise kommt — dann läßt der
+Vater ihm in unverzeihlicher Schwäche alles durchgehen, alles. — Die
+dritte Generation: — der Sohn Franz. Er kommt vorwärts, er wird des
+reichen Fabrikbesitzers Schwiegersohn und Teilhaber. Aber Vater und
+Mutter verrät und verläßt er um dieser neuen Größe willen; kommt des
+Meisters geschäftlicher Rückgang auf Rechnung Urbans, so kommt all
+sein Herzeleid auf Rechnung des ungeratenen Sohnes. Drei Generationen!
+Die Gegenüberstellung wirkt mit wuchtiger Gewalt!</p>
+
+<p>In diesen Gegensätzen liegt die Kraft des Romans. Die brillant
+gezeichneten Einzelbilder heben ihn noch: der Streit zwischen Meister
+und Geselle um die Sozialdemokratie, die Debatte am Stammtisch
+über die neue Entwicklung, die sozialdemokratische Versammlung.
+Der Roman wird zum Zeitroman, aber in der derben Ungeschminktheit
+seiner Darstellung zum naturalistischen Zeitroman. Vielleicht wirkt
+noch nicht alles natürlich, z. B. nicht das rasche Aufsteigen des
+hoffnungsvollen Franz, die gar zu skrupellose, ja gewissenlose und
+verbrecherische Handlungsweise des ungeratenen Sohns. Vielleicht fehlt
+ein Vertreter eines anderen Fabrikantentums, das <em>in puncto</em>
+Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeit dem alten Handwerksmeister nichts
+nachgibt. Vielleicht steckt eben doch auch in diesem Roman noch ein
+Stück Tendenz. Aber jedenfalls<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> ist andrerseits der Naturalismus nicht
+übertrieben. Kretzer ist nur ausnahmsweis ein Detail-Naturalist,
+alles Sinnliche bleibt diesem Roman völlig fern. Berliner soziales
+Leben ist mit wesentlich naturwahrer Treue geschildert, und zwar in
+so abgerundeter Handlung und derart zugkräftiger Entwicklung, daß die
+Form der Darstellung den Inhalt aufs beste zur Geltung bringt.</p>
+
+<p>Kräftiger noch sind die Farben aufgetragen in dem anderen Kretzerschen
+Roman »Das Gesicht Christi.« Derselbe hat zum naturalistischen
+Grundcharakter einen symbolistischen Einschlag. Davon noch später.
+Er hat außerdem einen Beigeschmack des Pikanten, was dem »Meister
+Timpe« völlig fehlt. Wenigstens die Verführungsszene zwischen
+Fabrikant und Fabrikmädchen ist nicht rein naturalistisch; sie
+ist zugleich sinnlich raffiniert. Die eigentliche Schilderung
+aber greift hier noch tiefer ins Häßliche hinein; sie beschäftigt
+sich mit den untersten Volksschichten, sie malt das Elend einer
+unglücklichen Arbeiterfamilie, sie schildert die Schande im Gefolge
+dieses Elends so deutlich, daß der Roman nicht bloß ein Beispiel
+wird für die rücksichtsloseste Wirklichkeitszeichnung, sondern auch
+für die erschreckende, zarter besaitete Gemüter abstoßende Wirkung
+derselben. Welche Szene, die Arbeiterwohnung im Berliner Hinterhaus
+mit dem Hunger als Gast, mit dem Tod vor der Tür! Welche Tragik: der
+Arbeiter mit den hungernden Kindern die Stadt durchirrend, die große,
+tosende Stadt, in der des Einzelnen Elend verschwindet! Und dann
+seine Heimkehr in die öde Stube, in die der Tod inzwischen seinen
+Einzug gehalten hat! Mit wuchtiger Plastik ist auch das Bild aus dem
+Kneipenleben gezeichnet: die trinkenden, schimpfenden, streitenden
+Proletarier, der junge Arbeiter und sein Mädchen, der Halbverhungerte,
+der gierig die Speise verzehrt, die rohen Lieder, der giftige Spott,
+— die Heilssoldatin mitten drin in all dem Toben! »Meister Timpe«
+blieb immer beim Mittelstand; wenige Streiflichter<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> nur ließ er auf
+die brodelnde Tiefe fallen. »Das Gesicht Christi« führt ganz in die
+Tiefen, zum Teil in die tiefsten Tiefen der Sünde und des Elends. Es
+nimmt die Wirklichkeit da, wo sie am schrecklichsten ist; es zeigt die
+»Natur«, wie sie zur Bestie wird. Hier ist nichts mehr schön, aber
+wahr ist alles.</p>
+
+<p>Auf das »Gesicht Christi« komme ich seines symbolistischen Einschlags
+wegen später noch einmal zu sprechen.</p>
+
+<p>Für jetzt möchte ich noch mit einigen Worten bei einem anderen
+gemäßigt naturalistischen Schriftsteller verweilen, der wieder ein
+anderes Milieu zur Darstellung gebracht hat, bei <em class="gesperrt">Wilhelm von
+Polenz</em>. Auch er wählt ländliche Verhältnisse für die Darstellung,
+aber völlig andere als Rosegger und Anzengruber, — die ländlichen
+Verhältnisse Ostelbiens. Seine Romane »<em class="gesperrt">Der Büttnerbauer</em>« und
+»<em class="gesperrt">Der Grabenhäger</em>« erreichen in Schilderung dieser Menschen und
+Gegenden einen hohen Grad von Anschaulichkeit. Er beschränkt sich
+übrigens nicht auf die untersten Stufen der menschlichen Gesellschaft;
+er versucht gerade auch die gebildeten Kreise zu Gegenständen seiner
+Zeichnung zu machen. Am ausschließlichsten geschieht das in dem
+»<em class="gesperrt">Pfarrer von Breitendorf</em>.« Aber — und darum gehe ich hier
+auf dies Buch genauer ein — es ist entschieden schwerer, gebildete
+Schichten naturalistisch abzukonterfeien als einfache Bauern oder
+Taglöhner oder Fabrikarbeiter. Hier zeigt sich, wie sehr Anzengruber
+mit Betonung dieser größeren Schwierigkeit Recht hatte. Kommt beim
+Bauern viel auf Sitte und Brauch an, noch mehr auf alteingewurzelte,
+einfache Grundanschauungen, reduzieren sich die ländlichen Konflikte
+schließlich immer wieder auf die großen Fragen von Mein und Dein, von
+Liebe und Eifersucht, — so ist der psychologische Apparat bei den
+gebildeten Klassen erheblich komplizierter. Die geistigen Fragen,
+die Unterschiede des Standes und Berufs, die Weltanschauung, — das
+und noch tausend andere<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> Dinge soll der Dichter berücksichtigen.
+Der »Pfarrer von Breitendorf« aber behandelt nun gar einen Stand,
+der sicherlich mit am schwersten getreu darzustellen ist, den
+Pastorenstand. Wie verschieden sind die Einzelglieder dieses
+Sammelbegriffs! Wie verschieden schon ihre äußere Umgebung! Vor
+allem aber, wie schwer ists für den Außenstehenden, gerade hier
+vorurteilslos naturgetreu zu bleiben! Der Geistliche ist ja den
+meisten derart verschmolzen mit der religiösen Anschauung, welche er
+vertritt, mit dem kirchlichen Amt, welches er führt, daß ihr Urteil
+über seine Person unmittelbar abhängig wird von ihrer Stellung zu der
+Sache, die er darstellt. Wer zur Religion kein inneres Verhältnis
+hat, wer mit dem Wort Kirche den Begriff unheimlichen Finsterlingtums
+verbindet, dem ist oft genug der Pastor das, was dem Stier das rote
+Tuch ist. Reichliche Beispiele hierfür geben Spielhagens Romane.
+Wilhelm von Polenz hat im »Pfarrer von Breitendorf« gleichfalls stark
+unter dieser Schwierigkeit gelitten. Er hat manchen guten Anlauf
+zur wahren Schilderung genommen, einzelne Typen sind ausgezeichnet
+getroffen. Aber um so verzerrter sind die anderen.</p>
+
+<p>Ein greiser Pastor findet in hohem Grad des Helden Gerland Beifall. Er
+hat nichts Geistreiches an sich, seine Ansichten tragen den Stempel
+des Altmodischen, er gesteht seine Unbekanntschaft mit allgemein
+bekannten theologischen Fragen. Aber er spricht herzlich und schlicht,
+er empfindet echte und tiefe Begeisterung für seinen Beruf; er faßt
+sein Amt in Wahrheit als das eines Seelenhirten auf; Glauben und
+Pflicht decken sich bei ihm in schönster Weise. »Er hatte keinen
+Kompromiß zwischen Überzeugung und Lebensklugheit nötig.« Er handelt
+auch im weiteren Verlauf der Erzählung ganz nach dieser seiner Art: in
+herzlicher, schlichter, liebevoller Einfachheit. — Die anderen Typen
+erfreuen sich nicht des gleichen Beifalls des Helden und des Autors.
+Auch nicht desjenigen des Lesers. Als einmal<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> viele Pastoren beisammen
+sind, heißt es: »Da war auch nicht ein vergeistigtes Antlitz, nicht
+ein Auge, aus dem Begeisterung geblitzt hätte.« Die ganze Reihe hier
+vorzuführen, unterlasse ich, um nur einige Bemerkungen noch anzufügen.
+Da ist der Diakonus Fröschel, ein unansehnlicher, blasser Mensch,
+der eine Brille trägt und sich linkisch verbeugt. »Es lag etwas
+frühreifes, vorzeitig gealtertes in diesem runden kleinen Gesicht, das
+die kurzen, unausgeprägten Formen eines Kinderkopfes trug.« Natürlich
+hat er, als er zum Mittagessen eingeladener Maßen erscheint, einen
+abgetragenen Rock an, kurze Beinkleider und plumpe Stiefeln. Dieser
+selbe Fröschel ist innerlich völlig mit seinem Berufe zerfallen;
+er »zersetzt sich in seiner eigenen Schärfe.« Seine Anschauungen
+scheiden ihn völlig von seinem Amt, denn sie scheiden ihn von jedem
+Christentum. Trotzdem wagt er nicht, den Beruf aufzugeben, — aus
+Angst vor seiner ihn völlig beherrschenden Mutter. Lieber gibt er sich
+schließlich selber den Tod. Da ist endlich Pastor Gerland selber,
+mit einer gewissen Begeisterung geschildert, ein Mensch, von dem
+wenigstens angedeutet wird, daß er es ernst nimmt mit seinem Beruf;
+viel Tatsächliches erfahren wir nicht darüber. Er liebt die noch
+ungetaufte Tochter des atheistischen <em>Dr.</em> Haußmann, gewinnt
+mit Mühe und viel Selbstverleugnung das Vertrauen dieses Mannes,
+gewinnt auch das Herz der Tochter. Sie läßt sich taufen; aber Gerland
+quittiert doch sein Amt, — auch ihm sagt es auf die Dauer nicht
+zu. Diese beiden eben kurz umschriebenen Gestalten sind beide sehr
+wenig wahrscheinlich. Die Begeisterung Gerlands schlägt ohne irgend
+genügende Motivierung in das Gegenteil um; und Fröschel mit der
+unglaublichen Angst vor der Mutter ist eine Karikatur, eine einfache
+Karikatur. Wer aber selbst diese Typen ernst nehmen wollte, müßte
+mindestens zugeben, daß die gesamten Typen einseitig ausgewählt sind;
+eine ganze Reihe von anderen fehlt. Dazu kommt, daß dem Dichter<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> auf
+diesem Gebiet denn doch allzusehr die Details der geistigen Bewegungen
+gefehlt haben, als daß er hätte naturgetreu zeichnen können. Das Buch
+will ja naturalistisch sein und ich habe es eben um dieses Anspruchs
+willen hier eingereiht. Aber es hat — in seiner Art — verzweifelte
+Ähnlichkeit etwa mit dem militärisch-naturalistischen Tendenzroman
+»Sedan oder Jena?« von Beyerlein. Gewiß, es ist schwer, <em class="gesperrt">dies</em>
+Gebiet objektiv zu schildern. Sogar den Lesern wird es schwer, nicht
+ihrerseits Stellung zu nehmen. In dem Exemplar einer Leihbibliothek
+standen bei einem ziemlich absprechend urteilenden Satz zwei sehr
+verschiedene Randbemerkungen. Ein Leser hatte geschrieben: »Frech und
+unwahr!«, der andere: »Leider zu wahr!« Es ist eben nicht leicht,
+Naturalist zu sein.</p>
+
+<p>Über Kretzer und über Schriftsteller wie Polenz hinaus haben
+andere den Naturalismus noch naturwahrer wollen arbeiten lassen.
+<em class="gesperrt">Zola</em> arbeitete sozusagen mit dem Bienenfleiße des Sammlers,
+der alles und jedes Material, was zum Verständnis dienen kann,
+zusammenträgt. <em class="gesperrt">Kretzer</em> schildert mit gröberen Strichen,
+aber auch er schildert vor allem Verhältnisse, Zeiten, — nur in
+den Zeiten und Verhältnissen zeichnet er die Menschen. Mit alledem
+ist die naturgetreue Zeichnung doch noch nicht auf dem Gipfel.
+Reden denn die Menschen bei <em class="gesperrt">Zola</em> so, wie sie im gewöhnlichen
+Leben reden? Sprechen sie nicht noch immer, als ob sie sich ihre
+Sätze ausgearbeitet, ausgefeilt und auswendig gelernt hätten? Sie
+diskutieren, als ob sie zur Debatte zusammengekommen wären und als ob
+der Präsident der Kammer ihnen nacheinander das Wort erteilte. Bei
+<em class="gesperrt">Kretzer</em> sind sie darin zurückhaltender, maßvoller, natürlicher.
+Aber das muß zugegeben werden: <em class="gesperrt">ganz</em> natürlich sind im Reden
+auch <em class="gesperrt">Kretzers</em> Menschen noch nicht. Also — und damit setzt
+der konsequenteste Naturalismus ein — gilt es, zu beobachten, wie
+die Menschen sich geben, wie sie sprechen, — bis ins Kleinste
+hinein.<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> Jeder augenblickliche Eindruck muß wiedergegeben werden.
+Das Psychologische muß schärfer betont werden. Aber nicht etwa bloß
+die großzügige psychologische Motivierung, sondern alle die kleinen
+psychischen Wandlungen und Schwankungen, Einfälle und Zufälle,
+Reizungen und Wallungen. Man sucht sich nun irgend einen interessanten
+Moment heraus, einen Moment mit wechselnden seelischen Eindrücken, und
+kinematophotographiert gewissermaßen die Seele in den Augenblicken,
+wo diese Eindrücke wirksam werden. Damit geht dann Hand in Hand die
+Umgestaltung der Sprechweise. Phonographisch getreu wird jedes Wort,
+jede Interjektion, jeder halbe Laut wiedergegeben. <em class="gesperrt">Arno Holz</em>
+und <em class="gesperrt">Johannes Schlaf</em> haben diesen Naturalismus eingeführt;
+die Novellen »Papa Hamlet« (1889 erschienen) sind die erste Probe
+desselben. Nicht aus ihnen, aber aus später erschienenen Novellen von
+Johannes <em class="gesperrt">Schlaf</em>, dem Stück, welches »Leonore« betitelt ist
+(erschienen 1899), entnehme ich zwei kleine Proben, die das Gesagte
+veranschaulichen werden.</p>
+
+<p>Zunächst ein Beispiel für die Art der Schilderung psychologischer
+Vorgänge. Günther kommt in die Wohnung der einst heiß Geliebten, die
+aber ein anderer heimgeführt hat, — ein anderer, der nun längst
+gestorben ist. Er wartet nun auf ihr Erscheinen.</p>
+
+<p>»Er kann sich dehnen ... Sieht sich um .... Als wär' er zu Haus ....</p>
+
+<p>Nur ... he! —</p>
+
+<p>Wie? — Wie denn? — Und nun quält er sich, sich in eine jener
+Erinnerungen hineinzuringen, eine Erinnerung an eine jener so
+unsagbar beseligten Stunden und sucht sie mit einer krampfhaften
+Energieanstrengnng an die Gegenwart zu fügen.</p>
+
+<p>Aber diese Müdigkeit in ihm. — Diese verdammte Taubheit! —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p>
+
+<p>Eine Aussprache! Gewiß! Das fühlt er! — Eine Aussprache. —</p>
+
+<p>Nun, nun! — Jaja, irgend etwas muß er jetzt reden ... Irgend was ...
