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| author | pgww <pgww@lists.pglaf.org> | 2025-07-29 10:22:01 -0700 |
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Schreibweise und Interpunktion des +Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler +sind stillschweigend korrigiert worden. + +Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden. + +Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~ + +======================================================================= + + + + + Der deutsche Roman + seit Goethe + + + [Illustration] + + + Skizzen und Streiflichter + + von + + Dr. M. Schian + + + [Illustration] + + + + + Görlitz 1904 + + Rudolf Dülfer + + + + + Inhaltsverzeichnis. + + + Seite + + Vorwort 3 + + Die Bedeutung des Romans 5 + + Aus der Vorgeschichte des modernen Romans 10 + + Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans 16 + + Roman und Novelle der Romantik 32 + + Die Volkserzählung 53 + + Der tendenziöse Zeitroman 75 + + Der objektivere Zeitroman 99 + + Der historische Roman 121 + + Die Stimmungsdichtung 143 + + Der naturalistische Roman 167 + + Der Problem- und Gesellschaftsroman 188 + + Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman 211 + + Rückblick 224 + + Register 232 + + + + + Vorwort. + + +Die folgenden Blätter geben eine Reihe von Vorträgen wieder, welche +ich im eben vergangenen Winter im Damenlyzeum zu Görlitz und -- +in kürzerer Gestalt -- vor einer aus Damen und Herren gebildeten +Zuhörerschaft in Lauban gehalten habe. Der Wunsch, die Vorträge +gedruckt zu sehen, wurde mir aus beiden großen Zuhörerkreisen so +häufig und so dringend nahe gebracht, daß ich, wennschon nicht ohne +Bedenken, doch nicht umhin konnte, ihm zu entsprechen. + +Die Form der Vorträge ist belassen; nirgends habe ich wesentlich +geändert. Nur was ich der drängenden Zeit wegen beim mündlichen +Vortrag hier und da auslassen mußte, ist jetzt wieder eingefügt. So +werden namentlich die Hörer aus Lauban erheblich mehr finden, als ich +ihnen mündlich bieten konnte. + +Der Zweck, welchem diese Veröffentlichung dient, braucht hiernach +kaum näher dargelegt zu werden. Ich maße mir nicht entfernt +an, die Wissenschaft der Literaturgeschichte irgend bereichern +zu wollen. Meine Absicht war nur die, ihre Ergebnisse für ein +wichtiges Einzelgebiet in leichterer Form, als das für gewöhnlich +geschieht, einem weiteren Kreis von Gebildeten zu vermitteln. Daß +ich dabei überall dankbar und freudig von den wissenschaftlichen +literaturgeschichtlichen Darstellungen gelernt habe, ist ganz +selbstverständlich. Aber ebenso selbstverständlich war mir, daß ich +auf ein eigenes Urteil nicht verzichten konnte. + +Aus dem Zweck der Vorträge ergab sich nicht nur die Form der +Darstellung, sondern auch die Begrenzung und die Auswahl des Stoffs. +Auf jeden Versuch der Vollständigkeit mußte ich von vornherein +verzichten; es schien mir viel besser, Einzelnes gründlich zu +behandeln als eine Fülle von Namen und Titeln zu nennen. Nur +vom deutschen Roman wollte ich reden; es blieb kein Raum, um +Verbindungslinien nach anderen Literaturgebieten zu ziehen und die +Einwirkung fremder Einflüsse deutlich zu machen. Die Vorträge wollen +lediglich auf die Entwickelung des deutschen Romans seit Goethe ein +paar Streiflichter werfen und vor allem auf das hinweisen, was in +dieser Zeit Bleibend-Wertvolles geschaffen ist, um so zugleich den +Kreisen der Romanleser ein bequemes Hilfsmittel für richtige Wahl und +richtige Schätzung ihrer Lektüre zu sein. + +Es wäre mir eine Freude, wenn das Buch sich in dieser Richtung als +praktisch und brauchbar erweisen sollte. + + ~Görlitz~, den 28. März 1904. + + +Martin Schian.+ + + + + + Die Bedeutung des Romans. + + +Wer läse heutzutage nicht Romane? Gewiß, es gibt Romanverächter. +Aber sie sind weiße Raben. Jeder Gebildete liest sie, Mann wie Frau. +Leihbibliotheken, Romanzeitungen, Familienblätter aller Arten und +Richtungen machen den Roman leichter zugänglich als irgend eine andere +Literaturgattung. Und zu der Masse der minder Gebildeten findet der +Roman seinen Weg durch die Riesenauflagen der Tageszeitungen und der +Gegenstände der Kolportageliteratur. + +Man liest Romane, aber -- man studiert nicht den Roman. Ich rede nicht +von den Fachmännern der Literaturgeschichte. Den gebildeten Romanleser +klage ich an. + +Wer beschäftigt sich mit der Geschichte des Romans? Das Wichtigste aus +der Geschichte des Liedes und des Dramas gehört zum eisernen Bestand +des Wissens-Inventars eines gebildeten Menschen; und schon die Schule +legt den Grund dazu. Aber wie viele haben ein geschultes Urteil über +die Bedeutung der wesentlichen Romanerscheinungen? + +Wir forschen nach der Ursache dieses merkwürdigen Kontrastes zwischen +der ungeheuren Nachfrage nach dem Roman selbst und der geringen +Neigung, sich wissenschaftlich mit ihm zu befassen. Es gibt nur eine +Erklärung: ~man unterschätzt den Roman~. Das ist ja psychologisch +zu verstehen. Für unendlich viele ist er nichts als ein Mittel +zur Vertreibung der Langeweile. Sie verlangen nichts anderes von +ihm, als daß er sie unterhalte. Sie wählen daher aus dem Leichten +das Leichteste. Unreife Geister suchen in ihm ein Mittel pikanten +Genusses. Stunden, die für harte Pflichten bestimmt sind, werden der +Lektüre geopfert. So verbindet sich für nicht wenige Leser mit dem +Begriff Roman so etwas wie schlechtes Gewissen. Und das beeinflußt +wieder das Urteil über den Roman selbst. + +Aber was hat der Roman als Literaturgattung damit zu schaffen, wenn +ihn Unreife als Weg zum falschen Zweck gebrauchen? Wenn sie das +Seichte aus seinen Schätzen heraussuchen und das Gehaltvolle liegen +lassen? Schon um des unermeßlichen Einflusses willen, den er auf +breite Schichten übt, ist der Roman aller Beachtung wert. Aber auch +nach seinem Eigenwert steht er nicht zurück. Er ist anerkannt als +~vollberechtigtes Glied der epischen Dichtung~. Man streitet +darüber, ob die Prosaform zu seinem Wesen gehöre oder nicht. Nun, es +gibt Romane in Versform. Was sind jene Gedichte der höfischen Zeit +des 12. Jahrhunderts mit ihren Heldenpaaren Floris und Blancheflur, +Tristan und Isolde, dazu jene Erzählung vom Grafen Rudolf, der in den +Kreuzzug geht, anderes, als Liebesromane nach französischem Muster? +Aber trotzdem wird freilich festzuhalten sein, daß die Prosaform die +für den Roman normale, ja für den ausgebildeten Roman einzig mögliche +ist. In seinem Werte verliert er dadurch nicht; denn die Prosa ist +Kunstform, gerade so gut wie der Vers. Was aber dem Roman seine +ganz besondere Bedeutung verleiht, das ist gerade ~seine Eigenart +innerhalb des Gebietes der epischen Dichtung~. + +Haben Sie schon einmal versucht, mit kurzen Worten das Wesen des +Romans zu bestimmen? Nun, jedenfalls schwebt uns allen eine Art +Definition des Romans vor: wir denken ihn als ~komplizierte +Erzählung~. Kompliziert ist er nach Form und Inhalt: das +scheidet ihn von der einfachen, schlichten ~Erzählung~, von +der kunstvollen, aber knappen, nur einem Faden der Entwickelung +folgenden ~Novelle~. Komplizierte Erzählung muß er sein, nicht +etwa um der erhöhten Spannung willen, sondern weil er nur so seiner +Aufgabe genügen kann. ~Diese Aufgabe aber ist, ein Stück Weltbild +zu geben~, sei es in engerem oder in weiterem Rahmen. +Nil +humani a me alienum puto+, sagt der Roman. Nichts Menschliches +ist ihm fremd. Was das Getriebe der Welt ausmacht, was der Zeit ihr +Gepräge gibt, die geschichtlichen Verhältnisse, die Kulturzustände, +die gesellschaftliche Gliederung, die inneren bewegenden Fragen, die +gesamte Weltanschauung, vor allem die Menschen, die in all diesen +Verhältnissen mitten darin stehen, sie bestimmend und doch wieder +durch sie bestimmt, -- das alles gehört zum Apparat des Romans. +Ein Weltbild gibt der Roman; darum kann er nie zeitlos sein, wie +denn auch die Menschen nie zeitlos sind. Darum steht er in so engem +Verhältnis zur Wirklichkeit; Roman einerseits -- Märchen, Sage, +Phantasie andererseits sind Gegensätze wie Feuer und Wasser. Er kann +aus dem Weltbild, das er zeichnet, je nach Absicht recht verschiedene +Züge vorzugsweise herausarbeiten -- entweder mehr die innere +Entwickelung der handelnden Personen oder mehr das Milieu, in dem die +Menschen stehen. Er kann mehr Geschichte oder mehr Kultur oder mehr +Weltanschauung geben -- je nachdem. Aber er muß immer konkret sein in +der Gestaltung, klar und scharf in der psychologischen Erfassung, fein +und wahr in der Verknüpfung aller in sein Gebiet gehörenden Elemente. +Er kann ein Weltbild der Vergangenheit darzustellen suchen, dann +wird er zum historischen Roman. Oder er kann der Gegenwart den Puls +fühlen. Ja, wenn er will, kann er tastend in die Zukunft greifen; +freilich nicht ohne die akute Gefahr einer Grenzüberschreitung. Denn +über das, was einst wirklich sein wird, haben wir im besten Fall +begründete Vermutungen. Ob er in Vergangenheit oder Gegenwart weilt, +-- es steht ihm jedesmal frei, auf das äußere oder das innere Leben +den Hauptakzent zu legen. Nur wird der historische Roman immer auch +die äußeren Konturen der Zeitverhältnisse breiter schildern müssen +als der moderne Roman, der vieles als bekannt voraussetzen kann. Auch +nach der Methode, wie der Dichter seinen Gegenstand behandelt, müssen +wir Unterschiede machen. Der eine schließt in zartem Empfinden von der +Erzählung manches aus, was auch im Leben mit einem Schleier bedeckt zu +werden pflegt; der andere steigt in die Tiefe und malt schonungslos +und rücksichtslos Häßliches so gut wie Schönes, ja das Häßliche +vielleicht mit noch größerer Liebe. Und wiederum: während mancher +Roman nichts will als schildern, nichts als photographieren, legen +andere in ihr Bild der Wirklichkeit Gedanken und Tendenzen hinein -- +politische, religiöse, sittliche. Sie zeichnen im Ausschnitt ein Stück +Welt, auf dem sich gerade ein Problem zusammenballt, das seiner Lösung +harrt; und sie geben solche Lösung oder predigen resignierten Verzicht +auf solche Lösung. In all diesem aber gilt, welcher Art der Roman auch +sei, ob welthistorisch, kulturhistorisch oder modern durch und durch, +-- ob idealistisch oder naturalistisch, -- ob er mehr äußeres oder +mehr inneres Erleben bringe, -- ob er den Knoten im äußeren Laufe der +Dinge sich schürzen läßt oder ob er Probleme der Weltanschauung wälzt, +-- in alledem gilt, daß der Roman ~von der wirklichen Welt nicht +loskommen kann und nicht loskommen darf~. Ein wirkliches Weltbild +zu geben ist seine Aufgabe. Und diese Aufgabe gibt ihm einen hohen +Wert. Nicht ~allein~ nach dem Grad, in welchem er dieser Aufgabe +genügt, bestimmt sich seine Qualität; denn auch die künstlerische +oder unkünstlerische Form hat da mitzusprechen. Aber vornehmlich ist +es der Maßstab der Wirklichkeit, der an den Roman anzulegen ist. Der +Wert aber, den er so gewinnt, besteht in der Kraft, mit der er den +Blick schärft, in der weiten Umschau, die er über den eigenen engen +Gesichtskreis hinaus dem Leser ermöglicht, in der Energie, mit welcher +er zwingt, Fragen zu durchdenken, die sonst undurchdacht bleiben +würden, endlich in der feinen, festhaltenden Form, in welcher er all +dies vermittelt. + +Ich brauche nicht erst zu erklären, daß es auch wertlose Romane gibt. +Aus der Charakteristik des Romans, die ich zu bieten versuchte, +erhellt das ganz von selbst. Ein Roman, der seiner ganzen Art +nach nichts anderes kann, als Spannung der Nerven erzielen, ist +wertlos. Aber man pflegt ja auch den Wert des lyrischen Gedichts +nicht nach den Ergüssen der Friderike Kempner zu beurteilen. Also +schätze man den Roman nicht ein nach dem platten Liebesroman, in dem +sie sich schließlich aus alle Fälle kriegen, auch nicht nach dem +pikant-lüsternen oder naturalistisch-frivolen Unterhaltungsroman +und erst recht nicht nach dem haarsträubenden Hintertreppenroman! +~Der wirkliche Roman, der sich zur Aufgabe setzt, in möglichst +vollendeter Darstellung ein Weltbild zu geben, ist jedenfalls als ein +Bildungsmittel ersten Ranges zu werten.~ + + + + + Aus der + + Vorgeschichte des modernen Romans. + + +Man hat dem 19. Jahrhundert tausend Titel gegeben, um seine neuen +Errungenschaften anzudeuten. Es ist das Jahrhundert der Technik, das +Jahrhundert der Naturwissenschaften. Aber es ist auch das Jahrhundert +des Romans, dieses so beschriebenen Romans. Freilich die Anfänge des +Romans, ja eine Art Vorblüte desselben sind schon älteren Datums. + +Was ists, das in mittelalterlicher Zeit Singen und Sagen des deutschen +Volkes regiert? Ritterliches Wesen, kraftvolles Heldentum, ruhmreiche +Taten beherrschen die Phantasie. Wer wagt es, von Bürgerleben oder +harter Bauernarbeit viel zu reden? Rittertum, etwa noch mit Weisheit +verbunden, füllt mit seinem Glanze die Welt. Dies Weltbild reflektiert +sich in jenem ältesten poetischen Roman unserer Literatur, den ein +Mönch, dessen Namen wir nicht kennen, etwa um die Mitte des 11. +Jahrhunderts im bayrischen Kloster Tegernsee geschrieben hat. Noch +kleidet sich seine Dichtung in das fremdländische Gewand lateinischer +Hexameter. Aber der Held ~Ruodlieb~ ist ein deutscher Ritter. +Ein König, in dessen Heer er große Taten getan, gibt ihm zwölf +Weisheitslehren; und Ruodlieb hat sie im Lauf der Erzählung +wahrscheinlich alle zwölf selbst erprobt; -- sicher ist es nicht, weil +nur Bruchstücke des Werkes auf uns gekommen sind. + +Lange bleibt Ruodlieb in seiner Art allein; aber als dann ähnliche +Schöpfungen zahlreicher erwachsen, ist es noch immer das Rittertum, +welches die Situation beherrscht. Freilich nicht mehr allein das +ritterliche Heldentum, sondern zugleich die ritterliche Liebe. +Kreuzzugsabenteuer spiegeln sich wieder in den deutschen Versen von +~Floris und Blancheflur~. Der heidnische Königssohn Floris +entbrennt in Liebe zu Blancheflur, der Tochter eines christlichen +Kriegsgefangenen. Blancheflur wird in ein anderes Land verkauft; +Floris sucht und findet sie bei einem Fürsten der Sarazenen. Er weiß +in den Turm zu gelangen, in dem sie gefangen gehalten wird, und +erfreut sich ihrer Liebe bis -- zum Tag der Entdeckung. Ihre treue +Liebe siegt auch über den Grimm des Fürsten, der sie vereint zur +Heimat ziehen läßt. Dies Liebespaar, in deutschen Versen besungen, +ist typisch für jene Zeit und für zahlreiche andere ähnlich gefeierte +Paare. ~Tristan und Isolde~ werden von Eilhart von Oberge, in +vollendeter Gestalt von Gottfried von Straßburg besungen. Was für ein +Bild jener suchenden und fragenden, religiös-ernsten und zugleich +naiv-heldenmäßigen Ritterzeit gibt Wolfram von Eschenbachs berühmter +~Parzival~! + +Die Wandlung der Zeiten läßt sich trefflich in den Wandlungen der +romanartigen Dichtung verfolgen. Das Rittertum tritt zurück; aber die +naive Freude am Äußerlich-Großen und Wunderbaren nicht. Freilich, man +zehrt im 14. und 15. Jahrhundert von der Vergangenheit; noch ist das +Neue nicht in klarem Werden. Diese Epoche ist die Zeit der sogenannten +»~Volksbücher~«. Die Stoffe der höfischen Epen verarbeiten +sie in ungebundener Rede, aber auch andere Gegenstände ziehen sie +herbei, -- freilich mehr neue Namen als neue Gedanken. Sie greifen, +um ihre Helden zu wählen, in die fernste Vergangenheit zurück, bis +in die Zeiten des trojanischen Kriegs oder Alexanders des Großen. +Aber sie verschmähen zum gleichen Zweck auch nicht die Gestalten +der Karolingerzeit; und schließlich fehlen Helden wie Fortunatus +mit seinem Glückssäckel nicht. Wunderbare Taten gewaltiger Männer, +traurige und fröhliche Schicksale tugendhafter Frauen werden immer +wieder behandelt. Alles in allem kein Fortschritt, vor allem nicht in +der Schärfe der Zeichnung des gegenwärtigen Weltbildes; eher verflacht +der Roman, weil die Neigung zum Abenteuerlichen die zum Wirklichen +überwiegt. + +Das Bürgertum tritt mit dem ausgehenden Mittelalter viel stärker +hervor als je zuvor. Erst fühlt es sich noch in der Notwendigkeit, +den eigenen Wert und die eigene Geltung gegenüber den Ritterbürtigen +zu erzwingen. Aber bald wird es zum ausschlaggebenden Faktor. +So lassen denn die Romane des Reformationszeitalters -- genannt +seien vor allem die des ~Jörg Wickram~ -- jene Kluft zwischen +Rittertum und Bürgertum noch hervortreten; aber die Liebenden +pflegen, wenn Standesunterschiede sie trennen, eben diese Kluft +glücklich zu überwinden. Und in manchem Roman dieser Zeit hat das +Bürgertum allein die führende Rolle! Neue Gegenstände gewinnt so die +Dichtung: bürgerliches Familienleben, Schule und Beamtenlaufbahn, +des Kaufmannsstandes Leiden und Freuden. Eine neue Betrachtungsweise +beherrscht sie: diejenige der gutbürgerlichen Moral, deren höchste +Kleinodien eine glückliche Ehe, sorgsame Kindererziehung und gute +Nachbarschaft sind. Auch diese Art hat mannigfache Spielarten: neben +Jörg Wickram steht der Straßburger ~Johann Fischart~ mit seiner +humoristisch-satirischen Kraft, seinem deutsch-patriotischen Sinn +und seiner urwüchsig originalen Art, fremdländische, namentlich +französische Stoffe selbständig zu verarbeiten. Von seinen Schöpfungen +sei wenigstens das humoristische Prosawerk genannt, welches Rabelais' +Gargantua und Pantagruel zum Vorbild hat. + +Das leidvolle 17. Jahrhundert weist wohl auch eine Romandichtung +auf, die ernst und klar in die schweren Zeiten hineinschaut: der +~Simplizissimus~ von Grimmelshausen ist zugleich ein Kind +und ein Bild jener Zeit. Aber sonst gewinnt es den Anschein, als +wolle die Dichtkunst die lastentragenden Zeitgenossen vor allem +aus ihrer eigenen harten Zeit herausführen. Die ungeheuerlichen +Fabelgeschichten, welche das Gerippe der erzählenden Prosaschöpfungen +bilden, das sich breitmachende und im Roman an den Mann gebrachte +ethnographische Wissen, die gelehrte Umständlichkeit, mit der +französische Galanterie sich merkwürdig paart, -- das alles zeigt +dem forschenden Leser freilich doch das Wesen der Zeit, in der jene +Romanschreiber lebten. + +Und wie prägt sich erst die ganz besondere Art des Jahrhunderts der +Aufklärung in der weitverästeten Romanliteratur desselben aus! Der +Blick weitet sich; neue soziale und kulturelle Probleme tun sich +auf. Robinson Krusoe kommt diesem Ausbreitungstrieb entgegen; der +~Reiseroman~ fängt an, das Feld zu beherrschen. Aber mit wieviel +moralischer Lehrhaftigkeit und kleinkrämerischem Wissensdünkel +verbindet sich in dem philosophischen Jahrhundert das Ahnen der +neuen Zeit! Wie sehr verdrängt die Künstelei die einfache, klare +Nüchternheit, die Reflexion die Natur, die Empfindelei das schlichte +Gefühl! Es war ein Jahrhundert, das in Empfindungen und Gefühlen, in +Gedanken und Philosophemen, in Theorien und Plänen schwelgte. Der +Roman bildet ein Ragout aus allen diesen Zutaten; und die Moral ist +die keineswegs immer schmackhafte Sauce, mit der er angerührt ist. Wir +sind kaum imstande, von diesem Roman aus eine gerade Verbindungslinie +nach dem modernen Roman des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Zum mindesten +gilt das vom Durchschnittsroman der Aufklärungszeit. Aber es gilt +doch zu einem großen Teile auch noch von den Romanen des gefeierten +~Wieland~. Den Pulsschlag der neuen Zeit spüren wir frisch und +lebenskräftig erst bei Goethe. + +Allerdings, ein Literaturhistoriker wie Max Koch läßt den neueren +deutschen Roman von Wieland ausgehen. Ein solches Urteil respektieren +wir, zumal wenn es sich mit Lessing verbündet, der Wielands Roman +»Agathon« als »den ersten und einzigen deutschen Roman für den +denkenden Kopf von klassischem Geschmacke« bezeichnet hat. In +~einer~ Hinsicht fällt es auch dem Modernen nicht schwer, dies +Urteil zu unterschreiben. Der »Agathon« ist wirklich ein Roman für +den ~denkenden~ Kopf. Das dritte Buch gibt ja eine vollkommene +»Darstellung der Philosophie des Hippias.« Es ist die Philosophie des +»echten Materialisten«, die Lehre vom skrupellosen Genuß, die hier in +nicht weniger als fünf Kapiteln ausführlich dargelegt wird. Und diese +Theorie des Materialismus bildet nicht etwa einen Fremdkörper in dem +Roman; im Gegenteil, sie dient als notwendiges Glied dem einen Zweck, +der Erziehung des Agathon durch alle Lebenslagen hindurch, bis er zu +der gefestigten Erkenntnis kommt, daß »wahre Aufklärung zu moralischer +Besserung das einzige ist, woraus sich die Hoffnung besserer Zeiten, +das ist, besserer Menschen, gründet.« Zu denken also ist hier genug; +es fragt sich nur, ob die Philosophie nicht in zu reichlicher Dosis +gegeben ist, -- reichlicher, als es sich für den Romancharakter +schicken will. In der Tat liegt in der ziemlich äußerlichen Verbindung +von Handlung und Lehre der Hauptfehler des »Agathon«. Er ist eine +lange und breite moralische Erzählung, aber kein Roman. Eine Anhäufung +einzelner moralischer Geschichten und Lebensläufe (des Agathon, der +Danae) bringt noch keine in sich geschlossene Handlung heraus. Und +schließlich leidet Handlung wie Moral unter der Einkleidung ins Gewand +des griechischen Altertums. Da mögen sich sehr feine Parallelen +ergeben, und mancher Vergleich reizt den geistreichen Schriftsteller. +Aber durch die Vermischung moderner Abzweckung und antiker Einkleidung +fällt doch auch die Möglichkeit dahin, mit der Wirklichkeit Ernst zu +machen. Es kommt nicht zu tiefgreifender psychologischer Erfassung; +die Erzählung bleibt im oberflächlichen moralischen Schema, das ein +paar unmoralische Zwischenstadien übrigens nicht ausschließt. Das +Ganze wird schemenhaft, aber nicht lebensvoll. Wieland verstand es +nicht, volles Menschenleben zu greifen; er blieb in philosophischen +Kategorien stecken. Und darum geht der neuere deutsche Roman trotz +allem nicht von Wieland aus. Sein Schöpfer ist Goethe. + + [Illustration] + + + + + Goethe der Schöpfer + + des modernen deutschen Romans. + + +Wodurch ist Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans +geworden? Durch »Werthers Leiden«, durch »Wilhelm Meisters +Lehrjahre« und durch desselben »Wanderjahre« oder durch die +»Wahlverwandtschaften«? -- Durch keins dieser Werke allein, aber durch +sie alle zusammen. + +Merkwürdig, wie verschieden unter sich diese Prosadichtungen des +Meisters sind! Da ist keine Schablone und kein Schema. Da ist jedesmal +aufs neue frisches Leben. Da ist lebendige Entwickelung von Werk zu +Werk, Entwicklung in Sprache und Gedanken. + +Die »~Leiden des jungen Werthers~« sind der einzige Roman des 18. +Jahrhunderts, der heute noch gelesen wird. Das Neue in ihm hat das +Alte vergessen lassen. Auch aus dem Werther redet ja der empfindsame +Geist der Aufklärungsepoche. Der »Held«, dieser leidende Werther, hat +eigentlich unendlich wenig Männliches. Es geht ihm wie den Schiffen im +Märchen vom Magnetberg, dessen er selbst sich entsinnt. »Die Schiffe, +die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die +Nägel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen +den übereinander stürzenden Brettern.« Lotte ist der Magnet, der das +letzte Bischen Kraft aus dem liebenden Werther zieht. Der Freund rät: +»Suche einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Kräfte +verzehren muß!« Aber das Übel hat ihm die Kräfte schon verzehrt. Was +für ein haltloses Klagen und Zagen! Wieviel Tränen und Kniefälle! Wie +lang gesponnene Ergüsse! Die Leidenschaft ist als schwere Krankheit +geschildert: + + »Die menschliche Natur ... hat ihre Grenzen; sie kann Freude, Leid, + Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, + sobald ~der~ überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob + einer schwach oder stark ist? sondern ob er das Maß seines Leidens + ausdauern kann.« + +Und diese Krankheitsgeschichte ist noch dazu breit erzählt; Gespräche, +Reflexionen, Schilderungen, die nur lose zur Sache selber gehören, +sind eingestreut. Vor allem aber: es ist fast nichts als eben +Krankheitsgeschichte. Wie wenig plastisch treten die Menschen hervor, +die neben dem Helden ein bischen mithandeln! Jene Hofgesellschaft +wird freilich beschrieben, die Menschen, deren ganze Seele auf dem +Zeremoniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, +»wie sie um einen Stuhl weiter hinauf bei Tische sich einschieben +wollen.« Jener Graf wird gezeichnet, -- der edle, feingebildete +Mann der wirklich großen Welt. Aber das sind Beigaben; die Welt des +Romans ist eng; sie beschränkt sich im letzten Grund auf das Herz des +Liebeskranken. + +Aber all dies Alte tritt in den Hintergrund gegenüber dem Neuen. Und +dies Neue ist die trotz alledem ~packende und einheitlich klare +Zeichnung des Innenlebens eines Liebenden~. Wir mögen im einzelnen +hunderterlei einzuwenden haben, mancher Leser wird sicher ganze Seiten +überschlagen; -- das Ganze faßt uns immer wieder an. Und nicht bloß, +weil es den Sentimentalen genugtut und die Seele mit üppigem Mitleid +füllt. Nicht bloß, weil der schaurige Ausgang, wunderbar knapp, wie er +beschrieben ist, uns mit Grausen erfüllt. Sondern den Ausschlag gibt +etwas anderes. Goethe hat es selber später gesagt: + +»Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind +nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen +Menschen, und es müßte schlimm sein, wenn nicht ~jeder einmal in +seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther vorkäme, als +wäre er bloß für ihn geschrieben~.« + +Ich glaube ja, daß es nicht die Schilderung von gehemmtem Glück und +unbefriedigten Wünschen im allgemeinen ist, welche immer wieder +neue Leser im Werther sich selber finden läßt. Im Roman sind +diese unbefriedigten Wünsche doch sehr konkret in einen einzigen +zusammengefaßt: in das leidenschaftliche Begehren des Mannes nach +dem Weib seiner Liebe. Freilich seufzt Werther, nachdem der Anlauf +zu amtlicher Tätigkeit fehlgeschlagen: »Damals sehnte ich mich in +glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich +für mein Herz so viele Nahrung, so vielen Genuß hoffte, meinen +strebenden, sehnenden Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt +komme ich zurück aus der weiten Welt -- o mein Freund! mit wie viel +fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Plänen!« Aber +auch dies Intermezzo der amtlichen Tätigkeit wirkt erst dadurch, daß +es die große Leidenschaft zum Hintergrund hat. Im übrigen trifft es +gewiß zu: es hat mancher seine Zeit im Leben, wo es ihm vorkommt, als +sei der Werther nur für ihn geschrieben. Gerade die unglückliche, +aussichtslose Leidenschaft mit ihren feinen Konsequenzen, mit +ihren unsinnigen und doch von dem einen Mittelpunkt her völlig +verständlichen Äußerungen ist aus der Seele nicht ~eines~ +Menschen, sondern der Menschheit heraus geschildert. Wer aber auch +jene Zutaten mitwägt, jene uns fremd anmutenden Besonderheiten, der +muß zugeben, daß dies ~Allgemein-Menschliche zugleich mit den +charakteristischen Farben einer bestimmten Zeit geschildert~ +ist. Und unter diesem Gesichtspunkt wird auch das wertvoll, was +sonst beiseite bliebe: jene Neigung, den herrschenden Begriffen +über Sitte und Recht den Krieg zu erklären, die Sünden in Schutz zu +nehmen, welche die herkömmliche Moral verurteilt. In der Empörung +der Leidenschaft gegen die nüchterne Urteilsweise der »vernünftigen +Leute« nimmt Werther in Schutz, was sonst überall verurteilt wird: +den Dieb, welcher stiehlt, um sich und die Seinigen vom Hungertod zu +erretten, den Ehemann, der im gerechten Zorn sein untreues Weib und +deren Verführer aufopfert, den Unglücklichen, der sich entschließt, +die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Mit dieser +leidenschaftlichen Auflehnung gegen die geltende Moral verbindet +sich eine herbe Kritik der »fatalen bürgerlichen Verhältnisse«, der +Art, wie der Unterschied der Stände betont wird, der Hohlheit und +Umständlichkeit des Amtsverkehrs und der Regierungsmaschinerie. +Nicht bloß die unbändige Leidenschaft spricht, sondern zugleich die +revolutionäre neue Zeit. + +Ist der »Werther« alles in allem die Geschichte einer Leidenschaft, so +sind »~Wilhelm Meisters Lehrjahre~« die Geschichte der Bildung +ihres Helden, -- Bildung im weitesten Sinne genommen. Im Werther alles +Gefühl, alles Empfindung, alles Leidenschaft; im Wilhelm Meister +alles Überlegung, alles Gedanke, alles Berechnung. Grundverschieden +sind beide Schöpfungen; aber jede traf eine Saite in dem Herzen der +Menschheit des 18. Jahrhunderts. Denn die Erziehung durch das Leben, +wie die Fragen der Erziehung überhaupt, gehörte zum eisernen Bestand +des Nachdenkens der damaligen aufgeklärten Welt. + +Haben Sie Wilhelm Meister auch nur in den Lehrjahren einmal ganz +gelesen? Es ist das nicht jedermanns Sache. Es verlangt Energie +und Beharrlichkeit. Und das liegt nicht bloß an der Wucht der +Gedanken. Seitenweise sind Sentenzen zusammengestellt, deren jede +einzelne angespanntestes Nachdenken fordert. Es liegt aber auch an +der Form und der Einkleidung des Romans. Gestehen wir es uns doch +offen, daß die geringfügige, magere Handlung unter den unzähligen +eingeschobenen Reflexionen fast erstickt. Da finden sich ausgesponnene +Selbstschilderungen wie die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, da +breit wiedergegebene Unterhaltungen, die lediglich eine bestimmte +Ansicht entwickeln sollen, ob sie auch für den Gang des Ganzen wenig +oder nichts bedeute, da jene Sammlungen tiefsinniger Aussprüche, +die so ziemlich alle Lebensfragen in ihren Bereich ziehen. Das +Bischen Handlung, das wir herausschälen, ist wieder noch unendlich +verzettelt, dazu manchmal mehr als zufällig aufgereiht, ganz ohne +notwendigen äußeren Zusammenhang. Wilhelm Meister, eines Kaufmanns +Sohn, geht auf Geschäftsreisen aus, verliert aber den eigentlichen +Zweck seiner Sendung ganz aus dem Auge und läßt sich erst fast +willenlos, nachher halb absichtlich, von Erlebnis zu Erlebnis, von +Abenteuer zu Abenteuer, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft, von Ort +zu Ort treiben. Erst bildet seine Umgebung eine Schauspielertruppe +mit mannigfachen und wechselnden Gestalten; dazu die geheimnisvollen +Erscheinungen Mignons und des alten Harfners. Neben seiner ersten +Angebeteten, Marianne, und neben der leichtfertigen Philine lernt er +in Aurelie eine leidvoll-ernste Frau kennen; und die ganz ohne äußeren +Zusammenhang eingeschalteten »Bekenntnisse einer schönen Seele« lassen +ihn in ein innig frommes, fast skrupulös gewissenhaftes Herz blicken. +Allerhand sonderbare Geschicke führen ihn in ein gräfliches Haus und +später für länger in adlige Kreise, zugleich zu einer großen Zahl +neuer, für ihn bedeutungsvoller Persönlichkeiten. In dieser Umgebung +gewinnt er endlich eine Lebensgefährtin in der zu diesen Kreisen +gehörigen Natalie. + +Es ist nicht leicht, das Wirrwarr all dieser Erlebnisse zu sichten. +Das Ergebnis ist ja auch kein befriedigendes: äußerlich genommen ists +ein Labyrinth, durch das Goethe uns führt. Keine klare Entwickelung, +kein straffer Gang der Erzählung. Allerdings soll nach des Dichters +Absicht dies alles doch nicht wie zufällig sein. Vielmehr ist eine +geheimnisvolle Macht mit im Spiele, die sogenannte Gesellschaft des +Turms, die an dem Helden Interesse genommen hat und deren Glieder je +und je in bedeutungsvollen Augenblicken, meist als Größe X, in sein +Leben eingegriffen haben. Ihr Zweck war seine Bildung. Sie haben ihre +Absicht aber so verfolgt, wie der Grundsatz es eingab: »Nicht vor +Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern +den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern +ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum +nur kostet, hält lange damit Haus, er freuet sich dessen als eines +seltenen Glücks; aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen +lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.« + +Uns Heutigen kommt, wenn wir Wilhelm Meisters Irrwege betrachten, +nicht bloß die Frage, die ihm selber sich auf die Lippen drängt: + +»Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten +und wußten, was darauf zu tun sei, warum führten sie dich nicht +strenger? warum nicht ernster? warum begünstigten sie deine Spiele, +anstatt dich davon wegzuführen?«, sondern uns erscheint dieses ganze +geheimnisvolle Walten der Gesellschaft vom Turm als in hohem Grade +sonderbar. Goethe hat damit eine Einkleidung des Romans gewählt, die +seiner Zeit nahe lag und vertraut war, die aber zu dem Gut seiner Zeit +gehörte, das am schnellsten veralten mußte. Jedenfalls bringt uns +diese die Vorsehung spielende Gesellschaft den Roman nicht näher. + +Wenn Wilhelm Meisters Lehrjahre trotzdem einen hohen Wert als +Fundamentstein für den Bau des modernen deutschen Romans beanspruchen +können, so danken sie das dem tiefen und reichen Gedankenmaterial, +welches sie bergen. Wilhelm Meisters ~Bildungsgang~ ist ihr +Thema. Alles Einzelne, was er erlebt, auch jeder Irrtum, den er +begeht, dient seiner Bildung. In der Schauspielerzeit lernt er: +»Man soll sich vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit +auszuüben nicht Hoffnung hat.« Aber er trägt auch anderen Gewinn +davon. Er hat gelernt die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen +haben kann. Auch äußerlich hat er sich ausgebildet: er hat »viel von +seiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt«, seine Sprache und Stimme +ausgebildet. Aber sein Bildungstrieb geht weiter. Ihm schwebt jene +»harmonische Ausbildung« vor, die ihm seine Geburt versagt zu haben +scheint, weil sie nach der herrschenden Verfassung der Gesellschaft +nur dem Edelmann, nicht dem Bürger zukommt. »Ein Bürger kann sich +Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; +seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er +will.« Dem Edelmann dagegen ist eine gewisse allgemeine, personelle +Ausbildung möglich; »er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß +dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine, stille Gefühl der +Grenzlinie, die ihm gezogen ist.« Goethe läßt seinen Helden durch den +Umgang mit jenen Adelskreisen, schließlich durch die Heirat mit einer +Adligen in dieses Sperrgebiet harmonischer Ausbildung eindringen. +So gewinnt der Roman zugleich soziale Bedeutung; der dritte Stand, +der sich in der französischen Revolution so nachdrücklich in die +Weltgeschichte eingeführt hatte, pocht mit starker Hand an die ihm +bisher verschlossenen Pforten. Goethe öffnet ihm das Paradies der +Bildung; und in der schließlichen engen Verbindung des Bürgers- +und des Adelsstandes, einer Verbindung, die noch durch zwei andere +Ehebündnisse dokumentiert wird, läßt er in prophetischer Voraussicht +Schranken fallen, die vielen dazumal noch als unüberwindlich galten. + +Neben diesen Grundgedanken ist in dem breiten Gedankenstrom der +Lehrjahre noch manches Tiefe und Wertvolle auf uns gekommen, teils +in engerem, teils in loserem Zusammenhang mit der Hauptidee. Ich +schätze diesen Reichtum des Werkes höher als etwa die Art seiner +Charakterschilderung. So sehr die bunte Reihe kaleidoskopartig +auftauchender und wieder verschwindender Figuren benützt wird, um +Wilhelm Meister zu bilden, -- klar und scharf herausgearbeitet sind +die wenigsten von ihnen. Ja es zeigt sich gerade in diesen Gestalten +ein ganz eigentümlicher Mangel an konkreter Darstellung. Mehr als +eine von ihnen ist sozusagen ohne Zusammenhang mit der umgebenden +Welt. Ihr Wesen wird nur in ein paar wichtigen Zügen der inneren Art +gezeichnet; alles andere bleibt im Dunkel. Der Mensch kann aber nicht +ortlos, zeitlos, geschichtslos geschildert werden. Infolgedessen +bleiben manche der Goetheschen Personen geradezu Gerüste, die mit +ein paar gerade erforderlichen Eigenschaften behängt sind. Die +Methode der Namengebung paßt ganz zu diesem Verfahren. Da kommt der +Graf, der Prinz, der Marchese; wo aber wirklich ein bestimmter Name +einem bestimmten Träger gegeben wird, bleibt es für gewöhnlich beim +Vornamen: Lothario, Friedrich, Marianne, Philine, Natalie usw. + +All dies hängt aufs engste mit der Art zusammen, wie Goethe im Wilhelm +Meister bestimmte geschichtliche Einzeichnung in eine klar erkennbare +Zeit vermeidet. Seine Zeit ist natürlich die Zeit des Romans. Manche +Einzelheiten lassen das erkennen. Der prinzliche Heerführer ist z. B. +Prinz Heinrich von Preußen. Aber das sind Einzelheiten; und auch sie +geben nur zufällige Winke. Rings um die handelnden -- oder vielmehr +meist nicht handelnden -- Personen brauen wallende Nebel, wogt +ungewisses Dämmerlicht. Allenfalls die Theaterverhältnisse sind klarer +beschrieben; aber auch hier ist die Zeichnung nicht scharf. Nur in +Einem ist das Wesen der Zeit klar wiedergegeben: in Stimmungen und +Gedanken über die innersten Fragen menschlicher Charakterentwickelung, +wie das oben zu schildern versucht wurde. -- + +Ich darf »~Wilhelm Meisters Wanderjahre~« hierfüglich übergehen. +Sie sind nichts als eine Folge von Novellen; der einheitliche +Romancharakter fehlt ganz. Sie stehen noch viel mehr wie die Lehrjahre +im Banne des reinen, abstrakten Gedankens; und noch viel stärker +als in diesen verblaßt in den Wanderjahren alles Persönliche, alles +Konkret-Zeitliche, alles Individuelle. Liebhaber tiefer und feiner +Gedanken, die sich nicht scheuen, solche unter schwerverständlicher +Symbolik mühsam zu ergründen, finden selbstverständlich auch hier ihre +Rechnung. Aber ein Roman sind die Wanderjahre nicht. Dagegen muß an +dritter Stelle hier die Rede sein von den Wahlverwandtschaften, -- ob +man dies Werk nun als Novelle oder, wozu seine umfassende Anlage doch +wohl berechtigt, als Roman bezeichnet. + +Auch die »~Wahlverwandtschaften~« zeigen, wieviel Goethe für +die erzählende Prosadichtung der ~Gedanke~ bedeutete. Auch +hier wieder die langen Unterhaltungen über allerhand allgemeine +Gegenstände. Auch hier die eingestreuten Sentenzen, in Bündel +gesammelt in den Abschnitten aus Ottiliens Tagebuche. Man hat den +Eindruck, daß Goethe vielmehr daran lag, diese wertvollen Gedanken und +feinen Aperçus unterzubringen, als eine bestimmte Handlung einheitlich +und geschlossen durchzuführen. Auch hier wieder jene undeutliche +Umzeichnung des Erzählungsgebiets, jene Zeit- und Geschichtslosigkeit +des Ganzen. Eduard ist ein reicher Baron. Aber wann? Und wo? Eduard +zieht in den Krieg. Aber in welchen? Endlich auch hier jene +Unpersönlichkeit mancher Persönlichkeiten, z. B. des lediglich nach +seiner Vermittelungsleidenschaft benannten Mittler, aber auch anderer: +des Grafen, der Baronesse, ja bis zu einem gewissen Grade selbst der +Hauptpersonen. + +Auf der anderen Seite aber stehen für den Roman doch nicht bloß +eine große Zahl feiner Einzelgedanken und tiefsinniger Gespräche, +auch nicht allein die viel stärker hervortretende Kunst in der +Charakterisierung der wichtigsten Personen. Äußerlich genommen, fehlt, +wie angedeutet, manches, um sie zu klar umrissenen Persönlichkeiten +zu machen; aber ihr Inneres ist mit ganz anderer Kraft und Liebe +gezeichnet, als das von den Personen im Wilhelm Meister gelten +konnte. Genannt sei nur Ottilie, die mit feinster Seelenkunde und +mit wunderbarer Liebe geschildert ist. Wichtiger aber noch ist mir +an den »Wahlverwandtschaften«, wie in ihnen ~Gedanke und Handlung +zu einem Ganzen verschmolzen sind~. Die Handlung ist nicht mehr +die Gelegenheit, eine Reihe von Gedanken, die man sonst nicht gut +plazieren kann, auf gute Manier loszuwerden; sondern sie ist die +Durchführung des Gedankens selbst. Die Gedanken gehen nicht mehr neben +der Entwickelung her, sondern sie prägen sich in ihr aus. ~Die +Handlung ist der Ausdruck des Gedankens, der Gedanke die Seele der +Handlung.~ Damit ist der gewaltigste Schritt in der Entwickelung +des Romans getan. + +Eduard und Charlotte, die sich erst in reiferem Alter, aber durchaus +infolge von Neigung und Liebe zur Ehe verbunden, leben auf stattlichem +Schlosse, beide mit der Absicht, allein für einander zu leben. Aber +sie gewähren bald noch zwei Nahestehenden die Teilnahme an ihrer +Häuslichkeit, dem Hauptmann und Ottilien. Charlotte hat dieser +Gewährung nicht ohne Bedenken zugestimmt. Und in der Tat: es kommt +hier mit den vier auf engem Raum vereinigten Menschen, wie es in +der Chemie mit verwandten Substanzen zu geschehen pflegt. Da sind +diejenigen Fälle des gegenseitigen Sichanziehens und Sichscheidens +die merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses +Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen +kann, wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung +gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue +verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen +und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man +traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu, und hält das +Kunstwort Wahlverwandtschaften für vollkommen gerechtfertigt. + +Es kommt mir hier nicht darauf an, den Gang der Erzählung +wiederzugeben; dazu sind Goethes Dichtungen zu allgemein bekannt. Nur +das Problem, das der Roman behandelt, soll herausgestellt werden. +Es geschieht, was in dieser Beschreibung des chemischen Prozesses +angedeutet ist: Eduard faßt eine tiefe und erwiderte Neigung zu +Ottilie; und Charlotte und der Hauptmann finden sich gleichfalls in +gegenseitiger Liebe. Die weitere Entwickelung verläuft nicht ohne +Berücksichtigung der Eigenart jeder in Betracht kommenden Person. +Der Hauptmann und Charlotte wissen sich zu beherrschen; nicht +ebenso Eduard und Ottilie. Eduard entbrennt zu heftiger, auch durch +lange Entfernung nicht gemilderter Leidenschaft. Ottilie ihrerseits +verzichtet erst, nachdem Eduards und Charlottes ihr anvertrautes Kind +nicht ohne ihre Schuld den Tod gefunden hat, das Kind, das durch +seine Gesichtszüge der Zeuge der Liebe ist, die jedes der Eltern, die +ihm sein Leben gegeben, für einen andern als den Ehegatten gefühlt. +Eduard, völlig haltlos seiner Leidenschaft hingegeben, geht an ihr +zugrunde. Das Problem hat seine Lösung gefunden. Die Menschen haben +Wahlverwandtschaft gefühlt, wie jene chemischen Substanzen sie haben. +Aber sie haben sich nicht willenlos wie diese verhalten. Wenn auch +durch unendlich viel Weh hindurch, -- die ursprüngliche, durch die +Ehe gegebene Gemeinschaft ist aufrecht erhalten. Das ist die völlig +einheitliche, in allen Verwickelungen klar durchgeführte Absicht: +die Heiligkeit, die Unlösbarkeit der geschlossenen Ehe soll gezeigt +werden. Und -- vom Wert dieser These hier gar nicht zu reden -- die +Konsequenz, mit welcher dieses eine Thema behandelt wird, und zwar +nicht nur disputatorisch und abstrakt, sondern wie die Geschehnisse +selbst es behandeln, -- diese Art macht die Wahlverwandtschaften zum +ersten Roman, der -- obschon mit manchen Schwächen -- der Idee des +Romans voll entspricht. Sie gestaltet ihn zu einem einheitlichen, +in der Handlung selbst und nach den scharf erfaßten Gesetzen +seelischer Anlagen das Leben abbildenden und die Gedanken des Lebens +wiedergebenden Kunstwerk. -- + +Lassen Sie mich, nachdem ich die drei Hauptwerke Goethes auf dem +Gebiete der erzählenden Dichtung in Kürze gewürdigt habe, mit ein +paar Sätzen zusammenfassend die ~Bedeutung Goethes für den modernen +deutschen Roman~ skizzieren! + +Diese Bedeutung beruht ~zunächst~ auf der tiefen ~psychologischen +Kraft~, mit welcher Goethe Menschen seiner Zeit erfaßt und dargestellt +hat. Was seinen Romanen auch auf dem Gebiete der Psychologie +Unbefriedigendes anhaftet, ist genügend erwähnt. Aber die Tatsache wird +davon nicht berührt, daß ~er der Erste war, der es verstand, Menschen +bis in die Tiefe der Seele zu schauen~. Was ist hier Wieland gegen +Goethe? Ein Stümper gegenüber dem Meister. Wie bleibt bei Wieland, auch +in seinem Agathon, jeder psychologische Ansatz auf der allerobersten +Oberfläche! Und wie tief greift der Werther! Wie tief auch die +Wahlverwandtschaften, ja in vielem auch Wilhelm Meister! Es bleibt ja +dabei, daß wir auch von ihm keine allseitig ausgeführten, nach den +mannigfachen Verzweigungen menschlicher Interessen hin weitergeführten +Charakterbilder erhalten. Die psychologische Kraft konzentriert sich +stets nur auf ein enges Gebiet: im »Werther« auf die wahnsinnige +Leidenschaft des Mannes zum Weibe, im »Meister« auf das Streben eines +glücklich beanlagten Bürgerlichen nach der harmonischen Ausbildung +seiner ganzen Persönlichkeit, in den »Wahlverwandtschaften« auf die +gegenseitigen Beziehungen der durch Ehe oder Wahlverwandtschaft mit +einander verbundenen Personen. Aber in dieser Beschränkung bewundern +wir den ungeheuren Reichtum, die fein pointierte Einzelkraft seiner +psychologischen Wiedergabe. + +~Zum andern~ muß trotz aller Einwendungen, die erhoben wurden, +doch gelten, daß Goethe auch in der ~Art, wie seine Romane zum +Zeitbild werden~, alle Vorgänger weit hinter sich gelassen hat. +Allerdings, man wird es ja so, wie geschehen, formulieren müssen. Sie +~wollen~ kaum ein Zeitbild sein; sie ~werden~ es nur. Hätten +sie es gewollt, sie würden den Leser ganz anders in die Welt Goethes +eingeführt haben, als sie es tun. Goethe hat diese Aufgabe dem Roman +nicht klar gestellt. Trotzdem hat er dieselbe wenigstens angefaßt. +Wir sahen, wie der »Werther« in die sozialen und in die moralischen +Stimmungen der Zeit hineinleuchtet. Wir sahen, wie »Wilhelm Meister« +nicht etwa bloß die Theaterverhältnisse beschreibt, sondern wie er +die gesamte aufstrebende Bildungssehnsucht des deutschen Bürgers +samt den ihn begegnenden Hindernissen versinnbildlichte. Und auch +die »Wahlverwandtschaften« lösen ein Zeitproblem: die Ehe und den +Ehebruch. Und daß so nicht irgendwelche erkünstelte Altertümelei, +sondern einfach das Wesen der Zeit seine Prosaschöpfungen beseelt, das +hat ihnen weitreichende Wirkung verschafft. + +~Endlich~ -- indem ich von der Fülle trefflicher Gedanken, +welche Goethes Romane bergen, hier nicht nochmals besonders rede +-- beruht Goethes Bedeutung für den modernen deutschen Roman auf +der ~Kunst, mit welcher er durch die Entwickelung der Handlung +selbst zu reden weiß~. Handlung ohne Gedanken hat auch der +Schauerroman, Gedanken ohne Handlung bilden gar keinen Roman; und +eine Handlung, in die Gedanken gesprächsweise lose eingefügt sind, +schafft ein Zwitterwesen, aber kein Kunstwerk. Der »Werther« und +vor allem die »Wahlverwandtschaften« haben alle diese Klippen +-- im ganzen genommen -- überwunden. Hier haben die Handlungen +selber Gedanken. Und indem die Handlung zugleich den Gesetzen des +psychologischen Geschehens folgt, verlieren auch die Gedanken den +Charakter des Zufällig-Herangebrachten. Hier, vor allem in den +»Wahlverwandtschaften«, haben wir ein, wenn auch nicht vollkommenes, +aber doch meisterhaftes Vorbild für die eigentliche Kunstform des +modernen Romans. + +Wir haben von Goethe selbst einige Äußerungen theoretischer Art über +das Wesen des Romans. Im »Werther« sagt Lotte: + +»... Der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, +bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so +interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das +freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher +Glückseligkeit ist.« + +Und im »Wilhelm Meister« vergleicht er Roman und Drama: + +»Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der +Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußeren +Form ... Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten +vorgestellt werden, im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß +langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf +welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung +aufhalten. ... Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht in hohem +Grade wirkend sein; von dem Dramatischen verlangt man Wirkung und Tat +....« + +Es ist deutlich, daß diese Bestimmungen wertvolle Elemente für die +Erkenntnis des Wesens des Romans enthalten. Bis zu einem gewissen +Grad stellt der Leser mit Recht den Anspruch, im Roman seine Welt +wiederzufinden. Wenn es im Roman so »zugeht wie um mich«, so ist +damit ein gut Teil Realistik, ein ernstes Stück Wirklichkeitskraft +verlangt. Und daß der Roman Gesinnungen und Begebenheiten darstelle, +trifft gleichfalls zu. Aber gerade diese letzte Definition bedarf +der Korrektur. Es darf kein Gegensatz konstruiert werden zwischen +Gesinnungen und Begebenheiten einerseits, Charakteren und Taten +anderseits. Gesinnung und Charakter gehören so gut zusammen wie +Begebenheiten und Taten. Wenn der Romanheld wirklich leidend sein +müßte, dann kämen allerdings dem Roman nur Begebenheiten zu, nicht +Taten. Aber er muß handeln ~und~ leiden, wie das Leben handeln +und leiden läßt. Übrigens sind die Wahlverwandtschaften bereits +über den Rahmen dieses Programms hinausgegangen; es sind doch schon +Charaktere und in gewissem Sinne auch Taten, die hier den Handelnden +beigelegt werden. Nicht auf diesen Sätzen über den Roman, sondern auf +den Schöpfungen selbst ruht Goethes Bedeutung. + +Daß Goethe seinerseits auf Vorgängern fußte, will ich hier nur +andeuten. Die »+Nouvelle Héloise+« Rousseaus ist das Vorbild des +Werther gewesen: es sollte nicht das letzte Mal sein, daß französische +Romandichtung die deutsche beeinflußte. Aber was in Goethes Romanen +wirkte, das ist doch eben von ihm selber hineingelegt gewesen. Und sie +haben gewirkt! »Werther« hat eine ganze Literatur an Streitschriften +wie an Nachahmungen hervorgerufen. »Wilhelm Meister« ist bahnbrechend +geworden für den vielgepflegten Bildungsroman des 19. Jahrhunderts, +dem er geradezu das Schema geschaffen hat. Aber es sind nicht bloß +diese direkten, augenfälligen Wirkungen gewesen, welche von Goethes +Romandichtung ausgegangen sind. Nein, in alledem, was als die Kraft +dieser seiner Dichtung bezeichnet wurde, hat er Spätere tief und +nachhaltig beeinflußt: ~in der Tiefe der psychologischen Einsicht, +in der unbeirrten Wiedergabe des Zeitempfindens, in der Kunst, welche +Handlung und Gedanken in eins schuf. Durch all dies ward Goethe der +Schöpfer des modernen deutschen Romans.~ + + + + + Roman und Novelle der Romantik. + + +Goethe ist der Schöpfer des modernen deutschen Romans. Der Gesamtlauf +des 19. Jahrhunderts bestätigt diesen Satz. Der Anfang des 19. +Jahrhunderts allein kann ihn nicht erschüttern. + +Merkwürdig allerdings, daß die ersten Jahrzehnte desselben +unmittelbar nach Goethes großen Romanen, ja unter seinen Augen eine +Prosadichtung heranwachsen lassen, deren innerstes Wesen von jener +Wirklichkeitskraft Goethes, die das eigentliche Schöpferisch-Neue in +seinen Romanen bildet, so gut wie unberührt war! Spuren Goethescher +Einwirkung findet man freilich auch in den Romanen und Novellen +der Romantik. ~Novalis~ »Heinrich von Ofterdingen« behandelt +wie »Wilhelm Meisters Lehrjahre« eine Bildungs-Entwickelung, +~Schlegels~ »Lucinde« gibt gleichfalls eine Art Lehrjahre. Aber +nicht die abgeklärte psychologische Kraft aus »Wilhelm Meister« +finden wir hier wieder, -- vielmehr eher das, was den »Werther« +gegenüber allem Späteren als ein Werk jugendlichen Sturmes und Dranges +kennzeichnet: den Überschwang, die Maßlosigkeit, die Krankhaftigkeit +der Gefühle. Es war mehr die Form, die Leitidee, die man Goethe +entnahm; sein Geist war in der Romantik nicht lebendig. + +Viel eher kann man in den romantischen Erzählungen die Nachwirkungen +eines Anderen, dazumal Hochgefeierten und doch sehr viel Kleineren +spüren, des unendlich fruchtbaren ~Jean Paul~. Er ist 1825 +gestorben; aber seine Zeit ist die des 18. Jahrhunderts, dessen Ende +die Entstehung seiner bedeutendsten Romane sah. Erwarten Sie hier +keine ausführliche Darlegung über seinen »Titan«, seinen »Siebenkäs« +oder seine »Flegeljahre«! Sie gehören alle zusammen dem zu Grabe +gegangenen Zeitalter an. Ich leugne nicht, daß in ihnen Tiefes, +Schönes, Ergreifendes steht. Ich leugne noch weniger, daß zahlreiche +Unterhaltungsschriftsteller, die sich im Übrigen ganz der modernen +Schule zurechnen, in ihrem ganzen Leben auch nicht einen einzigen +Gedanken von der Tiefe und der Anmut aufgebracht haben, welche +unzählige Stellen in Jean Pauls Romanen aufweisen. Vielleicht schlagen +Sie einmal das 58. Kapitel der »Flegeljahre« auf, das den Titel +»Erinnerungen« führt: + +»Ich möchte wohl Tage lang über die kleinen Frühlingsblümchen der +ersten Lebenszeit reden und hören. Im Alter, wo man ohnehin ein +zweites Kind ist, dürfte man sich gewiß erlauben, ein erstes zu sein +und lange zurückzuschauen ins Lebens-Frührot hinein. Da offenbar' +ichs gern, daß ich mir höhere Wesen, z. B. Engel, ordentlich weniger +selig aus Mangel an Kindheit denken kann, wiewohl Gott vielleicht +keinem Wesen irgend eine Kindheits- oder Vergißmeinnichtszeit mag +abgeschlagen haben, da sogar Jesus selber ein Kind war bei seiner +Geburt. Besteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Lust und +Hoffnung, Bruder, und die Frühregen der Tränen fliegen darüber nur +flüchtig hin?« -- -- -- + +Aber bei allem Tiefen und Feinen und Zarten, das in diesen Romanen +steckt, fehlt ihnen doch ein wichtiges Erfordernis gerade des +Romans: Klarheit und Schärfe in der Erfassung und in der Darstellung +des wirklichen Lebens. Charakteristische Streiflichter, treffende +satirische Bemerkungen, brillante Humoristika, auch einmal frappante +Zeichnungen irgend welcher Originalfiguren, -- das alles haben sie. +Aber eben dies alles bleibt eine Summe von beigegebenen Einzelheiten. +Die Kraft des Ganzen ist Gemüt und Geist, aber nicht Wahrheit. Tausend +Lichter und Schatten huschen über die ruhige, klare, nüchterne +Menschenwelt. Warum sie sehen, wenn die Beleuchtung die objektivste +Betrachtung ermöglicht? Warum nicht lieber, wenn die Dämmerung die +Umrisse etwas gefälliger macht oder wenn Nacht und Mond das Nüchterne +phantastischer gestalten? Warum Interesse nehmen am Gewöhnlichen, +Alltäglichen und nicht lieber am Besonderen, Seltenen, Sonderbaren, -- +und wenn es gleich verschroben wäre? Warum die Menschen sehen, wie sie +dem Auge sich bieten? Warum nicht lieber aus ihrer Seele verborgensten +Winkeln ihre Merkwürdigkeiten herausholen? -- Und endlich hat +Jean Paul noch eins nie verstanden: nämlich warum der Dichter die +prosaische Pflicht haben solle, einfach nach der Ordnung der Dinge +in Reih und Glied zu erzählen. Ihm paßt es viel besser, Ruhepunkte +einzuschieben, die zu beschaulichen Betrachtungen Gelegenheit geben, +Seitensprünge zu machen, die angenehme Abwechslung bringen. Aber was +bei alledem herauskommt, das ist schließlich eine seltsame Mischung +von ein wenig Wahrheit mit viel Dichtung, von wenig Zusammenhang +und vielen einzelnen Schönheiten, von manchem Natürlichen und +unendlich viel Schrulligem, von Ernst und Humor, von Wirklichkeit und +Phantastik. Weltbilder, Menschenbilder geben diese Romane nicht, nur +ein Bild einer reichen, tiefen, wennschon seltsamen Seele, nämlich der +des Verfassers. + +Dieses Mannes Einfluß auf seine Zeitgenossen ist nicht zu +unterschätzen. In ~Börne's~ Denkrede nach seinem Tod hieß es: +»Fragt ihr, wo er geboren, wo er gelebt, wo seine Asche ruhe? Vom +Himmel ist er gekommen, aus der Erde hat er gewohnt, unser Herz +ist sein Grab.« Kein Wunder, daß auch die Dichtkunst sich von ihm +bestimmen ließ. In manchem Phantastischen und Bizarren, in manchem +Poetisch-Feinen, vor allem aber in der Unbesorgtheit um die wirkliche +Welt, wie die romantische Schule sie zeigt, erkennen wir -- bei aller +sonstigen Eigenart Jean Pauls -- doch eben Geist von seinem Geist. + +Die ~Romantik~ war es, welche in den ersten Jahrzehnten des 19. +Jahrhunderts auch Roman und Novelle weithin beherrscht hat. Was ist +die Romantik? Eine Stimmung, die überall sein kann, nur da nicht, +wo scharfes, helles Licht die Dinge in ihrem Wirklichkeitsbestand +zu sehen zwingt. Aber sie gedeiht, wo Helldunkel herrscht, wo das +Licht einen farbigen, milderen Ton bekommt, wo die Sonnenstrahlen nur +durch dichtes Strauchwerk spärlichen Schein werfen können, wo hohe +Kirchenfenster ihnen eine feierliche Weihe geben. Und noch besser +wächst sie empor, wo Dämmerung herrscht, wo die Schatten der dunkeln +Nacht zu regieren beginnen. Es ist klar, wo diese Stimmung ihre Feinde +sucht. Der klare Geist, der denkende Geist, der philosophische Geist, +der protestantische Geist sind ihr fremd; aber dem poetischen Zauber, +der Welt des Traums, dem katholischen Kultus, dem Wunder ist sie hold. + +Diejenige dichterische Schule, der man den Namen der romantischen zu +geben pflegt, ist in Roman, Erzählung und Novelle fruchtbar genug +gewesen. Hier soll keine Registratur von Namen und Titeln ihren Platz +finden. Aber an ~Novalis~, ~Friedrich von Schlegel~ und ~Ludwig Tieck~, +an ~Eichendorff~ und ~Brentano~, an ~Friedrich de la Motte-Fouqué~ und +~Kleist~ muß wenigstens in Kürze erinnert werden. Einiger bedeutenderer +Werke aus dieser Zeit und von dieser Art wird im Folgenden besondere +Erwähnung getan werden. Denn wie läßt sich das, was die Romantik auf +diesem Gebiet geschaffen, besser darstellen als durch die Einführung in +einige ihrer charakteristischen Werke? Wie lassen sich die wunderbar +mannigfaltigen Arten dieser Gattung klarer überschauen, als wenn man +versucht, die wichtigsten derselben wenigstens in ~einer~ Dichtung zu +erfassen? + +Im Roman der Romantik regiert die Stimmung des ~Dichters~. Und +zwar des Dichters im besonderen, eigentümlichsten Sinn. Manche können +Dichter und Träumer nicht unterscheiden; soweit die Romantik in Frage +kommt, haben sie Recht. So ists denn kein Zufall, daß der einzige +Roman des gefeierten ~Novalis~, der unvollendet gebliebene +»~Heinrich von Ofterdingen~«, eine Dichtung über den Dichter +ist. Novalis hat nach Ludwig Tiecks Bericht noch sechs andere Romane +schreiben wollen, um darin seine Ansichten über Physik, bürgerliches +Leben, Handlung (d. h. Handel), Geschichte, Politik und Liebe +niederzulegen, so wie in Heinrich von Ofterdingen die über Poesie. Mit +der Poesie begann er; sie lag ihm am nächsten. + +Im Mittelpunkt des Romans steht der bekannte mittelalterliche +Minnesänger Heinrich von Ofterdingen. Aber Novalis hat sich weder +genau an die Person noch an die Zeit desselben gehalten. Er läßt +Heinrich als eines Handwerkers Sohn zu Eisenach geboren sein. Der +Jüngling reist mit der Mutter nach Augsburg ins großväterliche Haus. +Die Reisegesellschaft bilden Kaufleute, die das gleiche Ziel haben. +Unterwegs machen die Reisenden die Bekanntschaft eines Bergmanns, der +sie in eine mächtige Höhle führt. In dieser Höhle findet man Friedrich +von Hohenzollern als Einsiedler hausen. Die Reise wird fortgesetzt; +in Augsburg lernt Heinrich den Dichter Klingsohr und seine Tochter +Mathilde kennen. Mit der Verbindung Heinrichs mit Mathilde schließt +der erste Teil: »Die Erwartung«. Im zweiten Teil, der den Titel +»Die Erfüllung« tragen sollte, wird Heinrich in einem Kloster von +den Priestern des heiligen Feuers in jungen Gemütern über Tod und +Magie unterwiesen; dann befindet er sich in Italien im Krieg, in +Griechenland in Gesprächen über Kunst und Moral, im Morgenland, wo er +dessen Leben in Vergangenheit und Gegenwart kennen lernt, in Rom, +in Deutschland am Hof Kaiser Friedrichs. Nach wunderbarem Wettgesang +erlebt er seine Verklärung. + +So arm an Handlung der erste Teil ist, so reich an Abwechslung +sollte danach der zweite werden. An Abwechslung, aber auch er nicht +an Handlung. Verschiedene Schauplätze, aber an jedem nicht viel +anderes als Gespräche, Märchen, Sagen, Phantasien. Die Ausführung +wäre gewiß in derselben Art gehalten worden wie in dem fertig +gestellten Bruchstück. Dessen Charakter ist freilich ausgeprägt +genug. Seine Welt ist die Wunderwelt. Die Gesetze des Geschehens +existieren in ihr nicht. Die auftretenden Personen kommen gar nicht +als Personen in Betracht, geschweige denn als besondere, individuelle +Menschen; sie sind nichts als das Sprachrohr für sinnvolle Märchen, +tiefe Belehrungen. Es werden auch nicht etwa die gleichen Personen +festgehalten, sondern sie kommen und gehen, ja sie selbst sind +urplötzlich wieder andere Personen. Novalis lebt in der Welt des +Traums, des phantastischen Märchens. Seine einzige Absicht ist, »das +eigentliche Wesen der Poesie auszusprechen und ihre innerste Absicht +zu erklären«. Ihm wandelt sich alles in Poesie; denn sie ist der +Geist, der alle Dinge belebt. Eben in diesem Wesen der Poesie liegt +es ihm beschlossen, daß in seiner Dichtung Zeit und Raum aufhören. +~Tieck~, dessen Worte ich eben schon mehrfach benützt habe, weiß +diese Denkart trefflich zu schildern: + +»Dem Dichter, welcher das Wesen seiner Kunst im Mittelpunkt ergriffen +hat, erscheint nichts widersprechend und fremd, ihm sind die Rätsel +gelöst, durch die Magie der Phantasie kann er alle Zeitalter und +Welten verknüpfen, die Wunder verschwinden und alles verwandelt sich +in Wunder.« + +Das, was der erste Teil dieses wirklich wunderbaren Romans gibt, +ist nun freilich von gewaltiger dichterischer Schönheit. Gleich im +Eingang wird ein Traum berichtet, dessen Verlauf für die Entwicklung +des Romans bedeutsam ist; Heinrich schaut in ihm die blaue Blume der +wirklichen Dichtung. Erst durchlebte er im Traum ein unendlich buntes +Leben, starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft und +war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen +Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner +Seele; klarer und bleibender wurden die Bilder ... Nach wunderbaren +Wegen kommt er endlich zur Stätte der blauen Blume. + +»Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger +Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als +das gewöhnliche; der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn +aber mit voller Macht anzog, war eine hohe, lichtblaue Blume, die +zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden +Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von +allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah +nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer +Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal +sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender +und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich +nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten +Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.« + +Diese blaue Blume, die Poesie, bildet das Ziel der Gesamtentwicklung +des Dichters. Am letzten Ende kommt Heinrich »in jenes wunderbare +Land, in welchem Luft und Wasser, Blumen und Tiere von ganz +verschiedener Art sind, als in unserer irdischen Natur.« »Menschen, +Tiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Elemente, Töne, Farben kommen +zusammen wie Eine Familie, handeln und sprechen wie Ein Geschlecht. +-- Blumen und Tiere sprechen über den Menschen. -- Die Märchenwelt +wird ganz sichtbar, die wirkliche Welt selbst wird wie ein Märchen +angesehen.« In diesem Land findet Heinrich die blaue Blume, -- +freilich nicht ohne daß nun an diese Blume Allegorie um Allegorie +sich anschließen. Die blaue Blume ist »Mathilde, die schläft und den +Karfunkel hat; ein kleines Mädchen, sein und Mathildens Kind, sitzt +bei einem Sarge und verjüngt ihn. -- Dieses Kind ist die Urwelt, die +goldene Zeit am Ende.« + +Eine Probe dichterischer Schöpfungskraft ist dieser Traum von der +blauen Blume; eine Probe wunderbar in Phantastik und Allegoristik +verschwimmender Darstellung ist die Erzählung von der Auffindung +dieser blauen Blume, wie sie eben kurz angedeutet ward. Das ist ja +eben das Wesen des ganzen Fragments: ~dichterische Herrlichkeit, +vermählt mit märchenhafter Unmöglichkeit~. Im Sinne des Dichters +ist diese Vermählung natürlich; ihm liegt die Poesie weit hinaus über +die Welt des Wirklichen. Im Sinne der Romantik ist diese Verbindung +verständlich; Novalis hat die romantische Art nur bis zur äußersten +Spitze getrieben. Alles Wirkliche, alles Tatsächliche liegt hinter +ihm in wesenlosem Scheine. Wir aber fragen, ob wirklich Poesie +und Märchenwelt untrennbar verbunden sind, ob der Haß gegen die +Tatsachen, der in dieser Liebe für das Wunderbare beschlossen ist, zum +eigentlichen Wesen der Poesie gehört. Vor allem aber ist der »Heinrich +von Ofterdingen« durch diesen Haß alles andere als ein Roman geworden. +Nichts von Welt und Zeit, nichts von Handlung und Empfindung, nichts +von Entwicklung und Psychologie. ~Der gefeiertste Roman der Romantik +ist ein mystisch-allegorisches Märchenwerk, aber nun und nimmer ein +Roman.~ + +Was für ein anderes Leben in einer weiteren Schöpfung der Romantik, +die gerade des Gegensatzes wegen unmittelbar neben den »Heinrich +von Ofterdingen« gestellt sein mag, -- in ~Joseph Freiherrn +von Eichendorffs~ reizender Novelle »~Aus dem Leben eines +Taugenichts~«. Dort alles ernste, tiefe, getragene Poesie; hier +alles frische, fröhliche, muntere Laune. Das Rad an der Mühle braust +und rauscht lustig, die Goldammer am Fenster ruft gleichfalls lustig: +»Bauer, behalt deinen Dienst!« und der Müllerssohn zieht mit seiner +Geige und ein paar Groschen Geld zufrieden in die weite Welt hinaus. + + »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, + Den schickt er in die weite Welt, + Dem will er seine Wunder weisen + In Berg und Wald und Strom und Feld!« + +Was erlebt der Wandersmann nicht alles in der weiten Welt! Ein paar +schöne Damen heißen ihn auf ihrer Kutsche aufsitzen; im Schlosse, +da sie wohnen, wird er Gärtner und huldigt der »schönen gnädigen +Frau«; und die gnädige Frau nimmt seine Huldigung an. Er avanciert +zum Zolleinnehmer und führt ein Leben in Nichtstun und Verehrung der +»schönen gnädigen Frau«. Bis er seine Angebetete einst an der Seite +eines jungen Herrn auf des Schlosses Balkon erscheinen sieht. Da läßt +er alle Bequemlichkeit im Stich und zieht wieder mit der Fiedel ins +Land. Er kommt nach Italien und in ein schönes Schloß und wird dort +gehegt und gepflegt und entflieht wieder, weil er eingesperrt wird, +und kommt nach Rom und glaubt seine »schöne gnädige Frau« zu sehen und +findet sie doch nicht. Aber auf eine Botschaft hin kehrt er zu jenem +ersten Schloß bei Wien zurück und erhält die Hand der gnädigen Frau, +-- nur daß sie keine Gräfin ist, wie er geglaubt, sondern die Nichte +des Portiers. Aber was tut das? Sie lassen die ganze andere Welt um +sich untergehn und haben sich lieb und alles, alles ist gut! Durch die +ganze Erzählung hindurch ists ja von Abenteuer zu Abenteuer gegangen; +der Taugenichts ist von Ort zu Ort und von Land zu Land gekommen und +hat nicht gewußt, wie ihm geschah und der Leser hats ebenso wenig +gewußt. Nur eins hat er gemerkt, daß es auf jeder Seite klingt wie +Lieb und Lust, wie Jubel und Jauchzen, wie Lerchenzwitschern und +wunderbar schöner Gesang. Und das hat er gelernt, daß es dem Dichter +nicht darauf ankommt, ein Stückchen zu berichten, wie es geschehen +sein könnte oder etwa noch einmal vor sich gehen möchte, sondern daß +ihm die Laune die Feder geführt und der Übermut in allen Fingern +gezuckt hat, weil er -- ob noch so wunderlich und noch so toll -- dies +allein zeigen wollte: + +»Die Liebe -- darüber sind nun alle Gelehrten einig -- ist eine der +kouragiösesten Eigenschaften des menschlichen Herzens, die Bastionen +von Rang und Stand schmettert sie mit einem Feuerblicke darnieder, +die Welt ist ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja, sie ist +eigentlich ein Poetenmantel, den jeder Phantast einmal in der kalten +Welt umnimmt, um nach Arkadien auszuwandern. Und je entfernter zwei +getrennte Verliebte von einander wandern, in desto anständigeren Bogen +bläst der Reisewind den schillernden Mantel hinter ihnen auf, desto +kühner und überraschender entwickelt sich der Faltenwurf, desto länger +und länger wächst der Talar den Liebenden hinten nach, so daß ein +Neutraler nicht über Land gehen kann, ohne unversehens auf ein paar +solche Schleppen zu treten.« + +Nun, was Eichendorff gewollt, das ist ihm trefflich gelungen. Wer +zieht nicht gern mit dem Taugenichts in die Welt? Wer singt nicht mit +ihm aus vollem Herzen: + + »Die Bächlein von den Bergen springen, + Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, + Was sollt' ich nicht mit ihnen singen + Aus voller Kehl' und frischer Brust?« + +Wem wendet sich nicht das Herz um, wenn die allerschönste Dame die +Gitarre in den weißen Arm nimmt und dazu so wundersam über den Garten +hinaus singt? Wer möchte nicht mit dem Taugenichts weinen, weil +~sie~ so schön ist und er so arm und verspottet und verlassen +von der Welt? Wer säße nicht gern mit ihm auf dem Bänkchen vor seinem +Einnehmerhaus, wenn die Sonne eben untergeht und das ganze Land +mit Glanz und Schimmer bedeckt und die Donau sich prächtig wie von +lauter Gold und Feuer in die weite Ferne schlängelt und von allen +Bergen bis tief ins Land hinein die Winzer singen und jauchzen? Und +so folgen wir ihm willig auch weiter, und kein Abenteuer ist uns zu +sonderbar und kein Rätsel zu toll; es ist eben ein Dichter von Gottes +Gnaden, der uns ins Wunderland führt. Es bedarf ordentlich erst +des Zwanges der Selbstbesinnung, um von dem holden Traum, den wir +mitgeträumt, zu erwachen. Ists nicht besser, weiter zu träumen -- ins +Unendliche hinein? Hat die Dichtung nicht ihre Aufgabe gelöst, wenn +sie uns die harte Wirklichkeit vergessen lehrt? Für die Romantiker: +ja. Von ihrem Standpunkt aus bedeutet die liebenswürdige Novelle +Eichendorffs einen Wurf von hoher Vollendung. Für uns andere aber +beginnt mit dem Erwachen auch die harte Pflicht des Zweifels. Nicht +etwa des Zweifels an der poetischen Schönheit und Lieblichkeit. Aber +des Zweifels, ob ein Werk den Namen Novelle mit Recht trage, welches +vielmehr ein Märchen ist denn eine Erzählung. Es bedarf ja keines +weiteren Wortes darüber: von der wirklichen Welt, in der wir leben, +führt uns Eichendorffs lustige Laune gerade so weit ab wie Novalis +mystische Allegorienfreude. Und wenn man der erzählenden Dichtung, +dem Roman wie der Novelle, das Gebiet der wirklichen Welt zuweist, +mit der Bestimmung, sie mit dichterischer Kunst zu durchdringen und +darzustellen, dann liegt auch Eichendorffs »Aus dem Leben eines +Taugenichts« weit, weit ab vom klar gezeichneten Wege. + +Es ist nicht möglich, ein vollständiges Bild der romantischen +Prosadichtung zu geben, ohne in die Schilderung wenigstens eine +knappe Skizze von ~Friedrich von Schlegels~ »~Lucinde~« +aufzunehmen. Diese Sammlung von Fragmenten zu einem Roman hat zu +viel Anlaß zu Streit und Widerstreit, zu Begeisterung und deutlicher +Ablehnung gegeben, sie ist zugleich allzu charakteristisch für weite +und breite Strömungen innerhalb der romantisch gestimmten Kreise, +als daß sie hier übergangen werden könnte. ~Schleiermacher~ hat +einst, bald nach ihrem 1799 erfolgten Erscheinen, in »Vertrauten +Briefen über Schlegels Lucinde« sie ein »ernstes, würdiges und +tugendhaftes Werk« genannt. Aber auch ~Schleiermacher~ stand +damals im Bann der Romantik; und sein Urteil war kein objektives. +Max ~Koch~ nennt das Buch sehr treffend eine »kraft- und +formlose Empfehlung der freien Liebe«. Aber lassen wir das Urteil +vom Standpunkt der Moral einmal ganz beiseit, wie wir auch bisher +nicht den Maßstab bestimmter Anschauungen angelegt haben! Was ists +eigentlich um die »Lucinde«? + +Eine Reihe von äußerlich nicht zusammenhängenden Skizzen zieht am +Leser vorüber; gemeinsam ist ihnen der Titel: Bekenntnisse eines +Ungeschickten. Es sind Briefe, Phantasien, eine »Allegorie von der +Frechheit«, eine »Idylle über den Müßiggang«, Betrachtungen und, +unter dem Titel »Lehrjahre der Männlichkeit«, eine zusammenhängende +Schilderung. Julius ist der Held derselben. Ein völlig zerrütteter, +haltloser, dekadenter Charakter. »Eine Liebe ohne Gegenstand brannte +in ihm und zerrüttete sein Inneres. Bei dem geringsten Anlaß brachen +die Flammen der Leidenschaft aus; aber bald schien diese aus Stolz +oder aus Eigensinn ihren Gegenstand selbst zu verschmähen, und wandte +sich mit verdoppeltem Grimm zurück in sich und auf ihn, um da am Mark +des Herzens zu zehren.« »Es war ihm, als wollte er eine Welt umarmen +und könne nichts greifen. Und so verwilderte er denn immer mehr und +mehr aus unbefriedigter Sehnsucht, ward sinnlich aus Verzweiflung am +Geistigen, beging unkluge Handlungen aus Trotz gegen das Schicksal +und war wirklich mit einer Art von Treuherzigkeit unsittlich.« Die +Art, wie er liebt, bildet den Stoff der weiteren Erzählung. Er liebt +ein edles Mädchen, aber er kommt in dem Augenblick zur Besinnung, wo +er den Blütenkranz der Unschuld mutwillig hatte zerreißen wollen. Er +wirft sich an ein Weib weg, das am freiesten lebt und am meisten in +der guten Gesellschaft glänzt. Als er mit ihr bricht, gibt sie sich +den Tod. Er findet zuletzt in Lucinde eine gleichgestimmte Seele. +»Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte +sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer +mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt +leben, sondern in einer eignen, selbstgedachten und selbstgebildeten. +Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich +für sie, alles andere nichts; und sie wußte, was Wert hat. Auch sie +hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande +zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig.« Beide finden sich +in schrankenloser, nun aber dauernder Liebe, deren Beschreibung auch +in den Briefen und Skizzen immer wieder den Grundton abgibt. Sie +sammeln um sich eine Zahl Ähnlichdenkender, eine freie Gesellschaft +oder eine große Familie. Aber die volle Harmonie findet Julius auch in +der Anregung seines Geistes »allein in Lucindens Seele, wo die Keime +alles Herrlichen und alles Heiligen nur auf den Strahl seines Geistes +warteten, um sich zur schönsten Religion zu entfalten.« + +Aber diese Inhaltsangabe stellt noch nicht die ganze Art des +merkwürdigen Buches klar. Seine Eigentümlichkeit besteht nicht in +dem Bruchstückartigen, nicht in den beschriebenen Liebesbegebnissen, +sondern in der Schilderung selbst. In ihr einen sich Schwärmerei und +Sinnlichkeit zu einem schwülstigen Ganzen. Es fehlt dem Helden an +jeder Selbstbeherrschung, an jeder Selbstzucht. Phantasie wie Wünsche +sind bei ihm gleich ausschweifend. Er verabscheut die entfernteste +Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, -- womit natürlich die Ehe +gemeint ist, -- wie jede Art von Zwang. Er ist dem kaum der Kindheit +entwachsenen Mädchen gegenüber einfach gewissenlos; aber auch im +Verkehr mit Lucinde spielt ungezügelte Sinnlichkeit eine erschreckende +Rolle. Umwoben aber sind alle diese Schilderungen mit einem Schwulst +von überschwänglichen Worten, von himmelstürmenden Tiraden. + +Ich verzichte auf eingehendere Beschreibung. Lucinde durfte nicht +übergangen werden: diese leidenschaftliche, in schöngeistiges +Gewand gehüllte Sinnlichkeit ist ja eben bezeichnend auch für die +romantische Dichtung. Zugestanden mag sein, daß Lucinde etwas mehr +mit der Wirklichkeit zu schaffen hat als der Heinrich von Ofterdingen +und als Eichendorffs Taugenichts. Die Lucinde ist nicht ohne +psychologische Ansätze. Sie hat Ähnlichkeiten mit Werther. Aber sie +hat das Ungesunde von ihm hergenommen und ins Unreine hin verzerrt. +Werther mit seiner krankhaft gesteigerten Leidenschaft steht immer +noch hoch über ~der~ Leidenschaft, mit welcher Schlegel seinen +Julius alle Moral, allen Anstand, alle Sitte beiseite werfen läßt. Es +sind nicht Lehrjahre der Männlichkeit, wie er selber sie nennt; die +»Allegorie von der Frechheit« ist viel bezeichnender für das Ganze. +Und schließlich ist, trotz der unfraglich vorhandenen Berührung mit +der Wirklichkeit, auch die Lucinde ein Buch der Unwirklichkeit: von +Menschen redet sie, die nichts zu tun haben, die kein Zwang des Berufs +fesselt und die jeden anderen Zwang bewußt abschütteln. + +Die romantische Prosadichtung ist reich an Spielarten. Eine Spielart, +wie sie der vielgelesene, von Ostpreußen nach Berlin verpflanzte Ernst +Theodor ~Amadeus Hoffmann~ vertrat, den man wohl den genialsten +Erzähler der Romantik genannt hat, darf bei ihrer Charakterisierung +nicht außer Betracht bleiben. Amadeus Hoffmann ist ein Vielschreiber +gewesen; und seine Erzählungen tragen längst nicht alle den gleichen +Stempel. Er war wirklich genial; und seine Genialität zeigte sich +auch in vielseitiger Kraft. Satire, Ironie, Humor, Realistik sind ihm +nicht fremd; und wo von diesen Gottesgaben etwas sich findet, da ist +er noch heut zu bewundern. Aber den Grundton seiner Schöpfungen geben +sie alle nicht an. Im Innersten sind sie durch und durch phantastisch. +Aber nicht phantastisch im Sinne von Novalis, der in die wundervolle +Märchenwelt führt, nicht phantastisch in der Art der sonnigen, +unbekümmerten Fröhlichkeit Eichendorffs, auch nicht nach der Methode +der geistig-sinnlichen Überschwänglichkeit Schlegels. Seine Phantastik +trägt den Sondercharakter des Geheimnisvollen, Schauerlichen, +Unheimlichen. Wohl knüpft er überall an die Verhältnisse des +wirklichen Lebens an, darin ganz anders verfahrend als Novalis +und auch als Eichendorff. Wohl spielen die sehr natürlichen +Leidenschaften auch bei ihm eine große Rolle; und seine Menschen sind +in ~dieser~ Hinsicht eben Menschen, wirkliche Menschen. Aber er +verknüpft mit diesem Tatsächlichen soviel Grauenhaft-Unnatürliches, +daß ihm der Beiname »Teufels-Hoffmann« nicht mit Unrecht gegeben +worden ist. + +Beispielshalber wenigstens eine kurze Skizze eines seiner +Teufels-Werke, der »~Elixiere des Teufels~«. Ein Klosterbruder +bewahrt unter den Klosterreliquien auch eine Flasche, die einst der +Teufel selbst aus seinem Mantel dem heiligen Antonius zurückgelassen. +Wer von dem in dieser Flasche enthaltenen Elixier kostet, der +ergibt sich dem Teufel und seinem Reiche. Der Bruder Medardus ist +ein Prediger, zu dessen Predigten die Leute in Haufen strömen. Da +erscheint ihm mitten in begeisterter Rede eine furchtbare Gestalt, in +der er den »fremden Maler« zu erkennen glaubt, der vor langen Zeiten +die Kirche seiner Geburtsstätte mit wunderbaren Bildern geschmückt. +Wie er nun die Gestalt an einem Eckpfeiler lehnen sieht, will +Medardus nicht hinschauen. Aber ob er will oder nicht, er ~muß~. + +»Wie von einer fremden, zauberischen Gewalt getrieben, mußte ich immer +wieder hinschauen, und immer starr und bewegungslos stand der Mann +da, den gespenstischen Blick auf mich gerichtet. So wie bitterer Hohn +-- verachtender Haß, lag es auf der hohen, gefurchten Stirn, in dem +herabgezogenen Munde. Die ganze Gestalt hatte etwas Furchtbares, -- +Entsetzliches! -- Ja! -- es war der unbekannte Maler aus der heiligen +Linde. Ich fühlte mich, wie von eiskalten grausigen Fäusten gepackt -- +Tropfen des Angstschweißes standen auf meiner Stirn -- meine Perioden +stockten -- immer verwirrter und verwirrter wurden meine Reden -- es +entstand ein Flüstern -- ein Gemurmel in der Kirche -- aber starr und +unbeweglich lehnte der fürchterliche Fremde am Pfeiler, den stieren +Blick auf mich gerichtet. Da schrie ich auf in der Höllenangst +wahnsinniger Verzweiflung: »Ha Verruchter! Hebe dich weg! -- hebe dich +weg -- denn ich bin es selbst! -- ich bin der heilige Antonius!«« + +Von dieser Stunde an ist die Kraft des Bruder Medardus gebrochen. +Sie wiederzugewinnen, trinkt er endlich vom Teufelselixier. Neues +Leben strömt nun durch seine Adern. Aber es ist ein Leben, in dem +der Böse Herrschaft hat. Er läßt Kloster und Möncherei, er gerät +in die wildesten Abenteuer, er wird zum Ehebrecher und Mörder; ein +Wahnsinniger ahnt in ihm den Bösen; mitten in fröhlicher Gesellschaft +starren ihm wieder die Züge jenes fürchterlichen Unbekannten entgegen; +er trifft in ländlichem Försterhaus in einsamer Stille einen +wahnsinnigen Kapuziner, der nichts anderes ist als sein Doppelgänger, +dessen Erscheinung sein eigenes Ich in verzerrten, gräßlichen Zügen +reflektiert. Äußerlich macht er sein Glück: des Bösen Gewalt läßt ihn +auf der Jagd treffen, ohne daß er gezielt, läßt ihn am Fürstenhof im +Glücksspiel fabelhafte Gewinne einheimsen. Dann wird er erkannt, +man stellt ihn vor Gericht; aber alle Verbrechen häuft man auf jenen +gräßlichen Doppelgänger, während Medardus selber frei ausgeht. Und so +geht es weiter zwischen den grauenvollsten Schrecklichkeiten durch; +Wahnsinn, Visionen, Leidenschaft, Verbrechen, Mysterien aller Art +führen einen wilden Reigen auf. Medardus kehrt endlich nach langer +Buße ins Kloster zurück und stirbt dort nach einem wahren Hexentanz +von gespenstischen Ungeheuerlichkeiten eines frommen Todes. + +Diese Inhaltsangabe gibt nur ein ganz, ganz mageres Gerippe des +vielverschlungenen Romans. Aber sie läßt doch erkennen, wie alles in +demselben aufs Grauenhaft-Phantastische angelegt ist. Der Boden der +Wirklichkeit ist ganz und völlig verlassen. In anderen Erzählungen +tritt eine andere Methode hervor, ~wie~ die Wirklichkeit verzerrt +wird; aber verzerrt wird sie überall. Ob es mehr lustige Tollheit +ist, die ihn mit seinen Figuren umspringen läßt, als seien sie +nicht an die Gesetze dieser Welt gebunden, ob es mehr phantastische +Karikaturkunst ist, die seiner Satire dienen muß, -- überall ists das +Gegenteil klarer Wirklichkeit, was regiert. Er hat es verstanden, +nervenspannende, ja nervenerschütternde Wirkungen zu erzielen; -- ich +rate noch heute Niemandem, der über schwache Nerven verfügt, mit ihm +nähere Bekanntschaft zu machen. Er ist unerschöpflich in Erfindung +und unübertroffen in Plastik der Darstellung; aber das alles kann das +Urteil nicht ändern, daß auch seine Romane und Erzählungen von der +Aufgabe des Romans, ein Bild der Welt zu zeichnen, himmelweit entfernt +sind. + +Auch die bekannte Erzählung ~Heinrich von Kleists~: ~Michael +Kohlhaas~ gehört ins Gebiet der Romantik. Auch sie sucht ihre +Wirkung im starken, auch im erschütternden Eindruck. Aber Michael +Kohlhaas ist doch von ganz anderem Holz als die Spukgestalten des +Teufels-Hoffmann. Der Roßhändler Kohlhaas ist eines Schulmeisters +Sohn und das Muster eines guten Staatsbürgers. Die Kinder, die ihm +sein Weib schenkt, erzieht er in der Furcht Gottes zur Arbeitsamkeit +und Treue. Er läßt gezwungenermaßen als Pfand für einen zu lösenden +Paßschein ein Paar Rappen im Gewahrsam des Junkers von Tronka. Die +Pferde werden ihm malträtiert, der Knecht, der sie besorgen soll, +wird mißhandelt. Die herabgekommenen Rappen nimmt Kohlhaas nicht an; +er legt sich jetzt aufs Prozessieren und beschließt, da er nirgends +Recht bekommen kann, endlich, sich selber Recht zu schaffen. Und nun +wird er zum Räuber und Mordbrenner, der das Schloß des Junkers in +Flammen aufgehen läßt, der mehr als eine Stadt, in welche der Junker +geflüchtet, einäschert, der den Schrecken der ganzen Gegend bildet. +Luther selbst legt sich ins Mittel, um den Unhold zu bändigen; aber +auch seine Mühe ist vergeblich. Kohlhaas führt Krieg mit Fürst und +Staat und Gesellschaft. Endlich wird ihm sein Recht; und nun geht er +ruhig in den Tod, der seine Freveltaten lohnt. + +Es ist nicht zu verkennen, daß die Romantik in diesem Buch wesentlich +andere Bahnen einschlägt als in den vorher skizzierten Dichtungen. +Auch hier dominiert das Außerordentliche, das Furchtbare. Aber wenn +es auch allzu gehäuft und ins Gräßliche übertrieben ist, es bleibt +durchaus im Zusammenhang mit dem wirklichen Geschehen. Bis auf ein +paar mysteriöse Züge, ohne die es freilich nicht abgeht, ist alles +Geschilderte in roher, gewalttätiger Zeit durchaus möglich. Die +Erzählung sucht die Verbindung mit dem Leben festzuhalten. In der +ganzen Absicht derselben aber liegt gewiß auch jene romantische +Neigung, sich selber gegen Sitte und Brauch, gegen Mehrheit und Zwang +durchzusetzen, -- eine Neigung, der wir in der Lucinde so gut begegnen +wie in vielen anderen Dichtungen jener Zeit. Aber diese Neigung tritt +hier weniger im Gewand der Selbstverständlichkeit auf; nicht als +Führerin ins holde Traumland, in dem sich jeder seine Welt selber +zimmert, sondern als bewußte, klare, in alle Konsequenzen durchführte +Auflehnung gegen die Gesellschaft. Und endlich: es ist im Kohlhaas +nicht subjektive Willkür, welche ihn zu dieser Auflehnung treibt, +sondern es ist ein heiliges, eingeborenes und schließlich doch auch +vom Dichter als allgemeingültig anerkanntes Rechtsgefühl, welches +ihn zum Räuber und Mörder macht. Was er will, ist ja der Schutz der +Gesetze. Wer ihm diesen versagt, der gibt ihm die Keule in die Hand, +die ihn selbst schützt. Diese Besonderheit will wohl beachtet werden; +das Trotzen auf sein Recht steht doch sicher höher als die zügellose, +rasende Leidenschaft. Und dennoch bleibt es richtig: auch im Michael +Kohlhaas ist der Mensch das Maß aller Dinge. Der Einzelne stellt sich +außerhalb aller Ordnung, weil diese Ordnung ihn in einer einzigen +Angelegenheit nicht schützt. Schließlich ist sein Verhalten in dem +Plakat, welches Kleist von Luther erlassen sein läßt, doch richtig +gezeichnet: + +»Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der +Gerechtigkeit zu handhaben, was unterfängst du dich, Vermessener, im +Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, du, den Ungerechtigkeit selbst +vom Scheitel bis zur Zehe erfüllt? Weil der Landesherr dir, dem du +untertan bist, dein Recht verweigert hat, erhebst du dich, Heilloser, +mit Feuer und Schwert und brichst wie der Wolf der Wüste in die +freundliche Gemeinheit, die er beschirmt.« -- + +Die nähere Beziehung jedoch, die Kleists Novelle zu den +Tatsachen unterhält, zeigt sich auch in ihrer Schreibart. Nichts +Unklar-Verschwommenes, nur massiv und prägnant Herausgearbeitetes. +Keine wortreichen Ergüsse; die Tatsachen schaffen die Stimmung. Es +kann kein Zweifel darüber sein, daß gerade diese von der strengsten +Romantik sich entfernende Art dem Michael Kohlhaas ein gut Teil seiner +Wirkung gesichert hat. + +Noch enger werden die Beziehungen der romantischen Dichtung zur +Geschichte in dem Roman »~Die Kronenwächter~« von Achim ~von +Arnim~. Indes wir werden von diesem farbenprächtigen, wunderschön +und wunderreich geschmückten Roman in dem Vortrag noch zu sprechen +haben, der den historischen Roman behandeln wird. + +Die Romantik -- das hat auch meine knappe Skizze zu zeigen versucht +-- ist nicht auf eine einheitliche Formel zu bringen. Sie geht +sehr mannigfaltige Wege und verfügt über eine reiche Zahl von +verschiedenen Farben. Was ist das Gemeinsame aller ihrer Schöpfungen? +~Daß nirgend das klare, freie, helle Tageslicht der Wirklichkeit +herrscht.~ »Heinrich von Ofterdingen« lebt ganz in einer anderen +Welt; ~diese~ Welt ist nur dazu da, daß der Dichter zu seiner +Vollendung komme. Von diesem Extrem aus führen viele Stufen zur +Wirklichkeit hinab. Aber auch wo die Geschichte, die Tatsache stark +mitspricht, wird sie doch nicht dargestellt, wie sie ist; überall wird +sie ein wenig ins Geheimnisvolle getaucht, ins Poetische verklärt oder +ins Ungeheuerliche vergrößert. Die Phantasie ist die Hauptkraft der +Romantik. + +Nur eine kleine Zahl von Typen der romantischen Dichtung konnte ich +skizzieren. Aber das Bild würde sich nicht wesentlich verändern, wenn +ich weitere Werke zu zeichnen suchte. Vielleicht würde ihm zu größerer +Deutlichkeit hie und da noch ein Strich hinzugefügt werden können. +Wilhelm ~Hauff~, dessen »~Lichtenstein~« noch in anderer +Umgebung zu nennen sein wird, hat in seinen »Memoiren des Satans« +und sonst dem Sonderbaren und Unheimlichen durch feinen Humor alles +Schreckliche genommen; die nervenerschütternden Gräßlichkeiten des +Amadeus Hoffmann fehlen, und wir verkehren selbst mit dem Satan ganz +gern, ohne daß ein Schauder uns überkommt. Von jener Literatur der +neuerwachten Ritter- und Räuberromane, die das Romantische vergröberte +und zugleich der dichterischen Verklärung beraubte, sei hier erst +gar nicht gesprochen. + +Goethe schuf zwischen dem Roman und der wirklichen Welt deutlichen +Zusammenhang. Die Romantik ist andere Wege gegangen. Diesen +Zusammenhang hat sie gelockert, gelöst, ignoriert. Sie hat es im +Namen einer höheren Macht getan, der Poesie. Aber es war doch ein +Irrtum, daß sie glaubte, Poesie und Wirklichkeit vertrügen sich nicht. +Und dieser Irrtum hat die Romantik unfähig gemacht, einen Roman im +Vollsinn des Wortes zu schaffen. Sie schuf Märchen und Allegorien und +Phantasien und Schauergeschichten und -- im besten Fall -- liebliche +Traumbilder, aber keine Romane. Sie machte Gedanken und Stimmungen und +maßlose Leidenschaften zu ihrem Thema, aber das eigentliche Leben, das +vielverzweigte, blieb ihr fremd. + +Man glaubt manchmal, der Roman habe das zum Stoff, was im gewöhnlichen +Wortverstand, der eben schon ein Mißverstand ist, »romanhaft« sei. +Die Romantik scheint diesen Irrtum zu bestätigen, wenn anders man +in ihr den Maßstab für das Wesen des Romans sucht. Aber gerade das +wäre falsch. Richtig werden wir ihr Verhältnis zum Roman und zugleich +dessen Verhältnis zum Romanhaften so formulieren: + +~Die Romantik pflegte das Romanhafte und schuf deshalb keinen +Roman.~ + + + + + Die Volkserzählung. + + +Die romantische Dichtung ließ ihre Helden ausziehen, damit sie in +geheimnisvollem Zauberland die blaue Blume suchten. Eine blaue Blume +im Zauberland -- das ist ihr die Poesie. Wir wundern uns nicht, daß +die Novalisnaturen sie nicht anders zu verstehen vermochten. Wo sollte +zur Zeit, da Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen schrieb, die +Dichtung anders wohnen als im Zauberland? Im Land der Wirklichkeit +wohnte ja die Aufklärung, wohnten die schön plattgetretenen Ideen von +Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wohnte die Religion innerhalb der +Grenzen der bloßen Vernunft. Im Lande der Wirklichkeit regierte das +grelle, pralle Sonnenlicht der vernünftigen Überlegung. Kein Wunder, +daß mancher da lieber ein Quantum mystisches Dunkel in Kauf nahm, als +daß er sich von diesem Sonnenglanz Gemüt und Phantasie ausdörren ließ. +Die größten unter den Dichtern verstanden es freilich, mitten in der +Welt zu bleiben und doch Dichter zu sein. Aber die Kleineren mußten +ihre Dichtkunst ins Zauberland retten. + +Die Zeiten, da der Schlüssel Vernunft alle Schlösser schloß, gingen +vorüber. Die Menschen, die nach der blauen Blume suchten, fanden durch +die Not der Zeit wichtigere Aufgaben einer schleunigen Lösung harrend. +Schon hatten die harten Kriegsjahre mit eherner Faust an die Pforten +geschlagen, hinter denen die Weltflüchtigen ihren Träumen nachgingen. +Manch einer blieb wach; andere fielen wieder in ihre Träume zurück. +Auch nachdem das napoleonische Ungewitter ausgetobt hatte, war ihnen +die lebendige Welt noch nicht schön genug, um darin zu leben. Und +sie begriffen noch nicht, daß auch der Dichter, wenn ihn der Zeit +Lauf nicht fröhlich stimmte, Besseres tun konnte als träumen. Aber +je mehr das neunzehnte Jahrhundert voranging, um so klarer erwachte +das ~Wirklichkeitsbewußtsein~. Und wie durchs ganze deutsche +Volk immer klarer ein Geist der Kritik am Bestehenden und ein Geist +des sehnenden Schaffens am Neuen zog, so auch durch die Dichtung, und +nicht zum mindesten durch die Prosadichtung, die am ersten berufen +ist, der Wahrheit ins Angesicht zu sehen, zu tadeln und zu mahnen. + +Dieser neuerstandene Wirklichkeitsgeist aber betätigte sich alsbald +nach drei sehr verschiedenen Richtungen hin. Zum ersten als ~Zeit- +und Tendenzroman~, der ungestüm genug das Alte niederzureißen +und ein Neues zu schaffen unternahm, der aber im Lauf der Zeiten +ruhiger und objektiver geworden ist. Zum zweiten suchte eine starke +Strömung bisher schier unbekannte Welt- und Menschengebiete zu +erforschen und darzustellen; namentlich der ~Bauernstand~, ~das +Landleben~ bot jungfräuliches Land. Und endlich griffen andere in +die Wirklichkeit vergangener Zeiten zurück; es galt ihnen, früher +Geschehenes der Gegenwart als Spiegel vorzuhalten oder auch einfach, +in den abgründigen Tiefen der Geschichte Menschen zu studieren: der +~historische Roman~. Es sind die drei großen Formen des modernen +Romans, die alle um das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts Wurzel +zu schlagen begannen, und die späterhin dann noch manche weitere +Sonderart haben aus sich erwachsen lassen. + +Ich beginne hier mit der an zweiter Stelle genannten, mit der +~Volkserzählung~. + +Nicht Entwicklung und Beziehungen will ich ausdeuten; es liegt +mir auch hier nur eins an: die Haupttypen an den anschaulichsten +Beispielen darzustellen. Und so greife ich drei Dichter heraus, +denen ein vierter und fünfter ein wenig abseits sich zugesellen +sollen. ~Immermanns~ Oberhof nenne ich zuerst: da haben wir +die Volkserzählung in der Wiege. Jeremias ~Gotthelf~ und +Berthold ~Auerbach~ folgen: zwei Haupttypen der ausgebildeten +Volkserzählung. Ein wenig abseits stehen dann Otto ~Ludwig~ und +Fritz ~Reuter~. + +Von ~Immermann~ besitzen wir große Zeitromane: die »Epigonen« +und »~Münchhausen~«: letzterer stammt aus dem Jahre 1839. Es +ist ein Roman von hergebrachtem Zuschnitt; der Nebentitel: »Eine +Geschichte in Arabesken« ist bezeichnend. Nach Hebbels Urteil hat +Immermann die fratzenhaften und nichtigen Bewegungen der Zeit, die +sich doch ernsthaft geberden, abgespiegelt. Das Urteil ist ganz +richtig; aber man darf jene Dorfnovelle nicht vergessen, die mitten +in den Roman hineingestellt ist, mit ihm zwar verwoben, aber doch +in jener lockeren Art, die es ermöglicht, das Stück vom Ganzen zu +lösen, wie es denn weitaus den Meisten nur in dieser Loslösung +unter dem Sondertitel »~Der Oberhof~« bekannt ist. Im Oberhof +haben wir klare, scharfe Wirklichkeitszeichnung. »Nun das muß wahr +sein,« heißt es einmal darin, »die Idyllenschreiber haben uns die +Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die schäferlich-zarten, als die +knolligen Kartoffelpoeten. Sie ist eine Sphäre, so mit derber Natur, +wie mit Sitte und Zeremonie ausgefüllt, und gar nicht ohne Anmut und +Zierlichkeit, nur liegt letztere wo anders, als wo sie in der Regel +gesucht wird.« Der Schauplatz der Erzählung ist das westfälische +Land, »der Boden, den seit mehr als tausend Jahren ein unvermischter +Stamm trat,« ein westfälischer Hof, ein Richthof oder Oberhof, der +älteste und vornehmste Hof einer westfälischen Bauerschaft. Um den +Hof breitet sich alles Besitztum, welches eine große ländliche +Wirtschaft nötig hat, aus: Feld, Wald, Wiese, unzerstückelt, in +geschlossenem Zusammenhange. Auf diesem Hofe regiert der Hofschulze, +eine Gestalt, deren Geltung zwar von den Mächten der Gegenwart nicht +anerkannt wird, welche aber für sich selbst und bei ihres Gleichen +einen längstverschwundenen Zustand auf einige Zeit wiederherstellt. +In seinem Besitz ist das alte Waffenstück, welches er mit eiserner +Festigkeit für das Schwert Karls des Großen erklärt, von dem es dem +ersten Besitzer des Richthofs zum Zeichen der Investitur gegeben sei. +Wie ein Fürst sitzt der Hofschulze auf seinem Oberhof; heimliche +Vehmgerichte fällen unter seiner Leitung immer noch ihre Urteile. +Seine Dienstboten weiß er patriarchalisch und energisch unter seiner +Leitung zu halten: -- ich erinnere an die klassische Szene, in der +jedes der Knechte und Mägde nach der Mittagsmahlzeit seinen Spruch +erhält und des Abends die Gedanken mitteilen muß, die es sich darüber +gemacht hat. Fest und unerschütterlich steht er auf dem alten Recht +und der alten Sitte. Der Küster heischt vom Oberhof einen zweiten +Käse; aber der Hofschulze, der auf reichem Hof, zwischen vollen +Scheuern, vollen Böden und Ställen lebt, will von dieser Forderung +nichts wissen: auf seinem Hof haftet nur ~ein~ Käse. Bei den +Hochzeitsbräuchen, bei Einladung und Essen muß alles nach der alten +Art gehen; weh dem, der, wie der Hochzeitbitter, etwas davon versäumt! +Gegen Nachbarn, Freunde, Gevattern ist er zu allem bereit, aber sie +müssen ihm auch immer etwas dafür leisten, und wäre es irgend ein +kleiner Dienst von geringfügiger Bedeutung. Ein Freund der »Moralen« +ist der Hofschulze. Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den +Kindern! Der Mensch sündigt jederzeit, wenn er sich wider etwas setzt, +was Herkommens ist bei Seinesgleichen. Im Ehestand ist garzuviel +Liebe schädlich. Auf den Haus- und Ehestand verläßt sich aller +Handel und Wandel, Nachbarhilfe und Ansprache, Christentum, Kirchen- +und Schulzucht, Haus und Hof, Rind und Kind. Das sind Moralsätze +des Hofschulzen; und wenn sie auch, wie der Jäger Oswald sagt, +ziemlich hausbacken klingen, -- es ist doch ein gut Stück gesunden +Menschenverstandes darin. Freilich, derselbe Hofschulze, dem das Recht +ein so hochheiliges Ding ist, trägt ein Rechtsgefühl in der Brust, +das dem des Michael Kohlhaas verzweifelt ähnlich sieht. Wenn ihm das +Wild des benachbarten Grafen die Felder verwüstet, dann ist es kein +Unrecht, auch ohne das Jagdrecht mit der Flinte Selbstschutz zu üben. + +»Was ist das überhaupt für ein Verbrechen, sein Eigentum gegen die +Ungetüme, die es fressen und zu grunde richten, zu verdefendieren! +rief er, indem plötzlich der lachende Ausdruck seines Gesichts in den +des loderndsten Zornes überging. Die Stirnadern schwollen ihm an, das +Blut trat dunkelrot in seine Wangen, die Augäpfel verloren ihr Weißes +und wurden rötlich; man hätte vor dem Alten erschrecken können!« + +Der Hofschulze steht im Mittelpunkt der Oberhofnovelle. Aber auch, was +sich um seine Gestalt herumrankt, ist gleich deutlich geschildert. +Derb und wahr zeichnet Immermanns Stift; er beschönigt nichts und +idealisiert nicht; die Sünden der Landbewohner kommen so gut zur +Sprache wie ihre Tugenden. Ein kraftvolles, erdgewachsenes Geschlecht +ists, das er abschildert, markig und zäh, steif und fest. Aber er hats +mit alledem getroffen. Hier weht keine philosophische Luft; hier weben +sich keine Träume, hier geschehen keine Wunder. Hier verschleiert die +Poesie nichts, hier meidet sie nicht schamhaft das minder Schöne. Hier +ist ihr ein heiliges Ahnen aufgegangen, wie sie im innersten Wesen +verbunden ist mit der wahren und wirklichen Welt, die ihr Kraftquell +und ihr Jungbrunnen zugleich ist. + +Ein ~Ahnen~ nur; wie sonderbar flechten sich die Oberhofkapitel +in die Gänge des großen Romans mit seinen zerfahrenen Modegestalten +ein! Ein vereinzelter Meisterwurf war diese Dorfnovelle; anderen war +es vorbehalten, ihr in ihrer Eigenart zum Eigenrecht gesonderter +Existenz zu helfen. Die beiden Dichter, denen dieser Ruhm gebührt, +sind Jeremias Gotthelf und Berthold Auerbach. + +~Jeremias Gotthelf~ ist unserer Zeit lange ein Fremder geblieben. +Erst neuerdings lernt man ihn besser würdigen. Nicht das geringste +Verdienst an dieser besseren Erkenntnis hat Adolf ~Bartels~, dem +die wärmsten Töne nicht warm genug scheinen, wenn er auf Gotthelf +zu sprechen kommt. Daß er uns schwerer nahkommt als andere Dichter, +liegt ja zum Teil an der schweizerischen Sprache. Albert Bitzius, ein +Pfarrer aus dem Kanton Bern, versteckt sich bekanntlich hinter dem +Pseudonym, das auf dem Titel seiner Bücher steht. Aber es liegt an +der Sprache nicht allein; Fritz Reuters Sprache ist nicht leichter zu +erfassen als die von Albert Bitzius. Es liegt wohl neben allerhand +Zufälligkeiten auch daran, daß die Welt, die er so meisterhaft +schildert, uns doch eben fremder ist, als die Welt eines Reuter. + +Schweizervolk schildert Jeremias Gotthelf wie in seinem Erstlingswerk +»Der Bauernspiegel«, das zwei Jahre vor dem Immermannschen »Oberhof« +das Licht der Welt erblickte, so in allen seinen späteren Erzählungen, +von denen hier nur einige genannt sein mögen: »Uli der Knecht«, »Uli +der Pächter«, »Leiden und Freuden eines Schulmeisters«, »Käthi die +Großmutter«, »Elsi die seltsame Magd«, »Wie Joggeli eine Frau sucht«. +Ganz scharf prägt sich seine Erzählweise bereits im »Bauernspiegel« +aus. Da berichtet er aus seiner eigenen Jugend: vom wohlhabenden Hof +des Großvaters, auf dem er die ersten Jahre verbracht, vom harten +Mühen des Vaters in eigener Pacht, wie er nach des Vaters Tod von der +Gemeinde vergeben wird und was für verschiedene Bauernhäuser er so +kennen lernt, wie er dann zum Knecht emporwächst und im Ausland sein +Heil sucht, schließlich aber nach der Julirevolution ins Vaterland +zurückkommt. Fast alle Themata, welche er später behandelt, sind in +diesem, das gesamte Leben des Schweizer Bauern umspannenden Roman +schon angerührt; nur daß einzelne Seiten desselben dann in besonderen +Erzählungen gründlicher und breiter besprochen werden. Aber überall +regiert das Heimatsleben, die Schweizer Art, das Bauernwesen. Und +eben darin liegt Jeremias Gotthelfs Kraft. Seine Erzählungen sind +gar nicht reich an Handlung; kein größerer Gegensatz als der zwischen +seiner ruhigen Nüchternheit und den phantastischen Schreckgeschichten +eines Amadeus Hoffmann! Sie entbehren der spannenden Verwicklung; +er verschmäht es, allerhand Knoten zu knüpfen, in deren Lösung der +Dichter alsdann besondere Fingerfertigkeit aufweisen könnte. Wie +einfach und schlicht geht der »Bauernspiegel« seinen Weg! Jede +Episode im Leben des Kindes macht einen Abschnitt aus; jeder neue +Bauernhof, auf den er für ein oder zwei Jahre kommt, ist als kleines +Kabinettstück für sich gezeichnet. Keine Spannung, die nicht lediglich +aus der Sache selber käme, aus der Anteilnahme an dem Menschenkind, +das von sich berichtet und das von jung auf so mühsam durchs Leben +gehen muß, und aus dem Interesse, welches die Menschen einflößen, mit +denen es zu tun hat. Und alle diese Personen sind Alltagsmenschen, +Durchschnittsgeschöpfe; da ist kein verwickeltes psychologisches +Problem, da ist nichts Geheimnisvolles; im Gegenteil, alles ist +sonnenklar. Wo ja etwas dunkel wäre, da leuchtet der Erzähler sicher +alsbald dahinter, -- wie z. B. hinter das lichtscheue Treiben jenes +guten Ehepaars, das mit Botengängen und Vermittlerdiensten, mit ein +bischen Aberglauben und einem guten Teil Unredlichkeit sein Leben +liederlich, aber angenehm zu fristen versteht. Die Schilderung mag +manches Mal schier gar zu sehr in die Breite gehen; sie ist auch +sicher nicht selten allzu nüchtern, vor allem wirkt sie zu stark +moralisierend. Das ist vielleicht überhaupt die größte Schwäche des +trefflichen Gotthelf, daß er den Leser die Moral nicht selber ziehen +läßt, sondern daß er sie ihm aufdrängt. Der Hofschulze in Immermanns +»Münchhausen« zog auch Moralen; und der Jäger nennt sie hausbacken. +Aber sie sind doch noch poetischer als die erziehlichen Anwandlungen +des Schweizer Erzählers. + +Sie werden zugeben, daß ich die äußere Erzählungskunst Gotthelfs +nicht allzu rosig geschildert habe. Aber je weniger man sie rühmen +kann, um so klarer werden seine eigentlichsten Vorzüge, oder, wie man +mit gutem Grund sagen kann, sein eigentlicher Vorzug. Der besteht in +der wunderbar engen Beziehung, in welcher er zum wirklichen Leben +des Schweizer Bauern steht. Im ganzen Gotthelf nichts Unnatürliches, +Gemachtes, Künstliches, Aufgebauschtes, Übertriebenes; überall nichts +als Wirklichkeit, nichts als Natur. Seine einzige Kunst ist die, die +Natur wiederzugeben; aber ~diese~ Kunst hat er aus dem Grunde +verstanden. Er greift bis in die Tiefen der Natur, auch bis in die +Tiefen des Gemüts. Er zeigt Roheit und Feinheit auf, Hartherzigkeit +und Gutmütigkeit, Keuschheit und Reinheit, aber auch Sünde und +Schande. Er schont seine Bauern nicht; von der Bauernidylle, die +Immermann verabscheut, ist auch er himmelweit entfernt. Um das alles +deutlicher zu machen, greife ich ein paar Bilder heraus, in denen +Gotthelf Mädchentypen zeichnet. Da ist das Vreneli, das wunderliche, +das mit dem Uli Hochzeit machen will und doch keinen Tag findet, +an dem es ihm recht wäre, zum Pfarrer zu gehen, um die Hochzeit zu +bestellen. Am Montag hatte das Vreneli seine Schuhe noch nicht vom +Schuhmacher, am Dienstag schien ihm der Mond zu heiter. Alle Leute +würden es ja kennen durch das ganze Dorf, sagte es. Am Mittwoch +war das Zeichen im Kalender -- es war der Krebs -- ihm nicht gut +genug, auch sei der Mittwoch ja eigentlich kein Tag, behauptete es. +Es ziehe an diesem Tag ja kein Dienstmädchen ein, und so sei das +Hochzeitangeben noch wichtiger als einen Dienst anzutreten, wo man +ja das ganze Jahr daraus könne, wenn man wolle. Schließlich gehen +sie denn am Donnerstag in fürchterlichem Schneegestöber, an einem +Abend, wo der Wind schaurig pfeift und die Nacht dick und finster +zu den Fenstern einkam. Und der Pfarrer sagt ihnen das treffende +Wort: »Was von Gott kommt, das läßt sich alles tragen, wenn zwei in +Gott eins sind, aber wenn der Eigensinn oder die Wunderlichkeit oder +die Leidenschaft von Mann oder Weib Unglück über eine Ehe bringen, +Ärgernis und Elend, und das Unschuldige muß mit aus dem bitteren Kelch +trinken, muß bei jedem Zuge denken: daran ist mein Gatte schuld; +wenn er nicht wäre oder anders wäre, so wäre das auch nicht, da +wird das Leben ein Wermutstrank und der Gang durchs Leben ist noch +viel ungestümer als euer heutiger Gang.« -- Da ist ferner Elsi, die +seltsame Magd. »Elsi verrichtete, was sie zu tun hatte, nicht nur +meisterhaft, sondern sie sah auch selbst, was zu tun war, und tat +es ungeheißen, rasch und still, und wenn die Bäuerin sich umsah, so +war alles schon abgetan, als wie von unsichtbaren Händen, als ob die +Bergmännlein dagewesen wären.... Daneben hielt Elsi nichts auf Reden, +hatte mit niemandem Umgang, und was sie sah im Hause oder hörte, das +blieb bei ihr, keine Nachbarsfrau vernahm davon das Mindeste, sie +mochte es anstellen, wie sie wollte. Mit dem Gesinde machte sich Elsi +nicht gemein. Die rohen Späße der Knechte wies sie auf eine Weise +zurück, daß sie dieselben nicht wiederholten, denn Elsi besaß eine +Kraft, wie sie selten ist beim weiblichen Geschlechte, und dennoch +ward sie von denselben nicht gehaßt.« -- Da sind die fünf Mädchen, +»die im Branntwein umkommen«, freilich nicht anziehend, aber doch +nach der Natur beschrieben, wie sie in der Schenke sitzen. »Die +Wirtin brachte die Maß, die Mädchen schenkten ein; aber es sah aus +wie Branntwein, es roch wie Branntwein, sie tranken es, wie man den +Branntwein trinkt; ja wahrhaftig, es war Branntwein!« Unter ihnen ist +Marei mit dem unverschämten Gesicht, dessen Züge nichts als Frechheit +ausdrücken, da ist Elisabeth, unbeholfen und schwammig. »Stüdeli +wurde das dritte genannt; es hatte ursprünglich schöne Züge, von +der Seite sogar etwas Nobles. Aber erdfarb war seine Haut, blaß die +Lippen, zahnlos und krankhaft groß der Mund und glanzlos die großen, +tiefblauen Augen. Es war lang und hager, reinlich angezogen und tat +zimperlich. Man sah ihm von weitem an, daß es eine Näherin war. +Manchmal dünkte es Einem, als flackere etwas Besseres in ihm auf und +als gieße es den Branntwein nur herunter, um das Bessere zu dämpfen, +sich zu betäuben. Das gab ihm etwas Träumerisches, das aber immer mehr +in etwas Stierendes ausartete, je länger es trank.« + +Doch genug der Einzelbilder! Jeremias Gotthelf ist groß in ruhiger, +nüchterner, aber plastisch wahrer Wirklichkeitskunst. Erzählungen +haben wir von ihm, nicht Romane: dazu fehlt seinen Schöpfungen die +umfassende, vielseitige Art, die Kraft fortschreitender Handlung, +die Spannung, welche in der Lösung von Fragen des Lebens und der +Psychologie liegt. Die Helden dieser Erzählungen erleben mancherlei, +tun mancherlei, aber das ist nicht die Hauptsache. Für Gotthelf dreht +sich alles und jedes um die Frage: Wie ~sind~ die Menschen? Was +tun sie, weil sie so geartet sind, weil diese Sitten sie binden? Mit +anderen Worten: es ist ~keine Romankunst, aber Naturkunst~. Die +Wirklichkeitswiedergabe aber ist überall von ernsten sittlichen Ideen +getragen. Man hat gemeint, daß seine Kunst naturalistisch sei. Gewiß +ist sie das; derb genug ist sie auch. Wäre sie es weniger gewesen, so +wäre sie nicht wahr gewesen. Aber er ist nirgends bloß-naturalistisch; +durch jede Schilderung auch des Schlimmen will er wirken, will er +bessern. + +Neben Jeremias Gotthelf stelle ich unmittelbar Berthold ~Auerbach~, +den Verfasser der »~Schwarzwälder Dorfgeschichten~«, deren erste 1843 +erschienen sind. Sie sind ja weithin bekannt geworden, bekannter als +Jeremias Gotthelfs Schweizergeschichten. Ein paar Titel mögen hier +Platz finden: Der Tolpatsch, Die Kriegspfeife, Des Schloßbauers Wefele, +Befehlerles, Sträflinge, Luzifer, Die Frau Professorin. In Anlage +und Umfang sind sie recht verschieden; manche sind kurz, skizzenhaft +ausgeführte Anekdoten, andere wie die drei zuletzt genannten sind +reicher ausgeführt, werfen Fragen auf und führen in Konflikte hinein. +Es scheint mir möglich, Auerbachs Art an einer dieser Erzählungen zu +veranschaulichen; andere mögen zur Vergleichung herangezogen werden. +Ich wähle als die hiefür geeignetste: »Die Frau Professorin«. + +Der Maler Reinhard und der Collaborator Reihenmaier durchstreifen den +Schwarzwald und machen im Gasthaus beim reichen Wadeleswirt Halt. Dort +gehn sie jeder seine eigenen Wege. Der Collaborator ist ein Schwärmer +für Natur und Volk und sucht beides kennen zu lernen; dafür dienen +ihm Streifzüge in den frischen Wald und in die Sagenwelt, die in den +Köpfen rumort. Reinhard dagegen freut sich mehr praktisch mit dem Volk +und an dem Volk. Ihm hats des Wadeleswirts Töchterlein Lorle angetan, +von der des Collaborators Wort sagt: + +»Solch ein Mädchen ist wie ein Lied, das ein ferner Dichter geschaffen +und zu dem ein anderer die Melodie findet, die Alles und hundertfältig +mehr daraus offenbart.« + +Reinhard und Lorle wollen zusammen gehören. Lorle sagts ihrem Vater: +»Der Herr Reinhard hat mich gern und ich ihn auch, und er will mich +und ich will ihn und keinen andern aus der ganzen Welt.« Und der +Wadeleswirt gibt, wennschon zögernd, nach. Lorle wird des Malers +Braut und Frau, -- des Malers, der als Professor und Inspektor der +Gemäldegalerie in der fürstlichen Residenz in nahen Beziehungen zum +Hof stehen muß. Wohl hat Reinhard selber sichs vorgenommen, daß +sie das frische Naturkind bleiben soll mitten im Trubel der Stadt: +»Sie bedarf keiner anderen Welt, ich bin ihre ganze Welt.« Aber sie +wird nicht seine ganze Welt, er für sich allein läßt sich in das +gesellige Leben der Gesellschaft ziehen, und Lorle vereinsamt. Sie +kann sich sowieso schwer in die Stadt schicken; die himmelhohen Häuser +bedrücken sie, die Klatscherei der Kaffeekränzchen stößt sie ab, die +steifen Formen des Umgangs sind und bleiben ihr fremd. So tritt die +gegenseitige Entfremdung ein. Reinhard kommt doch nicht darüber weg, +daß sie ein echtes Naturkind geblieben ist, daß sie die heimische +Art nicht lassen kann, daß sie frei öffentlich vor dem Schloß mit +einem schlichten Jungen aus der Heimat spricht, der als Tambour in +der Residenz steht. Und es paßt ihm erst recht nicht, daß sie, selbst +in der Audienz bei dem Prinzen, gleich »den Sack umkehrt, mit Kraut +und Rüben«. Und Lorle fühlt immer stärker das Heimweh, je mehr er +sie vernachlässigt. Endlich kommt die Katastrophe. Durch mißliebige +Erfahrungen auch im Beruf geärgert, betäubt sich der Professor im +Trunk, und Lorle gewinnt, als sie das merkt, die Kraft zum Entschluß, +in die Heimat zurückzukehren. + +Am Beispiel dieser Erzählung möchte ich versuchen, Vorzüge und +Schwächen der Auerbachschen Dorfgeschichten kurz darzulegen. Ich +fasse, was zu sagen ist, in einige Sätze zusammen: + +1. Auerbach wählt hier wie auch sonst das ~Dorfleben~ zum Stoff +seiner Geschichten. Aber er will es nicht bloß schildern; er verfolgt +eine deutlich hervortretende ~Absicht~. Er ~vergleicht~ +Dorf und Stadt, Bauer und Städter. Und er ~entscheidet zu gunsten +des Dorfs~. Freilich, wenn der Prinz die naive Meinung ausspricht, +daß die Bauern die glücklichsten Menschen auf der Welt seien, so +widerspricht ihm Lorle: »Man muß ja schaffen wie ein Tagelöhner und +Steuern zahlen mehr als ein Baron.