+Reden, reden, reden! — Und dann — gewiß! — wird alles ins rechte
+Gleis kommen. —«</p>
+
+<p>Und dann eine zweite Probe, welche die Art zeigt, in welcher bei
+Schlaf die Menschen sprechen:</p>
+
+<p>»Ihr Blick verfolgt den Zeigefinger, der zögernd über den Plüsch
+hinstreicht. Es scheint, als wolle sie etwas sagen, aber sie schweigt.«</p>
+
+<p>»Hm! — Wie viel Jahre — sind — es ...«</p>
+
+<p>Er weint in sich vor Ohnmacht.</p>
+
+<p>»Fünf ... fünfzehn Jahre! — Weiß der Teufel! Schon fünfzehn Jahre!« —</p>
+
+<p>Mein Gott, was schwatzt er nur!</p>
+
+<p>Er lacht heiser.</p>
+
+<p>Ein leises »Ja!«</p>
+
+<p>Und wieder Schweigen.</p>
+
+<p>Sie erhebt sich und nimmt aus irgend einem Grund den Vorhang zurück.</p>
+
+<p>»Ja! — hä! — ich hätte nicht geglaubt, das Nest noch mal zu sehn! —
+Aber es ist doch wirklich ein Bann, die — Heimat ...«</p>
+
+<p>Er hat sie nur immer beobachtet: wie sie sich nun wieder
+niedergelassen hat, und — und wie ihre Brust geht ... Ihre Brust geht
+...</p>
+
+<p>Er grinst.</p>
+
+<p>»So ... So eine — Anwandlung«, reißt er sich jedes Wort los. »Denn
+eigentlich ist mir doch alles hier weggestorben ...«</p>
+
+<p>Mit <em class="gesperrt">dieser</em> naturalistischen Methode ist es nun freilich
+unmöglich, einen Roman zu schreiben. Allerdings — der Versuch ist
+gemacht worden. Aber was ist dabei herausgekommen? Nicht ein Roman
+von wuchtig wirkender Geschlossenheit,<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> sondern eine lange Reihe
+phonographisch-photographischer Skizzen. Skizzen! Das ist der beste
+Name für die Produkte dieses allzugetreuen Naturalismus.</p>
+
+<p>Aber selbst die Skizzen, die den stolzen Titel »Novellen« führen,
+lassen deutlich erkennen, daß <em class="gesperrt">diese</em> Methode über das Ziel
+hinaus schießt. Gewiß, die Art der psychologischen Analyse wie
+die Art der Wiedergabe der Unterhaltung verträgt eine Reform. Wer
+seine Figuren wirklich natürlich malen will, darf sie nicht so
+viel schwülstiger, länger und gelehrter reden lassen, als sie im
+gewöhnlichen Leben reden. Wie das Drama von den fünffüßigen Jamben
+zur einfach-schlichten Ausdrucksweise übergegangen ist, so muß es
+auch die Erzählung. Nur — alles hat seine Grenzen. Eine Pflicht,
+alle und jede Zwischenlaute, jedes Räuspern und Spucken, jedes Husten
+und Niesen wiederzugeben, besteht nicht. Und wenn wir dem Künstler
+tausendmal zugeben, daß auch das Häßliche geschildert werden darf,
+— das einfache Hinschreiben der unbeholfenen Einzellaute, die
+ein Mensch, der das rechte Wort nicht findet, ausstößt, ist keine
+Kunst. Zudem würde eine unerträgliche Breite die Folge sein, sobald
+mehr geschildert werden sollte, als eine besonders packende Szene.
+Daher denn diese Naturalisten auch nicht <em class="gesperrt">alle</em> Natur zum
+Objekt der Darstellung machen, sondern nur besondere Naturteile des
+psychologischen Geschehens, mit Vorliebe auch des Liebeslebens. Sie
+zeigen eben damit, daß auch sie nicht einfach nehmen können, was die
+Natur gibt. Sie müssen auswählen. Wenn man aber erst einmal zugegeben
+hat, daß die Natur künstlerisch betrachtet werden muß, dann ist auch
+eine echte und treue, aber künstlerisch geläuterte Wiedergabe der
+menschlichen Sprechweise nicht als unnatürlich abzulehnen.</p>
+
+<p>Wir überschauen den Weg, den wir zurückgelegt, um die Entwicklung
+noch unter einem andern Gesichtswinkel anzusehen. Welche immense
+Veränderung ist allmählich hinsichtlich des <em class="gesperrt">Stoffgebiets</em>
+eingetreten! Ursprünglich<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> bilden Naturalismus und Heimatkunst eine
+anscheinend unlösbare Ehe. <em class="gesperrt">Natürlich</em> — so scheint es — kann
+man den Menschen nur nehmen, wenn man ihn nicht isoliert, sondern
+in allen seinen Zusammenhängen erfaßt. Und der Leser dankt es den
+Erzählern, daß sie ihn auch Völker, Länder, Sitten kennen lehren.
+Der naturalistische Roman ist zugleich Gesellschaftsroman, ja er ist
+ein Stück Zeitroman. Daß nicht bloß die einfach schlichte ländliche
+Natur als Objekt der Naturschilderung zu gelten habe, sieht man ja
+ein; das städtische Leben, das Leben der Gebildeten, ob auch manchmal
+unnatürlich verbildet, ist doch mit Gegenstand einer Darstellung, die
+das Tatsächliche beschreiben will. Aber noch bleibt der Zug zum Großen
+und Weiten, zum Bedeutenden. Selbst die Elendsbilder Hetzers sind
+davon berührt; das Elend der Massen kann heut nicht anders angesehen
+werden denn als ein wichtiges Stück sozialen Lebens. Nun aber
+kommt eine Wandlung: man wird noch naturgetreuer, aber man erkauft
+diese Naturtreue durch Verzicht auf das Großzügige. Wohl erhalten
+wir noch Bilder aus dem Leben; aber nicht mehr die bedeutenden
+Lebenserscheinungen stehen im Vordergrund, sondern die dekadenten, die
+nervösen, die pathologischen, die unsittlichen. Auch die Kreise der
+Halbwelt, die ein <em class="gesperrt">Tovote</em> so sehr darzustellen liebt, bilden
+einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, aus dem Volk. Aber man mag
+sagen, was man will: wer sich auf dies Gebiet konzentriert, wer das
+individuelle Liebesleben, zumal nach Seiten seiner Entartung hin,
+als Stoff bevorzugt, wer in jenen Regionen sich erzählend aufhält,
+welche sonst mit Nacht und Grauen bedeckt sind, der mag Nerven
+kitzeln, der mag Effekte erringen, der mag sehr naturgetreu sein,
+— aber die Aufgabe des Romans, der Erzählung ist ihm aus den Augen
+gekommen. Ein Weltbild soll der Roman geben, ein Bild der wirklichen
+Welt. Aber doch eben <em class="gesperrt">der</em> Linien der Weltentwicklung, welche
+dieselbe <em class="gesperrt">leiten</em>. Und wer nun gar<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> seine Aufgabe als Erzähler
+mit derjenigen des Momentphotographen verwechselt, der zeigt, daß er
+nicht mehr weiß, was »Welt« bedeutet und was »Leben« heißt. Aus diesem
+Grund ist die <em class="gesperrt">neueste</em> Phase des Naturalismus auf dem Gebiet
+des Romans — vom Drama rede ich hier nicht — eine Entgleisung. Der
+Naturalismus hat große Bedeutung; und wir werden von ihm nicht mehr
+loskommen. Aber er wird diese Bedeutung nur dann behalten, wenn er
+<em class="gesperrt">natürlich</em> bleibt und wenn er <em class="gesperrt">künstlerisch</em> bleibt.</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_3">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Problem-_und_Gesellschaftsroman">Der Problem- und Gesellschaftsroman.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Der Roman soll ein Weltbild geben, dazu genügt eine einfache
+Schilderung, mag sie so ruhig sein wie nur möglich. Solche Schilderung
+gibt im Grunde die Volkserzählung wie der Zeitroman und der
+historische Roman. Die Stimmungsdichtung schildert, indem sie mit
+dichterischem Empfinden Welt und Menschen verklärt. Der Naturalist
+schildert mit rücksichtsloser Feder die nackte Wirklichkeit. Aber
+brauchen sie nicht alle doch einen Einschlag, der ihre Schilderungen
+zu Romanen macht? Es ist der Einschlag der <em class="gesperrt">Handlung</em>, der allen
+unentbehrlich ist. Man kann ihn auf ein Minimum beschränken, wie z. B.
+<em class="gesperrt">Fontane</em> in »<em class="gesperrt">Vor dem Sturm</em>«, auch im »Stechlin«. Fehlen
+aber darf er nicht.</p>
+
+<p>Nun kann eine Handlung wieder sehr verschieden aufgebaut sein.
+Vor allem bestehen hier zwei Möglichkeiten. Sie kann durch äußere
+oder durch innere Spannung wirken. Für die erste Möglichkeit gibt
+das einfachste Beispiel der normale Sensationsroman. Der gröbste
+Sensationsroman wirkt durch Mord und Totschlag, durch Verbrechen und
+Intrigen, durch Gefahren und Errettungen. Der feinere Sensationsroman
+hat andere Mittel. Namentlich die Beziehungen der beiden Geschlechter
+müssen wieder und wieder herhalten, um die Handlung wirksam zu
+gestalten. Der gewöhnliche Liebesroman gehört in diese Gattung. Die
+andere Möglichkeit aber besteht darin, daß der Dichter die Handlung
+nicht äußerlich, oder wenigstens nicht bloß<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> äußerlich wirken läßt,
+sondern innerlich, d. h. durch den ihr innewohnenden <em class="gesperrt">Gedanken</em>.
+Auch dafür bieten sich der Wege noch gar viele. Aber am nächsten
+liegt dann die <em class="gesperrt">Einarbeitung eines Problems</em> in die Handlung. Es
+sei daran erinnert, wie <em class="gesperrt">Goethes</em> »<em class="gesperrt">Wahlverwandtschaften</em>«
+gerade in der innerlichsten Verknüpfung von Handlung und
+Gedankenproblem vorangegangen sind. Goethe hat darin nicht so bald und
+nicht gleich in hoher Vollendung Nachfolger gefunden. Aber gefunden
+hat er sie im deutschen Roman.</p>
+
+<p>Ein Roman ist nun keineswegs deshalb wertlos, weil er die Handlung
+mehr äußerlich wirken läßt als innerlich. Der beschreibende Zeitroman
+z. B., wie Freytags »Soll und Haben«, tut das; aber sein Wert
+besteht eben in der Schilderung, für welche die Handlung lediglich
+eine anregende Beigabe bietet, die dann ihrerseits keine besondere
+Gedankentiefe mehr zu entwickeln braucht. Auch der geschichtliche
+Roman begnügt sich in der Regel mit einer mehr in äußerlicher
+Entwicklung aufgehenden Handlung, Andere ähnlich. Erst wo der Roman
+sich nicht mehr nach Seite der Schilderung oder nach Seite der
+reinen psychologischen Entwicklungsgeschichte (wie in <em class="gesperrt">Kellers</em>
+»<em class="gesperrt">Grünem Heinrich</em>«) vertieft, entsteht die Notwendigkeit, das
+<em class="gesperrt">Schwergewicht</em> auf die Problementfaltung zu legen.</p>
+
+<p>Wenn der Roman diesen Weg einschlägt, so eröffnet sich ihm ein weites,
+fruchtbares Arbeitsfeld. Tausend Probleme bietet das Leben, tausend
+Probleme quälen den Denker. <em class="gesperrt">Ein großes Problem groß behandeln</em>,
+hineingreifen in die Fragen der Zeit, des Menschenlebens, der
+geistigen Entwicklung, der Weltanschauung, der Seelenkunde, — was
+für eine Aufgabe! Sie ist des Schweißes der Edlen wert! Nur leider
+— im deutschen Roman ist <em class="gesperrt">dieser</em> Acker nur dürftig angebaut.
+Mir ist es immer wieder wie ein Riesenproblem erschienen, daß gerade
+der deutsche Roman, der Roman des Volkes der Dichter und Denker,<span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span> den
+Problemroman im großen Stil so stiefmütterlich behandelt hat. Man kann
+ja nicht sagen, daß er ihn vergessen hat. Wir werden nachher sofort
+sehen, wie er hier gearbeitet hat. Aber andere Länder sind uns darin
+voraus. Emil <em class="gesperrt">Zola</em> war gewiß in erster Linie Beschreiber. Doch
+fehlt ihm bei allem Naturalismus die Energie nicht, die Beschreibung
+mit großen Gedanken zu durchweben, sie zugleich in den Dienst des
+Problems zu stellen. Seine Trilogie Rom, Paris, Lourdes ist nach
+dieser Richtung hin von Bedeutung. In Rußland hat <em class="gesperrt">Tolstoi</em>
+mit seiner »Auferstehung«, so sehr sie den Stempel der Unfertigkeit
+trägt, gleichfalls einen großen Wurf getan. Den Stammverwandten
+im Norden liegt das Denken und Grübeln außerordentlich; auch ihre
+Erzählungen graben in die Tiefe. Was haben sie für Anregungen in der
+Problemstellung durch ihre <em class="gesperrt">Ibsen</em> und <em class="gesperrt">Björnson</em>!</p>
+
+<p>In unserer Romanliteratur sind die Werke, welche <em class="gesperrt">große</em> Probleme
+behandeln, nicht häufig. Große Probleme — damit meine ich allgemeine,
+prinzipielle, typische Probleme. Andere finden sich oft behandelt.
+Aber die, welche große, einschneidende Fragen der Zeit behandeln,
+nicht bloß schildernd, sondern wirklich eine Lösung versuchend, —
+diese sind zu zählen. <em class="gesperrt">Wir konstatieren an dieser Stelle die größte
+Lücke in der Reihe der Schöpfungen des neueren deutschen Romans.</em>
+Wilhelm <em class="gesperrt">Jordan</em> behandelt z. B. in »<em class="gesperrt">Die Sebalds</em>« ernste,
+wichtige Fragen der Weltanschauung, <em class="gesperrt">Heyses</em> »<em class="gesperrt">Merlin</em>«
+hat den Unterschied der idealistischen und der naturalistischen
+Richtung zum Thema, Bertha <em class="gesperrt">von Suttner</em> arbeitet in ihrem stark
+tendenziösen, aber keineswegs ungeschickten Roman »<em class="gesperrt">Die Waffen
+nieder</em>« für die Liga der Friedensfreunde, andere griffen soziale
+Fragen auf, — aber es ist nirgends wirkliche Tiefe und Kraft der
+Problemstellung und der Problemlösung. Entweder geht die Kunst in
+der Schilderung auf, — oder aber der<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> Dichter wird zum Lehrmeister.
+Er ist schon fertig, vielleicht allzu fertig mit seinen Fragen. Er
+predigt seine Lehre, aber er greift nicht hinein in die ungeheueren
+Abgründe der wirklichen, brennenden Fragen, welche mit überwältigender
+Wucht die Herzen erfüllen.</p>
+
+<p>Vielleicht gilt letzteres auch von den großen Romanen desjenigen
+Dichters, der die tiefsten Probleme am mutigsten angefaßt hat, des
+schon mehrfach genannten <em class="gesperrt">Peter Rosegger</em>. Er ist nicht bloß ein
+Dorfgeschichtenschreiber, nicht bloß ein gemütvoller Stimmungsdichter,
+er hat wirkliche Romane im großen Stil uns geschenkt. »<em class="gesperrt">Jakob der
+Letzte</em>« und »<em class="gesperrt">Das ewige Licht</em>« haben soziale Probleme zum
+Inhalt. Allerdings ganz bestimmte, eigentlich begrenzte, aber doch
+typische. Beidemale handelt es sich um Waldsiedelungen, die zugrunde
+gehen. Dort wird das Gebiet, auf dem Menschen hausen, wieder zu Wald
+gemacht; hier dringt die Kultur in die Waldeinsamkeit und zeitigt
+schwerwiegende Folgen. Weniger machtvoll ist »<em class="gesperrt">Martin der Mann</em>«.
+Eine der ergreifendsten Schöpfungen des steirischen Dichters haben wir
+in »<em class="gesperrt">Der Gottsucher</em>« vor uns, der das religiöse Problem von der
+sittlichen Seite her anfaßt.</p>
+
+<p>»Der Gottsucher« führt in die Vergangenheit. Das Dorf Trawies steht
+unter geistlicher Herrschaft. Sein Pfarrer ist zugleich sein Herr.
+Die Leute von Trawies sind sonst immer aufs beste mit ihrem Pfarrer
+ausgekommen; es waren kirchentreue Katholiken, wie zumal einsame
+Bergtäler solche Gemeinden bergen. Da wird ihnen ein neuer Priester
+und Herr gesetzt: der nimmts zwar mit den eigenen Pflichten nicht
+allzu genau, aber sehr genau mit denen der Pfarrkinder. Noch ist
+in Trawies der uralte, von der Heidenzeit überkommene Brauch der
+Sonnwendfeier in Übung; der Pfarrer kehrt sich mit härtester Strenge
+auch gegen diesen Brauch. Da beschließen die Männer der Gemeinde
+seinen Tod. Wahnfred<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> der Schreiner vollstreckt das Urteil. Der Täter
+wird nicht gefunden; zur Sühne für den Mord müssen elf Männer ihr
+Leben lassen. Über die ganze Gemeinde aber wird Interdikt und Acht
+verhängt. Nun beginnt die furchtbare Schilderung dessen, was in dem
+Tal, das keinen Gott mehr hat, geschieht. Alles ist aus Rand und
+Band. Auf der einen Seite die Not, auf der andern die Willkür ....
+Keiner arbeitet, keiner baut etwas an, kein Halm geht auf. Die Alten
+haben nichts mehr zu sagen, nur die Jungen und Starken. Sach- und
+Weibergemeinschaft führen sie ein; aber eben um deswillen schlagen
+sie einander tot. Keiner seiner Habe sicher, keiner seines Lebens
+gewiß! Raubanfälle unternehmen sie nach außerhalb, das Eindringen
+militärischer Ordnungsstifter hindern sie mit Gewalt. Zu Sünde und
+Frevel gesellt sich das Leid. Der Borkenkäfer verwüstet den herrlichen
+Wald, das Feuer vollendet sein Zerstörungswerk. Die Pest bricht herein
+und hält eine grausige Ernte.</p>
+
+<p>Inzwischen hat Wahnfred, der Mörder, in einsamem Grübeln Gott
+gefunden. Zu Gott will er auch die Leute von Trawies führen, da er
+ihren Frevel und ihr Elend erkennt. Aber ein Schwärmer ist er selber
+geworden: er lehrt sie im Feuer Gott sehen, und sie — trotz allem in
+brennender Sehnsucht nach Gott — folgen ihm. Aber nur zum Kultus,
+nicht zu Selbstbeherrschung und Reinheit. Wie Wahnfred dessen gewiß
+ist, baut er einen großen hölzernen Tempel; in den sammeln sich, dem
+Feuergott zu Ehren, alle Trawieser. Und wie sie drin eingeschlossen
+sind, läßt er den Tempel in Feuer aufgehen. Trawies muß zugrunde
+gehen, denn es hat keinen Gott, kein Vorbild und kein Gesetz. —</p>
+
+<p>Was wird aus Menschen, die keinen Gott haben? Die zugleich von aller
+Ordnung der Kirche und des Staats verlassen sind? Sie verzehren sich
+selbst in der Leidenschaften unbezwinglichem Taumel. Wohl werden
+sie aus<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> sich selber heraus wieder Gott suchen. Nicht alle; denn
+eine große Menge ist, die wählt ihren Weg durch das Tierreich, durch
+Pflanzen und Moder in die Erde hinein. Das sind nicht Gottsucher, sie
+verneinen das Ideal, sie suchen das Gegenteil. Aber die anderen suchen
+ihn. »Auf allen Straßen und in allen Wüsten, du magst dich gegen
+Morgen wenden oder gegen Abend, gegen Mittag oder gegen Mitternacht,
+überall wirst du der Gottsucher Spuren entdecken, hier ein Rosenbett,
+dort steinerne Tafeln, hier ein Schwert und dort ein Kreuz. Das Rufen
+des Derwisch auf der Moschee, das Knarren der Klappern im Wigwam, das
+Glockenklingen im Dome, es ist der Kinder des Leides ewiger Notschrei
+nach einem göttlichen Retter, es ist die brennende Sehnsucht nach
+einer Kraft, die das Tier in uns besiegt, den Geist befreit und uns
+die Vollendung gibt.« Nur, soll diese Sehnsucht das rechte Ziel
+treffen, so braucht der Mensch ein Vorbild, Gottes Ebenbild im denkbar
+vollendetsten Menschen. Trawies hatte kein Vorbild und kein Gesetz. So
+mußt' es vergehen.</p>
+
+<p>In die Tiefen der menschlichen Seele, in die heiligsten Fragen,
+die Menschheit und Gott verknüpfen, in die ernstesten Probleme der
+Erziehung des Menschengeschlechts, der kirchlichen und staatlichen,
+der sittlichen und gesetzlichen Ordnung führt Roseggers »Gottsucher«.
+Das Schicksal von Trawies, dem gebannten Trawies, ist Symbol,
+aber nicht bloß Symbol. Es ist doch so in wüste Vergangenheit
+zurückverlegt, so mit dem Geschick jener wilden Zeiten, in denen die
+Obrigkeit mit Türkennot genug zu tun hatte, verbunden, daß es der
+Wirklichkeit nicht entrückt ist. Eben an dem <em class="gesperrt">Beispiel</em> von
+Trawies entwickelt sich mit unaufhaltsamer Notwendigkeit, was kommen
+muß, wenn Gott fehlt und den Gottsuchern Vorbild und Gesetz fehlt.
+Man kann also im »Gottsucher« ein symbolistisches Werk sehen; und man
+hat ganz mit Recht hervorgehoben, daß die deutsche Literatur hier ein
+großes Werk eigengewachsener,<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> nicht importierter Symbolistik besitze.
+Aber es war gesunde Symbolistik, die auch im äußeren Geschehen die
+Gesetze des Wirklichen nicht verließ. Und wenn man mit dem Dichter
+rechten kann, ob nicht manches phantastisch werde, ob es nicht zu
+stark in mystisches Dunkel gehüllt sei, — das Buch entfaltet doch
+eine wunderbare poetische Kraft. Alle Düsternis, aller Schauer, alles
+Grausen, ja alles Unschöne, alle unverhüllt vorgetragene Lehre ist
+mit solcher Wucht fortreißender Sprachgewalt dargestellt, mit solcher
+Herrlichkeit tiefsten dichterischen Empfindens umwoben, daß mancher
+einzelne Mangel darüber getrost vergessen werden kann. Auch hier ist
+ja — wie schon angedeutet — das Problem nicht eigentlich als Problem
+vom Leser mit durchgrübelt; der Dichter trägt klar und zielbewußt die
+eigene Lösung selber vor und vermeidet dadurch nicht den Eindruck
+des Lehrhaften. Aber das Problem ist doch eben aus dem tatsächlichen
+Geschehen heraus entwickelt. Roseggers »Gottsucher« ist und bleibt ein
+großer Wurf.</p>
+
+<p>Problemstellungen von dieser Größe aber sind leider selten. Unter
+den Neueren finden wir wieder den Mut, wenigstens auf einem Gebiete,
+demjenigen der Charakterentwicklung, in die Tiefe und ins Große zu
+gehen. Wir kommen auf diese verheißungsvollen Anzeichen einer neuen
+Zukunft am Ende dieses Vortrags zurück. Für jetzt verweilt unser Blick
+auf den literarischen Prosaschöpfungen der älteren Schule, soweit
+sie Problemdichtung sein will. Viel Herrliches zeigt sich da dem
+Auge nicht. In der Literatur der letzten Jahrzehnte des neunzehnten
+Jahrhunderts bekundet sich eine merkwürdige Neigung, Probleme
+zu behandeln, die »gesellschaftlichen« Charakter haben. <em class="gesperrt">Der
+Problemroman wird zum Gesellschaftsroman.</em> Nun kann man ja das Wort
+»Gesellschaft« sehr tief fassen; »die menschliche Gesellschaft« umfaßt
+die größten Probleme. Aber der Durchschnitt der Romanschriftsteller<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span>
+nimmt das Wort nicht so tief. »Gesellschaft« bedeutet ihnen mehr
+das Zusammenleben der oberen Schichten. Und sie behandeln nun die
+Konflikte, welche sich hier aus Leidenschaft, Neigung, Sitte, Ehre,
+Schuld und Sühne, Liebe und Ehe zusammensetzen.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Marie von Ebner-Eschenbach</em>, jedenfalls eine der bedeutendsten
+unter den weiblichen Romandichtern, bewegt sich keineswegs nur in
+diesem zuletzt gezeichneten Milieu. Ihre Erzählung »Das Gemeindekind«
+z. B. greift eine eigentümliche Charakterentwicklung aus den untersten
+Schichten einer Dorfgemeinde heraus. Was wird aus jenen unglücklichen
+Geschöpfen, die, ihrer Eltern beraubt, der Gemeinde zur Last fallen?
+Was wird namentlich dort aus ihnen, wo Waisenrecht und Waisenfürsorge
+noch in den primitivsten Anfangsstadien der Entwicklung sich
+befinden? Was wird aus ihnen, wenn kein menschenfreundliches Herz
+sie aus diesen Verhältnissen herausreißt? Mögen ihrer viele zugrunde
+gehen, — Marie von Ebner-Eschenbach zeigt mit psychologischer
+Konsequenz, daß auch eine andere Entwicklung möglich ist. Freilich,
+es ist schwer, aus der Tiefe in die Höhe zu kommen! Freilich, es
+ist hart, um der Eltern willen Schmach zu leiden, die man nicht
+selber verschuldet! Aber möglich ists doch, <em class="gesperrt">nicht</em> zugrunde
+zu gehen! Wir nähmen gern noch etwas mehr Detail in der Motivierung
+hin — die intime Verästelung in die feinsten Stimmungen hinein ist
+nicht Sache der Ebner-Eschenbach —, aber wir finden die Linien
+im großen richtig gezeichnet und das Werden dieses Gemeindekindes
+durchaus wahrscheinlich beschrieben. Nirgends fehlen die nötigen
+Vermittelungen, nirgends auch die unentbehrlichen Verbindungslinien
+nach der umgebenden Welt. Und ganz ähnlich wie hier erstrebt die
+Dichterin sonst eine psychologische Vertiefung ihrer Problemlösungen,
+— auch da, wo die Fragestellung und die Fragebeantwortung noch
+individueller ist, auch da, wo die »Gesellschaft« im besonderen Sinn
+ihr die Stoffe liefert.<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> Greifen wir beispielsweise zu genauerer
+Betrachtung noch ihre zweibändige Dichtung »Unsühnbar« heraus!</p>
+
+<p>Schauplatz: Die aristokratische Gesellschaft Österreichs. Sommers
+auf den Landschlössern, Winters in Wien. Hintergrund: weder Stadt
+noch Land, weder Beruf noch Arbeit in Einzelzeichnung. Allem Detail
+ist Marie von Ebner feind. Ihre Menschen sind hier Grand-Seigneurs,
+die Besuche machen und empfangen, Gesellschaften geben und besuchen,
+und sich im übrigen ein bißchen beschäftigen, wenn sie gerade Lust
+dazu haben. Von diesen Menschen aber erzählt sie mit Schneid' und
+Verve, ohne ausgeführte Schilderung, ohne irgendwelche Lyrik, meist
+sehr knapp. Der Wert ihres »Unsühnbar« liegt nur zum Teil in dieser
+flotten Manier, die auch ihre anderen Sachen zeigen, die aber doch
+oft etwas Gemachtes hat, weil nicht selten irgend eine Nebensache
+dabei ebensolchen Akzent abbekommt, wie die Hauptsache, und weil sie
+häufig durch diese Manier den Eindruck des Skizzenhaften, Abgerissenen
+erweckt, manchmal auch den des Nachlässigen. Größer ist der Wert
+der Problembehandlung. Eine junge Gräfin hat einen sehr wackeren
+Grafen geheiratet, nachdem ihr der Vater einen anderen Bewerber, für
+den sie fühlte, verleidet hat. Sie wird ein Muster von Gattin und
+Schloßherrin, aber in einer schwachen Stunde gelingt es dem Andern,
+sie zu betören. Nun lastet die Schuld auf ihr. Das Buch ist die
+Geschichte dieses Schuldgefühls. Sie will den Tod suchen, — aber sie
+wagt es nicht um des Kindes willen, das sie erwartet. Sie will sich
+durch Wohltätigkeit darüber hinweghelfen, durch gesellschaftliche
+Zerstreuung: nichts hilft. Sie sucht die Tröstungen der Religion,
+ohne Trost zu finden. Sie verliert in jähem Unfall den Gatten und den
+ältesten Sohn. Nur der jüngste bleibt ihr, der Zeuge ihrer Schuld.
+Sie gesteht ihr Vergehen, sie weist den Verführer auch jetzt zurück.
+Schwere Krankheit rafft sie hin. »Gebüßt, nicht gesühnt — das hätt'
+ich nie gekonnt<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> .... Schwer ist mit solchem Bewußtsein das Leben
+.... und schwer der Tod ...« Gewiß, ein ernstes Problem: die Sühne
+der Schuld. Auch ist es ernst durchgeführt, — nur allzu ruckweise,
+allzu schematisch. Neben reichen Ansätzen zu vertiefender Erfassung
+bleibt viel Unfertiges. Und das Problem ist doch schließlich ein stark
+subjektiv aufgebautes: nicht bloß die Schuld ist die Voraussetzung,
+sondern auch ein zartes Gewissen ...</p>
+
+<p>Problem- und Gesellschaftsdichtung! Von den älteren Erzählern
+gehört noch einer unbedingt hierher: <em class="gesperrt">Paul Heyse</em> mit seinen
+Novellen. Man kann ja versucht sein, ihm den Platz neben dem anderen
+großen Novellenerzähler, neben Theodor Storm, anzuweisen. Aber
+Stimmungsdichter war Heyse nicht entfernt in dem Maße wie Storm. Beide
+zu vergleichen, hat freilich seinen eigenen Reiz. Nehmen Sie den
+tiefdunkeln deutschen Himmel aus düsterer Herbsteszeit, dazu die Wogen
+der See, die hoch an den Deich schlagen, dazu die Menschen, die dort
+wohnen, ein grüblerisches, verschlossenes, aber tiefes Geschlecht —:
+das ist Storm, der nordische Dichter. Nehmen Sie dagegen lachenden
+Blauhimmel aus dem goldigen Italien, dazu die üppigen Lorbeerbüsche
+irgend eines vornehmen Parks einer Villa im römischen Gebirge,
+dazu deutsche Künstler oder Gelehrte, die dort zu Gast sind, und
+italienische vornehme Herren und Damen — und Sie haben Paul Heyse.
+Nicht als ob diese Skizzierung wörtlich zu nehmen wäre. Storm freilich
+blieb als Dichter der Heimat treu; Heyse hat längst nicht <em class="gesperrt">bloß</em>
+»italienische« Novellen geschrieben, wenn schon doch etwa die Hälfte
+von allen dort im Süden ihren Schauplatz hat. Aber auch wo er weitab
+von Italien ist, auch wo er in die Landschaft hineinführt, die
+den stärksten Gegensatz zur italienischen bildet, in die deutsche
+Waldlandschaft, weicht unter seinen Händen der deutsche Zauber, weil
+er das tiefinnige deutsche Gemüt nicht mitbringt, das deutsche Land
+zu betrachten. Und auch der andere Unterschied<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> besteht zu Recht:
+bei Storm schwerblütige deutsche Menschen, bei Heyse heißblütige
+Allerweltsmenschen. Bei Storm Männer von alter, guter, fester Art,
+selten anderswoher stammend als aus dem ehrenwerten Mittelstand, dem
+Hort der alten Art und des treuen Gemüts, — Frauen und Mädchen, die
+zu ihnen passen, treu und stark wie Elke, des Deichgrafen Hauke Haien
+kraftvolles Weib, ruhig-ernst und doch opferbereit in herzlicher
+Liebe wie die Anna in »Carsten Curator«, alle aber rein und frei und
+klar. Bei Heyse dagegen Herren aus den höheren Ständen, Grafen und
+andere Edle, Gelehrte und Künstler, jedenfalls gebildete Leute von
+feiner Lebensart. Dazu Damen derselben Schichten, der glatten Rede
+gewohnt, in der Konversation geübt. Und wie ungern nimmt er solche zu
+Heldinnen, deren Leben schlicht und ruhig im alten Gleis geht! Irgend
+etwas sucht er an ihnen, was besonderen Reiz hat, was unklar ist und
+zu Verwicklungen Anlaß gibt: eine unglückliche Ehe, eine unerwiderte
+Leidenschaft, einen erlittenen Verrat oder etwas dergleichen. Und wie
+die Menschen, so ihr Reden. Bei Storm ist alles Reden ruhig, einfach,
+nur etwa poetisch warm durchhaucht; bei Heyse herrschen der Ton des
+Salons, die gesellschaftlichen Formen, die geschliffene Ausdrucksweise
+der Menschen, die häufig reden, weil sie nicht so viel zu tun haben
+wie andere.</p>
+
+<p>Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Heyse neigt viel mehr
+nach dem eigentlichen Problem als Storm. Storm skizziert, läßt Töne
+anklingen und nachklingen, weckt Erinnerungen, macht Gefühle lebendig,
+zaubert Gestalten, die die Phantasie ergreifen. Wo eine ausgeführtere
+Handlung ihn beschäftigt, gibt er sie in großen Zügen, springend
+von Markstein zu Markstein. Anders Heyse. Er wählt Situationen, die
+etwas Interessantes bieten müssen, und seine Menschen sind für diese
+Situationen geschaffen. Manchmal nur für diese Situationen, so daß<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span>
+man zweifelt, ob sie eigentlich gerade so haben existieren können.
+Seine Probleme aber bewegen sich alle um individuelle, manchmal sehr
+individuelle Situationen. Das Grundthema der Heyseschen Novellen
+bildet das Verhältnis von Mann und Weib: die Liebe. In allen möglichen
+Variationen wird sie behandelt: als glückliche und unglückliche
+Liebe, als verzichtende und als genießende, als eheliche und als
+sündige Liebe. Aber immer, immer in ganz bestimmter Färbung der
+Liebe, und zwar in der vorwiegend sinnlichen. So weiß er ästhetisch
+die Schönheit zu würdigen: weibliche Schönheit hat in ihm einen
+begeisterten Verehrer und genialen Schilderer. Aber er läßt auch die
+Mächte aus der <em class="gesperrt">Tiefe</em> heraufsteigen, die doch das Wesen der
+Liebe nicht erschöpfen. Er hat dabei nie ein unschönes Wort gesagt,
+aber die Atmosphäre wird nicht selten schwül; — und von dem, was
+bei Storm Liebe ist, weiß er wenig. Ich greife — ganz nach Willkür
+— nur einige dieser Probleme heraus. Ein deutscher Doktor der
+Philosophie kommt, er weiß selbst nicht wie, als Gast in das Haus
+eines zum Krüppel geschossenen italienischen Grafen. Die Gräfin ist
+tief unglücklich an der Seite des Gatten, sie schenkt dem Gast ihre
+Liebe und der Gast widmet ihr seine Leidenschaft. Ihn zwingt eilende
+Botschaft, heimzukehren; sie will der Herrschaft des Mannes auf
+alle Fälle entrinnen. Ein Priesterzögling läßt sie im Stich, statt
+sie zu entführen; und so bekennt sie dem Gatten, daß sie mit eben
+diesem Zögling sich vergangen. Da erschießt sie der Rasende (Villa
+Falkonieri). — Ein junges Mädchen ist durch die Treulosigkeit eines
+Arztes, der ihre Schwester verführt, zur Menschenfeindin geworden.
+Da lernt ein junger Baumeister sie kennen und liebt sie. Er rächt
+sie an jenem Arzt, will es aber durchaus uneigennützig getan haben
+und weist ihre endlich entglommene Liebe zurück. Sie aber hält es
+nun für weise, sich ganz vom Leben zurückzuziehen. So gibt sie sich
+den Tod (Doris Sengeberg).<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> — Die dreißigjährige Frau des berühmten
+Universitätsprofessors schenkt ihr Herz einem zwanzigjährigen,
+dichterisch und musikalisch veranlagten Studenten. Ihren Mann hat sie
+nie geliebt, sein Herz gehört in erster Linie der Wissenschaft; ihren
+einzigen Sohn hat er ihr genommen, um ihn in einer Erziehungsanstalt
+unter männliche Leitung zu bringen. So ist sie für den Zwanzigjährigen
+innerlich ganz frei und will sich auch äußerlich für ihn frei machen.