« Aber in der Stadt -- wieviel +Gemachtes, Gezwungenes, Geheucheltes, Unnatürliches! Viel höher +steht die natürliche Kraft und Einfachheit des Dorflebens! Das ist +Auerbachs ~Tendenz~. Sie tritt nicht überall so stark hervor wie +in »Die Frau Professorin«. Aber sie klingt überall mit. Sie macht ihn +zu Immermanns Genossen; ähnlich wollte ja der ganze »Münchhausen« das +Bauerntum als Kraftquelle gegenüber der Verbildung preisen. Aber sie +scheidet ihn von J. Gotthelf, der nichts anderes will, als seinen +Landsleuten den Spiegel vorhalten, damit sie sich bessern. + +2. In dieser Tendenz liegt eine große Gefahr: diejenige ~einseitiger +Schilderung~. Gotthelf brauchte diese Versuchung nicht zu bestehen, +weil er die Tendenz gar nicht hatte. Immermann hat sie überwunden. +Auerbach ist ihr erlegen. Nicht überall sind seine ländlichen +Gestalten so ideal, wie in »Die Frau Professorin«. »Diethelm von +Buchenberg« beschreibt den Entwicklungsgang eines Bauern, der, um +Hab und Gut, Ansehen und Stellung zu wahren, zum Verbrecher wird. +Im »Lehnhold« schafft der felsenharte Bauerneigensinn tausendfaches +Unheil und Elend. Trotz alledem kann ihm der Vorwurf nicht erspart +werden, daß er idealisiert. Die schlimmen Charaktere haben bei +ihm leicht gleich etwas Ausnahmsweises, ihre Fehler sind wohl gar +Übertreibungen berechtigter Eigenheiten. Man mag sie jedenfalls +nicht so recht zur Charakterisierung des Typus verwenden. Die guten +Charaktere aber verlieren vor lauter Engelsgüte den Boden der +Wirklichkeit unter den Füßen. Von Lorle heißt es: »In Demut entfaltete +Lorle eine Fülle des Liebesreichtums, daß Reinhard staunend und +anbetend vor ihr stand. Der Schluß ihrer Rede aber war fast immer. +»Ach Gott! ich bin dich nicht wert!«« Ausdrücke wie »herrliche, +einzige Frau«, »Naturschatz« sind gar nicht selten. Ähnlich die anderen +Personen: der Wadeleswirt in seiner Derbheit und Bravheit, der +Wendelin in seiner stillen Schwärmerei, die Bärbel in ihrer rührenden +Treue. Das sind Lichtgestalten, aber darum noch keine Naturgestalten. + +3. Schwerer fällt zu Auerbachs Ungunsten ins Gewicht, daß er, selbst +von der Neigung zu idealisieren abgesehen, in der Zeichnung seiner +Bauern doch ~nicht ganz die rechten Farben getroffen hat~. Ein +neuerer Beurteiler nennt seine Erzählungen »treuherzig und mit jenem +gesättigten Humor im Ton, welcher dem Bauernverstand eine gewisse +Überlegenheit gibt«. Das mag stimmen, aber es genügt nicht, um den +Eindruck der Echtheit zu erwecken. Adolf ~Bartels~ konstatiert +z. B. bei der Geschichte »Ivo, der Hairle«, daß die Entwickelung in +den Hauptzügen richtig gegeben ist; »ein letztes Etwas fehlt einem +aber doch«. Was ist dies letzte Etwas, das übrigens keineswegs allein +bei dieser einen Erzählung fehlt? ~Bartels~ selbst erklärt: »In +den letzten Gründen weiß er nicht immer Bescheid, er legt unter und +deutelt hinein und erreicht nicht die absolute Echtheit, die Jeremias +Gotthelf bis in die letzte Gebärde und den geheimsten Seelenvorgang +aufweist.« Aber auch dies bedarf wieder der Begründung. Woran liegts, +daß Auerbachs Dorfgestalten nicht absolut echt sind? Meiner Meinung +nach an einem Dreifachen: Zunächst an der ~geringeren Bedeutung, +welche Sitte und Brauch für seine Geschichten haben~. Theoretisch +hat er die ganz richtige Einsicht gehabt: »Nicht die Sittlichkeit +regiert die Welt, sondern eine verhärtete Form derselben: die +Sitte. Wie die Welt nun einmal geworden ist, verzeiht sie eher eine +Verletzung der Sittlichkeit als eine Verletzung der Sitte«. Hier +liegt tatsächlich der Schlüssel für das Verständnis des Bauern. Mit +diesem Satz hat Auerbach den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber +in der Ausführung tritt die Sitte ganz zurück. Denken wir an eine +einzige kleine Szene bei Gotthelf wie z. B. an die, wo Vreneli den +Gang zum Pfarrer wieder und wieder aufschiebt. Jeder Satz zeigt die +Verknüpfung von Sitte und Tun. Am Mittwoch geht sie nicht, weil das +als Unglückstag gilt; kein Dienstbote zieht da an. Am Dienstag ist +das Zeichen des Kalenders nicht recht: die Welt des Aberglaubens tut +sich auf. Am Montag scheint der Mond zu hell; die Mädchen mögen +bei diesem wichtigen Gang sich nicht gern anstaunen lassen. Und so +gehts fort. Das ist ein Meisterstück in der engsten Gründung von +Rede und Handlung auf Brauch und Sitte. Wo fände sich ähnliches bei +Auerbach? Es ginge ja auch so, daß schlichte, ruhige Schilderung der +Heimatsart des Bauern die Erzählung trüge. Im »Oberhof« hat sich +Immermann gar nicht gescheut, ziemlich lange Episoden zu geben, die, +mit der Handlung nur lose verbunden, eben die Welt beschreiben, in +welcher der Bauer lebt. Auerbach hat auch das verschmäht, bis auf +dürftige Ansätze, bei denen zudem der Bauer immer gleich mit dem +Städter verglichen wird. Der Hintergrund ist bei den »Schwarzwälder +Dorfgeschichten« nicht genügend ausgearbeitet. Warum nicht etwas mehr +Brauch und Sitte bei der Hochzeit von Reinhard und Lorle? Was für +eine schemenhafte Schilderung des Sonntagmorgens im Dorf am Anfang +der »Sträflinge«! Es fehlt am Hintergrund. Wir sehen und hören die +Bauern, aber wir erleben nicht ihren naturwüchsigen Zusammenhang +mit ihrer Scholle, mit Arbeit und Erholung, mit Ordnung und Sitte. +Damit hängt dann ein Anderes eng zusammen: auch ~die Denkweise +der Schwarzwälder Bauern ist keineswegs echt~. In ihre eigensten +Gebiete führt Auerbach überhaupt nicht ein. Was er sie sonst reden +läßt, das hat einen Anstrich von liberalen Zeitideen, der ja dazumal, +in den vierziger Jahren, sich auch beim Bauernstand gefunden haben +mag, der aber jedenfalls Anstrich ist, auch durchaus nichts, was die +~Eigenart~ des Bauern zu bezeichnen geeignet wäre. Es sind gute +Menschen, die er vorführt, und es mögen ganz schöne Ideen sein, die +sie da vorbringen. Aber Bauerngedanken sinds nicht. Schließlich +trägt auch die ~Sprache~ Schuld, welche Auerbachs Schwarzwäldler +reden. Helmuth ~Mielke~ erklärt sie für eine »schlichte und warme +Sprache, die den Mundatem des Volkes selbst bekundet!« Das Gegenteil +ist richtig. Die Worte sollen getrost für echt gelten, die Sprache ist +darum doch nicht echt. Was z. B. das Lorle in der Audienz beim Prinzen +alles zusammenschwatzt, das ist ganz und gar nicht dörflich schlicht; +das ist forciertes, gemachtes Bauerntum. Kurz, Auerbachs Dorfgestalten +haben keinen Erdgeruch; es sind Salondörfler. + +4. Zur Charakteristik seiner ganzen Erzählweise mag an vierter +Stelle die Art erwähnt sein, ~wie er Stoffe wählt und Probleme +gestaltet~. Auch diese Art ist nicht schlicht natürlich. Gerade +»Die Frau Professorin« liefert dafür den glänzendsten Beweis. Ein +Künstler, der in nächster Beziehung zur Hofgesellschaft steht, +heiratet ein schlichtes Gastwirtskind vom Lande. Noch dazu ein +Mann, der sich gar keine Mühe gibt, ein warmes Familienleben zu +gründen, bei dem es dem verpflanzten Dorfkind wohl sein kann. Und +das Dorfkind seinerseits bleibt so stocksteif auf der alten Art, die +doch eigentlich nur in der Negation sich zeigt, daß man wirklich ein +bißchen mehr Verständnis, ein klein wenig mehr Akkommodationsfähigkeit +erwarten dürfte. Das ist kein typisches Sittenbild; das ist +die Geschichte einer Torheit, welche durch die Narrheit der +Hauptbeteiligten auf die Spitze getrieben wird! Aber auch in anderen +Erzählungen bleibt Auerbach ungern beim rein, intim Dörflichen. +Überall spielt das Städtische hinein. In »Die Frau Professorin« +tritt das Dörfliche nirgends für sich auf, vielmehr durchweg nur in +Verbindung mit den Erlebnissen des Malers und des Collaborators. Die +»Sträflinge« bringen ein ganz fremdartiges Element ins Dorfleben +hinein: die aus Barmherzigkeit aufgenommenen entlassenen Gefangenen. + +Ich fasse mein Urteil über Auerbach kurz dahin zusammen: Er +verherrlicht das Landleben, den Bauernstand. Er entnimmt dem +bäuerlichen Leben seine Stoffe und seine Probleme. Aber ~er geht +nicht genug in die Wurzeltiefe dörflicher Art hinein, er nimmt den +Bauern nicht im Zusammenhang mit seiner Scholle. Und so lernt man den +Bauernstand selbst durch ihn nicht kennen.~ + + * * * * * + +Gehören die beiden, die ich nun nenne, auch noch zu den +Dorfgeschichtenschreibern? ~Otto Ludwig~, meine ich, mit +seiner »~Heiterethei~« und seinem »~Zwischen Himmel und +Erde~« und dann der allbekannte, reichlich gelesene und +vielgeliebte ~Fritz Reuter~? Otto Ludwig kann man den Titel +des Dorfgeschichtenverfassers mit guten Gründen abstreiten. »Himmel +und Erde« ist eine städtische Geschichte; das Dachdeckerhandwerk +bildet ihren Mittelpunkt. Zudem liegt es ihrem Schöpfer gar nicht +am Herzen, Sitte und Art zu zeichnen; keine Erzählung, die tiefer +ins Psychologische ginge und weniger über das Psychologische +hinausginge als diese. Ein Meisterstück an Feinheit, Geschlossenheit, +Entwicklung, Spannung und Kraft! Wer sie noch nicht las, sollte sie +eilig zur Hand nehmen! Aber eine Dorfgeschichte? -- Nein. Und auch +die »Heiterethei« liegt ein Stück ab vom Oberhof und von Jeremias +Gotthelf; am wenigsten vielleicht von Auerbach. Nicht das Dorf ist +ihr Schauplatz; ein Städtchen ist der Tummelplatz ihrer Gestalten. +Hier leben der hustende Weber, der Schneider, der trotz seiner dreißig +Jahre von seiner baumlangen Stiefmutter als der »Jung« betrachtet und +bis zu den handgreiflichsten Konsequenzen auch so behandelt wird, der +Morzenschmied, der ein Schabernack ist, obwohl er immer so duchsig +tut. Hier hausen und klatschen die wichtigen und die minder wichtigen +Weiber, die Gringelwirts Valtinessin, die das Recht hat, von allen +Frauen am vornehmsten zu träumen, und vor deren Übelnehmen die anderen +alle sich fürchten, -- die Frau Tüncherin, die der Valtinessin gleich +gern zugesteht, daß der Hahn, den sie im Traum hat krähen gehört, kein +rechter Luckenbacher gewesen ist, weil er ander Wetter gekräht hat, +was die Valtinessin doch nicht wahrhaben will, -- da ist die Weberin +und die Schmiedin, die, während ihr Mann ihr halb wider Willen etwas +Neues berichtet, schon immer im Geist beim Kaffeeklatsch ist und +sich selber sieht, wie sie unter allgemeiner Spannung die Neuigkeit +weitererzählt. Im Städtchen Luckenbach aber hausen vor allem auch die +beiden Hauptpersonen, die Dorle mit dem blonden Zopf und den vollen +Lippen, die so munter ist, daß man sie Heiterethei genannt hat: »Der +Name tanzt ordentlich wie das Mädle selber.« Ein Prachtmädel, diese +Heiterethei! Kein braver Mädel im ganzen Städtel; aber auch keins +mit einem flinkeren Mund. Mit dem Schiebkarren fährt sie zum Markt; +auf dem kräftigen Karren ruht ein tüchtiger Strick. Nun fragt der +Schneider: + +Aber was willst du dir nur holen damit? + +Einen Mann, lachte der Schmied. + +Einen Schmied, entgegnete das Mädchen ernsthaft. Die muß man mit +Stricken binden, wenn sie vom Markt heim nicht in jedem Wirtshaus +einkehren sollen. + +Die Schneider nicht? fragte der Schneider fast neidisch. + +Auch, sagte das Mädchen, nicht wegen der Wirtshäuser, nur, daß sie der +Wind nicht vom Schiebkarren bläst. + +Du mußt den Holder-Fritz frein, hustete der Weber. Wenn ihr einen +Jungen kriegt, der jagt den Kirchturm von der Kirch' und zur Stadt +hinaus. + +Das käm' zu spät, sagte das Mädchen ruhig. Bis dahin habt ihr ihn +hinausgehustet. + +Wo stellt ihr ein auf dem Markt, Annedorle? fragte der Schmied. +Heimwärts führen wir uns. + +Ihr werdet wohl einen brauchen, der euch führt, sagte das Mädchen; ich +nicht. -- + +Und neben der Heiterethei steht der Holder-Fritz, der flotte und +lustige Holder-Fritz, der nachher mit einem Mal anders wird. Wie der +Holder-Fritz und die Heiterethei, beide starke, trotzige Seelen, sich +mögen und sich trotzen und endlich sich einigen, das beschreibt alles +die »Heiterethei«. + +Eine Dorfgeschichte ist das nicht, aber weit davon ists auch nicht. +Das Städtchen ist ja eins von denen, in deren Tätigkeit Ackerbau und +Gewerbe sich teilt. Und eine Volkserzählung ists ganz gewiß. Nur +nicht so schlicht, wie die von J. Gotthelf; der kann einem hiergegen +beinahe pedantisch vorkommen. Und auch nicht so gravitätisch wie der +Oberhof. Nein, viel flotter, lustiger, leichter geschürzt. Und doch +viel mehr Kompositionskunst, viel mehr Entwicklungsenergie, viel +mehr psychologische Feinmalerei als nüchterne Beschreibung. Eine +Volkserzählung, die den Titel »Novelle« vollauf verdient, weil sie ein +sorgsam bedachtes Kunstwerk ist. Der Realismus ist freilich nicht mehr +Alleinherrscher; er hat den Humor und die Satire zur Seite. + +Ein prächtiges Gegenstück zu dieser Art bildet unser lieber ~Fritz +Reuter~. Was brauche ich da Titel aufzuzählen? Ihn kennt ja +ein jeder. Freilich, vor allem meine ich und denke ich an seine +»Stromtid«, dies Buch, das dem deutschen Volk, wenigstens dem +gebildeten Teil desselben, so ganz zu eigen geworden ist. Auch Fritz +Reuter ist Volkserzähler. Seine Dichtung wurzelt mit tausend Wurzeln +im mecklenburgischen Land, im norddeutschen, ja im ganzen deutschen +Volk. Hawermann und seine Lowise, Unkel Bräsig, die lütte Fru Pastern, +Jochen Nüßler und die Madam Nüßlern, die Druwäppel Mining und Lining, +sind das nicht wundervolle ländliche Charaktergestalten? Giebts nicht +desgleichen Pomuchelsköppe sowohl wie Rambows, Kandidaten wie Rudolf +und Gottlieb, Eleven wie den famosen Triddelfitz überall im deutschen +Land? Und blickt man nicht tief, tief hinein in des Landmanns Last und +Lust, in der Fru Pastern Freud und Leid, in der Tagelöhner Arbeit und +Sorgen? Ja, Reuter greift tief hinein ins Leben des Volks, ins Herz +des Volks. Er ist zugleich in alledem klar, treu und wahr. Und darum +gehört, was er geschrieben, zur Volkserzählung. Und es gehört unter +ihren Schöpfungen nicht an den letzten Platz. + +Nur bleibt dem, der die Eigenart der Erscheinungen gegen einander +abwägt, doch die Pflicht, seiner Art innerhalb der Volkserzählung +ihren ganz besonderen Platz anzuweisen. Reuter steht Otto Ludwig und +seiner »Heiterethei« der Art nach am nächsten, wie er übrigens auch +der Zeit nach mit ihm eng zusammengehört. Die »Heiterethei« erschien +1854, »Zwischen Himmel und Erde« 1856, während Reuters literarische +Tätigkeit 1853 mit den »Läuschen un Rimels« begann und dann bis +1862-64, der Zeit der »Stromtid«, währte. Wie Ludwig führt auch er nur +nebenbei in alle die Sitten und Zustände ein, in Volkes Sonderwesen +und Eigenbräuche. All das spielt hinein, aber es klingt nur leise +mit. Ein Milieudichter ist Reuter nicht, ein naturalistischer -- +trotz ein paar derber Stellen -- erst recht nicht. Ihm hebt sich aus +allem der Mensch heraus; der bleibt ihm die Krone, die alles andere +zurücktreten läßt. Und das hat zur Folge, daß die Heimatsfarbe, der +Erdgeruch minder deutlich wird. Sobald der Dichter den Menschen vor +allem als Menschen nimmt und nicht als Schweizer oder Schwarzwälder +oder Mecklenburger, sobald werden die Konturen der Zeichnung blasser. +Reuter und Ludwig haben das getan. Und wie Ludwig hat auch Reuter +mindestens in der »Stromtid« die einfach fortschreitende Form der +Erzählung verlassen; ja, die »Stromtid« ist noch in anderem Sinn ein +formgerechtes Kunstwerk als die »Heiterethei«. Sie steht in dieser +Hinsicht am besten mit »Zwischen Himmel und Erde« zusammen. Nur +daß dies durch und durch Novelle ist, während die »Stromtid« ebenso +durch und durch Romancharakter hat. Wir mögen sie nur deshalb nicht +gern so nennen, weil wir bei dem Wort Roman jenen fatalen Nebensinn +mitzudenken gewohnt sind, der doch gar nicht dazu gehört und der zu dem +Einfachen, Schlichten, Volkstümlichen in Reuter nicht stimmen will. +Aber an der Tatsache ändert das nichts: die »Stromtid« ist in Anlage +und Durchführung, in Vorbereitung, Konflikt und Lösung ein volles, +rundes Meisterwerk der künstlerisch gestalteten Prosadichtung. Und +auch das gibt ihr neben der schlichten Volkserzählung ihre besondere +Stellung. Endlich aber, und das ist das Beste, merkt man es Reuter +ganz deutlich an: ihm liegt am bloßen Malen überhaupt herzlich wenig. +Ihm ist des Dichters Aufgabe anders gefaßt: nicht einen Spiegel hält +er den Menschen vor, sondern er zieht sie mit all ihrem Denken, +Wollen und Fühlen hinein in das Menschengeschick, das er vor den +Lesern sich aufrollen läßt. Ihm darf der Leser nicht objektiv über +dem Stoffe stehen bleiben, kein Beobachter sein, der sich freut, wie +gut die lieben Menschenkinder von da und von dort abkonterfeit sind. +Hier müssen sie miterleben, mitfühlen, mitjauchzen, mittrauern, ja +unbedingt auch mitweinen! Wir wissen alle, wie trefflich ihm das +gelungen ist; wer hat nicht selber mit durchgemacht, was die Leutlein +alle dort im mecklenburgischen Dorf erlebt haben! Reuter hat es +wie kein Zweiter verstanden, den Menschen bei ~der~ Seite zu +fassen, bei der er am ehesten kühle Zurückhaltung, kritische Laune +und objektiven Stolz verliert: beim ~Gemüt~. Lustig sein und +traurig sein, beides mag das deutsche Gemüt gern. Reuter hat ihm +beides gegönnt; so herzinnig lachen und so herzbrechend weinen, wie +bei der Lektüre der »Stromtid«, kann man kaum bei einem anderen +Buch. Vielleicht hat er die Gemütssaite ~zu~ oft angeschlagen? +Ich will nicht streiten; aber rührselig ist er doch nicht geworden. +Es dominieren doch der stille Ernst und der fröhliche, selige, +goldene Humor. Fritz Reuter muß man lesen, wenn die Menschen, die +sich lieb haben, um den Lampenschein traulich zusammengerückt sind; +am allerbesten zur Weihnachtszeit, wenn das Herz ein bischen stärker +klopft, als es sonst wohl tut. + +Aber ich breche ab. Was hab' ich gewollt? Die Volkserzählung aus +der Mitte des Jahrhunderts galt es zu charakterisieren. Von 1839, +da Immermanns »Münchhausen« erschien, sind wir bis zum Anfang der +sechziger Jahre gewandert, in denen Fritz Reuter die »Stromtid« +schuf. Zwei reichliche Jahrzehnte, gerade die Mitte des Jahrhunderts +ausfüllend! Für literarische Entwicklung doch eine kurze Spanne Zeit. +Trotzdem ist gerade auf diesem Gebiet Reichliches in ihr geschehen. Wo +blieb die träumende Romantik? Der Geruch der Scholle vertrieb sie. Die +einfache, derbe, nüchterne Wirklichkeit heischte ihr Recht. Man packte +sie, wo sie am wirklichsten war, im Bauernleben. Man wollte nichts +haben als Wirklichkeit. Wer viel Süßes gegessen, hungert nach einem +Bissen Brot! ~Was Kunstform und Problem? Was Konflikt und Lösung? +Leben! war die Losung, nur Leben.~ Aber auch diese Forderung hatte +ihre Zeit. Zwar ins schlichte Leben hineingreifen, nicht bloß ins +wunderbare, das wollte man auch weiter. Aber der Mensch, die Seele, +das Gemüt ward wichtiger als die Natur. Und die Kunstform stellte sich +wieder ein. Sie hatte an Schlichtheit von ihrem Gegenstand gewonnen; +und sie half so auch der Volkserzählung zur künstlerischen Vollendung. +Aber Kunst und Natur vertragen sich schwer; auch hier trat die Natur +ins zweite Glied. Immerhin, man hatte gelernt, zu sehen und Gesehenes +zu zeigen. Man blieb wahr und man blieb nüchtern. ~Die Romantik war +tot; die Wirklichkeit hatte gesiegt.~ + + + + + Der tendenziöse Zeitroman. + + +Der Roman tritt in gewollte, neue, enge Verbindung mit der +Wirklichkeit. Goethe wirkt, nicht die Romantik. Nicht in der +Volkserzählung allein geschieht das: warum sollte man nur das +»Volk« beachten und nicht die Welt in ihrer ganzen Breite und Weite +nehmen? Lagen denn nicht tausend Anlässe vor, ihre Zustände zu +ergründen, zu durchforschen, zu kritisieren? War denn nicht eine +Zeit hereingebrochen, in der der Blick sich weitete und schärfte? +Die Sturmesgewalten der Revolution waren im Anzug; und ihnen voraus +gingen Windstöße, die alte, festgewurzelte Anschauungen aufwühlten +und zu neuen Bildungen Anlaß gaben. Was Wunder, daß die öffentlichen +Angelegenheiten, daß die Fragen der Politik und Gesellschaft, des +Staats und der Kirche, der Aristokratie und der Demokratie in jenen +Jahren vor den Stürmen von 1848 und ebenso in den folgenden Zeiten +auch die Dichter nicht ruhen ließen? Auch ihr Interessengebiet wurde +weit und groß: es erstreckte sich über alles das, was die Zeit +bewegte. Der Roman war nicht die einzige Form der Dichtung, welche +den Pulsschlag der Zeit spüren ließ. Wie hell klangen die Sturmlieder +eines Herwegh und Freiligrath! Aber ~auch~ im Roman pulsierte die +Zeit; er ward zum ~Zeitroman~. + +Konnte es anders kommen, als daß die Betrachtung der Zeit in +der Dichtung zunächst alles andere war, nur nicht ruhig, kalt, +unparteiisch und objektiv? Wir verstünden es nicht, wäre es anders +gewesen. Eher ist die Dorferzählung mit ihrer darstellenden Art +ihrer Zeit fremd als der tendenziöse Roman. Genau betrachtet, +zahlt übrigens auch die Dorfgeschichte der Zeit ihren Tribut. Der +»~Oberhof~« ist ja ein Kompositum einzelner Kapitel aus einem +Zeitroman; er gibt Wirklichkeit, aber eben mit dieser Schilderung +der Wirklichkeit verfolgt sein Verfasser eine bestimmte Absicht. In +~Auerbachs~ Erzählungen wirkt eine ganz ähnliche Tendenz; das +Land wird gegenüber dem städtischen, höfischen Wesen verherrlicht. +Auch die politischen Ideen spielen hier hinein. Und die ruhigsten, +objektivsten Dorfgeschichten, die überhaupt geschrieben worden sind, +stammen nicht aus dem vielbewegten deutschen Land, sondern aus der +Schweiz, wo der Kampf um Fürstenrecht und Volkesrecht nur mitgefühlt +und so miterlebt, aber damals nicht ebenso mitgekämpft wurde! + +~Der Zeitroman ward also zum Tendenzroman.~ Er hat Stadien +erlebt, in denen die Tendenz darin fast die Zeit tötete, d. h. in +welchen die Darstellung des Bestehenden gegenüber den Plänen zum +Kommenden kaum zur Geltung kam. Hierher gehören die ~jungdeutschen +Romane~ aus den dreißiger Jahren. Unter ihnen ragen die Werke +Heinrich ~Laubes~ und Karl ~Gutzkows~ hervor. Heinrich +~Laube~ schuf damals (1833) den ersten Teil des Romans »~Das +junge Europa~«, dessen später erschienene Teile viel abgeklärtere +Art tragen. Die einzelnen Bände haben Sondertitel; Bd. +I+: +Die Poeten; Bd. +II+: Die Krieger; Bd. +III+: Die Bürger. +Nicht das, was erzählt wird, fesselt; in der Handlung fehlt jede +Einheitlichkeit, Entwicklung und Geschlossenheit. Es dreht sich +alles um Liebesabenteuer der jungen Poeten, und zwar um solche, die +der theoretisch verfochtenen Freiheit in Religion und Sittlichkeit +vollkommene praktische Folge geben. Aber die Hauptsache sind die +Ansichten, die breit und gründlich zur Aussprache und zum Siege über +andere Ansichten gelangen. Der Gegensatz gegen die Romantik kommt zum +scharfen Ausdruck; die gesunde Natur wird gepriesen, zugleich aber +auch ihre völlige Ungebundenheit. Keine Vorschrift der Religion und +keine der Moral wird anerkannt; die Natur hat Recht, auch mit ihrer +Sinnlichkeit. In der Politik aber gilt selbstverständlich allein das +Volk, ja sogar das Volk in verschwommener Allgemeinheit; nicht als +Einzelvolk, als Nation, sondern als Summe von Weltbürgern. + +Es ist nicht meine Absicht, alle Romane jener jungdeutschen Epoche +hier zu charakterisieren. In allen herrscht der gleiche, gärende +Geist, die gleiche Auflehnung des Einzelnen gegen die hergebrachte +Ordnung wie der Masse gegen das Gefüge des Staats und der Kirche. +Im übrigen sind sie verschieden genug. Da ist Karl ~Gutzkows~ +»~Maha Guru~« (1833), dessen Schauplatz weitab in Tibet liegt, +dessen Angriffsobjekt aber doch das Christentum ist; da ist aus dem +Jahre 1835 desselben ~Gutzkow~ »~Wally, die Zweiflerin~«, +eine Fortsetzung dieses Kampfes gegen das Kirchentum. Die Heldin +zweifelt an allem, insbesondere auch an jeder Religion. Religion ist +ihr ein »Produkt der Verzweiflung«. Sie gibt sich schließlich selbst +den Tod. Der Roman knüpft an an die wunderbare Tatsache, daß Karl +Gutzkows Gattin Charlotte sich selbst den Tod gegeben hatte, um durch +diese Tat ihren Garten mit neuer dichterischer Kraft zu erfüllen. +Und wie diese Tat, welche das Werden des Romans mitbestimmte, so +ist die gesamte Ideenwelt desselben outriert, überleidenschaftlich, +schließlich unwahrscheinlich. Nicht vergessen soll werden, daß in +»Wally, die Zweiflerin« zugleich die Frau als Frau neue Geltung +beanspruchte. Die enge Verbindung, in welche hier Emanzipation der +Frau und Emanzipation von aller Religion, überhaupt von allem Gewissen +traten, ist für die Zukunft nicht ohne Einfluß geblieben. + +Aber wir eilen vorwärts. Gutzkows »~Seraphine~« (1838), sein +Erziehungsroman »~Blasedow und seine Söhne~« (1838), die anderen +jungdeutschen Kraftromane können nur genannt werden. Aus der Sturm- +und Drangperiode des Zeitromans, die man etwa bis zur Revolution +datieren kann, retten wir uns in die Periode des ~abgeklärteren +Zeitromans~. Auch hier Tendenz, überall Tendenz. Aber die Tendenz +macht nicht mehr die Zeitdarstellung tot; sie läßt dieser größeren +Raum und größere Ruhe. Der Grad dieser Ruhe ist freilich verschieden. +Zwei Klassen des Zeitromans bilden sich, jenachdem die Tendenz +stärker oder schwächer ist, jenachdem die Darstellung weniger oder +mehr objektiv geraten ist. Wohl gehen beide Gattungen in einander +über, wohl kann man schwanken, welcher von beiden der eine oder +der andere Roman zuzuteilen ist. Aber es sei dennoch gewagt, die +~Unterscheidung~ festzuhalten ~zwischen dem tendenziösen und +dem objektiven~, oder, um vorsichtiger zu sein, zwischen dem mehr +tendenziösen und dem mehr objektiven ~Zeitroman~. + +Die Zahl der Zeitromane der ersteren Art ist groß, zumal wenn +man nun alsbald auch in die späteren Jahrzehnte des Jahrhunderts +hineingreift. Gegen die Titanen der Revolution nimmt Stellung +A. ~Widmann~: »~Der Tannhäuser~«, gegen die irreligiöse Weltanschauung +Elisabeth ~Cantz~: »~+Eritis sicut Deus+~« (1854). Stark tendenziös +sind die Romane von ~Spiller von Hauenschild~ (Pseud.: Waldau), +von denen nur der 1851 erschienene »~Nach der Natur~« genannt sein +mag. Proletarisch-sozialistische Tendenzen verfolgt Robert Prutz +(besonders »~Engelchen~« 1851). Bedeutender sind die schon minder +stark tendenziösen späteren Romane von Karl ~Gutzkow~: »~Die Ritter +vom Geist~« (1850/51) und »~Der Zauberer von Rom~« (1856/61), +die Schöpfungen Friedrich ~Spielhagens~, von denen insbesondere +»~Problematische Naturen~« (1860/61), »~Die von Hohenstein~« (1863), +»~In Reih und Glied~« (1866) hierher zu rechnen sind, und von noch +späteren Werken diejenigen von Paul ~Heyse~: »~Die Kinder der Welt~« +(1873) und »~Im Paradiese~« (1885). Zu eingehenderer Betrachtung +greife ich heraus: Gutzkow »Die Ritter vom Geist«, Spielhagens +»Problematische Naturen« und Heyses »Kinder der Welt«. + +~Gutzkows~ »~Ritter vom Geist~« geben sozusagen das Programm +des gesamten Zeitromans der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ein +ausführliches Vorwort gibt darüber Auskunft. Der Roman erlebt eine +neue Phase. Er soll mehr werden, als der Roman von früher war. »Der +Roman von früher .... stellte das ~Nacheinander~ kunstvoll +verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer +klassischen Unglaubwürdigkeit! .... Oder wer sagte Euch denn, ihr +großen Meister des alten Romans, daß die im Durchschnitt erstaunlich +harmlose Menschenexistenz gerade auf ~einem~ Punkte soviel +Effekte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche +Voraussetzung sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten +kleinen Stoffe zuspitzen konnten?« Der alte Roman ist unwahr geworden, +weil er die lebenslangen Strecken, welche zwischen einer Tat und ihren +Folgen liegen, beiseite warf. Er ließ dadurch die alte Wahrheit von +der -- unwahren, erträumten Romanwelt siegen. »Der neue Roman ist der +Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt, da ist die Zeit wie +ein ausgespanntes Tuch ...... Nun fällt die Willkür der Erfindung +fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis +liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt und stellt seine Beleuchtung +der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspektive des in +den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich +ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, leider +polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt.« + +Von diesem Programm verspricht sich Gutzkow Gewaltiges. »Resultat: +Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder +den Glauben und das Vertrauen schöpfen, daß auch die moralisch +umgestaltete Erde von einem und demselben Geiste doch noch könne +göttlich regiert werden.« Diese hochfliegenden Pläne lassen wir +beiseite. Ihre Haltlosigkeit liegt auf der Hand. Was aber das eben +nach der Vorrede zu den »Rittern vom Geist« entwickelte Programm +betrifft, so ist es, wie gesagt, in der Tat dasjenige des neuen +Zeitromans geworden. Keine unwahrscheinliche Verknüpfung eines +Nacheinander von Ereignissen, die in Wirklichkeit doch nicht +nacheinander kommen, sondern ein Gesamtbild der bestehenden Welt in +ihren mannigfachen Einzelerscheinungen soll seinen Inhalt bilden: ein +Querschnitt, nicht ein Längsschnitt soll er sein. Allerdings, so sehr +Gutzkow mit der Polemik gegen das ~unnatürliche~ Nacheinander +Recht hat, so wenig kann der Roman nur ein ~Neben~einander geben: +er müßte ja sonst auf jede Handlung verzichten. Und dann: so gewiß +das Nebeneinander trefflich dazu dienen wird, ein Welt- und Zeitbild +im großen Stil zu geben, -- man braucht doch nicht zu fordern, daß +jeder Roman die ~ganze~ Welt schildere; warum soll er nicht ein +Einzelbild herausgreifen? Mehr Natürlichkeit! Mehr Wirklichkeit! Mehr +umfassende Weltdarstellung! Mit diesen Forderungen hatte und behielt +er Recht. Aber der Roman muß, weil er Erzählung ist, auch Handlung +geben, und er muß diese Handlung aus den handelnden Menschen ableiten. +Dies ~Ineinander~, nicht bloß Nebeneinander, von Welt, Mensch und +Handlung hat Gutzkow zu fordern vergessen. + +Die »Ritter vom Geist«, welchen Gutzkow dies kräftige Vorwort +mitgegeben hat, bilden denn auch keineswegs ein absolutes +Nebeneinander. Vielmehr bringen sie durchaus auch fortschreitende +Handlung. Sie vergessen auch keineswegs, daß Menschenwille und +-Charakter die wichtigsten Faktoren bei allem Geschehen sind; die +Psychologie spielt in ihnen keine geringe Rolle. Die Aufgabe, die +Welt im Querdurchschnitt zu zeigen, erfüllt dieser Roman vollauf; +nur daß er hierin sogar des Guten zuviel getan hat. Neun Bücher! Und +keineswegs kurze! Wahrlich, es war nötig, daß der Verfasser am Anfang +der Vorrede dem Leser zurief: + +»Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich +dich auffordere! Rüste dich mit geschäftslosen Sonntagsvormittagen und +einem guten, aushaltenden Gedächtnis! .... Werde nicht müde, wenn du +unabsehbare Ebenen erblickst, sich der Weg zwischen gefahrvolle, nicht +endende Gebirgspässe zwängt, oder die Landstraße plötzlich sich wie in +die Wolken zu verlieren scheint!« + +Diese unsagbare Breite dieses Romans, wie auch des folgenden »~Der +Zauberer von Rom~«, hat es denn glücklich zu Wege gebracht, daß +kein Mensch mehr sie liest. Ein halbes Jahrhundert -- und sie sind +vergessen! + +Soll ich Ihnen die Fabel der »Ritter vom Geist« darzustellen +versuchen? Sie macht die Bedeutung des Romans nicht aus. Im Gegenteil; +sie ist neben der ungeheuerlichen Breite seine Schwäche. Die Handlung +angesehen, ist man versucht, dem Werk schlankweg den Titel des +Abenteurerromans zu geben. Vor allem ists nicht ~ein~ Faden, +den der Dichter verfolgt, sondern eine ganze Zahl. Nr. 1: Die Brüder +Wildungen glauben Anspruch auf Besitztum zu haben, das in Händen +des Templerordens war. Der eine der Beiden entdeckt die beweisenden +Urkunden, verschlossen in einem hölzernen Schrein. Eben dieser wird +ihm gestohlen. Er sucht ihn und erlebt auf der Suche Abenteuer um +Abenteuer. Er wird eines verkleideten Prinzen nächster Freund und +Duzbruder, wird selbst für eben diesen Prinzen gehalten, verliebt sich +in dasselbe Mädchen, welches der Bruder liebt. Endlich, endlich kommt +der Schrein zum Vorschein, der Prozeß wird gewonnen. Inzwischen ist +aber der eine Bruder ins Gefängnis geworfen, aus dem er abenteuerlich +befreit wird. Ein Feuer, das im Wirtshaus ausbricht, vernichtet den +Schrein. -- Nr. 2: Das Fürstentum Hohenberg ist vakant; der Erbe lebt +im Ausland, mag auch die Erbschaft nicht antreten, weil die Passiva +größer sind als die Aktiva. Als Handwerksbursch verkleidet, kommt er +doch in die Heimat, ins fürstliche Schloß. Dort will er sich eines +Bildes bemächtigen, in welchem wichtige Familienpapiere aufbewahrt +sind. Als Dieb wird er in den Turm geworfen. Jener Wildungen, der +dieses Prinzen Duzfreund so rasch geworden ist, nützt, um ihm das Bild +zu verschaffen, die Liebe seiner Angebeteten aus. Diese benützt listig +ein Rendezvous mit einer Exzellenz im Möbelwagen als Mittel, das +Bild zu beschaffen. Es kommt in die Hände des Prinzen; der Prinz ist +aber gar nicht der legitime fürstliche Erbe, sondern der Sproß eines +illegitimen Verhältnisses der Fürstin. Sein richtiger Vater ist gerade +aus Amerika heimgekehrt ... Der Pseudoprinz wird späterhin Minister. +Nr. 3: Im Haus eines angesehenen Justizrats wird ein Junge erzogen, +der, gleichfalls von illegitimer Geburt, Sohn einer vornehmen Dame und +eines Verbrechers, allerhand gefährliche Instinkte besitzt. Er bringt +die Tochter des Justizrats in Gefahr, er macht kostbare Pferde rasend, +indem er ihnen Spitzkugeln in die Ohren praktiziert, er nachtwandelt +in allen möglichen Situationen, erschreckt die justizrätliche Familie, +besonders jene Tochter; schließlich kommt er in eben jenem Brande +um, in welchem der Schrein sein Ende findet. Und an diese Nummern +1-3 könnte ich leicht weitere knüpfen. Aber zur Charakteristik des +Ganzen genügt es, wenn allenfalls noch hinzugefügt wird, daß die +Verwechselungen, die Mißverständnisse und endlich die Aufklärungen +der Handlung an mehr als einer Stelle auf die Sprünge helfen müssen. +Es leuchtet ohne weiteres ein, daß mit dieser Handlung kein Staat zu +machen ist. Was Gutzkow am alten Roman aussetzte, hat er selbst nicht +vermieden: klassische Unglaubwürdigkeit, farbenreiche Gebilde des +Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten. Er selber nannte +die Menschenexistenz im Durchschnitt erstaunlich harmlos. Und was für +Merkwürdigkeiten hat er dann -- nicht nacheinander, aber doch eng +nebeneinander -- gehäuft! + +Die Bedeutung des Romans -- er besitzt solche trotz alledem -- +liegt also anderswo. Sie liegt lediglich in dem Zeitbild, welches +er in bisher ungekannter Gründlichkeit gibt. Es entbehrt nicht der +Tendenz; hatte doch schon das Vorwort gesagt, der Dichter stelle +seine Beleuchtung der Welt derjenigen der Wirklichkeit gegenüber. +»Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, +eigentümlich, ~leider~ polemisch.« Die eigene Stellung des +Dichters läßt aber doch auch die anderen Strömungen zu ihrem Rechte +kommen. Um das Preußen nach 1848 handelt sichs. Die Reaktion ist oben +auf; sie wird verdeutlicht durch den »Reubund«. Der hat es sich zur +Aufgabe gesetzt, durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung dem +Fürstenhaus zu erkennen zu geben, daß das Volk die revolutionären +Stürme bereue. Die kirchliche Reaktion stellt Propst Gelbsattel +dar, ein Mann von konservativster Gesinnung, ein Bewunderer der +Jesuiten, die mit ihrer Organisationskunst und ihrer Lebenskraft +sich die Aufgabe gestellt haben, die geistige Herrschaft der Kirche +zu retten. Neben diesen prinzipiellen Vertretern der Reaktion stehen +Typen eines praktischen Realismus: an ihrer Spitze der Justizrat +Schlurck, der wohl »Anfälle von Aberglauben, ja von Mystik« hat, im +Grund aber ein völlig grundsatzloser Zweifler ist. »Die Staatsformen +wechseln, aber die Forellen bleiben,« das ist sein Grundsatz. »Ein +Mann in meiner Stellung, .... was kann der tun, wenn man ihm sagt: +Das Interesse des Staats verlangt jetzt auch Ihre Beihülfe! Auch +Sie müssen teilnehmen an der Wiederherstellung der Monarchie und +des sicheren Kraftgefühls der Regierung! .... Sehen Sie, schon das +ist ja etwas wert, wenn es die Reaktion durchsetzt, daß Einer mit +Behaglichkeit wieder in ein Bad reisen kann.« »Ich war Mitglied aller +Bibelgesellschaften, aller Missions-, aller Gustav-Adolfvereine. Ich +hielt mich anfangs zum konstitutionellen Angstklub, ich bin jetzt +Reubündler; was soll ich mich dabei aufhalten, den Leuten zu sagen, +warum .... ich es nicht bin.« Dem gleichen politischen Realismus +huldigt auch Pauline von Hardenberg, eine Schriftstellerin nach +Art der Jungdeutschen, dann plötzlich übertriebene Monarchistin, +Hauptanstifterin kontrerevolutionärer Schläge, schließlich aber +wieder Führerin der Fronde, weil ihr glühender Ehrgeiz nicht erfüllt +wird, zu den kleinen Zirkeln zu kommen, die sich um das Herrscherpaar +versammeln und in denen »das System« gemacht wird. Ihnen allen +gegenüber stehen die Ideen des jungen Prinzen, die er allerdings nicht +in die Praxis umsetzt. Auch er ist Neuerungen nicht abhold. »Solange +nicht die Arbeit selbst an den Thron für sich redend tritt und die +Bureaukratie aufhört, der Dolmetscher der Interessen der Arbeit +zu sein, kann es nicht besser werden. Es fehlen uns Staatsmänner, +die ihre Schule im Volke gemacht haben.« Der Staat darf sich nicht +nur auf die Institutionen der Gewalt stützen; er muß sich durch +den Schutz der Arbeit, der Industrie, des Handels, des Ackerbaus +befestigen. Der Adel ist nicht aufzuheben, sondern ihm ist das +natürliche Nachwuchssystem zu belassen. In manchem verwandt und doch +viel radikaler sind die Anschauungen Dankmars Wildungen, die des +Dichters eigene wiedergeben. Er vertritt die Demokratie. Fort mit den +Vorrechten des Adels nicht nur, sondern fort mit diesem selbst! Sonst +ist kein Heil für die Menschheit. Dies Heil liegt in der Fortbildung +der Freiheit. Mit dem Bestand von Dynastien könnte er sich aussöhnen, +wenn er darin diese Fortbildung gesichert sähe. Aber die Monarchie ist +ein Hindernis der Freiheit, denn sie züchtet durch Ehrenzeichen und +Titel die Eitelkeit. Anderseits will auch er keine Revolutionen, keine +allgemeine Zerstörung. Darum predigt er eine andere Gleichheit als die +der Volksversammlungen, als die des Pöbels. Die besonnene Demokratie +schwebt ihm als Ideal vor, und in ihrem Namen ruft er die Ritter vom +Geist zum Bund gegen die Reaktion auf. Die Einzelheiten dieses Bundes +sind etwas romantisch gedacht, aber wir können sie getrost beiseit +lassen. + +Wir sehen: die Gedankenwelt des Romans führt uns tief, sehr tief +in die Politik. Ein Bild der politischen Zustände und Meinungen +gibt Gutzkow, das allseitig orientiert und mit staunenswerter Treue +durchgeführt ist. Das Preußen nach der Revolutionszeit, die Zustände +am Hof Friedrich Wilhelms +IV.+, die politischen Strömungen, +die Geistesrichtungen -- das alles ist scharf erfaßt und klar +wiedergegeben. Und das ist es, was diesen Roman vor vielen anderen +auszeichnet. Er ist in der Anlage der Handlung mißglückt, durch seine +unendliche Breite ungenießbar, er ist weitab von der Kunst, Handlung +und Mensch wirklich in Eins zu setzen und so die Handlung aus den +Menschen hervorgehen, die Menschen aus ihrem Handeln klarwerden zu +lassen. Aber er betont mit all seiner Einseitigkeit wirkungsvoll die +Aufgabe des Romans, ein wahres Weltbild zu geben. Und darum darf er +nicht vergessen sein. + +Wir überspringen genau ein Jahrzehnt. Aus den Jahren 1860/61 bezw. +1863 stammt ein anderer, gleichfalls weitberühmter politischer +Tendenzroman, der aber in seiner Eigenart nicht nach den Gutzkowschen +beurteilt werden darf: ~Friedrich Spielhagens~ erster großer +Roman: »~Problematische Naturen~«, dessen Fortsetzung dann die +Bände »Durch Nacht zum Licht« bilden. Das Werk führt auf die Insel +Rügen, in die Kreise des Landadels. Ins Schloß Grenwitz kommt als +Hauslehrer Oswald Stein, ein idealistisch gerichteter Demokrat und +Adelshasser. Ihm schließt sich eng der ältere seiner Schüler an, ein +Verwandter des Hauses, namens Bruno. Oswald bewährt noch eine andere +merkwürdige Anziehungskraft: die Frauen fliegen ihm zu wie die Motten +dem Licht. Frau Melitta von Berkow, deren Mann in geistiger Umnachtung +lebt, wirft sich ihm in schrankenloser Liebe an den Hals, die jungen +adligen Damen reißen sich um ihn, endlich wendet sich ihm auch das +Herz der schönen Tochter des Hauses, Helene, zu. Diese Helene aber +soll einen verlebten Verwandten, Felix von Grenwitz, heiraten. Sie +schlägt ihn aus; die jungen Adligen provozieren zugleich einen Streit +mit Oswald, der sie im Pistolenschießen und bei den Damen aussticht. +Im Duell verwundet er Felix schwer. Bruno stirbt in gleicher Nacht und +Oswald verläßt das Haus. Oswald ist aber, wie durch den leichtsinnigen +Geometer Timm herauskommt, niemand anders als der uneheliche Sohn des +früheren Herrn von Grenwitz, der berechtigte Erbe zweier Güter des +Grenwitzschen Besitzes. Soweit die Erzählung in den »Problematischen +Naturen«. »Durch Nacht zum Licht« führt in die Revolution hinein, der +auch Oswald Stein zum Opfer fällt. + +Wie Gutzkows »Ritter vom Geist« die Zeit ~nach~ 1848, so +schildern die »Problematischen Naturen« die Zeit ~vor~ 1848. +Aber das Bild, das sie geben, ist weder so umfassend noch so wahr. +~Nicht so umfassend~: denn wenn auch die wichtigsten Schichten +der Gesellschaft ihre Repräsentanten finden, so ist doch bei ihrer +Zeichnung viel stärker als bei Gutzkow das persönliche, individuelle +Moment betont. Gutzkow gibt Typen bestimmter Anschauungen, +charakteristischer politischer Richtungen. Ihn interessiert der +Mensch fast nur, soweit er politische Anschauungen hat. Spielhagen +geht viel tiefer ins Psychologische hinein. Er vergißt nicht, +daß der Mensch in erster Linie als Einzelwesen, und erst sehr in +zweiter Linie als ζῶον πολιτικὸν in Frage kommt. Eben darum vermag +er es nicht, derart umfassend, wie Gutzkow getan, die Zeit zu +schildern. Wenn aber Gutzkows Forderung, daß der Roman den ganzen +Weltteppich zu schildern habe, unberechtigt ist, so liegt eben in +Spielhagens Selbstbeschränkung Kunst und Einsicht. Ein Zeitbild +gibt er ja trotzdem: es beschäftigt sich vor allem mit den Kreisen +des Landadels. Daneben stehen aber auch Typen des Bürgertums: der +Universitätsprofessor, der Landpastor, Landärzte, ein Kandidat der +Theologie, der umsattelt und Mediziner wird, ein Geometer, eine +Haushälterin, endlich eine Zigeunerin und ein paar Landleute. Das Bild +ist kleiner als das Gutzkowsche; groß genug ists immerhin. + +Schwerer wiegt, daß es ~nicht so wahr~ ist wie dasjenige +Gutzkows. Ich rede hier nicht von der ländlichen Umgebung, die +freilich, soweit sie nicht in Meer, Kreidefelsen und Wäldern besteht, +kein Leben gewinnt. Die paar Gestalten, welche hier auftauchen, geben +keine Anschauung vom Landvolk. Gut, das hat Spielhagen auch nicht +gewollt. Auch davon will ich nicht sprechen, daß der Bürgerstand wohl +in einigen Exemplaren vorgeführt wird, daß aber auch seine Art, sein +Wesen, seine Gesamtexistenz im Dunkeln bleibt. Den braven Bemperlein +in allen Ehren, den +Dr.+ Braun nicht minder, -- sie bleiben +doch, losgelöst von ihrer Umgebung, wie sie vorgeführt werden, allzu +vereinzelt, um einen Eindruck vom Ganzen zu gewähren. Wo aber der +Bürgerstand Spielhagen nicht sympathisch ist, da wird schon hier +die Zeichnung geradezu unwahr. Das Bild des Pastors Jaeger ist eins +der Pastorenzerrbilder, die bei Spielhagen auch sonst herumspuken, +-- immer unwahr und immer schief. Aber das Hauptgewicht fällt auf +den Adel. Wie steht es da um die Wahrheit? Helmut Mielke sagt mit +bezug hierauf: »Man hat den Dichter der Übertreibung gescholten und +ihm damit Unrecht getan; seine Schilderung z. B. des Ballfestes der +Junkergesellschaft hinterläßt eher den Eindruck, daß er häßliche +Details der Wirklichkeit unterdrückt als ans Licht gezogen hat.« +Hier widerspreche ich entschieden. Das Bild ist unwahr durch und +durch. Dieser Cloten z. B. ist so unglaublich albern, daß er in ein +Karikaturenblatt gehört. Melitta von Berkow, Emilie von Breesen +beginnen +sans façon+ allerliebste Liebschaften mit dem +Hauslehrer eines anderen Hauses: lauter völlig verzeichnete Szenen. +Die ganze Stellung Oswalds in dieser Umgebung ist einfach unmöglich. +Ist der Hochmut und die Arroganz des Adels so groß, wie er beständig +gemacht wird, dann nimmt eben der Hauslehrer nicht an allen Bällen +teil, dann wird er eben nicht Liebling aller Frauen, Intimus eines +Barons. Ich führe das nicht weiter aus; nur bezüglich des Ballfestes +bei den Barnewitz halte ich gleichfalls ausdrücklich den Vorwurf der +Übertreibung aufrecht. + +Indes der Titel des Romans deutet an, daß dem Dichter der +Hauptnachdruck weniger auf dem Milieu, als auf den einzelnen +»problematischen Naturen« gelegen hat. Problematische Naturen! ++Dr.+ Braun nennt sie »eine in unseren Tagen ziemlich weit +verbreitete Spezies +generis humani+, Nachkommen des weiland vom +Teufel geholten Doktor Faustus, +Faustuli posthumi+, so zu sagen, +die den langen Dozentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen +Ritterkostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im +übrigen aber auf gut faustisch von Begierde zu Genuß taumeln und im +Genuß nach Begierde verschmachten.« Sie haben das Größte vor, die ++aurea mediocritas+ ist für sie umsonst gepredigt, aber sie +erreichen das Ziel nie, weil es ihre Kräfte überragt. Sie haben vor +sich die »blaue Blume«. »Wissen Sie, was das ist? Das ist die Blume, +die noch keines Sterblichen Auge erschaute und deren Duft doch die +ganze Welt erfüllt. Nicht alle Kreatur ist fein genug organisiert, +diesen Duft zu empfinden; aber .... all die närrischen Menschen waren +es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel +ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen +kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen +Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und +aus dieser Krankheit ist keine Rettung, -- keine als der Tod. Wer +nun einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine +ruhige Stunde mehr in diesem Leben!« + +Und wirklich, in der Art, wie Spielhagen diese problematischen, +rätselhaften Naturen geschildert hat, liegt auch der Hauptwert seines +Buchs. Er hat damit ein Problem der Seelenkunde angerührt, das zu +den dankbarsten gehört. Indem er sich diesem Problem zuwandte, hat +er freilich die Wahrscheinlichkeit seiner Darstellung nicht erhöht; +mag auch in der Zeit vor den 1848er Märztagen diese Spezies von +Naturen nicht rar gewesen sein; sie finden sich hier doch ein wenig +zu zahlreich. Da ist Oswald selbst, der die kühnsten Pläne, die +stolzesten Ideen hat, der aber in der größten Gefahr ist, um des +Weibes, besser um der Frauen willen, den von ihm gehaßten Junkern +frappant ähnlich zu werden, der den Genuß in jeder Gestalt zu +würdigen, ja sogar raffiniert auszukosten weiß, und der doch solche +melancholischen Anfälle hat, daß ihm das Leben wie ein dumpfer, +beängstigender Traum erscheint, der eines Freiherrn Blut in seinen +Adern hat, aber sein Leben der Sache der Freiheit opfert. Neben ihm +ist die am meisten problematische Natur der Baron Oldenburg, der +einzige Gescheute und Edle in der ganzen Junkergesellschaft, der seine +Standesgenossen verspottet, den Hauslehrer zu seinem Freund macht, im +Grund aber immer ein Aristokrat bleibt, der alle Genüsse ausgekostet +hat und jeden neuen Genuß mitnimmt, aber immer unbefriedigt, immer +sehnsuchtsvoll bleibt. Da ist Melitta von Berkow, die Schöne und +Kluge und Stolze, die doch so unendlich rasch Herz und Zurückhaltung +verliert. Gewiß, interessante Rätselgestalten, die dem Roman ein +eigenes Gepräge geben! + +Über die »Problematischen Naturen« urteilt Bartels: »Im Grunde hat +Spielhagen dies Werk nicht übertroffen und ist auch ein Darsteller +problematischer Naturen geblieben; fast in allen späteren Romanen +wirkt er in der Hauptsache mit denselben Ingredienzien; die Anschauung +wurde im ganzen nicht reifer und freier, die inneren Erlebnisse aber +fielen weg.« Ich möchte hinzufügen: er ist späterhin in manchen, nicht +in allen seinen Prosadichtungen auf eine niedere Stufe gesunken, +auf die des Salonromans. Die »Problematischen Naturen« aber geben ein +Bild der Schattenseiten und der Vorzüge seiner Romane. Ihr größter +Ruhm ist eine Kunst der Darstellung, welche mannigfache Fäden zieht, +aber alle mit einander verwebt und so eine spannende, einheitlich +gefaßte und mehr und mehr konzentrierte Handlung zu wirkungsvollem +Abschlusse bringt. Hierin übertrifft er ~alle~ Vorgänger. +Zugleich gewinnen seine Personen ein wirklich persönliches Leben, und +dies psychologische Moment verbindet er mit dem Gange der Handlung. +Allerdings ist diese Verbindung nicht überall eng: Geschichten wie +diejenigen von der Entdeckung der freiherrlichen Abstammung des Helden +Oswald bilden einen geradezu störenden romantischen Einschlag in +die naturgemäß verlaufende Handlung, wie denn auch sonst zahlreiche +Unwahrscheinlichkeiten in Kauf zu nehmen sind. Ferner bemüht er sich +ernstlich, ein lebendiges Bild der Zeitverhältnisse, in denen seine +Menschen leben, zu entwerfen. Nur daß das Wort »Zeitverhältnisse« +vielleicht schon zu weit greift; Zeit~stimmungen~ liegen ihm mehr +noch als äußere Umstände, als das eigentliche Milieu. Immerhin, was +gab er für Revolutionsschilderungen! Hier lag sein eigenstes Gebiet. +Hier war ja auch ein Handeln, das zugleich ganz und gar Stimmung war. +Endlich muß man im Gedächtnis behalten, daß er Tendenzschriftsteller +war: in ihm loderte die adelhassende demokratische Gesinnung. Warum +sollte er nicht solche Tendenz zum Ausdruck bringen? Der Wert seiner +Werke sinkt für das objektive Urteil dadurch keineswegs. Aber, wie +ausgeführt, die Tendenz ließ keine absolut wahre Schilderung zu. + +Auch die späteren Romane Friedrich Spielhagens kranken z. T. an diesem +Übermaß von Tendenz. »~Die von Hohenstein~« (1863) setzen den +Kampf gegen den Adel mit einseitiger Ausschließlichkeit fort, »~In +Reih und Glied~« steht unter dem Zeichen Lassalles. Der Anspruch +des empordrängenden vierten Standes macht sich energisch bemerkbar. +Aber das Problem wird nicht sachlich durchgeführt: der Held, eine +heroische Natur, geht eigene Wege und diese eigenen Wege führen zu +einer höchst persönlichen Katastrophe, -- ganz wie beim wirklichen +Lassalle. Die politischen Einschläge des Romans, Prinz wie Adel und +Militär, zeigen auch hier den fast fanatischen Haß des Oppositionellen +gegen jene führenden Klassen. »~Hammer und Amboß~« endlich will +die soziale Frage lösen, freilich nur in der Idee. Die Lösung liegt +in den Herzen der Menschen. Warum sind die Einen nur Hammer, die +anderen nur Amboß? In Wirklichkeit ist doch »jedwedes Ding und jeder +Mensch in jedem Augenblick beides zu gleicher Zeit.« Was die Welt +verschlechtert, ist »die Wut zu befehlen und die sklavische Gier, sich +befehlen zu lassen.« + +Es sind z. T. Meisterwerke in Kraft und Spannung, die uns hier +begegneten. Politisch-tendenziös sind sie alle. Auch in anderem Sinn +soll uns Spielhagen später begegnen. Inzwischen aber lassen wir nach +den »Problematischen Naturen« wieder ein Jahrzehnt vergehen, um +einem anderen Typus des tendenziösen Zeitromans näher zu treten. Die +Politik hat aufgehört zu herrschen; die Fragen der Weltanschauung +dominieren. Das entspricht nur dem Gange der Zeit. Um die Mitte des +Jahrhunderts absorbierte die Politik die besten Kräfte, eine Unsumme +von Interesse. Da griff auch der Romandichter ins politische Leben +hinein, es zu beschreiben und -- zu beurteilen. Aber nun war das neue +deutsche Reich gegründet; die eminentesten Lebensfragen der deutschen +Nation waren gelöst. Es wäre sicher eine Unmöglichkeit gewesen, mit +einem eigentlich politischen Roman derart auf die ~allgemeine~ +Teilnahme zu stoßen, wie man das ein oder erst recht zwei Jahrzehnte +früher erwarten mußte. Um so mehr traten die Fragen der Weltanschauung +hervor. Nicht sie allein; Spielhagens »~Sturmflut~« geißelt +als einen Schaden der Zeit den Gründerschwindel. Aber die +Weltanschauungsfragen, dazu die des im Anzug begriffenen Sozialismus +waren jedenfalls Fragen der Zeit. ~Paul Heyse~ wagte den Wurf, +sie in großem Zeitroman zu erörtern. Er schrieb 1873 »~Die Kinder +der Welt~« und ließ später ähnliche Versuche folgen. »~Im +Paradiese~« (1876) schildert das Münchener Künstlerleben; »~Der +neue Merlin~« (1892) polemisierte gegen die Modernen in der +Literatur. Am umfassendsten ist das Zeitbild, welches »~Die Kinder +der Welt~« entrollen. Es muß genügen, bei ihm ein wenig länger zu +verweilen. + +Den Gang der Handlung dieses Romans ausführlich wiederzugeben, kann +ich mir ersparen. Alles dreht sich um das Lebensgeschick eines jungen +Privatdozenten der Philosophie, der mit seinem kränklichen Bruder, +der ein wenig Drechslerei treibt, in einem Berliner Hinterhaus eine +Stube primitiver Art, die sogenannte »Tonne«, bewohnt. Er verliebt +sich sterblich in eine problematische Schöne, genannt Toinette, +natürliche Tochter eines Fürsten. Sie kann nicht lieben und darum auch +ihn nicht lieben; als das klar ist und gleichzeitig auch der Bruder, +der in idealer Hingebung ihr Herz für den Helden Edwin gewinnen +wollte, stirbt, wird er krank und heiratet dann die Tochter eines +christlichen Malers und einer jüdischen Mutter, Lea König, nicht ohne +sie ernstlich zu lieben. Er wird Gymnasiallehrer, um einen Hausstand +zu gründen. Auf einer Ferienreise begegnet er wieder seiner Toinette. +Sie hat, ihrem Hang zu »herzoglichem« Auftreten nachgebend, inzwischen +einen gräflichen Anbeter erhört und lebt als stolze Gräfin auf +stattlichem Schlosse. Doch nun ist in ihr die »Fähigkeit der Liebe« +wachgeworden; und die Folge ist die, daß sie ihren Grafen völlig +ignoriert, als Edwin aber kommt, diesem gehören will. Da kämpft Edwin +einen schweren Kampf; Liebe zu Toinette und Liebe zu Lea streiten +in ihm. Die Treue siegt; er flieht Schloß und Versuchung. Toinette +will ihm folgen, findet aber nicht ihn, nur seine Gattin, und gibt +sich, besiegt von deren Liebe, selbst den Tod. Edwin und Lea finden +dauerndes Glück. + +Muß ich um Verzeihung bitten, wenn diese Inhaltsangabe ein ganz klein +wenig ironischen Beigeschmack hat? Ich glaube, das hat in der Sache +selbst seinen Grund. Was für sonderbare Dinge mutet Paul Heyse dem +Leser zu! Der Privatdozent mit dem drechselnden Bruder in ~einer~ +Stube des Hinterhauses; dürftig gekleidet, kaum den Anstand wahrend. +Ja, kommt denn nie ein Student zu diesem Dozenten? Lea, sonderbarer +Weise gerade der Sproß einer christlich-jüdischen Mischehe! Toinette, +das übliche illegitime hochgeborene Wesen, wie solches in diesen +Tendenzromanen feststehendes Requisit ist: eine ganz sonderbare +Leidenschaft, immer Existenzen in den Mittelpunkt zu stellen, an denen +irgend etwas unklar ist! Und nun gar die merkwürdigen Eigenschaften +dieser Toinette, die eine Art Geburtsfehler sein sollen: weil ihre +Mutter ohne Neigung zu jenem Fürsten nur auf Druck und Zwang hin +seinen Anträgen Folge gegeben, so hat sie ein kaltes Herz mitbekommen +--; aber sie hats doch wieder nicht als unveräußerliche Eigenschaft +erhalten, sondern nur auf Zeit. In Summa: es sind keine Gestalten von +Fleisch und Blut, die in den »Kindern der Welt« umhergehen, sondern +Schemen aus der Welt der Ideale. Dieser Edwin, seine Lea, vor allem +sein Bruder Balder, -- erdentrückte Traumgestalten! + +Vielleicht habe ich bei den äußeren Vorgängen schon zu lange verweilt. +Sie sind dem Dichter wirklich nicht die Hauptsache. Im Gegenteil; sie +sind ihm in erster und letzter Linie nur die Träger seiner Ideen. +Auf der Gedankenwelt, welche sie äußern und glücklicherweise bis +zu einem gewissen Grad auch betätigen, liegt alles Gewicht. Zwei +große Heerlager stehen einander gegenüber: die »Kinder der Welt« +und die »Kinder Gottes«. Einige Typen der »Kinder Gottes« mögen +voranstehen. Die Professorin Valentin ist das Muster einer streng +christlichen, in der Liebestätigkeit unermüdlich tätigen Dame. +Zahllose Vereine absorbieren ihre Zeit. Aber auch in der Liebe ist +sie sittenrichterlich streng. Ein gefallenes Mädchen, das sie früher +beschäftigt, findet bei ihr keine Arbeit mehr; wohl aber bekommt es +ein paar Taler und eine Empfehlung an ein Asyl. Dogmatisch denkt +sie sehr eng; jede freie Richtung ist ihr verhaßt; ein heiliger +Bekehrungseifer, rege Sorge um anderer Seelenheil mischt sich +mit inniger persönlicher Anteilnahme am Geschick Nahestehender. +Heuchlerischer Frömmigkeit gegenüber fehlt ihr unterscheidende +Menschenkenntnis. Ein Typus, der zu den gelungensten des Romans +gehört, wenngleich mancher Einzelzug gemildert werden müßte. -- Ein +braver, edler Mensch und Christ ist der Maler König, Leas Vater. +Schlichte, demütige Frömmigkeit scheint Heyse in ihm verkörpern +zu wollen. Und zwar verbindet sie sich mit der wärmsten Liebe zu +den Seinen. Sollte in diesem Charakter angedeutet werden, wie die +christliche Demut zu weit gehn kann? Aber wir dürfen doch jene andere +Szene nicht vergessen, da die Familie mit einem für Lea in Aussicht +genommenen frommen Schwiegersohn im öffentlichen Gartenlokal durch +die Witzeleien der am Nachbartisch die schöne Lea beobachtenden +Offiziere getränkt wird. Der Bewerber findet den Mut zur Abwehr nicht, +aber König selber findet ihn und erringt in vornehm-ruhiger Abwehr den +entschiedenen Sieg. -- Von anderem Schlage ist der Kandidat Lorinser, +dem seine mystische Frömmigkeit Deckmantel der abgefeimtesten +Bosheit ist, der an Aufdringlichkeit, Heuchelei und Scheußlichkeit +das Menschenmögliche leistet, dem keine Reinheit unberührbar und +keine Wohltätigkeit unbetrügbar ist. Soll dieses Scheusal von einem +Menschen die Theologen versinnbildlichen? Es scheint fast, daß er als +bezeichnend für einen Teil derselben gelten soll; sonst findet sich +nur noch das flüchtig hingeworfene Porträt eines zweiten Geistlichen, +der ~gegen~ den Wunsch des Angehörigen (man staune!) am Grabe von +Edwins herrlichem Bruder Balder erscheint und nichts als harte Worte +über Unglauben und ähnliches zu reden weiß. Gänzlich verzeichnete, +völlig verunglückte Charakterbilder! -- Endlich noch ein »Kind +Gottes«, eine Fürstin, ein »Kindskopf«, der theologisiert, eine +reizende blonde Gauklerin, ohne Charakter, die aber beständig von +Calvinismus, Irvingianismus und Herrnhutern peroriert; alles in allem +eine wenig wahrscheinliche Figur. + +Den »Kindern Gottes« stehen die »Kinder der Welt« gegenüber. Gott sei +Dank! So wird dem Leser doch ordentlich wohl! Es sind ja auch ein paar +Leute darunter, die ihre Schwächen haben. Der Arzt Marquardt z. B., +dessen sittliches Leben ein bischen zügellos ist und der eigentlich +auch den Luxus etwas weit treibt. Und dann jene Leutnants, die eine +ehrbare Dame beleidigen. Aber das sind ja selbstverständlich nur ein +paar Ausnahmen. Selbst jener Marquardt ist doch ein aufopfernder, +hilfsbereiter, selbstloser Freund. Und die anderen »Kinder der Welt«, +-- in deren Nähe wird jedem heimisch. Was für ein Prachtexemplar von +einem jungen Gelehrten, dieser Edwin! Welche Anspruchslosigkeit, +Bescheidenheit! Welch gänzlicher Mangel an Strebertum! Geld, +Gehalt, Avancement, Anstellung, alles Nebensache. Geld hat er auch +nie; trotzdem fährt er übrigens beständig Droschke, statt zu Fuß +zu gehen. Gegen den Bruder ist er von zärtlichster Fürsorge, von +freundschaftlichster Offenheit, von tiefster Liebe, wennschon die +eigenen Herzensangelegenheiten ihn zeitweis das Leiden des Bruders +fast vergessen lassen. Er ist von tadelloser sittlicher Reinheit; +seine eheliche Treue besiegt auch die schwerste Versuchung; er wird +stets ein musterhafter Gatte und Vater sein. Bei alledem ist er ein +Freidenker, ohne Glauben an Gott und Ewigkeit, ein Philosoph, der mit +jedem Glauben gebrochen hat. -- Weniger gelehrt, aber ebenso ungläubig +ist sein Bruder Balder, der anziehendste aller dieser Charaktere, +ein Mensch von völliger Reinheit, von zartester Empfindung, von +selbstverleugnender Bruderliebe. Er stirbt jung; und das ist ein Zug +richtigen dichterischen Taktes. Menschen von solcher überirdischen +Art gehören auf die Erde nicht. -- Edwins Gattin Lea kann gleichfalls +nicht glauben. Sie ist ein tief angelegtes, grüblerisches Gemüt. In +der Liebe zu Edwin verzehrt sie sich; erst als er den Weg zu ihr +findet, lebt sie wieder auf. Dann wird sie eine verständnisvolle +Gattin, eine beglückte, liebende Mutter. -- Eine problematische Natur +ist Toinette, über deren äußere Verhältnisse schon die Skizze des +Inhalts das Nötigste gesagt hat. Sie ist ein Zwitter von fürstlicher +Hoheit und Großartigkeit einerseits, von bürgerlicher Liebe und Treue +anderseits. Ihr fester Wille ist: nur in der Liebe gehören einem +Mann. Daß sie dennoch dem Grafen folgt, den sie ~nicht~ liebt, +findet freilich kaum eine halbe Erklärung. Aber dann kehrt sie, zumal +nach des einzigen Kindes Tod, zur Treue gegen sich selbst zurück. »Es +gibt nur eine Vornehmheit, sich selber treu zu bleiben«. Sie ist ein +»tapferes, freigeborenes Herz«. + +Übergehen wir die anderen »Kinder der Welt«, die aufopfernden +Freunde Mohr und Franzelius, die einsame und dann doch in der Ehe +glückliche Christiane, das Reginchen und wie sie sonst heißen! Wir +wollen auch nicht untersuchen, ob die einzelnen Charaktere nach dem +Leben gezeichnet sind; eine Anzahl Fragezeichen wären da allerdings +zu machen. Nur eins soll konstatiert werden: in der Zeichnung und +Gegenüberstellung der »Kinder Gottes« und der »Kinder der Welt« +zeigt sich kein Ablauschen der Wirklichkeit, sondern faustdicke +Tendenzmalerei. Dem Dichter lag alles dran, seine Weltanschauung von +recht vielen möglichst sympathischen Personen tragen und aussprechen +zu lassen. Und diese Weltanschauung ist die der »Kinder der Welt«. So +spricht Toinette sie einmal aus: + +-- »Wie soll sie verstehen, was mich den Gedanken, alles, was ich +leide, sei die Veranstaltung eines allwissenden, allmächtigen und +doch allerbarmenden Vaters, mit Hohn oder Abscheu zurückweisen läßt! +Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschließen, +durch eine große, blinde Fügung des Weltlaufs sich gefunden und +vereinigt haben und ich an dieser schlimmen Konstellation zugrunde +gehen muß, -- so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein +Gottvater, der mich unsägliches Geschöpf +de coeur léger+ oder +auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde +herumlaufen ließe, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine +Gratifikation in der Ewigkeit zukommen zu lassen, -- nein, lieber +Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir +das nicht plausibel machen.« + +Zur Ergänzung dienen die Worte, mit denen das Buch schließt: + +»Ist da (in unseren Menschenschicksalen) nicht Wonne und Weh +untrennbar verbunden und in den höchsten Augenblicken zu einer reinen +Stimmung verklärt, in der wir uns über unser kleines Selbst erheben, +der Schmerzen spotten und zu groß und feierlich empfinden, um uns zu +freuen? O Liebste, eine Welt, in der wir uns bis zu diesem Triumph +über das Schicksal, das eigene und das unserer Geliebten, aufschwingen +dürfen, in der das Tragische vom Hauch der Schönheit verklärt wird und +mitten im Schauder über den Tod die höchste Lebenswonne uns durchbebt, +bis Tränen unsere Brust erleichtern -- eine solche Welt ist nicht +trostlos. Komm, wir wollen ins Leben zurück, zu unserm Kind, zu den +Freunden. Wie sagt mein alter Freund Catull? »Laß uns leben, Geliebte, +laß uns lieben!«« + +Nicht um Recht oder Unrecht dieser Weltanschauung handelt es sich +hier, sondern darum, daß Heyse zwischen Freunden und Gegnern dieser +Anschauung Licht und Schatten in unerträglich parteiischer Weise +verteilt hat. Dort fast alles Licht und blendendes Licht, hier fast +nur Schatten. Dort Engel, hier Teufel. Dagegen protestiert die +Wahrheit. Sein Roman ist von Bartels völlig richtig charakterisiert +als »eine sittliche Tat, ein unerschrockenes Glaubensbekenntnis, aber +freilich zugleich ein Zeugnis, wie fremd Heyse allezeit dem wirklichen +Leben gegenüberstand, und als Kunstwerk verfehlt.« + +Drei recht verschiedene tendenziöse Zeitromane führte ich auf, +verschieden an Inhalt und an Kunstwert. In der ~Form~ dieser +Art Romane hat Spielhagen das Vollendetste geschaffen; an Umfang und +Treue der Zeichnung steht er hinter Gutzkow zurück. Heyse aber liegt +noch stärker im Banne der Tendenz. Aber es gibt auch einen Zeitroman +im großen Stile, der der Objektivität den Vorrang vor der Tendenz +zugesteht. Und erst in ihm erringt der Zeitroman seine höchste Blüte. + + + + +Der objektivere Zeitroman. + + +Schon die Erwägungen, welche der vorige Vortrag anstellte, führten zu +der vorsichtigeren Unterscheidung von mehr oder minder tendenziösen +Romanen oder von Romanen, bei denen die Tendenz über die Wirklichkeit +siegt, und von solchen, in denen die Wirklichkeit oberster Richter +bleibt. Man kann dieselbe Unterscheidung auch mit anderen Worten +auszudrücken versuchen, indem man das Unterscheidungsmerkmal dahinein +setzt, ~ob der Dichter sich über seinen Stoff zu erheben weiß oder +nicht~. Wo haben wir solche? + +Ein Zeitroman, der ganz Zeit und ganz Person und doch nicht ganz +Tendenz ist, ist ~Gottfried Kellers~ »~Der grüne Heinrich~« +vom Jahre 1854. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß »Der grüne +Heinrich« die persönlichsten Erlebnisse Kellers wiedergibt. Das trifft +gewiß in weitem Umfang zu. ~Lediglich~ solche persönlichen +Erfahrungen hat er aber nicht gegeben; Wahrheit und Dichtung +sind künstlerisch verwoben. Und in dem Persönlichen ist zugleich +Allgemeines dargestellt; wer in seiner Zeit mitlebt, ist ja in der +Regel ein Spiegelbild der Strömungen dieser Zeit. Auch Gottfried +Kellers Persönlichkeit ist das gewesen; und eben dadurch ist es auch +sein »Grüner Heinrich« in hohem Grade geworden. Das Persönliche aber, +welches diesem Werk anhaftet, gibt ihm nicht nur seinen eigenen Reiz, +sondern es ermöglicht auch jene schlichte Natürlichkeit, welche wir +bei Spielhagen und bei Heyse so sehr vermissen, jene Einfachheit, die +den Zeitromanen Gutzkows so ganz abgeht. Die klassische Ruhe, die +dem Ganzen den Charakter des Abgeklärten und Reifen gibt, ist durch +dies persönliche Moment keineswegs in Frage gestellt. Keller spricht +nicht als ein Suchender, dessen Seele von den aufgeworfenen Fragen +noch bewegt würde, sondern als einer, der gefunden hat. Und was er +durchlebt hat, ist wohl mit Anteilnahme an der eigenen Erinnerung, mit +einem Anhauch eigensten Mitempfindens erzählt, aber doch so, daß man +keinen Augenblick darüber im Zweifel bleibt: Es liegt ~hinter~ +ihm und es liegt ~unter~ ihm. + +Das Moment des Einfach-Natürlichen im »Grünen Heinrich« verbindet sich +zugleich mit dem des Ehrlichen und Wahren. Man höre, wie er selbst +seine Anschauung vom Wesen des Poetischen darlegt: + +»Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen. +Ich hatte mir, ohne zu wissen, wann und wie, angewöhnt, alles, +was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand, +poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten +Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern +immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche +mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der +Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen +Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Daseins wert macht; +aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich +nun, daß ~das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und +Überschwengliche nicht poetisch ist~, und daß, wie dort nur Ruhe +und Stille in der Bewegung, hier nur ~Schlichtheit und Ehrlichkeit +mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches +oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges +hervorzubringen~, mit Einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit +der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf.« + +Mit dieser schönen Darlegung ist die Frage freilich nur eben +angerührt, welche später die Debatte über die naturalistische +Kunst, ihr Recht und ihr Unrecht, hervorrufen sollte, die Frage, +ob denn »~alle~ menschlichen Ereignisse« darstellungswürdig +und darstellungsfähig sind. Keller löst sie im Vorübergehen ganz +subjektiv: Alle Ereignisse, ~die ihn anregend berühren~, sind +poetisch, wenn sie nur schlicht und ehrlich sind. Praktisch lag darin +tatsächlich für ihn die Lösung: Unpoetisches regte ihn eben nicht an. +Von hohem Wert aber ist die ruhige Energie, mit der Keller Zweierlei +gleichsetzt: das Poetische einerseits, das Lebendige und Vernünftige +anderseits. Welche Kriegserklärung gegen alle Romantik! Vielleicht +läßt sich auch in bezug auf diese Gleichsetzung mit ihm rechten; +aber ihr Kern birgt eine heilige Wahrheit: ~Alle Dichtung muß wahr +sein!~ + +Der »grüne Heinrich«, so genannt nach der bevorzugten Farbe seiner +Kleidung, ist eines ehrsamen Schweizer Bürgers Sohn. Der Vater +stirbt jung; unter der Obhut der Mutter wächst er auf. Sie erzieht +ihn mit grenzenloser, aufopfernder Liebe, mit peinlichster Sorgfalt, +freilich nicht überall mit völligem Verständnis. Ich gestehe, daß +keine hohen Worte über Mutterliebe mir je so das Herz abgewonnen +haben wie die schlichte Schilderung, die der »grüne Heinrich« +vom Tun seiner Mutter gibt. Der Junge erlebt, was viele Kinder +erleben: Jugendfreundschaften, Schulfreuden und -Leiden, unnütze +Streiche. Von der Schule wird er relegiert, nicht ganz, aber doch +beinahe ohne eigene Schuld. Die bitteren Worte, die er hierüber zu +schreiben weiß, sind wohl ~zu~ bitter. Diese Entfernung von +der Schule gibt seinem Leben die Wendung. Er bummelt eine Weile +in der Mutter Heimatsdorf bei deren Verwandten; prächtige Bilder +hat er uns aus jener Zeit gegeben! Da ist das Landvolk, da ist die +Landarbeit in markigen Zügen geschildert; keine Idylle, erst recht +kein Schauerbild; schlichte Wirklichkeit, aus der Erinnerung eines +heranwachsenden Knaben, aber mit plastischer Kraft wiedergegeben. Dann +entschließt er sich, Maler zu werden. Er geht in die Lehre zu einem, +der die Malerei handwerksmäßig betreibt, lernt im Verkehr mit einem +Künstler, bei dem freilich der Wahnsinn schon vorleuchtet, manches +für seine Kunst, mehr noch in ernster Erfahrung fürs Leben, und hält +sich dann Malens halber in München auf. Die Beschreibung der Münchener +Erlebnisse in der Arbeit, im Vergnügen, im Umgang, in Entbehrung +und Verschwendung ist reichlich breit gehalten, befriedigt auch in +der Darstellung seiner Schicksale wenig. Neben dem künstlerischen +Streben geht eine innere Entwicklung her, teils von wissenschaftlichen +Vorlesungen, teils vom Leben beeinflußt. Ihren Abschluß findet diese +Weltanschauungsentwicklung, die übrigens mehr eine intellektuelle +als eine religiöse ist, im Schloß eines Grafen, in dem der »grüne +Heinrich«, ehe er nach dem Ende des Münchener Aufenthalts heimwärts +geht, längere Zeit verweilt. Zu Haus findet er die Mutter sterbend; +Reue erfaßt ihn, aber er wird endlich frei von dieser Reue und tritt, +die Kunst verlassend, in der er es zu nichts Rechtem gebracht, als +Beamter in den Dienst des Staats. Wie früher schon, so sind mit diesen +letzten Entwicklungsstadien reichliche Erörterungen politischer Art +verbunden. Endlich durchzieht das Ganze -- wie könnte es anders +sein? -- auch eine Art Entwicklungsgang der Stellung Heinrichs zu +den Frauen. Die Jugendgeliebte stirbt; in München hält er sich ihnen +im ganzen fern; jenes Grafen Töchterlein liebt er, aber er wagt die +Werbung nicht und findet es richtig, daß sie ihm verloren geht. +Mit einer merkwürdigen Frau, die ihm in der Zeit seines Dorflebens +eigentümlich nahegetreten, bleibt er in Liebe und Freundschaft nachher +innerlich verbunden, ohne daß sie äußerlich einander gehören. + +Der Reichtum dieser Entwicklungsgänge, die das Allgemein-Menschliche +wie das Künstlerische, die Fragen der Weltanschauung wie der +Politik umfassen, gibt dem Buch den Charakter eines groß angelegten +Zeitromans. Wie das Hinzutreten des persönlichen Moments den Eindruck +des Ganzen fördert, das ist oben ausgeführt. Aber auch an Schwächen +fehlts nicht; und ich finde, daß sie stärker betont werden müssen, als +jezuweilen geschieht. Es fehlt an der klaren, raschen Zusammenfassung, +am straffen Gang einer einheitlich geformten Handlung. »Der grüne +Heinrich« ist mehr Memoirenwerk als Roman. Manche Partien sind zu +breit geraten; der Leser gewinnt den Eindruck, als wolle der Strom +ausufern. Die Reflexion hat nicht bloß etwas Kritisierendes; das +ist ja sehr gut und zeigt, wie Keller über seinem Stoff steht. +Sondern zuweilen kommt er ins Moralisieren, ja ins Schulmeistern im +unangenehmen Sinn des Wortes, geradezu ins Spießbürgerliche hinein. +Und dann vermissen wir diese Kritik, gerade weil sie im übrigen so +reichlich auftritt, um so mehr an anderen Punkten. Auf eins nur sei +hingewiesen. Die Art, wie Heinrich sich gegen seine Mutter verhält, +wie er sie darben und sorgen läßt für ihn und wie er das mühsamst +Abgesparte alsbald wieder losschlägt, noch mehr die Herzlosigkeit, mit +der er sie, die im Gedenken des einzigen Sohnes lebt, lange, lange +ohne jede Nachricht läßt, um sie dann nur noch sterbend anzutreffen, +diese Art ist durch die folgende Reuezeit nicht ausgeglichen. Hier +hört das Verständnis auf, völlig auf. Wie bitter spricht Keller +über die Schulbehörde, die ihm die Anstalt verwies! Aber wieviel +bitterer mußte er nun über sich selber urteilen! Hier ist er kalt, +ja hart. Und ein Alpdruck lastet von daher auf dem Leser. Auch das +Wichtigste, die religiöse Entwicklung, ist doch nicht überall mit +durchschlagender Kraft und Tiefe gezeichnet. Vielleicht nicht unwahr, +aber darum doch, wo mit halben Gedanken abgeschlossen wird, auch nicht +völlig befriedigend. Naturwissenschaftliche Erwägungen haben auf die +Gestaltung dieser Anschauungen Einfluß, aber die Entscheidung geben +persönliche Momente. Im Grafenschloß ists, wo diese Entscheidung +fällt; und die atheistische Dorothea wirkt auf ihn ein: + +»Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens, ~durch +Dortchens Augen gesehen~, ließ mir die Welt bald ebenso in einem +stärkeren und tieferen Glanze erscheinen, wie es bei ihr der Fall +war; -- ein sehnsüchtiges Glücksgefühl durchschauerte mich, wenn ich +mir nur die Möglichkeit dachte, für das kurze Leben mit ihr in dieser +schönen Welt zusammen zu sein.« + +Vielleicht entspricht die Schilderung der Lebenswirklichkeit. Solche +Einflüsse entscheiden zuweilen. Aber den denkenden Leser befriedigt +solche Entscheidung darum doch nicht. + +Endlich noch eins: ~die eigene Entwicklung des Helden behält etwas +Unbefriedigendes~. Und das nicht etwa bloß mit Rücksicht auf die +~äußere~ Resultatlosigkeit der langen Malerzeit daheim und in +München. Vielmehr: der Leser empfindet deutlich, wie diese äußere +Resultatlosigkeit mit Mängeln des Charakters zusammenhängt. So wie +Keller den »grünen Heinrich« schildert, ist er vom Verbummeln nicht +mehr fern. Daß aus der Malerei nichts wird, ahnt der Leser längst, +längst, ehe der »grüne Heinrich« zur gleichen Erkenntnis kommt. Ein +bischen mehr Energie, ein bischen schärfere Selbstkritik, ein bischen +mehr Zielklarheit wünschten wir ihm. Keller selbst kritisiert diese +Entwicklung fast nur durch die Art, wie er sie beschreibt, während +er an anderen Punkten deutliche Worte ausdrücklichen Urteils findet. +Die endgültige Wendung im Charakter des Helden kommt etwas spät und +-- im Verhältnis zum Ganzen -- etwas rasch. Nicht jeder Leser wird +~diese~ Schwäche des »Grünen Heinrich« völlig zu überwinden +vermögen. + +Vom »Grünen Heinrich« nehmen wir Abschied. Von Keller selbst aber +können wir noch nicht scheiden. Allerdings ist es unmöglich, die Fülle +der Gesichte hier erstehen zu lassen, die seine übrigen größeren Werke +bieten: sein »~Martin Salander~«, der die politischen Fäden des +»Grünen Heinrich« weiterführt, der aber noch breiter ausführt, ohne +gleiche Kraft und Tiefe zu zeigen, und der nach meinem Empfinden +in der Darstellung erheblich weniger ansprechend, in Zeichnung und +Räsonnement erheblich trockener ist, wennschon ein Hauch von biederem +Bürgersinn den, der dafür Verständnis hat, erfrischend anweht; +so ferner seine »~Sieben Legenden~« und seine »~Züricher +Novellen~«. Wohl aber gilts, einen Augenblick zu verweilen bei +jener berühmt gewordenen Novellensammlung, welche den Titel führt: +»~Die Leute von Seldwyla~« (zuerst 1856). Ein sonderbares +Städtchen, dies Seldwyla. Leichtsinn haben seine Bewohner in gehöriger +Portion. Sie leben gemütlich und ohne sich zu überanstrengen, sie +tun überall mit, wo etwas los ist, aber sie fehlen, wo es rechter +Ernst ist, sie verstehen das Geldausgeben vorzüglich, aber das +Geldverdienen ist ihnen zu mühsam; sie machen Bankrott, wenn sie in +den besten Jahren sind, und angeln als Ausgediente zum Nahrungserwerb +und zum Zeitvertreib. Aus diesem guten Städtchen der Phrasenhelden +und Maulgrößen, der politischen Windmühlen und der moralischen +Unbesorgtheit zeichnet Keller mit scharfem Stift, mit bitterer +Satire und mit derber Moral eine Reihe von Charaktertypen. Da ist +~Pankraz der Schmoller~, ein eigensinniger und zum Schmollen +geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt +nichts tat oder lernte, der aber dann in den Lehrjahren seines +Lebens die Schmollerei verlernt. Er kommt ins Ausland; in Indien +verliebt er sich in ein kokettes Mädchen, das nicht ruht, bis seine +Liebe weißglühend geworden ist, um ihn dann ganz gehörig ablaufen zu +lassen. In Afrika hat er ein Löwenabenteuer. Stundenlang muß er, +der Waffe beraubt, dem Löwen unbeweglich fest ins Auge sehen, bis +Hilfe kommt. So wird er vom Schmollen kuriert. -- Da sind »~die +drei gerechten Kammmacher~«, wahre Ausbunde von Solidität und +Tugend, die alle drei ein Kammmachergeschäft, in dem sie arbeiten, +nach des Besitzers bevorstehendem Bankerott erwerben wollen und, um +nur bleiben zu können, sich vom Meister drücken und schinden lassen. +Sie wollen alle drei ein ebenso pedantisches Mädchen heiraten, das +einen Batzen Geld hat und das keiner dem andern gönnt. Endlich kommt +die Entscheidung; von dreien darf nur einer im Geschäft bleiben. Wer? +darüber soll ein lächerlicher Wettlauf entscheiden. Zwei schießen, in +einander verbissen, am Ziel vorüber, der dritte gibt das Laufen auf, +sichert sich das Mädchen und bekommt mit dessen Geld das Geschäft. +Da gehen die Unterlegenen hin: der eine hängt sich auf, der andere +wird ein Liederjahn. -- Da ist ferner ~Frau Regel Amrain~, eine +kluge Frau und noch klügere Mutter, die alle Schäden, an welchen +Seldwyla krankt, wohl übersieht und darum ihren Jüngsten, in dem sie +am meisten Hoffnungsgrund für zukünftige Entwicklung merkt, zu einem +Mann heranzieht, der jenen Torheiten entwächst und, statt zu werden +wie die andern, lieber fleißig, sittsam und tatkräftig sein und seiner +Familie Wohl, auch nicht zuletzt das Wohl der Allgemeinheit fördern +soll. -- Da begegnen wir »~Romeo und Julia auf dem Dorf~«, -- +eine Geschichte vom Zwist zweier bäuerlicher Nachbarn, die sich um +ein Nichts verfeindet haben und nun die Fehde bis zum völligen Ruin +beider Familien fortführen. Der Sohn der einen und die Tochter der +andern Familie aber haben sich lieb und gehen schließlich gemeinsam +in den Tod, -- nicht ohne vorher in freiem Entschluß ohne den Segen +der Eltern und ohne die Ordnung der Sitte Hochzeit gefeiert zu +haben. -- Aber wozu von jeder einzelnen dieser Novellen erzählen? +Sie sind allesamt echte Kinder der Kellerschen Muse. Jeder liest +sie gern in einer Stunde, die dem Nachdenken nicht allzu abhold +sein darf. Jeder spürt in ihnen die Feinheit der Beobachtung, die +Anschaulichkeit der Darstellung, die Tiefe der Gedanken und den Ernst +des Urteils. Jeder freut sich der klaren Art, ein begrenztes Bild oder +Bildchen menschlichen Lebens und Treibens herauszuarbeiten und den +Faden der Handlung, die nur manchmal etwas sehr in die Breite geht, +festzuhalten. Es sind Novellen, die zugleich fesseln und zu denken +geben; und eine große Summe Lebensweisheit steckt in ihnen. Etwas von +den Leuten von Seldwyla findet sich ja schließlich auch sonst auf +der Welt! Immerhin will ich mit einem Bekenntnis nicht zurückhalten. +So gewiß es richtig ist, daß Keller mit den besten Stücken dieser +Sammlung gleich alles, was seine Vorgänger und Zeitgenossen auf dem +Gebiet der Novelle bisher geleistet haben, übertrifft, so wenig +kann ich ohne Einschränkung ein Urteil unterschreiben wie das, nach +welchem sie »große und freie Poesie« sind, »von einer bedeutenden, +wenn auch eigen gewachsenen Persönlichkeit getragen, von reichster +künstlerischer Durchbildung, ebenso wahr und tief wie fein.« Mag +vieles in diesem Urteil zutreffen, eins ist darin vergessen: der +moralisierende Ton, der zuweilen etwas geradezu Pedantisches hat. +»Frau Regel Amrain und ihr Jüngster« kann geradezu eine pädagogische +Novelle genannt werden. Aber auch die anderen Stücke haben diese +erziehliche Art. Und Keller hat es ~nicht~ immer verstanden, +seine Moral ins Gewand »großer und freier Poesie« zu kleiden; er wird +zum Kritiker, zum Schulmeister, zum Erzieher und vergißt dabei doch +manches Mal den Dichter. Etwas von dieser Art findet sich in allen +Werken Kellers; es hat mit dazu beigetragen, sie zu Zeitromanen und +Zeitnovellen zu machen; denn was er kritisiert, sind ja Zeitsünden, +Zeitschwächen. Aber ihren dichterischen Wert hat es nicht gehoben. + +Auch »Die Leute von Seldwyla« habe ich in die Gruppe der Zeitdichtung +eingereiht: aus eben diesem jetzt angeführten Grund. Schweizer +Bürgerleben in seinen Schwächen bildet überall den Hintergrund der +Novellen. In die großen, flutenden Bewegungen der Zeit führen sie +freilich nur gelegentlich ein. Aber muß ein Zeitroman wirklich das +Ganze der Zeit umspannen? Wir warfen die Frage schon früher auf, +aus Anlaß der Vorrede zu Gutzkows »Rittern vom Geist«; und wir +beantworteten sie mit Nein. Muß ein Zeitroman auch nur die großen, +weltbewegenden oder doch staatenerschütternden Strömungen skizzieren? +Gibt er nicht auch ein Bild seiner Zeit, wenn er irgend ein konkretes +Einzelgebiet herausgreift und zu intimer, lebendig-wahrer Darstellung +bringt, selbst wenn es mit jenen politischen Strömungen nichts oder +wenig zu tun hat? Den besten Beweis, daß auch ein solcher Zeitroman +auf der Höhe stehen kann, gibt ~Gustav Freytags~ Buch »~Soll +und Haben~«, das ein Jahr später als »Der grüne Heinrich« und ein +Jahr früher als »Die Leute von Seldwyla« erschienen ist. Die Gestalten +dieses Buchs stehen Ihnen allen vor Augen; Andeutungen werden +daher zur Begründung meines Urteils ausreichen. Ins Weltgetriebe +führt Freytag mit der polnischen Insurrektion, die der Kaufmann +Schröter und Anton Wohlfart aus eigener Anschauung kennen lernen. +Aber Freytags Interesse in diesem Roman ist nirgends politisch; +auch jene polnischen Zustände kommen fast nur in ihrer Rückwirkung +auf die Geschicke der Handlung T. O. Schröter, Kolonialwaren und +Produkte, zur Geltung, daneben lediglich noch in ihrem Einfluß auf +die persönliche Charakterbildung Anton Wohlfarts selbst. Die Firma +T. O. Schröter in der Hauptstadt der Ostprovinz steht unbestritten +im Mittelpunkt. Das Großkaufhaus in Breslau -- diese Stadt ist +bekanntlich gemeint -- mit allen seinen Insassen und Angestellten +macht uns zugleich mit Lebensart und -Haltung der Kreise bekannt, +die in ihm ihren Mittelpunkt haben. -- Außerdem lernen wir in +Veitel Itzig und Ehrenthal Typen unehrlicher Geschäftspraktiken +kennen, in Hippus den Typus des abgefeimten Winkelkonsulenten, +in der Familie von Rothsattel und in dem Tanzzirkel der Frau von +Baldereck die Kreise des Landadels und des Offiziersstandes, in Fink +den weiterblickenden, amerikanisierten Weltmann, der zugleich die +strenge Lebenseinfachheit des deutschen Kaufmannsstandes aufgegeben +hat. Sabine Schröter ist ein Bild zugleich deutscher Hausfrauenart +und edler Weiblichkeit. Vielleicht ist das Gesichtsfeld des Romans +nicht allzu weit; weit ~genug~ ists auf alle Fälle. Das solide +Bürgertum der deutschen Stadt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, +mit Konzentration aller Interessen auf Beruf und Arbeit, mit +keiner anderen Poesie als derjenigen eben dieses Berufs und dieser +Arbeit, aber darum nicht ohne Gemüt und nicht ohne Herz, wird dem +unsoliden Wuchertum wie dem glänzenden, aber minder fest auf der +Arbeit aufgebauten gesellschaftlichen Leben der aristokratischen +Kreise gegenübergestellt. Ist das kein Gegenstand, der für das Leben +einer bestimmten Zeit charakteristisch wäre? Sehen wir nicht ganzen +Schichten des deutschen Volkes ins Herz? + +Die Art, wie Freytag schildert, ist ganz und gar geeignet, ein +wirkliches, klares und deutliches Bild eben dieser Schichten zu geben. +Am meisten ausgeführt ist dasjenige der Firma T. O. Schröter. Hier +ist er peinlich genau, bis ins Einzelne treu. Er erspart dem Leser +nicht die gründlichste Beschreibung der Handelsbeziehungen und des +Arbeitsbetriebs in dem großen Kaufhause. Er führt uns durch beinah +sämtliche Räume desselben, durchs Kontor, den eigentlichen Herzpunkt, +durch die Kellerräume, in denen die Waren lagern, durch die Wohn- und +Prunkräume des ersten Stockwerks, wo die Angestellten mit der Familie +des Prinzipals die Mittagsmahlzeit einnehmen, durch die Wohnzimmer +des Hinterhauses, in denen Buchhalter und Kommis ihre bescheidenen +Wohnstätten haben, durch Hof und Hausflur, wo Herr Pix die Auflader +und Hausknechte regiert. Er zeichnet Charakterbilder von jedem +Einzelnen der beteiligten Männer, von dem bescheidenen Liebold bis zum +Aufladerobersten Sturm und dem Allerweltsfaktotum Karl. Er nötigt uns, +die zeitraubenden Verhandlungen mit Schmeie Tinkeles anzuhören, und +er vergönnt uns, die Tätigkeit des ersten Buchhalters mitzuempfinden. +Wer wollte leugnen, daß ihm die Wahrheit den Pinsel geführt hat? +Vielleicht ist Sturm, der Oberste der Auflader, ein bischen zu rühr- +und redselig gezeichnet; vielleicht treten interne Psychologika, +soweit sie nicht die Entwicklung der Menschen zu Geschäftsleuten +betreffen, allzusehr zurück. Aber gerade das Geschäftsleben gewinnt +durch diese Einseitigkeit; es ist ein prächtiges Bild, das Freytag von +ihm gezeichnet hat. + +Aber auch alles Andere an diesem Roman ist treu und wahr. Freytags +Liebe gehört ja ohne Frage ~diesen~ Menschen, vor allem dem +braven und treuen, fleißigen und sorgfältigen, warmherzigen und +tieffühlenden Anton Wohlfart. Um so höher ist es ihm anzurechnen, +daß er es völlig vermieden hat, um seiner Lieblinge willen die +andern Kreise zu karikieren. Man vergleiche getrost die Adelskreise +in Spielhagens »Problematischen Naturen« mit den Rothsattels bei +Freytag, ja mit der Frau von Baldereck und der Gräfin Pontak, mit +den Leutnants von Zernitz und von Tönnchen! Die jungen Herren aus +dieser Umgebung kommen nicht gerade gut weg. Aber dem jungen Kaufmann +imponiert »ihre Art zu sprechen und sich zu geberden, vor allem eine +gewisse ritterliche Atmosphäre, die sie umgab, etwas Salonduft, etwas +Stallluft und viel von dem Aroma der Weinstube.« Und als Wohlfart +später nach ernsthaft bewiesener, mutvoller Unerschrockenheit in Polen +wieder mit einem Kreis von Offizieren zusammenkommt, da freut er sich +des freien Verkehrs mit anspruchsvollen Menschen und läßt sich gern +in den Zauber eines Kreises ziehen, welcher ihm für frei, glänzend und +schön gilt. Und selbst der Leutnant von Rothsattel, der ein bischen +reichlich stolz gewesen, erhält nun noch das Prädikat: »im Grunde +ein verzogener, leichtsinniger, gutmütiger Mensch.« Und die übrige +Familie von Rothsattel, der edle Freiherr voran, die prächtige Mutter +nicht hinter ihm, die reizende, mutige, frische Lenore mit ihnen, +gibt ein treffliches Konterfei schlesischen Grundadels, wennschon +uns Jetzigen die geringe Gewandtheit des Freiherrn in geschäftlichen +Angelegenheiten recht sonderbar vorkommt. Kurz, Freytag hat den +Fehler vermieden, zu gunsten einer Menschenklasse andere ins Unrecht +zu setzen; und wenn es in der Welt seines Romans im allgemeinen +bürgerlich ordentlich, ehrbar und anständig zugeht, so hat er +doch das gute Recht, gerade solche ordentlichen Menschenschichten +zum Gegenstand seines Bildes zu machen. Die Schwächen jener +bürgerlich-kaufmännischen Lebensauffassung läßt er ja keineswegs +zurücktreten: etwas Pedantisches, etwas Philisterhaftes klebt ihr an; +frei, glänzend und schön gestaltet sie das Leben nicht; aber ernst ist +sie und reizlos ist sie auch nicht. Hören wir unsern Anton Wohlfart: + +»Ich weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft. +Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die +sich von einem Menschen zu dem andern, über Land und Meer, aus einem +Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden Einzelnen +und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen, +und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten +aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen; +dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch +ich mit helfe, und, so wenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß +jeder Mensch mit jedem anderen Menschen in fortwährender Verbindung +erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein. +Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Wage setze, so knüpfe ich einen +unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche +die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauerburschen, der sie zum +Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so +sehe ich auf der einen Seite den Malayen kauern, der ihn zubereitet +und einpackt, und auf der anderen Seite ein altes Mütterchen aus +unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.« + +Und so wenig der ernste Mensch über diese Poesie der Kolonialwaren +wird lächeln dürfen, so wenig kann er Antons weitere These bestreiten: + +»Wer ein ehrliches Geschäft hat, kann von unserm Leben nicht schlecht +denken, er wird immer Gelegenheit haben, Schönes und Großartiges darin +zu finden.« + +Was endlich an »Soll und Haben« rühmend hervorzuheben ist, das ist +die Technik des Aufbaus. In dieser Hinsicht bezeichnet der Roman +einen entschiedenen Fortschritt gegenüber Gutzkow und auch gegenüber +Keller, vielleicht in mancher Hinsicht sogar gegenüber Spielhagens +»Problematischen Naturen«. Gutzkow war breit und ließ die Handlung +in zahllose lange Gespräche zerfließen; für lange Zeiten waren die +Menschen für ihn nur dazu da, um ihre Ansichten einander möglichst +offenherzig zu erzählen. Auch bei Freytag fehlen die Gespräche nicht; +was ich eben an Urteilen über den Kaufmannsstand anführte, entstammt +einem solchen. Aber sie treten zurück gegenüber dem Handeln. Das +ist nicht immer ein Handeln im großen Stil; Ereignisse häufen sich +nicht; es ist ein Geschehen im kleinen und kleinsten Maßstab; aber es +charakterisiert und es fesselt. Bei Gutzkow Unwahrscheinlichkeiten +und Abenteuerlichkeiten im äußeren Verlauf; bei Freytag ruhige, wenn +auch nicht immer ganz folgerichtige Entwicklung auf solidem Unterbau. +Und während Kellers »Grüner Heinrich« zeitweis den Charakter des +Memoirenwerks trägt, gab Freytag seinem »Soll und Haben« auch in der +Form mit aller Kunst ganz den Charakter des Romans. Ein einzelnes +Menschenkind, Anton Wohlfart, eint in seiner Person die mannigfachen +Fäden der Entwicklung: er ist mit Leib und Seele im Kontor bei T. O. +Schröter, er beteiligt sich am Tanzkränzchen der Frau von Baldereck, +er schwärmt für Lenore von Rothsattel, er verkehrt mit Bernhard +Ehrenthal. Und so zersplittert sich das Interesse nicht; es begleitet +die Entwicklung in Aufmerksamkeit und Spannung durch alle Stadien +hindurch. Bald führt das eine Kapitel den Leser zu T. O. Schröter, +bald das andere ins Geschäft zum Ehrenthal, bald das dritte ins +Stammschloß der Rothsattel. Aber alle diese Einzelentwicklungen +gestalten sich schließlich zu einem großen Ganzen und finden nach +spannenden Akten ihren Abschluß, einen richtigen, Ruhe gebenden +Abschluß. Verglichen mit den »Problematischen Naturen« Spielhagens ist +Freytags »Soll und Haben« nach seiner Technik insofern im Vorteil, +als hier nicht das geheimnisvolle Hineinwirken einer spät entdeckten +vergangenen Tatsache zum Abschluß hilft, sondern einfache, klare, +folgerichtige Durchführung der in der Anlage gegebenen Ansätze. + +Somit kann es nur mit Freude begrüßt werden, daß »Soll und Haben« +eins der Lieblingsbücher der deutschen Gebildeten geworden ist. Auch +vom modernen Standpunkt des Naturalismus +sans phrase+ aus soll +man uns das Buch nicht verleiden. Es bleibt des Dichters gutes Recht, +sein Thema so zu begrenzen, daß gewisse Tiefen nicht aufgerührt +werden. Er begibt sich damit der Möglichkeit, problematische Naturen +mit ihren Sonderbarkeiten zu zeichnen, feinädrige psychologische +Probleme zu behandeln, und auch des anderen, einen Beitrag zur +Lösung von Fragen der Politik oder der Weltanschauung zu geben. +Aber er bringt nichtsdestoweniger ein Zeitbild, ein Bild tüchtigen, +fleißigen Strebens, und er bringts in annähernd objektiver Weise, +ohne allzustarke Satire, ohne Geißelhiebe nach rechts oder links, aber +nicht ohne einen gewissen Humor, mag derselbe auch etwas nach dem +Kontor schmecken. + +Ein Werk in der Art von »Soll und Haben« ist Freytag nicht wieder +gelungen. »Die verlorene Handschrift« erreicht nicht entfernt die +gleiche Höhe. Der Gelehrte, welcher die Handschrift sucht und darüber +jeden praktischen Blick verliert, mag ja ein Produkt deutschen +Wissensdranges sein. Aber wir fühlen es alle: er eignet sich weit +mehr zum Objekt der witzigen Professorenanekdoten, wie sie ja von +Mund zu Mund gehen, als zum Mittelpunkt eines großen Romans. Dazu +ist er in seiner ganzen Art doch nicht genug Typus jener gründlichen +Gelehrsamkeit, wie wir sie als eine Spezies unseres Vaterlandes +schätzen und lieben. Der große Zyklus »Die Ahnen« aber wird an anderer +Stelle zu würdigen sein. + +Vom objektiveren Zeitroman wollte ich reden. Unter Preisgabe der +Politik hat Freytag eine hohe Objektivität erreicht. Wie steht es +mit dem Zeitroman in späteren Zeiten? Finden wir nicht auch unter +seinen Schöpfungen noch manches, was die Tendenz zurücktreten +läßt? Ich glaube, das sogar von einigen Werken ~Spielhagens~ +behaupten zu dürfen. Nicht von dem 1887 erschienenen »~Was will das +werden?~«, dem Anti-Bismarck, gilt das, -- auch nicht von »~Der +neue Pharao~« von 1889, der die neue Zeit, die Zeit Bismarckschen +Einflusses mit schwarzen Farben malt. Aber bis zu einem gewissen Grad +ists ihm in der »~Sturmflut~« gelungen, einem Werk von wunderbar +packender Kraft, einem der besten des Meisters, in dem Reichtum der +Gedanken und Aktualität der Meinungsäußerung sich mit imposanter +Kunst der Entwicklung und Durchführung einer vielgestaltigen Handlung +vereinigen. Sturmflut bricht herein -- über das deutsche Volk: eine +Flut von Gold im Milliardensegen nach dem französischen Krieg, eine +Flut von Schwindel in Handel und Wandel, eine Flut von Verderbnis +im sittlichen Leben der Familien und der Einzelnen. Sturmflut bricht +herein -- über die Bewohner des Ostseestrandes und mit ihnen über +ein Liebespaar, das die Schuld jener anderen Sturmflut auch auf sich +geladen hat. Und wie die Bilder von dieser letzten, natürlichen +Sturmflut zu dem Gewaltigsten gehören, was unsere Romanliteratur +besitzt, so fehlt auch der Schilderung der Sturmflut roten Goldes und +sittlichen Verfalls nicht die drastische Anschaulichkeit und nicht die +innere Wahrheit. Obgleich Spielhagen sich und seine Tendenzen niemals +ganz verleugnen kann, so hat er doch in diesem Buch auch den von ihm +sonst mit Vorliebe befehdeten Adelskreisen ein wenig mehr ihr Recht +gegeben. Auch in diesem Roman kann man, was Einzelzeichnung betrifft, +manches finden, was mit der Wirklichkeit streitet; Spielhagen bringt +es nicht fertig, einen Geistlichen anders zu zeichnen denn als einen +gefühlsrohen und bornierten Fanatiker; und auch der Jesuit der +»Sturmflut« ist allzu phantastisch herausstaffiert. Aber jedenfalls +trifft die »Sturmflut« besser das Kolorit der Wirklichkeit als manches +andere Produkt der Spielhagenschen Muse. Hier hat die unmittelbare +Anschauung, die Gewalt seines Stoffs, die ernste sittliche Haltung +gegenüber dem Schwindel und der Haltlosigkeit ihm die richtigen Farben +in den Pinsel gegeben. + +Zeitromane objektiveren Charakters hat das Ende des 19. Jahrhunderts +noch in Fülle gebracht. Lassen Sie mich nur noch die Bilder aus den +Ostseeprovinzen nennen, welche ~Theodor Hermann Pantenius~ von +übrigens christlicher und konservativer Weltanschauung aus gezeichnet +hat. Und lassen Sie mich mit besonderer Freude des Dichters gedenken, +der es wie keiner verstanden hat, das Leben der Mark Brandenburg +anschaulich darzustellen: des feinsinnigen ~Theodor Fontane~. +Nicht alle seine zahlreichen Romane sind von gleichem Wert. Vor allem, +sie sind nicht sämtlich Zeitromane im vollen Sinne des Wortes. Sein +»Vor dem Sturm« wird uns im nächsten Vortrag beschäftigen; hier gilt, +was ins volle Leben der Gegenwart eingreift. Da hat auch Fontane +nicht überall den Kreis weit gespannt, so weit, wie ein Zeitroman +es nun einmal muß: über Schichten der Menschheit, über Klassen der +Gesellschaft, über das Leben wenigstens eines ganzen Standes hin. +Er bleibt zuweilen im engeren Umkreis des mehr Persönlichen, das +keinen Anspruch darauf hat, für typisch zu gelten. Das hindert nicht, +eben diese Dichtungen für Werke von hohem künstlerischen Wert zu +erklären. Aber in dem Zusammenhang dieser Bilder haben wir ihm auch +als einem Manne der Zeit und einem Künstler der Zeit unsern Tribut +zu geben. Man hat bei seiner »Effi Briest« so gut wie bei seiner +»Jenny Treibel« durchaus das Gefühl, daß er seine Gestalten nicht +bloß nach der Seite des Allgemein-Menschlichen hin, sondern auch +nach ihrer Eigenschaft als Glieder bestimmter Kreise hin als Träger +allgemein geteilter Anschauungen charakterisiert. Effi Briest: das +Landedelhaus, das ländliche Pfarrhaus und Kantorhaus! Die geselligen +und gesellschaftlichen Verhältnisse in der pommerschen Kleinstadt! +Die Familienverhältnisse im Haus des vornehmen Beamten! »Effi Briest« +ist nicht lediglich Zeitschilderung; auch nach dem psychologischen +Problem, welches hier zur Behandlung kommt, muß uns das Buch noch +beschäftigen. Aber ganz und gar Zeitbild ist »Jenny Treibel«. Die +gute Jenny Treibel mit ihrem wundervollen Idealismus und ihrem +wunderbaren Realismus, mit ihren trefflichen Theorien und ihrer +brutalen Praxis! Berliner Großstadtleben! Berliner Wohlstand und +Mittelstand! Berliner Millionärsgefühle im Herzen einer liebenden +Mutter! Und wieder nicht so, daß es heißen müßte: so sind sie alle. +Aber wieder so, daß man sagen muß: diese Jenny Treibel ist mindestens +kein Original, sondern sie hat eine Schar gleichgestimmter Schwestern +in Berlin +W.+ und anderswo auch! -- Das umfassendste Zeitbild +aber gibt Fontanes »~Stechlin~«. Hier steht im Mittelpunkt der +märkische Edelmann, Herr von Stechlin, ein Mann von alter preußischer +Art, mit patriarchalischen Neigungen, mit vornehmer Denkweise, mit +konservativer Grundrichtung, dabei aber keineswegs ohne moderne +Regungen. Im Gegenteil, manchmal ists, als sei die Tradition nur +Schale, und der Kern sei ganz modern. Von pietistischer Frömmigkeit +will er nicht viel wissen; ein einfaches männliches Christentum ist +seine Sache, ein bischen undogmatisch sogar und doch wieder nicht ganz +ohne jene Beimischung von Aberglauben, die der Dichter so sehr liebt. +Neben ihm, wenn auch viel knapper skizziert, andere Vertreter des +gleichen Standes, sein Sohn mit etlichen Freunden als Repräsentant des +gediegenen jungen Offiziers, die alte würdige Stiftsdame im adeligen +Fräuleinstift, der mit liberalen Anschauungen durchtränkte frühere +hohe Beamte, die Pastoren: der schlichte, ein bischen ketzerische, +sogar sozial denkende Landpfarrer Lorenzen, der weltgewandte, +streberische Superintendent Koseleger, der prächtige Hofprediger +Frommel in Originalaufnahme. Dazu Typen des Landvolks in einzelnen, +aber ausgezeichnet getroffenen Porträts. Das ganze Bild greift nicht +tief hinein in die Fragen, welche die Welt bewegen, obschon sie in +manchem Gespräch ihre Rolle spielen. Im Grunde will Fontane weiter +nichts, als durch solche Aeußerungen die Denkweise seiner Figuren +beleuchten. Ihm liegt hier alles an der Schilderung, wenig oder nichts +an der Handlung. In der ersteren aber ist er Meister. Man kann nicht +richtig schildern, wenn man nicht auf das kleinste achtet; Fontane ist +der begeisterte Freund feinster Kleinmalerei, in ihr und zugleich in +der Objektivität derselben mit Gustav Freytag verwandt. Man wird ja +bald der Mittel inne, die er braucht, um seinen Zweck zu erreichen. Er +legt Gewicht aufs Milieu; der Mensch hängt eben von seiner Umgebung +ab. Das Schloß, besser Herrenhaus, des alten Stechlin muß darum +gründlich beschrieben werden, nicht etwa unter dem Gesichtswinkel +berauschender Romantik, sondern unter dem der naturwahren Zeichnung. +Die Dienerschaft gehört zum Schloß; alte Faktota geben ihm mit +seinen Charakter. Die Kuriositätensammlung muß besichtigt werden; +wie könnte man einen Mann kennen, ohne seine Schrullen zu kennen? +Zeigt er seine Lieblinge nicht mit Grandezza oder mit Pedanterie, +spricht er von ihnen mit ruhigem Humor, so gibt das eine wichtige +Bereicherung unseres Wissens über seinen Charakter. Auf dem Land kann +der Gutsherr nicht gezeichnet werden, wenn man ihn nicht nimmt, wie +er sich der Umgebung gegenüber gibt: im Verkehr mit hoch und weniger +hoch geborenen Nachbarn -- daher ihrer einige beim alten Stechlin auch +zu Tische erscheinen --, im Verkehr mit dem Pastor -- daher Lorenzen +seine in diesem Zusammenhang unbedingt richtige Stelle erhält; im +Verkehr mit dem Lehrer und endlich mit den sonderbaren Gestalten, +wie sie jedes Dorf aufweist. Desgleichen gebührt der Landschaft und +ihren Eigenheiten Beachtung. Wer auf dem Landschloß zu Gast ist, +besichtigt die Sehenswürdigkeiten, voran die Kirche und den See +Stechlin, um den Sagengewirr sich gerankt hat, wie denn jede Gegend +ihre landschaftlichen Geheimüberlieferungen besitzt. So führt Fontane, +der Kleinmaler, seinen Pinsel. So zaubert er aus dem märkischen +Sand Bilder von bestechender Liebenswürdigkeit, von gewinnender +Gediegenheit, aber auch von wunderbarer Treue. + +Wirklich von wunderbarer Treue? Aber steht nicht auch Fontane im Bann +seiner stark ausgeprägten Individualität? Merkt man nicht auf jeder +Seite seine Liebe für die Mark, die märkischen Junker, die märkischen +Kirchen und Landpfarrer, die märkischen Landleute? Klingt nicht aus +allen seinen Romanen dieselbe Stimmung des eigenen Gebundenseins an +die Mark wie aus jenem schlichten Vers unseres Dichters: + + Kein Erbbegräbnis mich stolz erfreut; + Meine Gräber liegen weit zerstreut; + Weit zerstreut über Stadt und Land, + Aber alle im märkischen Sand! + +Daß diese Heimatsliebe ihm die Feder geführt hat, wird niemandem zu +bezweifeln einfallen. Und es bleibt ja auch richtig, daß Fontane +ebenso wie Freytag bei allem Realismus doch immer dem eigentlichen +Naturalismus ferngeblieben ist; manche Gebiete menschlicher Art und +Sitte bleiben für beide außer Ansatz. Sie zeichnen mit Vollendung +das Leben, wie es sich dem scharfen Beobachter gibt, aber einem +Beobachter, der nicht ans Licht zieht, was in der Regel sich selber +mit Finsternis bedeckt. Nur muß man gerade Fontane unbedingt +zugeben, daß er alles getan hat, um in dem Leser das falsche Gefühl +~nicht~ aufkommen zu lassen, als bestünden solche Schattenseiten +und solche dunkelen Einschläge nicht. Man merkt es wohl, daß er +absichtlich an ihnen vorüberführt. Und es gibt manchen Leser, der ihm +das danken wird. Naturtreu bleibt darum seine Dichtung doch. + + * * * * * + +Und so glaube ich denn in der Tat, das Recht der Teilung des +Zeitromans in einen tendenziösen und einen objektiven oder doch +objektiveren praktisch erwiesen zu haben. Ich gestehe, daß gerade +die Existenz dieser letzteren Gattung mir, wenn ich die lange +Entwickelungsreihe des deutschen Romans durchmustere, eine ganz +besondere Freude bereitet. Nicht als ob der Tendenzroman an sich +minderwertig wäre: vor diesem Urteil bleiben wir hoffentlich so lange +bewahrt, als wir dem freien Mann im Dichter seine freie Meinung +gönnen. Aber je mehr die Tendenz ihm den freien, klaren Blick für +das Wirkliche raubt, umsomehr leidet in der Tat die Kunst unter der +Absicht. Da jubelt dann der mit Wirklichkeitssinn ausgestattete Leser, +wenn er auf ein Gemälde trifft, das des Künstlers Herzensstellung wohl +erkennen läßt, das aber in Farbe und Entwurf einfache, reine Natur +atmet. Und wenn nun solches Gemälde, ohne gerade in Zeitstreitigkeiten +tief hineinzugreifen, doch diese unsere Zeit mit ihren feinsten +Regungen wiederzugeben weiß, dann fühlt man den hohen Wert desselben. +Ein Spiegelbild ist's: Zeit, erkenne dich selbst! Ein Kritiker wirds: +sieh zu, wo dein Fehler steckt! Ein Mahner bleibts: such dir die +Menschen, die unserer Zeit vorwärts helfen! + +Wie auf anderen Gebieten, so hat auch auf diesem der deutsche Roman +kein völlig eigensprossendes Wachstum gehabt. Allerdings: hier ist +vielleicht seine tiefste Sonderart, sein eigentliches deutsches +Wesen am klarsten zu schauen: deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit +verbinden sich mit deutscher Gemütstiefe und Herzenswärme. So in +»Soll und Haben«, so im »Stechlin«. Und auch deutsche Vorbilder +haben eingewirkt: Wilhelm Meister, auch der Werther. Aber außerdem +ist englischer Einfluß unverkennbar: Dickens hat sehr stark +herübergewirkt. Und zwar Dickens mit seiner realistischen Kraft und +mit seiner plastischen Einzelkunst. In »Soll und Haben« wird man +hundertfach an Dickens erinnert, vielleicht nirgends deutlicher als +in der Episode, in welcher Anton Wohlfart die energische Absicht +zeigt, den Herrn von Fink auf Pistolen zu fordern. Und ist es Zufall, +daß gerade dort auch Freytag sich ein paarmal des uns von Dickens +her so vertraut klingenden Wortes »Gentleman« in ebendemselben +gutmütig-humorvollen Sinne bedient, in dem jener es gebraucht hat? +Bei alledem aber muß festgehalten werden: ~der Zeitroman mit seinem +hellen Tageslicht, seiner unromantischen Wahrheitsliebe, seiner +umfassenden, manchmal beinahe nüchternen Gründlichkeit ist und bleibt +doch im Grund eine Schöpfung deutschen Geistes~. + + + + + Der historische Roman. + + +Wie die erzählende Dichtung die Wirklichkeit zu erfassen suchte, indem +sie ~vergangenes Leben~ neu erweckte, -- das Thema ist unendlich +reich, denn historische Romane besitzen wir in Fülle. Und ob auch hier +mit unterläuft, was man getrost der Vergessenheit anheimfallen lassen +kann, ohne sich groß zu versündigen, -- zwei Gründe zwingen doch, +bei Betrachtung des Heerzuges des historischen Romans durch das 19. +Jahrhundert verhältnismäßig häufig anzuhalten. Der eine Grund: die +Zahl der bedeutenden Schöpfungen ist auf diesem Gebiet nicht gering. +Der andere Grund: auch minder Bedeutendes hat durch die Gunst der +Lesewelt Anspruch auf Beachtung, mindestens auf Kritik erworben. + +Vielleicht könnte man darüber streiten, ob tatsächlich das Suchen +nach Wirklichkeit das treibende Motiv des historischen Romans +bilde. Denn auch die Romantik griff in die Tiefen der Geschichte. +Und zwar nicht bloß mit jener Novelle »Michael Kohlhaas«, sondern +auch mit Werken größeren Stils. ~Ludwig Achim von Arnim~ +ließ 1817 den ersten Band des mittelalterlichen Romans »~Die +Kronenwächter~« erscheinen (Band 2 ist Bruchstück geblieben). Und +wer traut der Romantik Sinn für die Wirklichkeit zu? Auch haftet +den »Kronenwächtern« sicher genug Unwirklich-Romantisches an. Aber +so wunderbar ist die Macht der Geschichte auch über das Gemüt eines +Romantikers, daß er doch die Wahrheit sich selbst zur Führerin +erkor. Freilich: »Dichtungen sind ~nicht Wahrheit, wie wir sie von +der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern~, sie +wären nicht das, was wir suchen, was uns sucht, wenn sie der Erde in +Wirklichkeit ganz gehören könnten, denn sie alle führen die irdisch +entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück.« Aber dieselbe Vorrede +des Dichters, die diese Worte enthält, fordert für die Dichtung die +höchste Wahrheit: »Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt, +mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust als alles, was in +der Geschichte laut geworden. Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu +nahe, als daß sie den Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte +in ihrer höchsten Wahrheit gibt den Nachkommen ahnungsreiche Bilder +...« + +Wir stimmen dem zu, daß der Roman nicht gleiche Wahrheitspflicht +hat wie die Geschichte, daß es auf die höchste, die innere Wahrheit +ankommt. Und wir konstatieren, daß »Die Kronenwächter« bei allem +dichterischen Schwung, bei aller Romantik ihrer Handlung, bei aller +Unwahrscheinlichkeit ihrer Konzeption doch auch unter dem Banne der +höchsten Wahrheit gestanden haben. Nur ist es mehr die Wahrheit +mittelalterlicher Stimmung und Farbe, dazu die Wahrheit manches +realistischen Zugs, als die Wahrheit aller Einzelgestalten und des +Zusammenhangs, in den Menschen und Begebenheiten gestellt werden. + +Neben Achim von Arnim stehen noch andere Romantiker, die +gleichfalls in vergangene Tage hineinzuführen gesucht haben. Da +ist ~Wilhelm Hauff~ mit seinem noch keineswegs verschollenen +»~Lichtenstein~« (1824), da ist ~Ludwig Tieck~ mit dem +unvollendet gebliebenen »~Aufruhr in den Cevennen~«. Aber +so hübsch der »Lichtenstein« zu lesen ist, -- als eigentlich +geschichtlicher Roman kann er nicht gelten. Der geschichtliche +Hintergrund bleibt in blasser Undeutlichkeit; was ist Sage? was +Geschichte? Ähnliches gilt aber von allen jenen Werken: poetischer +Zauber umhüllt uns, aber der feste Boden der Wirklichkeit entschwindet. + +Wie viel näher steht der geschichtlichen Wirklichkeit der eigentliche +Bahnbrecher des modernen historischen Romans, der 1798 zu Breslau +geborene ~Willibald Alexis~, mit richtigem Namen W. Häring +genannt! Es ist kein Zufall, daß in ihm sich neue Kräfte regten, die +Geschichte fruchtbar zu machen. Der Geist Walter Scotts war in ihm +lebendig geworden. Seine ersten Romane gehen ganz in den Bahnen des +englischen Dichters. Aber etwa seit dem Erscheinen von »Cabanis« 1832 +ward er dem Vorbild gegenüber selbständiger; und gerade die Vorliebe, +mit welcher er in die Vergangenheit eines engeren Gebiets, der Mark +Brandenburg, sich versenkte, hat diese Selbständigkeit gefördert. Ein +Buch wie »~Die Hosen des Herrn von Bredow~« (1846) wird heut +noch gern gelesen; derbe Natürlichkeit, massiver Humor und gemütvolle +Erzählerkunst haben uns da ein ganz prächtiges Werk beschert. Trotzdem +möchte ich eine kurze Charakteristik nicht an dies Buch anschließen, +das immerhin das Allgemein-Menschliche dem Geschichtlichen gegenüber +bevorzugt. Vielmehr verweile ich lieber einen Augenblick bei den +großen historischen Romanen und aus deren Schar bei dem »~Roland von +Berlin~« (1840). Mag »Der falsche Waldemar« sich die psychologische +Aufgabe schwieriger stellen, gerade »Der Roland« ist für Alexis +charakteristisch. ~Einmal~ in der Art, wie die Handlung +geführt ist. Manche Szene packt, und auch wer das Ganze überschaut, +findet fortschreitende Entwicklung, die das Ziel im Auge behält +und bestimmtem Abschlusse zuführt. Die romantische Träumerei hat +aufgehört, die Kraft wirklicher, notwendig fortschreitender Handlung +ist vorhanden. Die beiden eng verbundenen Städte Berlin und Köln an +der Spree liegen um die Mitte des 15. Jahrhunderts in bitterem Streit +miteinander, sodaß das Band, das sie verbindet, schier zerreißen will. +Zugleich tobt ein anderer Streit in den Mauern der Stadt: die Zünfte +hadern mit den Geschlechtern, die Bürger mit dem Rat. Und das in der +Zeit, in welcher die Gerechtsame der Stadt in heiliger Eintracht +gehütet werden müßten. Kurfürst Friedrich +II.