+Er aber liebt sein hübsches, junges Wirtstöchterlein. Wie sie das
+endlich erfährt, wird auch sie wieder innerlich frei für ihren Mann
+und ihr Kind, das ihr jetzt von neuem vertraut wird (Melusine).</p>
+
+<p>Ich breche diese Aufzählung ab. Variationen seines Grundthemas hat
+Heyse in reichlicher Zahl gefunden. Manche behaupten: <em class="gesperrt">er</em>funden.
+Und gewiß: im Verhältnis zur schlichten Wirklichkeit liegt einer der
+schwächsten Punkte der Heyseschen Novellistik. Sind nicht manche
+dieser Probleme geradezu ausgeklügelt? Oder, wenn man der Liebe die
+wunderlichsten Seitensprünge zugut halten will, ist nicht die Art,
+wie der Dichter die seelischen Entwicklungen vor sich gehen läßt,
+oft genug unnatürlich? Wie rasend schnell geht das Verlieben z. B.
+in Melusine und in der Villa Falkonieri, aber auch in vielen anderen
+Novellen. Ich will nicht verallgemeinern: aber richtig ist, daß
+Unwahrscheinlichkeiten nicht selten sind und daß er eine Vorliebe für
+absonderliche Konstellationen betätigt. Und daß mancher Charakter über
+der Durchführung der Konstellation zum unverständlichen Rätsel wird,
+ist ebenso gewiß.</p>
+
+<p>Trotz alledem dürfen wir diese formschönen, eleganten, glatt
+fließenden, abgerundeten Erzählungen um so weniger ungerecht
+beurteilen, als auch ihnen eine Art Stimmung eigen ist, welche den
+Leser rasch gewinnt. In der Szene in »Melusine«, in welcher der
+Studiosus Ludolf der<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> Professorsgattin zuerst vormusiziert, ist
+unfraglich Stimmung. Ludolf singt sein hübsches Lied:</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">Du lispeltest: Ich liebe dich,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Ich liebe dich bis in den Tod! —</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Und deiner Wange Glanz erblich</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Und deiner Lippe junges Rot ......</span><br>
+</p>
+
+<p>Und dann heißt es: »Die Begleitung verklang leise, wie die letzten
+Atemzüge einer Sterbenden. Eine Weile war es so still in dem
+halbdunklen Zimmer, daß man draußen im Garten die Wipfel rauschen
+hörte, die ein heranziehender Gewitterwind schüttelte« ....</p>
+
+<p>Aber trotz dieser Stimmung sind Heyses Novellen keine
+Stimmungsnovellen, sondern gesellschaftliche Problemdichtungen. Sie
+bilden, wie Adolf Bartels urteilt, »etwa die Ergänzung zu Storms
+Stimmungsnovellen, sind plastischer, klarer, ja nüchterner als diese,
+dafür aber auch vielseitiger, psychologisch reicher und feiner, kurz
+moderner.« Ich möchte hinzufügen: sie reden viel mehr von Liebe, aber
+sie sind viel ärmer an Gemüt. In ihnen regiert <em class="gesperrt">die Kunst</em>.</p>
+
+<p>Gerade diese Gattung des Romans ist in der nicht eigentlich
+naturalistischen Erzählerkunst außerordentlich reich vertreten. Und
+so mögen denn hier noch zwei Erzähler genannt werden, die keineswegs
+ausschließlich, aber doch auch auf diesem Gebiet Beachtenswertes
+geschaffen haben. Von <em class="gesperrt">Theodor Fontane</em> wurde schon gesprochen.
+Er ist ein Künstler im Schaffen von Zeitbildern. Fast alle seine
+Romane haben etwas von dieser Art. Aber etliche darunter rühren
+doch auch ein Problem an und dann immer ein Problem, das im
+gesellschaftlichen Leben wurzelt. Ich meine da nicht sein »Quitt«, das
+von einer Mordaffäre des Riesengebirges den Ausgang nimmt. Auch dies
+Buch ist die Geschichte einer Schuld. Aber indem der Dichter hier die
+Schuld auf schauerlichem Verbrechen beruhen läßt, gibt er dem Ganzen
+zu grobe Züge und<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> erschwert allzu sehr die Sympathie mit seiner
+Hauptperson. Das geht ihm auch sonst ähnlich; aber selten so stark.
+Viel feiner ist seine »<em class="gesperrt">Effi Briest</em>«, ein Buch, das in dem
+Grundproblem unverkennbare Ähnlichkeit mit Marie von Ebner-Eschenbachs
+»Unsühnbar« zeigt. Allerdings nur in der Problemstellung; sonst
+gehen die beiden Schriftsteller weit auseinander. Marie von
+Ebner-Eschenbach mit ihren knappen, skizzenhaften Entwicklungen, mit
+ihrer vorwärts drängenden, fast jagenden Eile — und Fontane, der
+Meister der Kleinkunst, der so gern still steht und verweilt! Dort
+alles Linienführung — hier alles Mosaikarbeit! Aber darüber gehe
+ich hier hinweg; es kommt mir jetzt weniger auf das an, was »Effi
+Briest« mit seinen Zeitschilderungen gemein hat, als auf das, was sie
+für <em class="gesperrt">sich</em> hat. Ein frisch und fröhlich, vor allem natürlich
+aufgewachsenes Mädchen, Tochter einer märkischen Adelsfamilie,
+heiratet, noch halb Kind, den erheblich älteren Landrat von Instetten.
+In Zeiten, wo ihr Mann sich wenig um sie kümmert, gerät sie infolge
+Verführung auf Abwege. Sie selbst bricht mit dem Verführer, dem Major
+Crampas; niemand weiß um diese Sache; sie schließt sich von neuem in
+nunmehr wandelloser Treue und in wachsender Liebe an ihren Gatten an.
+Da kommt — nach Jahren — diesem das unglückselige Geheimnis doch
+zur Kenntnis; er erschießt im Duell den Nebenbuhler, er verstößt die
+Gattin. Und diese verliert zugleich ihr Kind —; das bleibt beim Vater
+und ist der Mutter so fremd geworden, daß ein Wiedersehen mit ihr
+dieser nur Qual bringt. Sie verliert auch ihr Vaterhaus; aber sie darf
+dann doch, dem Tode nahe, in das Heim ihrer Kindheit zurückkehren und
+dort sterben.</p>
+
+<p>Fontane hat wohl mit Absicht die Schuld selber ganz ins Dunkel
+gerückt. Darin ist er <em class="gesperrt">nicht</em> Naturalist: die Ausmalung solcher
+Szenen widerstrebt ihm. Die Folge davon ist nun freilich, daß auch
+die Motive der<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> Schuld nicht ins helle Licht treten; Langeweile,
+Gefühl des Vernachlässigtseins, Mangel an Befriedigung — genügt das
+wirklich? Genügt es gerade bei einer Effi Briest? Aber wenn das eine
+Schwäche des Romans sein mag, schwer wiegt sie nicht, insofern der
+Nachdruck ganz auf die Frage fällt: ist es notwendig, diesen Fehltritt
+nach Jahren tadellosen Verhaltens so zu sühnen, wie Instetten es
+tut? Wem nützt das? Die Frau ist damit aufs schwerste gestraft; ihr
+Geschick ist geradezu tragisch. Selten hat der kühle Fontane so
+herzenswarme Szenen geschaffen, wie die, in welchen dies Leiden zum
+Leser spricht. Da zuckt unter der oberflächlichen Ruhe der verhaltene,
+tiefe Schmerz. Eine Lösung des Problems hat Fontane nicht gegeben;
+aber er läßt seine Meinung doch deutlich merken. Die Ehrbegriffe
+der Gesellschaft zwingen den Gatten, so zu handeln, wie er handelt.
+Vernunft und Liebe aber sprechen anders. Freilich, — wann werden
+Vernunft und Liebe das Regiment führen dürfen?</p>
+
+<p>Einen scharfen Gegensatz zu Fontane bildet <em class="gesperrt">Ernst von
+Wildenbruch</em>. Fontane ist kühl bis ans Herz hinan. Wildenbruch
+ist leidenschaftlich durch und durch. Fontane ist Epiker; auch die
+Erzählung zeigt bei ihm epische Breite. Wildenbruch ist Dramatiker,
+seine Schöpfungen auch auf dem Gebiet der erzählenden Dichtung
+sind fast alle auf den dramatischen Effekt hin gearbeitet. Fontane
+leitet den Blick des Lesers zu ruhiger Betrachtung: er liebt die
+Kleinigkeiten. Wildenbruch bleibt für gewöhnlich bei den großen
+Linien, darin der Ebner-Eschenbach viel ähnlicher. Aber während
+diese ihre Sprache gelegentlich von der legeren Art der wienerischen
+Umgangssprache stark beeinflussen läßt, hat Wildenbruch Erzählungen
+geschaffen, in denen die Menschen mit dichterischer Schönheit, mit
+wählerischer Feinheit, mit glühender Kraft sprechen. Im übrigen
+hat auch er <em class="gesperrt">tiefere</em> Probleme sich nicht gestellt; entweder
+er gibt packende Einzelszenen voll Glut und Feuer, oder er greift
+ins gesellschaftliche<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> Leben hinein. Jene Szenen hat er gern
+der Vergangenheit entnommen; und was für wirksame Bilder schuf
+sein »<em class="gesperrt">Claudias Garten</em>«, sein »<em class="gesperrt">Zauberer Cyprianus</em>«!
+Daneben hat er die gleiche Kunst auch in einem Einzelbild aus
+dem Kadettenleben entwickelt: »<em class="gesperrt">Das edle Blut</em>«. Eine Art
+gesellschaftlich-psychologisches Problem aber ist z. B. in dem Roman
+»<em class="gesperrt">Eifernde Liebe</em>« angerührt. Die stolze, unnahbare, vornehme
+Hamburger Patriziertochter, die weiße Dorothea, — die trotz allem
+ihr Herz dem einfachen Maler Heinrich Verheißer schenken muß, — die
+unnahbare, die schließlich doch im Liebesrausch sich selbst, Heimat,
+Sitte und Herkommen vergißt, die aber dann, als sie zum Erwachen
+kommt, nicht anders kann als sich selber den Tod geben, — sie
+bietet die Möglichkeit einer kraftvoll einsetzenden psychologischen
+Entwicklung, sie ist eine Art Problem für sich. Freilich, — das
+Problem ist weder neu noch mit besonderer Vertiefung durchgeführt; im
+Grunde ists ja nur der alte Satz von der Liebe, die keine Schranken
+kennt, der wieder vorgetragen wird; und nur der Schluß zeigt den
+Konflikt zwischen Verstand und Liebe. Nein, es sind keine tiefen
+Fragen, die Wildenbruch aufwirft; was seine Prosawerke über das
+gewöhnliche Durchschnittsniveau erhebt, ist lediglich der große Reiz
+der formschönen und wirksam geschürzten Darstellung, die übrigens auf
+ein paar naturalistische Zutaten nicht immer verzichtet.</p>
+
+<p>Was soll ich viel von andern »Problemdichtern« sagen? Probleme sind
+wohlfeil wie Brombeeren, zahlreich wie der Sand am Meer, — wenn man
+das Wort »Problem« nicht zu ernst nimmt! Wenn man gesellschaftliche
+Verwicklungen alltäglicher Art eben als »Probleme« betrachten will!
+Wenn man nicht viel Neues verlangt, sondern mit neuen oder wenigstens
+neuaufgeputzten Nuancen der alten Themata: Verlieben, Verloben,
+Verheiraten, Verheiratetbleiben zufrieden ist. Wer wollte<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> leugnen,
+daß auch hier manches durch feinere Charakteristik anspricht, durch
+geistvolle Behandlung anregt? Wenn ich keine Namen nenne, so geschieht
+es, um nicht ungerecht gegen andere zu werden. Wer aber könnte
+anderseits bestreiten, daß sich eine Art von Romanen unendlich breit
+macht, die weder tief sind noch geistreich, sondern ganz einfach
+platt und flach? Die ihre »Spannung« lediglich ein paar aufregenden
+Situationen verdanken? Hierher gehört ein großer Teil der Salonromane.
+Ihre Sprache: Konversationssprache, ihr Niveau: Dinerunterhaltung beim
+fünften Gang, ihre Handlung komponiert aus Liebe oder Nichtliebe,
+Treue oder Untreue, dazwischen eingestreut ein bißchen Krankheit und
+Genesung, Duell und Tränen oder ähnliche Zugmittel.</p>
+
+<p>Kein Wort mehr davon! Nein, nicht mit diesem Bild soll dieser Vortrag
+schließen. Vielmehr denken wir zuletzt an hoffnungsvolle Anzeichen von
+guten Zukunftsentwicklungen. Zwei der Neueren gilts hier zu erwähnen.
+Es sind <em class="gesperrt">Sudermann</em> und <em class="gesperrt">Frenssen</em>.</p>
+
+<p>Soll man <em class="gesperrt">Hermann Sudermann</em> zu den Naturalisten zählen? Den
+Dramatiker — ja. Auch als Erzähler gibt er manche Szene, die ein
+bißchen stark »natürlich« ist; wenigstens »<em class="gesperrt">Es war</em>« greift
+ordentlich auch in die Gebiete des Lebens hinein, die man sonst nicht
+gern bespricht. Aber zum Naturalisten vom Fach fehlt ihm doch wieder
+die Vertiefung ins Einzelne, die Ruhe fürs Geringe und Einzelne. Er
+hat einen Zug ins Konventionelle hinein, der ihn älteren Erzählern
+mit realistischer Tendenz, aber ohne neugrabende Tiefe an die Seite
+stellt. Er hat entschieden Ähnlichkeit nicht bloß mit dem Franzosen
+Dumas, sondern auch mit dem Deutschen Spielhagen. Nur hat er die
+Salonmanieren mancher späteren Spielhagenschen Werke nicht angenommen;
+und der Tendenzcharakter der früheren ist bei ihm stark verblaßt. Ob
+man ihn zu den Problemdichtern gesellen kann? »Es war« behandelt ein
+gesellschaftliches<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> Problem: eine Schuld ragt aus der Vergangenheit
+in die Gegenwart hinein. Leo von Sellenthin hat im Duell einen
+Freund erschossen, mit dessen Frau er sich vergangen. Während er nun
+in der Ferne weilt, um über die Geschichte Gras wachsen zu lassen,
+hat sein nächster und treuster Freund die Witwe geheiratet. Als Leo
+zurückkommt, fallen von jener Schuld her schwere Schatten auf das
+Verhältnis der Freunde. Der Roman schildert die Konflikte, welche sich
+ergeben, mit packender Kraft, mit psychologischer Wahrheit. Ob alles
+weitere, auch die Lösung, ebenso wahr gezeichnet ist, ist eine andere
+Frage. »Es war« ist wirksam erzählt, schürzt die Knoten geschickt,
+ist reich an Sensationen, gibt ein paar ganz gute Gestalten; aber
+das Problem, das es anfaßt, ist allzu individuell und zugleich allzu
+gesellschaftlich-herkömmlich. Die ganze Art des Romans geht zu wenig
+in die Tiefe, als daß man ihn für einen ernsteren Problemroman
+ansprechen dürfte. Aber eine andere Würdigung verdient sein
+Erstlingswerk »<em class="gesperrt">Frau Sorge</em>«. Seinetwegen allein gehört Sudermann
+an diese Stelle.</p>
+
+<p>Die »Frau Sorge« hebt sich zunächst dadurch aus Sudermanns übrigen
+Schöpfungen wie aus vielen ähnlichen heraus, daß ihr <em class="gesperrt">Stimmung</em>
+innewohnt. Stimmung, lyrische Stimmung! Seinen Eltern widmet er das
+Buch:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Frau Sorge, die graue verschleierte Frau, </div>
+ <div class="verse indent0">Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau, </div>
+ <div class="verse indent0">Sie ist ja heute vor dreißig Jahren </div>
+ <div class="verse indent0">Mit Euch in die Fremde hinausgefahren, </div>
+ <div class="verse indent0">Da der triefende Novembertag </div>
+ <div class="verse indent0">Schweratmend auf neblicher Heide lag </div>
+ <div class="verse indent0">Und der Wind in den Weidenzweigen </div>
+ <div class="verse indent0">Euch pfiff den Hochzeitsreigen.« </div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Und die gleiche Stimmung lebt in den Erinnerungen der Kindheit. Wenn
+die Mutter erzählte, so — »war darin von einer grauen Frau die Rede,
+welche in allen<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> trüben Stunden die Mutter besucht hatte, eine Frau
+mit bleichem, hagerem Gesichte und dunklen verweinten Augen. Sie war
+wie ein Schatten gekommen und wie ein Schatten gegangen, hatte die
+Hände über der Mutter Haupt gebreitet, ungewiß, ob zum Segen oder zum
+Fluche ....«</p>
+
+<p>Diese Stimmung, ja sie durchzieht das ganze Buch bis hin zu dem
+abschließenden »Märchen von der Frau Sorge.«</p>
+
+<p>Mit ihr aber eint sich in dem Buch ein Realismus von glücklicherer
+Art als in »Es war.« Glücklicher, weil er enger die Verbindung
+mit dem Boden wahrt, auf dem Paul Meyhöfer aufwächst, weil er
+ein bißchen gründlicher wird in der Lebensschilderung, weil das
+Herrenhaus des Reichen wie das klägliche Besitztum des Bankerotten
+draußen im Moor zu ihrem Recht kommen, weil in der Erzählung von
+Pauls und Elsbeths Konfirmandenunterricht, von der Liebschaft der
+leichtsinnigen Schwestern Pauls, von manchem Zusammentreffen der
+Nachbarskinder heimische Sitte und heimische Natur mitsprechen dürfen.