+ der Eiserne +liegt auf der Lauer, eben diese Rechte unter die fürstliche Würde zu +beugen. Wie ihm das gelingt, das wird in mannigfach verschlungenen +Wegen berichtet. Wir wollen sie hier nicht nachgehen. Genug: der +Bürgermeister von Berlin, Johannes Rathenow, dem der steinerne Roland +zu Berlin das Zeichen der eigenen Gerichtsbarkeit der Stadt ist, muß +es erleben, daß eben dieser steinerne Roland durch die Straßen der +Stadt geschleppt und in der Spree versenkt wird. + +Was hier mit wenigen Sätzen angedeutet ist, ist selbstverständlich +nichts als der beherrschende Grundgedanke des dreibändigen Romans. +Die Füllung des Rahmens gewinnt Alexis von zwei Seiten her: aus +der minutiösen Schilderung vielfacher Einzelszenen und in ihnen +der Sitten und Art jener Zeit, und sodann aus dem Bericht über +die Schicksale einzelner Menschenkinder, insbesondere der Elsbeth +Rathenow, der schönen Tochter des stolzen Bürgermeisters, und des +Henning Mollner, der die Schöne zum Weibe begehrt. Einzelgeschick und +Gesamtgeschick sind mit kunstreicher Feinheit in einander verwoben; +keine Beschreibung führt vom Gange der Gesamthandlung ab oder tritt +unvermittelt oder wie überflüssig auf. Vielmehr ist alles zu einem +Ganzen geworden. Und doch ist der »Roland« nicht bloß ein Dokument +der Vorzüge dieser Kunst, sondern auch manches Fehlers derselben. +Wenige, die der Roman heute noch wirklich zu fesseln imstande wäre! +Warum? Weil der Gang der Handlung durch die Breite der Einzelszenen +doch ein schleppender geworden ist, -- weil es schwer wird, unter +allen den scheinbar wirren Ranken die leitenden Äste zu erkennen, +-- endlich wohl auch, weil der Fäden zu viel sind, die gleichzeitig +gezogen werden, und weil in der Darstellung selbst dem Leser nicht +immer genügend klare Wegweisungen für das Verhältnis des Einzelnen zum +Ganzen an die Hand gegeben werden. + +Aber noch in einer anderen Richtung ist der »Roland von Berlin« +charakteristisch für die schriftstellerische Kunst seines Verfassers. +Er läßt uns die peinliche Treue wie die meisterhafte Deutlichkeit +seiner Detailschilderung merken. Hierin liegt in der Tat seine Stärke. +Es ist nicht möglich, hier solche Kabinettstücke der Kleinkunst +probeweise wiederzugeben: auch darin ist Alexis so breit, so minutiös, +daß der Raum dafür nicht reicht. Aber wer den Roland gelesen, der +lasse sich erinnern an das alte Rathaus zwischen Berlin und Köln mit +seinem bunt verzierten Oberbau und den vielen zierlichen Türmchen. +»Die Türmchen, nicht zur Verteidigung, es war nur Spielwerk, schauten +nach allen Stadtteilen; der mächtige, aber vielfach ausgezackte Giebel +aber war dem Spreeflusse zugewandt. Er durfte nach keiner der beiden +Städte blicken. Wäre es doch zu Ungunsten der einen oder anderen +gewesen. Das litt keine. Darauf gab man viel im Mittelalter und +fürchtete und scheute das Spiel des Zufalls.« Es sei erinnert an die +Beschreibung der stürmischen Ratssitzung, in welcher Niklas Perwenitz +zu vermitteln sucht, an den Weg des Bürgermeisters durchs Straßenleben +der Stadt nach dem Schummschen Hause in Köln, an das unübertrefflich +drastisch gemalte Fest beim Ratsherrn Thomas Wyns und an anderes mehr. +Viel zu breit ist manche der Szenen, aber lebendig, anschaulich und +wahr sind sie alle. + +Ja ~wahr~! Das ist das dritte, was im Roland den Meister erkennen +lehrt. Hier ist realistische Treue, gepaart mit kräftigem Humor, +auch wohl im Gewand satirischer Überlegenheit, aber eben Treue. +Keine Treue, die ihre Aufgabe darin sieht, ~alles~ zu sagen. +Aber doch eine Treue, die das, was sie sagt, dem Leben abgelauscht +hat. Du liebes kleines Berlin-Köln aus der Zeit Friedrichs des +Eisernen! Du mit deinem stolzen Eigenbewußtsein und dem starren +Selbständigkeitsgefühl! Was sind deine Ratsherrn für mächtige Leute +gewesen, und welcher Reichtum hat in deinen Mauern sich geborgen! +Wie steif ist dein Nacken schon dazumal gewesen, wie kritisch dein +Verstand gegen alles, was von oben kam! Wie haben deine Bürger bei +aller Würde doch auch zu lachen gewußt; und was für lose Mäuler haben +ihre Witze gerissen! Es ist das Berlin des Mittelalters, welches der +Roland erstehen läßt; aber wir zweifeln nicht: es ist der richtige +Vorfahr des Berlin von heute! + +Wilibald Alexis hat dem historischen Roman endgültig die Bahn +gebrochen. Wer seine Werke vor allem auf die Kraft der Spannung, +auf gedrungene Zusammenfassung, kurz auf die Kunst der Gestaltung +des Ganzen ansähe, würde oft enttäuscht sein. Wer aber das Einzelne +ansieht, die Plastik der Kleinmalerei und die Schönheit des +Gesamtbildes der Zeiten, die er beschreibt, der wird ihn immer mit +Bewunderung nennen. Nun ist dem Durchschnittsromanleser freilich +nichts schrecklicher, als wenn der Autor zu breit wird; und wer +möchte nicht zugeben, daß der Fehler groß ist? Aber anderseits +sollten ausdauernde Naturen von feinem historischem Geschmack doch +immer wieder einmal auf ihn zurückgreifen. Denn in der Art, wie er +die Geschichte für die Dichtung genützt hat, steht er, obwohl erst +Bahnbrecher, doch bereits auf der Höhe. + +Überschauen wir nun das weite Feld des historischen Romans nach +W. Alexis, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts! Als +gemeinsames Charakteristikum stelle ich fest: der romantische Zauber +ist abgestreift, manchmal auch der poetische Duft; jedenfalls droht +von daher der nüchternen Erfassung der Wirklichkeit keine Gefahr mehr. +Wer für jenen Zauber Sinn hat, mag wohl trauern, daß er dahin ist; +er gibt doch tatsächlich einen eigenen Reiz. Wenn er nur überall zu +gunsten der geschichtlichen Wirklichkeit sein Reich verloren hätte! +Aber es haben längst nicht alle Dichter von W. Alexis ernstlich +gelernt. + +Lassen Sie mich Ihnen zuerst diejenige Linie in der Geschichte des +historischen Romans weiterführen, welche eine wirkliche Entwicklung +zur Vollendung hin am merkbarsten spüren läßt! Das ist die Linie, +welche von W. Alexis her über ~Scheffel~ und ~Riehl~ auf +~Freytag~ hinführt, in ihm aber keineswegs ihr Ende erreicht. +Was hier kurz zu skizzieren ist, das ist die Entwicklung des +~kulturhistorischen Romans~. + +Wie unendlich verschieden kann die Methode sein, in welcher der +Romanschriftsteller Geschichte und Dichtung vermählt! Das kann ja +scheinbar geschehen, ohne daß von der Geschichte mehr entlehnt wird +als der äußere oder gar äußerste Rahmen. Statt daß man die Jahreszahl +1800 und so und so viel an den Anfang setzt, greift man eben ein paar +Jahrhunderte zurück. Irgend eine Größe der gewählten Zeit muß in +ein paar Szenen auftreten, -- aber mit Vorsicht, damit man nicht in +Konflikt mit der Geschichte komme. Der Stand und Beruf, die Kleidung +und etwa noch die Sprache der handelnden Personen wird ein wenig in +altmodisches Gewand gehüllt, wobei es weiter keine Rolle spielt, ob +jemals Leute auf dem Erdenrund so gesprochen haben, wie die Figuren +im sogenannten geschichtlichen Roman. Sodann wird eine Anzahl Zutaten +hereingegeben -- ein bischen Heldenmut aus den Kreuzzügen, ein Quantum +Glaubenstreue aus der Reformationszeit oder eine Portion Kriegsgreuel +aus dem dreißigjährigen Krieg. Und wenn nun noch der nötige Pfeffer +nicht fehlt, um die Sache zu würzen, und ein Stückchen Zwiebel dabei +ist, das die Tränen lockt, dann stürzt sich die Leserschar auf den +»herrlichen historischen Roman«. Aber die Maskerade kann den ernsten +Beurteiler nicht täuschen. Wann wäre je einer dadurch ein Ritter +geworden, daß er sich eine Rüstung übergeworfen und mächtig mit dem +Harnisch geklirrt hat? + +Aber warum entwerfe ich hier diese Karikatur eines historischen +Romans? Lediglich, um durch den Gegensatz das Bild des +kulturhistorischen Romans schärfer herauszustellen. Vom Februar 1855 +ist das Vorwort datiert, welches ~Josef Viktor von Scheffel~ +seinem »~Ekkehard~« mitgegeben hat. Dies Vorwort bestimmt +es scharf und klar als die Aufgabe des historischen Romans, im +gegebenen Raum eine Reihe Gestalten scharf gezeichnet und farbenhell +vorüberzuführen, »~also daß im Leben und Ringen und Leiden der +Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild +zusammenfaßt~.« + +Scheffel verlangt für den Roman die Anerkennung als ebenbürtigen +Bruder der Geschichte; aber dem Roman, dem diese Anerkennung gebühren +soll, mutet er auch zu, daß er auf historischen Studien ruhen muß. +Von seinem »Ekkehard« meint er: »Daß nicht viel darin gesagt ist, was +sich nicht auf gewissenhafte kulturgeschichtliche Studien stützt, +darf wohl behauptet werden, wenn auch Personen und Jahrzahlen, +vielleicht Jahrzehnte mitunter ein weniges in einander verschoben +werden.« Und in der Tat, -- indem er diese geschichtliche Sicherheit +mit nicht weniger als 285 gelehrten Anmerkungen stützt, ist er der +Geschichts~wissenschaft~ fast zu sehr entgegenkommen. + +Das Beste ist nun freilich, daß uns Scheffel nicht bloß ein Programm +gegeben, sondern daß er eben dies Programm auch trefflichst ausgeführt +hat. + +Wer jene Anmerkungen liest, dem kann bange werden, ob er nicht einem +pedantischen Gelehrten in die Hände gefallen sei. Aber das Bangen +ist unnütz. Im »Ekkehard« pulsiert so frisches, munteres Leben wie +in wenigen anderen Büchern. Er selber erzählt, wie ihm dies Leben +erwachsen ist. Die alten Quellen hat er studiert: da »hob und baute +es sich empor wie Turm und Mauern des alten Gotteshauses St. Gallen, +viel altersgraue ehrwürdige Häupter wandelten in den Kreuzgängen +auf und ab, hinter den alten Handschriften saßen die, die sie einst +geschrieben, die Klosterschüler tummelten sich im Hofe, Horasang +ertönte aus dem Tor und des Wächters Hornruf vom Turme. Vor allen +anderen aber trat leuchtend hervor jene hohe gestrenge Frau, die +sich den jugendschönen Lehrer aus des heiligen Gallus Klosterfrieden +entführte, um auf ihrem Basaltfelsen am Bodensee klassischen Dichtern +eine Stätte sinniger Pflege zu bereiten ...« + +Wir wissen aber, welche Fülle anderer Gestalten den »Ekkehard« belebt: +fürstliche Burggenossen -- vom Kämmerer Spazzo und der Griechin +Praxedis bis zur Gänsehirtin Hadumoth, daneben Weltpriester und +Waldfrau, und nicht zuletzt der wimmelnden Hunnen Gewühl. Wir wissen +alle, wie diese Gestalten Leben bekommen, wie die ganze Zeit des 10. +Jahrhunderts, wie die ganze Gegend dort am Bodensee in ihnen Leben +gewinnt. Und wer hätte sich nicht schon an der Form erfreut, in +welcher Scheffel jenes dunkle Jahrhundert erweckt hat? + +Die Schwerfälligkeit eines W. Alexis ist gründlich überwunden, die +Handlung ist kräftig zusammengefaßt und fesselnd gestaltet, Brauch +und Sitte sind selten besonders beschrieben, -- die Handlung selbst +läßt sie erkennen. Das Ganze ist durchweht von goldenem Humor. Wir +danken dem Dichter, daß er ein wirkliches, echtes Kulturbild gegeben, +und verschmerzen es auch, daß er es für nötig befunden hat, diese +Echtheit ein bischen aufdringlich zu bescheinigen; wir freuen uns +über die Leichtigkeit der Behandlung, den Fluß der Darstellung, +die Anmut der Schilderung. Denn von der Vorstellung sind wir doch +hoffentlich los, als ob alles, was tüchtig ist, langweilig sein müßte! +-- Der »Ekkehard« ist ein Buch des deutschen Volks geworden, mag man +sonst über Scheffels Poesie denken, wie man will. Ein Arno Holz, der +Scheffels Gedichte gar nicht leiden mag, singt an seine Adresse: + + »-- Jahrzehnte lagen sie uns zur Last, + Deine altdeutsch jodelnden Leute.« + +Aber er fährt fort: + + »~Doch daß Du den Ekkhart geschrieben hast, + Das danken wir Dir noch heute!~« -- + +Nicht eben weit ab von Scheffels Programm ist dasjenige, welches +~Wilhelm Riehl~ 1856, ein Jahr später, bei der Herausgabe +seiner ersten »~Kulturgeschichtlichen Novellen~« aufgestellt +hat. Zu diesem Programm gehört, daß die handelnden Personen +selbst nicht geschichtlicher Überlieferung entstammen, sondern +freigeformte Charaktere sind. Gerade so glaubt Riehl am besten die +Gesittungszustände, die Kultur eines bestimmten Zeitabschnitts +darstellen zu können. Aus diesen Kulturzuständen heraus müssen +die Menschen selbst mit ihrem Wesen, ihren Leidenschaften, ihren +Konflikten geschaffen sein. In Wirklichkeit ist diese Forderung +im wesentlichen schon im »Ekkehard« erfüllt, wenngleich Scheffel +überlieferte geschichtliche Namen lebendig gemacht, nicht eigens neue +Gestalten geschaffen hat. Ist das wirklich ein großer Unterschied? +Wenn man Riehls Absicht recht versteht, so ist sein Programm +doch als der schärfste Gegensatz zu jenem vorhin geschilderten +äußerlich-historischen Roman zu verstehen, der sich an große Namen +und große Zeiten anlehnt, aber damit der Geschichte genug getan +zu haben glaubt. Er überspannt den Gegensatz: gar nichts, was in +der sog. Geschichte eine Rolle spielt, sondern ~nur Kultur~! +Sicher ist auch sein Programm berechtigt, aber nicht als das einzig +richtige, sondern als eins, das neben sich das eng verwandte +Scheffelsche Programm sehr gut verträgt. Ja, es dürfte so stehen, +daß Riehls Programm kaum weiter reicht als für die kulturhistorische +~Novelle~. Der Roman, der weiter ausholt, der nicht bloß ein +Bildchen, sondern ein großes, weites Bild geben will, kann nicht +~bloß~ bei jenen Gestalten stehen bleiben, welche die Phantasie +frei als Träger bestimmter Zeitkultur erfunden hat. Er muß weiter +greifen, und zwar ins geschichtlich Überlieferte hinein. Sonst +würde er schließlich selber sein Programm der geschichtlichen Treue +verleugnen. + +Die Novellen, welche Riehl selbst in großer Zahl geschaffen hat, geben +ganz im Sinn seiner Absicht treffliche, feine, kleine Einzelbilder +aus der deutschen Vergangenheit. Sie sind nicht so graziös wie der +»Ekkehard«; man merkt etwas deutlicher den Gelehrten. Aber sie sind +überall fesselnd und graben bei aller Kleinheit überall in die Tiefe +des geschichtlichen Lebens hinein. Sie verdienten mehr Beachtung, als +ihnen gemeinhin zu teil wird. + +Der »Ekkehard« und Riehls Novellen, sie bedeuten ein Programm. Ohne +ein ausdrückliches Programm hat vorher schon ~Meinhold~ in seiner +»~Bernsteinhexe~« (1843) ein ähnliches Bild geschaffen. Aber +der größte Wurf geschah in der Nachfolge dieses Programms: ich meine +~Gustav Freytags~ großes Werk »~Die Ahnen~«, das von 1872 +bis 1880 erschien. In sechs Bänden gibt der Dichter hier eine Reihe +von Bildern aus der Geschichte eines Geschlechts. Ein Zeitraum von +anderthalb Jahrtausenden soll in seinen charakteristischen Epochen dem +Leser lebendig werden. »Ingo« und »Ingraban« führen in uralte Zeiten; +die Jahreszahlen 357 und 724 stehen ihnen voran. Sitte und Brauch, Art +und Recht in den Wäldern der Thüringe kündet uns »Ingo« in kraftvoll +gezeichneten Linien, in schwungvoller Darstellung, in vollendet +fesselndem Abschluß. Ingo, der Königssohn aus Vandalenstamm, und +Irmgard, Fürst Answalds Tochter von Thüringer Blut, -- sie haben der +Deutschen Herz gewonnen. Und wie hier das Tosen der römischen Waffen +von fernher hineinschallt in die Stille germanischer Waldeinsamkeit, +so erklingen in »Ingraban« die Kampfrufe aus dem Streit zwischen +Deutschen und Wenden. Aber zugleich erleben wir hier den Geisterkampf +mit: Christentum ringt mit dem Heidentum, die sieghafte Religion mit +der niedergehenden, Winfried-Bonifatius tritt neben Ingram-Ingraban. +Einen starken Schritt vorwärts liegt »Das Nest der Zaunkönige«. Nicht +mehr gegen Römerübermut kämpft deutsche Kraft; auch die wendische +Gefahr ragt in dies Buch nicht mehr hinein. Unter einander streiten +des Volkes Glieder. Der Sachsenkönig Heinrich +II.+, der seit +dem Jahre 1002 das Zepter führt, muß seine Herrschaft gegen die +übelwollenden Großen des eigenen Landes schirmen. Die Schilderung +deutscher Uneinigkeit, dazu aber überragender Königskraft und endlich +mittelalterlichen Klosterlebens wird mit den persönlichen Interesse +an Immo, dem Klosterschüler und späteren Helden, und seiner geliebten +Hildegard verwoben. Das »Nest der Zaunkönige« vermag nicht ganz im +gleichen Maß für sich zu gewinnen wie die beiden ersten Stücke; mag +sein, daß der starke Gegensatz zwischen fremder und heimischer Art, +der hier fehlt, dort wesentlich die packende Kraft gehoben hat. +Vielleicht ist doch auch die Anlage dieses Buchs etwas zu breit. Auch +die »Brüder vom deutschen Hause«, welche den dritten Band bilden, +erreichen nicht die geschlossene Vollendung der ersten Bilder. Sie +erzählen eine Lebensgeschichte, aber sie berücksichtigen dabei allzu +wenig die Einheit der Entwicklung, als daß der Romancharakter gewahrt +bliebe. Herr Ivo, der Thüring, ists, der daheim in Minnedienst und +ritterlicher Art, auf dem Kreuzzug in merkwürdigen Abenteuern, dann +wieder daheim im Konflikt mit der ketzerverfolgenden Kirche, endlich +als Glied des deutschen Ordens geschildert wird. Auch hier ist durch +Ivos Verehrung der edlen Agnes von Meran, dann durch sein und der +schönen Friderun Herzensbündnis für menschliche Teilnahme gesorgt. +Die Bilder mittelalterlichen Lebens, welche dieser Band entfaltet, +sind reicher als die der früheren Bände. Kaiser Friedrich +II.+, +der Ketzerrichter Konrad von Marburg, die heilige Elisabeth, -- sie +alle grüßen den Leser. Aber neben den Mängeln der äußeren Gestaltung +steht doch der andere Mangel, daß eben diese großen Gestalten nicht +recht treu und echt gezeichnet sind. -- Es ist sonderbar, daß Freytag +gerade da, wo er große weltgeschichtliche Gestalten in die Welt seiner +Phantasie eingreifen läßt, kein rechtes Glück hat; der Martin Luther, +der am Schlusse der nächsten Abteilung, die den Titel »Markus König« +führt, eine schwierige Frage mit spitzfindigem Scharfsinn löst, ist +auch nicht der Martin Luther der Geschichte. Sonst freilich ist +»Markus König« einheitlicher als die »Brüder vom deutschen Hause«; in +das Städteleben von Thorn, in das Ringen von Deutschtum und Polentum, +in Händel und Fehden der Zeit der Reformation führt er trefflich +ein. Nur daß man es doch als peinliche Lücke empfindet, daß das +eigentlich Bewegende dieser Epoche, daß das religiöse Moment so ganz +zurücktritt. Der Band stellt sich damit selber zur Seite; er schildert +den Zeitcharakter in Nebenerscheinungen, und er schildert ihn darum +unvollständig und ungenügend. -- Der fünfte Band enthält die beiden +Skizzen, welche gemeinsam »Die Geschwister« betitelt sind. Die erste, +»Der Rittmeister von Alt-Rosen«, zeigt Kriegswesen und Aberglauben +aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die zweite, »Der Freikorporal bei +Markgraf Albrecht«, will das Charakteristische aus der Zeit Friedrich +Wilhelms +I.+ herausheben. Aber beiden Skizzen fehlt wirkliche +geschichtliche Kraft und tieferes menschliches Interesse. Auch der +letzte Band »Aus einer kleinen Stadt« vermag die Vorgänger nicht +wieder zu erreichen; dazu ist weder die erste, größere Erzählung aus +der Zeit der Freiheitskriege plastisch genug gezeichnet, noch die +zweite kleinere, welche in einem Journalisten das letzte Glied der +»Ahnen« erkennen läßt, irgend genügend vertieft. + +Im einzelnen sind die Bände also von sehr verschiedenem Wert. Und zwar +nicht bloß nach Seite der künstlerischen Gestaltung, sondern auch +nach der Richtung geschichtlicher Anschaulichkeit. Man darf getrost +sagen: selbst für Gustav Freytag war der Wurf ~zu~ groß. Wenn +jenes Programm Riehls wirklich ausgeführt werden soll, so bedarf es +dazu nicht bloß einer reichen Gestaltungskraft, sondern auch einer +Vertiefung in das Innerste der zu schildernden Zeit, wie sie nur +mit schweren Mühen zu gewinnen ist. Aber wer kann in dieser Weise +sämtliche Hauptepochen der vaterländischen Geschichte beherrschen? Wer +kann leben, ja wirklich ~leben~ in den Zeiten der Sachsenkaiser, +der Reformation und der Befreiungskriege? Auch Freytag hat das nicht +völlig vermocht. Und vielleicht hat doch auch für ihn das Riehlsche +Programm eine Gefahr eingeschlossen. Es geht allzusehr ins Kleine, +ins Alltägliche, ins Gewöhnliche. Eine Zahl von losen Einzelskizzen +kann es geben, und sie alle mögen sich gut und gern zum Gesamtbild +der Gesittungszustände eines Volks zusammenschließen. Aber wenn eine +fortlaufende, zusammenhängende Reihe die wichtigsten Epochen der +ganzen Volksgeschichte umfaßt, dann ist das Prinzip des Kleinlebens, +des »Abseits vom Wege« nicht mehr für sich allein brauchbar. Dann +müssen die großen Bewegungen der Geister mit ganz anderer Wucht ins +Leben des Romans eingreifen. + +Aber wozu im einzelnen mit Freytag rechten? Seine »Ahnen« haben ja +trotz mancher Schwächen längst einen Ehrenplatz unter den deutschen +Dichtungen gewonnen. Gewiß, sie verdienen ihn auch. Nicht bloß durch +ihre gelungensten Teile, sondern vor allem durch die wirklich geniale +Größe des ihnen zugrunde liegenden Gedankens. Und endlich: wie schon +der »Ekkehard«, wie Riehls Novellen, wie vordem schon die Werke von W. +Alexis, so sollen auch Freytags »Ahnen« der Liebe eben des deutschen +Volkes gewiß sein, denn sie haben uns ~die eigene Vergangenheit~ +erschlossen. Es wird für alle Zeiten ein Ruhm des historischen Romans +im 19. Jahrhundert bleiben, daß er zum ~nationalen~ Roman +geworden ist. -- + +Vollständigkeit in der Aufzählung der literarischen Erscheinungen +kann auch dies Bild des historischen Romans nicht anstreben. Aber +ich möchte doch die Entwicklungslinie des kulturhistorischen Romans +nicht abschließen, ohne ein Werk zu erwähnen, das in seiner Eigenart +besondere Beachtung verdient: ich meine ~Theodor Fontanes~ +Zeitgemälde »~Vor dem Sturm~.« Es ist nicht Fontanes Art, seinen +Romanen einen »großen Zug« zu geben; auch dies Gemälde aus dem +Winter 1812 zu 1813 gibt Kleinleben, ganz und gar Kleinleben. Aber +das eben ist Fontanes Stärke, ~wie~ er dies Kleinleben zu malen +weiß. Diese Kunst der Anschaulichkeit, diese Sorgfalt des Details, +diese Peinlichkeit in der geschichtlichen Treue, diese Feinheit in +der Erfassung aller wesentlichen Strömungen, und zu dem allen diese +feste Fundamentierung der Erzählung auf märkischem Boden! Ich gönne +jedem die Freude an tatenreichen, geschickt gruppierten Handlungen, +aber ich gestehe, meine Freude an dieser Fontaneschen Art gebe ich +dafür nicht hin. Schließlich treibt er doch auch wahrlich nicht bloß +Kleinigkeitskrämerei; das Kleinste -- und wenn es die Tischordnungen +sind, welche er für sämtliche vorkommenden Mahlzeiten mitteilt -- ist +ein notwendiges Glied des Ganzen, ein unentbehrlicher Pinselstrich auf +dem Bilde der beschriebenen Zeit. + +Ich habe etwas lange bei dem kulturhistorischen Roman verweilt. Aber +wenn auch anderes darüber knapper behandelt werden muß, ich bereue es +nicht. Hier liegt der größte Erfolg des historischen Romans im 19. +Jahrhundert. Man kann alle die anderen Erscheinungen auf diesem Gebiet +danach beurteilen, wie nahe oder wie weit sie von dieser Linie sich +entfernen. + +Neben die rein oder vorwiegend kulturgeschichtliche Richtung +stelle ich zunächst eine ihr nahestehende, der ich den Namen der +~allgemeingeschichtlichen~ geben möchte. Auch für diese +Richtung ist die Absicht maßgebend, ein bestimmtes treues Bild +aus der Geschichte zu zeichnen. Nur daß dieses Bild nicht gerade +die Gesittungszustände, das kulturelle Kleinleben umfassen soll, +sondern sich mehr an die großen Strömungen und Stimmungen, an feste +historische Ereignisse der Entwicklungsgänge anlehnt. Auch die Romane +dieser Art müssen einen kulturhistorischen Einschlag haben; sonst +würden sie schemenhaft werden. Die Kunst muß hier für den Dichter +darin bestehen, ohne allzuviel Detail doch die Gestalten der Dichtung +in engste Verbindung mit dem geschichtlichen Leben der gewählten Zeit +zu setzen. Zahllose Romanschreiber sind an dieser Aufgabe gescheitert; +sie gaben modernes Leben in geschichtlichem Gewand. Aber zwei Meister +möchte ich nennen, deren Werke mir in diese Kategorie zu gehören +scheinen. Der eine ist ~Wilhelm Raabe~, der Stimmungsdichter, der +doch auch die Geschichte sich dienstbar gemacht hat. Sein »~Unseres +Herrgotts Kanzlei~« (1862) zeichnet mit kräftigen Strichen die +Kriegsnöte des belagerten Magdeburg und zugleich etliches von den +Stimmungen und Strömungen des Reformationsjahrhunderts. Nur fehlt +eben die intime Einzelschilderung und die feinere psychologische +Differenzierung. Und Raabes Hauptstärke, die Stimmung, kann hier nicht +in gleicher Weise zur Geltung kommen wie bei seinen nicht-historischen +Werken. Auch seine Erzählung aus dem 18. Jahrhundert, »Das Odfeld« sei +hier genannt. -- Der andere Meister dieser allgemeingeschichtlichen +Richtung ist der Schweizer ~Conrad Ferdinand Meyer~. Sein großer +Roman »~Georg Jenatsch~« beschreibt die langen und verworrenen +Parteikämpfe, welche auf dem Gegensatz der Konfessionen beruhten. Die +Absicht ist unfraglich die, eben diese Zeit der Wirren und Kämpfe +dem Leser lebendig zu machen. Allerdings hat das Buch bei großen +Vorzügen auch erhebliche Mängel. Es führt nicht in konzentrierter +Entschlossenheit vorwärts; es gibt Bilder, aber kein einheitlich +wirkendes Bild. Es hält den Leser durch Zersplitterung des Interesses +nicht bei dem befriedigenden Bewußtsein stets vorhandener Klarheit. +Jürg Jenatsch selbst, der Parteiführer, hat eine nur mäßige +Qualifikation zum Romanhelden. Sein Charakter packt, aber er verstimmt +zugleich. Er begeistert, aber er kühlt bald wieder ab. Alles in allem, +er hält die Sympathien der Leser nicht fest. Auch gelingt es ihm mit +seiner objektiven, etwas schwerwuchtigen Art minder gut als leichteren +Werken, die doch notwendige Spannung zu erzeugen. + +Bedeutender noch als dieser große Roman sind Conrad Ferdinand +Meyers historische Novellen. Freilich, man kann versucht sein, sie +nicht mehr zu der eben besprochenen Richtung zu zählen, sondern +zu einer ~dritten~, der ~an die Geschichte angelehnten +individuellen Erzählung~. Diese Bezeichnung bedarf einer +Erklärung. Ich denke dabei an Dichtungen, welchen nicht die Erweckung +eines bestimmten geschichtlichen Kulturlebens, auch nicht die +bestimmter geschichtlicher Vorgänge das Ziel ist, sondern welche +ein mehr individuell interessantes Erzählungsbild, das nicht gerade +geschichtlichen Gründen, sondern allgemein menschlichen Motiven +entstammt, an die Geschichte anlehnen. Auch das ist eine berechtigte +Form des Romans, nur daß freilich das Wort »historisch« nicht im +gleichen Sinn ihr zukommen kann, wie den eben genannten Richtungen. +Selbstverständlich muß auch hier der Gesamteindruck echt sein. Die +Grenzen zwischen dieser Art und der vorher skizzierten sind leicht +verrückbar; auch bei Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen ist es +manchmal schwer zu sagen, ob sie mehr das Allgemein-Geschichtliche +oder das Individuelle betonen. Jedenfalls aber verdienen sie zum +großen Teil als Meisterstücke der Erzählerkunst genannt zu werden. +»~Der Heilige~« greift in das Leben des englischen Kanzlers +Thomas Becket, also ins 12. Jahrhundert hinein, -- mit welch +wunderbarer, abgerundeter Darstellungskunst! Andere haben ihren +Schauplatz zu anderen Zeiten und in anderen Ländern; »~Die Hochzeit +des Mönchs~« z. B. führt nach Padua, »~Das Amulett~« in die +Tage der Pariser Bluthochzeit. Wer aber geneigt ist, diese Erzählungen +noch zu der gleichen allgemeingeschichtlichen Richtung zu zählen +wie den »Georg Jenatsch«, der mag als Muster der dritten Gattung +eine Erzählung nehmen wie »~Grete Minde~« von ~Fontane~. +Hier steht nicht die Kultur im Vordergrund und ganz sicher nicht die +Geschichte; Lieb und Leid, wie es die Herzen bewegt, bewegt auch die +Erzählung, -- nur daß ihr ein geschichtlicher Hintergrund gesichert +ist. Übrigens aber ist Fontane gerade in der »Grete Minde« ein +anmutiges und feines Werk gelungen, eine wohlgebaute, nirgends zu +stark auftragende, aber überall tiefgefaßte und pointierte Erzählung. + +Endlich nenne ich kurz eine ~vierte~ Gattung des historischen +Romans, nämlich diejenige, welche nicht Kulturleben, auch nicht +geschichtliche Vorgänge, und wiederum nicht individuelles +Menschengeschick zum Ausdruck bringen will, sondern den +~Gedankengehalt der Geschichte~, die Ideen, die Tendenzen, +die geistigen Strömungen. Eine gewaltige Aufgabe -- dankenswert +und schwer zugleich. Schwer vor allem deshalb, weil es viel eher +gelingt, gegenüber den Kulturzuständen vergangener Epochen objektiv zu +bleiben als gegenüber den Gedanken, welche in jenen Zeiten lebendig +gewesen sind. Schon das ist schwer, diese Gedanken klar und ruhig +zu ~erfassen~, geschweige denn, sie objektiv wiederzugeben. So +haben wir denn von dieser Gattung auch keine erstklassigen Romane zu +verzeichnen. Aber genannt seien als ihre Vertreter ~Karl Frenzel~ +(z. B. »Freier Boden«), ~Heinrich Laube~ (»Der deutsche Krieg«) +und ~Karl Gutzkow~ (»Hohenschwangau.«) + +Eine große Reihe historischer Romane habe ich Ihnen skizziert oder +nur genannt. Die Fülle der Erscheinungen zwang dazu, auf gründlichere +Behandlung einzelner Werke zu verzichten. Aber ich bin gewiß, daß Sie +unter den vielen Namen, die genannt wurden, etliche -- vielleicht mit +Befremden -- vermißt haben. Nun -- sie sind bisher nicht ohne Absicht +übergangen worden. Es war ja die Absicht, nur das wirklich Bedeutende +anzuführen, um so die Entwicklung des historischen Romans in raschen +Zügen zu skizzieren. Zu den Größten zählen eben die Übergangenen +nicht. Trotzdem muß auch etlichen von ihnen noch ein Wort gewidmet +werden, -- schon deshalb, weil sich die Gunst des Lesepublikums so +warm für sie ins Zeug legt. Das gilt vor allem von ~Felix Dahn~ +und ~Georg Ebers~. Namentlich eine Anzahl von Dahns »~Kleinen +Romanen aus der Völkerwanderung~« sind ohne geschichtliche und ohne +höhere künstlerische Kraft. Manche haben durch kunstvolle Ordnung des +Stoffs eine gewisse Spannkraft, manchen liegt ein für eine Novelle +ganz brauchbarer Gedanke zu grunde, alle haben die Entschuldigung für +sich, daß es zum Allerschwersten gehört, kulturlose Zeiten lebendig +zu machen, -- aber eben Natur und Leben sucht man in ihnen vergebens. +Ganz moderne Gedanken, wie sie der Weltanschauung Dahns entsprechen, +hat er hier längst Vergangenen in den Mund gelegt. Zudem ermüdet +an ihnen die schablonisierte Manier. Stärker ragt die Geschichte +hinein in Dahns großes Werk, den »~Kampf um Rom~.« Es ist ja +leichter, große Heldengestalten und mächtige Weltereignisse dem Leser +nahezubringen als untergeordnete Wesen aus kleineren Umgebungen. So +weckt der »Kampf um Rom« unfraglich erheblich größeres Interesse als +jene eben besprochenen Romane. Es bleibt auch richtig, daß der »Kampf +um Rom« dramatische Kraft, begeisterte Wärme und mächtigen Schwung +besitzt. Leicht entzündbare, namentlich jugendliche Herzen vermag er +mit dieser seiner Art geradezu in Flammen zu setzen. Sollen wir alles +dies gering einschätzen? Gewiß nicht! Aber anderseits dürfen wir +uns durch diese fortreißende Wucht auch nicht die ruhige Besinnung +rauben lassen. Was für »Geschichte« liegt dem Roman zu grunde? Jene +Geschichte, die nicht viel anderes kennt, als Helden und Bösewichte, +Schlachten und Kämpfe, Ruhm, Leidenschaften, Intrigen! Es ist die +Geschichtsmethode der Volksbücher, diejenige der mittleren Klassen des +Gymnasiums (auch hier ist sie jetzt schon großenteils überwunden), +aber nicht diejenige, welche dem tiefer Schauenden das wirkliche +Leben der Vergangenheit erweckt! Welche Psychologie führt das Zepter? +Eine Psychologie der großen Linien und der großen Mittel, aber keine +Seelenforschung, die Menschen und Zeiten in feiner Erfassung auch +scheinbar minder wichtiger Züge in Übereinstimmung zu bringen weiß! +Folglich bleibt vieles im »Kampf um Rom« geradezu talmihistorisch. Und +selbst die äußere Echtheit verdirbt sich Dahn, indem er alle Fäden in +den Händen des Cethegus zusammenlaufen läßt, einer Figur, die wie dazu +geschaffen ist, zum Ideal träumender Jünglinge zu werden. Die gesamte +Entwicklung hängt an Cethegus; und Cethegus ist ein dichterisches +Phantasiegebilde! Aber selbst wenn man diese Entgleisung in den Kauf +nimmt, zu reiner Freude an dem Buch kann man nicht kommen, weil das +Pathos, in dem Dahn seine Menschen reden läßt, gar zu ungeheuerlich +ist. + +Nur eine einzige Stilprobe! Furius Ahalla, der Korse, spricht: + +»Staune nicht -- frage nicht! + +Ja: ich liebe Valeria mit aller Glut: fast haß' ich sie -- so lieb ich +sie. + +Ich warb um sie vor Jahren. + +Ich erfuhr, sie sei dein -- vor dir trat ich zurück: -- erwürgt hätt' +ich jeden Andern mit diesen Händen. + +Ich eilte fort: ich stürzte mich in Indien, in Ägypten in neue +Gefahren, Abenteuer, Schrecknisse, Genüsse. + +Umsonst. + +Ihr Bild blieb unverwischt in meiner Seele. + +Höllenqualen der Entbehrung erlitt ich um sie. + +Ich durstete nach ihr, wie der Panther nach Blut. + +Und ich verfluchte sie, dich und mich ...« + +Wer spricht so im gewöhnlichen Leben? Furius Ahalla, der Korse? +Nimmermehr! + +Ähnlich ist über die Schöpfungen eines anderen Lieblings der Mode zu +urteilen, über die von ~Georg Ebers~. Der kulturhistorische Roman +verläßt das nationale Gebiet; das ist sein gutes Recht. Er verläßt +nicht das Prinzip der Kulturschilderung; hierin hat der Professor der +Ägyptologie sehr Hübsches geboten. Aber es ist leichter, altägyptische +Kultur zu schildern als altägyptische Menschen zu zeichnen. Die +Fabel und die Charaktere, das sind bei Ebers die wunden Punkte. Man +muß schon sehr gutgläubig sein, um in diesem Punkt das als echt +hinzunehmen, was er gibt. Nur im »+Homo sum+« hat Ebers einmal +tiefer zu motivieren gesucht; das Buch steht über dem Durchschnitt. +Dafür hat er aber auch manches geschrieben, was unter dem Durchschnitt +bleibt. Seine »Gred« ist eigentlich das Muster eines historischen +Romans, wie er nicht sein soll. Mielke hat Recht: »glanzloser Firnis +deutschen Mittelalters« liegt darüber. Die Sprache gekünstelt, das +Empfinden modern, alles, was über das Individuelle hinausgeht, +verschwommen, dies Individuelle aber ungefähr auf den Backfischton +gestimmt, die Gedanken ohne Entschuldigung fehlend -- wahrlich, was +dabei herausgekommen ist, ist ein kraft- und saftloses Ding, das +absolut nichts durch die Verlegung ins Mittelalter gewonnen hat. Die +Geschichte könnte beinah ebenso gut in jedem bürgerlichen Hause des +19. Jahrhunderts spielen. Man möchte darüber weinen, daß das Gros des +die Leihbibliotheken benützenden Publikums auch die »~Gred~« +kritiklos genossen hat, weil Ebers nun einmal in der Mode war. + +Von anderen will ich schweigen. Nicht als ob nicht noch manches Werk +auch neben den großen und hervorragenden Schöpfungen stünde, das +der Liebe des deutschen Lesers sicher sein darf. Und ebensowenig +soll geleugnet werden, daß außer Georg Ebers mit seiner Archäologie +in Romanform auch andere Schriftsteller noch den historischen Roman +gemißbraucht haben. Aber was hat es für Zweck, das Gedächtnis an +~Ecksteins~ »Sensationsromane im historischen Gewande« -- wie +Adolf Bartels sie nennt -- aufzufrischen? Robert ~Hamerlings~ +»Aspasia« verdiente wegen ihrer ernsthaften Gelehrsamkeit Erwähnung, +wenn wir nicht den historischen ~Roman~ behandelten. Ein solcher +ist das schwerfällige Buch mit seiner steifleinenen Umständlichkeit +nicht geworden. + +Es sei genug. Über Höhen und durch Tiefen sind wir gewandelt; +Prunkstücke der deutschen Erzählerkunst haben wir geschaut. Laßt +uns begraben unter Schutt und Asche, was auf diesem weiten Gebiet +Minderwertiges erstand. Aber laßt uns jubeln, daß wir auch Männer +hatten, die die größte Kunst verstanden: Geschichte und Dichtung zu +vermählen! + + [Illustration] + + + + + Die Stimmungsdichtung. + + +So war der Kampf gekämpft, der Kampf zwischen Träumen und Wachen. +Das Tageslicht der hellen Wirklichkeit hatte die Träume verscheucht. +Die lieblichen Traumbilder Eichendorffs so gut wie die dem Alpdruck +ähnlichen des Teufels-Hoffmann. Man hatte ins ländlich-dörfliche +Stillleben hinein gegriffen so gut wie in das wechselvoll bewegte +Leben der politischen Kreise; man kritisierte, was nur immer der +Kritik Angriffsflächen bot: die Vornehmen des ostelbischen Adels, die +Wucherkünste unredlicher Geschäftsleute, den Taumel, in welchen das +rote Gold weite Schichten des deutschen Volkes versetzt hatte, aber +man griff auch hinein in die streitenden Gedankenwelten, in denen alte +und neue Zeit einander gegenüberzustehen schienen, und kritisierte +Gedanken, die man nicht für richtig hielt, samt ihren Vertretern. +Man ließ die Vergangenheit aufs neue erstehen und mühte sich, mit +größerem oder geringerem Glück, mit gröberem oder feinerem Stift, die +alten Zeiten des brandenburgischen Ländchens, der Stadt Berlin, des +preußischen Volks, -- aber auch die uralten Zeiten ägyptischer Kultur, +griechischer Kunst und römischer Machtherrlichkeit so naturgetreu +nachzubilden, als man es vermochte. Goethes Geist war in diesen +Dichtern allen lebendig geworden. + +Aber nicht bloß ~Goethes~ Geist bewies die Kraft, Spätere in +seinen Bann zu zwingen. Auch jener andere Geist war nicht erstorben, +der einst ~Jean Paul~ die fleißige Feder geführt hatte. Goethes +Geist -- so sahen wir -- ist der Geist der dichterisch begriffenen und +kunstvoll gezeichneten Wirklichkeit. Der Geist Jean Pauls aber läßt +sich kurz als der Geist der poetischen ~Stimmung~ bezeichnen. Es +fehlt nicht der Gedanke, es fehlt nicht die Wirklichkeit, es fehlt +nicht die Kritik. Aber das sind alles keine regierenden Mächte. Das +Regiment liegt in der Hand jenes wunderbaren Etwas, das sich jeder +Definition entzieht, jenes verklärenden Hauchs, der über den Dingen +liegt, manchmal sie leise verschleiernd, immer allzu harte Kanten, +allzu scharfe Konturen abmildernd, -- der Stimmung. + +Selbstverständlich denke ich nicht daran, den Romanen, welche in der +nachromantischen Zeit bisher uns beschäftigt haben, die Stimmung +abzusprechen. Das sei ferne! Nur für manche derselben würde dies +Urteil allenfalls zutreffen, so etwa für Gutzkow, vielleicht auch +ein wenig für Freytag. Aber Immermanns Oberhof hat unfraglich seine +ganz besondere Stimmung, die patriarchalisch-würdige und doch +naturwüchsige Stimmung des alten Bauernhofs. Und wieviel Stimmung +liegt in Spielhagens Landschaftsschilderungen, in seiner Erzählung von +der hereinbrechenden Sturmflut! Nur eben -- bei ihnen allen ist nicht +die Stimmung das Ausschlaggebende, das Hauptsächliche, sondern das +nüchterne wirkliche Leben. + +Nun aber hat auch dieser Geist Jean Pauls, der Geist der herrschenden +Stimmung, nicht lange schlafen können. Er hat eine fröhliche +Auferstehung gefeiert. Ein Roman, eine Novelle ward dem deutschen +Volke geschenkt, die man getrost als ~Stimmungsroman und +-Novelle~ bezeichnen darf. Wir danken die Werke dieser Art nicht +~einem~ Meister allein; und, wie nur natürlich, die Novelle zeigt +sich hier zahlreicher auf dem Plan als der Roman selbst. Aber auch er +fehlt nicht; ~Wilhelm Raabe~ schuf ihn, und ihm stehen zur Seite +der Novellist ~Theodor Storm~ und ~Peter Rosegger~. + +Ein merkwürdiges Buch, diese »~Chronik der Sperlingsgasse~«, +die ~Raabe~ als erstes Werk seiner Muse 1857 in die Welt +hinaussendete. Merkwürdig aber nicht wegen absonderlicher +Ereignisse, die darin eine Rolle spielten. Von nervenaufregenden +Schauergeschichten ist Raabe kein Freund. Auch was der Chronist der +Sperlingsgasse erzählt, ist darum einfach und schlicht, beinahe +alltäglich. Zwei Freunde, ein Student der Philosophie und ein Maler, +und ein Kind, ein Mädchen ...... Der Student berichtet ganz knapp, was +geschehen, wie er als Greis auf das Vergangene niederblickt: + +»Ich sehe zwei Männer im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von +ihr zu gewinnen; und ich sehe endlich den Einen mit keuchender Brust +sich ans Ufer ringen und den schönen Preis erfassen, während der +Andere weiter getrieben, willenlos und wissenlos auf einer kahlen, +skeptischen Sandbank sich wiederfindet. -- Ich sehe mich, einen +blöden Grübler, der sich nur durch erborgte und erheuchelte Stacheln +zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem Umherschweifen in der +Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster, sehender Mann, der Freund +seines Freundes und dessen jungen Weibes.« + +Der glückliche Freund und sein junges Weib -- sie beide rafft der +Tod dahin. Dem einsamen Philosophen bleibt beider Kind, ein Mädchen; +dessen Kindheit und erste Jugend, dessen Heranblühen und Heranreifen +bis hin zur glücklichen Ehe bildet den weiteren Inhalt. Und jene +ersten, ernst-bitteren Erfahrungen, jenes Ringen und Kämpfen in der +Seele des Freundes, der die Heißgeliebte dem Freunde lassen muß, +-- das alles ist nicht beschrieben mit den glühenden Farben, die +andere Dichter in Sturm und Drang, in psychologischer Analyse oder +dramatischem Effekt dem gleichen Bild zu geben wissen würden und +ähnlich hundertmal gegeben haben. Es ist ja alles, alles längst +vorüber, als Hans Wachholder, alt und grau geworden, alle diese +Erinnerungen auf die Blätter der Chronik niederschreibt. Er hat +es alles verwunden; und wenngleich das, was er erlebt hat, ihm für +Lebenszeit die Art seines Wesens mitbestimmt hat, in ihm wogt doch +nichts mehr vom Sturm der Leidenschaft und vom Drang des Leids. Er +fühlt es noch, aber er fühlt auch die Freude an dem frischen, jungen +Leben, das unter seiner Hut aufgewachsen ist. Und selbst am Jahrestag +des großen Schmerzes, da dem Freund die geliebte Gattin gestorben, +kann nun zu dem Greis der Humor auf die Schwelle treten, seine +Schellen schütteln, seine Pritsche schwingen und sagen: + +»Lache, lache, Johannes, du bist alt und hast keine Zeit mehr zu +verlieren.« + +Was ist es also, was den Reiz der »Chronik« ausmacht, wenn es nicht +die bewegende Schilderung einer bewegten Handlung ist? Ists doch +ebensowenig die Weite des Gesichtskreises, der Zeiten und Welten, +Völker und Länder umspannte! Nein, nicht in die Breite und Weite geht +Raabes Dichten in diesem Buch; Zeitschilderungen sind hier nicht zu +finden. Ebensowenig ist er irgendwie der Mann des historisch-getreuen +Milieus. Kaum daß die Sperlingsgasse selber zu ihrem Recht kommt. Wenn +er uns von ihr doch ein Bild gibt, so geschiehts nicht, um uns auf +festen Boden zu stellen, sondern weil sie ihm lieb ist und weil sie +seinem Schaffen von Wert ist. Sie liegt in einem älteren Stadtteil +mit engen, krummen Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen +hineinzublicken wagt. »Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit +nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause +enden zu lassen; nun aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare +Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und +Überfluß, alle Antinomieen des Daseins sich widerspiegeln.« + +Zu diesem Satz nur noch ein paar andere, gleichfalls aus den der +Sperlingsgasse gewidmeten wenigen Seiten! Sie zeigen den ganzen Raabe: + +»Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen +durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das +Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des +Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der +Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender, man möchte +sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen +diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den +Ton auffängt, bricht und verändert znrückwirft! -- Horch, wie in dem +Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in jenem gewölbten +Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden, an diesem Ort +wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen +der Arbeit hinwälzt! -- Die Stimme Gottes spricht zwar vernehmlich +genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im Donner; +aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen, welche das +Getriebe der Menschenwelt hervorbringt!« + +~Das~ ist Raabes Art! Die Stimme Gottes im Getriebe der +Menschenwelt! Er schreibt in bewegter Zeit. Kein Glück steht so +fest, daß es nicht von einem Windhauch oder dem Hauch eines Kindes +umgestürzt werden könnte. »In solcher Zeit ständen die Menschen am +liebsten mit leeren, müßigen Händen, horchend und wartend; aber das +ist nicht das Rechte. Es soll niemand sein Handwerksgerät, die Waffen, +mit denen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen.« +Die Waffen, mit denen man das Leben bezwingt, -- von ihnen reden +die Blätter der Chronik. Welche sind's? Die Stimme Gottes hören im +Getriebe der Menschenwelt! Das Haupt senken vor der geheimnisvollen +Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der +Wiege und die Nation im Todeskampf ..... »Wie so viele Herzen fast +brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu lassen! Das ist +die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift auf der Harfe +des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der Denker +in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt.« + +~Nicht~ in die Breite und Weite geht Raabes Art. Aber in die ~Tiefe~. +Allerdings auch nicht in die Tiefe psychologischer Feinarbeit und nicht +in die Tiefe besonders interessanter Probleme. Aber in die Tiefe des +Menschenherzens, des einfachen, schlichten Gemüts. Und in jene Tiefen, +in denen man lernt, das Höchste zu verstehen: Menschenschicksal, +Menschenleid, Menschenliebe. Zu ~verstehen~ -- sage ich. Das Wort +ist für Raabe zu kalt. Zu ~fühlen~, zu ~erfassen~, staunend und +andächtig zu durchmessen, -- das trifft besser das, was er will. Eben +diese Kunst, Menschenleben aus der Höhe in die Tiefe und aus der +Tiefe in die Höhe zu schauen, gibt Raabes »Chronik« ihre eigenartige +Stimmung. Weisheit und Gemüt, Reflexion und Gefühl, Ernst und doch auch +sprudelnder Humor bilden die Bestandteile dieses wunderbaren Etwas, das +über dem Ganzen liegt. + + + +Es gibt Menschen, welche für solche Stimmung gar keine Sympathie +haben. Vielleicht sind sie in der Mehrzahl. Das 19. Jahrhundert +war dieser Spezies nicht günstig. Sie werden an Raabe keine Freude +haben. Und sie werden die Fehler auch seiner »Chronik« ihm deutlich +vorhalten. Hat Raabe nicht selbst sich später kritisiert: er habe +in der Chronik einen Greis Bilder und Gestalten in wallendes Gewölk +zeichnen lassen? Ist nicht zu viel Traum in dem Buch? Geht nicht +Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit oft so wirr +durcheinander, daß die schlichtende Klarheit verloren geht? Ist +nicht so viel Reflexion, so viel an Einzelgedanken eingeschoben, +daß es manchmal schwer wird, den Faden festzuhalten, der das Alles +verbindet? Ist nicht mancher Ausdruck manieriert, mancher Gedanke +allzu pointiert? Fehlt nicht die Realistik oft mehr, als selbst dem +Idealisten erlaubt ist? Sind die Wege, welche er seine Freunde gehen +läßt, bis in der Sperlingsgasse ein neuer Bund geschürzt wird, nicht +reichlich absonderlich? So fragen sie, die nach Wirklichkeit hungern. +Und -- sie haben nicht Unrecht. Was sie sagen, empfinde auch ich als +richtig. Nur eben -- man kann das zugeben und doch nicht unempfänglich +sein für jene Höhe und Tiefe der Stimmung und Betrachtung, für jene +feinen und zarten Gedankengewebe, die uns in alldem den Dichter +weisen, den Dichter der Weisheit und des Gemüts, den Dichter der +Stimmung. + + Habe ich zu lange bei der »Chronik der Sperlingsgasse« verweilt? + Vielleicht. Aber ich will auch Raabes andere Romane alle, die + großenteils noch den Jahren bis 1870 ihr Dasein danken, hier nicht + besprechen. »~Unseres Herrgotts Kanzlei~« (1862) hat schon seine + Erwähnung gefunden. Von den übrigen nenne ich nur: »~Die Kinder von + Finkenrode~«, »~Die Leute aus dem Walde~«, »~Der Schüdderump~.« Aber + eins muß doch noch neben die Chronik gestellt werden, nicht bloß, + weil es berühmt geworden ist, sondern weil es Raabes Eigenart noch + genauer erkennen läßt. Das ist »~Der Hungerpastor~«, erschienen 1864. + Auch hier brauche ich den Gang der Handlung nicht im einzelnen zu + entwickeln. Sie kennen ihn alle und haben ihn in frischer Erinnerung. + Nur beleuchten möchte ich Ihnen ein wenig diese schöne und gute Gabe + des Dichters. Und zwar nach drei Seiten hin. + +Zuerst hinsichtlich der ~äußeren Handlung~. Sie ist reicher als +in der »Chronik«. Und nicht bloß reicher, auch mit vollendeterer Kunst +gestaltet. Zwei Lebensschicksale sind neben einander gestellt. Da +ist Moses Freudenstein, dessen Vater das Geld hat und der selber den +Trieb hat, in der Welt vorwärts zu kommen, Moses Freudenstein, der +zu eben diesem Zweck den Namen seiner Geburt in den des Theophile +Stein umwandelt und die Religion seiner Väter mit der katholischen +Konfession vertauscht. Moses Freudenstein steigt, steigt bis zum +Geheimen Hofrat hinauf. Neben ihm aber steht Hans Unwirrsch, der +Schuhmacherssohn, dessen Vater kein Geld hat und dessen Sohn eine +ganz andere Sehnsucht im Herzen trägt, der es aber dafür auch längst +nicht so weit bringt wie der Jugendgenoß, der doch aus derselben +Kröppelstraße stammt. Lange geht er seines Weges als armer Kandidat +und geplagter Hauslehrer, und zum Ende wird er ein armer Pfarrer +in einsamem Dorf. Dieser zweite, Hans Unwirrsch, der Hungerpastor, +beherrscht mit seinen Erlebnissen durchaus den Gang des Ganzen; im +Grunde genommen ist dies Ganze nicht viel anderes als die Geschichte +seiner Erfahrungen bis hin zur Zeit der Reife. Aber die Art, wie +in dies Schicksal hinein das des Moses Freudenstein verwebt wird, +wie beide einander gegenüberstehen von der Kindheit an bis ins +Mannesalter, und zugleich die Kunst der Erzählung dessen, was Hans +Unwirrsch erlebt, sie heben den »Hungerpastor« nach Seiten der +Handlung hoch über die »Chronik der Sperlingsgasse.« + +Zum Zweiten. Im Hungerpastor hat Raabe ~Charaktere~ geschaffen. +Allerdings Charaktere, welche bestimmte Gesamtanschauungen vertreten. +Weltanschauung steht gegen Weltanschauung, ähnlich wie in Heyses +»Kinder der Welt.« Aber die Menschen, welche diese Anschauungen +tragen, sind nicht auf Draht gezogen wie bei Heyse. Weder Moses +Freudenstein noch Hans Unwirrsch. Vor allem der letztere nicht; das +ist kein Gestell, an welches die Ansichten, sorglich abgestuft, +angehängt werden. Hier ist Entwicklung aus Kindheit und Jugend, ja aus +Heimathaus und Elternart heraus, aus dem Haus heraus, in welchem der +Vater Schuhmachermeister bei der wassergefüllten Glaskugel, die das +Licht der kleinen Öllampe auffängt und glänzender wieder zurückwirft, +seinem Handwerk obgelegen hat. Zwei besondere Paten hat ihm der Vater +mitgegeben: »Johannes soll er heißen wie der Poet von Nürnberg und +Jakob wie der hochgelobte Philosophus von Görlitz, und wie zwei Flügel +sollen ihm die beiden Namen sein, daß er damit aufsteige von der Erde +zum blauen Himmel und sein Teil Licht nehme.« Der Junge zeigt sich +in der Schule nicht besser als jeder andere Schlingel. Auch für ihn +kommt die schöne Zeit der schmutzigen Hände, der blutenden Nasen, der +zerrissenen Jacken, der zerzausten Haare. Aber es kommt auch die Zeit, +da er als wahrheitsuchender Studiosus mit Moses Freudenstein über Gott +und Welt und Vaterland disputiert, wo er dann von Moses scheidet, als +dieser in die freie weite Welt geht, und schließlich in der Öde und +Abgeschiedenheit einer Hauslehrerstellung auch die Wünsche seines +Freundes Moses begreifen lernt. Es kommt die Zeit, in welcher die +Liebe ihren Einfluß auf sein Herz gewinnt, anfangs mit Irrwegen, dann +auf rechtem Weg sein Herz an das bescheidene Fränzchen Götz bindend. +Was braucht es weitere Worte? Es ist ein volles, echtes Menschenleben, +mit Irrungen und Wirrungen, mit Suchen und Finden, das in Hans +Unwirrsch gezeichnet ist. Ja, die Tiefe der Charaktererfassung gemahnt +an Gottfried Kellers »Grünen Heinrich« und andere Meisterwerke. Es ist +Wirklichkeit, klare Wirklichkeit, wenn schon im Zauber der Poesie, die +im »Hungerpastor« das Regiment führt. Auch darin, in der tiefwahren +Charakterzeichnung, ist die »Chronik« weit übertroffen. + +Und dann zum dritten: auch der ~geistige Gehalt~ dieses Buchs +ist erheblich tiefer. In der »Chronik« konnte man vielleicht von +Betrachtungen über Menschenschicksale reden; die einzelnen Erlebnisse +gaben mehr die Gelegenheiten, sie vorzubringen. Ganz anders im +»Hungerpastor.« Hier schließen die Erlebnisse und Entwicklungen die +großen Gedanken selbst in sich. Hier wachsen sie aus dem Herzen +des Hans Unwirrsch und aus dem Verstande des Moses Freudenstein +naturnotwendig heraus. Zugleich gewinnen sie dadurch an innerer +Bedeutung und überzeugter Kraft. Vom Hunger handelt das Buch, von +dem, was er bedeutet, was er will, und was er vermag; von der +heiligen Macht des echten, wahren Hungers aber handelt es vor allem. +Allerdings, auch ~der~ Hunger kommt darin vor, den Moses +Freudenstein empfindet: der Hunger nach Glanz und Lust, nach Ehre +und Ruhm, nach Macht und Ansehn. Aber für Raabe ist das der falsche +Hunger; er läßt keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß Moses sein +Mann nicht ist. Ein anderer Hunger ists, von dem der Armenlehrer +Silberlöffel redet, ehe er stirbt: + +»Ich bin sehr hungrig gewesen. Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und +durstig nach Wissen; alles andere war nichts. Goldene Äpfel hängen +lockend im Gezweig und schicken ihre Strahlen durch das Grün. O sie +blenden so die Augen, die schönen, glänzenden Früchte. Die Hände habe +ich ausgestreckt und habe mich zerrissen an den Dornen; -- viele +Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün. Im +Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch, und doch war ich +für das Licht geboren. Es ist hart, hart, hart, im Schatten sitzen zu +müssen und Hungers zu sterben, während so schöne Augen leuchten in der +Welt, während so holdselige Stimmen locken, -- in der Nähe und ach aus +so weiter, weiter Ferne. Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne, +aber im Schatten mußte ich bleiben, auf einen kleinen Raum im Schatten +war ich gebannt. Ein goldener Regen umspielte mich oft, in Schauern +fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich und glänzten durch Grün +und Blau; mir aber waren die Hände gefesselt, und nichts hatte ich +als mein qualvolles Sehnen. Ich habe nichts, nichts erhalten von dem +reichen Leben. Nur mein Sehnen ist mir zu teil geworden, und auch das +geht nun zu Ende. Dunkel wirds vor den Augen, still vor den Ohren und +im Herzen; ich werde satt sein -- im Tode.« + +Diesem Hunger ähnlich ist der, welchen Hans Unwirrsch von seinem +Vater, dem Schuhmachermeister, geerbt hatte. Der Vater hatte +Wissensdrang, viel Wissensdrang; er las, so viel er nur irgend konnte. +Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den +Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand +er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, welcher ihm ganz +allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden +sein konnte. Und der Sohn? Auch er ist, wie Moses, ausgezogen nach dem +Wissen und dem Glück; in dunkeln armen Hütten waren sie beide geboren +und aufgewachsen, und der Glanz, der durch die Spalten und Ritzen der +niederen Dächer fiel, hat sie gelockt. Lange hat er gemeint, eines +Weges mit dem Freunde zu gehen; dann hat er den Irrtum gemerkt. »Mein +Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht +gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist +ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann +sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.« Wie +will man diesen Hunger definieren? Er hat viel Unbestimmtes; man darf +sich dadurch, daß es ein Kandidat und Pastor ist, der ihn hegt, nicht +etwa bestimmen lassen, ihm einen im engeren Sinn religiösen Inhalt zu +geben. Im weiteren Sinn religiös ist er gewiß. Es ist die Sehnsucht +nach allem Hohen und Guten, nach Wissen und Erkenntnis, aber auch nach +Liebe und Treue, die Sehnsucht der Seele nach dem, was sie braucht. +So redet Johannes Unwirrsch, der Kandidat, am Christmorgen im Dorfe +Grunzenow im Geist zu seinem längst im Grabe ruhenden Vater: + +»O Vater, Vater, es ist schwer, ein rechter Mensch zu sein und jedem +Dinge sein rechtes Maß zu geben; wer aber mit der Sehnsucht danach +in der Tiefe geboren wird der wird doch eher dazu kommen als jene, +welche zwischen Gipfel und Niederung erwachen, und welchen das Oben +wie das Unten gleich unbekannt und gleichgültig bleibt. Aus der Tiefe +steigen die Befreier der Menschheit; und wie die Quellen aus der +Tiefe kommen, das Land fruchtbar zu machen, so wird der Acker der +Menschheit ewig aus der Tiefe erfrischt. O Vater, der Mensch hat doch +nichts Besseres als dies schmerzliche Streben nach Oben, ohne dasselbe +bleibt er immerdar Erde von Erde genommen, in demselben und durch +dasselbe richtet er sich aus aller Leibeigenschaft des Staubes auf, +in demselben reicht er, wie wenig es auch sei, was er erlange, allen +himmlischen Mächten die Hand, in demselben steht er auf der winzigsten +Scholle in dem engsten Kreise als Herrscher des unendlichsten Gebietes +da, als Herrscher seiner selbst. Auch der Zweifel ist ja Gewinn in +seinem Leben, und der Schmerz ist so edel -- oft edler als das Glück, +die Freude.« + +Auch die Worte Jakob Böhmes, welche Raabe zitiert, sind für den Geist, +der das Buch durchweht, für den Hunger, den der Dichter schildern +will, charakteristisch: + +»Denn das ist der Ewigkeit Recht und ewig Bestehen, daß sie nur +~einen~ Willen hat ..... Sie stehet wohl in viel Kraft und +Wundern, aber ihr Leben ist nur bloß allein die Liebe, aus welcher +Licht und Majestät ausgehet. Alle Kreaturen im Himmel haben Einen +Willen, und der ist ins Herze Gottes gerichtet und gehet in Gottes +Geist, wohl im Centro der Vielheit, im Wachsen und Blühen; aber Gottes +Geist ist das Leben in allen Dingen.« + +Wie nennen wir die beiden Anschauungen, die da so scharf einander +gegenüber stehen? Man kann sie Materialismus und Idealismus nennen. +Aber der Idealismus trägt in sich Liebe und Ewigkeit. Wird nun der +»Hungerpastor« nicht eben dadurch zum Zeitroman? Ist er nicht das +gerade Gegenstück zu dem später geschriebenen Heyseschen »Die Kinder +der Welt«? Mag sein, daß man ihn auch dem Zeitroman zurechnen kann. +Mehr gehört er doch zum Stimmungsroman. Er bringt nicht Gedanken, +nicht Weltanschauungen, und nicht Systeme. Er schildert nicht Zeiten +und nicht Menschen besonderer Zeiten. Er will den Hunger der Seele +beschreiben, der von jeher in ihr war und der immer in ihr sein wird, +er gehört nicht einer Zeit, sondern allen Zeiten. Es schwebt über ihm +zu viel poetischer Hauch, zu viel Schimmer der Ewigkeit; und es ist +weiter zu wenig nüchternes Nachspüren nach all den Winkelgängen der +Zeitgedanken. Darum gehört er trotz alledem nicht zu Freytag und nicht +zu Heyses »Kindern der Welt.« -- + +Stimmung! Wo fänden wir sie außer bei Raabe besser in voller Pracht +als bei ~Theodor Storm~? Ein Schleswiger ist Storm; zu Husum +erblickte er 1817 das Licht der Welt. Schleswigsche Landschaft +spricht in seinen Schöpfungen mit: das Land, die Ebene und nicht +zuletzt das Meer, ja das weite, weite, tosende Meer. Novellen haben +wir von ihm, aber keine Romane. Warum? Weil in ihm noch viel stärker +entwickelt war, was doch auch Raabes Romane von den andern abhebt, +jener Drang, der weniger auf Schilderung ausgeht, auf feine Zeichnung +eines Weltbilds in künstlerischer Form, als vielmehr auf den Ausdruck +dessen, was gerade die Seele bewegt, der lyrischen Stimmung. Ganze +Novellen sind nichts als Gedichte, ein wenig ausgeführter und in +Prosaform, aber eben Gedichte. + +Aber auch diese alles beherrschende Stimmung kann recht verschiedene +Nuancen haben. Nicht alle, nur einige dieser Nuancen möchte ich +aufzuweisen versuchen, jede an einer einzelnen Novelle. Ich wähle +zuvörderst »~Immensee~«, seine erste Novelle (1852), das +Beispiel reinster Stimmungsdichtung in der Farbe herzinniger Wärme +und zugleich sich bescheidender Resignation. Eine Kinderliebe wird +geschildert. Reinhard und Elisabeth sind einander zugetan. Wunderbar +zart ist diese Liebe beschrieben; es liegt ein Hauch darüber, den +man zu zerstören fürchtet, wenn man es nur wagt, mit knappem Wort +Einzelnes herauszuheben. Wer »Immensee« gelesen, erinnert sich wohl, +wie Reinhard und Elisabeth im Wald Erdbeeren suchen gehen. Wunderbar +lieblich, nicht wahr? Wenn Raabe an Jean Paul gemahnte, hier ist +etwas vom Geist Eichendorffs zu spüren. Fast kommts zur Verlobung, +da die Kinderliebe auch die Reifenden verbindet. Aber dann reicht +Elisabeth doch dem anderen Bewerber die Hand. Warum? Mancher Dichter +würde hier in die Posaune der Leidenschaften gestoßen haben; das Thema +ist so dankbar, daß es sich mancher für große Worte und wuchtige +Wirkungen auserkoren hat. Ganz anders Storm. Es ist ja ein Greis, +der seine Jugenderinnerungen Revue passieren läßt, ganz wie in der +»Chronik der Sperlingsgasse.« Und so verliert die Erzählung nirgends +das Abgeklärte, Ruhige und Stille. Vielleicht bleibts in ihr sogar +~zu~ still. Fragen werden nicht beantwortet, die jedem Leser in +den Sinn kommen. Warum läßt Reinhard seine Elisabeth über Jahr und +Tag ohne Lebenszeichen, ohne Gewißheit? Kurz, sie gibt dem Drängen +der Mutter nach; der andere hat Hab und Gut und auch Liebe. Dann aber +kommt nach geraumer Frist auch Reinhard in der Vermählten Haus; und +nun erst merken beide, wie schwer es ihnen ist, sich nicht zu haben. +Das Ende ist Reinhards Scheiden und Verzicht; aber wie tiefe Wehmut +klingt über dem Ende das Lied: + + Meine Mutter hats gewollt, + Den Andern ich nehmen sollt; + Was ich zuvor besessen, + Mein Herz sollt es vergessen, + Das hat es nicht gewollt. + + Meine Mutter klag' ich an. + Sie hat nicht wohl getan. + Was sonst in Ehren stünde, + Nun ist es worden Sünde. + Was fang ich an! + + Für all mein Stolz und Freud + Gewonnen hab ich Leid. + Ach wär das nicht geschehen. + Ach könnt' ich betteln gehen + Über die braune Haid'! + +Nicht überall ist Theodor Storm so rein und so stark lyrischer Dichter +wie in dieser und in ähnlichen Novellen. Es gibt andere, in denen +schweigt der Dichter nicht, aber er hat nur sorglich geordnet und fein +gestaltet, was bitterer Lebensernst ihm vorgeschrieben. Wohl war auch +in »Immensee« Ernstes und Trübes, aber es drückt dort nicht; das Leben +ist zum Gedichte geworden. Anders z. B. in »~Carsten Curator~.« +Das ist die Geschichte eines braven, redlichen Mannes; der hatte +als treuer Curator vieler Unmündigen und Unfähigen Geschäfte sicher +geführt und war nur einmal in seinem Leben in der Leitung seiner +eigenen Geschäfte unsicher geworden, das war damals, als er einen +ungleichen Bund mit einem schönen Mädchen schloß, das zum Grundzug +des Herzens den Leichtsinn hatte. Juliane hatte ihn in kurzer Ehe in +manche Not gebracht; dann starb sie. Aber ein Kind hinterließ sie ihm, +das war nach der Mutter geschlagen. Der Sohn wuchs heran und hatte +des Vaters ganze Liebe, aber er lohnte sie durch Leichtfertigkeit und +Schuldenmachen. Ohne viel Worte kommt zu ergreifendem Ausdruck das +Leid, das der Vater um den Sohn trägt, dem er die Hilfe doch niemals +versagen mag. Auch die Pflegetochter, sein Liebstes nach dem Sohn, +opfert sich und ihre Habe dem Pflegebruder, den sie liebt. Das Unheil +läßt sich trotzdem nicht aufhalten; der Leichtsinn führt den Bankrott +herbei und endlich, am Tag, da die Schleuse gebrochen ist und die Flut +sich durch die Gassen wälzt, bringt ihn Leichtsinn oder Absicht oder +beides zusammen in den Tod. Der Vater aber findet mit der verwitweten +Pflegetochter eine gemeinschaftliche Heimat für seine letzte schwere +Zeit -- dort, wo die letzten kleinen Häuser mit Stroh gedeckt sind. + +Wir finden auch in dieser Erzählung manche Seite, über der feinster +dichterischer Stimmungsreiz liegt. Aber es ist in ihr längst nicht +soviel Schilderung, nicht soviel beschauliches Ausruhen, nicht soviel +Schwelgen in Empfindung und Gefühl. Wohl grüßt uns traut das alte +Haus an der Twiete, das schmale Wohnzimmer mit dem Alkovenbett, +in dem Vater und Mutter des Hausherrn zum letzten Schlummer +sich niedergelegt, mit der Silhouette von Carstens einfachem, +sittenstrengem Vater. Wohl klingt es wie Jugendlust, wenn von dem +Birnbaum die Rede ist, der die Freude der Nachbarskinder und zugleich +eine Art Familienheiligtum war. Aber solche Stimmungsbilder bleiben +vereinzelt; hier redet das Leben selbst eine deutliche, ernste +Sprache. Hier sinds nicht die Worte, sondern die Geschehnisse, welche +das Herz bewegen. Wohl spielt auch hier die Landschaft ihre Rolle; +die Flutgefahr gestaltet die letzte Szene dramatisch bewegt; aber +hier ist kein romantisches Träumen in Wald und Feld, am See und +auf der Heide: Menschen nur und Taten, welche diese Menschen tun, +beherrschen Szene um Szene. Auch hier ist Herzenswärme, innige Liebe, +nachwirkende Leidenschaft; aber von alledem wird wenig gesprochen; nur +die Taten zeugen davon. Und so sind denn auch diese Taten nach Motiven +und Folgen, diese Menschen nach Anlagen und Charakteren schärfer +herausgearbeitet als beispielsweise in »Immensee.« Hier haben sich +Wirklichkeit und Stimmung vermählt, und keins von beiden hat dabei +gelitten. + +Und nun zudritt und zuletzt eine knappe Skizze von Storms letzter +Novelle »Der Schimmelreiter.« War der Grundton von »Immensee« +träumerisch, der von »Carsten Curator« realistisch-ernst, so klingt +im »Schimmelreiter« noch eine ganz andere Folge von Tönen an; die +Novelle neigt nach dem Phantastischen, ja nach dem Schauerlichen +hin. Gleich die Worte der Einführung versetzen in diese Stimmung. +Er habe, so erzählt er, die berichteten Ereignisse vor reichlich +einem halben Jahrhundert im Hause seiner Urgroßmutter in irgend +einer alten Zeitschrift gelesen. »Noch fühl' ich es, gleich einem +Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter +liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt.« Die Geschichte +führt an die Nordsee. Auf dem Deich, dicht am Wattenmeer, in später +Oktober-Nachmittagsstunde, strebt ein Reiter dem ersehnten Quartier +zu. Die gelbgrauen Wellen schlagen unaufhörlich mit Wutgebrüll an den +Deich hinauf. Schwarze Wolkenschichten machen es zeitweise pechfinster. + +»Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte +nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht +herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, +da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem +hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre +Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus +einem bleichen Antlitz an. + +Wer war das? Was wollte der? -- Und jetzt fiel mir bei, ich hatte +keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und +Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!« + +Nachher im Wirtshaus am Deich, wo des Hochwassers wegen Wacht gehalten +wird, hört er die Geschichte des unheimlichen Reiters. Hauke Haien ist +es, der Deichgraf. Eines kleinen Mannes Sohn, hatte Hauke es durch +zähen Fleiß und durch die Liebe der schönen Elke zum Nachfolger und +Schwiegersohn des reichen Deichgrafen gebracht. Ihm stehen große +Pläne vor der Seele. Einen neuen Deich will er bauen, ins Wattenland +hinein; durch den soll ein neues großes Stück Land vor des Meeres +Dräuen gesichert und der Benützung erschlossen werden. Das gewaltige +Werk gelingt; der neugewonnene Koog trägt des stolzen Hauke Haien +Namen. Aber sieh da! Wo der neue feste Deich an den alten stößt, +entsteht eine böse, gefahrdrohende Stelle. Bei wiederkehrender, +rasender Sturmflut wollen die Leute den neuen Deich, ~seinen~ +Deich durchstechen, um so sicher den alten Damm und das Hinterland zu +retten. Hauke verhinderts; aber der alte Deich birst wirklich, und die +Fluten brechen herein. Sein Weib kommt zu Wagen ihm, dem Deichgrafen +entgegen; die Fluten reißen Weib und Kind, Roß und Wagen dahin. So +reitet Hauke selbst auf seinem Schimmel in wahnsinnigem Entschluß in +die Fluten hinein. »Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Himmels, der +Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten aus dem hinabstürzenden +Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.« Seitdem reitet der tote +Hauke Haien auf seinem Schimmel bei jeder hohen Flut; und wohin er +reitet, dort bricht der Damm. + +Es ist nicht möglich, in ein paar Worten alle Hauptzüge der +reichbewegten Handlung anzudeuten: jene gespenstische Erscheinung +draußen auf der Hallig, ein Pferdegerippe, das doch in dunkler Nacht +Leben bekommt. Hängts zusammen mit dem abgetriebenen Schimmel, den +Hauke Haien von einem fremden Manne kauft und der dann in seinem Stall +ein stattliches Roß wird, -- das Roß, welches ihn nachher in die +stürmende Flut trägt? Das Kind, das ihm als das einzige geboren wird +und das zeitlebens ein Kind bleiben muß, weil Gott ihm den Verstand +versagt hat, ist es die Strafe für die Art, wie Hauke sein totkrankes +Weib von Gott erbetet hat: »Ich weiß ja wohl, Du kannst nicht +allezeit, wie Du willst, auch Du nicht; Du bist allweise; Du mußt nach +Deiner Weisheit tun -- o, Herr, sprich nur durch einen Hauch zu mir!«? + +So weben die Gewalten der Meereswogen und die abergläubischen +Meinungen der Küstenbewohner ein unheimliches Gebilde von Wirklichkeit +und Traum. Aber es sind keine sanften, ruhigen Träume, die hier +umgehen; hier ist alles groß, alles packend, alles grausenhaft. Die +rasch fortschreitende, meisterhaft zusammengefaßte Handlung erhöht +den Eindruck: ein Kunstwerk von phantastischer Schöne ist erwachsen, +dem doch der realistische Anhauch nicht fehlt; der Dichter selbst +gibt kritische Andeutungen, übrigens so fein, daß die Stimmung nicht +gestört, nur geklärt wird. + +Mit diesen drei Skizzen sind nicht entfernt alle Wandlungen der +dichterischen Stimmung beschrieben, die in Storms Novellen sich +finden. Wie er auch außer »Immensee« skizzenhafte, träumerische +Bilder geschaffen hat (z. B. »Psyche«, »Ein stiller Musikant«), so +auch solche, in denen das Leben selbst obenan steht (z. B. »Hans +und Heinz Kirch«, »Bötjer Basch«); aber in wieder anderen kommt +auch ein humoristischer Zug zur Geltung, der (z. B. »Die Söhne des +Herrn Senator«) freilich auch wieder von tiefem Ernst begleitet +ist; und mehr als eine seiner Novellen greift in die Schatzkammern +der Geschichte, um längst vergessene Zeiten zum Reden zu bringen. +Überall bleibt Storm im kleinen Rahmen; das einzelne Menschenschicksal +beschäftigt ihn; der Zeiten Gewoge berührt ihn nicht. Er ist nicht +Politiker und nicht Dogmatiker, er kennt nicht den Trieb, zu agitieren +oder zu meistern, abzubilden oder zu kritisieren, -- er dichtet, aber +er webt in sein Dichten treu des Menschenherzens echte Art hinein. + +Raabe und Storm! Sind wir damit am Ende? Jener warme Hauch lyrischer +Empfindung, der über ihren Dichtungen liegt, ist allerdings in +den Schöpfungen anderer aus dem Ende des 19. Jahrhunderts selten +zu finden. Oder, wo er sich zeigt, ist er doch mehr Zugabe als +beherrschendes Element. Aber lassen Sie mich noch einen Erzähler Ihnen +nennen, bei dem dies eigentümliche Etwas, das wir »Stimmung« nennen, +nicht immer, aber jezuweilen so stark wird, daß man ihn dann wohl +neben Raabe und Storm stellen kann: ~Peter Rosegger~. Manches, +was er geschaffen, kommt in anderem Zusammenhange zur Sprache; man +kann ihn ja zugleich unter die Vertreter der Heimatkunst, ja des +Naturalismus rechnen; und sogar dem Symbolismus läßt sich sein +»Gottsucher« zuzählen. Aber in diesem letztgenannten Buch, dazu in +ähnlichen kommt auch Stimmung, lyrische Stimmung zum Durchbruch. Noch +stärker geschieht das, und zwar hier in beherrschender Weise, in den +von Stifter beeinflußten »~Schriften des Waldschulmeisters~.« +Auch hier liegt ein ~Gedanke~ zu Grunde; die Lyrik macht den +Erzähler nicht tot. Verlassen hausen die Waldleute in einsamem Tal, im +»Winkel.« Nach dem Felstal zu, meinen sie, sei die Welt mit Brettern +vernagelt. Nach der Ebene zu kommen sie selten. Stundenweit ist die +nächste Kirche; die Waldleute lassen nur die Mädchen dort taufen, die +Buben nicht, damit sie nicht erst registriert und später fürs Militär +gesucht werden. Was ist ihnen Kirche? Was Schule? Sie kümmern sich um +keinen und keiner kümmert sich um sie. Sie sind hergezogen von Aufgang +und Niedergang -- wesweg', das weiß der Herrgott. Zumeist sind es wohl +Bauersleut' von den vorderen Gegenden herein, die sich in die Wälder +geflüchtet haben, um der Wehrpflicht zu entrinnen. Gibt auch Gesellen +unter ihnen, denen man in der dunklen Nacht nicht gerne begegnet. +Wildschützen sind sie alle ..... Beweibet sind die meisten, aber jeder +hat die Seine nicht vom Traualtar geholt. In dies Tal »im Winkel« +kommt durch den jungen Waldschulmeister langsam und mühsam Ordnung und +Sitte, Kirche und Schule, kurz alles das, was wir »Kultur« nennen. +Jahr um Jahr bleibt er dort bei den Waldleuten, Jahr um Jahr freut er +sich am Erfolg seines Tuns, Jahr um Jahr trägt er mit den Waldleuten +Mühe und Arbeit, Freud und Leid. Aber es kommt die Zeit, wo die Leut' +ihn bei Seite schieben, wo er dem neuen jungen Pfarrer nicht mehr +genug tun kann, und wo der Dechant, nachdem er die Schule visitiert, +ihn beim Fortgehen nicht gesehen hat. + +»Und seit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr aus diesen Wäldern +gekommen. + +Und die Waldleute entstehen, leben und vergehen dahier und steigen in +ihrem ganzen Lebenslauf nicht ein einzigmal auf den Berg, wo man die +Herrlichkeit kann sehen, und am hellen Wintertag das Meer. + +Das Meer! Wie wird es da leicht und weit im Herzen! Dort zieht ein +Kahn, steht ein Jüngling darin, der winkt ....« + +So ist er denn am Christtag hinaufgestiegen auf die Spitze des grauen +Zahns, hoch über den Gletschern. Und dort oben ist er geblieben. Man +findet bei dem Toten nur ein Stück Papier mit den wenigen Worten: + +»Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer gesehen und das +Augenlicht verloren.« -- + +Dieser Gang der Erzählung ist klar und deutlich innegehalten. +Es ist kein romantisches Träumen, was in dem Buche regiert; die +Umrisse des wirklichen Lebens sind überall scharf gezeichnet. Auch +hier fehlt realistische, ja naturalistische Derbheit nicht. Auch +Gefühlsschwärmerei treibt der Waldschulmeister in seinen Schriften +nicht; er erzählt von nichts als vom Leben, vom wirklichen Leben und +von der wirklichen Welt. Und dennoch -- welche Stimmung über dem +Ganzen! Urwaldfrieden umfängt uns, frische urtümliche Schöpfung umwebt +uns. »Wie er einzieht durch die Augen und Ohren und all die Sinne, +der liebe, der schöne Wald, so mag ich ihn genießen,« schreibt der +Waldschulmeister. Wie läßt er ihn uns mitgenießen! Kaum Schöneres +in unserer Literatur als diese Schilderung des Urwaldfriedens: +»Urwaldfrieden, du stille, du heilige Zuflucht der Verwaisten, +Verlassenen, Verfolgten -- Weltmüden; du einziges Eden, das den +Glücklosen noch geblieben!« -- Auch jeder der anderen Abschnitte ist +ein prächtiges Kabinettstück urechter Stimmung. Bei den Hirten -- zur +lieben Sommerszeit ist es da oben gut sein. »So sind sie denn gut und +froh, und ich, -- wahrhaftig und bei meiner Treu, ich bins mit ihnen.« +-- Anders bei denen, die buchstäblich von der Erde, von dem Gestein +heraus ihr Brot graben. Von den Bäumen schaben sie es herab, aus dem +alllebendigen Ameishaufen wühlen sie es empor, -- die Waldteufel. -- +Wunderbar ists im Felsentale, wo allein noch die Kiefer kampfesmutig +die steilen Lehnen hinanklettern will, um zu wissen, wie es da oben +aussieht bei dem Edelweiß, bei den Alpenrosen, bei den Gemsen. Aber +die gute Kiefer ist keine Tochter der Alpen, balde faßt sie der +Schwindel und sie bückt sich angstvoll zusammen und kriecht mühsam +auf den Knien hinan, mit ihren geschlungenen, verkrüppelten Armen +immer weiter vorgreifend und rankend, die Zapfenköpfchen neugierig +emporreckend, bis sie letztlich in den feuchten Schleier des Nebels +kommt und in demselben planlos umherirrt zwischen dem Gestein. + +Aber es ist nicht bloß ~Natur~stimmung, was hier regiert. Viel +mehr als in Stifters Studien, die Rosegger beeinflußt haben, pulsiert +hier warmes, lebendiges Leben: die Menschen werden lebendig! Die +Hirten wie die Waldleute, die Holzer dazu, der Pecher und der schwarze +Mathes und der seltsame Einspanig, der Berthold und die Aga und wie +sie alle heißen. Aber keins für sich, keins bloß in seiner Menschheit, +jedes als Teil der Waldgemeinde im Winkel, als Kind der Einsamkeit, +als Schöpfung des Tals da droben, an das niemand in der Welt denkt. +Stimmung regiert -- einheitliche, wunderbar naturwüchsige Stimmung. +Nachempfinden kann sie nur, wer sie selber einmal empfunden hat, +in einem stillen Alpental, wo die Bäche rauschen, wo der Wald uns +umfängt, wo die Berge zum Himmel ragen, wo die Menschen die Art ihrer +Heimat tragen .... + +Sind wir nun mit dieser Stimmungsdichtung wieder in den Bereich der +Romantik gekommen? Sind die Raabe und Storm die einfachen Fortsetzer +der Linie Novalis -- Eichendorff -- Hoffmann? Keineswegs. Mag man sie +als Neuromantiker bezeichnen, -- eben das Neue in dieser Romantik ist +doch stark genug, um ein ganz anderes Urteil über diese Erscheinungen +zu rechtfertigen als über diejenigen der älteren Romantik. Dies +charakteristische Neue liegt in dem realistischen Einschlag, besser +noch: in der durchaus realistisch gefaßten Grundlage aller dieser +Romane und Novellen. Raabe, Storm, Rosegger und ihre Genossen +haben die Dinge dieser wirklichen Welt stimmungsvoll angesehen und +stimmungsvoll geschildert. Aber sie haben nie, wie ihre romantischen +Vorgänger, die Gesetze dieser Welt außer Geltung gesetzt, nie bloß +träumend geschaute himmlische Gefilde beschrieben. Ich deutete schon +an, daß selbst der phantastische »Schimmelreiter« die kritischen +Ansätze selber bietet. Die übrigen Novellen Storms mögen manchmal die +harten Lebenserfahrungen, die schweren Kämpfe, die bitteren Stunden, +die Nachtseiten des Lebens ein wenig abgemildert darstellen, -- mit +der Wirklichkeit selbst kommt er nie in Streit. Von Raabe gilt das +erst recht. Sogar die »Chronik der Sperlingsgasse« gibt überall +natürliches Leben. Somit hat auch diese Stimmungsdichtung sich dem +beherrschenden Grundzug der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht +entzogen; auch sie hat der Wirklichkeit ihr volles Recht gegeben. Ja +sie wird eben dadurch zum glänzendsten Beweis für den ~überall~ +durchdringenden Wirklichkeitssinn. Und darum bezeichnet diese +Dichtung keinen Rückschritt, erst recht keinen Rückfall. Vielmehr +stellt sie nur eine besondere Art dar, die Wirklichkeit anzuschauen: +mit poetischer Kraft, mit sinnendem Bedenken, mit starkem Mitempfinden. + +Es sind ja nur kleine Miniaturbildchen aus dem großen Weltbild, +welche Storms Novellen zeichnen. Raabe gibt größere Bilder; aber +auch sie können sich hinsichtlich der Weite und Breite nicht mit den +Zeitromanen messen. Indes was diese Dichtung weniger beiträgt zur +umfassenden Kenntnis des Weltbereichs, das trägt sie mehr bei zur +inneren Durchdringung, zum tiefgreifenden Verständnis desselben. + +Und so grüße ich auch diese Dichter, die in der Erzählung den Leser +über ruhig-nüchterne Betrachtung, über Kampf und Streit hinausheben, +die Dichter, die unser Volk auf die Höhe feinsinnigen Verständnisses +des Weltgeschehens führen und die den Brunnquell deutschen Gemüts +ausschöpfen! + + [Illustration] + + + + + Der naturalistische Roman. + + +Naturalismus! Was bedeutet das eigentlich anders als engste Fühlung +mit der Natur, mit der Wirklichkeit des Lebens? Und bestand +diese Fühlung zwischen dem deutschen Roman und der Wirklichkeit +nicht bereits, seitdem die abenteuerlichen Schauerromane und die +empfindsamen Moralgeschichten aufgehört hatten, als der Inbegriff +des Romans zu gelten? Seit Goethe fest und klar dem Leben, wie es +ist, ins Angesicht geschaut? Wahrlich, dieser Wirklichkeitssinn ist +dann lebendig geblieben, so wenig die romantische Strömung ihm zuerst +entgegenkam. Selbst die Stimmungsdichtung, von der wir im letzten +Vortrag gesprochen, fußt auf realen Fundamenten. + +Und dennoch bleibt ein gewaltiger Unterschied zwischen +Wirklichkeitssinn und Naturalismus. Wie verschieden kann man die +Wirklichkeit ansehen! Es geht einer dahin über duftende Wiesen, durch +grünenden Wald. Frühlingssonne scheint ihm ins Herz hinein. Wie er +dem nächsten Hofe sich naht, grüßt ihn der behäbige Bauer, dem die +Freude über den Besitz auf der Stirn geschrieben steht, -- lächelt +ihn ein herziges Mägdelein an, mit roten Wangen und frischem Blick. +Wirklichkeit? Ja, kann das nicht Wirklichkeit sein? + +Oder es schaut der ernste Mann hinein in den Gang regelmäßiger +Arbeit. Er sieht, wie sie schaffen, die Männer des Kontors, -- und er +sieht, wie sie in rüstiger Arbeit, in gutem Erfolg, in gemessener, +geordneter Erholung ihre Freude haben. Er sieht, wie das wohlgefügte +Familienleben die einzelnen Glieder hebt und trägt. Wirklichkeit! Ja, +ist das nicht Wirklichkeit? + +Aber ein anderer sieht das Leben anders an. Er sieht in die Welt -- +da begegnet ihm das Elend. Er sieht in das Haus -- da schaut er Risse +und Sprünge im Bau der Familie. Er sieht auf die Straßen -- und der +Menschheit ganzer Jammer faßt ihn an. Er sieht in die Herzen -- und er +findet die Sünde, die Schuld oder, wenn ihm der Name nicht recht ist, +-- er findet Furchtbares, Entsetzliches. + +Wie jener Erste und wie der Andere -- so haben die deutschen Erzähler +das Leben längst angesehen, ehe denn das Stichwort »Naturalismus« +emporkam. Erst als ihrer etliche lernten, es mit den Augen des +Dritten anzusehen, erst da hat man diesen Namen gebraucht. Sie haben +es übrigens nicht aus sich gelernt. Oder wenigstens, Mode ward der +Naturalismus, die Darstellung der unverschleierten Wirklichkeit auch +nach ihrer häßlichen oder gar vorwiegend nach ihrer häßlichen Seite, +erst durch ausländische Einflüsse; ich brauche nur zwei Namen zu +nennen: Zola und Tolstoi. Allerdings, ~daß~ es so kam, ist im +letzten Grund nicht auf willkürliche äußere Einflüsse zurückzuführen. +Es ~mußte~ so kommen. Auch das Häßliche gehört nun einmal +zur Wirklichkeit. Wenn der Grundsatz: die Wirklichkeit schildern! +durchdrang, so war der Naturalismus notwendig geworden. Er hat in +diesem Grundsatz sogar seine ~Berechtigung~. + +Allerdings: auch innerhalb dessen, was »Naturalismus« heißt, kann +es wieder sehr verschiedene Stufen geben. Jenachdem man eben das +Häßliche, ohne es zu ignorieren, in den Hintergrund schiebt oder es +aufdringlich hervortreten läßt oder es gar zum alleinigen Inhalt +macht. Schon ~Immermanns~ »Oberhof« hatte naturalistische +Partien; Jeremias ~Gotthelf~ ist Naturalist durch und durch, +und mehr als einer hat es ihm arg verdacht, daß er für manchen +bedenklichen ländlichen Brauch, für manche den verfeinerten Geschmack +etwas roh anmutende Einzelheit kein wohltätiges Schleierchen gehabt +hat. Aber bei ihm traten ~diese~ Seiten des Lebens nie in den +Vordergrund. Er ließ nichts weg, er beschönigte nichts; aber er gab +dem Unschönen und Unsittlichen nie mehr Raum, als das Leben ihm gibt. +Und -- er erzählte es mit sittlichem Urteil. + +An Gotthelfs Art läßt sich am besten auch die Schilderung des +moderneren Naturalismus aus der zweiten Hälfte, ja dem letzten Viertel +des 19. Jahrhunderts anschließen. Denn wie bei ihm, so verbindet +sich auch hier der Naturalismus großenteils mit ~Heimatkunst~. +Cäsar ~Flaischlen~ erklärte es 1894 für erforderlich, daß »die +engere Heimat mit ihrer Stammeseigenart der stete Nährboden bleibe, +aus dem sich unser ganzer deutscher Volkscharakter zu immer neuer +Kraft, zu immer reicheren Entfaltungen und zu immer vielseitigerer +Einheit emporgestalte.« Die so verstandene Heimatkunst ist aber +nicht notwendig naturalistisch im fortgeschrittenen Sinn. Sie legt +ihrer ganzen Art nach ein großes Gewicht auf den Sondercharakter der +Landschaft und des Stammes. Jede Landschaft, jeder Stamm ist ihr um so +herzlicher willkommen, je ausgeprägter sein Sonderleben, je weniger +abgeschliffen sein Eigengefühl ist. Wenn Theodor ~Storm~ die +Küste am Meer, die schwermütige Ebene im deutschen Norden in seine +Novellen hineinragen läßt, wenn er den besinnlichen, tiefgründigen +Charakter, den das Land dort seinen Bewohnern gibt, immer wieder +zur Darstellung bringt, so ist das Heimatkunst. In seinen Novellen +kann diese Kunst keine ausgeführteren Bilder schaffen; und Storm, +dem poetische Stimmung über alles geht, erzählt von der Heimat +nicht alles. Das Häßliche bleibt fern. Aber auch größere Bilder +gibt die Heimatkunst, ohne prononciert naturalistisch zu werden, +und kleinere Bilder stimmt sie noch schärfer auf Sitte und Brauch. +Beides trifft zu bei Heinrich ~Sohnrey~, dessen Zeitschrift +»Das Land« diese Kunst mit Liebe verficht. Sein »Die Leute aus der +Lindenhütte«, seine kleinen Geschichten »Die hinter den Bergen« lassen +das hannoversche Land, dem der Autor entstammt, lebendig werden. +In seiner schlicht-einfachen Art, die das Grübelnd-Moderne in der +psychologischen Auffassung nicht kennt, scheidet er sich allerdings +von den meisten anderen neuzeitlichen Vertretern der Heimatkunst. + +Von hier aus bis zu denjenigen Erzählern, die ihrer Heimatkunst einen +rückhaltlos naturalistischen Einschlag geben, ist nun eben nur ein +Schritt. Hier sind zwei Österreicher zu nennen: Peter ~Rosegger~ +und Ludwig ~Anzengruber~, beide freilich wieder unter einander +verschieden. Wenn ich ~Rosegger~ hier nenne, so denke ich nicht +an den Stimmungsdichter der »Schriften des Waldschulmeisters«, auch +nicht zuerst an den Problemdichter der größeren Romane -- als solcher +wird er uns noch einmal begegnen --, nein, mir stehen dabei jene +seiner vielen Schriften vor Augen, in denen die steirische Heimat +das einzig Herrschende ist. Sie sind ja nicht alle von gleichem +Wert; wie könnte dem vielschreibenden Mann jeder Wurf zu gleicher +Vollendung ausreifen? Die kleineren Geschichtensammlungen tragen alle +diese Art, aber auch von den größeren verleugnen manche sie nicht: so +»Heidepeters Gabriel«, so auch »Jakob der Letzte« und das historische +»Peter Mayr, der Wirt an der Mahr.« Zwei Haupteigenschaften +charakterisieren diese naturalistische Heimatkunst Roseggers: einmal +die liebenswürdige Frische, sodann die natürliche Derbheit der +Erzählung. Die liebenswürdige Frische nimmt unwillkürlich gefangen; +selbst den schwächeren Geschichten gibt sie einen eigentümlichen Reiz. +Die Naturfarbe wirkt mit der herzgewinnenden Offenheit, das sich +offenbarende warme, gemütstiefe Empfinden mit kräftig gesundem Urteil +zusammen, um den Leser immer aufs neue zu erfreuen. Die Derbheit aber, +welche sich mit der Liebenswürdigkeit paart, wirkt bei Rosegger +rein ländlich-natürlich. Es ist eine ähnliche Derbheit, wie sie +auch bei Fritz ~Reuter~ manchmal durchbricht, die Derbheit des +Naturkindes. Sie wird nirgends roh, aber auch nirgends raffiniert und +sie geht niemals ins Einzelne. Sie sucht nicht sonst Verschleiertes, +sondern sie erzählt offen, was bei dem einfachen Volk der Berge, das +keine Prüderie kennt, offen besprochen zu werden pflegt. Wir haben +hier die Verbindung von Heimatkunst und natürlichem Naturalismus. +Anders schon zeigt sich die Verbindung von Heimatkunst und +Naturalismus bei ~Ludwig Anzengruber~. Der hat sich selber als +»Realistiker« gezeichnet, als er den zweiten Band seiner »Dorfgänge« +einleitete. Nur ein paar Sätze aus dieser Schilderung können hier +wiedergegeben werden. »Ein solcher« (Schriftsteller), so schreibt er, +»glaubt der Wirkung seines Stoffs im vornhinein sicher zu sein, wenn +er alle seine Gestaltungskraft an das Kleine und Kleinliche aufwendet, +und er will es dabei eingedenk bleiben, daß selbst die schmutzige +Scholle ein Stück der Allernährerin Erde sei ....... Er erspart uns +keinen Schrei wehen Jammers, er erspart uns kein Jauchzen wilder Lust. +Er stößt das Elend, das um Mitleid bettelt, nicht von der Ecke, er +jagt den Trunkenbold, der alle belästigt, nicht von der Straße, alles, +was er bei solchen unangenehmen Begegnungen für euch tut, ist, sie +abzukürzen, nachdem ihr aber doch den Eindruck einmal weghabt. Tugend +und Laster, Kraft und Schwäche führen bei ihm ihre Sache in ihrer +eigenen Weise. Er will das Leben in die Bücher bringen, nachdem man es +lange genug nach Büchern lebte ....« + +Diese wenigen Worte geben natürlich nicht den ganzen Anzengruber. +Gleich ihre Fortsetzung proklamiert den Realistiker als den »Priester +eines Kultus, der nur eine Göttin hat, die Wahrheit,« aber sie spricht +ihm auch das Recht der Stimmung und der Deutung zu: »Er bringt die +Sterbenden aus dem Gelärm des Tages und bettet sie in heiliger Stille, +er flüstert vertraut mit ihnen über alte Erinnerungen, damit sie dem +Sonnenlichte nicht fluchen, zu dem sie einst erwachten, und er deutet +ihnen leise all diese Schauer und Krämpfe als die letzten Anrechte +allen und jeden Schmerzes an sie, damit sie die Nacht nicht fürchten, +in welche sie jetzt eingehen sollen, langsam, mählich, wie die Pulse +verrollen, der Atem stockt, das Herz stille steht ....« Aber es ist +besser, wir machen uns seine naturalistische Heimatkunst praktisch +klar, indem wir eins seiner Werke genauer ansehen. Wählen wir nicht +die »Dorfgänge«, aber noch weniger die minder charakteristischen +Kleinigkeiten wie »Gefabeltes von irgendwo und nirgendwo«, sondern +sein erzählendes Hauptwerk, das neben den Dramen ihn am deutlichsten +charakterisiert, die Dorfgeschichte mit dem Titel »~Der +Sternsteinhof~.« + +Es ist die Geschichte eines weiblichen Charakters. Rechtschaffen +sauber ist die Zinzhofer Helen', aber arm, ganz arm. Da hat der +häßliche Kleebinder Muckerl an ihr Gefallen gefunden, und vom Ertrag +seiner Herrgottsschnitzerei hat er ihr schöne Geschenke gemacht. +Sie hälts mit ihm, aber ihre Pläne gehen höher hinaus. Sie weiß +die Aufmerksamkeit des jungen Bauern vom großen Sternsteinhof zu +erwecken und durch geschickte Zurückhaltung ihm ein schriftliches +Eheversprechen abzugewinnen. Bis dann doch die Stunde kommt, da des +reichen Anbeters Zudringlichkeit ihre Zurückhaltung besiegt. Nun hat +sie verspielt; der junge Bauer will sie wohl heiraten, aber der Alte +gibts nicht zu, und sie muß froh sein, daß Muckerl, der Gute, durch +eilige Ehe ihr die Schande erspart. Auch der junge Bauer heiratet +-- ein reiches Mädchen, das von der Geburt des ersten Kindes an +schwer kränkelt. Er träufelt nun Gift in Helenes Herz: sie wollen +noch einmal zusammen gehören, und wenns ein Verbrechen koste. Kein +Verbrechen braucht es dazu; dem Muckerl, der nie stark gewesen, +gibt die Entdeckung, daß sein Weib ihn hintergehe, den Rest; und die +Bäuerin stirbt auch. Helen' erreicht ihr Ziel: sie wird die Herrin vom +Sternsteinhof. Freilich nicht lange an ihres Bauern Seite; der bleibt +im Feldzug. Nun lebt sie ganz für ihre Kinder. + +Die Geschichte eines Charakters: denn das ist ihre größte Kraft, daß +sie alle Wandlungen im Wesen der schönen Helen' mit psychologischem +Tiefblick darlegt. Wie sie gern davon hört, daß sie die allersäuberste +wär' im ganzen Landviertel! Wie sie nimmt, was der schieche +Muckerl ihr schenkt, ohne daß doch ihr Herz etwas von Dank wüßte! +Wie sie die Netze auswirft nach dem reichen Bauernsohn! Wie sie +lavieren kann, ums mit keinem zu verderben! Und nachher, welche +ergreifenden Seelenbilder: der Fußfall der Entehrten vor dem alten +Sternsteinhofbauern, bei dem sie sich tief demütigt und doch stolz +bleibt, -- der dankbare Jubel, wie Muckerl ihr auch jetzt noch die +Hand zur Ehe reicht: »da schwingt sie sich flink über das niedere +Gatter, das sie trennt, und nun hing sie an seinem Halse und preßte +die dürstenden Lippen auf die seinen und er taumelte unter ihrer +Last, wie trunken von ihren Liebkosungen.« Dann die Beichte vor der +Trauung mit der Angst, die Absolution nicht zu erhalten, mit dem +Nachklang in ihrem Herzen: »Das war gestern eine Beicht' gewesen! Ei +wohl, eine schwere, harte Beicht'. Gott sei Dank, daß es überstanden +war!« Und weiter jene nächtliche Szene, in welcher die Versuchung, +welche das Wort des Sternsteinhofbauern in die Seele gestreut, in ihr +Leben gewinnt: »Ewig lebt keiner, doch überlang mancher. Was g'schah' +dann? Das find't sich! .... und dann flüsterte, wisperte und raunte +es ihr zu: Tu's -- tu's -- tu's -- es find't sich -- es find't sich!« +Es ließen sich diesen Bildern leicht noch andere anfügen: Helene und +ihre Mutter, die alte goldgierige, vorschubleistende Zinzhoferin; +Helene und der alte Sternsteinhofbauer, der ihr gram bleibt, bis +sie nach dem Tod des jungen Bauern auch ihm wieder gute Tage gibt. +Ein hartes Herz ists, dessen Geschichte beschrieben wird. Schönheit +bringt Gefahr! Nur hoch hinaus! Was tut ihr die Liebe des Häßlichen? +Was nachher die unendliche Treue des Großmütigen? Ihr gilts nur ihr +Ziel. Und schließlich hat sie doch als die reiche Bäuerin die hohe +Achtung der ganzen Gegend. Die anderen, denen sie grauses Herzeleid +angetan, bedauert niemand. »Anders aber, wenn Helene stirbt, nicht nur +ihrem eigenen Kinde wird das Herz schwer werden, auch das fremde wird +ihr heiße Tränen nachweinen, die Armen in der Umgegend und alle Jene, +die gewohnt waren, freundnachbarlich sich Rat und Tat zu erbitten, +wird der Tag bedrücken, an welchem der Tod die Bäuerin hinwegholt vom +Sternsteinhofe.« + +Noch manches andere steht im »Sternsteinhof«, was Erwähnung verdiente. +Wie meisterhaft diese Unterredung, in welcher der alte Pfarrer den +jungen Kaplan die Herzen seiner Leute kennen lehrt! Man kann hier und +da die Empfindung haben, aufs Niveau der einfachen Dorfgeschichte +herabzusinken; aber die unerbittliche Klarheit der Seelenanalyse +zeigt immer wieder, daß die Geschichte über demselben steht. Der +Naturalismus ist hier scharfsinnig geworden; er ist nicht mehr bloß +natürlich-naiv. Unangenehme Szenen kürzt Anzengruber wirklich ab; +er wird nie pikant, dazu ist er viel zu ernst. Aber er erspart auch +nichts, vor allem kein Weh' und keine Sünde. + +Auf ~ländlichem~ Gebiet haben Anzengrubers Gestalten ihren +Heimatboden. Er gibt selber den Grund dafür an -- in einer +Nachbemerkung zum Sternsteinhof --: »weil der eingeschränkte +Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer +Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften, +rückhaltlos sich äußernd, verständlicher bleiben ....« Andere haben +doch die hiernach noch schwerere Aufgabe gewagt, auch in einen +Mechanismus hineinzusehen, »den ein doppeltes Gehäuse umschließt und +Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben.« Sie führen ins +Leben der ~Stadt~ und in die Herzen der Gebildeten. Heimatkunst +üben sie darum auch. Aber ist es nicht so, daß der Städter, daß der +Gebildete minder fest an der heimatlichen Scholle hängt, vor allem +minder nachhaltig durch sie bestimmt wird als der Landmann, der mit +ihr in steter, enger Verbindung bleibt? Man mag getrost auch hier von +Heimatkunst sprechen; aber der Begriff verliert, wo Berliner Straßen +und Schornsteine in Frage kommen, sein Anheimelndes. Um so deutlicher +tritt der Begriff Naturalismus in sein Recht. Nur natürlich: hier kann +nicht mehr von naiver Offenheit die Rede sein, hier handelt es sich +einfach um grundsätzliche Darlegung nackter Wirklichkeit. + +Berlin ist es, das den Untergrund hergibt für die Romane ~Max +Kretzers~, der unfraglich von Emil Zola gelernt hat, wenngleich +er ihn nicht erreicht hat, auch wohl im Grad der Entschleierung des +Häßlichen ihn nicht hat erreichen ~wollen~. Nicht überall ist ihm +ein treues Konterfei der Berliner Wirklichkeit gelungen; vieles in +dem Roman »~Die Bergpredigt~« muß man als tendenziös entstellt +schlechthin ablehnen. Damit hat Kretzer sich eben auf ein Gebiet +gewagt, auf welchem objektive, naturgetreue Zeichnung außerordentlich +schwer ist, -- auf das kirchliche Gebiet. Die persönliche Stellung, +persönliche Antipathien insbesondere, sprechen hier auch bei dem +Apostel der Wirklichkeit so stark mit, daß der naturalistische Roman +nicht ganz wenige Züge vom Tendenzroman erhalten hat. Anders im +»~Meister Timpe~«. Damit hat Kretzer einen ganz aktuell-modernen, +nämlich einen sozialen Roman geschaffen. In der Werkstatt in einer +der engen Straßen in Berlin O. regiert Meister Timpe, ein ehrsamer +Drechsler, über zahlreiche Gesellen und Lehrlinge. Wenn Handwerk +für ihn auch nicht gerade goldenen Boden hat, so hat es ihm doch +zu gewissem Wohlstand verholfen. Der Meister hat redlich dazu das +Seine getan; Geschicklichkeit und Findigkeit in der Anfertigung +neuer Modelle haben ihn unterstützt. Aber nun erhebt sich plötzlich +dicht neben seinem Grundstück eine neue Fabrik derselben Branche, +gebaut von Ferdinand Friedrich Urban, dem skrupellosen, gewandten +Geschäftsmann. Es ist ein harter Kampf zwischen Werkstätte und +Fabrik, der nun beginnt. Mit zäher Energie kämpft Meister Timpe um +seine Existenz. Aber die Gegner sind ungleich. Die große Fabrik kann +billiger liefern, weil Einkauf und Verkauf im Großen geschieht; jede +Konjunktur kann Urban geschäftskundig ausnützen; die Modelle des +Handwerksmeisters beutet er skrupellos aus. Meister Timpe muß Kunden +um Kunden sich abwenden sehen, muß Gesellen um Gesellen entlassen. +Sein Erspartes geht drauf; er arbeitet schließlich allein, Stuhlbeine +drechselnd, Woche um Woche. Er, der alle sozialdemokratische Wühlerei +stets mit überlegener Gewißheit von sich gewiesen, gibt nun selbst +einen sozialdemokratischen Wahlzettel ab und predigt in einer +Streikversammlung Aufruhr: »Die Schornsteine müssen gestürzt werden, +denn sie verpesten die Luft .... ~Schleift die Fabriken~ .... +~zerbrecht die Maschinen~!!« Auch sein Haus soll ihm genommen +werden, er selbst soll wegen dieser Hetzrede gerichtlich belangt +werden. Er aber verbarrikadiert sich im Haus und man findet ihn tot. + +Fabrik und Handwerk, neue und alte Produktionsweise -- das ist der +eine Gegensatz, welcher machtvoll dies Buch beherrscht. Mit diesem +Gegensatz aber ist in vollendeter Wirkung ein anderer verbunden -- +der Gegensatz dreier Generationen. Des Meisters Vater ragt in die +neue Zeit hinein wie eine Ruine aus der guten alten Zeit: »Ja, ja, +das waren noch andere Zeiten .... damals! Das Handwerk hatte einen +goldenen Boden ...« Aber auch sonst vertritt er die alte Zeit, -- die +Zeit, da noch niemand hoch hinaus wollte, auch die Väter mit ihren +Kindern nicht, -- die Zeit, da die Eltern ihren Kindern die Zuchtrute +gaben, um sie zu ordentlichen Menschen zu erziehen .... Die zweite +Generation hat ihren Repräsentanten in Meister Timpe selbst. Er für +seine Person, für sein Haus gehört ganz zur alten Art, -- schlicht, +einfach, solide, gediegen, wie er ist. Sein einziger Luxus -- eine +Weiße in der weitbekannten Kneipe von Vater Jamrath. Aber für seinen +Sohn will er hoch hinaus; der Franz muß Kaufmann werden und nicht +Handwerker. Wenn er nur in die feinen Kreise kommt -- dann läßt der +Vater ihm in unverzeihlicher Schwäche alles durchgehen, alles. -- Die +dritte Generation: -- der Sohn Franz. Er kommt vorwärts, er wird des +reichen Fabrikbesitzers Schwiegersohn und Teilhaber. Aber Vater und +Mutter verrät und verläßt er um dieser neuen Größe willen; kommt des +Meisters geschäftlicher Rückgang auf Rechnung Urbans, so kommt all +sein Herzeleid auf Rechnung des ungeratenen Sohnes. Drei Generationen! +Die Gegenüberstellung wirkt mit wuchtiger Gewalt! + +In diesen Gegensätzen liegt die Kraft des Romans. Die brillant +gezeichneten Einzelbilder heben ihn noch: der Streit zwischen Meister +und Geselle um die Sozialdemokratie, die Debatte am Stammtisch +über die neue Entwicklung, die sozialdemokratische Versammlung. +Der Roman wird zum Zeitroman, aber in der derben Ungeschminktheit +seiner Darstellung zum naturalistischen Zeitroman. Vielleicht wirkt +noch nicht alles natürlich, z. B. nicht das rasche Aufsteigen des +hoffnungsvollen Franz, die gar zu skrupellose, ja gewissenlose und +verbrecherische Handlungsweise des ungeratenen Sohns. Vielleicht fehlt +ein Vertreter eines anderen Fabrikantentums, das +in puncto+ +Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeit dem alten Handwerksmeister nichts +nachgibt. Vielleicht steckt eben doch auch in diesem Roman noch ein +Stück Tendenz. Aber jedenfalls ist andrerseits der Naturalismus nicht +übertrieben. Kretzer ist nur ausnahmsweis ein Detail-Naturalist, +alles Sinnliche bleibt diesem Roman völlig fern. Berliner soziales +Leben ist mit wesentlich naturwahrer Treue geschildert, und zwar in +so abgerundeter Handlung und derart zugkräftiger Entwicklung, daß die +Form der Darstellung den Inhalt aufs beste zur Geltung bringt. + +Kräftiger noch sind die Farben aufgetragen in dem anderen Kretzerschen +Roman »Das Gesicht Christi.« Derselbe hat zum naturalistischen +Grundcharakter einen symbolistischen Einschlag. Davon noch später. +Er hat außerdem einen Beigeschmack des Pikanten, was dem »Meister +Timpe« völlig fehlt. Wenigstens die Verführungsszene zwischen +Fabrikant und Fabrikmädchen ist nicht rein naturalistisch; sie +ist zugleich sinnlich raffiniert. Die eigentliche Schilderung +aber greift hier noch tiefer ins Häßliche hinein; sie beschäftigt +sich mit den untersten Volksschichten, sie malt das Elend einer +unglücklichen Arbeiterfamilie, sie schildert die Schande im Gefolge +dieses Elends so deutlich, daß der Roman nicht bloß ein Beispiel +wird für die rücksichtsloseste Wirklichkeitszeichnung, sondern auch +für die erschreckende, zarter besaitete Gemüter abstoßende Wirkung +derselben. Welche Szene, die Arbeiterwohnung im Berliner Hinterhaus +mit dem Hunger als Gast, mit dem Tod vor der Tür! Welche Tragik: der +Arbeiter mit den hungernden Kindern die Stadt durchirrend, die große, +tosende Stadt, in der des Einzelnen Elend verschwindet! Und dann +seine Heimkehr in die öde Stube, in die der Tod inzwischen seinen +Einzug gehalten hat! Mit wuchtiger Plastik ist auch das Bild aus dem +Kneipenleben gezeichnet: die trinkenden, schimpfenden, streitenden +Proletarier, der junge Arbeiter und sein Mädchen, der Halbverhungerte, +der gierig die Speise verzehrt, die rohen Lieder, der giftige Spott, +-- die Heilssoldatin mitten drin in all dem Toben! »Meister Timpe« +blieb immer beim Mittelstand; wenige Streiflichter nur ließ er auf +die brodelnde Tiefe fallen. »Das Gesicht Christi« führt ganz in die +Tiefen, zum Teil in die tiefsten Tiefen der Sünde und des Elends. Es +nimmt die Wirklichkeit da, wo sie am schrecklichsten ist; es zeigt die +»Natur«, wie sie zur Bestie wird. Hier ist nichts mehr schön, aber +wahr ist alles. + +Auf das »Gesicht Christi« komme ich seines symbolistischen Einschlags +wegen später noch einmal zu sprechen. + +Für jetzt möchte ich noch mit einigen Worten bei einem anderen +gemäßigt naturalistischen Schriftsteller verweilen, der wieder ein +anderes Milieu zur Darstellung gebracht hat, bei ~Wilhelm von +Polenz~. Auch er wählt ländliche Verhältnisse für die Darstellung, +aber völlig andere als Rosegger und Anzengruber, -- die ländlichen +Verhältnisse Ostelbiens. Seine Romane »~Der Büttnerbauer~« und +»~Der Grabenhäger~« erreichen in Schilderung dieser Menschen und +Gegenden einen hohen Grad von Anschaulichkeit. Er beschränkt sich +übrigens nicht auf die untersten Stufen der menschlichen Gesellschaft; +er versucht gerade auch die gebildeten Kreise zu Gegenständen seiner +Zeichnung zu machen. Am ausschließlichsten geschieht das in dem +»~Pfarrer von Breitendorf~.« Aber -- und darum gehe ich hier +auf dies Buch genauer ein -- es ist entschieden schwerer, gebildete +Schichten naturalistisch abzukonterfeien als einfache Bauern oder +Taglöhner oder Fabrikarbeiter. Hier zeigt sich, wie sehr Anzengruber +mit Betonung dieser größeren Schwierigkeit Recht hatte. Kommt beim +Bauern viel auf Sitte und Brauch an, noch mehr auf alteingewurzelte, +einfache Grundanschauungen, reduzieren sich die ländlichen Konflikte +schließlich immer wieder auf die großen Fragen von Mein und Dein, von +Liebe und Eifersucht, -- so ist der psychologische Apparat bei den +gebildeten Klassen erheblich komplizierter. Die geistigen Fragen, +die Unterschiede des Standes und Berufs, die Weltanschauung, -- das +und noch tausend andere Dinge soll der Dichter berücksichtigen. +Der »Pfarrer von Breitendorf« aber behandelt nun gar einen Stand, +der sicherlich mit am schwersten getreu darzustellen ist, den +Pastorenstand. Wie verschieden sind die Einzelglieder dieses +Sammelbegriffs! Wie verschieden schon ihre äußere Umgebung! Vor +allem aber, wie schwer ists für den Außenstehenden, gerade hier +vorurteilslos naturgetreu zu bleiben! Der Geistliche ist ja den +meisten derart verschmolzen mit der religiösen Anschauung, welche er +vertritt, mit dem kirchlichen Amt, welches er führt, daß ihr Urteil +über seine Person unmittelbar abhängig wird von ihrer Stellung zu der +Sache, die er darstellt. Wer zur Religion kein inneres Verhältnis +hat, wer mit dem Wort Kirche den Begriff unheimlichen Finsterlingtums +verbindet, dem ist oft genug der Pastor das, was dem Stier das rote +Tuch ist. Reichliche Beispiele hierfür geben Spielhagens Romane. +Wilhelm von Polenz hat im »Pfarrer von Breitendorf« gleichfalls stark +unter dieser Schwierigkeit gelitten. Er hat manchen guten Anlauf +zur wahren Schilderung genommen, einzelne Typen sind ausgezeichnet +getroffen. Aber um so verzerrter sind die anderen. + +Ein greiser Pastor findet in hohem Grad des Helden Gerland Beifall. Er +hat nichts Geistreiches an sich, seine Ansichten tragen den Stempel +des Altmodischen, er gesteht seine Unbekanntschaft mit allgemein +bekannten theologischen Fragen. Aber er spricht herzlich und schlicht, +er empfindet echte und tiefe Begeisterung für seinen Beruf; er faßt +sein Amt in Wahrheit als das eines Seelenhirten auf; Glauben und +Pflicht decken sich bei ihm in schönster Weise. »Er hatte keinen +Kompromiß zwischen Überzeugung und Lebensklugheit nötig.« Er handelt +auch im weiteren Verlauf der Erzählung ganz nach dieser seiner Art: in +herzlicher, schlichter, liebevoller Einfachheit. -- Die anderen Typen +erfreuen sich nicht des gleichen Beifalls des Helden und des Autors. +Auch nicht desjenigen des Lesers. Als einmal viele Pastoren beisammen +sind, heißt es: »Da war auch nicht ein vergeistigtes Antlitz, nicht +ein Auge, aus dem Begeisterung geblitzt hätte.« Die ganze Reihe hier +vorzuführen, unterlasse ich, um nur einige Bemerkungen noch anzufügen. +Da ist der Diakonus Fröschel, ein unansehnlicher, blasser Mensch, +der eine Brille trägt und sich linkisch verbeugt. »Es lag etwas +frühreifes, vorzeitig gealtertes in diesem runden kleinen Gesicht, das +die kurzen, unausgeprägten Formen eines Kinderkopfes trug.« Natürlich +hat er, als er zum Mittagessen eingeladener Maßen erscheint, einen +abgetragenen Rock an, kurze Beinkleider und plumpe Stiefeln. Dieser +selbe Fröschel ist innerlich völlig mit seinem Berufe zerfallen; +er »zersetzt sich in seiner eigenen Schärfe.« Seine Anschauungen +scheiden ihn völlig von seinem Amt, denn sie scheiden ihn von jedem +Christentum. Trotzdem wagt er nicht, den Beruf aufzugeben, -- aus +Angst vor seiner ihn völlig beherrschenden Mutter. Lieber gibt er sich +schließlich selber den Tod. Da ist endlich Pastor Gerland selber, +mit einer gewissen Begeisterung geschildert, ein Mensch, von dem +wenigstens angedeutet wird, daß er es ernst nimmt mit seinem Beruf; +viel Tatsächliches erfahren wir nicht darüber. Er liebt die noch +ungetaufte Tochter des atheistischen +Dr.+ Haußmann, gewinnt +mit Mühe und viel Selbstverleugnung das Vertrauen dieses Mannes, +gewinnt auch das Herz der Tochter. Sie läßt sich taufen; aber Gerland +quittiert doch sein Amt, -- auch ihm sagt es auf die Dauer nicht +zu. Diese beiden eben kurz umschriebenen Gestalten sind beide sehr +wenig wahrscheinlich. Die Begeisterung Gerlands schlägt ohne irgend +genügende Motivierung in das Gegenteil um; und Fröschel mit der +unglaublichen Angst vor der Mutter ist eine Karikatur, eine einfache +Karikatur. Wer aber selbst diese Typen ernst nehmen wollte, müßte +mindestens zugeben, daß die gesamten Typen einseitig ausgewählt sind; +eine ganze Reihe von anderen fehlt. Dazu kommt, daß dem Dichter auf +diesem Gebiet denn doch allzusehr die Details der geistigen Bewegungen +gefehlt haben, als daß er hätte naturgetreu zeichnen können. Das Buch +will ja naturalistisch sein und ich habe es eben um dieses Anspruchs +willen hier eingereiht. Aber es hat -- in seiner Art -- verzweifelte +Ähnlichkeit etwa mit dem militärisch-naturalistischen Tendenzroman +»Sedan oder Jena?« von Beyerlein. Gewiß, es ist schwer, ~dies~ +Gebiet objektiv zu schildern. Sogar den Lesern wird es schwer, nicht +ihrerseits Stellung zu nehmen. In dem Exemplar einer Leihbibliothek +standen bei einem ziemlich absprechend urteilenden Satz zwei sehr +verschiedene Randbemerkungen. Ein Leser hatte geschrieben: »Frech und +unwahr!«, der andere: »Leider zu wahr!« Es ist eben nicht leicht, +Naturalist zu sein. + +Über Kretzer und über Schriftsteller wie Polenz hinaus haben +andere den Naturalismus noch naturwahrer wollen arbeiten lassen. +~Zola~ arbeitete sozusagen mit dem Bienenfleiße des Sammlers, +der alles und jedes Material, was zum Verständnis dienen kann, +zusammenträgt. ~Kretzer~ schildert mit gröberen Strichen, +aber auch er schildert vor allem Verhältnisse, Zeiten, -- nur in +den Zeiten und Verhältnissen zeichnet er die Menschen. Mit alledem +ist die naturgetreue Zeichnung doch noch nicht auf dem Gipfel. +Reden denn die Menschen bei ~Zola~ so, wie sie im gewöhnlichen +Leben reden? Sprechen sie nicht noch immer, als ob sie sich ihre +Sätze ausgearbeitet, ausgefeilt und auswendig gelernt hätten? Sie +diskutieren, als ob sie zur Debatte zusammengekommen wären und als ob +der Präsident der Kammer ihnen nacheinander das Wort erteilte. Bei +~Kretzer~ sind sie darin zurückhaltender, maßvoller, natürlicher. +Aber das muß zugegeben werden: ~ganz~ natürlich sind im Reden +auch ~Kretzers~ Menschen noch nicht. Also -- und damit setzt +der konsequenteste Naturalismus ein -- gilt es, zu beobachten, wie +die Menschen sich geben, wie sie sprechen, -- bis ins Kleinste +hinein. Jeder augenblickliche Eindruck muß wiedergegeben werden. +Das Psychologische muß schärfer betont werden. Aber nicht etwa bloß +die großzügige psychologische Motivierung, sondern alle die kleinen +psychischen Wandlungen und Schwankungen, Einfälle und Zufälle, +Reizungen und Wallungen. Man sucht sich nun irgend einen interessanten +Moment heraus, einen Moment mit wechselnden seelischen Eindrücken, und +kinematophotographiert gewissermaßen die Seele in den Augenblicken, +wo diese Eindrücke wirksam werden. Damit geht dann Hand in Hand die +Umgestaltung der Sprechweise. Phonographisch getreu wird jedes Wort, +jede Interjektion, jeder halbe Laut wiedergegeben. ~Arno Holz~ +und ~Johannes Schlaf~ haben diesen Naturalismus eingeführt; +die Novellen »Papa Hamlet« (1889 erschienen) sind die erste Probe +desselben. Nicht aus ihnen, aber aus später erschienenen Novellen von +Johannes ~Schlaf~, dem Stück, welches »Leonore« betitelt ist +(erschienen 1899), entnehme ich zwei kleine Proben, die das Gesagte +veranschaulichen werden. + +Zunächst ein Beispiel für die Art der Schilderung psychologischer +Vorgänge. Günther kommt in die Wohnung der einst heiß Geliebten, die +aber ein anderer heimgeführt hat, -- ein anderer, der nun längst +gestorben ist. Er wartet nun auf ihr Erscheinen. + +»Er kann sich dehnen ... Sieht sich um .... Als wär' er zu Haus .... + +Nur ... he! -- + +Wie? -- Wie denn? -- Und nun quält er sich, sich in eine jener +Erinnerungen hineinzuringen, eine Erinnerung an eine jener so +unsagbar beseligten Stunden und sucht sie mit einer krampfhaften +Energieanstrengnng an die Gegenwart zu fügen. + +Aber diese Müdigkeit in ihm. -- Diese verdammte Taubheit! -- + +Eine Aussprache! Gewiß! Das fühlt er! -- Eine Aussprache. -- + +Nun, nun! -- Jaja, irgend etwas muß er jetzt reden ... Irgend was ... +Reden, reden, reden! -- Und dann -- gewiß! -- wird alles ins rechte +Gleis kommen. --« + +Und dann eine zweite Probe, welche die Art zeigt, in welcher bei +Schlaf die Menschen sprechen: + +»Ihr Blick verfolgt den Zeigefinger, der zögernd über den Plüsch +hinstreicht. Es scheint, als wolle sie etwas sagen, aber sie schweigt.« + +»Hm! -- Wie viel Jahre -- sind -- es ...« + +Er weint in sich vor Ohnmacht. + +»Fünf ... fünfzehn Jahre! -- Weiß der Teufel! Schon fünfzehn Jahre!« -- + +Mein Gott, was schwatzt er nur! + +Er lacht heiser. + +Ein leises »Ja!« + +Und wieder Schweigen. + +Sie erhebt sich und nimmt aus irgend einem Grund den Vorhang zurück. + +»Ja! -- hä! -- ich hätte nicht geglaubt, das Nest noch mal zu sehn! -- +Aber es ist doch wirklich ein Bann, die -- Heimat ...« + +Er hat sie nur immer beobachtet: wie sie sich nun wieder +niedergelassen hat, und -- und wie ihre Brust geht ... Ihre Brust geht +... + +Er grinst. + +»So ... So eine -- Anwandlung«, reißt er sich jedes Wort los. »Denn +eigentlich ist mir doch alles hier weggestorben ...