+Auch das Häßliche bleibt nicht ungeschildert; aber es tritt nicht
+aufdringlich hervor. Ein gesunder Realismus beherrscht das Ganze.
+Wichtiger freilich noch ist mir die Stellung des Problems selbst.
+Es ist keine weltbewegende Frage, die ihre Antwort sucht; aber es
+ist auch kein bloßes, gesellschaftliches Dilemma, kein abgegriffener
+Konfliktsvorwurf aus dem Liebesleben, der den Grundton gibt. Es
+handelt sich um die innere Entwicklung eines jungen Menschen, bei dem
+Frau Sorge Pate gestanden hat. Die lastende Sorge macht ihn scheu und
+gedrückt; er meint, er könne keinem ins Auge sehen, obwohl er doch
+nichts zu verbergen hat. Würde fehlt ihm und Selbstbewußtsein; er
+vergab sich den Menschen gegenüber zu viel und zu viel auch gegenüber
+sich selber. Es lastet zu viel auf ihm, als daß er jemals hätte frei
+aufatmen können, wie der Mensch es muß, wenn er nicht stumpf werden
+und verkümmern soll. Bis er dann<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> durch eine Tat, eine wirkliche Tat,
+sich freimacht. Für ihn war Frau Sorge reichlich gebeten worden:</p>
+
+<p>»Liebe Frau Sorge, laß ihn doch frei!«</p>
+
+<p>Aber die Sorge lächelte — und wer sie lächeln sah, der mußte weinen
+— und sie sagte: »Er muß sich selbst befreien.«</p>
+
+<p>Und er befreite sich selbst — durch jene Tat.</p>
+
+<p>Diese seelische Entwicklung ist ein Problem, das den eigentlich
+gesellschaftlichen Fragen gegenüber neu ist, das nicht bloß
+episodischen Wert hat, sondern auf dem breiten Grund eines ganzen
+Menschenlebens ruht, — das nicht rein individuell ist, nicht auf
+Zufall und nicht auf Schuld beruht, das sogar geradezu als typisch
+gelten kann. Das gibt der »Frau Sorge« ihren Wert. Sie hat auch
+Schwächen: Unwahrscheinlichkeiten, auch abgebrauchte Situationen
+finden sich. Vielleicht ist die Entwicklung des Helden selbst nicht
+einwandfrei geschildert. Aber das mag beiseit bleiben. Das Buch gehört
+zu den wertvolleren Erzeugnissen der an psychologischen Problemen sich
+versuchenden Gesellschaftsdichtung.</p>
+
+<p>Aber, von Sudermann abgesehen, dessen »<em class="gesperrt">Katzensteg</em>« als eine
+sehr geschickte und wirkungsvolle Erzählung ohne tieferen Wert hier
+nur eben erwähnt sein mag, bietet auch die Dichtung der Modernen
+nicht viel Hervorragendes auf dem Gebiet des Problemromans. Um so
+nachdrücklicher muß hier noch eines Romans gedacht werden, der zwar
+nicht mehr dem 19. Jahrhundert angehört, der aber ganz in diesen
+Zusammenhang gehört: ich meine den vielgelesenen »<em class="gesperrt">Jörn Uhl</em>« von
+<em class="gesperrt">Frenssen</em>. Es ist nicht ohne Interesse, gerade dies Buch mit
+Sudermanns »Frau Sorge« zu vergleichen. »Frau Sorge« zeigt Stimmung,
+»Jörn Uhl« desgleichen, aber in viel höherem Grad. Bei Sudermann
+bleiben die wirklich stimmungsvollen Abschnitte episodenhaft, »Jörn
+Uhl« ist ganz Stimmung, wundervolle Stimmung. Jene Nüchternheit,
+die bei Sudermann zuweilen<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> durchbricht, liegt Frenssen völlig
+fern. — »Frau Sorge« ist realistisch durchgearbeitet; »Jörn Uhl«
+nicht minder. Aber was jenes Werk vermissen ließ, findet sich hier;
+die realistische Zeichnung hebt sich auf breitem, tief erfaßtem
+Hintergrund ab. Frenssen ist in ganz anderem Sinn ein Meister der
+Heimatskunst als Sudermann selbst in der »Frau Sorge.« Wie lebendig
+werden Land und Leute in der friesischen Marsch durch »Jörn Uhl«!
+Hier ist Milieuschilderung im besten Sinn. Sudermann gibt dazu
+nur eben Ansätze. In der Kunst der äußeren Zusammenfassung, der
+geschlossenen Entwicklung der Handlung ist Sudermann stärker; hier
+liegt die schwächste Seite des »Jörn Uhl«. Aber auf der anderen Seite
+macht Frenssen das wett durch jene prächtigen Einzelgaben, jene
+eingestreuten Szenen von märchenhafter Schönheit oder von dramatisch
+packender Gewalt: dem hat Sudermann nichts an die Seite zu setzen.
+Endlich gilt es eine Vergleichung des leitenden Problems. Beide geben
+eine Charakterentwicklung von Kindheit auf; beide führen den Helden
+durch schweres Geschick zu innerer Reife. Familienerlebnisse und
+heiße Arbeit, dazu die Bewegung des Herzens durch die Liebe bilden
+die Hauptstücke der Erziehung bei beiden. Von der bei Frenssen viel
+plastischeren Art der Schilderung sehe ich ab; die äußere Handlung
+ist bei Sudermann etwas organischer in die Charakterentwicklung
+verwoben. Der Brand der Uhl befreit den Jörn, — durch eigene Tat,
+die das väterliche Besitztum in Feuer aufgehen läßt, befreit sich
+Paul Meyhöfer. Dennoch läßt sich sehr streiten, ob dieser Vorzug von
+Sudermann nicht auf Gefahr der schlichten Natürlichkeit erkauft wird.
+Mit dieser Tat begibt er sich aufs sensationelle Gebiet; der Brand
+der Uhl aber ist ein Erlebnis, wie es alle Tage passieren kann und
+wirklich passiert. Aber wenn wir das ganz dahingestellt sein lassen:
+auch in der eindringenden Tiefe und naturwahren Kraft der inneren
+Entwicklung des Helden bleibt Jörn Uhl tiefer.<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> Er verarbeitet viel
+reichere Einflüsse auf den Knaben, er berücksichtigt nicht <em class="gesperrt">eine</em>
+Seite seines Wesens, sondern sein ganzes Wesen. Und er verschmäht
+es nicht, auch die höchsten Fragen, die das Herz bewegen, in diese
+Entwicklung hineinzuarbeiten.</p>
+
+<p>Diese Tiefe der Problembehandlung, die diejenige von »Frau Sorge«
+noch übertrifft, hebt den »Jörn Uhl« zugleich hoch empor über
+Frenssens Erstlingswerk »<em class="gesperrt">Die Sandgräfin</em>«, die ganz im
+äußerlich Gesellschaftlichen hängen bleibt, aber auch über »<em class="gesperrt">Die
+drei Getreuen</em>«, die bei sonstiger großer Schönheit zwar Ansätze
+zu vertiefender Problemstellung zeigen — die Entwicklung der
+drei Getreuen selbst, — aber die Ansätze verhältnismäßig dürftig
+herausarbeiten. Sie läßt uns in »Jörn Uhl« einen Roman schätzen,
+der ein gewichtiges Problem in ernster Realistik, aber auch mit
+dichterischer Stimmung angreift, — als ein Werk, das die besten
+Traditionen der älteren Schule in neuer Form wieder aufnimmt und
+zugleich damit neue Wege weist.</p>
+
+<p>Probleme! Wieviele birgt das Leben! Man muß sie nur <em class="gesperrt">sehen</em>!
+Der Romandichter stößt auf Probleme, sobald er in die Tiefe gräbt.
+Die Heimatskunst, die naturalistische Betrachtungsweise vertiefen
+sich, wenn sie an den Problemen nicht vorübergehen. Freilich — dazu
+gehören Gedanken. Wir wünschen und fordern vom Gros der deutschen
+Romanschreiber vor allem dies: Mehr Gedanken! Mehr große Gedanken
+hinein in den deutschen Roman!</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_10">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Dekadence_Symbolismus_Tendenzroman">Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Die Hauptlinien in der Entwicklung des modernen deutschen Romans sind
+durchmustert. Nur die Hauptlinien; obschon es leicht gewesen wäre, mit
+größerer Bequemlichkeit und strengerer Präzision viel zahlreichere
+kleine Ordnungen zu bilden. Aber es schien für eine gedrängte
+Darstellung wichtiger, bestimmte entscheidende Linien zu verfolgen,
+als alles Einzelne zu nüancieren.</p>
+
+<p>Aber wenn unsere Skizzen wirklich bis an die Gegenwart heranreichen
+wollen, so müssen einige Richtungen der modernsten Erzählerkunst noch
+kurz besprochen werden, die etwa im letzten Jahrzehnt viel Redens von
+sich gemacht haben.</p>
+
+<p>Es gibt seit langem eine Strömung in der deutschen Prosaliteratur,
+welche ihren Schöpfungen vor allem, sogar mit einer gewissen
+Ausschließlichkeit Gegenstände von dekadentem Charakter gibt. Mit
+dem Naturalismus selbst hat diese Strömung keineswegs notwendige
+Verbindung; ja der Naturalismus, der das Interesse auf Umgebung,
+soziale Verhältnisse, Abhängigkeit des Individuums von äußeren
+Einflüssen lenkte, hat zum Teil geradezu gegen diese Strömung
+angekämpft. Das hindert freilich nicht, daß zwischen dem outrierten,
+auf die Spitze getriebenen Naturalismus, den wir schon bei Johannes
+<em class="gesperrt">Schlaf</em> fanden, und der neuesten Phase dieser Verfallsdichtung
+mancherlei Beziehungen bestehen. Man läßt das Milieu beiseit; die
+<em class="gesperrt">Seele</em> soll ihr Recht haben. Aber nicht die Seele im<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> alten,
+guten Sinne des Wortes, — sagen wir: die gesunde Seele, sondern
+die überreizte, übernervöse, auf die feinsten Einflüsse reagierende
+Seele, die Seele, in der alles Empfindung ist, alles Individualität,
+— sagen wir: die kranke Seele. Es hat gewiß manchen dieser Dichter
+ein ernstes und großes Streben beseelt; geißeln wollte er, was er
+sah und was er schilderte. Freilich, nicht von allen gilt das. Es
+scheint manch einer sehr gern in dem Sumpfe zu plätschern, in den er
+seine Leser hineinschauen läßt. Denn schließlich bildet der Sumpf den
+Inhalt dieser Romane und Novellen. Das Abnorme, das Verkommene, das
+ungesund Erotische wird geschildert. Und selbst die Form entspricht
+dem Verfallscharakter des Inhalts: keine Ruhe mehr und keine Tiefe;
+es geht von Skizze zu Skizze. Pointen müssen sich jagen. Vieles muß
+der Leser erraten. Ein paar Striche machen ein Bild. Nur nicht breit,
+nur nicht langweilig; am besten überhaupt nur Skizzen mit recht kurzen
+Sätzen — mit grellen Lichtern — mit Witz und Satire. Viel Geist,
+viel Witz, viel Satire. Aber alles Kaviar, gar keine nahrhafte,
+gesunde Kost!</p>
+
+<p>Fürchten Sie nicht, daß ich zu tief in dieses Gebiet des Verfalls
+hinabsteige! Aber ein wenig genauer muß ich es charakterisieren, um
+mein Urteil zu begründen. Ich wähle zunächst eine Sammlung von Heinz
+<em class="gesperrt">Tovote</em>, welche den Titel führt: »Ich. Nervöse Novellen«. Sie
+erschien 1892 und erlebte 1900 die 12. Auflage. Es sind durchgehends
+Geschichten äußerst nervös beanlagter Naturen, alle ganz kurz,
+allerhöchstes einmal eine dreißig Seiten lang. Was für Sujets in
+diesem Band! Da erzählt einer die phantastischen Gedanken einer
+schlaflosen Nacht, in der er beständig auf die draußen fallenden
+Regentropfen hören muß. Wir müssen sie mithören und mitzählen: Tipp
+.. 1 .. 2 .. 3 .. 4 .. 5 .. tipp 1 .... und so weiter. Und wir müssen
+alle seine unklaren Gedanken mitdenken (denn er erzählt selbst, daß er
+zu keinem<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> klaren Gedanken kam!), bis er endlich, endlich einschläft.
+— Da ist ein andrer, der leidet an dem immer wieder plötzlich
+auftauchenden unsinnigen Gedanken, daß er unter lauter Toten weile. Im
+Manöver packt ihn die Vorstellung, auf Wache des Nachts, — und sonst
+in allen möglichen Situationen. Bis er endlich davon geheilt wird —
+dadurch, daß eine in momentaner unsinniger Angst totgeglaubte Person
+— zu schnarchen anfängt. Und dazu dann allerhand Situationen aus dem
+Liebesleben, alles sonderbare, abnorme Situationen. Nichts Frisches!
+nichts Gesundes! Nervöse Novellen! —</p>
+
+<p>Oder ein Buch wie <em class="gesperrt">Bierbaums</em> »<em class="gesperrt">Stilpe</em>«. Ein frühreifer,
+witziger und begabter Mensch verkommt durch völlige Zügellosigkeit. Er
+wird endlich Komiker in einem Café chantant und führt dort eine Szene
+auf, mit der er das Publikum begeistert: er imitiert den Selbstmord.
+Den Kopf in der Schlinge, nickt er immer wieder zum Dank für den
+brausenden Beifall. Der Schluß besteht darin, daß er den Scherz zum
+Ernst werden läßt. Abscheulich! Ganz abscheulich! Was diesem Schlusse
+vorangeht, ist aber nicht viel besser: — wüste Szenen, tollgewordener
+Humor, Lumperei und Laster, vermischt mit Satire und Komik. Verfall!
+Sumpf! Bierbaum gibt sich zuweilen bei dieser Schilderung das Ansehen
+des Moralisten. Und wahrlich — das Ende dieses Lebens <em class="gesperrt">muß</em>
+moralisch wirken. Aber trotzdem ist das Ganze zu toll, um ernst
+genommen werden zu können.</p>
+
+<p>Weiteres sei hier nicht genannt. Es ist <em class="gesperrt">nicht</em> die Pflicht
+eines jeden, sich durch diese Wüste durchzuarbeiten. Die Dichtkunst
+liegt in Nervenzuckungen. Wer sieht das gern mit an? Nur daß man
+leider wissen muß, daß diese Zuckungen ansteckend gewirkt haben ....
+Ganze Zeitschriften pflegen das Genre dieser Art Skizze. Sie tragen
+den Ruhm, modern zu sein, ja zu den modernsten zu gehören.<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> Aber man
+kann mit seiner Zeit mitgehen, ohne ihre Unarten und Frechheiten
+mitzumachen!</p>
+
+<p>Neben diese nervöse Verfallsliteratur tritt nun noch diejenige des
+gleichfalls modernen <em class="gesperrt">Symbolismus</em>. Eigentlich nicht <em class="gesperrt">neben</em>
+sie; großenteils wirkt der Symbolismus auf dem Hintergrund dieser
+modern-nervösen Skizzenliteratur. Sein Wesen bedingt das allerdings
+nicht. Was ist Symbolismus? Die Kunst, Symbole zu schaffen und
+durch Symbole zu wirken. Es ist eine Art Gleichniskunst; nur daß
+das Gleichnis hier — je nach den Umständen — bis zum Umfang
+einer ganzen, völlig ausgeführten Handlung anwachsen kann. Solcher
+Symbolismus findet sich, wie bereits erwähnt, schon in Roseggers
+»Gottsucher«. Die Vorgänge im Trawieser Tal, die dort beschrieben
+sind, bleiben zwar aufs engste mit der Wirklichkeit verwoben; alle
+jene Ereignisse, welche schließlich zur Ermordung des Pfarrers führen,
+sind realistisch gedacht und gezeichnet; sie sind auch durchaus
+möglich und wahr. Auch im zweiten Teil wird die Verbindung mit dem
+Geschichtlich-Denkbaren durchaus aufrechterhalten. Dennoch zeigt sich
+hier deutlicher der überwiegend symbolische Charakter der Handlung,
+der in der durch den Schreiner Wahnfred eingeführten Feueranbetung und
+in der Sühne des Frevels durch Vernichtung alles Lebendigen seinen
+Gipfel erreicht. — In der Verbindung mit ausgeprägtem Naturalismus
+tritt der Symbolismus auf in dem gleichfalls schon besprochenen Werk
+Kretzers »<em class="gesperrt">Das Gesicht Christi</em>«. Christus erscheint! »In der
+Dämmerung des Abends, die geheimnisvoll die Fäden des Nachtschleiers
+zu spinnen begann, wand sich die Erscheinung unhörbar durch die Menge,
+sichtbar nur denen, die in dieser Welt des absterbenden Glaubens
+den Hunger der Seele über den des Leibes stellten.« So sehen ihn
+die Kinder des Arbeiters Andorf, scheu und ängstlich, in den großen
+weitaufgerissenen Augen jenes starrselige Entsetzen, das der Anblick
+eines süßen Wunders hervorzaubert. So sieht ihn<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Andorf selbst, mitten
+in seiner Not, in der Not, die so groß ist, daß er nicht einmal seinen
+Kindern satt zu essen geben kann. Mitten auf der Straße sieht er ihn:
+»Siehst du ihn nicht, wie er durch die Menge schreitet? Sein Gesicht
+und sein Haar leuchten, er trägt ein schneeweißes Gewand und alle
+weichen ihm aus.« Er sieht ihn im Rahmen der Tür der vollgepreßten,
+dunsterfüllten Kneipe: — »er durchleuchtet die Luft mit seinem
+Haupte. Seine großen Augen sind fest auf dich gerichtet«. Er sieht die
+Erscheinung, wie er im ärmlichen Zimmer am Totenlager seines Kindes
+gewacht hat. Die Leute auf der Straße sehen sie, wie er seines Kindes
+Sarg zum Friedhof fährt .... Es sehen sie auch der Konsistorialrat
+und sein Küster, wie sie mit Andorf über die Kosten der Beerdigung
+verhandeln. Es sieht sie der Fabrikbesitzer, wie er eine seiner
+Arbeiterinnen brutal zur Sünde verführen will ... Was soll diese
+Christuserscheinung, die dem Armen wie dem Reichen begegnet? Soll
+sie nicht die Wirksamkeit symbolisieren, welche die Religion trotz
+allem und allem übt? Übt in der ärmsten, elendesten Arbeiterseele als
+Mittel des Trostes und der Hoffnung? Übt in dem Herzen des Harten und
+Grausamen, übt in dem Bewußtsein des frechsten Frevlers in der Stunde,
+da er den größten Frevel begehen will? Das soll sie darstellen, wie
+Christus die Welt begleitet als das Gewissen der Gesellschaft, die
+sein Wort im Munde führt, ohne es zu üben.</p>
+
+<p>Man kann sehr darüber streiten, inwieweit die Verschmelzung von
+Naturalismus und Symbolismus in diesem Werk geglückt ist. Ich finde
+nicht nur den Naturalismus in der Verführungsszene allzu kraß, sondern
+auch den Symbolismus der Christusvision allzu stark aufgetragen,
+allzu theatralisch. Aber das Eine ist gewiß: <em class="gesperrt">diese</em> Art von
+Symbolismus, am rechten Objekt in rechtem Maß angewandt, gehört
+durchaus zu den wirksamen Darstellungsmitteln.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span></p>
+
+<p>Zur symbolistischen Richtung wird von manchen auch ein Werk wie
+<em class="gesperrt">Wilhelm Bölsches</em> »<em class="gesperrt">Die Mittagsgöttin</em>, Roman aus
+dem Geisteskampfe der Gegenwart«, gerechnet (1891 erschienen).