« + +Mit ~dieser~ naturalistischen Methode ist es nun freilich +unmöglich, einen Roman zu schreiben. Allerdings -- der Versuch ist +gemacht worden. Aber was ist dabei herausgekommen? Nicht ein Roman +von wuchtig wirkender Geschlossenheit, sondern eine lange Reihe +phonographisch-photographischer Skizzen. Skizzen! Das ist der beste +Name für die Produkte dieses allzugetreuen Naturalismus. + +Aber selbst die Skizzen, die den stolzen Titel »Novellen« führen, +lassen deutlich erkennen, daß ~diese~ Methode über das Ziel +hinaus schießt. Gewiß, die Art der psychologischen Analyse wie +die Art der Wiedergabe der Unterhaltung verträgt eine Reform. Wer +seine Figuren wirklich natürlich malen will, darf sie nicht so +viel schwülstiger, länger und gelehrter reden lassen, als sie im +gewöhnlichen Leben reden. Wie das Drama von den fünffüßigen Jamben +zur einfach-schlichten Ausdrucksweise übergegangen ist, so muß es +auch die Erzählung. Nur -- alles hat seine Grenzen. Eine Pflicht, +alle und jede Zwischenlaute, jedes Räuspern und Spucken, jedes Husten +und Niesen wiederzugeben, besteht nicht. Und wenn wir dem Künstler +tausendmal zugeben, daß auch das Häßliche geschildert werden darf, +-- das einfache Hinschreiben der unbeholfenen Einzellaute, die +ein Mensch, der das rechte Wort nicht findet, ausstößt, ist keine +Kunst. Zudem würde eine unerträgliche Breite die Folge sein, sobald +mehr geschildert werden sollte, als eine besonders packende Szene. +Daher denn diese Naturalisten auch nicht ~alle~ Natur zum +Objekt der Darstellung machen, sondern nur besondere Naturteile des +psychologischen Geschehens, mit Vorliebe auch des Liebeslebens. Sie +zeigen eben damit, daß auch sie nicht einfach nehmen können, was die +Natur gibt. Sie müssen auswählen. Wenn man aber erst einmal zugegeben +hat, daß die Natur künstlerisch betrachtet werden muß, dann ist auch +eine echte und treue, aber künstlerisch geläuterte Wiedergabe der +menschlichen Sprechweise nicht als unnatürlich abzulehnen. + +Wir überschauen den Weg, den wir zurückgelegt, um die Entwicklung +noch unter einem andern Gesichtswinkel anzusehen. Welche immense +Veränderung ist allmählich hinsichtlich des ~Stoffgebiets~ +eingetreten! Ursprünglich bilden Naturalismus und Heimatkunst eine +anscheinend unlösbare Ehe. ~Natürlich~ -- so scheint es -- kann +man den Menschen nur nehmen, wenn man ihn nicht isoliert, sondern +in allen seinen Zusammenhängen erfaßt. Und der Leser dankt es den +Erzählern, daß sie ihn auch Völker, Länder, Sitten kennen lehren. +Der naturalistische Roman ist zugleich Gesellschaftsroman, ja er ist +ein Stück Zeitroman. Daß nicht bloß die einfach schlichte ländliche +Natur als Objekt der Naturschilderung zu gelten habe, sieht man ja +ein; das städtische Leben, das Leben der Gebildeten, ob auch manchmal +unnatürlich verbildet, ist doch mit Gegenstand einer Darstellung, die +das Tatsächliche beschreiben will. Aber noch bleibt der Zug zum Großen +und Weiten, zum Bedeutenden. Selbst die Elendsbilder Hetzers sind +davon berührt; das Elend der Massen kann heut nicht anders angesehen +werden denn als ein wichtiges Stück sozialen Lebens. Nun aber +kommt eine Wandlung: man wird noch naturgetreuer, aber man erkauft +diese Naturtreue durch Verzicht auf das Großzügige. Wohl erhalten +wir noch Bilder aus dem Leben; aber nicht mehr die bedeutenden +Lebenserscheinungen stehen im Vordergrund, sondern die dekadenten, die +nervösen, die pathologischen, die unsittlichen. Auch die Kreise der +Halbwelt, die ein ~Tovote~ so sehr darzustellen liebt, bilden +einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, aus dem Volk. Aber man mag +sagen, was man will: wer sich auf dies Gebiet konzentriert, wer das +individuelle Liebesleben, zumal nach Seiten seiner Entartung hin, +als Stoff bevorzugt, wer in jenen Regionen sich erzählend aufhält, +welche sonst mit Nacht und Grauen bedeckt sind, der mag Nerven +kitzeln, der mag Effekte erringen, der mag sehr naturgetreu sein, +-- aber die Aufgabe des Romans, der Erzählung ist ihm aus den Augen +gekommen. Ein Weltbild soll der Roman geben, ein Bild der wirklichen +Welt. Aber doch eben ~der~ Linien der Weltentwicklung, welche +dieselbe ~leiten~. Und wer nun gar seine Aufgabe als Erzähler +mit derjenigen des Momentphotographen verwechselt, der zeigt, daß er +nicht mehr weiß, was »Welt« bedeutet und was »Leben« heißt. Aus diesem +Grund ist die ~neueste~ Phase des Naturalismus auf dem Gebiet +des Romans -- vom Drama rede ich hier nicht -- eine Entgleisung. Der +Naturalismus hat große Bedeutung; und wir werden von ihm nicht mehr +loskommen. Aber er wird diese Bedeutung nur dann behalten, wenn er +~natürlich~ bleibt und wenn er ~künstlerisch~ bleibt. + + [Illustration] + + + + + Der Problem- und Gesellschaftsroman. + + +Der Roman soll ein Weltbild geben, dazu genügt eine einfache +Schilderung, mag sie so ruhig sein wie nur möglich. Solche Schilderung +gibt im Grunde die Volkserzählung wie der Zeitroman und der +historische Roman. Die Stimmungsdichtung schildert, indem sie mit +dichterischem Empfinden Welt und Menschen verklärt. Der Naturalist +schildert mit rücksichtsloser Feder die nackte Wirklichkeit. Aber +brauchen sie nicht alle doch einen Einschlag, der ihre Schilderungen +zu Romanen macht? Es ist der Einschlag der ~Handlung~, der allen +unentbehrlich ist. Man kann ihn auf ein Minimum beschränken, wie z. B. +~Fontane~ in »~Vor dem Sturm~«, auch im »Stechlin«. Fehlen +aber darf er nicht. + +Nun kann eine Handlung wieder sehr verschieden aufgebaut sein. +Vor allem bestehen hier zwei Möglichkeiten. Sie kann durch äußere +oder durch innere Spannung wirken. Für die erste Möglichkeit gibt +das einfachste Beispiel der normale Sensationsroman. Der gröbste +Sensationsroman wirkt durch Mord und Totschlag, durch Verbrechen und +Intrigen, durch Gefahren und Errettungen. Der feinere Sensationsroman +hat andere Mittel. Namentlich die Beziehungen der beiden Geschlechter +müssen wieder und wieder herhalten, um die Handlung wirksam zu +gestalten. Der gewöhnliche Liebesroman gehört in diese Gattung. Die +andere Möglichkeit aber besteht darin, daß der Dichter die Handlung +nicht äußerlich, oder wenigstens nicht bloß äußerlich wirken läßt, +sondern innerlich, d. h. durch den ihr innewohnenden ~Gedanken~. +Auch dafür bieten sich der Wege noch gar viele. Aber am nächsten +liegt dann die ~Einarbeitung eines Problems~ in die Handlung. Es +sei daran erinnert, wie ~Goethes~ »~Wahlverwandtschaften~« +gerade in der innerlichsten Verknüpfung von Handlung und +Gedankenproblem vorangegangen sind. Goethe hat darin nicht so bald und +nicht gleich in hoher Vollendung Nachfolger gefunden. Aber gefunden +hat er sie im deutschen Roman. + +Ein Roman ist nun keineswegs deshalb wertlos, weil er die Handlung +mehr äußerlich wirken läßt als innerlich. Der beschreibende Zeitroman +z. B., wie Freytags »Soll und Haben«, tut das; aber sein Wert +besteht eben in der Schilderung, für welche die Handlung lediglich +eine anregende Beigabe bietet, die dann ihrerseits keine besondere +Gedankentiefe mehr zu entwickeln braucht. Auch der geschichtliche +Roman begnügt sich in der Regel mit einer mehr in äußerlicher +Entwicklung aufgehenden Handlung, Andere ähnlich. Erst wo der Roman +sich nicht mehr nach Seite der Schilderung oder nach Seite der +reinen psychologischen Entwicklungsgeschichte (wie in ~Kellers~ +»~Grünem Heinrich~«) vertieft, entsteht die Notwendigkeit, das +~Schwergewicht~ auf die Problementfaltung zu legen. + +Wenn der Roman diesen Weg einschlägt, so eröffnet sich ihm ein weites, +fruchtbares Arbeitsfeld. Tausend Probleme bietet das Leben, tausend +Probleme quälen den Denker. ~Ein großes Problem groß behandeln~, +hineingreifen in die Fragen der Zeit, des Menschenlebens, der +geistigen Entwicklung, der Weltanschauung, der Seelenkunde, -- was +für eine Aufgabe! Sie ist des Schweißes der Edlen wert! Nur leider +-- im deutschen Roman ist ~dieser~ Acker nur dürftig angebaut. +Mir ist es immer wieder wie ein Riesenproblem erschienen, daß gerade +der deutsche Roman, der Roman des Volkes der Dichter und Denker, den +Problemroman im großen Stil so stiefmütterlich behandelt hat. Man kann +ja nicht sagen, daß er ihn vergessen hat. Wir werden nachher sofort +sehen, wie er hier gearbeitet hat. Aber andere Länder sind uns darin +voraus. Emil ~Zola~ war gewiß in erster Linie Beschreiber. Doch +fehlt ihm bei allem Naturalismus die Energie nicht, die Beschreibung +mit großen Gedanken zu durchweben, sie zugleich in den Dienst des +Problems zu stellen. Seine Trilogie Rom, Paris, Lourdes ist nach +dieser Richtung hin von Bedeutung. In Rußland hat ~Tolstoi~ +mit seiner »Auferstehung«, so sehr sie den Stempel der Unfertigkeit +trägt, gleichfalls einen großen Wurf getan. Den Stammverwandten +im Norden liegt das Denken und Grübeln außerordentlich; auch ihre +Erzählungen graben in die Tiefe. Was haben sie für Anregungen in der +Problemstellung durch ihre ~Ibsen~ und ~Björnson~! + +In unserer Romanliteratur sind die Werke, welche ~große~ Probleme +behandeln, nicht häufig. Große Probleme -- damit meine ich allgemeine, +prinzipielle, typische Probleme. Andere finden sich oft behandelt. +Aber die, welche große, einschneidende Fragen der Zeit behandeln, +nicht bloß schildernd, sondern wirklich eine Lösung versuchend, -- +diese sind zu zählen. ~Wir konstatieren an dieser Stelle die größte +Lücke in der Reihe der Schöpfungen des neueren deutschen Romans.~ +Wilhelm ~Jordan~ behandelt z. B. in »~Die Sebalds~« ernste, +wichtige Fragen der Weltanschauung, ~Heyses~ »~Merlin~« +hat den Unterschied der idealistischen und der naturalistischen +Richtung zum Thema, Bertha ~von Suttner~ arbeitet in ihrem stark +tendenziösen, aber keineswegs ungeschickten Roman »~Die Waffen +nieder~« für die Liga der Friedensfreunde, andere griffen soziale +Fragen auf, -- aber es ist nirgends wirkliche Tiefe und Kraft der +Problemstellung und der Problemlösung. Entweder geht die Kunst in +der Schilderung auf, -- oder aber der Dichter wird zum Lehrmeister. +Er ist schon fertig, vielleicht allzu fertig mit seinen Fragen. Er +predigt seine Lehre, aber er greift nicht hinein in die ungeheueren +Abgründe der wirklichen, brennenden Fragen, welche mit überwältigender +Wucht die Herzen erfüllen. + +Vielleicht gilt letzteres auch von den großen Romanen desjenigen +Dichters, der die tiefsten Probleme am mutigsten angefaßt hat, des +schon mehrfach genannten ~Peter Rosegger~. Er ist nicht bloß ein +Dorfgeschichtenschreiber, nicht bloß ein gemütvoller Stimmungsdichter, +er hat wirkliche Romane im großen Stil uns geschenkt. »~Jakob der +Letzte~« und »~Das ewige Licht~« haben soziale Probleme zum +Inhalt. Allerdings ganz bestimmte, eigentlich begrenzte, aber doch +typische. Beidemale handelt es sich um Waldsiedelungen, die zugrunde +gehen. Dort wird das Gebiet, auf dem Menschen hausen, wieder zu Wald +gemacht; hier dringt die Kultur in die Waldeinsamkeit und zeitigt +schwerwiegende Folgen. Weniger machtvoll ist »~Martin der Mann~«. +Eine der ergreifendsten Schöpfungen des steirischen Dichters haben wir +in »~Der Gottsucher~« vor uns, der das religiöse Problem von der +sittlichen Seite her anfaßt. + +»Der Gottsucher« führt in die Vergangenheit. Das Dorf Trawies steht +unter geistlicher Herrschaft. Sein Pfarrer ist zugleich sein Herr. +Die Leute von Trawies sind sonst immer aufs beste mit ihrem Pfarrer +ausgekommen; es waren kirchentreue Katholiken, wie zumal einsame +Bergtäler solche Gemeinden bergen. Da wird ihnen ein neuer Priester +und Herr gesetzt: der nimmts zwar mit den eigenen Pflichten nicht +allzu genau, aber sehr genau mit denen der Pfarrkinder. Noch ist +in Trawies der uralte, von der Heidenzeit überkommene Brauch der +Sonnwendfeier in Übung; der Pfarrer kehrt sich mit härtester Strenge +auch gegen diesen Brauch. Da beschließen die Männer der Gemeinde +seinen Tod. Wahnfred der Schreiner vollstreckt das Urteil. Der Täter +wird nicht gefunden; zur Sühne für den Mord müssen elf Männer ihr +Leben lassen. Über die ganze Gemeinde aber wird Interdikt und Acht +verhängt. Nun beginnt die furchtbare Schilderung dessen, was in dem +Tal, das keinen Gott mehr hat, geschieht. Alles ist aus Rand und +Band. Auf der einen Seite die Not, auf der andern die Willkür .... +Keiner arbeitet, keiner baut etwas an, kein Halm geht auf. Die Alten +haben nichts mehr zu sagen, nur die Jungen und Starken. Sach- und +Weibergemeinschaft führen sie ein; aber eben um deswillen schlagen +sie einander tot. Keiner seiner Habe sicher, keiner seines Lebens +gewiß! Raubanfälle unternehmen sie nach außerhalb, das Eindringen +militärischer Ordnungsstifter hindern sie mit Gewalt. Zu Sünde und +Frevel gesellt sich das Leid. Der Borkenkäfer verwüstet den herrlichen +Wald, das Feuer vollendet sein Zerstörungswerk. Die Pest bricht herein +und hält eine grausige Ernte. + +Inzwischen hat Wahnfred, der Mörder, in einsamem Grübeln Gott +gefunden. Zu Gott will er auch die Leute von Trawies führen, da er +ihren Frevel und ihr Elend erkennt. Aber ein Schwärmer ist er selber +geworden: er lehrt sie im Feuer Gott sehen, und sie -- trotz allem in +brennender Sehnsucht nach Gott -- folgen ihm. Aber nur zum Kultus, +nicht zu Selbstbeherrschung und Reinheit. Wie Wahnfred dessen gewiß +ist, baut er einen großen hölzernen Tempel; in den sammeln sich, dem +Feuergott zu Ehren, alle Trawieser. Und wie sie drin eingeschlossen +sind, läßt er den Tempel in Feuer aufgehen. Trawies muß zugrunde +gehen, denn es hat keinen Gott, kein Vorbild und kein Gesetz. -- + +Was wird aus Menschen, die keinen Gott haben? Die zugleich von aller +Ordnung der Kirche und des Staats verlassen sind? Sie verzehren sich +selbst in der Leidenschaften unbezwinglichem Taumel. Wohl werden +sie aus sich selber heraus wieder Gott suchen. Nicht alle; denn +eine große Menge ist, die wählt ihren Weg durch das Tierreich, durch +Pflanzen und Moder in die Erde hinein. Das sind nicht Gottsucher, sie +verneinen das Ideal, sie suchen das Gegenteil. Aber die anderen suchen +ihn. »Auf allen Straßen und in allen Wüsten, du magst dich gegen +Morgen wenden oder gegen Abend, gegen Mittag oder gegen Mitternacht, +überall wirst du der Gottsucher Spuren entdecken, hier ein Rosenbett, +dort steinerne Tafeln, hier ein Schwert und dort ein Kreuz. Das Rufen +des Derwisch auf der Moschee, das Knarren der Klappern im Wigwam, das +Glockenklingen im Dome, es ist der Kinder des Leides ewiger Notschrei +nach einem göttlichen Retter, es ist die brennende Sehnsucht nach +einer Kraft, die das Tier in uns besiegt, den Geist befreit und uns +die Vollendung gibt.« Nur, soll diese Sehnsucht das rechte Ziel +treffen, so braucht der Mensch ein Vorbild, Gottes Ebenbild im denkbar +vollendetsten Menschen. Trawies hatte kein Vorbild und kein Gesetz. So +mußt' es vergehen. + +In die Tiefen der menschlichen Seele, in die heiligsten Fragen, +die Menschheit und Gott verknüpfen, in die ernstesten Probleme der +Erziehung des Menschengeschlechts, der kirchlichen und staatlichen, +der sittlichen und gesetzlichen Ordnung führt Roseggers »Gottsucher«. +Das Schicksal von Trawies, dem gebannten Trawies, ist Symbol, +aber nicht bloß Symbol. Es ist doch so in wüste Vergangenheit +zurückverlegt, so mit dem Geschick jener wilden Zeiten, in denen die +Obrigkeit mit Türkennot genug zu tun hatte, verbunden, daß es der +Wirklichkeit nicht entrückt ist. Eben an dem ~Beispiel~ von +Trawies entwickelt sich mit unaufhaltsamer Notwendigkeit, was kommen +muß, wenn Gott fehlt und den Gottsuchern Vorbild und Gesetz fehlt. +Man kann also im »Gottsucher« ein symbolistisches Werk sehen; und man +hat ganz mit Recht hervorgehoben, daß die deutsche Literatur hier ein +großes Werk eigengewachsener, nicht importierter Symbolistik besitze. +Aber es war gesunde Symbolistik, die auch im äußeren Geschehen die +Gesetze des Wirklichen nicht verließ. Und wenn man mit dem Dichter +rechten kann, ob nicht manches phantastisch werde, ob es nicht zu +stark in mystisches Dunkel gehüllt sei, -- das Buch entfaltet doch +eine wunderbare poetische Kraft. Alle Düsternis, aller Schauer, alles +Grausen, ja alles Unschöne, alle unverhüllt vorgetragene Lehre ist +mit solcher Wucht fortreißender Sprachgewalt dargestellt, mit solcher +Herrlichkeit tiefsten dichterischen Empfindens umwoben, daß mancher +einzelne Mangel darüber getrost vergessen werden kann. Auch hier ist +ja -- wie schon angedeutet -- das Problem nicht eigentlich als Problem +vom Leser mit durchgrübelt; der Dichter trägt klar und zielbewußt die +eigene Lösung selber vor und vermeidet dadurch nicht den Eindruck +des Lehrhaften. Aber das Problem ist doch eben aus dem tatsächlichen +Geschehen heraus entwickelt. Roseggers »Gottsucher« ist und bleibt ein +großer Wurf. + +Problemstellungen von dieser Größe aber sind leider selten. Unter +den Neueren finden wir wieder den Mut, wenigstens auf einem Gebiete, +demjenigen der Charakterentwicklung, in die Tiefe und ins Große zu +gehen. Wir kommen auf diese verheißungsvollen Anzeichen einer neuen +Zukunft am Ende dieses Vortrags zurück. Für jetzt verweilt unser Blick +auf den literarischen Prosaschöpfungen der älteren Schule, soweit +sie Problemdichtung sein will. Viel Herrliches zeigt sich da dem +Auge nicht. In der Literatur der letzten Jahrzehnte des neunzehnten +Jahrhunderts bekundet sich eine merkwürdige Neigung, Probleme +zu behandeln, die »gesellschaftlichen« Charakter haben. ~Der +Problemroman wird zum Gesellschaftsroman.~ Nun kann man ja das Wort +»Gesellschaft« sehr tief fassen; »die menschliche Gesellschaft« umfaßt +die größten Probleme. Aber der Durchschnitt der Romanschriftsteller +nimmt das Wort nicht so tief. »Gesellschaft« bedeutet ihnen mehr +das Zusammenleben der oberen Schichten. Und sie behandeln nun die +Konflikte, welche sich hier aus Leidenschaft, Neigung, Sitte, Ehre, +Schuld und Sühne, Liebe und Ehe zusammensetzen. + +~Marie von Ebner-Eschenbach~, jedenfalls eine der bedeutendsten +unter den weiblichen Romandichtern, bewegt sich keineswegs nur in +diesem zuletzt gezeichneten Milieu. Ihre Erzählung »Das Gemeindekind« +z. B. greift eine eigentümliche Charakterentwicklung aus den untersten +Schichten einer Dorfgemeinde heraus. Was wird aus jenen unglücklichen +Geschöpfen, die, ihrer Eltern beraubt, der Gemeinde zur Last fallen? +Was wird namentlich dort aus ihnen, wo Waisenrecht und Waisenfürsorge +noch in den primitivsten Anfangsstadien der Entwicklung sich +befinden? Was wird aus ihnen, wenn kein menschenfreundliches Herz +sie aus diesen Verhältnissen herausreißt? Mögen ihrer viele zugrunde +gehen, -- Marie von Ebner-Eschenbach zeigt mit psychologischer +Konsequenz, daß auch eine andere Entwicklung möglich ist. Freilich, +es ist schwer, aus der Tiefe in die Höhe zu kommen! Freilich, es +ist hart, um der Eltern willen Schmach zu leiden, die man nicht +selber verschuldet! Aber möglich ists doch, ~nicht~ zugrunde +zu gehen! Wir nähmen gern noch etwas mehr Detail in der Motivierung +hin -- die intime Verästelung in die feinsten Stimmungen hinein ist +nicht Sache der Ebner-Eschenbach --, aber wir finden die Linien +im großen richtig gezeichnet und das Werden dieses Gemeindekindes +durchaus wahrscheinlich beschrieben. Nirgends fehlen die nötigen +Vermittelungen, nirgends auch die unentbehrlichen Verbindungslinien +nach der umgebenden Welt. Und ganz ähnlich wie hier erstrebt die +Dichterin sonst eine psychologische Vertiefung ihrer Problemlösungen, +-- auch da, wo die Fragestellung und die Fragebeantwortung noch +individueller ist, auch da, wo die »Gesellschaft« im besonderen Sinn +ihr die Stoffe liefert. Greifen wir beispielsweise zu genauerer +Betrachtung noch ihre zweibändige Dichtung »Unsühnbar« heraus! + +Schauplatz: Die aristokratische Gesellschaft Österreichs. Sommers +auf den Landschlössern, Winters in Wien. Hintergrund: weder Stadt +noch Land, weder Beruf noch Arbeit in Einzelzeichnung. Allem Detail +ist Marie von Ebner feind. Ihre Menschen sind hier Grand-Seigneurs, +die Besuche machen und empfangen, Gesellschaften geben und besuchen, +und sich im übrigen ein bißchen beschäftigen, wenn sie gerade Lust +dazu haben. Von diesen Menschen aber erzählt sie mit Schneid' und +Verve, ohne ausgeführte Schilderung, ohne irgendwelche Lyrik, meist +sehr knapp. Der Wert ihres »Unsühnbar« liegt nur zum Teil in dieser +flotten Manier, die auch ihre anderen Sachen zeigen, die aber doch +oft etwas Gemachtes hat, weil nicht selten irgend eine Nebensache +dabei ebensolchen Akzent abbekommt, wie die Hauptsache, und weil sie +häufig durch diese Manier den Eindruck des Skizzenhaften, Abgerissenen +erweckt, manchmal auch den des Nachlässigen. Größer ist der Wert +der Problembehandlung. Eine junge Gräfin hat einen sehr wackeren +Grafen geheiratet, nachdem ihr der Vater einen anderen Bewerber, für +den sie fühlte, verleidet hat. Sie wird ein Muster von Gattin und +Schloßherrin, aber in einer schwachen Stunde gelingt es dem Andern, +sie zu betören. Nun lastet die Schuld auf ihr. Das Buch ist die +Geschichte dieses Schuldgefühls. Sie will den Tod suchen, -- aber sie +wagt es nicht um des Kindes willen, das sie erwartet. Sie will sich +durch Wohltätigkeit darüber hinweghelfen, durch gesellschaftliche +Zerstreuung: nichts hilft. Sie sucht die Tröstungen der Religion, +ohne Trost zu finden. Sie verliert in jähem Unfall den Gatten und den +ältesten Sohn. Nur der jüngste bleibt ihr, der Zeuge ihrer Schuld. +Sie gesteht ihr Vergehen, sie weist den Verführer auch jetzt zurück. +Schwere Krankheit rafft sie hin. »Gebüßt, nicht gesühnt -- das hätt' +ich nie gekonnt .... Schwer ist mit solchem Bewußtsein das Leben +.... und schwer der Tod ...« Gewiß, ein ernstes Problem: die Sühne +der Schuld. Auch ist es ernst durchgeführt, -- nur allzu ruckweise, +allzu schematisch. Neben reichen Ansätzen zu vertiefender Erfassung +bleibt viel Unfertiges. Und das Problem ist doch schließlich ein stark +subjektiv aufgebautes: nicht bloß die Schuld ist die Voraussetzung, +sondern auch ein zartes Gewissen ... + +Problem- und Gesellschaftsdichtung! Von den älteren Erzählern +gehört noch einer unbedingt hierher: ~Paul Heyse~ mit seinen +Novellen. Man kann ja versucht sein, ihm den Platz neben dem anderen +großen Novellenerzähler, neben Theodor Storm, anzuweisen. Aber +Stimmungsdichter war Heyse nicht entfernt in dem Maße wie Storm. Beide +zu vergleichen, hat freilich seinen eigenen Reiz. Nehmen Sie den +tiefdunkeln deutschen Himmel aus düsterer Herbsteszeit, dazu die Wogen +der See, die hoch an den Deich schlagen, dazu die Menschen, die dort +wohnen, ein grüblerisches, verschlossenes, aber tiefes Geschlecht --: +das ist Storm, der nordische Dichter. Nehmen Sie dagegen lachenden +Blauhimmel aus dem goldigen Italien, dazu die üppigen Lorbeerbüsche +irgend eines vornehmen Parks einer Villa im römischen Gebirge, +dazu deutsche Künstler oder Gelehrte, die dort zu Gast sind, und +italienische vornehme Herren und Damen -- und Sie haben Paul Heyse. +Nicht als ob diese Skizzierung wörtlich zu nehmen wäre. Storm freilich +blieb als Dichter der Heimat treu; Heyse hat längst nicht ~bloß~ +»italienische« Novellen geschrieben, wenn schon doch etwa die Hälfte +von allen dort im Süden ihren Schauplatz hat. Aber auch wo er weitab +von Italien ist, auch wo er in die Landschaft hineinführt, die +den stärksten Gegensatz zur italienischen bildet, in die deutsche +Waldlandschaft, weicht unter seinen Händen der deutsche Zauber, weil +er das tiefinnige deutsche Gemüt nicht mitbringt, das deutsche Land +zu betrachten. Und auch der andere Unterschied besteht zu Recht: +bei Storm schwerblütige deutsche Menschen, bei Heyse heißblütige +Allerweltsmenschen. Bei Storm Männer von alter, guter, fester Art, +selten anderswoher stammend als aus dem ehrenwerten Mittelstand, dem +Hort der alten Art und des treuen Gemüts, -- Frauen und Mädchen, die +zu ihnen passen, treu und stark wie Elke, des Deichgrafen Hauke Haien +kraftvolles Weib, ruhig-ernst und doch opferbereit in herzlicher +Liebe wie die Anna in »Carsten Curator«, alle aber rein und frei und +klar. Bei Heyse dagegen Herren aus den höheren Ständen, Grafen und +andere Edle, Gelehrte und Künstler, jedenfalls gebildete Leute von +feiner Lebensart. Dazu Damen derselben Schichten, der glatten Rede +gewohnt, in der Konversation geübt. Und wie ungern nimmt er solche zu +Heldinnen, deren Leben schlicht und ruhig im alten Gleis geht! Irgend +etwas sucht er an ihnen, was besonderen Reiz hat, was unklar ist und +zu Verwicklungen Anlaß gibt: eine unglückliche Ehe, eine unerwiderte +Leidenschaft, einen erlittenen Verrat oder etwas dergleichen. Und wie +die Menschen, so ihr Reden. Bei Storm ist alles Reden ruhig, einfach, +nur etwa poetisch warm durchhaucht; bei Heyse herrschen der Ton des +Salons, die gesellschaftlichen Formen, die geschliffene Ausdrucksweise +der Menschen, die häufig reden, weil sie nicht so viel zu tun haben +wie andere. + +Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Heyse neigt viel mehr +nach dem eigentlichen Problem als Storm. Storm skizziert, läßt Töne +anklingen und nachklingen, weckt Erinnerungen, macht Gefühle lebendig, +zaubert Gestalten, die die Phantasie ergreifen. Wo eine ausgeführtere +Handlung ihn beschäftigt, gibt er sie in großen Zügen, springend +von Markstein zu Markstein. Anders Heyse. Er wählt Situationen, die +etwas Interessantes bieten müssen, und seine Menschen sind für diese +Situationen geschaffen. Manchmal nur für diese Situationen, so daß +man zweifelt, ob sie eigentlich gerade so haben existieren können. +Seine Probleme aber bewegen sich alle um individuelle, manchmal sehr +individuelle Situationen. Das Grundthema der Heyseschen Novellen +bildet das Verhältnis von Mann und Weib: die Liebe. In allen möglichen +Variationen wird sie behandelt: als glückliche und unglückliche +Liebe, als verzichtende und als genießende, als eheliche und als +sündige Liebe. Aber immer, immer in ganz bestimmter Färbung der +Liebe, und zwar in der vorwiegend sinnlichen. So weiß er ästhetisch +die Schönheit zu würdigen: weibliche Schönheit hat in ihm einen +begeisterten Verehrer und genialen Schilderer. Aber er läßt auch die +Mächte aus der ~Tiefe~ heraufsteigen, die doch das Wesen der +Liebe nicht erschöpfen. Er hat dabei nie ein unschönes Wort gesagt, +aber die Atmosphäre wird nicht selten schwül; -- und von dem, was +bei Storm Liebe ist, weiß er wenig. Ich greife -- ganz nach Willkür +-- nur einige dieser Probleme heraus. Ein deutscher Doktor der +Philosophie kommt, er weiß selbst nicht wie, als Gast in das Haus +eines zum Krüppel geschossenen italienischen Grafen. Die Gräfin ist +tief unglücklich an der Seite des Gatten, sie schenkt dem Gast ihre +Liebe und der Gast widmet ihr seine Leidenschaft. Ihn zwingt eilende +Botschaft, heimzukehren; sie will der Herrschaft des Mannes auf +alle Fälle entrinnen. Ein Priesterzögling läßt sie im Stich, statt +sie zu entführen; und so bekennt sie dem Gatten, daß sie mit eben +diesem Zögling sich vergangen. Da erschießt sie der Rasende (Villa +Falkonieri). -- Ein junges Mädchen ist durch die Treulosigkeit eines +Arztes, der ihre Schwester verführt, zur Menschenfeindin geworden. +Da lernt ein junger Baumeister sie kennen und liebt sie. Er rächt +sie an jenem Arzt, will es aber durchaus uneigennützig getan haben +und weist ihre endlich entglommene Liebe zurück. Sie aber hält es +nun für weise, sich ganz vom Leben zurückzuziehen. So gibt sie sich +den Tod (Doris Sengeberg). -- Die dreißigjährige Frau des berühmten +Universitätsprofessors schenkt ihr Herz einem zwanzigjährigen, +dichterisch und musikalisch veranlagten Studenten. Ihren Mann hat sie +nie geliebt, sein Herz gehört in erster Linie der Wissenschaft; ihren +einzigen Sohn hat er ihr genommen, um ihn in einer Erziehungsanstalt +unter männliche Leitung zu bringen. So ist sie für den Zwanzigjährigen +innerlich ganz frei und will sich auch äußerlich für ihn frei machen. +Er aber liebt sein hübsches, junges Wirtstöchterlein. Wie sie das +endlich erfährt, wird auch sie wieder innerlich frei für ihren Mann +und ihr Kind, das ihr jetzt von neuem vertraut wird (Melusine). + +Ich breche diese Aufzählung ab. Variationen seines Grundthemas hat +Heyse in reichlicher Zahl gefunden. Manche behaupten: ~er~funden. +Und gewiß: im Verhältnis zur schlichten Wirklichkeit liegt einer der +schwächsten Punkte der Heyseschen Novellistik. Sind nicht manche +dieser Probleme geradezu ausgeklügelt? Oder, wenn man der Liebe die +wunderlichsten Seitensprünge zugut halten will, ist nicht die Art, +wie der Dichter die seelischen Entwicklungen vor sich gehen läßt, +oft genug unnatürlich? Wie rasend schnell geht das Verlieben z. B. +in Melusine und in der Villa Falkonieri, aber auch in vielen anderen +Novellen. Ich will nicht verallgemeinern: aber richtig ist, daß +Unwahrscheinlichkeiten nicht selten sind und daß er eine Vorliebe für +absonderliche Konstellationen betätigt. Und daß mancher Charakter über +der Durchführung der Konstellation zum unverständlichen Rätsel wird, +ist ebenso gewiß. + +Trotz alledem dürfen wir diese formschönen, eleganten, glatt +fließenden, abgerundeten Erzählungen um so weniger ungerecht +beurteilen, als auch ihnen eine Art Stimmung eigen ist, welche den +Leser rasch gewinnt. In der Szene in »Melusine«, in welcher der +Studiosus Ludolf der Professorsgattin zuerst vormusiziert, ist +unfraglich Stimmung. Ludolf singt sein hübsches Lied: + + Du lispeltest: Ich liebe dich, + Ich liebe dich bis in den Tod! -- + Und deiner Wange Glanz erblich + Und deiner Lippe junges Rot ...... + +Und dann heißt es: »Die Begleitung verklang leise, wie die letzten +Atemzüge einer Sterbenden. Eine Weile war es so still in dem +halbdunklen Zimmer, daß man draußen im Garten die Wipfel rauschen +hörte, die ein heranziehender Gewitterwind schüttelte« .... + +Aber trotz dieser Stimmung sind Heyses Novellen keine +Stimmungsnovellen, sondern gesellschaftliche Problemdichtungen. Sie +bilden, wie Adolf Bartels urteilt, »etwa die Ergänzung zu Storms +Stimmungsnovellen, sind plastischer, klarer, ja nüchterner als diese, +dafür aber auch vielseitiger, psychologisch reicher und feiner, kurz +moderner.« Ich möchte hinzufügen: sie reden viel mehr von Liebe, aber +sie sind viel ärmer an Gemüt. In ihnen regiert ~die Kunst~. + +Gerade diese Gattung des Romans ist in der nicht eigentlich +naturalistischen Erzählerkunst außerordentlich reich vertreten. Und +so mögen denn hier noch zwei Erzähler genannt werden, die keineswegs +ausschließlich, aber doch auch auf diesem Gebiet Beachtenswertes +geschaffen haben. Von ~Theodor Fontane~ wurde schon gesprochen. +Er ist ein Künstler im Schaffen von Zeitbildern. Fast alle seine +Romane haben etwas von dieser Art. Aber etliche darunter rühren +doch auch ein Problem an und dann immer ein Problem, das im +gesellschaftlichen Leben wurzelt. Ich meine da nicht sein »Quitt«, das +von einer Mordaffäre des Riesengebirges den Ausgang nimmt. Auch dies +Buch ist die Geschichte einer Schuld. Aber indem der Dichter hier die +Schuld auf schauerlichem Verbrechen beruhen läßt, gibt er dem Ganzen +zu grobe Züge und erschwert allzu sehr die Sympathie mit seiner +Hauptperson. Das geht ihm auch sonst ähnlich; aber selten so stark. +Viel feiner ist seine »~Effi Briest~«, ein Buch, das in dem +Grundproblem unverkennbare Ähnlichkeit mit Marie von Ebner-Eschenbachs +»Unsühnbar« zeigt. Allerdings nur in der Problemstellung; sonst +gehen die beiden Schriftsteller weit auseinander. Marie von +Ebner-Eschenbach mit ihren knappen, skizzenhaften Entwicklungen, mit +ihrer vorwärts drängenden, fast jagenden Eile -- und Fontane, der +Meister der Kleinkunst, der so gern still steht und verweilt! Dort +alles Linienführung -- hier alles Mosaikarbeit! Aber darüber gehe +ich hier hinweg; es kommt mir jetzt weniger auf das an, was »Effi +Briest« mit seinen Zeitschilderungen gemein hat, als auf das, was sie +für ~sich~ hat. Ein frisch und fröhlich, vor allem natürlich +aufgewachsenes Mädchen, Tochter einer märkischen Adelsfamilie, +heiratet, noch halb Kind, den erheblich älteren Landrat von Instetten. +In Zeiten, wo ihr Mann sich wenig um sie kümmert, gerät sie infolge +Verführung auf Abwege. Sie selbst bricht mit dem Verführer, dem Major +Crampas; niemand weiß um diese Sache; sie schließt sich von neuem in +nunmehr wandelloser Treue und in wachsender Liebe an ihren Gatten an. +Da kommt -- nach Jahren -- diesem das unglückselige Geheimnis doch +zur Kenntnis; er erschießt im Duell den Nebenbuhler, er verstößt die +Gattin. Und diese verliert zugleich ihr Kind --; das bleibt beim Vater +und ist der Mutter so fremd geworden, daß ein Wiedersehen mit ihr +dieser nur Qual bringt. Sie verliert auch ihr Vaterhaus; aber sie darf +dann doch, dem Tode nahe, in das Heim ihrer Kindheit zurückkehren und +dort sterben. + +Fontane hat wohl mit Absicht die Schuld selber ganz ins Dunkel +gerückt. Darin ist er ~nicht~ Naturalist: die Ausmalung solcher +Szenen widerstrebt ihm. Die Folge davon ist nun freilich, daß auch +die Motive der Schuld nicht ins helle Licht treten; Langeweile, +Gefühl des Vernachlässigtseins, Mangel an Befriedigung -- genügt das +wirklich? Genügt es gerade bei einer Effi Briest? Aber wenn das eine +Schwäche des Romans sein mag, schwer wiegt sie nicht, insofern der +Nachdruck ganz auf die Frage fällt: ist es notwendig, diesen Fehltritt +nach Jahren tadellosen Verhaltens so zu sühnen, wie Instetten es +tut? Wem nützt das? Die Frau ist damit aufs schwerste gestraft; ihr +Geschick ist geradezu tragisch. Selten hat der kühle Fontane so +herzenswarme Szenen geschaffen, wie die, in welchen dies Leiden zum +Leser spricht. Da zuckt unter der oberflächlichen Ruhe der verhaltene, +tiefe Schmerz. Eine Lösung des Problems hat Fontane nicht gegeben; +aber er läßt seine Meinung doch deutlich merken. Die Ehrbegriffe +der Gesellschaft zwingen den Gatten, so zu handeln, wie er handelt. +Vernunft und Liebe aber sprechen anders. Freilich, -- wann werden +Vernunft und Liebe das Regiment führen dürfen? + +Einen scharfen Gegensatz zu Fontane bildet ~Ernst von +Wildenbruch~. Fontane ist kühl bis ans Herz hinan. Wildenbruch +ist leidenschaftlich durch und durch. Fontane ist Epiker; auch die +Erzählung zeigt bei ihm epische Breite. Wildenbruch ist Dramatiker, +seine Schöpfungen auch auf dem Gebiet der erzählenden Dichtung +sind fast alle auf den dramatischen Effekt hin gearbeitet. Fontane +leitet den Blick des Lesers zu ruhiger Betrachtung: er liebt die +Kleinigkeiten. Wildenbruch bleibt für gewöhnlich bei den großen +Linien, darin der Ebner-Eschenbach viel ähnlicher. Aber während +diese ihre Sprache gelegentlich von der legeren Art der wienerischen +Umgangssprache stark beeinflussen läßt, hat Wildenbruch Erzählungen +geschaffen, in denen die Menschen mit dichterischer Schönheit, mit +wählerischer Feinheit, mit glühender Kraft sprechen. Im übrigen +hat auch er ~tiefere~ Probleme sich nicht gestellt; entweder +er gibt packende Einzelszenen voll Glut und Feuer, oder er greift +ins gesellschaftliche Leben hinein. Jene Szenen hat er gern +der Vergangenheit entnommen; und was für wirksame Bilder schuf +sein »~Claudias Garten~«, sein »~Zauberer Cyprianus~«! +Daneben hat er die gleiche Kunst auch in einem Einzelbild aus +dem Kadettenleben entwickelt: »~Das edle Blut~«. Eine Art +gesellschaftlich-psychologisches Problem aber ist z. B. in dem Roman +»~Eifernde Liebe~« angerührt. Die stolze, unnahbare, vornehme +Hamburger Patriziertochter, die weiße Dorothea, -- die trotz allem +ihr Herz dem einfachen Maler Heinrich Verheißer schenken muß, -- die +unnahbare, die schließlich doch im Liebesrausch sich selbst, Heimat, +Sitte und Herkommen vergißt, die aber dann, als sie zum Erwachen +kommt, nicht anders kann als sich selber den Tod geben, -- sie +bietet die Möglichkeit einer kraftvoll einsetzenden psychologischen +Entwicklung, sie ist eine Art Problem für sich. Freilich, -- das +Problem ist weder neu noch mit besonderer Vertiefung durchgeführt; im +Grunde ists ja nur der alte Satz von der Liebe, die keine Schranken +kennt, der wieder vorgetragen wird; und nur der Schluß zeigt den +Konflikt zwischen Verstand und Liebe. Nein, es sind keine tiefen +Fragen, die Wildenbruch aufwirft; was seine Prosawerke über das +gewöhnliche Durchschnittsniveau erhebt, ist lediglich der große Reiz +der formschönen und wirksam geschürzten Darstellung, die übrigens auf +ein paar naturalistische Zutaten nicht immer verzichtet. + +Was soll ich viel von andern »Problemdichtern« sagen? Probleme sind +wohlfeil wie Brombeeren, zahlreich wie der Sand am Meer, -- wenn man +das Wort »Problem« nicht zu ernst nimmt! Wenn man gesellschaftliche +Verwicklungen alltäglicher Art eben als »Probleme« betrachten will! +Wenn man nicht viel Neues verlangt, sondern mit neuen oder wenigstens +neuaufgeputzten Nuancen der alten Themata: Verlieben, Verloben, +Verheiraten, Verheiratetbleiben zufrieden ist. Wer wollte leugnen, +daß auch hier manches durch feinere Charakteristik anspricht, durch +geistvolle Behandlung anregt? Wenn ich keine Namen nenne, so geschieht +es, um nicht ungerecht gegen andere zu werden. Wer aber könnte +anderseits bestreiten, daß sich eine Art von Romanen unendlich breit +macht, die weder tief sind noch geistreich, sondern ganz einfach +platt und flach? Die ihre »Spannung« lediglich ein paar aufregenden +Situationen verdanken? Hierher gehört ein großer Teil der Salonromane. +Ihre Sprache: Konversationssprache, ihr Niveau: Dinerunterhaltung beim +fünften Gang, ihre Handlung komponiert aus Liebe oder Nichtliebe, +Treue oder Untreue, dazwischen eingestreut ein bißchen Krankheit und +Genesung, Duell und Tränen oder ähnliche Zugmittel. + +Kein Wort mehr davon! Nein, nicht mit diesem Bild soll dieser Vortrag +schließen. Vielmehr denken wir zuletzt an hoffnungsvolle Anzeichen von +guten Zukunftsentwicklungen. Zwei der Neueren gilts hier zu erwähnen. +Es sind ~Sudermann~ und ~Frenssen~. + +Soll man ~Hermann Sudermann~ zu den Naturalisten zählen? Den +Dramatiker -- ja. Auch als Erzähler gibt er manche Szene, die ein +bißchen stark »natürlich« ist; wenigstens »~Es war~« greift +ordentlich auch in die Gebiete des Lebens hinein, die man sonst nicht +gern bespricht. Aber zum Naturalisten vom Fach fehlt ihm doch wieder +die Vertiefung ins Einzelne, die Ruhe fürs Geringe und Einzelne. Er +hat einen Zug ins Konventionelle hinein, der ihn älteren Erzählern +mit realistischer Tendenz, aber ohne neugrabende Tiefe an die Seite +stellt. Er hat entschieden Ähnlichkeit nicht bloß mit dem Franzosen +Dumas, sondern auch mit dem Deutschen Spielhagen. Nur hat er die +Salonmanieren mancher späteren Spielhagenschen Werke nicht angenommen; +und der Tendenzcharakter der früheren ist bei ihm stark verblaßt. Ob +man ihn zu den Problemdichtern gesellen kann? »Es war« behandelt ein +gesellschaftliches Problem: eine Schuld ragt aus der Vergangenheit +in die Gegenwart hinein. Leo von Sellenthin hat im Duell einen +Freund erschossen, mit dessen Frau er sich vergangen. Während er nun +in der Ferne weilt, um über die Geschichte Gras wachsen zu lassen, +hat sein nächster und treuster Freund die Witwe geheiratet. Als Leo +zurückkommt, fallen von jener Schuld her schwere Schatten auf das +Verhältnis der Freunde. Der Roman schildert die Konflikte, welche sich +ergeben, mit packender Kraft, mit psychologischer Wahrheit. Ob alles +weitere, auch die Lösung, ebenso wahr gezeichnet ist, ist eine andere +Frage. »Es war« ist wirksam erzählt, schürzt die Knoten geschickt, +ist reich an Sensationen, gibt ein paar ganz gute Gestalten; aber +das Problem, das es anfaßt, ist allzu individuell und zugleich allzu +gesellschaftlich-herkömmlich. Die ganze Art des Romans geht zu wenig +in die Tiefe, als daß man ihn für einen ernsteren Problemroman +ansprechen dürfte. Aber eine andere Würdigung verdient sein +Erstlingswerk »~Frau Sorge~«. Seinetwegen allein gehört Sudermann +an diese Stelle. + +Die »Frau Sorge« hebt sich zunächst dadurch aus Sudermanns übrigen +Schöpfungen wie aus vielen ähnlichen heraus, daß ihr ~Stimmung~ +innewohnt. Stimmung, lyrische Stimmung! Seinen Eltern widmet er das +Buch: + + »Frau Sorge, die graue verschleierte Frau, + Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau, + Sie ist ja heute vor dreißig Jahren + Mit Euch in die Fremde hinausgefahren, + Da der triefende Novembertag + Schweratmend auf neblicher Heide lag + Und der Wind in den Weidenzweigen + Euch pfiff den Hochzeitsreigen.« + +Und die gleiche Stimmung lebt in den Erinnerungen der Kindheit. Wenn +die Mutter erzählte, so -- »war darin von einer grauen Frau die Rede, +welche in allen trüben Stunden die Mutter besucht hatte, eine Frau +mit bleichem, hagerem Gesichte und dunklen verweinten Augen. Sie war +wie ein Schatten gekommen und wie ein Schatten gegangen, hatte die +Hände über der Mutter Haupt gebreitet, ungewiß, ob zum Segen oder zum +Fluche ....« + +Diese Stimmung, ja sie durchzieht das ganze Buch bis hin zu dem +abschließenden »Märchen von der Frau Sorge.« + +Mit ihr aber eint sich in dem Buch ein Realismus von glücklicherer +Art als in »Es war.« Glücklicher, weil er enger die Verbindung +mit dem Boden wahrt, auf dem Paul Meyhöfer aufwächst, weil er +ein bißchen gründlicher wird in der Lebensschilderung, weil das +Herrenhaus des Reichen wie das klägliche Besitztum des Bankerotten +draußen im Moor zu ihrem Recht kommen, weil in der Erzählung von +Pauls und Elsbeths Konfirmandenunterricht, von der Liebschaft der +leichtsinnigen Schwestern Pauls, von manchem Zusammentreffen der +Nachbarskinder heimische Sitte und heimische Natur mitsprechen dürfen. +Auch das Häßliche bleibt nicht ungeschildert; aber es tritt nicht +aufdringlich hervor. Ein gesunder Realismus beherrscht das Ganze. +Wichtiger freilich noch ist mir die Stellung des Problems selbst. +Es ist keine weltbewegende Frage, die ihre Antwort sucht; aber es +ist auch kein bloßes, gesellschaftliches Dilemma, kein abgegriffener +Konfliktsvorwurf aus dem Liebesleben, der den Grundton gibt. Es +handelt sich um die innere Entwicklung eines jungen Menschen, bei dem +Frau Sorge Pate gestanden hat. Die lastende Sorge macht ihn scheu und +gedrückt; er meint, er könne keinem ins Auge sehen, obwohl er doch +nichts zu verbergen hat. Würde fehlt ihm und Selbstbewußtsein; er +vergab sich den Menschen gegenüber zu viel und zu viel auch gegenüber +sich selber. Es lastet zu viel auf ihm, als daß er jemals hätte frei +aufatmen können, wie der Mensch es muß, wenn er nicht stumpf werden +und verkümmern soll. Bis er dann durch eine Tat, eine wirkliche Tat, +sich freimacht. Für ihn war Frau Sorge reichlich gebeten worden: + +»Liebe Frau Sorge, laß ihn doch frei!« + +Aber die Sorge lächelte -- und wer sie lächeln sah, der mußte weinen +-- und sie sagte: »Er muß sich selbst befreien.« + +Und er befreite sich selbst -- durch jene Tat. + +Diese seelische Entwicklung ist ein Problem, das den eigentlich +gesellschaftlichen Fragen gegenüber neu ist, das nicht bloß +episodischen Wert hat, sondern auf dem breiten Grund eines ganzen +Menschenlebens ruht, -- das nicht rein individuell ist, nicht auf +Zufall und nicht auf Schuld beruht, das sogar geradezu als typisch +gelten kann. Das gibt der »Frau Sorge« ihren Wert. Sie hat auch +Schwächen: Unwahrscheinlichkeiten, auch abgebrauchte Situationen +finden sich. Vielleicht ist die Entwicklung des Helden selbst nicht +einwandfrei geschildert. Aber das mag beiseit bleiben. Das Buch gehört +zu den wertvolleren Erzeugnissen der an psychologischen Problemen sich +versuchenden Gesellschaftsdichtung. + +Aber, von Sudermann abgesehen, dessen »~Katzensteg~« als eine +sehr geschickte und wirkungsvolle Erzählung ohne tieferen Wert hier +nur eben erwähnt sein mag, bietet auch die Dichtung der Modernen +nicht viel Hervorragendes auf dem Gebiet des Problemromans. Um so +nachdrücklicher muß hier noch eines Romans gedacht werden, der zwar +nicht mehr dem 19. Jahrhundert angehört, der aber ganz in diesen +Zusammenhang gehört: ich meine den vielgelesenen »~Jörn Uhl~« von +~Frenssen~. Es ist nicht ohne Interesse, gerade dies Buch mit +Sudermanns »Frau Sorge« zu vergleichen. »Frau Sorge« zeigt Stimmung, +»Jörn Uhl« desgleichen, aber in viel höherem Grad. Bei Sudermann +bleiben die wirklich stimmungsvollen Abschnitte episodenhaft, »Jörn +Uhl« ist ganz Stimmung, wundervolle Stimmung. Jene Nüchternheit, +die bei Sudermann zuweilen durchbricht, liegt Frenssen völlig +fern. -- »Frau Sorge« ist realistisch durchgearbeitet; »Jörn Uhl« +nicht minder. Aber was jenes Werk vermissen ließ, findet sich hier; +die realistische Zeichnung hebt sich auf breitem, tief erfaßtem +Hintergrund ab. Frenssen ist in ganz anderem Sinn ein Meister der +Heimatskunst als Sudermann selbst in der »Frau Sorge.« Wie lebendig +werden Land und Leute in der friesischen Marsch durch »Jörn Uhl«! +Hier ist Milieuschilderung im besten Sinn. Sudermann gibt dazu +nur eben Ansätze. In der Kunst der äußeren Zusammenfassung, der +geschlossenen Entwicklung der Handlung ist Sudermann stärker; hier +liegt die schwächste Seite des »Jörn Uhl«. Aber auf der anderen Seite +macht Frenssen das wett durch jene prächtigen Einzelgaben, jene +eingestreuten Szenen von märchenhafter Schönheit oder von dramatisch +packender Gewalt: dem hat Sudermann nichts an die Seite zu setzen. +Endlich gilt es eine Vergleichung des leitenden Problems. Beide geben +eine Charakterentwicklung von Kindheit auf; beide führen den Helden +durch schweres Geschick zu innerer Reife. Familienerlebnisse und +heiße Arbeit, dazu die Bewegung des Herzens durch die Liebe bilden +die Hauptstücke der Erziehung bei beiden. Von der bei Frenssen viel +plastischeren Art der Schilderung sehe ich ab; die äußere Handlung +ist bei Sudermann etwas organischer in die Charakterentwicklung +verwoben. Der Brand der Uhl befreit den Jörn, -- durch eigene Tat, +die das väterliche Besitztum in Feuer aufgehen läßt, befreit sich +Paul Meyhöfer. Dennoch läßt sich sehr streiten, ob dieser Vorzug von +Sudermann nicht auf Gefahr der schlichten Natürlichkeit erkauft wird. +Mit dieser Tat begibt er sich aufs sensationelle Gebiet; der Brand +der Uhl aber ist ein Erlebnis, wie es alle Tage passieren kann und +wirklich passiert. Aber wenn wir das ganz dahingestellt sein lassen: +auch in der eindringenden Tiefe und naturwahren Kraft der inneren +Entwicklung des Helden bleibt Jörn Uhl tiefer. Er verarbeitet viel +reichere Einflüsse auf den Knaben, er berücksichtigt nicht ~eine~ +Seite seines Wesens, sondern sein ganzes Wesen. Und er verschmäht +es nicht, auch die höchsten Fragen, die das Herz bewegen, in diese +Entwicklung hineinzuarbeiten. + +Diese Tiefe der Problembehandlung, die diejenige von »Frau Sorge« +noch übertrifft, hebt den »Jörn Uhl« zugleich hoch empor über +Frenssens Erstlingswerk »~Die Sandgräfin~«, die ganz im +äußerlich Gesellschaftlichen hängen bleibt, aber auch über »~Die +drei Getreuen~«, die bei sonstiger großer Schönheit zwar Ansätze +zu vertiefender Problemstellung zeigen -- die Entwicklung der +drei Getreuen selbst, -- aber die Ansätze verhältnismäßig dürftig +herausarbeiten. Sie läßt uns in »Jörn Uhl« einen Roman schätzen, +der ein gewichtiges Problem in ernster Realistik, aber auch mit +dichterischer Stimmung angreift, -- als ein Werk, das die besten +Traditionen der älteren Schule in neuer Form wieder aufnimmt und +zugleich damit neue Wege weist. + +Probleme! Wieviele birgt das Leben! Man muß sie nur ~sehen~! +Der Romandichter stößt auf Probleme, sobald er in die Tiefe gräbt. +Die Heimatskunst, die naturalistische Betrachtungsweise vertiefen +sich, wenn sie an den Problemen nicht vorübergehen. Freilich -- dazu +gehören Gedanken. Wir wünschen und fordern vom Gros der deutschen +Romanschreiber vor allem dies: Mehr Gedanken! Mehr große Gedanken +hinein in den deutschen Roman! + + + + + Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman. + + +Die Hauptlinien in der Entwicklung des modernen deutschen Romans sind +durchmustert. Nur die Hauptlinien; obschon es leicht gewesen wäre, mit +größerer Bequemlichkeit und strengerer Präzision viel zahlreichere +kleine Ordnungen zu bilden. Aber es schien für eine gedrängte +Darstellung wichtiger, bestimmte entscheidende Linien zu verfolgen, +als alles Einzelne zu nüancieren. + +Aber wenn unsere Skizzen wirklich bis an die Gegenwart heranreichen +wollen, so müssen einige Richtungen der modernsten Erzählerkunst noch +kurz besprochen werden, die etwa im letzten Jahrzehnt viel Redens von +sich gemacht haben. + +Es gibt seit langem eine Strömung in der deutschen Prosaliteratur, +welche ihren Schöpfungen vor allem, sogar mit einer gewissen +Ausschließlichkeit Gegenstände von dekadentem Charakter gibt. Mit +dem Naturalismus selbst hat diese Strömung keineswegs notwendige +Verbindung; ja der Naturalismus, der das Interesse auf Umgebung, +soziale Verhältnisse, Abhängigkeit des Individuums von äußeren +Einflüssen lenkte, hat zum Teil geradezu gegen diese Strömung +angekämpft. Das hindert freilich nicht, daß zwischen dem outrierten, +auf die Spitze getriebenen Naturalismus, den wir schon bei Johannes +~Schlaf~ fanden, und der neuesten Phase dieser Verfallsdichtung +mancherlei Beziehungen bestehen. Man läßt das Milieu beiseit; die +~Seele~ soll ihr Recht haben. Aber nicht die Seele im alten, +guten Sinne des Wortes, -- sagen wir: die gesunde Seele, sondern +die überreizte, übernervöse, auf die feinsten Einflüsse reagierende +Seele, die Seele, in der alles Empfindung ist, alles Individualität, +-- sagen wir: die kranke Seele. Es hat gewiß manchen dieser Dichter +ein ernstes und großes Streben beseelt; geißeln wollte er, was er +sah und was er schilderte. Freilich, nicht von allen gilt das. Es +scheint manch einer sehr gern in dem Sumpfe zu plätschern, in den er +seine Leser hineinschauen läßt. Denn schließlich bildet der Sumpf den +Inhalt dieser Romane und Novellen. Das Abnorme, das Verkommene, das +ungesund Erotische wird geschildert. Und selbst die Form entspricht +dem Verfallscharakter des Inhalts: keine Ruhe mehr und keine Tiefe; +es geht von Skizze zu Skizze. Pointen müssen sich jagen. Vieles muß +der Leser erraten. Ein paar Striche machen ein Bild. Nur nicht breit, +nur nicht langweilig; am besten überhaupt nur Skizzen mit recht kurzen +Sätzen -- mit grellen Lichtern -- mit Witz und Satire. Viel Geist, +viel Witz, viel Satire. Aber alles Kaviar, gar keine nahrhafte, +gesunde Kost! + +Fürchten Sie nicht, daß ich zu tief in dieses Gebiet des Verfalls +hinabsteige! Aber ein wenig genauer muß ich es charakterisieren, um +mein Urteil zu begründen. Ich wähle zunächst eine Sammlung von Heinz +~Tovote~, welche den Titel führt: »Ich. Nervöse Novellen«. Sie +erschien 1892 und erlebte 1900 die 12. Auflage. Es sind durchgehends +Geschichten äußerst nervös beanlagter Naturen, alle ganz kurz, +allerhöchstes einmal eine dreißig Seiten lang. Was für Sujets in +diesem Band! Da erzählt einer die phantastischen Gedanken einer +schlaflosen Nacht, in der er beständig auf die draußen fallenden +Regentropfen hören muß. Wir müssen sie mithören und mitzählen: Tipp +.. 1 .. 2 .. 3 .. 4 .. 5 .. tipp 1 .... und so weiter. Und wir müssen +alle seine unklaren Gedanken mitdenken (denn er erzählt selbst, daß er +zu keinem klaren Gedanken kam!), bis er endlich, endlich einschläft. +-- Da ist ein andrer, der leidet an dem immer wieder plötzlich +auftauchenden unsinnigen Gedanken, daß er unter lauter Toten weile. Im +Manöver packt ihn die Vorstellung, auf Wache des Nachts, -- und sonst +in allen möglichen Situationen. Bis er endlich davon geheilt wird -- +dadurch, daß eine in momentaner unsinniger Angst totgeglaubte Person +-- zu schnarchen anfängt. Und dazu dann allerhand Situationen aus dem +Liebesleben, alles sonderbare, abnorme Situationen. Nichts Frisches! +nichts Gesundes! Nervöse Novellen! -- + +Oder ein Buch wie ~Bierbaums~ »~Stilpe~«. Ein frühreifer, +witziger und begabter Mensch verkommt durch völlige Zügellosigkeit. Er +wird endlich Komiker in einem Café chantant und führt dort eine Szene +auf, mit der er das Publikum begeistert: er imitiert den Selbstmord. +Den Kopf in der Schlinge, nickt er immer wieder zum Dank für den +brausenden Beifall. Der Schluß besteht darin, daß er den Scherz zum +Ernst werden läßt. Abscheulich! Ganz abscheulich! Was diesem Schlusse +vorangeht, ist aber nicht viel besser: -- wüste Szenen, tollgewordener +Humor, Lumperei und Laster, vermischt mit Satire und Komik. Verfall! +Sumpf! Bierbaum gibt sich zuweilen bei dieser Schilderung das Ansehen +des Moralisten. Und wahrlich -- das Ende dieses Lebens ~muß~ +moralisch wirken. Aber trotzdem ist das Ganze zu toll, um ernst +genommen werden zu können. + +Weiteres sei hier nicht genannt. Es ist ~nicht~ die Pflicht +eines jeden, sich durch diese Wüste durchzuarbeiten. Die Dichtkunst +liegt in Nervenzuckungen. Wer sieht das gern mit an? Nur daß man +leider wissen muß, daß diese Zuckungen ansteckend gewirkt haben .... +Ganze Zeitschriften pflegen das Genre dieser Art Skizze. Sie tragen +den Ruhm, modern zu sein, ja zu den modernsten zu gehören. Aber man +kann mit seiner Zeit mitgehen, ohne ihre Unarten und Frechheiten +mitzumachen! + +Neben diese nervöse Verfallsliteratur tritt nun noch diejenige des +gleichfalls modernen ~Symbolismus~. Eigentlich nicht ~neben~ +sie; großenteils wirkt der Symbolismus auf dem Hintergrund dieser +modern-nervösen Skizzenliteratur. Sein Wesen bedingt das allerdings +nicht. Was ist Symbolismus? Die Kunst, Symbole zu schaffen und +durch Symbole zu wirken. Es ist eine Art Gleichniskunst; nur daß +das Gleichnis hier -- je nach den Umständen -- bis zum Umfang +einer ganzen, völlig ausgeführten Handlung anwachsen kann. Solcher +Symbolismus findet sich, wie bereits erwähnt, schon in Roseggers +»Gottsucher«. Die Vorgänge im Trawieser Tal, die dort beschrieben +sind, bleiben zwar aufs engste mit der Wirklichkeit verwoben; alle +jene Ereignisse, welche schließlich zur Ermordung des Pfarrers führen, +sind realistisch gedacht und gezeichnet; sie sind auch durchaus +möglich und wahr. Auch im zweiten Teil wird die Verbindung mit dem +Geschichtlich-Denkbaren durchaus aufrechterhalten. Dennoch zeigt sich +hier deutlicher der überwiegend symbolische Charakter der Handlung, +der in der durch den Schreiner Wahnfred eingeführten Feueranbetung und +in der Sühne des Frevels durch Vernichtung alles Lebendigen seinen +Gipfel erreicht. -- In der Verbindung mit ausgeprägtem Naturalismus +tritt der Symbolismus auf in dem gleichfalls schon besprochenen Werk +Kretzers »~Das Gesicht Christi~«. Christus erscheint! »In der +Dämmerung des Abends, die geheimnisvoll die Fäden des Nachtschleiers +zu spinnen begann, wand sich die Erscheinung unhörbar durch die Menge, +sichtbar nur denen, die in dieser Welt des absterbenden Glaubens +den Hunger der Seele über den des Leibes stellten.« So sehen ihn +die Kinder des Arbeiters Andorf, scheu und ängstlich, in den großen +weitaufgerissenen Augen jenes starrselige Entsetzen, das der Anblick +eines süßen Wunders hervorzaubert. So sieht ihn Andorf selbst, mitten +in seiner Not, in der Not, die so groß ist, daß er nicht einmal seinen +Kindern satt zu essen geben kann. Mitten auf der Straße sieht er ihn: +»Siehst du ihn nicht, wie er durch die Menge schreitet? Sein Gesicht +und sein Haar leuchten, er trägt ein schneeweißes Gewand und alle +weichen ihm aus.« Er sieht ihn im Rahmen der Tür der vollgepreßten, +dunsterfüllten Kneipe: -- »er durchleuchtet die Luft mit seinem +Haupte. Seine großen Augen sind fest auf dich gerichtet«. Er sieht die +Erscheinung, wie er im ärmlichen Zimmer am Totenlager seines Kindes +gewacht hat. Die Leute auf der Straße sehen sie, wie er seines Kindes +Sarg zum Friedhof fährt .... Es sehen sie auch der Konsistorialrat +und sein Küster, wie sie mit Andorf über die Kosten der Beerdigung +verhandeln. Es sieht sie der Fabrikbesitzer, wie er eine seiner +Arbeiterinnen brutal zur Sünde verführen will ... Was soll diese +Christuserscheinung, die dem Armen wie dem Reichen begegnet? Soll +sie nicht die Wirksamkeit symbolisieren, welche die Religion trotz +allem und allem übt? Übt in der ärmsten, elendesten Arbeiterseele als +Mittel des Trostes und der Hoffnung? Übt in dem Herzen des Harten und +Grausamen, übt in dem Bewußtsein des frechsten Frevlers in der Stunde, +da er den größten Frevel begehen will? Das soll sie darstellen, wie +Christus die Welt begleitet als das Gewissen der Gesellschaft, die +sein Wort im Munde führt, ohne es zu üben. + +Man kann sehr darüber streiten, inwieweit die Verschmelzung von +Naturalismus und Symbolismus in diesem Werk geglückt ist. Ich finde +nicht nur den Naturalismus in der Verführungsszene allzu kraß, sondern +auch den Symbolismus der Christusvision allzu stark aufgetragen, +allzu theatralisch. Aber das Eine ist gewiß: ~diese~ Art von +Symbolismus, am rechten Objekt in rechtem Maß angewandt, gehört +durchaus zu den wirksamen Darstellungsmitteln. + +Zur symbolistischen Richtung wird von manchen auch ein Werk wie +~Wilhelm Bölsches~ »~Die Mittagsgöttin~, Roman aus dem +Geisteskampfe der Gegenwart«, gerechnet (1891 erschienen). +Es handelt sich in ihm vornehmlich um den Spiritismus. Ein von +der Naturwissenschaft gänzlich erfüllter junger Journalist wird +in spiritistische Kreise hineingezogen. Erst wirkt er bei der +Entlarvung eines betrügerischen Mediums mit; dann wird er durch +eine Erscheinung des »zweiten Gesichts« selbst bekehrt und weilt im +Spreewald im Schlosse eines spiritistischen Grafen, wie dieser von der +prädominierenden Kraft des Mediums Lilly Jackson, mit dem sie ihre +Sitzungen abhalten, fest überzeugt. Endlich stellt sich allerdings +heraus, daß auch dies Medium betrogen hat. Der zum Spiritismus +Bekehrte ist wieder geheilt. -- Der Gang der Erzählung ist keineswegs +besonders kunstvoll; Reiz geben ihr eigentlich nur die spiritistischen +Sitzungen -- und das ist Nervenreiz. Aber die Form der Darstellung +wie insbesondere der Schilderungen des Spreewalds ragen weit über +das Durchschnittliche hinaus. Trotzdem gibt die Handlung selbst +dem Buche den tieferen Wert, wennschon nicht durch die Widerlegung +des Spiritismus. »Die Helden dieser wunderlichen Geschichte« -- +so schreibt der Verfasser selbst im Vorwort zur zweiten Auflage +1901 -- »suchen mit einem ungeheuren Aufwand ein Geheimnisvolles +~hinter~ den Dingen. Aber sie erfahren dabei etwas von dem +Los des alten Bibelhelden, der auf der Suche nach Eselinnen eine +Königskrone fand. Sie stoßen auf die viel wunderbareren, viel +geheimnisreicheren Imponderabilien in den Dingen, -- auf die Wunder +sinkender, steigender, sich entwickelnder Menschenseelen, auf die +unergründlich tiefen Geheimnisse, die in jedem Schicksal eines +Menschen überhaupt liegen.« So ist das Buch ein Feldzug in solche +schlichten Seelenprobleme hinein, die immer wieder das größte aller +Wunder enthalten. So ist jede Einzelgestalt desselben ein Symbol für +menschliches Ringen nach Durchdringung all der Dunkelheiten; so ist +die Geschichte im ganzen ein Zeugnis dafür, daß dieses Ringen und +Sehnen in unserer Zeit lebendig ist, daß der Geist des Philistertums, +das nur banale Alltäglichkeit sieht, wo das ewig neu Rätselschwangere +herrscht, auch den tieferen Geistern des jungen Deutschlands von heute +verhaßt ist. Es geht wie in der wendischen Sage von Pschipolniza, +der Mittagsgöttin. Wenn um die Mittagsstunde die glühend heiße Sonne +brennt, naht sich dem habgierigen Bauern eine weiße Gestalt, ein +wundersames Weib mit tiefblauem Kornblumenkranz, eine goldene Sichel +in der Hand: Pschipolniza, die Göttin der Mittagsstille. Sie legt ihm +Fragen über sein Werk vor, und wenn er nicht antworten kann, haucht +sie ihn an, daß er krank wird, oder würgt ihn zu Tode. Wir mühen uns +alle, mit der sengenden Zenithsonne auf dem Scheitel, im wahren Mittag +der Menschheit. Da naht uns die Wissenschaft als verschleiertes Bild +und stellt die Frage nach Leben und Tod. Freilich -- wie dann weiter? +Ist sie in Wahrheit ein grausames Gespenst, das dem Ermattenden, +Lechzenden den Hals umdreht, statt ihn zu erquicken? Oder wird sie, +wenn man die rechte Antwort gibt, zur schönen, sanften Flurgöttin, die +unsere Arbeit segnet? Die Meinung ist jedenfalls die: wer sich abmüht +im Ringen nach falscher Erkenntnis, um die Gespenster verborgener +Überwelt, dem bringt sein Mühen lastendes Leid. Wer aber die lebendig +wandelnden Gespenster ergründen will, die Gespenster der Not, der +Unterdrückung, der moralischen Finsternis, der ist auf dem rechten Weg. + +Auf einzelnes -- Vorzüge wie Schwächen des Werks -- einzugehen, +ist hier nicht der Ort. Und ebensowenig ist es möglich, die +Gesamterscheinung des Symbolismus an dieser Stelle bis in ihre +Einzelverzweigungen zu verfolgen. Der Symbolismus hat ja sein +eigentlichstes Wirkungsgebiet auch keineswegs in der Prosaerzählung +gesucht; sein gefeiertster Vertreter Richard Dehmel steht diesem +Gebiet fern. Die lyrische und dramatische Dichtung, erstere noch viel +stärker als letztere, wissen ganz anders von seinem Einflusse zu +zeugen. Auch die Einflüsse, welche diese ganze Richtung mitgeschaffen +haben, stehen außerhalb des Gebiets der erzählenden Dichtung; muß man +doch Nietzsche besonders in seinem »Also sprach Zarathustra« und neben +ihm Ibsen in seinen Dramen als diejenigen bezeichnen, von welchen +die Symbolisten am meisten gelernt haben. Es fragt sich, ob man das +Urteil, welches gefällt worden ist, voll unterschreiben muß, -- daß +nämlich der Symbolismus auf dem Gebiet der erzählenden Literatur +durchweg nur ungünstig wirken ~konnte~. Aber das steht doch ganz +fest, daß die scharfe Wirklichkeitserfassung, wie sie dem Roman eigen +sein muß, die Aufgabe, ein Weltbild zu zeichnen, eine Verwendung des +Symbolismus im Roman auf ein sehr bescheidenes Maß zurückführen muß. +Und ohne die rein symbolistischen erzählenden Stücke, von welchen +das gilt, hier näher aufzählen zu wollen, darf man auch das andere +hinzufügen: viele von ihnen machen einen unklaren, völlig undeutlichen +Eindruck und fallen aus der Aufgabe des Romans stärker heraus, als es +die Schöpfungen von Novalis und Eichendorff taten. + +Die Überwindung des Naturalismus wurde schon Anfang der neunziger +Jahre des 19. Jahrhunderts als vollzogen verkündigt. Für unser Gebiet +ist er vom Symbolismus ~nicht~ überwunden. Er blüht nach wie +vor, freilich vorwiegend in jenem feiner nüancierten, stimmungsmäßig +psychologischen, eigentlich impressionistischen Naturalismus seiner +späteren Vertreter. Und viel stärker als der Symbolismus ist die +vorhin knapp skizzierte Richtung geworden, jene kurz als Dekadence +zu bezeichnende Liebhaberei für heikle Themata, für sinnliche +Situationen, für das moderne Leben der Kreise, welche von solider +Arbeit wie gesunder Lebensführung gleich weit entfernt sind. + +So ist die Lage überhaupt nicht aufzufassen, als ob nun ~eine~ +Richtung jederzeit für die vorhergehende geradezu die Ablösung +bedeutete. Naturalismus, Dekadence, Symbolismus bestehen +nebeneinander, miteinander, ineinander. Und außerdem zählen wir +zahlreiche neuere Werke, die ganz andere Typen vertreten. Nicht eine +spezifisch neue Erscheinung, aber doch auch in der Neuzeit reichlich +angebaut ist der sensationelle ~Tendenzroman~. Wir haben aus +jüngster Zeit -- freilich schon aus dem zwanzigsten Jahrhundert +-- zwei charakteristische Stücke dieser Gattung erhalten. Den +Tendenzroman auf der niedrigsten Stufe stellt ~Bilses~ »~Aus +einer kleinen Garnison~« dar. Man mag sagen, was man will, über +ideale Absichten des Verfassers; ich will es alles glauben. Man kann +getrost annehmen, daß ihm der Beweis völlig geglückt ist, daß in +einer kleinen Garnison die Verhältnisse genau so gelegen haben, wie +sein Roman sie zeichnet. Dennoch bleibt der Unterschied zwischen +einem Roman, der allerhand anfechtbare Persönlichkeiten so zeichnet, +daß jeder mit Fingern auf sie weist, und zwischen einem ausgeführten +Pamphlet verzweifelt gering. Die Mittel der Zeichnung, welche Bilse +gewählt hat, beweisen entweder, daß er unmittelbar bestimmte Menschen +hat angreifen wollen, oder daß ihm die Kunst zu einer im höheren Sinne +typischen Darstellung völlig gefehlt hat. + +Höher steht ~Beyerleins~ »~Jena oder Sedan?~«. Allerdings +hat auch dies Buch, als ein Stück Weltbild betrachtet, ganz erhebliche +Schwächen. Die Hauptschwäche besteht darin, daß es sensationelle +Ereignisse in einer Weise häuft, welche von der Wirklichkeit weit +abliegt. Es ist für den Leser geradezu beängstigend, daß fast keine +der vorkommenden Personen, für welche sein Interesse wachgerufen +wird, heil und ganz aus der Militärzeit herauskommt. Die Vorliebe, +mit welcher Beyerlein die traurige Wendung im letzten Augenblick, +kurz vor der endgültigen Rückkehr in den Zivilstand oder kurz vor +Eintreten eines wünschenswerten Ereignisses, herbeiführt, ist beinahe +stereotypiert. Der eine stirbt, der andere kommt auf Festung und wird +beim Fluchtversuch erschossen, der dritte vergißt sich, entflieht +aber, der vierte wird eingesperrt und durchlebt eine furchtbare +Haftzeit -- und so geht es weiter. Auch von diesem Ungeschick ganz +abgesehen, ist der Roman keine Glanzleistung. Die eine Grundidee, um +derer willen er geschrieben ist, die zu starke Betonung überflüssigen +Drills in der Armee ist fast lediglich gesprächsweise ausgeführt. Die +hierher gehörigen Partien bilden eine Art militärtechnischen Aufsatz +in Gesprächsform; für die Handlung selbst sind sie Ballast, nichts +als Ballast. Aber anderseits verfügt der Verfasser über eine nicht +unbeträchtliche realistische Begabung, die anzuerkennen ist, wennschon +seine Zeichnung manchmal über das Ziel hinausschießt. + +Die hier eben genannten Romane repräsentieren einen Typus, der für +unsere Zeit sicher charakteristisch ist. Ein Fortschritt für die +erzählende Literatur ist von hier aus freilich nicht zu erwarten. +Und so muß es für uns ein Gegenstand aufrichtiger Freude sein, daß +wir heutzutage nicht allein auf diese Schöpfungen angewiesen sind. +Denn auch alle die früherhin angeführten Richtungen haben in der +letzten Zeit ihre Geltungskraft behalten. Der historische Roman +ist allerdings zurückgetreten, immerhin darf z. B. ~Sperls~ +»~Die Söhne des Herrn Budiwoi~« mit Ehren genannt werden. Die +Schöpfungen der Heimatskunst wurden schon erwähnt; aber es muß hier +ausdrücklich erwähnt werden, daß diese Richtung, die den Realismus, +ja den Naturalismus in gesunden Grenzen sich zu nutze macht, dabei +jede Übertreibung meidet und dem Leser das Gefühl kernig frischen +Volkstums vermittelt, keineswegs zu den überholten gehört. Sie ist +das eigentliche Gegenbild zur verlebten Art eines ~Tovote~, +~Bierbaum~, ~Schlaf~. Sie hat Mark in den Knochen, festen +Boden unter den Füßen, sie saugt Nahrung aus der Scholle. Gerade +von dieser Richtung her können wir noch manches Gute erhoffen. Auch +~Frenssen~, der augenblicklich noch nicht durch eine andere Größe +abgelöst ist, hat hier die Wurzeln seiner Kraft. Ihm aber danken +wir, wie früher gezeigt, zugleich, daß auch die gesunde Psychologie +und die ruhig wägende Lebensweisheit sich wieder einen Platz im +Roman errungen haben. Frenssen zeichnet die Landnatur derb und +ungekünstelt. Damit repräsentiert er gegenüber den verlebten Gestalten +der Berliner Dirnenromane oder den impressionistischen Skizzen aus +der Bohême geradezu die Gesundheit gegenüber der Krankheit. Er ist +aber auch nicht Bloß-Naturalist; er weist dem suchenden Geschlecht den +richtigen Weg. Die Stellung auch zu diesem Roman ist recht verschieden +je nach der Stellung zu Frenssens Weltanschauung. Aber so gewiß +diejenigen, welche Gottfried ~Kellers~ oder Paul ~Heyses~ +Weltanschauung gar nicht teilen, diesen ein gerechtes Urteil widmen +müssen, so gewiß kann auch Frenssen verlangen, daß die Gegner seiner +Weltanschauung doch den literarischen Wert seiner Romane unbefangen +beurteilen. In dieser Hinsicht ist auf zwei Seiten gesündigt worden. +Den einen ist er zu christlich; und weil das Christentum ihnen das +rote Tuch ist, bei dessen Anblick sie die ruhige Fassung verlieren, +so vermögen sie der feinen Kunst des Dichters nicht mehr gerecht zu +werden. Den anderen aber -- und leider gehörten dazu manche frühere +Berufsgenossen des Dichters -- war er nicht christlich genug, weil sie +von ihm, dem Pastor, meinten eine ausgeführte Dogmatik verlangen zu +müssen. Die Urteile über »Jörn Uhl« von diesen beiden extremen Seiten +her sind ja aber glücklicherweise völlig aufgewogen worden durch +die Aufnahme des Buchs im großen Publikum. Gewiß ist es keineswegs +hundertundfünfzig Mal so viel wert als manch anderes Buch, das nicht +hundertundfünfzig, sondern nur eine Auflage erlebt hat. Aber es bleibt +eins der erfreulichsten Unterpfänder dafür, daß frische, kraftvoll +gesunde Dichtung mit nüchtern realistischer Grundlage, aber mit tief +idealistischem Sinn auch heut noch bei den deutschen Dichtern nicht +ausgestorben ist und beim deutschen Volk nicht in Mißkredit gekommen +ist. + +Auf die Gefahr hin, ungerecht gegen andere Romane zu werden, die +ich nicht nennen kann, möchte ich doch noch einen aus der Zahl der +modernsten nennen: Thomas ~Manns~ »~Buddenbrooks~«. Und +zwar geschieht das aus einem ganz bestimmten Grund. Der Roman ist der +schlagende Beweis dafür, daß der Naturalismus sich nicht entfernt +überwunden fühlt, daß wir im Gegenteil vielleicht noch viel von +ihm zu erwarten haben. »Buddenbrooks« bedeuten eine detaillierte, +bis ins Einzelne peinlich genaue Schilderung des Lebens einer +großen lübeckischen Kaufmannsfamilie durch mehrere Generationen +im neunzehnten Jahrhundert hindurch. Mit diesem Hauptgegenstande +sind minder ausführliche, aber immer noch sehr gründliche +Beschreibungen angrenzender Verhältnisse verbunden. Neben der einen +Großkaufmannsfamilie stehen andere, -- und jede von besonderem Schlag. +Neben den Kaufmannsfamilien stehen die anderen Honoratiorenfamilien, +-- allerdings fast nur solche. Nicht die Handlung ist es, die dem +Roman Bedeutung gibt; immerhin ist sie im ganzen wirksam aufgebaut, +wennschon man wegen des Schlusses mit dem Dichter rechten kann und +wennschon manche übermäßige Breite etwas mühsam überwunden werden +muß. Aber, wie gesagt, nicht die Handlung ist das Bedeutsame, sondern +die Art der Milieuschilderung. Die »Buddenbrooks« sind vielleicht +~dasjenige deutsche Romanwerk, welches am nachhaltigsten durch +Emil Zola beeinflußt ist~. Thomas Mann läßt nichts außer Ansatz: +keine Geste, keine noch so kleine Gewohnheit, keine der kleinen +charakteristischen Redewendungen, wie sie jeder Mensch sich angewöhnt, +-- desgleichen nicht die scheinbar äußerlichen Umstände, die doch +so wesentlich sind: die Art, sich zu kleiden, sich Haus und Zimmer +einzurichten, sich mit dem Geldpunkt abzufinden, und tausend andere +Dinge mehr. Die Beschreibung ist viel genauer, viel detaillierter als +z. B. bei Kretzer. Sie kann ebenso unerbittlich sein wie die Zolas +in der Zeichnung auch abschreckender Bilder: erinnert sei nur an die +Sterbeszene der alten Konsulin Buddenbrook und an den Abschnitt, +welcher den Typhus behandelt. Doch wühlt Thomas Mann längst nicht so +emsig in den dunkelsten Gebieten des Menschenlebens wie Zola; jene +abschreckenden Bilder sind im Verhältnis zum Ganzen selten. Dafür +fehlt ihm aber auch jene absolut nüchterne Wahrheitsruhe, die Zola +hat; er neigt viel mehr zur Karikatur, zur beißenden Satire. Endlich +-- um noch einen Unterschied hervorzuheben -- ist Thomas Mann ein +minder pathetischer, weniger deklamatorischer Beschreiber, als Zola +besonders in manchen seiner letzten Werke gewesen ist. Wie man aber +auch im einzelnen das Verhältnis dieses Romans zu Zola beurteile, -- +in jedem Fall ist die Methode der Kleinmalerei in ~dieser~ Art +für den deutschen Roman trotz Kretzer und Fontane noch nicht endgültig +ausgebeutet. Kretzer geht trotz allem mehr ins Große; und Fontanes +Plauderton sticht von dem naturalistischen Ernst dieses Buches +erheblich ab. Man kann dreist vermuten, daß die Anwendung der gleichen +Methode auf andere Lebensverhältnisse nicht auf sich warten lassen +wird. Nun ist solcher Roman gewiß nicht das volle Ideal eines Romans; +aber den Wert eines treffend gemalten Weltbilds besitzt er gewiß. Er +steht darum auch seinerseits hoch über den nervösen und verlebten +Skizzen der sogenannten »Moderne«. + + + + + Rückblick. + + +Aber es ist an der Zeit, daß wir den Überblick über die mannigfach +gestaltete Gegenwartssituation auf dem Gebiet des Romans abbrechen. +Nur Einiges, nur Bedeutenderes ist erwähnt worden. Nur das, was für +die Skizzierung der Gesamtentwicklung von Bedeutung zu sein schien. + +Von Goethe sind wir ausgegangen. Er muß uns als der Schöpfer des +modernen deutschen Romans gelten. Ich erinnere kurz an die drei +Gesichtspunkte, nach denen diese Bedeutung Goethes skizziert wurde: +die psychologische Tiefe, die Art, wie seine Romane zum Zeitbild +werden, und die engste Verbindung von Handlung und Gedanke, in alledem +aber die unbestrittene Kraft der Wirklichkeitserfassung. Wie hat +Goethe mit dieser seiner Kunst gewirkt? + +Wenn man von der Romantik absieht, so darf man das Urteil wagen, +daß die gesamte Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert +eine Geschichte der Verarbeitung der von Goethe herstammenden +Anregungen gewesen ist. Über dieser gesamten Geschichte steht das +Wort »Wirklichkeit« geschrieben. Wie war noch bei Wieland der +beste Roman nichts als eine äußerliche Verkleidung moralischer +Gedanken! Das ist nun anders geworden, fast mit einem Schlage +anders. Vorüber die sentimentale Schwärmerei, vorüber die Zeit der +moralischen Erzählung ohne eigenen Wert des Erzählten! Der Roman +sieht die Welt, wie sie ist, und zeichnet die Welt, wie sie ist. +Anfänglich ist ihm freilich die Wirklichkeitszeichnung noch nicht +das letzte Ziel. Vielmehr gliedert man sie ein in die Darlegung +der eigenen Tendenzen. Man will die Ursprünglichkeit der ländlichen +Natur gegenüber städtischer Verbildung schildern -- so Immermann, +so Auerbach; man will am Bestehenden Kritik üben, es zu bessern, +-- so im politisch-religiös-moralischen Gebiet die Zeitromane der +Jungdeutschen, so vom Standpunkt des Volkserziehers ein Jeremias +Gotthelf, -- so in der Weise des erfahrenen und klugen Mannes, der +anderen des eigenen Irrens Früchte auf allen Gebieten menschlichen +Lebens vermitteln will, Gottfried Keller; -- so mit der Absicht, +an der Darstellung der Wirklichkeit die eigenen politischen und +religiös-sittlichen Anschauungen zur Geltung zu bringen, Friedrich +Spielhagen. + +Diese erste große Epoche kann man also kurz als die ~Zeit der +Darstellung der Wirklichkeit im Dienste bestimmter Absichten~ +bezeichnen. Ihr folgte eine zweite große Periode, in welcher +~die Darstellung der Wirklichkeit selbst, ohne Einmischung von +Nebenzwecken, als letztes Ziel~ galt. Man darf diese Periode gewiß +mit dem Aufblühen des historischen Romans eröffnen. Leichter war es +ja, in der Vergangenheit untendenziös zu bleiben als wenn man mitten +aus der Gegenwart heraus seinen Stoff nahm. Der kulturgeschichtliche +Roman beansprucht in diesem Zusammenhang eine gewichtige Stelle. +Aber nicht der geschichtliche Roman allein suchte die Wirklichkeit +als Wirklichkeit zu schildern. Schon bei Freytags »Soll und Haben« +tritt in der Gegenwartszeichnung die Tendenz in den Hintergrund. +Und dann beginnt diejenige Strömung, welche nichts geben will als +Photographien, die lediglich schildernde Erzählung. Zu ihr kann man +manches von den Werken des sog. Naturalismus rechnen -- wenngleich +auch hier die Kunst, das Wirkliche zu sehen, noch keineswegs zur +Vollkommenheit ausgebildet ist --, zu ihr aber auch vieles, was +weniger naturalistisch als realistisch ist, so z. B. manche Sachen +von Fontane. Diese Strömung ist, wenn schon ihre Überwindung bereits +ziemlich energisch verkündet worden ist, noch keineswegs überwunden. + +~Zu dritt~ stelle ich neben diese beiden großen Entwicklungsgänge, +die einander übrigens auch nicht geradezu abgelöst haben, zu einer +Gruppe gesellt, eine Reihe von anderen Erscheinungen. Ihre gemeinsamen +Charakteristika sind: erstens: die Darstellung der Wirklichkeit ist +ihnen nicht Selbstzweck. Darin harmonieren sie mit Gruppe +I+. Aber +anderseits, zweitens, haben sie nicht in dem Grad wie Gruppe +I+ +ein enges Verhältnis zu der Zeit, in der sie stehen. Ihnen ist die +Hauptsache Stimmung oder Gedanke; die Wirklichkeit, welche sie darum +doch wahr genug erfassen, ist ihnen lediglich der Stoff zur Entwicklung +von beidem. Wenn nicht das lyrische Moment vorwiegt, so ist es das +Problem, welches sie durchzuführen suchen. + +Endlich könnten wir eine ~vierte~ Gruppe bilden aus denjenigen +Erzählungen, welchen gleichfalls (wie der Gruppe +I+) die +Tendenz fehlt, welchen ebenso wie der Gruppe +II+ die +Wirklichkeitsschilderung nicht der oberste Zweck ist, welche aber auch +nicht wie Gruppe +III+ Stimmung oder Problem an dem Stoff der +Wirklichkeit sich entfalten lassen, sondern einfach durch die äußere +Verknüpfung von Ereignissen mit mehr oder minder energischer Benützung +des Psychologischen zu wirken suchen. Hierher gehört auch der normale +Unterhaltungsroman. + +Gemessen an der großen Aufgabe des Romans, ein Weltbild zu geben, +haben die Erscheinungen dieser Gruppen nicht alle gleichen Wert. Die +~letzte~ hat jedenfalls den geringsten; denn je mehr sie sich +auf das äußere Geschehen konzentriert, um so mehr verzichtet sie auf +Tiefe des Gedankens, ja Tiefe des Blicks. Sie kann einzelne feine +Bemerkungen ermöglichen; sie kann das Gemüt ein wenig affizieren; +sie kann die Nerven spannen. Aber diese Gruppe mit ihren zahlreichen +Schöpfungen entbehrt des tieferen Gehalts. Was könnte daran zum +Nachdenken anregen? Was unseren Blick für die Zustände der Welt +schärfen? Was unseren Gesichtskreis erweitern? Eins nur kann diese +Art Romane: unterhalten. Im besten Fall ist diese Unterhaltung +anregend, im schlimmsten aufregend. Wer hat nicht einmal eine Stunde, +in welcher er nichts will als eben nur unterhalten werden? Aber es +scheint Menschen zu geben, welche den Roman zu nichts anderem als zum +Unterhaltungsmittel gebrauchen. Ja, ich gestehe, daß in mir schon oft +der furchtbare Verdacht aufgestiegen ist, daß weitaus die meisten +Romanleser ihn so und nicht anders benützen. Da kann es dann kommen, +daß Herr Soundso in die Leihbibliothek schickt und um irgend ein Buch +bitten läßt; -- ~welches~ Buch ihm geschickt wird, ist ihm ganz +gleich. Diese Art Romane sind Schiffen mit ganz geringem Tiefgang zu +vergleichen, Schiffen, die eben darum an jeder Küste anlegen können, +-- aber für die Fahrt aufs hohe Meer sind sie völlig unbrauchbar. +Wer sich selber zum flachen, sandigen Strand machen will, der lasse +diese Schiffe ohne Tiefgang kommen! Der meide die Gedankenanstrengung +bei tieferer Lektüre! Der erkläre nur, daß er Romane nicht liest, um +denken zu müssen! Der genieße die Zeitungsromane von Fortsetzung zu +Fortsetzung! (Übrigens bieten manche Zeitungen, wie besonders die +»Tägliche Rundschau«, meist ~nicht~ derartigen, sondern besseren +Stoff.) + +Wie steht es nun aber um die drei anderen Gruppen und um ihr +Verhältnis zur Aufgabe des Romans? Unfraglich entspricht ihr +am klarsten die ~zweite~ Gruppe: Wirklichkeitsbild ohne +Nebenabsichten. Wir freuen uns, daß diese Gruppe im deutschen Roman +des neunzehnten Jahrhunderts so stark vertreten ist. Allerdings ist +gleichzeitig zu bemerken, daß gerade in dieser Gruppe sich die starke +Neigung zu Übertreibungen herausgebildet hat. Wir müssen verlangen, +daß man uns als Wirklichkeit nicht bloß die Welt der Lebemänner, nicht +bloß das Leben mit überreizten Nerven schildert. Wir müssen erwarten, +daß man nicht bloß das Abstoßende und Ungesunde hervorzieht. Die +Welt zu abscheulich zu malen, ist ein genau so großer Fehler wie +der, sie zu licht zu malen. Das neunzehnte Jahrhundert hat hier die +Aufgabe richtig erkannt, auch vielfach richtig angefaßt, aber es hat +hier nicht die Extreme zu vermeiden gewußt. Die Losung »Naturalismus« +mag getrost bleiben! Aber man vergesse nicht, daß »Naturalismus« von +»Natur« herkommt! + +Es bleiben die ~erste~ und die ~dritte~ Gruppe. Die erste +kommt der eigentlichen Aufgabe des Romans vielfach ganz nahe. Es +ist, von dieser Aufgabe aus betrachtet, durchaus ~nichts~ +gegen die Geltendmachung einer bestimmten ~Tendenz~ gegenüber +der geschilderten Zeit einzuwenden. Warum soll der Dichter nicht +gleichzeitig zeichnen und das Gezeichnete beurteilen? Er verändert +damit seine Aufgabe nicht; er fügt nur noch hinzu, was gleichfalls +wertvoll sein kann: sein Urteil, seine Kritik. Erst dann beginnen +die Schöpfungen dieser Romangruppe minder wertvoll zu werden, wenn +unter der Tendenz die klare Erfassung der Wirklichkeit gelitten hat. +Das ~kann~ auch den Dichtern passieren, die nichts wollen als +die Welt zeichnen, wie sie ist. Ist doch jeder in der Gefahr, die +Dinge allzusehr durch die eigene Brille zu sehen. Aber noch mehr in +dieser Gefahr ist derjenige, welcher nur zeichnet, um seine Ansichten +und Absichten klarzulegen. Solange im Tendenzroman die Zeit, die +Wirklichkeit stärker ist als die Tendenz, so lange steht er auf der +Höhe seiner Aufgabe. Er irrt erst dann ab, wenn die Tendenz stärker +wird als die Wirklichkeit. + +Weniger als Gruppe +I+ und +II+ scheint Gruppe +III+ der von uns +festgestellten Aufgabe des Romans zu entsprechen. Wo die lyrische +Stimmung das beherrschende Element ist, kann ein Weltbild in scharfen +Umrissen viel schwerer erwachsen. Dennoch ist es auch hier möglich; +das zeigt besonders die wunderbare Vereinigung klarster Realistik +mit feinster dichterischer Stimmung, welche Rosegger z. B. in den +»Schriften des Waldschulmeisters« bietet. Das zeigt aber auch ein Werk +wie Raabes »Hungerpastor«. Hat man doch dies Buch geradezu unter die +Zahl der Zeitromane einreihen können! Weniger eng ist die Beziehung +zur wirklichen Welt natürlich da, wo die lyrische Stimmung noch +stärker herrschend wird, wie bei Storm oder in Raabes »Chronik der +Sperlingsgasse«. Aber wer wäre so engherzig, diesen Dichtungen darum, +weil sie vom eigentlichen Romancharakter abweichen, das Existenzrecht +abzusprechen? Auch sie geben Wirklichkeit; auch sie zeichnen Menschen, +wie sie sind. Vielleicht nur mit wenigen Strichen, vielleicht mehr +mit Licht und Schatten als in scharfem Umriß, vielleicht nur in +einzelnen Situationen. Aber sie zeichnen sie: die Stimmungswelt ist +auch wirkliche Welt! Wenn der Stimmungsdichter nur Realist bleibt, +dann hat er sein heiliges Recht. Ja, dann ist er eine notwendige +Ergänzung der nüchternen und kühlen Realisten mit ihrer Genauigkeit und +Gründlichkeit. Kann denn nicht manches Mal ein einziger Strich, der dem +Bilde die rechte Stimmung gibt, viel wirksamer sein, als die Ansammlung +von hundert Einzelheiten? + +Noch weniger ist zu leugnen, daß der ~Problem~roman innerhalb +der Aufgabe des Romans bleibt. Er will ja Fragen des wirklichen +Lebens aufwerfen und beantworten! Er geht weniger in die Breite +als in die Tiefe, -- in die Tiefe der seelischen Rätsel, in die +Tiefe der gesellschaftlichen Fragen. Gewiß, ihm ist der Stoff nur +Mittel zum Zweck; die Hauptsache ist ihm der Gedanke. Aber so wenig +im Tendenzroman die Tendenz notwendig die Wirklichkeitserfassung +hindern muß, so wenig im Problemroman das Problem. Im Gegenteil: +erst das ist der rechte Problemroman, der seine Fragen ganz aus der +Wirklichkeit herauswachsen läßt. Es gibt manchen Problemroman mit +recht oberflächlichen Problemen; aber das soll uns nicht hindern, +anzuerkennen, daß gerade der Problemroman eine außerordentlich +wertvolle Methode bedeutet, die Weltvorgänge in ihren tiefsten Gründen +anzusehen und darzustellen. + +~Das Gesetz der Wirklichkeit regiert also tatsächlich überall im +deutschen Roman des 19. Jahrhunderts, in allen seinen wichtigeren +Erscheinungen.~ Verschiedene Methoden seiner Befolgung sind +eingeschlagen worden; aber das Gesetz selbst ist in Geltung geblieben. +Und gegenüber denjenigen Richtungen, welche dieses Gesetz wissentlich +oder unwissentlich ignorieren, haben wir einfach sein geheiligtes und +anerkanntes Recht geltend zu machen. + +Schwieriger ists für unsere Zeit, die Grenzen in der Befolgung +dieses Gesetzes festzulegen und festzuhalten. Die Auswüchse des +Naturalismus wie die Dekadencedichtung übertreiben. Sie bevorzugen +einseitig einige wenige Gebiete der Wirklichkeit; und sie wählen +gerade diejenigen, wo die gesunde Natur sich vergebens suchen läßt. +Ihnen gegenüber fordern wir, daß die Totalität der Wirklichkeit zur +Geltung komme. Wir fordern auch, daß, ohne daß das Vorhandensein von +Krankheitszuständen ignoriert werde, der Standpunkt, von dem aus +geschildert wird, derjenige der Gesundheit sei. Wir erwarten nichts +von dem differenzierten, nervös gewordenen Naturalismus. Aber wir +erwarten alles von einem im gesunden Volksempfinden, in der echten +Natur wurzelnden Realismus. + +Ich brauche nicht mehr auszuführen, daß das 19. Jahrhundert auch +in der ~Form~ des Romans uns kräftig vorwärts gebracht +hat. Was Goethes »Wahlverwandtschaften« zuerst versuchten, die +Ineinandersetzung von Gedanke und Handlung -- das ist zwar längst +nicht überall zur Durchführung gekommen, aber es ist leitendes Motiv +geblieben. Man verabscheut mehr und mehr die Darlegung von Gedanken +ohne Handlung, wie noch Gutzkow sie liebte, man empfindet jene +spannenden Handlungsromane ohne Gedanken, so sehr sie noch heute +wuchern, als minderwertig. Man hat in vielen Romanen Spielhagens, dazu +in solchen von Kretzer, in »Frau Sorge« und in anderen Vorbilder in +der formellen Gestaltung. Und ob immer wieder das Erworbene in Frage +gestellt wird, das Ziel ist gesteckt und darf nicht vergessen werden. + +Eins aber muß zum Schluß nochmals gesagt werden: es wird alles darauf +ankommen, daß in der deutschen Lesewelt der Sinn für den wertvollen +Roman geweckt und, wo er lebendig ist, gepflegt werde. Jedes Volk +hat schließlich den Roman, den es verdient. Seien wir anspruchsvoll! +Lehnen wir alles ab, was uns nicht fördert, ohne Rücksicht auf Person +und Tendenz! Dann wird des Seichten weniger werden und ~die~ +Dichter werden mehr Raum und mehr Mut gewinnen, die in sich die Kraft +fühlen, dem deutschen Volk wirklich etwas zu sagen. Verlangen wir viel +vom Roman, so wird er uns viel geben! + + [Illustration] + + + + + Register. + + +(Die ~ausführlich~ besprochenen Werke sind unter dem Autornamen +bei den entsprechenden Seitenzahlen in Klammern besonders aufgeführt.) + + Alexis, Wilibald 123 ff. (Roland von Berlin). 126. 127. 129. 134. + + Anzengruber, Ludwig 171. 172 ff. (Sternsteinhof). 179. + + Arnim, Achim von 51. 121 ff. (Kronenwächter). + + Auerbach, Berthold 55. 62 ff. (Schwarzwälder Dorfgeschichten). + 76. 225. + + + Beyerlein, Franz Adam 219 f. + + Bierbaum, Otto Julius 213. 220. + + Bilse 219. + + Björnson 190. + + Bölsche, Wilhelm 216 f. (Mittagsgöttin). + + Börne, Ludwig 34. + + Brentano 35. + + + Cantz, Elisabeth 78. + + + Dahn, Felix 139 ff. (Kampf um Rom). + + Dehmel, Richard 218. + + + Ebers, Georg 139. 141. 142. + + Ebner-Eschenbach, Marie v. 195 (Gemeindekind). 196 f. (Unsühnbar). + + Eckstein, Ernst 142. + + Eichendorff, Joseph Frhr. v. 35. 39 ff. (Leben eines Taugenichts). + 45. 46. 165. 218. + + Eilhart von Oberge 11. + + + Fischart, Johann 12. + + Floris und Blancheflur 6. 11. + + Fontane, Theodor 115 ff. 117 ff. (Stechlin). 135. 138. 188. 201. + 202 ff. (Effi Briest). 223. 225. + + Freiligrath, Ferdinand 75. + + Frenssen, Gustav 208 ff. (Jörn Uhl). 210. 221. + + Frenzel, Karl 138. + + Freytag, Gustav 108 ff. (Soll und Haben). 114. 127. 131 ff. + (Die Ahnen). 144. 155. 189. 225. + + + Goethe 15. 16 ff. (Werther). 19 ff. (Wilhelm Meister). 24 ff. + (Wahlverwandtschaften). 27 ff. 32. 45. 52. 75. 143. 189. 224. 230. + + Gottfried von Straßburg 11. + + Gotthelf, Jeremias 55. 58 ff. (Bauernspiegel). 65. 66. 69. 71. 168. + 169. 225. + + Grimmelshausen 12. + + Gutzkow, Karl 76. 77. 78. 79 ff. (Ritter vom Geist). 86. 87. 98. + 112. 138. 144. 230. + + + Hamerling, Robert 142. + + Hauenschild, Spiller von 78. + + Hauff, Wilhelm 51. 122. + + Herwegh 75. + + Heyse, Paul 78. 92 ff. (Kinder der Welt). 154. 155. 190. 197 ff. + (Novellen). 221. + + Hoffmann, Th. Amadeus 45. 46 ff. (Elixiere des Teufels). 143. 165. + + Holz, Arno 183. + + + Ibsen 190. + + Jean Paul 32 ff. 143. 144. + + Immermann 55 ff. (Oberhof). 65. 67. 69. 71. 74. 76. 144. 168. 225. + + Jordan, Wilhelm 190. + + + Keller, Gottfried 99 ff. (Grüner Heinrich). 105 ff. (Leute von + Seldwyla). 112. 189. 221. 225. + + Kleist, Heinrich v. 35. 48 ff. (Michael Kohlhaas). + + Kretzer, Max 175 ff. (Meister Timpe). 178 f. 182. 214 ff. + (Gesicht Christi). 223. 231. + + + Laube, Heinrich 76. 138. + + Ludwig, Otto 55. 69 ff. (Heiterethei). 72. + + + Mann, Thomas 222 ff. (Buddenbrooks). + + Meinhold, Wilhelm 131. + + Meyer, Conr. Ferd. 136 ff. + + Motte-Fouqué, F. de la 35. + + + Novalis 32. 35. 36 ff. (Heinrich von Ofterdingen). 45. 46. 51. 53. + 165. 218. + + + Pantenius, Theod. Hermann 115. + + Parzival 11. + + Polenz, Wilhelm v. 179 ff. (Pfarrer von Breitendorf). + + Prutz, Robert 78. + + + Raabe, Wilhelm 136. 144 ff. (Chronik der Sperlingsgasse). 149 ff. + (Hungerpastor). 155. 161. 162. 165. 229. + + Rabelais 12. + + Reuter, Fritz 55. 69. 71 ff. (Stromtid). 74. 171. + + Riehl, Wilh. 127. 130 f. (Kulturgesch. Novellen). 134. + + Robinson Krusoe 13. + + Rosegger, Peter 144. 162 ff. (Schriften des Waldschulmeisters). + 165. 170. 171. 179. 191 ff. (Gottsucher). 214. 229. + + Rousseau 30. + + Ruodlieb 10. + + + Scheffel, J. Viktor v. 127. 128 ff. (Ekkehard). 134. + + Schlaf, Johannes 183 ff. (Novellen). 211. 220. + + Schlegel, Friedrich v. 32. 35. 42 ff. (Lucinde). 46. + + Schleiermacher 43. + + Sohnrey, Heinrich 170. + + Sperl, August 220. + + Spielhagen, Friedrich 78. 79. 85 ff. (Problematische Naturen). 91 ff. + 98. 112. 114 f. (Sturmflut). 144. 225. 231. + + Stifter, Adalbert 162. + + Storm, Theodor 144. 155 ff. (Novellen). 162. 165. 166. 169. + 197 ff. 229. + + Sudermann, Hermann 205. 206 ff. (Frau Sorge). 208. + + Suttner, Bertha v. 190. + + + Tieck, Ludwig 35. 122. + + Tolstoi 168. 190. + + Tovote, Heinz 186. 212 f. (Ich). 220. + + Tristan und Isolde 6. 11. + + + Volksbücher 11. + + + Wickram, Jörg 12. + + Widmann, A. 78. + + Wieland 13 ff. 27. + + Wildenbruch, Ernst v. 203 f. + + + Zola, Emil 168. 190. 222. 223. + + + + + [Illustration + + Buch- und Kunstdruckerei von + + Hoffmann & Reiber in Görlitz] + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 *** diff --git a/76588-h/76588-h.htm b/76588-h/76588-h.htm new file mode 100644 index 0000000..af21061 --- /dev/null +++ b/76588-h/76588-h.htm @@ -0,0 +1,7484 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Der Deutsche Roman Seit Goethe | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%;} + + h1,h2 { + text-align: center; /* all headings centered */ + clear: both;} + +h1 {font-size: 220%} +h2,.s2 {font-size: 150%} +.s3 {font-size: 110%} + +h1 { page-break-before: always} + +h2 { + padding-top: 1em; + margin-bottom: 1.5em; + page-break-before: always; } + + +p { + margin-top: .51em; + text-align: justify; + margin-bottom: .49em; + text-indent: 1em;} + +.p0 {text-indent: 0em;} +.p2 {margin-top: 2em;} + +.mtop2 {margin-top: 2em;} +.mbot2 {margin-bottom: 2em;} + +.padtop2 {padding-top: 2em;} +.padbot2 {padding-bottom: 2em;} + +hr { + width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: 33.5%; + margin-right: 33.5%; + clear: both;} + +hr.tb {width: 45%; margin-left: 27.5%; margin-right: 27.5%;} +hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;} +@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} } + +hr.r65 {width: 65%; margin-top: 3em; margin-bottom: 3em; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;} + +div.chapter {page-break-before: always;} +h2.nobreak {page-break-before: avoid;} +.break-before {page-break-before: always;} + +ul.index { list-style-type: none; } + +li.ifrst { + margin-top: 1em; + text-indent: -2em; + padding-left: 1em;} +li.indx { + margin-top: .5em; + text-indent: -2em; + padding-left: 1em;} + +table { + margin-left: auto; + margin-right: auto;} +table.autotable { border-collapse: collapse; } +table.autotable td, +table.autotable { padding: 0.25em; } + +.tdl {text-align: left;} +.tdr {text-align: right;} + +.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: small; + text-align: right; + font-style: normal; + font-weight: normal; + font-variant: normal; + text-indent: 0;} + +.center {text-align: center;} + +.mright5 {text-align: right; + margin-right: 5em;} + +.u {text-decoration: underline;} + +.gesperrt{ + letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em;} + +.gesperrt { + letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em;} + +.x-ebookmaker .gesperrt { + letter-spacing: 0.15em; + margin-right: -0.25em;} + +em.gesperrt { font-style: normal;} + +.caption { + font-size: 90%; + text-align: center;} + +.blockquot { + margin-left: 5%; + margin-right: 10%; + font-size: 90%; } + +img { + max-width: 100%; + height: auto; +} +img.w100 {width: 100%;} + +.figcenter { + margin: auto; + text-align: center; + page-break-inside: avoid; + max-width: 100%;} + +/* Poetry */ +/* uncomment the next line for centered poetry */ +/* .poetry-container {display: flex; justify-content: center;} */ +.poetry-container {text-align: center;} +.poetry {text-align: left; margin-left: 5%; margin-right: 5%;} +.poetry .stanza {margin: 1em auto;} +.poetry .verse {text-indent: -3em; padding-left: 3em;} +.poetry .indent0 {text-indent: -3em;} + +/* Transcriber's notes */ +.transnote {background-color: #E6E6FA; + color: black; + font-size:small; + padding:0.5em; + margin-bottom:5em; + font-family:sans-serif, serif;} + +/* Illustration classes */ +.illowe16 {width: 16em;} +.illowe17 {width: 17em;} +.illowp42 {width: 42%;} +.illowp46 {width: 46%;} + +/*Illustration classes, e-books */ +.x-ebookmaker .illowe17 {width: 34%; margin: auto 33%;} +.illowe20 {width: 20em;} +.poetry .indent1 {text-indent: -2.5em;} + + </style> +</head> +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 ***</div> + +<div class="transnote"> +<p class="s3 center">Anmerkungen zur Transkription</p> +<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion +des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche +Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.</p> +<p class="p0">Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.</p> +<p class="p0">Worte in Antiqua sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p> +</div> + +<figure class="figcenter padbot2 illowp46 break-before x-ebookmaker-drop" id="cover"> + <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt=""> +<figcaption class="caption"><span class="u">Original-Einband</span></figcaption> +</figure> + +<figure class="figcenter padtop2 illowp42" id="title" style="max-width: 62.5em;"> + <img class="w100" src="images/title.jpg" alt="" title="titel"> +</figure> + +<hr class="r65"> +<h1 class="mtop2"><b>Der deutsche Roman<br> +seit Goethe</b></h1> + +<p class="s2 p2 center">Skizzen und Streiflichter</p> + +<p class="mtop2 center">von</p> + +<p class="s2 mtop2 mbot2 center"><b>Dr. M. Schian</b></p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe17" id="p003"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt=""> +</figure> + +<h2>Inhaltsverzeichnis.</h2> + +<table class="autotable"> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdr">Seite</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Vorwort</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_3">3</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Die Bedeutung des Romans</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_5">5</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Aus der Vorgeschichte des modernen Romans</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_10">10</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_16">16</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Roman und Novelle der Romantik</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_32">32</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Die Volkserzählung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_53">53</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Der tendenziöse Zeitroman</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_75">75</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Der objektivere Zeitroman</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_99">99</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Der historische Roman</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_121">121</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Die Stimmungsdichtung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_143">143</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Der naturalistische Roman</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_167">167</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Der Problem- und Gesellschaftsroman</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_188">188</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_211">211</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Rückblick</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_224">224</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Register</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_232">232</a></td> +</tr> +</table> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span></p> + +<h2 class="break-before">Vorwort.</h2> +</div> + +<p>Die folgenden Blätter geben eine Reihe von Vorträgen wieder, welche +ich im eben vergangenen Winter im Damenlyzeum zu Görlitz und — +in kürzerer Gestalt — vor einer aus Damen und Herren gebildeten +Zuhörerschaft in Lauban gehalten habe. Der Wunsch, die Vorträge +gedruckt zu sehen, wurde mir aus beiden großen Zuhörerkreisen so +häufig und so dringend nahe gebracht, daß ich, wennschon nicht ohne +Bedenken, doch nicht umhin konnte, ihm zu entsprechen.</p> + +<p>Die Form der Vorträge ist belassen; nirgends habe ich wesentlich +geändert. Nur was ich der drängenden Zeit wegen beim mündlichen +Vortrag hier und da auslassen mußte, ist jetzt wieder eingefügt. So +werden namentlich die Hörer aus Lauban erheblich mehr finden, als ich +ihnen mündlich bieten konnte.</p> + +<p>Der Zweck, welchem diese Veröffentlichung dient, braucht hiernach +kaum näher dargelegt zu werden. Ich maße mir nicht entfernt +an, die Wissenschaft der Literaturgeschichte irgend bereichern +zu wollen. Meine Absicht war nur die, ihre Ergebnisse für ein +wichtiges Einzelgebiet in leichterer Form, als das für gewöhnlich +geschieht, einem weiteren Kreis von Gebildeten zu vermitteln. Daß +ich dabei überall dankbar und freudig von den wissenschaftlichen +literaturgeschichtlichen Darstellungen gelernt habe, ist ganz +selbstverständlich. Aber ebenso selbstverständlich war mir, daß ich +auf ein eigenes Urteil nicht verzichten konnte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span></p> + +<p>Aus dem Zweck der Vorträge ergab sich nicht nur die Form der +Darstellung, sondern auch die Begrenzung und die Auswahl des Stoffs. +Auf jeden Versuch der Vollständigkeit mußte ich von vornherein +verzichten; es schien mir viel besser, Einzelnes gründlich zu +behandeln als eine Fülle von Namen und Titeln zu nennen. Nur +vom deutschen Roman wollte ich reden; es blieb kein Raum, um +Verbindungslinien nach anderen Literaturgebieten zu ziehen und die +Einwirkung fremder Einflüsse deutlich zu machen. Die Vorträge wollen +lediglich auf die Entwickelung des deutschen Romans seit Goethe ein +paar Streiflichter werfen und vor allem auf das hinweisen, was in +dieser Zeit Bleibend-Wertvolles geschaffen ist, um so zugleich den +Kreisen der Romanleser ein bequemes Hilfsmittel für richtige Wahl und +richtige Schätzung ihrer Lektüre zu sein.</p> + +<p>Es wäre mir eine Freude, wenn das Buch sich in dieser Richtung als +praktisch und brauchbar erweisen sollte.</p> + +<p><em class="gesperrt">Görlitz</em>, den 28. März 1904.</p> + +<p class="mright5 mbot2"><b>Martin Schian.</b></p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Bedeutung_des_Romans">Die Bedeutung des Romans.</h2> +</div> + + +<p>Wer läse heutzutage nicht Romane? Gewiß, es gibt Romanverächter. +Aber sie sind weiße Raben. Jeder Gebildete liest sie, Mann wie Frau. +Leihbibliotheken, Romanzeitungen, Familienblätter aller Arten und +Richtungen machen den Roman leichter zugänglich als irgend eine andere +Literaturgattung. Und zu der Masse der minder Gebildeten findet der +Roman seinen Weg durch die Riesenauflagen der Tageszeitungen und der +Gegenstände der Kolportageliteratur.</p> + +<p>Man liest Romane, aber — man studiert nicht den Roman. Ich rede nicht +von den Fachmännern der Literaturgeschichte. Den gebildeten Romanleser +klage ich an.</p> + +<p>Wer beschäftigt sich mit der Geschichte des Romans? Das Wichtigste aus +der Geschichte des Liedes und des Dramas gehört zum eisernen Bestand +des Wissens-Inventars eines gebildeten Menschen; und schon die Schule +legt den Grund dazu. Aber wie viele haben ein geschultes Urteil über +die Bedeutung der wesentlichen Romanerscheinungen?</p> + +<p>Wir forschen nach der Ursache dieses merkwürdigen Kontrastes zwischen +der ungeheuren Nachfrage nach dem Roman selbst und der geringen +Neigung, sich wissenschaftlich mit ihm zu befassen. Es gibt nur eine +Erklärung: <em class="gesperrt">man unterschätzt den Roman</em>. Das ist ja psychologisch +zu verstehen. Für unendlich viele ist er nichts<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> als ein Mittel +zur Vertreibung der Langeweile. Sie verlangen nichts anderes von +ihm, als daß er sie unterhalte. Sie wählen daher aus dem Leichten +das Leichteste. Unreife Geister suchen in ihm ein Mittel pikanten +Genusses. Stunden, die für harte Pflichten bestimmt sind, werden der +Lektüre geopfert. So verbindet sich für nicht wenige Leser mit dem +Begriff Roman so etwas wie schlechtes Gewissen. Und das beeinflußt +wieder das Urteil über den Roman selbst.</p> + +<p>Aber was hat der Roman als Literaturgattung damit zu schaffen, wenn +ihn Unreife als Weg zum falschen Zweck gebrauchen? Wenn sie das +Seichte aus seinen Schätzen heraussuchen und das Gehaltvolle liegen +lassen? Schon um des unermeßlichen Einflusses willen, den er auf +breite Schichten übt, ist der Roman aller Beachtung wert. Aber auch +nach seinem Eigenwert steht er nicht zurück. Er ist anerkannt als +<em class="gesperrt">vollberechtigtes Glied der epischen Dichtung</em>. Man streitet +darüber, ob die Prosaform zu seinem Wesen gehöre oder nicht. Nun, es +gibt Romane in Versform. Was sind jene Gedichte der höfischen Zeit +des 12. Jahrhunderts mit ihren Heldenpaaren Floris und Blancheflur, +Tristan und Isolde, dazu jene Erzählung vom Grafen Rudolf, der in den +Kreuzzug geht, anderes, als Liebesromane nach französischem Muster? +Aber trotzdem wird freilich festzuhalten sein, daß die Prosaform die +für den Roman normale, ja für den ausgebildeten Roman einzig mögliche +ist. In seinem Werte verliert er dadurch nicht; denn die Prosa ist +Kunstform, gerade so gut wie der Vers. Was aber dem Roman seine +ganz besondere Bedeutung verleiht, das ist gerade <em class="gesperrt">seine Eigenart +innerhalb des Gebietes der epischen Dichtung</em>.</p> + +<p>Haben Sie schon einmal versucht, mit kurzen Worten das Wesen des +Romans zu bestimmen? Nun, jedenfalls schwebt uns allen eine Art +Definition des Romans vor:<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> wir denken ihn als <em class="gesperrt">komplizierte +Erzählung</em>. Kompliziert ist er nach Form und Inhalt: das +scheidet ihn von der einfachen, schlichten <em class="gesperrt">Erzählung</em>, von +der kunstvollen, aber knappen, nur einem Faden der Entwickelung +folgenden <em class="gesperrt">Novelle</em>. Komplizierte Erzählung muß er sein, nicht +etwa um der erhöhten Spannung willen, sondern weil er nur so seiner +Aufgabe genügen kann. <em class="gesperrt">Diese Aufgabe aber ist, ein Stück Weltbild +zu geben</em>, sei es in engerem oder in weiterem Rahmen. <em>Nil +humani a me alienum puto</em>, sagt der Roman. Nichts Menschliches +ist ihm fremd. Was das Getriebe der Welt ausmacht, was der Zeit ihr +Gepräge gibt, die geschichtlichen Verhältnisse, die Kulturzustände, +die gesellschaftliche Gliederung, die inneren bewegenden Fragen, die +gesamte Weltanschauung, vor allem die Menschen, die in all diesen +Verhältnissen mitten darin stehen, sie bestimmend und doch wieder +durch sie bestimmt, — das alles gehört zum Apparat des Romans. +Ein Weltbild gibt der Roman; darum kann er nie zeitlos sein, wie +denn auch die Menschen nie zeitlos sind. Darum steht er in so engem +Verhältnis zur Wirklichkeit; Roman einerseits — Märchen, Sage, +Phantasie andererseits sind Gegensätze wie Feuer und Wasser. Er kann +aus dem Weltbild, das er zeichnet, je nach Absicht recht verschiedene +Züge vorzugsweise herausarbeiten — entweder mehr die innere +Entwickelung der handelnden Personen oder mehr das Milieu, in dem die +Menschen stehen. Er kann mehr Geschichte oder mehr Kultur oder mehr +Weltanschauung geben — je nachdem. Aber er muß immer konkret sein in +der Gestaltung, klar und scharf in der psychologischen Erfassung, fein +und wahr in der Verknüpfung aller in sein Gebiet gehörenden Elemente. +Er kann ein Weltbild der Vergangenheit darzustellen suchen, dann +wird er zum historischen Roman. Oder er kann der Gegenwart den Puls +fühlen. Ja, wenn er will, kann er tastend in die Zukunft greifen;<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> +freilich nicht ohne die akute Gefahr einer Grenzüberschreitung. Denn +über das, was einst wirklich sein wird, haben wir im besten Fall +begründete Vermutungen. Ob er in Vergangenheit oder Gegenwart weilt, +— es steht ihm jedesmal frei, auf das äußere oder das innere Leben +den Hauptakzent zu legen. Nur wird der historische Roman immer auch +die äußeren Konturen der Zeitverhältnisse breiter schildern müssen +als der moderne Roman, der vieles als bekannt voraussetzen kann. Auch +nach der Methode, wie der Dichter seinen Gegenstand behandelt, müssen +wir Unterschiede machen. Der eine schließt in zartem Empfinden von der +Erzählung manches aus, was auch im Leben mit einem Schleier bedeckt zu +werden pflegt; der andere steigt in die Tiefe und malt schonungslos +und rücksichtslos Häßliches so gut wie Schönes, ja das Häßliche +vielleicht mit noch größerer Liebe. Und wiederum: während mancher +Roman nichts will als schildern, nichts als photographieren, legen +andere in ihr Bild der Wirklichkeit Gedanken und Tendenzen hinein — +politische, religiöse, sittliche. Sie zeichnen im Ausschnitt ein Stück +Welt, auf dem sich gerade ein Problem zusammenballt, das seiner Lösung +harrt; und sie geben solche Lösung oder predigen resignierten Verzicht +auf solche Lösung. In all diesem aber gilt, welcher Art der Roman auch +sei, ob welthistorisch, kulturhistorisch oder modern durch und durch, +— ob idealistisch oder naturalistisch, — ob er mehr äußeres oder +mehr inneres Erleben bringe, — ob er den Knoten im äußeren Laufe der +Dinge sich schürzen läßt oder ob er Probleme der Weltanschauung wälzt, +— in alledem gilt, daß der Roman <em class="gesperrt">von der wirklichen Welt nicht +loskommen kann und nicht loskommen darf</em>. Ein wirkliches Weltbild +zu geben ist seine Aufgabe. Und diese Aufgabe gibt ihm einen hohen +Wert. Nicht <em class="gesperrt">allein</em> nach dem Grad, in welchem er dieser Aufgabe +genügt, bestimmt sich seine Qualität; denn auch die künstlerische<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> +oder unkünstlerische Form hat da mitzusprechen. Aber vornehmlich ist +es der Maßstab der Wirklichkeit, der an den Roman anzulegen ist. Der +Wert aber, den er so gewinnt, besteht in der Kraft, mit der er den +Blick schärft, in der weiten Umschau, die er über den eigenen engen +Gesichtskreis hinaus dem Leser ermöglicht, in der Energie, mit welcher +er zwingt, Fragen zu durchdenken, die sonst undurchdacht bleiben +würden, endlich in der feinen, festhaltenden Form, in welcher er all +dies vermittelt.</p> + +<p>Ich brauche nicht erst zu erklären, daß es auch wertlose Romane gibt. +Aus der Charakteristik des Romans, die ich zu bieten versuchte, +erhellt das ganz von selbst. Ein Roman, der seiner ganzen Art +nach nichts anderes kann, als Spannung der Nerven erzielen, ist +wertlos. Aber man pflegt ja auch den Wert des lyrischen Gedichts +nicht nach den Ergüssen der Friderike Kempner zu beurteilen. Also +schätze man den Roman nicht ein nach dem platten Liebesroman, in dem +sie sich schließlich aus alle Fälle kriegen, auch nicht nach dem +pikant-lüsternen oder naturalistisch-frivolen Unterhaltungsroman +und erst recht nicht nach dem haarsträubenden Hintertreppenroman! +<em class="gesperrt">Der wirkliche Roman, der sich zur Aufgabe setzt, in möglichst +vollendeter Darstellung ein Weltbild zu geben, ist jedenfalls als ein +Bildungsmittel ersten Ranges zu werten.</em></p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Aus_der">Aus der +Vorgeschichte des modernen Romans.</h2> +</div> + + +<p>Man hat dem 19. Jahrhundert tausend Titel gegeben, um seine neuen +Errungenschaften anzudeuten. Es ist das Jahrhundert der Technik, das +Jahrhundert der Naturwissenschaften. Aber es ist auch das Jahrhundert +des Romans, dieses so beschriebenen Romans. Freilich die Anfänge des +Romans, ja eine Art Vorblüte desselben sind schon älteren Datums.</p> + +<p>Was ists, das in mittelalterlicher Zeit Singen und Sagen des deutschen +Volkes regiert? Ritterliches Wesen, kraftvolles Heldentum, ruhmreiche +Taten beherrschen die Phantasie. Wer wagt es, von Bürgerleben oder +harter Bauernarbeit viel zu reden? Rittertum, etwa noch mit Weisheit +verbunden, füllt mit seinem Glanze die Welt. Dies Weltbild reflektiert +sich in jenem ältesten poetischen Roman unserer Literatur, den ein +Mönch, dessen Namen wir nicht kennen, etwa um die Mitte des 11. +Jahrhunderts im bayrischen Kloster Tegernsee geschrieben hat. Noch +kleidet sich seine Dichtung in das fremdländische Gewand lateinischer +Hexameter. Aber der Held <em class="gesperrt">Ruodlieb</em> ist ein deutscher Ritter. +Ein König, in dessen Heer er große Taten getan, gibt ihm zwölf +Weisheitslehren; und Ruodlieb hat sie im Lauf der Erzählung +wahrscheinlich alle zwölf selbst erprobt; — sicher ist es nicht, weil +nur Bruchstücke des Werkes auf uns gekommen sind.</p> + +<p>Lange bleibt Ruodlieb in seiner Art allein; aber als dann ähnliche +Schöpfungen zahlreicher erwachsen, ist es<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> noch immer das Rittertum, +welches die Situation beherrscht. Freilich nicht mehr allein das +ritterliche Heldentum, sondern zugleich die ritterliche Liebe. +Kreuzzugsabenteuer spiegeln sich wieder in den deutschen Versen von +<em class="gesperrt">Floris und Blancheflur</em>. Der heidnische Königssohn Floris +entbrennt in Liebe zu Blancheflur, der Tochter eines christlichen +Kriegsgefangenen. Blancheflur wird in ein anderes Land verkauft; +Floris sucht und findet sie bei einem Fürsten der Sarazenen. Er weiß +in den Turm zu gelangen, in dem sie gefangen gehalten wird, und +erfreut sich ihrer Liebe bis — zum Tag der Entdeckung. Ihre treue +Liebe siegt auch über den Grimm des Fürsten, der sie vereint zur +Heimat ziehen läßt. Dies Liebespaar, in deutschen Versen besungen, +ist typisch für jene Zeit und für zahlreiche andere ähnlich gefeierte +Paare. <em class="gesperrt">Tristan und Isolde</em> werden von Eilhart von Oberge, in +vollendeter Gestalt von Gottfried von Straßburg besungen. Was für ein +Bild jener suchenden und fragenden, religiös-ernsten und zugleich +naiv-heldenmäßigen Ritterzeit gibt Wolfram von Eschenbachs berühmter +<em class="gesperrt">Parzival</em>!</p> + +<p>Die Wandlung der Zeiten läßt sich trefflich in den Wandlungen der +romanartigen Dichtung verfolgen. Das Rittertum tritt zurück; aber die +naive Freude am Äußerlich-Großen und Wunderbaren nicht. Freilich, man +zehrt im 14. und 15. Jahrhundert von der Vergangenheit; noch ist das +Neue nicht in klarem Werden. Diese Epoche ist die Zeit der sogenannten +»<em class="gesperrt">Volksbücher</em>«. Die Stoffe der höfischen Epen verarbeiten +sie in ungebundener Rede, aber auch andere Gegenstände ziehen sie +herbei, — freilich mehr neue Namen als neue Gedanken. Sie greifen, +um ihre Helden zu wählen, in die fernste Vergangenheit zurück, bis +in die Zeiten des trojanischen Kriegs oder Alexanders des Großen. +Aber sie verschmähen zum gleichen Zweck auch nicht die Gestalten +der Karolingerzeit; und schließlich fehlen Helden wie Fortunatus +mit seinem Glückssäckel<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> nicht. Wunderbare Taten gewaltiger Männer, +traurige und fröhliche Schicksale tugendhafter Frauen werden immer +wieder behandelt. Alles in allem kein Fortschritt, vor allem nicht in +der Schärfe der Zeichnung des gegenwärtigen Weltbildes; eher verflacht +der Roman, weil die Neigung zum Abenteuerlichen die zum Wirklichen +überwiegt.