+Es handelt sich in ihm vornehmlich um den Spiritismus. Ein von
+der Naturwissenschaft gänzlich erfüllter junger Journalist wird
+in spiritistische Kreise hineingezogen. Erst wirkt er bei der
+Entlarvung eines betrügerischen Mediums mit; dann wird er durch
+eine Erscheinung des »zweiten Gesichts« selbst bekehrt und weilt im
+Spreewald im Schlosse eines spiritistischen Grafen, wie dieser von der
+prädominierenden Kraft des Mediums Lilly Jackson, mit dem sie ihre
+Sitzungen abhalten, fest überzeugt. Endlich stellt sich allerdings
+heraus, daß auch dies Medium betrogen hat. Der zum Spiritismus
+Bekehrte ist wieder geheilt. — Der Gang der Erzählung ist keineswegs
+besonders kunstvoll; Reiz geben ihr eigentlich nur die spiritistischen
+Sitzungen — und das ist Nervenreiz. Aber die Form der Darstellung
+wie insbesondere der Schilderungen des Spreewalds ragen weit über
+das Durchschnittliche hinaus. Trotzdem gibt die Handlung selbst
+dem Buche den tieferen Wert, wennschon nicht durch die Widerlegung
+des Spiritismus. »Die Helden dieser wunderlichen Geschichte« —
+so schreibt der Verfasser selbst im Vorwort zur zweiten Auflage
+1901 — »suchen mit einem ungeheuren Aufwand ein Geheimnisvolles
+<em class="gesperrt">hinter</em> den Dingen. Aber sie erfahren dabei etwas von dem
+Los des alten Bibelhelden, der auf der Suche nach Eselinnen eine
+Königskrone fand. Sie stoßen auf die viel wunderbareren, viel
+geheimnisreicheren Imponderabilien in den Dingen, — auf die Wunder
+sinkender, steigender, sich entwickelnder Menschenseelen, auf die
+unergründlich tiefen Geheimnisse, die in jedem Schicksal eines
+Menschen überhaupt liegen.« So ist das Buch ein Feldzug in solche
+schlichten Seelenprobleme hinein, die immer wieder das größte aller
+Wunder enthalten. So ist jede Einzelgestalt desselben ein<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> Symbol für
+menschliches Ringen nach Durchdringung all der Dunkelheiten; so ist
+die Geschichte im ganzen ein Zeugnis dafür, daß dieses Ringen und
+Sehnen in unserer Zeit lebendig ist, daß der Geist des Philistertums,
+das nur banale Alltäglichkeit sieht, wo das ewig neu Rätselschwangere
+herrscht, auch den tieferen Geistern des jungen Deutschlands von heute
+verhaßt ist. Es geht wie in der wendischen Sage von Pschipolniza,
+der Mittagsgöttin. Wenn um die Mittagsstunde die glühend heiße Sonne
+brennt, naht sich dem habgierigen Bauern eine weiße Gestalt, ein
+wundersames Weib mit tiefblauem Kornblumenkranz, eine goldene Sichel
+in der Hand: Pschipolniza, die Göttin der Mittagsstille. Sie legt ihm
+Fragen über sein Werk vor, und wenn er nicht antworten kann, haucht
+sie ihn an, daß er krank wird, oder würgt ihn zu Tode. Wir mühen uns
+alle, mit der sengenden Zenithsonne auf dem Scheitel, im wahren Mittag
+der Menschheit. Da naht uns die Wissenschaft als verschleiertes Bild
+und stellt die Frage nach Leben und Tod. Freilich — wie dann weiter?
+Ist sie in Wahrheit ein grausames Gespenst, das dem Ermattenden,
+Lechzenden den Hals umdreht, statt ihn zu erquicken? Oder wird sie,
+wenn man die rechte Antwort gibt, zur schönen, sanften Flurgöttin, die
+unsere Arbeit segnet? Die Meinung ist jedenfalls die: wer sich abmüht
+im Ringen nach falscher Erkenntnis, um die Gespenster verborgener
+Überwelt, dem bringt sein Mühen lastendes Leid. Wer aber die lebendig
+wandelnden Gespenster ergründen will, die Gespenster der Not, der
+Unterdrückung, der moralischen Finsternis, der ist auf dem rechten Weg.</p>
+
+<p>Auf einzelnes — Vorzüge wie Schwächen des Werks — einzugehen,
+ist hier nicht der Ort. Und ebensowenig ist es möglich, die
+Gesamterscheinung des Symbolismus an dieser Stelle bis in ihre
+Einzelverzweigungen zu verfolgen. Der Symbolismus hat ja sein
+eigentlichstes Wirkungsgebiet auch keineswegs in der Prosaerzählung
+gesucht;<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> sein gefeiertster Vertreter Richard Dehmel steht diesem
+Gebiet fern. Die lyrische und dramatische Dichtung, erstere noch viel
+stärker als letztere, wissen ganz anders von seinem Einflusse zu
+zeugen. Auch die Einflüsse, welche diese ganze Richtung mitgeschaffen
+haben, stehen außerhalb des Gebiets der erzählenden Dichtung; muß man
+doch Nietzsche besonders in seinem »Also sprach Zarathustra« und neben
+ihm Ibsen in seinen Dramen als diejenigen bezeichnen, von welchen
+die Symbolisten am meisten gelernt haben. Es fragt sich, ob man das
+Urteil, welches gefällt worden ist, voll unterschreiben muß, — daß
+nämlich der Symbolismus auf dem Gebiet der erzählenden Literatur
+durchweg nur ungünstig wirken <em class="gesperrt">konnte</em>. Aber das steht doch ganz
+fest, daß die scharfe Wirklichkeitserfassung, wie sie dem Roman eigen
+sein muß, die Aufgabe, ein Weltbild zu zeichnen, eine Verwendung des
+Symbolismus im Roman auf ein sehr bescheidenes Maß zurückführen muß.
+Und ohne die rein symbolistischen erzählenden Stücke, von welchen
+das gilt, hier näher aufzählen zu wollen, darf man auch das andere
+hinzufügen: viele von ihnen machen einen unklaren, völlig undeutlichen
+Eindruck und fallen aus der Aufgabe des Romans stärker heraus, als es
+die Schöpfungen von Novalis und Eichendorff taten.</p>
+
+<p>Die Überwindung des Naturalismus wurde schon Anfang der neunziger
+Jahre des 19. Jahrhunderts als vollzogen verkündigt. Für unser Gebiet
+ist er vom Symbolismus <em class="gesperrt">nicht</em> überwunden. Er blüht nach wie
+vor, freilich vorwiegend in jenem feiner nüancierten, stimmungsmäßig
+psychologischen, eigentlich impressionistischen Naturalismus seiner
+späteren Vertreter. Und viel stärker als der Symbolismus ist die
+vorhin knapp skizzierte Richtung geworden, jene kurz als Dekadence
+zu bezeichnende Liebhaberei für heikle Themata, für sinnliche
+Situationen, für das moderne Leben der Kreise, welche von solider
+Arbeit wie gesunder Lebensführung gleich weit entfernt sind.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p>
+
+<p>So ist die Lage überhaupt nicht aufzufassen, als ob nun <em class="gesperrt">eine</em>
+Richtung jederzeit für die vorhergehende geradezu die Ablösung
+bedeutete. Naturalismus, Dekadence, Symbolismus bestehen
+nebeneinander, miteinander, ineinander. Und außerdem zählen wir
+zahlreiche neuere Werke, die ganz andere Typen vertreten. Nicht eine
+spezifisch neue Erscheinung, aber doch auch in der Neuzeit reichlich
+angebaut ist der sensationelle <em class="gesperrt">Tendenzroman</em>. Wir haben aus
+jüngster Zeit — freilich schon aus dem zwanzigsten Jahrhundert
+— zwei charakteristische Stücke dieser Gattung erhalten. Den
+Tendenzroman auf der niedrigsten Stufe stellt <em class="gesperrt">Bilses</em> »<em class="gesperrt">Aus
+einer kleinen Garnison</em>« dar. Man mag sagen, was man will, über
+ideale Absichten des Verfassers; ich will es alles glauben. Man kann
+getrost annehmen, daß ihm der Beweis völlig geglückt ist, daß in
+einer kleinen Garnison die Verhältnisse genau so gelegen haben, wie
+sein Roman sie zeichnet. Dennoch bleibt der Unterschied zwischen
+einem Roman, der allerhand anfechtbare Persönlichkeiten so zeichnet,
+daß jeder mit Fingern auf sie weist, und zwischen einem ausgeführten
+Pamphlet verzweifelt gering. Die Mittel der Zeichnung, welche Bilse
+gewählt hat, beweisen entweder, daß er unmittelbar bestimmte Menschen
+hat angreifen wollen, oder daß ihm die Kunst zu einer im höheren Sinne
+typischen Darstellung völlig gefehlt hat.</p>
+
+<p>Höher steht <em class="gesperrt">Beyerleins</em> »<em class="gesperrt">Jena oder Sedan?</em>«. Allerdings
+hat auch dies Buch, als ein Stück Weltbild betrachtet, ganz erhebliche
+Schwächen. Die Hauptschwäche besteht darin, daß es sensationelle
+Ereignisse in einer Weise häuft, welche von der Wirklichkeit weit
+abliegt. Es ist für den Leser geradezu beängstigend, daß fast keine
+der vorkommenden Personen, für welche sein Interesse wachgerufen
+wird, heil und ganz aus der Militärzeit herauskommt. Die Vorliebe,
+mit welcher Beyerlein die traurige Wendung im letzten Augenblick,
+kurz vor der endgültigen Rückkehr<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> in den Zivilstand oder kurz vor
+Eintreten eines wünschenswerten Ereignisses, herbeiführt, ist beinahe
+stereotypiert. Der eine stirbt, der andere kommt auf Festung und wird
+beim Fluchtversuch erschossen, der dritte vergißt sich, entflieht
+aber, der vierte wird eingesperrt und durchlebt eine furchtbare
+Haftzeit — und so geht es weiter. Auch von diesem Ungeschick ganz
+abgesehen, ist der Roman keine Glanzleistung. Die eine Grundidee, um
+derer willen er geschrieben ist, die zu starke Betonung überflüssigen
+Drills in der Armee ist fast lediglich gesprächsweise ausgeführt. Die
+hierher gehörigen Partien bilden eine Art militärtechnischen Aufsatz
+in Gesprächsform; für die Handlung selbst sind sie Ballast, nichts
+als Ballast. Aber anderseits verfügt der Verfasser über eine nicht
+unbeträchtliche realistische Begabung, die anzuerkennen ist, wennschon
+seine Zeichnung manchmal über das Ziel hinausschießt.</p>
+
+<p>Die hier eben genannten Romane repräsentieren einen Typus, der für
+unsere Zeit sicher charakteristisch ist. Ein Fortschritt für die
+erzählende Literatur ist von hier aus freilich nicht zu erwarten.
+Und so muß es für uns ein Gegenstand aufrichtiger Freude sein, daß
+wir heutzutage nicht allein auf diese Schöpfungen angewiesen sind.
+Denn auch alle die früherhin angeführten Richtungen haben in der
+letzten Zeit ihre Geltungskraft behalten. Der historische Roman
+ist allerdings zurückgetreten, immerhin darf z. B. <em class="gesperrt">Sperls</em>
+»<em class="gesperrt">Die Söhne des Herrn Budiwoi</em>« mit Ehren genannt werden. Die
+Schöpfungen der Heimatskunst wurden schon erwähnt; aber es muß hier
+ausdrücklich erwähnt werden, daß diese Richtung, die den Realismus,
+ja den Naturalismus in gesunden Grenzen sich zu nutze macht, dabei
+jede Übertreibung meidet und dem Leser das Gefühl kernig frischen
+Volkstums vermittelt, keineswegs zu den überholten gehört. Sie ist
+das eigentliche Gegenbild zur verlebten Art eines <em class="gesperrt">Tovote</em>,
+<em class="gesperrt">Bierbaum</em>, <em class="gesperrt">Schlaf</em>. Sie hat Mark in den Knochen, festen
+Boden unter den<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> Füßen, sie saugt Nahrung aus der Scholle. Gerade
+von dieser Richtung her können wir noch manches Gute erhoffen. Auch
+<em class="gesperrt">Frenssen</em>, der augenblicklich noch nicht durch eine andere Größe
+abgelöst ist, hat hier die Wurzeln seiner Kraft. Ihm aber danken
+wir, wie früher gezeigt, zugleich, daß auch die gesunde Psychologie
+und die ruhig wägende Lebensweisheit sich wieder einen Platz im
+Roman errungen haben. Frenssen zeichnet die Landnatur derb und
+ungekünstelt. Damit repräsentiert er gegenüber den verlebten Gestalten
+der Berliner Dirnenromane oder den impressionistischen Skizzen aus
+der Bohême geradezu die Gesundheit gegenüber der Krankheit. Er ist
+aber auch nicht Bloß-Naturalist; er weist dem suchenden Geschlecht den
+richtigen Weg. Die Stellung auch zu diesem Roman ist recht verschieden
+je nach der Stellung zu Frenssens Weltanschauung. Aber so gewiß
+diejenigen, welche Gottfried <em class="gesperrt">Kellers</em> oder Paul <em class="gesperrt">Heyses</em>
+Weltanschauung gar nicht teilen, diesen ein gerechtes Urteil widmen
+müssen, so gewiß kann auch Frenssen verlangen, daß die Gegner seiner
+Weltanschauung doch den literarischen Wert seiner Romane unbefangen
+beurteilen. In dieser Hinsicht ist auf zwei Seiten gesündigt worden.
+Den einen ist er zu christlich; und weil das Christentum ihnen das
+rote Tuch ist, bei dessen Anblick sie die ruhige Fassung verlieren,
+so vermögen sie der feinen Kunst des Dichters nicht mehr gerecht zu
+werden. Den anderen aber — und leider gehörten dazu manche frühere
+Berufsgenossen des Dichters — war er nicht christlich genug, weil sie
+von ihm, dem Pastor, meinten eine ausgeführte Dogmatik verlangen zu
+müssen. Die Urteile über »Jörn Uhl« von diesen beiden extremen Seiten
+her sind ja aber glücklicherweise völlig aufgewogen worden durch
+die Aufnahme des Buchs im großen Publikum. Gewiß ist es keineswegs
+hundertundfünfzig Mal so viel wert als manch anderes Buch, das nicht
+hundertundfünfzig, sondern nur eine Auflage erlebt hat. Aber es bleibt
+eins der erfreulichsten Unterpfänder<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> dafür, daß frische, kraftvoll
+gesunde Dichtung mit nüchtern realistischer Grundlage, aber mit tief
+idealistischem Sinn auch heut noch bei den deutschen Dichtern nicht
+ausgestorben ist und beim deutschen Volk nicht in Mißkredit gekommen
+ist.</p>
+
+<p>Auf die Gefahr hin, ungerecht gegen andere Romane zu werden, die
+ich nicht nennen kann, möchte ich doch noch einen aus der Zahl der
+modernsten nennen: Thomas <em class="gesperrt">Manns</em> »<em class="gesperrt">Buddenbrooks</em>«. Und
+zwar geschieht das aus einem ganz bestimmten Grund. Der Roman ist der
+schlagende Beweis dafür, daß der Naturalismus sich nicht entfernt
+überwunden fühlt, daß wir im Gegenteil vielleicht noch viel von
+ihm zu erwarten haben. »Buddenbrooks« bedeuten eine detaillierte,
+bis ins Einzelne peinlich genaue Schilderung des Lebens einer
+großen lübeckischen Kaufmannsfamilie durch mehrere Generationen
+im neunzehnten Jahrhundert hindurch. Mit diesem Hauptgegenstande
+sind minder ausführliche, aber immer noch sehr gründliche
+Beschreibungen angrenzender Verhältnisse verbunden. Neben der einen
+Großkaufmannsfamilie stehen andere, — und jede von besonderem Schlag.