</p> + +<p>Das Bürgertum tritt mit dem ausgehenden Mittelalter viel stärker +hervor als je zuvor. Erst fühlt es sich noch in der Notwendigkeit, +den eigenen Wert und die eigene Geltung gegenüber den Ritterbürtigen +zu erzwingen. Aber bald wird es zum ausschlaggebenden Faktor. +So lassen denn die Romane des Reformationszeitalters — genannt +seien vor allem die des <em class="gesperrt">Jörg Wickram</em> — jene Kluft zwischen +Rittertum und Bürgertum noch hervortreten; aber die Liebenden +pflegen, wenn Standesunterschiede sie trennen, eben diese Kluft +glücklich zu überwinden. Und in manchem Roman dieser Zeit hat das +Bürgertum allein die führende Rolle! Neue Gegenstände gewinnt so die +Dichtung: bürgerliches Familienleben, Schule und Beamtenlaufbahn, +des Kaufmannsstandes Leiden und Freuden. Eine neue Betrachtungsweise +beherrscht sie: diejenige der gutbürgerlichen Moral, deren höchste +Kleinodien eine glückliche Ehe, sorgsame Kindererziehung und gute +Nachbarschaft sind. Auch diese Art hat mannigfache Spielarten: neben +Jörg Wickram steht der Straßburger <em class="gesperrt">Johann Fischart</em> mit seiner +humoristisch-satirischen Kraft, seinem deutsch-patriotischen Sinn +und seiner urwüchsig originalen Art, fremdländische, namentlich +französische Stoffe selbständig zu verarbeiten. Von seinen Schöpfungen +sei wenigstens das humoristische Prosawerk genannt, welches Rabelais' +Gargantua und Pantagruel zum Vorbild hat.</p> + +<p>Das leidvolle 17. Jahrhundert weist wohl auch eine Romandichtung +auf, die ernst und klar in die schweren Zeiten hineinschaut: der +<em class="gesperrt">Simplizissimus</em> von Grimmelshausen ist zugleich ein Kind +und ein Bild jener Zeit.<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> Aber sonst gewinnt es den Anschein, als +wolle die Dichtkunst die lastentragenden Zeitgenossen vor allem +aus ihrer eigenen harten Zeit herausführen. Die ungeheuerlichen +Fabelgeschichten, welche das Gerippe der erzählenden Prosaschöpfungen +bilden, das sich breitmachende und im Roman an den Mann gebrachte +ethnographische Wissen, die gelehrte Umständlichkeit, mit der +französische Galanterie sich merkwürdig paart, — das alles zeigt +dem forschenden Leser freilich doch das Wesen der Zeit, in der jene +Romanschreiber lebten.</p> + +<p>Und wie prägt sich erst die ganz besondere Art des Jahrhunderts der +Aufklärung in der weitverästeten Romanliteratur desselben aus! Der +Blick weitet sich; neue soziale und kulturelle Probleme tun sich +auf. Robinson Krusoe kommt diesem Ausbreitungstrieb entgegen; der +<em class="gesperrt">Reiseroman</em> fängt an, das Feld zu beherrschen. Aber mit wieviel +moralischer Lehrhaftigkeit und kleinkrämerischem Wissensdünkel +verbindet sich in dem philosophischen Jahrhundert das Ahnen der +neuen Zeit! Wie sehr verdrängt die Künstelei die einfache, klare +Nüchternheit, die Reflexion die Natur, die Empfindelei das schlichte +Gefühl! Es war ein Jahrhundert, das in Empfindungen und Gefühlen, in +Gedanken und Philosophemen, in Theorien und Plänen schwelgte. Der +Roman bildet ein Ragout aus allen diesen Zutaten; und die Moral ist +die keineswegs immer schmackhafte Sauce, mit der er angerührt ist. Wir +sind kaum imstande, von diesem Roman aus eine gerade Verbindungslinie +nach dem modernen Roman des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Zum mindesten +gilt das vom Durchschnittsroman der Aufklärungszeit. Aber es gilt +doch zu einem großen Teile auch noch von den Romanen des gefeierten +<em class="gesperrt">Wieland</em>. Den Pulsschlag der neuen Zeit spüren wir frisch und +lebenskräftig erst bei Goethe.</p> + +<p>Allerdings, ein Literaturhistoriker wie Max Koch läßt den neueren +deutschen Roman von Wieland ausgehen.<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> Ein solches Urteil respektieren +wir, zumal wenn es sich mit Lessing verbündet, der Wielands Roman +»Agathon« als »den ersten und einzigen deutschen Roman für den +denkenden Kopf von klassischem Geschmacke« bezeichnet hat. In +<em class="gesperrt">einer</em> Hinsicht fällt es auch dem Modernen nicht schwer, dies +Urteil zu unterschreiben. Der »Agathon« ist wirklich ein Roman für +den <em class="gesperrt">denkenden</em> Kopf. Das dritte Buch gibt ja eine vollkommene +»Darstellung der Philosophie des Hippias.« Es ist die Philosophie des +»echten Materialisten«, die Lehre vom skrupellosen Genuß, die hier in +nicht weniger als fünf Kapiteln ausführlich dargelegt wird. Und diese +Theorie des Materialismus bildet nicht etwa einen Fremdkörper in dem +Roman; im Gegenteil, sie dient als notwendiges Glied dem einen Zweck, +der Erziehung des Agathon durch alle Lebenslagen hindurch, bis er zu +der gefestigten Erkenntnis kommt, daß »wahre Aufklärung zu moralischer +Besserung das einzige ist, woraus sich die Hoffnung besserer Zeiten, +das ist, besserer Menschen, gründet.« Zu denken also ist hier genug; +es fragt sich nur, ob die Philosophie nicht in zu reichlicher Dosis +gegeben ist, — reichlicher, als es sich für den Romancharakter +schicken will. In der Tat liegt in der ziemlich äußerlichen Verbindung +von Handlung und Lehre der Hauptfehler des »Agathon«. Er ist eine +lange und breite moralische Erzählung, aber kein Roman. Eine Anhäufung +einzelner moralischer Geschichten und Lebensläufe (des Agathon, der +Danae) bringt noch keine in sich geschlossene Handlung heraus. Und +schließlich leidet Handlung wie Moral unter der Einkleidung ins Gewand +des griechischen Altertums. Da mögen sich sehr feine Parallelen +ergeben, und mancher Vergleich reizt den geistreichen Schriftsteller. +Aber durch die Vermischung moderner Abzweckung und antiker Einkleidung +fällt doch auch die Möglichkeit dahin, mit der Wirklichkeit Ernst zu +machen. Es kommt nicht zu tiefgreifender psychologischer Erfassung;<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> +die Erzählung bleibt im oberflächlichen moralischen Schema, das ein +paar unmoralische Zwischenstadien übrigens nicht ausschließt. Das +Ganze wird schemenhaft, aber nicht lebensvoll. Wieland verstand es +nicht, volles Menschenleben zu greifen; er blieb in philosophischen +Kategorien stecken. Und darum geht der neuere deutsche Roman trotz +allem nicht von Wieland aus. Sein Schöpfer ist Goethe.</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_5"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Goethe_der_Schoepfer">Goethe der Schöpfer +des modernen deutschen Romans.</h2> +</div> + + +<p>Wodurch ist Goethe der Schöpfer des modernen deutschen Romans +geworden? Durch »Werthers Leiden«, durch »Wilhelm Meisters +Lehrjahre« und durch desselben »Wanderjahre« oder durch die +»Wahlverwandtschaften«? — Durch keins dieser Werke allein, aber durch +sie alle zusammen.</p> + +<p>Merkwürdig, wie verschieden unter sich diese Prosadichtungen des +Meisters sind! Da ist keine Schablone und kein Schema. Da ist jedesmal +aufs neue frisches Leben. Da ist lebendige Entwickelung von Werk zu +Werk, Entwicklung in Sprache und Gedanken.</p> + +<p>Die »<em class="gesperrt">Leiden des jungen Werthers</em>« sind der einzige Roman des 18. +Jahrhunderts, der heute noch gelesen wird. Das Neue in ihm hat das +Alte vergessen lassen. Auch aus dem Werther redet ja der empfindsame +Geist der Aufklärungsepoche. Der »Held«, dieser leidende Werther, hat +eigentlich unendlich wenig Männliches. Es geht ihm wie den Schiffen im +Märchen vom Magnetberg, dessen er selbst sich entsinnt. »Die Schiffe, +die zu nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die +Nägel flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen +den übereinander stürzenden Brettern.« Lotte ist der Magnet, der das +letzte Bischen Kraft aus dem liebenden Werther zieht. Der Freund rät: +»Suche einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Kräfte +verzehren muß!« Aber das Übel hat ihm die Kräfte<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> schon verzehrt. Was +für ein haltloses Klagen und Zagen! Wieviel Tränen und Kniefälle! Wie +lang gesponnene Ergüsse! Die Leidenschaft ist als schwere Krankheit +geschildert:</p> + +<p>»Die menschliche Natur ... hat ihre Grenzen; sie kann Freude, Leid, +Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, +sobald <em class="gesperrt">der</em> überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob +einer schwach oder stark ist? sondern ob er das Maß seines Leidens +ausdauern kann.«</p> + +<p>Und diese Krankheitsgeschichte ist noch dazu breit erzählt; Gespräche, +Reflexionen, Schilderungen, die nur lose zur Sache selber gehören, +sind eingestreut. Vor allem aber: es ist fast nichts als eben +Krankheitsgeschichte. Wie wenig plastisch treten die Menschen hervor, +die neben dem Helden ein bischen mithandeln! Jene Hofgesellschaft +wird freilich beschrieben, die Menschen, deren ganze Seele auf dem +Zeremoniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, +»wie sie um einen Stuhl weiter hinauf bei Tische sich einschieben +wollen.« Jener Graf wird gezeichnet, — der edle, feingebildete +Mann der wirklich großen Welt. Aber das sind Beigaben; die Welt des +Romans ist eng; sie beschränkt sich im letzten Grund auf das Herz des +Liebeskranken.</p> + +<p>Aber all dies Alte tritt in den Hintergrund gegenüber dem Neuen. Und +dies Neue ist die trotz alledem <em class="gesperrt">packende und einheitlich klare +Zeichnung des Innenlebens eines Liebenden</em>. Wir mögen im einzelnen +hunderterlei einzuwenden haben, mancher Leser wird sicher ganze Seiten +überschlagen; — das Ganze faßt uns immer wieder an. Und nicht bloß, +weil es den Sentimentalen genugtut und die Seele mit üppigem Mitleid +füllt. Nicht bloß, weil der schaurige Ausgang, wunderbar knapp, wie er +beschrieben ist, uns mit Grausen erfüllt. Sondern den<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> Ausschlag gibt +etwas anderes. Goethe hat es selber später gesagt:</p> + +<p>»Gehindertes Glück, gehemmte Tätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind +nicht Gebrechen einer besonderen Zeit, sondern jedes einzelnen +Menschen, und es müßte schlimm sein, wenn nicht <em class="gesperrt">jeder einmal in +seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der Werther vorkäme, als +wäre er bloß für ihn geschrieben</em>.«</p> + +<p>Ich glaube ja, daß es nicht die Schilderung von gehemmtem Glück und +unbefriedigten Wünschen im allgemeinen ist, welche immer wieder +neue Leser im Werther sich selber finden läßt. Im Roman sind +diese unbefriedigten Wünsche doch sehr konkret in einen einzigen +zusammengefaßt: in das leidenschaftliche Begehren des Mannes nach +dem Weib seiner Liebe. Freilich seufzt Werther, nachdem der Anlauf +zu amtlicher Tätigkeit fehlgeschlagen: »Damals sehnte ich mich in +glücklicher Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich +für mein Herz so viele Nahrung, so vielen Genuß hoffte, meinen +strebenden, sehnenden Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt +komme ich zurück aus der weiten Welt — o mein Freund! mit wie viel +fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Plänen!« Aber +auch dies Intermezzo der amtlichen Tätigkeit wirkt erst dadurch, daß +es die große Leidenschaft zum Hintergrund hat. Im übrigen trifft es +gewiß zu: es hat mancher seine Zeit im Leben, wo es ihm vorkommt, als +sei der Werther nur für ihn geschrieben. Gerade die unglückliche, +aussichtslose Leidenschaft mit ihren feinen Konsequenzen, mit +ihren unsinnigen und doch von dem einen Mittelpunkt her völlig +verständlichen Äußerungen ist aus der Seele nicht <em class="gesperrt">eines</em> +Menschen, sondern der Menschheit heraus geschildert. Wer aber auch +jene Zutaten mitwägt, jene uns fremd anmutenden Besonderheiten, der +muß zugeben, daß dies <em class="gesperrt">Allgemein-Menschliche zugleich mit den +charakteristischen<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> Farben einer bestimmten Zeit geschildert</em> +ist. Und unter diesem Gesichtspunkt wird auch das wertvoll, was +sonst beiseite bliebe: jene Neigung, den herrschenden Begriffen +über Sitte und Recht den Krieg zu erklären, die Sünden in Schutz zu +nehmen, welche die herkömmliche Moral verurteilt. In der Empörung +der Leidenschaft gegen die nüchterne Urteilsweise der »vernünftigen +Leute« nimmt Werther in Schutz, was sonst überall verurteilt wird: +den Dieb, welcher stiehlt, um sich und die Seinigen vom Hungertod zu +erretten, den Ehemann, der im gerechten Zorn sein untreues Weib und +deren Verführer aufopfert, den Unglücklichen, der sich entschließt, +die sonst angenehme Bürde des Lebens abzuwerfen. Mit dieser +leidenschaftlichen Auflehnung gegen die geltende Moral verbindet +sich eine herbe Kritik der »fatalen bürgerlichen Verhältnisse«, der +Art, wie der Unterschied der Stände betont wird, der Hohlheit und +Umständlichkeit des Amtsverkehrs und der Regierungsmaschinerie. +Nicht bloß die unbändige Leidenschaft spricht, sondern zugleich die +revolutionäre neue Zeit.</p> + +<p>Ist der »Werther« alles in allem die Geschichte einer Leidenschaft, so +sind »<em class="gesperrt">Wilhelm Meisters Lehrjahre</em>« die Geschichte der Bildung +ihres Helden, — Bildung im weitesten Sinne genommen. Im Werther alles +Gefühl, alles Empfindung, alles Leidenschaft; im Wilhelm Meister +alles Überlegung, alles Gedanke, alles Berechnung. Grundverschieden +sind beide Schöpfungen; aber jede traf eine Saite in dem Herzen der +Menschheit des 18. Jahrhunderts. Denn die Erziehung durch das Leben, +wie die Fragen der Erziehung überhaupt, gehörte zum eisernen Bestand +des Nachdenkens der damaligen aufgeklärten Welt.</p> + +<p>Haben Sie Wilhelm Meister auch nur in den Lehrjahren einmal ganz +gelesen? Es ist das nicht jedermanns Sache. Es verlangt Energie +und Beharrlichkeit. Und das liegt nicht bloß an der Wucht der +Gedanken. Seitenweise sind Sentenzen zusammengestellt, deren jede +einzelne<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> angespanntestes Nachdenken fordert. Es liegt aber auch an +der Form und der Einkleidung des Romans. Gestehen wir es uns doch +offen, daß die geringfügige, magere Handlung unter den unzähligen +eingeschobenen Reflexionen fast erstickt. Da finden sich ausgesponnene +Selbstschilderungen wie die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, da +breit wiedergegebene Unterhaltungen, die lediglich eine bestimmte +Ansicht entwickeln sollen, ob sie auch für den Gang des Ganzen wenig +oder nichts bedeute, da jene Sammlungen tiefsinniger Aussprüche, +die so ziemlich alle Lebensfragen in ihren Bereich ziehen. Das +Bischen Handlung, das wir herausschälen, ist wieder noch unendlich +verzettelt, dazu manchmal mehr als zufällig aufgereiht, ganz ohne +notwendigen äußeren Zusammenhang. Wilhelm Meister, eines Kaufmanns +Sohn, geht auf Geschäftsreisen aus, verliert aber den eigentlichen +Zweck seiner Sendung ganz aus dem Auge und läßt sich erst fast +willenlos, nachher halb absichtlich, von Erlebnis zu Erlebnis, von +Abenteuer zu Abenteuer, von Bekanntschaft zu Bekanntschaft, von Ort +zu Ort treiben. Erst bildet seine Umgebung eine Schauspielertruppe +mit mannigfachen und wechselnden Gestalten; dazu die geheimnisvollen +Erscheinungen Mignons und des alten Harfners. Neben seiner ersten +Angebeteten, Marianne, und neben der leichtfertigen Philine lernt er +in Aurelie eine leidvoll-ernste Frau kennen; und die ganz ohne äußeren +Zusammenhang eingeschalteten »Bekenntnisse einer schönen Seele« lassen +ihn in ein innig frommes, fast skrupulös gewissenhaftes Herz blicken. +Allerhand sonderbare Geschicke führen ihn in ein gräfliches Haus und +später für länger in adlige Kreise, zugleich zu einer großen Zahl +neuer, für ihn bedeutungsvoller Persönlichkeiten. In dieser Umgebung +gewinnt er endlich eine Lebensgefährtin in der zu diesen Kreisen +gehörigen Natalie.</p> + +<p>Es ist nicht leicht, das Wirrwarr all dieser Erlebnisse<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> zu sichten. +Das Ergebnis ist ja auch kein befriedigendes: äußerlich genommen ists +ein Labyrinth, durch das Goethe uns führt. Keine klare Entwickelung, +kein straffer Gang der Erzählung. Allerdings soll nach des Dichters +Absicht dies alles doch nicht wie zufällig sein. Vielmehr ist eine +geheimnisvolle Macht mit im Spiele, die sogenannte Gesellschaft des +Turms, die an dem Helden Interesse genommen hat und deren Glieder je +und je in bedeutungsvollen Augenblicken, meist als Größe X, in sein +Leben eingegriffen haben. Ihr Zweck war seine Bildung. Sie haben ihre +Absicht aber so verfolgt, wie der Grundsatz es eingab: »Nicht vor +Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern +den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern +ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum +nur kostet, hält lange damit Haus, er freuet sich dessen als eines +seltenen Glücks; aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennen +lernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.«</p> + +<p>Uns Heutigen kommt, wenn wir Wilhelm Meisters Irrwege betrachten, +nicht bloß die Frage, die ihm selber sich auf die Lippen drängt:</p> + +<p>»Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten +und wußten, was darauf zu tun sei, warum führten sie dich nicht +strenger? warum nicht ernster? warum begünstigten sie deine Spiele, +anstatt dich davon wegzuführen?«, sondern uns erscheint dieses ganze +geheimnisvolle Walten der Gesellschaft vom Turm als in hohem Grade +sonderbar. Goethe hat damit eine Einkleidung des Romans gewählt, die +seiner Zeit nahe lag und vertraut war, die aber zu dem Gut seiner Zeit +gehörte, das am schnellsten veralten mußte. Jedenfalls bringt uns +diese die Vorsehung spielende Gesellschaft den Roman nicht näher.</p> + +<p>Wenn Wilhelm Meisters Lehrjahre trotzdem einen<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> hohen Wert als +Fundamentstein für den Bau des modernen deutschen Romans beanspruchen +können, so danken sie das dem tiefen und reichen Gedankenmaterial, +welches sie bergen. Wilhelm Meisters <em class="gesperrt">Bildungsgang</em> ist ihr +Thema. Alles Einzelne, was er erlebt, auch jeder Irrtum, den er +begeht, dient seiner Bildung. In der Schauspielerzeit lernt er: +»Man soll sich vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit +auszuüben nicht Hoffnung hat.« Aber er trägt auch anderen Gewinn +davon. Er hat gelernt die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen +haben kann. Auch äußerlich hat er sich ausgebildet: er hat »viel von +seiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt«, seine Sprache und Stimme +ausgebildet. Aber sein Bildungstrieb geht weiter. Ihm schwebt jene +»harmonische Ausbildung« vor, die ihm seine Geburt versagt zu haben +scheint, weil sie nach der herrschenden Verfassung der Gesellschaft +nur dem Edelmann, nicht dem Bürger zukommt. »Ein Bürger kann sich +Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; +seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er +will.« Dem Edelmann dagegen ist eine gewisse allgemeine, personelle +Ausbildung möglich; »er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß +dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine, stille Gefühl der +Grenzlinie, die ihm gezogen ist.« Goethe läßt seinen Helden durch den +Umgang mit jenen Adelskreisen, schließlich durch die Heirat mit einer +Adligen in dieses Sperrgebiet harmonischer Ausbildung eindringen. +So gewinnt der Roman zugleich soziale Bedeutung; der dritte Stand, +der sich in der französischen Revolution so nachdrücklich in die +Weltgeschichte eingeführt hatte, pocht mit starker Hand an die ihm +bisher verschlossenen Pforten. Goethe öffnet ihm das Paradies der +Bildung; und in der schließlichen engen Verbindung des Bürgers- +und des Adelsstandes, einer Verbindung, die noch durch zwei andere +Ehebündnisse<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> dokumentiert wird, läßt er in prophetischer Voraussicht +Schranken fallen, die vielen dazumal noch als unüberwindlich galten.</p> + +<p>Neben diesen Grundgedanken ist in dem breiten Gedankenstrom der +Lehrjahre noch manches Tiefe und Wertvolle auf uns gekommen, teils +in engerem, teils in loserem Zusammenhang mit der Hauptidee. Ich +schätze diesen Reichtum des Werkes höher als etwa die Art seiner +Charakterschilderung. So sehr die bunte Reihe kaleidoskopartig +auftauchender und wieder verschwindender Figuren benützt wird, um +Wilhelm Meister zu bilden, — klar und scharf herausgearbeitet sind +die wenigsten von ihnen. Ja es zeigt sich gerade in diesen Gestalten +ein ganz eigentümlicher Mangel an konkreter Darstellung. Mehr als +eine von ihnen ist sozusagen ohne Zusammenhang mit der umgebenden +Welt. Ihr Wesen wird nur in ein paar wichtigen Zügen der inneren Art +gezeichnet; alles andere bleibt im Dunkel. Der Mensch kann aber nicht +ortlos, zeitlos, geschichtslos geschildert werden. Infolgedessen +bleiben manche der Goetheschen Personen geradezu Gerüste, die mit +ein paar gerade erforderlichen Eigenschaften behängt sind. Die +Methode der Namengebung paßt ganz zu diesem Verfahren. Da kommt der +Graf, der Prinz, der Marchese; wo aber wirklich ein bestimmter Name +einem bestimmten Träger gegeben wird, bleibt es für gewöhnlich beim +Vornamen: Lothario, Friedrich, Marianne, Philine, Natalie usw.</p> + +<p>All dies hängt aufs engste mit der Art zusammen, wie Goethe im Wilhelm +Meister bestimmte geschichtliche Einzeichnung in eine klar erkennbare +Zeit vermeidet. Seine Zeit ist natürlich die Zeit des Romans. Manche +Einzelheiten lassen das erkennen. Der prinzliche Heerführer ist z. B. +Prinz Heinrich von Preußen. Aber das sind Einzelheiten; und auch sie +geben nur zufällige Winke. Rings um die handelnden — oder vielmehr +meist nicht<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> handelnden — Personen brauen wallende Nebel, wogt +ungewisses Dämmerlicht. Allenfalls die Theaterverhältnisse sind klarer +beschrieben; aber auch hier ist die Zeichnung nicht scharf. Nur in +Einem ist das Wesen der Zeit klar wiedergegeben: in Stimmungen und +Gedanken über die innersten Fragen menschlicher Charakterentwickelung, +wie das oben zu schildern versucht wurde. —</p> + +<p>Ich darf »<em class="gesperrt">Wilhelm Meisters Wanderjahre</em>« hierfüglich übergehen. +Sie sind nichts als eine Folge von Novellen; der einheitliche +Romancharakter fehlt ganz. Sie stehen noch viel mehr wie die Lehrjahre +im Banne des reinen, abstrakten Gedankens; und noch viel stärker +als in diesen verblaßt in den Wanderjahren alles Persönliche, alles +Konkret-Zeitliche, alles Individuelle. Liebhaber tiefer und feiner +Gedanken, die sich nicht scheuen, solche unter schwerverständlicher +Symbolik mühsam zu ergründen, finden selbstverständlich auch hier ihre +Rechnung. Aber ein Roman sind die Wanderjahre nicht. Dagegen muß an +dritter Stelle hier die Rede sein von den Wahlverwandtschaften, — ob +man dies Werk nun als Novelle oder, wozu seine umfassende Anlage doch +wohl berechtigt, als Roman bezeichnet.</p> + +<p>Auch die »<em class="gesperrt">Wahlverwandtschaften</em>« zeigen, wieviel Goethe für +die erzählende Prosadichtung der <em class="gesperrt">Gedanke</em> bedeutete. Auch +hier wieder die langen Unterhaltungen über allerhand allgemeine +Gegenstände. Auch hier die eingestreuten Sentenzen, in Bündel +gesammelt in den Abschnitten aus Ottiliens Tagebuche. Man hat den +Eindruck, daß Goethe vielmehr daran lag, diese wertvollen Gedanken und +feinen Aperçus unterzubringen, als eine bestimmte Handlung einheitlich +und geschlossen durchzuführen. Auch hier wieder jene undeutliche +Umzeichnung des Erzählungsgebiets, jene Zeit- und Geschichtslosigkeit +des Ganzen. Eduard ist ein reicher Baron. Aber wann? Und wo? Eduard +zieht in den Krieg. Aber in welchen?<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> Endlich auch hier jene +Unpersönlichkeit mancher Persönlichkeiten, z. B. des lediglich nach +seiner Vermittelungsleidenschaft benannten Mittler, aber auch anderer: +des Grafen, der Baronesse, ja bis zu einem gewissen Grade selbst der +Hauptpersonen.</p> + +<p>Auf der anderen Seite aber stehen für den Roman doch nicht bloß +eine große Zahl feiner Einzelgedanken und tiefsinniger Gespräche, +auch nicht allein die viel stärker hervortretende Kunst in der +Charakterisierung der wichtigsten Personen. Äußerlich genommen, fehlt, +wie angedeutet, manches, um sie zu klar umrissenen Persönlichkeiten +zu machen; aber ihr Inneres ist mit ganz anderer Kraft und Liebe +gezeichnet, als das von den Personen im Wilhelm Meister gelten +konnte. Genannt sei nur Ottilie, die mit feinster Seelenkunde und +mit wunderbarer Liebe geschildert ist. Wichtiger aber noch ist mir +an den »Wahlverwandtschaften«, wie in ihnen <em class="gesperrt">Gedanke und Handlung +zu einem Ganzen verschmolzen sind</em>. Die Handlung ist nicht mehr +die Gelegenheit, eine Reihe von Gedanken, die man sonst nicht gut +plazieren kann, auf gute Manier loszuwerden; sondern sie ist die +Durchführung des Gedankens selbst. Die Gedanken gehen nicht mehr neben +der Entwickelung her, sondern sie prägen sich in ihr aus. <em class="gesperrt">Die +Handlung ist der Ausdruck des Gedankens, der Gedanke die Seele der +Handlung.</em> Damit ist der gewaltigste Schritt in der Entwickelung +des Romans getan.</p> + +<p>Eduard und Charlotte, die sich erst in reiferem Alter, aber durchaus +infolge von Neigung und Liebe zur Ehe verbunden, leben auf stattlichem +Schlosse, beide mit der Absicht, allein für einander zu leben. Aber +sie gewähren bald noch zwei Nahestehenden die Teilnahme an ihrer +Häuslichkeit, dem Hauptmann und Ottilien. Charlotte hat dieser +Gewährung nicht ohne Bedenken zugestimmt. Und in der Tat: es kommt +hier mit den vier auf engem Raum vereinigten Menschen, wie es in +der Chemie mit<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> verwandten Substanzen zu geschehen pflegt. Da sind +diejenigen Fälle des gegenseitigen Sichanziehens und Sichscheidens +die merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses +Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen +kann, wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung +gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue +verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen +und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man +traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu, und hält das +Kunstwort Wahlverwandtschaften für vollkommen gerechtfertigt.</p> + +<p>Es kommt mir hier nicht darauf an, den Gang der Erzählung +wiederzugeben; dazu sind Goethes Dichtungen zu allgemein bekannt. Nur +das Problem, das der Roman behandelt, soll herausgestellt werden. +Es geschieht, was in dieser Beschreibung des chemischen Prozesses +angedeutet ist: Eduard faßt eine tiefe und erwiderte Neigung zu +Ottilie; und Charlotte und der Hauptmann finden sich gleichfalls in +gegenseitiger Liebe. Die weitere Entwickelung verläuft nicht ohne +Berücksichtigung der Eigenart jeder in Betracht kommenden Person. +Der Hauptmann und Charlotte wissen sich zu beherrschen; nicht +ebenso Eduard und Ottilie. Eduard entbrennt zu heftiger, auch durch +lange Entfernung nicht gemilderter Leidenschaft. Ottilie ihrerseits +verzichtet erst, nachdem Eduards und Charlottes ihr anvertrautes Kind +nicht ohne ihre Schuld den Tod gefunden hat, das Kind, das durch +seine Gesichtszüge der Zeuge der Liebe ist, die jedes der Eltern, die +ihm sein Leben gegeben, für einen andern als den Ehegatten gefühlt. +Eduard, völlig haltlos seiner Leidenschaft hingegeben, geht an ihr +zugrunde. Das Problem hat seine Lösung gefunden. Die Menschen haben +Wahlverwandtschaft gefühlt, wie jene chemischen Substanzen sie haben. +Aber sie haben sich nicht willenlos wie diese<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> verhalten. Wenn auch +durch unendlich viel Weh hindurch, — die ursprüngliche, durch die +Ehe gegebene Gemeinschaft ist aufrecht erhalten. Das ist die völlig +einheitliche, in allen Verwickelungen klar durchgeführte Absicht: +die Heiligkeit, die Unlösbarkeit der geschlossenen Ehe soll gezeigt +werden. Und — vom Wert dieser These hier gar nicht zu reden — die +Konsequenz, mit welcher dieses eine Thema behandelt wird, und zwar +nicht nur disputatorisch und abstrakt, sondern wie die Geschehnisse +selbst es behandeln, — diese Art macht die Wahlverwandtschaften zum +ersten Roman, der — obschon mit manchen Schwächen — der Idee des +Romans voll entspricht. Sie gestaltet ihn zu einem einheitlichen, +in der Handlung selbst und nach den scharf erfaßten Gesetzen +seelischer Anlagen das Leben abbildenden und die Gedanken des Lebens +wiedergebenden Kunstwerk. —</p> + +<p>Lassen Sie mich, nachdem ich die drei Hauptwerke Goethes auf dem +Gebiete der erzählenden Dichtung in Kürze gewürdigt habe, mit ein +paar Sätzen zusammenfassend die <em class="gesperrt">Bedeutung Goethes für den modernen +deutschen Roman</em> skizzieren!</p> + +<p>Diese Bedeutung beruht <em class="gesperrt">zunächst</em> auf der tiefen +<em class="gesperrt">psychologischen Kraft</em>, mit welcher Goethe Menschen seiner +Zeit erfaßt und dargestellt hat. Was seinen Romanen auch auf dem +Gebiete der Psychologie Unbefriedigendes anhaftet, ist genügend +erwähnt. Aber die Tatsache wird davon nicht berührt, daß <em class="gesperrt">er der +Erste war, der es verstand, Menschen bis in die Tiefe der Seele zu +schauen</em>. Was ist hier Wieland gegen Goethe? Ein Stümper gegenüber +dem Meister. Wie bleibt bei Wieland, auch in seinem Agathon, jeder +psychologische Ansatz auf der allerobersten Oberfläche! Und wie tief +greift der Werther! Wie tief auch die Wahlverwandtschaften, ja in +vielem auch Wilhelm Meister! Es bleibt ja dabei, daß wir auch von ihm +keine allseitig<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> ausgeführten, nach den mannigfachen Verzweigungen +menschlicher Interessen hin weitergeführten Charakterbilder erhalten. +Die psychologische Kraft konzentriert sich stets nur auf ein enges +Gebiet: im »Werther« auf die wahnsinnige Leidenschaft des Mannes +zum Weibe, im »Meister« auf das Streben eines glücklich beanlagten +Bürgerlichen nach der harmonischen Ausbildung seiner ganzen +Persönlichkeit, in den »Wahlverwandtschaften« auf die gegenseitigen +Beziehungen der durch Ehe oder Wahlverwandtschaft mit einander +verbundenen Personen. Aber in dieser Beschränkung bewundern wir +den ungeheuren Reichtum, die fein pointierte Einzelkraft seiner +psychologischen Wiedergabe.</p> + +<p><em class="gesperrt">Zum andern</em> muß trotz aller Einwendungen, die erhoben wurden, +doch gelten, daß Goethe auch in der <em class="gesperrt">Art, wie seine Romane zum +Zeitbild werden</em>, alle Vorgänger weit hinter sich gelassen hat. +Allerdings, man wird es ja so, wie geschehen, formulieren müssen. Sie +<em class="gesperrt">wollen</em> kaum ein Zeitbild sein; sie <em class="gesperrt">werden</em> es nur. Hätten +sie es gewollt, sie würden den Leser ganz anders in die Welt Goethes +eingeführt haben, als sie es tun. Goethe hat diese Aufgabe dem Roman +nicht klar gestellt. Trotzdem hat er dieselbe wenigstens angefaßt. +Wir sahen, wie der »Werther« in die sozialen und in die moralischen +Stimmungen der Zeit hineinleuchtet. Wir sahen, wie »Wilhelm Meister« +nicht etwa bloß die Theaterverhältnisse beschreibt, sondern wie er +die gesamte aufstrebende Bildungssehnsucht des deutschen Bürgers +samt den ihn begegnenden Hindernissen versinnbildlichte. Und auch +die »Wahlverwandtschaften« lösen ein Zeitproblem: die Ehe und den +Ehebruch. Und daß so nicht irgendwelche erkünstelte Altertümelei, +sondern einfach das Wesen der Zeit seine Prosaschöpfungen beseelt, das +hat ihnen weitreichende Wirkung verschafft.</p> + +<p><em class="gesperrt">Endlich</em> — indem ich von der Fülle trefflicher Gedanken, +welche Goethes Romane bergen, hier nicht<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> nochmals besonders rede +— beruht Goethes Bedeutung für den modernen deutschen Roman auf +der <em class="gesperrt">Kunst, mit welcher er durch die Entwickelung der Handlung +selbst zu reden weiß</em>. Handlung ohne Gedanken hat auch der +Schauerroman, Gedanken ohne Handlung bilden gar keinen Roman; und +eine Handlung, in die Gedanken gesprächsweise lose eingefügt sind, +schafft ein Zwitterwesen, aber kein Kunstwerk. Der »Werther« und +vor allem die »Wahlverwandtschaften« haben alle diese Klippen +— im ganzen genommen — überwunden. Hier haben die Handlungen +selber Gedanken. Und indem die Handlung zugleich den Gesetzen des +psychologischen Geschehens folgt, verlieren auch die Gedanken den +Charakter des Zufällig-Herangebrachten. Hier, vor allem in den +»Wahlverwandtschaften«, haben wir ein, wenn auch nicht vollkommenes, +aber doch meisterhaftes Vorbild für die eigentliche Kunstform des +modernen Romans.</p> + +<p>Wir haben von Goethe selbst einige Äußerungen theoretischer Art über +das Wesen des Romans. Im »Werther« sagt Lotte:</p> + +<p>»... Der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, +bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so +interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das +freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher +Glückseligkeit ist.«</p> + +<p>Und im »Wilhelm Meister« vergleicht er Roman und Drama:</p> + +<p>»Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der +Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußeren +Form ... Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten +vorgestellt werden, im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß +langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf +welche Weise es wolle,<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung +aufhalten. ... Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht in hohem +Grade wirkend sein; von dem Dramatischen verlangt man Wirkung und Tat +....«</p> + +<p>Es ist deutlich, daß diese Bestimmungen wertvolle Elemente für die +Erkenntnis des Wesens des Romans enthalten. Bis zu einem gewissen +Grad stellt der Leser mit Recht den Anspruch, im Roman seine Welt +wiederzufinden. Wenn es im Roman so »zugeht wie um mich«, so ist +damit ein gut Teil Realistik, ein ernstes Stück Wirklichkeitskraft +verlangt. Und daß der Roman Gesinnungen und Begebenheiten darstelle, +trifft gleichfalls zu. Aber gerade diese letzte Definition bedarf +der Korrektur. Es darf kein Gegensatz konstruiert werden zwischen +Gesinnungen und Begebenheiten einerseits, Charakteren und Taten +anderseits. Gesinnung und Charakter gehören so gut zusammen wie +Begebenheiten und Taten. Wenn der Romanheld wirklich leidend sein +müßte, dann kämen allerdings dem Roman nur Begebenheiten zu, nicht +Taten. Aber er muß handeln <em class="gesperrt">und</em> leiden, wie das Leben handeln +und leiden läßt. Übrigens sind die Wahlverwandtschaften bereits +über den Rahmen dieses Programms hinausgegangen; es sind doch schon +Charaktere und in gewissem Sinne auch Taten, die hier den Handelnden +beigelegt werden. Nicht auf diesen Sätzen über den Roman, sondern auf +den Schöpfungen selbst ruht Goethes Bedeutung.</p> + +<p>Daß Goethe seinerseits auf Vorgängern fußte, will ich hier nur +andeuten. Die »<em>Nouvelle Héloise</em>« Rousseaus ist das Vorbild des +Werther gewesen: es sollte nicht das letzte Mal sein, daß französische +Romandichtung die deutsche beeinflußte. Aber was in Goethes Romanen +wirkte, das ist doch eben von ihm selber hineingelegt gewesen. Und sie +haben gewirkt! »Werther« hat eine ganze Literatur an Streitschriften +wie an Nachahmungen<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> hervorgerufen. »Wilhelm Meister« ist bahnbrechend +geworden für den vielgepflegten Bildungsroman des 19. Jahrhunderts, +dem er geradezu das Schema geschaffen hat. Aber es sind nicht bloß +diese direkten, augenfälligen Wirkungen gewesen, welche von Goethes +Romandichtung ausgegangen sind. Nein, in alledem, was als die Kraft +dieser seiner Dichtung bezeichnet wurde, hat er Spätere tief und +nachhaltig beeinflußt: <em class="gesperrt">in der Tiefe der psychologischen Einsicht, +in der unbeirrten Wiedergabe des Zeitempfindens, in der Kunst, welche +Handlung und Gedanken in eins schuf. Durch all dies ward Goethe der +Schöpfer des modernen deutschen Romans.</em></p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_6"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Roman_und_Novelle_der_Romantik">Roman und Novelle der Romantik.</h2> +</div> + + +<p>Goethe ist der Schöpfer des modernen deutschen Romans. Der Gesamtlauf +des 19. Jahrhunderts bestätigt diesen Satz. Der Anfang des 19. +Jahrhunderts allein kann ihn nicht erschüttern.</p> + +<p>Merkwürdig allerdings, daß die ersten Jahrzehnte desselben +unmittelbar nach Goethes großen Romanen, ja unter seinen Augen eine +Prosadichtung heranwachsen lassen, deren innerstes Wesen von jener +Wirklichkeitskraft Goethes, die das eigentliche Schöpferisch-Neue in +seinen Romanen bildet, so gut wie unberührt war! Spuren Goethescher +Einwirkung findet man freilich auch in den Romanen und Novellen +der Romantik. <em class="gesperrt">Novalis</em> »Heinrich von Ofterdingen« behandelt +wie »Wilhelm Meisters Lehrjahre« eine Bildungs-Entwickelung, +<em class="gesperrt">Schlegels</em> »Lucinde« gibt gleichfalls eine Art Lehrjahre. Aber +nicht die abgeklärte psychologische Kraft aus »Wilhelm Meister« +finden wir hier wieder, — vielmehr eher das, was den »Werther« +gegenüber allem Späteren als ein Werk jugendlichen Sturmes und Dranges +kennzeichnet: den Überschwang, die Maßlosigkeit, die Krankhaftigkeit +der Gefühle. Es war mehr die Form, die Leitidee, die man Goethe +entnahm; sein Geist war in der Romantik nicht lebendig.</p> + +<p>Viel eher kann man in den romantischen Erzählungen die Nachwirkungen +eines Anderen, dazumal Hochgefeierten und doch sehr viel Kleineren +spüren, des unendlich fruchtbaren <em class="gesperrt">Jean Paul</em>. Er ist 1825 +gestorben; aber seine Zeit ist die des 18. Jahrhunderts, dessen Ende +die<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> Entstehung seiner bedeutendsten Romane sah. Erwarten Sie hier +keine ausführliche Darlegung über seinen »Titan«, seinen »Siebenkäs« +oder seine »Flegeljahre«! Sie gehören alle zusammen dem zu Grabe +gegangenen Zeitalter an. Ich leugne nicht, daß in ihnen Tiefes, +Schönes, Ergreifendes steht. Ich leugne noch weniger, daß zahlreiche +Unterhaltungsschriftsteller, die sich im Übrigen ganz der modernen +Schule zurechnen, in ihrem ganzen Leben auch nicht einen einzigen +Gedanken von der Tiefe und der Anmut aufgebracht haben, welche +unzählige Stellen in Jean Pauls Romanen aufweisen. Vielleicht schlagen +Sie einmal das 58. Kapitel der »Flegeljahre« auf, das den Titel +»Erinnerungen« führt:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich möchte wohl Tage lang über die kleinen Frühlingsblümchen der +ersten Lebenszeit reden und hören. Im Alter, wo man ohnehin ein +zweites Kind ist, dürfte man sich gewiß erlauben, ein erstes zu sein +und lange zurückzuschauen ins Lebens-Frührot hinein. Da offenbar' +ichs gern, daß ich mir höhere Wesen, z. B. Engel, ordentlich weniger +selig aus Mangel an Kindheit denken kann, wiewohl Gott vielleicht +keinem Wesen irgend eine Kindheits- oder Vergißmeinnichtszeit mag +abgeschlagen haben, da sogar Jesus selber ein Kind war bei seiner +Geburt. Besteht denn nicht das gute Kinderleben nur aus Lust und +Hoffnung, Bruder, und die Frühregen der Tränen fliegen darüber nur +flüchtig hin?« — — —</p> +</div> + +<p>Aber bei allem Tiefen und Feinen und Zarten, das in diesen Romanen +steckt, fehlt ihnen doch ein wichtiges Erfordernis gerade des +Romans: Klarheit und Schärfe in der Erfassung und in der Darstellung +des wirklichen Lebens. Charakteristische Streiflichter, treffende +satirische Bemerkungen, brillante Humoristika, auch einmal frappante +Zeichnungen irgend welcher Originalfiguren, — das alles haben sie. +Aber eben dies alles bleibt eine Summe von beigegebenen<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Einzelheiten. +Die Kraft des Ganzen ist Gemüt und Geist, aber nicht Wahrheit. Tausend +Lichter und Schatten huschen über die ruhige, klare, nüchterne +Menschenwelt. Warum sie sehen, wenn die Beleuchtung die objektivste +Betrachtung ermöglicht? Warum nicht lieber, wenn die Dämmerung die +Umrisse etwas gefälliger macht oder wenn Nacht und Mond das Nüchterne +phantastischer gestalten? Warum Interesse nehmen am Gewöhnlichen, +Alltäglichen und nicht lieber am Besonderen, Seltenen, Sonderbaren, — +und wenn es gleich verschroben wäre? Warum die Menschen sehen, wie sie +dem Auge sich bieten? Warum nicht lieber aus ihrer Seele verborgensten +Winkeln ihre Merkwürdigkeiten herausholen? — Und endlich hat +Jean Paul noch eins nie verstanden: nämlich warum der Dichter die +prosaische Pflicht haben solle, einfach nach der Ordnung der Dinge +in Reih und Glied zu erzählen. Ihm paßt es viel besser, Ruhepunkte +einzuschieben, die zu beschaulichen Betrachtungen Gelegenheit geben, +Seitensprünge zu machen, die angenehme Abwechslung bringen. Aber was +bei alledem herauskommt, das ist schließlich eine seltsame Mischung +von ein wenig Wahrheit mit viel Dichtung, von wenig Zusammenhang +und vielen einzelnen Schönheiten, von manchem Natürlichen und +unendlich viel Schrulligem, von Ernst und Humor, von Wirklichkeit und +Phantastik. Weltbilder, Menschenbilder geben diese Romane nicht, nur +ein Bild einer reichen, tiefen, wennschon seltsamen Seele, nämlich der +des Verfassers.</p> + +<p>Dieses Mannes Einfluß auf seine Zeitgenossen ist nicht zu +unterschätzen. In <em class="gesperrt">Börne's</em> Denkrede nach seinem Tod hieß es: +»Fragt ihr, wo er geboren, wo er gelebt, wo seine Asche ruhe? Vom +Himmel ist er gekommen, aus der Erde hat er gewohnt, unser Herz +ist sein Grab.« Kein Wunder, daß auch die Dichtkunst sich von ihm +bestimmen ließ. In manchem Phantastischen und Bizarren, in manchem +Poetisch-Feinen, vor allem aber in der Unbesorgtheit<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> um die wirkliche +Welt, wie die romantische Schule sie zeigt, erkennen wir — bei aller +sonstigen Eigenart Jean Pauls — doch eben Geist von seinem Geist.</p> + +<p>Die <em class="gesperrt">Romantik</em> war es, welche in den ersten Jahrzehnten des 19. +Jahrhunderts auch Roman und Novelle weithin beherrscht hat. Was ist +die Romantik? Eine Stimmung, die überall sein kann, nur da nicht, +wo scharfes, helles Licht die Dinge in ihrem Wirklichkeitsbestand +zu sehen zwingt. Aber sie gedeiht, wo Helldunkel herrscht, wo das +Licht einen farbigen, milderen Ton bekommt, wo die Sonnenstrahlen nur +durch dichtes Strauchwerk spärlichen Schein werfen können, wo hohe +Kirchenfenster ihnen eine feierliche Weihe geben. Und noch besser +wächst sie empor, wo Dämmerung herrscht, wo die Schatten der dunkeln +Nacht zu regieren beginnen. Es ist klar, wo diese Stimmung ihre Feinde +sucht. Der klare Geist, der denkende Geist, der philosophische Geist, +der protestantische Geist sind ihr fremd; aber dem poetischen Zauber, +der Welt des Traums, dem katholischen Kultus, dem Wunder ist sie hold.</p> + +<p>Diejenige dichterische Schule, der man den Namen der romantischen zu +geben pflegt, ist in Roman, Erzählung und Novelle fruchtbar genug +gewesen. Hier soll keine Registratur von Namen und Titeln ihren Platz +finden. Aber an <em class="gesperrt">Novalis</em>, <em class="gesperrt">Friedrich von Schlegel</em> und +<em class="gesperrt">Ludwig Tieck</em>, an <em class="gesperrt">Eichendorff</em> und <em class="gesperrt">Brentano</em>, an +<em class="gesperrt">Friedrich de la Motte-Fouqué</em> und <em class="gesperrt">Kleist</em> muß wenigstens +in Kürze erinnert werden. Einiger bedeutenderer Werke aus dieser +Zeit und von dieser Art wird im Folgenden besondere Erwähnung getan +werden. Denn wie läßt sich das, was die Romantik auf diesem Gebiet +geschaffen, besser darstellen als durch die Einführung in einige ihrer +charakteristischen Werke? Wie lassen sich die wunderbar mannigfaltigen +Arten dieser Gattung klarer überschauen, als wenn<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> man versucht, die +wichtigsten derselben wenigstens in <em class="gesperrt">einer</em> Dichtung zu erfassen?</p> + +<p>Im Roman der Romantik regiert die Stimmung des <em class="gesperrt">Dichters</em>. Und +zwar des Dichters im besonderen, eigentümlichsten Sinn. Manche können +Dichter und Träumer nicht unterscheiden; soweit die Romantik in Frage +kommt, haben sie Recht. So ists denn kein Zufall, daß der einzige +Roman des gefeierten <em class="gesperrt">Novalis</em>, der unvollendet gebliebene +»<em class="gesperrt">Heinrich von Ofterdingen</em>«, eine Dichtung über den Dichter +ist. Novalis hat nach Ludwig Tiecks Bericht noch sechs andere Romane +schreiben wollen, um darin seine Ansichten über Physik, bürgerliches +Leben, Handlung (d. h. Handel), Geschichte, Politik und Liebe +niederzulegen, so wie in Heinrich von Ofterdingen die über Poesie. Mit +der Poesie begann er; sie lag ihm am nächsten.</p> + +<p>Im Mittelpunkt des Romans steht der bekannte mittelalterliche +Minnesänger Heinrich von Ofterdingen. Aber Novalis hat sich weder +genau an die Person noch an die Zeit desselben gehalten. Er läßt +Heinrich als eines Handwerkers Sohn zu Eisenach geboren sein. Der +Jüngling reist mit der Mutter nach Augsburg ins großväterliche Haus. +Die Reisegesellschaft bilden Kaufleute, die das gleiche Ziel haben. +Unterwegs machen die Reisenden die Bekanntschaft eines Bergmanns, der +sie in eine mächtige Höhle führt. In dieser Höhle findet man Friedrich +von Hohenzollern als Einsiedler hausen. Die Reise wird fortgesetzt; +in Augsburg lernt Heinrich den Dichter Klingsohr und seine Tochter +Mathilde kennen. Mit der Verbindung Heinrichs mit Mathilde schließt +der erste Teil: »Die Erwartung«. Im zweiten Teil, der den Titel +»Die Erfüllung« tragen sollte, wird Heinrich in einem Kloster von +den Priestern des heiligen Feuers in jungen Gemütern über Tod und +Magie unterwiesen; dann befindet er sich in Italien im Krieg, in +Griechenland in Gesprächen über Kunst und Moral, im Morgenland, wo er +dessen Leben<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> in Vergangenheit und Gegenwart kennen lernt, in Rom, +in Deutschland am Hof Kaiser Friedrichs. Nach wunderbarem Wettgesang +erlebt er seine Verklärung.</p> + +<p>So arm an Handlung der erste Teil ist, so reich an Abwechslung +sollte danach der zweite werden. An Abwechslung, aber auch er nicht +an Handlung. Verschiedene Schauplätze, aber an jedem nicht viel +anderes als Gespräche, Märchen, Sagen, Phantasien. Die Ausführung +wäre gewiß in derselben Art gehalten worden wie in dem fertig +gestellten Bruchstück. Dessen Charakter ist freilich ausgeprägt +genug. Seine Welt ist die Wunderwelt. Die Gesetze des Geschehens +existieren in ihr nicht. Die auftretenden Personen kommen gar nicht +als Personen in Betracht, geschweige denn als besondere, individuelle +Menschen; sie sind nichts als das Sprachrohr für sinnvolle Märchen, +tiefe Belehrungen. Es werden auch nicht etwa die gleichen Personen +festgehalten, sondern sie kommen und gehen, ja sie selbst sind +urplötzlich wieder andere Personen. Novalis lebt in der Welt des +Traums, des phantastischen Märchens. Seine einzige Absicht ist, »das +eigentliche Wesen der Poesie auszusprechen und ihre innerste Absicht +zu erklären«. Ihm wandelt sich alles in Poesie; denn sie ist der +Geist, der alle Dinge belebt. Eben in diesem Wesen der Poesie liegt +es ihm beschlossen, daß in seiner Dichtung Zeit und Raum aufhören. +<em class="gesperrt">Tieck</em>, dessen Worte ich eben schon mehrfach benützt habe, weiß +diese Denkart trefflich zu schildern:</p> + +<p>»Dem Dichter, welcher das Wesen seiner Kunst im Mittelpunkt ergriffen +hat, erscheint nichts widersprechend und fremd, ihm sind die Rätsel +gelöst, durch die Magie der Phantasie kann er alle Zeitalter und +Welten verknüpfen, die Wunder verschwinden und alles verwandelt sich +in Wunder.«</p> + +<p>Das, was der erste Teil dieses wirklich wunderbaren Romans gibt, +ist nun freilich von gewaltiger dichterischer Schönheit. Gleich im +Eingang wird ein Traum berichtet,<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> dessen Verlauf für die Entwicklung +des Romans bedeutsam ist; Heinrich schaut in ihm die blaue Blume der +wirklichen Dichtung. Erst durchlebte er im Traum ein unendlich buntes +Leben, starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft und +war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. Endlich gegen +Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner +Seele; klarer und bleibender wurden die Bilder ... Nach wunderbaren +Wegen kommt er endlich zur Stätte der blauen Blume.</p> + +<p>»Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger +Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als +das gewöhnliche; der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn +aber mit voller Macht anzog, war eine hohe, lichtblaue Blume, die +zunächst an der Quelle stand und ihn mit ihren breiten, glänzenden +Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von +allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah +nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer +Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal +sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender +und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich +nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten +Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.«</p> + +<p>Diese blaue Blume, die Poesie, bildet das Ziel der Gesamtentwicklung +des Dichters. Am letzten Ende kommt Heinrich »in jenes wunderbare +Land, in welchem Luft und Wasser, Blumen und Tiere von ganz +verschiedener Art sind, als in unserer irdischen Natur.« »Menschen, +Tiere, Pflanzen, Steine und Gestirne, Elemente, Töne, Farben kommen +zusammen wie Eine Familie, handeln und sprechen wie Ein Geschlecht. +— Blumen und Tiere sprechen über den Menschen. — Die Märchenwelt +wird ganz sichtbar,<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> die wirkliche Welt selbst wird wie ein Märchen +angesehen.« In diesem Land findet Heinrich die blaue Blume, — +freilich nicht ohne daß nun an diese Blume Allegorie um Allegorie +sich anschließen. Die blaue Blume ist »Mathilde, die schläft und den +Karfunkel hat; ein kleines Mädchen, sein und Mathildens Kind, sitzt +bei einem Sarge und verjüngt ihn. — Dieses Kind ist die Urwelt, die +goldene Zeit am Ende.«</p> + +<p>Eine Probe dichterischer Schöpfungskraft ist dieser Traum von der +blauen Blume; eine Probe wunderbar in Phantastik und Allegoristik +verschwimmender Darstellung ist die Erzählung von der Auffindung +dieser blauen Blume, wie sie eben kurz angedeutet ward. Das ist ja +eben das Wesen des ganzen Fragments: <em class="gesperrt">dichterische Herrlichkeit, +vermählt mit märchenhafter Unmöglichkeit</em>. Im Sinne des Dichters +ist diese Vermählung natürlich; ihm liegt die Poesie weit hinaus über +die Welt des Wirklichen. Im Sinne der Romantik ist diese Verbindung +verständlich; Novalis hat die romantische Art nur bis zur äußersten +Spitze getrieben. Alles Wirkliche, alles Tatsächliche liegt hinter +ihm in wesenlosem Scheine. Wir aber fragen, ob wirklich Poesie +und Märchenwelt untrennbar verbunden sind, ob der Haß gegen die +Tatsachen, der in dieser Liebe für das Wunderbare beschlossen ist, zum +eigentlichen Wesen der Poesie gehört. Vor allem aber ist der »Heinrich +von Ofterdingen« durch diesen Haß alles andere als ein Roman geworden. +Nichts von Welt und Zeit, nichts von Handlung und Empfindung, nichts +von Entwicklung und Psychologie. <em class="gesperrt">Der gefeiertste Roman der Romantik +ist ein mystisch-allegorisches Märchenwerk, aber nun und nimmer ein +Roman.</em></p> + +<p>Was für ein anderes Leben in einer weiteren Schöpfung der Romantik, +die gerade des Gegensatzes wegen unmittelbar neben den »Heinrich +von Ofterdingen« gestellt sein mag, — in <em class="gesperrt">Joseph Freiherrn +von Eichendorffs</em> reizender<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> Novelle »<em class="gesperrt">Aus dem Leben eines +Taugenichts</em>«. Dort alles ernste, tiefe, getragene Poesie; hier +alles frische, fröhliche, muntere Laune. Das Rad an der Mühle braust +und rauscht lustig, die Goldammer am Fenster ruft gleichfalls lustig: +»Bauer, behalt deinen Dienst!« und der Müllerssohn zieht mit seiner +Geige und ein paar Groschen Geld zufrieden in die weite Welt hinaus.</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»Wem Gott will rechte Gunst erweisen, </div> + <div class="verse indent0">Den schickt er in die weite Welt, </div> + <div class="verse indent0">Dem will er seine Wunder weisen </div> + <div class="verse indent0">In Berg und Wald und Strom und Feld!«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Was erlebt der Wandersmann nicht alles in der weiten Welt! Ein paar +schöne Damen heißen ihn auf ihrer Kutsche aufsitzen; im Schlosse, +da sie wohnen, wird er Gärtner und huldigt der »schönen gnädigen +Frau«; und die gnädige Frau nimmt seine Huldigung an. Er avanciert +zum Zolleinnehmer und führt ein Leben in Nichtstun und Verehrung der +»schönen gnädigen Frau«. Bis er seine Angebetete einst an der Seite +eines jungen Herrn auf des Schlosses Balkon erscheinen sieht. Da läßt +er alle Bequemlichkeit im Stich und zieht wieder mit der Fiedel ins +Land. Er kommt nach Italien und in ein schönes Schloß und wird dort +gehegt und gepflegt und entflieht wieder, weil er eingesperrt wird, +und kommt nach Rom und glaubt seine »schöne gnädige Frau« zu sehen und +findet sie doch nicht. Aber auf eine Botschaft hin kehrt er zu jenem +ersten Schloß bei Wien zurück und erhält die Hand der gnädigen Frau, +— nur daß sie keine Gräfin ist, wie er geglaubt, sondern die Nichte +des Portiers. Aber was tut das? Sie lassen die ganze andere Welt um +sich untergehn und haben sich lieb und alles, alles ist gut! Durch die +ganze Erzählung hindurch ists ja von Abenteuer zu Abenteuer gegangen; +der Taugenichts ist von Ort zu Ort und von Land zu Land gekommen und +hat nicht gewußt, wie ihm geschah und der Leser hats<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> ebenso wenig +gewußt. Nur eins hat er gemerkt, daß es auf jeder Seite klingt wie +Lieb und Lust, wie Jubel und Jauchzen, wie Lerchenzwitschern und +wunderbar schöner Gesang. Und das hat er gelernt, daß es dem Dichter +nicht darauf ankommt, ein Stückchen zu berichten, wie es geschehen +sein könnte oder etwa noch einmal vor sich gehen möchte, sondern daß +ihm die Laune die Feder geführt und der Übermut in allen Fingern +gezuckt hat, weil er — ob noch so wunderlich und noch so toll — dies +allein zeigen wollte:</p> + +<p>»Die Liebe — darüber sind nun alle Gelehrten einig — ist eine der +kouragiösesten Eigenschaften des menschlichen Herzens, die Bastionen +von Rang und Stand schmettert sie mit einem Feuerblicke darnieder, +die Welt ist ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja, sie ist +eigentlich ein Poetenmantel, den jeder Phantast einmal in der kalten +Welt umnimmt, um nach Arkadien auszuwandern. Und je entfernter zwei +getrennte Verliebte von einander wandern, in desto anständigeren Bogen +bläst der Reisewind den schillernden Mantel hinter ihnen auf, desto +kühner und überraschender entwickelt sich der Faltenwurf, desto länger +und länger wächst der Talar den Liebenden hinten nach, so daß ein +Neutraler nicht über Land gehen kann, ohne unversehens auf ein paar +solche Schleppen zu treten.«</p> + +<p>Nun, was Eichendorff gewollt, das ist ihm trefflich gelungen. Wer +zieht nicht gern mit dem Taugenichts in die Welt? Wer singt nicht mit +ihm aus vollem Herzen:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent1">»Die Bächlein von den Bergen springen, </div> + <div class="verse indent0">Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, </div> + <div class="verse indent0">Was sollt' ich nicht mit ihnen singen </div> + <div class="verse indent0">Aus voller Kehl' und frischer Brust?« </div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Wem wendet sich nicht das Herz um, wenn die allerschönste Dame die +Gitarre in den weißen Arm nimmt und dazu so wundersam über den Garten +hinaus singt? Wer möchte nicht mit dem Taugenichts weinen, weil +<em class="gesperrt">sie</em><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> so schön ist und er so arm und verspottet und verlassen +von der Welt? Wer säße nicht gern mit ihm auf dem Bänkchen vor seinem +Einnehmerhaus, wenn die Sonne eben untergeht und das ganze Land +mit Glanz und Schimmer bedeckt und die Donau sich prächtig wie von +lauter Gold und Feuer in die weite Ferne schlängelt und von allen +Bergen bis tief ins Land hinein die Winzer singen und jauchzen? Und +so folgen wir ihm willig auch weiter, und kein Abenteuer ist uns zu +sonderbar und kein Rätsel zu toll; es ist eben ein Dichter von Gottes +Gnaden, der uns ins Wunderland führt. Es bedarf ordentlich erst +des Zwanges der Selbstbesinnung, um von dem holden Traum, den wir +mitgeträumt, zu erwachen. Ists nicht besser, weiter zu träumen — ins +Unendliche hinein? Hat die Dichtung nicht ihre Aufgabe gelöst, wenn +sie uns die harte Wirklichkeit vergessen lehrt? Für die Romantiker: +ja. Von ihrem Standpunkt aus bedeutet die liebenswürdige Novelle +Eichendorffs einen Wurf von hoher Vollendung. Für uns andere aber +beginnt mit dem Erwachen auch die harte Pflicht des Zweifels. Nicht +etwa des Zweifels an der poetischen Schönheit und Lieblichkeit. Aber +des Zweifels, ob ein Werk den Namen Novelle mit Recht trage, welches +vielmehr ein Märchen ist denn eine Erzählung. Es bedarf ja keines +weiteren Wortes darüber: von der wirklichen Welt, in der wir leben, +führt uns Eichendorffs lustige Laune gerade so weit ab wie Novalis +mystische Allegorienfreude. Und wenn man der erzählenden Dichtung, +dem Roman wie der Novelle, das Gebiet der wirklichen Welt zuweist, +mit der Bestimmung, sie mit dichterischer Kunst zu durchdringen und +darzustellen, dann liegt auch Eichendorffs »Aus dem Leben eines +Taugenichts« weit, weit ab vom klar gezeichneten Wege.</p> + +<p>Es ist nicht möglich, ein vollständiges Bild der romantischen +Prosadichtung zu geben, ohne in die Schilderung wenigstens eine +knappe Skizze von <em class="gesperrt">Friedrich von<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> Schlegels</em> »<em class="gesperrt">Lucinde</em>« +aufzunehmen. Diese Sammlung von Fragmenten zu einem Roman hat zu +viel Anlaß zu Streit und Widerstreit, zu Begeisterung und deutlicher +Ablehnung gegeben, sie ist zugleich allzu charakteristisch für weite +und breite Strömungen innerhalb der romantisch gestimmten Kreise, +als daß sie hier übergangen werden könnte. <em class="gesperrt">Schleiermacher</em> hat +einst, bald nach ihrem 1799 erfolgten Erscheinen, in »Vertrauten +Briefen über Schlegels Lucinde« sie ein »ernstes, würdiges und +tugendhaftes Werk« genannt. Aber auch <em class="gesperrt">Schleiermacher</em> stand +damals im Bann der Romantik; und sein Urteil war kein objektives. +Max <em class="gesperrt">Koch</em> nennt das Buch sehr treffend eine »kraft- und +formlose Empfehlung der freien Liebe«. Aber lassen wir das Urteil +vom Standpunkt der Moral einmal ganz beiseit, wie wir auch bisher +nicht den Maßstab bestimmter Anschauungen angelegt haben! Was ists +eigentlich um die »Lucinde«?</p> + +<p>Eine Reihe von äußerlich nicht zusammenhängenden Skizzen zieht am +Leser vorüber; gemeinsam ist ihnen der Titel: Bekenntnisse eines +Ungeschickten. Es sind Briefe, Phantasien, eine »Allegorie von der +Frechheit«, eine »Idylle über den Müßiggang«, Betrachtungen und, +unter dem Titel »Lehrjahre der Männlichkeit«, eine zusammenhängende +Schilderung. Julius ist der Held derselben. Ein völlig zerrütteter, +haltloser, dekadenter Charakter. »Eine Liebe ohne Gegenstand brannte +in ihm und zerrüttete sein Inneres. Bei dem geringsten Anlaß brachen +die Flammen der Leidenschaft aus; aber bald schien diese aus Stolz +oder aus Eigensinn ihren Gegenstand selbst zu verschmähen, und wandte +sich mit verdoppeltem Grimm zurück in sich und auf ihn, um da am Mark +des Herzens zu zehren.« »Es war ihm, als wollte er eine Welt umarmen +und könne nichts greifen. Und so verwilderte er denn immer mehr und +mehr aus unbefriedigter Sehnsucht, ward sinnlich aus Verzweiflung am +Geistigen, beging unkluge<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> Handlungen aus Trotz gegen das Schicksal +und war wirklich mit einer Art von Treuherzigkeit unsittlich.« Die +Art, wie er liebt, bildet den Stoff der weiteren Erzählung. Er liebt +ein edles Mädchen, aber er kommt in dem Augenblick zur Besinnung, wo +er den Blütenkranz der Unschuld mutwillig hatte zerreißen wollen. Er +wirft sich an ein Weib weg, das am freiesten lebt und am meisten in +der guten Gesellschaft glänzt. Als er mit ihr bricht, gibt sie sich +den Tod. Er findet zuletzt in Lucinde eine gleichgestimmte Seele. +»Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte +sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer +mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt +leben, sondern in einer eignen, selbstgedachten und selbstgebildeten. +Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich +für sie, alles andere nichts; und sie wußte, was Wert hat. Auch sie +hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande +zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig.« Beide finden sich +in schrankenloser, nun aber dauernder Liebe, deren Beschreibung auch +in den Briefen und Skizzen immer wieder den Grundton abgibt. Sie +sammeln um sich eine Zahl Ähnlichdenkender, eine freie Gesellschaft +oder eine große Familie. Aber die volle Harmonie findet Julius auch in +der Anregung seines Geistes »allein in Lucindens Seele, wo die Keime +alles Herrlichen und alles Heiligen nur auf den Strahl seines Geistes +warteten, um sich zur schönsten Religion zu entfalten.«</p> + +<p>Aber diese Inhaltsangabe stellt noch nicht die ganze Art des +merkwürdigen Buches klar. Seine Eigentümlichkeit besteht nicht in +dem Bruchstückartigen, nicht in den beschriebenen Liebesbegebnissen, +sondern in der Schilderung selbst. In ihr einen sich Schwärmerei und +Sinnlichkeit zu einem schwülstigen Ganzen. Es fehlt dem Helden an +jeder Selbstbeherrschung, an jeder Selbstzucht. Phantasie<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> wie Wünsche +sind bei ihm gleich ausschweifend. Er verabscheut die entfernteste +Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, — womit natürlich die Ehe +gemeint ist, — wie jede Art von Zwang. Er ist dem kaum der Kindheit +entwachsenen Mädchen gegenüber einfach gewissenlos; aber auch im +Verkehr mit Lucinde spielt ungezügelte Sinnlichkeit eine erschreckende +Rolle. Umwoben aber sind alle diese Schilderungen mit einem Schwulst +von überschwänglichen Worten, von himmelstürmenden Tiraden.</p> + +<p>Ich verzichte auf eingehendere Beschreibung. Lucinde durfte nicht +übergangen werden: diese leidenschaftliche, in schöngeistiges +Gewand gehüllte Sinnlichkeit ist ja eben bezeichnend auch für die +romantische Dichtung. Zugestanden mag sein, daß Lucinde etwas mehr +mit der Wirklichkeit zu schaffen hat als der Heinrich von Ofterdingen +und als Eichendorffs Taugenichts. Die Lucinde ist nicht ohne +psychologische Ansätze. Sie hat Ähnlichkeiten mit Werther. Aber sie +hat das Ungesunde von ihm hergenommen und ins Unreine hin verzerrt. +Werther mit seiner krankhaft gesteigerten Leidenschaft steht immer +noch hoch über <em class="gesperrt">der</em> Leidenschaft, mit welcher Schlegel seinen +Julius alle Moral, allen Anstand, alle Sitte beiseite werfen läßt. Es +sind nicht Lehrjahre der Männlichkeit, wie er selber sie nennt; die +»Allegorie von der Frechheit« ist viel bezeichnender für das Ganze. +Und schließlich ist, trotz der unfraglich vorhandenen Berührung mit +der Wirklichkeit, auch die Lucinde ein Buch der Unwirklichkeit: von +Menschen redet sie, die nichts zu tun haben, die kein Zwang des Berufs +fesselt und die jeden anderen Zwang bewußt abschütteln.</p> + +<p>Die romantische Prosadichtung ist reich an Spielarten. Eine Spielart, +wie sie der vielgelesene, von Ostpreußen nach Berlin verpflanzte Ernst +Theodor <em class="gesperrt">Amadeus Hoffmann</em> vertrat, den man wohl den genialsten +Erzähler der Romantik genannt hat, darf bei ihrer Charakterisierung +nicht außer<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> Betracht bleiben. Amadeus Hoffmann ist ein Vielschreiber +gewesen; und seine Erzählungen tragen längst nicht alle den gleichen +Stempel. Er war wirklich genial; und seine Genialität zeigte sich +auch in vielseitiger Kraft. Satire, Ironie, Humor, Realistik sind ihm +nicht fremd; und wo von diesen Gottesgaben etwas sich findet, da ist +er noch heut zu bewundern. Aber den Grundton seiner Schöpfungen geben +sie alle nicht an. Im Innersten sind sie durch und durch phantastisch. +Aber nicht phantastisch im Sinne von Novalis, der in die wundervolle +Märchenwelt führt, nicht phantastisch in der Art der sonnigen, +unbekümmerten Fröhlichkeit Eichendorffs, auch nicht nach der Methode +der geistig-sinnlichen Überschwänglichkeit Schlegels. Seine Phantastik +trägt den Sondercharakter des Geheimnisvollen, Schauerlichen, +Unheimlichen. Wohl knüpft er überall an die Verhältnisse des +wirklichen Lebens an, darin ganz anders verfahrend als Novalis +und auch als Eichendorff. Wohl spielen die sehr natürlichen +Leidenschaften auch bei ihm eine große Rolle; und seine Menschen sind +in <em class="gesperrt">dieser</em> Hinsicht eben Menschen, wirkliche Menschen. Aber er +verknüpft mit diesem Tatsächlichen soviel Grauenhaft-Unnatürliches, +daß ihm der Beiname »Teufels-Hoffmann« nicht mit Unrecht gegeben +worden ist.</p> + +<p>Beispielshalber wenigstens eine kurze Skizze eines seiner +Teufels-Werke, der »<em class="gesperrt">Elixiere des Teufels</em>«. Ein Klosterbruder +bewahrt unter den Klosterreliquien auch eine Flasche, die einst der +Teufel selbst aus seinem Mantel dem heiligen Antonius zurückgelassen. +Wer von dem in dieser Flasche enthaltenen Elixier kostet, der +ergibt sich dem Teufel und seinem Reiche. Der Bruder Medardus ist +ein Prediger, zu dessen Predigten die Leute in Haufen strömen. Da +erscheint ihm mitten in begeisterter Rede eine furchtbare Gestalt, in +der er den »fremden Maler« zu erkennen glaubt, der vor langen Zeiten +die Kirche seiner Geburtsstätte mit wunderbaren Bildern geschmückt. +Wie er nun die Gestalt<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> an einem Eckpfeiler lehnen sieht, will +Medardus nicht hinschauen. Aber ob er will oder nicht, er <em class="gesperrt">muß</em>.</p> + +<p>Wie von einer fremden, zauberischen Gewalt getrieben, mußte ich immer +wieder hinschauen, und immer starr und bewegungslos stand der Mann +da, den gespenstischen Blick auf mich gerichtet. So wie bitterer Hohn +— verachtender Haß, lag es auf der hohen, gefurchten Stirn, in dem +herabgezogenen Munde. Die ganze Gestalt hatte etwas Furchtbares, — +Entsetzliches! — Ja! — es war der unbekannte Maler aus der heiligen +Linde. Ich fühlte mich, wie von eiskalten grausigen Fäusten gepackt — +Tropfen des Angstschweißes standen auf meiner Stirn — meine Perioden +stockten — immer verwirrter und verwirrter wurden meine Reden — es +entstand ein Flüstern — ein Gemurmel in der Kirche — aber starr und +unbeweglich lehnte der fürchterliche Fremde am Pfeiler, den stieren +Blick auf mich gerichtet. Da schrie ich auf in der Höllenangst +wahnsinniger Verzweiflung: »Ha Verruchter! Hebe dich weg! — hebe dich +weg — denn ich bin es selbst! — ich bin der heilige Antonius!««</p> + +<p>Von dieser Stunde an ist die Kraft des Bruder Medardus gebrochen. +Sie wiederzugewinnen, trinkt er endlich vom Teufelselixier. Neues +Leben strömt nun durch seine Adern. Aber es ist ein Leben, in dem +der Böse Herrschaft hat. Er läßt Kloster und Möncherei, er gerät +in die wildesten Abenteuer, er wird zum Ehebrecher und Mörder; ein +Wahnsinniger ahnt in ihm den Bösen; mitten in fröhlicher Gesellschaft +starren ihm wieder die Züge jenes fürchterlichen Unbekannten entgegen; +er trifft in ländlichem Försterhaus in einsamer Stille einen +wahnsinnigen Kapuziner, der nichts anderes ist als sein Doppelgänger, +dessen Erscheinung sein eigenes Ich in verzerrten, gräßlichen Zügen +reflektiert. Äußerlich macht er sein Glück: des Bösen Gewalt läßt ihn +auf der Jagd treffen, ohne daß er gezielt, läßt ihn am Fürstenhof im +Glücksspiel fabelhafte Gewinne<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> einheimsen. Dann wird er erkannt, +man stellt ihn vor Gericht; aber alle Verbrechen häuft man auf jenen +gräßlichen Doppelgänger, während Medardus selber frei ausgeht. Und so +geht es weiter zwischen den grauenvollsten Schrecklichkeiten durch; +Wahnsinn, Visionen, Leidenschaft, Verbrechen, Mysterien aller Art +führen einen wilden Reigen auf. Medardus kehrt endlich nach langer +Buße ins Kloster zurück und stirbt dort nach einem wahren Hexentanz +von gespenstischen Ungeheuerlichkeiten eines frommen Todes.</p> + +<p>Diese Inhaltsangabe gibt nur ein ganz, ganz mageres Gerippe des +vielverschlungenen Romans. Aber sie läßt doch erkennen, wie alles in +demselben aufs Grauenhaft-Phantastische angelegt ist. Der Boden der +Wirklichkeit ist ganz und völlig verlassen. In anderen Erzählungen +tritt eine andere Methode hervor, <em class="gesperrt">wie</em> die Wirklichkeit verzerrt +wird; aber verzerrt wird sie überall. Ob es mehr lustige Tollheit +ist, die ihn mit seinen Figuren umspringen läßt, als seien sie +nicht an die Gesetze dieser Welt gebunden, ob es mehr phantastische +Karikaturkunst ist, die seiner Satire dienen muß, — überall ists das +Gegenteil klarer Wirklichkeit, was regiert. Er hat es verstanden, +nervenspannende, ja nervenerschütternde Wirkungen zu erzielen; — ich +rate noch heute Niemandem, der über schwache Nerven verfügt, mit ihm +nähere Bekanntschaft zu machen. Er ist unerschöpflich in Erfindung +und unübertroffen in Plastik der Darstellung; aber das alles kann das +Urteil nicht ändern, daß auch seine Romane und Erzählungen von der +Aufgabe des Romans, ein Bild der Welt zu zeichnen, himmelweit entfernt +sind.</p> + +<p>Auch die bekannte Erzählung <em class="gesperrt">Heinrich von Kleists</em>: <em class="gesperrt">Michael +Kohlhaas</em> gehört ins Gebiet der Romantik. Auch sie sucht ihre +Wirkung im starken, auch im erschütternden Eindruck. Aber Michael +Kohlhaas ist doch von ganz anderem Holz als die Spukgestalten des +Teufels-Hoffmann.<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> Der Roßhändler Kohlhaas ist eines Schulmeisters +Sohn und das Muster eines guten Staatsbürgers. Die Kinder, die ihm +sein Weib schenkt, erzieht er in der Furcht Gottes zur Arbeitsamkeit +und Treue. Er läßt gezwungenermaßen als Pfand für einen zu lösenden +Paßschein ein Paar Rappen im Gewahrsam des Junkers von Tronka. Die +Pferde werden ihm malträtiert, der Knecht, der sie besorgen soll, +wird mißhandelt. Die herabgekommenen Rappen nimmt Kohlhaas nicht an; +er legt sich jetzt aufs Prozessieren und beschließt, da er nirgends +Recht bekommen kann, endlich, sich selber Recht zu schaffen. Und nun +wird er zum Räuber und Mordbrenner, der das Schloß des Junkers in +Flammen aufgehen läßt, der mehr als eine Stadt, in welche der Junker +geflüchtet, einäschert, der den Schrecken der ganzen Gegend bildet. +Luther selbst legt sich ins Mittel, um den Unhold zu bändigen; aber +auch seine Mühe ist vergeblich. Kohlhaas führt Krieg mit Fürst und +Staat und Gesellschaft. Endlich wird ihm sein Recht; und nun geht er +ruhig in den Tod, der seine Freveltaten lohnt.</p> + +<p>Es ist nicht zu verkennen, daß die Romantik in diesem Buch wesentlich +andere Bahnen einschlägt als in den vorher skizzierten Dichtungen. +Auch hier dominiert das Außerordentliche, das Furchtbare. Aber wenn +es auch allzu gehäuft und ins Gräßliche übertrieben ist, es bleibt +durchaus im Zusammenhang mit dem wirklichen Geschehen. Bis auf ein +paar mysteriöse Züge, ohne die es freilich nicht abgeht, ist alles +Geschilderte in roher, gewalttätiger Zeit durchaus möglich. Die +Erzählung sucht die Verbindung mit dem Leben festzuhalten. In der +ganzen Absicht derselben aber liegt gewiß auch jene romantische +Neigung, sich selber gegen Sitte und Brauch, gegen Mehrheit und Zwang +durchzusetzen, — eine Neigung, der wir in der Lucinde so gut begegnen +wie in vielen anderen Dichtungen jener Zeit. Aber diese Neigung tritt +hier weniger im Gewand der Selbstverständlichkeit auf; nicht als +Führerin<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> ins holde Traumland, in dem sich jeder seine Welt selber +zimmert, sondern als bewußte, klare, in alle Konsequenzen durchführte +Auflehnung gegen die Gesellschaft. Und endlich: es ist im Kohlhaas +nicht subjektive Willkür, welche ihn zu dieser Auflehnung treibt, +sondern es ist ein heiliges, eingeborenes und schließlich doch auch +vom Dichter als allgemeingültig anerkanntes Rechtsgefühl, welches +ihn zum Räuber und Mörder macht. Was er will, ist ja der Schutz der +Gesetze. Wer ihm diesen versagt, der gibt ihm die Keule in die Hand, +die ihn selbst schützt. Diese Besonderheit will wohl beachtet werden; +das Trotzen auf sein Recht steht doch sicher höher als die zügellose, +rasende Leidenschaft. Und dennoch bleibt es richtig: auch im Michael +Kohlhaas ist der Mensch das Maß aller Dinge. Der Einzelne stellt sich +außerhalb aller Ordnung, weil diese Ordnung ihn in einer einzigen +Angelegenheit nicht schützt. Schließlich ist sein Verhalten in dem +Plakat, welches Kleist von Luther erlassen sein läßt, doch richtig +gezeichnet:</p> + +<p>»Kohlhaas, der du dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der +Gerechtigkeit zu handhaben, was unterfängst du dich, Vermessener, im +Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, du, den Ungerechtigkeit selbst +vom Scheitel bis zur Zehe erfüllt? Weil der Landesherr dir, dem du +untertan bist, dein Recht verweigert hat, erhebst du dich, Heilloser, +mit Feuer und Schwert und brichst wie der Wolf der Wüste in die +freundliche Gemeinheit, die er beschirmt.« —</p> + +<p>Die nähere Beziehung jedoch, die Kleists Novelle zu den +Tatsachen unterhält, zeigt sich auch in ihrer Schreibart. Nichts +Unklar-Verschwommenes, nur massiv und prägnant Herausgearbeitetes. +Keine wortreichen Ergüsse; die Tatsachen schaffen die Stimmung. Es +kann kein Zweifel darüber sein, daß gerade diese von der strengsten +Romantik sich entfernende Art dem Michael Kohlhaas ein gut Teil seiner +Wirkung gesichert hat.</p> + +<p>Noch enger werden die Beziehungen der romantischen<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> Dichtung zur +Geschichte in dem Roman »<em class="gesperrt">Die Kronenwächter</em>« von Achim <em class="gesperrt">von +Arnim</em>. Indes wir werden von diesem farbenprächtigen, wunderschön +und wunderreich geschmückten Roman in dem Vortrag noch zu sprechen +haben, der den historischen Roman behandeln wird.</p> + +<p>Die Romantik — das hat auch meine knappe Skizze zu zeigen versucht +— ist nicht auf eine einheitliche Formel zu bringen. Sie geht +sehr mannigfaltige Wege und verfügt über eine reiche Zahl von +verschiedenen Farben. Was ist das Gemeinsame aller ihrer Schöpfungen? +<em class="gesperrt">Daß nirgend das klare, freie, helle Tageslicht der Wirklichkeit +herrscht.</em> »Heinrich von Ofterdingen« lebt ganz in einer anderen +Welt; <em class="gesperrt">diese</em> Welt ist nur dazu da, daß der Dichter zu seiner +Vollendung komme. Von diesem Extrem aus führen viele Stufen zur +Wirklichkeit hinab. Aber auch wo die Geschichte, die Tatsache stark +mitspricht, wird sie doch nicht dargestellt, wie sie ist; überall wird +sie ein wenig ins Geheimnisvolle getaucht, ins Poetische verklärt oder +ins Ungeheuerliche vergrößert. Die Phantasie ist die Hauptkraft der +Romantik.</p> + +<p>Nur eine kleine Zahl von Typen der romantischen Dichtung konnte ich +skizzieren. Aber das Bild würde sich nicht wesentlich verändern, wenn +ich weitere Werke zu zeichnen suchte. Vielleicht würde ihm zu größerer +Deutlichkeit hie und da noch ein Strich hinzugefügt werden können. +Wilhelm <em class="gesperrt">Hauff</em>, dessen »<em class="gesperrt">Lichtenstein</em>« noch in anderer +Umgebung zu nennen sein wird, hat in seinen »Memoiren des Satans« +und sonst dem Sonderbaren und Unheimlichen durch feinen Humor alles +Schreckliche genommen; die nervenerschütternden Gräßlichkeiten des +Amadeus Hoffmann fehlen, und wir verkehren selbst mit dem Satan ganz +gern, ohne daß ein Schauder uns überkommt. Von jener Literatur der +neuerwachten Ritter- und Räuberromane, die das Romantische vergröberte +und<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> zugleich der dichterischen Verklärung beraubte, sei hier erst +gar nicht gesprochen.</p> + +<p>Goethe schuf zwischen dem Roman und der wirklichen Welt deutlichen +Zusammenhang. Die Romantik ist andere Wege gegangen. Diesen +Zusammenhang hat sie gelockert, gelöst, ignoriert. Sie hat es im +Namen einer höheren Macht getan, der Poesie. Aber es war doch ein +Irrtum, daß sie glaubte, Poesie und Wirklichkeit vertrügen sich nicht. +Und dieser Irrtum hat die Romantik unfähig gemacht, einen Roman im +Vollsinn des Wortes zu schaffen. Sie schuf Märchen und Allegorien und +Phantasien und Schauergeschichten und — im besten Fall — liebliche +Traumbilder, aber keine Romane. Sie machte Gedanken und Stimmungen und +maßlose Leidenschaften zu ihrem Thema, aber das eigentliche Leben, das +vielverzweigte, blieb ihr fremd.</p> + +<p>Man glaubt manchmal, der Roman habe das zum Stoff, was im gewöhnlichen +Wortverstand, der eben schon ein Mißverstand ist, »romanhaft« sei. +Die Romantik scheint diesen Irrtum zu bestätigen, wenn anders man +in ihr den Maßstab für das Wesen des Romans sucht. Aber gerade das +wäre falsch. Richtig werden wir ihr Verhältnis zum Roman und zugleich +dessen Verhältnis zum Romanhaften so formulieren:</p> + +<p><em class="gesperrt">Die Romantik pflegte das Romanhafte und schuf deshalb keinen +Roman.</em></p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_7"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Volkserzaehlung">Die Volkserzählung.</h2> +</div> + + +<p>Die romantische Dichtung ließ ihre Helden ausziehen, damit sie in +geheimnisvollem Zauberland die blaue Blume suchten. Eine blaue Blume +im Zauberland — das ist ihr die Poesie. Wir wundern uns nicht, daß +die Novalisnaturen sie nicht anders zu verstehen vermochten. Wo sollte +zur Zeit, da Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen schrieb, die +Dichtung anders wohnen als im Zauberland? Im Land der Wirklichkeit +wohnte ja die Aufklärung, wohnten die schön plattgetretenen Ideen von +Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wohnte die Religion innerhalb der +Grenzen der bloßen Vernunft. Im Lande der Wirklichkeit regierte das +grelle, pralle Sonnenlicht der vernünftigen Überlegung. Kein Wunder, +daß mancher da lieber ein Quantum mystisches Dunkel in Kauf nahm, als +daß er sich von diesem Sonnenglanz Gemüt und Phantasie ausdörren ließ. +Die größten unter den Dichtern verstanden es freilich, mitten in der +Welt zu bleiben und doch Dichter zu sein. Aber die Kleineren mußten +ihre Dichtkunst ins Zauberland retten.</p> + +<p>Die Zeiten, da der Schlüssel Vernunft alle Schlösser schloß, gingen +vorüber. Die Menschen, die nach der blauen Blume suchten, fanden durch +die Not der Zeit wichtigere Aufgaben einer schleunigen Lösung harrend. +Schon hatten die harten Kriegsjahre mit eherner Faust an die Pforten +geschlagen, hinter denen die Weltflüchtigen ihren Träumen nachgingen. +Manch einer blieb wach; andere fielen wieder in ihre Träume zurück. +Auch nachdem das napoleonische Ungewitter ausgetobt hatte, war ihnen +die<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> lebendige Welt noch nicht schön genug, um darin zu leben. Und +sie begriffen noch nicht, daß auch der Dichter, wenn ihn der Zeit +Lauf nicht fröhlich stimmte, Besseres tun konnte als träumen. Aber +je mehr das neunzehnte Jahrhundert voranging, um so klarer erwachte +das <em class="gesperrt">Wirklichkeitsbewußtsein</em>. Und wie durchs ganze deutsche +Volk immer klarer ein Geist der Kritik am Bestehenden und ein Geist +des sehnenden Schaffens am Neuen zog, so auch durch die Dichtung, und +nicht zum mindesten durch die Prosadichtung, die am ersten berufen +ist, der Wahrheit ins Angesicht zu sehen, zu tadeln und zu mahnen.</p> + +<p>Dieser neuerstandene Wirklichkeitsgeist aber betätigte sich alsbald +nach drei sehr verschiedenen Richtungen hin. Zum ersten als <em class="gesperrt">Zeit- +und Tendenzroman</em>, der ungestüm genug das Alte niederzureißen +und ein Neues zu schaffen unternahm, der aber im Lauf der Zeiten +ruhiger und objektiver geworden ist. Zum zweiten suchte eine starke +Strömung bisher schier unbekannte Welt- und Menschengebiete zu +erforschen und darzustellen; namentlich der <em class="gesperrt">Bauernstand</em>, <em class="gesperrt">das +Landleben</em> bot jungfräuliches Land. Und endlich griffen andere in +die Wirklichkeit vergangener Zeiten zurück; es galt ihnen, früher +Geschehenes der Gegenwart als Spiegel vorzuhalten oder auch einfach, +in den abgründigen Tiefen der Geschichte Menschen zu studieren: der +<em class="gesperrt">historische Roman</em>. Es sind die drei großen Formen des modernen +Romans, die alle um das zweite Viertel des 19. Jahrhunderts Wurzel +zu schlagen begannen, und die späterhin dann noch manche weitere +Sonderart haben aus sich erwachsen lassen.</p> + +<p>Ich beginne hier mit der an zweiter Stelle genannten, mit der +<em class="gesperrt">Volkserzählung</em>.</p> + +<p>Nicht Entwicklung und Beziehungen will ich ausdeuten; es liegt +mir auch hier nur eins an: die Haupttypen an den anschaulichsten +Beispielen darzustellen. Und so greife ich drei Dichter heraus, +denen ein vierter und fünfter ein<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> wenig abseits sich zugesellen +sollen. <em class="gesperrt">Immermanns</em> Oberhof nenne ich zuerst: da haben wir +die Volkserzählung in der Wiege. Jeremias <em class="gesperrt">Gotthelf</em> und +Berthold <em class="gesperrt">Auerbach</em> folgen: zwei Haupttypen der ausgebildeten +Volkserzählung. Ein wenig abseits stehen dann Otto <em class="gesperrt">Ludwig</em> und +Fritz <em class="gesperrt">Reuter</em>.</p> + +<p>Von <em class="gesperrt">Immermann</em> besitzen wir große Zeitromane: die »Epigonen« +und »<em class="gesperrt">Münchhausen</em>«: letzterer stammt aus dem Jahre 1839. Es +ist ein Roman von hergebrachtem Zuschnitt; der Nebentitel: »Eine +Geschichte in Arabesken« ist bezeichnend. Nach Hebbels Urteil hat +Immermann die fratzenhaften und nichtigen Bewegungen der Zeit, die +sich doch ernsthaft geberden, abgespiegelt. Das Urteil ist ganz +richtig; aber man darf jene Dorfnovelle nicht vergessen, die mitten +in den Roman hineingestellt ist, mit ihm zwar verwoben, aber doch +in jener lockeren Art, die es ermöglicht, das Stück vom Ganzen zu +lösen, wie es denn weitaus den Meisten nur in dieser Loslösung +unter dem Sondertitel »<em class="gesperrt">Der Oberhof</em>« bekannt ist. Im Oberhof +haben wir klare, scharfe Wirklichkeitszeichnung. »Nun das muß wahr +sein,« heißt es einmal darin, »die Idyllenschreiber haben uns die +Bauernwelt arg verzeichnet! Sowohl die schäferlich-zarten, als die +knolligen Kartoffelpoeten. Sie ist eine Sphäre, so mit derber Natur, +wie mit Sitte und Zeremonie ausgefüllt, und gar nicht ohne Anmut und +Zierlichkeit, nur liegt letztere wo anders, als wo sie in der Regel +gesucht wird.« Der Schauplatz der Erzählung ist das westfälische +Land, »der Boden, den seit mehr als tausend Jahren ein unvermischter +Stamm trat,« ein westfälischer Hof, ein Richthof oder Oberhof, der +älteste und vornehmste Hof einer westfälischen Bauerschaft. Um den +Hof breitet sich alles Besitztum, welches eine große ländliche +Wirtschaft nötig hat, aus: Feld, Wald, Wiese, unzerstückelt, in +geschlossenem Zusammenhange. Auf diesem Hofe regiert der Hofschulze, +eine Gestalt, deren Geltung<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> zwar von den Mächten der Gegenwart nicht +anerkannt wird, welche aber für sich selbst und bei ihres Gleichen +einen längstverschwundenen Zustand auf einige Zeit wiederherstellt. +In seinem Besitz ist das alte Waffenstück, welches er mit eiserner +Festigkeit für das Schwert Karls des Großen erklärt, von dem es dem +ersten Besitzer des Richthofs zum Zeichen der Investitur gegeben sei. +Wie ein Fürst sitzt der Hofschulze auf seinem Oberhof; heimliche +Vehmgerichte fällen unter seiner Leitung immer noch ihre Urteile. +Seine Dienstboten weiß er patriarchalisch und energisch unter seiner +Leitung zu halten: — ich erinnere an die klassische Szene, in der +jedes der Knechte und Mägde nach der Mittagsmahlzeit seinen Spruch +erhält und des Abends die Gedanken mitteilen muß, die es sich darüber +gemacht hat. Fest und unerschütterlich steht er auf dem alten Recht +und der alten Sitte. Der Küster heischt vom Oberhof einen zweiten +Käse; aber der Hofschulze, der auf reichem Hof, zwischen vollen +Scheuern, vollen Böden und Ställen lebt, will von dieser Forderung +nichts wissen: auf seinem Hof haftet nur <em class="gesperrt">ein</em> Käse. Bei den +Hochzeitsbräuchen, bei Einladung und Essen muß alles nach der alten +Art gehen; weh dem, der, wie der Hochzeitbitter, etwas davon versäumt! +Gegen Nachbarn, Freunde, Gevattern ist er zu allem bereit, aber sie +müssen ihm auch immer etwas dafür leisten, und wäre es irgend ein +kleiner Dienst von geringfügiger Bedeutung. Ein Freund der »Moralen« +ist der Hofschulze. Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den +Kindern! Der Mensch sündigt jederzeit, wenn er sich wider etwas setzt, +was Herkommens ist bei Seinesgleichen. Im Ehestand ist garzuviel +Liebe schädlich. Auf den Haus- und Ehestand verläßt sich aller +Handel und Wandel, Nachbarhilfe und Ansprache, Christentum, Kirchen- +und Schulzucht, Haus und Hof, Rind und Kind. Das sind Moralsätze +des Hofschulzen; und wenn sie auch, wie der Jäger Oswald sagt, +ziemlich hausbacken klingen, — es ist doch ein gut<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> Stück gesunden +Menschenverstandes darin. Freilich, derselbe Hofschulze, dem das Recht +ein so hochheiliges Ding ist, trägt ein Rechtsgefühl in der Brust, +das dem des Michael Kohlhaas verzweifelt ähnlich sieht. Wenn ihm das +Wild des benachbarten Grafen die Felder verwüstet, dann ist es kein +Unrecht, auch ohne das Jagdrecht mit der Flinte Selbstschutz zu üben.</p> + +<p>»Was ist das überhaupt für ein Verbrechen, sein Eigentum gegen die +Ungetüme, die es fressen und zu grunde richten, zu verdefendieren! +rief er, indem plötzlich der lachende Ausdruck seines Gesichts in den +des loderndsten Zornes überging. Die Stirnadern schwollen ihm an, das +Blut trat dunkelrot in seine Wangen, die Augäpfel verloren ihr Weißes +und wurden rötlich; man hätte vor dem Alten erschrecken können!«</p> + +<p>Der Hofschulze steht im Mittelpunkt der Oberhofnovelle. Aber auch, was +sich um seine Gestalt herumrankt, ist gleich deutlich geschildert. +Derb und wahr zeichnet Immermanns Stift; er beschönigt nichts und +idealisiert nicht; die Sünden der Landbewohner kommen so gut zur +Sprache wie ihre Tugenden. Ein kraftvolles, erdgewachsenes Geschlecht +ists, das er abschildert, markig und zäh, steif und fest. Aber er hats +mit alledem getroffen. Hier weht keine philosophische Luft; hier weben +sich keine Träume, hier geschehen keine Wunder. Hier verschleiert die +Poesie nichts, hier meidet sie nicht schamhaft das minder Schöne. Hier +ist ihr ein heiliges Ahnen aufgegangen, wie sie im innersten Wesen +verbunden ist mit der wahren und wirklichen Welt, die ihr Kraftquell +und ihr Jungbrunnen zugleich ist.</p> + +<p>Ein <em class="gesperrt">Ahnen</em> nur; wie sonderbar flechten sich die Oberhofkapitel +in die Gänge des großen Romans mit seinen zerfahrenen Modegestalten +ein! Ein vereinzelter Meisterwurf war diese Dorfnovelle; anderen war +es vorbehalten, ihr in ihrer Eigenart zum Eigenrecht gesonderter +Existenz zu helfen. Die beiden Dichter, denen dieser<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> Ruhm gebührt, +sind Jeremias Gotthelf und Berthold Auerbach.</p> + +<p><em class="gesperrt">Jeremias Gotthelf</em> ist unserer Zeit lange ein Fremder geblieben. +Erst neuerdings lernt man ihn besser würdigen. Nicht das geringste +Verdienst an dieser besseren Erkenntnis hat Adolf <em class="gesperrt">Bartels</em>, dem +die wärmsten Töne nicht warm genug scheinen, wenn er auf Gotthelf +zu sprechen kommt. Daß er uns schwerer nahkommt als andere Dichter, +liegt ja zum Teil an der schweizerischen Sprache. Albert Bitzius, ein +Pfarrer aus dem Kanton Bern, versteckt sich bekanntlich hinter dem +Pseudonym, das auf dem Titel seiner Bücher steht. Aber es liegt an +der Sprache nicht allein; Fritz Reuters Sprache ist nicht leichter zu +erfassen als die von Albert Bitzius. Es liegt wohl neben allerhand +Zufälligkeiten auch daran, daß die Welt, die er so meisterhaft +schildert, uns doch eben fremder ist, als die Welt eines Reuter.</p> + +<p>Schweizervolk schildert Jeremias Gotthelf wie in seinem Erstlingswerk +»Der Bauernspiegel«, das zwei Jahre vor dem Immermannschen »Oberhof« +das Licht der Welt erblickte, so in allen seinen späteren Erzählungen, +von denen hier nur einige genannt sein mögen: »Uli der Knecht«, »Uli +der Pächter«, »Leiden und Freuden eines Schulmeisters«, »Käthi die +Großmutter«, »Elsi die seltsame Magd«, »Wie Joggeli eine Frau sucht«. +Ganz scharf prägt sich seine Erzählweise bereits im »Bauernspiegel« +aus. Da berichtet er aus seiner eigenen Jugend: vom wohlhabenden Hof +des Großvaters, auf dem er die ersten Jahre verbracht, vom harten +Mühen des Vaters in eigener Pacht, wie er nach des Vaters Tod von der +Gemeinde vergeben wird und was für verschiedene Bauernhäuser er so +kennen lernt, wie er dann zum Knecht emporwächst und im Ausland sein +Heil sucht, schließlich aber nach der Julirevolution ins Vaterland +zurückkommt. Fast alle Themata, welche er später behandelt, sind in +diesem, das gesamte<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> Leben des Schweizer Bauern umspannenden Roman +schon angerührt; nur daß einzelne Seiten desselben dann in besonderen +Erzählungen gründlicher und breiter besprochen werden. Aber überall +regiert das Heimatsleben, die Schweizer Art, das Bauernwesen. Und +eben darin liegt Jeremias Gotthelfs Kraft. Seine Erzählungen sind +gar nicht reich an Handlung; kein größerer Gegensatz als der zwischen +seiner ruhigen Nüchternheit und den phantastischen Schreckgeschichten +eines Amadeus Hoffmann! Sie entbehren der spannenden Verwicklung; +er verschmäht es, allerhand Knoten zu knüpfen, in deren Lösung der +Dichter alsdann besondere Fingerfertigkeit aufweisen könnte. Wie +einfach und schlicht geht der »Bauernspiegel« seinen Weg! Jede +Episode im Leben des Kindes macht einen Abschnitt aus; jeder neue +Bauernhof, auf den er für ein oder zwei Jahre kommt, ist als kleines +Kabinettstück für sich gezeichnet. Keine Spannung, die nicht lediglich +aus der Sache selber käme, aus der Anteilnahme an dem Menschenkind, +das von sich berichtet und das von jung auf so mühsam durchs Leben +gehen muß, und aus dem Interesse, welches die Menschen einflößen, mit +denen es zu tun hat. Und alle diese Personen sind Alltagsmenschen, +Durchschnittsgeschöpfe; da ist kein verwickeltes psychologisches +Problem, da ist nichts Geheimnisvolles; im Gegenteil, alles ist +sonnenklar. Wo ja etwas dunkel wäre, da leuchtet der Erzähler sicher +alsbald dahinter, — wie z. B. hinter das lichtscheue Treiben jenes +guten Ehepaars, das mit Botengängen und Vermittlerdiensten, mit ein +bischen Aberglauben und einem guten Teil Unredlichkeit sein Leben +liederlich, aber angenehm zu fristen versteht. Die Schilderung mag +manches Mal schier gar zu sehr in die Breite gehen; sie ist auch +sicher nicht selten allzu nüchtern, vor allem wirkt sie zu stark +moralisierend. Das ist vielleicht überhaupt die größte Schwäche des +trefflichen Gotthelf, daß er den Leser die Moral nicht selber ziehen +läßt, sondern daß er sie ihm<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> aufdrängt. Der Hofschulze in Immermanns +»Münchhausen« zog auch Moralen; und der Jäger nennt sie hausbacken. +Aber sie sind doch noch poetischer als die erziehlichen Anwandlungen +des Schweizer Erzählers.</p> + +<p>Sie werden zugeben, daß ich die äußere Erzählungskunst Gotthelfs +nicht allzu rosig geschildert habe. Aber je weniger man sie rühmen +kann, um so klarer werden seine eigentlichsten Vorzüge, oder, wie man +mit gutem Grund sagen kann, sein eigentlicher Vorzug. Der besteht in +der wunderbar engen Beziehung, in welcher er zum wirklichen Leben +des Schweizer Bauern steht. Im ganzen Gotthelf nichts Unnatürliches, +Gemachtes, Künstliches, Aufgebauschtes, Übertriebenes; überall nichts +als Wirklichkeit, nichts als Natur. Seine einzige Kunst ist die, die +Natur wiederzugeben; aber <em class="gesperrt">diese</em> Kunst hat er aus dem Grunde +verstanden. Er greift bis in die Tiefen der Natur, auch bis in die +Tiefen des Gemüts. Er zeigt Roheit und Feinheit auf, Hartherzigkeit +und Gutmütigkeit, Keuschheit und Reinheit, aber auch Sünde und +Schande. Er schont seine Bauern nicht; von der Bauernidylle, die +Immermann verabscheut, ist auch er himmelweit entfernt. Um das alles +deutlicher zu machen, greife ich ein paar Bilder heraus, in denen +Gotthelf Mädchentypen zeichnet. Da ist das Vreneli, das wunderliche, +das mit dem Uli Hochzeit machen will und doch keinen Tag findet, +an dem es ihm recht wäre, zum Pfarrer zu gehen, um die Hochzeit zu +bestellen. Am Montag hatte das Vreneli seine Schuhe noch nicht vom +Schuhmacher, am Dienstag schien ihm der Mond zu heiter. Alle Leute +würden es ja kennen durch das ganze Dorf, sagte es. Am Mittwoch +war das Zeichen im Kalender — es war der Krebs — ihm nicht gut +genug, auch sei der Mittwoch ja eigentlich kein Tag, behauptete es. +Es ziehe an diesem Tag ja kein Dienstmädchen ein, und so sei das +Hochzeitangeben noch wichtiger als einen Dienst anzutreten, wo man +ja das ganze Jahr daraus könne, wenn man wolle.<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> Schließlich gehen +sie denn am Donnerstag in fürchterlichem Schneegestöber, an einem +Abend, wo der Wind schaurig pfeift und die Nacht dick und finster +zu den Fenstern einkam. Und der Pfarrer sagt ihnen das treffende +Wort: »Was von Gott kommt, das läßt sich alles tragen, wenn zwei in +Gott eins sind, aber wenn der Eigensinn oder die Wunderlichkeit oder +die Leidenschaft von Mann oder Weib Unglück über eine Ehe bringen, +Ärgernis und Elend, und das Unschuldige muß mit aus dem bitteren Kelch +trinken, muß bei jedem Zuge denken: daran ist mein Gatte schuld; +wenn er nicht wäre oder anders wäre, so wäre das auch nicht, da +wird das Leben ein Wermutstrank und der Gang durchs Leben ist noch +viel ungestümer als euer heutiger Gang.« — Da ist ferner Elsi, die +seltsame Magd. »Elsi verrichtete, was sie zu tun hatte, nicht nur +meisterhaft, sondern sie sah auch selbst, was zu tun war, und tat +es ungeheißen, rasch und still, und wenn die Bäuerin sich umsah, so +war alles schon abgetan, als wie von unsichtbaren Händen, als ob die +Bergmännlein dagewesen wären.... Daneben hielt Elsi nichts auf Reden, +hatte mit niemandem Umgang, und was sie sah im Hause oder hörte, das +blieb bei ihr, keine Nachbarsfrau vernahm davon das Mindeste, sie +mochte es anstellen, wie sie wollte. Mit dem Gesinde machte sich Elsi +nicht gemein. Die rohen Späße der Knechte wies sie auf eine Weise +zurück, daß sie dieselben nicht wiederholten, denn Elsi besaß eine +Kraft, wie sie selten ist beim weiblichen Geschlechte, und dennoch +ward sie von denselben nicht gehaßt.« — Da sind die fünf Mädchen, +»die im Branntwein umkommen«, freilich nicht anziehend, aber doch +nach der Natur beschrieben, wie sie in der Schenke sitzen. »Die +Wirtin brachte die Maß, die Mädchen schenkten ein; aber es sah aus +wie Branntwein, es roch wie Branntwein, sie tranken es, wie man den +Branntwein trinkt; ja wahrhaftig, es war Branntwein!« Unter ihnen ist +Marei mit dem unverschämten<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Gesicht, dessen Züge nichts als Frechheit +ausdrücken, da ist Elisabeth, unbeholfen und schwammig. »Stüdeli +wurde das dritte genannt; es hatte ursprünglich schöne Züge, von +der Seite sogar etwas Nobles. Aber erdfarb war seine Haut, blaß die +Lippen, zahnlos und krankhaft groß der Mund und glanzlos die großen, +tiefblauen Augen. Es war lang und hager, reinlich angezogen und tat +zimperlich. Man sah ihm von weitem an, daß es eine Näherin war. +Manchmal dünkte es Einem, als flackere etwas Besseres in ihm auf und +als gieße es den Branntwein nur herunter, um das Bessere zu dämpfen, +sich zu betäuben. Das gab ihm etwas Träumerisches, das aber immer mehr +in etwas Stierendes ausartete, je länger es trank.«</p> + +<p>Doch genug der Einzelbilder! Jeremias Gotthelf ist groß in ruhiger, +nüchterner, aber plastisch wahrer Wirklichkeitskunst. Erzählungen +haben wir von ihm, nicht Romane: dazu fehlt seinen Schöpfungen die +umfassende, vielseitige Art, die Kraft fortschreitender Handlung, +die Spannung, welche in der Lösung von Fragen des Lebens und der +Psychologie liegt. Die Helden dieser Erzählungen erleben mancherlei, +tun mancherlei, aber das ist nicht die Hauptsache. Für Gotthelf dreht +sich alles und jedes um die Frage: Wie <em class="gesperrt">sind</em> die Menschen? Was +tun sie, weil sie so geartet sind, weil diese Sitten sie binden? Mit +anderen Worten: es ist <em class="gesperrt">keine Romankunst, aber Naturkunst</em>. Die +Wirklichkeitswiedergabe aber ist überall von ernsten sittlichen Ideen +getragen. Man hat gemeint, daß seine Kunst naturalistisch sei. Gewiß +ist sie das; derb genug ist sie auch. Wäre sie es weniger gewesen, so +wäre sie nicht wahr gewesen. Aber er ist nirgends bloß-naturalistisch; +durch jede Schilderung auch des Schlimmen will er wirken, will er +bessern.</p> + +<p>Neben Jeremias Gotthelf stelle ich unmittelbar Berthold +<em class="gesperrt">Auerbach</em>, den Verfasser der »<em class="gesperrt">Schwarzwälder<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> +Dorfgeschichten</em>«, deren erste 1843 erschienen sind. Sie sind +ja weithin bekannt geworden, bekannter als Jeremias Gotthelfs +Schweizergeschichten. Ein paar Titel mögen hier Platz finden: Der +Tolpatsch, Die Kriegspfeife, Des Schloßbauers Wefele, Befehlerles, +Sträflinge, Luzifer, Die Frau Professorin. In Anlage und Umfang sind +sie recht verschieden; manche sind kurz, skizzenhaft ausgeführte +Anekdoten, andere wie die drei zuletzt genannten sind reicher +ausgeführt, werfen Fragen auf und führen in Konflikte hinein. Es +scheint mir möglich, Auerbachs Art an einer dieser Erzählungen zu +veranschaulichen; andere mögen zur Vergleichung herangezogen werden. +Ich wähle als die hiefür geeignetste: »Die Frau Professorin«.</p> + +<p>Der Maler Reinhard und der Collaborator Reihenmaier durchstreifen den +Schwarzwald und machen im Gasthaus beim reichen Wadeleswirt Halt. Dort +gehn sie jeder seine eigenen Wege. Der Collaborator ist ein Schwärmer +für Natur und Volk und sucht beides kennen zu lernen; dafür dienen +ihm Streifzüge in den frischen Wald und in die Sagenwelt, die in den +Köpfen rumort. Reinhard dagegen freut sich mehr praktisch mit dem Volk +und an dem Volk. Ihm hats des Wadeleswirts Töchterlein Lorle angetan, +von der des Collaborators Wort sagt:</p> + +<p>»Solch ein Mädchen ist wie ein Lied, das ein ferner Dichter geschaffen +und zu dem ein anderer die Melodie findet, die Alles und hundertfältig +mehr daraus offenbart.«</p> + +<p>Reinhard und Lorle wollen zusammen gehören. Lorle sagts ihrem Vater: +»Der Herr Reinhard hat mich gern und ich ihn auch, und er will mich +und ich will ihn und keinen andern aus der ganzen Welt.« Und der +Wadeleswirt gibt, wennschon zögernd, nach. Lorle wird des Malers +Braut und Frau, — des Malers, der als Professor und Inspektor der +Gemäldegalerie in der fürstlichen Residenz in nahen Beziehungen zum +Hof stehen muß. Wohl hat Reinhard selber sichs vorgenommen, daß +sie<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> das frische Naturkind bleiben soll mitten im Trubel der Stadt: +»Sie bedarf keiner anderen Welt, ich bin ihre ganze Welt.« Aber sie +wird nicht seine ganze Welt, er für sich allein läßt sich in das +gesellige Leben der Gesellschaft ziehen, und Lorle vereinsamt. Sie +kann sich sowieso schwer in die Stadt schicken; die himmelhohen Häuser +bedrücken sie, die Klatscherei der Kaffeekränzchen stößt sie ab, die +steifen Formen des Umgangs sind und bleiben ihr fremd. So tritt die +gegenseitige Entfremdung ein. Reinhard kommt doch nicht darüber weg, +daß sie ein echtes Naturkind geblieben ist, daß sie die heimische +Art nicht lassen kann, daß sie frei öffentlich vor dem Schloß mit +einem schlichten Jungen aus der Heimat spricht, der als Tambour in +der Residenz steht. Und es paßt ihm erst recht nicht, daß sie, selbst +in der Audienz bei dem Prinzen, gleich »den Sack umkehrt, mit Kraut +und Rüben«. Und Lorle fühlt immer stärker das Heimweh, je mehr er +sie vernachlässigt. Endlich kommt die Katastrophe. Durch mißliebige +Erfahrungen auch im Beruf geärgert, betäubt sich der Professor im +Trunk, und Lorle gewinnt, als sie das merkt, die Kraft zum Entschluß, +in die Heimat zurückzukehren.</p> + +<p>Am Beispiel dieser Erzählung möchte ich versuchen, Vorzüge und +Schwächen der Auerbachschen Dorfgeschichten kurz darzulegen. Ich +fasse, was zu sagen ist, in einige Sätze zusammen:</p> + +<p>1. Auerbach wählt hier wie auch sonst das <em class="gesperrt">Dorfleben</em> zum Stoff +seiner Geschichten. Aber er will es nicht bloß schildern; er verfolgt +eine deutlich hervortretende <em class="gesperrt">Absicht</em>. Er <em class="gesperrt">vergleicht</em> +Dorf und Stadt, Bauer und Städter. Und er <em class="gesperrt">entscheidet zu gunsten +des Dorfs</em>. Freilich, wenn der Prinz die naive Meinung ausspricht, +daß die Bauern die glücklichsten Menschen auf der Welt seien, so +widerspricht ihm Lorle: »Man muß ja schaffen wie ein Tagelöhner und +Steuern zahlen mehr als ein Baron.« Aber in der Stadt — wieviel +Gemachtes, Gezwungenes,<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> Geheucheltes, Unnatürliches! Viel höher +steht die natürliche Kraft und Einfachheit des Dorflebens! Das ist +Auerbachs <em class="gesperrt">Tendenz</em>. Sie tritt nicht überall so stark hervor wie +in »Die Frau Professorin«. Aber sie klingt überall mit. Sie macht ihn +zu Immermanns Genossen; ähnlich wollte ja der ganze »Münchhausen« das +Bauerntum als Kraftquelle gegenüber der Verbildung preisen. Aber sie +scheidet ihn von J. Gotthelf, der nichts anderes will, als seinen +Landsleuten den Spiegel vorhalten, damit sie sich bessern.</p> + +<p>2. In dieser Tendenz liegt eine große Gefahr: diejenige <em class="gesperrt">einseitiger +Schilderung</em>. Gotthelf brauchte diese Versuchung nicht zu bestehen, +weil er die Tendenz gar nicht hatte. Immermann hat sie überwunden. +Auerbach ist ihr erlegen. Nicht überall sind seine ländlichen +Gestalten so ideal, wie in »Die Frau Professorin«. »Diethelm von +Buchenberg« beschreibt den Entwicklungsgang eines Bauern, der, um +Hab und Gut, Ansehen und Stellung zu wahren, zum Verbrecher wird. +Im »Lehnhold« schafft der felsenharte Bauerneigensinn tausendfaches +Unheil und Elend. Trotz alledem kann ihm der Vorwurf nicht erspart +werden, daß er idealisiert. Die schlimmen Charaktere haben bei +ihm leicht gleich etwas Ausnahmsweises, ihre Fehler sind wohl gar +Übertreibungen berechtigter Eigenheiten. Man mag sie jedenfalls +nicht so recht zur Charakterisierung des Typus verwenden. Die guten +Charaktere aber verlieren vor lauter Engelsgüte den Boden der +Wirklichkeit unter den Füßen. Von Lorle heißt es: »In Demut entfaltete +Lorle eine Fülle des Liebesreichtums, daß Reinhard staunend und +anbetend vor ihr stand. Der Schluß ihrer Rede aber war fast immer. +»Ach Gott! ich bin dich nicht wert!«« Ausdrücke wie »herrliche, +einzige Frau«, »Naturschatz« sind gar nicht selten. Ähnlich die anderen +Personen: der Wadeleswirt in seiner Derbheit und Bravheit, der +Wendelin in seiner stillen Schwärmerei, die Bärbel in ihrer rührenden<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> +Treue. Das sind Lichtgestalten, aber darum noch keine Naturgestalten.</p> + +<p>3. Schwerer fällt zu Auerbachs Ungunsten ins Gewicht, daß er, selbst +von der Neigung zu idealisieren abgesehen, in der Zeichnung seiner +Bauern doch <em class="gesperrt">nicht ganz die rechten Farben getroffen hat</em>. Ein +neuerer Beurteiler nennt seine Erzählungen »treuherzig und mit jenem +gesättigten Humor im Ton, welcher dem Bauernverstand eine gewisse +Überlegenheit gibt«. Das mag stimmen, aber es genügt nicht, um den +Eindruck der Echtheit zu erwecken. Adolf <em class="gesperrt">Bartels</em> konstatiert +z. B. bei der Geschichte »Ivo, der Hairle«, daß die Entwickelung in +den Hauptzügen richtig gegeben ist; »ein letztes Etwas fehlt einem +aber doch«. Was ist dies letzte Etwas, das übrigens keineswegs allein +bei dieser einen Erzählung fehlt? <em class="gesperrt">Bartels</em> selbst erklärt: »In +den letzten Gründen weiß er nicht immer Bescheid, er legt unter und +deutelt hinein und erreicht nicht die absolute Echtheit, die Jeremias +Gotthelf bis in die letzte Gebärde und den geheimsten Seelenvorgang +aufweist.« Aber auch dies bedarf wieder der Begründung. Woran liegts, +daß Auerbachs Dorfgestalten nicht absolut echt sind? Meiner Meinung +nach an einem Dreifachen: Zunächst an der <em class="gesperrt">geringeren Bedeutung, +welche Sitte und Brauch für seine Geschichten haben</em>. Theoretisch +hat er die ganz richtige Einsicht gehabt: »Nicht die Sittlichkeit +regiert die Welt, sondern eine verhärtete Form derselben: die +Sitte. Wie die Welt nun einmal geworden ist, verzeiht sie eher eine +Verletzung der Sittlichkeit als eine Verletzung der Sitte«. Hier +liegt tatsächlich der Schlüssel für das Verständnis des Bauern. Mit +diesem Satz hat Auerbach den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber +in der Ausführung tritt die Sitte ganz zurück. Denken wir an eine +einzige kleine Szene bei Gotthelf wie z. B. an die, wo Vreneli den +Gang zum Pfarrer wieder und wieder aufschiebt. Jeder Satz zeigt die +Verknüpfung von Sitte und<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> Tun. Am Mittwoch geht sie nicht, weil das +als Unglückstag gilt; kein Dienstbote zieht da an. Am Dienstag ist +das Zeichen des Kalenders nicht recht: die Welt des Aberglaubens tut +sich auf. Am Montag scheint der Mond zu hell; die Mädchen mögen +bei diesem wichtigen Gang sich nicht gern anstaunen lassen. Und so +gehts fort. Das ist ein Meisterstück in der engsten Gründung von +Rede und Handlung auf Brauch und Sitte. Wo fände sich ähnliches bei +Auerbach? Es ginge ja auch so, daß schlichte, ruhige Schilderung der +Heimatsart des Bauern die Erzählung trüge. Im »Oberhof« hat sich +Immermann gar nicht gescheut, ziemlich lange Episoden zu geben, die, +mit der Handlung nur lose verbunden, eben die Welt beschreiben, in +welcher der Bauer lebt. Auerbach hat auch das verschmäht, bis auf +dürftige Ansätze, bei denen zudem der Bauer immer gleich mit dem +Städter verglichen wird. Der Hintergrund ist bei den »Schwarzwälder +Dorfgeschichten« nicht genügend ausgearbeitet. Warum nicht etwas mehr +Brauch und Sitte bei der Hochzeit von Reinhard und Lorle? Was für +eine schemenhafte Schilderung des Sonntagmorgens im Dorf am Anfang +der »Sträflinge«! Es fehlt am Hintergrund. Wir sehen und hören die +Bauern, aber wir erleben nicht ihren naturwüchsigen Zusammenhang +mit ihrer Scholle, mit Arbeit und Erholung, mit Ordnung und Sitte. +Damit hängt dann ein Anderes eng zusammen: auch <em class="gesperrt">die Denkweise +der Schwarzwälder Bauern ist keineswegs echt</em>. In ihre eigensten +Gebiete führt Auerbach überhaupt nicht ein. Was er sie sonst reden +läßt, das hat einen Anstrich von liberalen Zeitideen, der ja dazumal, +in den vierziger Jahren, sich auch beim Bauernstand gefunden haben +mag, der aber jedenfalls Anstrich ist, auch durchaus nichts, was die +<em class="gesperrt">Eigenart</em> des Bauern zu bezeichnen geeignet wäre. Es sind gute +Menschen, die er vorführt, und es mögen ganz schöne Ideen sein, die +sie da vorbringen. Aber Bauerngedanken<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> sinds nicht. Schließlich +trägt auch die <em class="gesperrt">Sprache</em> Schuld, welche Auerbachs Schwarzwäldler +reden. Helmuth <em class="gesperrt">Mielke</em> erklärt sie für eine »schlichte und warme +Sprache, die den Mundatem des Volkes selbst bekundet!« Das Gegenteil +ist richtig. Die Worte sollen getrost für echt gelten, die Sprache ist +darum doch nicht echt. Was z. B. das Lorle in der Audienz beim Prinzen +alles zusammenschwatzt, das ist ganz und gar nicht dörflich schlicht; +das ist forciertes, gemachtes Bauerntum. Kurz, Auerbachs Dorfgestalten +haben keinen Erdgeruch; es sind Salondörfler.</p> + +<p>4. Zur Charakteristik seiner ganzen Erzählweise mag an vierter +Stelle die Art erwähnt sein, <em class="gesperrt">wie er Stoffe wählt und Probleme +gestaltet</em>. Auch diese Art ist nicht schlicht natürlich. Gerade +»Die Frau Professorin« liefert dafür den glänzendsten Beweis. Ein +Künstler, der in nächster Beziehung zur Hofgesellschaft steht, +heiratet ein schlichtes Gastwirtskind vom Lande. Noch dazu ein +Mann, der sich gar keine Mühe gibt, ein warmes Familienleben zu +gründen, bei dem es dem verpflanzten Dorfkind wohl sein kann. Und +das Dorfkind seinerseits bleibt so stocksteif auf der alten Art, die +doch eigentlich nur in der Negation sich zeigt, daß man wirklich ein +bißchen mehr Verständnis, ein klein wenig mehr Akkommodationsfähigkeit +erwarten dürfte. Das ist kein typisches Sittenbild; das ist +die Geschichte einer Torheit, welche durch die Narrheit der +Hauptbeteiligten auf die Spitze getrieben wird! Aber auch in anderen +Erzählungen bleibt Auerbach ungern beim rein, intim Dörflichen. +Überall spielt das Städtische hinein. In »Die Frau Professorin« +tritt das Dörfliche nirgends für sich auf, vielmehr durchweg nur in +Verbindung mit den Erlebnissen des Malers und des Collaborators. Die +»Sträflinge« bringen ein ganz fremdartiges Element ins Dorfleben +hinein: die aus Barmherzigkeit aufgenommenen entlassenen Gefangenen.</p> + +<p>Ich fasse mein Urteil über Auerbach kurz dahin zusammen:<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> Er +verherrlicht das Landleben, den Bauernstand. Er entnimmt dem +bäuerlichen Leben seine Stoffe und seine Probleme. Aber <em class="gesperrt">er geht +nicht genug in die Wurzeltiefe dörflicher Art hinein, er nimmt den +Bauern nicht im Zusammenhang mit seiner Scholle. Und so lernt man den +Bauernstand selbst durch ihn nicht kennen.</em></p> + +<hr class="tb"> + +<p>Gehören die beiden, die ich nun nenne, auch noch zu den +Dorfgeschichtenschreibern? <em class="gesperrt">Otto Ludwig</em>, meine ich, mit +seiner »<em class="gesperrt">Heiterethei</em>« und seinem »<em class="gesperrt">Zwischen Himmel und +Erde</em>« und dann der allbekannte, reichlich gelesene und +vielgeliebte <em class="gesperrt">Fritz Reuter</em>? Otto Ludwig kann man den Titel +des Dorfgeschichtenverfassers mit guten Gründen abstreiten. »Himmel +und Erde« ist eine städtische Geschichte; das Dachdeckerhandwerk +bildet ihren Mittelpunkt. Zudem liegt es ihrem Schöpfer gar nicht +am Herzen, Sitte und Art zu zeichnen; keine Erzählung, die tiefer +ins Psychologische ginge und weniger über das Psychologische +hinausginge als diese. Ein Meisterstück an Feinheit, Geschlossenheit, +Entwicklung, Spannung und Kraft! Wer sie noch nicht las, sollte sie +eilig zur Hand nehmen! Aber eine Dorfgeschichte? — Nein. Und auch +die »Heiterethei« liegt ein Stück ab vom Oberhof und von Jeremias +Gotthelf; am wenigsten vielleicht von Auerbach. Nicht das Dorf ist +ihr Schauplatz; ein Städtchen ist der Tummelplatz ihrer Gestalten. +Hier leben der hustende Weber, der Schneider, der trotz seiner dreißig +Jahre von seiner baumlangen Stiefmutter als der »Jung« betrachtet und +bis zu den handgreiflichsten Konsequenzen auch so behandelt wird, der +Morzenschmied, der ein Schabernack ist, obwohl er immer so duchsig +tut. Hier hausen und klatschen die wichtigen und die minder wichtigen +Weiber, die Gringelwirts Valtinessin, die das Recht hat, von allen +Frauen am vornehmsten zu träumen, und vor deren Übelnehmen die anderen +alle<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> sich fürchten, — die Frau Tüncherin, die der Valtinessin gleich +gern zugesteht, daß der Hahn, den sie im Traum hat krähen gehört, kein +rechter Luckenbacher gewesen ist, weil er ander Wetter gekräht hat, +was die Valtinessin doch nicht wahrhaben will, — da ist die Weberin +und die Schmiedin, die, während ihr Mann ihr halb wider Willen etwas +Neues berichtet, schon immer im Geist beim Kaffeeklatsch ist und +sich selber sieht, wie sie unter allgemeiner Spannung die Neuigkeit +weitererzählt. Im Städtchen Luckenbach aber hausen vor allem auch die +beiden Hauptpersonen, die Dorle mit dem blonden Zopf und den vollen +Lippen, die so munter ist, daß man sie Heiterethei genannt hat: »Der +Name tanzt ordentlich wie das Mädle selber.