+Neben den Kaufmannsfamilien stehen die anderen Honoratiorenfamilien,
+— allerdings fast nur solche. Nicht die Handlung ist es, die dem
+Roman Bedeutung gibt; immerhin ist sie im ganzen wirksam aufgebaut,
+wennschon man wegen des Schlusses mit dem Dichter rechten kann und
+wennschon manche übermäßige Breite etwas mühsam überwunden werden
+muß. Aber, wie gesagt, nicht die Handlung ist das Bedeutsame, sondern
+die Art der Milieuschilderung. Die »Buddenbrooks« sind vielleicht
+<em class="gesperrt">dasjenige deutsche Romanwerk, welches am nachhaltigsten durch
+Emil Zola beeinflußt ist</em>. Thomas Mann läßt nichts außer Ansatz:
+keine Geste, keine noch so kleine Gewohnheit, keine der kleinen
+charakteristischen Redewendungen, wie sie jeder Mensch sich angewöhnt,
+— desgleichen nicht die scheinbar äußerlichen Umstände, die doch
+so wesentlich sind: die Art, sich zu kleiden, sich Haus und Zimmer
+einzurichten, sich<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> mit dem Geldpunkt abzufinden, und tausend andere
+Dinge mehr. Die Beschreibung ist viel genauer, viel detaillierter als
+z. B. bei Kretzer. Sie kann ebenso unerbittlich sein wie die Zolas
+in der Zeichnung auch abschreckender Bilder: erinnert sei nur an die
+Sterbeszene der alten Konsulin Buddenbrook und an den Abschnitt,
+welcher den Typhus behandelt. Doch wühlt Thomas Mann längst nicht so
+emsig in den dunkelsten Gebieten des Menschenlebens wie Zola; jene
+abschreckenden Bilder sind im Verhältnis zum Ganzen selten. Dafür
+fehlt ihm aber auch jene absolut nüchterne Wahrheitsruhe, die Zola
+hat; er neigt viel mehr zur Karikatur, zur beißenden Satire. Endlich
+— um noch einen Unterschied hervorzuheben — ist Thomas Mann ein
+minder pathetischer, weniger deklamatorischer Beschreiber, als Zola
+besonders in manchen seiner letzten Werke gewesen ist. Wie man aber
+auch im einzelnen das Verhältnis dieses Romans zu Zola beurteile, —
+in jedem Fall ist die Methode der Kleinmalerei in <em class="gesperrt">dieser</em> Art
+für den deutschen Roman trotz Kretzer und Fontane noch nicht endgültig
+ausgebeutet. Kretzer geht trotz allem mehr ins Große; und Fontanes
+Plauderton sticht von dem naturalistischen Ernst dieses Buches
+erheblich ab. Man kann dreist vermuten, daß die Anwendung der gleichen
+Methode auf andere Lebensverhältnisse nicht auf sich warten lassen
+wird. Nun ist solcher Roman gewiß nicht das volle Ideal eines Romans;
+aber den Wert eines treffend gemalten Weltbilds besitzt er gewiß. Er
+steht darum auch seinerseits hoch über den nervösen und verlebten
+Skizzen der sogenannten »Moderne«.</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16 " id="p003_11">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Rueckblick">Rückblick.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Aber es ist an der Zeit, daß wir den Überblick über die mannigfach
+gestaltete Gegenwartssituation auf dem Gebiet des Romans abbrechen.
+Nur Einiges, nur Bedeutenderes ist erwähnt worden. Nur das, was für
+die Skizzierung der Gesamtentwicklung von Bedeutung zu sein schien.</p>
+
+<p>Von Goethe sind wir ausgegangen. Er muß uns als der Schöpfer des
+modernen deutschen Romans gelten. Ich erinnere kurz an die drei
+Gesichtspunkte, nach denen diese Bedeutung Goethes skizziert wurde:
+die psychologische Tiefe, die Art, wie seine Romane zum Zeitbild
+werden, und die engste Verbindung von Handlung und Gedanke, in alledem
+aber die unbestrittene Kraft der Wirklichkeitserfassung. Wie hat
+Goethe mit dieser seiner Kunst gewirkt?</p>
+
+<p>Wenn man von der Romantik absieht, so darf man das Urteil wagen,
+daß die gesamte Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert
+eine Geschichte der Verarbeitung der von Goethe herstammenden
+Anregungen gewesen ist. Über dieser gesamten Geschichte steht das
+Wort »Wirklichkeit« geschrieben. Wie war noch bei Wieland der
+beste Roman nichts als eine äußerliche Verkleidung moralischer
+Gedanken! Das ist nun anders geworden, fast mit einem Schlage
+anders. Vorüber die sentimentale Schwärmerei, vorüber die Zeit der
+moralischen Erzählung ohne eigenen Wert des Erzählten! Der Roman
+sieht die Welt, wie sie ist, und zeichnet die Welt, wie sie ist.
+Anfänglich ist ihm freilich die Wirklichkeitszeichnung noch nicht
+das letzte Ziel. Vielmehr gliedert man sie ein in die<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> Darlegung
+der eigenen Tendenzen. Man will die Ursprünglichkeit der ländlichen
+Natur gegenüber städtischer Verbildung schildern — so Immermann,
+so Auerbach; man will am Bestehenden Kritik üben, es zu bessern,
+— so im politisch-religiös-moralischen Gebiet die Zeitromane der
+Jungdeutschen, so vom Standpunkt des Volkserziehers ein Jeremias
+Gotthelf, — so in der Weise des erfahrenen und klugen Mannes, der
+anderen des eigenen Irrens Früchte auf allen Gebieten menschlichen
+Lebens vermitteln will, Gottfried Keller; — so mit der Absicht,
+an der Darstellung der Wirklichkeit die eigenen politischen und
+religiös-sittlichen Anschauungen zur Geltung zu bringen, Friedrich
+Spielhagen.</p>
+
+<p>Diese erste große Epoche kann man also kurz als die <em class="gesperrt">Zeit der
+Darstellung der Wirklichkeit im Dienste bestimmter Absichten</em>
+bezeichnen. Ihr folgte eine zweite große Periode, in welcher
+<em class="gesperrt">die Darstellung der Wirklichkeit selbst, ohne Einmischung von
+Nebenzwecken, als letztes Ziel</em> galt. Man darf diese Periode gewiß
+mit dem Aufblühen des historischen Romans eröffnen. Leichter war es
+ja, in der Vergangenheit untendenziös zu bleiben als wenn man mitten
+aus der Gegenwart heraus seinen Stoff nahm. Der kulturgeschichtliche
+Roman beansprucht in diesem Zusammenhang eine gewichtige Stelle.
+Aber nicht der geschichtliche Roman allein suchte die Wirklichkeit
+als Wirklichkeit zu schildern. Schon bei Freytags »Soll und Haben«
+tritt in der Gegenwartszeichnung die Tendenz in den Hintergrund.
+Und dann beginnt diejenige Strömung, welche nichts geben will als
+Photographien, die lediglich schildernde Erzählung. Zu ihr kann man
+manches von den Werken des sog. Naturalismus rechnen — wenngleich
+auch hier die Kunst, das Wirkliche zu sehen, noch keineswegs zur
+Vollkommenheit ausgebildet ist —, zu ihr aber auch vieles, was
+weniger naturalistisch als realistisch ist, so z. B. manche Sachen
+von Fontane. Diese Strömung<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> ist, wenn schon ihre Überwindung bereits
+ziemlich energisch verkündet worden ist, noch keineswegs überwunden.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Zu dritt</em> stelle ich neben diese beiden großen
+Entwicklungsgänge, die einander übrigens auch nicht geradezu abgelöst
+haben, zu einer Gruppe gesellt, eine Reihe von anderen Erscheinungen.
+Ihre gemeinsamen Charakteristika sind: erstens: die Darstellung der
+Wirklichkeit ist ihnen nicht Selbstzweck. Darin harmonieren sie
+mit Gruppe <em>I</em>. Aber anderseits, zweitens, haben sie nicht in
+dem Grad wie Gruppe <em>I</em> ein enges Verhältnis zu der Zeit, in
+der sie stehen. Ihnen ist die Hauptsache Stimmung oder Gedanke;
+die Wirklichkeit, welche sie darum doch wahr genug erfassen, ist
+ihnen lediglich der Stoff zur Entwicklung von beidem. Wenn nicht
+das lyrische Moment vorwiegt, so ist es das Problem, welches sie
+durchzuführen suchen.</p>
+
+<p>Endlich könnten wir eine <em class="gesperrt">vierte</em> Gruppe bilden aus denjenigen
+Erzählungen, welchen gleichfalls (wie der Gruppe <em>I</em>) die
+Tendenz fehlt, welchen ebenso wie der Gruppe <em>II</em> die
+Wirklichkeitsschilderung nicht der oberste Zweck ist, welche aber auch
+nicht wie Gruppe <em>III</em> Stimmung oder Problem an dem Stoff der
+Wirklichkeit sich entfalten lassen, sondern einfach durch die äußere
+Verknüpfung von Ereignissen mit mehr oder minder energischer Benützung
+des Psychologischen zu wirken suchen. Hierher gehört auch der normale
+Unterhaltungsroman.</p>
+
+<p>Gemessen an der großen Aufgabe des Romans, ein Weltbild zu geben,
+haben die Erscheinungen dieser Gruppen nicht alle gleichen Wert. Die
+<em class="gesperrt">letzte</em> hat jedenfalls den geringsten; denn je mehr sie sich
+auf das äußere Geschehen konzentriert, um so mehr verzichtet sie auf
+Tiefe des Gedankens, ja Tiefe des Blicks. Sie kann einzelne feine
+Bemerkungen ermöglichen; sie kann das Gemüt ein wenig affizieren;
+sie kann die Nerven spannen. Aber diese Gruppe mit ihren zahlreichen
+Schöpfungen entbehrt des tieferen Gehalts. Was könnte daran zum
+Nachdenken anregen?<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> Was unseren Blick für die Zustände der Welt
+schärfen? Was unseren Gesichtskreis erweitern? Eins nur kann diese
+Art Romane: unterhalten. Im besten Fall ist diese Unterhaltung
+anregend, im schlimmsten aufregend. Wer hat nicht einmal eine Stunde,
+in welcher er nichts will als eben nur unterhalten werden? Aber es
+scheint Menschen zu geben, welche den Roman zu nichts anderem als zum
+Unterhaltungsmittel gebrauchen. Ja, ich gestehe, daß in mir schon oft
+der furchtbare Verdacht aufgestiegen ist, daß weitaus die meisten
+Romanleser ihn so und nicht anders benützen. Da kann es dann kommen,
+daß Herr Soundso in die Leihbibliothek schickt und um irgend ein Buch
+bitten läßt; — <em class="gesperrt">welches</em> Buch ihm geschickt wird, ist ihm ganz
+gleich. Diese Art Romane sind Schiffen mit ganz geringem Tiefgang zu
+vergleichen, Schiffen, die eben darum an jeder Küste anlegen können,
+— aber für die Fahrt aufs hohe Meer sind sie völlig unbrauchbar.
+Wer sich selber zum flachen, sandigen Strand machen will, der lasse
+diese Schiffe ohne Tiefgang kommen! Der meide die Gedankenanstrengung
+bei tieferer Lektüre! Der erkläre nur, daß er Romane nicht liest, um
+denken zu müssen! Der genieße die Zeitungsromane von Fortsetzung zu
+Fortsetzung! (Übrigens bieten manche Zeitungen, wie besonders die
+»Tägliche Rundschau«, meist <em class="gesperrt">nicht</em> derartigen, sondern besseren
+Stoff.)</p>
+
+<p>Wie steht es nun aber um die drei anderen Gruppen und um ihr
+Verhältnis zur Aufgabe des Romans? Unfraglich entspricht ihr
+am klarsten die <em class="gesperrt">zweite</em> Gruppe: Wirklichkeitsbild ohne
+Nebenabsichten. Wir freuen uns, daß diese Gruppe im deutschen Roman
+des neunzehnten Jahrhunderts so stark vertreten ist. Allerdings ist
+gleichzeitig zu bemerken, daß gerade in dieser Gruppe sich die starke
+Neigung zu Übertreibungen herausgebildet hat. Wir müssen verlangen,
+daß man uns als Wirklichkeit nicht bloß die Welt der Lebemänner, nicht
+bloß das Leben mit überreizten Nerven schildert. Wir müssen erwarten,
+daß man<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> nicht bloß das Abstoßende und Ungesunde hervorzieht. Die
+Welt zu abscheulich zu malen, ist ein genau so großer Fehler wie
+der, sie zu licht zu malen. Das neunzehnte Jahrhundert hat hier die
+Aufgabe richtig erkannt, auch vielfach richtig angefaßt, aber es hat
+hier nicht die Extreme zu vermeiden gewußt. Die Losung »Naturalismus«
+mag getrost bleiben! Aber man vergesse nicht, daß »Naturalismus« von
+»Natur« herkommt!</p>
+
+<p>Es bleiben die <em class="gesperrt">erste</em> und die <em class="gesperrt">dritte</em> Gruppe. Die erste
+kommt der eigentlichen Aufgabe des Romans vielfach ganz nahe. Es
+ist, von dieser Aufgabe aus betrachtet, durchaus <em class="gesperrt">nichts</em>
+gegen die Geltendmachung einer bestimmten <em class="gesperrt">Tendenz</em> gegenüber
+der geschilderten Zeit einzuwenden. Warum soll der Dichter nicht
+gleichzeitig zeichnen und das Gezeichnete beurteilen? Er verändert
+damit seine Aufgabe nicht; er fügt nur noch hinzu, was gleichfalls
+wertvoll sein kann: sein Urteil, seine Kritik. Erst dann beginnen
+die Schöpfungen dieser Romangruppe minder wertvoll zu werden, wenn
+unter der Tendenz die klare Erfassung der Wirklichkeit gelitten hat.
+Das <em class="gesperrt">kann</em> auch den Dichtern passieren, die nichts wollen als
+die Welt zeichnen, wie sie ist. Ist doch jeder in der Gefahr, die
+Dinge allzusehr durch die eigene Brille zu sehen. Aber noch mehr in
+dieser Gefahr ist derjenige, welcher nur zeichnet, um seine Ansichten
+und Absichten klarzulegen. Solange im Tendenzroman die Zeit, die
+Wirklichkeit stärker ist als die Tendenz, so lange steht er auf der
+Höhe seiner Aufgabe. Er irrt erst dann ab, wenn die Tendenz stärker
+wird als die Wirklichkeit.</p>
+
+<p>Weniger als Gruppe <em>I</em> und <em>II</em> scheint Gruppe <em>III</em>
+der von uns festgestellten Aufgabe des Romans zu entsprechen. Wo die
+lyrische Stimmung das beherrschende Element ist, kann ein Weltbild
+in scharfen Umrissen viel schwerer erwachsen. Dennoch ist es auch
+hier möglich; das zeigt besonders die wunderbare Vereinigung klarster
+Realistik mit<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> feinster dichterischer Stimmung, welche Rosegger z.
+B. in den »Schriften des Waldschulmeisters« bietet. Das zeigt aber
+auch ein Werk wie Raabes »Hungerpastor«. Hat man doch dies Buch
+geradezu unter die Zahl der Zeitromane einreihen können! Weniger eng
+ist die Beziehung zur wirklichen Welt natürlich da, wo die lyrische
+Stimmung noch stärker herrschend wird, wie bei Storm oder in Raabes
+»Chronik der Sperlingsgasse«. Aber wer wäre so engherzig, diesen
+Dichtungen darum, weil sie vom eigentlichen Romancharakter abweichen,
+das Existenzrecht abzusprechen? Auch sie geben Wirklichkeit; auch
+sie zeichnen Menschen, wie sie sind. Vielleicht nur mit wenigen
+Strichen, vielleicht mehr mit Licht und Schatten als in scharfem
+Umriß, vielleicht nur in einzelnen Situationen. Aber sie zeichnen sie:
+die Stimmungswelt ist auch wirkliche Welt! Wenn der Stimmungsdichter
+nur Realist bleibt, dann hat er sein heiliges Recht. Ja, dann ist er
+eine notwendige Ergänzung der nüchternen und kühlen Realisten mit
+ihrer Genauigkeit und Gründlichkeit. Kann denn nicht manches Mal
+ein einziger Strich, der dem Bilde die rechte Stimmung gibt, viel
+wirksamer sein, als die Ansammlung von hundert Einzelheiten?</p>
+
+<p>Noch weniger ist zu leugnen, daß der <em class="gesperrt">Problem</em>roman innerhalb
+der Aufgabe des Romans bleibt. Er will ja Fragen des wirklichen
+Lebens aufwerfen und beantworten! Er geht weniger in die Breite
+als in die Tiefe, — in die Tiefe der seelischen Rätsel, in die
+Tiefe der gesellschaftlichen Fragen. Gewiß, ihm ist der Stoff nur
+Mittel zum Zweck; die Hauptsache ist ihm der Gedanke. Aber so wenig
+im Tendenzroman die Tendenz notwendig die Wirklichkeitserfassung
+hindern muß, so wenig im Problemroman das Problem. Im Gegenteil:
+erst das ist der rechte Problemroman, der seine Fragen ganz aus der
+Wirklichkeit herauswachsen läßt. Es gibt manchen Problemroman mit
+recht oberflächlichen Problemen; aber das soll<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> uns nicht hindern,
+anzuerkennen, daß gerade der Problemroman eine außerordentlich
+wertvolle Methode bedeutet, die Weltvorgänge in ihren tiefsten Gründen
+anzusehen und darzustellen.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Das Gesetz der Wirklichkeit regiert also tatsächlich überall im
+deutschen Roman des 19. Jahrhunderts, in allen seinen wichtigeren
+Erscheinungen.</em> Verschiedene Methoden seiner Befolgung sind
+eingeschlagen worden; aber das Gesetz selbst ist in Geltung geblieben.