« Ein Prachtmädel, diese +Heiterethei! Kein braver Mädel im ganzen Städtel; aber auch keins +mit einem flinkeren Mund. Mit dem Schiebkarren fährt sie zum Markt; +auf dem kräftigen Karren ruht ein tüchtiger Strick. Nun fragt der +Schneider:</p> + +<p>Aber was willst du dir nur holen damit?</p> + +<p>Einen Mann, lachte der Schmied.</p> + +<p>Einen Schmied, entgegnete das Mädchen ernsthaft. Die muß man mit +Stricken binden, wenn sie vom Markt heim nicht in jedem Wirtshaus +einkehren sollen.</p> + +<p>Die Schneider nicht? fragte der Schneider fast neidisch.</p> + +<p>Auch, sagte das Mädchen, nicht wegen der Wirtshäuser, nur, daß sie der +Wind nicht vom Schiebkarren bläst.</p> + +<p>Du mußt den Holder-Fritz frein, hustete der Weber. Wenn ihr einen +Jungen kriegt, der jagt den Kirchturm von der Kirch' und zur Stadt +hinaus.</p> + +<p>Das käm' zu spät, sagte das Mädchen ruhig. Bis dahin habt ihr ihn +hinausgehustet.</p> + +<p>Wo stellt ihr ein auf dem Markt, Annedorle? fragte der Schmied. +Heimwärts führen wir uns.</p> + +<p>Ihr werdet wohl einen brauchen, der euch führt, sagte das Mädchen; ich +nicht. —</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p> + +<p>Und neben der Heiterethei steht der Holder-Fritz, der flotte und +lustige Holder-Fritz, der nachher mit einem Mal anders wird. Wie der +Holder-Fritz und die Heiterethei, beide starke, trotzige Seelen, sich +mögen und sich trotzen und endlich sich einigen, das beschreibt alles +die »Heiterethei«.</p> + +<p>Eine Dorfgeschichte ist das nicht, aber weit davon ists auch nicht. +Das Städtchen ist ja eins von denen, in deren Tätigkeit Ackerbau und +Gewerbe sich teilt. Und eine Volkserzählung ists ganz gewiß. Nur +nicht so schlicht, wie die von J. Gotthelf; der kann einem hiergegen +beinahe pedantisch vorkommen. Und auch nicht so gravitätisch wie der +Oberhof. Nein, viel flotter, lustiger, leichter geschürzt. Und doch +viel mehr Kompositionskunst, viel mehr Entwicklungsenergie, viel +mehr psychologische Feinmalerei als nüchterne Beschreibung. Eine +Volkserzählung, die den Titel »Novelle« vollauf verdient, weil sie ein +sorgsam bedachtes Kunstwerk ist. Der Realismus ist freilich nicht mehr +Alleinherrscher; er hat den Humor und die Satire zur Seite.</p> + +<p>Ein prächtiges Gegenstück zu dieser Art bildet unser lieber <em class="gesperrt">Fritz +Reuter</em>. Was brauche ich da Titel aufzuzählen? Ihn kennt ja +ein jeder. Freilich, vor allem meine ich und denke ich an seine +»Stromtid«, dies Buch, das dem deutschen Volk, wenigstens dem +gebildeten Teil desselben, so ganz zu eigen geworden ist. Auch Fritz +Reuter ist Volkserzähler. Seine Dichtung wurzelt mit tausend Wurzeln +im mecklenburgischen Land, im norddeutschen, ja im ganzen deutschen +Volk. Hawermann und seine Lowise, Unkel Bräsig, die lütte Fru Pastern, +Jochen Nüßler und die Madam Nüßlern, die Druwäppel Mining und Lining, +sind das nicht wundervolle ländliche Charaktergestalten? Giebts nicht +desgleichen Pomuchelsköppe sowohl wie Rambows, Kandidaten wie Rudolf +und Gottlieb, Eleven wie den famosen Triddelfitz überall im deutschen<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> +Land? Und blickt man nicht tief, tief hinein in des Landmanns Last und +Lust, in der Fru Pastern Freud und Leid, in der Tagelöhner Arbeit und +Sorgen? Ja, Reuter greift tief hinein ins Leben des Volks, ins Herz +des Volks. Er ist zugleich in alledem klar, treu und wahr. Und darum +gehört, was er geschrieben, zur Volkserzählung. Und es gehört unter +ihren Schöpfungen nicht an den letzten Platz.</p> + +<p>Nur bleibt dem, der die Eigenart der Erscheinungen gegen einander +abwägt, doch die Pflicht, seiner Art innerhalb der Volkserzählung +ihren ganz besonderen Platz anzuweisen. Reuter steht Otto Ludwig und +seiner »Heiterethei« der Art nach am nächsten, wie er übrigens auch +der Zeit nach mit ihm eng zusammengehört. Die »Heiterethei« erschien +1854, »Zwischen Himmel und Erde« 1856, während Reuters literarische +Tätigkeit 1853 mit den »Läuschen un Rimels« begann und dann bis +1862-64, der Zeit der »Stromtid«, währte. Wie Ludwig führt auch er nur +nebenbei in alle die Sitten und Zustände ein, in Volkes Sonderwesen +und Eigenbräuche. All das spielt hinein, aber es klingt nur leise +mit. Ein Milieudichter ist Reuter nicht, ein naturalistischer — +trotz ein paar derber Stellen — erst recht nicht. Ihm hebt sich aus +allem der Mensch heraus; der bleibt ihm die Krone, die alles andere +zurücktreten läßt. Und das hat zur Folge, daß die Heimatsfarbe, der +Erdgeruch minder deutlich wird. Sobald der Dichter den Menschen vor +allem als Menschen nimmt und nicht als Schweizer oder Schwarzwälder +oder Mecklenburger, sobald werden die Konturen der Zeichnung blasser. +Reuter und Ludwig haben das getan. Und wie Ludwig hat auch Reuter +mindestens in der »Stromtid« die einfach fortschreitende Form der +Erzählung verlassen; ja, die »Stromtid« ist noch in anderem Sinn ein +formgerechtes Kunstwerk als die »Heiterethei«. Sie steht in dieser +Hinsicht am besten mit »Zwischen Himmel und Erde« zusammen.<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> Nur +daß dies durch und durch Novelle ist, während die »Stromtid« ebenso +durch und durch Romancharakter hat. Wir mögen sie nur deshalb nicht +gern so nennen, weil wir bei dem Wort Roman jenen fatalen Nebensinn +mitzudenken gewohnt sind, der doch gar nicht dazu gehört und der zu dem +Einfachen, Schlichten, Volkstümlichen in Reuter nicht stimmen will. +Aber an der Tatsache ändert das nichts: die »Stromtid« ist in Anlage +und Durchführung, in Vorbereitung, Konflikt und Lösung ein volles, +rundes Meisterwerk der künstlerisch gestalteten Prosadichtung. Und +auch das gibt ihr neben der schlichten Volkserzählung ihre besondere +Stellung. Endlich aber, und das ist das Beste, merkt man es Reuter +ganz deutlich an: ihm liegt am bloßen Malen überhaupt herzlich wenig. +Ihm ist des Dichters Aufgabe anders gefaßt: nicht einen Spiegel hält +er den Menschen vor, sondern er zieht sie mit all ihrem Denken, +Wollen und Fühlen hinein in das Menschengeschick, das er vor den +Lesern sich aufrollen läßt. Ihm darf der Leser nicht objektiv über +dem Stoffe stehen bleiben, kein Beobachter sein, der sich freut, wie +gut die lieben Menschenkinder von da und von dort abkonterfeit sind. +Hier müssen sie miterleben, mitfühlen, mitjauchzen, mittrauern, ja +unbedingt auch mitweinen! Wir wissen alle, wie trefflich ihm das +gelungen ist; wer hat nicht selber mit durchgemacht, was die Leutlein +alle dort im mecklenburgischen Dorf erlebt haben! Reuter hat es +wie kein Zweiter verstanden, den Menschen bei <em class="gesperrt">der</em> Seite zu +fassen, bei der er am ehesten kühle Zurückhaltung, kritische Laune +und objektiven Stolz verliert: beim <em class="gesperrt">Gemüt</em>. Lustig sein und +traurig sein, beides mag das deutsche Gemüt gern. Reuter hat ihm +beides gegönnt; so herzinnig lachen und so herzbrechend weinen, wie +bei der Lektüre der »Stromtid«, kann man kaum bei einem anderen +Buch. Vielleicht hat er die Gemütssaite <em class="gesperrt">zu</em> oft angeschlagen? +Ich will nicht streiten; aber rührselig ist er doch nicht geworden. +Es<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> dominieren doch der stille Ernst und der fröhliche, selige, +goldene Humor. Fritz Reuter muß man lesen, wenn die Menschen, die +sich lieb haben, um den Lampenschein traulich zusammengerückt sind; +am allerbesten zur Weihnachtszeit, wenn das Herz ein bischen stärker +klopft, als es sonst wohl tut.</p> + +<p>Aber ich breche ab. Was hab' ich gewollt? Die Volkserzählung aus +der Mitte des Jahrhunderts galt es zu charakterisieren. Von 1839, +da Immermanns »Münchhausen« erschien, sind wir bis zum Anfang der +sechziger Jahre gewandert, in denen Fritz Reuter die »Stromtid« +schuf. Zwei reichliche Jahrzehnte, gerade die Mitte des Jahrhunderts +ausfüllend! Für literarische Entwicklung doch eine kurze Spanne Zeit. +Trotzdem ist gerade auf diesem Gebiet Reichliches in ihr geschehen. Wo +blieb die träumende Romantik? Der Geruch der Scholle vertrieb sie. Die +einfache, derbe, nüchterne Wirklichkeit heischte ihr Recht. Man packte +sie, wo sie am wirklichsten war, im Bauernleben. Man wollte nichts +haben als Wirklichkeit. Wer viel Süßes gegessen, hungert nach einem +Bissen Brot! <em class="gesperrt">Was Kunstform und Problem? Was Konflikt und Lösung? +Leben! war die Losung, nur Leben.</em> Aber auch diese Forderung hatte +ihre Zeit. Zwar ins schlichte Leben hineingreifen, nicht bloß ins +wunderbare, das wollte man auch weiter. Aber der Mensch, die Seele, +das Gemüt ward wichtiger als die Natur. Und die Kunstform stellte sich +wieder ein. Sie hatte an Schlichtheit von ihrem Gegenstand gewonnen; +und sie half so auch der Volkserzählung zur künstlerischen Vollendung. +Aber Kunst und Natur vertragen sich schwer; auch hier trat die Natur +ins zweite Glied. Immerhin, man hatte gelernt, zu sehen und Gesehenes +zu zeigen. Man blieb wahr und man blieb nüchtern. <em class="gesperrt">Die Romantik war +tot; die Wirklichkeit hatte gesiegt.</em></p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_8"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_tendenzioese_Zeitroman">Der tendenziöse Zeitroman.</h2> +</div> + + +<p>Der Roman tritt in gewollte, neue, enge Verbindung mit der +Wirklichkeit. Goethe wirkt, nicht die Romantik. Nicht in der +Volkserzählung allein geschieht das: warum sollte man nur das +»Volk« beachten und nicht die Welt in ihrer ganzen Breite und Weite +nehmen? Lagen denn nicht tausend Anlässe vor, ihre Zustände zu +ergründen, zu durchforschen, zu kritisieren? War denn nicht eine +Zeit hereingebrochen, in der der Blick sich weitete und schärfte? +Die Sturmesgewalten der Revolution waren im Anzug; und ihnen voraus +gingen Windstöße, die alte, festgewurzelte Anschauungen aufwühlten +und zu neuen Bildungen Anlaß gaben. Was Wunder, daß die öffentlichen +Angelegenheiten, daß die Fragen der Politik und Gesellschaft, des +Staats und der Kirche, der Aristokratie und der Demokratie in jenen +Jahren vor den Stürmen von 1848 und ebenso in den folgenden Zeiten +auch die Dichter nicht ruhen ließen? Auch ihr Interessengebiet wurde +weit und groß: es erstreckte sich über alles das, was die Zeit +bewegte. Der Roman war nicht die einzige Form der Dichtung, welche +den Pulsschlag der Zeit spüren ließ. Wie hell klangen die Sturmlieder +eines Herwegh und Freiligrath! Aber <em class="gesperrt">auch</em> im Roman pulsierte die +Zeit; er ward zum <em class="gesperrt">Zeitroman</em>.</p> + +<p>Konnte es anders kommen, als daß die Betrachtung der Zeit in +der Dichtung zunächst alles andere war, nur nicht ruhig, kalt, +unparteiisch und objektiv? Wir verstünden es nicht, wäre es anders +gewesen. Eher ist die Dorferzählung mit ihrer darstellenden Art +ihrer Zeit fremd als der tendenziöse Roman. Genau betrachtet, +zahlt übrigens<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> auch die Dorfgeschichte der Zeit ihren Tribut. Der +»<em class="gesperrt">Oberhof</em>« ist ja ein Kompositum einzelner Kapitel aus einem +Zeitroman; er gibt Wirklichkeit, aber eben mit dieser Schilderung +der Wirklichkeit verfolgt sein Verfasser eine bestimmte Absicht. In +<em class="gesperrt">Auerbachs</em> Erzählungen wirkt eine ganz ähnliche Tendenz; das +Land wird gegenüber dem städtischen, höfischen Wesen verherrlicht. +Auch die politischen Ideen spielen hier hinein. Und die ruhigsten, +objektivsten Dorfgeschichten, die überhaupt geschrieben worden sind, +stammen nicht aus dem vielbewegten deutschen Land, sondern aus der +Schweiz, wo der Kampf um Fürstenrecht und Volkesrecht nur mitgefühlt +und so miterlebt, aber damals nicht ebenso mitgekämpft wurde!</p> + +<p><em class="gesperrt">Der Zeitroman ward also zum Tendenzroman.</em> Er hat Stadien +erlebt, in denen die Tendenz darin fast die Zeit tötete, d. h. in +welchen die Darstellung des Bestehenden gegenüber den Plänen zum +Kommenden kaum zur Geltung kam. Hierher gehören die <em class="gesperrt">jungdeutschen +Romane</em> aus den dreißiger Jahren. Unter ihnen ragen die Werke +Heinrich <em class="gesperrt">Laubes</em> und Karl <em class="gesperrt">Gutzkows</em> hervor. Heinrich +<em class="gesperrt">Laube</em> schuf damals (1833) den ersten Teil des Romans »<em class="gesperrt">Das +junge Europa</em>«, dessen später erschienene Teile viel abgeklärtere +Art tragen. Die einzelnen Bände haben Sondertitel; Bd. <em>I</em>: +Die Poeten; Bd. <em>II</em>: Die Krieger; Bd. <em>III</em>: Die Bürger. +Nicht das, was erzählt wird, fesselt; in der Handlung fehlt jede +Einheitlichkeit, Entwicklung und Geschlossenheit. Es dreht sich +alles um Liebesabenteuer der jungen Poeten, und zwar um solche, die +der theoretisch verfochtenen Freiheit in Religion und Sittlichkeit +vollkommene praktische Folge geben. Aber die Hauptsache sind die +Ansichten, die breit und gründlich zur Aussprache und zum Siege über +andere Ansichten gelangen. Der Gegensatz gegen die Romantik kommt zum +scharfen Ausdruck; die gesunde Natur wird gepriesen, zugleich aber +auch ihre völlige Ungebundenheit. Keine Vorschrift der<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> Religion und +keine der Moral wird anerkannt; die Natur hat Recht, auch mit ihrer +Sinnlichkeit. In der Politik aber gilt selbstverständlich allein das +Volk, ja sogar das Volk in verschwommener Allgemeinheit; nicht als +Einzelvolk, als Nation, sondern als Summe von Weltbürgern.</p> + +<p>Es ist nicht meine Absicht, alle Romane jener jungdeutschen Epoche +hier zu charakterisieren. In allen herrscht der gleiche, gärende +Geist, die gleiche Auflehnung des Einzelnen gegen die hergebrachte +Ordnung wie der Masse gegen das Gefüge des Staats und der Kirche. +Im übrigen sind sie verschieden genug. Da ist Karl <em class="gesperrt">Gutzkows</em> +»<em class="gesperrt">Maha Guru</em>« (1833), dessen Schauplatz weitab in Tibet liegt, +dessen Angriffsobjekt aber doch das Christentum ist; da ist aus dem +Jahre 1835 desselben <em class="gesperrt">Gutzkow</em> »<em class="gesperrt">Wally, die Zweiflerin</em>«, +eine Fortsetzung dieses Kampfes gegen das Kirchentum. Die Heldin +zweifelt an allem, insbesondere auch an jeder Religion. Religion ist +ihr ein »Produkt der Verzweiflung«. Sie gibt sich schließlich selbst +den Tod. Der Roman knüpft an an die wunderbare Tatsache, daß Karl +Gutzkows Gattin Charlotte sich selbst den Tod gegeben hatte, um durch +diese Tat ihren Garten mit neuer dichterischer Kraft zu erfüllen. +Und wie diese Tat, welche das Werden des Romans mitbestimmte, so +ist die gesamte Ideenwelt desselben outriert, überleidenschaftlich, +schließlich unwahrscheinlich. Nicht vergessen soll werden, daß in +»Wally, die Zweiflerin« zugleich die Frau als Frau neue Geltung +beanspruchte. Die enge Verbindung, in welche hier Emanzipation der +Frau und Emanzipation von aller Religion, überhaupt von allem Gewissen +traten, ist für die Zukunft nicht ohne Einfluß geblieben.</p> + +<p>Aber wir eilen vorwärts. Gutzkows »<em class="gesperrt">Seraphine</em>« (1838), sein +Erziehungsroman »<em class="gesperrt">Blasedow und seine Söhne</em>« (1838), die anderen +jungdeutschen Kraftromane können nur genannt werden. Aus der Sturm- +und<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> Drangperiode des Zeitromans, die man etwa bis zur Revolution +datieren kann, retten wir uns in die Periode des <em class="gesperrt">abgeklärteren +Zeitromans</em>. Auch hier Tendenz, überall Tendenz. Aber die Tendenz +macht nicht mehr die Zeitdarstellung tot; sie läßt dieser größeren +Raum und größere Ruhe. Der Grad dieser Ruhe ist freilich verschieden. +Zwei Klassen des Zeitromans bilden sich, jenachdem die Tendenz +stärker oder schwächer ist, jenachdem die Darstellung weniger oder +mehr objektiv geraten ist. Wohl gehen beide Gattungen in einander +über, wohl kann man schwanken, welcher von beiden der eine oder +der andere Roman zuzuteilen ist. Aber es sei dennoch gewagt, die +<em class="gesperrt">Unterscheidung</em> festzuhalten <em class="gesperrt">zwischen dem tendenziösen und +dem objektiven</em>, oder, um vorsichtiger zu sein, zwischen dem mehr +tendenziösen und dem mehr objektiven <em class="gesperrt">Zeitroman</em>.</p> + +<p>Die Zahl der Zeitromane der ersteren Art ist groß, zumal wenn man nun +alsbald auch in die späteren Jahrzehnte des Jahrhunderts hineingreift. +Gegen die Titanen der Revolution nimmt Stellung A. <em class="gesperrt">Widmann</em>: +»<em class="gesperrt">Der Tannhäuser</em>«, gegen die irreligiöse Weltanschauung +Elisabeth <em class="gesperrt">Cantz</em>: »<em class="gesperrt"><i>Eritis sicut Deus</i></em>« (1854). +Stark tendenziös sind die Romane von <em class="gesperrt">Spiller von Hauenschild</em> +(Pseud.: Waldau), von denen nur der 1851 erschienene »<em class="gesperrt">Nach der +Natur</em>« genannt sein mag. Proletarisch-sozialistische Tendenzen +verfolgt Robert Prutz (besonders »<em class="gesperrt">Engelchen</em>« 1851). Bedeutender +sind die schon minder stark tendenziösen späteren Romane von +Karl <em class="gesperrt">Gutzkow</em>: »<em class="gesperrt">Die Ritter vom Geist</em>« (1850/51) und +»<em class="gesperrt">Der Zauberer von Rom</em>« (1856/61), die Schöpfungen Friedrich +<em class="gesperrt">Spielhagens</em>, von denen insbesondere »<em class="gesperrt">Problematische +Naturen</em>« (1860/61), »<em class="gesperrt">Die von Hohenstein</em>« (1863), »<em class="gesperrt">In +Reih und Glied</em>« (1866) hierher zu rechnen sind, und von noch +späteren Werken diejenigen von Paul <em class="gesperrt">Heyse</em>: »<em class="gesperrt">Die Kinder der +Welt</em>« (1873) und »<em class="gesperrt">Im Paradiese</em>« (1885).<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> Zu eingehenderer +Betrachtung greife ich heraus: Gutzkow »Die Ritter vom Geist«, +Spielhagens »Problematische Naturen« und Heyses »Kinder der Welt«.</p> + +<p><em class="gesperrt">Gutzkows</em> »<em class="gesperrt">Ritter vom Geist</em>« geben sozusagen das Programm +des gesamten Zeitromans der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ein +ausführliches Vorwort gibt darüber Auskunft. Der Roman erlebt eine +neue Phase. Er soll mehr werden, als der Roman von früher war. »Der +Roman von früher .... stellte das <em class="gesperrt">Nacheinander</em> kunstvoll +verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer +klassischen Unglaubwürdigkeit! .... Oder wer sagte Euch denn, ihr +großen Meister des alten Romans, daß die im Durchschnitt erstaunlich +harmlose Menschenexistenz gerade auf <em class="gesperrt">einem</em> Punkte soviel +Effekte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche +Voraussetzung sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten +kleinen Stoffe zuspitzen konnten?« Der alte Roman ist unwahr geworden, +weil er die lebenslangen Strecken, welche zwischen einer Tat und ihren +Folgen liegen, beiseite warf. Er ließ dadurch die alte Wahrheit von +der — unwahren, erträumten Romanwelt siegen. »Der neue Roman ist der +Roman des Nebeneinander. Da liegt die ganze Welt, da ist die Zeit wie +ein ausgespanntes Tuch ...... Nun fällt die Willkür der Erfindung +fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis +liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt und stellt seine Beleuchtung +der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspektive des in +den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich +ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigentümlich, leider +polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt.«</p> + +<p>Von diesem Programm verspricht sich Gutzkow Gewaltiges. »Resultat: +Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder +den Glauben und das<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> Vertrauen schöpfen, daß auch die moralisch +umgestaltete Erde von einem und demselben Geiste doch noch könne +göttlich regiert werden.« Diese hochfliegenden Pläne lassen wir +beiseite. Ihre Haltlosigkeit liegt auf der Hand. Was aber das eben +nach der Vorrede zu den »Rittern vom Geist« entwickelte Programm +betrifft, so ist es, wie gesagt, in der Tat dasjenige des neuen +Zeitromans geworden. Keine unwahrscheinliche Verknüpfung eines +Nacheinander von Ereignissen, die in Wirklichkeit doch nicht +nacheinander kommen, sondern ein Gesamtbild der bestehenden Welt in +ihren mannigfachen Einzelerscheinungen soll seinen Inhalt bilden: ein +Querschnitt, nicht ein Längsschnitt soll er sein. Allerdings, so sehr +Gutzkow mit der Polemik gegen das <em class="gesperrt">unnatürliche</em> Nacheinander +Recht hat, so wenig kann der Roman nur ein <em class="gesperrt">Neben</em>einander geben: +er müßte ja sonst auf jede Handlung verzichten. Und dann: so gewiß +das Nebeneinander trefflich dazu dienen wird, ein Welt- und Zeitbild +im großen Stil zu geben, — man braucht doch nicht zu fordern, daß +jeder Roman die <em class="gesperrt">ganze</em> Welt schildere; warum soll er nicht ein +Einzelbild herausgreifen? Mehr Natürlichkeit! Mehr Wirklichkeit! Mehr +umfassende Weltdarstellung! Mit diesen Forderungen hatte und behielt +er Recht. Aber der Roman muß, weil er Erzählung ist, auch Handlung +geben, und er muß diese Handlung aus den handelnden Menschen ableiten. +Dies <em class="gesperrt">Ineinander</em>, nicht bloß Nebeneinander, von Welt, Mensch und +Handlung hat Gutzkow zu fordern vergessen.</p> + +<p>Die »Ritter vom Geist«, welchen Gutzkow dies kräftige Vorwort +mitgegeben hat, bilden denn auch keineswegs ein absolutes +Nebeneinander. Vielmehr bringen sie durchaus auch fortschreitende +Handlung. Sie vergessen auch keineswegs, daß Menschenwille und +-Charakter die wichtigsten Faktoren bei allem Geschehen sind; die +Psychologie spielt in ihnen keine geringe Rolle. Die Aufgabe, die +Welt im Querdurchschnitt zu zeigen, erfüllt dieser<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> Roman vollauf; +nur daß er hierin sogar des Guten zuviel getan hat. Neun Bücher! Und +keineswegs kurze! Wahrlich, es war nötig, daß der Verfasser am Anfang +der Vorrede dem Leser zurief:</p> + +<p>»Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich +dich auffordere! Rüste dich mit geschäftslosen Sonntagsvormittagen und +einem guten, aushaltenden Gedächtnis! .... Werde nicht müde, wenn du +unabsehbare Ebenen erblickst, sich der Weg zwischen gefahrvolle, nicht +endende Gebirgspässe zwängt, oder die Landstraße plötzlich sich wie in +die Wolken zu verlieren scheint!«</p> + +<p>Diese unsagbare Breite dieses Romans, wie auch des folgenden »<em class="gesperrt">Der +Zauberer von Rom</em>«, hat es denn glücklich zu Wege gebracht, daß +kein Mensch mehr sie liest. Ein halbes Jahrhundert — und sie sind +vergessen!</p> + +<p>Soll ich Ihnen die Fabel der »Ritter vom Geist« darzustellen +versuchen? Sie macht die Bedeutung des Romans nicht aus. Im Gegenteil; +sie ist neben der ungeheuerlichen Breite seine Schwäche. Die Handlung +angesehen, ist man versucht, dem Werk schlankweg den Titel des +Abenteurerromans zu geben. Vor allem ists nicht <em class="gesperrt">ein</em> Faden, +den der Dichter verfolgt, sondern eine ganze Zahl. Nr. 1: Die Brüder +Wildungen glauben Anspruch auf Besitztum zu haben, das in Händen +des Templerordens war. Der eine der Beiden entdeckt die beweisenden +Urkunden, verschlossen in einem hölzernen Schrein. Eben dieser wird +ihm gestohlen. Er sucht ihn und erlebt auf der Suche Abenteuer um +Abenteuer. Er wird eines verkleideten Prinzen nächster Freund und +Duzbruder, wird selbst für eben diesen Prinzen gehalten, verliebt sich +in dasselbe Mädchen, welches der Bruder liebt. Endlich, endlich kommt +der Schrein zum Vorschein, der Prozeß wird gewonnen. Inzwischen ist +aber der eine Bruder ins Gefängnis geworfen, aus dem er abenteuerlich +befreit wird. Ein Feuer, das im Wirtshaus ausbricht, vernichtet den<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> +Schrein. — Nr. 2: Das Fürstentum Hohenberg ist vakant; der Erbe lebt +im Ausland, mag auch die Erbschaft nicht antreten, weil die Passiva +größer sind als die Aktiva. Als Handwerksbursch verkleidet, kommt er +doch in die Heimat, ins fürstliche Schloß. Dort will er sich eines +Bildes bemächtigen, in welchem wichtige Familienpapiere aufbewahrt +sind. Als Dieb wird er in den Turm geworfen. Jener Wildungen, der +dieses Prinzen Duzfreund so rasch geworden ist, nützt, um ihm das Bild +zu verschaffen, die Liebe seiner Angebeteten aus. Diese benützt listig +ein Rendezvous mit einer Exzellenz im Möbelwagen als Mittel, das +Bild zu beschaffen. Es kommt in die Hände des Prinzen; der Prinz ist +aber gar nicht der legitime fürstliche Erbe, sondern der Sproß eines +illegitimen Verhältnisses der Fürstin. Sein richtiger Vater ist gerade +aus Amerika heimgekehrt ... Der Pseudoprinz wird späterhin Minister. +Nr. 3: Im Haus eines angesehenen Justizrats wird ein Junge erzogen, +der, gleichfalls von illegitimer Geburt, Sohn einer vornehmen Dame und +eines Verbrechers, allerhand gefährliche Instinkte besitzt. Er bringt +die Tochter des Justizrats in Gefahr, er macht kostbare Pferde rasend, +indem er ihnen Spitzkugeln in die Ohren praktiziert, er nachtwandelt +in allen möglichen Situationen, erschreckt die justizrätliche Familie, +besonders jene Tochter; schließlich kommt er in eben jenem Brande +um, in welchem der Schrein sein Ende findet. Und an diese Nummern +1-3 könnte ich leicht weitere knüpfen. Aber zur Charakteristik des +Ganzen genügt es, wenn allenfalls noch hinzugefügt wird, daß die +Verwechselungen, die Mißverständnisse und endlich die Aufklärungen +der Handlung an mehr als einer Stelle auf die Sprünge helfen müssen. +Es leuchtet ohne weiteres ein, daß mit dieser Handlung kein Staat zu +machen ist. Was Gutzkow am alten Roman aussetzte, hat er selbst nicht +vermieden: klassische Unglaubwürdigkeit, farbenreiche Gebilde des<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> +Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten. Er selber nannte +die Menschenexistenz im Durchschnitt erstaunlich harmlos. Und was für +Merkwürdigkeiten hat er dann — nicht nacheinander, aber doch eng +nebeneinander — gehäuft!</p> + +<p>Die Bedeutung des Romans — er besitzt solche trotz alledem — +liegt also anderswo. Sie liegt lediglich in dem Zeitbild, welches +er in bisher ungekannter Gründlichkeit gibt. Es entbehrt nicht der +Tendenz; hatte doch schon das Vorwort gesagt, der Dichter stelle +seine Beleuchtung der Welt derjenigen der Wirklichkeit gegenüber. +»Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, +eigentümlich, <em class="gesperrt">leider</em> polemisch.« Die eigene Stellung des +Dichters läßt aber doch auch die anderen Strömungen zu ihrem Rechte +kommen. Um das Preußen nach 1848 handelt sichs. Die Reaktion ist oben +auf; sie wird verdeutlicht durch den »Reubund«. Der hat es sich zur +Aufgabe gesetzt, durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung dem +Fürstenhaus zu erkennen zu geben, daß das Volk die revolutionären +Stürme bereue. Die kirchliche Reaktion stellt Propst Gelbsattel +dar, ein Mann von konservativster Gesinnung, ein Bewunderer der +Jesuiten, die mit ihrer Organisationskunst und ihrer Lebenskraft +sich die Aufgabe gestellt haben, die geistige Herrschaft der Kirche +zu retten. Neben diesen prinzipiellen Vertretern der Reaktion stehen +Typen eines praktischen Realismus: an ihrer Spitze der Justizrat +Schlurck, der wohl »Anfälle von Aberglauben, ja von Mystik« hat, im +Grund aber ein völlig grundsatzloser Zweifler ist. »Die Staatsformen +wechseln, aber die Forellen bleiben,« das ist sein Grundsatz. »Ein +Mann in meiner Stellung, .... was kann der tun, wenn man ihm sagt: +Das Interesse des Staats verlangt jetzt auch Ihre Beihülfe! Auch +Sie müssen teilnehmen an der Wiederherstellung der Monarchie und +des sicheren Kraftgefühls der Regierung! .... Sehen Sie,<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> schon das +ist ja etwas wert, wenn es die Reaktion durchsetzt, daß Einer mit +Behaglichkeit wieder in ein Bad reisen kann.« »Ich war Mitglied aller +Bibelgesellschaften, aller Missions-, aller Gustav-Adolfvereine. Ich +hielt mich anfangs zum konstitutionellen Angstklub, ich bin jetzt +Reubündler; was soll ich mich dabei aufhalten, den Leuten zu sagen, +warum .... ich es nicht bin.« Dem gleichen politischen Realismus +huldigt auch Pauline von Hardenberg, eine Schriftstellerin nach +Art der Jungdeutschen, dann plötzlich übertriebene Monarchistin, +Hauptanstifterin kontrerevolutionärer Schläge, schließlich aber +wieder Führerin der Fronde, weil ihr glühender Ehrgeiz nicht erfüllt +wird, zu den kleinen Zirkeln zu kommen, die sich um das Herrscherpaar +versammeln und in denen »das System« gemacht wird. Ihnen allen +gegenüber stehen die Ideen des jungen Prinzen, die er allerdings nicht +in die Praxis umsetzt. Auch er ist Neuerungen nicht abhold. »Solange +nicht die Arbeit selbst an den Thron für sich redend tritt und die +Bureaukratie aufhört, der Dolmetscher der Interessen der Arbeit +zu sein, kann es nicht besser werden. Es fehlen uns Staatsmänner, +die ihre Schule im Volke gemacht haben.« Der Staat darf sich nicht +nur auf die Institutionen der Gewalt stützen; er muß sich durch +den Schutz der Arbeit, der Industrie, des Handels, des Ackerbaus +befestigen. Der Adel ist nicht aufzuheben, sondern ihm ist das +natürliche Nachwuchssystem zu belassen. In manchem verwandt und doch +viel radikaler sind die Anschauungen Dankmars Wildungen, die des +Dichters eigene wiedergeben. Er vertritt die Demokratie. Fort mit den +Vorrechten des Adels nicht nur, sondern fort mit diesem selbst! Sonst +ist kein Heil für die Menschheit. Dies Heil liegt in der Fortbildung +der Freiheit. Mit dem Bestand von Dynastien könnte er sich aussöhnen, +wenn er darin diese Fortbildung gesichert sähe. Aber die Monarchie ist +ein Hindernis der Freiheit, denn sie züchtet durch<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> Ehrenzeichen und +Titel die Eitelkeit. Anderseits will auch er keine Revolutionen, keine +allgemeine Zerstörung. Darum predigt er eine andere Gleichheit als die +der Volksversammlungen, als die des Pöbels. Die besonnene Demokratie +schwebt ihm als Ideal vor, und in ihrem Namen ruft er die Ritter vom +Geist zum Bund gegen die Reaktion auf. Die Einzelheiten dieses Bundes +sind etwas romantisch gedacht, aber wir können sie getrost beiseit +lassen.</p> + +<p>Wir sehen: die Gedankenwelt des Romans führt uns tief, sehr tief +in die Politik. Ein Bild der politischen Zustände und Meinungen +gibt Gutzkow, das allseitig orientiert und mit staunenswerter Treue +durchgeführt ist. Das Preußen nach der Revolutionszeit, die Zustände +am Hof Friedrich Wilhelms <em>IV.</em>, die politischen Strömungen, +die Geistesrichtungen — das alles ist scharf erfaßt und klar +wiedergegeben. Und das ist es, was diesen Roman vor vielen anderen +auszeichnet. Er ist in der Anlage der Handlung mißglückt, durch seine +unendliche Breite ungenießbar, er ist weitab von der Kunst, Handlung +und Mensch wirklich in Eins zu setzen und so die Handlung aus den +Menschen hervorgehen, die Menschen aus ihrem Handeln klarwerden zu +lassen. Aber er betont mit all seiner Einseitigkeit wirkungsvoll die +Aufgabe des Romans, ein wahres Weltbild zu geben. Und darum darf er +nicht vergessen sein.</p> + +<p>Wir überspringen genau ein Jahrzehnt. Aus den Jahren 1860/61 bezw. +1863 stammt ein anderer, gleichfalls weitberühmter politischer +Tendenzroman, der aber in seiner Eigenart nicht nach den Gutzkowschen +beurteilt werden darf: <em class="gesperrt">Friedrich Spielhagens</em> erster großer +Roman: »<em class="gesperrt">Problematische Naturen</em>«, dessen Fortsetzung dann die +Bände »Durch Nacht zum Licht« bilden. Das Werk führt auf die Insel +Rügen, in die Kreise des Landadels. Ins Schloß Grenwitz kommt als +Hauslehrer Oswald Stein, ein idealistisch gerichteter Demokrat und<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> +Adelshasser. Ihm schließt sich eng der ältere seiner Schüler an, ein +Verwandter des Hauses, namens Bruno. Oswald bewährt noch eine andere +merkwürdige Anziehungskraft: die Frauen fliegen ihm zu wie die Motten +dem Licht. Frau Melitta von Berkow, deren Mann in geistiger Umnachtung +lebt, wirft sich ihm in schrankenloser Liebe an den Hals, die jungen +adligen Damen reißen sich um ihn, endlich wendet sich ihm auch das +Herz der schönen Tochter des Hauses, Helene, zu. Diese Helene aber +soll einen verlebten Verwandten, Felix von Grenwitz, heiraten. Sie +schlägt ihn aus; die jungen Adligen provozieren zugleich einen Streit +mit Oswald, der sie im Pistolenschießen und bei den Damen aussticht. +Im Duell verwundet er Felix schwer. Bruno stirbt in gleicher Nacht und +Oswald verläßt das Haus. Oswald ist aber, wie durch den leichtsinnigen +Geometer Timm herauskommt, niemand anders als der uneheliche Sohn des +früheren Herrn von Grenwitz, der berechtigte Erbe zweier Güter des +Grenwitzschen Besitzes. Soweit die Erzählung in den »Problematischen +Naturen«. »Durch Nacht zum Licht« führt in die Revolution hinein, der +auch Oswald Stein zum Opfer fällt.</p> + +<p>Wie Gutzkows »Ritter vom Geist« die Zeit <em class="gesperrt">nach</em> 1848, so +schildern die »Problematischen Naturen« die Zeit <em class="gesperrt">vor</em> 1848. +Aber das Bild, das sie geben, ist weder so umfassend noch so wahr. +<em class="gesperrt">Nicht so umfassend</em>: denn wenn auch die wichtigsten Schichten +der Gesellschaft ihre Repräsentanten finden, so ist doch bei ihrer +Zeichnung viel stärker als bei Gutzkow das persönliche, individuelle +Moment betont. Gutzkow gibt Typen bestimmter Anschauungen, +charakteristischer politischer Richtungen. Ihn interessiert der +Mensch fast nur, soweit er politische Anschauungen hat. Spielhagen +geht viel tiefer ins Psychologische hinein. Er vergißt nicht, +daß der Mensch in erster Linie als Einzelwesen, und erst sehr in +zweiter Linie als ζῶον πολιτικὸν in Frage kommt. Eben darum vermag +er es<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> nicht, derart umfassend, wie Gutzkow getan, die Zeit zu +schildern. Wenn aber Gutzkows Forderung, daß der Roman den ganzen +Weltteppich zu schildern habe, unberechtigt ist, so liegt eben in +Spielhagens Selbstbeschränkung Kunst und Einsicht. Ein Zeitbild +gibt er ja trotzdem: es beschäftigt sich vor allem mit den Kreisen +des Landadels. Daneben stehen aber auch Typen des Bürgertums: der +Universitätsprofessor, der Landpastor, Landärzte, ein Kandidat der +Theologie, der umsattelt und Mediziner wird, ein Geometer, eine +Haushälterin, endlich eine Zigeunerin und ein paar Landleute. Das Bild +ist kleiner als das Gutzkowsche; groß genug ists immerhin.</p> + +<p>Schwerer wiegt, daß es <em class="gesperrt">nicht so wahr</em> ist wie dasjenige +Gutzkows. Ich rede hier nicht von der ländlichen Umgebung, die +freilich, soweit sie nicht in Meer, Kreidefelsen und Wäldern besteht, +kein Leben gewinnt. Die paar Gestalten, welche hier auftauchen, geben +keine Anschauung vom Landvolk. Gut, das hat Spielhagen auch nicht +gewollt. Auch davon will ich nicht sprechen, daß der Bürgerstand wohl +in einigen Exemplaren vorgeführt wird, daß aber auch seine Art, sein +Wesen, seine Gesamtexistenz im Dunkeln bleibt. Den braven Bemperlein +in allen Ehren, den <em>Dr.</em> Braun nicht minder, — sie bleiben +doch, losgelöst von ihrer Umgebung, wie sie vorgeführt werden, allzu +vereinzelt, um einen Eindruck vom Ganzen zu gewähren. Wo aber der +Bürgerstand Spielhagen nicht sympathisch ist, da wird schon hier +die Zeichnung geradezu unwahr. Das Bild des Pastors Jaeger ist eins +der Pastorenzerrbilder, die bei Spielhagen auch sonst herumspuken, +— immer unwahr und immer schief. Aber das Hauptgewicht fällt auf +den Adel. Wie steht es da um die Wahrheit? Helmut Mielke sagt mit +bezug hierauf: »Man hat den Dichter der Übertreibung gescholten und +ihm damit Unrecht getan; seine Schilderung z. B. des Ballfestes der +Junkergesellschaft hinterläßt eher den Eindruck,<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> daß er häßliche +Details der Wirklichkeit unterdrückt als ans Licht gezogen hat.« +Hier widerspreche ich entschieden. Das Bild ist unwahr durch und +durch. Dieser Cloten z. B. ist so unglaublich albern, daß er in ein +Karikaturenblatt gehört. Melitta von Berkow, Emilie von Breesen +beginnen <em>sans façon</em> allerliebste Liebschaften mit dem +Hauslehrer eines anderen Hauses: lauter völlig verzeichnete Szenen. +Die ganze Stellung Oswalds in dieser Umgebung ist einfach unmöglich. +Ist der Hochmut und die Arroganz des Adels so groß, wie er beständig +gemacht wird, dann nimmt eben der Hauslehrer nicht an allen Bällen +teil, dann wird er eben nicht Liebling aller Frauen, Intimus eines +Barons. Ich führe das nicht weiter aus; nur bezüglich des Ballfestes +bei den Barnewitz halte ich gleichfalls ausdrücklich den Vorwurf der +Übertreibung aufrecht.</p> + +<p>Indes der Titel des Romans deutet an, daß dem Dichter der +Hauptnachdruck weniger auf dem Milieu, als auf den einzelnen +»problematischen Naturen« gelegen hat. Problematische Naturen! +<em>Dr.</em> Braun nennt sie »eine in unseren Tagen ziemlich weit +verbreitete Spezies <em>generis humani</em>, Nachkommen des weiland vom +Teufel geholten Doktor Faustus, <em>Faustuli posthumi</em>, so zu sagen, +die den langen Dozentenbart abgeschnitten, auch nicht im romantischen +Ritterkostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im +übrigen aber auf gut faustisch von Begierde zu Genuß taumeln und im +Genuß nach Begierde verschmachten.« Sie haben das Größte vor, die +<em>aurea mediocritas</em> ist für sie umsonst gepredigt, aber sie +erreichen das Ziel nie, weil es ihre Kräfte überragt. Sie haben vor +sich die »blaue Blume«. »Wissen Sie, was das ist? Das ist die Blume, +die noch keines Sterblichen Auge erschaute und deren Duft doch die +ganze Welt erfüllt. Nicht alle Kreatur ist fein genug organisiert, +diesen Duft zu empfinden; aber .... all die närrischen Menschen<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> waren +es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel +ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen +kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen +Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und +aus dieser Krankheit ist keine Rettung, — keine als der Tod. Wer +nun einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für den kommt keine +ruhige Stunde mehr in diesem Leben!«</p> + +<p>Und wirklich, in der Art, wie Spielhagen diese problematischen, +rätselhaften Naturen geschildert hat, liegt auch der Hauptwert seines +Buchs. Er hat damit ein Problem der Seelenkunde angerührt, das zu +den dankbarsten gehört. Indem er sich diesem Problem zuwandte, hat +er freilich die Wahrscheinlichkeit seiner Darstellung nicht erhöht; +mag auch in der Zeit vor den 1848er Märztagen diese Spezies von +Naturen nicht rar gewesen sein; sie finden sich hier doch ein wenig +zu zahlreich. Da ist Oswald selbst, der die kühnsten Pläne, die +stolzesten Ideen hat, der aber in der größten Gefahr ist, um des +Weibes, besser um der Frauen willen, den von ihm gehaßten Junkern +frappant ähnlich zu werden, der den Genuß in jeder Gestalt zu +würdigen, ja sogar raffiniert auszukosten weiß, und der doch solche +melancholischen Anfälle hat, daß ihm das Leben wie ein dumpfer, +beängstigender Traum erscheint, der eines Freiherrn Blut in seinen +Adern hat, aber sein Leben der Sache der Freiheit opfert. Neben ihm +ist die am meisten problematische Natur der Baron Oldenburg, der +einzige Gescheute und Edle in der ganzen Junkergesellschaft, der seine +Standesgenossen verspottet, den Hauslehrer zu seinem Freund macht, im +Grund aber immer ein Aristokrat bleibt, der alle Genüsse ausgekostet +hat und jeden neuen Genuß mitnimmt, aber immer unbefriedigt, immer +sehnsuchtsvoll bleibt. Da ist Melitta von Berkow, die Schöne und +Kluge und Stolze, die doch so unendlich rasch Herz und Zurückhaltung<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> +verliert. Gewiß, interessante Rätselgestalten, die dem Roman ein +eigenes Gepräge geben!</p> + +<p>Über die »Problematischen Naturen« urteilt Bartels: »Im Grunde hat +Spielhagen dies Werk nicht übertroffen und ist auch ein Darsteller +problematischer Naturen geblieben; fast in allen späteren Romanen +wirkt er in der Hauptsache mit denselben Ingredienzien; die Anschauung +wurde im ganzen nicht reifer und freier, die inneren Erlebnisse aber +fielen weg.« Ich möchte hinzufügen: er ist späterhin in manchen, nicht +in allen seinen Prosadichtungen auf eine niedere Stufe gesunken, +auf die des Salonromans. Die »Problematischen Naturen« aber geben ein +Bild der Schattenseiten und der Vorzüge seiner Romane. Ihr größter +Ruhm ist eine Kunst der Darstellung, welche mannigfache Fäden zieht, +aber alle mit einander verwebt und so eine spannende, einheitlich +gefaßte und mehr und mehr konzentrierte Handlung zu wirkungsvollem +Abschlusse bringt. Hierin übertrifft er <em class="gesperrt">alle</em> Vorgänger. +Zugleich gewinnen seine Personen ein wirklich persönliches Leben, und +dies psychologische Moment verbindet er mit dem Gange der Handlung. +Allerdings ist diese Verbindung nicht überall eng: Geschichten wie +diejenigen von der Entdeckung der freiherrlichen Abstammung des Helden +Oswald bilden einen geradezu störenden romantischen Einschlag in +die naturgemäß verlaufende Handlung, wie denn auch sonst zahlreiche +Unwahrscheinlichkeiten in Kauf zu nehmen sind. Ferner bemüht er sich +ernstlich, ein lebendiges Bild der Zeitverhältnisse, in denen seine +Menschen leben, zu entwerfen. Nur daß das Wort »Zeitverhältnisse« +vielleicht schon zu weit greift; Zeit<em class="gesperrt">stimmungen</em> liegen ihm mehr +noch als äußere Umstände, als das eigentliche Milieu. Immerhin, was +gab er für Revolutionsschilderungen! Hier lag sein eigenstes Gebiet. +Hier war ja auch ein Handeln, das zugleich ganz und gar Stimmung war. +Endlich muß man im Gedächtnis behalten, daß er Tendenzschriftsteller<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> +war: in ihm loderte die adelhassende demokratische Gesinnung. Warum +sollte er nicht solche Tendenz zum Ausdruck bringen? Der Wert seiner +Werke sinkt für das objektive Urteil dadurch keineswegs. Aber, wie +ausgeführt, die Tendenz ließ keine absolut wahre Schilderung zu.</p> + +<p>Auch die späteren Romane Friedrich Spielhagens kranken z. T. an diesem +Übermaß von Tendenz. »<em class="gesperrt">Die von Hohenstein</em>« (1863) setzen den +Kampf gegen den Adel mit einseitiger Ausschließlichkeit fort, »<em class="gesperrt">In +Reih und Glied</em>« steht unter dem Zeichen Lassalles. Der Anspruch +des empordrängenden vierten Standes macht sich energisch bemerkbar. +Aber das Problem wird nicht sachlich durchgeführt: der Held, eine +heroische Natur, geht eigene Wege und diese eigenen Wege führen zu +einer höchst persönlichen Katastrophe, — ganz wie beim wirklichen +Lassalle. Die politischen Einschläge des Romans, Prinz wie Adel und +Militär, zeigen auch hier den fast fanatischen Haß des Oppositionellen +gegen jene führenden Klassen. »<em class="gesperrt">Hammer und Amboß</em>« endlich will +die soziale Frage lösen, freilich nur in der Idee. Die Lösung liegt +in den Herzen der Menschen. Warum sind die Einen nur Hammer, die +anderen nur Amboß? In Wirklichkeit ist doch »jedwedes Ding und jeder +Mensch in jedem Augenblick beides zu gleicher Zeit.« Was die Welt +verschlechtert, ist »die Wut zu befehlen und die sklavische Gier, sich +befehlen zu lassen.«</p> + +<p>Es sind z. T. Meisterwerke in Kraft und Spannung, die uns hier +begegneten. Politisch-tendenziös sind sie alle. Auch in anderem Sinn +soll uns Spielhagen später begegnen. Inzwischen aber lassen wir nach +den »Problematischen Naturen« wieder ein Jahrzehnt vergehen, um +einem anderen Typus des tendenziösen Zeitromans näher zu treten. Die +Politik hat aufgehört zu herrschen; die Fragen der Weltanschauung +dominieren. Das entspricht nur dem Gange der Zeit. Um die Mitte des +Jahrhunderts absorbierte<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> die Politik die besten Kräfte, eine Unsumme +von Interesse. Da griff auch der Romandichter ins politische Leben +hinein, es zu beschreiben und — zu beurteilen. Aber nun war das neue +deutsche Reich gegründet; die eminentesten Lebensfragen der deutschen +Nation waren gelöst. Es wäre sicher eine Unmöglichkeit gewesen, mit +einem eigentlich politischen Roman derart auf die <em class="gesperrt">allgemeine</em> +Teilnahme zu stoßen, wie man das ein oder erst recht zwei Jahrzehnte +früher erwarten mußte. Um so mehr traten die Fragen der Weltanschauung +hervor. Nicht sie allein; Spielhagens »<em class="gesperrt">Sturmflut</em>« geißelt +als einen Schaden der Zeit den Gründerschwindel. Aber die +Weltanschauungsfragen, dazu die des im Anzug begriffenen Sozialismus +waren jedenfalls Fragen der Zeit. <em class="gesperrt">Paul Heyse</em> wagte den Wurf, +sie in großem Zeitroman zu erörtern. Er schrieb 1873 »<em class="gesperrt">Die Kinder +der Welt</em>« und ließ später ähnliche Versuche folgen. »<em class="gesperrt">Im +Paradiese</em>« (1876) schildert das Münchener Künstlerleben; »<em class="gesperrt">Der +neue Merlin</em>« (1892) polemisierte gegen die Modernen in der +Literatur. Am umfassendsten ist das Zeitbild, welches »<em class="gesperrt">Die Kinder +der Welt</em>« entrollen. Es muß genügen, bei ihm ein wenig länger zu +verweilen.</p> + +<p>Den Gang der Handlung dieses Romans ausführlich wiederzugeben, kann +ich mir ersparen. Alles dreht sich um das Lebensgeschick eines jungen +Privatdozenten der Philosophie, der mit seinem kränklichen Bruder, +der ein wenig Drechslerei treibt, in einem Berliner Hinterhaus eine +Stube primitiver Art, die sogenannte »Tonne«, bewohnt. Er verliebt +sich sterblich in eine problematische Schöne, genannt Toinette, +natürliche Tochter eines Fürsten. Sie kann nicht lieben und darum auch +ihn nicht lieben; als das klar ist und gleichzeitig auch der Bruder, +der in idealer Hingebung ihr Herz für den Helden Edwin gewinnen +wollte, stirbt, wird er krank und heiratet dann die Tochter eines +christlichen Malers und einer jüdischen Mutter, Lea<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> König, nicht ohne +sie ernstlich zu lieben. Er wird Gymnasiallehrer, um einen Hausstand +zu gründen. Auf einer Ferienreise begegnet er wieder seiner Toinette. +Sie hat, ihrem Hang zu »herzoglichem« Auftreten nachgebend, inzwischen +einen gräflichen Anbeter erhört und lebt als stolze Gräfin auf +stattlichem Schlosse. Doch nun ist in ihr die »Fähigkeit der Liebe« +wachgeworden; und die Folge ist die, daß sie ihren Grafen völlig +ignoriert, als Edwin aber kommt, diesem gehören will. Da kämpft Edwin +einen schweren Kampf; Liebe zu Toinette und Liebe zu Lea streiten +in ihm. Die Treue siegt; er flieht Schloß und Versuchung. Toinette +will ihm folgen, findet aber nicht ihn, nur seine Gattin, und gibt +sich, besiegt von deren Liebe, selbst den Tod. Edwin und Lea finden +dauerndes Glück.</p> + +<p>Muß ich um Verzeihung bitten, wenn diese Inhaltsangabe ein ganz klein +wenig ironischen Beigeschmack hat? Ich glaube, das hat in der Sache +selbst seinen Grund. Was für sonderbare Dinge mutet Paul Heyse dem +Leser zu! Der Privatdozent mit dem drechselnden Bruder in <em class="gesperrt">einer</em> +Stube des Hinterhauses; dürftig gekleidet, kaum den Anstand wahrend. +Ja, kommt denn nie ein Student zu diesem Dozenten? Lea, sonderbarer +Weise gerade der Sproß einer christlich-jüdischen Mischehe! Toinette, +das übliche illegitime hochgeborene Wesen, wie solches in diesen +Tendenzromanen feststehendes Requisit ist: eine ganz sonderbare +Leidenschaft, immer Existenzen in den Mittelpunkt zu stellen, an denen +irgend etwas unklar ist! Und nun gar die merkwürdigen Eigenschaften +dieser Toinette, die eine Art Geburtsfehler sein sollen: weil ihre +Mutter ohne Neigung zu jenem Fürsten nur auf Druck und Zwang hin +seinen Anträgen Folge gegeben, so hat sie ein kaltes Herz mitbekommen +—; aber sie hats doch wieder nicht als unveräußerliche Eigenschaft +erhalten, sondern nur auf Zeit. In Summa: es sind keine Gestalten von +Fleisch<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> und Blut, die in den »Kindern der Welt« umhergehen, sondern +Schemen aus der Welt der Ideale. Dieser Edwin, seine Lea, vor allem +sein Bruder Balder, — erdentrückte Traumgestalten!</p> + +<p>Vielleicht habe ich bei den äußeren Vorgängen schon zu lange verweilt. +Sie sind dem Dichter wirklich nicht die Hauptsache. Im Gegenteil; sie +sind ihm in erster und letzter Linie nur die Träger seiner Ideen. +Auf der Gedankenwelt, welche sie äußern und glücklicherweise bis +zu einem gewissen Grad auch betätigen, liegt alles Gewicht. Zwei +große Heerlager stehen einander gegenüber: die »Kinder der Welt« +und die »Kinder Gottes«. Einige Typen der »Kinder Gottes« mögen +voranstehen. Die Professorin Valentin ist das Muster einer streng +christlichen, in der Liebestätigkeit unermüdlich tätigen Dame. +Zahllose Vereine absorbieren ihre Zeit. Aber auch in der Liebe ist +sie sittenrichterlich streng. Ein gefallenes Mädchen, das sie früher +beschäftigt, findet bei ihr keine Arbeit mehr; wohl aber bekommt es +ein paar Taler und eine Empfehlung an ein Asyl. Dogmatisch denkt +sie sehr eng; jede freie Richtung ist ihr verhaßt; ein heiliger +Bekehrungseifer, rege Sorge um anderer Seelenheil mischt sich +mit inniger persönlicher Anteilnahme am Geschick Nahestehender. +Heuchlerischer Frömmigkeit gegenüber fehlt ihr unterscheidende +Menschenkenntnis. Ein Typus, der zu den gelungensten des Romans +gehört, wenngleich mancher Einzelzug gemildert werden müßte. — Ein +braver, edler Mensch und Christ ist der Maler König, Leas Vater. +Schlichte, demütige Frömmigkeit scheint Heyse in ihm verkörpern +zu wollen. Und zwar verbindet sie sich mit der wärmsten Liebe zu +den Seinen. Sollte in diesem Charakter angedeutet werden, wie die +christliche Demut zu weit gehn kann? Aber wir dürfen doch jene andere +Szene nicht vergessen, da die Familie mit einem für Lea in Aussicht +genommenen frommen Schwiegersohn im öffentlichen Gartenlokal durch<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> +die Witzeleien der am Nachbartisch die schöne Lea beobachtenden +Offiziere getränkt wird. Der Bewerber findet den Mut zur Abwehr nicht, +aber König selber findet ihn und erringt in vornehm-ruhiger Abwehr den +entschiedenen Sieg. — Von anderem Schlage ist der Kandidat Lorinser, +dem seine mystische Frömmigkeit Deckmantel der abgefeimtesten +Bosheit ist, der an Aufdringlichkeit, Heuchelei und Scheußlichkeit +das Menschenmögliche leistet, dem keine Reinheit unberührbar und +keine Wohltätigkeit unbetrügbar ist. Soll dieses Scheusal von einem +Menschen die Theologen versinnbildlichen? Es scheint fast, daß er als +bezeichnend für einen Teil derselben gelten soll; sonst findet sich +nur noch das flüchtig hingeworfene Porträt eines zweiten Geistlichen, +der <em class="gesperrt">gegen</em> den Wunsch des Angehörigen (man staune!) am Grabe von +Edwins herrlichem Bruder Balder erscheint und nichts als harte Worte +über Unglauben und ähnliches zu reden weiß. Gänzlich verzeichnete, +völlig verunglückte Charakterbilder! — Endlich noch ein »Kind +Gottes«, eine Fürstin, ein »Kindskopf«, der theologisiert, eine +reizende blonde Gauklerin, ohne Charakter, die aber beständig von +Calvinismus, Irvingianismus und Herrnhutern peroriert; alles in allem +eine wenig wahrscheinliche Figur.</p> + +<p>Den »Kindern Gottes« stehen die »Kinder der Welt« gegenüber. Gott sei +Dank! So wird dem Leser doch ordentlich wohl! Es sind ja auch ein paar +Leute darunter, die ihre Schwächen haben. Der Arzt Marquardt z. B., +dessen sittliches Leben ein bischen zügellos ist und der eigentlich +auch den Luxus etwas weit treibt. Und dann jene Leutnants, die eine +ehrbare Dame beleidigen. Aber das sind ja selbstverständlich nur ein +paar Ausnahmen. Selbst jener Marquardt ist doch ein aufopfernder, +hilfsbereiter, selbstloser Freund. Und die anderen »Kinder der Welt«, +— in deren Nähe wird jedem heimisch. Was für ein Prachtexemplar von +einem jungen Gelehrten, dieser<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> Edwin! Welche Anspruchslosigkeit, +Bescheidenheit! Welch gänzlicher Mangel an Strebertum! Geld, +Gehalt, Avancement, Anstellung, alles Nebensache. Geld hat er auch +nie; trotzdem fährt er übrigens beständig Droschke, statt zu Fuß +zu gehen. Gegen den Bruder ist er von zärtlichster Fürsorge, von +freundschaftlichster Offenheit, von tiefster Liebe, wennschon die +eigenen Herzensangelegenheiten ihn zeitweis das Leiden des Bruders +fast vergessen lassen. Er ist von tadelloser sittlicher Reinheit; +seine eheliche Treue besiegt auch die schwerste Versuchung; er wird +stets ein musterhafter Gatte und Vater sein. Bei alledem ist er ein +Freidenker, ohne Glauben an Gott und Ewigkeit, ein Philosoph, der mit +jedem Glauben gebrochen hat. — Weniger gelehrt, aber ebenso ungläubig +ist sein Bruder Balder, der anziehendste aller dieser Charaktere, +ein Mensch von völliger Reinheit, von zartester Empfindung, von +selbstverleugnender Bruderliebe. Er stirbt jung; und das ist ein Zug +richtigen dichterischen Taktes. Menschen von solcher überirdischen +Art gehören auf die Erde nicht. — Edwins Gattin Lea kann gleichfalls +nicht glauben. Sie ist ein tief angelegtes, grüblerisches Gemüt. In +der Liebe zu Edwin verzehrt sie sich; erst als er den Weg zu ihr +findet, lebt sie wieder auf. Dann wird sie eine verständnisvolle +Gattin, eine beglückte, liebende Mutter. — Eine problematische Natur +ist Toinette, über deren äußere Verhältnisse schon die Skizze des +Inhalts das Nötigste gesagt hat. Sie ist ein Zwitter von fürstlicher +Hoheit und Großartigkeit einerseits, von bürgerlicher Liebe und Treue +anderseits. Ihr fester Wille ist: nur in der Liebe gehören einem +Mann. Daß sie dennoch dem Grafen folgt, den sie <em class="gesperrt">nicht</em> liebt, +findet freilich kaum eine halbe Erklärung. Aber dann kehrt sie, zumal +nach des einzigen Kindes Tod, zur Treue gegen sich selbst zurück. »Es +gibt nur eine Vornehmheit, sich selber treu zu bleiben«. Sie ist ein +»tapferes, freigeborenes Herz«.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span></p> + +<p>Übergehen wir die anderen »Kinder der Welt«, die aufopfernden +Freunde Mohr und Franzelius, die einsame und dann doch in der Ehe +glückliche Christiane, das Reginchen und wie sie sonst heißen! Wir +wollen auch nicht untersuchen, ob die einzelnen Charaktere nach dem +Leben gezeichnet sind; eine Anzahl Fragezeichen wären da allerdings +zu machen. Nur eins soll konstatiert werden: in der Zeichnung und +Gegenüberstellung der »Kinder Gottes« und der »Kinder der Welt« +zeigt sich kein Ablauschen der Wirklichkeit, sondern faustdicke +Tendenzmalerei. Dem Dichter lag alles dran, seine Weltanschauung von +recht vielen möglichst sympathischen Personen tragen und aussprechen +zu lassen. Und diese Weltanschauung ist die der »Kinder der Welt«. So +spricht Toinette sie einmal aus:</p> + +<p>— »Wie soll sie verstehen, was mich den Gedanken, alles, was ich +leide, sei die Veranstaltung eines allwissenden, allmächtigen und +doch allerbarmenden Vaters, mit Hohn oder Abscheu zurückweisen läßt! +Wenn die Elemente meines Wesens, die mich vom Glück ausschließen, +durch eine große, blinde Fügung des Weltlaufs sich gefunden und +vereinigt haben und ich an dieser schlimmen Konstellation zugrunde +gehen muß, — so ist das fatal, aber kein unerträglicher Gedanke. Ein +Gottvater, der mich unsägliches Geschöpf <em>de coeur léger</em> oder +auch aus pädagogischer Weisheit so traurig zwischen Himmel und Erde +herumlaufen ließe, um mir später einmal für die verpfuschte Zeit eine +Gratifikation in der Ewigkeit zukommen zu lassen, — nein, lieber +Freund, alle durchlauchtige und undurchlauchtige Theologie kann mir +das nicht plausibel machen.«</p> + +<p>Zur Ergänzung dienen die Worte, mit denen das Buch schließt:</p> + +<p>»Ist da (in unseren Menschenschicksalen) nicht Wonne und Weh +untrennbar verbunden und in den höchsten Augenblicken zu einer reinen +Stimmung verklärt, in der wir uns über unser kleines Selbst erheben, +der Schmerzen<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> spotten und zu groß und feierlich empfinden, um uns zu +freuen? O Liebste, eine Welt, in der wir uns bis zu diesem Triumph +über das Schicksal, das eigene und das unserer Geliebten, aufschwingen +dürfen, in der das Tragische vom Hauch der Schönheit verklärt wird und +mitten im Schauder über den Tod die höchste Lebenswonne uns durchbebt, +bis Tränen unsere Brust erleichtern — eine solche Welt ist nicht +trostlos. Komm, wir wollen ins Leben zurück, zu unserm Kind, zu den +Freunden. Wie sagt mein alter Freund Catull? »Laß uns leben, Geliebte, +laß uns lieben!««</p> + +<p>Nicht um Recht oder Unrecht dieser Weltanschauung handelt es sich +hier, sondern darum, daß Heyse zwischen Freunden und Gegnern dieser +Anschauung Licht und Schatten in unerträglich parteiischer Weise +verteilt hat. Dort fast alles Licht und blendendes Licht, hier fast +nur Schatten. Dort Engel, hier Teufel. Dagegen protestiert die +Wahrheit. Sein Roman ist von Bartels völlig richtig charakterisiert +als »eine sittliche Tat, ein unerschrockenes Glaubensbekenntnis, aber +freilich zugleich ein Zeugnis, wie fremd Heyse allezeit dem wirklichen +Leben gegenüberstand, und als Kunstwerk verfehlt.«</p> + +<p>Drei recht verschiedene tendenziöse Zeitromane führte ich auf, +verschieden an Inhalt und an Kunstwert. In der <em class="gesperrt">Form</em> dieser +Art Romane hat Spielhagen das Vollendetste geschaffen; an Umfang und +Treue der Zeichnung steht er hinter Gutzkow zurück. Heyse aber liegt +noch stärker im Banne der Tendenz. Aber es gibt auch einen Zeitroman +im großen Stile, der der Objektivität den Vorrang vor der Tendenz +zugesteht. Und erst in ihm erringt der Zeitroman seine höchste Blüte.</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_12"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt=""> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_objektivere_Zeitroman">Der objektivere Zeitroman.</h2> +</div> + + +<p>Schon die Erwägungen, welche der vorige Vortrag anstellte, führten zu +der vorsichtigeren Unterscheidung von mehr oder minder tendenziösen +Romanen oder von Romanen, bei denen die Tendenz über die Wirklichkeit +siegt, und von solchen, in denen die Wirklichkeit oberster Richter +bleibt. Man kann dieselbe Unterscheidung auch mit anderen Worten +auszudrücken versuchen, indem man das Unterscheidungsmerkmal dahinein +setzt, <em class="gesperrt">ob der Dichter sich über seinen Stoff zu erheben weiß oder +nicht</em>. Wo haben wir solche?</p> + +<p>Ein Zeitroman, der ganz Zeit und ganz Person und doch nicht ganz +Tendenz ist, ist <em class="gesperrt">Gottfried Kellers</em> »<em class="gesperrt">Der grüne Heinrich</em>« +vom Jahre 1854. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß »Der grüne +Heinrich« die persönlichsten Erlebnisse Kellers wiedergibt. Das trifft +gewiß in weitem Umfang zu. <em class="gesperrt">Lediglich</em> solche persönlichen +Erfahrungen hat er aber nicht gegeben; Wahrheit und Dichtung +sind künstlerisch verwoben. Und in dem Persönlichen ist zugleich +Allgemeines dargestellt; wer in seiner Zeit mitlebt, ist ja in der +Regel ein Spiegelbild der Strömungen dieser Zeit. Auch Gottfried +Kellers Persönlichkeit ist das gewesen; und eben dadurch ist es auch +sein »Grüner Heinrich« in hohem Grade geworden. Das Persönliche aber, +welches diesem Werk anhaftet, gibt ihm nicht nur seinen eigenen Reiz, +sondern es ermöglicht auch jene schlichte Natürlichkeit, welche wir +bei Spielhagen und bei Heyse so sehr vermissen, jene Einfachheit, die +den Zeitromanen Gutzkows so ganz abgeht. Die klassische Ruhe, die +dem Ganzen den Charakter des Abgeklärten und<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> Reifen gibt, ist durch +dies persönliche Moment keineswegs in Frage gestellt. Keller spricht +nicht als ein Suchender, dessen Seele von den aufgeworfenen Fragen +noch bewegt würde, sondern als einer, der gefunden hat. Und was er +durchlebt hat, ist wohl mit Anteilnahme an der eigenen Erinnerung, mit +einem Anhauch eigensten Mitempfindens erzählt, aber doch so, daß man +keinen Augenblick darüber im Zweifel bleibt: Es liegt <em class="gesperrt">hinter</em> +ihm und es liegt <em class="gesperrt">unter</em> ihm.</p> + +<p>Das Moment des Einfach-Natürlichen im »Grünen Heinrich« verbindet sich +zugleich mit dem des Ehrlichen und Wahren. Man höre, wie er selbst +seine Anschauung vom Wesen des Poetischen darlegt:</p> + +<p>»Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen. +Ich hatte mir, ohne zu wissen, wann und wie, angewöhnt, alles, +was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand, +poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten +Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern +immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche +mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der +Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen +Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Daseins wert macht; +aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich +nun, daß <em class="gesperrt">das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und +Überschwengliche nicht poetisch ist</em>, und daß, wie dort nur Ruhe +und Stille in der Bewegung, hier nur <em class="gesperrt">Schlichtheit und Ehrlichkeit +mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches +oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges +hervorzubringen</em>, mit Einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit +der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p> + +<p>Mit dieser schönen Darlegung ist die Frage freilich nur eben +angerührt, welche später die Debatte über die naturalistische +Kunst, ihr Recht und ihr Unrecht, hervorrufen sollte, die Frage, +ob denn »<em class="gesperrt">alle</em> menschlichen Ereignisse« darstellungswürdig +und darstellungsfähig sind. Keller löst sie im Vorübergehen ganz +subjektiv: Alle Ereignisse, <em class="gesperrt">die ihn anregend berühren</em>, sind +poetisch, wenn sie nur schlicht und ehrlich sind. Praktisch lag darin +tatsächlich für ihn die Lösung: Unpoetisches regte ihn eben nicht an. +Von hohem Wert aber ist die ruhige Energie, mit der Keller Zweierlei +gleichsetzt: das Poetische einerseits, das Lebendige und Vernünftige +anderseits. Welche Kriegserklärung gegen alle Romantik! Vielleicht +läßt sich auch in bezug auf diese Gleichsetzung mit ihm rechten; +aber ihr Kern birgt eine heilige Wahrheit: <em class="gesperrt">Alle Dichtung muß wahr +sein!</em></p> + +<p>Der »grüne Heinrich«, so genannt nach der bevorzugten Farbe seiner +Kleidung, ist eines ehrsamen Schweizer Bürgers Sohn. Der Vater +stirbt jung; unter der Obhut der Mutter wächst er auf. Sie erzieht +ihn mit grenzenloser, aufopfernder Liebe, mit peinlichster Sorgfalt, +freilich nicht überall mit völligem Verständnis. Ich gestehe, daß +keine hohen Worte über Mutterliebe mir je so das Herz abgewonnen +haben wie die schlichte Schilderung, die der »grüne Heinrich« +vom Tun seiner Mutter gibt. Der Junge erlebt, was viele Kinder +erleben: Jugendfreundschaften, Schulfreuden und -Leiden, unnütze +Streiche. Von der Schule wird er relegiert, nicht ganz, aber doch +beinahe ohne eigene Schuld. Die bitteren Worte, die er hierüber zu +schreiben weiß, sind wohl <em class="gesperrt">zu</em> bitter. Diese Entfernung von +der Schule gibt seinem Leben die Wendung. Er bummelt eine Weile +in der Mutter Heimatsdorf bei deren Verwandten; prächtige Bilder +hat er uns aus jener Zeit gegeben! Da ist das Landvolk, da ist die +Landarbeit in markigen Zügen geschildert; keine Idylle, erst recht +kein<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> Schauerbild; schlichte Wirklichkeit, aus der Erinnerung eines +heranwachsenden Knaben, aber mit plastischer Kraft wiedergegeben. Dann +entschließt er sich, Maler zu werden. Er geht in die Lehre zu einem, +der die Malerei handwerksmäßig betreibt, lernt im Verkehr mit einem +Künstler, bei dem freilich der Wahnsinn schon vorleuchtet, manches +für seine Kunst, mehr noch in ernster Erfahrung fürs Leben, und hält +sich dann Malens halber in München auf. Die Beschreibung der Münchener +Erlebnisse in der Arbeit, im Vergnügen, im Umgang, in Entbehrung +und Verschwendung ist reichlich breit gehalten, befriedigt auch in +der Darstellung seiner Schicksale wenig. Neben dem künstlerischen +Streben geht eine innere Entwicklung her, teils von wissenschaftlichen +Vorlesungen, teils vom Leben beeinflußt. Ihren Abschluß findet diese +Weltanschauungsentwicklung, die übrigens mehr eine intellektuelle +als eine religiöse ist, im Schloß eines Grafen, in dem der »grüne +Heinrich«, ehe er nach dem Ende des Münchener Aufenthalts heimwärts +geht, längere Zeit verweilt. Zu Haus findet er die Mutter sterbend; +Reue erfaßt ihn, aber er wird endlich frei von dieser Reue und tritt, +die Kunst verlassend, in der er es zu nichts Rechtem gebracht, als +Beamter in den Dienst des Staats. Wie früher schon, so sind mit diesen +letzten Entwicklungsstadien reichliche Erörterungen politischer Art +verbunden. Endlich durchzieht das Ganze — wie könnte es anders +sein? — auch eine Art Entwicklungsgang der Stellung Heinrichs zu +den Frauen. Die Jugendgeliebte stirbt; in München hält er sich ihnen +im ganzen fern; jenes Grafen Töchterlein liebt er, aber er wagt die +Werbung nicht und findet es richtig, daß sie ihm verloren geht. +Mit einer merkwürdigen Frau, die ihm in der Zeit seines Dorflebens +eigentümlich nahegetreten, bleibt er in Liebe und Freundschaft nachher +innerlich verbunden, ohne daß sie äußerlich einander gehören.</p> + +<p>Der Reichtum dieser Entwicklungsgänge, die das<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> Allgemein-Menschliche +wie das Künstlerische, die Fragen der Weltanschauung wie der +Politik umfassen, gibt dem Buch den Charakter eines groß angelegten +Zeitromans. Wie das Hinzutreten des persönlichen Moments den Eindruck +des Ganzen fördert, das ist oben ausgeführt. Aber auch an Schwächen +fehlts nicht; und ich finde, daß sie stärker betont werden müssen, als +jezuweilen geschieht. Es fehlt an der klaren, raschen Zusammenfassung, +am straffen Gang einer einheitlich geformten Handlung. »Der grüne +Heinrich« ist mehr Memoirenwerk als Roman. Manche Partien sind zu +breit geraten; der Leser gewinnt den Eindruck, als wolle der Strom +ausufern. Die Reflexion hat nicht bloß etwas Kritisierendes; das +ist ja sehr gut und zeigt, wie Keller über seinem Stoff steht. +Sondern zuweilen kommt er ins Moralisieren, ja ins Schulmeistern im +unangenehmen Sinn des Wortes, geradezu ins Spießbürgerliche hinein. +Und dann vermissen wir diese Kritik, gerade weil sie im übrigen so +reichlich auftritt, um so mehr an anderen Punkten. Auf eins nur sei +hingewiesen. Die Art, wie Heinrich sich gegen seine Mutter verhält, +wie er sie darben und sorgen läßt für ihn und wie er das mühsamst +Abgesparte alsbald wieder losschlägt, noch mehr die Herzlosigkeit, mit +der er sie, die im Gedenken des einzigen Sohnes lebt, lange, lange +ohne jede Nachricht läßt, um sie dann nur noch sterbend anzutreffen, +diese Art ist durch die folgende Reuezeit nicht ausgeglichen. Hier +hört das Verständnis auf, völlig auf. Wie bitter spricht Keller +über die Schulbehörde, die ihm die Anstalt verwies! Aber wieviel +bitterer mußte er nun über sich selber urteilen! Hier ist er kalt, +ja hart. Und ein Alpdruck lastet von daher auf dem Leser. Auch das +Wichtigste, die religiöse Entwicklung, ist doch nicht überall mit +durchschlagender Kraft und Tiefe gezeichnet. Vielleicht nicht unwahr, +aber darum doch, wo mit halben Gedanken abgeschlossen wird, auch nicht +völlig befriedigend. Naturwissenschaftliche Erwägungen<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> haben auf die +Gestaltung dieser Anschauungen Einfluß, aber die Entscheidung geben +persönliche Momente. Im Grafenschloß ists, wo diese Entscheidung +fällt; und die atheistische Dorothea wirkt auf ihn ein:</p> + +<p>»Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens, <em class="gesperrt">durch +Dortchens Augen gesehen</em>, ließ mir die Welt bald ebenso in einem +stärkeren und tieferen Glanze erscheinen, wie es bei ihr der Fall +war; — ein sehnsüchtiges Glücksgefühl durchschauerte mich, wenn ich +mir nur die Möglichkeit dachte, für das kurze Leben mit ihr in dieser +schönen Welt zusammen zu sein.«</p> + +<p>Vielleicht entspricht die Schilderung der Lebenswirklichkeit. Solche +Einflüsse entscheiden zuweilen. Aber den denkenden Leser befriedigt +solche Entscheidung darum doch nicht.</p> + +<p>Endlich noch eins: <em class="gesperrt">die eigene Entwicklung des Helden behält etwas +Unbefriedigendes</em>. Und das nicht etwa bloß mit Rücksicht auf die +<em class="gesperrt">äußere</em> Resultatlosigkeit der langen Malerzeit daheim und in +München. Vielmehr: der Leser empfindet deutlich, wie diese äußere +Resultatlosigkeit mit Mängeln des Charakters zusammenhängt. So wie +Keller den »grünen Heinrich« schildert, ist er vom Verbummeln nicht +mehr fern. Daß aus der Malerei nichts wird, ahnt der Leser längst, +längst, ehe der »grüne Heinrich« zur gleichen Erkenntnis kommt. Ein +bischen mehr Energie, ein bischen schärfere Selbstkritik, ein bischen +mehr Zielklarheit wünschten wir ihm. Keller selbst kritisiert diese +Entwicklung fast nur durch die Art, wie er sie beschreibt, während +er an anderen Punkten deutliche Worte ausdrücklichen Urteils findet. +Die endgültige Wendung im Charakter des Helden kommt etwas spät und +— im Verhältnis zum Ganzen — etwas rasch. Nicht jeder Leser wird +<em class="gesperrt">diese</em> Schwäche des »Grünen Heinrich« völlig zu überwinden +vermögen.</p> + +<p>Vom »Grünen Heinrich« nehmen wir Abschied. Von<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> Keller selbst aber +können wir noch nicht scheiden. Allerdings ist es unmöglich, die Fülle +der Gesichte hier erstehen zu lassen, die seine übrigen größeren Werke +bieten: sein »<em class="gesperrt">Martin Salander</em>«, der die politischen Fäden des +»Grünen Heinrich« weiterführt, der aber noch breiter ausführt, ohne +gleiche Kraft und Tiefe zu zeigen, und der nach meinem Empfinden +in der Darstellung erheblich weniger ansprechend, in Zeichnung und +Räsonnement erheblich trockener ist, wennschon ein Hauch von biederem +Bürgersinn den, der dafür Verständnis hat, erfrischend anweht; +so ferner seine »<em class="gesperrt">Sieben Legenden</em>« und seine »<em class="gesperrt">Züricher +Novellen</em>«. Wohl aber gilts, einen Augenblick zu verweilen bei +jener berühmt gewordenen Novellensammlung, welche den Titel führt: +»<em class="gesperrt">Die Leute von Seldwyla</em>« (zuerst 1856). Ein sonderbares +Städtchen, dies Seldwyla. Leichtsinn haben seine Bewohner in gehöriger +Portion. Sie leben gemütlich und ohne sich zu überanstrengen, sie +tun überall mit, wo etwas los ist, aber sie fehlen, wo es rechter +Ernst ist, sie verstehen das Geldausgeben vorzüglich, aber das +Geldverdienen ist ihnen zu mühsam; sie machen Bankrott, wenn sie in +den besten Jahren sind, und angeln als Ausgediente zum Nahrungserwerb +und zum Zeitvertreib. Aus diesem guten Städtchen der Phrasenhelden +und Maulgrößen, der politischen Windmühlen und der moralischen +Unbesorgtheit zeichnet Keller mit scharfem Stift, mit bitterer +Satire und mit derber Moral eine Reihe von Charaktertypen. Da ist +<em class="gesperrt">Pankraz der Schmoller</em>, ein eigensinniger und zum Schmollen +geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt +nichts tat oder lernte, der aber dann in den Lehrjahren seines +Lebens die Schmollerei verlernt. Er kommt ins Ausland; in Indien +verliebt er sich in ein kokettes Mädchen, das nicht ruht, bis seine +Liebe weißglühend geworden ist, um ihn dann ganz gehörig ablaufen zu +lassen. In Afrika hat er ein Löwenabenteuer. Stundenlang muß<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> er, +der Waffe beraubt, dem Löwen unbeweglich fest ins Auge sehen, bis +Hilfe kommt. So wird er vom Schmollen kuriert. — Da sind »<em class="gesperrt">die +drei gerechten Kammmacher</em>«, wahre Ausbunde von Solidität und +Tugend, die alle drei ein Kammmachergeschäft, in dem sie arbeiten, +nach des Besitzers bevorstehendem Bankerott erwerben wollen und, um +nur bleiben zu können, sich vom Meister drücken und schinden lassen. +Sie wollen alle drei ein ebenso pedantisches Mädchen heiraten, das +einen Batzen Geld hat und das keiner dem andern gönnt. Endlich kommt +die Entscheidung; von dreien darf nur einer im Geschäft bleiben. Wer? +darüber soll ein lächerlicher Wettlauf entscheiden. Zwei schießen, in +einander verbissen, am Ziel vorüber, der dritte gibt das Laufen auf, +sichert sich das Mädchen und bekommt mit dessen Geld das Geschäft. +Da gehen die Unterlegenen hin: der eine hängt sich auf, der andere +wird ein Liederjahn. — Da ist ferner <em class="gesperrt">Frau Regel Amrain</em>, eine +kluge Frau und noch klügere Mutter, die alle Schäden, an welchen +Seldwyla krankt, wohl übersieht und darum ihren Jüngsten, in dem sie +am meisten Hoffnungsgrund für zukünftige Entwicklung merkt, zu einem +Mann heranzieht, der jenen Torheiten entwächst und, statt zu werden +wie die andern, lieber fleißig, sittsam und tatkräftig sein und seiner +Familie Wohl, auch nicht zuletzt das Wohl der Allgemeinheit fördern +soll. — Da begegnen wir »<em class="gesperrt">Romeo und Julia auf dem Dorf</em>«, — +eine Geschichte vom Zwist zweier bäuerlicher Nachbarn, die sich um +ein Nichts verfeindet haben und nun die Fehde bis zum völligen Ruin +beider Familien fortführen. Der Sohn der einen und die Tochter der +andern Familie aber haben sich lieb und gehen schließlich gemeinsam +in den Tod, — nicht ohne vorher in freiem Entschluß ohne den Segen +der Eltern und ohne die Ordnung der Sitte Hochzeit gefeiert zu +haben. — Aber wozu von jeder einzelnen dieser Novellen erzählen? +Sie sind allesamt echte Kinder der Kellerschen Muse.<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> Jeder liest +sie gern in einer Stunde, die dem Nachdenken nicht allzu abhold +sein darf. Jeder spürt in ihnen die Feinheit der Beobachtung, die +Anschaulichkeit der Darstellung, die Tiefe der Gedanken und den Ernst +des Urteils. Jeder freut sich der klaren Art, ein begrenztes Bild oder +Bildchen menschlichen Lebens und Treibens herauszuarbeiten und den +Faden der Handlung, die nur manchmal etwas sehr in die Breite geht, +festzuhalten. Es sind Novellen, die zugleich fesseln und zu denken +geben; und eine große Summe Lebensweisheit steckt in ihnen. Etwas von +den Leuten von Seldwyla findet sich ja schließlich auch sonst auf +der Welt! Immerhin will ich mit einem Bekenntnis nicht zurückhalten. +So gewiß es richtig ist, daß Keller mit den besten Stücken dieser +Sammlung gleich alles, was seine Vorgänger und Zeitgenossen auf dem +Gebiet der Novelle bisher geleistet haben, übertrifft, so wenig +kann ich ohne Einschränkung ein Urteil unterschreiben wie das, nach +welchem sie »große und freie Poesie« sind, »von einer bedeutenden, +wenn auch eigen gewachsenen Persönlichkeit getragen, von reichster +künstlerischer Durchbildung, ebenso wahr und tief wie fein.« Mag +vieles in diesem Urteil zutreffen, eins ist darin vergessen: der +moralisierende Ton, der zuweilen etwas geradezu Pedantisches hat. +»Frau Regel Amrain und ihr Jüngster« kann geradezu eine pädagogische +Novelle genannt werden. Aber auch die anderen Stücke haben diese +erziehliche Art. Und Keller hat es <em class="gesperrt">nicht</em> immer verstanden, +seine Moral ins Gewand »großer und freier Poesie« zu kleiden; er wird +zum Kritiker, zum Schulmeister, zum Erzieher und vergißt dabei doch +manches Mal den Dichter. Etwas von dieser Art findet sich in allen +Werken Kellers; es hat mit dazu beigetragen, sie zu Zeitromanen und +Zeitnovellen zu machen; denn was er kritisiert, sind ja Zeitsünden, +Zeitschwächen. Aber ihren dichterischen Wert hat es nicht gehoben.</p> + +<p>Auch »Die Leute von Seldwyla« habe ich in die<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> Gruppe der Zeitdichtung +eingereiht: aus eben diesem jetzt angeführten Grund. Schweizer +Bürgerleben in seinen Schwächen bildet überall den Hintergrund der +Novellen. In die großen, flutenden Bewegungen der Zeit führen sie +freilich nur gelegentlich ein. Aber muß ein Zeitroman wirklich das +Ganze der Zeit umspannen? Wir warfen die Frage schon früher auf, +aus Anlaß der Vorrede zu Gutzkows »Rittern vom Geist«; und wir +beantworteten sie mit Nein. Muß ein Zeitroman auch nur die großen, +weltbewegenden oder doch staatenerschütternden Strömungen skizzieren? +Gibt er nicht auch ein Bild seiner Zeit, wenn er irgend ein konkretes +Einzelgebiet herausgreift und zu intimer, lebendig-wahrer Darstellung +bringt, selbst wenn es mit jenen politischen Strömungen nichts oder +wenig zu tun hat? Den besten Beweis, daß auch ein solcher Zeitroman +auf der Höhe stehen kann, gibt <em class="gesperrt">Gustav Freytags</em> Buch »<em class="gesperrt">Soll +und Haben</em>«, das ein Jahr später als »Der grüne Heinrich« und ein +Jahr früher als »Die Leute von Seldwyla« erschienen ist. Die Gestalten +dieses Buchs stehen Ihnen allen vor Augen; Andeutungen werden +daher zur Begründung meines Urteils ausreichen. Ins Weltgetriebe +führt Freytag mit der polnischen Insurrektion, die der Kaufmann +Schröter und Anton Wohlfart aus eigener Anschauung kennen lernen. +Aber Freytags Interesse in diesem Roman ist nirgends politisch; +auch jene polnischen Zustände kommen fast nur in ihrer Rückwirkung +auf die Geschicke der Handlung T. O. Schröter, Kolonialwaren und +Produkte, zur Geltung, daneben lediglich noch in ihrem Einfluß auf +die persönliche Charakterbildung Anton Wohlfarts selbst. Die Firma +T. O. Schröter in der Hauptstadt der Ostprovinz steht unbestritten +im Mittelpunkt. Das Großkaufhaus in Breslau — diese Stadt ist +bekanntlich gemeint — mit allen seinen Insassen und Angestellten +macht uns zugleich mit Lebensart und -Haltung der Kreise bekannt, +die in ihm ihren Mittelpunkt haben.<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> — Außerdem lernen wir in +Veitel Itzig und Ehrenthal Typen unehrlicher Geschäftspraktiken +kennen, in Hippus den Typus des abgefeimten Winkelkonsulenten, +in der Familie von Rothsattel und in dem Tanzzirkel der Frau von +Baldereck die Kreise des Landadels und des Offiziersstandes, in Fink +den weiterblickenden, amerikanisierten Weltmann, der zugleich die +strenge Lebenseinfachheit des deutschen Kaufmannsstandes aufgegeben +hat. Sabine Schröter ist ein Bild zugleich deutscher Hausfrauenart +und edler Weiblichkeit. Vielleicht ist das Gesichtsfeld des Romans +nicht allzu weit; weit <em class="gesperrt">genug</em> ists auf alle Fälle. Das solide +Bürgertum der deutschen Stadt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, +mit Konzentration aller Interessen auf Beruf und Arbeit, mit +keiner anderen Poesie als derjenigen eben dieses Berufs und dieser +Arbeit, aber darum nicht ohne Gemüt und nicht ohne Herz, wird dem +unsoliden Wuchertum wie dem glänzenden, aber minder fest auf der +Arbeit aufgebauten gesellschaftlichen Leben der aristokratischen +Kreise gegenübergestellt. Ist das kein Gegenstand, der für das Leben +einer bestimmten Zeit charakteristisch wäre? Sehen wir nicht ganzen +Schichten des deutschen Volkes ins Herz?</p> + +<p>Die Art, wie Freytag schildert, ist ganz und gar geeignet, ein +wirkliches, klares und deutliches Bild eben dieser Schichten zu geben. +Am meisten ausgeführt ist dasjenige der Firma T. O. Schröter. Hier +ist er peinlich genau, bis ins Einzelne treu. Er erspart dem Leser +nicht die gründlichste Beschreibung der Handelsbeziehungen und des +Arbeitsbetriebs in dem großen Kaufhause. Er führt uns durch beinah +sämtliche Räume desselben, durchs Kontor, den eigentlichen Herzpunkt, +durch die Kellerräume, in denen die Waren lagern, durch die Wohn- und +Prunkräume des ersten Stockwerks, wo die Angestellten mit der Familie +des Prinzipals die Mittagsmahlzeit einnehmen, durch die Wohnzimmer +des Hinterhauses, in denen Buchhalter<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> und Kommis ihre bescheidenen +Wohnstätten haben, durch Hof und Hausflur, wo Herr Pix die Auflader +und Hausknechte regiert. Er zeichnet Charakterbilder von jedem +Einzelnen der beteiligten Männer, von dem bescheidenen Liebold bis zum +Aufladerobersten Sturm und dem Allerweltsfaktotum Karl. Er nötigt uns, +die zeitraubenden Verhandlungen mit Schmeie Tinkeles anzuhören, und +er vergönnt uns, die Tätigkeit des ersten Buchhalters mitzuempfinden. +Wer wollte leugnen, daß ihm die Wahrheit den Pinsel geführt hat? +Vielleicht ist Sturm, der Oberste der Auflader, ein bischen zu rühr- +und redselig gezeichnet; vielleicht treten interne Psychologika, +soweit sie nicht die Entwicklung der Menschen zu Geschäftsleuten +betreffen, allzusehr zurück. Aber gerade das Geschäftsleben gewinnt +durch diese Einseitigkeit; es ist ein prächtiges Bild, das Freytag von +ihm gezeichnet hat.</p> + +<p>Aber auch alles Andere an diesem Roman ist treu und wahr. Freytags +Liebe gehört ja ohne Frage <em class="gesperrt">diesen</em> Menschen, vor allem dem +braven und treuen, fleißigen und sorgfältigen, warmherzigen und +tieffühlenden Anton Wohlfart. Um so höher ist es ihm anzurechnen, +daß er es völlig vermieden hat, um seiner Lieblinge willen die +andern Kreise zu karikieren. Man vergleiche getrost die Adelskreise +in Spielhagens »Problematischen Naturen« mit den Rothsattels bei +Freytag, ja mit der Frau von Baldereck und der Gräfin Pontak, mit +den Leutnants von Zernitz und von Tönnchen! Die jungen Herren aus +dieser Umgebung kommen nicht gerade gut weg. Aber dem jungen Kaufmann +imponiert »ihre Art zu sprechen und sich zu geberden, vor allem eine +gewisse ritterliche Atmosphäre, die sie umgab, etwas Salonduft, etwas +Stallluft und viel von dem Aroma der Weinstube.« Und als Wohlfart +später nach ernsthaft bewiesener, mutvoller Unerschrockenheit in Polen +wieder mit einem Kreis von Offizieren zusammenkommt, da freut er sich +des freien Verkehrs mit anspruchsvollen Menschen<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> und läßt sich gern +in den Zauber eines Kreises ziehen, welcher ihm für frei, glänzend und +schön gilt. Und selbst der Leutnant von Rothsattel, der ein bischen +reichlich stolz gewesen, erhält nun noch das Prädikat: »im Grunde +ein verzogener, leichtsinniger, gutmütiger Mensch.« Und die übrige +Familie von Rothsattel, der edle Freiherr voran, die prächtige Mutter +nicht hinter ihm, die reizende, mutige, frische Lenore mit ihnen, +gibt ein treffliches Konterfei schlesischen Grundadels, wennschon +uns Jetzigen die geringe Gewandtheit des Freiherrn in geschäftlichen +Angelegenheiten recht sonderbar vorkommt. Kurz, Freytag hat den +Fehler vermieden, zu gunsten einer Menschenklasse andere ins Unrecht +zu setzen; und wenn es in der Welt seines Romans im allgemeinen +bürgerlich ordentlich, ehrbar und anständig zugeht, so hat er +doch das gute Recht, gerade solche ordentlichen Menschenschichten +zum Gegenstand seines Bildes zu machen. Die Schwächen jener +bürgerlich-kaufmännischen Lebensauffassung läßt er ja keineswegs +zurücktreten: etwas Pedantisches, etwas Philisterhaftes klebt ihr an; +frei, glänzend und schön gestaltet sie das Leben nicht; aber ernst ist +sie und reizlos ist sie auch nicht. Hören wir unsern Anton Wohlfart:</p> + +<p>»Ich weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft. +Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die +sich von einem Menschen zu dem andern, über Land und Meer, aus einem +Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden Einzelnen +und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen, +und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten +aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen; +dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch +ich mit helfe, und, so wenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß +jeder Mensch mit jedem anderen Menschen in fortwährender Verbindung +erhalten<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein. +Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Wage setze, so knüpfe ich einen +unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche +die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauerburschen, der sie zum +Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so +sehe ich auf der einen Seite den Malayen kauern, der ihn zubereitet +und einpackt, und auf der anderen Seite ein altes Mütterchen aus +unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.«</p> + +<p>Und so wenig der ernste Mensch über diese Poesie der Kolonialwaren +wird lächeln dürfen, so wenig kann er Antons weitere These bestreiten:</p> + +<p>»Wer ein ehrliches Geschäft hat, kann von unserm Leben nicht schlecht +denken, er wird immer Gelegenheit haben, Schönes und Großartiges darin +zu finden.«</p> + +<p>Was endlich an »Soll und Haben« rühmend hervorzuheben ist, das ist +die Technik des Aufbaus. In dieser Hinsicht bezeichnet der Roman +einen entschiedenen Fortschritt gegenüber Gutzkow und auch gegenüber +Keller, vielleicht in mancher Hinsicht sogar gegenüber Spielhagens +»Problematischen Naturen«. Gutzkow war breit und ließ die Handlung +in zahllose lange Gespräche zerfließen; für lange Zeiten waren die +Menschen für ihn nur dazu da, um ihre Ansichten einander möglichst +offenherzig zu erzählen. Auch bei Freytag fehlen die Gespräche nicht; +was ich eben an Urteilen über den Kaufmannsstand anführte, entstammt +einem solchen. Aber sie treten zurück gegenüber dem Handeln. Das +ist nicht immer ein Handeln im großen Stil; Ereignisse häufen sich +nicht; es ist ein Geschehen im kleinen und kleinsten Maßstab; aber es +charakterisiert und es fesselt. Bei Gutzkow Unwahrscheinlichkeiten +und Abenteuerlichkeiten im äußeren Verlauf; bei Freytag ruhige, wenn +auch nicht immer ganz folgerichtige Entwicklung auf solidem Unterbau. +Und während Kellers »Grüner Heinrich« zeitweis<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> den Charakter des +Memoirenwerks trägt, gab Freytag seinem »Soll und Haben« auch in der +Form mit aller Kunst ganz den Charakter des Romans. Ein einzelnes +Menschenkind, Anton Wohlfart, eint in seiner Person die mannigfachen +Fäden der Entwicklung: er ist mit Leib und Seele im Kontor bei T. O. +Schröter, er beteiligt sich am Tanzkränzchen der Frau von Baldereck, +er schwärmt für Lenore von Rothsattel, er verkehrt mit Bernhard +Ehrenthal. Und so zersplittert sich das Interesse nicht; es begleitet +die Entwicklung in Aufmerksamkeit und Spannung durch alle Stadien +hindurch. Bald führt das eine Kapitel den Leser zu T. O. Schröter, +bald das andere ins Geschäft zum Ehrenthal, bald das dritte ins +Stammschloß der Rothsattel. Aber alle diese Einzelentwicklungen +gestalten sich schließlich zu einem großen Ganzen und finden nach +spannenden Akten ihren Abschluß, einen richtigen, Ruhe gebenden +Abschluß. Verglichen mit den »Problematischen Naturen« Spielhagens ist +Freytags »Soll und Haben« nach seiner Technik insofern im Vorteil, +als hier nicht das geheimnisvolle Hineinwirken einer spät entdeckten +vergangenen Tatsache zum Abschluß hilft, sondern einfache, klare, +folgerichtige Durchführung der in der Anlage gegebenen Ansätze.</p> + +<p>Somit kann es nur mit Freude begrüßt werden, daß »Soll und Haben« +eins der Lieblingsbücher der deutschen Gebildeten geworden ist. Auch +vom modernen Standpunkt des Naturalismus <em>sans phrase</em> aus soll +man uns das Buch nicht verleiden. Es bleibt des Dichters gutes Recht, +sein Thema so zu begrenzen, daß gewisse Tiefen nicht aufgerührt +werden. Er begibt sich damit der Möglichkeit, problematische Naturen +mit ihren Sonderbarkeiten zu zeichnen, feinädrige psychologische +Probleme zu behandeln, und auch des anderen, einen Beitrag zur +Lösung von Fragen der Politik oder der Weltanschauung zu geben. +Aber er bringt nichtsdestoweniger ein Zeitbild, ein Bild tüchtigen, +fleißigen Strebens, und er bringts in annähernd<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> objektiver Weise, +ohne allzustarke Satire, ohne Geißelhiebe nach rechts oder links, aber +nicht ohne einen gewissen Humor, mag derselbe auch etwas nach dem +Kontor schmecken.</p> + +<p>Ein Werk in der Art von »Soll und Haben« ist Freytag nicht wieder +gelungen. »Die verlorene Handschrift« erreicht nicht entfernt die +gleiche Höhe. Der Gelehrte, welcher die Handschrift sucht und darüber +jeden praktischen Blick verliert, mag ja ein Produkt deutschen +Wissensdranges sein. Aber wir fühlen es alle: er eignet sich weit +mehr zum Objekt der witzigen Professorenanekdoten, wie sie ja von +Mund zu Mund gehen, als zum Mittelpunkt eines großen Romans. Dazu +ist er in seiner ganzen Art doch nicht genug Typus jener gründlichen +Gelehrsamkeit, wie wir sie als eine Spezies unseres Vaterlandes +schätzen und lieben. Der große Zyklus »Die Ahnen« aber wird an anderer +Stelle zu würdigen sein.</p> + +<p>Vom objektiveren Zeitroman wollte ich reden. Unter Preisgabe der +Politik hat Freytag eine hohe Objektivität erreicht. Wie steht es +mit dem Zeitroman in späteren Zeiten? Finden wir nicht auch unter +seinen Schöpfungen noch manches, was die Tendenz zurücktreten +läßt? Ich glaube, das sogar von einigen Werken <em class="gesperrt">Spielhagens</em> +behaupten zu dürfen. Nicht von dem 1887 erschienenen »<em class="gesperrt">Was will das +werden?</em>«, dem Anti-Bismarck, gilt das, — auch nicht von »<em class="gesperrt">Der +neue Pharao</em>« von 1889, der die neue Zeit, die Zeit Bismarckschen +Einflusses mit schwarzen Farben malt. Aber bis zu einem gewissen Grad +ists ihm in der »<em class="gesperrt">Sturmflut</em>« gelungen, einem Werk von wunderbar +packender Kraft, einem der besten des Meisters, in dem Reichtum der +Gedanken und Aktualität der Meinungsäußerung sich mit imposanter +Kunst der Entwicklung und Durchführung einer vielgestaltigen Handlung +vereinigen. Sturmflut bricht herein — über das deutsche Volk: eine +Flut von Gold im Milliardensegen nach dem französischen Krieg, eine +Flut von Schwindel in Handel<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> und Wandel, eine Flut von Verderbnis +im sittlichen Leben der Familien und der Einzelnen. Sturmflut bricht +herein — über die Bewohner des Ostseestrandes und mit ihnen über +ein Liebespaar, das die Schuld jener anderen Sturmflut auch auf sich +geladen hat. Und wie die Bilder von dieser letzten, natürlichen +Sturmflut zu dem Gewaltigsten gehören, was unsere Romanliteratur +besitzt, so fehlt auch der Schilderung der Sturmflut roten Goldes und +sittlichen Verfalls nicht die drastische Anschaulichkeit und nicht die +innere Wahrheit. Obgleich Spielhagen sich und seine Tendenzen niemals +ganz verleugnen kann, so hat er doch in diesem Buch auch den von ihm +sonst mit Vorliebe befehdeten Adelskreisen ein wenig mehr ihr Recht +gegeben. Auch in diesem Roman kann man, was Einzelzeichnung betrifft, +manches finden, was mit der Wirklichkeit streitet; Spielhagen bringt +es nicht fertig, einen Geistlichen anders zu zeichnen denn als einen +gefühlsrohen und bornierten Fanatiker; und auch der Jesuit der +»Sturmflut« ist allzu phantastisch herausstaffiert. Aber jedenfalls +trifft die »Sturmflut« besser das Kolorit der Wirklichkeit als manches +andere Produkt der Spielhagenschen Muse. Hier hat die unmittelbare +Anschauung, die Gewalt seines Stoffs, die ernste sittliche Haltung +gegenüber dem Schwindel und der Haltlosigkeit ihm die richtigen Farben +in den Pinsel gegeben.</p> + +<p>Zeitromane objektiveren Charakters hat das Ende des 19. Jahrhunderts +noch in Fülle gebracht. Lassen Sie mich nur noch die Bilder aus den +Ostseeprovinzen nennen, welche <em class="gesperrt">Theodor Hermann Pantenius</em> von +übrigens christlicher und konservativer Weltanschauung aus gezeichnet +hat. Und lassen Sie mich mit besonderer Freude des Dichters gedenken, +der es wie keiner verstanden hat, das Leben der Mark Brandenburg +anschaulich darzustellen: des feinsinnigen <em class="gesperrt">Theodor Fontane</em>. +Nicht alle seine zahlreichen Romane sind von gleichem Wert. Vor allem, +sie<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> sind nicht sämtlich Zeitromane im vollen Sinne des Wortes. Sein +»Vor dem Sturm« wird uns im nächsten Vortrag beschäftigen; hier gilt, +was ins volle Leben der Gegenwart eingreift. Da hat auch Fontane +nicht überall den Kreis weit gespannt, so weit, wie ein Zeitroman +es nun einmal muß: über Schichten der Menschheit, über Klassen der +Gesellschaft, über das Leben wenigstens eines ganzen Standes hin. +Er bleibt zuweilen im engeren Umkreis des mehr Persönlichen, das +keinen Anspruch darauf hat, für typisch zu gelten. Das hindert nicht, +eben diese Dichtungen für Werke von hohem künstlerischen Wert zu +erklären. Aber in dem Zusammenhang dieser Bilder haben wir ihm auch +als einem Manne der Zeit und einem Künstler der Zeit unsern Tribut +zu geben. Man hat bei seiner »Effi Briest« so gut wie bei seiner +»Jenny Treibel« durchaus das Gefühl, daß er seine Gestalten nicht +bloß nach der Seite des Allgemein-Menschlichen hin, sondern auch +nach ihrer Eigenschaft als Glieder bestimmter Kreise hin als Träger +allgemein geteilter Anschauungen charakterisiert. Effi Briest: das +Landedelhaus, das ländliche Pfarrhaus und Kantorhaus! Die geselligen +und gesellschaftlichen Verhältnisse in der pommerschen Kleinstadt! +Die Familienverhältnisse im Haus des vornehmen Beamten! »Effi Briest« +ist nicht lediglich Zeitschilderung; auch nach dem psychologischen +Problem, welches hier zur Behandlung kommt, muß uns das Buch noch +beschäftigen. Aber ganz und gar Zeitbild ist »Jenny Treibel«. Die +gute Jenny Treibel mit ihrem wundervollen Idealismus und ihrem +wunderbaren Realismus, mit ihren trefflichen Theorien und ihrer +brutalen Praxis! Berliner Großstadtleben! Berliner Wohlstand und +Mittelstand! Berliner Millionärsgefühle im Herzen einer liebenden +Mutter! Und wieder nicht so, daß es heißen müßte: so sind sie alle. +Aber wieder so, daß man sagen muß: diese Jenny Treibel ist mindestens +kein Original, sondern sie hat eine Schar gleichgestimmter<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> Schwestern +in Berlin <em>W.</em> und anderswo auch! — Das umfassendste Zeitbild +aber gibt Fontanes »<em class="gesperrt">Stechlin</em>«. Hier steht im Mittelpunkt der +märkische Edelmann, Herr von Stechlin, ein Mann von alter preußischer +Art, mit patriarchalischen Neigungen, mit vornehmer Denkweise, mit +konservativer Grundrichtung, dabei aber keineswegs ohne moderne +Regungen. Im Gegenteil, manchmal ists, als sei die Tradition nur +Schale, und der Kern sei ganz modern. Von pietistischer Frömmigkeit +will er nicht viel wissen; ein einfaches männliches Christentum ist +seine Sache, ein bischen undogmatisch sogar und doch wieder nicht ganz +ohne jene Beimischung von Aberglauben, die der Dichter so sehr liebt. +Neben ihm, wenn auch viel knapper skizziert, andere Vertreter des +gleichen Standes, sein Sohn mit etlichen Freunden als Repräsentant des +gediegenen jungen Offiziers, die alte würdige Stiftsdame im adeligen +Fräuleinstift, der mit liberalen Anschauungen durchtränkte frühere +hohe Beamte, die Pastoren: der schlichte, ein bischen ketzerische, +sogar sozial denkende Landpfarrer Lorenzen, der weltgewandte, +streberische Superintendent Koseleger, der prächtige Hofprediger +Frommel in Originalaufnahme. Dazu Typen des Landvolks in einzelnen, +aber ausgezeichnet getroffenen Porträts. Das ganze Bild greift nicht +tief hinein in die Fragen, welche die Welt bewegen, obschon sie in +manchem Gespräch ihre Rolle spielen. Im Grunde will Fontane weiter +nichts, als durch solche Aeußerungen die Denkweise seiner Figuren +beleuchten. Ihm liegt hier alles an der Schilderung, wenig oder nichts +an der Handlung. In der ersteren aber ist er Meister. Man kann nicht +richtig schildern, wenn man nicht auf das kleinste achtet; Fontane ist +der begeisterte Freund feinster Kleinmalerei, in ihr und zugleich in +der Objektivität derselben mit Gustav Freytag verwandt. Man wird ja +bald der Mittel inne, die er braucht, um seinen Zweck zu erreichen. Er +legt Gewicht aufs Milieu; der Mensch hängt eben von seiner Umgebung +ab. Das Schloß, besser Herrenhaus,<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> des alten Stechlin muß darum +gründlich beschrieben werden, nicht etwa unter dem Gesichtswinkel +berauschender Romantik, sondern unter dem der naturwahren Zeichnung. +Die Dienerschaft gehört zum Schloß; alte Faktota geben ihm mit +seinen Charakter. Die Kuriositätensammlung muß besichtigt werden; +wie könnte man einen Mann kennen, ohne seine Schrullen zu kennen? +Zeigt er seine Lieblinge nicht mit Grandezza oder mit Pedanterie, +spricht er von ihnen mit ruhigem Humor, so gibt das eine wichtige +Bereicherung unseres Wissens über seinen Charakter. Auf dem Land kann +der Gutsherr nicht gezeichnet werden, wenn man ihn nicht nimmt, wie +er sich der Umgebung gegenüber gibt: im Verkehr mit hoch und weniger +hoch geborenen Nachbarn — daher ihrer einige beim alten Stechlin auch +zu Tische erscheinen —, im Verkehr mit dem Pastor — daher Lorenzen +seine in diesem Zusammenhang unbedingt richtige Stelle erhält; im +Verkehr mit dem Lehrer und endlich mit den sonderbaren Gestalten, +wie sie jedes Dorf aufweist. Desgleichen gebührt der Landschaft und +ihren Eigenheiten Beachtung. Wer auf dem Landschloß zu Gast ist, +besichtigt die Sehenswürdigkeiten, voran die Kirche und den See +Stechlin, um den Sagengewirr sich gerankt hat, wie denn jede Gegend +ihre landschaftlichen Geheimüberlieferungen besitzt. So führt Fontane, +der Kleinmaler, seinen Pinsel. So zaubert er aus dem märkischen +Sand Bilder von bestechender Liebenswürdigkeit, von gewinnender +Gediegenheit, aber auch von wunderbarer Treue.</p> + +<p>Wirklich von wunderbarer Treue? Aber steht nicht auch Fontane im Bann +seiner stark ausgeprägten Individualität? Merkt man nicht auf jeder +Seite seine Liebe für die Mark, die märkischen Junker, die märkischen +Kirchen und Landpfarrer, die märkischen Landleute? Klingt nicht aus +allen seinen Romanen dieselbe Stimmung des eigenen Gebundenseins an +die Mark wie aus jenem schlichten Vers unseres Dichters:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">Kein Erbbegräbnis mich stolz erfreut; </div> + <div class="verse indent0">Meine Gräber liegen weit zerstreut; </div> + <div class="verse indent0">Weit zerstreut über Stadt und Land, </div> + <div class="verse indent0">Aber alle im märkischen Sand! </div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Daß diese Heimatsliebe ihm die Feder geführt hat, wird niemandem zu +bezweifeln einfallen. Und es bleibt ja auch richtig, daß Fontane +ebenso wie Freytag bei allem Realismus doch immer dem eigentlichen +Naturalismus ferngeblieben ist; manche Gebiete menschlicher Art und +Sitte bleiben für beide außer Ansatz. Sie zeichnen mit Vollendung +das Leben, wie es sich dem scharfen Beobachter gibt, aber einem +Beobachter, der nicht ans Licht zieht, was in der Regel sich selber +mit Finsternis bedeckt. Nur muß man gerade Fontane unbedingt +zugeben, daß er alles getan hat, um in dem Leser das falsche Gefühl +<em class="gesperrt">nicht</em> aufkommen zu lassen, als bestünden solche Schattenseiten +und solche dunkelen Einschläge nicht. Man merkt es wohl, daß er +absichtlich an ihnen vorüberführt. Und es gibt manchen Leser, der ihm +das danken wird. Naturtreu bleibt darum seine Dichtung doch.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Und so glaube ich denn in der Tat, das Recht der Teilung des +Zeitromans in einen tendenziösen und einen objektiven oder doch +objektiveren praktisch erwiesen zu haben. Ich gestehe, daß gerade +die Existenz dieser letzteren Gattung mir, wenn ich die lange +Entwickelungsreihe des deutschen Romans durchmustere, eine ganz +besondere Freude bereitet. Nicht als ob der Tendenzroman an sich +minderwertig wäre: vor diesem Urteil bleiben wir hoffentlich so lange +bewahrt, als wir dem freien Mann im Dichter seine freie Meinung +gönnen. Aber je mehr die Tendenz ihm den freien, klaren Blick für +das Wirkliche raubt, umsomehr leidet in der Tat die Kunst unter der +Absicht. Da jubelt dann der mit Wirklichkeitssinn ausgestattete Leser, +wenn er auf ein Gemälde trifft, das des Künstlers Herzensstellung wohl +erkennen<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> läßt, das aber in Farbe und Entwurf einfache, reine Natur +atmet. Und wenn nun solches Gemälde, ohne gerade in Zeitstreitigkeiten +tief hineinzugreifen, doch diese unsere Zeit mit ihren feinsten +Regungen wiederzugeben weiß, dann fühlt man den hohen Wert desselben. +Ein Spiegelbild ist's: Zeit, erkenne dich selbst! Ein Kritiker wirds: +sieh zu, wo dein Fehler steckt! Ein Mahner bleibts: such dir die +Menschen, die unserer Zeit vorwärts helfen!</p> + +<p>Wie auf anderen Gebieten, so hat auch auf diesem der deutsche Roman +kein völlig eigensprossendes Wachstum gehabt. Allerdings: hier ist +vielleicht seine tiefste Sonderart, sein eigentliches deutsches +Wesen am klarsten zu schauen: deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit +verbinden sich mit deutscher Gemütstiefe und Herzenswärme. So in +»Soll und Haben«, so im »Stechlin«. Und auch deutsche Vorbilder +haben eingewirkt: Wilhelm Meister, auch der Werther. Aber außerdem +ist englischer Einfluß unverkennbar: Dickens hat sehr stark +herübergewirkt. Und zwar Dickens mit seiner realistischen Kraft und +mit seiner plastischen Einzelkunst. In »Soll und Haben« wird man +hundertfach an Dickens erinnert, vielleicht nirgends deutlicher als +in der Episode, in welcher Anton Wohlfart die energische Absicht +zeigt, den Herrn von Fink auf Pistolen zu fordern. Und ist es Zufall, +daß gerade dort auch Freytag sich ein paarmal des uns von Dickens +her so vertraut klingenden Wortes »Gentleman« in ebendemselben +gutmütig-humorvollen Sinne bedient, in dem jener es gebraucht hat? +Bei alledem aber muß festgehalten werden: <em class="gesperrt">der Zeitroman mit seinem +hellen Tageslicht, seiner unromantischen Wahrheitsliebe, seiner +umfassenden, manchmal beinahe nüchternen Gründlichkeit ist und bleibt +doch im Grund eine Schöpfung deutschen Geistes</em>.</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_9"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_historische_Roman">Der historische Roman.</h2> +</div> + + +<p>Wie die erzählende Dichtung die Wirklichkeit zu erfassen suchte, indem +sie <em class="gesperrt">vergangenes Leben</em> neu erweckte, — das Thema ist unendlich +reich, denn historische Romane besitzen wir in Fülle. Und ob auch hier +mit unterläuft, was man getrost der Vergessenheit anheimfallen lassen +kann, ohne sich groß zu versündigen, — zwei Gründe zwingen doch, +bei Betrachtung des Heerzuges des historischen Romans durch das 19. +Jahrhundert verhältnismäßig häufig anzuhalten. Der eine Grund: die +Zahl der bedeutenden Schöpfungen ist auf diesem Gebiet nicht gering. +Der andere Grund: auch minder Bedeutendes hat durch die Gunst der +Lesewelt Anspruch auf Beachtung, mindestens auf Kritik erworben.</p> + +<p>Vielleicht könnte man darüber streiten, ob tatsächlich das Suchen +nach Wirklichkeit das treibende Motiv des historischen Romans +bilde. Denn auch die Romantik griff in die Tiefen der Geschichte. +Und zwar nicht bloß mit jener Novelle »Michael Kohlhaas«, sondern +auch mit Werken größeren Stils. <em class="gesperrt">Ludwig Achim von Arnim</em> +ließ 1817 den ersten Band des mittelalterlichen Romans »<em class="gesperrt">Die +Kronenwächter</em>« erscheinen (Band 2 ist Bruchstück geblieben). Und +wer traut der Romantik Sinn für die Wirklichkeit zu? Auch haftet +den »Kronenwächtern« sicher genug Unwirklich-Romantisches an. Aber +so wunderbar ist die Macht der Geschichte auch über das Gemüt eines +Romantikers, daß er doch die Wahrheit sich selbst zur Führerin +erkor. Freilich: »Dichtungen sind <em class="gesperrt">nicht Wahrheit, wie wir sie von +der Geschichte und dem Verkehr<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> mit Zeitgenossen fordern</em>, sie +wären nicht das, was wir suchen, was uns sucht, wenn sie der Erde in +Wirklichkeit ganz gehören könnten, denn sie alle führen die irdisch +entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück.« Aber dieselbe Vorrede +des Dichters, die diese Worte enthält, fordert für die Dichtung die +höchste Wahrheit: »Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt, +mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust als alles, was in +der Geschichte laut geworden. Sie liegt der Eigenheit des Menschen zu +nahe, als daß sie den Zeitgenossen deutlich würde, aber die Geschichte +in ihrer höchsten Wahrheit gibt den Nachkommen ahnungsreiche Bilder +...«</p> + +<p>Wir stimmen dem zu, daß der Roman nicht gleiche Wahrheitspflicht +hat wie die Geschichte, daß es auf die höchste, die innere Wahrheit +ankommt. Und wir konstatieren, daß »Die Kronenwächter« bei allem +dichterischen Schwung, bei aller Romantik ihrer Handlung, bei aller +Unwahrscheinlichkeit ihrer Konzeption doch auch unter dem Banne der +höchsten Wahrheit gestanden haben. Nur ist es mehr die Wahrheit +mittelalterlicher Stimmung und Farbe, dazu die Wahrheit manches +realistischen Zugs, als die Wahrheit aller Einzelgestalten und des +Zusammenhangs, in den Menschen und Begebenheiten gestellt werden.</p> + +<p>Neben Achim von Arnim stehen noch andere Romantiker, die +gleichfalls in vergangene Tage hineinzuführen gesucht haben. Da +ist <em class="gesperrt">Wilhelm Hauff</em> mit seinem noch keineswegs verschollenen +»<em class="gesperrt">Lichtenstein</em>« (1824), da ist <em class="gesperrt">Ludwig Tieck</em> mit dem +unvollendet gebliebenen »<em class="gesperrt">Aufruhr in den Cevennen</em>«. Aber +so hübsch der »Lichtenstein« zu lesen ist, — als eigentlich +geschichtlicher Roman kann er nicht gelten. Der geschichtliche +Hintergrund bleibt in blasser Undeutlichkeit; was ist Sage? was +Geschichte? Ähnliches gilt aber von allen jenen Werken: poetischer +Zauber umhüllt uns, aber der feste Boden der Wirklichkeit entschwindet.</p> + +<p>Wie viel näher steht der geschichtlichen Wirklichkeit<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> der eigentliche +Bahnbrecher des modernen historischen Romans, der 1798 zu Breslau +geborene <em class="gesperrt">Willibald Alexis</em>, mit richtigem Namen W. Häring +genannt! Es ist kein Zufall, daß in ihm sich neue Kräfte regten, die +Geschichte fruchtbar zu machen. Der Geist Walter Scotts war in ihm +lebendig geworden. Seine ersten Romane gehen ganz in den Bahnen des +englischen Dichters. Aber etwa seit dem Erscheinen von »Cabanis« 1832 +ward er dem Vorbild gegenüber selbständiger; und gerade die Vorliebe, +mit welcher er in die Vergangenheit eines engeren Gebiets, der Mark +Brandenburg, sich versenkte, hat diese Selbständigkeit gefördert. Ein +Buch wie »<em class="gesperrt">Die Hosen des Herrn von Bredow</em>« (1846) wird heut +noch gern gelesen; derbe Natürlichkeit, massiver Humor und gemütvolle +Erzählerkunst haben uns da ein ganz prächtiges Werk beschert. Trotzdem +möchte ich eine kurze Charakteristik nicht an dies Buch anschließen, +das immerhin das Allgemein-Menschliche dem Geschichtlichen gegenüber +bevorzugt. Vielmehr verweile ich lieber einen Augenblick bei den +großen historischen Romanen und aus deren Schar bei dem »<em class="gesperrt">Roland von +Berlin</em>« (1840). Mag »Der falsche Waldemar« sich die psychologische +Aufgabe schwieriger stellen, gerade »Der Roland« ist für Alexis +charakteristisch. <em class="gesperrt">Einmal</em> in der Art, wie die Handlung +geführt ist. Manche Szene packt, und auch wer das Ganze überschaut, +findet fortschreitende Entwicklung, die das Ziel im Auge behält +und bestimmtem Abschlusse zuführt. Die romantische Träumerei hat +aufgehört, die Kraft wirklicher, notwendig fortschreitender Handlung +ist vorhanden. Die beiden eng verbundenen Städte Berlin und Köln an +der Spree liegen um die Mitte des 15. Jahrhunderts in bitterem Streit +miteinander, sodaß das Band, das sie verbindet, schier zerreißen will. +Zugleich tobt ein anderer Streit in den Mauern der Stadt: die Zünfte +hadern mit den Geschlechtern, die Bürger mit dem Rat. Und das in der +Zeit, in welcher die Gerechtsame<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> der Stadt in heiliger Eintracht +gehütet werden müßten. Kurfürst Friedrich <em>II.</em> der Eiserne +liegt auf der Lauer, eben diese Rechte unter die fürstliche Würde zu +beugen. Wie ihm das gelingt, das wird in mannigfach verschlungenen +Wegen berichtet. Wir wollen sie hier nicht nachgehen. Genug: der +Bürgermeister von Berlin, Johannes Rathenow, dem der steinerne Roland +zu Berlin das Zeichen der eigenen Gerichtsbarkeit der Stadt ist, muß +es erleben, daß eben dieser steinerne Roland durch die Straßen der +Stadt geschleppt und in der Spree versenkt wird.</p> + +<p>Was hier mit wenigen Sätzen angedeutet ist, ist selbstverständlich +nichts als der beherrschende Grundgedanke des dreibändigen Romans. +Die Füllung des Rahmens gewinnt Alexis von zwei Seiten her: aus +der minutiösen Schilderung vielfacher Einzelszenen und in ihnen +der Sitten und Art jener Zeit, und sodann aus dem Bericht über +die Schicksale einzelner Menschenkinder, insbesondere der Elsbeth +Rathenow, der schönen Tochter des stolzen Bürgermeisters, und des +Henning Mollner, der die Schöne zum Weibe begehrt. Einzelgeschick und +Gesamtgeschick sind mit kunstreicher Feinheit in einander verwoben; +keine Beschreibung führt vom Gange der Gesamthandlung ab oder tritt +unvermittelt oder wie überflüssig auf. Vielmehr ist alles zu einem +Ganzen geworden. Und doch ist der »Roland« nicht bloß ein Dokument +der Vorzüge dieser Kunst, sondern auch manches Fehlers derselben. +Wenige, die der Roman heute noch wirklich zu fesseln imstande wäre! +Warum? Weil der Gang der Handlung durch die Breite der Einzelszenen +doch ein schleppender geworden ist, — weil es schwer wird, unter +allen den scheinbar wirren Ranken die leitenden Äste zu erkennen, +— endlich wohl auch, weil der Fäden zu viel sind, die gleichzeitig +gezogen werden, und weil in der Darstellung selbst dem Leser nicht +immer genügend klare Wegweisungen für das Verhältnis des Einzelnen zum +Ganzen an die Hand gegeben werden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span></p> + +<p>Aber noch in einer anderen Richtung ist der »Roland von Berlin« +charakteristisch für die schriftstellerische Kunst seines Verfassers. +Er läßt uns die peinliche Treue wie die meisterhafte Deutlichkeit +seiner Detailschilderung merken. Hierin liegt in der Tat seine Stärke. +Es ist nicht möglich, hier solche Kabinettstücke der Kleinkunst +probeweise wiederzugeben: auch darin ist Alexis so breit, so minutiös, +daß der Raum dafür nicht reicht. Aber wer den Roland gelesen, der +lasse sich erinnern an das alte Rathaus zwischen Berlin und Köln mit +seinem bunt verzierten Oberbau und den vielen zierlichen Türmchen. +»Die Türmchen, nicht zur Verteidigung, es war nur Spielwerk, schauten +nach allen Stadtteilen; der mächtige, aber vielfach ausgezackte Giebel +aber war dem Spreeflusse zugewandt. Er durfte nach keiner der beiden +Städte blicken. Wäre es doch zu Ungunsten der einen oder anderen +gewesen. Das litt keine. Darauf gab man viel im Mittelalter und +fürchtete und scheute das Spiel des Zufalls.« Es sei erinnert an die +Beschreibung der stürmischen Ratssitzung, in welcher Niklas Perwenitz +zu vermitteln sucht, an den Weg des Bürgermeisters durchs Straßenleben +der Stadt nach dem Schummschen Hause in Köln, an das unübertrefflich +drastisch gemalte Fest beim Ratsherrn Thomas Wyns und an anderes mehr. +Viel zu breit ist manche der Szenen, aber lebendig, anschaulich und +wahr sind sie alle.</p> + +<p>Ja <em class="gesperrt">wahr</em>! Das ist das dritte, was im Roland den Meister erkennen +lehrt. Hier ist realistische Treue, gepaart mit kräftigem Humor, +auch wohl im Gewand satirischer Überlegenheit, aber eben Treue. +Keine Treue, die ihre Aufgabe darin sieht, <em class="gesperrt">alles</em> zu sagen. +Aber doch eine Treue, die das, was sie sagt, dem Leben abgelauscht +hat. Du liebes kleines Berlin-Köln aus der Zeit Friedrichs des +Eisernen! Du mit deinem stolzen Eigenbewußtsein und dem starren +Selbständigkeitsgefühl! Was sind deine Ratsherrn für mächtige Leute +gewesen, und welcher Reichtum<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> hat in deinen Mauern sich geborgen! +Wie steif ist dein Nacken schon dazumal gewesen, wie kritisch dein +Verstand gegen alles, was von oben kam! Wie haben deine Bürger bei +aller Würde doch auch zu lachen gewußt; und was für lose Mäuler haben +ihre Witze gerissen! Es ist das Berlin des Mittelalters, welches der +Roland erstehen läßt; aber wir zweifeln nicht: es ist der richtige +Vorfahr des Berlin von heute!</p> + +<p>Wilibald Alexis hat dem historischen Roman endgültig die Bahn +gebrochen. Wer seine Werke vor allem auf die Kraft der Spannung, +auf gedrungene Zusammenfassung, kurz auf die Kunst der Gestaltung +des Ganzen ansähe, würde oft enttäuscht sein. Wer aber das Einzelne +ansieht, die Plastik der Kleinmalerei und die Schönheit des +Gesamtbildes der Zeiten, die er beschreibt, der wird ihn immer mit +Bewunderung nennen. Nun ist dem Durchschnittsromanleser freilich +nichts schrecklicher, als wenn der Autor zu breit wird; und wer +möchte nicht zugeben, daß der Fehler groß ist? Aber anderseits +sollten ausdauernde Naturen von feinem historischem Geschmack doch +immer wieder einmal auf ihn zurückgreifen. Denn in der Art, wie er +die Geschichte für die Dichtung genützt hat, steht er, obwohl erst +Bahnbrecher, doch bereits auf der Höhe.</p> + +<p>Überschauen wir nun das weite Feld des historischen Romans nach +W. Alexis, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts! Als +gemeinsames Charakteristikum stelle ich fest: der romantische Zauber +ist abgestreift, manchmal auch der poetische Duft; jedenfalls droht +von daher der nüchternen Erfassung der Wirklichkeit keine Gefahr mehr. +Wer für jenen Zauber Sinn hat, mag wohl trauern, daß er dahin ist; +er gibt doch tatsächlich einen eigenen Reiz. Wenn er nur überall zu +gunsten der geschichtlichen Wirklichkeit sein Reich verloren hätte! +Aber es haben längst nicht alle Dichter von W. Alexis ernstlich +gelernt.</p> + +<p>Lassen Sie mich Ihnen zuerst diejenige Linie in der<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> Geschichte des +historischen Romans weiterführen, welche eine wirkliche Entwicklung +zur Vollendung hin am merkbarsten spüren läßt! Das ist die Linie, +welche von W. Alexis her über <em class="gesperrt">Scheffel</em> und <em class="gesperrt">Riehl</em> auf +<em class="gesperrt">Freytag</em> hinführt, in ihm aber keineswegs ihr Ende erreicht. +Was hier kurz zu skizzieren ist, das ist die Entwicklung des +<em class="gesperrt">kulturhistorischen Romans</em>.</p> + +<p>Wie unendlich verschieden kann die Methode sein, in welcher der +Romanschriftsteller Geschichte und Dichtung vermählt! Das kann ja +scheinbar geschehen, ohne daß von der Geschichte mehr entlehnt wird +als der äußere oder gar äußerste Rahmen. Statt daß man die Jahreszahl +1800 und so und so viel an den Anfang setzt, greift man eben ein paar +Jahrhunderte zurück. Irgend eine Größe der gewählten Zeit muß in +ein paar Szenen auftreten, — aber mit Vorsicht, damit man nicht in +Konflikt mit der Geschichte komme. Der Stand und Beruf, die Kleidung +und etwa noch die Sprache der handelnden Personen wird ein wenig in +altmodisches Gewand gehüllt, wobei es weiter keine Rolle spielt, ob +jemals Leute auf dem Erdenrund so gesprochen haben, wie die Figuren +im sogenannten geschichtlichen Roman. Sodann wird eine Anzahl Zutaten +hereingegeben — ein bischen Heldenmut aus den Kreuzzügen, ein Quantum +Glaubenstreue aus der Reformationszeit oder eine Portion Kriegsgreuel +aus dem dreißigjährigen Krieg. Und wenn nun noch der nötige Pfeffer +nicht fehlt, um die Sache zu würzen, und ein Stückchen Zwiebel dabei +ist, das die Tränen lockt, dann stürzt sich die Leserschar auf den +»herrlichen historischen Roman«. Aber die Maskerade kann den ernsten +Beurteiler nicht täuschen. Wann wäre je einer dadurch ein Ritter +geworden, daß er sich eine Rüstung übergeworfen und mächtig mit dem +Harnisch geklirrt hat?</p> + +<p>Aber warum entwerfe ich hier diese Karikatur eines historischen +Romans? Lediglich, um durch den Gegensatz<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> das Bild des +kulturhistorischen Romans schärfer herauszustellen. Vom Februar 1855 +ist das Vorwort datiert, welches <em class="gesperrt">Josef Viktor von Scheffel</em> +seinem »<em class="gesperrt">Ekkehard</em>« mitgegeben hat. Dies Vorwort bestimmt +es scharf und klar als die Aufgabe des historischen Romans, im +gegebenen Raum eine Reihe Gestalten scharf gezeichnet und farbenhell +vorüberzuführen, »<em class="gesperrt">also daß im Leben und Ringen und Leiden der +Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild +zusammenfaßt</em>.«</p> + +<p>Scheffel verlangt für den Roman die Anerkennung als ebenbürtigen +Bruder der Geschichte; aber dem Roman, dem diese Anerkennung gebühren +soll, mutet er auch zu, daß er auf historischen Studien ruhen muß. +Von seinem »Ekkehard« meint er: »Daß nicht viel darin gesagt ist, was +sich nicht auf gewissenhafte kulturgeschichtliche Studien stützt, +darf wohl behauptet werden, wenn auch Personen und Jahrzahlen, +vielleicht Jahrzehnte mitunter ein weniges in einander verschoben +werden.« Und in der Tat, — indem er diese geschichtliche Sicherheit +mit nicht weniger als 285 gelehrten Anmerkungen stützt, ist er der +Geschichts<em class="gesperrt">wissenschaft</em> fast zu sehr entgegenkommen.</p> + +<p>Das Beste ist nun freilich, daß uns Scheffel nicht bloß ein Programm +gegeben, sondern daß er eben dies Programm auch trefflichst ausgeführt +hat.</p> + +<p>Wer jene Anmerkungen liest, dem kann bange werden, ob er nicht einem +pedantischen Gelehrten in die Hände gefallen sei. Aber das Bangen +ist unnütz. Im »Ekkehard« pulsiert so frisches, munteres Leben wie +in wenigen anderen Büchern. Er selber erzählt, wie ihm dies Leben +erwachsen ist. Die alten Quellen hat er studiert: da »hob und baute +es sich empor wie Turm und Mauern des alten Gotteshauses St. Gallen, +viel altersgraue ehrwürdige Häupter wandelten in den Kreuzgängen +auf und ab, hinter den alten Handschriften saßen die, die sie einst +geschrieben, die<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> Klosterschüler tummelten sich im Hofe, Horasang +ertönte aus dem Tor und des Wächters Hornruf vom Turme. Vor allen +anderen aber trat leuchtend hervor jene hohe gestrenge Frau, die +sich den jugendschönen Lehrer aus des heiligen Gallus Klosterfrieden +entführte, um auf ihrem Basaltfelsen am Bodensee klassischen Dichtern +eine Stätte sinniger Pflege zu bereiten ...«</p> + +<p>Wir wissen aber, welche Fülle anderer Gestalten den »Ekkehard« belebt: +fürstliche Burggenossen — vom Kämmerer Spazzo und der Griechin +Praxedis bis zur Gänsehirtin Hadumoth, daneben Weltpriester und +Waldfrau, und nicht zuletzt der wimmelnden Hunnen Gewühl. Wir wissen +alle, wie diese Gestalten Leben bekommen, wie die ganze Zeit des 10. +Jahrhunderts, wie die ganze Gegend dort am Bodensee in ihnen Leben +gewinnt. Und wer hätte sich nicht schon an der Form erfreut, in +welcher Scheffel jenes dunkle Jahrhundert erweckt hat?</p> + +<p>Die Schwerfälligkeit eines W. Alexis ist gründlich überwunden, die +Handlung ist kräftig zusammengefaßt und fesselnd gestaltet, Brauch +und Sitte sind selten besonders beschrieben, — die Handlung selbst +läßt sie erkennen. Das Ganze ist durchweht von goldenem Humor. Wir +danken dem Dichter, daß er ein wirkliches, echtes Kulturbild gegeben, +und verschmerzen es auch, daß er es für nötig befunden hat, diese +Echtheit ein bischen aufdringlich zu bescheinigen; wir freuen uns +über die Leichtigkeit der Behandlung, den Fluß der Darstellung, +die Anmut der Schilderung. Denn von der Vorstellung sind wir doch +hoffentlich los, als ob alles, was tüchtig ist, langweilig sein müßte! +— Der »Ekkehard« ist ein Buch des deutschen Volks geworden, mag man +sonst über Scheffels Poesie denken, wie man will. Ein Arno Holz, der +Scheffels Gedichte gar nicht leiden mag, singt an seine Adresse:</p> + + <div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»— Jahrzehnte lagen sie uns zur Last,</div> + <div class="verse indent0">Deine altdeutsch jodelnden Leute.«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p> + +<p>Aber er fährt fort:</p> + +<div class="blockquot"> +<p class="p0"><em class="gesperrt">Doch daß Du den Ekkhart geschrieben hast,<br> +Das danken wir Dir noch heute!</em>« —</p> +</div> + +<p>Nicht eben weit ab von Scheffels Programm ist dasjenige, welches +<em class="gesperrt">Wilhelm Riehl</em> 1856, ein Jahr später, bei der Herausgabe +seiner ersten »<em class="gesperrt">Kulturgeschichtlichen Novellen</em>« aufgestellt +hat. Zu diesem Programm gehört, daß die handelnden Personen +selbst nicht geschichtlicher Überlieferung entstammen, sondern +freigeformte Charaktere sind. Gerade so glaubt Riehl am besten die +Gesittungszustände, die Kultur eines bestimmten Zeitabschnitts +darstellen zu können. Aus diesen Kulturzuständen heraus müssen +die Menschen selbst mit ihrem Wesen, ihren Leidenschaften, ihren +Konflikten geschaffen sein. In Wirklichkeit ist diese Forderung +im wesentlichen schon im »Ekkehard« erfüllt, wenngleich Scheffel +überlieferte geschichtliche Namen lebendig gemacht, nicht eigens neue +Gestalten geschaffen hat. Ist das wirklich ein großer Unterschied? +Wenn man Riehls Absicht recht versteht, so ist sein Programm +doch als der schärfste Gegensatz zu jenem vorhin geschilderten +äußerlich-historischen Roman zu verstehen, der sich an große Namen +und große Zeiten anlehnt, aber damit der Geschichte genug getan +zu haben glaubt. Er überspannt den Gegensatz: gar nichts, was in +der sog. Geschichte eine Rolle spielt, sondern <em class="gesperrt">nur Kultur</em>! +Sicher ist auch sein Programm berechtigt, aber nicht als das einzig +richtige, sondern als eins, das neben sich das eng verwandte +Scheffelsche Programm sehr gut verträgt. Ja, es dürfte so stehen, +daß Riehls Programm kaum weiter reicht als für die kulturhistorische +<em class="gesperrt">Novelle</em>. Der Roman, der weiter ausholt, der nicht bloß ein +Bildchen, sondern ein großes, weites Bild geben will, kann nicht +<em class="gesperrt">bloß</em> bei jenen Gestalten stehen bleiben, welche die Phantasie +frei als Träger bestimmter Zeitkultur erfunden hat. Er muß weiter +greifen, und zwar ins geschichtlich Überlieferte hinein. Sonst<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> +würde er schließlich selber sein Programm der geschichtlichen Treue +verleugnen.</p> + +<p>Die Novellen, welche Riehl selbst in großer Zahl geschaffen hat, geben +ganz im Sinn seiner Absicht treffliche, feine, kleine Einzelbilder +aus der deutschen Vergangenheit. Sie sind nicht so graziös wie der +»Ekkehard«; man merkt etwas deutlicher den Gelehrten. Aber sie sind +überall fesselnd und graben bei aller Kleinheit überall in die Tiefe +des geschichtlichen Lebens hinein. Sie verdienten mehr Beachtung, als +ihnen gemeinhin zu teil wird.</p> + +<p>Der »Ekkehard« und Riehls Novellen, sie bedeuten ein Programm. Ohne +ein ausdrückliches Programm hat vorher schon <em class="gesperrt">Meinhold</em> in seiner +»<em class="gesperrt">Bernsteinhexe</em>« (1843) ein ähnliches Bild geschaffen. Aber +der größte Wurf geschah in der Nachfolge dieses Programms: ich meine +<em class="gesperrt">Gustav Freytags</em> großes Werk »<em class="gesperrt">Die Ahnen</em>«, das von 1872 +bis 1880 erschien. In sechs Bänden gibt der Dichter hier eine Reihe +von Bildern aus der Geschichte eines Geschlechts. Ein Zeitraum von +anderthalb Jahrtausenden soll in seinen charakteristischen Epochen dem +Leser lebendig werden. »Ingo« und »Ingraban« führen in uralte Zeiten; +die Jahreszahlen 357 und 724 stehen ihnen voran. Sitte und Brauch, Art +und Recht in den Wäldern der Thüringe kündet uns »Ingo« in kraftvoll +gezeichneten Linien, in schwungvoller Darstellung, in vollendet +fesselndem Abschluß. Ingo, der Königssohn aus Vandalenstamm, und +Irmgard, Fürst Answalds Tochter von Thüringer Blut, — sie haben der +Deutschen Herz gewonnen. Und wie hier das Tosen der römischen Waffen +von fernher hineinschallt in die Stille germanischer Waldeinsamkeit, +so erklingen in »Ingraban« die Kampfrufe aus dem Streit zwischen +Deutschen und Wenden. Aber zugleich erleben wir hier den Geisterkampf +mit: Christentum ringt mit dem Heidentum, die sieghafte Religion mit +der niedergehenden, Winfried-Bonifatius tritt neben Ingram-Ingraban. +Einen<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> starken Schritt vorwärts liegt »Das Nest der Zaunkönige«. Nicht +mehr gegen Römerübermut kämpft deutsche Kraft; auch die wendische +Gefahr ragt in dies Buch nicht mehr hinein. Unter einander streiten +des Volkes Glieder. Der Sachsenkönig Heinrich <em>II.</em>, der seit +dem Jahre 1002 das Zepter führt, muß seine Herrschaft gegen die +übelwollenden Großen des eigenen Landes schirmen. Die Schilderung +deutscher Uneinigkeit, dazu aber überragender Königskraft und endlich +mittelalterlichen Klosterlebens wird mit den persönlichen Interesse +an Immo, dem Klosterschüler und späteren Helden, und seiner geliebten +Hildegard verwoben. Das »Nest der Zaunkönige« vermag nicht ganz im +gleichen Maß für sich zu gewinnen wie die beiden ersten Stücke; mag +sein, daß der starke Gegensatz zwischen fremder und heimischer Art, +der hier fehlt, dort wesentlich die packende Kraft gehoben hat. +Vielleicht ist doch auch die Anlage dieses Buchs etwas zu breit. Auch +die »Brüder vom deutschen Hause«, welche den dritten Band bilden, +erreichen nicht die geschlossene Vollendung der ersten Bilder. Sie +erzählen eine Lebensgeschichte, aber sie berücksichtigen dabei allzu +wenig die Einheit der Entwicklung, als daß der Romancharakter gewahrt +bliebe. Herr Ivo, der Thüring, ists, der daheim in Minnedienst und +ritterlicher Art, auf dem Kreuzzug in merkwürdigen Abenteuern, dann +wieder daheim im Konflikt mit der ketzerverfolgenden Kirche, endlich +als Glied des deutschen Ordens geschildert wird. Auch hier ist durch +Ivos Verehrung der edlen Agnes von Meran, dann durch sein und der +schönen Friderun Herzensbündnis für menschliche Teilnahme gesorgt. +Die Bilder mittelalterlichen Lebens, welche dieser Band entfaltet, +sind reicher als die der früheren Bände. Kaiser Friedrich <em>II.</em>, +der Ketzerrichter Konrad von Marburg, die heilige Elisabeth, — sie +alle grüßen den Leser. Aber neben den Mängeln der äußeren Gestaltung +steht doch der andere Mangel, daß eben diese großen Gestalten nicht +recht treu und echt gezeichnet<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> sind. — Es ist sonderbar, daß Freytag +gerade da, wo er große weltgeschichtliche Gestalten in die Welt seiner +Phantasie eingreifen läßt, kein rechtes Glück hat; der Martin Luther, +der am Schlusse der nächsten Abteilung, die den Titel »Markus König« +führt, eine schwierige Frage mit spitzfindigem Scharfsinn löst, ist +auch nicht der Martin Luther der Geschichte. Sonst freilich ist +»Markus König« einheitlicher als die »Brüder vom deutschen Hause«; in +das Städteleben von Thorn, in das Ringen von Deutschtum und Polentum, +in Händel und Fehden der Zeit der Reformation führt er trefflich +ein. Nur daß man es doch als peinliche Lücke empfindet, daß das +eigentlich Bewegende dieser Epoche, daß das religiöse Moment so ganz +zurücktritt. Der Band stellt sich damit selber zur Seite; er schildert +den Zeitcharakter in Nebenerscheinungen, und er schildert ihn darum +unvollständig und ungenügend. — Der fünfte Band enthält die beiden +Skizzen, welche gemeinsam »Die Geschwister« betitelt sind. Die erste, +»Der Rittmeister von Alt-Rosen«, zeigt Kriegswesen und Aberglauben +aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, die zweite, »Der Freikorporal bei +Markgraf Albrecht«, will das Charakteristische aus der Zeit Friedrich +Wilhelms <em>I.</em> herausheben. Aber beiden Skizzen fehlt wirkliche +geschichtliche Kraft und tieferes menschliches Interesse. Auch der +letzte Band »Aus einer kleinen Stadt« vermag die Vorgänger nicht +wieder zu erreichen; dazu ist weder die erste, größere Erzählung aus +der Zeit der Freiheitskriege plastisch genug gezeichnet, noch die +zweite kleinere, welche in einem Journalisten das letzte Glied der +»Ahnen« erkennen läßt, irgend genügend vertieft.</p> + +<p>Im einzelnen sind die Bände also von sehr verschiedenem Wert. Und zwar +nicht bloß nach Seite der künstlerischen Gestaltung, sondern auch +nach der Richtung geschichtlicher Anschaulichkeit. Man darf getrost +sagen: selbst für Gustav Freytag war der Wurf <em class="gesperrt">zu</em> groß. Wenn<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> +jenes Programm Riehls wirklich ausgeführt werden soll, so bedarf es +dazu nicht bloß einer reichen Gestaltungskraft, sondern auch einer +Vertiefung in das Innerste der zu schildernden Zeit, wie sie nur +mit schweren Mühen zu gewinnen ist. Aber wer kann in dieser Weise +sämtliche Hauptepochen der vaterländischen Geschichte beherrschen? Wer +kann leben, ja wirklich <em class="gesperrt">leben</em> in den Zeiten der Sachsenkaiser, +der Reformation und der Befreiungskriege? Auch Freytag hat das nicht +völlig vermocht. Und vielleicht hat doch auch für ihn das Riehlsche +Programm eine Gefahr eingeschlossen. Es geht allzusehr ins Kleine, +ins Alltägliche, ins Gewöhnliche. Eine Zahl von losen Einzelskizzen +kann es geben, und sie alle mögen sich gut und gern zum Gesamtbild +der Gesittungszustände eines Volks zusammenschließen. Aber wenn eine +fortlaufende, zusammenhängende Reihe die wichtigsten Epochen der +ganzen Volksgeschichte umfaßt, dann ist das Prinzip des Kleinlebens, +des »Abseits vom Wege« nicht mehr für sich allein brauchbar. Dann +müssen die großen Bewegungen der Geister mit ganz anderer Wucht ins +Leben des Romans eingreifen.</p> + +<p>Aber wozu im einzelnen mit Freytag rechten? Seine »Ahnen« haben ja +trotz mancher Schwächen längst einen Ehrenplatz unter den deutschen +Dichtungen gewonnen. Gewiß, sie verdienen ihn auch. Nicht bloß durch +ihre gelungensten Teile, sondern vor allem durch die wirklich geniale +Größe des ihnen zugrunde liegenden Gedankens. Und endlich: wie schon +der »Ekkehard«, wie Riehls Novellen, wie vordem schon die Werke von W. +Alexis, so sollen auch Freytags »Ahnen« der Liebe eben des deutschen +Volkes gewiß sein, denn sie haben uns <em class="gesperrt">die eigene Vergangenheit</em> +erschlossen. Es wird für alle Zeiten ein Ruhm des historischen Romans +im 19. Jahrhundert bleiben, daß er zum <em class="gesperrt">nationalen</em> Roman +geworden ist. —</p> + +<p>Vollständigkeit in der Aufzählung der literarischen Erscheinungen +kann auch dies Bild des historischen Romans<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> nicht anstreben. Aber +ich möchte doch die Entwicklungslinie des kulturhistorischen Romans +nicht abschließen, ohne ein Werk zu erwähnen, das in seiner Eigenart +besondere Beachtung verdient: ich meine <em class="gesperrt">Theodor Fontanes</em> +Zeitgemälde »<em class="gesperrt">Vor dem Sturm</em>.« Es ist nicht Fontanes Art, seinen +Romanen einen »großen Zug« zu geben; auch dies Gemälde aus dem +Winter 1812 zu 1813 gibt Kleinleben, ganz und gar Kleinleben. Aber +das eben ist Fontanes Stärke, <em class="gesperrt">wie</em> er dies Kleinleben zu malen +weiß. Diese Kunst der Anschaulichkeit, diese Sorgfalt des Details, +diese Peinlichkeit in der geschichtlichen Treue, diese Feinheit in +der Erfassung aller wesentlichen Strömungen, und zu dem allen diese +feste Fundamentierung der Erzählung auf märkischem Boden! Ich gönne +jedem die Freude an tatenreichen, geschickt gruppierten Handlungen, +aber ich gestehe, meine Freude an dieser Fontaneschen Art gebe ich +dafür nicht hin. Schließlich treibt er doch auch wahrlich nicht bloß +Kleinigkeitskrämerei; das Kleinste — und wenn es die Tischordnungen +sind, welche er für sämtliche vorkommenden Mahlzeiten mitteilt — ist +ein notwendiges Glied des Ganzen, ein unentbehrlicher Pinselstrich auf +dem Bilde der beschriebenen Zeit.</p> + +<p>Ich habe etwas lange bei dem kulturhistorischen Roman verweilt. Aber +wenn auch anderes darüber knapper behandelt werden muß, ich bereue es +nicht. Hier liegt der größte Erfolg des historischen Romans im 19. +Jahrhundert. Man kann alle die anderen Erscheinungen auf diesem Gebiet +danach beurteilen, wie nahe oder wie weit sie von dieser Linie sich +entfernen.</p> + +<p>Neben die rein oder vorwiegend kulturgeschichtliche Richtung +stelle ich zunächst eine ihr nahestehende, der ich den Namen der +<em class="gesperrt">allgemeingeschichtlichen</em> geben möchte. Auch für diese +Richtung ist die Absicht maßgebend, ein bestimmtes treues Bild +aus der Geschichte zu zeichnen. Nur daß dieses Bild nicht gerade +die Gesittungszustände,<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> das kulturelle Kleinleben umfassen soll, +sondern sich mehr an die großen Strömungen und Stimmungen, an feste +historische Ereignisse der Entwicklungsgänge anlehnt. Auch die Romane +dieser Art müssen einen kulturhistorischen Einschlag haben; sonst +würden sie schemenhaft werden. Die Kunst muß hier für den Dichter +darin bestehen, ohne allzuviel Detail doch die Gestalten der Dichtung +in engste Verbindung mit dem geschichtlichen Leben der gewählten Zeit +zu setzen. Zahllose Romanschreiber sind an dieser Aufgabe gescheitert; +sie gaben modernes Leben in geschichtlichem Gewand. Aber zwei Meister +möchte ich nennen, deren Werke mir in diese Kategorie zu gehören +scheinen. Der eine ist <em class="gesperrt">Wilhelm Raabe</em>, der Stimmungsdichter, der +doch auch die Geschichte sich dienstbar gemacht hat. Sein »<em class="gesperrt">Unseres +Herrgotts Kanzlei</em>« (1862) zeichnet mit kräftigen Strichen die +Kriegsnöte des belagerten Magdeburg und zugleich etliches von den +Stimmungen und Strömungen des Reformationsjahrhunderts. Nur fehlt +eben die intime Einzelschilderung und die feinere psychologische +Differenzierung. Und Raabes Hauptstärke, die Stimmung, kann hier nicht +in gleicher Weise zur Geltung kommen wie bei seinen nicht-historischen +Werken. Auch seine Erzählung aus dem 18. Jahrhundert, »Das Odfeld« sei +hier genannt. — Der andere Meister dieser allgemeingeschichtlichen +Richtung ist der Schweizer <em class="gesperrt">Conrad Ferdinand Meyer</em>. Sein großer +Roman »<em class="gesperrt">Georg Jenatsch</em>« beschreibt die langen und verworrenen +Parteikämpfe, welche auf dem Gegensatz der Konfessionen beruhten. Die +Absicht ist unfraglich die, eben diese Zeit der Wirren und Kämpfe +dem Leser lebendig zu machen. Allerdings hat das Buch bei großen +Vorzügen auch erhebliche Mängel. Es führt nicht in konzentrierter +Entschlossenheit vorwärts; es gibt Bilder, aber kein einheitlich +wirkendes Bild. Es hält den Leser durch Zersplitterung des Interesses +nicht bei dem befriedigenden Bewußtsein stets vorhandener<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> Klarheit. +Jürg Jenatsch selbst, der Parteiführer, hat eine nur mäßige +Qualifikation zum Romanhelden. Sein Charakter packt, aber er verstimmt +zugleich. Er begeistert, aber er kühlt bald wieder ab. Alles in allem, +er hält die Sympathien der Leser nicht fest. Auch gelingt es ihm mit +seiner objektiven, etwas schwerwuchtigen Art minder gut als leichteren +Werken, die doch notwendige Spannung zu erzeugen.</p> + +<p>Bedeutender noch als dieser große Roman sind Conrad Ferdinand +Meyers historische Novellen. Freilich, man kann versucht sein, sie +nicht mehr zu der eben besprochenen Richtung zu zählen, sondern +zu einer <em class="gesperrt">dritten</em>, der <em class="gesperrt">an die Geschichte angelehnten +individuellen Erzählung</em>. Diese Bezeichnung bedarf einer +Erklärung. Ich denke dabei an Dichtungen, welchen nicht die Erweckung +eines bestimmten geschichtlichen Kulturlebens, auch nicht die +bestimmter geschichtlicher Vorgänge das Ziel ist, sondern welche +ein mehr individuell interessantes Erzählungsbild, das nicht gerade +geschichtlichen Gründen, sondern allgemein menschlichen Motiven +entstammt, an die Geschichte anlehnen. Auch das ist eine berechtigte +Form des Romans, nur daß freilich das Wort »historisch« nicht im +gleichen Sinn ihr zukommen kann, wie den eben genannten Richtungen. +Selbstverständlich muß auch hier der Gesamteindruck echt sein. Die +Grenzen zwischen dieser Art und der vorher skizzierten sind leicht +verrückbar; auch bei Conrad Ferdinand Meyers Erzählungen ist es +manchmal schwer zu sagen, ob sie mehr das Allgemein-Geschichtliche +oder das Individuelle betonen. Jedenfalls aber verdienen sie zum +großen Teil als Meisterstücke der Erzählerkunst genannt zu werden. +»<em class="gesperrt">Der Heilige</em>« greift in das Leben des englischen Kanzlers +Thomas Becket, also ins 12. Jahrhundert hinein, — mit welch +wunderbarer, abgerundeter Darstellungskunst! Andere haben ihren +Schauplatz zu anderen Zeiten und in anderen Ländern; »<em class="gesperrt">Die Hochzeit +des Mönchs</em>« z. B.<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> führt nach Padua, »<em class="gesperrt">Das Amulett</em>« in die +Tage der Pariser Bluthochzeit. Wer aber geneigt ist, diese Erzählungen +noch zu der gleichen allgemeingeschichtlichen Richtung zu zählen +wie den »Georg Jenatsch«, der mag als Muster der dritten Gattung +eine Erzählung nehmen wie »<em class="gesperrt">Grete Minde</em>« von <em class="gesperrt">Fontane</em>. +Hier steht nicht die Kultur im Vordergrund und ganz sicher nicht die +Geschichte; Lieb und Leid, wie es die Herzen bewegt, bewegt auch die +Erzählung, — nur daß ihr ein geschichtlicher Hintergrund gesichert +ist. Übrigens aber ist Fontane gerade in der »Grete Minde« ein +anmutiges und feines Werk gelungen, eine wohlgebaute, nirgends zu +stark auftragende, aber überall tiefgefaßte und pointierte Erzählung.</p> + +<p>Endlich nenne ich kurz eine <em class="gesperrt">vierte</em> Gattung des historischen +Romans, nämlich diejenige, welche nicht Kulturleben, auch nicht +geschichtliche Vorgänge, und wiederum nicht individuelles +Menschengeschick zum Ausdruck bringen will, sondern den +<em class="gesperrt">Gedankengehalt der Geschichte</em>, die Ideen, die Tendenzen, +die geistigen Strömungen. Eine gewaltige Aufgabe — dankenswert +und schwer zugleich. Schwer vor allem deshalb, weil es viel eher +gelingt, gegenüber den Kulturzuständen vergangener Epochen objektiv zu +bleiben als gegenüber den Gedanken, welche in jenen Zeiten lebendig +gewesen sind. Schon das ist schwer, diese Gedanken klar und ruhig +zu <em class="gesperrt">erfassen</em>, geschweige denn, sie objektiv wiederzugeben. So +haben wir denn von dieser Gattung auch keine erstklassigen Romane zu +verzeichnen. Aber genannt seien als ihre Vertreter <em class="gesperrt">Karl Frenzel</em> +(z. B. »Freier Boden«), <em class="gesperrt">Heinrich Laube</em> (»Der deutsche Krieg«) +und <em class="gesperrt">Karl Gutzkow</em> (»Hohenschwangau.«)</p> + +<p>Eine große Reihe historischer Romane habe ich Ihnen skizziert oder +nur genannt. Die Fülle der Erscheinungen zwang dazu, auf gründlichere +Behandlung einzelner Werke zu verzichten. Aber ich bin gewiß, daß Sie +unter den vielen Namen, die genannt wurden, etliche — vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> mit +Befremden — vermißt haben. Nun — sie sind bisher nicht ohne Absicht +übergangen worden. Es war ja die Absicht, nur das wirklich Bedeutende +anzuführen, um so die Entwicklung des historischen Romans in raschen +Zügen zu skizzieren. Zu den Größten zählen eben die Übergangenen +nicht. Trotzdem muß auch etlichen von ihnen noch ein Wort gewidmet +werden, — schon deshalb, weil sich die Gunst des Lesepublikums so +warm für sie ins Zeug legt. Das gilt vor allem von <em class="gesperrt">Felix Dahn</em> +und <em class="gesperrt">Georg Ebers</em>. Namentlich eine Anzahl von Dahns »<em class="gesperrt">Kleinen +Romanen aus der Völkerwanderung</em>« sind ohne geschichtliche und ohne +höhere künstlerische Kraft. Manche haben durch kunstvolle Ordnung des +Stoffs eine gewisse Spannkraft, manchen liegt ein für eine Novelle +ganz brauchbarer Gedanke zu grunde, alle haben die Entschuldigung für +sich, daß es zum Allerschwersten gehört, kulturlose Zeiten lebendig +zu machen, — aber eben Natur und Leben sucht man in ihnen vergebens. +Ganz moderne Gedanken, wie sie der Weltanschauung Dahns entsprechen, +hat er hier längst Vergangenen in den Mund gelegt. Zudem ermüdet +an ihnen die schablonisierte Manier. Stärker ragt die Geschichte +hinein in Dahns großes Werk, den »<em class="gesperrt">Kampf um Rom</em>.« Es ist ja +leichter, große Heldengestalten und mächtige Weltereignisse dem Leser +nahezubringen als untergeordnete Wesen aus kleineren Umgebungen. So +weckt der »Kampf um Rom« unfraglich erheblich größeres Interesse als +jene eben besprochenen Romane. Es bleibt auch richtig, daß der »Kampf +um Rom« dramatische Kraft, begeisterte Wärme und mächtigen Schwung +besitzt. Leicht entzündbare, namentlich jugendliche Herzen vermag er +mit dieser seiner Art geradezu in Flammen zu setzen. Sollen wir alles +dies gering einschätzen? Gewiß nicht! Aber anderseits dürfen wir +uns durch diese fortreißende Wucht auch nicht die ruhige Besinnung +rauben lassen. Was für »Geschichte«<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> liegt dem Roman zu grunde? Jene +Geschichte, die nicht viel anderes kennt, als Helden und Bösewichte, +Schlachten und Kämpfe, Ruhm, Leidenschaften, Intrigen! Es ist die +Geschichtsmethode der Volksbücher, diejenige der mittleren Klassen des +Gymnasiums (auch hier ist sie jetzt schon großenteils überwunden), +aber nicht diejenige, welche dem tiefer Schauenden das wirkliche +Leben der Vergangenheit erweckt! Welche Psychologie führt das Zepter? +Eine Psychologie der großen Linien und der großen Mittel, aber keine +Seelenforschung, die Menschen und Zeiten in feiner Erfassung auch +scheinbar minder wichtiger Züge in Übereinstimmung zu bringen weiß! +Folglich bleibt vieles im »Kampf um Rom« geradezu talmihistorisch. Und +selbst die äußere Echtheit verdirbt sich Dahn, indem er alle Fäden in +den Händen des Cethegus zusammenlaufen läßt, einer Figur, die wie dazu +geschaffen ist, zum Ideal träumender Jünglinge zu werden. Die gesamte +Entwicklung hängt an Cethegus; und Cethegus ist ein dichterisches +Phantasiegebilde! Aber selbst wenn man diese Entgleisung in den Kauf +nimmt, zu reiner Freude an dem Buch kann man nicht kommen, weil das +Pathos, in dem Dahn seine Menschen reden läßt, gar zu ungeheuerlich +ist.</p> + +<p>Nur eine einzige Stilprobe! Furius Ahalla, der Korse, spricht:</p> + +<p>»Staune nicht — frage nicht!</p> + +<p>Ja: ich liebe Valeria mit aller Glut: fast haß' ich sie — so lieb ich +sie.</p> + +<p>Ich warb um sie vor Jahren.</p> + +<p>Ich erfuhr, sie sei dein — vor dir trat ich zurück: — erwürgt hätt' +ich jeden Andern mit diesen Händen.</p> + +<p>Ich eilte fort: ich stürzte mich in Indien, in Ägypten in neue +Gefahren, Abenteuer, Schrecknisse, Genüsse.</p> + +<p>Umsonst.</p> + +<p>Ihr Bild blieb unverwischt in meiner Seele.</p> + +<p>Höllenqualen der Entbehrung erlitt ich um sie.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p> + +<p>Ich durstete nach ihr, wie der Panther nach Blut.</p> + +<p>Und ich verfluchte sie, dich und mich ...«</p> + +<p>Wer spricht so im gewöhnlichen Leben? Furius Ahalla, der Korse? +Nimmermehr!</p> + +<p>Ähnlich ist über die Schöpfungen eines anderen Lieblings der Mode zu +urteilen, über die von <em class="gesperrt">Georg Ebers</em>. Der kulturhistorische Roman +verläßt das nationale Gebiet; das ist sein gutes Recht. Er verläßt +nicht das Prinzip der Kulturschilderung; hierin hat der Professor der +Ägyptologie sehr Hübsches geboten. Aber es ist leichter, altägyptische +Kultur zu schildern als altägyptische Menschen zu zeichnen. Die +Fabel und die Charaktere, das sind bei Ebers die wunden Punkte. Man +muß schon sehr gutgläubig sein, um in diesem Punkt das als echt +hinzunehmen, was er gibt. Nur im »<em>Homo sum</em>« hat Ebers einmal +tiefer zu motivieren gesucht; das Buch steht über dem Durchschnitt. +Dafür hat er aber auch manches geschrieben, was unter dem Durchschnitt +bleibt. Seine »Gred« ist eigentlich das Muster eines historischen +Romans, wie er nicht sein soll. Mielke hat Recht: »glanzloser Firnis +deutschen Mittelalters« liegt darüber. Die Sprache gekünstelt, das +Empfinden modern, alles, was über das Individuelle hinausgeht, +verschwommen, dies Individuelle aber ungefähr auf den Backfischton +gestimmt, die Gedanken ohne Entschuldigung fehlend — wahrlich, was +dabei herausgekommen ist, ist ein kraft- und saftloses Ding, das +absolut nichts durch die Verlegung ins Mittelalter gewonnen hat. Die +Geschichte könnte beinah ebenso gut in jedem bürgerlichen Hause des +19. Jahrhunderts spielen. Man möchte darüber weinen, daß das Gros des +die Leihbibliotheken benützenden Publikums auch die »<em class="gesperrt">Gred</em>« +kritiklos genossen hat, weil Ebers nun einmal in der Mode war.</p> + +<p>Von anderen will ich schweigen. Nicht als ob nicht noch manches Werk +auch neben den großen und hervorragenden Schöpfungen stünde, das +der Liebe des deutschen<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> Lesers sicher sein darf. Und ebensowenig +soll geleugnet werden, daß außer Georg Ebers mit seiner Archäologie +in Romanform auch andere Schriftsteller noch den historischen Roman +gemißbraucht haben. Aber was hat es für Zweck, das Gedächtnis an +<em class="gesperrt">Ecksteins</em> »Sensationsromane im historischen Gewande« — wie +Adolf Bartels sie nennt — aufzufrischen? Robert <em class="gesperrt">Hamerlings</em> +»Aspasia« verdiente wegen ihrer ernsthaften Gelehrsamkeit Erwähnung, +wenn wir nicht den historischen <em class="gesperrt">Roman</em> behandelten. Ein solcher +ist das schwerfällige Buch mit seiner steifleinenen Umständlichkeit +nicht geworden.</p> + +<p>Es sei genug. Über Höhen und durch Tiefen sind wir gewandelt; +Prunkstücke der deutschen Erzählerkunst haben wir geschaut. Laßt +uns begraben unter Schutt und Asche, was auf diesem weiten Gebiet +Minderwertiges erstand. Aber laßt uns jubeln, daß wir auch Männer +hatten, die die größte Kunst verstanden: Geschichte und Dichtung zu +vermählen!</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_13"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Stimmungsdichtung">Die Stimmungsdichtung.</h2> +</div> + + +<p>So war der Kampf gekämpft, der Kampf zwischen Träumen und Wachen. +Das Tageslicht der hellen Wirklichkeit hatte die Träume verscheucht. +Die lieblichen Traumbilder Eichendorffs so gut wie die dem Alpdruck +ähnlichen des Teufels-Hoffmann. Man hatte ins ländlich-dörfliche +Stillleben hinein gegriffen so gut wie in das wechselvoll bewegte +Leben der politischen Kreise; man kritisierte, was nur immer der +Kritik Angriffsflächen bot: die Vornehmen des ostelbischen Adels, die +Wucherkünste unredlicher Geschäftsleute, den Taumel, in welchen das +rote Gold weite Schichten des deutschen Volkes versetzt hatte, aber +man griff auch hinein in die streitenden Gedankenwelten, in denen alte +und neue Zeit einander gegenüberzustehen schienen, und kritisierte +Gedanken, die man nicht für richtig hielt, samt ihren Vertretern. +Man ließ die Vergangenheit aufs neue erstehen und mühte sich, mit +größerem oder geringerem Glück, mit gröberem oder feinerem Stift, die +alten Zeiten des brandenburgischen Ländchens, der Stadt Berlin, des +preußischen Volks, — aber auch die uralten Zeiten ägyptischer Kultur, +griechischer Kunst und römischer Machtherrlichkeit so naturgetreu +nachzubilden, als man es vermochte. Goethes Geist war in diesen +Dichtern allen lebendig geworden.</p> + +<p>Aber nicht bloß <em class="gesperrt">Goethes</em> Geist bewies die Kraft, Spätere in +seinen Bann zu zwingen. Auch jener andere Geist war nicht erstorben, +der einst <em class="gesperrt">Jean Paul</em> die fleißige Feder geführt hatte. Goethes +Geist — so sahen wir — ist der Geist der dichterisch begriffenen und +kunstvoll<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> gezeichneten Wirklichkeit. Der Geist Jean Pauls aber läßt +sich kurz als der Geist der poetischen <em class="gesperrt">Stimmung</em> bezeichnen. Es +fehlt nicht der Gedanke, es fehlt nicht die Wirklichkeit, es fehlt +nicht die Kritik. Aber das sind alles keine regierenden Mächte. Das +Regiment liegt in der Hand jenes wunderbaren Etwas, das sich jeder +Definition entzieht, jenes verklärenden Hauchs, der über den Dingen +liegt, manchmal sie leise verschleiernd, immer allzu harte Kanten, +allzu scharfe Konturen abmildernd, — der Stimmung.</p> + +<p>Selbstverständlich denke ich nicht daran, den Romanen, welche in der +nachromantischen Zeit bisher uns beschäftigt haben, die Stimmung +abzusprechen. Das sei ferne! Nur für manche derselben würde dies +Urteil allenfalls zutreffen, so etwa für Gutzkow, vielleicht auch +ein wenig für Freytag. Aber Immermanns Oberhof hat unfraglich seine +ganz besondere Stimmung, die patriarchalisch-würdige und doch +naturwüchsige Stimmung des alten Bauernhofs. Und wieviel Stimmung +liegt in Spielhagens Landschaftsschilderungen, in seiner Erzählung von +der hereinbrechenden Sturmflut! Nur eben — bei ihnen allen ist nicht +die Stimmung das Ausschlaggebende, das Hauptsächliche, sondern das +nüchterne wirkliche Leben.</p> + +<p>Nun aber hat auch dieser Geist Jean Pauls, der Geist der herrschenden +Stimmung, nicht lange schlafen können. Er hat eine fröhliche +Auferstehung gefeiert. Ein Roman, eine Novelle ward dem deutschen +Volke geschenkt, die man getrost als <em class="gesperrt">Stimmungsroman und +-Novelle</em> bezeichnen darf. Wir danken die Werke dieser Art nicht +<em class="gesperrt">einem</em> Meister allein; und, wie nur natürlich, die Novelle zeigt +sich hier zahlreicher auf dem Plan als der Roman selbst. Aber auch er +fehlt nicht; <em class="gesperrt">Wilhelm Raabe</em> schuf ihn, und ihm stehen zur Seite +der Novellist <em class="gesperrt">Theodor Storm</em> und <em class="gesperrt">Peter Rosegger</em>.</p> + +<p>Ein merkwürdiges Buch, diese »<em class="gesperrt">Chronik der Sperlingsgasse</em>«,<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> +die <em class="gesperrt">Raabe</em> als erstes Werk seiner Muse 1857 in die Welt +hinaussendete. Merkwürdig aber nicht wegen absonderlicher +Ereignisse, die darin eine Rolle spielten. Von nervenaufregenden +Schauergeschichten ist Raabe kein Freund. Auch was der Chronist der +Sperlingsgasse erzählt, ist darum einfach und schlicht, beinahe +alltäglich. Zwei Freunde, ein Student der Philosophie und ein Maler, +und ein Kind, ein Mädchen ...... Der Student berichtet ganz knapp, was +geschehen, wie er als Greis auf das Vergangene niederblickt:</p> + +<p>»Ich sehe zwei Männer im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von +ihr zu gewinnen; und ich sehe endlich den Einen mit keuchender Brust +sich ans Ufer ringen und den schönen Preis erfassen, während der +Andere weiter getrieben, willenlos und wissenlos auf einer kahlen, +skeptischen Sandbank sich wiederfindet. — Ich sehe mich, einen +blöden Grübler, der sich nur durch erborgte und erheuchelte Stacheln +zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem Umherschweifen in der +Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster, sehender Mann, der Freund +seines Freundes und dessen jungen Weibes.«</p> + +<p>Der glückliche Freund und sein junges Weib — sie beide rafft der +Tod dahin. Dem einsamen Philosophen bleibt beider Kind, ein Mädchen; +dessen Kindheit und erste Jugend, dessen Heranblühen und Heranreifen +bis hin zur glücklichen Ehe bildet den weiteren Inhalt. Und jene +ersten, ernst-bitteren Erfahrungen, jenes Ringen und Kämpfen in der +Seele des Freundes, der die Heißgeliebte dem Freunde lassen muß, +— das alles ist nicht beschrieben mit den glühenden Farben, die +andere Dichter in Sturm und Drang, in psychologischer Analyse oder +dramatischem Effekt dem gleichen Bild zu geben wissen würden und +ähnlich hundertmal gegeben haben. Es ist ja alles, alles längst +vorüber, als Hans Wachholder, alt und grau geworden, alle diese +Erinnerungen auf die Blätter der<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> Chronik niederschreibt. Er hat +es alles verwunden; und wenngleich das, was er erlebt hat, ihm für +Lebenszeit die Art seines Wesens mitbestimmt hat, in ihm wogt doch +nichts mehr vom Sturm der Leidenschaft und vom Drang des Leids. Er +fühlt es noch, aber er fühlt auch die Freude an dem frischen, jungen +Leben, das unter seiner Hut aufgewachsen ist. Und selbst am Jahrestag +des großen Schmerzes, da dem Freund die geliebte Gattin gestorben, +kann nun zu dem Greis der Humor auf die Schwelle treten, seine +Schellen schütteln, seine Pritsche schwingen und sagen:</p> + +<p>»Lache, lache, Johannes, du bist alt und hast keine Zeit mehr zu +verlieren.«</p> + +<p>Was ist es also, was den Reiz der »Chronik« ausmacht, wenn es nicht +die bewegende Schilderung einer bewegten Handlung ist? Ists doch +ebensowenig die Weite des Gesichtskreises, der Zeiten und Welten, +Völker und Länder umspannte! Nein, nicht in die Breite und Weite geht +Raabes Dichten in diesem Buch; Zeitschilderungen sind hier nicht zu +finden. Ebensowenig ist er irgendwie der Mann des historisch-getreuen +Milieus. Kaum daß die Sperlingsgasse selber zu ihrem Recht kommt. Wenn +er uns von ihr doch ein Bild gibt, so geschiehts nicht, um uns auf +festen Boden zu stellen, sondern weil sie ihm lieb ist und weil sie +seinem Schaffen von Wert ist. Sie liegt in einem älteren Stadtteil +mit engen, krummen Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen +hineinzublicken wagt. »Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit +nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause +enden zu lassen; nun aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare +Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und +Überfluß, alle Antinomieen des Daseins sich widerspiegeln.«</p> + +<p>Zu diesem Satz nur noch ein paar andere, gleichfalls aus den der +Sperlingsgasse gewidmeten wenigen Seiten! Sie zeigen den ganzen Raabe:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p> + +<p>»Die Dämmerung, die Nacht produzieren hier wundersamere Beleuchtungen +durch Lampenlicht und Mondschein, seltsamere Töne als anderswo. Das +Klirren und Ächzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des +Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der +Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender, man möchte +sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen +diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den +Ton auffängt, bricht und verändert znrückwirft! — Horch, wie in dem +Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, drunten in jenem gewölbten +Torwege die Drehorgel beginnt; wie sie ihre klagenden, an diesem Ort +wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen +der Arbeit hinwälzt! — Die Stimme Gottes spricht zwar vernehmlich +genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im Donner; +aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen, welche das +Getriebe der Menschenwelt hervorbringt!«</p> + +<p><em class="gesperrt">Das</em> ist Raabes Art! Die Stimme Gottes im Getriebe der +Menschenwelt! Er schreibt in bewegter Zeit. Kein Glück steht so +fest, daß es nicht von einem Windhauch oder dem Hauch eines Kindes +umgestürzt werden könnte. »In solcher Zeit ständen die Menschen am +liebsten mit leeren, müßigen Händen, horchend und wartend; aber das +ist nicht das Rechte. Es soll niemand sein Handwerksgerät, die Waffen, +mit denen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen.« +Die Waffen, mit denen man das Leben bezwingt, — von ihnen reden +die Blätter der Chronik. Welche sind's? Die Stimme Gottes hören im +Getriebe der Menschenwelt! Das Haupt senken vor der geheimnisvollen +Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der +Wiege und die Nation im Todeskampf ..... »Wie so viele Herzen fast +brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> lassen! Das ist +die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift auf der Harfe +des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der Denker +in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt.«</p> + +<p><em class="gesperrt">Nicht</em> in die Breite und Weite geht Raabes Art. Aber in die +<em class="gesperrt">Tiefe</em>. Allerdings auch nicht in die Tiefe psychologischer +Feinarbeit und nicht in die Tiefe besonders interessanter Probleme. +Aber in die Tiefe des Menschenherzens, des einfachen, schlichten +Gemüts. Und in jene Tiefen, in denen man lernt, das Höchste zu +verstehen: Menschenschicksal, Menschenleid, Menschenliebe. Zu +<em class="gesperrt">verstehen</em> — sage ich. Das Wort ist für Raabe zu kalt. +Zu <em class="gesperrt">fühlen</em>, zu <em class="gesperrt">erfassen</em>, staunend und andächtig zu +durchmessen, — das trifft besser das, was er will. Eben diese Kunst, +Menschenleben aus der Höhe in die Tiefe und aus der Tiefe in die Höhe +zu schauen, gibt Raabes »Chronik« ihre eigenartige Stimmung. Weisheit +und Gemüt, Reflexion und Gefühl, Ernst und doch auch sprudelnder Humor +bilden die Bestandteile dieses wunderbaren Etwas, das über dem Ganzen +liegt.</p> + +<p>Es gibt Menschen, welche für solche Stimmung gar keine Sympathie +haben. Vielleicht sind sie in der Mehrzahl. Das 19. Jahrhundert +war dieser Spezies nicht günstig. Sie werden an Raabe keine Freude +haben. Und sie werden die Fehler auch seiner »Chronik« ihm deutlich +vorhalten. Hat Raabe nicht selbst sich später kritisiert: er habe +in der Chronik einen Greis Bilder und Gestalten in wallendes Gewölk +zeichnen lassen? Ist nicht zu viel Traum in dem Buch? Geht nicht +Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit oft so wirr +durcheinander, daß die schlichtende Klarheit verloren geht? Ist +nicht so viel Reflexion, so viel an Einzelgedanken eingeschoben, +daß es manchmal schwer wird, den Faden festzuhalten, der das Alles +verbindet? Ist nicht mancher Ausdruck manieriert, mancher Gedanke +allzu pointiert? Fehlt<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> nicht die Realistik oft mehr, als selbst dem +Idealisten erlaubt ist? Sind die Wege, welche er seine Freunde gehen +läßt, bis in der Sperlingsgasse ein neuer Bund geschürzt wird, nicht +reichlich absonderlich? So fragen sie, die nach Wirklichkeit hungern. +Und — sie haben nicht Unrecht. Was sie sagen, empfinde auch ich als +richtig. Nur eben — man kann das zugeben und doch nicht unempfänglich +sein für jene Höhe und Tiefe der Stimmung und Betrachtung, für jene +feinen und zarten Gedankengewebe, die uns in alldem den Dichter +weisen, den Dichter der Weisheit und des Gemüts, den Dichter der +Stimmung.</p> + +<p>Habe ich zu lange bei der »Chronik der Sperlingsgasse« verweilt? +Vielleicht. Aber ich will auch Raabes andere Romane alle, die +großenteils noch den Jahren bis 1870 ihr Dasein danken, hier nicht +besprechen. »<em class="gesperrt">Unseres Herrgotts Kanzlei</em>« (1862) hat schon +seine Erwähnung gefunden. Von den übrigen nenne ich nur: »<em class="gesperrt">Die +Kinder von Finkenrode</em>«, »<em class="gesperrt">Die Leute aus dem Walde</em>«, +»<em class="gesperrt">Der Schüdderump</em>.« Aber eins muß doch noch neben die Chronik +gestellt werden, nicht bloß, weil es berühmt geworden ist, sondern +weil es Raabes Eigenart noch genauer erkennen läßt. Das ist »<em class="gesperrt">Der +Hungerpastor</em>«, erschienen 1864. Auch hier brauche ich den Gang +der Handlung nicht im einzelnen zu entwickeln. Sie kennen ihn alle +und haben ihn in frischer Erinnerung. Nur beleuchten möchte ich Ihnen +ein wenig diese schöne und gute Gabe des Dichters. Und zwar nach drei +Seiten hin.</p> + +<p>Zuerst hinsichtlich der <em class="gesperrt">äußeren Handlung</em>. Sie ist reicher als +in der »Chronik«. Und nicht bloß reicher, auch mit vollendeterer Kunst +gestaltet. Zwei Lebensschicksale sind neben einander gestellt. Da +ist Moses Freudenstein, dessen Vater das Geld hat und der selber den +Trieb hat, in der Welt vorwärts zu kommen, Moses Freudenstein, der +zu eben diesem Zweck den Namen seiner<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> Geburt in den des Theophile +Stein umwandelt und die Religion seiner Väter mit der katholischen +Konfession vertauscht. Moses Freudenstein steigt, steigt bis zum +Geheimen Hofrat hinauf. Neben ihm aber steht Hans Unwirrsch, der +Schuhmacherssohn, dessen Vater kein Geld hat und dessen Sohn eine +ganz andere Sehnsucht im Herzen trägt, der es aber dafür auch längst +nicht so weit bringt wie der Jugendgenoß, der doch aus derselben +Kröppelstraße stammt. Lange geht er seines Weges als armer Kandidat +und geplagter Hauslehrer, und zum Ende wird er ein armer Pfarrer +in einsamem Dorf. Dieser zweite, Hans Unwirrsch, der Hungerpastor, +beherrscht mit seinen Erlebnissen durchaus den Gang des Ganzen; im +Grunde genommen ist dies Ganze nicht viel anderes als die Geschichte +seiner Erfahrungen bis hin zur Zeit der Reife. Aber die Art, wie +in dies Schicksal hinein das des Moses Freudenstein verwebt wird, +wie beide einander gegenüberstehen von der Kindheit an bis ins +Mannesalter, und zugleich die Kunst der Erzählung dessen, was Hans +Unwirrsch erlebt, sie heben den »Hungerpastor« nach Seiten der +Handlung hoch über die »Chronik der Sperlingsgasse.«</p> + +<p>Zum Zweiten. Im Hungerpastor hat Raabe <em class="gesperrt">Charaktere</em> geschaffen. +Allerdings Charaktere, welche bestimmte Gesamtanschauungen vertreten. +Weltanschauung steht gegen Weltanschauung, ähnlich wie in Heyses +»Kinder der Welt.« Aber die Menschen, welche diese Anschauungen +tragen, sind nicht auf Draht gezogen wie bei Heyse. Weder Moses +Freudenstein noch Hans Unwirrsch. Vor allem der letztere nicht; das +ist kein Gestell, an welches die Ansichten, sorglich abgestuft, +angehängt werden. Hier ist Entwicklung aus Kindheit und Jugend, ja aus +Heimathaus und Elternart heraus, aus dem Haus heraus, in welchem der +Vater Schuhmachermeister bei der wassergefüllten Glaskugel, die das +Licht der kleinen Öllampe auffängt und glänzender wieder zurückwirft, +seinem Handwerk<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> obgelegen hat. Zwei besondere Paten hat ihm der Vater +mitgegeben: »Johannes soll er heißen wie der Poet von Nürnberg und +Jakob wie der hochgelobte Philosophus von Görlitz, und wie zwei Flügel +sollen ihm die beiden Namen sein, daß er damit aufsteige von der Erde +zum blauen Himmel und sein Teil Licht nehme.« Der Junge zeigt sich +in der Schule nicht besser als jeder andere Schlingel. Auch für ihn +kommt die schöne Zeit der schmutzigen Hände, der blutenden Nasen, der +zerrissenen Jacken, der zerzausten Haare. Aber es kommt auch die Zeit, +da er als wahrheitsuchender Studiosus mit Moses Freudenstein über Gott +und Welt und Vaterland disputiert, wo er dann von Moses scheidet, als +dieser in die freie weite Welt geht, und schließlich in der Öde und +Abgeschiedenheit einer Hauslehrerstellung auch die Wünsche seines +Freundes Moses begreifen lernt. Es kommt die Zeit, in welcher die +Liebe ihren Einfluß auf sein Herz gewinnt, anfangs mit Irrwegen, dann +auf rechtem Weg sein Herz an das bescheidene Fränzchen Götz bindend. +Was braucht es weitere Worte? Es ist ein volles, echtes Menschenleben, +mit Irrungen und Wirrungen, mit Suchen und Finden, das in Hans +Unwirrsch gezeichnet ist. Ja, die Tiefe der Charaktererfassung gemahnt +an Gottfried Kellers »Grünen Heinrich« und andere Meisterwerke. Es ist +Wirklichkeit, klare Wirklichkeit, wenn schon im Zauber der Poesie, die +im »Hungerpastor« das Regiment führt. Auch darin, in der tiefwahren +Charakterzeichnung, ist die »Chronik« weit übertroffen.</p> + +<p>Und dann zum dritten: auch der <em class="gesperrt">geistige Gehalt</em> dieses Buchs +ist erheblich tiefer. In der »Chronik« konnte man vielleicht von +Betrachtungen über Menschenschicksale reden; die einzelnen Erlebnisse +gaben mehr die Gelegenheiten, sie vorzubringen. Ganz anders im +»Hungerpastor.« Hier schließen die Erlebnisse und Entwicklungen die +großen Gedanken selbst in sich. Hier wachsen sie aus dem Herzen<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> +des Hans Unwirrsch und aus dem Verstande des Moses Freudenstein +naturnotwendig heraus. Zugleich gewinnen sie dadurch an innerer +Bedeutung und überzeugter Kraft. Vom Hunger handelt das Buch, von +dem, was er bedeutet, was er will, und was er vermag; von der +heiligen Macht des echten, wahren Hungers aber handelt es vor allem. +Allerdings, auch <em class="gesperrt">der</em> Hunger kommt darin vor, den Moses +Freudenstein empfindet: der Hunger nach Glanz und Lust, nach Ehre +und Ruhm, nach Macht und Ansehn. Aber für Raabe ist das der falsche +Hunger; er läßt keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß Moses sein +Mann nicht ist. Ein anderer Hunger ists, von dem der Armenlehrer +Silberlöffel redet, ehe er stirbt:</p> + +<p>»Ich bin sehr hungrig gewesen. Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und +durstig nach Wissen; alles andere war nichts. Goldene Äpfel hängen +lockend im Gezweig und schicken ihre Strahlen durch das Grün. O sie +blenden so die Augen, die schönen, glänzenden Früchte. Die Hände habe +ich ausgestreckt und habe mich zerrissen an den Dornen; — viele +Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün. Im +Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch, und doch war ich +für das Licht geboren. Es ist hart, hart, hart, im Schatten sitzen zu +müssen und Hungers zu sterben, während so schöne Augen leuchten in der +Welt, während so holdselige Stimmen locken, — in der Nähe und ach aus +so weiter, weiter Ferne. Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne, +aber im Schatten mußte ich bleiben, auf einen kleinen Raum im Schatten +war ich gebannt. Ein goldener Regen umspielte mich oft, in Schauern +fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich und glänzten durch Grün +und Blau; mir aber waren die Hände gefesselt, und nichts hatte ich +als mein qualvolles Sehnen. Ich habe nichts, nichts erhalten von dem +reichen Leben. Nur mein Sehnen ist mir zu teil geworden, und auch das +geht nun zu Ende.<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> Dunkel wirds vor den Augen, still vor den Ohren und +im Herzen; ich werde satt sein — im Tode.«</p> + +<p>Diesem Hunger ähnlich ist der, welchen Hans Unwirrsch von seinem +Vater, dem Schuhmachermeister, geerbt hatte. Der Vater hatte +Wissensdrang, viel Wissensdrang; er las, so viel er nur irgend konnte. +Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den +Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand +er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, welcher ihm ganz +allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden +sein konnte. Und der Sohn? Auch er ist, wie Moses, ausgezogen nach dem +Wissen und dem Glück; in dunkeln armen Hütten waren sie beide geboren +und aufgewachsen, und der Glanz, der durch die Spalten und Ritzen der +niederen Dächer fiel, hat sie gelockt. Lange hat er gemeint, eines +Weges mit dem Freunde zu gehen; dann hat er den Irrtum gemerkt. »Mein +Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht +gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist +ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann +sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.« Wie +will man diesen Hunger definieren? Er hat viel Unbestimmtes; man darf +sich dadurch, daß es ein Kandidat und Pastor ist, der ihn hegt, nicht +etwa bestimmen lassen, ihm einen im engeren Sinn religiösen Inhalt zu +geben. Im weiteren Sinn religiös ist er gewiß. Es ist die Sehnsucht +nach allem Hohen und Guten, nach Wissen und Erkenntnis, aber auch nach +Liebe und Treue, die Sehnsucht der Seele nach dem, was sie braucht. +So redet Johannes Unwirrsch, der Kandidat, am Christmorgen im Dorfe +Grunzenow im Geist zu seinem längst im Grabe ruhenden Vater:</p> + +<p>»O Vater, Vater, es ist schwer, ein rechter Mensch zu sein und jedem +Dinge sein rechtes Maß zu geben; wer aber mit der Sehnsucht danach +in der Tiefe geboren wird<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> der wird doch eher dazu kommen als jene, +welche zwischen Gipfel und Niederung erwachen, und welchen das Oben +wie das Unten gleich unbekannt und gleichgültig bleibt. Aus der Tiefe +steigen die Befreier der Menschheit; und wie die Quellen aus der +Tiefe kommen, das Land fruchtbar zu machen, so wird der Acker der +Menschheit ewig aus der Tiefe erfrischt. O Vater, der Mensch hat doch +nichts Besseres als dies schmerzliche Streben nach Oben, ohne dasselbe +bleibt er immerdar Erde von Erde genommen, in demselben und durch +dasselbe richtet er sich aus aller Leibeigenschaft des Staubes auf, +in demselben reicht er, wie wenig es auch sei, was er erlange, allen +himmlischen Mächten die Hand, in demselben steht er auf der winzigsten +Scholle in dem engsten Kreise als Herrscher des unendlichsten Gebietes +da, als Herrscher seiner selbst. Auch der Zweifel ist ja Gewinn in +seinem Leben, und der Schmerz ist so edel — oft edler als das Glück, +die Freude.«</p> + +<p>Auch die Worte Jakob Böhmes, welche Raabe zitiert, sind für den Geist, +der das Buch durchweht, für den Hunger, den der Dichter schildern +will, charakteristisch:</p> + +<p>»Denn das ist der Ewigkeit Recht und ewig Bestehen, daß sie nur +<em class="gesperrt">einen</em> Willen hat ..... Sie stehet wohl in viel Kraft und +Wundern, aber ihr Leben ist nur bloß allein die Liebe, aus welcher +Licht und Majestät ausgehet. Alle Kreaturen im Himmel haben Einen +Willen, und der ist ins Herze Gottes gerichtet und gehet in Gottes +Geist, wohl im Centro der Vielheit, im Wachsen und Blühen; aber Gottes +Geist ist das Leben in allen Dingen.«</p> + +<p>Wie nennen wir die beiden Anschauungen, die da so scharf einander +gegenüber stehen? Man kann sie Materialismus und Idealismus nennen. +Aber der Idealismus trägt in sich Liebe und Ewigkeit. Wird nun der +»Hungerpastor« nicht eben dadurch zum Zeitroman? Ist er nicht das +gerade Gegenstück zu dem später geschriebenen Heyseschen »Die Kinder +der Welt«? Mag sein, daß man<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> ihn auch dem Zeitroman zurechnen kann. +Mehr gehört er doch zum Stimmungsroman. Er bringt nicht Gedanken, +nicht Weltanschauungen, und nicht Systeme. Er schildert nicht Zeiten +und nicht Menschen besonderer Zeiten. Er will den Hunger der Seele +beschreiben, der von jeher in ihr war und der immer in ihr sein wird, +er gehört nicht einer Zeit, sondern allen Zeiten. Es schwebt über ihm +zu viel poetischer Hauch, zu viel Schimmer der Ewigkeit; und es ist +weiter zu wenig nüchternes Nachspüren nach all den Winkelgängen der +Zeitgedanken. Darum gehört er trotz alledem nicht zu Freytag und nicht +zu Heyses »Kindern der Welt.« —</p> + +<p>Stimmung! Wo fänden wir sie außer bei Raabe besser in voller Pracht +als bei <em class="gesperrt">Theodor Storm</em>? Ein Schleswiger ist Storm; zu Husum +erblickte er 1817 das Licht der Welt. Schleswigsche Landschaft +spricht in seinen Schöpfungen mit: das Land, die Ebene und nicht +zuletzt das Meer, ja das weite, weite, tosende Meer. Novellen haben +wir von ihm, aber keine Romane. Warum? Weil in ihm noch viel stärker +entwickelt war, was doch auch Raabes Romane von den andern abhebt, +jener Drang, der weniger auf Schilderung ausgeht, auf feine Zeichnung +eines Weltbilds in künstlerischer Form, als vielmehr auf den Ausdruck +dessen, was gerade die Seele bewegt, der lyrischen Stimmung. Ganze +Novellen sind nichts als Gedichte, ein wenig ausgeführter und in +Prosaform, aber eben Gedichte.</p> + +<p>Aber auch diese alles beherrschende Stimmung kann recht verschiedene +Nuancen haben. Nicht alle, nur einige dieser Nuancen möchte ich +aufzuweisen versuchen, jede an einer einzelnen Novelle. Ich wähle +zuvörderst »<em class="gesperrt">Immensee</em>«, seine erste Novelle (1852), das +Beispiel reinster Stimmungsdichtung in der Farbe herzinniger Wärme +und zugleich sich bescheidender Resignation. Eine Kinderliebe wird +geschildert. Reinhard und Elisabeth sind einander zugetan. Wunderbar +zart ist diese Liebe beschrieben; es liegt ein Hauch<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> darüber, den +man zu zerstören fürchtet, wenn man es nur wagt, mit knappem Wort +Einzelnes herauszuheben. Wer »Immensee« gelesen, erinnert sich wohl, +wie Reinhard und Elisabeth im Wald Erdbeeren suchen gehen. Wunderbar +lieblich, nicht wahr? Wenn Raabe an Jean Paul gemahnte, hier ist +etwas vom Geist Eichendorffs zu spüren. Fast kommts zur Verlobung, +da die Kinderliebe auch die Reifenden verbindet. Aber dann reicht +Elisabeth doch dem anderen Bewerber die Hand. Warum? Mancher Dichter +würde hier in die Posaune der Leidenschaften gestoßen haben; das Thema +ist so dankbar, daß es sich mancher für große Worte und wuchtige +Wirkungen auserkoren hat. Ganz anders Storm. Es ist ja ein Greis, +der seine Jugenderinnerungen Revue passieren läßt, ganz wie in der +»Chronik der Sperlingsgasse.« Und so verliert die Erzählung nirgends +das Abgeklärte, Ruhige und Stille. Vielleicht bleibts in ihr sogar +<em class="gesperrt">zu</em> still. Fragen werden nicht beantwortet, die jedem Leser in +den Sinn kommen. Warum läßt Reinhard seine Elisabeth über Jahr und +Tag ohne Lebenszeichen, ohne Gewißheit? Kurz, sie gibt dem Drängen +der Mutter nach; der andere hat Hab und Gut und auch Liebe. Dann aber +kommt nach geraumer Frist auch Reinhard in der Vermählten Haus; und +nun erst merken beide, wie schwer es ihnen ist, sich nicht zu haben. +Das Ende ist Reinhards Scheiden und Verzicht; aber wie tiefe Wehmut +klingt über dem Ende das Lied:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">Meine Mutter hats gewollt,</div> + <div class="verse indent0">Den Andern ich nehmen sollt;</div> + <div class="verse indent0">Was ich zuvor besessen,</div> + <div class="verse indent0">Mein Herz sollt es vergessen,</div> + <div class="verse indent0">Das hat es nicht gewollt.</div> + </div> +<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">Meine Mutter klag' ich an.</div> + <div class="verse indent0">Sie hat nicht wohl getan.</div> + <div class="verse indent0">Was sonst in Ehren stünde,</div> + <div class="verse indent0">Nun ist es worden Sünde.</div> + <div class="verse indent0">Was fang ich an!</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">Für all mein Stolz und Freud</div> + <div class="verse indent0">Gewonnen hab ich Leid.</div> + <div class="verse indent0">Ach wär das nicht geschehen.</div> + <div class="verse indent0">Ach könnt' ich betteln gehen</div> + <div class="verse indent0">Über die braune Haid'!</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Nicht überall ist Theodor Storm so rein und so stark lyrischer Dichter +wie in dieser und in ähnlichen Novellen. Es gibt andere, in denen +schweigt der Dichter nicht, aber er hat nur sorglich geordnet und fein +gestaltet, was bitterer Lebensernst ihm vorgeschrieben. Wohl war auch +in »Immensee« Ernstes und Trübes, aber es drückt dort nicht; das Leben +ist zum Gedichte geworden. Anders z. B. in »<em class="gesperrt">Carsten Curator</em>.« +Das ist die Geschichte eines braven, redlichen Mannes; der hatte +als treuer Curator vieler Unmündigen und Unfähigen Geschäfte sicher +geführt und war nur einmal in seinem Leben in der Leitung seiner +eigenen Geschäfte unsicher geworden, das war damals, als er einen +ungleichen Bund mit einem schönen Mädchen schloß, das zum Grundzug +des Herzens den Leichtsinn hatte. Juliane hatte ihn in kurzer Ehe in +manche Not gebracht; dann starb sie. Aber ein Kind hinterließ sie ihm, +das war nach der Mutter geschlagen. Der Sohn wuchs heran und hatte +des Vaters ganze Liebe, aber er lohnte sie durch Leichtfertigkeit und +Schuldenmachen. Ohne viel Worte kommt zu ergreifendem Ausdruck das +Leid, das der Vater um den Sohn trägt, dem er die Hilfe doch niemals +versagen mag. Auch die Pflegetochter, sein Liebstes nach dem Sohn, +opfert sich und ihre Habe dem Pflegebruder, den sie liebt. Das Unheil +läßt sich trotzdem nicht aufhalten; der Leichtsinn führt den<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> Bankrott +herbei und endlich, am Tag, da die Schleuse gebrochen ist und die Flut +sich durch die Gassen wälzt, bringt ihn Leichtsinn oder Absicht oder +beides zusammen in den Tod. Der Vater aber findet mit der verwitweten +Pflegetochter eine gemeinschaftliche Heimat für seine letzte schwere +Zeit — dort, wo die letzten kleinen Häuser mit Stroh gedeckt sind.</p> + +<p>Wir finden auch in dieser Erzählung manche Seite, über der feinster +dichterischer Stimmungsreiz liegt. Aber es ist in ihr längst nicht +soviel Schilderung, nicht soviel beschauliches Ausruhen, nicht soviel +Schwelgen in Empfindung und Gefühl. Wohl grüßt uns traut das alte +Haus an der Twiete, das schmale Wohnzimmer mit dem Alkovenbett, +in dem Vater und Mutter des Hausherrn zum letzten Schlummer +sich niedergelegt, mit der Silhouette von Carstens einfachem, +sittenstrengem Vater. Wohl klingt es wie Jugendlust, wenn von dem +Birnbaum die Rede ist, der die Freude der Nachbarskinder und zugleich +eine Art Familienheiligtum war. Aber solche Stimmungsbilder bleiben +vereinzelt; hier redet das Leben selbst eine deutliche, ernste +Sprache. Hier sinds nicht die Worte, sondern die Geschehnisse, welche +das Herz bewegen. Wohl spielt auch hier die Landschaft ihre Rolle; +die Flutgefahr gestaltet die letzte Szene dramatisch bewegt; aber +hier ist kein romantisches Träumen in Wald und Feld, am See und +auf der Heide: Menschen nur und Taten, welche diese Menschen tun, +beherrschen Szene um Szene. Auch hier ist Herzenswärme, innige Liebe, +nachwirkende Leidenschaft; aber von alledem wird wenig gesprochen; nur +die Taten zeugen davon. Und so sind denn auch diese Taten nach Motiven +und Folgen, diese Menschen nach Anlagen und Charakteren schärfer +herausgearbeitet als beispielsweise in »Immensee.« Hier haben sich +Wirklichkeit und Stimmung vermählt, und keins von beiden hat dabei +gelitten.</p> + +<p>Und nun zudritt und zuletzt eine knappe Skizze von<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> Storms letzter +Novelle »Der Schimmelreiter.« War der Grundton von »Immensee« +träumerisch, der von »Carsten Curator« realistisch-ernst, so klingt +im »Schimmelreiter« noch eine ganz andere Folge von Tönen an; die +Novelle neigt nach dem Phantastischen, ja nach dem Schauerlichen +hin. Gleich die Worte der Einführung versetzen in diese Stimmung. +Er habe, so erzählt er, die berichteten Ereignisse vor reichlich +einem halben Jahrhundert im Hause seiner Urgroßmutter in irgend +einer alten Zeitschrift gelesen. »Noch fühl' ich es, gleich einem +Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter +liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt.« Die Geschichte +führt an die Nordsee. Auf dem Deich, dicht am Wattenmeer, in später +Oktober-Nachmittagsstunde, strebt ein Reiter dem ersehnten Quartier +zu. Die gelbgrauen Wellen schlagen unaufhörlich mit Wutgebrüll an den +Deich hinauf. Schwarze Wolkenschichten machen es zeitweise pechfinster.</p> + +<p>»Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte +nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht +herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, +da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem +hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre +Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus +einem bleichen Antlitz an.</p> + +<p>Wer war das? Was wollte der? — Und jetzt fiel mir bei, ich hatte +keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und +Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!«</p> + +<p>Nachher im Wirtshaus am Deich, wo des Hochwassers wegen Wacht gehalten +wird, hört er die Geschichte des unheimlichen Reiters. Hauke Haien ist +es, der Deichgraf. Eines kleinen Mannes Sohn, hatte Hauke es durch +zähen Fleiß und durch die Liebe der schönen Elke zum Nachfolger<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> und +Schwiegersohn des reichen Deichgrafen gebracht. Ihm stehen große +Pläne vor der Seele. Einen neuen Deich will er bauen, ins Wattenland +hinein; durch den soll ein neues großes Stück Land vor des Meeres +Dräuen gesichert und der Benützung erschlossen werden. Das gewaltige +Werk gelingt; der neugewonnene Koog trägt des stolzen Hauke Haien +Namen. Aber sieh da! Wo der neue feste Deich an den alten stößt, +entsteht eine böse, gefahrdrohende Stelle. Bei wiederkehrender, +rasender Sturmflut wollen die Leute den neuen Deich, <em class="gesperrt">seinen</em> +Deich durchstechen, um so sicher den alten Damm und das Hinterland zu +retten. Hauke verhinderts; aber der alte Deich birst wirklich, und die +Fluten brechen herein. Sein Weib kommt zu Wagen ihm, dem Deichgrafen +entgegen; die Fluten reißen Weib und Kind, Roß und Wagen dahin. So +reitet Hauke selbst auf seinem Schimmel in wahnsinnigem Entschluß in +die Fluten hinein. »Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Himmels, der +Sturm und Wellenbrausen überschrie; dann unten aus dem hinabstürzenden +Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.« Seitdem reitet der tote +Hauke Haien auf seinem Schimmel bei jeder hohen Flut; und wohin er +reitet, dort bricht der Damm.</p> + +<p>Es ist nicht möglich, in ein paar Worten alle Hauptzüge der +reichbewegten Handlung anzudeuten: jene gespenstische Erscheinung +draußen auf der Hallig, ein Pferdegerippe, das doch in dunkler Nacht +Leben bekommt. Hängts zusammen mit dem abgetriebenen Schimmel, den +Hauke Haien von einem fremden Manne kauft und der dann in seinem Stall +ein stattliches Roß wird, — das Roß, welches ihn nachher in die +stürmende Flut trägt? Das Kind, das ihm als das einzige geboren wird +und das zeitlebens ein Kind bleiben muß, weil Gott ihm den Verstand +versagt hat, ist es die Strafe für die Art, wie Hauke sein totkrankes +Weib von Gott erbetet hat: »Ich weiß ja<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> wohl, Du kannst nicht +allezeit, wie Du willst, auch Du nicht; Du bist allweise; Du mußt nach +Deiner Weisheit tun — o, Herr, sprich nur durch einen Hauch zu mir!«?</p> + +<p>So weben die Gewalten der Meereswogen und die abergläubischen +Meinungen der Küstenbewohner ein unheimliches Gebilde von Wirklichkeit +und Traum. Aber es sind keine sanften, ruhigen Träume, die hier +umgehen; hier ist alles groß, alles packend, alles grausenhaft. Die +rasch fortschreitende, meisterhaft zusammengefaßte Handlung erhöht +den Eindruck: ein Kunstwerk von phantastischer Schöne ist erwachsen, +dem doch der realistische Anhauch nicht fehlt; der Dichter selbst +gibt kritische Andeutungen, übrigens so fein, daß die Stimmung nicht +gestört, nur geklärt wird.</p> + +<p>Mit diesen drei Skizzen sind nicht entfernt alle Wandlungen der +dichterischen Stimmung beschrieben, die in Storms Novellen sich +finden. Wie er auch außer »Immensee« skizzenhafte, träumerische +Bilder geschaffen hat (z. B. »Psyche«, »Ein stiller Musikant«), so +auch solche, in denen das Leben selbst obenan steht (z. B. »Hans +und Heinz Kirch«, »Bötjer Basch«); aber in wieder anderen kommt +auch ein humoristischer Zug zur Geltung, der (z. B. »Die Söhne des +Herrn Senator«) freilich auch wieder von tiefem Ernst begleitet +ist; und mehr als eine seiner Novellen greift in die Schatzkammern +der Geschichte, um längst vergessene Zeiten zum Reden zu bringen. +Überall bleibt Storm im kleinen Rahmen; das einzelne Menschenschicksal +beschäftigt ihn; der Zeiten Gewoge berührt ihn nicht. Er ist nicht +Politiker und nicht Dogmatiker, er kennt nicht den Trieb, zu agitieren +oder zu meistern, abzubilden oder zu kritisieren, — er dichtet, aber +er webt in sein Dichten treu des Menschenherzens echte Art hinein.</p> + +<p>Raabe und Storm! Sind wir damit am Ende? Jener warme Hauch lyrischer +Empfindung, der über ihren Dichtungen liegt, ist allerdings in +den Schöpfungen anderer aus dem Ende des 19. Jahrhunderts selten +zu finden.<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> Oder, wo er sich zeigt, ist er doch mehr Zugabe als +beherrschendes Element. Aber lassen Sie mich noch einen Erzähler Ihnen +nennen, bei dem dies eigentümliche Etwas, das wir »Stimmung« nennen, +nicht immer, aber jezuweilen so stark wird, daß man ihn dann wohl +neben Raabe und Storm stellen kann: <em class="gesperrt">Peter Rosegger</em>. Manches, +was er geschaffen, kommt in anderem Zusammenhange zur Sprache; man +kann ihn ja zugleich unter die Vertreter der Heimatkunst, ja des +Naturalismus rechnen; und sogar dem Symbolismus läßt sich sein +»Gottsucher« zuzählen. Aber in diesem letztgenannten Buch, dazu in +ähnlichen kommt auch Stimmung, lyrische Stimmung zum Durchbruch. Noch +stärker geschieht das, und zwar hier in beherrschender Weise, in den +von Stifter beeinflußten »<em class="gesperrt">Schriften des Waldschulmeisters</em>.« +Auch hier liegt ein <em class="gesperrt">Gedanke</em> zu Grunde; die Lyrik macht den +Erzähler nicht tot. Verlassen hausen die Waldleute in einsamem Tal, im +»Winkel.« Nach dem Felstal zu, meinen sie, sei die Welt mit Brettern +vernagelt. Nach der Ebene zu kommen sie selten. Stundenweit ist die +nächste Kirche; die Waldleute lassen nur die Mädchen dort taufen, die +Buben nicht, damit sie nicht erst registriert und später fürs Militär +gesucht werden. Was ist ihnen Kirche? Was Schule? Sie kümmern sich um +keinen und keiner kümmert sich um sie. Sie sind hergezogen von Aufgang +und Niedergang — wesweg', das weiß der Herrgott. Zumeist sind es wohl +Bauersleut' von den vorderen Gegenden herein, die sich in die Wälder +geflüchtet haben, um der Wehrpflicht zu entrinnen. Gibt auch Gesellen +unter ihnen, denen man in der dunklen Nacht nicht gerne begegnet. +Wildschützen sind sie alle ..... Beweibet sind die meisten, aber jeder +hat die Seine nicht vom Traualtar geholt. In dies Tal »im Winkel« +kommt durch den jungen Waldschulmeister langsam und mühsam Ordnung und +Sitte, Kirche und Schule, kurz alles das, was wir »Kultur«<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> nennen. +Jahr um Jahr bleibt er dort bei den Waldleuten, Jahr um Jahr freut er +sich am Erfolg seines Tuns, Jahr um Jahr trägt er mit den Waldleuten +Mühe und Arbeit, Freud und Leid. Aber es kommt die Zeit, wo die Leut' +ihn bei Seite schieben, wo er dem neuen jungen Pfarrer nicht mehr +genug tun kann, und wo der Dechant, nachdem er die Schule visitiert, +ihn beim Fortgehen nicht gesehen hat.</p> + +<p>»Und seit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr aus diesen Wäldern +gekommen.</p> + +<p>Und die Waldleute entstehen, leben und vergehen dahier und steigen in +ihrem ganzen Lebenslauf nicht ein einzigmal auf den Berg, wo man die +Herrlichkeit kann sehen, und am hellen Wintertag das Meer.</p> + +<p>Das Meer! Wie wird es da leicht und weit im Herzen! Dort zieht ein +Kahn, steht ein Jüngling darin, der winkt ....«</p> + +<p>So ist er denn am Christtag hinaufgestiegen auf die Spitze des grauen +Zahns, hoch über den Gletschern. Und dort oben ist er geblieben. Man +findet bei dem Toten nur ein Stück Papier mit den wenigen Worten:</p> + +<p>»Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer gesehen und das +Augenlicht verloren.« —</p> + +<p>Dieser Gang der Erzählung ist klar und deutlich innegehalten. +Es ist kein romantisches Träumen, was in dem Buche regiert; die +Umrisse des wirklichen Lebens sind überall scharf gezeichnet. Auch +hier fehlt realistische, ja naturalistische Derbheit nicht. Auch +Gefühlsschwärmerei treibt der Waldschulmeister in seinen Schriften +nicht; er erzählt von nichts als vom Leben, vom wirklichen Leben und +von der wirklichen Welt. Und dennoch — welche Stimmung über dem +Ganzen! Urwaldfrieden umfängt uns, frische urtümliche Schöpfung umwebt +uns. »Wie er einzieht durch die Augen und Ohren und all die Sinne, +der liebe, der schöne Wald, so mag ich ihn genießen,«<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> schreibt der +Waldschulmeister. Wie läßt er ihn uns mitgenießen! Kaum Schöneres +in unserer Literatur als diese Schilderung des Urwaldfriedens: +»Urwaldfrieden, du stille, du heilige Zuflucht der Verwaisten, +Verlassenen, Verfolgten — Weltmüden; du einziges Eden, das den +Glücklosen noch geblieben!« — Auch jeder der anderen Abschnitte ist +ein prächtiges Kabinettstück urechter Stimmung. Bei den Hirten — zur +lieben Sommerszeit ist es da oben gut sein. »So sind sie denn gut und +froh, und ich, — wahrhaftig und bei meiner Treu, ich bins mit ihnen.« +— Anders bei denen, die buchstäblich von der Erde, von dem Gestein +heraus ihr Brot graben. Von den Bäumen schaben sie es herab, aus dem +alllebendigen Ameishaufen wühlen sie es empor, — die Waldteufel. — +Wunderbar ists im Felsentale, wo allein noch die Kiefer kampfesmutig +die steilen Lehnen hinanklettern will, um zu wissen, wie es da oben +aussieht bei dem Edelweiß, bei den Alpenrosen, bei den Gemsen. Aber +die gute Kiefer ist keine Tochter der Alpen, balde faßt sie der +Schwindel und sie bückt sich angstvoll zusammen und kriecht mühsam +auf den Knien hinan, mit ihren geschlungenen, verkrüppelten Armen +immer weiter vorgreifend und rankend, die Zapfenköpfchen neugierig +emporreckend, bis sie letztlich in den feuchten Schleier des Nebels +kommt und in demselben planlos umherirrt zwischen dem Gestein.</p> + +<p>Aber es ist nicht bloß <em class="gesperrt">Natur</em>stimmung, was hier regiert. Viel +mehr als in Stifters Studien, die Rosegger beeinflußt haben, pulsiert +hier warmes, lebendiges Leben: die Menschen werden lebendig! Die +Hirten wie die Waldleute, die Holzer dazu, der Pecher und der schwarze +Mathes und der seltsame Einspanig, der Berthold und die Aga und wie +sie alle heißen. Aber keins für sich, keins bloß in seiner Menschheit, +jedes als Teil der Waldgemeinde im Winkel, als Kind der Einsamkeit, +als Schöpfung des Tals da droben, an das niemand in der Welt denkt.<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> +Stimmung regiert — einheitliche, wunderbar naturwüchsige Stimmung. +Nachempfinden kann sie nur, wer sie selber einmal empfunden hat, +in einem stillen Alpental, wo die Bäche rauschen, wo der Wald uns +umfängt, wo die Berge zum Himmel ragen, wo die Menschen die Art ihrer +Heimat tragen ....</p> + +<p>Sind wir nun mit dieser Stimmungsdichtung wieder in den Bereich der +Romantik gekommen? Sind die Raabe und Storm die einfachen Fortsetzer +der Linie Novalis — Eichendorff — Hoffmann? Keineswegs. Mag man sie +als Neuromantiker bezeichnen, — eben das Neue in dieser Romantik ist +doch stark genug, um ein ganz anderes Urteil über diese Erscheinungen +zu rechtfertigen als über diejenigen der älteren Romantik. Dies +charakteristische Neue liegt in dem realistischen Einschlag, besser +noch: in der durchaus realistisch gefaßten Grundlage aller dieser +Romane und Novellen. Raabe, Storm, Rosegger und ihre Genossen +haben die Dinge dieser wirklichen Welt stimmungsvoll angesehen und +stimmungsvoll geschildert. Aber sie haben nie, wie ihre romantischen +Vorgänger, die Gesetze dieser Welt außer Geltung gesetzt, nie bloß +träumend geschaute himmlische Gefilde beschrieben. Ich deutete schon +an, daß selbst der phantastische »Schimmelreiter« die kritischen +Ansätze selber bietet. Die übrigen Novellen Storms mögen manchmal die +harten Lebenserfahrungen, die schweren Kämpfe, die bitteren Stunden, +die Nachtseiten des Lebens ein wenig abgemildert darstellen, — mit +der Wirklichkeit selbst kommt er nie in Streit. Von Raabe gilt das +erst recht. Sogar die »Chronik der Sperlingsgasse« gibt überall +natürliches Leben. Somit hat auch diese Stimmungsdichtung sich dem +beherrschenden Grundzug der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht +entzogen; auch sie hat der Wirklichkeit ihr volles Recht gegeben. Ja +sie wird eben dadurch zum glänzendsten Beweis für den <em class="gesperrt">überall</em> +durchdringenden Wirklichkeitssinn. Und darum bezeichnet diese +Dichtung<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> keinen Rückschritt, erst recht keinen Rückfall. Vielmehr +stellt sie nur eine besondere Art dar, die Wirklichkeit anzuschauen: +mit poetischer Kraft, mit sinnendem Bedenken, mit starkem Mitempfinden.</p> + +<p>Es sind ja nur kleine Miniaturbildchen aus dem großen Weltbild, +welche Storms Novellen zeichnen. Raabe gibt größere Bilder; aber +auch sie können sich hinsichtlich der Weite und Breite nicht mit den +Zeitromanen messen. Indes was diese Dichtung weniger beiträgt zur +umfassenden Kenntnis des Weltbereichs, das trägt sie mehr bei zur +inneren Durchdringung, zum tiefgreifenden Verständnis desselben.</p> + +<p>Und so grüße ich auch diese Dichter, die in der Erzählung den Leser +über ruhig-nüchterne Betrachtung, über Kampf und Streit hinausheben, +die Dichter, die unser Volk auf die Höhe feinsinnigen Verständnisses +des Weltgeschehens führen und die den Brunnquell deutschen Gemüts +ausschöpfen!</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_2"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_naturalistische_Roman">Der naturalistische Roman.</h2> +</div> + + +<p>Naturalismus! Was bedeutet das eigentlich anders als engste Fühlung +mit der Natur, mit der Wirklichkeit des Lebens? Und bestand +diese Fühlung zwischen dem deutschen Roman und der Wirklichkeit +nicht bereits, seitdem die abenteuerlichen Schauerromane und die +empfindsamen Moralgeschichten aufgehört hatten, als der Inbegriff +des Romans zu gelten? Seit Goethe fest und klar dem Leben, wie es +ist, ins Angesicht geschaut? Wahrlich, dieser Wirklichkeitssinn ist +dann lebendig geblieben, so wenig die romantische Strömung ihm zuerst +entgegenkam. Selbst die Stimmungsdichtung, von der wir im letzten +Vortrag gesprochen, fußt auf realen Fundamenten.</p> + +<p>Und dennoch bleibt ein gewaltiger Unterschied zwischen +Wirklichkeitssinn und Naturalismus. Wie verschieden kann man die +Wirklichkeit ansehen! Es geht einer dahin über duftende Wiesen, durch +grünenden Wald. Frühlingssonne scheint ihm ins Herz hinein. Wie er +dem nächsten Hofe sich naht, grüßt ihn der behäbige Bauer, dem die +Freude über den Besitz auf der Stirn geschrieben steht, — lächelt +ihn ein herziges Mägdelein an, mit roten Wangen und frischem Blick. +Wirklichkeit? Ja, kann das nicht Wirklichkeit sein?</p> + +<p>Oder es schaut der ernste Mann hinein in den Gang regelmäßiger +Arbeit. Er sieht, wie sie schaffen, die Männer des Kontors, — und er +sieht, wie sie in rüstiger Arbeit, in gutem Erfolg, in gemessener, +geordneter Erholung ihre Freude haben. Er sieht, wie das wohlgefügte +Familienleben<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> die einzelnen Glieder hebt und trägt. Wirklichkeit! Ja, +ist das nicht Wirklichkeit?</p> + +<p>Aber ein anderer sieht das Leben anders an. Er sieht in die Welt — +da begegnet ihm das Elend. Er sieht in das Haus — da schaut er Risse +und Sprünge im Bau der Familie. Er sieht auf die Straßen — und der +Menschheit ganzer Jammer faßt ihn an. Er sieht in die Herzen — und er +findet die Sünde, die Schuld oder, wenn ihm der Name nicht recht ist, +— er findet Furchtbares, Entsetzliches.</p> + +<p>Wie jener Erste und wie der Andere — so haben die deutschen Erzähler +das Leben längst angesehen, ehe denn das Stichwort »Naturalismus« +emporkam. Erst als ihrer etliche lernten, es mit den Augen des +Dritten anzusehen, erst da hat man diesen Namen gebraucht. Sie haben +es übrigens nicht aus sich gelernt. Oder wenigstens, Mode ward der +Naturalismus, die Darstellung der unverschleierten Wirklichkeit auch +nach ihrer häßlichen oder gar vorwiegend nach ihrer häßlichen Seite, +erst durch ausländische Einflüsse; ich brauche nur zwei Namen zu +nennen: Zola und Tolstoi. Allerdings, <em class="gesperrt">daß</em> es so kam, ist im +letzten Grund nicht auf willkürliche äußere Einflüsse zurückzuführen. +Es <em class="gesperrt">mußte</em> so kommen. Auch das Häßliche gehört nun einmal +zur Wirklichkeit. Wenn der Grundsatz: die Wirklichkeit schildern! +durchdrang, so war der Naturalismus notwendig geworden. Er hat in +diesem Grundsatz sogar seine <em class="gesperrt">Berechtigung</em>.</p> + +<p>Allerdings: auch innerhalb dessen, was »Naturalismus« heißt, kann +es wieder sehr verschiedene Stufen geben. Jenachdem man eben das +Häßliche, ohne es zu ignorieren, in den Hintergrund schiebt oder es +aufdringlich hervortreten läßt oder es gar zum alleinigen Inhalt +macht. Schon <em class="gesperrt">Immermanns</em> »Oberhof« hatte naturalistische +Partien; Jeremias <em class="gesperrt">Gotthelf</em> ist Naturalist durch und durch, +und mehr als einer hat es ihm arg verdacht, daß er für manchen<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> +bedenklichen ländlichen Brauch, für manche den verfeinerten Geschmack +etwas roh anmutende Einzelheit kein wohltätiges Schleierchen gehabt +hat. Aber bei ihm traten <em class="gesperrt">diese</em> Seiten des Lebens nie in den +Vordergrund. Er ließ nichts weg, er beschönigte nichts; aber er gab +dem Unschönen und Unsittlichen nie mehr Raum, als das Leben ihm gibt. +Und — er erzählte es mit sittlichem Urteil.</p> + +<p>An Gotthelfs Art läßt sich am besten auch die Schilderung des +moderneren Naturalismus aus der zweiten Hälfte, ja dem letzten Viertel +des 19. Jahrhunderts anschließen. Denn wie bei ihm, so verbindet +sich auch hier der Naturalismus großenteils mit <em class="gesperrt">Heimatkunst</em>. +Cäsar <em class="gesperrt">Flaischlen</em> erklärte es 1894 für erforderlich, daß »die +engere Heimat mit ihrer Stammeseigenart der stete Nährboden bleibe, +aus dem sich unser ganzer deutscher Volkscharakter zu immer neuer +Kraft, zu immer reicheren Entfaltungen und zu immer vielseitigerer +Einheit emporgestalte.« Die so verstandene Heimatkunst ist aber +nicht notwendig naturalistisch im fortgeschrittenen Sinn. Sie legt +ihrer ganzen Art nach ein großes Gewicht auf den Sondercharakter der +Landschaft und des Stammes. Jede Landschaft, jeder Stamm ist ihr um so +herzlicher willkommen, je ausgeprägter sein Sonderleben, je weniger +abgeschliffen sein Eigengefühl ist. Wenn Theodor <em class="gesperrt">Storm</em> die +Küste am Meer, die schwermütige Ebene im deutschen Norden in seine +Novellen hineinragen läßt, wenn er den besinnlichen, tiefgründigen +Charakter, den das Land dort seinen Bewohnern gibt, immer wieder +zur Darstellung bringt, so ist das Heimatkunst. In seinen Novellen +kann diese Kunst keine ausgeführteren Bilder schaffen; und Storm, +dem poetische Stimmung über alles geht, erzählt von der Heimat +nicht alles. Das Häßliche bleibt fern. Aber auch größere Bilder +gibt die Heimatkunst, ohne prononciert naturalistisch zu werden, +und kleinere Bilder stimmt sie noch schärfer auf Sitte und Brauch. +Beides trifft zu bei<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> Heinrich <em class="gesperrt">Sohnrey</em>, dessen Zeitschrift +»Das Land« diese Kunst mit Liebe verficht. Sein »Die Leute aus der +Lindenhütte«, seine kleinen Geschichten »Die hinter den Bergen« lassen +das hannoversche Land, dem der Autor entstammt, lebendig werden. +In seiner schlicht-einfachen Art, die das Grübelnd-Moderne in der +psychologischen Auffassung nicht kennt, scheidet er sich allerdings +von den meisten anderen neuzeitlichen Vertretern der Heimatkunst.</p> + +<p>Von hier aus bis zu denjenigen Erzählern, die ihrer Heimatkunst einen +rückhaltlos naturalistischen Einschlag geben, ist nun eben nur ein +Schritt. Hier sind zwei Österreicher zu nennen: Peter <em class="gesperrt">Rosegger</em> +und Ludwig <em class="gesperrt">Anzengruber</em>, beide freilich wieder unter einander +verschieden. Wenn ich <em class="gesperrt">Rosegger</em> hier nenne, so denke ich nicht +an den Stimmungsdichter der »Schriften des Waldschulmeisters«, auch +nicht zuerst an den Problemdichter der größeren Romane — als solcher +wird er uns noch einmal begegnen —, nein, mir stehen dabei jene +seiner vielen Schriften vor Augen, in denen die steirische Heimat +das einzig Herrschende ist. Sie sind ja nicht alle von gleichem +Wert; wie könnte dem vielschreibenden Mann jeder Wurf zu gleicher +Vollendung ausreifen? Die kleineren Geschichtensammlungen tragen alle +diese Art, aber auch von den größeren verleugnen manche sie nicht: so +»Heidepeters Gabriel«, so auch »Jakob der Letzte« und das historische +»Peter Mayr, der Wirt an der Mahr.« Zwei Haupteigenschaften +charakterisieren diese naturalistische Heimatkunst Roseggers: einmal +die liebenswürdige Frische, sodann die natürliche Derbheit der +Erzählung. Die liebenswürdige Frische nimmt unwillkürlich gefangen; +selbst den schwächeren Geschichten gibt sie einen eigentümlichen Reiz. +Die Naturfarbe wirkt mit der herzgewinnenden Offenheit, das sich +offenbarende warme, gemütstiefe Empfinden mit kräftig gesundem Urteil +zusammen, um den Leser immer aufs neue zu erfreuen. Die Derbheit aber, +welche sich mit<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> der Liebenswürdigkeit paart, wirkt bei Rosegger +rein ländlich-natürlich. Es ist eine ähnliche Derbheit, wie sie +auch bei Fritz <em class="gesperrt">Reuter</em> manchmal durchbricht, die Derbheit des +Naturkindes. Sie wird nirgends roh, aber auch nirgends raffiniert und +sie geht niemals ins Einzelne. Sie sucht nicht sonst Verschleiertes, +sondern sie erzählt offen, was bei dem einfachen Volk der Berge, das +keine Prüderie kennt, offen besprochen zu werden pflegt. Wir haben +hier die Verbindung von Heimatkunst und natürlichem Naturalismus. +Anders schon zeigt sich die Verbindung von Heimatkunst und +Naturalismus bei <em class="gesperrt">Ludwig Anzengruber</em>. Der hat sich selber als +»Realistiker« gezeichnet, als er den zweiten Band seiner »Dorfgänge« +einleitete. Nur ein paar Sätze aus dieser Schilderung können hier +wiedergegeben werden. »Ein solcher« (Schriftsteller), so schreibt er, +»glaubt der Wirkung seines Stoffs im vornhinein sicher zu sein, wenn +er alle seine Gestaltungskraft an das Kleine und Kleinliche aufwendet, +und er will es dabei eingedenk bleiben, daß selbst die schmutzige +Scholle ein Stück der Allernährerin Erde sei ....... Er erspart uns +keinen Schrei wehen Jammers, er erspart uns kein Jauchzen wilder Lust. +Er stößt das Elend, das um Mitleid bettelt, nicht von der Ecke, er +jagt den Trunkenbold, der alle belästigt, nicht von der Straße, alles, +was er bei solchen unangenehmen Begegnungen für euch tut, ist, sie +abzukürzen, nachdem ihr aber doch den Eindruck einmal weghabt. Tugend +und Laster, Kraft und Schwäche führen bei ihm ihre Sache in ihrer +eigenen Weise. Er will das Leben in die Bücher bringen, nachdem man es +lange genug nach Büchern lebte ....«</p> + +<p>Diese wenigen Worte geben natürlich nicht den ganzen Anzengruber. +Gleich ihre Fortsetzung proklamiert den Realistiker als den »Priester +eines Kultus, der nur eine Göttin hat, die Wahrheit,« aber sie spricht +ihm auch das Recht der Stimmung und der Deutung zu: »Er bringt<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> die +Sterbenden aus dem Gelärm des Tages und bettet sie in heiliger Stille, +er flüstert vertraut mit ihnen über alte Erinnerungen, damit sie dem +Sonnenlichte nicht fluchen, zu dem sie einst erwachten, und er deutet +ihnen leise all diese Schauer und Krämpfe als die letzten Anrechte +allen und jeden Schmerzes an sie, damit sie die Nacht nicht fürchten, +in welche sie jetzt eingehen sollen, langsam, mählich, wie die Pulse +verrollen, der Atem stockt, das Herz stille steht ....« Aber es ist +besser, wir machen uns seine naturalistische Heimatkunst praktisch +klar, indem wir eins seiner Werke genauer ansehen. Wählen wir nicht +die »Dorfgänge«, aber noch weniger die minder charakteristischen +Kleinigkeiten wie »Gefabeltes von irgendwo und nirgendwo«, sondern +sein erzählendes Hauptwerk, das neben den Dramen ihn am deutlichsten +charakterisiert, die Dorfgeschichte mit dem Titel »<em class="gesperrt">Der +Sternsteinhof</em>.«</p> + +<p>Es ist die Geschichte eines weiblichen Charakters. Rechtschaffen +sauber ist die Zinzhofer Helen', aber arm, ganz arm. Da hat der +häßliche Kleebinder Muckerl an ihr Gefallen gefunden, und vom Ertrag +seiner Herrgottsschnitzerei hat er ihr schöne Geschenke gemacht. +Sie hälts mit ihm, aber ihre Pläne gehen höher hinaus. Sie weiß +die Aufmerksamkeit des jungen Bauern vom großen Sternsteinhof zu +erwecken und durch geschickte Zurückhaltung ihm ein schriftliches +Eheversprechen abzugewinnen. Bis dann doch die Stunde kommt, da des +reichen Anbeters Zudringlichkeit ihre Zurückhaltung besiegt. Nun hat +sie verspielt; der junge Bauer will sie wohl heiraten, aber der Alte +gibts nicht zu, und sie muß froh sein, daß Muckerl, der Gute, durch +eilige Ehe ihr die Schande erspart. Auch der junge Bauer heiratet +— ein reiches Mädchen, das von der Geburt des ersten Kindes an +schwer kränkelt. Er träufelt nun Gift in Helenes Herz: sie wollen +noch einmal zusammen gehören, und wenns ein Verbrechen koste. Kein +Verbrechen braucht es dazu; dem Muckerl, der nie stark<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> gewesen, +gibt die Entdeckung, daß sein Weib ihn hintergehe, den Rest; und die +Bäuerin stirbt auch. Helen' erreicht ihr Ziel: sie wird die Herrin vom +Sternsteinhof. Freilich nicht lange an ihres Bauern Seite; der bleibt +im Feldzug. Nun lebt sie ganz für ihre Kinder.</p> + +<p>Die Geschichte eines Charakters: denn das ist ihre größte Kraft, daß +sie alle Wandlungen im Wesen der schönen Helen' mit psychologischem +Tiefblick darlegt. Wie sie gern davon hört, daß sie die allersäuberste +wär' im ganzen Landviertel! Wie sie nimmt, was der schieche +Muckerl ihr schenkt, ohne daß doch ihr Herz etwas von Dank wüßte! +Wie sie die Netze auswirft nach dem reichen Bauernsohn! Wie sie +lavieren kann, ums mit keinem zu verderben! Und nachher, welche +ergreifenden Seelenbilder: der Fußfall der Entehrten vor dem alten +Sternsteinhofbauern, bei dem sie sich tief demütigt und doch stolz +bleibt, — der dankbare Jubel, wie Muckerl ihr auch jetzt noch die +Hand zur Ehe reicht: »da schwingt sie sich flink über das niedere +Gatter, das sie trennt, und nun hing sie an seinem Halse und preßte +die dürstenden Lippen auf die seinen und er taumelte unter ihrer +Last, wie trunken von ihren Liebkosungen.« Dann die Beichte vor der +Trauung mit der Angst, die Absolution nicht zu erhalten, mit dem +Nachklang in ihrem Herzen: »Das war gestern eine Beicht' gewesen! Ei +wohl, eine schwere, harte Beicht'. Gott sei Dank, daß es überstanden +war!« Und weiter jene nächtliche Szene, in welcher die Versuchung, +welche das Wort des Sternsteinhofbauern in die Seele gestreut, in ihr +Leben gewinnt: »Ewig lebt keiner, doch überlang mancher. Was g'schah' +dann? Das find't sich! .... und dann flüsterte, wisperte und raunte +es ihr zu: Tu's — tu's — tu's — es find't sich — es find't sich!« +Es ließen sich diesen Bildern leicht noch andere anfügen: Helene und +ihre Mutter, die alte goldgierige, vorschubleistende Zinzhoferin; +Helene und der alte Sternsteinhofbauer, der ihr gram bleibt,<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> bis +sie nach dem Tod des jungen Bauern auch ihm wieder gute Tage gibt. +Ein hartes Herz ists, dessen Geschichte beschrieben wird. Schönheit +bringt Gefahr! Nur hoch hinaus! Was tut ihr die Liebe des Häßlichen? +Was nachher die unendliche Treue des Großmütigen? Ihr gilts nur ihr +Ziel. Und schließlich hat sie doch als die reiche Bäuerin die hohe +Achtung der ganzen Gegend. Die anderen, denen sie grauses Herzeleid +angetan, bedauert niemand. »Anders aber, wenn Helene stirbt, nicht nur +ihrem eigenen Kinde wird das Herz schwer werden, auch das fremde wird +ihr heiße Tränen nachweinen, die Armen in der Umgegend und alle Jene, +die gewohnt waren, freundnachbarlich sich Rat und Tat zu erbitten, +wird der Tag bedrücken, an welchem der Tod die Bäuerin hinwegholt vom +Sternsteinhofe.«</p> + +<p>Noch manches andere steht im »Sternsteinhof«, was Erwähnung verdiente. +Wie meisterhaft diese Unterredung, in welcher der alte Pfarrer den +jungen Kaplan die Herzen seiner Leute kennen lehrt! Man kann hier und +da die Empfindung haben, aufs Niveau der einfachen Dorfgeschichte +herabzusinken; aber die unerbittliche Klarheit der Seelenanalyse +zeigt immer wieder, daß die Geschichte über demselben steht. Der +Naturalismus ist hier scharfsinnig geworden; er ist nicht mehr bloß +natürlich-naiv. Unangenehme Szenen kürzt Anzengruber wirklich ab; +er wird nie pikant, dazu ist er viel zu ernst. Aber er erspart auch +nichts, vor allem kein Weh' und keine Sünde.</p> + +<p>Auf <em class="gesperrt">ländlichem</em> Gebiet haben Anzengrubers Gestalten ihren +Heimatboden. Er gibt selber den Grund dafür an — in einer +Nachbemerkung zum Sternsteinhof —: »weil der eingeschränkte +Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer +Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften, +rückhaltlos sich äußernd, verständlicher bleiben ....« Andere haben +doch die hiernach noch schwerere Aufgabe gewagt, auch in<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> einen +Mechanismus hineinzusehen, »den ein doppeltes Gehäuse umschließt und +Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben.« Sie führen ins +Leben der <em class="gesperrt">Stadt</em> und in die Herzen der Gebildeten. Heimatkunst +üben sie darum auch. Aber ist es nicht so, daß der Städter, daß der +Gebildete minder fest an der heimatlichen Scholle hängt, vor allem +minder nachhaltig durch sie bestimmt wird als der Landmann, der mit +ihr in steter, enger Verbindung bleibt? Man mag getrost auch hier von +Heimatkunst sprechen; aber der Begriff verliert, wo Berliner Straßen +und Schornsteine in Frage kommen, sein Anheimelndes. Um so deutlicher +tritt der Begriff Naturalismus in sein Recht. Nur natürlich: hier kann +nicht mehr von naiver Offenheit die Rede sein, hier handelt es sich +einfach um grundsätzliche Darlegung nackter Wirklichkeit.</p> + +<p>Berlin ist es, das den Untergrund hergibt für die Romane <em class="gesperrt">Max +Kretzers</em>, der unfraglich von Emil Zola gelernt hat, wenngleich +er ihn nicht erreicht hat, auch wohl im Grad der Entschleierung des +Häßlichen ihn nicht hat erreichen <em class="gesperrt">wollen</em>. Nicht überall ist ihm +ein treues Konterfei der Berliner Wirklichkeit gelungen; vieles in +dem Roman »<em class="gesperrt">Die Bergpredigt</em>« muß man als tendenziös entstellt +schlechthin ablehnen. Damit hat Kretzer sich eben auf ein Gebiet +gewagt, auf welchem objektive, naturgetreue Zeichnung außerordentlich +schwer ist, — auf das kirchliche Gebiet. Die persönliche Stellung, +persönliche Antipathien insbesondere, sprechen hier auch bei dem +Apostel der Wirklichkeit so stark mit, daß der naturalistische Roman +nicht ganz wenige Züge vom Tendenzroman erhalten hat. Anders im +»<em class="gesperrt">Meister Timpe</em>«. Damit hat Kretzer einen ganz aktuell-modernen, +nämlich einen sozialen Roman geschaffen. In der Werkstatt in einer +der engen Straßen in Berlin O. regiert Meister Timpe, ein ehrsamer +Drechsler, über zahlreiche Gesellen und Lehrlinge. Wenn Handwerk +für ihn<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> auch nicht gerade goldenen Boden hat, so hat es ihm doch +zu gewissem Wohlstand verholfen. Der Meister hat redlich dazu das +Seine getan; Geschicklichkeit und Findigkeit in der Anfertigung +neuer Modelle haben ihn unterstützt. Aber nun erhebt sich plötzlich +dicht neben seinem Grundstück eine neue Fabrik derselben Branche, +gebaut von Ferdinand Friedrich Urban, dem skrupellosen, gewandten +Geschäftsmann. Es ist ein harter Kampf zwischen Werkstätte und +Fabrik, der nun beginnt. Mit zäher Energie kämpft Meister Timpe um +seine Existenz. Aber die Gegner sind ungleich. Die große Fabrik kann +billiger liefern, weil Einkauf und Verkauf im Großen geschieht; jede +Konjunktur kann Urban geschäftskundig ausnützen; die Modelle des +Handwerksmeisters beutet er skrupellos aus. Meister Timpe muß Kunden +um Kunden sich abwenden sehen, muß Gesellen um Gesellen entlassen. +Sein Erspartes geht drauf; er arbeitet schließlich allein, Stuhlbeine +drechselnd, Woche um Woche. Er, der alle sozialdemokratische Wühlerei +stets mit überlegener Gewißheit von sich gewiesen, gibt nun selbst +einen sozialdemokratischen Wahlzettel ab und predigt in einer +Streikversammlung Aufruhr: »Die Schornsteine müssen gestürzt werden, +denn sie verpesten die Luft .... <em class="gesperrt">Schleift die Fabriken</em> .... +<em class="gesperrt">zerbrecht die Maschinen</em>!!« Auch sein Haus soll ihm genommen +werden, er selbst soll wegen dieser Hetzrede gerichtlich belangt +werden. Er aber verbarrikadiert sich im Haus und man findet ihn tot.</p> + +<p>Fabrik und Handwerk, neue und alte Produktionsweise — das ist der +eine Gegensatz, welcher machtvoll dies Buch beherrscht. Mit diesem +Gegensatz aber ist in vollendeter Wirkung ein anderer verbunden — +der Gegensatz dreier Generationen. Des Meisters Vater ragt in die +neue Zeit hinein wie eine Ruine aus der guten alten Zeit: »Ja, ja, +das waren noch andere Zeiten .... damals! Das Handwerk hatte einen +goldenen Boden ...« Aber auch sonst vertritt er die alte Zeit, — die +Zeit, da noch<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> niemand hoch hinaus wollte, auch die Väter mit ihren +Kindern nicht, — die Zeit, da die Eltern ihren Kindern die Zuchtrute +gaben, um sie zu ordentlichen Menschen zu erziehen .... Die zweite +Generation hat ihren Repräsentanten in Meister Timpe selbst. Er für +seine Person, für sein Haus gehört ganz zur alten Art, — schlicht, +einfach, solide, gediegen, wie er ist. Sein einziger Luxus — eine +Weiße in der weitbekannten Kneipe von Vater Jamrath. Aber für seinen +Sohn will er hoch hinaus; der Franz muß Kaufmann werden und nicht +Handwerker. Wenn er nur in die feinen Kreise kommt — dann läßt der +Vater ihm in unverzeihlicher Schwäche alles durchgehen, alles. — Die +dritte Generation: — der Sohn Franz. Er kommt vorwärts, er wird des +reichen Fabrikbesitzers Schwiegersohn und Teilhaber. Aber Vater und +Mutter verrät und verläßt er um dieser neuen Größe willen; kommt des +Meisters geschäftlicher Rückgang auf Rechnung Urbans, so kommt all +sein Herzeleid auf Rechnung des ungeratenen Sohnes. Drei Generationen! +Die Gegenüberstellung wirkt mit wuchtiger Gewalt!</p> + +<p>In diesen Gegensätzen liegt die Kraft des Romans. Die brillant +gezeichneten Einzelbilder heben ihn noch: der Streit zwischen Meister +und Geselle um die Sozialdemokratie, die Debatte am Stammtisch +über die neue Entwicklung, die sozialdemokratische Versammlung. +Der Roman wird zum Zeitroman, aber in der derben Ungeschminktheit +seiner Darstellung zum naturalistischen Zeitroman. Vielleicht wirkt +noch nicht alles natürlich, z. B. nicht das rasche Aufsteigen des +hoffnungsvollen Franz, die gar zu skrupellose, ja gewissenlose und +verbrecherische Handlungsweise des ungeratenen Sohns. Vielleicht fehlt +ein Vertreter eines anderen Fabrikantentums, das <em>in puncto</em> +Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeit dem alten Handwerksmeister nichts +nachgibt. Vielleicht steckt eben doch auch in diesem Roman noch ein +Stück Tendenz. Aber jedenfalls<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> ist andrerseits der Naturalismus nicht +übertrieben. Kretzer ist nur ausnahmsweis ein Detail-Naturalist, +alles Sinnliche bleibt diesem Roman völlig fern. Berliner soziales +Leben ist mit wesentlich naturwahrer Treue geschildert, und zwar in +so abgerundeter Handlung und derart zugkräftiger Entwicklung, daß die +Form der Darstellung den Inhalt aufs beste zur Geltung bringt.</p> + +<p>Kräftiger noch sind die Farben aufgetragen in dem anderen Kretzerschen +Roman »Das Gesicht Christi.« Derselbe hat zum naturalistischen +Grundcharakter einen symbolistischen Einschlag. Davon noch später. +Er hat außerdem einen Beigeschmack des Pikanten, was dem »Meister +Timpe« völlig fehlt. Wenigstens die Verführungsszene zwischen +Fabrikant und Fabrikmädchen ist nicht rein naturalistisch; sie +ist zugleich sinnlich raffiniert. Die eigentliche Schilderung +aber greift hier noch tiefer ins Häßliche hinein; sie beschäftigt +sich mit den untersten Volksschichten, sie malt das Elend einer +unglücklichen Arbeiterfamilie, sie schildert die Schande im Gefolge +dieses Elends so deutlich, daß der Roman nicht bloß ein Beispiel +wird für die rücksichtsloseste Wirklichkeitszeichnung, sondern auch +für die erschreckende, zarter besaitete Gemüter abstoßende Wirkung +derselben. Welche Szene, die Arbeiterwohnung im Berliner Hinterhaus +mit dem Hunger als Gast, mit dem Tod vor der Tür! Welche Tragik: der +Arbeiter mit den hungernden Kindern die Stadt durchirrend, die große, +tosende Stadt, in der des Einzelnen Elend verschwindet! Und dann +seine Heimkehr in die öde Stube, in die der Tod inzwischen seinen +Einzug gehalten hat! Mit wuchtiger Plastik ist auch das Bild aus dem +Kneipenleben gezeichnet: die trinkenden, schimpfenden, streitenden +Proletarier, der junge Arbeiter und sein Mädchen, der Halbverhungerte, +der gierig die Speise verzehrt, die rohen Lieder, der giftige Spott, +— die Heilssoldatin mitten drin in all dem Toben! »Meister Timpe« +blieb immer beim Mittelstand; wenige Streiflichter<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> nur ließ er auf +die brodelnde Tiefe fallen. »Das Gesicht Christi« führt ganz in die +Tiefen, zum Teil in die tiefsten Tiefen der Sünde und des Elends. Es +nimmt die Wirklichkeit da, wo sie am schrecklichsten ist; es zeigt die +»Natur«, wie sie zur Bestie wird. Hier ist nichts mehr schön, aber +wahr ist alles.</p> + +<p>Auf das »Gesicht Christi« komme ich seines symbolistischen Einschlags +wegen später noch einmal zu sprechen.</p> + +<p>Für jetzt möchte ich noch mit einigen Worten bei einem anderen +gemäßigt naturalistischen Schriftsteller verweilen, der wieder ein +anderes Milieu zur Darstellung gebracht hat, bei <em class="gesperrt">Wilhelm von +Polenz</em>. Auch er wählt ländliche Verhältnisse für die Darstellung, +aber völlig andere als Rosegger und Anzengruber, — die ländlichen +Verhältnisse Ostelbiens. Seine Romane »<em class="gesperrt">Der Büttnerbauer</em>« und +»<em class="gesperrt">Der Grabenhäger</em>« erreichen in Schilderung dieser Menschen und +Gegenden einen hohen Grad von Anschaulichkeit. Er beschränkt sich +übrigens nicht auf die untersten Stufen der menschlichen Gesellschaft; +er versucht gerade auch die gebildeten Kreise zu Gegenständen seiner +Zeichnung zu machen. Am ausschließlichsten geschieht das in dem +»<em class="gesperrt">Pfarrer von Breitendorf</em>.« Aber — und darum gehe ich hier +auf dies Buch genauer ein — es ist entschieden schwerer, gebildete +Schichten naturalistisch abzukonterfeien als einfache Bauern oder +Taglöhner oder Fabrikarbeiter. Hier zeigt sich, wie sehr Anzengruber +mit Betonung dieser größeren Schwierigkeit Recht hatte. Kommt beim +Bauern viel auf Sitte und Brauch an, noch mehr auf alteingewurzelte, +einfache Grundanschauungen, reduzieren sich die ländlichen Konflikte +schließlich immer wieder auf die großen Fragen von Mein und Dein, von +Liebe und Eifersucht, — so ist der psychologische Apparat bei den +gebildeten Klassen erheblich komplizierter. Die geistigen Fragen, +die Unterschiede des Standes und Berufs, die Weltanschauung, — das +und noch tausend andere<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> Dinge soll der Dichter berücksichtigen. +Der »Pfarrer von Breitendorf« aber behandelt nun gar einen Stand, +der sicherlich mit am schwersten getreu darzustellen ist, den +Pastorenstand. Wie verschieden sind die Einzelglieder dieses +Sammelbegriffs! Wie verschieden schon ihre äußere Umgebung! Vor +allem aber, wie schwer ists für den Außenstehenden, gerade hier +vorurteilslos naturgetreu zu bleiben! Der Geistliche ist ja den +meisten derart verschmolzen mit der religiösen Anschauung, welche er +vertritt, mit dem kirchlichen Amt, welches er führt, daß ihr Urteil +über seine Person unmittelbar abhängig wird von ihrer Stellung zu der +Sache, die er darstellt. Wer zur Religion kein inneres Verhältnis +hat, wer mit dem Wort Kirche den Begriff unheimlichen Finsterlingtums +verbindet, dem ist oft genug der Pastor das, was dem Stier das rote +Tuch ist. Reichliche Beispiele hierfür geben Spielhagens Romane. +Wilhelm von Polenz hat im »Pfarrer von Breitendorf« gleichfalls stark +unter dieser Schwierigkeit gelitten. Er hat manchen guten Anlauf +zur wahren Schilderung genommen, einzelne Typen sind ausgezeichnet +getroffen. Aber um so verzerrter sind die anderen.</p> + +<p>Ein greiser Pastor findet in hohem Grad des Helden Gerland Beifall. Er +hat nichts Geistreiches an sich, seine Ansichten tragen den Stempel +des Altmodischen, er gesteht seine Unbekanntschaft mit allgemein +bekannten theologischen Fragen. Aber er spricht herzlich und schlicht, +er empfindet echte und tiefe Begeisterung für seinen Beruf; er faßt +sein Amt in Wahrheit als das eines Seelenhirten auf; Glauben und +Pflicht decken sich bei ihm in schönster Weise. »Er hatte keinen +Kompromiß zwischen Überzeugung und Lebensklugheit nötig.« Er handelt +auch im weiteren Verlauf der Erzählung ganz nach dieser seiner Art: in +herzlicher, schlichter, liebevoller Einfachheit. — Die anderen Typen +erfreuen sich nicht des gleichen Beifalls des Helden und des Autors. +Auch nicht desjenigen des Lesers. Als einmal<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> viele Pastoren beisammen +sind, heißt es: »Da war auch nicht ein vergeistigtes Antlitz, nicht +ein Auge, aus dem Begeisterung geblitzt hätte.« Die ganze Reihe hier +vorzuführen, unterlasse ich, um nur einige Bemerkungen noch anzufügen. +Da ist der Diakonus Fröschel, ein unansehnlicher, blasser Mensch, +der eine Brille trägt und sich linkisch verbeugt. »Es lag etwas +frühreifes, vorzeitig gealtertes in diesem runden kleinen Gesicht, das +die kurzen, unausgeprägten Formen eines Kinderkopfes trug.« Natürlich +hat er, als er zum Mittagessen eingeladener Maßen erscheint, einen +abgetragenen Rock an, kurze Beinkleider und plumpe Stiefeln. Dieser +selbe Fröschel ist innerlich völlig mit seinem Berufe zerfallen; +er »zersetzt sich in seiner eigenen Schärfe.« Seine Anschauungen +scheiden ihn völlig von seinem Amt, denn sie scheiden ihn von jedem +Christentum. Trotzdem wagt er nicht, den Beruf aufzugeben, — aus +Angst vor seiner ihn völlig beherrschenden Mutter. Lieber gibt er sich +schließlich selber den Tod. Da ist endlich Pastor Gerland selber, +mit einer gewissen Begeisterung geschildert, ein Mensch, von dem +wenigstens angedeutet wird, daß er es ernst nimmt mit seinem Beruf; +viel Tatsächliches erfahren wir nicht darüber. Er liebt die noch +ungetaufte Tochter des atheistischen <em>Dr.