+Und gegenüber denjenigen Richtungen, welche dieses Gesetz wissentlich
+oder unwissentlich ignorieren, haben wir einfach sein geheiligtes und
+anerkanntes Recht geltend zu machen.</p>
+
+<p>Schwieriger ists für unsere Zeit, die Grenzen in der Befolgung
+dieses Gesetzes festzulegen und festzuhalten. Die Auswüchse des
+Naturalismus wie die Dekadencedichtung übertreiben. Sie bevorzugen
+einseitig einige wenige Gebiete der Wirklichkeit; und sie wählen
+gerade diejenigen, wo die gesunde Natur sich vergebens suchen läßt.
+Ihnen gegenüber fordern wir, daß die Totalität der Wirklichkeit zur
+Geltung komme. Wir fordern auch, daß, ohne daß das Vorhandensein von
+Krankheitszuständen ignoriert werde, der Standpunkt, von dem aus
+geschildert wird, derjenige der Gesundheit sei. Wir erwarten nichts
+von dem differenzierten, nervös gewordenen Naturalismus. Aber wir
+erwarten alles von einem im gesunden Volksempfinden, in der echten
+Natur wurzelnden Realismus.</p>
+
+<p>Ich brauche nicht mehr auszuführen, daß das 19. Jahrhundert auch
+in der <em class="gesperrt">Form</em> des Romans uns kräftig vorwärts gebracht
+hat. Was Goethes »Wahlverwandtschaften« zuerst versuchten, die
+Ineinandersetzung von Gedanke und Handlung — das ist zwar längst
+nicht überall zur Durchführung gekommen, aber es ist leitendes Motiv
+geblieben. Man verabscheut mehr und mehr die Darlegung von Gedanken
+ohne Handlung, wie noch Gutzkow sie liebte, man empfindet jene
+spannenden Handlungsromane ohne Gedanken,<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> so sehr sie noch heute
+wuchern, als minderwertig. Man hat in vielen Romanen Spielhagens, dazu
+in solchen von Kretzer, in »Frau Sorge« und in anderen Vorbilder in
+der formellen Gestaltung. Und ob immer wieder das Erworbene in Frage
+gestellt wird, das Ziel ist gesteckt und darf nicht vergessen werden.</p>
+
+<p>Eins aber muß zum Schluß nochmals gesagt werden: es wird alles darauf
+ankommen, daß in der deutschen Lesewelt der Sinn für den wertvollen
+Roman geweckt und, wo er lebendig ist, gepflegt werde. Jedes Volk
+hat schließlich den Roman, den es verdient. Seien wir anspruchsvoll!
+Lehnen wir alles ab, was uns nicht fördert, ohne Rücksicht auf Person
+und Tendenz! Dann wird des Seichten weniger werden und <em class="gesperrt">die</em>
+Dichter werden mehr Raum und mehr Mut gewinnen, die in sich die Kraft
+fühlen, dem deutschen Volk wirklich etwas zu sagen. Verlangen wir viel
+vom Roman, so wird er uns viel geben!</p>
+
+<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_4">
+ <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Register">Register.</h2>
+</div>
+
+
+<p>(Die <em class="gesperrt">ausführlich</em> besprochenen Werke sind unter dem Autornamen
+bei den entsprechenden Seitenzahlen in Klammern besonders aufgeführt.)</p>
+
+<ul class="index">
+<li class="ifrst"> Alexis, Wilibald <a href="#Seite_123">123 ff.</a> (Roland von Berlin). <a href="#Seite_126">126</a>. <a href="#Seite_127">127</a>. <a href="#Seite_129">129</a>. <a href="#Seite_134">134</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Anzengruber, Ludwig <a href="#Seite_171">171</a>. <a href="#Seite_172">172 ff.</a> (Sternsteinhof). <a href="#Seite_179">179</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Arnim, Achim von <a href="#Seite_51">51</a>. <a href="#Seite_121">121 ff.</a> (Kronenwächter).</li>
+
+<li class="indx"> Auerbach, Berthold <a href="#Seite_55">55</a>. <a href="#Seite_62">62 ff.</a> (Schwarzwälder Dorfgeschichten). <a href="#Seite_76">76</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Beyerlein, Franz Adam <a href="#Seite_219">219 f.</a></li>
+
+<li class="indx"> Bierbaum, Otto Julius <a href="#Seite_213">213</a>. <a href="#Seite_220">220</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Bilse <a href="#Seite_219">219</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Björnson <a href="#Seite_190">190</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Bölsche, Wilhelm <a href="#Seite_216">216 f.</a> (Mittagsgöttin).</li>
+
+<li class="indx"> Börne, Ludwig <a href="#Seite_34">34</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Brentano <a href="#Seite_35">35</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Cantz, Elisabeth <a href="#Seite_78">78</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Dahn, Felix <a href="#Seite_139">139 ff.</a> (Kampf um Rom).</li>
+
+<li class="indx"> Dehmel, Richard <a href="#Seite_218">218</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Ebers, Georg <a href="#Seite_139">139</a>. <a href="#Seite_141">141</a>. <a href="#Seite_142">142</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Ebner-Eschenbach, Marie v. <a href="#Seite_195">195</a> (Gemeindekind). <a href="#Seite_196">196 f.</a> (Unsühnbar).</li>
+
+<li class="indx"> Eckstein, Ernst <a href="#Seite_142">142</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Eichendorff, Joseph Frhr. v. <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_39">39 ff.</a> (Leben eines Taugenichts). <a href="#Seite_45">45</a>. <a href="#Seite_46">46</a>. <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_218">218</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Eilhart von Oberge <a href="#Seite_11">11</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Fischart, Johann <a href="#Seite_12">12</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Floris und Blancheflur <a href="#Seite_6">6</a>. <a href="#Seite_11">11</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Fontane, Theodor <a href="#Seite_115">115 ff.</a> <a href="#Seite_117">117 ff.</a> (Stechlin). <a href="#Seite_135">135</a>. <a href="#Seite_138">138</a>. <a href="#Seite_188">188</a>. <a href="#Seite_201">201</a>. <a href="#Seite_202">202 ff.</a> (Effi Briest). <a href="#Seite_223">223</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Freiligrath, Ferdinand <a href="#Seite_75">75</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Frenssen, Gustav <a href="#Seite_208">208 ff.</a> (Jörn Uhl). <a href="#Seite_210">210</a>. <a href="#Seite_221">221</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Frenzel, Karl <a href="#Seite_138">138</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Freytag, Gustav <a href="#Seite_108">108 ff.</a> (Soll und Haben). <a href="#Seite_114">114</a>. <a href="#Seite_127">127</a>. <a href="#Seite_131">131 ff.</a> (Die Ahnen). <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_155">155</a>. <a href="#Seite_189">189</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Goethe <a href="#Seite_15">15</a>. <a href="#Seite_16">16 ff.</a> (Werther). <a href="#Seite_19">19 ff.</a> (Wilhelm Meister). <a href="#Seite_24">24 ff.</a> (Wahlverwandtschaften). <a href="#Seite_27">27 ff.</a> <a href="#Seite_32">32</a>. <a href="#Seite_45">45</a>. <a href="#Seite_52">52</a>. <a href="#Seite_75">75</a>. <a href="#Seite_143">143</a>. <a href="#Seite_189">189</a>. <a href="#Seite_224">224</a>. <a href="#Seite_230">230</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Gottfried von Straßburg <a href="#Seite_11">11</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Gotthelf, Jeremias <a href="#Seite_55">55</a>. <a href="#Seite_58">58 ff.</a> (Bauernspiegel). <a href="#Seite_65">65</a>. <a href="#Seite_66">66</a>. <a href="#Seite_69">69</a>. <a href="#Seite_71">71</a>. <a href="#Seite_168">168</a>. <a href="#Seite_169">169</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Grimmelshausen <a href="#Seite_12">12</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Gutzkow, Karl <a href="#Seite_76">76</a>. <a href="#Seite_77">77</a>. <a href="#Seite_78">78</a>. <a href="#Seite_79">79 ff.</a> (Ritter vom Geist). <a href="#Seite_86">86</a>. <a href="#Seite_87">87</a>. <a href="#Seite_98">98</a>. <a href="#Seite_112">112</a>. <a href="#Seite_138">138</a>. <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_230">230</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Hamerling, Robert <a href="#Seite_142">142</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Hauenschild, Spiller von <a href="#Seite_78">78</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Hauff, Wilhelm <a href="#Seite_51">51</a>. <a href="#Seite_122">122</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Herwegh <a href="#Seite_75">75</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Heyse, Paul <a href="#Seite_78">78</a>. <a href="#Seite_92">92 ff.</a> (Kinder der Welt). <a href="#Seite_154">154</a>. <a href="#Seite_155">155</a>. <a href="#Seite_190">190</a>. <a href="#Seite_197">197 ff.</a> (Novellen). <a href="#Seite_221">221</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Hoffmann, Th. Amadeus <a href="#Seite_45">45</a>. <a href="#Seite_46">46 ff.</a> (Elixiere des Teufels). <a href="#Seite_143">143</a>. <a href="#Seite_165">165</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Holz, Arno <a href="#Seite_183">183</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Ibsen <a href="#Seite_190">190</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Jean Paul <a href="#Seite_32">32 ff.</a> <a href="#Seite_143">143</a>. <a href="#Seite_144">144</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Immermann <a href="#Seite_55">55 ff.</a> (Oberhof). <a href="#Seite_65">65</a>. <a href="#Seite_67">67</a>. <a href="#Seite_69">69</a>. <a href="#Seite_71">71</a>. <a href="#Seite_74">74</a>. <a href="#Seite_76">76</a>. <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_168">168</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Jordan, Wilhelm <a href="#Seite_190">190</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Keller, Gottfried <a href="#Seite_99">99 ff.</a> (Grüner Heinrich). <a href="#Seite_105">105 ff.</a> (Leute von Seldwyla). <a href="#Seite_112">112</a>. <a href="#Seite_189">189</a>. <a href="#Seite_221">221</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Kleist, Heinrich v. <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_48">48 ff.</a> (Michael Kohlhaas).</li>
+
+<li class="indx"> Kretzer, Max <a href="#Seite_175">175 ff.</a> (Meister Timpe). <a href="#Seite_178">178 f.</a> <a href="#Seite_182">182</a>. <a href="#Seite_214">214 ff.</a> (Gesicht Christi). <a href="#Seite_223">223</a>. <a href="#Seite_231">231</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Laube, Heinrich <a href="#Seite_76">76</a>. <a href="#Seite_138">138</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Ludwig, Otto <a href="#Seite_55">55</a>. <a href="#Seite_69">69 ff.</a> (Heiterethei). <a href="#Seite_72">72</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Mann, Thomas <a href="#Seite_222">222 ff.</a> (Buddenbrooks).</li>
+
+<li class="indx"> Meinhold, Wilhelm <a href="#Seite_131">131</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Meyer, Conr. Ferd. <a href="#Seite_136">136 ff.</a></li>
+
+<li class="indx"> Motte-Fouqué, F. de la <a href="#Seite_35">35</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Novalis <a href="#Seite_32">32</a>. <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_36">36 ff.</a> (Heinrich von Ofterdingen). <a href="#Seite_45">45</a>. <a href="#Seite_46">46</a>. <a href="#Seite_51">51</a>. <a href="#Seite_53">53</a>. <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_218">218</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Pantenius, Theod. Hermann <a href="#Seite_115">115</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Parzival <a href="#Seite_11">11</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Polenz, Wilhelm v. <a href="#Seite_179">179 ff.</a> (Pfarrer von Breitendorf).</li>
+
+<li class="indx"> Prutz, Robert <a href="#Seite_78">78</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Raabe, Wilhelm <a href="#Seite_136">136</a>. <a href="#Seite_144">144 ff.</a> (Chronik der Sperlingsgasse). <a href="#Seite_149">149 ff.</a> (Hungerpastor). <a href="#Seite_155">155</a>. <a href="#Seite_161">161</a>. <a href="#Seite_162">162</a>. <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_229">229</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Rabelais <a href="#Seite_12">12</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Reuter, Fritz <a href="#Seite_55">55</a>. <a href="#Seite_69">69</a>. <a href="#Seite_71">71 ff.</a> (Stromtid). <a href="#Seite_74">74</a>. <a href="#Seite_171">171</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Riehl, Wilh. <a href="#Seite_127">127</a>. <a href="#Seite_130">130 f.</a> (Kulturgesch. Novellen). <a href="#Seite_134">134</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Robinson Krusoe <a href="#Seite_13">13</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Rosegger, Peter <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_162">162 ff.</a> (Schriften des Waldschulmeisters). <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_170">170</a>. <a href="#Seite_171">171</a>. <a href="#Seite_179">179</a>. <a href="#Seite_191">191 ff.</a> (Gottsucher). <a href="#Seite_214">214</a>. <a href="#Seite_229">229</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Rousseau <a href="#Seite_30">30</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Ruodlieb <a href="#Seite_10">10</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Scheffel, J. Viktor v. <a href="#Seite_127">127</a>. <a href="#Seite_128">128 ff.</a> (Ekkehard). <a href="#Seite_134">134</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Schlaf, Johannes <a href="#Seite_183">183 ff.</a> (Novellen). <a href="#Seite_211">211</a>. <a href="#Seite_220">220</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Schlegel, Friedrich v. <a href="#Seite_32">32</a>. <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_42">42 ff.</a> (Lucinde). <a href="#Seite_46">46</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Schleiermacher <a href="#Seite_43">43</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Sohnrey, Heinrich <a href="#Seite_170">170</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Sperl, August <a href="#Seite_220">220</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Spielhagen, Friedrich <a href="#Seite_78">78</a>. <a href="#Seite_79">79</a>. <a href="#Seite_85">85 ff.</a> (Problematische Naturen). <a href="#Seite_91">91 ff.</a> <a href="#Seite_98">98</a>. <a href="#Seite_112">112</a>. <a href="#Seite_114">114 f.</a> (Sturmflut). <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_225">225</a>. <a href="#Seite_231">231</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Stifter, Adalbert <a href="#Seite_162">162</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Storm, Theodor <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_155">155 ff.</a> (Novellen). <a href="#Seite_162">162</a>. <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_166">166</a>. <a href="#Seite_169">169</a>. <a href="#Seite_197">197 ff.</a> <a href="#Seite_229">229</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Sudermann, Hermann <a href="#Seite_205">205</a>. <a href="#Seite_206">206 ff.</a> (Frau Sorge). <a href="#Seite_208">208</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Suttner, Bertha v. <a href="#Seite_190">190</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Tieck, Ludwig <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_122">122</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Tolstoi <a href="#Seite_168">168</a>. <a href="#Seite_190">190</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Tovote, Heinz <a href="#Seite_186">186</a>. <a href="#Seite_212">212 f.</a> (Ich). <a href="#Seite_220">220</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Tristan und Isolde <a href="#Seite_6">6</a>. <a href="#Seite_11">11</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Volksbücher <a href="#Seite_11">11</a>.</li>
+
+
+<li class="ifrst"> Wickram, Jörg <a href="#Seite_12">12</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Widmann, A. <a href="#Seite_78">78</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Wieland <a href="#Seite_13">13 ff.</a> <a href="#Seite_27">27</a>.</li>
+
+<li class="indx"> Wildenbruch, Ernst v. <a href="#Seite_203">203 f.</a></li>
+
+
+<li class="ifrst"> Zola, Emil <a href="#Seite_168">168</a>. <a href="#Seite_190">190</a>. <a href="#Seite_222">222</a>. <a href="#Seite_223">223</a>.</li>
+</ul>
+
+<figure class="figcenter padtop2 illowe20" id="p236">
+ <img class="w100" src="images/p236.jpg" alt="deko">
+</figure>
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 ***</div>
+</body>
+</html>
+
diff --git a/76588-h/images/cover.jpg b/76588-h/images/cover.jpg
new file mode 100644
index 0000000..2fd3744
--- /dev/null
+++ b/76588-h/images/cover.jpg
Binary files differ
diff --git a/76588-h/images/p003.jpg b/76588-h/images/p003.jpg
new file mode 100644
index 0000000..2e3ba1c
--- /dev/null
+++ b/76588-h/images/p003.jpg
Binary files differ
diff --git a/76588-h/images/p236.jpg b/76588-h/images/p236.jpg
new file mode 100644
index 0000000..907b694
--- /dev/null
+++ b/76588-h/images/p236.jpg
Binary files differ
diff --git a/76588-h/images/title.jpg b/76588-h/images/title.jpg
new file mode 100644
index 0000000..6b1c1bc
--- /dev/null
+++ b/76588-h/images/title.jpg
Binary files differ
diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt
new file mode 100644
index 0000000..6312041
--- /dev/null
+++ b/LICENSE.txt
@@ -0,0 +1,11 @@
+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
diff --git a/README.md b/README.md
new file mode 100644
index 0000000..32cd6a5
--- /dev/null
+++ b/README.md
@@ -0,0 +1,2 @@
+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for eBook #76588
+(https://www.gutenberg.org/ebooks/76588)