</em> Haußmann, gewinnt +mit Mühe und viel Selbstverleugnung das Vertrauen dieses Mannes, +gewinnt auch das Herz der Tochter. Sie läßt sich taufen; aber Gerland +quittiert doch sein Amt, — auch ihm sagt es auf die Dauer nicht +zu. Diese beiden eben kurz umschriebenen Gestalten sind beide sehr +wenig wahrscheinlich. Die Begeisterung Gerlands schlägt ohne irgend +genügende Motivierung in das Gegenteil um; und Fröschel mit der +unglaublichen Angst vor der Mutter ist eine Karikatur, eine einfache +Karikatur. Wer aber selbst diese Typen ernst nehmen wollte, müßte +mindestens zugeben, daß die gesamten Typen einseitig ausgewählt sind; +eine ganze Reihe von anderen fehlt. Dazu kommt, daß dem Dichter<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> auf +diesem Gebiet denn doch allzusehr die Details der geistigen Bewegungen +gefehlt haben, als daß er hätte naturgetreu zeichnen können. Das Buch +will ja naturalistisch sein und ich habe es eben um dieses Anspruchs +willen hier eingereiht. Aber es hat — in seiner Art — verzweifelte +Ähnlichkeit etwa mit dem militärisch-naturalistischen Tendenzroman +»Sedan oder Jena?« von Beyerlein. Gewiß, es ist schwer, <em class="gesperrt">dies</em> +Gebiet objektiv zu schildern. Sogar den Lesern wird es schwer, nicht +ihrerseits Stellung zu nehmen. In dem Exemplar einer Leihbibliothek +standen bei einem ziemlich absprechend urteilenden Satz zwei sehr +verschiedene Randbemerkungen. Ein Leser hatte geschrieben: »Frech und +unwahr!«, der andere: »Leider zu wahr!« Es ist eben nicht leicht, +Naturalist zu sein.</p> + +<p>Über Kretzer und über Schriftsteller wie Polenz hinaus haben +andere den Naturalismus noch naturwahrer wollen arbeiten lassen. +<em class="gesperrt">Zola</em> arbeitete sozusagen mit dem Bienenfleiße des Sammlers, +der alles und jedes Material, was zum Verständnis dienen kann, +zusammenträgt. <em class="gesperrt">Kretzer</em> schildert mit gröberen Strichen, +aber auch er schildert vor allem Verhältnisse, Zeiten, — nur in +den Zeiten und Verhältnissen zeichnet er die Menschen. Mit alledem +ist die naturgetreue Zeichnung doch noch nicht auf dem Gipfel. +Reden denn die Menschen bei <em class="gesperrt">Zola</em> so, wie sie im gewöhnlichen +Leben reden? Sprechen sie nicht noch immer, als ob sie sich ihre +Sätze ausgearbeitet, ausgefeilt und auswendig gelernt hätten? Sie +diskutieren, als ob sie zur Debatte zusammengekommen wären und als ob +der Präsident der Kammer ihnen nacheinander das Wort erteilte. Bei +<em class="gesperrt">Kretzer</em> sind sie darin zurückhaltender, maßvoller, natürlicher. +Aber das muß zugegeben werden: <em class="gesperrt">ganz</em> natürlich sind im Reden +auch <em class="gesperrt">Kretzers</em> Menschen noch nicht. Also — und damit setzt +der konsequenteste Naturalismus ein — gilt es, zu beobachten, wie +die Menschen sich geben, wie sie sprechen, — bis ins Kleinste +hinein.<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> Jeder augenblickliche Eindruck muß wiedergegeben werden. +Das Psychologische muß schärfer betont werden. Aber nicht etwa bloß +die großzügige psychologische Motivierung, sondern alle die kleinen +psychischen Wandlungen und Schwankungen, Einfälle und Zufälle, +Reizungen und Wallungen. Man sucht sich nun irgend einen interessanten +Moment heraus, einen Moment mit wechselnden seelischen Eindrücken, und +kinematophotographiert gewissermaßen die Seele in den Augenblicken, +wo diese Eindrücke wirksam werden. Damit geht dann Hand in Hand die +Umgestaltung der Sprechweise. Phonographisch getreu wird jedes Wort, +jede Interjektion, jeder halbe Laut wiedergegeben. <em class="gesperrt">Arno Holz</em> +und <em class="gesperrt">Johannes Schlaf</em> haben diesen Naturalismus eingeführt; +die Novellen »Papa Hamlet« (1889 erschienen) sind die erste Probe +desselben. Nicht aus ihnen, aber aus später erschienenen Novellen von +Johannes <em class="gesperrt">Schlaf</em>, dem Stück, welches »Leonore« betitelt ist +(erschienen 1899), entnehme ich zwei kleine Proben, die das Gesagte +veranschaulichen werden.</p> + +<p>Zunächst ein Beispiel für die Art der Schilderung psychologischer +Vorgänge. Günther kommt in die Wohnung der einst heiß Geliebten, die +aber ein anderer heimgeführt hat, — ein anderer, der nun längst +gestorben ist. Er wartet nun auf ihr Erscheinen.</p> + +<p>»Er kann sich dehnen ... Sieht sich um .... Als wär' er zu Haus ....</p> + +<p>Nur ... he! —</p> + +<p>Wie? — Wie denn? — Und nun quält er sich, sich in eine jener +Erinnerungen hineinzuringen, eine Erinnerung an eine jener so +unsagbar beseligten Stunden und sucht sie mit einer krampfhaften +Energieanstrengnng an die Gegenwart zu fügen.</p> + +<p>Aber diese Müdigkeit in ihm. — Diese verdammte Taubheit! —</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p> + +<p>Eine Aussprache! Gewiß! Das fühlt er! — Eine Aussprache. —</p> + +<p>Nun, nun! — Jaja, irgend etwas muß er jetzt reden ... Irgend was ... +Reden, reden, reden! — Und dann — gewiß! — wird alles ins rechte +Gleis kommen. —«</p> + +<p>Und dann eine zweite Probe, welche die Art zeigt, in welcher bei +Schlaf die Menschen sprechen:</p> + +<p>»Ihr Blick verfolgt den Zeigefinger, der zögernd über den Plüsch +hinstreicht. Es scheint, als wolle sie etwas sagen, aber sie schweigt.«</p> + +<p>»Hm! — Wie viel Jahre — sind — es ...«</p> + +<p>Er weint in sich vor Ohnmacht.</p> + +<p>»Fünf ... fünfzehn Jahre! — Weiß der Teufel! Schon fünfzehn Jahre!« —</p> + +<p>Mein Gott, was schwatzt er nur!</p> + +<p>Er lacht heiser.</p> + +<p>Ein leises »Ja!«</p> + +<p>Und wieder Schweigen.</p> + +<p>Sie erhebt sich und nimmt aus irgend einem Grund den Vorhang zurück.</p> + +<p>»Ja! — hä! — ich hätte nicht geglaubt, das Nest noch mal zu sehn! — +Aber es ist doch wirklich ein Bann, die — Heimat ...«</p> + +<p>Er hat sie nur immer beobachtet: wie sie sich nun wieder +niedergelassen hat, und — und wie ihre Brust geht ... Ihre Brust geht +...</p> + +<p>Er grinst.</p> + +<p>»So ... So eine — Anwandlung«, reißt er sich jedes Wort los. »Denn +eigentlich ist mir doch alles hier weggestorben ...«</p> + +<p>Mit <em class="gesperrt">dieser</em> naturalistischen Methode ist es nun freilich +unmöglich, einen Roman zu schreiben. Allerdings — der Versuch ist +gemacht worden. Aber was ist dabei herausgekommen? Nicht ein Roman +von wuchtig wirkender Geschlossenheit,<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> sondern eine lange Reihe +phonographisch-photographischer Skizzen. Skizzen! Das ist der beste +Name für die Produkte dieses allzugetreuen Naturalismus.</p> + +<p>Aber selbst die Skizzen, die den stolzen Titel »Novellen« führen, +lassen deutlich erkennen, daß <em class="gesperrt">diese</em> Methode über das Ziel +hinaus schießt. Gewiß, die Art der psychologischen Analyse wie +die Art der Wiedergabe der Unterhaltung verträgt eine Reform. Wer +seine Figuren wirklich natürlich malen will, darf sie nicht so +viel schwülstiger, länger und gelehrter reden lassen, als sie im +gewöhnlichen Leben reden. Wie das Drama von den fünffüßigen Jamben +zur einfach-schlichten Ausdrucksweise übergegangen ist, so muß es +auch die Erzählung. Nur — alles hat seine Grenzen. Eine Pflicht, +alle und jede Zwischenlaute, jedes Räuspern und Spucken, jedes Husten +und Niesen wiederzugeben, besteht nicht. Und wenn wir dem Künstler +tausendmal zugeben, daß auch das Häßliche geschildert werden darf, +— das einfache Hinschreiben der unbeholfenen Einzellaute, die +ein Mensch, der das rechte Wort nicht findet, ausstößt, ist keine +Kunst. Zudem würde eine unerträgliche Breite die Folge sein, sobald +mehr geschildert werden sollte, als eine besonders packende Szene. +Daher denn diese Naturalisten auch nicht <em class="gesperrt">alle</em> Natur zum +Objekt der Darstellung machen, sondern nur besondere Naturteile des +psychologischen Geschehens, mit Vorliebe auch des Liebeslebens. Sie +zeigen eben damit, daß auch sie nicht einfach nehmen können, was die +Natur gibt. Sie müssen auswählen. Wenn man aber erst einmal zugegeben +hat, daß die Natur künstlerisch betrachtet werden muß, dann ist auch +eine echte und treue, aber künstlerisch geläuterte Wiedergabe der +menschlichen Sprechweise nicht als unnatürlich abzulehnen.</p> + +<p>Wir überschauen den Weg, den wir zurückgelegt, um die Entwicklung +noch unter einem andern Gesichtswinkel anzusehen. Welche immense +Veränderung ist allmählich hinsichtlich des <em class="gesperrt">Stoffgebiets</em> +eingetreten! Ursprünglich<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> bilden Naturalismus und Heimatkunst eine +anscheinend unlösbare Ehe. <em class="gesperrt">Natürlich</em> — so scheint es — kann +man den Menschen nur nehmen, wenn man ihn nicht isoliert, sondern +in allen seinen Zusammenhängen erfaßt. Und der Leser dankt es den +Erzählern, daß sie ihn auch Völker, Länder, Sitten kennen lehren. +Der naturalistische Roman ist zugleich Gesellschaftsroman, ja er ist +ein Stück Zeitroman. Daß nicht bloß die einfach schlichte ländliche +Natur als Objekt der Naturschilderung zu gelten habe, sieht man ja +ein; das städtische Leben, das Leben der Gebildeten, ob auch manchmal +unnatürlich verbildet, ist doch mit Gegenstand einer Darstellung, die +das Tatsächliche beschreiben will. Aber noch bleibt der Zug zum Großen +und Weiten, zum Bedeutenden. Selbst die Elendsbilder Hetzers sind +davon berührt; das Elend der Massen kann heut nicht anders angesehen +werden denn als ein wichtiges Stück sozialen Lebens. Nun aber +kommt eine Wandlung: man wird noch naturgetreuer, aber man erkauft +diese Naturtreue durch Verzicht auf das Großzügige. Wohl erhalten +wir noch Bilder aus dem Leben; aber nicht mehr die bedeutenden +Lebenserscheinungen stehen im Vordergrund, sondern die dekadenten, die +nervösen, die pathologischen, die unsittlichen. Auch die Kreise der +Halbwelt, die ein <em class="gesperrt">Tovote</em> so sehr darzustellen liebt, bilden +einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, aus dem Volk. Aber man mag +sagen, was man will: wer sich auf dies Gebiet konzentriert, wer das +individuelle Liebesleben, zumal nach Seiten seiner Entartung hin, +als Stoff bevorzugt, wer in jenen Regionen sich erzählend aufhält, +welche sonst mit Nacht und Grauen bedeckt sind, der mag Nerven +kitzeln, der mag Effekte erringen, der mag sehr naturgetreu sein, +— aber die Aufgabe des Romans, der Erzählung ist ihm aus den Augen +gekommen. Ein Weltbild soll der Roman geben, ein Bild der wirklichen +Welt. Aber doch eben <em class="gesperrt">der</em> Linien der Weltentwicklung, welche +dieselbe <em class="gesperrt">leiten</em>. Und wer nun gar<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> seine Aufgabe als Erzähler +mit derjenigen des Momentphotographen verwechselt, der zeigt, daß er +nicht mehr weiß, was »Welt« bedeutet und was »Leben« heißt. Aus diesem +Grund ist die <em class="gesperrt">neueste</em> Phase des Naturalismus auf dem Gebiet +des Romans — vom Drama rede ich hier nicht — eine Entgleisung. Der +Naturalismus hat große Bedeutung; und wir werden von ihm nicht mehr +loskommen. Aber er wird diese Bedeutung nur dann behalten, wenn er +<em class="gesperrt">natürlich</em> bleibt und wenn er <em class="gesperrt">künstlerisch</em> bleibt.</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_3"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Der_Problem-_und_Gesellschaftsroman">Der Problem- und Gesellschaftsroman.</h2> +</div> + + +<p>Der Roman soll ein Weltbild geben, dazu genügt eine einfache +Schilderung, mag sie so ruhig sein wie nur möglich. Solche Schilderung +gibt im Grunde die Volkserzählung wie der Zeitroman und der +historische Roman. Die Stimmungsdichtung schildert, indem sie mit +dichterischem Empfinden Welt und Menschen verklärt. Der Naturalist +schildert mit rücksichtsloser Feder die nackte Wirklichkeit. Aber +brauchen sie nicht alle doch einen Einschlag, der ihre Schilderungen +zu Romanen macht? Es ist der Einschlag der <em class="gesperrt">Handlung</em>, der allen +unentbehrlich ist. Man kann ihn auf ein Minimum beschränken, wie z. B. +<em class="gesperrt">Fontane</em> in »<em class="gesperrt">Vor dem Sturm</em>«, auch im »Stechlin«. Fehlen +aber darf er nicht.</p> + +<p>Nun kann eine Handlung wieder sehr verschieden aufgebaut sein. +Vor allem bestehen hier zwei Möglichkeiten. Sie kann durch äußere +oder durch innere Spannung wirken. Für die erste Möglichkeit gibt +das einfachste Beispiel der normale Sensationsroman. Der gröbste +Sensationsroman wirkt durch Mord und Totschlag, durch Verbrechen und +Intrigen, durch Gefahren und Errettungen. Der feinere Sensationsroman +hat andere Mittel. Namentlich die Beziehungen der beiden Geschlechter +müssen wieder und wieder herhalten, um die Handlung wirksam zu +gestalten. Der gewöhnliche Liebesroman gehört in diese Gattung. Die +andere Möglichkeit aber besteht darin, daß der Dichter die Handlung +nicht äußerlich, oder wenigstens nicht bloß<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> äußerlich wirken läßt, +sondern innerlich, d. h. durch den ihr innewohnenden <em class="gesperrt">Gedanken</em>. +Auch dafür bieten sich der Wege noch gar viele. Aber am nächsten +liegt dann die <em class="gesperrt">Einarbeitung eines Problems</em> in die Handlung. Es +sei daran erinnert, wie <em class="gesperrt">Goethes</em> »<em class="gesperrt">Wahlverwandtschaften</em>« +gerade in der innerlichsten Verknüpfung von Handlung und +Gedankenproblem vorangegangen sind. Goethe hat darin nicht so bald und +nicht gleich in hoher Vollendung Nachfolger gefunden. Aber gefunden +hat er sie im deutschen Roman.</p> + +<p>Ein Roman ist nun keineswegs deshalb wertlos, weil er die Handlung +mehr äußerlich wirken läßt als innerlich. Der beschreibende Zeitroman +z. B., wie Freytags »Soll und Haben«, tut das; aber sein Wert +besteht eben in der Schilderung, für welche die Handlung lediglich +eine anregende Beigabe bietet, die dann ihrerseits keine besondere +Gedankentiefe mehr zu entwickeln braucht. Auch der geschichtliche +Roman begnügt sich in der Regel mit einer mehr in äußerlicher +Entwicklung aufgehenden Handlung, Andere ähnlich. Erst wo der Roman +sich nicht mehr nach Seite der Schilderung oder nach Seite der +reinen psychologischen Entwicklungsgeschichte (wie in <em class="gesperrt">Kellers</em> +»<em class="gesperrt">Grünem Heinrich</em>«) vertieft, entsteht die Notwendigkeit, das +<em class="gesperrt">Schwergewicht</em> auf die Problementfaltung zu legen.</p> + +<p>Wenn der Roman diesen Weg einschlägt, so eröffnet sich ihm ein weites, +fruchtbares Arbeitsfeld. Tausend Probleme bietet das Leben, tausend +Probleme quälen den Denker. <em class="gesperrt">Ein großes Problem groß behandeln</em>, +hineingreifen in die Fragen der Zeit, des Menschenlebens, der +geistigen Entwicklung, der Weltanschauung, der Seelenkunde, — was +für eine Aufgabe! Sie ist des Schweißes der Edlen wert! Nur leider +— im deutschen Roman ist <em class="gesperrt">dieser</em> Acker nur dürftig angebaut. +Mir ist es immer wieder wie ein Riesenproblem erschienen, daß gerade +der deutsche Roman, der Roman des Volkes der Dichter und Denker,<span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span> den +Problemroman im großen Stil so stiefmütterlich behandelt hat. Man kann +ja nicht sagen, daß er ihn vergessen hat. Wir werden nachher sofort +sehen, wie er hier gearbeitet hat. Aber andere Länder sind uns darin +voraus. Emil <em class="gesperrt">Zola</em> war gewiß in erster Linie Beschreiber. Doch +fehlt ihm bei allem Naturalismus die Energie nicht, die Beschreibung +mit großen Gedanken zu durchweben, sie zugleich in den Dienst des +Problems zu stellen. Seine Trilogie Rom, Paris, Lourdes ist nach +dieser Richtung hin von Bedeutung. In Rußland hat <em class="gesperrt">Tolstoi</em> +mit seiner »Auferstehung«, so sehr sie den Stempel der Unfertigkeit +trägt, gleichfalls einen großen Wurf getan. Den Stammverwandten +im Norden liegt das Denken und Grübeln außerordentlich; auch ihre +Erzählungen graben in die Tiefe. Was haben sie für Anregungen in der +Problemstellung durch ihre <em class="gesperrt">Ibsen</em> und <em class="gesperrt">Björnson</em>!</p> + +<p>In unserer Romanliteratur sind die Werke, welche <em class="gesperrt">große</em> Probleme +behandeln, nicht häufig. Große Probleme — damit meine ich allgemeine, +prinzipielle, typische Probleme. Andere finden sich oft behandelt. +Aber die, welche große, einschneidende Fragen der Zeit behandeln, +nicht bloß schildernd, sondern wirklich eine Lösung versuchend, — +diese sind zu zählen. <em class="gesperrt">Wir konstatieren an dieser Stelle die größte +Lücke in der Reihe der Schöpfungen des neueren deutschen Romans.</em> +Wilhelm <em class="gesperrt">Jordan</em> behandelt z. B. in »<em class="gesperrt">Die Sebalds</em>« ernste, +wichtige Fragen der Weltanschauung, <em class="gesperrt">Heyses</em> »<em class="gesperrt">Merlin</em>« +hat den Unterschied der idealistischen und der naturalistischen +Richtung zum Thema, Bertha <em class="gesperrt">von Suttner</em> arbeitet in ihrem stark +tendenziösen, aber keineswegs ungeschickten Roman »<em class="gesperrt">Die Waffen +nieder</em>« für die Liga der Friedensfreunde, andere griffen soziale +Fragen auf, — aber es ist nirgends wirkliche Tiefe und Kraft der +Problemstellung und der Problemlösung. Entweder geht die Kunst in +der Schilderung auf, — oder aber der<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> Dichter wird zum Lehrmeister. +Er ist schon fertig, vielleicht allzu fertig mit seinen Fragen. Er +predigt seine Lehre, aber er greift nicht hinein in die ungeheueren +Abgründe der wirklichen, brennenden Fragen, welche mit überwältigender +Wucht die Herzen erfüllen.</p> + +<p>Vielleicht gilt letzteres auch von den großen Romanen desjenigen +Dichters, der die tiefsten Probleme am mutigsten angefaßt hat, des +schon mehrfach genannten <em class="gesperrt">Peter Rosegger</em>. Er ist nicht bloß ein +Dorfgeschichtenschreiber, nicht bloß ein gemütvoller Stimmungsdichter, +er hat wirkliche Romane im großen Stil uns geschenkt. »<em class="gesperrt">Jakob der +Letzte</em>« und »<em class="gesperrt">Das ewige Licht</em>« haben soziale Probleme zum +Inhalt. Allerdings ganz bestimmte, eigentlich begrenzte, aber doch +typische. Beidemale handelt es sich um Waldsiedelungen, die zugrunde +gehen. Dort wird das Gebiet, auf dem Menschen hausen, wieder zu Wald +gemacht; hier dringt die Kultur in die Waldeinsamkeit und zeitigt +schwerwiegende Folgen. Weniger machtvoll ist »<em class="gesperrt">Martin der Mann</em>«. +Eine der ergreifendsten Schöpfungen des steirischen Dichters haben wir +in »<em class="gesperrt">Der Gottsucher</em>« vor uns, der das religiöse Problem von der +sittlichen Seite her anfaßt.</p> + +<p>»Der Gottsucher« führt in die Vergangenheit. Das Dorf Trawies steht +unter geistlicher Herrschaft. Sein Pfarrer ist zugleich sein Herr. +Die Leute von Trawies sind sonst immer aufs beste mit ihrem Pfarrer +ausgekommen; es waren kirchentreue Katholiken, wie zumal einsame +Bergtäler solche Gemeinden bergen. Da wird ihnen ein neuer Priester +und Herr gesetzt: der nimmts zwar mit den eigenen Pflichten nicht +allzu genau, aber sehr genau mit denen der Pfarrkinder. Noch ist +in Trawies der uralte, von der Heidenzeit überkommene Brauch der +Sonnwendfeier in Übung; der Pfarrer kehrt sich mit härtester Strenge +auch gegen diesen Brauch. Da beschließen die Männer der Gemeinde +seinen Tod. Wahnfred<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> der Schreiner vollstreckt das Urteil. Der Täter +wird nicht gefunden; zur Sühne für den Mord müssen elf Männer ihr +Leben lassen. Über die ganze Gemeinde aber wird Interdikt und Acht +verhängt. Nun beginnt die furchtbare Schilderung dessen, was in dem +Tal, das keinen Gott mehr hat, geschieht. Alles ist aus Rand und +Band. Auf der einen Seite die Not, auf der andern die Willkür .... +Keiner arbeitet, keiner baut etwas an, kein Halm geht auf. Die Alten +haben nichts mehr zu sagen, nur die Jungen und Starken. Sach- und +Weibergemeinschaft führen sie ein; aber eben um deswillen schlagen +sie einander tot. Keiner seiner Habe sicher, keiner seines Lebens +gewiß! Raubanfälle unternehmen sie nach außerhalb, das Eindringen +militärischer Ordnungsstifter hindern sie mit Gewalt. Zu Sünde und +Frevel gesellt sich das Leid. Der Borkenkäfer verwüstet den herrlichen +Wald, das Feuer vollendet sein Zerstörungswerk. Die Pest bricht herein +und hält eine grausige Ernte.</p> + +<p>Inzwischen hat Wahnfred, der Mörder, in einsamem Grübeln Gott +gefunden. Zu Gott will er auch die Leute von Trawies führen, da er +ihren Frevel und ihr Elend erkennt. Aber ein Schwärmer ist er selber +geworden: er lehrt sie im Feuer Gott sehen, und sie — trotz allem in +brennender Sehnsucht nach Gott — folgen ihm. Aber nur zum Kultus, +nicht zu Selbstbeherrschung und Reinheit. Wie Wahnfred dessen gewiß +ist, baut er einen großen hölzernen Tempel; in den sammeln sich, dem +Feuergott zu Ehren, alle Trawieser. Und wie sie drin eingeschlossen +sind, läßt er den Tempel in Feuer aufgehen. Trawies muß zugrunde +gehen, denn es hat keinen Gott, kein Vorbild und kein Gesetz. —</p> + +<p>Was wird aus Menschen, die keinen Gott haben? Die zugleich von aller +Ordnung der Kirche und des Staats verlassen sind? Sie verzehren sich +selbst in der Leidenschaften unbezwinglichem Taumel. Wohl werden +sie aus<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> sich selber heraus wieder Gott suchen. Nicht alle; denn +eine große Menge ist, die wählt ihren Weg durch das Tierreich, durch +Pflanzen und Moder in die Erde hinein. Das sind nicht Gottsucher, sie +verneinen das Ideal, sie suchen das Gegenteil. Aber die anderen suchen +ihn. »Auf allen Straßen und in allen Wüsten, du magst dich gegen +Morgen wenden oder gegen Abend, gegen Mittag oder gegen Mitternacht, +überall wirst du der Gottsucher Spuren entdecken, hier ein Rosenbett, +dort steinerne Tafeln, hier ein Schwert und dort ein Kreuz. Das Rufen +des Derwisch auf der Moschee, das Knarren der Klappern im Wigwam, das +Glockenklingen im Dome, es ist der Kinder des Leides ewiger Notschrei +nach einem göttlichen Retter, es ist die brennende Sehnsucht nach +einer Kraft, die das Tier in uns besiegt, den Geist befreit und uns +die Vollendung gibt.« Nur, soll diese Sehnsucht das rechte Ziel +treffen, so braucht der Mensch ein Vorbild, Gottes Ebenbild im denkbar +vollendetsten Menschen. Trawies hatte kein Vorbild und kein Gesetz. So +mußt' es vergehen.</p> + +<p>In die Tiefen der menschlichen Seele, in die heiligsten Fragen, +die Menschheit und Gott verknüpfen, in die ernstesten Probleme der +Erziehung des Menschengeschlechts, der kirchlichen und staatlichen, +der sittlichen und gesetzlichen Ordnung führt Roseggers »Gottsucher«. +Das Schicksal von Trawies, dem gebannten Trawies, ist Symbol, +aber nicht bloß Symbol. Es ist doch so in wüste Vergangenheit +zurückverlegt, so mit dem Geschick jener wilden Zeiten, in denen die +Obrigkeit mit Türkennot genug zu tun hatte, verbunden, daß es der +Wirklichkeit nicht entrückt ist. Eben an dem <em class="gesperrt">Beispiel</em> von +Trawies entwickelt sich mit unaufhaltsamer Notwendigkeit, was kommen +muß, wenn Gott fehlt und den Gottsuchern Vorbild und Gesetz fehlt. +Man kann also im »Gottsucher« ein symbolistisches Werk sehen; und man +hat ganz mit Recht hervorgehoben, daß die deutsche Literatur hier ein +großes Werk eigengewachsener,<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> nicht importierter Symbolistik besitze. +Aber es war gesunde Symbolistik, die auch im äußeren Geschehen die +Gesetze des Wirklichen nicht verließ. Und wenn man mit dem Dichter +rechten kann, ob nicht manches phantastisch werde, ob es nicht zu +stark in mystisches Dunkel gehüllt sei, — das Buch entfaltet doch +eine wunderbare poetische Kraft. Alle Düsternis, aller Schauer, alles +Grausen, ja alles Unschöne, alle unverhüllt vorgetragene Lehre ist +mit solcher Wucht fortreißender Sprachgewalt dargestellt, mit solcher +Herrlichkeit tiefsten dichterischen Empfindens umwoben, daß mancher +einzelne Mangel darüber getrost vergessen werden kann. Auch hier ist +ja — wie schon angedeutet — das Problem nicht eigentlich als Problem +vom Leser mit durchgrübelt; der Dichter trägt klar und zielbewußt die +eigene Lösung selber vor und vermeidet dadurch nicht den Eindruck +des Lehrhaften. Aber das Problem ist doch eben aus dem tatsächlichen +Geschehen heraus entwickelt. Roseggers »Gottsucher« ist und bleibt ein +großer Wurf.</p> + +<p>Problemstellungen von dieser Größe aber sind leider selten. Unter +den Neueren finden wir wieder den Mut, wenigstens auf einem Gebiete, +demjenigen der Charakterentwicklung, in die Tiefe und ins Große zu +gehen. Wir kommen auf diese verheißungsvollen Anzeichen einer neuen +Zukunft am Ende dieses Vortrags zurück. Für jetzt verweilt unser Blick +auf den literarischen Prosaschöpfungen der älteren Schule, soweit +sie Problemdichtung sein will. Viel Herrliches zeigt sich da dem +Auge nicht. In der Literatur der letzten Jahrzehnte des neunzehnten +Jahrhunderts bekundet sich eine merkwürdige Neigung, Probleme +zu behandeln, die »gesellschaftlichen« Charakter haben. <em class="gesperrt">Der +Problemroman wird zum Gesellschaftsroman.</em> Nun kann man ja das Wort +»Gesellschaft« sehr tief fassen; »die menschliche Gesellschaft« umfaßt +die größten Probleme. Aber der Durchschnitt der Romanschriftsteller<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> +nimmt das Wort nicht so tief. »Gesellschaft« bedeutet ihnen mehr +das Zusammenleben der oberen Schichten. Und sie behandeln nun die +Konflikte, welche sich hier aus Leidenschaft, Neigung, Sitte, Ehre, +Schuld und Sühne, Liebe und Ehe zusammensetzen.</p> + +<p><em class="gesperrt">Marie von Ebner-Eschenbach</em>, jedenfalls eine der bedeutendsten +unter den weiblichen Romandichtern, bewegt sich keineswegs nur in +diesem zuletzt gezeichneten Milieu. Ihre Erzählung »Das Gemeindekind« +z. B. greift eine eigentümliche Charakterentwicklung aus den untersten +Schichten einer Dorfgemeinde heraus. Was wird aus jenen unglücklichen +Geschöpfen, die, ihrer Eltern beraubt, der Gemeinde zur Last fallen? +Was wird namentlich dort aus ihnen, wo Waisenrecht und Waisenfürsorge +noch in den primitivsten Anfangsstadien der Entwicklung sich +befinden? Was wird aus ihnen, wenn kein menschenfreundliches Herz +sie aus diesen Verhältnissen herausreißt? Mögen ihrer viele zugrunde +gehen, — Marie von Ebner-Eschenbach zeigt mit psychologischer +Konsequenz, daß auch eine andere Entwicklung möglich ist. Freilich, +es ist schwer, aus der Tiefe in die Höhe zu kommen! Freilich, es +ist hart, um der Eltern willen Schmach zu leiden, die man nicht +selber verschuldet! Aber möglich ists doch, <em class="gesperrt">nicht</em> zugrunde +zu gehen! Wir nähmen gern noch etwas mehr Detail in der Motivierung +hin — die intime Verästelung in die feinsten Stimmungen hinein ist +nicht Sache der Ebner-Eschenbach —, aber wir finden die Linien +im großen richtig gezeichnet und das Werden dieses Gemeindekindes +durchaus wahrscheinlich beschrieben. Nirgends fehlen die nötigen +Vermittelungen, nirgends auch die unentbehrlichen Verbindungslinien +nach der umgebenden Welt. Und ganz ähnlich wie hier erstrebt die +Dichterin sonst eine psychologische Vertiefung ihrer Problemlösungen, +— auch da, wo die Fragestellung und die Fragebeantwortung noch +individueller ist, auch da, wo die »Gesellschaft« im besonderen Sinn +ihr die Stoffe liefert.<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> Greifen wir beispielsweise zu genauerer +Betrachtung noch ihre zweibändige Dichtung »Unsühnbar« heraus!</p> + +<p>Schauplatz: Die aristokratische Gesellschaft Österreichs. Sommers +auf den Landschlössern, Winters in Wien. Hintergrund: weder Stadt +noch Land, weder Beruf noch Arbeit in Einzelzeichnung. Allem Detail +ist Marie von Ebner feind. Ihre Menschen sind hier Grand-Seigneurs, +die Besuche machen und empfangen, Gesellschaften geben und besuchen, +und sich im übrigen ein bißchen beschäftigen, wenn sie gerade Lust +dazu haben. Von diesen Menschen aber erzählt sie mit Schneid' und +Verve, ohne ausgeführte Schilderung, ohne irgendwelche Lyrik, meist +sehr knapp. Der Wert ihres »Unsühnbar« liegt nur zum Teil in dieser +flotten Manier, die auch ihre anderen Sachen zeigen, die aber doch +oft etwas Gemachtes hat, weil nicht selten irgend eine Nebensache +dabei ebensolchen Akzent abbekommt, wie die Hauptsache, und weil sie +häufig durch diese Manier den Eindruck des Skizzenhaften, Abgerissenen +erweckt, manchmal auch den des Nachlässigen. Größer ist der Wert +der Problembehandlung. Eine junge Gräfin hat einen sehr wackeren +Grafen geheiratet, nachdem ihr der Vater einen anderen Bewerber, für +den sie fühlte, verleidet hat. Sie wird ein Muster von Gattin und +Schloßherrin, aber in einer schwachen Stunde gelingt es dem Andern, +sie zu betören. Nun lastet die Schuld auf ihr. Das Buch ist die +Geschichte dieses Schuldgefühls. Sie will den Tod suchen, — aber sie +wagt es nicht um des Kindes willen, das sie erwartet. Sie will sich +durch Wohltätigkeit darüber hinweghelfen, durch gesellschaftliche +Zerstreuung: nichts hilft. Sie sucht die Tröstungen der Religion, +ohne Trost zu finden. Sie verliert in jähem Unfall den Gatten und den +ältesten Sohn. Nur der jüngste bleibt ihr, der Zeuge ihrer Schuld. +Sie gesteht ihr Vergehen, sie weist den Verführer auch jetzt zurück. +Schwere Krankheit rafft sie hin. »Gebüßt, nicht gesühnt — das hätt' +ich nie gekonnt<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> .... Schwer ist mit solchem Bewußtsein das Leben +.... und schwer der Tod ...« Gewiß, ein ernstes Problem: die Sühne +der Schuld. Auch ist es ernst durchgeführt, — nur allzu ruckweise, +allzu schematisch. Neben reichen Ansätzen zu vertiefender Erfassung +bleibt viel Unfertiges. Und das Problem ist doch schließlich ein stark +subjektiv aufgebautes: nicht bloß die Schuld ist die Voraussetzung, +sondern auch ein zartes Gewissen ...</p> + +<p>Problem- und Gesellschaftsdichtung! Von den älteren Erzählern +gehört noch einer unbedingt hierher: <em class="gesperrt">Paul Heyse</em> mit seinen +Novellen. Man kann ja versucht sein, ihm den Platz neben dem anderen +großen Novellenerzähler, neben Theodor Storm, anzuweisen. Aber +Stimmungsdichter war Heyse nicht entfernt in dem Maße wie Storm. Beide +zu vergleichen, hat freilich seinen eigenen Reiz. Nehmen Sie den +tiefdunkeln deutschen Himmel aus düsterer Herbsteszeit, dazu die Wogen +der See, die hoch an den Deich schlagen, dazu die Menschen, die dort +wohnen, ein grüblerisches, verschlossenes, aber tiefes Geschlecht —: +das ist Storm, der nordische Dichter. Nehmen Sie dagegen lachenden +Blauhimmel aus dem goldigen Italien, dazu die üppigen Lorbeerbüsche +irgend eines vornehmen Parks einer Villa im römischen Gebirge, +dazu deutsche Künstler oder Gelehrte, die dort zu Gast sind, und +italienische vornehme Herren und Damen — und Sie haben Paul Heyse. +Nicht als ob diese Skizzierung wörtlich zu nehmen wäre. Storm freilich +blieb als Dichter der Heimat treu; Heyse hat längst nicht <em class="gesperrt">bloß</em> +»italienische« Novellen geschrieben, wenn schon doch etwa die Hälfte +von allen dort im Süden ihren Schauplatz hat. Aber auch wo er weitab +von Italien ist, auch wo er in die Landschaft hineinführt, die +den stärksten Gegensatz zur italienischen bildet, in die deutsche +Waldlandschaft, weicht unter seinen Händen der deutsche Zauber, weil +er das tiefinnige deutsche Gemüt nicht mitbringt, das deutsche Land +zu betrachten. Und auch der andere Unterschied<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> besteht zu Recht: +bei Storm schwerblütige deutsche Menschen, bei Heyse heißblütige +Allerweltsmenschen. Bei Storm Männer von alter, guter, fester Art, +selten anderswoher stammend als aus dem ehrenwerten Mittelstand, dem +Hort der alten Art und des treuen Gemüts, — Frauen und Mädchen, die +zu ihnen passen, treu und stark wie Elke, des Deichgrafen Hauke Haien +kraftvolles Weib, ruhig-ernst und doch opferbereit in herzlicher +Liebe wie die Anna in »Carsten Curator«, alle aber rein und frei und +klar. Bei Heyse dagegen Herren aus den höheren Ständen, Grafen und +andere Edle, Gelehrte und Künstler, jedenfalls gebildete Leute von +feiner Lebensart. Dazu Damen derselben Schichten, der glatten Rede +gewohnt, in der Konversation geübt. Und wie ungern nimmt er solche zu +Heldinnen, deren Leben schlicht und ruhig im alten Gleis geht! Irgend +etwas sucht er an ihnen, was besonderen Reiz hat, was unklar ist und +zu Verwicklungen Anlaß gibt: eine unglückliche Ehe, eine unerwiderte +Leidenschaft, einen erlittenen Verrat oder etwas dergleichen. Und wie +die Menschen, so ihr Reden. Bei Storm ist alles Reden ruhig, einfach, +nur etwa poetisch warm durchhaucht; bei Heyse herrschen der Ton des +Salons, die gesellschaftlichen Formen, die geschliffene Ausdrucksweise +der Menschen, die häufig reden, weil sie nicht so viel zu tun haben +wie andere.</p> + +<p>Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Heyse neigt viel mehr +nach dem eigentlichen Problem als Storm. Storm skizziert, läßt Töne +anklingen und nachklingen, weckt Erinnerungen, macht Gefühle lebendig, +zaubert Gestalten, die die Phantasie ergreifen. Wo eine ausgeführtere +Handlung ihn beschäftigt, gibt er sie in großen Zügen, springend +von Markstein zu Markstein. Anders Heyse. Er wählt Situationen, die +etwas Interessantes bieten müssen, und seine Menschen sind für diese +Situationen geschaffen. Manchmal nur für diese Situationen, so daß<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> +man zweifelt, ob sie eigentlich gerade so haben existieren können. +Seine Probleme aber bewegen sich alle um individuelle, manchmal sehr +individuelle Situationen. Das Grundthema der Heyseschen Novellen +bildet das Verhältnis von Mann und Weib: die Liebe. In allen möglichen +Variationen wird sie behandelt: als glückliche und unglückliche +Liebe, als verzichtende und als genießende, als eheliche und als +sündige Liebe. Aber immer, immer in ganz bestimmter Färbung der +Liebe, und zwar in der vorwiegend sinnlichen. So weiß er ästhetisch +die Schönheit zu würdigen: weibliche Schönheit hat in ihm einen +begeisterten Verehrer und genialen Schilderer. Aber er läßt auch die +Mächte aus der <em class="gesperrt">Tiefe</em> heraufsteigen, die doch das Wesen der +Liebe nicht erschöpfen. Er hat dabei nie ein unschönes Wort gesagt, +aber die Atmosphäre wird nicht selten schwül; — und von dem, was +bei Storm Liebe ist, weiß er wenig. Ich greife — ganz nach Willkür +— nur einige dieser Probleme heraus. Ein deutscher Doktor der +Philosophie kommt, er weiß selbst nicht wie, als Gast in das Haus +eines zum Krüppel geschossenen italienischen Grafen. Die Gräfin ist +tief unglücklich an der Seite des Gatten, sie schenkt dem Gast ihre +Liebe und der Gast widmet ihr seine Leidenschaft. Ihn zwingt eilende +Botschaft, heimzukehren; sie will der Herrschaft des Mannes auf +alle Fälle entrinnen. Ein Priesterzögling läßt sie im Stich, statt +sie zu entführen; und so bekennt sie dem Gatten, daß sie mit eben +diesem Zögling sich vergangen. Da erschießt sie der Rasende (Villa +Falkonieri). — Ein junges Mädchen ist durch die Treulosigkeit eines +Arztes, der ihre Schwester verführt, zur Menschenfeindin geworden. +Da lernt ein junger Baumeister sie kennen und liebt sie. Er rächt +sie an jenem Arzt, will es aber durchaus uneigennützig getan haben +und weist ihre endlich entglommene Liebe zurück. Sie aber hält es +nun für weise, sich ganz vom Leben zurückzuziehen. So gibt sie sich +den Tod (Doris Sengeberg).<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> — Die dreißigjährige Frau des berühmten +Universitätsprofessors schenkt ihr Herz einem zwanzigjährigen, +dichterisch und musikalisch veranlagten Studenten. Ihren Mann hat sie +nie geliebt, sein Herz gehört in erster Linie der Wissenschaft; ihren +einzigen Sohn hat er ihr genommen, um ihn in einer Erziehungsanstalt +unter männliche Leitung zu bringen. So ist sie für den Zwanzigjährigen +innerlich ganz frei und will sich auch äußerlich für ihn frei machen. +Er aber liebt sein hübsches, junges Wirtstöchterlein. Wie sie das +endlich erfährt, wird auch sie wieder innerlich frei für ihren Mann +und ihr Kind, das ihr jetzt von neuem vertraut wird (Melusine).</p> + +<p>Ich breche diese Aufzählung ab. Variationen seines Grundthemas hat +Heyse in reichlicher Zahl gefunden. Manche behaupten: <em class="gesperrt">er</em>funden. +Und gewiß: im Verhältnis zur schlichten Wirklichkeit liegt einer der +schwächsten Punkte der Heyseschen Novellistik. Sind nicht manche +dieser Probleme geradezu ausgeklügelt? Oder, wenn man der Liebe die +wunderlichsten Seitensprünge zugut halten will, ist nicht die Art, +wie der Dichter die seelischen Entwicklungen vor sich gehen läßt, +oft genug unnatürlich? Wie rasend schnell geht das Verlieben z. B. +in Melusine und in der Villa Falkonieri, aber auch in vielen anderen +Novellen. Ich will nicht verallgemeinern: aber richtig ist, daß +Unwahrscheinlichkeiten nicht selten sind und daß er eine Vorliebe für +absonderliche Konstellationen betätigt. Und daß mancher Charakter über +der Durchführung der Konstellation zum unverständlichen Rätsel wird, +ist ebenso gewiß.</p> + +<p>Trotz alledem dürfen wir diese formschönen, eleganten, glatt +fließenden, abgerundeten Erzählungen um so weniger ungerecht +beurteilen, als auch ihnen eine Art Stimmung eigen ist, welche den +Leser rasch gewinnt. In der Szene in »Melusine«, in welcher der +Studiosus Ludolf der<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> Professorsgattin zuerst vormusiziert, ist +unfraglich Stimmung. Ludolf singt sein hübsches Lied:</p> + +<p> +<span style="margin-left: 1em;">Du lispeltest: Ich liebe dich,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">Ich liebe dich bis in den Tod! —</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">Und deiner Wange Glanz erblich</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">Und deiner Lippe junges Rot ......</span><br> +</p> + +<p>Und dann heißt es: »Die Begleitung verklang leise, wie die letzten +Atemzüge einer Sterbenden. Eine Weile war es so still in dem +halbdunklen Zimmer, daß man draußen im Garten die Wipfel rauschen +hörte, die ein heranziehender Gewitterwind schüttelte« ....</p> + +<p>Aber trotz dieser Stimmung sind Heyses Novellen keine +Stimmungsnovellen, sondern gesellschaftliche Problemdichtungen. Sie +bilden, wie Adolf Bartels urteilt, »etwa die Ergänzung zu Storms +Stimmungsnovellen, sind plastischer, klarer, ja nüchterner als diese, +dafür aber auch vielseitiger, psychologisch reicher und feiner, kurz +moderner.« Ich möchte hinzufügen: sie reden viel mehr von Liebe, aber +sie sind viel ärmer an Gemüt. In ihnen regiert <em class="gesperrt">die Kunst</em>.</p> + +<p>Gerade diese Gattung des Romans ist in der nicht eigentlich +naturalistischen Erzählerkunst außerordentlich reich vertreten. Und +so mögen denn hier noch zwei Erzähler genannt werden, die keineswegs +ausschließlich, aber doch auch auf diesem Gebiet Beachtenswertes +geschaffen haben. Von <em class="gesperrt">Theodor Fontane</em> wurde schon gesprochen. +Er ist ein Künstler im Schaffen von Zeitbildern. Fast alle seine +Romane haben etwas von dieser Art. Aber etliche darunter rühren +doch auch ein Problem an und dann immer ein Problem, das im +gesellschaftlichen Leben wurzelt. Ich meine da nicht sein »Quitt«, das +von einer Mordaffäre des Riesengebirges den Ausgang nimmt. Auch dies +Buch ist die Geschichte einer Schuld. Aber indem der Dichter hier die +Schuld auf schauerlichem Verbrechen beruhen läßt, gibt er dem Ganzen +zu grobe Züge und<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> erschwert allzu sehr die Sympathie mit seiner +Hauptperson. Das geht ihm auch sonst ähnlich; aber selten so stark. +Viel feiner ist seine »<em class="gesperrt">Effi Briest</em>«, ein Buch, das in dem +Grundproblem unverkennbare Ähnlichkeit mit Marie von Ebner-Eschenbachs +»Unsühnbar« zeigt. Allerdings nur in der Problemstellung; sonst +gehen die beiden Schriftsteller weit auseinander. Marie von +Ebner-Eschenbach mit ihren knappen, skizzenhaften Entwicklungen, mit +ihrer vorwärts drängenden, fast jagenden Eile — und Fontane, der +Meister der Kleinkunst, der so gern still steht und verweilt! Dort +alles Linienführung — hier alles Mosaikarbeit! Aber darüber gehe +ich hier hinweg; es kommt mir jetzt weniger auf das an, was »Effi +Briest« mit seinen Zeitschilderungen gemein hat, als auf das, was sie +für <em class="gesperrt">sich</em> hat. Ein frisch und fröhlich, vor allem natürlich +aufgewachsenes Mädchen, Tochter einer märkischen Adelsfamilie, +heiratet, noch halb Kind, den erheblich älteren Landrat von Instetten. +In Zeiten, wo ihr Mann sich wenig um sie kümmert, gerät sie infolge +Verführung auf Abwege. Sie selbst bricht mit dem Verführer, dem Major +Crampas; niemand weiß um diese Sache; sie schließt sich von neuem in +nunmehr wandelloser Treue und in wachsender Liebe an ihren Gatten an. +Da kommt — nach Jahren — diesem das unglückselige Geheimnis doch +zur Kenntnis; er erschießt im Duell den Nebenbuhler, er verstößt die +Gattin. Und diese verliert zugleich ihr Kind —; das bleibt beim Vater +und ist der Mutter so fremd geworden, daß ein Wiedersehen mit ihr +dieser nur Qual bringt. Sie verliert auch ihr Vaterhaus; aber sie darf +dann doch, dem Tode nahe, in das Heim ihrer Kindheit zurückkehren und +dort sterben.</p> + +<p>Fontane hat wohl mit Absicht die Schuld selber ganz ins Dunkel +gerückt. Darin ist er <em class="gesperrt">nicht</em> Naturalist: die Ausmalung solcher +Szenen widerstrebt ihm. Die Folge davon ist nun freilich, daß auch +die Motive der<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> Schuld nicht ins helle Licht treten; Langeweile, +Gefühl des Vernachlässigtseins, Mangel an Befriedigung — genügt das +wirklich? Genügt es gerade bei einer Effi Briest? Aber wenn das eine +Schwäche des Romans sein mag, schwer wiegt sie nicht, insofern der +Nachdruck ganz auf die Frage fällt: ist es notwendig, diesen Fehltritt +nach Jahren tadellosen Verhaltens so zu sühnen, wie Instetten es +tut? Wem nützt das? Die Frau ist damit aufs schwerste gestraft; ihr +Geschick ist geradezu tragisch. Selten hat der kühle Fontane so +herzenswarme Szenen geschaffen, wie die, in welchen dies Leiden zum +Leser spricht. Da zuckt unter der oberflächlichen Ruhe der verhaltene, +tiefe Schmerz. Eine Lösung des Problems hat Fontane nicht gegeben; +aber er läßt seine Meinung doch deutlich merken. Die Ehrbegriffe +der Gesellschaft zwingen den Gatten, so zu handeln, wie er handelt. +Vernunft und Liebe aber sprechen anders. Freilich, — wann werden +Vernunft und Liebe das Regiment führen dürfen?</p> + +<p>Einen scharfen Gegensatz zu Fontane bildet <em class="gesperrt">Ernst von +Wildenbruch</em>. Fontane ist kühl bis ans Herz hinan. Wildenbruch +ist leidenschaftlich durch und durch. Fontane ist Epiker; auch die +Erzählung zeigt bei ihm epische Breite. Wildenbruch ist Dramatiker, +seine Schöpfungen auch auf dem Gebiet der erzählenden Dichtung +sind fast alle auf den dramatischen Effekt hin gearbeitet. Fontane +leitet den Blick des Lesers zu ruhiger Betrachtung: er liebt die +Kleinigkeiten. Wildenbruch bleibt für gewöhnlich bei den großen +Linien, darin der Ebner-Eschenbach viel ähnlicher. Aber während +diese ihre Sprache gelegentlich von der legeren Art der wienerischen +Umgangssprache stark beeinflussen läßt, hat Wildenbruch Erzählungen +geschaffen, in denen die Menschen mit dichterischer Schönheit, mit +wählerischer Feinheit, mit glühender Kraft sprechen. Im übrigen +hat auch er <em class="gesperrt">tiefere</em> Probleme sich nicht gestellt; entweder +er gibt packende Einzelszenen voll Glut und Feuer, oder er greift +ins gesellschaftliche<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> Leben hinein. Jene Szenen hat er gern +der Vergangenheit entnommen; und was für wirksame Bilder schuf +sein »<em class="gesperrt">Claudias Garten</em>«, sein »<em class="gesperrt">Zauberer Cyprianus</em>«! +Daneben hat er die gleiche Kunst auch in einem Einzelbild aus +dem Kadettenleben entwickelt: »<em class="gesperrt">Das edle Blut</em>«. Eine Art +gesellschaftlich-psychologisches Problem aber ist z. B. in dem Roman +»<em class="gesperrt">Eifernde Liebe</em>« angerührt. Die stolze, unnahbare, vornehme +Hamburger Patriziertochter, die weiße Dorothea, — die trotz allem +ihr Herz dem einfachen Maler Heinrich Verheißer schenken muß, — die +unnahbare, die schließlich doch im Liebesrausch sich selbst, Heimat, +Sitte und Herkommen vergißt, die aber dann, als sie zum Erwachen +kommt, nicht anders kann als sich selber den Tod geben, — sie +bietet die Möglichkeit einer kraftvoll einsetzenden psychologischen +Entwicklung, sie ist eine Art Problem für sich. Freilich, — das +Problem ist weder neu noch mit besonderer Vertiefung durchgeführt; im +Grunde ists ja nur der alte Satz von der Liebe, die keine Schranken +kennt, der wieder vorgetragen wird; und nur der Schluß zeigt den +Konflikt zwischen Verstand und Liebe. Nein, es sind keine tiefen +Fragen, die Wildenbruch aufwirft; was seine Prosawerke über das +gewöhnliche Durchschnittsniveau erhebt, ist lediglich der große Reiz +der formschönen und wirksam geschürzten Darstellung, die übrigens auf +ein paar naturalistische Zutaten nicht immer verzichtet.</p> + +<p>Was soll ich viel von andern »Problemdichtern« sagen? Probleme sind +wohlfeil wie Brombeeren, zahlreich wie der Sand am Meer, — wenn man +das Wort »Problem« nicht zu ernst nimmt! Wenn man gesellschaftliche +Verwicklungen alltäglicher Art eben als »Probleme« betrachten will! +Wenn man nicht viel Neues verlangt, sondern mit neuen oder wenigstens +neuaufgeputzten Nuancen der alten Themata: Verlieben, Verloben, +Verheiraten, Verheiratetbleiben zufrieden ist. Wer wollte<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> leugnen, +daß auch hier manches durch feinere Charakteristik anspricht, durch +geistvolle Behandlung anregt? Wenn ich keine Namen nenne, so geschieht +es, um nicht ungerecht gegen andere zu werden. Wer aber könnte +anderseits bestreiten, daß sich eine Art von Romanen unendlich breit +macht, die weder tief sind noch geistreich, sondern ganz einfach +platt und flach? Die ihre »Spannung« lediglich ein paar aufregenden +Situationen verdanken? Hierher gehört ein großer Teil der Salonromane. +Ihre Sprache: Konversationssprache, ihr Niveau: Dinerunterhaltung beim +fünften Gang, ihre Handlung komponiert aus Liebe oder Nichtliebe, +Treue oder Untreue, dazwischen eingestreut ein bißchen Krankheit und +Genesung, Duell und Tränen oder ähnliche Zugmittel.</p> + +<p>Kein Wort mehr davon! Nein, nicht mit diesem Bild soll dieser Vortrag +schließen. Vielmehr denken wir zuletzt an hoffnungsvolle Anzeichen von +guten Zukunftsentwicklungen. Zwei der Neueren gilts hier zu erwähnen. +Es sind <em class="gesperrt">Sudermann</em> und <em class="gesperrt">Frenssen</em>.</p> + +<p>Soll man <em class="gesperrt">Hermann Sudermann</em> zu den Naturalisten zählen? Den +Dramatiker — ja. Auch als Erzähler gibt er manche Szene, die ein +bißchen stark »natürlich« ist; wenigstens »<em class="gesperrt">Es war</em>« greift +ordentlich auch in die Gebiete des Lebens hinein, die man sonst nicht +gern bespricht. Aber zum Naturalisten vom Fach fehlt ihm doch wieder +die Vertiefung ins Einzelne, die Ruhe fürs Geringe und Einzelne. Er +hat einen Zug ins Konventionelle hinein, der ihn älteren Erzählern +mit realistischer Tendenz, aber ohne neugrabende Tiefe an die Seite +stellt. Er hat entschieden Ähnlichkeit nicht bloß mit dem Franzosen +Dumas, sondern auch mit dem Deutschen Spielhagen. Nur hat er die +Salonmanieren mancher späteren Spielhagenschen Werke nicht angenommen; +und der Tendenzcharakter der früheren ist bei ihm stark verblaßt. Ob +man ihn zu den Problemdichtern gesellen kann? »Es war« behandelt ein +gesellschaftliches<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> Problem: eine Schuld ragt aus der Vergangenheit +in die Gegenwart hinein. Leo von Sellenthin hat im Duell einen +Freund erschossen, mit dessen Frau er sich vergangen. Während er nun +in der Ferne weilt, um über die Geschichte Gras wachsen zu lassen, +hat sein nächster und treuster Freund die Witwe geheiratet. Als Leo +zurückkommt, fallen von jener Schuld her schwere Schatten auf das +Verhältnis der Freunde. Der Roman schildert die Konflikte, welche sich +ergeben, mit packender Kraft, mit psychologischer Wahrheit. Ob alles +weitere, auch die Lösung, ebenso wahr gezeichnet ist, ist eine andere +Frage. »Es war« ist wirksam erzählt, schürzt die Knoten geschickt, +ist reich an Sensationen, gibt ein paar ganz gute Gestalten; aber +das Problem, das es anfaßt, ist allzu individuell und zugleich allzu +gesellschaftlich-herkömmlich. Die ganze Art des Romans geht zu wenig +in die Tiefe, als daß man ihn für einen ernsteren Problemroman +ansprechen dürfte. Aber eine andere Würdigung verdient sein +Erstlingswerk »<em class="gesperrt">Frau Sorge</em>«. Seinetwegen allein gehört Sudermann +an diese Stelle.</p> + +<p>Die »Frau Sorge« hebt sich zunächst dadurch aus Sudermanns übrigen +Schöpfungen wie aus vielen ähnlichen heraus, daß ihr <em class="gesperrt">Stimmung</em> +innewohnt. Stimmung, lyrische Stimmung! Seinen Eltern widmet er das +Buch:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»Frau Sorge, die graue verschleierte Frau, </div> + <div class="verse indent0">Herzliebe Eltern, Ihr kennt sie genau, </div> + <div class="verse indent0">Sie ist ja heute vor dreißig Jahren </div> + <div class="verse indent0">Mit Euch in die Fremde hinausgefahren, </div> + <div class="verse indent0">Da der triefende Novembertag </div> + <div class="verse indent0">Schweratmend auf neblicher Heide lag </div> + <div class="verse indent0">Und der Wind in den Weidenzweigen </div> + <div class="verse indent0">Euch pfiff den Hochzeitsreigen.« </div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Und die gleiche Stimmung lebt in den Erinnerungen der Kindheit. Wenn +die Mutter erzählte, so — »war darin von einer grauen Frau die Rede, +welche in allen<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> trüben Stunden die Mutter besucht hatte, eine Frau +mit bleichem, hagerem Gesichte und dunklen verweinten Augen. Sie war +wie ein Schatten gekommen und wie ein Schatten gegangen, hatte die +Hände über der Mutter Haupt gebreitet, ungewiß, ob zum Segen oder zum +Fluche ....«</p> + +<p>Diese Stimmung, ja sie durchzieht das ganze Buch bis hin zu dem +abschließenden »Märchen von der Frau Sorge.«</p> + +<p>Mit ihr aber eint sich in dem Buch ein Realismus von glücklicherer +Art als in »Es war.« Glücklicher, weil er enger die Verbindung +mit dem Boden wahrt, auf dem Paul Meyhöfer aufwächst, weil er +ein bißchen gründlicher wird in der Lebensschilderung, weil das +Herrenhaus des Reichen wie das klägliche Besitztum des Bankerotten +draußen im Moor zu ihrem Recht kommen, weil in der Erzählung von +Pauls und Elsbeths Konfirmandenunterricht, von der Liebschaft der +leichtsinnigen Schwestern Pauls, von manchem Zusammentreffen der +Nachbarskinder heimische Sitte und heimische Natur mitsprechen dürfen. +Auch das Häßliche bleibt nicht ungeschildert; aber es tritt nicht +aufdringlich hervor. Ein gesunder Realismus beherrscht das Ganze. +Wichtiger freilich noch ist mir die Stellung des Problems selbst. +Es ist keine weltbewegende Frage, die ihre Antwort sucht; aber es +ist auch kein bloßes, gesellschaftliches Dilemma, kein abgegriffener +Konfliktsvorwurf aus dem Liebesleben, der den Grundton gibt. Es +handelt sich um die innere Entwicklung eines jungen Menschen, bei dem +Frau Sorge Pate gestanden hat. Die lastende Sorge macht ihn scheu und +gedrückt; er meint, er könne keinem ins Auge sehen, obwohl er doch +nichts zu verbergen hat. Würde fehlt ihm und Selbstbewußtsein; er +vergab sich den Menschen gegenüber zu viel und zu viel auch gegenüber +sich selber. Es lastet zu viel auf ihm, als daß er jemals hätte frei +aufatmen können, wie der Mensch es muß, wenn er nicht stumpf werden +und verkümmern soll. Bis er dann<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> durch eine Tat, eine wirkliche Tat, +sich freimacht. Für ihn war Frau Sorge reichlich gebeten worden:</p> + +<p>»Liebe Frau Sorge, laß ihn doch frei!«</p> + +<p>Aber die Sorge lächelte — und wer sie lächeln sah, der mußte weinen +— und sie sagte: »Er muß sich selbst befreien.«</p> + +<p>Und er befreite sich selbst — durch jene Tat.</p> + +<p>Diese seelische Entwicklung ist ein Problem, das den eigentlich +gesellschaftlichen Fragen gegenüber neu ist, das nicht bloß +episodischen Wert hat, sondern auf dem breiten Grund eines ganzen +Menschenlebens ruht, — das nicht rein individuell ist, nicht auf +Zufall und nicht auf Schuld beruht, das sogar geradezu als typisch +gelten kann. Das gibt der »Frau Sorge« ihren Wert. Sie hat auch +Schwächen: Unwahrscheinlichkeiten, auch abgebrauchte Situationen +finden sich. Vielleicht ist die Entwicklung des Helden selbst nicht +einwandfrei geschildert. Aber das mag beiseit bleiben. Das Buch gehört +zu den wertvolleren Erzeugnissen der an psychologischen Problemen sich +versuchenden Gesellschaftsdichtung.</p> + +<p>Aber, von Sudermann abgesehen, dessen »<em class="gesperrt">Katzensteg</em>« als eine +sehr geschickte und wirkungsvolle Erzählung ohne tieferen Wert hier +nur eben erwähnt sein mag, bietet auch die Dichtung der Modernen +nicht viel Hervorragendes auf dem Gebiet des Problemromans. Um so +nachdrücklicher muß hier noch eines Romans gedacht werden, der zwar +nicht mehr dem 19. Jahrhundert angehört, der aber ganz in diesen +Zusammenhang gehört: ich meine den vielgelesenen »<em class="gesperrt">Jörn Uhl</em>« von +<em class="gesperrt">Frenssen</em>. Es ist nicht ohne Interesse, gerade dies Buch mit +Sudermanns »Frau Sorge« zu vergleichen. »Frau Sorge« zeigt Stimmung, +»Jörn Uhl« desgleichen, aber in viel höherem Grad. Bei Sudermann +bleiben die wirklich stimmungsvollen Abschnitte episodenhaft, »Jörn +Uhl« ist ganz Stimmung, wundervolle Stimmung. Jene Nüchternheit, +die bei Sudermann zuweilen<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> durchbricht, liegt Frenssen völlig +fern. — »Frau Sorge« ist realistisch durchgearbeitet; »Jörn Uhl« +nicht minder. Aber was jenes Werk vermissen ließ, findet sich hier; +die realistische Zeichnung hebt sich auf breitem, tief erfaßtem +Hintergrund ab. Frenssen ist in ganz anderem Sinn ein Meister der +Heimatskunst als Sudermann selbst in der »Frau Sorge.« Wie lebendig +werden Land und Leute in der friesischen Marsch durch »Jörn Uhl«! +Hier ist Milieuschilderung im besten Sinn. Sudermann gibt dazu +nur eben Ansätze. In der Kunst der äußeren Zusammenfassung, der +geschlossenen Entwicklung der Handlung ist Sudermann stärker; hier +liegt die schwächste Seite des »Jörn Uhl«. Aber auf der anderen Seite +macht Frenssen das wett durch jene prächtigen Einzelgaben, jene +eingestreuten Szenen von märchenhafter Schönheit oder von dramatisch +packender Gewalt: dem hat Sudermann nichts an die Seite zu setzen. +Endlich gilt es eine Vergleichung des leitenden Problems. Beide geben +eine Charakterentwicklung von Kindheit auf; beide führen den Helden +durch schweres Geschick zu innerer Reife. Familienerlebnisse und +heiße Arbeit, dazu die Bewegung des Herzens durch die Liebe bilden +die Hauptstücke der Erziehung bei beiden. Von der bei Frenssen viel +plastischeren Art der Schilderung sehe ich ab; die äußere Handlung +ist bei Sudermann etwas organischer in die Charakterentwicklung +verwoben. Der Brand der Uhl befreit den Jörn, — durch eigene Tat, +die das väterliche Besitztum in Feuer aufgehen läßt, befreit sich +Paul Meyhöfer. Dennoch läßt sich sehr streiten, ob dieser Vorzug von +Sudermann nicht auf Gefahr der schlichten Natürlichkeit erkauft wird. +Mit dieser Tat begibt er sich aufs sensationelle Gebiet; der Brand +der Uhl aber ist ein Erlebnis, wie es alle Tage passieren kann und +wirklich passiert. Aber wenn wir das ganz dahingestellt sein lassen: +auch in der eindringenden Tiefe und naturwahren Kraft der inneren +Entwicklung des Helden bleibt Jörn Uhl tiefer.<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> Er verarbeitet viel +reichere Einflüsse auf den Knaben, er berücksichtigt nicht <em class="gesperrt">eine</em> +Seite seines Wesens, sondern sein ganzes Wesen. Und er verschmäht +es nicht, auch die höchsten Fragen, die das Herz bewegen, in diese +Entwicklung hineinzuarbeiten.</p> + +<p>Diese Tiefe der Problembehandlung, die diejenige von »Frau Sorge« +noch übertrifft, hebt den »Jörn Uhl« zugleich hoch empor über +Frenssens Erstlingswerk »<em class="gesperrt">Die Sandgräfin</em>«, die ganz im +äußerlich Gesellschaftlichen hängen bleibt, aber auch über »<em class="gesperrt">Die +drei Getreuen</em>«, die bei sonstiger großer Schönheit zwar Ansätze +zu vertiefender Problemstellung zeigen — die Entwicklung der +drei Getreuen selbst, — aber die Ansätze verhältnismäßig dürftig +herausarbeiten. Sie läßt uns in »Jörn Uhl« einen Roman schätzen, +der ein gewichtiges Problem in ernster Realistik, aber auch mit +dichterischer Stimmung angreift, — als ein Werk, das die besten +Traditionen der älteren Schule in neuer Form wieder aufnimmt und +zugleich damit neue Wege weist.</p> + +<p>Probleme! Wieviele birgt das Leben! Man muß sie nur <em class="gesperrt">sehen</em>! +Der Romandichter stößt auf Probleme, sobald er in die Tiefe gräbt. +Die Heimatskunst, die naturalistische Betrachtungsweise vertiefen +sich, wenn sie an den Problemen nicht vorübergehen. Freilich — dazu +gehören Gedanken. Wir wünschen und fordern vom Gros der deutschen +Romanschreiber vor allem dies: Mehr Gedanken! Mehr große Gedanken +hinein in den deutschen Roman!</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_10"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Dekadence_Symbolismus_Tendenzroman">Dekadence. Symbolismus. Tendenzroman.</h2> +</div> + + +<p>Die Hauptlinien in der Entwicklung des modernen deutschen Romans sind +durchmustert. Nur die Hauptlinien; obschon es leicht gewesen wäre, mit +größerer Bequemlichkeit und strengerer Präzision viel zahlreichere +kleine Ordnungen zu bilden. Aber es schien für eine gedrängte +Darstellung wichtiger, bestimmte entscheidende Linien zu verfolgen, +als alles Einzelne zu nüancieren.</p> + +<p>Aber wenn unsere Skizzen wirklich bis an die Gegenwart heranreichen +wollen, so müssen einige Richtungen der modernsten Erzählerkunst noch +kurz besprochen werden, die etwa im letzten Jahrzehnt viel Redens von +sich gemacht haben.</p> + +<p>Es gibt seit langem eine Strömung in der deutschen Prosaliteratur, +welche ihren Schöpfungen vor allem, sogar mit einer gewissen +Ausschließlichkeit Gegenstände von dekadentem Charakter gibt. Mit +dem Naturalismus selbst hat diese Strömung keineswegs notwendige +Verbindung; ja der Naturalismus, der das Interesse auf Umgebung, +soziale Verhältnisse, Abhängigkeit des Individuums von äußeren +Einflüssen lenkte, hat zum Teil geradezu gegen diese Strömung +angekämpft. Das hindert freilich nicht, daß zwischen dem outrierten, +auf die Spitze getriebenen Naturalismus, den wir schon bei Johannes +<em class="gesperrt">Schlaf</em> fanden, und der neuesten Phase dieser Verfallsdichtung +mancherlei Beziehungen bestehen. Man läßt das Milieu beiseit; die +<em class="gesperrt">Seele</em> soll ihr Recht haben. Aber nicht die Seele im<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> alten, +guten Sinne des Wortes, — sagen wir: die gesunde Seele, sondern +die überreizte, übernervöse, auf die feinsten Einflüsse reagierende +Seele, die Seele, in der alles Empfindung ist, alles Individualität, +— sagen wir: die kranke Seele. Es hat gewiß manchen dieser Dichter +ein ernstes und großes Streben beseelt; geißeln wollte er, was er +sah und was er schilderte. Freilich, nicht von allen gilt das. Es +scheint manch einer sehr gern in dem Sumpfe zu plätschern, in den er +seine Leser hineinschauen läßt. Denn schließlich bildet der Sumpf den +Inhalt dieser Romane und Novellen. Das Abnorme, das Verkommene, das +ungesund Erotische wird geschildert. Und selbst die Form entspricht +dem Verfallscharakter des Inhalts: keine Ruhe mehr und keine Tiefe; +es geht von Skizze zu Skizze. Pointen müssen sich jagen. Vieles muß +der Leser erraten. Ein paar Striche machen ein Bild. Nur nicht breit, +nur nicht langweilig; am besten überhaupt nur Skizzen mit recht kurzen +Sätzen — mit grellen Lichtern — mit Witz und Satire. Viel Geist, +viel Witz, viel Satire. Aber alles Kaviar, gar keine nahrhafte, +gesunde Kost!</p> + +<p>Fürchten Sie nicht, daß ich zu tief in dieses Gebiet des Verfalls +hinabsteige! Aber ein wenig genauer muß ich es charakterisieren, um +mein Urteil zu begründen. Ich wähle zunächst eine Sammlung von Heinz +<em class="gesperrt">Tovote</em>, welche den Titel führt: »Ich. Nervöse Novellen«. Sie +erschien 1892 und erlebte 1900 die 12. Auflage. Es sind durchgehends +Geschichten äußerst nervös beanlagter Naturen, alle ganz kurz, +allerhöchstes einmal eine dreißig Seiten lang. Was für Sujets in +diesem Band! Da erzählt einer die phantastischen Gedanken einer +schlaflosen Nacht, in der er beständig auf die draußen fallenden +Regentropfen hören muß. Wir müssen sie mithören und mitzählen: Tipp +.. 1 .. 2 .. 3 .. 4 .. 5 .. tipp 1 .... und so weiter. Und wir müssen +alle seine unklaren Gedanken mitdenken (denn er erzählt selbst, daß er +zu keinem<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> klaren Gedanken kam!), bis er endlich, endlich einschläft. +— Da ist ein andrer, der leidet an dem immer wieder plötzlich +auftauchenden unsinnigen Gedanken, daß er unter lauter Toten weile. Im +Manöver packt ihn die Vorstellung, auf Wache des Nachts, — und sonst +in allen möglichen Situationen. Bis er endlich davon geheilt wird — +dadurch, daß eine in momentaner unsinniger Angst totgeglaubte Person +— zu schnarchen anfängt. Und dazu dann allerhand Situationen aus dem +Liebesleben, alles sonderbare, abnorme Situationen. Nichts Frisches! +nichts Gesundes! Nervöse Novellen! —</p> + +<p>Oder ein Buch wie <em class="gesperrt">Bierbaums</em> »<em class="gesperrt">Stilpe</em>«. Ein frühreifer, +witziger und begabter Mensch verkommt durch völlige Zügellosigkeit. Er +wird endlich Komiker in einem Café chantant und führt dort eine Szene +auf, mit der er das Publikum begeistert: er imitiert den Selbstmord. +Den Kopf in der Schlinge, nickt er immer wieder zum Dank für den +brausenden Beifall. Der Schluß besteht darin, daß er den Scherz zum +Ernst werden läßt. Abscheulich! Ganz abscheulich! Was diesem Schlusse +vorangeht, ist aber nicht viel besser: — wüste Szenen, tollgewordener +Humor, Lumperei und Laster, vermischt mit Satire und Komik. Verfall! +Sumpf! Bierbaum gibt sich zuweilen bei dieser Schilderung das Ansehen +des Moralisten. Und wahrlich — das Ende dieses Lebens <em class="gesperrt">muß</em> +moralisch wirken. Aber trotzdem ist das Ganze zu toll, um ernst +genommen werden zu können.</p> + +<p>Weiteres sei hier nicht genannt. Es ist <em class="gesperrt">nicht</em> die Pflicht +eines jeden, sich durch diese Wüste durchzuarbeiten. Die Dichtkunst +liegt in Nervenzuckungen. Wer sieht das gern mit an? Nur daß man +leider wissen muß, daß diese Zuckungen ansteckend gewirkt haben .... +Ganze Zeitschriften pflegen das Genre dieser Art Skizze. Sie tragen +den Ruhm, modern zu sein, ja zu den modernsten zu gehören.<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> Aber man +kann mit seiner Zeit mitgehen, ohne ihre Unarten und Frechheiten +mitzumachen!</p> + +<p>Neben diese nervöse Verfallsliteratur tritt nun noch diejenige des +gleichfalls modernen <em class="gesperrt">Symbolismus</em>. Eigentlich nicht <em class="gesperrt">neben</em> +sie; großenteils wirkt der Symbolismus auf dem Hintergrund dieser +modern-nervösen Skizzenliteratur. Sein Wesen bedingt das allerdings +nicht. Was ist Symbolismus? Die Kunst, Symbole zu schaffen und +durch Symbole zu wirken. Es ist eine Art Gleichniskunst; nur daß +das Gleichnis hier — je nach den Umständen — bis zum Umfang +einer ganzen, völlig ausgeführten Handlung anwachsen kann. Solcher +Symbolismus findet sich, wie bereits erwähnt, schon in Roseggers +»Gottsucher«. Die Vorgänge im Trawieser Tal, die dort beschrieben +sind, bleiben zwar aufs engste mit der Wirklichkeit verwoben; alle +jene Ereignisse, welche schließlich zur Ermordung des Pfarrers führen, +sind realistisch gedacht und gezeichnet; sie sind auch durchaus +möglich und wahr. Auch im zweiten Teil wird die Verbindung mit dem +Geschichtlich-Denkbaren durchaus aufrechterhalten. Dennoch zeigt sich +hier deutlicher der überwiegend symbolische Charakter der Handlung, +der in der durch den Schreiner Wahnfred eingeführten Feueranbetung und +in der Sühne des Frevels durch Vernichtung alles Lebendigen seinen +Gipfel erreicht. — In der Verbindung mit ausgeprägtem Naturalismus +tritt der Symbolismus auf in dem gleichfalls schon besprochenen Werk +Kretzers »<em class="gesperrt">Das Gesicht Christi</em>«. Christus erscheint! »In der +Dämmerung des Abends, die geheimnisvoll die Fäden des Nachtschleiers +zu spinnen begann, wand sich die Erscheinung unhörbar durch die Menge, +sichtbar nur denen, die in dieser Welt des absterbenden Glaubens +den Hunger der Seele über den des Leibes stellten.« So sehen ihn +die Kinder des Arbeiters Andorf, scheu und ängstlich, in den großen +weitaufgerissenen Augen jenes starrselige Entsetzen, das der Anblick +eines süßen Wunders hervorzaubert. So sieht ihn<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Andorf selbst, mitten +in seiner Not, in der Not, die so groß ist, daß er nicht einmal seinen +Kindern satt zu essen geben kann. Mitten auf der Straße sieht er ihn: +»Siehst du ihn nicht, wie er durch die Menge schreitet? Sein Gesicht +und sein Haar leuchten, er trägt ein schneeweißes Gewand und alle +weichen ihm aus.« Er sieht ihn im Rahmen der Tür der vollgepreßten, +dunsterfüllten Kneipe: — »er durchleuchtet die Luft mit seinem +Haupte. Seine großen Augen sind fest auf dich gerichtet«. Er sieht die +Erscheinung, wie er im ärmlichen Zimmer am Totenlager seines Kindes +gewacht hat. Die Leute auf der Straße sehen sie, wie er seines Kindes +Sarg zum Friedhof fährt .... Es sehen sie auch der Konsistorialrat +und sein Küster, wie sie mit Andorf über die Kosten der Beerdigung +verhandeln. Es sieht sie der Fabrikbesitzer, wie er eine seiner +Arbeiterinnen brutal zur Sünde verführen will ... Was soll diese +Christuserscheinung, die dem Armen wie dem Reichen begegnet? Soll +sie nicht die Wirksamkeit symbolisieren, welche die Religion trotz +allem und allem übt? Übt in der ärmsten, elendesten Arbeiterseele als +Mittel des Trostes und der Hoffnung? Übt in dem Herzen des Harten und +Grausamen, übt in dem Bewußtsein des frechsten Frevlers in der Stunde, +da er den größten Frevel begehen will? Das soll sie darstellen, wie +Christus die Welt begleitet als das Gewissen der Gesellschaft, die +sein Wort im Munde führt, ohne es zu üben.</p> + +<p>Man kann sehr darüber streiten, inwieweit die Verschmelzung von +Naturalismus und Symbolismus in diesem Werk geglückt ist. Ich finde +nicht nur den Naturalismus in der Verführungsszene allzu kraß, sondern +auch den Symbolismus der Christusvision allzu stark aufgetragen, +allzu theatralisch. Aber das Eine ist gewiß: <em class="gesperrt">diese</em> Art von +Symbolismus, am rechten Objekt in rechtem Maß angewandt, gehört +durchaus zu den wirksamen Darstellungsmitteln.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span></p> + +<p>Zur symbolistischen Richtung wird von manchen auch ein Werk wie +<em class="gesperrt">Wilhelm Bölsches</em> »<em class="gesperrt">Die Mittagsgöttin</em>, Roman aus +dem Geisteskampfe der Gegenwart«, gerechnet (1891 erschienen). +Es handelt sich in ihm vornehmlich um den Spiritismus. Ein von +der Naturwissenschaft gänzlich erfüllter junger Journalist wird +in spiritistische Kreise hineingezogen. Erst wirkt er bei der +Entlarvung eines betrügerischen Mediums mit; dann wird er durch +eine Erscheinung des »zweiten Gesichts« selbst bekehrt und weilt im +Spreewald im Schlosse eines spiritistischen Grafen, wie dieser von der +prädominierenden Kraft des Mediums Lilly Jackson, mit dem sie ihre +Sitzungen abhalten, fest überzeugt. Endlich stellt sich allerdings +heraus, daß auch dies Medium betrogen hat. Der zum Spiritismus +Bekehrte ist wieder geheilt. — Der Gang der Erzählung ist keineswegs +besonders kunstvoll; Reiz geben ihr eigentlich nur die spiritistischen +Sitzungen — und das ist Nervenreiz. Aber die Form der Darstellung +wie insbesondere der Schilderungen des Spreewalds ragen weit über +das Durchschnittliche hinaus. Trotzdem gibt die Handlung selbst +dem Buche den tieferen Wert, wennschon nicht durch die Widerlegung +des Spiritismus. »Die Helden dieser wunderlichen Geschichte« — +so schreibt der Verfasser selbst im Vorwort zur zweiten Auflage +1901 — »suchen mit einem ungeheuren Aufwand ein Geheimnisvolles +<em class="gesperrt">hinter</em> den Dingen. Aber sie erfahren dabei etwas von dem +Los des alten Bibelhelden, der auf der Suche nach Eselinnen eine +Königskrone fand. Sie stoßen auf die viel wunderbareren, viel +geheimnisreicheren Imponderabilien in den Dingen, — auf die Wunder +sinkender, steigender, sich entwickelnder Menschenseelen, auf die +unergründlich tiefen Geheimnisse, die in jedem Schicksal eines +Menschen überhaupt liegen.« So ist das Buch ein Feldzug in solche +schlichten Seelenprobleme hinein, die immer wieder das größte aller +Wunder enthalten. So ist jede Einzelgestalt desselben ein<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> Symbol für +menschliches Ringen nach Durchdringung all der Dunkelheiten; so ist +die Geschichte im ganzen ein Zeugnis dafür, daß dieses Ringen und +Sehnen in unserer Zeit lebendig ist, daß der Geist des Philistertums, +das nur banale Alltäglichkeit sieht, wo das ewig neu Rätselschwangere +herrscht, auch den tieferen Geistern des jungen Deutschlands von heute +verhaßt ist. Es geht wie in der wendischen Sage von Pschipolniza, +der Mittagsgöttin. Wenn um die Mittagsstunde die glühend heiße Sonne +brennt, naht sich dem habgierigen Bauern eine weiße Gestalt, ein +wundersames Weib mit tiefblauem Kornblumenkranz, eine goldene Sichel +in der Hand: Pschipolniza, die Göttin der Mittagsstille. Sie legt ihm +Fragen über sein Werk vor, und wenn er nicht antworten kann, haucht +sie ihn an, daß er krank wird, oder würgt ihn zu Tode. Wir mühen uns +alle, mit der sengenden Zenithsonne auf dem Scheitel, im wahren Mittag +der Menschheit. Da naht uns die Wissenschaft als verschleiertes Bild +und stellt die Frage nach Leben und Tod. Freilich — wie dann weiter? +Ist sie in Wahrheit ein grausames Gespenst, das dem Ermattenden, +Lechzenden den Hals umdreht, statt ihn zu erquicken? Oder wird sie, +wenn man die rechte Antwort gibt, zur schönen, sanften Flurgöttin, die +unsere Arbeit segnet? Die Meinung ist jedenfalls die: wer sich abmüht +im Ringen nach falscher Erkenntnis, um die Gespenster verborgener +Überwelt, dem bringt sein Mühen lastendes Leid. Wer aber die lebendig +wandelnden Gespenster ergründen will, die Gespenster der Not, der +Unterdrückung, der moralischen Finsternis, der ist auf dem rechten Weg.</p> + +<p>Auf einzelnes — Vorzüge wie Schwächen des Werks — einzugehen, +ist hier nicht der Ort. Und ebensowenig ist es möglich, die +Gesamterscheinung des Symbolismus an dieser Stelle bis in ihre +Einzelverzweigungen zu verfolgen. Der Symbolismus hat ja sein +eigentlichstes Wirkungsgebiet auch keineswegs in der Prosaerzählung +gesucht;<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> sein gefeiertster Vertreter Richard Dehmel steht diesem +Gebiet fern. Die lyrische und dramatische Dichtung, erstere noch viel +stärker als letztere, wissen ganz anders von seinem Einflusse zu +zeugen. Auch die Einflüsse, welche diese ganze Richtung mitgeschaffen +haben, stehen außerhalb des Gebiets der erzählenden Dichtung; muß man +doch Nietzsche besonders in seinem »Also sprach Zarathustra« und neben +ihm Ibsen in seinen Dramen als diejenigen bezeichnen, von welchen +die Symbolisten am meisten gelernt haben. Es fragt sich, ob man das +Urteil, welches gefällt worden ist, voll unterschreiben muß, — daß +nämlich der Symbolismus auf dem Gebiet der erzählenden Literatur +durchweg nur ungünstig wirken <em class="gesperrt">konnte</em>. Aber das steht doch ganz +fest, daß die scharfe Wirklichkeitserfassung, wie sie dem Roman eigen +sein muß, die Aufgabe, ein Weltbild zu zeichnen, eine Verwendung des +Symbolismus im Roman auf ein sehr bescheidenes Maß zurückführen muß. +Und ohne die rein symbolistischen erzählenden Stücke, von welchen +das gilt, hier näher aufzählen zu wollen, darf man auch das andere +hinzufügen: viele von ihnen machen einen unklaren, völlig undeutlichen +Eindruck und fallen aus der Aufgabe des Romans stärker heraus, als es +die Schöpfungen von Novalis und Eichendorff taten.</p> + +<p>Die Überwindung des Naturalismus wurde schon Anfang der neunziger +Jahre des 19. Jahrhunderts als vollzogen verkündigt. Für unser Gebiet +ist er vom Symbolismus <em class="gesperrt">nicht</em> überwunden. Er blüht nach wie +vor, freilich vorwiegend in jenem feiner nüancierten, stimmungsmäßig +psychologischen, eigentlich impressionistischen Naturalismus seiner +späteren Vertreter. Und viel stärker als der Symbolismus ist die +vorhin knapp skizzierte Richtung geworden, jene kurz als Dekadence +zu bezeichnende Liebhaberei für heikle Themata, für sinnliche +Situationen, für das moderne Leben der Kreise, welche von solider +Arbeit wie gesunder Lebensführung gleich weit entfernt sind.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p> + +<p>So ist die Lage überhaupt nicht aufzufassen, als ob nun <em class="gesperrt">eine</em> +Richtung jederzeit für die vorhergehende geradezu die Ablösung +bedeutete. Naturalismus, Dekadence, Symbolismus bestehen +nebeneinander, miteinander, ineinander. Und außerdem zählen wir +zahlreiche neuere Werke, die ganz andere Typen vertreten. Nicht eine +spezifisch neue Erscheinung, aber doch auch in der Neuzeit reichlich +angebaut ist der sensationelle <em class="gesperrt">Tendenzroman</em>. Wir haben aus +jüngster Zeit — freilich schon aus dem zwanzigsten Jahrhundert +— zwei charakteristische Stücke dieser Gattung erhalten. Den +Tendenzroman auf der niedrigsten Stufe stellt <em class="gesperrt">Bilses</em> »<em class="gesperrt">Aus +einer kleinen Garnison</em>« dar. Man mag sagen, was man will, über +ideale Absichten des Verfassers; ich will es alles glauben. Man kann +getrost annehmen, daß ihm der Beweis völlig geglückt ist, daß in +einer kleinen Garnison die Verhältnisse genau so gelegen haben, wie +sein Roman sie zeichnet. Dennoch bleibt der Unterschied zwischen +einem Roman, der allerhand anfechtbare Persönlichkeiten so zeichnet, +daß jeder mit Fingern auf sie weist, und zwischen einem ausgeführten +Pamphlet verzweifelt gering. Die Mittel der Zeichnung, welche Bilse +gewählt hat, beweisen entweder, daß er unmittelbar bestimmte Menschen +hat angreifen wollen, oder daß ihm die Kunst zu einer im höheren Sinne +typischen Darstellung völlig gefehlt hat.</p> + +<p>Höher steht <em class="gesperrt">Beyerleins</em> »<em class="gesperrt">Jena oder Sedan?</em>«. Allerdings +hat auch dies Buch, als ein Stück Weltbild betrachtet, ganz erhebliche +Schwächen. Die Hauptschwäche besteht darin, daß es sensationelle +Ereignisse in einer Weise häuft, welche von der Wirklichkeit weit +abliegt. Es ist für den Leser geradezu beängstigend, daß fast keine +der vorkommenden Personen, für welche sein Interesse wachgerufen +wird, heil und ganz aus der Militärzeit herauskommt. Die Vorliebe, +mit welcher Beyerlein die traurige Wendung im letzten Augenblick, +kurz vor der endgültigen Rückkehr<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> in den Zivilstand oder kurz vor +Eintreten eines wünschenswerten Ereignisses, herbeiführt, ist beinahe +stereotypiert. Der eine stirbt, der andere kommt auf Festung und wird +beim Fluchtversuch erschossen, der dritte vergißt sich, entflieht +aber, der vierte wird eingesperrt und durchlebt eine furchtbare +Haftzeit — und so geht es weiter. Auch von diesem Ungeschick ganz +abgesehen, ist der Roman keine Glanzleistung. Die eine Grundidee, um +derer willen er geschrieben ist, die zu starke Betonung überflüssigen +Drills in der Armee ist fast lediglich gesprächsweise ausgeführt. Die +hierher gehörigen Partien bilden eine Art militärtechnischen Aufsatz +in Gesprächsform; für die Handlung selbst sind sie Ballast, nichts +als Ballast. Aber anderseits verfügt der Verfasser über eine nicht +unbeträchtliche realistische Begabung, die anzuerkennen ist, wennschon +seine Zeichnung manchmal über das Ziel hinausschießt.</p> + +<p>Die hier eben genannten Romane repräsentieren einen Typus, der für +unsere Zeit sicher charakteristisch ist. Ein Fortschritt für die +erzählende Literatur ist von hier aus freilich nicht zu erwarten. +Und so muß es für uns ein Gegenstand aufrichtiger Freude sein, daß +wir heutzutage nicht allein auf diese Schöpfungen angewiesen sind. +Denn auch alle die früherhin angeführten Richtungen haben in der +letzten Zeit ihre Geltungskraft behalten. Der historische Roman +ist allerdings zurückgetreten, immerhin darf z. B. <em class="gesperrt">Sperls</em> +»<em class="gesperrt">Die Söhne des Herrn Budiwoi</em>« mit Ehren genannt werden. Die +Schöpfungen der Heimatskunst wurden schon erwähnt; aber es muß hier +ausdrücklich erwähnt werden, daß diese Richtung, die den Realismus, +ja den Naturalismus in gesunden Grenzen sich zu nutze macht, dabei +jede Übertreibung meidet und dem Leser das Gefühl kernig frischen +Volkstums vermittelt, keineswegs zu den überholten gehört. Sie ist +das eigentliche Gegenbild zur verlebten Art eines <em class="gesperrt">Tovote</em>, +<em class="gesperrt">Bierbaum</em>, <em class="gesperrt">Schlaf</em>. Sie hat Mark in den Knochen, festen +Boden unter den<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> Füßen, sie saugt Nahrung aus der Scholle. Gerade +von dieser Richtung her können wir noch manches Gute erhoffen. Auch +<em class="gesperrt">Frenssen</em>, der augenblicklich noch nicht durch eine andere Größe +abgelöst ist, hat hier die Wurzeln seiner Kraft. Ihm aber danken +wir, wie früher gezeigt, zugleich, daß auch die gesunde Psychologie +und die ruhig wägende Lebensweisheit sich wieder einen Platz im +Roman errungen haben. Frenssen zeichnet die Landnatur derb und +ungekünstelt. Damit repräsentiert er gegenüber den verlebten Gestalten +der Berliner Dirnenromane oder den impressionistischen Skizzen aus +der Bohême geradezu die Gesundheit gegenüber der Krankheit. Er ist +aber auch nicht Bloß-Naturalist; er weist dem suchenden Geschlecht den +richtigen Weg. Die Stellung auch zu diesem Roman ist recht verschieden +je nach der Stellung zu Frenssens Weltanschauung. Aber so gewiß +diejenigen, welche Gottfried <em class="gesperrt">Kellers</em> oder Paul <em class="gesperrt">Heyses</em> +Weltanschauung gar nicht teilen, diesen ein gerechtes Urteil widmen +müssen, so gewiß kann auch Frenssen verlangen, daß die Gegner seiner +Weltanschauung doch den literarischen Wert seiner Romane unbefangen +beurteilen. In dieser Hinsicht ist auf zwei Seiten gesündigt worden. +Den einen ist er zu christlich; und weil das Christentum ihnen das +rote Tuch ist, bei dessen Anblick sie die ruhige Fassung verlieren, +so vermögen sie der feinen Kunst des Dichters nicht mehr gerecht zu +werden. Den anderen aber — und leider gehörten dazu manche frühere +Berufsgenossen des Dichters — war er nicht christlich genug, weil sie +von ihm, dem Pastor, meinten eine ausgeführte Dogmatik verlangen zu +müssen. Die Urteile über »Jörn Uhl« von diesen beiden extremen Seiten +her sind ja aber glücklicherweise völlig aufgewogen worden durch +die Aufnahme des Buchs im großen Publikum. Gewiß ist es keineswegs +hundertundfünfzig Mal so viel wert als manch anderes Buch, das nicht +hundertundfünfzig, sondern nur eine Auflage erlebt hat. Aber es bleibt +eins der erfreulichsten Unterpfänder<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> dafür, daß frische, kraftvoll +gesunde Dichtung mit nüchtern realistischer Grundlage, aber mit tief +idealistischem Sinn auch heut noch bei den deutschen Dichtern nicht +ausgestorben ist und beim deutschen Volk nicht in Mißkredit gekommen +ist.</p> + +<p>Auf die Gefahr hin, ungerecht gegen andere Romane zu werden, die +ich nicht nennen kann, möchte ich doch noch einen aus der Zahl der +modernsten nennen: Thomas <em class="gesperrt">Manns</em> »<em class="gesperrt">Buddenbrooks</em>«. Und +zwar geschieht das aus einem ganz bestimmten Grund. Der Roman ist der +schlagende Beweis dafür, daß der Naturalismus sich nicht entfernt +überwunden fühlt, daß wir im Gegenteil vielleicht noch viel von +ihm zu erwarten haben. »Buddenbrooks« bedeuten eine detaillierte, +bis ins Einzelne peinlich genaue Schilderung des Lebens einer +großen lübeckischen Kaufmannsfamilie durch mehrere Generationen +im neunzehnten Jahrhundert hindurch. Mit diesem Hauptgegenstande +sind minder ausführliche, aber immer noch sehr gründliche +Beschreibungen angrenzender Verhältnisse verbunden. Neben der einen +Großkaufmannsfamilie stehen andere, — und jede von besonderem Schlag. +Neben den Kaufmannsfamilien stehen die anderen Honoratiorenfamilien, +— allerdings fast nur solche. Nicht die Handlung ist es, die dem +Roman Bedeutung gibt; immerhin ist sie im ganzen wirksam aufgebaut, +wennschon man wegen des Schlusses mit dem Dichter rechten kann und +wennschon manche übermäßige Breite etwas mühsam überwunden werden +muß. Aber, wie gesagt, nicht die Handlung ist das Bedeutsame, sondern +die Art der Milieuschilderung. Die »Buddenbrooks« sind vielleicht +<em class="gesperrt">dasjenige deutsche Romanwerk, welches am nachhaltigsten durch +Emil Zola beeinflußt ist</em>. Thomas Mann läßt nichts außer Ansatz: +keine Geste, keine noch so kleine Gewohnheit, keine der kleinen +charakteristischen Redewendungen, wie sie jeder Mensch sich angewöhnt, +— desgleichen nicht die scheinbar äußerlichen Umstände, die doch +so wesentlich sind: die Art, sich zu kleiden, sich Haus und Zimmer +einzurichten, sich<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> mit dem Geldpunkt abzufinden, und tausend andere +Dinge mehr. Die Beschreibung ist viel genauer, viel detaillierter als +z. B. bei Kretzer. Sie kann ebenso unerbittlich sein wie die Zolas +in der Zeichnung auch abschreckender Bilder: erinnert sei nur an die +Sterbeszene der alten Konsulin Buddenbrook und an den Abschnitt, +welcher den Typhus behandelt. Doch wühlt Thomas Mann längst nicht so +emsig in den dunkelsten Gebieten des Menschenlebens wie Zola; jene +abschreckenden Bilder sind im Verhältnis zum Ganzen selten. Dafür +fehlt ihm aber auch jene absolut nüchterne Wahrheitsruhe, die Zola +hat; er neigt viel mehr zur Karikatur, zur beißenden Satire. Endlich +— um noch einen Unterschied hervorzuheben — ist Thomas Mann ein +minder pathetischer, weniger deklamatorischer Beschreiber, als Zola +besonders in manchen seiner letzten Werke gewesen ist. Wie man aber +auch im einzelnen das Verhältnis dieses Romans zu Zola beurteile, — +in jedem Fall ist die Methode der Kleinmalerei in <em class="gesperrt">dieser</em> Art +für den deutschen Roman trotz Kretzer und Fontane noch nicht endgültig +ausgebeutet. Kretzer geht trotz allem mehr ins Große; und Fontanes +Plauderton sticht von dem naturalistischen Ernst dieses Buches +erheblich ab. Man kann dreist vermuten, daß die Anwendung der gleichen +Methode auf andere Lebensverhältnisse nicht auf sich warten lassen +wird. Nun ist solcher Roman gewiß nicht das volle Ideal eines Romans; +aber den Wert eines treffend gemalten Weltbilds besitzt er gewiß. Er +steht darum auch seinerseits hoch über den nervösen und verlebten +Skizzen der sogenannten »Moderne«.</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16 " id="p003_11"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Rueckblick">Rückblick.</h2> +</div> + + +<p>Aber es ist an der Zeit, daß wir den Überblick über die mannigfach +gestaltete Gegenwartssituation auf dem Gebiet des Romans abbrechen. +Nur Einiges, nur Bedeutenderes ist erwähnt worden. Nur das, was für +die Skizzierung der Gesamtentwicklung von Bedeutung zu sein schien.</p> + +<p>Von Goethe sind wir ausgegangen. Er muß uns als der Schöpfer des +modernen deutschen Romans gelten. Ich erinnere kurz an die drei +Gesichtspunkte, nach denen diese Bedeutung Goethes skizziert wurde: +die psychologische Tiefe, die Art, wie seine Romane zum Zeitbild +werden, und die engste Verbindung von Handlung und Gedanke, in alledem +aber die unbestrittene Kraft der Wirklichkeitserfassung. Wie hat +Goethe mit dieser seiner Kunst gewirkt?</p> + +<p>Wenn man von der Romantik absieht, so darf man das Urteil wagen, +daß die gesamte Geschichte des deutschen Romans im 19. Jahrhundert +eine Geschichte der Verarbeitung der von Goethe herstammenden +Anregungen gewesen ist. Über dieser gesamten Geschichte steht das +Wort »Wirklichkeit« geschrieben. Wie war noch bei Wieland der +beste Roman nichts als eine äußerliche Verkleidung moralischer +Gedanken! Das ist nun anders geworden, fast mit einem Schlage +anders. Vorüber die sentimentale Schwärmerei, vorüber die Zeit der +moralischen Erzählung ohne eigenen Wert des Erzählten! Der Roman +sieht die Welt, wie sie ist, und zeichnet die Welt, wie sie ist. +Anfänglich ist ihm freilich die Wirklichkeitszeichnung noch nicht +das letzte Ziel. Vielmehr gliedert man sie ein in die<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> Darlegung +der eigenen Tendenzen. Man will die Ursprünglichkeit der ländlichen +Natur gegenüber städtischer Verbildung schildern — so Immermann, +so Auerbach; man will am Bestehenden Kritik üben, es zu bessern, +— so im politisch-religiös-moralischen Gebiet die Zeitromane der +Jungdeutschen, so vom Standpunkt des Volkserziehers ein Jeremias +Gotthelf, — so in der Weise des erfahrenen und klugen Mannes, der +anderen des eigenen Irrens Früchte auf allen Gebieten menschlichen +Lebens vermitteln will, Gottfried Keller; — so mit der Absicht, +an der Darstellung der Wirklichkeit die eigenen politischen und +religiös-sittlichen Anschauungen zur Geltung zu bringen, Friedrich +Spielhagen.</p> + +<p>Diese erste große Epoche kann man also kurz als die <em class="gesperrt">Zeit der +Darstellung der Wirklichkeit im Dienste bestimmter Absichten</em> +bezeichnen. Ihr folgte eine zweite große Periode, in welcher +<em class="gesperrt">die Darstellung der Wirklichkeit selbst, ohne Einmischung von +Nebenzwecken, als letztes Ziel</em> galt. Man darf diese Periode gewiß +mit dem Aufblühen des historischen Romans eröffnen. Leichter war es +ja, in der Vergangenheit untendenziös zu bleiben als wenn man mitten +aus der Gegenwart heraus seinen Stoff nahm. Der kulturgeschichtliche +Roman beansprucht in diesem Zusammenhang eine gewichtige Stelle. +Aber nicht der geschichtliche Roman allein suchte die Wirklichkeit +als Wirklichkeit zu schildern. Schon bei Freytags »Soll und Haben« +tritt in der Gegenwartszeichnung die Tendenz in den Hintergrund. +Und dann beginnt diejenige Strömung, welche nichts geben will als +Photographien, die lediglich schildernde Erzählung. Zu ihr kann man +manches von den Werken des sog. Naturalismus rechnen — wenngleich +auch hier die Kunst, das Wirkliche zu sehen, noch keineswegs zur +Vollkommenheit ausgebildet ist —, zu ihr aber auch vieles, was +weniger naturalistisch als realistisch ist, so z. B. manche Sachen +von Fontane. Diese Strömung<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> ist, wenn schon ihre Überwindung bereits +ziemlich energisch verkündet worden ist, noch keineswegs überwunden.</p> + +<p><em class="gesperrt">Zu dritt</em> stelle ich neben diese beiden großen +Entwicklungsgänge, die einander übrigens auch nicht geradezu abgelöst +haben, zu einer Gruppe gesellt, eine Reihe von anderen Erscheinungen. +Ihre gemeinsamen Charakteristika sind: erstens: die Darstellung der +Wirklichkeit ist ihnen nicht Selbstzweck. Darin harmonieren sie +mit Gruppe <em>I</em>. Aber anderseits, zweitens, haben sie nicht in +dem Grad wie Gruppe <em>I</em> ein enges Verhältnis zu der Zeit, in +der sie stehen. Ihnen ist die Hauptsache Stimmung oder Gedanke; +die Wirklichkeit, welche sie darum doch wahr genug erfassen, ist +ihnen lediglich der Stoff zur Entwicklung von beidem. Wenn nicht +das lyrische Moment vorwiegt, so ist es das Problem, welches sie +durchzuführen suchen.</p> + +<p>Endlich könnten wir eine <em class="gesperrt">vierte</em> Gruppe bilden aus denjenigen +Erzählungen, welchen gleichfalls (wie der Gruppe <em>I</em>) die +Tendenz fehlt, welchen ebenso wie der Gruppe <em>II</em> die +Wirklichkeitsschilderung nicht der oberste Zweck ist, welche aber auch +nicht wie Gruppe <em>III</em> Stimmung oder Problem an dem Stoff der +Wirklichkeit sich entfalten lassen, sondern einfach durch die äußere +Verknüpfung von Ereignissen mit mehr oder minder energischer Benützung +des Psychologischen zu wirken suchen. Hierher gehört auch der normale +Unterhaltungsroman.</p> + +<p>Gemessen an der großen Aufgabe des Romans, ein Weltbild zu geben, +haben die Erscheinungen dieser Gruppen nicht alle gleichen Wert. Die +<em class="gesperrt">letzte</em> hat jedenfalls den geringsten; denn je mehr sie sich +auf das äußere Geschehen konzentriert, um so mehr verzichtet sie auf +Tiefe des Gedankens, ja Tiefe des Blicks. Sie kann einzelne feine +Bemerkungen ermöglichen; sie kann das Gemüt ein wenig affizieren; +sie kann die Nerven spannen. Aber diese Gruppe mit ihren zahlreichen +Schöpfungen entbehrt des tieferen Gehalts. Was könnte daran zum +Nachdenken anregen?<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> Was unseren Blick für die Zustände der Welt +schärfen? Was unseren Gesichtskreis erweitern? Eins nur kann diese +Art Romane: unterhalten. Im besten Fall ist diese Unterhaltung +anregend, im schlimmsten aufregend. Wer hat nicht einmal eine Stunde, +in welcher er nichts will als eben nur unterhalten werden? Aber es +scheint Menschen zu geben, welche den Roman zu nichts anderem als zum +Unterhaltungsmittel gebrauchen. Ja, ich gestehe, daß in mir schon oft +der furchtbare Verdacht aufgestiegen ist, daß weitaus die meisten +Romanleser ihn so und nicht anders benützen. Da kann es dann kommen, +daß Herr Soundso in die Leihbibliothek schickt und um irgend ein Buch +bitten läßt; — <em class="gesperrt">welches</em> Buch ihm geschickt wird, ist ihm ganz +gleich. Diese Art Romane sind Schiffen mit ganz geringem Tiefgang zu +vergleichen, Schiffen, die eben darum an jeder Küste anlegen können, +— aber für die Fahrt aufs hohe Meer sind sie völlig unbrauchbar. +Wer sich selber zum flachen, sandigen Strand machen will, der lasse +diese Schiffe ohne Tiefgang kommen! Der meide die Gedankenanstrengung +bei tieferer Lektüre! Der erkläre nur, daß er Romane nicht liest, um +denken zu müssen! Der genieße die Zeitungsromane von Fortsetzung zu +Fortsetzung! (Übrigens bieten manche Zeitungen, wie besonders die +»Tägliche Rundschau«, meist <em class="gesperrt">nicht</em> derartigen, sondern besseren +Stoff.)</p> + +<p>Wie steht es nun aber um die drei anderen Gruppen und um ihr +Verhältnis zur Aufgabe des Romans? Unfraglich entspricht ihr +am klarsten die <em class="gesperrt">zweite</em> Gruppe: Wirklichkeitsbild ohne +Nebenabsichten. Wir freuen uns, daß diese Gruppe im deutschen Roman +des neunzehnten Jahrhunderts so stark vertreten ist. Allerdings ist +gleichzeitig zu bemerken, daß gerade in dieser Gruppe sich die starke +Neigung zu Übertreibungen herausgebildet hat. Wir müssen verlangen, +daß man uns als Wirklichkeit nicht bloß die Welt der Lebemänner, nicht +bloß das Leben mit überreizten Nerven schildert. Wir müssen erwarten, +daß man<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> nicht bloß das Abstoßende und Ungesunde hervorzieht. Die +Welt zu abscheulich zu malen, ist ein genau so großer Fehler wie +der, sie zu licht zu malen. Das neunzehnte Jahrhundert hat hier die +Aufgabe richtig erkannt, auch vielfach richtig angefaßt, aber es hat +hier nicht die Extreme zu vermeiden gewußt. Die Losung »Naturalismus« +mag getrost bleiben! Aber man vergesse nicht, daß »Naturalismus« von +»Natur« herkommt!</p> + +<p>Es bleiben die <em class="gesperrt">erste</em> und die <em class="gesperrt">dritte</em> Gruppe. Die erste +kommt der eigentlichen Aufgabe des Romans vielfach ganz nahe. Es +ist, von dieser Aufgabe aus betrachtet, durchaus <em class="gesperrt">nichts</em> +gegen die Geltendmachung einer bestimmten <em class="gesperrt">Tendenz</em> gegenüber +der geschilderten Zeit einzuwenden. Warum soll der Dichter nicht +gleichzeitig zeichnen und das Gezeichnete beurteilen? Er verändert +damit seine Aufgabe nicht; er fügt nur noch hinzu, was gleichfalls +wertvoll sein kann: sein Urteil, seine Kritik. Erst dann beginnen +die Schöpfungen dieser Romangruppe minder wertvoll zu werden, wenn +unter der Tendenz die klare Erfassung der Wirklichkeit gelitten hat. +Das <em class="gesperrt">kann</em> auch den Dichtern passieren, die nichts wollen als +die Welt zeichnen, wie sie ist. Ist doch jeder in der Gefahr, die +Dinge allzusehr durch die eigene Brille zu sehen. Aber noch mehr in +dieser Gefahr ist derjenige, welcher nur zeichnet, um seine Ansichten +und Absichten klarzulegen. Solange im Tendenzroman die Zeit, die +Wirklichkeit stärker ist als die Tendenz, so lange steht er auf der +Höhe seiner Aufgabe. Er irrt erst dann ab, wenn die Tendenz stärker +wird als die Wirklichkeit.</p> + +<p>Weniger als Gruppe <em>I</em> und <em>II</em> scheint Gruppe <em>III</em> +der von uns festgestellten Aufgabe des Romans zu entsprechen. Wo die +lyrische Stimmung das beherrschende Element ist, kann ein Weltbild +in scharfen Umrissen viel schwerer erwachsen. Dennoch ist es auch +hier möglich; das zeigt besonders die wunderbare Vereinigung klarster +Realistik mit<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> feinster dichterischer Stimmung, welche Rosegger z. +B. in den »Schriften des Waldschulmeisters« bietet. Das zeigt aber +auch ein Werk wie Raabes »Hungerpastor«. Hat man doch dies Buch +geradezu unter die Zahl der Zeitromane einreihen können! Weniger eng +ist die Beziehung zur wirklichen Welt natürlich da, wo die lyrische +Stimmung noch stärker herrschend wird, wie bei Storm oder in Raabes +»Chronik der Sperlingsgasse«. Aber wer wäre so engherzig, diesen +Dichtungen darum, weil sie vom eigentlichen Romancharakter abweichen, +das Existenzrecht abzusprechen? Auch sie geben Wirklichkeit; auch +sie zeichnen Menschen, wie sie sind. Vielleicht nur mit wenigen +Strichen, vielleicht mehr mit Licht und Schatten als in scharfem +Umriß, vielleicht nur in einzelnen Situationen. Aber sie zeichnen sie: +die Stimmungswelt ist auch wirkliche Welt! Wenn der Stimmungsdichter +nur Realist bleibt, dann hat er sein heiliges Recht. Ja, dann ist er +eine notwendige Ergänzung der nüchternen und kühlen Realisten mit +ihrer Genauigkeit und Gründlichkeit. Kann denn nicht manches Mal +ein einziger Strich, der dem Bilde die rechte Stimmung gibt, viel +wirksamer sein, als die Ansammlung von hundert Einzelheiten?</p> + +<p>Noch weniger ist zu leugnen, daß der <em class="gesperrt">Problem</em>roman innerhalb +der Aufgabe des Romans bleibt. Er will ja Fragen des wirklichen +Lebens aufwerfen und beantworten! Er geht weniger in die Breite +als in die Tiefe, — in die Tiefe der seelischen Rätsel, in die +Tiefe der gesellschaftlichen Fragen. Gewiß, ihm ist der Stoff nur +Mittel zum Zweck; die Hauptsache ist ihm der Gedanke. Aber so wenig +im Tendenzroman die Tendenz notwendig die Wirklichkeitserfassung +hindern muß, so wenig im Problemroman das Problem. Im Gegenteil: +erst das ist der rechte Problemroman, der seine Fragen ganz aus der +Wirklichkeit herauswachsen läßt. Es gibt manchen Problemroman mit +recht oberflächlichen Problemen; aber das soll<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> uns nicht hindern, +anzuerkennen, daß gerade der Problemroman eine außerordentlich +wertvolle Methode bedeutet, die Weltvorgänge in ihren tiefsten Gründen +anzusehen und darzustellen.</p> + +<p><em class="gesperrt">Das Gesetz der Wirklichkeit regiert also tatsächlich überall im +deutschen Roman des 19. Jahrhunderts, in allen seinen wichtigeren +Erscheinungen.</em> Verschiedene Methoden seiner Befolgung sind +eingeschlagen worden; aber das Gesetz selbst ist in Geltung geblieben. +Und gegenüber denjenigen Richtungen, welche dieses Gesetz wissentlich +oder unwissentlich ignorieren, haben wir einfach sein geheiligtes und +anerkanntes Recht geltend zu machen.</p> + +<p>Schwieriger ists für unsere Zeit, die Grenzen in der Befolgung +dieses Gesetzes festzulegen und festzuhalten. Die Auswüchse des +Naturalismus wie die Dekadencedichtung übertreiben. Sie bevorzugen +einseitig einige wenige Gebiete der Wirklichkeit; und sie wählen +gerade diejenigen, wo die gesunde Natur sich vergebens suchen läßt. +Ihnen gegenüber fordern wir, daß die Totalität der Wirklichkeit zur +Geltung komme. Wir fordern auch, daß, ohne daß das Vorhandensein von +Krankheitszuständen ignoriert werde, der Standpunkt, von dem aus +geschildert wird, derjenige der Gesundheit sei. Wir erwarten nichts +von dem differenzierten, nervös gewordenen Naturalismus. Aber wir +erwarten alles von einem im gesunden Volksempfinden, in der echten +Natur wurzelnden Realismus.</p> + +<p>Ich brauche nicht mehr auszuführen, daß das 19. Jahrhundert auch +in der <em class="gesperrt">Form</em> des Romans uns kräftig vorwärts gebracht +hat. Was Goethes »Wahlverwandtschaften« zuerst versuchten, die +Ineinandersetzung von Gedanke und Handlung — das ist zwar längst +nicht überall zur Durchführung gekommen, aber es ist leitendes Motiv +geblieben. Man verabscheut mehr und mehr die Darlegung von Gedanken +ohne Handlung, wie noch Gutzkow sie liebte, man empfindet jene +spannenden Handlungsromane ohne Gedanken,<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> so sehr sie noch heute +wuchern, als minderwertig. Man hat in vielen Romanen Spielhagens, dazu +in solchen von Kretzer, in »Frau Sorge« und in anderen Vorbilder in +der formellen Gestaltung. Und ob immer wieder das Erworbene in Frage +gestellt wird, das Ziel ist gesteckt und darf nicht vergessen werden.</p> + +<p>Eins aber muß zum Schluß nochmals gesagt werden: es wird alles darauf +ankommen, daß in der deutschen Lesewelt der Sinn für den wertvollen +Roman geweckt und, wo er lebendig ist, gepflegt werde. Jedes Volk +hat schließlich den Roman, den es verdient. Seien wir anspruchsvoll! +Lehnen wir alles ab, was uns nicht fördert, ohne Rücksicht auf Person +und Tendenz! Dann wird des Seichten weniger werden und <em class="gesperrt">die</em> +Dichter werden mehr Raum und mehr Mut gewinnen, die in sich die Kraft +fühlen, dem deutschen Volk wirklich etwas zu sagen. Verlangen wir viel +vom Roman, so wird er uns viel geben!</p> + +<figure class="figcenter padtop2 padbot2 illowe16" id="p003_4"> + <img class="w100" src="images/p003.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p> + +<h2 class="nobreak" id="Register">Register.</h2> +</div> + + +<p>(Die <em class="gesperrt">ausführlich</em> besprochenen Werke sind unter dem Autornamen +bei den entsprechenden Seitenzahlen in Klammern besonders aufgeführt.)</p> + +<ul class="index"> +<li class="ifrst"> Alexis, Wilibald <a href="#Seite_123">123 ff.</a> (Roland von Berlin). <a href="#Seite_126">126</a>. <a href="#Seite_127">127</a>. <a href="#Seite_129">129</a>. <a href="#Seite_134">134</a>.</li> + +<li class="indx"> Anzengruber, Ludwig <a href="#Seite_171">171</a>. <a href="#Seite_172">172 ff.</a> (Sternsteinhof). <a href="#Seite_179">179</a>.</li> + +<li class="indx"> Arnim, Achim von <a href="#Seite_51">51</a>. <a href="#Seite_121">121 ff.</a> (Kronenwächter).</li> + +<li class="indx"> Auerbach, Berthold <a href="#Seite_55">55</a>. <a href="#Seite_62">62 ff.</a> (Schwarzwälder Dorfgeschichten). <a href="#Seite_76">76</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Beyerlein, Franz Adam <a href="#Seite_219">219 f.</a></li> + +<li class="indx"> Bierbaum, Otto Julius <a href="#Seite_213">213</a>. <a href="#Seite_220">220</a>.</li> + +<li class="indx"> Bilse <a href="#Seite_219">219</a>.</li> + +<li class="indx"> Björnson <a href="#Seite_190">190</a>.</li> + +<li class="indx"> Bölsche, Wilhelm <a href="#Seite_216">216 f.</a> (Mittagsgöttin).</li> + +<li class="indx"> Börne, Ludwig <a href="#Seite_34">34</a>.</li> + +<li class="indx"> Brentano <a href="#Seite_35">35</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Cantz, Elisabeth <a href="#Seite_78">78</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Dahn, Felix <a href="#Seite_139">139 ff.</a> (Kampf um Rom).</li> + +<li class="indx"> Dehmel, Richard <a href="#Seite_218">218</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Ebers, Georg <a href="#Seite_139">139</a>. <a href="#Seite_141">141</a>. <a href="#Seite_142">142</a>.</li> + +<li class="indx"> Ebner-Eschenbach, Marie v. <a href="#Seite_195">195</a> (Gemeindekind). <a href="#Seite_196">196 f.</a> (Unsühnbar).</li> + +<li class="indx"> Eckstein, Ernst <a href="#Seite_142">142</a>.</li> + +<li class="indx"> Eichendorff, Joseph Frhr. v. <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_39">39 ff.</a> (Leben eines Taugenichts). <a href="#Seite_45">45</a>. <a href="#Seite_46">46</a>. <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_218">218</a>.</li> + +<li class="indx"> Eilhart von Oberge <a href="#Seite_11">11</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Fischart, Johann <a href="#Seite_12">12</a>.</li> + +<li class="indx"> Floris und Blancheflur <a href="#Seite_6">6</a>. <a href="#Seite_11">11</a>.</li> + +<li class="indx"> Fontane, Theodor <a href="#Seite_115">115 ff.</a> <a href="#Seite_117">117 ff.</a> (Stechlin). <a href="#Seite_135">135</a>. <a href="#Seite_138">138</a>. <a href="#Seite_188">188</a>. <a href="#Seite_201">201</a>. <a href="#Seite_202">202 ff.</a> (Effi Briest). <a href="#Seite_223">223</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li> + +<li class="indx"> Freiligrath, Ferdinand <a href="#Seite_75">75</a>.</li> + +<li class="indx"> Frenssen, Gustav <a href="#Seite_208">208 ff.</a> (Jörn Uhl). <a href="#Seite_210">210</a>. <a href="#Seite_221">221</a>.</li> + +<li class="indx"> Frenzel, Karl <a href="#Seite_138">138</a>.</li> + +<li class="indx"> Freytag, Gustav <a href="#Seite_108">108 ff.</a> (Soll und Haben). <a href="#Seite_114">114</a>. <a href="#Seite_127">127</a>. <a href="#Seite_131">131 ff.</a> (Die Ahnen). <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_155">155</a>. <a href="#Seite_189">189</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Goethe <a href="#Seite_15">15</a>. <a href="#Seite_16">16 ff.</a> (Werther). <a href="#Seite_19">19 ff.</a> (Wilhelm Meister). <a href="#Seite_24">24 ff.</a> (Wahlverwandtschaften). <a href="#Seite_27">27 ff.</a> <a href="#Seite_32">32</a>. <a href="#Seite_45">45</a>. <a href="#Seite_52">52</a>. <a href="#Seite_75">75</a>. <a href="#Seite_143">143</a>. <a href="#Seite_189">189</a>. <a href="#Seite_224">224</a>. <a href="#Seite_230">230</a>.</li> + +<li class="indx"> Gottfried von Straßburg <a href="#Seite_11">11</a>.</li> + +<li class="indx"> Gotthelf, Jeremias <a href="#Seite_55">55</a>. <a href="#Seite_58">58 ff.</a> (Bauernspiegel). <a href="#Seite_65">65</a>. <a href="#Seite_66">66</a>. <a href="#Seite_69">69</a>. <a href="#Seite_71">71</a>. <a href="#Seite_168">168</a>. <a href="#Seite_169">169</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li> + +<li class="indx"> Grimmelshausen <a href="#Seite_12">12</a>.</li> + +<li class="indx"> Gutzkow, Karl <a href="#Seite_76">76</a>. <a href="#Seite_77">77</a>. <a href="#Seite_78">78</a>. <a href="#Seite_79">79 ff.</a> (Ritter vom Geist). <a href="#Seite_86">86</a>. <a href="#Seite_87">87</a>. <a href="#Seite_98">98</a>. <a href="#Seite_112">112</a>. <a href="#Seite_138">138</a>. <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_230">230</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Hamerling, Robert <a href="#Seite_142">142</a>.</li> + +<li class="indx"> Hauenschild, Spiller von <a href="#Seite_78">78</a>.</li> + +<li class="indx"> Hauff, Wilhelm <a href="#Seite_51">51</a>. <a href="#Seite_122">122</a>.</li> + +<li class="indx"> Herwegh <a href="#Seite_75">75</a>.</li> + +<li class="indx"> Heyse, Paul <a href="#Seite_78">78</a>. <a href="#Seite_92">92 ff.</a> (Kinder der Welt). <a href="#Seite_154">154</a>. <a href="#Seite_155">155</a>. <a href="#Seite_190">190</a>. <a href="#Seite_197">197 ff.</a> (Novellen). <a href="#Seite_221">221</a>.</li> + +<li class="indx"> Hoffmann, Th. Amadeus <a href="#Seite_45">45</a>. <a href="#Seite_46">46 ff.</a> (Elixiere des Teufels). <a href="#Seite_143">143</a>. <a href="#Seite_165">165</a>.</li> + +<li class="indx"> Holz, Arno <a href="#Seite_183">183</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Ibsen <a href="#Seite_190">190</a>.</li> + +<li class="indx"> Jean Paul <a href="#Seite_32">32 ff.</a> <a href="#Seite_143">143</a>. <a href="#Seite_144">144</a>.</li> + +<li class="indx"> Immermann <a href="#Seite_55">55 ff.</a> (Oberhof). <a href="#Seite_65">65</a>. <a href="#Seite_67">67</a>. <a href="#Seite_69">69</a>. <a href="#Seite_71">71</a>. <a href="#Seite_74">74</a>. <a href="#Seite_76">76</a>. <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_168">168</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li> + +<li class="indx"> Jordan, Wilhelm <a href="#Seite_190">190</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Keller, Gottfried <a href="#Seite_99">99 ff.</a> (Grüner Heinrich). <a href="#Seite_105">105 ff.</a> (Leute von Seldwyla). <a href="#Seite_112">112</a>. <a href="#Seite_189">189</a>. <a href="#Seite_221">221</a>. <a href="#Seite_225">225</a>.</li> + +<li class="indx"> Kleist, Heinrich v. <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_48">48 ff.</a> (Michael Kohlhaas).</li> + +<li class="indx"> Kretzer, Max <a href="#Seite_175">175 ff.</a> (Meister Timpe). <a href="#Seite_178">178 f.</a> <a href="#Seite_182">182</a>. <a href="#Seite_214">214 ff.</a> (Gesicht Christi). <a href="#Seite_223">223</a>. <a href="#Seite_231">231</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Laube, Heinrich <a href="#Seite_76">76</a>. <a href="#Seite_138">138</a>.</li> + +<li class="indx"> Ludwig, Otto <a href="#Seite_55">55</a>. <a href="#Seite_69">69 ff.</a> (Heiterethei). <a href="#Seite_72">72</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Mann, Thomas <a href="#Seite_222">222 ff.</a> (Buddenbrooks).</li> + +<li class="indx"> Meinhold, Wilhelm <a href="#Seite_131">131</a>.</li> + +<li class="indx"> Meyer, Conr. Ferd. <a href="#Seite_136">136 ff.</a></li> + +<li class="indx"> Motte-Fouqué, F. de la <a href="#Seite_35">35</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Novalis <a href="#Seite_32">32</a>. <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_36">36 ff.</a> (Heinrich von Ofterdingen). <a href="#Seite_45">45</a>. <a href="#Seite_46">46</a>. <a href="#Seite_51">51</a>. <a href="#Seite_53">53</a>. <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_218">218</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Pantenius, Theod. Hermann <a href="#Seite_115">115</a>.</li> + +<li class="indx"> Parzival <a href="#Seite_11">11</a>.</li> + +<li class="indx"> Polenz, Wilhelm v. <a href="#Seite_179">179 ff.</a> (Pfarrer von Breitendorf).</li> + +<li class="indx"> Prutz, Robert <a href="#Seite_78">78</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Raabe, Wilhelm <a href="#Seite_136">136</a>. <a href="#Seite_144">144 ff.</a> (Chronik der Sperlingsgasse). <a href="#Seite_149">149 ff.</a> (Hungerpastor). <a href="#Seite_155">155</a>. <a href="#Seite_161">161</a>. <a href="#Seite_162">162</a>. <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_229">229</a>.</li> + +<li class="indx"> Rabelais <a href="#Seite_12">12</a>.</li> + +<li class="indx"> Reuter, Fritz <a href="#Seite_55">55</a>. <a href="#Seite_69">69</a>. <a href="#Seite_71">71 ff.</a> (Stromtid). <a href="#Seite_74">74</a>. <a href="#Seite_171">171</a>.</li> + +<li class="indx"> Riehl, Wilh. <a href="#Seite_127">127</a>. <a href="#Seite_130">130 f.</a> (Kulturgesch. Novellen). <a href="#Seite_134">134</a>.</li> + +<li class="indx"> Robinson Krusoe <a href="#Seite_13">13</a>.</li> + +<li class="indx"> Rosegger, Peter <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_162">162 ff.</a> (Schriften des Waldschulmeisters). <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_170">170</a>. <a href="#Seite_171">171</a>. <a href="#Seite_179">179</a>. <a href="#Seite_191">191 ff.</a> (Gottsucher). <a href="#Seite_214">214</a>. <a href="#Seite_229">229</a>.</li> + +<li class="indx"> Rousseau <a href="#Seite_30">30</a>.</li> + +<li class="indx"> Ruodlieb <a href="#Seite_10">10</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Scheffel, J. Viktor v. <a href="#Seite_127">127</a>. <a href="#Seite_128">128 ff.</a> (Ekkehard). <a href="#Seite_134">134</a>.</li> + +<li class="indx"> Schlaf, Johannes <a href="#Seite_183">183 ff.</a> (Novellen). <a href="#Seite_211">211</a>. <a href="#Seite_220">220</a>.</li> + +<li class="indx"> Schlegel, Friedrich v. <a href="#Seite_32">32</a>. <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_42">42 ff.</a> (Lucinde). <a href="#Seite_46">46</a>.</li> + +<li class="indx"> Schleiermacher <a href="#Seite_43">43</a>.</li> + +<li class="indx"> Sohnrey, Heinrich <a href="#Seite_170">170</a>.</li> + +<li class="indx"> Sperl, August <a href="#Seite_220">220</a>.</li> + +<li class="indx"> Spielhagen, Friedrich <a href="#Seite_78">78</a>. <a href="#Seite_79">79</a>. <a href="#Seite_85">85 ff.</a> (Problematische Naturen). <a href="#Seite_91">91 ff.</a> <a href="#Seite_98">98</a>. <a href="#Seite_112">112</a>. <a href="#Seite_114">114 f.</a> (Sturmflut). <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_225">225</a>. <a href="#Seite_231">231</a>.</li> + +<li class="indx"> Stifter, Adalbert <a href="#Seite_162">162</a>.</li> + +<li class="indx"> Storm, Theodor <a href="#Seite_144">144</a>. <a href="#Seite_155">155 ff.</a> (Novellen). <a href="#Seite_162">162</a>. <a href="#Seite_165">165</a>. <a href="#Seite_166">166</a>. <a href="#Seite_169">169</a>. <a href="#Seite_197">197 ff.</a> <a href="#Seite_229">229</a>.</li> + +<li class="indx"> Sudermann, Hermann <a href="#Seite_205">205</a>. <a href="#Seite_206">206 ff.</a> (Frau Sorge). <a href="#Seite_208">208</a>.</li> + +<li class="indx"> Suttner, Bertha v. <a href="#Seite_190">190</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Tieck, Ludwig <a href="#Seite_35">35</a>. <a href="#Seite_122">122</a>.</li> + +<li class="indx"> Tolstoi <a href="#Seite_168">168</a>. <a href="#Seite_190">190</a>.</li> + +<li class="indx"> Tovote, Heinz <a href="#Seite_186">186</a>. <a href="#Seite_212">212 f.</a> (Ich). <a href="#Seite_220">220</a>.</li> + +<li class="indx"> Tristan und Isolde <a href="#Seite_6">6</a>. <a href="#Seite_11">11</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Volksbücher <a href="#Seite_11">11</a>.</li> + + +<li class="ifrst"> Wickram, Jörg <a href="#Seite_12">12</a>.</li> + +<li class="indx"> Widmann, A. <a href="#Seite_78">78</a>.</li> + +<li class="indx"> Wieland <a href="#Seite_13">13 ff.</a> <a href="#Seite_27">27</a>.</li> + +<li class="indx"> Wildenbruch, Ernst v. <a href="#Seite_203">203 f.</a></li> + + +<li class="ifrst"> Zola, Emil <a href="#Seite_168">168</a>. <a href="#Seite_190">190</a>. <a href="#Seite_222">222</a>. <a href="#Seite_223">223</a>.</li> +</ul> + +<figure class="figcenter padtop2 illowe20" id="p236"> + <img class="w100" src="images/p236.jpg" alt="deko"> +</figure> + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76588 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/76588-h/images/cover.jpg b/76588-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..2fd3744 --- /dev/null +++ b/76588-h/images/cover.jpg diff --git a/76588-h/images/p003.jpg b/76588-h/images/p003.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..2e3ba1c --- /dev/null +++ b/76588-h/images/p003.jpg diff --git a/76588-h/images/p236.jpg b/76588-h/images/p236.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..907b694 --- /dev/null +++ b/76588-h/images/p236.jpg diff --git a/76588-h/images/title.jpg b/76588-h/images/title.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..6b1c1bc --- /dev/null +++ b/76588-h/images/title.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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